Der "Willehalm" Wolframs von Eschenbach: Eine Einführung 9783110800784, 9783110144796

"Das Werk ist beispielhaft für eine gute didaktische Präsentation eines mittelhochdeutschen Textes und empfehlenswe

175 65 56MB

German Pages 327 [328] Year 1998

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Table of contents :
Vorwort
Verzeichnis der Abkürzungen
0 Einleitung
1 Historische Zusammenhänge
1.1 Der Dichter Wolfram
1.2 Wolfram und der Thüringer Landgrafenhof
1.3 Zur Datierung des ,Willehalm'
Exkurs: Wolframs ,Willehalm' in seiner Zeit
2 Der altfranzösische Stoff
2.1 Die historische Grundlage
2.2 Die Entwicklung der Sage
2.3 Die ,Chansons de geste'
2.4 Die ,Bataille d'Aliscans'
2.5 Wolfram und der Guillaume - Zyklus
Exkurs: Andere literarische Beziehungen
3 Werk und Interpretation
3.1 Die epische Struktur
3.1.1 Gliederung
3.1.2 Raum und Zeit
3.1.3 Handlungsanalyse
a) Vorgeschichte
b) Die erste Schlacht auf Alischanz
c) Von Alischanz bis Orange
d) In Orange
e) Von Orange nach Munleun
f) In Munleun
g) Von Munleun nach Orange
h) In Orange
i) Vor der zweiten Schlacht
j) Die zweite Schlacht auf Alischanz
k) Nach der Schlacht
Exkurs: Zur Fragmentfrage
3.2 Erzähltechnik
3.2.1 Der Erzähler
3.2.2 Erzählmittel
a) Beschreibungen
b) Bildlichkeit
c) Komik
Exkurs: Zur Gestaltung der ersten und zweiten Schlacht
3.3 Personen und Charakterisierung
3.3.1 Figurenkonstellation
3.3.2 Charakterisierung
a) Vorbemerkung
b) Willehalm
c) Gyburc
d) Vivianz
e) Rennewart
f) Wichtige Nebenfiguren
Exkurs: Zur Verwandtschaftsstruktur
3.4 Probleme der Forschung
3.4.1 Der Prolog
3.4.2 minne und Religion
3.4.3 Die Andersgläubigen
3.4.4 Politische Themen
3.4.5 Die Gattungsfrage
4 Überlieferung und Wirkungsgeschichte
4.1. Handschriftliche Überlieferung
4.2. Wirkungsgeschichte
Anhang:
Landkarten
Stammbäume der Heiden und Christen
5 Bibliographie
6 Register
Recommend Papers

Der "Willehalm" Wolframs von Eschenbach: Eine Einführung
 9783110800784, 9783110144796

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

de Gruyter Studienbuch

John Greenfield / Lydia Miklautsch

Der „Willehalm" Wolframs von Eschenbach Eine Einführung

W DE G Waltet de Gruyter · Berlin · New York

1998

© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt

Die Deutsche Bibliothek -

CIP-Einbeitsaufnabme

Der „Willehalm" Wolframs von Eschenbach : eine Einführung / John Greenfield/Lydia Miklautsch. - Berlin ; New York : de Gruyter, 1998 (De-Gruyter-Studienbuch) ISBN 3- -014479-4

© Copyright 1998 by Walter de Gruyter GmbH & Co., D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Druck und buchbinderische Verarbeitung: Werner Hildebrand, Berlin Einbandgestaltung: Hansbernd Lindemann, Berlin

Vorwort

Die Willehalm-Dichtwg Wolframs von Eschenbach ist eines der bedeutendsten (und wohl anspruchsvollsten) Epen des deutschen Hochmittelalters. Während die Dichtung früher von der Forschung eher „stiermütterlich" behandelt wurde, steht sie heute im Mittelpunkt einer intensiven wissenschaftlichen Diskussion. Sie ist zunehmend Gegenstand der Auseinandersetzung auch im akademischen Unterricht. Da es bislang keine monographische Einführung in dieses komplexe Werk gibt, setzt sich der vorliegende Band zum Ziel, diese Lücke zu schließen und Studierende mit zentralen Interpretationsproblemen sowie mit wichtigen Positionen der Willehalm-Foischung vertraut zu machen und sie zu weiterer eigenständiger Arbeit an diesem Text anzuregen. Die Forschungen zum Willehalm sind inzwischen so angewachsen, daß es schwierig ist, einen Überblick über die zahlreichen Publikationen, die zu diesem Werk erschienen sind und erscheinen, zu gewährleisten. Wir haben den Versuch unternommen, die wichtigsten Forschungspositionen zu berücksichtigen, mußten uns aber dabei im Rahmen dieser Einfuhrung, aus Platzgründen erhebliche Beschränkungen auferlegen. Die Autoren dieses Bandes sind an den Universitäten Porto und Wien tätig, sie sind von verschiedenen Wissenschaftsdiskursen geprägt und verstehen sich als Vermittler zwischen den „nationalen" Kulturen Europas und den unterschiedlichen Perspektiven in der germanistischen Mediävistik. Sie schulden der einschlägigen Forschung - allen voran Joachim Bumke - herzlichsten Dank. Stellvertretend für alle Bemühungen um eine wissenschaftlich fundierte interkulturelle Mediävistik ist an dieser Stelle - und aus besonderem Grund - der britische Germanist und Wolfram-Experte Carl Lofmark hervorzuheben. Die Idee zu diesem Band stammt von ihm; wichtige

VI

Vorwort

Skizzen, die er bei seinem frühzeitigen Tod hinterlassen hat, sind in das zweite Kapitel dieses Buches eingearbeitet worden. Schließlich gilt unser Dank auch Brigitte Schulung, die diesen Band mit großem Engagement betreut und die Endfassung immer wieder mit wesentlichen Besserungsvorschlägen gefördert hat. Wien, im Dezember 1997 Porto, im Dezember 1997

Lydia Miklautsch John Greenfield

Verzeichnis der Abkürzungen ABäG Abh. AfdA Anm. Aufl. Ausg. AI. ATB Bd./Bde. beab. Beitr. bes. Bibl. C.G. C.R. C.V. Diss. DU DVjs Einf. En. erw. Euph. GAG GN GRM GQ hg. v. Hg./Hgg. hist.

Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik Abhandlung Anzeiger für deutsches Altertum Anmerkung Auflage Ausgabe La Bataille d 'Aliscans Altdeutsche Textbibliothek Band / Bände bearbeitet Beitrag / Beiträge besonders Bibliothek Chanson de Guillaume Chanson de Roland Chevalerie Vivien Dissertation Der Deutschunterricht Deutsche Vierteljahrsschrift Einführung Eneasroman erweitert Euphorien Göppinger Arbeiten zur Germanistik Germanic Notes Germanisch-Romanische Monatsschrift German Quarterly herausgegeben von Herausgeber historisch

VE!

Hs./Hss. Jg. KChr. Kl. Lit. m. Ms. Nachdr. Neophil. o. PBB philos. Pz. rev. Rl. RUB SB SM Tr. u. überarb. Übers. übers. v. verb. vergl. Wal. Wh. Wiss. WW z. ZfdA ZfdPh ZfrPh

Abkürzungen

Handschrift/en Jahrgang Kaiserchronik Klasse Literatur mit Manuskript Nachdruck Neophilologus oben Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur philosophisch Parzival revidiert Rolandslied Reclams Universal-Bibliothek Sitzungsberichte Sammlung Metzler Tristan und / unten überarbeitet Übersetzung übersetzt von verbessert vergleiche Walther von der Vogelweide Willehalm Wissenschaft/en Wirkendes Wort zu Zeitschrift für deutsches Altertum Zeitschrift für deutsche Philologie Zeitschrift für romanische Philologie

Inhalt Vorwort Verzeichnis der Abkürzungen 0 Einleitung 1 Historische Zusammenhänge 1.1 Der Dichter Wolfram 1.2 Wolfram und der Thüringer Landgrafenhof . . . 1.3 Zur Datierung des , Willehalm' Exkurs: Wolframs ,Willehalm' in seiner Zeit 2 Der altfranzösische Stoff 2.1 Die historische Grundlage 2 . 2 D i e Entwicklung d e r Sage . . . . . . . . 2.3 Die ,Chansons de geste' 2.4 Die ,Bataille d'Aliscans' 2.5 Wolfram und der Guillaume - Zyklus Exkurs: Andere literarische Beziehungen 3 Werk und Interpretation 3.1 Die epische Struktur 3.1.1 Gliederung 3.1.2 Raum und Zeit 3.1.3 Handlungsanalyse a) Vorgeschichte b) Die erste Schlacht auf Alischanz c) Von Alischanz bis Orange d) In Orange e) Von Orange nach Munleun f) In Munleun g) Von Munleun nach Orange h) In Orange i) Vor der zweiten Schlacht j) Die zweite Schlacht auf Alischanz k) Nach der Schlacht

V VII l 5 14 19 24 31 33 40 46 49 55

61 66 68 71 78 87 93 98 116 118 138 145 157

X

Inhalt

Exkurs: Zur Fragmentfrage 3.2 Erzähltechnik 3.2.1 Der Erzähler 3.2.2 Erzählmittel a) Beschreibungen b) Bildlichkeit c) Komik Exkurs: Zur Gestaltung der ersten und zweiten Schlacht 3.3 Personen und Charakterisierung 3.3.1 Figurenkonstellation 3.3.2 Charakterisierung a) Vorbemerkung b) Willehalm c)Gyburc d)Vivianz e) Rennewart f) Wichtige Nebenfiguren Exkurs: Zur Verwandtschaftsstruktur 3.4 Probleme der Forschung 3.4.1 Der Prolog 3.4.2 minne und Religion 3.4.3 Die Andersgläubigen 3.4.4 Politische Themen 3.4.5 Die Gattungsfrage 4 Überlieferung und Wirkungsgeschichte 4.1. Handschriftlicheüberlieferung 4.2. Wirkungsgeschichte Anhang: Landkarten Stammbäume der Heiden und Christen 5 Bibliographie 6 Register

163 168

.

171 173 175 177 183 185 188 193 200 204 210 215 220 236 250 255 264 273 276 283 284 287 309

Die Kapitel 2 (sowie Exkurs), 3.1.3 (a-d und j-k), 3.2.1, 3.3.1, 3.3.2 (a,b,d), 3.4.1, 3.4.2, 3.4.5 und die Exkurse zur Fragmentfrage, Schlachtschilderung und Verwandtschaftsstruktur (samt Familienstammbäumen) wurden von John Greenfield verfaßt; die Kapitel l (sowie Exkurs), 3.1.1, 3.1.2, 3.1.3 (ei), 3.2.2, 3.3.2 (c,e,f), 3.4.3, 3.4.4 und 4 von Lydia Miklautsch; Vorwort, Einleitung, Bibliographie, Register und Layout wurden gemeinsam erstellt.

0 Einleitung Das Willehalm-FTagment behandelt eines der wichtigsten Themen der Weltgeschichte: den Konflikt zwischen Orient und Okzident. In dieser Auseinandersetzung stehen sich Heiden und Christen gegenüber. Auslöser für diesen Krieg ist die Ehe zwischen Willehalm, dem Markgrafen von Provenze (Provence), und Gyburc der ehemaligen Heidin Arabel. Wegen dieser Liebe und ihrer Konversion zum christlichen Glauben verläßt sie ihren ersten Mann Tybalt und ihre Familie. Dies hat zur Folge, daß ihr Vater, der Heidenkönig Terramer, gemeinsam mit seinem Schwiegersohn und einem gewaltigen Heer in Südfrankreich einfällt. Der blutige Krieg, der darauf folgt, führt auf beiden Seiten zu großen Verlusten und unendlichem Leid. Auf einer vernichtenden Niederlage des christlichen Heeres in der ersten Schlacht folgt in der zweiten ein Sieg. Dieser Sieg trägt jedoch nicht zur Lösung des Konflikts zwischen Christen und Heiden bei und läßt das Leid, das dieser Krieg verursacht hat, unbewältigt. Der Autor dieses Werkes, Wolfram von Eschenbach ist einer der bedeutendsten Dichter des europäischen Hochmittelalters. Von ihm sind - neben dem Willehalm - noch der Parzival, die Titurel-Fragmente und mehrere Lieder überliefert. Über die Person und Lebensumstände Wolframs ist wenig bekannt. Die Forschung hat versucht, aus wenigen Hinweisen die Biographie Wolframs zu erstellen. Wir beginnen daher unser Buch mit einem Überblick über die verschiedenen Theorien, die sich mit der Person des Dichters (1.1) sowie seines Gönners Hermann von Thüringen (1.2) befassen. Eng verbunden mit der Frage nach dem historischen Hintergrund sind die zahlreichen Versuche einer Datierung des Willehalm, die im Kapitel 1.3 besprochen werden. Zur leichteren Einordnung der historischen Anspielungen im Werk bietet der anschließende Exkurs eine kurze Zusammenfassung der politischen und gesellschaftlichen Bedingungen des Hochmittelalters.

2

Einleitung

Wolframs Willehalm ist die Bearbeitung einer altfranzösischen chanson de geste, La Bataille d"Aliscans. Diese Dichtung ist Teil eines großen Zyklus, die Geste Monglane, die von Guillaume d'Orange und seiner Familie erzählt. Die Figur Guillaumes beruht auf einer historischen Gestalt. Der zweite Teil unserer Einführung wird sich also nach einer Erörterung der historischen Grundlage dieses Stoffes (2.1) sowie der Sage (2.2), mit der Gattung chanson de geste (2.3) und der Vorlage (2.4) auseinandersetzen. Im Anschluß daran wird das Verhältnis des deutschen Dichters zu seiner französischen Vorlage besprochen (2.5) sowie (in einem Exkurs) die weiteren zahlreichen intertextuellen Beziehungen des Willehalm. Im Hauptteil unseres Buches werden, nach einer Besprechung der Gliederung (3.1.1) sowie der Raum- und Zeitstruktur (3.1.2), in enger Anlehnung an den Text, die wichtigsten Forschungspositionen zu den einzelnen Handlungsabschnitten der Dichtung erörtert (3.1.3): Dabei geht es uns vor allem darum, jene Textstellen zu analysieren, die immer wieder zu Diskussionen in der Forschung geführt haben. Es kann sich aber - im Rahmen einer Einführung - weder um einen Stellenkommentar noch um einen vollständigen Forschungsbericht handeln. Das Ende der Dichtung läßt viele offene Fragen, u.a. die nach der Abgeschlossenheit des Werkes: Damit beschäftigt sich der Exkurs zur Fragmentfrage. Nach der Handlungsanalyse folgt ein Kapitel zur Erzähltechnik im Willehalm: Dabei konzentrieren wir uns sowohl auf den Erzähler (3.2.1) als auch auf die vielfaltigen Erzählmittel (3.2.2), die in der Dichtung angewendet werden. Bei der Gestaltung der Schlachten verwendet Wolfram eine außergewöhnliche und im Vergleich mit anderen mittelalterlichen Werken neuartige Technik, womit sich ein Exkurs auseinandersetzt. Ebenfalls außergewöhnlich sind die handelnden Personen der Dichtung. Hiermit beschäftigt sich das Kapitel 3.3: Nach einer Erörterung der Figurenkonstellation der Dichtung (3.3.1), werden die allgemeinen Probleme, die mit der Charakterisierung zusammenhängen, vorgestellt (3.3.2): Anschließend werden die wichtigsten Personen der Dichtung charakterisiert. Da es im Willehalm auch um einen Krieg zweier Sippenverbände geht, werden in einem abschließenden Exkurs die Verwandtschaftsverhältnisse der beiden Familien beleuchtet.

Einleitung

3

Das letzte Kapitel des dritten Abschnittes widmet sich jenen Problemen, die die Forschung am meisten beschäftigt hat, die aber nicht endgültig gelöst wurden. Nach einer detaillierten Besprechung des Prologs (3.4.1), werden die zentralen Themen minne und Religion diskutiert (3.4.2). Das Heidenbild (3.4.3) und die politischen Motive (3.4.4) im Willehalm haben ebenfalls immer wieder zu Diskussionen geführt, was die anschließenden beiden Kapitel zeigen. Zuletzt wird die Frage nach der Gattung der Dichtung aufgeworfen (3.4.5). Den Abschluß unseres Buches bildet ein Kapitel zur Überlieferung (4.1) und Wirkungsgeschichte (4.2). Bei der Erstellung der Bibliographie haben wir uns auf die im folgenden Text zitierten Literaturangaben beschränkt. Wir haben uns allerdings bemüht, die neuesten Publikationen möglichst vollständig einzuarbeiten. Im Anhang befinden sich Landkarten der Gebiete, die im Laufe der Einführung besprochen werden und Stammbäume der in dieser Dichtung verfeindeten Familien. Im Anschluß an einige Kapitel verweisen wir auch auf weiterführende Literatur.

l Historische Zusammenhänge 1.1 Der Dichter Wolfram Wie bei den meisten mittelalterlichen Autoren ist über die Person und die Lebensumstände Wolframs von Eschenbach kaum etwas bekannt. Die Forschung kann sich nur auf historische Anspielungen des Autors in seinen Werken stützen. Wenn Wolfram historische Ereignisse erwähnt oder auf seine Lebensumstände anspielt, so sind diese Aussagen immer auch Teil der poetischen Fiktion. Um den historisch verifizierbaren Gehalt einer Textstelle herauszufiltern, bedarf es einer genauen Analyse, wobei es, gerade bei einem Autor wie Wolfram, äußerst schwierig ist, zwischen Aussagen biographischen oder fiktionalen Inhalts zu unterscheiden. Deshalb bleiben alle Angaben über seine Person letztlich ohne Gewähr. Wohlram nennt sich von Eschenbach. Eschenbach ist als Ortsund auch Familienname mehrfach belegt. Über Wolframs Geburtsort und -zeit konnte man sich in der Forschung weitgehend einigen. Wolfram wurde wahrscheinlich um 1170 im fränkischen OberEschenbach geboren, das seit 1917 stolz Wolframs-Eschenbach heißt. Die Stadt hat ihren Anspruch, Geburtsort des berühmten Dichters zu sein, durch deutliche Zeichen untermauert. Im Jahre 1861 ließ Maximilian II. von Bayern ein Wolfram-Denkmal in Eschenbach errichten. Seit 1995 gibt es ein Museum zu Ehren des berühmten Dichters, der außer seinen Werken keine Spuren hinterlassen hat, und das deshalb gänzlich ohne Originalstücke und „Reliquien" auskommen muß. Für Wolframs-Eschenbach als Geburtsort des Dichters spricht unter anderem auch, daß seit 1268 eine adelige Familie von Eschenbach dort bezeugt ist. Möglicherweise stammte Wolfram aus diesem wenig begüterten Geschlecht der Herren von Eschenbach, das in

6

Historische Zusammenhänge

Lehensbeziehungen zu den Grafen von Oettingen und von Wertheim, zum Bistum Eichstätt und zum Deutschen Orden stand. Wolfram erwähnt im Parzival den Grafen von Wertheim als min herre (184,4), woraus sich zwar nicht unbedingt ein Abhängigkeitsverhältnis herauslesen läßt - es könnte sich auch um eine Höflichkeitsformel handeln - aber vielleicht doch eine persönliche Beziehung des Dichters zum Grafen. Einige Forscher vermuten sogar, daß der Graf von Wertheim Wolframs erster Gönner gewesen sein könnte. Ob Wolfram auch in Eschenbach begraben liegt, ist unsicher. Zwar hat um die Mitte des 15. Jhs. der bairische Hofrat Jakob Püterich von Reichertshausen, ein Liebhaber der Ritterdichtung, das Grab Wolframs in der Liebfrauenkirche in Eschenbach gesehen und es in seinem „Ehrenbrief" (ed. BEHREND/WOLKAN, 1920: Str. 128 129) beschrieben. Auch der Nürnberger Patrizier Hans Wilhelm Kreß berichtet von dem Grabmal, das er 1608 besuchte und dessen Inschrift er wiedergibt: Hie ligt der Streng Ritter Herr Wolffram von Eschenbach ein Meister Singer. Dieser Text beweist aber, daß die Inschrift lange nach Wolframs Tod angebracht wurde, denn zu Wolframs Zeit gab es weder Meistersinger noch „strenge Ritter", was bedeutet, daß auch die Grabstätte möglicherweise nicht authentisch ist. Im Zuge der Renovierung der Frauenkirche im Jahre 1666 wurde das Grabmahl vermutlich zerstört, jedenfalls gibt es von da an keine Hinweise mehr darauf. Heute erinnert eine Gedenktafel in der Frauenkirche an das verschollene Grab. Über Wolframs Standesverhältnisse können ebenfalls keine sicheren Angaben gemacht werden. Wolfram nennt sich selbst nie ritter, dennoch wird er in vielen Literaturgeschichten ritterlicher Ministeriale genannt. Man glaubt, dies durch eine seiner Selbstaussagen belegen zu können. An einer Stelle im Parzival sagt er über sich: Schildes ambet ist min art (Pz. 115,11), was so viel heißt, wie: Ich bin durch meine Geburt ein Mitglied des Ritterstandes, ich bin ritterbürtig. Allerdings wird die Beweiskraft dieser Stelle als Beleg für die Ritterschaft Wolframs sehr abgeschwächt, wenn man den Kontext berücksichtigt: Schildes ambet ist min art: swa mm eilen si gespart, swelhiu mich minnet umbe sanc, so dunket mich ir mtze kranc. ob ich guotes \vibes minne ger,

Der Dichter Wolfram

l

mag ich mit Schilde und auch mit sper verdienen niht ir minne solt, al dar nach si sie mir holt. vil hohes topels er doch spilt, der an ritterschaß nach minnen zilt. (Pz. 115,1 Iff.) [Waffenhandwerk ist meinem Wesen gemäß: Die Frau, die mich wegen meiner Sangeskunst liebt, ohne daß ich meine Tapferkeit beweisen kann, kommt mir töricht vor. Wenn ich mich um die Liebe einer rechten Frau bemühe, so muß ich mir den Lohn der Minne mit Schild und Speer verdienen; daran soll sie mir ihre Gunst bemessen. Mit hohem Einsatz spielt doch der, der durch Ritterschaft die Liebe erringen will.]

Es handelt sich nämlich um eine Polemik gegen bildungsbewußte Dichter, die den Damen mit ihren gelehrten Dichtungen imponieren wollen. So gesehen dient dieses „Selbstzeugnis" wohl eher der Ausgestaltung der Erzählerrolle (dazu NELLMANN, 1973: S. 21 und 1994: Bd. II, S. 516f). Es gibt noch eine weitere Stelle im Parzival, die als Beweis für die Ritterbürtigkeit Wolframs herangezogen wurde. Wolfram gibt sein ritterliches Ehrenwort für die Wahrheit der Erzählung: ob ich iu da nach swüere, so saget iu ufminen eit min ritterlichiu Sicherheit als mir diu aventiure giht: inehännu mer geziuges niht. (Pz. 15,10ff). [Ich könnte nun zwar anfangen zu schwören, dann hättet ihr meinen Eid darauf und alle Sicherheiten, die ein Ritter geben kann, doch sage ich ja nichts als das, was mir die Geschichte erzählt, andere Zeugen habe ich nicht.]

Doch auch mit dieser Aussage läßt sich die ständische Herkunft Wolframs nicht eindeutig beweisen, es könnte sich genauso um eine ironische Selbstdarstellung handeln. Ähnlich verhält es sich auch mit der Frage, ob Wolfram Ministeriale war, denn er selbst hat sich nie als dienstman bezeichnet und eine Ministerialenfamilie von Eschenbach ist zu seiner Zeit noch nicht bezeugt. Jeder Versuch, Wolfram ständisch einzuordnen, entbehrt also letztlich historischer Grundlagen. Nur an einem hat Wolfram keinen Zweifel gelassen: ich bin Wolfram von Eschenbach, / unt kan ein teil mit sänge, (Pz. 114, 12f.), sagt er selbstbewußt im Parzival. Wie die meisten mittelalter-

8

Historische Zusammenhänge

lichen Dichter war Wolfram auf die Gunst hochgestellter Gönner angewiesen. Dauernde Ortswechsel und materielle Unsicherheit gingen damit einher. Der Verlust der Gunst oder der Tod eines Gönners oder einer Gönnerin führte nicht selten zu einem Abruch des Werkes oder zumindest zu längeren Arbeitsunterbrechungen. So dauerte es oft mehrere Jahre, bis eine Dichtung abgeschlossen werden konnte. Am Ende VI. Buches des Parzival spricht Wolfram resignierend über seine Abhängigkeit von einer namentlich nicht genannten Dame: ze machen nem diz mcere ein man, der äventiure prüeven kan und rime künne sprechen, beidiu samnen unde brechen. ich tcetz iu gerne fürbaz kunt, \volt ez gebieten mir ein munt, den doch ander füeze tragent dan die mirze Stegreif wagent. (Pz. 337,23ff.) [Möge diese Geschichte ein Mann weitermachen, der Abenteuer erzählen kann und der, wenn er in Reimen spricht, diese zu binden und zu brechen weiß. Ich würde sie euch ja gerne weiter erzählen, doch es müßte mir schon ein Mund gebieten, den andere Füße tragen, als die, die in meinen Steigbügeln wackeln.]

Von der Gunst dieser einflußreichen Dame hänge es ab, ob er am Parzival weiterdichten könne oder die Arbeit einem anderen übergeben müsse. Philologische Untersuchungen haben ergeben, daß an dieser Stelle tatsächlich eine Arbeitsunterbrechung eingetreten ist, was auf ein reales Abhängigkeitsverhältnis hindeutet. Die Identität dieser Dame konnte allerdings nicht festgestellt werden. Im Parzival erwähnt Wolfram auch seine Lebensverhältnisse, die er als ziemlich ärmlich beschreibt: \van da ich dicke bin erbeizet und da man mich herre heizet, da heime in min selbes hus, da \virt gefreut vil selten mus. \van diu müese ir sptse stein: die dürfte niemen vor mir heln: ine vinde ir offenliche niht. alze dicke daz geschiht mir Wolfram von Eschenbach,

Der Dichter Wolfram

9

daz ich dulte alsolch gemach. (Pz. 184,29ff.) Penn dort, wo ich oft vom Pferd gestiegen bin und dort, wo man mich Herr nennt, daheim, in meinem eigenen Haus, haben nicht einmal Mäuse eine Freude zu erwarten, wenn sie sich ihr Fressen zusammenstehlen wollten. Vor mir braucht man schon gar nichts zu verstecken, weil ich auch unversteckt nichts finde. Viel zu oft passiert es mir, Wolfram von Eschenbach, daß ich solche Aufwartung erdulden muß.]

Wolfram spricht auch von seiner Frau (Pz. 216,28), zweimal von seiner Tochter, die noch mit Puppen spielt (Wh. ll,22f.; Wh. 33,24), seiner Schwester (Pz. 686,29) und seinem Bruder (Pz. 740,29). Auch hier ist es kaum zu entscheiden, ob es sich bei diesen Angaben um eine imaginierte Familie des Erzähler-Ichs oder um tatsächliche Familienverhältnisse handelt (dazu: NELLMANN, 1973: S. 15). Besonders schwierig und in der Forschung heftig umstritten ist die Frage nach Wolframs Bildung. Wolfram bezeichnet sich als Analphabeten und leugnet jegliches Buchwissen: ine kan deheinen buochstap (Pz. 115,27). Es gibt in Wolframs Werken tatsächlich kaum Anhaltspunkte für eine lateinische Schulbildung, d. h., nach mittelalterlichem Bildungsdenken war Wolfram ein illitteratus (wobei das Gegensatzpaar lltteratus - illitteratus nicht ausreicht, um den damaligen Bildungsstand - vor allem bei den Laien - zu beschreiben). Eine Stelle im Prolog des Willehalm scheint diese Annahme zu bestätigen: s\vaz an den buochen stet geschriben, des bin ich künstelos beliben. niht anders ich geleret bin: •wan hon ich kunst, die git mir sin (Wh. 2,19ff.). [Was in den Büchern geschrieben steht, habe ich nicht gelernt. Ich bin nur sofern gelehrt, als ich Kunst habe, die mir Einsicht gibt.]

Es konnte allerdings nachgewiesen werden, daß sich Wolfram hier eines weitverbreiteten Topos aus der geistlichen Literatur bedient (vgl. unten S. 230). Der Dichter erteilt dem erlernbaren Wissen und Können eine Absage zugunsten der (göttlichen) Inspiration. Mit dieser Aussage grenzt sich Wolfram deutlich gegenüber den lateinisch gebildeten Epikern, wie z. B. Gottfried von Straßburg oder Hartmann von Aue, ab. Das bedeutet, daß Wolframs Beteuerungen seines Analphabetentums auch als eine Polemik gegen seine gelehrten Dichterkollegen gesehen werden können. „An die Stelle des

10

Historische Zusammenhänge

Buchgelehrten tritt nun der ungebildete Laie, der seine Kunst nicht dem Wissen, sondern jener poetischen Kraft verdankt, die im Menschen wirkt und die letztlich mit der Gotteskraft identisch ist, die die ganze Schöpfung durchdringt." (HAUG, 1992: S. 190) Wolfram empfindet sich als Laiendichter und nimmt damit unter seinen dichtenden Zeitgenossen eine Sonderstellung ein. Wolfram scheint sich dieser Sonderstellung durchaus bewußt gewesen zu sein, denn bis auf Heinrich von Veldeke, den er im Willehalm als min meister (76,24) nennt, urteilt Wolfram über seine Dichterkollegen mit witzigen und ironischen Bemerkungen. Er polemisiert gegen die seiner Meinung nach einseitige Kunstauffassung der gelehrten Berufsdichter. Nicht wenige Forscher gehen davon aus, daß diese Opposition vor allem dem Dichterkollegen Gottfried von Straßburg galt. Ob tatsächlich eine Dichterfehde (ablehnend: GANZ, 1967: S. 68-85; kritisch: NORMAN, 1969: S. 67 86) zwischen den beiden Epikern stattgefunden hat, läßt sich schwer nachweisen, denn weder Wolfram noch Gottfried erwähnen den Namen des anderen. Im wesentlichen geht es um die Frage, ob die Worte Gottfrieds auf Wolfram gemünzt sind, wenn er im sogenannten Literaturexkurs im Tristan einen Dichter spöttisch als Spießgesellen des Hasen bezeichnet, der mit seinen Wörtern auf der Wortwiese hohe Sprünge und weite Läufe vollführe (Tr. 4638 ff.). Ist dies der Fall, dann hat Gottfried vom Standpunkt eines gebildeten Klerikers wenig für die Dichtkünste eines ungebildeten Laien übrig, der für ihn nichts weiter als ein als ein vindaere wilder maere / der maere \vildenaere (Tr. 4663 ff.) ist. Daß es der Laie Wolfram mit den gebildeten Dichtern aufnehmen konnte, rief aber auch große Bewunderung hervor: leien munt nie baz gesprach (Wig. 6346), sagt Wirnt von Grafenberg in seinem Wigalois über Wolfram und dieses Lob ist noch von vielen Dichtern übernommen worden (vgl. BUMKE, 1997: S. 21f.). Wertet man die ungelehrte Haltung des Erzählers als Summe von realen Selbstaussagen, wie es einige Forscher getan haben, und nicht als Bestandteil einer Erzähler-Fiktion, dann war Wolfram Analphabet. Zu Wolframs Zeit war unter den Laien die Kunst des Lesens und Schreibens kaum verbreitet. Die Lese- und Schreibarbeit wurde in den Skriptorien, zumeist von Klerikern, erledigt. Auch das ritterliche Publikum dieser Zeit wird man sich wohl eher als hörende denn als lesende Rezipienten vorzustellen haben. In Wolframs Werken gibt es

Der Dichter Wolfram

11

zwar durchaus schreib- und lesekundige Protagonisten, auffällig ist jedoch, daß Wolfram nie die Formel ich las unterlaufen ist. Die Gegner der Theorie von Wolframs Analphabetentum verweisen auf Spezialkenntnisse auf dem Gebiet der Naturkunde, Kosmologie, Astronomie, Medizin und Philosophie, sowie eine genaue Kenntnis von komplizierten theologischen Fragestellungen, die in seiner Dichtung verarbeitet sind und eine lateinische schriftliche Überlieferung voraussetzen (dazu: ROETHE, 1901; KUNITZSCH, 1974; GROOS, 1995). Doch auch diese Kenntnisse könnte sich Wolfram durch mündliche Vermittlung angeeignet haben. Wie bei so vielen offenen Fragen, ist auch die nach Wolframs Lese- und Schreibkenntnissen nicht eindeutig zu klären. Ein ähnliches Problem ist die Bewertung der Französischkenntnisse Wolframs. Sowohl für den Parzival als auch für den Willehalm verwendete der Dichter französische Vorlagen. Auch hier gibt es entgegengesetzte Standpunkte in der Forschung. Die einen behaupten, daß Wolfram sehr dürftige Französischkenntnisse hatte und seine Vorlagen nur mühsam oder mit fremder Hilfe ins Deutsche übersetzen konnte. Als Beweis dafür nehmen sie die zahlreichen Abweichungen seiner Dichtungen von seinen Vorlagen, die sich aus Mißverständnissen der französischen Texte ergeben hätten. Die anderen sehen diese Abweichungen und auch die vielen französischen Neubildungen Wolframs (vor allem bei den Namen) als Ausdruck eines genialen Wortwitzes, der nur mit recht guten Sprachkenntnissen erreicht werden könne (VORDERSTEMANN, 1974: S. 400 ff.; CURSCHMANN, 1975: S. 554ff.). An einer Stelle im Willehalm nimmt Wolfram selbst bezug auf seine Französischkenntnisse: Herbergen ist loyschiern genant, so vil han ich der spräche erkant. ein ungevüeger Schampaneys künde vil bazfranzeys dann ich, swie ichfranzoys spreche, seht \vas ich an den reche, den ich diz mcere diuten sol: den zceme ein tiutschiu spräche wo/. min tiutsche ist etswa doch so krump, er mac mir lihte sin ze lump, den ichs niht gahes bescheide: da sume wir uns beide (237,3ff.)

12

Historische Zusammenhänge

[Tierbergeri heißt 'loischierri: soviel versteh ich von dieser Sprache. Ein Bauer aus der Champagne könnte sehr viel besser Französisch als ich, wie immer ich auch französisch spreche. Seht, was ich denen antu, für die ich diese Geschichte übersetzen soll. Deutsch wäre für die viel besser. Doch ist auch mein Deutsch so krumm, daß einer leicht nichts mehr versteht, dem ichs nicht schnell erkläre: das hält uns beide auf.]

Wolfram bekennt also, daß er nicht so gut französisch spreche, wie ein Bauer aus der Champagne. Und in typisch wolframscher Manier fügt er spöttisch hinzu, daß das Publikum nicht gut bedient wäre, wenn er die Dichtung nicht ins Deutsche übertragen würde. Doch sein Deutsch - und das ist die Pointe - sei auch so unverständlich, daß er es erst zeitaufwendig erklären müsse. Von einigen Forschern wurde diese Stelle als Eingeständnis seiner mangelhaften Französischkenntnisse gedeutet (u. a.: SAN MÄRTE, 1873: S. 117; SINGER, 1918: S. 81; WEBER, 1928: S. 18;) Wolfram gibt jedoch nur zu, daß sein Französisch nicht so gut wie das eines Muttersprachlers ist, was sich auch im Sinne eines ausgeprägten Selbstbewußtseins des Dichters deuten läßt, der stolz auf seine Sprachkenntnisse ist (BUMKE, 1959: S. 202; HAUPT, 1987: S. 3). Wie auch immer, es gibt Anhaltspunkte dafür, daß Wolfram über seine Quellen hinaus mit französischer Literatur bekannt war. Doch auch dies ist noch kein Indiz für die Qualität von Wolframs Französischkenntnissen. Er könnte sich das Wissen über diese Literatur auch durch mündliche Übersetzung angeeignet haben. Woher hatte Wolfram all diese Kenntnisse, von wem bekam er seine Vorlagen und wie waren seine Arbeitsbedingungen? Wie die meisten höfischen Epiker fand Wolfram sein Publikum an den adeligen Höfen. Wolframs Schaffensperiode fällt in eine Zeit, in der die ritterliche Adelskultur ihren Höhepunkt erreichte, deren Impulse im wesentlichen von Frankreich ausgingen. An den adeligen Höfen in Deutschland gab es ein lebhaftes Interesse an der französischen Literatur und viele der adeligen Mäzene sahen ihre Aufgabe darin, französische Quellen zu besorgen und deutsche Übersetzungen und Nachdichtungen in Auftrag zu geben. Wolfram hat in seinen Werken keinen Auftraggeber direkt genannt, dennoch gibt es einige Anhaltspunkte, die auf seine Gönner schließen lassen (vgl. BUMKE, 1997: S. l Iff.). Seine ersten Gönner hat Wolfram wahrscheinlich in der Umgebung von Eschenbach gefunden. Dazu gehörte möglicherweise der bereits erwähnte Graf von Wertheim, der u.a. im frän-

Der Dichter Wolfram

13

kischen Eschenbach begütert war (vgl. o.: S. 2). Ein Großteil der Forschung hält es allerdings für unwahrscheinlich, daß Wolfram Teile seines Parzival in Wertheim gedichtet und vorgetragen, oder sogar seine Vorlage durch den Wertheimer Grafen erhalten hat. Im Zusammenhang mit der Entstehung des Parzival spielt der Name Wildenberc, den Wolfram im V. Buch erwähnt, eine viel gewichtigere Rolle. Wolfram beschreibt die riesigen Kamine der Gralsburg und vergleicht: so gröziu ßwer sif noch / sack nieman hie ze Wildenberc (Pz. 230,121). [So mächtige Feuerbrände hat noch nie jemand hier in Wildenberg gesehen] Man nimmt an, daß sich der Name auf die Burg Wildenberg bei Amorbach im Odenwald der Freiherren von Durne, eine der schönsten architektonischen Anlagen der Stauferzeit, bezieht (dazu SCHREIBER, 1922). Der damalige Besitzer der Burg, Rupert I. von Durne, gehörte zu dem engsten Kreis um Friedrich I. und Heinrich VI. Von ihm könnte Wolfram die Vorlage für seinen Parzival erhalten und auf der Burg für einige Zeit die optimalen Arbeitsbedingungen für seine umfangreiche Dichtung bekommen haben. In verschiedenen Urkunden wird Rupert I. von Durne zusammen mit anderen Personen, die auch im Parzival genannt werden, erwähnt: Poppo II. von Wertheim, Hermann von Thüringen, Friedrich von Abenberg (dazu: MEVES, 1984; STEGER, 1986). Wolfram nennt die Gralsburg übrigens Munsalvcesche, ein Name, der möglicherweise aus Wildenberg entwickelt ist (Munsalvcesche = Mont sauvage = Wildenberg). Im VIII. Buch des Parzival erwähnt Wolfram eine weitere historisch nachweisbare Person, die ebenfalls eine Gönnerin gewesen sein könnte: Antikonie, die Schwester des Königs Vergulaht, sei so voller Schönheit gewesen, so daz ir site und ir sin was gelteh der marcgravin, Diu dicke vonme Heitstein über al die marke schein. wol im den heinliche an ir solprüeven! des geloubet mir, der vindet kurzwile da bezzer denne anderswä. (Pz. 403,29ff.) [so daß ihr Sinn und ihre Sitten der Markgräfin glichen, die an vielen schönen Tagen vom Heitstein herab ihre ganze Mark überglänzt hat. Wohl dem, der sich bei ihr daheim in traulicher Nähe davon überzeugen darf! Das könnt ihr mir glauben, daß der dort besser als woanders Kurzweil findet.]

14

Historische Zusammenhänge

Der Haidstein liegt östlich von Cham im Bayrischen Wald. Die Markgräfin könnte Elisabeth, die Schwester Herzog Ludwigs I. von Bayern und Gattin des Markgrafen Berthold II. von Vohburg (t 1204), gewesen sein. KNAPP (1988: S. 6 - 16) hat allerdings darauf hingewiesen, daß Elisabeth wahrscheinlich schon vor ihrem Gatten verstorben ist und sich die Anspielung Wolframs möglicherweise auf die Vohburgerin Adela, die Gemahlin Friedrichs I. Barbarossa, beziehen ließe, von der dieser sich 1152 scheiden ließ. Gegen Adela wurde im Zuge des Scheidungsprozesses auch der Vorwurf des Ehebruchs erhoben, was Wolframs Anzüglichkeiten im Zusammenhang mit dieser Textstelle erklären würden. Die Schwester der Markgräfin Elisabeth von Haidstein, Sophie, war mit Hermann von Thüringen vermählt. Der mächtige Landgraf Hermann von Thüringen ist als einziger mit ziemlicher Sicherheit als Gönner Wolframs nachzuweisen (vgl. dazu BUMKE, 1959: S. 181 - 199; BAYER, 1980; METTKE, 1989). An seinem Landgrafenhof in Eisenach hat Wolfram vermutlich bereits Teile des Parzival verfaßt. Die Gönnerschaft Hermanns von Thüringen ist jedoch vor allem für die Entstehung des Willehalm von entscheidender Bedeutung.

l .2 Wolfram und der Thüringer Landgrafenhof Im Prolog des Willehalm bezeugt Wolfram, daß er die französische Vorlage vom Landgrafen Hermann von Thüringen erhalten hat: lantgrave von Duringen Herman tet mir diz mcere von im bekant. er ist enfranzoys genant kuns Gwillams de Orangis. (3,8 ff.) [Landgraf Hermann von Thüringen machte mich mit dessen Geschichte bekannt: Man nennt ihn en fran9ais comte Guillaume d'Orange.]

Wolfram nennt Hermann von Thüringen damit nicht direkt als Auftraggeber, doch kann dies mit hoher Wahrscheinlichkeit angenommen werden. Hermann von Thüringen war einer der bedeutendsten Mäzene des Hochmittelalters. Der Thüringer Landgrafenhof in Eisenach zählte zu den wichtigsten Literaturzentren des beginnenden 13. Jahrhunderts und ist ein gutes Beispiel dafür, wie groß das Bildungsinteresse einer fürstlichen Familie sein konnte (vgl. BUMKE, 1979: S.

Wolfram und der Thüringer Landgrafenhof

15

159 - 168). Ein kurzer Abriß der Geschichte dieser Familie soll veranschaulichen, wie wichtig das neue Kunstinteresse an den weltlichen Höfen für die volkssprachliche literarische Produktion des Hochmittelalters war. Die Anfänge der Thüringer Landgrafenfamilie gehen auf Ludwig den Bärtigen (t um 1055) zurück, doch erst Ludwig I. (f um 1140) erhielt das Amt des vom Kaiser bestellten Landgrafen. Sein Sohn und Nachfolger Ludwig II. (* 1129) heiratete 1150 Barbarossas Halbschwester Jutta. Der Ehe entstammten fünf Kinder: Jutta, Ludwig, Friedrich, Heinrich Raspe und Hermann (* um 1155). Bereits Ludwig II. war äußerst bildungsbewußt, wie man einem Brief Ludwigs an den französischen König Ludwig VII. entnehmen kann. Darin erklärt er dem König, seinen Söhnen eine umfassende Bildung geben zu wollen und bittet ihn, zwei seiner Söhne an seinem Hof in Frankreich aufzunehmen. Es läßt sich allerdings weder ermitteln, welcher der Söhne in Frankreich gewesen ist noch ob Ludwigs Plan verwirklicht wurde; wichtig in diesem Zusammenhang ist nur, daß bereits der Vater Hermanns großen Wert auf Bildung gelegt hat. In jedem Fall ist dieser Brief ein wertvolles Zeugnis für das hohe Interesse einer deutschen Fürstenfamilie an der französischen Hofkultur. Ludwig II. starb 1172, sein Nachfolger wurde sein gleichnamiger ältester Sohn, bekannt als Ludwig der Fromme. Ludwig heiratete wahrscheinlich im Jahre 1174 die Gräfin Margarete von Kleve. Die Gräfin besaß zu diesem Zeitpunkt das unfertige Manuskript des Eneasromans Heinrichs von Veldeke. Im Epilog zum Eneasroman heißt es, daß der Dichter sein Werk der Gräfin zum Lesen und Anschauen gegeben habe (En. 13442 ff.). Die Handschrift wurde gestohlen und zwar von Heinrich, dem Bruder Ludwigs, und nach Thüringen geschickt. Neun Jahre später veranlaßten seine Brüder Hermann (er gehörte damals als Pfalzgraf von Sachsen bereits zu den Reichsfürsten) und Friedrich, den Dichter nach Thüringen zu kommen und sein Werk auf der Neuenburg an der Unstrut zu vollenden. 1189 beteiligt sich Ludwig am III. Kreuzzug (1189 - 1192) unter Kaiser Friedrich I. Barbarossa. Ob sein Bruder Hermann ebenfalls am Kreuzzug teilgenommen hat, steht nicht fest. Ludwig starb ein Jahr darauf auf dem Rückweg in seine Heimat. Hermann wurde Ludwigs Nachfolger und widmete sich nun verstärkt seinem

16

Historische Zusammenhänge

Mäzenatentum. Er förderte und unterstützte die berühmtesten Dichter und erhob Thüringen zu einem bedeutenden Literaturzentrum (vgl. PETERS, 1981). Neben der Literatur galt Hermanns Interesse auch noch anderen künstlerischen Bereichen. So war er ein sehr aktiver Bauherr, der auch bei der architektonischen Gestaltung der Burgen mitwirkte. Unter seine Regierungszeit fällt der Ausbau der Wartburg zu einer repräsentativen fürstlichen Residenz. Hermann beeinflußte auch die Buchmalerei nicht unerheblich. Während seiner Regierungszeit hat es eine bedeutende thüringisch-sächsische Malerschule gegeben, die im Auftrag des Landgrafen gearbeitet hat. Zwei prächtig ausgestattete Psalterien, der sogenannte Landgrafenpsalter und das Psalterium der heiligen Elisabeth, stammen aus dieser Malerschule. Wie bereits erwähnt, ist Hermann aber vor allem als Mäzen der Dichter in die Geschichte eingegangen. Hermann muß ein äußerst großzügiger Förderer der Dichter gewesen sein. Walther von der Vogelweide, der sich zum Ingesinde des Fürsten zählt, hat ihm eine Strophe gewidmet, in der er Hermanns Freigebigkeit überschwenglich lobt: Ich bin des muten lantgraven ingesinde. ez ist min site, daz man mich iemer bi den tiursten vinde. die ändern forsten alle sint vil milte, iedoch so stceteclichen nicht, er was e und ist es noch. Da von kan er baz dan sie dermite gebaren. er enwil dekeiner lune vären. swer hiure schallet und ist hin zejare boese als e, des lop gruonet und valwet so der kle. derDürnge bluome schinet dur den sne, sumer und \vinter blüet sin lop als in den ersten jaren. (Wal. 35,7ff.) [Ich stehe im Gefolge des freigebigen Landgrafen. Es ist nun einmal meine Art, daß man mich stets bei den Würdigsten findet. Die anderen Fürsten sind alle auch sehr freigebig, jedoch dabei nicht so beständig: er war es immer und er ist es noch. Deshalb kann er besser als sie damit umgehen: er ändert seinen Sinn nicht. Wer heuer prahlt und dann übers Jahr so geizig ist, wie eh und je, dessen Lob grünt und verwelkt wie der Klee. Thüringens Blume leuchtet durch den Schnee: Sommer und Winter blüht sein Lob wie in den ersten Jahren.]

Dieses Fürstenlob legt nahe, daß Walther eine längere Zeit hindurch mit dem Hof Hermanns I. in Verbindung stand. Möglicherweise

Wolfram und der Thüringer Landgrafenhof

17

gehörte auch Heinrich von Meningen zeitweise zum Hofstaat des Fürsten. Neben der Lyrik war der Thüringer Hof auch ein Mittelpunkt für die epische Dichtung. Außer Wolframs Willehalm und der Fertigstellung des Eneasromans, ist auch noch Herborts von Fritzlar Trojaroman nachweislich im Auftrag Hermanns entstanden. Zahlreiche andere Werke, in denen keine Auftraggeber genannt werden, lassen ebenfalls die Gönnerschaft Hermanns vermuten: die deutsche Bearbeitung von Ovids Metamorphosen durch Albrecht von Halberstadt, die anonymen Epen Graf Rudolf und Athis und Prophilias, Ottes Eraclius, die Tugendlehre Wernhers von Elmendorf und eine Pilatuslegende. Der Ruhm Hermanns als Gönner der Dichter hat bereits im 13. Jahrhundert dazu geführt, daß er im Wartburgkrieg selbst zur Gestalt einer Dichtung geworden ist. Ob dieser Sängerstreit einen historischen Kern hat, ist unsicher. Anhand der Werke, die unter dem Auftrag Hermanns entstanden sind, kann man auch erkennen, wie groß der Einfluß der Gönner auf die Stoffauswahl gewesen ist. Offensichtlich interessierte sich Hermann mehr für die Stoffe aus der Antike als für die Artusepik, die zu Beginn des 13. Jahrhunderts in Deutschland modern war. Hermanns persönliches Kunstinteresse und sein fürstlicher Repräsentationswille führten zur Ausbildung eines eigenen Hofstiles, dessen Zentrum der Fürstenhof zu Eisenach war. Dabei handelt es sich nicht, wie oft fälschlicherweise angegeben wird, um die Wartburg, die wahrscheinlich erst unter seinem Sohn Ludwig als Wohnort für die fürstliche Familie diente (vgl.: LEMMER, 1989). Wie es am Landgrafenhof zuging, erfahren wir ebenfalls aus einem Gedicht Walthers: Der in den oren siech von ungesühte si, daz ist min rät, der laz den hofze Düringenfri, •wan kumet er dar, deswär er vnrt ertoeret. ich hän gedrungen, unz ich niht me gedringen mac. ein schar vert uz, diu ander in, naht wide tac. groz wunder ist, daz lernen da gehoeret. Der lantgrave ist so gemuot, daz er mit stolzen Heiden sine hob vertuot, der iegeslicher wol ein kenpfe wcere. mir ist sin hohefuor \vol kunt: und gulte ein fuoder guotes wines tüsent pfunt, da stüenddoch niemer ritters becher leere. (Wal. 20,4ff.)

18

Historische Zusammenhänge

[Wem die Ohren durch Krankheit kränklich sind, der lasse den Thüringer Hof, das ist mein Rat, links liegen. Denn wenn er dorthin gerät, wird er sicherlich taub. Ich hab dort aufgewartet, bis ich nicht mehr aufwarten konnte. Eine Rotte tobt hinaus, eine andere herein, Tag und Nacht. Erstaunlich, daß da noch einer etwas hört. Der Landgraf ist nun einmal so gestimmt, daß er mit stolzen Helden sein Hab und Gut durchbringt, von denen ein jeder gut und gern einen Zirkusfechter abgäbe. Ich kenne seine edle Lebensart. Selbst wenn ein Fuder guten Weins tausend Pfund kostete, so stünden doch die Becher eines Ritter nimmer leer.]

Die Zustände am Thüringer Hof entsprachen nach dieser Beschreibung Walthers offensichtlich nicht den Vorstellungen einer verfeinerten höfischen Kultur, wie sie von den Dichtern beschworen wurde. Ohrenbetäubender Lärm und großes Gedränge schienen an der Tagesordnung gewesen zu sein. Die Freigebigkeit des Landgrafen hat wohl auch recht zweifelhafte Gesellen angezogen. Im VI. Buch des Parzival kommentiert Wolfram ebenfalls das Treiben am Thüringer Hof: von Dürgenfürste Herman, etsltch din ingesinde ich maz, daz üzgesinde hieze baz. dir mere och eines Keien not, sit wäriu milte dir gebot so manecvalten anehanc, ets\vä smcelich gedranc und etswä werdez dringen. des muoz her Walther singen ,guoten tac, boes unde guot.' swa man solhen sanc nu tuot, des sint die valschen geret. (Pz. 297,16ff.) [Landgraf Hermann von Thüringen: Von deinem Ingesinde habe ich vieles gesehen, daß besser Rausgesinde hieße. Du könntest einen Keie durchaus gebrauchen, da deine ehrliche Freigebigkeit dir allerlei Schmarotzer und Lumpengesindel und nur wenig würdig Bittende ins Haus gebracht hat. Deshalb kann Herr Walther singen: ,Guten Tag Gesindel und edle Herren', Wo man heutzutage solche Lieder singt, dort werden die Falschen geehrt.]

Wolfram bestätigt Walthers Aussage, daß sich am Landgrafenhof auch viel Gesindel aufgehalten hat und wahrscheinlich hatten die Literaten darunter zu leiden. So hat Walther von der Vogelweide am Eisenacher Hof großen Ärger erfahren. Der Ritter Gerhart Atze erschoß ihm das Pferd, wovon er in zwei Sprüchen mit beißendem

Zur Datierung des , Willehalm'

19

Spott berichtet. Jedenfalls scheinen vor diesem Hintergrund die Arbeitsbedingungen für ein Großwerk, wie dem Willehalm, auch bei einem freigebigen Fürsten, nicht ganz einfach gewesen zu sein. Dies schmälert jedoch keineswegs die großen Verdienste Hermanns als Förderer der Dichter. Wie wichtig die Persönlichkeit Hermanns für den Literaturbetrieb am Thüringer Hof war, zeigt sich daran, daß nach seinem Tod 1217 schlagartig eine Veränderung eintrat. Unter Hermanns Nachfolger, seinem ältesten Sohn Ludwig IV., verliert der Thüringer Hof an Bedeutung für die höfische Literatur. Ludwig war äußerst fromm und weltlichem Treiben wenig zugetan. Wolfram war zum Zeitpunkt des Todes Hermanns mit hoher Wahrscheinlichkeit noch an der Arbeit am Willehalm beschäftigt. Möglicherweise konnte Wolfram seine Arbeit unter Ludwig fortsetzen. Dies führt zur Diskussion über die Datierung des Willehalm.

1.3 Zur Datierung des Willehalm Wie bei den meisten mittelalterlichen Texten ist auch die Datierung des Willehalm schwierig. Sicher ist nur, daß der Willehalm nach dem Parzival entstanden ist, weil der Autor im Prolog des Willehalm auf das ältere Werk Bezug nimmt (swaz ich von Parzival gesprach... 4,20). Bei dem Versuch einer zeitlichen Einordnung des Werkes stützt sich die Forschung vor allem auf historische Ereignisse, auf die der Dichter anspielt, deren Auswertung für die Datierung allerdings zu äußerst unterschiedlichen Ergebnissen geführt hat. So kommt es zu Schwankungen beim Datum für den Beginn der Arbeit am Willehalm zwischen 1209 und 1217 und für den Abruch der Arbeit zwischen 1217 und 1226. (Zusammenfassung der älteren Forschung bei BUMKE, 1959: S. 181 -189) Historisch zu identifizieren und wichtig für die Datierung des Willehalm sind folgende Anspielungen Wolframs: 1. Die Kaiserkrönung Ottos IV. in Rom: Im VIII. Buch des Willehalm wird von der prächtigen Ausstattung des König Marlanz und seines Heeres gesprochen und der Erzähler merkt an: Do der keiser Otte ze Rome truoc die krone, kom der also schone

20

Historische Zusammenhänge

gevaren nach siner \vihe, mine volge ich dar zuo lihe daz ich im gihe des \vcere genuoc. (393,30ff.) [Wenn Kaiser Otto, als er in Rom gekrönt wurde, nach seiner Weihe ebenso prächtig dahergezogen kam, dann schließe ich mich dem Urteil an und billige ihm zu, daß es gereicht hätte.]

Otto IV. wurde am 4. Oktober 1209 von Papst Innozenz III. zum Kaiser gekrönt. Die römischen Bürger stellten sich gegen ihn, und Otto konnte nur unter den Schutz seiner Truppen zur Peterskirche gelangen. Es gab also keinen festlichen Krönungszug. Zum Zeitpunkt der Krönung Ottos gehörte Hermann von Thüringen zu den prominentesten Gegnern des Kaisers, woraus man schließen kann, daß Wolframs spöttische Worte wohl regen Anklang am Thüringer Hof gefunden haben. Dieses Datum bedeutet, daß das VIII. Buch des Willehalm nach 1209 geschrieben worden sein muß. Wie lange danach, kann allerdings nicht gesagt werden. In der Forschung gab es eine Diskussion darüber, ob Otto als noch lebender Kaiser oder als toter angeredet wird, was für die Datierung insofern von großer Wichtigkeit ist, weil Otto 1218 gestorben ist und damit die Datierung um ein Jahrzehnt verschoben werden müßte. 2. Die Nennung der Belagerungsmaschine driboc im III. (111,9) und im V. Buch (222,17) des Willehalm: Diese Belagerungsmaschine ist angeblich zum ersten Mal im Sommer 1212 eingesetzt worden, im Krieg Otto IV. gegen Landgraf Hermann von Thüringen (Sturm auf die thüringische Burg Weißensee). Dies berichten die Marbacher Annalen als älteste Quelle, die Reinhartsbrunner Annalen sowie die Magdeburger Schöppenchronik. Sollte diese Vermutung richtig sein, so ergibt sich, daß das dritte Buch des Willehalm nach 1212 entstanden ist. Wie lange danach, läßt sich ebenfalls nicht sagen. KLEINSCHMIDT (1974: S. 592) versuchte zu beweisen, daß Wort und Sache bereits vor 1212 bekannt waren, allerdings gibt es keine Belege dafür. Für DECKE-CORNILL (1985: S. 39) kann aus dem Annalenbeleg nicht unbedingt geschlossen werden, daß der driboc nicht schon vor 1212 dem Wort nach bekannt war, vor allem weil Wolfram die Belagerungsmaschine nicht ausdrücklich als Novum kenntlich macht. Für SCHREIBER (l922: S. 153) und WOLFF (1924: S. 191) wird aber zumindest bei der ersten Nennung (111,9) der driboc

Zur Datierung des , Willehalm'

21

als etwas Aufsehenerregendes und Neues angeführt, weil er hier an erster Stelle einer Aufzählung von Kriegsgeräten steht. 3. Die zweimalige Nennung Hermanns von Thüringen (regierte von 1190 bis 1217): Wolfram wurde noch zu Lebzeiten Hermanns mit dem Stoff bekannt gemacht und hat wahrscheinlich in seinem Auftrag mit der Arbeit begonnen (3,8 f.). Die erste Nennung besagt allerdings nicht mehr, als daß Wolfram vor 1217 mit der Vorlage bekannt gemacht worden ist. Wichtiger für die Datierung ist die zweite Nennung des Landgrafen IX. Buch: lantgrave von Duringen Herman het in auch lihte ein ors gegeben. daz kunder \vol al sin leben halt an so grozem strite, swa der gerende kom bezite. (417,22ff.) [Landgraf Hermann von Thüringen hätte ihnen sicher auch ein Pferd gegeben: das tat er gern sein ganzes Leben - selbst bei noch so großem Ansturm - wenn der Bittende ihn rechtzeitig darum anging]

Man hat in der Forschung lange darüber gestritten, ob mit al sin leben der tote oder lebende Hermann gemeint ist. Der Inhalt dieser Verse ist nicht ganz klar, doch man hat sich darauf geeinigt, daß Wolfram wahrscheinlich den toten Landgrafen gemeint hat, was soviel heißt, daß Wolfram den Willehalm erst nach 1217 abgebrochen hat. Als Indiz dafür, daß der Landgraf zu dem Zeitpunkt der zweiten Erwähnung im Willehalm bereits verstorben war, wird ein Erzählereinschub Wolframs am Ende des VIII. Buches angeführt, der auf eine Arbeitsunterbrechung schließen läßt, die in Zusammenhang mit Hermanns Tod gebracht wurde (Wh. 402,18 ff.). Allerdings kann dieser Erzähleinschub auch vortragsgliedernde Funktion besitzen (vgl. hierzu u. S. 148). Aus den oben beschriebenen Textstellen ergibt sich, daß Buch VIII nach 1209 (Kaiserkrönung Ottos) und Buch IX nach 1217 (Tod Hermanns) entstanden sind. Der Beginn der Arbeit muß vor 1217 liegen, weil ja Hermann Wolfram die Vorlage vermittelte. Wir wissen, daß Wolfram schon während der Arbeit am Parzival in Thüringen war (Weingartendatum, vgl. u.: S. 27) und daher vielleicht schon relativ früh mit der Quelle vertraut gemacht wurde. Sieht man dies zusammen mit der Erwähnung des dribocs, so muß Wolfram vor 1212 mit der Arbeit am Willehalm begonnen haben und

22

Historische Zusammenhänge

unterstellt man, daß Wolfram spöttische Erwähnung der Kaiserkrönung Otto IV. einen politisch noch aktuellen Sachverhalt meint, dann rückt der Beginn der Arbeit sogar in das Jahr 1209, Gegen eine frühe Datierung des Willehalm spricht sich BUMKE (1959: S. 181 -198) aus. Er vertritt die Auffassung, daß Wolfram die Vorlage erst ein Jahr vor Hermanns Tod bekommen und seine Arbeit vor allem unter Hermanns Sohn Ludwig IV. fortgesetzt habe. BUMKE versucht dies, zusätzlich zu den herkömmlichen Argumenten, mit einer textimmanenten kulturgeschichtlichen Interpretation zu beweisen. Sowohl der Reichsgedanke als auch der Kreuzzugsgedanke im Willehalm passen nach BUMKES Auffassung besser an den Hof Ludwigs als an den Hof Hermanns: Im Gegensatz zu seinem Vater wechselte Ludwig nie das politische Lager und blieb immer ein Anhänger Friedrichs II. Der Staufer nahm 1215, anläßlich seiner Kaiserkrönung in Aachen, das Kreuz. In der Folge wurden Friedrichs Kreuzzugsvorbereitungen allmählich zum politischen Thema. 1224 verpflichtete sich Ludwig ebenfalls zum Kreuzzug, zu dem er 1227 aufbrach und noch im selben Jahr schwer erkrankte und starb. Die religiösen Motive im Willehalm, vor allem den Gedanken der Gotteskindschaft, bringt BUMKE in den Zusammenhang mit Ludwigs Gattin, der heiligen Elisabeth von Thüringen. Der Gedanke der Gotteskindschaft führt zu den religiösen Laienbewegungen, vor allem zu den Franziskanern, denen sich Elisabeth sehr verbunden fühlte. Elisabeths Religiosität und ihre spezifische Frömmigkeit haben nach BUMKES Auffassung auch Spuren im Willehalm hinterlassen und zwar in der Gyburcgestalt. Die Voraussetzungen für das Verständnis und die Aufnahme des Willehalm sind für BUMKE vor allem am Hofe Ludwigs gegeben, und er schlägt deshalb eine Datierung von 1216 -1226 vor. BERTAU (1971: S. 318f.) tritt entgegen BUMKES Ansicht wieder für eine frühere Datierung ein. Seine Überlegungen zur Datierung des „bayrischen" Winterliedes 17 und der dazugehörigen Trutzstrophe mit Hilfe von Wolframs Erwähnung Neidharts im VI. Buch des Willehalm (312,12), lassen auch Rückschlüsse auf die Datierung des Willehalm zu. BERTAU liefert einige stichhaltige Argumente dafür, daß Wolfram mit seiner Anspielung den Neidhart der frühen bayrischen Winterlieder meint, und dabei vor allem das Winterlied

Zur Datierung des , Willehalm'

23

17 im Auge gehabt hatte, weil in diesem Kaiser Otto ähnlich spöttisch erwähnt wird, wie bei Wolfram, Nach BERT AU hat Neidhart das Lied wahrscheinlich zwischen 1212 und 1214 verfaßt. Bezieht sich Wolframs Erwähnung Neidharts also auf dieses Lied und setzt man voraus, daß er damit auf die in dem Lied angesprochenen politischen Aktualitäten anspielenwollte, so ist BUMKES Spätdatierung des Willehalm in Frage zu stellen. Für Gunda und Erhart DITTRICH (1971: S. 955 - 963) sind BERTAUS Einwände gegen BUMKES Datierungsvorschlag nicht wirklich stichhaltig und sie fügen den von BUMKE angeführten Argumenten für eine Spätdatierung noch ein weiteres hinzu: Es handelt sich um zwei im Willehalm angeführte Ortsnamen: Dannjata (74,16) und Alamansura (141,13; 248,26; 255,8; 344,9; 371,8; 447,17). Wenn mit Dannjata die Stadt Damiette im Nildelta und mit Alamansura die ägyptische Festung al-Mansura gemeint ist, so besteht nach Meinung der Autoren ein enger Zusammenhang mit der Ereignissen des V. Kreuzzuges der Jahre 1217 - 1221. Dem Kreuzfahrerheer gelang 1219 die Eroberung der Stadt Damiette, von wo aus sie 1221 einen Vormarsch gegen die Sarazenen unter Sultan elKamil wagten und vor al-Mansura eine vernichtende Niederlage erlitten. Die Christen mußten das eroberte Damiette wieder zurückgeben. Diese Ereignisse wurden sehr rasch im Abendland bekannt und möglicherweise hat Wolfram am Thüringer Hof davon gehört und die Ortsnamen in seine Dichtung eingebaut. Vor allem der Ortsname Alamansura ist für eine Datierung des Willehalm interessant, denn die ägyptische Festung und Stadt al-Mansura wurde erst um 1221 gegründet. Eine Erwähnung von al-Mansura kommt nur in Wolframs Willehalm vor und zwar vom dritten Buch an, woraus die Autoren schließen, daß das III. Buch frühestens 1221 geschrieben wurde. KLEINSCHMIDT (1974: S. 594 ff.) weist auf eine Stelle im V. Buch des Willehalm hin, die ebenfalls für die Datierung hilfreich sein könnte und zwar die Erwähnung des Patriarchen von Aquileja (241,2ff). Diese Anspielung könnte sich, so KLEINSCHMIDT, auf eine historische Person beziehen. In der Zeit zwischen 1217 und 1220 kämen dafür zwei Personen in Frage: bis zum 23. 1. 1218 Wolfger von Erlau, nach dem 10. 2. 1218 Berthold von Andechs-Meran. Für eine Anspielung auf Berthold spräche nach KLEINSCHMIDT die Tatsache, daß er der Onkel Elisabeths von Thüringen war, also eine

24

Exkurs: Wolframs , Willehalm' in seiner Zeit

Verbindung mit dem Thüringer Landgrafenhaus bestanden habe. Das würde bedeuten, daß das V. Buch nach 1218 abgefaßt worden ist. Aber wie bei so vielen Versuchen, vage Anspielungen des Erzählers auf tatsächliche historische Ereignisse oder aussagekräftige Datierungen festzumachen, bleibt auch diese Analyse KLEINSCHMIDTS eine reine Vermutung. KLEINSCHMIDT versucht auch aus der ältesten Rezeptionsgeschichte (vor 1250) des Willehalm, Anhaltspunkte für die Datierung zu gewinnen. Auf Grund der frühen Belege für eine Rezeption des Willehalm im Strickerschen Karl (um 1220) und in der Legende Barlaam und Josaphat des Rudolf von Ems (zw. 1225 und 1230) schließt er, daß die Abfassung des Willehalm ins zweite Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts zwischen 1215 und 1220 fallen müsse und so eine Spätdatierung des Willehalm, wie BUMKE sie vornimmt, nicht möglich sei. Allerdings sind auch die Datierungen der von KLEINSCHMIDT als Rezeptionsbelege angeführten Werke zu unsicher und können daher nicht wirklich als Indizien für eine genauere Datierung des Willehalm herangezogen werden. Trotz der verschiedenen Argumente, die für die Datierung des Willehalm angeführt werden, kann man eigentlich nur mit Sicherheit sagen, daß der Willehalm vor dem 25. 4. 1217 (dem Todesdatum Hermanns) begonnen wurde und Wolfram bis zum Abbruch des Werkes mehrere Jahre daran gearbeitet hat.

Exkurs: Wolframs Willehalm in seiner Zeit Wolframs Willehalm ist ein Werk, das auf die Wirklichkeit der eigenen Zeit mehr Bezug nimmt als die meisten anderen höfischen Epen. Das hängt einerseits mit der historischen Thematik der chanson de geste zusammen und andererseits mit der Tatsache, daß Wolfram in seinen Werken mehr als andere mittelalterliche Autoren auf die Ereignisse seiner Zeit anspielt. Um diese Anspielungen besser verstehen und bewerten zu können, ist es notwendig, einen kurzen Überblick über die politischen und gesellschaftlichen Bedingungen des Hochmittelalters zu geben. Wolframs Lebenszeit, die Zeit zwischen 1170 und 1230, ist geprägt von großen politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen. Es ist dies die Zeit, in der die

Exkurs: Wolframs , Willehalm' in seiner Zeit

25

höfische Literatur ihren Höhepunkt erreichte. Doch das von den höfischen Dichtern entworfene poetische Bild einer idealen ritterlichen Welt hat wenig mit der historischen Realität zu tun. Die politischen Verhältnisse in Deutschland waren um die Jahrhundertwende äußerst verworren. Mit dem Tod des Stauferkaisers Heinrich VI. 1197 verfiel Deutschland in einen Zustand der Anarchie. Der Thronstreit zwischen Staufern und Weifen, der sich über ein Jahrzehnt erstreckte, begann. Dieser Thronstreit stand in enger Wechselbeziehung zu der Machtsteigerung der weltlichen und geistlichen Fürsten. Im hohen Mittelalter war Deutschland eine Wahlmonarchie. Wahlberechtigt waren eine kleine Zahl geistlicher und weltlicher Fürsten, wobei dieses Wahlrecht durch das Geblütsrecht der Königsdynastie eingeschränkt war. Das politisch bestimmende Adelsgeschlecht dieser Zeit waren die Staufer. Der Streit um die Krone war verknüpft mit der Frage nach der echten Karlsnachfolge, eines der damaligen zentralen politischen Themen, das auch Eingang in den Willehalm gefunden hat. Die Staufer nahmen als deutsche Könige die Aufrechterhaltung der Karlstradition für sich in Anspruch und unterstrichen dies mit großen Gesten: Im Jahre 1165 wird Karl der Große auf Betreiben Friedrichs I. Barbarossa durch den Gegenpapst Paschalis III. heilig gesprochen, sein Enkel Friedrich II. verschließt 1215 in Aachen die sterblichen Überreste des Heiligen Karolus Magnus in einen kostbaren Goldschrein. Im Hochmittelalter herrschte die Auffassung, daß der König in Aachen, wo sich der Thron Karls des Großen befand, gekrönt werden soll, und zwar vom Erzbischof von Mainz. Das deutsche Königtum war eine Fortsetzung des fränkischen Königtums, das seit der Kaiserkrönung Ottos I. im Jahr 962 als eine Verbindung des deutschen Königtums mit dem römischen Kaisertum gesehen wird. Seit Mitte des 11. Jahrhunderts wird der deutsche König offiziell auch König der Römer (rex romanorum) genannt. Um Kaiser zu werden, mußten die deutschen Könige sich vom Papst krönen lassen. Aus dieser Doppelfunktion entstanden in der mittelalterlichen Reichsgeschichte viele politische Verwicklungen und Konflikte, vor allem mit der Kirche. Der Thronstreit zwischen Staufern und Weifen brach letztlich auch deshalb aus, weil der Glanz des staufischen Kaisertums, wie er

26

Exkurs: Wolframs , Willehalm' in seiner Zeit

unter Friedrich I. Barbarossa noch geherrscht hatte, nach dem Tode Heinrichs VI. bereits merklich verblaßt war. Zu groß war der Einfluß ausländischer Mächte (England und Frankreich) und vor allem der deutschen Fürsten, die bestrebt waren, die Zentralgewalt des Königs zugunsten territorialer Herrschaftsansprüche zu schwächen. Daraus entstanden viele Fehden und Kleinkriege, die die politische Instabilität dieser Zeit bedingten. Nach 1197 gab es drei Prätendenten für den Königsthron: der Weife Otto IV. von Braunschweig (der Neffe Richards Löwenherz), der Staufer Philipp von Schwaben (Bruder Heinrichs VI.), Barbarossas jüngerer Sohn, und Friedrich II., der erst dreijährige Enkel des verstorbenen Kaisers. 1198 kam es zur Doppelwahl. Im März wählte eine wenig repräsentative Fürstenversammlung in Ichtershausen (also nicht am rechten Ort) Philipp von Schwaben zum römischen König. Im Juni wird Otto in Köln (zwar auf fränkischer Erde, aber nicht in Aachen) zum Gegenkönig gewählt. Sowohl Philipp als auch Otto versuchten nun durch Geldgeschenke, aber auch durch Belehnungen mit Städten, Burgen und Ländereien, die Unterstützung der Reichsfursten zu gewinnen. Die Macht des Königs wurde dadurch erheblich geschwächt, die politischen Geschicke des Landes immer mehr von den Reichsfürsten bestimmt. Ein gutes Beispiel für die große politische Macht der Fürsten bei der Königswahl ist Hermann von Thüringen. Hermann nützte seine Position als mächtiger Landesfurst gehörig aus, indem er mehrmals die politischen Lager wechselte, nicht ohne dabei Kapital und Ländereien zu gewinnen. Zuerst ließ sich Hermann für Ottos Partei gewinnen und erhielt dafür die Reichsstädte Nordhausen und Saalfeld zu Lehen. Ottos Geldquellen versiegten jedoch, und Hermann suchte Anschluß bei Philipp mit Hilfe von Ottokar I. von Böhmen. 1199 schließt sich Hermann offiziell Philipp an und erhält dafür das Gebiet Orla und die Burg Ranis. Doch bereits zwei Jahre später zeichnete sich ein weiterer politischer Wechsel Hermanns ab, denn Philipps finanzielle Mittel waren erschöpft; er verhandelte geheim mit Otto, dem er am 24. August 1203 in Merseburg huldigte. Um dieses neuerliche Bündnis zu unterstreichen, verheiratete er seine Tochter Hedwig mit dem Weifengrafen Albert von Orlamünde. In den folgenden Monaten wurde Hermann von Philipp heftig mit Waffengewalt bekämpft. Thüringen wurde unter den vielen Kämpfen

Exkurs: Wolframs , Willehalm' in seiner Zeit

27

sehr in Mitleidenschaft gezogen, und es herrschte eine große Unordnung im Lande. Wolfram spielt auf diese durch Philipp verursachten Verwüstungen in Thüringen im VII. Buch des Parzival an. Er erzählt, daß die Felder vor der Stadt Bearosche durch die Hufe der Pferde zertrampelt sind und merkt an: Erffurter mngarte giht/ von treten noch der selben not: / maneg orses fuoz die slage bot (Pz. 379,18ff.) [Der Erfurter Weinberg zeigt noch Spuren solcher Verwüstung durch Zertrampeln: viele Pferdehufe haben das angerichtet]. Dieses sogenannte „Weingartendatum" ist für die Chronologie der „klassischen" mittelhochdeutschen Werke von großer Bedeutung. Zwei Zeitpunkte kommen dafür in Frage: Zuerst war Philipp im Sommer 1203 in Thüringen eingefallen. Er wurde jedoch von Landgraf Hermann und seinen mächtigen Verbündeten für kurze Zeit in Erfurt eingeschlossen und belagert. Philipp konnte fliehen und belagerte Hermann Ende Juli 1204 ein zweites Mal. Diesmal stand Hermanns Lage aufgrund der massiven Angriffe Philipps schlecht, und so versuchte er wieder eine Annäherung an den Staufer unter der Vermittlung des Grafen von Meißen. Am 17. September 1204 unterwarf er sich Philipp und flehte um Gnade, die ihm der Staufer auch gewährte. Wolfram war jedenfalls Zeuge der Ereignisse; ob er selbst mitgekämpft hat und ob er auf der Seite Philipps oder auf der Seite Hermanns zu suchen ist, läßt sich freilich nicht sagen. Eine Beziehung zum Stauferhof konnte man Wolfram nicht nachweisen. In den folgenden wenigen Friedensjahren erreichte der Thüringer Hof seinen Höhepunkt als literarisches Zentrum. Doch die politischen Zustände änderten sich rasch. Im Jahre 1208 wurde Philipp ermordet und Ottos Alleinherrschaft schien damit gesichert. Hermann unterstützte zwar zunächst Otto, doch er behielt seine feindliche Gesinnung gegenüber Weifen bei, zumal er wußte, daß Ottos Verhältnis zum Papst (Papst Innozenz III.; t 1216; seit 1198 Papst) getrübt war. Eine wichtige Figur im Kampf um den Thron betrat nun die Bühne: Friedrich II., der Sohn Heinrichs und neue Günstling des Papstes. 1210 verschworen sich Dietrich von Meißen, Ottokar von Böhmen und Hermann gegen Otto und erhielten bald die Unterstützung des Papstes. Zwei Jahre später unternahm Otto einen Feldzug gegen Thüringen, um den abtrünnigen Hermann zur Unterwerfung zu zwingen. Thüringen war wieder Schauplatz kriegerischer Verwüstungen. Otto belagerte die Stadt Weißensee mit einer

28

Exkurs: Wolframs , Willehalm' in seiner Zeit

neuen Kriegsmaschine, den sogenannten driboc, den Wolfram im Willehalm nennt. Das geschwächte Thüringen leistete Otto erbitterten Widerstand, doch der Landesstaat wäre wohl vollends verwüstet worden, hätte nicht Friedrich überraschend die Alpen überquert. Otto ließ von Thüringen ab, um sich Friedrich entgegenzustellen. Die Geldmittel des Weifen waren aber bereits äußerst knapp und seine politische Position sehr geschwächt. Seine Tage als deutscher Kaiser waren gezählt. Bereits im Dezember des Jahres 1212 war Hermann dann bei der nochmaligen Wahl Friedrichs zum König in Frankfurt und anschließend bei dessen Krönung durch den Erzbischof in Mainz anwesend. Bis zu seinem Tode im Jahre 1217, blieb der Thüringer Landesfurst nun ein Anhänger Friedrichs, der 1215 in Aachen (also diesmal am rechten Ort) ein drittes Mal zum König gekrönt wurde. Mit dem Tod Ottos 1218 war die Herrschaft des Staufers gesichert. Neben den mächtigen Reichsfürsten war die Kirche die zweite Gegenspielerin zu den kaiserlichen Machtansprüchen. Das Papsttum hat auf die Thronstreitigkeiten mittelbar und unmittelbar eingewirkt und zur Steigerung seiner politischen Stellung genutzt. Mächtigster Vertreter dieser Kirchenpolitik war Papst Innozenz III., der 1198 zum Papst gewählt wurde. Papst Innozenz griff in die deutschen Thronstreitigkeiten entscheidend ein und konnte den Führungsanspruch des Papsttums weiter ausbauen. Während der Herrschaft Innozenz III. erreichte die Kirche den Höhepunkt ihrer Machtentfaltung. Es gab zu dieser Zeit allerdings eine Bewegung, die die konkurrierenden Kräfte zeitweise zusammenführte: die Kreuzzugsidee. Die Idee ist im 11. Jahrhundert unter dem Eindruck der Eroberung Jerusalems durch die Mohammedaner entstanden. Das christliche Abendland entschloß sich zur „Rückeroberung" der heiligen Stätten. Zwischen 1096 und 1270 gab es insgesamt sieben Kreuzzüge, wobei die ursprüngliche Idee, die heiligen Stätten als Ausdruck einer inneren Suche und tiefen Religiosität zu erobern, immer mehr zurücktrat und das Streben nach politischen und wirtschaftlichen Vorteilen in den Vordergrund rückte, wie z. B. die Unterwerfung des (christlichen) byzantinischen Kaiserreiches und die Eroberung und Plünderung Konstantinopels (1203/1204) als Ergebnis des IV. Kreuzzuges. Wolfram spielt möglicherweise auf diese Ereignisse XI. Buch des Parzival an (dazu: MARTIN: 1903, S. 409; WOLFF: 1924,

Exkurs: Wolframs , Willehalm' in seiner Zeit

29

S. 191), wenn er die teuren Waren eines Händlers beschreibt, deren Wert so unschätzbar ist, daß niemand sie kaufen kann und kommentiert: ... dö Kriechen so /stuont daz man hört dar inne vant, / da vergultez niht des keisers hant / mit jener zweier stiure (Pz. 563,8 ff.) [ja, selbst damals, als die Dinge in Griechenland noch anders standen und man dort Schätze finden konnte, hätte die Hand des Kaisers, auch mit der Unterstützung der zwei anderen es nicht bezahlen können]. In der Kreuzzugsbewegung entwickelte die adelige Führerschicht das neue Standesethos des Ritters (miles christi), der im Dienste der Christenheit kämpfte. Dieses neue Standesbewußtsein erreichte mit dem dritten Kreuzzug (1187 - 1192) unter Friedrich I. Barbarossa seinen Höhepunkt. Neben den Kreuzzügen gab es noch andere große religiöse Laienbewegungen, die versuchten, eine Alternative zu dem veräußerlichten Christentum der Kirche zu bilden. Vor allem die Franziskaner und Zisterzienser standen durch freiwillige Armut und Buße im starken Kontrast zu der machthungrigen Kirche. 1182 wurde Franz von Assisi geboren, der Gründer einer der großen Armutsbewegungen im Mittelalter, die auch vor Adeligen nicht Halt machte (z.B.: Elisabeth von Thüringen, die Gattin Ludwigs IV.) und von der vielleicht auch Wolfram beeinflußt war (BUMKE, 1959: S. 193 ff.). Die Amtskirche trennte die Bewegungen in Rechtsgläubige und Ketzer (darunter fielen u.a. die Kartharer und Waldenser) und ging gegen letztere mit aller Macht vor. Auch hier erwies sich Papst Innozenz als kluger Taktiker, denn es gelang ihm, einen Teil der religiösen Bewegungen wieder in die Kirche einzufügen und mit dem Orden der Franziskaner und Dominikaner eine neue Form der Seelsorge zu schaffen, die den Bezug zu der großen Zahl der christlichen Laien herstellen half. Diese Bettelorden trugen wesentlich dazu bei, daß die Amtskirche wieder an Glaubwürdigkeit gewann. Die durch die Kreuzzugsbewegung erreichte Mobilität bestimmter Schichten führte auch zu neuen geistigen Fragestellungen und Argumentationsweisen. Einige wichtige Neuansätze beruhten auf einer verstärkten Auseinandersetzung mit der antiken Philosophie und Naturkunde, aber auch mit griechischen und arabischen Denkern. Für das christliche Abendland bedeuteten die Kreuzzüge nicht nur eine geistige Horizonterweiterung, sie bewirkten auch tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen. Mit der Expansion des Westens in

30

Weiterführende Literatur

den Osten waren einerseits wirtschaftlicher Aufschwung, intensiver Fernhandel, Ausweitung und Intensivierung der Geldwirtschaft, Erhöhung und Spezialisierung der gewerblichen Produktion verbunden, andererseits aber auch Teuerungswellen und große materielle Armut breiter Gesellschaftsschichten. Die Begegnung des Westens mit dem Osten, die Auseinandersetzung mit dem Fremden, den Andersgläubigen, führte zu einer Revision des herkömmlichen negativen Heidenbildes. Die Heiden wurden nicht mehr ausschließlich als vernichtungswürdige Ausgeburten der Hölle und als verdammungswürdige Götzenanbeter (wie etwa in den chansons de geste) gesehen, sondern auch als Repräsentanten einer verfeinerten höfischen Kultur. Letzteres fand seinen Niederschlag vor allem bei den Dichtern, die das Bild des „edlen Heiden" schufen, allen voran Wolfram von Eschenbach in seinem Willehalm.

