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German Pages 167 [168] Year 1989
MEDIEN IN FORSCHUNG + UNTERRICHT Serie A Herausgegeben von Dieter Baacke, Wolfgang Gast, Erich Straßner in Verbindung mit Wilfried Barner, Hermann Bausinger, Hermann K. Ehmer, Helmut Kreuzer, Gerhard Maletzke Band 26
Werner Holly/Peter Kühn/Ulrich Piischel (Hgg.)
Redeshows Fernsehdiskussionen in der Diskussion
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1989
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Redeshows : Fernsehdiskussionen in der Diskussion / Werner Holly... - Tübingen : Nicmeycr, 1989 (Medien in Forschung + Unterricht: Ser. A ; Bd. 26) NE: Holly, Werner [Hrsg.]; Medien in Forschung und Untcrricht / A ISBN 3-484-34026-6
ISSN 0174-4399
© Max Niemeyer Verlag Tübingen 1989 Alle Rechte vorbehalten. Ohne Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus photomechanisch zu vervielfältigen. Printed in Germany. Druck: arco-druck GmbH, Hallstadt.
INHALT
Werner Holly, Peter Kühn, Ulrich Piischel Fernsehdiskussionen in der Diskussion. Zur führung
Ein1
Wolfgang Settekorn Politikinszenierung im französischen Fernsehen. Untersuchungen zu den Kandidatendebatten im Wahlkampf um die Präsidentschaft
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Ulrich Köpf "Lassen Sie mich zunächst einmal sagen". Kommunikative Strategien von Politikern in Fernsehdiskussionen am Beispiel der Spitzenkandidatendiskussion "Drei Tage vor der Wahl" vom 2.10.1980
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Josef Klein Überlegungen zur linguistischen Analyse fernsehtypischer Formen politischer Selbstdarstellung . .
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Heinrich Löffler Fernsehgespräche im Vergleich: Gibt es kulturoder programmspezifische Gesprächsstile?
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Harald Burger Diskussion ohne Ritual oder : Der Rezipient
domestizierte 116
Wolf Schneider Moderatorennöte - Moderatorenkünste
142
Heiner Geißler Politiker im Fernsehen
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Peter Glotz Die Spezialisierung politischer Programme als Gefahr für den Informationsauftrag. Überlegungen zur politischen Berichterstattung des Fernsehens in der Bundesrepublik - 1986
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WERNER HOLLY / PETER KÜHN / ULRICH PÜSCHEL FERNSEHDISKUSSIONEN IN DER DISKUSSION Zur Einführung
Fernsehdiskussionen - gemeint sind hier vorwiegend politische Fernsehdiskussionen in Frankreich, der BRD und der Schweiz - haben nach wie vor Konjunktur. Auch wenn der "Internationale Frühschoppen" gelegentlich schon etwas zombiehaft gewirkt hat und diese wie manche andere Sendung mit gutem Grund ausgelaufen oder abgesetzt ist politische Fernsehdiskussionen sind so etabliert wie Quizsendungen oder Magazine. Das mag mit medialen Gegebenheiten zu tun haben; sie sind billig zu produzieren, geben politischer "Information" durch die Bebilderung mit Personen den fernsehgerechten und publikumswirksamen "human touch", sie kanalisieren das Verlautbarungsrecht der Parteien auf noch erträgliche Weise, und sie erzielen - nicht nur in Wahlkampfzeiten - immerhin noch gewisse Einschaltquoten, obwohl rhetorische Brillanz oder argumentative Überzeugungskraft deutscher Politiker nur in seltenen Fällen so etwas wie Spannung und Interesse erzeugen. Daß Politiker sich danach drängen, in solchen Sendungen aufzutreten, hat dann auch weniger mit ihrer Diskussionslust zu tun als mit der nicht zu überbietenden Reichweite und Aktualität des Mediums. Fernsehen ist zum wichtigsten propagandistischen Forum geworden, und dabei sind sogenannte "Diskussionen" neben den 1 Minute 20Häppchen-Statements die besten Gelegenheiten zu wirkungsvoller Bildschirmpräsenz. Das doppelte Interesse von Fernsehmachern und Protagonisten hält also diese relativ junge Textsorte oder besser: diese "Familie von Gesprächstypen" im Programm und damit auch einen mehr oder weniger bewußten Etikettenschwindel. Denn politische Fernsehdiskussionen sind keine Diskussionen im Fernsehen, sondern lediglich deren Inszenierung, letztlich zum Zwecke von Propaganda (hier kein Stigmawort, sondern - wie inzwischen weithin üblich - wertneutral gebraucht).1 Diese These, die manche längst für trivial, andere aber für noch nicht belegt halten, beruht nicht nur auf Intuition, sondern läßt sich auch mit Mitteln der Gesprächsanalyse recht gut im Detail erhärten.2 Aber schon eine allgemeine Charakteristik von 'Diskussion' im Kontrast zu 'Fernsehdiskussion' macht grundsätzliche Unterschiede sichtbar. Sieht man einmal von der bezeichnenden Inflation im Gebrauch der Ausdrücke S. z.B. Bergsdorf 1978, 64, Anm. 18. Dazu Holly/Kühn/Püschel 1986.
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Diskussion und diskutieren ab, existiert dahinter doch noch ein relativ präziser Hochwertbegriff von 'Diskussion', der in den Köpfen der Sprachteilhaber und sogar in Schulbüchern ziemlich fest verankert ist. Diskussionen sind dem Ideal nach themabezogen, sachlich, rational, argumentativ; es geht um die Überzeugung von einer expliziten These bzw. um ihre Widerlegung. Der Zugang ist frei, der Status der Teilnehmer gleich. Nicht der Stärkste gewinnt, sondern das beste Argument. Diskussionen sind zeitlich offen; sie enden, wenn alle Argumente ausgetauscht sind bzw. ein echter Konsens gefunden ist. Nichts davon im Fernsehen. Politische Fernsehdiskussionen sind personenbezogen, emotional, plakativ; es geht um alles mögliche: Information, Unterhaltung, Selbstdarstellung, Karrierearbeit, Parteienwerbung, Legitimation, Interesseartikulation, Beschwichtigung, Meinungsbildung usw.; das meiste davon wird nicht explizit verfolgt, sondern unauffällig bis verdeckt. Der Zugang ist (in den meisten Sendetypen) wenigen Spitzenpolitikern und Topjournalisten vorbehalten, der Status der Teilnehmer ist prinzipiell ungleich. Nicht das beste Argument gewinnt, sondern der gewiefteste Medienkommunikator. Fernsehdiskussionen sind (meist) zeitlich begrenzt; sie enden, wenn die Sendezeit abgelaufen ist. Dazu kommen die Besonderheiten des Mediums (Setting, Bildgestaltung, Personalisierung, Professionalisierung, Starkult usw.) und die spezifischen historisch-institutionellen Gegebenheiten der Medienverfassungswirklichkeit, d.h. in den öffentlich-rechtlichen Anstalten die Faktoren Parteieneinfluß und -kontrolle, Programmauftrag, Einschaltquoten, Ausgewogenheit und dergleichen, in den privaten Sendern die befürchteten Folgen von Kommerzialisierung, Unausgewogenheit, Entpolitisierung usw. Vor allem aber zählt die Tatsache, daß alles vor einem in der großen Mehrzahl weit entfernten, verstreuten und sehr heterogenen Publikum abläuft, das kaum Möglichkeiten der Rückmeldung hat. Es ist augenscheinlich, daß Diskussion und Fernsehdiskussion nur noch wenig miteinander gemein haben. Es ist eine neue medienspezifische Gesprächssorte entstanden, die allerdings keine starre Struktur aufweist, sondern in vielen Varianten mit gewissen "Familienähnlichkeiten" existiert. Natürlich gelten Einzelfalluntersuchungen (wie auch die hier gesammelten linguistischen Analysen) nicht schon über ihren Untersuchungsbereich hinaus auch für andere oder gar alle Varianten. Aber nach einer ungetrübten Betrachtung des kommunikativen Rahmens solcher Sendungen kann es in detaillierten Analysen eigentlich nicht mehr darum gehen, ο b solche Sendungen einen Diskussionscharakter lediglich vorspielen, sondern nur um die exemplarische Darstellung, w i e und in welchen Regelvarianten solche Gespräche ablaufen. Anhand zweier Sendungen ("ZDF-Hearing", "Bonner Runde") haben wir einige Kategorien der Gesprächsführung mit Mitteln der neueren sprachpragmatischen Forschung genauer analy-
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siert: Sprecherwechsel, Themenbehandlung und die wesentlichen Texthandlungen in solchen Gesprächen (textsortenkonstitutive Muster). Dabei lassen sich Beispiele für konkrete Ausprägungen von Diskussionsinszenierungen an bestimmten Erscheinungen festmachen, die hier allerdings nur in Auswahl und grob zusammengefaßt dargestellt werden können:3 - Sprecherwechsel: wer wann spricht, wird nicht vom Fortgang des Themas bestimmt - wie in einer Diskussion zu erwarten -, sondern vom Zusammenspiel eines Proporzund eines Provokationsschemas. Nur wer heftig angegriffen wird, darf etwas "außer der Reihe" sagen. Ansonsten geht es wie im Parlament im schönen Wechsel von Regierungs- und Oppositionslager, der Größe nach. Das ergibt zwar die vielbeschworene Ausgewogenheit, aber keine Diskussion, die den Namen verdient. - Themenbehandlung: Was auch immer thematisch auf dem Programm steht - ein Politiker wird vor allem zu dem Thema sprechen, das ihm gefällt. Unangenehmes wird er bestenfalls kurz abarbeiten oder neutralisieren, um dann mit Hilfe eines "Kohärenzjokers" (Typ: "im übrigen") das Thema anzubinden, das ihm behagt oder dem Gegner wehtut. Der thematische Zusammenhalt des Gesprächs, ein zentrales Merkmal einer guten Diskussion, ist deshalb häufig mehr als locker, wie gelegentlich auch die Formulierung der Themafrage schon zeigt. - Wesentliche Texthandlungen: Diskussionen bestehen im wesentlichen Kern aus einer 'These' und ihren 'Begründungen· auf der einen Seite, 'Widerlegungsversuchen' und ihren 'Begründungen' auf der anderen Seite. Politiker sind aber nur insoweit bereit, 'Thesen' zu 'begründen' und zu 'widerlegen', wie es ganz anderen Zielen dient: 'Forderungen', 'Interessenartikulationen', 'Aufrufen' an die Wähler, 'Selbstdarstellungen', 'Eigenlob', 'Angriffen', 'Beschwichtigungen' - letzten Endes allesamt zum Zwecke von 'Werbung' und 'Legitimation'; diese sind die eigentlichen Kernmuster der neuen Gesprächssorte. Auf diese hin wird alles funktionalisiert. Klingen Politikeräußerungen einmal nach Diskussion, handelt es sich zumeist um Argumentationsflitter; auf dem Fuße folgt die werbungsträchtige Wertung: "und das würd ich allerdings für ein Unglück halten" oder eben "und ich bin sehr froh, daß wir das geschafft haben". Die vielfältigen Aufgaben, die Teilnehmer an solchen hochkomplexen Gesprächen wahrzunehmen haben, werden leichter gelöst durch die Verwendung floskelhafter Versatzstücke, wie wir sie bis zum Überdruß aus solchen Sendungen kennen. Aber gerade mit deren Hilfe bewerkstelligen die routinierten Sprecher es allemal, ans Wort und vom Wort zu kommen, Themen zu lancieren und abzuwürgen, verständlich und überzeugend Propaganda abzusetzen und dabei noch argumentativ zu wirken. Die Verfestigung solcher Muster und Ausdrucksformen schafft allerdings 3
Vgl. Holly/Kühn/Püschel 1986, bes. Kap. 5-7.
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rasch den Eindruck zunehmender Ritualisierung, Erstarrung und führt zu Langeweile - dem Todfeind der MedienAmüsement-Kultur. Schon deshalb ist man ständig am Experimentieren mit neuen Formen: Pro- und Kontra-Diskussionen mit und ohne Studiopublikum, mit und ohne Abstimmungen; Politikerkonfrontationen ohne Moderatoreneingriffe; ein Politiker gegen mehrere Journalisten; Bürger fragen Politiker; gemischte Gespräche mit Politikern, Experten, Betroffenen, Interessevertretern; Open-end-Gespräche. Als allgemeine Tendenz läßt sich ausmachen: weniger Politiker, weniger reine Politik, weniger strenge, starre Arrangements, mehr Talkshow-Elemente. Dies bringt zwar Abwechslung, aber auch neue Probleme. Die Gespräche werden oft noch heterogener, zusammenhangloser, diffuser. Die Vielfalt der Interessen und die verschärfte Asymmetrie zwischen Medienprofis und Laien verstärkt das ohnehin angelegte Durcheinander in solchen Fernsehgesprächen. Dabei entstehen mitunter aber auch vielsagende Widersprüche, Konfrontationen werden deutlicher, entlarvende Diskrepanzen treten zutage. Es gibt mehr und vielfältigere Informationen, als dies beim glatten eingespielten Ritual der Politiker üblich ist. Nur: mit Diskussionen haben auch diese Gespräche fast nichts zu tun. Umso erstaunlicher, wie hartnäckig immer noch am Diskussionsetikett festgehalten wird oder auf Diskussionsregeln rekurriert wird, um die Qualität der Gespräche herauszustreichen oder zu verbessern. Es ist gewiß nichts dagegen einzuwenden, daß neue mediengerechte Gesprächssorten entstehen. Nicht einmal, daß man sie "Diskussionen" nennt, ist anfechtbar; der Ausdruck ist schließlich nicht gesetzlich geschützt. Es liegt aber der Verdacht nahe, daß - wie im Fall der Parlaments"debatten" - unzulässigerweise mit doppeltem Boden gearbeitet wird. Obwohl man es besser weiß oder wissen könnte, wird über Strecken so getan (und dies wird oft sogar von den Protagonisten selbst geglaubt), als ob man diskutiere, während eben in Wirklichkeit ganz anderes nach ganz anderen Regeln betrieben wird. Man will vom Hochwert dieser klassischen Gesprächssorte profitieren, die aus der Wissenschaft kommt und eine ehrwürdige aufklärerisch-politische Tradition vorzuweisen hat. Diskussionen sind nun einmal d a s demokratische Verfahren schlechthin, zur Meinungsbildung und Entscheidungsfindung gleichermaßen exklusiv legitimiert. Ob der Etikettenschwindel nun bewußt geschieht oder nicht - es werden damit doch institutionelle Arrangements, spezieller: Gesprächsverfahren ideologisch ausgebeutet, und zwar auf recht unauffällige Weise, denn die Wirkung der F o r m e n ist eben noch sublimer und raffinierter als die ideologischer I n h a l t e . Einer demokratischen Diskussionskultur ist mit solchen Gesprächen also kein Dienst erwiesen. Hier wären andere Fähigkeiten gefragt: Verständnissicherndes Paraphrasieren und Nachfragen statt Umdeuten, präzises Begründen und Bezweifeln statt Pseudoargumentieren und Bewerten,
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wirkliches Eingehen auf die Argumente des anderen statt werbunsrelevantem Auswählen thematischer Aspekte, überhaupt: Orientierung am Thema, dazu Zeit und Sachlichkeit. Also nichts fürs Fernsehen. Umso wichtiger ist die sprachkritische Bewußtseinsbildung bei den Konsumenten, soll das Medium nicht ausschließlich den Machern und Profis überlassen bleiben, während der Zuschauer sich höchstens verdrossen abwenden kann, wenn er nicht sogar aus Sympathie oder Ratlosigkeit auf die Tricks der großen Kommunikatoren hereinfällt. Schlimmer noch: ohne die ständige Reflexion auf den manipulativen Umgang mit sprachlichen Verfahren verschiedenster Art geraten wir - zwischen Ohnmacht und Abgeklärtheit schwankend leicht in eine Art stillschweigender zynischer Komplizenschaft: wir werden zwar getäuscht, aber machen wir es nicht genauso - nur eben auf anderen Feldern? Wir mißbilligen vielleicht grundsätzlich die Tricks, aber solange sie gegen den Gegner gehen, bewundern wir noch mehr die Professionalität. Moralisches Einklagen von Gesprächsregeln im Sinne von nichtmanipulativer Kommunikation muß sich auf konkrete Fälle beziehen können, und derlei Medienkritik muß sprachwissenschaftlicher Überprüfung standhalten. Deshalb sind Einzeluntersuchungen bestimmter Sendeformen notwendig; sie können intuitive Sprachkritik explizieren, begründen, konkretisieren. Sie bedürfen aber auch der Ergänzung durch die Perspektive der Macher und Protagonisten. Ohne ihre Institutioneninnenansicht und ohne die Kenntnis der Ziele, die sie verfolgen, bleiben sprachwissenschaftliche Interpretationen einseitig, wenn nicht naiv. In diesem Band sind außer sprachwissenschaftlichen Arbeiten auch Aufsätze eines Journalisten und zweier Politiker gesammelt. Die Perspektivwechsel sind aufschlußreich. Während sich das linguistische Interesse auf die Regelhaftigkeit der spezifischen Gesprächsformen richtet und auf die sie bedingenden Faktoren, haben die Macher und Moderatoren ihre Erfahrungen und Probleme mit der Praxis im Blick: den Moderatoren und Gesprächsteilnehmern nützt die Kenntnis von Gesprächsregeln nur insoweit, als sie in griffige praktische Anweisungen übersetzbar sind. Wen wundert es, daß Politiker tun, was sie immer tun? Sie legitimieren ihre Vorgehensweise (insoweit sie in der Regierung sind) und kritisieren alles, was dem Gegner zu nützen scheint, und sogar den Medieneinfluß der Parteien (was nur Sinn macht in der unterlegenen Rolle der Opposition). Am intensivsten beschäftigt sich Wolfgang S e t t e k ο r η mit dem Inszenierungscharakter von Fernsehdiskussionen. In seinem Beitrag "Politikinszenierung im französischen Fernsehen" stellt er den engen Zusammenhang von Fernsehen mit der Geschichte der fünften Republik heraus. Einerseits bedienten und bedienen sich die Spitzenpolitiker dieses Mediums zu Propagandazwecken, andererseits formt das Fernsehen mit seinen medienspezi-
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fischen Anforderungen den Stil und die Präsentation der öffentlichen Rede. In den vergangenen dreißig Jahren läßt sich eine stetige Anpassung der Politikpräsentation an medienwirksamere Formen beobachten, die von der direkten Ansprache der Spitzenpolitiker über Interviewund Gesprächsformen bis zur direkten Konfrontation der Hauptgegener in Entscheidungssituationen reicht. Dabei erhält die Form der Politikinszenierung zunehmend an Gewicht - sie wird gewissermaßen zum Inhalt. An Gewicht gewinnt zudem die Institution, die die Inszenierung vornimmt. Settekorn vertritt die These, daß das Fernsehen in Frankreich in verstärktem Maß nicht nur über Politik informiert, sondern sie eigenständig inszeniert und damit zusehends die Funktionen traditioneller Institutionen wie des Parlaments übernimmt. Diese These wird an der Einleitungssequenz der Kandidatendebatte vom 28.4.1988 belegt. In seinem Beitrag zu kommunikativen Strategien von Politikern ("Lassen Sie mich zunächst mal sagen") analysiert Ulrich K ö p f das "verschleierte Doppelspiel" der Politiker, dem zugleich ein unüberwindbarer kommunikativer Konflikt einprogrammiert ist. Eine zweifache Zielsetzung verfolgen die Protagonisten: Sie wollen - ganz legitim für sich und ihren Standpunkt beim Zuschauer werben; sie möchten aber auch - gut verständlich - ihre Werbeabsicht vor dem Zuschauer verbergen. Deshalb tun sie so, als ob sie miteinander diskutieren. Aber genau das führt zum Konflikt. Denn die Regeln politischer Werbung und rationaler Diskussion lassen sich einfach nicht ständig in Einklang miteinander bringen. Wer wirbt, muß gegen Diskussionsregeln verstoßen; und wer diskutiert, kann nicht immer werben. Also bleibt die Diskussion auf der Strekke, was Köpf in Detailanalysen zeigt. Mehr noch - wer erfolgreich werben will, muß die Diskussionsregeln systematisch verletzen. Der advocatus diaboli kann sogar Maximen formulieren für schmutzige Tricks auf dem Weg zum Erfolg. Bestünde zwischen den Politikern und Zuschauern ein gemeinsames Wissen über die Regeln des "verschleierten Doppelspiels", dann könnten die Politiker dieses natürlich nicht betreiben. Tatsächlich erkennen auch viele Zuschauer ganz intuitiv, daß in der Fernsehrunde nicht diskutiert wird. Aber nach welchen Regeln es dann geht, bleibt für sie weithin ungeklärt. Dies führt zu Unbehagen an Fernsehdiskussionen, was geringere Einschaltquoten zur Folge hat; und das wiederum führt zu Experimenten der Rundfunkanstalten mit neuen Gesprächsformen. Köpf deutet an, daß der kritische "linguistische Kommentar" bei diesen Experimenten hilfreich sein könnte. Auch Josef K l e i n beschäftigt sich in seinen "Überlegungen zur linguistischen Analyse fernsehtypischer Formen politischer Selbstdarstellung" mit Regeln der Fernsehdiskussion. Allerdings geht sein Frageinteresse in eine andere Richtung. Klein untersucht nämlich die Erwartungen, die die Zuschauer an das Gesprächsverhalten
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der auftretenden Politiker haben. Er bedient sich bei ihrer Befragung eines eleganten technischen Verfahrens, bei dem sie während der Sendung per Knopfdruck markieren können, wann ihnen am Verhalten der Politiker etwas gefallen oder mißfallen hat. Diese Signale werden zusammen mit dem Fernsehgespräch auf Band gespeichert, so daß bei einer erneuten Betrachtung die Zuschauer im Nachhinein befragt werden können, warum ihnen jeweils etwas gefallen bzw. miBfallen hat. Für Klein haben die Zuschauer "regelbestimmende Autorität", und deshalb kann er deren Urteile über das Gesprächsverhalten der Politiker in Kommunikationsmaximen umformulieren, die als Normen des "zivilisierten Streitens" gelten können. Klein orientiert sich dabei an den Grice'sehen Maximen (Grice 1975), die er zugleich - gestützt auf sein empirisches Material - einer kritischen Prüfung unterzieht. Er bringt an den Grice'sehen Maximen nicht nur Modifikationen an und schlägt Erweiterungen vor, sondern er konkretisiert sie vor allem. Klein formuliert also Regeln für den nichtmanipulativen Umgang der Politiker miteinander - zumindest aus der Sicht der Zuschauer. Denn über eines muß man sich im klaren sein: Wenn die Politiker in ihrem Gesprächsverhalten den Erwartungen der Zuschauer entsprechen, heißt das noch lange nicht, daß die Politiker nicht manipuliert hätten. Es ist immer damit zu rechnen, daß sie dabei nur besonders geschickt vorgegangen sind. Eine andere Fragestellung verfolgt schließlich Heinrich L ö f f 1 e r : "Fernsehgespräche im Vergleich: Gibt es kultur- oder programmspezifische Gesprächsstile?" Ihm geht es dabei nicht primär um politische Fernsehdiskussionen, sondern um Diskussionsrunden mit Nichtpolitikern, bei denen möglichst der Eindruck des natürlichen Gesprächs in Form des unstrukturierten Gedankenaustausche, der geistreichen und intellektuellen Unterhaltung erzeugt werden soll. Ein solches Gespräch erscheint nach Löffler dann gelungen, wenn sich bei Teilnehmern wie Zuschauern ein "kommunikatives Wohlbefinden" einstellt, d.h. wenn die Teilnehmer sich gut unterhalten und die Zuschauer sich gut unterhalten fühlen. Diesem Ziel können verschiedenartige Gesprächsstile dienen, die ihre Vorbilder in Stilen des Alltagsgesprächs haben. Welche Art von Gesprächsstil die Zuschauer nun erwarten, könnte kultur- oder landesspezifisch sein. Löffler vergleicht eine bundesdeutsche Gesprächsrunde mit einer schweizerdeutschen ("Moment mal", ARD, und "Ziischtigsclub", DRS); die gewählten Beispiele weisen deutliche Divergenzen auf. So hat das deutsche Beispiel den unübersehbaren Charakter eines Wettstreits, bei dem das gestellte Thema kaum behandelt wird und die Beziehungskonflikte zwischen den Teilnehmern zum "eigentlichen" Thema werden. Im Schweizer Beispiel herrscht dagegen vorwiegend eine Atmosphäre von Harmonie, die z.B. dadurch bewirkt wird, daß die Teilnehmer sich bemühen, das Gesprächsthema kooperativ und einvernehmlich abzuhandeln. Das schließt natürlich Spannungen zwischen den
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Teilnehmern nicht aus. Aus dem "Ziischtigsclub" zieht nun derjenige Zuschauer mehr "kommunikatives Wohlbefinden" , der ein harmonisches und themenorientiertes Gespräch bevorzugt, aus "Moment mal" dagegen der Zuschauer, der den Wettstreit - um nicht zu sagen: die Hahnenkämpfe - liebt. Ob solche Vorlieben tatsächlich auch kultur- und landesspezifisch sind, läßt Löffler in der Schwebe. Es gibt zweifellos unterschiedliche Stile, aber auch im Hinblick auf Formen ist die Fernsehdiskussion in der Diskussion. Die herkömmliche Form ä la "Bonner Runde" (ZDF) oder "Fernsehdiskussion" (ARD) - Politiker bzw. Experten diskutieren mit Journalisten unter der Gesprächsleitung eines Moderators - hat sich überlebt. Die Fernsehanstalten experimentieren mit verschiedenen Sendeformen: "Bürger fragen ...", "Fünf nach zehn" (ZDF) oder "Pro und Contra", "Schlag auf Schlag" (ARD) versprechen statt "hoher" Politik Bürgernähe, statt politischer Selbstdarstellung persönliche Betroffenheit, statt eingespieltem Gesprächsverlauf Spontaneität und Öffnung des Gesprächs. Die Veränderungen betreffen dabei einerseits Aspekte der mediendramaturgischen Konzeption und andererseits die personelle Zusammensetzung und Ausweitung des Teilnehmerkreises. Beide Gesichtspunkte werden in den Beiträgen von Harald Β u r g e r "Diskussion ohne Ritual oder: der domestizierte Rezipient" und von Wolf S c h n e i der , "Moderatorennöte - Moderatorenkünste" thematisiert. Burger beleuchtet neuere Sendekonzepte aus der Perspektive des Sprachkritikers, Schneider schildert seine persönlichen Eindrücke über Vorbereitung, Ablauf und Wirkungen von Talkshows mit Politikern. In beiden Beiträgen werden Möglichkeiten und Perspektiven diskutiert, wie man persönlicher Imagepflege und Parteipropaganda in Fernsehdiskussionen entgegenwirken könnte. Burger sieht in Veränderungen der stereotypisierten Mediendramaturgie die Möglichkeiten, die Inszenierung von Propaganda als Diskussion zu durchbrechen. Er nennt dabei Open-end-Formen, eine Öffnung des Raums (z.B. durch Zuschaltung weiterer Teilnehmer), eine Individualisierung des Raums (z.B. Veränderung des sterilen DiskussionsSettings), eine thematische Öffnung (z.B. Erweiterung der Themenbereiche über die Politik hinaus) sowie vor allem eine unmittelbare Beteiligung der Zuschauer und Zuhörer. Besonders die aktive Zuschauerbeteiligung ist nach Burger zunächst ein Gewinn für die Weiterentwicklung und Dynamisierung von Fernsehdiskussionen, denn der aktive Rezipient läßt sich oft nur schwer in ein vorgeplantes Schema pressen. Burger befürchtet trotz dieser Veränderungen allerdings neue Gefahren und Rituale politischer Selbstdarstellung und Propaganda. Dies gilt sowohl für mediendramaturgische wie für personelle Veränderungen. So stellt Burger fest, daß Politiker selbst in Open-end-Gesprächen sofort Rederecht und Redezeit reklamieren, wenn sie beispielsweise eine Behauptung oder An-
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schuldigung des politischen Gegners vor dem Fernsehzuschauer nicht für längere Zeit unwidersprochen im Raum stehen lassen wollen. In bezug auf die verschiedenen Möglichkeiten der Zuschauerbeteiligung an Diskussionssendungen weist Burger an mehreren Beispielen nach, daß der aktive Rezipient ein domestizierter Rezipient ist, da er einerseits bereits sorgfältig ausgewählt worden ist und andererseits von den Medienprofis im Gespräch selbst jederzeit diszipliniert werden kann. Besonders die Polit-Promis werden durch Institution und Moderation sorgsam abgeschirmt, sei es durch die erwähnte Vorselektion der Laien-Teilnehmer, durch medientechnische Kniffe (z.B. Mikrofonentzug, Telefonschleusen) oder durch die Moderation (z.B. gesprächsstrukturelle Depolarisierung, Kompromittierung der Personen usw.). Es bilden sich also neue Rituale heraus, die es Politikern und Journalisten gestatten, wiederum persönliche Selbstdarstellung und Propaganda als diskursives Gespräch in Szene zu setzen. Dabei zeigt sich eine Tendenz: Je stärker ein Rezipient an einem Gespräch beteiligt sein soll, um so stärker die Versuche und Mittel, sein Verhalten zu reglementieren. Erweist sich ein Beteiligter einmal als hartnäckiger, nachhakender und engagierter Diskutant, dann wird er entweder durch die institutionellen Gegebenheiten oder das Geschick der Medienprofis diszipliniert, oder aber er stellt sich gewissermaßen selbst bloß, da er durch sein starkes Engagement und die ständige Polarisierung unkontrolliert und agressiv wirkt, das Gespräch außer Kontrolle gerät und längere simultane Gesprächspassagen das Zuhören erschweren oder unmöglich machen. Der Zuschauer möchte eben am Fernseher keine Art Familienstreit, sondern aufbereitete Natürlichkeit. Burgers Fazit: Der mediengerichte Rezipient ist der domestizierte. Kritik an den zu Propaganda-Ritualen erstarrten Fernsehdiskssionen kommt aber auch von den Fernsehmachern selbst. Dabei liest sich der Beitrag von Schneider als Appell an Vernunft und Verantwortungsgefühl der teilnehmenden Journalisten und Politiker. Er schildert, welche inneren Kämpfe der engagierte Journalist und Moderator auszufechten hat. Nur der inhaltlich und sprachlich kompetente Journalist, der personellen Abhängigkeiten und Verfilzungen widersteht, ist in der Lage, ein informatives und kurzweiliges "Streitgespräch" zu führen. Die beiden Beiträge stimmen nachdenklich: Schneider zeigt die ständigen Nöte des anspruchsvollen und engagierten Journalisten; Burger zeigt, daß jegliche Veränderung des Diskussionskonzeptes weder Journalisten noch Moderatoren - geschweige denn die Politiker - jemals daran hindern wird, im Fernsehen das zu tun, was sie immer tun: ihre eigene Person und politische Weltanschauung auf Kosten ihrer Gegenspieler zu legitimieren und herauszustellen. Natürlich sehen das die Politiker, die hier zu Wort kommen, ein wenig anders. Selbst wenn sie die Machtdi-
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mension, um die es zumindest auch geht, gar nicht leugnen würden, führen sie doch lieber anderes ins Feld: Die Ansprüche der Zuschauer auf politische Orientierung, auf praktizierte Meinungsfreiheit, auf mehr als das unerbittliche Amüsement, das Neil Postman uns prophezeit. Auf diesem Hintergrund fordert Heiner G e i ß 1 e r ("Politiker im Fernsehen") von einem überzeugenden Politiker Sachkompetenz, Verständlichkeit, Widerstand gegen Begriffsumwertungen, Provokationsbereitschaft, Vermeidung von persönlicher Verunglimpfung, dazu professionelle Sicherheit. Der Beitrag von Peter G l o t z ("Die Spezialisierung politischer Programme als Gefahr für den Informa11 tionsauftrag ) , der ebenfalls die Bedeutung des Fernsehens als politisches Medium hervorhebt, warnt eindringlich vor inhaltsleerer Telegenität, Gefälligkeitsjournalismus und Selbstgleichschaltung. Nur: Werden die Parteien ihren Einfluß auf die Medien von selbst verringern, besonders diejenigen, die gerade die Mehrheiten haben? Werden die Politiker den Versuchungen widerstehen, die sie selbst so gekonnt kritisieren, oder werden sie sich damit begnügen, daß es so aussieht, als widerstünden sie? Von Helmut Schmidt wird ein Ausspruch überliefert, der gegen die Verführbarkeit durch Politiker Mut macht, daß nämlich auf die Dauer im Fernsehen jeder so aussieht, wie er ist. Das mag richtig sein und uns davor bewahren, dauerhaft auf Personen hereinzufallen. Wie aber, wenn die Gefahren nicht so sehr in persönlicher Dämonie liegen, sondern in unauffälligen institutionellen und medialen Arrangements, in Strukturen, die unbeachtet bleiben und so gar nicht als politische Gegner taugen, während uns die großen Kommunikatoren inzwischen spannend, unterhaltsam, informativ, verständlich und ausgewogen scheindemokratische Meinungsbildung vorführen - z.B. als politische Fernsehdiskussionen? Literatur
Bergsdorf, W. (1978): Politik und Sprache. München (Geschichte und Staat. 213). Grice, H.P. (1975): Logic and Conversation. In: Cole, P./J. L. Morgan (eds.), Syntax and Semantics, Vol.3. New York, San Francisco, London, 41-58. Holly, W./P. Kühn/U. Püschel (1986): Politische Fernsehdiskussionen. Zur medienspezifischen Inszenierung von Propaganda als Diskussion. Tübingen (Medien in Forschung und Unterricht. Serie A. 18).
WOLFGANG SETTEKORN POLITIKINSZENIERUNG IM FRANZÖSISCHEN FERNSEHEN Untersuchungen zu den Kandidatendebatten im Wahlkampf um die Präsidentenschaft
1. Politik und Fernsehen im Frankreich der fünften Republik - ein enges Wechselverhältnis In Frankreich weist das Verhältnis von Staatsform, Politik und Fernsehen eine Besonderheit auf: die fünfte Republik und das französische Fernsehen sind miteinander aufgewachsen und haben sich wechselseitig beeinflußt. Änderungen auf der politischen Ebene waren fast immer von Änderungen beim staatlichen Rundfunk und Fernsehen begleitet, während besonders das Fernsehen wesentlich dazu beitrug, daß die Formen öffentlichen politischen Handelns immer mehr an den Möglichkeiten und Bedürfnissen einer mediengerechten Inszenierung ausgerichtet wurden. Daß der Staat in zunehmendem Maß wie ein Unternehmen der Unterhaltungsindustrie auftritt, hat schon 1977 Roger-Gerard Schwarzenberg in seinem Buch "L'Etat spectacle. Le Star System en politique" (Der Show-Staat. Das Starsystem in der Politik) dargelegt. Die spätere Entwicklung hat, so meine ich, die Ergebnisse seiner Analyse - nicht nur für Frankreich - bestätigt. Dort wurde 1958 mit der fünften Republik eine Präsidialverfassung eingeführt. Sie brach die Macht des Parlaments und verschaffte dem Präsidenten an der Spitze des Staates eine starke Stellung mit ausgeprägter Bindung an die Person des Amtsträgers. De Gaulle verstand es immer wieder, mit Volksabstimmungen die Zustimmung zu Gesetzesvorlagen mit der Bestätigung seiner Person zu verbinden (Miquel 1984, 271ff.; Schwarzenberg 1977, 306f.; Guichard 1985, 170ff.); in seiner Fernsehansprache vom 6.1.1961 kommt dies deutlich zum Ausdruck: Frangaises, Frangais, vous le savez, c'est ä moi que vous allez repondre... C'est pourquoi je me tourne vers vous, par dessus tous les intermediaires. En verite, qui ne le sait? L1affaire est entre chacune de vous, chacun de vous et moi-meme" (zit. nach: Schwartzenberg 1977, 306) Man sprach von der Telecratie, als einer Form der Ausübung politischer Herrschaft mittels Fernsehen. De Gaulle trat 1969 zurück, nachdem er in einer Volksabstimmung keine Mehrheit für seine Regionalisierungsgesetze bekam. Mit Pompidou, der 1974 verstarb, setzte ein Wandel der über das Fernsehen vermittelten Politikpräsentation ein, die sein Nachfolger Giscard d'Estaing zu einem vollends fernsehgerechten Stil entwickelte. Hatte er zunächst da-
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durch Aufsehen erregt, daß er als Finanzminister im Pullover vor die Fernsehkamera trat und öffentlich Akkordeon spielte, so bediente er sich im Verlauf seiner Amtszeit des direkten Gesprächs mit ausgewählten Personen aller Altersstufen und sozialer Klassen, um seine Politik zu erläutern. Neben den Monolog, die offizielle Ansprache und das Frage-Antwortspiel der offiziellen Pressekonferenzen trat der - zumindest vordergründig eher informelle Dialog, das Gespräch mit ausgewählten "Menschen wie Du und ich" als Form der über Fernsehen vermittelten Politikpräsentation. Auch in dieser Form blieb, wie in den politischen Fernsehdiskussionen, deren es in Frankreich verschiedene gibt, die Propagandafunktion implizit (Holly/Kühn/Püschel 1986), aber gleichwohl manifest. So gesehen erscheint das Medium Fernsehen in Frankreich als ein Mittel politischen Handelns. Es war und ist staatlicher Einflußnahme unterzogen, die sich auf die Formen und Inhalte der Sendungen ebenso bezieht wie auf die institutionellen Strukturen. Andererseits nutzt die Politik und die Politikpräsentation dem Fernsehen besonders dann, wenn mediengerechte Inszenierungen einen hohen Grad an Aufmerksamkeit erregen. Die fortschreitende Entwicklung dieses Wechselbezugs, in deren Verlauf immer mehr Unterhaltungselemente Eingang fanden und eine Bindung des öffentlichen politischen Handelns an möglichst fernsehgerechte Personen erfolgte, ist oft kritisiert worden: La politique, autrefois, c'etaient des idees. La politique aujourd'hui, ce sont des personnes. Ou plutöt des personnages. Car chaque dirigeant parait choisir un emploi et tenir un role. Comme au spectacle.[...] Aujourd'hui, le spectacle est au pouvoir. II n'est plus seulement en societe. [...] C'est desormais la superstructure politique de la societe, c'est desormais l'Etat lui-meme qui se transforme en entreprise de spectacle, en «Etat de spectacle». De maniere systematique et organisee. Pour mieux amuser et abuser le public des citoyens. Pour mieux divertir et faire diversion. Pour mieux changer la sphere politique en scene ludique, en theatre d'illusion. (Schwartzenberg 1977, 7) Schwartzenberg macht als Folge einen Übergang von einer Beteiligungs- zu einer Zuguckgesellschaft aus, die an die Stelle der Demokratie trete. Ainsi la culture du spectacle remplace insidieusement la culture de participation. Et le voyeurisme politique remplace la democratie. (Schwartzenberg 1977, 303) Ließe man sie so stehen, wäre diese Kritik verkürzt, da sie von anderen Bereichen der Medien, vor allem aber von gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen absieht, wie sie etwa Baier (1988) für Frankreich festhält. Er macht unter anderem eine "Zerstörung der Öffentlichkeit" (Baier
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1988, 10-16) durch die Privatisierungswelle im Rundfunkund Fernsehbereich Frankreichs aus. Ich möchte die Diskussion über das Verhältnis von Politik und - oder genauer - über Politik im Fernsehen an einem Punkt weiterführen: die unter dem Etikett "fortlaufende Liberalisierung des Fernsehens" präsentierte Fernsehentwicklung wurde in Frankreich über die fortlaufende Dynamisierung des auf dem Bildschirm präsentierten politischen Geschehens (Monolog der Ansprachen; geregelter Dialog der Pressekonferenzen; Enddebatten in den Präsidentschaftswahlkämpfen, auf die wir noch zurückkommen; "informelle" Tisch-, Kamin- oder sonstige Gespräche) vollzogen, bei der zunehmend auf eine mediengerechte Verpackung geachtet wurde. Das Medium Fernsehen nahm zusehends Einfluß auf Form und Inhalt der politischen Diskurse. Meine These ist nun, daß das Fernsehen darüberhinaus sich - nicht nur - politischer Debatten und ihrer Präsentation bedient, um sich selbst als eine Art übergeordnete Institution in Szene zu setzen. Es ergänzt die klassische Institutionen p o l i t i s c h e r Auseinandersetzungen und Meinungsbildung - wie z.B. Parlament und Wahlveranstaltungen - und tendiert dazu, diese zu überdecken, wo nicht zu ersetzen. Das Fernsehen erscheint dann als wichtiger Ort, an dem nicht nur politische Aktualität erzeugt und politisches Handeln überhaupt erst - oder vielleicht sogar "eigentlich" - vollzogen werden, sondern wo dies darüberhinaus in der "eigentlich" angemessenen Form geschieht. Ich will versuchen, die Berechtigung dieser Hypothese zu belegen, indem ich näher auf die Passagen eingehe, mit denen am 24. April 1988 die Debatte zwischen den beiden Kandidaten des zweiten Mahlgangs zu den Präsidentschaftswahlen in Frankreich eingeleitet wurde. Dabei sollen zunächst einige Besonderheiten dieses Wahlkampfes genannt werden, die zu seinem Verständnis unabdingbar sind. Im Anschluß daran soll ein knapper Hinweis auf die von Goffman formulierte Rahmenanalyse die Bedeutung einleitender Aktivitäten zeigen und auf deren Analyse vorbereiten. 2. Präsidentschaftswahlen in der fünften Republik 2.1 Modalitäten der Präsidentschaftswahl in Frankreich Das französische Wahlrecht sieht für die Präsidentschaftswahlen zwei Gänge vor, falls im ersten Durchgang kein Kandidat die absolute Mehrheit der Stimmen auf sich vereinen kann. Den zweiten Wahlgang treten üblicherweise die beiden Kandidaten mit den meisten Stimmen aus dem ersten Wahlgang an. Was von de Gaulle als echter Volksentscheid über die Präsidentschaft konzipiert worden war, lieferte, wie die Wahlkämpfe von 1974 und 1981 gezeigt haben, zugleich die Möglichkeit, das Aufeinandertreffen der beiden Endbewerber als Fernsehdebatte medienwirksam in Szene zu setzen. Auch wenn sie keine
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großen Wählerwanderungen auslösen, können sie dennoch aus den unentschiedenen Wählern das oft entscheidende eine Prozent für einen Kandidaten gewinnen, und dies oft weniger wegen der politischen Inhalte, sondern wegen der gewählten kommunikativen Strategien. 2.2 Umstände
der Präsidentschaftswahlen
von 1988
Frangois Mitterand trat 1981 nach einer bis zum letzten Augenblick offenen Wahl gegen den Amtsvorgänger Giscard d'Estaing seine siebenjährige Amtszeit an. Die französischen Parlamentswahlen vom 16.3.1986 hatten den Konservativen die Mehrheit gebracht und zur Ablösung der sozialistischen Regierung Fabius geführt. Jacques Chirac wurde am 20.03. zum neuen Ministerpräsidenten ernannt. Damit war die "Cohabitation" eingetreten, eine Situation, wie sie von der Präsidialverfassung Frankreichs keineswegs intendiert ist, allerdings ist sie bei der vieljährigen Amtszeit des Staatspräsidenten grundsätzlich möglich. Als die Meinungsumfragen diesen Fall immer wahrscheinlicher werden ließen, wurde die Frage heftig diskutiert, ob "ein Zusammenleben oder eine Koexistenz zwischen einem Präsidenten der Linken und einer Parlamentsmehrheit der Rechten überhaupt möglich" sei (Colard 1986a,4; vgl. auch Grosser 1986; Huwe 1986). Sie erwies sich als möglich; so kommentierte E. Weisenfeld im Januar 1988 vor den Präsidentschaftswahlen: Der Wahlkampf mag wieder einige schrille Töne bringen, die an klassenkämpferische Übungen früherer Jahre erinnern. In Wahrheit bewegen sich alle Vorstellungen und Erwartungen in der wohltemperierten Mittellage. [... ] In der Außenpolitik ist der allgemeine Konsens am größten. Zwei Jahre der Cohabitation zwischen einem linken Staatspräsidenten und einer rechten Regierung haben es deutlich genug gezeigt. Sicher stimmen beide nicht in allen Einzelheiten überein. Aber die großen Orientierungen boten doch nie Anlaß zu Auseinandersetzungen. (Weisenfeld 1988a, 3) Der Präsidentschaftswahlkampf hatte eine weitere Besonderheit: Mitterand hatte die Bekanntgabe seiner Kandidatur lange hinausgezögert. Erst am 22.03.1988 und damit 14 Tage vor der Schließung der Kandidatenlisten und einen Monat vor dem ersten Wahlgang gab er über den 1986 privatisierten Fernsehsender TF 1 seine offizielle Kandidatur bekannt. Die Hauptkandidaten aus dem konservativen und liberalen Lager mußten deshalb lange einen (Vor-)Wahlkampf ohne direkten Gegner führen. Neben diesem wahlstrategischen Vorteil konnte Mitterand die Ernsthaftigkeit seiner Amtsführung sowie die seiner Einigungsbestrebungen - "vereinen statt spalten" lautete sein Motto - unter Beweis stellen. Und nicht zuletzt sorgte das Hinauszögern der Entscheidung für eine lebhafte Diskussion in den Medien, ob er nun nochmals kandidiere oder nicht. Für den Fall einer Kandidatur
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sagten ihm die Meinungsumfragen regelmäßig seinen mehr oder weniger eindeutigen Sieg voraus. 3. Rahmenbedingungen und Rahmungen politischer Großereignisse im Fernsehen Es entspricht einer alltäglichen und immer wiederkehrenden Erfahrung, daß Ereignisse, die wir für bestimmte Abschnitte des individuellen oder kollektiven Lebens als besonders wichtig einschätzen, ihre Bedeutung weit mehr aus der Vorerwartung und der Vorbereitung als aus der Durchführung und den effektiv erzielten Ergebnissen ihre Bedeutung für unser Handeln beziehen. Dies gilt besonders dann, wenn die entsprechenden Ereignisse nicht unmittelbar aufeinanderfolgen, sondern ein hinreichend langer Zeitraum ihre Durchführungen voneinander trennt. Eine kurze Abfolge derartiger Veranstaltungen mindert ihre Bedeutung und das Interesse an ihnen; dies zeigte sich in Frankreich 1981, als vier Wahlgänge kurz aufeinander folgten. Nun betrifft dies nicht die Innenperspektive der Akteure, denen dauernde Präsenz und Aktivität abverlangt ist, sondern weit mehr die Außenperspektive von Zuschauern oder eher indirekt Beteiligten. Genau diese Perspektive aber interessiert, wenn es um die Auseinandersetzung mit der Vermittlung politischen Handelns im Fernsehen geht. Gerade hier sind nicht die in kurzen Abständen regelmäßig vollzogenen Handlungsseguenzen von besonderem öffentlichem Interesse, sondern weit mehr Aktionen, die in längeren Zeitabständen oder in Anbindung an Wechsel in den entsprechenden Situationen erfolgen (Tod eines außerordentlichen Protagonisten wie im Fall von Pompidou; besondere äußere Ereignisse oder zumindest solche, die als besonders verstanden oder eingeführt werden.) In Frankreich entspricht dem der unterschiedliche Zeitraum der parlamentarischen und der der präsidialen Amtsperioden und sorgt zugleich für Spannung. Für die Betrachtung von Politikerdialogen und -duellen im Fernsehen ist es nun von besonderem Interesse, wie in der Einleitung öffentlicher Debatten diese von den Veranstaltern, d.h. von jenen, die vor das Publikum treten, eingeschätzt werden und welche Bewertungen des Geschehens selbst dabei zum Ausdruck kommen. Goffmans Überlegungen zur Rahmenanalyse (1980), die er als "Versuch über die Organisation von Alltagserfahrung" charakterisiert, bieten einen allgemeinen Ansatz zur Behandlung der angesprochenen Fragestellung. 3.1 Doppelte Doppelung Für die Beschreibung von Rahmungen greift Goffman die von Pike eingeführte Unterscheidung von Spiel Spektakulum zurück, und behandelt den "Übergang von umhüllenden [=Spektakulum] zu dem umhüllten [=Spiel]
auf und dem Er-
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eignis". Dabei treten zwei Charakteristika besonders hervor. Erstens ist der Übergang mit einem Rahmenwechsel verbunden: Man halte fest, daß der Übergang vom Spektakulum zum Spiel - von den umhüllenden zu den umhüllten Ereignissen - im allgemeinen mit einem Wechsel des Rahmens verbunden ist, wobei man hofft, daß die umrahmten oder inneren Ereignisse ein Reich schaffen, das beschränkter organisiert ist als das des täglichen Lebens. (Goffman 1980, 289) Zweitens gibt es zwischen Spektakulum und Spiel eine mehr oder weniger lange Übergangszeit: Das Verhältnis zwischen Spektakulum und Spiel, zwischen sozialer Veranstaltung und den inneren Vorgängen, bedarf weiterer Untersuchung. Es liegt auf der Hand, daß dieses Doppelarrangement als Puffer dient, der zeitliche Flexibilität ermöglicht; hat das Spektakulum einmal begonnen, so scheinen die Anwesenden besser auf die "wirklichen" Ereignisse warten zu können, das heißt auf den Seinsbereich, der, wenn alles gut geht, erzeugt werden soll, und der übrigens oft alles andere als "wirklich" ist. (Goffman 1980, 293) Mit der zeitlichen Ausdehnung kann ein Ortswechsel auf der Geschehensebene verbunden sein. Am Beispiel der Konzertübertragung, das Goffman heranzieht, wird dies deutlich: der Reporter nimmt bei seinen einleitenden, einführenden, erläuternden Ausführungen einen Platz im Zuschauerraum oder in einem für ihn reservierten Sprecherraum ein, während bei der Aufführung selbst der Platz des Mikrophons beim Orchester ist (oder zumindest so angelegt ist, daß allein die Spielgeräusche aufgenommen werden). In Fällen, in denen Spektakulum und Spiel von einem Massenmedium veranstaltet und direkt übertragen werden, kann, je nach Bedeutung des Ereignisses für das Spiel ein besonderer Ort gewählt und gestaltet werden, der von dem Ort abgetrennt ist, an dem die Spektakulumsaktivitäten stattfinden. Er kann so den Charakter der Exklusivität erhalten als Ort, der auch denen nicht zugänglich ist, die an dem für das Publikum schon exklusiven Ort des Spektakulums agieren. Man kann in diesem Fall von einer Doppelung der medialen Orte sprechen, bei der vom "gewohnten" Ort aus die Aktivitäten des Spektakulums und vom "außergewönlichen" Ort die des Spiels ausgehen. Der räumlichen Trennung kann dann eine unterschiedliche soziale Stellung der Partizipianten und eine unterschiedliche Bewertung der Aktivitäten entsprechen. Im Einzelfall ist dann zu untersuchen, mit welchen Mitteln Spektakulum und Spiel sowie der Übergang vom einen zum anderen gestaltet wird und ob bzw. auf welche Weise das Spiel dadurch eine besondere Wertung erfährt (oder nicht). Die "einleitenden Bemerkungen", die die Brücke zwischen den sozialen Veranstaltungen und dem zu Erledigenden bilden, werden im allgemeinen, nachdem die
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Aufmerksamkeit des Publikums wachgerufen ist, von einer bekannten Persönlichkeit dargeboten - ob nun eine politische Rede, eine Varietevorstellung, eine Gerichtsverhandlung oder eine Bürgerversammlung eingeleitet werden soll. (Goffman 1980, 297) Man kann und muß diese Beobachtung weiterführen. Was Goffman festhält, und das ist ja das Ziel seiner Untersuchungen, betrifft die "Organisationsprämissen, die im Bewußtsein und im Handeln vorhanden sind", d.h. die Rahmen. Diese haben nun einen doppelten Charakter: einerseits bilden sie die zum Verstehen des Geschehens unabdingbaren Wissensvoraussetzungen (man muß wissen, daß es überhaupt Rahmen als strukturierende Prinzipien gibt und daß deren Gestaltung unterschiedlich ausfallen kann), zu denen u.U., aber nicht notwendigerweise, die Kenntnis der Person - und ihrer Rolle - gehört, die eine bestimmte Einleitung vornimmt; andererseits kann das Wissen um die Notwendigkeit der Rahmung und ihrer Durchführung durch eine bestimmte Rolle dazu führen, daß bei Unkenntnis der Person und ihrer Rolle, für sie eine gewisse Bedeutung angenommen wird, d.h. daß aus der Tatsache heraus, daß sie die Rahmung vornimmt, auf ihre Bekanntheit geschlossen werden kann. Es kommt so zu einem Schluß von der reconnaissance (vgl. Bourdieu 1979, 463 ff.; 1982, 68 ff.), wie sie durch die unwidersprochene Befähigung zum Vollzug bestimmter Handlungen zum Ausdruck kommt, auf die connaissance der Person, die die Handlung vollzieht, weil die reconnaissance an die connaissance gebunden ist; dem geht die Legitimisierung der handelnden Person durch (Aus-)Wahl voraus. Zugleich besteht zwischen dem "Gewicht" der Person und der "Bedeutung" der gerahmten Episode eine Wechselbeziehung, die durch die Grundregel "je bedeutender ein Ereignis, desto bedeutender die Person" - und umgekehrt - bestimmt wird. Auf dieser Grundregel basieren Aufwertungsmöglichkeiten: so kann einerseits das Gewicht einer Episode dadurch unterstrichen (oder vielleicht sogar allerst symbolisch produziert) werden, daß eine bedeutende, d.h. bekannte und anerkannte Person sie einleitet und/oder begleitet (Schirmherrschaften für, Eröffnungen von, Ehrengäste von Veranstaltungen fallen darunter); andererseits kann bei bekannter und anerkannter Bedeutung eines Ereignisses seine Eröffnung durch eine bestimmte Person zu deren Bekanntheit und Anerkennung beitragen bzw. sie im Bewußtsein der Beteiligten erst schaffen. Ein wesentlicher zusätzlicher Effekt ist der, daß die Bedeutung und das Gewicht einer Episode allgemein auch durch die Zahl derer unterstrichen wird, die an ihr teilnehmen (als Akteure oder Zuschauer). Dazu gehört auch, daß über die Episode im Nachhinein (Champagne 1984) oder, im noch günstigeren Fall, direkt berichtet wird. Die Präsentatoren des Spektakulums und die Teilnehmer des Spiels sind doppelt in das Ereignis involviert:
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Immer, wenn jemand an einer Episode oder Tätigkeit teilnimmt, unterscheidet man zwischen der Person, dem Individuum, dem Spieler einerseits, dem also, der teilnimmt - und der betreffenden Rolle, Eigenschaft oder Funktion, die er wahrnimmt andererseits. Zwischen beiden wird eine Verbindung unterstellt. Kurz, es gibt eine Person-Rolle-Formel. Der jeweilige Rahmen hängt natürlich mit der ihm zugehörigen PersonRolle-Formel zusammen. Man kann nie völlige Unabhängigkeit und nie völlige Abhängigkeit zwischen Individuum und Rolle erwarten. Wo aber auch auf diesem Kontinuum eine bestimmte Formel liegen mag, sie drückt aus, in welchem Sinne die gerahmte Tätigkeit in die Vorgänge der übrigen Welt eingebaut ist. (Goffman 1980, 297)
Über diese Unterscheidung hinausgehend, ist auf die Möglichkeit einer Rolle-Rolle-Formel hinzuweisen. Sie ergibt sich dann, wenn eine Person in einer Rolle auftritt und bekannt ist, daß sie auch eine andere Rolle oder mehrere andere Rollen wahrnimmt, und wenn ihr Auftritt mit eben dieser Rolle/diesen Rollen zusammenhängt. Beispiel dafür sind: Journalisten, die in einem bestimmten Medium mit einer bestimmten politisch-ideologischen Ausrichtung arbeiten und in einer Sendung, einem Interview etc. als Fachleute für ein bestimmtes Gebiet auftreten; in den meisten Fällen von Gesprächspartnern in Talkshows kommt es zu einer solchen Rolle-Rolle-Beziehung; gleiches gilt für die Fälle, in denen Showmaster sich in der Show eines jeweils anderen als Gast präsentieren. In unserem Fall ergibt sich eine Rolle-Rolle-Beziehung für die Journalisten (als Vertreter je einer Anstalt; als leitende Vertreter dieser Anstalten; als Gesprächskoordinatoren und als Fragesteller) und die Kontrahenten (als Staats- bzw. Ministerpräsident und als Rivalen im Wahlkampf; als Kontrahenten in der Debatte). Ich will im Zusammenhang mit der Behandlung des Problembereichs Sprache und Politik in Kandidatendebatten nicht auf die Beziehung zwischen Person/Individuum und Rolle weiter eingehen.* Goffman weist eindringlich darauf hin, daß beide nicht losgelöst voneinander betrachtet werden können und je nach Situation in einem komplexen Wechselverhältnis unterschiedlicher Art stehen können: Wenn also jemand eine Rolle übernimmt, so nimmt er in einem ganz spezifischen Sinn keine persönliche, Eine Untersuchung anderer Präsentationsformen hätte gerade diesen Aspekt in besonderer Weise zu beachten. So hat z.B. in Frankreich Giscard d'Estaing immer wieder versucht, durch eine Verbindung von privatem und öffentlich-politischem Bereich seine Politik zu präsentieren; er lud dazu Personen aus allen Bevölkerungsschichten zum Essen ein oder besuchte sie. Er ging sogar so weit, sich mit einem kleinen Mädchen auf einer Couch vor der Kamera über Finanzund Wirtschaftsfragen zu unterhalten.
