Rechtsstaatliche Anforderungen an völkerstrafrechtliche Verfahren [1 ed.] 9783428538348, 9783428138340

Die zunehmende Bedeutung der internationalen Strafgerichtsbarkeit und die damit verbundene weltweite erhöhte Aufmerksamk

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German Pages 573 Year 2012

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Rechtsstaatliche Anforderungen an völkerstrafrechtliche Verfahren [1 ed.]
 9783428538348, 9783428138340

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Beiträge zum Internationalen und Europäischen Strafrecht Studies in International and European Criminal Law and Procedure Band / Volume 16

Rechtsstaatliche Anforderungen an völkerstrafrechtliche Verfahren

Von

Elisa Hoven

Duncker & Humblot · Berlin

ELISA HOVEN

Rechtsstaatliche Anforderungen an völkerstrafrechtliche Verfahren

Beiträge zum Internationalen und Europäischen Strafrecht Studies in International and European Criminal Law and Procedure Herausgegeben von / Edited by RiLG Prof. Dr. Kai Ambos

Band / Volume 16

Rechtsstaatliche Anforderungen an völkerstrafrechtliche Verfahren

Von

Elisa Hoven

Duncker & Humblot · Berlin

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungsund Beihilfefonds Wissenschaft der VG WORT.

Die Juristische Fakultät der Freien Universität Berlin hat diese Arbeit im Jahre 2011 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2012 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 1867-5271 ISBN 978-3-428-13834-0 (Print) ISBN 978-3-428-53834-8 (E-Book) ISBN 978-3-428-83834-9 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde von der Juristischen Fakultät der Freien Universität Berlin im Dezember 2011 als Dissertation angenommen. Von Beginn an war es Ziel dieser Arbeit, neben den theoretischen Grundlagen auch Erkenntnisse aus der praktischen Erfahrung an internationalen Strafgerichten einfließen zu lassen. Zugleich sollte durch die Zusammenarbeit mit verschiedenen Universitäten eine internationale Perspektive gewonnen werden. Durch die großzügige Unterstützung des Bucerius-Jura-Programms der ZEITStiftung war es mir möglich, das Vorhaben meinen Vorstellungen entsprechend zu realisieren. Ein Aufenthalt am Lauterpacht Centre for International Law an der University of Cambridge legte den Grundstein für den völkerrechtlichen Teil der Dissertation. Die Arbeit als Legal Assistant in der Opfervertretung der Extraordinary Chambers in the Courts of Cambodia gab mir einen beispiellosen Einblick in die praktischen Herausforderungen eines völkerstrafrechtlichen Verfahrens. Während meiner Beschäftigung am War Crimes Studies Center der University of California, Berkeley (WCSC) konnte ich über das Monitoring-Programm des Fachbereichs einen interessanten Vergleich der verschiedenen internationalen Gerichte anstellen. Die spannenden Diskussionen, insbesondere mit dem engagierten Direktor des WCSC, Professor David Cohen, und der Nebenklägervertreterin Silke Studzinsky haben meine Arbeit erheblich bereichert. Ich möchte an dieser Stelle die Gelegenheit nutzen, einigen Personen meinen Dank auszusprechen. Ich hatte das große Glück, während meiner Arbeit von einer Vielzahl wunderbarer Menschen unterstützt worden zu sein. Besonderer Dank gilt meinem Doktorvater Herrn Professor Dr. Philip Kunig, der nicht nur die Idee zu dieser Arbeit entscheidend geprägt hat, sondern sie auch mit großem Engagement betreut hat. Seine fachliche Kompetenz und seine scharfsinnigen Anmerkungen haben mich immer wieder beeindruckt. Herrn Professor Dr. Klaus Hoffmann-Holland schulde ich großen Dank für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens. Durch seine konstruktive Kritik hat er die Arbeit an einer entscheidenden Stelle erheblich vorangebracht. Bedanken möchte ich mich zudem bei Herrn Professor Dr. Christoph Safferling. Als Experte für das völkerstrafrechtliche Verfahren war er stets ein hervorragender Gesprächspartner, der meine Dissertation in wesentlichen Punkten bereichert hat. Seinem Einsatz verdanke ich meinen Aufenthalt in Kambodscha, den er mit großem Engagement bewirkt hat.

6

Vorwort

Eine herzliche Danksagung gebührt Richter am Internationalen Strafgerichtshof Dr. h.c. Hans-Peter Kaul, in dessen Büro ich als Visiting Professional arbeiten durfte. Seine tiefe Überzeugung von der Bedeutung des Völkerstrafrechts hat mich begeistert und beeindruckt. Ein besserer Fürsprecher für das Anliegen des Internationalen Strafgerichtshofes lässt sich wohl nicht finden. Gleiches gilt für Herrn Professor Dr. Claus Kreß, den ich fachlich wie menschlich sehr bewundere und für dessen Unterstützung ich mehr als dankbar bin. Professor Dr. Kai Ambos danke ich sehr für die freundliche Aufnahme meiner Arbeit in seine Schriftenreihe. Ferner bedanke ich mich beim Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort sowie beim Auswärtigen Amt für die großzügige Bewilligung eines Druckkostenzuschusses. Nicht zuletzt möchte ich mich bei meiner Familie und meinen Freunden bedanken. Mein großartiger Mann Sebastian, der mich während der Doktorarbeit stets begleitet hat, war und ist der wichtigste Halt in meinem Leben. Ohne die großzügige Unterstützung durch meine Mutter Elfi Nareyek-Hoven, meinen Vater Hartmut Hoven und durch Peter Skrodzki hätte ich meine Arbeit nicht in dieser Form verwirklichen können. Um den wichtigen Menschen in meinem Leben gerecht zu werden, gilt mein Dank auch meinen Freundinnen Linda, Lisa, Mareike und Saskia. Berlin, im Mai 2012

Elisa Hoven

Inhaltsübersicht A. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

25

B. Rechtsstaatlichkeit als Maßstab internationaler Strafgerichtsverfahren . . . . . . . . .

29

I. Der Begriff des Rechtsstaates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

29

II. Die normative Geltung rechtsstaatlicher Anforderungen im Völkerrecht . . . . . . .

53

III. Rechtsstaatlichkeit als Vorgabe für internationale Strafgerichte . . . . . . . . . . . . . . . .

81

IV. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 C. Institutionelle und verfahrensrechtliche Umsetzung von Rechtsstaatlichkeit an internationalen Straftribunalen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 I. Die Entstehung der internationalen Strafgerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 II. Das Verfahrensrecht der internationalen Strafgerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 D. Rechtsstaatliche Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren . . . . . 184 I. Die Dogmatik der Verfahrensgarantien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 II. Das Recht auf Verhandlung durch ein auf Gesetz beruhendes Gericht . . . . . . . . . . 187 III. Die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Gerichtes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 IV. Die Öffentlichkeit des Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 V. Die Unschuldsvermutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 VI. Das Recht auf Information und Kommunikation in eigener Sprache . . . . . . . . . . . 334 VII. Das Recht auf Verteidigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 VIII. Der Beschleunigungsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 IX. Das Anwesenheitsrecht des Angeklagten und trial in absentia . . . . . . . . . . . . . . . . . 421 X. Die Waffengleichheit im Beweisverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 444 XI. Das Prinzip „Nemo tenetur se ipsum accusare“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 480 E. Die Gestaltung des Prozessmodells . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 506 I. Die Vorzüge des adversatorischen Strafprozesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 508 II. Ein Plädoyer für das kontinentaleuropäische Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 515 III. Fazit zur Wahl des Rechtssystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 525

8

Inhaltsübersicht

F. Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 530 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 533 Internetquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 561 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 567

Inhaltsverzeichnis A. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

25

B. Rechtsstaatlichkeit als Maßstab internationaler Strafgerichtsverfahren . . . . . . . . .

29

I. Der Begriff des Rechtsstaates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

29

1. Formeller und materieller Rechtsstaatsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

29

2. Die allgemeinen Gewährleistungen des Rechtsstaatsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . .

31

3. Verfahrensgarantien als Gebote der Rechtsstaatlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

32

a) Verfahrensgarantien als Folge eines menschenrechtlich geprägten Rechtsstaatsverständnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

32

b) Verfahrensgarantien als Gebot materieller Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . .

36

4. Der staatliche Strafanspruch als Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips . . . . . . .

38

5. Verhältnisbestimmung von Verfahrensgarantien und effektivem Strafverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

40

a) Die Annahme komplementärer Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

40

b) Der janusköpfige Rechtsstaatsbegriff: Strafanspruch und Verfahrensrechte als widerstreitende Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

43

c) Die Bestimmung eines verhältnismäßigen Ausgleichs von Strafanspruch und Prozessrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

46

aa) Die Geltung von Verhältnismäßigkeit im Völkerrecht . . . . . . . . . . . . . . .

46

bb) Die Gewichtung der Rechtsgüter im Rahmen einer Abwägung . . . . . .

50

II. Die normative Geltung rechtsstaatlicher Anforderungen im Völkerrecht . . . . . . .

53

1. Bedeutung von Rechtsstaatlichkeit im Völkerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

54

2. Rechtsstaatlichkeit in völkerrechtlichen Verträgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

57

a) Die allgemeine Verankerung von Rechtsstaatlichkeit in völkerrechtlichen Verträgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

57

b) Verfahrensgarantien in völkerrechtlichen Verträgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

58

3. Rechtsstaatlichkeit als Bestandteil des Völkergewohnheitsrechts . . . . . . . . . . .

59

a) Anforderungen an die Geltung von Völkergewohnheitsrecht . . . . . . . . . . . .

60

b) Völkergewohnheitsrechtliche Geltung eines allgemeinen Rechtsstaatsprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

62

aa) Rechtsstaatlichkeit in der internationalen Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

62

bb) Rechtlicher Bindungswille oder politische Erklärung? . . . . . . . . . . . . . .

66

cc) Fazit zur gewohnheitsrechtlichen Geltung des Rechtsstaatsprinzips . .

69

10

Inhaltsverzeichnis c) Völkergewohnheitsrechtliche Geltung rechtsstaatlicher Verfahrensgarantien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

70

4. Rechtsstaatlichkeit als allgemeiner Rechtsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

73

a) Die Bestimmung allgemeiner Rechtsgrundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

73

b) Die Anerkennung von Verfassungsprinzipien als allgemeine Rechtsgrundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

76

c) Rechtsstaatlichkeit und Verfahrensgarantien als allgemeine Rechtsgrundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

78

5. Fazit zur normativen Geltung rechtsstaatlicher Anforderungen im Völkerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

80

III. Rechtsstaatlichkeit als Vorgabe für internationale Strafgerichte . . . . . . . . . . . . . . . .

81

1. Die Geltung völkerrechtlicher Verträge für das internationale Strafverfahren

83

a) Die unmittelbare Bindung internationaler Strafgerichte an völkerrechtliche Verträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

83

b) Die mittelbare Bindung internationaler Strafgerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

85

aa) Die Verantwortlichkeit der Staaten für vertraglich gegründete Gerichte (1) Die Verantwortlichkeit der Staaten bei Vertragsschluss . . . . . . . . . . (a) Das Prinzip „nemo plus iuris transferre potest quam ipse habet“ (b) Das Umgehungsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Die Zurechnung konkreter Rechtsverstöße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Die Judikatur des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Die Übertragung der EGMR-Rechtsprechung auf internationale Strafgerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

86 86 87 88 91 91 93

bb) Die Verantwortlichkeit der Staaten für die Einsetzung von Straftribunalen durch den UN-Sicherheitsrat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

95

2. Die unmittelbare Geltung von Gewohnheitsrecht und allgemeinen Rechtsgrundsätzen für das internationale Strafverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

99

a) Die Bindung internationaler Organisationen an das allgemeine Völkerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

99

aa) Die Bindung an Völkergewohnheitsrecht im Wege der Analogie . . . . 101 (1) Zur Geltung des Analogiegedankens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 (2) Die Anwendung der Analogie im Bereich des Völkerstrafrechts . . 104 bb) Der eigenständige Nachweis einer gewohnheitsrechtlichen Praxis internationaler Organisationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 b) Die Bindung des Sicherheitsrates an das allgemeine Völkerrecht . . . . . . . . 107 3. Fazit zur Geltung von Rechtsstaatlichkeit im Völkerstrafrecht . . . . . . . . . . . . . . 110 a) Zusammenfassung in Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 b) Die Einbeziehung des geltenden Völkerrechts in die Statuten internationaler Strafgerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 aa) Die Einbeziehung völkerrechtlicher Verfahrensrechte in das Statut des ICTY . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111

Inhaltsverzeichnis

11

bb) Die Einbeziehung völkerrechtlicher Verfahrensrechte in das Statut des ICC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 cc) Die Einbeziehung völkerrechtlicher Verfahrensrechte in das Recht der Außerordentlichen Kammern in Kambodscha . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 IV. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 C. Institutionelle und verfahrensrechtliche Umsetzung von Rechtsstaatlichkeit an internationalen Straftribunalen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 I. Die Entstehung der internationalen Strafgerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 1. Die Gründung der Ad-hoc-Tribunale für Jugoslawien und Ruanda . . . . . . . . . . 118 2. Die Gründung des Internationalen Strafgerichtshofs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 3. Die Gründung hybrider Tribunale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 a) Die Entstehung hybrider Tribunale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 b) Gründungsprozesse hybrider Tribunale am Beispiel der Außerordentlichen Kammern in Kambodscha . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Nationale Bemühungen um eine Aufarbeitung der Verbrechen . . . . . . bb) Internationale Bestrebungen zur Gründung eines internationalisierten Tribunals . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Fazit zur Gründung hybrider Gerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Die Rolle der Vereinten Nationen bei der Gründung hybrider Tribunale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Die Zukunft hybrider Gerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

123 124 125 127 127 128

4. Fazit zur Gründung internationaler Strafgerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 II. Das Verfahrensrecht der internationalen Strafgerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 1. Die prozessualen Rechtsgrundlagen internationaler Strafgerichte . . . . . . . . . . . 131 a) Die Ad-hoc-Tribunale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die Statuten der Ad-hoc-Tribunale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Verfahrens- und Beweisordnungen der Ad-hoc-Tribunale . . . . . . . (1) Die Kompetenz des Gerichts zur Festlegung einer Verfahrensordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Die Übertragbarkeit der Grundsätze der Gewaltenteilung und des Gesetzesvorbehalts auf das Völkerstrafrecht . . . . . . . . . . . . . (b) Richterliche Normsetzung als Verstoß gegen das Gebot der Gewaltentrennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Rechtsstaatliche Aspekte bei Änderung der Verfahrens- und Beweisordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Verfahren zur Änderung der RPE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Die Wahrung von Waffengleichheit im Rahmen des Änderungsverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Die Wahrung von Rechtssicherheit bei Inkrafttreten von Änderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Rechte des Beschuldigten in den RPE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

131 131 133 134 135 136 137 138 138 140 141

12

Inhaltsverzeichnis cc) Weitere Rechtsgrundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 b) Der Internationale Strafgerichtshof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 aa) Die Rechtsgrundlagen des ICC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Das Statut des ICC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Die Verfahrens- und Beweisordnung des ICC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Erlass und Änderung der Verfahrens- und Beweisordnung . . . (b) Die Bedeutung des Rückwirkungsverbotes für die Änderungen der RPE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Weitere Rechtsgrundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Normenhierarchie nach Art. 21 ICC-Statut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Die Geltung spezieller Rechtsquellen und die Einbeziehung allgemeinen Völkerrechts nach Art. 21 Abs. 1 ICC-Statut . . . . . . . . . (2) Die Bedeutung früherer Gerichtsentscheidungen nach Art. 21 Abs. 2 ICC-Statut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Die Vereinbarkeitsregel in Art. 21 Abs. 3 ICC-Statut . . . . . . . . . . . . (4) Fazit zu Art. 21 ICC-Statut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

142 142 143 143 145 147 148 148 150 151 153

c) Die hybriden Gerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 aa) Die Ausgliederung hybrider Gerichte aus dem nationalen Rechtssystem am Beispiel Sierra Leones . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 bb) Die Implementierung hybrider Gerichte in das nationale Rechtssystem am Beispiel Kambodschas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Das Verhältnis von nationalem und internationalem Verfahrensrecht an den ECCC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Die Rechtslage nach dem Gründungsvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Die Probleme eines Vorrangs des nationalen Rechts . . . . . . . . . (c) Die Zusammenführung nationalen und internationalen Rechts in den Internal Rules . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Der Erlass von Internal Rules . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Die Kompetenz zum Erlass von Internal Rules . . . . . . . . . . . . . . (b) Der Vorrang der Internal Rules vor dem nationalen Recht . . . (aa) Die Praxis der ECCC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Kritik am Vorrang der Internal Rules . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Fazit zu den rechtlichen Problemen der Internal Rules . . . . . . .

155 156 156 157 158 159 161 163 163 164 166

cc) Fazit zum Verhältnis nationalen und internationalen Rechts . . . . . . . . . 167 (1) Die Notwendigkeit einer Vereinbarung nationaler und internationaler Standards . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 (2) Die Möglichkeit einer Rahmenkonvention für hybride Tribunale 168 2. Die Regelungsstruktur internationaler Strafgerichte: Zwischen common law und civil law . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 a) Die divergierenden Grundsätze von common law und civil law . . . . . . . . . . 170 b) Die Verbindung von common law und civil law in den Rechtssystemen völkerstrafrechtlicher Gerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172

Inhaltsverzeichnis aa) Das Regelungssystem der Ad-hoc-Tribunale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Die Gründung nach den Vorgaben des angloamerikanischen Verfahrensmodells . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Der spätere Einfluss des kontinentaleuropäischen Rechtssystems (3) Fazit zum Regelungssystem der Ad-hoc-Tribunale . . . . . . . . . . . . . .

13 172 172 173 175

bb) Das Regelungssystem des Internationalen Strafgerichtshofs . . . . . . . . . 175 (1) Die Entstehung des Verfahrensrechts als Kompromisslösung . . . . 175 (2) Die Verbindung angloamerikanischer und kontinentaleuropäischer Strukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 cc) Die Regelungssysteme der hybriden Tribunale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 (1) Angloamerikanische und kontinentaleuropäische Elemente im Verfahrensrecht der ECCC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 (2) Die Besonderheit der Ermittlungsrichter (Co-Investigating Judges) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 c) Fazit zur Regelungsstruktur internationaler Strafgerichte . . . . . . . . . . . . . . . . 182 D. Rechtsstaatliche Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren . . . . . 184 I. Die Dogmatik der Verfahrensgarantien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 II. Das Recht auf Verhandlung durch ein auf Gesetz beruhendes Gericht . . . . . . . . . . 187 1. Begriffsklärung: Das Verständnis des Anspruchs im internationalen Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 a) Der Anspruch auf Vorhersehbarkeit und Schutz vor willkürlicher Gerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 b) Der Anspruch auf ein legislativ eingesetztes Gericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 c) Der Anspruch auf ein rechtmäßig und rechtsstaatlich eingesetztes Gericht 191 2. Die Geltendmachung vor Gericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 a) Die „Zuständigkeit“ als Gegenstand gerichtlicher Überprüfung . . . . . . . . . . 194 b) Die Legitimität der Gründung als politische oder rechtliche Frage . . . . . . . 196 3. Die Rechtmäßigkeit der Ad-hoc-Tribunale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 a) Bedrohung oder Bruch des Friedens nach Art. 39 UN-Charta . . . . . . . . . . . . 198 aa) Überprüfbarkeit der Voraussetzungen des Art. 39 UN-Charta . . . . . . . 198 bb) Das Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 39 UN-Charta . . . . . . . . . 201 b) Die Kompetenz des Sicherheitsrates zur Gründung eines Strafgerichtes . . 204 aa) Die Ermächtigung zur Gründung von Ad-hoc-Tribunalen durch die UN-Charta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 bb) Die Vereinbarkeit mit dem Grundsatz des „nemo plus iuris transferre potest, quam ipse habet“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 cc) Die tatsächliche Eignung zur Friedenswahrung als Rechtmäßigkeitskriterium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 (1) Die Auswirkungen des Gerichts auf den Friedensprozess . . . . . . . . 209 (2) Der zeitliche Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211

14

Inhaltsverzeichnis c) Die Vereinbarkeit internationaler Ad-hoc-Tribunale mit der staatlichen Souveränität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 aa) Die Geltendmachung durch den Angeklagten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 bb) Die Verletzung staatlicher Souveränität durch Gründung von Adhoc-Tribunalen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 4. Fazit zum Recht auf den gesetzlichen Richter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 III. Die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Gerichtes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 1. Die rechtlichen Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 2. Die Gewährleistung von Unabhängigkeit und Unparteilichkeit durch allgemeine Anforderungen an Auswahl und Kompatibilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 a) Die Auswahl der Richter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 aa) Rechtliche Auswahlkriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 bb) Die Beteiligung nationaler und internationaler Richter . . . . . . . . . . . . . . (1) Modelle der Beteiligung nationaler Richter an hybriden Tribunalen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Die Minderheitsbeteiligung nationaler Richter in Ost-Timor und Sierra Leone . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Die differenzierte Beteiligung nationaler Richter in BosnienHerzegowina . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Die Mehrheitsbeteiligung nationaler Richter in Kambodscha (2) Die Probleme einer Beteiligung nationaler Richter . . . . . . . . . . . . . . (a) Die fehlende Unabhängigkeit nationaler Richter . . . . . . . . . . . . . (b) Die Parteilichkeit nationaler Richter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Die unzureichende Rechtskenntnis nationaler Richter . . . . . . . (3) Die Vorteile einer Beteiligung nationaler Richter . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Vorschlag zur Ausgestaltung einer Beteiligung nationaler Richter cc) Das Verfahren der Richterwahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Das Auswahlverfahren der Ad-hoc-Tribunale am Beispiel des ICTY . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Das Auswahlverfahren des ICC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Das Auswahlverfahren der hybriden Tribunale . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Die Bestimmung der Richter durch internationale Organe am Beispiel Ost-Timors . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Die Bestimmung der Richter durch nationale und internationale Organe am Beispiel Sierra Leones . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Die Bestimmung der Richter durch nationale Organe am Beispiel Kambodschas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Vorschläge zur Ausgestaltung der Richterwahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Allgemeine Richtlinien für das Verfahren der Richterwahl im Völkerstrafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Die Richterwahl an hybriden Tribunalen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

222 224 224 225 226 229 229 231 234 235 236 237 238 240 241 242 242 243 244 245 246

Inhaltsverzeichnis

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b) Wiederwahl der Richter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 aa) Die Rechtslage zur Wiederwahl von Richtern an internationalen Straftribunalen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 bb) Bewertung der Modelle zur Wiederwahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 c) Inkompatibilitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 3. Die Gewährleistung von Unparteilichkeit im Einzelfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 a) Maßstab zur Feststellung von Befangenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 b) Die rechtlichen Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 c) Befangenheit aufgrund staatlicher Funktionsausübung – Die Delalić-Entscheidung des ICTY . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 d) Befangenheit aufgrund politischen Engagements – Die Furundzija-Entscheidung des ICTY . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 e) Befangenheit aufgrund publizierter Stellungnahmen – Die Sesay-Entscheidung des SCSL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 f) Befangenheit aufgrund persönlicher Merkmale des Richters – Die ŠešeljEntscheidung des ICTY . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 g) Befangenheit aufgrund eines Verhaltens in den Verhandlungen . . . . . . . . . . 262 h) Befangenheit aufgrund einer Vorbefassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die Beteiligung des Richters im Vorfeld des Hauptverfahrens . . . . . . . (1) Die Beteiligung des Richters an der Leitung des Vorverfahrens . . (2) Die Beteiligung des für die Anklagebestätigung zuständigen Richters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Die Rechtsprechung des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Der Prüfungsumfang in Zwischen- und Hauptverfahren . . . . . bb) Die Beteiligung eines Richters der Hauptverfahrenskammer am Rechtsmittelverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Die vorherige Beteiligung an einem ähnlichen Verfahren . . . . . . . . . . . .

263 264 264 267 267 268 270 271

4. Vorschläge zur praktischen Gewährleistung von Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Gerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 IV. Die Öffentlichkeit des Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 1. Inhalt und Reichweite des Öffentlichkeitsprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 a) Die rechtlichen Grundlagen des öffentlichen Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 b) Subjektiv- und objektivrechtliche Elemente des Öffentlichkeitsprinzips – Zur Frage der Disponibilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 2. Die Verwirklichung des Öffentlichkeitsprinzips an internationalen Strafgerichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 a) Mediale Berichterstattung – Die Zulässigkeit audiovisueller Übertragung 279 b) Einschränkungen des Öffentlichkeitsprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 aa) Der Ausschluss der Öffentlichkeit im Einzelfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 bb) Der grundsätzliche Ausschluss der Öffentlichkeit im Vorverfahren der ECCC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283

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Inhaltsverzeichnis 3. Die praktischen Voraussetzungen von Öffentlichkeit im Völkerstrafrecht . . . 285 V. Die Unschuldsvermutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 1. Die rechtlichen Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 a) Die normative Verankerung der Unschuldsvermutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 b) Die rechtlichen Folgen der Unschuldsvermutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 c) Die Bedeutung der Unschuldsvermutung für das rechtsstaatliche Strafverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 2. Rolle der Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 a) Gerichtliche Sanktionen durch Informationsbeschränkung . . . . . . . . . . . . . . . 293 b) Die Durchsetzung zivilrechtlicher Schadensersatzansprüche durch den Angeklagten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 c) Eine ausgewogene Informationstätigkeit des Gerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 3. Das guilty-plea-Verfahren vor dem Hintergrund der Unschuldsvermutung . . 296 a) Die Bedeutung des guilty-plea-Verfahrens für den internationalen Strafprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 aa) Die Entwicklung des guilty-plea-Verfahrens an den Ad-hoc-Tribunalen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 bb) Die Umsetzung des guilty-plea-Verfahrens am ICC . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 cc) Der Ausschluss des guilty-plea-Verfahrens an den ECCC . . . . . . . . . . . 302 b) Die Bewertung der guilty plea im Völkerstrafprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 aa) Die Vorzüge der guilty plea . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 bb) Die rechtsstaatlichen Probleme der guilty plea . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Das Problem der Schuldangemessenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Das Problem der völkerstrafrechtlichen Zielverwirklichung . . . . . (3) Das Problem der Rechtswahrung des Angeklagten . . . . . . . . . . . . . .

304 304 306 307

c) Stellungnahme zum guilty-plea-Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 4. Die Untersuchungshaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 a) Untersuchungshaft und Unschuldsvermutung im System des Völkerstrafrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 b) Darstellung und Bewertung der Rechtslage an den Tribunalen . . . . . . . . . . . 310 aa) Die Untersuchungshaft an den Ad-hoc-Tribunalen . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Die Untersuchungshaft nach Anklageerhebung . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Die Voraussetzungen der Untersuchungshaft . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Die Ermessensentscheidung des Gerichts über die Entlassung des Angeklagten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Die Untersuchungshaft nach dem erstinstanzlichen Urteil . . . . . . .

310 311 311 313 314

bb) Die Untersuchungshaft am Internationalen Strafgerichtshof . . . . . . . . . 315 (1) Das Verfahren der Untersuchungshaft vor dem Internationalen Strafgerichtshof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 (2) Das Verfahren der Untersuchungshaft vor nationalen Instanzen . . 317

Inhaltsverzeichnis

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cc) Die Untersuchungshaft an den ECCC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 dd) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 c) Die Haftgründe als Voraussetzungen einer Untersuchungshaft . . . . . . . . . . . 320 aa) Die Fluchtgefahr als Haftgrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Allgemeine Kriterien zur Ermittlung der Fluchtgefahr . . . . . . . . . . . (2) Die Schwere der Tat als Indiz für Fluchtgefahr . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Die Besonderheiten an den ECCC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

322 322 323 324

bb) Die Verdunkelungsgefahr als Haftgrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 cc) Der Schutz des Beschuldigten als Haftgrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 dd) Die Wahrung der öffentlichen Ordnung als Haftgrund . . . . . . . . . . . . . . . 329 d) Die Folgen der Unschuldsvermutung für die Untersuchungshaft . . . . . . . . . 332 aa) Untersuchungshaft als praktischer Regelfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332 bb) Die Verteilung der Beweislast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 VI. Das Recht auf Information und Kommunikation in eigener Sprache . . . . . . . . . . . 334 1. Die rechtlichen Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 2. Die sprachlichen Herausforderungen im internationalen Strafverfahren . . . . . 335 3. Der Anspruch der Verteidigung auf die Übersetzung von Dokumenten . . . . . 337 a) Die Rechtsprechung der ECCC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 b) Die Bewertung des Rechtsanspruchs auf Übersetzung von Dokumenten 341 VII. Das Recht auf Verteidigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 1. Das Recht auf Selbstverteidigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 a) Die rechtlichen Grundlagen des Selbstverteidigungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . 343 aa) Das Recht auf Selbstverteidigung in common law und civil law . . . . . 344 bb) Das Recht auf Selbstverteidigung im Völkerstrafprozess . . . . . . . . . . . . (1) Zur Gewährleistung des Selbstverteidigungsrechts . . . . . . . . . . . . . . (2) Zur Einschränkung des Selbstverteidigungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . (3) Zur Notwendigkeit einer normativen Fundierung . . . . . . . . . . . . . . .

346 346 347 348

cc) Fazit zu den rechtlichen Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 b) Rechtsstaatliche Bewertung der Selbstverteidigung im Völkerstrafrecht . . 351 aa) Die Probleme der Selbstverteidigung vor internationalen Strafgerichten (1) Die Komplexität des Strafverfahrens als Problem der Waffengleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Die Gefahr politischer Zweckentfremdung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Die Verzögerung des Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

351 352 354 355 357

bb) Lösungsansätze zur Gewährleistung eines rechtsstaatlichen Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358 (1) Die Einsetzung eines Standby Counsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358 (2) Die Einsetzung eines amicus curiae . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361

18

Inhaltsverzeichnis (3) Die generelle Pflichtverteidigung unter Beteiligung des Angeklagten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Die Beiordnung eines Pflichtverteidigers nach dem Vorbild des civil law . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Für und Wider einer Pflichtverteidigung im Völkerstrafprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Die Gewährleistung von Mitwirkungsrechten des Angeklagten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (d) Die Vereinbarkeit der generellen Pflichtverteidigung mit internationalen Prozessrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

364 365 366 368 371

2. Das Recht auf freie Wahl des Verteidigers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 a) Die Anforderungen an Strafverteidiger vor internationalen Gerichten . . . . aa) Die Anforderungen am ICTY . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Anforderungen am ICC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Die Anforderungen an den ECCC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Fachliche, sprachliche und ethische Anforderungen an den ECCC (2) Das Erfordernis der Registrierung in der kambodschanischen Anwaltskammer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

374 375 376 377 377 379

b) Vorschläge zur Änderung der Zulassungsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . 380 VIII. Der Beschleunigungsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 2. Die rechtlichen Grundlagen des Beschleunigungsgebotes . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382 3. Die Rechtsnatur des Beschleunigungsgebotes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 a) Der individualrechtliche Gehalt des Beschleunigungsgebotes . . . . . . . . . . . . 384 b) Der objektivrechtliche Gehalt des Beschleunigungsgebotes . . . . . . . . . . . . . . 384 c) Die Grenzen des Beschleunigungsgebotes – Grundsätze der Abwägung . . 386 4. Der Beschleunigungsgrundsatz als individuelles Recht des Angeklagten . . . . 388 a) Kriterien zur Bestimmung der zulässigen Verfahrensdauer . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die Rechtsprechung des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Rechtsprechung der Ad-hoc-Tribunale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Die Anwendung der Kriterien durch den ICTR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Die Argumentation der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Kritik an der Rechtsprechung des ICTR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

388 388 389 391 391 392

b) Fazit zum Anspruch des Angeklagten auf ein zügiges Verfahren . . . . . . . . . 395 5. Der Beschleunigungsgrundsatz als objektives Verfahrensprinzip am Beispiel der Completion Strategies . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 396 a) Rechtlicher und politischer Hintergrund der Completion Strategies . . . . . . 397 b) Maßnahmen zur Beschleunigung der Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Änderungen der Prozessorganisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Die Einsetzung von ad litem-Richtern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Die Einsetzung von Vorverfahrensrichtern (Pre-Trial Judges) . . . .

398 399 399 400

Inhaltsverzeichnis

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bb) Die Beschränkung der personellen Zuständigkeit des Tribunals . . . . . 401 cc) Die Beschränkung der Verfahrensinhalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Die Vorteile einer Beschränkung der Anklage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Kritik an einer Beschränkung der Anklage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Fazit zur Beschränkung der Anklage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

403 404 405 405

dd) Die beschränkte Zulassung von Zeugen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 406 ee) Der Rückgriff auf plea bargaining . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 408 c) Bewertung der Completion Strategies . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 aa) Der Einfluss externer Faktoren auf die Verfahrensdauer . . . . . . . . . . . . . 409 bb) Die Abwägung der Verfahrensziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 410 6. Beschleunigung durch Annäherung an das kontinentaleuropäische Recht . . . 412 a) Die Auswirkung des Prozesssystems auf die Dauer der Verfahren . . . . . . . 412 b) Die Rolle des Richters im Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413 aa) Die frühzeitige Information des Richters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414 bb) Der Richter als Leiter des Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 416 (1) Die Rechtslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 416 (2) Die Einflüsse von common law und civil law auf die Befugnisse des Richters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417 cc) Fazit zur Rolle des Richters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419 IX. Das Anwesenheitsrecht des Angeklagten und trial in absentia . . . . . . . . . . . . . . . . . 421 1. Die rechtlichen Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421 2. Die Zulässigkeit von trial in absentia im nationalen und internationalen Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 422 a) Trial in absentia im nationalen Strafverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423 b) Trial in absentia in der internationalen Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . 424 c) Trial in absentia im Völkerstrafprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425 aa) Trial in absentia an den Ad-hoc-Tribunalen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 426 (1) Die Abwesenheit des flüchtigen Beschuldigten vom Gericht . . . . 426 (2) Die Abwesenheit des Angeklagten von den Verhandlungen . . . . . 428 bb) Trial in absentia am Internationalen Strafgerichtshof . . . . . . . . . . . . . . . . 429 cc) Trial in absentia an den hybriden Tribunalen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 430 (1) Das Präsenzerfordernis bei Prozesseröffnung an den ECCC . . . . . 430 (2) Die Zulässigkeit von trial in absentia am Sondertribunal für den Libanon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 432 3. Die rechtsstaatliche Bewertung von trial in absentia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433 a) Trial in absentia in Folge eines Rechtsverzichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433 aa) Die Disponibilität des Anwesenheitsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 434 bb) Voraussetzungen eines wirksamen Verzichts – das Problem des flüchtigen Beschuldigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435

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Inhaltsverzeichnis (1) Die unmissverständliche und ernsthafte Einwilligung des Beschuldigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 436 (2) Die Freiwilligkeit des Rechtsverzichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 436 b) Die Verurteilung des flüchtigen Beschuldigten im Lichte rechtsstaatlicher Abwägung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 438 aa) Die Vorzüge des trial in absentia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 438 bb) Die rechtsstaatlichen Schwächen des trial in absentia . . . . . . . . . . . . . . . 439 cc) Stellungnahme zur Zulässigkeit und den Voraussetzungen eines trial in absentia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 440 X. Die Waffengleichheit im Beweisverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 444 1. Die rechtlichen Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 444 2. Das Begriffsverständnis von Waffengleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445 3. Die Probleme der Waffengleichheit im Beweisverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447 a) Das Ungleichgewicht der Ressourcen von Anklage und Verteidigung . . . . 448 aa) Die Ressourcenverteilung in der Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 448 bb) Die Verletzung von Waffengleichheit durch ungleiche Ressourcen . . 450 b) Fehlende Staatenkooperation als Problem der Waffengleichheit . . . . . . . . . . 453 c) Fazit zur praktischen Gewährleistung von Waffengleichheit . . . . . . . . . . . . . 455 4. Die Institutionalisierung der Verteidigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 456 a) Die Rechtslage an den internationalen Strafgerichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 456 aa) Die Ad-hoc-Tribunale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 456 bb) Der Internationale Strafgerichtshof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457 cc) Die hybriden Tribunale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459 b) Stellungnahme zur Institutionalisierung der Verteidigung . . . . . . . . . . . . . . . . 460 5. Die Offenlegung von Beweismitteln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 460 a) Die Pflichten des Anklägers nach den Statuten der Gerichte . . . . . . . . . . . . . 462 aa) Der Ankläger am Jugoslawientribunal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Voraussetzungen der Offenlegungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Die Bedeutung der Offenlegungspflicht für die Rolle des Anklägers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Einschränkungen der Offenlegungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Folgen von Verstößen gegen die Offenlegungspflicht . . . . . . . . . . .

462 463 464 465 466

bb) Der Ankläger am Internationalen Strafgerichtshof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Die Rechtslage am ICC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Der Fall Lubanga . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Fazit zur Rechtslage am ICC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

467 467 468 471

b) Der Erlass von Sanktionen bei Verletzung der Offenlegungspflicht . . . . . . 473 6. Die Anpassung des Beweisverfahrens an das kontinentaleuropäische Recht 474 a) Die prozessuale Unterstützung der Verteidigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475

Inhaltsverzeichnis

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b) Die Einsetzung eines Ermittlungsrichters nach dem Modell der ECCC . . . 476 aa) Die Vorzüge der Einsetzung von Ermittlungsrichtern . . . . . . . . . . . . . . . . 477 bb) Kritik an der Einsetzung von Ermittlungsrichtern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 478 cc) Fazit zur Einsetzung von Ermittlungsrichtern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 479 XI. Das Prinzip „Nemo tenetur se ipsum accusare“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 480 1. Schweigerecht und Selbstbelastungsfreiheit des Angeklagten . . . . . . . . . . . . . . . 481 a) Die rechtlichen Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 481 b) Die Reichweite des Schutzbereichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 483 aa) Die nachteilige Berücksichtigung des Schweigens in Schuldspruch und Strafmaß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Der Fall Mucić am ICTY . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Die differenzierte innerstaatliche Rechtslage . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Die Rechtsprechung des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Entscheidungsgründe des ICTY . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Die Zulässigkeit einer strafschärfenden Berücksichtigung des Schweigens nach den unterschiedlichen Konzepten des Nemotenetur-Prinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Das weite Verständnis des Nemo-tenetur-Prinzips in der deutschen StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Die Kritik an einer weiten Auslegung des Nemo-tenetur-Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Ausblick und Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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488 488 490 494

bb) Die strafmildernde Berücksichtigung eines Geständnisses . . . . . . . . . . . 495 2. Das Schweigerecht der Zeugen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 498 a) Die rechtlichen Grundlagen an internationalen Strafgerichten . . . . . . . . . . . . 500 b) Die Reichweite des Nemo-tenetur-Prinzips zu Gunsten des Zeugen . . . . . . 502 c) Die Schutzvorschriften zu Gunsten des aussageverpflichteten Zeugen . . . 504 E. Die Gestaltung des Prozessmodells . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 506 I. Die Vorzüge des adversatorischen Strafprozesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 508 1. Die Garantie einer umfassenden Beweiswürdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 508 2. Die Gewährleistung subjektiver Fairness . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 510 3. Die Sicherstellung eines unvoreingenommenen Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . 512 II. Ein Plädoyer für das kontinentaleuropäische Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 515 1. Die Analyse der prozessualen Probleme und ihre Bedeutung für die Verfahrensgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 515 a) Das Problem der Waffengleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 515 b) Die Beschleunigung der Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 517 c) Die Komplexität des völkerstrafrechtlichen Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . 517

22

Inhaltsverzeichnis 2. Die Gestaltung des Rechtssystems vor dem Hintergrund der Verfahrensziele 519 a) Die materielle Wahrheitsfindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 519 b) Die Beteiligung von Opfern am völkerstrafrechtlichen Verfahren . . . . . . . . 521 3. Der Verzicht auf eine Jury als Faktor für die Gestaltung des Rechtssystems . . 525 III. Fazit zur Wahl des Rechtssystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 525 1. Die verstärkte Einbeziehung kontinentaleuropäischer Verfahrenselemente . . . 525 2. Anforderungen an die Normierung einer völkerstrafrechtlichen Verfahrensordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 527

F. Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 530 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 533 Internetquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 561 Gedruckte Zeitungsquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 566 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 567

Abkürzungsverzeichnis a. A.

anderer Ansicht

ACMR

Arabische Charta der Menschenrechte

ADC

Association of Defence Counsel

AEMR

Allgemeine Erklärung der Menschenrechte

AMRK

Amerikanische Menschenrechtskonvention

Art.

Artikel

BAKC

Bar Association Kingdom of Cambodia

BGH

Bundesgerichtshof

CPC

Cambodian Criminal Procedure Code

DSS

Defence Support Section

ECCC

Außerordentliche Kammern in den Gerichten Kambodschas

ECCC-Agreement

Agreement between the United Nations and the Royal Government of Cambodia Concerning the Prosecution under Cambodian Law of Crimes Committed During the Period of Democratic Kampuchea

ECCC-IR

Internal Rules der ECCC

ECCC-LoE

Law on the Establishment of Extraordinary Chambers in the Courts of Cambodia for the Prosecution of Crimes Committed During the Period of Democratic Kampuchea

EG

Europäische Gemeinschaft

EGMR

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte

EMRK

Europäische Menschenrechtskonvention

EU

Europäische Union

EuGH

Europäischer Gerichtshof

GUR

Grundprinzipien der Unabhängigkeit der Richterschaft

ICC

Internationaler Strafgerichtshof

ICC-Statut

Römisches Statut des Internationalen Strafgerichtshofs

ICTR

Internationaler Strafgerichtshof für Ruanda

ICTY

Internationaler Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien

IGH

Internationaler Gerichtshof

ILC

Völkerrechtskommission

IMG-Statut

Statut des Internationalen Militärgerichtshofs von Nürnberg

IPbpR

Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte

KFOR

Kosovo Force

24

Abkürzungsverzeichnis

KID

Khmer Institute of Democracy

KSZE

Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa

m.w. N.

mit weiteren Nachweisen

NGO

Nichtregierungsorganisation

OPCD

Office of Public Counsel for the Defence

OSZE

Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa

PCIJ

Permanent Court of International Justice

PRT

Peoples Revolutionary Tribunal

RPE

Rules of Procedure and Evidence

RUF

Revolutionary United Front

SCSL

Sondergerichtshof für Sierra Leone

SOSC

Sonderkammern in Ost-Timor

StIGH

Ständiger Internationaler Gerichtshof

STL

Sondertribunal für den Libanon

StPO

Strafprozessordnung

UNAT

United Nations Administrative Tribunal

UNCSW

UN-Commission on the Status of Women

UNMIK

United Nations Interim Administration Mission in Kosovo

UNTAET

United Nations Transitional Administration in East Timor

WVK

Wiener Vertragsrechtskonvention

A. Einführung „[A]ccess to fundamental fair trial rights is a key indicator of equitability in any system of criminal justice, as proceedings lose their credibility and integrity without the consistent application of due process standards.“1 Richter Wolfgang Schomburg, ICTY

Die Wahrung rechtsstaatlicher Anforderungen ist eine wesentliche Grundlage für die Akzeptanz internationaler Strafgerichte und die Verwirklichung ihrer völkerrechtlichen Zielstellungen. Die Integrität eines Gerichts und seine Legitimation zur Verhandlung internationaler Verbrechen beruhen maßgeblich auf dem Grad seiner rechtsstaatlichen Selbstverpflichtung. Eine glaubwürdige Ahndung von Rechtsverstößen kann nur durch eine Instanz gewährleistet werden, die rechtliche Grundsätze ausnahmslos beachtet. Die Bindung an Fairness und Gerechtigkeit ist Garant für die Umsetzung der politischen wie rechtlichen Ziele völkerstrafrechtlicher Tribunale. Neben der Verurteilung hauptverantwortlicher Täter soll die internationale Strafgerichtsbarkeit einen Beitrag zur Versöhnung und historischen Aufarbeitung von Verbrechen leisten.2 Ein rechtsstaatliches Verfahren ist Grundbedingung für eine auf Wahrheit und Gerechtigkeit verpflichtete Tataufklärung im Interesse der globalen Friedenssicherung. Als Antwort der Staatengemeinschaft auf die Verletzung völkerrechtlicher Normen müssen internationale Strafgerichte die Gebote einer fairen und rechtsstaatlichen Prozessgestaltung respektieren. Die Entscheidung für eine unbedingte Achtung rechtsstaatlicher Verfahren legte einen Grundstein für die Entwicklung des Völkerstrafrechts im 20. Jahrhundert. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges mussten die Alliierten auf die Verbrechen des Nationalsozialismus in Deutschland reagieren. Der englische Premierminister Winston Churchill wandte sich gegen den Vorschlag eines internationalen Strafverfahrens und forderte die Hinrichtung der Täter: „Agree the trial will be a farce. Indictment: facilities for counsel. All sorts of complications ensue as soon as you admit a fair trial. I would take no responsibility for a trial – even though U.S. wants to do it. Execute the principal criminals as outlaws.“3

Mit Errichtung der Militärtribunale von Nürnberg und Tokyo setzte sich schließlich die Idee einer gerichtlichen Aufarbeitung der Verbrechen nach den Maßstäben Schomburg, NJIHR 8 / 1 (2009), S. 1 (1) (letzter Zugriff am 24.05.2010). Eser, Reflexionen zum Prozesssystem, in: Sieber (Hrsg.), Strafrecht und Wirtschaftsstrafrecht, FS Tiedemann, 2008, S. 1453 (1466). 3 Winston Churchill am 12. April 1945, Aussage zitiert in: Pomery, State Secrets, 2006, S. 49. 1 2

26

A. Einführung

des geltenden Rechts durch. Die Unterzeichnung ihrer Statuten war die Geburtsstunde des Völkerstrafrechts und ein bedeutender Schritt für die internationale Anerkennung von Rechtsstaatlichkeit.4 Churchills Haltung offenbarte jedoch mögliche Einwände gegen die Gewährleistung rechtsstaatlicher Anforderungen im Kontext internationaler Verbrechen. In Anbetracht von Schwere und Ausmaß völkerrechtlicher Straftaten bleiben Forderungen nach prozessualen Garantien für die Verantwortlichen oftmals leise.5 Das öffentliche Verständnis für die Notwendigkeit eines rechtsstaatlichen Schutzes der Täter ist begrenzt. Peters beobachtet, dass eine Lockerung rechtsstaatlicher Gebote im Rahmen gravierender Verbrechen dem „menschlichen Empfinden“ nach Gerechtigkeit entspreche.6 Mögen Vorbehalte gegen eine strikte Bindung an ein faires Verfahren menschlich nachvollziehbar sein, dürfen sie nicht zur Grundlage rechtlicher Entscheidungen werden. Eine Relativierung rechtsstaatlicher Anforderungen im Bereich völkerrechtlicher Kernstraftaten wie Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Völkermord hieße die absolute Geltung des Prinzips in Frage zu stellen. Die Wahrung der Prämissen des Rechtsstaates darf nicht von einer Schutzwürdigkeit des Adressaten abhängig gemacht werden, sondern ist um ihrer selbst willen durchzusetzen. Strafverteidiger Guénaël Mettraux beschreibt die rechtsstaatliche Verpflichtung der internationalen Staatengemeinschaft als moralische und rechtliche Legitimationsgrundlage völkerstrafrechtlicher Tribunale: „Fair trials are not a luxury that we can dispose of when inconvenient. They are the symbol of our commitment to the rule of law, one that distinguishes us from the men we put on trial in its name.“7

Der Rechtsstaat gewährt auch seinen Gegnern das Privileg eines gerechten Verfahrens. Als internationale Zielvorgabe kann Rechtsstaatlichkeit nur glaubhaft verwirklicht werden, wenn ihre Grundsätze nicht zur Disposition stehen. Völkerstrafrechtliche Prozesse müssen daher den Anforderungen eines fairen und rechtsstaatlichen Verfahrens unterliegen. Die Bewertung von Recht und Praxis internationaler Strafgerichte erfordert die Festlegung und Überprüfung normativ verbindlicher Maßstäbe. Grundlage der Untersuchung ist eine Definition des Rechtsstaatsbegriffes im völkerrechtlichen Bezugsrahmen. Zunächst gilt es, den materiellen Gehalt des Prinzips unter Berücksichtigung der strafprozessualen Besonderheiten zu ermitteln. Anschließend muss die normative Geltung rechtsstaatlicher Grundsätze sowie ihre Verbindlichkeit für Gestaltung und Rechtsprechung internationaler Gerichte untersucht werden. Der Nachweis eines Rechtsstaatsprinzips auf völkerrechtlicher Ebene erfolgt im Wege einer Betrachtung der Quellen des internationalen Rechts. Eine UnterWerle, Völkerstrafrecht, 2007, S. 8. Küper / Wasserburg / Peters, Strafrechtspflege, 1988, S. 149. 6 Küper / Wasserburg / Peters, Strafrechtspflege, 1988, S. 150. 7 Mettraux, „In Defence of the Defence“, 27.03.2010, http://www.internationallawbureau. com / blog / ?p=1292 (letzter Zugriff am 24.05.2010); Guénaël Mettraux ist Strafverteidiger am ICTY. 4 5

A. Einführung

27

suchung völkerrechtlicher Verträge, des Völkergewohnheitsrechts sowie allgemeiner Rechtsgrundsätze soll die Existenz des Grundsatzes im internationalen Recht belegen. Ausgehend von einer grundsätzlichen Anerkennung rechtsstaatlicher Verfahrensbedingungen wird ihre mittelbare und unmittelbare Verbindlichkeit für die verschiedenen Formen der Völkerstrafgerichtsbarkeit dargestellt. Im Vordergrund steht hierbei die Mitwirkung der Staaten an der Gründung internationaler Straftribunale. Bedeutung soll insbesondere der Frage zukommen, ob die Staaten bei Zustimmung zum Statut die Einhaltung rechtsstaatlicher Anforderungen gewährleisten müssen (Kapitel B.). Das nachfolgende Kapitel skizziert die historischen und systematischen Hintergründe des internationalen Strafrechts. Die Entstehungsgeschichte der Tribunale zeigt die Bedeutung nationaler Interessen und politischer Gegebenheiten für die Ausformung der gerichtlichen Statuten. Ein Schwerpunkt soll in diesem Zusammenhang auf die Rechtsstaatlichkeit des formalen Erlassvorgangs gelegt werden. Weiterhin wird die grundsätzliche Prägung der Prozessordnungen durch Elemente des kontinentaleuropäischen und angloamerikanischen Rechtskreises untersucht. Die Frage nach der Ausrichtung des internationalen Verfahrensrechts an den Modellen von common law und civil law bildet eine Grundbedingung für das Verständnis völkerstrafrechtlicher Gewährleistungen (Kapitel C.). Ausgehend von den institutionellen Voraussetzungen sollen die rechtsstaatlichen Verfahrensgarantien des internationalen Strafrechts in den Blick genommen werden. Gegenstand der Analyse sind die normativen Regelungen sowie die prozessuale Praxis völkerstrafrechtlicher Tribunale. Im Rahmen einer problemorientierten Betrachtung werden Parallelen und Divergenzen in der Umsetzung rechtsstaatlicher Prinzipen dargestellt. Die Deskription der internationalen Verfahrensnormen soll mit einer Bewertung ihrer praktischen und rechtlichen Folgen verbunden werden. Bezugspunkt des Vergleichs ist das Prozessrecht der drei unterschiedlichen Formen völkerstrafrechtlicher Gerichtsbarkeit. Neben dem Internationale Strafgerichtshof (ICC) werden die Ad-hoc-Tribunale sowie die jüngere Form einer hybriden Verfahrensgestaltung berücksichtigt. Der Fokus der Betrachtung richtet sich exemplarisch auf das Jugoslawientribunal (ICTY) und die Außerordentlichen Kammern in Kambodscha (ECCC)8. Als permanentem Organ des Völkerstrafrechts kommt dem ICC eine besondere Bedeutung für die Zukunft des internationalen Verfahrensrechts zu. Aufgrund seiner Kontinuität steht zu vermuten, dass der ICC fortan Maßstäbe für den völkerrechtlichen Strafprozess setzen kann. Durch die Gegenüberstellung der Verfahrensordnungen von ICTY und ECCC werden bestehende Schwächen des Modells und ein möglicher Regelungsbedarf offenbart. Ziel der vergleichenden Betrachtung soll die Entwicklung einer rechtsstaatlichen Optimallösung und die Formulierung konkreter Verbesserungsvorschläge für das internationale Verfahren sein. Die Zwecksetzungen des völkerstrafrechtlichen Prozesses werden hierbei ebenso in die Beurteilung einbezogen wie die praktischen und normativen Herausforderungen 8

Extraordinary Chambers in the Courts of Cambodia.

28

A. Einführung

im internationalen Kontext. Die Untersuchung der rechtsstaatlichen Anforderungen konzentriert sich auf ihre Verwirklichung in der gerichtlichen Hauptverhandlung und nimmt die besonderen Probleme von Ermittlungs- wie Rechtsmittelverfahren aus (Kapitel D.). Ausgehend von den Erkenntnissen der Analyse soll die grundsätzliche Frage nach der prozessorganisatorischen Ausrichtung internationaler Strafgerichte beantwortet werden. Die Unterscheidung angloamerikanischer und kontinentaleuropäischer Verfahrensgestaltung wird sich als wesentlich für die konkrete Verwirklichung rechtsstaatlicher Garantien erweisen. Die überwiegende Orientierung am common law wird als Grundlage völkerstrafrechtlicher Statuten hinterfragt. Vor dem Hintergrund der verfahrensrechtlichen Problemfelder sowie der Zielstellungen des internationalen Strafprozesses soll eine Alternative zu dem bestehenden Modell einer vorrangig angloamerikanischen Prägung entwickelt werden. Mit der Bestimmung allgemeiner Verfahrensrichtlinien verfolgt die Untersuchung auch ein rechtspolitisches Ziel. Die Festlegung auf ein prozessuales Modell unterliegt keinen strengen normativen Vorgaben, sondern erfordert eine rechtspolitische Entscheidung im Lichte rechtsstaatlicher Verhältnismäßigkeit (Kapitel E.).

B. Rechtsstaatlichkeit als Maßstab internationaler Strafgerichtsverfahren Die Untersuchung internationaler Gerichtsverfahren am Maßstab von Rechtsstaatlichkeit erfordert zunächst die verbindliche Festlegung einer Begriffsinterpretation. Auf Grundlage des entwickelten Begriffsverständnisses sollen Vorgaben für eine rechtsstaatlich fundierte Prozessordnung abgeleitet werden. Anschließend ist darzulegen, welche Elemente des Rechtsstaatsprinzips auf der Ebene des Völkerrechts normative Geltung beanspruchen können. In einem letzten Schritt soll die rechtliche Verpflichtung internationaler Strafgerichte zur Einhaltung völkerrechtlicher Grundsätze diskutiert werden. Vor dem Hintergrund der gewonnenen Erkenntnisse erfolgt schließlich eine Verhältnisbestimmung zwischen rechtlich zwingenden und politisch zweckmäßigen Anforderungen, die als methodische Vorgabe der nachfolgenden Verfahrensbewertung dienen soll.

I. Der Begriff des Rechtsstaates Die Frage nach der Wahrung rechtsstaatlicher Anforderungen im Rahmen völkerstrafrechtlicher Verfahren setzt eine genaue Bestimmung des Begriffsverständnisses voraus. Es gilt eine Definition von Rechtsstaatlichkeit festzulegen, die als Maßstab einer rechtlichen Bewertung internationaler Verfahrensregelungen dienen kann. Aufgrund des hohen Abstraktionsgrades des Begriffes gestaltet sich der Versuch einer Definition von Rechtsstaatlichkeit als Maßstab der normativen Analyse völkerrechtlicher Verfahrensreglungen problematisch.

1. Formeller und materieller Rechtsstaatsbegriff Uneinigkeit besteht bereits in der Frage, ob dem Rechtsstaat grundsätzlich ein materieller Gehalt zuerkannt werden soll. Nach einem rein formalen Verständnis setzt Rechtsstaatlichkeit lediglich das Bestehen einer verbindlichen Rechtsordnung voraus.1 In Abstraktion von inhaltlichen Staatszielen und dem Streben nach materieller Gerechtigkeit beschränkt sich das formelle Rechtsstaatsverständnis auf die Gewährleistung von Rechtssicherheit durch ein System zwangsbewährter Regelungen.2 1 2

Hofmann, Der StaatZ 34 (1995), S. 1 (11). Hofmann, Der StaatZ 34 (1995), S. 1 (11).

30

B. Rechtsstaatlichkeit als Maßstab von Strafgerichtsverfahren

Wird in diesem Sinne jeder normativ strukturierte Staat als Rechtsstaat begriffen, erscheint die von Hans Kelsen einst provokativ geäußerte Bezeichnung als „Pleonasmus“3 ohne Weiteres zuzutreffen.4 Grundlage des formalen Rechtsstaatsbegriffes ist ein streng positivistisches Verständnis von Recht, das nicht als Verwirklichung eines Ideals von Gerechtigkeit, sondern als das objektive Ergebnis eines Rechtssetzungsprozesses angesehen wird.5 Die Ablehnung jeder ethisch-moralischen Dimension macht das Recht als variable Form gesellschaftlichen Handelns offen für beliebige Inhalte. Die Entscheidung für Gerechtigkeit wird somit zu einer politischen Frage ohne rechtliche Verbindlichkeit. In gleichem Maße wie eine inhaltliche Ausrichtung von Gesetzen als naturalistisches Vorurteil verneint wird, müsste auch eine materielle Konzeption des Rechtsstaates verworfen werden.6 Übertragen auf die Forderung nach Rechtsstaatlichkeit völkerrechtlicher Verfahrensregelungen bedeutete dies, dass aus der Perspektive des formellen Rechtsstaatsbegriffes bereits die Existenz einer normativen Prozessordnung unabhängig von ihrem materiellen Gehalt genügte. Ein internationales Tribunal müsste somit lediglich einem normativen System unterworfen werden, über dessen inhaltliche Ausgestaltung die Staatengemeinschaft frei disponieren könnte. Durch die formalrechtliche Bindung der Gerichte würde zwar die Möglichkeit willkürlicher Einzelfallentscheidungen ausgeschlossen,7 gesetzlich vorgesehene Eingriffe in die Rechte des Angeklagten unterlägen aus rechtsstaatlicher Sicht jedoch keinen Beschränkungen. Erschöpfte sich das Verständnis von Rechtsstaatlichkeit in reinen Formelementen, müsste auch eine als ungerecht empfundene Verfahrensordnung als rechtsstaatlich erachtet werden. Möchte man dem Begriff Rechtsstaat jedoch die eigenständige Bedeutung geben, die ihm nach allgemeinem Sprachverständnis zukommt, muss er materielle Anforderungen an hoheitliches Handeln begründen können. Aus der sprachlichen Nähe von Recht und Gerechtigkeit wird der Hinweis auf eine inhaltliche Komponente des Begriffes entnommen. Soll der Rechtsstaatsbegriff seine substanzielle Berechtigung nicht verlieren, kann eine despotische Rechtsordnung ohne Orientierung an den grundlegenden Werten von Freiheit und Gleichheit nicht als rechtsstaatlich verstanden werden.8 Rechtsstaatliche Anforderungen an internationale Strafgerichte sollen der völkerrechtlichen Verfahrensgestaltung daher Grenzen aufzeigen und ein Bekenntnis der Staatengemein3 Kelsen, Reine Rechtslehre, 1960, S. 314. Deutlich wird die Haltung Kelsens auch an anderer Stelle (ebd., S. 319 f.): „Und dann enthüllt sich der Versuch, den Staat als ‚Rechts‘-Staat zu legitimieren, darum als völlig untauglich, weil – wie schon betont – jeder Staat in dem Sinne ein Rechtsstaat sein muss, dass jeder Staat eine Rechtsordnung ist.“ 4 So auch Doehring, Allgemeine Staatslehre, 2004, S. 231. 5 Kelsen, Reine Rechtslehre, 1960, S. 319 f. 6 Kelsen, Reine Rechtslehre, 1960, S. 319 f. 7 Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, 1987, S. 987. 8 Leibholz, Les tendances actuelles, in: N.N. (Hrsg.), Archives de philosophie du droit et de sociologie juridique, Bd. 1, 1931, S. 207 (212).

I. Der Begriff des Rechtsstaates

31

schaft zur Gerechtigkeit zum Ausdruck bringen.9 Wird aus diesen Erwägungen eine rein formale Begriffsinterpretation abgelehnt, stellt sich die Frage nach dem Gehalt einer materiell verstandenen Rechtsstaatlichkeit.

2. Die allgemeinen Gewährleistungen des Rechtsstaatsbegriffs Den bisherigen Versuchen einer abstrakten Definition von Rechtsstaatlichkeit ist es nicht gelungen, einen allgemeingültigen Konsens über die notwendigen Wesensmerkmale des Rechtsstaats zu finden.10 Auf breitere Zustimmung stieß die Begriffsbestimmung Sterns, der die Bedeutung von Rechtsstaatlichkeit darin sieht, dass „die Ausübung staatlicher Macht nur auf der Grundlage von verfassungsmäßig erlassenen Gesetzen mit dem Ziel der Gewährleistung von Menschenwürde, Freiheit, Gerechtigkeit und Rechtssicherheit zulässig ist“11. Stern wagt jedoch keine abschließende Definition und distanziert sich von früheren Versuchen einer allgemeingültigen Begriffsfestlegung.12 Anstelle einer umfassenden Beschreibung von Rechtsstaatlichkeit erörtert Stern lediglich einen Teilaspekt rechtsstaatlichen Handelns und bestätigt damit die Ansicht, dass der Rechtsstaat in seiner Eigenschaft als dogmatisches Prinzip kaum zu fassen ist.13 Das Problem einer genauen Definition von Rechtsstaatlichkeit liegt in der hohen Resorptionskraft des Begriffes.14 Aufgrund ihrer historischen Bedeutungsschwere werden mit der Geltung von Rechtsstaatlichkeit die unterschiedlichsten Erwartungen an hoheitliches Handeln verknüpft. Der Rechtsstaat gestaltet sich als Sammelbecken für Forderungen nach staatlicher Gerechtigkeit und als allgemeine Geltungsgrundlage aller Elemente, die für eine positiv bewertete Staatsordnung vorausgesetzt werden.15 Angesichts der dogmatischen Schwierigkeiten, die eine abstrakte Beschreibung des Phänomens Rechtsstaat bereiten, bildete sich in der modernen Rechtsstaatslehre die Tendenz zur additiven Darstellung rechtsstaatlicher Garantien heraus.16 Verfahrensrechtliche Anforderungen werden daher nicht aus einem allgemeinen Rechtsstaatsbegriff abgeleitet, sondern auf Grundlage einzelner, aus dem Prinzip des Rechtsstaates deduzierter Gewährleistungen entwickelt. Schütz, Strafe und Strafrecht, 1997, S. 20. Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, 1997, S. 20. 11 Stern, Das Staatsrecht, Bd. I, 1984, S. 781. 12 Stern, Das Staatsrecht, Bd. I, 1977, S. 615: In der Vorauflage schrieb Stern, „Rechtsstaatlichkeit bedeutet Ausübung staatlicher Macht auf der Grundlage von verfassungsmäßig erlassenen Gesetzesn mit dem Ziel der Gewährleistung von Menschenwürde, Freiheit, Gerechtigkeit und Rechtssicherheit“. Auf den ersten Blick unterscheiden sich die Formulierungen nur marginal. Sobota belegt jedoch, dass Stern mit der Wendung „bedeutet, dass“ den Anspruch einer generellen Begriffsdefinition aufgibt. Siehe Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, 1997, S. 22. 13 Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, 1997, S. 19. 14 Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, 1997, S. 20. 15 Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, 1986, S. 123. 16 Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, 1997, S. 24 f. 9

10

32

B. Rechtsstaatlichkeit als Maßstab von Strafgerichtsverfahren

Als verfahrensrelevante Ausprägungen des Rechtsstaatsprinzips sind insbesondere die Grundsätze von Bestimmtheit17, Verhältnismäßigkeit18 sowie die allgemeine Justizgewährleistungspflicht19 anerkannt. Ein wesentliches Gebot rechtsstaatlicher Strafprozessgestaltung ist zudem die Garantie von Rechtssicherheit als Grundlage für Vertrauensschutz und Rückwirkungsverbot.20 Organisatorisch wird die Einhaltung der Verfahrensprinzipien durch die rechtsstaatliche Forderung nach Gewaltenteilung sowie die konsequente Gesetzesbindung und Unabhängigkeit der Gerichte ergänzt.21 Beschränkt sich das geltende Rechtsstaatsverständnis auf die Festlegung singulärer Rechtspositionen auf Grundlage materieller Gerechtigkeit, müssen die rechtsstaatlichen Prämissen des Strafverfahrens im Einzelnen erarbeitet werden.

3. Verfahrensgarantien als Gebote der Rechtsstaatlichkeit Die Gewährleistung prozessualer Grundsätze kann auf unterschiedlichem Wege aus dem Rechtsstaatsprinzip hergeleitet werden. Ein möglicher Ansatzpunkt ist die Begründung von Verfahrensrechten mit einem menschenrechtlich geprägten Verständnis von Rechtsstaatlichkeit. Dogmatisch könnten die Voraussetzungen einer fairen Verfahrensgestaltung zudem auf ein rechtsstaatliches Gebot materieller Gerechtigkeit gestützt werden.

a) Verfahrensgarantien als Folge eines menschenrechtlich geprägten Rechtsstaatsverständnisses Ausgangspunkt einer menschenrechtlichen Betrachtung ist die Sicherung der Menschenwürde und persönlichen Freiheit des Beschuldigten. Eine Konkretisierung erfährt der grundrechtliche Schutz durch spezielle Gewährleistungen verfahrensrechtlicher Garantien. Völkerrechtliche Konventionen und nationale Verfassungen erkennen eine Vielzahl an prozessualen Grundrechten an. Das deutsche Grundgesetz normiert den Anspruch auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 I 2 GG), das Recht auf rechtliches Gehör (Art. 103 I GG) sowie das Verbot der Mehrfachbestrafung (Art. 104 GG) als individualrechtliche Prämissen des Strafprozesses. Vergleichbare Gewährleistungen finden sich in internationalen Menschenrechtsverträgen wie in Art. 14 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR) und Art. 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). In Anbetracht der Zielvorgabe der vorliegenden Untersuchung stellt sich die Frage nach dem Verhältnis des prozessualen Menschenrechtsschutzes zu den Inhalten 17 18 19 20 21

Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, 1997, S. 132. Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, 1997, S. 6; hierzu ausführlich in Kapitel B. I. 5. c). Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, 1997, S. 188. Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, 1997, S. 154 f. Saladin, Wozu noch Staaten?, 1995, S. 166; Stern, Staatsrecht, Bd. I, 1984, S. 793.

I. Der Begriff des Rechtsstaates

33

des Rechtsstaatsprinzips. Teilweise wird das Erfordernis verfahrensrechtlicher Garantien unmittelbar einem menschenrechtlich geprägten Verständnis des Rechtsstaates entnommen. Entsprechend ihrem historischen Ursprung als Begrenzung staatlicher Macht dienen rechtsstaatliche Anforderungen dem Schutz von Rechten des Einzelnen gegenüber hoheitlicher Gewalt. Aus dogmatischer Sicht wird die Verhältnisbestimmung von Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten indes differenziert betrachtet. Während die Freiheitsrechte teilweise direkt aus dem Rechtsstaatsbegriff hergeleitet werden, verneint die Gegenposition inhaltliche Vorgaben an die Gewährleistungen.22 Das Rechtsstaatsprinzip würde hiernach allein die Existenz eines Grundrechtskataloges voraussetzen ohne selbst materielle Ansprüche zu garantieren. Die Kritik in der Literatur an der Einbeziehung von Menschenrechten in den Rechtsstaatsbegriff macht sich wesentlich an ihrem logischen Rangverhältnis fest. Eine Einordnung der Grundrechte als Teilbereich des Rechtsstaatsprinzips würde die Bedeutung der Menschenrechte und ihre Stellung im nationalen Verfassungsgefüge verkennen.23 Ihre Integration in den Rechtsstaatsbegriff führe zu einer Überordnung des Prinzips gegenüber den menschenrechtlichen Verbürgungen, deren normatives Gewicht eine Disproportionalität zwischen Oberbegriff und Teilbereich zur Folge hätte. Sobota lehnt eine Inklusion der Grundrechte daher unter Hinweis auf die gleichwertige Bedeutung menschenrechtlicher und rechtsstaatlicher Garantien ab.24 Angesichts ihrer überragenden Bedeutung führe die Anerkennung der Grundrechte als Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips zu einem systematischen Ungleichgewicht zwischen den einzelnen Elementen der Rechtsstaatlichkeit.25 In Bezug auf die Festlegung prozessualer Standards sieht Kunig die Verfahrensmaximen im Rahmen des Grundrechtsschutzes effektiver gewährleistet.26 Aufgrund ihrer klaren Rechtfertigungsmaßstäbe stellten menschenrechtliche Bestimmungen eindeutigere Anforderungen an hoheitliche Eingriffe in Verfahrensgarantien. Eine Verortung prozessualer Grundsätze im Rechtsstaatsprinzip könnte hiernach zu einer Senkung des normativen Schutzniveaus führen. „Die Grundrechte sperren sich effektiver als ‚das‘ Rechtsstaatsprinzip gegen Beschränkungen, die nicht auf gesetzlicher Grundlage beruhen.“27

Die Ausdehnung des Rechtsstaatsbegriffs auf substanzielle Grundrechte wird demgegenüber mit den Folgen eines materiellen Rechtsstaatsverständnisses begründet. Hofmann bezeichnet die Gewährleistung von Menschenrechten als „das hervor22 So schließt bspw. Rzepka „inhaltliche Impulse“ durch den Rechtsstaatsbegriff aus; vgl. dazu Rzepka, Fairness, 2000, S. 302. 23 Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, 1997, S. 67. 24 Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, 1997, S. 67. 25 Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, 1997, S. 67. 26 Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, 1986, S. 386. 27 Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, 1986, S. 386.

34

B. Rechtsstaatlichkeit als Maßstab von Strafgerichtsverfahren

stechende äußere Merkmal rechtsstaatlich-liberaler Verfassungen“28. Karpen vertritt die Auffassung, Grundrechte seien „der wichtigste Bestandteil jeder rechtsstaatlichen Verfassung.“29 Diese Ansichten beruhen auf der Anerkennung von Gerechtigkeit als materielle Komponente der Rechtsstaatlichkeit. Wird der Rechtsstaat in einem materiellen Sinne verstanden, erscheint die Einbeziehung inhaltlich definierter Menschenrechte zur Wahrung individueller Gerechtigkeit überzeugend. Auch das BVerfG betont in seiner Rechtsprechung die Nähe zwischen den Grundrechten und einem materiellen Rechtsstaatsbegriff.30 „Die Wurzel dieses allgemeinen Prozessgrundrechts [des fairen Verfahrens, Anm. Verf.] findet sich in den in einem materiell verstandenen Rechtsstaatsprinzip verbürgten Grundrechten und Grundfreiheiten des Menschen, insbesondere in dem durch ein Strafverfahren bedrohten Recht auf Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG), dessen freiheitssichernde Funktion auch im Verfahrensrecht Beachtung erfordert; ferner in Art. 1 Abs. 1 GG, der es verbietet, den Menschen zum bloßen Objekt eines staatlichen Verfahrens herabzuwürdigen, und von daher einen Mindestbestand an aktiven verfahrensrechtlichen Befugnissen des Angeklagten voraussetzt.“31

Den von Kunig und Sobota geäußerten systematischen Bedenken kann durch Klarstellung des dogmatischen Ansatzpunktes begegnet werden. Wird den Grundrechten eine Doppelfunktion zuerkannt, können sie sowohl einen eigenständigen Rechtskreis als auch ein zentrales Element des Rechtsstaatsprinzips bilden. Gegen die Konzeption einer Überschneidung und parallelen Selbständigkeit der Regelungsbereiche sprechen keine zwingenden Gründe. Subjekte Verfahrensrechte könnten hiernach unmittelbar aus den Grundrechten und zugleich aus den inhaltlichen Vorgaben des Rechtsstaatsprinzips hergeleitet werden. Bleiben die Grundrechte autonomer Bestandteil der Rechtsordnung, leitet sich aus ihrer gleichzeitigen Integration in den Rechtsstaatsbegriff nicht notwendig ein Rangverhältnis oder modifizierter Schutzstandard ab. Wird von einer prinzipiellen Inklusion der Menschenrechte ausgegangen, stellt sich die Folgefrage nach dem Umfang ihrer rechtsstaatlichen Geltung. Sobota weist mit Recht darauf hin, dass eine vollständige Integration der speziellen Menschenrechtsnormen über den Rahmen des rechtsstaatlich Gebotenen hinausgehen würde.32 Die konkrete Ausgestaltung eines Grundrechtskataloges in einer nationalen Verfassung oder völkerrechtlichen Konvention ist regelmäßig nicht auf zwingende rechtsstaatliche Vorgaben rückführbar, sondern Ausdruck einer politischen Entscheidung 28 Hofmann, Das Verfassungsprinzip, in: Just / Wollenschläger (Hrsg.), Recht und Rechtsbesinnung, GS Küchenhoff, 1987, S. 231 (239); Karpen, Rechtsstaat, 1992, S. 38. 29 Karpen, Rechtsstaat, 1992, S. 38. 30 Die Darstellung Scheuners, der eine Trennung der Rechtskreise mit einer fehlenden Stellungnahme des Verfassungsgerichtes untermauern will, ist folglich nicht zutreffend; vgl. Scheuner, Entwicklung des Rechtsstaates, in: Forsthoff (Hrsg.), Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit, 1968, S. 461 (496). 31 BVerfGE 57, 250 (275). 32 Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, 1997, S. 66.

I. Der Begriff des Rechtsstaates

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auf Grundlage einer herrschenden Sozialwertung. Um die Gewährleistungen der Rechtsstaatlichkeit nicht einer wandelbaren Grundrechtsdogmatik zu unterwerfen, plädiert Schmidt-Aßmann für eine Beschränkung des Rechtsstaatsprinzips auf die „großen Verbürgungen von Freiheitlichkeit und Rechtsgleichheit“33. Als Bestandteile des Rechtsstaates wären daher nur unverzichtbare Grundlagen des Menschenrechtsschutzes erfasst.34 Die Entlastung des Rechtsstaatsbegriffs von einer speziellen Grundrechtsgestaltung hat jedoch einen Verlust der terminologischen Präzision zur Folge. Die Begrenzung menschenrechtlicher Inhalte wirft die Frage nach einer Definition und verbindlichen Festlegung elementarer Grundrechtsgewährleistungen auf.35 Wenngleich eine exakte Bestimmung des relevanten Menschenrechtskerns hier nicht vorgenommen werden kann, ist von einer rechtsstaatlichen Anerkennung der grundlegenden Verfahrensrechte auszugehen. Wie die Ausführungen des BVerfG verdeutlichen, können prozessuale Garantien unmittelbar aus den fundamentalen Rechten auf Freiheit und Würde abgeleitet werden. Die Nähe der Verfahrensrechte insbesondere zur Grundnorm der Menschenwürde36 rechtfertigt ihre Einbeziehung in die Kategorie der vom Rechtsstaat erfassten Grundrechte.37 Prozessuale Individualrechte wie das Recht auf den gesetzlichen und unabhängigen Richter, die Geltung der Unschuldsvermutung, ein beschleunigtes Verfahren sowie die Wahrung von Waffengleichheit sind folglich unmittelbar dem Rechtsstaatsprinzip zu entnehmen. Ein alternativer Weg zur Deduktion von Verfahrensgarantien aus dem Rechtsstaatsbegriff ist die Annahme einer dienenden Funktion der Rechtsstaatlichkeit gegenüber menschenrechtlichen Bestimmungen.38 Grundlage dieser Überlegung ist das Verständnis der Menschenrechte als autonomer Rechtskreis, dessen Inhalte als Zielvorstellungen des Rechtsstaates anerkannt, nicht jedoch selbständig erfasst werden. Das Rechtsstaatsprinzip enthält hiernach keinen materiellen Grundrechtskatalog, bleibt allerdings historisch menschenrechtlich fundiert. Werden Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte als interagierende Prinzipien anerkannt,39 müssen rechtsstaatliche Verfahrensgarantien die praktische Durchsetzung von Grundrechten verwirklichen. Aus der rechtsstaatlichen Verantwortung für die Gewährleistung von Menschenrechten folgt die Pflicht zur Wahrung ihres materiellen Gehaltes durch eine geeignete Verfahrensgestaltung.40 Insbesondere das durch ein Strafverfahren 33 Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, 1987, S. 987 (1003). 34 Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, 1987, S. 987 (1003). 35 Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, 1997, S. 69. 36 Enders, Die Menschenwürde, 1997, S. 49. 37 Saladin, Wozu noch Staaten?, 1995, S. 176. 38 Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, 1997, S. 485 f. 39 Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, 1997, S. 485 f. 40 Rzepka, Fairness, 2000, S. 255.

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B. Rechtsstaatlichkeit als Maßstab von Strafgerichtsverfahren

bedrohte Recht auf Freiheit muss prozessual abgesichert werden. Der Rechtsstaat erweist sich hiernach als Schranke staatlichen Handelns und als Bürge für elementare Rechte des Angeklagten. Zugleich wird die schwierige Verhältnisbestimmung von Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten durch die Annahme einer Konnexität der Prinzipien umgangen. Festzuhalten bleibt, dass aus beiden Perspektiven subjektive Verfahrensansprüche wie rechtliches Gehör, Unschuldsvermutung und Waffengleichheit Bestandteile des Rechtsstaats darstellen. Sie bilden somit einen ersten Maßstab für die Untersuchung internationaler Prozessordnungen.

b) Verfahrensgarantien als Gebot materieller Gerechtigkeit Neben der menschenrechtlichen Verpflichtung des Rechtsstaates bestimmt auch seine Anbindung an den Grundsatz materieller Gerechtigkeit Voraussetzungen für ein rechtsstaatliches Strafverfahren.41 Ist der „moderne Rechtsstaat (…) seinem Anspruch nach gerechter Staat“42, kann ihm das Erfordernis einer fairen Verfahrensgestaltung entnommen werden. Der Gedanke des „fair trial“ als grundlegendes Prinzip einer Prozessordnung wird daher von der herrschenden Ansicht unmittelbar aus dem Rechtsstaatsbegriff hergeleitet.43 Die Anerkennung der Verfahrensgerechtigkeit als Ausprägung materieller Rechtsstaatlichkeit wird angesichts der begrifflichen Unbestimmtheit auch kritisch gesehen.44 Aus der Forderung nach prozessualer Fairness ließen sich keine praktischen Schlüsse auf inhaltliche Vorgaben an eine konkrete Verfahrensgestaltung ziehen.45 Das Prinzip des „fair trial“ sei zu „substanzarm“46 um einen praktikablen Maßstab für die Bewertung rechtsstaatlicher Verfahren darzustellen. In jedem Fall würden sich die Aussagen des Gebotes in einer Wiedergabe der bereits menschenrechtlich garantierten Positionen erschöpfen und neben den Grundrechten keinen materiellen Eigenwert aufweisen.47 Den Kritikern des Fairnessgebotes lässt sich die Anwendung des Grundsatzes als allgemeines Strukturprinzip rechtsstaatlicher Verfahrensorganisation entgegenhalten. Anders als die Menschenrechte schützt der „fair trial“ nicht allein individualrechtliche Ansprüche, sondern garantiert darüber hinaus eine objektive AusgestalSaladin, Wozu noch Staaten?, 1995, S. 99. Saladin, Wozu noch Staaten?, 1995, S. 99. 43 BVerfGE 26, 66 (71); 38, 105 (111); 40, 95 (99); Saladin, Wozu noch Staaten?, 1995, S. 176 m.w. N. 44 Kritische Darstellung bei Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, 1986, S. 379 ff. 45 Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, 1986, S. 384; Kunig sieht insbesondere die Problematik einer sinnvollen Abgrenzung zwischen einem Verstoß gegen das Fairnessgebot und zulässiger Verfahrensgeschicklichkeit. 46 Heubel, Der ‚fair trial‘, 1981, S. 53 f. 47 Heubel, Der ‚fair trial‘, 1981, S. 146 ff. 41 42

I. Der Begriff des Rechtsstaates

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tung des Prozessrechts.48 Dies wird exemplarisch durch die unterschiedliche Verbürgung prozessualer Waffengleichheit belegt. Während sich Art. 3 GG in einer rechtlichen Gleichbehandlung der Parteien erschöpft, muss das Prinzip der Fairness die Gewährleistung eines praktisch gerechten Verfahrenssystems im Blick haben. Neben der konkreten Rechtsposition des Angeklagten erfasst der Wirkbereich des Fairnessgebotes sämtliche Verfahrensabläufe und beteiligte Organe. Ziel des „fair trial“ ist die Entwicklung einer Prozessordnung, die sich nicht auf die Verbürgung äquivalenter Verfahrensrechte beschränkt, sondern dem Angeklagten eine grundlegend faire Chance zur Verteidigung eröffnet.49 Im Unterschied zum Gebot der grundrechtlichen Gleichbehandlung kann die Herstellung prozessualer Fairness im Einzelfall Privilegierungen des Angeklagten erforderlich machen. In seiner Funktion als objektives Verfahrensprinzip erfüllt der Fairnessgrundsatz eine wichtige Aufgabe des Rechtsstaates und gewinnt neben den Menschenrechten einen eigenständigen Bedeutungsgehalt. Wenngleich die Konturen des „fair trial“ in der Tat nicht trennscharf zu bestimmen sind,50 können einzelne Inhalte aus der Idee des gerechten Verfahrens abgeleitet werden. Nach herrschender Auffassung sind unter anderem das Schweigerecht des Beschuldigten, die freie Wahl eines Verteidigers, das Verbot rechtswidriger Beweisgewinnung durch Zwang oder Täuschung sowie die umfassende Gewährung rechtlichen Gehörs Bestandteile eines fairen Verfahrens.51 Ferner wird dem Fairnessgedanken eine allgemeine prozessuale Fürsorgepflicht entnommen, die den Anspruch des Beschuldigten auf Unschuldsvermutung und Waffengleichheit absichert.52 Auf einem vergleichbaren Gedanken beruht die Geltung von Öffentlichkeits- und Mündlichkeitsprinzip.53 Die Einbeziehung der Öffentlichkeit dient einer wirksamen Kontrolle der angewandten Prozessstandards und ist Garant für die Einhaltung eines fairen Verfahrens.54 Die ermittelten Gewährleistungen des „fair trial“-Prinzips zeigen Überschneidungen, aber auch Unterschiede zu einer menschenrechtlichen Fundierung der Verfahrensgarantien. Die grundsätzliche Ausrichtung des Strafprozesses an der Idee der Prozessgerechtigkeit stellt einen objektiven Maßstab für die Bewertung eines rechtsstaatlichen Verfahrens dar. 48 BVerfGE 46, 202; Saladin, Wozu noch Staaten?, 1995, S. 176: „Rechtsstaatlichkeit erschöpft sich nicht in der Garantie von Grundrechten. Rechtsstaatlichkeit drückt sich notwendig auch aus (…) in einer bestimmten Struktur des Staates, so besonders in gewaltenteiliger Organisation, mit einem schweren Akzent auf der Unabhängigkeit der Gerichte.“ 49 Der Unterschied zum Gebot der grundrechtlichen Gleichbehandlung wird darin deutlich, dass zur Herstellung prozessualer Fairness auch eine Privilegierung des Angeklagten erforderlich werden kann. 50 Heubel, Der ‚fair trial‘, 1981, S. 60. 51 Heubel, Der ‚fair trial‘, 1981, S. 54. 52 Gössel, Strafverfahrensrecht, 1977, S. 165 f. 53 Schambeck, Staat, 1992, S. 14 ff. 54 Rzepka, Fairness, 2000, S. 357; Dahm, Deutsches Recht, 1963, S. 542.

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B. Rechtsstaatlichkeit als Maßstab von Strafgerichtsverfahren

Das „fair trial“-Gebot ist nur eine mögliche Folge der rechtsstaatlichen Verpflichtung auf materielle Gerechtigkeit. Der prozessuale Fairnessgrundsatz bestimmt formale Anforderungen an die Verfahrensgestaltung, lässt jedoch die Frage nach der Gerechtigkeit des Verfahrensergebnisses unbeantwortet. Um die Bedeutung des Rechtsstaatsprinzips im Strafprozess zu definieren, muss die Reichweite der Verfahrensgerechtigkeit bestimmt werden. Es gilt zu überlegen, ob das rechtsstaatliche Gerechtigkeitsgebot zugleich eine staatliche Wahrheitserforschungspflicht erfasst, „die keineswegs das Ziel hat, den Betroffenen zu begünstigen, sondern die darauf gerichtet ist, ihn einer gerechten Entscheidung zu unterwerfen und damit auch Belastungen für ihn schafft.“55

4. Der staatliche Strafanspruch als Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips Erschöpft sich also der Zweck rechtsstaatlicher Verfahrensanforderungen in der Rechtswahrung des Angeklagten? Die Bindung des Rechtsstaates an die Idee materieller Gerechtigkeit könnte seine Pflicht zu gerechter Urteilsfindung begründen. Aus Sicht eines objektiven Gerechtigkeitsverständnisses wäre es denkbar, die rechtmäßige Verurteilung des Angeklagten als rechtsstaatliches Anliegen zu qualifizieren. Vor dem Hintergrund der historischen Bedeutung des Rechtsstaates wird die Anwendung des Prinzips zur Legitimation hoheitlicher Eingriffe indes vielfach abgelehnt.56 Nach seinem ideengeschichtlichen Ursprung sei es alleinige Aufgabe des Rechtsstaates, hoheitliche Machtausübung durch die Gewährleistung eines effektiven Individualschutzes gegen die Durchsetzung der Interessen von Staat und Allgemeinheit zu begrenzen.57 Es widerspräche dem historischen Verständnis von Rechtsstaatlichkeit, ihre Inhalte als Ermächtigungsgrundlage staatlichen Handelns zu begreifen. Eine solche Interpretation würde den Rechtsstaatsbegriff in sein Gegenteil verkehren und ihn seiner ideengeschichtlichen Bedeutungskraft berauben. Grünwald spricht sogar von einer „Pervertierung des Rechtsstaates“58, wendete man ihn gegen den beschuldigten Bürger und gebrauche ihn als Legitimation für die Entfaltung staatlicher Gewalt im Interesse wirksamer Strafverfolgung.59 Rechtsstaatlichkeit solle sich in konsequenter Fortführung der historischen Begriffsentwicklung auf eine individualschützende Funktion beschränken und konträr zum Heubel, Der ‚fair trial‘, 1981, S. 55. So beispielsweise Marxen, Straftatsystem, 1984, S. 429: „Abzulehnen ist daher eine Auffassung, die es als ein Ziel rechtsstaatlicher Normenhandhabung ausgibt, für ‚Funktionstüchtigkeit‘ staatlicher Institutionen zu sorgen.“ 57 Stern, Das Staatsrecht, 1984, S. 787. 58 Grünwald, JZ 1976, S. 767 (773), so übernommen von: Ransiek, Die Rechte des Beschuldigten, 1990, S. 78. 59 Grünwald zeichnet hierbei das Bild des Rechtsstaates als „Schutzwall, an dem sich die Strafverfolgungsinteressen brechen“. Vgl. Grünwald, JZ 1976, S. 767 (773). 55 56

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Grundsatz des staatlichen Strafanspruches60 verstanden werden. Letzteres sei legitimes Interesse der Allgemeinheit, nicht jedoch als Bestandteil des Rechtsstaates verfassungsrechtlicher Auftrag.61 Den Zweifeln an der Einbeziehung von Strafverfolgungsinteressen in den Rechtsstaatsbegriff kann dessen objektive Verpflichtung auf Gerechtigkeit entgegengesetzt werden. Eine Betrachtung der unterschiedlichen Definitionsversuche von Rechtsstaatlichkeit zeigt, dass dem Aspekt materieller Gerechtigkeit entscheidende Bedeutung beigemessen wird. So versteht Scheuner den Rechtsstaat als ein „Gemeinwesen, dessen vom Volke ausgehende Rechtsordnung alles Staatshandeln an diese Grundlagen und an das Streben nach einer gerechten und gleichmäßigen Gestaltung der menschlichen Beziehungen bindet.“62 Auch Hofmann stellt die umfassende Bindung des Rechtsstaates an das Ziel gerechten Handelns in den Vordergrund seiner Begriffsbestimmung: „Im materiellen Sinne ist eine bestimmte Art von Staat gemeint, die gewisse, Legitimität vermittelnde Ziele und Zwecke des Richtigen und Gerechten durch eine entsprechende Organisation des politischen Systems realisiert und sichert.“63

Der Rechtsstaat enthält hiernach nicht allein eine subjektive Dimension als Abwehrrecht des Bürgers gegen hoheitliche Eingriffe, sondern in gleicher Weise einen objektiven Gestaltungsauftrag staatlicher Ordnung. Gestützt wird diese Überlegung durch den Gedanken einer rechtsstaatlichen Bindung hoheitlicher Macht an Recht und Gesetz. Seinem Wortsinn nach ist es vorrangige Prämisse des Rechtsstaates, alle staatliche Gewalt auf die bestehende normative Ordnung zu verpflichten. Diese Bindung des Staates an seine rechtlichen Grundlagen muss in einem doppelten Sinne verstanden werden. Der Staat wird nicht nur zum Respekt gegenüber der herrschenden Rechtsordnung verpflichtet, sondern soll auch die Verantwortung für ihre effektive Durchsetzung tragen. Die Gesetzesbindung setzt staatlichem Handeln somit rechtliche Grenzen und fordert von ihm zugleich den Schutz des geltenden Rechtssystems. Ist die Herrschaft des Rechtes als unantastbare Grundlage des Gemeinwesens für den Rechtsstaat prägend, so dürfen Verstöße gegen verbindliche Gesetze nicht sanktionslos belassen werden. Um die Autorität des Rechts und das Ziel materieller Gerechtigkeit gerade auch im Interesse der verletzten Bürger zu wahren, muss effektive Strafverfolgung als elementare rechtsstaatliche Voraussetzung anerkannt werden. 60 Der staatliche Strafanspruch beschreibt trotz seiner begrifflichen Ähnlichkeit kein subjektives Recht, sondern eine kompetenzielle Bestimmung. Vgl. hierzu ausführlich Lagodny, Strafrecht, 1996, S. 54, sowie Feltes, Der staatliche Strafanspruch, 2007, S. 17 ff. Auch der BGH weist darauf hin, dass es „hier nicht um eine verwirkbare günstige Rechtsposition, sondern um eine Funktion des Staates (…) geht“. Vgl. BGHSt. 32, 345 (353). 61 Grünwald, JZ 1976, S. 767 (772). 62 Scheuner, Entwicklung des Rechtsstaates, in: Forsthoff (Hrsg.), Rechtstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit, 1968, S. 461 (490 f.). 63 Hofmann, Der StaatZ 34 (1995), S. 1 (4).

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B. Rechtsstaatlichkeit als Maßstab von Strafgerichtsverfahren

Nur ein Staat, der den Vorrang des Rechtes zugleich achtet und wirksam verteidigt, kann rechtsstaatlichen Anforderungen genügen. Das BVerfG fasst die Bedeutung des staatlichen Strafanspruchs für die Geltung des Rechtsstaatsprinzips wie folgt zusammen: „Der Rechtsstaat kann nur verwirklicht werden, wenn sichergestellt ist, dass Straftäter im Rahmen der geltenden Gesetze abgeurteilt und einer gerechten Bestrafung zugeführt werden. Das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit, die Pflicht des Staates, die Sicherheit seiner Bürger und deren Vertrauen in die Funktionstüchtigkeit der staatlichen Institutionen zu schützen (…), erfordern grundsätzlich die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs.“64

Schmidt-Aßmann bezeichnet diese Bestimmung des Rechtsstaates treffend als „Doppelauftrag“65, der die „Begrenzung und Gewährleistung staatlichen Handelns gleichermaßen umgreift“.66 Im Hinblick auf das Völkerstrafrecht bedeutet dies, dass sowohl die Wahrung der Rechte des Angeklagten als auch die Durchsetzung einer gerechten Verurteilung der Täter als notwendige Elemente bei der Ausgestaltung einer rechtsstaatlichen Verfahrensordnung berücksichtigt werden müssen. Diese Sichtweise liegt auch der Rechtsprechung des Internationalen Strafgerichtshofs für Jugoslawien zugrunde, der bereits den Begriff des fairen Verfahrens in zweifacher Hinsicht versteht: „Fair trial means not only fair treatment to the defendant but also to the prosecution.“67

Wird ein effektives Strafverfahren als Bestandteil des Rechtsstaates anerkannt, muss das Verhältnis zu den Rechten des Angeklagten bestimmt werden. Hierbei ist zu differenzieren, ob es sich angesichts ihrer Ziele und Folgen um komplementäre oder um konträre Grundsätze handelt.