Weiterführende Literatur: BUMKE, Joachim: Höfische Kultur, Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter. München 1986 (= dtv Kultur und Geschichte 442) 2 Bde.; HA VERKAMP, Alfred: Außruch und Gestaltung. Deutschland 1056 -1273. 2., vollst, überarb. Aufl. München 1993; BOOCKMANN, Hartmut: Einführung in die Geschichte des Mittelalters. München 1992. 5. Aufl.; KNOCHENHAUER, Theodor: Geschichte Thüringens zur Zeit des ersten Landgrafenhauses (1039 -1247). Mit Anmerkungen hg. von Karl MENZEL. Mit Vorwort und Lebensskizze des Verf. v. R. USINGER. Gotha 1871. Neudr.: Aalen 1969; PATZE, Hans: Die Entstehung der Landesherrschaft in Thüringen. Kohl / Graz 1962. (= Mitteldeutsche Forschungen 22); RUNCIMAN, Steven: Geschichte der Kreuzzüge. München 1995 (= dtvKultur und Geschichte 4670).

2 Der altfranzösische Stoff 2. l Die historische Grundlage Im Jahre 632 n. Chr. starb der Prophet Mohammed. Nach seinem Tod breitete sich der Islam mit überraschender Schnelligkeit aus. Der Glaube, der in einem abgelegenen und unwichtigen Teil Arabiens entstanden war, eroberte rasch ein großes Reich. Innerhalb weniger Jahrzehnte hatten die Nachfolger Mohammeds Persien und Byzanz unterworfen und ihre Macht ausgeweitet: ostwärts bis an die Grenzen Chinas, nordwärts bis nach Mittelasien hinein und westwärts, um ganz Nordafrika einzunehmen. Im Jahre 711 erreichten sie die iberische Halbinsel und 718 Frankreich. Der Vormarsch in Richtung Norden wurde erst 732 von Karl Martell (* um 689 - t 741), dem Großvater Karls des Großen und Wilhelms von Toulouse, in Poitiers endgültig aufgehalten. Die reconquista, durch die die Christen allmählich Südfrankreich und Iberien in einem fast ständig andauernden Krieg zurückeroberten, war erst 1492 abgeschlossen, als der letzte arabische Herrscher gezwungen wurde, Andalusien zu verlassen. In den Jahren 777 - 778 überfiel der fränkische König und spätere römische Kaiser Karl der Große (* 742 -1 814) Spanien, um Abd-arRahman I (* 756 - t 781), den Kalifen von Cordova, anzugreifen. Sein Heer eroberte Pamplona und Gerona und belagerte Saragossa, jedoch erfolglos; Karl mußte dann nach Frankreich zurückkehren, weil ein neuer Sachsenkrieg drohte. Am 15. August 778, als er die Pyrenäen überquerte, wurde die Nachhut seines Heeres von den Basken in Ronceval überfallen und aus dem Hinterhalt ermordet. Unter den Toten befand sich Roland, Herzog von der Bretagne. Im selben Jahr der Schlacht bei Ronceval wurde Ludwig, der Sohn Karls des Großen, geboren. Drei Jahre später schuf Karl der

32

Der altfranzösische Stoff

Große das neue Königreich Aquitanien, das sich über Südfrankreich von den Pyrenäen bis hin zur Loire und Rhone erstreckte. Ludwig der Fromme (* 778 -1 840) wurde König von Aquitanien und neun Fürsten wurden ernannt, um ihn zu schützen. 789 setzte Karl einen dieser Fürsten ab und ernannte an seiner Stelle seinen eigenen leiblichen Vetter Wilhelm als Grafen von Toulouse. Die Pflichten Wilhelms waren es, die aufsässigen Gaskogner zu kontrollieren, die Grenze zu Spanien zu verteidigen und der Hauptberater und Beschützer Ludwigs zu sein. Es gelang Wilhelm, die Gaskogner schnell zu unterwerfen und sie zu zwingen, sich dem Kaiser zu ergeben. Aber 793 überfielen die Moslems unter Führung von Abd-el-Melek Aquitanien und erreichten Narbonne. Nach dem Chronicon Moissiacense griff sie Wilhelm mit einem kleinen Heer zwischen Narbonne und Carcassonne an den Ufern des Flusses Orbieu an. Trotz seiner Tapferkeit wurde Wilhelm geschlagen, fugte jedoch dem Feind so viel Schaden zu, daß sich dieser nach Spanien zurückziehen mußte. Danach spielte Wilhelm eine bedeutende Rolle in den spanischen Feldzügen, und 803 eroberte er Barcelona und einen Teil des Nordostens der Halbinsel für die Christen. Ein Jahr nach diesem bemerkenswerten Sieg jedoch entsagte er der Welt und trat in das von seinem Freund Benoit de Aniane (* 750 -1 821) kurz zuvor gestiftete Benediktinerkloster von Aniane ein. 804 gründete Wilhelm das Kloster Gellone, das als Nebenstelle zu Aniane dienen sollte; 806 verließ er Aniane und ging nach Gellone. Er starb in Gellone im Jahre 812; 1066 wurde er heilig gesprochen: Der hl. Wilhelm von Gellone wird noch heute am 28. Mai von der Kirche geehrt. Die Ruinen seines Klosters können noch besichtigt werden, und zu seinen Ehren wird der Ort heute St-Guilhem-le-Desert genannt; in der Dorfkirche befindet sich sein Sarkophag und ein Stück des echten Kreuzes, das Wilhelm von Karl dem Großen überreicht wurde. Der Sohn Ludwigs des Frommen, Karl der Kahle (* 823 -1 872), erbte den westfränkischen Teil des Reiches von seinem Vater, aber auch er hatte Probleme, seine Macht durchzusetzen. Unter anderem mußte er gegen rebellierende Bretonen kämpfen. Unter seinen Kriegsführern in den bretonischen Feldzügen befand sich Graf Vivien de Tours. Dieser wurde Befehlshaber eines französischen Heeres, das 851 gegen die Bretonen kämpfen mußte; am 24. August 851, nach einer Schlacht in der Nähe des Flusses Vilaine in der

Die Entwicklung der Sage

33

Bretagne, starb Graf Vivien. Karl der Kahle nahm am Beginn des Feldzugs teil, ließ seinen Untergebenen dann jedoch im Stich, um die Flucht zu ergreifen; während der Schlacht, die drei Tage andauerte, kämpfte Graf Vivien bis zu seinem Tode alleine weiter: Seine Leiche blieb nach der Schlacht unbeerdigt auf dem Feld zurück.

2.2 Die Entwicklung der Sage Im Jahre 778 wurde ein unbedeutender Soldat namens Roland in den Pyrenäen Opfer eines hinterhältigen Angriffs. Aus dieser historischen Begebenheit erwuchs eine literarische Tradition, die wir aus der Chanson de Roland kennen; diese Dichtung entstand gegen Ende des 11. Jahrhunderts (obwohl eine Fassung davon angeblich schon vor der Schlacht von Hastings 1066 gesungen wurde): Eine deutsche Fassung dieses Epos (das Rolandslied) wurde um 1170 vom Pfaffen Konrad gedichtet. Die Kämpfe vom Grafen Wilhelm von Toulouse im Süden Frankreichs und die vom Grafen Vivien von Tours im Westen führten auch zu epischen Traditionen, die in verschmolzener Form den Kern eines Liederzyklus, die Geste Monglane, bildeten: Eine chanson des Zyklus, La Bataille d"Aliscans (gedichtet um 1185), ist die Vorlage zur fF/7/eAo//w-Dichtung Wolframs von Eschenbach. Wir wissen sehr wenig über die Prozesse, die zwischen diesen historischen Ereignissen und ihrer Wandlung in epische Literatur liegen. Aber das ist oft der Fall bei der Entstehungsgeschichte der Heldenepen. So können wir nur von ungefähr sagen, wie die literarische Entwicklung aussah, die vom historischen Tod Etzels bis hin zu seiner Literarisierung im Nibelungenlied fuhrt; wir wissen jedoch noch weniger über die Vorstufen der homerischen Epen. Die Forschung des 19. Jahrhunderts hat eine Theorie aufgestellt, die die Entwicklung der in den chansons überlieferten Sagen erklären sollte. Forscher wie z.B. PARIS (1909) glaubten, daß die Völker des 8. und 9. Jahrhunderts von den großen historischen Begebenheiten ihrer Zeit so beeinflußt wurden, daß sie verschiedene cantilena; (oder kurze epische Lieder) dichteten, die sich im Lauf der Zeit vermischten und die geschichtlichen Ereignisse durcheinander brachten. PARIS war der Ansicht, daß im 11. Jahrhundert diese verschmolzenen cantilena; aufgezeichnet wurden in der Form von

34

Der altfranzösische Stoff

chansons. Historische Ereignisse und Figuren wären auch nach der Niederschrift dieser chansons weiter miteinander vermischt geworden. Es können jedoch keine konkreten Beweise vorgelegt werden, um diese Theorie wirklich glaubwürdig zu machen, denn keine der hypothetischen cantilence sind uns überliefert worden. In den 50er Jahre hat der chanson de geste-Forscher RYCHNER (1955), teilweise in Anlehnung an die Oral Poetry-Thoonen von PARRY und LORD, herausgearbeitet, daß die ältesten uns überlieferten chansons sich formelhaft auf der Ebene der mündlichen Tradition befinden, und daher nicht auf frühere (schriftlich fixierte) cantilence zurückgeführt werden können. Die schriftliche Überlieferung der chansons scheint erst dann angefangen zu haben, als die mündliche Tradition auszusterben drohte. Es ist jedoch klar, daß die chansons (ob in mündlicher oder schriftlicher Form) schon lange vor den ältesten uns überlieferten Fassungen existierten. Es ist sonst schwer zu erklären, wie diese Geschichten, wenn nicht als Lieder, von Generation zu Generation weitererzählt wurden. In anderen frühmittelalterlichen Kulturen (etwa in der altnordischen, der althochdeutschen und der altenglischen) gibt es doch einige Beispiele solcher frühen chansons (z.B. die eddischen Lieder, das Hildebrandslied, das Ludwigslied und die Battle of Maldon).

Im Falle Wilhelms und Viviens stimmen die epischen Traditionen in gewisser Hinsicht mit den historischen Begebenheiten überein. Am Anfang der Laufbahn Wilhelms gab es eine überwältigende Niederlage einer kleinen christlichen Truppe, die durch ein großes muslimisches Heer verursacht wurde; darauf folgte hartnäckiger Widerstand und am Ende ein glorreicher Sieg der Christen; danach zog sich der Held in ein Kloster zurück. In einem Dokument vom 15. Dezember 804 erwähnt Wilhelm seine Frau Vuitburg. Diese Dame muß wohl die Guibourc der airfranzösischen Epen sein. Nach dem Tod Wilhelms im Jahre 812 brach zwischen den Klöstern von Aniane und Gellone ein bitterer Streit aus über die Zugehörigkeit der Reliquien Wilhelms sowie seines Stückes vom wahren Kreuz; beide Klöster haben Dokumente vorgelegt (die wohl Fälschungen sind), um ihren Anspruch zu rechtfertigen und beide haben eine Beschreibung seines Lebens und seiner Taten verfaßt. Es ist möglich, daß diese

Die Entwicklung der Sage

35

Darstellungen am Anfang der anschließend mündlich überlieferten Tradition stehen. Es könnte aber auch sein, daß die mündlich überlieferte Tradition zuerst erschien und dann einen eifersüchtigen Wettstreit um den Besitz eines so großen Helden zwischen den Klöstern auslöste. Die bekannte Theorie des französischen Wissenschaftlers BiDiER (1914: S. 364ff.) behauptet, daß Pilger auf dem Weg nach Santiago de Compostela in Gellone Station gemacht hätten, um die Reliquien von Wilhelm zu sehen. Spielleute, oder jongleurs, hätten dann chansons über Wilhelm gesungen, um die Pilger zu unterhalten und dabei ihren Unterhalt zu verdienen. Die Forschung hat diese Theorie nicht einstimmig angenommen; sie ist jedoch einleuchtend. Schon im Jahre 827 schrieb der bekannte karolingische Dichter Ermoldus Nigellus In honorem Hludowici, ein Loblied auf Ludwig den Frommen, den König Wilhelms (und nach Karl dem Großen späteren Kaiser des Reiches), in dem er Wilhelm zusammen mit Ludwig, als Eroberer von Barcelona erwähnt; Ermoldus spricht auch von Volksliedern, die Wilhelm preisen. Es sieht also so aus, als ob eine Tradition wohl mündlich überlieferter Lieder seit Menschengedenken (wenn nicht sogar schon zu Wilhelms Lebzeiten) existierte (vgl. RIQUER, 1968: S. 173). Das Fragment einer Handschrift, Le Fragment de la Haye (entstanden um 980 - 1030), beschreibt seine Taten, wie sie in der Epik dargestellt sind; es ist daher anzunehmen, daß diese Tradition (ungefähr so wie wir sie kennen) bis Anfang des 11. Jahrhunderts schon gebildet war. Die Nota Emilianense, eine kurze Beschreibung der Schlacht bei Ronceval, die vor 1075 entstand, erwähnt auch die Namen Wilhelms und seines Neffen Bertrands, allerdings in verstümmelter Form (Ghigelmo alcorbitanas und Bertlane); ein weiteres Dokument, die um 1090 von Mönchen gefälschte Diplome de Saint-Yrieux, wurde von Wilhelm und anderen Helden „unterschrieben". Es ist also anzunehmen, daß im späten 11. Jahrhundert Wilhelm schon eine sehr bekannte Figur war. Um 1131 - 41 erwähnt der Historiker Odericus Vitalis eine französische chanson um Wilhelm, die von Jongleurs gesungen wurde (vulgo canitur de eo a joculatoribus cantilena), und das Leben Wilhelms beschrieben um 1125 die Mönche von Gellone in der Vita Sancti Guilelmi; diese Texte sind jedoch wahrscheinlich jünger als die älteste uns bekannte Dichtung des Guillaume-Zyklus, ein zusammengesetztes Lied, die Chanson de Guillaume.

36

Der altfranzösische Stoff

Obwohl die Epen um Guillaume erst um 1100 zu erscheinen beginnen (die Chanson de Roland ist wahrscheinlich etwas älter), bezeugen die oben erwähnten Hinweise nicht nur, daß Geschichten von ihm erzählt wurden, sondern auch, daß er schon seit Jahrhunderten (sogar seit der Zeit des historischen Wilhelms) ein gut bekannter Volksheld war, über den es mündlich überlieferte Lieder gab. Diese Geschichten umfaßten wohl den Kern des späteren Zyklus: Sie haben auch wahrscheinlich von den Figuren des Neffen Guillaumes, Bertrands, und von Guillaumes Frau, Guibourc, erzählt. Sein wichtigster (epischer) Neffe, Vivien, ist jedoch (aller Wahrscheinlichkeit nach) nicht eine Figur der ersten Geschichten um Guillaume gewesen. Etwa die Hälfte des ersten (und wohl ältesten) Teils der Chanson de Guillaume beschreibt die Vivien-Handlung. In diesem Abschnitt der Dichtung (vom französischen Wissenschaftler FRAPPIER als GI bezeichnet) treffen sich der Neffe Vivien und sein Onkel Guillaume nie; die Vivien-Handlung spielt im Südwesten Frankreichs und die Guillaumes am Mittelmeer. In GI wird Viviens Kampf mit den Heiden in der Nähe von Bordeaux beschrieben. In dieser Schlacht auf L'Archamp muß Vivien weiterkämpfen, nachdem der eigentliche Heerführer, Tedbalt, die Flucht ergriffen hat. Nach der Schlacht, die drei Tage dauert, wird Vivien als letzter getötet und seine Leiche bleibt unbegraben auf dem Schlachtfeld. Die Ereignisse um den epischen Vivien sind denen um sein historisches Ebenbild verblüffend ähnlich (vgl. SUCHIER, 1905). Nach dem 853 von Audradus Modicus, dem Bischof von Sens, geschriebenen Liber Revelationum blieb die Leiche des Grafen Vivien de Tours 851 nach einer drei Tage andauernden Schlacht unbeerdigt auf dem Feld liegen. Es ist also anzunehmen, daß der Vivien-Stoff ursprünglich unabhängig vom Guillaume-Stoff war und daß die Geschichten um Vivien in die um Guillaume aufgenommen wurden. In der epischen Literatur des Mittelalters kommt es oft vor, daß einst völlig unabhängige Stoffe in eine Tradition aufgenommen werden. So wurden die Stoffe um den altkeltischen Geraint (Erec) und Owain (Yvain) zum festen Bestandteil der Artussage. Da die Handlungen um Vivien und Guillaume in GI noch so unabhängig sind, scheint diese Dichtung an jenem Punkt der Entwicklung der Sage zu stehen, an dem die Geschichte um Vivien mit der

Die Entwicklung der Sage

37

Guillaumes vereinigt, an dem der epische Vivien zum Neffen des epischen Guillaumes wurde. Der historische Wilhelm wirkte im Mittelmeerraum und wurde 1066 heilig gesprochen. In den Liedern der Geste Monglane wird auch der epische Guillaume als Heiliger dargestellt (vgl. Montage Guillaume), dessen Abenteuer sich in der Gegend um Barcelona, Narbonne und Orange abspielen. Der epische Vivien wird am Anfang der schriftlich überlieferten Tradition als christlicher Märtyrer beschrieben, der in einem Kampf gegen die Moslems im Südwesten Frankreichs starb. Der Tod des historischen Vivien in einer Schlacht gegen Bretonen im Nordwesten Frankreichs war jedoch nicht religiös motiviert. Wie im Rolandstoff wurden bei der Überlieferung der Vivien-Materie die Feinde ausgetauscht, denn aus Basken sind Moslems geworden. Der epische Roland jedoch stirbt am selben Ort wie sein historisches Ebenbild und nicht als Märtyrer. Warum also haben sich der Sterbeort und die Todesart des epischen Vivien geändert? Im Südwesten Frankreichs gab es eine andere historische VivienGestalt, nämlich einen Heiligen: St. Vivien (oder Sanctus Bibianus), der jedoch etwa 400 Jahre vor dem Grafen Vivien de Tours starb und (historisch gesehen) mit dem karolingischen Krieger nichts gemeinsam hat. Dieser Vivien starb auch nicht als Märtyrer, war aber in der Gegend um die Gironde-Mündung (wo der epische Vivien stirbt) eine recht bekannte Figur. Es ist darum wahrscheinlich, daß man damals, als die epische Tradition des Grafen Vivien de Tours noch mündlich überliefert wurde, den Schauplatz seines Todes in den Wirkungsbereich des älteren, damals vermutlich bekannteren Vivien (des heiligen Vivien) versetzt hat (vgl. GREENFIELD, 1991: S. 46ff.). Und aus der Kontamination des epischen Vivien mit dem heiligen Vivien ist in sehr früher Zeit die wohlbekannte Figur des heiligen Vivien entstanden, der als Märtyrer für seinen christlichen Glauben stirbt (grundsätzlich zur Entwicklung der Vivien-Gestalt vgl. MOISAN, 1971 u. LEJEUNE, 1984). In der ältesten uns überlieferten Dichtung der Geste Monglane, der Chanson de Guillaume, steht neben Guillaume und Vivien ein dritter Held, der die Christen fuhrt: der Heide und Riese Rainouart. Bei dieser Figur jedoch ist es nicht wahrscheinlich, daß es ein his-

38

Der altfranzösische Stoff

torisches Ebenbild gegeben hat wie etwa bei Guillaume oder Vivien. Seine außergewöhnliche Gier, Grausamkeit und Grobheit hätten kaum eine Übertreibung der Eigenschaften darstellen können, die eine große historische Figur charakterisiert hätten, und aus denen sich eine wichtige historische Tradition hätte entwickeln können (vgl. LOFMARK, 1972: S. 32ff.). Rainouart, der bekanntlich als eine Art deus ex machina in der Schlacht bei Aliscans fungiert, ist wohl in den Stoff aufgenommen worden, damit die Christen einen Feldherrn haben, der sie zum Sieg fuhren kann. Es ist unwahrscheinlich, daß der schwache König Louis einen sarazenischen Feind überwinden konnte, der schon Vivien und Guillaume besiegt hatte. In der ältesten Fassung dieses Stoffes, dem ersten Teil der Chanson de Guillaume, GI, wird der Sieg der Christen auch durch eine recht rätselhafte Figur verursacht, die jedoch ein Neffe Guillaumes ist; es handelt sich um den kleinen Jüngling Gui, der dem Heidenfuhrer Desrame den Kopf abschlägt. In der späteren Tradition wird die Rolle des großen Helfers Guillaumes von einem heidnischen Riesen übernommen. Da Rainouart im Guillaume-Zyklus so bedeutend werden sollte, mußte man seine Geschichte ausführlich erklären, d.h. erfinden oder aus anderen Quellen übernehmen. Aber warum wurde ausgerechnet ein heidnischer Riese wie Rainouart in den Stoff aufgenommen? Die Forschung hat herausgearbeitet, daß viele der wesentlichen Elemente, die zum Charakter der Rainouart-Gestalt gehören, aus dem Bereich des Märchens stammen; als mögliche Quellen für diese Figur hat man auf die Märchen Der starke Hans und Bärensohn hingewiesen (vgl. KRAPPE, 1923). In seiner Urform ist der Held dieser Märchen ein junger, starker, gutmütiger Riese, dessen Vater ein Tier ist; er kämpft mit einer Stange und hat einen großen Appetit; er entkommt mehreren Anschlägen auf sein Leben; am Ende seiner Laufbahn siegt er über seine Peiniger. Es ist wahrscheinlich, daß während der Überlieferung dieses Märchenstoffes, zu der Zeit als die Christen gegen die Sarazenen kämpften, der Held dieser Materie auch mit den heidnischen Feinden streiten mußte. Aus diesem Kampf erwuchs eine epische Tradition, und aus der märchenhaften Umgebung um diesen Helden wurde eine ernstere, kriegerische. Als Krieger bekam er einen Namen und eine höhere soziale Stellung. Sein Vater wurde von einem Tier zu einem Heidenkönig, dessen Name Desramo war (denn man vermutete, daß alle Heidenkönige so hießen). Als helden-

Die Entwicklung der Sage

39

hafter Sohn eines Königs wurde er höfischer, zu einem Ritter sogar, und am Ende seiner Entwicklung, wie am Ende der Bataille d'Aliscans, zu einem christlichen Ritter (vgl. LOFMARK, 1972: S. 38 49). So hat wahrscheinlich der Prozeß ausgesehen, der vom Ursprung dieser epischen Figur zu seiner Entwicklung und Aufnahme in die Tradition geführt hat. Änderungen gab es natürlich auch während der Überlieferung der Guillaume-Tradition selbst. In der vor 1075 entstandenen Nota Emilianense wird Guillaume als Ghigelmo alcorbitanas [Guillaume mit der krummen Nase] bezeichnet (in der Diplome de Saint-Yrieux als Guillelmus Curbinasus). Dieses Epitheton erlaubt uns zu verstehen, wie und warum ein Element der epischen Tradition zustande kam. Die meisten Epen der Geste Monglane nennen den Helden Guillaume mit der kurzen Nase (Guillaume au cort nes). Wohlram muß das gewußt haben, denn er bezeichnet ihn auch als Willehalm ehkurneiz, und im zweiten Buch der Dichtung zwingt Gyburc ihren Mann, den Helm abzulegen, damit er ihr seine Nase zeigen kann, um sich zu identifizieren, bevor sie ihm erlaubt, Orange zu betreten. Das Epos Le Couronnement Louis pie Krönung Ludwigs] erzählt, warum Guillaume eine so kurze Nase hat. Guillaume hatte einmal als Fürsprecher des Papstes mit dem sarazenischen Riesen Corsolt gestritten, hatte aber im Kampf das Ende seiner Nase verloren. Diese Tatsache hätte für ihn vielleicht eine Schande sein können, weil gewöhnliche Verbrecher als Strafe oft so verstümmelt wurden; aus Rache für seine Nase schlug aber Guillaume dem Riesen den Kopf ab. Als diese Geschichte in La Bataille d'Aliscans erzählt wird, prahlt Guillaume, daß sein Ruhm - eben weil seine Nase kürzer ist größer sein wird,. Diese Geschichte um Guillaumes Nase kann aber nicht sehr alt sein, denn zu Anfang des 12. Jahrhunderts war seine Nase nicht „kurz" (cort), sondern „krumm" (corb). Die Erklärung dafür ist einfach: Das Wort corb war nicht so geläufig wie das Wort cort; als im Französischen der Verschlußlaut nach einem Konsonanten stimmlos wurde, konnte die Form al corb nes von al cort nes nicht mehr unterschieden werden. Daher hat um die Mitte des 12. Jahrhunderts ein jongleur eine Geschichte erfunden, um das Epitheton, das er mißverstanden hatte, zu erklären. Diese Art von epischer Schöpfung ist sekundär. Sie setzt eine vorhandene Tradition voraus und erarbeitet oder erklärt deren Elemente.

40

Der altfranzösische Stoff"

So kann sich die Tradition erweitern. Aber solche sekundären Geschichten sind von einem harten Kern abhängig, der das Wesentliche der heroischen Tradition ausmacht. Bei Guillaume und Vivien scheinen die Grundtraditionen von den Laufbahnen der historischen Wilhelm- und Vivien-Gestalten zu stammen. Jetzt, mit Blick auf die Literatur, müssen wir jene chansons untersuchen, die die Grundtradition vermitteln, denn in diesen Liedern ist der Kern der Geschichten um die epischen Helden zu finden.

2.3 Die Chansons de geste Das Wort geste stammt vom Lateinischen gesta und heißt „Taten" (im Französischen ist das Wort Singular, im Lateinischen Neutrum Plural); es kann sich entweder auf glorreiche Taten oder auf einen Zyklus von Dichtungen um die Taten eines Helden beziehen (daher erzählt die Geste Monglane die Geschichte um das Geschlecht der Monglane, d.h. die Familie Guillaumes). In der französischen Literatur gibt es über hundert Lieder aus dem Stoffkreis der merowingischen und karolingischen Geschichte. Diese chansons de geste werden in der Mehrzahl in drei Zyklen aufgeteilt: der Zyklus Geste du Roi, der von Karl dem Großen und seinen Angehörigen erzählt (die älteste und bekannteste Dichtung dieses Zyklus ist die Chanson de Roland); der Zyklus Geste de Doon de Mayence mit Geschichten um befehdete rebellierende Barone und der Zyklus Geste Garin de Monglane, der nach dem epischen Urgroßvater Guillaumes benannt wird. Die chansons de geste sind Heldenepen, die einen Teil der Tradition erzählen. Sie sind zwischen unter 1.000 bis über 20.000 Verse lang; es ist jedoch schwierig, die genaue Länge der chansons (oder sogar die genaue Anzahl der Lieder) festzustellen, u.a. weil es so viele verschiedene Fassungen der chansons gibt, und weil bestimmte chansons in gewissen Sammelhandschriften als eine Dichtung betrachtet werden, in anderen als zwei. Dazu kommt auch die ständige Veränderung dieser Texte im Laufe der Überlieferung; Remaniement, d.h. Um- bzw. Überarbeitung dieser Texte, gehört zum Wesen der chansons de geste. Ihren beweglichen Charakter hat die jüngere Forschung nach einem Vorschlag des kanadischen Forschers ZUMTHOR (1972: S. 64 - 82) mouvance genannt; d.h., daß

Die , Chansons de geste'

41

jede Handschrift eine der vielen möglichen Ausdrucksweisen der Dichtung, und daher eine Art Bezugnahme zur Tradition darstellt: Die uns überlieferten chansons sind daher weniger auf klar definierbare „Archetypen" zurückzuführen, sondern auf ständig sich verändernde mündlich vorgetragene Fassungen. Die chansons de geste bestehen aus Strophen (laisses) von normalerweise zehnsilbigen Versen, die meistens durch Assonanz (anstelle von Reim) zusammengehalten werden. In den ältesten chansons enden einige der laisses mit einer Art Kehrreim (in der Chanson de Guillaume ist der Reim lunesdi al vespre [Montag zur Vesper]: Wahrscheinlich stammt dieser Refrain aus dem ursprünglichen Chanson de Vivien, da der Graf von Tours an einem Montag starb). Die chanson fängt normalerweise mit einer Bitte um Aufmerksamkeit an und mit dem Versprechen, eine gute Geschichte zu erzählen. So zum Beispiel der Anfang der Chanson de Guillaume: Plaist vus oirde granz batailles e de fön esturs, De Deramed, uns reis sarazinurs, Cun ilprist guere vers Lowis nostre empereur? Mais dan Willame la prist vers luiforqur, Tont qu 'il ocist el Larchamp par grant onur. Mais sovent se cunbati a la gentpaienur, Si perdi de ses homes les meillurs, E sun nevou, dan Vivien le preuz, Pur qui il out tut tens al quor grant dolur. Lunesdi al vespre. Oimas comence la chanfun d'Willame. (CG., Iff.) [Wollt ihr hören von großen gewaltigen Kämpfen, von Desramo, einem sarazenischen König als er einen Krieg gegen unseren Kaiser Ludwig führte? Aber Herr Wilhelm kämpfte stärker gegen ihn, bis er ihn bei Larchamp mit großen Ehren tötete. Oft kämpfte dieser gegen heidnische Völker und verlor dabei seine besten Leute, auch seinen Neffen, den heldenhaften Vivien, dem er lange Zeit schmerzhaft nachtrauerte. Montag zur Vesper. Jetzt fängt das Lied von Wilhelm an.]

Der Guillaume-Zyklus enthält 24 chansons: Im 13. und 14. Jahrhundert, als man diese Lieder in Sammelhandschriften aufzeichnete, wurden sie wohl so gelesen, als ob sie eine einheitliche, wenn auch sehr ausgedehnte Erzählung darstellten (vgl. B£DIER, 1914: S. 8). Die aus dem 14. Jahrhundert stammende Sammelhandschrift der British Library (B l - Royal D XI) enthält achtzehn der chansons des

42

Der altfranzösische Stoff

Zyklus (Garin de Monglane, Girard de Vienne, Aymerie de Narbonne, Les Narbonnais, Les Enfances Guillaume, Le Couronnement Louis, Le Charroi de Nimes, La Prise d Orange, Les Enfances Vivien, La Chevalerie Vivien, La Bataille d'Aliscans, La Bataille Loquifer, Le Montage Rainoart, Le Montage Guillaume, Le Siege de Barbastre, Le Mort d'Aymeri, Guibert d'Andrenas, Foucon de Candie), Darin wird die Geschichte der sechs Generationen vom Geschlecht Guillaumes erzählt, von seinem Urgroßvater (Garin de Monglane) bishin zu einem Neffen seines Neffen Vivien (Foucon de Candie). Diese Dichtungen, die in der Mehrzahl in solchen Sammelhandschriften aufgezeichnet wurden, stellen aber keine einheitliche Erzählung dar, denn sie wurden von verschiedenen jongleurs zu verschiedenen Zeitpunkten gedichtet. Die chansons stammen zum Hauptteil aus dem 12. Jahrhundert; es ist aber anzunehmen, daß frühere Fassungen schon lange davor erzählt wurden. Die erste Dichtung der Handschrift der British Library ist sicherlich nicht die älteste des Zyklus: Die chanson um Garin de Monglane gehört wohl zu den jüngeren Werken, die gedichtet wurden, um das Interesse des Publikums an den Vorfahren Guillaumes zu befriedigen. Das älteste Lied im Zyklus hat sicherlich von Guillaume selber erzählt; diese Geschichte wurde dann später ausgearbeitet. Als der Zyklus sich ausgestaltete, kamen Erzählungen über Guillaumes Jugend und Alter dazu. Spätere Ergänzungen im Zyklus handelten von seinem Neffen Vivien und von Rainouart. Die jüngsten chansons waren wohl die, die von den Brüdern und Vorfahren Guillaumes erzählten, wie FRAPPIER (1955: S. 63) bemerkt: ,JLes füs ont engendre les peres" [Die Söhne haben die Väter erzeugt]. Die Chanson de Guillaume, die in einer einzigen Handschrift des 13. Jahrhunderts überliefert ist (also nicht in einer der Sammelhandschriften), wird von der Kritik fast einstimmig als die älteste dieser chansons betrachtet. Dieses Lied, das ursprünglich aus (mindestens) zwei zueinander nicht ganz passenden chansons zusammengesetzt ist, stellt z.T. eine Vorstufe der uns aus den zyklischen Handschriften bekannten Tradition (und daher auch den Kern ihrer späteren Entwicklung) dar. Die zwei Teile der Chanson de Guillaume werden von der Forschung als GI (V. l - 1980) und G2 (V. 1981 - 3554) bezeichnet. GI beschreibt, wie

Die , Chansons de geste'

43

Vivien, der zu Gast in Bourges bei Grafen Tiebaut ist, die Nachricht von der Landung der Heiden auf L'Archamp an der Gironde hört. Am nächsten Tag flieht Tiebaut vom Schlachtfeld und Vivien, der geschworen hatte, nie vor dem Feind zurückzuweichen, übernimmt die Heeresführung. Nach zwei Tagen erbitterter Kämpfe schickt Vivien seinen Neffen Girart, um Hilfe von Guillaume zu erbitten. Aber Guillaume ist in Barcelona, und die Hilfe kommt zu spät. Vivien stirbt als letzter Christ allein auf L'Archamp. Guillaume zieht dann mit Girart, Guiburcs Neffen, Guischart, und einem Heer in die Schlacht auf L'Archamp; Girart wird jedoch getötet, Guischart, der sich als verräterischer Heide entpuppt, wird von Guillaume umgebracht, und Guillaumes Heer wird von den Heiden vernichtet; Guillaume kehrt alleine nach Barcelona zurück. Mit einem neuen Heer macht sich Guillaume wieder auf den Weg zum L'Archamp; sein kleiner Neffe Gui kommt ihm nach und kämpft an seiner Seite. Aber Guillaumes Heer wird wieder vernichtet, und am Ende bleiben nur Guillaume und Gui am Leben. Jedoch wird durch ein Wunder Gottes der Heidenführer Desramo von Guillaume gefangengenommen und von Gui getötet. Ore out vencu sä bataille Willame [Jetzt hat Guillaume seine Schlacht gewonnen]. Im zweiten Teil der Dichtung (G2) findet Guillaume, nach einer Niederlage, den fast toten Vivien auf dem Schlachtfeld; er hört seine Beichte, und der Märtyrer stirbt im Geruch der Heiligkeit. Guillaume kehrt nach Orange zurück, muß auf dem Weg mit dem Heiden Alderufe kämpfen, den er tötet. Um in die Stadt Orange hereingelassen zu werden, muß er Guiburc seine Nase zeigen, damit sie ihn erkennen kann. Guillaume sucht den König Ludwig in Laon auf, um ihn um seine Hilfe zu ersuchen. Der König weigert sich, ihm zu helfen; Guillaume greift seine Schwester, die Königin, an. Guillaume trifft den großen Heiden Rainouart, der mit einer Stange bewaffnet kämpft. Rainouart bietet Guillaume seine Dienste an und wird zum Ritter geschlagen; es sammelt sich von neuem ein Heer, das nach l'Archamp zieht. Rainouart spielt eine wichtige Rolle: Er befreit christliche Gefangene, er tötet die Heiden massenweise, zerbricht aber seine Stange und muß mit einem Schwert weiterkämpfen. Nach dem Sieg streitet Rainouart mit den Christen und verläßt sie. Er wird jedoch wieder mit Guillaume versöhnt und läßt sich taufen. Guiburc erklärt, Rainouart sei ihr Bruder. Sie sagt ihm: «Baisez mei, frere; ta soror sui naissant» [,,Küß mich Bruder, ich bin deine gebürtige Schwester"].

Es ist klar, daß die Chanson de Guillaume keine einheitliche Erzählung darstellt: Figuren, wie z.B. Vivien, sterben zweimal; Desrame stirbt im ersten Teil und ist im zweiten wieder am Leben; ein Sieg (am Ende von GI) wird plötzlich (zu Anfang von G2) in eine Niederlage verwandelt und in GI ist Guillaumes Hauptquartier in

44

Der altfranzösische Stoff

Barcelona, in G2 ist es in Orange. Die zwei Teile unterscheiden sich auch in der Laissenstrukrur sowie in den Dichtungsstilen. Durch eine Analyse der anderen chansons des Zyklus wird offensichtlich, daß sich die spätere Tradition (besonders die der Gruppe Les Enfances Vivien, La Chevalerie Vivien, und Aliscans) aus vielen der in der Chanson de Guillaume erzählten Begebenheiten entwickelte. Dazu kommt, daß der zweite Teil der Dichtung (G2) mit Wolframs Vorlage, die La Bataille d'Aliscans, eng verwandt zu sein scheint. Zum Kern der in den Sammelhandschriften aufbewahrten Geste Monglane gehören die Abenteuer Guillaumes und seines Neffen Vivien. Die chansons, die diese Geschichten erzählen, sind folgende: 1. Les Enfances Guillaume [Die Kindheit Guillaumes] Guillaume bricht auf, um am Hof Karls des Großen zum Ritter geschlagen zu werden; unterwegs trifft er jedoch auf ein sarazenisches Heer unter Tiebaut, der nach Orange geht, um Orable zu heiraten. Da Guillaume noch kein Schwert besitzt (weil er noch nicht Ritter ist), verjagt er die Sarazenen mit seiner Stange. Nachdem er von der Schönheit Orables gehört hat, will er sie zur Frau nehmen; sie hört von seiner Tapferkeit und verspricht, Christin zu werden und ihn zu heiraten. Sie heiratet jedoch Tiebaut; die Ehe wird aber nicht vollzogen. Auf dem Hof Karls findet Guillaumes Schwertleite statt; Karl übergibt ihm sein eigenes Schwert Joyeuse.

2. Le Couronnement Louis [Die Krönung Ludwigs] Karl der Große hält in Aix Hof. Er ist alt und entschließt sich, die Krone an seinen Sohn Ludwig weiterzugeben. Er spricht von der Ehre, das Heer in den Krieg gegen die Heiden zu führen. Ludwig zögert, die Krone zu nehmen; Karl wird zornig und befiehlt, Ludwig in ein Kloster zu stecken. Ein stolzer Fürst Arneis d'Orleans erklärt sich bereit, die Krone zu übernehmen und Ludwig zu schützen; Guillaume, der Verrat spürt, stürmt in den Saal, tötet den Verräter und setzt die Krone auf den Kopf Ludwigs; Karl ist zufrieden. Guillaume kämpft oft für das Christentum. In Rom kämpft er für den Papst und tötet den heidnischen Riesen Corsolt; dabei verliert er das Ende seiner Nase. Guillaume soll die Tochter des christlichen Königs von Capone heiraten; die Nachricht vom Tod Karls und einem Aufstand gegen Ludwig erreicht Rom; Guillaume beschließt, zurückzukehren. Guillaume schlägt den Aufstand nieder; Ludwig wird in Rom zum Kaiser gekrönt.

3. Le Charroi de Nimes Per Wagen von Nimes] Guillaume wird sehr zornig, weil Ludwig ihm für seinen Dienst keinen Lehnsbesitz gegeben hat. Er geht zum Hof in Paris und bemerkt, wie Ludwig

Die , Chansons de geste'

45

anderen Fürsten Lehnsbesitz zuteilt; Guillaume beklagt sich. Ludwig verspricht, ihn irgendwann zu belohnen. Guillaume wird zornig, zerbricht seine Stange und verspricht, bloß Nimes (das unter sarazenischer Herrschaft steht) als Lehnsbesitz anzunehmen. Er betritt Nimes getarnt als Kaufmann, der hinter sich Wagen mit Fässern führt, in denen sich Soldaten verstecken. Nachdem sie alle in der Stadt sind, klettern sie aus den Fässern und töten die Sarazenen.

4. La Prise d Orange pie Eroberung von Orange] In Nimes ist das Leben langweilig, da es keine Damen in der Stadt gibt und keine Sarazenen, die getötet werden könnten. Guillaume hört, daß die schöne Orable in der sarazenischen Stadt Orange wohnt; sie haßt ihren Mann Tiebaut und wird in Orange gefangen gehalten. Guillaume begibt sich nach Orange, um die sarazenische Prinzessin zu entfuhren und die Stadt zu erobern. Er sieht Orable, und sie verlieben sich. Die christlichen Eindringlinge werden erkannt und ins Gefängnis geworfen. Durch die Hilfe Orables können sie befreit werden; mit der Unterstützung der Franzosen aus Nimes wird die Stadt erobert. Orable wird getauft und nimmt den Namen Guibourc an; sie heiratet Guillaume; beide bleiben in Orange.

5. Les Enfances Vivien [Die Kindheit Viviens] Bei der Schlacht von Ronceval wird der Bruder Guillaumes, Garin d'Anseüne, gefangen genommen und in der spanischen Stadt Luiserne eingekerkert und gefoltert. Er wird jedoch befreit, weil Guillaume beschließt, daß Garins Sohn, der siebenjährige Vivien, seinen Platz einnehmen soll. Nach diesem Tausch gelingt es Vivien, aus Luiserne zu entkommen; er durchlebt verschiedene Abenteuer. Er wird als Sklave verkauft, kann sich jedoch retten und ein Heer auftreiben. Er erobert die Stadt Luiserne, wird aber von den Sarazenen bedrängt und muß von seinem Vater und Guillaume gerettet werden.

6. La Chevalerie Vivien [Das Rittertum Viviens] Bei seiner Schwertleite in Orange schwört Vivien öffentlich, daß er nie vor dem Feind zurückweichen wird: Guillaume kritisiert ihn deswegen. Mit seinem Heer kämpft er sieben Jahre lang in Spanien. Vivien fordert den Heidenführer Desramo heraus und dieser schickt ein sehr großes Heer, um gegen Vivien zu kämpfen. Auf L'Archant fängt die Schlacht an: Vivien schickt seinen Neffen Gerart, um Guillaume um Hilfe zu bitten. Vivien wird schwer verwundert, kämpft aber weiter, bis sein Onkel Guillaume ihn auf dem Schlachtfeld findet.

7. La Bataille d'Aliscans [Die Schlacht von Aliscans] siehe unten

46

Der altfranzösische

Stoff

8. Le Montage Guillaume (I und II) [Das Klosterleben Guillaumes] Nach dem Tod Guibourcs wird Guillaume Mönch. Er ist zu reizbar, und die anderen Mönche haben Angst vor ihm. Nach mehreren Kämpfen wird er zum Einsiedler, er streitet mit dem Teufel und besiegt ihn; er stirbt als Heiliger.

In den obengenannten Liedern wird die Lebensgeschichte Guillaumes erzählt. In Hinblick auf den Willehalm wird noch zu besprechen sein, ob Wolfram diese chansons des Zyklus kannte (vgl. u. S. 49ff): Es ist jedoch klar, daß La Bataille a"Aliscans, eine der wichtigsten chansons des Liederkreises, Wolframs Vorlage war; diese Dichtung muß jetzt genauer untersucht werden.

2.4 Die Bataille d'Aliscans [Die Schlacht von Aliscans] Die Dichtung La Bataile d'Aliscans, die um 1185 verfaßt wurde, besteht aus 7772 zehnsilbigen Versen, die in 148 Laisses aufgeteilt sind. Die Verse werden durch Reim, anstatt durch Assonanz, wie bei anderen Liedern der Geste, zusammengehalten; allein durch diese Tatsache ist zu erkennen, daß Aliscans ein reiferes Werk ist als andere Dichtungen des Zyklus. Aliscans war sicherlich eine beim Publikum sehr beliebte Dichtung. Dreizehn vollständige Handschriften von dieser chanson sind erhalten. Es ist der Forschung jedoch noch nicht gelungen, eine zuverlässige kritische Edition der Dichtung herauszugeben, u.a. weil es zwischen den verschiedenen Redaktionen sehr große Unterschiede gibt. Die Mehrzahl der Handschriften wurde im 13. Jahrhundert produziert. Das älteste Manuskript (Ms.-a; Arsenal-Bibliothek in Paris) wurde um 1225 geschrieben; die Forschung hat jedoch herausgearbeitet, daß von den erhaltenen Handschriften das Ms.-a nicht die Redaktion ist, die der ursprünglichen Version der Dichtung am nächsten steht. In seiner Untersuchung zum Handschriftenverzeichnis der ^//saww-Dichtung ist LORENZ (1907: S. 392; vgl. auch TYSSENS, 1967: S. 258) zu dem Schluß gekommen, daß unter den erhaltenen Handschriften der Text des Ms.-M (Codex Marcianus; S. Marcos Bibliothek in Venedig) dem Original der Dichtung am meisten ähnelt. Dieses Manuskript wurde um 1350 von einem italienischen

Die ,Bataille d 'Aliscans'

47

Schreiber aufgezeichnet; ungleich der anderen Redaktionen von Aliscans ist die des Ms.-M nicht in einer Sammelhandschrift aufbewahrt, sondern sie stellt das einzige Werk der Handschrift dar, Der Text dieses Manuskriptes ist z. T. schwer verständlich, weil der Schreiber die Sprache italienisiert hat. Es ist nicht ungewöhnlich, daß die Fassungen einer Dichtung, die im Ausland aufbewahrt wurden (entweder als Übersetzung oder als Redaktion), von einer älteren Handschrift stammen als die, die in Frankreich erhalten geblieben sind, u.a. weil in Frankreich, nachdem eine neue Redaktion produziert wurde, man die Alte vernichtet hat. Die Dichtung in der Redaktion des Ms.-M erzählt folgende Geschichte (Laisse-Zsüu in Klammern): (I - XIV) Guillaume und seine Familie kämpfen auf dem Schlachtfeld von Aliscans; Vivien, der schwer verwundet ist, sieht eine Schar von furchterregenden Heiden, dreht sich um und will vor dem Feind zurückweichen; er erinnert sich an sein Gelübde und kämpft weiter. Vivien wird von Halcebier niedergeschlagen. Die Christen verlieren die Schlacht. Vivien kann sich bis zu einer Quelle schleppen und fällt in Ohnmacht. (XV - XL V) Guillaume findet den tödlich verwundeten Vivien und hört seine Beichte; Vivien stirbt im Geruch der Heiligkeit. Guillaume versucht, Viviens Leiche nach Orange zurückzubringen; er muß aber gegen fünfzehn heidnische Könige kämpfen und versteckt Viviens Leiche auf dem Schlachtfeld. Auf der Flucht tötet Guillaume den Bruder Desrames, den Heiden Alderufe, und nimmt seine Rüstung und sein Pferd. (XLVI - LV) Als er in Orange ankommt, erkennt Guibourc ihren Mann erst nachdem er einige Heiden getötet und ihr seine Nase gezeigt hat. Die Heiden belagern Orange. Auf den Rat Guibourcs hin geht Guillaume nach Laon, um den König um Hilfe zu bitten, während sie selber Orange verteidigt. Sie furchtet, daß Guillaume sich mit Französinnen einlassen wird aber Guillaume verspricht, nie die Kleider zu wechseln, keinen Wein zu trinken, kein Fleisch zu essen, niemanden zu küssen und auf einem harten Bett zu schlafen, bis er nach Orange zurückkehrt. (LVI - LXV) In Orleans versucht man, Guillaume festzunehmen, Ernaut, ein Bruder Guillaumes, kämpft gegen ihn; nachdem die Brüder einander erkannt haben, verspricht Ernaut, Guillaume zu helfen. In Laon will Louis Guillaume nicht an den Hof kommen lassen. Guillaume setzt sich unter einen Olivenbaum. Louis verspottet ihn vom Fenster aus und schlägt vor, er solle irgendwo übernachten. Guillaume wird immer zorniger. Er verbringt die Nacht bei dem Bürger Guimar.

48

Der altfranzösische Stoff

(LXVI - LXX) Am nächsten Tag begrüßt ihn niemand am Hof. Mitglieder seiner Familie kommenin den Saal, um sich zum Königspaar zu setzen. Guillaume grüßt seine Familie. Guillaume erzählt, wie sein Heer besiegt und Orange belagert wurde; seine Familie verspricht, ihm zu helfen. Guillaume nennt die Königin eine Hure; er sagt, sie habe mit dem Heiden Tiebaut geschlafen, faßt sie an den Haaren, wirft ihre Krone auf den Boden und will ihr den Kopf abschlagen; ihre Mutter hält ihn zurück. Die Königin läuft weg und versteckt sich in ihrem Zimmer. Die Prinzessin Aelis geht zu ihrer Mutter, tadelt sie und überredet sie, Guillaume zu helfen; daraufhin geht die Prinzessin zu Guillaume, kniet vor ihm nieder und kann ihn überreden, dem König und der Königin zu verzeihen; er legt sein Schwert weg. Das Fest geht weiter. (LXXI - LXXV) Aus der Küche kommt der heidnische Küchenjunge Rainouart. Er wird so lange von den Knappen geärgert bis er einen umbringt. Louis erklärt, daß der sarazenische Rainouart von Kaufleuten gekauft wurde; Louis mag ihn nicht und will ihn nicht taufen lassen. Guillaume bittet Louis, ihn ihm als Geschenk zu geben; Louis ist einverstanden. Rainouart will mit Guillaume in die Schlacht. Rainouart fällt einen Baum; daraus wird sein tinel gemacht. (LXXVI - LXXIX) Auf dem Fest betrinkt sich Rainouart und die Köche verstecken seine Stange. Am nächsten Morgen verschläft er die Abfahrt des christlichen Heeres, zieht dann los, erinnert sich aber an seine Stange und kehrt zurück. Der Koch versucht, ihn zu zwingen, in der Küche zu arbeiten; Rainouart tötet den Koch; Guillaume will Rainouart nicht bestrafen. Das Heer wartet bis Rainouart seine Stange in einem Bach gewaschen hat; Aelis verliebt sich in Rainouart; sie küßt ihn und sie verabschieden sich. (LXXX - XCII) Guillaume sieht, daß Orange brennt; die Sarazenen haben sich zurückgezogen, um Belagerungsmaschinen zu bauen; Guibourc, die das ankommende Heer sieht, fällt vor Angst in Ohnmacht. Guillaume läßt sie erst dann in die Burg hinein, nachdem sie seine Nase gesehen hat. Guillaumes Familie kommt an, und ein Festessen wird vorbereitet. Rainouart wird wieder betrunken und zerbricht einen Pfeiler mit seiner Stange. Der Koch versengt seinen Bart; Rainouart wirft den Koch ins Feuer. Guibourc verspricht Rainouart, ihm feine Kleidung zu geben. Sie meint, er könne ihr Bruder sein. Sie bewaffnet ihn und gibt ihm das Schwert Tiebauts. Die Christen ziehen in die Schlacht. (XCIII - CI) Rainouart verschläft wieder und muß dem Heer nachlaufen; er muß wieder umkehren, um seine Stange zu holen. Als die Franzosen die Heiden sehen, kehren sie aus Feigheit zurück: Auf einer engen Brücke treffen sie Rainouart, der sie zwingt, zurück in die Schlacht zu gehen. Guillaume übergibt Rainouart die Heeresführung. Desrame ist bereit zu kämpfen.

Wolfram und der Guillaume-Zyklus

49

(CII - CXLVIII) Während der Schlacht befreit Rainouart einige Christen, die in der ersten Schlacht gefangengenommen wurden und gibt ihnen Pferde. Rainouart tötet viele Heiden, unter ihnen auch seinen Vetter und er sagt, er werde auch seinen Vater und seine Brüder töten, falls sie sich nicht taufen lassen. Guillaume verwundet Desramo. Rainouart zerschmettert seine Stange, indem er Haucebier tötet; er kämpft mit den Fäusten weiter bis er sich an das Schwert erinnert, das ihm Guibourc gegeben hat. Er verwundet seinen Vater und tötet seinen Bruder. Er verfolgt die Heiden, verbrennt alle ihre Schiffe, außer einem, das Desramo benutzt, um zu entkommen. Der Heide Baudins kämpft gegen Rainouart. Sie versuchen, einander zu bekehren. Rainouart besiegt Baudins und dieser verspricht, Christ zu werden. Die Franzosen feiern; Guillaume findet die Leiche Viviens und läßt sie begraben. In Orange gibt Guibourc ein großes Fest; Rainouart kommt zu spät, ist beleidigt und kehrt unter Tränen zum Schlachtfeld zurück. Guibourc kann Rainouarts Zorn besänftigen; Rainouart sagt endlich, wer er ist, und Guibourc eröffnet ihm, daß sie seine Schwester ist. Rainouart wird getauft, bekommt neue Kleidung, Rüstung und ein Pferd. Baudins wird ebenfalls getauft.

2.5 Wolfram und der Guillaume-Zyklus Es ist klar, daß Wolframs Vorlage für seinen Willehalm die altfranzösische chanson La Bataille d'Aliscans gewesen ist. Aber es gibt noch eine Reihe von Fragen die hier beantwortet werden müssen: Welche Redaktion von Aliscans ähnelt der Version Wolframs am meisten? Wie ist der deutsche Dichter mit seiner Vorlage umgegangen? Mit welchen anderen chansons des Zyklus war er vertraut? Es gehört zur Tradition der höfischen Literatur um 1200, daß französische Romane von deutschen Dichtern übersetzt bzw. bearbeitet wurden. Dabei wurden vor allem altfranzösische Werke bevorzugt, die ihrerseits die keltischen Stoffe um Artus und Tristan bearbeitet hatten. Werke, die zu den wichtigsten Dichtungen des deutschen Hochmittelalters zählen, sind dieser Tradition verpflichtet, etwa wie die Artusromane Hartmanns oder Wolframs Parzival und Gottfrieds Tristan. Aber nicht nur altfranzösische Romane, die keltische Stoffe behandeln, wurden bearbeitet: Als Begründer der höfischen Epik im

50

Der altfranzösische Stoff

deutschsprachigen Raum gilt Heinrich von Veldeke mit seiner Version eines antiken Stoffes, des altfranzösischen Roman d'Eneas. Wolframs Vorhaben, eine chanson de geste für ein deutsches Publikum zu bearbeiten, war in der Literatur des 12. und 13. Jahrhunderts aber kein Novum, denn es hatte schon um 1170 vom Pfaffen Konrad eine deutsche Version der Chanson de Roland gegeben sowie auch um 1200 niederrheinische Bearbeitung der chansons de geste um Karl den Großen. Aber für den Dichter des Artusund Gralromans Parzival, ein Werk, in dem die minne und zuht (auch gegenüber den Heiden) ausschlaggebend sind, war die Wende zu einer kriegslüsternen, mit religiösem Fanatismus durchzogenen chanson de geste erstaunlich. Ob Wolfram selbst diese Wahl getroffen hat, oder ob er von seinem Auftraggeber dazu aufgefordert wurde, können wir nicht mit Sicherheit sagen. Am Ende vom Prolog zum Willehalm erklärt Wolfram, daß er seine Vorlage vom Landgrafen Hermann von Thüringen bekommen hat (vgl. 3,8f.). Es wird meistens angenommen, daß entweder Wolfram eine Handschrift der Vorlage direkt vor sich hatte, oder daß ein Rezitator auf dem thüringischen Hof die Dichtung vortrug. BERNHARDT (1900: S. 51) meint, daß Wolfram die Vorlage nicht für die ganze Zeit, die er am Willehalm arbeitete, zur Hand hatte. Da die Parallelen zwischen dem ersten Teil der Willehalm-Dichtung und der Vorlage viel genauer sind als im zweiten Teil, ist BACON (1910: S. 31) zu einem ähnlichen Schluß gekommen. Es könnte natürlich aber auch sein, daß Wolfram erst im zweiten Teil der Dichtung seine Kreativität gegenüber der Vorlage hat freier walten lassen. Auf jeden Fall kann nicht daran gezweifelt werden, daß (auch in den Büchern VIII und Di, deren Handlung von Aliscans am weitesten entfernt ist) Wolfram keine andere Vorlage benutzt hat (vgl. BERNHARDT, 1900: S. 41). Wie wir oben beschrieben haben (S. 46), gibt es große Unterschiede zwischen den verschiedenen Handschriften von Aliscans. Um herauszuarbeiten, wie Wolfram seine Vorlage im einzelnen bearbeitet hat, muß auch festgestellt werden, welche Redaktion der yl//scawi-Dichtung Wolfram benutzt hat. Keine der vorhandenen Aliscans-Handschnften gleicht Wolframs Version der Vorlage genau. Das älteste Aliscans-Manwsknpt (die Sammelhandschrift Ms.-a) wurde um 1225 verfaßt, etwa zu der Zeit als Wolfram an Willehalm arbeitete. Aber Ms.-a ist weit vom Wille-

Wolfram und der Guülawne-Zyklus

51

Halm entfernt (vgl. JONCKBLOET, 1854; BACON, 1910). Wie schon erwähnt wurde (vgl. o. S. 46f.), steht die Handschrift-M dem Original der^/isca/w-Dichtung am nächsten: Nach sorgfältiger Analyse ist BACON (1910: S. 136 - 166) zum Schluß gekommen, daß unter den uns erhaltenen ^//scaws-Handschriften das Ms.-M auch Wolframs Vorlage am meisten ähnelt. Sie bemerkt, daß die WillehalmDichtung mit Ms.-M öfter übereinstimmt als mit den anderen Handschriften. Man hat auch herausgearbeitet, daß der christliche Kämpfer Myle im Willehalm (eine Figur, die in Aliscans nicht erscheint) auf Wolframs Fehlinterpretation der Vorlage zurückzuführen ist die nur bei Ms.-M möglich gewesen wäre (vgl. BACON, 1910: S. 147). Ein Vergleich der Vorlage mit der Dichtung Wolframs kann jedoch nicht immer zu sicheren Ergebnissen fuhren, denn obwohl Wolframs Redaktion der französischen Dichtung der Handschrift-M ähnelt, war sie nicht genau die dieses Manuskripts. Es gibt Elemente, die zwar in Wolframs Redaktion von Aliscans vorkommen, aber nicht in Ms.-M; diese Elemente sind z. T. in anderen Aliscans Redaktionen, oder sogar in anderen chansons des Zyklus zu finden. In der Sterbeszene vom Vivianz z.B. spricht der junge Märtyrer von der Lanze des Longinus (68,24): In keiner der noch erhaltenen ^//jcaMi-Handschriften spricht der sterbende Viviens von der heiligen Lanze. Aber da im zweiten Teil der Chanson de Guillaume (in G2) (eine chanson, die mit Aliscans eng verbunden ist) der Märtyrer Vivien auch von der Lanze Longinus spricht (vgl. CG. 2039), ist anzunehmen, daß in Wolframs Redaktion von Aliscans dieses Element gleichfalls vorhanden war. Auch die Ehe zwischen Rainouart/Rennewart und Aelis/Alyze, die bei Wolfram angedeutet wird, kommt in verschiedenen Redaktionen von Aliscans vor, jedoch nicht in der Handschrift M. Die Tatsache, daß wir nicht genau wissen, wie Wolframs Redaktion von Aliscans ausgesehen hat, ist auch wichtig in der Diskussion um Wolframs Kenntnis der anderen chansons des Zyklus. Wir können deswegen nicht mit Sicherheit feststellen, welche Elemente er aus der Vorlage übernommen hat und welche aus anderen Liedern des Zyklus. In der Tat kennt Wolfram mehr Details vom Leben des epischen Guillaumes, als er von Aliscans hätte wissen können: In der Willehalm-Dichtang werden Guillaumes Kampf gegen Corsolt (wie

52

Der altfranzösische Stoff

sie in Le Couronnement Louis vorkommt), sein Einmarsch in Nimes (aus Le Charroi de Nimes) und sein Rückzug aus dem Leben in ein Kloster (Le Montage Guillaume) erwähnt. Diese Ereignisse kommen nicht in Aliscans vor: Woher wußte Wolfram das alles? Inwiefern war er mit anderen Liedern des Zyklus vertraut? BUMKE (1959: S. 11 - 15) meint, daß Wolfram bei der Überarbeitung seines Stoffes die Aliscans-Oichtang aus dem GuillaumeZyklus „gelöst" habe und daß er während dieser „Loslösung" auch Chevalerie Vivien, die chanson im Zyklus, die Aliscans vorangeht, bewußt umgearbeitet habe, um die Vorgeschichte zum Willehalm neu zu gestalten. SAN MÄRTE (1871) und BERNHARDT (1900: S. 55) sind auch der Meinung, daß Wolfram Chevalerie Vivien kannte. Um BUMKES Theorie der „Loslösung aus dem Zyklus" zu akzeptieren, müssen wir auch annehmen, daß Wolfram die anderen Lieder des Zyklus gut kannte: BERNHARDT (1900: S. 54) vermutet sogar, daß die Vorlage Wolframs Teil einer Sammelhandschrift war, d.h. daß Wolfram bei der Bearbeitung von Aliscans die anderen Lieder des Zyklus zur Hand hatte. Andere Wissenschaftler dagegen (vgl. BACON, 1910: S. 106; MEISSBURGER, 1961: S. 314) vertreten die Auffassung, daß Wolfram mit den anderen Liedern des Zyklus nicht so vertraut war. Wir wissen, daß die höfischen Dichter bei der Bearbeitung eines Stoffes wenig am Handlungsablauf ihrer Vorlagen änderten, denn die Vorlage wurde als Teil einer Tradition betrachtet, die eine historische Begebenheit treu nacherzählte (vgl. LOFMARK, 1981: S. 67ff.). Die Geschichte, die durch die Vorlage übermittelt wurde, war eine Autorität, die respektiert werden mußte. Deswegen ist der Handlungsablauf von Chretiens Erec und Yvain ungefähr derselbe wie der in Hartmanns Artusromanen Erec und Iwein. Zwar können Szenen vom höfischen Bearbeiter gekürzt, erweitert oder sogar neu eingefügt, Beschreibungen geändert, Namen erfunden werden u.s.w., aber in der Regel wird der Handlungsablauf selbst wenig umgestaltet. Der Kreativität der deutschen Dichter ist es zu verdanken, daß sie trotzdem Werke geschaffen haben, die vom Charakter her ganz anders als ihre Vorlagen sind. Auch im Willehalm übernimmt Wolfram den Ablauf der Ereignisse, wie sie in Aliscans dargestellt sind. Die Vorgeschichte zum Willehalm jedoch hat überhaupt nichts mit der Handlung, wie sie in Chevalerie Vivien erzählt wird, gemein. In Chevalerie Vivien

Wolfram und der Guillaume-Zyklus

53

ist Vivien die unmittelbare Veranlassung zum Einfall der Heiden, denn er hat den Feind herausgefordert; Guillaume zieht in die Schlacht, um seinem Neffen beizustehen. Bei Wolfram jedoch ist die Ursache des Krieges nicht Vivien, sondern Gyburcs Entführung. Die Heiden führen den Krieg an erster Stelle gegen Willehalm und nicht gegen Vivianz; Vivianz zieht mit Willehalm aus (vgl. BERNHARDT, 1900: S. 54). Falls Wolfram mit Chevalerie Vivien vertraut war, dann hat er die Handlung dieser Dichtung in der Vorgeschichte zum Willehalm überhaupt nicht berücksichtigt. Es sieht eher so aus, als ob Wolfram diese chanson überhaupt nicht gekannt hat. Das beantwortet jedoch nicht die Frage, ob Wolfram mit anderen Liedern des Zyklus vertraut war. Denn obwohl es klar zu sein scheint, daß Wolfram Chevalerie Vivien nicht kannte, erwähnt er viele Einzelheiten über das Leben des epischen Guillaume, die in anderen Liedern des Zyklus vorkommen. Wir können jedoch nicht mit Sicherheit sagen, ob er diese anderen chansons genau kannte, denn die Tatsache, daß Wolfram diese Ereignisse beschreibt, heißt nicht unbedingt, daß er mit diesen Liedern vertraut war. BACON (1910: S. 106) hat die Theorie aufgestellt, daß Wolfram die anderen chansons der geste nicht kannte, aber während seiner Arbeit am thüringischen Hof alle diejenigen ausgefragt habe, die irgend etwas von den Geschichten um den epischen Guillaume gehört hätten. Wir wissen, daß der thüringische Hof von vielen Reisenden aus Frankreich besucht wurde, und es ist zu vermuten, daß Wolfram sie nach den Orten und Personen seiner Geschichte gefragt hat. Alle diese Informationen könnte Wolfram dann in seine Bearbeitung aufgenommen haben. Wolframs Willehalm gibt noch einen Eindruck der chansons de geste wieder, mit ihren lebhaften Szenen, gedankenschweren Worten und dem dramatischen Streit großer Persönlichkeiten. Obwohl Wolframs Dichtung die Bearbeitung einer chansons de geste darstellt, ist sein Willehalm eine ganz andere Art von Literatur. Er verfaßte die Wille/w-Dichtung etwa 30 Jahre nach Aliscans für ein Publikum, das nicht mit der Gattung chanson de geste vertraut war und das einen anderen Erwartungshorizont hatte. Aliscans ist in laisses geschrieben, die oft eine einzige Episode beschreiben und die normalerweise mit einer Zusammenfassung der wichtigsten vorangehenden Ereignisse anfangen. Die verschiedenen

54

Der altfranzösische Stoff

laisses werden fast ausschließlich durch die Chronologie der Ereignisse miteinander verbunden. Der jongleur scheint nicht besonders daran interessiert zu sein, die Szenen zu motivieren. Aus diesem in laisses aufgebautem Werk schafft Wolfram eine Dichtung, die in der für den höfischen Roman typischen Form von Reimpaaren geschrieben wurde. Die verschiedenen Episoden der Dichtung werden von Wolfram miteinander verbunden, die Handlungen der verschiedenen Charaktere motiviert. Wie oben bemerkt wurde, ist der Handlungsablauf von Wolframs Willehalm im großen und ganzen der gleiche wie der seiner Vorlage: Wolfram bemüht sich aber um eine größere Geschlossenheit der Handlung. In Aliscans beherrscht Vivien den Anfang der Dichtung, Guillaume die Mitte und Rainoart das Ende. Das hat seinen Grund im zyklischen Charakter der altfranzösischen Tradition. Aber Wolfram hat bekanntlich die eine Person, Willehalm, zur Hauptgestalt gemacht, und dabei die beiden anderen untergeordnet; bei Wolfram nimmt Gyburc auch an Bedeutung zu. Unter den Episoden, die Wolfram im Gegensatz zu seiner Vorlage besonders hervorhebt, sind die Szenen, in denen Gyburc eine große Rolle spielt, wie in dem Gespräch mit ihrem Vater Terramer, in den Szenen der minne und in der Schonungsrede. Obwohl die Ereignisse im Willehalm etwa die gleichen sind wie in Aliscans, ist Wolfram nicht immer mit ihnen einverstanden; er findet sie offensichtlich z.T. sogar auch als peinlich. Zwar versichert der Erzähler seinem Publikum oft, daß seine Geschichte der Vorlage treu folgt (BACON, 1910: S. 19, hat 36 solcher Versicherungen gezählt) aber Wolfram ändert oft Gegebenheiten. Solche Änderungen kann er jedoch nur dann machen, wenn es sich um Nebensächlichkeiten handelt. Der höfische Dichter war für die Beschreibung von Details und für die Darstellung der Geschichte verantwortlich, nicht für die Handlung selbst, die ihm die Tradition vermittelt hatte; daher, obwohl Wolfram die Handlung seiner Vorlage nicht ändern durfte, war es ihm erlaubt, sie so darstellen, wie er wollte; Wolfram konnte wohl annehmen, daß der französische Dichter vor ihm in seiner Version der Tradition seine Details und seine Darstellung der Geschichte geliefert hatte. Bei bestimmten Änderungen von Details handelt es sich um jene, die Wolframs Publikum schockiert hätten, falls er sie in seiner Ver-

Exkurs: Andere literarische Beziehungen

55

sion wiedergegeben hätte. So umschreibt Wolfram Willehalms Beleidigung seiner Schwägerin auf dem französischen Hofe. In Aliscans nennt Guillaume die Königin Blanchefleur eine Hure, die mit dem Heidenführer Tiebaut geschlafen hat (vgl. AI. 2983 - 86); im Willehalm paraphrasiert der Erzähler diese Textstelle: Die minne veile hont, diu \vip, roemischer küneginne lip wart dicke nach in benennet, die namen het ich bekennet, ob ich die wolte vor in sagen: nu muoz ich si durh zuht verdagen. (153, l ff.) [Mit den Namen von Frauen, die ihre Liebe verkaufen, wurde die römische Königin oft benannt. Ich hätte diese Namen nennen können, falls ich sie vor euch sagen wollte. Jetzt muß ich sie des Anstände wegen verschweigen.]

Um sein Publikum vor der anstößigen Sprache seiner Vorlage zu schützen, umschreibt Wolfram die Beleidigung: Dabei bleibt jedoch die Wirkung dieser Beleidigung erhalten. Die Vorlage ist so wichtig, daß sogar wenn Wolfram weiß, daß sie sich int, er diese Irrtümer in seine Version aufnimmt. VOGT (1922: S. 298) hat darauf hingewiesen, daß Wolfram bemerkt, wie der französische jongleur bei der Beschreibung von Guillaumes Ankunft am französischen Hofe vergessen hat, daß Guillaume die prächtige Rüstung Aerofles an hatte. Der jongleur beschreibt Guillaume, als ob er schlecht gekleidet sei (vgl. AI. 2566ff). Wolfram übernimmt zwar diesen Fehler in seine Version, sagt seinem Publikum aber, daß der Verfasser von der Vorlage tump gewesen sei (vgl. 125,22 und u. S. 96f.).

Exkurs: Andere literarische Beziehungen Bei der Bearbeitung ihrer Vorlagen haben die höfischen Dichter auch andere Quellen benutzt. Als Wolfram sich mit dem Willehalm befaßte, war das auch der Fall. Wir können natürlich nicht genau sagen, welche Texte Wolfram kannte; er wußte sicherlich sehr viel über die zeitgenössische Literatur in deutscher Sprache. Aber welche Werke haben seine chanson de geste-Bearbeitung beeinflußt?