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biographische Identität an - eine Spielrolle, eine Figur sondern nur ein Stück soziale Kategorisierung, das heißt soziale Identität, und nur dadurch ein bißchen persönliche. (Goffman 1980, 315) Mir geht es darum, daß gerade im Bereich der massenmedial vermittelten politischen Rollen Doppelungen und Spaltungen auftreten können, so etwa, wenn eine Person in zwei Funktionen (als Kanzler und Parteivorsitzender) oder nur in einer agiert (als Kanzler oder als Parteivorsitzender) ; entscheidend dabei ist nicht, daß die Person diese beiden Funktionen (oder noch mehr) hat, sondern daß die Beteiligten die Doppel- oder Mehrfachrolle, die Doppel- oder Mehrfachfunktion kennen und zu dieser Kenntnis (in aller Regel) nicht durch persönlichen und direkten Kontakt mit der die Rolle/Funktion tragenden Person gelangt sind, sondern durch mediale Vermittlung. Sofern diese Rollen und Funktionen einer Person nur zeitlich begrenzt zufallen und ihre Übernahme einer Wahl oder Auswahl bzw. einer Bestätigung bedarf, kommt dem Wissen um die auslaufende und/oder zu übernehmende Rolle große Bedeutung zu: so kann sie dem Bewerber um ein Amt, der dieses schon einmal innehatte (und sich wieder bewirbt) , einen Vorteil bringen, während dieser Bonus für einen Neubewerber entfällt. Es ist hier also zu unterscheiden zwischen Alt- und Neubewerbern, und man kann davon ausgehen, daß demgemäß unterschiedliche Kommunikationsstrategien zum Erhalt bzw. zur Erlangung eines Amtes gewählt und an der Annahme über das Wissen beim Publikum ausgerichtet werden. Man kann in Fällen von Altbewerbern (im benannten Sinn) von einer Doppelung der Rolle sprechen. Nun sind Situationen vorstellbar, in denen zwei oder mehr Bewerber Altbewerber im genannten Sinn sind (man denke etwa an die Koalitionsregierung in Israel, bei der zwei Vertreter unterschiedlicher Koalitionsbeteiligter zu gleichem zeitlichem Anteil das Amt des Ministerpräsidenten übernehmen; ähnliches ließe sich prinzipiell auch für die Wahrnehmung eines Amtes durch mehr als zwei Personen vorstellen); in diesem Fall könnte man von einer zweifachen oder mehrfachen Doppelung sprechen. In dem Fall der Enddebatte (vom 28.04.1988) der Präsidentschaftswahlen in Frankreich des Jahres 1988 handelte es sich in gewisser Weise um eine zweifache Doppelung der Rollen; sie war nicht vollständig, insofern als der eine Bewerber (Chirac) zwar noch nicht Staatspräsident, aber immerhin Ministerpräsident der von dem Altkandidaten eingesetzten Regierung war. Es war dies der in der fünften Republik Frankreich zuvor unbekannte und ihrer Intention zuwiderlaufende Fall der sogenannten "Cohabitation", hier zwischen einem sozialistischen Präsidenten und einer konservativ-liberalen Regierung. Nun sind die "Erscheinungsformeln" (vgl. Goffman 1980, 297ff.) von Rahmenhandlungen kulturell und historisch geprägt und bedürfen für diejenigen einer Erklärung, die
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nicht unmittelbar dem sozialen Kontext angehören, für die sie gelten. Dies gilt gerade auch dann, wenn im Bereich des öffentlichen politischen Handelns unterschiedliche institutionelle Ausformungen durch die Verfassungen vorgesehen werden und der kulturelle Kontext (hier z.B. der mediale) unterschiedlich ausfällt. Geht man von der These aus, daß zwischen den Strukturierungen von Rahmen und den für sie spezifischen Handlungsformen (darunter auch die entsprechenden Diskursformen) eine Beziehung gleichzeitiger Bedingung und Bedingtheit besteht, dann ist es für das Verständnis der Spezifik der Rahmen anderer Kulturen unabdingbar, die Grundelemente dieses Verhältnisses zumindest grob zu kennen. Für den zu untersuchenden Fall der Kandidatendebatte im Präsidentschaftswahlkampf von 1988 und ihre Übertragung bzw. Inszenierung im Fernsehen wurden die wichtigsten Informationen oben gegeben. 3.2 Vorangehende listensicht)
Einschätzungen
(Die Debatte
aus
Journa-
Natürlich vollzieht sich die Zuschreibung von Sinn und Bedeutung eines außerordentlichen Ereignisses nicht nur in den Aktivitäten, die es als Spektakulum und Spiel konstituieren. Die Vorberichterstattung in den unterschiedlichen Massenmedien trägt dazu ebenso bei wie die Analyse von Form, Funktion und Auswirkung von Ereignissen des gleichen Typs sowie dessen historische Aufarbeitung und internationale Situierung. Dies ist aus der Literatur zu den Kandidatendebatten in den Vereinigten Staaten und in Frankreich bekannt, in denen immer wieder die rhetorisch-strategische Funktion der kommunikativen Verhaltensweisen analysiert und unterstrichen wird.2 Derlei Großereignisse bieten immer wieder mehr oder weniger maßgeblichen Personen die Möglichkeit, durch eigene Beiträge und Publikationen vorwegnehmend oder in der nachträglichen Analyse ihre eigenen Auffassungen und Einschätzungen kundzutun. Dies tat auch Christine Ockrent, eine der bekanntesten Fernsehjournalistinnen in Frankreich. Ihr Buch "Duel. Comment la television fa^onne un president", das im April und damit in der heißen Phase des Wahlkampfes erschien, gibt einen Überblick über die bisherigen Kandidatendebatten, situiert sie historisch und mediengeschichtlich. Interessant ist in ihrer Darstellung die Tendenz, die Politikpräsentation sehr stark durch einen Parallelismus von Konsum und staatsbürgerlicher Entscheidung zu bestimmen und zu zeigen, daß gerade für die Auseinandersetzung von 1988 angesichts der für 1987 zentralen Diskussion um die KriEin sehr gutes, knappes und anschauliches Beispiel liefert Serge July mit seinem Fernsehbeitrag "30 ans de television politique", den er zu der Serie "30 ans de television" beisteuerte.
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se Frankreichs sowie der nachweislichen Unmöglichkeit beider politischer Lager, sie zu lösen, der Inszenierung des Politischen eine besondere Rolle zukommt: La demande du consommateur s1 exprime de faq:on de plus en plus personnalisee et celle du citoyen devient plus complexe. Les electorate comme les clienteles se font et se defont selon les problemes du moment. Le consommateur exige desormais d'un produit qu'il offre d'avantage que la satisfaction d'un besoin; le citoyen requiert de la politique la seduction autant que la reponse, 1'adaptation autant que la constance. Parce que la television est un instrument multi-publics, elle favorise dans le meme temps une homogeneisation de la culture. Les memes produits sont offerts ä un public atomise. (Ockrent 1988, 158; Hervorhebungen W.S.) Der Tendenz nach sieht Ockrent die Entwicklung im Medienbereich als Teil einer umfassenderen Entwicklung, auf deren Gründe sie jedoch nicht eingeht: La transformation du discours politique du fait de la television est difficile ä dissocier de l1evolution de nos moeurs collectives. Le langage a change, comme les habitudes des consommateurs, et la politique participe de l'un comme de 1'autre, (loc.cit.) Wie in vielen anderen Bereichen wird auch hier der ökonomische Aspekt dominant und stellt die Aussage- sowie Erklärungsmuster: der Staatsbürger wird in seiner Entscheidung als Medienkonsument charakterisiert und der politische Diskurs als ein möglichst ansprechend und spannend zu gestaltendes Produkt der Eigenwerbung, das von den Wählern konsumiert werden soll. Der Befund von Lothar Baier dürfte auch hier zutreffen: Kritik und Analyse verlieren ihre raison d'etre, wenn die Logik der Demokratie der Logik der Ökonomie weicht. Dieser Prozeß, scheint mir, ist in Frankreich in vollem Gang.(Baier 1988, 17) Bei dieser Tendenz nimmt nun das Fernsehen eine übergeordnete Stellung ein, denn wo die ideologische Vorprägung verlorengeht und die ansprechende, telegene Form der Politikpräsentation an Bedeutung gewinnen soll, da übernimmt das Fernsehen eine zentrale Rolle für das Funktionieren der demokratischen Gesellschaft. Le debat entre les candidate du deuxieme tour, moment ultime de television politique, devient constitutif de la democratie. Sans television pas de debat. Pas d'elections sans debat? (Ockrent 1988, 42) Man muß schon zweimal lesen, um zu sehen, daß für Ockrent die Debatte der "moment ultime" des politischen Fernsehens oder der politischen Berichterstattung im Fernsehen ist - was sie natürlich auch ist -, nicht aber der Höhe- oder Endpunkt einer Wahlkampagne oder Element der politischen Entscheidungsherbeiführung in einem für das politische System wichtigen Fall. Über die Parenthese wird ein Zusammenhang hergestellt und zugleich eine Bewertung und Aufwertung des Mediums Fernsehen vorgenom-
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men, die umso berechtigter erscheinen soll, als es anscheinend nur Vermittler und nicht interessierter Beteiligter an der Situation ist. La television, qui est par essence le media de la proximite egalitaire, joue [...] son role de miroir, de reducteur et d'accelerateur. Elle reflechit les evolutions de la societe, les simplifie, les catalyse. (Ockrent 1988, 18) In der Funktion als Vermittler der heiß erwarteten Enddebatte kommt in der Sicht der Fernsehjournalistin dem Medium eine besondere Rolle bei der Konsumentenbefriedigung zu. Sie verschweigt allerdings, daß die Konsumbedürfnisse der geschilderten Art zu einem großen Teil durch das Fernsehen und andere Medien erst geschaffen wurden. Ziel ist es, die Bedeutung des Fernsehens für das politische Handeln in der Republik zu betonen: L'opinion aussi s'echauffe et attend. Le duel de 1988 sera l'apogee de la telecratie.(Ockrent 1988, 151) In der vorbereitenden Darstellung des politisch-medialen Großereignisses bringt die einflußreiche Fernsehmacherin einiges von der Selbsteinschätzung des Fernsehens und seiner Betreiber und von der Einschätzung der Rolle zum Ausdruck, die dem Medium als Präsentator politischen Handelns in Entscheidungssituationen beigemessen wird. Hie dieser Anspruch in die mediale Handlungspraxis eingeht, soll nun anhand der Einleitungssequenzen zur Debatte vom 28.04.1988 untersucht werden. Sie fiel in den beiden großen Kanälen (TF1 und A2) unterschiedlich aus. Ich betrachte zunächst die kürzere, auch von TF1 übertragene Version von A2. 4.Die Rahmung der Fernsehdebatte vom 28.04.1988 bei A2 Damit Sie einen Eindruck von den Rahmungsaktivitäten erhalten, mit denen die Fernsehdebatte zwischen Chirac und Mitterand eingeleitet wurde, sollten Sie zunächst die Transkription der etwa dreiminütigen Einleitungssequenz (Anhang 1) durchlesen. 4.1 Die Makrostruktur der Einleitungssequenz Die Makrostruktur der Einleitungssequenz ist (im Anhang 2) mit den drei Etappen "Beendigung des vorangehenden Programmteils", "Überleitung" und "Die Debatte als neuer Programmteil" dokumentiert; letzteres soll nun näher betrachtet werden. 4.1.1 Überleitung und Begrüßungsritual Die Übertragung der Debatte ist von dem unmittelbar vorangehenden Werbeblock deutlich abgegrenzt, und zwar durch Beendigung der Werbung mit dem für A2 typischen
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Werbelogo aus einer Kombination von optischer Stereotype und Jingle; durch Präsentation des Senderlogos mit entsprechender typisierter Musik. Die Abgrenzung der Ereignisdarstellung erfolgt durch eine Darstellungstechnik, die mit ihrer Verbindung aus Musik, Bild und Schrift der des traditionellen Vorspanns in Film und Fernsehen entspricht . Ein kurzes stummes Bild wird mit elektronischer Musik unterlegt, wobei jeweils die Abfolge von Bildschnitt und Schrifteinblendung nicht immer mit den rhythmischen Teilen der Musik einhergeht. Im Vorspann werden schrittweise eingeführt (vgl. Anhang 3): der Handlungsort und die Ordnung der an ihm anwesenden Teilnehmer; der Titel der Sendung und mit ihm ihr Handlungstyp "Le Debat": Simultan die Namen der beiden Kontrahenten (Bild 1), wobei die Referenz von Name zu Person durch die Anordnung im Bildraum vorgenommen wird; die gleiche Referentialisierung erfolgt durch die Einblendung der Journalistennamen in der Halbtotalen (Bild 2); es folgt die Einblendung eines weiteren Namens und der Kennzeichnung der Funktion der entsprechenden Person: "Realisation / Jean-Luc Leridon". Der Platz der Einblendungen unterstreicht die Bildsymmetrie der Sitzordnung, die, zusammen mit der Folge der Einstellungen und Einblendungen, den Eindruck von Ausgeglichenheit und Ordnung vermittelt. Die Einheitlichkeit des Vorspanns wird durch die Musikbegleitung unterstrichen. Die sprachliche Interaktion zwischen den Beteiligten der Primärsituation beginnt für die Zuschauer von A2 mit dem Begrüßungsritual, in dem sich die Beteiligten den Zuschauern als den dritten Aktanten vorstellen: Zuerst begrüßt der männliche Journalist (=V) in Bild und Wort die Zuschauer und dann tut dies die Journalistin (=C) im Wort (während V im Bild ist). Dieser begrüßt dann Mitterrand (=M) (Ton und Bild), der im Bild zurückgrüßt. Dann wird Chirac (=Ch) von V begrüßt (Ton und Bild). Auffällig ist an dieser Stelle, daß das Bild dem Ton nachhinkt, da der Gegengruß von Ch zu hören ist, während V im Bild bleibt, der mit seinen Ausführungen einsetzt, in deren Verlauf erst Ch ins Bild kommt. Was hier beim ersten Zuschauen als Panne empfunden werden mag, verweist zugleich auf die Annahme oder Erwartung, daß die jeweils sprechende Person ins Bild kommt. Das wird gerade an dieser Stelle deutlich, wo es sich um die Begrüßung der Protagonisten handelt und im ersten Fall eine völlige Entsprechung zwischen Sprecher- und Einsteilungswechsel gegeben war. Diese Interpretation entspricht jedenfalls in vielen Fällen dem spontanen Eindruck beim Anschauen dieser Sequenz. Bleibt als Fazit dieser Analyse festzustellen, daß im Vorspann und dem stark formalisierten Begrüßungsritual ein starker Hang zur Ausgeglichenheit und Gleichbehandlung zu erkennen ist.
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4.1.2 Die inhaltlichen Teile der Einleitungssequenz Überblickt man die Makrostruktur der Einleitungssequenz, so fällt auf, daß die nicht-rituellen oder formal-gliedernden Teile in sehr starkem Maß das anstehende Ereignis selbst zum Gegenstand haben: es wird raumzeitlich und historisch sowie institutionell situiert, und der Dank für das Kommen, ein eher ritueller Teil, dient dazu, die veranstaltenden Institutionen zu nennen. Viel Raum nimmt die Nennung der Regeln ein, die in der folgenden Debatte gelten und zu beachten sind. Dies gilt besonders für die Zeitplanung: sowohl das Quantum der Redebeiträge der Kontrahenten als auch die Zeit der in einer vorwegnehmenden Gliederung und Orientierung genannter. Themenbereiche sind zeitlichen Fixierungen unterworfen und sollen kontrolliert werden. Die gleichen strengen Regelungen werden für die Bildpräsentationen der Kontrahenten genannt: ins Bild kommt allein, wer redet. Außersprachliche Kommentare und Einschätzungsbekundungen des Partners ohne Rederecht sind damit ausgeschlossen. Die Kontrolle der jeweiligen Redezeit obliegt den Journalisten, die auf diese Art und Weise eine Funktion formaler Kontrolle übernehmen, zugleich aber auch durch ihre Fragen als Vertreter und Sachverwalter des Publikums und damit der politischen Öffentlichkeit fungieren. Die metakommunikativen Erläuterungen nehmen einen breiten Raum ein und fallen differenziert aus. Sie haben eine regulative und orientierende Funktion, indem sie dem Verhalten der Kontrahenten und den thematischen Feldern klare Vorgaben setzen und damit sowohl einen Verstoßbereich als auch die Basis für sanktionierende Eingriffe festlegen. Die Präsentation der Debatte geht in die Richtung der Einführung eines sportlichen Wettkampfs (die Nähe zum Boxkampf wird hier nicht thematisiert, schwingt aber wohl unausgesprochen mit). Diese Art der Klammerung entspricht dem, was Goffmann in allgemeiner Weise anhand eines anderes Beispiels benennt: Viele Sportarten und Spiele haben natürlich zeremonielle Einklammerungsregeln, teilweise zur Gewährleistung von "Fairness" das heißt gleichen Chancen für Wettkämpfer, und diese Regeln sind so etwas wie Vorbilder für Einklammerungs-Konventionen. (Goffman 1980, 281)
Nun kommt in unserem Fall hinzu, daß der naheliegende Vergleich der Debatte mit einem sportlichen Wettkampf insofern "intramedial" bleibt, als die Übertragung von sportlichen Großereignissen im Fernsehprogramm einen zentralen und breiten Platz einnimmt, so daß die metaphorische Verwendung ihren "wörtlichen" Bezugspunkt zu einem hohen Grad aus der medialen Vermittlung und weit weniger aus der direkten Anschauung derartiger Ereignisse durch die Personen des Publikums erfährt.
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Da es sich bei den Kontrahenten um zwei der höchsten und in den Augen der öffentlichkeit auch wichtigsten Träger von politischen Ämtern in Frankreich handelt, kommt dieser Art der Einführung besondere Bedeutung zu: einerseits werden die Kontrahenten in ihrer jeweiligen Rolle als bekannt vorausgesetzt und anerkannt, andererseits sind sie gehalten, sich den vom Medium gesetzten Grenzen zu unterwerfen; einerseits sind sie es, die die großen Linien der Politik bestimmt (oder verantwortlich mitbestimmt und ausgeführt) haben, andererseits sind sie in der Debatte an die thematischen Vorgaben des Mediums gebunden; einerseits sind sie den beiden anderen an der Primärsituation Beteiligten und auch den Zuschauern in ihrer Machtfülle überlegen, andererseits müssen sie sich der Kontrolle durch die Journalisten und ihren Sanktionen (Wortentzug; Mahnung, die Zeit nicht zu überschreiten) unterwerfen; einerseits haben sie in Verfolgung ihrer politischen Ziele etwas zu sagen, andererseits müssen sie sich Vorgaben unterwerfen, die in den Fragen der Journalisten liegen; einerseits sind sie Wortführer, andererseits Antwortgeber; einerseits möchten oder könnten sie sich streiten, andererseits verbietet ihnen das die Rolle, aus der heraus sie kandidieren, und das Amt, für das sie sich bewerben, aber (vor allem?) auch die Journalisten, die dafür Sorge tragen, daß die Debatte in der gebührenden Weise abläuft. Faßt man diese Tendenzen zusammen, so entsteht beim Blick auf die Makrostruktur der Eindruck, daß es sich um ein in Szene gesetztes Spiel handelt, bei dem die Regie über die Starschauspieler dominiert und das Spiel selbst eine Eigenbedeutung erhält, die es über den politischen Alltag, seine Ämter und Institutionen hinaushebt. Das heißt zugleich, daß mit dieser Einführung der Debatte für jeden der Kontrahenten eine Rolle-Rolle-Relation geschaffen wird, die eine Distanz von den bekannten und anerkannten politisch-institutionellen Rollen der Protagonisten impliziert und die das Medium sowie seine Vertreter zum konstitutiven und regulativen Element für die Zweitrolle der beiden Hauptbeteiligten macht. Der Übergang von der Präsentation der Spielregeln zur ersten Frage des Gesprächs und damit der vom Spektakulum zum Spiel, ist im vorliegenden Fall fließend: Indem die behauptete absolute Gleichbehandlung der Kandidaten auch auf die Wahl der Redefolge übertragen und ihre Befolgung durch den Hinweis auf den Losentscheid untermauert wird, liegt es nahe, an diese Entscheidung anzuknüpfen und die erste Frage an den ersten Redner zu richten. Die erste Frage wird oiach einer Reklamation ihrer Relevanz so situiert, daß sie in Bezug zum Publikum und zu dem Wechselverhältnis der beiden Kontrahenten gestellt wird, die zwei Jahre lang gemeinsam als Spitzenvertreter der französischen Politik aufgetreten sind und den Eindruck wo nicht harmonischen, so doch weitgehend reibungsfreien gemeinsamen Handelns vermittelt haben, während in der Zeit des Wahlkampfs Gegensätze und wech-
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selseitige negative Bewertungen bekannt wurden. Die so situierten beiden Teilfragen beziehen sich einerseits auf den Stil des Wahlkampfs und, in Verbindung damit, auf eine grundsätzliche Einschätzung der seit zwei Jahren praktizierten Ausnahmesituation "Cohabitation". Damit wird nun in der Tat ein Fragenkomplex angesprochen, der schon allein deshalb ins Bewußtsein der Franzosen hätte dringen müssen, weil er der politischen Berichterstattung und Kommentierung in den Massenmedien Frankreichs laufenden Stoff geliefert hatte und diese an seiner fortgesetzten Wahrnehmung kräftig mitgearbeitet hatten. Es interessiert die Franzosen, was die Medien interessiert und diese bestimmen mit, was die Franzosen interessiert, und deshalb wird an erster Stelle danach gefragt, was alle interessiert; es ist dies ein Interesse, das durch die Formulierung der Frage einmal mehr bekräftigt wird und das es den Medienvertretern erlaubt, für diejenigen zu sprechen, deren Interesse sie mitbestimmt haben. 4.1.3 Vorführen
und Sagen.
Zur Homologie
der
Ebenen
Aus den Beiträgen der Journalisten wird deutlich, daß das Prinzip einer (zumindest formalen) strengen Gleichbehandlung für die Debatte (die Spielereignisse) eine zentrale Funktion erhält. Wir hatten oben (4.1.1) gesehen, daß der Bildaufbau, die Bildfolge und die Einblendung den Charakter von Ausgeglichenheit und Ordnung haben (oder zumindest den Eindruck davon vermitteln). In diesem Sinn führt der Vorspann vor Augen, was in den inhaltlichen Teilen der Einleitungssequenz explizit als handlungsleitend an- und ausgesprochen wird. Aber mehr noch: eine starke Symmetrie der Bildabfolge durchzieht die gesamte Einleitungssequenz (vgl. Schema im Anhang 4: Schnittfolgen): mit einer Ausnahme, die technisch durch einen Zoom herbeigeführt wird, der aus der Halbtotalen des Studios M. CCotta ins Großformat bringt, ist der Bildanteil der Beteiligten ausgeglichen: Chirac und Mitterand erscheinen je einmal redend und stumm in der Totalen, M. Cotta und E. Vannier haben gleiche Anteile an Großformat, beide werden bei ihren ersten längeren Beiträgen mit einer Bildunterschrift einzeln mit ihrem Namen und ihrer Funktion vorgestellt; beide reden in der Halbtotalen des Studios unter gleichzeitiger optischer Präsenz des/der anderen; hier eben mit der Ausnahme des Zooms. Selbst wenn die Gleichverteilung in den Bildfolgen beim spontanen Ansehen nicht ins Auge sticht, so führt sie doch vor Augen, wovon die Rede ist, wenn im Spektakulumteil von den Regeln des Spiels gesprochen wird. Vorspann und Einleitung bieten eine unausgesprochene praktische und anschauliche Einübung in das, was in der Einleitung explizit angekündigt wird. Daß all dies eben kein Zufall, sondern das Ergebnis intensiver Planung und Vorabsprachen zwischen den Lagern
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der Kandidaten und den Fernsehanstalten ist, wird bei der Präsentation des Ereignisses nicht angesprochen, aber gleichwohl im Handeln vor Augen geführt. 5. Konstellationen von Räumen, Personen und sozialen Beziehungen Die Annahme, "daß die Klammer, die einem bestimmten Vorgang vorangeht, mehr Bedeutung hat als die Endklammer" (Goffman 1980, 283), legt die Frage nahe, in welcher Weise durch die gezielte Konstellation von Räumen und Personen soziale Beziehungen zwischen allen Beteiligten zum Ausdruck gebracht werden. Denn gerade in den einführenden Rahmungsaktivitäten werden die für das Ereignis grundlegenden Konstellationen vorgestellt und definiert, was im vorliegenden Fall "Sache" ist. Bei der Fernsehdebatte entspricht die Raumposition der Beteiligten ihren sozialen Rollen und Beziehungen: Die Kontrahenten sitzen sich gegenüber und sind durch die in der Mitte postierten Journalisten getrennt. Alle vier sitzen vor den Zuschauern, den eigentlichen Adressaten des Ereignisses. Es ergeben sich somit unterschiedliche Möglichkeiten zur Referenz auf Personen, Institutionen, Räume und Beziehungen, deren Form und Funktion nun näher betrachtet werden soll. 5.1 Mittel der Personalreferenz Je nach Anzahl und Rolle der an der Primärsituation Beteiligten ergeben sich unterschiedliche Möglichkeiten zur Personalreferenz und zum Ausdruck sozialer Beziehungen durch die Wahl von Formen der Adressierung und Selbstbezeichnung. Dies gilt für den Bezug auf Primärbeteiligte und auf Zuschauer oder Zuschauergruppen. In welcher Weise dabei Diskurstyp und Aktantenrollen zusammenspielen, wurde in den Fernsehansprachen De Gaulles deutlich, der als erster Präsident der fünften Republik in dem noch jungen Medium Fernsehen einen eigenen Stil der Ansprache schuf und mit ihm sein Rollenverständnis manifestierte. Durch seinen direkten Blick in die Kamera und die Wahl der Adressierungen und Selbstbezeichnungen etablierte er eine direkte Achse zwischen sich und den Fernsehzuschauern (vgl. Guichard 1985, 186): dem "je/moi/de Gaulle" stellte er das "vous/frangais, fran?aises/nation/peuple" gegenüber. Andere politische und gesellschaftliche Institutionen lagen außerhalb dieser Achse. Der Blick in die Kamera simulierte einen direkten Kontakt zu den Zuschauern und legte den Eindruck einer vermittelten direkten Interaktion nahe, bei der die fehlende Dialogizität einerseits bildtechnisch (durch die direkte Anrede), andererseits aber auch sozial durch die bekannte, anerkannte und mit der Ansprache bekräftigte
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Autorität der sprechenden Person (der "man" eben zuhört und nicht ins Wort fällt) in Vergessenheit gerät. Während die Ansprache zum Übergang vom Spektakulum zum Spiel lediglich einen Orts- und Personenwechsel (von der Ansage zur Ansprache) erfordert, bedarf eine Debatte mit mehreren Beteiligten einer komplexeren Einführung und einer differenzierteren Personenreferenz. 5.1.1 Der Bezug auf die Kandidaten Für den Bezug auf die Kandidaten lassen sich unterschiedliche Referenzbereiche angeben, je nachdem ob auf Mitterand (=1), Chirac (=2), beide (=(1+2)), jeden der beiden (=(l)+(2)), den einen und den anderen (=1+2) oder je einen der beiden (=1 oder 2) Bezug genommen wird. Dabei können direkte Anrede, direkte Anrede mit Namensnennung, Pronomina und Deskriptionen verwendet werden. Die folgende Zusammenstellung gibt einen Überblick über die Mittel und Referenzbereiche des Bezugs auf die Kandidaten in der Einleitungssequenz.
Anrede
Name Monsieur M.(2)
1 (=M)
Monsieur Ch.(2)
2 (=Ch)
Pronomina
Deskription
vous (1)
3
vous (1)
3
vous (5) vous-meines (1)
deux candidats (1)
(1)=(2) jeder
chacun d'entre vous (3)
chacun des candidats (2) chaque candidat (1)
1 + 2 der eine und der andere
l'un et 1'autre (2) l'un pour l'autre (1)
(1+2) beide
Messieurs(l)
1
4
14
6
3
seul le candidat qui s'exprime (1)
1 oder 2 je einer
8
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Mittel und Referenzbereiche des Kandidatenbezugs Wenn die Gesamtzahl der Belege für die Personalreferenz in der Einleitungssequenz auch gering ist, lassen sich doch Tendenzen erkennen. Daß bei den Mitteln der Personenreferenz die Pronomina überwiegen, ist nicht erstaunlich; die zweifachen namentlichen Anreden haben im einen
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Fall ihren festen Platz im Begrüßungsritual und stehen im anderen Fall unmittelbar vor der Formulierung der ersten Frage. In beiden Fällen kommt eine Tendenz zur strikten Gleichbehandlung zum Ausdruck, die im zweiten indirekt thematisch wird, da sie in Zusammenhang mit dem für die Abfolge der Redebeiträge herangezogenen Losverfahren gebracht wird, das beiden Kontrahenten gleiche Chancen auf das Erstrederecht oder das Schlußstatement verschafft. Die Tendenz zur strikten Gleichbehandlung zeigt sich auch in der Wahl der Formen, mit denen auf die beiden Kontrahenten nicht allgemein (beide zusammen) , sondern ausdrücklich auf "jeden der beiden" oder "den einen und den anderen der beiden" referiert wird. Rekurrenter deskriptiver Ausdruck zum Verweis auf die Kontrahenten ist "candidat", der jene Rolle benennt, die beiden in gleicher Weise zukommt. Bezieht man den sprachlichen Kontext der Referenz auf "jeden der beiden" mit ein, so zeigt sich, daß sie dazu dient, die auf strikte Gleichbehandlung zielenden Regeln der formalen Diskursorganisation einzuführen, deren Maß die Zeit der beiden Redeanteile ist: - chaque candidat disposeront d1environ cinquante minutes; - vous aurez droit, chacun d'entre vous ä trois minutes de conclusion; - les temps de parole de chacun d'entre vous [...] les temps de parole de chacun d'entre vous doivent etre equilibres ä la fin de chacune des parties; - suivre ä la seconde pres le temps de parole qui a ete utilise par chacun des candidate. Wo auf nur einen der beiden Kandidaten referiert wird, betrifft dies seine alleinige Präsenz auf dem Bildschirm in Entsprechung zu seiner Redezeit: - seul le candidat qui s'exprime sera present ä l'ecran ä ce moment-lä. Die zweite spezifische Referenzform, mit der auf "den einen und den anderen" verwiesen wird, steht in der Situierung der Frage und setzt die beiden Kandidaten unter Hinweis auf ihre Rollen außerhalb der Diskussionsform in Beziehung zueinander: - voici plus de deux ans que vous etes l'un ä 1'autre euh l'un et 1'autre ä la tete de ce pays; - on vous a vus, l'un et 1'autre assez proches. Die Spezifik dieser Beziehung schafft einen Erwartungshorizont; gegen ihn haben in den Augen der Fragestellerin die beiden Kandidaten in ihrer Wahlkämpferrolle verstoßen : - d'un seul coup euh les vous n'avez pas de mots assez durs l'un pour 1'autre, wobei auch hier durch den Ausdruck der Wechselseitigkeit die Gleichbehandlung gewahrt bleibt.
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5.1.2 Der Bezug auf die Journalisten, ihre Rolle und Institution Die Referenz auf die Kandidaten erfolgt nicht unabhängig vom dem Selbstbezug der Journalisten, deren Rolle und Funktion in der Einleitung erläutert wird. Praktisch geschieht dies dadurch, daß sie als erste reden und die Rahmungsaktivitäten vollziehen. Sie übernehmen dabei faktisch die Gesprächsleitung, die ihnen für die Zeit der Debatte eine diskursive Überlegenheit mit Kontrollund beschränkter Sanktionsfunktion zuteilt. Inhaltlich benennen sie ihre Rolle bei der Einführung der Spielregeln, die ihnen eine Doppelfunktion als Regelüberwacher und Fragesteller verschafft. Ihre Rolle wird darüber hinaus an die beiden veranstaltenden Institutionen gebunden, in denen die beiden Journalisten, wie die Bildunterschriften der Ankündigung zeigen, gleichrangige Positionen einnehmen: sie sind beide Leiterin bzw. Leiter des jeweiligen Nachrichtenressorts. Die formelle Gleichrangigkeit und Gleichbehandlung der Kandidaten finden somit ihre Entsprechung bei den beiden Gesprächsleitern: gemeinsam und abwechselnd nehmen sie ihre Aufgaben wahr und teilen sich die Rahmungsaktivitäten. Aus der Einbettung der beiden Journalisten in den institutionellen Kontext ergeben sich zumindest 7 Referenzbereiche. Die Referenz bzw. Selbstreferenz auf 1) Michels Cotta (=C), 2) auf Elie Vannier (=V), 3) auf C+V, 4) auf die an der Situation Beteiligten (C+V+Kandidaten), 5) Referenz auf die beiden Journalisten und Dritte (C+V+X), die im Einzelfall zu bestimmen sind und was ggf. eine Unzahl weiterer Differenzierungen zuläßt, 6) Referenz auf die Rolle(n) und 7) auf die Institution(en), in denen und für die sie agieren. Unter Einbezug der Referenzmittel (Name, Pronomina, Deskription) ergeben sich daraus 21 Bereiche, die ich der besseren Identifikation wegen durchnumeriert habe. Soweit einzelne Formen einem Bereich eindeutig zuzuordnen sind, ist die Häufigkeit ihres Vorkommens in der Einleitungssequenz in Klammer aufgeführt. Es ergibt sich daraus folgendes Schema der Bezüge auf die Journalisten, ihre Rolle und Institution:
Wobei sich weiterhin differenzieren ließe nach "C+V+CH", "C+V+M", "C+V+Ch+M"; diese Möglichkeiten sind für die Analyse der eigentlichen Debatte vorzusehen .
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Name c
V C+V C+V+Kand. C+V+X Rolle(n) Institution
Pronomina
Deskription
1 1 1
7 1 1
1
2
4
2
Schema der Bezüge auf die Journalisten, ihre Rolle und Institution Es zeichnen sich zunächst vier Tendenzen bei der Selbstpräsentation der Journalisten, ihren Rollen und Institutionen ab: a) bis auf einen Fall im Bereich 2 findet keine Selbstreferenz4 auf einen Journalisten allein statt ("je crois que [...])? b) unter den Referenzmitteln überwiegt das Personalpronomen der ersten Person Plural "nous" und gleichreferente andere ("nos", "notre") c) die wiederholte Nennung der Rollen der Beteiligten und ihrer Aktivitäten ("les interventions des journalistes; notre metier de journaliste" sowie anderer Verantwortlicher ("emission [...] realisee par Jean-Luc Leridon") und der veranstaltenden Sender sowie d) uneinheitliche Referenz von "nous", "nos", "notre". Referentiell eindeutig ist "nous" weitgehend bei der Vorstellung der Präsentationsformen und der Rollenbestimmung (vgl. Anhang 2: Makrostruktur 5.): Devant nous deux chronometres qui nous permettront de suivre ... (24f.) In einem weiteren Abschnitt (Anhang 2: Makrostruktur 5.3) folgen eine ganze Reihe von Selbstbezügen auf C+V, deren beschreibende Elemente wesentlicher Bestandteil der journalistischen Rollenpräsentation sind, die im vorliegenden Fall in einer indizierten ("c'est-ä-dire") Paraphrasenrelation zum Ausdruck kommt: Mais nous ferons surtout ce soir, Michele Cotta et moi-meme, notre metier de journaliste, c'est-ä-dire que, bien sür, nous veillerons ä l'equilibre, roais Dabei wurde die nicht eindeutig identifizierte Form "je pourtant insiste sur ce point" (Zeile 20) nicht mitgezählt; sie wäre dem gleichen Bereich zuzuschlagen.
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nous veillerons aussi ä poser les questions, qui, nous semble-t-il, Interessent... (27ff.) Weniger eindeutig ist der Bezugsbereich von "nous avons tire au sort" (31). Auch wenn ein Bezug auf C+V wegen seiner Stellung nach den gerade genannten Fällen naheliegt, bleibt offen, ob und wieweit die beiden Kandidaten bei dem benannten Verfahren beteiligt waren. Die schon konstatierte Tendenz, die grundsätzliche Chancengleichheit der beiden zu manifestieren, würde durch die zweite Lesart noch stärker als durch die erste unterstrichen. Es bleibt festzuhalten, daß die Rollen und Funktionen der beiden Journalisten mit referentiell eindeutigen bzw. unmiBverständlichen Äußerungen eingeführt und damit ihre Rechte und Aufgaben klar umrissen und fixiert werden. Gleiches gilt für die Regelung ihrer Redezeiten: "nos interventions seront decomptees ä part"(14). Uneindeutig ist die Referenz von "nous" dort, wo es nicht um die Benennung, sondern um die Festlegung von Regelungen bzw. um den Vollzug stark ritualisierter Diskursteile geht. So scheinen z.B. für "nous" in "Nous avons divise ce debat en quatre parties" (15) vier Bezugsbereiche möglich: i) C+V ii) C+V+Institution iii) C+V+Kandidaten iv) C+V+Institution+Kandidaten Die Wahl des Referenzbereichs hängt nun - nicht nur - in diesem Fall davon ab, was wir an Vorwissen zu und an Annahmen über die Rechte und Handlungsmöglichkeiten der Beteiligten einbringen sowie von unseren Annahmen über die Modalitäten für die Herbeiführung der Regelungen, denen sich die Beteiligten unterwerfen. Offensichtlich scheint, daß, zumindest auf den ersten Blick, der Bezug auf die Bereiche iii) und iv) nicht nahegelegt wird und, wenn schon nicht i), so doch eher ii) in Frage kommen dürfte. Diese beiden Möglichkeiten gibt es auch bei der Situierung des Ereignisses "Messieurs nous accueillons ce soir" (7) und beim Dank an die beiden Kandidaten, bei dem die Institutionen explizit angesprochen und in ihrer Reichweite charakterisiert werden: "Nous vous remercions d'avoir accepte, l'un et l'autre, que les deux grand chaines nationales de television, Antenne deux et TF1, 11 organisent" (llf.). Bei dieser Wahl der Rahmungsaktivitäten kommen die Grundzüge der Inszenierung und ihre Formen zur Sprache, nicht aber die Voraussetzungen und Vorbedingungen, die Grundlage der Inszenierung selbst. Die Referenz des "nous" auf die Bereiche iii) und iv) liegt bei der Beschreibung der organisatorischen Tätigkeit nicht nahe, der Duktus der Rahmung blendet sie aus. So wird der Eindruck erweckt, zumindest für die Dauer des inszenierten Spiels und seiner Rollenverteilung seien die umfassenderen und längerfristigen Rollen der Beteiligten außer Kraft gesetzt. Systematisch ausgeblen-
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det wird dabei, daß die Festlegung der Spielregeln und -bedingungen gerade nicht in der Hand der Institution und schon gar nicht in der beider Journalisten liegt, sondern Ergebnis langwieriger Vorplanungen in den Lagern der beiden Kandidaten und von Aushandlungen sowie Übereinkommen zwischen ihnen ist. Gespielt wird somit, was außerhalb des Spiels gerade nicht der Fall ist, und die Debatte wird Spiel nicht nur im Sinn der Goffmanschen Termini, sondern auch insofern sie dem für die Zeit ihrer Dauer die "ernsten" Regeln der umfassenderen Realität des politischen Handelns anscheinend außer Kraft setzt. 5.1.3 Der Bezug auf die Zuschauer und Wähler Das Publikum ist durchweg Adressat der medialen Inszenierung. In unserem Fall wird es von den beiden Journalisten an erster Stelle direkt und in denkbar kürzester Grußform angesprochen und dabei zugleich der Bezug zum Sprechzeitpunkt hergestellt (1;2). Bei der Feststellung des allgemein regen Interesses an der Debatte bleibt der Bezug zum Publikum implizit. Während der direkte Publikumsbezug in den primär an die Kandidaten gerichteten Passagen (s.o.) entfällt, ist er bei der Artikulation des journalistischen Selbstverständnisses konstitutiv. Die Journalisten machen sich sowohl durch die Übernahme der Gesprächsorganisation als auch bei der Beschreibung ihrer Fragerolle zu Interessenvertretern des Publikums, auf das sie im zweiten Fall explizit referieren: nous veillerons aussi ä poser les questions qui, nous semble-t-il Interessent 1'ensemble des telespectateurs et des citoyens, questions qui doivent etre importantes pour eux (29f.). Bei diesem Bezug erscheint das Publikum in einer Doppelrolle als Fernsehzuschauer und Staatsbürger und das Fernsehen als entscheidender Faktor des politischen Lebens. Seine sichtbar agierenden Vertreter treten auf, als hätten sie vom Publikum die Legitimation, an seiner Stelle Fragen an die Kandidaten zu stellen, und dazu noch die wichtigen, zentralen und allerseits interessierenden Fragen. Nun wird dieser Anspruch verbal in zwei Schritten mit syntaktisch weitgehend parallelen Konstruktionen modalisiert: im ersten Schritt parenthetisch unter Referenz auf die Journalisten ("nous semblet-il") , im zweiten Fall unter Referenz auf die Zuschauerstaatsbürger ("questions qui doivent etre interessantes pour eux" (30)). Diese zweite Form läßt prinzipiell zwei Lesarten zu: als Abschwächung (übersetzbar mit: interessieren müßten) und als Bestärkung des ausgedrückten Sachverhalts (übersetzbar mit: (einfach) interessieren müssen). Betrachtet man allein den verbalen Kontext, dann liegt im Sinn der ersten eindeutig abschwächenden Modalisierung die erste Lesart nahe. Be-
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trachtet man jedoch die mit der Situation und durch die Rahmung erhobenen und manifestierten Geltungsansprüche (vgl. 3.1), dann liegt es nahe, die zweite Lesart zu wählen und sie rückwirkend auf die erste Modalisierung zu übertragen. Dieses gegenläufige, sich zugleich ergänzende Wechselspiel möglicher Interpretationen, zwischen wörtlich ausgedrücktem und praktisch realisiertem Sinn läuft auf eine Art Herablassungstrategie hinaus, bei der ein objektives hierarchisches Gefalle zwischen Beteiligten, hier zwischen Journalisten und Publikum, vom überlegenen beim Reden symbolisch negiert und gleichwohl bekräftigt wird (vgl. Bourdieu 1982, 61f.).5 Es kommt hinzu, daß die Journalisten, indem sie für die Zuschauer die richtigen und wichtigen Fragen formulieren unausgesprochen ein Verhältnis zum Publikum manifestieren, das dem zwischen Abgeordneten, ihrem Wahlkreis und Interessengruppen entspricht. Zusammen mit der strengen formalen Kontrolle des Gesprächsablaufs kommt so der Kontrollanspruch des Mediums als vierter Gewalt zum Ausdruck, der allerdings in dem überspielten Gegensatz zu dem Drehbuch steht, das seine Durchsetzung reguliert. 5.2 Der Bezug
auf Räume,
Institutionen
und
Ereignisse
Betrachten wir nun die Art, wie in den Beiträgen der beiden Journalisten auf Räume, besonders auf die Aktionsräume der Beteiligten Bezug genommen wird. Raumreferenz findet zunächst nach dem Begrüßungsritual mit der Benennung von Sprechzeit ("ce soir"), Handlungsbeteiligten ("nous", "deux candidate au second tour de 1'election presidentielle") statt. Der Handlungsort wird als "ce plateau de television" beschrieben und in einem umfassenderen institutionellen Raum angesiedelt: dem der "deux grandes chaines nationales de television Antenne deux et TF1". Besondere Bedeutung gewinnt dieser Raum dadurch, daß er durch den außerordentlichen Zusammenschluß der beiden traditionellen nationalen Sender allererst geschaffen wurde. Faktisch kam hinzu, daß darüber hinaus das dritte, fünfte und sechste Programm zugeschaltet waren und etwa 30 Millionen Zuschauer erreicht wurden. Der Handlungsraum wird zweifach näher bestimmt: zum einen als der eines ganz bestimmten Handlungstyps, eben der Kandidatendebatte, auf deren Geschichte zum anderen ausdrücklich hingewiesen wird. Die Fernsehdebatte wird als "une tradition dans la vie politique frangaise" dargestellt und erhält so den Charakter einer festen poli"La Strategie de condescendence consiste ä tirer profit du rapport de forces objectif entre le langues qui se trouvent pratiquement confrontees [...] dans l'acte meme de nier symboliquement ce rapport, c'est-ä-dire la hierarchie entre les langues et ceux qui les parlent. (Bourdieu 1982,62)
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tischen Einrichtung, deren Bedeutung auch durch die Art der Einordnung in eine geschichtliche Zeit zum Ausdruck kommt: die entsprechenden Jahreszahlen werden wie wichtige Geschichtsdaten genannt und der Hinweis auf die nun anstehende dritte Aufführung präsentiert den Diskurstyp in einer festen historischen Verankerung. Sie ist an die Medien gebunden und auf sie übertragbar, die nun ihrerseits dem Gewicht des Ereignisses durch seine Koproduktion entsprechen und es durch die Zusammenschaltung in das Zentrum des öffentlichen Interesses rücken: das "plateau de television" und die dort durchgeführte Debatte treten in den Mittelpunkt des politischen Geschehens der Nation. Indem hier das entscheidende politische Ereignis inszeniert wird, gerät die Bühne zur politischen Welt und politisches Handeln scheint allein in seiner medialen Inszenierung und Vermittlung vollziehbar. Entsprechend ausführlich fallen die Bezüge auf das Medium und die Bedingungen der Inszenierung aus: zweimal kommt der Verbund der beiden Anstalten (12, 21f.) zur Sprache, zweimal das "plateau de television" als Ort der Veranstaltung (7, 26), zweimal auch der Diskurstyp "debat" (7), an dessen Stelle dann allerdings viermal das medienspezifischere Hyperonym "emission" (21, 22, 24, 31) tritt. Genau werden auch die technischen Bedingungen (drei Kameras für jeden Kandidaten) und organisatorischen Regelungen für die Bildpräsenz (Bindung an das Rederecht) genannt. Die Genauigkeit der Darstellung weist dabei insgesamt auf die Gewissenhaftigkeit der Inszenierung hin und verleiht ihr, zusammen mit ihrer historischen Verankerung, den Charakter einer besonderen Institution, die, wie ihre Vertreter, einerseits außerhalb der üblichen politischen Institutionen steht und eine Sonderstellung einnimmt, andererseits aber wichtiger Bestandteil des politischen Lebens ist, da es einem zentralen politischen Ereignis durch die Art seiner Inszenierung allerst den ihm gebührenden Platz verschafft. Die Regelung der Inszenierung und die eigene Tradition kommen dort wie selbstverständlich ins Spiel, wo, nach Auskunft von M. Cotta (31), die Entscheidung über das Erstrederecht "wie üblich" ("selon l'usage") per Losentscheid herbeigeführt wurde. Für die mediale Inszenierung werden nun andere medial vermittelte Ereignisse konstitutiv, und die Bühne des Studios erscheint nicht nur als Welt, vielmehr gerät die Welt auch zur Bühne: In der Fragesituierung greift M. Cotta auf Wissen zurück, das alle Beteiligten, die Journalisten, Kandidaten und Zuschauer teilen, weil sie an den angesprochenen Ereignissen entweder als Aktanten oder Berichterstatter teilgenommen oder über sie aus dem Fernsehen erfahren haben. Mit dem Hinweis auf ein so konstituiertes Wissen begründet und rechtfertigt sie ihre erste Frage:
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Α de nombreuses reprises, surtout sur la scene internationale, on vous a vus, l'un et 1'autre, assez proches. D'ailleurs vous-memes, dans des interviews, vous avez dit que vous l'etiez (35-37). Wenn nun während des Wahlkampfes das Verhalten der Kandidaten und ihrer Lager als abweichend eingestuft wird, so geschieht dies auf der Grundlage einer Normalerwartung an Verhalten von Spitzenpolitikern, die sich aus dessen wiederholter Demonstration (a de nom— breuses reprises) bei gemeinsamen internationalen Auftritten und in medialen Bekundungen speist. Die Normalerwartung bezieht sich auf die Würde und Wichtigkeit der Ämter sowie auf die gebührenden Formen zu ihrer Wahrnehmung auch in anderer Rollenkonstellation. Da die Begründung der ersten Frage die Monierung der Verstöße vornimmt und sie als gerechtfertigt unterstellt, begibt sich die Fragestellerin im Interesse des Publikums und in Vertretung ihrer Institution auf eine Ebene, die sich über die beiden Spitzenpolitiker stellt, und unterstreicht damit praktisch für die Öffentlichkeit und vor ihr den Kontrollanspruch des Mediums. Die Bezüge auf Räume, Institutionen und Ereignisse rükken bei der Rahmung der Debatte den medialen Aspekt immer wieder in den Vordergrund und führen zu semantischen Konsequenzen. Die beiden Journalisten greifen mit "plateau" und "scene" auf Ausdrücke zurück, die im alltäglichen Sprachgebrauch wie bei unserer Verwendung von "Spektakulum" und "Spiel" im Wissenschaftsjargon Metaphern aus dem Theaterbereich sind. Sie dienen zur kognitiven Fassung und zum sprachlichen Ausdruck komplexer Handlungszusammenhänge, in denen "Bühne" und "Szene" Handlungsorte sind. Der vorliegende Gebrauch unterscheidet sich jedoch von diesen Verwendungen entscheidend, da mit der fortlaufenden medialen Selbstreferenz der metaphorische Charakter verschwindet und die Ausdrücke die Situation direkt bezeichnen, in der sie verwendet werden. 6. Zwischenbilanz Die bisherigen Betrachtungen zeigen, wie die Rahmung der Debatte das anstehende Ereignis als eine feste und traditionelle, wichtige und genau geregelte Einrichtung des politischen Lebens präsentiert. Unausgesprochen wird ihr der Status einer außerordentlichen Institution neben oder über anderen politischen Institutionen zuerkannt. Die Ausführlichkeit und Genauigkeit der Verfahrensregeln verleiht dem Ereignis und der Form seiner Inszenierung ein offiziöses Gewicht, wobei die Herbeiführung von grundlegenden politischen Entscheidungen wesentlich an das Medium Fernsehen gebunden wird. Der Ernsthaftigkeit der Inszenierung tritt die Medienwirksamkeit ihrer Form zur Seite, die zwei politisch hohe Persönlichkeiten unter Mitwirkung und unter Kontrolle von zwei wichtigen
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Medienvertretern direkt konfrontiert. Sie sind es, die für das Publikum fragen und an seiner Stelle bestimmen, was die der Situation angemessenen Fragen von nationalem Interesse sind. Was an Vorbereitung hinter den Kulissen lief, wie stark der Einfluß der Kandidaten und ihrer Lager auf die von den Medien zu kontrollierenden Regeln war, tritt hier nicht in den Blick. Vielmehr erscheint die Debatte als eigenständige Einrichtung zur Austragung eines politischen Endkampfes um die Wählerstimmen. Die Präsidialverfassung und die Rolle, die das Fernsehen bei der Vorbereitung wichtiger Abstimmungen und Wahlkämpfe in Frankreich spielten, stärkt die Tendenz, die politische Auseinandersetzung und Meinungsbildung zusehends an das Medium Fernsehen zu binden. Da nun aber das Fernsehen gerade im Fall der Kandidatendebatten über die Berichterstattung hinausgeht und zum Veranstalter des Ereignisses wird, dessen Regelung und Ablauf an seinen spezifischen Möglichkeiten und Erfordernissen ausgerichtet sind, wird es institutionell zum politischen Aktivposten der parlamentarischen Demokratie, der Form und Inhalt der Auseinandersetzung bestimmt. In diesem Sinn trifft zu, was Ch. Ockrent von der Debatte schrieb: "Le duel de 1988 sera 1'apogee de la telecratie" (1988, 151). Wenn sie allerdings einen Satz davor schreibt: "L1opinion aussi s'echauffe et attend", dann verschweigt die Metapher von der sich erhitzenden öffentlichen Meinung und der gesteigerten Erwartung, daß es gerade das Medium ist, das diesen Effekt wesentlich mitbewirkt und damit auch das Interesse an und das Bedürfnis nach seiner Art der Politikinszenierung schafft. Nun könnte es scheinen, als würde mit diesen Ausführungen die Rahmungsaktivität zu weitgehend interpretiert und das in ihr artikulierte journalistische Selbstverständnis zu weit ausgelegt. Ein Blick auf die ausführlichere Einleitung bei TF1 zeigt die benannte Tendenz jedoch noch viel deutlicher. 7. Zur zusätzlichen Rahmung bei TF1 Bei TF1 blieben zwischen der vorangehenden Spielsendung und der Übertragung der Debatte knapp zwei Minuten. Dieser zeitliche Puffer (Goffman 1980, 293) bot Raum zu einer Doppelung der Rahmung und bot die Möglichkeit, die Zuschauer an das Ereignis heranzuführen. Eine Transkription der Ansage findet sich im Anhang 4. Die Bildschnitte dieser Sequenz markieren optisch die Hauptetappen (vgl. Anhang 5): Eine Trickblende (=/l/) führt nahtlos den Abspann der vorangehenden Sendung in das Nachrichtenstudio von TF1 und unter Begleitung des Jingles für die Nachrichten zu dem Nachrichtensprecher in Großaufnahme (=/2/). Nach einem Schnitt wird das Gebäude von außen gezeigt (=/3/), in dem die Debatte stattfindet. Die Zuschauer werden so in Form der Berichterstattung von deren traditionellem Raum aus an den außergewöhnli-
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chen Ort des besonderen Ereignisses herangeführt. Es kommt dann in der Totale das Debattenstudio (—/4/) mit den schon piazierten Beteiligten ins Bild, die noch miteinander zu reden scheinen. Manipulationen an der Kamera führen kurz zu einem leichten Wackelbild und zu einem Zoomansatz. Beide unterstreichen optisch den vorbereitenden Charakter. Die Richtung der Gesamtbewegung von Nachrichtenstudio, Außenansicht des Gebäudes und hinein in das Debattenstudio gewährt einen kurzen Blick hinter die Kulissen, der allerdings im Fall der Gebäudedarstellung wenig Information bringt, da außer dem Wachpersonal und einer Fernsehkamera nichts zu sehen ist und dies auch explizit gesagt wird. Nach einem kurzfristig schwarzen Bildschirm rückt der Nachrichtensprecher abermals in Großaufnahme ins Bild (=/5/) und nach einer abschließenden Großaufnahme des Nachrichtenstudios (=/6/), die von dem Nachrichtenjingle begleitet wird, wird das Debattenstudio in Großaufnahme gezeigt, wie es auch die Zuschauer von Antenne 2 zu sehen bekamen. Kurz danach setzt die Vorspannmusik der Debatte ein. Der optische Einblick in die Umstände der Debatteninszenierung wird sprachlich spezifiziert: Michele Cotta und Elie Vannier werden sowohl in ihrer institutionellen Rolle als Leiter des jeweiligen Nachrichtenressorts wie in ihrer diskursspezifischen Kontrollfunktion ("vont done arbitrer ce duel") vorgestellt; des weiteren nennt der Sprecher die den beiden Kandidaten zugeordneten Regisseure (Alexandre Tarta für Chirac und Serge Moati für Mitterand) sowie den Gesamtleiter der Sendung, J.-L. Leridon. Die Charakterisierungen der drei erfolgen unter Verweis auf ihre mediale Bekanntheit, die im einen Fall schlichtweg vorausgesetzt ("notre ami Alexandre Tarta") und im anderen Fall explizit benannt wird ("Serge Moati que les telespectateurs connaissent bien puisque il a realise un certain nombre d'oeuvres au cinema et ä la television"). J.-L.Leridon schließlich wird als Herr über acht Kameras vorgestellt, der so agiert, daß immer nur der sprechende Kandidat ins Bild kommt und sein Gegner keine Möglichkeit zum außersprachlichen Kommentar erhält. Der Sprecher erläutert in einer Paraphrase den entsprechenden Fachausdruck "plan de coupe" mit Hinweis auf die sichtbaren Konsequenzen. Die Zuschauer erfahren so, wie sich die zwischen den Lagern genau ausgehandelten Bedingungen der Inszenierung auswirken. Indem allseits bekannte Medienvertreter sich um die Debatte der beiden, hier mit Ämtern und Namen benannten Spitzenpolitiker kümmern, indem bekannte und anerkannte Personen die Inszenierung gestalten, wird die Bedeutung des Ereignisses in seiner medialen Inszenierung und Vermittlung konstituiert. Die auf die medialen Bedingungen bezogene Darstellung gerät schließlich zur völligen Selbstreferenz, wo einmal die alphabetische Reihenfolge der Kandidatennennung mit dem Hinweis darauf gerechtfertigt wird, daß alles aber auch alles zähle, und wo zum anderen durch die Sekunden-
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genaue dreimalige Zeitnennung Spannung wie bei einein Countdown erzeugt wird. Es ist dies der Versuch durch die Art des Redens wahr zu machen, worüber geredet wird, und das zu schaffen, was nach Bekunden des Sprechers im Debattenstudio der Fall ist: "ä l'interieur [...] vous le voyez, la tension est ä 1'extreme". Wenn es gelungen ist, dem Zuschauer durch die Rahmung den Eindruck von Bedeutung und Gewicht des inszenierten Ereignisses zu vermitteln, dann wird er wohl auch glauben zu sehen, was der Ansager ihm mitteilt, auch wenn er nur vier Personen sieht, die an einem Tisch sitzen. Und wenn er das alles glaubt, dann hat er die Voreinstellung übernommen, auf die die Inszenierung abzielt, und er braucht eigentlich fast schon nicht mehr zuzuhören, sondern nur noch gespannt sein, wer seiner Meinung nach in einem kontroversen Gespräch die Oberhand behält, das ihm als Wettkampf präsentiert wird. Wo die Form der Inszenierung und das Bemühen um einen möglichst hohen medialen Effekt im Vordergrund der Vorbereitung und der Präsentation steht, dort rückt der Inhalt der politischen Auseinandersetzung leicht in den Hintergrund. Wo das Medium sich selbst als quasipolitische Institution feiert und ganz wesentlich zur Konstitution politischer Bedeutung im dargelegten Sinn beiträgt, da besteht die wenig erfreuliche Aussicht, daß Politik zusehends nicht nur im Fernsehen, sondern auch vom Fernsehen gemacht wird und daß die medial ansprechende Form komplexe und schwierige Inhalte überdeckt oder ihre Behandlung unmöglich macht, weil sie über das Fernsehen dieser Art überhaupt nicht mehr vermittelbar sind. Die Auffassung von Ch. Ockrent, die Kandidatendebatte sei als "moment ultime de la television politique" für die Demokratie konstitutiv, kann so gesehen nur pessimistisch stimmen. Literatur
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Anhang 1. Transkription der Einleitungssequenz tendebatte vom 28.4. 1988 (Antenne 2)
der
Kandida-
DEBAT (A2 et TF 1, 28.4.1988; candidats: Jacques CHIRAC (=CH); Frangois MITTERRAND (=M); journalistes: Michele COTTA (=C), directeur de 11 information TF 1; Elie VANNIER (=V), directeur de 11 information A 2; realisation: Jean-Luc LERIDON) 1 2 3 4 5 6 7
V C V Μ V CH V
8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
C
Bonsoir. Bonsoir. Bonsoir, Monsieur Mitterrand. Bonsoir. Bonsoir Monsieur Chirac. Bonsoir. Messieurs nous accueillons ce soir sur ce plateau de television deux candidats au second tour de 1'election presidentielle. Ce debat etait attendu, c'est peu de le dire, ce debat est maintenant devenu une tradition dans la vie politique francpaise depuis mille neuf cent soixante-quatorze, c'est done le troisieme: soixante-quatorze, quatre-vingt-un et maintenant mille neuf cent quatrevingt-huit. Nous vous remercions d'avoir accepte, l'un et l'autre, que les deux grandes chaines nationales de television, Antenne deux et TF 1, l'organisent selon des regies precises Chaque candidat disposeront d'environ cinquante minutes mais cinquante minutes precisement euh. Nos interventions seront decomptees ä part, eh les deux interventions des journalistes, et enfin vous aurez droit, chacun d'entre vous, ä trois minutes de conclusion euh. Nous avons divise ce debat en quatre parties: trente minutes pour la politique interieure et les institutions, trente minutes pour euh 11 Europe et les problemes economiques et sociaux, vingt minutes pour les problemes de societe vingt minutes enfin pour la politique etrangere et la defense. Le temps de parole de chacun d'entre vous [je pourtant insiste sur ce] point, parce que c'est important, les temps de parole de chacun d'entre vous doivent etre equilibres ä la fin de chacune des parties.