5. Verhältnisbestimmung von Verfahrensgarantien und effektivem Strafverfahren a) Die Annahme komplementärer Grundsätze Die Annahme von Komplementarität setzt eine wechselseitige Bedingtheit der Gewährleistungen voraus. Eine faire Verfahrensgestaltung wäre nach dieser Ansicht Grundvoraussetzung für die Objektivität des Prozesses und daher wesentliche Bedingung für ein wahrheitsgemäßes Urteil. Nur auf Grundlage eines objektiv ermittelten Sachverhaltes könne eine inhaltlich richtige Entscheidung getroffen und der BVerfGE 51, 324 (343 f.). Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, 1987, Rn. 1, S. 987. 66 Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, 1987, Rn. 92, S. 987. 67 ICTY Tadić, Protective Measures for Victims and Witnesses, IT-94-1-T 10. August 1995, Rn. 55. 64 65

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staatliche Anspruch nach gerechter Verurteilung verwirklicht werden. Fairness und Gerechtigkeit würden somit einheitliche Merkmale aufweisen und in Bezug auf ihre gemeinsame an Objektivität ausgerichtete Zielsetzung in einem Verhältnis gegenseitiger Einflussnahme stehen. Die Annahme von Komplementarität erfordert darüber hinaus die Ausschließlichkeit ihrer wechselseitigen Bedingtheit. Folgerichtig könnte eine gerechte Entscheidung allein auf Grundlage eines fairen Verfahrens ergehen. Im Gegenzug würde ein unfaires Verfahren zwingend zu einem unrichtigen Urteil führen.68 Die Begründung dieser Thesen orientiert sich in erster Linie an einem relativen Verständnis des Wahrheitsbegriffes als notwendigem Fundament eines gerechten Urteils. Vertreter der Komplementaritätstheorie lehnen die objektive Bestimmung von Wahrheit ab und berufen sich auf eine intersubjektive Auslegung des Begriffs. Die Realität wäre hiernach keine absolute Feststellung, sondern das Ergebnis einer kommunizierten Interpretation der Beteiligten.69 Infolge der Anerkennung grundsätzlicher Relativität verneint Ransiek die Existenz von Wahrheit außerhalb eines Prozesses individueller Erfahrbarkeit: „Wir können Dinge und Ereignisse nur als unsere (…) Interpretation des Seins erkennen, nicht aber Dinge und Ereignisse außerhalb und unabhängig von unserer Interpretation.“70

Würde die Interpretation des Geschehens mit der Feststellung von Wahrheit gleichgesetzt, wäre die Aussage des Angeklagten zwingende Grundlage der Wahrheitsfindung.71 Die Sicherstellung seiner prozessualen Rechte würde damit nicht ausschließlich einem individuellen Schutzbedürfnis dienen, sondern zugleich Voraussetzung eines gerechten Urteils sein. Allein die strikte Einhaltung eines fairen Verfahrens gewährleiste eine originäre und unbeeinflusste Interpretation durch den Beschuldigten als Bedingung intersubjektiver Wahrheitsermittlung.72 Folgte man der Vorstellung einer Identität von Wahrheit und Interpretation, verhielten sich die Forderungen nach prozessualer Fairness und einem gerechten Urteil in der Tat komplementär. Vor diesem Hintergrund formuliert Ransiek das folgende Ergebnis: „Hier wird (…) von einem Gegensatz von Beschuldigtenrechten und dem Ziel der Wahrheitsermittlung ausgegangen. Gerade dieser Gegensatz besteht aber überhaupt nicht. Die

68 Hierfür beispielsweise Schild, Der Strafrichter, 1983, S. 81; Berkemann, JR 6 (1989), S. 221 (227). 69 Ransiek, Die Rechte des Beschuldigten, 1990, S. 79: „Das vergangene Geschehen ist aber gerade nichts absolut Feststehendes, Vorgegebenes, das es nur als möglichst objektive Beschreibung des Geschehens sichtbar zu machen gilt. Bereits das Geschehen selbst ist vielmehr die gemeinsam geteilte, intersubjektive Interpretation des Geschehens durch die daran Beteiligten und eventueller Beobachter.“ 70 Ransiek, Die Rechte des Beschuldigten, 1990, S. 79. 71 Braum, Geschichte der Revision, 1996, S. 225. 72 Ransiek, Die Rechte des Beschuldigten, 1990, S. 80: „Soll die Aussage des Beschuldigten also überhaupt der Ermittlung der Wahrheit dienen, kommt es auf seine Interpretation des Geschehens an.“

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B. Rechtsstaatlichkeit als Maßstab von Strafgerichtsverfahren Wahrung des Rechts, sich nicht selbst beschuldigen zu müssen, dient vielmehr dazu, Wahrheit zu ermitteln und somit auch Gerechtigkeit zu ermöglichen“73

Bereits die Grundannahme der Komplementaritätslehre wirft jedoch Zweifel auf. Die Abhängigkeit materieller Gerechtigkeit von einer fairen Verfahrensgestaltung beruht auf der Idee eines relativen Wahrheitsbegriffs. Individuelle Interpretation als Grundlage von Wahrheitsfindung setzt Wertungs- und Einschätzungsspielräume auf Seiten des Aussagenden voraus. Mit der Verneinung jeder Absolutheit von Wahrheit verkennt diese Auffassung die Existenz von beweiszugänglichen Tatsachen, die objektiv als richtig oder falsch eingestuft werden können. Nach vorzugswürdiger Ansicht ist Wahrheit nicht nur subjektiv fassbar, sondern beinhaltet einen auf Fakten basierenden Kern.74 Während der Nachweis von mens rea als innerer Vorgang von subjektiven Eindrücken geprägt ist, stellt sich die Frage nach der konkreten Tatausführung als beweisbares Faktenwissen dar. Die Schwäche der Komplementaritätstheorie offenbart sich in ihrer Gleichsetzung von Wahrheit und Wahrnehmung. Ransieks Vorstellung einer ausnahmslosen Relativität der Wirklichkeit gründet sich auf die Fehlannahme ihrer Änderbarkeit. „Durch Kommunikation mit den Beteiligten, Fragen, Vorhalte usw. kann sich auch die Wirklichkeit ändern: Ihre Festlegung ist Kommunikation.“75

Entgegen Ransieks Auffassung ist nicht die Wahrheit selbst, sondern lediglich ihre Wahrnehmung und Wiedergabe variabel. Während eine nachträgliche Einwirkung auf das subjektive Vorstellungsbild der Beteiligten im Verfahren möglich ist, bleibt der Tatsachenkern eines Verbrechens unveränderlich. Aufgabe des Strafverfahrens muss es sein, die faktische Beweislage gerade unabhängig von – bewusst oder unbewusst – fehlerhaften Interpretationen zu ermitteln. Im Vergleich zu den Ausführungen Ransieks ist in diesem Zusammenhang insbesondere die Rolle des Angeklagten kritischer zu bewerten. Da ein schuldiger Täter an der wahrheitsgemäßen Aufklärung des Verbrechens regelmäßig kein Interesse haben wird, tritt seine Aussage als kommunizierte Interpretation des Vorgangs in Konflikt zur Erforschung der materiellen Wahrheit.76 Wird eine Deckungsgleichheit von Realität und Interpretation folgerichtig verneint, entfällt eine wesentliche Grundlage der Komplementaritätslehre. Vor dem Hintergrund eines absoluten Wahrheitsbegriffs kann die Idee wechselseitiger Bedingtheit nunmehr überzeugend widerlegt werden. In Anlehnung an die Gerechtigkeitstheorie John Rawls’ zeigt Rzepka den Widerspruch zwischen prozessualen Ransiek, Die Rechte des Beschuldigten, 1990, S. 78. Rzepka, Fairness, 2000, S. 319. 75 Ransiek, Die Rechte des Beschuldigten, 1990, S. 80. 76 Rzepka unterstreicht, dass ein Schweigen oder eine bewusst unrichtige Darstellung des Beschuldigten kein Beitrag zur materiellen Wahrheit sein kann; vgl. Rzepka, Fairness 2000, S. 319. 73 74

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Schutzmechanismen und effektiver Verfahrensgestaltung auf.77 Unzulässig erlangte Beweismittel, wie eine unter Zwang getätigte Aussage des Beschuldigten, können dem Gericht die entscheidenden Hinweis auf die materielle Wahrheit liefern und somit Grundlage eines gerechten Urteils sein.78 Spiegelbildlich können rechtsstaatliche Beschränkungen der Ermittlungsmethoden dazu führen, dass aufgrund mangelnder Beweise ein ungerechtfertigter Freispruch erfolgen muss.79 Da verfahrensrechtliche Fairness das richtige Ergebnis zwar fördern, nicht aber verbürgen kann, beschreibt Rawls den Strafprozess als unvollkommene Verwirklichung prozessualer Gerechtigkeit.80 Die von der Komplementaritätslehre erforderte umfassende Kongruenz von Ergebnis- und Verfahrensgerechtigkeit kann im Rahmen des Strafverfahrens folglich nicht realisiert werden kann.

b) Der janusköpfige Rechtsstaatsbegriff: Strafanspruch und Verfahrensrechte als widerstreitende Prinzipien Der Grund für die partielle Gegenläufigkeit von Fairness und Wahrheitsfindung liegt in der divergenten Zielsetzung des Prinzips. Die Prozessrechte des Angeklagten werden nicht allein zur Gewährleistung eines objektiven Verfahrens, sondern zugleich im Interesse eines individuellen Schutzes der Menschenwürde und der Persönlichkeitsrechte garantiert.81 Da die Prinzipien zumindest auch widerstreitende Zwecke verfolgen, können ihre Ergebnisse nicht umfassend deckungsgleich sein. Die menschenrechtliche Dimension des Fairnessgedankens soll der staatlichen Wahrheitsfindung Grenzen setzen und kann daher im Widerspruch zur effektiven Strafrechtspflege stehen. Hinzu tritt die im Namen prozessualer Fairness geforderte Sanktionierung von Verstößen gegen verfahrensrechtliche Vorgaben. Durch die Anknüpfung von Beweisverwertungsverboten an unzulässige Ermittlungsmethoden soll die Objektivität des Verfahrens präventiv gewährleistet werden.82 Mit der Folge eines Beweisverlustes wird künftigen Verfahrensverstößen vorgebeugt und die Grundlage für eine praktische Akzeptanz der Prozessrechte geschaffen. Die abstrakte Absicherung verfahrensrechtlicher Gerechtigkeit durch den Erlass von Beweisverwertungsverboten kann zu Lasten der materiellen Wahrheit im konkreten Einzelfall gehen. Dürfen rechtswidrige Beweismittel nicht verwendet werden, fehlen möglicherweise die notwendigen Voraussetzungen für die Realisierung des staatlichen Strafanspruches. Festzuhalten bleibt daher, dass sich die Rechte des Angeklagten und die Effektivität staatlicher Strafverfolgung vielfach decken, nicht aber notwendig bedingen. 77 78 79 80 81 82

Rzepka, Fairness, 2000, S. 319. Küper / Wasserburg / Peters, Strafrechtspflege, 1988, S. 147 f. Rzepka, Fairness, 2000, S. 316 f.; Spendel, JuS 1964, S. 465 (470). Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 1975, S. 107. Rzepka, Fairness, 2000, S. 314. Muthorst, Das Beweisverbot, 2009, S. 74.

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B. Rechtsstaatlichkeit als Maßstab von Strafgerichtsverfahren

Begreift man das Erfordernis einer effektiven Strafrechtspflege als Bestandteil der Rechtsstaatlichkeit, stehen sich auf derselben dogmatischen Grundlage somit partiell konfligierende Prinzipien gegenüber.83 Der Staat ist aus dem Gedanken der Rechtsstaatlichkeit zur Rücksichtnahme auf die Rechte des Angeklagten verpflichtet und gleichzeitig zu ihrer Beschränkung mit dem Ziel wirksamer Strafverfolgung befugt. Das Rechtsstaatsprinzip wird folglich als Legitimationsgrundlage für gegensätzliche Entscheidungen herangezogen.84 Aus dem hierdurch erzeugten inneren Spannungsverhältnis der widerstreitenden Gewährleistungen leitet Kunig das Bild des janusköpfigen Rechtsstaates ab.85 Werden heterogene Unterprinzipien anerkannt, muss Rechtsstaatlichkeit als uneinheitliche und inhaltlich differenzierte Richtlinie hoheitlichen Handelns verstanden werden.86 Die nationale Rechtsprechung erkennt die Zwitterstellung des Rechtsstaates im Rahmen strafrechtlicher Verfahrensziele an und bemüht sich auf prozessualer Ebene um einen gerechten Ausgleich.87 Grundlage der strafrechtlichen Jurisdiktion ist die klare Position des Bundesverfassungsgerichtes, welche das Ziel eines effektiven Strafverfahrens ausdrücklich in den Wirkungskreis des Rechtsstaatsprinzips einbezieht: „Soweit der Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit die Idee der Gerechtigkeit als wesentlichen Bestandteil enthält, verlangt er auch die Aufrechterhaltung einer funktionstüchtigen Rechtspflege, ohne die der Gerechtigkeit nicht zum Durchbruch verholfen werden kann.“88

Mit Blick auf das strafrechtliche Verfahren hat dies zur Folge, dass nicht allein die Rechtswahrung des Angeklagten, sondern auch seine gerechte Verurteilung als rechtsstaatliches Ziel anzusehen ist. Die innere Widersprüchlichkeit des janusköpfigen Rechtsstaates begründet jedoch auch Kritik an der dogmatischen Konzeption einer zweigliedrigen Begriffsauslegung. Marxen sieht in der Anerkennung des hoheitlichen Strafanspruches als Element des Rechtsstaates die Gefahr einer „Funktionsvertauschung“. Mit der Einbeziehung öffentlicher Gestaltungsaufträge würde die historische Begründung des Rechtsstaates als Garant des Menschenrechtsschutzes gegenüber staatlichen Einrichtungen unterlaufen. „Werden der rechtsstaatlichen Position institutionelle Elemente beigemengt, so büßt sie die Fähigkeit ein, Freiheit durch die Kontrolle staatlicher Macht zu schützen. Denn sie dürfte sich nicht mehr darauf beschränken, staatliche Institutionen und Zweckverfolgungen einzugrenzen, sondern müsste zugleich auf deren Absicherung bedacht sein.“89 Wolter, Kriminalpolitik, in: Schünemann (Hrsg.), FS Roxin, 2001, S. 1141 (1149). Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, 1986, S. 288. Siehe hierzu bereits oben in Kapitel B. I. 4. 85 Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, 1986, S. 285. Zum Begriff der Janusköpfigkeit vgl. auch Bettermann, Der totale Rechtsstaat, 1986, S. 5 ff.; Merten, Rechtsstaat und Gewaltmonopol, 1975, S. 29 ff.; Isensee, Grundrecht auf Sicherheit, 1983, S. 21. 86 Steiner, Fairneßprinzip, 1995, S.172. 87 BGH 2 StE 8 / 96 StB 15 / 02 – Beschluss v. 20. Dezember 2002. 88 BVerfGE 33, 367 (383). 89 Marxen, Straftatsystem, 1984, S. 429. 83 84

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Durch die Anerkennung divergierender Grundsätze werden die Rechte des Angeklagten der Abwägung mit dem Interesse der Strafverfolgung als äquivalentem Rechtsgut ausgesetzt. Der Ausgleich dieser Elemente erfolgt innerhalb des rechtsstaatlichen Prinzips und somit auf der Ebene einer identischen rechtlichen Grundlage.90 Gelten im Rahmen des Rechtsstaatsbegriffs beide Grundsätze als gleichwertig, fehle es nach Ansicht der Kritiker an überprüfbaren Grenzen für die Beschränkung der Rechte des Angeklagten.91 Wenngleich sich Fairness und Strafverfolgung als heterogene Unterprinzipien gleichrangig gegenüberstehen, ist der generelle Vorwurf einer fehlenden Schranke für hoheitliche Eingriffe unberechtigt.92 Mit einem Rückgriff auf das Prinzip der Verhältnismäßigkeit als Kontrollnorm einer gerechten Abwägungsentscheidung lassen sich die widerstreitenden Positionen in Ausgleich bringen.93 Können die Rechte des Angeklagten aus Gründen effizienter Strafverfolgung ausschließlich unter strenger Beachtung der Verhältnismäßigkeit eingeschränkt werden, ist die Befürchtung einer einseitigen Aufgabe prozessualer Fairness zu Gunsten des staatlichen Strafanspruches unbegründet.94 Den Bedenken der Kritiker eines janusköpfigen Rechtsstaatsverständnisses kann durch die konsequente Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes wirksam begegnet werden. Einer formalen Unterscheidung nach dem normativen Ursprung der rechtsstaatlichen Gewährleistungen kommt daher keine substanzielle Bedeutung zu. Während das Gebot verhältnismäßiger Abwägung im deutschen Recht unzweifelhaft anerkannt wird, muss seine Geltung für das Völkerrecht näher untersucht werden. Verhältnismäßigkeit als Schranke von Eingriffen in Individualrechte setzt den Nachweis ihrer Verbindlichkeit auf internationaler Ebene voraus. Maßgebend für die Festlegung rechtsstaatlicher Prozessanforderungen ist daher die Frage, ob und mit welchem Inhalt das Prinzip der Verhältnismäßigkeit im Bereich des völkerstrafrechtlichen Verfahrens Anwendung findet. Die Annahme eines international geltenden Verhältnismäßigkeitsgebotes bildet die Grundlage für die konkrete Abgrenzung von Prozessgarantien und effektivem Strafverfahren.

90 Grünwald beschreibt diese Entwicklung wie folgt [Grünwald, JZ 1976, S. 767 (773)]: „[J]etzt hat BVerfG das Strafverfolgungsinteresse in die Mauern des Rechtsstaatsprinzips selbst aufgenommen, und die Auseinandersetzung mit den Rechten des Beschuldigten findet innerhalb dieser Mauern statt.“ 91 Grünwald, JZ 1976, S. 767 (773). 92 Steiner, Fairneßprinzip, 1995, S. 172. 93 Hofmann, Abwägung im Recht, 2007, S. 393. 94 Krause, Grenzen richterlicher Beweiswürdigung, in: Baumann / Tiedemann (Hrsg.), FS Peters, 1974, S. 323 (328): „Sind Wahrheit und Gerechtigkeit oberstes Ziel des Strafverfahrens, so muss man doch differenzieren: Es ist nicht Aufgabe des Strafrichters, die Wahrheit um jeden Preis, sondern (…) auf ‚justizförmigem Wege‘ zu erforschen.“

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B. Rechtsstaatlichkeit als Maßstab von Strafgerichtsverfahren

c) Die Bestimmung eines verhältnismäßigen Ausgleichs von Strafanspruch und Prozessrechten Das grundgesetzliche Gebot der Verhältnismäßigkeit wird als Ergebnis verfassungsrechtlicher Rechtsentwicklung95 wahlweise aus der Grundrechtsdogmatik96 oder dem Rechtsstaatsprinzip97 hergeleitet. Nach der Rechtsprechung des BVerfG steht jeder staatliche Eingriff in einen grundrechtlich geschützten Bereich „unter dem rechtsstaatlichen Gebot der Verhältnismäßigkeit der Mittel“.98 Verhältnismäßigkeit als Grenze hoheitlichen Handelns wird durch die Einzelausprägungen von legitimem Zweck, Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit definiert.99 Auch die Abwägung konträrer Belange innerhalb eines Prinzips ist zum Schutz des Angeklagten den Grundsätzen von Verhältnismäßigkeit und Übermaßverbot verpflichtet.100 Aus der Geltung von Verhältnismäßigkeit als Schranke staatlicher Eingriffsbefugnisse leitet der Bundesgerichtshof (BGH) den „für einen Rechtsstaat selbstverständliche Grundsatz [ab], dass [der] staatliche Strafanspruch nicht rücksichtslos und unter allen Umständen durchgesetzt werden soll“101. Im deutschen Recht bildet das Prinzip der Verhältnismäßigkeit folglich Maßstab und Grenze der staatlichen Wahrheitsermittlung im Interesse eines wirksamen Menschenrechtsschutzes des Beschuldigten.

aa) Die Geltung von Verhältnismäßigkeit im Völkerrecht In der Literatur ist die völkerrechtliche Geltung des Verhältnismäßigkeitsprinzips weitgehend anerkannt.102 Bleckmann beobachtet eine Anwendung des Gebotes durch die „deutsche, europäische und völkerrechtliche Rechtsprechung“103, ohne jedoch einen konkreten Nachweis für dessen normative Verbindlichkeit zu erbringen. Verdross / Simma104 und Seidl-Hohenveldern105 verzichten gänzlich auf eine HerleiSchlink, Abwägung im Verfassungsrecht, 1976, S. 48. Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, 1986, S. 357. 97 Beispielhaft seien genannt BVerfGE 43, 242 (288) v. 8. Februar 1977; BVerfGE 57, 250 (279) v. 26. Mai 1981. 98 BVerfGE 49, 24 (58) unter Hinweis auf BVerfGE 24, 367 (404) sowie BVerfGE 25, 269 (292). 99 Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, 1986, S. 195. 100 Krause, Grenzen richterlicher Beweiswürdigung, in: Baumann / Tiedemann (Hrsg.), FS Peters, 1974, S. 323 (328). 101 BGHSt 17, 337 (348). 102 Bleckmann, Staats- und Völkerrechtslehre, 1995, S. 680; Verdross / Simma, Universelles Völkerrecht, 1984, §§ 81, 472, 816; Delbrück, Proportionality, 1997, S. 1140. Auf die völkerrechtliche Gelrung von Rechtsstaatlichkeit wird unter II. noch verteift einzugehen sein. 103 Bleckmann, Staats- und Völkerrechtslehre, 1995, S. 680. 104 Verdross / Simma, Universelles Völkerrecht, 1984, §§ 81, 472, 816. 105 Seidl-Hohenveldern, Völkerrecht, 2001, S. 326. 95 96

I. Der Begriff des Rechtsstaates

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tung der Verhältnismäßigkeit, deren Anerkennung als allgemeinen Rechtsgrundsatz sie schlichtweg voraussetzen.106 Vorsichtiger formuliert Delbrück die Geltung verhältnismäßiger Abwägung im internationalen Recht. „[W]hether the principle can be said to underlie the whole of the international legal order (…) as a general principle of international law might be open to discussion.“107

Im Ergebnis spricht sich auch Delbrück für die Annahme des Prinzips als Maßstab völkerrechtlichen Handelns aus. Anstatt ein internationales Verhältnismäßigkeitsgebot anhand der Rechtsquellen des Völkerrechts zu belegen, beschränkt sich Delbrück auf einen teleologischen Begründungsansatz. Er rechtfertigt die Einordnung der Verhältnismäßigkeit als allgemeinen Rechtsgrundsatz mit ihrer Bedeutung für die internationale Normanwendung.108 Einen umfassenden Versuch zum eigenständigen Nachweis eines völkerrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprinzips unternimmt Krugmann. Mit dem Anspruch auf normative Verbindlichkeit untersucht Krugmann Geltung und Reichweite des Verhältnismäßigkeitsbegriffs im Rahmen internationaler Rechtspraxis. Krugmann verweist zunächst auf die Anwendung des Grundsatzes im europäischen Rechtskreis.109 In der Rechtsprechung von EGMR und EuGH ist die Verhältnismäßigkeit anerkannte Schranke hoheitlicher Kompetenzausübung.110 Entwickelt aus der Idee eines wirksamen Individualrechtsschutzes, dient die Verhältnismäßigkeit als Maßstab der gerichtlichen Rechtmäßigkeitsprüfung.111 Die staatlichen Rechtsordnungen verwirklichen das Prinzip indes differenziert. Während die Verhältnismäßigkeit wesentliche Grundlage der deutschen Verfassungsordnung ist, kommt ihr insbesondere in England und Frankreich eine vergleichbare Bedeutung als generelles Handlungsgebot nicht zu. Obschon der Gedanke verhältnismäßiger Abwägung den nationalen Rechtssystemen bekannt ist, wird seine Geltung nicht ausnahmslos gewährleistet.112 Ausgehend von den bestehenden Unterschieden auf nationaler Ebene hinterfragt Krugmann die Parallelen eines völkerrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprinzips zum deutschen Rechtsbegriff. Ist das Prinzip der Verhältnismäßigkeit im Sinne eines Totalvorbehaltes auf sämtliche Sachverhalte des internationalen Rechts anwendbar? Und entspricht ein völkerrechtliches Gebot der Verhältnismäßigkeit in seinen inhaltlichen Anforderungen dem deutschen Normverständnis? 106 Für die Annahme einer völkergewohnheitsrechtlichen Geltung des Verhältnismäßigkeitsprinzip scheint keine hinreichende Praxis erkennbar; Krugmann, Verhältnismäßigkeit im Völkerrecht, 2004, S. 12. 107 Delbrück, Proportionality, 1997, S. 1140 (1144). 108 Delbrück, Proportionality, 1997, S. 1140 (1144). 109 Krugmann, Verhältnismäßigkeit im Völkerrecht, 2004, S. 59. 110 Siehe Darstellung bei Ellis, Proportionality in the laws of Europe, 1999, S. 107. 111 Vgl. EGMR Times Newspaper Ltd v. Vereinigtes Königreich, Application No. 14631 / 89, 26. April 1979; Vogt v. Deutschland, Application No. 7 / 1994 / 454 / 535, v. 26. September 1995, 112 Ellis, Proportionality in the laws of Europe, 1999, S, 51 ff., 107 ff.

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B. Rechtsstaatlichkeit als Maßstab von Strafgerichtsverfahren

Angesichts der strukturellen Besonderheiten des Völkerrechtes lehnt Krugmann zunächst eine generelle Verbindlichkeit des Verhältnismäßigkeitsprinzips ab.113 Als souveräne Hoheitsträger könnten staatliche Rechtssubjekte dem Gebot verhältnismäßigen Handelns nicht ausnahmslos verpflichtet sein. Die Geltung des Grundsatzes müsse folglich für den jeweiligen Anwendungsbereich gesondert nachgewiesen werden. Auch nach der restriktiven Auffassung Krugmanns würden jedenfalls Fragen des Individualrechtsschutzes unter dem Vorbehalt der Verhältnismäßigkeit stehen.114 Die Statuten internationaler Strafgerichte bilden die Rechtsgrundlage für einen Prozess gegen den Angeklagten und einen Eingriff in seine persönliche Freiheit. Zugleich setzten sie die normativen Bedingungen für die Ausgestaltung seines Rechts auf ein faires Verfahren. Verhältnismäßigkeit als Garantie individuellen Menschenrechtsschutzes müsste hiernach auch für den Ausgleich von Strafanspruch und Prozessrechten im Rahmen völkerstrafrechtlicher Statuten gelten. Krugmanns Ansatz weist an dieser Stelle jedoch dogmatische Schwächen auf. Seine Untersuchung eines verbindlichen Verhältnismäßigkeitsprinzips orientiert sich nicht an den Voraussetzungen der völkerrechtlichen Rechtsquellen. Wenngleich Krugmann die Verhältnismäßigkeit der Normanwendung als allgemeinen Rechtsgrundsatz erfasst, bleibt er eine Darstellung ihrer innerstaatlichen Umsetzung schuldig. Die Anerkennung der Verhältnismäßigkeit entnimmt Krugmann vielmehr den Formulierungen internationaler Menschenrechtsabkommen, die eine Erforderlichkeit hoheitlicher Eingriffe vorsehen.115 Ein Rückgriff auf den Wortlaut internationaler Vertragstexte erscheint als Nachweis für eine allgemeine Geltung des Prinzips allerdings zweifelhaft. Dies gilt insbesondere, da Krugmann eine gewohnheitsrechtliche Akzeptanz der Verhältnismäßigkeit ausdrücklich ablehnt.116 Unabhängig von den systematischen Bedenken gegenüber einer vertraglichen Begründung ihrer Anwendbarkeit wird mit der Normativierung des Erforderlichkeitsgedankens nur ein Element der Verhältnismäßigkeit positivrechtlich belegt.117 Ein darüber hinausgehendes Abwägungsgebot nach deutschem Vorbild findet in den Verträgen keine ausdrückliche Entsprechung. Krugmann schließt hieraus auf einen spezifischen Bedeutungsgehalt des völkerrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprinzips.118 Die Aufgliederung nach legitimem Zweck, Eignung, Erforderlichkeit und Angemessenheit sei dem internationalen Begriffsverständnis nicht immanent.119 Voigtländer teilt die Einschätzung Krugmanns und lehnt eine zwingende Krugmann, Verhältnismäßigkeit im Völkerrecht, 2004, S. 12. Krugmann, Verhältnismäßigkeit im Völkerrecht, 2004, S. 38. 115 Vgl. beispielsweise Art. 12, 18, 19, 21, 22 IPbpR. 116 Verhältnismäßigkeit im Völkerrecht, 2004, S. 12. 117 Krugmann, Verhältnismäßigkeit im Völkerrecht, 2004, S. 62. 118 Krugmann, Verhältnismäßigkeit im Völkerrecht, 2004, S. 14, 80. 119 Krugmann erklärt den Versuch einer normativen Begründung des Abwägungsgebotes für gescheitert. Eine Ausnahme erkennt er allein im Rahmen des Menschenrechtsschutzes an; Krugmann, Verhältnismäßigkeit im Völkerrecht, 2004, S. 124. 113 114

I. Der Begriff des Rechtsstaates

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Angemessenheitsprüfung als Grundlage eines völkerrechtlichen Abwägungsvorgangs ab.120 Eine Verengung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes auf die Kriterien von Legitimität, Eignung und Erforderlichkeit überzeugt jedoch nicht. Nach Kunig ist die Abwägung als Ausgleich divergierender Rechtssätze notwendiger Grundgedanke der Rechtsordnung. Eine gerechte Auflösung normativer Interessenkonflikte könne allein im Wege einer angemessenen Angleichung erfolgen. Bleckmann greift den Gedanken auf und betont das Erfordernis einer gegenseitigen Abwägung widerstreitender Prinzipien zur bestmöglichen Gewährleistung ihrer Schutzaufträge.121 „Damit kommen wir zu dem generellen Schluss, dass, wenn zwei (…) geschützte Interessen sich gegenüberstehen, das Verhältnismäßigkeitsprinzip generell eingreifen muss.“122

Kunig ist weiterhin zu folgen, wenn er das Gebot der Angemessenheit insbesondere aus der Anerkennung eines individuellen Rechtsschutzes herleitet. Der Vorgang wechselseitiger Abwägung ist dem Wesen der Menschenrechte immanent.123 Praktische Konkordanz im Falle einer Kollision menschenrechtlicher Garantien kann im Interesse eines gerechten Ausgleichs nur im Rahmen der Angemessenheit umgesetzt werden. Die Annahme des Abwägungsgebotes ist daher konsequente Folge eines wirksamen Menschenrechtsschutzes. „In [den Grundrechten] ist zugleich der gesamte Gedankengang des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit mit seinen einzelnen Ausprägungen angelegt.“124

Bestätigung findet das weite Verständnis der Verhältnismäßigkeit in der Rechtsprechung internationaler Gerichte. Der EGMR verlangt neben der Erforderlichkeit hoheitlichen Handelns ein angemessenes Verhältnis zwischen Eingriff und Rechtsgut.125 In seiner Entscheidung Pfizer Animal Health v. Rat definiert der EuGH die Anforderungen an staatliche Maßnahmen nach den Vorgaben der deutschen Begriffsinterpretation: „The Court observes in limine that the principle of proportionality, which is one of the general principles of Community law, requires that measures adopted by Community institutions should not exceed the limits of what is appropriate and necessary in order to attain the legitimate objectives pursued by the legislation in question, and where there is a choice between several appropriate measures, recourse must be had to the least onerous, and the disadvantages caused must not be disproportionate to the aims pursued.“126 Voigtländer, Notwehrrecht und kollektive Verantwortung, 2001, S. 34. Bleckmann, Staats- und Völkerrechtslehre, 1995, S. 680, 962. 122 Bleckmann, Staats- und Völkerrechtslehre, 1995, S. 680. 123 Auch Delbrück weist auf den notwendigen Zusammenhang von Menschenrechtsschutz und Verhältnismäßigkeit hin; Delbrück, Proportionality, 1997, S. 1140. 124 Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, 1986, S. 354. 125 EGMR Times Newspaper Ltd v. Vereinigtes Königreich, Application No. 14631 / 89, 26. April 1979; Vogt v. Deutschland, Application No. 7 / 1994 / 454 / 535, v. 26. September 1995. 126 EuGH Pfizer Animal Health v Council, Rs. T-13 / 99, 11. September 2002, Slg. 2002, II3305, Rn. 411. 120 121

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B. Rechtsstaatlichkeit als Maßstab von Strafgerichtsverfahren

Im Rahmen dieser Arbeit werden rechtsstaatliche Anforderungen folglich als das Ergebnis einer gerechten Abwägung zwischen Prozessgarantien und effektivem Strafverfahren verstanden. Ist es Aufgabe des Normgebers, die widerstreitenden Grundsätze von Verfahrensrechten und gerechter Bestrafung in einen verhältnismäßigen Ausgleich zu bringen, müssen verbindliche Parameter für die Abwägungsentscheidung entwickelt werden. Die Auflösung des Spannungsverhältnisses zwischen Strafanspruch und Verfahrensrechten gestaltet sich angesichts der geringen Vorgaben für die Bestimmung des rechtsstaatlichen Abwägungsvorgangs als zentrales Problem des Strafprozesses.127 Um als Maßstab für die Interpretation gerichtlicher Statuten fungieren zu können, müssen die prozessualen Garantien das Ergebnis einer sachbezogenen Konkretisierung der Rechtsstaatlichkeit mit dem Ziel eines angemessenen Interessenausgleichs sein.128 Unter Zugrundelegung der Kriterien von legitimem Zweck, Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit müssen Eingriffe zur Durchsetzung des Strafanspruchs in ein zulässiges „Verhältnis zu dem Gewicht und der Bedeutung des Grundrechts“129 gebracht werden.130 Die konkrete Bestimmung von Voraussetzungen und Grenzen strafprozessualer Maßnahmen erfordert daher die grundlegende Beantwortung der Frage nach einer generellen Gewichtung der konträren Prinzipien. bb) Die Gewichtung der Rechtsgüter im Rahmen einer Abwägung „Es ist eines der wesentlichen Grundprobleme des Strafprozesses, die Grenzen der Strafverfolgungsgewalt richtig zu ziehen.“131

Die Diskussion über das richtige Verhältnis von Verfahrensgarantien und effektiver Strafverfolgung wird in der Strafrechtsphilosophie seit Langem geführt.132 In der älteren Literatur sind Tendenzen zu einer vorrangigen Berücksichtigung des staatlichen Strafanspruches erkennbar.133 So heißt es in der zweiten Auflage des Kommentars von Mangoldt / Klein zum Bonner Grundgesetz: „Es muss daher gegenüber jener herrschenden Meinung mit Nachdruck gefragt werden, ob nicht zumindest gegenüber besonders ‚ausgekochten‘ vorbestraften Beschuldigten (…) doch die Anwendung der durch § 136a StPO verbotenen psychologischen Beweismittel und sonstigen Vernehmungstechniken zulässig ist, ja geradezu gefordert wird.“134 Küper / Wasserburg / Peters, Strafrechtspflege, 1988, S. 154. BVerfGE 7, 89 (92); 11, 64 (72); 74, 129 (152). 129 BVerfGE 67, 157 (173) v. 20. Juni 1984. 130 Hubmann, AcP 155 (1956), S. 86 (86 ff.); Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, 1976, S. 148. 131 Küper / Wasserburg / Peters, Strafrechtspflege, 1988, S. 154. 132 Feltes, Der staatliche Strafanspruch, 2007; Günther, Strafrechtswidrigkeit, 1983. 133 Vgl. die Darstellung bei Küper / Wasserburg / Peters, Strafrechtspflege und Menschlichkeit, 1988, S. 149 m.w. N. 134 Klein / von Mangoldt, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, 1957, Art. 1 Anm. 5a. 127 128

I. Der Begriff des Rechtsstaates

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Hintergrund für die Forderung nach einer vorwiegenden Durchsetzung des effektiven Verfahrens ist die Sorge um die Autorität gesetzlicher Verbote.135 Verhindern verfahrensrechtliche Einschränkungen eine wirksame Sanktionierung strafrechtlicher Normverstöße, sehen Kritiker „das Ziel der Gerechtigkeit als Element des Rechtsstaatsprinzips gefährdet“136. Die Darstellungen in Mangoldt / Klein legen den Schluss nahe, dass der Vorrang materieller Ergebnisgerechtigkeit für schwere Verbrechen in besonderer Weise gelten müsse.137 Übertragen auf den internationalen Strafprozess könnte ein Übergewicht des Strafanspruchs mit der besonderen Tragweite völkerstrafrechtlicher Verbrechen gerechtfertigt werden. Die Umstände und Folgen schwerster Delikte lassen die Forderung nach einer Absenkung der gesetzlichen Verfahrensschranken als menschlich begreifbare Reaktion erscheinen. Die Gefahr einer fehlenden Sachlichkeit in der Diskussion über den Umgang mit Schwerstverbrechern erfordert in besonderem Maße eine klare rechtliche Gewichtung der widerstreitenden Belange. Peters plädiert dafür, „das Problem der Grenzen des Strafrechts und des Strafverfahrensrechts (…) aus dem Bereich des Untergründigen und Emotionalen in die Ebene des Rationalen zu heben.“138 Aus rechtlicher Perspektive kann der Schwere der Schuldvorwürfe keine Bedeutung für die Bestimmung eines verhältnismäßigen Interessenausgleichs zukommen.139 Die Person des Täters und die Art der ihr zur Last gelegten Verbrechen dürfen im grundsätzlichen Abwägungsprozess keine relevanten Faktoren darstellen. Da die Unschuldsvermutung eine Vorverurteilung des Angeklagten prinzipiell untersagt, ist eine schuldbezogenen Relativierung des Verfahrensstandards aus rechtsstaatlicher Sicht unzulässig. Der Verweis auf mittelalterliche Inquisitionsprozesse, die angesichts der vermutet schweren Verbrechen das Verbot der Folter aufhoben, verdeutlicht die Folgen einer deliktsabhängigen Einschränkung von Verfahrensrechten.140 Dient das Strafverfahren dem einheitlichen Ziel der Sichtbarmachung einer ethischen Grundordnung, kann eine zweckmäßige Urteilsfindung nur im Rahmen eines rechtmäßigen Verfahrens erfolgen.141 Unabhängig von der Schwere völkerstrafrechtlicher Verbrechen setzt ein rechtsstaatlicher Prozess die Berücksichtigung verfahrensrechtlicher Standards voraus. Die geforderte Autorität der Rechtsordnung kann nur dann wirksam wiederhergestellt werden, wenn einem Rechtsverstoß unter strenger Einhaltung rechtsstaatlicher Grundsätze begegnet wird. Eine Lockerung des prozessrechtlichen Schutzes von Angeklagten schwerer Straftaten würde die Küper / Wasserburg / Peters, Strafrechtspflege, 1988, S. 149. Ransiek, Die Rechte des Beschuldigten, 1990, S. 73. 137 Klein / von Mangoldt, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, 1957, Art. 1 Anm. 5a.; kritisch hierzu bereits Scupin, Die Zulässigkeit und Verwertbarkeit, DÖV 1957, S. 548 (552). 138 Küper / Wasserburg / Peters, Strafrechtspflege, 1988, S. 150. 139 Küper / Wasserburg / Peters, Strafrechtspflege, 1988, S. 149. 140 Küper / Wasserburg / Peters, Strafrechtspflege, 1988, S. 149. 141 Küper / Wasserburg / Peters, Strafrechtspflege, 1988, S. 154. 135 136

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B. Rechtsstaatlichkeit als Maßstab von Strafgerichtsverfahren

rechtsstaatliche Vorbildwirkung des Strafverfahrens unterlaufen.142 Peters fasst die Bedeutung der Verfahrensgarantien auch gegenüber dem Ziel materieller Gerechtigkeit folgendermaßen zusammen: „Das Strafverfahren (…) soll das Recht der Erhabenheit darstellen. Es soll eine Antwort dem Täter gegenüber sein. (…) Infolgedessen kann es auch (selbst) nur in sittlich einwandfreier Form vor sich gehen. Verhaltensweisen und Methoden, die unsittlich sind, versperren den Weg zum Prozessziel. Auf menschenunwürdiger Behandlung, auf Lüge und Hintergehung kann ein Vorgang nicht aufgebaut werden, der der Lösung von Verbrechen dient.“143

Um im Interesse der Rechtsstaatlichkeit Verfahrensgarantien durchzusetzen, könnten „sehr hohe Ideale, selbst das richterliche Ideal, Gerechtigkeit zu finden und die Wahrheit zu klären, angetastet werden.“144 Zur Verwirklichung eines fairen Verfahrens muss der Verzicht auf Tataufklärung in Kauf genommen werden, wenn die Realisierung des Strafanspruches nur unter unverhältnismäßiger Verletzung der Rechte des Angeklagten möglich wäre. Internationale Tribunale ziehen ihre Legitimation auch aus der Rechtmäßigkeit ihrer prozessualen Grundlagen. Einschränkungen der Strafverfolgung im Einzelfall gefährden die Anerkennung des Völkerstrafrechtes möglicherweise weniger als der Verzicht auf ein faires Verfahren. Ein genereller Vorrang der Wahrheitserforschung gegenüber den Rechten des Angeklagten besteht aus rechtsstaatlicher Sicht folglich nicht. Ungeachtet der notwendigen Wahrung von Verfahrensrechten darf jedoch im Gegenzug keine eindeutige Verhältnisbestimmung zu Lasten der materiellen Gerechtigkeit angenommen werden. van der Ven geht daher zu weit, wenn er aus der Bedeutung des Grundrechtsschutzes darauf schließt, „der Mensch [würde] über die Wahrheit gestellt“.145 Wenngleich das Gebot der Fairness auch im völkerstrafrechtlichen Verfahren der Wahrheitsfindung Grenzen setzen kann, dürfen die Rechte des Angeklagten eine effektive Strafverfolgung nicht unangemessen beschränken. Vor diesem Hintergrund muss die von Peters vertretene Auffassung, ein Freispruch dürfe nicht als Niederlage des Gerichts, sondern allein als Ergebnis eines gerechten Verfahrens verstanden werden,146 auf Widerspruch stoßen. Ein ungerechtfertigter Freispruch läuft dem Ziel einer wirksamen Sanktionierung völkerstrafrechtlicher Verbrechen als elementarer Aufgabe der Tribunale zuwider. Die Einstellung des Verfahrens aufgrund prozessualer Hindernisse ist angesichts der rechtsstaatlichen Verpflichtung auf materielle Gerechtigkeit als Rückschlag für das Völkerstrafrecht und die Autorität der Gerichte zu werten. Um ihren Beitrag zum internationalen Friedensprozess zu leisten, müssen die Tribunale durch eine faire und zugleich kon142

van der Ven, Beweisrecht, in: Baumann / Tiedemann (Hrsg.), FS Peters, 1974, S. 463

(470). 143 144 145

Küper / Wasserburg / Peters, Strafrechtspflege, 1988, S. 154. Küper / Wasserburg / Peters, Strafrechtspflege, 1988, S. 149. van der Ven, Beweisrecht, in: Baumann / Tiedemann (Hrsg.), FS Peters, 1974, S. 463

(470). 146

Küper / Wasserburg / Peters, Strafrechtspflege, 1988, S. 156.

II. Die Geltung rechtsstaatlicher Anforderungen im Völkerrecht

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sequente Verurteilung der Täter ihre Handlungsfähigkeit unter Beweis stellen. Eine auf verfahrensrechtlichen Mängeln beruhende Freilassung des Angeklagten ist zwar Indiz für die Einhaltung prozessualer Rechte, zeigt jedoch auch, dass eine gleichzeitige Verwirklichung der rechtsstaatlichen Ziele von Strafverfolgung und Fairness nicht gelungen ist. Schließlich dient das Prozessrecht nicht zuletzt der Absicherung eines objektiven Verfahrens im Interesse der Wahrheitsfindung. 147 Prämisse der verhältnismäßigen Abwägung muss die Annahme einer grundsätzlichen Gleichwertigkeit der Prinzipien von Gerechtigkeit und Individualschutz sein. Das BVerfG folgert aus dem Gebot der Rechtsstaatlichkeit, dass weder „der staatliche Strafverfolgungsanspruch ohne Rücksicht auf die Grundrechte des Beschuldigten durchgesetzt werden“ noch „jede denkbare Gefährdung dieser Rechte ein Zurückweichen des Anspruchs“ begründen dürfe.148 Die Bestimmung der Verhältnismäßigkeit durch Richter und Normgeber unterliegt somit einem rechtsstaatlichen Doppelauftrag. Überwiegt kein Prinzip generell dem anderen, kann der Ausgleich zwischen den Grundsätzen von Fairness und Strafverfolgung nicht im Rahmen eines abstrakt bestimmbaren Vorrangverhältnisses erfolgen.149 Vielmehr bedarf es einer Abwägung im jeweiligen Einzelfall, um über den rechtsstaatlichen Maßstab in der konkreten Sachfrage zu entscheiden.150 Das Gebot der Rechtsstaatlichkeit kann als Maßstab für die Bewertung prozessualer Regelungen dienen. Grundlage einer rechtsstaatlichen Verfahrensordnung muss das Bestreben sein, eine gerechte Entscheidung bei vollständiger Wahrung der Rechte des Angeklagten zu erzielen. Ist dies im Einzelfall nicht möglich, muss ein angemessener Ausgleich zwischen den Prinzipien gefunden werden. Ziel des Strafverfahrens ist nicht die unbedingte Wahrheitsfindung, sondern die Strafverfolgung im Rahmen normativ sinnvoll gezogener Grenzen.151

II. Die normative Geltung rechtsstaatlicher Anforderungen im Völkerrecht Nachdem der Rechtsstaatsbegriff vor dem Hintergrund seiner ideengeschichtlichen Entwicklung inhaltlich konturiert wurde, soll nunmehr die normative Geltung rechtsstaatlicher Prinzipien im Völkerrecht untersucht werden. Der Nachweis einer verbindlichen Rechtswirkung ist auf Grundlage der in Art. 38 IGH-Statut genannten Rechtsquellen des Völkerrechts – durch völkerrechtliche Verträge, VölkerSaladin, Wozu noch Staaten?, 1995, S. 99. BVerfGE 51, 345. 149 Nach BVerfGE 7, 89 (92 f.); 11, 64 (72); 74, 129 (152) enthält das Rechtsstaatsprinzip keine „in allen Einzelheiten eindeutig bestimmten Gebote oder Verbote“. 150 Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, 1987, Rn. 93, S. 987. 151 BGHSt 14, 358 (365). 147 148

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B. Rechtsstaatlichkeit als Maßstab von Strafgerichtsverfahren

gewohnheitsrecht und allgemeine Rechtsgrundsätze – zu erbringen. Im Rahmen der Untersuchung soll sowohl die Existenz eines allgemeinen Rechtsstaatsprinzips als auch die völkerrechtliche Verankerung seiner konkreten Ausprägungen hinterfragt werden. Die Gründung internationaler Tribunale setzt eine Überzeugung von der Notwendigkeit strafrechtlicher Sanktionierung logisch voraus. Mit ihrer Errichtung wurde die grundlegende Entscheidung für eine Anerkennung des völkerrechtlichen Strafanspruches bereits getroffen. Die Darstellung einer völkerrechtlichen Geltung von Rechtsstaatlichkeit als Bewertungsmaßstab für die Organisation internationaler Strafprozesse muss sich primär auf die Verbindlichkeit menschenrechtlicher Verfahrensgarantien richten. Im Fokus der nachfolgenden Betrachtungen steht daher die Erörterung einer Normativität individueller Prozessmaximen.

1. Bedeutung von Rechtsstaatlichkeit im Völkerrecht Um die Bedeutung von Rechtsstaatlichkeit im Völkerrecht zu ermessen, muss zunächst die Frage nach der strukturellen Anwendbarkeit des Prinzips aufgegriffen werden. Bereits terminologisch ergibt sich hierbei die Schwierigkeit, dass der Begriff „Rechtsstaat“ seinem Wortsinn nach die Existenz eines Staates vorauszusetzen scheint und seine Anwendung auf internationale Tribunale somit fraglich ist. Die Kritik an der Geltung eines völkerrechtlichen Rechtsstaatsbegriffs gründet sich auf die konzeptionelle Verschiedenheit nationaler und internationaler Rechtssysteme.152 Die Verknüpfung rechtsstaatlicher Forderungen mit nationalstaatlichen Strukturen findet ihren Ursprung in der historischen Entwicklung von Rechtsstaatlichkeit als Beschränkung staatlicher Herrschaftsmacht. Der Ruf nach einer gesetzlichen Bindung und normativen Beschränkung staatlichen Handelns legte den Grundstein für die Anerkennung des Rechtsstaates als elementares Staatsprinzip. Als Begrenzung hoheitlicher Macht richtet sich das Rechtsstaatsprinzip historisch an vertikalen Rechtsbeziehungen aus. Die internationale Staatengemeinschaft beruht hingegen auf der Idee horizontaler Gleichordnung und bedarf daher im Grundsatz keiner rechtsstaatlichen Gewaltenkontrolle. Vor diesem Hintergrund schließt Kunig die Ausweitung des Rechtsstaatsbegriffs auf völkerrechtliche Sachverhalte aus: „In der Völkerrechtsordnung existiert keine den einzelnen Rechtssubjekten übergeordnete Zentralgewalt mit legislativen, exekutiven oder judikativen Befugnissen, zu deren Bindungen ein Rechtsstaatsprinzip Aussagen enthalten könnte.“153

Kunig ist darin zuzustimmen, dass eine freiwillige Rechtsunterwerfung in völkerrechtlichen Beziehungen keiner Schranken durch die Vorgaben eines materiellen Rechtsstaatsprinzips bedarf.154 Indem Kunig jedoch die Übertragbarkeit des Prinzips 152 153 154

Watts, GYIL 36 (1993), S. 15 (16). Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, 1986, S. 103. Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, 1986, S. 102.

II. Die Geltung rechtsstaatlicher Anforderungen im Völkerrecht

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von den Strukturen des Völkerrechts abhängig macht, erkennt er die Möglichkeit einer Entwicklung von Rechtsstaatlichkeit auf internationaler Ebene grundsätzlich an. „Nur wenn dies anders wäre entstünde ein Regelungsproblem, dem sich das Rechtsstaatsprinzip widmen könnte: die Bindung und Mäßigung einer übergeordneten Gewalt durch das Recht.“155

Ändern sich Prämissen und Zielsetzungen des Völkerrechts kann eine Anwendung rechtsstaatlicher Inhalte erforderlich werden. Eine entsprechende Fortentwicklung des Völkerrechts durch die Praxis der Vereinten Nationen war insbesondere im vergangenen Jahrzehnt zu beobachten.156 In den Zeiten des modernen Völkerrechtes geht die Befugnis zur verbindlichen Entscheidungszuständigkeit gegenüber dem Einzelnen nicht länger ausschließlich von Staaten aus. Als Konzeption zur Kontrolle von Hoheitsgewalt ist das Gebot der Rechtsstaatlichkeit auf internationale Organisationen mit der rechtlichen Legitimation zur Wahrnehmung herrschaftsähnlicher Kompetenzen zu erweitern.157 Als Zielvorgabe globaler Politik158 wurde die Forderung nach Rechtsstaatlichkeit wiederholt zur Legitimation friedenssichernder Einsätze der internationalen Staatengemeinschaft herangezogen.159 Die Ausbildung internationaler Menschenrechtsstandards und die wachsende Bedeutung humanitärer Fragen sind weitere Faktoren, die zu einer „Internationalisierung des Rechtsstaatsschutzes“160 geführt haben. Die Anwendung rechtsstaatlicher Grundsätze auf internationale Organe setzt nach der von Kunig formulierten Struktur des Rechtsstaates ein Subordinationsverhältnis mit der Befugnis zur zwingenden Rechtsbindung voraus. Mit der Gründung völkerrechtlicher Strafgerichte wurden zentrale Rechtsprechungsinstanzen geschaffen, die gegenüber dem Einzelnen zu verbindlichen Anordnungen ermächtigt sind. Während die internationale Gerichtsbarkeit bislang auf dem Konsens der Parteien beruhte, wird der Angeklagte der Judikatur eines Straftribunals ohne seine Zustimmung unterworfen. Üben völkerstrafrechtliche Gerichte eine der staatlichen Hoheitsmacht vergleichbare Judikativgewalt aus, können die Grenzen ihrer Befugnisse entsprechend bestimmt werden. Die Anwendung rechtsstaatlicher Grundsätze ist daher nicht mit der strukturellen Verschiedenheit der Rechtsordnungen begründbar, sondern scheint angesichts der parallelen Gefährdungslage des Individuums nunmehr zwingend geboten. Gerade im Völkerstrafrecht stellt sich die Annahme von Rechtsstaatlichkeit als zweckmäßiger Maßstab für die Ausrichtung gerichtlicher Verfahren und prozessualer Standards dar. Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, 1986, S. 102. Farrall, United Nations, 2007, S. 19. 157 Saladin, Wozu noch Staaten?, 1995, S. 166. 158 Saladin, Wozu noch Staaten?, 1995, S. 166 f. 159 Vgl. beispielsweise die Resolutionen des Sicherheitsrates zur Lage der Elfenbeinküste (S / RES / 1528 (2004), 27. Februar 2004, Rn. 6), Haitis (S / RES / 1542 (2004), 30. April 2004, Rn. 7) und Kongos (S / RES / 1756 (2007), 15. Mai 2007, Rn. 3). 160 Saladin, Wozu noch Staaten?, 1995, S. 168. 155 156

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B. Rechtsstaatlichkeit als Maßstab von Strafgerichtsverfahren

Um eine Verpflichtung internationaler Strafgerichte auf das Rechtsstaatsprinzip zu prüfen, muss in einem ersten Schritt die normative Geltung des Grundsatzes im Völkerrecht untersucht werden. Die Bewertung internationaler Rechtsquellen gestaltet sich bereits aufgrund der verwendeten Terminologie schwierig.161 Die deutsche Bezeichnung der „Rechtsstaatlichkeit“ findet eine grundlegende Entsprechung im angloamerikanischen Begriff der „rule of law“.162 In der Übersetzung völkerrechtlicher Abkommen und Stellungnahmen wird der Terminus nicht ausschließlich als eigenständiges Konzept einer Rechtsgestaltung verstanden, sondern mitunter auf den Aspekt der Gesetzesbindung reduziert.163 Die Formulierung „rule of law“ findet sich in deutschen Fassungen teilweise als Forderung nach einer „Herrschaft des Rechts“164 und verkürzt hierdurch den Wirkungsbereich rechtsstaatlicher Prinzipien. Die Begrenzung der „rule of law“ auf den Gedanken des Gesetzesvorrangs verkennt jedoch die Bedeutung des Begriffs als umfassenden Ausdruck einer an Gerechtigkeit orientierten Rechtsordnung. Versuche einer Begriffsbestimmung haben gezeigt, dass das Konzept der „rule of law“ über eine allgemeine Rechtsbindung hoheitlichen Handelns hinausgeht.165 Im Folgenden soll der Interpretation völkerrechtlicher Dokumente ein einheitliches Begriffsverständnis zugrunde gelegt werden, das die „rule of law“ als Synonym rechtsstaatlicher Anforderungen begreift. Die unterschiedliche Wirkungsweise des Völkerrechts erfordert eine weitere Festlegung des Untersuchungsgegenstandes. Die umstrittene Frage nach der Geltung rechtsstaatlicher Prinzipien im zwischenstaatlichen Rechtsverhältnis soll von der vorliegenden Betrachtung ausgenommen werden.166 Die Feststellung von Rechtsstaatlichkeit als Handlungsmaxime der Staaten in bi- und multilateralen Beziehungen trifft keine Aussage über die Anforderungen an internationale Strafgerichtsverfahren. Aus Sicht des Völkerstrafrechts gilt es allein, den Nachweis von Rechtsstaatlichkeit als Vorgabe für Staaten und internationale Organisationen zur Ausrichtung hoheitlicher Tätigkeit zu erbringen.

161 Nádrai, Rechtsstaatlichkeit, in: Kohler / Marti (Hrsg.), Konturen einer neuen Welt(un)ordnung, 2003, S. 217 (217 ff.); Bortloff, Organisation, 1996, S. 242 f. 162 Steiner, Das Fairneßprinzip, 1995, S. 29. Hofmann unterstreicht jedoch, dass die „rule of law“ kein genaues Gegenstück zum Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes darstelle; Hofmann, Der StaatZ 34 (1995), S. 1. 163 Bortloff, Organisation, 1996, S. 241; Kachkeev, Stellung der Richter, 2007, S. 28. 164 Vgl. beispielsweise die Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR). 165 Vgl. die Ausführungen des Generalsekretärs der Vereinten Nationen zu den Inhalten der „Rule of Law“ in: Report of the Secretary-General ,The Rule of Law and Transitional Justice in Conflict and Post-Conflict Societies, Doc. S / 2004 / 616, 2. August 2004. 166 Vgl. beispielhaft Barriga / Alday, Max Planck UNYB 12 / 1 (2008), S. 381 (398 ff.).

II. Die Geltung rechtsstaatlicher Anforderungen im Völkerrecht

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2. Rechtsstaatlichkeit in völkerrechtlichen Verträgen Im Rahmen der Ermittlung verpflichtender Völkerrechtssätze ist den Inhalten internationaler Übereinkommen besondere Bedeutung beizumessen. Völkerrechtliche Verträge reflektieren den rechtsverbindlichen Willen der Staaten transparenter und präziser als Gewohnheitsrecht oder allgemeine Rechtsgrundsätze. Auf Grundlage von Wortlaut und Auslegung sollen Vertragstexte auf ihre explizite wie implizite Berücksichtigung rechtsstaatlicher Elemente untersucht werden.

a) Die allgemeine Verankerung von Rechtsstaatlichkeit in völkerrechtlichen Verträgen Der Begriff der Rechtsstaatlichkeit findet nur selten ausdrücklich Eingang in den Normtext zwischenstaatlicher Abkommen. Die Charta der Vereinten Nationen enthält in ihrer Präambel sowie in Art. 1 I die Forderung nach „Gerechtigkeit“ als Grundsatz und Zielvorgabe der Organisation. Der Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen leitete hieraus eine international geltende Pflicht zur Gewährleistung einer unabhängigen Justiz ab.167 Ob dem Vertrag jedoch im Wege der Auslegung rechtsstaatliche Grundsätze entnommen werden können, ist fraglich. Rudolf lehnt eine entsprechende Interpretation der Charta mit Verweis auf die Zweckrichtung des Gerechtigkeitsgebotes ab.168 Die Verpflichtung auf gerechtes Handeln sei nicht als interner Gestaltungsauftrag, sondern als grundlegende Prämisse zwischenstaatlicher Beziehungen zu verstehen.169 Das Bekenntnis zur Rechtsstaatlichkeit ist insbesondere im europäischen Raum verankert. Ein direkter Bezug zum Rechtsstaatsprinzip findet sich in der Präambel der EMRK. Rechtsstaatlichkeit wird als gemeinsames Erbe der europäischen Staaten an den Beginn des Vertrages gestellt und als Grundlage eines kollektiven Menschenrechtsschutzes gewürdigt. In seiner Auslegung des Konventionstextes hebt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) die rechtsstaatliche Fundierung des Vertrages hervor.170 Ferner benennt die Präambel des Vertrages über die Gründung der Europäischen Union das Rechtsstaatsprinzip als ein zentrales Merkmal der europäischen Staatengemeinschaft.171 Aufgrund der regionalen Begrenzung auf den europäischen Raum kann ein universelles Gebot für die Staatengemeinschaft aus den bestehenden Verträgen nicht 167 Sonderberichterstatter D.P. Cumaraswamy, Independence and Impartiality of the Judiciary, Jurors and Assessors and the Independence of Lawyers, UN Doc. E / CN.4 / 1995 / 39, §§ 37 f. 168 Rudolf, Berichterstatter, 2000, S. 476. 169 Rudolf, Berichterstatter, 2000, S. 476. 170 EGMR Golder v. Vereinigtes Königreich, Application No. 4451 / 70, 21. Februar 1975, Rn. 34. 171 Vertrag über die Gründung der Europäischen Union, Amtsblatt Nr. C 191, 29. Juli 1992.

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B. Rechtsstaatlichkeit als Maßstab von Strafgerichtsverfahren

hergeleitet werden. Zudem verdeutlicht die Verortung des Prinzips in den Präambeln der Pakte, dass Rechtsstaatlichkeit eher als theoretische Grundlage denn als konkreter Vertragsinhalt gedacht war. Eine klare Vorgabe für die rechtsstaatliche Gestaltung strafrechtlicher Verfahren kann aus der Anerkennung des Prinzips als allgemeine Zielstellung in den Präambeln nicht gefolgert werden. Um substanzielle Anforderungen an Völkerstrafprozesse zu bestimmen, müssen völkerrechtliche Verträge auf die konkrete Gewährleistung menschenrechtlicher Verfahrensgarantien untersucht werden.

b) Verfahrensgarantien in völkerrechtlichen Verträgen Ein wesentlicher Aspekt des rechtsstaatlichen Strafverfahrens ist die Wahrung der Rechte des Angeklagten. Die internationalen Menschenrechtsabkommen enthalten in unterschiedlicher Ausprägung prozessuale Garantien zum Schutze des Beschuldigten. Eine besondere Bedeutung kommt dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte von 1966172 zu, der als universeller Vertrag von der großen Mehrheit der Staaten ratifiziert wurde.173 Art. 14 IPbpR enthält grundlegende Elemente des fairen Verfahrens und schreibt für die Vertragsparteien eine Vielzahl rechtsstaatlicher Mindestanforderungen fest. Der Angeklagte hat danach einen Anspruch auf öffentliche Verhandlung durch ein zuständiges, unabhängiges, unparteiisches und auf Gesetz beruhendes Gericht (Abs. 1). Die Norm statuiert seine Unschuldsvermutung bis zur Urteilsverkündung (Abs. 2) und gewährleistet das Recht, unverzüglich über den Grund seiner Festnahme unterrichtet zu werden (Abs. 3 lit. a). Während des Verfahrens muss dem Beschuldigte die effektive Vorbereitung seiner Verteidigung (Abs. 3 lit. b), die freie Wahl und Finanzierung eines Anwaltes (Abs. 3 lit. d) sowie die Möglichkeit der Selbstverteidigung (Abs. 3 lit. d) gewährt werden. Art. 14 IPbpR umfasst darüber hinaus den Grundsatz der Verfahrensbeschleunigung (Abs. 3 lit. c) und das Recht des Angeklagten, der Verhandlung beizuwohnen (Abs. 3 lit. d). Als Ausdruck fairer Prozessgestaltung wird dem Beschuldigten das Recht der Zeugenbefragung (Abs. 3 lit. e) und der Anspruch auf einen Dolmetscher zugestanden (Abs. 3 lit. f). Ferner gilt nach Art. 14 Abs. 3 lit. g IPbpR der Grundsatz „nemo tenetur se ipsum accusare“, der dem Angeklagten ein Schweigerecht bei selbstbelastenden Fragestellungen einräumt. Vergleichbare Garantien eines rechtsstaatlichen Verfahrens finden sich in regionalen Menschenrechtsverträgen. Besonderes Gewicht für die westlich geprägte Rechtsordnung ist der EMRK beizumessen, deren Art. 6 weitgehend wortgetreu mit den Vorgaben des IPbpR übereinstimmt. Vom Vertragstext ausgeklammert werden das Recht des Angeklagten auf Anwesenheit im Verfahren sowie das Verbot einer zwingenden Selbstbelastung des Beschuldigten. Wenngleich diese Gewährleistun172 Der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte wurde am 16. Dezember 1966 geschlossen und trat 1976 in Kraft. 173 Inzwischen haben 167 Staaten den IPbpR ratifiziert (Stand 1. Januar 2012).

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gen keine wörtliche Entsprechung in der EMRK finden, werden sie vom EGMR im Wege der Vertragsauslegung ermittelt. Das Schweigerecht des Angeklagten174 und sein Anspruch auf Teilnahme am Prozess können dem Art. 6 EMRK zugrundeliegenden Fairnessgedanken entnommen werden.175 In einer Gesamtbetrachtung stellt sich der prozessuale Rechtsschutz durch die beiden zentralen Menschenrechtspakte als gleichwertig dar. Auch die Amerikanische Menschenrechtskonvention (AMRK) orientiert sich an den Regelungen der EMRK und gewährleistet einen äquivalenten Verfahrensstandard. Aufgrund der fehlenden Ratifikation durch Kanada und die USA ist der Wirkungskreis des Abkommens jedoch begrenzt und erstreckt sich vorrangig auf den südamerikanischen Raum. Die Afrikanische Charta der Menschenrechte und der Rechte der Völker (Banjul-Charta) normiert die Prozessrechte weniger ausführlich, garantiert allerdings die wesentlichen Kernaussagen des rechtsstaatlichen Verfahrens.176 Die Arabische Charta der Menschenrechte (ACMR) aus dem Jahr 1994 nimmt den Gedanken des prozessualen Rechtsschutzes noch auf, leitet hieraus aber keine konkreten Anforderungen an ein faires Verfahren ab. In Art. 7 ACMR wird neben der Unschuldsvermutung allein die Einhaltung der „für seine Verteidigung notwendigen Garantien“ gefordert. Nicht zuletzt können die Antifolterkonventionen der Vereinten Nationen177 und des Europarates178 als Belege für ein internationales Streben nach Rechtsstaatlichkeit im Strafverfahren gewertet werden. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Geltung eines allgemeinen Rechtsstaatsprinzips aus dem Völkervertragsrecht bislang nicht hergeleitet werden kann. Die internationalen Menschenrechtspakte verpflichten eine große Mehrheit der Staaten jedoch zur Einhaltung eines verbindlichen Mindeststandards rechtsstaatlicher Verfahrensgarantien. Insbesondere Art. 14 IPbpR und Art. 6 EMRK normieren wichtige prozessuale Voraussetzungen, die als internationale Maximen legitimer Gerichtsbarkeit verstanden werden können.

3. Rechtsstaatlichkeit als Bestandteil des Völkergewohnheitsrechts Naturgemäß binden völkerrechtliche Abkommen ausschließlich die beteiligten Vertragsparteien, die sich den Pflichten des Paktes durch Zustimmung zum Normtext EGMR Allan v. Vereinigtes Königreich, Application No. 48539 / 99, 5. November 2002. Etwa EGMR Helmers v. Schweden, Application No. 11826 / 85, 29. Oktober 1991. 176 Art. 8 der Banjul-Charta erfasst den Anspruch auf rechtliches Gehör, die Unschuldsvermutung, das Recht auf Verteidigung, den Beschleunigungsgrundsatz sowie den Anspruch auf den gesetzlichen und unparteilichen Richter. 177 Die UN-Antifolterkonvention wurde am 10. Dezember 1984 beschlossen und trat am 26. November 1987 in Kraft. 178 Der Europarat verabschiedete am 26. November 1987 das Europäische Übereinkommen zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe, das am 1. Februar 1989 in Kraft trat. 174 175

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unterworfen haben. Eine universelle Anerkennung des Rechtsstaatsprinzips kann unabhängig von einer vertraglichen Ratifikation im Einzelfall durch den Nachweis völkergewohnheitsrechtlicher Geltung begründet werden. Im Folgenden ist daher der Frage nachzugehen, ob sich in der Praxis der Staaten eine generelle Bindung der Völkerrechtssubjekte an rechtsstaatliche Grundsätze herausbilden konnte. Bevor die Verbindlichkeit eines internationalen Rechtsstaatsprinzips untersucht werden kann, gilt es die Anforderungen an die Existenz von Völkergewohnheitsrecht zu beschreiben.

a) Anforderungen an die Geltung von Völkergewohnheitsrecht Die Entstehung von Völkergewohnheitsrecht setzt nach Art. 38 I b IGH-Statut das Vorliegen einer „allgemeinen, als Recht anerkannten Übung“ voraus. Der Definition werden gewöhnlich die Kerninhalte der „Übung“ als objektiver Nachweis einer bestehenden Staatenpraxis sowie das subjektive Element der „Rechtsüberzeugung (opinio iuris)“ entnommen.179 Insbesondere im Hinblick auf den internationalen Menschenrechtsschutz muss das Merkmal der Staatenpraxis jedoch hinterfragt werden. Eine Betrachtung der nationalen Menschenrechtspolitik belegt eine weitgehende Diskrepanz von „Worten und Taten“180. Öffentlichen Äußerungen und unterzeichnete Deklarationen staatlicher Vertreter stehen oftmals im Gegensatz zur tatsächlichen Praxis der nationalen Regierungen.181 Um die Staaten an ihren Bekenntnissen festhalten zu können, fordern Kritiker den Verzicht auf das konstitutive Erfordernis staatlicher Übung und lassen eine geäußerte Rechtsüberzeugung zum Nachweis gewohnheitsrechtlicher Geltung genügen.182 Die Existenz einer Staatenpraxis wäre somit keine zwingende Voraussetzung, sondern bloße Bestätigung einer bestehenden Verpflichtung. Durch die Beschränkung der Geltungsanforderungen auf die Aussagen eines Staates würde die induktive Methodik in eine interpretative Begriffsannäherung gewandelt.183 Erklärungen der Generalversammlung, Vertragstexte und Konventionsentwürfe könnten die hinreichende Grundlage einer gewohnheitsrechtlichen Normbestimmung bilden.184 Die Idee einer Neudefinition des Gewohnheitsrechtes könnte auch zum Nachweis von Rechtsstaatlichkeit Bedeutung erlangen. Zur Annahme eines verbindlichen Rechtsstaatsprinzips würde hiernach das Bekenntnis der Staatengemeinschaft zur Wahrung und Herstellung rechtsstaatlicher Grundsätze ausreichen. Herdegen, Völkerrecht, 2009, S. 129. von der Wense, Der UN-Menschenrechtsausschuß, 1999, S. 17. 181 Gunning, VJIL 31 (1991), S. 211 (220). 182 Simma, International Human Rights, in: European University Institute (Hrsg.), Academy of European Law, Collected Courses of the Academy of European Law, Bd. 4, 1993, S. 153 (217). 183 Simma, International Human Rights, in: European University Institute (Hrsg.), Academy of European Law, Collected Courses of the Academy of European Law, Bd. 4, 1993, S. 153 (217). 184 von der Wense, Der UN-Menschenrechtsausschuß, 1999, S. 17. 179 180

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Ein genereller Verzicht auf das Element der staatlichen Übung hat sich im Völkerrecht bislang nicht durchgesetzt.185 Gleichwohl kann der Gedanke einer weitergehenden Bindung staatlicher Organe an ihre öffentlichen Zugeständnisse im Rahmen der Anforderungen an den Nachweis von Staatenpraxis nutzbar gemacht werden. Allgemeine Erklärungen der Staaten186 sowie ihr Abstimmungsverhalten in internationalen Organisationen187 können nach einem weiten Verständnis des Praxisbegriffs als Beleg tatsächlicher Übung gewertet werden. Die Bestätigung einer Norm in Beschlüssen und Resolutionen der Staatengemeinschaft verdeutlicht eine Überzeugung von der Notwendigkeit ihrer internationalen Geltung. Dem Handeln der Staaten auf internationaler Ebene kann zumindest Indizcharakter bei der Bestimmung einer gewohnheitsrechtlichen Verpflichtung beigemessen werden.188 Eine entscheidende Frage bei der Würdigung staatlicher Praxis ist die Bewertung nationaler Verstöße gegen das vermeintliche Gewohnheitsrecht. Berichte über Folter und unfaire Verfahrenspraxis lassen Zweifel an einer gewohnheitsrechtlichen Geltung rechtsstaatlicher Prozessmaximen aufkommen. Verletzungen von Verfahrensgarantien durch nationale Organe stehen der Anerkennung von Gewohnheitsrecht allerdings nicht grundsätzlich entgegen.189 In seinem Nicaragua-Urteil setzt sich der Internationale Gerichtshof (IGH) mit den Anforderungen an eine staatliche Übung für die Annahme normativer Verbindlichkeit auseinander. Der Gerichtshof verzichtet auf das Erfordernis der ausnahmslosen Praxis und sieht die Existenz einer Regel auch durch wiederholte Verletzungen nicht prinzipiell in Frage gestellt. Vielmehr könne der Versuch einer Rechtfertigung oder Verdunkelung im Umkehrschluss als Anerkennung der Norm gewertet werden. „[T]he Court deems it sufficient that the conducts of States should, in general, be consistent with such rules, and that instances of State conduct inconsistent with a given rule should generally have been treated as breaches of that rule, not as indications of the recognition of a new rule. If a state acts in a way prima facie incompatible with a recognized rule, but defends its conduct by appealing to exceptions or justifications (…) the significance of that attitude is to confirm rather than to weaken the rule.“190

Der Ansatz des IGH ist überzeugend. Indem ein Staat sein Vorgehen rechtfertigt, erkennt er die grundsätzliche Pflicht zum entgegengesetzten Handeln an und demonstriert eine generelle Verbindlichkeit des Rechtssatzes. Eine gewohnheitsrechtvon der Wense, Der UN-Menschenrechtsausschuß, 1999, S. 19. Hobe / Kimminich, Völkerrecht, 2008, S. 196 f. 187 Höhn, Zwischen Menschenrechten und Konfliktprävention, 2005, S. 214. 188 Für die Herleitung von Gewohnheitsrecht aus der Praxis internationaler Organisationen Alvarez, International organizations, 2005, S. 592; ebenso White, International Organisations, 2005, S. 187. 189 Watts, GYIL 36 (1993), S. 15 (42): „Violations of international law are not, however, a denial of the international rule of law, unless they involve a general breakdown in law and order in the international community as a whole.“ 190 IGH Nicaragua v. USA, Case concerning Military and Paramilitary Activities in and against Nicaragua, ICJ Reports 1986, Rn. 186. 185 186

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liche Geltung rechtsstaatlicher Anforderungen kann daher unabhängig von einzelnen Verstößen auf nationaler Ebene nachgewiesen werden.191 Um die Verbindlichkeit eines allgemeinen Rechtsstaatsprinzips und konkreter Verfahrensgarantien zu untersuchen, muss zunächst die Praxis von Staaten und internationalen Organisationen beleuchtet werden. b) Völkergewohnheitsrechtliche Geltung eines allgemeinen Rechtsstaatsprinzips aa) Rechtsstaatlichkeit in der internationalen Praxis Ein erster Hinweis auf die Bedeutung von Rechtsstaatlichkeit für die internationale Staatengemeinschaft findet sich in der Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) vom 10. Dezember 1948.192 Im englischen Originalwortlaut heißt es hier: „Whereas it is essential, if man is not to be compelled to have recourse, as a last resort, to rebellion against tyranny and oppression, that human rights should be protected by the rule of law.“

Mit der Anerkennung rechtsstaatlicher Grundsätze als Voraussetzung eines wirksamen Menschenrechtsschutzes werden die Prämissen des Rechtsstaates zur Zielvorgabe staatlichen Handelns erklärt.193 Aufgrund ihrer Rechtsnatur als Resolution der Generalversammlung entfaltet die AEMR keine unmittelbare rechtliche Bindungswirkung. Ihre Aussagen gelten jedoch als grundlegender Mindeststandard des internationalen Rechts und werden nach herrschender Ansicht dem Völkergewohnheitsrecht zugerechnet.194 In der Satzung des Europarates aus dem Jahr 1949 bekannte sich auch die europäische Rechtsgemeinschaft zur „rule of law“ als gemeinsamer Grundlage ihrer Politik. „Reaffirming their devotion to the spiritual and moral values which are the common heritage of their peoples and the true source of individual freedom, political liberty and the rule of law, principles which form the basis of all genuine democracy.“195

Art. 3 der Satzung reflektiert die kollektive Rechtstradition und statuiert eine direkte Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien: „Every member of the Council of Europe must accept the principles of the rule of law.“ 191 So auch Kunig, der von der Notwendigkeit einer Beachtung, nicht jedoch einer Einhaltung der Norm ausgeht; Kunig, Jura 1989, S. 667 (669). 192 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, A / RES / 217, UN-Doc. 217 / A-(III), 10. Dezember 1948. 193 Fitschen, Max Planck UNYB 12 (2008), S. 347 (356). 194 Statt aller Schilling, Menschenrechtsschutz, 2004, S. 4. 195 Präambel der Satzung des Europarates, 5. Mai 1949, SEV-Nr. 1.

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Während die Inhalte der Satzung auf den europäischen Raum beschränkt bleiben, kann auf internationaler Ebene eine vergleichbare Tendenz zur Anerkennung von Rechtsstaatlichkeit beobachtet werden. In ihrer Erklärung über freundschaftliche Beziehungen vom 24. Oktober 1970 stimmten die Vereinten Nationen für eine Förderung von Rechtsstaatlichkeit zwischen den Nationen.196 Bestätigt wurde die Bedeutung rechtsstaatlicher Grundsätze als Zielsetzung der Staatengemeinschaft durch die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) in Kopenhagen.197 Das Schlussdokument des Kopenhagener Treffens von 1990 spiegelt die Überzeugung der Teilnehmerstaaten von der Notwendigkeit „demokratischer Rechtsstaatlichkeit zur Gewährleistung der Achtung aller Menschenrechte und Grundfreiheiten“198 wider.199 Buergenthal leitet hieraus eine rechtliche Verpflichtung der Mitgliedstaaten auf rechtsstaatliche Grundsätze ab.200 Demgegenüber weist Rudolf mit Recht auf den unverbindlichen Charakter des Beschlusses hin. Als „political commitments“201 haben die Schlussakte deklaratorische Wirkung und begründen für sich genommen keine unmittelbare Verpflichtung der Staaten. Gleiches gilt für die „Vienna Declaration and Programme of Action“, die auf der UN-Weltkonferenz über Menschenrechte von 1993 in Wien verabschiedet wurde.202 Die Erklärung der Konferenzteilnehmer benennt die Durchsetzung von Rechtsstaatlichkeit als wichtige Funktion der internationalen Staatengemeinschaft. Ein weiterer Nachweis rechtsstaatlicher Zielsetzung findet sich in der Millenniumserklärung der UN-Generalversammlung: „Member States resolved to (…) strengthen respect for the rule of law in international as in national affairs.“203

In Nachfolge der Millenniumskonferenz berief die Staatengemeinschaft im September 2005 den Weltgipfel der Vereinten Nationen ein. Basierend auf den Erkenntnissen der Millenniumsdeklaration betonte die abschließende Resolution der Generalversammlung die Bedeutung von Rechtsstaatlichkeit für den „Bestand der internationalen Ordnung“.204 196 Erklärung über Grundsätze des Völkerrechts betreffend freundschaftliche Beziehungen und Zusammenarbeit zwischen den Staaten im Einklang mit der Charta der Vereinten Nationen („Friendly Relations“-Deklaration), 24. Oktober 1970, Resolution der Generalversammlung 2625 (XXV). 197 Präambel, Dokument des Kopenhagener Treffens, Konferenz über die menschliche Dimension, 29. Juni 1990, International Legal Materials, Vol. 29 (1990), S. 1306. 198 Präambel, Dokument des Kopenhagener Treffens, Konferenz über die menschliche Dimension, 29. Juni 1990, International Legal Materials, Vol. 29 (1990), S. 1306. 199 Buergenthal, HRLJ 1990, S. 217 (221); Rudolf, Berichterstatter, 2000, S. 481. 200 Buergenthal, HRLJ 11 (1990), S. 217 (221); Rudolf, Berichterstatter, 2000, S. 481. 201 Rudolf, Berichterstatter, 2000, S. 482. 202 Präambel, World Conference on Human Rights, Vienna Declaration and Programme of Action, Doc. A / CONF.157 / 23, 12. Juli 1993. 203 Resolution der Generalversammlung 55 / 2 (2000), U.N. Doc. A / RES / 55 / 2 (2000), Rn. 9.

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Ein eindeutiges Bekenntnis zu den Grundsätzen des Rechtsstaates enthält auch die Erklärung der Außenminister der G8 zur Förderung der Rechtsstaatlichkeit aus dem Jahr 2007.205 Wenngleich die Deklaration lediglich von den Mitgliedern der G8 getragen wurde, belegt sie die Rechtsauffassung politisch repräsentativer Staaten. In der Erklärung wird Rechtsstaatlichkeit nicht allein als Ziel, sondern zugleich als unentbehrliche Prämisse eines gemeinsamen Handelns anerkannt. Im Wortlaut heißt es: „Wir, die Außenminister der G8, bekräftigen, dass Rechtsstaatlichkeit zu den Kernprinzipien gehört, auf die sich unsere Partnerschaft und unsere Bemühungen um Förderung eines dauerhaften Friedens sowie der Sicherheit, der Demokratie, der Menschenrechte und der nachhaltigen Entwicklung weltweit gründen. (…) Wir bekräftigen die Notwendigkeit der universellen Einhaltung und Umsetzung von Rechtsstaatlichkeit und Völkerrecht.“206

Die Bedeutung des Rechtsstaates auf nationaler und internationaler Ebene wird durch den Beschluss der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) von Helsinki unterstrichen. In ihrer Erklärung vom 5. Dezember 2008207 forderten die Teilnehmerstaaten eine „weitere Stärkung der Rechtsstaatlichkeit im OSZE-Raum“ und verpflichteten die Mitglieder zur Einhaltung „ihrer OSZE-Verpflichtungen in Bezug auf Rechtsstaatlichkeit auf internationaler wie auch auf nationaler Ebene“. Nach dem Willen der Staaten diene das Rechtsstaatsprinzip als „dimensionenübergreifende Frage im Hinblick auf die Gewährleistung der Achtung der Menschenrechte“208 der Garantie eines fundamentalen Grundrechtsschutzes. Ein aktueller Anwendungsbereich rechtsstaatlicher Grundsätze besteht in der Gestaltung internationaler Übergangsadministrationen. Die Verwaltung und Erneuerung staatlicher Rechtssysteme nach Beendigung bewaffneter Konflikte stellt die Staatengemeinschaft vor neue Aufgaben. Die Resolution der Generalversammlung zu „Human Rights in the Administration of Justice“ formuliert die Verpflichtung der Vereinten Nationen im Friedensprozess wie folgt: „[E]nsuring respect for the rule of law and human rights in the administration of justice, in particular in post-conflict situations, as a crucial contribution to building peace and justice and ending impunity.“209

204 Resolution der Generalversammlung 60 / 1 (2005), UN Doc. A / RES / 59 / 314 (2005), Rn. 134. 205 Außenminister der G8, Erklärung zur Förderung der Rechtsstaatlichkeit (letzter Zugriff am 25.03.2010). 206 Außenminister der G8, Erklärung zur Förderung der Rechtsstaatlichkeit (letzter Zugriff am 25.03.2010). 207 OSZE, Beschluss Nr. 7 / 08, Weitere Stärkung der Rechtsstaatlichkeit im OSZE-Raum, 05.12.2008 (letzter Zugriff am 25.03.2010). 208 OSZE: Beschluss Nr. 7 / 08, Weitere Stärkung der Rechtsstaatlichkeit im OSZE-Raum, 05.12.2008 (letzter Zugriff am 25.03.2010). 209 Präambel, Resolution der Generalversammlung, Human Rights in the Administration of Justice, A / RES / 62 / 158, 18. Dezember 2007, Rn. 2.

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Die dargestellten Dokumente legen Anforderungen an die innere Organisation des Staates sowie an sein Handeln in internationalen Beziehungen fest. Eine jüngere Entwicklung des Völkerrechts verdeutlicht jedoch, dass Rechtsstaatlichkeit nicht länger als ausschließliche Gestaltungsgrundlage staatlicher Akte, sondern gleichfalls als Handlungsprinzipe der Vereinten Nationen angesehen wird.210 In seinem Bericht „The Rule of Law and Transitional Justice in Conflict and Post-Conflict Societies“ vom August 2004 fordert Generalsekretär Kofi Annan die universelle Geltung rechtsstaatlicher und menschenrechtlicher Standards.211 Annan betonte die Bedeutung von Rechtsstaatlichkeit als politische Zielstellung und legitimierender Maßstab der Vereinten Nationen: „Concepts such as ‚justice‘, ‚the rule of law‘ and ‚transitional justice‘ (…) serve both to define our goals and to determine our methods.“212

In seinem Bericht weist der Generalsekretär ferner auf die bestimmende Rolle der Vereinten Nationen bei der Entwicklung international geltender Menschenrechtsverträge hin. Angesichts der maßgeblichen Beteiligung der Vereinten Nationen an einer Normativierung rechtsstaatlicher Standards müssten die erarbeiteten Rechtssätze zugleich als selbstverpflichtende Richtlinien der Organisation heranzuziehen: „[They] serve as a normative basis for all UN activities in support of justice and the rule of law.“213

Bekräftigt wurde die Anerkennung des Rechtsstaatsprinzips als Handlungsprämisse der Vereinten Nationen durch die Resolution der Generalversammlung zu „Rechtsstaatlichkeit auf nationaler und internationaler Ebene“ vom 6. Dezember 2006.214 In der Präambel heißt es: „Reaffirming also that human rights, the rule of law and democracy are interlinked and mutually reinforcing and that they belong to the universal and indivisible core values and principles of the United Nations.“215

An anderer Stelle betont die Resolution die doppelte Wirkung des Rechtsstaatsgebotes, das sich zugleich an die Vereinten Nationen und ihre Mitgliedstaaten richtet: „Convinced that the promotion of and the respect for the rule of law at the national and international levels, as well as justice and good governance should guide the activities of the United Nations and of its Member States.“216 Fitschen, Max Planck UNYB 12 (2008), S. 347 (355). Report of the Secretary-General, The Rule of Law and Transitional Justice in Conflict and Post-Conflict Societies, Doc. S / 2004 / 616, 2. August 2004. 212 Report of the Secretary-General, The Rule of Law and Transitional Justice in Conflict and Post-Conflict Societies, Doc. S / 2004 / 616, 2. August 2004. 213 Report of the Secretary-General, The Rule of Law and Transitional Justice in Conflict and Post-Conflict Societies, Doc. S / 2004 / 616, 2. August 2004. 214 Resolution der Generalversammlung, A / RES / 61 / 39, 4. Dezember 2006. 215 Resolution der Generalversammlung, A / RES / 61 / 39, 4. Dezember 2006. 216 Präambel, Resolution der Generalversammlung, A / RES / 61 / 39, 4. Dezember 2006. 210 211

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Auch der Sicherheitsrat bekannte sich zur Notwendigkeit menschenrechtlicher und rechtsstaatlicher Inhalte als Grenzen seiner Kompetenzausübung. In Resolution 1318 (2000)217 nannte er die Geltung von Rechtsstaatlichkeit als elementares Prinzip des internationalen Rechts: „[R]eaffirms its commitment to the principles of sovereign equality, national sovereignty, territorial integrity and political independence of all States, and underlines the need for respect for human rights and the rule of law.“218

Der Blick auf die völkerrechtliche Praxis zeigt ein eindeutiges Bekenntnis der Staatengemeinschaft zur Gewährleistung rechtsstaatlicher Grundsätze. Rechtsstaatlichkeit wird nahezu einheitlich als Maßstab und Zielsetzung sowohl nationalen als auch internationalen Handelns anerkannt. Wenngleich ein allgemeiner Konsens über die Forderung nach Rechtsstaatlichkeit zu bestehen scheint, kann hieraus nicht zwingend auf ihre völkergewohnheitsrechtliche Geltung geschlossen werden. Die Rechtsnatur der aufgeführten Dokumente sowie die inhaltliche Unbestimmtheit des Rechtsstaatsbegriffes begründen Zweifel an der Rechtsverbindlichkeit des Prinzips.

bb) Rechtlicher Bindungswille oder politische Erklärung? Die Forderung nach Rechtsstaatlichkeit formulieren die Vereinten Nationen und ihre Mitgliedstaaten vorrangig in rechtlich unverbindlichen Erklärungen und Resolutionen der Generalversammlung. Aufgrund der fehlenden Normativität der Deklarationen ist die Frage nach ihrer Bedeutung für die Bestimmung völkerrechtlichen Gewohnheitsrechts umstritten. Gegen die Begründung gewohnheitsrechtlicher Praxis durch sogenanntes „soft law“ werden der politische Charakter und die lediglich empfehlende Wirkung seiner Inhalte angeführt.219 Erklärungen in der Form unverbindlicher Beschlüsse spiegelten keine rechtsverbindliche Verpflichtung, sondern lediglich die Überzeugung politischer Notwendigkeit wider. Zu diesem Ergebnis gelangt Vitzthum im Hinblick auf die Abstimmungspraxis in den Vereinten Nationen: „Das Abstimmungsverhalten etwa in der UN-Generalversammlung wird regelmäßig weniger vom Rechtsfolgewillen der Staatenvertreter als von politischen Überlegungen bestimmt.“220

Auch Chesterman sieht in dem Verhalten der Staaten eher eine politische Praxis als einen rechtlichen Bindungswillen reflektiert: „Recognizing the rule of law as a political ideal at the international level, rather than asserting it as a normative reality, properly locates the conduct of most international affairs in the political rather than the strictly legal sphere.“221

217 218 219 220 221

S / RES / 1318 (2000), 7. September 2000. S / RES / 1318 (2000), 7. September 2000, Section I. Herdegen, Völkerrecht, 2009, S. 147. Vitzthum, in: Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, 2010, S. 1 (72). Chesterman, AJCL 56 / 2 (2008), S. 331 (358).

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Zugleich dürfe den Resolutionen der Generalversammlung bereits aus kompetenziellen Erwägungen keine Rechtsqualität beigemessen werden, da das Organ nach den Vorgaben der UN-Charta zur verbindlichen Rechtssetzung nicht befugt sei.222 Für die Annahme einer gewohnheitsrechtlichen Indizwirkung spricht hingegen die besondere Präsenz rechtsstaatlicher Forderungen auf internationaler Ebene. In seinem Atomwaffen-Gutachten von 1996 stellte der IGH fest, dass eine Abfolge von inhaltlich kongruenten Resolutionen der Generalversammlung zur allmählichen Herausbildung einer allgemeinen Rechtsüberzeugung führen könne.223 Hiernach wäre das wiederholt bekräftigte Bekenntnis zur Rechtsstaatlichkeit möglicherweise als Zustimmung der Staaten zu einer wechselseitigen Verpflichtung zu werten.224 Angesichts der Anerkennung des Prinzips als elementarer Grundsatz hoheitlichen Handelns könnte sich das Ziel der Rechtsstaatlichkeit weniger als einmalige politische Aussage, denn als rechtsverbindliches Anliegen der Staatengemeinschaft darstellen. Höhn spricht sich dafür aus, Engagement und Abstimmungsverhalten der Staaten in internationalen Organisationen als Bestandteil einer rechtlich relevanten Praxis anzusehen.225 Eine einstimmige Verabschiedung von Resolutionen reflektiere die gleichartige Willensbekundung einer großen Mehrheit der Staaten und sei als Ausdruck einer allgemeinen Rechtsüberzeugung zu verstehen.226 Richtigerweise werden Resolutionen und unverbindlichen Beschlüsse als Indizien für die Bestimmung von Völkergewohnheitsrecht zu werten sein. Gleichwohl kann von einer gewohnheitsrechtlichen Übung nur ausgegangen werden, wenn die Erklärungen nicht ausschließlich eine politische Überzeugung widerspiegeln, sondern Ausdruck einer rechtlichen Verpflichtung sind. Aufschluss über die inhaltliche Bewertung der Quellen kann der Vergleich zur Vertragspraxis der Staaten geben. In verbindlichen Vertragstexten findet sich das Rechtsstaatsprinzip nicht als verpflichtende Schranke staatlichen Handelns, sondern allenfalls als programmatische Zielstellung der Präambel. Der Verzicht auf eine Normierung von Rechtsstaatlichkeit in bindenden Abkommen könnte als Anzeichen eines fehlenden Bindungswillens der Staaten begriffen werden. Angesichts der Diskrepanz zwischen öffentlichen Forderungen und tatsächlichen Rechtsbindungen stellt sich die Frage, weshalb die Staaten wiederholt Rechtsstaatlichkeit fordern, jedoch keine klare vertragliche Verpflichtung eingehen. Eine mögliche Antwort gibt der komplexe Begriff der Rechtsstaatlichkeit selbst. Das hohe Maß an Konsens über die Notwendigkeit rechtsstaatlicher Grundsätze be222 223

Herdegen, Völkerrecht, 2009, S. 147. IGH, Legality of the Threat or Use of Nuclear Weapons, ICJ Reports 1996, S. 226

(255). 224 Eine Bindungswirkung von Resolutionen der Generalversammlung bejahend: Ziegler, Einführung, 2006, S. 69. 225 Höhn, Zwischen Menschenrechten und Konfliktprävention, 2005, S. 214. 226 So auch Hobe / Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, 2008, S. 196 f.

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B. Rechtsstaatlichkeit als Maßstab von Strafgerichtsverfahren

ruht in weiten Teilen auf ihrer inhaltlichen Unbestimmtheit.227 Die Untersuchung internationaler Dokumente belegt, dass Rechtsstaatlichkeit zwar allgemein proklamiert, jedoch nur selten spezifiziert wird.228 Der 10. Kongress der Vereinten Nationen für Verbrechensverhütung und die Behandlung Straffälliger stellte mit Blick auf die Konsequenzen rechtsstaatlicher Vorgaben fest. „[T]here is no universal agreement as to what the term rule of law actually means.“229

Gleichfalls konstatiert der Ständige Vertreter Österreichs bei den Vereinten Nationen in seinem offenen Schreiben an den Generalsekretär die fehlende Konkretisierung des völkerrechtlichen Rechtsstaatsverständnisses. „Der Gedanke der „Herrschaft des Rechts“ wird auf nationaler und internationaler Ebene weithin befürwortet, ohne dass eine präzise Vorstellung davon besteht, was darunter zu verstehen ist.“230

Versuche einer Begriffsbestimmung auf internationaler Ebene sind bislang vereinzelt geblieben und können keine universelle Geltung beanspruchen. Hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang die Berichte des Generalsekretärs der Vereinten Nationen von August231 und Oktober232 2004. In seinem Rapport „The Rule of Law and Transitional Justice in Conflict and Post-Conflict Societies“ benennt der Generalsekretär wichtige Bestandteile des Rechtsstaatsprinzips wie „fairness in the application of law“ und „procedural and legal transparency“.233 Insgesamt ist eine Tendenz erkennbar, den Schutz von Menschenrechten und prozessualer Fairness als Elemente des Rechtsstaates anzuerkennen. „The rule of law presumes that a law is in place and encompasses its content, particularly its consistency with international human rights standards (…) and the fairness with which it is applied in any given case.“234

Vergleichbare Grundsätze finden sich im Schlussdokument der Kopenhagener Konferenz. 227 Offenes Schreiben des Ständigen Vertreters Österreichs bei den Vereinten Nationen an den Generalsekretär der Vereinten Nationen, A / 63 / 69-S / 2008 / 270, 18. April 2008, Rn. 8; Fitschen, Max Planck UNYB 12 (2008), S. 347 (355). 228 Watts, GYIL 36 (1993), S. 15 (15). 229 Tenth United Nations Congress on the Prevention of Crime and the Treatment of Offenders, Promoting the Rule of Law and Strengthening the Criminal Justice System: Working Paper prepared by the Secretariat, Doc. A / CONF.187 / 3, 10. April 2000, Rn. 9. 230 Offenes Schreiben des Ständigen Vertreters Österreichs bei den Vereinten Nationen an den Generalsekretär der Vereinten Nationen, A / 63 / 69-S / 2008 / 270. 18. April 2008. 231 Report of the Secretary-General, The Rule of Law and Transitional Justice in Conflict and Post-Conflict Societies, Doc. S / 2004 / 616, 2. August 2004. 232 Report of the Secretary-General, Strengthening of the Rule of Law, Doc. A / 59 / 402, 1. Oktober 2004, Rn. 5. 233 Report of the Secretary-General, The Rule of Law and Transitional Justice in Conflict and Post-Conflict Societies, Doc. S / 2004 / 616, 2. August 2004. 234 Report of the Secretary-General, Strengthening of the Rule of Law, Doc. A / 59 / 402, 1. Oktober 2004, Rn. 5.

II. Die Geltung rechtsstaatlicher Anforderungen im Völkerrecht

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„The rule of law does not mean merely a formal legality which assures regularity and consistency in the achievement and enforcement of democratic order, but justice based on the recognition and full acceptance of the supreme value of the human personality.“235

Wenngleich erste Bestrebungen zur Festlegung eines allgemeinen Rechtsstaatsbegriffes zu verzeichnen sind, ist eine einheitliche Praxis bislang nicht erkennbar. Die Berichte des Generalsekretärs enthalten keine zwingenden Definitionen, sondern ausdrücklich Vorschläge zur Entwicklung eines gemeinsamen Begriffsverständnisses.236 Bereits die Frage nach einem formellen oder materiellen Verständnis von Rechtsstaatlichkeit ist im internationalen Recht nicht abschließend geklärt.237 Auch die Idee einer Beschränkung der gewohnheitsrechtlichen Geltung auf den europäischen Raum238 scheitert an der fehlenden Bestimmtheit des Rechtsstaatsbegriffs. Da kein hinreichender Konsens über die Tragweite rechtsstaatlicher Garantien besteht, wird die Existenz eines regionalen Gewohnheitsrechts überwiegend abgelehnt.239 Im Ergebnis zeigt sich, dass auf internationaler Ebene bislang keine einheitliche Begriffsfestlegung existiert. Soll Rechtsstaatlichkeit nicht allein politische Zielsetzung, sondern normative Rechtsvorgabe sein, müssen ihre Inhalte klar bestimmt werden können. Ein rechtlicher Bindungswille der Staaten im Sinne einer opinio iuris ist nur anzunehmen, wenn Ausmaß und Folgen der Verpflichtung zweifelsfrei absehbar sind. Bis zur Einigung auf ein gemeinsames Begriffsverständnis kann das allgemeine Rechtsstaatsprinzip daher keine gewohnheitsrechtliche Geltung beanspruchen, sondern muss als primär politische Forderung aufgefasst werden.

cc) Fazit zur gewohnheitsrechtlichen Geltung des Rechtsstaatsprinzips Die Untersuchung völkerrechtlicher Quellen hat die Bedeutung von Rechtsstaatlichkeit für die Politik der Vereinten Nationen und ihrer Mitgliedstaaten deutlich gemacht. Wenngleich die Wahrung des Rechtsstaatsprinzips als grundlegende Zielvorstellung allgemein anerkannt ist, konnte sich bislang keine einheitlich akzeptierte Begriffsdefinition als Voraussetzung normativer Verbindlichkeit herausbilden. Die Entwicklungen der kommenden Jahre werden zeigen, ob zukünftig eine Konkretisierung und gewohnheitsrechtliche Anerkennung des Rechtsstaatsbegriffs möglich ist. Während die Zuordnung des allgemeinen Rechtsstaatsprinzips zum Gewohnheitsrecht noch verneint werden muss, stellt sich die Frage nach der Rechtsverbindlichkeit seiner prozessualen Garantien. In der folgenden Untersuchung wird zu klä235 Dokument der Kopenhagener Konferenz über die menschliche Dimension, 29. Juni 1990, International Legal Materials, Vol. 29 (1990), S. 1307. 236 Fitschen, Max Planck UNYB 12 (2008), S. 347 (355). 237 Chesterman, AJCL 56 / 2 (2008), S. 331 (338). 238 Watts, GYIL 36 (1993), S. 15 (19). 239 Statt aller: Frank, Verantwortlichkeit, 1999, S. 133.