56

Exkurs: Andere literarische Beziehungen

Im Prolog stellt sich Wolfram als der Parzival-Dichter vor (4,19ff.): Der Willehalm fängt mit einem Verweis auf den Parzival-Roman an. Das frühere Werk Wolframs bestimmt also den Erwartungshorizont des Willehalm: Dichter und Publikum waren sich bewußt, inwiefern der Parzival einen Bezug zum Spätwerk darstellte. Diese Verbindung wird durch folgende Anspielungen auf Personen oder Begebenheiten des Parzival-Romans im Willehalm unterstrichen: 45,15f.; 54,30f; 73,22ff.; 99,29f; 167,5ff; 243,10; 248,28; 271,17ff.; 279,13ff; 283,27ff.; 356,8f; 403,16ff. (zur Besprechung dieser verschiedenen Stellen vgl. KIENING, 1991: S. 95ff.).

Obwohl relativ oft zitiert (die meisten Anspielungen beziehen sich auf die Figuren von Feirefiz und dem leidenden Anfortas), weisen diese Anspielungen eher auf den Unterschied zwischen den zwei Werken hin als darauf, daß der Willehalm eine Weiterfuhrung des Frühwerks darstellen könnte (vgl. hierzu KIENING, 1991: S. lOOff.; vgl. u.a. aber auch 15,16ff., hierzu u. S. 245). Hinweise auf Werke anderer Dichter haben eine große Rolle in Wolframs Bearbeitung gespielt. In einer Studie hat PALGEN (1920) die Arbeit SINGERS (1918) fortgesetzt und gezeigt, inwiefern der Willehalm von dem Eneasroman und dem Rolandslied beeinflußt wurde. Nach PALGEN (1920: S. 192) gebe es im Willehalm 30 „bewußte hinweise" auf das Rolandslied: 3,30 - 4,1; 51,11 - 17; 108,12 - 17; 117,1 - 8; 178,22 - 24; 179,5f.; 180,28 30; 182,11 - 23; 184,28f.; 212,20f; 221,11 - 19; 250,17f; 272,14 - 17; 320,4; 338,22 - 24; 340,16; 340,22 - 26; 353,7f.; 354,3; 357,15; 398,29; 410,23 - 411,1; 428,9; 434,16; 434,19 - 21; 441,4 - 18; 442,10; 447,1 - 5; 455,6-16; 464,5.

Ob alle diese Stellen wirklich Anspielungen auf die Dichtung sind oder, ob sie sich allgemein auf den Karl-Stoff beziehen, ist unsicher, denn manchmal handelt es sich lediglich um einen Verweis auf die Figur Karls (etwa im Prolog, 3,30ff.; zu einigen dieser Stellen vgl. BACON, 1910: S. 121ff.; BUMKE, 1959: S. 134ff; GEITH, 1977a: S. 147ff.; KIENING, 1991: S. 87ff.). Auf jeden Fall aber ist die Bedeutung dieses Werkes in Wolframs Dichtung klar erkennbar. PALGEN ist der Auffassung, daß diese Hinweise nicht bezeugen, daß der Willehalm eine Nachahmung des Rolandslieds sei, denn „ein anderes culturideal schwebte ihm [Wolfram] vor als dem streng

Exkurs: Andere literarische Beziehungen

57

geistlichen pfaffen Konrad" (S. 192); der Willehalm sei also „nicht bloßes nachbild, sondern ein gegenstück zum R[olandslied]" (S. 193). In der Tat scheint Wolframs Dichtung z.T. eine Replik auf der im Rolandslied aufgeworfenen Fragen darzustellen; KIENING (1991: S. 92) behauptet jedoch, daß die Verbindung zwischen dem Rolandslied und dem Willehalm „als eine primär stofflich, kaum ausdrücklich literarisch reflektierte" erscheine und daher „ambivalent" (S. 93) sei. Aber falls dies so wäre, dann hätte Wolfram sicherlich auf die stofflieh klar vorhandenen Parallelen zwischen Ruolant und Vivianz verwiesen; das tut er jedoch nicht. Im Gegenteil, wie PALGEN (1920: S. 221) gezeigt hat, wird der christliche Märtyrer Ruolant nicht mit Vivianz, sondern mit dem Heiden Rennewart parallelisiert; LOFMARK (1972: S. 99ff.) hat die Ähnlichkeiten zwischen den zwei Figuren besprochen und kommt zum Schluß, daß es zweifellos eine „deliberate comparison" zwischen beiden gebe: „Wolfram's introduction of a parallel between Rennewart and Roland raises Rennewart's importance [...] and makes quite clear what new religious and historical significance Wolfram has given to Rennewart" (S. 102). Auch die Einbalsamierung der toten Heiden am Ende des WülehalmFragments könnte als eine Antwort gesehen werden auf die Art und Weise, wie nach der Schlacht von Ronceval die Leichen der gefallenen Heiden im Rolandslied auf dem Feld verrotten (vgl. u. S. 160flf. und 252f.). Kenntnisse von historischen Ereignissen und Begebenheiten hat Wolfram aus verschiedenen Werken genommen: So glaubt man, daß seine im Willehalm zum Ausdruck kommenden Ansichten über die Geschichte des Christentums der Kaiserchronik und möglicherweise auch Ottes Eraclius stammen (vgl. hierzu: NELLMANN, 1963: S. 28ff; 116). Aus der Kaiserchronik (14885ff.) hat Wolfram vielleicht auch Kenntnisse von der Silvesterlegende (vgl. RUH, 1980: S. 176) und den Sarkophagen von Les Alyscamps in der Nähe von Arles (vgl. BACON, 1910: S. 107ff.), obwohl GEITH (1977b: S. 107) die Auffassung vertritt, Wolfram hätte aus dem Liber Sancti Jabobi von diesem Friedhof lernen können. Auch der Eneasroman Heinrichs von Veldeke ist eine wichtige Quelle für den Willehalm-Dichler. Wolfram bezeichnet Heinrich von Veldeke ist sein meister und PALGEN (1920: S. 222ff.; vgl. u.a. auch BACON, 1910 und SINGER, 1918) hat gezeigt, inwiefern das be-

58

Exkurs: Andere literarische Beziehungen

deutendste Werk von diesem meister einen Einfluß auf den Willehalm ausgeübt hat. Es gibt eine Reihe von Stellen in der WiüehalmDichtung, die nach u.a. BACON, SINGER und PALGEN, vom Eneasroman beeinflußt wurden: 24,27t; 52,2ff.; 60,6ff.; 60,20ff.; 61,10f; 62,lff; 62,23ff.; 67,9ff.; 77,12f; 79,28; 81,8ff.; 81,18ff.; 100,1; 101,27ff.; 141,l Iff.; 154,9ff.; 160,2ff; 230,lff.; 224,6; 225,4ff.; 248,2ff; 359,1 Iff.; 447,12ff.; 454,4ff.; 456,lf; 464, l ff..

Wie u.a. JOHNSON (1952: S. 53ff.) gezeigt hat, handelt es sich jedoch in einigen Fällen um Stellen, die nicht eindeutig von der Dichtung Veldekes beeinflußt wurden; es ist aber anzunehmen, daß bestimmte Episoden im Eneasroman einen Einfluß auf Wolframs Werk ausgeübt haben. Die Wirkung Veldekes ist vor allem in den Szenen um den Tod von Vivanz (mit dem Zweikampf zwischen Vivianz und Noupatris; der Klage Willehalms um Vivianz) und Arofei (mit der Hinrichtung durch Willehalm; vgl. hierzu KIENING, 1991: S. 103ff.) zu spüren. Sicherlich wurden auch viele von Wolframs Beschreibungen verschiedener Charaktere durch das Werk seines meisters beeinflußt. Zweifelhaft ist in diesem Zusammenhangdie Bemerkung KIENINGS (1991: S. 105), es ginge Wolfram hier nicht nur um die „Huldigung des literarischen Meisters", weil die Berufung auf Veldeke als „Chiffre für die Auseinandersetzung mit epischer Darstellungstechnik, mit dem Paradigma höfischer Schilderung" stehe (S. 106). Ist es wirklich anzunehmen, daß Wolfram diesen Hinweis auf seinen toten meister (so müese ich minen meister klagen / von Veldeke: der kundez baz, 76,24f. [so müßte ich um meinen Meister trauern / den von Veldeke; der verstand es besser]) lediglich als „Chiffre" betrachtet hätte? Andere zeitgenössische Werke werden auch im Willehalm zitiert: So kommen Hinweise auf Walther (und seinen sogenannten Spießbratenspruch: 286,19ff; vgl. hierzu u.a.: SCHOLZ, 1966: S. 34ff.; MOHR, 1967: S. 7ff.; KIENING, 1991: S. 109f, vielleicht auch auf den Tegernseespruch, vgl. BURDACH, 1900: S. 295f. sowie u. S. 99) und Neidhart vor (312,llff.; vgl. hierzu u.a.: BUMKE, 1959: S. 187f; BERTAU, 1971: S. 308ff.; KIENING, 1991: S. 11 Of. sowie o. S. 22f. und u. S. 130) sowie auf Witege (384,23) und Hildebrant und seine Frau Uote (439,16) aus der Heldenepik (vgl. u. S. 1361). Vor allem die Zitate aus der Heldenepik scheinen darauf zu deuten, daß

Weiterführende Literatur

59

Wolfram sich in seiner chanson de geste-Bearbeitung von dieser literarischen Gattung distanzieren wollte (vgl. unten S. 154f.). Eine Anspielung auf den Tristan ist möglicherweise auch vorhanden., vgl. 280,22ff. (hierzu: u.a. MERGELL, 1936: S. 12If., dagegen HEINZLE, 1991: S. 1010). Wie u.a. SINGER (1910) und OCHS (1968) gezeigt haben, wird besonders der Eingang vom Willehalm von der Bibel und der frühmittelhochdeutschen geistlichen Dichtung beeinflußt, obwohl OCHS (1968: S. 10) der Auffassung ist, daß auch ein Vergleich mit lateinisch schreibenden mittelalterlichen Autoren unternommen werden müsse, „will man den gesamten geistesgeschichtlichen Hintergrund der Werke Wolframs erhellen, zumal die deutschen Quellen bisweilen unklar sind oder uns ganz im Stich lassen". Ob Wolfram einen unmittelbaren Zugang zu den lateinischen Texten hatte, bleibt natürlich ungewiß. Dabei muß beachtet werden, daß die frühmittelhochdeutsche geistliche Dichtung sehr formelhaft ist und, da es sich um Wendungen handelt, die an vielen Stellen in ähnlichem Wortlaut vorkommen, „ist es schwer, Abhängigkeiten [im Willehalm] von einem bestimmten Werk festzustellen" (Ocns, 1968: S. 15; vgl. aber: S. 18ff.), es gibt auf jeden Fall intertextuelle Verbindungen.

Weiterführende Literatur Chansons de geste in Übersetzung: Eine deutsche Übersetzung der Chanson de Guillaume gibt es von SCHMOLKE-HASSELMANN, Beate: La Chanson de Guillaume, München 1983. Von Aliscans gibt es eine neufranzösische Übersetzung von GUIDOT, B.; SUBRENAT, J.: Aliscans, Paris 1993 sowie eine englische Übersetzung von NEWTH, M. A.: The Song of Aliscans, New York 1992 (Garland Library of Medieval Literature Bd. 85). Forschungen: BECKER, Phillip-August..Das Werden der Wilhelm- undAimerigeste, Leipzig 1939 (^Abhandlungen der phil.-hist. Klasse der sächs. Akademie der Wissenschaften Bd. 44 Nr. 1); CURTIUS, Ernst Robert: „Über die altfranzösische Epik". In: E.R.C., Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie, Bern / München 1960, S. 106 - 183; FRAPPIER, Jean: „Reflexions sur les rapports des Chansons de Geste et l'histoire". ZfrPh 73 (1957), S. l -

60

Weiterführende Literatur

19; MANDACH, de: Naissance et Developpement de la Chanson de geste en Europe (4 Bde.), Genf/ Paris 1961 - 80; OTT-MEIMBERG, Marianne; „Karl, Roland, Guillaume". In: MERTENS, Volker, MÜLLER, Ulrich (Hgg.) (1984): S. 81 - 110; SICILIANO, S.G., Les Ori-gines des Chansons de Geste (Übers.), Paris 1951; WATHELET-WILLEM, Jeanne.: Recherches sur la Chanson de Guillaume, Paris 1976 (2 Bde. mit Textausgabe, neufranzösische Übers. und Kommentar); WATHELET-WILLEM, Jeanne:,Aliscans. Tomoin de revolution du genre opique ä la fin du 12eme siecle". Melanges qfferts ä Charles Foulon, Reimes 1980. Bd. I, S. 381 392; WOLFZETTEL, Friedrich: „Traditionalismus innovativ: Zu neueren Tendenzen der romanistischen Chanson de geste-Forschung". HEINZLE, Joachim; JOHNSON, L. Peter, VOLLMANN-PROFE, Gisela (1989): WolframStudien XL

3 Werk und Interpretation

3.1 Die epische Struktur 3.1.1 Gliederung Die Einteilung des Willehalm in neun Bücher, der alle Ausgaben weitgehend folgen, stammt von Karl LACHMANN. Er stützte sich dabei vor allem auf die St. Gallener Handschrift G (Stiftsbibliothek 857), die er als Leithandschrift verwendete und in der eine Großgliederung, gekennzeichnet durch Schmuckinitialen, bereits vorhanden war. LACHMANN hat allerdings nicht alle in G erhaltenen Schmuckinitialen berücksichtigt, sondern nur acht von dreizehn, und, um die Umfange der einzelnen Buchabschnitte anzugleichen, bei 269,1 (Anfang des VI. Buches) unabhängig von der handschriftlichen Überlieferung einen neuen Buchanfang gesetzt. Doch auch die fünf Großinitialen, die LACHMANN unberücksichtigt läßt (bei Vers 71,1; 126,1; 185,1; 264,1; 278,1), sind eindeutige Markierungen von Erzählgrenzen. Auf der Grundlage des handschriftlichen Befunds hat LACHMANN den Text in Kleingruppen von dreißig Versen eingeteilt, wobei sich allerdings Unregelmäßigkeiten ergeben: der 57. Dreißiger am Ende des I. Buches zählt nur 28 Verse. Man vermutet hier einen Verlust von zwei Versen, der allerdings allen Handschriften gemeinsam ist (zu den Dreißigerinitialen in der Handschrift G vgl. SCHANZE, 1970). Hinzu kommt auch, daß der letzte Dreißiger (467) nicht vollständig ist. Über die Funktion und den Sinn dieser Dreißigerordnung (die auch für den Parzival gilt) läßt sich kaum Verbindliches sagen, sie stammt möglicherweise vom Autor selbst. Die Dreißiger ergeben allerdings nicht immer Sinneinheiten und könnten daher auch von einem Redaktor als Hilfsmittel für eine gleichmäßige handschriftliche

62

Werk und Interpretation

Einrichtung des Textes eingeführt worden sein. Ein Vergleich mit der Vorlage zeigt, daß die Dreißigergliedenmg im Willehalm jedenfalls nicht auf die französische Laissentechnik, wie sie in den chansons de geste angewendet wird, zurückzuführen ist (MISSFELDT, 1978). In Anlehnung an die handschriftlich überlieferte Abschnittsgliederung hat LACHMANN folgende Buchanfange gesetzt: Buchanfänge I 1,1

Dreißiger

Inhalt

57

Prolog; 1 . Schlacht auf Alischanz

58,1

48

106,1

56

IV

162,1

53

V

215,1

54

VI

269,1

45

VE

314,1

48

\

362,1

41

Klage um Vivianz; Willehalms Folgekämpfe und Rückkehr nach Orange In Orange; Whs. Ritt nach Munleun; Streit mit der Königsfamilie Versöhnung, Hilfezusage, Gewinnung Rennewarts und Rückkehr nach Orange Belagerung Gyburcs; Ankunft der Heere; Hoffest und Klage Gyburcs Rennewarts Auftritt, Rennewart und Gyburc; Fürstenrat und Gyburcs Rede Rennewart am Petit Punt; Aufmarsch und Einteilung der Heerscharen 2. Schlacht auf Alischanz

IX

403,1

64,3

Willehahns Sieg; Klage um Rennewart; Freigabe von Matribleiz

LACHMANNS Großgliederung ist bis heute akzeptiert, sie teilt den Stoff in überschaubare Erzähleinheiten. Allerdings ist die Gliederung durch Initialen in den Handschriften recht uneinheitlich überliefert. Dies zeigt sich zum Beispiel an einem Vergleich der Handschrift G mit der zweiten Handschrift, die eine Großgliederung des Willehalm durchführt, der Wiener Handschrift V (Codex Vindobonensis 2679). Auf Grund der unsicheren Überlieferung muß fraglich bleiben, ob die Einteilung des Textes in IX Abschnitte (= Bücher) auch den Intentionen des Autors entsprach (dazu: SCHRÖDER, 1969a). Den Gliederungshinweisen der Handschriften zu folgen, ist nicht das einzige Mittel, um der vom Dichter intendierten Gliederung

Die epische Struktur. Gliederung

63

möglichst nahe zu kommen. So hat KIEN AST (1950) versucht, neue Erkenntnisse über die Arbeitsweise Wolframs aus der Tektonik des Werkes zu gewinnen. Er geht davon aus, daß der mittelalterliche Dichter bei der Abfassung seines Werkes auch bestimmte Symbolzahlen und Zahlenkompositionen verwendet hat. Und tatsächlich findet KIENAST im Willehalm deutliche Zahlensymmetrien (vor allem im Prolog, aber auch innerhalb der einzelnen Bücher), wobei allerdings „das Streben nach glatten Zahlen" (OCHS, 1968: S. 107) manchmal allzu sehr im Vordergrund seiner Interpretation steht. Für KIENAST ist der Willehalm wie der Parzival ein symmetrischer Bau aus zwei etwa gleich großen Teilen, wobei in beiden Werken die Schlüsselstellen der Handlung am Beginn des zweiten Teiles stehen. Sieht man im Parzival das IX. Buch (Parzivals Besuch bei Trevrizent) und im Willehalm das VI. Buch (Gyburcs Schonungsrede) als die geistigen Zentren der Werke an, so kann man nach KIENAST davon ausgehen, daß für den Willehalm ein X. Buch geplant war. Seiner Meinung nach ist der Beginn des X. Buches bereits in der überlieferten Dichtung enthalten und zwar mit der Klage Willehalms um Rennewart ab dem Vers 452,1. KIENASTS Untersuchung, vor allem seine Theorie über das X. Buch, hat viele Forscher veranlaßt, den Bauplan des Willehalm ebenfalls mit Hilfe von zahlensymmetrischen Berechnungen genauer zu untersuchen. LOFMARK (1966) geht am Beispiel des V. Buches der Frage nach, in welchen Größenordnungen der Text veröffentlicht bzw. vorgetragen wurde. Seiner Meinung nach hat der Autor dem Publikum seinen Text in kleineren Einheiten vorgetragen und zwar in Erzählblöcken von je 120 Versen (vier Dreißiger). Wo der Text dieser Einteilung nicht entspricht, vermutet LOFMARK Interpolationen, mit denen der Autor direkt auf die Reaktionen seines Publikums eingegangen sei. BUMKE (1970: S. 315 f.) wendet demgegenüber ein, daß die Zwischenbemerkungen des Autors nirgends mit Sicherheit als Interpolationen herauszulösen seien (vgl. auch CURSCHMANN, 1975: S. 559). PÖRKSEN und SCHIROK (1976) sind wie KIEN AST von einer symmetrischen Zweiteilung der Dichtung und dem Plan eines X. Buches ausgegangen und haben als weiteres Gliederungsprinzip eine Einteilung der Bücher in fünf Buchpaare gesehen, wobei jedes Buchpaar ein Vortragseinheit gewesen sein soll. Diese Einteilung, die übrigens

64

Werk und Interpretation

LACHMANNS Bucheinteilung bestätigt, wird durch die Reihe der Schauplätze gestützt und ergibt folgende Erzählblöcke: 1,1 Willehalms Niederlage auf Alischanz (I. Buch) 58,1 Rückkehr nach dem belagerten Orange ( . Buch)

B 106,1 Willehalms Ritt nach Munleun, Streit beim Hoffest ( . Buch) 162,1 Versöhnung und Rückkehr mit militärischer Hilfe (IV. Buch)

215,1 Sammlung in Orange, Festmahl (V. Buch) 269,1 Festmahl und Fürstenrat (VI. Buch)

D 314,1 Aufmarsch der beiderseitigen Heerscharen (VE. Buch)

362,1 Entwicklung der Scharenkämpfe auf Alischanz (Vin. Buch)

403,1 Sieg Willehahns auf Alischanz (EX. Buch) 451, l (Rückkehr nach Orange?)

Bei der zahlenkompositorischen Analyse des fragmentarischen Bauplans (wobei die Berechnungen teilweise äußerst kompliziert sind) kommen die Autoren zu dem Ergebnis, daß Wolfram offenbar von den Grundzahlen fünf (Zahl der Buchpaare), zehn (Zahl der Bücher), 99 bzw. 495 ausgegangen ist. Ob der Symbolgehalt dieser Zahlen in einem engen Zusammenhang mit dem Inhalt des Werks steht, wie die Autoren unter anderem an der Zahl 99 (Umfang der Bücher V und VI) nachzuweisen versuchen, ist allerdings mehr als fraglich. Auch für ROLL (1984) hat Wolfram den Aufbau seiner Dichtung bis ins kleinste Detail geplant und zwar mit Hilfe von Zahlenproportionen (Dreieckszahlen), wobei ihm die Dreißiger als Orientierung gedient haben. Ähnlich wie PÖRKSEN und SCHIROK unterscheidet er zunächst vier große Erzähleinheiten, die er als Aventiurenkomplexe bezeichnet, weil er mit GERHARDT (1971) davon ausgeht, daß Wolfram bei seiner Gliederung das Aventiureschema des Nibelungenliedes im Auge hatte (Die Überschriften der größeren Erzählabschnitte der Handschrift V Cod. Vind. 2670 werden nämlich als Aventiuren bezeichnet). Die vier großen Aventiurekomplexe seien dann in 14 Abschnitte gegliedert (Schema vereinfacht):

Die epische Struktur. Gliederung

A

B

C

D

Initialien/ Aventiuren I 1 2 3 4 m 5 rv 6 7 8 V 9 (+VI) 10 11 vn 12 13 14

vn IX

Dreißiger

Inhalt

1-57 58-70 71-105 106-125 126-161 162-184 185-214 215-245 246-277 278-313 314-361

Prolog, I.Schlacht Vivianz' Tod Willehalm in Orange Whs. Ritt nach Munleun Zusammenstoß mit König Loys Versöhnung mit Loys Rennewart Ankunft der Heere in Orange Bankett der Heerführer Rennew. und Gyb., Fürstenrat Aufmarsch der Heere 2. Schlacht Willehahns Sieg Willehalms Klage um Rennewart

362-102 403^45 446^66

65

Nach diesem Modell ROLLS gibt es eine Korrespondenz zwischen dem ersten, dritten und vierten Hauptteil, die in harmonischen Proportionen zueinander stehen und zwar aus Vielfachen von 21 Dreißigern. Allerdings gilt dies nicht für die Munleunepisode. Diese ignoriert ROLL und schließt aus der auffälligen Übereinstimmung zwischen dem ersten und vierten Hauptteil, daß Wolfram einen Abschluß zustande zu bringen suchte, „der sich auch in den letzten fertiggestellten Teilen mit dem ursprünglichen Zahlenplan vertrug", und daß er zu diesem Zweck gegen Ende der Arbeit „die vorliegende Analogie zum ersten Hauptteil" herstellte (S. 367). Die Frage, ob die Dichtung nun als abgeschlossenes Werk anzusehen sei, bleibt allerdings unbeantwortet. Eine von den obigen Modellen völlig abweichende Gliederung hat NELLMANN (1973: S. 115-129) vorgenommen. Für ihn sind programmatische Ankündigungen, präzise Vorausdeutungen und Vorgriffe des Erzählers, also erklärende und das Publikum lenkende Zusätze, entscheidend für die Strukturierung des Willehalm. Seiner Meinung nach markiere Wolfram durch „kommentierende Bemerkungen und Formeln des Publikumskontakts" (S. 181) bestimmte Erzählphasen, die den Aufbau des Werkes erkennbar machen. NELLMANN kommt mit dieser Methode zu einer Großgliederung mit sieben Abschnitten, wobei die erste Schlacht besonders viele

66

Werk und Interpretation

phasenmarkierende Abschnitte aufweist, weil der Erzähler, aufgrund der Komplexität der Schlachtschilderung und der vielen handelnden Personen mehr „Orientienmgshilfen" geben muß (Schema vereinfacht): Dreißiger

Erzahlphasen

1,1-5,15 5,16-108,30

Prolog Erste Schlacht; Einschließung Oranges

VI

5,16-11,30 12,1-26,1 26,2^8,5 48,6-69,16 69,17-108,30 109,1-161,30 162,1-214,30 215,1-313,30 314,1-360,28 360,29-399,6

vn

399,7-?

Vorgeschichte bis zur Landung der Heiden Bis zu Vivianz' erster Verwundung Bis zu Vivianz' zweiter Verwundung Bis zu Vivianz' Tod Willehahn entkommt den Heiden] Munleun: Willehahns triuwe und Zorn Munleun: Versöhnung und Hilfe Orange: vreude unde klage Alischanz: Aufmarsch der Heere Alischanz: Zweite Schlacht bis zum Eingreifen Terramers Alischanz: Terramers Niederlage

Abschnitte I a b c

d [e

m IV

v

Daß der letzte Teil des ersten Abschnittes (le) ohne eine Phaseneinleitung und einen Phasenabschluß bleibt, liegt nach Meinung NELLMANNS am unfertigen Zustand des Willehalm, weshalb sich auch das Ende der letzten Phase nicht bestimmen lasse. Trotz der verschiedenen Modelle zum Aufbau des Willehalm, die einander oft an komplizierten Berechnungen übertreffen, ist das Grundgerüst zunächst sehr einfach: erste Schlacht - Willehalms Bemühen um Hilfe - zweite Schlacht. Die beiden Schlachten am Beginn (Buch I-II) und am Ende (Buch - ) des Willehalm nehmen mehr als die Hälfte der Dichtung ein und sind einander symmetrisch zugeordnet.

3.1.2 Raum und Zeit Die Tendenz zu einem symmetrischen Aufbau der Dichtung zeigt sich besonders deutlich an den Handlungsorten, für die BUMKE (1991: S. 251) folgendes Schema aufgestellt hat:

Die epische Struktur. Raum und Zeit Schlachtfeld Orange Orlens

67

Schlachtfeld Orange Orlens Kloster

Kloster Munleun

Nach diesem Modell stehen allerdings die Bücher III und IV im Mittelpunkt und es scheint so, als wäre der Willehalm ein abgeschlossenes Werk, worüber es ja keinen Konsens in der Forschung gibt. Für BUMKE (1959: S. 95) ist diese starre Raumordnung auf Steigerung angelegt, was er mit dem Begriff „dynamische Symmetrie" bezeichnet. Die zweite Orangeepisode ist umfangreicher als die erste, dasselbe gilt auch für die zweite Schlacht auf Alischanz. Während der erste Teil der Dichtung, einschließlich Willehalms Aufenthalt in Munleun, insgesamt vier Bücher umfaßt, ist der zweite Teil in fünf Bücher eingeteilt. Das ergibt für den ersten Abschnitt 214 Dreißiger und für den zweiten ein deutliches Übergewicht von 252 Dreißigern. BUMKES Schema wird von PÖRKSEN (1976: S. 43) kritisiert, der den Bauplan nicht einer äußeren sondern einer inneren Handlung zugrundelegt. Mit Hilfe der Annahme eines X. Buches sieht er die Bücher V und VI (mit Gyburcs Schonungsrede) als den Mittelpunkt der Dichtung an. Der räumlichen Symmetrie entspricht auch eine genaue zeitliche Ordnung, die, wie im Parzival, ein wesentliches Strukturelement für den Aufbau der Dichtung ist (BUMKE, 1959: S. 92 - 98; STEINHOFF, 1964: S. 120f). Die erste Schlacht auf Alischanz dauert bis zum Auf bruch Willehalms nach Orange zwei Tage. Nach einer nicht genauer bestimmten Zeit gelangt er nach Orlens (Orleans) und reitet von dort in zwei Tagen nach Munleun (Laon). Willehalms Aufenthalt in Munleun bis zum Eintreffen der Entsatzheere dauert zehn Tage, nach zwei weiteren Tagen trifft er mit diesem Heer und der Königsfamilie wieder in Orlens ein. Über die Zeitdauer des Ritts von Orlens nach Orange wird wiederum nichts ausgesagt. Die Begrüßung des Heeres, das Festmahl und der Kriegsrat in Orlens ziehen sich über zwei Tage hin, wobei das Heer am Nachmittag des zweiten Tages zum Kampf aufbricht. Am Morgen des dritten Tages beginnt die Schlacht und endet mit dem Sieg der Christen. Der vierte Tag ist ausgefüllt mit der Klage Willehalms um Rennewart und mit der Matribleizszene.

68

Werk und Interpretation zwei Tage 2. Schlacht zwei Tage

zwei Tage

l. Schlacht

Aufenthalt in Orange

Aufenthalt in Orange unbestimmte Zeit von Orange nach Orlens

unbestimmte Zeit von Orlens nach Orange

zwei Tage Kloster Ritt nach Munleun

zwei Tage Kloster Ritt nach Orlens

zehn Tage Aufenthalt in Munleun

Zur Zeitstruktur ist anzumerken, daß Wolfram es meisterlich verstanden hat, gleichzeitige Geschehnisse darzustellen, man denke nur an die parallelen zeitlichen Abläufe in Munleun und Orange oder während der zweiten Schlacht (dazu: STEINHOFF, 1964: S. 19 - 40). Auch von der Zeitstruktur her kann man ein „Übergewicht" des zweiten Teiles feststellen. Bedeutet dies, daß Wolfram tatsächlich ein X. Buch plante und kurz vor Abschluß des Werkes, aus welchen Gründen auch immer, abbrechen mußte (der letzte Dreißiger ist nicht vollständig) und er einen notdürftigen Schluß konstruierte? Es ist der Forschung bis jetzt nicht gelungen, eine befriedigende Antwort auf diese Frage zu geben (vgl. hierzu u. S. 163ff.).

3.1.3 Handlungsanalyse (Erstes Buch) a) Die Vorgeschichte (5,15 - 8,14) Die Enterbung Willehalms und die Vorgeschichte des Krieges (5,15 8,14). Nach dem Prolog (1,1 - 5,14; vgl. u. S. 220ff.) erzählt Wolfram in der Vorgeschichte, wie es zum Krieg zwischen Willehalm und Terramer kam.

Die epische Struktur. Handlung (5,15- 8,14)

69

Der Erzähler erinnert sein Publikum daran, daß es die folgende Geschichte e \vol vernomen (7,23) [bereits wohl gehört] hat: Falls Wolfram dabei andeuten will, daß das Publikum schon von der Liebe zwischen Willehalm und Gyburc gehört haben soll, bleibt unklar, in welcher Form das hätte geschehen können; es gibt weder Anzeichen dafür, daß es eine ältere deutsche Version der Geschichte gab noch daß das französische Lied vor Wolframs Publikum schon vorgetragen wurde. Vielleicht wollte Wolfram sein Publikum einfach darauf aufmerksam machen, daß es von der historischen Figur Willehalms und seiner Geschichte wahrscheinlich schon gehört habe (vgl. zu dieser Stelle BUMKE, 1959: S. 12, Anm. 9 und HEINZLE, 1991: S. 831 mit Literaturangaben).

Willehalm ist der älteste männliche Nachkomme des Grafen Heimlich von Narbonne; dieser enterbt alle seine Söhne und ernennt als Nachfolger ein nicht verwandtes Patenkind (den Sohn eines treuen Vasallen, der in seinem Dienst gestorben war). Die Nachkommen werden offensichtlich nicht enterbt, weil Heimlich mit ihnen unzufrieden ist: Nach seiner Rede (6,1 - 16) sollten seine Söhne sich dem Frauendienst und dem Dienst des Kaisers Karl widmen, und dabei einen Herrn finden, der ihren Dienst mit Lehen und Besitz lohnt. Willehalm verliebt sich in Arabel, die Ehefrau des Heidenführers Tybalt von Arabi (7,27ff); aus Liebe zu Willehalm verläßt Arabel ihren Mann, wird als Christin getauft, nimmt den Namen Gyburc an und heiratet den Christenfuhrer. Willehalm nimmt Tybalt das Land weg und regiert zusammen mit Gyburc in Orange; Tybalt beklagt seine Verluste. Es ist nicht anzunehmen, daß Willehalms Vater Heimlich seine Söhne enterbt, weil er keinen Sinn für die Familie hat: Im Gegenteil: Heimlich zeigt später große triuwe der sippe gegenüber. Es scheint so, als ob hier die sieben Söhne (Willehalm, Bertram, Buov, Heimlich, Emalt, Bernart und Gybert) von dem Vater auf die Probe gestellt werden; der Grund für die Enterbung der eigenen Söhne zugunsten eines Patenkindes wird zwar von Wolfram nicht direkt erklärt, doch scheint sie als Motiv für den Dichter wichtig zu sein (zur Bedeutung der Patenschaft, vgl. BUMKE, 1997: S. 227 mit Literaturangaben). Wie Gahmuret im Parzival muß sich Willehalm selbst um seine Lebensgrundlage kümmern, denn ihm wird kein gemach geboten: Beide Ritter, Gahmuret und Willehahn, müssen ihre Macht als Herrschaftsfiguren selbst erkämpfen. Nach BUMKE (1991: S. 210) spiegelt dieser Akt im Willehalm die Gefährdung der dynastischen Familienordnung; nach KIENING (1991: S 192) führt die einmal ins Werk gesetzte Sippen-

70

Werk und Interpretation

trennung zu weiteren verwandtschaftlichen Konflikten; für BUMKE (1997: S. 227) ist der Heidenkrieg eine Folge der Enterbung. SCHMID (1978: S. 274) hat darauf hingewiesen, daß im Willehalm, im Gegensatz zum Parzival, das Ausscheiden aus der väterlichen Erbfolge nicht den Sinn habe, den Helden seinem wahren Abstammungsort zuzuführen. Willehahn ist auch kein Artusoder Gralsheld: Die großen Helden dieser Literatur, die sich außerhalb der Artus- und Gralsbereiche befinden (etwa wie Gahmuret und Willehahn bei Wolfram und Siegfried im Nibelungenlied) zeigen ihren Wert, indem sie ihre Herrschaftsposition nicht erben, sondern erkämpfen. Daß Willehahn imstande ist, diese erste Hürde auf seinem Lebensweg zu meistern, scheint anzuzeigen, daß er für Höheres bestimmt ist.

Vergleich mit der Vorlage Der Anfang von Wolframs Vorlage (und wir wissen nicht genau, wie sie ausgesehen haben soll, vgl. o. S. 50) ist ganz anders gewesen: Das Lied fängt in medias res an, das heißt mitten in der Schlacht auf Aliscans. Das kommt daher, weil La Bataille a"Aliscans unmittelbar an das vorangehende Epos im Zyklus Chevalerie Vivien anschließt, In Chevalerie Vivien hatte der Neffe Guillaumes die Heiden herausgefordert; der Angriff der Heiden war gegen Vivien gerichtet, der am Anfang der Schlacht alleine gegen seine Feinde kämpft. Guillaume kommt zu spät, um Vivien zu helfen. Am Ende von Chevalerie Vivien ist Vivien schon tödlich verwundet; Guillaume versucht, ihm zu helfen, hat ihn aber aus den Augen verloren. Obwohl die Geschichte von der Enterbung am Anfang von Aliscans nicht erzählt wird, werden im altfranzösischen GuillaumeZyklus alle sieben Söhne von Aymeri enterbt; in Les Narbonnais erklärt Aymeri, daß dies notwendig sei, weil sein Land nicht groß genug ist, um durch sieben Erben geteilt zu werden (vgl. hierzu: SCHMID, 1978: S. 260). Im Willehalm wird ein solcher Grund nicht angegeben. Wolframs Version hat nichts Gemeinsames mit der Vorgeschichte zu Aliscans (d.h. mit Chevalerie Vivien). Trotzdem meinen viele Forscher, daß Wolfram Chevalerie Vivien gekannt hat: SAN MÄRTE (1871) und BERNHARDT (1990: S. 55) begründen ihre Meinung durch einige - wenige - Verse, die Wolfram von Chevalerie Vivien übersetzt haben soll; BUMKE (1991: S. 213) teilt diese Meinung. Aber wie NASSAU-NOORDEWIER (1901) herausgearbeitet hat, sind viele dieser vermeintlichen Übersetzungen einfach sehr

Die epische Struktur. Handlung (8,15- 57,28)

71

geläufige Ideen in der mittelalterlichen Literatur und hätten auch in der uns unbekannten Version Wolframs von Aliscans vorkommen können. Hiermit verbunden ist die Frage, ob Wolfram den Zyklus als Ganzes gekannt hat. In bezug auf Chevalerie Vivien ist es fast unmöglich, daß Wolfram das Lied gekannt hatte.

b) Die erste Schlacht auf Alischanz (8,15 - 57,28) Schlachtvorbereitungen und die ersten Kämpfe (8,15 - 26,8). Mit der Hilfe des Vaters von Arabel/Gyburc, des mächtigen Heidenführers Terramer, will Tybalt helfen, seine Frau und sein Land zurückerobern. Terramer und seine Brüder Arofei und Halzebier bringen ein riesiges Heer zusammen, das an der Küste landet und sich bei Alischanz versammelt. Zum Kampf auf dem Schlachtfeld bemerkt der Erzähler: da -wart sölhiu riterschaft getan, sol man ir geben rehtez wort, diu mac vür -war \vol heizen mort. swa man sluoc öd stach, swaz ich e da von gesprach, daz wart naher wol gelendet denne mit dem tode gendet: diz engiltet niht \van sterben und an vreuden verderben. (10,18ff.) [Da wurde von den Rittern so gekämpft, daß man es, sucht man das richtige Wort, nur Metzelei nennen kann. Was ich ehedem erzählt habe von Schlagen und Stechen, das wurde eher zu einem besseren Ende gebracht als mit dem Tod beendet: Hier wird jedoch mit dem Leben bezahlt und mit dem Verderben aller Freude.] SCHRÖDER (1984b) hat darauf hingewiesen, daß mhd. mord nicht mit dem nhd. „Mord" semantisch gleichzusetzen ist; hier bedeutet das mhd. Wort eher „Metzelei". Wolfram will sein Publikum darauf vorbereiten, daß diese Geschichte - im Gegensatz zu seinem Parzival (vgl. SINGER, 1918: S. 9f.) viele Tote als Ergebnis des Kampfes haben wird.

Willehalm verteidigt sein Land gegen die Heiden mit einer Hand voll christlicher Kämpfer auf dem Schlachtfeld von Alischanz (13,5ff.). Mit Willehalm streiten auch verschiedene christliche Ritter (Wit-

72

Werk und Interpretation

schart, Gerart von Blavi, Pfalzgraf Bertram, Gwigrimanz, Myle, Joseranz, Huwes, Gaudins, Gibelin, Gaudiers, Hunas von Saintes), allen voran sein Neffe Vivianz (vgl. 13,15ff.). Willehalm ruft seine Mitstreiter auf, gegen die Heiden zu kämpfen , Ly'erde hie durh \vibe Ion / und ze himel durh der enge l don' [Hier auf Erden für den Lohn der Frauen und im Himmel für den Gesang der Engel] (17,lf): Also um irdische Frauenminne und um Lohn im Himmel. In Willehalms Rede vor seinen Rittern (vgl. 17,3 - 22) wird klar, daß es in diesem Kampf um die christliche Religion geht. In diesem Krieg werden die getöteten christlichen Kämpfer ,jnit engelen in den hinter (14,11) gehen: ERDMANN (1935: S. 316f.) hebt hervor, daß seit dem ersten Kreuzzug die Auffassung besteht, daß alle, die den Tod auf der Kreuzfahrt finden, als Märtyrer unmittelbar in den Himmel eingehen. Es ist bezeichnend, daß dieser Krieg als ein Kreuzzug aufgefaßt wird: Die christlichen Kämpfer tragen das Zeichen von Christi Tod auf ihren Waffenröcken (vgl. 17,16 und 31,24ff.) und werden gotes saldieren (eine Übersetzung von der offiziellen Bezeichnung des Kreuzritters miles Dei oder miles Christi, vgl. hierzu KARTSCHOKE, 1968: S. 275) genannt. Für die Christen im Willehalm handelt es sich jedoch um einen defensiven und keinen offensiven Krieg, denn es geht nicht um die Eroberung einer für die Christen bedeutenden Stätte, sondern um die Verteidigung einer Grenzmark, die die Christen im Zuge der reconquista von den Heiden schon erobert haben. Der Willehalm beschreibt also keinen Kreuzzug im eigentlichen Sinne und mußte daher auch nicht verkündet werden (vgl. jedoch dazu BUMKE, 1991: S. 212). Es ist anzunehmen, daß für Wolfram (wie in den chansons de geste) die ganze reconquista den Charakter eines Kreuzzuges hat. Bei Wolfram wird die defensive Seite hervorgehoben, denn - wie in der Vorlage - verteidigen die Christen auf Alischanz ihre Heimat gegen einen Angriff der Heiden: Die Heiden wollen aber das Christentum zerstören.

Die Christen hören die Posaunen der Heiden, die unter Führung von Halzebier anrücken: 30.000 heidnische Ritter und Berufskrieger gehören zum angreifenden Heer. Die Heiden wählen als Schlachtruf „Tervigant" (18,28), die Christen „Monschoy" (19,1). Tervagant soll einer der heidnischen Götter sein; Monschoy als Schlachtruf kommt schon in der Chanson de Roland vor und geht auf den Schlachtruf „Meum gaudium" [meine Freude] zurück, der in historischer Quelle von 1119 schon bezeugt ist. Aus „Meum gaudium" ist wahrscheinlich auch der

Die epische Struktur. Handlung (8,15 - 57,28)

73

Name des Karlsschwertes (im Willehalm Schoiuse) abgeleitet (vgl. BERTAU, 1972/73: S. 238).

Der Kampf fängt an und die beiden Heere, frontal aufeinandergestoßen, durchbrechen die vorderen Reihen (19,12ff.): Viele sterben auf beiden Seiten. Die Christen kämpfen um himmlischen Ruhm (vgl. 19,28); der Erzähler, der die reiche Bekleidung der heidnischen Gegner hervorhebt, bedauert jedoch, daß der Gott Tervagant die Heiden zur Hölle bestimmt (20,10ff.). Pinel („ein •werder Heiden" 21,10) wird von Willehalm getötet; der Schwestersohn Willehalms, Myle, wird von Terramer niedergeschlagen. Es gelingt den Christen, den ersten heidnischen Angriff unter Halzebier aufzuhalten; Terramer kehrt zu seinem Lager zurück, und die Christen scheinen zu siegen (vgl. 22,1). Der junge, strahlende Heide Noupatris, König von Graste Gentesin, erscheint auf dem Schlachtfeld; dieser Minneritter wird vom jungen, klaren Vivianz getötet. Wolfram beklagt, daß sie gegeneinander kämpfen müssen, Vivianz durh pris und durh den touf [um des Ruhmes und der Taufe willen] (23,17) und Noupatris durh den tiuren kouf, / daz er ouch prises gerte [des hohen Einsatzes wegen, weil auch er nach Ruhm strebte] (23,18f). Der Kampf zwischen Noupatris und Vivianz wird ausführlich beschrieben; JONES (1988: S. 55 und 1989: S. 436) bemerkt dazu, daß es sich hier um den einzigen Zweikampf der ganzen WW/e/ia/m-Dichtung handelt, der für die chansons de geste typisch ist, da die grausamen Wunden der Lanzen sehr genau beschrieben werden (vgl. 24, l off; 25,14ff.). Beide Ritter kämpfen bis zum Tod: Vivianz tötet Noupatris mit seiner Lanze (24,30), wird jedoch von dem Heiden durch dessen Lanze tödlich verwundet. Wolfram beschreibt Noupatris' Banner und Lanze und die Wunde. Die Lanze des Noupatris wird mit einem Banner geschmückt, das Amor, den heidnischen Gott der Liebe darstellt; dieses Banner des Heiden durchbohrt den Leib des Christen: Amor der minnen got und des bühse und sin ger heten durhvartlichen ker in der baniere durh in genomen schiere, daz man si rückeshalp sach, von sküniges hont, der si da stach Vivians durh den lip -

74

Werk und Interpretation

des manec man und manec vwp gewinnen jamers leide so daz imz geweide uz der tjost übern satel hienc. (2 5,14ff.) [Amor der Liebesgott samt Köcher und Pfeil waren auf dem Banner durch ihn hindurchgefahren, so daß man sie am Rücken wiedersah, von eines Königs Hand so durch Vivianz' Leib gestochen (deshalb waren viele Männer und viele Frauen betrübt), daß ihm das Eingeweide von dem Zweikampf über den Sattel hing.] Da das Banner von Noupatris „mif einem tiuweren gere" [mit einem kostbarem Pfeil] (24,6) des Amor geschmückt ist, ist es klar, daß der Heide nach rechter Liebe strebt (vgl. JOHNSON, 1952: S. 52 und PALGEN, 1920: S. 231, der beweist, daß diese Stelle durch Heinrich von Veldekes Eneasroman, 991 Off. inspiriert wurde): Noupatris ist ein Minneritter und, da Vivianz von ihm auf diese Art und Weise tödlich verwundet wird, interpretiert BUMKE (1959: S. 175, Anm. 96) diese Stelle als ein Beweis dafür, daß Vivianz gegenbildlich als Anti-mmwe-Ritter dargestellt wird. Die Tatsache jedoch, daß Vivianz von einer solchen Lanze schwer verletzt wird verdeutlicht vielmehr, daß der junge Christ stirbt, bevor er an den Freuden der minne teilnehmen darf (vgl. u. S. 203).

Der Kampf geht weiter: Vivianz stopft sich das Eingeweide wieder in den Leib und stürzt sich erneut in die Schlacht (25,25ff.)! Die Niederlage der Christen (26,9 - 57,28). Der Erzähler erklärt, wie viele heidnische Minneritter jetzt ihr Leben verlieren (unter ihnen Eskelabon, sein Bruder Galafre, Glorion und Faussabre): Halzebier hat schwere Verluste hinnehmen müssen, denn zwei Drittel seines Heeres sind schon tot (vgl. 27,21). Terramer selbst will jetzt persönlich in den Kampf: Da treten andere heidnische Ritter in die Schlacht, gefuhrt von den Königen Poufameiz, Josweiz, Turkant und Arofei mit zehn Söhnen seines Bruders. Arofels Heer marschiert auf (29,24ff.). Der Erzähler unterbricht die Beschreibung der Schlacht mit einer Klage (30,21 ff), in der er zuerst Gyburc bezichtigt, der Liebe wegen den Tod von Christen und Heiden verursacht zu haben, sie dann aber von aller Schuld freispricht: unschuldec was diu künegin (31,4) [unschuldig war die Königin]. Sie ist unschuldig, weil dieser Krieg ihrer christlichen Taufe wegen ausgebrochen ist (vgl. hierzu RUH, 1980: S. 166; SCHRÖDER, 1981: S. 316). Diese Apostrophe korrespondiert formal mit der Anrufung Gyburcs am

Die epische Struktur. Handlung (8,15- 57,28)

75

Anfang des neunten Buches (403,lff; vgl. hierzu: SCHMIDT, 1979: S. 13 sowie u. S. 148f.).

Die Heiden marschieren erneut auf: Gegen jeweils einen Christen kämpfen jetzt hundert Heiden. Der Erzähler nennt viele der heidnischen Ritter: Unter ihnen befinden sich Söhne und ein Enkelkind des Heidenführers, andere Heidenkönige, die Ritter von Arofei und Halzebier und die Kämpfer des Königs Gorhant, die eine hürnene Haut und keine menschliche Stimme haben (35,l Iff.). An der Spitze des Heeres steht Terramer selbst: Wieder töten die Christen viele Heiden; sie werden aber von der Übermacht des Feindes überrannt und auseinandergetrieben (vgl. 37,16f). Die Christen, die auf dem Schlachtfeld sterben, gehen als Märtyrer in den Himmel ein; die Hölle freut sich auf den Tod so vieler Heiden (vgl. 38,29). Willehalm sieht, daß sein Heer die Schlacht verliert, und er beklagt sich: ,ei Gyburc, süeze amie, /wie tiuwer ich dich vergolten hanT (39,12f.) [Ach Gyburc, süße Freundin, wie teuer habe ich für dich gezahlt!"]. Terramer verspricht den Christen, daß er sich für die Taufe seiner Tochter an ihnen rächen wird (44,5ff.).Vivianz, der nicht fliehen wollte, stürzt sich wieder in die Schlacht; mit ihm kämpfen acht weitere christliche Ritter (Joseranz, Samson, Gerart, Kibelin, Witschart, Berhtram, Gaudin und Gaudiers) (45,Iff.). Vivians ungerne vloch (41,12) [Vivianz wollte nicht fliehen] sagt der Erzähler. Diese Bemerkung ist aus der Vorlage übernommen und bezieht sich an dieser Stelle auf die Vorgeschichte in Chevalerie Vivien: Bei der Schwertleite - in der Convenant-Szene - hatte Vivien öffentlich geschworen, nie vor dem Feind zurückzuweichen (vgl. C.V. 37 und 41) und wird deswegen von seinem Onkel Guillaume kritisiert. Der Aliscans-Oichter kennt offensichtlich diese Vorgeschichte (vgl. AI. 90); in Wolframs Vorlage vergißt Vivien für einen Moment diesen Schwur und flieht offensichtlich eine Lanze weit (vgl. AI. 88) vor dem Feind. Inwiefern wußte Wolfram etwas von dieser Geschichte (vgl. MERGELL, 1936: S. 27f.)? Für BUMKE (1959: S. 21 Anm. 24) ist die Tatsache, daß Wolfram hier an eine Flucht denkt, nur von der Quelle her zu verstehen. BUMKE (1959: S. 24 u. 28) ist der Ansicht, daß Wolfram auf die Vivianzhandlung verzichtet, weil er die ConvenantSzene nicht in seine Version aufgenommen hat, und daher verliere die Vivianzhandlung ihren inneren Zusammenhalt, sie zerfalle. Wolfram habe das epische Zentralmotiv der Vivienhandlung - die Flucht vor den Heiden aus seiner Version „getilgt" (BUMKE, 1991: S. 214; dagegen GREENFIELD, 1991: S. 190). Dabei wird jedoch vergessen, daß Wolfram - im Nachhinein -

76

Werk und Interpretation

auf diese Convenant-Szene anspielt, und zwar alsVivianz in der Sterbeszene von seinem Schwur spricht (vgl. 66,25 - 30). Für KARTSCHOKE (1968: S. 278) scheint Wolfram das Fluchtmotiv in der Schlacht von Vivianz auf Bertram zu übertragen. Aber die Verszeile 41,12 bezeugt, wie zentral das Fluchtmotiv auch bei Vivianz ist.

Halzebier rächt sich für den Tötung seines Schwestersohns Pinel durch Willenalm, indem er den Schwestersohn Willehalms, Vivianz, niederschlägt. Dann nimmt er die acht anderen christlichen Ritter als Geiseln gefangen (47, Iff.). Die acht christlichen Ritter, die hier gefangen genommen werden, werden in der zweiten Schlacht von Rennewart befreit (vgl. 415,27): Gyburc erwähnt diese Ritter auch (vgl. 258,22). In den drei Listen, in denen sie aufgeführt werden, stimmen jedoch bloß sechs der acht Namen immer miteinander überein. Wolfram hat sich hier wahrscheinlich geirrt: Huwes, der in der zweiten und dritten Liste vorkommt, scheint schon ein Opfer der ersten Schlacht zu werden (vgl. 14,26)!

Als alle weggeritten sind, kommt Vivianz wieder zu sich, sieht ein verwundetes Pferd und schwingt sich hinauf (47,30f.): Der Erzähler beteuert, daß der junge Vivianz als Märtyrer für den christlichen Glauben und zu seinem Seelenheil stirbt (48,6ff.). Er reitet zum Fluß Larkant und sieht den Erzengel Cherubin (49, Iff.); Vivianz betet, daß er seinen Onkel Willehalm noch vor seinem Tod sehen darf (49,16ff.). Der Erzengel verspricht Vivianz, daß dies noch geschehen wird und verschwindet dann wieder (49,27); Vivianz bricht zusammen. Nach KARTSCHOKE (1968: S. 279) ist die Vorstellung eines Erzengels Cherubin absurd: „Ein Beispiel, wie wenig an theologischen Kenntnissen wir Wolfram zutrauen dürfen". Aber, wie MARCHAND 1974 gezeigt hat, folgt Wolfram hier einer in der Theologie verbreiteten Tradition, nach der die als Cherubim bezeichneten Paradieswächter, die in Genesis 3,24 genannt werden, als ein Engel aufgefaßt wurden (vgl. hierzu auch OCHS, 1968: S. 12).

Um Willehalm kämpfen nur noch vierzehn Christen (50,20ff.); er beklagt sich wieder wegen seiner Verluste und wegen Gyburc. Obwohl er die Toten nicht zurücklassen will, versuchen Willehalm und seine Ritter, nach Orange durchzubrechen (53,15ff.). Sie werden

Die epische Struktur. Handlung (8,15-57,28)

77

von dem reich ausgestatteten König Poufameiz angegriffen (53,28ff.); dieser stirbt zwar im Zweikampf mit Willehalm, aber der Christenführer verliert dabei auch seine letzten Ritter. Ganz alleine entkommt Willehalm in die Berge (57,23; zu dieser Stelle vgl. grundsätzlich WYNN, 1982: S. 130). Nach LACHMANNS Einteilung in Dreißigerabschnitte fehlen am Ende des ersten Buches zwei Verse: Die Forschung hat diese Tatsache verschiendenartig aufgefaßt. Einige Übersetzer scheinen anzunehmen, daß dieser Abschnitt absichtlich aus achtundzwanzig Versen besteht; sie versuchen dann, dieser sprachlich problematischen Stelle einen Sinn zu geben (vgl. etwa KARTSCHOKE, 1989: S. 37; FINK / KNORR, 1941: S. 35; GIBBS / JOHNSON, 1984: S. 42; vgl. auch hierzu WYNN, 1982: S. 129); zu den verschiedenen Übersetzungsmöglichkeiten vgl. HEINZLE, 1991: S. 878ff. (mit Literaturangaben), der (S. 880) mit LACHMANN (1926: S. 480, Anm.) und SCHANZE (1966: S. 110) zu Recht annimmt, daß im letzten Dreißigerabschnitt des ersten Buches - vor 57,27 - zwei Verse fehlen.

Zur Schlachtgestaltung vgl. u.: Exkurs (S. 177ff.) Vergleich mit der Vorlage Die Schlacht in Aliscans ist schon zu Beginn der Dichtung in vollem Gange; bei Wolfram jedoch wird die Schlacht von der Vorbereitungsphase bis zu ihrem Ende beschrieben. Der deutsche Dichter hat auch mehr als doppelt so viel Platz für die Schlachtbeschreibung in Anspruch genommen wie in Aliscans (aus den 650 Versen der Vorlage mit den für die Chanson de geste typischen Wiederholungen am Lö/ise-Anfang - hat Wolfram fast 1.500 Verse gemacht). Der Ablauf der im zweiten Teil der ersten Schlacht dargestellten Ereignisse folgt in etwa dem der Vorlage. Wolfram hat jedoch den Anfang anders gestaltet: In Aliscam ist Vivien in der ersten Schlacht fast allgegenwärtig und wird oft von Guillaume gesucht; schon von Anfang an ist Vivien tödlich verwundet; sein Zweikampf mit dem heidnischen l'ampatris (Noupatris) kommt erst viel später, nachdem er vor dem Feind geflüchtet ist. Obwohl Wolfram die VivianzHandlung gerafft hat (das betrifft vor allem die Handlung um den aktiven Ritter Vivianz, vgl. GREENFIELD, 1991: S. 156), widmet er dieser Figur mehr Verse als die Vorlage. Die zusammenhängende Vivienhandlung hat Wolfram nicht ganz - wie BUMKE (1991: S. 213)

78

Werk und Interpretation

behauptet - „aufgelöst": Wolfram hat die Vivianzhandlung vielmehr mit der der Schlacht verflochten. Der bevorstehende Tod des Märtyrers wird bei Wolfram sehr sorgfältig beschrieben: die Ereignisse werden in der gleichen Reihenfolge erzählt wie in der Vorlage. Namen - besonders die der Heiden - werden von Wolfram neu eingefügt, z.T. vielleicht auch vom deutschen Dichter falsch verstanden (im Willehalm heißt l'ampatris der Vorlage Noupatris l'ampatris ist aber kein Name, sondern ein Titel - „der Adlige" Wolfram hat den Aliscans-Text entweder falsch aufgefaßt oder er hat aus diesem Titel einen Namen gemacht). In der Vorlage spielt der heilige Engel die Rolle des Gottesboten, der Vivien zu seiner letzten Ruhestätte fuhrt: Wolfram hat diese Rolle dem Erzengel Cherubin übertragen.

(Zweites Buch) c) Von Alischanz bis Orange (58,1 - 88,30) Das Martyrium des Vivianz (58,1 - 69,28). Auf der Flucht vom Schlachtfeld beklagt sich Willehalm (58,15ff.). Im Unterholz am Fluß Larkant, bei einer Quelle unter einem Lindenbaum findet er seinen Neffen Vivianz (60,17), den er für tot hält; Willehalm wird ohnmächtig (61,18). Nachdem er wieder zu sich gekommen ist, setzt er seine Klage fort (62,Iff.): Er erinnert sich an die Pracht der Schwertleite seines Neffen; er hebt die Jugend und Schönheit des Vivianz hervor. In Willehalms Armen kommt Vivianz wieder zu sich (65,2f); Willehalm, der eine geweihte Hostie bei sich hat, will ihm das Todessakrament geben (65, l Iff.). Vivianz spricht mit Willehalm, legt seine Beichte ab, empfängt das heilige Sakrament und stirbt dann als Märtyrer im Geruch der Heiligkeit (69, l Off). Die „pietahafte" (KIENING, 1991: S. 241) Todesszene des Vivianz stellt das Ende der ersten Alischanzschlacht und zugleich auch den Höhepunkt der ganzen Vivianz-Handlung dar (vgl. BUMKE, 1959: S. 29): Vivianz stirbt stellvertretend für alle christlichen Ritter der ersten Schlacht - als Märtyrer. Der Ort des Todes ist ein locus amcenus: Dazu gehören Bäume - darunter ein Lindenbaum - und ein Brunnen. Dieser Ort mit seinem bukolischen Charakter stellt einen klaren Gegensatz zum Gefechtslärm vom Schlachtfeld dar und würde gut als Hintergrund für eine Pastourelle dienen: Im Augen-

Die epische Struktur. Handlung (58,l - 88,30)

79

blick der Passion des Märtyrers wollte Wolfram offensichtlich sein Publikum in eine andere, vom Schlachtfeld weit entfernte Welt führen (vgl. hierzu GREENFIELD, 1991: S. 153). Für BERTAU (1972/73: S. 1142 ) ist die Szene eine Art Gegenstück zum Tod des Helden in der Chanson de Roland. „Was im Vergleich mit jener hier aus der epischen Liturgie mit der Wirklichkeit geworden ist [...]: Kein rhetorischer Kreislauf der Themen verbindet mehr Vasallität, Heidenkampf, Christentum und Francia, keine geistlichen Gesten tauschen sich mehr mit feodalen". Aber: Hier geht es um den Tod eines Märtyrers, der im odor sanctitatis stirbt (vgl. 69,12ff); in dieser Szene hebt Wolfram nicht nur die Heiligkeit des sterbenden Vivianz hervor, sondern auch seine jugendliche Schönheit und seine Tapferkeit als Ritter. Wolfram waren nicht nur Vivianzens weltlicher Glanz, sondern auch die Erhabenheit seines heiligen Sterbens wichtig (BUMKE, 1991: S. 214): Deswegen spricht Willehahn von Vivianzens Schwertleite und Rittertaten, aber auch von seiner Heiligkeit: sölh süeze an dime libe lac: des breiten mers salzes smac müese al zukermcezic sin, der din eine zehen würfe drin. (62,11 ff.) [Solche Süße war in dir: der Salzgeschmack des weiten Meeres würde zuckersüß werden, wenn man nur eine deiner Zehen hineinwürfe.] Diese Verse könnten von einem modernen Leser mißverstanden werden (vgl. BUMKE, 1959: S. 26f.); handelt es sich hier um eine Hyperbel (vgl. SCHRÖDER, 1960a: S. 55), die „fast wie ein Vorwurf an die gefühllose Natur [klingt], daß sie nicht von der unnennbaren süeze des Gefallenen Zeugnis ablegt"? Diese Worte Willehalms entsprechen jedoch eher „dem exaltierten [...] traditionellen Denkstil von Legendenfrömmigkeit und Minnedevotion" (HEINZLE, 1991: S. 883, mit weiteren Literaturangaben) und zeugen daher auch von der Gewißheit des Protagonisten, daß Vivianz als Märtyrer stirbt. Erst durch den Tod seines Schwestersohns Vivianz wird es Willehalm klar, wie groß die Niederlage auf Alischanz gewesen ist. Vor der Entdeckung Vivianzens beklagt sich Willehahn, aber scheint die Verantwortung für die Niederlage nicht persönlich zu nehmen (vgl. 58,15 - 59,8); nachdem er jedoch mit Vivianz gesprochen hat, wird die Niederlage auch zu einem persönlichen Anliegen. Willehalm, der selbst kinderlos ist, hat ein ganz besonders inniges Verhältnis zu seinem jungen Schwestersohn Vivianz, den er in die Schlacht geschickt hat. Da er Vivianz für tot hält, will er auch selber sterben (vgl. 60,24f; 61,2; 61,12f); er wird ohnmächtig, kann mit Vivianz jedoch noch einmal sprechen, um als Laie seine - schuldlose Beichte zu hören, und ihm das Sterbesakrament zu geben (zur schuldlosen Beichte des Vivianz vgl. STACKMANN, 1984 und GREENFIELD, 1991: S.

80

Werk und Interpretation

203ff). Nachdem er diese Beichte gehört hat, fühlt sich Willehahn für den Tod Vivianzens selbst verantwortlich: , ich sol vor got gelten dich: dich ensluoc hie niemen mer \van ich. din tot sol miner tumpheit vüegen also vrühtec leit, daz zollen zitenjamer birt unz mines lebens ende wirf. diu schulde ist von rehte min: durh waz vuort ich ein kindelin gein starken \viganden uz al der Heiden landen?' (67,21 ff.) [Gott wird mich deinetwegen zur Rechenschaft ziehen, denn kein anderer als ich hat dich erschlagen. Dein Tod wird mir Toren einen fortzeugenden Schmerz ernten, der bis an mein Lebensende immer neue Trauer bringen wird.] Dieses Schuldgefühl Willehalms, daß er selbst Vivianz umgebracht hat, wird die Handlung der Dichtung oft bestimmen, etwa in der Arofel-Szene. Wolfram signalisiert, daß die Todesszene - und damit auch der locus amoenus - zu Ende ist, indem er das plötzlich realistische Element eines herabgefallenen Astes in die idyllische Szene einbrechen läßt (vgl. hierzu KIENING, 1991: S. 241 f.).

Neue Kämpfe Willehalms (69,29 - 88,30). Nach dem Tod des Vivianz trauert Willehalm um seinen Neffen und auch um seine weiteren Verluste. Er will den toten Vivianz nach Orange mitnehmen und er hebt ihn aufsein Pferd (70,9); jedoch wird er von Heiden angegriffen und, um sich zu wehren, muß er die Leiche auf den Boden werfen (70,21). Seinen Feinden kann er entkommen, er kehrt um und verbringt die Nacht - in einer Art Totenwache - um seinen Neffen trauernd (70,28ff.). Bei Tagesanbruch verläßt Willehalm Vivianz, denn er will die Leiche nicht wieder - auf unehrliche Weise - auf den Boden werfen, und macht sich allein auf den Weg nach Orange. Dann trifft Willehalm fünfzehn Heidenkönige (die Namen werden aufgezählt: 74,4 - 25;). Diese Könige hatten die Nacht auch mit einer Wache verbracht - zur Ehre des Heidengottes Tervagant (71,23ff.); unter ihnen befindet sich Ehmereiz, ein Sohn Arabels. Wolfram erörtert hier die Tatsache, daß es 72 Sprachen auf der Welt gibt (es handelt sich um eine zu Wolframs Zeit seit langem feststehende Meinung,

Die epische Struktur. Handlung (58, l - 88,30)

81

die auf jüdische Überlieferung zurückgeht; vgl. HAPP, 1966: S. Ulf.) und daß bloß zwölf davon von Christen gesprochen werden (vgl. hierzu auch 101,22 und 450,20).

Außer Ehmereiz, der wohl wegen Gyburc geschützt wird (vgl. 74,30; für SCHRÖDER, 1974: S. 237 ist „Gyburcs Sohn ... für Willehalm tabu"; vgl. hierzu auch STEVENS, 1997: S. 26ff.), kämpfen alle Könige mit Willehalm; sieben werden getötet und acht entfliehen (vgl. 76, If). In einer Rede (75,4 - 20) bezichtigt Ehmereiz Willehalm, durch Zauberlist Arabel von ihrem Glauben an die heidnischen Götter abgebracht zu haben; er bringt auch seinen Haß gegenüber seiner Mutter zum Ausdruck: ,ich enschilt ir niht, diu mich gebar, / ob ich der zühte \vil nemen war; / doch trag ich immer gein ir haz' (75,15ff.) [Ich werde sie nicht schmähen, die mich gebar, wenn ich den Anstand wahren will; doch ich werde sie immer hassen]. Willehalm reagiert jedoch nicht auf diese Rede. Anschließend trifft er zwei weitere heidnische Könige und Minneritter: Tenebruns und Arofei, den Onkel Gyburcs. Anstatt mit ihnen zu kämpfen würde Willehalm lieber direkt nach Orange reiten (vgl. 77,9f), aber die Heiden bestehen auf dem Kampf. Tenebruns fällt als erster (77,19); der Streit mit Arofei ist viel schwerer zu bestehen. Wolfram hebt hervor, was für ein berühmter und ehrenvoller Ritter Arofei ist (78,8 - 25). In einem gewagten Angriff versucht Arofei, Willehalm vom Pferd abzuwerfen, jedoch reißen seine Lederriemen an einem Knie, der Beinschutz löst sich und Willehalm kann ihm ein Bein abschneiden (79,2)! Der verwundete Heide ergibt sich und bietet ein hohes Lösegeld: dreißig Elefanten und so viel Gold, wie sie gerade noch tragen können (79,15ff.). Arofei erklärt Willehalm: ,helt, dune hast deheinen pris, / ob du mir nimst min halbez leben: / du hast mir vreuden tot gegeben' (79,22ff.) [Held, es bringt dir keinen Ruhm, wenn du mir mein halbes Leben nimmst; mein Glück hast du schon getötet]. Willehalm scheint wenig Verständnis für diese - ehrenhafte - Bitte um Gnade zu haben: Das Angebot des hohen Lösegeldes weckt bei ihm Erinnerungen an Vivianz' Tod und wie er zu rächen sei: er dahte an Vivianzes tot, me der gerochen würde, unz daz sinjamers bürde [E]in teil gesenßet \vcere. (79,28ff.)

82

Werk und Interpretation

[er dachte an Vivianz' Tod, / wie der zu rächen wäre / bis seine eigene Schmerzenslast / ein wenig leichter würde.]

Willehalm fragt Arofei nach seiner Herkunft, und erfährt, daß er der Onkel seiner Frau Gyburc ist (80,6fF.). Anschließend erklärt der Heide, daß, wenn seine Nichte Arabel und sein Bruder Tybalt statt seiner Person erschlagen lägen, man ihren Tod weniger beklagen würde (80,12ff.)! Der Erzähler unterstreicht die Wahrheit dieser Aussage (es handelt sich also nicht um eine übertriebene Betonung der eigenen Fähigkeiten, vgl. hierzu: W.J. SCHRÖDER, 1975: S. 411), aber Willehalm reagiert zornig darauf: ,du garnest al min herzeser, und daz din bruoder Terramer mine besten möge ertcetet hat, und daz din helfeclicher rat da bi so volleclichen was. ob allez gebirge Koukesas diner hant ze geben zceme, daz golt ich gar niht nceme, dune gultest mine mage mit des todes wage.' (80,17ff.) [Für mein Herzeleid muß du mir büßen und dafür, daß dein Bruder Terramer die besten meiner Familienmitglieder getötet hat und daß du mit Rat und Hilfe dazu so viel beigetragen hast. Wenn du das ganze Kaukasusgebirge verschenken könntest, das Gold würde ich sicher nicht nehmen dafür, wenn du meine Blutsverwandten nicht mit deinem Tod aufwögest.]

Arofei fleht Willehalm weiter an, ihn nicht zu töten (80,27 - 81,10); und doch enthauptet Willehalm Arofei, und zwar ohne großen Kommentar seitens des Erzählers (war umbe sold ichz lange sagen? fragt er - 81,11 - Warum sollte ich lange Worte machen?): Wolfram erklärt lediglich, daß es ein verlustreicher Tag für die minne war und, daß christliche Damen diesen Heiden der minne wegen noch beklagen sollten (vgl. 81,19ff). U.a. PALGEN (1920: S. 22) hat darauf hingewiesen, inwiefern es Ähnlichkeiten gibt zwischen dem Tod Arofels und dem des Turnus im Eneasroman Heinrichs von Veldeke (vgl. hierzu auch KIENING, 1991: S. 103ff.). Der Streit zwischen Willehahn und Arofei und der Tod des wehrlosen Heiden ist eine viel diskutierte Stelle in der Willehalm-Forschvng: Ist die

Die epische Struktur. Handlung (58, l - 88,30)

83

Tötung Arofels durch Willehalm eine Verletzung der ritterlichen Konvention und daher auch als eine Sünde zu bezeichnen, oder ist es eine Notwendigkeit? MERGELL (1936: S. 134ff.), der von Willehalms Wandlung im Laufe der Handlung spricht, vertritt die Meinung, daß für Willehalm die Tötung Arofels (ein Onkel seiner Frau) mit der Jugendsünde Parzivals (d.h. mit der Tötung seines Familienmitglieds Ither) zu vergleichen sei: „Hier wird Willehalm in Wolframs Augen schuldig" (S. 136). SCHRÖDER (1974) versteht die Erschlagung des Heiden als einen Verstoß gegen die ritterliche Kampfkonvention; daher sei diese Tötung als eine ,Hinrichtung' zu deuten; indem er Arofei tötet, beachtet Willehalm den Toleranzgedanken seiner Frau nicht. Auch BERTAU (1983a: S. 89) sieht diese Tötung als eine Ermordung; für RUH (1980: S. 169) ist sie „ein schwer verständlicher und beunruhigender Vorgang im Leben Willehahns"; vgl. hierzu auch u.a. WEBER (1965: S. 11) und FUCHS (l 997: S. 301f). BUMKE (1959: S. 61 ff; 1991: S. 215) dagegen behauptet, daß obwohl diese Tötung grausam sei, sie weder vom Erzähler noch von den Personen der Dichtung verurteilt werde. Die Tatsache, daß Willehahn später, in einem Gespräch mit König Loys, diese Tat bereut (vgl. 203,19ff), deutet BUMKE (1959: S. 62) jedoch nicht als ein Zeichen von Schuldbekenntis und Reue eines Verwandtenmörders (etwa wie bei MERGELL): davon sei nichts zu spüren. Auch LOFMARK (1972: S. 155) interpretiert die Tötung Arofels nicht als Sünde, sondern als Notwendigkeit, da Willehahn den Tod seines Neffen Vivianz rächen müsse. Zustimmend u.a. FRANCKE (1975: S. 39f), GREENFIELD (1991: S. 160f.) und RUSHING (1995: S. 482); vgl. dagegen (1991: S. 103ff.), der die Arofel-Szene auf dem Hintergrund des Zweikampfes zwischen Eneas und Turnus im Eneasroman deutet. FUCHS (1997: S. 302) ist der Auffassung, daß durch diese Tötung Arofels „die Figur des Helden [Willehalm] zum Problem geworden ist" (vgl. auch STEVENS, 1997: S. 125f). In der Tat bereut Willehalm in seinem Gespräch mit Loys die Tötung Arofels der minne wegen: , ich han der minnen hulde verloren durh die schulde: ob ich minne wolde gern, ich mües ir durh den zorn enbern, want ich Arofeie nam den lip, den immer klagent diu werden mp.' (204,25ff.) [Ich habe die Gnade der Minne durch diese Untat eingebüßt: Wenn ich nun um Minne würbe, dann müßte ich auf sie verzichten wegen ihres Zorns darüber, daß ich Arofei tötete, den edle Frauen immer beklagen werden.]

84

Werk und Interpretation

Heißt das aber, daß er meint, falsch gehandelt zu haben? Als er Arofels Angebot hört, entscheidet er sich, ihn zu töten, denn: ,sines Sterbens mich baz luste, want ich smorgens kuste Vivianzen dicke also tot. ez half in niht swaz er mir bot' (203,27ff.) [Ich wollte lieber seinen Tod, denn ich hatte am Morgen den toten Vivianz immer wieder geküßt. Es half ihm nichts, was er mir auch bot] Damit erklärt Willehalm, warum er Arofei umgebracht hat: Es ist der Rache wegen! Für die höfische Konvention scheint dieser Beweggrund geradezu zwingend zu sein. Im Parzival erklärt Gurnemanz, der Lehrer Parzivals, seinem Schützling was er tun soll, falls ein besiegter Feind ihm die Sicherheit anbietet: an swem ir strites Sicherheit bezalt, ern hab iu sölhiu leit getan diu herzen kumber \vesn. die nemt, und läzet in genesn. (Pz. 171,27ff.) [Wenn euch ein Ritter die Sicherheit bietet, so nehmt sie an und laßt ihn leben, es sei denn er hat euch solch bitteren Schmerz zugefügt, daß tiefes Herzeleid zurückbleibt]. Der höfische Ritter soll demnach die Sicherheit nicht annehmen, wenn sein unterlegener Feind ihm tiefes Leid verursacht hat, etwa durch die Tötung von Mitgliedern seiner eigenen Familie. Die Tötung des Besiegten ist sogar seine Pflicht - ein Zeichen der triu\ve - gegenüber dem Geschlecht. Im Gespräch zwischen Willehahn und Arofei ist klar, daß Willehahn Arofei verantwortlich macht rar den Tod seiner Verwandten, allen voran Vivianz (den er ja gerade verloren hat). Wolfram scheint den Tod Arofels sogar ganz bewußt als Teil einer symmetrischen Verkettung von Blutrachetaten in die Handlung eingebettet zu haben, damit diese Tötung nach der ritterlichen Auffassung als angemessen erscheint (vgl. GREENFIELD, 1994: S. 54 Anm. 9). Obwohl Willehalm den Tod eines so ehrenhaften Gegners bereut und als ein Verlust für die minne bezeichnet, ist es jedoch unhaltbar, die Tötung Arofels als einen mit Schuld verbundenen Mord zu deuten.