Quant ä la forme, cette emission qui a ete realisee apres un accord entre les deux chaines de television, Antenne deux et TF 1, realisee par JeanLuc Leridon, cette emission respectera des regies de stricte equite. Par exemple, seul le candidat qui s'exprime sera present ä l'ecran ä ce momentla. Chacun des candidate sera suivi pendant toute la duree d'emission par trois cameras. Devant nous, deux chronometres qui nous permettront de suivre ä la seconde pres le temps de parole qui a ete utilise par chacun des deux candidate presents sur ce plateau, encore une fois afin de veiller ä cette egalite de temps de parole. Mais nous ferons surtout ce soir, Michele Cotta et moi-meme, notre metier de journaliste, c'est-ädire que bien sur nous veillerons ä l'equilibre mais nous veillerons aussi ä poser les questions qui, nous semble-t-il, Interessent l1ensemble des telespectateurs et des citoyens, questions qui doivent etre importantes pour eux. Alors, selon 1'usage, nous avons tire au sort, lä, juste avant le debut de cette emission, alors euh Monsieur Mitterrand vous commencez, Monsieur Chirac vous ferez la derniere conclusion. Et la premiere question est naturellement une question assez assez simple et je crois que tous les frangais se posent aujourd'hui voici plus de deux ans que vous etes 11un ä 1•autre euh 11un et l1autre ä la tete de ce pays. Α de nombreuses reprises, surtout sur la scene internationale, on vous a vus, l'un et 1'autre, assez proches. D'ailleurs vous-memes, dans des interviews, vous avez dit que vous 1'etiez et apres tout les frangais s'en satisfaisaient assez bien. Alors euh qu'est-ce qui se passe, d'un seul coup euh les vous η'avez pas de mots assez durs l'un pour 1'autre. Les uns parlent de l'äge d'un candidat, les autres de la vulgarite euh est-ce que vraiment la Campagne electorale permet tout? Est-ce que vraiment nous sommes plus dans le temps de la cohabitation. Une Campagne electorale ne permet pas tout /.../
43 2. Makrostruktur der Einleitungssequenz (Die Zahlenangaben verweisen auf die skription) Ά)
B)
Zeilen
der
Tran-
Beendigung des vorangehenden Programmteils Logo für Werbeblöcke von A2 Überleitung Logo des Senders A2
C)
Die Debatte als neuer Programmteil
1. 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6
Vorspann Bild (Studiototale) Musik (Einsetzen) Titel Namen der beiden Opponenten Namen der beiden Journalisten (Halbtotale) Name des Sendeleiters
2.
Begrüßungsritual (1-6)
3. 3.1 3.2
Situierung des Ereignisses (7-12) Ort, Zeit und Art des Ereignisses (7-8) Historische Situierung (Geschichte des Ereignistyps) (8-11) Dank an die Kandidaten und Sendernennung (11-12) Überleitung zum nächsten Teil
3.3 3.4 4. 4.1 4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.2.4 4.3 5. 5.1 5.2 5.2.1 5.2.2 5.3 5.4
Spielregeln Regelung der Redezeiten (13-15) Regelung der Themenbereiche und deren Benennung (15-18) Innenpolitik, Institution Europa, Wirtschafts- und Sozialbereich Gesellschaft Außen- und Verteidigungspolitik Regelung der Redezeiten unter Bezug auf die Hauptthemen (18-20) Präsentationsformen und Pollenbestimmung (212-32) Veranstalter Grundregel für die Präsentation (strikte Gleichbehandlung) Redeanteil und Bildpräsenz (23-24) Überwachung gleicher Redeanteile (24-27) Rollenverständnis der Moderatoren als überwacher der Regeleinhaltung und als Fragesteller Bekanntgabe der Rednerfolge
44 6. 6.1 6.1.1 6.1.2 6.2
Erste Frage (32-41) Fragesituierung (32-39) Relevanzbehauptung (32-34) Bezug auf das Verhältnis der beiden Kontrahenten (politisch-institutioneller Aspekt) (34-39) Formulierung von zwei Teilfragen
3. Bilder des Vorspanns
Jicqii«·
CHIRAC L
2
(alle übertragenden Anstalten)
Francois
MITTERRAND
45 4. Transkription der Ansage zur Debatte
(TF1)
Fernsehansage zur Debatte zwischen J. Chirac und F. Mitterrand am 28.4.1988 auf TF1
1 2
3
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5
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8
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//Trickblende in Nachrichtenstudio; Jingle der Nachrichtensendung; Sprecher in Großaufnahme// Voilä retour sur TF1 car dans exactement une minute cinquante-trois secondes nous allons diffuser le grand debat, le grand debat qui va opposer, vous le savez, Jacques Chirac ä Frangois Mitterrand et nous avons choisi lä l 1 ordre alphabetique parce que tout va compter ce soir. Vous allez le decouvrir ä travers les images que nous allons diffuser maintenant, les images d'abord de l'exterieur /l/ oü il ne se passe plus grand'chose devant la maison de la radio /Cisney/ evidemment beaucoup de forces de 1'ordre et /2/ ä l'interieur, ä l'interieur en revanche, eh bien vous le voyez, la tension est ä 1*extreme puisque c'est exactement dans une minute vingt que Michele Cotta qui est la directrice de 1'information de TF1 et Elie Vannier qui se trouve etre le directeur de 1'information d'Antenne 2 vont done arbitrer ce duel entre le Premier Ministre ä la gauche et le President de la Republique qui se trouve ä la droite de votre ecran. Chacun disposera d'un realisateur attitre, en ce qui concerne Jacques Chirac, il s'agit de notre ami Alexandre Tarta et en ce qui concerne euh Frangois Mitterrand, il s'agit de Serge Moati que les telespectateurs connaissent bien egalement puisque il a realise un certain nombre d'oeuvres au cinema et ä la television et puis pour coordonner le tout, Jean-Luc Leridon qui done disposera euh d'une batterie de huit cameras et il n'y aura pas la possibility /3/ de plan de coupe pour /4/ chacun des candidats, cela veut dire que lorsqu'un candidat parlera, on ne verra pas la tete que fera son adversaire. Voilä ä peu pres comment tout a ete
17 18 19 20
minutieusement dispute entre les deux entourages. Je vous invite tout de suite ä rejoindre puisque c'est naintenant dans dix secondes, l'heure fatidique, la maison de la radio pour le grand debat entre les deux derniers participants du second tour de la presidentielle. /5/ //Jingle der Nachrichtensendung// /6/ //Vorspannmusik der Debatte//
Schnittfolgm: /l/: Außenansicht eines Gebäudes mit Kamera im Vordergrund und Wachpersonal in der Tür; /2/; Totale des Studios mit den Kandidaten und den Journalisten; Hackelbewegung der Studiokamera und Zoomansatz; /3/: schwarzer Bildschirm bei Schnitt; /4/: Sprecher in Großaufnähme; /5/: Nachrichtenstudio; /6/: Debattenstudio. 5. Bildfolge der Ansage zur Debatte (TF1)
ULRICH KÖPF "LASSEN SIE MICH ZUNÄCHST EINMAL SAGEN". Kommunikative Strategien von Politikern in Fernsehdiskussionen. Am Beispiel der Spitzenkandidaten-Diskussion "3 Tage vor der Wahl" vom 2.10.1980.
1. Ausgangspunkt Der Ausgangspunkt dieses Beitrags ist ein konkretes kommunikatives Problem, das von vielen artikulierte Unbehagen an der Art und Weise, wie sich Politiker in medienöffentlichen Diskussionen kommunikativ verhalten. Zuschauer und Zuhörer äußern sich häufig negativ über den Verlauf solcher Veranstaltungen. Ihre Erwartungen werden enttäuscht, sie haben sich 'mehr davon versprochen'. Die Reaktionen der Betroffenen beschränken sich allerdings zumeist auf eine mehr oder weniger resignative Kommentierung des Geschehens oder eine eher platte Politikerschelte. Es soll daher der Versuch unternommen werden, ausgehend von detaillierten linguistischen Analysen charakteristischer Gesprächssequenzen aus einer Fernsehdiskussion mit Spitzenpolitikern neuralgische Punkte in derartigen Diskussionen zu lokalisieren und damit Gründe für das genannte Unbehagen aufzudecken. Untersuchungsgrundlage ist die im Rahmen einer früheren Arbeit (Köpf 1982) transkribierte und analysierte Sendung "3 Tage vor der Wahl" vom 2.10.1980.1 Aus Raumgründen kann hier nur eine beschränkte Auswahl aus den dort analysierten Sequenzen vorgestellt werden. Eine Hypothese läßt sich vorweg formulieren: Es scheint eine Diskrepanz zu bestehen zwischen einem Prototyp rationaler Diskussion, der in akademischen Argumentationslehren beschrieben wird und der auch für Politikerdiskussionen im Fernsehen als Anspruch und Folie präsent ist, und der spezifischen Art von Kommunikation, die in diesen Diskussionen tatsächlich praktiziert wird.2 Eine solche Diskrepanz von Kommunikationsformen wird sich u.a. auch in einer Divergenz der Kommunikationsprinzipien zeigen, denen die Teilnehmer zu folgen scheinen, und derjenigen, auf die sie manche Zuschauer und bisweilen auch die Diskussionsleiter festlegen möchten. 1
2
Die Angaben hinter den Transkriptauszügen (Seitenangabe/Zeilenangabe) beziehen sich auf die Transkription in Köpf (1982). Vgl. die Analyse zur "Bonner Runde" von Holly/Kühn/Püschel (1986), die Beobachtungen in Dieckmann (1985), sowie die Analyse einer Sequenz aus der Fernsehdiskussion zum Bundestagswahlkampf 1976 in Muckenhaupt (1986).
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Zunächst soll die besondere Kommunikationssituation dieser Sendung erörtert werden. Daran schließen sich detaillierte Beschreibungen von drei Sequenzen aus dieser Fernsehrunde an.3 Anschließend werden einige Ergebnisse zusammengefaßt und durch pointiert formulierte strategische Maximen ergänzt. 2. Die
Kommunikationssituation
Seit 1961 findet sich das aus den USA stammende Konzept der Wahlkampfdiskussion auch in der Bundesrepublik. Es ist üblich geworden, die Spitzenkandidaten der im Bundestag vertretenen Parteien kurz vor der Wahl zu einer von Fernsehen und Hörfunk übertragenen Diskussionsrunde einzuladen. Offizielles Ziel solcher Sendungen ist, die 'heiße' Phase des Wahlkampfes zusammenzufassen und so den Wählern eine Entscheidungshilfe für die anstehende Wahl zu geben: (1)...einem Informationsdialog stellen der den Wählern unter unseren Zuschauern neue Aufschlüsse verschaffen oder alte Erkenntnisse bestätigen mag. (1/15-18) (Appel) Die hier analysierte Sendung wurde sowohl von ARD und ZDF als auch von einer Reihe von Hörfunkprogrammen live ausgestrahlt. Sie dauerte 3,5 Stunden, wobei ein Ende nicht vorab festgelegt war. Zwei Journalisten - Carl Weiss von der ARD und Hans Appel vom ZDF - leiteten die Diskussion. Beteiligt waren der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt, der Kanzlerkandidat der Unionsparteien, Franz-Josef Strauß, der Oppositionsführer Helmut Kohl, sowie der Vorsitzende der FDP, Hans-Dietrich Genscher. Form und thematischer Fortgang der Sendung sollten, nach der Formulierung von Carl Weiss, folgendermaßen geregelt sein: (2)Wir schlagen Ihnen folgenden Ablauf vor wir sollten etwa in gleicher Länge nacheinander über die Bereiche Außenpolitik und Sicherheit Innenpolitik und Wirtschaft Finanzen und Soziales diskutieren und unsere herzliche Bitte ist im Interesse des Publikums über das zu reden was gerade dran ist wir haben Zeit nichts Wichtiges soll unterbleiben als Regel schlagen wir vor daß in wechselnder Reihenfolge und Mischung immer je ein Mann der Koalition und der Opposition aufeinander folgen wir bitten den Einzelbeitrag auf 2 Minuten zu beschränken jedes Mal wenn sich alle zu einem Thema geäußert haben sollten Sie nocheinmal Gelegenheit haben in einer kurzen Replik also in einer zweiten korrigierenden Runde wem immer Sie wollen zu antworten was immer Sie wollen zurechtzurücken. (1/28-39)
Zum theoretischen Hintergrund dieser vgl. Heringer (1974), Fritz (1982).
Beschreibung
50
Soviel zu den explizit formulierten Regeln der Diskussion. Es bleibt aber viel Implizites, das zum Verständnis dieser Diskussion mindestens so vichtig ist. Zunächst einmal handelt es sich um eine Diskussion, die für ein Publikum veranstaltet wird. Man kann nicht annehmen, die Politiker diskutierten miteinander, um ihre Standpunkte besser kennenzulernen oder gar einander anzunähern. Die Beteiligten reden miteinander, um eine möglichst große Zahl von Wahlbeteiligten anzusprechen. Ein wesentliches Element dieser Kommunikationsform ließe sich folgendermaßen darstellen: (3)Α und Β (und C...) präsentieren sich den Zuschauern, indem sie miteinander kommunizieren. Ziel und Zweck der Sendung ist es erklärtermaßen, das angenommene Informationsbedürfnis der Zuschauer zu befriedigen, wobei die Informationen den Zuschauern dazu dienen sollen, sich ein Bild von den politischen Vorstellungen der rivalisierenden Parteien und ihrer Repräsentanten zu machen, um eine Entscheidungshilfe für die Wahl zu bekommen.4 Dieses Ziel, so könnte man unterstellen, wird in bezug auf politische Sachfragen am ehesten erreicht, wenn die Politiker in ihren Beiträgen Prinzipien der argumentativen Ernsthaftigkeit befolgen.5 Nun ist aber noch nicht gesichert, daß die Intentionen der Politiker mit der vorgesehenen Zielsetzung übereinstimmen. Ihre Anwesenheit läßt zwar darauf schließen, daß sie zumindest vordergründig dieser Zielsetzung zustimmen, das muß sie aber nicht daran hindern, in dem vorgegebenen Rahmen ganz andere Intentionen zu verfolgen. Es wäre sicherlich naiv anzunehmen, die Politiker hätten kein anderes Interesse als die Zuschauer wahrheitsgemäß und aufrichtig zu informieren. Für eine Vielzahl von Fällen wird man vielmehr annehmen dürfen, daß die Politiker genau das entgegengesetzte Interesse haben, z.B. dann, wenn sie glauben, wahrheitsgemäße Information könnte ihrem Ansehen schaden, und das drei Tage vor der Wahl. Sie werden nichts tun, von dem sie befürchten müßten, es könnte ihre Wahlchancen beeinträchtigen. Sie werden im Gegenteil einiges daransetzen, ihr Ansehen und damit ihre Wahlchancen zu verbessern. Sie werden versuchen, das auszuräumen, von dem sie vermuten, es habe ihnen geschadet, und sie werden das hervorstreichen oder auch erst mitteilen, wovon sie annehmen, es schade dem politischen Gegner. Die Situation der Politiker ist vergleichbar der in einem Nullsummenspiel: Was der eine verliert, gewinnt der andere. Man kann also bereits jetzt vermuten, daß Information durch ernsthafte Diskussion für die Politiker nachgeordnete Bedeutung hat. Da sie aber an die Geltung von Prinzipien der Ernsthaftigkeit institutionell gebunden sind - man denke an den Zu Fragen des Wahlkampfes im Fernsehen vgl. Weiß (1976). Zu kommunikativen Prinzipien vgl. Grice (1975), Heringer u.a. (1977) .
51 Stellenwert einer kritischen, mündigen Öffentlichkeit und den der Meinungsbildung durch ernsthafte Diskussion in einer Demokratie -, müssen sie zumindest den Anschein erwecken, eine Kommunikation nach dem Muster (4) zu führen, selbst wenn ihre bestimmenden Intentionen eher mit (5) zu beschreiben wären: (4)Α und Β (und C...) informieren die Zuschauer über politische Sachfragen, indem sie ernsthaft miteinander diskutieren. (5)Α und Β (und C...) versuchen jeweils sich und ihre Partei bei den Zuschauern positiv darzustellen, indem sie eine strategisch günstige Auswahl von Zügen aus einem Diskussionsspiel (und verwandten Spielen) treffen. Ein entscheidender Gesichtspunkt der Beschreibung ist, daß es als gemeinsames Wissen der beteiligten Politiker gelten kann, daß ein Spiel vom Typ (5) und nicht primär vom Typ (4) gespielt wird. Alle Seiten haben Erfahrung im Umgang miteinander und wissen daher auch gemeinsam, daß in dieser Kommunikationsform gegenseitiges Mißtrauen durchaus begründet ist. Die kommunikativen Prinzipien, die für die verwandten Spiele (4) und (5) gelten, können leicht in Konflikt geraten. M.a.W. es ergibt sich ein strategisches Dilemma. 6 Wer ernsthaft diskutiert, kann nicht immer recht haben. Er kann sich irren und dem andern recht geben müssen, er kann Unkenntnis zugeben müssen etc. In einer ernsthaften Diskussion werden sich also häufig vielfältige Teilhandlungen des Dialogmusters Diskutieren finden: Behaupten, Bezweifeln, Begründen, Einräumen, Zugeben, Rechtgeben etc. Einige dieser Handlungen wird derjenige, der sich als der Bessere zu profilieren sucht, natürlich tunlichst vermeiden. Strategisches Handeln heißt also für die Politiker in diesem Zusammenhang, ihr sprachliches und nicht-sprachliches Handeln auf einen von ihnen angenommenen Maßstab dessen, was sie als publikumswirksam betrachten, zu beziehen, was keinesfalls immer reflektiert erfolgen muß. Die Strategiekonzeption der Politiker muß divergierende Faktoren berücksichtigen: (i) Alle sind Repräsentanten verschiedener Interessen (ihrer Partei, ihrer Koalition, ihres Amtes). Es ist notwendig, eine Koordination dieser Interessen zu erreichen. So ist es für Genscher z.B. essentiell, die eigene Partei zu stärken ohne die Koalition zu desavouieren. (ii) Die Zuhörer bilden keine homogene Gruppe. Die zum Zeitpunkt der Sendung noch Unentschlossenen sind für die Politiker die interessantesten Adressaten. Gleichzeitig gehört es zu ihren Zielen, eigene A n hänger zu mobilisieren und nach Möglichkeit wankelmütige Anhänger der Gegner zu gewinnen. Um dies zu erreichen, darf die Betonung des Trennenden nicht Zum Strategiebegriff und zu kommunikativen gien vgl. Hamilton (1962), Fritz (1977).
Strate-
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zu scharf ausfallen, die Annäherung an die Position des Gegners darf aber die eigenen Anhänger nicht verprellen. (iii)Die Beteiligten müssen ihre Strategie so einrichten, daß sie sich nicht dem Einwand aussetzen, sie verletzten elementare Normen, wie etwa die folgenden: (a) Strategisches Handeln ist verwerflich, weil der Partner über die wahren Absichten getäuscht oder im unklaren gelassen wird. (b) Die Bürger einer Demokratie haben ein Recht auf objektive und wahre Information. (c) "Bei all dem Ringen um parteipolitische Zukunft und Stimmen (ist) der Dienst gegenüber dem Vaterland eben wichtiger als die parteipolitische Profilierung." (38/47) (Kohl) Für die Politiker ist also die gleichzeitige Verfolgung ihrer primären Intentionen und die Nicht-Verletzung solcher Normen ein strategisches Problem, das sie auf unterschiedliche Art zu lösen versuchen, wie wir bei den Einzelanalysen sehen werden. Die Journalisten, deren Beitrag wir im weiteren nur en passant berücksichtigen werden, sind in der schwierigen Lage, einerseits den Anspruch einer ernsthaften Diskussion aufrechterhalten zu müssen und andererseits nur beschränkte Mittel der Durchsetzung von Kommunikationsprinzipien zu haben.7 Ein charakteristisches Beispiel im vorliegenden Untersuchungsmaterial ist der schließlich erfolglose Versuch von Appel und Weiss, von Kohl eine relativ direkte Antwort auf eine Frage zu bekommen. Zu Beginn der Befragungsphase stellt Weiss eine Frage zur Form der Verhandlungen mit der DDR. Daraufhin gibt Kohl ein umfangreiches Statement zur Außenpolitik ab. Weiss scheint seine Frage nicht beantwortet zu sehen und insistiert, indem er seine Frage nochmals paraphrasiert: "Meine Frage stellte ab auf Behutsamkeit..." Auch die nun folgende Äußerung von Kohl scheint die Journalisten nicht zu befriedigen, denn diesmal kommt Appel seinem Kollegen zuhilfe, indem er den Inhalt der Frage nochmals wiedergibt: "Die Frage war freilich gestellt inwieweit...". Er beläßt es aber bei dieser Formulierung und geht zu einer Frage an Genscher über. Aus verschiedenen Gründen scheint hier eine Grenze der journalistischen Hartnäckigkeit erreicht zu sein. Generell wäre eine Stärkung der Position der Moderatoren als Vertreter der Zuschauerinteressen wünschenswert.
Die Journalisten scheinen in bezug auf die Politiker in einer Laingschen Knotensituation zu sein: "They are playing a game. They are playing at not playing a game. If I show them I see they are, I shall break the rules and they will punish me. I must play their game, of not seeing I see the game" (Laing 1971, l).
53
3. Detailanalysen 3.1 "Ausgerechnet Sie" Etwa in der Mitte des Gesprächs wirft Kohl dem damaligen Kanzler Schmidt vor, er bzw. die Regierung zerstöre den inneren Frieden, säe Haß, sei zum Frieden überhaupt unfähig. Kohl belegt diesen Vorwurf unter anderem mit diffamierenden Äußerungen, die Schmidt über Carstens gemacht haben soll, als dieser für das Amt des Bundespräsidenten kandidierte: (6)Was haben Sie nicht alles an Bemerkungen gemacht kurz vor der Wahl des Staatsoberhauptes des Bundespräsidenten mit welch einer diffamierenden Weise haben ausgerechnet Sie sich in die Arena der deutschen Politik ohne jedes Erbarmen und ohne jede Friedensbereitschaft für jene Generation die im Dritten Reich in einer besonderen Versuchung stand ausgerechnet Sie der gar keinen Grund hatte in dieser Zeit so zu reden. (36/30-35) Kohl behauptet zunächst, Schmidt habe Carstens dessen politische Vergangenheit vorgeworfen, bestreitet dann Schmidt das Recht zu diesem Vorwurf, indem er nahelegt, Schmidts eigene Vergangenheit biete Grund für genau denselben Vorwurf. Kohl rekurriert also auf eine Norm, die etwa so formuliert werden könnte: (7)Wer anderen vorwirft, daß sie X tun (oder getan haben) , darf selbst nicht X tun (oder getan haben). Der Normverstoß Schmidts wird von Kohl aber nicht explizit formuliert, sondern durch die zweimalige Verwendung des Ausdrucks ausgerechnet Sie nahegelegt. Nach gängigem Sprachgebrauch legt sich Kohl darauf fest, daß er der Ansicht ist, Schmidt habe mindestens so viel "Dreck am Stecken" wie der von ihm kritisierte Carstens. Wenn A die Berechtigung eines Vorwurfs von Β bestreitet, indem er eine Äußerung der Form (8) macht, legt er sich auf die Annahmen in (9) fest: (8)Ausgerechnet Sie (B) werfen C vor, daß X. (9)(i) Β selbst hat auf eklatante Art und Weise gegen die dem Vorwurf zugrundeliegende Norm verstoßen, (ii) Es gilt die in (7) formulierte Norm, (iii) Β anerkennt (7) als verbindlich, (iv) Β weiß, daß (i). (v) Β weiß, daß andere wissen, daß (i) - (iv). Genau in diesem explizierten Sinne scheint Schmidt die Äußerung Kohls verstanden zu haben. Deshalb fordert er ihn auf zu sagen, was er damit meint. Kohl versucht auszuweichen, Schmidt insistiert aber mehrfach auf einer Klärung: (10)Was meinen Sie damit Herr Abgeordneter? (36/38) Reden Sie bitte etwas deutlicher. (36/40f.) "Ausgerechnet ich" hat er gesagt was meinen Sie damit (36/44ff.) Der explizite Bezug auf den strittigen Ausdruck ausgerechnet Sie zeigt, daß Schmidt das gerade damit Implizierte geklärt wissen möchte, d.h. er möchte Kohl auf das beschriebene Verständnis seiner Äußerung festlegen
54 bzw. explizit 'rehabilitiert' werden. Kohl erläutert daraufhin, was er geneint hat: (11)Weil ich annehmen müßte daß Sie aufgrund Ihres persönlichen Lebenswegs Ihre ganze persönliche Erfahrung die typisch ist für hunderttausende unserer Landsleute genau so viel Verständnis für den Lebensweg eines andern haben der eine ähnliche Erfahrung gemacht hat (36/46-50) Nach seiner Interpretation verwendet Kohl also den Ausdruck ausgerechnet Sie auf eine Heise, die etwa folgendermaßen paraphrasiert werden könnte: (12)Ausgerechnet Sie dürfen Carstens keinen Vorwurf machen, weil Sie dieselben Erfahrungen gemacht haben und Verständnis haben sollten. Wenn Kohl das mit seiner ursprünglichen Äußerung gemeint haben sollte, dann war sein Sprachgebrauch zumindest ungewöhnlich. Während man sich normalerweise mit der Verwendung von ausgerechnet Sie auf die in (7) formulierte Norm festlegt, nimmt Kohl etwa folgende Norm in Anspruch: (13)Wenn man aufgrund eigener Erfahrungen die verführerische Situation kennt, die jemanden dazu gebracht hat, falsch zu handeln, dann sollte man denjenigen nicht verurteilen, sondern ihm Verständnis entgegenbringen. Unabhängig davon, ob man diese Norm akzeptieren möchte, kann man festhalten, daß der unbefangene Zuhörer normalerweise nicht den Bezug auf diese Norm herstellen wird, sondern auf (7). Es scheint daher plausibler, Kohl habe mit seiner ersten Äußerung den Eindruck erzeugen wollen, Schmidt habe selbst keine weiße Weste. Dies scheint auch Schmidt so verstanden zu haben, und dies dürfte der Grund sein, weshalb er so hartnäckig auf einer Klärung besteht. Kohls Erklärung wäre dann als nachträgliche Uminterpretation zu deuten, die zwar mit dem gewöhnlichen Sprachgebrauch nicht in Einklang steht, die aber verhindert, daß er einen implizierten Vorwurf explizieren muß, von dem er annehmen muß, daß er ihn nicht ernsthaft aufrechterhalten kann. Es ist bemerkenswert, daß nach dieser Sequenz beide Journalisten kritische Anmerkungen zum Verlauf der Diskussion machen, eine Art von Eingriff, die man sich als Zuschauer viel häufiger wünscht: (14)...bin ich ein bißchen unglücklich daß der Informationsgehalt ah doch dabei nicht in wünschenswertem Umfang groß genug ist. (37/7-9) (Appel) (15)... es gibt hier sicher ein paar junge Wissenschaftler heute abend die ah Ausdrücke zählen und die Dinge semantisch nachher untersuchen werden Herr Doktor Kohl Sie werden die Palme für den aggressivsten Sprecher heute abend bekommen ah ich sage das mit allem Respekt den ich Ihnen seit vielen Jahren zolle. (37/12-16) (Weiss)
55 3.2
"Kriegerwitwen"
Im Zusammenhang nit einem Wahlslogan der SPD wirft Strauß der Regierungspartei Panikmache vor. Sie wieder Krieg, darum SPD hatten Kriegerwitwen von Plakaten herab gefordert. Nach Straußens Ansicht spielt diese Parteiwerbung auf eine Kriegsgefahr für Deutschland an. Da diese nicht gegeben sei, weist er die Propaganda als schamlos zurück: (16)Hier setzt man die Bevölkerung wirklich unnötig mit dieser schamlosen Wahlpropaganda "Nie wieder Krieg, darum SPD" in Aufregung und Unruhe. (15/7-9) Schmidt seinerseits weist den Vorwurf, schamlose Wahlpropaganda zu machen, zurück: (17)Und dann nehmen Sie bitte keinen AnstoB daran wenn Frauen noch dazu Kriegerwitwen näh öffentlich sagen sie wollten nie wieder Krieg das ist ja wohl noch nicht verboten in Deutschland im Gegenteil das ist ein Diktum ein Satz ein Wunsch der tief ausm Herzen der Menschen kommt. (17/52 - 18/1) Ein Musterbeispiel politischer Rhetorik. Landläufig bezeichnet man das als "jemandem das Wort im Mund herumdrehen". Die Äußerung Schmidts bezieht sich nur sehr entfernt auf StrauBens Vorwurf. Wogegen sich Strauß wehrt, ist natürlich der Kontext, in dem die den Kriegerwitwen zugeschriebene Äußerung steht, und das, was sie impliziert. Da es sich bei der kritisierten Äußerung um eine Wahlanzeige der SPD handelt, kann man davon ausgehen, daß es die Intention der SPD ist, die Leser der Anzeige dazu zu bringen, SPD zu wählen, indem sie ihnen einen Grund nennt, SPD zu wählen. Einen derartigen Grund kann man mit der angeführten Äußerung angeben, wenn man den zitierten Kriegerwitwen folgende Annahmen unterstellt: (18)(i) Der Friede ist gefährdet bzw. könnte gefährdet sein. (ii) Bei der anstehenden Wahl wird mit über Krieg oder Frieden abgestimmt. (iii)Die Wahl der SPD garantiert den Frieden. (iv) Eine andere Wahl garantiert den Frieden nicht. Genau gegen diese Implikation wehrt sich Strauß. Schmidt dagegen gibt vor, Straußens Vorwurf so zu verstehen als - nehme dieser Anstoß daran, daß Kriegerwitwen sagen "Nie wieder Krieg". (Man beachte die Weglassung von "darum SPD".) - wolle er den Kriegerwitwen das Recht bestreiten, dies öffentlich zu tun. (Man beachte die Vertauschung der Art von Handlung: Kriegerwitwen sagen etwas öffentlich vs. die SPD gibt in einer Wahlanzeige ein (fingiertes?) Zitat wieder.) - wolle Strauß dies am liebsten verbieten. (Man beachte die Verwendung von noch in "noch nicht verboten in Deutschland".) - wolle er bestreiten, daß "Nie wieder Krieg" ein Wunsch ist, der berechtigt ist.
56
Es ist natürlich ein beträchtlicher Unterschied, ob jemand mit der Äußerung von Nie wieder Krieg einen Wunsch äußert oder ob er mit dem Zitat der Äußerung von Nie wieder Krieg, darum SPD und der Unterstellung der Annahme (16) (i) - (iv) einen Grund angibt, SPD zu wählen. Strauß bezieht sich auf letzteres, während Schmidt über das erstere redet und die impliziten Annahmen übergeht. Um seinen Vorwurf klar zu pointieren, müßte Strauß diese Annahmen explizit aufdecken, was ihm aber nicht eindeutig gelingt. Dies eröffnet Schmidt die Möglichkeit zum Gegenvorwurf, Strauß wolle Kriegerwitwen einen tief aus dem Herzen kommenden Wunsch verbieten, und es gelingt ihm so, vom eigentlichen Vorwurf abzulenken.
3.3
"Arbeitsplatzvermehrungszahl"
Die folgende Sequenz ist u.a. auch wegen der Formen des Sprecherwechsels interessant, so daß es sich lohnt, hier ein längeres Stück der Transkription einzurücken. Sprecher sind Appel (Α), Genscher (G), Kohl (Κ), Schmidt (S), Strauß (St) und Weiss (W). 57/ K: 35
... will aber jetzt zu dem Thema + das Sie hier nun dargestellt haben einfach mal mit den Zahlen berichten + Sie behaupten schlicht und einfach + Sie hätten diese Schulden machen müssen + um damit die Arbeitsplätze zu sichern das war das Kernstück Ihrer These + wobei Sie dann bei den Arbeitsplätzen schon + mit einer eigenartigen Arbeitsplatzvermehrungszahl operieren ich lese Ihnen die Zahlen vor die Sie in wenigen Tagen genannt haben + in 40 Bonn haben Sie gesagt siebenhunderttausend neue Arbeitsplätze seien geschaffen worden + und paar Tage später in Hamburg achthunderttausend + bei deriZDF-Sen | S: iDas sindl verschiedene Zeiträume I Herr Kohl + Sie fälschen + Sie fälschen Zitate| K: |bei der ZDF-Sendung bei der ZDF-Sendung + I 45 bei der ZDF-Sendung wams neun und das ist doch völlig gleich Sie S: Sie sind ein unchristlicher ZiItatfälscher + Herr Kohl | St: I Es sin jedn Tag zwanzigtausend mehr wordn (lacht) K: Ja ja wissen Sie was soll man + was soll 50 man eigentlich noch über + Ihre Wortschöpfung denken? + blamieren Sie sich so gut Sie können ich fahr hier in meinem Text weiterIder Graf Lambsdorff + I S: I Das hab ich mir gedacht.I K: sprach zu Ihrer + wundersamen Arbeitsplatzvermehrung + dieser Tage + und ich bleib jetzt bei einer Zahl + also ob des sieben oder neunhunderttausend ist 55 bestreit ich nicht wörtliches Zitat "die rund neunhunderttausend Arbeitsplätze 58/1 die in den letzten Jahren zusätzlich geschaffen wurden + sind ganz überwiegend mit privaten Investitionen eingerichtet worden"!das heißt also Ihrl S: IRichtig dem stimme! K: (eigener 1+ Ihr eigener I Wirtschaftsminister I 5 S: lieh zu.I |lch sag doch nur wir habenlsie ausgelöst die Arbeitslxxxi K: |Ihrl eigener Wirtschaftsminister|+ widerlegt doch I die Behauptung daß Sie diese S: I Ja er hat recht.I K: Schuldenmaeherei gebraucht haben + vor allem für Arbeitsplatzsicherung + 10 ich habldie Zahlen da|+ xxxx den hundertvierundsiebzig bis ah in dem S: IET hat recht |+ er hat recht K: Jahr 11974 bis acht I S: iHerr Kohl ich glaube I Sie reden hier etwas + was Sie nicht genau verstanden haben.
57 15
K:
A: St: K: 20
K: S:
25
Also +1 Herr + lieh muß Ihnen jetzt wirklich sagen + diese + ungewöhnliche |Ah xxxxl xxx Herr Schmidt I sozialistisch-pseudoelitäre Arkanz / Arroganz + die können Sie im Hamburger Ortsverein praktizieren + aber nicht vor einem deutschen Fernsehpublikum von vielen Millionen + benehmen sie sich wirklich bitte wie es dem deutschen Bundeskanzler zukommt + Idas muß also lieh muß mir das(jetzt ein Meine Herren ichlbitte Sie I | bitte fach verbitten diese Tonart. Sie fälschen Zitate und dann wundern Sie sich daß man dazwischenfährt Herr Kohl.
Im Zusammenhang mit dem Thema Staatsverschuldung will Kohl zu Beginn dieser Sequenz die These Schmidts widerlegen, die hohe Verschuldung sei nötig gewesen, um Arbeitsplätze zu sichern. Kohl wirft Schmidt vor, unredlich und widersprüchlich zu argumentieren, wenn er, um eine positive Darstellung des Erreichten zu geben, unterschiedliche Zahlen nennt. Es ist anzunehmen, daß Kohl zu verstehen geben will, Schmidt handle wissentlich und aus wahlkampfstrategischen Gründen. Schmidt weist den Vorwurf zurück, indem er zu bedenken gibt, daß sich die von ihm genannten Zahlen auf verschiedene Zeiträume beziehen. Der scharfe Tonfall Schmidts legt es nahe, die Äußerung von Schmidt als Gegenvorwurf zu verstehen, Kohl argumentiere seinerseits unredlich, wenn er Schmidts Aussagen zu den Arbeitsplätzen aus ihrem jeweiligen Zusammenhang reißt. Kohl ignoriert den Einwand bzw. Vorwurf Schmidts. Er nimmt seinen unterbrochenen Satz wieder auf, indem er den Schlußteil seiner Äußerung wiederholt (bei der ZDF-Sendung), und insistiert damit auf seinem Vorwurf. Daraufhin wird er erneut von Schmidt unterbrochen (57/43), der ihm jetzt explizit vorwirft, Zitate zu fälschen. Kohl führt (57/45) den mit bei der ZDF-Sendung begonnenen Satz zu Ende und besteht damit weiterhin auf seinem Vorwurf, indem er einen weiteren Beleg für dessen Berechtigung anführt. Was Kohl mit (57/45) das ist doch völlig gleich meint, ist nicht ganz klar. Es ist aber anzunehmen, daß er damit auf Schmidts Einwand der unterschiedlichen Zeiträume Bezug nimmt und dieses Argument als irrelevant zurückweist. Wie dieser Einwand jetzt als irrelevant bezeichnet werden kann, ist allerdings unverständlich. Zunächst hatte Kohl den Vorwurf gemacht, Schmidt operiere mit einer Arbeitsplatzvermehrungszahl und handle damit unredlich, weil er Zahlen schöne. Wenn nun Schmidt einwendet, daß die unterschiedlichen Zahlen durch unterschiedliche Zeiträume bedingt seien, kann der Vorwurf der Unredlichkeit nicht ohne weiteres länger aufrecht erhalten werden. Wenn Α Β vorwirft, ge-x-t zu haben, und Β die Berechtigung dieses Vorwurfs bestreitet, indem er ein Argument angibt, warum seine Handlung nicht als x-en verstanden werden kann, dann ist Α verpflichtet, Gründe anzugeben, warum er der Ansicht ist, Β habe sehr wohl ge-x-t. Kohl wäre also
58 jetzt verpflichtet - ernsthafte Diskussion vorausgesetzt - nachzuweisen, daß Schmidt in seinen Reden nicht darauf aufmerksam gemacht habe, dafi bei seinen Arbeitsplatzzahlen unterschiedliche Zeiträume zu berücksichtigen seien bzw. daß dies einfach nicht stimme. Kohls Äußerung (57/45) das ist doch völlig gleich kann aber auch so verstanden werden, als sei es völlig gleich, welche Zahl jetzt für welchen Zeitraum wichtig sei, entscheidend sei vielmehr, daß eben die Kernaussage Schmidts falsch und unredlich sei. In diese Richtung geht seine spätere Argumentation. Kohl bezweifelt nämlich im folgenden die Aussage, man habe Schulden machen müssen, um Arbeitsplätze zu sichern. Hinter diesem zunächst schwer verständlichen Übergang könnte man folgendes strategische Kalkül vermuten: Kohl hat sich auf einen Vorwurf festgelegt, den er nicht halten kann oder will. Anstatt nun dem Gegner einen Punktgewinn zuzugestehen, geht er zu einem anderen, schwerwiegenderen Vorwurf über und bezeichnet den ursprünglichen Vorwurf als nebensächlich, obwohl er ihn sogar auf eine ironisch-griffige Kurzformel, die Arbeitsplatzvermehrungszahl, gebracht hatte. Die Äußerungen (57/46-52) bestehen aus gegenseitigen Beleidigungen von unbestreitbarem Unterhaltungswert. Schmidt bezeichnet Kohl als unchristlichen Zitatefälscher (57/46) und spielt damit auf die von ihm empfundene (vorgegebene) Unverträglichkeit zwischen Kohls Handeln und dem moralisch-sittlichen Anspruch einer sich christlich nennenden Partei an. Kohl gibt im Gegenzug Schmidt zu verstehen, daß dieser selbst die Konseguenzen für ein solches Verhalten zu tragen habe und daß er nicht bereit sei, sich auf diesen Ton einzulassen bzw. sich von sachlicher Argumentation abbringen zu lassen: (19)Blamieren Sie sich so gut Sie können ich fahr hier in meinem Text weiter. (57/50f.) Interessant ist die Entgegnung Schmidts Das hab ich mir gedacht (57/52). Sie bezieht sich auf Kohls Äußerung ich fahr hier in meinem Text weiter und benutzt deren Mehrdeutigkeit dazu, eine Kohl sicherlich unwillkommene Deutung zu unterstellen: er tut so, als meine Kohl damit, er (Kohl) kümmere sich nicht um Entgegnungen und Einwände, sondern gebe stur seine Statements ab, gleichgültig, ob die Einwände berechtigt sind oder nicht. Schmidt kann damit Kohl vorwerfen, ihm sei nicht an einer Diskussion gelegen, er halte Monologe und fahre seinen Text ab. Dieses Verständnis wird ermöglicht durch die Ausdrücke weiterfahren und Text, die man so verstehen kann, als werde etwas Vorgefertigtes abgelesen, und durch den Verlauf der vorangegangenen Gesprächssequenz, wo Kohl den Einwand Schmidts (unterschiedliche Zeiträume) ignoriert hatte. Schmidt mißversteht die Äußerung Kohls offensichtlich gezielt, und er weiß, daß diejenigen, die seine Äußerung als Vorwurf verstehen, dies auch wissen. Inwieweit Schmidts ironische Äußerung in erster Linie für die Zuschauer bestimmt war, um diese auf eine ungewollte Selbstentlarvung Kohls aufmerksam zu machen und
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ihn lächerlich erscheinen zu lassen, sei dahingestellt. Es könnte auch sein, daß er nur Kohl auf ironisch-bissige Weise darauf aufmerksam machen möchte, daß dieser nicht auf seine Einwände achte. Bei der Struktur dieser Kommunikationsform schließen sich natürlich beide Verständnismöglichkeiten nicht aus. In (57/51ff.) geht Kohl zu dem schon erwähnten schwerwiegenderen Vorwurf über. Er bestreitet die These, daß Schulden nötig gewesen seien, um Arbeitsplätze zu sichern und zu schaffen. Dabei wird das bisher strittige Thema quasi in Parenthese abgehakt. Kohls Äußerung also ob des sieben- oder neunhunderttausend ist bestreit ich nicht könnte man auch als euphemistisches Eingeständnis der Tatsache verstehen, daß er widerlegt worden ist. Euphemistisch, weil sie den Eindruck erweckt, es gehe um Kohls Entscheidung, zu bestreiten oder nicht zu bestreiten, und er zeige jetzt Kooperationsbereitschaft, wenn er sich entschließt, nicht weiter zu bestreiten. Kohl führt nun eine Äußerung des Wirtschaftsministers an, wobei er die Authentizität der Redewiedergabe durch den Hinweis auf das "wörtliche Zitat" zu stützen sucht. Diese Äußerung soll Schmidts These widerlegen. Während der Kanzler sage, der Staat habe Schulden machen müssen, um Arbeitsplätze zu schaffen, behaupte der Wirtschaftsminister - und der muß es ja qua Amt wirklich wissen -, die Arbeitsplätze seien durch private Investitionen zustandegekommen. Schmidt versucht diese Unverträglichkeit aufzulösen, indem er behauptet, die Arbeitsplatzvermehrung - das dürfte mit Arbeitsxxx gemeint sein - nur ausgelöst zu haben. Er sagt nicht wie, aber man kann annehmen, daß er damit Investitionshilfen, Konjunkturspritzen etc. meint. Kohl geht auf diesen Klärungsversuch nicht ein, sondern behauptet weiter, daß die Äußerungen Lambsdorffs die These Schmidts widerlegten. Bevor er dazu kommt, Zahlenmaterial aufzuführen, wird er erneut von Schmidt unterbrochen, der ihm Inkompetenz vorwirft. Mit diesem Vorwurf wird Kohl die Erfüllung eines der wesentlichsten Qualitätskriterien für Politiker bestritten. Entsprechend heftig ist seine Gegenreaktion. Er spricht von sozialistisch-pseudoelitärer Arroganz, worauf Schmidt seine Unterbrechungen mit Kohls Zitatefälschen erklärt. Zum Thema redet keiner mehr. Dieser Grad der Eskalation ist für den Gesprächstyp eher uncharakteristisch und ist offensichtlich auch dem Moderator Weiss hochgradig unangenehm. Er zeigt aber deutlich, daß die Intention der Selbstdarstellung und der Abwehr von Imagebeschädigungen so weit in den Vordergrund rücken kann, daß auch der Anschein rationaler Diskussion nicht mehr gewahrt wird. Dabei ist es nicht die Tatsache, daß in dieser Diskussionsform, wie wir gesehen haben, das Vorwurfsspiel eine relativ dominierende Rolle spielt, die kritisiert werden müßte. Sobald politischgesellschaftliche Normen und deren unterschiedliche Einschätzung zur Diskussion stehen, ist die Nähe von Diskussion zu Vorwurfskommunikation sozusagen systematisch
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gegeben. Es ist die strategische Wahl von bestimmten Typen von Zügen, von denen einige in diesen Kurzanalysen exemplarisch vorgestellt wurden, die fast zwangsläufig mit einer Verletzung von Kommunikationsprinzipien für ernsthaftes Diskutieren einhergeht. 4.