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ren sein, ob in Bezug auf die Verfahrensrechte des Angeklagten eine opinio iuris und hinreichende Übung der Staaten nachgewiesen werden kann.

c) Völkergewohnheitsrechtliche Geltung rechtsstaatlicher Verfahrensgarantien Prozessuale Garantien zum Schutze des Angeklagten werden in einer Vielzahl völkerrechtlicher Verträge und menschenrechtlicher Erklärungen gewährleistet. Die AEMR, der IPbpR sowie die EMRK enthalten die Grundsätze des fairen Verfahrens als wesentliche Voraussetzungen eines rechtsstaatlichen Prozessverlaufs.240 Einzelne Elemente wie das Recht auf Verteidigung oder den Grundsatz des beschleunigten Verfahrens finden sich gleichfalls in internationalen Dokumenten und Erklärungen.241 Das allgemeine Gebot des fairen Verfahrens ist ausdrücklich in Art. 14 I IPbpR sowie Art. 6 EMRK verankert und wird durch die Rechtsprechung des EGMR wiederholt als elementares Grundrecht bestätigt.242 Der Ausschuss der Menschenrechte betont in seiner Stellungnahme zur Zulässigkeit von Vertragsvorbehalten zum IPbpR den zwingenden Charakter des Fairnessprinzips.243 Nach Auffassung des Ausschusses sind die Staaten unabhängig von einer vertraglichen Verpflichtung an den gewohnheitsrechtlichen Grundsatz des fairen Verfahrens gebunden.244 Nach Rudolf ist die universelle Annahme des Fairnessgebotes „weitgehend unstreitig“245 und auch Cassese bestätigt die Existenz entsprechenden Gewohnheitsrechts. „It seems indisputable that by now [the right to a fair trial] has come to belong to the category of customary norms in international law.“246 Siehe hierzu ausführlich B. II. 2. b). Das Arbeitspapier des zehnten Kongresses der Vereinten Nationen für Verbrechensverhütung und die Behandlung Straffälliger führt unter anderem Informationsrechte, das Recht auf kompetente Verteidigung, den Schutz vor willkürlicher Inhaftierung und den Beschleunigungsgrundsatz auf (Tenth United Nations Congress on the Prevention of Crime and the Treatment of Offenders, Promoting the Rule of Law and Strengthening the Criminal Justice System: Working Paper prepared by the Secretariat, Doc. A / CONF.187 / 3, Rn. 9). Im Schlussdokument des Kopenhagener Treffens werden insbesondere die Unschuldsvermutung (Rn. 5.19), das Recht der Verteidigung (Rn. 5.17) sowie der Anspruch auf ein unparteiliches Gericht (Rn. 5.16) genannt (Dokument des Kopenhagener Treffens, Konferenz über die menschliche Dimension, 29. Juni 1990, International Legal Materials 29 (1990), S. 1306). 242 EGMR Artico v. Italien, Application No. 6694 / 74, 13.Mai 1890, EuGRZ 1980, S. 662, Rn. 32; EGMR Edwards u. Lewis v. Vereinigtes Königreich, Application No. 39647 / 98, 40461 / 98, 27. Oktober 2004, Rn. 36. 243 Ausschuss für Menschenrechte, General Comment 24 / 52. Rn. 8: „And while reservations to particular clauses of Article 14 may be acceptable, a general reservation to the right to a fair trial would not be.“ 244 Künzli, Rigidität, 2001, S. 54; so versteht auch Künzli die Stellungnahme des Ausschusses. 245 Rudolf, Berichterstatter, 2000, S. 478. 240 241

II. Die Geltung rechtsstaatlicher Anforderungen im Völkerrecht

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Während die gewohnheitsrechtliche Geltung eines allgemeinen Fairnessgedankens anerkannt ist, erscheint eine äquivalente Rechtsverbindlichkeit konkreter Gewährleistungen menschenrechtlicher Verträge fraglich. Weitgehend unstreitig werden das Gebot der Unschuldsvermutung sowie der Anspruch auf ein unabhängiges Gericht dem Gewohnheitsrecht zugeordnet.247 Die Vermutung einer Nichtschuld des Angeklagten bis zum Urteilsspruch wird in den geltenden Menschenrechtsabkommen und der Rechtsprechung internationaler Gerichte einheitlich garantiert.248 Mit Blick auf die konstante Praxis der Staaten bestätigt die Literatur eine gewohnheitsrechtliche Verbindlichkeit der Unschuldsvermutung.249 Gleiches gilt für die Gewährleistung eines unabhängigen und unparteilichen Gerichts, das als wesentliches Element des Rechtsstaates gewohnheitsrechtliche Geltung beanspruchen kann.250 Neben den menschenrechtlichen Verträgen enthalten das Kopenhagener Schlussdokument251 sowie die Grundprinzipien der Unabhängigkeit der Richterschaft (GUR)252 klare Vorgaben zur Absicherung einer objektiven Urteilsfindung. Ob darüber hinaus eine gewohnheitsrechtliche Geltung der Verbürgungen von Art. 14 IPbpR und Art. 6 EMRK anzunehmen ist, wird in der Literatur kontrovers diskutiert.253 Während sich Völkerrechtslehrer aus dem angloamerikanischen Raum überwiegend für eine gewohnheitsrechtliche Bindung aussprechen254, wird von anderer Seite eine Anerkennung der Regelungen mangels hinreichend nachweisbarer Praxis abgelehnt.255 Tatsächlich lassen die gängigen Darstellungen eine substantiierte Begründung von staatlicher Übung und opinio iuris oftmals vermissen.256 Die Erörte246 Cassese, International Criminal Law, 2008, S. 395; Cassese stuft den Grundsatz des fairen Verfahrens sogar als Gebot des ius cogens ein. 247 Kachkeev, Stellung der Richter, 2007, S. 38. 248 Vgl. beispielhaft EGMR Sekanina v. Österreich, Application No. A / 266-A, 25. August 1999, S. 16. 249 Morin, RdC 254 (1995), S. 224; Cassese, International Criminal Law, 2008, S. 389 f. 250 Zappalà, Human Rights, 2005, S. 100: „The independence and impartiality of the judiciary are a basic principle of the rule of law.“ 251 Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), Dokument des Kopenhagener Treffens der Konferenz über die menschliche Dimension der KSZE, 29. 06. 1990, Rn. 5.16, International Legal Materials, Vol. 29 (1990), S. 1306 (letzter Zugriff am 24. 05. 2010). 252 Resolution der Generalversammlung 40 / 32 v. 29. November 1985 und 40 / 146 v. 13. Dezember 1985. 253 Zahar / Sluiter, International Criminal Law, 2008, S. 277 m.w. N. 254 McDougal / Lasswell / Chen, Human Rights, 1980, S. 274; Sohn, AULR 32 (1982), S. 1 (17). 255 Schachter, International Law, 1991, S. 339; von der Wense, Der UN-Menschenrechtsausschuß, 1999, S. 19. 256 Dies kritisiert auch Safferling; vgl. Safferling, Towards an International Criminal Procedure, 2007, S. 25 f.

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rungen von Essis257 und Meron258 werden als Beispiele dafür angeführt, dass die These von einer gewohnheitsrechtlichen Verbindlichkeit nicht selten ohne nachvollziehbaren Beleg der bestehenden Praxis vertreten wird. Der Nachweis einer universellen Verpflichtung darf insbesondere nicht allein auf die Rechtsordnungen der Staaten gestützt werden, sondern muss eine internationale Staatenpraxis reflektieren.259 Die Frage nach der Reichweite einer gewohnheitsrechtlichen Geltung menschenrechtlicher Gewährleistungen ist nach wie vor umstritten. Der Versuch einer Kodifikation des bestehenden Völkergewohnheitsrechts im „Restatement of the Foreign Relations Law of the United States“ folgt einem weitgehend restriktiven Ansatz. Als gewohnheitsrechtliche Verbote werden allein elementare Menschenrechtsverletzungen wie Ermordung, Folter oder unmenschliche Bestrafung anerkannt.260 In seiner Untersuchung staatlicher Menschenrechtspraxis bestätigt Hoffmeister diese Sichtweise und formuliert Mord, Vergewaltigung, Sklaverei und Inhaftierung261 als zwingende Grenzen hoheitlichen Handelns. Die Beschränkung von Gewohnheitsrecht auf einen Kernbereich individueller Schutzregeln wird vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Expansion menschenrechtlicher Grundsätze kritisch gesehen. In Abkehr von der vorsichtigen Annahme gewohnheitsrechtlicher Grundrechtsstandards fordern Stimmen im Schrifttum eine umfassende normative Anerkennung der Inhalte der AEMR.262 Angesichts des unverbindlichen Charakters und der bestehenden Vorbehalte gegen einzelne Bestimmungen der Deklaration geht die generelle Einstufung der AEMR als Gewohnheitsrecht indes zu weit. Richtiger erscheint es, mit Tomuschat lediglich das „Herzstück“ menschenrechtlicher Bestimmungen als universell verpflichtend zu begreifen. Zu den völkergewohnheitsrechtlichen Mindeststandards werden in der Literatur das Recht auf persönliche Freiheit263 sowie grundlegender Verfahrensgarantien wie die Waffengleichheit oder die Öffentlichkeit der Verhandlungen gerechnet.264 Die gewohnheitsrechtliche Geltung eines prozessualen Schutzstandards entspricht den rechtlichen und politischen Tendenzen der Staatengemeinschaft. Wenngleich menschenrechtliche Abkommen wie der IPbpR noch nicht universell ratifiziert sind,265 kann eine allgemeine Praxis zur Gewährleistung fairer Verfahren beEssis, Verbindlichkeit der Menschenrechte, 2008, S. 7. Meron, Human Rights, 1991, S. 96 f. 259 Rudolf, Berichterstatter, 2000, S. 478. 260 Kälin / Künzli, Universeller Menschenrechtsschutz, 2008, S. 76. 261 Hoffmeister, Menschenrechts- und Demokratieklauseln, 1998, S. 217. 262 Lillich in Meron, Human Rights in International Law, 1992, S. 116 f. 263 Schwartmann, Private im Wirtschaftsvölkerrecht, 2005, S. 144. 264 Meron, Human Rights, 1991, S. 96 f.; Rudolf, Berichterstatter, 2000, S. 478. 265 Zum Ratifizierungsstand vgl. United Nations Treaty Collection, UN Chapter IV Human Rights, 4. International Covenant on Civil and Political Rights, New York 26.12.1966, 24.05. 2010 (letzter Zugriff am 24.05.2010). 257 258

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obachtet werden.266 Werden Verstöße auf nationaler Ebene nicht per se als Negation der Norm begriffen, können formalen Bindungen und öffentlichen Erklärungen der Staaten besondere Bedeutung beigemessen werden.267 Die Anerkennung zentraler Prozessmaximen als Völkergewohnheitsrecht ist nicht zwangsläufig deckungsgleich mit den Gewährleistungen menschenrechtlicher Verträge. So bezeugt beispielweise der Vorbehalt Deutschlands zu den Anwesenheitsregelungen des Art. 14 IPbpR einen partiellen Freiraum der Staaten in der Verfahrensgestaltung. Wenngleich das internationale Gewohnheitsrecht keine detaillierten Prozessbestimmungen enthält, kann der staatlichen Praxis ein Konsens hinsichtlich der Grundgedanken des Verfahrensschutzes entnommen werden. Der gewohnheitsrechtliche Nachweis konkretisierter Prozessgarantien gestaltet sich jedoch problematisch. Da strafprozessuale Grundsätze wie das Prinzip der Beschleunigung, der Öffentlichkeit und der Anspruch auf den gesetzlichen Richter primär auf staatlicher Ebene Bedeutung erfahren, ist eine internationale Staatenpraxis schwer belegbar. Als verfassungsrechtliche Zielvorgabe wird Rechtsstaatlichkeit in zwischenstaatlichen Beziehungen nur am Rande reflektiert. Die völkerrechtliche Geltung einzelner Verfahrensgarantien wird daher strukturell besser über das Rechtsinstitut der allgemeinen Rechtsgrundsätze zu erfassen sein.268

4. Rechtsstaatlichkeit als allgemeiner Rechtsgrundsatz a) Die Bestimmung allgemeiner Rechtsgrundsätze Art. 38 Abs. 1 lit. c IGH-Statut normiert die „von den Kulturvölkern anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätze“ als Rechtsquellen des Völkerrechts. Unter allgemeinen Rechtsgrundsätzen werden „die durch (wertende) Rechtsvergleichung zu ermittelnden materiellen, verfahrensrechtlichen oder rechtsstrukturellen Prinzipien, die übereinstimmend im innerstaatlichen Recht der ‚Kulturvölker‘ gelten und zur Übertragung auf das Völkerrecht geeignet sind“269 verstanden. Im Unterschied zum Völkergewohnheitsrecht bedarf es zur Annahme eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes keiner staatlichen Übung, sondern lediglich seiner formlosen Anerkennung durch eine repräsentative Mehrheit der innerstaatlichen Rechtsordnungen.270 Die Herleitung der allgemeinen Rechtsgrundsätze als eigenständige Rechtsquelle des Völkerrechts kann auf unterschiedliche dogmatische Begründungsansätze zuReiter, Nemo tenetur se ipsum prodere, 2007, S. 72. Rudolf, Berichterstatter, 2000, S. 490. 268 Zur Problematik eines Nachweises von Gewohnheitsrecht im strafrechltichen und öffentlich-rechtlichen Bereich, Doehring, Völkerrecht, 2004, S. 180. 269 Vitzthum, in: Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, 2010, S. 1 (71). 270 Vitzthum, in: Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, 2010, S. 1 (72). 266 267

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rückgeführt werden.271 Ausgehend von der Prämisse einer grundsätzlichen Vergleichbarkeit nationaler und internationaler Rechtsfragen lassen sich allgemeine Rechtsgrundsätze zunächst als das Ergebnis einer Analogie zum innerstaatlichen Recht verstehen.272 Angesichts der Gleichwertigkeit der Rechtsquellen in Art. 38 IGH-Statut darf eine Anwendung allgemeiner Rechtsgrundätze jedoch nicht auf Regelungslücken im Völkerrecht beschränkt sein.273 Eine ausnahmslose Rechtfertigung der normativen Verbindlichkeit allgemeiner Rechtsgrundsätze ließe sich auf eine naturrechtliche Fundierung der Rechtsquelle stützen.274 Als Ausfluss eines universellen Gerechtigkeitsprinzips können ihre Inhalte im internationalen Recht unmittelbare Anwendung finden. Von anderer Seite wird der normative Geltungsgrund allgemeiner Rechtsgrundsätze im Prinzip des „venire contra factum proprium“ verankert.275 Hiernach müssen sich Staaten auch auf völkerrechtlicher Ebene an selbst gesetzten Rechtsätzen festhalten lassen. Mit ihrer ausdrücklichen Anerkennung in Art. 38 Abs. 1 lit. c IGH-Statut ist eine Entscheidung über die dogmatische Grundlage der Rechtsquelle entbehrlich geworden. Die Hintergründe ihrer normativen Herleitung können jedoch für das Verständnis ihrer Reichweite nutzbar gemacht werden. An die Annahme eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes sind inhaltliche Anforderungen zu stellen. Ihrer sprachlichen Bezeichnung entsprechend begrenzt sich ihr Anwendungsbereich auf fundamentale Regeln, die in der nationalen Rechtsordnung grundlegende Bedeutung beanspruchen.276 Erfasst werden keine konkreten Einzelregelungen, sondern Normen von allgemeiner Gültigkeit.277 Als wesentliche Prinzipen staatlichen Handelns genügen das Gebot der Rechtsstaatlichkeit und seine verfahrensrechtlichen Ausprägungen den Voraussetzungen inhaltlicher Grundsätzlichkeit. Der begrifflichen Eingrenzung des Normbereichs auf „Kulturvölker“ („civilized nations“) kommt nach vorherrschender Ansicht keine beschränkende Wirkung zu.278 Eine Minderheit im Schrifttum entnimmt der Klausel jedoch einen „Grundstandard für die in einer Rechtsgemeinschaft anzuerkennenden menschlichen Grundwerte“279 271 Dass allgemeine Rechtsgrundsätze eine eigenständige Rechtsquelle darstellen, wird angesichts des eindeutigen Wortlautes von Art. 38 IGH-Statut nur noch vereinzelt bestritten. Darstellung bei Seidl-Hohenveldern, Völkerrecht, 2001, S. 322 f. 272 Blondel, Les principes généraux, in: Université Genève (Hrsg.), Hommage à Guggenheim, S. 234; Lindemann, Allgemeine Rechtsgrundsätze, 1986, S. 31 m.w. N. 273 Hobe / Kimminich, Völkerrecht, 2008, S. 181. 274 Verdross / Simma, Universelles Völkerrecht, 1984, § 599; Lindemann, Allgemeine Rechtsgrundsätze, 1986, S. 31. 275 Bleckmann, Methodenlehre des Völkerrechts, 1978, S. 28. 276 Doehring, Völkerrecht, 2004, S. 179; Ipsen, Völkerrecht, 2004, § 17 Rn.3. 277 Lindemann, Allgemeine Rechtsgrundsätze, 1986, S.25. 278 Ipsen, Völkerrecht, 2004, § 17 Rn. 2; Vitzthum, in: Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, 2010, S. 1 (72). 279 Kadelbach / Kleinlein, AVR 44 / 3 (2006), S. 235 (257).

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und erhebt den Verfassungsstandard westeuropäischer Staaten zum verbindlichen Maßstab.280 Staaten, die gegen wesentliche Prinzipien rechtsstaatlicher Demokratien verstießen, würden hiernach bereits von der Definitionsbestimmung ausgenommen. Im Hinblick auf die souveräne Gleichheit der Staaten wird eine moralisch-ethische Bewertung nationaler Rechtsordnungen indes zu Recht abgelehnt.281 Soll zur Wahrung der Einheit des Völkerrechts und der friedlichen Beziehungen innerhalb der Staatengemeinschaft ein generelles Urteil über nationale Entwicklungsstände vermieden werden, müssen allgemeine Rechtsgrundsätze global nachweisbar sein.282 Hierfür genügt es, wenn eine Regel durch die repräsentative Mehrheit der Staaten garantiert wird. Ihr Nachweis im kontinentaleuropäischen und angloamerikanischen Rechtskreis gilt als ausreichend, wenn die ratio legis des Rechtssatzes nicht im Widerspruch zu den übrigen Rechtsordnungen steht.283 Zur Ermittlung universell geltender Rechtsprinzipien ist nach einer Auffassung in der Literatur neben den innerstaatlichen Normsystemen auch das nicht rechtsverbindliche Handeln der Staaten in internationalen Beziehungen zu berücksichtigen.284 Vergleichbar den nationalen Rechtsordnungen reflektierten zwischenstaatliche Erklärungen eine generelle Rechtsüberzeugung und den impliziten Konsens der Staatengemeinschaft.285 Gegen die Einbeziehung völkerrechtlichen „soft law“ als Beleg staatlicher Anerkennung muss erneut der fehlende Rechtsbindungswille angeführt werden.286 Die Beschränkung der Erkenntnisquellen auf den staatlichen Bereich rechtfertigt sich vor dem Hintergrund der oftmals politischen Motivation internationaler Deklarationen.287 Angesichts ihres unverbindlichen Charakters können völkerrechtliche Resolutionen und Beschlüsse nicht als sicherer Nachweis einer rechtlich verpflichtenden Anerkennung angesehen werden.288 Im Rahmen der Bestimmung allgemeiner Rechtsgrundsätze ist staatlichen Proklamationen auf internationaler Ebene daher allenfalls Indizwirkung beizumessen.

Thürer, ZaöRV 2000, S. 557 (601). Vitzthum, in: Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, 2010, S. 1 (71); Kadelbach / Kleinlein, AVR 44 / 3 (2006), S. 235 (257). 282 de Wet, NILR 46 / 2 (2000), S. 181 (187): „[I]t is generally accepted that the term ‚civilzed nations‘ today refers to all members of the international community.“ 283 Doehring, Völkerrecht, 2004, S. 182; Bogdan, NorTIR 46 (1977), S. 37 (46); de Wet, NILR 46 / 2 (2000), S. 181 (187); Hailbronner, ZaöRV 1976, S. 190 (208). 284 Kadelbach / Kleinlein, AVR 44 / 3 (2006), S. 235 (260). 285 Kadelbach / Kleinlein, AVR 44 / 3 (2006), S. 235 (260). 286 Bothe, ZaöRV 37 / 1 (1976), S. 280 (282). 287 Vitzthum, in: Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, 2010, S. 1 (73). 288 Vitzthum, in: Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, 2010, S. 1 (73). 280 281

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B. Rechtsstaatlichkeit als Maßstab von Strafgerichtsverfahren

b) Die Anerkennung von Verfassungsprinzipien als allgemeine Rechtsgrundsätze In der internationalen Rechtsprechung wird die Herleitung allgemeiner Rechtsgrundsätze weitgehend auf den Bereich des innerstaatlichen Zivilrechts beschränkt.289 Eine Anerkennung öffentlich-rechtlicher Prinzipien als Rechtsquellen des Völkerrechts hat in der Praxis bislang keine vergleichbare Bedeutung erfahren. Die Einbeziehung des verfassungsrechtlichen Gebots der Rechtsstaatlichkeit in den Geltungsbereich von Art. 38 IGH-Staut muss daher auf Bedenken stoßen. Die Zurückhaltung in der Anwendung allgemeiner Rechtsgrundsätze außerhalb des Privatrechts erklärt sich vor dem Hintergrund ihres dogmatischen Verständnisses. Nach dem Analogiegedanken setzt die Annahme eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes die Übertragbarkeit seines Aussagegehaltes auf die Ebene des Völkerrechts voraus.290 Aufgrund des traditionell koordinationsrechtlichen Charakters des Völkerrechts lassen sich allgemeine Rechtsgrundsätze regelmäßig auf Prinzipien der Zivilrechtsordnung zurückführen.291 Das Verhältnis der Staaten im internationalen Recht entspricht auf nationaler Ebene weitgehend der strukturellen Gleichordnung von Privatrechtssubjekten.292 Nationale Rechtsgrundsätze, die zwischen gleichrangigen Parteien im Zivilrecht gelten, sind auf das Völkerrecht systematisch problemlos übertragbar. Die Forderung nach Rechtsstaatlichkeit umschreibt jedoch einen nationalen Gestaltungsauftrag im Verhältnis der staatlichen Organe zu ihren untergeordneten Rechtsträgern. Als Grenze hoheitlicher Gewalt ist das Rechtsstaatsprinzip klassisches Instrument subordinationsrechtlicher Regelungsstruktur. Angesichts der vertikalen Ausrichtung grundgesetzlicher Bestimmungen erscheint ihre Übertragbarkeit auf die zwischenstaatliche Ebene zweifelhaft.293 Anders gestaltet sich die Bewertung verfassungsrechtlicher Gebote unter Zugrundelegung einer naturrechtlichen Fundierung der allgemeinen Rechtsgrundsätze. Unabhängig von einer Einordnung in die Kategorien von öffentlichem oder zivilem Recht kann eine Normaussage dann als allgemeiner Rechtsgrundsatz gelten, wenn sie für die Rechtsordnung wesentlich und in ihrem Kerngehalt unabdingbar ist. Die Rückführung allgemeiner Rechtsgrundsätze auf ihre Bedeutung für ein generelles Rechtsverständnis entspricht der Entstehungsgeschichte von Art. 38 IGH-Statut. Mit der Aufnahme allgemeiner Rechtsgrundsätze in den Katalog der Rechtsquellen sollten allgemeine Prinzipen der Gerechtigkeit als Entscheidungsgrundlagen des Internationalen Gerichtshofes einbezogen werden.294 Bereits vor ihrer Normierung 289 Als allgemeine Rechtsgrundsätze anerkannt sind beispielsweise Fragen der Haftung, des Schadensersatzes, der ungerechtfertigten Bereicherung sowie die Bestimmung von Treu und Glauben. Vgl. dazu Metzger, Extra legem, 2009, S. 476. 290 Vgl. Definition oben unter II. 4. a). 291 Metzger, Extra legem, 2009, S. 476; Jacoby, Allgemeine Rechtsgrundsätze, 1996, S. 184. 292 Herdegen, Völkerrecht, 2009, S. 141. 293 Rudolf, Berichterstatter, 2000, S. 486. 294 Jacoby, Allgemeine Rechtsgrundsätze, 1996, S. 177.

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hatte Hersch Lauterpacht die Möglichkeit einer übergreifenden Bestimmung allgemeiner Rechtsgrundsätze nach Maßgabe ihrer inhaltlichen Tragweite formuliert: „They are, in the first instance, those principles of law, private or public, which contemplation of the legal experience of civilized nations leads one to regard as obvious maxims of jurisprudence of general and fundamental character (…).“295

Diese Annäherung an die Begriffsdefinition wird im South-West African Case des IGH von Richter Tanaka geteilt. Tanaka spricht sich ausdrücklich gegen eine Beschränkung der allgemeinen Rechtsgrundsätze auf den zivilrechtlichen Bereich aus. Schon nach ihrem Wortlaut seien Rechtsgrundsätze nicht auf ein spezielles Rechtsgebiet festgelegt, sondern reflektierten eine allgemeine Überzeugung von ihrer Verbindlichkeit. „To restrict the meaning to private law principles or principles of procedural law seems from the viewpoint of literal interpretation untenable. So far as the general principles of law are not qualified, the ‚law‘ must be understood to embrace all branches of law, including municipal law, public law, constitutional and administrative law (…).“296

Die Differenzen zwischen den dargelegten Begründungsansätzen werden durch die jüngeren Entwicklungen des Völkerrechts entkräftet. Doehring nimmt eine Anwendung von Verfassungsrecht im Rahmen des Art. 38 IGH-Statut aufgrund einer vermehrt subordinationsrechtlichen Prägung des internationalen Rechtsverkehrs an.297 Als Beweis für die Geltung horizontaler Rechtsstrukturen weist er auf die Existenz von ius cogens als zwingende Handlungsanforderung an staatliche Akteure hin.298 Soll das Institut der allgemeinen Rechtsgrundsätze die Entwicklung des Völkerrechts flexibel unterstützen, verbietet sich auch im Rahmen des Analogiegedankens eine abstrakte Eingrenzung seines rechtlichen Ursprungs.299 Die Erweiterung des Anwendungsbereichs allgemeiner Rechtsgrundsätze auf staats- und verwaltungsrechtliche Gebote erscheint sinnvoll, wenn auf völkerrechtlicher Ebene ein „durch staatliche Verfassungsgrundsätze zu erfüllendes Regelungsbedürfnis“300 besteht. Um eine Übertragbarkeit des allgemeinen Rechtsgrundsatzes im Einzelfall zu bewerten, bedarf es eines Strukturvergleichs von Völkerrecht und nationalem Verfassungsrecht.301 Werden vormals staatliche Aufgaben von der Völkergemeinschaft übernommen, kann dies als Indiz für ein äquivalentes Regelungserfordernis anzusehen sein.302 Eine Parallele zum subordinationsrechtlichen Charakter innerstaatlicher RechtsbeziehunLauterpacht, Private law sources and analogies of International Law, 1927, S. 69. South-West Africa Case, Second Phase, Judgment 18. Juli 1966, ICJ Reports 1966, S. 292 f. 297 Doehring, Völkerrecht, 2004, S. 179 f. 298 Doehring, Völkerrecht, 2004, S. 179 f. 299 In diesem Sinne Tomuschat, RdCC 241 / 4 (1993), S. 199 (315). 300 Kadelbach / Kleinlein, AVR 44 / 3 (2006), S. 235 (258). 301 Kadelbach / Kleinlein, AVR 44 / 3 (2006), S. 235 (258). 302 Hailbronner, ZaöRV 1976, S. 190 (214); Bernhardt, ZaöRV 24 (1964), S. 431 (447). 295 296

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B. Rechtsstaatlichkeit als Maßstab von Strafgerichtsverfahren

gen ist insbesondere dann zu ziehen, wenn internationale Organisationen eine den staatlichen Organen vergleichbare Hoheitsmacht ausüben.303 Durch die Einsetzung einer verbindlichen Judikativgewalt begründet die völkerrechtliche Strafgerichtsbarkeit gegenüber dem Angeklagten ein Verhältnis der verpflichtenden Überordnung. Mit der Ermächtigung internationaler Tribunale zum Eingriff in die Freiheitsrechte des Einzelnen geht das Bedürfnis nach ihrer Beschränkbarkeit einher.304 Als Grenze hoheitlichen Handelns und Maßstab für eine prozessual-organisatorische Ausgestaltung völkerstrafrechtlicher Gerichte ist das Rechtsstaatsprinzip systematisch auf die Ebene des internationalen Rechts übertragbar. Angesichts der staatsähnlichen Struktur einer internationalen Gerichtsbarkeit stehen der Anerkennung von Rechtsstaatlichkeit als allgemeinem Rechtsgrundsatz auch aus dem Blickwinkel der Analogie keine Einwände entgegen.

c) Rechtsstaatlichkeit und Verfahrensgarantien als allgemeine Rechtsgrundsätze Mit der Definition allgemeiner Rechtsgrundsätze ist an sich der Anspruch verbunden, einen normativen Konsens durch ausführliche Rechtsvergleichung zu ermitteln.305 Die notwendig intensive Auseinandersetzung mit den Garantien nationaler Rechtssysteme geht jedoch über den Rahmen dieser Untersuchung hinaus. Zum Nachweis rechtsstaatlicher Verbindlichkeit wird daher auf bestehende Darstellungen zurückgegriffen. Nach Farrall zeigt ein Vergleich nationaler Rechtssätze eine allgemeine Anerkennung von Rechtsstaatlichkeit als Grundprinzip der Verfassungsordnung.306 Chesterman belegt die Wurzeln rechtsstaatlicher Tradition im arabischen Raum307 und weist die Existenz einer „rule of law“ im angloamerikanischen sowie kontinentaleuropäischen Rechtskreis nach.308 Staatliche Verfassungen und internationale Verträge bringen eine übereinstimmende Tendenz zur Gewährleistung rechtsstaatlicher Prinzipien zum Ausdruck.309 Vor dem Hintergrund nationaler und völkerrechtlicher Entwicklungen konstatiert Rudolf, dass „kein Staat (…) heute noch die Kadelbach / Kleinlein, AVR 44 / 3 (2006), S. 235 (259). Doehring, Völkerrecht, 2004, S. 181. 305 Schlesinger, AJIL 51 (1957), S. 734 f.; in der Praxis des Internationalen Gerichtshofes erfolgt eine umfassende rechtsvergleichende Arbeit jedoch selten, vgl. Jacoby, Allgemeine Rechtsgrundsätze, 1996, S. 180. 306 Farrall, United Nations, 2007, S. 20 ff. 307 Chesterman, AJCL 56 / 2 (2008), S. 331 (335). 308 Chesterman, AJCL 56 / 2 (2008), S. 331 (333 ff.). 309 Watts, GYIL 36 (1993), S. 15 (19): „In fact, many States have in treaties or other international instruments acknowledged their commitment to the rule of law, at least as a feature of their domestic legal systems.“ 303 304

II. Die Geltung rechtsstaatlicher Anforderungen im Völkerrecht

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Ansicht vertreten [kann], er sei nicht zu Gewähr von Gerechtigkeit verpflichtet“.310 Zustimmend äußert sich auch der Berichterstatter der Menschenrechts-Unterkommission, der in seiner Studie über gerichtliche Unabhängigkeit eine entsprechende Geltung rechtsstaatliche Grundsätze auf nationaler Ebene bestätigt.311 Die Anerkennung eines allgemeinen Rechtsstaatsprinzips begründet seine Verbindlichkeit als normative Zielbestimmung und generelles Optimierungsgebot hoheitlichen Handelns. Konkretere Aussagen über den Gehalt rechtsstaatlicher Anforderungen an internationale Strafverfahren lassen sich durch die Untersuchung allgemein akzeptierter Verfahrensgarantien herleiten. Die Rechtsordnungen einer repräsentativen Mehrheit der Staaten umfassen die wesentlichen Justizgrundrechte sowie einen prozessualen Mindeststandard.312 Das Prinzip des fairen Verfahrens wird als grundlegende Vorgabe einer gerechten Strafverhandlung im nationalen Recht verankert.313 Auch die Gewährleistung eines objektiven Verfahrens durch eine unparteiliche Entscheidungsinstanz ist gemeinsamer Bestandteil innerstaatlichen Verfassungsrechts.314 Morin findet den Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit in über drei Viertel der untersuchten Rechtsordnungen explizit aufgeführt und leitet hieraus seine Geltung als allgemeinen Rechtsgrundsatz ab.315 Weitere Verfahrensmaximen, die universelle Geltung beanspruchen können, sind die Gebote von Unschuldsvermutung und Öffentlichkeit316. Insbesondere die Unschuldsvermutung des Angeklagten wird in nationalen Verfassungen nahezu ausnahmslos garantiert.317 Dem Institut der allgemeinen Rechtsgrundsätze kann eine völkerrechtliche Verpflichtung auf Rechtsstaatlichkeit und grundlegende Verfahrensrechte entnommen werden. Ihrer Natur nach stellen allgemeine Rechtsgrundsätze vorwiegend normative Kernaussagen dar.318 Ihre Konkretisierung obliegt den internationalen GerichRudolf, Berichterstatter, 2000, S. 490. L. M. Singhvi, Special Rapporteur, Study on the Independence and Impartiality of the Judiciary, Jurors and Assessors and the Independence of Lawyers, E / CN.4 / Sub.2 / 1985 / 18, 1985, Kapitel III, §§ 59 – 61. 312 Rudolf, Berichterstatter, 2000, S. 490 f. 313 Safferling, Towards an International Criminal Procedure, 2007, S. 28 f.; Cassese, International Criminal Law, 2008, S. 393. 314 Cassese, International Criminal Law, 2008, S. 393; Zappalà, Human Rights, 2005, S. 100; auch der Sonderberichterstatter der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen bezeichnete die Prinzipien der richterlichen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit als allgemeine Rechtsgrundsätze im Sinne von Art. 38 I lit. c IGH-Statut. Vgl. Report of the Special Rapporteur Param Cumaraswamy, Independence and Impartiality of the Judiciary, Jurors and Assessors and the Independence of Lawyers, UN. E / CN.4 / 1995 / 39, Rn. 34. 315 Morin, RdC 254 (1995), S. 9 (182). 316 Cassese, International Criminal Law, 2008, S. 397. 317 Cassese, International Criminal Law, 2008, S. 390: „All major legal systems proclaim the principle that an accused is presumed innocent until proved guilty.“ 318 Lindemann, Allgemeine Rechtsgrundsätze, 1986, S. 26. 310 311

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B. Rechtsstaatlichkeit als Maßstab von Strafgerichtsverfahren

ten, die durch eine einzelfallbezogene Anwendung des nationalen Grundsatzes seine Geltung im völkerrechtlichen Rahmen festlegen.319

5. Fazit zur normativen Geltung rechtsstaatlicher Anforderungen im Völkerrecht „Wir finden also eine eigentliche Internationalisierung des Rechtsstaats-Schutzes, wenigstens des Schutzes von Menschenrechten, Grundfreiheiten, Verfahrensansprüchen. Diese Entwicklung des Völkerrechts ist Ausdruck und Anleitung der Konvergenz moderner Staaten zu einem rechtsstaatlich-demokratischen Modell.“320

Obwohl die Wortverbindung „Rechtsstaat“ dem deutschen Sprachraum vorbehalten ist, kann die Idee der Rechtsstaatlichkeit auch im internationalen Recht Geltung beanspruchen. Die nationale Verpflichtung auf rechtsstaatliche Grundsätze setzt sich auf der Ebene des Völkerrechts im Rahmen allgemeiner Erklärungen und internationaler Übereinkommen fort. Das Bekenntnis zur Rechtsstaatlichkeit ist nicht allein politische Forderung, sondern in ihren Ausprägungen zugleich verbindliche Rechtsnorm der internationalen Staatengemeinschaft.  Die Gewährleistung rechtsstaatlicher Verfahrensgarantien durch völkerrechtliche Verträge wie den IPbpR oder die EMRK begründen für ihre Unterzeichnerstaaten die normative Pflicht zur Einhaltung prozessualer Standards.  Eine eindeutige Rechtsüberzeugung als Voraussetzung einer gewohnheitsrechtlichen Geltung des Rechtsstaatsprinzips konnte auf internationaler Ebene bislang nicht nachgewiesen werden. Hinsichtlich einer umfassenden Anerkennung individueller Prozessgarantien als Völkergewohnheitsrecht fehlt es derzeit an einer hinreichenden Praxis. Angesichts der gegenwärtigen Entwicklungen im Völkerstrafrecht könnte sich eine gewohnheitsrechtliche Verbindlichkeit jedoch zukünftig herausbilden.  Über das Institut der allgemeinen Rechtsgrundsätze sind die wesentlichen Anforderungen rechtsstaatlicher Verfahrensgestaltung völkerrechtlich verbindlich.

Das geltende Völkerrecht gewährleistet die Einhaltung grundlegender Verfahrensrechte und rechtsstaatlicher Prozessmaximen. Eine konkrete Bestimmung von Reichweite und Grenzen der Verfahrensansprüche muss nach der Idee rechtsstaatlicher Abwägung im Ausgleich mit den Voraussetzungen effektiver Strafverfolgung ermittelt werden.321 Bevor die Methodik einer konkreten Festlegung rechtsstaatlicher Anforderungen erläutert wird, ist die Frage nach ihrer Anwendbarkeit auf internationale Straftribunale zu erörtern.

319 320 321

Verdross / Simma, Universelles Völkerrecht, 1984, § 604. Saladin, Wozu noch Staaten?, 1995, S. 168. Siehe Kapitel B. I. 5. c).

III. Rechtsstaatlichkeit als Vorgabe für internationale Strafgerichte

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III. Rechtsstaatlichkeit als Vorgabe für internationale Strafgerichte Die Gründung völkerstrafrechtlicher Tribunale beruht auf der Idee eines universellen Schutzes von Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten.322 Doch sind internationale Strafgerichte selbst an die völkerrechtlichen Gebote des rechtsstaatlichen Verfahrens gebunden? Die Verantwortlichkeit internationaler Tribunale für die Wahrung völkerrechtlicher Rechtsstaatsgarantien ist Gegenstand einer uneinheitlichen Rechtsprechung und widerstreitender Auffassungen in der Literatur. Im Fall Tadić verneinte das Trial Chamber des ICTY eine Bindung des Gerichts an den Rechtsstandard des allgemeinen Völkerrechts und argumentierte mit der Notwendigkeit eines geringeren Schutzniveaus im internationalen Strafrecht. Da die geltenden Verfahrensgarantien auf die herkömmliche internationale Gerichtsbarkeit zugeschnitten seien, könnten sie den besonderen Anforderungen an eine völkerstrafrechtliche Gerichtsbarkeit nicht hinreichend Rechnung tragen. „The ICTY is, in certain respects, comparable to a military tribunal, which often has limited rights of due process and more lenient rules of evidence.“323

Die Forderung nach der Entwicklung eines eigenen prozessrechtlichen Maßstabs steht im Widerspruch zu den Äußerungen der Vereinten Nationen bei Gründung der Tribunale. In seinem Bericht zur Vorlage eines Statutsentwurfes für den ICTY betonte der UN-Generalsekretär die Geltung internationaler Prozessrechte für das Gericht. „It is axiomatic that the International Tribunal must fully respect internationally recognized standards regarding the rights of the accused at all stages of its proceedings. In the view of the Secretary-General, such internationally standards are, in particular, contained in article 14 of the ICCPR.“324

Die Berufungskammer des ICTY kritisierte die Entscheidungsbegründung der Vorinstanz und unterstrich die Bedeutung eines rechtsstaatlichen Verfahrens als wesentliche Voraussetzung für die Legitimität des Gerichtes. „It must provide all the guarantees of fairness, justice and even-handedness, in full conformity with internationally recognized standards.“325

322 Werle, Völkerstrafrecht, 2007, Rn. 121; Tomuschat, Die Friedens-Warte 73 (1998), S. 335 (347). 323 ICTY Tadić, Decision on the Prosecutor’s Motion Requesting Protective Measures for Victimes and Witnesses, IT-94-1-T, 10. August 1995, Rn. 28. Vgl. auch Schabas, The UN International Criminal Tribunals, 2008, S. 117. 324 Bericht des Generalsekretärs der Vereinten Nationen v. 3. Mai 1993 zur Vorlage eines Statutentwurfes für den ICTY an den Sicherheitsrat: UN Doc. S / 25704, Rn. 106. 325 ICTY Tadić, Decision on Defence Motion for Interlocutory Appeal on Jurisdiction, IT94-1-AR72, 2. Oktober 1995, Rn. 28 – 40.

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B. Rechtsstaatlichkeit als Maßstab von Strafgerichtsverfahren

Die Verbindlichkeit eines internationalen Verfahrensstandards wird teilweise aus der universellen Idee der Menschenrechte abgeleitet.326 Wesentliches Anliegen des Menschenrechtsschutzes sei eine Beschränkung hoheitlicher Gewalt durch die Gewährleistung elementarer Rechte des Individuums. Der Gedanke, jedweden Eingriff in die Rechte des Einzelnen menschenrechtlichen Beschränkungen zu unterwerfen, beanspruche allgemeine Gültigkeit und verbiete Ausnahmen auf internationaler Ebene.327 Völkerstrafrechtliche Gerichte, die mit judikativen Befugnissen zu Eingriffen in die Freiheiten des Individuums ausgestattet sind, müssten dem geltenden Menschenrechtsstandard des internationalen Rechts unterworfen sein. Ein weiteres Argument für die Gewährleistung eines gleichwertigen Menschenrechtschutzes besteht in der Notwendigkeit einer internationalen Kooperation im Strafverfahren. Um seinen nationalen Rechtspflichten zu entsprechen, dürfe ein Staat der Gründung und Unterstützung eines Gerichts nur unter der Voraussetzung eines äquivalenten Schutzniveaus zustimmen. Da international konzipierte Gerichte allen Staaten die Möglichkeit zu Beitritt oder Anerkennung eröffnen müssten, bestünde kein Raum für ein abweichendes Rechtsstaatsverständnis auf völkerrechtlicher Ebene.328 Beispielhaft sei das deutsche Grundgesetz genannt, das eine Kooperation mit internationalen Tribunalen von der Rechtsstaatlichkeit ihrer Verfahrensregelungen abhängig macht. Die Auslieferungsbestimmung in Art. 16 Abs. 2 GG verdeutlicht, dass die Bereitschaft zur umfassenden Zusammenarbeit als Ausdruck der vorbehaltslosen Anerkennung eines internationalen Gerichtes an die Wahrung rechtsstaatlicher Gebote gebunden ist. Der Argumentation einer absoluten Geltung von Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit ist im Hinblick auf das Erfordernis einer wirksamen Schranke richterlicher Gewalt zuzustimmen Aus der Überzeugung von der Notwendigkeit eines universellen Menschenrechtsschutzes kann jedoch nicht ohne weiteres auf die tatsächliche Existenz zwingender Rechtsvorgaben geschlossen werden. Die Idee umfassender Beschränkung von Hoheitsmacht formuliert lediglich das Ziel, nicht hingegen den Weg einer Erweiterung des Menschenrechtsstandards auf internationale Organisationen. Die Verpflichtung aus der Dogmatik der Menschenrechte ist somit eine rein moralisch-politische, die keine konkreten rechtsstaatlichen Gewährleistungen im Sinne einer unmittelbaren Geltung völkerrechtlicher Prinzipien begründet. Die nachstehende Untersuchung einer rechtlichen Bindung internationaler Tribunale an das Völkerrecht erfolgt am Maßstab juristischer Geltungskriterien. Die Verpflichtung der Gerichte auf Rechtssätze des Völkerrechtes stellt sich in Abhängigkeit von der Form ihrer Einsetzung in unterschiedlicher Weise dar. Um die rechtlichen Anforderungen an Gründung und Aufgabenwahrnehmung der Gerichte zu ermitteln, muss zwischen den Rechtsquellen des internationalen Rechts sowie ihren Normadressaten differenziert werden. Da die Gründung internationaler Tribunale 326 327 328

Safferling, Towards an International Criminal Procedure, 2007, S. 41 f. Safferling, Towards an International Criminal Procedure, 2007, S. 41 f. Safferling, Towards an International Criminal Procedure, 2007, S. 40.

III. Rechtsstaatlichkeit als Vorgabe für internationale Strafgerichte

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durch die Vereinten Nationen, ein Abkommen von Staaten oder den Sicherheitsrat geschehen kann,329 ist der jeweilige Grad rechtsstaatlicher Bindung zu prüfen. Inwiefern die rechtsstaatlichen Garantien des Völkerrechts für die normative Gestaltung der gerichtlichen Statuten verpflichtend sind, hängt daher maßgeblich von der Beantwortung zweier grundlegender Fragen ab. Wer wird – mittelbar oder unmittelbar – an das geltende Völkerrecht gebunden? Und – in welchem Umfang besteht eine mögliche Verpflichtung internationaler Gerichte auf zwischenstaatliche Verträge und das allgemeine Völkerrecht?

1. Die Geltung völkerrechtlicher Verträge für das internationale Strafverfahren Völkerrechtliche Verträge wie der IPbpR und die EMRK verpflichten zur Einhaltung verfahrensrechtlicher Standards und prozessualer Mindestgarantien für den Angeklagten. Wären internationale Gerichte mittelbar oder unmittelbar an vertragliche Regelungen gebunden, könnten die konkreten Schutzvorschriften aus Art. 14 IPbpR sowie Art. 6 EMRK auf das völkerstrafrechtliche Verfahren Anwendung finden. a) Die unmittelbare Bindung internationaler Strafgerichte an völkerrechtliche Verträge Völkerrechtliche Verträge können grundsätzlich nur ihre Vertragsparteien rechtlich wirksam binden. Gleichwohl wird eine unmittelbare Verpflichtung internationaler Strafgerichte mit unterschiedlichen Argumentationen angenommen. Ein erster Ansatzpunkt zur Begründung einer völkervertraglichen Bindung der Tribunale könnte in einer menschenrechtlichen Verpflichtung der Vereinten Nationen zu sehen sein. Die Bestätigung des IPbpR als Resolution der UN-Generalversammlung sei Ausdruck ihres Willens zur Einhaltung und Umsetzung der festgelegten Menschenrechte.330 Die Annahme einer unmittelbaren Bindung der Vereinten Nationen an menschenrechtliche Abkommen würde bedeuten, dass ihre Rechtsakte und Teilorgane nach den normierten Maßstäben des Vertragsrechts zu bewerten wären. Um den Verpflichtungen der Organisation gerecht zu werden, müsste die Einsetzung völkerstrafrechtlicher Gerichte unter Beteiligung der Vereinten Nationen oder als Justizorgane im Rahmen ihres Verwaltungssystems den Vorgaben des IPbpR entsprechen. In seiner abweichenden Stellungnahme zum Fall Rutaganda nahm Richter Pocar diesen Gedanken auf und begründete eine direkte Bindung des Hierzu ausführlich in Kapitel C. I. So beispielsweise White, International Organisations, 2005, S. 25: „There is a strong case for arguing that the fundamental values enshrined and enhanced by the UN, including the Universal Declaration of Human Rights are binding not only on the member states but also on the organisation itself.“ 329 330

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Ruanda-Tribunals (ICTR) mit der Verantwortung der Vereinten Nationen für die Wahrung menschenrechtlicher Garantien. „Furthermore, the ICCPR is not only a treaty between States which have ratified it, but, like other human rights treaties also a document that was adopted – unanimously – as a resolution by the General Assembly. As such, it also expresses the view of the General Assembly as to the principles enshrined therein. It would therefore have to be assumed that the Security Council as a UN body, would act in compliance with that declaration of principles of the General Assembly.“331

Gegen eine unmittelbar rechtliche Verpflichtung der Vereinten Nationen aus dem IPbpR spricht das Wesen völkerrechtlicher Verträge, allein die unterzeichnenden Staaten wirksam zu binden.332 Die Ausarbeitung eines rechtlichen Textes und seine Vorlage durch Resolution vermögen nach internationalen Rechtsgrundsätzen keine normative Verpflichtung zu bewirken. Sie stellen vielmehr Zustimmungsbekundungen politischen Charakters dar. Ein weiteres Indiz für den mangelnden Rechtsbindungswillen der Vereinten Nationen wird im Fehlen einer Rechtsschutzmöglichkeit gegen Akte der Organisation gesehen.333 Sollten die Vereinten Nationen verbindlich an die menschenrechtlichen Vorgaben des IPbpR gebunden werden, hätten Instrumente zur Überprüfung und Sanktionierung geschaffen werden müssen.334 Für das spezielle Modell des ICC wird von Safferling ein weiterer Versuch zur Rechtfertigung einer unmittelbaren Verbindlichkeit menschenrechtlicher Verträge unternommen.335 Safferling begründet die rechtsstaatliche Pflicht des Gerichts mit dessen Sonderstellung im internationalen Kompetenzgefüge. Er geht davon aus, dass die komplexe Zuständigkeitsverteilung eine Bindung des Gerichts an die allgemeinen Menschenrechtsverträge erforderlich mache.336 Nach dem geltenden Prinzip der Komplementarität könnten völkerstrafrechtlich relevante Situationen je nach Bereitschaft des Tatortstaates vor nationalen oder internationalen Richtern verhandelt werden. Aufgrund der Zufälligkeit der gerichtlichen Kompetenzzuweisung habe ein unterschiedlicher Rechtsschutz des Angeklagten diskriminierende Wirkung. Durch seine subsidiäre Stellung agiere der ICC auf einer Ebene mit staatlichen Gerichten und müsse folglich den gleichen menschenrechtlichen Verpflichtungen unterworfen sein.337 Der Einwand rechtlicher Ungleichbehandlung kann im Ergebnis jedoch nicht überzeugen. Bereits das Universalitätsprinzip gestattet verschiedenen Staaten mit ICTR Rutaganda, Dissenting Opinion of Judge Pocar, ICTR-96-3-A, 26. Mai 2003. Vgl. Kälin / Künzli, Universeller Menschenrechtsschutz, 2008, S. 95. Die „juristisch korrekte“ Antwort sei, dass internationale Organisationen nicht an Menschenrechte gebunden seien, da Menschenrechtsverträge nur Staaten verpflichten könnten. 333 Kälin / Künzli, Universeller Menschenrechtsschutz, 2008, S. 95. 334 Kälin / Künzli, Universeller Menschenrechtsschutz, 2008, S. 95. 335 Safferling, Towards an International Criminal Procedure, 2007, S. 40. 336 Safferling, Towards an International Criminal Procedure, 2007, S. 40. 337 Safferling, Towards an International Criminal Procedure, 2007, S. 40. 331 332

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divergierenden Menschenrechtsverständnissen die Strafverfolgung ohne zwingende kompetenzielle Abgrenzung. Hiernach zufällig begründete Unterschiede in den prozessualen Rechten sind Folge einer globalisierten Gerichtsbarkeit und können keinen Anspruch auf inhaltliche Angleichung begründen. Darüber hinaus fehlt es im Verhältnis des Internationalen Strafgerichtshofs zu den Einzelstaaten an einer rechtlich relevanten Diskriminierung. Eine vorwerfbare Ungleichbehandlung ist ausschließlich durch den gleichen Normgeber, nicht hingegen durch verschiedene Prozessordnungen auf nationaler und internationaler Ebene möglich.338 Die Analogie zum nationalen Verfahrensrecht kann keine unmittelbar rechtliche Bindung des ICC an das Völkerrecht begründen, sondern allenfalls eine politische Forderung nach einer Übernahme prozessualer Konventionsrechte verstärken. Angesichts der Beteiligung der Vereinten Nationen an der Entstehung des Paktes wäre eine Ablehnung des vorgesehenen Menschenrechtsstandards in der Tat inkonsequent. Um glaubwürdig zu sein, müssen sich die Vereinten Nationen selbst an den Maßstäben messen lassen, die sie an nationale Rechtsordnungen anlegen. Letztlich handelt es sich jedoch um eine politische Frage, die keine rechtliche Pflicht der Tribunale zu begründen vermag. Eine unmittelbare Verbindlichkeit menschenrechtlicher Verträge für die Rechtsprechung internationaler Strafgerichte ist daher abzulehnen. Diese Sichtweise entspricht dem vorherrschenden Selbstverständnis der Tribunale und wurde vom ICTR in seinem Barayagwiza-Urteil formuliert: „Regional human rights treaties, such as the ECHR and the ACHR and the jurisprudence developed there under, are persuasive authority which may be of assistance in applying and interpreting the Tribunals’ applicable law. Thus there are not binding of their own accord on the Tribunal.“339

b) Die mittelbare Bindung internationaler Strafgerichte Da eine unmittelbar völkerrechtliche Bindung internationaler Gerichte nicht besteht, stellt sich die Frage nach ihrer rechtsstaatlichen Verantwortlichkeit durch die Verpflichtung der gründungsbeteiligten Staaten. Anders als die Vereinten Nationen sind die Staaten als Vertragsparteien internationaler Menschenrechtspakte an die Einhaltung der verbürgten Gewährleistungen rechtlich gebunden. Der grundsätzliche Schutzauftrag völkerrechtlicher Menschenrechtskonventionen zielt auf die Begrenzung staatlicher Hoheitsmacht im nationalen Bereich. Die primär interne Ausrichtung der Vertragsinhalte wird durch den territorialen Bezug ihres rechtlichen Anwendungsbereichs deutlich. Nach Art. 1 EMRK sichern die Vertragsstaaten die verbürgten Konventionsrechte „allen ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Personen“ zu. Art. 2 Abs. 1 IPbpR beschränkt die Reichweite seiner 338 Für das deutsche Grundgesetz siehe Gubelt, in: Münch / Kunig (Hrsg.), GrundgesetzKommentar, Bd. 1, 2000, Art. 3 Rn. 8; Osterloh, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 2009, Art. 3 Rn. 81. 339 ICTR Barayagwiza, Decision, ICTR-97-19-AR72, 3. November 1999, Rn. 40.

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Inhalte auf die „in seinem Gebiet befindlichen und seiner Herrschaftsgewalt unterstehenden Personen“. Vor dem Hintergrund der intendierten Zielsetzung ist der Umfang einer Vertragsbindung im Rahmen staatlichen Handelns auf internationaler Ebene fraglich. Unterliegen die Staaten beim Abschluss völkerrechtlicher Abkommen oder einer Abstimmung im Sicherheitsrat ihren vertraglichen Pflichten, wären die rechtsstaatlichen Standards von IPbpR und EMRK mittelbar auf den internationalen Gründungsakt anwendbar. Ist die Errichtung völkerstrafrechtlicher Tribunale als Teil staatlicher Hoheitsausübung dem vertraglichen Regelungswerk unterworfen, haben die gerichtlichen Statuten einen äquivalenten Verfahrensschutz zu gewährleisten. Um die rechtliche Bindung internationaler Strafgerichte an die prozessualen Gewährleistungen von Art. 14 IPbpR und Art. 6 EMRK zu bewerten, muss die Geltung rechtsstaatlicher Vertragspflichten in internationalen Beziehungen untersucht werden. In diesem Zusammenhang soll insbesondere die Rechtsprechung des EGMR berücksichtigt werden, der in einer Parallelproblematik über der Anwendbarkeit der EMRK auf die Europäische Gemeinschaft (EG) sowie auf die Maßnahmen des Sicherheitsrates zu entscheiden hatte. Die Feststellungen des EGMR können nachfolgend als Leitlinien für eine rechtliche Beurteilung der völkervertragsrechtlichen Verantwortlichkeit von Staaten dienen.

aa) Die Verantwortlichkeit der Staaten für vertraglich gegründete Gerichte Die Einsetzung völkerstrafrechtlicher Tribunale kann durch bilateralen Vertrag der Vereinten Nationen mit dem Tatortstaat oder – wie im Falle des Internationalen Strafgerichtshofs – durch Ratifikation eines multilateralen Abkommens erfolgen.340 Eine Verantwortlichkeit der Staaten nach den geltenden Menschenrechtsverträgen kann sowohl bei Abschluss des Gründungsvertrages als auch im Rahmen einer Zurechnung gerichtlicher Handlungen entstehen. Die nachfolgenden Grundsätze über eine vertragliche Haftung der Staaten gelten für ihre Bindung an Gewohnheitsrecht und allgemeine Rechtsgrundsätze entsprechend. Da das allgemeine Völkerrecht einen Staat ebenso bindet wie seine konventionsrechtlichen Verpflichtungen, wird zwischen den Rechtsquellen nicht differenziert. (1) Die Verantwortlichkeit der Staaten bei Vertragsschluss Übertragen die Staaten eigene Rechtsprechungsbefugnisse vertraglich auf eine internationale Instanz, stellt sich die Frage nach ihrer bestehenden Bindung an rechtsstaatliche Konventionsgarantien. Mit Blick auf den Wortlaut vertraglicher Geltungs340

Hierzu im Einzelnen Kapitel C. I.

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bereiche könnte eine Verpflichtung der Staaten bei der Unterzeichnung internationaler Abkommen zweifelhaft sein. Die Ausübung von Hoheitsgewalt als notwendiger Bezugspunkt einer vertraglichen Verantwortlichkeit wird regelmäßig an die territoriale Herrschaftsmacht des Staates geknüpft.341 Da es im Rahmen völkerrechtlicher Übereinkommen an einem konkreten Gebietszusammenhang fehlt, könnte die vertragliche Einsetzung internationaler Straftribunale aus dem Anwendungsbereich von IPbpR und EMRK fallen. (a) Das Prinzip „nemo plus iuris transferre potest quam ipse habet“ Gegen den Ausschluss einer Vertragsbindung bei der Schaffung internationaler Einrichtungen wird mit dem Grundsatz „nemo plus iuris transferre potest quam ipse habet“342 argumentiert.343 Die Durchführung gerichtlicher Verfahren obliegt originär den Staaten und kann von ihnen ausschließlich im Rahmen ihrer rechtsstaatlichen Verpflichtungen ausgeübt werden. Übertragen die Staaten ihre Kompetenz zur Strafverfolgung auf internationale Organe, könne dies nur im Rahmen des bestehenden Umfangs ihrer Befugnisse geschehen. Angesichts der rechtlichen Beschränkung staatlicher Gerichtsbarkeit wäre ihnen die Ermächtigung eines internationalen Gerichts ohne Bindung an die entsprechenden rechtsstaatlichen Bestimmungen nicht möglich. Können durch eine Aufgabenübertragung hoheitliche Befugnisse nicht erweitert werden, konstituieren sich die Zuständigkeiten völkerstrafrechtlicher Tribunale abschließend aus den Kompetenzen ihrer Gründerstaaten unter Berücksichtigung des geltenden Prozessstandards. Um nicht entgegen der Maxime „nemo plus iuris transferre potest quam ipse habet“ eigene Konventionsverpflichtungen zu verletzten, dürfte ein Staat ein geringeres Verfahrensniveau als das eigene nicht konsentieren. Kritiker halten dem entgegen, dass durch die Einsetzung internationaler Tribunale nicht etwa vorhandene staatliche Kompetenzen übertragen, sondern neue internationale Zuständigkeiten begründet werden. Mit der Völkerstrafgerichtsbarkeit würde ein selbständiges Rechtssystem geschaffen, das über die bloße Akkumulation nationaler Kompetenzen hinausginge. Als Recht sui generis müsste das Völkerstrafrecht eigene prozessuale Regelungen entwickeln, ohne an bestehende Vertragsverpflichtungen gebunden zu sein.344 Die Anwendung von Konventionsrechten auf das internationale Strafverfahrensrecht wäre daher keine rechtlich zwingende Vorgabe, sondern eine politisch freie Entscheidung.345 Mayer-Ladewig, Europäische Menschenrechtskonvention, Art. 1 Rn. 4. „Nemo plus iuris transferre potest quam ipse habet.“ – Niemand kann mehr Rechte übertragen als er selbst hat. 343 Safferling, Towards an International Criminal Procedure, 2007, S. 41. 344 Boas, Milošević Trial, 2007, S. 76. 345 Zappalà, Human Rights, 2005, S. 5, sowie Zappalà, The Rights of the Accused, in: Cassese / Gaeta / Jones (Hrsg.), The Rome Statute, Bd. 2, 2002, S. 1319 (1328): „[T]he extension to international criminal tribunals was not automatic.“ 341 342

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Auch dogmatisch überzeugt die Anwendung des Prinzips im Ergebnis nicht. Durch eine rechtliche Begrenzung hoheitlicher Befugnisse begibt sich der Staat nicht seiner Kompetenzen. Ein Verstoß gegen rechtsstaatliche Pflichten begründet eine Verletzung geltenden Rechts, führt jedoch nicht zu einer sachlichen Unzuständigkeit. Die Übertragung unbeschränkter Handlungsbefugnisse ist daher keine Kompetenzfrage und steht folglich nicht im Widerspruch zum Grundsatz „nemo plus iuris transferre potest quam ipse habet“. (b) Das Umgehungsverbot In den Rechtssachen Matthews346, Waite and Kennedy und Bosphorus Airways hatte sich der EGMR mit der Geltung der Europäischen Menschenrechtskonvention für zwischenstaatliche Abkommen und völkervertraglich begründete Akte auseinanderzusetzen. Der Gerichtshof stützte sich in seinen Entscheidungen nicht auf den Gedanken einer beschränkten Kompetenzübertragung, sondern nahm ein umfassendes Umgehungsverbot für vertragliche Pflichten an.347 Im Falle Matthews wandte sich die Klägerin gegen einen Ausschluss der Bürger Gibraltars von den Wahlen zum Europäischen Parlament durch die Regierung Großbritanniens.348 Die Behörden beriefen sich auf die europarechtliche Verbindlichkeit des „Election Acts“349, der als Teil eines Ratsbeschlusses350 Gibraltar explizit von der Abstimmung ausnahm. In seinem Urteil stellte der EGMR fest, dass die Verantwortlichkeit der Konventionsstaaten für die Einhaltung der EMRK auch nach Übertragung von Hoheitsrechten an die EG fortbestehe.351 Um die geboten effektive Durchsetzung der Menschenrechte zu gewährleisten,352 dürften ihre Garantien nicht durch eine Befugnisverlagerung auf externe Hoheitsträger umgangen werden.353 Wie der EGMR in der zeitgleich zu entscheidenden Rechtssache Bosphorus Airways darlegte, könne nach Sinn und Zweck der EMRK eine Kompe346 EGMR Matthews v. Vereinigtes Königreich, Application No. 24833 / 94, 18. Februar 1999, EuGRZ 1999, S. 200 f. 347 Ein Umgehungsverbot wurde vom EGMR bereits in anderen Sachverhaltskonstellationen angenommen. So beispielsweise bei der Frage nach einer Übertragung von Befugnissen auf private Organisationen; EGMR Costello-Roberts v. Vereinigtes Königreicht, Application No. 13134 / 87, 25. März 1993, S. 57 f.; Stieglitz, Allgemeine Lehren, 2002, S. 1193. 348 EGMR Matthews v. Vereinigtes Königreich, Application No. 24833 / 94, 18. Februar 1999, EuGRZ 1999, S. 200 f. 349 Act Concerning the Elections of the Representatives of the European Parliament by Direct Universal Suffrage, 20. September 1976. 350 Ratsentscheidung 76 / 787 / EGKS, EWG, EURATOM, ABl. 278 / 1 v. 8. Oktober 1976; BGBl. 1977, II, 734. 351 EGMR Matthews.v. Vereinigtes Königreich, Application No. 24833 / 94, 18. Februar 1999, EuGRZ 1999, S. 200 f., Rdr. 32. 352 EGMR Matthews.v. Vereinigtes Königreich, Application No. 24833 / 94, 18. Februar 1999, EuGRZ 1999, S. 200 f., Rdr. 34. 353 Dippel, Kompetenzabgrenzung, 2004, Kapitel III Nr. 1 a (i).

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tenzübertragung ausschließlich auf Grundlage der konventionsrechtlichen Bestimmungen erfolgen.354 In der Entscheidung zum Fall Waite and Kennedy bestätigte der EGMR ausdrücklich das Umgehungsverbot für menschenrechtliche Verpflichtungen: „Der Gerichtshof ist der Meinung, dass es Auswirkungen auf den Schutz der Grundrechte haben kann, wenn Staaten internationale Organisationen gründen, um ihre Zusammenarbeit in bestimmten Tätigkeitsbereichen fortzuführen oder zu verstärken (…). Es wäre jedoch mit Sinn und Zweck der Konvention nicht vereinbar, wenn die Vertragsstaaten dadurch für den Tätigkeitsbereich, auf den sich diese Verlagerung erstreckt, von ihrer Verantwortung nach der Konvention befreit wären.“355

Die Bindung der Staaten an die EMRK schließt eine Übertragung von Hoheitsgewalt an internationale Organisationen folglich nicht aus, verpflichtet die Vertragsparteien jedoch weiterhin zur Gewährleistung ihrer Inhalte.356 Die Staaten stehen in der Verantwortung, die Konventionsrechte durch eine klare Rechtsverpflichtung der ermächtigten Organe und einen vergleichbaren Schutzstandard zu wahren.357 Eine Übertragung von Hoheitsrechten ist mit der EMRK ausschließlich unter der Voraussetzung einer äquivalenten Absicherung der vertraglichen Regelungen vereinbar.358 Die Konventionsstaaten dürfen einem internationalen Abkommen daher nur zustimmen, wenn seine Aussagen den menschenrechtlichen Anforderungen der EMRK entsprechen.359 Folgerichtig nahm der EGMR im Fall Matthews eine Haftung Großbritanniens für die Verletzung von Art. 3 des 1. Zusatzprotokolls zur EMRK an. Als Anknüpfungspunkt für den Konventionsverstoß wertete das Gericht nicht den konkreten Wahlausschluss der Bevölkerung Gibraltars, sondern die Zustimmung Großbritanniens zum legitimierenden Ratsbeschluss.360 Bereits die Unterzeichnung eines völkerrechtlichen Vertrages, dessen Inhalte im Widerspruch zu den Grundsätzen der 354 EGMR Bosphorus Airways v. Irland, Application No. 45036 / 98, 30. Juni 2005, Rn. 154; Stahn, The Law, 2008, S. 501. 355 EGMR Waite und Kennedy, Application No. 26083 / 94, 18. Februar 1999, EuGRZ 1999, S. 207, 212, Rdr. 67. 356 Frowein / Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, 1985, Art. 1 Rn. 14. So im Ergebnis bereits in Melchers & Co v. Bundesrepublik Deutschland, European Commission on Human Rights, Application No. 13258 / 77, 9. Februar 1990. 357 EGMR Matthews.v. Vereinigtes Königreich, Application No. 24833 / 94, Urt. v. 18. Februar 1999, EuGRZ 1999, S. 200f., Rdr. 32: „Die Konvention schließt die Übertragung von Hoheitsgewalt an internationale Organisationen nicht aus, solange gewährleistet ist, daß der Schutz der Konventionsrechte weiterhin sichergestellt ist. Deshalb besteht die Verantwortlichkeit einer Vertragspartei der Konvention auch nach einer solchen Übertragung von Hoheitsgewalt weiter fort.“ So auch in EGMR Waite und Kennedy, Application No. 26083 / 94, 18. Februar 1999, EuGRZ 1999, S. 207. 358 Reinisch, International Organizations, 2000, S. 312. 359 Ehlers / Becker, Europäische Grundrechte, 2005, S. 42. 360 EGMR Matthews v. Vereinigtes Königreich, Application No.24833 / 94, 18. Februar 1999, Rn. 33.

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EMRK stehen, sei als Verletzung der Konventionspflichten zu verstehen.361 Werden die Erkenntnisse der EGMR-Rechtsprechung auf das Völkerstrafrecht angewandt, lässt sich eine vergleichbare Bindung der Staaten im Rahmen einer vertraglichen Gründung internationaler Gerichte entsprechend bejahen. In Anlehnung an das Verbot einer Umgehung rechtsstaatlicher Verpflichtungen formuliert Safferling: „States (…) must ensure that this international judicial authority is at least under the same level of restraints as their national courts are. Everything else would constitute a circumvention of their Human Rights obligation.“362

Wenngleich der Gedanke einer effektiven Durchsetzung des Vertragsrechts die Anwendung der EMRK auf den Gründungsakt notwendig erscheinen lässt, wird hierdurch der Einwand einer fehlenden Eröffnung des Geltungsbereichs nach Art. 1 EMRK, Art. 2 IPbpR nicht ausdrücklich entkräftet. Die Jurisdiktion des EGMR setzt nach gängiger Interpretation des Abkommens einen territorialen Bezug für die Ausübung staatlicher Hoheitsmacht voraus.363 Im Hinblick auf die Einrichtung internationaler Tribunale könnte der geforderte Gebietszusammenhang in der innerstaatlichen Ratifikation völkerrechtlicher Verträge zu sehen sein. Für die Anwendung der EMRK sprechen jedoch entscheidend die besonderen Rechtsfolgen einer Ermächtigung zur Wahrnehmung von Judikativaufgaben. Da Gegenstand der vertraglichen Zustimmung nicht die konkrete Ausübung, sondern die partielle Übertragung hoheitlicher Befugnisse ist, kann das Prinzip der Territorialität nicht als Anknüpfungspunkt dienen. Um den Unterschied zwischen Durchführung und Ermächtigung zu verdeutlichen, soll erneut die Parallele zum Recht der Europäischen Union (EU) bemüht werden. Während sich die Geltung der EMRK für sekundäres Gemeinschaftsrecht als selbständiger Durchführungsakt der Organisation problematisch darstellt, ist die Haftung der Staaten für das primäre Vertragsrecht weitgehend unbestritten.364 Im Gegensatz zu Richtlinien und Verordnungen ist das primäre Gemeinschaftsrecht kein Produkt autonomer Hoheitsgewalt, sondern unmittelbar auf die Ausübung staatlicher Macht zurückzuführen. Aufgrund ihrer noch unbestimmten Geltung in einem konkreten Fall kann die Übertragung von Kompetenzen als künftige Aufgabenlegitimation nicht sinnvoll an das Merkmal einer territorialen Begrenzung geknüpft werden. Die Verpflichtungen völkerrechtlicher Abkommen sind auf die vertragliche Einsetzung internationaler Strafgerichte anwendbar. Die Gründungsstatute völkerrecht361 EGMR Matthews v. Vereinigtes Königreich, Application No. 24833 / 94, 18. Februar 1999, Rn. 33. Konsequenterweise ist der Verstoß gegen Art. 3 des 1. Zusatzprotokolls zur EMRK daher nicht allein Großbritannien, sondern allen Vertragsparteien zuzurechnen: „Das Vereinigte Königreich ist, gemeinsam mit allen übrigen Parteien des Vertrags von Maastricht, rationae materiae im Hinblick auf Art. 1 der Konvention und insbesondere im Hinblick auf Art. 3 des 1. Zusatzprotokolls zur EMRK für die Konsequenzen, die dieser Vertrag mit sich bringt, verantwortlich.“ 362 Safferling, Towards an International Criminal Procedure, 2007, S. 41. 363 Meerpohl, Individualsanktionen, 2008, S. 212. 364 Sauer, Jurisditionskonflikte, 2008, S. 278.

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licher Tribunale müssen folglich die rechtsstaatlichen Konventionspflichten der Staaten widerspiegeln. Vor dem Hintergrund des Umgehungsgedankens stellt sich die Folgefrage nach einer weiteren Verantwortlichkeit der Staaten für Rechtsverstöße durch das ermächtigte Justizorgan. (2) Die Zurechnung konkreter Rechtsverstöße (a) Die Judikatur des EGMR Zur Frage der Zurechnung von Rechtsverstößen internationaler Organisationen hat sich in der Judikatur des EuGH eine komplexe Kasuistik entwickelt. Nach ständiger Rechtsprechung des EGMR bleiben die Staaten auch nach einer Übertragung von Hoheitsrechten an zwischenstaatliche Einrichtungen für die Einhaltung der EMRK verantwortlich.365 „Die Konvention schließt die Übertragung von Hoheitsgewalt an internationale Organisationen nicht aus, solange gewährleistet ist, dass der Schutz der Konventionsrechte weiterhin sichergestellt ist. Deshalb besteht die Verantwortlichkeit einer Vertragspartei der Konvention auch nach einer solchen Übertragung von Hoheitsgewalt weiter fort.“366

In der Rechtssache Matthews erweiterte der EGMR den Maßstab der Konventionsrechte auf nationale Hoheitsakte, die unmittelbar auf europäisches Gemeinschaftsrecht rückführbar sind. Durch die umfassende Überprüfung staatlicher Maßnahmen können die Bestimmungen der EMRK indirekt auf die Rechtssetzung internationaler Organisationen angewendet werden. Der EGMR begründete seine Entscheidung mit der Tatsache, dass der rechtliche Hintergrund einer Maßnahme für den Rechtsschutz des betroffenen Bürger nicht bestimmend sein könnte. Im Bosphorus-Urteil grenzte der EGMR seine mittelbare Kontrollmöglichkeit auf die Absicherung eines menschenrechtlichen Mindeststandards ein. Gewährleistet die internationale Organisation einen der EMRK vergleichbaren Menschenrechtsschutz, spricht eine widerlegliche Vermutung für die Einhaltung der Konventionsrechte im Einzelfall. Ähnlich der „Solange“-Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes verzichtet der EGMR auf eine inzidente Prüfung von Gemeinschaftsrecht sofern die Vertragsrechte im Grundsatz garantiert werden. „Wenn ein solcher gleichwertiger Schutz anzunehmen ist, gilt die Vermutung, dass ein Staat den Anforderungen der Konvention nicht widersprochen hat, wenn er bloß seine sich aus der Mitgliedschaft in dieser Organisation ergebenden rechtlichen Verpflichtungen erfüllt hat. Eine solche Vermutung kann allerdings widerlegt werden, wenn unter den Umständen des Einzelfalls die Konventionsrechte offensichtlich unzureichend geschützt wurden.“367

365 EGMR Matthews v. Vereinigtes Königreich, Application No. 24833 / 94, 18. Februar 1999, EuGRZ 1999, S. 200 f. 366 EGMR Matthews v. Vereinigtes Königreich, Application No. 24833 / 94, 18. Februar 1999, EuGRZ 1999, S. 200 f. 367 EGMR Bosphorus Airways v. Irland, Application No. 45.036 / 98, 30.6.2005.

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Anknüpfungspunkte sowohl im Fall Matthews als auch in der Rechtssache Bosphorus sind Akte staatlicher Hoheitsgewalt. Die Frage nach der rechtlichen Zurechnung von Maßnahmen internationaler Organisationen wurde im Fall Senator Lines aktuell.368 Gegenstand des Rechtsstreites war eine Beschwerde der Schifffahrtsgesellschaft Senator Lines gegen eine Bußgeldentscheidung der Europäischen Kommission. In ihrer Klage vor dem EGMR wandte sich die Gesellschaft gegen sämtliche Mitgliedstaaten der EG als Vertragsparteien der Menschenrechtskonvention. Zur Begründung einer zurechenbaren Verantwortlichkeit der Staaten stütze sich die Klägerin auf den in der Matthews–Entscheidung formulierten Gedanken eines Umgehungsverbotes für völkervertragliche Pflichten. Unterfielen die Handlungen internationaler Organisationen nicht dem geltenden Konventionsrecht, könnten sich die Vertragsstaaten der zwingenden Bindung bestehender Abkommen durch die Zwischenschaltung internationaler Organisationen entziehen.369 Von Seiten der beklagten Staaten wurde eine fehlende Jurisdiktion des EGMR für originäre Maßnahmen der Gemeinschaft vorgebracht. Da die konkrete Rechtshandlung allein der internationalen Organisation zurechenbar sei, müsse eine Zuständigkeit des Gerichtshofes ratione personae abgelehnt werden.370 Im Ergebnis konnte der EGMR die Zulässigkeit der Klage bereits an anderer Stelle verneinen und somit die Frage nach einer unmittelbaren Überprüfbarkeit von Handlungen zwischenstaatlicher Einrichtungen unbeantwortet lassen. Eindeutig Stellung beziehen musste der Gerichtshof in den Fällen Behrami und Saramati.371 Die Kläger rügten eine Rechtsverletzung durch Maßnahmen von UNMIK372 und KFOR373, deren Befugnisse als Organe der Vereinten Nationen auf eine Ermächtigung durch den Sicherheitsrat nach Kapitel VII UN-Charta rückführbar sind. In seiner Urteilsbegründung stellte der EGMR die Notwendigkeit einer Jurisdiktion ratione personae als Grundlage gerichtlicher Kompetenzausübung fest. In Anlehnung an die Bosphorus-Entscheidung betonte der Gerichtshof erneut seine umfassende Prüfungszuständigkeit für staatliche Handlungen. Nach Ansicht des Gerichts differenziere Art. 1 EMRK nicht nach der Rechtsgrundlage einer Maßnahme und schließe folgerichtig keinen Teil staatlicher Hoheitsgewalt vom vertraglichen Geltungsbereich aus.374 Die Zuständigkeit des EGMR setze jedoch zwingend 368 EGMR Senator Lines GmbH v. Deutschland, Application No. 56672 / 00, Beschl. v. 4. Juli 2000, EuGRZ 2000, S. 334; später EGMR Senator Lines GmbH v. Deutschland u. 15 EU-Staaten, Application No. 56672 / 00, 10. März 2004, EuGRZ 2004, S. 279. 369 EGMR Senator Lines GmbH v. Deutschland u. 15 EU-Staaten, Application No. 56672 / 00, 10. März 2004, EuGRZ 2004, S. 279. 370 EGMR Senator Lines GmbH v. Deutschland u. 15 EU-Staaten, Application No. 56672 / 00, 10. März 2004, EuGRZ 2004, S. 279. 371 EGMR Behrami v. Frankreich, Application No. 71412 / 01 und Saramati v. Frankreich, Deutschland und Norwegen, Application No. 78166 / 01, 2. Mai 2007. 372 UNMIK ist die Kurzbezeichnung für United Nations Interim Administration Mission in Kosovo. 373 KFOR steht für Kosovo Force. 374 EGMR Behrami v. Frankreich, Application No. 71412 / 01 und Saramati v. Frankreich, Deutschland und Norwegen, Application No. 78166 / 01, 2. Mai 2007, Rn. 145.

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eine Zurechnung des fraglichen Handelns zum Verantwortungskreis des Staates voraus. Anders als in den Fällen Matthews und Bosphorus war Gegenstand des Verfahrens in der Rechtssache Behrami und Saramati ein unmittelbarer Rechtsakt der Vereinten Nationen.375 Eine Haftung der Staaten für Rechtsverstöße durch Organe einer internationalen Organisation konnte weder aus einem personellen noch aus einem territorialen Bezug hergeleitet werden.376 „Im vorliegenden Fall hingegen können die Handlungen und Unterlassungen der KFOR und der UNMIK nicht den beklagten Staaten zugerechnet werden. Sie sind im Übrigen nicht auf deren Staatsgebiet geschehen und nicht auf Grund von Entscheidungen ihrer Behörden. Die vorliegenden Beschwerden unterscheiden sich also eindeutig vom Fall Bosphorus Airways / Irland (…) hinsichtlich der Zuständigkeit ratione personae des Gerichtshofs.“377

(b) Die Übertragung der EGMR-Rechtsprechung auf internationale Strafgerichte Übertragen auf das Völkerstrafrecht lässt sich folgendes Ergebnis festhalten. Nach den Grundsätzen der Matthews-Rechtsprechung bleiben die Staaten auch dann für Maßnahmen unter ihrer Hoheitsgewalt verantwortlich, wenn diese auf der Anordnung eines Gerichtes basieren. Im Falle eines Konfliktes mit den Gewährleistungen völkerrechtlicher Menschenrechtsverträge muss das Interesse an internationaler Zusammenarbeit „wegen der Rolle der Konvention als ein ‚Verfassungsinstrument des europäischen ordre public‘ im Bereich der Menschenrechte zurücktreten“.378 Trotz einer vertraglichen Kooperationspflicht – beispielsweise aus Art. 86 lit. f ICC-Statut – gelten die menschenrechtlichen Pflichten internationaler Pakte fort und setzen dem staatlichen Handeln normative Grenzen. Eine Einschränkung der gerichtlichen Überprüfbarkeit möglicher Konventionsverstöße kann der Bosphorus-Entscheidung entnommen werden. Nach den im Ur375 EGMR Behrami v. Frankreich, Application No. 71412 / 01 und Saramati v. Frankreich, Deutschland und Norwegen, Application No. 78166 / 01, 2. Mai 2007, Rn. 151: „Tatsächlich unterscheidet sich der vorliegende Fall jedoch wesentlich von der Sache Bosphorus Airways / Irland. Dort war der Rechtsakt, um den es ging, nämlich die Beschlagnahme des von der Bf. gemieteten Flugzeugs, von den Behörden des beklagten Staates auf dessen Staatsgebiet auf Grund einer Verfügung des zuständigen Verkehrsministers vorgenommen worden war (…). Daher stand in jenem Fall die Zuständigkeit des Gerichtshofs insbesondere ratione personae gegenüber dem beklagten Staat nicht in Frage, obwohl die umstrittene Beschlagnahme auf Grund einer VO der EWG erfolgt war, die sich ihrerseits auf eine Entschließung des UNSicherheitsrats gestützt hatte.“ 376 Im Ergebnis bestätigte der EGMR seinen Entschluss im Fall Hess, Handlungen des Control Councils als kollektivem Organ der Alliierten nicht den einzelnen Staaten zuzurechnen, EGMR Hess v. UK, Application No. 6231 / 73, 28. Mai 1975. 377 EGMR Behrami v. Frankreich, Application No. 71412 / 01 und Saramati v. Frankreich, Deutschland und Norwegen, Application No. 78166 / 01, 2. Mai 2007, Rn. 151. 378 EGMR Behrami v. Frankreich, Application No. 71412 / 01 und Saramati v. Frankreich, Deutschland und Norwegen, Application No. 78166 / 01, 2. Mai 2007, Rn. 145.

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teil entwickelten Richtlinien begründet die Gewährleistung eines äquivalenten Menschenrechtsschutzes durch die Statuten der Tribunale eine widerlegliche Vermutung für die Rechtmäßigkeit staatlicher Ausführungsakte. Auf diese Weise lässt sich eine indirekte Bindung internationaler Strafgerichte an völkerrechtliche Menschenrechtskonventionen herstellen. Um die rechtliche Basis für eine legitime Kooperation staatlicher Stellen zu schaffen, müssen die Statuten der Gerichte einen vergleichbaren rechtsstaatlichen Standard garantieren. Eine völkervertragliche Haftung der Staaten für konkrete Rechtsverstöße durch ein internationales Gericht ist nach der Rechtsprechung des EGMR im Fall Behrami und Saramati abzulehnen. Wenngleich sich die Entscheidung nicht unmittelbar auf eine vertraglich gegründete Instanz bezog, können die Annahmen der Rechtsprechung aufgrund der identischen Kernproblematik übertragen werden. Unabhängig von der Rechtsform völkerrechtlicher Tribunale sind ihre Maßnahmen als eigenständige Handlungen internationaler Organisationen nicht der Hoheitsgewalt von Konventionsstaaten zurechenbar. Vor dem Hintergrund eines effektiven Menschenrechtsschutzes ist die Rechtsprechung des EGMR zur Überprüfbarkeit internationaler Rechtsakte jedoch kritisch zu sehen. Obgleich die Staaten nicht selbst gegenüber dem Bürger tätig werden, ermöglichen sie den Eingriff in seine Rechte durch Gründung eines kompetenten Justizorgans. Nach den Ausführungen des EGMR in der Rechtssache Waite und Kennedy ist es mit Sinn und Zweck des Abkommens nicht vereinbar, „wenn sich Vertragsstaaten durch die Übertragung bestimmter Tätigkeitsbereiche auf eine (…) Organisation in diesen Bereichen von ihrer Verantwortung zum Schutz der in der Menschenrechtskonvention niedergelegten Rechte befreien könnten“.379 Für einen wirksamen Rechtsschutz des Betroffenen ist es unerheblich, ob sein Verfahren vor einem staatlichen oder einem internationalen Gericht verhandelt wird. Um eine Umgehung der Vertragspflichten durch die Gründung zwischenstaatlicher Einrichtungen zu verhindern, sollte eine Verantwortlichkeit der Staaten für Handlungen der von ihnen eingesetzten Organe fortbestehen. Solange sich diese Auffassung in der internationalen Rechtsprechung nicht durchgesetzt hat, bleiben die Staaten zumindest bei der Gründung völkerstrafrechtlicher Gerichte an ihre vertraglichen Pflichten gebunden. Die prozessualen Vorgaben der Statuten internationaler Straftribunale müssen dem rechtsstaatlichen Standard völkerrechtlicher Verträge entsprechen. Wiederholte Verstöße eines Gerichts könnten eine unterlassene Absicherung der Verfahrensrechte indizieren und die Staaten gegebenenfalls zu einer Änderung der Rechtsgrundlagen verpflichten.

379 EGMR Waite und Kennedy, Application No. 28934 / 95, 18.2.1999, EuGRZ 1999, S. 207 (212); Haratsch, Grundrechtsschutz, 2007, S. 22.

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bb) Die Verantwortlichkeit der Staaten für die Einsetzung von Straftribunalen durch den UN-Sicherheitsrat Dem Sicherheitsrat wird nach umstrittener Auffassung in Kapitel VII der UNCharta die Befugnis zur Gründung völkerrechtlicher Straftribunale eingeräumt.380 Erkennt der Sicherheitsrat eine Bedrohung des Weltfriedens oder eine Gefahr für die internationale Sicherheit, kann er durch Resolution die Errichtung von Ad-hocTribunalen beschließen. Als Reaktion auf internationale Konflikte wurden das Jugoslawientribunal sowie der Internationale Strafgerichtshof für Ruanda zur Aufarbeitung der völkerstrafrechtlichen Verbrechen eingesetzt. Hinsichtlich der Geltung völkerrechtlicher Verträge stellt sich die Frage nach einer Verantwortlichkeit der Staaten für die unmittelbare Tätigkeit der Gerichte sowie für die Einhaltung der Konventionsrechte im Rahmen der Abstimmung im Sicherheitsrat. Gegen eine vertragliche Bindung der Sicherheitsratsmitglieder führt Meerpohl die fehlende Anwendbarkeit der Pakte auf den Abstimmungsvorgang an.381 Die EMRK setze die Ausübung territorialer Hoheitsgewalt oder das Bestehen eines konkret-individuellen Gewaltverhältnisses als Anknüpfungspunkt für die Geltung ihrer Vertragsgarantien voraus. Angesichts der Ausübung des Stimmrechts auf amerikanischem Boden fehle nach Meerpohl ein hinreichender Bezug zum territorialen Wirkbereich der Konvention. Auch mit dem Personalitätsprinzip könne eine Geltung der EMRK nicht begründet werden, da die Resolution zum Zeitpunkt des Beschlusses nicht gegen einen konkreten Adressaten gerichtet war.382 Meerpohls Argumentation lässt sich erneut der Gedanke eines effektiven Menschenrechtsschutzes entgegenhalten.383 Nach Schilling ist die fortbestehende Bindung der Staaten an internationale Pakte notwendige Folge einer völkervertraglichen Verantwortung für die wirksame Umsetzung rechtsstaatlicher Standards.384 In rechtlicher Hinsicht wirft die Geltung zwischenstaatlicher Übereinkommen für Abstimmungen im Sicherheitsrat zwei Kernprobleme auf. Zum einen stellt sich die Frage nach dem Erfordernis territorialer Hoheitsgewalt als Anwendungsvoraussetzung für die Gewährleistung von Konventionsrechten. Zum anderen gilt es zu beleuchten, inwiefern dem Sicherheitsrat durch die UN-Charta eine Sonderrolle im Bereich der internationalen Friedenswahrung zuerkannt wird. In der Rechtssache Matthews sprach sich der EGMR gegen eine Differenzierung im Geltungsbereich der Konvention nach Art der fraglichen Maßnahme aus.385 Das 380

Zur Diskussion über die Kompetenzen des Sicherheitsrates siehe ausführlich in Kapitel

D. II. Meerpohl, Individualsanktionen, 2008, S. 211 f. Meerpohl, Individualsanktionen, 2008, S. 211. 383 Schilling, ZaöRV 64 (2004), S. 343 (357). 384 Schilling, Der Schutz der Menschenrechte gegen den Sicherheitsrat und seine Mitglieder. Möglichkeiten und Grenzen, 06.05.2003 (letzter Zugriff am 25.03.2010). 385 EGMR Matthews v. Vereinigtes Königreich, Application No. 24833 / 94, 18. Februar 1999, EuGRZ 1999, S. 200 f. 381 382

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Gericht qualifizierte das Abstimmungsverhalten des Vereinigten Königreichs im Europarat als Ausübung von Hoheitsgewalt im Sinne des Art. 1 EMRK. Die Entscheidung des EGMR für ein weites Verständnis des Anwendungskreises kann auf die Beschlussfassung im Sicherheitsrat entsprechend angewandt werden. Unabhängig von der Frage, ob ein territorialer Bezug für die Übertragung von Hoheitsgewalt vorauszusetzen ist, kann die Geltung der EMRK auf Grundlage der EGMR-Rechtsprechung bejaht werden. Grundsätzlich ist die Teilnahme an Sitzungen und Abstimmungen des Sicherheitsrates daher als Bestandteil staatlicher Hoheitsmacht den Bestimmungen des Konventionsrechts unterworfen. In einem weiteren Schritt ist zu fragen, ob die besondere Bedeutung des Sicherheitsrates für den internationalen Friedensprozess eine abweichende Bewertung rechtfertigt. In Behrami und Saramati386 nahm der EGMR ausführlich zur vertraglichen Bindung der Staaten im Sicherheitsrat Stellung. Der Gerichtshof sah in der Anwendung von Konventionsrechten auf Handlungen des Sicherheitsrates einen Eingriff in die Erfüllung von Kernaufgaben der Vereinten Nationen.387 Den Art. 1, 2 und 24 sowie der Präambel VII der UN-Charta könne die Wahrung der internationalen Sicherheit als wesentliches Ziel der Staatengemeinschaft entnommen werden. Die Hauptverantwortung für den globalen Frieden trage der Sicherheitsrat, der durch Kapitel VII der UN-Charta mit weitreichenden Kompetenzen zur Beendigung internationaler Konflikte ausgestattet würde. Die friedenssichernden Befugnisse des Sicherheitsrates seien als Spiegelbild des völkerrechtlichen Gewaltverbotes zentrale Grundlage zwischenstaatlicher Beziehungen.388 Aus der besonderen Bedeutung des Sicherheitsrates für die Wahrung der internationalen Ordnung leitet der EGMR seine Unabhängigkeit von den völkervertraglichen Pflichten der Mitgliedstaaten ab. Im Interesse der Friedenssicherung solle ein Konflikt zwischen der Aufgabenwahrnehmung des Sicherheitsrates und der Bindung an rechtsstaatliche Konventionsprinzipien vermieden werden. Gelten die Bestimmungen internationaler Abkommen fort, würde ein Eingreifen des Sicherheitsrates an einen menschenrechtlichen Standard geknüpft, den die UN-Charta selbst nicht vorsieht.389 Eine vertragliche Verantwortlichkeit der Staaten liefe somit der grundlegenden Zweckrichtung der UN-Charta zuwider, die dem Ziel internationaler Sicherheit bewusst Vorrang eingeräumt hat. Nach Auffassung des EGMR gilt die Privilegierung des Sicherheitsrates nicht ausschließlich für Akte des Organs selbst, sondern zugleich für „freiwillige Aktio386 EGMR Behrami v. Frankreich, Application No. 71412 / 01 und Saramati Deutschland und Norwegen, Application No. 78166 / 01, 2. Mai 2007. 387 EGMR Behrami v. Frankreich, Application No. 71412 / 01 und Saramati Deutschland und Norwegen, Application No. 78166 / 01, 2. Mai 2007, Rn. 5. 388 EGMR Behrami v. Frankreich, Application No. 71412 / 01 und Saramati Deutschland und Norwegen, Application No. 78166 / 01, 2. Mai 2007, Rn. 148. 389 EGMR Behrami v. Frankreich, Application No. 71412 / 01 und Saramati Deutschland und Norwegen, Application No. 78166 / 01, 2. Mai 2007, Rn. 149.

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III. Rechtsstaatlichkeit als Vorgabe für internationale Strafgerichte

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nen der beklagten Staaten wie das Votum eines ständigen Mitglieds des Sicherheitsrats zu Gunsten der Entschließung nach Kap. VII UN-Charta“.390 Wenngleich die Staaten durch ihre Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen nicht zu einem konkreten Abstimmungsverhalten verpflichtet würden, komme ihrer Unterstützung friedenssichernder Maßnahmen entscheidende Bedeutung für die wirksame Mandatserfüllung des Sicherheitsrates zu. Aufgrund seiner Sonderrolle im Gefüge der Vereinten Nationen wird den Befugnissen des Sicherheitsrates ein genereller Vorrang gegenüber rechtsstaatlichen Vertragspflichten gewährt. Sowohl ein Resolutionsbeschluss zur Einsetzung internationaler Strafgerichte als auch die Durchführung konkreter Maßnahmen wären nach den Grundsätzen der EGMR-Rechtsprechung nicht am Maßstab der Konventionsrechte zu messen.391 Die Rechtsprechung des Gerichtshofs wird in der Literatur teilweise kritisch gesehen. So rügt Stahn die fehlende Berücksichtigung des Bosphorus-Urteils in der Entscheidungsfindung des EGMR.392 Nach den Grundsätzen des Urteils könne eine Verantwortlichkeit der Staaten nur ausgeschlossen werden, wenn NATO und KFOR einen gleichwertigen Menschenrechtsschutz gewährleisteten. Da der Gerichtshof die Existenz eines äquivalenten Rechtsstandards nicht geprüft habe, bliebe die Frage nach einer Geltung der EMRK für Maßnahmen des Sicherheitsrates unbeantwortet.393 Gegen Stahns Einschätzung spricht indes der rechtliche Hintergrund der Bosphorus-Entscheidung. Die Garantie menschenrechtlicher Schutzmechanismen stellt für die Staaten eine Exkulpationsmöglichkeit im Rahmen bestehender Vertragsverantwortlichkeit dar. Die Anwendung der Bosphorus-Prinzipien vermag eine Bindung der Staaten an ihre Konventionspflichten nicht zu begründen, sondern setzt deren Geltung bereits positiv voraus. Die Bosphorus-Rechtsprechung ist daher weniger als Bedingung staatlicher Zurechnung denn als mögliche Einschränkung des vertraglichen Anwendungsbereiches zu verstehen. Wenngleich die Bedenken Stahns nicht geteilt werden, muss die Wertung des Gerichtshofes in der Rechtssache Behrami und Saramati 394 kritisch betrachtet werden. Der EGMR begründet die Unabhängigkeit des Sicherheitsrates von den Vertragspflichten seiner Mitgliedsstaaten mit der Sonderstellung des Organs für die internationale Friedenswahrung. Angesichts der Zielsetzung internationaler Strafgerichtsbarkeit darf jedoch keine grundlegende Diskrepanz zwischen der Aufgabenwahrnehmung des Sicherheitsrates und den Vorgaben menschenrechtlicher Verträge be390 EGMR Behrami v. Frankreich, Application No. 71412 / 01 und Saramati v. Deutschland und Norwegen, Application No. 78166 / 01, 2. Mai 2007, Rn. 149. 391 EGMR Behrami v. Frankreich, Application No. 71412 / 01 und Saramati v. Deutschland und Norwegen, Application No. 78166 / 01, 2. Mai 2007, Rn. 149. 392 Stahn, The Law, 2008, S. 503. 393 EGMR Bosphorus Airways v. Irland, Application No. 45036 / 98, 30. Rn. 155 f. 394 EGMR Behrami v. Frankreich, Application No. 71412 / 01 und Saramati v. Deutschland und Norwegen, Application No. 78166 / 01, 2. Mai 2007.