Bevor er sich weiter auf dem Weg nach Orange macht, zieht Willehalm die Rüstung Arofels an (81,26ff.). Da sein eigenes Pferd Puzzat verwundet ist, nimmt er das Pferd Arofels Volatin; seinen Schild trägt er auch (vgl hierzu FUCHS, 1997: S. 302f.). Wolfram erklärt, wie das heidnische Heer vor Orange steht: Terramer hat seinem Enkelkind die Erlaubnis gegeben, Gyburc in

Die epische Struktur. Handlung (58,1-88,30)

85

Orange zu töten (82,24ff.). Zu ihrem Schutz kommt jedoch der Heidenkönig und Minneritter Tesereiz (83,4f), der vom Erzähler sehr gerühmt wird (83,6ff.). Vor Orange wird Willehalm von den Heiden als Christ erkannt und sie verfolgen ihn (85,16ff.). Tesereiz sieht, daß Willehalm in Bedrängnis ist und will ihn vor seinen eigenen Leuten schützen - der minne wegen (vgl. 86,18)! Ausschlaggebend für Tesereiz ist die Tatsache, daß er Minneritter ist, daher will er Willehalm um seiner Liebe willen verteidigen; Tesereiz will Willehalm nicht töten, sondern bekehren, denn in der Heidenreligion könnte Willehalm weiterhin um der minne Lohn dienen (vgl. 86,22f.). Er bittet den Christeiüührer mehrmals, sich zu ergeben und bietet ihm Reichtümer an. Aber es kommt zwangsläufig zum Streit, der vom Erzähler allegorisch als Kampf zwischen verschiedenen Tugenden dargestellt wird (87,15 - 23; vgl. dazu HAPP, 1966: S. 155ff.) und der mit dem Tod von Tesereiz endet (87,27). Nach seinem Tod sagt der Erzähler: daz veld solde zuker tragen al umb ein tagereise. der clare kurteyse möht al den bien geben ir nar: sit si der siieze nement war. si mühten, wcems iht \vise, in dem lüfte nemen ir spise, der von dem lande kumt gevlogen, da Tesereiz vär unbetrogen sin riterlichez ende nam. (88, 2-11) [Das Feld hätte eigentlich Zucker tragen sollen eine Tagereise im Umkreis. Der reine höfische Mann hätte allen Bienen Nahrung geben können. Da sie alles Süße wahrnehmen, würden sie, wenn sie klug wären, ihre Speise aus der Luft saugen, die von dem Stück Erde her weht, wo Tesereiz in der Tat sein ritterliches Ende fand.] Diese Verse, die den odor sanctitatis zu beschreiben scheinen (wie etwa nach dem Tod des Vivianz), hat die Forschung verschieden interpretiert. Allgemein (vgl. SINGER, 1918: S. 33) werden sie zwar als Hyperbel angesehen (bei HEINZLE, 1991: S. 902 als „grotesk anmutend"; bei BUMKE, 1991: S. 216, als mit einem „geradezu grotesk-komischen Charakter"; vgl. hierzu BUMKE, 1997: S. 196) jedoch bleibt umstritten, was Wolfram damit sagen wollte. So behauptet HAPP (1966: S. 160), daß der süße Duft des toten Tesereiz die Heiligkeit offenbare, „die sich in seinem leben in der form vollkommener minne äußert". BUMKE (1959: S. 174) ist der Ansicht, daß Te-

86

Werk und Interpretation

sereiz durch dieses Geruchswunder zum m/nwe-Märtyrer werde und daß daher der Tod Tesereiz' antithetisch zum Martyrium Vivianz' verstanden werden solle (1959: S. 174f, Aran. 95; vgl. auch BUMKE, S. 1997: 195). Dagegen sieht SCHRÖDER (1960a: S. 55) diese Verse „mehr analog als antithetisch". HEINZLE (1991: S. 993) bemerkt, daß oft nicht bedacht wird, daß das Sprechen an dieser Stelle im Konjunktiv ist und daß dadurch deutlich wird, daß „beim Tod des Helden Tesereiz ein solches Wunder gerade nicht geschehen ist". Das scheint aber nicht richtig zu sein, denn der Konjunktiv bezieht sich auf die Bienen, nicht aber auf den Geruch (vgl. 88,9 kumt gevlogeny, es bleibt jedoch auch noch zu erklären, was diese Verse bedeuten. Wolfram wollte sicherlich nicht sagen, daß Tesereiz ein christlicher Märtyrer ist; Tesereiz kämpft filr die minne. Die Heiden können nicht als Märtyrer ihrer Religion sterben, denn für Wolfram ist ihre Religion wertlos; aber genau wie Vivianz ein Märtyrer seines Glaubens sein kann (da der Christengott der wahre Gott ist), so kann Tesereiz ein Märtyrer der minne sein. Die Götter des Tesereiz mögen zwar wertlos sein, aber seine Liebe ist es nicht, denn die minne (auch die heidnische Frauenminne) stellt für ihn (als Heiden) einen möglichen Zugang zur wahren Gottheit dar (vgl. Belakane und Feirefiz in Parzival) (vgl. u. S. 241f.).

Nachdem er Tesereiz umgebracht hat, wird Willehalm wieder von den Heiden angegriffen (88,20f.), kann sich aber retten, indem er sich in einem Dickicht versteckt (88,28). Dann reitet er bis vor seine eigene Tür in Orange (88,30). Vergleich mit der Vorlage Die Sterbeszene des Vivianz wird bei Wolfram ein wenig ausführlicher dargestellt als in Aliscans (AI. 750 - 989: 239 Verse; Wh. 59,26 - 69,15: 289 Verse): Wolfram übernimmt die Elemente, die in der Vorlage vorzufinden sind, verschiebt jedoch die Akzente, indem er einige neue hinzufügt, denn im Willehalm werden nicht nur die religiösen - märtyrerhaften - sondern auch die weltlichen Eigenschaften Vivianzens hervorgehoben. Vivien in Aliscans, der mit dem Gesicht nach Osten hin gewendet und mit gefallenen Hände daliegt, muß die Beichte ablegen, weil er seinen Schwur gebrochen hat, nicht vor den Heiden zurückzuweichen; bei Wolfram hingegen ist diese Beichte des Vivianz schuldlos. Für BUMKE (1997: S. 196) hat Wolfram die kirchlichen Momente auffällig zurückgedrängt und alles Licht auf das Martyrium konzentriert. Aber Vivien in Aliscans

Die epische Struktur. Handlung (89,1-112.2)

87

kommt - nach Beichte und Kommunion - als Märtyrer ins Paradies; bei Vivien ist auch ein süßer Duft (als Andeutung des odor sanctitatis) vorhanden (vgl. AI. 811; auch in der Chanson de Guillaume, C.G. 1992; vgl. aber BUMKE, 1997: S. 196). Den Erzählabschnitt zwischen dem Tod des Märtyrers und der Rückkehr des Christenführers hat Wolfram von 690 Versen der Vorlage auf etwa 590 reduziert. In beiden Versionen versucht Guillaume / Willehalm, mit der Leiche seines Neffen nach Orange zurückzukehren: Jedoch muß er sich auf dem Weg verteidigen. In Willehalm wirft er dabei die Leiche auf den Boden (70,21f); in der Vorlage dagegen legt er Vivien hin (AI. 1032). Wolfram hat diese Szene realistischer gestaltet; damit wird aber auch die fehlende triuwe Willehalms gegenüber seinem Schwestersohn deutlich zum Ausdruck gebracht. Diese triuwe beweist Willehalm - wie Guillaume in Aliscans - anschließend, indem er die Nacht lang über Vivianz' Leiche trauert (vgl. 70,28). Der Streit mit den 15 Königen wird von der Vorlage übernommen (die Namen stammen aus der Vorlage, die Herkunftsorte jedoch nicht, vgl. hierzu MARLY, 1982: I, S. 40f.) sowie das Gespräch mit Gyburcs Sohn Esmereiz (Esmeres); in der Vorlage spricht Guibourcs Sohn von den Greueltaten, die Guillaume an anderen heidnischen Kindern seiner Frau begangen hat (vgl. AI. 117Iff.): Wolfram streicht diese Stelle. Bei den Arofei- und Tesereizszenen ist ein deutlicher Unterschied zur Vorlage zu merken: In Aliscans tötet Guillaume Ariofles und Desireg ebenfalls , aber Wolfram gestaltet diese Szenen ganz anders, indem er versucht, die Motivation für die Tötung Arofels (als Racheakt) zu zeigen, und er Tesereiz fast als Minnemärtyrer sterben läßt. Diese Elemente fehlen in der Vorlage.

d) In Orange (89, l -112,2) Ankunft in Orange (89,1 - 92,15). Endlich erreicht Willehalm Orange, er wird jedoch weder vom Kaplan noch von Gyburc erkannt: Da er auf fremden Pferd und mit der Rüstung Arofels getarnt ist, wird er für einen Heiden gehalten (89,8 - 13). Gyburc kann nicht glauben, daß Willehalm seine Ritter im Stich lassen und allein vom Schlachtfeld zurückkehren würde (89,20ff.). Zur Beglaubigung muß er erneut gegen die Heiden antreten (90,19ff.) und befreit gefangene

88

Werk und Interpretation

Christen, die gerade vorbeigeführt werden. Aber Gyburc will ihm immer noch nicht glauben und sie verlangt, daß er seine Nase zeigen soll (92,3). Erst nachdem Willehalm seinen Helm abgenommen hat, erkennt ihn Gyburc an seiner kurzen Nase (92,14). SAN-MARTE (1873: S. 81) macht darauf aufmerksam, daß das Abschneiden von Nasen und Ohren eine Kriminalstrafe ftir gemeine Verbrechen war. Wolframs Publikum wußte wahrscheinlich nicht, warum Willehahn eine kurze Nase hatte; bei Wolfram betonen also Erzähler (91,26) und Gyburc (91,27ff.), daß Willehalm diese Verstümmelung nicht aus einem unehrenhaften Grund bekommen hatte, sondern im ritterlichen Kampf (zur Erklärung von Guillaume au cort nez vgl. o. S. 39); diese Wunde hatte sich Willehahn - nach Gyburc - in Karls Kampf zugunsten des Papstes Leo in Rom zugezogen. Wolfram hat diese Begebenheit jedoch nicht aus der altfranzösischen Tradition erfahren (dagegen SAN-MARTE, 1873: S. 62), sondern wohl aus der Kaiserchronik (vgl. KARTSCHOKE, 1968: S. 283).

Willehalm und Gyburc (92,16 - 105,30). Nach der Begrüßung (, WilleIm ehkurneys, /mllkomen, \verder Franzeys', 92,17f. [, Willehalm Kurznase, willkommen edler Franzose'!) und nach der Frage, wo sich die anderen christlichen Kämpfer befinden, muß er bekennen, daß Vivianz tot ist - ,min vlust ist arte maze' (94,4) [,meine Verluste sind grenzenlos']. Gyburc hält dann eine Rede, in der sie die Übermacht des Feindes erwähnt, den Heiden aber einen harten Kampf verspricht (94,8ff); Willehalm fragt sie, ob er Hilfe von seinen Verwandten holen oder bei ihr bleiben soll (95,29ff.). Terramer erscheint mit dem Hauptheer zur Belagerung von Orange (96,9ff.): Zur Verteidigung vertraut Willehalm alle Tore und den Wehrgang der Stadt den befreiten Christen an (96,20ff.). Unter den Belagerern befinden sich außer Gyburcs Vater auch Tybalt, einer ihrer Söhne und drei ihrer Brüder. Nachdem die Verteidigung gesichert ist, pflegt Gyburc Willehalm und gewährt ihm ihre Liebe (99,15ff.). Ihr Mann schläft ein; Gyburc betet und bittet Gott, ihr das Leben zu nehmen, da sie so viele Tote verursacht hat (100,28ff.). Sie beklagt auch die christlichen Gefallenen. Gyburc sagt Willehalm, daß er seine Verwandten um Hilfe bitten soll (103,12). Bei Nacht bricht der als Arofei getarnte Willehalm auf, um Unterstützung auf dem französischen Hofe zu suchen. Vor seiner Abfahrt verspricht er Gyburc, daß er ihr treu bleiben will (105, Iff.). Willehalms Kenntnis

Die epische Struktur. Handlung (89,1-112,2)

89

der heidnischen Sprache helfen ihm, durch die feindlichen Stellungen zu kommen. Die erste Begegnung in der Dichtung zwischen Willehalm und Gyburc hat Wolfram sorgfältig gestaltet. Gyburc spielt hier zwei Rollen: die einer Königin, die kämpferisch und fast alleine Orange verteidigen muß, und die einer Ehefrau, die ihrem Mann die Liebe gewähren will (nach MERGELL, 1936: S. 99, vereine Wolfram bei Gyburc frauliche und heroische Züge); zu dieser Szene vgl. grundsätzlich auch FUCHS, 1997: S. 308ff. sowie u. S.193ff. Die kämpferische Gyburc stellt einen Gegensatz zu ihrem vom Schlachtfeld fliehenden und als Heide getarnten Ehemann dar. Sie will ihn nicht in die Burg einlassen, denn sie behauptet, er könne nicht Willehahn sein; sie meint, daß die Tapferkeit ihres Mannes ihn immer veranlaßt habe, bei den Seinen zu kämpfen und sie nicht im Stich zu lassen durh deheiner slahte herte (89,23) [möchte es noch in Schlacht so hart zugehen]. Doch Willehahn kehrt als einziger Überlebender von der Schlacht zurück. Ob dabei die Komik im Spiel ist, sei es auch eine grausame Komik, denn „Willehahn steht als Mörder Arofels vor Gyburc, und es ist die Rüstung ihres toten Onkels, die Gyburc an der Identität ihres Mannes zweifeln läßt" (BUMKE, 1997: S. 196) ist jedoch im Text nicht klar nachweisbar. Die Szene der Erkennung gehört zur altfranzösischen Tradition und mußte daher auch von Wolfram übernommen werden; mit dieser Szene scheint Wolfram (wie die Jongleurs der chansons de geste) die Tragik in der Situation des Christenfuhrers betonen zu wollen. Die Liebe, die Gyburc ihrem Ehemann gewährt, zeigt die andere Seite von Willehahns Ehefrau. Gyburc, die gerade allein eine Stadt verteidigt und von der der Erzähler sagt manliche sprach daz wip, / als ob si manlichen lip / und mannes herze trüege (95,3ff.) [Mannhaft sprach die Frau, als ob sie den Körper eines Mannes und das Herz eines Mannes hatte], ist auch fähig, ihren Mann durch die Liebe für seine Verluste zu entschädigen. Gyburc, eine ältere Minnedame (obwohl der Erzähler von ihr behauptet, sie sei so sanft wie ein junges Gänslein, 100,11 f.), die einen heidnischen Ehemann und ihre Kinder der minne wegen schon verlassen hat, versteht es, ihrem Mann zuerst Mut einzureden, ihm die Wunden zu verbinden (wobei der Erzähler an den Gralkönig Anfortas und seine heidnische Minnewunde denkt, vgl. hierzu BERTAU, 1972/73: S. 1144; zur Behandlung vgl. KARTSCHOKE, 1968: S. 284), um ihm anschließend die tröstende Liebe zu gewähren; denn durch diese Liebe, so bemerkt der Erzähler, ich wcene do ninder swcere / den marcraven schuz noch slac (100,17f) [ich denke nur, da schmerzte den Markgrafen keine Schuß- oder Schwertwunde mehr] (vgl. hierzu GIBBS, 1976: S. 20). Diese Liebesszene ist (wie die Todesszene des Vivianz) scheinbar sehr weit vom Schlachtfeld Alischanz entfernt: Und doch

90

Werk und Interpretation

ist sie es nicht. Die Liebe mag Willehalm und Gyburc hier trösten, aber die Schrecken des Krieges - und ihre Ursachen - bleiben. Die Liebe von Willehalm und Gyburc hat einen Krieg zur Folge, der das Leben von so vielen unschuldigen Menschen gefordert hat: Nachdem ihr Geliebter an ihrer Brust eingeschlafen ist, betet Gyburc zu jenem Gott (Altissimus = Genesis 14,18; zur Bezeichnung vgl. HAPP, 1966: 196f..; OCHS, 1968: S. 11; HEINZLE, 1991: S. 912), im Glauben an den sie sich wegen Willehalm hat taufen lassen. Aber ihr Gebet (mit deutlicher Beziehung zum Prolog; vgl. MERGELL, 1936: S. 102) wird auch zu einer Klage; sie spricht über die vielen Toten auf beiden Seiten und sagt zu Gott: , sich mac din gotheit wol schämen, ob wirs -werden niht ergetzet, daz wir nu sin geletzet aller \verltlicher wünne, dirre man an sime känne. und die mir -waren undertan. '(101,1 Off.) [,es steht Deiner Gottheit schlecht an, wenn wir dafür nicht entschädigt werden, daß wir beraubt sind / des Besten, das es auf Erden gibt: dieser Mann seiner Sippe und ich meiner Untertanen.'] Diese Klage Gyburcs ähnelt in gewisser Weise der Willehalms nach der zweiten Schlacht, als er Rennewart für tot hält (vgl. 456, l f.); dort (455,4f.) ebenso wie hier wollen die Klagenden am liebsten selbst sterben: ,nu lern ich, des ich nie began, eins jcemerlichen trostes gern: des müeze mich din güete wem daz sich kürze nu min leben, sit mir min voter hat gegeben sus ungevüege räche.' (101,16ff.) [Nun lerne ich zum ersten Mal, um einen traurigen Trost zu bitten: Gewähre mir in Deiner Gnade, daß mein Leben endet, da sich mein Vater so schrecklich an mir gerächt hat.] Durch Gyburcs Tränen wacht ihr Mann wieder auf; Willehalm, der vor kurzem selbst fast verzweifelt hatte, der jedoch inzwischen durch die Liebe Gyburcs getröstet wurde, spricht jetzt von Gott als Helfer (103,1), tder hat mich dicke uz angest bracht1 (103,2) [der hat mich schon oft aus Not gerettet]. Scheinbar ist er jetzt innerlich gestärkt und kann seine Frau fragen, ob er bleiben oder fortreiten soll, um Hilfe vom römischen König Loys zu holen (l03,7). Bevor er weggeht und nachdem Gyburc davon gesprochen hat, daß viele Frauen in Frankreich bereit wären, ihm ihre Liebe für seinen Dienst

Die epische Struktur. Handlung (89,1-112,2)

91

anzubieten (104,7ff.), verspricht Willehalm Gyburc, bis zu seiner Rückkehr nur Wasser und Brot zu sich zu nehmen (105,7ff.). Für SCHRÖDER (1970: S. 211) ist die Tatsache, daß Willehalm und Gyburc die Trennung, die ihnen jetzt bevorsteht, auf sich nehmen und unbeirrbar für einander einstehen, die eigentliche Bewährungsprobe ihrer Liebe; ähnlich GIBBS (1976: S. 22), die behauptet „the oath which [Willehahn] gave her forms a bridge between their parting and their reunion": Willehahn wird später sein Versprechen erwähnen (vgl. 134,2ff; 176,10ff.)· Für FUCHS (1997: S. 313) ist der Weg Willehalms jetzt „von der bewußten Ablehnung des Minnerittertums" geprägt.

(Drittes Buch) Belagerung und Verteidigung von Orange (106,1 - 112,2). Nachdem Willehalm weggeritten ist, kommen noch mehr Heiden, die die Stadt belagern wollen. Die Heiden beklagen ihre Gefallenen; Terramer ist fest entschlossen, Gyburc durch Rache zu töten, um dadurch auch Jesus zu entehren. Gyburc verteidigt Orange. Es kommt zu einem Gespräch zwischen Terramer und Gyburc, in dem der Vater seiner Tochter mit dem Tode droht. Gyburc verspricht den Feinden einen zweifachen Tod. Die Belagerung und Verteidigung von Orange geht weiter. Das dritte Buch beginnt mit den Klagen der Heiden: Wolfram scheint zeigen zu wollen, daß auch auf Seiten des Siegers die vielen Toten beklagt werden. Wie der Erzähler bemerkt: gevohten ufder erden wart nie so schadehafter strit sit her von anegenges zit. (106,16ff.) [Auf Erden / war nie ein so verlustreicher Kampf / seit Anbeginn der Zeit ausgemachten worden.] Das Ausmaß der Verluste läßt Terramer in eine verzweifelte Klage ausbrechen; danach entwickelt er den antichristlichen Sinn des Kampfes und sagt, daß die Trinität nie von ihm anerkannt wird (vgl. 108,4ff; 108,18ff.; vgl. hierzu MERGELL, 1936: S. 106). Dabei erwähnt er, daß Christus mit drei Nägeln ans Kreuz geschlagen worden ist (also kein „Viernagelcrucifixus"); vgl hierzu HAPP (1966: S. 226ff.); KARTSCHOKE (1968: S. 285, mit Literaturangaben) sowie u. S. 149ff. Nach einer kurzen Beschreibung von Willehahns Erfolg (l 09, l ff), durch die feindlichen Reihen zu kommen (anschließend mit konventioneller Minne-

92

Werk und Interpretation

Vorstellung vom Tausch der Herzen Gyburcs und Willehalms - 109,9ff.; vgl. hierzu: DECKE-CORNILL, S. 1985: S. 22 sowie FUCHS, 1997: S. 314f), fängt das erste Religionsgespräch zwischen Gyburc und ihrem Vater Terramer an. Dabei werden die Worte Terramers indirekt wiedergegeben, die Gyburcs direkt. Terramer will seine Tochter töten und bietet ihr drei Sterbemöglichkeiten an: Ertränkt werden, erhängt werden oder von Tybalt an einem Ast geknüpft werden. Nach KELLERMANN-HAAF (1986: S. 259; zit. auch bei HEINZLE, 1991: S. 917; vgl. auch DECKE-CORNILL, 1985: S. 31f.) werden diese Strafen nach mittelalterlichem Recht über Landesverräter verhängt. Gyburc jedoch bietet den Heiden den doppelten Tod an: ,doch ir mir bietet lode dri, die zwene sint iu nahen bi: diss kurzen lebens ende, und der sele unledic gebende vor iuwerem gote Tervigant, der iuch vür toren hat erkant.' (l 10,25ff.) [Während ihr mir noch mit drei Todesarten droht, ist euch der zweifache Tod schon nahe: das Ende dieses kurzen Lebens und der Seele unlösbare Bindung an euren Gott Tervagant, der erkannt hat, daß ihr Narren seid.] Nach diesem Gespräch läßt Terramer Belagerungsmaschinen auffahren (darunter den driboc, der angeblich erst um 1212 eingesetzt wurde, und daher von Bedeutung für die Datierung der Dichtung sein soll; vgl. SCHRÖDER, 1975: S. 274, aber auch BUMKE, 1959: S. 182; hierzu auch DECKE-CORNILL, 1985: S. 39f. sowie o. S. 20f.). Gyburc zeigt ihre Kriegslist, indem sie die Toten bewaffnet, um den Anschein einer gut verteidigten Burg zu geben (l 11,l Iff.).

Vergleich mit der Vorlage In diesem Erzählabschnitt hat Wolfram verhältnismäßig viele Änderungen gegenüber der Vorlage vorgenommen. In der Erkennungsszene fordert Guiborc Guillaume sofort auf, den Helm abzulegen (AI. 1850ff.) erst dann verlangt sie von ihm, daß er die vorbeigeführten christlichen Gefangenen befreit (AI. 1892ff.). Wolfram hat diese Befreiung der Weisung der Narbe vorangestellt; für MERGELL (1936: S. 97) hat Wolfram dadurch eine einheitliche Steigerung der Erkennungsszene erreicht; für BUMKE (1997: S. 197) dagegen ist die Motivierung in AI i scans einleuchtender, weil Guibourc ihren Mann nicht an seinem Gesicht erkennt, sondern daran, daß er die Christen befreit hat (obwohl BUMKE dabei nicht berücksichtigt,

Die epische Struktur. Handlung (112,3 -126,7)

93

daß Guibourc ihren Mann eigentlich schon an der Narbe hätte erkennen sollen und also den zweiten Beweis gar nicht brauchte). Die Liebesszene ist auch neu; in Wolframs Version sind die verschiedenen Klagen Willehalms und Gyburcs als Motivierung für Willehalms anschließenden festen Entschluß nach Munleun zu gehen, psychologisch verständlicher als in der Vorlage (nach MERGELL, 1936: S. 99, hat Wohlram dieser Szene „einen neuen Sinn gegeben"). Vor seiner Abreise verspricht Guillaume in Aliscans, auf verschiedene Speisen (darunter Fleisch) und Getränke (darunter Wein) zu verzichten, sein Gesicht nicht zu waschen, seine Kleider nicht zu wechseln, nie auf einem weichen Bett zu schlafen oder Lippen zu küssen, bis er zurückgekehrt ist (AI. 2234ff.); dagegen hat Wolfram dieses Versprechen auf Wasser und Brot reduziert. Für MERGELL (1936: S. 103) muß das Gelübde in Aliscans für Wolframs Auffassung von minne und triuwe sinnlos sein; aber in der Tat hält Willehalm teilweise das Versprechen von Guillaume in Aliscans (vgl. 119,8fr.; 127,30; 149,5ff.; 156,27; 174,20ff; 176,10ff.). Den Anfang des dritten Buches hat Wolfram selbst erfunden, denn in Aliscans gibt es weder Klagen der Heiden, Religionsgespräch zwischen Terramer und Gyburc (obwohl Wolfram hier teilweise auf Bedrohungen anspielt, die erst später in Aliscans vorkommen; vgl. MARLY, 1982:1, S. 59) noch die Kriegslist Gyburcs. Für SAN MÄRTE (1871: S. 65) wird durch die Schilderung der für Gyburc immer drohender nahenden Gefahren das Interesse für sie und für den Erfolg von Willehalms Unternehmen in Spannung gehalten (vgl. hierzu auch MERGELL, 1936: S. 104f).

e) Von Orange nach Munleun (l 12,3 - 126,7) In Orlens (112,3 - 125,3). Während Orange belagert wird, erreicht Willehalm auf dem Weg zum französischen König Loys die Stadt Orlens (Orloans) und übernachtet dort. Eingedenk seines Askesegelübdes gegenüber Gyburc meidet er die guten Viertel und besseren Unterkünfte, wählt eine ärmliche Herberge vor dem Stadtgraben und nimmt nur Wasser und Brot zu sich. Als er am nächsten Morgen aufbrechen will, kommt ihm in der Stadt ein vom König eingesetzter Richter entgegen, der Wegezoll von ihm fordert (112,22ff.). Willehalm verweigert dies mit der Begründung, daß Angehörige des

94

Werk und Interpretation

Ritterstandes nicht zollpflichtig seien und er außerdem keine Waren mit sich führe. Der Richter besteht aber auf seiner Forderung und ruft nach der Stadtmiliz. Daraufhin schlägt der erzürnte Willehalm dem Amtsmann den Kopf ab und bahnt sich mit Gewalt einen Weg durch die Stadt. Die Bürgerwehr ist dem Ritter unterlegen und zieht sich bald zurück (l 15,Iff.). Der städtische Richter, mit dem Willehalm in Konflikt gerät, hat sein Amt vom König (112,25). Dieses als Lehen verliehene Geleitrecht (ius conductus) befähigt ihn dazu, von durchreisenden Kaufleuten Wegezoll zu verlangen. Von diesen Zollforderungen sind Ritter ausgenommen (dazu: CSENDES, 1968: S. 199 ff.; DECKE-CORNILL, 1985: S. 49). Für HEINZLE (1991: S. 919f.) ist die Kontroverse zwischen Willehalm und dem Richter „vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Auseinandersetzung um Geleits- bzw. Zollfreiheit" zu sehen. Ob der Richter Willehalm trotz der Kampfrüstung mit einem Kaufmann verwechselt (so BRENNIG, 1993: S. 369 - 383), oder ob er ohne ersichtlichen Grund auf seiner Zollforderung beharrt (so CSENDES, 1968: S. 200ff), wird anhand der Textstellen nicht ganz klar. Die Enthauptung des Stadtrichters wird vom Erzähler zunächst nicht kommentiert und es scheint so, als ob der Tod des Richters als gerechte Strafe für seinen Rechtsmißbrauch gesehen wird, denn als sich Willehahn gegen die heranrückende Bürgerwehr verteidigt, heißt es: het er Sünde niht ervorht, / da \vcere von im der schade geworht, / des den verliehen ie gezam (114,27ff.) [hätte er nicht die Sünde gefürchtet, er hätte Schaden angerichtet, wie es die Wehrhaften immer taten]. Jedenfalls richtet Willehahn unter der Bürgerwehr kein Gemetzel an (wie in Aliscans), sondern schlägt diese nur in die Flucht. Bei Willehalms zweiter Einkehr in Orlens (209,6ff.) - diesmal mit dem Hilfsheer und der Königsfamilie - wird noch einmal auf den Konflikt angespielt: der marhgrave mohte ane zol durh Orlens nu riten wol; in habete nu da niemen zuo. es was von erste in ouch ze vruo. doch erwarp er in des küneges hulde, und daz schulde wider schulde stuont umbe des rihtceres tot, und daz ane schulde not sin eines lip von in gewan. (209,17ff.) [Nun konnte der Markgraf ohne Zoll durch Orleans reiten; keiner hielt ihn dabei auf. Schon beim ersten Mal hatten sie übereilt gehandelt. Er erreichte, daß der König ihnen gnädig war, und daß Schuld gegen Schuld aufgewogen

Die epische Struktur. Handlung (112,3 -126.7)

95

wurde: der Tod des Zolleinnehmers und was ohne zwingenden Grund er als einzelner von ihnen erduldet hatte. Übs.: KARTSCHOKE, 1989] Nach dieser Übersetzung KARTSCHOKES (1989: S. 135; vgl. auch Gross /JOHNSON, 1984: S. 110) wird Willehalms Tötung des Richters nun doch als Unrecht gesehen. Im Gegensatz dazu stellt HEINZLES (1991: S. 359) Übersetzung den Sachverhalt völlig anders dar:„Der Markgraf konnte, ohne Zoll zu zahlen, durch Orleans jetzt unbehelligt reiten: jetzt hielt ihn niemand dazu an. Das erste Mal ging's ja übel aus für sie. Doch erwirkte er für sie die Huld des Königs, wo Forderung gegen Forderung stand im Hinblick auf den Tod des Richters und im Hinblick darauf, daß er ohne Grund alleine, wie er war, von ihnen angegangen wurde." Nach HEINZLES Interpretation haben sich vor allem die Bürger unrechtmäßig verhalten, während Willehahn seine Tat nur insofern „bereut", als er sich beim König für sie einsetzt.

Willehalm reitet ungehindert nach Munleun weiter. Die Frau des getöteten Amtsherrn weckt Ernalt, den Grafen von Gerunde und Bruder Willehalms, und bittet ihn, ihren Mann zu rächen. Ernalt ist der Stadtherr von Orlens und muß als Repräsentant des Königs von Willehalm Rechenschaft fordern, obwohl er die Unrechtmäßigkeit, von einem Ritter Wegezoll zu verlangen, betont (116,13 ff.). Ernalt verfolgt Willehalm gemeinsam mit der Bürgerwehr und stellt sich dem Markgrafen zum Zweikampf (117,16ff.). Willehalm stößt seinen Gegner vom Pferd und hätte ihn getötet, wenn nicht Ernalt im letzten Moment seinen Namen genannt hätte. Willehalm erkennt ihn als seinen Bruder und nennt ebenfalls seinen Namen. Als Ernalt ihn zur Begrüßung küssen will, verweigert Willehalm dies und erzählt ihm von der verlorenen Schlacht, der Bedrängnis Gyburcs und dem Tod von Myle und Vivianz (119,2ff.). Ernalt sagt seinem Bruder sofort seine Unterstützung zu und macht Willehalm darauf aufmerksam, daß in drei Tagen am Königshof in Munleun ein Hoftag abgehalten werde, an dem viele mächtige Fürsten und auch die eigene Familie eingeladen seien. Voller Hoffnung und durch die Sippentreue seines Bruders in seinem Vertrauen bestärkt, bricht Willehalm sofort nach Munleun auf, während Ernalt in die Stadt zurückreitet und Boten mit einem Kampfauf ruf an seine Dienstpflichtigen schickt (122,6ff). Der Zweikampf zwischen den Brüdern wird wie der Konflikt mit dem Stadtrichter zunächst rechtlich motiviert. Graf Ernalt ist hoher königlicher Amtsträger, dem das Gericht und somit auch der Richter unterstellt sind. Obwohl Emalt von der Unrechtmäßigkeit der Zollforderung überzeugt ist, muß

96

Werk und Interpretation

er Willehalm im Namen des Königs verfolgen, weil dieser einen Repräsentanten königlicher Gewalt erschlagen hat und weil er glaubt, daß der fremde Ritter den königlichen Kriegsruf Monschoy (114,22) mißbräuchlich verwendet habe (vgl. dazu: DECKE-CORNILL, 1985: S. 63f.; HEINZLE, 1991: S. 923f.). Der Bruderkampf (dazu HARMS, 1963: S. 99f.) zeigt auch, in welchem Zustand des Zorns sich Willehalm befindet, denn schließlich hätte er Ernalt um ein Haar getötet. Dieser rasende Zorn wird in der Folge zunehmend ein Motor von Willehahns Handeln sein (dazu: HAUG, 1975). Als aber Willehalm gerade noch rechtzeitig den Namen seines Bruders vernimmt, schlägt sein Zorn sofort in tiefe Traurigkeit um. Die Szene ist auch ein Hinweis darauf, wie problematisch eine Zerstreuung der Sippe, wie sie durch Heimrichs Enterbung am Beginn des ersten Buches ausgelöst wurde, sein kann. Die Gefahr der unwissentlichen Tötung eines Verwandten ist unter diesen Umständen besonders groß. „Die Wiederbegegnung [Willehalms mit seinem Bruder] führt auf dramatische Weise die Konsequenzen der ursprünglichen Zersplitterung, aber auch die Wichtigkeit der Sippengemeinschaft vor." (KffiMNG, 1993: S. 222). Das Mitleid Ernalts und seine sofortige Bereitschaft zur Hilfe sind ein erstes Zeichen für den getriuwen art der Heimrichsippe (vgl. auch FUCHS, 1997: S. 319ff.).

Willehalms Aufenthalt im Kloster (125,4 - 126,7). Willehalm kommt am Abend zu einem Kloster, wo er gastfreundlich aufgenommen wird. Am Morgen des nächsten Tages verläßt Willehalm das Kloster und überläßt den prächtigen Schild Arofels den Mönchen. Die Klosterepisode ist ein gutes Beispiel für Wolframs Verknüpfungstechnik und den symmetrischen Bau der Dichtung. Willehalm wird auf dem Rückweg nach Orange wieder am Kloster vorbeikommen und der Schild Arofels wird Anlaß für einen ausführlichen Bericht Willehahns von seinen Taten in der ersten Schlacht sein (202,19 - 208,3). Während der kurzen Klosterepisode werden Arofels prächtige Rüstung und der kostbare Schild, die Willehahn trägt, genau beschrieben, womit der Erzähler wohl noch einmal auf Willehahns verfremdetes Aussehen aufmerksam machen will (DECKECORNILL, 1985: S. 100.). Mitten in diese Beschreibung fällt auch die Erwähnung Chrotiens: Cristjans einen alten tymit im hat ze Munleun an gelegt: da mit er sine tumpheit regt, swer sprichst so nach -wane, er nam dem Persane,

Die epische Struktur. Handlung (112,3-126,7)

97

Arofei, der vor im lac tot, daz vritmdin vriunde nie gebot so spceher zimierde vliz, \van der künec Feyraßz von Secundillen durh minne enpßenc: diu kost vüralle koste gienc. (125,20ff.) [Chretien hat ihm zu Laon einen alten Rock angezogen, damit verrät seine Ahnungslosigkeit, wer so ungenau erzählt. Er nahm dem Perser, Arofei, den er getötet hatte, so kostbaren Waffenschmuck, wie ihn noch keine Geliebte ihrem Geliebten geschenkt hat; ausgenommen den, den König Feirefiz von Secundille aus Liebe geschenkt bekam: dessen Kostbarkeit war nicht zu überbieten.] Es wird in der Forschung als sicher angenommen, daß mit Cristjans Chretien de Troyes, u.a. der Autor des Perceval, gemeint ist. Dafür spricht, daß Wolfram Chretien auch im Parzival als einen Verfälscher von Geschichten bezeichnet (Pz. 827, l f.). Daß Wolfram hier Chretien als angeblichen Verfasser seiner Quelle angibt, versteht DECKE-CoRNlLL (1985: S. 103, mit weiterführender Literatur) nicht als Irrtum sondern als „bewußte Irreleitung" Wolframs. Die Polemik richtet sich gegen eine Stelle in Aliscans, in der Guillaume mit einem schäbigen Rock aus Seide (AI. 2566: malves cinglaton) bekleidet ist. Die fälschliche Nennung Chretiens als Verfasser von Aliscans, läßt sich wohl am ehesten damit erklären, daß Wolfram hier, wie auch schon im Parzival, sein Spiel mit fingierten Quellenberufungen betreibt (dazu: KARTSCHOKE, 1968: S. 286f; HEINZLE, 1991: S. 927f.). KiENiNG(1989: S. 74) erklärt sich die Nennung Chretiens damit, daß Wolfram sich nicht auf die anonyme fremde Gattung chanson de geste berufen wollte, sondern auf Bekanntes und Benennbares. Für LOFMARK (1972: S. 72f.) bedeuten diese Verse, daß Wolfram die Angabe seiner Vorlage als Fehler erkennt und in seiner Version richtig stellt (125,24 - 30): „But here Wolfram was able to justify his disagreement with his source, and the amendment might forestall any objection to his tale's consistency on this count, and so he argues his case."

Vergleich mit der Vorlage Die Orlensepisode weicht stark von der Vorlage ab. In Aliscans verbringt Guillaume die Nacht vor Orleans und kommt in die Stadt erst am nächsten Tag (AI 2315ff.); er wird da vom Chastelain (chastelans) aufgehalten und - nach einem sehr kurzen Gespräch beleidigt (AI. 2326 - 2349). Guillaume tötet den Chastelain (AI. 2368) und weitere fünfzig Bürger. Von einer Zollforderung ist in Aliscans

98

Werk und Interpretation

keine Rede, auch nicht davon, daß der Chastelain sein Amt vom König bekommen hätte. Es sind Bürger der Stadt (nicht die Frau des Richters, wie bei Wolfram), die Ernault (Hernaud/Arnali) um Hilfe bitten (AI. 2386). Mit hundert Rittern reitet Ernault seinem Bruder nach; auch in Aliscans kämpfen die zwei Brüder unwissend gegeneinander; in der Vorlage wird die Kampfszene (AI. 241 Off.) jedoch sehr knapp beschrieben. Wolfram hat dieser Szene mehr Bedeutung zugeschrieben (vgl. hierzu MERGELL, 1936: S. 139ff.; MARLY, 1982: I: S. 56). Der Aliscans-Text sagt nicht, wo Guillaume die nächste Nacht verbringt (bei Wolfram in einem Kloster). f) In Munleun (126,8 - 202,18) Ankunft in Munleun und erster Besuch am Königshof (126,8 130,16). Der Markgraf erreicht die Stadt Munleun und begibt sich, um keine Zeit zu verlieren, sofort an den Hof des Königs. In voller Rüstung bahnt sich Willehalm einen Weg durch die Menge. Im Burghof setzt er sich in den Schatten einer Linde und erweckt sofort die Aufmerksamkeit und den Unmut der Hofgesellschaft, vor allem wegen seines befremdlichen Aussehens und weil er eine Kampf rüstung trägt. Als man dem Königspaar von dem merkwürdigen und grimmig aussehenden Ritter berichtet, treten beide ans Fenster, um ihn zu betrachten. Die Königin erkennt ihren Bruder sofort und ahnt den Grund seines Kommens - nu wil er aber ein niuwez her (129,25) [jetzt will er sicher ein neues Heer] - worauf sie Befehl gibt, die Tore vor ihm zu verschließen. Dies ist auch ganz im Sinne des Königs und der Hofgesellschaft. Bereits bei Willehalms erstem Besuch am Königshof wird der Gegensatz zwischen der festlich gestimmten Hofgesellschaft und dem vom Krieg gezeichneten Markgrafen deutlich hervorgehoben (zur Interpretation der gesamten Munleunszene: HAUG, 1975; REICHEL, 1975; DECKE-CORNILL, 1985: S. 134 - 239; HAUPT, 1989: S. 218 - 238; FUCHS, 1997: S. 256 - 267). Die höfischen Verhaltensregeln sind auf beiden Seiten empfindlich gestört. Einerseits durch Willehalm, der, um keine Zeit zu verlieren, in voller Rüstung, schmutzig und ungepflegt zu einem friedlichen Hoftag erscheint und andererseits durch die Hofgesellschaft, die dem Kronvasall die ihm gebührende Begrüßung verweigert und die Pflichten der Gastfreundschaft verletzt. „Der Hof und seine Gesellschaft sind nicht Ausgangspunkt und

Die epische Struktur. Handlung (126,8 - 202,18)

99

Zielpunkt [wie beim Artusroman], sondern sie stehen im Tiefpunkt des epischen Weges"; vor diesem Hintergrund kann der königliche Hof im Willehahn als „Ort der Krise" (HAUG, 1975: S. 225) bezeichnet werden.

Der Kaufinann Wimar (130,17 - 138,19). Obwohl Willehalm große Trauer zeigt, ist niemand bereit, dem abgewiesenen Ritter zu helfen. Da kommt Wimar, ein Kaufmann aus der Stadt, auf ihn zu und fordert ihn höflich auf, sein Gast zu sein, nicht ohne die Hofgesellschaft für ihr mitleidloses Benehmen zu tadeln. Willehalm nimmt die Einladung dankbar an. Die Einladung des Kaufmanns ist nicht ganz uneigennützig, denn er erhofft sich durch das Beherbergen eines edlen Ritters ein hohes Ansehen bei seinen Standesgenossen. Allerdings ist er selbst ritterlicher Abstammung und weiß genau über die höfischen Regeln Bescheid. Wimar ist sehr darauf bedacht, seinen Gast standesgemäß zu behandeln und zu bewirten und ist betrübt darüber, daß Willehalm das Festessen und das weiche Bett, das er ihm anbietet, verweigert. Willehalm erbittet, eingedenk seines Gelübdes, nur Brot und Wasser und Gras für seine Lagerstatt. Vom Brot und Wasser, das ihm der Kaufmann gibt, heißt es: er begunde im hertiu wastel geben, und trinken des diu nahtegal lebt, da von ir süezer schal ist werder dann ob si al den win trunke der mac ze Botzen sin. (136,6ff.) [er gab ihm hartes Brot und einen Trank, von dem die Nachtigall lebt, davon ist ihr süßer Gesang schöner als wenn sie den Wein trinken würde, den es in Bozen gibt.] Diese Stelle haben im Anschluß an BURDACH (1900: S. 295f.) einige Interpreten als eine namenlose Anspielung auf Walthers von der Vogelweide Tegernseespruch 104,24 - 32 verstanden (Literatur bei: KARTSCHOKE, 1968: S. 287; DECKE-CORNILL, 1985: S. 141 f. sowie u. S. 58).

Die Nacht verbringt Willehalm schlaflos, wobei sich sein Zorn über die Abweisung am Hofe ins Unermeßliche steigert. Voller Rachegedanken legt er am nächsten Morgen seine Rüstung an und kündigt seinem entsetzten Gastgeber an, dem König den Schädel spalten zu wollen (137, Iff.). Die reiche Bewirtung und die Hochachtung, die Wimar dem Markgrafen entgegenbringt, stehen im starken Kontrast zum Verhalten der Hofgesellschaft.

100

Werk und Interpretation

Wimar bewährt sich da, wo der Hof versagt hat. Der Kaufmann Wimar ist zwar ritterlicher Abstammung, von ritters art erborn (131,1), aber offensichtlich in seinem Rang weit niedriger als die Gäste des Hofes und natürlich auch Willehahn (dazu: CHRISTOPH, 1984; DECKE-CORNILL, 1985: S. 123.). Die Tatsache, daß Wimar entgegen der Vorlage als ritterbürtig bezeichnet wird und Willehahn also nicht bei einem einfachen nichtadeligen Kaufmann einkehrt, haben viele Interpreten zum Anlaß genommen, Wolfram eine kaufmannsfeindliche Tendenz zu unterstellen (SINGER, 1918: S. 53.; CHRISTOPH, 1984: S. 123f; BUSCHINGER, 1987: S. 538f). Demgegenüber ist BRENNIG (1993: S. 384 - 400) der Meinung, daß Wimar trotz seiner ritterlichen Abstammung in erster Linie in seiner Rolle als Kaufmann handle und auftrete und somit auch der Kaufmannsstand in einem positiven Licht gesehen werde: „Die funktionale Anlage der Szene erfordert also substantiell die Kaufmannsstellung Wimars, seine ritterliche Abkunft ist dagegen sekundär." (S. 398) Dennoch nimmt Wimar auch innerhalb Kaufmannsstandes eine Sonderstellung ein, nicht nur durch seine vornehme Abkunft, sondern auch durch seinen Reichtum und seinen Zugang zum königlichen Hofe. Obwohl Wimar Willehahn durh aller koufliute ere (130,19) [zur Ehre aller Kaufleute] in sein Haus einlädt, scheint seine höfische Gesinnung doch auf seine ritterliche Abstammung zurückzugehen. Wie der Fährmann Plippalinot im Parzival, der ebenfalls von riters art (Pz. 544,17) ist, der aber sein Rittertum längst nicht mehr ausübt, wird Wimar durch den Hinweis auf seine vornehme Geburt sozial „aufgewertet". Als Willehahn sich bei Wimar für seine Gastfreundschaft mit einem großzügigen Geldgeschenk und mit der Einladung zum Festmahl bedankt, nimmt die Hofgesellschaft jedenfalls keinen Anstoß daran (175,26 - 176,9). Für Wimar ist dies die höchste Ehre, die ihm jemals zuteil wurde: do mohte Wimar gerne leben (175,30) [da hatte Wimar Grund zu Freude]. Die breite Ausgestaltung der Wimarepisode dient aber nicht nur der Hofkritik, sondern erhöht auch die Spannung auf die Begegnung zwischen Willehahn und dem Königspaar. Eindrucksvoll schildert der Erzähler, wie die tiefe Enttäuschung und Demütigung, die Willehahn erlitten hat, sich langsam in unbändigen Zorn verkehren. Trotzig schlägt der Markgraf das von Wimar angebotene Festgewand aus (137,27ff.) und legt seine verbeulte und rostige Kampfrüstung an, was man wiederum als bewußte Verweigerung höfischer Verhaltensregeln deuten kann.

Zweiter Besuch am Königshof (138,20 - 153,30) und Konflikt mit dem Königspaar (145,1 - 153,30). Voll mordgrimmer Gedanken reitet Willehalm zum königlichen Hof. Da kommen ihm plötzlich Zweifel an seinem Vorhaben, den König öffentlich zu schmähen und anzugreifen, und zwar weil er fürchtet, dadurch Gyburc zu schaden. Des-

Die epische Struktur. Handlung (126,8 - 202,18)

101

halb will er zunächst auf die Ankunft seines Vaters und seiner Brüder warten, in die er die größten Hoffnungen auf Hilfe setzt. Unterdessen schleicht sich der durch Willehalms Vorhaben in Angst und Schrecken versetzte Wimar, ohne daß Willehalm es bemerkt, in die königliche Burg, um ihn der Hofgesellschaft anzukündigen (139,16ff.). Daraufhin gehen einige auf Willehalm zu und wollen den Markgrafen mit gebührendem Anstand begrüßen. Doch Willehalm macht ihnen sofort heftige Vorwürfe, worauf sich alle wieder von ihm zurückziehen. Isoliert von den anderen Fürsten nimmt Willehalm in voller Rüstung und noch immer mit dem Schwert bewaffnet Platz, um auf die Ankunft des Königspaars zu warten. Als das königliche Paar erscheint, legt Willehalm sein Schwert provozierend über seine Knie (151,6f.). Durch die Mißachtung seiner Person bei seinem ersten Besuch am Hofe ist Willehalms Rechtsempfinden empfindlich gestört, sein Vertrauen in die durch sein Lehensverhältnis zum König bestehenden gegenseitigen Rechte und Pflichten zutiefst erschüttert. Dies führt zu der provozierenden Schwertgeste (141,5 - 7), vielleicht ein Zitat aus dem Nibelungenlied Str. 1783fT.: Am Hofe Etzels legt Hagen vor den Augen Kriemhilds herausfordernd Siegfrieds Schwert über seine Knie. Er zeigt damit seine Mißachtung gegenüber der Königin. Derjenige, der das Schwert über seine Knie legt, demonstriert auch, daß es ihm zukommt, das Recht in seine Hände zu nehmen. (Zum Rechtscharakter der Schwertgeste: WYNN, 1965: S. 105ff.; KARTSCHOKE, 1968: S. 287; HAUG, 1975: S. 229; HAUPT, 1989: S. 218f.; HEINZLE, 1991:S. 936).

Alle geladenen Gäste fühlen sich durch die Anwesenheit des Markgrafen belästigt und bedroht. Nun betreten Willehalms Eltern Heimlich und Irmenschart mit vier ihrer Söhne und großem Gefolge den Festsaal und werden vom Königspaar ehrerbietig begrüßt (142,24ff.). Willehalm sitzt noch immer da und denkt über seine Situation nach. Er erkennt wohl, daß er von der Hofgesellschaft keine Hilfe zu erwarten hat und daß er einzig und allein auf die Unterstützung seiner Sippe hoffen kann. Doch Willehalms Zorn ist durch seine Überlegungen nur wenig gedämpft. Ohne auf die höfische Etikette zu achten, stürzt Willehalm zum König Loys und beschimpft und bedroht ihn aufs heftigste. Er wirft ihm Undankbarkeit vor, indem er ihn darauf hinweist, daß er ohne seine Hilfe nie die Krone tragen würde (145,6ff.). Noch bevor Loys antworten kann, wird Willehalm

102

Werk und Interpretation

von seinen Brüdern freudig begrüßt, die gleichzeitig versuchen, seinen Zorn zu dämpfen. Der König antwortet trotz der erlittenen Schmähungen zunächst versöhnlich. Er erkennt Willehalms Ansprüche an und sagt ihm seine Unterstützung zu (146,25 ff,). HAUG (1975: S. 224) und RUH (1980: S. 172) sind sich darin einig, daß Willehahns Auftreten am Hof, vor allem seine Scheltrede an den König, für das höfische Publikum Wolframs ein Schock gewesen sein muß und zwar deshalb, weil seine Zuhörerschaft nicht mit der Rolle des lächerlichen und erbärmlichen Königs der chanson de geste vertraut war, die auf eine Verherrlichung des mächtigen und selbständigen Kronvasallen aus war. Dieses Bild des schwächlichen Königs (dazu: HEINTZE, 1991: S. 87 - 92) entsprach der politischen Konstellation in Frankreich des 12. Jahrhunderts, paßte aber nicht auf die deutschen Verhältnisse (vgl. dazu u. S. 255ff.). Das mag einer der Gründe sein, warum Wolfram die Figur des schwachen Königs der chanson de geste aufgewertet hat. Im Willehalm geht im Gegensatz zu Aliscans die Provokation von der Königin aus, während Loys versucht, ruhig und angemessen zu reagieren. König Loys ist im Willehalm zwar ein schwaches, aber durchaus kein verächtliches Reichsoberhaupt (dazu HELLMANN, 1969: S. 212). Diese Veränderung gegenüber der Vorlage bedeutet jedoch, daß Willehahns Zorn auf weniger Verständnis stößt. Der Erzähler hat den Zorn des Markgrafen allerdings mehrfach begründet und entschuldigt. Willehahn ist mit seiner Forderung um Reichshilfe durchaus im Recht, denn als Kronvasall und als Reichsfürst steht ihm die Unterstützung des König zu. In seiner Rede macht er den König auch auf das Lehensverhältnis und die Verpflichtung, die beide damit eingegangen sind, aufmerksam. Er wirft dem König vor, daß er seine Pflichten als Lehensherr vernachlässige, während er als treuer Vasall ihm nicht nur zur Krone verhelfen habe sondern auch immer bereit gewesen sei, für ihn zu kämpfen: ,ich han ouch v/7 durh iuch gestriten. nu han ich siben jar gebiten. daz ich voter noch muoter nie gesach, noch der neheinen, der man jach daz si mine bruoder \vceren' (146,7ff.) [,Ich hab auch viel für Euch gekämpft. Nun habe ich bereits sieben Jahre ausgehalten, ohne daß ich Vater und Mutter sah, noch einen von denen, von denen man sagte, sie seien meine Brüder.'] Für seine Verdienste um die Krone wurde Willehalm vor sieben Jahren vom König mit den von Tybalt abgerungenen Ländereien belehnt. Offensichtlich mußte er diese Ländereien während des gesamten Zeitraums ohne Reichshilfe verteidigen. Warum er seine Verwandten während des gesamten Zeit-

Die epische Struktur. Handlung (126,8 - 202,18)

103

raums nicht gesehen hat, bleibt unklar (dazu: HEINZLE, 1991: 940f., mit weiterführender Literatur). Obwohl sich Willehahn im Recht glaubt, besteht kein Zweifel daran, daß sein Benehmen gegenüber dem König eine Verletzung jeglicher höfischer Etikette und der Ehre der Krone bedeutet. Trotz Willehalms Beschimpfungen zollt aber Loys seinem Vasallen zunächst die gebührende Achtung und verhält sich wie ein vorbildlicher Lehensherr, indem er ihm seinen Besitz zur Verfügung stellen will: .ich mac gäbe und lehen han,/ daz kert mit vuoge an iuweren gewin' (147,4f.) [,was ich an Lehen und Geschenke habe, nehmt zu eurem Nutzen, was recht und billig ist']. Kurzfristig scheinen die höfischen Formen zu siegen.

Doch da protestiert die Königin, Willehalms Schwester: ,ou\ve wie wenic uns denne belibel so wcere ich diu erste die er vertribe. mir ist lieber daz er warte her, denne daz ich sinergenaden ger.' (147,7ff.) [,Oweh, da bliebe für uns nichts übrig! Da wäre ich die erste, die er davonjagt. Mir ist lieber, daß er auf unsere Gnade hofft, als daß ich um seine bitte.']

Nun ist es mit Willehalms Beherrschung endgültig vorbei. Wutentbrannt reißt er der Königin die Krone vom Kopf und wirft sie auf den Boden, so daß sie zerbricht (147,16ff.). Dann packt er sie an den Zöpfen und hätte ihr mit dem Schwert den Kopf abgehauen, wenn nicht Innenschart, die Mutter, es verhindert hätte. Daraufhin flieht die Königin in ihre Kemenate. Alle sind entsetzt über diesen Gewaltakt Willehalms. Der König bewahrt Ruhe, tadelt Willehalms Verhalten und fordert ihn auf, seine Beschwerden ordnungsgemäß dem Fürstenrat vorzubringen (148,8ff.). Es folgt ein kurzer Schauplatzwechsel in die Kemenate der Königin, wo diese ihre Tochter Alyze völlig verängstigt um Vermittlungsdienste bittet (148,18ff.). Erst die ablehnende Haltung der Königin bewirkt den Eklat. Warum die Königin ihrem Bruder gegenüber derart feindselig gestimmt ist, bleibt ihm Dunkehi. Politisch gesehen ist ihr Verhalten durchaus verständlich, da sie die Macht und Position ihres Mannes nicht durch einen Vasallen geschwächt sehen will (dazu: KELLERMANN-HAAF, 1986: S. 98). Unter diesem Gesichtspunkt ist Willehalms Gewaltakt, der zum Bruch der Krone führt, auch als ein Zeichen für seine Mißachtung vor ihrer hohen Stellung als Königin zu sehen. Die Königin ist auch der Ansicht, daß es Willehahn nicht um den

104

Werk und Interpretation

Schutz des Reiches gehe, sondern ausschließlich aus persönlichen Gründen die Unterstützung ihres Gatten haben wolle und zwar wegen der küneginne Gyburge minne (129,27). Sie verkennt damit die religiöse und politische Dimension dieses Krieges und unterschätzt die Bedeutung von Gyburcs Glaubenswandel (dazu: UKENA-BEST, 1994: S. 26ff.). Willehalms Rasen gegen seine Schwester wird aber in der Folge vor allem durch ihre mangelnde Sippentreue begründet.

Jetzt erst begrüßt Heimlich seinen Sohn (148,29 ff.). Willehalm verweigert ihm ebenfalls den Begrüßungskuß und berichtet seinem Vater von der Niederlage auf Alischanz und der Belagerung Gyburcs und appelliert mit dem Hinweis auf die Einheit von Vater und Sohn in der göttlichen Trinität an Heimrichs Verpflichtungen als Vater: ,nu hilf mir durh die stceten kraft der dritten geselleschaft. ich meine daz der voter bat den sun an sin selbes stat: des was der geist ir beder wer.' (149,19ff.) [.Hilf mir um der ewigen Macht und der dritten göttlichen Person. Ich meine, daß der Vater den Sohn gebeten hat, ihn zu vertreten, der Heilige Geist war ihrer beider Bürge.'] Für Willehalm ist die Familienbindung demnach ein zentraler Wert von durchaus religiöser Dimension. Der Hinweis auf die göttliche Trinität im Zusammenhang mit dem Vater-Sohn-Motiv steht in deutlicher Verbindung mit dem Prolog (dazu MERGELL, 1936: S. 150; HEINZLE, 1991: S. 943). Für BUMKE (1997: S. 227) zeigt sich an dieser ersten Begegnung zwischen Willehalm und seinem Vater, daß das ihr Verhältnis empfindlich gestört ist, was auch als Folge der Enterbung gesehen werden kann.

Empört weist Heimlich Willehalms Zweifel an seiner väterlichen Treue zurück und erklärt sich sofort bereit, ihm jegliche Unterstützung zukommen zu lassen. Etwas beruhigter gibt nun Willehalm einen ausführlichen Bericht über die Schlacht und die Verluste, die er erlitten hat. Die zahlenmäßige Überlegenheit des heidnischen Heeres beschreibt er mit einem komplizierten Rechenbeispiel: .der ze ende uz zwispilte ame schachzabel ieslich velt mit cardamome, den zwigelt mit dem prüeven wcere gezalt, Terramer und Tybalt

Die epische Struktur. Handlung (126.8 - 202,18)

105

heten manegern riter da, und Arofei von Persya, und Tesereiz den ich ersluoc, het auch riter da genaue.' (151,2ff.) [Wenn man bis zum Ende auf dem Schachbrett Feld für Feld mit immer doppelt so viel Körnern von Kardamon belegte, und zahlte man die Summe noch einmal verdoppelt aus - noch größer war die Zahl der Ritter, die Terramer und Tybalt hatten und Arofei von Persien und Tesereiz, den ich erschlug, der hatte da auch jede Menge Ritter - Übs.: HEINZLE: 1991: S. 261] Das Rechenexempel bezieht sich auf eine im Mittelalter bekannte indische Sage über die Entstehung des Schachspiels (dazu: DECKE-CORNILL, 1985: S. 190f.). Die Stelle ist nicht leicht zu übersetzen und hat zu verschiedenen Erklärungsversuchen geführt (dazu: DECKE-CORNILL, 1985: S. 191; HEINZLE, 1991: S. 944f). In jedem Fall handelt es sich hier um eine hyperbolische Mengenangabe durch eine Spielvergleich, ein Stilmittel, das der Erzähler besonders bei Kampfdarstellungen gerne anwendet (vgl. auch die zahlreichen Würfelspielvergleiche wie z.B: 26,2f; 43,29ff; 427,26f; dazu KÜHNEMANN, 1970:8.39-45).

Willehalms Bericht von der Schlacht endet mit dem Satz Myle und Vivianz sint tot (151,30). Die Stimmung schlägt nun um, und alle klagen mit Willehalm. Dieser plötzliche Stimmungsumschwung der Hofgesellschaft wird vom Erzähler mit unverhohlener Ironie beschrieben: Dri starke karrosche unde ein wagen möhtenz \vazzer niht getragen, daz von der riter ougen wiel. Heimrich stuont kume daz er niht viel. da wart an den stunden manec edeliu hant gewunden, daz si begunden krachen, (l 52, l ff.) [Drei starke Karren und ein Wagen konnten das Wasser nicht tragen, das den Rittern aus den Augen floß. Heimrich konnte sich kaum auf den Beinen halten. Da wurden nun manche vornehme Hände so sehr gerungen, daß sie krachten.] Zwar zeigt die Hofgesellschaft nun durch eine kollektive Trauerkundgebung ihr Mitleiden mit Willehalm, es kommt aber nicht zu den für den Markgrafen so wichtigen Hilfeversprechen. Dies veranlaßt Irmenschart zu einer scharfen Rüge: , wie ist iuwer eilen sus bewart?

106

Werk und Interpretation

ir tragt doch manlichen lip: suit ir nu weinen so diu v/ip oder als ein kint nach dem ei? \vaz taue helden sölh geschrei? weit ir manliche leben, so muezet ir lihen unde geben, und helfet dem der zuns ist körnen, des vlust wir alle hon vernomen.' (152,12fF.) [Was, so zeigt sich Euer Mut? Ihr seid doch Männer! Wollt ihr jetzt Weinen wie die Weiber oder wie ein Kind um ein Ei? Paßt so ein Geschrei zu Helden? Wenn ihr Männer sein wollt, dann mußt ihr Geschenke und Lehen geben und dem helfen, der zu uns gekommen ist und von dessen Verlusten wir gehört haben.] Daß ausgerechnet eine Frau die handlungsunfähigen weinenden Männer zur Tapferkeit und Hilfe auffordern muß, läßt diese nicht unbedingt in einem günstigen Licht erscheinen. Möglicherweise richtet sich der Erzähler mit seiner ironischen Beschreibung der weinenden Männer auch gegen den hyperbolischen Stil der Heldenepik (vgl. auch 384,23ff.), vor allem gegen die halt- und maßlosen kollektiven Trauerbekundungen in den chansons de geste,

Vor dem Hintergrund des großen Mitleidens, die Willehalms Verwandtschaft nun zeigt, erscheint die Reaktion der Königin nur um so verwerflicher. Dies nimmt Willehalm zum Anlaß, um wiederum eine Schimpftirade auf seine Schwester loszulassen. Er bezeichnet sie als Hure und bezichtigt sie des Ehebruchs mit Tybalt. Der Bruch der Sippentreue durch seine Schwester ist die wesentliche Ursache für Willehalms gehamischte Scheltrede gegen sie. Der Erzähler greift hier korrigierend ein, indem er die Haltlosigkeit der Beschuldigungen betont: dem marcraven zorn gebot / daz er dennoch sine swester schalt, / diu etswa unschulde engalt (152,28ff.) [Von Zorn getrieben schimpfte der Markgraf noch immer auf seine Schwester und beschuldigte sie grundlos]. Dies gilt wohl in erster Linie für das unwahrscheinliche Liebesverhältnis mit Tybalt, das Willehahn ihr unterstellt. Der an die Königin gerichtete Vorwurf der Untreue mit Tybalt ist in der Vorlage enthalten, wobei es sich hier allerdings um eine Personen Verwechslung handeln dürfte (dazu LOFMARK, 1972: S. 75f; HEINZLE, 1991: S. 946). Diese Anschuldigung wird im Willehalm durch eine Bemerkung des Markgrafen ergänzt, die den vermeintlichen Ehebruch der Königin in einen ganz anderen Zusammenhang stellt, als in der Vorlage:

Die epische Struktur. Handlung (l 26,8 - 202,18)

107

, Tybalde ich Gyburge nie het enpfüeret, \van daz ich räch daz unserem künege hie geschah. s\vaz Tybalt hie geborget hat, Gyburc daz minnen gelt mir tat.' (153,26fF.). [,Ich hätte Gyburc niemals dem Tybalt entführt, wenn ich nicht hätte rächen wollen, was unserem König hier angetan worden ist. Was Tybalt sich hier genommen hat, das zahlt mir Gyburc durch ihre Liebe zurück'.] Durch diese Aussage erfährt der Vorwurf des Ehebruchs eine Umdeutung, „sie wird verständlich als konsequente Umwertung der Ereignisse von dem neuen Standpunkt aus: der Reichsidee" (BuMKE, 1959: S. 75; Anm. 46.). Gyburcs Entführung diente demnach auch zur Wiederherstellung der Ehre des Königs, war Reichsangelegenheit, (dazu: SCHMID, 1978: S. 268; DECKECORNILL, 1985: S. 200f; HEINZLE, 1991: S. 946 sowie u. S.243ff.).

Der Auftritt Alyzes (154,1 - 160,19). Während Willehalm voller Wut die Königin beschimpft, erscheint Alyze, um für ihre Mutter um Vergebung zu bitten. Alyzes vollkommene Erscheinung und ihre überwältigende Schönheit lassen Willehalms Zorn augenblicklich schwinden. Sie fällt vor Willehalm auf die Knie, der sie beschämt bittet, sich wieder zu erheben (155,30ff.). Alyze trägt nun ihr Anliegen vor. Sie tadelt Willehalm wegen seines unhöfischen Verhaltens, kritisiert aber auch ihre Mutter und bittet ihn um Verzeihung (157ff.). Willehalm verteidigt sich und begründet, warum ihn das Verhalten ihrer Mutter so aufgebracht habe. Es gehe ihm nicht um Standesfragen, sondern in erster Linie um Sippentreue. Auch verweist er wiederum auf seine Verdienste um die Krone. Um Alyzes willen und um das Hoffest nicht vollends zu verderben, ist Willehalm dann doch bereit, seiner Schwester zu verzeihen und bittet seine Nichte, ihre Mutter zu holen. Irmenschart ruft ihrer Enkelin noch zu, daß sie ihre Mutter über den Ausgang der Schlacht informieren und auf ihre Verpflichtung zur Klage hinweisen solle (160ff.). hl einer descriptio von 49 Versen (dazu: DECKE-CORNILL, 1985; S. 203ff.) wird Alyze als vollendete höfische Erscheinung von makelloser Schönheit beschrieben. Alyze ist nicht nur diu junge reine süeze dar (154,9), sie ist auch diu sceldenboere (154,20), die Heilbringende. Der Erzähler beschreibt die heilende Kraft, die ihre Reinheit und Vollkommenheit bewirkt, mit einem recht seltsam anmutenden Bild, das einige Interpreten als grotesk aber auch als obszön empfunden haben (Lit. bei DECKE-CORNILL, 1985: S. 206f; vgl. auch FUCHS, 1997: S. 318f.):

108

Werk und Interpretation

Alyse diu sceldenbcere, man möht ufeine wunden ir lausche han gebunden da daz ungenante wcere bi: belibe diu niht vor schaden vri, si müese engelten Wunders. (154,20ff.) [Alyze, die Heilbringende, man könnte ihre Reinheit auf eine unheilbare Wunde binden, wenn die dann nicht heilte, ginge es nicht mit rechten Dingen zu.] Der Gedanke, daß eine reine und treue Frau Krankheiten und Wunden heilen kann, wird auch im Zusammenhang mit Gyburc geäußert. Gyburc wirkt in den beiden Liebesszenen heilend auf die inneren und äußeren Wunden des Markgrafen, wobei ihre erotische Ausstrahlung eine nicht geringe Rolle spielt. Vor diesem Hintergrund verliert diese Textstelle dann doch einiges von der obszönen Komik, die einige Interpreten darin sehen wollten. Nicht nur Alyzes glänzende Erscheinung wirkt besänftigend auf die Hofgesellschaft, sie versteht es auch, ihre Vermittlerrolle durch exorbitante Gesten zu unterstreichen. So ist der Kniefall der Königstochter vor dem Markgrafen mehr als außergewöhnlich. Er bedeutet „eine Hervorhebung dieses Fürsten und eine Anerkennung seiner besonderen Stellung im Reich". (REICHEL, 1975: S. 400). Willehalm ist sich der großen Bedeutung dieser Geste sehr wohl bewußt, er fürchtet sogar, daß sie ihm schaden könnte. Unter Tränen und mit den Worten ,du bist des raemischen küneges kint' (156,9) [,du bist die Tochter des römischen Königs'] bittet er sie aufzustehen und bietet ihr sofort seine Dienste an. Indem er Alyze als Dienstherrin anerkennt und ihren höheren Rang betont, stellt Willehahn die höfische Ordnung wieder her. Damit ist der erste Schritt zur Versöhnung getan. Alyzes Auftritt verhilft den höfischen Werten vor allem im Bereich der minne und des Frauendienstes wieder zu ihrem Recht, indem sie Willehahn zur Frauenverehrung mahnt: ,nu war hat wiplich ere vluht, / wan hin zer mannes guete?' (157,8f.) [,Wo soll Frauenehre Zuflucht finden, wenn nicht beim Edelmut der Männer?']. Das Auftreten Alyzes zeigt die „zivilisierende und harmonisierende Kraft des höfischen Ideals" (BuMKE, 1997: S. 199), vor allem aber der minne. Der Konflikt ist zwar nicht beseitigt, aber die schädlichen Emotionen sind eingedämmt und der Weg ist für ruhigere Verhandlungen geebnet (vgl. auch HAUPT, 1989: S. 238).

Hilfeversprechen Irmenscharts (160,20 - 161,30). Die tatkräftige Irmenschart erklärt sich nun bereit, ihr gesamtes Vermögen für die Ausrüstung eines Heeres zu opfern und außerdem eine Rüstung anzulegen und selbst für ihren Sohn zu kämpfen. Willehalm ist gerührt über dieses Angebot, dankt seiner Mutter und bringt sie

Die epische Struktur. Handlung (126,8 - 202,18)

109

schließlich dazu, von ihrem Vorhaben, selbst zu kämpfen, abzusehen und sich mit der Ausrüstung eines Truppenkontingents zu begnügen. Innenschart verfügt über eigenes Vermögen, wobei es sich sowohl um die Mitgift als auch um die Morgengabe handeln könnte. Dir heroisches Auftreten und vor allem ihre Bereitschaft, ftlr Willehahn gerüstet zu kämpfen, wirken zunächst komisch (dazu: SCHAUFELE, 1979: S. 37f; DECKE-CORNILL, 1985: S. 227 und S. 229). Irmenschart steht mit ihrem selbstlosen Hilfeversprechen aber auch in starkem Kontrast zu den anwesenden Männern, die bis zu diesem Zeitpunkt noch keine Unterstützungserklärungen abgegeben haben.

(Viertes Buch) Resume und Erzählerkommentar (162,1 - 163,10): Das vierte Buch beginnt mit einem Rückblick des Erzählers auf das Geschehene und mit einer Vorausdeutung auf Willehalms Versöhnung mit der Königin. Der Erzähler gibt auch eine Entschuldigung für Willehalms grobes Benehmen ihr gegenüber: des twanc in minne und ander not / und möge und lieber manne tot (163,9f.) [Dazu trieben ihn Minne und Leid und der Tod von Verwandten und treuen Gefolgsleuten]. Rückkehr der Königin zur Hofgesellschaft, Versöhnung und Aufruf zur Hilfeleistung (163,11 - 172,30). Alyze ist inzwischen zu ihrer Mutter zurückgekehrt, die sich aus Furcht eingesperrt hat. Erst als Alyze ihr versichert, daß Willehalms Zorn verflogen sei, öffnet sie die Kemenatentür. Nun erfährt sie, welch großes Unglück ihrem Bruder geschehen ist und wie viele tapfere Krieger auf Alischanz ihr Leben lassen mußten. Daraufhin bricht die Königin in große Klagen aus und macht sich schwere Vorwürfe wegen ihres Verhaltens (164,10ff). Mit dem Vorsatz, Willehalm mit allen ihr zur Verfugung stehenden Mitteln zu helfen, betritt sie wieder den Festsaal. Willehalm bemerkt ihren Sinneswandel und berichtet ihr nun traurig von den schweren Verlusten. Dies veranlaßt die Königin zu einer noch lauteren Klage, vor allem um Vivianz (167, Iff). Heimrich und Irmenschart raten ihrer Tochter, beim König um Unterstützung für Willehalm zu bitten. Gemeinsam mit ihren Brüdern Bernart, Buove, Gybert und Bertram begibt sie sich daraufhin zu ihrem Gatten. Doch als sie ihre Bitte vorgetragen hat, verhält sich Loys ablehnend, vor allem wegen der ihm von Willehalm zugefügten schweren Beleidi-

110

Werk und Interpretation

gungen. Die Königin gibt sich aber nicht geschlagen, sondern ruft alle am Hofe befindlichen Ritter zum Kampf auf, mit der Versicherung, daß sie alle gut ausrüsten werde (170,6ff.)· Daraufhin erklären sich die vier Brüder Willehalms ebenfalls öffentlich zur Hilfeleistung bereit. Am Beginn des vierten Buches steht der Gesinnungswandel der Königin, die sich ihrer verwandtschaftlichen Bindungen besinnt und ihren hohen Rang als Königin in den Dienst der Sippe stellt. Damit erweist sie sich fähig zur triuwe und demonstriert auch vor dem König ihre Sippentreue, indem sie gemeinsam mit ihren Brüdern vor ihm auf die Knie fällt (l 69. l Of.), um ihn um Hilfe zu bitten. Für UKENA-BEST (1994: S. 33) hat der Erzähler an der Figur der Königin „wesentliche Maximen der christlichen Morallehre nach dem Modell des bekehrten Sünders im malum-bonum-Kontrast vergegenwärtigt". Die Verfehlungen seien „Tatäußerungen spiritueller Sünden, die als vita capitalia, als Hauptlaster die geistigen Voraussetzungen für die Todsünden bilden und Menschen in die Verdammnis stürzen". Durch ihren Gesinnungswandel verkehrten sich diese Sünden zu Tugenden. Während die Königin nun in erster Linie nach swester orden (180,6) [schwesterlich] handelt, bleibt ihr Gatte zunächst hart. Er gibt sich nun in erster Linie als Repräsentant der Krone und bringt den Konflikt durch den Hinweis, daß Willehalm die Vorrangstellung des Königshauses mißachtet habe, auf eine reichspolitische Ebene.

Fortsetzung des Hoftages und Wimars Ehrung (173,1 - 177,14). Die Hilfebekundungen werden durch Heimlich unterbrochen, der den König auffordert, den begonnenen Hoftag, trotz der großen Aufregungen fortzusetzen. Der König nimmt den Vorschlag an und fordert seine Dienstleute auf, den Gästen ihre Plätze zuzuweisen. Während das Essen aufgetragen wird, nimmt die Königin Willehalm bei der Hand und führt ihn in ihre Kemenate, um ihm die Rüstung abzunehmen und ihn gemäß der höfischen Etikette für das Fest einzukleiden (174,Iff.). Doch der Markgraf verweigert dies mit dem Hinweis auf die Not Gyburcs. Schließlich läßt er sich überreden, das Festgewand anzuziehen, allerdings ohne sich zu waschen, so daß auf dem Haar, dem Bart und der Haut die Rostspuren der Rüstung, sichtbar blieben. Im Festsaal nehmen alle gemäß ihrer Rangordnung die Plätze ein. Willehalm erbittet sich als Tischnachbarn den Kaufmann Wimar und bedankt sich damit für dessen Gastfreundschaft (175,25ff.). Wiederum verzichtet Willehalm aus Liebe zu und in

Die epische Struktur. Handlung (l 26.8 - 202.18)

111

Sorge um Gyburc auf die köstlichen Speisen, die aufgetragen werden, und nimmt nur Wasser und Brot zu sich. Heimrichs Aufforderung, den Hoftag weiterzuführen, erscheint angesichts der gespannten Situation zunächst unverstandlich. Heünrich ist, wie sich im Laufe der Handlung zeigen wird, ein Meister der höfischen Etikette und immer darauf bedacht, die höfischen Regeln zu beachten. Möglicherweise ist Heimrichs Beharren auf der Einhaltung des höfischen Protokolls ein Ausdruck der Distanz und Fremdheit zwischen Vater und Sohn (so BUMKE, 1991: S. 221). Man kann aber Heimrichs Vorschlag auch als politisches Handeln verstehen, denn durch die Fortsetzung des Hoftages werden die Fürsten vereint an einen Tisch gebracht und wird die Ordnungsleistung des höfischen Protokolls in einer schwierigen Situation betont. Allerdings wird die Festlichkeit des höfischen Zeremoniells immer wieder gebrochen durch die rauhe kriegerische Wirklichkeit, verdeutlicht an dem Verhalten Willehahns, der sich weigert, den Rost der Rüstung abzuwaschen, der durch das Festgewand, das ihm seine Schwester gegeben hat, durchscheint, und der als einziger nicht am Festessen teilnimmt und nur Wasser und Brot zu sich nimmt.

Willehalms Hilfeersuchen an den König - 2. Königshandlung und Vorbereitung zum Kriegszug (177,15 - 186,30). Willehalm wartet ungeduldig ab, bis der König gegessen und getrunken hat und trägt wiederum seine Bitte um Hilfe vor. Er schildert dem König noch einmal eindringlich seine aussichtslose Situation und die große Bedrängnis, in der Gyburc sich befindet. Doch Loys zögert mit einer Antwort und will sich zunächst mit seinen Fürsten beraten. Diese ablehnende Handlung des Königs bewirkt einen neuerlichen Zornausbruch Willehalms. Er springt auf den Tisch und droht dem König mit der Rückgabe seiner Lehen (179,7ff.). Willehalms Brüder und die Königin versuchen daraufhin die Situation zu retten und den König zu beschwichtigen. Schließlich ist Loys, vor allem durch das Drängen von Heimrich und Irmenschart, dann aber doch bereit, seine Hilfeleistung zuzusagen, insbesondere um den Tod des Vivianz zu rächen. Auf Befehl des Königs wird nun in ganz Frankreich das militärische Aufgebot verkündet (l85,Iff.). Willehalms Verwandte und die Fürsten verlassen den Hof, um ebenfalls ihre Truppen zu sammeln, die innerhalb von zehn Tagen in Munleun eintreffen sollten. Willehalm, froh endlich Hilfe erlangt zu haben, bleibt am Hofe des Königs, um auf die Ankunft der Heere zu warten.