Zusammenfassung
Das Unbehagen und Mißtrauen gegenüber der hier zur Diskussion stehenden Kommunikationsform hat seine Ursache in einem ständig praktizierten und gleichzeitig verschleierten Doppelspiel der Politiker. Es gibt vielfältige Indizien dafür, daß sie etwas anderes zu tun vorgeben als sie tatsächlich tun. Bei dieser Diagnose wird allerdings eine Voraussetzung gemacht, deren Gültigkeit nicht unbesehen generell angenommen werden kann und deren Gültigkeit sich auch ändern könnte. Der Manipulationsverdacht, der in dieser Diagnose enthalten ist, steht und fällt mit unseren Annahmen darüber, was als gemeinsames Hissen bei den Teilnehmern der Kommunikation gelten kann. Es wäre denkbar, daß bei Akteuren und Zuschauern sich ein gemeinsames Wissen einstellt, daß es sich hier um eine abgeleitete Kommunikationsform handelt, bei der auf mehr oder minder subtile Art im Kleide der ernsthaften Diskussion Wahlpropaganda gemacht wird. Wäre dies gemeinsames Wissen, so wäre dagegen nichts einzuwenden, falls es unterhaltend oder sonst zweckdienlich wäre. Es gibt, bei entsprechendem Wissen, ja auch keine Einwände gegen ironisches oder metaphorisches Reden. Aber dieses gemeinsame Wissen kann wohl (noch) nicht generell vorausgesetzt werden. Dagegen spricht sowohl das erwähnte Unbehagen als auch die Legitimationspraxis von Rundfunkanstalten und Akteuren. Hauptbegründung und Rechtfertigung dieser und anderer, ähnlicher Diskussionen ist die Annahme, massenmedial vermittelte, ernsthafte politische Auseinandersetzung diene der Aufklärung sowie der Meinungs- und Willensbildung und sei damit integraler, unverzichtbarer Bestandteil einer Demokratie bzw. trage mit zu deren Funktionieren bei. Soweit wir also von einem kommunikativen Doppelspiel ausgehen können, müssen wir uns fragen, wie dies überhaupt gelingen kann. Den Anschein, sie würden die gängigen kommunikativen Prinzipien befolgen, können die Politiker nur aufrechterhalten, indem sie die Tatsache ausnützen, daß die Zuschauer ihren Beitrag zum Spiel leisten. Um die Kommunikation überhaupt verstehen zu können, müssen diese den Politikern zunächst einmal unterstellen, daß sie nach relevanten kommunikativen Prinzipien handeln. Der Zuschauer muß also beispielsweise annehmen, daß die Reaktion auf eine Frage tatsächlich eine Antwort ist und nicht einfach ein Statement, das (mehr oder minder zufällig) zeitlich auf diese Frage folgt. Der Zuschauer muß auch annehmen, daß Politiker Ausdrücke
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wie ausgerechnet Sie normal gebrauchen, daß Politiker meinen, was sie sagen und sich darauf festlegen lassen, daß unklare Referenzen geklärt werden, daß strittige Zusammenhänge nicht nur nahegelegt werden usw. In dem Maß, in dem die Politiker diese fraglosen Erwartungen nicht erfüllen, handeln sie kommunikativ parasitär. Sie leben davon, daß andere ihren Beitrag zum Gelingen einer Kommunikation leisten. "Aber die Bereitschaft anderer, ihren Beitrag zu leisten, gründet in der Annahme, daß alle ihren Beitrag leisten. Wenn sie erkennen, daß einer das nicht wirklich tut, ist die Kommunikation ernstlich in Frage gestellt" (Heringer u.a. 1977, 170f.). Anstelle der gängigen kommunikativen Prinzipien scheinen die Politiker in der vorliegenden Fernsehdiskussion häufig strategische Maximen zu verfolgen, die man als advocatus diaboli vielleicht folgendermaßen formulieren könnte: - Lasse dich nicht auf ein bestimmtes Verständnis deiner Äußerungen festlegen. - Nutze die immunisierende Kraft des Impliziten. Deute etwas deinem Gegner Nachteiliges an. Dies ist häufig wirkungsvoller als die ausdrückliche Behauptung, und es schützt vor Angriffen. - Wo man Zusammenhänge von dir erwartet, deute welche an. Wer sie sehen will, kann sie sehen, die anderen können dich nicht darauf festlegen, daß du den Zusammenhang behauptet hast. - Wenn dir eine Frage unangenehm erscheint, dann nutze den Umstand, daß die Zuschauer prinzipiell geneigt sind, deine Folgeäußerung als Antwort zu verstehen. Leiste der Relevanzannahme durch Tonfall, Mimik und Gestik Vorschub. - Unterstelle Strittiges als selbstverständlich, indem du es implizit voraussetzt. - Betone prinzipiell Selbstverständliches, um so den Eindruck zu erzielen, dies werde vom Gegner bestritten. - Übertreibe die Thesen deines Gegners ins offensichtlich Absurde und augenfällig Gefährliche. - Lassen Äußerungen deines Gegners unterschiedliche Verständnismöglichkeiten zu, deute sie in deinem Sinne oder wirf ihm Mehrdeutigkeit vor. - Insistiere auf deinem Verständnis der Äußerungen des Gegners. Lasse durchblicken, daß du gute Gründe hast, ihn besser zu verstehen als ihm lieb sein kann. Leite Folgerungen aus diesem Verständnis ab, die du dann leicht als falsch erweisen kannst. - Reagiere auf Vorwürfe, indem du selbst Gegenvorwürfe erhebst. Wenn du Vorwürfe deines Gegners nicht explizit entkräften kannst, dann halte wenigstens deine nachfolgenden Äußerungen in einem Ton, der es nahelegt, deine Äußerung als Entkräftung zu verstehen. - Hat dein Gegner einen Sachverhalt so dargestellt, daß er gegen dich spricht, so gib eine alternative Be-
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Schreibung des Sachverhalts, die deinen Gegner Lügen straft. - "Die Zugeständnisse eines gewitzten Mannes sind oft die subtilsten Teile seiner Argumentation. In die Enge getrieben macht er ein kleines Zugeständnis zu seinem Nachteil, um zu verhindern, daß er zu einem schwerwiegenderen gezwungen wird. Das zu tun kann ein Musterstreich sein, aber es bei anderen aufzudecken, wirkt immer exzellent" (Hamilton 1962, 75). - Vertraue darauf, daß keinem der Beteiligten an einer Offenlegung des Spiels gelegen ist. Natürlich wäre es naiv, bestimmte Formen des strategischen Handelns prinzipell moralisch zu verurteilen. Sie sind Teil unserer kommunikativen Praxis, und das seit langem, wie die lange Tradition der Argumentationskritik beweist (vgl. Hamblin 1970). Nur erhalten sie in Kommunikationsformen, in denen eine Festlegung auf kommunikative Prinzipien von Seiten der Zuschauer nur schwer dialogisch eingeklagt werden kann, besondere Brisanz. Das Sinken von Einschaltquoten ist für kommunikative Kritik nur ein schwacher Ersatz, obwohl es Anstalten und Politiker beeindruckt. Es erscheint daher sinnvoll, die Entwicklung dieser Kommunikationsform, die offensichtlich im Fluß ist, mit linguistischem Kommentar zu begleiten. 5. Literatur
Dieckmann, Walther (1985): Wie redet man 'zum Fenster hinaus'? Zur Realisierung des Adressatenbezugs in öffentlich-dialogischer Kommunikation am Beispiel eines Redebeitrags Brandts. In: W. Sucharowski (Hg.), Gesprächsforschung im Vergleich. Analysen zur Bonner Runde nach der Hessenwahl 1982. Tübingen, 54-76. Fritz, Gerd (1977): Strategische Maximen für sprachliche Interaktion. In: K. Baumgärtner (Hg.), Sprachliches Handeln. Heidelberg, 47-68. Fritz, Gerd (1982): Kohärenz. Grundfragen der linguistischen Kommunikationsanalyse. Tübingen. Grice, H. Paul (1975): Logic and Conversation. In: P. Cole and J.L. Morgan (eds.): Syntax and Semantics. Vol. 3: Speech Acts. New York, London, 41-58. Hamilton, William G. (1962): Die Logik der Debatte. Heidelberg . Heringer, Hans Jürgen (1974): Praktische Semantik. Stuttgart. Heringer, Hans Jürgen, Günther öhlschläger, Bruno Strekker, Rainer Wimmer (1977): Einführung in die Praktische Semantik. Heidelberg. Holly, Werner, Peter Kühn, Ulrich Püschel (1986): Politische Fernsehdiskussionen. Zur medienspezifischen Inszenierung von Propaganda als Diskussion. Tübingen. Köpf, Ulrich (1982): Politiker kommunizieren. Oder: 'Die Vorgabe der Hingabe'. Eine sprachwissenschaftliche Untersuchung der Spitzenkandidaten-Diskussion im
63 Fernsehen '3 Tage vor der Wahl 1 . Magisterarbeit Tübingen (Masch.). Laing, Ronald D. (1971): Knots. Harmondsworth. Muckenhaupt, Manfred (1986): Text und Bild. Grundfragen der Beschreibung von Text-Bild-Kommunikationen aus sprachwissenschaftlicher Sicht. Tübingen. Heiß, Hans-Jürgen (1976): Wahlkampf im Fernsehen. Untersuchungen zur Rolle der großen Fernsehdebatten im Bundestagswahlkampf 1972. Berlin.
JOSEF KLEIN GESPRÄCHSREGELN IN FERNSEHTYPISCHEN FORMEN POLITISCHER SELBSTDARSTELLUNG1
Ziel dieser Überlegungen ist die Gewinnung, Systematisierung und kommunikationstheoretische Deutung von Gesprächs-Regeln für politische Diskussionssendungen im Fernsehen. Ich lege hier erste Ergebnisse eines größeren Forschungsprojektes vor. Der Aufsatz gliedert sich in fünf Teile: 1. einen kommunikationstheoretischen Rahmen, 2. methodische Überlegungen, 3. einen Bericht über eine erste empirische Untersuchung , 4. deren kommunikationstheoretische Auswertung, 5. Hinweise auf Gründe, aus denen Politiker gegen Gesprächsregeln verstoßen. 1. Kommunikationstheoretischer
Rahmen
öffentliche Darstellung von Politik hat sich in den letzten Jahrzehnten immer stärker in das Medium Fernsehen verlagert. Dies hat einen elementaren Wandel im Primat der Formen der verbalen Darstellung von Politik durch die Politiker selbst bewirkt: Die klassische Form der Darstellung von Politik durch Politiker ist die Rede. Ihre äußeren Merkmale sind durchweg: Ein Redner steht hervorgehoben an einem Pult vor einer Hörermasse, die meist weit unter ihm sitzt oder steht. Er monologisiert mit erhobener Stimme mindestens 10 Minuten bis l 1/2 Stunden lang. Hörer-Reaktionen sind kollektiv (Beifall oder Buh-Rufe). Die klassische Form der Rede tritt zumindest im Bereich der Hauptsendezeiten mit hohen Einschaltquoten in den Hintergrund gegenüber Formen des G e s p r ä c h s , Diskussionssendungen wie "Bonner Runde", "3 Tage vor der Wahl", "Schlag auf Schlag" usw. Schon äußerlich unterscheiden sich die Gesprächsformen deutlich von der Rede. Der Politiker hat mindestens einen identifizierbaren individuellen Gesprächspartner, mit dem er dialogisch in schnellem Wechsel kommuniziert; man spricht durchweg in normaler Stimmstärke meist sitzend im Rahmen einer Studio-Situation.
Es handelt sich um die Druckfassung meines Habilitationsvortrages, den ich am 27.11.1985 vor der Philosophischen Fakultät der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen gehalten habe.
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Linguistisch interessanter sind allerdings Unterschiede in der kommunikativen Grundkonstellation und im Prozeß der Textkonstituierung. Für die Rede gibt es seit alters her ein Instrumentarium, das sich zum Konzipieren und Analysieren politischer Reden recht gut eignet: die Rhetorik. Wichtige Strukturmomente der Gesprächsformen liegen jedoch außerhalb der Reichweite rhetorischer Theoriebildung und rhetorischer Praxisanleitung. Eine adäquate Theorie des öffentlichen Gesprächs vor Publikum differiert vom klassischen rhetorischen Ansatz mindestens in zwei zentralen Punkten: Das Kommunikationsmodell der Rhetorik ist dyadisch (2-polig): Hier der Redner - dort das Publikum bzw. der Richter. Demgegenüber muß eine Theorie des öffentlichen Gesprächs im Massenmedium Fernsehen von einer mindestens triadischen Kommunikationskonstellation ausgehen. Dem Publikum steht nämlich nicht einer gegenüber, der es unmittelbar anredet, sondern mindestens zwei, die miteinander ein Gespräch führen, wenn auch eines, das in Hinblick auf das Publikum als dritten, rezeptiven Partner geführt wird. Damit ist ein zweiter Unterschied zum rhetorischen Ansatz strukturell verknüpft. Die Konstituierung der Rede ist ein Problem, das primär auf dem Weg individuell-kognitiver Planungsprozesse lösbar ist. Die Organisation des Gesprächs stellt demgegenüber ein Problem dar, das sich planerisch nicht genau vorstrukturieren läßt und zu dessen Bewältigung ein erhebliches Maß spontaner Interaktivität gehört. Die öffentlichen Gesprächsformen nötigen also zu einem zumindest partiell anderen Ansatz, als ihn die klassische Rhetorik darstellt. Nun gibt es seit einigen Jahren in der Linguistik eine Forschungsrichtung, die sich "Gesprächsanalyse" nennt. Sie hat sich bisher jedoch - wenn man von Forschungen zum 'Interview' absieht - auf die Analyse privater oder institutioneller Gespräche ohne Publikum konzentriert.2 Sie impliziert also ebenfalls ein dyadisches Kommunikationsmodell, allerdings in einer anderen Variante als die Rhetorik; denn in der Dyade 'Redner - Publikum' findet sogenannte "Einweg-Kommunikation" statt, in der Dyade 'Gesprächspartner 1 - Gesprächspartner 2' "Zwei-Weg-Kommunikation". Daher kann man für die Analyse fernsehtypischer Gesprächsformen auch auf die bisherige linguistische Gesprächsforschung nur bedingt zurückgreifen. Für die verschiedenen Formen verweise ich auf Übersicht 1. Dort habe ich noch eine tetradische (4-polige) Gesprächskonstellation hinzugefügt.
Mit Sucharowski (Hg.) "Gesprächsanalyse im Vergleich" (1985) und Holly / Kühn / Püschel "Politische Fernsehdiskussionen" (1986) liegen mittlerweile Arbeiten vor, für die dies nicht mehr gilt.
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Disziplin
Knwnunika— tionsform
Schema
Konstellation
Rhetorik
Rede
Redner i Publikum
dyadisch
Bisherige linguistische Gesprächsanalyse
Nichtöffentlicher Dialog
Gesprächs-( partner 1
Linguistische Analyse TV-typischer Gesprächsformen
Dialog vor Publikum
Gesprächspartner 1
>Gesprächs-
dyadisch
partner 2
Gesprächspartner 2
triadisch
Publikum
Gespräch mit Gesprächsleiter vor Publikum
Gesprächs-, partner 1 * \ \
Gesprächs* partner 2
tetradisch
/ Gesprächs- /
\ leiter
/
Publikum
Aus der nicht-dyadischen Struktur der Kommunikationskonstellation ergeben sich theoretische Konseguenzen im Hinblick auf die Struktur der gesprächsbestimmenden Regeln und methodische im Hinblick auf die Ermittlung solcher Regeln. Ich will dies exemplifizieren an einem primär triadischen Gesprächstyp, dem politischen FernsehGespräch ohne Moderator-Dominanz. Die Anwesenheit von Publikum ist für Gesprächsformen, in denen sich Politiker vor Massenpublikum präsentieren, nicht bloß akzidentell, sondern konstitutiv in zweifacher Weise: Erstens würden die Politiker das Gespräch ohne den Anlaß der Fernseh-Inszenierung höchstwahrscheinlich überhaupt nicht führen, und wenn doch unter vier Augen, so sicher in mehrfacher Hinsicht anders; denn - und damit komme ich zum zweiten Grund für die konstitutive Bedeutung der Anwesenheit von Publikum: Das Fernsehpublikum hat eine Anzahl normativer Ansprüche und Erwartungen an Inhalt, Form und Ablauf solcher Gespräche und an den Umgang der Gesprächspartner miteinander. Das
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Fernseh-Massenpublikum ist für die Politiker nun weitgehend identisch mit Wählermassen. Darum orientieren sich die Politiker - soweit ihre Fähigkeit dies zuläßt und soweit sie im Einzelfall nicht anderen Ansprüchen und Normen Priorität einräumen (siehe Teil 5) - weitgehend an den normativen Ansprüchen und Erwartungen, die das Publikum an politische Diskussionssendungen stellt. Auf diese Weise werden - und das ist die sprachtheoretische Pointe - die normativen Erwartungen und Ansprüche der Fernsehzuschauer zu Regeln für das öffentliche Gesprächsverhalten von Politikern. Dies hat nun methodische Konsequenzen für die Ermittlung solcher Regeln. 2. Methodische
Überlegungen
Der geradeste Weg, die gesuchten Regeln in Erfahrung zu bringen, scheint auf den ersten Blick zu sein, Spitzenpolitiker nach diesen Regeln zu fragen. Doch dagegen sprechen drei Gründe: Erstens ist die Fähigkeit sprachtheoretischer Laien, die Regeln für ihr sprachliches Handeln explizit zu formulieren, meist ziemlich begrenzt, vor allem wenn man sie lediglich außerhalb der Sprechsituation befragen kann. Seit Ryle's "The concept of mind" ist bekannt, daß "knowing how", d.h. praktisches Können, im Bereich der Sprache nicht unbedingt parallel läuft mit "knowing that", also mit explizitem Wissen darüber. Dazu kommen zwei eher banale Gründe: Zeitmangel der Politiker und die Gefahr, unehrliche Antworten zu bekommen, weil Politiker sich ungern in taktische Karten schauen lassen. Es ist daher erfolgversprechender, von den normativen Ansprüchen der Fernsehzuschauer auszugehen. Sie sind ja, wie oben dargestellt, die regelbestimmende Autorität. Am besten geschieht das durch Dokumentation von Zuschauerurteilen. Deren inhaltsanalytische Auswertung läßt dann die Formulierung von Gesprächsregeln zu. Damit stellen sich zwei methodische Folgeprobleme. Erstens: Nach welchen Gesichtspunkten sucht man testgeeignete Sendungen aus? Es empfiehlt sich einmal, von Austins Erkenntnis auszugehen, daß die Existenz von Regeln dort am sinnfälligsten ist, wo Sprechhandlungen mißlingen, weil gegen Regeln verstoßen wird, und zweitens von der Erfahrung, daß sich Zuschauer dort gerne zu Gesprächsregeln äußern, wo die Kontrahenten auf dem Bildschirm selber Metakommunikation über Verletzungen von Gesprächsregeln treiben. Mit diesem zweiten methodischen Folgeproblem kommen wir zu einem Schwachpunkt bisheriger Fernsehrezeptionsforschung. Sie stand vor folgendem Dilemma: Läßt man Zuschauer erst nach der Rezeption einer Sendung sich äußern, so bleibt für die Rezipienten zwar die Kohärenz und die Dynamik der Sendung als ganzes erhalten. Doch ist es nur noch in Ausnahmefällen möglich, die anschließenden, oft nur noch bilanzierenden, mit Erinne-
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rungslücken und Verwechslungen oft reichlich behafteten Äußerungen mit genügender Genauigkeit auf die einzelnen Sprechhandlungszüge oder Bildseguenzen zu beziehen. Kehrt man aber den Spieß um und fordert die Probanden auf, sich schon während der Sendung hinreichend explizit zu äußern, so ist man gezwungen, das Video-Band ständig anzuhalten, so daß Kohärenz und Dynamik weitgehend verloren gehen. Im Rahmen eines Aachener Forschungsprojektes ist es nun gelungen, aus diesem Dilemma herauszukommen und explizite Zuschauerurteile zu bekommen, ohne die Nachteile der beiden oben geschilderten traditionellen Verfahren in Kauf nehmen zu müssen. Die Grundidee ist die einer Trennung von spontanen, jedoch nicht verbalisierten Bewertungen durch die Probanden schon während der Rezeption der Sendungen einerseits und anschließenden ausführlichen verbalen Erläuterungen dieser Bewertungen andererseits. Die technische Apparatur funktioniert folgendermaßen: Während der Rezeption betätigt der Proband, wenn er eine Bewertung abgeben will, einen von zwei Knöpfen eines Bewertungs-Recorders,3 die bei Negativ-Bewertung und Positiv-Bewertung jeweils unterschiedliche Töne auslösen. Die akustischen Signale werden auf einem zweiten Band festgehalten, auf das die Sendung gleichzeitig überspielt wird. Dieses zweite Band wird der Testperson anschließend vorgespielt. Das heißt, sie sieht die Sendung nun zum zweiten Male, allerdings ergänzt um die akustischen Signale ihrer eigenen Bewertungen. Sobald eines dieser Signale ertönt, wird das Band angehalten und der Proband hat Gelegenheit, seine Bewertungen explizit zu erläutern, und zwar punktgenau und mit maximaler Erinnerungshilfe; denn er hat ja für die explizite Bewertung genau dieselbe Stelle vor Augen wie beim ersten Rezeptionsvorgang . 3. Eine erste empirische
Untersuchung''
Aus einer Anzahl von Fernsehdiskussionen habe ich ein knapp viertelstündiges Streitgespräch im Rahmen der von Zur Bewertungs-Recorder-Methode vgl. J. Klein "Der Aachener Bewertungs-Recorder. Zu einer neuen Methode der punktgenauen, sendungsbegleitenden Erfassung und Analyse von Zuschauerreaktionen", erscheint in: Medienpsychologie. Zeitschrift für Individual- und Massenkommunikation, voraussichtlich 1989. Mittlerweile liegt eine breiter angelegte Untersuchung mit 221 Erst- und Jungwählern aus dem Bundestagswahlkampf 1986/87 vor (J. Klein: "Bewertungen des Diskussionsverhaltens von Spitzenpolitikern in Fernseh-Streitgesprächen durch Jung- und Erstwähler". In: "Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht", Heft 61, 1988,79-87).
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Casdorff moderierten ARD-Sendung "Schlag auf Schlag" vom 10.4.1984 zwischen dem CDU-Generalsekretär Heiner Geißler und der stellvertretenden Vorsitzenden der SPDBundestagsfraktion Hertha Däubler-Gmelin ausgewählt. Die Verschriftung ist als Anhang (Text 1) hinzugefügt. Mit diesem Streitgespräch wurden 21 Probanden konfrontiert (keine Sprachwissenschaftler oder Linguistik-Studenten; 11 Frauen, 10 Männer; Alter: 16-62 Jahre; nach Beruf und Bildungsgrad stark gemischt). Diese Zahl ist im Hinblick auf das Untersuchungsziel, die Ermittlung der (wichtigsten) Regeln des politischen Streitgesprächs, ausreichend. Zur Ermittlung von sprachlichen Regeln benötigt man erheblich weniger Probanden, als wenn man z.B. die quantitative Verteilung politischer Ansichten innerhalb einer Population ermitteln will. Dies ist eine Folge der Tatsache, daß sprachliche Regeln den Charakter weitgehend allgemeiner Verbindlichkeiten tragen, Ansichten jedoch nicht. Indiz dafür, daß die Zahl ausreicht, ist auch die Tatsache, daß auf der Basis der Bewertungen der ersten zwölf Probanden schon 88% der Regeln formuliert werden konnten, davon sämtliche Regeln, die an der Spitze der verschiedenen Regelhierarchien stehen, auf die ich gleich näher eingehen werde. Durch die Bewertungen der restlichen neun Probanden ergaben sich also fast nur noch Redundanzen. Aus den insgesamt 445 Bewertungen, die abgegeben wurden, davon 315 negative und 130 positive, lassen sich insgesamt 98 Gesprächsregeln gewinnen, von denen sich 8 auf Mimik, Gestik, Intonation und Grammatik beziehen. Das Gros betrifft eine breite Palette von Sprechhandlungsaspekten. Daß dies kein bloßes Agglomerat ist, werde ich im vierten Teil ausführen. Die Rekonstruktion der Regeln erfolgte durch vergleichende Interpretation der auf Tonband aufgenommenen Probanden-Äußerungen zu jeweils einer bestimmten Gesprächssequenz. Dazu sei als Beispiel ein Auszug aus dem Streitgespräch in Partiturschreibweise zitiert - in Partiturschreibweise, weil Däubler-Gmelin (D) und Geißler (G) hier teilweise gleichzeitig reden: D: Γ...Entschuldigung für Heinrich Boll! Das ist meine G:[ich denke Sie wollten mich jetzt auch mal was sagen lassen D: Bitte, daß Sie sich entschuldigen. Das ist menschlich anständig, wenn Sie das tun. Insgesamt liegen 7 Negativ-Bewertungen zu der zitierten Däubler-Gmelin-Äußerung vor. Von denen beziehen sich die Bewertungen der Probanden PI, P9, P13 und P18 auf die Unangemessenheit der Entschuldigungsforderung. Ihre Erläuterungen dazu lauten: PI: ...Von wegen ein Schuldbekenntnis! Ist nicht verlangt; es soll ja eine Diskussion über politische Themen sein.
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P9: ...Und dann stört mich in dem Augenblick, daß sie immer wieder auf diese Entschuldigung kommt. Eigentlich ist dies ein Streitgespräch. Ob Herr Geißler den Charakter hat, sich zu entschuldigen, das ist seine Sache, für meine Begriffe. Eigentlich gehört es da nicht hin... P13: ...und vor allen Dingen ist das auch eine Stellvertreterhaltung, daB sie jetzt verlangt, daB er sich für Heinrich Boll - daß er Heinrich Boll als Miturheber des Terrorismus bezeichnet hat. DaB er sich da jetzt, Jahre später, vor ihr jetzt öffentlich entschuldigen soll, das ist eine ziemliche Anmaßung. P18: ...Die Entschuldigungsforderung ständig ist unangebracht ... Die Auswertung solcher Probanden-Texte mit dem Ziel der Formulierung von Gesprächsregel(systeme)η ist mit nicht unerheblichen hermeneutischen Problemen verbunden, und zwar im Hinblick 1. auf angemessenes Verstehen der Probandentexte, 2. auf das abstrahierende Zusammenfassen und Transformieren in Regelformulierungen, 3. auf Kontextrelativität und gesellschaftlich-kulturelle Reichweite solcher Regeln. Diese - hinreichend lösbaren - Probleme werde ich an anderer Stelle behandeln. Bewertungstexte sind meist offen für Regelkonstruktionen auf unterschiedlichen Abstraktionsniveaus. Ich habe nicht zuletzt im Hinblick auf die Erstellung von Regelhierarchien - eine Regel auf niedrigem, textnahem und eine auf relativ hohem Abstraktionsniveau formuliert: Rekonstruierte Regeln: a) niedriges Abstraktionsniveau: Verlange nicht vom Gesprächspartner, daß er sich noch während der Diskussion bei einem nicht anwesenden Dritten für frühere Äußerungen über diesen entschuldigtI b) höheres Abstraktionsniveau: Halte dich an den Relevanz-Rahmen, der durch die Zusammensetzung der Gesprächsteilnehmer und durch die Menge der gesprächstypischen Sprechhandlungen gezogen istl Die Regeln gehen dann in einer (nach Vergleich mit weiteren Probanden-Bewertungen) leicht modifizierten Form ein in eine Regelhierarchie, hier in die Relevanz-Regelhierarchie (siehe Übersicht 2 auf der folgenden Seite).5
Jede der in den Übersichten 2-4 präsentierten Regelhierarchien sind Ausschnitte aus einem Gesamtsystem von Gesprächsregeln, das als ganzes in diesem Aufsatz noch nicht präsentiert werden kann. Für keines dieser Teilsysteme wird interne Vollständigkeit beansprucht. Sie sind offen für Ergänzungen durch weitere empirische Untersuchungen.
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4. Kommunikationstheoretische Auswertung Bei der Systematisierung und theoretischen Deutung der ermittelten Regeln nehme ich Bezug auf einen kommunikationstheoretischen Entwurf des englischen Sprachphilosophen Grice. Grice geht davon aus, daß es für Gespräche einige konstitutive Regeln gibt - Grice nennt sie "Maximen" - deren Beachtung die Gesprächsteilnehmer wechselseitig beanspruchen müssen, damit ein informatives Gespräch zustande kommt. Diese Maximen ordnet Grice vier Kategorien zu. Die zentrale Passage bei Grice lautet:6 In Anlehnung an Kant nenne ich diese Kategorien Quantität, Qualität, Relation und Modalität. Die Kategorie der Quantität steht in Beziehung zur Quantität der zu gebenden Information, und unter sie fallen die folgenden Maximen: 1. Mache deinen Beitrag so informativ wie (für die gegebenen Gesprächszwecke) nötig. 2. Mache deinen Beitrag nicht informativer als nötig. Unter die Kategorie der Qualität fällt eine Obermaxime - "Versuche deinen Beitrag so zu machen, daß er wahr ist" - und zwei speziellere Maximen: 1. Sage nichts, was du für falsch hältst. 2. Sage nichts, wofür dir angemessene Gründe fehlen. Unter die Kategorie der Relation setze ich eine einzige Maxime, und zwar: "Sei relevant". Die Kategorie der Modalität schließlich bezieht sich nach meinem Verständnis nicht (wie die vorausgegangenen Kategorien) darauf, was gesagt wird, sondern darauf, wie das, was gesagt wird, zu sagen ist. Unter sie nehme ich die Obermaxime - "Sei klar" - und verschiedene Maximen wie: 1. Vermeide Dunkelheit des Ausdrucks. 2. Vermeide Mehrdeutigkeit. 3. Sei kurz (vermeide unnötige Weitschweifigkeit). 4. Der Reihe nach! Grice orientiert sich bei seinem Konzept allerdings an einem nicht-triadischen, nicht-konfrontativen Gesprächstyp: dem kooperativen, auf Informationstransfer zielenden 2-Personen-Gespräch ohne Publikum. Dennoch hat Grice' Ansatz einen entscheidenden Vorzug gegenüber der Praxis der erwähnten linguistischen "Gesprächsanalyse". Diese erschöpft sich im Aufspüren von "Gesprächsmustern", die nichts anderes sind als typisierte Gliederungen von Gesprächsabläufen. Diese Forschungspraxis lenkt den Blick ab von der grundlegenden Tatsache - und dem trägt der Gricesche Ansatz Rechnung -, daß die konstituierenden Momente für Gespräche einige kommunikationsfunktionale Ansprüche mit normativer Kraft sind: Grice 1979, S. 249f.
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Ansprüche auf Informativität, auf Wahrheit und Glaubwürdigkeit, auf Relevanz, auf Klarheit und Verständlichkeit des Gesagten. Abgesehen von dieser richtigen prinzipiellen Orientierung genügen die Griceschen Maximen als Regel-Basis für Fernsehstreitgespräche allerdings nicht. In den Grice-Maximen sind folgende Aspekte nicht oder unzulänglich erfaßt, die nach Ausweis meines Materials zu den konstitutiven Momenten politischer Fernsehstreitgespräche gehören: Fairness-Ansprüche, Ansprüche an das gesprächstaktische Geschick sowie die Fragen der Gesprächsordnung und des Rederechts. Um die vorliegende Regel-Menge adäquat zu systematisieren, sind gegenüber dem Griceschen Katalog 3 Typen von Veränderungen notwendig: 1. Modifizierung, 2. Spezifizierung, 3. Erweiterung. Ich kann diese Veränderungstypen aus Platzgründen nur exemplarisch behandeln: Zunächst erläutere ich die Modifizierung und dann die Spezifizierung an den Informationsmaximen: Grice formuliert für den Aspekt "Information" keine Obermaxime, sondern zwei polare Maximen. Das liegt vielleicht daran, daß die Polarität des So-informativ-wie-nötig und des Nicht-informativer-als-nötig ihm eine gemeinsame Obermaxime auszuschließen schien. Mit diesem Maximen-Paar erfaßt er aber nicht das Phänomen der Redundanz, auf das viele Probanden-Äußerungen abheben. Es gehört sicherlich unter den Aspekt der Information. Statt eine entsprechende Maxime Vermeide Redundanz! bloß additiv als dritte hinzuzufügen, erscheint es mir sinnvoller, ähnlich wie bei den übrigen Maximen eine adäquate Formulierung für eine Obermaxime zu suchen, die die Ansprüche hinsichtlich Informativität insgesamt abdeckt. Dabei ist allerdings noch ein weiterer Punkt zu beachten: Bei Grice ist außer acht gelassen, daß etwas nur informativ oder nicht-informativ relativ zum Hörer ist. Bei triadischer Kommunikationskonstellation stellt sich da die Frage: Wer ist hier der Hörer, auf dessen Informationsbedarf es ankommt: der Kontrahent oder das Publikum? Es ist das Publikum. Denn im FernsehStreitgespräch gilt ein Beitrag allgemein dann als informativ, wenn dem Publikum die entsprechende Information bisher fehlte. Ob der politische Kontrahent den Tatbestand nun schon zum wiederholten Male hört, spielt dabei keine Rolle. Aufgrund dessen läßt sich als Modifizierung zu Grice die Obermaxime formulieren: Sei angemessen informativ für das Publikum! Was "angemessen" heißt, muß dann in Untermaximen spezifiziert werden. Damit sind wir schon beim zweiten Änderungstyp gegenüber Grice, der Spezifizierung. Das Gros der aus dem Probanden-Material ermittelten Regeln ist nicht auf dem hohen Abstraktions- und Allgemeinheitsniveau der Griceschen Maximen formuliert. Maximen der Griceschen Art sind Superregeln, Abstraktionen über Hierarchien spezifischer Regeln. Das vorliegende Material zwingt zur Spezifizierung der Maximen auf mehreren Ebenen. Die eben formulierte Informations-Maxime zum Beispiel läßt sich auf der nächst niedrigen Ebene spezifizieren in die Re-
74 geln Vermeide Oberflächlichkeit !, Überfülle deinen Beitrag nichtl und Vermeide Redundanz!. Solchen spezifischen Regeln lassen sich wiederum spezifischere und denen u.U. noch spezifischere zuordnen. Die voll entfaltete Ordnung der Regeln aus meinem Material, die sich unter der Maxime oder Superregel der Information hierarchisieren lassen, ist in Übersicht 3 (s.nächste Seite) zusammengefaßt. Nun zum dritten Typ von Änderungen gegenüber Grice, einer Erweiterung der Maximen: Von 90 Regeln lassen sich nach dem skizzierten Verfahren 68 den teilweise modifizierten Maximen der Informativität, der Wahrheit und Wahrhaftigkeit, der Relevanz und der Klarheit zuordnen. Etliche Regeln sind dort allerdings nicht unterzubringen, z.B.: Unterlasse persönlich herabsetzende Polemik!, Sei nicht sarkastisch!, Vermeide Ironie gegen deinen Gesprächspartneri (oder die Ausnahmeregelung dazu: Vermeide Ironie gegen deinen Gesprächspartner, es sei denn sie trifft genau!), Rede nicht schulmeisterlich! usw. In diesen Regeln, zu denen noch einige Regeln für das non-verbale und das para-linguale Verhalten kommen, wird durchgängig ein normativer Anspruch an die Gesprächspartner gestellt, den ich unter der Obermaxime zusammenfasse : Beschädige nicht das Image deines Gesprächspartnersl Dabei ist der Ausdruck Image nicht als werbepsychologischer Terminus benutzt, sondern im Sinne der am symbolischen Interaktionismus orientierten Gesprächsforschung, insbesondere Holly's "Imagearbeit in Gesprächen*1,7 wo der Ausdruck den Anspruch auf Achtung und auf Anerkennung durch den Partner als gleichwertige oder besser als "gleich achtbare" Person meint. Für die Achtbarkeits-Maxime finden wir unter den Griceschen Kategorien keine Entsprechung. Die zugehörige Regelhierarchie ist als Übersicht 4 (s. übernächste Seite) abgedruckt. Es bleiben dann immer noch einige Regeln übrig, die sich allesamt auf gesprächstaktisehe Aspekte beziehen und die subsumierbar sind unter einer weiteren zusätzlichen Obermaxime: Streite geschickt!
Holly 1979
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Wenn man nun die Zahl der gegenüber Grice erweiterten Ansprüche und die entsprechenden Obermaximen überblickt, so lassen sie sich nicht aufeinander zurückführen. Dennoch stehen sie nicht beziehungslos nebeneinander. Ihr Zusammenhang ergibt sich aus dem Bezug auf die triadische Kommunikationskonstellation und auf die darin eingebettete Kampf-Situation zwischen den Gesprächspartnern: Die teilweise zu modifizierenden Griceschen Maximen der Informativität, der Wahrhaftigkeit, der Relevanz und des verständlichen Gesprächsaufbaus beziehen sich primär auf das Verhältnis der Gesprächspartner zum Publikum. Grice faßt übrigens anders als Habermas, der seine Kommunikationstheorie ja ebenfalls von grundlegenden Ansprüchen her aufbaut - allerdings nicht von Publikumsansprüchen her, sondern von Geltungsansprüchen der Sprecher8 - Grice also faßt anders als Habermas den Anspruch auf Wahrhaftigkeit bzw. Glaubwürdigkeit und den Anspruch auf Wahrheit unter einer Obermaxime zusammen. Für eine systematische Trennung der beiden Ansprüche spricht allerdings, daß Glaubwürdigkeit einerseits und Wahrheit andererseits auf deutlich unterschiedene Relationen des Kommunikationsmodells abheben: Glaubwürdigkeit bezieht sich primär auf das Verhältnis zwischen einem Gesprächspartner und dem Publikum, d.h. auf eine Relation innerhalb der Triade. Der Anspruch auf Wahrheit hingegen bezieht sich primär auf das Verhältnis des im Gespräch Erörterten zum - man könnte es nennen: zum "Weltkontext", also auf eine Relation, die aus der Triade hinausweist. Die außerhalb des Griceschen Katalogs liegenden Maximen der Image-Wahrung und des taktischen Geschicks, beziehen sich demgegenüber primär auf das Verhältnis der Gesprächspartner untereinander, sofern sie verbal gegeneinander kämpfen. Es ist allerdings zu betonen, daß darin Ansprüche des Publikums an den Modus des Kämpfens zur Geltung kommen. Die triadische Struktur des Fernseh-Streitgesprächs ist somit verantwortlich dafür, daß die übergeordnete Streitmaxime nicht etwa lautet: Überwältige deinen Kontrahenten verbal! oder gar Vernichte ihn verbal! Wer einem Politiker solche Maximen als Ratschläge für Fernseh-Diskussionen gäbe, würde ihm einen Bärendienst erweisen - zumindest bei den derzeit geltenden Publikumsansprüchen. Gegenwärtig - ob das immer so bleiben wird, wage ich nicht zu beurteilen - sichert die triadische Struktur Normen z i v i l i s i e r t e n Streitens mit Worten. Die Konsequenz für den Politiker, der sich am Sprachspiel "Fernseh-Streitgespräch" beteiligt, ist eine übergreifende, zusammenfassende General-Maxime, die man etwa so formulieren könnte:
Vgl. Habermas 1971 u.ö.
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Führe ein Streitgespräch so, daß du beim Publikum in Berücksichtigung von dessen Interessen an Informativität, Wahrheit, Glaubwürdigkeit, Relevanz und verständlicher, überschaubarer Gesprächsführung möglichst als fairer Sieger dastehstl Ich möchte nun noch einige Bemerkungen zum Thema "Vorrang von Regeln im Konfliktfall" machen: Gesprächsregeln können - anders als grammatische Regeln - kollidieren, z.B. die Regel Belege Behauptungen und Unterstellungen, die zwischen dir und deinem Gesprächspartner potentiell strittig sind! und die Regel Allgemein Bekanntes braucht nicht belegt zu werden 1 In der Auseinandersetzung zwischen Däubler-Gmelin und Geißler geht es u.a. um diesen Punkt. Geißler beharrt auf der ersten Regel, Däubler-Gmelin führt die zweite ins Feld, wenn sie seiner Begründungsforderung entgegenhält: Ja weil Sie doch bekannt sind dafür! Deswegen sind Sie doch hier in der Sendung, daß Sie Leute in die Nähe von Terroristen rücken. Sie sagen, sie seien kommunistisch gesteuert, es seien Handlanger Moskaus, fünfte Kolonne, Verbrecher, politische Verbrecher. Das sind alles Dinge, von denen wissen Sie doch, daß sie hier gesagt werden. Und, Herr Geißler, wissen Sie: über diese Dinge, über die streite ich mich mit Ihnen nicht. Die Frage ist, welche Regel hat aus der Sicht des Publikums als der regelbestimmenden Autorität Vorrang? Von unseren Probanden bemängeln 11, daß Däubler-Gmelin ihre Vorwürfe nicht belegt, obwohl sie gleichzeitig oder in anderen Kommentaren zu erkennen geben, daß auch sie davon überzeugt sind, daß Geißler die inkriminierten Äußerungen in diffamierender Weise gemacht habe. Nur zwei lehnen Geißlers Begründungsforderungen ab, mit Berufung darauf, daß diese Vorwürfe bekanntermaßen zu Recht bestünden . Man kann dies deuten als Bereitschaft, sich zumindest im Rahmen der Rezeption von Fernseh-Streitgesprächen auch der Argumentation gegen die eigenen Überzeugungen oder Vorurteile auszusetzen - zumindest dann, wenn diese Überzeugungen oder Vorurteile einen der Gesprächskontrahenten betreffen. Ein anderer Regelkonflikt, der in Äußerungen der Probanden mehrfach deutlich wird, betrifft den Komplex Rederecht und Unterbrechen. Ich greife eine Stelle heraus: Däubler-Gmelin insistiert darauf, es sei bedauerlich, daß Geißler "nicht die Gelegenheit heute wirklich benutzt, hier sich für diese Diffamierungen ... zu entschuldigen", nämlich bei Heinrich Boll und Hildegard Hamm-Brücher. Da versucht Geißler sie zu unterbrechen:
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Frau Däubler-Gmelin, nein bitte schön, jetzt sagen Sie - Entschuldigung, das geht nicht - jetzt sagen Sie bitte ... Nein. Jetzt sagen Sie bitte weswegen! Insgesamt 6 Probanden haben an dieser Stelle mit Bewertungen eingehakt, 4 mit negativen, 2 mit positiven. In den anschließenden Erläuterungen monieren die erstgenannten die bloße Tatsache des Unterbrechens, rekurrieren also auf die Regel Unterbrich nicht!, die beiden anderen machen darauf aufmerksam, daß Geißler hier zwar unterbreche, gestehen ihm aber das Recht dazu zu; denn Frau Däubler-Gmelin habe ihre schweren Vorwürfe ja noch immer nicht belegt. Vorrang hat für diese Probanden also die Ausnahmeregel: Unterbrich nicht, es sei denn du tust es, um zu fordern, daß der Gesprächspartner wiederholt erhobene, aber nicht belegte Beschuldigungen endlich belegt! Das Material, das unsere Probandenurteile liefern, reicht natürlich nicht aus, um Feststellungen über sämtliche denkmöglichen Konfliktkonstellationen zwischen Regeln machen zu können, überhaupt endet an diesem Punkt die Aussagekraft meiner Daten. 445 Bewertungen von 21 Probanden über ein an Regelverstößen und Metakommunikation so reiches Gespräch reichen hin, um die wichtigsten Regeln des Fernsehstreitgesprächs zu ermitteln und vor allem, um die ganze Breite normativer Ansprüche an diese Gesprächsform in den Blick zu bekommen. Um darüber hinaus Dominanz-Verhältnisse zwischen konfligierenden Regeln zu klären - und das bedeutet vor allem, unterschiedliche Dominanzkonstellationen unterschiedlicher Publikumsgruppen in Abhängigkeit von politischen, sozialen und psychischen Parametern zu ermitteln -, dazu ist die Zahl von 21 Probanden zu gering. In der nächsten Phase dieses Forschungsprojektes soll der Untersuchungsrahmen entsprechend erweitert werden. Unabhängig von genauen Zahlen über Dominanzen möchte ich abschließend einige Bemerkungen zu der Frage machen, wieso das Dominanz-Problem überhaupt entsteht. Es entsteht aus der Konkurrenz der unterschiedlichen Ansprüche. Erstens lassen sich die in den verschiedenen Regelhierarchien formulierten Ansprüche nicht immer parallel und gleichmäßig erfüllen. Zweitens sind unterschiedlichen Zuschauern und Zuschauergruppen unterschiedliche Ansprüche wichtig. Die Differenz zwischen den Regelsystemen und die potentiellen Konflikte zwischen einzelnen Regeln wurzeln in verschiedenen Haltungen - in einem bestimmten Sinne des Begriffs könnte man auch von 'Rollen' sprechen -, die in jedem Zuschauer mehr oder weniger ausgeprägt vorhanden sind und potentiell miteinander konkurrieren. Als I n f o r m a t i o n s s u c h e r sind wir vor allem daran interessiert, daß vorrangig die Regeln beachtet werden, die den Obermaximen der Informativität, der Wahrheit und Wahrhaftigkeit und der Relevanz zugeordnet sind.
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Rückt eher der U n t e r h a l t u n g s w e r t einer Sendung in den Vordergrund, wollen wir also im Streitgespräch primär ein Kampfspiel voll Spannung, Spielwitz und gutem Spielfluß sehen, dann werden wir im Konfliktfall eher denjenigen Regeln den Vorrang einräumen, die unter der Maxime Streite geschickt! subsumierbar sind teilweise auch unter der Maxime Rede klar und überschaubar! , obwohl die Erfüllung der meisten unter ihr subsumierbaren Regeln, z.B. die Rederecht-Regeln mindestens ebensosehr im Interesse des Informationssuchers liegt. Als Fernsehzuschauer sind wir allerdings nicht nur Informationssucher oder an der Ästhetik des Kampfspiels interessierte Zuschauer. Wir sind Zuschauer und Schiedsrichter in einer Person. Die Schiedsrichter-Haltung ist es vor allem, aus der heraus das Publikum - sehr betont, wie aus den Bewertungen unserer Probanden hervorgeht auf der Einhaltung der Regeln unter der Maxime der Image-Wahrung besteht, die man in der Sportmetaphorik auch "Fairness-Maxime" nennen könnte. Wieweit die Schiedsrichter-Haltung jedoch relativiert wird durch eine vierte Haltung, die des P a r t e i g ä n g e r s , ist eine Frage, die vor weiteren Untersuchungen letztlich offen bleiben muß. Dafür allerdings, daß Zuschauer durchaus trennen zwischen politisch-inhaltlicher Bewertung und Bewertung des Gesprächsverhaltens von Politikern, liefern unsere Probanden-Urteile immerhin deutliche Indizien: Sie sind getrennt ausgezählt worden nach bewertenden Kommentaren zu politisch-inhaltlichen Fragen und nach Bewertungen des Gesprächsverhaltens. Während politisch-inhaltlich Däubler-Gmelin nach Saldierung der Positiv- und Negativ-Bewertungen mit einem Positiv-Saldo von +11 besser beurteilt wird als Geißler mit -27, schneidet sie beim Gesprächsverhalten erheblich schlechter ab als Geißler: Saldiert liegen beide im Negativ-Bereich, Geißler jedoch nur mit -39, Däubler-Gmelin mit -130. Zum Problem der Interessen-Dominanz zwischen Zuschauerhaltungen möchte ich noch eine Bemerkung aus Anlaß der durch Postmans "Wir amüsieren uns zu Tode"9 ausgelösten Diskussion machen. Postman vertritt - allerdings für die USA - die These, daß der Anspruch des Publikums auf bloße Unterhaltung so dominiere, daß politische Diskussionen, die diesen Namen verdienen, im Fernsehen nicht mehr möglich seien - bestenfalls noch Pseudodiskussionen mit vorbereiteten Statements, ohne daß die Beteiligten aufeinander eingingen. Postman stützt sich dabei ausschließlich auf sein eigenes Urteil über bestimmte Sendungen. Von empirischen Erhebungen über tatsächliche Zuschaueransprüche berichtet er nicht. Über Zuschaueransprüche in den USA will und kann ich mich nicht äußern, zumal dort die Dominanz der Werbespots, die fast in jede Sendung als Unterbrecher eingeblendet werden, andere Rezeptionsvoraussetzungen Postman 1985
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schafft. Für deutsche Verhältnisse scheint Postmans These allerdings zu stark zu sein. Meine Untersuchung erlaubt zwar, wie oben ausgeführt, keine detaillierten Aussagen über Dominanz-Profile. Auf der von Postman betretenen Ebene globaler Aussagen vermag sie allerdings Indizien zu liefern, ob die Postmansche These auf die Bundesrepublik übertragbar ist: Von den 445 Bewertungen der Probanden thematisieren 384 Aspekte der Informativität, der Wahrheit des Gesagten, der Glaubwürdigkeit der Kontrahenten, der Relevanz der Themen und der Sprechakte, der Durchsichtigkeit der Gesprächsführung sowie der Fairness, allesamt Aspekte, die vorrangig die Rationalität der Diskussion betreffen. Nur 61 Bewertungen betreffen demgegenüber vorrangig Unterhaltungsansprüche wie Trickreichtum des verbalen Kampfspiels sowie Geschmacksfragen im non-verbalen und im paralingualen Bereich. Träfe die These für die Bundesrepublik zu, so wären diese Zahlenverhältnisse kaum zu erklären. Vielleicht dürfen wir daraus schließen, daß die politische Kommunikationsstruktur zumindest auf seiten der Rezipienten bei uns besser ist als ihr Ruf. 5. Gründe für Politiker-Verstöße gegen Gesprächsregeln Zum Schluß noch einige Hinweise auf das Paradox, daß Politiker so häufig das Risiko eingehen, gegen Gesprächsregeln zu verstoßen und damit Sympathien beim Publikum zu verscherzen, um dessen Zustimmung sie sich doch so dringend bemühen. Ich sehe drei Typen von Erklärungsgründen : 1. gesprächsstrukturelle, 2. kausale, 3. finale, strategische Gründe. Ein gesprächsstruktureller Grund liegt vor, wenn die Gesprächssituation so ist, daß die Beachtung der einen Regel notwendig zum Verstoß gegen die andere führt. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn einerseits die Zeit ganz knapp ist, andererseits eine zentrale Frage ansteht, die eine komplexe Stellungnahme erfordert. Hier muß der Politiker entweder gegen die Regel Halte dich an die Redezeitl verstoßen oder gegen die Regel Diskutiere die zentralen Streitpunkte ausl. Kausale Gründe für Verstöße sind Defizite in der Diskussionskompetenz, etwa mangelnde Selbstkontrolle oder auch bloß schlechte Tagesform. Die interessantesten Gründe sind die finalen. Dabei handelt es sich um intentionale Verstöße. Sie dienen taktischen oder strategischen Zwecken außerhalb des Bereiches der Gesprächsnormen. Es gibt drei Haupttypen finaler Verstöße. Ich kennzeichne sie jeweils mit einem plakativen Ausdruck und erläutere sie an Beispielen, die allerdings nicht aus Streitgesprächen, sondern aus nahe verwandten Gesprächsformen stammen. Den ersten Typ nenne ich "Wahl des kleineren Übels". Das Beispiel stammt aus
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dem Bundestagswahlkampf 1976 (siehe Anhang: Text 2). In der ZDF-Sendung "Bürger fragen - Politiker antworten" wird Kanzlerkandidat Helmut Kohl mehrfach hintereinander gefragt, warum die CDU nicht bereit war, die unter Adenauer eingeführte paritätische Mitbestimmungsregelung für die Montanindustrie in dem 1976 verabschiedeten Mitbestimmungsgesetz auch auf die anderen Industriezweige auszudehnen. Doch Kohl weicht beharrlich aus. Der durch viermalige Wiederholung besonders auffällige Verstoß gegen die Regel, eine Frage innerhalb des illokutionären und propositionalen Rahmens zu beantworten, der durch die Frage eröffnet wird, ist so auffällig, daß Unruhe im Saalpublikum entsteht. Doch läßt Kohl sich nicht erweichen. Mitbestimmung war nämlich über Jahre für die CDU ein besonders heikles Thema gewesen. Die Gründe für die Mitbestimmungsentscheidung darzustellen, hätte die Gefahr beschworen, parteiintern und in der interessierten Öffentlichkeit Konflikte neu zu beleben, die seit der Verabschiedung des Gesetzes CDU-intern gerade mühsam zur Ruhe kamen. Beharrlich auszuweichen war das kleinere Übel.1 0 Den zweiten Typ nenne ich "Aus der Not eine Tugend machen" (siehe Anhang: Text 3). Im ZDF-Hearing wird Geißler gefragt: Können Sie sagen, wieviel von dieser halben Milliarde (Spenden an die CDU) von Großunternehmen wie etwa von Flick kommt? Geißlers "Not": In der Rolle des Interviewten zu sein und dabei eine höchst unangenehme Frage beantworten zu müssen. Er macht daraus eine "Tugend" , indem er die Frage auf denkbar knappste Weise abblockt: Das kann ich Ihnen nicht sagen. Kaltschnäuzig springt er dann selbst in die Interviewer-Rolle (darin liegt der Verstoß gegen die Spielregeln des Gesprächstyps "Interview") und stellt an sich selbst die Frage, "ob die Bürger auf die Integrität, die Unbestechlichkeit der politischen Institutionen vertrauen können". Hurtig wechselt er dann wieder in die ihm zustehende Rolle des Interviewten und beantwortet in aller Ruhe seine eigene Frage. Geißler interviewt sich hier selber. Der Journalist hat übrigens nicht nachgehakt. Letzter Grund: "Spectaculum zu höheren Zwecken". Ein solches läge vor, wenn die zweite der beiden Versionen stimmen würde, die über Willy Brandts vielbeachteten emotionalen Ausfall am Abend der nordrhein-westfälischen Landtagswahl 1985 in der "Bonner Runde" im Umlauf ist (siehe Anhang: Text 4). Die erste Version ist eine kausale Erklärung: Brandt habe einfach die Kontrolle über sich verloren. Die zweite Version ist eine final-strategische Erklärung: Es sei eine kalkulierte Aufführung gewesen mit dem Ziel, einer Anti-Amerikanismus-Kampagne der CDU gegen die SPD möglichst glaubwürdig entgegenzutreten und Geißler, dem Motor dieser Kampagne, möglichst wirkungsvoll ein Stigma anzuheften: "Seit Goebbels der schlimmste Hetzer in diesem Land." Moralische Vgl. Klein 1981, insbesondere S. 6-11.