Frankreich, Frankreich,

Juni 2005, Frankreich,

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stehen. Die Wahrung rechtsstaatlicher Verfahrensgrundsätze ist wesentliche Grundlage für eine legitime und fundierte Aufarbeitung internationaler Konflikte durch völkerrechtliche Tribunale. Das Ziel internationaler Strafverfahren, durch eine gerechte Bestrafung der Täter internationales Recht durchzusetzen, ist unmittelbar an die Einhaltung der elementaren Prozessrechte des Angeklagten geknüpft. Eine Bindung der Staaten an die Konventionsgarantien begründet keinen Widerspruch zur friedenssichernden Aufgabe des Sicherheitsrates, sondern ist vielmehr zwingende Voraussetzung für eine dauerhafte Gewährleistung der internationalen Sicherheit. Der EGMR erkennt selbst die Schwachstelle seiner Argumentation, wenn er die Wahrung der Menschenrechte als notwendige Voraussetzung für die Herstellung globaler Sicherheit bezeichnet: „Es ist (…) ebenso klar, dass der Schutz der Menschenrechte wesentlich zur Verwirklichung des Weltfriedens beiträgt.“395

Aus rechtsstaatlicher Sicht wäre eine Änderung der Rechtsprechung mit dem Ziel einer Einbeziehung von Abstimmungsvorgängen in den Geltungsbereich völkerrechtlicher Konventionen zu begrüßen. Um einen effektiven Menschenrechtsschutz gerade im Bereich globaler Friedenswahrung zu garantieren, sollte eine Beschlussfassung im Sicherheitsrat den Vertragspflichten seiner Mitgliedstaaten unterstellt sein. Zumindest erscheint es fraglich, ob die Grundsätze der Behrami und Saramati-Judikatur auf die Einrichtung völkerstrafrechtlicher Tribunale übertragbar sind. Anders als militärische Maßnahmen oder humanitäre Interventionen ist das internationale Gerichtsverfahren unmittelbar der Durchsetzung völkerrechtlicher Normen verpflichtet. Wichtigstes Ziel der internationalen Strafgerichtsbarkeit ist die Ahndung völkerrechtlicher Verbrechen als Ausdruck einer globalen Menschenrechtspolitik. In spiegelbildlicher Anwendung der eigenen Zwecksetzung verpflichtet der intendierte Menschenrechtsschutz die Gerichte zu einer Prozessgestaltung nach den Grundsätzen der geltenden Konventionen. Bereits nach ihrem Wortsinn setzt die Funktion der „Rechtsprechung“ eine umfassende Verantwortlichkeit für die Formulierung von Recht und die strenge Einhaltung normativer Standards voraus. Es ist daher weder mit den Aufgaben eines Gerichtes noch mit der Rolle des Sicherheitsrates im internationalen Friedensprozess vereinbar, im Wege einer Ausnahmerechtsprechung auf die Gewährleistung vertraglicher Verfahrensrechte zu verzichten. Der These könnte entgegengehalten werden, dass die Forderung nach einer staatlichen Vertragsverpflichtung im Sicherheitsrat rechtlich nicht zwingend sei. Sieht die UN-Charta keine rechtsstaatlichen Einschränkungen der Befugnisse vor, wäre eine Herleitung normativer Grenzen aus allgemeinen Erwägungen möglicherweise systematisch inkonsequent. Unabhängig von der politischen Notwendigkeit einer menschenrechtlichen Bindung des Sicherheitsrates könnte eine tatsächliche Rechtspflicht zur Einhaltung vertraglicher Prozessmaximen aufgrund fehlender normativer Begründbarkeit bezweifelt werden. 395 EGMR Behrami v. Frankreich, Application No. 71412 / 01 und Saramati v. Frankreich, Deutschland und Norwegen, Application No. 78166 / 01, 2. Mai 2007, Rn. 148.

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Angesichts der dogmatischen Herleitung einer Vertragsausnahme greift der Einwand fehlender Normativität jedoch nicht durch. Die Nichtanwendung der Konventionsgrundrechte durch den EGMR ist das Ergebnis einer generellen Bewertung der Rolle des Sicherheitsrates im Gefüge der Vereinten Nationen. Die Versagung des vertraglichen Anwendungsbereichs basiert auf einer Abwägung der friedenssichernden Kompetenzen des Sicherheitsrates mit dem Ziel des rechtsstaatlichen Menschenrechtsschutzes. Die Frage nach der Geltung konventionsrechtlicher Standards muss nach der hier vertretenen Auffassung in den Bewertungsvorgang des Gerichtes eingestellt werden. Eine vertragliche Bindung von Sicherheitsratsbeschlüssen ist daher nicht nur politische Forderung, sondern als Element der umfassenden Interessenabwägung zugleich rechtlicher Maßstab.

2. Die unmittelbare Geltung von Gewohnheitsrecht und allgemeinen Rechtsgrundsätzen für das internationale Strafverfahren Neben vertraglichen Abkommen gewährleisten insbesondere die allgemeinen Rechtsgrundsätze einen grundlegenden Bestand rechtsstaatlicher Verfahrensgarantien. Da die Entwicklung entsprechenden Gewohnheitsrechts künftig nicht auszuschließen ist, soll ihre Verbindlichkeit für internationale Strafgerichte gleichfalls betrachtet werden. Während im Völkervertragsrecht nur die Staaten als Vertragsparteien unmittelbar verpflichtet werden können, stellt sich im Rahmen des allgemeinen Völkerrechts die Frage nach den Adressaten rechtsstaatlicher Anforderungen. Die Bindung von Staaten an Gewohnheitsrecht und allgemeine Rechtsgrundsätze kann normativ nicht anders zu beurteilen sein als ihre konventionsrechtliche Verpflichtung. Da gegenüber der vorangehenden Darstellung einer vertraglichen Normgeltung kein abweichendes Ergebnis denkbar ist, kann die Fragestellung auf die Verantwortlichkeit internationaler Organisationen beschränkt werden. Bislang ist nicht zweifelsfrei geklärt, inwieweit die Vereinten Nationen und der Sicherheitsrat als Gründungsorgane internationaler Strafgerichte an das allgemeine Völkerrecht gebunden sind. Zugleich wird eine unmittelbare Verpflichtung völkerrechtlicher Tribunale mit eigener Rechtspersönlichkeit auf die Grundsätze des internationalen Rechts zu untersuchen sein. a) Die Bindung internationaler Organisationen an das allgemeine Völkerrecht Die Bindung internationaler Organisationen an das allgemeine Völkerrecht ist angesichts der Struktur völkerrechtlicher Strafgerichtsbarkeit von maßgeblicher Bedeutung. Eine Verpflichtung der Vereinten Nationen auf Völkergewohnheitsrecht und allgemeine Rechtsgrundsätze würde sich sowohl auf die Ad-hoc-Tribunale des Sicherheitsrates als auch im Rahmen der Prozessgestaltung hybrider Gerichte aus-

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wirken.396 Der Abschluss bilateraler Gründungsverträge sowie institutionelle Übergangsverwaltungen nach dem Vorbild des Kosovo und Ost-Timors wären den rechtsstaatlichen Schranken des Völkerrechts unterworfen. Gleiches würde für den ICC gelten, der als Organisation mit eigenständiger Rechtsqualität zur Gewährleistung einer völkerrechtskonformen Verfahrensordnung verpflichtet würde. Eine überwiegende Ansicht in der Literatur stimmt der Anwendung des allgemeinen Völkerrechts auf internationale Organisationen zu.397 In seinem „Interpretation of the WHO-Egypt Agreement“-Gutachten bejahte der IGH eine generelle Bindung zwischenstaatlicher Organisationen an Gewohnheitsrecht und allgemeine Rechtsgrundsätze als Folge ihrer Eingliederung in das internationale Rechtssystem: „International organizations are subjects of international law and, as such, are bound by any obligations incumbent upon them under general rules of international law.“398

Wenngleich eine völkerrechtliche Verpflichtung internationaler Organisationen mehrheitlich bejaht wird, bleibt ihre dogmatische Begründung regelmäßig aus.399 Im Folgenden sollen die verschiedenen Ansätze einer völkerrechtlichen Bindung institutionalisierter Gerichte und der Vereinten Nationen dargestellt werden. Mit dem Problem ihrer rechtlichen Herleitung ist die Frage nach der Reichweite einer völkerrechtlichen Verpflichtung verbunden. Die Anwendung von Gewohnheitsrecht als Handlungsgrundlage internationaler Organisationen beruht maßgeblich auf ihrem theoretischen Geltungsgrund. Während unter Berufung auf den Analogiegedanken ein umfassender Rückgriff auf das allgemeine Völkerrecht möglich ist, wird von anderer Seite ein eigenständiger Nachweis der Anwendungsvoraussetzungen gewohnheitsrechtlicher Normen verlangt. Nach dieser Prämisse wäre eine internationale Organisation ausschließlich selbst begründetem Gewohnheitsrecht unterworfen.400 Die Bindung internationaler Organisationen an allgemeine Rechtsgrundsätze wirft hingegen keine vergleichbaren Schwierigkeiten auf. Aufgrund der innerstaatlichen Fundierung allgemeiner Rechtsgrundsätze werden alle Völkerrechtssubjekte unmittelbar auf ihre Inhalte verpflichtet.401 Hierfür Zahar / Sluiter, International Criminal Law, 2008, S. 277. Brownlie, Principles, 2003, S. 693; Bothe, ZaöRV 37 / 1 (1977), S. 122 (126); Annacker, Der fehlerhafte Rechtsakt, 1998, S. 58; Barriga / Alday, Max Planck UNYB 12 / 1 (2008), S. 381 (404); Seidl-Hohenveldern / Loibl, Internationale Organisationen, 2000, S. 223; Schermers / Blokker, International Institutional Law, 2003, §§ 1572ff.; Report of the SecretaryGeneral, The Rule of Law at the National and International Levels: Comments and Information Received from Governments: Kommentar Deutschlands, Doc. A / 62 / 121, 6. September 2007, S. 19. 398 IGH, Interpretation of the WHO-Egypt Agreement, Gutachten v. 20. Dezember 1980, ICJ Reports 1980, S. 73 (89 f.). 399 Vgl. Annacker, Der fehlerhafte Rechtsakt, 1998, S. 58. 400 Kiderlen, Von Triest nach Osttimor, 2008, S. 284. 401 Bleckmann, ZaöRV 37 / 1 (1977), S. 107 (109). 396 397

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aa) Die Bindung an Völkergewohnheitsrecht im Wege der Analogie Im Wege der Analogie wäre eine unmittelbare Anwendung gewohnheitsrechtlicher Normen möglich, die nach Inhalt und Zielsetzung auf den Wirkbereich internationaler Organisationen übertragbar sind.402 Die Geltung des Analogiegedankens als Grundsatz des Völkerrechts ist in der Literatur jedoch umstritten. Neben der Problematik einer generellen Anerkennung von Analogieschlüssen stellt sich die Frage nach der Reichweite ihrer Bindungswirkung. Um eine Verpflichtung internationaler Organisationen auf ein durch Staatenpraxis erzeugtes Gewohnheitsrecht zu begründen, müsste die analoge Übertragung eines Rechtssatzes auf einen anderen Rechtsträger zulässig sein. Ausgehend von der Möglichkeit analoger Rechtsanwendung im Falle völkerrechtlicher Regelungslücken wären in einem zweiten Schritt die Voraussetzungen einer vergleichbaren Interessenlage zu erwägen. (1) Zur Geltung des Analogiegedankens Die Zulässigkeit von Analogien im Völkerrecht wurde insbesondere durch Bleckmann vertreten. Bleckmann begründet die Geltung des Analogiegedankens mit dem Gebot der konsequenten Rechtsanwendung403 Im Interesse einer einheitlichen Völkerrechtsordnung sei die internationale Gemeinschaft verpflichtet, in allen Bereichen auf einen einmal gewählten Wertmaßstab zurückzugreifen.404 Zur Vermeidung von Wertungswidersprüchen müssten Staaten und internationale Organisationen an entsprechende Rechtspflichten gebunden werden.405 Der Analogieschluss erlaube eine Übertragung staatlich begründeten Gewohnheitsrechts auf andere Subjekte des Völkerrechts. Die Notwendigkeit einheitlicher Rechtspraxis sei nicht zuletzt Folge des Gleichheitsgebotes, das eine unterschiedliche Behandlung paralleler Sachverhalte verbiete.406 Im Falle internationaler Strafgerichtsbarkeit müssten die prozessualen Rechte des Angeklagten unabhängig von der Rechtsform des verhandelnden Gerichts gewährleistet werden, um einen gleichwertigen Interessensschutz sicherzustellen. Zugleich stützt Bleckmann eine Bindung internationaler Organisationen an das bestehende Gewohnheitsrecht auf das Prinzip der Kontinuität der Rechtsordnung.407 Die Entwicklung des Völkerrechts habe die Bedeutung internationaler Organisationen für die Staatengemeinschaft grundlegend verändert. Als zentrale Akteure in Fragen der globalen Friedens- und Wirtschaftspolitik würden zwischenstaatliche Einrichtungen zunehmend Einfluss auf die Praxis des Völkerrechts nehmen.408 Hier402 Annacker, Der fehlerhafte Rechtsakt, 1998, S. 60; Bleckmann, ZaöRV 37 / 1 (1977), S. 107 (119). 403 Bleckmann, ZaöRV 37 / 1 (1977), S. 107 (115). 404 Bleckmann, Völkerrecht, 2001, § 248. 405 Bleckmann, ZaöRV 37 / 1 (1977), S. 107 (115). 406 Bleckmann, ZaöRV 37 / 1 (1977), S. 107 (114). 407 Bleckmann, ZaöRV 37 / 1 (1977), S. 107 (117). 408 Bleckmann, ZaöRV 37 / 1 (1977), S. 107 (117).

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mit einher gehe ein Bedürfnis nach Begrenzung und Angleichung ihrer Befugnisse an bestehende Rechtspflichten. Angesichts der wachsenden Kompetenzverlagerung auf internationale Organisationen fordere das Gebot rechtlicher Kontinuität eine Anpassung der Rechtsordnung durch analoge Normanwendung. Anderenfalls entstünden „mit der Entwicklung der internationalen Organisationen unerträgliche Lücken im System des Völkerrechts“409. Bleckmanns Annahme einer völkerrechtlichen Analogie wird in der Literatur geteilt. Verdross / Simma setzen die Zulässigkeit des Analogiegedankens voraus, ohne seinen Geltungsgrund zu hinterfragen.410 Fastenrath sieht in der lückenhaften Völkerrechtsordnung Raum für eine analoge Rechtsanwendung.411 Aufgrund der lediglich punktuellen Regelung internationaler Sachverhalte bestehe ein Interesse an der Ergänzung völkerrechtlicher Normen. Nach Riemer könne auf die Wertung gewohnheitsrechtlicher Rechtssätze zurückgegriffen werden, da das Völkerrecht keinem strengen Gesetzespositivismus unterworfen sei.412 Zur Legitimation der Analogie im Völkerrecht wird vielfach auf die Rechtsprechung des Ständigen Internationalen Gerichtshofes (StIGH) im Wimbledon-Fall verwiesen.413 In seiner Entscheidung zog der StIGH die völkerrechtlichen Regelungen über den Suez- und den Panama-Kanal zur Klärung von Durchfahrtsrechten auf dem Kieler Kanal heran. Aus der Anwendung der bestehenden Grundsätze im Rahmen eines parallel gelagerten Sachverhaltes schließen die Vertreter des Analogiegedankens auf seine völkerrechtliche Anerkennung.414 Ipsen hingegen widerspricht einer solchen Interpretation der gerichtlichen Entscheidung.415 Seiner Auffassung nach führe der StIGH lediglich den Nachweis gewohnheitsrechtlicher Regeln anhand völkerrechtlicher Verträge. Das Gericht habe die völkerrechtliche Regelungslücke nicht im Wege der Analogie, sondern durch Feststellung eines geltenden Gewohnheitsrechtssatzes geschlossen.416 Ipsen ist zuzugeben, dass der Wimbledon-Entscheidung keine eindeutige Anerkennung völkerrechtlicher Analogie entnommen werden kann. Die Anwendung der normativen Vorgaben für den Suez- und den Panama-Kanal setzt eine Analogie nicht notwendig voraus. Ein Rückgriff auf ihre Regelungen rechtfertigt sich ebenso durch eine gewohnheitsrechtliche Akzeptanz ihrer Inhalte. Ob eine Bindung internationaler Organisationen an bestehendes Gewohnheitsrecht durch einen Analogieschluss begründbar ist, muss daher mit Blick auf die Strukturen des Völkerrechts beantwortet werden. 409 410 411 412 413 414 415 416

Bleckmann, ZaöRV 37 / 1 (1977), S. 107 (117). Verdross / Simma, Universelles Völkerrecht, 1984, §§ 541, 1076, 1165. Fastenrath, Lücken im Völkerrecht, 1991, S. 136 ff. Riemer, Staatengemeinschaftliche Solidarität, 2003, S. 295. PCIJ, Ser. A., No. 1, 1923. Siehe beispielsweise Paschen, Steuerumgehung, 2001, S. 152. Ipsen, Völkerrecht, §19 Rn. 6. Ipsen, Völkerrecht, §19 Rn. 6.

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Ein erster Einwand gegen Bleckmanns Argumentation besteht in der Ausdehnung des Analogiegedankens auf einen weiteren Rechtsträger. Ipsen sieht in der Bindung internationaler Organisationen an existierendes Gewohnheitsrecht eine unzulässige Drittwirkung.417 Eine Analogie müsse sich auf das Rechtsverhältnis beschränken, in dem die Norm unmittelbare Geltung erfahre. Die Übertragung einer Norm im Wege der Analogie sei nur zulässig, wenn sich der Rechtsträger selbst an ihre Aussage gebunden habe. Eine Analogie erfordere die grundsätzliche Zustimmung des Völkerrechtssubjektes zu den Rechtsfolgen der Norm. Tatsächlich erscheint die Möglichkeit einer Verpflichtung durch Analogieschluss zweifelhaft, wenn der Adressat an der Entstehung der Norm nicht beteiligt war. Unter Verweis auf analoge Rechtsanwendung darf eine bestehende Rechtspflicht auf einen parallelen Sachverhalt erweitert werden. Bedenken entstehen jedoch, wird eine normative Verpflichtung im Wege der Analogie erst originär begründet. Im koordinationsrechtlich geprägten Völkerrecht könnte die Rechtsbindung einer internationalen Organisation ihr Einverständnis mit der Normaussage systematisch voraussetzen. Gegen Ipsens Annahme einer unzulässigen Drittwirkung spricht jedoch die Anerkennung einer allgemeinen Bindungswirkung internationalen Gewohnheitsrechts. Eine gewohnheitsrechtliche Norm verpflichtet nicht nur die unmittelbar an ihrer Übung beteiligten Staaten. Hat ein Staat der internationalen Praxis nicht ausdrücklich widersprochen, muss er sich auf ihre Geltung verweisen lassen.418 Wenngleich die dogmatische Kritik an der Reichweite von Analogien nicht zwingend ist, begegnet ihre Anwendung im Völkerrecht erheblichen Zweifeln. Bleckmann stützt die Zulässigkeit der Analogie im Wesentlichen auf die Notwendigkeit einer widerspruchsfreien Völkerrechtsordnung. Der Gedanke einer konsequenten Normanwendung mag für das nationale Recht gelten; im internationalen Kontext kann dem Ziel einer homogenen Rechtsordnung jedoch keine vergleichbare Bedeutung beigemessen werden. Das Erfordernis einheitlicher Rechtsetzung beruht auf dem staatlichen Anspruch, rechtliche Fragen durch eine weitgehend zentrale Legislative erschöpfend zu regeln. Hierin unterscheidet sich die staatliche Ordnung maßgeblich von der völkerrechtlichen, die sich durch eine Vielzahl von Rechtsbeziehungen konstituiert. Im Gegensatz zum staatlichen Recht beruht die internationale Ordnung nicht auf der Prämisse konsequenter und abschließender Rechtsgestaltung. Die Forderung nach Einheitlichkeit als Voraussetzung von Analogie ist angesichts der Verschiedenheit völkerrechtlicher Normentstehung keine Bedingung des internationalen Rechts. Dies zeigt sich bereits in der Möglichkeit divergierender Rechtspflichten durch regional begrenztes Gewohnheitsrecht. Nach der hier vertretenen Ansicht sprechen die besseren Argumente gegen eine gewohnheitsrechtliche Verpflichtung internationaler Organisationen durch analoge Rechtsanwendung. Angesichts der bestehenden Uneinigkeit über die Geltung des 417 418

Ipsen, Völkerrecht, §19 Rn. 6. Payandeh, Internationales Gemeinschaftsrecht, 2010, S. 282.

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Analogiegedankens für das Völkerrecht sollen seine Voraussetzungen im Rahmen internationaler Strafgerichtsbarkeit gleichwohl erörtert werden. (2) Die Anwendung der Analogie im Bereich des Völkerstrafrechts Neben einer bestehenden Regelungslücke setzt die Annahme einer Analogie eine parallele rechtliche Interessenlage voraus. Von einer Übertragung auf internationale Organisationen ausgenommen sind solche Normen, deren Geltung auf der Struktur staatlicher Verfasstheit beruht.419 Die Beurteilung einer Rechtsähnlichkeit der Tatbestände als Voraussetzung analoger Normanwendung erfordert einen wertenden Vergleich des nationalen und internationalen Strafrechts. Da die Übertragung gewohnheitsrechtlicher Prozessstandards eine Entsprechung staatlicher und internationaler Verfahrensanforderungen verlangt, kann eine unterschiedliche Bewertung des Völkerstrafrechts Grundlage für divergierende Schutzstandards sein. An dieser Stelle sei an die Aussage der Hauptverfahrenskammer des ICTY erinnert, die eine äquivalente Bindung völkerstrafrechtlicher Tribunale an rechtsstaatliche Prozessgrundsätze unter Hinweis auf die abweichenden Prämissen nationaler Strafverfahren abgelehnt hatte.420 Die dogmatische Herleitung gewohnheitsrechtlicher Prinzipien im Wege der Analogie birgt die Gefahr, dem Angeklagten prozessuale Rechte aufgrund der Besonderheiten des Völkerrechts zu versagen. Unter Berufung auf eine vermeintliche Verschiedenheit nationaler und internationaler Verfahrensordnungen könnten die rechtsstaatlichen Anforderungen des Völkergewohnheitsrechts als Maßstäbe für die Prozessgestaltung ausgeschlossen werden. Ein faires Verfahren nach den Grundsätzen des Gewohnheitsrechts wäre nicht zwingende normative Konsequenz, sondern abhängig von der Annahme rechtlicher Vergleichbarkeit. Eine tatsächliche Gegenüberstellung staatlicher und internationaler Strafprozesse zeigt jedoch die Identität ihrer Ansprüche und Zielsetzungen. Um den Vorwurf der Siegerjustiz und bestehende Zweifel an der Legitimität völkerstrafrechtlicher Verfahren zu entkräften, müssen die Rechte des Angeklagten in besonderem Maße geachtet werden. Ein rechtserheblicher Unterschied zwischen Strafverfahren auf nationaler und internationaler Ebene ist angesichts der entsprechenden Zweckorientierung an den Vorgaben von Gerechtigkeit und effektiver Strafverfolgung nicht begründbar. Die Geltung rechtsstaatlicher Anforderungen für das Verfahren internationaler Organisationen könnte daher grundsätzlich auf eine analoge Anwendung des allgemeinen Völkerrechts gestützt werden. „As far as procedural criminal law is concerned, an international criminal trial is an issue of trial of accused persons, as is the case in national trials. Therefore, international criminal Siehe hierzu Kapitel B. II. 1. Vgl. die Stellungnahme des ICTY Trial Chambers oben, Kapitel B. III.; ICTY Tadić, Decision on the Prosecutor’s Motion Requesting Protective Measures for Victimes and Witnesses, IT-94-1-T, 10. August 1995, Rn. 28. 419 420

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trials are not substantially different from the trial of accused persons before national courts. This is another basic analogy between national criminal law and international criminal law.“421

bb) Der eigenständige Nachweis einer gewohnheitsrechtlichen Praxis internationaler Organisationen Wird die Anwendung des Analogiegedankens für das Völkerrecht ausgeschlossen, muss eine gewohnheitsrechtliche Verpflichtung internationaler Organisationen durch eigene Rechtspraxis begründet werden.422 Meerpohl lehnt eine obligatorische Übertragung völkerrechtlicher Grundsätze mit Hinweis auf die Sonderstellung internationaler Organisationen ab. Nach Auffassung Meerpohls würde eine unmittelbare Anwendung des allgemeinen Völkerrechts der autonomen Rechtssubjektivität zwischenstaatlicher Einrichtungen nicht gerecht.423 Während allgemeine Rechtsgrundsätze als Grundprinzipien der Völkerrechtsordnung unterschiedslos wirken,424 sei der Geltungsgrund völkerrechtlichen Gewohnheitsrechts aus dem Verhalten der internationalen Organisationen selbst abzuleiten.425 Wenngleich eine aktive Teilnahme zwischenstaatlicher Einrichtungen an der Herausbildung gewohnheitsrechtlicher Regeln nicht erforderlich sei, müsse seitens der Organisation ein entsprechender Vertrauenstatbestand geschaffen werden.426 Notwendige Voraussetzung für die Verpflichtung auf rechtsstaatliche Verfahrensanforderungen wäre hiernach die Manifestation eines normativen Bindungswillens der beteiligten Verbände.427 Meerpohls genereller Einwand wird von Annacker nach den Innen- und Außenverhältnissen einer internationalen Organisation differenziert. Annacker beschränkt eine analoge Anwendung von Völkergewohnheitsrecht auf ihr Handeln in internationalen Beziehungen zu dritten Akteuren.428 Ein eigenständiger Rechtsbindungswille zwischenstaatlicher Organisationen sei allein im Hinblick auf Maßnahmen gegenüber ihren Mitgliedstaaten und der Gestaltung interner Regelungen zu fordern.429 Dahm / Delbrück / Wolfrum grenzen die Zulässigkeit einer gewohnheitsrechtlichen Bindung internationaler Organisationen noch weitgehender ein. Nach ihrer Auffassung knüpft sich die Möglichkeit einer Begründung von Gewohnheitsrecht an die Ermächtigung der internationalen Organisation zur selbRaimondo, General Principles, 2008, S. 189 f. Kiderlen, Von Triest nach Osttimor, 2008, S. 284. 423 Meerpohl, Individualsanktionen, 2008, S. 125. 424 Bleckmann, ZaöRV 37 / 1 (1977), S. 107 (109). 425 Meerpohl, Individualsanktionen, 2008, S. 126. 426 Meerpohl, Individualsanktionen, 2008, S. 126. 427 Bleckmann, ZaöRV 37 / 1 (1977), S. 107 (111). 428 Annacker, Der fehlerhafte Rechtsakt, 1998, S. 61 ff. So auch Frank, Verantwortlichkeit, 1999, S. 137. Die Geltung im Außenverhältnis wird bestätigt durch EuGH Ahlström Osakeyhtiö u. a. v. Kommission, Rs 89 / 85, 31. März 1993, Slg. 1993, I-1307. 429 Frank, Verantwortlichkeit, 1999, S. 137. 421 422

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ständigen Rechtsetzung.430 Eine Differenzierung zwischen internationalen Organisationen nach Maßgabe ihrer normativen Befugnisse überzeugt jedoch nicht. Die Entstehung von Gewohnheitsrecht als Ausdruck internationaler Übung steht in keinem notwendigen Zusammenhang zur Übertragung einer Vertragsabschlusskompetenz. Der Nachweis von Gewohnheitsrecht durch internationale Organisationen setzt eine Festlegung eindeutiger Maßstäbe für die Bestimmung rechtlich relevanter Praxis voraus. Entscheidende Grundlage für die Ermittlung einer konstanten Übung ist die Frage nach ihrer Zurechenbarkeit zum Wirkungskreis der Organisation. Um den Nachweis für die gewohnheitsrechtliche Geltung einer Norm erbringen zu können, muss ein Akt persönlich oder sachlich auf die internationale Organisation rückführbar sein. Dies ist bei Äußerungen von Personen unproblematisch, die als Amtsinhaber durch die Organisation legitimiert sind. So besteht kein Zweifel, dass Aussagen des Generalsekretärs den Vereinten Nationen zugerechnet werden können. Schwierigkeiten bereitet hingegen die Einordnung staatlicher Handlungen innerhalb internationaler Organisationen. Konstituiert sich eine internationale Organisation durch ihre Mitgliedsstaaten, ist eine trennscharfe Abgrenzung ihrer Praxis nicht möglich. Ob ein Staatenvertreter in einer Versammlung der Vereinten Nationen ausschließlich seinen Heimatstaat repräsentieren oder eine Haltung der Organisation widerspiegeln will, kann angesichts seiner notwendigen Doppelrolle nicht mit Sicherheit beantwortet werden. Eine zurechenbare Übung ist jedenfalls anzunehmen, wenn sich die internationale Organisation die Handlung des agierenden Staates durch Beschluss, Resolution oder Stellungnahme zu Eigen macht. Fehlt eine ausdrückliche Bezugnahme, muss die Frage der Zurechnung durch Wertung im Einzelfall bestimmt werden. Hierbei sind insbesondere der inhaltliche Kontext sowie die konkreten Umstände einer Aussage zu berücksichtigen. Die vergangene Übung der Vereinten Nationen belegt eine wirksame Anerkennung prozessualer Rechte.431 Die Wahrung von Rechtsstaatlichkeit wird in der Praxis der Organisation als wesentliches Ziel ihrer internationalen Tätigkeit proklamiert.432 Speziell für die Wahrnehmung einer Übergangsverwaltung im Kosovo und in Ost-Timor gelten die Maßstäbe des Völkergewohnheitsrechts entsprechend. Die internen Verhaltensanweisungen für die Angestellten der UNMIK belegen beispielhaft die Begründung einer hinreichenden Rechtspraxis. „In exercising their functions, all persons undertaking public duties or holding public office in Kosovo shall observe internationally recognized human rights standards.“433

Dahm / Delbrück / Wolfrum, Völkerrecht, Bd. I / 1, 1989, S. 56. Meerpohl, Individualsanktionen, 2008, S. 126. 432 Siehe beispielsweise Report of the Secretary-General, The Rule of Law at the National and International Levels: Comments and Information Received from Governments: 6. September 2007, Stellungnahme der Schweiz, Doc. A.6 / 61 / SR.7, Rn. 8; Stellungnahme Chile, A / C.6 / 62 / SR.16, Rn. 9; Stellungnahme Kuba, Doc. A / C.6 / 62 / SR.15, Rn. 9. 433 UN Doc.UNMIK / REG / 1991 / 1, Section 2. 430 431

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Im Hinblick auf das gerichtliche Verfahren stellte der Generalsekretär der Vereinten Nationen ausdrücklich eine Verpflichtung zur Einhaltung menschenrechtlicher Standards fest. „United Nations-operated facilities must scrupulously comply with international standards for human rights in the administration of justice.“434

Ein weiterer Rückschluss auf die Geltung von Gewohnheitsrecht lässt sich aus der vergleichbaren Problematik der Anwendung humanitären Völkerrechts ziehen. In seinem Bericht erklärte der Generalsekretär das allgemeine Völkerrecht als normative Richtlinie für die Einsätze der Vereinten Nationen in bewaffneten Konflikten. „The fundamental principles and rules of international humanitarian law set out in the present bulletin are applicable to United Nations forces when in situations of armed conflict.“435

Für den Internationalen Strafgerichtshof lässt sich der Nachweis von Praxis und Rechtsüberzeugung bereits aufgrund seiner normativen Grundlagen erbringen. Wie noch zu zeigen sein wird, ist das Statut des ICC an den rechtsstaatlichen Gewährleistungen des Völkergewohnheitsrechts ausgerichtet.436 Im Ergebnis kann eine Bindung internationaler Organisationen an das allgemeine Völkerrecht sowohl im Wege der Analogie als auch durch den konkreten Nachweis gewohnheitsrechtlicher Anerkennung begründet werden.

b) Die Bindung des Sicherheitsrates an das allgemeine Völkerrecht Aufgrund seiner besonderen Stellung im System der Vereinten Nationen könnte der Sicherheitsrat von der generellen Bindung internationaler Organisationen an das allgemeine Völkerrecht ausgenommen sein. Nach den Grundsätzen der Behrami und Saramati-Entscheidung kann die Bedeutung des Sicherheitsrates als friedenswahrendes Organ der Staatengemeinschaft eine mögliche Ausnahme von gewohnheitsrechtlichen Pflichten rechtfertigen.437 Die Rechtserheblichkeit einer normativen Sonderstellung des Sicherheitsrates wird durch Art. 103 UN-Charta bestätigt, der den Regelungen der Charta grundsätzlich Vorrang vor staatlichen Pflichten einräumt. Eine unmittelbare Verpflichtung des Sicherheitsrates könnte indes mit den gleichen Argumenten angenommen werden wie die völkerrechtliche Bindung seiner Mitglieder. Eine partielle Analogie – insbesondere zu den allgemeinen Rechtsgrund434 Report of the Secretary-General, The Rule of Law and Transitional Justice in Conflict and Post-Conflict Societies, Doc. S / 2004 / 616, 2. August 2004. 435 Secretary-General’s Bulletin, Observance by United Nations Forces of International Humanitarian Law, ST / SGB / 1999 / 13, 6. August 1999, Kapitel 1.1. 436 Siehe hierzu in Kapitel B. III. 3. b) bb). 437 Meerpohl, Individualsanktionen, 2008, S. 131; Hofmann, Rechtskontrolle, in: Hofmann / Reinisch et al. (Hrsg.), Rechtskontrolle von Organen der Staatengemeinschaft, 2007, S. 1 (21 ff.).

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sätzen – wäre für das Völkerstrafrecht folglich begründbar. Wird mit Meerpohl jedoch von der Notwendigkeit einer eigenständigen gewohnheitsrechtlichen Geltung ausgegangen, muss die Anwendbarkeit des allgemeinen Völkerrechts auf Maßnahmen nach Kap. VII UN-Charta mit einer entsprechenden Praxis und Rechtsüberzeugung des Sicherheitsrates nachgewiesen werden. Der Sicherheitsrat bestätigte in verschiedenen Resolutionen die Notwendigkeit einer konsequenten Einhaltung menschenrechtlicher und rechtsstaatlicher Prinzipien.438 In Resolution 1040 (1996) bekundete der Sicherheitsrat erstmals ausdrücklich seine Zustimmung zur „Förderung (…) der Rechtsstaatlichkeit“439 als Bedingung internationaler Kooperation. Friedenssichernde Mandate an der Elfenbeinküste440, in Haiti441 oder im Kongo442 wurden explizit mit dem Ziel der Wahrung von Rechtsstaatlichkeit legitimiert. Das Bekenntnis des Sicherheitsrates zum „Respekt für Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit“443 könnte als Selbstverpflichtung des Organs auf gewohnheitsrechtliche Prozessgrundsätze verstanden werden. Richter Pocar vom ICTY begründete eine Bindung des Tribunals mit der selbst gewählten Verantwortlichkeit der Vereinten Nationen für die Einhaltung rechtsstaatlicher Garantien: „Furthermore, the ICCPR is not only a treaty between States which have ratified it, but, like other human rights treaties also a document that was adopted – unanimously – as a resolution by the General Assembly. As such, it also expresses the view of the General Assembly as to the principles enshrined therein. It would therefore have to be assumed that the Security Council as a UN body, would act in compliance with that declaration of principles of the General Assembly.“444

Der Sicherheitsrat formuliert die Geltung von Rechtsstaatlichkeit als Anforderung an nationales Handeln oder allgemeine Zielvorstellung auf völkerrechtlicher Ebene. Aus der grundsätzlichen Anerkennung rechtsstaatlicher Prämissen kann indes nicht auf eine normative Verbindlichkeit geschlossen werden.445 Die Praxis des Sicherheitsrates belegt keine eindeutige Rechtsverpflichtung, sondern vielmehr eine politische Richtungsvorgabe der Vereinten Nationen. Der empfehlende Charakter gewohnheitsrechtlicher Regelungen wird durch die Annahme von „Soll“-Vorschriften in internationalen Dokumenten bestätigt: „Der Sicherheitsrat sollte gewährleisten, dass die Vereinten Nationen selbst bei allen ihren Maßnahmen zur Wiederherstellung von Frieden und Sicherheit rechtsstaatliche Prinzipien achten.“446 438 Siehe beispielsweise S / RES / 1318 (2000), 7. September 2000, Section I; S / RES / 1040 (1996), Ziff. 2. 439 S / RES / 1040 (1996), Ziff. 2. 440 S / RES / 1528 (2004), 27. Februar 2004, Rn. 6 q. 441 S / RES / 1542 (2004), 30. April 2004, Rn. 7 (I) (d). 442 S / RES / 1756 (2007), 15. Mai 2007, Rn. 3. 443 S / RES / 1318 (2000), 7. September 2000, Section I. 444 ICTR Rutaganda, Dissenting Opinion of Judge Pocar, ICTR-96-3-A, 26. Mai 2003. 445 Meerpohl, Individualsanktionen, 2008, S. 131.

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Eine Grenze seines rechtlichen Entscheidungsspielraums wird dem Sicherheitsrat nach herrschender Auffassung durch das zwingende Völkerrecht – das sogenannte ius cogens – gesetzt.447 Eine überzeugende dogmatische Herleitung dieser These erfolgt auf Grundlage von Art. 53 der Wiener Vertragsrechtskonvention (WVK).448 Hiernach ist ein völkerrechtlicher Vertrag bei Verstoß gegen zwingende Rechtsvorschriften als nichtig anzusehen. Die Übertragung von Hoheitsgewalt auf internationale Gerichte kann demzufolge nur unter Beachtung des ius cogens wirksam geschehen.449 Auch eine teleologische Betrachtung von Art. 103 UN-Charta spricht für einen Anwendungsvorrang des ius cogens gegenüber den Befugnissen des Sicherheitsrats. Im Wege einer systematischen Auslegung beweist die normative Verankerung der Menschenrechte in Art. 1 sowie 55 UN-Charta eine analoge Zielsetzung von Charta und zwingenden Prozessmaximen. Das Verhältnis des Sicherheitsrates zur Rechtsstaatlichkeit nach allgemeinem Völkerrecht wird treffend durch das offene Schreiben des Ständigen Vertreters Österreichs an den Generalsekretär zusammengefasst: „Der Sicherheitsrat ist ein außerordentlich machtvolles Instrument zur Förderung der Rechtsstaatlichkeit auf nationaler wie internationaler Ebene. Seine Legitimität und Wirksamkeit sind jedoch am höchsten, wenn sich auch der Sicherheitsrat selbst der Herrschaft des Rechts unterwirft. Der Tätigkeit des Sicherheitsrats sind gewisse rechtliche Grenzen gesetzt. Streng juristisch gesehen bedeutet dies, dass die Befugnisse des Sicherheitsrats nach Maßgabe der Charta der Vereinten Nationen und der Normen des ius cogens ausgeübt werden.“450

Rechtsverbindlicher Maßstab für die Handlungen des Sicherheitsrats ist daher nicht das allgemeine Völkerrecht in seiner Gesamtheit, sondern ausschließlich die Normen des ius cogens. Welche Gewährleistungen vom zwingenden Völkerrecht erfasst werden, ist im Einzelnen nicht abschließend geklärt. Gemäß Art. 53 WVK setzt die Anerkennung eines Rechtssatzes als ius cogens einen Konsens der Staaten über ein grundsätzliches Abweichungsverbot vom Inhalt der Norm voraus.451 In sei446 Offenes Schreiben des Ständigen Vertreters Österreichs bei den Vereinten Nationen an den Generalsekretär der Vereinten Nationen, A / 63 / 69-S / 2008 / 270, 18. April 2008, Nr. 9. 447 Payandeh, ZaöRV 66 (2006), S. 41 (47); Lorinser, Resolutionen des Sicherheitsrates, 1996, S. 53; White, LJIL 12 / 2 (1999), S. 401 (418); Tomuschat, Human Rights, 2008, S. 90. Kritisch hierzu Krisch, Selbstverteidigung, 2001, S. 307 ff. 448 Art. 53 WVK: „Ein Vertrag ist nichtig, wenn er im Zeitpunkt seines Abschlusses im Widerspruch zu einer zwingenden Norm des allgemeinen Völkerrechts steht. Im Sinne dieses Übereinkommens ist eine zwingende Norm des allgemeinen Völkerrechts eine Norm, die von der internationalen Staatengemeinschaft in ihrer Gesamtheit angenommen und anerkannt wird als eine Norm, von der nicht abgewichen werden darf und die nur durch eine spätere Norm des allgemeinen Völkerrechts derselben Rechtsnatur geändert werden kann.“ 449 Starck, Die Rechtmäßigkeit, 2000, S. 225; Meerpohl, Individualsanktionen, 2008, S. 133. 450 Offenes Schreiben des Ständigen Vertreters Österreichs bei den Vereinten Nationen an den Generalsekretär der Vereinten Nationen, A / 63 / 69-S / 2008 / 270, 18. April 2008. 451 Ausführlich zur Bestimmung von ius cogens: Dahm / Delbrück / Wolfrum, Völkerrecht, Bd. I / 3, 2002, S. 707ff.

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B. Rechtsstaatlichkeit als Maßstab von Strafgerichtsverfahren

ner Entscheidung zum Fall Kayishema and Ruzindana bestätige der ICTR die Geltung rechtsstaatlicher Verfahrensstandards als notwendige Bestandteile des Völkergewohnheitsrechts.452 Das Appeals Chamber des ICTY ging im Tadić-Urteil einen Schritt weiter und klassifizierte die Prozessgarantien aus Art. 14 IPbpR als verbindliches ius cogens: „Article 14 of the ICCPR reflects an imperative norm of international law to which the Tribunal must adhere.“453

In der Literatur wird die Einschätzung des ICTY von Cassese und Lambert-Abdelgawad geteilt.454 Als zwingendes Gebot des Völkerrechts müsste der Grundsatz des fairen Verfahrens bei der Errichtung von Ad-hoc-Tribunalen durch den Sicherheitsrat obligatorisch berücksichtigt werden. Gegen eine Einbeziehung allgemeiner Prozessgrundsätze durch das Rechtsinstitut des ius cogens ist einzuwenden, dass weder der ICTY noch die Vertreter der Literatur eine hinreichende staatliche Anerkennungspraxis nachweisen.455 Um prozessuale Fairness als Norm des ius cogens einordnen zu können, muss eine allgemeine Überzeugung von ihrer ausnahmslosen Geltung belegt werden. Aus diesem Grunde wird die Reichweite des ius cogens vielfach auf die Gewährleistung prozessualer Minimalstandards und die Bestätigung gravierender Verfahrensverstöße wie die Anwendung von Folter beschränkt.456 Solange eine Einigung der Staaten über die Reichweite des ius cogens nicht eindeutig dokumentiert werden kann, müssen die Grenzen des zwingenden Völkerrechts eng gezogen werden. Ob rechtsstaatliche Verfahrensgrundsätze ein für den Sicherheitsrat verbindliches ius cogens darstellen, bleibt daher einstweilen spekulativ.

3. Fazit zur Geltung von Rechtsstaatlichkeit im Völkerstrafrecht a) Zusammenfassung in Thesen Die Geltung rechtsstaatlicher Verfahrensprinzipien für das Prozessrecht internationaler Straftribunale lässt sich folgendermaßen zusammenfassen.  Staaten sind auf internationaler Ebene grundsätzlich an ihre Pflichten aus völkerrechtlichen Verträgen, Völkergewohnheitsrecht und allgemeinen Rechtsgrundsät452 ICTR, Prosecutor v. Kayishema and Ruzindana, Judgment (Reasons), ICTR-95-1-A, 1. Juni 2001, Rn. 51. 453 ICTY, Tadić, Judgment on Allegations of Contempt against Prior Counsel, Milan Vujin, IT-94-1-A-R77, 27. Februar 2001, S. 3. 454 Cassese, International Criminal Law, 2008, S. 395; Lambert-Abdelgawad, Les tribunaux pénaux, in: Delmas-Marty et al. (Hrsg.), Les sources du droit international pénal, 2004, S. 97 (97 ff.). 455 Cassese stellt die Geltung von ius cogens ohne eine Untersuchung der staatlichen Praxis zur Einhaltung der Prozessgarantien aus Art. 14 IPbpR dar. Vgl. Cassese, International Criminal Law, 2008, S. 395. 456 Jahn, Strafrecht, 2004, S. 517 m.w. N.

III. Rechtsstaatlichkeit als Vorgabe für internationale Strafgerichte

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zen gebunden. Nach der hier vertretenen Auffassung setzt sich ihre Verantwortlichkeit für die Einhaltung rechtsstaatlicher Gewährleistungen im Rahmen des Abschlusses eines völkerrechtlichen Gründungsvertrages sowie einer Abstimmung in den Vereinten Nationen oder dem Sicherheitsrat fort. Bei der Einsetzung internationaler Straftribunale müssen die Staaten für die Wahrung rechtsstaatlicher Standards Sorge tragen.  Die Vereinten Nationen und der ICC sind als internationale Organisationen unmittelbar selbst an das allgemeine Völkerrecht gebunden.  Der Sicherheitsrat wird nach bislang herrschender Ansicht lediglich auf Normen des ius cogens verpflichtet.

b) Die Einbeziehung des geltenden Völkerrechts in die Statuten internationaler Strafgerichte Die Idee der Rechtsstaatlichkeit stellt in Form völkervertragsrechtlicher und allgemein völkerrechtlicher Verfahrensanforderungen eine normative Vorgabe für die Prozessgestaltung internationaler Strafgerichte dar. Ein Vergleich der prozessualen Regeln im Statut mit den Bestimmungen des geltenden Völkerrechts zeigt die tatsächliche Umsetzung allgemeiner Verfahrensstandards durch die Gerichte. Als Ausgangspunkt einer Gegenüberstellung wird Art. 14 IPbpR herangezogen, der als Bestandteil eines multilateralen Abkommens sowohl Vertragsnorm als auch Ausdruck gewohnheitsrechtlicher Anerkennung ist. In der exemplarischen Analyse sollen die zentralen Rechte des Beschuldigten in Art. 14 Abs. 3 IPbpR als menschenrechtliche Mindestgarantien des Rechtsstaatsbegriffs in den Blick genommen werden.

aa) Die Einbeziehung völkerrechtlicher Verfahrensrechte in das Statut des ICTY Angesichts seiner besonderen Rolle im Prozess der internationalen Friedenssicherung ist die Reichweite einer rechtlichen Bindung des Sicherheitsrats an die allgemeinen Regeln des Völkerrechts nicht zweifelsfrei geklärt. Art. 20 Abs. 4 ICTYStatut normiert die Beachtung des fairen Verfahrens sowie die Rechte des Angeklagten als allgemeine Zielvorgaben der Prozessgestaltung. Seine Formulierung entspricht wortgetreu der Fassung von Art. 14 Abs. 3 IPbpR und unterstreicht die Intention des Sicherheitsrats zur Gewährleistung eines dem internationalen Menschenrechtsstandard vergleichbaren Schutzniveaus.457

457 Diese Ansicht vertritt auch die Berufungskammer des ICTY, ICTY Krajišnik, Decision on Momcilo Krajišnik’s Request to Self-represent, on Counsel’s Motion in Relation to Appointment of Amicus Curiae, and on the Prosecution Motion of 6 February 2007, IT-00-39-A, 11. Mai 2007, Rn. 12.

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B. Rechtsstaatlichkeit als Maßstab von Strafgerichtsverfahren

bb) Die Einbeziehung völkerrechtlicher Verfahrensrechte in das Statut des ICC Art. 67 ICC-Statut lehnt sich in weiten Teilen ebenfalls wörtlich an die Prozessgarantien des Art. 14 IPbpR an. Art. 67 ICC-Statut präzisiert Art. 14 IPbpR und ergänzt den normierten Mindeststandard durch die Einbeziehung völkerstrafrechtlicher Verfahrensbesonderheiten. In Art. 67 Abs. 1 lit. b ICC-Statut wird der Anspruch des Angeklagten auf den Verkehr mit seinem Verteidiger um die Gewährleistung der freien und vertraulichen Kommunikation erweitert. Art. 67 Abs. 1 lit. g ICC-Statut stellt klar, dass ein Schweigen des Angeklagten als legitime Folge seines Aussageverweigerungsrechts nicht zu seinen Lasten gewertet werden darf. Ferner wird das Recht auf Verhandlung in eigener Sprache in Art. 67 Abs. 1 lit. f ICC-Statut um einen konkreten Anspruch auf die Übersetzung schriftlicher Dokumente ergänzt. Diese Modifikation der vertraglichen Vorgabe aus Art. 14 IPbpR trägt dem internationalen Charakter des Verfahrens durch die Beteiligung von Parteien mit unterschiedlich nationalen und sprachlichen Hintergründen Rechnung. Die Intention zur Umsetzung völkerrechtlicher Menschenrechtsnormen zeigt sich zudem in der Festlegung des anwendbaren Rechts durch Art. 21 ICC-Statut.458 In Art. 21 Abs. 1 lit. b ICC-Statut werden „anwendbare Verträge sowie die Grundsätze und Regeln des Völkerrechts“ als sekundäre Rechtsquellen des Gerichtshofs benannt. Neben der Einbeziehung von Völkerrecht als unmittelbar geltende Verfahrensnormen werden international anerkannte Menschenrechte nach Art. 21 Abs. 3 ICC-Statut im Rahmen der Auslegung von Primärrecht berücksichtigt.459 cc) Die Einbeziehung völkerrechtlicher Verfahrensrechte in das Recht der Außerordentlichen Kammern in Kambodscha Als Vertragspartei des IPbpR war Kambodscha bei Gründung der ECCC zur Gewährleistung der rechtsstaatlichen Verfahrensstandards aus Art. 14 des Paktes verpflichtet.460 Art. 13 des Agreements (ECCC-Agreement) sowie Art. 33 des Law of the Establishment (ECCC-LoE) setzen die vertragliche Verantwortung des Staates durch eine explizite Bezugnahme auf die prozessualen Voraussetzungen des IPbpR um. „Art. 33 ECCC-LoE461 The Extraordinary Chambers of the trial court shall exercise their jurisdiction in accordance with international standards of justice, fairness and due process of law, as set out in Articles 14 and 15 of the 1966 International Covenant on Civil and Political Rights.“ Hierzu ausführlich in Kapitel C. II. 1. b) bb). Art. 21 III ICC-Statut: „The application and interpretation of law persuant to this article must be consistent with internationally recognized human rights.“ 460 Kambodscha ratifizierte den IPbpR am 26 May 1992, vgl. United Nations Treaty Collection, UN Chapter IV Human Rights, 4. International Covenant on Civil and Political Rights, New York 26.12.1966, 24.05.2010 (letzter Zugriff am 24.05.2010). 461 Den Untersuchungen wird grundsätzlich der englische Wortlaut zugrunde gelegt. Um die Vergleichbarkeit der internationalen Statuten zu gewährleisten, bedarf es einer sprachlich 458 459

IV. Gang der Untersuchung

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Entsprechend orientiert sich die Formulierung der Rechte des Angeklagten in Art. 35 ECCC-LoE an den Vorgaben aus Art. 14 IPbpR. Die Verfahrensnorm nimmt gegenüber Art. 14 IPbpR lediglich zwei inhaltliche Änderungen vor. Durch den Verzicht auf das Erfordernis eines objektiven Gerechtigkeitsinteresses erleichtert Art. 35 lit. d ECCC-LoE die Beiziehung eines unentgeltlichen Rechtsbeistandes im Interesse eines mittellosen Angeklagten. Vor dem Hintergrund der besonderen Regelungen der ECCC zum Schutze von Zeugen formuliert Art. 35 lit. e ECCC-LoE einen allgemeinen Anspruch des Angeklagten auf gleichberechtigte Einsicht und Beibringung von Beweismitteln. Die Verfahrensordnungen internationaler Tribunale nehmen völkerrechtliche Mindeststandards zum Schutze des Angeklagten ausdrücklich auf. Die weitgehend wörtliche Entsprechung der Prozessnormen kann als Ausdruck einer internationalen Bemühung um eine normative Integration des geltenden Konventions- und Gewohnheitsrechts verstanden werden.

IV. Gang der Untersuchung Aus der Geltung von Rechtsstaatlichkeit als Handlungsmaßstab internationaler Strafgerichte ergeben sich Konsequenzen für den Gang der Untersuchung. Eine Betrachtung der Rechtsquellen des Völkerrechts hat die Verbindlichkeit rechtsstaatlicher Prozessgarantien für das internationale Strafverfahren belegt. Völkerstrafrechtliche Tribunale sind dem Grundsatz prozessualer Fairness verpflichtet und müssen die wesentlichen Verfahrensansprüche des Beschuldigten beachten. Die Statuten internationaler Gerichte setzen die rechtsstaatlichen Vorgaben des geltenden Völkerrechts normativ um. Mit der Definition allgemeiner Verfahrensrechte gewähren die Bestimmungen jedoch lediglich ein Mindestmaß an rechtsstaatlichem Schutz. Um ein gerechtes Verfahren im Einzelfall zu verwirklichen, müssen Reichweite und Grenzen der prozessualen Schutzbereiche bestimmt werden. Der Ausgleich verschiedener Verfahrensinteressen erfordert die Gewichtung und Abgrenzung rechtsstaatlicher Belange durch eine Konkretisierung der rechtsstaatlichen Anforderungen. Ein internationaler Menschenrechtsstandard, der einen praktikablen Maßstab für die konkrete Ausgestaltung des Prozessverlaufs darstellen kann, hat sich bislang nicht herausgebildet. Wie lassen sich die rechtsstaatlichen Ansprüche an das völkerstrafrechtliche Verfahren präzisieren? Wie eingangs erörtert, entfaltet sich die Idee der Rechtsstaatlichkeit in einer gerechten Abwägung individueller Prozessrechte mit einer effektiven Durchsetzung des hoheitlichen Strafanspruchs. Sind prozessuale Gewährleistungen nicht rechtsverbindlich festgelegt, bestehen Spielräume in der Ausformung eines einheitlichen Fassung. Da für einige Normtexte – wie dem ECCC-LoE – bislang keine offizielle deutsche Übersetzung existiert, würde eine Gegenüberstellung des jeweiligen Wortlauts erschwert.

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B. Rechtsstaatlichkeit als Maßstab von Strafgerichtsverfahren

internationalen Verfahrensrechts. Es gilt daher zu bestimmen, nach welchen Kriterien ein Ausgleich der Rechtsgüter erfolgen soll. Die vorliegende Arbeit bedient sich hierzu der deutschen Rechtstradition, nach der die Festlegung einer verhältnismäßigen Abwägung die Prüfung von Eignung, Erforderlichkeit und Angemessenheit der wechselseitigen Einschränkung voraussetzt. Die Bedingungen von Geeignetheit und Erforderlichkeit dienen einer praktischen Effektivitätskontrolle, deren Prämissen von einer inhaltlichen Bewertung der Rechtsgüter unabhängig sind. Demgegenüber verlangt die Kernfrage der Angemessenheit nach einem materiellen Vergleich sowie einer umfassenden Würdigung des Abwägungsgegenstandes. Aufgrund der Offenheit des Rechtsstaatsbegriffs beruht die Ermittlung eines optimalen Verhältnisses von Fairness und Effektivität im Strafprozess auf einer subjektiven Wertung. Die inhaltliche Gewichtung der Rechtsgüter stellt keine eindeutig bestimmbare Rechtsfrage dar, sondern setzt zugleich eine politische Entscheidung voraus. Ziel der vorliegenden Arbeit ist daher nicht allein die Anwendung völkerrechtlich zwingender Mindeststandards, sondern die Untersuchung bestehender Verfahrensregelungen vor dem Hintergrund einer bestmöglichen Umsetzung rechtsstaatlicher Grundsätze. Ist Rechtsstaatlichkeit auf völkerrechtlicher Ebene als politisches Ziel internationaler Tätigkeit zu verstehen,462 kann sie methodisch als Richtschnur für die Konkretisierung prozessualer Fragen dienen. Eine rechtsstaatliche Optimallösung ist nach der entwickelten Begriffsbestimmung das Ergebnis einer gerechten Abwägung zwischen den Geboten prozessualer Fairness und der Durchsetzung des internationalen Strafanspruchs.463 Nur wenn die Statuten im Rahmen eines verhältnismäßigen Ausgleichs tatsächlich beide Verfahrenszwecke garantieren, können sie dem erklärten Ziel rechtsstaatlichen Handelns genügen. Die Festlegung rechtsstaat462 Die Überzeugung von der Erforderlichkeit rechtsstaatlicher Grundsätze findet sich in diversen Dokumenten. Report of the Panel on United Nations Peace Operations, 23. August 2000, Rn. 6, http://www.securitycouncilreport.org/atf/cf/%7B65BFCF9B-6D27-4E9C-8CD3CF6E4FF96FF9/%7D/PKO%20A55305.pdf (zuletzt besucht am 25. Mai 2010). Im sog. Brahimi-Report heißt es beispielsweise: „It is of essential importance of the United Nations system adhering to and promoting international rights instruments and standards and international humanitarian law in all aspects of its peace and security activities.“ In seinem offenen Schreiben vom 18. April 2008 an den Generalsekretär betont der Ständige Vertreter Österreichs bei den Vereinten Nationen die „Wichtigkeit der Rechtsstaatlichkeit bei allen Einsätzen der Vereinten Nationen“ (Rn. 22). Nach Ansicht des Vertreters habe „nichts (…) die Glaubwürdigkeit der im Namen des Sicherheitsrates Handelnden mehr untergraben als die Begehung von Missbräuchen durch diejenigen, die entsandt werden, um eine schutzbedürftige Bevölkerung zu schützen“ (Rn. 24). Er fordert: „Der SiR sollte gewährleisten, dass die VN selbst bei allen ihren Maßnahmen zur Wiederherstellung von Frieden und Sicherheit rechtsstaatliche Prinzipien achten.“ (Rn. 9); Schreiben des Ständigen Vertreters Österreichs bei den Vereinten Nationen vom 18. April 2008 an den Generalsekretär, A / 63 / 69-S / 2008 / 270, http://www.un.org/Depts/ german/gv-sonst/a63-69-s08-270.pdf (zuletzt besucht am 25. Mai 2010). 463 Siehe hierzu Kapitel B. I. 5. c).

IV. Gang der Untersuchung

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licher Anforderungen muss daher grundsätzlich als das Ergebnis einer rechtspolitischen Entscheidung verstanden werden. Ihre konkrete Bestimmung im Rahmen des internationalen Prozessrechts setzt eine grundlegende Gewichtung der Verfahrensziele voraus. Wesentliche Bedeutung kommt der Frage zu, ob der öffentliche Strafanspruch und die Rechtswahrung des Angeklagten als prinzipiell gleichrangige Rechtsgüter zu verstehen sind. Als politische Frage ist die Bewertung rechtsstaatlicher Prozessgrundsätze abhängig vom Verständnis der Hintergründe und Ziele völkerstrafrechtlicher Verfahren. Wie bereits dargelegt, kann der Charakter des völkerrechtlichen Strafverfahrens kein geringeres Schutzniveau menschenrechtlicher Verfahrensgarantien begründen.464 Der Annahme einer Sonderstellung internationaler Tribunale, die eine weitgehende Einschränkung von Verfahrensrechten aus Gründen der Prozessökonomie rechtfertige, muss folglich widersprochen werden. Um die Legitimation der Gerichte gegenüber dem Vorwurf von Siegerjustiz zu rechtfertigen, muss das Prinzip der prozessualen Fairness nach bestehenden Standards verwirklicht werden. Die Entwicklung des Völkerstrafrechts aus der Idee eines universellen Menschenrechtsschutzes gebietet die konsequente Umsetzung der Rechte des Angeklagten durch internationale Tribunale. Zugleich kann die Schwere völkerstrafrechtlicher Verbrechen vor dem Hintergrund der Unschuldsvermutung kein relevanter Faktor für die Gewichtung des prozessualen Rechtsschutzes sein.465 Die nachfolgende Untersuchung des internationalen Strafprozessrechts geht von einer prinzipiellen Gleichwertigkeit eines effektiven Verfahrens und der Gewährleistung individueller Prozessrechte aus. Aus methodischer Sicht ist es Ziel der vorliegenden Arbeit, das geltende Verfahrensrecht im Hinblick auf die Verwirklichung einer gerechten Abwägung rechtsstaatlicher Grundsätze zu bewerten. Die Beurteilung internationaler Gerichtsstatuten nach dem Maßstab der Rechtsstaatlichkeit stellt den rechtspolitischen Versuch eines optimalen Ausgleichs zwischen den Belangen prozessualer Fairness und einer wirksamen Realisierung des internationalen Strafanspruchs dar. Gegenstand der vergleichenden Analyse sind Rechtsquellen und Praxis der Ad-hoc-Tribunale am Beispiel des ICTY, des Internationalen Strafgerichtshofs sowie der hybriden Gerichtsbarkeit unter maßgeblicher Berücksichtigung der ECCC. Die Verfahrensregelungen der Tribunale sollen im Hinblick auf die Verwirklichung einer rechtsstaatlichen Optimallösung geprüft und Verbesserungsvorschläge formuliert werden.

Siehe hierzu Kapitel B. I. 5. c). Insofern bedenklich ist die Argumentation des ICTY Trial Chambers im Fall Tadić, die das Ausmaß der Verbrechen in die Überlegungen zum Menschenrechtsstandard mit einbezieht („crimes which are considered so horrific as to warrant universal jurisdiction“), ICTY Tadić, Decision on the Prosecutor’s Motion Requesting Protective Measures for Victimes and Witnesses, IT-94-1-T, 10. August 1995, Rn. 28. 464 465

C. Institutionelle und verfahrensrechtliche Umsetzung von Rechtsstaatlichkeit an internationalen Straftribunalen Die Entstehung internationaler Strafgerichte und ihrer Prozessordnungen stellt die Grundlage für eine Gewährleistung rechtsstaatlicher Verfahrensanforderungen dar. Das Verständnis von Gemeinsamkeiten und Unterschieden internationaler Prozessregelungen erfordert eine Untersuchung der Auswirkungen des Gründungsverfahrens auf die rechtlichen Strukturen der Gerichte. Neben einem Überblick über die Jurisdiktion und historische Rolle der Tribunale sollen rechtsstaatliche Fragen im Rahmen des Gründungsaktes durch die Staatengemeinschaft erörtert werden. In einem zweiten Schritt wird der Erlass der Verfahrensordnungen internationaler Strafgerichte im Hinblick auf die Verwirklichung menschenrechtlicher Prozessgarantien diskutiert. Maßstäbe einer wertenden Darstellung der Normsetzung sollen rechtsstaatliche Grundvoraussetzungen wie die Gewährleistung von Gewaltenteilung und Rechtssicherheit sein. Zuletzt gilt es, die Prägung der Verfahrenspraxis durch den angloamerikanischen oder kontinentaleuropäischen Rechtskreis zu bestimmen. Ein Vergleich der Gerichte soll zeigen, welchen Einfluss die Gründungsvorgänge auf die generelle verfahrensrechtliche Ausrichtung der Straftribunale nehmen. Methodisch wird die Darstellung der prozessualen Entwicklung mit einer wertenden Betrachtung der im Zusammenhang stehenden Rechtsfragen verbunden. Das Ineinandergreifen von Analyse und Deskription soll eine unmittelbare Reflexion der Entwicklungen und Herausforderungen völkerstrafrechtlicher Tribunale ermöglichen.

I. Die Entstehung der internationalen Strafgerichtsbarkeit Ein erster Versuch, individuelle Strafbarkeit auf völkerrechtlicher Ebene zu implementieren, erfolgte durch den Vertrag von Versailles, der die Möglichkeit einer Anklage des deutschen Kaisers Wilhelm II. wegen internationaler Verbrechen vorsah.1 Wenngleich das Verfahren an der Weigerung der Niederlande zur Auslieferung des ins Exil geflohenen Kaisers scheiterte, war der gedankliche Grundstein für die Anerkennung völkerstrafrechtlicher Verantwortung gelegt. Die tatsächliche Umset1 Art. 227 Versailler Vertrag: „Die alliierten und assoziierten Mächte stellen Wilhelm II. von Hohenzollern, ehemaligen Deutschen Kaiser, unter öffentliche Anklage wegen schwerster Verletzung der internationalen Moral und der Heiligkeit der Verträge. Ein besonderer Gerichtshof wird gebildet werden, um den Angeklagten unter Wahrung der wesentlichen Bürgschaften seines Verteidigungsrechtes zu richten.“

I. Die Entstehung der internationalen Strafgerichtsbarkeit

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zung der Idee einer internationalen Strafgerichtsbarkeit erfolgte mit Ende des Zweiten Weltkrieges als Reaktion auf die Verbrechen des Nationalsozialismus. Am 8. August 1945 beschlossen die vier Siegermächte das Statut des Internationalen Militärgerichtshofs von Nürnberg (IMG-Statut) als rechtliche Grundlage der nachfolgenden Kriegsverbrecherprozesse in Nürnberg und Tokyo.2 Durch die normative Festlegung internationaler Verbrechen wurde dem Ziel einer individuellen strafrechtlichen Sanktionierung erstmalig wirksam Vorrang vor der Wahrung staatlicher Souveränität und völkerrechtlicher Immunität eingeräumt. Trotz der kritischen Stimmen, die das Verfahren als Siegerjustiz verurteilten, kann die Unterzeichnung des IMG-Statutes zu Recht als „Geburtsstunde des Völkerstrafrechts“3 bezeichnet werden. Die Prozesse in Nürnberg und Tokyo legten den rechtlichen wie politischen Grundstein für die bedeutende Fortentwicklung des Völkerstrafrechts, die sich zum Ende des 20. Jahrhunderts vollzog. Die Entstehung völkerstrafrechtlicher Gerichte war Ausdruck eines gewandelten Aufgabenverständnisses der internationalen Gemeinschaft. Nach der historisch begründeten staatszentrierten Sichtweise des Völkerrechts waren in erster Linie Staaten als Völkerrechtssubjekte Adressaten internationaler Rechte und Pflichten.4 Mit der Erfahrung des Zweiten Weltkrieges wurde die Völkerrechtsgemeinschaft vor neue Herausforderungen gestellt, die das Bedürfnis nach einem internationalen Menschenrechtsschutz begründeten.5 Die Überzeugung von der Notwendigkeit völkerrechtlicher Schutzmechanismen und die Entstehung menschenrechtlicher Verträge prägen das Bild des modernen Völkerrechts. War das internationale Recht bislang primär ein Recht der Staaten, so entwickelte es sich im Laufe des 20. Jahrhunderts zunehmend zu einem tatsächlichen „Recht der Völker“6. Vor dem Hintergrund der veränderten Prämissen des Völkerrechts trat die Bedeutung staatlicher Souveränität hinter dem Bedürfnis des effektiven Menschenrechtsschutzes zurück und eröffnete die Möglichkeit einer völkerrechtlichen Bestrafung internationaler Verbrechen. Die Entstehung des Völkerstrafrechts ist daher im Wesentlichen eine Konsequenz der internationalen Menschenrechtsentwicklung. Zugleich dienen internationale Strafgerichte als Instrument der globalen Friedenssicherung im 21. Jahrhundert. Nach modernem Völkerrechtsverständnis wird eine Bedrohung der internationalen Sicherheit nicht mehr allein im Falle zwischenstaatlicher Auseinandersetzungen, sondern ebenso bei massiven Menschenrechtsverletzungen gesehen.7 Als Gefahr für den Frieden berührt die Begehung völkerstrafrechtlicher Verbrechen einen zentralen 2 Das in Tokyo geltende Statut des Internationalen Militärgerichtshofs für den fernen Osten (IMGFO-Statut) gibt die Bestimmungen des IMG-Statuts fast wörtlich wieder. 3 Werle, Völkerstrafrecht, 2007, Rn. 14. 4 Kunig, Völkerrecht, in: Dupuy (Hrsg.), Völkerrecht als Wertordnung, FS Tomuschat, 2006, S. 377 (378). 5 Kälin / Künzli, Universeller Menschenrechtsschutz, 2008, S. 229. 6 Kunig, Völkerrecht, in: Dupuy (Hrsg.), Völkerrecht als Wertordnung, FS Tomuschat, 2006, S. 377 (377). 7 Ipsen, Völkerrecht, 2004, § 60 Rn. 8.

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C. Rechtsstaatlichkeit an internationalen Straftribunalen

Aufgabenbereich der Vereinten Nationen und begründet die Forderung nach der Einsetzung überstaatlicher Gerichte.

1. Die Gründung der Ad-hoc-Tribunale für Jugoslawien und Ruanda Bestrebungen, die in Nürnberg und Tokyo entwickelten Prinzipien durch die Errichtung eines permanenten internationalen Strafgerichtshof institutionell zu festigen, scheiterten vorerst an der faktischen Handlungsunfähigkeit der Vereinten Nationen in der Zeit des Kalten Krieges. Die erneute Bereitschaft, einen Konsens über die wirksame Sanktionierung von Verbrechen unter staatlicher Beteiligung zu erwirken, entstand erst mit den politischen Veränderungen zu Beginn der neunziger Jahre. Anlass für das Interesse der Vereinten Nationen an der Gründung eines internationalen Gerichts waren die schweren Menschenrechtsverletzungen auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens seit 1991 sowie der Völkermord an den Tutsi im ruandischen Bürgerkrieg. Der Sicherheitsrat beurteilte die Lage in den Krisengebieten als Gefahr für den Frieden und die internationale Sicherheit nach Kapitel VII der UN-Charta. Auf Grundlage von Art. 39 UN-Charta beschloss er die Einsetzung internationaler Tribunale zur Aburteilung der völkerrechtlichen Verbrechen im ehemaligen Jugoslawien durch Resolution 827 (1993)8 sowie für Ruanda durch Resolution 955 (1994)9. Der ICTY mit Sitz in Den Haag wurde zur Aufarbeitung völkerrechtlicher Verbrechen auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens legitimiert. Seine Jurisdiktion erfasst Kriegsverbrechen, Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die seit dem 1. Januar 1991 auf jugoslawischem Boden verübt wurden. Der ICTY diente als Vorbild für die Errichtung des Ruanda-Tribunals. Der nach den rechtlichen und organisatorischen Vorgaben des ICTY in Arusha geschaffene ICTR10 sollte über Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen während der internen Konflikte im Jahre 1994 entscheiden. Mangels expliziter Befugnis zur Schaffung einer völkerrechtlichen Strafgerichtsbarkeit stützte sich der Sicherheitsrat auf die allgemeine Ermächtigung zur Ergreifung nichtmilitärischer Maßnahmen der Friedenssicherung in Art. 41 UN-Charta. Die Ad-hoc-Tribunale wurden gem. Artt. 19, 7 Abs. 2 UN-Charta als Nebenorgane des Sicherheitsrates errichtet, wodurch sich ihr Vorrang vor nationaler Gerichtsbarkeit und die Verpflichtung der beteiligten Staaten zu umfassender Kooperation be8 Auf Vorschlag einer vom Sicherheitsrat eingesetzten unabhängigen Expertenkommission beschloss der Sicherheitsrat mit Resolution 808 v. 22. Februar 1993 (UN Doc. S / RES / 808) die Einrichtung des internationalen Gerichtes. Mit Resolution 827 v. 25. Mai 1993 (UN Doc. S / RES / 827) errichtete der Sicherheitsrat den ICTY und beschloss dessen Statut. 9 UN Doc. S / RES / 955 v. 8. November 1994. 10 Ein Beispiel für die institutionelle Verschränkung der Tribunale ist die Rolle des Chefanklägers, der bis 2003 für beide Gerichtshöfe zuständig war.

I. Die Entstehung der internationalen Strafgerichtsbarkeit

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gründet.11 Das Vorgehen des Sicherheitsrats wurde in der völkerrechtlichen Literatur erheblich kritisiert12 und von der Verteidigung zum Anlass genommen, die Rechtmäßigkeit der Tribunale zu bezweifeln.13 Wesentlicher Gegenstand der Kritik ist die Verletzung staatlicher Souveränität aufgrund der fehlenden Legitimation des Sicherheitsrats zur Einsetzung von Judikativorganen. Die Verfolgung von Verbrechen in souveränen Staaten durch eine völkerrechtliche Instanz stelle eine bedeutende Neuerung im System der Vereinten Nationen dar, die nach Ansicht der Kritiker nur durch einen vertraglichen Konsens legitimiert werden konnte.14 In seinem Urteil zum Fall Tadić setzte sich der ICTY ausführlich mit den erhobenen Vorwürfen auseinander, bestätigte im Ergebnis jedoch die Rechtmäßigkeit des Gerichts. Die unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten bedeutsame Frage nach den Anforderungen an die Einsetzung eines internationalen Gerichts wurde hierdurch zumindest für die Praxis beantwortet. Gleichwohl bleibt die Befugnis des Sicherheitsrats zur Gründung von Ad-hoc-Tribunalen zweifelhaft. Sie wird im Hinblick auf die Gewährleistung eines auf Gesetz beruhenden Gerichts ausführlich zu erörtern sein.15

2. Die Gründung des Internationalen Strafgerichtshofs Mit Errichtung der Ad-hoc-Tribunale setzte eine erneute Diskussion über die Gründung eines permanenten internationalen Strafgerichtes ein. Nach den Prozessen von Nürnberg und Tokyo waren erste Anstrengungen unternommen worden, das Statut für einen gemeinsamen Strafgerichthof zu entwerfen.16 Während der angespannten weltpolitischen Lage des Kalten Krieges stagnierten die Arbeiten und konnten erst zum Ende des 20. Jahrhunderts wieder aufgenommen werden. 1989 mandatierte die Generalversammlung der Vereinten Nationen die Völkerrechtskommission (ILC) mit der Entwicklung rechtlicher Grundlagen für einen internationalen Strafgerichtshof. Vorangetrieben wurde die Arbeit der ILC durch die erfolgreiche Gründung der Ad-hoc-Tribunale, die das Erfordernis einer weltweiten Ahndung völkerrechtlicher Verbrechen in das Zentrum des öffentlichen Interesses rückten. Anders als die Tribunale von Jugoslawien und Ruanda sollte ein ständiger internationaler Strafgerichtshof nicht als Reaktion auf einen bestehenden Konflikt eingesetzt werden, sondern Ausdruck eines dauerhaften Bestrebens nach Manifestation 11 Art. 25 UN-Charta. Hierzu auch von Braun, Strafgerichtshof, VN 55 / 4 (2007), S. 148 (150). 12 Vgl. beispielsweise Graefrath, NJ 47 (1993), S. 433 (436). 13 Siehe hierzu ICTY Tadić, Decision on Defence Motion for Interlocutory Appeal on Jurisdiction, IT-94-1-AR72, 2. Oktober 1995. 14 Paech, Sinn und Missbrauch internationaler Gerichtsbarkeit, Vortrag auf einer Tagung in Berlin am 02.03.2002, AG Friedensforschung an der Uni Kassel (letzter Zugriff am 24.05. 2010). 15 Vertieft hierzu siehe Kapitel D. II. 16 1951 legte ein vom Rechtsausschuss der Generalversammlung eingesetzter Unterausschuss ein Draft Statute for an International Criminal Court vor; UN Doc. A / 2136 (1952).

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C. Rechtsstaatlichkeit an internationalen Straftribunalen

völkerrechtlicher Strafgewalt sein. Die weitreichenden Kompetenzen eines permanenten Tribunals erforderten seine Anerkennung durch einen internationalen vertraglichen Konsens. 1994 legte die ILC einen ersten Statutentwurf vor, der die Generalversammlung zur Einsetzung des Ad-hoc-Committee on the Establishment of an International Criminal Court veranlasste.17 Aufgabe des Ausschusses sollte es sein, die formellen und materiellen Fragen des Statuts abschließend zu klären und in einen gemeinsamen Vertragstext zu integrieren.18 Auf Grundlage der entwickelten Vorschläge formulierte das 1995 eingerichtete Preparatory Committee19 eine Entwurffassung, die als Verhandlungsbasis für die geplante Staatenkonferenz in Rom dienen konnte.20 Am Ende der Bevollmächtigtenkonferenz der Vereinten Nationen vom 16. Juni 1998 bis zum 17. Juli 1998 stand die Annahme des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC-Statut). Die Schwierigkeit, einen Konsens zwischen den 160 vertretenen Staaten herzustellen, hatte weitgehende Kompromisse und wechselseitige Zugeständnisse notwendig gemacht. Ein wesentlicher Diskussionspunkt war die Frage nach Umfang und Reichweite der Strafbefugnis des ICC. Die Staatenvertreter verständigten sich auf die Anwendung des Territorialitäts- und aktiven Personalitätsprinzips als Grundlage einer originären Zuständigkeit des Gerichtshofs. Der Jurisdiktion des ICC unterfallen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Völkermord, Kriegsverbrechen sowie – im Falle ihres Inkrafttretens nach Maßgabe der Kampala-Änderungen21 – Aggressionsverbrechen, die auf dem Gebiet oder von Staatsangehörigen der Vertragsstaaten begangen wurden.22 Sofern nicht der Sicherheitsrat eine Situation auf Grundlage von Kapitel VII UN-Charta an den ICC überwiesen hat, wird seine Zuständigkeit durch das Prinzip der Komplementarität weiter eingeschränkt. Nach Art. 17 ICC-Statut ist der ICC nicht kompetent, wenn der Staat in der Sache bereits ermittelt, angesichts der Untersuchungsergebnisse auf eine Verfolgung verzichtet hat oder eine Verurteilung erwirkt wurde. Eine Ausnahme ist allein dann möglich, wenn der Staat selbst nicht willens oder in der Lage ist, die Straftaten effektiv zu verfolgen. Der grundsätzliche Vorrang nationaler Gerichtsbarkeit ist ebenso der Suche nach Kompromissen geschuldet wie der Verzicht auf eine universelle Kompetenz des ICC und stellt einen Schwachpunkt im System internationaler Gerichtsbarkeit dar.23 17 Report of the ILC on the Work of its forty-sixth Session, UN Doc. A / 49 / 10, 2 May – 22 July 1994. 18 GA Resolution, UN Doc. A / 49 / 53. 19 Das Komitee wurde am 11. Dezember 1995 durch Resolution der Generalversammlung eingesetzt, GA Resolution, UN Doc. A / 50 / 46. 20 Am 14. April 1998 einigte sich das Komitee auf einen gemeinsamen Entwurf, vgl. Draft Statute for the International Criminal Court, UN Doc. A / CONF. 183 / 2 / Add. 1). 21 Resolution RC / Res.6, Amendments to the Rome Statute of the International Criminal Court on the crime of aggression, 11. Juni 2010. 22 Gleiches gilt, wenn ein Staat die Gerichtsbarkeit des ICC anerkannt hat, ohne selbst Vertragspartei zu werden.

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In der Schlussabstimmung am 17. Juli 1998 wurde das kontrovers diskutierte Statut durch eine Mehrheit von 120 Ja-Stimmen gegen 7 Nein-Stimmen24 und 21 Enthaltungen beschlossen. Zugleich wurde die Preparatory Commission for the ICC ins Leben gerufen, die unter anderem für die Ausarbeitung einer Verfahrens- und Beweisordnung sowie der Verbrechenselemente (“Elements of crime“) zuständig sein sollte. Entsprechend den Vorgaben in Art. 126 ICC-Statut trat das Vertragswerk am 1. Juli 2002 – mit Beginn des Monats, der auf den 60. Tag nach Hinterlegung der 60. Ratifikationsurkunde folgte – in Kraft.25 Das Gericht nahm seine Arbeit am 11. März 2003 in Den Haag auf. Die Bedeutung des ICC wurde zunächst durch die fehlende Ratifikation des Statuts seitens der Weltmächte USA, Russland und China geschwächt.26 Die gegenwärtige Haltung des Sicherheitsrats zeichnet jedoch ein grundlegend anderes Bild. Am 26. Februar 2011 beschloss der Sicherheitsrat einstimmig, die Situation in Libyen gemäß Art. 13 lit. b ICC-Statut an den Gerichtshof zu überweisen. Die Einbindung des ICC durch den Sicherheitsrat bestätigt nunmehr die universelle Anerkennung des Gerichts als Instrument internationaler Friedenssicherung. 3. Die Gründung hybrider Tribunale Eine jüngere Form internationaler Gerichtsbarkeit ist die Einsetzung von hybriden Tribunalen, deren rechtliche Grundlagen sowie institutionelle Strukturen nationale und völkerrechtliche Elemente verbinden. Internationalisierte Strafgerichte dieser Art wurden für Ost-Timor, Sierra Leone, Kambodscha, Bosnien-Herzegowina und den Libanon gegründet. Da hybride Tribunale die Aufarbeitung völkerrechtlicher Verbrechen in rechtlicher Zusammenarbeit mit den Tatortstaaten bezwecken, kann der Grad einer Einbeziehung der Vereinten Nationen variieren. Es existiert folglich kein einheitliches Modell hybrider Gerichtsbarkeit, sondern lediglich eine gemeinsame Praxis, den Gründungsakt der Tribunale, die Besetzung der Gerichte oder die anwendbaren Straftatbestände völkerrechtlich auszugestalten.27 Werle, Völkerstrafrecht, 2007, Rn. 63. USA, China, Israel, Irak, Jemen, Katar und Libyen lehnten das Statut ab. 25 Die 60. Ratifikationsurkunde wurde am 11. April 2002 beim Generalsekretät der VN hinterlegt. 26 Nachdem die Vereinigten Staaten das Statut zunächst unterzeichnet hatten, nahm die Bush-Administration die Unterschrift später zurück; die Rücknahme einer Unterschrift ist nach Art. 18 der Wiener Vertragsrechtskonvention grundsätzlich zulässig, Huikuri, Entstehung und Bedeutung, 2006, S. 84; Werle, Völkerstrafrecht, 2007, Rn. 69. In der Folgezeit bemühten sich die USA um den Abschluss bilateraler Abkommen, die dem Vertragspartner eine Überstellung US-amerikanischer Staatsbürger an den Gerichtshof untersagt. Derartige Anti-Auslieferungsabkommen bestehen mit über 100 Staaten, vgl. Coalition for the International Criminal Court, Factsheet, Status of US Bilateral Immunity Agreements (BIAs), 11.12.2006 (letzter Zugriff am 24.05.2010). 27 Hybride Tribunale haben ihren Sitz regelmäßig im Tatortstaat und wenden auch nationales Straf- und Strafprozessrecht an. Die Internationalisierung der Gerichte ist unterschied23 24

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a) Die Entstehung hybrider Tribunale Die Entstehung internationalisierter Gerichte nahm ihren Ursprung zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Die gravierenden Menschenrechtsverletzungen in Ost-Timor, Sierra Leone und Kambodscha verlangten nach einer strafrechtlichen Reaktion der Staatengemeinschaft auf das begangene Unrecht. Da die fraglichen Verbrechen vor Inkrafttreten des ICC-Statuts verübt wurden, schied eine Verurteilung durch den neu gegründeten Internationalen Strafgerichtshof aus kompetenziellen Gründen aus.28 Auch die Idee, abermals Ad-hoc-Tribunale zur Konfliktlösung einzusetzen, begegnete rechtlichen wie politischen Bedenken. War bereits die Gründung der Gerichtshöfe in Ruanda und Jugoslawien umstritten gewesen, so stießen die Befugnisse des Sicherheitsrates im Rahmen der neuen Konfliktlagen auf noch entschiedenere Vorbehalte. Insbesondere die Verbrechen der Roten Khmer in Kambodscha lagen bereits Jahrzehnte zurück und hätten eine konstante Bedrohung des Weltfriedens als Voraussetzung für Kapitel VII UN-Charta kaum begründen können. Neben den rechtlichen Hindernissen einer Ad-hoc-Gerichtsbarkeit sprachen praktische Erwägungen gegen die Schaffung weiterer Nebenorgane der Vereinten Nationen. Die Errichtung der Tribunale für Jugoslawien und Ruanda hatte die Vereinten Nationen vor erhebliche logistische und finanzielle Probleme gestellt.29 Der zeitliche und materielle Aufwand, der zur effektiven Durchführung der Ad-hoc-Verfahren notwendig geworden war, sollte in Kambodscha nicht erneut betrieben werden. Diese als „tribunal fatigue“30 der Staatengemeinschaft bezeichnete Ablehnung mühevoller Ad-hoc-Prozesse machte die Suche nach alternativen Modellen internationaler Gerichtsbarkeit erforderlich. Die Einsetzung hybrider Tribunale erwies sich hierbei als geeignete Möglichkeit, völkerstrafrechtliche Verbrechen nach internationalen Rechtsmaßstäben wirksam zu sanktionieren und gleichzeitig einen Teil der organisatorischen Verantwortung auf die Tatortstaaten zu verlagern. Während die Kontrolle der Vereinten Nationen über das Verfahren durch die internationale Fundierung der Gerichte gesichert war, zeigte sich ihre Tatortnähe als Vorteil im Hinblick auf eine vereinfachte Beweisgewinnung sowie die Akzeptanz in der Bevölkerung.31

lich. Während beispielsweise die Außerordentlichen Kammern von Kambodscha eine Mehrheit nationaler Richter vorsehen, sind diese in Ost-Timor und Sierra Leone nur minderheitlich beteiligt. 28 Wie dargelegt, beschränkt sich die Zuständigkeit des ICC in zeitlicher Hinsicht auf Verbrechen, die nach Inkrafttreten des Statuts am 1. Juli 2002 begangen wurden. 29 Werle, Völkerstrafrecht, 2007, Rn. 76. 30 Klarin, JICJ 2 (2004), S. 546 (546, 555). 31 Ambach, Hybride internationale Strafgerichte, 2009, S. 107.

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b) Gründungsprozesse hybrider Tribunale am Beispiel der Außerordentlichen Kammern in Kambodscha Die Gründung hybrider Tribunale erfordert eine Integration der Gerichte in das nationale Rechtssystem der Tatortstaaten, die angesichts der divergierenden innerstaatlichen Voraussetzungen auf unterschiedliche Weise realisiert wird. Während der Sondergerichtshof für Sierra Leone auf Grundlage eines bilateralen Abkommens mit den Vereinten Nationen entstand,32 wurden die Errichtung der Sonderkammern in Ost-Timor33 und die Schaffung der Kammern für Kriegsverbrechen in BosnienHerzegowina34 als Maßnahmen einer Übergangsverwaltung der Vereinten Nationen beschlossen. Eine dritte Möglichkeit der Gründung hybrider Gerichte war die Einsetzung des Sondertribunals für den Libanon (STL) durch Resolution des Sicherheitsrates, nachdem Bemühungen um eine vertragliche Vereinbarung als gescheitert erklärt werden mussten.35 Aus rechtsstaatlicher Perspektive stellt sich der Grün32 Die Errichtung eines Sondergerichtshofs für Sierra Leone wurde auf Bitten des Präsidenten Ahmad Tejan Kabbah durch Resolution 1315 (2000) des Sicherheitsrates vom 14. August 2000 beschlossen. Hiernach sollte zwischen Sierra Leone und den Vereinten Nationen ein Abkommen über die Gründung des Gerichts getroffen werden. Am 16. Januar 2002 unterzeichneten die Parteien den Vertrag, der die Errichtung des Sondertribunals zur Aburteilung der Verbrechen während des Bürgerkrieges seit dem 30. November 1996 vorsah. Der Vorrang des Tribunals vor nationalen Gerichten, die Anwendbarkeit des Völkermordtatbestandes neben nationalem Recht und die mehrheitliche Besetzung mit Richtern der Vereinten Nationen gaben ihm einen internationalen Charakter. Hierzu ausführlich: Claudia Anthony, 2003: Historical and Political Background to the Conflict in Sierra Leone, in: Ambos / Othman (Hrsg.), New Approaches in International Criminal Justice. Kosovo, East Timor, Sierra Leone and Cambodia, Freiburg, 2003, S. 131 (131 ff.). 33 Im Oktober 1999 gründete der Sicherheitsrat durch Resolution 1272 (1999) die UN Transitional Administration in East Timor (UNTAET) zum Wiederaufbau der durch die indonesische Besetzung beschädigten Infrastrukturen. Die UNTAET war mit sämtlichen legislativen, exekutiven und judikativen Befugnissen ausgestattet, um das Rechtssystem Ost-Timors zu erneuern. Im Mai 2000 beschloss die UNTAET die Einsetzung der Sonderkammern (Special Panels) zur Verhandlung völkerstrafrechtlicher Verbrechen im Zeitraum vom 1. Januar bis zum 25. Oktober 1999. Die Sonderkammern, die mehrheitlich mit internationalen Richtern besetzt wurden und auf Basis internationalen Rechts agierten, beendeten ihre Arbeit nach 87 abgeschlossenen Verfahren im Mai 2004. Hierzu ausführlich: Othman, The Framework, in: Ambos / Othman (Hrsg.), New Approaches in International Criminal Justice, 2003, S. 85 – 112. 34 Die Kammern für Kriegsverbrechen in Bosnien-Herzegowina wurden im Januar 2005 als gesonderte Abteilung des Gerichtshofs gegründet. Die Kammern sind international besetzt, wenden jedoch allein nationales Recht an, das indes den Tatbestand des Völkermordes erfasst. Sie sind vollständig in den bosnisch-herzegowinischen Rechtspflegeapparat integriert. Zur Vertiefung Bohlander, Kosovo, in: Ambos / Othman (Hrsg.), New Approaches in International Criminal Justice, 2003, S. 21 ff. 35 Das Sondertribunal für den Libanon wurde auf Bitten der libanesischen Regierung durch die Sicherheitsratsresolution 1757 (2007) errichtet, um das Attentat auf den ehemaligen Premierminister Rafiq Hariri zu verfolgen. Der Versuch einer vertraglichen Gründung nach dem Vorbild Sierra Leones war gescheitert. Die im Vorfeld verhandelten Normen wurden durch die Resolution in Kraft gesetzt, was zu Kritik am Vorgehen des Sicherheitsrates führte. Was in

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dungsprozess der ECCC als bedeutendes Beispiel für die Probleme einer internationalen Kooperation zwischen Tatortstaaten und den Vereinten Nationen dar. Der komplizierte Gründungsvorgang warf exemplarisch grundlegende Fragen und mögliche Schwierigkeiten bei der Implementierung völkerrechtlicher Prozessstandards auf. aa) Nationale Bemühungen um eine Aufarbeitung der Verbrechen Während der Herrschaft der Roten Khmer unter Pol Pot vom 17. April 1975 bis zum 7. Januar 1979 starben schätzungsweise 1,7 Millionen Kambodschaner an den Folgen von Unterernährung, Zwangsarbeit, Folter und Ermordung.36 Nach dem Sturz des Regimes im Jahre 1979 wurde das Peoples Revolutionary Tribunal (PRT) ins Leben gerufen, um die an der kambodschanischen Bevölkerung begangenen Straftaten zu sanktionieren. Das Verfahren war auf fünf Tage angesetzt und wurde in Abwesenheit der Angeklagten Pol Pot und Ieng Sary durchgeführt.37 Die kurze Dauer des Prozesses verhinderte eine tatsächliche Aufarbeitung der Verbrechen und ließ an einer zuverlässigen Beweisaufnahme zweifeln. Bedenken hinsichtlich der Rechtsstaatlichkeit des Prozesses bestehen auch mit Blick auf die Verteidigung der in Abwesenheit verurteilten Angeklagten. Der vom Gerichtshof bestellte amerikanische Anwalt Hope Stevens verdeutlichte bereits in seinem Eröffnungsplädoyer, dass er eine konsequente Interessenvertretung ablehnte: „I have not come halfway around the world to give approval to monstrous crime or to ask for mercy for criminals. No! A thousand times no!“38

In späteren Aussagen bezeichnete er seine Mandanten als „criminally insane monsters“39 und führte so die Aufgabe einer effektiven Verteidigung ad absurdum. Am 19. August 1979 befand das Gericht die Angeklagten Pol Pot und Ieng Sary des Völkermordes für schuldig und verurteilte sie zum Tode. Die Entscheidungen des Tribunals blieben von der internationalen Staatengemeinschaft indes nahezu unbemerkt und wurden in der Folgezeit nicht vollstreckt. Trotz seiner Verurteilung arbeitete Ieng Sary weiterhin als Vertreter Kambodschas für die Vereinten Nationen und wurde 1996 von König Sihanouk amnestiert.40 Die fehlende Durchsetzung der Urteile wirft die Frage auf, weshalb eine internationale Reaktion auf die Entscheidungen des PRT unterblieben war. Die einseitige Kooperation nicht gelungen war, wurde nun einseitig erzwungen; Hobe / Kimminich, Völkerrecht, 2008, S. 281. 36 Die Schätzungen schwanken zwischen 1,3 und 3,3 Millionen Opfern, da keine verlässlichen Zahlen über die Bevölkerungsgröße Kambodschas 1975 vorhanden waren. 37 Das PRT verhandelte vom 15. bis 19. August 1979 im Chaktomuk-Theater in Phnom Penh. 38 Siehe De Nike / Quigley / Robinson (Hrsg.), Genocide in Cambodia, 2000, S. 504. 39 Skilbeck, CBQ 3 (2007), S. 8 (letzter Zugriff am 24.05.2010). 40 De Nike, Reflections, in: De Nike / Quigley / Robinson (Hrsg.), Genocide in Cambodia, 2000, S. 19 (22).

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Ermittlung zu Lasten der Angeklagten und ihre fehlende Möglichkeit zur Verteidigung hatten dem Verfahren den Charakter eines Scheinprozesses gegeben.41 Angesichts der mangelnden Fairness wurden die Schuldsprüche des Tribunals nicht als das Ergebnis einer gerechten und objektiven Wahrheitsfindung, sondern als politischer Akt der Verurteilung des Vorgängerregimes angesehen. Es kann davon ausgegangen werden, dass der Verzicht auf ein Mindestmaß an rechtsstaatlichen Anforderungen Zweifel an der Legitimität des Verfahrens begründet hatte, die sich auf die Bewertung des erwirkten Urteils verlagerten. Wenngleich die Anklage von Pol Pot und Ieng Sary aus politischen wie moralischen Gründen nicht beanstandet wurde, konnte ihrer Verurteilung in einem unfairen Verfahren keine rechtliche Bedeutung zukommen. Die allgemeine Weigerung, das Ergebnis eines ungerechten Verfahrens anzuerkennen, verdeutlicht die Notwendigkeit rechtsstaatlicher Prozessgrundsätze als Voraussetzung für eine effektive Durchsetzung des Völkerstrafrechts. Die Wahrung von Rechtsstaatlichkeit ist folglich nicht allein im Hinblick auf den elementaren Schutz internationaler Menschenrechte erforderlich, sondern kann als zentrale Bedingung für die Akzeptanz völkerstrafrechtlicher Tribunale und ihrer Urteile verstanden werden. Pol Pot wurde 1997 erneut vor Gericht gestellt und vom Peoples Tribunal of Anlon Veng zu lebenslanger Haft verurteilt. Gegenstand des Verfahrens waren jedoch nicht die völkerrechtlichen Verbrechen am kambodschanischen Volk, sondern die Mordanschläge auf Mitglieder des regierenden Kaders.42 Nachdem seine mögliche Auslieferung an die Vereinigten Staaten von Amerika bekannt geworden war, verstarb Pol Pot im April 1998 unter weitgehend ungeklärten Umständen.43

bb) Internationale Bestrebungen zur Gründung eines internationalisierten Tribunals Der Tod Pol Pots hatte der Staatengemeinschaft die Gefahr vor Augen geführt, dass eine völkerstrafrechtliche Aufarbeitung der kambodschanischen Verbrechen am Ableben der ehemaligen Machthaber scheitern konnte. Bereits im April 1997 hatte die Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen die Regierung Kambodschas durch Resolution zur Ahndung der Straftaten des Pol Pot-Regimes aufgefordert.44 Da sich die Behörden des Landes nicht zur Durchführung umfassender 41 Kashyap, Framework, in: Ambos / Othman (Hrsg.), New Approaches in International Criminal Justice, 2003, S. 189 (190). 42 Pol Pot wurde wegen Mordes an seinem ehemaligen Verteidigungsminister Son Sen und dessen Familie sowie wegen versuchten Mordes am nationalen Befehlshaber Ta Mok angeklagt. 43 Streed, Leaving the House, 2002, S. 100. 44 Commission on Human Rights resolution 1997 / 49, UN Doc. E / CN.4 / 1997 / 49 (1997), 11. April 1997.