112

Werk und Interpretation

Willehalms zweites Hilfeersuchen an den König ist in der Argumentation gegenüber dem ersten verändert. Nicht an seine Verpflichtungen als Lehnsherr erinnert der Markgraf den König, sondern an seine Verpflichtung als Herrscher des römischen Reichs und als Sohn und Erbe Karls. Damit wird der Konflikt zwischen Vasall und König auf die Reichsebene verlegt und erscheint nicht mehr als eine private Auseinandersetzung. Da der Konflikt solcherart zur Reichsangelegenheit wird (dazu: BUMKE, 1959: S. 126 - 136; HELLMANN, 1969: S. 215 - 244; RUH, 1980: S. 174f), ist Loys Antwort darauf, sich zunächst mit den ReichsfÜrsten beraten zu wollen (179,2), durchaus der Würde des Amtes und der Position des Königs und Lehensherrn angemessen. Obwohl es durch Willehalms neuerlichen Zomausbruch fast wieder zu einem Eklat kommt, ist seit Alyzes Auftritt die Voraussetzung für eine argumentative Auseinandersetzung gegeben. Die Königin und Heimrich versuchen König Loys daher in ihren Reden darauf aufmerksam zu machen, daß nicht der Konflikt zwischen ihm und Willehalm im Vordergrund stehe, sondern die Verteidigung des Reiches und der römischen Krone gegen die Heiden. Dies bringt den König schließlich zur Einsicht: der von Karel was erbom, /der begienc da Karies tücke (184,28f.) [da handelte Karls Sohn wie Karl].

Rennewarts Auftritt (187,1 -197,5). Eines Abends, als Willehalm gemeinsam mit dem König vom Fenster aus dem übermütigen Treiben der jungen Ritter und Knappen zusieht, bemerkt er einen Küchenknecht, mit dem die jungen Adeligen ihre Scherze treiben. Es ist Rennewart, der sich die Scherze zunächst gutmütig gefallen läßt, dann aber zornig wird, einen der Knappen packt und ihn gegen eine Wand schleudert, so daß er wie eine faule Frucht zerplatzt. Willehalm fragt den König nach dem Jüngling mit den übermäßigen Kräften und erfährt, daß er als kleines Kind von persischen Kaufleuten gekauft wurde (190,22fT). Der König erzählt ihm auch, daß Rennewart ein Heide von edler Abkunft ist, aber Küchendienste leisten muß, weil er die Taufe verweigert. Willehalm erbittet sich den Knappen vom König, und Rennewart wird geholt und Willehalm vorgestellt. Der noch bartlose Rennewart ist sich seiner hohen Abkunft sehr wohl bewußt und schämt sich seines Aussehens und seiner niedrigen Stellung am Königshof. Er weigert sich zunächst französisch zu sprechen, doch Willehalm beherrscht Rennewarts Muttersprache und fragt ihn, ob er in seine Dienste treten will. Dieser sagt freudig zu und Willehalm will ihn daraufhin ritterlich ausrüsten. Doch Rennewart verlangt nichts anderes als eine schwere eisenbeschlagene Stange, die nach seinen Angaben angefertigt wird und

Die epische Struktur. Handlung (126,8 - 202,18)

113

die so schwer ist, daß sie nur mit Not von sieben Männern aufgehoben werden kann (196,20ff.). Im Zentrum des vierten Buches steht der Auftritt Rennewarts, wohl eine der schillerndsten Figuren der Dichtung. Obwohl Rennewart durch den Küchendienst schmutzig und verwahrlost aussieht, erkennt man seinen Adel und seine hohe Abkunft. Rennewart wird mit einem Adlerjungen (189,2 - 24; dazu: GERHARDT, 1970) und einem Goldstück und einem Edelstein (188,20ff.) verglichen, deren Glanz, auch wenn sie beschmutzt sind, noch zu sehen ist (vgl. auch KNAPP, 1970: S. 70 - 75; KLEPPEL, 1996: S. 197) Im Gespräch zwischen Willehahn und Rennewart wird deutlich, daß Rennewart durchaus zur höfischen Gesinnung fähig ist, über seinen hohen Adel Bescheid weiß und sich deshalb seiner Stellung am Hofe schämt. Er fühlt sich durch seine Verwandten in Stich gelassen, was der Erzähler allerdings als Irrtum bezeichnet (285,1 - 6). Rennewart unterstreicht seine Außenseiterrolle auch dadurch, daß er sich zunächst weigert, französisch zu sprechen (192,10ff.). Seine Entscheidung, sich nicht taufen zu lassen, begründet er gegenüber Willehahn mit den Worten: ,nu ist mir der touf nicht geslaht' (193,19) [,doch ist mir (meiner Herkunft?) die Taufe nicht gemäß'] (dazu: KNAPP, 1970: S. 133). Für KLEPPEL (1996: S. 201) wird in diesem Gespräch Rennewarts mit Willehalm die „innere Heimatlosigkeit" des jungen Heiden deutlich, die auch mit seiner äußeren räumlichen Entwurzelung konvergiert.

Heeresversammlung, Aujbruch nach Orlens (197,6 - 202,18). Nach den festgesetzten zehn Tagen hat sich ein großes Heer vor Munleun versammelt. König Leys und der Markgraf begrüßen die Fürsten und der König gibt den Truppen den Befehl, am nächsten Morgen nach Orlens aufzubrechen. Willehalm sucht nach Rennewart, den er mit angesengtem Haar und Gewand vorfindet (198,18ff.). Voller Zorn darüber hat er in der Küche alles kurz und klein geschlagen. Willehalm beruhigt ihn und gibt ihm die Order, sich bereitzuhalten. Am nächsten Morgen setzt sich der gewaltige Heereszug in Bewegung. Das Königspaar und Alyze haben sich ebenfalls bereit gemacht, um die Truppen nach Orlens zu begleiten. Mit einiger Verspätung kommt Rennewart gelaufen, der verschlafen hatte. Willehalm macht ihn darauf aufmerksam, daß er seine Stange vergessen habe und Rennewart läuft zurück, um sie zu holen (201,22ff.). Als er die Stange nicht dort vorfindet, wo er sie gelassen hat, nämlich in der Küche, tritt er die Türe ein und erschlägt den Küchenmeister. In kurzer Zeit findet er seine Waffe und eilt zum Heer zurück.

114

Werk und Interpretation

Für RUH (1980: S. 173) wirken Rennewarts zornige Auftritte in der Küche auf den heutigen Leser befremdlich, vor allem, weil der brutale Totschlag an dem Knappen und dem Koch ohne moralische Bewertung bleibt. BERTAU (1983a: S. 93f.) bezeichnet diese Szenen als Witze Wolframs, die alle auf die soziale Differenz Ritter / Bauer und Ritter / Nichtritter zielten. Rennewarts Zornausbrüche seien Ausdruck seiner schäme über seine erniedrigende Stellung. Die groteske Komik dieser Szenen gehe auf Kosten der Knappen und der Köche, die Lacher seien auf der Seite des heidnischen Königssohns. HAUG (1975: S. 226ff.) hat darauf aufmerksam gemacht, daß das Motiv von Willehalms maßlosem Zorn, der nach der Hilfeversprechung des Königs nie mehr zum Ausbruch kommt, auf Rennewart übertragen wird. Doch im Gegensatz zu Willehahn, dessen Zorn vor allem in der großen Sorge um Gyburc begründet liegt, resultiert Rennewarts Zorn aus seiner tumpheit, die erst durch Erziehung und Reife überwunden werden muß. In Munleun befindet sich Rennewart außerhalb der höfischen Gesellschaft. Er empfindet dies als schwere Erniedrigung und seine Wahl, als Waffe eine eisenbeschlagene Stange zu fuhren, ist einerseits Kennzeichen für sein verletztes ritterliches Ehrgefühl und andererseits für seine Unerfahrenheit und mangelnde ritterliche Ausbildung. Rennewarts Stange ist nicht nur der Mittelpunkt vieler derb-komischer Episoden, sondern ein Angelpunkt für die Charakterisierung der Figur. Die Tatsache, daß Rennewart in der Folge seine Eisenstange dreimal (201,5ff; 314,18ff; 316,26ff.) vergessen wird (und zwar jedesmal beim Aufbruch des Heeres), macht die Waffe zu einem ambivalenten Bedeutungsträger (vgl. dazu: KASTEN, 1977).

Vergleich mit der Vorlage Wolfram hat auch Willehalms ersten Besuch am Königshof an einigen entscheidenden Punkten anders gestaltet als in Aliscans. Als Guillaume in Laon erscheint, ist es der König und nicht die Königin (wie bei Wolfram), der ihn zuerst sieht (vgl. AI. 2549fF.). Der Markgraf wird jedoch nicht sofort von Louis erkannt (vgl. AI. 255Iff.); erst nachdem Guillaume sich beklagt hat - mit einem Bericht über die Verluste (AI. 264Iff.) - weist ihn Louis ab und ruft ihn vom Fenster aus, er solle irgendwo übernachten, da er zu ärmlich (pobremenf) für den Hof gekleidet sei (AI. 2693ff.). Wolfram hat den König gegenüber seiner Vorlage entlastet und den Akzent auf den Konflikt zwischen Willehalm und seiner Schwester gelegt. Ein Indiz für die negative Zeichnung der Figur der Königin und Schwester im Willehalm ist unter anderem, daß die Königin ohne Namen bleibt, während sie in Aliscans Blancheflor genannt wird (dazu: DECKE-

Die epische Struktur. Handlung (l 26,8 - 202,18)

115

CORNILL, 1985: S. 117.). Die Nacht verbringt Guillaume - wie Willehalm - bei einem Bürger (Guirnar; vgl. AI. 2723ff.) Auch für den darauffolgenden Tag hat Wolfram die Ereignisse teilweise anders gestaltet; Guillaume wird zwar - wie Willehalm von den Franzosen wieder nicht begrüßt, aber bevor er das Königspaar sieht, kommen seine Verwandten und er erzählt ihnen von seiner Not und den Toten der ersten Schlacht (vgl. AI. 289Iff.). Erst dann folgt die Auseinandersetzung mit dem König und der Königin: Nach kurzen, unangenehmen Bemerkungen des Königspaars (Louis: AI. 2976ff; Blancheflor: AI. 2980ff), nennt Guillaume seine Schwester putein [Hure] (AI. 2983) und bezichtigt sie, mit dem Heidenführer geschlafen zu haben. Wie bei Wolfram, verhindert die Mutter in Aliscans., daß Guillaume seine Schwester umbringt; Aelis (Alyze) führt die Versöhnung zwischen Guillaume und Blancheflor herbei, indem sie ihrer Mutter von den Verlusten erzählt. Bei Wolfram nimmt die Familienhandlung der Sippe Willehalms (Auseinandersetzung Willehalm - Schwester und Reaktion von Heimlich und seinen Söhnen) an Bedeutung zu. Den Reichsgedanken, der bei Wolfram für die Handlung bestimmend ist, gibt es in der französischen Vorlage nicht: Die Hofszene in der französischen Dichtung wird geprägt von einem französischen Nationalgefühl, das - nach MERGELL (1936: S. 143) - von einem „nichtfranzösischen Dichter schlechthin unübersetzbar" sei. In Aliscans hilft Louis Guillaume nicht aus Pflicht seinem Untergebenen gegenüber, sondern weil Guillaume seinen König an seine Unterstützung in der Vergangenheit und seine Versprechungen erinnert: Da das deutsche Publikum mit den anderen Geschichten um Guillaume und Louis nicht so vertraut war, hat Wolfram auf diese Begebenheiten verzichtet. Wolfram gestaltet auch die Rennewart-Handlung anders: In der Vorlage hat Louis den Heiden für 100 Mark gekauft (AI. 3406) und ihn zur Küche geschickt, weil er so groß ist. Louis will ihn nicht taufen lassen: Bei Wolfram verweigert Rennewart die Taufe. In Aliscans gibt Louis seinem Schwager Rainouart, ohne von Aelis darum gebeten zu werden; Rainouart will von Guillaume in die Schlacht mitgenommen werden, weil er von hoher Abstammung ist. Indem Wolfram die Frage des Glaubens zu einer persönlichen Entscheidung Rennewarts macht, verstärkt er die Konfliktsituation des Helden. Rennewarts Entscheidung für Willehalm zu kämpfen, ist

116

Werk und Interpretation

im Gegensatz zu A liscans mit Rennewarts Haß auf seine Verwandten begründet. Auch die Stange wird in Alisons nicht extra hergestellt, sondern ist ein einfaches Küchenutensil. g) Von Munleun nach Orange (202,19 - 214,30) Übernachtung beim Kloster (202,19 - 208,30). Das Heer hält Zwischenlager nahe dem Kloster, in dem Willehalm bei seiner Anreise übernachtet und den Schild Arofels zurückgelassen hat. Das Kloster ist unterdessen niedergebrannt und der Abt erzählt dem Königspaar von der Kostbarkeit des Schildes. Daraufhin berichtet Willehalm, wie er zu dem Schild und der fremden Ausrüstung gekommen ist, von seinen Kämpfen mit Arofei und Tesereiz und daß er viele Heiden getötet hat, vor allem um Vivianz zu rächen (203,18ff.). Dabei wird deutlich, daß Willehalm die Tötung Arofels und Tesereiz durchaus bedauert und als einen großen Verlust für die minne bezeichnet (vgl. dazu o. S.82ff.). Die Fürsten und Gefolgsleute, die ihm zugehört haben, freuen sich aber alle über die Rache, die Willehalm genommen hat. In Orlens (209,1 - 214,30). Am nächsten Morgen reiten die Truppen weiter nach Orlens. Dort angekommen, übergibt der König Willehalm den Oberbefehl und die Reichsfahne und fordert den Markgrafen auf, als Schlachtruf Monschoy zu führen, wie ihn schon sein Vater Karl im Kampf gegen die Heiden verwendet habe. Die Königsfamilie und Alyze verabschieden sich nun von Willehalm. Auch Rennewart ist gekommen, um Abschied zu nehmen und erhält von Alyze einen Kuß. In Orlens tritt König Loys das letzte Mal in den Vordergrund. Mit den Worten, Lays der künic was auch roemischer vogt (210,1) [König Ludwig war auch zugleich römischer Vogt], mit denen seine Rede vor dem Heer eingeleitet wird, kommt zum Ausdruck, daß Loys hier nicht als französischer König sondern in erster Linie als Herr des römischen Reiches agiert. Obwohl der Erzähler den König würdig auftreten läßt, wirkt dessen Begründung, nicht am Kampf teilzunehmen, um im Notfall rechtzeitig eingreifen zu können (210,17ff.), doch ein wenig fadenscheinig. Loys übergibt Willehahn den Oberbefehl über das Reichsheer und die Reichsfahne, was den Fürsten durchaus angenehm ist: die vürsten sunder niht verdroz,

Die epische Struktur. Handlung (202,19-214,30)

7

sine sprcehen, einem ir genoz, dem wceren si gerner Untertan denne deheinem des küneges ambetman. (212,3ff·) [Besonders die Fürsten waren darüber nicht verdrossen, sie sagten alle, daß sie lieber einem ihresgleichen folgen als einem Hofbeamten des Königs] Für HELLMANN (1969: S. 187) bedeutet diese Stelle, daß Wolfram gegen eine antifürstliche Personalpolitik auftritt. Dies könnte ganz im Sinne seines Auftraggebers Hermann von Thüringen gewesen sein. Mit den Hofbeamten sind nach HEINZLE (1991: S. 976f.) die Ministerialen gemeint, die vom König oder Kaiser über ihren Tätigkeitsbereich hinaus wichtige Aufgaben übertragen bekommen haben und so ihre Macht immer mehr ausweiten konnten. Wolfram kritisiert dies, indem er die vier klassischen Hofämter und deren Aufgabenbereich, nach dem Motto „Schuster bleib bei deinem Leisten" aufzählt: ein marschalc solde vuoter geben; die des trinkens \volden pflegen, die solden zuo dem schenken gen; so solde der truchsceze sten bi dem kezzel, so des wcere zit; der kamercere solde machen quit diu phant den dies twunge not. (212,7ff.) [ein Marschall sollte den Pferden Futter geben, wer trinken will, soll zum Schenken gehen, der Truchseß sollte zur rechten Zeit beim Kessel stehen; der Kämmerer sollte jenen, die es nötig haben, die Pfänder lösen.] Rennewarts Abschied von Alyze gegen Ende des IV. Buches macht deutlich, daß sie das Verhalten ihres Vaters gegenüber dem jungen Heiden kritisiert: Alyze bittet Rennewart um Verzeihung für den König: ,daz er ir voter schult verkür' (213,19) [,er möge ihrem Vater seine Schuld verzeihen']. Mit dem Kuß, den Alyze Rennewart zum Abschied gibt, unterstreicht und bestätigt sie nicht nur ihr gegenseitiges Minneverhältnis, das seit der Kindheit besteht, sondern sie gibt auch den Anstoß für Rennewarts Entfaltung als Ritter und sein Streben nach Ehre. Dieser Kuß wird Rennewarts Bartwuchs auslösen, und unter anderem ein sichtbares Zeichen für sein Minnerittertum im Dienste Alyzes sein (dazu LOFMARK, 1972: S. 74f. und 195f). Bemerkenswert ist, daß sich der Heide Rennewart mit den Worten: ,der hcechste got behuete / iuwer werdeclichen güete' (213,27f.) [,der höchste Gott behüte Eure hohe Güte'] bei Alyze bedankt. Die Wendung der hchste got wird ausschließlich für den Christengott gebraucht. Man kann dies als erste Hinwendung Rennewarts zum christlichen Gott oder einfach als Abschiedsformel verstehen. Für LOFMARK (1972: S. 196) sind Rennewarts Abschieds-

118

Werk und Interpretation

worte „equally meaningful and emotionally suggestive by Saracen or by Christian interpretation."

Vergleich mit der Vorlage In der Darstellung der Ereignisse von Munleun bis Orange hat Wolfram die Rennewart-Handlung (in Vergleich zu der Rainouarts) geändert. Das betrifft vor allem die verschiedenen Abenteuer des Riesen vor Orlens: Die Szene der Tötung des Kochs durch Rainouart wird bei Wolfram gekürzt (vgl. AI. 3736ff.); auch den Abschiedskuß zwischen Rennewart und Alyze hat Wolfram anders gestaltet. In Aliscans läßt Aelis Rainouart holen, um ihn um Entschuldigung zu bitten (warum sie das macht bleibt ungewiß; vgl. AI. 3925ff.); bei Wolfram hat die Rennewart-Alyze-Beziehung eine Vorgeschichte bekommen: Eine frühe Liebe zwischen Aelis und Rainouart gibt es in der Vorlage nicht.

(Fünftes Buch) h) In Orange (215,1-313,30) Rückblick: Religionsgespräch zwischen Gyburc und Terramer (215,1 - 221,26). Während der Ereignisse am französischen Hof wird Orange von dem heidnischen Heer belagert. In einer Kampfpause findet ein Gespräch zwischen Gyburc und ihrem Vater Terramer statt, der Gyburc wieder zum heidnischen Glauben zurückgewinnen will. Gyburc bekennt sich aber bedingungslos zum christlichen Glauben und zu Willehalm und versucht ihrem Vater mit theologischen Argumenten die Überlegenheit des Christentums darzulegen. Außerdem erklärt sie ihrem Vater, daß Tybalt keinerlei Recht mehr auf sie habe und daß auch sein Anspruch auf französische Ländereien durch den Sieg Karls über Baligan längst erloschen sei. Terramer, der sich noch immer zu seiner Vaterliebe gegenüber Gyburc bekennt, ist jedoch nicht in der Lage, die christlichen Dogmen, vor allem die Trinität, zu verstehen. Im Religionsgespräch zwischen Gyburc und Terramer kommt die Tragik des Religionskonflikts, der auch zum Verwandtenkampf geführt hat, deutlich

Die epische Struktur. Handlung (215.l - 313.30)

119

zum Ausdruck. Gyburc versucht ihrem Vater die Überlegenheit der christlichen Religion mit Argumenten deutlich zu machen, die bereits im Prolog anklingen. Sie beginnt mit einen Lobpreis des Schöpfergotts (215,10216,29), gemahnt ihren Vater aber auch an seine verwandtschaftliche Bindung: , ir verlieset michel arbeit. Du voter und ander mine mage, daz ihr lip und ere en wage lot durh Tybaldes rat, der deheine vorderunge hat von rehte ufmich ze sprechen. \vaz \viltu, voter, rechen an din selbes kinde? bi tumpheit ich dich vinde.' (216,30ff.) [,Ihr verschwendet große Mühe, Vater und meine anderen Verwandten, daß ihr nach Tybalts Rat, der keinerlei Recht auf mich hat, euer Leben und eure Ehre aufs Spiel setzt. Was also willst du, Vater, an mir rächen? Uneinsichtig bist du.'] Die Antwort Terramers macht deutlich, daß auch auf Seite der Heiden die Sippentreue zu den höchsten Werten zählt, denn Gyburcs Vater gibt an, nur im Namen der Götter in den Kampf gezogen zu sein und nicht Tybalts Rache wegen. Sowohl von Gyburc als auch von Terramer wird an dieser Stelle die Bindung an den Glauben über die Bindung an die Sippe gestellt, wobei die Tragik dieser Szene darin liegt, daß Terramer die Beweggründe für Gyburcs Konversion nicht verstehen kann. Terramer empfindet angesichts dieser ausweglosen Situation tiefen Schmerz und bringt dies auch gegenüber Gyburc zum Ausdruck (dazu: MAURER, 1951: S. 176f). Wiederum versucht Gyburc ihren Vater mit theologischen Argumenten zu überzeugen: sie weist auf den Zusammenhang von Sündenfall und Erlösung und das christliche Trinitätsdogma hin (218,1 - 30). Doch Terramer ist nicht in der Lage, vor allem letzteres zu begreifen, vielleicht auch deshalb, weil Gyburcs theologischer Argumentationskunst noch Grenzen gesetzt sind (KIENING, 1993: S. 218). So versucht Gyburc ihren Glaubenswechsel mit ihrer Liebe zu Willehahn zu erklären und unterstellt Tybalt indirekt, daß es ihm nicht nur um einen Rachefeldzug, sondern auch um einen ungerechtfertigten Eroberungsfeldzug gehe (219,23ff; dazu: SCHKDD, 1978: S. 270f). Sie erklärt sich deshalb bereit, auf ihre Erbländer zugunsten von Tybalt und Tesereiz zu verzichten. Auffällig an Gyburcs Argumentation ist das Motiv der armuot, „das sich wie ein Leitmotiv" (Run, 1980: S. 177) durch ihre Äußerungen zieht und auch in ihrer Schonungsrede wieder auftaucht. Gyburc hat den unvergleichlichen Reichtum, den sie als heidnische Königin genossen hat, durch

120

Werk und Interpretation

ihre Heirat mit einem Markgrafen aufgegeben. Doch armuot könnte auch im religiösen Sinn gemeint sein, als demütige Haltung des Christen in der Nachfolge des gekreuzigten Erlösers. BUMKE (1959: S. 162) bringt diese religiöse Grundhaltung mit den Lehren der Franziskaner in Zusammenhang. Für ihn trägt Gyburcs Frömmigkeit einen „unverkennbar franziskanischen Zug". Dies stellen SCHRÖDER (1960a; 1960b) und RUH (1980: S. 177) in Abrede, der meint: „Was Gyburc vertritt, ist christlich schlechthin und hat sich dem Gläubigen immer wieder im ganzen christlichen Zeitalter als eigentliche Grundwahrheit des Christenlebens manifestiert, spezifisch franziskanisch-apostolische Züge sind in Gyburcs Reden nicht zu erkennen." Völlig anders interpretiert GRENZLER (1992: S. 107ff.) diese Szene. Für ihn zeigt sich an dem Angebot Gyburcs, auf ihre Erbländer zu verzichten, daß es sich bei diesem Gespräch weniger um eine theologische Auseinandersetzung, sondern in erster Linie um irdische Macht, ausgedrückt in der „Wahl des angemessenen Schwiegersohnes, handelt" (S. 108). Diese Aussage spricht für die Einseitigkeit der Interpretation GRENZLERS, der Gyburcs Übertritt zum Christentum in erster Linie politisch-ständisch motiviert sehen will. Obwohl Streitgespräche zwischen Christen und Heiden in der mittelalterlichen Literatur eine große Tradition haben, wie zum Beispiel in der Silvesterlegende der Kaiserchronik, die Wolfram gekannt haben dürfte (Run, 1980: S. 176), ist es außergewöhnlich, daß die theologischen Argumente auf Christenseite einer Frau in den Mund gelegt werden. Wie schon als kluge Verteidigerin der Burg, erfährt Gyburcs Frauenrolle auch hier eine wesentliche Erweiterung.

Sturm auf Orange und Abzug der Heiden (221,28 - 223,25). Aufgrund der langen Belagerung und der vielen Kämpfe ist der Gestank der Leichen und der toten Pferde vor der Stadt so unerträglich geworden, daß sich die heidnischen Heere einen vorläufigen Rückzug überlegen, um sich am Hafen mit Proviant auszustatten und frische Luft zu atmen. Doch vorher planen sie einen weiteren nächtlichen Sturmangriff. Dieser Sturmangriff fällt so heftig aus, daß die Vorstadt in Flammen aufgeht. Nur die Stadtburg Glorjet bleibt unversehrt. Dann ziehen die heidnischen Truppen zu ihren Schiffen ab. Ankunft des Reichsheeres und anderer Heere in Orange und Vorbereitungfür den Empfang (223,26 - 248,8). Unterdessen ist Willehalm mit seinem Reichsheer angerückt. Als er das große Feuer sieht, befürchtet er, daß die Heiden die Stadt bereits erobert haben und bricht in Klagen aus. Er spornt seine Ritter zum Sturmangriff gegen

Die epische Struktur. Handlung (215,1 - 313,30)

121

den Belagerungsring der Heiden an. Doch da bemerkt er, daß die Stadtburg noch unversehrt ist und die heidnischen Heere abgezogen sind. Gyburc, der gemeldet wird, daß ein Heer anrückt, glaubt zunächst, daß die Heiden zurückgekehrt sind und legt die Rüstung an (226,25ff). Gewappnet und mit erhobenen Schwert eilt sie auf die Zinnen. Als Willehalm bemerkt, daß noch Leben in der Burg ist, fragt er besorgt nach Gyburc. Diese erkennt ihn an der Stimme und sinkt vor Freude und Erleichterung ohnmächtig zu Boden. Wieder erwacht, eilt sie zum Burgtor, um Willehalm mit einem Kuß zu begrüßen. Während das Heer sein Lager aufschlägt, führt Gyburc ihren Mann in eine Kemenate und bittet ihn, seine Rüstung abzulegen. Sie warnt Willehalm vor einem heidnischen Hinterhalt, doch der beruhigt sie, und bittet sie, Vorbereitungen für ein Festmahl zu treffen, um den guten Willen der Heerführer noch zu bestärken. Dann blicken sie aus dem Fenster und sehen voller Freude nach und nach Willehalms Brüder und Vater mit ihren Truppen ankommen (234,30ff.). Mitten in die Aufzählung der ankommenden Heere fällt ein humoriger Exkurs Wolframs über die Probleme des Übersetzens und Verstehens (237,3 - 14), die von Forschung unter anderem auch bei der Frage nach den Französischkenntnissen Wolframs herangezogen wird (dazu: BUMKE, 1959: S. 202; VORDERSTEMANN, 1974: S. 400; CURSCHMANN, 1975: S. 554f.; KffiNiNG, 1991: S. 120f; vgl. auch o. S.llf).

Willehalm freut sich besonders über die Ankunft seines jüngsten Bruders Heimlich, den er lange nicht gesehen, und der den König von Tandarnas zur Unterstützung mitgebracht hat. Der Markgraf eilt nun vor die Tore der Stadt, um alle zu begrüßen und seine Familie und die hochrangigsten Fürsten zu einem Festmahl einzuladen. Der Bruder Willehalms Heimlich gehört zu einer Schar, die durch ihre im Kampf zerstochenen und durchbohrten Schilder und ihre verbeulten Rüstungen auffallen. Zu dieser Schar gehört auch König Schubert von Tandarnas. Heimrich hat den Beinamen der Scheti's (afrz. //' caistis: arm, elend), was bedeutet, daß er seit der Enterbung durch seinen Vater arm geblieben ist. Dieses Schicksal Heimrichs und auch das des offensichtlich ebenfalls verarmten Tandarnas wird mit dem Schicksal Gahmurets aus dem Parzivai verglichen: des werden Gahmuretes erbeteil

122

Werk und Interpretation was die jungen bed an körnen. von ir veteren heten si genomen

niht wan schilt und sper, und stuont nach riterscheft ir ger. si heten harnasch und anders niht; ir gezelt man da wenic siht. (243, l Off.)

[Das Erbe des edlen Gahmuret war den beiden jungen Männern zugekommen. Von ihren Vätern haben sie nur Schild und Speer bekommen und nach Kampf stand ihr Sinn. Sie hatten nichts außer ihre Rüstung, Zelte von ihnen sieht man nicht] Parzivals Vater Gahmuret war als jüngster Sohn Gandins ebenfalls vom väterlichen Erbe ausgeschlossen. Wolframs zeigt hier, wie schon am Beginn des Willehalm, recht realistisch, welche Konsequenzen die Enterbung für die Betroffenen haben kann (dazu SCHMID, 1978). Obwohl Heimlich ohne Zweifel ein tapferer und edler Ritter ist, ist es ihm nicht gelungen, im Dienst für fremde Herren ein Lehen zu erwerben. Ob, wie MOHR (1968: S. 127ff.) vermutet, die wiederholten kritischen Anmerkungen Wolframs zu den Enterbungsgebräuchen im Mittelalter ein wenig von Wolframs Stand „und damit vom Stande der ritterlichen Dichter überhaupt" (128) verraten, sei dahingestellt. Während Willehalm die ankommenden Heerführer begrüßt, legt Gyburc ihre Rüstung ab und fordert ihre Hofdamen auf, sich selbst und den Festsaal prächtig zu schmücken und schärft ihnen ein, sich nach allen Regeln der höfischen Etikette zu benehmen. Gyburc wird in ihrer Rolle als gewappnete Kämpferin „fast wie eine allegorische Figur" (BuMKE, 1997: S. 226) beschrieben. Aufgrund des vorangegangenen Religionsgesprächs und der Tatsache, daß ihr Kaplan an ihrer Seite steht, erscheint hier Gyburc nicht nur als Verteidigerin der Burg, sondern auch als „Verteidigerin des christlichen Glaubens" (SCHAUFELE, 1979: S. 51.)· nu stount vrou Gyburc ze wer mit ufgeworfeme swerte als ob sie strites gerte, und bi ir Steven, irkapelan (227,12ff.)

[Da stand nun die zur Verteidigung bereite Gyburc mit erhobenem Schwert, als ob sie kämpfen wollte und bei ihr Stefan, ihr Kaplan] Der Erzähler lobt Gyburc zwar wegen ihrer Kampfstrategien (229,26ff.), doch der Rollenwechsel von der Kämpferin zur schwachen Frau wird durch ihre Ohnmacht bei der Ankunft Willehalms deutlich markiert. Besonders

Die epische Struktur. Handlung (215, l - 313,30)

123

reizvoll ist die Begrüßungsszene von Willehalm und Gyburc gestaltet, bei der beide, gezeichnet von den erlittenen Strapazen und voller Rost, einander in die Arme fallen. Während ihrer gemeinsamen Fensterschau trägt Gyburc noch ihre Rüstung, doch als Willehalm sie auffordert, alles für ein Begrüßungsfest herzurichten, ist Gyburc sofort wieder in ihrer Rolle als höfische vrouwe. In einer Rede (246,28 - 248,8) mahnt Gyburc ihre Frauen, sich gegenüber den Gästen gesellecliche im Sinne der hövescheit zu verhalten. Dies solle zur hochgemüete der Gäste sein. Für BUMKE (1991: S. 227) wird hier die Rolle der höfischen Frau fast theatermäßig einstudiert. „Gyburc durchschaut das Äußerliche und Angelernte dieser Rolle und gibt sie der Kritik preis." Im Gegensatz dazu ist HAUPT (1989: S. 240f.) der Ansicht, daß Wolfram mit dieser Szene durchaus die Gültigkeit der höfischen Ideale und die Wichtigkeit des Festes für die Hofgesellschaft angesichts der prekären Lage betont. Ihrer Meinung nach geht es bei dem Begrüßungsfest nicht um eine pflichtgerechte Erfüllung leerer Zeremonialformen, sondern um den Ausdruck der Freude und der Dankbarkeit der Gastgeber über die langersehnte Hilfe.

Begrüßung der Fürsten durch Gyburc und Gespräch mit ihrem Schwiegervater (248,9 - 261,14). Gyburc, die sich sorgfältig geschmückt und gekleidet hat, empfängt nun ihren Schwiegervater, die Brüder Willehalms und die geladenen Fürsten. Jedem einzelnen gibt sie einen Begrüßungskuß. Alle Gäste nehmen Platz und jedem Ritter wird eine Tischdame zur Seite gesetzt. Heimrich setzt sich neben seine Schwiegertochter. Voller Kummer fängt Gyburc an zu weinen (251,6ff.). Heimrich versichert ihr seine Treue und Unterstützung und versucht sie zu trösten. Gyburc beklagt ihre gefallenen Verwandten, die sie in der Schlacht auf Alischanz auf beiden Seiten verloren hat und erzählt Heimrich von ihren Gesprächen mit ihrem Vater Terramer und ihrem Sohn Ehmereiz und wie diese und andere Verwandte immer wieder versucht hätten, sie zur Rückkehr zu bewegen. Sie berichtet traurig von den unzähligen Toten auf dem Schlachtfeld, daß sie aber von Halzebier erfahren habe, daß auf Christenseite acht von Willehalms Verwandten überlebt hätten, die sich nun in der Gefangenschaft der Heiden befänden. Dann erzählt sie von einem Wunder, das mit den christlichen Gefallenen geschehen ist: ,sus ist ez da ergangen. ir heilic verc und ir gebein in manegem schcenem sarkestein.

124

Werk und Interpretation

die nie geworhten mennischen hant, man die getauften alle vant' (259,8ff.) [,So geschah es da. Die heiligen Leichname und die Gebeine der Christen fand man in vielen prächtigen Steinsärgen, die von keines Menschen Hand gemacht wurden.' ] Diese Steinsärge auf dem Schlachtfeld von Alischanz werden Terramers Reiterheer in der zweiten Schlacht behindern (357,16fF.; weitere Erwähnungen: 386,6f.; 394,20f; 437,20ff.). Das Sargwunder geht auf eine Legendentradition zurück und bezieht sich auf die Steinsärge eines spätantiken Gräberfeldes (Les Alyscamps) bei Arles (dazu GEITH, 1977b; HEINZLE, 1991: S. 1000 sowie o. S. 57).

Alle Gäste sind betroffen von Gyburcs Bericht und zeigen ihr große Ehrerbietung wegen ihrer Standhaftigkeit und Treue (259,13ff). Die hohe Stimmung während des Festmahls wird immer wieder gedämpft durch Gyburcs Schmerz wegen der erlittenen Verluste und durch die Verzweiflung wegen der drohenden zweiten Schlacht gegen die Heiden. Doch zunächst ist der Auftritt Gyburcs zur Begrüßung der Gäste, ähnlich wie beim Auftritt von Alyze, ein Sieg des höfischen Ideals der minne. Die festlich geschmückte Gyburc bewirkt bei den Festgästen genau das, was sie ihren Frauen geraten hatte: si bej'agete et al der herzen gunst (249,6) [sie gewann die Herzen aller]. Als Gyburc im Gespräch mit ihrem Schwiegervater ihre Tränen nicht mehr zurückhalten kann, mahnt sie Heimlich, ein Vorbild für alle Minneritter zu sein, und sich zu mäßigen. Gyburcs Klage zeigt, daß das tiefe Leid, das vor allem in dem Dilemma ihrer verwandtschaftlichen Bindungen liegt und in der Unauflösbarkeit dieses Konflikts zwischen Religion und Sippenzugehörigkeit. Immer wieder wird Gyburc auch den Verlust ihrer heidnischen Verwandten beklagen. Daß sie ihre Entscheidung für den christlichen Glauben und für Willehalm auch gegenüber ihren engsten heidnischen Verwandten verteidigen mußte, läßt ihre Standhaftigkeit und Glaubensstärke um so größer erscheinen.

Das Festmahl und Fortsetzung des Gesprächs zwischen Gyburc und Heimrich (261,15 - 268,30). Willehalm bittet seinen Vater, die Rolle des Wirtes zu übernehmen. Heimrich weist den Gästen ihre Plätze zu und setzt sich wiederum neben Gyburc. Nun werden die Speisen aufgetragen, die trotz der Belagerung Oranges noch reichlich vorhanden sind. Doch Gyburc und Heimrich nehmen kaum etwas zu sich. Immer wieder fragt Heimrich Gyburc nach den Mühsalen, die sie während der Belagerung erlitten hat. Gyburc erzählt ihm, daß fast

Die epische Struktur. Handlung (215, l - 313,30)

125

alle Verwandten heftig gegen sie gekämpft hätten. Nur ihr Sohn Ehmereiz und die Truppen der gefallenen Heidenkönige Tesereiz und Noupatris hielten es für unwürdig, gegen eine schwache Frau anzutreten. Während der Erzählung bricht Gyburc wiederum in Tränen aus. Heimrich mahnt Gyburc, ihren Kummer und ihre Trauer zu verbergen, um die Kampfmoral der Ritter nicht zu trüben. Für BUMKE (1991: S. 227T.) bedeutet Heimrichs Mahnung an Gyburc, vor der Festgesellschaft ihre Tränen zurückzuhalten, wiederum, daß höfische Formen als bloße Äußerlichkeiten kritisiert werden und daß damit vor allem die innere Distanz von Willehalm und Gyburc zu Heimrich als Anhänger einer sinnentleerten höfischen Etikette zum Ausdruck komme. Allerdings ist Willehalms Einladung zum Festmahl auch eine politische Handlung, durch die sich Willehalm, vor allem gegenüber den französischen Fürsten, als vorbildlicher Landesherr und Heeresführer zeigen will (dazu: HELLMANN, 1969: S. 189). Und Heimrich handelt, indem er auf die Einhaltung der höfischen Verhaltensregeln und Werte pocht - wie am Hofe in Munleun - ebenfalls politisch, wenn er die verzweifelte Gyburc zur Fröhlichkeit mahnt: ,guot trost erküenet manigen zagen' (268,30) [,Zuspruch macht manchen Feigling mutig'] (dazu: HAUPT, 1989: S. 244f). Daß dies alles nichts nützt und die Fürsten dennoch lieber das Weite suchen wollen, als zu kämpfen, zeigt allerdings, daß die einigende Kraft der höfischen Werte nicht mehr im vollem Ausmaß gegeben ist.

(Sechstes Buch) Fortsetzung des Festmahls, Auftritt Rennewarts und Ende des Festmahls (269,1 - 278,30). Während die Festgäste sich stärken, betritt Rennewart, bewaffnet mit seiner Stange, den Saal. Trotz seines wilden und ungepflegten Aussehens und ungestümen Auftretens kann man seine Schönheit und seinen hohen Adel erkennen. Gyburc fühlt sich sehr zu ihm hingezogen und ahnt, daß er mit ihr verwandt ist. Willehalm fordert Rennewart auf, Gyburc zu begrüßen und Heimrich weist ihm einen Platz in Gyburcs Nähe zu, wobei die Ähnlichkeit zwischen den beiden auffällt (274,2ff). Rennewart wird nun reichlich mit Wein und gutem Essen versorgt. Unterdessen versuchen die Knappen Rennewarts Stange zu heben, die er an eine Säule gelehnt hat, bis sie mit einem lauten Krach umfällt. Der mittlerweile betrunkene Rennewart nimmt die Stange und schlägt nach den Knappen, daß die Funken stieben. Daraufhin fliehen alle Knappen

126

Werk und Interpretation

aus dem Saal und niemand ist mehr da, um die Gäste zu bedienen. So endet das Festmahl. Mit der Aufforderung, reichlich Proviant ins Lager zu nehmen, begleitet Willehalm die Fürsten in ihr Lager und bittet sie im Morgengrauen an der Messe teilzunehmen (277,24ff.). Unterdessen geleitet Gyburc mit ihren Hoffrauen ihren Schwiegervater in sein Schlafgemach. Rennewarts Auftritt beim Festmahl ist sehr liebevoll und mit viel Witz gestaltet. Der Erzähler vergleicht Rennewart mit dem jungen Parzival; eines dinges mir geloubet: er was des unberoubet, sin blic dürft rost gap solhiu mal als do den jungen Parzival vant mir siner varwe glänz der grave Karnahkarnanz an venje in dem walde. jeht Rennewart al balde als guoter schäme, als guoter kraft. und der tumpheit geselleschaft. ir neweder was nach arde erzogen: des was ir edelkeit betrogen. (271,15ff.)

[Glaubt mir eines: keiner konnte ihm das nehmen, daß durch den Rost seine Schönheit hervorblitzte wie beim jungen Parzival, den in all seiner glänzenden Schönheit der Graf Karnahkarnanz im Walde vor ihm knien sah. Glaubt mir, daß Rennewart genauso schön und stark und genauso unerfahren war. Beide waren nicht standesgemäß erzogen, ihr Adel war daran betrogen] Die Anspielung bezieht sich auf jene Begebenheit im Parzival, wo der in der Einöde aufwachsende Knabe im Wald zufällig dem Grafen Karnahkarnanz und drei Rittern begegnet und diese, beeindruckt vom Glanz ihrer Rüstung, für Götter hält (Pz. 120,24ff.). Dieser Vergleich Rennewarts mit Parzival hat die Forschung immer wieder beschäftigt. Erwartet Rennewart ein ParzivalSchicksal? Ist die Schuldverstrickung Rennewarts parallel zu der Parzivals zu sehen und läßt dies Rückschlüsse auf den möglichen Versöhnungsschluß des Willehahn zu? Eine Antwort darauf ist nicht einfach zu geben, denn die Analogien zwischen den Figuren sind genauso auffällig wie die Unterschiede, (dazu u.a.: KNAPP, 1970: 69ff.; LOFMARK, 1972: S. 147f; RUH, 1974: S. 288ff.; HAUG, 1975: S. 283 - 297; KNAPP, 1983: S. 596ff.; vgl. auch u. S.204fl). Gyburc und Willehalm (279,1 - 280,12) - und Erzählereinschub (280,13 - 281,16). Nachdem alle Gäste zu ihren Unterkünften ge-

Die epische Struktur. Handlung (215, l - 313,30)

127

bracht wurden, gehen auch Gyburc und Willehalm zu Bett. Sie vereinigen sich in ehelicher Liebe und beide vergessen für kurze Zeit den Kummer und die Mühsal, die sie erlitten haben. Es folgt eine Betrachtung des Erzählers, in der die Zusammengehörigkeit von Freude und Leid betont wird. Die berührende zweite Liebesszene zwischen Willehalm und Gyburc bringt den hohen Stellenwert der ehelichen Liebe zum Ausdruck, die so stark ist, daß sie für kurze Zeit die Leiden des Krieges vergessen macht: an ein bette wart gegangen, da er und diu küneginne pflagen sölher minne, daz vergolten -wart ze beder sit daz in ufAlyscanz der strit hete getan an mögen: so geltic si lagen. (279,6ff.) [Sie gingen zu Bett, wo er und die Königin sich solche Liebe schenkten, daß sie einander vergalten, was ihnen der Kampf auf Alischanz an Verwandten genommen hatte, so vergeltend lagen sie] Das Wort geltic ist eine Neuschöpfung Wolframs, wohl um die „Einzigartigkeit des Vorgangs auzudrücken" (KARTSCHOKE, 1968: S. 298; auch HEINZLE, 1991: S. 1009). Willehalm und Gyburc entschädigen einander gegenseitig für den Tod ihrer Verwandten. Wie in der ersten Liebesszene wird auch in der zweiten ein Bezug zum Gralskönig Anfortas hergestellt, indem gesagt wird, daß alle Geschenke der Secundille an Anfortas den Verlust des Markgrafen nicht aufwiegen könnten (279,13ff). Doch für all das erlittene Leid er si ze gelte kos (280,6) [nahm er sie als Entschädigung]. Gyburc erhält in beiden Liebesszenen „Züge der Heilsbringerin" (KiENiNG, 1991: S. 172), indem sie Willehalm einen Trost spendet, den selbst der Gral nicht zu geben vermag. Daß aber auch diese Liebe untrennbar mit den leidvollen Ereignissen verbunden bleibt, zeigt die anschließende Erzählerrede, in der auf die enge Zusammengehörigkeit von Freunde und Leid verwiesen wird: nach truren sol vreude ets\venne körnen. so hat diu vreude an sich genomen einen vil bekanten site der mannen und v/iben volget mite. wanjamer ist unser urhap, mitjamer körn wir in daz grap. (280,13ff.) [Auf Leid folgt hin und wieder Freude. So hat die Freude eine wohlbekannte Gewohnheit angenommen, die für Männer ebenso gilt wie für Frauen. Denn Jammer ist unser Ursprung und mit Jammer fahren wir ins Grab.]

128

Werk und Interpretation

Diese bitteren Formulierungen zeigen deutliche Parallelen zu den Weisheitsbüchern der Bibel, vor allem zu lob, 1,21 (dazu: OHLY, 1961/62: S. 507; KARTSCHOKE, 1968: S. 298; MAURER, 1951: S. 169f; BERTAU, 1983b: S. 163f.; KIENING, 1991: S. 172ff). Die Perspektive ist auf die Realität des Erzählten gerichtet, wenn feststellt wird: diz mcere bi vreuden selten ist (280,21) [diese Geschichte verweilt selten bei Freude]. Die darauf folgende Erklärung des Erzählers wurde von einigen Forschern als eine Anspielung auf Gottfrieds Tristan 12497f. gelesen (MERGELL, 1936: S. 121 f.; OHLY, 1961/62: S. 507ff; PÖRKSEN, 1971: S. 136f; dagegen HEINZLE, 1991: S. 1010): ich müese haben guoten list, swenne ich vreude drinne vunde, swie \vol ich nu guotes gunde den die mir niht hat getan und mir niht tuont: die sint erlan von mir kumberlicher tat. ein wiser man gab mir den rat, daz ich plcege, swenne ich möhte, sölher güete diu mir getöhte uzerhalp der valschen wise: des möht ich körnen ze prise. (280,22ff.) [ich müßte schon sehr viel Scharfsinn haben, wenn ich Freude darin finden wollte, obwohl ich allen Gutes gönne, die mir nichts getan haben und die mir nichts tun werden, denen tu ich auch nichts zuleide. Ein weiser Mann gab mir den Rat, daß ich, wann immer ich vermöchte, ehrlich und gut sein sollte, das könnte mir Ansehen bringen.] KIENING (1991: S. 173ff.) ist der Auffassung, daß sich diese Verse weniger auf Tr. 12497f. sondern vor allem auf den Prolog des Tristan beziehen. Während im Tristan im Zusammenhang mit der Dialektik von Liebe und Leid eine Ästhetisierung des Leids angestrebt sei, bliebe bei Wolfram die Trauer allgegenwärtig und könne auch durch die minne nicht aufgehoben werden: „Minne im Angesicht des Kampfes hat ... zwar kompensatorische Funktion, läßt aber zugleich den Charakter des Leidvollen noch stärker hervorheben." (S. 175)

Rennewart und seine Geschichte (280,20 - 285,22): Rennewart, kommt nicht so bald zur Ruhe, weil die Knappen ihre Spaße mit ihm treiben. Endlich legt er sich in die Küche schlafen, wobei ihm seine Stange als Kopfkissen dient. Nun wird seine Geschichte erzählt: Rennewart ist der Neffe des Poydjus, also der Sohn Terramers. Als kleines Kind wurde er seiner Amme geraubt und von Kaufleuten ge-

Die epische Struktur. Handlung (215, l - 313,30)

129

kauft (283,3ff.)· Diese behielten das Kind einige Zeit, um höheren Gewinn zu erzielen. Sie klärten Rennewart über seine hohe Herkunft auf, schärften ihm aber bei seinem Leben ein, niemanden davon zu erzählen. Schließlich kam der schöne Knabe an Ludwigs Hof und wurde zusammen mit Alyze aufgezogen, die er in das Geheimnis seiner Herkunft eingeweiht hat. Seit ihrer Kindheit sind Rennewart und Alyze in Liebe miteinander verbunden. Weil Rennewart sich aber standhaft weigerte, sich taufen zu lassen, mußte er auf die Gesellschaft Alyzes verzichten und in der Küche niedrige Dienste tun. Weiters wird erzählt, daß Rennewart seine Verwandten haßt, weil diese, seiner Meinung nach, nichts unternommen haben, um ihn aus seiner Knechtschaft zu befreien (285, Iff.). Der Erzähler läßt jedoch keinen Zweifel daran, daß dieser Haß unbegründet ist, und daß Rennewarts Verwandte nichts über sein Schicksal wissen. Erst im VI. Buch erfährt der Hörer/Leser genaueres über das tragische Schicksal Rennewarts und läßt ihn nun in einem ganz anderen Licht erscheinen. Das Burleske dieser Figur wird gebrochen durch das persönliche Dilemma, in dem sich Rennewart befindet. Folgende Punkte sind für eine Interpretation der Rennewartgestalt entscheidend: 1. Rennewart weiß, daß er ein Sohn Terramers ist und er ist fälschlicherweise davon überzeugt, daß seine Verwandten ihn absichtlich in der Fremde gelassen haben. Der daraus resultierende Verwandtenhaß ist der Motor seines Handelns. Deshalb ist er bereit, auf der Seite der Christen gegen seine Verwandten zu kämpfen. Aufgrund dieses Irrtums wird er seinen Halbbruder Kanliun erschlagen. 2. Rennewart weigert sich, das Christentum anzunehmen, das ihm Loys aufzwingen wollte. Dafür nahm er die erniedrigende Stellung am französischen Hofe in Kauf. Daß Rennewart in seinem selbstgewählten Zustand des Unglaubens und aus irrtümlichem Haß gegen seine Verwandtschaft einen großen Sieg für die Christen erringen wird, zeigt die komplexe Problemlage des Werks. Seine Taufverweigerung bewirkt aber auch die Trennung von Alyze, mit der er in Liebe verbunden ist. Ob es, wie in einigen Hss. von Aliscans (aber nicht in der Hs. M) zu einer Heirat der beiden kommt, muß offen bleiben, zu sehr hat Wolfram den inneren Konflikt Rennewarts verschärft, als daß man leichtfertig auf die mögliche Fortsetzung des Werkes schließen könnte (dazu u.a.: MERGELL, 1936: S. 55; KNAPP, 1970: S. 299; LOFMARK, 1972: S. 232ff; TSUKAMOTO, 1975: S. 113f). Nur soviel wird vom Erzähler gesagt: do man in ir zeinem gespilen gap, ir zweier liebe urhap

130

Werk und Interpretation vohvuohs: die brahtens an den tot und Uten nach ein ander not. (284,13ff.)

[Als man in ihr zum Gespielen gab, nahm ihre Lieben den Anfang und wurde immer stärker: Sie bewahrten sie bis zum Tod und litten um einander Not] Rennewart und Gyburc (285,23 - 296,24): Am frühen Morgen bereiten die Köche die Speisen vor. Der Küchenmeister sieht den schlafenden Rennewart und versengt ihm die Lippen und den Bart, der seit Alyzes Abschiedskuß zu sprießen begonnen hatte. Der so geweckte Knappe packt den Koch, bindet ihn wie einen Braten und wirft ihn in die Glut. Der Erzähler kommentiert: her Vogelweide von braten sanc:

dirre brate -was dicke und lanc; er hete sin vrouwe dran genaue, daz er so holdez herze truoc. (286,19ff.)

[Herr Vogelweide hat von Braten gesungen: dieser war breit und lang, so daß seine Dame wohl genug daran hätte, für die er immer so hochgestimmt war] Diese Bemerkung wird von der Forschung als Anspielung auf den ,Spießbraten-Spruch' Walthers von der Vogelweide 17,11 ff. gesehen. Es handelt sich dabei um einen politischen Spruch, bei dem die Köche der Fürsten dazu aufgefordert werden, dickere Bratenscheiben abzuschneiden. Daß der verbrannte Koch nun als Speise für Walthers Dame (gemeint ist die typisierte vrouwe der Minnelieder) dienen soll, der politische Spruch also in die Sphäre des Minnesangs verschoben wird, macht den Witz dieser Bemerkung aus (Lit. bei HEINZLE, 1991: S.1013ff; vgl auch KIENING, 1991: S. 109f. sowie o. S. 58). Rennewart beklagt sich bitter über die erlittene Schmähung. Als Willehalm nach der Messe fragen läßt, ob das Essen fertig sei, berichten die verschreckten Köche, was vorgefallen ist. Willehalm bittet Gyburc zu Rennewart zu gehen und ihn zu besänftigen (289,16ff). Gyburc holt den klagenden Jüngling aus der Küche und läßt ihm bessere Kleider geben. Immer wieder fragt sie Rennewart nach seiner Herkunft. Rennewart antwortet ausweichend, erzählt aber soviel, daß Gyburcs Ahnung, daß er aus ihrer Sippe stammt, allmählich zur Gewißheit wird. Auch gegenüber Gyburc läßt er keinen Zweifel, daß er großen Haß gegen seine Verwandten hegt, sich im Kampf mit Willehalm an ihnen rächen und deshalb immer treu an der Seite des Markgrafen kämpfen will. Gyburc läßt daraufhin eine prächtige Rüstung und ein Schwert holen, die einst König

Die epische Struktur. Handlung (215,1-313,30)

131

Synagun getragen hat, als er Willehalm gefangen nahm (293,2Iff.). Rennewart läßt sich die Rüstung anlegen unter der Bedingung, daß er seine Stange behalten darf und nicht mit dem Schwert kämpfen muß, das ihm zu leicht erscheint. Dann verabschiedet sich Gyburc von ihm und begibt sich zur Kirche. Nach diesem Exkurs über Rennewarts Schicksal wird das Konfliktpotential der Figur immer deutlicher. Die komische Küchenszene ist nun anders gestaltet als die vorangegangenen burlesken Szenen. Rennewarts zorniger Ausbruch und die Tötung des Kochs erhalten eine ernsthafte Begründung. Für Rennewart bedeutet die Versengung seines Barts und seiner Lippen durch den Koch eine Schmähung seiner Liebe zu Alyze, die durch ihren Kuß den Bart zum Sprießen gebracht hat (zu Rennewarts Bart: LOFMARK, 1972: S. 151 - 156). In seiner Klage wird auch offenkundig, wie sehr er unter der unwürdigen Behandlung am französischen Hofe gelitten hat. Dies kommt auch im Gespräch Gyburcs mit Rennewart deutlich zum Ausdruck. Um Rennewart zu holen, geht Gyburc in die Küche, ein Ort, den sie nie betreten hat (289,21). Mit dieser Geste erweist sie dem jungen Knappe die Ehrerbietung, die seinem hohen Adel zukommt. Sie zeigt auch persönliche Anteilnahme, indem sie in einer rührenden Geste ihren Mantel um ihn schlägt (291,5). Es handelt sich hier um eine Geste von religiöser Symbolik im ikonographischen Stil der Schutzmantel-Madonna. (dazu LOFMARK, 1972: S. 173 - 183). Rennewart ist zunächst verwundert und beschämt über die Aufmerksamkeit, die Gyburc ihm schenkt. Während des Vieraugengesprächs der beiden liegt die Aufdeckung der Geschwisterbeziehung in der Luft, es bleibt aber bei Andeutungen (dazu: SCHRÖDER, 1989). Mit der Rüstung die Gyburc ihm schenkt, ist der erste Schritt zu Rennewarts aufgerechter ritterlicher Ausstattung getan. Daß sich Rennewart aber noch immer im Zustand der tumpheit im Sinne von mangelnder höfischer Erziehung und ritterlicher Ausbildung befindet, zeigt sich an seiner Weigerung, das Schwert als Waffe zu akzeptieren: Rennewart ez niht behagete (295,20) [Rennewart gefiel es nicht].

Der Fürstenrat und Aujbruch zur Schlacht (296,25 - 313,30). Die Messe ist zu Ende und die Teilnehmer werden zur Fürstenversammlung gebeten. Auch Gyburc nimmt daran teil. Zuerst ergreift Willehalm das Wort: er schildert noch einmal seine verzweifelte Lage und fordert die Versammlung auf, im Namen des christlichen Glaubens und im Dienst um den Lohn der Frauen zu kämpfen (297,6 - 299,30). Als nächster redet Heimrich und bekräftigt seine Unterstützung (300,1 - 300,30). Danach meldet sich Willehalms Bruder

132

Werk und Interpretation

Bernart, dessen Sohn Bertram zu den acht von den Heiden gefangenen Edelleuten gehört, und ruft die französischen Fürsten im Namen aller Verwandten Willehalms auf, ebenfalls ihre Entschlossenheit zum Kampf kundzutun (301,1 - 301,30). Doch viele der Fürsten sind nicht bereit weiterkämpfen, mit der Begründung, daß sie mit der Befreiung Oranges ihre Pflicht bereits getan hätten. Daraufhin hält Bertram eine Rede und mahnt die Fürsten eindringlich, sich nicht an Christus, der für sie alle sein Blut vergossen hat, zu versündigen. Daraufhin erklären sich alle Fürsten bereit, an der Schlacht teilzunehmen und nehmen das Kreuz. Der Fürstenrat des sechsten Buches gehört zu den Schlüsselszenen des Willehalm. Willehalm spricht im Stil einer kriegerischen Ertüchtigungsrede und betont die Notwendigkeit des Krieges gegen die Heiden, Für Willehalm gibt es eine doppelte Verpflichtung zum Kampf: die Verteidigung des Glaubens (297,11) und die Verteidigung des Reiches (298,l f.). Doch auch Rache ist ein Motiv für den Kampf (298,30). Dabei berichtet er von schrecklichen Greueltaten, die sich die Heiden in seinem Land hätten zu Schulden kommen lassen (297,13fF.). Doch auch er habe Tybalt genug Schaden zugefugt: ich was so lange ein koufman unze ich Nimes gewan, die guoten stat, mit -wagen, dar nach ich bat in gevancnisse ir minne sin wip die küneginne. (298,14ff.) [Ich verkleidete mich so lange als Kaufmann bis ich die schöne Stadt Nimes mit Wagen eroberte. Danach erwarb ich in Gefangenschaft die Liebe seiner Frau der Königin.] Die Geschichte, auf die Willehalm hier anspielt, wird in der chanson Le Charroi de Nimes erzählt: Willehalm versteckt seine Ritter in Fässern und bringt diese als Kaufmann verkleidet mit einer Wagenkolonne in die Stadt Nimes, die er dann erobern kann. Ob die Anspielung tatsächlich auf diese chanson zurückgeht, ist umstritten. (Lit. bei HEINZLE, 1991: S. 1019). Willehalm beschließt seine Rede mit einem Schwertsegen, bei dem auch der Minnedienst als Ansporn zum Kampf genannt wird (vgl. 299,27f). Heimlich betont in seiner Rede noch einmal die politische Dimension des Heidenkampfes: es gehe um die ere des riches (300,19). Und Bernart, dessen Sohn sich in Gefangenschaft befindet, appelliert an die Sippentreue. Trotz dieser Reden wollen die Reichsftlrsten nicht weiterkämpfen. Die Haltung der Fürsten weist auf eine Krise des Reichs hin und ist auch parallel zur Haltung des Königs zu sehen, der zwar das Heer einberufen hat, aber nicht selbst an dem Kampf teilnimmt. Erst Bertrams eindringliche Mahnung, sich nicht an

Die epische Struktur. Handlung (215,l - 313,30)

133

Christus zu versündigen, bringt die Reichsfürsten zur Einsicht. In seinem Appell an die Fürsten spielt Bertram auf den blinden Longinus an, der nach einigen Überlieferungen dem Gekreuzigten seinen Speer in die Wunde stieß und ihn damit tötete: uf einem esele man in [Christus] körnen sach l aldar da in sit ein blinde erstach: / ez were den gesehenden \vol entvam (303,25ff.) [auf einem Esel sah man ihn dorthin kommen, wo ihn ein Blinder dann erstach, er wäre den Sehenden leicht entkommen]. Damit ist gemeint, daß es Christus ein Leichtes gewesen wäre, dem Tod zu entgehen, den er freiwillig auf sich genommen hat. (vgl. KOLB, 1962; HAPP, 1964; JOHNSON, 1965; SCHRÖDER, 1967: S. 9f; HEINZLE, 1991: S. 1021). Obwohl die Reichsfürsten nach der Rede Bertrams das Kreuz nehmen und bereit sind zu kämpfen, ist der Konflikt noch nicht zu Ende, was eine Vorausdeutung des Autors auf die Ereignisse am Petit Pont (302,1 - 18) ankündigt.

Gyburcs Schonungsgebot (306,1 - 310,30). Nun meldet sich Gyburc zu Wort. Sie bittet die Fürsten um Barmherzigkeit für die besiegten Heiden, weil auch die Ungetauften letztlich Geschöpfe Gottes seien und deshalb Schonung verdient hätten. Sie gesteht auch, daß sie sich an den Ereignissen schuldig fühle, bringt aber zu ihrer Verteidigung vor, daß sie, obwohl sie ihren Mann und ihre Kinder liebe, nicht anders konnte als sie aus Liebe zum Schöpfergott und aus Liebe zu Willehalm zu verlassen. Tränen der Verzweiflung hindern sie am weitersprechen. Voller Rührung nimmt Gybert, Willehalms Bruder, Gyburc in die Arme (311, Iff.). Gyburcs Rede vor dem Fürstenrat ist von ihrem Gehalt her die bedeutendste der gesamten Dichtung und wohl auch die von der Forschung am meisten diskutierte. Nach BUMKE (1959: S. 164) gliedert sich Gyburcs Rede in fünf Hauptabschnitte: I.

Gyburcs Situation und ihr Schonungsgebot: . Die Rettung der Heiden: 1. Zwischenstück: m. Die Menschen im Heilsplan: 2. Zwischenstück: IV. Erlösung und Schöpferpreis: V. Gyburcs Situation:

306,12-28 306,29-307,25 307,26 - 30 308,1 - 30 309,1 - 6 309,7 - 30 310,1-29

Obwohl für Gyburc die Notwendigkeit des Kampfes zur Verteidigung des Glaubens außer Zweifel steht und sie wie Willehalm zur Rache auffordert (306,22f), unterscheidet sich ihre Rede grundlegend von den vorangegangenen. Sie bittet die Versammlung, die besiegten Gegner zu schonen:

134

Werk und Interpretation

.schont dergotes hantgetat' (306,28) [,schont die Geschöpfe Gottes']. Dabei argumentiert sie auf verschiedenen Ebenen und berührt zentrale Fragestellungen, die in der theologischen Diskussion der damaligen Zeit eine Rolle gespielt haben (306,27 - 309,30): der erste Mensch, den Gott erschuf, war ein Heide, dies gelte auch für die Propheten des alten Testaments, doch diese wurden deshalb nicht von Gott verdammt. Als weiteres Argument führt sie an, daß zunächst alle Kinder im Mutterleib Heiden seien und erst durch die Gnade der Taufe zu Christen werden. Daraus schließt sie, daß nicht grundsätzlich alle Heiden dem Verderben anheimgegeben und daß auch die Heiden Geschöpfe Gottes seien. Mit dem Hinweis auf die grundsätzliche Barmherzigkeit Gottes, der auch den Menschen verziehen habe, die ihn töteten, fordert sie die Versammlung auf, die Ungläubigen ebenfalls barmherzig zu behandeln. Diese Aussage untermauert sie mit dem Argument, daß Gott durch den Opfertod Christi die Menschheit vom Sündenfall erlöste und hierin Barmherzigkeit und Liebe zu den Menschen gezeigt habe. Gyburc betrachtet das Verhältnis Gottes zu seinen Geschöpfen unter einem verwandtschaftlichen Aspekt, als Verhältnis des Vaters zu ihren Kindern. Sie beendet den religiösen Teil ihrer Rede mit einem Preis des Schöpfergottes. hi der Forschung gibt es eine heftige Diskussion darüber, ob Gyburc mit dieser Argumentation auch den ungetauften Heiden den Status der Gotteskindschaft und der potentiellen Erlösbarkeit zuspreche, oder nicht. Es handelt sich um folgenden Satz Gyburcs: .dem sceldehaften tuot vil -we, ob von dem vater siniu hint hin zer vlust benennet sint: er mac sich erbarmen über sie, der rehte erbarmekeit truoc ie.' (307,26ff.) [,dem, dem die Erlösung zugesprochen ist, schmerzt es sehr, wenn dem Vater seine Kinder zur Verdammnis bestimmt sein sollen. Er, der schon immer die wahre Barmherzigkeit in sich trägt, soll sich ihrer erbarmen.*] Für diese Stelle gibt es sehr unterschiedliche Übersetzungen, die davon abhängen, ob man davon ausgeht, ob mit vater Gott gemeint ist und mit kint die Menschen oder nicht. Nimmt man den ersten Fall an, dann bezeichnet Wolfram indirekt auch die Heiden als Kinder Gottes. Vom mittelalterlichen theologischen Standpunkt aus wäre dieser Gedanke ketzerisch (so KNAPP, 1993: S. 203) und im gesamten Schaffen Wolframs isoliert. RUH (1980: S. 181) schlägt vor, siniu kint als Reimzwang anzusehen. BERTAU (1983a: S. 255) lehnt dies ab und glaubt, daß Wolfram an dieser Stelle tatsächlich die Heiden als Gotteskinder gesehen habe und zwar im Sinne einer „sanguinitären Geschöpflichkeitsverwandtschaft". W. J. SCHRÖDER (1975) ist der Meinung, daß kint sich auf sceldehaften beziehe, also es den getauften Kindern weh tue, wenn Gott seine eigenen (unge-

Die epische Struktur. Handlung (215, l - 313.30)

l35

tauften) Kinder verdamme. W. J. SCHRÖDER meint damit die vor der Taufe verstorbenen Kinder christlicher Eltern und greift eine Stelle in Gyburcs Rede auf, in der sie betont, daß im Mutterleib alle Menschen Heiden sind. LOFMARK (1989) argumentiert ähnlich, liest aber die Stelle wieder anders. Für ihn ist mit sceldehafen ein Christ gemeint, mit voter der leibliche (christliche) Vater, was bedeutet: den Christen schmerze es, wenn seine vor der Taufe verstorbenen Kinder vom leiblichen Vater weg für die Hölle bestimmt seien. HEINZLE (1991: S. 1025) wendet dagegen ein, daß Gyburc nirgends vom Tod von ungeborenen Kindern spreche, sondern nur davon, daß alle Kinder, auch in einem getauften Mutterleib, Heiden seien. STEINMETZ (1995) hält HEINZLES Kritik an W. J. SCHRÖDER für nicht stichhaltig, „weil der entscheidende Punkt nicht der Tod ist, sondern die Verdammnis, die das ungetaufte Kind schon vor seinem Tod trifft" (S. 157) Er untermauert W. J. SCHRÖDERS Deutung durch theologische Schriften von Augustinus und Anselm von Canterbury, die beide den ungetauften Kindern christlicher Eltern hinsichtlich der Heilserwartung keinen anderen Status zusprechen als den Heiden. Davon ausgehend übersetzt STEINMETZ: „Wer das Heil besitzt, den schmerzt es sehr, wenn seine Kinder namentlich zum Verlust (der Seligkeit) bestimmt sind," und fugt ergänzend hinzu: „Es gibt Beispiele für Heiden (im weiteren Sinne, die Juden einbeziehend), die nicht verdammt sind. Unzweifelhaft (ane strif) kommen alle Kinder, auch die christlicher und jüdischer Eltern, als Heiden (im engeren Sinne) zur Welt. ... Wie allen Heiden kann ihnen aber auch durch Gottes Gnade vorherbestimmt sein, mittels der Taufe die Vergebung der Sünde zu erlangen." (S. 162) KNAPP (1993) greift wiederum LOFMARKS Ansatz auf, glaubt aber, daß mit vater der heidnische Vater gemeint sein könnte. Ist dies der Fall, so wäre die Heilsmöglichkeit für die Heiden durchaus noch gegeben, weil Gott jederzeit die Macht und die Gnade dazu habe, einen Heiden auf einem „übernatürlichen Heilsweg" zum christlichen Glauben zu fuhren. HEINZLE (1994) hält KNAPPS Deutung weder für beweisbar noch widerlegbar und gibt zu bedenken, daß von der Kongruenz des Textes her mit er nur der saeldehafte und der mit der rehten erbarmekeit gemeint sein könne, also Gott: „Es bleibt... dabei: Giburg gesteht den Heiden den Status der Gotteskindschaft zu." (S. 304) Für HEINZLE ist dieser Gedanke der Gotteskindschaft der Heiden auch die zentrale Aussage des Romans und dieser damit eine Programmschrift gegen die Kreuzzugsideologie des Mittelalters. Sowohl für WACHINGER (1996) als auch für FASBENDER (1997) wird HEINZLE der Vielschichtigkeit des Heidenbildes im Willehalm mit dieser Aussage nicht gerecht, zumal es für beide Autoren keine wirklichen Beweise für HEINZLES Interpretation gebe, auch nicht für dessen Deutung der Gyburcrede. WACHINGER gibt zu bedenken, daß, wenn man den Text als Gesamtheit lese, die herkömmliche Kreuzzugsideologie durchaus präsent sei. Es scheint nötig, „immer wieder den Blick zu öffnen auf die Komplexität des ganzen

136

Werk und Interpretation

Textes, auch auf seine wilden archaischen, fremdartigen und grausamgrotesken Züge" (S. 50). Wenn auch in Gyburcs Rede, wie BERTAU (1983a: S. 102) es ausdrückt, ein ,Jiumanitätsgeschichtlich neuer Gedanke" artikuliert werde, so ist „dieser Gedanke nicht auch als Programm geäußert, sondern als Nebengedanke in einer klagend fragenden Erwähnung einer im Konflikt fast zerbrechenden Frau." (WACHINGER, 1996: S. 50). Ähnlich argumentiert auch FASBENDER (1997), für den der Gedanke der Gotteskindschaft der Ungetauften „in dogmatisch einwandfreiem Verständnis im Willehalm an keiner Stelle ausgesprochen" (S. 13) ist. Ausgehend vom Prolog, ist für FASBENDER die Taufe für den Status der Gotteskindschaft auch im Willehalm eindeutig conditio sine qua non. FASBENDER deutet den fraglichen Ausschnitt aus der Gyburc-Rede vollkommen unspektakulär. Der voter, der seine Kinder nicht zur Taufe trägt, enthält ihnen nur einstweilen das Heil vor. „Aus einer Arabel kann jederzeit eine Gyburc werden" (S. 9). Das heißt, daß die Heiden durchaus potentielle Gotteskinder werden könnten (wenn auch nur durch die Taufe) und als solche geschont werden müssen. hu zweiten Teil der Rede (310,1 - 30) kommt Gyburcs tiefe Verzweiflung angesichts der ausweglosen Situation zum Ausdruck: Die Heiden hassen sie, weil sie sich taufen ließ und die Christen unterstellen ihr, daß sie nur aus weltlicher Liebe zu Willehalm und Eigeninteresse gehandelt habe (310,5 f.). Gyburc betont wiederum ihre Liebe zu Gott und zu Willehahn, läßt aber auch keinen Zweifel daran, daß sie sich auch ihren heidnischen Verwandten verbunden fühlt und um ihrer doppelten Liebe willen auf vieles verzichten mußte. Wolfram, der Gyburcs Rede mit dem Satz Durh Gyburge al diu not geschach (306,1) [Gyburc war der Grund für all das Leid] einleitet, macht hier Gyburc zur Vermittlerfigur schlechthin. Die Tragik dabei ist, daß sie das Geschehen nicht aufhalten kann, daß ihre Rede aber dennoch ihre Wirkung nicht verfehlt hat, wird sich am Verhalten Willehalms nach dem Ende der zweiten Schlacht zeigen.

Der Fürstenrat wird aufgelöst und alle begeben sich zum Abschiedsmahl (311,6ff.) Rennewart erscheint in voller Rüstung und mit seiner Stange. Einige Ritter versuchen die Stange aufzuheben, doch niemand außer Willehalm schafft es. Heimrich fordert nun alle auf, ihre Plätze einzunehmen. Rennewart darf wieder in der Nähe der Königin Platz nehmen. Er ißt in voller Rüstung und mit umgegürtetem Schwert. Dies führt zu einer Erwähnung Neidharts: man muoz des sime swertejehen, het ez her Nithart gesehen über sinen geubühel tragen,

Die epische Struktur. Handlung (215,1 - 313,30)

137

er begundez sinen vriunden klagen: daz liez der marhcrave ane haz, swie nahe er bi der küneginne saz. (312,11 ff.) [Seinem Schwert muß man das lassen, hätte Herr Neidhart es über seinen Dorfhügel tragen sehen, hätte er es seinen Freunden geklagt, den Markgraf aber störte es nicht, wie nahe er [Rennewart] auch bei der Königin saß] Der Liederdichter Neidhart verfaßte zahlreiche Strophen, in denen der ritterliche Sänger um die Gunst von Bauemmädchen wirbt und sich dabei mit grobschlächtigen Bauernburschen (dörper) herumschlagen muß, die als Pseudo-Ritter auftreten (HEINZLE, 1991: S. 1027f). Diese dörper erscheinen schwerttragend und bewaffnet zum Tanz. Das gewaltige Schwert des Rennewart, daß er unpassend während des Festmahls trägt, hätte zwar Neidhart zu einer Klage (Strophe?) veranlaßt, doch Willehahn beachtet es nicht weiter. Der Erzähler lenkt die Kritik an dem unhöfischen Benehmen Rennewarts auf den Berufskollegen und seine literarischen Produktion und gibt ihn - quasi als Entlastungsmanöver für Rennewart - des Gelächters preis, (dazu: NELLMANN, 1973: S. 138; WALDMANN, 1983: S. 109f; KIENING, 1991: S. 11 Of. sowie o. S. 58). BERTAU (1971) hat diese Erwähnung Neidharts auch für die Datierung des Werkes herangezogen (vgl. auch o. S. 22).

Am späten Nachmittag bricht das Heer zur Schlacht auf und wird von Gyburc und ihren Frauen verabschiedet (312,25ff). Das sechste Buch endet mit den Worten: got \valdes, sit ers alles pßget./ der weiz nu wol wer da gesiget. (313,29f.) [Nun walte Gott, da alles in seiner Hand liegt. Er weiß auch genau wer da siegen wird] Vergleich mit der Vorlage: Auch im fünften Buch entfernt sich Wolfram von seiner Vorlage. In Aliscans gibt es keine Szenen mit einem Religionsgespräch zwischen Desramo und Guibourc oder mit einem erneuten Angriff der Heiden auf Orange: Es wird lediglich berichtet, wie die Stadt brennt (vgl. AI. 3985). In Aliscans erkennt Guibourc ihren Mann an seiner Nase wieder (AI. 4078ff.; bei Wolfram erkennt sie ihn an der Stimme). Gyburcs Appell an ihre Hofdamen ist eine Zutat Wolframs. Wie in Willehalm beobachten Guibourc und Guillaume die Ankunft der christlichen Heeresverbände (jedoch in anderer Reihenfolge vgl. AI. 416Iff.). Interessant ist, daß Wolfram dem Arrangement des Hoffestes mehr Beachtung schenkt, als dies in Aliscans der Fall ist.

138

Werk und Interpretation

Gyburcs Klagen über den Verlust auch ihrer heidnischen Verwandten fehlen in der Vorlage. Die Rennewart-Handlung hat Wolfram im sechsten Buch stark überarbeitet (aber nicht so stark zurückgeschnitten wie oft angenommen wird; vgl. LOFMARK, 1972: S. 91): Zwar gibt es in beiden Versionen eine Szene, in der Guibourc/Gyburc glaubt, Rainouart/ Rennewart könne ihr Bruder sein und in der sie ihm eine neue Rüstung gibt, aber das Benehmen des betrunkenen Rainouarts wird bei Wolfram gemäßigter. Rainouart wird nicht aus Verwandtenhaß motiviert, gegen die Heiden zu kämpfen, sondern aus Dankbarkeit Guillaume gegenüber. Viele andere Szenen des sechsten Buches sind jedoch in dieser Form in Aliscans nicht vorhanden. Die zweite Liebesszene zwischen Willehalm und Gyburc ist ebenso eine Zutat Wolframs wie Gyburcs Rede vor dem Fürstenrat. Man kann gerade am sechsten Buch deutlich erkennen, wie selbständig Wolfram mit seiner Vorlage umgegangen ist.