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Empörung als Vehikel für Glaubwürdigkeit und spektakuläres Verlieren der Contenance innerhalb einer staatsmännischen Diskussionsrunde als Mittel, um trotz aller Medienkonzentration auf den triumphalen NRW-Wahlsieger Johannes Rau maximale Aufmerksamkeit für die Abrechnung mit Geißler zu erzielen. Welche der beiden Interpretationen der Brandtschen Verstöße gegen eine ganze Anzahl von Gesprächsregeln die richtige ist, kann offen bleiben, da es hier lediglich darum ging, Typen von Erklärungen für Verstöße gegen Erklärungen kategorial gegeneinander abzugrenzen. 6. Literatur
Austin, J.L.(1979): Zur Theorie der Sprechakte. Stuttgart (engl. 1962). Grice, H.P. (1979): Logik und Konversation. In: Meggle, G. (Hg.): Handlung, Kommunikation, Bedeutung. Frankfurt, 243-365 (engl. 1968 als Mimeo). Habermas, J. (1971): Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz. In: Habermas, J./Luhmann, N.: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie. Frankfurt, 101-141. Habermas, J. (1981): Theorie des kommunikativen Handelns. 2 Bdd., Frankfurt. Holly, W. (1979): Imagearbeit in Gesprächen. Tübingen. Holly, W./Kühn, P./Püschel, U. (1986): Politische Fernsehdiskussionen. Zur medienspezifischen Inszenierung von Propaganda als Diskussion. Tübingen. Holzheuer, K. (1976): Methoden der Medienwirkungsforschung: Befragung, Gruppendiskussion, Beobachtung, Tests, Experimente. In: Sturm, H. (Hg.): Methoden der Medienwirkungsforschung. München, 46-63. Klein, J. (1981): Sprachstrategien zur innerparteilichen Konfliktvermeidung oder Wie ist die Rekonstruktion interaktionaler Bedeutung möglich? In: Klein, J./ Presch, G. (Hg.): Institutionen, Konflikte, Sprache. Tübingen, 1-35. Klein, J. (1988): Bewertungen des Diskussionsverhaltens von Spitzenpolitikern in Fernseh-Streitgesprächen durch Jung- und Erstwähler. In: SuL H. 61, 79-87. Klein, J. (1989): Der Aachener Bewertungs-Recorder. Zu einer neuen Methode der punktgenauen, sendungsbegleitenden Erfassung und Analyse von Zuschauerreaktionen. Erscheint in: Medienpsychologie. Zeitschrift für Individual- und Massenkommunikation. Postman, Ν. (1987): Wir amüsieren uns zu Tode. Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie. Frankfurt. Ryle, G. (1978): Der Begriff des Geistes. Stuttgart. Sucharowski, W. (1985) (Hg.): Gesprächsforschung im Vergleich. Analysen zur Bonner Runde nach der Hessenwahl 1982. Tübingen.
Anhang Text l: Verschriftung des Streitgesprächs Däubler-Gmelin/Geißler in der Sendung "Schlag auf Schlag: Heiner Geißler", ARD, 4.10.1984 (Auszug) Schreibkonvention: kursiv sind die Äußerungen, die ein(e) Teilnehmer(in) gleichzeitig mit der ebenfalls kursiven Äußerung eines anderen Teilnehmers macht. Teilnehmer: C: Claus Hinrich Casdorff D: Dr. Hertha Däubler-Gmelin G: Dr. Heiner Geißler C: So meine ich, 's ist nur recht und billig, wenn wir zum zweiten, äh, Streitgespräch, eine Sozialdemokratin zu Wort kommt. Es ist Frau Dr. Däubler-Gmelin, stellvertretende Fraktionsvorsitzende der SPD im Bundestag und auch Leiterin des Arbeitskreises 'Gleichstellung der Frau', und ich glaube, liebe Frau Dr. Gmelin, Dr. Dr. Däubler-Gmelin, äh, seien Sie willkommen, bitte schön... D: Grüß Gott C: ... es wird Ihnen nicht an Angriffspunkten fehlen, wenn Sie jetzt zu Wort und Widerwort wiederum auf meinem Stuhl Platz nehmen; denn jetzt, Herr Generalsekretär, fragen Sie nicht mehr, sondern die Kritik, die Angriffe oder auch die Fragen - wie Sie wollen - die kommen nun mal von der Gegenseite. Und da hilft es Ihnen auch nichts mehr, wenn Sie sich 10 Fragen aufschreiben, sondern jetzt geht es vielleicht zur Sache, 13 Minuten selbe Zeit, und auf geht es, Sie haben den ersten Schuß. D: Tja. Ich würde sehr gerne auf was zurückkommen, was vorher mal 'ne Rolle gespielt hat, und Heiner Geißler so fragen, wie wir ihn kennen, Heiner Geißler schlagfertig, schlägt auch häufig unter die Gürtellinie, nicht immer sportlich; aber eines fand ich vorhin ganz interessant; Sie sagen - alles was Sie da sagen: rücken Sie Leute in die Nähe von Terroristen oder Handlanger Moskaus... G: Wann denn bitte schön, wo denn? D: das war 1977 G: Wo denn? Bitte genau zitieren! D: Natürlich. In der Dokumentation der CDU, für die Sie verantwortlich sind, haben Sie gleich 'ne ganze Generation von Dichtern und Schriftstellern in die Nähe von Terroristen gerückt. Gut. Zweiter Punkt. G: Also da täuschen Sie sich.
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D: Nein, nein, nein. Das wissen Sie auch alle. Ich komm1 gleich noch drauf zurück. Ich werd' Sie ganz konkret danach was fragen Herr Geißler. G: Is gut. D: Zweiter: Heinrich Boll haben Sie da erwähnt. Walter Jens und 'ne ganze andere Menge von Leuten. Dann... G: Haben Sei die Aussagen gelesen zum Terrorismus? D: Aber natürlich. Ich komme noch darauf zurück... G: Und zu Baader-Meinhoff damals? D: Jetzt fallen Sie mir doch nicht gleich in's Wort, sondern hören Sie doch erst mal zu. Ich weiß ja, das fällt Ihnen schwer, bißchen noch Geduld. G: Ich höre Ihnen gerne zu. D: Dann sind z.B. sagen Sie zu den Grünen jetzt gerade wieder, die seien, glaub1 ich, von Kommunisten gesteuert, gell, das war doch glaub1 ich das Wort? G: Nein, das habe ich nicht gesagt. Entschuldigung D: Ach ja. Dann... G: Sondern ich habe den General Bastian zitiert, darf ich Ihnen das vorlesen? D: Der Herr Schily, der Herr Schily wird's gerne gehört haben. Außerdem würd' ich Sie wirklich bitten, jetzt fallen Sie mir mal a Momentle nit in's Wort, wir kommen wirklich sonst nit nicht zu 'nem Gespräch. Dann ging's weiter. Sie sagen dann also - was haben Sie noch alles Schöne gesagt: Ja, "die Pazifisten haben erst Au-schwitz möglich gemacht". Das war sogar wörtlich, das was Sie gesagt haben, und Sie können mir doch nicht sagen, daß dieses alles bloß Institutionen sind, die Sie damit meinen. Ich darf jetzt noch einmal eine Person nennen, unserer Kollegin Frau HammBrücher. Die haben Sie ganz wüst angegangen, weil Sie natürlich, äh, gewagt hat, Ihnen zu widersprechen. Aber jetzt kommt meine Frage: Herr Geißler, wie bringen Sie eigentlich das, was so 'ne große Frankfurter Zeitung - wir haben sie vorher ja gesehen - "kalkulierte Gemeinheiten" nennt, wie bringen Sie das eigentlich wieder aus der Welt? Haben Sie jemals daran gedacht, sich bei Heinrich Boll oder bei Frau Hamm Brücher zu entschuldigen? Das würd' mich jetzt interessieren. G: Also Frau Däubler-Gmelin, was Sie hier erzählt haben, gerade eben, in dieser Liste, hm da haben Sie bewiesen, daß Sie keine glückliche Hand haben, Fakten mit der Wahrheit in Einklang zu bringen. Sie haben hier nur Anschuldigungen erhoben. Ich unterhalte mich mit Ihnen gerne, wenn Sie über konkrete Aussagen von mir mit mir eine Diskussion führen wollen, aber nicht mit Halbwahrheiten. Halbwahrheiten sind so schlimm wie ganze Lügen, und was Sie hier gemacht haben, nicht wahr, ist eine Aufzählung von Halbwahrheiten gewesen. Unterhalten wir uns jetzt über einzelne Punkte, bin ich gern bereit, mit Ihnen zu sprechen und Ihre Fragen zu beantworten. Dann fangen Sie jetzt mal bitte an.
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D: Lieber Herr, Lieber Herr Geißler, das ist lieb, daß Sie mir das Wort geben, aber Sie haben ja vorher von Herrn Casdorff gehört, ich darf Sie heute befragen, deswegen - sind Sie doch noch 'n Moment ruhigί Ich find's schade, daß Sie die Gelegenheit nicht ergreifen, ich hab1 heute mit Heinrich Boll geredet, und mit Frau Hamm-Brücher geredet, ich find's wirklich schade, daß Sie als Generalsekretär einer Partei, die sich christlich nennt, G: Ja sagen Sie mir doch mal, weswegen! D: nicht die Gelegenheit heute wirklich benutzen, hier sich für diese Diffamierungen, die Sie gemacht haben, zu entschuldigen. G: Aber, aber. Entschuldigung, das werde ich doch nicht Ihnen gegenüber tun! D: Ich find's wirklich bedauerlich, - und wenn nicht alle - ja aber vielleicht doch dieser ganzen Mehrheit von Leuten und Heinrich Boll gegenüber. G: Ja was hab' ich denn ... D: Oder Frau Hamm-Brücher. Das wissen Sie selber ... G: Frau Däubler-Gmelin. Nein bitte schön, jetzt sagen Sie - Entschuldigung, das geht nicht, jetzt sagen Sie bitte ... D: Aber ja (unverständlich) 1977 ... G: Nein, jetzt sagen Sie bitte: Weswegen? D: Ich will es nochmal erwähnen, eine Terrorismusbroschüre, von der sie dann hinterher sogar gesagt haben, die sei Ihnen wohl vielleicht zu spät vorgelegt worden. G: Nein, Entschuldigung ... D: Und alle diese Dinge, ich weiß, Herr Geißler, Sie haben das nie gesagt, aber lassen Sie uns zu was anderem kommen ... G: Ja, was hab' ich denn gesagt? D: Sie haben das nie gesagt, weder 'Handlanger Moskaus', bald werden Sie auch noch die 'Melonenpartei' beStreiten. Das ist wirklich sehr bedauerlich. G: Aber Entschuldigung, Frau ßäubler-Gmelin, sagen Sie doch bitte jetzt mal wortwörtlich, weswegen Sie diese Frage an mich stellen. Sie können doch nicht einfach D: Sie diffamieren ... Ja weil Sie doch bekannt sind dafür! Deswegen sind Sie doch hier in der Sendung, daß sie Leute in die Nähe von Terroristen rücken ... G: Aber entschuldigen Sie doch bitte ... D: Sie sagen, sie seien kommunistisch gesteuert, es seien "Handlanger Moskaus", "5. Kolonne" ... G: Also darf ich Ihnen mal vorlesen, was ich, was ich gesagt habe? D: ..."Verbrecher", "politische Verbreeher", das sind alles Dinge, das sind alles Dinge, von denen wissen Sie doch, daß Sie hier gesagt werden. Und, Herr Geißler, wissen Sie, über diese Dinge, über die streite ich mich mit Ihnen nicht.
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G: Ach so. D: Wenn Sie hier sagen, gut, Sie entschuldigen sich dafür nicht, dann darf ich jetzt mal meine andere Frage stellen, ich find's schade, aber, na, kommen wir zu 'nem anderen Punkt, und da würde ich Sie jetzt gerne mal was fragen: Sie reisen hier die ganze Zeit durch die Lande und verkünden: So, jetzt sei wirklich das goldene Zeitalter für Frauen und für Familien angebrochen, das ist ja die zweite Funktion, Sie haben ja zwei Arbeitsplätze, Familienminister nebenher auch noch, und Sie sagen, jetzt seien Frauen und Familien endlich einmal gut dran. Und daß Sie, daß des nicht stimmt, das wissen Sie ganz genau. Oes war doch einer der Gründe, warum Sie am Sonntag die Hahlen verloren haben. Schauen Sie, ich hab' hier eine vorläufige Analyse, z.B. in Duisburg. Daran zeigt sich, daß die Frauen Ihnen reihenweise davongelaufen sind, und warum wohl? Einfach deswegen, weil die Frauen doch bemerken, daß sie zwar sonntags 'n paar Lobsprüche kriegen, aber daß sie die Opfer dieser sozialen Unbarmherzigkeit Ihrer Politik sind, die Frauen ganz besonders. G: Also D: Sie kriegen Berge von ... G: Darf ich jetzt antworten? Denn also ich hatte ... D: Ja, Entschuldigung, Sie dürfen gerne antworten. G: Ich hab' bis jetzt nicht die Gelegenheit bekommen. Ich hab' die, - Sie ... D: Aber ich möchte Ihnen gern mal die Frage stellen ... C: Herr Geißler hat provozierend auf die Uhr geguckt ... D: Na gut. C: Ich kenne ja diese Bewegung. D: Er hat ja vorhin die ganze Zeit in's Wort gefallen, war er ruhig gewesen, war's schneller gegangen. (Unruhe und Heiterkeit beim Studiopublikum) G: Oh neinl D: Gell, aber sicher. G: Ich hab' mal 'nen Zwischenruf gemacht. D: NatürlichI Gell. G: Ich hab' mal 'nen kleinen Zwischenruf gemacht. D: Nein, nein, nein. Nix dal C: Also, also jetzt lassen Sie doch mal auf Ihre massiven Vorwürfe antworten. D: Gerne. G: Darf ich, darf ich doch mal was sagen? D: Ich werd' Sie nich unterbrechen, und Sie werden mich dann nachher auch zu Hort kommen lassen, okay? G: Gut. Ist in Ordnung. C: Gut, also ... D: Wunderschön. G: Also Frau Däubler-Gmelin, jetzt will ich mal an einem Beispiel, um auf Ihre vorherige Auflistung zu sprechen zu kommen, sagen, nicht wahr, was ich unter den Halbwahrheiten verstanden habe. Ich habe - das ist richtig - was die Grünen anbelangt, den General Ba-
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D: G: D: G: D: G: D: G: D: C: D: G:
C: D: G: 0: C: G: C: D: C:
stian zitiert, der in diesem Jahr, nicht vor drei Jahren, gesagt hat: "Die beginnende politische Fehlentwicklung innerhalb der Grünen zeigt sich insbesondere im überraschenden Erfolg der dem kommunistischen Bund entstammenden ehemaligen Z-Fraktionen bei der Besetzung von Schlüsselpositionen mit teils altbewährten, teils neugewonnenen Gesinnungsfreunden in den Parteigremien, sowie beim überstimmen der unkoordinierten Mehrheit der Andersdenkenden in der Fraktion und in den Regionalverbänden mittels einer geschickt und diszipliniert gehandhabten Kadertaktik." Ich habe den General Bastian, heute noch Mitglied der Partei der Grünen, zitiert, das dürfen Sie nicht mir in die Schuhe schieben. Zweitens, jetzt komm' ich zu dem Problem, nicht wahr, das Sie zuletzt angesprochen haben, was die Frauen anbelangt ... Auschwitz, Pazifisten, wie wär's denn damit. Terroristen, kommunistische Handlanger. Können wir jetzt ... Entschuldigung, kann ich, kann ich, kann ich ... 5. Kolonne, klar. Wir haben, wir haben ... Vor wenigen Tagen ist ein Buch ... Entschuldigung für Heinrich Boll ... Ich denke, Sie wollten mich jetzt auch mal was sagen lassen. Das ist meine Bitte, daß Sie sich entschuldigen, das ist menschlich anständig, wenn Sie das tun. Entschuldigung, aber lie- Aber ich bitte Sie doch jetzt jetzt, Frau Däubler-Gmelin, was sollen Sie ... (unverständlicher Zwischenruf aus dem Studiopublikum) (ins Studiopublikum) Nein, soll sich doch entschuldigen! Ja, ja also, ich glaube, entschuldigen, Sie, ich glaube es würde ... den Punkt ... Sie müssen ihn doch (unverständlich) Wir sind doch hier nicht in einer Inquisition, Sie sind doch nicht Frau Staatsanwältin, daß Sie hier von mir etwas verlangen, ohne daß Sie den Beweis für Ihre Behauptungen antreten! Nein, bitte, tun Sie mir alle beide den Gefallen ... Ah, das haben wir schon längst. Nein. Aber wirklich. Ja. Hm. Über den Punkt, über den Punkt der Entschuldigung sind wir hinaus, darüber haben Sie geredet. (unverständlich) Aber jetzt, glaube ich, geben Sie Herrn Geißler mal die Möglichkeit zu antworten. Hm. Bitte schön.
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Text 2: Ausschnitt aus ZDF-Sendung 'Bürger fragen antworten: Helmut Kohl1 23.09.1976
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Politiker
Frage: "Sie sagten vorhin, das Modell der paritätischen Mitbestimmung in der Montan-Union wäre so gut, daß die SPD es mitübernommen hätte. Warum übernimmt denn dieses Modell nicht die CDU auch in anderen Bereichen, z.B. in die Automobilindustrie?" Kohl: "Das habe ich - Ich muß Sie berichtigen - nicht gesagt. Ich habe gesagt, außerhalb der Montanmitbestimmung hat die CDU im Herbst 73 auf ihrem Hamburger Parteitag ein Modell der Mitbestimmung, das auch verfassungskonform ist, beschlossen. Und dieses Modell war dann so gut, daß es die jetzige Koalition übernommen hat. Im letzten Jahr wurde es Gesetz. Und wir haben es gemeinsam verabschiedet. Das ist zutreffend." Frage: "Warum war denn dieses Modell so gut?" Kohl: "Da müssen Sie die sozialdemokratischen Kollegen fragen, warum sie dem zugestimmt haben. Das ist nicht meine Sache." Frage: "Das ändert nichts daran, daß Sie das paritätische Modell nicht für die Automobilindustrie z.B. (favorisierten). Warum halten Sie es für diese Industrie nicht für tragbar?" Kohl: "Wir sind der Auffassung, daß das Modell, das jetzt in unserer Bundesrepublik Gesetz wurde, mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP, ein Modell ist, das dem partnerschaftlichen Denken im Betrieb in vernünftiger Weise entspricht. Es ist eine Regelung, die allgemeine Zustimmung gefunden hat. Wir sind damit sehr zufrieden." Frage: "Sie sprechen gerade von sozialistischen Gruppen innerhalb der SPD. Ich kann mich daran erinnern, daß also die CDU in ihrem Ahlener Programm ebenfalls die Gleichheit von Kapital und Arbeit herausgestrichen hat. Das ist doch nur logisch, wenn die Entwicklung weitergeführt wird, daß man auch die paritätische Mitbestimmung fordert. Und das entspricht doch dem Montan-Modell. Warum sind Sie davon abgewichen?" Kohl: "Ich kann nur sagen, daß ich davon überzeugt bin, daß das, was wir jetzt haben, eine hervorragende Möglichkeit ist, um Partnerschaft in der deutschen Wirtschaft - hier geht's ja vor allem um die Großbetriebe zu üben. Und wir alle sind sicherlich in den
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nächsten Jahren noch sehr froh über dieses Modell. Die Montan-Industrie stand nach dem Kriege, wie jeder weiß, unter einer ganz besonderen Gesetzmäßigkeit. Das hing zusammen nicht nur mit der Entflechtung, das hing mit Demontage und mit vielem anderen zusammen. Der jetzige Zustand ist sicherlich ein für unsere Bevölkerung und für die Arbeitnehmerschaft vernünftiger Zustand. Und Sie sehen es ja auch daraus, daß seit dieses jetzige Gesetz verabschiedet wurde, die Luft aus dem Thema heraus ist."
Text 3: Auszug aus ZDF Hearing, 14.11.1984 B: Herr Geißler, von Flick hat die CDU in den Jahren von 70 bis 80 ungefähr 10 Mill, bekommen, seit 1969, als sie in die Opposition geraten ist, hat sie circa 500 Mill, an Spenden gesammelt und erhalten; können Sie sagen, wieviel von dieser halben Milliarde von Großunternehmen wie etwa von Flick kommt? G: Ja, das kann ich Ihnen nicht sagen. Aber ich kann Ihnen was Grundsätzliches sagen. Die politischen Parteien haben eine Antwort zu geben auf die berechtigte Frage, ob die Bürger auf die Integrität, die Unbestechlichkeit der politischen Institutionen vertrauen können. Und auf diese Frage möchte ich uneingeschränkt ja sagen. Ich bin jetzt 7 Jahre Generalsekretär der CDU, war 10 Jahre Landesminister. Und ich habe in dieser Zeit kein einziges Mal erlebt, ich persönlich, daß irgend jemand an mich herangetreten ist mit einer Spende, verbunden mit dem Wunsch, eine politische Entscheidung herbeizuführen; wenn er das getan hätte, wäre er zur Tür hinausgeflogen.
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Disput Brandt-Kohl
„Sie sollten sich schämen" FRANKFURT. - Zwischen Bundeskanzler Helmut Kohl und dem SPD· Vorsitzenden Willy Brandt gab es am Sonntagabend im Fernsehen einen heftigen Disput bei der .Bonner Runde" zur Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen: Kohl: Was nun die Außenpolitik betrifft, nun Herr Brandt, da muß ich sagen, da sehe ich angesichts Ihrer Außenpolitik der Bundestagswahlentscheidung 1987 mit größten, mit größtem Optimismus entgegen, denn diese Form dieses primitiven Antiamerikanismus, den Sie in diesen T a g e n . . . Brandt: Sie sollten sich schämen, Herr Bundeskanzler. K o h l : . . . hören Sie doch a u f . . . Brandt: Sie sollten sich schämen. Kohl: Wenn Sie laut werden, ist das ja nur ein Beweis d a f ü r . . . Brandt: Nein, ich kann das nicht durchgehen lassen. Kohl: . . . daß Sie ein schlechtes Gewissen . . . Brandt: Sie schaden unserem Volk durch diese Lügen. Kohl: Aber Herr Brandt, was Sie alles in Amerika gesagt haben vor ein paar Tagen, das hat der Bundesrepublik geschadet... Brandt: Nein. Kohl: . . . nicht das, was ich hier dem deutschen Publikum sage. Brandt: Nein. Kohl: Die Leute konnten ja lesen, was Sie gesagt haben. Brandt: Sie sagen dem deutschen Volk die Unwahrheit, Herr Bundeskanzler. Ich laß' das nifeht durchgehen. Kohl: Was haben Sie alles eeeen den
16.5.1985 amerikanischen Präsidenten gesagt. Brandt: Das stimmt doch gar nicht. Kohl: Ja. ich war doch mitten im Lande in den letzten acht Tagen. Was Sie in diesen zehn Tagen gegen den amerikanischen Präsidenten... Brandt: Nein, Sie sagen dem Volk die Unwahrheit, Herr Bundeskanzler. Ich laß' das nicht durchgehen. So können Sie nicht die Partei behandeln, die in Ν ordrhein-Westfalen die Mehrheit hat. Kohl: Entschuldigung, Sie können in Ihrem Parteibüro brüllen mit ihren Mitarbeitern, aber hier nicht mit uns vor dem deutschen Publikum. Brandt: Auch mit Ihnen, wenn Sie die Unwahrheit sagen. Kohl: Sie sagen die Unwahrheit. Wenn Sie be streiten, daß Sie im Vorfeld des Besuchs des amerikanischen Präsidenten und während dieses Besuches in unglaublicher Weise... Brandt: Nein, Sie haben, Herr Reagan hätte ich fast zu Ihnen gesagt Herr Bundeskanzler, Sie haben Versucht, die gegen uns auszuspielen. Kohl: Schon allein das, was Sie jetzt eben in Ihrem Wortspiel getan haben, zeigt doch, wes Geistes Kind Sie wirklich sind. Und ein letztes: Lassen Sie doch Heiner Geißler beiseite. Heiner Geißler tut für unsere Partei seine Pflicht, wie Ihre Leute auch, und wenn er aus seiner Pflichterfüllung heraus und nach seiner Überzeugung den Finger auf Punkte legt, die ihn offensichtlich . . . Brandt: Ein Hetzer ist er. seit Goebbels der schlimmste Hetzer in diesem Land.' Kohl: Herr Brandt, lassen Sie doch solche Vergleiche weg. Die stehen Ihnen überhaupt nicht an. Lassen Sie bitte den Vergleich zwischen Geißler und Goebbels weg. Sie solltet) sich schämen, hier eine solche Aufführung zu machen. Das zeigt doch, daß Sie die Nerven verlieren, weil man offensichtlich an Ihre Nerven herangekommen ist. (ap)
HEINRICH LÖFFLER FERNSEHGESPRÄCHE IM VERGLEICH: GIBT ES KULTUR- ODER PROGRAMMSPEZIFISCHE GESPRÄCHSSTILE?
1. Das Interesse spräch
der Gesprächslinguistik
am
Fernsehge-
Das Interesse der Linguistik an Gesprächen überhaupt war eine unmittelbare Folge der Beschäftigung mit gesprochener Sprache. Die "Dialogizität" echter gesprochener Sprache führte zur Beachtung einfacher und leicht beobachtbarer Dialogarten wie z.B. Interviews und Beratungsgesprächen .1 Die empirische Gesprächsforschung, soweit sie sich mit der Analyse natürlicher Gespräche befaßt, ist auf Bild/Ton-Aufnahmen angewiesen. Trotz fortschreitender Perfektionierung und Verbilligung der Aufnahmeapparaturen bestehen große Probleme bei der Aufnahmetechnik und nachfolgenden Aufarbeitung mit Protokollen und Transkriptionen.2 Das Schlagwort vom "Beobachter-Paradox"3 ist, wenn überhaupt irgendwo, so hier am Platze; denn nichts ist "paradoxer", als wenn Kameras und andere Installationen wie Beleuchtung oder Mikrophonanlagen ein "natürliches" Gespräch begleiten. So ist es nicht verwunderlich, daß die Gesprächslinguistik immer mehr auf die "Fertigprodukte" der Fernsehprogramme aufmerksam wurde. Seit einiger Zeit dienen die leicht pro- und reproduzierbaren Gesprächs-Sendungen jeglicher Art als Test- und Übungsfeld für gesprächslinguistische Forschungen.4 Die eigentlich medienspezifischen Aspekte bleiben zunächst im Hintergrund. Die mediale Vermittlung von Gesprächsereignissen wird eher als störend und verfälschend empfunden und kaum in der autoVgl. Berens, Jäger u.a. (1976); Schänk, Schoenthal (1976); Löffler (1985), 90-97. Ausführliche Darstellung der Problematik mit praktischen Lösungsvorschlägen für partiturähnliche Gesamttranskriptionen: Henne, Rehbock (1982), 39-88; 128-157. Transkriptionen unterschiedlicher Art finden sich praktisch in allen empirischen Gesprächsuntersuchungen; zuletzt: Linke (1985), 126-138; mit besonderer Berücksichtigung der visuellen Kanäle (Bildleiste etc.): Borer (1980), 78ff.; Hirsbrunner u.a. (1981). Henne, Rehbock (1982), 49; Löffler (1985), 49f. Die ersten umfassenderen Arbeiten sind Linke (1985) und Holly, Kühn, Püschel (1986); Teilaspekte u.a. bei Löffler (1983), Löffler (1984), Holly, Kühn, Püschel (1985), Sucharowski (1985).
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semantischen Wirkung gesehen, allenfalls noch als Möglichkeit, nonverbale Gesprächselemente sichtbar zu machen. Erst neuerdings fällt das Augenmerk auch zunehmend auf das Fernsehspezifische dieser Gespräche.5 Der gesprächslinguistische Standpunkt wird ergänzt oder auch ersetzt durch einen medienkundlichen. Im folgenden Gesprächsvergleich, der sich mit kulturoder landesspezifischen Gesprächsstilen befaßt, werden sowohl gesprächslinguistische als auch medienspezifische Ansätze nötig sein. Die Frage nach den Gesprächsstilen mag eine gesprächslinguistische sein.6 Das Verhältnis Fernsehwirklichkeit zur tatsächlichen (Gesprächs-)Wirklichkeit ist eine medienspezifische Frage. 2. Das "Club-Gespräch" - ein neuer Typ von "Fernsehgespräch" oder "Gespräch im Fernsehen"? In der Gesprächslinguistik besteht immer noch eine Art Begriffsvielfalt oder -Verwirrung in Bezug auf den Untersuchungsgegenstand. Dialog, Gespräch, Diskussion, Konversation sind Bezeichnungen, die nicht scharf gegeneinander abzugrenzen sind. Ähnliches gilt für die Namen der Disziplin, wo neben Gesprächslinguistik, Dialoglinguistik, Konversationslinguistik, Diskurslinguistik auch die Varianten mit -analyse im Gebrauch sind.7 Die Verwirrung wird nicht kleiner, wenn bei allen Bezeichnungen noch der Zusatz "Fernseh-" hinzukommt. Hier soll kein neuer Abgrenzungsversuch unternommen werden. Unser Gegenstand soll "Gespräch" heißen. Gemeint ist der Fall, daß zwei oder mehr Personen eine zeitlang themenzentriert miteinander reden. Weitere Abgrenzungen sind nicht nötig.8
Linke (1985); Holly, Kühn, Püschel (1986). Der Begriff 'Gesprächsstil', wird in der Gesprächsforschung nicht einheitlich gebraucht. Eine allgemeine Definition gibt Sandig (1983), 150: "die Art und Weise, in der ein Gespräch abgewickelt wird, ... typische unterschiedliche Abwicklungsmöglichkeiten ... aufgrund eines besonderen Partnerbezugs." Vgl. aber Betten (1982), 40f., Holly (1983), 132ff. mit einer jeweils abweichenden Verwendung. In unserem Zusammenhang müßte man von "typischen unterschiedlichen Abwicklungsmöglichkeiten bei sonst identischer Gesprächsart, jedoch unterschiedlicher 'Lokalisierung' des Gesprächs (nach Sender, Land, Sprache)" sprechen. Vgl. Dittmann (1979), 11; Linke (1985), 16, Anm. 1. Dittmann (1979), 5; Linke (1985), 16, versteht "unter Fernsehgespräch ... alle denkbaren dialogischen Beitragsformen des Fernsehprogramms." Ein explizites Typenwissen bei den Fernsehleuten selber scheint noch nicht sehr ausgeprägt zu sein: vgl. die Ausfüh-
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Hingegen unterscheidet man im Fernsehbereich "Fernsehgespräche" und "Gespräche im Fernsehen".9 Unter ersteren versteht man Gespräche, deren Charakteristik durch die mediale Inszenierung (Studio-Arrangement) und Vermittlung (Bild- und Tonregie) bestimmt oder mitbestimmt sind. Diese Fernsehgespräche existieren nicht außerhalb dieser Inszenierung. Hierzu gehören Gesprächs-Ereignisse wie "Internationaler Frühschoppen" oder die ehemalige "Telebühne" des Deutsch-Schweizer Fernsehens DRS oder die "table ouverte" des West-Schweizer Fernsehens. Auch die zahlreichen Formen von Talk-Shows sind hier zu nennen als fernsehspezifische Gesprächsinszenierungen. Seit einigen Jahren etabliert sich nach dem Vorbild des Club 2 des österreichischen Fernsehens ORF ein Typ von "Gespräch im Fernsehen", der offensichtlich den Eindruck erwecken will, als sei er ein ganz natürliches Ereignis, halböffentlich oder privat, bei dem Kamera und Bildführung gerade zufällig anwesend sind: eine Gesprächs-Direktübertragung. Merkmale dieser intendierten Natürlichkeit sind der live-Charakter, d.h. zeitgleiche Ausstrahlung, das Fehlen von Drehbuch und Zeitbegrenzung. Solche "Club-Gespräche" haben die gepflegte abendliche Gesprächsrunde im Freundes- und Expertenkreis zum Vorbild.10 Der Authentizitätscharakter soll durch entsprechende Club-Möblierung unterstrichen werden. Hingegen bleiben alle Studiomerkmale ausgeblendet. Studioumgebung und -hintergrund bleiben im Dunkeln. Dieser Gesprächstyp will bewußt auf circensische Unterhaltung jeder Art, auch auf technisch mögliche Spielereien, Gags der Bildregie und dgl. verzichten. Es handelt sich also nicht um die Fortentwicklung der Talk-Show, sondern eher um die Übertragung eines natürlichen Gesprächs, dessen Ursprung nicht die Studio-Arena ist. Es wird der Eindruck erweckt, als fände das Gespräch auch ohne das Fernsehen statt - als gehobener Stammtisch oder Herrenclub. Dennoch muß man diese Club-Gespräche auch als "Fernsehgespräche", vielleicht überhaupt als "eigentliche Fernsehgespräche" bezeichnen. Sie finden eben doch nicht ohne Fernsehstudio statt und trotz einer weitgehenden Regie-Unabhängigkeit sind Übertragung und implizierte Zuschauer integrierte Bestandteile. Fernsehgespräche im eigentlichen Sinn sollen sie heißen, weil sie im Gegensatz zu anderen Gesprächs-Shows lediglich auf das gesprochene Wort der Runde setzen. Ein Gespräch, dessen Verlauf und Ergebnis zu Beginn gar nicht abzusehen ist, soll den Stellenwert einer intellektuellen Unterhaltung haben und damit in Konkurrenz treten zu
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rungen zur "Fernseh-Diskussion" als Darstellungsund Sendeform bei Schult, Buchholz (1982), 250-252. "handelt es sich bei diesen Gesprächen doch um eine ganz bestimmte Art - eben eine fernsehspezifische Art - des Miteinander-Sprechens." Linke (1985), 18. Vgl. Borer (1980); Löffler (1983).
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Spielfilm und Fernsehspiel, die an anderen Tagen um dieselbe Zeit auf dem Programm stehen. Dem Zuschauer wird mittels "teilnehmender Kamera" der Eindruck vermittelt, er sei nicht nur Augen- und Ohrenzeuge, sondern auch Teilnehmer der Runde, dazu noch wie bei anderen live-übertragungen - in privilegierter Position. Je nach Kameraführung könnte man unter Entlehnung eines Begriffes aus der Erzähltheorie von einem "auktorialen" oder einem "Ich-Teilnehmer" sprechen.11 Frei Haus wird ein kommunikatives Ereignis geliefert, das sich dort nur selten zu ereignen pflegt. Das Fernsehen vermittelt einen "gelungenen" oder geistreichen Abend, zu dem man selbst kaum etwas beitragen muß. Damit wird eine Tradition des "idealen Gesprächs" wieder aufgenommen, die in den Konversationszirkeln des 18. und 19. Jahrhunderts ihre Blütezeit hatte. Im 19. Jahrhundert sei an die Stelle des Konversationszirkels der gemeinsame Theater- und Konzertbesuch getreten, wodurch die Besucher allerdings zu schweigender Passivität verurteilt wurden.12 Das neue Fernseh-Clubgespräch läßt den Zuschauer, vermittelt durch die Kamera, wieder in der Runde Platz nehmen. Der Zuschauer sitzt also mit auf der Bühne und ist, wenn auch passiv und stumm, Bestandteil der Runde. So haben solche Gespräche für den Zuschauer eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Theater- oder Kinobesuch, nur daß die Stücke keinen Autor haben, nicht fiktional sind und auch nicht durch frühere Bearbeitungen und Aufführungen erprobt.13 Diese "Fernsehgespräche im eigentlichen Sinn" bemühen sich um ideale Formen des symmetrischen, ungesteuerten Gedankenaustausches, dessen alleiniger Zweck der geistige Zeitvertreib und die Pflege sozialer Beziehungen sind mit dem Ziel eines intellektuell-sozialen Wohlbefindens. Im Unterschied zu den ciceronianischen Tusculum-Gesprächen, die vom Autor literarisch stilisiert wurden, kann hier der geneigte Zuschauer den unbearbeiteten Rohverlauf des Gesprächs simultan miterleben. Solche Gespräche mit dem Ziel der intellektuellen Unterhaltung eignen sich besonders zur Beobachtung idealtypischer Gelingensregeln. In unserer Basler Arbeitsgruppe wird dann vom Gelingen eines Gesprächs oder den Gelingensregeln gesprochen, wenn sich bei Teilnehmern und Beobachtern jenes Wohlbefinden einstellt, das im übrigen Vgl. Siegrist (1986), 132ff. über Kamerapositionen und ihre diegetische Perspektive (im Spielfilm). Schmölders (1979), 9-67, bes. 59 über die "bürgerliche Freude am Musizieren" aus "Bedürfnis nach harmonischer Kommunikation" als Ersatz für die früheren Konversationen. Zwischen der Fernsehgesprächsanalyse und der bereits etablierten Literarischen Gesprächsanalyse besteht somit eine gewisse Verwandtschaft. Vgl. die zahlreichen bibliographischen Angaben zur Literarischen Gesprächsanalyse bei Mayer, Weber (1983), 73f.
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nicht nur ein allseitiges Harmonie-Empfinden zu sein braucht.1 4 Es lassen sich allgemeine Regeln ableiten, die vermutlich auch für Nicht-Fernsehgespräche eine idealtypische Geltung haben dürften. Solche Regeln entsprechen dann zeitgenössischen gesellschaftlich-kommunikativen Normen und Konventionen.1' Das Gelingen oder Funktionieren solcher Fernsehgespräche hängt von der Einhaltung solcher Maximen ab, die auch außerhalb des Fernsehens Geltung haben. Gibt es bei diesen Gesprächsregeln und -bräuchen trotz vergleichbarem Gesprächstyp, in unserem Fall dem "natürlichen Clubgespräch", auffallende Unterschiede, so darf die Frage gestellt werden, ob dies mit dem Programmcharakter eines Senders, der gesellschaftlich unterschiedlichen Normerwartung oder mit anderen Faktoren zusammenhängt. Ist es eine Frage des Volkscharakters oder der Region, wie man miteinander Konversation treibt und dabei soziales Wohlbefinden erzeugt, lautet die Frage. 3. Vergleichende 3.1. Zur Methode
Gesprächsanalyse
Um den programm-, landes- oder auch sprachspezifischen Eigentümlichkeiten oder Gesprächssitten näherzukommen, könnte man mehrere Gespräche des open-end-Typs aus verschiedenen Landesprogrammen einer Gesamtanalyse unterziehen und dann mechanisch die auffälligen Unterschiede in den verschiedenen Merkmalsbereichen herausfiltern. Das Verfahren wäre aufwendig und würde mehr die Leistungsfähigkeit eines Analyse-Kriterienkatalogs demonstrieren als die kulturspezifischen Unterschiede aufdecken. Eine Gesamtanalyse hätte nach gegenwärtigem Stand auf mindestens drei Ebenen nach Dutzenden von Parametern zu erfolgen, wobei allein die Transkription des Textes eines einstündigen Gesprächs ca. 30 Seiten umfassen würde.16 Fernsehkompetenz und Gesprächserfahrung des analysierenden Linguisten lassen indessen ein verkürztes Verfahren angezeigt erscheinen.1 7 Vgl. Borer (1980); Tobler (1983) und die bei Löffler (1983) dokumentierten Aktivitäten. Mit diesem Ansatz werden historische Bühnenstücke als Quelle für eine Geschichte der Gesprächsregeln oder eine historische Gesprächsforschung benutzt. Mayer, Weber (1983), 74f. u.a. Henne (1980); Cherubim, Henne, Rehbock (1984), Teil I, 1-63. So etwa in der Untersuchung der Streitgespräche bei Kopp (1983); vgl. auch Anm. 2. Überhaupt wird in der Gesprächslinguistik, wie auch in der Textlinguistik, zunehmend auf unser "naives Typenwissen" (Steger (1983), 30) oder "das gemeinsame Weltwissen als 'frame' eines Gesprächs" zurückgegriffen. Müller (1984), 32ff.
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Unsere bisherigen Untersuchungen waren alle themen- oder ρrob1einbezogen und setzten eine Vermutung als Ausgangspunkt, die sich beim häufigen Umgang mit solchen Gesprächen eingestellt hatte. Solche Vermutungen mögen zwar zunächst vage sein, sie lassen sich aber bereits anhand eines Protokolls, das nur Gesprächsschrittwechsel und Themenverlauf notiert, in bestimmten "Zonen" lokalisieren. Solche kritischen Bereiche eines Gesprächsverlaufs müssen dann einer genaueren Analyse unterzogen werden. Hierzu bedarf es jedoch keiner Totaltranskription sämtlicher verbaler, paraverbaler und visueller Kanäle.18 Unser Teilnehmerstandpunkt, von dem aus beobachtet und analysiert wird, ist der des "Dritten im Bunde" oder des mit dem Blickwinkel der Kamera und des Bildregisseurs ausgestatteten stummen Teilnehmers. Das Privileg dieses Teilnehmers besteht darin, daß er die Teilnahme beliebig oft wiederholen und durch diese Distanznahme seine Eindrücke in explizite sprachlich-kommunikative Merkmale formulieren kann. Diese Art Teilnehmer-Interpretation bedarf keiner zusätzlichen Informationen über das Studio, die Umgebung oder den Regieraum. Es braucht auch keine Hilfe von Seiten der Diskutanten, die er nach deren metakommunikativen Eindrücken über das eigene Gespräch befragen könnte.19 Die Interpretation erfolgt vielmehr "werkimmanent" ohne Rückgriff auf redaktionelle oder produktionstechnische Zusatzinformationen. Der Standpunkt des "teilnehmenden Beobachters",20 nicht des Zaungastes in den Kulissen des Studios, soll Ausgangspunkt der Analyse sein. Dieser Standpunkt, der sich auch in anderen Bereichen der empirischen Sprachforschung bewährt hat, ist noch insofern nützlich, als er von jedermann eingenommen werden kann. Die Beobachtungen können mittels Video beliebig oft vom selben Standpunkt aus wiederholt werden. Zudem ist die Wohnstuben-Optik jener Ort, an dem unsere gemeinsame Fernseh(weit)-Erfahrung, auf die wir uns beim Deuten hermeneutisch berufen müssen, entstanden ist. Unser Gesprächsvergleich will also nicht so tun, als wüßten wir gar nichts über das Fernsehen und über Gespräche; wir verwenden aber auch keine ZusatzInformationen, die dem gewöhnlichen Zuschauer normalerweise nicht zur Verfügung stehen. Die zusätzliche Möglichkeit des Henne, Rehbock (1982), 39-88 wollten eine Art PassePartout-Transkription entwickeln für alle möglichen Fragestellungen. Wir sind der Ansicht, daß nur problembezogen transkribiert werden soll. Als Gesamtprotokoll kann jeweils die Video-Cassette dienen, aus der man mit Hilfe von Sekundeneinblendung wie aus einem Buch zitieren kann. Es soll nicht bestritten werden, daß ZusatzInformationen durchaus als allgemeines Hintergrundwissen nützlich sein können. Vgl. Linke (1985), 30ff. Löffler (1985), 135, 161; über subjektive ^teilnehmende) Kamera: Siegrist (1986), 134.
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analysierenden Gesprächsforschers ist neben der wiederholten Visionierung des Ereignisses sein Kriterienkatalog und seine metakommunikativen Kategorien, mit denen er das Gesamtereignis zerlegen, Struktur und Verlauf sichtbar machen kann, auch auf Ebenen, die beim ersten Teilnehmen der bewußten Wahrnehmung zu entgehen pflegen.2 1 3.2. Die Hypothese
Der folgende Gesprächsvergleich geht von einem vagen Eindruck aus, der sich durch die Beobachtung zahlreicher Fernsehgespräche verschiedener Programme ergeben hat. An einem Dreiländereck, wo sich Sprachen und Kulturen und damit auch Fernsehprogramme überschneiden, ist die Möglichkeit zu vergleichenden Eindrücken natürlich besonders gegeben. Die Vermutung lautet: In den skizzierten Club-Gesprächen gibt es "natürliche Regeln"22 als eine Art kolloquialer Universalien, aber auch Unterschiede, die entweder mit dem Charakter oder der Tradition eines Senders oder Programmes, der Regelerwartung potentieller Zuschauer oder mit der verwendeten (Landes-)Sprache zu tun haben könnten. So scheint sich bei den Gesprächen von Club 2 des ORF am häufigsten jenes kommunikative Wohlbefinden einzustellen, von dem oben die Rede war. Die entsprechende Gesprächsrunde des Deutsch-Schweizer Fernsehens DRS "Ziischtigsclub" hingegen hinterläßt gelegentlich den Eindruck der Langeweile, die bundesdeutsche Variante "Moment mal" in der Regel Ärger oder ein Gefühl der Aggression oder Häme. Wenn man davon ausgeht, daß das Fernsehen bestrebt ist, gesellschaftliche Regelerwartungen einzulösen, so ist die Frage berechtigt, ob Unterschiede in Gesprächsstilen mit dieser Regeleinlösung zu tun haben, ob also das Fernsehen kultur- und landesspezifische Kommunikationsstile widerspiegelt. Der folgende Vergleich soll die beiden Extrem-Eindrücke der Langeweile (DRS) und des Ärgers (ARD) an zwei ausgewählten Beispielen verifizieren.
Kriterienkataloge auf den verschiedenen Ebenen werden seit Berens, Jäger (1976) und Schänk, Schoenthal (1979) immer weiterentwickelt: Henne, Rehbock (1982); Löffler (1983), 371f. Zur "Natürlichkeit" von Studio-Gesprächen: Löffler (1983); Schänk (1981), 41ff.
99 23
3.3. Die beiden Fernsehgespräche
I. "Moment mal" ARD (Bayerischer Rundfunk) vom 19. Juli 1985, abends Dauer: 1 Stunde 17 Minuten (23.28-0.45 Uhr) Titel: "Wo bleibt das Positive? Kann man im Fernsehen von einer Katastrophenmentalität reden?" Moderator ("Leitung"): Udo Reiter Teilnehmer ("Gäste"): Carl-Dieter Spranger (Staatssekretär im Bundesministerium des Innern in Bonn) Ludolf Herrmann (Chefredakakteur "Capital") Hans Jürgen Rosenbauer (Leiter der Abteilung Kultur im Fernsehen WDR in Köln) Gerhard Zwerenz (Freier Schriftsteller) Ulrich Hommes (Prof. d. Philosophie in Regensburg; Vorsitzender des ARD-Programmbeirates) Klaus Bölling (Journalist; ehem. Bonner Regierungssprecher) Bemerkungen: Die Sendung "Moment mal" wurde vom Sommer 1984 bis Herbst 1985 in regelmäßigen Abständen von den Sendern der ARD produziert und live gesendet. Zunächst hatte der Chef-Moderator Dr. Martin Schulze jeweils einen vom Sender gestellten Ko-Moderator. Später ging man zur Ein-Mann-Moderation über. II. "Ziischtigsclub" (=Dienstags-Club) DRS (Fernsehen der Deutschen und Rätoromanischen Schweiz) vom 25. März 1986 abends Dauer: 1 Stunde 50 Minuten Titel: "ölpreis" Moderator: Andreas Z'Graggen Teilnehmer: Heik Afheld (Wirtschaftsforscher, Leiter der Prognos AG in Basel) Farahd Afschar (Politologe Uni Bern; Iraner) Walter Raez (Generaldirektor der Shell-Schweiz) Franz Lütolf (Generaldirektor des SBV-Schweizerischer Bankverein) Paul C. Martin (Wirtschaftsjournalist; Deutscher) Bemerkungen: Die Sendereihe "Ziischtigsclub" ist bis ins Detail eine bewußte Kopie des österreichischen Club 2 und besteht seit November 1984. Seit einiger Zeit werden die Gespräche manchmal bereits 1-2 Stunden vor der Sendezeit aufgenommen und zeitversetzt gesendet, damit es für die Teilnehmer nicht allzu spät werde, der liveCharakter aber dennoch erhalten bleibe - ein recht fragwürdiges Verfahren. Zur Sprache: Wegen der angestrebten Natürlichkeit und Authentizität spricht der "Ziischtigsclub" normalerweise Schweizerdeutsch, da dies in der Schweiz in solchen Situationen die normale Sprachlage (Umgangssprache) ist. Auch im sonstigen Programm wird das meiste in Die Gespräche sind aus der Videothek Seminars in Basel ausgewählt.
des
Deutschen
100
Schweizerdialekt gesprochen. Nur wenn sich in der Runde jemand befindet, der Schweizerdeutsch nicht spricht oder versteht, wechseln auch Deutschschweizer zum Hochdeutschen über. Die Tatsache, daß unter den Fernsehzuschauern auch solche sind, die Schweizerdeutsch nicht verstehen, wirkt sich auf die Fernsehsprache nicht in ähnlicher Weise sprachregelnd aus. In unserer Ziischtigsrunde sind drei Nicht-Dialektsprecher: Afheld, Afschar und Martin. Dies hat zur Folge, daß die Schweizer Teilnehmer Z'Graggen, Raez und Lütolf teils hochdeutsch, teils Schweizerdeutsch sprechen - und dies je nach intendierter Sozialbeziehung oder Zielrichtung (s. weiter unten 4.2.4). 4. Der Gesprächsvergleich im einzelnen: ARD vs. DRS 4.1 Makro-Ebene24 4.1.1 Programm-Einbettung: Ansage - Einleitung - Absage Die Programm-Umgebung ist bei beiden Gesprächen dieselbe: Am Schluß des Abendprogrammes werden die Gespräche live und open end gesendet. Danach folgen letzte Nachrichten. In der ARD wird die Sendung angesagt mit Name und Titel? dann folgt eine Signet-Animation (Moment mal) mit Musik-Unterlegung. Das Signet hängt schließlich real als Acrylglas-Attrappe im Studio. Der Abspann erfolgt wie nach einer andern Sendung per rollender Schrifttafel. Der Ziischtigsclub hat keine unmittelbare Ansage. Das Thema des Club-Gesprächs wird nach österreichischer Manier als letzte Meldung in die vorausgehenden Nachrichten eingebaut (Ölpreis - Dollarkurs), und die Tatsache des folgenden Gesprächs wird indirekt angekündigt, indem auf die "letzten Nachrichten" nach dem "Ziischtigsclub" hingewiesen wird. Daraufhin wird unmittelbar in die Clubrunde umgeschaltet, die beim Eintreffen der Kamera bereits am Reden ist, wie es scheint. Die Kamera tritt praktisch als zuletzt kommender Teilnehmer zu einer bereits in Gang befindlichen Runde. 4.1.2 Konstitution: Raum - Zeit - Kommunikationskreise Codewahl Was man im groben als Konstitution bezeichnet, als pragmatischen Rahmen sozusagen, ist bei beiden Gesprächen sehr ähnlich, wenn nicht fast identisch. Das Club-Arrangement ist bei beiden dem Club 2 des Österreichischen Fernsehens nachempfunden: drei Einzelsessel und zwei Zweiersitz-Elemente - jeweils in Club-Ausführung, also mit hohen Seitenteilen -, Clubtisch in der Mitte und zwei Tischlampen in Kopfhöhe der Gäste, resp. Pflanzenarrangement bei DRS. Die Teilnehmer Zur Terminologie: Henne, Rehbock (1982), 20.