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Prozesse im Stande sahen, ersuchte Kambodscha die Staatengemeinschaft mit Beschluss vom 21. Juni 1997 um Unterstützung.45 Um die Möglichkeiten internationaler Zusammenarbeit zu ermessen, berief der Generalsekretär der Vereinten Nationen eine dreiköpfige Expertengruppe zur rechtlichen Bewertung der begangenen Straftaten und des nationalen Justizsystems.46 In ihrem Bericht von 1999 sprach sich die Kommission angesichts der festgestellten völkerstrafrechtlichen Verbrechen während des Pol Pot-Regimes für eine internationale Strafverfolgung aus. Zugleich hatte die Untersuchung gezeigt, dass das kambodschanische Rechtssystem die notwendigen Voraussetzungen eines rechtsstaatlichen Verfahrens nicht gewährleisten konnte: „In order to evaluate the option of trials in Cambodian courts, the Group has devoted considerable attention to the state of the Cambodian judiciary. It has consulted officials of the Cambodian Government responsible for the administration of justice (including the Chief Justice of the Supreme Court), international and non-governmental organizations and the reports of the Special Representative of the Secretary-General for Human Rights in Cambodia. It is the opinion of the Group that the Cambodian judiciary presently lacks three key criteria for a fair and effective judiciary: a trained cadre of judges, lawyers, and investigators; adequate infrastructure; and a culture of respect for due process.“47

Angesichts der schwerwiegenden Defizite in der nationalen Justiz empfahl die Expertengruppe die Gründung eines internationalen Tribunals nach dem Vorbild Jugoslawiens und Ruandas. In ihrem Bericht hatte die Kommission verschiedene Möglichkeiten internationaler Gerichtsbarkeit analysiert und ihre Entscheidung für die Errichtung eines Ad-hoc-Tribunals außerhalb Kambodschas mit der Gefahr politischer Einflussnahme auf den Verfahrenslauf begründet. Die kambodschanische Führung lehnte den Vorschlag der Gutachter unter Berufung auf die staatliche Souveränität ab und verlangte ein national ausgestaltetes Verfahren.48 Die anschließenden Verhandlungen zwischen Kambodscha und den Vereinten Nationen über die Gründungsvoraussetzungen eines internationalisierten Gerichts verliefen während eines Zeitraums von knapp fünf Jahren kontrovers. Grund für die erhebliche Dauer des Einigungsprozesses waren die Zweifel der Vereinten Nationen an der institutionellen und normativen Wahrung rechtsstaatlicher Prinzipien. Das korrupte und schwache Justizsystem Kambodschas führte zu Differenzen im Hinblick auf die nationale Beteiligung an der Besetzung der Gerichte und der Festlegung des anwend45 Brief an den Generalsekretär der Vereinten Nationen vom 21. Juni 1997, UN Doc. A / 51 / 930, S / 1997 / 488. 46 Mitglieder der Expertengruppe waren Sir Ninian Stephen aus Australien, Richter Rajsoomer Lallah aus Mauritius sowie Prof. Steven Ratner aus den USA. 47 Report of the Group of Experts for Cambodia established pursuant to General Assembly resolution 52 / 135, Rn. 126. 48 Auch China wandte sich gegen die Empfehlung der Kommission, das Verfahren in einem der Nachbarstaaten durchzuführen und einen unabhängigen internationalen Ermittler einzusetzen. Da China den Gebrauch seines Veto-Rechts in Aussicht stellte, schied die Einsetzung eines Ad-hoc-Tribunals durch den Sicherheitsrat aus.

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baren Prozessrechts.49 Da ein von der kambodschanischen Regierung am 10. August 2001 beschlossenes Statut den Anforderungen der Vereinten Nationen an ein faires und objektives Verfahren nicht genügte, erklärte Hans Corell, Rechtsberater des Generalsekretärs, die Verhandlungen am 9. Februar 2002 offiziell für gescheitert. „The UN has concluded that the proceedings of the EC would not guarantee the international standards of justice required for the UN to continue work towards their establishment and have decided, with regret, to end its participation in this process.“50

Bereits im Juni 2002 bat die Führung Kambodschas, die den Gründungsprozess trotz des Ausstiegs der Vereinten Nationen weiter betrieben hatte, erneut um Unterstützung. Ende des Jahres beschloss die Generalversammlung unter dem Druck internationaler Organisationen eine Wiederaufnahme der Gespräche, in deren Folge die Parteien im März 2003 eine Einigung erzielen konnten. Das als „March Agreement“ bezeichnete Übereinkommen integrierte die Außerordentlichen Kammern in das nationale Gerichtssystem Kambodschas und legte eine minoritäre Beteiligung der Vereinten Nationen fest.51 Die Zuständigkeit der Kammern erstreckt sich auf die Aburteilung der zwischen dem 17. April 1975 und dem 6. Januar 1979 von Hauptverantwortlichen oder Führungsmitgliedern der Roten Khmer begangenen völkerstrafrechtlichen52 und nationalen Verbrechen.

cc) Fazit zur Gründung hybrider Gerichte (1) Die Rolle der Vereinten Nationen bei der Gründung hybrider Tribunale Die fehlende Anerkennung des Peoples Revolutionary Tribunal hat die Bedeutung rechtsstaatlicher Anforderungen für die Akzeptanz und effektive Realisierung des Völkerstrafrechts offensichtlich gemacht. Der Wahrung von Rechtsstaatlichkeit muss als Grundvoraussetzung eines wirksamen Verfahrens bereits im Entstehungsprozess internationaler Tribunale eine wichtige Rolle beigemessen werden. Die Einsetzung hybrider Gerichte, die in geschwächte nationale Rechtssysteme einzugliedern sind, erfordert daher ein besonderes Augenmerk der Staatengemeinschaft auf 49 Sluiter, JICJ 4 (2006), S. 315. Zum aktuellen Stand der Korruption in Kambodscha siehe das Ranking von Transparency International, das Kambodscha an 164. Stelle (von 182 überprüften Staaten) einstuft (Transparency International, Corruption Perceptions Index 2011 (letzter Zugriff am 24.01.2012). 50 Zitiert in Kashyap, Framework, in: Ambos / Othman (Hrsg.), New Approaches in International Criminal Justice, 2003, S. 189 (191). 51 Das March Agreement trat am 29. April 2005 nach seiner Ratifikation durch Kambodscha in Kraft. Bereits am 27. Oktober 2004 hatte Kambodscha das innerstaatlich gültige Statut vom 10. August 2001 entsprechend der neuen Vorgaben modifiziert. 52 Die Jurisdiktion des Gerichtes umfasst Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Völkermord, schwere Verletzungen der Genfer Abkommen, Verstöße gegen die Kulturgut-Konvention und gegen das Wiener Übereinkommen über diplomatische Beziehungen von 1961.

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die Einhaltung rechtsstaatlicher Grundsätze. Im Rahmen ihrer Kooperation mit den Tatortstaaten ist es Aufgabe der Vereinten Nationen, eine internationale Unterstützung untrennbar an den Respekt rechtsstaatlicher Anforderungen zu knüpfen. Angesichts der Verpflichtung der Staatengemeinschaft zur Gewährleistung effektiver und fairer Verfahren müssen die zahlreichen Kompromisse bei Gründung der ECCC kritisch gesehen werden.53 Wenngleich Zugeständnisse an die Tatortstaaten für eine juristische Kooperation politisch unabdingbar sind, muss Einigkeit in der Frage rechtsstaatlicher Verfahrensgestaltung bestehen. Ein wesentliches Hindernis für die Arbeit hybrider Tribunale stellt die Gefahr politischer Einflussnahme dar. Angesichts des Vorwurfs einer Verhinderung weiterer Ermittlungen in Case 003 und Case 004 durch die kambodschanische Regierung hat das Tribunal Vertrauen und Glaubwürdigkeit eingebüßt.54 Die Staatengemeinschaft muss einer Einmischung der nationalen Politik in die Aufgabenwahrnehmung des Tribunals entschieden entgegentreten. Um den Ansprüchen der internationalen Strafgerichtsbarkeit gerecht zu werden, dürfen unter Mitwirkung der Vereinten Nationen rechtsstaatswidrige Vorgänge nicht faktisch toleriert werden. Anderenfalls würde das edukative Ziel einer Verbreitung von Rechtsstaatlichkeit durch die lokale Präsenz des Gerichts55 in sein Gegenteil verkehrt.56 Der Fortgang der Ermittlungen in Case 003 und Case 004 an den ECCC wird daher mit besonderer Achtsamkeit zu begleiten sein. (2) Die Zukunft hybrider Gerichtsbarkeit Welche Rolle kann die hybride Gerichtsbarkeit nach der Errichtung des Internationalen Strafgerichtshofs spielen? Wenngleich Werle von hybriden Tribunalen als „aktuellen Tendenzen“ spricht,57 stellt sich angesichts der Schwierigkeiten des Gründungsvorgangs die Frage nach ihrer künftigen Bedeutung für das völkerstrafrechtliche Verfahren. Während die bisherigen hybriden Tribunale auf Verbrechen vor der Gründung des ICC reagierten, stünde nunmehr eine kompetente Institution zur Verhandlung völkerstrafrechtlicher Verbrechen bereit. Die partiellen Zuständigkeitsregelungen des ICC-Statuts lassen indes Raum für die Einsetzung hybrider Gerichte.58 So können Straftaten, die nach dem Territoria53 Zur Vertiefung: Klein, JIHR 4 (2006), S. 549; Luftglass, Va. L. REV 90 (2004), S. 893; Donovan, HILJ 44 / 2 (2003), S. 55; Williams, ICLR 5 / 3 2005, S. 1 ff. 54 Eckel, Cambodia’s Kangoroo Court, 20.7.2011, http://www.foreignpolicy.com/articles/ 2011/07/20/cambodias_kangoroo_court?page=1 (letzter Zugriff am 23.01.2012); Report Recent Developments at the ECCC, November 2011, www.soros.org/initiatives/justice / articles_ publications/cambodia-court-20111114.pdf (letzter Zugriff am 23.01.2012). 55 Sluiter, JICJ 4 (2006), S. 318. 56 Gillison, Justice Denied, 23. November 2011, http://www.foreignpolicy.com/articles/2011/ 11/23/cambodia_court_justice_khmer_rouge. 57 Werle, Völkerstrafrecht, 2007, Rn. 73, 74. 58 Ambach, Hybride internationale Strafgerichte, 2009, S. 132 f.

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litäts- oder Personalitätsprinzip nicht unter die Jurisdiktion des ICC fallen und zu deren Überweisung der Sicherheitsrat aufgrund eines möglichen Veto-Verhaltens außer Stande ist, allein im Rahmen internationaler Kooperation verhandelt werden. Auch der Grundsatz der Komplementarität eröffnet den Tatortstaaten Spielräume bei der Bewältigung völkerrechtlicher Verbrechen.59 Nach der Konzeption des ICC ist es vorrangige Aufgabe der Staaten, die Normen des Völkerstrafrechts mittels gerichtlicher Sanktionierung durchzusetzen. Die Durchführung innerstaatlicher Gerichtsverfahren als Alternative zu hybriden Tribunalen wird jedoch angesichts der oftmals schwachen nationalen Rechtssysteme nicht generell realisierbar sein. Einem System, das schwerwiegende Rechtsverletzungen in der Vergangenheit nicht verhindern konnte, werden nicht selten die juristischen Instrumente und Ressourcen fehlen, um ein rechtsstaatliches Verfahren selbständig zu garantieren.60 Die gewaltsamen Konflikte, in deren Folgezeit die Gerichte operieren, haben die nationale Infrastruktur und den staatlichen Justizapparat regelmäßig beeinträchtigt, so dass eine Unterstützung der internationalen Gemeinschaft erforderlich wird. In diesen Situationen ermöglicht die finanzielle und justizielle Zusammenarbeit bei der Gründung hybrider Tribunale eine nationale Aufarbeitung der Verbrechen und sichert gleichzeitig den Einfluss der Vereinten Nationen auf die Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens ab.61 Die besonderen Vorteile hybrider Gerichte liegen in ihrer Nähe zum Tatort. Durch die Möglichkeit einer Ermittlungstätigkeit vor Ort kann die Anklage Beweise unmittelbar in Augenschein nehmen. Der Standortvorteil sichert einen direkten Zugang zu Dokumenten und Zeugen, ohne einen zeitlich und finanziell aufwendigen Transport erforderlich zu machen.62 Kosten- und Zeitersparnis kommen gerade der Verteidigung zu Gute, die regelmäßig nur über begrenzte Ressourcen verfügt.63 Mit der räumlichen Einbindung der Tribunale in das Gerichtssystem des Tatortstaates kann zugleich ein Beitrag zum Wiederaufbau der nationalen Rechtsordnung geleistet werden. Die Beteiligung inländischer Mitarbeiter fördert die Verbreitung internationaler Verfahrensstandards als Grundlage eines rechtsstaatlichen Justizwesens.64 Die integrative Wirkung einer Zusammenarbeit nationaler und internationaler Juristen unterstützt ferner die Akzeptanz der Verfahren in der Bevölkerung. Eine Identifikation der Betroffenen mit den Verfahren ist wesentliche Voraussetzung für eine wirksame Vergangenheitsbewältigung.65 Entscheidend für eine nachhaltige Aufarbeitung des Konfliktes ist der Zugang der Bevölkerung und insbesondere der Hierzu ausführlich Ambach, Hybride internationale Strafgerichte, 2009, S. 145 ff. Ambach, Hybride internationale Strafgerichte, 2009, S. 118. 61 Schweisfurth, Völkerrecht, 2006, S. 516. 62 Ambach, Hybride internationale Strafgerichte, 2009, S. 108, 111. 63 Siehe hierzu ausführlich in Kapitel D. X. 64 Sluiter, JICJ 4 (2006), S. 318. 65 Zum geringen Identifikationsgrad der Ad-hoc-Tribunale: Kälin / Kamatali, New Eng. J. Int’l & Comp. L. 12 (2005), S. 89 (90). 59 60

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Opfer zu den Prozessen. Die Möglichkeit einer Mediennutzung ist in ärmeren Ländern durch geringe finanzielle Mittel und einen hohen Grad an Analphabetismus beschränkt.66 Eine tatsächliche Teilhabe der Betroffenen an den Verhandlungen kann hier nur im Wege eine Durchführung der Verfahren vor Ort sichergestellt werden.67 Die Zukunft hybrider Tribunale wird maßgeblich von ihren Erfolgen in der Durchsetzung des Strafanspruchs sowie der Wahrung rechtsstaatlicher Grundsätze abhängen. Sollten sich die Hinweise auf eine politische Einflussnahme an den ECCC weiter verdichten, werden Zweifel an dem Konzept hybrider Gerichte wachsen. Das Beispiel Kambodschas mahnt zur Vorsicht bei der Einsetzung internationalisierter Gerichte in ein schwaches und korruptes staatliches System. Bestehen erhebliche politische Interessen am Ausgang der Verfahren, sollte eine Beteiligung des Tatortstaates äußerst restriktiv erfolgen.

4. Fazit zur Gründung internationaler Strafgerichte Die verschiedenen Bedürfnisse und unterschiedlichen Anforderungen an die Bewältigung von Konfliktsituationen haben die drei Formen der internationalen Gerichtsbarkeit entstehen lassen. Mit der Gründung des ICC als permanentem Garant für die Sanktionierung internationaler Verbrechen wurden die wesentlichen Voraussetzungen zur dauerhaften Gewährleistung eines effektiven Völkerstrafrechts geschaffen. Wenngleich die Errichtung eines Internationalen Strafgerichtshofes den vorläufigen Höhepunkt in der Entwicklung des Völkerstrafrechts darstellt, bleiben die Modelle der Ad-hoc-Tribunale und der hybriden Gerichtsbarkeit wichtige Instrumente zur Aufarbeitung internationaler Verbrechen. Die Wahl zwischen der Einsetzung verschiedener Gerichtsmodelle ermöglicht eine variable Einflussnahme der Staatengemeinschaft sowie die abgestufte Einbeziehung nationaler Elemente. Durch eine differenzierte Einbindung des Tatortstaates kann auf die innenpolitische Lage und den rechtsstaatlichen Entwicklungsgrad des nationalen Justizsystems flexibel reagiert werden.

II. Das Verfahrensrecht der internationalen Strafgerichte Infolge der divergierenden Gründungsprozesse weichen die Rechtsgrundlagen der Gerichte in ihrer inhaltlichen Ausrichtung sowie den Voraussetzungen ihres Normsetzungsverfahrens voneinander ab. Vor dem Hintergrund ihrer politischen und rechtlichen Bedingungen sollen die Auswirkungen der verschiedenen Beteiligungsformen Siehe hierzu ausführlich Kapitel D. IV. Im Einzelfall können jedoch Sicherheitsbedenken einer Verhandlung im Tatortstaat entgegenstehen. Dies belegt die Verlegung der Verhandlungen des SCSL im Falle Charles Taylors nach Den Haag. 66 67

II. Das Verfahrensrecht der internationalen Strafgerichte

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bei der Einsetzung internationaler Straftribunale auf die allgemeine Struktur des Verfahrensrechts erörtert werden. Die Darstellung der Rechtsquellen erfolgt unter besonderer Berücksichtigung der Formulierung von Beschuldigtenrechten als Ausgangspunkt des menschenrechtlichen Aspekts des Rechtsstaatsbegriffs. Hierbei soll die konkrete Ausgestaltung der Prozessgarantien in den Verfahrens- und Beweisordnungen der Gerichte in den Blick genommen werden. In einem letzten Schritt wird der unterschiedliche Einfluss des angloamerikanischen common law und des kontinentaleuropäischen civil law auf die Gestaltung des Verfahrens sowie die Rolle der beteiligten Organe diskutiert.

1. Die prozessualen Rechtsgrundlagen internationaler Strafgerichte a) Die Ad-hoc-Tribunale Das Prozessrecht der Internationalen Straftribunale für Jugoslawien und Ruanda findet sich in den Statuten der Gerichte, ihren Verfahrens- und Beweisordnungen sowie weiteren Vorschriften zur Regelung konkreter Verfahrensfragen.

aa) Die Statuten der Ad-hoc-Tribunale Mit Resolution 827 vom 25. Mai 1993 sowie Resolution 955 vom 8. November 1994 erließ der Sicherheitsrat die Statuten von ICTY (1993) und ICTR (1994). Während das Statut des ICTY vom Generalsekretär der Vereinten Nationen entwickelt wurde, fiel diese Aufgabe bei Gründung des ICTR dem Sicherheitsrat zu. Das Statut des ICTR entspricht in weiten Teilen den Vorgaben des ICTY, nach dessen Vorbild man das Tribunal errichtete. Die Rechte des Beschuldigten sind in beiden Statuten nahezu unterschiedslos formuliert und können am Beispiel des ICTYStatuts abschließend dargestellt werden. Art. 20 ICTY-Statut normiert die grundsätzliche Beachtung des fairen Verfahrens und der Rechte des Angeklagten als allgemeine Zielvorgaben der Prozessgestaltung. Die Verfahrensrechte des Beschuldigten werden durch Art. 18 ICTY-Statut auf der Ebene des Vorverfahrens und über Art. 20 Abs. 2 sowie 21 ICTY-Statut für das Hauptverfahren näher bestimmt. Während im Statut lediglich grundlegende Vorgaben für die Prozessgestaltung getroffen werden, überträgt Art. 15 ICTY-Statut die konkrete Ausformung des Verfahrensrechts auf das Gericht. Die von den Richtern der Tribunale erlassenen Verfahrens- und Beweisordnungen (Rules of Procedure and Evidence, RPE) umfassen die wesentlichen Fragen des gerichtlichen Verfahrens und stellen zentrale Dokumente des völkerstrafrechtlichen Prozessrechts dar. Die Kompetenz des Sicherheitsrates zu Erlass oder Konsentierung verfahrensrechtlicher Normen könnte mit Blick auf die Gewährleistung rechtsstaatlicher Gewaltenteilung bestritten werden. Mit der Annahme der Statuten durch Resolution trägt der Sicherheitsrat die Verantwortung für die Richtlinien der Prozessführung.

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Aufgrund seiner primären Eigenschaft als Exekutivorgan könnte ihm jedoch die Befugnis fehlen, durch den Erlass rechtsverbindlicher Statuten die Entstehung völkerrechtlicher Normen zu begründen.68 Die Übertragung des Gewaltenteilungsgrundsatzes auf die Normentstehung des Völkerrechts ist weitgehend umstritten. Seine Geltung wird insbesondere im Zusammenhang mit der Regelung der Verfahrens- und Beweisordnung näher zu erörtern sein. An dieser Stelle kann die Frage nach der Übertragbarkeit des Gebotes auf das internationale Recht jedoch offen bleiben. Hinsichtlich der Festlegung materieller Rechtsvorschriften konnte sich der ICTY auf die Kodifizierung gewohnheitsrechtlich anerkannter Verbrechenstatbestände beschränken.69 Der materielle Teil des Statuts ist daher nicht das Ergebnis selbständiger Rechtsentwicklung, sondern eine Kodifikation bestehender Bestimmungen. Da die Normierung der materiellen Inhalte keine legislative Tätigkeit im Sinne unmittelbarer Rechtsschöpfung darstellt, wurden die Zuständigkeiten des Sicherheitsrates gewahrt. Demgegenüber konnte der Sicherheitsrat im Rahmen der Gestaltung des Verfahrensrechts nicht auf geltendes Gewohnheitsrecht zurückgreifen. Angesichts der fehlenden internationalen Praxis war der Sicherheitsrat gezwungen, prozessuale Standards für die Verfahren der Ad-hoc-Gerichte selbständig zu entwickeln.70 Die Legitimation des Sicherheitsrates zum Erlass verfahrensrechtlicher Grundlagen kann unabhängig von der Frage nach einer Übertragung des Gewaltenteilungsgebots auf das Völkerrecht begründet werden. van Heeck rechtfertigt die vermeintliche Kompetenzüberschreitung mit dem praktischen Erfordernis der Festlegung prozessualer Regelungen für das Gericht.71 Mangels institutioneller Alternativen müssten dem Sicherheitsrat legislative Befugnisse zur Sicherstellung eines notwendigen verfahrensrechtlichen Rahmens der Tribunale zukommen. Was van Heeck als lediglich „pragmatisches Argument“ beschreibt,72 kann auch aus rechtlicher Perspektive Geltung beanspruchen. Nach der angloamerikanischen Lehre der „implied powers“73 können ungeschriebene Kompetenzen durch anerkannte Zuständigkeiten impliziert und rechtlich legitimiert werden. Eine Kompetenzerweiterung über das Prinzip der „implied powers“ setzt voraus, dass die Ausübung der geltenden Befugnisse auf andere Weise nicht oder nicht sinnvoll möglich wäre.74 Da eine organisierte Gerichtsbarkeit ohne verbindliche Verfahrensordnung nicht denkbar ist, müssen dem Sicherheitsrat die erforderlichen Kompetenzen zur GewährleisMatthew Happold, LJIL 16 (2003), S. 593 (600). ICTY Blaskic, Decision on the Objection of the Republic of Croatia to the Issuance of Subpoena Duces Tecum, IT-95-14, 18. Juli 1997, Rn. 43: „It is clear (…) that the International Tribunal was intended to apply existing international law and not to create new norms.“ 70 van Heeck, Die Weiterentwicklung des formellen Völkerstrafrechts, 2006, S. 74. 71 van Heeck, Die Weiterentwicklung des formellen Völkerstrafrechts, 2006, S. 77. 72 van Heeck, Die Weiterentwicklung des formellen Völkerstrafrechts, 2006. S. 77. 73 Sauer, Jurisdiktionskonflikte, 2005, S.407; Joswig, Die implied powers-Lehre, 1996. 74 Maxwell, On the Interpretation, 1875, S. 317. 68 69

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tung einer effektiven Arbeit des Tribunals zugestanden werden. Wird seine Kompetenz zur Schaffung eines internationalen Strafgerichts anerkannt, erstreckt sich die Zuständigkeit des Sicherheitsrates auf eine legislative Ausarbeitung der Prozessgrundlagen. Die Lehre der „implied powers“ wird vom EuGH in seiner Entscheidung zum Fall Fédéchar ausdrücklich zur Kompetenzbegründung herangezogen und als völkerrechtliche Auslegungsregel bestätigt.75 Auch dem nationalen Recht ist die Idee einer an teleologischen Grundsätzen orientierten Kompetenzerweiterung nicht fremd. Wenngleich die verfassungsrechtlichen Institute der Annexkompetenz und der Zuständigkeit kraft Sachzusammenhangs eine bestehende Legislativbefugnis voraussetzen, beruht der Gedanke einer Kompetenzerweiterung auf der Vorstellung ihrer Legitimität zur effektiven Wahrnehmung bestehender Befugnisse. Die Zweckrichtung entspricht dem Prinzip der „implied powers“ und lässt sich sinngemäß auf die Frage der Zuständigkeit des Sicherheitsrates übertragen. Der Rechtmäßigkeit der Gründungsstatute steht eine fehlende Kompetenz zum Erlass verfahrensrechtlicher Normen somit nicht entgegen.

bb) Die Verfahrens- und Beweisordnungen der Ad-hoc-Tribunale Aufgrund offensichtlicher Schwachpunkte in der Gewährleistung prozessualer Fairness, konnten die Verfahrensregelungen von Nürnberg und Tokyo nicht als Vorbild eines völkerstrafrechtlichen Prozessrechts dienen.76 Die Richter standen daher vor der Aufgabe, ein neues Verfahrensmodell zu entwickeln, das den Anforderungen des internationalen Strafprozesses genügen konnte. Nach knapp dreimonatigen Verhandlungen, in denen Staaten und internationale Organisationen gehört wurden, beschloss das Gericht am 14. März 1994 die Verfahrens- und Beweisordnung des ICTY (ICTY-RPE).77 Entsprechend der Vorgabe in Art. 14 ihres Statuts übernahmen die Richter des ICTR die Verfahrensordnung des Jugoslawientribunals mit nur geringfügigen, den strukturellen Unterschieden geschuldeten Veränderungen. Wenngleich die Prozessordnungen rechtlich selbständige Regelungswerke darstellen, sind sie in der Praxis eng miteinander verzahnt. Um einen einheitlichen Verfahrensstandard zu gewährleisten, werden Modifikationen des ICTY-Statuts regelmäßig vom ICTR übernommen.78

75 76 77 78

EuGH Fédéchar Rs. 8 / 55, 29. November 1956, Slg. 1955 / 56, S. 295 (312). van Heeck, Die Weiterentwicklung des formellen Völkerstrafrechts, 2006, S. 75. UN Doc. IT / 32.; die ICTY-RPE waren am 11. Februar 1994 beschlossen worden. van Heeck, Die Weiterentwicklung des formellen Völkerstrafrechts, 2006, S. 80 ff.

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(1) Die Kompetenz des Gerichts zur Festlegung einer Verfahrensordnung Die Ermächtigung der Richter zu Erlass und Abänderung der Prozessordnung ist aus rechtsstaatlicher Perspektive kritisch zu sehen. Die Übertragung legislativer Aufgaben an ein Justizorgan zur selbständigen Regelung der eigenen Verfahrenspraxis wirft im Hinblick auf die Grundsätze der Gewaltenteilung und des Gesetzesvorbehalts erhebliche Fragen auf.79 Berücksichtigt man eine mögliche Vorbildwirkung der ICTY-RPE für zukünftige Tribunale, gewinnt die Problematik an zusätzlicher Bedeutung.80 Das Prinzip der Gewaltenteilung gebietet die Verlagerung staatlicher Macht auf unterschiedliche Institutionen und somit eine strikte Trennung legislativer und judikativer Befugnisse. Aus kontinentaleuropäischer Sicht widerspricht die Übertragung rechtsetzender Gewalt auf ein Gericht den rechtsstaatlichen Anforderungen an die Rolle des gesetzesgebundenen Richters.81 Wolfgang Schomburg, deutscher Richter am ICTY, kommentierte die Kompetenz des Gerichtes zur Festlegung der RPE wie folgt: „Montesquieu würde sich vermutlich in seinem Grab umdrehen, wenn er wüsste, dass die Richter hier als ihre eigenen Gesetzgeber tätig werden.“82

Relativiert wird die rechtsstaatliche Problematik durch einen Vergleich mit dem System des common law, zu dessen Rechtsquellen traditionell auch ein weitreichendes Richterrecht gezählt werden kann.83 Die Normierung der erforderlichen Verfahrensfragen wird im angloamerikanischen Rechtskreis weniger als Ausübung legislativer Befugnisse denn als integraler Bestandteil der richterlichen Tätigkeit angesehen.84 Wenngleich Bedeutung und Folgen des Grundsatzes der Gewaltenteilung international unterschiedlich verstanden werden, ist aus der Perspektive einer kontinentaleuropäischen Rechtstradition die Praxis der Ad-hoc-Tribunale zu hinterfragen. Die Zweifel an der Zulässigkeit richterlicher Rechtsetzungsbefugnis werden durch die Frage nach der möglichen Anwendung eines Gesetzesvorbehaltes verstärkt. Nach der verfassungsrechtlich entwickelten Wesentlichkeitstheorie müssen zentrale Fragestellungen im grundrechtssensiblen Bereich durch den Gesetzgeber selbst geregelt werden. Da strafprozessuale Vorschriften eine direkte Wirkung auf Knoops, Theory and Practice, 2005, S. 343. So hat beispielsweise der Special Court for Sierra Leone die Verfahrensweise bereits in Art. 14 II seines Statuts übernommen. 81 Bassiouni / Manikas, The Law, 1996, S. 825. 82 Schomburg, Internationale Strafgerichtsbarkeit. Lektionen aus den UN-Tribunalen für das frühere Jugoslawien und Ruanda. Vortrag vor der Gesellschaft für Außenpolitik, 18.02. 2008 (letzter Zugriff am 25.03.2010). 83 Roxin / Schünemann / Kern, Strafverfahrensrecht, 2009, S. 542. 84 van Heeck, Die Weiterentwicklung des formellen Völkerstrafrechts, 2006, S. 77. 79 80

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die Rechte des Angeklagten entfalten, würde sich auch vor dem Hintergrund des Gesetzesvorbehalts eine Delegation an gerichtliche Instanzen verbieten.85 (a) Die Übertragbarkeit der Grundsätze der Gewaltenteilung und des Gesetzesvorbehalts auf das Völkerstrafrecht Den genannten Bedenken an der Rechtsstaatlichkeit richterlicher Normgebung wird die Unanwendbarkeit nationaler Strukturprinzipen auf völkerrechtliche Sachverhalte entgegengehalten.86 Knoops begründet den Verzicht auf die Grundsätze von Gesetzesvorbehalt und Gewaltenteilung zunächst mit der Rechtsnatur des Völkerstrafrechts als System sui generis.87 In seiner Argumentation weist er darauf hin, dass die Ad-hoc-Tribunale bereits unter Durchbrechung der klassischen Gewaltenteilung durch den Sicherheitsrat als Exekutivorgan88 gegründet wurden. Da die Entstehung der Gerichte außerhalb der geltenden Grundsätze erfolgte, könne das traditionelle Konzept demokratischer und rechtsstaatlicher Legitimation generell nicht auf das Völkerstrafrecht angewandt werden. Entgegen der Auffassung Knoops’ kann die Annahme eines Systems sui generis jedoch nicht überzeugend begründet werden. Rechtsstaatliche Probleme bei der Errichtung der Tribunale dürfen sich nicht in ihren normativen Grundlagen fortsetzen. Ein möglicher Verstoß gegen den Grundsatz der Gewaltenteilung ist nicht geeignet, die Gerichte von der weiteren Bindung an völkerrechtliche Prinzipien zu befreien.89 Es wäre widersinnig, könnte die anfängliche Verletzung eines Grundsatzes dessen Geltung im Folgenden außer Kraft setzen. Ein weiterer Einwand gegen die Anwendbarkeit der Prinzipien macht sich an den institutionellen Defiziten völkerrechtlicher Gerichtsbarkeit fest. Da auf internationaler Ebene kein originäres Legislativorgan existiere, würden die Grundsätze von Gewaltenteilung und Gesetzesvorbehalt im Völkerrecht keine Entsprechung finden.90 Fehle eine zentrale Rechtsetzungsinstanz, könne eine klare Zuweisung legislativer Befugnisse bereits aus organisationsrechtlichen Gründen nicht erfolgen. Knoops zieht hieraus abermals den Schluss, dass die Entwicklung verbindlicher Verfahrensnormen durch internationale Tribunale dem System des Völkerstrafrechts inhärent wäre.91 In der Tat lassen sich die Konzepte von Gewaltenteilung und Gesetzesvorbehalt nicht vollumfänglich auf die Ebene des Völkerrechts übertragen. Die institutionelvan Heeck, Die Weiterentwicklung des formellen Völkerstrafrechts, 2006, S. 78. Knoops, Theory and Practice, 2005, S. 344. 87 Knoops, Theory and Practice, 2005, S. 344. 88 Knoops, Theory and Practice, 2005, S. 344. 89 Zur Frage nach der Rechtmäßigkeit der Einsetzung von Ad-hoc-Tribunalen vor dem Hintergrund der Gewaltenteilung siehe Kapitel D. II. 90 Knoops, Theory and Practice, 2005, S. 344. Hierzu ausführlich de Wet, NILR 46 / 2 (2000), S. 181 (195 ff.). 91 Knoops, Theory and Practice, 2005, S. 344. 85 86

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len Unterschiede zu nationalen Rechtssystemen und das Fehlen eines eigenen Legislativorgans vermögen jedoch primär den Einwand des Gesetzesvorbehalts, nicht hingegen die Kritik an der mangelnden Gewaltenteilung zu entkräften. Das Prinzip des Gesetzesvorbehaltes gründet sich auf den Gedanken, dass der direkt legitimierte Gesetzgeber den Willen des Volkes am unmittelbarsten zum Ausdruck bringen kann.92 Wesentliche Fragen des Gemeinwohls, die einer besonderen demokratischen Legitimation bedürfen, sollen auf nationaler Ebene durch das Parlament als direktem Sprachrohr des Bürgers bestimmt werden.93 Demgegenüber existiert im internationalen Recht kein unmittelbar demokratisch gegründetes Organ, dessen Zustimmung eine völkerrechtliche Entscheidung überzeugender legitimieren könnte.94 Das Prinzip des Gesetzesvorbehalts und die Idee der Wesentlichkeitstheorie können aufgrund der fehlenden demokratischen Fundierung überstaatlicher Institutionen keine völkerrechtliche Geltung beanspruchen. Anders zu bewerten ist hingegen die Anwendung des Grundsatzes der Gewaltenteilung auf das Verfahren und die Institutionen des Völkerstrafrechts. Zwar existiert im internationalen Recht, das sich außerhalb des organisatorischen Gefüges staatlicher Strukturen realisiert, keine klare Aufgabenverteilung auf feste Legislativ-, Judikativ- und Exekutivinstanzen. Hintergrund der Forderung nach Gewaltenteilung ist jedoch nicht allein die differenzierte Institutionalisierung der Gewalten, sondern zugleich die Idee einer Gewaltentrennung. Nach ihrem historischen Ursprung war es wesentliches Ziel der gewaltengeteilten Rechtsordnung, eine Akkumulation hoheitlicher Gewalt durch Übertragung ihrer Inhalte auf unterschiedliche Organe zu verhindern.95 Mit der Trennung legislativer, exekutiver und judikativer Befugnisse sollte ein System gegenseitiger Kontrolle geschaffen werden, das eine wechselseitige Begrenzung der rechtlichen Machtausübung sicherstellen konnte.96 Dem widerspricht die Übertragung legislativer Kompetenzen auf ein Gericht, das hierdurch zur selbständigen Festlegung von Möglichkeiten und Grenzen richterlicher Aufgabenwahrnehmung ermächtigt wird.97 (b) Richterliche Normsetzung als Verstoß gegen das Gebot der Gewaltentrennung Entgegen Knoops’ Auffassung kann das Gebot der Gewaltenteilung in seiner Ausprägung als Trennung legislativer und judikativer Aufgaben auch im VölkerstrafHesse, Einführung, 2004, S. 82. von Bogdandy, Gubernative Rechtsetzung, 2000, S. 168. 94 Neusüß, Legislative Maßnahmen, 2008, S. 233. 95 Möllers, Gewaltengliederung, 2005, S. 68 m.w. N. 96 Magill, Va. L. REV. 86 (2000), S. 1127 (1148 ff.). 97 Die Anwendung des Grundsatzes setzt eine Außenwirkung der übertragenen Befugnisse voraus. Anders als bei Festlegung einer Geschäftsordnung durch das Gericht werden mit der Verfahrensordnung nicht nur interne Fragen, sondern auch die Rechte des Angeklagten geregelt. 92 93

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recht verwirklicht werden.98 Das Fehlen eines internationalen Legislativorgans vermag die Forderung nach Gewaltentrennung auf völkerrechtlicher Ebene nicht zu entkräften. Um eine Gewaltentrennung zu realisieren, hätte es lediglich der Rechtsetzung durch ein vom anwendenden Gericht unabhängiges Organ bedurft. Rechtsstaatlichen Anforderungen der Gewaltentrennung wäre daher genügt worden, hätte der Sicherheitsrat die Verfahrensordnung selbst erlassen oder einen Ausschuss zur Entwicklung der Prozessnormen eingesetzt. Die Normierung der Verfahrens- und Beweisordnung durch die Richter der Adhoc-Tribunale muss folglich als Verstoß gegen das Gebot der Gewaltenteilung qualifiziert werden. Allein praktische Erwägungen und die Berücksichtigung der politischen Gegebenheiten rechtfertigen das Vorgehen des Sicherheitsrats bei der Gründung der Gerichte.99 Aufgrund der andauernden Konflikte im ehemaligen Jugoslawien war ein zügiges Handeln dringend geboten und ließ keinen Raum für langwierige Verhandlungen im Sicherheitsrat.100 Die Delegation der Verfahrensgestaltung auf das Gericht war letztlich Folge mangelnder Alternativen, wollte man die Einsetzung eines internationalen Tribunals als Reaktion auf das begangene Unrecht zeitnah gewährleisten. Eine Festlegung des Verfahrensrechts durch die Richter internationaler Strafgerichte kann allein in seltenen Ausnahmefällen mit rechtsstaatlichen Anforderungen vereinbar sein. Zur Verwirklichung des Strafanspruchs ist die Ausübung legislativer Befugnisse durch ein Gericht allenfalls dann zu rechtfertigen, wenn eine anderweitige Durchführung der Verfahren an praktischen Hindernissen endgültig scheitern würde. (2) Rechtsstaatliche Aspekte bei Änderung der Verfahrens- und Beweisordnung Die Verfahrens- und Beweisordnung der Ad-hoc-Tribunale hat im Laufe der Jahre eine Reihe von Änderungen erfahren.101 Da zum Zeitpunkt ihres Inkrafttretens nur geringe praktische Erfahrungen bestanden, mussten in späteren Änderungsverfahren auftretende Probleme gelöst und erkannte Regelungslücken geschlossen werden.102 Angesichts der Komplexität des Regelungswerks bedarf der Ausgleich zwischen den verschiedenen Verfahrenszielen der regelmäßigen Modifikation, um Knoops, Theory and Practice, 2005, S. 344. van Heeck, Die Weiterentwicklung des formellen Völkerstrafrechts, 2006, S. 78. 100 So auch Wolfgang Schomburg (Schomburg: Internationale Strafgerichtsbarkeit. Lektionen aus den UN-Tribunalen für das frühere Jugoslawien und Ruanda. Vortrag vor der Gesellschaft für Außenpolitik, 18.02.2008 (letzter Zugriff am 25.03.2010): „Allerdings hätte dies langwierige Verhandlungen erfordert, für die auf Grund der noch andauernden Konflikte kein Raum war. Daher hat der Sicherheitsrat den Tribunalen lediglich die Ermächtigung zur Entwicklung einer eigenen Verfahrensordnung erteilt.“ 101 Die RPE liegen derzeit in ihrer 44. Fassung vor (10. Dezember 2009). 102 Third Annual Report of the ICTY, UN Doc. A / 51 / 292, 16. August 1996, Rn. 66. 98 99

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entstehenden Schwierigkeiten zu begegnen.103 Die Kompetenz zur Änderung des Verfahrensrechts wurde erneut den Richtern übertragen, die auf tatsächliche Entwicklungen flexibel reagieren und rechtliche Lücken der RPE umgehend schließen konnten (Regel 6 ICTY-RPE). Aufgrund der politischen Interessengegensätze konnte der Sicherheitsrat selbst eine effektive Anpassung der RPE an die Bedürfnisse der gerichtlichen Arbeit nicht garantieren. Die Möglichkeit, verfahrensrechtlichen Problemen wirkungsvoll zu begegnen, ist wesentliche Voraussetzung für eine beständige Gewährleistung prozessualer Fairness. Die Realisierung einer effektiven Verfahrenspraxis als Bedingung internationaler Strafverfolgung kann daher erneut eine Rechtsetzungsbefugnis des Gerichts legitimieren. (a) Verfahren zur Änderung der RPE Das Verfahren zur Änderung der RPE wird durch Regel 6 ICTY-RPE in drei verschiedenen Formen ausgestaltet. Nach Regel 6 (A) gilt eine Neuregelung als angenommen, wenn sie auf Vorschlag eines Richters, des Anklägers oder des Kanzlers von mindestens zehn permanenten Richtern in der folgenden Plenarsitzung bestätigt wird. Auf andere Weise kann ein Änderungsvorschlag gem. Regel 6 (B) nur durchgesetzt werden, wenn er einstimmig von den permanenten Richtern unterstützt wird. Letztlich eröffnet Regel 6 (C) die Möglichkeit, das Vorschlagsverfahren durch eine Richtlinie des Gerichtspräsidenten („Practice Direction“) auszugestalten. Von dieser Ermächtigung machte Präsident Jorda am 24. Januar 2002 durch die Einsetzung des „Rules Committee“ zur Vorbereitung prozessualer Neuregelungen Gebrauch.104 Das Komitee, bestehend aus mindestens drei permanenten Richtern sowie nichtstimmberechtigten Vertretern der Kanzlei, der Anklage und der Verteidigungsbehörde, nimmt Änderungsanträge entgegen. Das Komitee fungiert hierbei als eine Vorinstanz der Plenums, dem es angenommene Vorschläge unterbreitet. (b) Die Wahrung von Waffengleichheit im Rahmen des Änderungsverfahrens Die privilegierte Vorschlagsberechtigung einzelner Organe nach Regel (A) ICTYRPE wirft aus rechtsstaatlicher Sicht die Frage nach der Gewährleistung von Waffengleichheit zwischen den Parteien auf.105 Die Äquivalenz der Verfahrensrechte von Anklage und Verteidigung dient dem System prozessualer Fairness.106 Zur Verwirklichung eines effektiven Gleichgewichts zwischen den Parteien muss ihre Mitwirkung am Verfahren einheitlichen Bedingungen unterliegen. Die Änderung einer Ascensio, LJIL 9 (1996), S. 466 (467). Practice Direction on Procedure for the Proposal, Consideration of and Publication of Amendments to the Rules of Procedure and Evidence of the International Tribunal, IT / 143 / Rev.2. 105 Ausführlich zur Frage der Waffengleichheit in Kapitel D. X. 106 Reid, A Practioner’s Guide, 2004, S. 100; Boas, The Milošević Trial, 2007, S. 40. 103 104

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Bestimmung der RPE ist eine hilfreiche Möglichkeit für die Parteien, prozessuale Hindernisse ihrer Arbeit aufzuzeigen und eigene Interessen durch eine Modifikation der ungünstigen Norm durchzusetzen. Ein differenziertes Änderungsverfahren nach Regel 6 ICTY-RPE, das an einen Vorschlag der Verteidigung strengere Folgebedingungen knüpft, widerspricht dem Grundsatz einer organisatorischen Gleichbehandlung von Anklage und Verteidigung im Sinne rechtsstaatlicher Waffengleichheit. Ein Vergleich der Verfahrensregelungen zeigt, dass die Problematik am ICC in gleicher Weise besteht. Die Zulässigkeit einer differenzierten Vorschlagsberechtigung soll daher an dieser Stelle allgemein erörtert werden. Art. 51 ICC-Statut gewährt lediglich dem Ankläger ein Vorschlagsrecht und verweist die Verteidigung auf die Anrufung der initiativberechtigten Richter und Staaten.107 Da die Verteidigung hiermit bereits von einer eigenständigen Vorschlagsbefugnis ausgenommen ist, werden durch das ICC-Statut die Hürden für eine Geltendmachung ihrer verfahrensrechtlichen Vorstellungen weiter erhöht. In seiner Kommentierung relativiert Triffterer die Benachteiligung des Angeklagten mit dem Verweis auf eine mittelbare Antragsmöglichkeit der Verteidigung: „[I]t is entirely possible that proposals would arise indirectly from non-governmental organizations, victims group, defence counsel or others, who themselves would suggest the proposals to those formally empowered to advance them.“108

Die Darstellung Triffterers verkennt die Bedeutung einer prozessualen Gleichberechtigung der Verteidigung für die Gewährleistung eines fairen Strafverfahrens. Die Verteidigung ist integraler Bestandteil einer rechtsstaatlichen Verfahrensordnung und legitimes Gegengewicht zur effektiven Strafverfolgung. Ihre Belange sind mit den Interessen einer internationalen Nichtregierungsorganisation (NGO) nicht gleichzusetzen. Wenngleich die Praxis der internationalen Strafgerichte bislang keine Kritik erfahren hat, ist aus rechtsstaatlicher Perspektive eine Änderung der bestehenden Vorschlagskompetenzen geboten. Vor dem Hintergrund einer organisatorischen und verfahrensrechtlichen Waffengleichheit muss die Verteidigung in die Lage versetzt werden, das für den Ankläger geltende Verfahren entsprechend initiieren zu können. Als Vorbild können hierbei die Regelungen der Außerordentlichen Kammern in Kambodscha dienen. Regel 3 der Internal Rules (ECCC-IR) legitimiert Anklage und Verteidigungsbehörde gleichermaßen zum Vorschlag verfahrensrechtlicher Neubestimmungen.109

107 Art. 51 II sieht ein Vorschlagsrecht für jeden Vertragsstaat, die Richter bei Vorliegen einer absoluten Mehrheit sowie den Ankläger vor. 108 Triffterer, Commentary, 2008, Art. 51, Rn. 23. 109 Rule 3 Internal Rules ECCC: „1. Requests for amendment of these IRs may be made to the Rules and Procedure Committee by a Judge, a Co-Investigating Judge, a Co-Prosecutor, the Head of the Defence Support Section, the Head of the Victims Unit and the Director or Deputy Director of the Office of Administration.“

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(c) Die Wahrung von Rechtssicherheit bei Inkrafttreten von Änderungen Die Neuregelung einer Verfahrens- oder Beweisbestimmung kann sich auf die Pflichten der beteiligten Organe und hierdurch auf den Ausgang eines Verfahrens auswirken. Werden bestehende Prozessnormen geändert, stellt sich daher folgerichtig die Frage nach einer Rechtssicherheit für den Angeklagten.110 Regel 6 (D) der ICTY-RPE legt fest, dass Änderungen sieben Tage nach ihrer öffentlichen Bekanntgabe in Kraft treten. Sie können in einem schwebenden Verfahren nicht zum Nachteil des Angeklagten geltend gemacht werden („an amendment […] shall not operate to prejudice the rights of the accused“). Mit dieser Einschränkung wird sichergestellt, dass die vorgenommenen Neuregelungen das Ergebnis einer allgemeinen Abwägung darstellen und nicht die Rechte des Angeklagten in einer konkreten Situation beschränken sollen. Dem Charakter einer objektiven Verfahrensordnung würde es widersprechen, sollte im Einzelfall zu Lasten des Angeklagten disponiert werden. Die Entscheidung des ICTY im Fall Blaškić macht deutlich, dass das Vorliegen eines Nachteils im Sinne der Norm oftmals nicht eindeutig zu bestimmen ist.111 Dem Urteil des Gerichts lag die Frage zugrunde, ob sich der Ankläger auf die geänderte Regel 66 (A) (ii) ICTY-RPE berufen konnte, um eine Offenlegung von Zeugenaussagen zu verweigern. Durch die Neubestimmung wurde dem Ankläger die Wahrung der Anonymität von Zeugen zugestanden, auf deren Befragung er in der Hauptverhandlung verzichten wollte. Die Vertreter des Angeklagten erklärten die Vorschrift unter Hinweis auf Regel 6 (D) ICTY-RPE für nicht anwendbar. Das Trial Chamber lehnte die Argumentation der Verteidigung im Ergebnis ab und bestätigte die Geltung der Norm im laufenden Verfahren: „The Trial Chamber is of the opinion that that amendment does not constitute a restriction of the rights of the Defence to obtain discovery of witness statements but rather a clarification of the spirit of the rule that is the source of the obligation.“112

Die Entscheidung zeigt, dass ein Nachteil im Sinne von Regel 6 (D) ICTY-RPE nicht bereits dann vorliegen soll, wenn durch eine Neuregelung Rechte und Pflichten der Organe entsprechend ihrer bestehenden Konzeption präzisiert werden. Die Feststellung einer Benachteiligung des Beschuldigten begründet eine Ausnahme von der unmittelbaren Anwendung geltender Normen und muss daher zu Recht restriktiv verstanden werden.

van Heeck, Die Weiterentwicklung des formellen Völkerstrafrechts, 2006, S. 92. ICTY Blaskic, Decision on the Defence Motion to Compel the Disclosure of Rule 66 and 68 Material Relating to Statements Made by a person known as „X“, IT-95-14-T, 15. Juli 1998. 112 Ebd., Rn. 8. 110 111

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(3) Rechte des Beschuldigten in den RPE Die Verfahrens- und Beweisordnungen der Ad-hoc-Gerichte gestalten die Rechte des Beschuldigten in den verschiedenen Prozessstadien näher aus. War ihr Erlass durch die Richter der Tribunale rechtsstaatlich problematisch, so zeugt ihr Inhalt von dem Bestreben nach einem fairen Ausgleich der Interessen gerechter Strafverfolgung und effektiver Verteidigung.113 Als Vorbild nachfolgender Prozessregelungen haben die RPE wichtige Grundsätze des völkerstrafrechtlichen Verfahrens entwickelt und Antworten auf entscheidende prozessuale Fragen geliefert.114 Beispielhaft seien einige Regelungen genannt, die eine umfassende Anerkennung rechtsstaatlicher Verfahrensgarantien belegen. Regel 42 ICTY-RPE legt rechtsstaatliche Anforderungen an die Ermittlung und Vernehmung von Verdächtigen durch den Ankläger fest. Prozessual abgesichert wird die Einhaltung dieser Grundsätze durch die Begründung einer richterlichen Überprüfungspflicht in Regel 62 ICTYRPE. Regel 63 ICTY-RPE bestimmt die Rechte des Angeklagten im Rahmen seiner Befragung während des Vorverfahrens und normiert insbesondere dessen Anspruch auf Rechtsbeistand.

cc) Weitere Rechtsgrundlagen Das Verfahrensrecht der Ad-hoc-Tribunale erschließt sich weitestgehend durch sein Statut und die RPE. Gleichwohl bestehen einzelne Bereichsregelungen, die im Rahmen der Bewertung eines rechtsstaatlichen Verfahrens zu berücksichtigen sind. Die Haftordnung des ICTY (Rules of Detention)115 normiert die Rechte inhaftierter Personen und beantwortet hierbei insbesondere die rechtsstaatlich interessante Frage nach dem Kontakt des Gefangenen mit seinem Verteidiger. Zur Festlegung der Haftordnung waren erneut die Richter der Ad-hoc-Tribunale legitimiert, die sich bei der rechtlichen Formulierung an den internationalen Menschenrechtsstandards in den United Nations Standard Minimum Rules for the Treatment of Prisoners116 orientierten.117 Praktische Bedeutung kommt zudem der Richtlinie zur Verteidigerbestellung (Directive on Assignment of Defence Counsel) zu, die auf Vorschlag des 113 ICTY Tadić, Decision on the Defense Motion for Interlocutory Appeal on Jurisdiction, IT-94-1-T, 2. Oktober 1995, Rn. 46: „An exermination of the Statute of the Int Tribunal, and of the RPE adopted persuant to that Statute leads to the conclusion that it has been established in accordance with the rule of law.“ 114 Ascensio, LJIL 9 (1996), S. 466 (477): „Far from being vain and idealistic, it provides operative measures to ensure fair trials.“ 115 ICTY-Rules Governing the Detention of Persons awaiting Trial or Appeal before the Tribunal or otherwise Detained on the Authority of the Tribunal, UN Doc. IT / 38, 5. Mai 1994; ICTR-Rules Governing the Detention of Persons awaiting Trial or Appeal before the Tribunal or otherwise Detained on the Authority of the Tribunal, 9. Januar 1996. 116 UN Doc. A / CONF / 6 / 1, Annex I-A. 117 An dieser Stelle wird erneut die große Bedeutung menschenrechtlicher Bestimmungen für das Völkerstrafprozessrecht deutlich, vgl. oben II. 1. c).

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Kanzlers gemäß Regel 45 (A) ICTY-RPE von den Richtern erlassen wurde.118 Abschließend sei der nach Regel 46 (C) durch den Kanzler festgelegte Verhaltenskodex für Verteidiger (The Code of Professional Conduct for Defence Counsel appearing before the International Tribunal)119 genannt, der bei der Beurteilung eines anwaltlichen Fehlverhaltens nach Regel 44 ICTY-RPE Anwendung findet.

b) Der Internationale Strafgerichtshof Anders als die Ad-hoc-Tribunale wurde der Internationale Strafgerichtshof durch multilateralen Vertrag zwischen den Staaten der Vereinten Nationen gegründet. Das Verfahrensrecht des ICC ist das Ergebnis eines komplizierten Einigungsprozesses einer Vielzahl beteiligter Staaten auf internationaler Ebene. Neben der Entwicklung verschiedener Verfahrensregelungen normiert das Prozessrecht des ICC eine hierarchische Abfolge der Rechtsquellen unter Einbeziehung des allgemeinen Völkerrechts. aa) Die Rechtsgrundlagen des ICC (1) Das Statut des ICC Nach Art. 21 Abs. 1 ICC-Statut stellen das Statut, die Verfahrens- und Beweisordnung sowie die Verbrechenselemente die primären Rechtsquellen des Internationalen Strafgerichtshofes dar. Das Statut des Internationalen Strafgerichtshofs wurde am 17. Juli 1998 auf der Staatenkonferenz der Vereinten Nationen angenommen und trat am 1. Juli 2002 in Kraft.120 Der vertragliche Gründungsprozess legitimierte die Staatengemeinschaft zur umfassenden Regelung materieller und prozessualer Fragen. Während die Befugnisse des Sicherheitsrates bei Errichtung der Ad-hoc-Tribunale aus Kapitel VII UN-Charta begrenzt waren, erlaubte die vertragliche Gründung des ICC eine kompetenziell unbeschränkte Fortentwicklung des Völkerstrafrechts. Das Statut konnte folglich über eine bloße Abbildung und Systematisierung von Gewohnheitsrecht hinausgehen und eigenständige Prozessvorgaben festlegen.121 Als Ausdruck eines allgemeinen Staatenkonsenses über die rechtlichen Voraussetzungen internationaler Strafgerichtsbarkeit122 kann das ICCStatut mit Recht als „zentrale Rechtsquelle des Völkerstrafrechts“123 bezeichnet werden. UN Doc. IT / 73 / Rev.8. UN Doc. IT / 125. 120 Rome Statute of the International Criminal Court U.N. Doc. A / CONF. 183 / 9. 121 Werle, Völkerstrafrecht, 2007, Rn. 152. 122 ICTY Furundzija, Judgment, IT-95-17 / 1-T, 10. Dezember 1998, Rn. 227: „At any event, the Rome Statute may be taken as constituting an authoritative expression of the legal views of a great number of States.“ 123 Werle, Völkerstrafrecht, 2007, Rn. 151. 118 119

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Das Verfahrensrecht des ICC orientiert sich inhaltlich in weiten Teilen an den Erkenntnissen der ICTY-RPE,124 weist jedoch bedeutende Unterschiede in seiner strukturellen Ausgestaltung auf. In den Verhandlungen über die prozessualen Grundlagen des Gerichts bestand zwischen den Staaten Uneinigkeit in der Frage nach einer formalen Festlegung verfahrensrechtlicher Standards. Vertreter angloamerikanischer Rechtsordnungen sprachen sich für den Erlass einer nachrangigen Verfahrensordnung nach Vorbild der RPE des Jugoslawientribunals aus. Demgegenüber sollte das Verfahrensrecht nach kontinentaleuropäischem Verständnis vollständig in das Statut integriert werden, um eine transparente und bedeutungsgerechte Regelung zu gewährleisten.125 Die Normierung des Prozessrechts stellt sich als wesentliche Voraussetzung für die Bewertung von Funktionsweise und Legitimität des Gerichts dar. Ihre Einbeziehung in das Statut als zentraler Rechtsgrundlage des ICC trägt der besonderen Bedeutung prozessualer Fragen Rechnung und wäre aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit zu befürworten. Die Parteien einigten sich auf eine Kompromisslösung, die Teile des Verfahrensrechts unmittelbar durch das Statut festlegt und andere Bereiche in gesondert beschlossenen RPE regelt. So enthält das ICC-Statut in Art. 55, 66 und 67 wesentliche Rechte des Beschuldigten, während beispielsweise die Befugnisse der Verteidigung oder der Anspruch auf Rechtsmittel in den Regeln 20 ff bzw. 149ff der ICC-RPE bestimmt werden. (2) Die Verfahrens- und Beweisordnung des ICC Die Verfahrens- und Beweisordnung des ICC ergänzt die Verfahrensvorgaben des Statuts um wesentliche Bereichsregelungen und notwendige Konkretisierungen. Angesichts ihrer verfahrensrechtlichen Bedeutung ist die Frage nach der Befugnis zu Erlass und Änderung der RPE erneut von erheblichem Gewicht. (a) Erlass und Änderung der Verfahrens- und Beweisordnung Art. 51 Abs. 1 ICC-Statut legitimiert die Versammlung der Vertragsstaaten126 zum Erlass einer Verfahrens- und Beweisordnung (Rules of Procedure and Evidence) mit der Mehrheit von zwei Dritteln ihrer Stimmen. Im Gegensatz zu den Regelungen der Ad-hoc-Tribunale wurde die Festlegung prozessualer Standards nicht den Richtern übertragen, sondern blieb in der Verantwortung der Gründerstaaten. Zuvor hatte sich das zur Erarbeitung des Statuts eingesetzte Preparatory Committee deutlich gegen eine Ermächtigung der Richter nach dem Vorbild des ICTY ausgesprochen:

124 Roberts, Aspects in: May / Tolbert et al. (Hrsg.), Essays on ICTY Procedure and Evidence in Honour of Gabrielle Kirk McDonald, 2001, S. 559 (560). 125 van Heeck, Die Weiterentwicklung des formellen Völkerstrafrechts, 2006, S. 90. 126 Gemäß Art. 112 I ICC-Statut entsendet jeder Vertragsstaat einen Verteter in die Versammlung.

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„The view was generally expressed that the method used for the statutes of the ICTY and the ICTR which left it to the judges to elaborate and adopt substantive rules of procedure and evidence, was not an appropriate model for the elaboration of such rules for a permanent court.“127

Das Bestreben nach einer stärkeren politischen Kontrolle und das durch die Vorarbeit des ICTY bedingte geringere Bedürfnis nach Flexibilität in der Normgestaltung veranlasste die Vertragsstaaten zu einer selbständigen Wahrnehmung ihrer Regelungskompetenzen.128 Auf Grundlage des erarbeiteten Entwurfs der Preparatory Commission beschloss die Staatenversammlung im September 2002 die Verfahrensund Beweisordnung des ICC.129 Nicht allein die Befugnis zum Erlass, sondern auch die Berechtigung zur verbindlichen Änderung der RPE verblieb im Folgenden bei den Vertragsstaaten. Im regulären Verfahren nach Art 51 Abs. 2 ICC-Statut wurde den Richtern – ebenso wie dem Ankläger und den einzelnen Staaten –130 lediglich ein bedingtes Vorschlagsrecht zugestanden. Änderungsanträge, die von den Richtern in absoluter Mehrheit beschlossen werden müssen, bedürfen zu ihrer Annahme der Bestätigung von zwei Dritteln der Vertragsstaaten. Allein in Fällen besonderer Eilbedürftigkeit sind die Richter nach Art. 51 Abs. 3 ICC-Statut selbständig befugt, provisorische Verfahrensregelungen zu erlassen. Über die endgültige Annahme der Änderungen muss auf der nächsten Tagung der Staatenversammlung entschieden werden. Die Voraussetzungen nach Art. 51 Abs. 3 ICC-Statut sind gleichwohl streng – eine einstweilige Regelung darf nur bei „dringender Notwendigkeit“ getroffen werden und erfordert die Zustimmung von zwei Dritteln der Richter. Grund für ihren geringen Einfluss auf die Verfahrensordnung war die Besorgnis der Vertragsparteien über die Wahrung ihrer staatlichen Souveränität.131 Wenngleich einer Bindung der Kammern an ein unabhängiges Prozessrecht im Sinne der Gewaltentrennung zuzustimmen ist, wurde die Einschränkung der richterlichen Befugnisse in der Literatur teilweise kritisch bewertet. „[B]y not trusting the judges to interpret and apply international law (…) the authors of the Statute have limited the chance of making the Court an efficient instrument.“132

127 Report of the Preparatory Committee on the Establishment of an International Criminal Court, Vol. I, UN Doc. A / 51 / 22, Rn. 186. 128 Roberts, Aspects, in: May / Tolbert, Essays on ICTY Procedure and Evidence in Honour of Gabrielle Kirk McDonald, 2001, S. 559 (569). 129 ICC-ASP / 1 / 3. 130 Zur rechtsstaatlichen Kritik an einem fehlenden Vorschlagsrecht für die Verteidigung siehe oben, II. 2. a) bb) (2) (a). 131 „The negotiators of the Rome Statute wished to leave as little room is possible for judicial development of procedural rules“, Guariglia, The Rules, in: Cassese / Gaeta / Jones (Hrsg.), The Rome Statute, Bd. 2, 2002, S. 1111 (1115). 132 Pellet, Applicable Law, in: Cassese / Gaeta / Jones (Hrsg.), The Rome Statute, 2002, Bd. 2, S. 1051 (1058).

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Indes erscheinen die Möglichkeiten der Kammer zur Gestaltung des Verfahrensrechts weniger begrenzt als zunächst angenommen. In Art. 52 ICC-Statut werden die Richter zum Erlass einer Geschäftsordnung (Regulations of the Court) ermächtigt.133 Neben einer Regelung der internen Organisation enthalten die Vorschriften detaillierte Bestimmungen über Anforderungen und Ablauf des Beweisverfahrens. Sollte Art. 51 ICC-Statut die Richter von einer Normsetzung ausschließen, wird dieser Anspruch durch die Befugnis zur Formulierung einer Geschäftsordnung zumindest teilweise aufgehoben. Eine bedeutende Schranke findet die Kompetenz der Richter allerdings im normativen Rangverhältnis der Prozessregeln. Regulation 1 Abs. 1 legt den subsidiären Charakter der Geschäftsordnung gegenüber Statut und Beweisordnung des Gerichts zweifelsfrei fest. Die Entscheidungen der Vertragsstaaten über die grundlegenden Richtlinien des Verfahrens setzen der richterlichen Normbildung einen klaren rechtlichen Rahmen. Die begrenzte Befugnis der Richter schließt eine Modifikation des vorrangigen Prozessrechts aus und erschöpft sich in der Präzisierung vorgegebener Grundsätze. Gegenüber den Regelungen am ICTY stehen den Richtern somit weitaus geringere Möglichkeiten der Einflussnahme auf die Verfahrensordnung zur Verfügung. (b) Die Bedeutung des Rückwirkungsverbotes für die Änderungen der RPE Beschließt die Versammlung der Vertragsstaaten eine Änderung der RPE, so kann die Neuregelung gemäß Art. 51 Abs. 4 ICC-RPE nicht rückwirkend zu Lasten des Angeklagten in Kraft treten. Die Formulierung der Norm wirft jedoch Fragen hinsichtlich der Gewährleistung von Rechtssicherheit und Verfahrensgerechtigkeit auf. Wenngleich Art. 51 Abs. 4 ICC-RPE seinem Wortlaut nach eine nachteilige Rückwirkung der modifizierten Regelung untersagt, wird ihre Anwendung im schwebenden Verfahren nicht explizit ausgeschlossen.134 Hierin könnte ein Unterschied zu Regel 6 (D) ICTY-RPE zu sehen sein, die Ausnahmen vom Wirkungsbereich nicht allein für bereits abgeschlossene Sachverhalte, sondern ausdrücklich für das gesamte anhängige Verfahren vorsieht. Zwar erkennt van Heeck an dieser Stelle eine „Übereinstimmung des Strafverfahrensrechts“135 auf internationaler Ebene, doch legt ein wortgetreues Verständnis ein geringeres Schutzniveau für die Rechtssicherheit des Angeklagten nahe. Spiegelbildlich stellt sich die Frage nach der rückwirkenden Geltung von Neuregelungen zum Vorteil des Angeklagten.136 Da Art. 51 Abs. 4 ICC-Statut lediglich ein entsprechendes Verbot für nachteilige Vorschriften 133 Die Geschäftsordnung wurde erstmalig am 26. Mai 2004 erlassen. Ihre aktuelle Fassung trat am 18. Dezember 2007 in Kraft. 134 Art. 51 IV ICC-Statut: „Amendments to the RPE (…) shall not be applied retroactively to the detriment of the person who is being investigated or prosecuted or who has been convicted.“ 135 van Heeck, Die Weiterentwicklung des formellen Völkerstrafrechts, 2006, S. 92. 136 Triffterer, Commentary, 2008, Art. 51 Rdn. 32.

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normiert, kann dem Regelungswerk keine klare Anwendungspflicht begünstigender Änderungen entnommen werden. Somit ist unklar, ob eine zugunsten des Angeklagten erwirkte Verfahrensmodifikation dessen Position noch im laufenden Verfahren verbessern kann. Eine Antwort auf beide Fragestellungen könnte Art. 24 ICC-Statut zu entnehmen sein, der im allgemeinen Teil des Vertrages Geltung und Reichweite eines völkerstrafrechtlichen Rückwirkungsverbots bestimmt. Hierbei legt Art. 24 ICC-Statut im Interesse der Rechtssicherheit einen grundsätzlichen Vorrang der für den Angeklagten günstigeren Regelung fest. „In the event of change in the law applicable to a given case prior to the final judgement, the law more favourable to the person being investigated, prosecuted or convicted shall apply.“

Im Hinblick auf die erörterten Problempunkte ließen sich aus der Norm zwei zentrale Aussagen herleiten. Zum einen stünde der Wortlaut der Norm einer Anwendung nachteiliger Änderungen im schwebenden Verfahren bis zur Urteilsverkündung entgegen. Zum anderen würde festgelegt, dass begünstigende Rechtsänderungen dem Angeklagten auch im laufenden Verfahren zu Gute kommen müssten. Wenngleich Art. 24 ICC-Statut die Rechtsfolgen normativer Änderungen nach Erlass des Statuts gestalten soll, ist seine Anwendung auf die Modifikation prozessualer Regelungen umstritten.137 Für eine Beschränkung der Norm auf Fragen des materiellen Rechts mag angeführt werden, dass das völkerstrafrechtliche Rückwirkungsverbot seinem historischen Ursprung nach auf die Geltung von Straftatbeständen zugeschnitten war. Die Wirkungen verfahrensrechtlicher Änderungen würden in Art. 51 ICC-Statut eigenständig geregelt, wodurch ein Rückgriff auf die allgemeine Regelung in Art. 24 ICC-Statut ausgeschlossen sei. Gegen diese Sichtweise sprechen indes systematische und grammatikalische Argumente, die eine Anwendung der Norm auf prozessrechtliche Neuregelungen zulassen. Nach dem Wortlaut des Art. 24 ICC-Statut gelten seine Vorgaben für jede Änderung von Recht („law“). Mit Blick auf die Normsystematik kann der Begriff im Sinne von Art. 21 ICC-Statut verstanden werden, der das anwendbare Recht („applicable law“) des Gerichtshofs festlegt und dabei in Abs. 1 lit. a explizit die Verfahrens- und Beweisordnung erfasst.138 Hiernach würden Änderungen der RPE unmittelbar den Rechtsfolgen des Art. 24 ICC-Statut unterworfen sein. Selbst bei Ablehnung einer direkten Anwendung des Art. 24 ICC-Statut müssen die Grundsätze der Norm zur Wahrung von Rechtssicherheit sinngemäß auf Modifikationen des Prozessrechts übertragen werden. Soll der Grundsatz des Rückwirkungsverbots eingehalten und ein den Ad-hoc-Tribunalen entsprechender Schutzstandard garantiert werden, dürfen Änderungen im schwebenden Verfahren nicht zu Lasten des Angeklagten berücksichtigt werden. Im Gegenzug gebietet eine teleolo137 138

Triffterer, Commentary, 2008, Art. 51 Rdn. 32. Triffterer, Commentary, 2008, Art. 51 Rdn. 32.

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gische Betrachtung des Art. 51 ICC-Statut die unmittelbare Geltung begünstigender Neuregelungen im laufenden Prozess. Die Ausnahme von der sofortigen Anwendbarkeit erlassener Normen wird durch die Forderung nach Rechtssicherheit begründet. Da dieser Grundsatz die Rechtsposition des Angeklagten schützen will, kann er ausschließlich zu dessen Gunsten nutzbar gemacht werden und keine Wirkung auf begünstigende Rechtsänderungen entfalten. Zum anderen würde dem Angeklagten der Anreiz zur Erwirkung von Änderungen der RPE genommen, könnte er im Folgenden nicht selbst von ihnen profitieren.139 Die Beteiligung des Beschuldigten an regelmäßigen Modifikationen der Verfahrensordnung ist jedoch notwendig, um ein prozessuales Gleichgewicht in den Einflüssen von Anklage und Verteidigung sicherzustellen. Werden die Bestimmungen des Art. 24 ICC-Statut nicht unmittelbar herangezogen, so muss sich eine interessengerechte Auslegung des Art. 51 ICC-Statut gleichwohl an den Rechtsfolgen orientieren. (3) Weitere Rechtsgrundlagen Neben dem Statut und den RPE des Internationalen Strafgerichts kommt insbesondere den Verbrechenselementen („Elements of crime“) praktische Bedeutung zu. Art. 9 ICC-Statut ermächtigt die Vertragsstaaten zum Erlass materieller Regelungen, die dem Gericht bei der Anwendung von Verbrechenstatbeständen als Auslegungshilfe dienen sollen.140 Ihre rechtliche Verbindlichkeit wird mit Blick auf den Wortlaut, der eine Unterstützung der richterlichen Rechtsfindung festschreibt („shall assist the court“), teilweise abgelehnt.141 Erlass und Änderung der Verbrechenselemente werden nach Vorbild der RPE den Vertragsstaaten überantwortet. Wenngleich in den Verhandlungen über Art. 9 ICC-Statut die Zuständigkeit der Richter für eine Festlegung der Verbrechenselemente gefordert wurde, sprach sich die Mehrheit der Staaten gegen eine Kompetenzübertragung auf das Gericht aus.142 Aus Gründen rechtsstaatlicher Gewaltentrennung ist es zu begrüßen, dass die Befugnis zur generellen Konkretisierung eines Normtextes nicht durch das Justizorgan selbst wahrgenommen wird.143 Vorschriften mit prozessrechtlichem Bezug finden sich ferner im Verhaltenskodex für Verteidiger (Code of professional conduct for counsel)144, der gemäß Regel 8 ICC-RPE von der Versammlung der Vertragsstaaten beschlossen wurde. Eine entsprechende Regelung des richterlichen Verhaltens findet sich im Code of Judicial 139 Der Angeklagte kann zwar nicht selbst ein Änderungsverfahren initiieren, hat jedoch die Möglichkeit, auf vorschlagsberechtigte Organe wie einen Vertragsstaat oder die Richter einzuwirken. 140 Werle, Völkerstrafrecht, 2007, Rn. 151. 141 Triffterer, Commentary, 2008, Art. 20, Rn. 8. Diese Auffassung scheint jedoch im Widerspruch zum Wortlaut von Art. 21 Abs. 1 lit. a ICC-Statut zu stehen. 142 Jarasch, HuV-I 12 / 1 (1999), S. 10 (17). 143 Siehe hierzu bereits die Diskussion in Kapitel C. II. 1. a) bb) (1). 144 Der Verhaltenskodex für Verteidiger trat am 1. Januar 2006 in Kraft.

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Ethics vom 9. März 2005. Demgegenüber fehlt es an einer eigenen Haftordnung nach Vorbild der Ad-hoc-Tribunale, da das geltende Recht als ausreichend angesehen wurde.145 bb) Die Normenhierarchie nach Art. 21 ICC-Statut Art. 21 ICC-Statut benennt mögliche Rechtsquellen des Tribunals und bestimmt die hierarchische Grundlage ihres Verhältnisses.146 Die Regelung von Anwendung und Vorrang gerichtlicher Normen ist im internationalen Strafrecht bislang einzigartig. „Article 21 (Applicable law) 1. The Court shall apply: (a) In the first place, this Statute, Elements of Crimes and its Rules of Procedure and Evidence; (b) In the second place, where appropriate, applicable treaties and the principles and rules of international law, including the established principles of the international law of armed conflict; (c) Failing that, general principles of law derived by the Court from national laws of legal systems of the world including, as appropriate, the national laws of States that would normally exercise jurisdiction over the crime, provided that those principles are not inconsistent with this Statute and with international law and internationally recognized norms and standards. 2. The Court may apply principles and rules of law as interpreted in its previous decisions. 3. The application and interpretation of law pursuant to this article must be consistent with internationally recognized human rights, and be without any adverse distinction founded on grounds such as gender as defined in article 7, paragraph 3, age, race, colour, language, religion or belief, political or other opinion, national, ethnic or social origin, wealth, birth or other status.“

Die Vorschrift des Art. 21 ICC-Statut lässt sich entsprechend ihrer Absätze in drei Normkategorien aufteilen. Während Abs. 1 verbindliche Vorgaben macht („shall apply“), stellt Abs. 2 eine mögliche Rechtserkenntnisquelle („may apply“) und Abs. 3 letztlich eine allgemeine Vereinbarkeitsregel („must be consistent“) dar. (1) Die Geltung spezieller Rechtsquellen und die Einbeziehung allgemeinen Völkerrechts nach Art. 21 Abs. 1 ICC-Statut Der erste Absatz ist erneut nach Rechtsgrundlagen gegliedert, die in der Reihenfolge ihrer Nennung Anwendung finden. Zunächst legt Art. 21 Abs. 1 lit. a ICCStatut als primäres Recht des Gerichtshofs das Statut, die Verbrechenselemente sovan Heeck, Die Weiterentwicklung des formellen Völkerstrafrechts, 2006, S. 94. Art. 21 ICC-Statut orientiert sich hierbei an Art. 38 IGH-Statut, legt jedoch eine normative Rangordnung fest. 145 146

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wie die Verfahrens- und Beweisordnung fest. Wenngleich eine hierarchische Struktur innerhalb von Art. 21 Abs. 1 lit. a ICC-Statut nicht ausdrücklich vorgesehen wird, ergibt sich eine Vorrangstellung des Statuts implizit aus den Vereinbarkeitsregelungen in Art. 9 Abs. 3 bzw. Art. 51 Abs. 4 S. 1 ICC-Statut.147 An zweiter Stelle hat das Gericht gemäß Art. 21 Abs. 1 lit. b ICC-Statut anwendbare Verträge sowie die Grundsätze und Regeln des Völkerrechts zu berücksichtigen. Von besonderer Bedeutung für die Wahrung rechtsstaatlicher Verfahrensanforderungen ist die hierdurch begründete subsidiäre Geltung internationaler Menschenrechtsverträge.148 Wenngleich praktische Auswirkungen ihrer Einbeziehung über Art. 21 Abs. 1 lit. b ICC-Statut vielfach bestritten werden,149 ist ihre Integration als Ausdruck einer umfassenden Schutzintention zu werten. Die Einbeziehung allgemeiner Rechtsgrundsätze durch Art. 21 Abs. 1 lit. b ICCStatut ist umstritten, hat jedoch praktisch nur geringe Relevanz.150 Der Grund für die widerstreitenden Interpretationsansätze liegt in der Terminologie der Norm. Durch die Verwendung nahezu analoger Begriffe in Art. 21 Abs. 1 lit. b ICC-Statut („principles“ – Grundsätze) und Art. 21 Abs. 1 lit. c ICC-Statut („general principles“ – allgemeine Grundsätze) werfen die Vorschriften Abgrenzungsschwierigkeiten auf. Überzeugend erscheint die Auffassung Pellets, der die Bestimmung von Art. 21 Abs. 1 lit. b ICC-Statut als Anwendungsgebot international geltenden Gewohnheitsrechts versteht und allgemeine Rechtsgrundsätze aus nationalen Rechtsordnungen allein von Art. 21 Abs. 1 lit. c erfasst sieht.151 Unterstützt wird der Gedanke einer strengen Differenzierung durch die unterschiedliche Herkunft und rechtliche Qualifikation der Normen, die entsprechend ihrer Rechtsnatur dem innerstaatlichen Recht oder dem originären Völkerrecht entnommen werden. „These are in fact, two distinct sources of public international law: the principles of international law are customary norms covered by Art. 38 (b) ICJ-Statute, whereas ‚general principles of law‘ are a ‚third source‘ covered by section (c) of the above provision (…): The latter are a distinct source of rules of international law, generally seen as the common basis of the national laws of all States.“152

147 Die Vorschriften bestimmen, dass die Verbrechenselemente (Art. 9 III ICC-Statut) und die RPE (51 IV ICC-Statut) mit dem Statut vereinbar sein müssen. 148 van Heeck, Die Weiterentwicklung des formellen Völkerstrafrechts, 2006, S. 96. 149 Pellet, Applicable Law, in: Cassese / Gaeta / Jones (Hrsg.), The Rome Statute, Bd. 2, 2002, S. 1051 (1068). 150 Ausführliche Darstellungen mit weiteren Nachweisen finden sich insbesondere bei Triffterer, Commentary, 2008, Art. 21 Rn. 11 ff., 15 ff. sowie bei Pellet, Applicable Law, in: Cassese / Gaeta / Jones (Hrsg.), The Rome Statute, Bd. 2, 2002, S. 1051 (1080 ff.). 151 Pellet, Applicable Law, in: Cassese / Gaeta / Jones (Hrsg.), The Rome Statute, Bd. 2, 2002, S. 1051 (1072); „Is it necesaary to make a distinction between ‚principles‘ of international law on the one hand and ‚rules‘ on the other? Undoubtedly not, at least with regard to their nature: in both cases, they are customary norms.“ 152 Vgl. Pellet, Applicable Law, in: Cassese / Gaeta / Jones (Hrsg.), The Rome Statute, Bd. 2, 2002, S. 1051 (1073).

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Im Ergebnis lassen sich gute Gründe dafür finden, die missverständliche Formulierung des Art. 21 Abs. 1 lit. b ICC-Statuts auf terminologische Erwägungen zurückzuführen.153 Bedenken an einer direkten Bezugnahme auf Gewohnheitsrecht im Bereich des internationalen Strafrechts mögen Ursache für die Verwendung allgemeiner Begrifflichkeiten bei Erlass der Norm gewesen sein.154 Soweit die vorrangigen Quellen aus Art. 21 Abs. 1 lit. a und lit. b ICC-Statut keine hinreichende Entscheidungsgrundlage bieten, zieht das Gericht allgemeine Rechtsgrundsätze heran, „die der Gerichtshof aus einzelstaatlichen Rechtsvorschriften der Rechtssysteme der Welt abgeleitet hat, einschließlich, soweit angebracht, der innerstaatlichen Rechtsvorschriften der Staaten, die im Regelfall Gerichtsbarkeit über das Verbrechen ausüben würden“.155 Die Möglichkeit eines fakultativen Rückgriffs auf das nationale Recht der Tatort- und Heimatstaaten ist das Ergebnis eines Kompromisses zwischen den Vertragsparteien. Während einige Staaten die unmittelbare Anwendung nationaler Vorschriften forderten, wurde von anderer Seite eine Bezugnahme auf innerstaatliche Normen prinzipiell abgelehnt.156 Durch die Einigung der Parteien in Art. 21 Abs. 1 lit. c ICC-Statut wird den Richtern nunmehr ein Beurteilungsspielraum zur Entscheidung über die Anwendung nationalen Rechts im Einzelfall gewährt.157 (2) Die Bedeutung früherer Gerichtsentscheidungen nach Art. 21 Abs. 2 ICC-Statut Als ähnlich umstritten gilt die Frage nach einer Verbindlichkeit normativer Auslegungen durch frühere Entscheidungen des Gerichts. Nach dem angloamerikanischen Rechtsprinzip der Präjudizienbindung entfalten die Grundsätze richterlicher Urteile Bindungswirkung für die künftige Rechtsprechung des Tribunals. Die Anerkennung sogenannter „stare decisis“ im common law begründen die weitgehende Prägung der angloamerikanischen Rechtsordnung durch feststehendes Richterrecht.158 Die Möglichkeit richterlicher Normbildung widerspricht jedoch dem kontinentaleuropäischen Verständnis von Gewaltenteilung159 und war Anlass für Kritik an dem Gedanken rechtsverbindlicher Urteile. Aus Perspektive des civil law muss eine obligatorische Anwendung der vergangenen Rechtsprechung, die den Urteilen Blakesley, IRPL 67 / 1-2 (1996), S. 139 (148). Pellet, Applicable Law, in: Cassese / Gaeta / Jones (Hrsg.), The Rome Statute, 2002, Bd. 2, S. 1051 (1071). 155 Voraussetzung für ihre Anwendbarkeit ist ihre Übereinstimmung mit den Vorgaben des Statuts. Dies ergibt sich sowohl aus dem Wortlaut als auch aus der hierarchischen Stellung der Rechtsquelle. 156 Triffterer, Commentary, 2008, Art. 21 Rn. 2. 157 Die Formulierung „soweit angebracht“ („as appropriate“) überlässt den Richtern eine Einschätzung der Anwendungsmöglichkeit innerstaatlicher Normen. 158 Werle, Völkerstrafrecht, 2007, Rn. 180. 159 Siehe hierzu bereits oben II. 2. a) aa) (1). 153 154

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des ICC einen quasi-normativen Charakter verleihe, abgelehnt werden. Die Regelung in Art. 21 Abs. 2 ICC-Statut qualifiziert die Entscheidungen des Gerichts als mögliche Erkenntnisquellen ohne rechtsverbindliche Wirkung und schafft so einen Ausgleich der gegensätzlichen Interessen. Da die Richter normativ nicht an vergangene Urteile gebunden werden, ist die Norm jedoch in erster Linie als Ausdruck der kontinentaleuropäischen Rechtstradition zu verstehen.160 (3) Die Vereinbarkeitsregel in Art. 21 Abs. 3 ICC-Statut Abschließend beinhaltet Art. 21 Abs. 3 ICC-Statut eine allgemeine Auslegungsregel, die das anwendbare Recht – nach dem Gedanken des von Kanada entwickelten „Consistency Tests“ – auf seine Vereinbarkeit mit internationalen Menschenrechtsstandards überprüfen lässt.161 Mit der Anbindung des ICC an menschenrechtliche Gewährleistungen sollten gerichtlichen Eingriffen normative Grenzen gesetzt werden. Die Anerkennung des internationalen Menschenrechtsschutzes als zwingende Vorgabe für das völkerstrafrechtliche Verfahren ist aus rechtsstaatlicher Sicht grundsätzlich zu begrüßen. Art. 21 Abs. 3 ICC-Statut belegt die Überzeugung der Staatengemeinschaft von ihrer Verantwortung für eine faire Prozessführung. Gleichwohl erscheint fraglich, ob mit der Möglichkeit richterlicher Normenkontrolle eine sinnvolle Gestaltung für die Durchsetzung internationaler Menschenrechte getroffen wurde. Art. 21 Abs. 3 ICC-Statut lässt die Frage offen, welche Menschenrechtsgarantien als völkerrechtlich anerkannt („internationally recognized“) gelten können. Die Festlegung eines anwendbaren Menschenrechtsstandards, dessen Umfang und Reichweite nicht eindeutig sind, obliegt folglich den Richtern des ICC. Die Befugnis eines internationalen Strafgerichts zur verbindlichen Anerkennung menschenrechtlicher Schutzbestimmungen kann jedoch kritisch gesehen werden. Vor dem Hintergrund ihrer originären Kompetenz zur Sanktionierung völkerrechtlicher Verbrechen stellt die Befugnis zur Festlegung international geltender Menschenrechte eine bedeutende Aufgabenerweiterung der Richter dar.162 Die zentrale Problematik von Art. 21 Abs. 3 ICC-Statut ist darin zu sehen, dass die richterlich entwickelten Vorgaben zum verbindlichen Bewertungsmaßstab für die Geltung anwendbarer Rechts160 Pellet, Applicable Law, in: Cassese / Gaeta / Jones (Hrsg.), The Rome Statute, 2002, Bd. 2, S. 1051 (1066): „Yet the balance clearly lies in favour of the latter since the Court may follow the principles laid down in its previous decisions, but is not bound to.“ 161 Die Formulierung der Diskriminierungsverbote in Art. 21 Abs. 3 ICC-Statut ist auf Kritik in der Literatur gestoßen. So bemerkt beispielsweise Pellet mit Recht, dass ihre Benennung nicht abschließend ist, da u. a. eine Diskriminierung aufgrund sexueller Orientierung nicht aufgeführt ist. Vgl. Pellet, Applicable Law, in: Cassese / Gaeta / Jones (Hrsg.), The Rome Statute, Bd. 2, 2002, S. 1051 (1081). 162 Arsanjani, AJIL 93 (1999), S. 22 (29): „While the original intend behind this paragraph may have been to limit the Court’s powers in the application and interpretation of the relevant law, it could have the opposite effect and broaden the competence of the Court on these matters.“

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grundlagen gemacht werden. Die Überprüfung des Regelungswerks nach Maßgabe menschenrechtlicher Normen legitimiert die Richter zur Zurückweisung widersprechender Vorschriften aus Statut oder RPE. Vergleichbar einem nationalen Verfassungsgericht können die Richter folglich über Vorschriften disponieren, die ihre Tätigkeit regeln und begrenzen sollen. „Nothing then should prevent the Court from refusing to apply an Element of Crime, a Rule of Procedure and Evidence, or even a provision of the Statute, if its application were considered to infringe an ‚internationally recognized human right‘.“163

Die Übertragung sowohl der materiellen Festlegung als auch der konkreten Anwendung des rechtlichen Beurteilungsmaßstabs führt zu einer problematischen Akkumulation der richterlichen Zuständigkeiten. Diese doppelte Kompetenzzuweisung ermöglicht es dem Gericht, das geltende Recht nicht nur anhand bestehender Prinzipien zu bewerten, sondern zugleich deren inhaltliche Reichweite selbständig zu entwickeln. Da das Gericht bei der Überprüfung des anwendbaren Rechts nicht an feste Vorgaben gebunden ist, geht sein Spielraum zur Ablehnung und Nichtigerklärung von Normen über die richterliche Aufgabe einer reinen Rechtsanwendung hinaus. Um eine klare Bindung der Richter an die vertraglich begründeten Rechtsgrundlagen zu gewährleisten, müsste Art. 21 Abs. 3 ICC-Statut im Sinne einer allgemeinen Auslegungshilfe verstanden werden. Menschenrechte wären hiernach nicht als materielle Schranken, sondern als Richtlinien zur Interpretation der primären Rechtsquellen des Völkerstrafrechts zu begreifen. Diese Sichtweise entspricht der Bedeutung des Statuts als Ausdruck eines überstaatlichen Konsenses, dem ein normativer Vorrang indirekten Richterrechts nicht gerecht würde. Werden Bestimmungen der Rechtsgrundlagen als unvereinbar mit menschenrechtlichen Garantien gewertet, darf ihre Normaussage nicht allein für den Einzelfall aufgehoben werden. Um den Schutz internationaler Menschenrechte umfassend zu garantieren, hat das Gericht auf eine Änderung des Rechtstextes hinzuwirken. Soll das Statut des ICC Vorbild für die Gestaltung des internationalen Strafverfahrens sein, muss das Prozessrecht einen menschenrechtlichen Standard normativ reflektieren. Der Wortlaut von Art. 21 Abs. 3 ICC-Statut erlaubt grundsätzlich eine restriktive Deutung der Norm. Die Formulierung „application und interpretation“ lässt offen, ob die Anwendung menschenrechtlicher Prinzipien der verbindlichen Überprüfung oder allein dem interpretatorischen Verständnis der Vorschriften dienen soll. Es erscheint daher vorzugswürdig, den Verweis des Art. 21 Abs. 3 ICC-Statut als Auslegungshilfe zu erfassen, die ihre Grenzen in den Vorgaben der Rechtsquellen aus Art. 21 Abs. 1 ICC-Statut findet. Hiernach würde die Anwendung internationaler Menschenrechte unter der Voraussetzung erfolgen, dass die Normen des Statuts oder der RPE Raum für verschiedene Interpretationsweisen lassen. Durch die Anwendung menschenrechtlicher Maßstäbe auf die Entscheidung offener Zweifelsfälle 163 Pellet, Applicable Law, in: Cassese / Gaeta / Jones (Hrsg.), The Rome Statute, 2002, Bd. 2, S. 1051 (1080).

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könnte der richterliche Einfluss im Rahmen normativer Verfahrensgestaltung begrenzt und zugleich ein wichtiger Schutzstandard gewährleistet werden. Um die Funktion internationaler Menschenrechte eindeutig als Richtlinie zur Auslegung des anwendbaren Rechts festzulegen, empfiehlt sich eine Änderung des Wortlauts durch einseitige Bezugnahme auf die Vereinbarkeit möglicher Interpretationsansätze mit menschenrechtlichen Garantien. Bereits die Streichung des Begriffes „application“ aus der bisherigen Formulierung des Art. 21 Abs. 3 ICC-Statut könnte das geboten restriktive Normverständnis begründen.164 (4) Fazit zu Art. 21 ICC-Statut Die in Art. 21 ICC-Statut normierten Rechts- und Rechtserkenntnisquellen gerichtlicher Entscheidungen entsprechen weitgehend der allgemeinen Rechtsquellenlehre des Völkerrechts in Art. 38 IGH-Statut. Ihre Besonderheit gewinnt die Vorschrift daher nicht durch die Festlegung des anwendbaren Rechts, sondern aufgrund seiner normativen Hierarchisierung.165 Die Begründung eines rechtlichen Vorrangs des Statuts ist Grundlage für die Beurteilung der verfahrensrechtlichen Normanwendung. Da seine Vorgaben bei Subsumtion und Auslegung nachrangiger Rechtsquellen zwingend eingehalten werden müssen, sind die Bestimmungen des Statuts im Rahmen einer Analyse des gerichtlichen Prozessrechts vorrangig in den Blick zu nehmen. Zugleich ist Art. 21 ICC-Statut Ausdruck eines rechtsstaatlichen Anspruchs an die Wahrung internationaler Menschenrechte. Wenngleich die Reichweite der richterlichen Entscheidungskompetenz einer Änderung bedarf, reflektiert die Norm eine grundlegende Anerkennung der gerichtlichen Verpflichtung auf rechtsstaatliche Prozessmaximen.

c) Die hybriden Gerichte Die normative Besonderheit internationalisierter Tribunale liegt in ihrer Verknüpfung nationaler und internationaler Rechtselemente im Rahmen einer einheitlichen prozessualen Gerichtsorganisation. Der hybride Charakter spiegelt sich in der personellen Besetzung des Gerichts sowie der Anwendung verschiedener Rechtsgrundlagen wider. In Kambodscha äußert sich die Internationalisierung der Kammern in der Einsetzung administrativer Doppelspitzen. Die Funktionen von Ankläger sowie Ermittlungsrichter werden von internationalen und kambodschanischen Vertretern gleichberechtigt wahrgenommen.166 Ferner erstreckt sich die Jurisdiktion hybrider Tribunale oftmals auf Verbrechenstatbestände des nationalen Rechts.167 164 Art. 21 Abs. 3 ICC-Statut lautete dann: „The interpretation of law persuant to this article must be consistent with internationally recognized human rights.“ 165 Werle, Völkerstrafrecht, 1007, Rn. 177; Pellet, Applicable Law, in: Cassese / Gaeta / Jones (Hrsg.), The Rome Statute, Bd. 2, 2002, S. 1051 (1077). 166 Sie werden als Co-Investigating Judges und Co-Prosecutor bezeichnet, Art. 13 und 14 ECCC-IR.

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Entscheidend für die rechtliche Fundierung internationalisierter Gerichte ist das Maß ihrer strukturellen Integration in das nationale Rechtssystem. Die Gründung eines Tribunals kann durch eine Implementierung in das staatliche Gerichtswesen oder seine formale Ausgliederung aus dem nationalen Rahmen erfolgen. Die unterschiedliche rechtliche Anbindung an den Tatortstaat prägt das Zusammenspiel inner- und überstaatlicher Verfahrensregelungen in den Rechtsgrundlagen hybrider Tribunale. Die verschiedenen Auswirkungen ihrer Institutionalisierung auf die Gestaltung der gerichtlichen Prozessordnungen können am Beispiel von Sierra Leone und Kambodscha dargestellt werden. aa) Die Ausgliederung hybrider Gerichte aus dem nationalen Rechtssystem am Beispiel Sierra Leones Am 16. Januar 2002 unterzeichneten Sierra Leone und die Vereinten Nationen das bilaterale Abkommen zur Gründung eines Sondergerichtshofs (SCSL) für die Verurteilung von Verbrechen des nationalen Bürgerkrieges. Wenngleich man sich gegen die Errichtung eines Ad-hoc-Tribunals entschieden hatte, sollte das Gericht einen internationalen Charakter bewahren und nicht in das staatliche Justizsystem eingegliedert werden. Aufgrund seiner Konzeption als selbständiges Organ ohne nationale Fundierung konnten staatliche Regelungen keine direkte Anwendung auf das gerichtliche Verfahren finden. Um die Arbeit des SCSL normativ zu gestalten, war die Festlegung einer autonomen Prozessordnung erforderlich.168 Das internationale Gründungsabkommen und das Statut des SCSL enthalten zentrale verfahrensrechtliche Aussagen sowie grundlegende Rechte des Angeklagten. Die Regelungen der Verfahrens- und Beweisordnung (SCSL-RPE), die am 12. April 2002 auf Grundlage von Art. 14 SCSL-Statut in Kraft traten, konkretisieren die prozessualen Vorgaben. Entscheidend ist der systematische Verweis auf das Prozessrecht des Jugoslawientribunals, der eine Übernahme der ICTY-RPE in ihrer bestehenden Fassung festlegt. Anders als die Ad-hoc-Tribunale wird der SCSL somit nicht selbst zum Erlass seiner Verfahrensordnung ermächtigt, sondern unmittelbar an das Prozessrecht eines anderen Gerichtes gebunden. Die Verweisung auf die ICTY-RPE ist jedoch statisch und belässt den Richtern des SCSL die Befugnis zur Änderung der prozessualen Regelungen.169 Eine dynamische Anbindung hätte dem Tribunal die Kontrolle über die Verfahrensgestaltung weitgehend entzogen und wäre mit der Unabhängigkeit des Gerichts kaum zu vereinbaren gewesen. Eine erste grundlegende Änderung der vom ICTY übernommenen Verfahrensund Beweisordnung erfolgte am 7. März 2003. Das Prozessrecht des Ad-hoc-Tribu167 An den ECCC in Kambodscha werden über das nationale Recht Mord, Folter und religiöse Verfolgung erfasst; Art. 3 new ECCC-LoE. 168 Romano / Nollkaemper / Kleffner, Internationalized Criminal Courts, 2004, S. 320. 169 Auf die rechtsstaatlich problematische Frage nach der Ermächtigung des Gerichts zur Normsetzung wurde bereits eingegangen, vgl. C. II. 2. a) aa) (1).