(Siebtes Buch) i) Vor der zweiten Schlacht (314,1 - 360,28) Rennewart vergißt zweimal seine Stange (314, l - 319,4): Das Heer ist schon eine ganze Weile unterwegs, als Rennewart von Willehalm darauf aufmerksam gemacht wird, daß er seine Stange verloren habe. Rennewart will die Stange holen, doch Willehalm schickt einen Boten nach Orange und die Stange wird auf einem Wagen zum Nachtlager gebracht. Als das Heer am nächsten Tag aufbricht, wird das Lager angezündet. Nach einiger Zeit bemerkt Rennewart, daß er die Stange wieder vergessen hat (316,26ff.). Beschämt macht er sich heimlich auf den Rückweg, voller Sorge, daß ihm sein Verschwinden als Feigheit ausgelegt werden könnte. Schließlich findet er seine Stange, durch den Brand gehärtet und verkohlt und beeilt sich, wieder zum Heer zu gelangen. Rennewarts zweimaliges Vergessen seiner Stange am Beginn des . Buches hat starken Symbolcharakter (dazu: KASTEN, 1977). Der Erzähler begründet Rennewarts Vergeßlichkeit zunächst mit seinem allzu eifrigen Streben nach Ritterschaft und mit zu großem Kampfverlangen. Doch dieses

Die epische Struktur. Handlung (314,l - 360,28)

l39

Vergessen scheint auch noch auf andere Zusammenhänge zu verweisen, wenn Rennewart sagt: ,...waz wunders mac ditze sin, daz ich der starken Stangen min nu zem dritten male vergaz? daz mir diu werdekeit ir haz niht anders mac erzeigen, ich wcene daz sol die veigen bringen unders todes zil. waz ob mich versuochen ml der aller wunder hat gewalt, und ob min manheit si bait?' (317,21 ff.) [,Was mag das für ein Wunder sein, daß ich meine starke Stange nun zum dritten Mal vergaß? Daß mir die ritterliche Ehre ihren Haß nicht anders zeigen kann, das, glaube ich, wird die Todbestimmten unter die Erde bringen. Was, ob mich der versuchen will, der aller Wunder mächtig ist, ob ich kühn und tapfer bin?'] Mit der aller wunder hat gewalt, ist mit ziemlicher Sicherheit der Christengott gemeint (dazu: KNAPP, 1970: 133f.; KASTEN, 1977: S, 402, HEINZLE, 1991: S. 1030). Daß es sich aber nicht um eine göttliche Prüfung der ritterlichen Ehre handelt, wie Rennewart vermutet, zeigt sich an den Ereignissen am Petit Pont. Rennewart bestraft mit seiner Stange die verräterischen Reichsfürsten und es ist sicherlich kein Zufall, daß die Flüchtigen glauben, es sei die Hand Gottes (325,3) über sie gekommen. Die Stange wird zum Instrument höherer Fügung, der Heide Rennewart zum Heilswerkzeug Gottes (vgl dazu u. S. 209f).

Der Verrat der Reichsfürsten und die Ereignisse am Petit Pont (319,5 - 328,5). Unterdessen ist Willehalm und sein Heer in die Nähe des Heidenlagers gekommen. Von einem Hügel aus können Willehalm und die Fürsten die gewaltige Streitmacht Terramers überblicken. Das riesige Heidenheer läßt manche Fürsten aus dem Reichsheer unsicher werden. Willehalm stellt ihnen frei, sich am Kampf zu beteiligen (319,29ff.) Und obwohl alle das Kreuz genommen und geschworen haben, Willehalm zu unterstützen, beschließen die meisten der Reichsfürsten aus Ludwigs Heer mit ihren Truppen umzukehren. Willehalm läßt sich dadurch nicht entmutigen und schickt sich an, das Heer zu formieren. Die flüchtenden Reichsfürsten treffen unterwegs, am Petit Pont, einer engen Brücke, auf Rennewart, der sofort auf sie losstürzt und mit seiner Stange auf sie einbaut, so daß viele

140

Werk und Interpretation

von ihnen ihr Leben verlieren (323,12ff). In einer Kampfpause, die Rennewart ihnen gewährt, um den Grund ihrer Flucht zu erfahren, versucht einer von ihnen Rennewart mit der Aussicht auf ein bequemes Hofleben, ebenfalls zur Umkehr zu bewegen. Doch das steigert Rennewarts Zorn nur noch und er wütet so lange mit seiner Stange, bis ihm alle den Eid geleistet haben, wieder umzukehren. Unter Rennewarts Führung zieht nun das abtrünnige Heer nach Alischanz. Der Verrat der Reichsfllrsten ist ein doppelter Treuebruch: Einerseits gegen Willehalm als Oberbefehlshaber über die Reichstruppen und damit gegen das Reich und anderseits gegenüber ihrer religiösen Verpflichtung, die sie mit dem Kreuz, das sie sich nach dem Fürstenrat anheften ließen, eingegangen sind (vgl. NELLMANN, 1969: S. 204.). Die Krise des Reichsgedankens wird auch symbolisiert durch das Einrollen der Reichsfahne (328,6fT.). Die Reichsfürsten werden als feige und verweichlicht dargestellt. Damit setzt Wolfram auch seine Kritik an einem veräußerlichten höfischen Gesellschaftsideal fort. Die Flüchtigen wollen sich der harten Realität des Krieges und der Unbequemlichkeit des Soldatenlebens entziehen und in die höfische Scheinwelt entfliehen: der eine denkt an die Frauen, der andere will sich Schröpfköpfe ansetzen lassen und der dritte freut sich auf ein geheiztes Zimmer mit weichen Kissen (323,15 - 30). Dies wirft auch ein negatives Bild auf den König, der ja in der Welt des Hofes zurückgeblieben ist. Die verantwortungslose Gesinnung der Reichsfürsten zeigt sich zusätzlich daran, daß einer von ihnen versucht, Rennewart mit der Aussicht auf Minnelohn und auf höfische Tafelfreuden ebenfalls zur Umkehr zu bewegen (325,24 - 327,9). Die Bestrafung folgt auf dem Fuß: Rennewart, der vorher noch erbarmen (325,18) mit den Fliehenden hatte, wird nach diesem Angebot nur noch heftiger mit seiner Stange wüten. Der Heide Rennewart, der sich weigert, sich taufen zu lassen, bewirkt, daß das christliche Kreuzfahrerheer wieder bereit ist, zu kämpfen.

Formation des christlichen Heeres (328,6 - 334,7): Nachdem Willehalm die Reichsfahne hat einholen lassen, teilt er sein Heer in fünf Abteilungen ein. Die erste Abteilung mit dem Schlachtruf Monschoy fuhrt er gemeinsam mit seinem Bruder Ernalt an. Die zweite Abteilung mit dem Schlachtruf Narbonne ist Heimlich unterstellt, die dritte Abteilung mit dem Schlachtruf Brubant wird von Willehalms Brüdern Buove und Bernart geführt, die vierte mit dem Schlachtruf Berbester von den Brüdern Gybert und Bertram, die fünfte mit dem Schlachtruf Tandarnas von seinem jüngsten Bruder Heimrich und

Die epische Struktur. Handlung (314,1 - 360.28)

141

dessen Freund Schubert. Noch bevor der Kriegszug sich in Bewegung gesetzt hat, kommt Rennewart mit dem Reichsheer und übergibt es Willehalm (329,2 Iff.). Der Markgraf dankt seinem treuen Knappen und ruft die Reichsfürsten zu sich, um ihnen die Reichsfahne mit dem Kreuz wieder zu übergeben. Das Reichsheer bildet nun unter der Führung Rennewarts eine eigene Abteilung mit dem Schlachtruf Rennewart. Unterdessen hat ein französischer Soldritter einen heidnischen Späher entdeckt. Es kommt zu einem ersten Zweikampf, bei dem der Späher schwer verletzt wird, aber ins Lager Terramers entkommen kann. In einem Gespräch mit den Anführern des abtrünnigen Reichsheers (331,23 332,29) vergleicht Willehalm ihre Flucht und ihre Rückkehr mit dem Verhalten des Apostel Petrus: , Peter, des himels portenoys, der gotes tougen vil vür war heinliche erkante manecjar, dar zuo er si offenliche sack: von zwivel im dristunt geschach daz er an got verzagete. hohen pris er sit bejagete: ir neheines helfe was so wert, ane in der zucte da sin swert bi Jesuse gein den Juden ze wer.' (332, 8ff.) [.Petrus, der Himmelspförtner, der von Gottes geheimer Menschwerdung vertraulich über Jahre wußte und sie auch offen sah, wurde dreimal vom Zweifel heimgesucht, so daß er an Gott verzagte. Später erwarb er hohen Ruhm: keiner war so bereit zu helfen wie er, als er sein Schwert zog um Jesus gegen die Juden zu verteidigen.'] Als Jesus von den Juden gefangengenommen wurde, zog Petrus das Schwert und schlug einem der Knechte des Hohenpriesters das Ohr ab (Joh. 18, l Of. und 18,15if.; Matth. 26,5ff. und 26,69ff.; Mark. 14,47ff. und 14,66ff.; Luk. 22,50ff. und 22,54ff). Erst danach leugnete er dreimal, zu den Anhängern Jesu zu gehören. Der Erzähler hat also die Reihenfolge verändert und außerdem ignoriert, daß Petrus für diesen Schwerthieb getadelt wurde (vgl. HEINZLE, 1991, S. 1937). Willehalm will den Anführern des Reichsheers mit diesem dem Neuen Testament gegenüber etwas verdrehten Beispiel wohl deutlich machen, daß sie sich trotz ihrer Flucht im Kampf noch Ruhm und Ehre erwerben können.

142

Werk und Interpretation

Formation des heidnischen Heeres (334,8 - 360,28). Der Späher berichtet Terramer ausführlich über das, was er gehört und gesehen hatte und appelliert an den König, nun endlich zu handeln. Daraufhin betont Terramer, daß er nicht nur im Namen der Götter und der minne kämpfen wolle, sondern daß es sein erklärtes Kriegsziel sei, Aachen und Rom zu erobern und das Römische Reich zu zerstören: ,... ir hart michz lange klagen, min houpt solde rcemisch kröne tragen, dar umbe min veter Baligan verlos manegen edelen man. uf rcemisch kröne sprich ich sus: der edele Pompejus. von des gesieht ich bin erborn (ich enhan die vorderunge niht verlorn), der \vart von rcemischer kröne vertriben. zunreht ist manec künic beliben da sit ufminem erbe' (338,21 ff). [,... Dir habt mich oft klagen hören, daß mein Haupt die römische Krone tragen sollte, für die schon mein Onkel Baligan viele edle Männer verlor. Die römische Krone beanspruche ich aus folgendem Grund: dem edlen Pompeius, von dem ich abstamme (ich habe diese Forderung nie vergessen) wurde die römische Krone verwehrt. Seitdem saßen unrechtmäßig so manche Könige auf dem mir zustehendem Erbe'] Diese Begründung des Terramer hat Wolfram gegenüber seiner Vorlage hinzugefügt. Der römische Feldherr Pompeius (106 - 48 v. Chr.) hatte sich gegen Caesar aufgelehnt und die Herrschaft Roms übernommen, wurde aber von Caesar in der Schlacht bei Pharsalos vernichtend geschlagen und Caesar übernahm die Herrschaft über Rom. Nach mittelalterlichem Verständnis war Caesar damit der Begründer des römischen Weltreiches. Terramer sieht sich als Erbe des Pompeius und betrachtet Caesar als Ursupator (vgl. HEINZLE, 1991: S. 1039).

Als der Späher berichtet, auch die Reichsfahne gesehen zu haben, glaubt Terramer, daß auch König Loys mit in den Kampf gezogen ist, was seinem Kampfesmut nur noch bestärkt. Er ruft eine Heeresversammlung ein und gibt die Einteilung des Heidenheeres bekannt. Terramer läßt zehn Abteilungen aufstellen (341,4ff.). Die erste Abteilung soll Halzebier leiten, ihm werden auch fünf Heere unterstellt, dessen Anführer in der ersten Schlacht gefallen sind (341,4ff.). Die zweite Abteilung soll von Tybalt und seinem Sohn Ehmereiz ange-

Die epische Struktur. Handlung (314,1 - 360.28)

143

fuhrt werden (342,7ff)· Während die ersten beiden Abteilungen sich schon in den Kampf stürzen, werden noch die restlichen Formationen gebildet: die dritte führt Synagun an (344, Iff.), die vierte die zehn Söhne Terramers (345, Iff), die fünfte Poydjus (346,22ff.), die sechste Aropatin (348, Iff.), die siebente Josweiz (349, Iff.), die achte Poydwiz (350,12,ff.), die neunte Marlanz (351,4ff.) und die zehnte ist Terramer selbst unterstellt (352,18ff). Für alle Heerführer hat Terramer lobende und aufmunternde Worte übrig und fordert sie auf, für ihre Götter und für den Lohn der Frauen zu kämpfen. Von Alischanz her hört man schon das Krachen der Lanzen. Terramer läßt die Bilder seiner Götter auf hohe Masten setzen, die auf Wägen mit gepanzerten Ochsen gezogen werden. Nun läßt auch Terramer sein Pferd satteln und sich von acht Königen, die unter seiner Führung kämpfen, seine prächtige Rüstung bringen. Die Darstellung der Formation der christlichen und heidnischen Streitmacht hat Wolfram gegenüber seiner Quelle stark erweitert, wobei vor allem die heidnische Schlachtordnung im Vordergrund steht, die fast die Hälfte des siebten Buches einnimmt (dazu: SCHÄFER-MAULBETSCH, 1972: S. 216 - 252 und 576 - 722; vgl. auch u. S.177ff.). Auffällig ist zunächst die zahlenmäßige Ungleichheit der Truppenverbände. Auf christlicher Seite werden sechs Abteilungen gebildet, während auf heidnischer Seite zehn Riesenheere in die Schlacht ziehen. Betont wird auch wieder, daß sich letztlich zwei Familienverbände gegenüber stehen, denn die einzelnen Heere werden größtenteils von Verwandten angeführt. Die ausführliche Schilderung des heidnischen Heeres wird auch dazu genutzt, die gefallenen Heidenkönige der ersten Schlacht zu nennen (dazu: SCHRÖDER, 1969), zu der auch viele Verwandte Terramers gehören. Diese zu rächen, gibt er ebenso als Kriegsziel an, wie sich im Namen der Götter und der Frauen Ruhm und Ehre zu erwerben (338,15). Eine geradezu weltgeschichtliche Dimension (BUMKE, 1997: S. 217) erreicht der Krieg durch Terramers Vorhaben, Aachen und Rom zu erobern, um von dort aus die Herrschaft über das gesamte Christentum zu erlangen (338,15 - 339,2). Wie schon in Munleun angedeutet, wird aus dem Verwandten- und Religionskrieg nun auch ein Reichskrieg (dazu: PALGEN, 1920: S. 218f. KNAPP, 1974: S. 150ff.; SCHMID: 1978, S. 271 f.)

Klage und Rüstung Terramers (354,1 - 360,28): Während er vor seinem Zelt sitzend auf seine Rüstung wartet, bricht Terramer in heftige Klagen um seine gefallenen Verwandten und um den Verlust von Arabel aus (354,2 - 355,30). Terramer wird nun von den

144

Werk und Interpretation

Königen feierlich gewappnet. Er bestimmt, daß mehr als zwanzig Könige unter seinem Befehl in den Kampf ziehen sollen. Unter Trommelwirbel und Fanfarenklängen setzt sich Terramers gewaltiges Heer in Bewegung. Mitten in die kriegerischen Ertüchtigungsreden und die Schilderung der pompösen Heereszüge, fällt jene Szene, in der Terramer vor seinem Zelt sitzt und darüber nachdenkt, wie alles gekommen ist. Voller Schmerz stellt er einen Vergleich mit David aus dem Alten Testament (2, Sam 15ff,) her, der ebenfalls gegen sein eigenes Kind kämpfen mußte (zu Absalom und David: FECHTER: 1961/62): .aller serest mich nu müet, ich han gelesen daz Davit gein sime kinde auch hete strit; Davit smcehen sig erkos, do Absalon den lip verlos: do \vcere er gerne vür in tot.' (355,12ff.)

[,es berührt mich außerordentlich schmerzlich, was ich gelesen habe, daß auch David gegen sein Kind Krieg geführt hat. Davids Sieg war schmählich: als Absalon sein Leben verlor, wäre er gerne für ihn gestorben.'] Doch wie sich schon beim Religionsgespräch gezeigt hat, kann Terramer einfach nicht verstehen, warum Arabel den Göttern abgeschworen und Tybalt verlassen hat. Dennoch führt dies nicht, wie schon einmal, zu Drohungen gegenüber seiner Tochter sondern zu einem Bekenntnis seiner Liebe zu ihr. Vergleich mit der Vorlage Die Ereignisse vor der zweiten Schlacht werden bei Wolfram ausführlicher dargestellt als in Aliscans, denn die Begebenheiten, die in der Vorlage in etwa 400 Versen beschrieben werden (AI. 4691 5095) nehmen bei Wolfram über 1.400 Verse in Anspruch. Die Rennewart-Handlung in diesem Teil der Geschichte hat Wolfram im wesentlichen von der Vorlage übernommen: Dabei hat er einige Szenen gekürzt, andere jedoch ausgearbeitet (vgl. LOFMARK, 1972: S. 79), um die Rolle Rennewarts in der Petit Punt-Szene hervorzuheben. Im Willehalm übernimmt Rennewart jedoch nicht die Führung des ersten christlichen Treffens (wie in Aliscans): Diese Rolle bekommt Willehalm. Vor allem hat Wolfram die Darstellung der Formation der christlichen und heidnischen Heere gegenüber seiner Vorlage stark erweitert: Dabei steht die heidnische Schlachtordnung im

Die epische Struktur. Handlung (360,29 - 445,13)

145

Vordergrund. Die Darstellung der heidnischen Schlachtvorbereitungen (die in der Vorlage in knapp 130 Verse erwähnt werden) nehmen mehr als die Hälfte des siebten Buches ein.

j)Die zweite Schlacht auf Alischanz (360,29 - 445,13) Kampf der zehn Scharen Terramers gegen die Christen (360,29 402,30). Auf Befehl Terramers und Cernubiles von Amirafel werden tausend Trommeln und achthundert Trompeten eingesetzt, um den Anfang der Schlacht zu signalisieren. Die heidnischen Götter, vom Erzähler verurteilt (vgl. 360,26), werden auf Kampfwagen auf das Schlachtfeld geführt. Im letzten Dreißigerblock des siebten Buches bereitet der Erzähler das Publikum auf die Schlacht vor und betont die Gemeinsamkeiten christlichen und heidnischen Minnerittertums (361,10ff.; vgl. hierzu MERGELL, 1936: S. 71). BUMKE (1961: S. 261 f.) hat darauf aufmerksam gemacht, daß in den Versen 360,8f aht hundert pusinen / hiez blasen der künec kalopeiz [Achthundert Posaunen ließ der König blasen zum Galopp], es sich nicht um einen Heidenkönig mit dem Namen Kalopeiz handelt, wie etwa LACHMANN und LEITZMANN (vgl. auch FINK/ KNORR, 1941: S. 197) vermutet haben, sondern um „eine Neubildung Wolframs auf Grund von air. galop [...]. Cernubiles ist es, der die Trompeten blasen läßt, und sie blasen Galopp" (vgl. jedoch das Bedenken HEINZLES, 1991: S. 1047).

(Achtes Buch) Die Schlacht fängt an mit dem Angriff der zehn Scharen Terramers gegen die Christen: Zuerst (362,1 - 363,30) greifen die Heiden unter Halzebier den jungen Heimrich und König Schubert an; dabei rächen sich die Vasallen der in der ersten Schlacht von Vivianz getöteten Heidenkönige Noupatris und Galfre an den Christen (vgl. 362,20ff.; 363,4ff.). Danach (364,1 - 368,5) greift die Schar Tybalts und Ehmereiz' Willehalm an (ihr Ziel ist es, Gyburc zurückzuerobern; vgl. 367, Iff; 367, l Of), sie müssen jedoch gegen Rennewart und sein Heer kämpfen.

146

Werk und Interpretation

Anschließend (368,6 - 371,30) stürzt Synagun (der vom Erzähler sehr gerühmt wird, 368,13ff.) mit seiner Schar in die Schlacht, verstärkt durch viele Ritter, die ihre Lehnsherrn und Familienmitglieder in der ersten Schlacht verloren hatten (vgl. 370,10; 370,27ff.), allen voran die Heere des von Vivianz getöteten Königs Tampaste (vgl. 371,Iff.) und der von Willehalm erschlagenen Könige Turkant und Erfiklant (371,10ff); Synagun versucht, Willehalm und Arnalt zu erreichen. In der vierten Schar Terramers (371,1 - 375,11) sind es zehn Brüder Arabel / Gyburcs, die gegen Bernart von Brubant und Buove kämpfen; die Christen wollen ihre Familienmitglieder befreien (vgl. 374,Iff.), die Söhne Terramers den Tod ihres Onkels Arofei rächen, der für sie ein ander voter (374,27) [zweiter Vater] gewesen war. Danach (375,12 - 381,17) kämpft die Schar Poydus' von Griffane (ein Schwiegersohn Terramers) gegen Bertram und Gybert, und später auch Willehalm; der Erzähler hebt den Reichtum und die kostbare Ausstattung Poydus' hervor. In seiner Schar befindet sich auch das Heer vom Minneritter Tesereiz (378,13), der nach der ersten Schlacht von Willehalm getötet wurde; die Christen rächen sich für den Tod von Vivianz, der hier vom Erzähler beklagt wird (vgl. 380,14ff.). Mit der sechsten Schar Terramers tritt der mächtige Aropatin zusammen mit den Königen von Skandinavien und Ascalon gegen den alten Heimrich von Narbonne an (381,18 - 386,1). Der Erzähler vergleicht den Heidenkönig Aropatin mit Weif, der vor Tübingen ohne Sieg abziehen mußte (vgl. 381,26ff.; es handelt sich wahrscheinlich um eine Anspielung auf die Niederlage Welfs . am 5.9.1164, vgl. SCHREIBER, 1922: S. 79; hierzu auch u.a. BERTAU, 1983b: S. 146; KIENING, 1991: S. 165 ); die Macht des Heidenkönigs wird mit der des Schach-Turms (roch 382,2) verglichen, der auf seiner Fahne zu sehen ist (vgl. zum roch SINGER, 1918: S. 112 und SCHREIBER, 1922: S. 50). Wolfram unterbricht die Beschreibung vom Aufmarsch der heidnischen Scharen mit Bemerkungen über die Art und Weise, wie er die Schlacht schildert. „Selbstbewußt" (Run, 1980: S. 185) sagt der Erzähler: ich getarz als wol gesogen, / so si den strit getorsten tuon (379,22f.) [Ich traue mir zu, ebenso gut zu erzählen, wie sie sich zu kämpfen trauten]. Kurz darauf setzt sich der Erzähler „von heldenepischer Erzählpraxis ab" (Run, 1980: S. 185), indem er (384,18ff.) bemerkt, daß die Kämpfe in der Schlacht auf Alischanz

Die epische Struktur. Handlung (360,29 - 445,13)

147

mit der Beschreibung der Heldentaten von Etzel und Ermerich nicht gleichzusetzen sind: Der Erzähler verspottet dabei die hyperbolische Erzählweise der Heldenepik durch eine Anspielung auf die dem Sagenkreis um Dietrich von Bern zugehörige Figur Witege (vgl. hierzu, HEINZLE, 1991: S. 1056 mit Literatur). Demgegenüber will Wolfram seine Schlachtbeschreibung „objektiver" gestalten (vgl. RUH, 1980: S. 185): Man sol dem strite tuon sin reht (385,1) [Man muß den Kampf angemessen schildern]. Nach KIENING (1991: S. 113) geht es hier um die Forderung nach narrativer Angemessenheit, nach „Ausrichtung nach dem jeweilig gegebenen" (vgl. hierzu auch u.a. KNAPP, 1970: S. 246f.; LOFMARK, 1972: S. 104; BERTAu:1972/73: S. 1166 sowie u. S. 177ff. und268f.).

Die siebte Schar Terramers (386,2 - 389,19), unter Führung von Josweiz, kommt der zweiten Schar zu Hilfe. Josweiz, zweifarbig, einen weißen Schwan im Wappen und vom Erzähler wegen seiner feinen Ausstattung und jugendlichen Schönheit gerühmt wird, stürzt unbendic [unbändig] (387,12) mit seinen Rittern ins Gefecht; sie reiten dabei über die Steinsärge der Gefallenen der ersten Schlacht (386,6f). Josweiz, der wütend ist, weil ihn Terramer erst jetzt hat kämpfen lassen (388,Iff.), rettet Tybalt und Ehmereiz vor den Franzosen unter Rennewart. Anschließend (389,20 - 393,19) kommt König Poydwiz von Raabs ins Gefecht mit den Scharen von den in der ersten Schlacht getöteten Königen Tenabruns, Libilun und Rubiun; wie Josweiz ist auch Poydwiz auf Terramer böse, weil er so lange hat warten müssen (390,14ff.); durch ihn werden Christen und Heiden zusammengeschweißt und viele Ritter sterben; das christliche Heer kann dem Feind fast nicht standhalten: diu kristenheit sich rerte, / diu heidenschaft sich merte (392,25f.) [die Christen wurden immer weniger, / die Heiden immer mehr]. Mit der neunten Schar (393,20 - 398,19) reitet König Marlanz in die Schlacht. In Gegensatz zu Josweiz und Poydwiz ist er froh, erst jetzt kämpfen zu können, denn es erlaubt ihm abzuschätzen, wie die anderen heidischen Ritter zugeschlagen haben. Mit ihm kommen auch König Margot und König Gorhant (samt seinen Soldaten mit der ,hürnenen' Haut und Eisenkeulen). Christen und Heiden bilden jetzt eine einzige Masse (vgl. 396,9ff); mit Mühe gelingt es den Christen, sich wieder zusammenzuschließen (397,25ff; 398,1). Als letzter reitet Terramer auf seinem Schlachtroß Brahane mit seiner Schar ins Gefecht (398,20 - 402,30). Die Schlacht zieht sich

148

Werk und Interpretation

zu jener Quelle hin, an der Vivianz starb (398,23); die heidnischen Abteilungen samt ihren auf Karren geladenen Göttern überqueren den Fluß Larkant (398,25ff.). Der Heide Ektor von Salenie hält die Fahne hoch über dem Schlachtfeld (401,19f.); die heidnischen Scharen, obwohl von Terramer befohlen, nicht aus der Schlachtordnung auszubrechen, bedrängen einander, um möglichst schnell in die vordersten Fronten zu gelangen in die Schlacht voranzukommen (402,4ff.). Durch einen klaren „Einschnitt" (Run, 1980: S. 185) hat Wolfram das achte Buch (402,17 .) mit einem „Epilog" (PÖRKSEN, 1971: S. 55) abgeschlossen, in dem der Erzähler sich scheinbar bereit erklärt, seine Geschichte einem anderen abzugeben, damit dieser sie weitererzählt: swer nu lieze niht verderben / dirre aventiure mcere, / deste holder ich dem wcere (402,28ff.) [Wer die Erzählung dieser Geschichte weiterfuhren könnte, dem wäre ich sehr dankbar]. Wie diese Erklärung des Erzählers aufzufassen ist, hat die Forschung verschieden interpretiert. Scheint sie auf „eine gewisse ermüdung" (BERHARDT, 1900: S. 40) des kurz vor dem Tode stehenden Dichters hinzudeuten (ähnlich u.a. auch LOFMARK, 1972: S. 219f), oder ist sie ein Anzeichen dafür, daß Wolfram vielleicht hier eine Arbeitspause eingesetzt hat (vermutet bei SINGER, 1918: S. 116) - möglicherweise nach dem Tod seines Gönners (vgl. u.a. SCHREIBER, 1922: 155; dagegen BUMKE, 1959: S. 185, Anm. 19)? Ist dem Erzähler „fast der Atem ausgegangen" (Run, 1980: S. 185), oder ist diese Aufforderung „nicht ernst zu nehmen" (MERGELL, 1936: S. 80) und bloß ein „Spannungsmanöver" (NELLMANN, 1973: S. 125; zustimmend HEINZLE, 1991: S. 1065) des Dichters? Oder: Drohen die „Schwierigkeiten gerechter Berichterstattung" Überhand zu nehmen, scheint „ein vorzeitiges Ende des Erzählens" nicht ausgeschlossen zu sein (KiENiNG, 1991: S. 216)? Auf diese Fragen hat die Forschung noch keine einstimmige Antwort gefunden.

(Neuntes Buch) Gegenangriff der Christen (403,1 - 423,15). Das neunte Buch fängt an mit einem Aufruf an Gyburc (403,1 - 10), in dem der Erzähler eine Bitte an diese heilic vrottwe richtet: Sie soll ihm erlauben, sie dort zu erblicken, alda min sele ruowejehe (403,4) [wo meine Seele Ruhe findet]. Die Tatsache, daß diese Anrufung mit einem klagenden Ei anfängt, könnte sie mit dem dreifachen owe-Ausruf am Ende des achten Buches verbinden

Die epische Struktur. Handlung (360,29 - 445,13)

149

(vgl. 399,7ff.; 400,lff; 401,30ff.). Aber wie ist dieser Aufruf zu deuten? Soll sie beweisen, daß „im folgenden noch von Giburg die Rede sein soll" (NELLMANN, 1973: S. 127) oder leuchtet an dieser Textstelle das Bild Gyburcs „in stiller mystischer Verklärung" auf, indem der Dichter Abschied von dieser Figur nimmt, da sie „ihre Bedeutung für die innere Handlung erfüllt" hat (MERGELL, 1936: S. 126f.)? Handelt es sich hier um einen „Prolog" (u.a. KILLIAN, 1970: S. 37; PÖRKSEN, 1971: S. 55; BUMKE, 1997: S. 212) mit einem „Gebetstopos" (HEINZLE, 1981: S. 426 u. ders. 1991: S. 1065), ein „'Ave Gyburc'" (KARTSCHOKE, 1967: S. 246), oder sollte man den Eingang vorn neunten Buch „nicht ein Gebet nennen" (SCHMIDT, 1979: S. 14)? Oder: Trägt dieser Einschub „kaum den Akzent einer nicht-fiktionalen, persönlichen Stellungnahme", artikuliert aber „das Problem der Sinnfindung in einem fast hoffnungslosen Erzahlgeschehen" (KiENiNG, 1991: S. 219f.)? Eindeutig hat die Forschung diese Stelle weder zuordnen noch deuten können (vgl. hierzu auch SCHRÖDER, 1960a: S. 49ff). Bemerkenswert bleibt auf jeden Fall die Tatsache, daß Wolfram hier am Anfang des neunten Buches, als die Schlacht ihren Wendepunkt erreicht, diese Aufrufung Gyburcs gesetzt hat; damit soll für das Publikum die Bedeutung dieser zentralen Figur an dieser Stelle vergegenwärtigt werden (vgl auch mit der Aufrufung Gyburcs bei 30,21ff.; zu Gyburcs Heiligkeit vgl. u. S. 199f).

Die Schlacht geht weiter: Durch den Lärm der Trompeten und Trommeln erzittern Fluß und Ebene (nach 403,20f. wie Gawan in Parzival, 566, l Iff. auf Lit marveil). Wie eine riesige Welle von einem gebrochenen Damm überfluten Terramers Soldaten das christliche Heer (404,22ff.): So schnell reiten die Heiden voran, daß die Götterbilder zurückgelassen werden. Wegen der Übermacht der Heiden werden die christlichen Scharen auseinandergerissen (405,7f); in kleinen, doch unterschiedlich großen und gemischten Gruppen kämpfen die Christen weiter; unter ihnen ist Heimlich von Narbonne. Der Erzähler beschreibt Heimrichs Ausstattung sehr detailliert, dabei bemerkt er, daß auf seinem Waffenrock ein Kreuz mit drien orten (406,20) [mit drei Enden] zu finden ist. Dieses T-förmige Kreuz (crux comissa), in Gegensatz zur crux immissa (mit vier Enden), ist auch unter der Bezeichnung Tau- bzw. Antoniuskreuz bekannt (vgl. Lexikon der christlichen Ikonographie , Sp. 569f). Die Vulgata-Übersetzung verwechselte in Ezechiel 9,4 („et dixit Dominus ad eum: Transi per mediam civitatem, in medio lerusalem, et signa thau super frontes virorum gementium et dolentium super cunctis abominationibus quae ßunt in medio eius" „und sagte ihm: geh durch die Stadt Jerusalem und zeichne mit einem Tau die Stirn

150

Werk und Interpretation

derjenigen, die seufzen und jammern über die Abscheulichkeiten, die dort geschehen") das hebräische Wort Tav (,Zeichen£) mit dem griechischen Buchstaben Tau ( ). Dieses T-Zeichen verband man mit dem in Exodus 12,17ff. erwähnten Zeichen, das beim ersten Passah auf Befehl Gottes von den Juden in Ägypten an die Türpfosten und Türbalken ihrer Häuser gestrichen wurde: Beide T-Zeichen wurden als Präfiguration des Kreuzes Christi -ausgelegt. In einem mit intellektueller „Anstrengung" (KffiNiNG, 1991: S. 222) verbundenen Exkurs erklärt der Erzähler (406,29ff), daß das Kreuz, an dem Jesus hing, nur drei Balken hatte, s\vie manegez dernach gevieret si (407,1) [obwohl man es auch später vierteilig abbildete]: Das scheint darauf hinzudeuten, daß Wolfram der Auffassung war, die crux comissa sei mit der crux immissa gleichzusetzen. Trotz der eingehenden Studien von KARTSCHOKE, 1967 und KOLB, 1987 sind sich Forscher immer noch uneinig, was Wolfram damit sagen wollte. Da Heimrich ein Kreuz an seinem Reitrock trägt, ist anzunehmen, daß er als Kreuzritter gesehen werden soll: Ob die Tatsache, daß es sich um eine crux comissa statt einer crux immissa handelt, eine tiefgründigere Bedeutung haben soll, konnte man noch nicht mit Sicherheit sagen (vgl. u.a. hierzu auch SAN MÄRTE, 1861: S. 39; SINGER, 1918: S. 116f; KARTSCHOKE, 1968: S. 309; HEINZLE, 1991: S. 1068f). Vielleicht könnte man die crux comissa mit dem Anruf an die Trinität in Verbindung bringen.

Aus Rache für Vivianz (408,24ff.) tötet Heimrich im Zweikampf den Heidenkönig Ceraubile, der auf Mahomet vertraut (vgl. 408,15). Die Seinen rächen den Tod ihres Herrn, indem sie viele Christen umbringen. Bernart von Brubant, der in der Nähe von seinem Vater Heimrich kämpft, muß mit dem Heidenkönig Cliboris streiten (vgl. 410,17fr.), der eine Barke als Helmzier trägt (409,20: vgl. hierzu BERTAU, 1983b: S. 133): Im Einzelkampf erschlägt Bernart Cliboris mit dem Schwert Preziosa (das der heidnische Oberkönig Baligan im Rolandslied getragen hatte [vgl. Preciuse: C.R.. 3146; Preciöse: Ä/.7991] und das vom Schlachtfeld zu Ronceval erbeutet wurde: vgl. 410,25ff.; zum Preziosa-Exkurs vgl. SCHMIDT, 1979: S. 113ff.). Der Heidenkönig Poydwiz bringt den Christen Kiun von Beauvais und fünf weitere französischen Ritter um (411,16ff.); aus Rache wird Poydwiz von Heimrich dem Jungen getötet (411,30f - 412,30). Terramer wird von Milon von Nevers herausgefordert (413,15ff), dieser wird jedoch von dem Heidenführer erschlagen (413,201). Diese Tat schmerzt Rennewart und aus Rache tötet er fünf Heidenkönige

Die epische Struktur. Handlung (360,29 - 445,13)

151

(Fabur, Samirant, Samuel, Oukidant und Morende; vgl. 413,25 414,4). Ermattet und verwundet kehrt ein Teil von Halzebiers Schar zum Meer zurück (414,6ff.); Rennewart folgt ihr (414,17); Bernart hört die Rufe der acht christlichen Grafen (414,22ff.), die seit der ersten Schlacht in Terrainers Schiffen gefangen gehalten werden (Bertram, Gerart, Huwes, Witschart, Sanson, Gaudin, Hunas und Gibelin). Rennewart befreit die christlichen Gefangenen (415,21), rüstet sie aus mit den Waffen von Heiden, die er getötet hat (416,16ff.) und verschafft ihnen ihre Pferde (417,19ff.): Die befreiten Christen greifen Halzebier an; zusammen mit vielen Fürsten seiner sechs Abteilungen wird er umgebracht (419,11; der Erzähler beklagt Halzebiers Tod: vgl. 419,14 - 26); dabei wurde von den Christen Rache für Vivianz genommen (vgl. 418,24ff.). Im Angriff auf Halzebier werden jedoch Hunas von Santes erschlagen und die anderen sieben Christen verwundet (419,6ff.). Poydwiz' Pferd Lignmaredi reitet mit leerem Sattel an Poydwiz' Vater Oukin vorbei (420,24ff.). Oukin fürchtet, daß sein Sohn schon tot ist und will versuchen, ihn aufzufinden (vgl. 420,27 - 421,17). Er trifft dann auf Willehalm, der Poydwiz umgebracht hat, und kämpft gegen ihn: Willehalm tötet Oukin, indem er ihm den Kopf abschlägt (422,24f; der Erzähler rühmt Oukin, vgl. 421,26 - 422,9); doch wird Willehalm auch verwundet (421,22ff). Rennewart und der Sieg der Christen (423,15 - 445,13). Rennewart ruht sich aus (423,15); inzwischen werden die Einzelscharen unter Führung der Heidenkönige Arestemeiz und Haropin und des Königs Golliam von Belestigweiz eingesetzt (423, Iff.). Unter den Druck dieses neuen Angriffs müssen die Christen zurückweichen (423,26ff). Die Gefahr wird jedoch von Rennewart abgewendet, denn nachdem er sich ausgeruht hat, kommt er den Christen unter Gerart zu Hilfe (424,9ff.). Die Christen können sich wieder sammeln (425,5), müssen aber einen neuen Angriff standhalten. Es scheint den Christen, daz da sniten riter uzem luft (425,11) [als schneie es Ritter aus der Luft]: Der alte König Purrel, der auf seltsame Weise gerüstet ist (425,25 - 426,30; zur Rüstung vgl. u.a. SCHMIDT, 1979: S. 248ff; HEINZLE, 1991: S. 1076f), und vierzehn seiner Söhne (die um die Gunst höfischer Frauen dienen: 427,14ff.; vgl hierzu auch SCHMIDT, 1979: S. 261f; HEINZLE, 1991: S. 1077f.) ziehen gegen die

152

Werk und Interpretation

Christen los. Seine Söhne geraten in Bedrängnis und Purrel kommt einem von ihnen zu Hilfe: Er tötet dabei fünf Christenfürsten (vgl. 428,30: Kiun, Remon, Girant, Anselm und Hue). Rennewart springt in den Raum um Purrel und schlägt den Heidenkönig mit seiner Stange zu Boden, die dabei zerbricht (429,22). Bei der Schilderung vom Einsatz Purreis sagt der Erzähler: s\va man des vil von künegen sagt, da win arm mannes tat verdagt. arme riter sollen striten: ein künec wo/ möhte biten, unz er vernceme diu mcere, wie der vurt versichert wcere. (428,4ff.)

[Wo man viel von Königen spricht, wird über die Taten des armen Mannes geschwiegen. Arme Ritter müssen immer kämpfen; ein König kann auch warten, bis er die Nachricht erhält, daß der Übergang über den Fluß gesichert sei.] Die Forschung hat diese Stelle verschieden gedeutet: PÖRKSEN (1971: S. 167) bemerkt hier „Ansätze sozialen Empfindens", für KÜHNEMANN (1970: S. 148) handelt es sich sogar um eine „Sozialkritik" Wolframs. Für SCHMIDT (1979: S. 265) ist einfach Wolframs „Sinn für Realitäten und Anteilnahme am Geschehen" zu spüren.SCHRÖDER (1970: S. 200) hat wahrscheinlich recht mit seinem Kommentar zu dieser Stelle: „Der Soldat an der Front, der Feldherr im sicheren Stabsquartier - wo anders als bei Wolfram wären solche wirklichkeitsgesättigten Bilder je in höfische Epik eingegangen!" (vgl. hierzu u.a. auch MOHR, 1968; CURSCHMANN, 1971: S. 634; BERTAU, 1972/73: S. 1165;HEINZLE, 1991: S. 1078).

Nach dem Zerbrechen seiner Stange kämpft Rennewart, ohne jedoch an sein Schwert zu denken, mit der Faust weiter (430,13), bis ihn Gibelin daran erinnert, daß er sein Schwert ziehen soll (430,21): Viele heidnische Minneritter werden von Rennewart getötet. Der verwundete Purrel wird zu Fuß vom Schlachtfeld weggeschafft und von seinen Rittern auf seinem Schild zu einem Schiff getragen (431,2Iff.); seine vierzehn Söhne fliehen vom Schlachtfeld. Poydjus benachrichtigt Terramer vom Verlauf der Schlacht (432,20ff): Terramer hört die Verlustmeldungen. Rennewart tötet den König von Belestigweiz; Tybalt und sein Heer müssen auch zurückweichen (432,28). Der heidnische Fahnenträger Ehmereiz' flieht vom Schlachtfeld, nachdem er gesehen hat, wie Bernart von

Die epische Struktur. Handlung (360,29 - 445,13)

l53

Brubant den Fahnenträger Terrainers, Ektor von Salenie, erschlägt (433,2ff.); die Fahne der Heiden liegt am Boden. Die Reichsfahne und die anderen Fahnen der Christen wehen jetzt über dem Schlachtfeld (433,10ff.). Die Christen treiben die Scharen der Söhne Terramers von der Schlacht (433,24f). Noch auf der Flucht sammeln sich die Reiterscharen der Heiden, um ihren Verwandten und Vasallen zu helfen (vgl. 435,16); aber sie werden von den Christen eingeholt: Auch Terramer muß sich retten (436,1). Bevor er den Rückzug Terramers beschreibt, erklärt der Erzähler, welche Stellung Terramer in der heidnischen Hierarchie einnimmt (434, l ff.). Als Vergleich erinnert der Erzähler sein Publikum an den Vorrang der römischen Krone (434,6ff.; vgl. hierzu u. S. 259f.). Mehrere Wolfram-Forscher haben diese Stelle zu deuten versucht: Für BUMKE (1959: S. 131) klingt hier „deutlich die staufische regw/i-Theorie an" (vgl. auch HEINZLE, 1991: S. 1080). Einige meinen, sie „bezieht sich nicht auf einen bestimmten Zeitpunkt" (EHRISMANN, 1927: S. 271. Anm.l, nach SINGER, 1918: S. 122f), doch andere halten diese Erklärungen für eine Verherrlichung des deutschen Kaisertums erst nach dem Tod von Otto IV. (u.a. SCHREIBER, 1922: S. 155). Klar bleibt, daß Wolfram hier eine Parallele zwischen dem heidnischen und dem christlichen Reich zeigen will; beide haben ihre Beschützer: Der römische Kaiser beschützt Rom, Terramer beschützt Baldac, wo der baruc, das Oberhaupt der heidischen Religion, seinen Sitz hat. Viele der Ähnlichkeiten zwischen den politischen Strukturen der Christen und Heiden hat Wolfram seiner Vorlage zu verdanken (vgl. LOFMARX, 1972: S. 189). In gewisser Hinsicht wollte Wolfram dadurch die „Gleichrangigkeit" (BuMKE, 1991: S. 240) der beiden Seiten betonen, denn in ihrer politischen Organisation, ihrer Ritterschaft und ihrer minne sind die Heiden den Christen gleichzusetzten; aber wir dürfen dabei nicht vergessen, daß für Wolfram in dem wesentlichen Punkt der Religion die Christen den Heiden bei weitem überlegen sind. Es ist bezeichnend, daß auf der heidnischen Seite der Gegensatz zum Christengott nicht in einem Heidengott zu finden ist. Für Wolfram ist die einzig mögliche Gegenmacht zu Gott der Heidenführer selbst, und Altissimus wird immer mächtiger als Terramer sein (vgl. 434,22f). Die heidnischen Götterbilder können den Heiden nicht helfen, die Schlacht zu gewinnen (sie bedeuten ihnen scheinbar so wenig, daß sie sogar auf dem Vormarsch zurückgelassen werden, vgl. 404,12ff); der Erzähler betont, als die Heiden in die Flucht getrieben werden und die Christen die Schlacht gewonnen zu haben scheinen, daß dieser Sieg dem Christengott zu verdanken ist: da vür wil ichz han erkant - / mit der \varheit diu gotes hant / des gap die besten stiure (435,5ff.) [So will ich es verstanden wissen: In

154

Werk und Interpretation

Wahrheit war Gottes Hand die beste Hilfe]. So wird jetzt, kurz vor dem Kampf zwischen Willehalm und Terramer, in dem Rennewart eine so bedeutende Rolle spielen wird, der Sieg der Christen Gottes Fügung zugeschrieben (vgl. hierzu u. S. 260f).

Viele Heiden reiten in die Berge, werden aber von den Christen getötet (436,4ff.), andere versuchen die Küste zu erreichen, einige fliehen auch in den Sumpf. Trotz ihrer bevorstehenden Niederlage leisten die Heiden den Christen in Nachhutsgefechten noch harten Widerstand (436,16f). Die Christen benutzen jetzt neue Schlachtrufe (437,6ff.). In einem Durcheinander versuchen viele Heiden, ihre Schiffe zu erreichen; manche müssen sogar in den Barken selbst rudern (438,19flf.). Terramer und acht Heidenkönige sind jedoch immer noch kampfbereit und sie decken den Rückzug ihrer Ritter vor den Schiffen (438,22): Rennewart rennt den Heiden nach. Der Erzähler berichtet, wie Rennewart sieht, daß sein Vater Terramer furchtlos im Kampf steht; Wolfram zieht dabei einen Vergleich aus der Heldenepik: meister Hildebrands vrou Uote mit triuwen nie gebeite baz, denn er tet maneger storje naz mit bluote begozzen. (439,16ff.) [Meister Hildebrands Frau Uote hat nie treulicher auf ihn gewartet als Terramer hier auf die vielen nassen, blutbegossenen Scharen.] Die Forschung ist sich nicht einig, wie diese Verse aufzufassen sind: Nach SINGER (1918: S. 124) etwa, der meint, diese Anspielung (auf Hildebrand) sei aus der improvisierenden Arbeitsweise Wolframs zu erklären, denkt der Dichter hier wohl tatsächlich an Hildebrand, „aber nur um mit diesem das fliehende Heidenheer zu vergleichen und Terramer, der die Flüchtigen erwartet, mit - Frau Uote". MERGELL (1936: S. 92) dagegen ist der Ansicht, daß - nach Rennewarts Ansturm (439,10ff.) - hier das Bild von Hildebrand und seinem Sohn Hadubrand naheliegt wobei es eine neue Deutung erfahre, da als tertium comparationis nicht der tragische Kampf zwischen Vater und Sohn anzusehen sei, sondern die unerschütterliche Tapferkeit der Helden (Hildebrand und Terramer). Jedoch bleibt unklar, wie diese Deutung mit Wolframs Text zu vereinbaren ist. Auch KARTSCHOKE (1968: S. 310) meint, daß wenn hier Hildebrand zitiert wird, eine dem Hildebrandslied entsprechende Szene erwartet wird. Für GERHARDT (1976) handelt es sich um einen Witz, der sich auf eine - mündliche - Überlieferung von Uotes Treue bezieht (vgl. hierzu: SCHMIDT, 1979: S. 355). HEINZLE (1991: S. 1083) findet

Die epische Struktur. Handlung (360.29 - 445,13)

155

- wahrscheinlich mit Recht - , daß diese „Spekulationen" in die Irre führen. Ungeklärt bleibt aber, warum Wolfram an dieser Stelle Terramers Treue seinen Rittern gegenüber mit der einer Frau aus der Heldenepik vergleicht (vgl. hierzu auch u.a. HARMS, 1963: S. 105; KILIAN, 1969: S. 120ff; PÜTZ, 1971: S. 143ff.; KIENING, 1991: S. 114f.).

Die Christen unter der Führung Willehalms drängen bis zu Terramers Schiff, und die zwei Heeresfuhrer kämpfen gegeneinander (441,30ff.)· Beide werden verwundet, aber der Sohn Terramers, Canliun, der seinen Vater schützen und ihn von Willehalm trennen will, wird von seinem Halbbruder Rennewart (ohne daß er weiß, wen er vor sich hat, vgl. 442,22) umgebracht, ebenso die Heidenkönige Gibue, Malakin, Cador und der König von Tampaste. Terramer wird schwer verwundet und auf sein Schiff gebracht (443,13ff.). Im Zweikampf tötet der fliehende heidnische Fahnenträger Tendalun Gandaluz, den Grafen von der Champagne (444,21); Rennewart erschlägt darauf Tedalun (444,25) und fordert Poydjus auf, mit ihm zu kämpfen, doch dieser meidet die Begegnung (444,28ff.). Rennewart beobachtet, wie die Männer Gandaluz' ihren Herrn beklagen (445, Iff.) Vergleich mit der Vorlage Die Ereignisse, die im achten Buch beschrieben werden, sind fast alle von Wohlram selbst erfunden worden: Der deutsche Dichter bezieht sich hier lediglich auf einige Motive und Handlungsmomente, die in der Vorlage erst im Laufe der Schlacht erscheinen (vgl. MARLY, 1982: II, S. 189ff). MARLY, 1982 ist der Auffassung, daß, obwohl es sich beim achten Buch um „une sorte de longue addition" ( , S. 189) [eine Art langer Ergänzung] handle, Wolfram hier eine „bataille gönerale" [allgemeine Schlacht] beschreibt, die nicht in der Vorlage zu finden ist: Jedoch sei der erste christliche Kämpfer in der zweiten Schlacht im Willehalm (Heimrich der Schetis) auch der erste christliche Kämpfer in Aliscans (Naymeris li caytis) (II, S. 190). Dabei darf aber nicht vergessen werden, daß in der Vorlage Naymeris gegen den Heiden Baudus kämpft und ihn sogleich tötet (vgl. AI. 5199), nicht wie Heimrich der Schetis, der am Anfang des achten Buches mit Halzebier - nicht mit Poydwiz - streiten muß (der

156

Werk und Interpretation

Kampf zwischen Heimlich der Schetis und Poydwiz und dessen Tod kommt bei Wolfram erst im neunten Buch vor, vgl. 41 l,30f.). Wie LoFMARK(1972: S. 83ff.) zeigt, hat der^//5ca«j-Dichter die Schlacht als ein einziges, andauerndes, sich weiterentwickelndes Gefecht zwischen Einzelkämpfern dargestellt; dagegen sei bei Wolfram die Tatsache ausschlaggebend, daß die Schlacht von der Opposition feindlicher Gruppen dominiert wird. Bei den verschiedenen militärischen Operationen der Schlacht und in der Art und Weise wie dieser Kampf strukturiert ist, spürt man hier am klarsten, wie sehr das dichterische Programm Wolframs in bezug auf die Schlachtbeschreibung von dem der Vorlage abweicht (vgl. hierzu u. S. 177f£). Im neunten Buch hat Wolfram den Schlachtverlauf näher an den der Vorlage gebunden, obwohl die Begebenheiten oft auf andere Art und Weise präsentiert werden: Wie LOFMARK (1972: S. 89f.) herausgearbeitet hat, hat Wolfram die Perspektive des Erzählers in der zweiten Schlacht von der des einzelnen französischen Soldaten (wie in der Vorlage) auf die eines Taktikers verlagert, der sich für die Organisation der Schlacht interessiert. Im neunten Buch übernimmt Wolfram eine Reihe von Zweikämpfen der Vorlage - obwohl sie sich oft nicht in derselben Anordnung befinden; Terramer (wie Desrame*) nimmt persönlich an der Schlacht teil, obwohl in Aliscans Guillaume und Desramo am Anfang gegeneinander kämpfen und nicht am Ende wie bei Wolfram. MARLY (1982:1, S. 185) hat gezeigt, daß die Namen der Toten in der zweiten Schlacht von Wolfram aus seiner Vorlage „scrupuleusement" [genau] übernommen wurden. Viele Begebenheiten dieser Schlacht, wie die Befreiung der gefangenen Christen aus der ersten Schlacht durch Rennewart (die jedoch bei Wohlram gegen Ende der Schlacht vorkommt, nicht an deren Anfang wie in der Vorlage, vgl. AI. 5337fif.), sein Sieg über Purrel und das Zerbrechen seiner Stange (im Willehalm später als in der Vorlage) kommen auch in Wolframs Version vor. Wolfram hat jedoch auch mehrere Begebenheiten ausgelassen oder geändert. Bei Wolfram wird Halzebier von den christlichen Gefangenen getötet; in Aliscans wird Haucebier von Rainouart umgebracht. Bedeutender aber ist die Tatsache, daß in der Vorlage Rainouart gegen seinen Vater Desramo am Ende der Schlacht kämpft; Wolfram macht daraus einen Zweikampf zwischen den Heeresführern Willehalm und Terramer und vermeidet dadurch, daß

Die epische Struktur. Handlung (445,14 - 467,23)

157

Vater und Sohn gegeneinander antreten müssen. Aber diese Änderungen scheinen auch in den Plan Wolframs zu passen, die Rennewart-Handlung der Willehalm-Handlung unterzuordnen. MERGELL (1936: S. 47f) und BUMKE (1959: S. 40ff. und 1991: S. 241) behaupten, daß Wolfram die Rennewart-Handlung in der zweiten Schlacht im Vergleich zur Vorlage rigoros gekürzt hat. Wie LOFMARK (1972: S. 90ff.) jedoch eindeutig gezeigt hat, ist Wolframs Version von der Rennewart-Handlung in der zweiten Schlacht - von der Handlung her - fast identisch mit der der Vorlage, wie sie in der Handschrift-M (die Wolframs Quelle am nächsten steht) vorzufinden ist.

k) Nach der Schlacht (445,14 - 467,23) Siegesfeier und Klagen nach der Schlacht (403,1 - 450,30). Die Schlacht ist zu Ende: Da die Christen den Sieg unter großen Verlusten errungen haben, herrschen sowohl Freude als auch Leid (446, Iff.). Unter den Christen gibt es eine allgemeine Suche nach Freunden, Verwandten und Vasallen (446, l Off.); Beute wird von Armen und Reichen erworben (446,27ff). Bernart bläst sein Hörn und zwar lauter als Roland sein Hörn Olifant auf dem Schlachtfeld von Ronceval geblasen hatte (447, Iff). Am Abend gibt es einen Festschmaus, und die Christen essen die zurückgelassenen Speisen der Heiden (447,12ff); einige betrinken sich mit seltsamen Getränken und vergessen dabei ihr Leid (448,16ff). Nachdem der Erzähler erörtert hat, wie die Heidengötter (Apollo, Mahomet, Tervagant, Kahun ... swie si waren genant, / al der heidenschefte gote 449,24f. [und wie immer die Heidengötter alle hießen]) durch diese Schlacht verloren haben und machtlos geworden sind (449,18ff), bemerkt er in einem Kommentar, daß der Sieg der Christen durch Jesus herbeigeführt wurde (450, Iff). Anschließend fragt er sein Publikum - in der Form eines fingierten Dialogs -, ob es Sünde sei, die Ungetauften alsam ein vihe [wie Vieh] zu erschalgen (450,17). In seiner Antwort betont er: grozer sünde ich dmmbe gihe: / ez ist gar gates hantgetat, / zwuo und sibenzec spräche, die er hat (450,18ff) [Für große Sünde halte ich es: Sie sind alle von Gottes Hand gemacht, alle Menschen der zweiundsiebzig Sprachen, die er hat].

158

Werk und Interpretation

Mit klarem Bezug auf Gyburcs Rede im sechsten Buch (vgl. 306,28), erklärt der Erzähler, wie die besiegten Heiden als gates hantgetat das Recht haben, nicht wie Vieh abgeschlachtet zu werden. Hier zeigt Wolfram „eine grundsätzliche Ablehnung der überkommenen Kreuzzugsidee" (BUMKE, 1970: S. 90), wie sie etwa im Rolandslied formuliert wird; nach MERGELL (1936: S. 166) hält Wolfram hier „an der unbedingten Absolutheit des Christentums fest" Mit Recht bemerkt LOFMARK (1989: S. 411): "Das, was Wolfram [...] als sünde tadelt, ist nicht, daß man Heiden getötet hat, sondern daß sie wie Vieh hingeschlachtet wurden." Vgl. hierzu auch HEINZLES Ausgabe (1991: S. 748; Anm. 1087; u. 1981: S. 432f), in der diese Textstelle anders hergestellt wird (vgl. hierzu auch u.a. KILIAN, 1969: S. 148f. sowie SCHMIDT, 1979: S. 441).

Klage um Rennewart (451,1 - 460,26): Am nächsten Morgen werden die toten Christen zusammengetragen: Die Landlosen werden gleich begraben (451,11), die adligen Herren gesondert aufgebahrt und anschließend einbalsamiert (451,17). Der Erzähler beschreibt die Technik, wie Leichen mit Balsam eingerieben werden, damit sie nicht verwesen (zur Literatur hierzu vgl. u.a. SCHMIDT, 1979: S. 453ff. und HEINZLE, 1991: S. 1087 ): Durch den Balsam verbreitet sich ein Wohlgeruch. Willehalm beklagt sich verzweifelt und weint, weil Rennewart nicht gefunden werden kann (452,19ff.). Er vergleicht Rennewarts Verschwinden mit dem Tod der Helden nach der Schlacht von Ronceval und reflektiert auch über die Karlsnachfolge (455,11; vgl. hierzu u. S. 257ff.). Bernart von Brubant tadelt Willehalm für sein ungehöriges Verhalten und spricht ihm Mut zu (457,3ff.); Bernart meint, Rennewart könnte von den Heiden gefangen genommen worden sein und plant, ihn gegen zwanzig von den Christen gefangene Heidenkönige auszutauschen (458,29ff.). Willehalm scheint mit dem Plan einverstanden zu sein und befiehlt, daß alle gefangenen Heidenfürsten ihm ausgeliefert werden sollen (vgl. 460,2 Iff.). Am Morgen nach dem schwer errungenen Sieg tritt der Christenfuhrer Willehalm wieder in den Mittelpunkt des Geschehens. Er hält seine erste Rede seit dem Anfang der Schlacht (vgl. 333,lff.): Rennewart, der zuletzt am Ende der Schlacht gesehen wurde und also nicht am Festschmaus teilgenommen hatte, wird vermißt und, obwohl er nicht unter den Toten aufgefunden wurde, hält Willehalm eine „Totenklage ohnegleichen" (Run, 1980: S. 187) für ihn, in der er erklärt, wieviel ihm dieser Verlust bedeutet. Wie nach der ersten Schlacht mit dem Tod seines Neffen Vivianz', spürt

Die epische Struktur. Handlung (445,14 - 467,23)

159

Willehalm offensichtlich auch hier das durch den Kampf herbeigeführte Leid persönlich erst dann, als ein Freund für tot gehalten wird. In seiner Rede wird Rennewarts Verdienst um den Sieg der Christen hervorgehoben. Willehalm fragt sich, ob der junge Heide wirklich tot ist: hat dich der tot von mir getan? (453,7) [hat dich der Tod von mir genommen?]. Der Gedanke, er könne tot sein, bringt ihn fast zur Verzweifelung: Der Verlust von Vivianz ist nicht damit zu vergleichen (vgl. 454,12ff.); die minne zu Gyburc, die ihn nach der ersten Schlacht trösten konnte, kann über diesen Verlust nicht hinwegtrösten (vgl. 456,16f). Wie nach dem Tod von seinem Neffen Vivianz will Willehalm jetzt selbst sterben: Die Parallele dieser Rede zur Klage nach dem Tod des Märtyrers Vivianz' ist klar (vgl. dagegen LOFMARK, 1972: S. 98); Willehahn geht hier - nach dem vermeinten Tod des Heiden Rennewart - jedoch noch weiter als nach der ersten Schlacht, denn er gibt Gott die Schuld für diesen Verlust: Miner vlust mäht du dich schämen, / der meide kint. ... (4 56, l f.) [Mein Unglück ist Deine Schande, / Sohn der Jungfrau]. Es liegt auf der Hand, daß dieser Zornausbruch Willehahns mit dem Gyburcs nach der ersten Schlacht verglichen werden kann (101,10ff). Aber: Handelt es sich hier um eine „Auflehnung gegen Gott" (SCHMIDT, 1979: S. 463), um eine „maßlose Klage, die bis an den Rand der Gotteslästerung reicht" (RUH, 1980: S. 187) oder sogar um ein „mortal sin" (GREENFIELD, 1989b: S. 248; dagegen: KIENING, 1991: S. 238 Anm. 24), oder darf hier nicht „von einer Verzweiflung im modernen Sinne" (MERGELL, 1936: S. 170) gesprochen werden? Die Meinungen der Forscher sind geteilt (vgl. hierzu u.a. auch KILIAN, 1969: S. 157ff.). Der Verbleib von Rennewart wird von Wolfram nirgends verraten: Die Forschung hat das Ende der Rennewart-Handlung verschiedenartig aufgefaßt: Einige Kritiker (vgl. u.a. SAN MÄRTE, 1871: S. 126) meinen, daß - in einer vollendeten Dichtung - Rennewart nicht mehr in den Vordergrund treten würde: BUMKE (1959: S. 49) ist der Meinung, daß Wolfram die Rennewart-Figur zugunsten der Geschlossenheit seines Werkes „geopfert" hat. Andere sind der Ansicht, daß Rennewart den Tod im Kampf findet (vgl. u.a. MERGELL, 1936: S. 178f); HARMS (1963: S. 105) nimmt sogar an, daß er von seinem Vater Terramer getötet wird, als Sühne für die Erschlagung von Kanliun. Wiederum andere meinen, daß er vielleicht gefangengenommen wird (vgl. u.a. WOLFF, 1934: S. 521; SCHWTETERING, 1957: S. 179): Diese beiden Möglichkeiten (Tod und Gefangennahme) werden im Gespräch zwischen Willehahn und Bemart erörtert. Jedoch ist es, wie SCHRÖDER (1969a: S. 136f.; ebenso PÖRKSEN / SCHIROK, 1976: S. 55) gezeigt hat, sehr unwahrscheinlich, daß Rennewart, der noch frei ist, als die letzten Heidenführer auf ihre Schiffe fliehen, dann noch gefangengenommen werden kann. Nach LOFMARK (1972: S. 227ff, bes.: S. 232), ist es auch nicht haltbar anzunehmen, daß Rennewart jetzt tot sei, da Wolfram wahrscheinlich seiner

160

Werk und Interpretation

Vorlage folgen wollte: In Aliscans ist Rainouart auch abwesend und erscheint erst am nächsten Tag - und verspätet - zum großen Fest, das Guibourc in Orange organisiert hat. RUH (1980: S. 189) meint, daß Rennewart dann nicht bloß getauft werde - wie in der Vorlage - sondern auch „einen legendären Weg" einschlagen werde (vgl. hierzu BERTAU, 1983a: S. 105f.). Sicherheit bezüglich dieser Frage bietet uns der Text jedoch nicht (vgl. hierzu u.a, auch: SCHMIDT, 1979: S. 461ff.; KNAPP, 1983 sowie u. S. 209f.).

Auftrag an Matribleiz (460,27 - 467,23). Unter den Heiden, die Willehalm ausgeliefert werden, befindet sich der König von Skandinavien Matribleiz, ein Verwandter von Gyburc: Da er so tugendreich ist, braucht Matribleiz als einziger Gefangene keine Eisenketten anzulegen; ihn bindet der Markgraf durch sein Ehrenwort (461,15). Willehalm spricht mit Matribleiz und gibt ihm den Auftrag, mit einem Teil der Gefangenen alle toten Heidenkönige auf dem Schlachtfeld einzusammeln; die Verwandten Gyburcs sollen einbalsamiert werden (462,13ff.). Matribleiz ist mit dem Plan einverstanden (463,5ff.); Willehalm erklärt ihm, wie er nach dem Sieg ein großes Zelt, in dem ein Priester auf die Leichen von 23 Heidenkönigen aufpaßte, unter seinen Schutz gestellt hat: Bei diesem Priester könnte sich Matribleiz genügend Balsam holen. Der Heide soll die Toten aus dem Christenland dorthin bringen, da man si schone nach ir e / bestate. ... (465,19f) [wo man sie würdig nach ihrem Gesetz bestatten kann]. Matribleiz wird von seinem Ehrenwort entbunden, ihm wird sicheres Geleit gegeben, und er verläßt die Provence mit dem Auftrag, alle toten Heidenkönige mitzunehmen und eine Friedensbotschaft an Terramer zu überbringen (vgl. 466,8f.). Die Matribleiz-Szene - mit der „Tat der Noblesse ohnegleichen" (Run, 1980: S. 188), einer Geste der Versöhnung - ist von der Forschung oft eingehend gedeutet worden: Da sie am Ende des fF/7/e/ia//n-Fragments steht, ist sie für viele Kritiker von zentraler Bedeutung für die Gesamtinterpretation der Dichtung bzw., um das möglicherweise geplante Ende des Werkes verstehen zu können. Es ist klar, daß diese Szene deutlich mit der Schonungsrede Gyburcs in Verbindung zu bringen ist: Willehalm scheint durch diese Geste, Gyburcs Schonungsgebot nicht nur zu übernehmen, sondern auch zu übertreffen; hiermit wird Willehalm selbst zum Träger der Botschaft dieser Dichtung. Der Unterschied zwischen seinem Verhalten nach der ersten und der zweiten Schlacht ist ganz klar zu erkennen. Nach u.a. SCHRÖDER (1974: S. 237), ist diese Szene als tertium comparationis zur

Die epische Struktur. Handlung (445,14-467,23)

161

Arofel-Episode zu sehen: „wie Arofei nach der ersten Schlacht so sind die überlebenden heidnischen Könige dem Sieger nach der zweiten auf Gnade oder Ungnade ausgeliefert". Für WOLFF (l934: S. 521), nach dessen Auffassung die Dichtung versöhnend ausgehen sollte, würde diese Geste „den Heiden zum Anstoß werden, sich nicht kleiner zu zeigen: so käme jede der beiden Seiten durch Taten der ändern zur Achtung ihrer Gegner". Auch LOFMARK (1972: S. 242) sieht diese Szene als eine Art Vorbereitung für eine endgültige Versöhnung (vgl. dagegen jedoch LOFMARK, 1989: S. 412). GIBBS (1976: S. 238) ist vorsichtiger: „Although this ending has something of optimism about it, the prevailing mood of sadness remains". Positiver noch wertet ORTMANN (1993: S. 115) die Matribleiz-Episode: Anhand dieser Szene werde in Wolframs Werk die utopische Vision eines „umfassenden Friedensreiches" entworfen (vgl. dagegen: MKLAUTSCH, 1995: S. 233). Viele Forscher unterstreichen die Toleranz und Humanität dieser Szene: MERGELL (1936: S. 173), der Willehalm nicht als Fragment betrachtet, findet sie „von edelstem Pathos ritterlicher Humanität und Barmherzigkeit" getragen: Der Toleranzgedanke im Willehalm erfahre die Vollendung seiner „Entwicklung" im Verhalten Willehahns gegenüber dem Heiden Matribleiz (S. 176). Wie sind jedoch „Toleranz" und ,»Humanität" hier aufzufassen? Auch für WJ. SCHRÖDER (1975: S. 413) geht es in Willehalms Rede an Matribleiz um „Toleranz", „wenn man darunter die Duldung der Uneinsichtigen durch die Einsichtigen versteht". BERTAU (1972/73: S. 1157) glaubt, daß es sich hier nicht um „eine plötzlich hereinbrechende Totalhumanität handle, die nur Gerede wäre". Wie viele Forscher deutet BUMKE (1959: S. 52) diese Szene als Teil einer Gesamtinterpretation des Werkes: So sei „die Inkonsequenz der Handlungsführung" in dieser Szene kaum zu übersehen: Diese Inkonsequenz hänge mit Wolframs Konzeptionswechsel am Schluß der Dichtung zusammen (vgl. jedoch BUMKE, 1997: S. 212f). Nach KIENING (1991: S. 236) setzt die Matribleiz-Handlung „in ihrer Konsistenz und thematischen Schlüsselposition einen partiellen Einschnitt, mehr allerdings nicht". Wie bei so vielen Fragen, kann sich die Forschung auch hier, am Ende der Dichtung, keine einheitliche Meinung bilden. Vgl. hierzu den Exkurs zur Fragmentfrage u. S. 163ff. sowie u.a. auch KILLIAN, 1969: S. 195 - 226; SCHMIDT, 1979: S. 528 - 573. Zehn der zwölf vollständigen Wi'/fe/ia/m-Handschriften enden bei 467,8 (sus rumt er Pravenzalen lant. [so veließ er das Land der Provenzalen.]); Die kritische Ausgabe von LACHMANN endet auch bei dieser Stelle (zustimmend u.a. SINGER, 1918: S. 128; dagegen u.a. PAUL, 1876: S. 322), die von LEirzMANNund SCHRÖDER (deren Leithandschrift die Hs. G ist) enthalten die Verse 467,9 - 467,23, die nur in den Handschriften G und V überliefert sind.

162

Werk und Interpretation

Es ist nicht klar, ob diese 15 Verse von Wolfram stammen (für eine Diskussion der Echtheit der Verse 467,9 - 23 vgl. u.a. SCHMIDT, 1979: S. 574ff. mit Literaturangaben sowie HEINZLE, 1981: S. 435). Für die Bedeutung dieser Verse in der Fragmentfrage vgl. unten S.162f.

Vergleich mit der Vorlage Nach der gewonnenen Schlacht folgt Wolframs Vorlage einem anderen Weg: Nach dem Sieg feiern die Franzosen. Guillaume findet die Leiche Viviens und läßt sie begraben. Das christliche Heer kehrt nach Orange zurück, wo Guibourc ein großes Fest veranstaltet. Guillaume vergißt Rainouart; der Heide kommt zu spät, ist beleidigt und kehrt unter Tränen zum Schlachtfeld zurück. Auf dem Weg trifft er einige französische Ritter, sagt ihnen, wie undankbar Guillaume gewesen ist und daß er vorhat, ein heidnisches Heer aufzustellen, um Guillaume anzugreifen, Louis abzusetzen, Aachen zu erobern und Aelis zu heiraten. Guillaume hört diese Botschaft, hat Angst, will sich entschuldigen und schickt zwanzig Ritter zu Rainouart. Dieser wehrt sich jedoch, zurückzukehren; Guillaume reitet selbst - mit Guibourc, Aymeri, seinen Brüdern und hundert Rittern - nach Aliscans. Nur Guibourc kann Rainouarts Zorn besänftigen und bittet ihn, Guillaume zu entschuldigen. Guillaume bedankt sich bei Rainouart: Sie kehren dann nach Orange zurück. Beim Abendessen sitzt Rainouart zwischen Guibourc und Guillaume. Rainouart sagt Guibourc, daß er ein Sohn Desramos ist. Guibourc erklärt ihm, daß sie seine Schwester ist: Unter Tränen küssen sie einander. Rainouart wird getauft, bekommt neue Kleidung, Rüstung und ein Pferd. Guillaume ernennt Rainouart zum Seneschall. Baudins, der versprochen hatte, Christ zu werden, wird auch getauft. [In anderen Handschriften - also nicht in der Hs. M - schickt Guillaume seine Brüder zu Louis, um ihm vom Sieg zu berichten und Aelis nach Orange zu bringen. Aelis kommt nach Orange und heiratet Rainouart: Sie erhalten Tortelose und Porpaillart zum Lehen; eines Tages wird Rainouart König von Spanien. Alle kehren in ihre Heimatländer zurück; Guibourc sagt Guillaume, daß Orange wieder aufgebaut werden muß]. Falls Wolfram diese Dichtung vollendet hätte (gesetzt den Fall, daß sie wirklich ein Fragment ist und er überhaupt vorhatte, sie zu vollenden), bleibt unklar, inwiefern er seiner Vorlage hier folgen wollte (vgl. hierzu den Exkurs zur Fragmentfrage). Auch in der Vorlage

Exkurs: Zur Fragmentfrage

163

verschwindet Rainouart: Jedoch scheinen Willehalms Klage um Rennewart und die versöhnende Matribleiz-Szene mit der Ehrung der gefallen Heidenkönige Wolframs Eigentum zu sein, obwohl in einer der in Prosa verfaßten Versionen dieser Tradition, der italienischen Storie Nerbonesi (um 1400), eine Episode dargestellt wird, in der die gefallenen Brüder Rainouarts einbalsamiert und nach der heidnischen Tradition beerdigt werden (Storie Nerbonesi II, 526: secondo il modo barbero). Jedoch gibt es in der uns überlieferten Geste Monglane vor Wolfram nicht die geringste Spur von solcher Versöhnung zwischen Christen und Heiden: Da gehört der Kampf zwischen diesen Glaubensgegnern sogar zum Wesen dieser literarischen Gattung. Es liegt also auf der Hand, daß Wolframs Version mit der Matribleiz-Szene von der seiner Vorlage abweicht. Es gibt jedoch an keiner Stelle im Text Hinweise darauf, „daß Rennewarts Geschick bei Wolfram sich so harmlos aufgeklärt hätte wie in der französischen Dichtung", wie es BUMKE (1997: S. 214) annimmt.