101
können sich mit Getränken bedienen. Im Gegensatz zu DRS sieht man in der ARD-Runde die angesteckten Mikrophone am Revers der Teilnehmer. Der Zeitpunkt ist spät abends. Die Dauer theoretisch unbestimmt. Das ARD-Gespräch ist (in der Regel) kürzer als das DRS-Gespräch: 1 1/4 Stunden gegenüber 1 1/2 bis 2 Stunden. Die Zahl der Teilnehmer ist gleich: je sechs resp. sieben Männer (gelegentlich sind auch Frauen unter den Diskutanten, jedoch immer als Minderheit und eher selten). Der Kommunikationskreis ist natürlich bei beiden der innere (Studio-)Kreis und der äußere (Sende-)Kreis mit den Zuschauern. In der ARD wird das ganze als "Sendung" bezeichnet. Der "Sendungs"-Charakter wird durch Signet, Vor- und Abspann unterstrichen. Die Zuschauer werden ausdrücklich als solche begrüßt. Die Kommunikationskreise werden deutlich markiert. Im DRS ist vom äußeren Kreis nicht die Rede. Die Illusion der impliziten Teilhabe wird von Anfang bis Ende aufrechterhalten. Ein "mittlerer" Kreis, nämlich zwischen der Gesprächsrunde und dem übrigen Studiopersonal, Kameraleuten u.a., wird in der ARD durch häufige Totalen, die den Studiorahmen und das gläserne Signet sichtbar machen, angedeutet. Codewahl: In der ARD ist die Sprache ausnahmslos die öffentliche deutsche Umgangssprache (Hochdeutsch), wie sie im Fernsehen auch sonst gebräuchlich ist und in realen Gesprächen dieser Art auch außerhalb des Fernsehens verwendet würde. Im DRS ist die kolloquiale Sprache auch in gehobener Konversation - so auch im "Ziischtigsclub" Schweizerdeutsch. Darüber muß man sich nicht erst verständigen. Sobald ein Teilnehmer der Runde kein Schweizerdeutsch versteht, wird "Schweizerhochdeutsch" gesprochen. Weiß man, daß kein Dialekt verstanden wird, spricht man zu dieser Person hochdeutsch, zu den anderen jedoch Dialekt. Dies führt zu interessanten Abstufungen in der Code-Verwendung. Dadurch wird eine Signalfunktion in Bezug auf die sozialen Beziehungsmöglichkeiten und personellen Intentionen innerhalb der Gesprächsrunde (s. 4.2.4) erreicht. 4.1.3 Die Gesprächsphasen:
Anfang
- Mitte
-
Schluß
Bei open-end-Gesprächen gibt es nicht nur drei, sondern fünf Phasen: Begrüßung/Eröffnung - Einstiegsrunde/Themenparaphrase - Hauptrunde - Schlußrunde/Resümees - Beendigung.25 Alle genannten Teile kommen in beiden Gesprächen vor, wenn auch unterschiedlich lang und verschieden ausgeprägt. Die verschiedene Ausprägung macht
Borer (1980), 36f.; Löffler (1983), 364.
102 sich vor allem im thematischen Verlauf bemerkbar (s. unter 4.2.2) . Auf den ersten Blick überwiegen auf der Makro-Ebene die Gemeinsamkeiten. Beide Gespräche gehören ja auch nicht zuletzt durch gemeinsame Merkmale auf dieser (pragmatischen) Ebene demselben Gesprächstyp an. Ein auffallender Unterschied liegt im "Sendungs-Charakter" des ARD-Gesprächs und in der Codewahl-Möglichkeit im DRS-Gespräch. Die Folgen davon werden weiter unten (4.2.4) besprochen. 4.2 Medio-Ebene26 4.2.1 Formaler Verlauf:
("turns")27
Gesprächsschritte
ARO: "Moeent Rai" Wort- XHauptnahnen Anteil turns Moderator Bölling Spranger Zwerenz Herrmann Rosenbauer Hannes
* 28 28 23 22 20 12 * 10 1*3
20X 20t 161 15X 14X ex 7X
davon aufgefordert
6 5 5 4 7 6 *4
_ 2 2 -
1 2 4
(0 1.9 turns/Min.)
Einwürfe Palaver Flauten 1 7 2 7 3 -
1 21
*14
DRS: "Ziischtigsclub" Moderator Lütolf Afheld Martin Raez Af schar
21 38 33 32 25 22 171
12X 22X 19X 19X 15X 13X
4 7 9 9 7 8
(0 1.67 turns/Min.)
-
2 2 2 2 4
4 15 12 8 13 4 *56
*5
*3
Der formale Verlauf, soweit er sich tabellarisch aus der Verteilung der Wortnahmen oder Sprecherbeiträge ergibt, bietet wenig Grundlage zur Feststellung auffälliger Unterschiede. Der Eindruck, daß es sich um zwei völlig Wird auch als "mediostrukturelle" oder mittlere Ebene bezeichnet. Henne, Rehbock (1982), 20. Zur Terminologie (auch im folgenden) weitgehend: Henne, Rehbock (1982), 22ff.; zu Palaver/Flaute: Schänk (1981), 59.
103
verschiedene Gespräche handelt, wird nicht belegt. Auffällig ist dennoch beim ARD-Gespräch (in der Tabelle jeweils mit * gekennzeichnet): (1) die hohe Zahl von Wortnahmen des Moderators; (2) die geringe Zahl von Wortnahmen bei Homines. Er hat nur vier Hauptturns - wo er "das Wort hat" für einen längeren Gedanken die alle nur nach Aufforderung erfolgen. Dies scheint auf eine "Verweigerung" hinzudeuten - und wird am Schluß des Gesprächs auch deutlich, indem Hommes ausdrücklich von seiner "Verärgerung" spricht. (3) 14mal ist ein "Palaver" registriert. Beim DRS-Gespräch fällt hingegen auf: (1) die hohe Zahl an "Einwürfen" bei fast allen Teilnehmern - nur der Iraner Afschar hat weniger; Afschar wird auch 4mal zum "turn" gebeten. (2) die fast gleichmäßige Verteilung der Zahl der Wortnahmen auf alle Teilnehmer. Kur der Moderator hat - wiederum neben Afschar - eine etwas geringere Zahl. Afschar hat im Gegensatz zu den andern entsprechend längere Redebeiträge. Damit scheint auch er an der statistischen Ausgewogenheit teilzuhaben. (3) die geringe Zahl an Palavern, dagegen drei "Flauten". Hier droht das Gespräch zu "versacken", weil kein neues Stichwort fällt. Der "eristische" Charakter des ersten Eindrucks von "Moment mal" läBt sich nicht an der Zahl der "Einwürfe" ablesen, wie man vermuten möchte. Das "friedlichere" DRSGespräch hat viel mehr davon. Schon eher sind die zahlreichen Palaver Indiz für eine Verlaufs-Störung. Das Palaver stellt normalerweise ein Zeichen für "Themen-Wechsel" dar, es gehört im Grunde bereits zur thematischen Ebene. So wird im Themenverlauf (s. 4.2.2) vermutlich ein bemerkbarer Unterschied zu finden sein. 4.2.2 Thematischer
Verlauf und
Beziehungsebene28
Aus anderen Beobachtungen "natürlicher" Gespräche hat sich für den thematischen Verlauf ein mehrstufiges Schema ergeben: (1) Thema-Setzung und -Paraphrase (2) Themen-Aspekte und Beispiele/Anekdoten (3) Re-Formulierung des Themas und Themen-Kritik/-Anmahnung (4) Resümee Die thematische Entwicklung im Gespräch ist einzelnen Phasen des Gesprächs zuzuordnen: die Thema-Setzung der Eröffnungsrunde, die Themen-Paraphrase der Einstiegsrun-
Gewöhnlich werden die beiden Ebenen getrennt behandelt, sie sind jedoch - mikroanalytisch - meistens an dieselben Äußerungen geknüpft. Holly (1979), Sager (1981), Kopp (1983).
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de, Themen-Aspekte und Beispiele der Hauptrunde und die Resümees der Schlußrunde. Der Themenverlauf im ARD-Gespräch: Der natürliche Themenverlauf gelingt in der "Moment malSendung" nicht einmal vordergründig. Bereits die Aufforderung des Moderators an Herrn Spranger, "zu sagen, worum es geht", gerät zu einer RückWeisung der impliziten Unterstellungen im Sinne einer sogenannten Präsuppositionsaufdeckung im Streitgespräch. Spranger wendet sich gegen die Formulierung "Medienschelte" und "vom Zaun gebrochen". Die zweite Aufforderung, diesmal an Herrn Herrmann, das Thema "Katastrophenmentalität" im Fernsehen von seiner "populärsten Seite", d.h. nach einer Schlagzeile der Bildzeitung - "was Millionen denken" - zu paraphrasieren, gerät zu einem persönlichen Angriff auf den anwesenden Rosenbauer. Dieser wiederum stellt fest, Aufgabe des Journalisten sei es, Defizite in der Gesellschaft aufzudecken. Er weist die Vorwürfe Sprangers und Herrmanns zurück. Zwerenz fühlt sich bei dieser Auseinandersetzung um Sprangers Medienschelte fehleingeladen und legt sich damit mit dem Moderator an. Er streitet mit Spranger, ob dessen Papier ein "Fernseh-Papier" (Zwerenz) oder ein "Arbeitspapier des Hauses" (Spranger) sei und daß Radio Bremen nicht mit dem Norddeutschen Rundfunk zu verwechseln sei. Damit ist auch gleich ein Seitenhieb auf die mangelnde "Geographie" -Kenntnis des Bayern verbunden. Hommes versucht, den "Überhang des Negativen" im Fernsehen zu tadeln, wird von Zwerenz mit Ironie und dem Hinweis auf einen berühmt(er)en Philosophen gekontert, der in einen weiteren Angriff auf Spranger einmündet. Entlarvend ist dann der erste größere Beitrag von Bölling: "Ich möchte doch zu dem eigentlichen Thema etwas sagen dürfen ..." Zunächst stellt er "persönliche Reizbarkeit" fest und geht dann selbst zu einem Rundschlag auf alle über ("zum eigentlichen Thema!"). Er verteilt Zensuren der Reihe nach, tadelt Spranger einen "Konservativen" ("das ist Ihr selbstverständliches Recht..."). Seine Fernsehschelte sei im Grunde politisch persönliche Propaganda. Der Versuch, den Vorwurf der Einseitigkeit des Fernsehprogramms mit demoskopischen Argumenten und amerikanischen Forschungen zu objektivieren (Herrmann) geht unter in einem Gegenangriff: "wann machen Sie eigentlich Ihre Zeitung, verzeihen Sie, wenn Sie fortwährend vor dem Fernsehen sitzen" (Bölling an Herrmann; dabei hatte gerade davor Bölling herausgestellt, was er durch lange Programmbeobachtungen an Eindrücken gewonnen habe). Herrmann kontert: "Sie sind der einzige, der keinen Eindruck auf Zuschauer machen will, Herr Bölling" (Herrmann) . Kurzum, der Versuch, dem Gesprächsverlauf eine ThemaProgression abzugewinnen, muß scheitern. Die Stichwörter, denen man Themenaspekte zuordnen könnte, lesen sich wie eine wirre Ansammlung von Gedankenfetzen oder drehen sich im Kreis.
105 29
"Das eigentliche Thema" ist ein Beziehungskonflikt: es sitzen da je drei Vertreter der "sozialliberalen" ehemaligen Regierungslinie - darunter der langjährige Pressesprecher - und der jetzigen konservativen "Wende"-Regierung, zu denen auch der Moderator zu rechnen ist. Die Absicht der Teilnehmer, "auf die Zuschauer Eindruck zu machen", verdeutlicht, daß das Ganze ja kein Gespräch, sondern eine "Sendung" ist, wie mehrfach angedeutet und durch die Umstände betont wird. Dabei hat Herr Spranger durch sein "(Medien)papier des Hauses" und ein aggressives Interview in den "Stuttgarter Nachrichten" einen unfairen Publizitätsvorsprung. Deswegen ist er hier der "Buhmann". Es gilt für die anderen, diesen Vorsprung zunächst aufzuholen. Deswegen schießen sich alle erst auf Spranger ein. Daneben werden "Zweier-Kämpfe" nach der Devise "jeder gegen jeden" ausgetragen, immer unter dem expliziten Vorwand, zum Thema zu reden, was in einer gewissen Weise dann auch der Fall ist, sobald man den Beziehungskonflikt als Thema nimmt. Eine eigentliche Themenprogression ist nicht festzustellen. Die Versuche des Moderators, das selbstgewählte Thema der Runde, nämlich "parteipolitische Kontroverse" zu einem fortgeschrittenen Zeitpunkt als Schlußthema vorzuschlagen, muß scheitern, weil zu diesem Zeitpunkt dieses Thema - verdeckt und offen - bereits abgehandelt ist. Der viermalige Versuch, dieses unzeitige Thema einzubringen, wird viermal ignoriert bzw. ausdrücklich zurückgewiesen. Thema ist, daß jeder jedem etwas öffentlich heimzuzahlen hat: weil Spranger die Herren Bölling, Rosenbauer und Zwerenz öffentlich gemaßregelt hatte, weil Herrmann früher einmal aus einer Fernsehanstalt "geflogen" war, weil Zwerenz sich lustig macht und "viel zu wenig am Fernsehen" auftreten darf; der Professor, weil die Runde nicht bereit ist, zum veröffentlichten Thema: "Wo bleibt das Positive?" zu diskutieren. Für die Heftigkeit der Vorwurf-Gegenvorwurf-Strategie spricht, daß Rosenbauer dem Moderator einmal ins Wort fällt, als dieser zum Thema mahnen will: "ich möchte gerne zuende hören (!), damit ich dazu etwas sagen kann". Am Schluß gibt Hommes seine Verärgerung kund darüber, daß nicht zum Thema geredet wurde und erklärt somit seine Gesprächsverweigerung. Der Moderator resignierend: "Ich bin froh, daß Herr Hommes zum Schluß noch einmal auf das eigentliche Thema zu sprechen gekommen ist... die nächste Moment-mal-Sendung (!), liebe Zuschauer ..." Die angebliche Club-Runde kann nur mit Mühe die konstitutiven Regeln eines Fernseh-Gesprächs einhalten. In Wirklichkeit ist es ein Schlagabtausch zwischen Rechten Zur Analyse der Beziehungsebene in Gesprächen hat Sager (1981) einen differenzierten Katalog "connexiver" und "kollocutiver" Akte zusammengestellt; vgl. auch Kopp (1983), 66ff. und Löffler (1984), 308-310.
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und Linken in der Hoffnung, auf die Zuschauer Eindruck zu machen, somit eine Politiker-Diskussion.30 Das Thema ist Vorwand, und die thematischen Schritte sind daher beliebig und in der Reihenfolge austauschbar. So kann auch das Ende fast beliebig gesetzt werden, zumal die "SchluBrunde" gar nicht angetreten wird. Das "eigentliche Thema", von dem immer wieder die Rede ist, verläuft auf der Beziehungsebene. Die eine Seite wirft der andern falsches Berufsethos oder Verantwortungslosigkeit vor, und der Gegenvorwurf lautet, das sei alles parteipolitische Rechthaberei. Beide Seiten bestreiten jeweils und verlagern die Argumente entweder auf beliebige Beispiele der falschen oder gerechtfertigten Berichterstattung in den Programmen oder auf persönliche Angriffe. Das Thema, weswegen alle angetreten sind, bleibt unbehandelt. Die vielen Palaver-Phasen bestätigen diese thematische "Störung".31 Der Themenverlauf im DRS-Gespräch: Im Gespräch des Ziischtigsclubs um die Auswirkungen des tiefen ölpreises hält sich der Themenverlauf fast wie abgesprochen (wenn nicht gar wirklich abgesprochen?) an das Ideal-Schema. Der "ölmaa" Raez (Generaldirektor von Shell-Schweiz) wird zu einem historischen Abriß über die Preisentwicklung der letzten 15 Jahre aufgefordert. Der Akademiker und Opec-Parteigänger Afschar läßt sich über die politisch-ökonomischen Zusammenhänge und Hintergründe aus. Es schließt sich die Frage an, ob der niedrige ölpreis zu begrüßen sei. Dabei werden unterschiedliche Auswirkungen auf verschiedene Länder genannt. In diesen "akademischen" Themenablauf platzt der deutsche WirtschaftsJournalist Martin hinein mit der Behauptung, es handle sich hier doch um einen "immensen Überlebenskampf der Multis". (Damit ist indirekt Raez angegriffen.) Und im übrigen handle es sich um die Vorstufe zu einem "deflationären Crash". (Martin hat hierzu ein provozierendes Buch veröffentlicht.) Die Diskutanten lassen sich nicht irritieren, bringen Gegenbeispiele, daß es immer Krisenbranchen gegeben habe und daß die Weltwirtschaft aus früheren Zusammenbrüchen etwas gelernt habe. Die weiteren Angriffe, daß sich Energieproduktion, also alle Kraftwerke und ölinvestitionen, "nicht mehr rechneten" (mit dieser Behauptung der mangelnden Rentabilität wird der Bankdirektor angegriffen) -, werden ruhig, aber erfolgreich abgewehrt. Der Vorwurf der "sowjetischen Sicht" an den Iraner wird gar nicht aufgenommen und verpufft somit.32 30 3 1
32
Zum Begriff: Holly, Kühn, Püschel (1985), 241-244. Schänk (1981), 65 und 68; auch zu "Flaute": Schänk (1981), 59. Das Nichteintreten auf einen Vorwurf gehört mit zur Entgegnungsstrategie in einem Streitgespräch. Kopp (1983), 38 U. 78.
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Der weitere Themenverlauf geht dann zur "Prognose" über (Afheld ist Vertreter der "Prognos AG"), daß die Weltwirtschaft und der Energieverbrauch aufs Ganze gesehen steigen werden und daß der niedrige ölpreis einen Wachstumsschub bringe, selbst wenn dadurch die arabische Investitionsnachfrage zurückgehe. Die Technologie der Energie-Einsparung sei gerade in der Schweiz weit fortgeschritten, wobei die Einspareffekte nur langfristig wirksam würden. Schlecht sei einzig ein nochmaliger steiler Anstieg oder ein Schwanken des ölpreises. Auf einen stabilen ölpreis könne sich Energie- und Finanzwirtschaft schon einstellen. Die Problematik wird trotz der Provokation des Journalisten, der sich zudem auch als Experte ausgibt, konsequent durchdiskutiert in einer Art "affirmativem Konsensverfahren". Außer bei der Crash-Prognose ist man sich nämlich über alle Gründe und Auswirkungen ziemlich einig. Deswegen braucht es auch kaum Beispiele zur Erläuterung. Die zahlreichen "Einwürfe", die zunächst auf einen unruhigen Gesprächsverlauf schließen lassen, sind Zeichen gerade des Gegenteils. Es sind kooperative Hörersignale, Bestätigungen und Rückfragen, Formulierungshilfen und affirmative Repetitionen. 33 Das Konsens-Bedürfnis oder die stillschweigende Harmonie-Absprache überspielt alle Angriffe von Martin. Was an den Vorwürfen akzeptabel ist, wird gelten gelassen, das andere wird mit Gegenargumenten aus der Welt geschafft. Zweimal gibt sich Martin ausdrücklich geschlagen, was in einem echten Streitgespräch sonst nicht vorkommt. 34 Die Provokationen des Deutschen werden als solche ignoriert. Lediglich der Sachgehalt seiner Invektiven wird behandelt. Seine zum Teil saloppen Formulierungen: "das rechnet sich nicht" (allein zehnmal); "meine Grundrechnungsarten reichen nicht..."; "Denkfehler"; "wir drehen uns im Kreis seit einer Viertelstunde"! "jemand ist naiv"; "plätscher-plätscher das wars"; "das ist doch nicht der Punkt" ... werden ignoriert oder sehr effektvoll "abgestellt", indem z.B. der Bankpräsident, als Martin zum wiederholten Male "rechnet sich nicht" sagt, trocken erklärt: "Sie meinen: nicht profitabel sind". Der Jargonebene wird somit die Sachebene entgegengehalten. Die allseitige Harmonie ist jedoch nicht so, daß keine verdeckten Spannungen bemerkbar würden. Der etwas konfus und sehr terminologistisch dozierende Afschar paßt allen übrigen im Grunde nicht. Die Ungeduld des Zuhörens wird durch die Diskutanten dadurch erträglich gemacht, daß alle dauernd rückfragen, ergänzen, so daß der Eindruck
Zur Klassifikation von Hörersignalen: Henne, (1982), 176ff.: Zur Kooperativität solcher lierungshandlungen" in Gesprächen: Schänk 72f f. Zumindest nach den Beobachtungen bei Kopp 128, an Fernsehgesprächen.
Rehbock "Formu(1981), (1983),
108
einer angeregten Gesprächsrunde entsteht, an der sich alle beteiligen. Am Ende ist das Thema fachgerecht von Experten abgehandelt. Die ölwirtschaft, Banken und Wirtschaftsforschung haben die Sache im Griff. Trotz dieser starken Themenbezogenheit hat dieses Gespräch auch Beziehungsaspekte, wenn sich die Schweizer Wirtschaftsvertreter gegen den iranischen Dozenten und den deutschen Journalisten zusammenschließen. Das Gespräch wird hierdurch ebenfalls zu einem "Schaufenstergespräch": auch hier wollen die Teilnehmer auf die Zuschauer Eindruck machen,35 allerdings jetzt durch Sachkenntnis, überlegene Beurteilung und dadurch, daß man sich weder durch den Ölpreis, noch durch einen provokanten Journalisten aus der Ruhe bringen läßt. Statt der 14 Palaver sind es hier nur gerade fünf. Dafür gibt es drei Flauten. Diese entsprechen dem Themen- und Beziehungsverlauf, wie sie sich auch bei "natürlichen" Gesprächen einzustellen pflegen. 4.2.3
Bollenverhalten
Es ist ein Phänomen des open-end-Gesprächs, daß die Teilnehmer im Laufe der Runden ihre politische oder berufliche "Rolle", in der sie vermutlich eingeladen wurden, verlieren und von der Position einer neuen, im Gespräch gefundenen Rolle aus diskutieren.36 In beiden Gesprächen werden hier die angestammten Rollen beibehalten, obwohl der Moderator im ARD-Gespräch gleich zu Anfang betont, jeder sei als Privatmann hier. Spranger bleibt jedoch bis zum Schluß der Regierungsvertreter, Bölling bleibt der ehemalige Regierungssprecher, Herrmann ist der Repräsentant der Rechten, und Zwerenz bleibt der kritisch-aufmüpfige Schriftsteller, der bereits 185 Bücher geschrieben hat. Als Rosenbauer sich bemüht, von einem Punkt an das Gespräch zu versachlichen, indem er auf der Beziehungsebene Weichen stellt und versucht, an allen Behauptungen der andern irgendwie etwas Richtiges zu finden, werden diese "Blumen" nicht angenommen. Hommes wird weiterhin als Philosoph von Zwerenz hämisch angegangen. Dieser definiert seine "Gesprächsrolle" jedoch als Programmbeobachter und hält sich auch daran. Keiner der Diskutanten wird im Verlaufe des Gesprächs ein anderer, als der er zu Anfang angetreten ist. Dasselbe gilt im übrigen auch für das DRS-Gespräch: Auch hier ist jeder Teilnehmer Vertreter einer involvierten Gruppe: Ölmultis, Banken, WirtschaftsberaIm Sinne einer "Imagearbeit" (Holly 1979). Hier werden "Gesprächsrollen" verstanden als interaktionale Verhaltenstypen, die sich während des Gesprächs erst bilden oder auch verändern können. Henne, Rehbock (1982), 266ff., verstehen unter "Gesprächsrollen" lediglich die des Sprechers oder Hörers; vgl. Löffler (1983), 364.
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tung, Wirtschaftskritik und Opec-Staaten. Der Journalist versucht sich in der Rolle des biederen Zeitgenossen, was ihm aber keiner der Runde abnimmt. Auch er muß als Experte in diesem Gespräch Experte bleiben. Dadurch wird nochmals deutlich, daß auch das Schweizer Gespräch nicht nur rollenfrei oder "natürlich" wie unter Privatleuten verläuft. Wären die Teilnehmer nur Privatpersonen, so verlören sich die beruflichen Rollen allmählich zugunsten von "gesprächsspezifischen" Rollen. Solche Gesprächsrollen, die erst im Verlauf des Redens entstehen (der "Dominierende", der "Gegenspieler", der "Spielverderber", der "Verweigerer" etc.),37 sind gerade in Ansätzen erkennbar. Zwerenz versucht sich offensichtlich als Spielverderber; Hommes ist der Verweigerer und Martin das enfant terrible. In der Rollenkonsistenz sind sich beide Gespräche, wenn auch in verschiedener Ausprägung, sehr ähnlich. 4.2.4 Code-Wahlmöglichkeit oder: Funktion ching im DRS-Gespräch 38
des
Code-Swit-
Die oben angesprochene Möglichkeit der Schweizer Teilnehmer, sowohl Dialekt als auch Hochdeutsch zu verwenden, wirkt sich gesprächsstrukturell auf zweierlei Weise aus: die Ansage, Einleitung und Themasetzung durch den Moderator in Dialekt zeigen klar, wo und für wen dieses Gespräch stattfindet, nämlich für das Deutschschweizer Publikum oder diejenigen, die davon zu dieser Zeit noch wach sind. Das automatische Umschalten auf Hochdeutsch dem Iraner und Deutschen gegenüber ist ein selbstverständlicher Akt der Höflichkeit und wirkt damit konstitutiv für eine freundliche und kooperative Atmosphäre. Dann aber, als Martin die Multis und Bankers angreift, spricht der Shell-Generaldirektor auf Schweizerdeutsch weiter! Bankpräsident und Moderator antworten eine zeitlang ebenfalls in diesem Code. Damit wird klar, wer zu wem gehört. Daß die andern vom Gespräch dadurch nicht ausgeschlossen sind, wird spätestens deutlich, als der Hochdeutschsprecher Afheld als "Hörersignal" einen Dialektsatz des Schweizers wie selbstverständlich repetiert: "daß mee gschpaart wird?". So laufen auch die aggressiven Jargonismen Martins ins Leere, weil diese im Code der Schweizer keine Entsprechung haben. Das gepflegte Schweizerdeutsch (Dialekt) kennt diesen Jargon nicht - und das "literarische" Schweizer h o c h deutsche erst recht nicht. Die durch den Dialekt signalisierte öffentliche Harmonie entspricht einer strikten Nach vorläufiger Beobachtung; systematische Untersuchungen solcher "Gesprächsrollen" stehen noch aus. Vgl. Anm. 35. Zur deutschschweizerischen Sprachsituation: Haas (1982), lOlff.; Löffler (1986), 15-23; Steger (1986).
110
Erwartung, die es einzuhalten gilt und die nur schwer, nicht einmal von der deutschen Umgangssprache durchbrochen werden kann. (Vielfach meinen hochdeutschsprechende Gesprächsteilnehmer, in einer schweizerdeutschen Runde könne oder müsse man saloppes oder gar ordinäres Deutsch verwenden. Der Österreicher Dietmar Schönherr hat in einer Talk-Show des Schweizer Fernsehens, die er vor einigen Jahren moderierte, in einem falschen Verständnis des Intimitätsgrades des Schweizerdeutschen, den amerikanischen Präsidenten auf Dialekt ein λ... genannt. In der Runde passierte zwar nichts, hinterher erfolgte jedoch die fristlose Entlassung.) Das schweizerdeutsche Code-Switching bringt eine zusätzliche Möglichkeit der Beziehungspflege und der Anzeige sozialer Bezüge. Es wirkt dazu noch als Harmonie-Mittel durch die implizite Höflichkeit und entspricht damit der Konsenserwartung von seiten der Zuschauer-Öffentlichkeit. 4.2.5 Mediale
Ebene:
Kamera-Einstellung
und
Bild-Regie39
Die bisherigen Unterschiede im Charakter der beiden Gespräche, daß "Moment mal" (ARD) eine "Sendung" ist und der "Ziischtigsclub" (DRS) eine Club-Runde, wird nicht nur durch die Programmeinbettung (s. 4.1.1) angedeutet, sondern auch durch Kameraführung und Bild-Regie unterstrichen. Im Schweizer Fernsehen fährt die Kamera auf die Runde zu und "setzt sich dazu" bzw. schaut einem der Teilnehmer über die Schulter. Im deutschen Fernsehen wird fünfmal unmotiviert die Totale samt Signet "Moment mal" eingeblendet. Dadurch wird der "Sendungs-Aspekt" und die Distanz des potentiellen Zuschauers unterstrichen, der dadurch dem Ereignis gegenüber eine fast "auktoriale" Haltung einnimmt. Beim Schweizer Gespräch wird der Zuschauer durch die Kameraperspektive mit in die Harmonie-Runde einbezogen. Das andere Mal steht der Zuschauer hinter der Abschrankung oder im Studio-Hintergrund, wie dies bei manchen Gesprächen (z.B. "Arena"/ARD, "5 nach 10"/ZDF) ja auch der Fall ist resp. war. Der implizite Teilnehmer (DRS) steht dem distanzierten Zuschauer (ARD) gegenüber.
Vgl. auch Linke (1985).
(1985)
und
Holly,
Kühn,
Püschel
Ill 4.3 Mikro-Ebene Die bisherigen Beobachtungen betreffen die Makro- und Medio-Ebene. Sie sind allerdings Protokollen entnommen, die auch die Mikro-Ebene der sprachlichen und nichtsprachlichen Äußerungen, deren Elemente und Konjunktionen berücksichtigen. Eine Detailanalyse im Kleinen, auf die hier verzichtet wird, könnte die bisherigen Beobachtungen bestätigen und ergänzen. So fällt im ARD-Gespräch auf, daß sechsmal ein "Wortgefecht" stattfindet, das heißt, es wird um ein einzelnes Wort gestritten: "Streichen Sie das Wort 'ständig'!" Die Formulierungen "Medienschelte" und "vom Zaun gebrochen" werden - anstelle einer Antwort zum Thema - zurückgewiesen. "Streichen sie das 'übermäßig'!"; "Sie haben sich schon wieder versprochen: Anstalt des öffentlichen Rechts ist nicht öffentlicher Dienst". Diese Ablenkungen wirken teilweise als Dissens-Signale, sind aber auch zur Konsensbereitschaftsanzeige verwendbar der Art: wenn Sie das Wort zurücknehmen, können wir uns einigen. Solche Konsensbereitschaftssignale nehmen auch im deutschen Gespräch etwa von der Mitte an zu. Vor allem Rosenbauer und Herrmann, aber auch Zwerenz, suchen sprachlich subversiv eine Wendung zum Besseren. Durch die antagonistische Rollenkonstanz der andern wird diese Harmonie jedoch verhindert. Im Schweizer Gespräch sind es vor allem die Einwürfe als Formulierungshilfen, Ein-Wort-Rückfragen, die im einzelnen die kooperative Gesamtstrategie unterstreichen. Weitere Konsens-Marker sind: "hochinteressante Frage", "ganz wichtig", "da sind wir uns einig", "ich gebe mich geschlagen, o.k."< "das ist schon richtig, als These, ja" ...etc. (vgl. auch die Jargonismen unter 4.2.2). Ein anderes Detail in diesem Zusammenhang wäre die Funktion der persönlichen Anrede mit Namen. Was mit "Herr Herrmann", "Herr Spranger", "Herr Afschar" zunächst wie Höflichkeit klingt, wird im antagonistischen Gespräch in ironischer Verkehrung zu einer aggressiven Anrede der Art: jetzt rede ich zu Ihnen ganz persönlich. Auch die Analyse der Sprechaktsequenzen und die Formen der Gesprächsschrittübernahmen würden das eine Mal (ARD) den antagonistischen, das andere Mal (DRS) den harmonischen Charakter bestätigen.
5. Sehluß Die hier genannten Beobachtungen zeigen, daß die Gesprächsanalyse durchaus in der Lage ist, mit ihren Kategorien und Kriterienkatalogen im Vergleich die Frage nach kulturspezifischen Gesprächsteilen anzugehen. Was sich zunächst als Eindruck wie bei einer ersten Lektüre eines Textes darstellt, läßt sich mit gesprächslinguistischen Merkmalen ziemlich genau belegen. In unserem Falle lagen die Belege auf der Makro-Ebene der Gesprächskonstitution - und der Auffassung davon -, auf
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der Ebene der Themenprogression und Beziehungspflege und in der Code-Wahlmöglichkeit. Beide Gespräche sind auch geprägt von der Rollenstruktur, die mit einer mutmaßlichen Zuschauererwartung zu korrespondieren scheint. So können Fernsehgespräche dieser Art tatsächlich in gewisser Weise öffentliche "Gesprächsstile" reflektieren, die auch im normalen Leben so vorkommen können - oder doch idealtypisch angestrebt werden. Dies wird durch die gesprächsstrukturierende Funktion des schweizerischen Code-Switching verdeutlicht. Trotz fast identischer Arrangements der Runden, die ein symmetrisch-spontanes Gespräch und "rollenfreie" ClubAtmosphäre suggerieren, bleibt das Gespräch im deutschen Fernsehen eine Politiker-Diskussion. Im Schweizer Fernsehen wird dagegen eher eine (natürliche?) Harmonie bis hin zur mehrmaligen Flaute erreicht, wobei der Streitcharakter des deutschen Gesprächs allerdings auch eine "Natürlichkeit" widerspiegeln mag. Wie das deutsche Gespräch verlaufen würde, wenn es gelänge, durch längere Gesprächsdauer und zurückhaltendere Moderation die Club-Atmosphäre auch auf die Rollenstruktur überspringen zu lassen, so daß ein intellektuelles Parlieren zu einem interessanten Thema zustandekäme, muß offen bleiben. Was die Erfüllung einer öffentlichen Erwartung betrifft, so sind beide Gespräche als "gelungen" zu bezeichnen. Das deutsche war ein edler Wettstreit ohne Sieger und Verlierer, zum Thema hat man allerdings wenig erfahren. Beim Schweizer Gespräch hat man wie in einer Wirtschaftszeitung die weit- und nationalwirtschaftlichen Zusammenhänge erfahren oder genannt bekommen. Wer sich jedoch nicht für den ölpreis interssierte, kam nicht auf seine Kosten. Das "kommunikative Wohlbefinden" des Zuschauers war thema-abhängig, es sei denn, die Tatsache, daß nicht gestritten wurde, löse beim Zuschauer auch schon eine Genugtuung aus. Hingegen wäre das deutsche Gespräch allein des Streitens wegen, also thema-unabhängig von Interesse, vorausgesetzt, der Zuschauer delektiere sich dabei. So könnte zum Schluß sogar das mehrmals angesprochene "kommunikative Wohlbefinden" eine kultur- oder landesspezifische Angelegenheit sein. 6.
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HARALD BURGER DISKUSSION OHNE RITUAL ODER: DER DOMESTIZIERTE REZIPIENT
Es ist kein Geheimnis, daß politische Diskussionen im Fernsehen hochgradig stereotypisiert sind, daß von "Gespräch" im Sinne alltäglicher Dialoge - welchen Typs und welcher Intensität auch immer - kaum die Rede sein kann.1 Daß die Zwänge des Mediums dafür verantwortlich seien, wird von seiten der Produzenten jeweils entschuldigend angeführt. Und so wurden unter dem Druck oft herber Medienkritik die vielfältigsten Versuche unternommen, diesen Zwängen zu entgehen, das Schema- und Schablonenhafte aufzubrechen und an die Stelle der Monotonie stärker experimentelle Ablaufstrukturen treten zu lassen. In den einschlägigen Arbeiten besteht keine Einigkeit über die Abgrenzung von "Diskussion" gegenüber verwandten Gesprächsformen.2 Als Merkmale werden genannt: Es sind mehrere Personen beteiligt. Wie bei nahezu allen Fernsehgesprächen ist auch hier ein Leiter (Moderator) vorhanden. Die Teilnehmer (ohne Moderator) haben in etwa die gleiche Chance zu reden, und es wird ihnen ungefähr gleiche Redezeit eingeräumt. Die Abfolge der Sprecher wird nicht (ausschließlich) durch den Moderator gesteuert, sondern "ergibt sich" aus der Dynamik des Gesprächsgeschehens, vor allem durch Selbstwahl der Teilnehmer. Das Thema wird kontrovers und argumentativ behandelt. Je strikter die Merkmale erfüllt sind, umso eher spricht man von Diskussion "im eigentlichen Sinne".3 - Ob eine Diskussion mit interviewartigen bzw. gruppeninterviewartigen Phasen noch als Diskussion gelten darf oder nicht, darüber gehen die Meinungen auseinander. Und ob ein Hearing, das phasenweise in ein Gespräch unter mehreren Beteiligten übergeht, bereits zur Diskussion wird, auch das ist unklar. Da es mir hier nicht um definitorische Probleme geht, sondern gerade um die Versuche, fixierte Textformen aufzubrechen, möchte ich den Rahmen der zu beschreibenden Phänomene bewußt weit stecken. Es sind mir eine ganze Reihe von Verfahren begegnet, die bei politischen Diskussionen (mit ihren Grenzformen) der In jüngster Zeit wurden solche Phänomene exemplarisch untersucht von Linke 1985 und Holly/Kühn/Püschel 1986; für verwandte Gesprächsgattungen vgl. auch Mühlen 1985. Vgl. Hoffmann 1982, S. 74, ^Linke 1985, S. 20ff. Holly/Kühn/Püschel, S. 4ff. und passim, Mühlen 1985, S. 52f f. Zur Geschichte und Problematik des Diskussionsbegriffes vgl. Holly/Kühn/Püschel, S. lOff.
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Ritualisierung entgegenwirken sollen. Die folgende Zusammenstellung enthält wahrscheinlich die wichtigsten und häufigsten Verfahren, mit denen der Konsument heutzutage konfrontiert wird. Anspruch auf Vollständigkeit kann sie nicht erheben, da in den Medien ebensoviel Routine wie Findigkeit vorkommt und man jeden Augenblick mindestens auf eine neue Variante eines bekannten Verfahrens gefaßt sein muß. Einige Verfahren bespreche ich pauschal (1.-4.); detaillierter gehe ich dann auf den in meinen Augen wichtigsten und für die Kommunikationsstruktur von Fernsehsendungen folgenreichsten Komplex von Verfahren ein: die Beteiligung des Rezipienten an der Diskussion (5.). 1.
Open-end
Eine für Medien-Gespräche im Regelfall konstitutive Bedingung ist die Einbettung in ein "Programm", und das heißt meist auch in einen zeitlichen Raster, und das wiederum äußert sich typischerweise als "Zeitdruck". Unter konversationsanalytischen Aspekten sind darum die Dialogbeendigungsphasen von besonderem Interesse (vgl. Linke 1985, 93ff.). Zeitdruck ist nicht nur eine einengende Bedingung, sondern eröffnet z.B. dem Moderator auch eine Reihe von Möglichkeiten der Gesprächsführung: z.B. kann er langfädige Beiträge abblocken oder den Proporz rigoros wieder herstellen. Diskussionssendungen ohne Zeitdruck verlieren schon aus diesen Gründen viel vom medienspezifischen Schematismus. Sie nähern sich stärker als alle anderen Formen den alltäglichen Mustern der Gesprächsentwicklung. Gut zu sehen ist das am "Club 2" des Österreichischen Fernsehens, und seit einiger Zeit auch im "Ziischtigsclub" der SRG. Wegen der kurzfristigen und nicht selten beinahe tagesaktuellen Thematik hat auch die Auswahl der Teilnehmer weit größeren Zufallscharakter, als dies bei sonstigen Diskussionen üblich ist. Freilich ist das "open-endPrinzip" kein hundertprozentiger Garant für das Fehlen von Stereotypien. "Drei Tage vor der Wahl" (mit Kohl, Strauß, Genscher, Vogel und den zwei Moderatoren Nowotny und Reichle, ARD, 3.3.1983) war auch als open-end-Diskussion konzipiert und wurde von den Moderatoren immer wieder als solche angepriesen, unterlag aber vollständig den bei Holly/Kühn/Püschel beschriebenen Organisationszwängen des Proporzes und der Abarbeitung von Provokation. Die Redezeit ist auch hier keineswegs unwichtig. Vogel z.B. reklamiert mehrfach, daß er mit der Redezeit zu kurz komme:4 In der folgenden Notation sind kürzere simultane Passagen zwischen vertikalen Strichen notiert, längere simultane werden im folgenden in Partiturnotation transkribiert.
lie Vogel: Kerr Reichle, ich stehe hier vor einer gewissen Schwierigkeit, die sich aus der Natur der Sache ergibt [eben nicht aus der Natur der Sache, sondern dem Parteiproporz bei Polit-Diskussionen!]. Hier kommen immer drei Beiträge, ich bin allein. Und es ist ein bißchen schwierig Nowotny:
Das ist die Parteilandschaft,
Herr
Vogel Vogel: Ja nein ich beschwer mich auch gar nicht, nicht, ich mach nur darauf aufmerksam, was hier an Behauptungen aufgestellt worden is, daß ich das in der mir zur Verfügung stehenden Zeit jeweils aufgreifen kann, nich, das geht bei den Verhältnissen eins zu drei nicht, und das werden die Zuschauer auch gut verstehen. Oder nach einem langen Beitrag von Strauß, in dem er eine Menge von Zahlen und Statistik zuungunsten der SPD ausbreitete: Vogel: Ja, Herr Nowotny, vielen Dank. Wir haben jetzt also vierzehn Minuten lang diese Darlegungen gehört mit einem Bombardement/ Nowotny: Mir wars viel kürzer, war ganz interessant Vogel: Ja ja, nein äh, mit einem Bombardement an len Nowotny: [unverst.]
Zah-
Herr Vogel
Vogel: Nein nein, Herr Kohl hatte ja auch ein bißchen vorher die Möglichkeit, sich zu äußern, sich/ Nowotny: Ja sie müssen nicht beide zusammenrechnen. Jetzt sind Sie dran und streiten wir nicht darum, wer wie lange. Ich möchte nur sagen: Wir haben keine Stoppuhr laufen. Wir verlassen uns darauf, daß da vier Staatsmänner sitzen. Vogel: Ja nein, aber wenn Zahlenvergleiche angestellt werden, dann is also vielleicht diese Zahl, die ich nannte, auch von einem gewissen Interesse. 2. Öffnung
des
Raums
Wie der zeitliche Rahmen aufgebrochen werden kann, so läßt sich auch der räumliche Rahmen durch die heutigen technischen Mittel des Fernsehens ausweiten, sozusagen ins Grenzenlose: durch Zuschaltung weiterer Diskussionsteilnehmer, die auf dem Bildschirm im Studio (und damit auf dem Bildschirm des Zuschauers) erscheinen. Dieses
119 Verfahren ist natürlich technisch anfällig. Eine Sendung, in der eine technische Panne die vorgesehene Diskussion lahmlegte, war die "Rundschau" der SRG (15.4.86) zum Angriff der Amerikaner auf Libyen. Der Moderator (Plattner) hat zwei Gäste ins Studio eingeladen, einen Völkerrechtsprofessor und einen libanesischen Journalisten, beides Kritiker des amerikanischen Angriffs. Ein amerikanischer Historiker wird zugeschaltet und redet mit, auch er vertritt die antiamerikanische Position. Der vierte Teilnehmer, ein amerikanischer Journalist, hätte die Ausgewogenheit der Diskussion garantieren sollen, erscheint auch am Bildschirm, der Ton aber fällt aus. Eine Diskussion mit Pro-und-Contra-Argumenten kommt verständlicherweise nicht zustande, das "Gespräch" wird verkrampft. Der Moderator blickt immer wieder unruhig zum Bildschirm, der aber bleibt stumm. Die Hoffnung des Moderators, daß der Amerikaner "im Interesse einer pluralistischen Präsentation" doch noch "einsteigt", geht nicht in Erfüllung. Die Diskussion ist paralysiert. 3. Individualisierung
des Raums
Der räumliche Rahmen ist nicht nur erweiterbar, man kann auch den Raum selber "individualisieren", indem man das nüchterne Studio verläßt und z.B. in ein Wirtshaus geht (bzw. das Studio als Wirtshaus dekoriert). Die Individualität des Raumes wird z.B. in "Treffpunkt Alte Feuerwache Mannheim" (s.u.5) oder "Heute in" (SWF) genutzt. 4. Thematische
Öffnung
Die in den meisten politischen Diskussionen dominante Rolle der professionellen Politiker kann reduziert werden, indem man das Thema dem Bereich des im engeren Sinne "Politischen" entzieht und dann meist auch eine Diskussionsrunde mit kleinem Anteil an professionellen Politikern (oder ganz ohne Politiker) bildet. Themen wie "Kernkraft", "Auto" etc. sind natürlich eminent politisch in einem weiteren Sinn, sie lassen sich in ihrer Dynamik aber nicht auf den Rahmen der politischen Institutionen reduzieren. Hier bietet sich den Medien die einfachste und nächstliegende Möglichkeit, Politik aus der Optik aller "Betroffenen" zu diskutieren, wobei die Politiker selbst auch als Betroffene wie alle anderen erscheinen. Als Beispiel nenne ich die Reihe "5 nach zehn" (ZDF, vgl. Dohrmann/Vowe 1982). Auch die "Telearena" und deren Nachfolgesendungen "Telebühne" und "Telefilm" (SRG) hatten bzw. haben immer wieder derartige Themen, die zu politischer Diskussion im weitesten Sinne Anlaß geben (Sterbehilfe, Politik und Phantasie, Wer darf Schweizer werden?, Atomkraftwerke, Auto, Wie frei ist unsere Presse? usw.). Die "Telearena" war ein inter-
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essantes Experiment: eine Groß-Diskussion mit zwischen 55 und 270 Teilnehmern und ausgeklügelten Spielregeln (vgl. Inderbitzin 1984). Sie wurde verschiedentlich, mit Modifikationen, nachgeahmt ("Spielraum" ZDF, "Telearena" VARA Holland, "Agora" Radio-Television Suisse Romande). 5. Zuschauerbeteiligung Der wohl wichtigste Komplex von Verfahren dient dazu, das Dilemma der "Einbahnstraße" zu entschärfen, phasenweise zweiwegige Kommunikation zu ermöglichen. Das heißt also: den Rezipienten an der Diskussionssendung unmittelbar zu beteiligen. Live oder non-live, jedenfalls aber nicht mit Phasenverzögerung wie bei der sonst allenfalls erreichbaren "zerdehnten" Kommunikation (z.B. durch Hörer- und Zuschauerbriefe). In mehrfacher Hinsicht erhofft man sich von der Rezipientenbeteiligung einen Gewinn: 1.) Die Gesprächsstruktur wird aufgelockert, da der Einbezug von Rezipienten neue Verfahren von Moderation und Technik erfordern und da sich Rezipienten nicht auf eingespielte Diskussionsschemata verpflichten lassen. 2.) Durch die Beiträge der Rezipienten erhält die Diskussion thematisch neue Impulse, da die Politiker zur Präzisierung und Konkretisierung ihrer oft generellen und vagen Aussagen gezwungen werden. Die gängigen Ausweichstrategien können gegenüber nicht-professionellen Fragern nicht mit der gewohnten Selbstverständlichkeit eingesetzt werden. 3.) Der Rezipient nimmt den Kommunikatoren und Politikern wenigstens teilweise die Möglichkeit, Diskussion als Show zu inszenieren, insofern er nicht berechenbar und damit auch nicht inszenierbar ist. Für die Politiker heißt das insbesondere (nach Holly/Kühn/Püschel 1986): Die Diskussion als Instrument politischer Werbung einzusetzen, ist ihnen nur noch beschränkt möglich. Ich gehe im folgenden vor allem auf den ersten Punkt ein, auf die anderen nur beiläufig. Wenn man von "dem" Rezipienten spricht, kann das immer nur heißen: ausgewählte und damit stellvertretende Rezipienten. Die Rezipienten schlechthin zu beteiligen, wäre unter den technischen Bedingungen des Mediums (bis jetzt) unmöglich und in der gegebenen kommunikativen Konstellation grotesk. Es wird also eine Reihe von Rezipienten als Stellvertreter des Gesamtpublikums ausgewählt. Daß diese Rezipienten dann auch tatsächlich die Interessen des Gesamtpublikums vertreten (wenn sie überhaupt wissen können, was "die Interessen" dieses Publikums sind), das ist keineswegs gesagt. Mühlen (1985, 33, im Anschluß an Schütte) weist zurecht daraufhin, daß Rezipienten als Beteiligte u.U. die Perspektive der Kommunikatoren übernehmen und sich mit diesen solidarisieren. In aller Regel ist es der Kommunikator, der die Auswahl trifft, und damit bleibt eine Konstante aller Me-
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dienereignisse unangetastet: die faktische Kontrolle bzw. die grundsätzliche Möglichkeit der Kontrolle des Gesprächspartners. Strukturell sind vier Typen (teilweise mit Varianten) zu untersche iden: (a) Die Rezipienten beteiligen sich am inneren Diskussionskreis, im gleichen Raum, am gleichen Tisch. (b) Die Rezipienten befinden sich im gleichen Raum wie der innere Diskussionskreis, aber räumlich getrennt von diesem, und haben die Möglichkeit, in die Diskussion einzugreifen (b 1). Als Spielart dieses Typs können die Hearing-Formen gelten, bei denen das Publikum einem Befragten Fragen stellen kann (b 2). (c) Die Rezipienten haben die Möglichkeit, via ein anderes Medium (Telefon) in die Diskussion einzugreifen. (d) Die Rezipienten haben als "statistische" Gruppe die Möglichkeit, die Diskussion bzw. die Diskutierenden und/oder deren Argumente zu bewerten.5 Die direkte, nicht technisch vermittelte Beteiligung des Rezipienten am inneren Diskussionskreis (Typ a) kommt, soweit ich sehe, am seltensten vor. Wenn einmal der Fall eintritt, daß Rezipienten sich als gleichberechtigte Teilnehmer im inneren Kreis einer Diskussion befinden, dann sind sie in der Regel nicht einfache Zuschauer, sondern treten in der Rolle von "Bürgern" auf, also als Gruppe, die den "Politikern" gegenübersteht. Oder man spricht von "Betroffenen", im Gegensatz zu denen, die Gesetze und Verordnungen machen, für ihre Durchsetzung sorgen etc. Soweit ich sehe, kommt so etwas aber nur im regionalen Rahmen vor. In "Forum Südwest" (S 3) vom 13.3.1985 z.B. diskutierte man über das Projekt einer Autobahn am Hochrhein. Die Verteilung von Politikern und Bürgern ist, auch proxemisch, mehr als deutlich: In der Mitte der Moderator, links von ihm (aus der Perspektive des Zuschauers) vier Politiker, rechts drei Bürger. Die Politiker (auf Landes- und Lokalebene) sind pro, die Bürger contra. Aber auch die Bürger sind nicht irgendwelche Bürger, sondern Vertreter von Umweltinitiativen etc., die sich ihrerseits in der regionalen öffentlichkeit bereits profiliert haben.6 Die Bürger ergreifen die seltene Gelegenheit beim Schöpf und stürzen sich kämpferisch auf die deutlich defensiven Politiker, mit wenig Rücksicht auf die üblichen gesprächsstrukturellen Regeln. Phasenweise gerät die Zur Einordnung der Beteiligtensendungen in eine allgemeine Typologie von Fernsehgesprächen vgl. Mühlen 16ff. Ich verzichte darauf, die dort verwendete Terminologie - z.B. "spezialisierte Talkshow", "Debattenshow" etc. - zu übernehmen, da über die Abgrenzung der Typen noch zuwenig Einigkeit besteht. Diskussionen dieser Art auf Bundesebene habe ich nie gesehen. Spitzenpolitiker mutet man Hearings zu, anscheinend aber nicht die hautnahe Konfrontation mit den Bürgern am gleichen Tisch.