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nals stieß im Rahmen der personellen und organisatorischen Besonderheiten eines hybriden Tribunals auf strukturelle Probleme. Trotz seiner formalen Ausgliederung aus dem staatlichen Justizsystem wurde die Arbeit des SCSL durch nationale Elemente in Form der Beteiligung inländischer Richter und der parallelen Anwendung des materiellen Strafrechts Sierra Leones geprägt. Die Einbindung nationaler Akteure machte die Annäherung des angewandten internationalen Prozessrechts an ein innerstaatliches Verfahrensverständnis notwendig. Um die Effektivität des Verfahrens unter nationaler Beteiligung zu wahren, glichen die Richter das Prozessrecht des SCSL an die staatlichen Regelungen im Criminal Procedure Act170 von 1965 an.171 Die Entwicklung in Sierra Leone hat gezeigt, dass die Vorgaben internationaler Gerichte zwar Vorbild für die Verfahrensgestaltung hybrider Tribunale sein können, ihre ausnahmslose Anwendung den Besonderheiten nationaler Kooperation jedoch nicht hinreichend Rechnung trägt. bb) Die Implementierung hybrider Gerichte in das nationale Rechtssystem am Beispiel Kambodschas Anders als der Sondergerichtshof für Sierra Leone wurden die Außerordentlichen Kammern von Kambodscha als Teil des nationalen Gerichtssystems eingerichtet und in bestehende rechtliche Strukturen integriert. Bei der Gründung der Kammern war von kambodschanischer Seite großer Wert auf eine nationale Prägung des Verfahrens gelegt worden. Um seine staatliche Souveränität zu wahren, forderte Kambodscha eine weitgehende Ausrichtung der Prozesse an nationalen Maßstäben sowie die Beschränkung internationaler Beteiligung auf eine finanziell-logistische Unterstützung. Eine Mitwirkung der Staatengemeinschaft an der Errichtung der ECCC setzte jedoch die Gewährleistung internationaler Verfahrensstandards voraus. Wie die historische Entwicklung des Gründungsprozesses belegt, muss die internationale Kooperation der Vereinten Nationen von der Einhaltung menschenrechtlicher und rechtsstaatlicher Grundsätze abhängig gemacht werden.172 Wenngleich für die ECCC als Teil des staatlichen Gerichtswesens strukturell die nationale Prozessordnung Anwendung finden sollte, erforderte die Internationalisierung der Kammern ihre Verpflichtung auf völkerrechtliche Verfahrensstandards. Die Implementierung hybrider Gerichte in das nationale Rechtssystem des Tatortstaates wirft daher in besonderem Maße die Frage nach dem Verhältnis nationaler und internationaler Rechtsvorgaben auf. Das komplexe Zusammenspiel staatlicher und völkerrechtlicher Normen birgt die Gefahr von Unsicherheiten in der Rechtsanwendung hybrider Gerichte. 170 Jallow, The Legal Framework, in: Ambos / Othman (Hrsg.), New Approaches in International Criminal Justice, 2003, S. 149 (165). 171 „The amendments depart from the ICTR rules (…) in particular in bringing procedures more in line with the laws and traditions of Sierra Leone“, Romano / Nollkaemper / Kleffner, Internationalized Criminal Courts, 2004, S. 321. 172 Siehe Kapitel C. I. 3. b).

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Im Folgenden soll zunächst die Rechtslage unter Berücksichtigung der originären Rechtsquellen der ECCC dargestellt werden. In einem gesonderten Schritt wird der Erlass von Internal Rules zur Regelung konkreter Verfahrensfragen durch das Gericht problematisiert. (1) Das Verhältnis von nationalem und internationalem Verfahrensrecht an den ECCC (a) Die Rechtslage nach dem Gründungsvertrag Grundlegende Rechtsquelle für die Errichtung der hybriden Kammern unter Beteiligung der Vereinten Nationen ist das bilaterale Übereinkommen zur Sanktionierung der Verbrechen während des Pol Pot Regimes vom 6. Juni 2003 (ECCCAgreement).173 Mit seiner Ratifikation am 29. April 2005 trat das Agreement gem. Art. 47 bis des Gründungsgesetzes (ECCC-LoE)174 als nationale Bestimmung in Kraft.175 Durch das Abkommen werden praktische Voraussetzungen und Formen der internationalen Zusammenarbeit geregelt sowie die wesentlichen Grundsätze des gerichtlichen Verfahrens statuiert. Während der Vertragstext lediglich allgemeine Parameter für den Ablauf des Verfahrens bestimmt, werden die speziellen Fragen der gerichtlichen Organisation vom Gründungsgesetz erfasst.176 Das ECCC-LoE regelt in Art. 9 f. die Besetzung der Kammern und legt in den Art. 23 ff. die Verfahrensabläufe im Stadium der Ermittlungsarbeit fest. Zur Gewährleistung eines fairen Prozesses normieren Art. 33 ff. ECCC-LoE die Rechte des Angeklagten sowie wesentliche Prozessmaximen für das gerichtliche Verfahren.177 Die Grundsatzbestimmung des Art. 33 ECCC-LoE formuliert die Einhaltung internationaler Prozessstandards als Zielvorgabe der ECCC und erfasst explizit die Verfahrensgarantien in Art. 14, 15 IPbpR.178 173 Agreement between the United Nations and the Royal Government of Cambodia Concerning the Prosecution under Cambodian law of Crimes committed during the Period of Democratic Kampuchea, 6. Juni 2003. 174 Law on the Establishment of Extraordinary Chambers in the Courts of Cambodia for the Prosecution of Crimes committed during the Period of Democratic Kampuchea, 27. Oktober 2004. 175 Article 47bis Law on the establishment of Extraordinary Chambers in the Courts of Cambodia: „Following its ratification in accordance with the relevant provisions of the law of Kingdom of Cambodia regarding competence to conclude treaties, the Agreement between the United Nations and the Royal Government of Cambodia Concerning the Prosecution under Cambodian Law of Crime Committed during the period of Democratic Kampuchea, done at Phnom Penh on 6 June 2003, shall apply as law within the Kingdom of Cambodia.“ 176 Das ECCC-LoE wurde am 10. August 2001 beschlossen und mit seiner Fassung vom 27. Oktober 2004 an die Vorgaben des internationalen Abkommens angepasst. 177 Während Art. 34 die Öffentlichkeit des Verfahrens gewährleistet, statuiert Art. 35 die geltende Unschuldsvermutung und normiert die Rechte des Angeklagten in Übereinstimmung mit Art. 14 IPbpR. 178 Siehe hierzu B. II. 3. c). Art. 13 des Agreements enthält eine entsprechende Bestimmung.

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„The Extraordinary Chambers of the trial court shall exercise their jurisdiction in accordance with international standards of justice, fairness and due process of law, as set out in Articles 14 and 15 of the 1966 International Covenant on Civil and Political Rights.“

Der unbestimmte Hinweis auf internationale Standards stellt weniger eine klare Anwendungsvorgabe als eine generelle Zielbestimmung dar. Zur konkreten Regelung von Ablauf und Ausgestaltung des Verfahrens verweisen beide Rechtsquellen übereinstimmend auf die Vorgaben des nationalen Rechts. Nach dem Willen der Vertragsparteien sollte die kambodschanische Prozessordnung des Cambodian Criminal Procedure Codes maßgebend auf das Verfahren der ECCC Anwendung finden.179 Art. 12 Abs.1 Agreement integriert das staatliche Verfahrensrecht ausdrücklich in die Rechtsordnung der Kammern. „Article 12 ECCC-Agreement 1. The procedure shall be in accordance with Cambodian law. Where Cambodian law does not deal with a particular matter, or where there is uncertainty regarding the interpretation or application of a relevant rule of Cambodian law, or where there is a question regarding the consistency of such a rule with international standards, guidance may also be sought in procedural rules established at the international level.“

Eine Präzisierung erfährt die grundsätzliche Bezugnahme auf das nationale Recht durch die Vorschriften von Art. 20, 23, 33 ECCC-LoE und Art. 12 des ECCC-Agreements. Wird eine verfahrensrechtliche Problemstellung durch das nationale Recht nicht hinreichend oder im Widerspruch zu internationalen Vorgaben gelöst, erfordert der hybride Charakter der ECCC die Angleichung an völkerrechtliche Schutzmaßstäbe. „If these existing procedures do not deal with a particular matter, or if there is uncertainty regarding their interpretation or application or if there is a question regarding their consistency with international standards, the Co-Investigating Judges may seek guidance in procedural rules established at the international level.“180

(b) Die Probleme eines Vorrangs des nationalen Rechts Die Verbindung nationaler und internationaler Rechtsnormen nach dem Verfahrensmodell des ECCC-Agreements offenbart erhebliche Schwächen. Es bestehen Zweifel an der Eignung des kambodschanischen Verfahrensrechts zur adäquaten Regelung internationaler Sachverhalte. Ferner wird der Rückgriff auf völkerrechtliche Prozessstandards als normativ unbestimmt kritisiert.181 Ein wesentlicher Einwand gegen die Übernahme der nationalen Verfahrensordnung beruht auf grundlegenden Bedenken an der Rechtsstaatlichkeit des kambod179 Der im August 2007 in Kraft getretene Cambodian Criminal Procedure Code liegt bislang nur in französischer Übersetzung offiziell vor. Er kann unter folgender Adresse eingesehen werden: Code de procédure pénale du Royaume du Cambodge, 07.06.2007 (letzter Zugriff am 24.05.2010). 180 Art. 20 I, 23 I, 33 I LoE. 181 Meijer, ECCC-LoE, 2004, S. 226; Ambach, Hybride internationale Strafgerichte, 2009, S. 267.

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schanischen Prozessrechts.182 Das schwache Justizsystem Kambodschas erscheint als unsicherer Garant für die Gewährleistung prozessualer Fairness und Transparenz.183 Die geringe rechtsstaatliche Tradition und ein mangelnder Respekt für elementare Verfahrensgrundsätze begründen berechtigte Vorbehalte gegen die primäre Anwendung des nationalen Rechts.184 Zudem erweisen sich die Regelungen der kambodschanischen Prozessordnung im Kontext völkerstrafrechtlicher Verfahren als unzureichend. Das kambodschanische Recht dient der Organisation innerstaatlicher Prozesse ohne auf die besonderen Herausforderungen eines internationalen Strafverfahrens zugeschnitten zu sein. Der hybride Charakter der ECCC wirft prozessuale Fragen auf, für die eine staatliche Verfahrensordnung keine rechtliche Antwort bereit hält. Bestehen auf nationaler Ebene keine normativen Vorgaben, werden Möglichkeiten zur Umgehung völkerrechtlicher Standards eröffnet. Exemplarisch sei die Zulassung internationaler Anwälte genannt, die aufgrund fehlender Präzedenzfälle im kambodschanischen Recht keine Regelung erfährt. Die von der kambodschanischen Anwaltskammer geforderten Zulassungsgebühren, deren Erhebung rechtlich nicht untersagt war, stellten die Kammern vor praktische Schwierigkeiten.185 Um internationale Verfahrensstandards zu gewährleisten, erlaubt der Gründungsvertrag einen Rückgriff auf völkerrechtliche Prozessnormen als rechtsstaatliches Korrektiv. Die geringen Vorgaben in Art. 12 ECCC-Agreement und Art. 20, 23, 33 ECCC-LoE eröffnen dem Gericht einen weiten Ermessensspielraum für die Ergänzung des kambodschanischen Verfahrensrechts. Nach dem Wortlaut der Regelungen bleibt es der richterlichen Einschätzung überlassen, ob eine nationale Vorschrift im Widerspruch zu völkerrechtlichen Grundsätzen steht und hierdurch eine Einbruchsstelle für internationale Prozessnormen bildet. Das Fehlen eindeutiger Parameter für die Anwendungsvoraussetzungen des internationalen Rechts stellt die Grundsätze von Bestimmtheit und Vorhersehbarkeit gerichtlicher Entscheidungen in Frage.186 (c) Die Zusammenführung nationalen und internationalen Rechts in den Internal Rules Der Vorrang des nationalen Verfahrensrechts wirft eine Vielzahl von Problemen für die Gewährleistung von Rechtssicherheit und Rechtsstaatlichkeit auf. Internationale Strafprozesse können durch die Anwendung innerstaatlichen Rechts nicht abschließend gestaltet werden. Ihre Ergänzung durch völkerrechtliche Normen im Einzelfall stellt kein verlässliches Verfahrensmodell für hybride Gerichte dar. 182 183 184 185 186

(185).

Romano / Nollkaemper / Kleffner, Internationalized Criminal Courts, 2004, S. 225, 354. Siehe hierzu bereits in Kapitel C. I. 3. a) bb). Romano / Nollkaemper / Kleffner, Internationalized Criminal Courts, 2004, S. 225. Zu dieser Problematik ausführlich in Kapitel D. V. 2. a) cc) (2). Worden, An Anatomy, in: Abrams / Ramji et al. (Hrsg.), Awaiting Justice, 2005, S. 172

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Im Gegensatz zu den Ad-hoc-Tribunalen und dem Internationalen Strafgerichtshof sieht der Gründungsvertrag der ECCC keine eigenständige Prozessordnung für die Kammern vor. Ein gerichtliches Statut, das als normative Grundlage der Kammern wesentliche Verfahrensfragen regelt, besteht an den ECCC nicht. Mit dem bilateralen Abkommen und dem späteren Gründungsgesetz beruhen die Kammern vielmehr auf unterschiedlichen Rechtsquellen, deren hierarchisches Verhältnis noch immer umstritten ist.187 Um eine einheitliche Rechtsquelle für die Arbeit des Gerichts zu schaffen, erließen die Richter der ECCC eine interne Verfahrensordnung (Internal Rules, ECCCIR).188 Durch die Zusammenführung staatlicher und internationaler Prozessvoraussetzungen sollte ein eindeutiger Normtext entwickelt werden, der die Frage nach dem anwendbaren Verfahrensrecht abschließend beantwortet.189 Wenngleich die Notwendigkeit für eine selbständige Prozessordnung nicht geleugnet werden kann, ist die Kompetenz des Gerichts vor dem Hintergrund von Gesetzmäßigkeit und Gewaltenteilung zu untersuchen. (2) Der Erlass von Internal Rules Die Internal Rules wurden auf der Plenarsitzung der ECCC am 12. Juni 2007 als umfassendes prozessuales Regelungswerk des Gerichtes beschlossen.190 Änderungen der Internal Rules können nach Regel 3 Abs. 1 ECCC-IR auf Vorschlag der initiativberechtigten Parteien191 durch das Rules and Procedure Plenary Committee in die Plenarsitzung eingebracht werden. Regel 18 ECCC-IR gestaltet die Stimmberechtigung im Plenum unterschiedlich aus. Abhängig vom Sachgebiet können neben Ermittlungsrichter sowie den Richtern der Kammern auch die Staatsanwälte an der Abstimmung teilnehmen. Nach ihrer Präambel sollen die Internal Rules das kambodschanische Verfahrensrecht entsprechend den Vorgaben in Art. 20, 23, 33 ECCC-LoE und Art. 12 Abs. 1 ECCC-Agreement um die erforderlichen Garantien des internationalen Rechts ergänzen: „NOW THEREFORE the ECCC have adopted the following Internal Rules, the purpose of which is to consolidate applicable Cambodian procedure for proceedings before the ECCC 187 Siehe zur Diskussion beispielhaft ECCC-LoE, Joint Defence Response to Civil Parties’ Investigative Request Concerning the Alleged Crime of Enforced Disappearance, 24. Juli 2009, Rn. 21. Die Frage nach dem Anwendungsvorrang ist nicht allein eine theoretische. Die Normierung der Straftatbestände im LoE und im ECCC-Agreement weichen inhaltlich voneinander ab. 188 Die Internal Rules wurden zunächst am 12. Juni 2007 von den Richtern der ECCC erlassen und traten nach Bestätigung durch den Gerichtspräsidenten am 19. Juni 2007 in Kraft. Eine erste grundlegende Revision des Verfahrensrechts fand mit Beschluss vom 1. Februar 2008 statt. 189 Acquaviva, JICJ 6 (2008), S. 129 (132). 190 Die Internal Rules wurden zuletzt am 6. März 2009 geändert. 191 Initiativberechtigt sind Richter, Co-Investigating Judges, Staatsanwälte, der Vorsteher der Defence Support Section, der Vorsitzende der Victims Unit sowie der Direktor bzw. der stellvertretende Direktor des Office of Administration.

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and, pursuant to Articles 20 new, 23 new, and 33 new of the ECCC Law and Article 12(1) of the Agreement, to adopt additional rules where these existing procedures do not deal with a particular matter, or if there is uncertainty regarding their interpretation or application, or if there is a question regarding their consistency with international standards.“

Eine Betrachtung der ECCC-IR zeigt, dass nicht allein Lücken des nationalen Rechts geschlossen, sondern ein umfassendes Prozessrecht kodifiziert wurde. Weitgehende Abweichungen von den Inhalten des kambodschanischen Criminal Procedure Code (CPC) legen eine bedeutende Erweiterung der Verfahrensordnung durch das Gericht nahe. Die Diskrepanzen zwischen den ECCC-IR und den Bestimmungen des nationalen Rechts können am Beispiel der prozessualen Opferbeteiligung dargestellt werden. Zur Veranschaulichung der Änderungen des Cambodian Criminal Procedure Codes seien exemplarisch zwei Modifikationen des staatlichen Rechts genannt. Nach Art. 311 Abs. 2 CPC können Opfer bis zum Schlussplädoyer des Staatsanwaltes als Nebenkläger (Civil Party) zugelassen werden.192 Demgegenüber begrenzt Regel 23bis Abs. 2 ECCC-IR den Antragszeitraum für die Anerkennung als Nebenkläger auf das Vorverfahren.193 Des Weiteren sieht der CPC in Art. 268 Abs. 9, 247 die Möglichkeit einer Berufung der Civil Parties gegen die Entscheidung der Ermittlungsrichter über die Form der Verfahrenseröffnung („Closing order“) vor.194 Die Angreifbarkeit der Closing order ist angesichts ihrer zentralen Bedeutung für den Fortgang des Verfahrens ein wichtiges Rechtsmittel der Parteien. Gleichwohl versagt Regel 74 Abs.4 IR den Nebenklägern eine entsprechende Kompetenz. Die Bestimmungen zur Opferbeteiligung in den Internal Rules beschränken sich nicht auf die Beseitigung rechtlicher Unklarheiten, sondern enthalten eine inhaltliche Neuregelung des Modells. Sollte die kambodschanische Prozessordnung an internationale Verfahrensgarantien angepasst werden, überrascht die Einschränkung der Opferrechte durch das neue Rechtssystem.195 Die umfassende Gestaltung der Nebenklägerbeteiligung ist Ausdruck eines unabhängigen Regelungswillens des 192 Article 311 (constitution de partie civile en cours d’audience): Au cours de l’audience, la constitution de partie civile se fait par simple déclaration au greffier. Cette déclaration est mentionnée sur les notes d’audience. Aucune constitution de partie civile n’est recevable après les réquisitions du procureur du Royaume sur le fond. 193 Regel 23 IV IR: A victim who wishes to be joined as a Civil Party before the Trial Chamber shall submit such application in writing in accordance with the regulations set forth in the Practice Direction on Victim Participation. To be admissible, civil party applications must be filed within the Victims Unit at least 10 (ten) working days before the initial hearing. 194 Article 268 CPC: La partie civile peut faire appel des ordonnances dont la liste suit: (…) – ordonnance de règlement prévue à l’article 247 (ordonnance de règlement) de ce code. Article 247 CPC: Le juge d’instruction clôture l’instruction par une ordonnance de règlement. L’ordonnance de règlement peut être une ordonnance de renvoi ou une ordonnance de non-lieu. 195 ECCC, Civil Party Co-Lawyers’ Joint Request for Reconsideration of the Pre-Trial Chamber’s assessment of the legal status of the Internal Rules in the Decision On Nuon Appeal against order refusing request for annulment, D 55 / I / 9, 13. Oktober 2008, Rn. 12.

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Gerichts. Mit den Internal Rules wurde eine eigenständige Rechtsquelle zur Formulierung des Verfahrensablaufs geschaffen. Anstatt im Einzelfall das Verhältnis zwischen der kambodschanischen Prozessordnung und den internationalen Anforderungen zu bestimmen, legen die ECCC-IR ein autonomes Verfahrensrecht fest. „Instead of waiting for the procedural law to be judicially determined on an incremental basis, the Internal Rules are an attempt to codify the complete procedure before the ECCC.“196

Diese Bewertung entspricht dem Selbstverständnis des Gerichts, das die Internal Rules als „self-contained regime of procedural law“ – als in sich geschlossene Rechtsordnung der Kammern – qualifiziert.197 Stellt sich die Festlegung der Internal Rules nicht als bloße Abrundung des nationalen Rechts gemäß Art. 20, 23, 33 ECCC-LoE, Art. 12 Abs. 1 ECCC-Agreement dar, bedarf die gerichtliche Rechtsetzung einer normativen Legitimation. Zugleich wirft das System der IR die Frage nach der zulässigen Verhältnisbestimmung von nationalem und internationalem Recht auf. (a) Die Kompetenz zum Erlass von Internal Rules Die Befugnis zum Erlass einer Verfahrensordnung wird weder vom Gründungsvertrag noch durch das ECCC-LoE ausdrücklich vorgesehen.198 In diesem Zusammenhang unterscheidet sich das Recht der ECCC maßgeblich von den Bestimmungen der übrigen Tribunale, die den Richtern legislative Kompetenzen zur Regelung ihres Verfahrens übertragen.199 Besteht keine ausdrückliche Aufgabenzuweisung an das Gericht, kann eine Zuständigkeit zur Formulierung einer selbständigen Prozessordnung allenfalls aus den allgemeinen Vorgaben des geltenden ECCC-Rechts abgeleitet werden. Entscheidend für das Verständnis des Verfahrensrechts ist Art. 12 ECCC-Agreement, der die anwendbaren Rechtsquellen der Kammern benennt. An dieser Stelle sei an den Wortlaut der Norm erinnert, der die Einbeziehung internationaler Standards im Falle einer Regelungslücke oder der Unbestimmtheit des kambodschanischen Rechts vorsieht.200 196 ECCC, Co-Prosecutors’ Observation on Civil Parties’ Request for Reconsideration of the Annulment Appeal Decision, D 55 / I / 10, 24. Oktober 2008, Rn. 19. 197 ECCC, Decision on Nuon Chea’s Appeal against order refusing request for annulment, D / I / 8, 26. August 2008, Rn. 14. 198 Dies stellt auch Acquaviva, JICJ 6 (2008), S. 129 (132) fest. 199 Worden, An Anatomy, in: Abrams / Ramji et al. (Hrsg.), Awaiting Justice, 2005, S. 172 (186). 200 Article 12 Abs. 1 ECCC-Agreement: The procedure shall be in accordance with Cambodian law. Where Cambodian law does not deal with a particular matter, or where there is uncertainty regarding the interpretation or application of a relevant rule of Cambodian law, or where there is a question regarding the consistency of such a rule with international standards, guidance may also be sought in procedural rules established at the international level.

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Im Fall Nuon Chea setzten sich die Verfahrensparteien vor der Vorverfahrenskammer der ECCC mit der Legitimation des Gerichts zur Festlegung von Internal Rules auseinander. Nach Ansicht der Anklage kann Art. 12 ECCC-Agreement als normative Basis zur Begründung einer impliziten Ermächtigung der Kammern verstanden werden.201 Die Regelung reflektiere die Intention des Vertrages, einen flexiblen Ausgleich zwischen nationalem Recht und internationalen Standards zu gestalten. Die Ankläger entnehmen der komplexen Rechtslage der ECCC einen immanenten Auftrag zur abschließenden Klärung offener prozessualer Fragen.202 Wenngleich ein Regelungsbedürfnis für die konkrete Verhältnisbestimmung von innerstaatlichen und völkerrechtlichen Normen besteht, kann aus der Notwendigkeit einer Kodifizierung nicht auf eine kompetenzielle Befugnis geschlossen werden. Die mögliche Herleitung einer impliziten Rechtsetzungsbefugnis nach den Grundsätzen der „implied-powers“-Lehre scheitert am Fehlen einer partiellen Regelungslücke im Zuständigkeitskatalog des Gerichts. Die Frage der anwendbaren Prozessordnung wurde bei Gründung des Gerichtes erkennbar zu Gunsten des nationalen Rechts geregelt, obschon mögliche Probleme im Rahmen der Integration internationaler Elemente vorhersehbar waren. Der Vorschlag, den Richtern eine Befugnis zur Festlegung einer autonomen Verfahrensordnung zu übertragen, wurde im kambodschanischen Parlament ausdrücklich abgelehnt.203 Wird eine Kompetenz trotz Kenntnis des Aufgabenfeldes nicht gewährt, stellt ihre Herleitung im Wege der „implied-powers“-Lehre eine Umgehung der Normaussage dar.204 Entgegen der Auffassung der Staatsanwälte wird der Erlass von Internal Rules durch das Gericht von den Rechtsgrundlagen der ECCC nicht gedeckt. Nach dem Recht des Gründungsvertrages muss die Befugnis zur Festlegung einer selbständigen Verfahrensordnung verneint werden. Erscheint die Übernahme einer legislativen Zuständigkeit durch ein Judikativorgan aus dem Blickwinkel der Gewaltentrennung bereits fraglich,205 so ist ihre Ausübung angesichts einer fehlenden Ermächtigung erst recht nicht mit rechtsstaatlichen Grundsätzen vereinbar. Der Gedanke eines Gesetzesvorbehalts kann in seiner Form als notwendige Rückführung hoheitlicher Tätigkeit auf eine wirksame Legitimierung auch im internationalen Kontext Geltung beanspruchen.206

201 ECCC, Co-Prosecutors’ Observation on Civil Parties’ Request for Reconsideration of the Annulment Appeal Decision, D 55 / I / 10, 24. Oktober 2008, Rn. 19. 202 Acquaviva, JICJ 6 (2008), S. 129 (132). 203 Worden, An Anatomy, in: Abrams / Ramji et al. (Hrsg.), Awaiting Justice, 2005, S. 172 (185). 204 Hier unterscheidet sich der Sachverhalt von der Befugnis des Sicherheitsrates zur Einsetzung von Ad-hoc-Tribunalen. Bei der Formulierung der UN-Charta war die Gründung internationaler Ad-hoc-Tribunale noch nicht vorhersehbar. 205 Siehe hierzu ausführlich oben Kapitel C. II. 1. a) bb) (1) (b). 206 Fassbender, Der Gesetzesvorbehalt, in: Klein (Hrsg.), Gewaltenteilung und Menschenrechte, 2006, S. 73 ff.

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Teile der Literatur äußern Zweifel an der Kompetenz des Gerichts, ohne dass die grundlegende Rechtmäßigkeit der Internal Rules konsequent hinterfragt wird.207 Deutlicher formulieren die Vertreter der Nebenkläger im Fall Nuon Chea ihre Bedenken an der gerichtlichen Befugnis zur Normierung von Verfahrensrecht. „[T]he Co-Lawyers for the Civil Parties submit that the Plenary lacks the authority to adopt rules of procedure as provided for under Rule 18 of the Internal Rules that differ from the provisions of the CPC in force. The Co-Lawyers for the Civil Parties further submit that the Rules promulgated in an unconstitutional manner and without any delegated rulemaking authority on the part of judicial officers cannot be considered as ‚a self-contained regime of procedural law‘.“208

Ein weiterer Kritikpunkt an der Bestimmung von Internal Rules durch das Gericht ist die Intransparenz ihres Erlassverfahrens. Die Annahme von Änderungen der Internal Rules auf der Plenarsitzung erfolgt nach Regel 18 Abs. 10 unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Wenngleich Regel 18 Abs. 1 ECCC-IR eine Reihe von Prozessbeteiligten zur Plenarsitzung zulässt, werden die Allgemeinheit sowie die Opfer als Nebenkläger vom Verfahren ausgenommen.209 Wird mit Erlass der Internal Rules die zentrale Prozessordnung des Gerichts beschlossen, muss das Verfahren ihrer Festlegung öffentlich erfolgen. Im Interesse von Verfahrensgerechtigkeit und Transparenz sind den Parteien im Rechtsetzungsverfahren Mitwirkungsrechte zur Kontrolle und Einflussnahme auf den Normgebungsprozess zu gewähren. Einer Kompetenz des Gerichts zur selbständigen Gestaltung des eigenen Verfahrensrechts müssten durch konkrete Begründungspflichten zumindest grundlegende Grenzen gesetzt werden. (b) Der Vorrang der Internal Rules vor dem nationalen Recht Der Erlass einer unabhängigen Prozessordnung durch das Gericht wirft die Frage nach dem Verhältnis der ECCC-IR zum bestehenden Cambodian Criminal Procedure Code auf. (aa) Die Praxis der ECCC Im Falle Nuon Chea nahm die Vorverfahrenskammer grundsätzlich Stellung zur Bedeutung der Internal Rules im Rechtssystem der ECCC.210 Nach Auffassung des Gerichts sind die Internal Rules als abschließender Ausgleich zwischen nationalen Acquaviva, JICJ 6 (2008), S. 129 (132). ECCC, Civil Party Co-Lawyers’ Joint Request for Reconsideration of the Pre-Trial Chamber’s assessment of the legal status of the Internal Rules in the Decision On Nuon Appeal against order refusing request for annulment, D 55 / I / 9, 13. Oktober 2008, Rn. 27. 209 ECCC, Civil Party Co-Lawyers’ Joint Request for Reconsideration of the Pre-Trial Chamber’s assessment of the legal status of the Internal Rules in the Decision On Nuon Appeal against order refusing request for annulment, D 55 / I / 9, 13. Oktober 2008, Rn. 20. 210 ECCC, Decision on Nuon Chea’s Appeal against order refusing request for annulment, D / I / 8, 26. August 2008. 207 208

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und völkerrechtlichen Normen primäre Rechtsquelle der Kammern. Im Falle einer Divergenz komme den Internal Rules Vorrang gegenüber innerstaatlichen Bestimmungen zu. „[T]he Internal Rules constitute the primary instrument to which reference should be made in determining procedures before the ECCC where there is a difference between the procedures in the Internal Rules and the CPC. Provisions of the CPC should only be applied where a question arises which is not addressed by the Internal Rules.“211

Die Annahme einer Priorität der Internal Rules entspricht auch der Intention ihrer Verfasser, wie sie in Regel 114 Abs. 1 ECCC-IR zum Ausdruck kommt. „Regel 114 Abs. 1 ECCC-IR: Without prejudice to the provisions of Rules 48 and 76, any procedural action done or order made by the ECCC pursuant to applicable Cambodian criminal law and procedure before the entry into force of these Internal Rules shall be deemed to have been validly done.“

Ein Rückschluss aus der Norm verdeutlicht, dass nach Erlass der Internal Rules allein die Vorgaben des neuen Verfahrensrechts für die Regelung prozessualer Fragen maßgebend sein sollen. Dem nationalen CPC kommt nach der Praxis des Gerichts neben den Internal Rules allenfalls untergeordnete Bedeutung zu.212 (bb) Kritik am Vorrang der Internal Rules Die gerichtliche Bestätigung des Anwendungsvorrangs der Internal Rules erscheint im Hinblick auf die Aussagen des Gründungsvertrages fraglich. Nach der klaren Formulierung von Art. 12 Abs. 1 ECCC-Agreement lassen sich die Voraussetzungen der anwendbaren Rechtsordnung wie folgt zusammenfassen. Der Gründungsvertrag legt die kambodschanische Prozessordnung als maßgebliche Rechtsgrundlage für das Verfahren der ECCC fest.213 Der Vorrang des nationalen Rechts wird durch Bestimmungen des ECCC-LoE unterstrichen, die unmittelbar auf die Geltung des innerstaatlichen Prozessrechts verweisen. So fordern Artt. 20, 23 und 25 ECCC-LoE die Vereinbarkeit der gerichtlichen Praxis mit den bestehenden Vorschriften des nationalen Rechts.214 Ein unmittelbarer Rückgriff auf völkerrechtliche 211 ECCC, Decision on Nuon Chea’s Appeal against order refusing request for annulment, 26. August 2008, D / I / 8, Rn. 14 f. 212 Die geringe Bedeutung des kambodschanischen Prozessrechts wird bereits darin deutlich, dass der CPC auf der Homepage des Gerichts nicht als Rechtsquelle aufgeführt und verlinkt wird; Extraordinary Chambers in the Court of Cambodia, Defence Support Section (DSS) (letzter Zugriff am 25.03.2010). 213 Die ECCC-IR stellen selbst kein kambodschanisches Recht dar, da sie nicht im offiziellen Rechtsetzungsverfahren durch nationale Autoritäten erlassen wurden; ECCC, Civil Party Co-Lawyers’ Joint Request for Reconsideration of the Pre-Trial Chamber’s assessment of the legal status of the Internal Rules in the Decision On Nuon Appeal against order refusing request for annulment, D 55 / I / 9, 13. Oktober 2008, Rn. 31. 214 Art. 20 Law on the Establishment: „The Co-Prosecutors shall prosecute in accordance with existing procedures in force.“ Art. 23: „The Co-Investigating Judges shall have the power

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Verfahrensregelungen soll demgegenüber nur zulässig sein, wenn das kambodschanische Recht eine prozessual relevante Frage nicht beantwortet, seine Auslegung unklar oder die Anwendung nationaler Vorschriften mit anerkannten Standards nicht vereinbar ist. Die Richter der ECCC können in einem solchen Fall „Anleitung“ im internationalen Recht suchen. Wortlaut und Systematik des Gründungsrechts belegen einen eindeutigen Anwendungsvorrang des innerstaatlichen Rechts, das nur in klar definierten Ausnahmefällen eine Berücksichtigung internationaler Standards erlaubt.215 Die Auffassung des Gerichts, nach der Konzeption des Gründungsvertrages solle eine umfassende Zusammenführung nationaler und internationaler Normen erfolgen,216 steht im Widerspruch zur erkennbaren Intention des Vertrages. Aus der Integration völkerrechtlicher Elemente im Einzelfall lässt sich ein Auftrag zur allgemeinen Festlegung eines einheitlichen Prozessrechts nicht herleiten. In jedem Fall können die Internal Rules angesichts der klaren Anwendungsregelung in Art. 12 ECCC-Agreement keinen Vorrang vor nationalem Recht beanspruchen. Nach Maßgabe des ECCC-Agreements wäre der Erlass von Internal Rules allein als unverbindlicher Vorschlag zur Vereinigung kambodschanischer und völkerrechtlicher Prozessstandards denkbar. Bei inhaltlichen Abweichungen, die nicht durch zwingende internationale Vorgaben geboten sind, müsste dem CPC weiterhin ein umfassender Geltungsvorrang zukommen.217 Durch die Bestätigung der Internal Rules als primäre Rechtsquelle der ECCC verkehrt das Gericht die Normsystematik von ECCC-Agreement und ECCC-LoE in ihr Gegenteil. Die Verhältnisbestimmung von nationalem und internationalem Recht durch die Vorgaben des Gründungsvertrages ist das Ergebnis eines langen Einigungsprozesses zwischen den Vereinten Nationen und der Regierung Kambodschas. Die Maßgeblichkeit des CPC für das ECCC-Prozessrecht beruht auf einer bewussten Entscheidung der Gründungsparteien, von deren wesentlichen Kernaussagen nicht durch gerichtlichen Beschluss abgewichen werden darf.218 to question suspects and victims, to hear witnesses, and to collect evidence, in accordance with existing procedures in force.“ Art. 25: „The Co-Investigating Judges shall be appointed from among the currently practising judges or are additionally appointed in accordance with the existing procedures for appointment of judges.“ 215 Boyle, The Rights, 2006, S. 307 (309); Studzinsky, ZIS 2009, S. 44 (45). 216 So auch die Co-Prosecutors: „[T]he Internal Rules are not new rules created by the Plenary of the ECCC but, consistent with the spirit of Art. 12 of the Agreement, they are a consolidation of the procedural law applicable before the ECCC.“ ECCC, Co-Prosecutors’ Observation on Civil Parties’ Request for Reconsideration of the Annulment Appeal Decision, D 55 / I / 10, 24. Oktober 2008, Rn. 19. 217 ECCC, Civil Party Co-Lawyers’ Joint Request for Reconsideration of the Pre-Trial Chamber’s assessment of the legal status of the Internal Rules in the Decision On Nuon Appeal against order refusing request for annulment, D 55 / I / 9, 13. Oktober 2008. Rn. 37. 218 ECCC, Civil Party Co-Lawyers’ Joint Request for Reconsideration of the Pre-Trial Chamber’s assessment of the legal status of the Internal Rules in the Decision On Nuon Appeal against order refusing request for annulment, D 55 / I / 9, 13. Oktober 2008, Rn. 33.

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(c) Fazit zu den rechtlichen Problemen der Internal Rules Die Vorverfahrenskammer bestätigte im Fall Nuon Chea die Befugnis des Gerichts zum Erlass von Internal Rules sowie deren Anwendungsvorrang gegenüber nationalen Prozessregelungen.219 Die Praxis der Kammern ist mit den rechtsstaatlichen Anforderungen an die Begründung einer verbindlichen Verfahrensordnung nicht vereinbar. Zunächst existiert im Gründungsrecht der ECCC keine normative Basis für den Erlass einer Prozessordnung. Bei Verabschiedung der Internal Rules handelte das Gericht ohne eine Legitimation der zuständigen nationalen oder internationalen Stellen.220 Der Verstoß judikativer Rechtsetzung gegen den Grundsatz der Gewaltentrennung wird durch die Kompetenzanmaßung des Gerichts intensiviert. Zudem ist die angenommene Vorrangstellung der ECCC-IR mit Telos und Wortlaut des Gründungsvertrages nicht vereinbar. Die fehlende Berücksichtigung des geltenden Verfahrensrechts steht angesichts der klaren normativen Vorgaben in Widerspruch zur rechtsstaatlichen Idee von Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes.221 Die Anwendung der ECCC-IR als prozessuale Basis der Verfahren stellt einen grundlegenden rechtsstaatlichen Makel in der Gerichtsbarkeit der ECCC dar. Gleichwohl gilt es zu berücksichtigen, dass die im Gründungsvertrag vorgesehene einzelfallbezogene Vereinbarung nationalen und internationalen Verfahrensrechts gleichfalls kritisch zu sehen ist. Die Komplexität eines differenzierten Prozesssystems begründet rechtsstaatliche Mängel im Hinblick auf die Gewährleistung von Rechtsklarheit und Voraussehbarkeit gerichtlicher Entscheidungen. Das Verfahrensrecht hybrider Tribunale muss klar festlegen, in welchem Umfang nationales Recht durch Regelungen des Völkerrechts ergänzt werden soll. Ein allgemeiner Verweis auf die innerstaatliche Rechtsordnung und unbestimmte völkerrechtliche Grenzen bleibt notwendig ungenau und kann den praktischen Anforderungen eines internationalisierten Verfahrens nicht genügen. Um das Verfahren hybrider Tribunale normativ eindeutig zu gestalten, muss ein abschließend verbindlicher Ausgleich zwischen staatlichen Bestimmungen und internationalen Rechtsvorgaben geschaffen werden. Wenngleich daher in der Tat das Bedürfnis nach einem eigenständigen Verfahrensrecht für die ECCC besteht, darf die Entwicklung des Regelungswerks nicht un219 Die Gegenvorstellung der Civil Parties wurde als unzulässig abgewiesen; ECCC, Decision on Civil Party Co-Lawyers’ Joint Request for Reconsideration, D 55 / I / 13, 25. Februar 2009. Während die Anklage die Sichtweise der Kammer unterstütze, sprach sich die Verteidigung gegen die Geltung der ECCC-IR aus; ECCC, Response to joint civil party request for reconsideration of the annulment decision, D / 55 / I / 11, 28. Oktober 2008. 220 ECCC, Civil Party Co-Lawyers’ Joint Request for Reconsideration of the Pre-Trial Chamber’s assessment of the legal status of the Internal Rules in the Decision On Nuon Appeal against order refusing request for annulment, D 55 / I / 9, 13. Oktober 2008, Rn. 22 f. 221 Fassbender, Der Gesetzesvorbehalt, in: Klein (Hrsg.), Gewaltenteilung und Menschenrechte, 2006, S. 73 ff.

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ter Verletzung rechtsstaatlicher Grundsätze erfolgen. Sollen Internal Rules erlassen werden, müssen die Gründungsparteien eine entsprechende Kompetenzzuweisung durch Änderung des Vertragstextes bestätigen. Idealerweise sollte die Zuständigkeit zur Formulierung des Verfahrensrechts bei den Vertragsparteien verbleiben oder auf eine neutrale Instanz außerhalb des Gerichts übertragen werden.

cc) Fazit zum Verhältnis nationalen und internationalen Rechts (1) Die Notwendigkeit einer Vereinbarung nationaler und internationaler Standards „[A] common law adversarial system of the prosecutor is working with a 90 per cent civil law inquisitorial system panel using laws from different sources. It sounds like a weird experiment.“222

Die Kritik an der komplexen organisatorischen und normativen Struktur hybrider Tribunale erfasst die zentrale Problematik in der Konzeption internationalisierter Gerichtsbarkeit.223 Die Notwendigkeit einer Vereinbarung divergierender staatlicher und internationaler Interessen begründet eine Ambivalenz in der Zielstellung hybrider Verfahrensregelungen. Während die Vereinten Nationen die Wahrung internationaler Standards durchsetzen wollen, werden die Tatortstaaten oftmals ein weitgehend souveränes Verfahren ohne den Einfluss normativer Vorgaben des Völkerrechts fordern. Um die Arbeit der beteiligten nationalen Organe zu erleichtern und eine breite Resonanz in der Öffentlichkeit zu erzielen, wird das Verfahren grundsätzlich an nationalen Vorschriften ausgerichtet. Soll zugleich die Lösung internationaler Verfahrensfragen und die Absicherung anerkannter Menschenrechte verwirklicht werden, muss eine parallele Anwendung staatlicher und völkerrechtlicher Normen erfolgen.224 Im Hinblick auf die Notwendigkeit transparenter Prozessregelungen und eine Sicherheit in der Rechtsanwendung hat sich das Zusammenspiel der unterschiedlichen Rechtsquellen jedoch als problematisch erwiesen. Die Beispiele Sierra Leones und Kambodschas haben gezeigt, dass die Einsetzung hybrider Gerichte unabhängig von ihrem Verhältnis zum nationalen Justizsystem rechtlichen und strukturellen Schwierigkeiten begegnen. Im Falle des SCSL, der unter Anwendung internationalen Verfahrensrechts aus der staatlichen Rechtsordnung ausgegliedert wurde, waren bereits frühzeitig Modifikationen durch Einbeziehung nationaler Prozessnormen vorzunehmen. Aufgrund der organisatorischen Anbindung internationalisierter Gerichte an den Tatortstaat lässt sich das Prozessrecht der Ad-hoc-Tribunale nicht ausnahmslos auf Verfahren unter staatlicher Beteiligung übertragen. Begreift man 222 So zitiert Romano / Nollkaemper / Kleffner einen Richter der Sonderkammern von OstTimor; vgl. Romano / Nollkaemper / Kleffner, Internationalized Criminal Courts, 2004, S. 356. 223 Ambach, Ambach, Hybride internationale Strafgerichte, 2009, S. 161. 224 Romano / Nollkaemper / Kleffner, Internationalized Criminal Courts, 2004, S. 355.

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die Nähe zum politischen und rechtlichen System des Landes als besondere Chance der hybriden Gerichtsbarkeit, ist eine Beschränkung auf internationale Verfahrensnormen nicht sinnvoll. Andererseits verdeutlichen die Probleme der ECCC, dass die Implementierung der Kammern in die nationale Ordnung Probleme im Hinblick auf die Gewährleistung von Rechtsklarheit und rechtsstaatlichen Standards befürchten lassen. Eine eindeutige Antwort auf die Frage nach der bestmöglichen Rechtsform hybrider Tribunale kann es daher nicht geben. Die politischen Gegebenheiten und der Grad an staatlicher Kooperationsbereitschaft bedingen das Verhältnis nationaler und internationaler Rechtsnormen. Angesichts der Variabilität des nationalen Einflusses in Abhängigkeit von den konkreten Umständen des Tatortstaates erscheint eine allgemeingültige Vorgehensweise nicht denkbar. (2) Die Möglichkeit einer Rahmenkonvention für hybride Tribunale Vor dem Hintergrund der notwendig flexiblen Integration nationaler Verfahrensrechte ist der Vorschlag der Vereinten Nationen zur Entwicklung eines „start-up kits“, das ein generelles Verfahrensrecht für die Gründung hybrider Tribunale bereitstellt, kritisch zu sehen.225 Der Vorteil eines standardisierten Regelungswerks liegt in der Möglichkeit, bereits in der Aufbauphase nach Beendigung der Konflikte Gerichtsverfahren durchführen zu können. Die Entbehrlichkeit zwischenstaatlicher Verhandlungen würde eine zeitnahe Aufarbeitung der völkerstrafrechtlichen Verbrechen erlauben. Es erscheint jedoch fraglich, ob von einer Bereitschaft der beteiligten Staaten zum Verzicht auf die besondere Berücksichtigung ihrer nationalen Situation ausgegangen werden kann.226 Ihre Souveränität ermöglicht es ihnen, selbst die Voraussetzungen für eine internationale Beteiligung zu bestimmen. Verlangt ein Staat wie im Beispiel Kambodschas den Vorrang inländischen Prozessrechts, kann die Staatengemeinschaft eine Zusammenarbeit zwar generell verweigern, nicht jedoch einseitig die internationalen Verfahrensvorgaben eines „start-up kits“ durchsetzen. In materieller Hinsicht stellt sich die Frage, an welchen Grundsätzen ein allgemeines Verfahrensmodell ausgerichtet sein sollte. Eine ausnahmslose Anwendung des Prozessrechts der Ad-hoc-Tribunale hat sich mit Blick auf die fehlende Einbeziehung nationaler Rechtsprinzipien als unzureichend erwiesen. Werden im Rahmen hybrider Gerichtsbarkeit inländische Richter und Ankläger beschäftigt, sollten die Grundsätze des staatlichen Verfahrensrechts nicht vollständig außer Acht gelassen werden. Ein wirksames „start-up kit“ müsste sich daher auf die Festlegung verfahrensrechtlicher Rahmenbedingungen beschränken und Spielraum für internationale 225 Ein solcher Vorschlag wurde beispielsweise vom UN Panel on Human Rights Operations in seinem sogenannten „Brahimi-Report“ vom 21. August 2001 (UN Doc A / 55 / 305, S / 2000 / 809, S. 55) unterbreitet. 226 Romano / Nollkaemper / Kleffner, Internationalized Criminal Courts, 2004, S. 357.

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Kooperation eröffnen. Durch die Anwendung staatlichen Rechts können nationale Besonderheiten berücksichtigt und einem möglichen Bedürfnis der Staaten nach größerer Einflussnahme Rechnung getragen werden. Um international konsensfähig zu sein und gleichzeitig rechtsstaatliche Prämissen zu garantieren, darf ein allgemeines Verfahrensmodell lediglich als Grundstein einer gerichtlichen Verfahrensordnung dienen.227 Die Vorgabe rechtsstaatlicher Anforderungen an internationale Strafgerichtsverfahren muss hierbei Richtlinie für die Ausgestaltung eines Regelungswerkes sein. Den Versuch zur Entwicklung einer einheitlichen Rahmenkonvention für hybride Tribunale unternimmt Ambach.228 Ambach formuliert einen Vertragstext, der wesentliche Grundfragen der prozessualen und materiellen Organisation internationalisierter Strafverfahren beantwortet. Seine Vorschläge sehen klare Regelungen für die Besetzung und Kompetenz des Gerichts sowie eine normative Ausgestaltung der Beteiligtenrechte vor. Ambachs Entwurf ist inhaltlich gelungen. Beruhend auf einer Analyse des geltenden Prozessrechts beschreibt Ambach ein überzeugendes Modell zur Verbesserung von Effektivität und Rechtsstaatlichkeit hybrider Verfahrensordnungen. Zugleich beschränken sich die normativen Vorgaben auf einen notwendigen Kernbereich und lassen Raum für die Einbeziehung nationaler Rechtsvorstellungen. Ambach muss sich jedoch den Vorwurf gefallen lassen, dass eine Rahmenkonvention als völkerrechtlich verbindlicher Vertrag kaum realisierbar sein dürfte. Um politische Diskussionen über die Grundvoraussetzungen hybrider Tribunale zu vermeiden, empfiehlt Ambach die Annahme des Normenkatalogs als Resolution der UN-Generalversammlung.229 Durch Ratifikation in den Mitgliedstaaten würde die Rahmenkonvention die Unterzeichnenden im Falle der Errichtung eines hybriden Tribunals verpflichten. Es erscheint indes fraglich, ob eine hinreichende Bereitschaft der Staaten zur Verpflichtung auf ein konkretes hybrides Verfahrensmodell besteht. Gerade im Bereich sensibler Fragen wie der Besetzung eines Tribunals werden die Staaten auf eine eigene Einflussnahme regelmäßig nicht verzichten wollen. Unabhängig von der Durchsetzbarkeit einer verbindlichen Rahmenkonvention bietet ihre Annahme keine sichere Gewähr für die Einhaltung internationaler Standards. Wenngleich durch das Abkommen rechtliche Maßstäbe für die Organisation internationalisierter Gerichte geschaffen werden könnten, verbleibt die grundsätzliche Entscheidungskompetenz für eine Einbindung der Vereinten Nationen beim Mitgliedstaat. Stellt der Sicherheitsrat keine Bedrohung des internationalen Friedens fest, obliegt die gerichtliche Aufarbeitung von Verbrechen dem souveränen Staat. Lehnt ein Staat die Vorgaben der Rahmenkonvention ab, kann er einem nationalen Gerichtsverfahren den Vorzug geben. Dies ermöglicht der Regierung gegenüber den Vereinten Nationen eine Ver227 228 229

Romano / Nollkaemper / Kleffner, Internationalized Criminal Courts, 2004, S. 357. Ambach, Hybride internationale Strafgerichte, 2009, S. 381 ff. Ambach, Hybride internationale Strafgerichte, 2009, S. 167.

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handlungsposition, die erneut politische Diskussionen über abweichende Vereinbarungen in einem Gründungsvertrag zulässt.

2. Die Regelungsstruktur internationaler Strafgerichte: Zwischen common law und civil law Ein Vergleich der normativen Grundlagen völkerrechtlicher Tribunale belegt, dass sich bislang kein einheitliches internationales Strafprozessrecht entwickeln konnte.230 Die untersuchten Gerichte sind nicht an ein standardisiertes Verfahren gebunden, sondern sehen inhaltlich und strukturell verschiedene Prozessregelungen vor. Da auf internationaler Ebene ein gemeinsamer Maßstab zur Festlegung verbindlicher Voraussetzungen fehlt, gründen sich die Verfahrensordnungen der Tribunale auf die nationalen Rechtssysteme der an ihrer Gründung beteiligten Staaten. Die Prägung völkerrechtlicher Prozesse durch die jeweiligen Grundannahmen staatlicher Rechtsinstitute manifestiert sich in der Verschiedenheit ihrer normativen und strukturellen Ansätze. Insbesondere die konträren Einflüsse des angloamerikanischen und des kontinentaleuropäischen Verfahrenssystems führen zu bedeutenden Unterschieden in der rechtlichen Ausgestaltung der Gerichte. Durch die differenzierte Einbindung angloamerikanischer und kontinentaleuropäischer Prinzipien wird ein wesentlicher Grundstein für die organisatorische Ausrichtung der Tribunale gelegt. Um die Hintergründe völkerstrafrechtlicher Verfahrensordnungen zu erfassen, soll ihre Beeinflussung durch die Prinzipien von common law und civil law untersucht werden. Zu diesem Zweck werden zunächst die wesentlichen Unterschiede der Rechtssysteme skizziert und anschließend der Grad ihrer Umsetzung durch die Verfahrensordnungen internationaler Gerichte dargestellt.

a) Die divergierenden Grundsätze von common law und civil law Die Betrachtung nationaler Prozessordnungen zeigt die Entwicklung einer Vielzahl von Mischmodellen mit angloamerikanischen und kontinentaleuropäischen Elementen. Da die wenigsten Verfahrensnormen ausschließlich ein prozessuales System verwirklichen, ist eine klare Grenzziehung zwischen den Einflüssen von common law und civil law oftmals nicht möglich. Ihre Darstellung muss daher vereinfacht erfolgen und kann lediglich typische Merkmale der Rechtskreise beschreiben. Das angloamerikanische231 und das kontinentaleuropäische232 Recht nehmen zur Gewährleistung eines fairen Verfahrens in weiten Teilen gegensätzliche AusgangsKwon, JICJ 5 (2007), S. 361. Das Common Law-System wird beispielsweise in den USA und Großbritannien angewandt. 232 Exemplarisch für die Verwirklichung des kontinentaleuropäischen Rechts können Deutschland, die Niederlande, Frankreich und Österreich genannt werden. 230 231

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punkte. Ein wesentlicher Unterschied der prozessualen Modelle besteht in ihrer formalen Organisation als adversatorische oder inquisitorische233 Verfahren. Die Verhandlungen im common law werden als Parteiprozesse zwischen dem Ankläger und der Verteidigung geführt. Die Parteien bestreiten das Verfahren antagonistisch und stehen einander als prozessrechtliche „Gegner“ gegenüber.234 Während der Richter eine weitgehend passive Rolle einnimmt, sind Beweisgewinnung und Prozessgestaltung ausschließliche Aufgaben von Anklage und Verteidigung.235 Da der Richter nach dem geltenden Verhandlungsgrundsatz an ihre Beweisbeibringung gebunden ist, bestimmen die Parteien durch Benennung und Befragung von Zeugen den Fortgang des Verfahrens.236 Zentrales Mittel der Prozessführung ist hierbei das Kreuzverhör (cross examination), dessen klare Vorgaben den Verlauf der Verhandlung strukturieren.237 Im angloamerikanischen Prozesssystem ist der Richter überwiegend auf die Rolle eines Schiedsrichters beschränkt, der die Einhaltung prozessualer und formaler Voraussetzungen durch die Parteien überwacht.238 Angesichts der fehlenden Aufklärungspflichten des Gerichts wird das Ziel des adversatorischen Verfahrens nicht primär in der Ermittlung des wirklichen Geschehens, sondern in der Darstellung einer „formellen Wahrheit“ durch die Parteien gesehen.239 Die Funktionen von Richter und Ankläger im inquisitorischen Verfahren des civil law weichen erheblich von den dargelegten Grundsätzen des common law ab. Der Ankläger ist nicht allein Verfahrenspartei, sondern wird als neutrale Behörde zu Objektivität und Wahrheitsfindung verpflichtet. Seine Ermittlungen intendieren eine unabhängige Aufklärung des Sachverhaltes und erfolgen nicht einseitig zu Lasten des Beschuldigten.240 Auch der Aufgabenkreis des Richters wird durch das kontinentaleuropäische Recht weiter gezogen. Während das Gericht im common law allein auf Grundlage der von den Parteien vorgebrachten Beweise und Argumentationen entscheidet, wird der Richter im civil law von Amts wegen zur eigenständigen Aufklärung des Sachverhalts verpflichtet.241 Die Bindung des Gerichts an den Ermittlungsgrundsatz stellt einen bedeutenden konzeptionellen Unterschied in der 233 Das inquisitorische Modell findet sich heutzutage in Form des inquisitorischen Anklageprozesses, in dem die Kompetenzen zu Anklage und Verurteilung eines Verbrechens klar getrennt werden. Seine Modalitäten können – gerade im Bereich des Vorverfahrens – variieren. 234 Wilhelmi, Die Verfahrensordnung, 2004, S. 11. 235 Sadoghi, ZfRV 2007, S. 231 (232). 236 Sadoghi, ZfRV 2007, S. 231 (232). 237 Nach der Vernehmung eines Zeugen durch die erste Partei erfolgt das Kreuzverhör. Anschließend hat die Partei, die den Zeugen benannt hat, das Recht zu einem Wiederverhör (reexamination). 238 Sadoghi, ZfRV 2007, S. 231 (232). 239 Kritisch hierzu Sadoghi, ZfRV 2007, S. 231 (232, 235). 240 Beispielsweise wird im französischen Rechtssystem die Neutralität des Ermittlungsverfahrens durch die Einbeziehung eines Ermittlungsrichters (juge d’instruction) gewahrt. Hierzu ausführlich in Kapitel C. II. 2. b) cc). 241 Wilhelmi, Die Verfahrensordnung, 2004, S. 23.

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Verfahrensgestaltung inquisitorischer Prozesse dar. Ist die Aufdeckung der materiellen Wahrheit wesentlicher Bestandteil der richterlichen Tätigkeit, müssen dem Gericht weitreichende Kompetenzen zur Untersuchung des Verfahrensgegenstandes eingeräumt werden.242 Während den Parteien lediglich ein subsidiäres Fragerecht zukommt, überträgt das civil law die Leitung der Hauptverhandlung sowie die Durchführung der Beweisaufnahme dem Richter.243 Die Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen erfolgt unter Mitwirkung der Parteien,244 steht jedoch in ihrer konkreten Abfolge im Ermessen des Gerichts. Nicht allein die Rolle des Richters in der Hauptverhandlung, sondern auch seine Beteiligung im Vorverfahren hängt von der Wahl des Rechtssystems ab. Nach Sichtweise des common law erfordert die Gewährleistung richterlicher Neutralität eine klare Trennung zwischen erkennendem und eröffnendem Gericht.245 Während nach angloamerikanischem Verständnis eine vorherige Sachverhaltskenntnis dem Bild des unvoreingenommenen Richters widerspricht, wird im civil law eine möglichst frühzeitige Information als effektives Mittel zur Verfahrensbeschleunigung angesehen.246 Um die Notwendigkeit einer erneuten Einarbeitung zu vermeiden, wird die Hauptverhandlung regelmäßig von der Kammer durchgeführt, die bereits im Zwischenverfahren für den Eröffnungsbeschluss zuständig war. Die Rechtssysteme von common law und civil law weisen grundlegende Unterschiede hinsichtlich der allgemeinen Prozessführung sowie der Funktionen ihrer Beteiligten auf. Angesichts der bedeutenden Divergenzen stellt sich die Frage, in welcher Weise eine Verbindung der Prozessordnungen auf der Ebene des Völkerstrafrechts realisiert wird.

b) Die Verbindung von common law und civil law in den Rechtssystemen völkerstrafrechtlicher Gerichte aa) Das Regelungssystem der Ad-hoc-Tribunale (1) Die Gründung nach den Vorgaben des angloamerikanischen Verfahrensmodells Die Statuten der Ad-hoc-Tribunale für Jugoslawien und Ruanda traten durch Resolution des Sicherheitsrates in Kraft. Die Arbeit des Sicherheitsrates und seine Beschlussfassung über die Verfahrensgestaltung der Tribunale wurden nachhaltig von Ambos, JURA 30 (2008), S. 586 (593). Sadoghi, ZfRV 2007, S. 231 (232). 244 Die Parteien können Fragen an Zeugen und Sachverständige richten und Beweisanträge stellen. 245 So wird in der Organisation des Gerichts streng nach Pre-Trial und Trial Chamber unterschieden. 246 Wilhelmi, Die Verfahrensordnung, 2004, S. 25. 242 243

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den Vereinigten Staaten beeinflusst. Bereits im Rahmen der Tribunale von Nürnberg und Tokyo hatten sich die USA entscheidend an der Einsetzung der Gerichte beteiligt und deren prozessuale Grundlagen maßgeblich entwickelt.247 Auf dem Fundament dieser bisherigen Verfahrenspraxis und ihres internationalen politischen Gewichts konnten die USA ihr Modell des common law bei Errichtung der Ad-hocTribunale durch den Sicherheitsrat weitgehend durchsetzen. Die angloamerikanische Prägung der Statuten erklärt sich somit vor dem Hintergrund der historischen Bedeutung des common law für das Völkerstrafrecht und des politischen Einflusses der USA auf die Entscheidungskompetenz des Sicherheitsrates. „United States had basically hijacked the institution culturally. (…) It was a common-law jurisdiction, and the way of doing business was a very North American because the Americans were there from day on.“248

Auch die Verfahrens- und Beweisordnungen der Ad-hoc-Tribunale gründeten sich zunächst auf die Prämissen des angloamerikanischen Rechtssystems.249 Erneut muss den USA eine besondere Bedeutung für die Entwicklung der RPE beigemessen werden, deren Inhalte in weiten Teilen nordamerikanische Rechtsüberzeugungen widerspiegeln. Die von den USA unterbreiteten Vorschläge zur Verfahrensgestaltung wurden durch die letztendliche Fassung der Prozessordnung aufgegriffen und ohne grundlegende Abweichungen übernommen.250 Darüber hinaus lag die Zuständigkeit für den Beschluss der RPE bei den Richtern der Ad-hoc-Tribunale, die selbst überwiegend aus dem angloamerikanischen Rechtskreis stammten und adversatorische Tendenzen prinzipiell begünstigten.251 Die Entwicklung des Ad-hoc-Verfahrensrechts zeigt einen engen Zusammenhang zwischen der normativen Ausrichtung der Prozessordnung und der rechtssystematischen Prägung der gründungsbeteiligten Organe. Die Zuständigkeit des Sicherheitsrats und die Einsetzung von Richtern aus angloamerikanischen Rechtskreisen führten zu einer erheblichen Beeinflussung des Verfahrens durch Strukturen des common law. (2) Der spätere Einfluss des kontinentaleuropäischen Rechtssystems „The experience during the last 15 years of ICTY proceedings have shown that the judges in the ad hoc tribunals have changed their rules of proceedings from an almost completely adversarial system to one that encompasses more and more inquisitorial features.“252

Kamardi, Die Ausformung, 2009, S. 26. Arbour, BJIL 21 (2003), S. 196 (209). 249 van Heeck, Die Weiterentwicklung des formellen Völkerstrafrechts, 2006, S. 77. 250 Suggestions made by the Government of the United States of America for Rules of Procedure and Evidence for the Prosecution of Persons Responsible for Serious Violations of International Humanitarian Law Committed in the Former Yugoslavia, UN Doc.: IT / 14, 17. November 1993, abgedruckt in: Morris / Scharf, An Insider’s Guide, Bd. 2, 1995, S. 509 – 564. 251 van Heeck, Die Weiterentwicklung des formellen Völkerstrafrechts, 2006, S. 79. 247 248

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Mit Arbeitsaufnahme des Gerichtes wurden die Schwachstellen der angloamerikanischen Verfahrenspraxis im internationalen Strafverfahren zunehmend offenkundig.253 Schwierigkeiten in der Beweisgewinnung sowie die Komplexität des völkerstrafrechtlichen Verfahrens stellten insbesondere die Verteidigung vor praktische Probleme. Das klassische Modell des adversatorischen Verfahrens ließ sich unter Wahrung von Fairness und Waffengleichheit nicht ohne weitere Einschränkungen auf das Völkerstrafrecht übertragen. Das Bedürfnis nach einer Anpassung der normativen Bestimmungen an die Herausforderungen internationaler Gerichtsbarkeit machte die Einbeziehung kontinentaleuropäischer Rechtselemente erforderlich. Die Realität des gerichtlichen Verfahrens hatte gezeigt, dass eine ausnahmslose Verwirklichung angloamerikanischer Vorstellungen im Völkerstrafrecht nicht umzusetzen war.254 „Since [the initial adoption] there has been much discussion about whether that was a good idea. It may not have been.“255

Exemplarisch für die Änderung des Prozessrechts sei der Richter im Vorverfahren genannt, dessen Rolle bei Gründung der Tribunale nach dem Prinzip des common law auf die Bestätigung der Anklage beschränkt war. Durch Änderung der RPE wurde der Aufgabenbereich des Gerichts auf die Phase der Ermittlungstätigkeit erweitert und ein Vorverfahrensrichter (Pre-Trial-Judge) zur Gewährleistung einer verbesserten Kommunikation zwischen den Parteien eingesetzt.256 Angesichts der zunehmenden Integration kontinentaleuropäischer Rechtselemente und ihrer synthetischen Verknüpfung mit den bestehenden angloamerikanischen Strukturen kann das Prozessrecht der Ad-hoc-Tribunale als Verfahrensordnung sui generis verstanden werden.257 Wenngleich Zappalà die RPE als „a sort of hybrid that fits somewhere between adversarial and inquisitorial“258 charakterisiert, ist der Schwerpunkt ihrer rechtlichen Ausrichtung weiterhin im common law zu sehen.259 Die grundlegenden Rollenbilder von Richter und Ankläger entsprechen weiterhin dem angloamerikanischen Modell, werden jedoch in ihrer konkreten Ausgestaltung nach Maßgabe des inquisitorischen Verfahrens modifiziert.260 Der Ankläger steht 252 Heinsch, How to achieve, in: Stahn / Sluiter (Hrsg.), The Emerging Practice of the International Criminal Court, 2009, S. 479 (488). 253 Zappalà, Human Rights, 2005, S. 249: „Ad hoc tribunals started to operate on a fundamentally adversarial system. However, it soon appeared that such a model did not fully meet the demands of international criminal proceedings.“ 254 Ackerman / O’Sullivan, Practice and Procedure, 2000, Art. 15, S. 110: „It is one thing to choose a procedural system on paper, and another to see it in operation.“ 255 Ackerman / O’Sullivan, Practice and Procedure, 2000, Art. 15, S. 110. 256 So geregelt in rule 65-ter B. 257 Robinson, EJIL 11 / 3 (2000), S, 569 (588); Bohlander, International Criminal Justice, 2007, S. 431. 258 Zappalà, Human Rights, 2005, S. 22. 259 Kwon, JICJ 5 (2007), S. 364. 260 Hofstetter, Das Verfahrensrecht, 2005, S. 192.

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der Verteidigung zwar grundsätzlich im Rahmen eines kontradiktorischen Prozesses gegenüber, ist nach Regel 68 (i) ICTY-RPE allerdings zur Offenlegung von entlastendem Material verpflichtet. Eine vergleichbare Annäherung an das inquisitorische Modell findet sich im Aufgabenbereich des Richters, dessen Kompetenzen an die auftretenden Probleme der Praxis angepasst wurden.261 Wenngleich seine Funktion in ihrer grundsätzlichen Ausrichtung weiterhin als passiv zu bewerten ist,262 kann der Richter im Rahmen einer Vernehmung nunmehr selbständig Fragen an den Zeugen richten (Regel 85 B ICTY-RPE). (3) Fazit zum Regelungssystem der Ad-hoc-Tribunale Aufgrund der Einbeziehung angloamerikanischer und kontinentaleuropäischer Elemente ohne einheitliches Verfahrenskonzept setzt sich das Prozessrecht der Adhoc-Tribunale dem Vorwurf der systematischen Inkonsequenz aus. Angesichts ihrer sukzessiven Annäherung an die Vorstellungen des civil law sind die Änderungen der RPE im Hinblick auf die Komplexität des Regelungswerkes kritisch zu sehen. „There have been attempts to create a more hybrid system, combining features from both the inquisitorial and the adversarial systems. By and large this has resulted in a creature that is neither one nor the other and in many respects inferior to both.“263

Wenngleich inquisitorische Elemente später Eingang in die Verfahrensordnungen fanden, bleibt das Prozessrecht der Ad-hoc-Tribunale angloamerikanisch geprägt. Unabhängig von einer Wertung des Verfahrensmodells stellt die vorrangig adversatorische Gestaltung ein Hindernis für die praktische Handhabung durch die Verfahrensbeteiligten dar. Alle Angeklagten der Tribunale und die große Mehrheit der Verteidiger kommen aus Rechtssystemen mit traditioneller Bindung an das civil law.264 Sind die Verteidiger mit den Anforderungen und Möglichkeiten des Verfahrens nicht hinreichend vertraut, können Fehler zu Lasten des Angeklagten die Effektivität seiner Verteidigung beeinträchtigen. Vor dem Hintergrund dieser faktischen Gegebenheiten wäre es von Vorteil gewesen, dass Verfahrensrecht der Ad-hoc-Tribunale stärker an den nationalen Rechtssystemen der Tatortstaaten auszurichten. bb) Das Regelungssystem des Internationalen Strafgerichtshofs (1) Die Entstehung des Verfahrensrechts als Kompromisslösung Die vertragliche Gründung des Internationalen Strafgerichtshofs machte die Beteiligung aller verhandelnden Staaten an der Normierung des Verfahrensrechts erforderlich. Angesichts des identischen Stimmgewichts der Parteien in der General261 262 263 264

Hofstetter, Das Verfahrensrecht, 2005, S. 192. Hofstetter, Das Verfahrensrecht, 2005, S. 192. Ackerman / O’Sullivan, Practice and Procedure, 2000, Art. 15, S. 110. Ackerman / O’Sullivan, Practice and Procedure, 2000, Art. 15, S. 110.

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C. Rechtsstaatlichkeit an internationalen Straftribunalen

versammlung konnte sich das angloamerikanische Verfahrensmodell der USA nicht einseitig durchsetzen. Im Gegensatz zum Gründungsprozess der Ad-hoc-Tribunale wurde die Ausarbeitung der prozessualen Regelungen des ICC nicht durch einen politischen Geltungsvorrang des common law bestimmt. Die vertragliche Entstehung des Gerichts garantierte gleichwertige Einflussmöglichkeiten beider Rechtssysteme und setzte hierdurch grundlegend neue Bedingungen für die Entwicklung strafprozessualer Normen auf internationaler Ebene. Da die Natur eines völkerrechtlichen Abkommens einen Interessenausgleich erforderte, musste ein tragfähiger Konsens zwischen den Staaten gefunden werden. Ein solcher Kompromiss beinhaltete die Schwierigkeit, den verschiedenen nationalen Rechtsvorstellungen gerecht zu werden und die konträren Ansatzpunkte angloamerikanischer und kontinentaleuropäischer Verfahrenssysteme zu vereinbaren.265 Die Notwendigkeit einer Einigung der Staatengemeinschaft auf ein gemeinsames Prozessrecht barg die Chance, unabhängig von politischen Überzeugungen ein autonomes Verfahrensrecht auf internationaler Ebene zu entwickeln. Da sich angesichts des Stimmverhältnisses kein Rechtssystem politisch durchsetzen konnte, bestand die Möglichkeit zur inhaltlichen Diskussion prozessualer Fragen vor dem Hintergrund der besonderen Bedürfnisse völkerstrafrechtlicher Gerichtsbarkeit. „Nationale Eitelkeiten“266 führten jedoch dazu, dass die Erarbeitung des Verfahrensrechts weniger vom Ziel einer praktikablen Entscheidungsfindung als vielmehr von der Aushandlung wechselseitiger Zugeständnisse geprägt war.267 Beobachter der Verhandlungen kritisierten, dass die Mehrheit der beteiligten Staaten die Umsetzung ihrer nationalen Prozesssysteme erwirken wollte, ohne die Anforderungen des internationalen Rechts zu berücksichtigen.268 Das Ergebnis der Verhandlungen entsprach daher eher dem Charakter eines politischen Kompromisses als dem tatsächlichen Bemühen um eine sinnvolle Festlegung völkerstrafprozessualer Grundsätze. (2) Die Verbindung angloamerikanischer und kontinentaleuropäischer Strukturen Eine Gesamtbetrachtung des prozessualen Regelungswerks zeigt eine grundsätzliche Dominanz des angloamerikanischen Modells. Gleichwohl wirken die Einflüsse des civil law nicht allein als „notwendiges Korrektiv“269, sondern enthalten bedeutende Neuerungen in der internationalen Strafgerichtsbarkeit. 265 Roberts, Aspects, in: May / Tolbert et al. (Hrsg.), Essays on ICTY Procedure and Evidence in Honour of Gabrielle Kirk McDonald, 2001, S. 559 (572): „The drafters of the Rome Statute were more constrained by the need to compromise, stemming from political concerns emanating from a large number of states representing a broader background of legal systems. This need for compromise inevitably played a major role in shaping the final text.“ 266 Wilhelmi, Die Verfahrensordnung, 2004, S. 57. 267 Wilhelmi, Die Verfahrensordnung, 2004, S. 57. 268 Zappalà, Human Rights, 2005, S. 248. 269 So Wilhelmi, Die Verfahrensordnung, 2004, S. 9.

II. Das Verfahrensrecht der internationalen Strafgerichte

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Die Rolle des Richters wird entgegen den Prinzipien des common law durch eine aktive Funktion in der Ermittlung und Beweiswürdigung bestimmt.270 Wenngleich die Parteien weiterhin für die Beibringung belastenden und entlastenden Materials verantwortlich sind, kann der Richter den Nachweis zusätzlicher Beweismittel verlangen (Art. 69 Abs. 3 ICC-Statut). Auch im Rahmen der Zeugenvernehmung, die wesentlich von der angloamerikanischen Idee des Kreuzverhörs geprägt ist, wird dem Richter eine eigenständige Befragung gestattet (Regel 140 ICC-RPE). Die weiten Eingriffsbefugnisse des Gerichts ergänzen das grundsätzlich adversatorische Verfahren um das kontinentaleuropäische Gebot der materiellen Wahrheit.271 Trotz der konzeptionellen Annäherung des richterlichen Wirkungskreises an seine Stellung im civil law überwiegt die angloamerikanische Vorstellung vom Richter als neutral-passiver Instanz. Diese Sichtweise spiegelt sich beispielhaft in der strikten Trennung von Vorverfahrens- und Hauptverfahrenskammer wider. Um das im common law geltende Bild des unvoreingenommenen Gerichts zu gewährleisten, legt das Statut des ICC ausdrücklich die Unvereinbarkeit einer Beteiligung des Richters an Haupt- und Vorverfahren fest (Art. 39 Abs. 4 S. 2). Die bedeutendste Änderung im Vergleich zum adversatorischen Modell der Adhoc-Tribunale ist in der Neustrukturierung der verfahrensrechtlichen Funktion des Anklägers zu sehen. Nach Art. 54 ICC-Statut wird die Anklage von Amts wegen zur gleichrangigen Ermittlung von entlastendem und belastendem Beweismaterial verpflichtet. Der Ankläger soll der Verteidigung somit nicht kontradiktorisch gegenüberstehen, sondern als objektive Behörde im allgemeinen Interesse der Wahrheitsfindung handeln.272 Dem entspricht seine Befugnis, nach Abschluss des erstinstanzlichen Verfahrens zu Gunsten des Angeklagten Rechtsmittel einlegen zu können (Art. 81 Abs. 1 lit. b ICC-Statut). Vergleichbar den Ad-hoc-Tribunalen, verbindet auch das Verfahrensrecht des ICC adversatorische und inquisitorische Komponenten ohne einen prozessualen Ansatz konsequent zu verwirklichen.273 Das Ergebnis bildet einen Kompromiss zwischen den Rechtssystemen, der keiner einheitlichen prozessualen Logik folgt. Angesichts der Mosaikstruktur des Statuts stellt sich die Frage, ob die bestehende Verknüpfung angloamerikanischer und kontinentaleuropäischer Elemente konzeptionelle Widersprüche begründet. Ungeachtet der berechtigten Kritik an den politisch geprägten Verhandlungen274 wird zu untersuchen sein, inwieweit sich das Prozessrecht des ICC in der Praxis als mögliches Modell künftiger Verfahrensregelungen erweisen kann. Wilhelmi, Die Verfahrensordnung, 2004, S. 39 f. Wilhelmi, Die Verfahrensordnung , 2004, S. 39 f. 272 Wilhelmi, Die Verfahrensordnung, 2004, S. 46 ff. 273 Neben der Objektivität des Anklägers können insbesondere das Überweisungsverfahren, die Stellung und Entschädigung der Opfer und das Beweisrecht als kontinentaleuropäische Elemente angesehen werden; vgl. Hofstetter, Das Verfahrensrecht, 2005, S. 192. 274 Zappalà, Human Rights, 2005, S. 248. 270 271

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cc) Die Regelungssysteme der hybriden Tribunale Die Gründung hybrider Tribunale setzt eine Kooperation der Vereinten Nationen mit den Regierungen der Tatortstaaten voraus. Die Ausrichtung der Prozessordnung an den Grundsätzen von common law und civil law hängt daher entscheidend von der Prägung des innerstaatlichen Verfahrensrechts sowie dem Grad seiner Einbindung in den internationalen Kontext ab. Verallgemeinernd kann für die Tribunale in Ost-Timor, Kambodscha und dem Kosovo eine Orientierung am civil law, für den Sondergerichtshof Sierra Leones der Einfluss des angloamerikanischen Prozessrechts beobachtet werden.275 Eine generelle Aussage über das Verhältnis adversatorischer und inquisitorischer Elemente lässt sich angesichts der unterschiedlichen Entwicklungen hybrider Gerichte nicht treffen. Im Regelfall wird die Zusammenarbeit staatlicher und internationaler Stellen jedoch die Entstehung eines normativen Mischmodells begünstigen. (1) Angloamerikanische und kontinentaleuropäische Elemente im Verfahrensrecht der ECCC Das bilaterale Abkommen zur Gründung der ECCC bestimmt die kambodschanische Verfahrensordnung als maßgebliche Quelle des geltenden Prozessrechts. Entsprechend geben die später erlassenen Internal Rules in weiten Teilen die Regelungen des nationalen CPC wieder. Die Bewertung des ECCC-Verfahrensrechts beruht daher wesentlich auf der Zuordnung innerstaatlicher Normen zum angloamerikanischen oder kontinentaleuropäischen Rechtskreis. Die französische Kolonialzeit bis Mitte des 20. Jahrhunderts prägte das kambodschanische Rechtssystem durch die inquisitorischen Strukturen seines Code civil.276 Als klassisches Mischmodell ist die französische Rechtsordnung zwar primär an den Vorgaben des civil law orientiert, enthält jedoch zugleich Elemente des angloamerikanischen Prozesses.277 Während das strafrechtliche Vorverfahren durch den Ermittlungsgrundsatz bestimmt wird, vereinigt das gerichtliche Hauptverfahren adversatorische und inquisitorische Merkmale.278 Wichtiger Bestandteil des kontinentaleuropäischen Prozessmodells ist die aktive Rolle des Richters im Rahmen der Beweisaufnahme. Nach den Regeln 90 und 91 ECCC-IR obliegt die Befragung von Zeugen und Angeklagten in erster Linie der Kammer. Wollen die Verfahrensparteien eigene Fragen stellen, können sie dies geRomano/Nollkaemper / Kleffner, Internationalized Criminal Courts, 2004, S. 254 m. w. N. Kambodscha wurde im Jahr 1863 zum Protektorat Frankreichs, 1887 ging es gemeinsam mit Vietnam in der Indochinesischen Union auf. Erst 1954 muss Frankreich die Unabhängigkeit des Landes auf der Genfer Indochinakonferenz anerkennen; Golzio, Die Geschichte Kambodschas, 2003, S. 116 ff., 136 ff. 277 Vitu, Grundzüge, in: Jung (Hrsg.), Der Strafprozess im Spiegel ausländischer Verfahrensordnungen, 1990, S. 7 (9). 278 Geppert, Grundsatz, 1979, S. 44. 275 276

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mäß Regel 91 Abs. 2 ECCC-IR nur im Einvernehmen mit dem vorsitzenden Richter tun.279 Die Vernehmung eines Zeugen im Kreuzverhör als Mittel der Parteien zur Gestaltung des Verfahrens ist nach der Prozessordnung der ECCC ausgeschlossen. Die starke Stellung des Richters als Leiter des Hauptverfahrens ist konsequente Folge seiner Pflicht zur materiellen Wahrheitsfindung. Im Gegensatz zum adversatorischen Prozess, der sich auf die Präsentation einer formellen Wahrheit richtet, ist die Ermittlung des Tatgeschehens wesentliches Ziel des inquisitorischen Verfahrens.280 Die Formulierungen der richterlichen Kompetenzen in Regel 85, 87 und 90 ECCC-IR281 definieren das Gebot der Sachaufklärung als notwendige Handlungslegitimation des Gerichts. Die Bindung des Gerichts an den Untersuchungsgrundsatz erfordert eine Erweiterung seines Zuständigkeitsbereichs um Befugnisse zur Amtsermittlung. Regel 87 Abs. 4 ECCC-IR ermöglicht den Richtern im Interesse der Wahrheitsfindung die Ladung zusätzlicher Zeugen. In Regel 93 ECCC-IR werden der Kammer darüber hinaus weitreichende Kompetenzen zur selbständigen Untersuchung des Verfahrensgegenstandes gewährt. „Regel 93 ECCC-IR: 1. Where the Chamber considers that a new investigation is necessary it may, at any time, order additional investigations (…) 2. Such judge(s) may, under the same conditions as the Co-Investigating Judges: a) go anywhere within the territorial jurisdiction of the ECCC; b) interview witnesses; c) conduct searches; d) seize any evidence; or e) order expert opinions.“

Die Bedeutung des Richters für die Ermittlung und Bewertung von Beweismaterial reflektiert die kontinentaleuropäische Prägung der Prozessordnung durch das französische Verfahrensrecht. Die Grundsätze des civil law werden jedoch nicht ausnahmslos verwirklicht, sondern um prozessuale Eigenarten des common law ergänzt. Zunächst ist die strikte Trennung von erkennendem und eröffnendem Gericht als Zeichen des angloamerikanischen Verständnisses richterlicher Unvoreingenom279 Regel 91 Abs. 2: The Co-Prosecutors and all the other parties and their lawyers shall be allowed to ask questions with the permission of the President. Except for questions asked by the Co-Prosecutors and the lawyers, all questions shall be asked through the President of the Chamber. 280 Siehe Kapitel C. II. 2. a). 281 Regel 85 Abs. 1 S. 2: He or she shall guarantee the free exercise of defence rights. In consultation with the other judges, the President may exclude any proceedings that unnecessarily delay the trial, and are not conducive to ascertaining the truth. Regel 87 Abs. 4: During the trial, either on its own initiative or at the request of a party, the Chamber may summon or hear any person as a witness or admit any new evidence which it deems conducive to ascertaining the truth. Regel 90 Abs. 1 S. 2: All the judges may ask any questions which they consider to be conducive to ascertaining the truth. In this respect, they have a duty to raise all pertinent questions, whether these would tend to prove or disprove the guilt of the Accused.

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C. Rechtsstaatlichkeit an internationalen Straftribunalen

menheit zu werten. Nach Art. 5 ECCC-Agreement und den Regeln 55ff. ECCC-IR sind unabhängige Ermittlungsrichter für die Beibringung von Beweismaterial sowie den Beschluss über die Erhebung einer Anklage zuständig. Mit der Einrichtung einer gesonderten Vorverfahrenskammer werden zudem Fragen vor Prozesseröffnung klar vom Aufgabenfeld der Hauptverfahrensrichter abgegrenzt.282 Ein weiterer Einfluss des common law findet sich in der Konzeption der Verfahrensbeteiligten als gegnerische Parteien im Sinne einer adversatorischen Prozessgestaltung. Anders als am Internationalen Strafgerichtshof sind die Staatsanwälte bei Wahrnehmung ihrer Befugnisse nicht explizit zur Neutralität verpflichtet, sondern treten der Verteidigung in der Rolle des parteilichen Anklägers gegenüber. Durch die explizite Festlegung seines adversatorischen Charakters begründen Regeln 21 und 63 ECCC-IR ein grundsätzliches Verständnis des Hauptverfahrens als Parteiprozess.283 (2) Die Besonderheit der Ermittlungsrichter (Co-Investigating Judges) Wenngleich das Rollenverständnis der Verfahrensparteien durch das angloamerikanische Rechtssystem beeinflusst wird, liegt der Schwerpunkt der hybriden Prozessordnung im kontinentaleuropäischen Modell Frankreichs.284 Eine hierdurch bedingte Besonderheit des kambodschanischen Verfahrensrechts stellt die Einsetzung von Untersuchungsrichtern (Co-Investigating Judges) zur Beweiserhebung im Vorverfahren dar.285 Die Übertragung einer Ermittlungskompetenz auf unabhängige Richter ist Ausdruck des inquisitorischen Gedankens einer umfassenden Aufklärung der materiellen Wahrheit. Die Untersuchung des Tatgeschehens als Grundlage der späteren Beweisführung liegt nicht im ausschließlichen Verantwortungsbereich der Parteien, sondern erfolgt von Amts wegen durch das Gericht. Als Neuerung im internationalen Strafverfahren ist dem Institut der Co-Investigating Judges besondere Beachtung geschenkt werden. Die nachfolgende Darstellung skizziert die Aufgaben des Untersuchungsrichters und weist auf die wesentlichen Unterschiede zur Ermittlungsarbeit der Anklage hin. Am Anfang eines Verfahrens stehen gemäß Regel 49 f. ECCC-IR die Voruntersuchungen (Preliminary Investigations) durch die Anklagebehörde. Auf Grundlage 282 Den Richtern der Vorverfahrensinstanz obliegt beispielsweise die Entscheidung über Anträge der Parteien zur Untersuchungshaft; Art. 20, 23 ECCC-LoE, Regeln 71-78 ECCC-IR. 283 Regel 21 Abs. 1 lit. a: ECCC proceedings shall be fair and adversarial and preserve a balance between the rights of the parties.; Regel 63 Abs. 1 lit. a: The Co-Investigating Judges may order the Provisional Detention of a Charged Person after an adversarial hearing. 284 Worden, An Anatomy, in: Abrams / Ramji et al. (Hrsg.), Awaiting Justice, 2005, S. 172 (183). 285 Das französische Verfahrensrecht sieht die Ermittlung im Vorfeld des Verfahrens durch sogenannte „juges d’ instruction“ vor; Worden, An Anatomy, in: Abrams / Ramji et al. (Hrsg.), Awaiting Justice, 2005, S. 172 (175). Das Institut der Co-Investigating Judges findet sich bereits in Art. 5 des ECCC-Agreements.

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ihrer Ermittlungsergebnisse entwickeln die Ankläger (Co-Prosecutor) eine „Introductory Submission“, die den Umfang der Beweislage sowie den Kreis der Verdächtigen festlegt. Die „Introductory Submission“ ist Ausgangspunkt und zugleich Schranke der nachfolgenden Beweiserhebung durch die Untersuchungsrichter. Ihre Nachforschungen müssen sich im Rahmen des staatsanwaltlichen Ermittlungsauftrages halten und dürfen die in faktischer Hinsicht gesteckten Grenzen der „Introductory Submission“ nicht überschreiten. Wollen die Richter den Untersuchungsgegenstand erweitern, können sie dies gemäß Regel 55 Abs. 2 ECCC-IR ausschließlich im Wege einer gesonderten Ermächtigung durch die Anklagebehörde („Supplementary Submission“) tun. Die Abhängigkeit der Parteien ist eine beidseitige. Nach Veröffentlichung der „Introductory Submission“ steht der Inhalt der Beweisermittlung nicht mehr zur Disposition der Anklage, sondern unterfällt dem selbständigen Kompetenzbereich der Untersuchungsrichter. Die Anklage kann auf die konkrete Ermittlungsarbeit der Co-Investigating Judges allenfalls durch einen Antrag auf besondere Nachforschung gemäß Regel 55 Abs. 10 ECCC-IR Einfluss nehmen.286 Die letztendliche Entscheidung über Eröffnung oder Einstellung des Verfahrens obliegt den Untersuchungsrichtern („Closing Order“, Regeln 66 f. ECCC-IR) und kann von den Parteien lediglich im Rahmen des Rechtsmittelverfahrens (Regel 73 ECCC-IR) angegriffen werden. Die zentralen Aufgaben der Beweisgewinnung, wie die Vernehmung von Zeugen oder die Auswertung relevanter Dokumente, werden von den Ermittlungsrichtern als objektive Instanzen des Gerichtes wahrgenommen. Nach Regel 55 Abs. 5 ECCC-IR sind die Untersuchungsrichter hierbei ausdrücklich zur unparteilichen Ermittlung des Sachverhalts und wahrheitsgemäßen Aufklärung des Tatgeschehens angehalten.287 „In the conduct of judicial investigations, the Co-Investigating Judges may take any investigative action conducive to ascertaining the truth. In all cases, they shall conduct their investigation impartially, whether the evidence is inculpatory or exculpatory.“

In ihrer Verpflichtung auf prozessuale Neutralität unterscheiden sich die Co-Investigating Judges maßgeblich von den Vertretern der Anklage, die nach dem Mischmodell der ECCC als Parteien im Verfahren auftreten. Die entscheidende Neuerung im Untersuchungsprozess besteht in der Einsetzung unabhängiger Institutionen, deren Aufgabenbereich auf die Beweiserhebung im Vorverfahren begrenzt ist. Da die Ermittler keine Interessen im Hauptverfahren verfolgen, bietet das System eine größtmögliche Gewähr für die objektive und unparteiliche Durchführung der Untersuchungen. In welchem Maße jedoch das französische Modell des Untersuchungsrichters auf internationaler Ebene eine sinnvolle Alternative darstellt, hängt von der Notwendigkeit einer praktischen Absicherung neutraler Ermittlungs286 Die Möglichkeit eines Antrages auf Ermittlung in eine spezielle Richtung steht auch den übrigen Verfahrensparteien zu. 287 Regel 55 Abs. 5: In the conduct of judicial investigations, the Co-Investigating Judges may take any investigative action conducive to ascertaining the truth. In all cases, they shall conduct their investigation impartially, whether the evidence is inculpatory or exculpatory.

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arbeit ab. Die Frage nach seiner Eignung und einer möglichen Vorbildwirkung im völkerstrafrechtlichen Prozess muss vor dem Hintergrund rechtsstaatlicher Verfahrensdefizite beantwortet werden. Ob die Einsetzung eines Untersuchungsrichters den Bedürfnissen des internationalen Beweisverfahrens entspricht, wird daher an späterer Stelle zu diskutieren sein.288

c) Fazit zur Regelungsstruktur internationaler Strafgerichte Die notwendige Vereinbarung der nationalen Traditionen von civil law und common law begründet für den verfahrensrechtlichen Rahmen internationaler Strafgerichte verschiedene Probleme. Aus dem Erfordernis zwischenstaatlicher Kompromisse und den praktischen Anforderungen des völkerrechtlichen Strafprozesses haben sich abweichende Verfahrensmodelle entwickelt. Die Entstehung der Regelungswerke zeigt, dass die Gründungsform des Gerichtes maßgeblichen Einfluss auf die Gewichtung angloamerikanischer und kontinentaleuropäischer Prozesselemente ausübt. Die Verknüpfung der divergierenden Rechtssysteme ohne einheitliches internationales Konzept ist eine wesentliche Ursache für die Komplexität und partielle Widersprüchlichkeit völkerstrafrechtlicher Verfahrensordnungen. Um die praktische Durchführung prozessualer Garantien zu erleichtern und die Akzeptanz des Völkerstrafrechts durch ein klares Verfahrensmodell zu stärken, sollte das internationale Strafverfahrensrecht weitgehend harmonisiert werden. Die Festlegung einheitlicher Standards und gleicher Beteiligtenrechte kann zu einem höheren Maß an Rechtssicherheit beitragen und das Vertrauen in die Legitimation völkerstrafrechtlicher Prozesse stärken. Es gilt, unabhängig von politischen Interessen zu prüfen, durch welches Regelungssystem rechtsstaatliche Anforderungen am effektivsten umgesetzt werden können. Besondere Bedeutung kommt der Frage nach einer Berücksichtigung adversatorischer und inquisitorischer Elemente in der Rollendefinition von Richter und Ankläger zu. Da die Durchführung des Verfahrens entscheidend vom Selbstverständnis der Gerichtsorgane geprägt wird, müssen ihre Rechte und Pflichten an die Bedingungen des völkerstrafrechtlichen Verfahrens angepasst werden. Um ein einheitliches Verfahren auch in der Praxis zu garantieren, sind klare und ausführliche Regelungen erforderlich. Interpretationsspielräume, wie sie in den bisherigen Prozessordnungen vorhanden sind, ermöglichen den Beteiligten eine unterschiedliche Gestaltung ihrer praktischen Funktion.289 Entsprechend ihrem eigenen nationalen Hintergrund nehmen Richter und Ankläger ihre Rollen verstärkt adversatorisch beziehungsweise inquisitorisch wahr. 288 Zur Diskussion des Modells siehe die Ausführungen im Rahmen der Waffengleichheit in Kapitel D. X. 4. b). 289 Hofstetter, Das Verfahrensrecht, 2005, S. 193; Wilhelmi, Die Verfahrensordnung, 2004, S. 57.

II. Das Verfahrensrecht der internationalen Strafgerichte

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„[T]here is a strong likelihood that each judge will tend to be guided by his or her own legal experience, and that the procedure of different chambers will actually vary as a result. The disadvantages and potential unfairness which this may create weighs particularly heavily on the defendant.“290

Die Untersuchung von Rechtsstaatlichkeit in der Verfahrensgestaltung wird die Schwachstellen und Herausforderungen des internationalen Strafrechts nachweisen. Auf Grundlage der rechtlichen und praktischen Probleme in den bestehenden Prozessordnungen werden Konsequenzen für die bestmögliche Ausgestaltung der Funktionen beteiligter Organe gezogen.

290 Borek, The Proposed International Criminal Court, in: Cullen / Gilmore (Hrsg.), Crime sans frontiers. International and European Legal Approaches, 1998, S. 73 (79).

D. Rechtsstaatliche Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren Das Gebot der Rechtsstaatlichkeit verwirklicht sich im völkerstrafrechtlichen Verfahren normativ unmittelbar in Form prozessualer Gewährleistungen und individueller Rechte des Angeklagten. Als grundlegende Garantie eines auf Menschenrechten beruhenden Verfahrens gestaltet Art. 14 IPbpR wesentliche Voraussetzungen für einen rechtsstaatlichen Strafprozess. Aufgrund ihrer weitreichenden Geltung im Völkerrecht1 und ihrer Vorbildwirkung für das internationale Strafverfahren2 sollen die Gewährleistungen aus Art. 14 IPbpR Ausgangspunkt für die Darstellung rechtsstaatlicher Anforderungen im Völkerstrafprozess sein. Es gilt im Rahmen der Untersuchung ein angemessenes Verhältnis der normativen Gewährleistungen zueinander sowie zum Erfordernis eines wirksamen Strafverfahrens zu entwickeln. Gegenstand der Betrachtung sind die Prozessrechte des Angeklagten, deren effektive und angemessene Verwirklichung rechtsstaatliche Bedingung des internationalen Strafverfahrens ist. „Art. 14 IPbpR: 1. All persons shall be equal before the courts and tribunals. In the determination of any criminal charge against him, or of his rights and obligations in a suit at law, everyone shall be entitled to a fair and public hearing by a competent, independent and impartial tribunal established by law. (…) 2. Everyone charged with a criminal offence shall have the right to be presumed innocent until proved guilty according to law. 3. In the determination of any criminal charge against him, everyone shall be entitled to the following minimum guarantees, in full equality: (…) (a) To be informed promptly and in detail in a language which he understands of the nature and cause of the charge against him; (b) To have adequate time and facilities for the preparation of his defence and to communicate with counsel of his own choosing; (c) To be tried without undue delay; (d) To be tried in his presence, and to defend himself in person or through legal assistance of his own choosing; to be informed, if he does not have legal assistance, of this right; and to have legal assistance assigned to him, in any case where the interests of justice so require, and without payment by him in any such case if he does not have sufficient means to pay for it; 1 Der IPbpR wurde von 113 Staaten ratifizert und bindet daher eine große Mehrheit in der Staatengemeinschaft. 2 Die Prozessrechte des Angeklagten werden in den Statuten völkerstrafrechtlicher Tribunale entsprechend ausgestaltet; siehe Kapitel B. III. 3. a).