Exkurs: Zur Fragmentfrage Ist die ff/V/eAa/m-Dichtung ein abgeschlossenes Werk? Diese Frage hat viele Jahre hindurch die Wolfram-Forschung beschäftigt: Heutzutage ist die Mehrzahl der Forscher der Auffassung, daß der Willehalm ein Fragment ist. Mit dieser Frage hängt natürlich auch die nach dem Schluß der Dichtung zusammen, denn die Forscher, die annehmen, daß das Werk nicht abgeschlossen ist, haben oft versucht, „die einheit des ganzen noch wieder zu finden, wie sie in Wolframs seele sich gebildet hatte" (LACHMANN, 1926: S. XL). Diese Suche ist aber nicht so einfach gewesen, denn die verschiedenen Deutungen eines möglichen Schlusses hängen notwendigerweise mit den jeweiligen Interpretationsversuchen des fragmentarischen Ganzen - und seines Endes - zusammen. So hat sich zwar ein Konsens darüber gebildet, daß das Werk ein Fragment ist, nicht jedoch über das von Wolfram beabsichtigte Ende der Dichtung. Wie oben schon bemerkt wurde endet der Willehalm in zehn der zwölf vollständigen Handschriften bei Vers 467,8 (sus rumt er Provenzalen lant [so verließ er das Land der Provenzalen]). LACHMANN, der die Meinung vertritt, die Dichtung sei ein Fragment,

164

Exkurs: Zur Fragmentfrage

beendet seine kritische Ausgabe ebenfalls mit diesem Vers, denn die anschließenden Verse (die in den Hss. G und V vorkommen) seien nicht echt eschenbachisch (vgl. LACHMANN, 1926: S. XXXV). In den Ausgaben von LEITZMANN, SCHRÖDER und HEINZLE aber werden diese Verse als ein Bestandteil des wolfiramschen Textes veröffentlicht (vgl. jedoch HEINZLE, 1991 - dessen Ausgabe auf der Hs. G beruht - : „Ob die Passage von Wolfram stammt oder nicht, kann man nicht sagen", S. 1092; zur Forschungsdiskussion dieser Verse vgl. o. S. 16 If). Die letzten vier Verse dieses Abschnitts enden aber mitten in einem Satz und falls sie echt wären würde das sicherlich heißen, daß die Dichtung ein Fragment ist. Wenn wir aber annehmen, daß die Dichtung schon bei 467,8 schließt, dann könnte das bedeuten, daß das Werk eine Vollendung erfahren hat. So sind Forscher, wie u.a. MERGELL, davon ausgegangen, daß kein Zweifel besteht, „daß mit diesem Satz [467,8] das LX. Buch und die gesamte Dichtung abschließen" (MERGELL, 1936: S. 175; ähnlich u.a. SAN MÄRTE, 1873: S. 125; SCHWIETERING, 1927: S. 143 Anm. 1; GIBBS, 1976: S. 241: „the work is beautifully balanced, with the end coming full circle and reminding us ... of the opening lines" sowie GIBBS /JOHNSON, 1984: S. 268; KIELPINSKI, 1990). Die Feststellung MERGELLS ist Teil seiner Theorie zur (epischen) Struktur der Dichtung (der „Endgipfelkomposition"): Dabei nimmt MERGELL (1936) an, daß Wolfram so unabhängig von seiner Vorlage gearbeitet habe, daß das Ende nicht mehr dem der Bataille d'Aliscans entsprechen müsse (S. 178f), daß die Matribleiz-Szene ein Ethos von Höhe und Reinheit verkünde (S. 177), und daß die RennewartHandlung tragisch ende (S. 177). Für BERNHARDT (1900: S. 40; ähnlich auch HARMS, 1963: S. 103ff.) wird das Ende der Dichtung von einem „notdürftigen" Abschluß gebildet. BERNHARDT ist davon ausgegangen, daß die Dichtung ihrer ursprünglichen Konzeption nach ein Fragment ist: Der Dichter habe sein Gedicht abgebrochen mit einem Schluß, der die Haupthandlung (den Einfall und die Niederlage der Sarazenen) zu Ende bringe, aber den Zuhörer über Rennewarts Schicksal im Dunkeln lasse und vorher erweckte Erwartungen nicht befriedige, „als wäre auf einem schönen gotischen türm, anstatt der ihm zugedachten zierlich durchbrochenen spitze ein flaches notdach aufgesetzt worden" (1900: S. 40). Diese Theorie BERNHARDTS wird weiterentwickelt von BUMKE (1959: S. 54), der feststellt, daß bei der

Exkurs: Zur Fragmentfrage

l65

Matribleiz-Szene keine Bruchstelle zu erkennen ist, sondern ein Schlußpunkt: „Die Dichtung ist nicht abgebrochen, sondern endet hier". Der „Notdach"-Theorie, die notwendigerweise voraussetzt, die wolframsche Dichtung ende bei 467,8, wird von verschiedenen Forschem (allen voran BUMKE, 1997: S. 23 If.) immer noch Glaubwürdigkeit geschenkt. Es wird dabei oft angenommen, daß Wolfram schon im achten Buch (402,18ff.; vgl. oben S. 148) davon ausgegangen sei, er könne an der Vollendung der Dichtung gehindert werden (BUMKE, 1997: S. 231; vgl. jedoch dagegen BUMKE, 1959: S. 55), vielleicht wegen „alterschwäche oder des herannahenden todes" (BERNHARDT, 1900: S. 40). Jedoch: Man sollte bei der Deutung der „autobiographischen" Aussagen des Erzählers vorsichtig sein. Gegen die These, die Dichtung sei abgeschlossen (sei es nach Wolframs Konzeption - MERGELL - oder mit einem „Notdach" BERNHARDT), gibt es verschiedene, beweiskräftige Argumente (vgl. hierzu u.a.: KIENAST, 1950: S. 114; LOFMARK, 1972: S. 210ff.; PÖRKSEN / SCHIROCK, 1976: S. 46ff.; RUH, 1980: S. 190; HAUG, 1992: S. 175). Es wäre für Wolfram uncharakteristisch gewesen, ein Werk - auch mit einem „Notdach" - mitten in einem Dreißiger-Block abzuschließen. Im Willehalm enden alle Bücher - mit Ausnahme des ersten, bei dem vermutlich zwei Verse fehlen (vgl. o. S. 77) - mit einem abgeschlossenen Dreißiger-Block; dies gilt auch für die />arz/va/-Dichtung. Es ist also nicht wahrscheinlich, daß Wolfram seinen Willehalm entweder bei 468,8 oder 467,23 beendet hätte. Da die Dichtung mit einem Prolog anfangt, hat man vermutet, daß sie auch mit einem Epilog schließen sollte (vgl. SCHWIETERING, 1957: S. 180). Obwohl die Matribleiz-Szene einen möglichen Abschluß eines Teils der Handlung darstellen könnte, ist der Konflikt mit den Sarazenen noch in vielerlei Hinsicht zu lösen: Wie wird Terramer auf das Angebot Willehalms reagieren? Was passiert mit den anderen zurückgebliebenen Heiden (vgl. 463,4ff.)? Es gibt auch noch sehr viele wichtige Erzählstränge, die abzuschließen sind: Das betrifft vor allem die Rennewart-Handlung (Wird Rennewart wieder auftauchen? Ist er tot? Wird er Gyburc als seine Schwester erkennen? Wird er Alyze heiraten?). Aber Wolfram hat auch andere Erwartungen erweckt, die am Ende einfach nicht befriedigt werden (vgl. hierzu: LOFMARK, 1972: S. 214ff.). So ein „offener Schluß" (auch mit „Notdach") wäre für eine mittelalterliche Dichtung äußerst

166

Exkurs: Zur Fragmentfrage

unwahrscheinlich (vgl. SCHMIDT, 1979: S. 580 sich auf IWAND, 1922: S. 168 beziehend). Es ist also auf jeden Fall anzunehmen, daß Wohlram gezwungen wurde, die Arbeit an seiner Willehalm-Didtfmg abzubrechen: Das Werk ist ein Fragment. So haben es auch die mittelalterlichen Fortsetzer verstanden (vgl. u. S. 276). Warum Wolfram den Willehalm nicht vollendet hat, bleibt allerdings ungewiß: Vielleicht durch den Tod seines Gönners (vgl. u.a. SCHREIBER, 1922: S. 155) oder weil er in dessen Ungnade gefallen war; vielleicht ist Wolfram selbst gestorben (vgl. u.a. BERNHARDT, 1900: S. 40); vielleicht wußte er mit der Bearbeitung des Stoffes einfach nicht weiter (vgl. u.a. BUMKE, 1959: S. 55). Klar bleibt, daß Wolfram ursprünglich vorhatte, die Geschichte von Anfang bis Ende (ir letze und ir beginnen - 5,3) zu erzählen - so behauptet wenigstens der Erzähler im Prolog: Warum er das nicht getan hat, werden wir wahrscheinlich nie erfahren. Wir werden auch nie wissen, wie die Dichtung - nach Wolframs Plan - enden sollte. Die Forschung hat zu dieser Frage verschiedene Theorien entworfen, ohne jedoch eine Einigung zu erzielen; diese Theorien hängen notwendigerweise von der jeweiligen Deutung der Gattungsfrage der Dichtung ab, denn wenn der Willehalm ein höfischer Roman wäre, dann würde er anders als eine chanson de geste oder eine Legende enden (vgl. hierzu u. S. 264ff.). Falls Wolfram - der poetischen Konzeption seiner Zeit folgend - die Handlung nach seiner chanson de geste-Vorlage abgeschlossen hätte - , dann hätte es einen Streit zwischen Willehalm und Rennewart, eine Erkennungs-szene zwischen Gyburc und Rennewart sowie die Taufe Rennewarts und - möglicherweise - auch die Hochzeit Rennewarts und Alyzes gegeben. Viele Forscher halten so einen Schluß für unmöglich (vgl. u.a. BUMKE, 1997: S. 231; vgl. jedoch dagegen: LOFMARK, 1972: S. 227ff.), da Wolfram sich im Laufe des Vm. und IX. Buches von der Vorlage ziemlich weit entfernt hat. Wir können also nicht mit Sicherheit sagen, ob Wolfram die Begebenheiten, wie sie in der Bataille d'Aliscans vorkommen, in einer vollendeten Willehalm-Dich^ung aufgenommen hätte. Wir wissen einfach nicht genau, wie die Rennewart-Handlung sich weiterentwickelt hätte (vgl. hierzu o. S. 162f. und u. S. 209f.). Es ist auch oft vermutet worden, daß Wolfram die Geschichte Willehalms mit einer moniage abgeschlossen hätte (vgl. u.a. RUH, 1980: S. 190), in der Willehalm und (möglicherweise auch) Gyburc der Welt entsagen, um in ein Kloster

Exkurs: Zur Fragmentfrage

167

zu gehen: Wie BERT AU (1983a: S. 106) zu Recht bemerkt, ist zwar sicher, daß Willehalm die Heiligkeit erlangt, aber „wie Willehalm als Ritter ein Heiliger werden konnte, ist in bestürzender Weise offen". In der Tat sagt uns der Text nirgends etwas von einer moniage Willehalms: Ein momage-Schluß der Dichtung muß einfach eine Vermutung bleiben. Die früheren fF/7/eAa/m-Interpretationen sind davon ausgegangen, daß die vollständige Dichtung - wie die Vorlage und Wolframs Parzival und andere höfische Romane - mit einem glücklichen Ausgang enden würde. So geht WOLFF (1934: S. 536) davon aus, daß in Wolframs geplantem Ende des Werkes das „Christentum ... den Einzug in die Welt der Heiden halten" sollte, denn die innere Kraft des Christentums siege über den Glaubenszwiespalt. Es handelt sich jedoch dabei um eine Deutung, die sehr durch den Schluß des Parz/va/-Romans beeinflußt wurde; da heiraten Feirefiz und Repanse: Ihr Sohn Priester Johann wird das Christentum im Osten ausbreiten. Wie BUMKE(1997: S. 231) feststellt, gibt es im Willehalm keine sicheren Beweise für eine „harmonisch-optimistische Lösung der Konflikte". Im Gegenteil: Das Ende des Fragments wird - trotz der Matribleiz-Szene - noch von der Klage um den vermißten Rennewart dominiert. Das heißt aber auch nicht, daß die Handlung nicht doch noch glücklich ausgehen könnte. Wie hätten wir uns den Schluß des Parzival-Romans ausgedacht, falls dieses Werk ebenfalls am Ende des IX. Buches abgebrochen wäre? Wären wir zum selben Ende gekommen wie Wolfram? Im Grunde sind alle Deutungsversuche über einen möglichen Schluß des fF/7/eAa/w-Fragments nicht mehr als Vermutungen: Aber diese Vermutungen sind wichtig, da - wie etwa im Parzival zu sehen ist - das Ende des Werkes für seine globale Interpretation zentral ist. HAUG (1992: S. 197) spricht von der „Undenkbarkeit des uns vorenthaltenen Schlußes" der HW/eAa/m-Dichtung: Vielleicht war der Schluß dieses Werkes sogar auch für Wolfram schwer denkbar, denn eine Lösung der im Willehalm dargestellten Probleme scheint ihm - innerhalb der Konventionen der höfischen Literatur - , fast unmöglich gewesen zu sein (vgl. hierzu u. S. 271). Aber auch das ist nur eine Vermutung.

168

3.2

Werk und Interpretation

Erzähltechnik

3.2.1 Der Erzähler Welche poetische Instanz spricht, wenn im Willehalm steht: ich Wolfram von Eschenbach (4,19)? Handelt es sich um die Person des Dichters Wolframs von Eschenbach oder um eine fiktionale Gestalt, eine poetische Erfindung des Autors, etwa wie die Erzählerfigur in einem modernen Roman? Wie ist diese Instanz aufzufassen? Grundsätzlich können wir feststellen, daß in der Erzählliteratur des 12. und 13. Jahrhunderts der Autor sich normalerweise mit dem Erzähler identifiziert. Bei Wolfram ist das auch der Fall: Im Willehalm nennt sich der Erzähler Wolfram von Eschenbach, der die Geschichte von Parzival erzählt hat. Er sagt, daß er diese Geschichte nach seiner Vorlage gestaltet hat. Der Erzähler in dieser Erzähldichtung ist allwissend in dem Maße, daß er seine Geschichte von einer Autorität (der Vorlage) bekommen hat: Auf diese Autorität bezieht sich der Erzähler, um die Wahrhaftigkeit seiner Erzählung zu beweisen (vgl. 3,8ff; 5,8ff.). Studien zum Erzähler in der modernen Erzählliteratur haben viele Theorien hervorgebracht, auch viele verschiedene Terminologien, um diese Theorien zu begleiten. Es ist noch nicht endgültig geklärt worden, ob solche Theorien für die mittelhochdeutsche Erzählliteratur gültig sind und auch, inwiefern es überhaupt nützlich ist, zwischen dem mittelhochdeutschen Erzähler und Autor zu unterscheiden. Zugespitzt hat PESCHEL-RENTSCH (1991: S. 159) die Frage so gestellt: „Darf die Figur des Erzählers, des auktorialen Erzählers, des Autors, anders als eine Figur aus dem Ensemble behandelt werden? Was liegt an einem Ich in einem Roman des Mittelalters, interpretiert von Leuten, denen ihr geschriebenes Ich, garantiert vom copyright, die Existenz sichert?" Erlauben wir uns einen kurzen Einblick in die Forschungsliteratur: SCHRÖDER (Rezension zur Festgabe für Friedrich Maurer. PBB 90, 1968: S. 321 - 27) hat ERTZDORFF („Der Erzähler in Hartmanns Iwein". Festgabe ßr Friedrich Maurer, Düsseldorf, 1968: S. 135 157) kritisiert, die in ihrem Artikel die Terminologie von STANZEL benutzt und zwischen Erzähler und Dichter unterscheidet; SCHRÖDER (S. 325) ist der Auffassung, daß ein Erzähler als funktionale Größe

Erzähltechnik. Der Erzähler

169

und als bewußtes Kunstmittel in mittelalterlicher Dichtung nirgends nachgewiesen werden kann. In seiner Rezension zu PÖRKSEN (1971) bemerkt SCHRÖDER (PBB 95, 1973: S. 449), daß ein mittelalterlicher Autor für uns im Regelfall so wenig faßbar ist, daß die Unterscheidung zwischen dem homo poeticus und dem homo civilis wenig hergebe. Die Art des Erzählens sei von Autor zu Autor und von Epos zu Epos charakteristisch verschieden, und auf sie komme es in literaturgeschichtlicher Absicht an. Die Studien von PÖRKSEN (1971), NELLMANN (1973), GREEN (1979: vgl. S. 218ff.) und BRADLEY (1981) unterscheiden jedoch zwischen Dichter und Erzähler. PÖRKSEN behauptet sogar, daß Wolfram im Willehalm vielfache Stilfiguren verwende, um den Eindruck eines lebhaften, gegenwärtigen Erzählers zu erwecken, denn vielleicht „wollte er die lebendige Mimik eines mündlichen Vertrags in sein geschriebenes Werk übernehmen und seinem Stil einverleiben" (S. 214). Vorsichtiger ist etwa GREEN, der in seinem Kapitel zur „Irony of the Narrator" bemerkt, es gebe im mittelalterlichen Roman einen nicht zu bestimmenden „common ground" zwischen Dichter und Erzähler (1979: S. 219). RUH (1980: S. 50) ist der Auffassung, daß es nicht anzunehmen ist, daß der Erzähler sich grundsätzlich vom Autor trenne, wenn auch dies nicht auszuschließen sei. Als Antwort auf RUH vertritt BERTAU (1983a: S. 43f.) die Position, daß die „poetisch erhöhte Person" nicht als historisch exterritorial gelte: Auch sie sei historisch wie der Gehalt eines Werkes. Sie gründe sich auf historischen Möglichkeiten der Phantasie des biographischen Autors. Alles was nicht in den historisch begründeten Vorstellungsmöglichkeiten liege, könne nicht als Erzählermaske sprachlich objektiviert werden. Wie BUMKE (1997: S. 128) festgestellt hat, wird heute die poetische Konstruktion der Erzählerfigur betont. In seinem Artikel zur Autor-Figur in Wolframs Parzival behauptet PESCHEL-RENTSCH (1991: S. 158) - sich auf BERTAU (1983a: S. 17) beziehend - , daß es nicht selbstverständlich ist, daß „ein Subjekt in der ersten Person Singular in einem Roman des Mittelalters auftritt." PESCHEL-RENTSCH teilt die Meinung BERTAUS (1983a: S. 17), der erklärt, daß es etwas Besonderes ist, „daß in Wolframs Romanen neben den Protagonisten [...] ein neuer Held entsteht: der Autor".

170

Werk und Interpretation

Wie ist es möglich, den Erzähler bzw. Autor Wolfram - den „neuen Held" in der Willehalm-Dichturig - zu erkennen bzw. charakterisieren? PÖRKSEN (1971), der in seiner grundlegenden Studie zum Erzähler im mittelhochdeutschen Epos, die 0?//eAa/m-Dichtung sehr intensiv bearbeitet hat, zeigt verschiedene Situationen, in denen der Erzähler im Willehalm hervortritt. So diene diese poetische Figur dazu, die Gliederung der Erzählung verständlich zu machen, u.a. indem er Ankündigungen (z.B. Welt ir nu Heeren, [.,.]? 162, Iff.) und Rückwendungen (z.B., wo die Geschichte Rennewarts nachgeholt wird, vgl. 282,19ff.) macht. Seine Äußerungen dienten auch dazu, die Geschichte glaubwürdig zu machen, indem die Quelle genannt werde (z.B. 5, l Iff.). Der Erzähler kommentiere den Stoff, um einzuordnen bzw. zu belehren, um als Wertung seine Stellungnahme zu den Personen der Dichtung zu erklären oder auch, um ironische Bemerkungen zu machen. Handelt es sich aber dabei immer um den fiktionalen Erzähler (etwa nach PÖRKSEN)? Wenn wir das Problem des Erzählers in diesem Werk betrachten, dürfen wir jedoch nicht vergessen, daß diese Dichtung in einer ganz besonderen Erzählsituation produziert wurde: Es handelt sich tatsächlich um eine mündlich vorgetragene Dichtung, wobei der Dichter wahrscheinlich ein sehr persönliches Verhältnis zu seinem Publikum hatte. Obwohl das Bild des Erzählers wohl oft als „Moment der fiktionalen Werkstruktur" (HEINZLE, 1991: S. 836) verstanden werden kann, darf man nicht vergessen, daß der Erzähler eines mittelalterlichen Werkes vor seinem Publikum steht und mit ihm direkt spricht. Das Publikum hätte ihn unterbrechen können, es hätte mit ihm streiten können, es hätte ihn befragen können; es hätte sein Werk kritisieren und ihn für das Werk persönlich verantwortlich halten können. Das Publikum hätte nicht immer zwischen dem Erzähler und dem Dichter des Werkes unterscheiden wollen. Diese Tatsache wird allzu oft von der modernen Literaturkritik vergessen. Es ist schwer z.B. ZUMTHORS (1972) Meinung zu teilen, wenn er behauptet: „Le nom [...], quand l'auteur le declare, s'integre au texte, y remplissant une function en quelque sort publicitaire, errant entre l'auditeur et ce qu'on lui fait entendre la fiction d'une connivence personelle" (S. 65) [Der Name fugt sich, wenn er vom Autor genannt wird, in den Text ein und übernimmt eine Art werbende Funktion; er schafft so zwischen dem Zuhörer und dem, was ihm vorgetragen wird, die Fiktion eines (geheimen) persönlichen

Erzähltechnik. Erzählmittel (Beschreibungen)

171

Einverständnisses]: Wie können wir sicher sein, daß die Beziehung zwischen Autor und Publikum immer eine Fiktion darstellt? In Gegensatz zu Aliscans,, in der der allwissende Erzähler, der sich nie in der ersten Person an sein Publikum wendet, wenige und dann sehr lakonische Kommentare in die Dichtung einschiebt, macht der Erzähler im Willehalm viele Bemerkungen über sich selbst, z.B. über sein Verhältnis zu Frauen (243,26), über seine wirtschaftliche Lage (376,12), über Gasthäuser (447,30), über sich als Ehemann und Vater (100,8; 33,24) sowie über seine Begabung als Dichter (z.B, 237,111; 379,22f.; vgl. hierzu o. S. 6ff.). Aber auch zur Handlung der Dichtung äußert sich der Erzähler: Er zeigt seine Sympathie gegenüber bestimmten Personen (z.B. 23,15ff.), er polemisiert gegen die Handlungen anderer (z.B. 7,16ff.) und er distanziert sich von der Vorlage, wenn sie ihm nicht gefällt (125,20fl), dem Prinzip selbstkritischen Erzählens (Wvss, 1974) folgend; wie KIENING (1991: S. 82) es formuliert: „Dargestellt ist ein Erzähler, schwankend zwischen Selbstbewußtsein und Selbstkritik". Aber ob es wirklich möglich ist, immer zwischen dem Dichter Wolfram und dem Erzähler Wolfram zu unterscheiden, wie man den Erzähler bzw. Dichter durch die Erzählerkommentare im Willehalm charakterisieren und ob man ihn von derselben poetischen Instanz im Parzival unterscheiden kann, hat die Forschung noch nicht mit Sicherheit zeigen können (vgl. hierzu BUMKE, 1997: S. 128 -135 mit Literatur zum Parzival).

3.2.2 Erzählmittel a) Beschreibungen Der Gebrauch der descriptio, die kunstgerechte Beschreibung von Personen, Orten oder Sachen, ist in der mittelalterlichen Literatur ein häufig angewendetes Stilmittel. Die Besonderheit von Wolframs Verwendung der descriptio ist, daß die Beschreibungen oft zu Erlebnisberichten werden. So werden bei Alyzes Auftritt (154,9 - 155,17) nicht nur ihre äußeren und inneren Vorzüge lobend beschrieben, sondern auch die Wirkung, die sie auf die Gäste am Königshof und

172

Werk und Interpretation

Willehalm hat. Meist ist die Beschreibung eng an den Kontext und den Fortgang der Erzählung gebunden. Die descriptio der Rüstung Heimrichs (406,6 - 19), auf dessen Vorder- und Rückseite sich das Kreuzzeichen befindet, ist auch Anlaß für einen theologischen Exkurs (406,20ff.). Bei den Beschreibungen der prächtigen heidnischen Rüstungen stehen das Außergewöhnliche und Exotische im Mittelpunkt des Interesses. Zur Veranschaulichung des Beschriebenen werden oft ausgefallene Vergleiche herangezogen: Poydjus der künec unervorht, sin heim mit listen was geworht

uz dem steine antraxe. groz koste ringe \vac se, sin volc hochgemüetic und gogel. nu seht, ob vunde ein antvogel ze trinken in dem Bodemse, trünkem gar, daz tcet im we. susprüeve ich Poydjuzses her, daz da kom über daz vünfte mer: soltens alle ir richeit han gelegt an ir wappenkleit, so möhten diu ors si niht getragen. (376,29ff.) [Dem unerschrockenen König Poydjus war sein Helm kunstvoll aus dem Edelstein Antrax geschnitten. Große Kostbarkeiten galten seinem hochgemuten und stolzen Gefolge wenig. Seht, wenn eine Ente im Bodensee diesen austränke, würde ihr das nicht gut bekommen. So schätze ich das Heer des Poydjus ein, das über fünf Meere gekommen war: Hätten sie all ihren Reichtum an die Wappenkleider angebracht, so hätten die Pferde sie nicht mehr tragen können.]

So wie der Bodensee für einen Entenmagen zu groß wäre, so wäre auch der unermeßliche Reichtum von Poydjus' Gefolgschaft zu schwer für ihre Pferde. Unbekanntes und Fernes (der unermeßliche Reichtum der Heidenritter) wird mit Bekanntem und Nahem (Ente und Wasser aus dem Bodensee) verglichen. Für BERTAU (1983b: S. 105f.) handelt es sich bei diesem Vergleich um einen aggressiven Witz Wolframs, bei dem sich ein „feindseliger Grundaffekt gegen die höfische Ritterschaft ... äußert." (S. 106). Wie auch immer man diesen Vergleich bewertet, auffällig ist, daß sich der Erzähler gerade bei Beschreibungen sehr oft einmischt, indem er sie entweder mit teilweisen komischen Vergleichen beglaubigt und ergänzt oder seine

Erzähltechnik. Erzählmittel (Bildlichkeit)

173

Unfähigkeit, die Pracht angemessen zu schildern, betont (dazu NELLMANN, 1973: S. 136ff. und S. 159ff.). b) Bildlichkeit Wie im Parzival gibt es auch im Willehalm eine große Zahl bildhafter Wendungen (Umschreibungen, Vergleiche, Metaphern), wobei die sprachlichen Bilder oft sehr ausgefallen und verwirrend sind. Eine systematische Behandlung zum Gebrauch der Metaphern im Willehalm steht noch aus. KIENING (1991: S. 122 - 151) hat in seiner Studie den metaphorischen Aspekten im Willehalm ein eigenes Kapitel gewidmet und vor allem drei dominierende Bildbereiche unterschieden: den des Handelns (Geld und Warenverkehr), der Naturvorgänge und des Spiels. So heißt es etwa vom Kampf zwischen christlichen und heidnischen Rittern in der zweiten Schlacht: hurta, wie die getauften borgeten und verkauften manegen wehsei ane tumbrel. etsliches wage was so snel, daz si in sancte nider unz in den tot. (373,21 ff.)

[Hei, wie da die Getauften borgten und verkauften viele Waren ohne Marktkarren. Die Waage von manch einem war so schnell, daß sie ihn niedersenkte bis in den Tod.] Der Kampf wird als Geschäft aufgefaßt, wobei die Handelswaren die Schwertschläge sind. Doch die Ritter werden selbst zu den Objekten des Handels, indem sie sich auf der Waage wiederfinden und so zur Beute des Todes werden. Eine Verbindung zum theologischen Bild der Seelenwaage liegt nahe, denn schließlich geht es im Kampf um Alischanz auch um das Seelenheil der Gefallenen. Die Handelsmetaphorik wird aber nicht nur im Bereich der Kampfschilderungen immer wieder verwendet, sie spielt auch eine Rolle im Bereich der minne und Religion. Gyburc ist Willehalms liebistez pfant (162,19; 134,8), womit gemeint ist, daß sie aus heidnischer Sicht eine Geisel in der Hand des Gegners ist, die es auszulösen gilt. Sie ist aber auch das Pfand für Willehalm, dem er von Herzen verbunden bleibt. Die Bilder aus dem Bereich der Naturvorgänge sind besonders vielfältig: das heidnische Heer überflutet das Feld von Alischanz

174

Werk und Interpretation

(28,22; 96,6; etc.), der Kampf tobt wie ein Gewitter, es regnet (99,2) schneit (425,11) und hagelt (381,18) heidnische Ritter und das Saatgut des Todes geht unter den Kämpfenden auf (361,10 - 19). Besonders häufig ist die Licht- und Sonnenmetaphorik (55,17 - 19; 62,8f.; 98,10 - 13; 116,8; 128,30), wobei auffällig ist, daß sich der Kontrast von Licht und Dunkel nicht auf den Gegensatz zwischen Heiden und Christen projizieren läßt (KIENING, 1991: S. 134; vgl. auch LIEBERTZ-GRÜN, 1996: S. 395f.). Die christlichen Ritter werden auf Grund ihres übermäßigen Speerverbrauchs auch Waldverschwender genannt (156,28ff.; 378,lff.; 389,36ff.). Als Pendant dazu werden die zahllosen heidnischen Gegner, mit einem aufwachsenden Wald verglichen: nu alreste sach manz velt erblüen mit riterschaft der werden, als ob gahes uz der erden •wüehs ein krefteclicher wait, dar uftomvec manecvalt sunder clare blicke. (393,20ff.) [Nun sah man das Feld mit edlen Rittern erblühen, als ob plötzlich aus der Erde ein mächtiger Wald wüchse, auf dem viele vielfarbige Tautropfen funkelten]

Dieses zunächst friedlich wirkende Bild des glänzenden und erblühenden Heeres ist in der Realität des Kampfes der Vernichtung preisgegeben. Der Tau wird bald zu Blut werden (398, 16f). Durch die bildhaften Ausdrücke wird auch häufig Abstraktes in Konkretes übertragen, wenn es zum Beispiel heißt, daß der Schmerz und das Leid, die Willehalm empfindet, so sehr auf sein Herz drücken, ... daz was herzenhalp sin brüst / wol hende breit gesunken / und sin vreude in riuwe ertrunken (177,12ff.) [daß auf der Herzensseite seine Brust eine Handbreit eingesunken und seine Freude in Jammer ertrunken war]. Die Last des Kummers ist auch so groß, daß Willehalms Pferd große Mühe hat, ihn zu tragen Die Verwendung von sprachlichen Bildern ist im Willehalm noch wesentlich variantenreicher und vielfältiger als dieser kleine Ausschnitt es zeigen kann. Die Metaphern dienen einerseits zur Sensibilisierung „für Probleme der dargestellten Welt wie der Darstellung selbst" (KIENING, 1991: S. 149) und sind andererseits befremdlich und entziehen sich dem klärenden Zugriff: „Erhellung und

Erzähltechnik. Erzählmittel (Komik)

175

Verdunkelung sind in ihr gleichermaßen möglich und beabsichtigt" (KiENiNG, 1991: S. 150). c) Komik Eines der Hauptthemen des Willehalm ist das große Leid, das der Krieg zwischen Christen und Heiden über die Protagonisten gebracht hat. Die Beschreibung der beiden Schlachten auf Alischanz läßt an Drastik und grausamen Details nichts zu wünschen übrig. Dennoch spielt die Komik eine nicht unwesentliche Rolle in der Erzählung. Untersuchungen zur Komik im Parzival kommen zu dem Ergebnis, daß die komischen, ironischen und witzigen Wendungen ein konsumtives Element des wolframschen Erzählstils sind und als Ausdrucksformen dichterischer Individualität und intentionaler Rezeptionssteuerungen gelten können (WEHRLI, 1950; FROMM, 1962; BERTAU, 1983b: S. 60 -109). Wie im Parzival ist die Komik auch im Willehalm ein Mittel der Erzählerprofilierung. Das Bild des Erzähler-Ichs, das hier entworfen wird, ist in seiner betonten Durschnittlichkeit teilweise komisch. Der Erzähler präsentiert sich als im Kampfe unterlegen (113,26ff.) und als wenig risikofreudig (379,2Iff.), Im Zusammenhang mit der Beschreibung von unermeßlichen Reichtümern bezeichneter seine wirtschaftliche Lage als dürftig (376, If; 377,23ff.). Und obwohl er gegenüber gerüsteten Frauen verzagt ist, würde er ein erotisches Abenteuer mit ihnen nicht ablehnen (231,24ff.). „Wolfram scheint in erster Linie darauf bedacht, von seinem Erzähler ein Bild zu entwerfen, das das Publikum erheitert. Dieses Bild muß notwendig in Gegensatz zur Erzählung treten, zum Prunk der dort entfaltet wird, zum idealen Helden, der dort agiert." (NELLMANN, 1972: S. 15). Die Komik schafft Distanz zwischen dem Erzähler und der Erzählung und auch zwischen dem Erzähler und seinem Publikum. Teilweise scheint es der Erzähler sogar darauf angelegt zu haben, einen Widerspruch im Publikum zu erzeugen oder es wegen des Lachens, das er provoziert hat, indirekt zu kritisieren (vgl. dazu auch BUMKE, 1997: S. 139). Ein Beispiel soll dies veranschaulichen: Bernart erschlägt mit seinem Schwert Cliboris von Tananarke durh barken und durh heim (411,3) [durch Schiff und Helm]. Gleich wird erklärt, daß der getötete junge Held das Schiff als Helmschmuck trug und weiter heißt es: in die harken gienc der bluotes wac:/ swer marncere

176

Werk und Interpretation

drinne wcere gewesen,/ der möhte unsanfte sin genesen (41 l,8ff.) [in das Schiff schlug die Blutwelle. Wer Seemann darin gewesen wäre, hätte da kaum überlebt]. Handelt es sich hier um ein komisches oder grausiges Bild, oder um beides? Sollte jedenfalls jemand darüber gelacht haben, wurde er dafür vom Erzähler kritisiert: swa so werder tote Icege./wer da lachens pflcege? (445,1 If) [Wo immer ein so edler Gefallener lag, wer hätte da lachen können? ] „Das Publikum ... wird zu einem Lachen verleitet, das der Dichter dann desavouiert." (BERTAU, 1983b: S. 83.). Wie beim oben genannten Beispiel ist es gerade bei den sprachlichen Bildern, die im Zusammenhang mit Kampf und Tod verwendet werden, oft nicht einfach zu entscheiden, ob sie auch eine komische Wirkung erzielen sollten: wenn etwa gesagt wird, daß das feindliche Heer wohl schwanger sein müsse, weil es ständig neue Krieger hervorbrächte (392,28ff.), oder wenn der Erzähler das Wogen des Kampfes mit einer Gans, die sich auf den Wellen wiegt, vergleicht (398,14). In jedem Fall ist die Komik im Zusammenhang mit den Schlachtschilderungen ein Mittel der Distanzierung vom mörderischen Geschehen (vgl. auch PÖRKSEN, 1971: S. 188-198). Wesentlich einfacher als komisch einzustufen sind die Szenen im Zusammenhang mit Rennewart, wenn er zum Beispiel einen Knappen gegen die Wand wirft, daß er von dem Wurf zerplatzt (190,12ff.), oder den Koch, der ihm den Bart versengt, kurzerhand ins Feuer wirft (286, l Iff.). Komisch ist auch Rennewarts Auftritt am Hofe in Orange, wo er betrunken randaliert (276, l Iff.) und am Abschiedsmahl in voller Rüstung teilnimmt (312,10ff.). Der drastische Humor vor allem der ersten beiden Szenen hat BERTAU (1983b: S. 93f.) dazu veranlaßt, hier von Witzen mit feindseliger Tendenz zu sprechen. Die Aggressionen sind in den beiden Küchenszenen ausschließlich gegen Nichtritter gerichtet und Rennewarts Verhalten ist eine Reaktion auf die Quälereien von Mitgliedern niederer Stände. In jedem Fall sind die Lacher damit auf Seiten des heidnischen Königssohns. Trotz der zahlreichen vorhandenen komischen Elemente im Willehalm wird man kaum davon sprechen können, daß die Komik wie im Parzival ein konstitutives Element des Erzählstils ist. Das Thema der Dichtung läßt dies einfach nicht zu. Vielmehr zeigt sich, daß sich die vordergründig komischen Bilder gerade in Zusammenhang mit Krieg und Tod in ihr Gegenteil verkehren und vom Er-

Exkurs: Zur Schlachtgestaltung

177

Zähler eingesetzt werden, um das grausige Geschehen nur um so drastischer erscheinen zu lassen - so daß einem das Lachen sprichwörtlich im Halse stecken bleibt. Exkurs: Zur Gestaltung der ersten und zweiten Schlacht Den Verlauf der zwei Schlachten auf Alischanz hat Wolfram sehr sorgfältig gestaltet: Die zweite Schlacht wird viel ausführlicher als die erste beschrieben. Gegenüber den knapp 1.500Versen (vgl. 8,15 - 57,28), die die erste Schlacht - samt Vorbereitungen - beschreiben, hat Wolfram für die zweite Schlacht (nach den detaillierten Vorbereitungen im siebten Buch) mehr als 2.500 Verse in Anspruch genommen (vgl. 360,29 - 444,30). Wie oben schon erwähnt (vgl. S. 155ff.), arbeitet Wolfram hier auch viel unabhängiger von seiner Vorlage als bei der Gestaltung der ersten Schlacht: Besonders im achten Buch (das hier genauer untersucht werden soll) ist Wolframs poetisches Programm flir die Schlachtgestaltung in dieser Dichtung eindeutig erkennbar. Im Gegensatz zur zweiten Schlacht geht der Erzähler in der ersten Schlacht sehr sparsam mit Erklärungen über die Organisation der zwei Heere um: Vielleicht will Wolfram damit zeigen, daß die Christen kaum Zeit hatten, um sich zu organisieren. Zum Schlachtverlauf bemerkt JONES (1989: S. 432), daß die Christen zuerst von den aufeinanderfolgenden heidnischen Angriffen überwältigt werden; „they [the Christians] are broken up into small and isolated groups which are picked off by the Saracens in the series of skirmishes into which the encounter dissolves". BUMKE (1959: S. 20; vgl. jedoch BUMKE, 1991: 211) ist der Auffassung, daß es möglich ist, in der ersten Schlacht zwei Phasen zu unterscheiden. Im ersten Teil scheinen die 20.000 christlichen Verteidiger, denen die Heiden zahlenmäßig bei weitem überlegen sind, die Oberhand zu gewinnen (vgl. 22,1); im zweiten - längeren - Teil jedoch wird das christliche Heer vernichtet. JONES (1989: S. 432) hat herausgearbeitet, daß die Christen, obwohl in scharn (15,25) aufgeteilt, als eine Einheit betrachtet werden; dagegen ist das heidnische Heer „divided into six battalions which successively launch themselves into the fray". Abgesehen vom Kampf zwischen Vivianz und Noupatris, der aus-

178

Exkurs: Zur Schlachtgestaltung

führlicher beschrieben wird, stehen hier, im Gegensatz zur zweiten Schlacht, die Zweikämpfe nicht im Vordergrund. Nach WOLF (1975: S. 250) behält Wolfram jedoch bei der Schilderung der ersten Schlacht die großen Zweikämpfe bei, sie werden aber nicht heldenepisch realisiert: „Wolfram ordnet sie vielmehr ein in übergreifendes, anspruchsvolles Geflecht von Themen und erzählerischen Anliegen, das es dem Hörer nicht erlaubt, sich heroischem Pathos hinzugeben, sondern ihn vielmehr dauernd zum Mit- und Nachdenken über das Geschehen, dessen Menschen und Probleme veranlaßt." Dieser Schlachtverlauf ist typisch fur die chansons de geste des Guillaume-Zyklus: In den Schlachten, in denen Guillaume mit Vivien gegen die Heiden kämpft (vgl. Chanson de Guillaume; Chevalerie Vivien; Aliscans), wird eine relativ kleine Anzahl von Christen immer von einem großen heidnischen Heer angegriffen; die Christen kämpfen tapfer und sind anfangs überlegen, können dann aber der Überzahl der Heiden nicht standhalten und werden - mit Ausnahme von Guillaume - gefangengenommen oder getötet. Wolfram hat dieses Muster, das in seiner Vorlage schon vorhanden war, übernommen. Im achten Buch wird der erste Teil der zweiten Schlacht beschrieben, in dem die Bewegungen der verschiedenen Einheiten gegenüber dem Einzelkampf dominieren. Der Beginn dieses Teils wird mit dem Einsatz der sechsten Abteilung der Heiden (unter Aropatin) abgeschlossen, denn um den ersten sechs Scharen Terramers entgegentreten zu können, müssen alle christlichen Abteilungen eingesetzt werden. Die letzten vier heidnischen Scharen kommen entweder der ersten zu Hilfe, die gegen einzelne christliche Abteilungen kämpfen (wie die Schar Josweiz', die Tybalt zu Hilfe kommt) oder sie wollen gegen das ganze christliche Heer kämpfen, nachdem die Christen zusammengepreßt worden sind (wie die Scharen Josweiz', Poydwis', Marlanz' und Terramers). MERGELL (1936: S. 79) zeigt, aus welchem Grund der letzte Teil der Schlacht (nach Eintreten Terramers) von einer Klage mit einem „dreimaligen owe" begleitet wird (vgl. 399,7; 400,1; 401,30); diese Klage bildet den „dunklen Hintergrund" für die Ereignisse des neunten Buches. Im Gegensatz zur ersten Schlacht wird der Anfang der zweiten Schlacht nach den Vorbereitungen im VII. Buch auf sehr geordnete Weise durchgeführt (in der zweiten Schlacht - sowie in der ersten -

Exkurs: Zur Schlachtgestaltung

179

erkennt BUMKE, 1959: S. 41ff. zwei Phasen). Wolfram hat die Kämpfe des achten Buches frei gestaltet; dabei hat er, wie MERGELL (1936: S. 69) herausgearbeitet hat, durch die Wiederaufnahme vieler Namen der ersten Schlacht die „einheitliche Verzahnung beider Schlachten besonders deutlich" gezeigt. Wolfram hat auch gleichzeitige Geschehnisse am Anfang der zweiten Schlacht sehr sorgfältig dargestellt: Nach STEINHOFF (1964: S. 30) werden die Kämpfe im achten Buch, die nacheinander beginnen und dann gleichzeitig stattfinden, mit Hilfe einer „analysierend-desultorischen Technik" für die Spannung der Komposition benutzt. Diese Steigerung entstehe durch Einführung neuer Stränge, während die alten weiterlaufen. Die Übergänge seien durch eine Reimbindung verzahnt, die sonst nirgends so gehäuft vorkomme wie im achten Buch. Wolfram versucht auch, ein klares Bild vom Schlachtverlauf zu vermitteln. Um das zu erreichen, arbeitet er im achten Buch insgesamt viel unabhängiger von seiner Vorlage als in anderen Teilen der Dichtung: Besonders hier gibt es - im Gegensatz zur ersten Schlacht und in dem zweiten Teil der zweiten - einen viel überschaubareren und geregeltereren Ablauf der Ereignisse; damit hat Wolfram eine ganz neue Art von Schlachtbeschreibung in der mittelalterlichen Erzählliteratur geschaffen, denn die Schilderung der großen militärischen Operationen wird hier besonders hervorgehoben, (vgl. hierzu bes. BUMKE, 1959: S. 4Iff.; PÜTZ, 1971: S. 90ff.; SCHÄFERMAULBETSCH, 1972: I, S. 11 Iff.; 216ff.; II, S. 576ff.). Im achten Buch scheint es Wolfram nicht sehr eilig zu haben, denn zwischen den sehr weitläufigen Beschreibungen militärischer Operationen, der Ausstattung der Kontrahenten und Bemerkungen über die Gefallenen der ersten Schlacht, läßt sich der Erzähler auch Zeit für viele weitere Publikumsanreden und Kommentare (u.a. 371,29f.; 376,12.19ff.; 377,4ff..23ff.; 379,21ff; 381,30f; 384,23ff.; 385,lff; 390,4ff.; 392,4f; 393,30ff; 395,12ff.; 396,17ff.; 402,18ff.; vgl. hierzu KIENING, 1991: S. 1531; 158ff.). Auch im neunten Buch gibt es solche Erzählerkommentare, obwohl sie nicht so häufig vorkommen wie im achten Buch, denn hier scheint sich Wolfram auf den recht komplizierten Schlachtverlauf konzentrieren zu müssen (vgl. hierzu bes. 420, Iff.). Um die zeitiiche Ordnung der heidnischen Angriffe zu zeigen, läßt Wolfram die heidnischen Scharen in der Reihenfolge ihrer Auf-

180

Exkurs: Zur Schlachtgestaltung

Stellung in die Schlacht eintreten. Wie JONES (1989: S. 433) gezeigt hat, gibt es trotz der Befehle Terramers und obwohl jeder Ausbruch aus der heidnischen Schlachtordnung mit dem Tod bestraft werden soll (vgl. 402,6ff.), „instances of indiscipline" unter den Heiden der siebten und achten Scharen, die als Beispiel der „individualistic mentality of the knight" (S. 434) zu deuten seien; JONES (1989: S. 437) hat auch herausgearbeitet, daß die ersten Kontakte zwischen den zwei Heeren durch die tjostiure (351,25) auf beiden Seiten gemacht werden: Die tjoste „appear to form an integral part [of the normal practice of battle]" (S. 436; dagegen jedoch WOLF, 1975: S. 351). Am Anfang der Schlacht scheint Wolfram mit Nachdruck zeigen zu wollen, daß auf beiden Seiten der Kampf eine gerechte Motivation hat: So wird die Rache um die Toten der ersten Schlacht als Kampfmotiv für Christen und Heiden klar erkennbar. Das Verwandtschaftsmotiv ist für Wolfram bei den Heiden genau so wichtig wie bei den Christen (vgl. BUMKE, 1991: S. 237). Die getöteten Helden der ersten Schlacht werden am Anfang der zweiten oft erwähnt: Bei den Heiden kämpfen in vielen Abteilungen Ritter von der in der ersten Schlacht getöteten Königen, um den Tod ihres verstorbenen Herren zu rächen (vgl. 362,9.20ff.; 363,lff..l5ff; 370,6ff..27ff.; 371,lff..7ff.; 374,12ff; 378,12ff.; 392,10 - 19). Im zweiten Teil der Schlacht (im neunten Buch) tritt dieses Rachemotiv jedoch in den Hintergrund. Auch um die minne höfischer Damen - die für Wolfram bei Christen und Heiden denselben Wert hat (vgl. u. S. 240ff.; dagegen jedoch BUMKE, 1991: S. 237) - kämpfen viele heidnische Ritter (vgl. 368,28ff.; 369,22ff.; 376,22ff.; 379,12ff.; 380,26ff; 382,20ff.; 386,2ff.; 387,4f; 398,18f; 401,11; 402,25), oder auch, um Arabel wieder zu gewinnen (367, l Of; 368,4f). Es ist jedoch bezeichnend, daß Wolfram die heidnischen Götter nicht direkt als Kampfmotiv in der zweiten Schlacht einsetzt: Terramer ruft seine Ritter hier nie auf, für die heidnischen Götter zu kämpfen, obwohl er ihnen bei Todesstrafe befiehlt, sich bei den Götterbildern zu halten (vgl. 398,28ff.). Dieser Befehl wird jedoch nicht ausgeführt, denn die heidnischen Götterbilder werden im Angriff zurückgelassen (404,16ff), denn - so sagt der Erzähler - Canliun, der eigentlich auf die Götterbilder aufpassen sollte, folgte viel lieber seinem Vater Terramer als den Göttern (404,20f).

Exkurs: Zur Schlachtgestaltung

l81

Auf der christlichen Seite werden Vivianz' paradigmatische Heldentaten sowie sein Opfer als Motivation für den Kampf hervorgehoben (vgl. 363,5.11; 380,10.15; 381,8; 396,26; 398,23); aber auch der Tod Myles soll gerächt werden (vgl. 381,2ff.). Bei den Christen ist die Notwendigkeit, die Gefangenen der ersten Schlacht zu befreien, auch als Kampfmotiv zu sehen (vgl. 373,6f; 374, Iff.). Da es für die Christen eine defensive Schlacht ist, hebt der Erzähler auch im zweiten Teil des achten Buches hervor, daß die Christen kämpfen müssen, damit sie überleben können (vgl. 392,20f.). Als Kampfinotiv bzw. Belohnung für die Christen wird natürlich auch die minne (371,21ff.; 379,12ff.; 380,26ff.; 385,13ff.; 402,25) erwähnt (jedoch viel weniger als bei den Heiden); auch Gott wird sie lohnen (vgl. 371,21ff.); um Gyburc wird auch gekämpft (369,5ff.). Im achten Buch ist es bezeichnend, daß, obwohl alle christlichen und heidnischen Abteilungen gegeneinander kämpfen und viele Ritter schon zum Zweikampf geritten sind, keine Ritter, die mit Namen genannt, getötet werden. Am Anfang der zweiten Schlacht sterben auf beiden Seiten viele Kämpfer (vgl. u.a. 363,20; 363,24ff.; 365,22ff; 367,20; 393,3ff.; 397,1; 399,14f; 401,30ff), diese Ritter sterben jedoch anonym, denn in keinem Fall - sei es auf christlicher oder auf heidnischer Seite - wissen wir genau wer umgebracht wird (es scheint sogar, als ob die großen Helden hier von Wolfram geschont werden, vgl. Ehmereiz, der von den Seinen befreit werden muß, vgl. 367,30). Damit erhöht Wolfram die Spannung im Schlachtverlauf, denn auf beiden Seiten ist anfangs keiner der großen Helden gefallen - das Publikum muß also auf den zweiten - entscheidenden - Teil der Schlacht warten, um zu sehen, wer die im ersten Teil begonnenen Kämpfe überlebt. Erst im neunten Buch werden die Namen der in dieser Schlacht Gefallenen erwähnt; sie dienen dann als Motivation für die Fortsetzung des Kampfes, da ihr Tod von ihren Angehörigen gerächt werden muß. Es ist bemerkenswert, wie Wolfram die Beschreibung des Schlachtverlaufs im achten Buch auf die Heiden konzentriert. Die Schlacht wird aus der Perspektive der Heiden gesehen, obwohl die Sympathie des Erzählers ganz klar auf der Seite der Christen liegt (vgl. u.a. 400,Iff.); dabei treten jedoch die Handlungen um Willehalm, Rennewart und die anderen christlichen Helden in den Hintergrund. Wolfram hat nicht nur die heidnischen Scharen sorgfältig aufgelistet und die Kampfmotivierung der Heiden in seine Erzählung

182

Exkurs: Zur Schlachtgestaltung

klar eingearbeitet, sondern auch die kostbare Ausstattung der heidnischen Ritter (die zum größten Teil Minneritter sind) sehr ausführlich dargestellt (viel ausführlicher als die der Christen). Der Erzähler legt auch Wert darauf, die ritterlichen Tugenden der heidnischen Minneritter zu erörtern. Sogar die Heiden, die in der ersten Schlacht einen sehr furchterregenden Eindruck gemacht haben (etwa die Schar Gorhants, die in der ersten Schlacht Vivianz zur Flucht veranlaßt hat), erscheinen weniger schreckenerregend (vgl, 395,20ff.). Nach dem Einschnitt am Ende des achten Buches und dem ,GyburcProlog' (vgl. o. S. 148) bewegt sich die Schilderung der Schlacht auf verschiedene Gipfelpunkte zu (vgl. hierzu MERGELL, 1936: S. 82ff.). Im Gegensatz zum achten Buch, in dem die Aufmärsche der verschiedenen heidnischen Scharen beschrieben werden, stehen am Anfang des neunten Buches die Einzelkämpfe im Vordergrund. Wie schon erwähnt, sterben die Kämpfer jetzt nicht mehr anonym (wie im achten Buch), sondern werden mit Namen versehen: So tötet Heimrich Cernubile, Bernart Cliboris, Poydwiz Kiun und fünf französische Ritter, daraufbringt Heimrich den Jungen Poydwiz um; dann findet der Kampf zwischen Terramer und Milon statt, der zum Eingreifen Rennewarts führt. Für KIENING (1991: S. 224) bietet die Erzählweise in der Schlachtbeschreibung am Eingang des neunten Buches „komplex, assoziativ, diskontinuierlich [...] nur partielle Orientierung [...] und gibt dadurch zugleich ein realistisches Bild des Schlachtverlaufs". Nach dem von Einzelkämpfen dominierten ersten Teil des neunten Buches spielt Rennwart eine immer bedeutendere Rolle, da er jetzt Halzebiers abziehender Schar folgt und die christlichen Gefangenen befreit, die dann Halzebier umbringen. Wieder folgt ein Einzelkampf (zwischen Willehalm und Oukin); danach tritt Rennewart in den Vordergrund, da die Christen von der heidnischen Übermacht überwältigt zu werden scheinen. Rennewarts Auftreten ist jetzt entscheidend, denn er beseitigt Purrel und tötet mehrere heidnische Minneritter: Trotz ihrer noch zahlenmäßigen Übermacht beginnt hiermit die Flucht der Heiden, denn der Tod so vieler ihrer Hauptkämpfer durch Rennewart scheint ihnen ihre Siegessicherheit zu nehmen.

Personen. Zur Figurenkonstellation

183

Im letzten Teil der Schlacht, in der die heidnische Niederlage schon sicher ist, spielt Rennewart -jetzt mit einem Schwert - weiterhin eine zentrale Rolle, denn er tötet Goliam und verfolgt nach Terramers Rückzug den Heiden, um - ganz am Ende - seinen Halbbruder Canliun, vier Heidenkönige und den heidnischen Fahnenträger Tedalun umzubringen. In dieser letzten Phase der Schlacht spielen auf der christlichen Seite außer Rennewart bloß Bernart (der Ektor erschlägt) und Willehalm - als Einzelkämpfer - eine Rolle. Der Zweikampf zwischen Willehalm und Terramer, der eigentlich als Entscheidungspunkt der Schlacht gesehen werden könnte, endet durch das Eingreifen Rennewarts unentschieden: beide Anführer kommen verwundet davon. Obwohl SINGER (1918: S. 124) der Auffassung ist, daß bei der Beschreibung der zweiten Schlacht Wolframs improvisierende Arbeitsweise zu erkennen ist, hat MERGELL (1936: S. 92f.) sicherlich recht, wenn er behauptet, daß Wolfram hier nie den Blick aufs Ganze verliert; ob Wolfram dabei die Kämpfe parallel nebeneinander entwickelt, damit am Ende der Schlacht die Rennewarthandlung die Willehalmhandlung einheitlich umschließt, um zum Gipfelpunkt (d.h. der Flucht der Heiden) hinzuführen, ist nicht so sicher. Für KIENING (1991: S. 216) erreicht in der zweiten Schlacht „die Komplexität der narratio eine nochmalige Steigerung, manifestiert sich eine atemberaubende Dynamik, die den Hörer [...] ins Geschehen verstrickt, ihn andererseits befremdet und orientierungslos lassen kann". LOFMARK (1972: S. 90) hat wohl recht, wenn er bemerkt: „In the battle narrative of the last two books of Willehalm ... [Wolfram's] achievement deserves, as great literature, to be placed beside the finest passages of his ParzivaF.

3.3

Personen undCharakterisierung

3.3.1

Zur Figurenkonstellation

Die JF/7/eAa//«-Dichtung beschreibt eine Episode aus dem andauernden Konflikt zwischen Osten und Westen, zwischen Heidentum und Christentum; in diesem Konflikt nehmen 150 mit Namen genannte Figuren aktiv an der Handlung teil. Diese Figuren sind in

184

Werk und Interpretation

dieser Auseindersetzung in zwei Gruppen aufgeteilt (wie in einer Tragödie: Spiel und Gegenspiel): In dieser Figurenkonstellation stehen auf der Seite des Spiels die Christen mit ihrem Verbündeten Rennewart, und auf der Seite des Gegenspiels stehen die Heiden. Im Mittelpunkt dieses Widerstreits - und natürlich auch der Figurenkonstellation dieser Dichtung - steht das Ehepaar Willehalm Arabel/Gyburc. Ihre direkten Gegenspieler sind Arabels Ehemann Tybalt und ihr Vater Terramer: Diese wollen versuchen, ihre Gattin / Tochter zurückzuerobern, d.h. sie zur Seite des Gegenspiels zurückzubringen, oder sie zu bestrafen (ihr Hauptziel ist es jedoch, Aachen und Rom zu erobern, d.h. das Christentum zu vernichten). Es ist bemerkenswert, wie sehr die Heiden zahlenmäßig überlegen sind, denn auf der christlichen Seite stehen weniger als ein Drittel der Figuren, auf der Seite der Heiden mehr als zwei Drittel, Diese Aufteilung entspricht in etwa der der Vorlage: In Aliscans gibt es 130 mit Namen genannte, aktiv teilnehmende Figuren, von denen 100 auf heidnischer und 30 auf christlicher Seite stehen. Damit soll zum Ausdruck gebracht werden, wie trotz der Übermacht des Gegenspiels die Seite des Spiels die Oberhand gewinnen kann. Auf der Seite des Spiels steht als Helfer in der ersten Schlacht eine kleine Gruppe christlicher Kämpfer, allen voran Willehalms swester sun Vivianz. Die Bedeutung der sippe Willehalms wird zwischen der ersten und der zweiten Schlacht hervorgehoben, denn am französischen Hof stehen Willehalm zuerst die Familienmitglieder Willehalms unter Heimlich und Irmenschart bei, widerwillig dann auch die Franzosen unter Loys und der französischen Königin. Auch auf der Seite des Gegenspiels wird das heidnische Heer in der ersten und zweiten Schlacht von Mitgliedern aus Terramers sippe wesentlich unterstützt. Es ist naheliegend, daß in der Aufteilung dieser Figurenkonstellation in Spiel und Gegenspiel, die wichtigsten Akteure zu zwei Sippen gehören (vgl. Anhang): Es handelt sich also auch um ein Familiendrama. Die Auslösung dieses Konflikts wurde herbeigeführt durch den Übertritt Arabels auf die Seite des Spiels - von der einen Familie zur anderen also; es ist bezeichnend, daß der Streit zwischen den sippen erst durch das Eingreifen des anderen „Überläufers" (des eigentlichen Gegenspielers Rennewarts) und mit dem Sieg der christlichen Familie beigelegt werden kann. Inwiefern Wolfram das

Personen. Charakterisierung (Vorbemerkung)

l85

Sippenhafte in diesem Konflikt herausgearbeitet hat, wird unten besprochen (vgl. S. 215ff.).

3.3.2 Charakterisierung a) Vorbemerkung Es ist nicht einfach, das vielschichtige Menschenbild in Wolframs Willehalm-Dichtung auf einen Nenner zu bringen. In der Forschung hat die Diskussion um die Charakterisierung in dieser Dichtung sich oft auf eine Frage konzentriert: Sind die hier dargestellten Gestalten „Charaktere" (Individuen), die sich „entwickeln" (und wenn ja: Wie ist diese „Entwicklung" aufzufassen?), oder sind es „Figuren" (Typen), die eine Rolle verkörpern und bloß situationsbedingt handeln? Diese Frage hängt natürlich auch mit der Diskussion um die Gattung dieser Dichtung zusammen, denn die Charaktere eines höfischen Romans urteilt und wertet man anders als die einer chanson de geste oder einer Legende. Falls man - wie unten vermutet wird (vgl. S.269fT.) - die Willehalm-Dicitiwig als ein grenzüberschreitendes Werk betrachtet, kompliziert sich diese Fragestellung. Die Diskussion in der frühen Forschung hat sich auf den Unterschied zwischen der Charakterisierung der Gestalten in den chansons de geste und den höfischen Romanen konzentriert und zwar auf das Verhältnis zwischen dem Helden und der Handlung in diesen zwei Gattungen. In den chansons de geste hängt die Einheit der Handlung nicht von einem Helden ab, sondern der Held steht im Dienst der Handlung; er kann sogar durch andere Helden ersetzt werden. So kann Roland in der Chanson de Roland zu Anfang der zweiten Hälfte der Dichtung sterben, und Guillaume im letzten Teil der Chanson de Guillaume in den Hintergrund treten, ohne die Weiterfuhrung der Handlung in diesen Dichtungen in Frage zu stellen. Im höfischen Roman dagegen geht es um die Abenteuer eines Ritters: Das Geschehen erhält Sinn und Einheit von der Handlung eines einzigen Protagonisten, der aber nicht durch einen anderen Helden abgelöst werden kann (als Ausnahme sind Wolframs Doppelhelden Parzival / Gawan zu sehen).

186

Werk und Interpretation

Nach BUMKE (1959: S. 59), der sich auf u.a. BEZZOLA bezieht, erscheint der Held im höfischen Roman als eine „sehr differenzierte Persönlichkeit", während der Protagonist in den chansons de geste „durch seine seelische Ungebrochenheit kräftiger und einheitlicher wirkt". Der höfische Roman beschreibt nämlich die Progression eines einzigen Protagonisten von Abenteuer zu Abenteuer und tendiert dazu, die Bestehung dieser Abenteuer als eine Art Läuterung oder innere Entwicklung des Helden darzustellen; im Gegensatz dazu interessieren sich die chansons de geste an erster Stelle für den übergreifenden Geschehenszusammenhang, nicht für die Entwicklung der Gestalten. BUMKE (1959: S. 56ff.) sieht in den Unterschieden zwischen den zwei Gattungen und ihrer andersartigen Darstellung der Gestalten einen wichtigen Ansatz zur Interpretation der Personencharakterisierung in der fF;7/eAa//w-Dichtung, denn mit dem Versuch, eine „Entwicklung" in verschiedenen Charakteren von Wolframs Dichtung zu sehen, sei die Forschung - so BUMKE (1959: S. 59) - „einen Schritt zu weit gegangen", da man den Willehalm nicht mehr von den höfischen Romanen unterscheide. Eine Entwicklung gebe es in den chansons nur in der Handlung, nicht in den Personen. Nach BUMKE ist auch diese Eigenschaft in Wolframs chanson de gesteBearbeitung zu sehen (vgl. hierzu den Einwand SCHRÖDERS, 1961: S. 94). Wie LOFMARK (1972: S. 136ff.) gezeigt hat, bestätigt sich diese Theorie in Aliscans, denn die Wandlung in den Gestalten kann hier nicht als Entwicklung gedeutet werden, da sie situationsbedingt handeln: Vom Ende der ersten Schlacht bis zum französischen Hof ist Guillaume der bedeutende Held, nach dem Erscheinen Rainouarts verliert er jedoch ziemlich schnell seinen Mut und sein Selbstvertrauen und wirkt am Ende der Dichtung fast feige. Seine Rolle hat sich geändert. Bei Rainouart sei auch keine Spur von Entwicklung zu finden. Aber nach LOFMARK (1972: S. 140) ist BUMKES Deutung des Menschenbildes in Wolframs ff7//eAa/m-Dichtung nicht haltbar: „Wolfram gives such prominence to the development of character [...] and he portrays it so sympathetically that it cannot be dismissed on the grounds of theory as the imagining of modern scholars" (vgl. hierzu auch MOESSNER, 1971 sowie u. S. 205f). Wie Gibbs (1976) herausgearbeitet hat, haben sogar die weniger bedeutenden Gestalten im Willehalm individuelle Charakterzüge.

Personen. Charakterisierung (Vorbemerkung)

l87

Wie verschiedene Untersuchungen zum Nibelungenlied gezeigt haben, ist es auch in der Gattung Heldenepik möglich, differenzierte Charaktere zu finden. Der Heldenepiker - wie der Dichter des höfischen Romans - kann sich auch um die Logik seiner Figuren kümmern, um runde (entwicklungsfähige) Personen darzustellen. Nach den sogenannten „Charaktertheorien" kann sich der Held in der Heldenepik entfalten oder entwickeln: Obwohl die Befürworter dieser Theorie annehmen, daß viele Personen im Nibelungenlied situationsbedingt handeln, ist die Art und Weise der Personencharakterisierung bestimmter Gestalten so differenziert, daß angenommen wird, der Epiker dieser Dichtung zeige „tiefe Einsicht" in das Wesen des Menschen (vgl. HOFFMANN 1974: S. 107). Es gibt allerdings viele Gegner dieser „Charaktertheorie" (zur Diskussion des Menschenbildes im Nibelungenlied vgl. EHRISMANN, 1987: S. 212ff): Wie EHRISMANN (1987: S. 213) es ausdrückt: „so mag der eine dort einen Motivierungsbruch erkennen, wo der andere eine Motivierung nicht für nötig hält, gar das Handeln aus der Tiefe der Seele begründet". Das Nibelungenlied ist selbstverständlich nicht die WillehalmDichtung: Aber es liegt auf der Hand, daß man bei einer Besprechung der Charakterisierung in Wolframs Werk, auch wenn man es nicht als höfischen Roman klassifiziert, mit den Katagorien „Figur" und „Charakter" vorsichtig umgehen muß. Falls man - wie BUMKE annimmt, der Willehalm sei kein höfischer Roman, so muß das aber nicht unbedingt heißen, daß die Gestalten keine Entwicklung erfahren können. Dennoch: Auch im höfischen Roman gibt es Protagonisten, die keine eindeutige innere Entwicklung durchmachen (vgl. Gawan im Parzival). Wie FUCHS (1997) in seiner Monographie zu den Hauptpersonen im Willehalm und im Wigalois gezeigt hat, können strukturalistische Theorien keine sinnvolle methodische Anleitung für diese Textanalyse hergeben: Nach einer eingehenden Erörterung der Theorien von u.a. PROPP, BREMONDund GREIMAS und nach einer Besprechung ihrer Möglichkeiten und Grenzen, kommt FUCHS zum Schluß (S. 98f), daß kein strukturalistisches, gattungsgeschichtliches, geschichtsphilosophisches, noch literatursoziologisches Modell als Grundlage für die Interpretation der Personen dieser Dichtung fungieren kann.

188

Werk und Interpretation

In der Tat macht es der hybride Charakter dieser Dichtung schwierig, das Menschenbild auf einen Nenner zu bringen: dazu kommt auch, daß in seiner chanson de geste-Bearbeitung Wolfram nicht nur ganz eindeutig die Figuren auf sehr differenzierte Art und Weise hat charakterisieren wollen - sondern womöglich auch als Menschen. Das soll in den folgenden Ausführungen gezeigt werden. b) Willehalm Für das Mittelalter galt die historische Gestalt des Grafen Guillaume d'Orange als Heiliger. So ist es auch in Wolframs Willehalm, denn der Christenführer wird im Eingang als Heiliger angesprochen: din güete enphahe miniu wort, / herre sanct Willehalm [Nimm meine Worte in Deiner Güte auf, Herr Sankt Willehalm] (4,12f.) bittet der Erzähler den Heiligen, herre sanct Willehalm wird im Prolog als Heiliger gepriesen, der die Not aller in Bedrängnis stehenden Ritter vor Gott bringen wird. Als exemplarischer Ritter-Heiliger wird Willehalm also in die Dichtung eingeführt; erstaunlicherweise wird seine Heiligkeit jedoch nur im Prolog direkt erwähnt, denn sonst wird er nie wieder als herre sanct Willehalm angesprochen. Eine Frage, die geklärt werden muß, ist, wie - oder ob - Wolfram den Helden seiner Dichtung in der Tat als Heilgen darstellt. Denn daß Willehalm für Wolfram und sein Publikum ein Heiliger war, ist klar, aber auf die Frage, ob er seine Heiligkeit im Laufe des Fragments erlangt, hat die Forschung keine einstimmige Antwort gefunden. Diese Frage ist mit der Gattungsfrage der Dichtung verbunden (vgl. hierzu u. S. 264): Ist Wolframs Werk eine Heiligenlegende? Sollte die abgeschlossene Willehalm-Oicltiimg auch die moniage von Guillaume einbeziehen oder sollte sie - wie die Vorlage - mit dem Ende der zweiten Alischanz-Schlacht abschließen? Mit anderen Worten: Sollte diese Dichtung (als vollendetes Werk) den Weg Willehalms bis zu seiner Heiligkeit beschreiben? Damit wird einer der wichtigsten Streitpunkte in der Forschung um die Willehalm-Figur berührt: Entwickelt sich diese Figur etwa in der Art und Weise wie Parzival? Denn um die Heiligkeit zu erlangen, muß der Krieger Willehalm ein anderer werden. Vor allem Willehalms unterschiedliche Behandlung der Heiden nach der ersten (Arofel-Szene) und nach der zweiten Schlacht (Matribleiz-Szene) wird als Zeugnis für den Wandel des Pro-

Personen. Charakterisierung (Willehalm)

185

tagonisten gesehen. Viele Forscher vertreten die Meinung, daß sich Willehalm im Laufe der Dichtung entwickelt: U.a. MERGELL (1936: S. 96, der die „innere Handlung" der deutschen Dichtung als „Willehalms Reifwerden zu höchster, religiös gegründeter Menschlichkeit" deutet), SCHWIETERING (1941: S. 173), MAURER (1951: S. 187, der behauptet, es offenbare sich „ohne Zweifel ein Wandel, ein Reifer- und Ruhigerwerden" des Protagonisten), RANKE (1953: S. 61) und SCHRÖDER (1962: S. 272 „Der Willehalm des IX. Buches steht auf einer höheren Stufe des Menschseins, ist ein anderer geworden, als er zu Anfang der Erzählung war"). Die Gegner der Entwicklungsthese, allen voran BUMKE (1959: S. 59 - 64), aber auch u.a. WJ. SCHRÖDER (1960); WEHRLI (1960: S. 344); FRANKE (1975: S. 47) und HEINZLE (1991: S. 800), sehen keinen inneren Wandel Willehalms; für BUMKE sei Willehalm ein Heiliger seit Beginn der Dichtung gewesen (vgl. BUMKE, 1959: S. 10Iff.): Der Protagonist ändere seine Haltung gegenüber der Heiden nicht wegen irgendeiner inneren Wandlung, sondern wegen der unterschiedlichen Umstände in denen er sich befindet. Willehalm handele situationsbedingt etwa nach der Devise: Die Rolle prägt den Kopf. Nach BUMKE (1959: S. 64) haben Forscher, die eine Entwicklung Willehalms feststellen wollen, sich „bewußt oder unbewußt, vom Vorbild des Parzival leiten lassen". In der Tat ließen sich die ersten W/V/eAa/m-Forscher oft vom Vorbild des wolf ramschen Frühwerks leiten, besonders in bezug auf die Charakterisierung des Christenführers. Das mag ein Irrweg gewesen sein, denn die zwei Werke Wolframs und die jeweiligen Protagonisten sind ganz verschieden. Es ist daher kaum anzunehmen, daß Wolfram Willehalm denselben Weg gehen lassen wollte wie Parzival: Wie HAUG (1975: S. 220f.) bemerkt, ist die Präsenz von Parzival im Willehalm am stärksten in der Rennewart-Figur zu spüren (bei der eine Entwicklung stattzufinden scheint, vgl. u. S. 204ff.), nicht aber in der des Protagonisten. Im Laufe der Dichtung zeigt der Dichter seinem Publikum Willehalm in einer Vielzahl von Situationen, in denen er sich verschieden verhält: Ist es aber anzunehmen, daß diese Änderungen in seinem Verhalten immer situationsbedingt sind? Ist der Willehalm am Ende der zweiten Schlacht wirklich ein anderer, der sich entwickelt hat und der, statt die Heiden zu töten, sie mit güete behandeln möchte? Nach der Niederlage am Anfang der

190

Werk und Interpretation

Dichtung und nachdem der Christenführer seinen fast toten Neffen Vivianz gefunden und ihm die Beichte abgenommen hat, ist Willehalm niedergeschlagen und schuldbewußt (vgl. 61,2Iff.; 67,10ff; 70,3ff; 71,14ff.). Da er die Leiche Vivianz' nicht nach Orange mitnehmen kann, wird dieses Gefühl verstärkt; daraus wächst bei der darauffolgenden Begegnung mit dem Heiden Arofei, das Bedürfnis, den Tod von Vivianz zu rächen (vgl. 79,28ff.). Willehalm bringt Arofei um, weil er triuwe gegenüber seiner sippe zeigen muß: Wie oben gezeigt wurde, stellt die Tötung Arofels keine Verletzung der Normen der ritterlichen Sippengesellschaft dar (wie einige Forscher behaupten), sondern Willehalm handelt nach ihren Regeln etwa im Sinne von Gurnemanz im Parzival (vgl. Pz. 171,27ff.). Für Willehalm muß der Tod von Vivianz gerächt werden, und daher ist es seine Pflicht, Arofei umzubringen. Recht unritterlich ist es jedoch, dann den Kopf des Heiden abzuschlagen, aber auch diese Tat zeigt, wie sehr er von der Niederlage und vom Tod Vivianz' betroffen ist. Später bereut Willehalm in seinem Gespräch mit Loys die Tötung Arofels der minne wegen (vgl. 204,25 - 30), genau wie er den Tod von Tesereiz bereut: Das heißt aber nicht, daß er meint, falsch gehandelt zu haben (vgl. heirzu o. S. 82ff). Am französischen Hof ist das Verhalten Willehalms problematisch, aber auch hier ist es der Situation angepaßt. Bei seiner Ankunft in Munleun wird er ignoriert und vom französischen Königspaar schlecht behandelt: Sein Verhalten ist unhöfisch und gewalttätig, denn er beleidigt den König und bringt seine Schwester fast um. Dieses Verhalten ist nicht unverständlich, denn er hat vieles durchgemacht und meint, daß der Ernst seiner Lage nicht richtig verstanden wird. Obwohl er brutal und unhöfisch handelt (manche Forscher meinen: zu brutal und zu unhöfisch) hat die WillehalmGestalt auch eine andere Seite. Denn in Munleun, wo er sich so schlecht benommen hat, wird Willehalm seine güete gegenüber Alyze zeigen aber auch - und vor allem - Rennewart gegenüber. Der Heide Rennewart wird diese Eigenschaft Willehalms erkennen. Die güete Willehalms zusammen mit seiner Zärtlickeit, die in den Liebesszenen mit Gyburc zum Ausdruck kommen, und der Tiefe der Gefühle, die in der Vivianz-Todesszene deutlich werden, sind auch Teile dieser äußerst komplexen Person. Trotz der Schrecken des Krieges, die ihn zu Taten führen, die er vielleicht unter anderen Umständen nicht begehen würde, wird der Held von Wolframs Wille-

Personen. Charakterisierung (Willehalm)

191

Äfl/m-Dichtung als eine äußerst feinfühlige und vielseitige Figur gestaltet: Wie BUMKE (1959: S. 106) treffend bemerkt, erscheint Willehalm „als ein Mann der starken Affekte, der seinem Zorn bei Gelegenheit ebenso freien Lauf läßt wie seiner Rache, seiner Verzweiflung und seiner Liebe". Von zentraler Bedeutung für Willehalm ist seine Beziehung zu Gyburc: Die Gyburc-minne, die den Auslöser für diesen ganzen Konflikt darstellt, begleitet Willehalm standig. Sie ist nicht nur in den Liebesszenen zu spüren, sondern ausschlaggebend für diese minne ist die triuwe: Bevor Willehalm Orange verläßt, verspricht er seiner Frau, bis zu seiner Rückkehr nur Wasser und Brot zu sich zu nehmen (105,7ff): Dieses Versprechen zur Askese (die möglicherweise, wie BUMKE, 1959: S. 106ff. meint, als ein Vorboten seiner Heiligkeit zu verstehen ist) ist ein Zeichen dafür, daß er seiner Frau gegenüber triuwe halten wird. Aus dem Parzival-Roman wissen wir: reht minne ist wariu triuwe (Pz. 532,10). Auch in der Welt der Willehalm-Dichtung ist das der Fall. Diese triuwe kann das ganze Leid, das die Handlung dieser Dichtung dominiert, doch noch überleben. In der Tat bestimmt die triuwe das ganze Verhalten Willehalms; sie ist die bestimmende Eigenschaft. Zwar agiert Willehalm oft nicht nach den höfischen Konventionen, aber das tut er wegen seiner Lage und vor allem wegen seiner triuwe zu Gott, zur sippe und zu Gyburc: Das ist während und nach der ersten Schlacht, in Orange, auf dem Weg nach Munleun, auf dem französischen Hof und vor der zweiten Schlacht klar erkennbar. Am Ende der Dichtung ist die zentrale Bedeutung der triuwe für diese Figur am deutlichsten zu sehen: In einer der außergewöhnlichsten Szenen in der mittelalterlichen Erzähldichtung erweist Willehalm hier seine tatsächliche Größe. Während fast der ganzen zweiten Schlacht hat Wolframs Publikum sehr wenig von Willehalm gehört. Rennewart spielt hier die Hauptrolle; aber nach der Schlacht verschwindet Rennewart. Da er ihn nicht finden kann, verzweifelt Willehalm (456, If; vgl. hierzu u. S. 158ff): Das Leid, das er jetzt erfahren muß, scheint größer zu sein, als das nach der ersten Schlacht: ,dirre sige mir schunpfentiure / hat ervohten in dem herzen min' (459,26) [,Dieser Sieg ist eine Niederlage für mein Herz'], sagt er seinem Bruder Bernart. Jetzt im Moment des Sieges, scheint er zu verstehen, wie groß die Verluste gewesen sind. Jedoch weiß er, daß er sich als Heeresführer so

192

Werk und Interpretation

verhalten muß, als ob er froh wäre. Auf Vorschlag von Bernart laßt er Matribleiz, einen Verwandten von Gyburc, holen: Als einziger Gefangene braucht Matribleiz aber keine Eisenketten anzulegen, denn ihn bindet der Markgraf durch sein Ehrenwort. Er erzählt Matribleiz von den toten Heiden, die er während der Schlacht gesehen und, daß er das Zelt, in dem sie aufgebahrt sind, persönlich geschützt hat. Es ist wohl die triuwe zu seiner Frau und ihrer sippe, die ihn dazu bewegt, die toten Heiden zu schützen, Matribleiz dann von seinem Ehrenwort zu entbinden und ihm den Auftrag zu geben, die toten Heidenkönige auf dem Schlachtfeld zu sammeln, sie einzubalsamieren und - zusammen mit den toten Fürsten der ersten Schlacht - Terramer zu bringen. In der Matribleiz-Szene bestimmen die Gedanken an Gyburc (d.h. seine triitwe ihr gegenüber) Willehalms Verhalten, genau wie nach der ersten Schlacht die triuwe zur sippe Willehalm veranlaßt hatte, Gyburcs Onkel Arofei umzubringen. Ob man aber dabei von einer „Entwicklung" der Willehalm-Gestalt sprechen kann - etwa in der Art und Weise, wie der ursprünglich tumpe Parzival am Ende seiner Karriere würdig ist, um Gralkönig zu werden - ist schwer zu sagen. Willehalm lediglich als „Figur" zu deuten, die situationsbedingt handelt, scheint dieser Gestalt auch nicht gerecht zu werden. In der Tat ist es hier schwierig, mit den in der Forschung üblichen Katagorien von „Figur" und „Charakter" zu arbeiten. Wie FUCHS (1997: S. 364) es ausdrückt: „Im Hinblick auf eine Typologie des Helden ergibt sich [...], daß das Werk und sein Held aus den gainings- und traditionsbestimmten Determinationen ausbrechen muß, indem Werk und Held in ihrer Diversität jegliche Typisierbarkeit in die Aporie führen und die Unzulänglichkeiten jeder typisierenden, repräsentativen und exemplarischen Lösung zugunsten [...] einer Wahrhaftigkeit der Heldenfigur [...] wachhalten". Mit dem Protagonisten Willehalm hat Wolfram eine Person dargestellt, die in der Literatur einmalig ist: Es handelt sich um einen christlichen Helden, der zur Heiligkeit bestimmt ist, der Gott vertraut, der jedoch auch der Verzweiflung nahekommt; ein Ritter, der für seine Frau und seine sippe streitet, jedoch durch diesen Kampf einen großen menschlichen Verlust herbeiführt, und sich dessen bewußt ist. Die triuwe, die er den wichtigsten Instanzen des höfischen Lebens (Gott, sippe, frouwe) erweist, bringt Willehalm

Personen. Charakterisierung (Gyburc)

193

zwar ungeheures Leid, sie fuhrt ihn aber letzten Endes auch dazu, die Worte Gyburcs in eine menschliche Tat ohnegleichen umzusetzten: Durch die Matribleizszene, in der Willehalm - durch seine triuwe - seine güete gegenüber den Heiden erweist, wird dieser äußerst komplexe christliche Held zu einer der modernsten Gestalten der mittelhochdeutschen Dichtung. c) Gyburc Mit Gyburc hat Wolfram ohne Zweifel eine der vielseitigsten Frauengestalten der mittelalterlichen Literatur geschaffen. Vielseitig schon allein deshalb, weil Gyburc mehrere Rollen einnimmt, die teilweise über traditionelle Frauenrollen hinausgehen. Ihr Rollenrepertoir ist gegenüber der Guibourc der Vorlage wesentlich erweitert (vgl. dazu v.a.: KLOOCKE, 1972). Guibourc ist zwar ebenfalls eine kluge und mutige Verteidigerin der Burg, aber es gibt keine Religionsgespräche mit ihrem Vater Desrame, keine Rede vor dem Fürstenrat und auch nicht die beiden Liebesszenen mit Guillaume. Obwohl Gyburc auch im Willehalm als handelnde Person nicht oft auftritt, ist sie im epischen Geschehen durch Anrufungen des Erzählers, vor allem aber durch die Reden und Gedanken Willehalms ständig präsent. Dadurch und durch die große Bedeutung, die der Erzähler ihren Reden und Gesprächen zukommen läßt, ist sie neben Willehalm die wichtigste Gestalt der Dichtung. Wie in der Vorlage tritt Gyburc zunächst als vorsichtige und kluge Landesherrin und mutige Verteidigerin der Burg Glorjete auf. Ihre abweisenden Reden gegenüber dem vermeintlichen Eindringling Willehalm lassen nichts von ihrer bedrängten Lage erkennen. Erst als sie seine kurze Nase sieht und ihn schließlich erkennt, wird sie verzagt und begrüßt ihn mit einem Kuß. Willehalm ist jedoch nicht böse auf seine süeze amie (92,25) und erzählt Gyburc mit der Bitte ,nu geben beide ein ander trost' (92,29) [,nun wollen wir uns gegenseitig trösten'] von den großen Verlusten. Für BUMKE (1997: S. 224) bedeutet diese Szene, daß es auch für Willehalm und Gyburc „Momente der Fremdheit" gibt, die nur „mühsam überwunden" werden können. Gyburcs übertrieben scheinende Vorsicht ist aber angesichts der bedrohlichen Situation, in der sie sich befindet, nur

194

Werk und Interpretation

allzu verständlich. Von einer Fremdheit zwischen den beiden Ehegatten ist in der Folge jedenfalls nichts zu merken. Als Gyburc vom Tod des Vivianz hört und daß ihr Vater selbst mit einem Heer gekommen ist, analysiert sie sofort die Situation, die sie als ziemlich hoffnungslos beschreibt. Dennoch spricht sie ihrem Gatten Mut zu und der Erzähler kommentiert lobend: manliche sprach daz wip, / als ob si manlichen lip / und marines herze trüege. (95,3) [mannhaft sprach die Frau, als ob sie ein Mann gewesen wäre und das Herz eines Mannes gehabt hätte]. Dieses Erzählerlob bedeutet nicht, daß traditionelle Geschlechterrollen aufgelöst oder gar in Frage gestellt werden, sondern vielmehr, daß Gyburc in Notsituationen Männerrollen übernehmen kann und dies positiv vermerkt wird. Es gibt auch durchaus zeitgenössische Beispiele dafür, daß eine Burgherrin, allerdings bei Abwesenheit ihres Mannes, die Verteidigung der Burg selbst übernimmt (dazu KELLERMANN-HAAF, 1986: S. 300ff.). Der Wechsel von der selbstbewußten Verteidigerin der Burg zur liebenden und ihrem Gatten ergeben Ehefrau wird dann aber deutlich markiert, etwa wenn gleich zweimal betont wird, daß sie ihren Gatten mit vorhten (92,8; 92,23) [ängstlich] begrüßt. Willehalm nimmt die strategischen Ratschläge seiner Frau gerne und bereitwillig an, fragt sie aber bei ihrer -wipheit (95,19) [bei ihrer Ehre als Frau], was er denn nun unternehmen solle. Während die Heiden allmählich die Burg umzingeln und belagern, ist es dann natürlich der Markgraf, der die Befehle zur Sicherung der Festung gibt. Als Willehalm mit dem Hilfsheer in Orange ankommt, glaubt die unverzagete (226,25) [unerschrockene] Gyburc, daß die Heiden wieder im Anmarsch seien und legt selbst eine Rüstung an, um die Burg eigenhändig zu verteidigen (226,25 ff.). Der Erzähler kommentiert: manlich, ninder als ein wip/ diu künegin gebarte (226,30f.) [männlich, nicht wie eine Frau, verhielt sich die Königin]. Sie erkennt Willehalm zunächst wieder nicht, doch dann identifiziert sie ihn an seiner Stimme und wird vor lauter Freude ohnmächtig (228,10). Durch ihre Ohnmacht wird der Rollenwechsel von der gerüsteten, wehrhaften Kriegerin, die gerade noch mit uf geworfene swerte (227,13) [hoch erhobenem Schwert] auf der Zinne stand, zur schwachen Frau abrupt vollzogen. Gyburcs erfolgreiche Verteidigung der Burg wird vom Erzähler mit lobenden Worten kommentiert (229,26 - 30). Er vergleicht sie mit den Amzonen Carpite und Camille, die Turnus im Kampf gegen Eneas unterstützten, wobei Gy-

Personen. Charakterisierung (Gyburc)

l95

burcs kämpferische Leistungen höher bewertet werden als die der beiden Amazonen. Trotz dieses Lobs distanziert sich der Erzähler immer wieder mit der einen oder anderen Bemerkung von gerüsteten Frauen, die auch bis in den Bereich des Obszönen gehen: Gyburc diu triuwen riche stuont dennoch verliehe, si unt ir juncvrouwen. der \virt wol mohte schouwen harnasch daz er an in vant. da der lendenierstric erwant, etlichiu het ein semftenier, der noch sölhez gäbe mir, daz ncem ich vür ein vederspil. (231,19ff.) [Gyburc, die Treue, stand noch immer gewappnet, sie und ihre Damen. Der Burgherr konnte sehen, daß sie Rüstung trugen. Da, wo der Gurtelriemen endet, da hat so manche ein Pölsterchen, wenn man mir so eines gäbe, zog ich es einem Falken vor.]