122 Streiterei außer Kontrolle, lange simultane Passagen erschweren das Zuhören. Nach etwa einem Drittel muB der Moderator buchstäblich "Halt" rufen, um die Streithähne auseinanderzubringen, nach der Hälfte sieht er sich genötigt mitzuteilen, daß man sich den "Zorn einiger Zuschauer" zugezogen habe durch den ungeordneten Ablauf des Gesprächs, und am Schluß bleibt ihm nur das Fazit, daß es eine "heftige Debatte" war, in der man sich nicht hat einigen können, und er dankt den Teilnehmern für die "lebhafte Diskussion". "Lebhaft", "heftig" - das sind positive Prädikate, was den Unterhaltungswert einer Diskussionssendung angeht. Und Unterhaltung ist schließlich die dominante Funktion aller Medienereignisse, auch der Diskussionen. Eine politische Diskussion mag noch so informativ sein ist sie nicht unterhaltend, geht ihr der agorale Charakter ab, dann ist sie nicht mediengerecht. Andererseits halten die Zuschauer offenbar auch nichts von Gesprächschaos. Angelika Balmer (1983) berichtet von Hörer-Äußerungen zu ihrem Radio-Experiment, einer Art Talk-Show ohne Moderator - seltener Ausnahmefall - mit zwei Leuten, die zu einem bestimmten Thema (z.B. "Karriere") gegensätzliche Meinungen vertreten. Nach einer Sendung, die besonders chaotisch verlaufen war, erhielt sie "Briefe, in denen Hörer fragten, wie ich solch unerzogene Menschen überhaupt vor ein Mikrofon lassen könne. Andere meinten, es töne mittlerweile am Radio schon wie zu Hause am Familientisch." Da sieht man, wo Unterhaltungswerte wie "Lebhaftigkeit" ihre Grenzen haben: Die Rezipienten erwarten vom Medium nicht einfach ein Duplikat alltäglicher "natürlicher" Lebhaftigkeit, sie erwarten grundsätzlich eine in irgendeiner Weise "aufbereitete" und damit verfremdete Natürlichkeit oder Alltäglichkeit. Das gilt sicher auch fürs Fernsehen, obwohl dort fehlende Gesprächsstrukturierung die Verständlichkeit weniger drastisch beeinträchtigt als beim Radio, da durch das Bild mindestens die Sprecher noch identifizierbar bleiben. Die unmittelbare Konfrontation - hier Politiker, da Bürger - scheint auch nicht das Ei des Kolumbus zu sein, zumindest wenn sie auf ständige Polarisierung angelegt ist. (b) Rezipienten als Studio- bzw. Saalpublikum - das ist ja eine der beliebtesten Formen der Rezipientenbeteiligung in allen möglichen Sendungstypen. Die sozusagen "klassische" Ausprägung wird allerdings bei politischen Diskussionen unerwartet selten genutzt (falls ich nicht einschlägige Sendungen übersehen habe): (b 1) Eine kleine Gruppe von Diskutierenden befindet sich mit einem Publikum im gleichen Raum, mit unterschiedlichen proxemischen Anordnungen. Ob auch hier unterschiedliche Anordnungen das kommunikative Verhalten des Publikums in unterschiedlicher Weise präjudizieren, wie das bei Talk-Shows nach Mühlen (1985, 25ff., 317)
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der Fall ist, kann ich mangels vergleichbaren Materials nicht beurteilen. Strukturell wäre hier etwa die Reihe "Heute in..." (eine "Gesprächsrunde zu einem aktuellen Thema", SWF) beizuziehen, die freilich nur im weiteren Sinne (vgl. 4) als politische Diskussion gelten kann. Hier wird jeweils eine innere Gesprächsrunde mit etwa einem Dutzend Teilnehmern gebildet? dazu kommt - je nach Sendung in unterschiedlichen Anordnungen - ein Saalpublikum, aus dem gelegentlich auch Voten abgegeben werden. Im engeren Sinne politische Diskussionen dieses Typs habe ich nur in "Treffpunkt" (SWF) angetroffen. In der einzigen Aufzeichnung, die mir zur Verfügung steht ("Treffpunkt Mannheim Alte Feuerwache", 10.3.1985), geht es um die Smogverordnungen der Städte Mannheim und Ludwigshafen. Alle Beteiligten sitzen an Tischen in Wirtshausatmosphäre, wobei der Diskussionstisch von Publikumstischen umgeben ist. Am Diskussionstisch sitzen: Ein Minister des Landes Baden-Württemberg, die Bürgermeister der beiden Städte, ein Wissenschaftler, ein Kinderarzt und der Moderator. Diese Anordnung scheint das Publikum zu Reaktionen zu animieren. Die Diskussion ist eingebettet in verschiedenartige Showblöcke und Filmstücke und gewinnt auf diese Weise selber Showcharakter (oder wird vom Zwang zur Show entlastet?) . Die obligatorische Funktion des Saal-Publikums ist Feedback (Applaus, Lachen, Buh-Rufe etc., vgl. Mühlen 28ff., 334), in der "richtigen" Verteilung. Die richtige Verteilung ergibt sich zwangslos vom Thema her und von der Zusammensetzung der Diskussionsrunde: Das Publikum formiert sich selbstverständlich gegen die Politiker und unterstützt die anderen, die die offiziellen Smogverordnungen für viel zu lax halten. Der Moderator ist parteiisch, respektlos gegenüber den Politikern und vertritt deutlich die Interessen der Rezipienten. Folglich applaudiert das Publikum auch ihm, wie in dieser charakteristischen Szene: Bürgermeister: Das "Belastungsgebiet", dieses Etikett, das klingt ja auch etwas schlecht, hat tatsächlich aber unserem/ der Mehrheit unseres Gemeinderates nicht so gut geschmeckt, Mannheim ist und I fühlt sich als Stadt der Chemie I Moderator: |Ja es kommt - ja es kommt ja| nicht darauf an, wie es dem Gemeinderat schmeckt, sondern was den Bürgern nützt eigentlich, Herr T.? Darüber hinaus kann das Publikum durch Zurufen unmittelbar in die Diskussion eingreifen. (Ein organisiertes Eingreifen der Gäste, mit einem vom Moderator gelenkten Verfahren und mit Mikrophonen, findet hier nicht statt. Ob Polit-Diskussionen mit einer solchen Technik bereits ausprobiert wurden, weie ich nicht.) In der folgenden kleinen Szene sieht man, wie sich das auswirkt: Der Mo-
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derator will dem Minister eine Frage stellen, kommt aber nicht dazu, weil Leute aus dem Publikum den Minister wegen seiner vorhergehenden Äußerung attackieren (daß nämlich alle wichtigen Smog-Komponenten erfaßt würden), der Minister wehrt sich gegen die Zurufe, und der Moderator knüpft dann offensichtlich an die (für den Zuschauer nicht verständlichen) Zurufe an: Moderator Publikum
Ich habe eine Frage an Sie, Herr X. äh [Zurufe, unverst.]
Moderator Publikum Minister
Mannheim ist äh [unverst.] [Zurufe] In Mannheim werden nenten
alle
Kompo-
Moderator Publikum Minister
aber Ozon zum Beispiel gemessen
Moderator Publikum Minister
findet im Smogalarmplan keinen Niederschlag [Zurufe, unverst.] wird es gemessen
nein natürlich
natürlich
Nicht nur der Moderator gibt sich respektlos, auch die Gäste fassen sich gegenseitig nicht mit Samthandschuhen an; das Publikum greift ein, wo es kann, so daß die jeweils Sprechenden ihre Äußerungen unterbrechen müssen, um wenigstens parenthetisch auf die Zurufe einzugehen. All dies läßt die Diskussion lebhaft, engagiert, immer ein bißchen hemdsärmelig wirken, wie in dieser Szene: Minister
Wissenschaftler Minister
Ich möchte folgendes dazu sagen, zunächst einmal kommt von hier [d.h. aus dem Publikum] schon wieder der Einwand, in der neuen [i.e. Verordnung] steht dies und jenes gar nicht. Die neue wird in den nächsten Wochen vom Kabinett beraten, es gibt noch gar keine neue. Weiß überhaupt nicht, Herr G., Herr G. ich [unverst.]. da ist Ozon nicht drin
weiß überhaupt nicht, warum Sie schon wieder anfangen, so darzustellen, wie fürchterlich alles wird, bevor es [überhaupt beraten und verab/ bevor es beraten WissenSie beschwichtigen doch schaftler immer Minister Wissenschaftler Minister
[
und verabschiedet ist, jetzt auf mit
hören
Se
doch
Sagen Se doch zu, daß Ozon drin sein wird der Beschwichtigungstheorie. Wenn bei uns ned einer vor Ihnen hinsteht und erklärt, hier
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sei der Weltuntergang bereits vorprogrammiert, dann is er für Sie zu ["optimistisch Publikum [Zurufe, unverst., Klatschen] Moderator [_ Aber jetzt machen Se sichs doch η bißchen Minister Γ Ich mach mirs überhaupt ned einfach, ich Publikum [Klatschen Zurufe Tumult] Moderator [zu einfach Minister Publikum (...) Minister Publikum Minister
[machs mir überhaupt nicht einfach |[Zurufe, Tumult
Pich hab im Landtag erklärt - auf Anfrage des [jZurufe, unverst ] Abgeordneten Dr. Μ., daß ich bereit bin, dem Landtag bis zum dreißigsten vierten zu berichten. Des war die [Frage im Landtag, und des war die Antwort I [Zurufe, unverst ]
Publikum Minister Publikum Minister
]
[
Aber ich war doch dabei und ned Sie [Zurufe, unverst.] und in Mannheim und in Mannheim hab ich erklärt, daß wir genau so vorgehen, wie wenns Belastungsgebiet wäre, und wenn das nicht eingehalten wird, w wird die Verordnung erlassen Genau das war Publikum ΡHerr Minister [Zurufe, Unruhe ] Herr W., ich verstehe die Moderator L"
[
Publikum Moderator
[Unruhe
Minister Publikum Moderator
Reaktionen des Publikums hier so als Jetzt Appell an [Unruhe ] Sie als Umweltminister, dafür zu sorgen, daß Mannheim
Minister Publikum Moderator Minister Publikum
sind Se doch fairerweise sagen Se von [Unruhe in/
] einen
so
freundlich
und
]
[Teilen des Publikums und ned vom Publikum [Unruhe . . . . viele reden durcheinander]
Insgesamt ein Musterfall von sieht- und hörbarer Mehrfachadressiertheit der Redebeiträge: Die Diskutierenden wenden sich ihren Partnern zu und gleichzeitig dem Saalpublikum, dies auch nonverbal durch Körperhaltung und Blickkontakt. Der Minister ebenso wie der Moderator wenden sich zudem verbal unmißverständlich ans Publikum am
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Bildschirm, insofern sie um eine Deutung der "Reaktionen des (Saal-)Publikums" streiten. Die Diskussion endet mit einer tumultartigen Szene, in der der Minister sich schließlich zur Beschimpfung des Publikums hinreißen läßt, während der Moderator - simultan - versucht, eine Art Schlußwort anzubringen. Als ihm das nicht gelingen will, zieht er die Notbremse "Zeitdruck" (obwohl "wir" noch "mitten in einer heftigen Diskussion" sind) und kommt so doch noch zur Formulierung seines Schlußwortes, mit dem unvermeidlichen Hinweis auf einen (minimalen) Konsens. Minister
[dozierend mit Zeigefinger] Kein Land in der Bundesrepublik Deutschland und kein Land in Europa tut mehr für die Luftreinhaltung wie dieses Land Baden-Württemberg. ["Das ist falsch, Herr W.
Wissenschaftler Publikum |_ Minister Publikum Minister Publikum Moderator
[Tumult
]
] Das is genau richtig [sehr laut] - Das is [_[ Tumult genau richtig [Tumult wir könnten uns Damen und Herren - wir
wünschen
-
]
] meine
Publikum |~[Unruhe ] Moderator könnten uns wünschen, daB das, was Sie sagen, Idaß kein Minister Publikum Moderator
Genau so isses [Unruhe Land äh in Europa, [wird und
daß
das
so
] fortgesetzt
Minister Q s anerkannt Publikum [Unruhe ] Moderator daß wir auf allen Wegen fortschreiten, Sie an [der Publikum I[Unruhe . Zurufe, zunächst unverst., dann Moderator Spitze, was wir wir uns in Mannheim im Ballungsgebiet Minister Π So isch es jawoll Publikum versteht man:] Rheinfelden Moderator hier besonders wünschen, Sie an der Spitze, [um hier Minister Publikum
[zum Publikum:] also wissen Se [Unruhe
jetzt
zu
Rheinfelden, ]
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Minister Publikum
daß is ne Unverschämtheit, jetzt Rheinfelden [Tumult ]
Minister
reinzubringen - Sie waren noch nie dort, wissen aber [Tumult ]
Publikum
Minister wie s geht Publikum JTumult ] Moderator [hat Mühe, sich gegen den Lärm im Publikum durchzusetzen; der Minister streitet ohne Rücksicht auf den Moderator weiter mit Leuten aus dem Publikum, unverständlich] Liebe Zuschauer, wir sind mitten in einer heftigen Diskussion. Hier steht Aussage gegen Aussage. Wir brauchten η bißchen mehr Zeit. [Man hört, daß in der simultanen Diskussion des Ministers mit dem Publikum immer wieder "Rheinfelden" vorkommt]. Es geht um Mannheim, es geht um den Ballungsraum Heidelberg - Mannheim - wir - wir sind hier - die S02-Belastung geht zurück, aber es ist natürlich die Frage, wer wird krank bzw. wer ist belastet, und ich glaube - wir sind in einem uns doch einig äh - Kinder, Erwachsene, die unter Atemwegserkrankungen leiden, Mortalitätsraten, die wir gesehen haben, die zu hoch sind, müssen uns alle bewegen und alle anspornen, Sie [zum Minister gewendet] vorneweg das Möglichste zu tun, um diese Belastung niedrig zu halten. Ich glaube, das wäre zumindest der Konsens, den wir hier am Tisch finden können. Während beim Typ (b 1) das Publikum zwar anwesend ist, aber nicht die eigentliche Diskussion bestreitet und wohl auch aus technischen und strukturellen Gründen nicht bestreiten kann, bieten sich Formen mit der Struktur des Hearings offensichtlich eher für eine unmittelbare Aktivität des Publikums an: (b 2) Das Hearing hat nicht per se die formalen Eigenschaften der Diskussion, aber es kann phasenweise diskussionsartige Züge annehmen. Bei den hier interessierenden Ausprägungen können (unterschiedlich große) Gruppen von Rezipienten unter der Ägide eines Moderators einen Politiker befragen. Auf zwei Arten kann es zu Gesprächsphasen kommen, die mindestens den Eindruck von Diskussion vermitteln: (1) Es können sich längere Dyaden zwischen dem Befragten und einem Teilnehmer ergeben. Das ist eine zwar den Regeln des Hearings nicht konforme, aber doch quasi strukturimmanente Entwicklung. (2) Die Hearing-Struktur wird transzendiert, wenn sich zwischen den Teilnehmern (mit oder ohne Beteiligung des Befragten) Dyaden entwickeln.
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Während der erste Typ technisch unproblematisch ist, insofern das Mikrofon beim selben Votanten bleibt, ist eine Diskussion unter den Gästen - mindestens bei frontaler Anordnung des Publikums - praktisch kaum über längere Strecken durchzuhalten (und läßt sich dadurch auch leicht abblocken, wenn der Moderator es für angezeigt hält). Eine Sendung ohne jeden Ansatz zu einer dieser möglichen Entwicklungen war "Votum" vom 12.6.86 (ARD). In der Presse-Ankündigung konnte man lesen: Wieder einmal will der Chefredaktor des Bayerischen Fernsehens, Wolf Feller, ein "Stück unmittelbare Demokratie" im Studio praktizieren. Dr. Heinz Riesenhuber (CDU), Minister für Forschung und Technologie, wird mit "Wahlbürgern" konfrontiert, die Fragen stellen und Urteile abgeben. Ein "Votometer" zeigt zwischen den Debatten-Runden, was die Bürger vom Ergebnis halten. "Image-Test" und der Rollentausch "Wenn Sie im Amt wären..." sollen den "verbalen Schlagabtausch" mit unterhaltsamen Elementen anreichern. Mit "verbalem Schlagabtausch" ist es dann allerdings nicht weit her. Schon die Einführung des Moderators läßt erkennen, daß man durch sorgfältige Auswahl und Vorbereitung der Rezipientengruppe jedes Risiko hat ausschalten wollen: Moderator 1: Forschung und Technologie prägen unsere Zukunft. Deshalb ist in unserer Studiorunde heute abend besonders die junge Generation vertreten, Schülerzeitungsredakteure, deutsche Mitglieder des überpar/ eines überparteilichen übernationalen europäischen Studentenverbandes, dazu einige mittelständische Unternehmer, Betriebsräte und Lehrlinge aus Firmen mit sogenannter Zukunftstechnik, aus der Computerbranche etwa, und sie haben sich in einer/ vorab Gedanken gemacht und auf Fragen verständigt, mit denen man Minister Riesenhuber zu dem gegebenen Thema am besten auf den Zahn fühlen kann, und sie werden die Möglichkeit haben, über Knopfdruck mehrere Voten zu seiner Politik abzugeben. Damit auch ja alles unter Kontrolle bleibt, wird noch ein zweiter Moderator eingesetzt. Die jungen Leute, die sich "vorab Gedanken gemacht und auf Fragen verständigt haben", bringen die Fragen zivilisiert vor, und der Minister antwortet souverän und ungestört. Dabei bleibt es. Die unselige Mischung von Hearing und Showelement "Votum durch Knopfdruck" (sozusagen eine Überlagerung des "statistischen Rezipienten", vgl. d, und des real anwesenden und sprechenden Rezipienten) macht die Inszeniertheit des Unternehmens auf fast groteske Art sichtbar, zumal die technische Seite der Sache erst einmal nicht klappt: Moderator 2: Ja dazu das erste Votum unseres Studiopublikums, das äh natürlich nicht repräsentativ zusam-
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mengesetzt ist, es auch bei sechzig Personen gar nicht sein kann, aber umso wichtiger, denken wir uns, ist es äh, die Ausgangssituation für das Hearing deutlich zu machen und die Stimmung unter den Studiogästen. In dem Sinne - möchte ich Sie bitten, wenn Sie der Forschung/ um die erste Abstimmung bitten, wenn Sie der Forschungs- und Energiepolitik des Bundesministers Heinz Riesenhuber zustimmen, dann drücken Sie bitte den grünen Votum-Knopf. Ihr Votum bitte - - - Votum Ende - das Ergebnis bitte - - - Abstimmung nicht funktioniert - ja, ich höre grade, wir müssen die Abstimmung wiederholen (...). Auch in der "Bürgersendung" "Bürger fragen X" wird unmittelbare Demokratie angestrebt. Diese Sendung existiert seit 1976, wird von Reinhard Appel moderiert und ist zweifellos die bekannteste Hearing-Sendung mit Rezipienten.7 Ich habe vier Sendungen des letzten Jahres durchgesehen (mit Theodor Waigel, CSU, 14.3.85, Richard von Weizsäcker, 23.5.85, Gerhard Stoltenberg, 27.6.85, Helmut Schmidt, 20.12.85). Sendungen wie die (von Krzeminski genauer untersuchte) mit Kohl in Den Haag, in der es und nach der es zu Eklats kam, sind keine mehr darunter. Doch gibt es neben sehr moderaten auch durchaus kämpferische Ausprägungen des Gesprächstyps. Mir drängt sich der Eindruck auf: Je renommierter der befragte Politiker, umso vorsichtiger wählt man das Publikum aus, umso vorsichtiger fallen auch die "Attacken" aus. Nach welchen Kriterien die Rezipienten ausgewählt werden, darüber erfährt man - wie bei allen Sendungen mit Rezipientenbeteiligung (vgl. auch die Einführung zu "Votum") - nur sehr Äußerliches und für den Ausgang der Diskussion wenig Relevantes (in der Sendung mit Gerhard Stoltenberg): Moderator: Herr Minister, wir haben Bürgerinnen und Bürger aus Lindau und Umgebung hier eingeladen, verschiedenster Berufe, verschiedenster Altersstufen, Frauen und Männer, darunter auch äh Journalisten, die hier rund um den See ihre Arbeit verrichten, der See ist ja ein Vierländereck... oder (in der Sendung mit Theodor Waigel): Hier sitzen etwa dreißig Bürgerinnen und Bürger, dreizehn aus diesem Institut [Max Planck Institut], und siebzehn haben wir aus Garching und aus der Umgebung von München hier eingeladen, bunt gemischt, vom Lehrling bis zum Künstler und zum Rentner ...
Zur Geschichte der Sendung, ihrem Konzept und ihrer Realisierung in den ersten Jahren vgl. Krzeminski 1981.
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oder (in der Sendung mit dem von Weizsäcker):
Bundespräsidenten
Richard
Uns interessiert in dieser Sendung: Wie sehen eigentlich Ausländer diese Bundesrepublik? (...) Deshalb haben wir Ausländer aus vierzehn verschiedenen Nationen eingeladen, und ich würde gerne einige von ihnen fragen, was fällt Ihnen ein, wenn Sie an die Bundesrepublik denken? Es ist schon von meinem Kollegen Scheicher gesagt worden, daß auch fünf Auslandskorrespondenten unter uns sind (...) Aber vielleicht frage ich, weil wir in Kreuzberg sind, zuerst einen türkischen Mitbürger (...). Als Zuschauer erhält man den Eindruck von "bunt gemischt", allenfalls spielt der Ort der Sendung (Max Planck Institut) oder das Hauptthema (Ausländer) eine erkennbare Rolle für die Auswahl. Im übrigen aber wird der Zuschauer über die - sicher sehr sorgfältige Selektion - nicht informiert. Helmut Schmidt, als Alt-Bundeskanzler, wird erst gar nicht mit einer - trotz aller Selektion immer noch risikohaltigen - großen Gruppe von Rezipienten konfrontiert, sondern mit einer kleinen auserlesenen Gesprächsrunde: Reinhard Appel hat sieben prominente Bürger eingeladen, um eine politische Zwischenbilanz zu ziehen drei Jahre nach dem Ende der Kanzlerschaft Helmut Schmidts. Auch thematisch werden Weizsäcker und Schmidt sozusagen "abgeschirmt". Das Gespräch mit Schmidt soll geradezu welthistorische Perspektiven eröffnen, die Fragestellungen sind weit, fundamental und entsprechend unprovokant: Haben wir Deutschen unsere Lektion gelernt? Aber was uns heute auch beschäftigen sollte, ist die Frage: Sind die Weichen politisch, wirtschaftlich, sozial, kulturell für den Weg ins nächste Jahrtausend bei uns richtig gestellt? Stimmen unsere ethischen und moralischen Orientierungen? Das sind Fragestellungen, die uns heute hier in der Runde mit Alt-Bundeskanzler Helmut Schmidt beschäftigen sollen. Die Initialfrage wird zunächst relativ spezifisch stellt, aber sofort wieder generalisiert:
ge-
Ich möchte gerne unsere Teilnehmer an dieser Runde vorstellen und bei der Gelegenheit jeden von Ihnen bitten, generell gleichzeitig eine Frage zu beantworten: nämlich welches sind die wichtigsten Veränderungen aus Ihrer Sicht seit dem Abgang von Helmut Schmidt - Alt-Bundeskanzler, oder auch weiter gefaßt: worauf sollte man in der Zukunft in unserem Volk besonders achten? Wo gibt es Anlaß zu Besorgnis?
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Es ist vorhersehbar, daß unter diesen Auspizien eine "heftige" oder wenigstens "lebhafte" Diskussion kaum zustande kommen wird, eher ein besinnliches Gespräch unter - trotz divergierender politischer Standpunkte - Gleichgesinnten. Das Thema der Weizsäcker-Sendung gäbe zwar genug politischen und dialogischen Zündstoff her, doch bleibt es auch hier äußerst friedlich. Dazu trägt auch die Moderation bei, indem Fragen, die allzu konkret die Politik der Regierung betreffen und die tatsächlich kontrovers und polemisch diskutiert werden könnten, unter Hinweis auf die verfassungsmäßige Position des Bundespräsidenten zurückgewiesen werden: Ich bitte um Verständnis dafür, und ich hätte vielleicht von vornherein, auch für die Zuschauer, sagen sollen, daß der Herr Bundespräsident nach unserer Verfassung ja keine aktive Politik betreiben kann. Ich finde dennoch einen großen Sinn darin, daß wir in diesem Kreis mit dem Herrn Bundespräsidenten derartige Themen erörtern und er sie sich anhört, und deswegen würde ich bitten, daß man ihm bei sehr konkreten Fragen doch äh die Antwort erläßt, weil er sonst mit unserer Verfassung in Konflikt käme. Auch die Reformulierung der fällt nicht präziser aus:
Frage
beim
dritten
Gast
Was ist für Sie wichtig gewesen in den ren?
letzten
Jah-
Unter gesprächsstrukturellen Aspekten fällt wiederum auf, daß die Moderation die renommierten Gäste nach Möglichkeit vor Provokation abschirmt und daß sie ihnen einen möglichst breiten Spielraum des Antwortens ermöglicht. So wendet sich der Moderator nach der Eröffnungsrunde folgendermaßen an den Alt-Bundeskanzler: Helmut Schmidt, hat Sie an den Antworten etwas besonders interessiert oder wie sieht Ihre Zwischenbilanz aus? Schmidt nutzt die Möglichkeit selektiver Beantwortung: Ich möchte gerne auf den ersten Teil Ihrer Frage antworten: Es waren zwei Bemerkungen da (...), auf die ich gern zurückkommen möchte (...) Und bei Weizsäcker definiert der Moderator im Anschluß an die Eröffnungsrunde die vorgesehene Gesprächsstruktur derart, daß dem Bundespräsidenten überlassen bleibt, ob er auf Fragen überhaupt reagieren will: Herr Bundespräsident, das sind verschiedenste Eindrücke, und diese Sendung soll nicht nur in Frage und
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Antwort ablaufen, meine ich, sondern - ich finde, hier sollte auch eine Chance bestehen, Sorgen oder äh Erklärungen loszuwerden, die man für sich einfach stehen läßt, wenn Sie sie nicht kommentieren wollen. Dabei wird die Definition des Charakters der jeweiligen Frage voll dem Bundespräsidenten überlassen. Er kann entscheiden, ob der Votant eine Frage stellen wollte, die nach Antwort verlangt, oder ob er nur "Sorgen oder Erklärungen loswerden" wollte. Nach dem Verlauf der Sendung zu schließen, stoßen sich die Teilnehmer nicht an diesen sehr weitgehenden "Rechten" des Befragten. Nur in der Sendung mit Waigel entwickeln sich gehäuft diskussionsartige Phasen beider Typen (s.o.). Bei Stoltenberg selten, bei Weizsäcker fast gar nicht.8 Entsprechend wirkt die Sendung mit Waigel weitaus lebhafter und engagierter als die anderen, was der Moderator am Schluß auch honoriert: Die Tatsache, daß wir verschiedene Themen nicht mehr behandeln konnten, spricht für den großen Umfang des Fragebedürfnisses in Fragen der Umwelt und des künftigen Arbeitsmarktes. Ich danke Ihnen sehr herzlich, meine Damen und Herren aus Garching und aus München, für Ihre lebhafte Beteiligung. Man könnte sich nur wünschen, solche Bürgersendungen mit derartiger Lebhaftigkeit häufiger machen zu können. Ich danke Herrn Doktor Waigel, daß er sich diesem Forum gestellt hat (...) Der Moderator legt durchwegs Wert darauf, daß ein "Gespräch", ein "Dialog", eine "Diskussion" Zustandekommen solle. "Hearing" ist also nicht mehr als die formale Struktur, die überhaupt ein Gespräch mit so vielen Beteiligten ermöglicht, während "Diskussion" - in der hochwertigen Bedeutung des Wortes - die Kommunikationsform ist, die man mit der Sendung anstrebt - wenn auch nicht immer erreicht. Daß die sich entwickelnden Diskussionsphasen der Kontrolle des Befragten und des Moderators entgleiten, diese Gefahr ist nur in der Waigel-Sendung verschiedentlich gegeben, in den anderen Sendungen nur an wenigen Punkten. Zur Bewältigung solcher Gesprächskrisen stehen dem Moderator und dem Befragten jeweils unterschiedliche Möglichkeiten zur Verfügung.9 Das radikalste Mittel, das dem Moderator zur Verfügung steht, ist der Mikrofonentzug. Da es sehr unelegant wäDie Schmidt-Runde ist - als Gesprächsrunde - ganz anders strukturiert, so daß sich hier die Frage gar nicht stellt. Die Mittel als solche sind auch in anderen moderierten Mediengesprächen geläufig, interessant ist aber ihr spezifischer Einsatz und ihre Verteilung. Vgl. auch Krzeminski 1981.
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re, einem Votanten einfach auf technische Weise das Wort zu entziehen, kommt das Verfahren meist in Kombination mit anderen Praktiken zur Anwendung, wie in der folgenden Szene: [Eine Rentnerin beschwert sich darüber, daß wieder bei den Ärmsten gespart werde:] Unsere Staatsdiener, die wären doch eigentlich jetztmal dran, daß die etwas zurückstecken müßten, ich kann das leider nich sehen so. Dreimal wurde die gesetzlich vorgeschriebene Erhöhung der Renten ausgesetzt, und nun werden auch noch Demontagen bei denen äh gemacht, die ein ganzes Leben gezahlt haben, nämlich bei der Krankenversicherung, da werden jetzt auch noch Kürzungen vorgenommen. An Beamte dagegen verteilt der Staat Zulagen, dreizehntes Gehalt, vierzehntes zum Urlaub, unbemerkt werden die Stellen angehoben. Wir sind inzwischen soweit, daß ein Sechstel des gesamten Haushalts für Beamte ausgegeben wird. Ganz ganz zu schweigen von den Beihilfen. Wir haben einen Wasserkopf der Bürokratie, darüber brauchen wer kein Wort mehr zu verlieren. Dafür sind die Staatsdiener auch noch unkündbar, Privilegien, die zur Untätigkeit verführen, das sieht man hier bei uns in Lindau in den Ämtern immer sehr gut [Lachen] Moderator Rentnerin
[Zuruf:] Rentnerin [Zuruf:] Moderator
Gut, wir wolltenInoch andere I |Nein darf ich | noch einen Satz dazu sagen: Meines Erachtens müßte hier mal wieder ne Brüningsche Notverordnung her [Lachen] Die Lehrer arbeiten noch nach der Brüningschen Notverordnung vonl1930 I [Ach, lassen Se | sich doch nicht auslachen [Lachen Tumult — Durcheinander] Das kann ich schwarz auf weiß beweisen - die einzige Berufsgruppe in der ganzen Bundesrepublik/ Ja also, aber jeder hat hier das Recht, seine Meinung zu äußern, wir sind noch beim Rentenproblem, ich bitte - dort das Mikrofon hinten, dann sollten wir den Minister bitten und - seine Antwort abwarten
Der Moderator gibt das Mikrofon weiter, i n d e m er sich auf die gesprächsstrukturellen Regeln des Hearings beruft ("sollten wir den Minister bitten und seine Antwort abwarten"). Das letztere ist ein häufig praktiziertes Verfahren: Wenn die - an sich angestrebte - Diskussion chaotisch zu werden droht, zieht sich der Moderator auf die Definition des Gesprächstyps "Hearing" zurück. So z.B. in einer Szene, in der eine junge Frau Waigel mit Fragen bombardiert, worauf der Moderator den drohenden Tumult abzuwenden versucht mit der gesprächsstruktu-
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rellen Anweisung "Jetzt passen Se mal auf, wir können jetzt keinen Sonderdialog/"1 0 Ein ebenso unelegantes wie wirksames Verfahren, das nur der Moderator einsetzen kann, ist auch hier die Berufung auf den "Zeitdruck". Bei Appel ist mir das nur am Ende der Waigel-Sendung aufgefallen. Als es durch Zurufe eines Votanten noch einmal zu einer Dyade, einem "Sonderdialog" zu kommen droht, greift der Moderator zu dem an dieser Stelle buchstäblich letzten aller Mittel: [Zuruf:] Moderator Waigel Moderator Waigel
Herr Doktor Waigel, mit Ihrer Antwort haben Sie meine Frage nicht ganz beantwortet. Entschuldigen Sie, die Sendezeit ist zu Ende. Wir müssen an die denken, die jetzt auf die nächste Sendung warten,lieh bitte Sie jetztI |[unverst.] I Ich bitte jetzt, noch Herrn Doktor Waigel ausreden!zu lassen. I |Sind S mir I ned bös, aber - ich schaffe nicht [nämlich: auf den Zwischenruf einzugehen; er redet seinen Schlußmonolog unbehelligt zu Ende.]
Dem Befragten stehen nur kommunikativ-verbale Mittel zur Verfügung. Daß sich ein Befragter explizit auf die Hearing-Struktur berufen hätte, ist mir nicht begegnet. Das wäre wohl auch eine Art Eingeständnis der eigenen Diskussionsunfähigkeit. Wohl aber berufen sich die Politiker mit Vorliebe auf die allgemeinen Maximen von "Gespräch", "Dialog", auf allgemeine Regeln der Höflichkeit etc.: [Waigel will die Vorgeschichte der Münchener Flughafenplanung aufrollen. Einige Votanten sind daran offenbar nicht interessiert, sie wollen eine Stellungnahme zu den aktuellen Vorgängen. Lautstarke Zwischenrufe.] Waigel: Nein nein, nein, nein, Sie müssen mir schon gestatten, wenn Sie eine umfassende Frage auch mit harten Konseguenzen stellen, daß Sie dann die Einleitung, wie das Verfahren lief und wie die Politiker verantwortlich geplant und gehandelt haben, daß Sie das in wenigen Sätzen sich das auch sich auch anhören. Das gehört zu einem Dialog. Ein weiteres kommunikatives Verfahren, das wohl nur dem Befragten zur Verfügung steht, und auch diesem nur im äußersten Fall, ist die Entwertung der Äußerung des Votanten bzw. seines Verhaltens oder gar seiner Person. Eine diskrete Variante findet sich bei Stoltenberg, wenn er die etwas naiv vorgetragene (und wörtlich abgelesene) Attacke eines Landwirts mit der Reaktion abqualifiziert "Da sind verschiedene Fragen und Vermutungen zusammen". Vergleichbares findet sich auch in der von Krzeminski 1981, S.378 untersuchten Sendung.
135 Drastischer verfährt Waigel. Einem Pfarrer, der im Wortwechsel die bayrische Landesregierung scharf angreift, entgegnet er: Herr Pfarrer, ich will Ihnen mal eines sagen: Sie machen sich das hier zu billig. Ich respektiere Ihre theologische Aussage, nur wenn Sie sich in die Politik einmischen, und das ist äh das Recht, daß Sie das als Staatsbürger tun, dann müssen Sie sich natürlich die gleichen Vorwürfe machen lassen wie jeder andere Staatsbürger, und ich meine, Sie argumentieren hier zu billig, zu einfach und nur aus der Sicht Ihres Ortes heraus (...) Sie können hier nicht mit einem so billigen Angriff auf die Regierung und auf den Ministerpräsident (...) hier politische Stellung beziehen, ich find das nicht fair [lauter] wie Sie das machen, ich respektiere Ihre Meinung als Bürger in der betroffenen Umgebung. Sie sollten sich aber der Polemik in dem Zusammenhang - das sollten Se sich versagen. Diese bayrische Staatsregierung hat Umweltpolitik sehr ernst genommen (...) Und der jungen Frau in der erwähnten Szene wirft er vor, daß sie sozusagen noch zu jung sei, um in Ruhe die weisen Maßnahmen der Regierung abzuwarten (und implizit wohl auch in kommunikativer Hinsicht: daß sie zu jung sei, um sich an die Spielregeln des Hearings zu halten). Der Moderator versucht diese personentwertende Aussage ins Scherzhaft zu ziehen, und er hat immerhin einen Lacherfolg beim Publikum: Frau
Waigel
Und ich vermisse dauernd bei Ihren bei Ihren Ausführungen die konkreten Maßnahmen, die heute getroffen werden, Sie sagen eben Tin der Vergangenheit hat man [unverst.] die sind ja zum Teil schon getroffen
Frau Waigel
[ja wo denn? [worden neunzehnhundertzweiundachzig
Frau Waigel
| indem man solche Sachen wie [dreiundachzig
Frau Waigel
["Flughafen baut, indem man keine wirklichen |_[unverst.]
Frau Waigel
[alternativen Konzepte entwickelt j_und jetzt - ja - Entschuldigung, Sie sind natürlich wahnsinnig ungeduldig, und das steht Ihnen auch zu angesichts Ihrer Jugend Moderator [Macht doch Spaß Publikum [Lachen] Waigel Das ist doch klar, ich wahrscheinlich wär ich s auch, wenn ich so alt wär wie Sie, nur - Sie müssen natürlich
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auch eines sehn, Sie können doch nicht innerhalb von zwei Jahren das nachholen, was fünfzehn Jahre nicht stattgefunden hat
Γ Waigel Frau
aber Sie sind dabei, Γ Ja das [wieder dem europäischen Partner eins überzu-
Waigel [lassen Sie mich [unverst.] Frau [wischen [unverst.] [zunehmend chaotischer Wortwechsel, unverst.] Im weiteren Verlauf der Szene häufen sich die Strategien des Krisenmanagements, da man die junge Dame nicht zum Schweigen bringen kann: [Die junge Frau (ohne Mikrofon) ruft wieder drein] Waigel: Jetzt wäre ich Ihnen schon unendlich dankbar unendlich dankbar, wenn Sie ein Stück Toleranz hätten und mir auch mal drei Sätze zuhören könnten, nachdem ich Ihnen ebenfalls interessiert zugehört habe (...) [1]
[Junge Frau läßt sich nicht abschrecken, ruft immer wieder drein. Waigel kann ein paar Sätze zu Ende sprechen, dann wieder Dreinrufen der jungen Frau, Moderator greift ein: ] Moderator: Jetzt passen Se mal keinen Sonderdialog/ [2]
auf,
[Frau redet simultan weiter, Zurufe tumultartige Szene]
wir aus
können dem
jetzt
Publikum,
Moderator: [ruft sehr laut hinein] Professor Ρ hat sich gemeldet - kann er eine sachverständige Antwort geben? [3] Professor: Nein, ich wollte einen anderen Vorschlag machen, ich wollte sagen, daß wir jetzt mal zu Ihrem zweiten Thema übergehen, denn wir verlieren uns hier in einer wahnsinnigen Detaildiskussion. [4] Ich würde mal ganz gerne versuchen, als Ergebnis dieser ersten Runde doch zu konstatieren, daß äh sehr viele wenn nicht die überwiegende Menge der Vorschläge zur Reparatur von Umweltproblematik ja technische Lösungen waren (...) Moderator: Das ist das zweite Thema, nur wollte ich also nicht - das andere vollkommen abgebrochen haben, aber sind Sie einverstanden, daß wir diese Sorge hier auch mitbehandeln? [5] Frau [ohne Mikrofon]: Ja sicherlich, ich meine nur daß eben die Antworten/ ich habe immer das Gefühl Sie Sie
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I
weichen da aus Ι
Nein nein, Sie|fragen permanent Dinge, Sie hören ja gar nicht zu, das ist doch das Problem [6] (...) [junge Frau redet weiter, unverst., simultan] Bei [1] beruft sich der Befragte auf allgemeine Konversationsmaximen unter dem Etikett "Toleranz", bei [2] greift der Moderator durch einen Definitionsversuch ein. Als auch das nichts nützt, greift der Moderator zu einem weiteren Mittel [3]: Er gibt das Rederecht rigoros weiter an einen "Sachverständigen", damit dieser die Diskussion aus unsachlicher Polemik endlich wieder in den Bereich des Sachlichen bringe und gleichzeitig die Hearing-Struktur wieder herstelle. Der Professor seinerseits übernimmt das ihm gewährte Rederecht, macht aber einen anderen als den vom Moderator erwarteten, eigenen Versuch des Krisenmanagements [4]: Er will das Thema abbrechen, mit Hinweis darauf, daß sich die Diskussion im Detail verliere, und durch Themenwechsel die Ordnung wieder herstellen. (Abbruch eines Subthemas gehört sonst zu den Strategien, die dem Moderator selbst zur Verfügung stehen. In den mir vorliegenden Sendungen macht er aber keinen Gebrauch davon.) Der Moderator kann das Verfahren, das ihm da angeboten wird, nicht offen akzeptieren, wenn er die eifrigen Diskutanten nicht brüskieren will, und so versucht er einen Kompromiß (das eine tun, das andere nicht lassen [5]). Die junge Frau scheint dem zunächst zuzustimmen, dann verfällt sie aber wieder ausschließlich in die alte Thematik, so daß der Befragte sich am Ende zur kommunikativen Schelte [6] genötigt sieht. (c) Insbesondere das Radio hat sich bei allen denkbaren Sendeformen als subsidiäres Medium das Telefon dienstbar gemacht. Im Bereich der Gespräche ist Telefon-Kommunikation charakteristisch für "Phone-ins" oder tagesaktuelle live-Interviews z.B. in den morgendlichen Begleitprogrammen einiger Radio-Sender (vgl. Burger 1984, 37ff., 77) . Für Diskussionssendungen am Fernsehen wurde das Phonein-Prinzip übernommen in "Der direkte Draht" (B 3). Dort handelt es sich meist nicht um politische Diskussionen im engeren Sinne, sondern allenfalls um Formen wie unter (4) beschrieben (z.B. in einer Diskussionsrunde zu Radioaktivitätsproblemen nach Tschernobyl, 13.5.86). Ich kenne nur eine Struktursendung mit politischen Diskussionen, die das Phone-in-Prinzip systematisch eingebaut hat: "Zur Sache" (SRG, jeden Sonntag ausgestrahlt). Mit dem Telefon kommt der Rezipient "individuell" zur Sprache, freilich in einem fernsehfremden Medium, bildlos, akustisch oft in schlechter Tonqualität. Aber eben: live. Schlechte Tonqualität ist geradezu Index für "live" geworden - beim Radio wie beim Fernsehen. Mit dem Telefon scheint die genannte Konstante von Medien-Kommunikation aufgehoben zu sein: die Kontrollierbarkeit des Partners. Telefonieren kann ja jedermann, und der Kommu-
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nikator kann nicht zum voraus wissen, wer telefonieren wird - würde man denken. Doch auch das bleibt weitgehend (Medien-)Schein. An den Phone-ins der in der Schweiz bereits bestens funktionierenden Lokalradios läßt sich beobachten, wie der anfänglich unkontrollierbar scheinende Rezipient je länger je mehr kontrolliert wird. Nach anfänglichen Experimenten mit gänzlich emanzipierten Gesprächsformen haben fast alle Lokalradios ihr eigenes System von Kontrollverfahren ausgebildet, Stufen von Vorselektion - von der Postkarte bis zur Telefonistin im Studio, die die Anrufenden auf ihre Medientauglichkeit hin vortestet und "aufs Eis legt", bis sie "auf Sendung" dürfen. Der unkontrollierte Rezipient hat sich nicht bewährt. Er bietet zuviele Risiken, vor allem das Risiko unkalkulierbarer Provokation. Der einzige Lokalsender im Raum Zürich beispielsweise, der Hörer noch unmittelbar auf Sendung kommen läßt, ist ein sich selbst als "alternativ" einstufender Sender, der nicht von Werbung lebt und dessen Publikum, insbesondere bei den nächtlichen Phone-ins, weitgehend aus Insidern besteht. In "Zur Sache" werden kleine Diskussionsgruppen (mit 3 bis 4 Teilnehmern und Moderator) gebildet, die zunächst das Thema unter sich besprechen. Im zweiten Teil der Sendung werden dann Zuschauer-Telefone direkt eingegeben. Zu Beginn jeder Sendung erfährt der Zuschauer im Detail, was er zu tun hat, um sich per Telefon zu beteiligen, z.B. so (die folgenden Zitate stammen aus der Sendung vom 17.2.85): Moderator: Sie liebe Zuschauer können sich übrigens mit eigenen Fragen an dieser Sendung beteiligen. Unsere Telefonredaktion unter Leitung von XY wird Ihre Fragen an die Runde weiterleiten. Redakteur im Studio: Sie können uns anrufen über die Telefonnummer x. Wir werden Ihre Fragen sichten, um Überschneidungen zu vermeiden, und einzelnen von Ihnen nachher zurückrufen und Sie dann direkt in die Sendung zuschalten. Wir sind Ihnen dankbar, wenn Sie sehr kurze und prägnante Fragen stellen. 1 1 Man sieht: Es darf zwar jeder anrufen, aber längst nicht jeder kommt auch "auf Sendung". Eine Reihe von "Schleusen" ist eingebaut, die die Kontrolle des Anrufers gewährleisten. Wenn gesagt wird, das selektive Verfahren sei nötig, "um Überschneidungen zu vermeiden", so ist das natürlich ein Euphemismus und nur ein Bruchteil der Wahrheit. Tatsächlich hat der Telefonist eine Reihe von Kriterien (z.B. "Der Anrufer drückt sich gut/schlecht Die Sendung ist in der Regel - der üblichen Verteilung von Standardsprache und Dialekt in der Deutschschweiz entsprechend - in Dialekt gehalten. Ich habe die Zitate ins Hochdeutsche übersetzt.
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aus", "Besondere Merlanale" usw.), nach denen der Anrufer auf einem vorgedruckten Formular zu beurteilen ist. Der Redakteur hat damit eine genaue Handhabe für seine Selektion. Wenn dann die Anrufe ins Studio geschaltet werden, haben sich die Anrufer einem festen Ritual zu unterwerfen: Moderator: Ich sehe, das Telephon leuchtet, es ist ein Zuschauer oder eine Zuschauerin da, darf ich Sie bitten, uns Ihren Namen zu sagen und an wen Sie äh Ihre Frage äh richten wollen. Wenn der Anrufer nicht präzisiert, an wen er die Frage richten will, oder wenn er sie explizit "an die ganze Runde" richtet, dann entscheidet der Moderator, welcher Gast (zuerst) Stellung nehmen soll, z.B.: Moderator: Äh, Herr Z., Sie richten die Frage an sich an die ganze Runde, und jetzt habe ich die Aufgabe, sie jemandem zu geben, und ich glaube, am besten gebe ich sie an Herrn K. Während der Anrufer spricht, starren die Teilnehmer der Diskussionsrunde in der Regel gebannt aufs Telefon - eine oft grotesk anmutende Demonstration des Dilemmas, einen nicht visualisierbaren Sprecher dennoch irgendwie "zeigen" zu müssen. Wenn die Frage des Zuschauers beantwortet ist, vergewissert sich der Moderator in der Regel noch, ob er mit der Antwort zufrieden sei. Wenn nicht, darf er nachfragen. Zu längeren Dyaden zwischen Anrufer oder einem Gast kommt es kaum. Welche Folgen die Zuschauerfragen für die Gesprächsstruktur der Diskussion haben, müBte an einem größeren Korpus untersucht werden. Ohne genauere Analyse möchte ich hier kein Pauschalurteil abgeben. Das Urteil der Presse über die Sendung ist überwiegend positiv. Man registriert allgemein eine deutliche Belebung des Diskussionsstils insbesondere bei zupackenden und detaillierten Zuschauerfragen.12 Wenn das stimmt, dann hat der Rezipient nicht eigentlich die Aufgabe mitzudiskutieren, sondern höchstens die StudioGesprächsrunde zum Diskutieren zu animieren. Zum gleichberechtigten Partner wird er damit keineswegs, (d) Die abstrakteste Form der Zuschauerbeteiligung schließlich liegt dort vor, wo der Rezipient nur als statistische Größe in Erscheinung tritt, wo also eine ausgewählte Zuschauergruppe - z.B. als Saalpublikum oder von außen, durch technische Vermittlung - ihre Meinung durch Ja/Nein, Pro/Contra etc. äußert. Das ist z.B. der Fall in "Votum", wo das Saalpublikum einerseits die Hearing-Fragen liefert (vgl. £ 2), andererseits am Anfang und Ende der Befragung die "Gesamtleistung" des BefragZ.B. "Das Gespräch verläuft dadurch in der Regel erheblich kontroverser und angriffiger", als sonst beim Femsehen DRS üblich; Tages-Anzeiger 1.1.85.
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ten durch "Knopfdruck" zu bewerten hat. Ähnlich in "Pro und Contra" (ARD), einer ganz als Show aufgemachten, nach dem Vorbild von Gerichtsverfahren gestalteten Sendung, in der eine "Jury" am Anfang und Ende über die Pro- und Contrastandpunkte abstimmt, wobei wohl weniger die Argumente selbst bewertet werden, als vielmehr die Durchschlagskraft und Eloquenz der Pro- und Contrasprecher. Wegen der äußerst rigiden Struktur (vgl. Dohrmann/Vowe 1982, 648) kommt es hier kaum zu diskussionsartigen Phasen. In Frank Elstners "Wetten daß..." hat der TED eine erkennbare Funktion. Was er hingegen in Diskussionssendungen beitragen soll, ist mir noch nicht klar geworden. 6. Fazit
Auf dem Hintergrund meines - noch sehr lückenhaften und ergänzungsbedürftigen - Materials möchte ich einige Thesen formulieren, die vielleicht als Anregung für weitere Arbeit dienen können: 1. Der strukturell wichtigste - wenn auch nicht unbedingt erfolgreichste - Versuch, politische Diskussionen zu entritualisieren, ist die Beteiligung des Rezipienten, in den unterschiedlichsten Ausprägungen. 2. Am wenigsten ernst genommen wird der Rezipient in den Sendungen, die am stärksten Show-Charakter haben. 3. Die unmittelbarsten Formen der Beteiligung (Politiker und Rezipienten am gleichen Tisch) werden am seltensten genutzt. 4. Der mediengerechteste Rezipient ist der "domestizierte" , durch Vorselektion und Moderation weitgehend kontrollierte. 5. Die Kontrolle des Rezipienten einerseits, die technischen Bedingungen der Beteiligung (Telefon) andererseits führen zu neuen Ritualen. Je direkter der Rezipient beteiligt wird, umso stärker muß sein Verhalten reglementiert werden. 6. Am größten sind die Chancen des Rezipienten in den Anfängen einer Sendereihe. Le länger sie praktiziert wird, umso routinierter werden die Kommunikatoren, umso eher können alle denkbaren Risiken einkalkuliert, umso wirksamer kann der Rezipient domestiziert werden. 7. Konfrontation mit dem Rezipienten wird am ehesten und direktesten den Lokal- und Regionalpolitikern zugemutet. Die größten Polit-Stars schirmt man sorgfältig ab.
141 7. Literatur Balmer, Α. (1983): Gegensätze in Serie. In: Der Alltag 6, Nr. 3. Burger, H. (1984): Sprache der Massenmedien. Berlin. Dohrmann, U., Vowe, G. (1982): Konfliktorientierte Informationssendungen. In: Media Perspektiven, H. 10, 645-659. Hoffmann, R.-R. (1982): Politische Fernsehinterviews. Eine empirische Analyse sprachlichen Handelns. Tübingen. Holly, W., Kühn, P., Püschel, U. (1986): Politische Fernsehdiskussionen. Zur medienspezifischen Inszenierung von Propaganda als Diskussion. Tübingen. Inderbitzin, S. (1984): Die Geschichte der Telearena Telebühne. Zürich. Krzeminski, M. (1981): Moderationsstrategien in einer Sendung mit Zuschauerbeteiligung. In: Kübler, H.-D. (Hrsg.): Massenmedien im Deutschunterricht. Frankfurt a.M., 362-382. Linke, A. (1985): Gespräche im Fernsehen - Eine diskursanalytische Untersuchung. Bern. Mühlen, U. (1985): Talk als Show - Eine linguistische Untersuchung der Gesprächsführung in den Talkshows des deutschen Fernsehens. Frankfurt a.M.
WOLF SCHNEIDER MODERATORENNÖTE - MODERATORENKÜNSTE
Die politische Fernsehdiskussion ist für die Zuschauer oft ermüdend, für die Teilnehmer aber fast immer frustrierend. Das gilt nach meiner Erfahrung jedenfalls für die Diskussion zwischen mehr als zwei Partnern: die Gesprächsrunde, zum Beispiel "Moment mal", "Bonner Runde", "Die Fernsehdiskussion", "Club 2". Für eine Stunde werden da durchschnittlich fünf Teilnehmer, für zwei Stunden acht bis zehn Teilnehmer versammelt; deren addierte Redewünsche würden jedoch mit Sicherheit die doppelte Sendezeit ergeben. Also kann keiner alles mitteilen, was er möchte; mancher muß sich plagen, um überhaupt zu Wort zu kommen. Ich habe erlebt, daß ein Journalistenkollege während einer einstündigen Fernsehdiskussion keinmal den Mund aufbekam: Der Moderator war nicht höflich oder nicht organisiert genug, um ihn aufzurufen; der Journalist jedoch war höflich genug, um keinem anderen Diskussionsteilnehmer ins Wort zu fallen. Das war sein Untergang. In einer Diskussionsrunde wenig oder gar nichts gesagt zu haben, ist nun aber erstens überaus peinlich gegenüber den Kollegen, der Familie, den Parteifreunden, den Fernsehkritikern - und zweitens ein klassischer Grund zur Entwicklung eines Magengeschwürs, denn am Mitteilungsdrang hat es ja im allgemeinen nicht gefehlt, nur am Durchsetzungsvermögen. Dies braucht man zum Beispiel gegenüber Politikern wie Franz Josef Strauß oder dem ehemaligen BundesInnenminister Baum: Sie pumpen ihre Lungen voll Luft und lassen minutenlang nicht die geringste Pause, in die ein wohlerzogener Mensch allenfalls einbrechen könnte, falls er sehr reaktionsschnell ist. Wer solchen Politikern gegenüber zu Wort kommen will, muß seine gute Erziehung vergessen und die Kraft aufbringen, in ihre Rede hineinzusprechen, so lange und schließlich so laut, bis einer aufgibt - hoffentlich der Politiker. Über eine höchst ökonomische und dabei für die Gesprächspartner besonders ärgerliche Methode, die Sendezeit für sich zu monopolisieren, gebietet Willy Brandt: An eine längere Ausführung, deren Ende die anderen seit langem herbeisehnen, hängt Brandt fugenlos "... aber ...!" oder "... und zweitens ..1" an - und macht dann erst die Pause; mit dem doppelten Effekt, daß er die Höflichen unter seinen Partnern zum Schweigen verurteilt, während er selbst Zeit gewinnt, über ein "Aber" oder "Zweitens" nachzudenken, das er möglicherweise noch nicht kannte, als er es ankündigte.
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Die Diskussionsrunde begünstigt also den Typus des reaktionsschnellen und rücksichtslosen Teilnehmers. Auch der Moderator, der Leiter der Sendung, muß beide Eigenschaften besitzen, wenn er ausufernde Monologe unterbrechen will, wie es seine Aufgabe ist; außerdem muß er den Überblick haben, welcher Gesprächsteilnehmer zu lange nicht oder überhaupt zu selten an der Reihe war, und eine Frage parat haben, die er den Benachteiligten stellen kann. Selbst eine stoppuhrgerechte Zuteilung von Redezeit könnte indessen nicht verhindern, daß einige Teilnehmer sich relativ benachteiligt fühlen - und daß nach der Sendung alle Teilnehmer an den Worten kauen, die sie nicht losgeworden sind. Noch mehr also gilt für den Moderator, was tendenziell auf alle Teilnehmer einer Gesprächsrunde zutrifft: Die Herstellung einer angemessenen Gesprächspräsenz erfordert einen größeren Aufwand an Nervenkraft als die Darlegung des eigenen Standpunkts oder das Parieren gegnerischer Argumente; und die Argumente, die der Zuschauer zu hören bekommt, stammen überwiegend nicht von den besseren Rednern mit den besseren Gründen, sondern von denen, die ihren Partnern hemmungsloser ins Wort fallen und das einmal erbeutete Rederecht dreister behaupten . Ob wenigstens für die Zuschauer die Gesprächsrunde kurzweiliger oder informativer ist als das Zwiegespräch, kann ich, als Insider, nicht beurteilen. Mich stört umgekehrt, daß die meisten Gesprächsrunden in einem sterilen Studio ohne Zuschauer stattfinden, also in der widernatürlichen Atmosphäre, daß man zwar zu Millionen spricht, aber kein Echo bekommt in Form von Beifall, Gelächter, Murren, Pfeifen oder jenem steigenden Geräuschpegel, der sinkendes Interesse signalisiert. Zwiegespräch und Zuschauer - beides gibt es in den Talkshows; in der Talkshow des NDR habe ich seit 1979 mit ungefähr siebzig Politikern gesprochen, mit Bundesministem, Ministerpräsidenten, Verbandspräsidenten, zwei DGB-Vorsitzenden, mit Joseph Luns, Gaston Thorn und Otto von Habsburg. Die Gespräche dauerten bis zu dreißig Minuten; das gehört zu den längsten echten live-Darbietungen, die im Fernsehen überhaupt vorkommen, und es ergibt pro Kopf mehr Redezeit als in jeder Gesprächsrunde. Das mildert die Frustration des Zukurzgekommenseins oder Sichzukurzgekommenfühlens, mit der Chance, daß die beiden Partner sich in höherem Grade auf das konzentrieren können, was sie sagen wollen; daß also eine spürbare Annäherung an das Ideal einer Diskussion oder Disputation stattfinden kann. Gegenüber dem herkömmlichen Interview gestattet es das lockerere Umfeld der Talkshow, daß auch Fragen abseits der Politik gestellt werden und daß der Moderator sich nicht nur als Fragesteller zu fühlen braucht, sondern die Rolle des Partners in einem Streitgespräch übernehmen kann.