I. Die Dogmatik der Verfahrensgarantien

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(e) To examine, or have examined, the witnesses against him and to obtain the attendance and examination of witnesses on his behalf under the same conditions as witnesses against him; (f) To have the free assistance of an interpreter if he cannot understand or speak the language used in court; (g) Not to be compelled to testify against himself or to confess guilt.“3

I. Die Dogmatik der Verfahrensgarantien Die Verfahrensnormen in Art. 14 IPbpR garantieren dem Angeklagten individuelle Rechtspositionen und sind zugleich Ausdruck eines allgemeinen Grundsatzes prozessualer Gerechtigkeit.4 Wenngleich sich der Fairnessgedanke in den Einzelgewährleistungen wiederfindet, erschöpft er sich nicht in der Bestimmung konkreter Verfahrensrechte.5 Die prozessualen Garantien aus Art. 14 IPbpR werden als Teilelemente eines umfassenden Anspruchs auf ein faires Verfahren verstanden.6 Als eigenständiges Prinzip gerechter Prozessgestaltung stellt der Anspruch auf Fairness eine unverzichtbare Grundvoraussetzung des rechtsstaatlichen Verfahrens dar.7 Aus konzeptioneller Sicht liegen den Prozessgarantien aus Art. 14 IPbpR zwei zentrale Forderungen zugrunde: Freiheit und Gleichheit. Die Prinzipien bilden ergänzende Bestandteile prozessualer Fairness, die teils separate teils gemeinsame Aspekte der Verfahrensgerechtigkeit erfassen. Zum einen dienen die Rechte des Angeklagten einem Schutz vor Strafe als Einschränkung seiner persönlichen Freiheit. In diesem Zusammenhang übernehmen die Verfahrensnormen vorrangig die Funktion von Abwehrrechten gegen gerichtliche Eingriffe. Als originäre Freiheitsrechte können exemplarisch die Garantie der Unschuldsvermutung (Art. 14 Abs.1) sowie das Schweigerecht im Prozess (Art. 14 Abs. 3 lit. g) genannt werden. Den zweiten Pfeiler eines fairen Strafverfahrens bildet der Grundsatz prozessualer Gleichheit.8 Der Gedanke findet seinen Ursprung im angloamerikanischen Recht und wird im Sinne rechtlicher Waffengleichheit zwischen Anklage und VerteidiHervorhebungen (kursiv) durch Verfasser. Nowak, U.N. Covenant, 1993, Art. 14 Rn. 19. 5 Folgerichtig stellt der Verstoß gegen eines der Prozessrechte zugleich eine Verletzung des fairen Verfahrens dar. Auf der anderen Seite kann der Anspruch auf ein faires Verfahren trotz Einhaltung der Vorgaben aus Art. 14 IPbpR betroffen sein, da diese lediglich als Minimalgarantien zu verstehen sind; Zahar / Sluiter, International Criminal Law, 2008, S. 293. 6 Nowak, U.N. Covenant, 2005, Art. 14 CCPR, S. 321, Rn. 28. 7 Zahar / Sluiter, International Criminal Law, 2008, S. 293; Ambach, ZIS 6 (2009), S. 286 (294). So auch SCSL Prosecutor v. Issa Hassan Sesay et al., Gbao – Decision on Application to Withdraw Counsel, SCSL-04-15-AR73, 6.7.2004, Rn. 15. 8 Reid, A Practioner’s Guide, 2004, S. 100; Boas, The Milošević Trial, 2007, S. 40; Nowak, UN Covenant, 2005, Art. 14 Rn. 20. 3 4

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

gung verstanden.9 Angelehnt an das Bild eines Wettstreites gegnerischer Parteien ist die Idee der „equality of arms“ fundamentales Prinzip des adversatorischen Verfahrens.10 Da ein fairer Wettkampf nur unter der Voraussetzung äquivalenter Mittel und tatsächlicher Chancengleichheit garantiert werden kann, sind den Parteien entsprechende Instrumente zur Vertretung ihrer Verfahrensposition zu gewähren.11 Als selbständiges Prinzip prozessualer Gerechtigkeit ist der Anspruch auf Waffengleichheit nicht explizit in Art. 14 IPbpR verankert. Gleichwohl reflektieren die Verfahrensgarantien der Norm die Idee der „equality of arms“ durch die Gewährleistung einer gleichberechtigten Verteidigung.12 Der Grundsatz der „equality of arms“ verpflichtet internationale Strafgerichte zur Herstellung und Wahrung einer prozessualen Gleichheit der Parteien.13 Das Prinzip der Waffengleichheit gewährt daher nicht allein ein Abwehrrecht, sondern zugleich einen individuellen Leistungsanspruch gegenüber der völkerstrafrechtlichen Gerichtsbarkeit.14 Die Ideen von Freiheit und Gleichheit prägen die rechtsstaatlichen Verfahrensgarantien aus unterschiedlicher Perspektive. Gleichwohl können die Prozessrechte aus Art. 14 IPbpR nicht eindeutig abgegrenzt werden, sondern verbinden Elemente von Waffengleichheit und Freiheitsschutz. So sind das Verbot eines Abwesenheitsverfahrens (Art. 14 Abs. 3 lit. d) und der Anspruch auf ein unparteiliches Gericht (Art. 14 Abs. 1) Ausdruck beider Prinzipien als gemeinsame Voraussetzung eines rechtsstaatlichen Verfahrens. Nachfolgend sollen die verschiedenen Verfahrensrechte des Art. 14 IPbpR als Grundlage rechtsstaatlicher Verfahrensgestaltung untersucht werden. Eine Betrachtung der prozessualen Garantien im Einzelfall und ihre Verwirklichung unter Berücksichtigung des effektiven Strafanspruchs gibt Aufschluss über den Stand der Rechtsstaatlichkeit im internationalen Verfahren.

9 „This principle means that the Prosecution and the Defence must be equal before the Trial Chamber.“ Siehe auch ICTY Tadić, Judgment, IT-94-1-A, 15. Juli 1999, Rn. 52.; ICTY Kordic et al., Decision on the Application by Mario Cerkez for Extension of Time to File Respondent’s Brief, IT-95-14 / 2-A, 11. September 2001, Rn. 5; Nowak, The U.N. Covenant, 2005, Art. 14 Rn. 20; Guradze, Der Stand der Menschenrechte, 1956, S. 98; Zappalà, The Rights of the Accused, in: Cassese / Gaete / Jones (Hrsg.), The Rome Statute of the International Criminal Court, Bd. 2, 2002, S. 1319 (1329). Die Idee der Waffengleichheit ist jedoch auch im deutschen Recht grundsätzlich anerkannt: BVerfGE 38, 105 (111); 63, 45 (61, 67). 10 Reid, A Practioner’s Guide, 2004, S. 100; Boas, The Milošević Trial, 2007, S. 40. 11 Safferling, Towards an International Criminal Procedure, 1999, S. 265. 12 Das Recht auf Verteidigung (Art. 14 Abs. 3 lit. b und d) und der Anspruch auf Zeugenbefragung (Art. 14 Abs. 3 lit. e) belegen die Prägung der Prozessgarantien durch den Gedanken der Waffengleichheit; Schabas, The UN International Criminal Tribunals, 2008, S. 513. 13 ICTY Tadić, Judgment, IT-94-1-A, 15. Juli 1999, Rn. 52. 14 ICTY Tadić, Judgment, IT-94-1-A, 15. Juli 1999, Rn. 52: „It follows that the Chamber shall provide every practical facility it is capable of granting under the Rules and Statute when faced with a reqest by a party for assistance in presenting its case.“

II. Das Recht auf Verhandlung durch ein auf Gesetz beruhendes Gericht

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II. Das Recht auf Verhandlung durch ein auf Gesetz beruhendes Gericht Das Recht des Angeklagten auf Verhandlung durch ein auf Gesetz beruhendes Gericht wird in Art. 14 Abs. 1 S. 2 IPbpR verbürgt. „In the determination of any criminal charge against him, or of his rights and obligations in a suit at law, everyone shall be entitled to a fair and public hearing by a competent, independent and impartial tribunal established by law.“

Ähnliche Gewährleistungen finden sich in Art. 6 I der Europäischen Menschenrechtskonvention15 und Art. 8 I der American Convention on Human Rights.16 Die Verträge garantieren dem Angeklagten eine Verhandlung seines Falles vor einem zuständigen und auf Gesetz beruhendem Gericht („established by law“). In der Terminologie des deutschen Verfahrensrechts wird die Gewährleistung als Anspruch auf den gesetzlichen Richter17 verstanden und kann synonym verwendet werden. Die Statuten internationaler Strafgerichte enthalten kein vergleichbares Recht des Angeklagten. Da die Tribunale die eigene Kompetenz voraussetzen, erschiene eine gesonderte Verbürgung des Rechts auf zuständige Gerichtsbarkeit widersinnig. Gleichwohl beruht die Gründung völkerrechtlicher Tribunale auf der Überzeugung von der Notwendigkeit ihrer legitimen Jurisdiktion.18 Trotz seiner mangelnden Verankerung im Prozessrecht ist das Erfordernis eines auf Gesetz beruhenden Gerichts daher geltender Maßstab für die rechtsstaatliche Bewertung des internationalen Strafverfahrens. Vor dem Hintergrund der Besonderheiten des Völkerrechts ist zu klären, wie der Anspruch systematisch und teleologisch verstanden werden kann. In diesem Zusammenhang soll die Kritik an der Einsetzung der Ad-hoc-Tribunale untersucht und ihre Rechtmäßigkeit mit Blick auf den gesetzlichen Richter hinterfragt werden. Gleichzeitig gilt es zu überlegen, welche Möglichkeiten dem Angeklagten zur Überprüfung der Gesetzmäßigkeit eines Tribunals zukommen können. Die Bedeutung dieser Fragestellungen spiegelt sich in der Rechtsprechung der Ad-hoc-Tribunale wider, die sich ausführlich mit der Problematik des gesetzlichen Richters auseinan15 European Convention for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms, 4. November 1950, art. 6, Rn. 1, 213 U.N.T.S. 222: „In the determination of his civil rights and obligations or of any criminal charge against him, everyone is entitled to a fair and public hearing within a reasonable time by an independent and impartial tribunal established by law (…).“ 16 American Convention on Human Rights, 22 November 1969, art. 8, Rn. 1, O.A.S. Treaty Series No. 36, at 1, O.A.S. Off. Rec. OEA / Ser. L / V / II.23 doc. rev. 2.: „Every person has the right to a hearing, with due guarantees and within a reasonable time, by a competent, independent and impartial tribunal, previously established by law.“ 17 Sowada, Der gesetzliche Richter, 2002. 18 Dies zeigt sich in der ausführlichen Auseinandersetzung des ICTY mit den Voraussetzungen seiner Zuständigkeit, ICTY Tadić, Decision on Defence Motion for Interlocutory Appeal on Jurisdiction, IT-94-1-AR72, 2. Oktober 1995.

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dersetzt. Sowohl der ICTY in seiner Tadić-Entscheidung als auch der ICTR im Fall Kanyabashi19 hatten sich mit der Legitimität völkerstrafrechtlicher Gerichtsbarkeit nach dem Grundsatz von Art. 14 Abs. 1 S. 2 IPbpR zu beschäftigten.

1. Begriffsklärung: Das Verständnis des Anspruchs im internationalen Strafrecht Die Bestimmung des Art. 14 Abs. 1 S. 2 IPbpR richtet sich an die Vertragsstaaten und findet auf internationale Gerichte keine unmittelbare Anwendung. Gleichwohl weist die Fundierung des Grundsatzes in anderen Menschenrechtsdokumenten auf die Möglichkeit einer gewohnheitsrechtlichen Geltung des Anspruchs hin. Hierbei ist jedoch zu beachten, dass die justiziellen Garantien nach der Idee der Norm vorrangig im Rahmen staatlicher Strukturen gewährleistet werden sollen. In seinem Urteil zum Fall Tadić stellte der ICTY klar heraus, dass die Übertragbarkeit des Prinzips auf völkerrechtliche Sachverhalte allenfalls unter Berücksichtigung der Prämissen des internationalen Rechts erfolgen kann.20 Im Folgenden sollen daher die unterschiedlichen Bedeutungsebenen des Begriffes vor dem Hintergrund ihrer Vereinbarkeit mit den Besonderheiten völkerrechtlicher Gerichtsbarkeit analysiert werden.

a) Der Anspruch auf Vorhersehbarkeit und Schutz vor willkürlicher Gerichtsbarkeit Aus Art. 14 Abs. 1 S. 2 IPbpR lässt sich zunächst das rechtsstaatliche Erfordernis einer Vorhersehbarkeit der richterlichen Besetzung deduzieren. In Abgrenzung zu diktatorisch oder monarchisch geprägten Herrschaftsordnungen muss der Richter dem Angeklagten auf Grundlage eines feststehenden und nachvollziehbaren Systems zugeteilt werden. Die Konstitution des Gerichts darf somit nicht für den Einzelfall entschieden werden, sondern muss bereits vor Prozessbeginn eindeutig ermittelbar sein.21 Die Vorhersehbarkeit der personellen Zusammensetzung eines Tribunals dient der Wahrung richterlicher Neutralität und schließt Ausnahmegerichte grundsätzlich aus. Um einen wirksamen Schutz vor staatlicher Willkür zu gewährleisten, sind judikative Kompetenzen unabhängig von konkreten Strafsituationen zu bestimmen.22 Bedenken bezüglich der Legitimität internationaler Ad-hoc-Tribunale ergeben sich vor dem Hintergrund der Einzelfallbezogenheit territorial und temporär begrenzter Gerichte. Die Einsetzung von ICTY und ICTR erfolgt zur Bewältigung konkreter Konflikte mit eindeutigem regionalen Bezug. Diese Selektivität der völkerrechtKanyabashi, ICTR-96-15-T, 18. Juni 1997. ICTY Tadić, Decision on Defence Motion for Interlocutory Appeal on Jurisdiction, IT94-1-AR72, 2. Oktober 1995, Rn. 28 – 40. 21 König, Legitimation, 2003, S. 174. 22 Sowada, Der gesetzliche Richter, 2002, S. 325 f. 19 20

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lichen Strafbarkeit wird mit Blick auf die Gewährleistungen des Art. 14 IPbpR teilweise kritisiert: „[I]nnerhalb eines Staates wäre es daher wohl kaum akzeptabel, wenn nur für eine bestimmte Region bestimmte Taten durch eine effektive Strafgewalt abgeurteilt würden.“23

Gegen diese Sichtweise spricht entscheidend, dass die Jurisdiktion der Ad-hocTribunale lediglich zeitlich-räumlich, nicht jedoch personell festgelegt ist. Das Recht auf den gesetzlichen Richter dient dem Schutz individueller Freiheitsrechte, die durch regionale Eingrenzungen nicht unmittelbar betroffen werden. Da keine individuelle Willkürentscheidung vorliegt, kann sich der Einzelne nicht auf seinen Anspruch aus Art. 14 Abs. 1 S. 2 IPbpR berufen. Nach dem Verständnis des gesetzlichen Richters als rechtlich vorgesehenem und willkürfrei eingesetztem Justizorgan wäre folglich kein Normverstoß feststellbar. b) Der Anspruch auf ein legislativ eingesetztes Gericht Eine weitere Interpretationsmöglichkeit orientiert sich eng am Wortlaut der Norm und bestimmt das Recht des Angeklagten als Anspruch auf ein legislativ eingesetztes Gericht. Die deutsche Fassung sieht ein „auf Gesetz beruhendes“ Rechtsprechungsorgan vor und scheint hierdurch eine klare Pflicht zur formalgesetzlichen Fundierung strafrechtlicher Tribunale zu statuieren. Ein Blick auf den englischen Originaltext zeichnet jedoch ein weniger eindeutiges Bild. Die Formulierung „established by law“ lässt aufgrund der Doppelbedeutung des Wortes „law“ im Sinne von „Gesetz“ oder „Recht“ unterschiedliche Auslegungen zu. Mit dem Wortlaut der Norm wären sowohl das Erfordernis gesetzlicher Gründung als auch die Beschränkung auf eine rechtmäßige Einsetzung vereinbar. Um sich dem Begriff auf völkerrechtlicher Ebene zu nähern, muss der Schutzzweck der rechtlichen Garantie in den Blick genommen werden. Die Forderung nach einer gesetzlichen Gründung ist Folge des gewaltengeteilten Systems, das der Legislative die Entscheidungskompetenz für wesentliche Rechtsfragen überantwortet.24 Die Errichtung eines Justizorgans bedarf angesichts der erheblichen Einwirkungsmöglichkeiten auf das Individuum einer besonderen Rechtfertigung. In nationalen Rechtsordnungen kann durch die unmittelbare Legitimation des Parlamentes eine demokratische Kontrolle des Gründungsvorgangs sichergestellt und den hohen rechtsstaatlichen Anforderungen an die Einsetzung eines Justizorgans entsprochen werden. Diese Sichtweise spiegelt sich in der Auslegung der Europäischen Menschenrechtskonvention wider, deren wortgleiche Gewährleistung als Ausfluss des demokratischen Prinzips verstanden wird.25 König, Legitimation, 2003, S. 176. Lorz, Interorganrespekt, 2001, S. 238. 25 EGMR Zand v. Austria, Application No. 7360 / 76, 16. Mai 1977; EGMR Piersack v. Belgium, Application No. 8692 / 79, 26.Oktober 1984; EGMR Crociani, Palmiotti, Tanassi and D’Ovidio v. Italy, App. No. 8603 / 79, 8722 / 79, 8723 / 79 & 8729 / 79, 18. Dezember 1980. 23 24

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Da im Völkerrecht keine zentrale Rechtsetzungsinstanz existiert, stellt sich die Frage nach der Geltung eines Legislativvorbehalts im Rahmen internationaler Strafverfahren. Eine Übertragbarkeit des Grundsatzes wäre mit Verweis auf das Äquivalent des völkerrechtlichen Vertrages begründbar.26 Angesichts des Fehlens eines eigenständigen Legislativorgans könnte allein die Gründung durch unmittelbar staatlichen Akt den Voraussetzungen erhöhter Legitimation entsprechen.27 Die völkerrechtlich wesentliche Entscheidung für die Einsetzung eines internationalen Tribunals müsste in diesem Falle von einem allgemeinen Konsens der internationalen Staatengemeinschaft getragen werden.28 Nach dieser Interpretation von Art. 14 Abs. 1 S. 2 IPbpR würde sich die Gründung der Ad-hoc-Tribunale als Verstoß gegen die Rechte des Angeklagten und ein rechtsstaatliches Verfahren darstellen.29 Anders als der ICC oder die hybriden Tribunale beruht die Einsetzung von Ad-hoc-Gerichten nicht auf vertraglicher Grundlage, sondern auf einer Resolution des Sicherheitsrates nach Kapitel VII UN-Charta. Im System der Vereinten Nationen kommt dem Sicherheitsrat als Organ der Friedenssicherung jedoch eine primär exekutive Funktion zu.30 Unter der Prämisse, dass eine Legitimation internationaler Spruchkörper allein durch völkerrechtlichen Vertrag erfolgen kann, wäre der Sicherheitsrat zur Einsetzung des ICTY und des ICTR nicht befugt.31 Es bestehen jedoch Zweifel an der Übertragbarkeit der aus Art. 14 Abs. 1 S. 2 IPbpR abgeleiteten Anforderungen an nationale Rechtssysteme auf die Ebene des Völkerrechts. Die fundamentalen Grundsätze von Demokratie und Gewaltenteilung, die im Rahmen staatlicher Organisationsstrukturen die Kompetenzverteilung prägen, finden im Völkerrecht keine gleichwertige Entsprechung.32 Die Idee der Gewaltenteilung kann nicht umfassend auf die Strukturen der Staatengemeinschaft angewendet werden. Aufgrund ihrer fehlenden staatlichen Gliederung lassen sich die Hankel, HIS 12 / 3 (2003), S. 77 (88). Paech, Sinn und Missbrauch internationaler Gerichtsbarkeit, 02.03.2002 (letzter Zugriff am 25.03.2010). 28 So argumentierte auch der Angeklagte Tadić vor dem ICTY; ICTY Tadić, Decision on Defence Motion for Interlocutory Appeal on Jurisdiction, IT-94-1-AR72, 2. Oktober 1995, Rn. 43: „Appellant claims that the International Tribunal is the product of a ‚mere executive order‘ and not of a ‚decision making process under democratic control, necessary to create a judicial organisation in a democratic society‘. Therefore Appellant maintains that the International Tribunal not been ‚established by law‘.“ 29 Hingegen würden die Errichtung des ICC sowie die Gründung hybrider Tribunale aufgrund ihrer vertraglichen Fundierung keinen rechtsstaatlichen Bedenken begegnen. 30 Happold, LJIL 16 (2003), S. 593 (600). 31 ICTY Tadić, Decision on Defence Motion for Interlocutory Appeal on Jurisdiction, IT94-1-AR72, 2. Oktober 1995, Rn. 43: „Or, put another way, the guarantee is intended to ensure that the administration of justice is not a matter of executive discretion, but is regulated by laws made by the legislature.“ 32 Siehe hierzu bereits ausführlich oben, Kapitel C. II. 1. a) bb) (1) (a). 26 27

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Organe der Vereinten Nationen nicht unter die Begriffe der legislativen, judikativen oder exekutiven Gewalt fassen.33 „It is clear that the legislative, executive and judicial division of powers which is largely followed in most municipal systems does not apply to the international setting nor, more specifically, to the setting of an international organization such as the United Nations. Among the principal organs of the United Nations the divisions between judicial, executive and legislative functions are not clear cut. (…) There is, however, no legislature, in the technical sense of the term, in the United Nations system and, more generally, no Parliament in the world community. That is to say, there exists no corporate organ formally empowered to enact laws directly binding on international legal subjects.“34

Eine Rollenverteilung für die Ausübung internationaler Kompetenzen kann daher nicht aus allgemein demokratischen Prinzipien, sondern allein aus der konkreten rechtlichen Ausgestaltung der Vereinten Nationen entnommen werden. Aus rechtsstaatlicher Sicht besteht kein Anlass für eine Differenzierung zwischen den Gründungsverfahren. Ein völkerrechtlicher Vertrag basiert nicht auf einer direkten Entscheidung der Bürger und verwirklicht somit die Grundidee demokratischer Prozesse ebenso wenig wie eine Resolution des Sicherheitsrates. Eine Kontrolle wesentlicher Rechtsfragen durch das Volk als Träger von Hoheitsgewalt lässt sich im Völkerrecht grundsätzlich nicht erzielen und kann vor dem Hintergrund demokratischer Prinzipien auch nicht durch einen staatlichen Konsens substituiert werden. Die Besonderheiten des Völkerrechts stehen einer Interpretation von Art. 14 Abs. 1 S. 2 IPbpR im Sinne eines zwingenden Vertragsvorbehaltes entgegen. Das staatliche Element der demokratischen und gewaltengeteilten Auslegung kann für die internationale Verfahrensorganisation keine vergleichbare Geltung beanspruchen.35 c) Der Anspruch auf ein rechtmäßig und rechtsstaatlich eingesetztes Gericht Die Begriffswahl des englischen Ursprungstextes („established by law“) kann im Rahmen völkerrechtlicher Gerichtsverfahren allein als Anspruch auf eine rechtmäßige Einsetzung verstanden werden. Im internationalen Kontext ist nicht die legislative Fundierung, sondern allein die Übereinstimmung des Gründungsaktes mit bestehenden Rechtsvorgaben entscheidend. Folgerichtig legte der ICTY die König, Legitimation, 2003, S. 174. ICTY Tadić, Decision on Defence Motion for Interlocutory Appeal on Jurisdiction, IT94-1-AR72, 2. Oktober 1995, Rn. 43. 35 ICTY Tadić, Decision on Defence Motion for Interlocutory Appeal on Jurisdiction, IT94-1-AR72, 2. Oktober 1995, Rn. 43: „Consequently the separation of powers element of the requirement that a tribunal be ‚established by law‘ finds no application in an international law setting. The aforementioned principle can only impose an obligation on States concerning the functioning of their own national systems.“ 33 34

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Formulierung von Art. 14 Abs. 1 S. 2 IPbpR im Lichte einer rechtmäßigen Gründung und rechtsstaatlichen Verfahrensgestaltung aus: „The third possible interpretation of the requirement that the International Tribunal be ‚established by law‘ is that its establishment must be in accordance with the rule of law. This appears to be the most sensible and most likely meaning of the term in the context of international law. For a tribunal such as this one to be established according to the rule of law, it must be established in accordance with the proper international standards; it must provide all the guarantees of fairness, justice and even-handedness, in full conformity with internationally recognized human rights instruments.“36

Über die Bestimmung von Art. 14 Abs. 1 S. 2 IPbpR kann die Verwirklichung rechtsstaatlicher Grundsätze unmittelbar vom Angeklagten geltend gemacht werden. Der ICTY erhebt die Frage der Rechtsstaatlichkeit zur Voraussetzung individueller Rechtswahrung und ermöglicht eine allgemeine Überprüfung rechtsstaatlicher Garantien. Art. 14 Abs. 1 S. 2 IPbpR gewährleistet einen Grundkonsens rechtsstaatlicher Verfahrensziele ohne die Gerichte auf eine rechtsstaatliche Optimallösung zu verpflichten. Nach richtigem Normverständnis wird zu ermessen sein, ob die Gründung eines Tribunals völkerrechtskonform erfolgte und die normativen Regelungen des Statuts wesentliche Ideen des rechtsstaatlichen Konzeptes realisieren. Um den Ansprüchen des Art. 14 Abs. 1 S. 2 IPbpR im Hinblick auf die verfahrensrechtlichen Gewährleistungen gerecht zu werden, müssen die Grundgedanken von Fairness und Menschenrechtsschutz im Statut verankert werden. Die internationalen Strafgerichte garantieren nahezu einheitlich einen hohen verfahrensrechtlichen Standard und übernehmen die prozessualen Rechte des IPbpR teilweise wortgleich.37 Da für die Beurteilung von Rechtsstaatlichkeit im Sinne des Art. 14 Abs. 1 S. 2 IPbpR eine normative Verwirklichung rechtlicher Garantien entscheidend ist, kann die Gründung der Tribunale unter diesem Gesichtspunkt nicht beanstandet werden.38 Neben der Wahrung rechtsstaatlicher Verfahrensbedingungen erfordert der Anspruch aus Art. 14 Abs. 1 S. 2 IPbpR die Rechtmäßigkeit des Gründungsaktes. Die Formulierung „established by law“ muss insoweit als „established according to law“ verstanden werden. Maßgeblich für die Bewertung des Verfahrensrechts ist da36 ICTY Tadić, Decision on Defence Motion for Interlocutory Appeal on Jurisdiction, IT94-1-AR72, 2. Oktober 1995, Rn. 45. 37 Siehe Kapitel B. III. 3. b). 38 ICTY Tadić, Decision on Defence Motion for Interlocutory Appeal on Jurisdiction, IT94-1-AR72, 2. Oktober 1995, Rn. 46: „An examination of the Statute of the International Tribunal, and of the Rules of Procedure and Evidence adopted pursuant to that Statute leads to the conclusion that it has been established in accordance with the rule of law. The fair trial guarantees in Article 14 of the International Covenant on Civil and Political Rights have been adopted almost verbatim in Article 21 of the Statute. Other fair trial guarantees appear in the Statute and the Rules of Procedure and Evidence. For example, Article 13, paragraph 1, of the Statute ensures the high moral character, impartiality, integrity and competence of the Judges of the International Tribunal, while various other provisions in the Rules ensure equality of arms and fair trial.“

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mit die Feststellung, ob die Einrichtung internationaler Tribunale im Einklang mit den Bestimmungen des Völkerrechts erfolgte.39 Aufgrund ihrer vertraglichen Einsetzung, die keinen rechtlichen Einschränkungen unterliegt, ist die Legitimität des ICC sowie der hybriden Gerichte nicht zweifelhaft. Die Befugnis des Sicherheitsrates zur Gründung von Ad-hoc-Tribunalen wird hingegen sowohl in der Literatur als auch von der Verteidigung bestritten.40 Da das Recht auf den gesetzlichen Richter den Anspruch auf ein zuständiges und völkerrechtskonform gegründetes Gericht gewährleistet, muss die Rechtmäßigkeit des Gründungsaktes näher untersucht werden. Hierbei gilt es zwei Fragen zu beantworten. Zunächst muss festgelegt werden, welche Instanz über die Errichtung von Ad-hoc-Tribunalen entscheiden kann. In einem zweiten Schritt ist das Ergebnis der Rechtskontrolle zu ermitteln und die Kompetenzen des Sicherheitsrates zur Gründung internationaler Strafgerichte zu überprüfen.

2. Die Geltendmachung vor Gericht Verstößt die Einrichtung eines internationalen Strafgerichtshofes gegen die Bestimmungen von Art. 14 Abs. 1 S. 2 IPbpR, steht dem Angeklagten kein direkter Rechtsweg zu externen Justizorganen offen. Trotz der zunehmenden Entwicklung des globalen Menschenrechtsschutzes sind Akte internationaler Organisationen bislang nicht unmittelbar justiziabel.41 Um eine mögliche Lücke in der Überprüfung völkerrechtlicher Handlungen zu schließen, kann der Angeklagte prozessuale Rechtsverletzungen vor dem verhandelnden Strafgericht selbst geltend machen. Voraussetzung für die Entscheidungskompetenz der Tribunale ist eine Legitimation durch die Befugnisse ihrer Statuten. Vor dem Hintergrund des Rechts auf den gesetzlichen Richter ist fraglich, ob die Ad-hoc-Tribunale durch ihre Verfahrensnormen zu einer rechtlichen Bewertung der eigenen Gründungsakte ermächtigt werden. Der ICTY hatte sich 1995 im Fall Tadić mit der Problematik einer internen Rechtmäßigkeitsprüfung auseinanderzusetzen.42 Die Komplexität der Fragestellung zeigt sich in der unterschiedlichen Beurteilung der gerichtlichen Kompetenz in Haupt- und Berufungsverfahren. Während das Trial Chamber eine Überprüfung der eigenen Gründung als rechtliche Vorfrage ablehnte,43 gestattete die Berufungsinstanz dem 39 Buchwald, Der Fall Tadić, 2005, S. 131; Stroh, Die nationale Zusammenarbeit, 2002, S. 43. 40 Siehe die Darstellung bei Cryer / Friman / Robinson / Wilmshurst, An Introduction to International Criminal Law, 2007, S. 106 ff.; ICTY Tadić, Decision on Defence Motion for Interlocutory Appeal on Jurisdiction, IT-94-1-AR72, 2. Oktober 1995, Rn. 32; Graefrath, NJ 47 (1993), S. 435. 41 Ein Rechtsschutz ist allein über den Umweg der Staatenverantwortlichkeit denkbar; Wahl, Rechtsschutz, 2009, S. 136 f. 42 ICTY Tadić, Decision on Defence Motion for Interlocutory Appeal on Jurisdiction, IT94-1-AR72, 2. Oktober 1995. 43 ICTY Tadić, Decision on Defence Motion for Jurisdiction, IT-94-1, 10. August 1995, Rn. 4.

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Angeklagten die Geltendmachung seiner Einwände.44 Anhand der divergierenden Argumentationen im Fall Tadić soll im Folgenden die Möglichkeit einer Kontrolle rechtmäßiger Einsetzungen völkerstrafrechtlicher Gerichte analysiert werden. a) Die „Zuständigkeit“ als Gegenstand gerichtlicher Überprüfung Nach Regel 72 A (i) ICTY-RPE ist die Zuständigkeit des Tribunals („jurisdiction“) zulässiger Untersuchungsgegenstand des gerichtlichen Verfahrens. Der Begriff der Jurisdiktion eröffnet unterschiedliche Verständnismöglichkeiten und lässt Raum für die Frage nach einer Einbeziehung des Gründungsvorgangs.45 In seiner Ausgangsentscheidung vertrat die Hauptverfahrenskammer des ICTY die Position, dass unter Zuständigkeit allein die zeitliche, räumliche und sachliche Kompetenz des Gerichts zu fassen sei. Die Bestimmung der gerichtlichen Jurisdiktion könne einzig im Rahmen festgelegter Befugnisse nach Maßgabe des Statutes erfolgen, nicht hingegen das Statut selbst hinterfragen: „There are clearly enough matters of jurisdiction which are open to determination by the International Tribunal, questions of time, place and nature of an offence charged. These are properly described as jurisdictional, whereas the validity of the creation of the International Tribunal is not truly a matter of jurisdiction but rather of the lawfulness of its creation […].“46

Die Unterscheidung zwischen den Problemen der Zuständigkeit im Einzelfall und einer grundsätzlichen Beurteilung der Rechtmäßigkeit des Gerichts erscheint zunächst überzeugend. Stellt das Tribunal die eigene Rechtswidrigkeit fest, fehlt bereits dieser Entscheidung die rechtliche Legitimität und normative Wirksamkeit. Das Urteil eines Gerichtes über die eigenen Existenzvoraussetzungen zeigt somit einen inneren Widerspruch auf, der die Folgen einer negativen Bewertung paradox erscheinen lässt. Ein Gericht, das nach geltendem Völkerrecht nicht hätte eingesetzt werden können, wäre zu keiner verbindlichen Entscheidung befugt – auch nicht über seine Rechtmäßigkeit. Im Gegensatz hierzu steht die weite Interpretation des Begriffs der Jurisdiktion in der Berufungsinstanz. Nach Ansicht der Berufungskammer umfasst die Kompetenz des Gerichtes zur Prüfung seiner Zuständigkeit auch die Frage nach der grundlegenden Legitimität seiner Aufgabenwahrnehmung. In Anlehnung an das allgemeine Wortverständnis47 bewertet das Gericht die Problematik der Zuständigkeit als Macht 44 ICTY Tadić, Decision on Defence Motion for Interlocutory Appeal on Jurisdiction, IT94-1-AR72, 2. Oktober 1995. 45 Buchwald, Der Fall Tadić, 2005, S. 93. 46 ICTY Tadić, Decision on Defence Motion for Jurisdiction, IT-94-1, 10. August 1995, Rn. 4. 47 Die Kammer legt die Begriffsdefinition des Wörterbuchs Black’s Law Dictionary, 712 (6th ed. 1990) Pinner v. Pinner, 33 N.C. App. 204, 234 S.E.2d 633 zugrunde: „[Jurisdiction] is the power of a court to decide a matter in controversy and presupposes the existence of a duly constituted court with control over the subject matter and the parties.“

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zur legitimen Entscheidung über einen Sachverhalt. Voraussetzung für eine rechtliche Befugnis zur Verhandlung internationaler Verbrechen sei jedoch die Gründung eines Tribunals entsprechend den normativen Vorgaben des internationalen Rechts. Eine legitime Entscheidungszuständigkeit im Sinne der weiten Definition des Appeals Chamber könne einem völkerrechtswidrig eingesetzten Gericht nicht zugesprochen werden.48 Die Frage nach der Rechtmäßigkeit der Tribunalserrichtung geht der Annahme einer gerichtlichen Zuständigkeit logisch voraus. Wird Jurisdiktion als rechtlich fundierte Rechtsprechungsgewalt verstanden, ist die Bewertung des Gründungsaktes zentrale Vorfrage einer jeden Kompetenzerörterung. Wenngleich die Kontrolle des Einsetzungsverfahrens nicht primäre Aufgabe des Tribunals ist, kann seine Legitimität im Rahmen einer inzidenten Prüfung berücksichtigt werden. Als Grundvoraussetzung für die Ausübung der gerichtlichen Befugnisse ist die Rechtmäßigkeit des Tribunals einer Zuständigkeitsentscheidung inhärent und unterfällt somit konkludent dem Kompetenzbereich des ICTY.49 Die Annahme inzidenter Befugnisse entkräftet einen weiteren Kritikpunkt an der Überprüfungsberechtigung des Gerichts. Das Trial Chamber des ICTY lehnte unter Hinweis auf die Rechtsprechung des IGH50 eine Untersuchung von Akten des Sicherheitsrates grundsätzlich ab. Eine rechtliche Bewertung des Gründungsaktes liefe auf die Kontrolle eines Organs der Vereinten Nationen hinaus, zu der das Tribunal in seinem Statut nicht legitimiert würde. Als Hilfsorgan des Sicherheitsrates sei ein Ad-hoc-Tribunal nicht zur Kontrolle der Handlungen seiner Gründungsinstanz befugt.51 „[T]his International Tribunal is not a constitutional court set up to scrutinise the actions of organs of the United Nations.“52

Diese Argumentation verliert jedoch ihre Überzeugungskraft, wird die Ermächtigung zur Überprüfung der eigenen Gründung als inzidente Kompetenz verstanden. Die Bewertung des Vorgehens im Sicherheitsrat ist nicht primärer Gegenstand der richterlichen Entscheidung, sondern lediglich notwendiger Zwischenschritt. Um 48 ICTY Tadić, Decision on Defence Motion for Interlocutory Appeal on Jurisdiction, IT94-1-AR72, 2. Oktober 1995, Rn. 12: „In sum, if the International Tribunal were not validly constituted, it would lack the legitimate power to decide in time or space or over any person or subject-matter.“ 49 ICTY Tadić, Decision on Defence Motion for Interlocutory Appeal on Jurisdiction, IT94-1-AR72, 2. Oktober 1995, para 20: „The question before the Appeals Chamber is whether the International Tribunal, in exercising this ‚incidental‘ jurisdiction, can examine the legality of its establishment by the Security Council, solely for the purpose of ascertaining its own ‚primary‘ jurisdiction over the case before it.“ 50 ICJ Legal Consequences for States of the Continued Presence of South Africa in Namibia (South-West Africa), ICJ Reports 16. 51 Buchwald, Der Fall Tadić, 2005, S. 97. 52 ICTY Tadić, Decision on Defence Motion for Jurisdiction, IT-94-1, 10. August 1995, Rn. 5.

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sinnvoll über die eigene Zuständigkeit zu urteilen, muss die Rechtmäßigkeit des Tribunals vorab geklärt werden. Die Zulässigkeit einer impliziten Befugnis zur Prüfung von Handlungen der Vereinten Nationen steht entgegen der Wertung der Hauptverfahrenskammer auch nicht im Widerspruch zur Judikatur des IGH. In seiner Namibia Advisory Opinion erkannte das Gericht die Möglichkeit einer Kompetenzerweiterung auf Akte internationaler Organisationen ausdrücklich für zulässig an: „[T]he question of the validity or conformity with the Charter of General Assembly resolution 2145 (XXI) or of related Security Council resolutions does not form the subject of the request for advisory opinion. However, in the exercise of its judicial function and since objections have been advanced the Court, in the course of its reasoning, will consider these objections before determining any legal consequences arising from those resolutions.“53

Die umstrittene Frage nach der Rechtmäßigkeit internationaler Ad-hoc-Tribunale ist daher grundsätzlich zulässiger Untersuchungsgegenstand vor dem verhandelnden Gericht. Da dem Angeklagten kein alternativer Rechtsweg zur Einhaltung seines Rechtes auf den gesetzlichen Richter zusteht, trägt allein die Annahme einer weiten Zuständigkeitsprüfung der notwendigen Rechtsschutzgarantie Rechnung.

b) Die Legitimität der Gründung als politische oder rechtliche Frage Als weiterer Einwand gegen eine Prüfungskompetenz des Gerichts wurde die angloamerikanische Doktrin der „political-questions“ angeführt, die politische Sachverhalte für nicht justiziabel erklärt.54 In seiner Tadić-Entscheidung lehnte der ICTY die Anwendbarkeit der Lehre als überholt ab.55 Angesichts der Fortentwicklung des internationalen Rechts könne der Ausschluss politischer Fragestellungen auf völkerrechtlicher Ebene keine normative Geltung beanspruchen.56 In der Tat können die Annahmen der „political-questions“-Doktrin nicht unmittelbar auf eine internationale Rechtsgrundlage gestützt werden. Eine Beschränkung des Tribunals auf rechtliche Fragestellungen erscheint jedoch ungeachtet einer normativen Verbindlichkeit der Prämisse begründbar. In seiner Funktion als Rechtsprechungsorgan ist das Gericht lediglich zur Überprüfung rechtlicher Maßstäbe, nicht jedoch zu einer Bewertung politischer Verfahren legitimiert. Mit der strikten Beschränkung auf rechtliche Fragestellungen kann eine politische Einflussnahme internationaler Richter verhindert und eine klare Kompetenzabgrenzung zu den Aufgaben des Sicherheitsrates gezogen werden. Um ihre Rolle als rechtsanwenden53 ICJ Legal Consequences for States of the Continued Presence of South Africa in Namibia (South-West Africa), ICJ Reports 16, Rn. 89. 54 Hierzu grundlegend United States Supreme Court, Baker v. Carr, 369 U.S. 186, 217 (1962). 55 ICTY Tadić, Decision on Defence Motion for Interlocutory Appeal on Jurisdiction, IT94-1-AR72, 2. Oktober 1995, Rn. 24. 56 ICTY Tadić, Decision on Defence Motion for Interlocutory Appeal on Jurisdiction, IT94-1-AR72, 2. Oktober 1995, Rn. 24.

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de Instanz nicht zu überdehnen, dürfen politische Hintergründe bei der Urteilsfindung keine Berücksichtigung finden. Wäre die Einsetzung eines internationalen Tribunals als politische Entscheidung zu werten, könnte sie folglich nicht zulässiger Gegenstand gerichtlicher Kontrolle sein. Im Fall Tadić argumentierte der Ankläger, dass die Resolution des Sicherheitsrates zur Gründung des ICTY als politisch motivierte Handlung nicht in den Zuständigkeitsbereich eines Gerichtes fiele.57 Die Beurteilung eines internationalen Konflikts und die Reaktion der Staatengemeinschaft seien vorrangig politische Fragen, deren Abwägung nicht nach normativen Grundsätzen erfolgen könne. Einer solchen Beschränkung der internationalen Rechtsprechungsgewalt trat bereits frühzeitig der IGH entgegen. In seiner „Certain Expenses of the United Nations“-Entscheidung erkannte das Gericht die Tatsache an, dass der Großteil völkerrechtlicher Fragestellungen einen politischen Bezug aufweist.58 Das internationale Recht müsse als eine Form der Außenpolitik begriffen werden, wodurch eine strenge Abgrenzung zu normativen Problemen an Bedeutung verliere.59 Die sinngemäße Übertragung einer nationalen „political-questions“-Doktrin auf völkerrechtliche Sachverhalte sei aufgrund der Besonderheiten des internationalen Rechts nicht möglich. Juristische Kernfragen könnten daher trotz des politischen Kontexts gerichtlich entschieden werden.60 Dem IGH kann darin zugestimmt werden, dass das Völkerrecht als Ergebnis zwischenstaatlicher Konsensfindung in weiten Teilen politisches Recht ist. Die UNCharta involviert Fragestellungen, die einer juristischen Beurteilung nur bedingt zugänglich sind.61 Wenngleich der Einsetzung völkerstrafrechtlicher Tribunale ein politischer Charakter nicht abgesprochen werden kann, basiert die Entscheidung des Sicherheitsrates auf rechtlichen Normen. Als Organ der Vereinten Nationen stehen dem Sicherheitsrat politische Entscheidungsspielräume zu, deren Reichweite durch seine Aufgabendefinition begrenzt wird. Rechtliche Voraussetzung für den Erlass einer entsprechenden Resolution ist die Einhaltung von Kapitel VII UNCharta, dessen Vorgaben normativ bestimmbar sind. Die Auslegung der UN-Charta als zentrales Dokument des Völkerrechts muss trotz ihrer politischen Konnotation Aufgabe internationaler Gerichte sein.62 Die Legitimität der Ad-hoc-Tribunale be57 ICTY Tadić, Response to the Motion of the Defence on the Jurisdiction of the Tribunal before the Trial Chamber of the International Tribunal, IT-94-1-T, 7. Juli 1995, Rn. 12 – 14. 58 ICJ Certain Expenses of the United Nations, Advisory Opinion, 20. Juli 1962, ICJ Reports 1962, S. 155; ICJ Military and Paramilitary Activities in and against Nicaragua, ICJ Reports 1984, S. 435. 59 ICJ Certain Expenses of the United Nations, Advisory Opinion, 20. Juli 1962, ICJ Reports 1962, S. 155. 60 ICJ Certain Expenses of the United Nations, Advisory Opinion, 20. Juli 1962, ICJ Reports 1962, S. 155. 61 ICJ Certain Expenses of the United Nations, Advisory Opinion, 20. Juli 1962, ICJ Reports 1962, S. 155. 62 ICJ Certain Expenses of the United Nations, Advisory Opinion, 20. Juli 1962, ICJ Reports 1962, S. 155: „It is true that most interpretations of the Charter of the United Nations will

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stimmt sich nach den Regelungen des internationalen Rechts und kann daher an den Befugnissen der UN-Charta gemessen werden. Da die Gründung eines völkerstrafrechtlichen Tribunals eine rechtliche Kernfrage enthält, ist die Zulässigkeit internationaler Gerichte statthafter Antragsinhalt. In ihrer Bewertung des Gründungsaktes sind die Kammern auf eine rechtliche Bewertung beschränkt und müssen politische Fragen konsequent ausklammern.

3. Die Rechtmäßigkeit der Ad-hoc-Tribunale Die Ad-hoc-Tribunale für Jugoslawien und Ruanda wurden vom Sicherheitsrat auf Grundlage von Kapitel VII UN-Charta als subsidiäre Nebenorgane errichtet. Wenngleich die Gründung der Gerichte im Ergebnis einstimmig beschlossen wurde, stieß die Einsetzung internationaler Straftribunale auch im Sicherheitsrat auf Kritik. Brasilien und China lehnten das Vorgehen ausdrücklich ab und stimmten allein aufgrund der „außergewöhnlichen Umstände in der Krisenregion“63 und der „besonderen Dringlichkeit der Maßnahmen“64 für die Resolution. Um die Zulässigkeit von Ad-hoc-Tribunalen auch im Hinblick auf mögliche Neugründungen zu klären, sollen die Bedenken an der Rechtmäßigkeit ihrer Einsetzung umfassend erörtert werden. Eine Untersuchung der Vorgaben von Kapitel VII UN-Charta wird zeigen, ob die normativen Voraussetzungen für den Erlass der Resolution eingehalten wurden.

a) Bedrohung oder Bruch des Friedens nach Art. 39 UN-Charta Ein Tätigwerden des Sicherheitsrates setzt gemäß Art. 39 UN-Charta zunächst den Bruch oder die Bedrohung des globalen Friedens voraus. Bei der Beurteilung einer internationalen Konfliktsituation kommt dem Sicherheitsrat ein bedeutender Einschätzungsspielraum zu, der die gerichtliche Überprüfung beschränkt.65

aa) Überprüfbarkeit der Voraussetzungen des Art. 39 UN-Charta Angesichts der weiten Ermessensprärogative des Sicherheitsrates zur Feststellung einer Friedensbedrohung besteht nach wie vor Uneinigkeit über Maßstab und Reichweite der richterlichen Entscheidungskontrolle.66 In der Literatur wird teilhave political significance, great or small. In the nature of things it could not be otherwise. The Court, however, cannot attribute a political character to a request which invites it to undertake an essentially judicial task, namely, the interpretation of a treaty provision.“ 63 Morris / Scharf, An Insider’s Guide, S. 201. 64 Morris / Scharf, An Insider’s Guide, S. 199 f. 65 Buchwald, Der Fall Tadić, 2005, S. 115. 66 Higgins, AJIL 64 (1970), S. 1 (16); Freudenschuß, AJPIL 46 (1993), S. 1 (1 ff.); Neusüß, Legislative Maßnahmen, 2008, S. 143 m.w. N.

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weise von einem freien Ermessen des Sicherheitsrates im Rahmen der Anwendung von Art. 39 UN-Charta ausgegangen.67 Combacau geht so weit, eine Friedensbedrohung nicht nach objektiven Kriterien zu bestimmen, sondern konstitutiv an die Entscheidung des Sicherheitsrates zu binden. Eine Friedensbedrohung sei folglich das, was der Sicherheitsrat zu einer solchen erkläre.68 Die Annahme eines unbegrenzten Beurteilungsspielraums schließt eine gerichtliche Überprüfung der Voraussetzungen von Art. 39 UN-Charta aus. Unterliegt der Sicherheitsrat in seiner Kompetenzausübung keinen materiellen Vorgaben, fehlt ein rechtlicher Maßstab zur Bewertung der Resolutionen. Die Gewährleistung freien Ermessens wird insbesondere mit Wortlaut und Systematik der UN-Charta begründet. Der Verzicht auf eine normative Definition der Friedensbedrohung belege eine Überantwortung der Begriffskonkretisierung auf den Sicherheitsrat.69 Diese Argumentation vermag indes nicht zu überzeugen. Das Fehlen einer Legaldefinition rechtfertigt keinen freien Beurteilungsspielraum des Normadressaten. Vielmehr gilt es, den unbestimmten Rechtsbegriff im Wege der Auslegung zu präzisieren.70 Dem Sicherheitsrat ist daher ein weiter Ermessensspielraum zu gewähren, dessen Grenzen jedoch durch den Telos von Art. 39 UN-Charta gezogen werden. Im Fall Lockerbie hatte sich der IGH erstmalig direkt mit einer Resolution des Sicherheitsrates auf Grundlage von Kap. VII UN-Charta auseinanderzusetzen.71 Zwar vermied das Gericht eine eindeutige Stellungnahme zu der umstrittenen Frage seiner Prüfungskompetenz, doch belegen die Sondervoten divergierende Tendenzen in der Justiziabilität von Art. 39 UN-Charta.72 Während Richter Weeramantry die Annahme einer Friedensbedrohung ins ausschließe Ermessen des Sicherheitsrates stellte,73 sprach sich Richter Jennings für eine eingeschränkte Kontrolle durch gerichtliche Instanzen aus.74 Die unterschiedlichen Auffassungen innerhalb des Gerichts reflektieren die komplexe Verhältnisbestimmung exekutiver und judikativer Funktionen im internationa67 Pauer, Humanitäre Intervention, 1995, S. 86 f.; Gowlland-Debbas, Illegal Acts, 1990, S. 453; siehe Nachweise bei Bienk-Koolman, Befugnis des Sicherheitsrates, 2009, S. 108 (Fn. 33). 68 Combacau, Le pouvoir de sanction, 1974, S. 100. 69 Krökel, Bindungswirkung von Resolutionen, 1977, S. 69. 70 Bienk-Koolman, Befugnis des Sicherheitsrates, 2009, S. 109. 71 ICJ Case Conercerning Questions of Interpretation and Application of the 1971 Montreal Convention Arising from the Aerial Incident at Lockerbie, Libyan Arab Jamahiriya v. United Kingdom, Provisional Measures, ICJ Reports 1992, S. 3 ff. Es handelte sich um Resolution 748 (1992), UN Doc. S / RES / 748 (1992), 31.3.1992. 72 Buchwald, Der Fall Tadić, 2005, S. 89. 73 ICJ Libyan Arab Jamahiriya v. United Kingdom, Dissenting Opinion Weeramantry, ICJ Reports 1992, S. 50 ff. 74 ICJ Libyan Arab Jamahiriya v. United Kingdom, Dissenting Opinion Jennings, ICJ Reports 1998, S. 8.

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len Recht. So verwundert es nicht, dass sich der ICTY im Tadić-Urteil ausführlich mit der Überprüfbarkeit des Art. 39 UN-Charta beschäftigte.75 Das Tribunal erkannte grundsätzlich einen weiten Beurteilungsspielraum des Sicherheitsrates an, erklärte seine Kompetenzen jedoch für beschränkbar. „It is clear from this text that the Security Council plays a pivotal role and exercises a very wide discretion under this Article. But this does not mean that its powers are unlimited.“76

Der ICTY führte aus, dass die Handlungsmöglichkeiten des Sicherheitsrates in zweifacher Weise durch seine Stellung als Organ der Vereinten Nationen beschränkt würden. Zunächst unterliege der Sicherheitsrat den rechtlichen Schranken, die für die Organisation in ihrer Gesamtheit bestehen. Entscheidungen des Sicherheitsrates müssten gemäß Art. 24 II UN-Charta an den Zielvorgaben der Vereinten Nationen orientiert sein und dürften deren Befugnisse nicht überschreiten.77 Eine weitere Eingrenzung würde durch die interne Aufgabenverteilung nach Maßgabe der UNCharta gezogen.78 Im Rahmen seiner Tätigkeit sei der Sicherheitsrat an seine Rolle im Gefüge der Vereinten Nationen gebunden und könne allein solche Rechte in Anspruch nehmen, die ihm durch die Bestimmungen der Charta garantiert werden.79 Das System der internen Zuständigkeitsregelung grenze die Handlungsfelder der verschiedenen Organe klar gegeneinander ab und verweise den Sicherheitsrat auf die Instrumentarien in Kapitel VII UN-Charta. Die Kompetenzen des Sicherheitsrates würden folglich im Innen- wie im Außenverhältnis durch die Bestimmungen der UN-Charta beschränkt. Aus der Existenz rechtlicher Grenzen leitet der ICTY die Befugnis zur gerichtlichen Kontrolle ihrer Einhaltung ab. Sind die Zuständigkeiten des Sicherheitsrates normativ festgelegt, muss ihre legitime Wahrnehmung durch ein internationales Tribunal nachvollziehbar sein. Demnach ist es Aufgabe des Gerichts, im Rahmen von Kapitel VII UN-Charta die Zweckbestimmung der ergriffenen Handlungsoptionen zu untersuchen. Eine Maßnahme des Sicherheitsrates könne gemäß Art. 39 UNCharta nur dann rechtmäßig erfolgen, wenn sie friedenssichernden Charakter hat und nicht primär ökonomischen oder sozialen Zielen dient.80 Die Ausführungen des ICTY überzeugen. Trotz eines weiten Ermessens des Sicherheitsrates bei der Auslegung von Art. 39 UN-Charta muss dem Gericht eine begrenzte Rechtmäßigkeitskontrolle obliegen. Dies entspricht dem nationalen Gedanken einer Überprüfbarkeit rechtserheblicher Entscheidungen im Rahmen eines 75 ICTY Tadić, Decision on Defence Motion for Interlocutory Appeal on Jurisdiction, IT94-1-AR72, 2. Oktober 1995, Rn. 28 ff. 76 ICTY Tadić, Decision on Defence Motion for Interlocutory Appeal on Jurisdiction, IT94-1-AR72, 2. Oktober 1995, Rn. 28. 77 Graefrath, NJ 47 (1993), S. 433 (434). 78 Buchwald, Der Fall Tadić, 2005, S. 115. 79 Herbst, EuGRZ 2002, S. 581 (586) m.w. N. 80 Graefrath, NJ 47 (1993), S. 433 (434).

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Ermessens- oder Beurteilungsspielraums.81 Um die grundsätzliche Aufgabenverteilung und die originären Kompetenzen des Sicherheitsrates zu wahren, darf das Tribunal seine Einschätzungen nicht an die Stelle des ausgeübten Ermessens setzen. Gleichwohl muss eine Ermessensentscheidung dann gerichtlich korrigiert werden, wenn sie den normativen Spielraum überschreitet.82 Maßnahmen des Sicherheitsrates sind an die Vorgaben von Art. 39 UN-Charta gebunden und können allein im Rahmen der normierten Voraussetzungen rechtmäßig erfolgen. Daher gilt es, im Rahmen von Art. 39 UN-Charta ein allgemeines Begriffsverständnis zu entwickeln, das die Grenzen einer Ermessensausübung festlegen kann. bb) Das Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 39 UN-Charta In Zusammenhang mit der Einsetzung der Ad-hoc-Tribunale für Jugoslawien und Ruanda wurden die Voraussetzungen einer internationalen Friedensbedrohung kontrovers diskutiert.83 Insbesondere die Frage nach der notwendigen Internationalität einer Gefährdung stellt die Gerichte vor grundlegende Definitionsprobleme. Während ein bewaffneter internationaler Konflikt unstreitig als globale Friedensbedrohung angesehen werden kann,84 wirft die Kompetenz des Sicherheitsrates zur Reaktion auf innerstaatliche Auseinandersetzungen erhebliche Zweifel auf.85 Vor dem Hintergrund nationaler Souveränität formuliert Art. 24 I UN-Charta die Wahrung des weltweiten Friedens, nicht hingegen die Stabilisierung staatlicher Systeme als Ziel der Vereinten Nationen. Im Sinne eines restriktiven Normverständnisses könnte eine zwischenstaatliche Auseinandersetzung somit Bedingung für Art. 39 UN-Charta sein. Ausgehend von einer systematischen Betrachtung des Friedensbegriffs nimmt Arntz eine Parallele zum Gewaltverbot in Art. 2 IV UN-Charta an.86 Nach Arntz’ Auffassung sei die Ähnlichkeit des Wortlautes Ausdruck eines einheitlichen Grundgedankens der Regelungen. Art. 2 IV UN-Charta und Art. 39 UN-Charta stellten insoweit korrespondierende Normen dar, deren Anwendungsbereiche im Zusammenhang zu sehen seien. Eine Interpretation der „Friedensbedrohung“ habe grundsätzlich im Lichte des Gewaltverbotes zu erfolgen.87 Als Ausführungsbestimmung Zur Problematik Hofer-Zeni, Das Ermessen, 1981, S. 113 ff. Kadelbach, Allgemeines Verwaltungsrecht, 1999, S. 454. 83 Eine umfassende Darstellung der Diskussion findet sich bei Neusüß, Legislative Maßnahmen, 2008, S. 143 m.w. N. 84 ICTY Tadić, Decision on Defence Motion for Interlocutory Appeal on Jurisdiction, IT94-1-AR72, 2. Oktober 1995, Rn. 30: „If it is considered an international armed conflict, there is no doubt that it falls within the literal sense of the words ‚breach of the peace‘.“ 85 Bienk-Koolman, Befugnis des Sicherheitsrates, 2009, S. 114 ff. 86 Arntz, Der Begriff der Friedensbedrohung, 1975, S. 64; Meier, Der bewaffnete Angriff, 1963, S. 109. 87 Arntz, Der Begriff der Friedensbedrohung, 1975, S. 35. 81 82

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zu Art. 2 IV UN-Charta diene Kapitel VII UN-Charta der effektiven Durchsetzung des Gewaltverbotes.88 Entsprechend der Zielsetzung des Art. 2 IV UN-Charta müsse sich die Auslegung von Art. 39 UN-Charta auf den Ausschluss zwischenstaatlicher militärischer Gewaltanwendung richten.89 Die Annahme einer systematischen Parallele zwischen Gewaltverbot und Friedensbedrohung ist jedoch zweifelhaft. Übereinstimmungen im Wortlaut erscheinen bei näherer Betrachtung zufällig und im Rahmen des jeweiligen Anwendungskontextes nicht zwingend. Bienk-Koolman weist zudem darauf hin, dass mit den Formulierungen von „Frieden“ und „Gewalt“ zwei konträre Begriffe Ausgangspunkt der Normen sind.90 Eine Deutung von Kapitel VII UN-Charta als Konkretisierung des Gewaltverbotes kann ebenfalls nicht überzeugen. Art. 41 UN-Charta enthält Instrumente der friedlichen Streitbeilegung und deckt sich zumindest teilweise mit dem Regelungsauftrag in Art. 2 III UN-Charta. Eine klare Aufteilung in korrespondierende Ausführungskapitel nach den Prinzipien der Charta besteht folglich nicht.91 Maßgeblich für das Verständnis von Reichweite und Voraussetzungen des Art. 39 UN-Charta ist die Bestimmung des internationalen Charakters eines Konfliktes. In einer rechtsvergleichenden Untersuchung belegt Bienk-Koolman, dass der Begriff der „internationalen“ Friedensbedrohung keine bewaffnete zwischenstaatliche Auseinandersetzung erfordert.92 Als „international“ sind Sachverhalte zu bewerten, die über den Wirkbereich eines Staates hinausgehen und das Interesse der Staatengemeinschaft berühren. Eine Friedensbedrohung nach Art. 39 UN-Charta kann daher angenommen werden, wenn der Konflikt in seinen rechtlichen und tatsächlichen Auswirkungen nicht auf eine nationale Ebene begrenzt bleibt.93 Unter Zugrundlegung einer weiten Begriffsinterpretation ist zu fragen, ob die Folgen der Konflikte in Jugoslawien und Ruanda über das Gebiet des jeweiligen Staates hinausgingen. Im Ergebnis sahen die Richter beider Ad-hoc-Tribunale den Anwendungsbereich von Art. 39 UN-Charta unter Heranziehung ergänzender Begründungsansätze als eröffnet an. Insbesondere in Ruanda waren die nationalen Kampfhandlungen zum Zeitpunkt der Tribunalsgründung bereits beendet, so dass eine Friedensbedrohung nicht auf das Vorliegen eines bewaffneten internationalen Konflikts gestützt werden konnte.94 Stattdessen ging der ICTR davon aus, dass die Folgewirkungen einer in88 Arntz, Der Begriff der Friedensbedrohung, 1975, S. 35; Menk, Gewalt für den Frieden, 1992, S. 106. 89 Arntz, Der Begriff der Friedensbedrohung, 1975, S. 64; Meier, Der bewaffnete Angriff, 1963, S. 109. 90 Bienk-Koolman, Befugnis des Sicherheitsrates, 2009, S. 126. 91 Bienk-Koolman, Befugnis des Sicherheitsrates, 2009, S. 127; so auch: Lailach, Wahrung des Weltfriedens, 1998, S. 190. 92 Bienk-Koolman, Befugnis des Sicherheitsrates, 2009, S. 115. 93 Bienk-Koolman, Befugnis des Sicherheitsrates, 2009, S. 115. 94 Vgl. Sicherheitsrats-Resolution 955 v. 8. November 1994; Shraga / Zacklin, EJIL 7 / 4 (1996), S. 501 (505).

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ternen Auseinandersetzung eine Destabilisierung der angrenzenden Regionen verursachen würde.95 Der internationale Charakter der Gefährdung wurde damit begründet, dass die teils bewaffneten Flüchtlingsströme zu Bedrohungssituationen in den Nachbarstaaten führen könnten.96 Innerstaatliche Bürgerkriege, die als solche nicht unmittelbarer Gegenstand internationaler Friedensmaßnahmen sind, können auf diese Weise die Instrumentarien des Kapitel VII UN-Charta auslösen. Ein weiterer Aspekt, nach dem innerstaatliche Konflikte als globale Bedrohung begreifbar sind, findet seine Grundlage im gewandelten Menschenrechtsverständnis des modernen Völkerrechts.97 Angesichts der zunehmenden Bedeutung des internationalen Individualrechtsschutzes lassen sich massive Menschenrechtsverletzungen nicht länger als rein interne Angelegenheit erfassen.98 Das Völkerrecht des 21. Jahrhunderts erkennt einen unantastbaren Kernbereich universell verstandener Menschenrechte an und leitet hieraus eine erga omnes-Verpflichtung der Staatengemeinschaft zur Wahrung wesentlicher Schutzgüter ab.99 Ein ergänzender Beleg für die vorrangige Bedeutung der Menschenrechte besteht in der Entwicklung des humanitären Völkerrechts. Wenngleich mit den Rechtsgebieten unterschiedliche Schutzrichtungen verfolgt werden, spiegeln sie den Gedanken einer Durchsetzung individueller Ansprüche zu Lasten staatlicher Souveränität wider.100 Vor diesem Hintergrund akzeptierte das Gericht die gängige Praxis des Sicherheitsrates, schwere Menschenrechtsverstöße als Angelegenheiten von internationaler Bedeutung zu werten.101 Bereits während der Kongo-Krise in den sechziger Jahren hatten die Vereinten Nationen eine globale Friedensbedrohung aufgrund innerstaatlicher Gewalthandlungen anerkannt.102 In jüngerer Zeit setzte sich das menschenrechtlich geprägte Verständnis von Art. 39 UN-Charta im Rahmen der Konflikte in Somalia103 und Liberia104 fort. Interne Konflikte, die aufgrund ihres König, Legitimation, 2003, S. 165. Vgl. Sicherheitsrats-Resolution 955 v. 8. November 1994; Shraga / Zacklin, EJIL 7 / 4 (1996), S. 501 (505). 97 Stagel, Sicherheitsrat, 2008, S. 21. 98 Ipsen, Völkerrecht, 2004, § 60 Rn. 8; Bienk-Koolman, Befugnis des Sicherheitsrates, 2009, S. 142 f. 99 ICJ Barcelona Traction, Light and Power Co.-Fall, Belgien. / Spanien, ICJ Reports 1970, S. 3; König, Legitimation, 2003, S. 165; Bauer, Effektivität und Legitimität, 1996, S. 198; Kunig, Völkerrecht als Öffentliches Recht, 1995, S. 325 (328). 100 Bienk-Koolman, Befugnis des Sicherheitsrates, 2009, S. 141. 101 ICTY Tadić, Decision on Defence Motion for Interlocutory Appeal on Jurisdiction, IT94-1-AR72, 2. Oktober 1995, Rn. 30: „But even if it were considered merely as an ‚internal armed conflict‘, it would still constitute a ‚threat to the peace‘ according to the settled practice of the Security Council and the common understanding of the United Nations membership in general. Indeed, the practice of the Security Council is rich with cases of civil war or internal strife which it classified as a ‚threat to the peace‘ and dealt with under Chapter VII, with the encouragement or even at the behest of the General Assembly.“ 102 Sicherheitsrats-Resolution 161 v. 21. Februar 1961. 103 Sicherheitsrats-Resolution 733 v. 23. Januar 1992. 95 96

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Ausmaßes einen Angriff gegen die humanitären Grundüberzeugungen der Völkerrechtsordnung darstellen, können folglich Maßnahmen nach Art. 39 UN-Charta rechtfertigen. Zusammenfassend erklärte der ICTY: „It can thus be said that there is a common understanding, manifested by the ‚subsequent practice‘ of the membership of the United Nations at large, that the ‚threat to the peace‘ of Article 39 may include, as one of its species, internal armed conflicts.“105

Die Errichtung internationaler Straftribunale zur Verurteilung völkerrechtlicher Verbrechen erfüllt die Eingriffsvoraussetzungen der UN-Charta folglich per definitionem. Da der Kanon der internationalen Straftatbestände nur schwerste Verstöße gegen das Völkerrecht enthält, rechtfertigt sich die Maßnahme des Sicherheitsrates bereits aus ihrer Intention. Es bleibt festzuhalten, dass der Sicherheitsrat auch im Rahmen interner Konflikte zur Vornahme von Handlungen nach Kapitel VII UN-Charta befugt ist, sofern die nationalen Gewaltakte das völkerstrafrechtlich relevante Maß von Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Völkermord erreichen. In einem weiteren Schritt gilt es zu überlegen, ob der Sicherheitsrat zu der konkreten Maßnahme der Errichtung eines internationalen Strafgerichts befugt war.

b) Die Kompetenz des Sicherheitsrates zur Gründung eines Strafgerichtes Die Kompetenz des Sicherheitsrates zur Einsetzung eines internationalen Strafgerichts wurde von den Angeklagten der Tribunale mit unterschiedlichen Begründungen in Zweifel gezogen.106 Die Kritik machte sich zunächst an den Bestimmungen der Art. 40-42 UN-Charta fest, die nach Ansicht der Verteidigung nicht zur Gründung eines Gerichtes ermächtigten. Weiterhin wurde bestritten, dass der Sicherheitsrat als Exekutivorgan zur Übertragung judikativer Aufgaben legitimiert sei. Auch müsse die Rechtmäßigkeit eines Tribunals aufgrund seiner mangelnden Eignung zur Friedenssicherung verneint werden. Im Folgenden sollen die Kritikpunkte an der Errichtung internationaler Ad-hoc-Tribunale auf ihre Berechtigung untersucht werden. aa) Die Ermächtigung zur Gründung von Ad-hoc-Tribunalen durch die UN-Charta Liegen die Voraussetzungen von Art. 39 UN-Charta vor, ist der Sicherheitsrat zur Ergreifung von Maßnahmen nach Art. 40 – 42 UN-Charta befugt. In den ResolutioSicherheitsrats-Resolution 788 v. 19. November 1993. ICTY Tadić, Decision on Defence Motion for Interlocutory Appeal on Jurisdiction, IT94-1-AR72, 2. Oktober 1995, Rn. 30. 106 ICTY Tadić, Decision on Defence Motion for Interlocutory Appeal on Jurisdiction, IT94-1-AR72, 2. Oktober 1995, Rn. 32. 104 105

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nen zur Gründung der Ad-hoc-Tribunale ordnete der Sicherheitsrat sein Vorgehen nicht explizit einer Bestimmung der Charta zu. Um ein Gericht als Hilfsorgan gemäß Art. 29 UN-Charta einzusetzen, muss sich der Sicherheitsrat jedoch auf eine Ermächtigung der Charta stützen können. Da die UN-Charta die Möglichkeit internationaler Strafgerichte nicht ausdrücklich vorsieht, müssen die Bestimmungen von Art. 40 ff UN-Charta eine entsprechende Auslegung zulassen Art. 40 UN-Charta legitimiert den Sicherheitsrat zu vorläufigen Maßnahmen, um einen bestehenden Konflikt zeitweilig zu beruhigen („stand-still“ oder „coolingoff“)107. Da die Errichtung eines Straftribunals der Aufarbeitung bereits begangenen Unrechts dient, kann sie nicht als provisorische Maßnahme unter Art. 40 UN-Charta fallen. In gleicher Weise scheidet auch eine Subsumtion unter Art. 42 UN-Charta aus, der allein zu militärischen Eingriffen ermächtigt. Somit erscheint lediglich die Anwendung von Art. 41 UN-Charta denkbar, der eine allgemeine Befugnis zu nicht militärischen Maßnahmen enthält. „Art. 41 UN-Charta: The Security Council may decide what measures not involving the use of armed force are to be employed to give effect to its decisions, and it may call upon the Members of the United Nations to apply such measures. These may include complete or partial interruption of economic relations and of rail, sea, air, postal, telegraphic, radio, and other means of communication, and the severance of diplomatic relations.“

Tadićs Verteidiger lehnten eine Bezugnahme auf Art. 41 UN-Charta unter Hinweis auf die Intention der Norm ab. Da die Aufzählung in Art. 41 UN-Charta allein wirtschaftliche und politische Maßnahmen beinhalte, müssten juristische Sanktionen im Umkehrschluss ausgenommen werden.108 Zudem beschränke das Verfahren nach Art. 41 UN-Charta den Sicherheitsrat systematisch auf die Anweisung der Mitgliedstaaten, Handlungen nach Maßgabe der normativen Bestimmung vorzunehmen. Da die aufgeführten Maßnahmen explizit an die Mitgliedstaaten gerichtet seien, könne der Sicherheitsrat ein eigenes Vorgehen nicht auf Art. 41 UN-Charta stützen.109 Die Argumentation der Verteidigung gründet sich auf eine restriktive Interpretation der Norm. Diesem Verständnis wird mit Recht der Wortlaut von Art. 41 UNCharta entgegen gehalten, dem keine zwingenden Einschränkungen der Handlungsbefugnisse des Sicherheitsrats zu entnehmen sind. Nach zutreffender Auffassung des ICTY verdeutlicht die Formulierung „may include“ den beispielhaften Charakter der Aufzählung, die lediglich Entscheidungsmöglichkeiten aufzeigen soll. 107 ICTY Tadić, Decision on Defence Motion for Interlocutory Appeal on Jurisdiction, IT94-1-AR72, 2. Oktober 1995, Rn. 33. 108 Brief to Support the Motion [of the Defence] on the Jurisdiction of the Tribunal before the Trial Chamber of the International Tribunal, IT-94-1-T, 23 June 1995, Rn. 3.2.1: „[I]t is clear that the establishment of a war crimes tribunal was not intended. The examples mentioned in this article focus upon economic and political measures and do not in any way suggest judicial measures.“ 109 Vgl. ICTY Tadić, Decision on Defence Motion for Interlocutory Appeal on Jurisdiction, IT-94-1-AR72, 2. Oktober 1995, Rn. 34.

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„It is evident that the measures set out in Article 41 are merely illustrative examples which obviously do not exclude other measures.“110

Für diese Einschätzung spricht die Entstehungsgeschichte der Norm, deren Anwendungsbereich bewusst weit gefasst wurde.111 Dem Sicherheitsrat sollten durch die UN-Charta umfassende Befugnisse zur Wahrung des Friedens und der internationalen Sicherheit eingeräumt werden. Um militärische Interventionen der Staatengemeinschaft als ultima ratio weitestgehend zu vermeiden, muss der Sicherheitsrat flexibel auf internationale Konflikte reagieren können.112 Durch eine allgemeine Ermächtigung zu nichtmilitärischen Maßnahmen gewährleistet Art. 41 UN-Charta dem Sicherheitsrat ein weitreichendes Handlungsspektrum. Auch eine Beschränkung des Sicherheitsrates auf die Verpflichtung der Mitgliedstaaten kann vor dem Hintergrund des exemplarisch gefassten Wortlautes nicht überzeugen.113 Darüber hinaus ist anzumerken, dass die Kompetenz des Sicherheitsrates zur eigenständigen Durchführung nichtmilitärischer Maßnahmen im Wege eines Erst-Recht-Schlusses hergeleitet werden kann. Ist eine Organisation zur verbindlichen Anweisung ihrer Mitglieder befugt, muss ihr zugleich das Recht zum unmittelbaren Tätigwerden zustehen.114 Der ICTY ging in seiner Argumentation einen weiteren Schritt und wertete die Verpflichtung der Mitgliedstaaten als bloße Hilfslösung aufgrund mangelnder Alternativen.115 Da den Vereinten Nationen oftmals die finanziellen Ressourcen und notwendigen Kapazitäten zur autonomen Konfliktlösung fehlten, könnten die Mitgliedstaaten subsidiär zur Verantwortung gezogen werden.116 Nach diesem Normverständnis werden eigene Maßnahmen des Sicherheitsrates nach Art. 41 UN-Charta nicht nur gestattet, sondern vorrangig intendiert. „Action by Member States on behalf of the Organization is but a poor substitute faute de mieux, or a ‚second best‘ for want of the first.“117

110 ICTY Tadić, Decision on Defence Motion for Interlocutory Appeal on Jurisdiction, IT94-1-AR72, 2. Oktober 1995, Rn. 35. 111 Buchwald, Der Fall Tadić, 2005, S. 125. 112 Buchwald, Der Fall Tadić, 2005, S. 125. 113 ICTY Tadić, Decision on Defence Motion for Interlocutory Appeal on Jurisdiction, IT94-1-AR72, 2. Oktober 1995, Rn. 35: „However, as mentioned above, nothing in the Article suggests the limitation of the measures to those implemented by States. The Article only prescribes what these measures cannot be. Beyond that it does not say or suggest what they have to be.“ 114 Buchwald, Der Fall Tadić, 2005, S. 117. 115 ICTY Tadić, Decision on Defence Motion for Interlocutory Appeal on Jurisdiction, IT94-1-AR72, 2. Oktober 1995, Rn. 36. 116 ICTY Tadić, Decision on Defence Motion for Interlocutory Appeal on Jurisdiction, IT94-1-AR72, 2. Oktober 1995, Rn. 36: „Logically, if the Organization can undertake measures which have to be implemented through the intermediary of its Members, it can a fortiori undertake measures which it can implement directly via its organs, if it happens to have the resources to do so. It is only for want of such resources that the United Nations has to act through its Members.“

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Ein letzter Einwand könnte mit Blick auf die Stellung des Internationalen Gerichtshofs im System der Vereinten Nationen erhoben werden. Es ließe sich argumentieren, dass mit der Gründung internationaler Tribunale die Stellung des IGH als Hauptrechtsprechungsorgan der Vereinten Nationen unterminiert und das institutionelle Gleichgewicht im Widerspruch zu den Grundsätzen der Charta verschoben würde. Im Ergebnis erscheinen die Überschneidungen der gerichtlichen Aufgabenbereiche jedoch zu marginal, um einen normativen Vergleich ziehen zu können. Während der IGH als klassische Rechtsprechungsinstanz des Völkerrechts zwischen Staaten entscheidet, verhandeln Ad-hoc-Gerichtshöfe auf Basis strafrechtlicher Individualschuld. Aufgrund der divergierenden Anwendungsbereiche und der grundlegend verschiedenen judikativen Zielstellungen, kann die Rolle des IGH im Sinne der Charta nicht durch die Errichtung von Straftribunalen in Frage gestellt werden.118 Art. 41 UN-Charta ist somit als ausreichende Rechtsgrundlage für die Einsetzung von Ad-hoc-Tribunalen durch den Sicherheitsrat anzusehen. bb) Die Vereinbarkeit mit dem Grundsatz des „nemo plus iuris transferre potest, quam ipse habet“ Trotz eines weiten Verständnisses von Art. 41 UN-Charta könnte die Kompetenz des Sicherheitsrates zur Gründung eines judikativen Organs unter Verweis auf den Grundsatz „nemo plus iuris transferre potest, quam ipse habet“ abzulehnen sein. Nach Art. 29 UN-Charta ist der Sicherheitsrat befugt, die zur Wahrnehmung seiner Funktionen erforderlichen Hilfsorgane einzusetzen. Vor diesem Hintergrund wird argumentiert, dass die Zuständigkeiten der geschaffenen Nebenorgane auf den Kompetenzbereich des Sicherheitsrates beschränkt bleiben müssten.119 Bereits die Bezeichnung als Hilfs- oder Nebenorgan verdeutliche die rechtliche Zuordnung der Einrichtung, die ausschließlich im Rahmen eines bestehenden Aufgabenkreises agieren könne. Da der Sicherheitsrat nicht selbst zum Erlass strafrechtlicher Sanktionen legitimiert sei, müsse ihm eine Übertragung rechtsprechender Kompetenzen folglich verwehrt sein. Dürfen dem Hilfsorgan keine weiterreichenden Befugnisse zugestanden werden als dem Sicherheitsrat, wäre die Gründung internationaler Straftribunale grundsätzlich ausgeschlossen.120 Die Einwände gegen die Vermittlung judikativer Kompetenzen beruhen zu einem wesentlichen Teil auf der Vorstellung von Gewaltenteilung, die einen kompetenziellen Rahmen für eine Aufgabenübertragung stecken soll. Die Zuständigkeit des Sicherheitsrates zur Einsetzung von Tribunalen wird maßgeblich mit dem Wider117 ICTY Tadić, Decision on Defence Motion for Interlocutory Appeal on Jurisdiction, IT94-1-AR72, 2. Oktober 1995, Rn. 36. 118 König, Legitimation, 2003, S. 167. 119 Graefrath, NJ 47 (1993), S. 435. 120 Graefrath, NJ 47 (1993), S. 435.

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spruch zur exekutiven Ausrichtung des Organs begründet.121 Gegen eine strenge Anwendung des Gewaltenteilungsgrundsatzes auf völkerrechtlicher Ebene spricht erneut die fehlende staatliche Struktur hoheitlicher Aufgabenverteilung. Angesichts der unterschiedlichen Legitimation internationaler Organisationen ist eine klare Grenzziehung zwischen den Gewalten nicht möglich.122 Folgerichtig müssen die Aufgaben des Sicherheitsrates im Rahmen des Prinzips „nemo plus iuris transferre potest, quam ipse habet“ differenziert verstanden werden. Die übertragbaren Kompetenzen sind nicht in die Kategorien von Legislative, Exekutive und Judikative einzuteilen, sondern müssen nach Maßgabe ihrer Zielsetzung beurteilt werden. Der Fokus ist somit auf die sachliche Zweckbestimmung einer Maßnahme gerichtet, ohne einzelne Handlungsformen per se auszuschließen. Unabhängig von ihrer Zuordnung zur Judikative ist für die Rechtmäßigkeit von Ad-hoc-Tribunalen entscheidend, ob sie als Instrumente einer legitimen Aufgabenerfüllung des Sicherheitsrates eingesetzt werden.123 Da der Sicherheitsrat in Art. 39 UN-Charta zur Wahrung des globalen Friedens ermächtigt wird, kann er im Rahmen dieser Zwecksetzung Nebenorgane gründen. Durch eine effektive Bestrafung der Täter und die öffentliche Aufarbeitung begangener Verbrechen sollen internationale Strafgerichte langfristig der Friedenssicherung in den betroffenen Regionen dienen: „The Security Council has resorted to the establishment of a judicial organ in the form of an international criminal tribunal as an instrument for the exercise of its own principal function of maintenance of peace and security.“124

Um dem Grundsatz des „nemo plus iuris transferre potest, quam ipse habet“ hinreichend Rechnung zu tragen, muss der Blickwinkel auf die Errichtung von Hilfsorganen gemäß Art. 29 UN-Charta verändert werden. Ausgehend von der sachlichen Zuständigkeit des Sicherheitsrates kann die Gründung von Ad-hoc-Tribunalen als Element zur Friedenssicherung nach Art. 39 UN-Charta angesehen werden. Im Vordergrund dieser Perspektive steht nicht die Begründung judikativer Kompetenzen, sondern vielmehr die Übertragung einer allgemeinen Befugnis zur globalen Friedenswahrung. Errichtet der Sicherheitsrat zur Stabilisierung internationaler Friedensprozesse ein Ad-hoc-Tribunal, handelt er in den Grenzen seiner völkerrechtlichen Zuständigkeit und verstößt nicht gegen das Prinzip „nemo plus iuris transferre potest, quam ipse habet“. Unterstützt wird diese Sichtweise durch die Rechtsprechung des IGH in der „Effect of Awards of the United Nations Administrative Tribunal“-Entscheidung. Gegenstand des Verfahrens war die parallele Fragestellung einer Legitimation der Generalversammlung zur Gründung der UNAT (United Nations Administrative Tribunal) als judikativer Instanz. In seiner Urteilsbegründung betonte der IGH, dass Graefrath, NJ 47 (1993), S. 435. Siehe hierzu ausführlich oben, C. II. 1. a) bb) (1) (a). 123 Buchwald, Der Fall Tadić, 2005, S. 128. 124 ICTY Tadić, Decision on Defence Motion for Interlocutory Appeal on Jurisdiction, IT94-1-AR72, 2. Oktober 1995, Rn. 38. 121 122

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die Schaffung eines Tribunals nicht zwingend eine eigene Kompetenz zur Rechtsprechung voraussetze. „[T]he Charter does not confer judicial functions on the General Assembly (…) By establishing the Administrative Tribunal, the General Assembly was not delegating the performance of its own functions: it was exercising a power which it had under the Charter to regulate staff relations.“125

Die Argumentation des IGH beruht in ihren Grundannahmen auf denselben Erwägungen wie die Entscheidung des ICTY. Ein möglicher Verstoß gegen das Prinzip „nemo plus iuris transferre potest, quam ipse habet“ hängt nicht von der Form der geschaffenen Gewalt nach nationalem Modell, sondern von Inhalt und Zielsetzung der übertragenen Aufgabe ab. Aufgrund ihrer friedenssichernden Funktion liegt die Errichtung der Ad-hoc-Tribunale im Kompetenzbereich des Sicherheitsrates.

cc) Die tatsächliche Eignung zur Friedenswahrung als Rechtmäßigkeitskriterium Zuletzt wird die Legitimität der Ad-hoc-Tribunale unter Berufung auf ihre fehlende Eignung zur Verwirklichung der Friedenssicherung nach Art. 39 UN-Charta in Frage gestellt. Maßnahmen des Sicherheitsrates können allein dann als rechtmäßig anerkannt werden, wenn sie die Zielstellungen der Charta nicht nur abstrakt intendierten, sondern tatsächlich fördern.126 (1) Die Auswirkungen des Gerichts auf den Friedensprozess Vor dem Hintergrund einer solchen Kompetenzbeschränkung machten Kritiker des ICTY geltend, dass die Einsetzung des Gerichtshofes aufgrund der fortdauernden Konflikte in der Region nicht zur Umsetzung des Friedensauftrages geeignet gewesen sei.127 Die Berufungskammer des ICTY lehnte substantiierte Ausführungen zu dieser Frage ab und verneinte die grundsätzliche Möglichkeit einer gerichtlichen Eignungsprüfung. Angesichts der komplexen Sachlage im Rahmen internationaler Konflikte könne die Zweckdienlichkeit einer Maßnahme nach Kapitel VII UN-Charta nicht unabhängig von politischen Faktoren bewertet werden. Politische Entscheidungen seien jedoch ausschließlich dem Sicherheitsrat überantwortet und würden die Kom125 ICJ, Effects of Awards of the United Nations Administrative Tribunal, ICJ Reports 1954, S. 61. 126 Vgl. Hinweis des ICTY Trial Chamber, ICTY Tadić, Decision on Defence Motion for Jurisdiction, IT-94-1, 10. August 1995, Rn. 2. 127 „[T]hat the establishment of the International Tribunal has neither promoted, nor was capable of promoting, international peace, as demonstrated by the current situation in the former Yugoslavia.“ ICTY Trial Chamber, Taduc, Decision on the Defence Motion on Jurisdiction, IT-94-1, 10. August 1995, Rn. 2; Isensee, JZ 50 / 9 (1995), S. 421 (427).

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petenzen gerichtlicher Kontrolle überschreiten.128 Auch Buchwald lehnt das Kriterium der Eignung zur Feststellung von Rechtmäßigkeit mit Blick auf den Beurteilungsspielraum des Sicherheitsrates ab. Die Bewertung einer Maßnahme erfordere die umfassende Berücksichtigung globaler Zusammenhänge und müsse daher der Einschätzungsprärogative des Sicherheitsrates unterfallen.129 Der ICTY führte ferner aus, dass die Gültigkeit einer Maßnahme nicht von einer nachträglichen Kontrolle ihrer Geeignetheit im Wege einer ex post-Betrachtung abhängig gemacht werden könne.130 Aufgrund der Komplexität internationaler Friedensprozesse dürfe die tatsächliche Wirksamkeit einer Entscheidung des Sicherheitsrats kein Maßstab für die Beurteilung ihrer Rechtmäßigkeit sein: „Article 39 leaves the choice of means and their evaluation to the Security Council, which enjoys wide discretionary powers in this regard; and it could not have been otherwise, as such a choice involves political evaluation of highly complex and dynamic situations. It would be a total misconception of what are the criteria of legality and validity in law to test the legality of such measures ex post facto by their success or failure to achieve their ends.“131

In der Tat erscheint es angemessen, dem Sicherheitsrat politische Handlungsspielräume zu gewährleisten. Wie bereits dargelegt, muss ein völkerstrafrechtliches Gericht auf die Überprüfung juristischer Fragen beschränkt bleiben, um die internationale Rolle des Sicherheitsrates zu wahren. Zugleich ist dem ICTY darin zuzustimmen, dass die rechtliche Bewertung einer Maßnahme nicht durch ihre spätere Effektivität bedingt werden kann. Die Einsetzung eines Tribunals darf nicht bereits dann als illegitim beurteilt werden, wenn der gewünschte Erfolg ausbleibt. Nach den Grundsätzen der IGH-Rechtsprechung in seiner „Certain Expenses of the United Nations“-Entscheidung steht die Annahme eines politischen Ermessens der Eignungsprüfung von Maßnahmen nach Kapitel VII UN-Charta jedoch nicht prinzipiell entgegen.132 Entsprechend der nationalen Verhältnismäßigkeitsprüfung bei Grundrechtseingriffen enthält die Frage der Geeignetheit einen rechtlichen Kern, dessen Voraussetzungen gerichtlich justiziabel sind. Um die Zuständigkeitsgrenzen der UN-Charta zu wahren, muss – ausgehend von einer ex ante-Betrachtung – die grundsätzliche Möglichkeit einer Zweckerreichung bestehen. Eine Maßnahme, die bereits bei Erlass abstrakt nicht zur Erfüllung der Zielstellung geeignet ist, überschreitet aufgrund ihrer fehlenden Anbindung an die Ermächtigungsgrundlage den Kompetenzrahmen des Sicherheitsrates. 128 ICTY Tadić, Decision on Defence Motion for Interlocutory Appeal on Jurisdiction, IT94-1-AR72, 2. Oktober 1995, Rn. 39. 129 Buchwald, Der Fall Tadić, 2005, S. 125. 130 ICTY Tadić, Decision on Defence Motion for Interlocutory Appeal on Jurisdiction, IT94-1-AR72, 2. Oktober 1995, Rn. 39. 131 ICTY Tadić, Decision on Defence Motion for Interlocutory Appeal on Jurisdiction, IT94-1-AR72, 2. Oktober 1995, Rn. 39. 132 Certain Expenses of the United Nations, ICJ Reports 1962, S. 155; Nicaragua-Entscheidung, ICJ Reports 1984, S. 435.

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Die in theoretischer Hinsicht notwendige Korrektur der Rechtsprechung führt im Ergebnis jedoch zu keiner abweichenden Beurteilung der Legitimität völkerrechtlicher Straftribunale. Werden Verstöße gegen elementare Menschenrechte als Bedrohung des Friedens eingestuft, kann ihre Sanktionierung als geeignetes Mittel zur Wiederherstellung befriedeter Zustände verstanden werden.133 Die Stigmatisierung internationaler Verbrechen und die Verurteilung der hauptverantwortlichen Täter dienen der Durchsetzung der Völkerrechtsordnung nach Beendigung bewaffneter Konflikte. Vor dem Hintergrund des weiten Begriffsverständnisses globaler Bedrohungen stellt sich die Einsetzung von Ad-hoc-Tribunalen als möglicher Weg zur Gewährleistung des weltweiten Friedens dar. Zudem kann der justiziellen Verwirklichung völkerstrafrechtlicher Grundsätze nach den geltenden Strafrechtslehren general- und spezialpräventive Wirkung zukommen.134 Es erscheint denkbar, dass die Androhung internationaler Bestrafung die Begehung schwerster Verbrechen zumindest reduziert.135 Zugleich kann die Inhaftierung von Urhebern völkerrechtlicher Straftaten geeignet sein, eine Fortsetzung der Verbrechen zu vermeiden.136 (2) Der zeitliche Rahmen Einen weiteren Einwand gegen die Eignung völkerrechtlicher Straftribunale zur Wahrung des internationalen Friedens erhebt Bienk-Koolman.137 Der Sicherheitsrat werde durch Kapitel VII UN-Charta ausschließlich im zeitlichen Rahmen einer Friedensbedrohung zu Maßnahmen legitimiert. Die Eignung einer Handlung knüpfe sich an den Fortbestand der Konfliktsituation als normative Voraussetzung einer Kompetenzausübung nach Art. 41 UN-Charta. Der Sicherheitsrat dürfe daher nur Maßnahmen beschließen, die eine unmittelbare Reaktion auf eine bestehende Bedrohungslage darstellten. Da mit Beendigung der Auseinandersetzungen die rechtliche Grundlage für ihre Geltung entfalle, müssten sie auf den Zeitraum einer konkreten Gefährdung beschränkt bleiben.138 Nebenorgane, die mit Ende der Konflikte nicht sinnvoll aufgelöst werden könnten, würden den Anforderungen an eine konstante Eignung im Sinne des Normzwecks nicht gerecht. Internationale Straftribunale sollen eine umfassende und abschließende Aufarbeitung völkerrechtlicher Verbrechen leisten. Die Aufgaben der Gerichte sind nicht durch die Dauer des Konfliktgeschehens begrenzt, sondern finden ihren Abschluss mit Aburteilung der Angeklagten. Nach Bienk-Koolman fehle den Tribunalen im Zeitpunkt der Wiederherstellung des globalen Friedens die notwendige Eignung nach Kapitel VII UN-Charta. Die Fortführung der Verfahren stelle eine Überschrei133 134 135 136 137 138

Buchwald, Der Fall Tadić, 2005, S. 127. Schweisfurth, Völkerrecht, 2006, S. 511. Stagel, Sicherheitsrat, 2008, S. 24. Stagel, Sicherheitsrat, 2008, S. 24. Bienk-Koolman, Befugnis des Sicherheitsrates, 2009, S. 227. Bienk-Koolman, Befugnis des Sicherheitsrates, 2009, S. 227.

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tung der Kompetenzen des Sicherheitsrates dar, dessen Befugnisse an den Bestand einer internationalen Bedrohung gekoppelt seien. Eine Erweiterung seines Aufgabenbereichs begründe die Gefahr einer Allzuständigkeit in Postkonflikt-Situationen.139 Um eine Überdehnung der Ermächtigungsnormen zu vermeiden, müssten Maßnahmen des Sicherheitsrates auf den Zeitraum der tatsächlichen Auseinandersetzungen beschränkt sein. Anderenfalls erhielte der Sicherheitsrat nach einem Friedensbruch einen zeitlichen „Freibrief“ zur Intervention in den betroffenen Staaten. „Wie lange soll der Sicherheitsrat nach Beseitigung der Friedensbedrohung noch eingreifen dürfen: ein, zehn oder 50 Jahre?“140

Wenngleich Bienk-Koolman im Grundsatz zuzustimmen ist, können ihre Überlegungen nicht auf die Einsetzung internationaler Strafgerichte übertragen werden. An die Aufrechterhaltung einer Maßnahme sind andere Anforderungen zu stellen als an ihre erstmalige Ergreifung. Die Befürchtung einer unbegrenzten Interventionsbefugnis des Sicherheitsrates ist unbegründet, wenn seine Entscheidung ihren Ausgangspunkt in der Konfliktsituation nimmt. Die Errichtung völkerstrafrechtlicher Tribunale stellt eine unmittelbare Reaktion auf die Bedrohung des internationalen Friedens dar. Im Gegensatz zu isolierten Maßnahmen, die im Anschluss an einen beendeten Konflikt erfolgen, legitimierte sich die Gründung der Gerichte im Zeitpunkt der Friedensbedrohung. Der übergreifende zeitliche Zusammenhang rechtfertigt eine fortwirkende Kompetenz des Sicherheitsrates aus Kapitel VII UNCharta.141 Ein weiteres Argument gegen die zeitliche Begrenzung völkerstrafrechtlicher Gerichtsbarkeit ist im Regelungsauftrag von Art. 39 UN-Charta zu sehen. Die Norm ermächtigt den Sicherheitsrat nicht allein zur Wiederherstellung („restore“), sondern ebenso zur Wahrung („maintain“) des internationalen Friedens. Eine langfristige Stabilisierung der Krisengebiete setzt eine glaubwürdige Auseinandersetzung mit den Ursachen völkerrechtlicher Verbrechen voraus. Wesentliches Ziel internationaler Strafgerichte ist die historische Aufarbeitung von individueller Schuld und politischer Verantwortung. Die Verurteilung der Täter stellt einen wichtigen Schritt zur nationalen Versöhnung dar. Zukünftige Konflikte zwischen Täter- und Opfergruppen können durch eine gerichtliche Ahndung völkerrechtlicher Verbrechen verhindert werden. Internationale Strafgerichte leisten folglich einen entscheidenden Beitrag zur dauerhaften Gewährleistung von Frieden.142 Auch nach Beendigung der Kampfhandlungen legitimiert Art. 39 UN-Charta die Arbeit der Tribunale als Garant nachhaltiger Friedenssicherung. Die Gründung von Ad-hoc-Tribunalen als Maßnahme zur Wiederherstellung des internationalen Friedens ist auch unter der Voraussetzung einer gerichtlichen Eig139 140 141 142

Bienk-Koolman, Befugnis des Sicherheitsrates, 2009, S. 225. Bienk-Koolman, Befugnis des Sicherheitsrates, 2009, S. 225. Hierfür auch Lailach, Wahrung des Weltfriedens, 1998, S. 276 ff. del Ponte, Im Namen der Anklage, 2009, S. 472.