Es ist nicht ganz klar, was mit semftenier gemeint ist, wahrscheinlich ein unter der Rüstung zu tragender Polsterschutz (HEINZLE, 1991: S. 986), der sich aber in jedem Fall unter der Gürtellinie befindet. Der Erzähler würde also dem natürlichen Polster der Frauen gegenüber einem Jagdfalken den Vorzug geben. Mit dem Hinweis auf die sexuelle Verfügbarkeit auch von gerüsteten Frauen wird ihr Einbruch in männliche Rollenbereiche relativiert. Nach der Begrüßung des Paares und nachdem Willehalm seine Rüstung längst abgelegt hat, trägt Gyburc bei der gemeinsamen Fensterschau noch immer die Kampfrüstung. Während von Willehalm gesagt wird: er nams durch liebe kleine war (243,30) [aus Liebe bemerkte er es kaum] kommentiert der Erzähler: mir wcere ein zagheit geschehen, ob ich ein wip het ersehen so küenlich gestanden. mir wirt halt sus enblanden, so ungewapent wip grifan, ob ich mit eren scheide dan. (243,23ff.) [ich hätte mich gefürchtet, wenn ich eine Frau so wehrhaft hätte stehen sehen. Es ist mir schon nicht leicht ehrenvoll davonzukommen, wenn ich eine unbewaffhete Frau angreife.]

196

Werk und Interpretation

Das Ablegen der Rüstung wird dann auch als bewußter Rollenwechsel vollzogen. Gyburc schärft ihren Burgdamen ein, sich im Sinne der wiplichen güete, kiusche und hövescheit zu kleiden und vor der Gesellschaft allein zur hochgemüete der anwesenden Ritter aufzutreten. Auch Gyburc kleidet sich sehr sorgfältig, und ihr Auftritt ist so glänzend, daß si bejagete et al der herzen gunst (249,6) [sie gewann die Herzen aller]. Bei einer derart geschmückten Frau bekommt der männliche voyeuristische Blick unter dem aufspringenden Mantel dann auch nicht einfach das semftenier, sondern das Paradies zu sehen: des mantels si ein teil uf swanc: / swes ouge denne dar under dranc, / der sach den blic von pardis (249,13ff.) [den Mantel schlug sie teilweise auf, wessen Augen darunter blickte, der sah das Paradies]. Die Aufforderung Gyburcs an ihre Hofdamen, ihren Beitrag zur höfischen Festfreude zu leisten, ist aber nicht nur als einstudierter Rollenwechsel zu werten, sondern hat angesichts der bevorstehen Entscheidungsschlacht auch eine soziale und politische Funktion. Die Krieger sollen durch die Präsenz schöner Damen in ihrem Minnedienst angespornt und für den Krieg motiviert werden. SCHRÖDER (1979) hat den Willehalm einmal als den „tragischen Roman von Willehalm und Gyburc" bezeichnet. Und in der Tat ist die Liebe des Paares, ihre Entscheidung zur Ehe, Ausgangspunkt und Auslöser für den blutigen und verlustreichen Krieg zwischen Christen und Heiden. Ihre Liebesverbundenheit, die gleichzeitig eine Verbundenheit im Leiden ist, zeigt sich demnach auch im gegenseitigen Mitleiden und dem Versuch, dem Partner, so gut es geht, Trost zu spenden. Dies gilt vor allem für die beiden Liebesszenen, die Wolfram gegenüber seiner Quelle hinzugefügt hat. In der ersten Szene (vgl. o. S. 88ff.) verbindet Gyburc, diu wise (99,18) [die erfahrene, heilkundige], zunächst die Wunden des erschöpften Willehalm und gibt sich ihm dann zärtlich hin. Durch die Pflege der äußeren und inneren Wunden des Markgrafen erhält Gyburc „Züge der Heilsbringerin" (KIENING, 1991: S. 172). Obwohl bei der Beschreibung der Liebesszene betont wird, daß er was ir und si was sin (100,7) [er gehört ihr und sie ihm], geht es in erster Linie um den Trost und die Linderung, die Gyburc ihrem Gatten spendet. Auch nachdem Willehalm eingeschlafen ist, denkt sie zunächst an sein Leid, um erst danach, in einem Gebet zu Gott, ihre Situation zu beklagen (100,26 ff.).

Personen. Charakterisierung (Gyburc)

197

Noch in der selben Nacht macht sich Willehalm zum Aufbruch nach Munleun bereit, und Gyburc bittet ihren Gatten nicht auf sie und die Situation, in der er sie zurückläßt, zu vergessen. Sie appelliert an seine triuwe ihr gegenüber, an die er vor allem dann denken solle, wenn die hübschen Französinnen ihm ihre Minne anbieten wollen. Sie betont auch, daß sie schließlich um seinetwillen ihre mächtige Position als Königin aufgegeben habe und daß sie einmal sehr schön gewesen sei. Gyburc fordert ihren Ehemann also auf, seiner Dienstund Treuepflicht ihr gegenüber nachzukommen (104,Iff.). Diese Szene ist bei den meisten Forschern auf Unverständnis gestoßen, wohl auch deshalb, weil sie nicht so recht zu dem Bild der demütigen und duldenden Ehefrau passen wollte, das man von ihr entworfen hatte. Gyburcs Forderungen wurden mit Zweifel (MEISSBURGER, 1964), Eifersucht, Ängstlichkeit und mangelndem Selbstbewußtsein aufgrund ihres schon fortgeschrittenen Alters (SCHUMACHER, 1967) erklärt. Dabei sind Gyburcs Forderungen im Sinne der memoria durchaus begreiflich (dazu: CZERWINSKI, 1989: S. 19 - 57). Während sie im Zustand kriegerischer Belagerung bleibt, reitet Willehalm zum fernen und friedlichen Hof des Königs. Willehalms Schwur, die Kußverweigerung und die Verweigerung kulinarischer Genüsse, sollen dazu dienen, daß sich Willehalm zumindest körperlich ähnlichen Entbehrungen aussetzt, wie Gyburc und ihr in Leid und Sorge verbunden bleibt. In der zweiten Liebesszene (vgl. o. S. 126ff.) nach dem Festmahl in Orange erweist sich Gyburc dann aber wieder als Trösterin ihres Gatten (279,7 - 12). Obwohl gegenüber der ersten Liebesszene der gegenseitige Trost, den sich das Paar spendet, wesentlich stärker betont wird, ist dennoch in erster Linie von der Entschädigung die Rede, die der Markgraf durch die Liebe Gyburcs erfährt: allez daz er ie verlos, / da vür er si ze gelte kos (280,5) [für alles, was er je verlor, nahm er sie als Entschädigung] und Gyburc was siner vreuden wer (280,12) [Gyburc war die Bürgin seiner Liebe]. In jedem Fall aber ist Gyburc, durch ihre Fähigkeit zum Mitleiden, ihre Opferbereitschaft und bedingungslose triuwe zu Willehalm eine ideale und vorbildliche Ehefrau, die süeziu minne und kiusche güete in sich vereint. Obwohl die innige Eheliebe zwischen Gyburc und Willehalm gerade in diesen Szenen ein Gegengewicht zum kriegerischen Geschehen bildet, ist die Tatsache, daß diese Eheschließung den Krieg ausgelöst hat, doch immer präsent. So ist es nur konsequent,

198

Werk und Interpretation

daß unmittelbar im Anschluß an diese Liebesszene die Betrachtungen des Erzählers über die Zusammengehörigkeit von Liebe und Leid folgen (280,13 - 281,16) mit der Feststellung diz mcere bi vreuden selten ist. (280,21) [diese Geschichte kennt wenig Freude]. Der Willehalm beginnt mit dem Kampf um Gyburc. Der Krieg scheint zunächst ein Familienkrieg zu sein, denn in der Schlacht kämpfen Gyburcs angeheiratete Verwandte gegen ihre Blutsverwandten. Doch Gyburc ist eine „andere Helena" (KiENiNG, 1993: S. 219), der Krieg ist nicht nur ein Streit zweier Männer um eine Frau, sondern erhält durch Gyburcs Taufe eine religiöse Dimension. Während Tybalt in erster Linie seine verletzte Männerehre wiederherstellen will, kämpft Terramer vor allem im Namen seiner Götter und versucht seine Tochter zu überreden, wieder zum heidnischen Glauben zurückzukehren. So wird dieser Familienkrieg auch zum Glaubenskrieg. Die Ursache für diesen Krieg zwischen Christen und Heiden ist aber in jedem Fall Gyburc: durch ihr Bekenntnis zum Christentum und durch ihren Ehebruch. Doch ist Gyburc damit auch schuldig? Der Erzähler gibt selbst eine Antwort darauf: Obwohl ihr sowohl die Christen als auch die Heiden die Schuld für die leidvollen Geschehnisse im Krieg geben, betont er: unschuldic was diu künegin (31,4) [die Königin war unschuldig]. Gyburc folgte ihrem Herzen als sie Tybalt verließ, sie folgte - und das ist das Entscheidende - ihrer doppelten Liebe zu Gott und zu Willehalm. Die Liebe zu Willehalm und zu Gott ist für Gyburc jedoch kein Grund, ihr früheres Leben zu verleugnen oder gar zu verurteilen. Sowohl in den Gesprächen mit dem Schwiegervater als auch in ihrer Rede vor dem Fürstenrat wird deutlich, daß Gyburc ihren heidnischen Verwandten nicht den Rücken gekehrt hat. Ihr zweifacher Name, Arabel bei den Heiden und Gyburc bei den Christen, bringt es zum Ausdruck: sie steht zwischen den Parteien (MoHR, 1979: S. 317f). Die Tragik ihrer Figur besteht darin, daß sie miterleben muß, wie auf beiden Seiten Verwandte von ihr das Leben verlieren müssen, ohne daß sie das Geschehen aufhalten kann. Gyburc sieht sich verantwortlich und schuldig an diesem verlustreichen Krieg. Das, was der Erzähler objektiv in Abrede stellt, nämlich ihre Schuld, ist für Gyburc die Ursache ihres Leids (MAURER, 1951: S. 174f). Die Leiderfahrung läßt Gyburc nicht

Personen. Charakterisierung (Gyburc)

l99

ruhen, der Glaubenskrieg wird zu ihrer persönlichen Not und zum Ringen um die Frage nach dem Sinn dieses Leids und einem Ausweg daraus (SCHRÖDER, 1970: S. 213f). Im Religionsgespräch mit Terramer spielt diese Frage noch keine Rolle, hier stellt Gyburc die Festigkeit ihres Glaubens unter Beweis, was ihr auch die Bewunderung und die Unterstützung der Heimrichsippe einbringt. Während dieses Gesprächs wird deutlich, daß Gyburcs Liebe zu Gott und Gyburcs Liebe zu Willehalm eine untrennbare Einheit bilden. Sie versucht ihrem Vater auch zu erklären, daß es diese doppelte Liebe war, die sie dazu bewogen hat, ihre hohe Position als heidnische Königin aufzugeben und den Markgraf zu heiraten. Was sie in ihrem ersten Gebet nach der Liebesnacht noch nicht vermochte, nämlich von der trostspendenden Kraft des Glaubens tiberzeugt zu sein, verwendet sie nun als ein Argument für die Festigkeit ihrer religiösen Überzeugung gegenüber ihrem Vater: der mac michs wol ergetzen/ unt des libes armuot letzen/ mit der sele richeit. (216,27) [er kann mich wohl entschädigen und aus der Armut des Leibes den Reichtum der Seele machen]. Das Motiv der Armut wird während des Religionsgesprächs noch mehrfach wiederholt. Gyburc betont auch die Tapferkeit Willehalms und seine Beständigkeit im Minnedienst, so als wolle sie Terramer gegenüber klar machen, daß Willehalm im Vergleich mit Tybalt ohnehin die bessere Wahl sei. Letztlich dient dieses Religionsgespräch mit Terramer der Demonstration von Gyburcs Glaubensfestigkeit und ihrer demütigen Liebe zu Willehalm. So gesehen ist Gyburcs freiwillige Wahl der armuot nicht nur unter dem religiösen Aspekt zu sehen, sondern sie nimmt ihre Standesminderung auch wegen ihres Gatten auf sich. Auch in ihrer großen Rede vor dem Fürstenrat macht Gyburc deutlich, daß sie sich verantwortlich für die leidvollen Ereignisse sieht: ich trag al eine die schulde (310,17) [ich trag die Schuld alleine]. Doch in dieser Rede führt ihre theologische Reflexion weiter als im Gespräch mit ihrem Vater. Gyburc hat erkannt, daß sie die Schuld in erster Linie um der Gnade Gottes willen trägt und auch zu einem Teil wegen ihrer Liebe zu dem Markgrafen (310,17 - 20). Die Christin Gyburc weiß nun, daß nichts, was im Namen des wahren Glaubens geschieht, unrecht oder Sünde sein kann, auch wenn daraus großes Leid entsteht. Aus dieser tragischen Verstrickung sieht sie nur einen Ausweg, nämlich das demütige und grenzenlose Vertrauen in die Gnade und Liebe Gottes. Diese Einsicht führt bei Gyburc zu

200

Werk und Interpretation

einem Appell an die christliche Barmherzigkeit: schonet der gotes hantgetat (306,28). Bei den Argumenten, die sie für ihre Entscheidung, sich taufen zu lassen, anfuhrt, kann man eine gewisse „Entwicklung" hin zu einer tieferen Einsicht in den christlichen Glauben erkennen. Vor allem BUMKE (1959: S. 143ff) hat Gyburcs Leidensweg daher als Weg zu einer Heiligen gedeutet und sie als theologisches Sprachrohr Wolframs gesehen (vgl. auch MEISSBURGER, 1964: S. 96ff.). Gyburc wird ja zu Beginn des IX. Buches als heilic frouwe (403,1) angerufen. Allerdings wurde Gyburc nie kanonisiert oder liturgisch verehrt. Der Anruf der heiligen Gyburc weist zurück auf den Anruf des heiligen Willehalm im Prolog. Möglicherweise steht der Name Gyburc hier für die Botschaft der Barmherzigkeit, die sie im sechsten Buch verkündet hat und auf die der Erzähler nach dem Gemetzel auf Alischanz noch einmal anspielt (450,15 ff.; vgl. BUMKE, 1997: S. 212). Zwar ist Gyburc mit ihren Reden durchaus als religiöser Mittelpunkt des Werkes anzusehen, doch sie ist nicht nur femina spriritualis, sondern auch liebende Gattin, beherzte Verteidigerin der Burg Orange, Minnedame und höfische vrouwe (vgl. auch SCHRÖDER, 1960). d) Vivianz Vivien ist eine der wichtigsten Figuren der altfranzösischen Guillaume-Tradition. Seine Bedeutung im Zyklus kann in seiner familiären Bindung zu Guillaume gesehen werden, denn Vivien ist der Schwestersohn des Christenfuhrers (an Bedeutung in der Geste zu vergleichen etwa mit der Gawan-Figur im Artusstoff oder Parzival im Gralstoff, die die Schwestersöhne jeweils von Artus und Anfortas sind). Um Vivien wurden mehrere Lieder komponiert, die von seiner Kindheit (Enfances Vivien) und seinem Rittertum (Chevalerie Vivien) erzählen; aber auch um den Schwestersohn Viviens, Foucon de Candie, hat man eine Chanson gedichtet. Nach der GuillaumeGestalt ringt Vivien mit Rainouart um die Position der zweitwichtigsten männlichen Figur des Zyklus. In der Aliscans-Dichtang sind die drei Krieger, Vivien, Guillaume und Rainouart von fast gleicher Bedeutung: Vivien beherrscht den Anfang der Dichtung, Guillaume die Mitte und Rainouart das Ende.

Personen. Charakterisierung (Vivianz)

201

In der Willehalm-Dichümg hat Wolfram bekanntlich die VivianzHandlung der Willehalms untergeordnet. Wie GREENFIELD (1991: S. 13 Iff.) gezeigt hat, ist die Geschichte von Vivianz zum Teil anders als die des Vivien in Aliscans: Im Gegensatz zu Vivien scheint sich Vivianz am Anfang der Schlacht in Wolframs Version fast überhaupt nicht beteiligt zu haben. Während der Schlacht zeigt er sich nur zweimal als aktiver Krieger. Er erscheint zum ersten Mal als Kämpfer, nachdem die Sarazenen unter Nöupatris angegriffen haben (vgl. 22,29); obwohl er den Minneritter Nöupatris töten kann (24,29), wird er auch von ihm tödlich verletzt. Er erscheint dann zum zweiten Mal in der Schlacht als todesmutiger Kämpfer, der die christlichen Krieger durch seine vorbildliche Tapferkeit anspornen kann, härter gegen die Heiden zu streiten (vgl. 41,26). Vivianz wird jedoch wieder verletzt, diesmal von Halzebier, und fällt daraufhin ohnmächtig zu Boden (vgl. 46,24ff.). Nach einiger Zeit kommt er wieder zu sich, und wie in der Vorlage, wird er von einem Engel bis zu seinem letzten Ruheplatz geführt. Später findet Willehalm den sterbenden Vivianz unter einem Baum (60,17), er beklagt ihn, hört seine Beichte und gibt ihm die Sterbesakramente. Wie in Aliscans stirbt Vivianz im Geruch der Heiligkeit (vgl. 69,10ff.). Bezeichnend für diese Figur ist sein Martyrium: Allerdings ist MOHR (1979: S. 296) der Ansicht, daß was Vivianz vollbringt, nur als Leistung „persönlicher Tapferkeit und jugendlichen Opferwillens" verstanden werden solle und nicht als Ergebnis seiner „Heiligkeit". BUMKE (1959: S. 22) dagegen findet, daß Wolfram mit Vivianz keinen Heldenkampf schildert, sondern einen Todesweg: „Seine Vivianzdarstellung ist auf den Tod hingeordnet, empfing von dort ihren Sinn". Vivianz, „der vollkommene christliche Ritter" (FREYTAG, 1972: S. 92 Anm. 73), ist Märtyrer, genau wie all die Christen, die auf dem Schlachtfeld von Alischanz sterben. Wolfram hat bewußt versucht, die Verbindung zwischen Vivianz und dem Namen des Schlachtfeldes zu betonen; immer wenn der Name des Märtyrers im Reim benutzt wird, bildet er ein Reimpaar mit Alischanz (vgl. GIBBS, 1976: S. 47). Die Beschreibung des Martyriums des Vivianz' ist stellvertretend für das aller gefallenen Christen, und deswegen wird es so sorgfältig beschrieben: Es stellt den Höhepunkt der ganzen Vivianz-Handlung im Willehalm dar. Der Ort des Todes ist ein locus amcenus mit Bäumen - auch einem Lindenbaum - und einem Brunnen; dieser Ort mit seinem buko-

202

Werk und Interpretation

lischen Charakter stellt einen klaren Gegensatz zum Gefechtslärm des Schlachtfeldes dar und würde gut als Hintergrund für eine Pastourelle dienen: Im Augenblick der Passion des Märtyrers wollte Wolfram offensichtlich sein Publikum in eine andere, vom Schlachtfeld weit entfernte Welt rühren. Von den bedeutenden Figuren dieser Dichtung ist Vivianz diejenige, die Wolfram im Vergleich zur Vorlage am wenigsten verändert hat. Das hängt offensichtlich mit der Funktion dieser Gestalt zusammen, denn Vivien in Aliscans und Vivianz im Willehalm spielen die gleiche Rolle: beide sind Märtyrer. Dennoch hat Wolfram in bezug auf diese Figur eine grundlegende Änderung vorgenommen: seine bedeutendsten Innovationen betreffen die Zeit nach dem Tod des Märtyrers. Der Tod des Vivianz scheint im gesamten Willehalm äußerst wichtig zu sein, da sein Martyrium die Weiterentwicklung der Handlung oft zu bestimmen scheint. Das Martyrium des Vivianz bewirkt bei den Christen ein dringendes Verlangen nach Rache und stellt eine Art seelische Befreiung dar: Nur die Rache an den Heiden kann das allgemeine Schuldgefühl der Christen lindern, der junge Vivianz sei ihretwegen gestorben. Auch Vivianz' Ziehmutter Gyburc wird dazu aufrufen, Rache an Mitgliedern ihrer Familie für den Tod des Vivianz zu üben: rechet den jungen Vivianz / an minen magen und an ir her (306,22ff.). Dieser Versuch, das Schuldgefühl durch Rache zu mildern, ist beim Protagonisten, Willehalm, am deutlichsten zu erkennen. Erst nachdem Vivianz gebeichtet hat, versteht Willehalm, daß er schuldig ist (vgl. 67,27fif.); besonders nachdem er die Leiche des Vivianz hat zurücklassen müssen, spielt der Rachegedanke eine bedeutende Rolle in der Willehalm-Hanaliuig. Wie die Forschung schon herausgearbeitet hat, wird das am deutlichsten in der ArofelSzene erkennbar, denn der Heide Arofei wird von Willehalm aus Rache um den Tod des Vivianz umgebracht (vgl. bes. 79,25ff. sowie o. S. 8 Iff.). Auch Willehalms unsoziales Verhalten am französichen Hof wird durch den Gedanken motiviert, er habe auf dem Schlachtfeld Mitglieder seiner Familie verloren (vgl. 163,Iff.). Das Motiv der Rache für Vivianz ist also in dieser Dichtung wichtig, weil es Wolfram erlaubt, Ereignisse zu motivieren, die nicht dem Erwartungshorizont seines höfischen Publikums entsprechen. Wie in der Vorlage wird der Märtyrer im Willehalm auch dann erwähnt, wenn es darum geht, die Eltern und Geschwister Wille-

Personen. Charakterisierung (Vivianz)

203

halms um militärische Hilfe anzusprechen. Sobald Vivianz' Opfer unter den Christen in Munleun erwähnt wird, ruft dies nicht nur großen Schmerz hervor, sondern auch sofort eine Welle von Hilfsbereitschaft (vgl.!65,8ff.). Die Vivianz-Figur ist wie die Vivien-Figur der Vorlage als Krieger und Märtyrer gestaltet worden. Vivianz ist jung; nach Willehalm ist er sogar so jung, daß er kaum einen kleinen Falken auf der Hand tragen kann (vgl. 67,1 If). Wie Giselher im Nibelungenlied wird Vivianz oft als junc (vgl. 24,9; 27,29; 60,11; 93,30), junge (167,23; 253,25) oder tont (vgl. 68,17; 151,13) bezeichnet. Um das Opfer des Jüngling Vivianz hervorzuheben, erklärt Willehalm, daß Vivianz bei seinem Tod noch keinen Bart hatte (vgl. 13,25ff.; 67,14f). Aber Vivianz ist nicht nur jung, sondern auch mutig: Er tötet mehrere Heiden, sogar auch nachdem er von Noupatris die Todeswunde empfangen hat (vgl. 42,15). BUMKE (1959: S. 22) ist der Ansicht, daß Vivianz keinen Kampfwillen besitzt: „In fast vollkommener Passivität nähert er sich seinem Ziel, dem Tode". Diese Feststellung scheint sich jedoch nicht mit dem Text vereinbaren zu lassen. Wolfram betont, wie Vivianz ein helt ist, der auch nachdem er von Noupatris' Lanze getroffen wurde, bereit ist, sich ins Kampfgewühl zu stürzen (vgl. 25,30f; 41,26ff). Als höfischer Ritter sollte Vivianz - wie die anderen Ritter in dieser Dichtung - auch als Minneritter auftreten können; sein Alter jedoch scheint ihn von der Liebe auszuschließen: Vivianz ist zu jung, um Minneritter zu sein. SCHRÖDER (1960a: S. 58) bemerkt, daß Vivianz kein Minneritter im eigentlichen Sinn ist, denn es wird (von Gyburc abgesehen) keine frouwe genannt, in deren Dienst er gestanden hätte. Heißt das aber, daß Vivianz ein Anti-/w//we-Ritter ist? Die Tatsache, daß Vivianz vom Minneritter Noupatris durch seine von Amor-geschmückte Lanze tödlich verwundet wird (vgl. 25,14ff.), zeigt für BUMKE (1959: S. 175 Anm. 96) Vivianz' „Gegenbildlichkeit als Anti-/n/>me-Ritter". Der Text scheint diese Interpretation nicht aufrechtzuerhalten, denn später wird Willehalm behaupten, Vivianz hätte - nach seiner Ausstattung - wibe Ion empfangen können (vgl. 64, If.) und die minne habe an ihm verloren (64,5ff.). Hätte Vivianz weitergelebt, dann hätte er sicherlich an der minne teilhaben können.

204

Werk und Interpretation

Wolfram betont, daß die Vivianz-Gestalt dar ist: Er wird als der dare Vivians (13,21) in die Dichtung eingeführt und oft mit dem Adjektiv dar beschrieben (vgl. 93,9; 171,13; 253,29; 408,25). Es handelt sich - wie schon BUMKE (1959: S. 32f.) bemerkt hat - nicht um ein beliebiges Schmuckwort, „sondern meint den in göttlichem Licht erstrahlenden Heiligen". Die Heiligkeit Vivianz' wird von Wolfram durch verschiedene Lichtmetaphern angedeutet (vgl. 62,8f; 101,27ff.; 380,16), denn das Licht ist bekanntlich ein Vorzeichen des Göttlichen. Aber nicht nur durch das Licht wird die Heiligkeit dieser Figur hervorgehoben, sondern auch durch den Geruch, der aus den Wunden Vivianz' strömt (vgl. Wh. 62,17): Dieser odor sanctitatis wird oft beim Tod von zukünftigen Heiligen wahrgenommen (vgl. hierzu u.a.: ALBERT, 1990), obwohl Vivianz kein Heiliger, sondern nur Märtyrer ist. Die Wunden Vivianz' werden als süeze bezeichnet (vgl. 62,11): Soll das auch als Zeichen der Heiligkeit des Märtyrers verstanden werden? BUMKE (1959: S. 26 mit Literaturangaben) ist der Ansicht, daß dieses Adjektiv zeigt, wie Vivianz' Körper „durchheiligt" ist (dagegen vgl. u.a. SCHRÖDER, 1960a: S. 54). Nach Wolframs Meinung können wohl nur außergewöhnliche Persönlichkeiten Märtyrer werden: In der Willehalm-Oicltiung ist Vivianz die perfekte Verkörperung eines miles christi: Im Leben ist er tapfer und und hartnäckig, wie ein wahrer christlicher Krieger sein sollte, und im Tod ist er heilig. Vivianz ist gleichzeitig epischer Held und Heiligenfigur. e) Rennewart Rennewart ist jene Figur im Willehalm, die die Forschung mit Abstand an meisten beschäftigt hat. Es existieren vier Monographien, die sich ausschließlich mit der Funktion und Bedeutung der Rennewartfigur auseinandersetzen (KNAPP, 1970; LOFMARK, 1972; TSUKAMOTO, 1975; KIELPINSIKI, 1990, hier auch Forschungsüberblick S. 7 - 28) und eine große Anzahl von kleineren Beiträgen. Dies ist nicht verwunderlich, denn in Rennewart konzentrieren sich die zentralen Fragestellungen der Dichtung. Rennewart muß am Hofe des König Loys als Küchenjunge dienen. Die Küchenarbeit hat Spuren auf seiner ärmlichen Kleidung

Personen. Charakterisierung (Rennewart)

205

(Mchenvar; 189,1) und auf seinen Haaren hinterlassen (188,16f.). Dennoch ist der großgewachsene Rennewart eine schöne Erscheinung und obwohl er noch bartlos ist (191,30), hat er die Kraft von sechs Männern (188,6). Das verwahrloste Aussehen des Jünglings ist ein Hinweis auf seine niedrige soziale Stellung am königlichen Hofe. Doch bereits bei Rennwarts erstem Auftritt laßt der Erzähler keinen Zweifel an der vornehmen Abstammung des jungen Mannes (vgl. o. S. 112f.). Er vergleicht Rennewart mit einem Goldstück und einem Edelstein, deren Glanz auch durch Schmutz und Ruß zum Vorschein kommt (188,29fT.). Damit ist Rennewarts angeborener Adel gemeint, der die Grundvoraussetzung für Rennewarts Fähigkeit zur zuht und maze ist. In Rennewarts hohem Adel liegt auch begründet, daß er sich nicht mit seiner erniedrigenden Stellung am Hofe Loys abfindet, sondern sich dessen schämt und nach ritterlichem Ruhm und Ansehen strebt. So nimmt er das Angebot Willehalms, in seinen Dienst zu treten, freudig an, vor allem deshalb, um Rache an seinen Verwandten zu üben, von denen er glaubt, daß sie ihn im Stich gelassen hätten (l 94, l Off.). Rennewarts Übernahme in den Dienst Willehalms wurde von einigen Forschern, vor allem aber von LOFMARK (1972: S. 136 - 173), als Beginn für den Entwicklungsprozeß Rennewarts (im Sinne von Ausprägung vorhandener Anlagen) gesehen (gegen eine Entwicklung Rennewarts: BUMKE, 1959: S. 56 - 59 und FRANCKE, 1972: S. 427). Wenn in der Folge von der Entwicklung Rennewarts gesprochen wird (vgl. o. S. 187), darf man den Begriff nicht im modernen Sinn verstehen. Nach mittelalterlicher Auffassung sind dem Menschen seine Eigenschaften bereits angeboren, sie können jedoch fehlgeleitet oder durch äußere Umstände verdeckt sein. Die gestörte Harmonie der angeborenen Charaktereigenschaften kann aber wieder hergestellt werden und zwar in erster Linie durch Hilfe von weisen Ratgebern oder durch die Gnade Gottes. Dieser Entwicklungsprozeß Rennewarts verläuft aber sehr langsam, nicht nur wegen seiner mangelnden höfischen Erziehung, sondern vor allem deshalb, weil sich Rennewart ohne Familie und als Heide unter den Christen fremd fühlt und diese Fremdheit durch seine Kleider und Waffenwahl auch noch unterstreicht (dazu KLEPPEL, 1996: S. 194 - 235). Willehalm will ihm ein Harnisch und ein Pferd schenken, doch der Jüngling wählt als Kleidung wollene Hosen und feste Schuhe und will auch lieber zu Fuß in den Kampf

206

Werk und Interpretation

ziehen. Als Waffe wünscht sich Rennewart eine schwere mit Eisen beschlagene Holzstange (196,16 ff.). Obwohl Rennewart in Willehalms Dienst getreten und nun sein Fußknecht (sarjant, 195,24) ist, schläft er weiter in der Küche. Dennoch ist das Überwinden seiner erniedrigenden Stellung am Hofe ein wichtiger Beweggrund für Rennewarts Bereitschaft, sich Willehalms Führung anzuvertrauen. Ein weiterer Antrieb für sein Streben nach ritterlicher Ehre ist seine Liebe zu Alyze. Durch ihren Abschiedskuß (213,25) wird Rennewart zum Minneritter Alyzes, verdeutlicht am Sprießen seines Bartes, der auch ein Zeichen für seine erwachende Männlichkeit ist. Im Dienst Willehalms wird Rennewart dann allmählich zu einem ritterlichen Kämpfer. Die Symbole dafür sind sein zunehmendes Interesse für Pferde und Waffen und der Kleiderwechsel durch das Anlegen der prächtigen Rüstung, die er von Gyburc erhält. In der zweiten Schlacht lernt Rennewart, nach dem Zerbrechen seiner Stange, schließlich auch noch mit dem Schwert zu kämpfen. Mehrmals weist der Erzähler darauf hin, daß Rennewarts Aufstieg vom plumpen Küchenjungen zum Heerführer schon immer in seiner art begründet liegt. Seine helfenden Begleiter auf diesem Weg sind vor allem Willehalm und Gyburc, die die angeborene zttht des Jünglings durch behutsames Lenken zur Entfaltung kommen lassen. Rennewarts Integration in die ritterlich höfische Welt ist aber trotz seines Aufstiegs nur zum Teil vollzogen. Das Fremde und das Andere der Figur wird immer wieder betont und teilweise auch komisch gebrochen. Am Hoffest von Orange verhält er sich zwar annähernd höflich, doch er ißt und trinkt zuviel. Den Wein ist der unerfahrene Jüngling nicht gewöhnt und so wird er schnell betrunken (276,10 ff.). In diesem Zustand vejagt er lautstark die Knappen, die sich an seiner Stange zu schaffen gemacht haben (276,19 ff). Einen Schlafplatz sucht er sich dann wieder in der Küche. Trotz der Rüstung, die er von Gyburc bekommt, weigert er sich weiterhin mit dem Schwert und zu Pferde zu kämpfen. Unhöfisch sind auch Rennewarts Zornausbrüche, die vor allem gegen Knappen und Köche gerichtet sind, die er kurzerhand totschlägt. Dieses Bild des jähzornigen grobschlächtigen und burlesken Draufgängers ist vor allem in der Vorlage enthalten. Wolfram hat die komischen Küchenszenen allerdings sehr gekürzt. Man würde der Komplexität der Figur nicht gerecht werden, würde man sich bei einer Interpretation ausschließlich auf Renne-

Personen. Charakterisierung (Rennewart)

207

waits ritterliche Entfaltung beschränken. Wesentlich schwieriger zu bewerten und zu deuten sind Rennewarts irrtümlicher Verwandtenhaß, seine bewußte Taufverweigerung und die Tötung seines Halbbruders Kanliun. Der Erzähler entschuldigt Rennewarts unhöfisches Benehmen mit seiner tumpheit, die eine Folge der ihm vorenthaltenen standesgemäßen Erziehung ist (271,15 - 26) und vergleicht ihn hierin mit dem jungen Parzival. In der Forschung gibt es eine Diskussion darüber, ob dieser Vergleich auch ein Hinweis auf eine Schuldverstrickung Rennewarts ist. Es ist allerdings nicht ganz einfach, die Bedeutungsdimension von Rennewarts tumpheit einzuschätzen. Handelt es sich dabei nur um kindliche simplicitas oder um die für die religiöse Bewertung relevante ignorantia! Ist letzteres der Fall, so ist Rennewarts bewußte Verweigerung der Taufe als schuldhaftes Handeln zu bewerten. Auch Rennewarts irrtümlichen Verwandtenhaß könnte man als ignorantia und damit als schuldhaftes Vergehen auffassen (KNAPP, 1970: S. 115f). Entscheidend für die Frage nach Rennewarts Schuld ist seine unwissentliche Tötung seines Halbbruders Canliun (442,19 - 23). Sieht man diese Tat Rennewarts parallel zu der Tötung Ithers durch Parzival, so begeht Rennewart ohne Zweifel eine schuldhafte Tat, für die er sühnen muß. Bemerkenswert ist auch, daß Rennewart seinen Bruder nicht mit seiner Stange erschlägt, die im Kampf gegen Piirrel zerbrochen ist, sondern mit dem Schwert, das ihm Gyburc gegeben hat. Dieses Schwert gehörte einst Synagun, einem gemeinsamen Vetter Rennewarts und Canliuns. „Es liegt eine tiefe Ironie darin, daß Rennewart mit der Handhabung des edlen Schwerts (Wh. 430, 14) dem erstrebten Ziel, der ritterlich-höfischen Vollkommenheit, in dem Augenblick näher kommt, als er sich innerlich in schwere Schuld verstrickt" (KASTEN, 1977: S. 408; gegen eine Schuld Rennewarts RUH, 1974: S. 288ff.; KIELPINSKI, 1990: S. 60 - 80). Es gehört zu den unauflösbaren Paradoxien der Rennewartfigur, daß er wesentlich am Sieg der Christen beteiligt ist und gerade in diesem Kampf in tiefe Schuld gerät. Ob diese Schuld die Voraussetzung für seine Hinwendung zum Christentum ist, also zu einem positiven Ende fuhrt, muß im Dunkeln bleiben.

208

Werk und Interpretation

Eine der entscheidendsten Änderungen Wolframs gegenüber dem Rainouart der Vorlage ist, daß Rennewart die Taufe bewußt verweigert und sein Kampf auf der Seite der Christen nicht im Streben nach dem christlichen Glauben sondern im irrtümlichen Verwandtenhaß begründet ist. Dennoch hat man in der Forschung immer wieder versucht, Rennewart als Kreuzritter (WENTZLAFF-EGGEBERT, 1960: S. 261 ff.) oder als geistlichen Helden (BUMKE, 1959: S. 44) zu deuten. Doch für eine „Vergeistlichung" Rennewarts gibt es in der Dichtung keine Anhaltspunkte. Allerdings spricht einiges dafür, Rennewart als „Heilswerkzeug Gottes" aufzufassen, der, ohne sich dieser Aufgabe bewußt zu sein, den entscheidenden Sieg für die Christenheit erringt (dazu u.a.: KIELPINSKI, 1990). Vor allem die Ereignisse am Petit Punt sind für diese Deutung ausschlaggebend (324,8fiF.). Rennewart zwingt das abtrünnige Reichsheer mit seiner Stange zur Umkehr. Er wütet so fürchterlich unter den flüchtenden Franzosen, daß einige von ihnen glauben, daß eine höhere Gewalt über sie gekommen sei: genuoge under in begunden jenen, in wcere al rehte geschehen: si sluege alda diu gotes hant, von der si vlühtic wceren gewant. (325, l ff.) [Nicht wenige von ihnen sagten da, daß ihnen recht geschehen sei: sie schlüge da die Hand Gottes, von dem sie sich durch Flucht abgewandt hätten]

Daß Rennewart eine von Gott geschickte Gewalt sei, wird allerdings vor dem Hintergrund der Tötung des Bruders, seiner Taufverweigerung und seinem Verschwinden problematisch. Man muß auch berücksichtigen, daß die Einschätzung Rennewarts als Werkzeug Gottes nur von den Figuren geäußert wird und nicht auf der Erzählerebene. Es ist in jedem Fall ungewöhnlich, daß ausgerechnet ein Heide zum Instrument höherer Fügung werden kann. Für BUMKE (1959: S. 48f.) und HARMS (1963: S. 105f.) hat Wolfram Rennewart am Ende des Werks deshalb auch aus dem epischen Geschehen genommen, weil er mit dem Sieg über die Christen seine Aufgabe als Werkzeug Gottes erfüllt habe und der Autor so den Schwierigkeiten, die sich im Zusammenhang mit der Rennewartfigur in der Fortsetzung des Willehalm ergeben hätten, aus den Weg gegangen sei. Dies scheint aber eher die Schwierigkeiten der Interpreten

Personen. Charakterisierung (Rennewart)

209

widerzuspiegeln als die des Erzählers. Es steht allerdings außer Zweifel, daß gerade Rennewarts spurloses Verschwinden alle Fragen, die sich im Zusammenhang seiner Figur ergeben, wieder aufwirft. Die vielen offenen Fragen, die durch Rennewarts Verschwinden geblieben sind, hat die Forschung immer wieder zu Spekulationen über das weitere Schicksal Rennewarts und den Ausgang der Dichtung angeregt. Vor allem durch den Vergleich mit Parzival, den ja der Erzähler selbst zieht, hat man versucht, das Schicksal Rennewarts parallel zu dem Parzivals zu sehen (WOLFF, 1934: S. 520ff.; KIENAST, 1950: S. 96 -115; MAURER, 1951: S. 197; KNAPP, 1970: S. 134f; MOHR, 1979: S. 266 - 331). HAUG (1975: S. 222) hat darauf hingewiesen, daß zwar deutliche Analogien zwischen Rennewart und Parzival bestehen, daß diese Analogien aber keineswegs stringent sind und sich vor allem in der Frage des Glaubens unterscheiden. Während Parzivals Schuld unmittelbar mit der Krise des Glaubens zusammenhänge, müßte Rennewart erst durch die Einsicht in die Schuld zum Glauben gelangen. Daß würde aber bedeuten, daß Wolfram beabsichtigt hat, das Epos mit Rennewarts Taufe abzuschließen (so WOLFF, 1934: S. 518ff; LOFMARK, 1972, S: 227 243), worüber in der Forschung keine Einigung erzielt werden konnte. Für RUH (1980: S. 189f.) und BERTAU (1983a: S. 256f.) ist Rennewart ein Erwählter, der letztlich zum Heil gelangen wird. Daß Rennewart dies ohne die Taufe erlangt haben könnte, was zu Wolframs Zeit undenkbar gewesen ist, habe Wolfram veranlaßt, dies unausgesprochen zu lassen und sein Werk abzubrechen. Demgegenüber ist KIELPINSKI (1990) der Meinung, daß Wolfram Rennewart sehr wohl als einen zum Heil gelangten Heiden darstelle, weil er seine im Rahmen des göttlichen Heilsplans zugewiesene Aufgabe, den Christen den Sieg zu ermöglichen, erfüllt habe. Daher sieht sie die Rennewarthandlung und damit den Willehalm als ein abgeschlossenes Werk. Letztlich versuchen alle Spekulationen über den weiteren Verlauf von Rennewarts Schicksal die Ungereimtheiten, die sich im Zusammenhang mit seiner Figur ergeben, aufzulösen. Doch die Ambivalenz Rennewarts und seine Außenseiterrolle bleiben während des gesamten Werks bestehen, er steht immer zwischen den Fronten und ist dennoch mit beiden Seiten auf eigentümliche Weise verbunden: mit

210

Werk und Interpretation

den Heiden durch seine Abstammung und seinem Festhalten an der heidnischen Religion und mit den Christen durch seine Liebe zu Alyze und Treue zu Willehalm. Daß heißt aber auch, daß sich gerade an der Figur Rennewarts zu offenbaren hätte, „welche Verbindung der beiden Sippen, welche Lösung des epischen Konflikts denkbar war" (KiENiNG, 1993: S. 225). f) Wichtige Nebenfiguren Heimrich und Irmenschart: Heimrich, der Graf von Narbonne und Vater Willehalms, begeht zu Beginn des Willehalm eine folgenschwere Tat: er enterbt seine sieben Söhne zugunsten seines Patenkinds und schickt sie in die Welt, damit sie sich aus eigener Kraft im Herrendienst und im Dienst der Minne Ruhm und Ansehen erwerben (5,16ff.). Damit erweist sich Heimrich als erklärter Anhänger des höfischen Ritterideals. Doch diese Haltung Heimrichs wird vom Erzähler, vor allem was das Schicksal Willehalms anbelangt, kritisiert: ouwe daz man den niht liez bi sins voter erbe! svienn der nu verderbe, da lit doch mer Sünden an denne almuosens dort gewan an sinem toten Heimrich. (7,16ff.) [Ach, daß Willehalm vom Erbe seines Vaters ausgeschlossen wurde! Wenn der nun zugrunde geht, überwiegt die Sünde den Lohn der guten Tat, den sich Heimrich dort an seinem Patenkind sicherte.]

Der Erzähler stellt einen Zusammenhang zwischen der Handlungsweise Heimrichs und dem unglückseligen Krieg her, in den sein ältester Sohn Willehalm - dem das Erbe nach mittelalterlichem Recht zustehen würde - verwickelt ist. Für SCHMID (1979: S. 270) steht diese Enterbung durch den Vater „für das Unrecht, aus dem zwangsläufig neues Unrecht und Unglück folgt". Trotz der Enterbung der Söhne durch Heimrich, ist dieser in der Folge keine negative Figur. Durch seine uneingeschränkte Sippentreue, die er am Hofe von Munleun und in Orange eindrucksvoll demonstriert, ist die Einheit zwischen dem Vater und seinen Söhnen wiederhergestellt. Heimrich hilft seinem Sohn Willehalm aber nicht

Personen. Charakterisierung (Nebenfiguren)

211

nur, indem er ihm bedingungslos seine väterliche Hilfe zusagt (l50,Iff), er agiert auch als Vermittler zwischen Loys und Willehalm. Durch seinen Rat an Loys, den Hoftag in Munleun trotz der angespannten Situation fortzuführen, erweist er sich wiederum als Vertreter des höfischen Gesellschaftsideals, der von der affektdämmenden und einigenden Funktion der höfischen Etikette überzeugt ist (173,1 ff.). Dies gilt auf für das Begrüßungsmahl in Orange, wo Heimlich die verzweifelte Gyburc auffordert, ihre Tränen zurückzuhalten, um die Gäste, vor allem die Fürsten, im Sinne der gemeinsamen Sache nicht unnötig zu verunsichern (268,17 ff). Ungeachtet der problematischen Enterbung seiner Söhne erweist sich Heimlich letztendlich als ein Vater, der zur triirwe fähig ist, der seinem Sohn Willehalm in höchster Not beisteht und der in der zweiten Schlacht, trotz seines Alters, mutig und mit vollem Einsatz kämpft: Er führt die zweite Heeresformation Willehalms an, tötet den König Cernubile (408,28 f.) und nimmt nach dem Ende der Schlacht die gefangenen Heidenkönige in seinen Gewahrsam (461,2). Innenschart von Paveie, Willehalms Mutter, tritt nur am Hofe in Munleun auf, wo sie allerdings eine wichtige Rolle übernimmt. Sie trägt eindeutig heroische Züge und erinnert an Frauenfiguren in der Heldenepik. Mutig wirft sie sich zwischen Willehalm und seine Schwester und verhindert damit einen Verwandtenmord (147,20 ff). Sie verwehrt den Männern ihre Klagen, angesichts der großen Verluste der ersten Schlacht, und fordert zu Taten auf (152,1 - 27). In deutlichem Kontrast zu den handlungsunfähigen weinenden Männern am Hofe ist sie die erste, die Willehalm ihre Hilfe anbietet (vgl. UKENA-BEST, 1994: S. 30). Sie erklärt sich auch bereit, notfalls gerüstet für Willehalm zu kämpfen (161,4ff), was dieser ihr aber ausredet. Irmenschart agiert vollkommen eigenständig, sie besitzt auch ein eigenes Vermögen, über das sie offensichtlich frei verfügen kann und das sie ihrem Sohn für die Ausrüstung eines Heeres übergibt (160,20 ff). Daß für Irmenschart die Sippentreue zu den höchsten Werten zählt, steht außer Zweifel. Das Königspaar: König Loys ist der Sohn Karls des Großen und mit der (bei Wolfram namenlosen) Tochter von Heimlich und Irmenschart verheiratet.

212

Werk und Interpretation

Loys ist nicht nur französischer König, sondern auch Herrscher über das römische Reich. Obwohl Loys bei Wolfram der Herrscher über das Reich ist, wird er nie wie sein Vater Karl der Große keiser, sondern immer rcemischer künec genannt. Das mag daran liegen, daß Loys bei Wolfram gegenüber seiner Quelle zwar kein verachtenswürdiger und schwächlicher aber doch ein sehr zögerlicher König ist, der seinem Vater Karl, was die Herrschereigenschaften anbelangt, nicht das Wasser reichen kann. Zwar handelt Loys letztlich ehrenvoll, doch ist seine Haltung durchaus zwiespältig: einerseits erweist er sich als Vertreter des Reichs, andererseits muß er dazu, vor allem durch die Heimrichsippe, erst aufgefordert werden. Außerdem ist er ja zunächst damit einverstanden, daß Willehalm auf Betreiben der Königin ausgesperrt wird. Auch seine Entscheidung, nicht am Feldzug gegen die Heiden teilzunehmen, wirft nicht unbedingt ein positives Licht auf ihn, noch dazu, wo gerade das Reichsheer sich angesichts des Kampfs als besonders feige erweist. Doch Loys ablehnendes Verhalten gegenüber Willehalm ist auch darin begründet, daß dieser durch sein Verhalten die Krone und die Ehre des Reichs beleidigt hat. Mit dieser Haltung ist Loys zweifellos im Recht. Auch mit seinem Beharren auf einen Fürstenrat erweist sich Loys als ein König, der die politischen Spielregeln einhält. Dennoch ist Loys, obwohl es in so einer Situation nötig wäre, kein Mann schneller Entscheidungen. Dies zeigt sich auch daran, daß er Willehalm seinen Knappen Rennewart erst auf inständiges Bitten seiner Tochter Alyze schenkt (191,24). Die Hauptschuld an den peinlichen Begebenheiten am Hofe von Munleun trägt aber nicht der zögerliche König sondern seine Gattin. Die Königin, Willehalms Schwester, ist die einzige aus der Heimrichsippe, die sich nicht von vornherein zur Sippentreue bekennt. Der Grund für ihre feindselige Haltung gegenüber Willehalm bleibt im Dunkeln. In erster Linie scheint sie ihre Machtposition als Königin des Reiches ausspielen zu wollen, indem sie verhindern will, daß ein mächtiger Vasall, Bruder hin oder her, zuviel Einfluß gewinnt. Deshalb läßt sie ihren Bruder aussperren und deshalb will sie ihm auch keine Hilfe zukommen lassen. Doch warum betont sie, daß Willehalm sie als erste davonjagen würde (147,7 f.)? Liegt dies in dem Vorwurf Willehalms, sie sei eine Ehebrecherin, begründet? Willehalm unterstellt ihr ja, daß sie ein Liebesverhältnis mit Tybalt hatte,

Personen. Charakterisierung (Nebenßguren)

213

wovon sich der Erzähler allerdings distanziert (152,28 ff.). So negativ die Figur der Königin-Schwester am Anfang erscheint, so eindrucksvoll ist ihr Gesinnungswandel, der darin begründet liegt, daß sie vom Tod ihrer Verwandten erfahrt (164,10 ff.; dazu auch UKENABEST: 1994). Von da an erklärt sie sich solidarisch mit ihrem Bruder und stellt auch ihre hohe Position als Königin in den Dienst der Sippe, indem sie gemeinsam mit ihren Brüdern vor dem König auf die Knie fällt um ihn um Hilfe für Willehalm zu bitten (169,10 f.). Alyze: Obwohl Alyze, die Tochter des französischen Königspaares, nur im dritten Buch und am Ende des vierten Buches auftritt, hat sie dennoch entscheidenden Anteil am Geschehen. Im Auftrag ihrer Mutter agiert sie als Vermittlerin und fällt vor Willehalm auf die Knie (155,30). Mit dieser Handlung steht sie im starken Kontrast zur ablehnenden Haltung ihrer Eltern und des Hofes. Alyzes Anmut und ihre klare Schönheit lassen Willehalms Zorn augenblicklich verstummen. Die Königstochter ist eine Frauengestalt von vollendeter höfischer zuht, deren Reinheit und Anmut nur noch mit der Gyburcs zu vergleichen ist. So wie Gyburc ist junge reine süeze dar (154,9) auch die sceldenbcere (154,20), die Heilsbringerin, deren Anblick Glück verheißt und sieche wieder aufrichtet (155,5). Durch Alyze wird auch die harmonisierende Kraft des höfischen Ideals der Minne beschworen, indem sie Willehalm in aller güete mahnt, nicht durch Mißachtung der hövescheit seine ritterliche Ehre aufs Spiel zu setzen (157,5 ff). Alyzes güete zeigt sich vor allem an ihrem Verhalten gegenüber Rennewart, mit dem sie in heimlicher Liebe verbunden ist. Sie weiß auch als einzige über Rennewarts Herkunft Bescheid. Erst auf ihre inständige Bitte hin, ist der König bereit, Rennewart in den Dienst Willehalms zu geben (191,25ff). Sie bittet ihn für die Behandlung, die er durch ihren Vater erleiden mußte, um Verzeihung (213,16 ff). Mit ihrem Abschiedskuß für Rennewart wird sie auch zur liebreizenden Minnedame und zu einem Antrieb für Rennewarts Streben nach Rittertum.

214

Werk und Interpretation

Terramer: Terramer, der Vater der Gyburc, ist von Wolfram nicht einfach als mächtiger, tapferer und edler heidnischer Gegenspieler Willehalms gestaltet, sondern als eindrucksvolle Persönlichkeit. Terramer ist König über neun Länder, Vogt von Baldac und der admiral der Heiden. Mit einem gewaltigen Heer tritt er gegen Willehalm an und erringt einen verlustreichen Sieg, bei dem viele seiner Verwandten umkommen. Er selbst tötet Myle im Kampf (21,22ff.). Terramer kämpft in erster Linie im Namen seiner Götter, obwohl er angesichts der großen Verluste in der ersten Schlacht an ihrer Macht zweifelt (107,14). Dennoch hält er unerschütterlich an seinem Glauben fest. Während seiner Belagerung von Orange bedroht er Gyburc zwar mit dem Tod, doch im Glaubensgespräch mit ihr wird deutlich, wie sehr er seine Tochter trotz ihrer Flucht noch immer liebt (217,9ff.). Allerdings ist er unempfänglich für Gyburcs Argumente und zieht sein Heer von Orange nur deshalb ab, um für die zweite Schlacht besser gerüstet und ausgeruht zu sein. In seiner Ansprache vor seinem Heer wird offenkundig, daß seine Motivation für den Kampf nicht nur die Rache an Gyburc ist, sondern daß er die Weltherrschaft und die Vernichtung des christlichen Glaubens anstrebt (338,15ff.). Dadurch wird aus dem Krieg letztlich ein Krieg um die Weltherrschaft, der Krieg der Heiden zum Eroberungs- und der der Christen zum Verteidigungskampf. Auch in der zweiten Schlacht erweist sich Terramer als mutiger Kämpfer, der viele Christen und auch den Grafen Milon tötet (413,18ff.). Als er auf Willehalm trifft, wird er von ihm verwundet, kann aber mit Hilfe seines Sohnes Canliun, der sich dazwischen drängt, entkommen (441,30ff). Der herausragendste Wesenszug Terramers ist, daß er tiefes Leid darüber empfindet, daß er gegen sein eigenes Kind kämpfen muß. Mit Drohungen aber auch mit Beteuerungen seiner Vaterliebe, versucht er Gyburc zur Umkehr zu bewegen. Obwohl diese bemüht ist, ihm die Überlegenheit des christlichen Glaubens zu beweisen, hält er an seinem Glauben fest. Die Intensität der Religionsbindung Terramers ist kaum geringer als diejenige Gyburcs, obwohl der Erzähler keinen Zweifel daran läßt, daß Terramer irrt (vgl. jedoch 338,9 und u. S. 240f). Dennoch zeichnet sich für WOLFF (1934: S. 420) gerade in Terramers religiösem Bekenntnis eine Wandlung ab, gibt es Indizien, daß

Exkurs: Zur Verwandtschaftsstruktur

215

sich sein Widerstand gegen die christliche Religion allmählich lockert: „Schon als er den Sieg auf Alischanz trotz seiner Übermacht nur in so schwerem, opferreichen Ringen hatte an sich reißen können, hatte der Glaube Terramers an seine Götter eine erste Erschütterung erfahren; obwohl er sich gegen das Christentum noch mit allen Kräften wehrte, hatte er doch die Wundermacht des christlichen Gottes anerkennen müssen, die er im Schlachtenschicksal selbst erfahren hatte; in einer Klagerede, die in der Quelle ohne Vorbild ist, hat Wolfram das bei ihm schon Worte finden lassen (107,13fif.)." Doch WOLFF muß selbst einschränkend bemerken, daß eine Bekehrung des Führers aller Heiden wohl kaum in der Absicht des Autors gelegen haben könnte. Von einer Entwicklung Terramers wird man zwar nicht sprechen können, wohl aber davon, daß Wolfram in Terramer eine eindrucksvolle und durchaus berührende Gestalt geschaffen hat.

Exkurs: Zur Verwandtschaftsstruktur Die höfische Gesellschaft zur Zeit Wolframs war eine von Sippen dominierte Gesellschaft. Auch in der Willehalm-Dichtang wird die zentrale Bedeutung der sippe klar erkennbar: Wolframs Willehalm beschreibt zwar einen heiligen Krieg, aber er ist zugleich auch ein Familienkrieg. Die Auseinandersetzung hier mag in der Tat Teil eines größeren Konflikts zwischen Christentum und Heidentum sein, aber in diesem Werk wird sie auch als ein Streit von zwei sippen um eine Frau dargestellt. Das ist in der Bataille d'Aliscans auch der Fall, denn die Rolle der Familie war schon in der altfranzösischen Vorlage wichtig; bei Wolfram wird sie noch wichtiger. Auch in seinem Parzival-Roman ist die sippe von zentraler Bedeutung für die Interpretation des Werks (vgl. hierzu grundsätzlich BERTAU, 1983b: S. 190 - 240; SCHMID, 1986: S. 171 - 204); in der Gralswelt ist Verwandtschaft mit der Problematik der Sünde verbunden; in der Artuswelt bietet Verwandtschaft eine Möglichkeit zur Aussöhnung mit den Feinden. Im Willehalm ist die Bedeutung der Familie aber eine andere, denn die sippen sind für den mörderischen Krieg selbst verantwortlich (vgl. hierzu SCHMID, 1979: S. 270): Der Sippengedanke führt zu einer Verkettung von Bluttaten. Am Ende des Frag-

216

Exkurs: Zur Verwandtschaftsstruktur

ments bleibt jedoch unsicher, ob die sippe zur Beilegung des Konflikts beitragen kann. Für den modernen Leser scheint das Verwandtschaftsgewebe, das in den Werken Wolframs hergestellt wird, als überaus kompliziert, aber das heißt nicht, „daß es von sich aus kompliziert ist, sondern das heißt vorab nur, daß es für uns schwer vorstellbar ist" (BERTAU, 1983b: S. 190); Wolframs Publikum wäre das Verwandtschaftsgebilde wohl nicht so komplex erschienen. Auf der heidnischen Seite hat Wolfram zum größten Teil die Verwandtschaftsbeziehungen, wie sie in der Bataille d'Aliscans vorkommen, übernommen und teilweise präzisiert, denn in der französischen Dichtung sind die wichtigsten heidnischen Fürsten zwar miteinander verwandt, das Verwandtschaftsverhältnis wird normalerweise aber nicht genauer beschrieben; die Angaben des jongleur sind - nach BERNHARDT (1900: S. 43) - willkürlich und ungenau. Wolfram hat versucht, diese Beziehungen klarer darzustellen und weiter auszubauen (vgl. Anhang): Die Familie Terramers ist größer als die Desrames. Dabei hat Wolfram Figuren aus dem Roland-Stoff in Terramers Verwandtenkreis aufgenommen: Chanabeus, der Vater Terramers, ist Bruder Baligans (der gegen Karl den Großen gekämpft hatte); Terramers Kinder sowie die Söhne Purreis sind zugleich auch Enkelkinder Baligans; der heidnische König Marsilje (der im Rolandslied vorkommt) ist ein Onkel Tybalts. Auf der christlichen Seite hat Wolfram ebenfalls Änderungen vorgenommen: In Aliscans hat Guillaume nur sechs Brüder (nicht sieben wie in anderen chansons des Zyklus: der Vater Viviens in der Chevalerie Vivien - Guillaumes Bruder Garin d'Anseune - kommt in Aliscans nicht vor); auch die Verwandtschaftsbeziehungen in der Familie von Aymeris (Heimlich) sind z.T. undurchsichtig, denn, wie BERNHARDT (1900: S. 45) gezeigt hat, fuhren mehrere christliche Ritter ein „schwach beglaubigtes dasein in der sippe". In Wolframs Version hat Willehalm sieben statt sechs Brüder (dazugekommen ist Bertram von Berbester; der Ort Barbastre kommt in Aliscans vor, vgl. AI. 5141). Vivianz wie Vivien ist ein Schwestersohn Willehalms / Guillaumes (in beiden Dichtungen ist der Name der Schwester unbekannt); hinzugekommen als Schwestersohn ist Myle (vgl. hierzu S. 51). Die französische Königin, eine Schwester Willehalms, hat in Wolframs Version keinen Namen (in Aliscans heißt sie Blancheflor). Wie in der Vorlage hat Willehalms Bruder Bernart (Bernard) auch

Exkurs: Zur Verwandtschaftsstruktur

217

einen Sohn (Bertram), er scheint aber der einzige Bruder zu sein, der Kinder hat; es gibt jedoch eine Vielzahl von jungen Grafen deren Verwandtschaft nicht genau angegeben wird (vgl. Anhang), BERNHARDT (1900: S. 45f.) hat darauf hingewiesen, daß es auch Widersprüche in einigen Verwandtschaftsverhältnissen auf der christlichen Seite gibt: Wolfram scheint Terramers Stammbaum sorgfältiger durchdacht zu haben. Im Willehalm kommen Begriffe wie art, geslehte, künne, möge und sippe oft vor: STEVENS (1997, S. 9 - 30) hat den Versuch unternommen, zwischen diesen Begriffen zu unterscheiden: mage und künne bedeuten „a physical, clearly definable image of family members, whether living or dead (S.9); sippe stelle „an actual familial bond, although not necessarily a blood bond (S. 11) dar, geslehte sei eine Familie, die einen gemeinsamen Stammvater hat (S. 12); art könne zwar die gleiche Bedeutung wie geslehte haben, sei aber auch z.T. semantisch spezifischer angelegt, denn art „is repeatedly associated with extraordinary nobility and power, ... passed to exceptional knights from an illustrious line of forefathers" (S. 15; vgl. hierzu auch grundsätzlich JONES, 1990).

Warum hat Wolfram so viel Wert auf die Verwandtschaftsbeziehungen gelegt? Auf der einen Seite waren sie für ihn und sein Publikum viel wichtiger als für uns heute; auf der anderen Seite aber hat Wolfram der Verwandtschaft eine viel wichtigere Rolle gegeben als sie in Aliscans hat, denn im Willehalm ist sie zwar für den Krieg verantwortlich, scheint aber gleichzeitig, „eine tiefere Gemeinschaft von Christen und Heiden" zu begründen, um „die Differenz der Religionen überbrücken zu können" (KIENING, 1991: S. 190). In der Tat sind in diesem Werk alle Figuren miteinander verwandt. Die Verwandtschaft umschließt auch geteufte und ungetouße, denn alle haben denselben Ahnvater: Adam. Aber obwohl Christen wie Heiden von Adam abstammen, gehören scheinbar nur die Heiden zum geslehte Adams (vgl. 218, 17; 347,19). Die Christen haben eine andere, gemeinsame Verwandtschaft: Durch die Taufe sind sie alle Kinder Gottes geworden, wie uns der Prolog sagt: so bistu voter unt bin ich kint (l,8ff.) [so bist Du Vater und ich Kind]. Durch die Menschenwerdung des Sohn Gottes ist die Verwandtschaftsbeziehung zustande gekommen (vgl. 1,19 - 28), denn Gott ist in zweifacher Weise mit den Menschen verwandt: Als Schöpfer ist er der Vater; durch seinen Sohn ist er künne [Verwandter]. In der Taufe empfängt der Mensch den Namen Christi und wird

218

Exkurs: Zur Verwandtschaftsstruktur

dadurch genanne [Namensbruder] Gottes. Die Heiden, die ja nicht die Kinder Gottes sein können, da nicht getauft, haben jedoch keine vergleichbare Verwandtschaft mit ihren Göttern. Die Verwandtschaftsverhältnisse im Willehalm sind mit Spannungen beladen. Nach STEVENS (1997: S. 31 - 59) hat Wolfram das Verhältnis zwischen Vater und Sohn in seiner Version der AliscansGeschichte kritischer gemacht; das sei beispielsweise im Verhältnis zwischen Heimlich und seinen Söhnen und zwischen Terramer und seinen Kindern zu sehen. In der Tat hat Wolfram die Vater-Kind Beziehungen auf christlicher sowie heidnischer Seite thematisiert: Das fängt schon in der Vorgeschichte an, wo erzählt wird, wie Heimlich seine Söhne enterbt. Der Grund für diese Enterbung wird zwar nicht angegeben (vgl. o. S. 69f. und 210f.), aber letztendlich wird sie Willehalm dazu führen, gegen die Heiden zu kämpfen. Die Tatsache jedoch, daß Heimlich später seinem Sohn zu Hilfe kommen wird, um ihn bei der Verteidigung von Orange zu unterstützen, zeigt inwiefern die triuwe zur sippe Heimlich - trotz der Enterbung - an seinen Sohn bindet. Vor allem auf heidnischer Seite gibt es ein sehr problematisches Verhältnis zwischen einem Vater (Terramer) und seinen Kindern (Gyburc und Rennewart): Gyburc hat der Liebe und des Christengottes wegen ihren ersten Mann verlassen. Ihre sippe fühlt sich von ihr betrogen: Deswegen soll sie von ihrem Vater zurückerobert und bestraft werden. Die Spannungen in der Vater-Tochter-Beziehung treten in den Religionsgesprächen klar zutage (vgl. o. S. 91f. und 118ff.). Gyburc mag zwar ein problematisches Verhältnis zu ihrem Vater haben, aber sie fühlt sich noch als ein Teil seiner sippe und das, obwohl sie in Willehalms Familie aufgenommen wurde. Gyburc, die einzige Figur der Dichtung, die sich tatsächlich als Mitglied der zwei Familien empfindet, und die als einzige um die Toten an beiden Seiten trauert, wird - wie sie meint -jedoch von getauften und beiden gehaßt (306,141: Haß charakterisiert auch das Verhältnis Ehmereiz' gegenüber seiner Mutter, vgl. 75,17). Gyburc, die sich im Zentrum der Auseinandersetzung zwischen zwei sippen befindet, ist sicherlich diejenige, die am meisten unter dieser Familientragödie leidet. Auch das Verhältnis Terramer - Rennewart birgt Probleme in sich. Rennewart kehrt seiner sippe den Rücken nicht wegen Liebe oder Gott zu: Er kämpft gegen seine eigene Familie aus Haß. Obwohl er sich als „Terramers barn" [Terramers Kind] (288,30) bezeichnet,

Exkurs: Zur Verwandtschaftsstruktur

219

fühlt er sich von seinem Vater verraten; der Erzähler erklärt jedoch, inwiefern Rennewarts Haß auf einen Irrtum beruht (vgl. 285,5f). In Wolframs Version kommt es auch zu keinem direkten Kampf zwischen Terramer und Rennewart; im Willehalm tötet der Riese lediglich seinen Halbbruder Canliun: Ein Verwandtenmord ist es dennoch. Das Verhältnis zwischen Willehalm und seinen Geschwistern ist ebenfalls gespannt. Seinen Bruder Ernalt bringt er aus Versehen vor Orlens fast um; aus Zorn tötet er beinah seine Schwester, die französische Königin, wegen ihrer fehlenden trimve der sippe gegenüber: Es ist jedoch die sippe - in der Person seiner Mutter - die ihn hindert, diesen Mord zu begehen. An der französischen Königin sieht man, wie mächtig der Sippengedanke ist, denn als sie vom Tod ihrer Schwestersöhne hört ist sie auch sofort bereit, ihrem Bruder zu helfen. Die Verwandtschaftsbeziehungen innerhalb der Familie Heimrichs mögen in der Tat problembeladen sein, doch diese Spannungen werden auch innerhalb der Familie gelöst. Die Tatsache, daß die sippe solche Krisen meistern kann, zeigt ihre Starke. Wolfram übernimmt also viele der gespannten Familienbeziehungen der Vorlage, um sie teilweise weiter zu problematisieren; das betrifft das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern und auch zwischen Geschwistern. Eine der wichtigsten familiären Bindung ist die zwischen dem Onkel und seinem Schwestersohn (vgl. aber STEVENS, 1997, die behauptet, es gebe ein „shift of emphasis from the uncle-nephew relationship in the chanson to the father-child relationship in Willehalm"; S. 168). Willehalm und Gyburc haben keine Kinder; ihr Verhältnis zu Myle und - vor allem - Vivianz ist daher sehr innig. Vivianz ist nicht bloß der Schwestersohn Willehalms sondern auch der Ziehsohn Gyburcs (vgl. hierzu STEVENS, 1997: S. 79 - 84). Der Tod Vivianz' wird einer der wichtigsten Beweggründe für Willehalms sein; der Rachegedanke für Vivianz wird auch dafür ausschlaggebend sein, daß die sippe Willehalm unterstützt. Die sippe würde untriuwe gegenüber dem toten Familienmitglied zeigen, wenn sie nicht versuchen würde, seinen Tod zu rächen. Der Wunsch nach räche führt zwangsläufig zu weiterem Töten: Die Bluttaten sind - der sippe wegen - miteinander verkettet. Wonram hat das sicherlich zeigen wollen, denn im Willehalm baut er sorgfältig eine Symmetrie des Tötens auf. Während der ersten

220

Exkurs: Zur Verwandtschaftsstruktur

Schlacht tötet Willehalm Pinel (den neven eines neven Terramers); daraufhin tötet Terramer Willehalms swestersun Myle. Dann bringt Vivianz Terramers swestersun Lybilun um; Halzebier (ein neve Terramers) schlägt Vivianz zu Boden. Nach der Schlacht tötet Willehalm Arofei, Terramers Bruder. Der Sippengedanke ist also nicht nur ein Teil des mörderischen Tuns auf Alischanz: Er fuhrt direkt dazu. Wolfram thematisiert also nicht nur die Spannungen innerhalb der Sippen, sondern er zeigt auch, inwiefern die Sippen verantwortlich sind für die Weiterfuhrung des Krieges. Durch die komplexe Verwandtschaftsstruktur dieser Dichtung stellt Wolfram keine idealisierten Familienbeziehungen dar: Die zwei sich gegenüberstehenden sippen haben beide viele zwischenmenschliche Probleme und es sind teilweise eben diese Probleme, die zum Konflikt geführt haben. Die sippen haben zur Auseinandersetzung beigetragen; können sie aber auch an der Lösung des Konflikts maßgebend beteiligt sein? Die Trauer Gyburcs um ihre christlichen und heidnischen Verwandten, Willehalms Geste der Versöhnung durch Gyburcs Verwandten Matribleiz an seinen Schwiegervater Terramer sowie eine mögliche Ehe zwischen Rennewart und Alyze könnten dazu beitragen, den Streit beizulegen. Da die fF;7/e/i