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So habe ich mich vor dem Schlesiertreffen von 1985 mit Herbert Hupka, dem Vorsitzenden der Landsmannschaft, eine halbe Stunde lang hartnäckig gestritten über die völkerrechtlichen, politischen und humanitären Aspekte des schlesischen Anspruchs auf eine Heimat, die inzwischen, nach denselben Maßstäben, unstreitig zur Heimat für Millionen dort geborener Polen geworden ist. Ausgangspunkt für die Vorbereitung: Der Funktionär ist in der komplizierten Materie völlig zuhause und führt seine überlegene Sachkenntnis nicht zugunsten der Wahrheit ins Feld, sondern im Dienst eines politischen Ziels (ohne Ansehung der Person gesagt). Wer eine größere Annäherung an die Wahrheit anstrebt als er, muß also zunächst erhebliche Sachkenntnis erwerben. Das bedeutet im Fall Schlesien: einen erschreckend dikken Archivakt studieren. Was genau besagen nun die Ostverträge, nebst jenen Briefen und Protokollen, mit denen der halbe Inhalt wieder zurückgenommen wird? Welche Auslegung hat das Bundesverfassungsgericht ihnen gegeben? Welche Reden über ihre Auslegung sind in jüngerer Zeit gehalten worden? Gibt es ein "Recht auf Heimat" im Völkerrecht, in der Charta der Vereinten Nationen, in den diversen Deklarationen der Menschenrechte? wie viele Schlesier sind vertrieben worden, wie viele Polen leben dort, wie viele davon sind schon dort geboren? Wer genau beschloß wann welches Motto des Schlesiertreffens 1985 und sagte wann was darüber? Dazu Hupkas Biographie, die Landsmannschaft Schlesien, das Kuriosum der Erblichkeit des Vertriebenen-Status. Rote Striche in den Archivkopien; Stichwörter auf einem Dutzend Zetteln, nach Themen geordnet; schließlich Umsetzung der zwölf großen Zettel in vier kleine Zettel (Postkartengröße), von denen man im Studio zitieren kann. Das ist die Routine. Läßt sich mehr tun? Gibt es etwas, das vielleicht bisher nur selten oder nie gesagt worden ist? Was eigentlich heißt "Heimat"? Die Definitionen bei Brockhaus, Meyer, Wahrig, Duden nachlesen. Hupka ist auf Ceylon geboren, daran läßt sich anknüpfen. Natürlich wird er den Geburtsort als einen Zufall abtun, der mit "Heimat" nichts zu tun habe. Aber alle Nationen Nord- und Südamerikas stützen auf solchen Zufall ein lebenslanges Recht auf Heimat: Sie verleihen den dort Geborenen automatisch die Staatsbürgerschaft. Auch ist der Geburtsort den Lexika zufolge eines der drei Elemente, aus denen die "Heimat" besteht; die anderen sind der prägende Ort der Kindheit und der Ort, an dem man sich heute zuhause fühlt. Von den drei Definitionen trifft auf Hupka also nur eine zu - auf die in Schlesien geborenen Polen aber alle dreil Wiederholt hat Hupka erklärt, das Recht auf Heimat sei "von Gott gegeben". Da muß man ihm, dem CDU-Abgeordneten, entgegenhalten, daß er den christlichen Gott jedenfalls nicht meinen kann: Mit Hilfe der Konkordanz läßt sich leicht ermitteln, daß das Wort "Heimat" in der Bi-
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bei genau zweimal vorkommt - einmal als Trauer Abrahams über die verlorene Heimat, das andere Mal als Hinweis des Apostels Paulus, daß unsere Heimat der Himmel sei. Nun muß man nur noch die Kraft haben, von diesem Programm jederzeit abzuweichen, falls der Gang des Gesprächs dies nahelegt. Genau kennt der Moderator nur seinen ersten Satz; den letzten Satz legt er sich zweckmäßigerweise vorsorglich zurecht für den Fall, daß das Gespräch keine andere Schlußformel anbietet. Der Politiker wird, wenn man sich etwa eine Stunde vor der Sendung zum erstenmal begegnet, in großen Zügen, aber nicht im Detail über die Absichten des Moderators informiert. Beginnt der Politiker bereits in dieser Vorbesprechung mit seinen Antworten, so sollte man ihn bremsen: Die Erfahrung lehrt, daß er sich unwillkürlich scheuen wird, vor der Kamera eine Pointe oder eine geglückte Formulierung zu wiederholen, die er eine Stunde zuvor gegenüber dem Moderator verwendet hat. Der "Moment mal11-Moderator Martin Schulze geht aus dieser Sorge heraus so weit, jedes Vorgespräch abzulehnen. In der Hupka-Sendung erhalten die Verträge, Ceylon und die Bibel ihren angemessenen Platz. Festzunageln versuche ich Hupka auf die Frage, wieviel Millionen Schlesier den heute dort wohnenden Polen wohl als Mitbewohner willkommen wären, wenn man die beiden Voraussetzungen Hupkas akzeptiert: Freizügigkeit in einem freien Europa, und kein Pole soll vertrieben werden. Bei meinem sechsten oder achten Versuch, Hupka nachzuweisen, daß die Utopie nicht funktionieren kann, registriere ich eine keimende üngehaltenheit beim Publikum. Güterabwägung: Soll ich Schluß machen - soll ich das Thema total wechseln ("Und Ihre Hobbys, Herr Hupka?") oder soll ich die Chance nutzen, den Politiker zur Preisgabe einer Teilwahrheit zu verführen? In der Suche nach einem Kompromiß, den ich näher bei der Hartnäckigkeit als bei der Höflichkeit ansiedle, fällt das Zeichen des Redakteurs der Sendung, daß ich zum Schluß kommen soll. Das gibt mir noch ein bis zwei Minuten. Reden wir dann immer noch, so werden wir von der Jazzband überspielt. Das muß so sein, ich billige es. Was war bei Hupka der journalistische Ertrag? Keiner konnte den anderen auch nur einen Fußbreit von seiner Position wegbewegen. Aber man hörte eine möglicherweise interessante Disputation, die zur Klärung von Standpunkten beigetragen haben könnte; und neben der altbekannten, hundertfach geäußerten Hupka-Meinung ging immerhin auch einmal die Gegenmeinung nebst ein paar vielleicht neuen Arabesken über den Äther. Auf die Sendung hin erhielt ich an die 500 Briefe, von denen 495 ihrer Empörung Ausdruck gaben, daß das Fernsehen seine Sendezeit einer solchen Attacke auf die heiligsten Güter zur Verfügung stelle. Damit kann man leben. Wenn ich privat mit den Ansichten eines Politikers übereinstimme, hindert mich das nicht, im Fernsehen trotzdem
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die Gegenposition zu beziehen. Das gehört sich so; andernfalls kommt ja kein Gespräch in Gang. Traurig, wenn ein Fernsehjournalist an Willy Brandt die Frage richtet (geschehen 1972): "Finden Sie nicht auch, Herr Bundeskanzler, daß es ein Skandal ist, mit welchen Mitteln die CDU Sie schon wieder angegriffen hat?" So daß dem Angegriffenen nur noch bleibt, ergriffen "Ja!" zu sagen. Frage der "Welt am Sonntag" (19.12.82) an den Hauptgeschäftsführer des Arbeitgeberverbands Gesamtmetall über die Lohnforderungen der Gewerkschaft: "In der schwersten Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit solche Forderungen aufzutischen, ist doch wohl ein Scherz?" Antwort: "Da haben Sie ein mildes Wort gewählt." Da der Geist des Widerspruchs mich auch im Privatleben kennzeichnet, habe ich keine Mühe, ihn beruflich als das einzusetzen, wofür ich ihn halte: eine journalistische Kardinaltugend. Natürlich kommt es vor, daß man mit einem Politiker überwiegend über seine menschliche Seite spricht und dann mit ihm harmoniert; am ehesten freilich bei Pensionären. So ergab sich 1984 mit dem ehemaligen Bundesinnenminister Hermann Höcherl ein bewegendes Gespräch über die unglaubliche Armut, in der er einst groß geworden ist; daß sie aber Kräfte in ihm geweckt habe, auf die er stolz sei; daß also die wohlhabenden Eltern von heute gut daran täten, ihre Kinder so karg aufwachsen zu lassen, wie ihnen dies unter den gewandelten Umständen eben noch zugemutet werden könne. Hier stellte ich wirklich nur die Fragen, und im Studio war es mäuschenstill.
HEINER GEISSLER POLITIKER IM FERNSEHEN
Reichweite, direkte Ansprache und Aktualität: Warum Politiker den Umgang mit dem Fernsehen beherrschen müssen Hie kein anderes Medium bietet das Fernsehen dem Politiker einen schnellen und wirksamen Weg, Millionen Menschen direkt über seine politischen Einschätzungen und Absichten zu informieren. Mit jedem Auftritt im Fernsehen erreicht ein Politiker mehr Menschen, als er in mehreren Jahren zusammengenommen durch Veranstaltungen in Sälen und auf Marktplätzen, durch Canvassing oder Sitzungen ansprechen könnte. Die enorme Reichweite des Fernsehens, die Möglichkeit der direkten Ansprache und seine Aktualität: das sind die Gründe, warum für Politiker heute Fernsehauftritte besonders attraktiv und wichtig sind. Hinzu kommt, daß der Einfluß des Fernsehens auf Wahlentscheidungen wächst. Der Grund ist ein verändertes Wählerverhalten: Die Parteibindungen lockern sich, die Zahl der Stammwähler wird geringer. Und eine wachsende Zahl von unentschlossenen und ungebundenen Wählern ist offener geworden für Einflüsse aller Art - nicht zuletzt für Einflüsse aus dem Massenmedium Fernsehen. Deshalb haben Fernsehdiskussionen mit Politikern und generell die Art der Berichterstattung über die Politik in Wahlzeiten eine besondere Bedeutung. Politische Antworten und Orientierung: Was Zuschauer von politischen Fernsehdiskussionen in Wahlzelten erwarten Wir wissen aus Untersuchungen, daß unmittelbar vor Bundestagswahlen ca. 30 Millionen Menschen die Diskussion der Spitzenpolitiker im Fernsehen verfolgen. Woher kommt dieses Interesse? Dahinter steckt mehr als die Erwartung einer abwechslungsreichen, spannenden Unterhaltungssendung. Die Erkenntnis ist gewachsen, daß wir in einer Zeit des Übergangs, der Veränderung, der dritten industriellen Revolution leben. Gesellschaftliche und soziale Entwicklungen laufen heute schneller ab als jemals zuvor. Die Zukunft rückt näher; gleichzeitig nimmt die Prognostizierbarkeit der Zukunft ab: Die Folge ist ein Schwund der Zukunftsgewifiheit und ein zunehmender Bedarf nach politischen Antworten und Orientierungen hinsichtlich der Zukunftsfähigkeit unseres Landes. Wer klar machen will, daB er die besseren Konzepte zur Gestaltung des Wandels hat, muB diese auch in den poli-
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tischen Fernsehdiskussionen vor einer Wahl überzeugend vertreten. Denn die Fernsehdiskussionen sind das Forum, in dem vor einer Wahl die unterschiedlichen politischen Positionen miteinander konfrontiert werden und von denen das Publikum richtungsweisende politische Antworten und Orientierungen erwartet. Typischer Ablauf von politischen Fernsehdiskussionen Politische Diskussionen im Fernsehen finden unter anderen Bedingungen statt als die großen Wahlkampfdebatten im Vor-Fernsehzeitalter. Als eindrucksvolles Beispiel lebendiger Demokratie aus einer Zeit, als es noch kein Fernsehen gab, schildert der amerikanische Kommunikationswissenschaftler Neil Postman die Debatten zwischen dem Republikaner Abraham Lincoln und dem Demokraten Stephen A. Douglas: Das Publikum folgte aufmerksam und mit großer Anteilnahme zunächst der dreistündigen Ansprache von Douglas, dann der ebenso langen Rede Lincolns und anschließend der einstündigen Diskussion der beiden. Die Reden waren ausgearbeitete rationale Problemdarstellungen. Komplexe politische Probleme konnten so angemessen den Zuhörern dargestellt und die Überzeugungskraft der Argumente in den Vordergrund gestellt werden. Politische Fernsehdiskussion haben mit dieser Art des kommunikativen Brückenschlags zwischen Bürger und Politiker wenig gemeinsam. Eine Diskussionsrunde, in der alle im Bundestag vertretenen Parteien repräsentiert sein sollen, umfaßt mindestens fünf Politiker. Jeder von ihnen bekommt zwei Minuten, um etwas zu einer vom Moderator oder von Journalisten gestellten Frage zu sagen. Unter diesem Zeitlimit kann die Komplexität der angesprochenen politischen Probleme meistens nicht angemessen behandelt werden. Stattdessen werden Stellungnahmen gefordert, die die eigene Botschaft auf den Punkt bringen sollen. Nacheinander werden die Teilnehmer aufgerufen, ihr Statement abzugeben. Wenn jemand, der als letzter an der Reihe ist, auf das eingehen will, was der erste Redner gesagt hat, liegen vier Statements von insgesamt rund 15 bis 20 Minuten dazwischen. Das Publikum hätte Schwierigkeiten, sich an die Argumente zu erinnern, mit denen er sich auseinandersetzen wollte. Deshalb findet unter diesen Bedingungen einer Fernsehdiskussion der ausführliche direkte Austausch von Argument und Gegenargument meistens nicht statt. Welche Voraussetzungen muß ein Politiker erfüllen, damit er in Fernsehdiskussionen überzeugt? Kritiker behaupten: "Heute muß der Politiker, ob er es nun will oder nicht, den Gesetzmäßigkeiten des Fernsehens seine Opfer bringen. Telegenität, die Beherrschung des journalistischen Code, Kontaktvermögen und die Fä-
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higkeit, beim Zuschauer anzukommen, darauf kommt es heute an und nicht so sehr auf politische Aussagen und Konzepte. Nur dann, wenn diese symbolischen Charakter gewinnen (es also auf die Sache nicht mehr ankommt), sind sie mediengerecht und werden akzeptiert." (Wassermann 1985, 147) Ich setze dagegen: Wer glaubt, mit Entertainment und Showbusiness in politischen Fernsehdiskussionen bestehen zu können, unterschätzt das Urteilsvermögen der Zuschauer. Ich will hier sechs Voraussetzungen nennen, die erfüllt, sein müssen, damit ein Politiker in Fernsehdiskussionen überzeugt. 1. Er muß sachkompetent sein; 2. er muß die richtigen Inhalte klar und verständlich darstellen. Er muß sie mit einprägsamen und verständlichen Begriffen verbinden; 3. er muß Versuchen des politischen Gegners entgegentreten, mit Umwertungen von Begriffen Situationen neu zu definieren; 4. er muß die Kunst der Provokation beherrschen; 5. er muß auf persönliche Verunglimpfungen verzichten; 6. er muß auf die äußere Situation einer Fernsehdebatte vorbereitet sein. 1. Er muß sachkompetent sein. Auch im Fernsehzeitalter gilt ein Erfahrungssatz, den ich das "Gesetz der Sachkompetenz" nenne. Je überzeugender ein Politiker Antworten auf die realen Probleme des Bürgers und des Landes gibt, desto mehr vermag er den Bürger zu überzeugen und desto größer ist seine Chance, Zustimmung zu finden. Sachkompetenz bedeutet: sachkundig zu sein und die besseren Ideen und Problemlösungen zu den diskutierten Themen zu besitzen. "Verstehst du die Sache, so unterrichte deinen Nächsten, wo nicht, so halte dein Maul zu." (Jes. Sir. 5,14) Dieser Satz beschreibt auch das Erfolgsrezept, um in politischen Fernsehdiskussionen zu bestehen. 2. Er muß die richtigen Inhalte klar und verständlich darstellen. Er muß sie mit einprägsamen und verständlichen Begriffen verbinden. Sachkenntnis allein jedoch genügt nicht. Die richtigen Inhalte müssen auch allgemein verständlich dargestellt werden. Um von möglichst vielen verstanden zu werden, müssen Politiker sich in Diskussionen aus dem Korsett der Fach- oder Verwaltungssprache befreien. Wer unklar spricht, erweckt den Eindruck, daß er entweder nichts zu sagen hat oder dem Zuschauer etwas verbergen will. Wer klar und deutlich spricht, braucht keine Leitartikler, die sich anderntags darüber auslassen, was er hat sagen wollen.
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Die politische Sache braucht die sprachliche Form, die den Inhalt richtig und allgemein verständlich wiedergibt. "Atlantisches Bündnis", "Soziale Marktwirtschaft", "Partnerschaft statt Klassenkampf", "Wohlstand für alle" oder "Neue Soziale Frage" waren und sind für die CDU insofern richtige Begriffe. Richtige Konzepte mit unverständlichen oder falschen Begriffen verbunden sind häufig zum Scheitern verurteilt und nicht durchsetzbar. Ein Beispiel aus den 70er Jahren ist der Begriff "Rentenniveausicherungsklausel". Gemeint war damit, daß die Renten nicht absinken sollten unter einen bestimmten Prozentsatz des Netto-Einkommens. Der Begriff war aus sich heraus kaum verständlich: Ein schlechter Begriff für eine gute Sache. Die Sache war dann nicht durchsetzbar. Umgekehrt hat ein einprägsamer Begriff ohne oder mit "falschem" politischen Inhalt wesentlich größere Chancen, eine politische Wirkung zu erzielen. Ein Beispiel dafür bietet die Diskussion um den §116. Dieser regelt die Neutralität der Bundesanstalt für Arbeit in Tarifauseinandersetzungen. Deshalb ist es richtig, ihn als "Neutralitätsparagraphen" des Arbeitsförderungsgesetzes zu bezeichnen. Um die Neutralität der Bundesanstalt für Arbeit und nicht um Streikrecht und Streikfähigkeit ging es dann auch bei seiner Neuformulierung. Mit dem eingängigen, aber falschen Begriff "Streikparagraph" erweckten die Gewerkschaften den Eindruck, als solle mit der Änderung des §116 das Streikrecht eingeschränkt und so die Interessen der Arbeitnehmer verletzt werden. Eine Sachfrage wurde damit emotional aufgeladen und hochstilisiert zu einer Machtfrage. Weil auch noch ein Teil der Medien diesen Begriff übernahm, um mit ihm die Auseinandersetzung um den §116 zu etikettieren, mußte die Regierung eine beträchtliche Aufklärungs- und Informationsarbeit leisten, um dem mit diesem Schlagwort verbundenen falschen Eindruck entgegenzutreten. Dies belegt, daß auch im Fernsehzeitalter der Satz des griechischen Philosophen Aristoteles immer noch zutrifft: "Allemal gilt, daß, wer Begriffe und Gedanken bestimmt, auch Macht über die Menschen hat. Denn nicht die Taten sind es, die den Menschen bewegen, sondern die Worte über die Taten." Wer die Begriffe bestimmt, bestimmt auch die geistige Auseinandersetzung. Deshalb ist die Suche nach einprägsamen, verständlichen und richtigen Begriffen so wichtig. Der Politikwissenschaftler Heinrich Oberreuter hat auf die Gefahr hingewiesen, daß Begriffskosmetik und Sprachstrategie immer mehr als Ersatz für substantielle Politik benutzt wird: "Je substanz-entleerter, handlungsunfähiger und hilfloser Politik sich darbietet, um so perfekter scheint sich oft ihr sprachgestalterisches Genie zu entwickeln. Anscheinend kommt es gar nicht immer darauf an, Antworten auf drängende Fragen zu finden; zum Erfolg reicht es vielmehr, keine Antworten in wohlklingenden Formeln zu verpacken."
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Ich stimme dieser Einschätzung nicht zu, denn die schönsten Hortschöpfungen nutzen nichts, wenn die politischen Inhalte nicht überzeugen. Wenn politische Sprache wirken soll, müssen die Inhalte, die sie formuliert, sozusagen "in der Luft liegen". Politische Sprache bewirkt nichts, wenn sie nicht dem entspricht, was die Menschen denken und fühlen. Niemand sollte glauben, daB man mit politischen Begriffen ohne Inhalte und ohne einen Konsens in der Bevölkerung politisch wirken kann. Hegel hat diesen Zusammenhang so formuliert: "In der öffentlichen Meinung ist alles Falsche und Wahre, aber das Wahre in ihr zu finden, ist die Sache des großen Mannes. Wer, was seine Zeit will, ausspricht, ihr sagt und vollbringt, ist der große Mann der Zeit." 3. Er maß Versuchen des politischen Gegners entgegentreten, mit Umwertungen von Begriffen Situationen neu zu definieren. Zeiten des Umbruchs sind häufig auch verbunden mit einer Verwirrung der Geister, der Begriffe und der Werte. Zeiten des Umbruchs haben auch immer ihre falschen Denker und Propheten. Wir erleben heute den groß angelegten Versuch von SPD und Grünen, mit einer Umwertung von Begriffen Situationen neu zu definieren. Ein Beispiel für die Verwirrung der Begriffe mit weitreichenden nationalen und internationalen Folgen ist der Versuch der SPD, die für uns lebenswichtige Freundschaft und Partnerschaft mit den USA als ein "Vasallenverhältnis" darzustellen. Der Fraktionsvorsitzende der SPD im Bundestag, Hans-Jochen Vogel, will genau diesen Eindruck erwecken, wenn er erklärt: "Wir wollen Verbündete des amerikanischen Volkes sein, nicht Vasallen der jeweiligen US-Administration." Der von Vogel verwandte Begriff "Vasall" zur Bezeichnung unseres Verhältnisses zu den USA stellt die Realtiäten auf den Kopf. Denn unter freien Ländern gibt es kein Vasallentum, sondern nur Partnerschaft und das auch nur dann und solange, wie es beide Seiten wollen. Der Begriff "Vasallentum" kennzeichnet nicht unser Verhältnis zu den USA, sondern die Rolle, die die Sowjetunion ihren Satelliten-Staaten aufgezwungen hat. Mit der Unterscheidung zwischen "Verbündete des amerikanischen Volkes und der jeweiligen USAdministration" wird unterstellt, daß in den USA zwischen dem Volk und der Regierung eine tiefe Kluft besteht. Versucht wird hier ein "dialektischer Dreh" (Karl R. Popper): Den USA wird das zugeschrieben, was in kommunistischen Staaten Realität ist. Die Wahrheit ist, daß in kommunistischen Staaten Menschenrechte verletzt und Gewalt angewendet wird, um Macht zu erhalten, während das amerikanische Volk seine Regierung frei wählt. Die amerikanische Regierung ist demokratisch legitimiert und spricht für das amerikanische Volk. Wie kann man
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Bündnispartner des amerikanischen Volkes sein, wenn man die von diesem Volk frei gewählte Regierung als Partner ablehnt? Weitere Beispiele sind die Begriffe "Sicherheitspartnerschaf t" oder, wie es im Irseer-Entwurf für ein neues Grundsatzprogramm der SPD heißt, "Partnerschaft des Friedens" zur Bezeichnung unserer Beziehung zur Sowjetunion. Wir wenden die Begriffe "Partnerschaft" und "Sicherheit" auf unsere politischen Beziehungen zu den Vereinigten Staaten, Großbritannien und Frankreich an, mit denen uns gemeinsame Werte und die gemeinsame Auffassung, diese Werte verteidigen zu müssen, verbinden. Die SPD wendet nun diesen Begriff auf unser Verhältnis zur Sowjetunion an, der gegenüber wir uns in einem anderen Verhältnis befinden. Wir haben auf begrenzten Politikfeldern möglicherweise mit der Sowjetunion gemeinsame Interessen, teilen mit ihr aber nicht grundlegende Werte und Ziele. Die Sowjetunion bedroht unsere Freiheit. Wer für zwei völlig konträre Sachverhalte ein und denselben Begriff verwendet, verwirrt den Geist der Menschen. 4. Er muß die Kunst
der Provokation
beherrschen.
Um politische Positionen zu verdeutlichen, muß ein Politiker in Fernsehdiskussionen das Mittel der Provokation und Überspitzung anwenden. Ich möchte zwei Beispiele nennen: - Die Grünen habe ich provokativ als "Melonenpartei außen grün und innen rot" bezeichnet. Damit wollte ich darauf hinweisen, daß die Grünen neben der Umweltschutzthematik Positionen vertreten, die ich als "systemverändernd" qualifiziere. Diese Bezeichnung gehört in den Bereich der klassischen rhetorischen Stilmittel. Die Reaktion von Peter Glotz, der mir daraufhin einen Rückfall in das Freund-Feind-Denken vorwarf, fand ich reichlich überzogen. Der Grünen-MdB Schily dagegen kommentiert: "Melone schmeckt mir besser als Kohlsuppe", was ich deswegen bemerkenswert fand, weil Kohlsuppe ja bekanntlich ein beliebtes russisches Gericht ist. - Ein weiteres Beispiel: Im Dezember 1983 hatte die SPD im Hamburger Bürgerschaftswahlkampf (zweieinhalb Monate vor der damaligen Bundestagswahl) in Zeitungen und Flugblättern den Eindruck erweckt, die damals gerade vorgenommenen Mieterhöhungen für Sozialwohnungen seien auf das neue Mietrecht der soeben vom Bundestag gewählten Regierung Kohl zurückzuführen. Überschrift der "Zeitung am Sonntag": "Mieterhöhungen von 30%, Weihnachtsgeschenk von Helmut Kohl". Tatsache aber war, daß durch das neue Mietrecht Sozialwohnungen überhaupt nicht betroffen waren. Die besagten Mieterhöhungen für Sozialwohnungen in Hamburg gingen auf einen Beschluß des Hamburger Senats im August 1982 zurück. Um die Jahreswende 1982/83, also drei Monate vor der Bundestagswahl, zeichnete sich ein Umkippen der politischen Stimmung in der Bundesrepublik
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Deutschland ab. Die SPD erreichte mit ihrer falschen Wahlaussage Millionen von Menschen. Für uns, die CDU, stellte sich damals die Frage, wie können wir diese Entwicklung stoppen. Ich habe daraufhin gesagt: "Auf Leute, die so handeln, trifft das Wort Bertolt Brechts zu: 'Wer die Wahrheit nicht kennt, ist bloß ein Duimnkopf, aber wer die Wahrheit weiß und sie eine Lüge nennt, ist ein Verbrecher.1 Mit anständiger Politik haben die sozialdemokratischen Lügen nichts zu tun und die anständigen Deutschen müssen sich von dieser Politik distanzieren." Johannes Rau hat mich anschließend in einer Diskussion gefragt, warum ich nicht einfach festgestellt hätte: Die SPD hat die Unwahrheit gesagt. Ich will mit einem Zitat des früheren Labour-Führers Hugh Gaitskell antworten: "Ein Politiker muß stets etwas übertreiben, sonst hört niemand auf ihn." Fazit: Die publizistische Realität macht es manchmal notwendig, durch provokative Formulierungen in der politischen Sprache seine politische Position zu verdeutlichen. Die Bundestagswahl wurde gewonnen. Worin die Kunst der Provokation besteht, hat Richard Wallaschek einmal so beschrieben: "Wer treiben will, muß übertreiben, wer aufmerksam machen will, muß vergrößern, wer warnen will, muß abschrecken. Aber die Wirkung drastischer Mittel ist doch nur innerhalb gewisser Grenzen möglich und stumpft sich ab, wenn nicht der ruhige, nachprüfende Gedanke merkt, daß hinter dem leicht überschäumenden Enthusiasmus ein gesunder Kern steckt." 5. Er muß persönliche Verunglimpfungen unterlassen. "Die Beleidigungen sind die Argumente keine Argumente verfügen." (Rousseau)
jener,
die
über
6. Er muß auf die äußere Situation seines Fernsehauftritts vorbereitet sein. Ein Politiker muß sich nicht nur auf mögliche Fragestellungen, die in einer Diskussionssendung auf ihn zukommen können, einstellen, sondern er muß auch auf die äußere Situation seines Fernsehauftritts vorbereitet sein. Er darf sich während der Sendung nicht durch technische Überraschungen oder Nebensächlichkeiten (Zwischenrufe von Publikum) aus dem Konzept bringen lassen. Er wirkt dann unsicher auf die Zuschauer, wo er tatsächlich politisch seiner Sache sicher ist.
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Polemik und deutsches Biedermeier Wir tun uns bis zum heutigen Tage in Deutschland schwer, den Streit und die scharfe Kritik als selbstverständliche Bestandteile der politischen Kultur eines demokratischen Landes anzuerkennen. Das böse Wort vom Parteiengezänk ist schnell bei der Hand. Manche Kritik am politischen Streit in Fernsehdiskussionen ist nur verständlich vor dem Hintergrund eines politischen Biedermeiers, eines Harmoniebedürfnisses, das zum Teil noch im vergangenen deutschen Obrigkeitsstaat geprägt wurde. In einer Demokratie gehören der Streit um den richtigen Weg und die Austragung von Konflikten zum unverzichtbaren Bestandteil der politischen Kultur. Denn Integration entsteht nicht durch Unterdrückung von Gegensätzen, sondern durch das Austragen von Konflikten. Wo Konflikte geleugnet oder unterdrückt werden, gibt es keine Freiheit, da herrschen Bürgerkrieg und Repression. Und allemal gilt der Satz von Bernhard von Clairvaux: "Es ist besser ein Ärgernis entsteht, als daß man die Wahrheit im Stich lasse." Melius est ut skandalum oriatur quam ut Veritas reliquatur.
PETER GLOTZ
DIE SPEZIALISIERUNG POLITISCHER PROGRAMME ALS GEFAHR FÜR DEN INFORMATIONSAUFTRAG Überlegungen zur politischen Berichterstattung des Fernsehens in der Bundesrepublik - 1986
Wer heutzutage über Medien diskutiert und speziell darüber, welche Form und Funktion die Politik in der Berichterstattung der elektronischen Medien hat und haben sollte, der wird alsbald mit den provozierenden Thesen des Professors für Media Ecology an der New York University, Neil Postman, konfrontiert. Insbesondere sein jüngstes Buch mit dem Titel "Wir amüsieren uns zu Tode" liefert Zündstoff für hitzig und kontrovers geführte Debatten . Die elektronischen Medien sind, so Postman, verantwortlich für die zunehmende Unfähigkeit der Konsumenten, sich kritisch mit sich und ihrer Umwelt auseinanderzusetzen. Sein Befund: Zerstreuung statt Urteilsbildung, Unmündigkeit statt Urteilsfähigkeit. Folgt man Neil Postman, so wäre mit der Ausbreitung des 24-stündigen Fernsehens definitiv ein Zeitalter der distanzierten, gelassenen, kritischen Reflexion zu Ende gegangen. Aus dem "Diskussionsunternehmen", das unsere aufgeklärte Welt immer sein sollte, werde "Variete" in des Wortes originaler Bedeutung. Den Fernseh-Sendungen der Politik, zumal dem Königsunternehmen News, liegt, so Postman, eine "Theorie der Anti-Kommunikation zugrunde, die einen Diskurs-Typus propagiert, der Logik, Vernunft, Folgerichtigkeit und Widerspruchslosigkeit preisgegeben hat." Schlimmer noch: Was immer man unternehme, um das Niveau des Fernsehens zu heben, man müsse scheitern, weil das Medium ruhige Argumentation, Nachdenklichkeit und Problematisieren einfach nicht zulasse. Das Fernsehen, so lautet Postmans Fazit, wirke so ähnlich wie das "Soma" aus Aldous Huxleys "Brave New World": Wir verlören den Sinn für wichtige Entscheidungen, wir gäben die Kontrolle der Regierung (und der Wirtschaft durch rationale Kaufentscheidungen) auf, weil wir uns daran gewöhnt hätten, in einer Amüsierwelt zu leben - wir amüsierten uns zu Tode. Nun kennen wir solche Schreckensrufe; vor Postman hießen die Herolde Mc Luhan oder Adorno. Ich will nicht darüber urteilen, ob das Fernsehen die amerikanische Kultur wirklich so stark trivialisiert, wie Postman behauptet, widerspreche allerdings seiner Behauptung, das Fernsehen lasse g r u n d s ä t z l i c h ruhige Argumentation, Nachdenklichkeit und Problematisieren nicht zu. In gelungenen Schwerpunktsendungen aus aktuellem Anlaß mit ausführlicher Dokumentation und Diskussion, in Reihen
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wie "Zur Person", "Weltspiegel" und "Auslandsjournal" wurde und wird sehr wohl in hohem Problembewußtsein ruhig und nachdenklich argumentiert und gewiß Nachdenklichkeit und Problembewußtsein auch bei den Zuschauern bewirkt. Aus der Forschung der Vereinigten Staaten wissen wir, daß ähnlich gelungene Programme auch in den USA ausgestrahlt werden. Unterstellt, ich habe recht mit diesem Einspruch, so bleibt doch vieles von Postman's Thesen bedenkenswert. Zwar kann ich mich der deutschen Kulturkritik nicht anschließen, die die Überzeugung vertritt, wir seien dabei, direkt in die von Postman beschriebenen amerikanischen Verhältnisse hineinzuschlittern - dies muß nicht zwingend geschehen. Ich stimme aber denen zu, die meinen, wir seien Zeugen eines allgemeinen Nivellierungsprozesses von bisher nicht bekanntem Ausmaß in unseren elektronischen Medien. Es gilt, den Anfängen zu wehren. Der - neben Erwin Ferleman - neue Vorsitzende der IG-Medien, Alfred Hörne, hat unlängst in einem Interview, seine 25-jährige Rundfunkarbeit bilanzierend, gesagt, die Entwicklung sei "nicht positiv verlaufen". Früher seien Auseinandersetzungen im Rundfunk selbstverständlich gewesen, heute seien sie die Ausnahme. "Heute wird als Beginn einer Revolution angesehen, was früher ganz normal und ganz selbstverständlich zur Vielfalt und zum Auftrag des Rundfunks gehörte. Die Rundfunkanstalten haben untereinander schon zuviel Rücksichten auf Einschaltquoten genommen, die Konkurrenz mit der großen Zahl untereinander schon ausgetragen. Und im Hinblick auf die privaten und kommerziellen Programme wird dieser Konflikt sicher noch schärfer." Ich fürchte. Hörne hat recht. Die Väter unseres unabhängigen Rundfunks wollten Plattformen schaffen, auf denen "die Meinungen aufeinanderprallen", nachdem zuvor jahrelang aus dem "Goebbels-Schnauze" genannten Volksempfänger nur eine Meinung gekommen war. Als "amtlich zugelassenen Störenfried" im Staat bezeichnete Sir Hugh Greene, einer seiner Väter, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Im amerikanischen Entwurf zu einer Erklärung über Rundfunkfreiheit in Deutschland vom Mai 1946 heißt es u.a., das deutsche Rundfunkwesen werde sich "nicht den Wünschen oder dem Verlangen irgendeines Bekenntnisses unterordnen" . Es werde "weder direkt noch indirekt eine Schachfigur der Regierung werden, noch wird es das Werkzeug einer besonderen Gruppe oder Persönlichkeit sein, sondern es wird in freier, gleicher, offener und fruchtbarer Weise dem ganzen Volke dienen". Unter Ziffer 8 heißt es dort weiter, die Leitung jedes einzelnen Senders verpflichte sich, "demokratisch gesinnten Kommentatoren und Vortragenden das Recht zur Kritik an Ungerechtigkeiten, Mißständen oder Unzulänglichkeiten bei Persönlichkeiten oder Amtsstellen der öffentlichen Behörden und der Staats- oder der Reichsregierung mit allen verfügbaren Mitteln zu gewährleisten und zu sichern". Diese Richtlinien sind bekanntlich in
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mehr oder minder veränderter Form in die Rundfunkgesetze eingegangen, und so heißt es folgerichtig z.B. in den Richtlinien für die Sendungen des ZDF, das Programm solle "das Gewissen schärfen", "zu kritischem Denken ermutigen" . In der politischen Berichterstattung der ARD, stärker noch: des ZDF, ist von diesem notwendigen radikaldemokratischen Geist zur Zeit zu wenig zu spüren. Diese politische Berichterstattung ist zum Teil so nichtssagend geworden, daß große Teile der Jugend sich weigern, sie überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Um MißVerständnissen vorzubeugen: Die Gefahr, die heute durch politischen Gefälligkeitsjournalismus entsteht, ist durchaus von Politikern und Journalisten gemeinsam hervorgerufen worden. Die Übung, daß beispielsweise zur Wahlberichterstattung in die Zentralen der SPD und der CDU möglichst nur Journalisten geschickt werden, die diesen Parteien nahestehen, ist nicht von den Intendanten, Programmdirektoren und Chefredakteuren allein erfunden worden; sie ist ein Produkt der politischen Kultur, die in den Aufsichtsgremien der öffentlich-rechtlichen Anstalten entstanden ist. Der Verlautbarungsjournalismus der Tagesschau- und Heute-Sendungen, die allzu oft die langweilige Veranstaltung der CDU-Frauenvereinigung mit einem nicht kurzweiligeren Bezirksparteitag der SPD "auswiegen", geht auch auf politischen Druck auf die Sendezentralen zurück. Und die Bereitschaft vieler prominenter deutscher Fernsehjournalisten, dem aus einem Flugzeug steigenden Außenminister ein Mikrofon vor die Nase zu halten, ihm eine höfliche Frage zu stellen und es schweigend zu akzeptieren, daß dieser Minister perfekt, höflich und ohne Zögern auf eine ganz andere Frage antwortet, wird von den betrefffenden Interviewern sicherlich mit "antizipiertem Druck" begründet werden. Nur: womit solche Praktiken immer zu begründen sind; sie vertreiben die Normalbürger vom Fernsehschirm bzw. veranlassen sie, während der Nachrichtensendungen die nächste Flasche Bier zu holen. Heute ist die Gefahr nicht mehr von der Hand zu weisen, daß viele Nachrichtensendungen zu "Belangsendungen" der Parteien und Verbände werden; also zu Spezialecken für die politische Klasse. Wenn diese Gefahr zur Wirklichkeit werden sollte, bedeutete dies ein weiteres Stück Entdemokratisierung der Republik. Natürlich gibt es auch Unterschiede zwischen den Systemen; die Zentrale Bundesanstalt ist - aufgrund durchaus demokratischer Wahlprozesse - in ihrer Nachrichtengebung "konservativer" als die föderalistisch strukturierte ARD. Ein Beispiel aus dem Jahr 1984: Der Versuch der Bonner Koalitionsspitze, eine Strafbefreiung für straffällig gewordene Politiker und illegale Geldgeschäfte durchzusetzen, ist nach den Beobachtungen des Kölner Instituts für Medienforschung von der ARD seit dem Datum des Auf-
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kommens, dem 3. Mai, Tag für Tag beobachtet und in seinen diversen Aspekten dargesellt worden. Nicht so im ZDF: Dort tauchte die für die Regierung äußerst unattraktive Amnestie in "Heute*' schon am zweiten Tag nur noch als Nachricht Nr. 7 unter "ferner liefen" auf. Über den wachsenden Widerstand in den Koalitionsfraktionen berichteten so gut wie alle Medien, das ZDF nicht. Im Fall Wörner/Kießling war Ähnliches festzustellen. Auch in diesem Fall, der die Regierung nicht "gut aussehen" ließ, ließen die ZDF-Programmacher das Thema als erste in der Versenkung verschwinden - nachdem der Bonner Leiter des ZDF-Büros von einem "Befreiungsschlag des Kanzlers" gesprochen hatte und davon, es sei ein "Fehler Wörners" gewesen, "mit einem großen Teil des Führungspersonals auf der Hardthöhe weiterzuarbeiten, das ihm sein sozialdemokratischer Vorgänger hinterließ". Ich möchte nicht mißverstanden werden: Diese Entwicklung kritisiere ich nicht als Parteipolitiker, der sich Sorgen um die Wahlchancen seiner Partei macht. Mein Impuls ist allein: Unser Rundfunk muß ein allgemeines Forum des offenen Wortes und der freimütigen Auseinandersetzung sein. Journalistische Praktiken wie die hier skizzierten beschädigen und gefährden die Meinungsfreiheit und helfen heute vor allem dem Heranwachsenden nicht, politisch mündig zu werden. Er könnte es vorziehen, in den Schmollwinkel zu gehen. Wie gefährlich dies in einer immer komplexer werdenden, vielfach gefährdeten Welt für die politische Kultur insbesondere der unteren Bildungsschichten, der von "der Politik" nicht mehr erreichten Unterklassen werden kann, muß nicht im einzelnen ausgeführt werden. Ein anderes Beispiel: Solide wissenschaftliche Untersuchungen aus dem Jahr 1985 belegen, daß RTL plus und SAT 1/APF mit ihrem kommerziellen Konkurrenzangebot an Fernsehnachrichten weniger nach einer qualitativen Optimierung des Informationsangebots für den politisch mündigen Bürger - etwa ausgerichtet am Ideal bestmöglicher, das heißt umfassender und vielseitiger Informiertheit streben, sondern eher danach, durch eine stärkere Gewichtung der "soft news" eine massen-attraktive Alternative zu den Nachrichten der öffentlich-rechtlichen Anstalten zu schaffen. So fielen in der Nachrichtenwoche vom 11. bis 17. Februar 1985 84% der RTL-Nachrichtensendezeit auf nichtpolitische Berichterstattung. Die meiste Sendezeit erhielten davon Sportmeldungen sowie aktuelle Beiträge aus dem Alltagsleben, Human Interest und Kuriositäten. Die APF-Hauptnachrichten von SAT 1 kamen mit ihrer politischen Berichterstattung in quantitativer Hinsicht den öffentlich-rechtlichen Sendungen zwar näher als RTL plus, jedoch enthielten auch sie einen deutlich höheren Anteil an bunten Aktualitäten als die ARD- und ZDF-Hauptnachrichtensendungen. Ich will diese Art, politisch zu informieren, nicht billiger Kulturkritik aussetzen. Nachrichtensendungen sol-
159 len bringen, was "aktuell" ist; und spätestens seit den Forschungen von Otto Groth ist die Komplexität des Aktualitätsbegriffs bekannt. Aktualität ist eine individuelle Meßgröße; aktuell sind Ereignisse immer für ganz bestimmte Bürger, für ganz bestimmte Klassen und Schichten. Es gibt keine abstrakte Hierarchie der Ereignisse, derzufolge das "Wichtigste" sozusagen die Außenpolitik, das Zweitwichtigste die Innenpolitik, das Drittwichtigste die Kulturpolitik sei; und dann erst käme das "Vermischte". Es kann durchaus vorkommen, daß ein Unfall sagen wir als Beispiel: der Unfall, bei dem die Frau des bayrischen Ministerpräsidenten zu Tode kam - viel aktueller ist als ein gleichgültiger Staatsbesuch, eine langweilige Rede des Bundeskanzlers. Für die Aktualität ist maßgebend, was die Menschen betrifft, was ihnen nahekommt. Man wird davon ausgehen müssen, daß so manche von den Politikern hoch wichtig genommenen Großereignisse die Fernseher weit weniger interessieren als das, was die politische Klasse verächtlich als "Unterhaltung" abtut. Insofern könnte die gut gemachte "news-show" eines privaten Senders auch auf die öffentlich-rechtlichen Anstalten und ihre Nachrichtensendungen durchaus positive Ausstrahlungen haben. Dies sollte allerdings nicht blinde Anpassung der öffentlich-rechtlichen Anstalten zur Folge haben. Sie stehen unter einem besonderen Auftrag; dieser Auftrag darf nicht verraten werden. So bietet sich geradezu die Gelegenheit zu sinnvoller Konkurrenz: Wenn die öffentlichrechtlichen Anstalten die Kontrastprogramme der Privaten zum Anlaß nähmen, ihre eigenen Nachrichtensendungen aktueller, kontroverser und spannender zu gestalten; wenn sie vom Häppchen-Prinzip der Ein-Minuten-Interviews absehen würden, um gelegentlich einmal jemandem, der wirklich etwas zu sagen hat, längere Zeit zu geben; wenn sie sterile Ausgewogenheit unterließen und stattdessen auch ein bißchen "investigative journalism" betrieben, dann könnten solche Anstrengungen allen helfen: den Zuschauern, den privaten und den öffentlich-rechtlichen Sendern. Helmut Schmidt resümierte unlängst in einer Rede, es sei ihm nicht unangenehm gewesen, wenn Leute das, was er, durchs Fernsehen übertragen, irgendwo gesagt habe, sympathisch gefunden hatten. Er habe aber auch immer einen ganz tiefen inneren Verdacht gehabt gegenüber dieser Polarisierung in sympathisch - unsympathisch, die beim Fernsehpublikum eintrete gegenüber demjenigen, der da Politik vortrage. "Es wird in der heutigen Welt immer weniger darauf ankommen - und dies gilt genausogut in Amerika wie in Deutschland ob ein Politiker ein gutes Argument vorbringt, oder eine zwingende Abfolge von Argumenten oder eine zwingende Logik. Es kommt immer mehr und immer ausschließlicher leider nur darauf an, ob jemand sympathisch aussieht oder ob ich ihn nicht mag. Wenn zwei Menschen ins Gespräch kommen über irgendei-
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ne politische Sendung von gestern abend, dann wird Ihnen begegnen, daß der eine häufig sagt: der Minister X und Y, der hat aber eigentlich seine Sache sehr gut gemacht, oder er hat sie nicht so gut gemacht. Der andere antwortet gar nicht auf gut oder nicht gut, sondern sagt bloß: den Mann fand ich immer schon unsympathisch. Diese F e r n s e h d e m o k r a t i e wird eine andere Demokratie, wie wir sie bisher gewohnt waren. Wir müssen aufpassen, daß sie Demokratie bleibt und nicht Massenverführung mit wirksameren Mitteln als bisher." Ist gegen diese Rezeption von Politik durch das Medium Fernsehen ein Kraut gewachsen? Es ist der "Reagan-Effekt"; die Wirkung eines "großen Kommunikators". Das Medium Fernsehen, so lautet die Kritik, verstärkt die Gefahr, daß das persuasive Auftreten eines Kommunikators den Rezipienten so überfährt, daß er auf das "Was", auf den Kern der Aussage dieses Kommunikators, nicht mehr achtet. Man wird nicht bestreiten können, daß es diese Gefahr gibt, auch wenn sie in der politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland noch nicht allzu ausgeprägt ist. Die klassische Antwort der oberen Bildungsschichten auf die Äußerung dieser Gefahr pflegt der Hinweis auf die "Lesekultur" zu sein. Es ist der Appell an den Zuschauer, sich nicht ausschließlich durchs Fernsehen politisch zu informieren, sondern alternative Medien zu benutzen. Ich habe Zweifel, ob solch eine begleitende, halb resignative medienpädagogische Maßnahme erfolgreich sein kann: Am Fernsehen hängt, zum Fernsehen drängt fast alles. Fernsehen ist und bleibt die Freizeitbeschäftigung Nummer eins. 45 Prozent der Bundesbürger erklären seit vielen Jahren konstant, dieses Medium sei ihre wichtigste Informationsquelle, je 21 Prozent nennen Hörfunk bzw. Tageszeitungen, 3 Prozent Zeitschriften. An dieser Reihenfolge mag sich durch demnächst bundesweit sprießenden neuen privaten lokalen Hörfunk einiges ändern das Problem bleibt. Es bleibt auch dann noch gewichtig genug, wenn man davon ausgehen kann, daß manche Fernsehzuschauer ihr im Fernsehen gebildetes Politikerbild nach Radiohören und Zeitungslesen objektivieren, differenzieren bzw. korrigieren. Es gewinnt noch an Gewicht, wenn nicht nur der von Helmut Schmidt skizzierte "normale" Politiker vor die Kamera tritt, sondern eben der in den USA dominierende Typus, von dem Neil Postman sagt, er sei mehr als um irgendetwas anderes darum bemüht, im Fernsehen unterhaltend zu sein: a "nice guy". Wenn ich Mentalität und Entertainer-Qualitäten meiner Kollegen richtig einschätze, so droht hierzulande bis auf weiteres keine Massenverführung durch Show-Business US-amerikanischen Kalibers. Aber: was nicht ist, kann bekanntlich noch werden. Die Bildungs- und Medienpolitik sollte alle Anstrengungen machen, um die Printmedien zu
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erhalten und zu fördern, den Umgang mit dem Medium Fernsehen systematisch zu lehren und das Mißtrauen gegen persuasive Techniken zu stärken. Noch aktueller und wichtiger als dies scheint mir die Frage nach dem Selbstverständnis und dem ganz besonderen Auftrag der Fernsehjournalisten gegenüber den Politikern zu sein: Ich finde, daß sich viele Fernsehjournalisten zu ängstlich gegenüber Politikern verhalten. Der ehemalige Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Heinz Kühn, betont in seinem neuesten Buch "Die Kunst der politischen Rede", der Beruf des Fernsehjournalisten sei in besonderem Maße risikoreich und die Journalisten müßten vor einer Doppelgefahr sich hüten: "Die einen unter den Programm-Machern wollen sich in dieser Situation die jeweils Mächtigen gefügig machen, gewissermaßen in einem Akt der Selbstgleichsetzung. Andere wollen das Programm zu einem Großhandelsgeschäft in Devotionalien machen, 'ausgewogen' natürlich gegenüber allen politischen Glaubensbekenntnissen, offenbar dem Bekenntnis des amerikanischen Senators folgend, er könne sich nur senkrecht halten, wenn er von allen Seiten gleichem Druck ausgesetzt ist. Wiederum andere haben die Tendenz, das abendliche Unterhaltungsprogramm mit beliebtem Gebabbel und Gewabbel für Ohr und Auge soweit in die Spätstunden auszudehnen, daß für politisch herausfordernde und geistig anspruchsvolle Sendungen nur mehr die frühen Nachtstunden übrigbleiben. Ängstliche Farblosigkeit wird unvermeidlich zu muffiger Langeweile. Da gibt es nur einen Rat: Habt Zivilcourage gegenüber allen Kontrolle ausübenden und Einfluß suchenden 'Räten' oder sonstigen Organen, seien sie politisch oder ständisch zusammengesetzt, gegenüber allen Generalvikariaten und Parteisekretariaten, auch gegenüber Gewerkschaftsorganisationen und Unternehmerverbänden. Habt Zivilcourage! Kniezittern führt zu Kniebeugenl Wer anstelle von Rückgrat nur ein dickes Fell hat und glaubt, daß ihn dies aufrecht erhalte, täuscht sich ebenso wie der mit dem dünnen Fell, der erst recht ohne Rückgrat nicht stehen kann." Dies unterstreiche ich, wie auch die folgenden Worte des ARD-Programmdirektors Dietrich Schwarzkopf: "Ich möchte daran erinnern, daß journalistische Unerschrockenheit eine dienende Funktion hat: sie dient der Information der Zuschauer. Mit diesem Dienst an der Information des Zuschauers vertragen sich nicht: eitle Gesinnungsspreizerei, Leitartikeln eines Interviewers anstelle des beharrlichen und kenntnisreichen Nachfragens, Liebedienerei durch Gefälligkeitsfragen an Gesinnungsfreunde, gleich welcher politischen Richtung oder Interessengruppe zugehörig." Ich füge hinzu: Schließlich arbeiten festangesellte Fernsehjournalisten in den Funkhäusern meist nicht mit existentiellem Risiko. Es muß in diesem Zusammenhang auch zu fragen erlaubt sein, ob die Quasi-Verbeamtung und die journalistisch-staatsbürgerliche Verantwortung
162 immer in einem angemessenen Verhältnis zueinander stehen. Es gibt sie ja, die furchtlosen Dagobert Lindlaus, Hans Peter Rieses, Peter Merseburgers oder Franz Alts. Aber es gibt zu wenige. Jedenfalls sollte der hohe Grad von Abgesichertsein eigentlich dazu veranlassen, ruhig härter zu recherchieren, zu fragen und nachzuhaken. "Journalisten, die arbeitsrechtlich nicht so schnell aus dem Sattel zu heben sind, könnten beispielsweise manche Politiker anders anfassen, sollten es nicht durchgehen lassen, wenn Leute in Amt und Würden auf eine gezielte Sachfrage überhaupt nicht reagieren oder nur Nebel werfen. Ich sage das mit BewuBtsein dessen, daß man mich hieran noch wird erinnern können." Diesen Worten aus der Rede Willy Brandts anläßlich der Verleihung des Fritz-Sänger-Preises 1985 für mutigen Journalismus ist wenig hinzuzufügen. Literatur Hans Bausch (Hg.): Rundfunk in Deutschland. 4 Bde. München 1980. Otto Groth: Die unerkannte Kulturmacht. Grundlegung der Zeitungswissenschaft (Periodik). 5 Bde. Berlin 1960ff. Heinz Kühn: Die Kunst der politischen Rede. Düsseldorf 1985. Neil Postman: Wir amüsieren uns zu Tode. Unterhaltung im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie. Frankfurt 1985.