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nungskontrolle zulässig. Da sich der Sicherheitsrat mit der Einsetzung internationaler Gerichte im Rahmen seiner Kompetenzen nach Kapitel VII UN-Charta bewegt, können hinsichtlich der Rechtmäßigkeit des Gründungsvorgangs keine durchgreifenden Bedenken bestehen.

c) Die Vereinbarkeit internationaler Ad-hoc-Tribunale mit der staatlichen Souveränität Ein letzter Einwand gegen die Arbeit der Ad-hoc-Tribunale wird mit Blick auf den Grundsatz der staatlichen Souveränität erhoben. Nach Auffassung der Verteidigung Tadićs stünde die Durchführung internationaler Strafverfahren mit der vorrangigen Befugnis der Tatortstaaten zur Verurteilung begangener Verbrechen in Konflikt. Zugleich begründe die umfassende Kooperationspflicht von Drittstaaten nach Art. 25 UN-Charta einen Eingriff in die Souveränität der Mitglieder der Vereinten Nationen.143 Die Frage nach der Beeinträchtigung nationaler Souveränität könnte für die Gerichte in Jugoslawien und Ruanda differenziert zu beurteilen sein. Während die Einsetzung des ICTY von Seiten der jugoslawischen Führung mit Nachdruck kritisiert wurde, bat Ruanda selbst die Vereinten Nationen um die Schaffung eines Tribunals.144 Es ist jedoch zu berücksichtigen, dass die ruandische Regierung der Errichtung des ICTR in seiner konkreten Form nicht zustimmte und im Sicherheitsrat gegen die Resolution 955 votierte.145 Da im Ergebnis kein Konsens mit Ruanda erzielt werden konnte, unterscheidet sich die Gründung des ICTR im Hinblick auf die mögliche Beeinträchtigung nationaler Souveränität nicht von der rechtlichen Situation in Jugoslawien.146 Die Problematik der Souveränitätsverletzung wirft vor dem Hintergrund ihrer gerichtlichen Überprüfung im Wesentlichen zwei Fragen auf. Neben der Feststellung einer tatsächlichen Verletzung der Grundsätze staatlicher Souveränität muss die Befugnis des Angeklagten zu ihrer rechtlichen Geltendmachung erörtert werden.

aa) Die Geltendmachung durch den Angeklagten In den Fällen Tadić und Kanyabashi rügte die Verteidigung die Beeinträchtigung nationaler Souveränität durch die Verfahren der Ad-hoc-Tribunale.147 Von Seiten Graefrath, NJ 47 (1993), S. 433 (435). Brief des permanenten Stellvertreters Ruandas bei den Vereinten Nationen, UN Doc. S / 1994 / 1115, 28. September 1994. 145 Vgl. Kanyabashi, ICTR-96-15-T, Rn. 9. 146 König, Legitimation, 2003, S. 163. 147 ICTY Tadić, Decision on Defence Motion for Jurisdiction (IT-94-1), 10. August 1995, Rn. 41; ICTR Kanyabashi, ICTR-96-15-T, 18. Juni 1997, Rn. 9. 143 144

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des Anklägers wurde die Berechtigung des Einwands unter Hinweis auf eine fehlende Legitimation zur individuellen Geltendmachung von Souveränitätsverstößen abgelehnt. Der Angeklagte könne vor Gericht ausschließlich die Verletzung eigener Rechte beanstanden, nicht jedoch prozessstandschaftlich staatliche Zuständigkeiten einfordern. Ein möglicher Eingriff in nationale Kompetenzen ermächtige allein die betroffenen Staaten zu einem Vorgehen gegen die Arbeit der Tribunale. Die Berufungskammer des ICTY teilte die Ansicht des Anklägers und versagte der Verteidigung den Rückgriff auf Fragen staatlicher Souveränität. „In any event, the accused not being a State lacks the locus standi to raise the issue of primacy, which involves a plea that the sovereignty of a State has been violated, a plea only a sovereign State may raise or waive and a right clearly the accused cannot take over from the State.“148

Der ICTY stützte seine Argumentation auf die Rechtsprechung im Verfahren gegen Adolf Eichmann vor dem Jerusalemer Bezirksgericht.149 Das Gericht hatte die Berufung der Verteidigung auf eine staatliche Souveränitätsverletzung abgelehnt. Nach Auffassung der Richter fiele die Rüge staatlicher Kompetenzverstöße in den exklusiven Zuständigkeitsbereich der Staaten und könne daher ausschließlich von ihnen erhoben werden: „The right to plead violation of the sovereignty of a State is the exclusive right of that State. Only a sovereign State may raise the plea or waive it, and the accused has no right to take over the rights of that State.“150

Das Urteil im Fall Eichmann legte den Grundstein für die Entwicklung der gerichtlichen Praxis, eine individuelle Geltendmachung staatlicher Souveränität prinzipiell auszuschließen. In späteren Entscheidungen wird das Erfordernis einer subjektiven Rechtsverletzung bereits als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Völkerrechts qualifiziert.151 Gleichwohl lehnte die Berufungskammer des ICTY die Geltung des Grundsatzes für das völkerstrafrechtliche Verfahren ab. Das Gericht betonte in seiner Entscheidung die Besonderheiten des internationalen Strafprozesses, die erweiterte Verteidigungsmöglichkeiten des Angeklagten notwendig machten.152 Da ein strafrechtliches Verfahren die Freiheit des Angeklagten als elementares Rechtsgut 148 ICTY Tadić, Decision on Defence Motion for Jurisdiction, IT-94-1, 10. August 1995, Rn. 41. 149 Der Prozess gegen Adolf Eichmann vor dem Jerusalemer Bezirksgericht (Aktenzeichen 40 / 61) begann am 11. April und endete am 15. Dezember 1961 mit einem Todesurteil. 150 District Court of Jerusalem, The Attorney-General of the Government of Israel v Adolf Eichmann, 12. Dezember 1961, International Law Reports 1961, S. 5 – 276 (62). 151 Beispielhaft hierzu die Entscheidung des United States District Court for the Southern District of Florida im Fall United States v. Noriega, Case No. 88-79-CR: „As a general principle of international law, individuals have no standing to challenge violations of international treaties in the absence of a protest by the sovereign involved.“ 746 Federal Supplement. 1506, 1533 (The United States District Court for the Southern District of Florida 1990). 152 ICTY Tadić, Decision on Defence Motion for Interlocutory Appeal on Jurisdiction, IT94-1-AR72, 2. Oktober 1995, Rn. 55.

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bedrohe, dürften seine Befugnisse zur Abwehr der Sanktion nicht inhaltlich eingeschränkt werden.153 Überzeugend erscheint in diesem Zusammenhang die Argumentation Buchwalds, der die Geltendmachung staatlicher Souveränitätsrechte als Gegenstück zur Erweiterung des individuellen Pflichtenkreises durch das Völkerstrafrecht versteht.154 Nach den Statuten internationaler Ad-hoc-Tribunale trifft den einzelnen Täter eine strafrechtliche Verantwortung, die ihn zum unmittelbaren Adressaten völkerrechtlicher Normvorgaben macht. Mit der Entwicklung einer internationalen Haftung des Individuums muss die Ausdehnung seiner prozessualen Rügemöglichkeiten korrespondieren.155 Dies gilt umso mehr als eine Verletzung nationaler Souveränität durch die Verfahren der Ad-hoc-Tribunale auf anderem Wege nicht überprüfbar wäre. Da Staaten im völkerstrafrechtlichen Prozess nicht als Parteien auftreten, können sie einen Rechtsverstoß durch die Maßnahme des Sicherheitsrates nicht wirksam rügen.156 Die Problematik einer prozessstandschaftlichen Geltendmachung kann indes umgangen werden, wenn die Frage der Souveränitätsbeschränkung als inzidente Voraussetzung zu prüfen wäre. Das Recht des Angeklagten auf den gesetzlichen Richter gewährleistet seinen Anspruch auf ein rechtmäßig eingesetztes Tribunal. Die Legitimation des Sicherheitsrates zur Gründung internationaler Strafgerichte hängt jedoch von ihrer Vereinbarkeit mit dem völkerrechtlichen Gebot staatlicher Souveränitätswahrung ab. Eine Verletzung souveräner Befugnisse durch die Errichtung von Ad-hoc-Tribunalen würde ihre Völkerrechtswidrigkeit begründen und auf diese Weise das subjektive Recht des Angeklagten auf Verhandlung durch eine legitime Instanz beeinträchtigen. Diese Sichtweise erlaubt es, die individuelle Geltendmachung von Souveränitätsverstößen auf die Gewährleistung eigener Rechte des Angeklagten zurückzuführen. bb) Die Verletzung staatlicher Souveränität durch Gründung von Ad-hoc-Tribunalen Art. 2 Abs. 1 UN-Charta bezeichnet die souveräne Gleichheit der Mitgliedstaaten als grundlegendes Prinzip der Vereinten Nationen.157 Die Durchführung völker153 ICTY Tadić, Decision on Defence Motion for Interlocutory Appeal on Jurisdiction, IT94-1-AR72, 2. Oktober 1995, Rn. 55: „To bar an accused from raising such a plea is tantamount to deciding that, in this day and age, an international court could not, in a criminal matter where the liberty of an accused is at stake, examine a plea raising the issue of violation of State sovereignty. Such a startling conclusion would imply a contradiction in terms which this Chamber feels it is its duty to refute and lay to rest.“ 154 Buchwald, Der Fall Tadić, 2005, S. 144. 155 Buchwald, Der Fall Tadić, 2005, S. 144. 156 ICTY Tadić, Decision on Defence Motion for Interlocutory Appeal on Jurisdiction, IT94-1-AR72, 2. Oktober 1995, Rn. 55. 157 Art. 2 I UN-Charta: The Organization is based on the principle of the sovereign equality of all its Members.

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rechtlicher Strafverfahren und die internationale Kooperationspflicht begründen nach Auffassung der Verteidigung158 sowie vereinzelter Stimmen in der Literatur159 einen Verstoß gegen die Souveränität von Tatort- und Drittstaaten. Werden auf dem Gebiet eines Staates Verbrechen begangen, unterfällt ihre Bestrafung grundsätzlich der Jurisdiktion nationaler Gerichte. Da der Staat eine primäre Verantwortung für die Einhaltung seiner Rechtsordnung trage, müsse die Sanktionierung begangenen Unrechts seine autonome Pflicht und zugleich sein exklusives Recht sein. Die Wahrung staatlicher Souveränität ist ein wichtiger Pfeiler der Vereinten Nationen und wesentliche Voraussetzung für die Konzeption internationaler Organisationen. Um eine effektive Aufgabenerfüllung der Vereinten Nationen zu gewährleisten, müssen jedoch Ausnahmen vom Grundsatz des staatlichen Vorrangprinzips gemacht werden können. Art. 2 Abs. 7 UN-Charta verdeutlicht die Zulässigkeit eines Ausgleichs zwischen den Erfordernissen staatlicher Souveränität und der Legitimität internationaler Akte: „Art. 2 Abs. 7 UN-Charta: Nothing contained in the present Charter shall authorize the United Nations to intervene in matters which are essentially within the domestic jurisdiction of any state or shall require the Members to submit such matters to settlement under the present Charter; but this principle shall not prejudice the application of enforcement measures under Chapter Vll.“

Maßnahmen nach Kapitel VII UN-Charta werden hiermit ausdrücklich vom Anwendungsbereich der Souveränitätsgarantie ausgenommen. Ad-hoc-Tribunale, die nach den Vorgaben des Art. 41 UN-Charta eingesetzt wurden, stellen vorgesehene Ausnahmefälle vom Interventionsverbot dar.160 Aufgrund der Zustimmung der Mitgliedstaaten zu den Normen der Charta, kann ihre rechtmäßige Anwendung nicht in souveräne Rechte eingreifen. Haben die Staaten über die Reichweite ihrer Befugnisse disponiert, kann nach den Grundsätzen der Charta kein Verstoß gegen nationale Souveränität festgestellt werden. Auch materiell betrachtet unterfällt die Verhandlung völkerrechtlicher Verbrechen nicht dem ausschließlichen Zuständigkeitsbereich der Staaten. Die Tatbestände des Völkerstrafrechts ahnden schwerste Verstöße gegen universell geltende Menschenrechte und die Wahrung des weltweiten Friedens. Richtet sich eine Straftat gegen international geschützte Rechtsgüter, wird die Möglichkeit ihrer Sanktionierung über das bestehende Territorialitäts- und Personalitätsprinzip hinaus erweitert.161 158 Defence Trial Brief, Rn. 6.2; vgl. ICTY Tadić, Decision on Defence Motion for Interlocutory Appeal on Jurisdiction, IT-94-1-AR72, 2. Oktober 1995, Rn. 55. 159 Bienk-Koolman, Befugnis des Sicherheitsrates, 2009, S. 241 f.; Stuby, Staatliche Souveränität , 1995, S. 429 (431). 160 Stagel, Sicherheitsrat, 2008, S. 25. 161 ICTY Tadić, Decision on Defence Motion on Jurisdiction, IT-94-1, 10. August 1995, Rn. 42: „Before leaving this question relating to the violation of the sovereignty of States, it should be noted that the crimes which the International Tribunal has been called upon to try are not crimes of a purely domestic nature. They are really crimes which are universal in na-

III. Die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Gerichtes

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Die Entwicklung des sogenannten Weltrechtsprinzips findet in der Einsetzung internationaler Gerichte seine völkerrechtliche Entsprechung. Ist jeder Staat unabhängig von einem konkreten Tatbezug zur Verurteilung völkerstrafrechtlicher Verbrechen legitimiert, kann diese Befugnis auch kollektiv durch überstaatliche Tribunale ausgeübt werden.162 Die Gründung von Ad-hoc-Tribunalen nach Kapitel VII UN-Charta stellt folglich keine Verletzung der Grundsätze staatlicher Souveränität dar.

4. Fazit zum Recht auf den gesetzlichen Richter Im völkerstrafrechtlichen Verfahren gewährleistet das Recht auf den gesetzlichen Richter dem Angeklagten einen Anspruch auf Verhandlung durch ein rechtmäßig gegründetes Tribunal. Während die vertragliche Errichtung des ICC und der hybriden Tribunale keinen rechtsstaatlichen Bedenken begegnet, ist die Gründung von Ad-hoc-Tribunalen rechtlich umstritten. Die Darstellung der normativen Erlassvoraussetzungen sollte gezeigt haben, dass die Schaffung völkerrechtlicher Strafgerichte durch Resolution des Sicherheitsrates grundsätzlich zulässig ist. Auch in Zukunft kann die Gründung internationaler Ad-hoc-Gerichte als Mittel zur Aufarbeitung völkerrechtlicher Verbrechen eingesetzt werden. Das Vorliegen einer Friedensbedrohung nach Art. 39 UN-Charta wird als zwingendes Erfordernis der tatbestandlichen Ermächtigungsgrundlage in jedem Einzelfall erneut zu prüfen sein. Um die Wahrung rechtsstaatlicher Grundsätze weiterhin gerichtlich kontrollieren zu können, muss dem Angeklagten die prozessuale Möglichkeit zur Geltendmachung seines Rechtes auf den gesetzlichen Richter vor dem verhandelnden Tribunal zugestanden werden.

III. Die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Gerichtes 1. Die rechtlichen Grundlagen Das Recht auf ein unabhängiges und unparteiisches Gericht ist als Grundvoraussetzung163 eines fairen Verfahrens in den zentralen Menschenrechtsverträgen der Vereinten Nationen verankert. Art. 14 Abs. 1 S. 2 IPbpR, Art. 6 Art. 1 S. 1 EMRK ture, well recognised in international law as serious breaches of international humanitarian law, and transcending the interest of any one State. The Trial Chamber agrees that in such circumstances, the sovereign rights of States cannot and should not take precedence over the right of the international community to act appropriately as they affect the whole of mankind and shock the conscience of all nations of the world. There can therefore be no objection to an international tribunal properly constituted trying these crimes on behalf of the international community.“ 162 ICTY Tadić, Decision on Defence Motion for Interlocutory Appeal on Jurisdiction, IT94-1-AR72, 2. Oktober 1995, Rn. 58. 163 Meron, AJIL 99 (2005), S. 359.

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und Art. 10 Abs. 1 AEMR normieren den Anspruch auf Verhandlung durch unabhängige und unparteiische Richter. „Art. 14 Abs. 1 S. 2 IPbpR: In the determination of any criminal charge against him, or of his rights and obligations in a suit at law, everyone shall be entitled to a fair and public hearing by a competent, independent and impartial tribunal (…).“

Die wesentlichen Inhalte des Rechts werden in den UN Basic Principles on the Independence of the Judiciary164 festgelegt. Die Gewährleistung eines objektiven Verfahrens durch eine neutrale Entscheidungsinstanz ist regelmäßig Bestandteil nationaler Verfassungen165 und wird als allgemeiner Rechtsgrundsatz166 des Völkerrechts sowie als elementares Prinzip des Rechtsstaates167 anerkannt. In den Statuten der internationalen Strafgerichte wird der Anspruch auf ein unabhängiges Gericht auf unterschiedliche Weisen verwirklicht. Interessant erscheint in diesem Zusammenhang insbesondere ihre differenzierte Umsetzung durch die Regelungswerke der Ad-hoc-Tribunale und des Internationalen Strafgerichtshofs. Obgleich Art. 21 Abs. 2 ICTY-Statut die Formulierung des Art. 14 IPbpR fast wortgetreu übernimmt, klammert er rechtsstaatliche Anforderungen an die gerichtliche Struktur vollständig aus. Nach der Systematik der Prozessordnung stellen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit keine subjektiven Verfahrensansprüche des Angeklagten dar. Die Gewährleistung richterlicher Neutralität findet sich ausschließlich in den allgemeinen Bestimmungen des Statuts zur Zusammensetzung und Gliederung des Tribunals.168 Die Unvoreingenommenheit des Gerichts ist daher keine individuelle Rechtsgarantie, sondern objektiver Prozessgrundsatz. Ähnlich verhält sich die Rechtslage an den ECCC. Die Prozessgarantien des Angeklagten gewähren keinen Anspruch auf ein unabhängiges und unparteiliches Gericht. Gleichwohl reflektiert das Verfahrensrecht der Kammer ihre grundsätzliche Überzeugung von der Notwendigkeit richterlicher Neutralität. Art. 10 Abs. 2 new ECCC-LoE sowie Regel 34 ECCC-IR setzen die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Gerichts ausdrücklich voraus. Demgegenüber enthält das ICC-Statut eine differenzierte Gewährleistung des unparteiischen und unabhängigen Richters. Der Anspruch auf ein unparteiisches VerGA Res. 40 / 32, GA Res. 40 / 146, annex. Zappalà, Human Rights, 2005, S. 100. 166 Cassese, International Criminal Law, 2008, S. 393; der Sonderberichterstatter der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen bezeichnete die Prinzipien der richterlichen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit als allgemeine Rechtsgrundsätze im Sinne von Art. 38 I lit.c IGH-Statut, Report of the Special Rapporteur Param Cumaraswamy, Independence and Impartiality of the Judiciary, Jurors and Assessors and the Independence of Lawyers, UN. E / CN.4 / 1995 / 39, Rn. 34. 167 Zappalà, Human Rights, 2005, S. 100: „The independence and impartiality of the judiciary are a basic principle of the rule of law.“ 168 Vgl. Article 12 Abs. 1 S. 2 ICTY-Statut: The permanent and ad litem judges shall be persons of high moral character, impartiality and integrity. 164 165

III. Die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Gerichtes

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fahren wird zunächst als Prozessrecht des Angeklagten in Art. 67 Abs. 1 S. 1 ICCStatut garantiert. „Art. 67 Abs. 1 S. 1 ICC-Statut: In the determination of any charge, the accused shall be entitled to a public hearing, having regard to the provisions of this Statute, to a fair hearing conducted impartially (…).“

Neben der subjektivrechtlichen Ausgestaltung gerichtlicher Neutralität legt Art. 40 Abs. 1 ICC-Statut die Unabhängigkeit der Richter als allgemeine Qualifikationsvoraussetzung fest: „Article 40 Abs. 1 ICC-Statut: The judges shall be independent in the performance of their functions.“

Der begrifflichen Unterscheidung des ICC-Statuts zwischen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Gerichtes liegt ein unterschiedliches Verständnis ihres Aussagegehaltes zugrunde.169 Während die Idee der Unparteilichkeit eine innere Ungebundenheit und persönliche Objektivität des Richters erfasst, soll die Verpflichtung auf rechtliche Unabhängigkeit externe Einflüsse auf das Gericht verhindern. Die Unabhängigkeit eines Tribunals garantiert die grundsätzliche Selbständigkeit der richterlichen Tätigkeit und schafft die institutionellen Voraussetzungen für eine autonome Urteilsfindung. Als objektive Verfahrensbedingung enthält sie allgemeine Anforderungen an die Besetzung und Auswahl der beteiligten Richter. Die abstrakte Sicherstellung einer organisatorischen Ungebundenheit legt den Grundstein für die Verwirklichung neutraler Entscheidungen im Einzelfall. Das Prinzip der Unabhängigkeit ist somit strukturelle Voraussetzung für die Gewährleistung einer tatsächlichen Unparteilichkeit in der jeweiligen Prozesssituation.170 Die Garantie des unparteiischen Richters ist demgegenüber als Verfahrensrecht des Angeklagten zu verstehen, das seinem konkreten Schutz vor Beeinträchtigungen Rechnung trägt. Durch die Einräumung eines subjektiven Rechts bewahrt die Unparteilichkeit den Angeklagten vor Befangenheiten des Richters und einer unzulässigen Einflussnahme auf die Urteilsfindung.171 Die Neutralität des Gerichtes wird somit auf zwei Ebenen abgesichert. Zum einen garantiert die richterliche Unabhängigkeit als allgemeines Strukturprinzip die grundsätzlich autonome Gestaltung des Verfahrens. Zum anderen ermöglicht das Erfordernis der Unparteilichkeit die Wahrung der Objektivität des Tribunals im Einzelfall. Da auch ein unabhängiger Richter in bestimmten Verfahrenssituationen parteiisch sein kann, muss das allgemeine Prinzip der Unabhängigkeit durch konkrete Befangenheitsregelungen zur Gewährleistung tatsächlicher Unparteilichkeit ergänzt werden. Der ICC realisiert diese rechtliche Doppelsituation durch die unterschiedliche normative Behandlung der Verfahrensmaximen. Ausgehend von der konzep169 170 171

Schabas, The UN International Criminal Tribunals, 2008, S. 506. Linton, JICJ 4 / 2 (2006), S. 327; Rzepka, Fairness, 1999, S. 40. Zahar / Sluiter, International Criminal Law, 2008, S. 297.

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

tionellen Verschiedenheit von Unabhängigkeit und Unparteilichkeit bietet sich für die Formulierung künftiger Statuten eine vergleichbare Trennung in objektive und subjektive Komponenten an. Erst das Zusammenwirken von abstrakter Organisationsvorgabe und subjektiver Anspruchsberechtigung kann eine faire Urteilsfindung umfassend sicherstellen.

2. Die Gewährleistung von Unabhängigkeit und Unparteilichkeit durch allgemeine Anforderungen an Auswahl und Kompatibilität Um eine grundsätzliche Unabhängigkeit des Gerichts von nationalen und internationalen Instanzen sicherzustellen, müssen die Modalitäten der Richterwahl geregelt werden. Auf Grundlage der abstrakten Gewährleistung einer Unvoreingenommenheit des Gerichts ist anschließend die konkrete Problematik richterlicher Parteilichkeit durch die Normierung von Befangenheitsvorgaben zu erfassen.

a) Die Auswahl der Richter Die Auswahl der Richter eines internationalen Tribunals ist grundlegend für die effektive Gewährleistung gerichtlicher Unabhängigkeit. Eine transparente und nachvollziehbare Entscheidung über die personelle Besetzung des Rechtsprechungsorgans bildet die Basis für eine Durchführung fairer Strafverfahren.

aa) Rechtliche Auswahlkriterien Ein Überblick über die bestehenden Auswahlkriterien lässt Gemeinsamkeiten in der Ernennungspraxis internationaler Straftribunale erkennen. Das Amt des internationalen Richters setzt allgemein hohe Anforderungen an die persönliche und fachliche Eignung des Bewerbers voraus. Die Idee des unabhängigen Richters findet ihre Entsprechung in der Forderung nach moralischer und sittlicher Integrität des Kandidaten.172 Wenngleich das Kriterium der charakterlichen Eignung schwer bestimmbar ist, bringt es das Bestreben nach persönlicher Ungebundenheit und Entscheidungsautonomie zum Ausdruck. Neben der nationalen Herkunft stellen die berufliche Qualifikation im Heimatstaat sowie der Nachweis völkerstrafrechtlicher Kenntnisse weitere Maßstäbe für die Zusammensetzung der Gerichte dar. Teilweise werden darüber hinaus praktische Erfahrungen im Berufsfeld des Straf172 Art. 13 ICTY: The permanent and ad litem judges shall be persons of high moral character, impartiality and integrity (…); Art. 36 III ICC-Statute: 3. (a) The judges shall be chosen from among persons of high moral character, impartiality and integrity (…); Art. 10 Law of the Establishment ECCC: [A]ll of whom shall have high moral character, a spirit of impartiality and integrity.

III. Die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Gerichtes

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oder Völkerrechts173 sowie die sichere Beherrschung einer Arbeitssprache des Gerichts174 verlangt. Entscheidend für die Gewährleistung richterlicher Unabhängigkeit ist jedoch weniger die inhaltliche Ausformung der Einstellungskriterien als vielmehr ihre konsequente Anwendung im Auswahlverfahren. Um zu verhindern, dass Richter aufgrund ihrer politischen Nähe zu den ernennenden Instanzen ins Amt gelangen, müssen objektive und transparente Maßstäbe für die Berufungsentscheidung herangezogen werden. Auf diese Weise kann vermieden werden, dass die Einsetzung eines Richters im Rahmen einer politischen Strategie erfolgt. Die bislang entwickelten Auswahlkriterien binden die Entscheidungsträger an objektive Qualifikationen und schließen eine willkürliche Berufung nicht befähigter Richter weitestgehend aus. Gerade die Wahl lokaler Richter im Rahmen internationalisierter Strafverfahren muss auf nachvollziehbare Kriterien rückführbar sein, um den möglichen Eindruck einer unzulässigen Einflussnahme der Regierung zu verhindern. Wird bei der Gründung hybrider Tribunale staatlichen Instanzen das Recht zur Ernennung von Richtern übertragen, sollten möglichst detaillierte Vorgaben für die Auswahlentscheidung festgelegt werden.175 Je genauer die rechtlichen Regelungen gefasst werden, desto geringer ist der Spielraum für sachfremde Erwägungen und die Gefahr einer politischen Abhängigkeit des Richters. Weitergehende Fragen mit Blick auf die zukünftige Einstellung internationaler Richter wirft das Merkmal des Geschlechts („Gender“) auf. Während die Berücksichtigung weiblicher Richter zunächst keine Rolle spielte, wird der gleichberechtigten Beteiligung von Männern und Frauen zunehmen Bedeutung beigemessen.176 So formuliert Art. 36 Abs. 8 ICC-Statut den Auftrag an die Mitgliedstaaten, bei der Nominierung ihrer Kandidaten ein ausgewogenes Verhältnis zwischen männlichen und weiblichen Bewerbern herzustellen.177 In diesem Zusammenhang muss die Frage aufgeworfen werden, ob die Einbeziehung verschiedengeschlechtlicher Richter der besseren Gewährleistung eines fairen Verfahrens dienen kann. Es ließe sich argumentieren, dass erst die gleichberechtigte Mitwirkung männlicher und weiblicher Richter eine umfassende Würdigung des Sachverhaltes unter BerücksichtiArt. 36 III (b) ICC-Statute: Every candidate for election to the Court shall: (i) Have established competence in criminal law and procedure, and the necessary relevant experience, whether as judge, prosecutor, advocate or in ther similar capacity, in criminal proceedings; or (ii) Have established competence in relevant areas of international law such as international humanitarian law and the law of human rights, and extensive experience in a professional legal capacity which is of relevance to the judicial work of the Court. 174 Art. 36 III (c) Every candidate for election to the Court shall have an excellent knowledge of and be fluent in at least one of the working languages of the Court. 175 Linton, JICJ 4 / 2 (2006), S. 327 (332). 176 Romano / Nollkaemper / Kleffner, Internationalized Criminal Courts, 2004, S. 248. 177 Art. 36 8. (a) ICC: The States Parties shall, in the selection of judges, take into account the need, within the membership of the Court, for: (…) (iii) A fair representation of female and male judges. 173

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gung geschlechtsspezifischer Sichtweisen garantiere.178 Gerade bei der Verhandlung von Straftaten mit Sexualbezug könnte dem Angeklagten ein Recht darauf zustehen, seinen Fall aus verschiedengeschlechtlichen Perspektiven bewertet zu sehen. Ohne die grundsätzliche Diskussion um die Bedeutung von „Gender“ führen zu wollen, muss das tatsächliche Bestehen eines einheitlich „weiblichen“ Standpunktes jedoch hinterfragt werden. Die Existenz einer typisch weiblichen Sichtweise, die eine geschlechtsabhängig unterschiedliche Problembehandlung bewirkt, erscheint zweifelhaft. Den Richtern eines internationalen Strafgerichts muss insofern vertraut werden, rechtliche Bestimmungen unabhängig von ihren geschlechtsspezifischen Prägungen anzuwenden. Es ginge daher zu weit, die gleichmäßige Zusammensetzung eines Tribunals als zwingende Voraussetzung für die Durchführung erschöpfender und sachlich fairer Verfahren zu werten. Dessen ungeachtet sollte die adäquate Teilhabe von Frauen an internationalen Strafverfahren aus Gründen der Gerechtigkeit und Gleichbehandlung weiter verfolgt werden. Primäre Voraussetzung einer jeden Einstellung muss jedoch – auch im Interesse des Angeklagten – die fachliche und persönliche Eignung des Bewerbers für das Amt des Richters sein.

bb) Die Beteiligung nationaler und internationaler Richter Im Rahmen der Besetzung internationaler Gerichte kommt der staatlichen Herkunft der Bewerber besondere Bedeutung zu. Bereits die Entstehung der völkerrechtlichen Strafgerichtsbarkeit wurde von erheblicher Kritik an den nationalen Zusammensetzungen der Tribunale begleitet. Bei der Gründung der Gerichtshöfe von Nürnberg und Tokyo bestimmten die alliierten Siegermächte die eingesetzten Richter ausnahmslos aus den eigenen Reihen.179 Die ausschließliche Ernennung eigener Staatsangehöriger zeichnete ein Bild der Siegerjustiz, in der die Alliierten über das unterlegene Deutschland Gericht zu halten schienen. In der öffentlichen Rezeption der Prozesse wurden Bedenken an einer Instrumentalisierung des Gerichts zur Durchsetzung politischer Interessen erhoben.180 Der Vorwurf der Siegerjustiz begründete Zweifel an der Unparteilichkeit der Richter und der Fairness eines politisch vorgeprägten Verfahrens. 178 Für eine Auswirkung des Geschlechts auf den richterlichen Entscheidungsprozess könnte die Anerkennung eines geschlechtsspezifischen Gerechtigkeitsempfindens sprechen. Nach der von Carol Gilligan entwickelten Konzeption der „weiblichen“ und „männlichen“ Moral orientierten sich Männer bei der Bewertung menschlichen Verhaltens vorrangig am Maßstab der Gerechtigkeit, während Frauen vom Gedanken der Fürsorge geleitet würden. Da die Verurteilung von Straftaten und der Feststellung individueller Schuld auch eine moralische Bewertung voraussetzt, könnten männliche und weibliche Richter bei ihrer Entscheidung unterschiedliche Faktoren berücksichtigen und somit abweichende Ergebnisse entwickeln. Diese These wird jedoch durch ihre fehlende empirische Bestätigung relativiert. Siehe zur Diskussion Montada, Moralische Entwicklung, in: Oerter / Montada (Hrsg.), Entwicklungspsychologie, 2008, S. 572 – 606. 179 Zappalà, Human Rights, 2005, S. 101. 180 Hess, Aufarbeitung, 2007, S. 25 f.

III. Die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Gerichtes

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Die Kritik an Nürnberg und Tokyo hatte deutlich gemacht, dass die Berücksichtigung unterschiedlicher nationaler Ursprünge zur Wahrung des politisch neutralen Charakters internationaler Gerichte erforderlich war. Das Bestreben nach einer ausgeglichenen Vertretung verschiedener Rechtskreise fand Eingang in die normativen Grundlagen der Statuten und verpflichtete die Verantwortlichen auf eine differenziere Besetzung der Tribunale. Rechtlich verwirklicht wurde dieser Gedanke zunächst durch Art. 12 ICTY-Statut und Art. 11 ICTR-Statut, die eine Ernennung von Richtern derselben Nationalität grundsätzlich ausschließen.181 Mit dem Verzicht auf eine Sonderstellung der Mitglieder des Sicherheitsrates konnte ein politisches Gleichgewicht zwischen den Beteiligten hergestellt182 und der Eindruck von Siegerjustiz vermieden werden. Einen weiteren wichtigen Schritt geht Art. 36 Abs. 8 lit. a (ii) ICC-Statuts, der neben dem Ausschluss nationaler Mehrfachpräsenz eine gerechte geografische Verteilung als Zielvorgabe formuliert. Die Gründung hybrider Gerichte stellt die Frage nach der Zusammensetzung völkerstrafrechtlicher Kammern unter neuen Prämissen. Der hybride Charakter der Tribunale erfordert die verstärkte Einbeziehung inländischer Richter in das Verfahren. Wie die Diskussionen um Case 003 und 004 an den ECCC zeigen, wirft ihre Beteiligung jedoch in besonderem Maße Probleme im Hinblick auf die Gewährleistung von Unabhängigkeit und Unparteilichkeit auf. Den Ermittlungsrichtern wird angelastet, auf Druck der Regierung keine ausreichenden Untersuchungen durchgeführt zu haben.183 Die Anbindung einheimischer Richter an das System des Tatortstaates birgt die Gefahr von Korruption und politischer Einflussnahme. Die Verflechtung nationaler Richter mit den staatlichen Strukturen lässt befürchten, dass die politische Führung ihre Interessen auf Kosten der gerichtlichen Unabhängigkeit durchsetzen kann. Ein weiteres Problem stellt sich im Hinblick auf die Unparteilichkeit der Richter, deren rechtliches Verständnis durch die persönliche Beziehung zum Tatortstaat geprägt wird. Eine mögliche Betroffenheit des Richters durch die Konfliktsituation – auf Seiten der Täter oder der Opfer – kann seine Voreingenommenheit im Verfahren begründen. Die Beteiligung lokaler Richter stellt die rechtsstaatliche Durchführung internationaler Strafverfahren vor besondere Herausforderungen. Es ist der Frage nachzugehen, ob eine Einbeziehung nationaler Richter trotz möglicher Schwierigkeiten für die sinnvolle Verwirklichung hybrider Prozesse notwendig ist. Um eine differen181 Art. 12 ICTY-Statut: 1. The Chambers shall be composed of a maximum of sixteen permanent independent judges, no two of whom may be nationals of the same State, and a maximum at any one time of twelve ad litem independent judges appointed in accordance with article 13 ter, paragraph 2, of the Statute, no two of whom may be nationals of the same State. 182 Die ersten Richter des ICTY kamen aus Italien, China, Canada, Australien, Nigeria, Frankreich, Costa Rica, Ägypten, USA, Pakistan und Malaysia. 183 Statt aller: Report Recent Developments at the ECCC, November 2011, www.soros.org/ initiatives/justice/articles_publications/cambodia-court-20111114.pdf (letzter Zugriff am 23.01. 2012).

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

zierte Antwort zu entwickeln, sollen zunächst die bestehenden Modelle an internationalisierten Gerichten diskutiert und mit Blick auf ihre Gewährleistung richterlicher Unabhängigkeit bewertet werden. (1) Modelle der Beteiligung nationaler Richter an hybriden Tribunalen Die nationale Zusammensetzung der Tribunale und die Berücksichtigung inländischer Richter bei der Entscheidungsfindung werden in den Statuten der hybriden Gerichte unterschiedlich ausgestaltet. Der Umfang der Beteiligung nationaler Richter variiert in Abhängigkeit vom Einfluss der Tatortstaaten auf den Gründungsprozess und die normativen Rechtsgrundlagen. Während inländische Richter an den Gerichten Ost-Timors und Sierra Leones noch in der Minderheit waren, sehen die Außerordentlichen Kammern von Kambodscha bereits ihre mehrheitliche Beteiligung vor. Mit Blick auf die Wahrung richterlicher Unabhängigkeit soll diese Entwicklung kritisch hinterfragt und mögliche Änderungsvorschläge bewertet werden. (a) Die Minderheitsbeteiligung nationaler Richter in Ost-Timor und Sierra Leone Die Sonderkammern Ost-Timors und das internationale Tribunal für Sierra Leone sehen eine Mehrheit internationaler Richter ohne ethnischen Bezug zum Tatortstaat vor. Nach Art. 22 Abs. 1 und 22 Abs. 2 der UNTAET Verordnung 2000 / 15 werden die Kammern von Straf- und Berufungsgericht Ost-Timors mit jeweils zwei internationalen und einem einheimischen Richter besetzt.184 In Fällen von besonderer Schwere können nach Art. 22 Abs. 2 der Verordnung drei internationale und zwei inländische Richter einbezogen werden. Den internationalen Richtern wird folglich ein überlegenes Stimmgewicht eingeräumt, das ihnen eine abschließende Entscheidungskompetenz über Verlauf und Ausgang des Verfahrens überantwortet. Der Sondergerichtshof für Sierra Leone bewirkt im Ergebnis vergleichbare Mehrheiten, gestaltet die Besetzung seiner Kammern jedoch normativ unterschiedlich aus. Art. 12 SCSL-Statut bindet die Ernennung der Richter nicht an ihre nationale Herkunft, sondern überträgt ihre Auswahl staatlichen und internationalen Instanzen. So wird eine Mehrheit von drei Richtern der Strafkammern vom Generalsekretär benannt, während die Regierung Sierra Leones lediglich einen Kandidaten bestimmt.185 Das Modell Sierra Leones sieht keine direkte Berücksichtigung der Staatsangehörigkeit vor, schafft jedoch die Voraussetzungen für eine entsprechende Beteiligung inländischer Richter. Aufgrund der größeren Erfahrungswerte mit der 184 United Nations Transitional Administration in East Timor, Regulation No. 2000 / 15, On the establishment of panels with exclusive jurisdiction over serious criminal offences, 06.06.2000 (letzter Zugriff am 24.05.2010). 185 Vergleichbares gilt für die Berufungsinstanz, in der drei Bewerber durch den Generalsekretär und zwei von der Regierung ernannt werden [Art. 12 I b)].

III. Die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Gerichtes

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Arbeit einheimischer Richter ist davon auszugehen, dass nationale Regierungen eigene Staatsangehörige vorrangig berücksichtigen werden. Die Einbeziehung nationaler Institutionen in das Auswahlverfahren stellt jedoch keine Garantie für die Ernennung nationaler Richter dar. Das Beispiel Sierra Leones belegt, dass die Entstehung von Kammern ohne Vertretung eines inländischen Richters grundsätzlich denkbar ist. Da die nationalen Entscheidungsträger den samoanischen Richter Richard Lussick in die zweite Strafkammer des Sondergerichtshofes beriefen, ist an den dort verhandelten Verfahren kein einheimischer Richter beteiligt. Die normative Ausgestaltung des Gerichtes ermöglicht folglich einen umfassenden Verzicht auf die Integration nationaler Richter in den Prozess. Sowohl in Ost-Timor als auch in Sierra Leone befinden sich nationale Richter in der Minderheit und können den Prozess der Urteilsfindung nicht maßgeblich beeinflussen. Im Hinblick auf die Regelungen Sierra Leones muss ergänzt werden, dass eine grundsätzliche Einbeziehung inländischer Richter rechtlich nicht sichergestellt ist. Es wird zu diskutieren sein, ob eine solche Ausgestaltung mit dem Ziel internationalisierter Verfahren und dem Charakter hybrider Tribunale zu vereinbaren ist. (b) Die differenzierte Beteiligung nationaler Richter in Bosnien-Herzegowina Die komplexe Organisationsstruktur der Kriegsverbrecherkammern in BosnienHerzegowina sieht unterschiedliche Modelle für die Einsetzung nationaler und internationaler Richter vor. Während in einigen Kammern einheimische Richter in der Mehrheit sind, überwiegt in anderen das Stimmgewicht der internationalen Vertreter.186 Die Arbeitspraxis des Gerichtes belegt hierbei deutliche Probleme bei der vorrangigen Beteiligung inländischer Richter. In den mehrheitlich national besetzten Kammern zeichnete sich die klare Tendenz ab, Entscheidungen von der ethnischen Zugehörigkeit abhängig zu machen. „Local Kosovo-Albanian judges would outvote the international judge and generally regard Serbs as automatically guilty of war crimes and other offences while Albanians were only rarely condemned.“187

Dieser Entwicklung wurde zunächst mit einer erweiterten Einbeziehung internationaler Richter begegnet.188 Durch die Herstellung veränderter Mehrheiten konnten die Entscheidungen der internationalen Vertreter nicht länger von einheimischen 186 Siehe hierzu: Romano / Nollkaemper / Kleffner, Internationalized Criminal Courts, 2004, S. 241. 187 Friman, Procedural Law, in: Romano / Nollkaemper / Kleffner (Hrsg.), Internationalized Criminal Courts and Tribunals, 2004, S. 317 (332). 188 Durch Regulation 2000 / 64 vom 15. Dezember 2000 änderte die UNMIK die geltende Prozessordnung (Code of Criminal Procedure). Bestimmte Fälle wurden nun vor einer Kammer von drei Richtern verhandelt, die mit mindestens zwei internationalen Vertretern besetzt werden müssen.

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

Richtern überstimmt werden. Trotz der erzielten Erfolge einer Entpolitisierung und Neutralität der Verfahren189 soll die Präsenz der Vereinten Nationen am Tribunal vollständig beendet werden. Im Rahmen einer Übergangsverwaltung ist die Stärkung eines selbständigen nationalen Justizsystems zentrale Aufgabe der Vereinten Nationen. Klare Zielvorgabe muss es daher sein, langfristig auf eine internationale Beteiligung an den Gerichtsverfahren zu verzichten. Gleichwohl hat ein effektives Verfahrensmodell regionale Konfliktsituationen zu berücksichtigen und die Einbindung nationaler Richter von ihrer Fähigkeit zur persönlichen Neutralität abhängig zu machen. Eine mehrheitlich nationale Besetzung der Kammern muss insbesondere vor dem Hintergrund von Spannungen zwischen ethnischen Gruppen kritisch betrachtet werden. Kann die notwendige Distanz inländischer Richter zu den politischen Ereignissen nicht gewährleistet werden, widerspricht ihre mehrheitliche Beteiligung den Anforderungen an ein unparteiliches und rechtsstaatliches Verfahren. Schröder ist darin zuzustimmen, dass die Reduzierung internationaler Unterstützung im Interesse nationaler Strukturbildung und globaler Friedenssicherung nicht voreilig erfolgen darf.190 Verzichten die Vereinten Nationen auf eine internationale Prozessteilnahme, muss die Staatengemeinschaft die Einhaltung eines fairen Verfahrens in besonderem Maße überwachen. Gibt die Praxis Anlass für Bedenken an der richterlichen Unparteilichkeit, muss ein erneutes Engagement der Vereinten Nationen in Betracht gezogen werden. (c) Die Mehrheitsbeteiligung nationaler Richter in Kambodscha Mit Gründung der Außerordentlichen Kammern von Kambodscha wurde ein neuer Weg zur Beteiligung nationaler Richter beschritten. Erstmalig in der Entwicklung hybrider Tribunale sehen die Rechtsgrundlagen des Gerichts eine mehrheitliche Repräsentanz inländischer Richter vor. Nach Art. 9 Abs. 1 new sowie Art. 20 Abs. 5 new ECCC-LoE bestehen Haupt- und Vorverfahrenskammer der ECCC aus jeweils fünf Richtern, von denen lediglich zwei Vertreter nicht kambodschanische Staatsangehörige sind. Der Supreme Court, der im Verfahren als Berufungsinstanz angerufen werden kann, weist mit einem Verhältnis von vier einheimischen zu drei internationalen Richtern vergleichbare Strukturen auf (Art. 9 Abs. 2 new ECCCLoE). Ein weiterer Beleg für die Vorrangstellung inländischer Richter ist die zwingende Übertragung des Vorsitzes auf einen nationalen Vertreter. Neben der symbolischen Bedeutung der Verfahrensleitung werden dem einheimischen Präsidenten der Kammer weitreichende Befugnisse zur Bestimmung organisatorischer Abläufe gewährt.191

189 Schröder: Der Beitrag internationaler Richter zur Entwicklung der Rechtsstaatlichkeit in Bosnien und Herzegowina, 02.2010, S. 15 (letzter Zugriff am 25.03.2010). 190 Schröder: Der Beitrag internationaler Richter zur Entwicklung der Rechtsstaatlichkeit in Bosnien und Herzegowina, 02.2010, S. 21 (letzter Zugriff am 25.03.2010). 191 Regel 18 Abs. 2 ECCC-IR, 24 Abs. 3, 50 Abs. 3, 77 Abs. 3, 7– 8.

III. Die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Gerichtes

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Die einflussreiche Rolle der nationalen Richter führte zu erheblicher Kritik an der Organisation der Außerordentlichen Kammern.192 Angesichts der Schwäche des kambodschanischen Justizsystems und einer wenig konsequenten Durchsetzung der Gewaltenteilung wird die Unabhängigkeit einheimischer Richter in Zweifel gezogen.193 Klein sieht die Gefahr einer unzulässigen Einflussnahme der kambodschanischen Regierung auf die Entscheidungen eines mehrheitlich national besetzten Gerichts. Politischer Druck und die weite Verbreitung von Korruption würden die Gewährleistung richterlicher Unparteilichkeit in Frage stellen: „The tribunal’s lack of a majority of international judges could lead to unjust trials, as a result of governmental manipulation of Cambodian judges. Cambodia’s political structure is characterized by a corrupt executive with a long history of interfering with its weak judicial system, which suffers from a dearth of competent judges.“

Vorbehalte gegenüber dem staatlichen Justizapparat wurden nicht allein von Seiten internationaler Organisationen geltend gemacht, sondern reflektierten zugleich das Stimmungsbild in der Bevölkerung. Das geringe Vertrauen der Kambodschaner in die Rechtsstaatlichkeit nationaler Gerichte spiegelte sich beispielhaft in der Umfrage „So we will never forget“ des Berkeley Human Rights Centers wider. Der Studie zufolge gaben lediglich 36,8 Prozent der Befragten an, Vertrauen in die Entscheidungen nationaler Gerichte zu haben. 60,7 Prozent verbanden mit einer Klage vor kambodschanischen Richtern die Notwendigkeit von Bestechungszahlungen.194 Die Rolle der inländischen Richter wirft erhebliche Probleme für die Wahrung von Unabhängigkeit und Neutralität der Prozesse auf. Ihr überlegenes Stimmgewicht sichert eine nationale Dominanz im Rahmen der Urteilfindung und verringert die Möglichkeit eines internationalen Korrektivs. Um den bestehenden Bedenken an der Objektivität der Verfahren zu begegnen, sollte der Einfluss inländischer Richter zumindest teilweise ausgeglichen werden. Zu diesem Zweck einigten sich die Vertragsparteien auf den sogenannten Kerry-Kompromiss195, der durch eine Anhebung der erforderlichen Mehrheiten die Beteiligung internationaler Richter an den Urteilen der Kammern zwingend erforderlich machte. Nach der Regelung in Art. 4 ECCC-Agreements haben die Entscheidungen der ECCC grundsätzlich einstimmig zu erfolgen. Ist ein allgemeiner Konsens nicht zu erzielen, genügt die Zustimmung einer qualifizierten Mehrheit von vier Richtern in der Strafkammer bzw. von fünf Richtern in der Berufungsinstanz. Die Realisierung der erforderlichen Vgl. Linton, JICJ 4 / 2 (2006), 327 (327 ff.). Klein, JIHR 4 / 3 (2006), S. 549 (560): „The tribunal’s lack of a majority of international judges could lead to unjust trials, as a result of governmental manipulation of Cambodian judges.“ 194 Pham / Vinck / Balthazard / Hean / Stover, So we will never forget, Human Rights Center, Initiative for Vulnerable Populations, University of California, Berkeley, Januar 2009, Table 10 (letzter Zugriff am 24.05.2010). 195 Der erzielte Kompromiss zur verstärkten Einbeziehung der internationalen Richter wurde von US Senator John Kerry entwickelt, vgl. Friman, Procedural Law, in: Romano / Nollkaemper / Kleffner (Hrsg.), Internationalized Criminal Courts and Tribunals, 2004, S. 317 (341). 192 193

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

Mehrheit setzt folglich eine Bestätigung der Entscheidung durch zumindest einen internationalen Richter zwingend voraus. Mit der Begründung einer normativen Sperrminorität wird den internationalen Richtern ein Veto-Recht eingeräumt, das ihre effektive Mitwirkung am Verfahren gewährleistet. Im Wege der Ausgestaltung qualifizierter Mehrheitsverhältnisse soll verhindert werden, dass inländische Richter geschlossen gegen die Überzeugungen der internationalen Beteiligten votieren. Die Anwendung spezieller Mehrheiten sichert die Einbeziehung von Sachverstand und Rechtskenntnis der internationalen Richter in das Verfahren der ECCC. Durch die Ausübung ihrer Kontrollfunktion können Bedenken an der Unparteilichkeit und hinreichenden Prozesserfahrung einheimischer Richter relativiert werden. Schwierigkeiten bereitet die Regelung jedoch dann, wenn eine Einigung der Kammer nicht zu erwirken ist. Da das Prozessrecht für einen solchen Fall keine weitere Vorgehensweise normiert, kann die betroffene Fragestellung im laufenden Verfahren nicht entschieden werden. Das Erfordernis eines Einvernehmens nationaler und internationaler Richter birgt somit die Gefahr einer latenten Handlungsunfähigkeit des Gerichtes.196 Bestehen zwischen den Beteiligten grundlegende Differenzen, kann die wechselseitige Sperrmöglichkeit ein Verfahren im Ergebnis lahmlegen und ungerechtfertigte Freisprüche bewirken.197 Zur Beilegung eines möglichen Konfliktes zwischen inländischen und internationalen Richtern wurde von Seiten der Vereinigten Staaten die Einsetzung sogenannter „hung juries“ vorgeschlagen.198 Im Falle einer Pattsituation, die den Fortgang des Verfahrens gefährdet, solle eine unabhängige Jury über die strittige Frage entscheiden. Gegen die Beteiligung einer „hung jury“ spricht jedoch die fehlende Verankerung und unzureichende Übertragbarkeit des Modells im Bereich des Völkerstrafrechts. Aufgrund der besonderen Komplexität und der hohen rechtlichen Anforderungen internationaler Strafverfahren wird die Einbeziehung von Laienrichtern zutreffend abgelehnt. Die Zusammenarbeit inländischer und internationaler Richter stellt die hybriden Tribunale vor praktische Probleme, die durch einzelne Modifikationen des geltenden Prozessrechts nicht gelöst werden können. In Anbetracht der aufgezeigten Bedenken an der Unparteilichkeit nationaler Richter muss die grundsätzliche Frage nach Notwendigkeit und Umfang ihrer Eingliederung in das völkerrechtliche Strafverfahren beantwortet werden.

196 Skinnider, Experiences and Lessons from „Hybrid“ Tribunals. Sierra Leone, East Timor and Cambodia, http://www.icclr.law.ubc.ca/Site%20Map/ICC/ExperiencesfromInternational SpecialCourts.pdf, S. 23 (letzter Zugriff am 26.05.2010). 197 Klein, JIHR 2006, S. 549 (564): „Thus, this process risks a split decision between Cambodian and international judges that could render the court incapable of reaching a decision and, even worse, result in inappropriate acquittals.“ 198 Klein, JIHR 4 / 3 (2006), S. 549 (564).

III. Die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Gerichtes

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(2) Die Probleme einer Beteiligung nationaler Richter Im Rahmen der Mitwirkung nationaler Richter können drei zentrale Problemfelder erkannt werden. Der Einfluss staatlicher Organe auf die Unabhängigkeit des Gerichts, die persönliche Betroffenheit als mögliche Beeinträchtigung der richterlichen Unparteilichkeit sowie die unzureichende Qualifikation einheimischer Richter gefährden die Durchführung eines rechtsstaatlichen Verfahrens. Die folgende Darstellung soll die Probleme einer Beteiligung nationaler Richter zeigen und anhand konkreter Fragestellungen näher beleuchten. Angesichts der kontroversen Diskussionen über die mehrheitliche Einbeziehung einheimischer Richter in Kambodscha wird der Fokus der Analyse auf die Situation an den ECCC gerichtet sein. Hierbei sollen exemplarisch rechtliche und praktische Schwierigkeiten für die Wahrung von Unabhängigkeit und Unparteilichkeit in internationalisierten Strafverfahren herausgearbeitet werden. (a) Die fehlende Unabhängigkeit nationaler Richter Die Gefahr politischer Lenkung und fehlender Unabhängigkeit einheimischer Richter von den Einflüssen staatlicher Organe ist ein wesentlicher Kritikpunkt an den hybriden Tribunalen. Aufgrund ihrer Nähe zu den verhandelten Straftaten verfolgen die Regierungen der Tatortstaaten oftmals eigene Interessen am Ausgang der Prozesse. In Abhängigkeit von der politischen Entwicklung des Landes ist entweder eine Behinderung der Verfahren oder eine Vernachlässigung der prozessualen Fairness zu befürchten. Da völkerrechtliche Verbrechen regelmäßig von staatlicher Seite begangen werden, kommt der Beteiligung von Regierungsvertretern an den Gewalthandlungen entscheidende Bedeutung zu. Bleiben die Verantwortlichen nach Beendigung der Konflikte im Amt, muss mit einer Verzögerung der Verfahren gerechnet werden.199 Gehört die amtierende Regierung hingegen der früheren Oppositionspartei an, wird sie eine Verurteilung möglicherweise auch um den Preis der Rechtsstaatlichkeit erreichen wollen. Eine klare Grenzziehung zum Unrecht der Vergangenheit als wesentliche Voraussetzung einer objektiven juristischen Aufarbeitung ist nur in wenigen Situationen denkbar. Die fehlende Distanz nationaler Regierungen zu den politischen Inhalten der Prozesse wirkt sich insbesondere in Systemen mit geringer rechtsstaatlicher Tradition nachteilig aus. Werden die Grundsätze der Gewaltenteilung auf staatlicher Ebene nicht konsequent verwirklicht, können Exekutivorgane weitreichenden Einfluss auf die Arbeit der Gerichte nehmen. Die geschwächten Rechtsordnungen der Tatortstaaten sind häufig nicht im Stande, die notwendigen Strukturen zur Durchsetzung einer rechtlichen und praktischen Trennung staatlicher Funktionen zu gewährleisten. Das Problem einer Verfahrensbeteiligung von Staaten mit schwachen und korrupten Justizsystemen wird in besonderem Maße am Beispiel Kambodschas deutlich. Wenn199

von Braun, VN 55 / 4 (2007), S. 148 (150).

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

gleich die Unabhängigkeit der Gerichte gesetzlich garantiert wird, sind Bestechung und politische Instrumentalisierung gängige Praxis.200 Experten kritisieren den Einfluss von Regierung und Wirtschaft, die durch finanziellen wie physischen Druck201 Kontrolle über die Rechtsprechung ausüben. Insbesondere in politischen Fragen sei es üblich, die Streitsache nach den Weisungen der Exekutive zu entscheiden.202 Die Expertengruppe der UN-Generalversammlung konstatierte in diesem Zusammenhang eine erhebliche finanzielle und politische Abhängigkeit kambodschanischer Richter von der Regierung: „Powerful elements in the Government such as important political figures, the security apparatus and the Ministry of Justice are widely believed to exert overt and covert influence over the decisions of investigating judges and trial courts. These include threats and physical attacks on judges; or simply the realization among judges that their tenure, and often their prospect of future livelihood, depend upon the approval of political elements.“203

Ist die Objektivität von Richtern auf nationaler Ebene nicht gewährleistet, ergeben sich Bedenken hinsichtlich ihrer Einbeziehung in das internationale Strafverfahren. Aufgrund der Vergangenheit des Premierministers Hun Sen als Soldat der Roten Khmer204 hat die Regierung möglicherweise ein starkes Eigeninteresse am Umfang der Ermittlungen. „Cambodia’s political system is beset by rampant corruption and rarely free from political influence – especially from the ruling CPP party, which has many ties to the former Khmer Rouge government and potentially has a lot to lose from disclosures that may be made in the course of trials in the Extraordinary Chambers.“205

Interessant erscheinen in diesem Zusammenhang jüngere Konflikte zwischen dem nationalen und dem internationalen Staatsanwalt an den ECCC. Der internationale Ankläger hatte Ermittlung gegen fünf weitere Personen beantragt, war hiermit 200 Friman, Procedural Law, in: Romano / Nollkaemper / Kleffner (Hrsg.), Internationalized Criminal Courts and Tribunals, 2004, S. 317 (331): Report on the Application of Civil and Political Rights in Conformance with Article 40 of the ICCPR, Kingdom of Cambodia, 1997: „The independence of the judiciary is guaranteed by law. However, practice has shown that, owing to interference and pressure from other branches, the courts are not fully independent.“ 201 Klein, JIHR 4 / 3 (2006), S. 549 (561): „Since 1993, physical attacks on courts have occurred frequently and in April of 2003, a prominent judge was assassinated in the middle of the day as he drove to work in Phnom Penh.“ 202 Linton, JICJ 4 / 2 (2006), S. 327 (338): „Cambodia’s authoritarian legacy has created a system where the courts have been instruments of state, handmaidens to the political rulers of the day and their political, ideological or personal agendas.“ Jendrzecjzyk, Cambodians, Too, Deserve Justice, IHT, 27. Dezember 2002, http://www.hrw.org/en/news/2002/12/27/cambodians-too-deserve-justice (letzter Zugriff am 26.05.2010): „Government officials do not hesitate to tell judges how to decide cases.“ 203 Report of the Group of Experts for Cambodia established pursuant to General Assembly resolution 52 / 135, Rn. 129. 204 Karbaum, Kambodscha, 2008, S. 180. 205 Worden, An Anatomy, in: Abrams / Ramji et al. (Hrsg.), Awaiting Justice, 2005, S. 172 (188).

III. Die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Gerichtes

231

jedoch auf Widerspruch seiner kambodschanischen Kollegin Chea Lang gestoßen.206 Zuvor hatte die Regierung eine Erweiterung der Strafverfolgung wiederholt öffentlich kritisiert.207 Die Haltung der nationalen Anklägerin legt den Gedanken nahe, ihre Weigerung zur Einleitung von Untersuchungen könne durch den politischen Druck der Regierung geprägt worden sein.208 Wenngleich die Problematik die richterliche Ebene nicht unmittelbar betrifft, zeigt sie die Schwierigkeiten einer unabhängigen Rechtsausübung. Die Einsetzung nationaler Richter in einem Umfeld von Korruption und politischer Abhängigkeit stellt eine Gefahr für die konsequente Verwirklichung eines rechtsstaatlichen Verfahrens dar. Der fehlende Respekt für die Autonomie der Judikative in den Rechtssystemen der Tatortstaaten erfordert eine besondere Kontrolle von Auswahl und Handeln nationaler Richter durch die internationale Gemeinschaft. (b) Die Parteilichkeit nationaler Richter Eine weitere Kritik an der Beteiligung nationaler Richter gründet sich auf die mögliche Beeinträchtigung ihrer persönlichen Unvoreingenommenheit. Korruption und individuelle Betroffenheit stellen spezifische Gefahren für die Unparteilichkeit einheimischer Richter im internationalisierten Strafverfahren dar. Aufgrund ihrer weitreichenden Folgen sind völkerstrafrechtliche Verbrechen in Bewusstsein und Berichterstattung der Öffentlichkeit besonders präsent. Zu Beginn einer Verhandlung wird dem zuständigen Richter somit bereits eine Vorstellung von Verbrechen und Täterkreis vermittelt worden sein. Während die mediale Vorinformation ein allgemeines Problem des Völkerstrafrechtes darstellt, werden ihre Auswirkungen auf die Unvoreingenommenheit des Richters durch eine nationale Propaganda noch verstärkt. Im Zeitpunkt der Einsetzung hybrider Tribunale hat sich der Tatortstaat zwar nicht rechtlich, so doch oftmals politisch mit seiner Vergangenheit auseinandergesetzt. Die gesellschaftlichen Ansichten über Schuld und Verantwortung prägen auch das Vorstellungsbild des einheimischen Richters. Als Bürger des Tatortstaates steht ein nationaler Richter vor der schwierigen Herausforderung, sich 206 Mit Beschluss vom 18. August 2009 wurde dem Antrag des internationalen Anklägers auf Ermittlung stattgegeben. Regel 77 Abs. 4 lit. c ECCC-IR erlaubt es dem Ankläger, im Falle einer fehlenden Einigung eine Maßnahme einseitig durchsetzen; ECCC Considerations of the Pre-Trial Chamber Regarding the Disagreement between the Co-Prosecutors Persuant to Rule 71, Case No. 001 / 18-11-2008-ECCC / PTC, 18. August 2009. 207 Muff, Investigating Judges, S. 33. Vgl. zur Diskussion Montgomery, ECCC Update. Five New Suspects to be Investigated. New Acting Co-Prosecutor Appointed, Presentation of Evidence in Duch Trial Concludes, ICLB, 18. Dezember 2009, http://www.internationallaw bureau.com/blog/?p=691 (letzter Zugriff am 24.05.2010). 208 Political Interference at the ECCC, Report by Open Society Justice Initiative, Juli 2010, www.soros.org/initiatives/justice/articles_publications/publications/political-interference-report20100706/political-interference-courts-cambodia-20100706.pdf, S. 10.

232

D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

trotz der vielfältigen Einflüsse im Vorfeld der Prozesse keine feste Meinung über ihre Hintergründe zu bilden. Erneut belegt das Beispiel Kambodschas die besondere Problematik einer staatlichen Beteiligung an internationalen Strafverfahren. Jahrzehnte nach Beendigung des Pol Pot-Regimes hat sich in der Wahrnehmung der kambodschanischen Bevölkerung ein gefestigtes Bild von den Verbrechen der Roten Khmer entwickelt. Die öffentlichkeitswirksam durchgeführten Verfahren gegen Pol Pot und Ieng Sary im Jahr 1979 haben die allgemeine Meinung über die rechtliche Bewertung der begangenen Taten geprägt.209 Der Eindruck einer Vorverurteilung der Verbrechen wird durch die jahrelange Propaganda der Regierungspartei unterstützt. Mit nationalen Protesttagen wie dem sogenannten „Day of Hate“210 sollten eindeutige Schuldzuweisungen vermittelt und die Rezeption der nationalen Historie nach den Vorstellungen der Regierung gesteuert werden. Die einseitige Darstellung der Landesgeschichte beeinflusst die politische Sichtweise der Bevölkerung und kann sich mittelbar auf die rechtliche Unvoreingenommenheit einheimischer Richter auswirken.211 Ein weiterer Aspekt, der insbesondere die Arbeit der ECCC zu beeinträchtigen droht, ist die persönliche Betroffenheit nationaler Richter durch die Konflikte im Tatortstaat. War ein Richter als Täter oder Opfer an den Gewalthandlungen beteiligt, ist seine Fähigkeit zur juristischen Neutralität zweifelhaft. Die Umfrage des Khmer Institutes of Democracy belegt, dass 88 Prozent der Befragten mindestens ein Familienmitglied durch das Pol Pot-Regimes verloren haben.212 Angesichts des großen Ausmaßes der verübten Straftaten wird davon ausgegangen, dass nahezu jede kambodschanische Familie von den Verbrechen der Roten Khmer mittelbar oder unmittelbar betroffen wurde.213 Persönliche Erfahrungen der nationalen Richter mit dem Unrecht der Diktatur sind folglich nicht auszuschließen und begründen berechtigte Bedenken an der Wahrung ihrer Objektivität. Die Durchsetzung richterlicher Unparteilichkeit gestaltet sich auch vor dem Hintergrund staatlicher Korruptionsvorwürfe problematisch.214 Armut und eine fehlende rechtsstaatliche Kontrollpraxis sind entscheidende Faktoren für die Bestechlichkeit Linton, JICJ 4 / 2 (2006), S. 327 (338). Der am 20. Mai jeden Jahres stattfindende nationale Protest gegen das Regime der Roten Khmer wird in der Bevölkerung auch „Day of Hate“ oder „Day to Remain Tied in Anger“ genannt; Linton, JICJ 4 / 2 (2006), S. 327 (338). 211 Linton, JICJ 4 / 2 (2006), S. 327 (338): „These have had a deep and profound impact on how ordinary Cambodians view their history and will impact upon the ability of the local judges to be impartial.“ 212 13,1 Prozent der Befragten gaben den Verlust von sechs bis zehn Familienmitgliedern an. Weitere 11,9 Prozent hatten den Tod von mehr als zehn Angehörigen zu beklagen; vgl. The Khmer Institute of Democracy, Results of the Survey in Detail, Frage 14a (zuletzt besucht am 25.03.2010). 213 Linton, JICJ 4 / 2 (2006), S. 327 (338). 214 Report of the Group of Experts for Cambodia established pursuant to General Assembly resolution 52 / 135, Rn. 129. 209 210

III. Die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Gerichtes

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nationaler Justizsysteme. Haben gewalttätige Auseinandersetzungen die Bevölkerung eines Tatortstaates weiter verarmt und seine rechtlichen Grundlagen erschüttert, ist mit einem Anstieg der Korruptionsrate zu rechnen.215 Die Beispiele OstTimors, Sierra Leones und Kambodschas verdeutlichen die besondere Bedeutung der Korruptionsproblematik in internationalisierten Strafverfahren. Alle drei Staaten weisen nach den Angaben von Transparency International einen geringen Korruptionsindex von unter 2,5 auf und befinden sich bei weltweiter Betrachtung im unteren Fünftel der globalen Skala.216 Namentlich Kambodscha liegt mit einem Punktwert von 1,8 auf Platz 166 und muss somit zu den korruptesten Systemen der Welt gezählt werden.217 Als Gründe für die hohe Bestechlichkeit werden überwiegend das geringe Einkommen der kambodschanischen Richter sowie die unzureichende Sanktion von Korruptionskriminalität genannt.218 Der Expertenbericht zur politischen Situation Kambodschas dokumentiert den Zusammenhang zwischen der niedrigen Vergütung und dem Anschein der Käuflichkeit einheimischer Richter: „Criminal justice receives only a fraction of a per cent of the national budget, with judges paid as little as $20 per month. As a result, despite the presence of persons of character in parts of the judiciary, it is widely believed that judges can easily be bought by defendants or victims.“219

Ein korruptes Justizsystem ist mit der richterlichen Pflicht zur unparteilichen Amtsführung und der Gewährleistung eines fairen Verfahrens unvereinbar. Bereits der generelle Verdacht einer Bestechlichkeit nationaler Richter kann genügen, um das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Rechtsstaatlichkeit des Strafprozesses zu enttäuschen. Um bestehende Vorbehalte gegen die Integrität inländischer Richter zu verringern, muss eine angemessene Entlohnung ihrer Tätigkeit von der Einführung

215 Die weltweite Verbreitung von Korruption lässt einen Zusammenhang zwischen dem Durchschnittseinkommen der Bevölkerung und der Bestechlichkeitsrate eines Staates erkennen. Vgl. Dietz, Weltweiter Korruptionsindex zeigt: Korruption führt weltweit zur Verarmung vieler Länder, 20.10.2004 (letzter Zugriff am 25.03.2010). 216 Der Korruptionswahrnehmungsindex (CPI) wird seit 1995 von Transparency International in 180 Ländern erhoben. Der CPI listet Länder nach dem Grad auf, in dem Korruption bei Amtsträgern und Politikern wahrgenommen wird. Der zusammengesetzte Index stützt sich auf verschiedene Umfragen und Untersuchungen, die von mehr als zehn unabhängigen Institutionen durchgeführt werden. Zu diesem Zwecke werden Geschäftsleute sowie Länderanalysten befragt und Umfragen mit Experten im In- und Ausland einbezogen. Der Index reicht von 0 bis 10, wobei 10 die geringste Wahrnehmung von Korruption anzeigt und somit das bestmögliche Ergebnis darstellt. 217 Transparency International Deutschland e.V., Corruption Perceptions Index 2008, 23.09. 2008 (letzter Zugriff am 25.03.2010). 218 Linton, JICJ 4 / 2 (2006), S. 327 (338). 219 Report of the Group of Experts for Cambodia established pursuant to General Assembly resolution 52 / 135, Rn. 129. Mittlerweile hat sich die Einkommenssituation der kambodschanischen Richter etwas verbessert. Nach Linton liegt ein durchschnittliches Monatsgehalt zwischen US$ 47.50 und US$ 62.50; Linton, JICJ 4 / 2 (2006), S. 327 (338).

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

effektiver Gesetze zur Korruptionsbekämpfung begleitet werden.220 Die Anpassung der Gehälter nationaler Richter an internationale Standards im Rahmen des völkerstrafrechtlichen Verfahrens kann den Anreiz zur Bestechlichkeit mindern. Hat sich die Judikative des Tatortstaates jedoch über Jahre als bestechlich erwiesen, werden Zweifel an der Unparteilichkeit nationaler Richter nicht vollständig auszuräumen sein. (c) Die unzureichende Rechtskenntnis nationaler Richter Neben den Gefahren für Unabhängigkeit und Unparteilichkeit kann die Kompetenz einheimischer Richter zur gerechten Urteilsfindung aufgrund ihrer fehlenden Qualifikation für völkerstrafrechtliche Verfahren bezweifelt werden. Internationale Strafprozesse setzen vertiefte Kenntnisse des prozessualen und materiellen Völkerrechts voraus. Die komplexe Regelungssystematik hybrider Tribunale erfordert zudem ein weitreichendes Verständnis vom Zusammenspiel nationaler und internationaler Normen im Rahmen der gerichtlichen Rechtsordnung. Während internationale Richter nach den strengen Kriterien von Ausbildung und Erfahrung ausgewählt werden, fehlt nationalen Bewerbern oftmals eine vergleichbare Befähigung. Die Konflikte im Tatortstaat haben bestehende Ausbildungssysteme oftmals zerstört oder unter die Prämissen einer Diktatur gestellt. In einem Umfeld massiver Völkerrechtsverletzungen konnte eine Vermittlung internationaler Rechtsprinzipien und rechtsstaatlicher Grundsätze nicht ausreichend erfolgen. Die Auswirkungen der staatlichen Verbrechen auf die Qualifikation des juristischen Personals zeichnen sich in Kambodscha besonders deutlich ab. Die gezielte Verfolgung der intellektuellen Eliten221 führte zur Flucht oder Ermordung eines Großteils der praktizierenden Richter und Rechtsanwälte.222 Nach Beendigung der Gewaltherrschaft blieben nur wenig qualifizierte Juristen, die den Wiederaufbau des nationalen Justizapparates betreiben konnten.223 Eine Studie der Weltbank aus dem Jahre 2004 stellte fest, dass lediglich einer von sechs kambodschanischen Richtern über einen rechtswissenschaftlichen Hochschulabschluss verfügt.224 Der geringe Anteil ausgebildeter Juristen wirft die Frage auf, ob einheimische Richter die besonderen rechtlichen Anforderungen internationaler Strafverfahren erfüllen können. Zweifel an ihrer Eignung werden durch die fehlende Erfahrung im Umgang mit den Rechten des Angeklagten und der Gewährleistung eines fairen Verfahrens verstärkt. 220

Worden, An Anatomy, in: Abrams / Ramji et al. (Hrsg.), Awaiting Justice, 2005, S. 172

(194). Hummitzsch, IPG 4 (1998), S. 87 (91). Report of the Group of Experts for Cambodia established pursuant to General Assembly resolution 52 / 135, Rn. 127. 223 Nach den Feststellungen des World Bank Reports ‚Cambodia at the Crossroads‘ blieben von ursprünglich 400 – 600 Juristen (im Jahre 1975) fünf Jahre später lediglich zehn im Land; Report No. 30636-KH, 15. November 2004, Rn. 15. 224 World Bank: Cambodia at the Crossroads, Strengthening Accountability to Reduce Poverty, East Asia and the Pacific Region, 15.11.2004 (letzter Zugriff am 25.03.2010). 221 222

III. Die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Gerichtes

235

Eine gerechte Prozessführung setzt die Kompetenz der beteiligten Richter zur rechtlichen Bewertung von Verbrechen und Verfahrensfragen voraus. Aufgrund der regelmäßig schwächeren Ausbildung einheimischer Richter kann ihre geringere juristische Qualifikation als Argument gegen ihre Einsetzung in völkerrechtlichen Strafprozessen verwendet werden. Sind nationale Vertreter gleichwohl in das Verfahren einbezogen, müssen sie im Interesse einer effektiven Realisierung des internationalen Strafanspruches weiterführende Fortbildungen und Trainingsprogramme unterlaufen.225 (3) Die Vorteile einer Beteiligung nationaler Richter In Anbetracht der dargestellten Probleme einer Beteiligung nationaler Richter erscheint ihre Einbeziehung in völkerrechtliche Strafprozesse zunächst nicht ratsam. Es gilt daher abzuwägen, ob die Nachteile einer Mitwirkung einheimischer Richter durch entsprechende Vorteile für die Durchführung eines fairen Verfahrens ausgeglichen werden können. Für eine Zusammenarbeit nationaler und internationaler Richter wird ihr positiver Einfluss auf die Entwicklung des staatlichen Justizsystems geltend gemacht.226 Das Selbstverständnis der internationalen Juristen von den rechtlichen und ethischen Pflichten eines Richters könne ihre einheimischen Kollegen für die Bedeutung rechtsstaatlicher Verfahrensgrundsätze sensibilisieren. Romano / Nollkaemper weisen insoweit auf die Vorbildwirkung einer internationalen Beteiligung hin: „International judges (…) could act as tutors of their national colleagues, training them in more efficient judicial practices and showing how to deliver justice which conforms to international standards.“227

Die verbesserte Ausbildung einheimischer Richter ist wünschenswerte Nebenfolge, nicht jedoch unmittelbarer Zweck des internationalen Verfahrens. Entscheidend für die Bewertung einer Kooperation nationaler und internationaler Richter muss ihre Auswirkung auf die Realisierung eines effektiven Strafprozesses sein. Anders als ihre internationalen Kollegen beherrschen einheimische Richter regelmäßig die Landessprache und können hierdurch die Kommunikation der beteiligten Verfahrensparteien erheblich erleichtern. Ihre Kenntnis der sozialen und rechtlichen Situation des Tatortstaates ermöglicht es ihnen, internationale Richter mit den regionalen Besonderheiten und historischen Hintergründen des Konfliktes vertraut zu machen.228 Die Beteiligung einheimischer Richter kann folglich ein besseres Verständnis des Gerichtes von den politischen Zusammenhängen und strafbaren Handlungsweisen bewirken. 225 226 227 228

Linton, JICJ 4 / 2 (2006), S. 327 (338). Romano / Nollkaemper / Kleffner, Internationalized Criminal Courts, 2004, S. 240. Romano / Nollkaemper / Kleffner, Internationalized Criminal Courts, 2004, S. 240. Romano / Nollkaemper / Kleffner, Internationalized Criminal Courts, 2004, S. 240.

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

Ein weiterer positiver Aspekt der Integration nationaler Juristen ist die erhöhte Identifikationsbereitschaft der staatlichen Bevölkerung mit den Verfahren.229 Die Einsetzung einheimischer Richter unterstreicht das gemeinsame Bemühen der Vereinten Nationen und des Tatortstaates um Gerechtigkeit. Während ein rein international durchgeführter Prozess als aufoktroyiert empfunden werden kann, vermittelt der Einfluss nationaler Richter den Betroffenen ein Gefühl der aktiven Beteiligung an der Urteilsfindung.230 Soll mit der Durchführung hybrider Strafverfahren der nationale Aufarbeitungsprozess unterstützt werden, muss eine Berücksichtigung inländischer Elemente die Nähe zum Tatortstaat wahren.231 Eine Grenze ist jedoch dort zu ziehen, wo die Bedenken an der Unparteilichkeit und Unabhängigkeit einheimischer Richter überwiegen. Die Besetzung hybrider Tribunale muss einen Ausgleich zwischen der Gewährleistung eines rechtsstaatlichen Prozesses und der Integration nationaler Erfahrungswerte finden. (4) Vorschlag zur Ausgestaltung einer Beteiligung nationaler Richter Die Beteiligung nationaler Richter im Rahmen hybrider Gerichtsverfahren ist für die Berücksichtigung regionaler Eigenheiten und die Identifikation der Bevölkerung mit den Prozessen grundsätzlich notwendig. In Anbetracht der Zielstellungen des hybriden Strafverfahrens stellt sich insbesondere das Modell Sierra Leones als wenig sinnvoll dar. Die Vorteile einer Mitwirkung einheimischer Richter liegen nicht in ihrer Berufung durch nationale Instanzen, sondern in ihrer Nähe zu Sprache und Geschichte des Tatortstaates. Um eine tatsächliche Einsetzung inländischer Juristen zu gewährleisten, müssen die Regelungen zur Richterwahl unabhängig von einer staatlichen Beteiligung am Ernennungsverfahren unmittelbar an die Nationalität der Bewerber anknüpfen. Wird eine Mitwirkung einheimischer Richter grundsätzlich anerkannt, stellt sich die Frage nach der konkreten Ausgestaltung ihrer Beteiligung. Die Darstellung der ECCC hat wichtige Probleme im Rahmen einer mehrheitlichen Berücksichtigung nationaler Bewerber nachweisen können. Die Nachteile einer Integration inländischer Richter für die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Gerichts treten bei überwiegendem Stimmgewicht noch deutlicher hervor.232 Zur effektiven Wahrung rechtsstaatlicher Anforderungen empfiehlt sich daher eine Minderheitsbeteiligung nationaler Vertreter nach dem Vorbild Ost-Timors. Ziel ihrer Einbeziehung in das völkerstrafrechtliche Verfahren ist eine Unterstützung und Mitwirkung am Prozess, nicht hingegen seine dominierende Gestaltung. Die Rolle einheimischer Richter als Bindeglied zwischen Tribunal und Bevölkerung erfordert keine vorrangige EntRomano / Nollkaemper / Kleffner, Internationalized Criminal Courts, 2004, S. 240. Ambach, Hybride internationale Strafgerichte, 2009, S. 118. 231 Roper / Barria, Designing, 2006, S. 93. 232 Allerdings hat die Diskussion um Ermittlungsrichter Blunk gezeigt, dass auch internationale Richter keine Garanten für unabhängige Untersuchungen sind. 229 230

III. Die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Gerichtes

237

scheidungsbefugnis oder Kontrollmöglichkeit gegenüber den internationalen Juristen. Eine Mehrheit internationaler Richter verringert demgegenüber die Gefahr staatlicher Einflussnahme auf das Verfahren und kann als Korrektiv einer möglichen Parteilichkeit durch Korruption oder persönliche Betroffenheit dienen.233 Ist aus rechtsstaatlicher Sicht eine überwiegende Einsetzung internationaler Richter erforderlich, muss die Einführung einer Sperrminorität zugunsten der einheimischen Vertreter diskutiert werden. Für eine zwingende Entscheidungsbeteiligung nationaler Richter ließe sich anführen, dass sie eine gleichberechtigte Teilhabe und notwendige Kompromissbereitschaft zwischen den Juristen erwirke. Indes hat die Situation in Kambodscha die komplexe Problematik einer allgemeinen Konsensfindung und die Gefahr der Lahmlegung völkerrechtlicher Strafverfahren verdeutlicht.234 Zusammenfassend ergeben sich für die normative Ausgestaltung künftiger Tribunale folgende Parameter. Die Beteiligung einheimischer Richter ist durch unmittelbare Anbindung an ihre Staatsangehörigkeit zu gewährleisten. Internationale Richter stellen in jeder Kammer des Gerichts eine ausreichende Mehrheit, um Entscheidungen auch ohne Zustimmung der inländischen Vertreter treffen zu können.235 Flankierend müssen Maßnahmen zur Bekämpfung staatlicher Korruption und der rechtlichen Fortbildung nationalen Richter ergriffen werden.236

cc) Das Verfahren der Richterwahl Ebenso bedeutsam wie die Festlegung geeigneter Auswahlkriterien ist die transparente und unabhängige Durchführung der Richterwahl. Nur im Wege eines rechtlich nachvollziehbaren Verfahrens kann die tatsächliche Einhaltung der entwickelten Maßstäbe sichergestellt werden. Es wird vorrangig zu untersuchen sein, welche Organe die Entscheidungskompetenz über die Zusammensetzung internationaler Tribunale ausüben. Vor dem Hintergrund richterlicher Unabhängigkeit muss insbesondere dem Einfluss der Gründungsinstanz auf die Arbeit des Gerichts Bedeutung beigemessen werden. Um die Durchsetzung von Partikularinteressen zu verhindern, sollte die Ausgestaltung des Wahlvorgangs eine Beteiligung politisch involvierter Organe weitestgehend ausschließen. Die Neutralität der wahlberechtigten Organe ist zwingende Voraussetzung für die Ernennung unabhängiger Richter und Garant für eine freie Entscheidungsfindung ohne externe Druckausübung.

233 234

Klein, JIHR 4 / 3 (2006), S. 549 (565). Siehe nicht zuletzt den wachsenden Konflikt um die Ermittlungen in Case 003 und Case

004. So auch Ambach, Hybride internationale Strafgerichte, 2009, S. 324. Als Vorbild für richterliche Weiterbildungsangebote kann die Arbeit des United Nations Development Programme (UNDP) dienen. 235 236

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

(1) Das Auswahlverfahren der Ad-hoc-Tribunale am Beispiel des ICTY „Kein Gericht wird vernünftig arbeiten können, ohne völlig unabhängig zu sein. (…) Einem Gericht, das politisch nicht unabhängig ist, traut niemand Gerechtigkeit zu. Lieber überhaupt keinen internationalen Strafgerichtshof als einen, der vom UN-Sicherheitsrat kontrolliert wird.“237

Art. 13bis ICTY-Statut normiert Voraussetzungen und Verfahrensablauf zur Ernennung der ständigen Richter des ICTY.238 Die Wahl der vierzehn239 permanenten Mitglieder des Gerichts erfolgt im Wesentlichen in drei Schritten. Nach Aufforderung des Generalsekretärs können die vorschlagsberechtigten Staaten240 zwei Kandidaten unterschiedlicher Nationalität nominieren. Anschließend übermittelt der Generalsekretär die Empfehlungen der Staaten an den Sicherheitsrat, der auf Grundlage der Vorschläge eine Liste mit 28 bis 42 Bewerbern erarbeitet. Der Präsident des Sicherheitsrates leitet diese Liste an den Präsidenten der Generalversammlung weiter, der die Kandidaten nachfolgend zur Abstimmung stellt. Die gewählten vierzehn Kandidaten werden dem Gericht für vier Jahre zugeteilt und können nach Ablauf ihrer Amtszeit wiedergewählt werden. Die Problematik der Richterwahl für den ICTY liegt in der Beteiligung des Sicherheitsrates im Rahmen des Nominierungsverfahrens. Wenngleich dem Sicherheitsrat keine Letztentscheidungsbefugnis zukommt, übt er bereits durch die Aufstellung der Bewerberliste maßgeblichen Einfluss auf die endgültige Zusammensetzung des Tribunals aus. Die Einbindung des Sicherheitsrats in den Wahlvorgang wird angesichts seiner politischen Rolle im Balkankonflikt kritisch betrachtet.241 Während der Kriegshandlungen griff der Sicherheitsrat aktiv in die Auseinandersetzungen ein und verhängte Sanktionen gegen die serbischen Truppen.242 Erlassene Resolutionen, in denen der Sicherheitsrat bereits von ethnischen Säuberungen in Jugoslawien spricht, spiegeln seine Einschätzung der Konfliktsituation wider und dokumentieren die politische Sichtweise seiner Mitglieder.243 Die von Kritikern als einseitig eingestuften Reaktionen des Sicherheitsrates werfen berechtigte Zweifel an seiner Neutralität und Unvoreingenommenheit hinsicht237 Goldstone, Gerechtigkeit, das ist ein Luxus, Interview in: Frankfurter Rundschau v. 22.8.1996, S. 11. 238 Die Wahl der Ad-litem-Richter erfolgt im Wesentlichen nach denselben Grundsätzen. In diesem Verfahren wählt die Generalversammlung unter mindestens 54 Kandidaten 27 Richter aus (Art. 13 ter ICTY-Statut). 239 Am ICTY sind 16 ständige Richter beschäftigt, 14 von ihnen werden nach dem Verfahren des Art. 13bis ICTY-Statut ernannt, zwei weitere werden direkt vom ICTR berufen (Art. 14 IV ICTY-Statut). 240 Vorschlagsberechtigt sind die Mitglieder der Vereinten Nationen sowie Staaten mit ständigen Beobachtermissionen am Amtssitz der Vereinten Nationen. 241 Kamardi, Die Ausformung, 2009, S. 98. 242 Kamardi, Die Ausformung, 2009, S. 98. 243 Kamardi, Die Ausformung, 2009, S. 97.

III. Die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Gerichtes

239

lich der Arbeit des ICTY auf. Um sich im Nachhinein nicht angreifbar zu machen, könnte der Sicherheitsrat ein eigenes Interesse an der rechtlichen Bewertung des Jugoslawienkonfliktes und am Ausgang der Prozesse haben. Es wird der Vorwurf erhoben, der Sicherheitsrat wolle seine politischen Einschätzungen durch das Gericht bestätigen lassen und auf diese Weise die getroffenen Entscheidungen legitimieren: „Der Verdacht ist aber nicht von der Hand zu weisen, dass die NATO-Staaten den Prozess benutzen, um nachträglich die immer noch bestrittene Legitimation ihrer Bombardierung Jugoslawiens zu festigen. Ob unter diesen Umständen eine unanfechtbare Klärung der Tatbestände der Verbrechen unabhängig von der interessierten Propaganda der Tribunalmächte erwartet werden kann, ist sehr zweifelhaft.“244

Verstärkt wurde diese Vermutung durch die gewählte Zusammensetzung des Gerichts in der ersten Amtsperiode. Vier der Richter kamen aus Staaten mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung, deren religiöse Nähe zu den vom Sicherheitsrat unterstützen bosnischen Muslimen und Kroaten als problematisch eingeschätzt werden muss.245 Gleichzeitig wurde ein Bewerber aus Russland, das traditionell enge Bindungen zu Serbien besitzt, unter Hinweis auf mögliche pro-serbische Tendenzen abgelehnt.246 Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass die serbische Führung die Anerkennung der Richterwahl zunächst verweigerte. Sie begründete ihre Ablehnung mit der einseitigen Zusammensetzung des Tribunals und der fehlenden Gewährleistung eines unparteiischen Verfahrens bei Beteiligung des Sicherheitsrates im Wahlvorgang.247 Die umstrittene Einflussnahme des Sicherheitsrates wirft die Frage auf, ob die grundsätzliche Einbeziehung des Organs durch eine unterschiedliche Ausgestaltung des Wahlverfahrens vermieden werden kann. Sinn und Zweck der Beteiligung des Sicherheitsrates ist die Erleichterung und Effektivierung des Ernennungsprozesses durch eine getroffene Vorauswahl. Durch die Erstellung einer abgeschlossenen Liste von Kandidaten kann die Abstimmung in der Generalversammlung auf einen begrenzten Personenkreis beschränkt und das Verfahren verkürzt werden. Neben den praktischen Vorteilen einer Einbeziehung des Sicherheitsrates werden die Folgen seiner Einflussnahme durch die Beteiligung weiterer Organe relativiert. Während die Nominierung der Bewerber den Staaten obliegt, entscheidet die Generalversammlung über die endgültige Besetzung des Gerichts. In diesem Rahmen fungiert der Sicherheitsrat als Glied in der Kette zwischen den Staaten und der Generalversammlung. Seine Funktion beschränkt sich im Ergebnis auf den Vorschlag von Kandidaten auf Grundlage einer bereits bestehenden Liste. 244 Paech, Sinn und Missbrauch internationaler Gerichtsbarkeit, Vortrag auf einer Tagung in Berlin am 02.03.2002, AG Friedensforschung an der Uni Kassel (letzter Zugriff am 24.05. 2010). 245 Kamardi, Die Ausformung, 2009, S. 98. 246 Scharf, Balkan Justice, 1997, S. 72. 247 UN Doc. S / 25801 v. 21. Mai 1993.

240

D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

Trotz der Gebundenheit des Sicherheitsrates an die Nominierung der Staaten und seiner fehlenden Letztentscheidungskompetenz kann seine Selektion eine politische Ausrichtung des Tribunals vorgeben. Der Sicherheitsrat übernimmt im Verfahren die Rolle einer Kontrollinstanz, die zur Abwendung unliebsamer Kandidaten in den Wahlvorgang zwischengeschaltet ist. Wenngleich der Sicherheitsrat keine direkte Ernennung vornehmen kann, ermöglicht ihm seine Filterfunktion, einen Kreis politisch erwünschter Bewerber zu bestimmen. Als exekutiv ausgerichtetes Organ der Vereinten Nationen bezieht der Sicherheitsrat in globalen Konflikten regelmäßig Position. Die politische Ausrichtung seiner Aufgabenwahrnehmung lässt ihn weniger als neutrale Entscheidungsinstanz denn als internationalen Akteur erscheinen. Um den Anschein einer Verfolgung von Eigeninteressen zu vermeiden, sollte eine Beteiligung des Sicherheitsrates im Rahmen der Richterwahl für Ad-hoc-Tribunale grundsätzlich ausgeschlossen werden. Auch die Argumentation, eine unmittelbare Entscheidung der Generalversammlung stelle aufgrund ihrer Komplexität keine realistische Alternative dar248, vermag nicht zu überzeugen. Die Erfahrungen des ICC zeigen, dass eine effektive Richterwahl auch bei einer Vielzahl von Beteiligten sinnvoll durchführbar ist. Um den Bewerberkreis zu begrenzen und das Abstimmungsverfahren zu beschleunigen, könnten die Staaten auf den Vorschlag eines Kandidaten beschränkt werden. Letztlich muss zur Gewährleistung einer objektiven und unparteilichen Richterwahl im Zweifel ein zeitintensiveres Verfahren in Kauf genommen werden. Der Eindruck einer Kontrolle des Prozessverlaufs durch den Sicherheitsrat kann nur dann wirksam verhindert werden, wenn die Zusammensetzung des Tribunals allein durch politisch neutrale Instanzen erfolgt. (2) Das Auswahlverfahren des ICC Die Richter des Internationalen Strafgerichtshofes werden nach Art. 36 ICC-Statut von den Vertragsstaaten bestimmt. Da der ICC auf Grundlage eines multilateralen Vertrages errichtet wurde, beschränkt sich der Kreis der Wahlberechtigten naturgemäß auf die Ratifikationsstaaten. Die Mitglieder der Versammlung wählen in geheimer Abstimmung die achtzehn Richter des Gerichtshofes für eine Amtsdauer von neun Jahren.249 Bei ihrer Auswahl haben die Vertragsstaaten gemäß Art. 36 Abs. 8 ICC-Statut eine gerechte Repräsentanz der verschiedenen Rechtssysteme, geographischen Ursprünge und der Geschlechter zu berücksichtigen. Während die Rechtsgrundlagen dem Erfordernis einer Diversität der Kandidaten Rechnung tragen, erscheint das intransparente Abstimmungsverhalten der Vertragsstaaten kritikwürdig. Kamardi bemerkt in diesem Zusammenhang, dass interne Absprachen und wechselseitige Zugeständnisse die freie Wahlentscheidung der Staaten Kamardi, Die Ausformung, 2009, S. 99. Ein gewählter Richter muss neben der relativen Mehrheit auch mindestens zwei Drittel der Stimmen auf sich vereinen. Erreichen im ersten Wahlvorgang nicht ausreichend Richter die erforderlichen Stimmzahlen, so finden bis zur vollständigen Besetzung des Gerichts weitere Wahlgänge statt, Art. 36 VI a) und b) ICC-Statut. 248 249

III. Die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Gerichtes

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beeinträchtigten.250 Die Ernennung eines Richters beruht danach nicht allein auf seiner persönlichen Qualifikation, sondern ist gleichfalls das Ergebnis einer Durchsetzung politischer Macht.251 Hiermit verbunden ist das Risiko einer Instrumentalisierung der Richterwahl unter Vernachlässigung persönlicher Qualifikation. In einer empirischen Studie auf Grundlage qualitativer wie quantitativer Befragung von Mitarbeitern in Justiz und Regierung kommen Mackenzie / Malleson / Martin / Sand zu dem Ergebnis, dass die Richterwahl am ICC maßgeblich von politischen Absprachen beeinflusst ist: „It is apparent that efforts to insulate ICC elections from politicized electoral practices have largely failed, so that selection (…) is seen as being part of a broader landscape of political elections.“

Eine Politisierung des Gerichts wird durch die Vorgabe gleichberechtigter Repräsentanz in Art. 36 Abs. 8 ICC-Statut relativiert. Anders als an den Ad-hoc-Tribunalen werden weder einem Staat noch einem internationalen Organ vorrangige Einflussmöglichkeiten zugestanden. Gleichwohl bergen interne Vereinbarungen die Gefahr einer Verschiebung der Auswahlkriterien zulasten individueller Kompetenz. Wenngleich die Bedenken an politisch determinierten Vorabsprachen berechtigt sind, haben sich in der Praxis bislang keine erkennbaren Auswirkungen auf die Arbeit des Gerichts gezeigt. Angesichts des großen Öffentlichkeitsinteresses steht die Arbeit des ICC unter ständiger Beobachtung von Medien und Bürgern. Schabas geht somit zu Recht davon aus, dass kein Staat die Nominierung eines unqualifizierten Kandidaten vor den Augen der Weltöffentlichkeit vertreten würde.252 Zudem ziehen die bestehenden Leitlinien zur Berücksichtigung geographischer Aspekte einer politischen Absprache der Vertragsstaaten Grenzen. Angesichts der globalen Reaktionen auf die Richterwahl und der Vorgaben durch das Statut ist die Gefahr einer Ernennung von Richtern ohne die notwendigen Voraussetzungen für eine unparteiische Amtsführung als gering einzustufen. Um die Qualität und Unabhängigkeit der richterlichen Arbeit über das Mittel der Selbstkontrolle hinaus abzusichern, sollte das Wahlverfahren künftig deutlicher am Grundsatz der Transparenz ausgerichtet werden. (3) Das Auswahlverfahren der hybriden Tribunale Das Verfahren zur Besetzung hybrider Tribunale wird je nach Einbindung nationaler Instanzen in die Gründung und Arbeitspraxis des Gerichtes unterschiedlich ausgestaltet. Im Rahmen der Richterwahl haben sich drei Modelle herausgebildet, die nationale und internationale Organe auf verschiedene Weise in den Ernennungsvorgang Kamardi, Die Ausformung, 2009, S. 99. Kamardi, Die Ausformung, 2009, S. 99; Mackenzie / Malleson / Martin / Sands, Selecting international Judges, 2010, S. 173. 252 Schabas, The UN International Criminal Tribunals, 2008, S. 507. 250 251

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

einbeziehen. Ihnen ist gemein, dass die Einsetzung der Richter nicht im Wege eines transparenten Wahlverfahrens, sondern durch direkte Ernennung erfolgt.253 (a) Die Bestimmung der Richter durch internationale Organe am Beispiel Ost-Timors Die Sonderkammern in Ost-Timor (SPSC) wurden im Rahmen einer Übergangsverwaltung der Vereinten Nationen gegründet. Angesichts des geschwächten Justizsystems musste die Staatengemeinschaft die Verantwortung für die Durchführung der hybriden Strafverfahren übernehmen. Zur Regelung administrativer und judikativer Fragen wurde ein internationaler Transitional Administrator eingesetzt, dessen Aufgabenbereich die Besetzung der SPSC umfasste. Die Ernennung der lokalen und internationalen Richter der Sonderkammern erfolgte durch den Übergangsverwalter als zwischenstaatlicher Instanz. Wenngleich die letztendliche Entscheidungskompetenz bei einem Organ der Vereinten Nationen liegt, werden im Rahmen des Ernennungsverfahrens nationale Experten einbezogen. Mit der UNTAET Regulation 1999 / 3 vom 3. Dezember 1999 wurde die Transitional Judicial Service Commission ins Leben gerufen, zu deren wesentlichen Funktionen der Vorschlag geeigneter Bewerber für das Richteramt gerechnet wird.254 Die Kommission besteht mehrheitlich aus osttimoresischen Sachverständigen, die eine Eignung der Kandidaten aus der Perspektive nationaler Problemfelder und Zielstellungen bewerten.255 Um auch in diesem Rahmen die führende Rolle der Vereinten Nationen zu wahren, erfolgt die Einsetzung der nationalen Experten wiederum durch die Übergangsverwaltung. Das Zusammenwirken staatlicher und internationaler Beteiligter zur Besetzung der Kammern gewährleistet durch die Vorrangstellung der Vereinten Nationen die Unabhängigkeit der Richter von nationalen Organen. Zugleich wird durch die Einbeziehung einheimischer Experten eine Anbindung des Gerichts an die nationalen Besonderheiten sichergestellt. (b) Die Bestimmung der Richter durch nationale und internationale Organe am Beispiel Sierra Leones Im Gegensatz zu den Sonderkammern Ost-Timors entstand der Gerichtshof für Sierra Leone auf Grundlage eines bilateralen Vertrages zwischen der nationalen Führung und den Vereinten Nationen. Die vertragliche Gründung des Tribunals als gleichberechtigtes Abkommen zweier Völkerrechtssubjekte prägte auch das VerRomano / Nollkaemper / Kleffner, Internationalized Criminal Courts, 2004, S. 261. UNTAET Regulation 1999 / 3 Article 1: A Transitional Judicial Service Commission (hereinafter: the Commission) is hereby established to recommend to the Transitional Administrator candidates for provisional judicial or prosecutorial office, provide advice on the removal of judges or prosecutors, and prepare a Code of Ethics for judges and prosecutors. 255 UNTAET Regulation 1999 / 3 Article 2 2.1: The Commission shall be composed of five (5) individuals, three (3) of East Timorese origin and two (2) international experts. 253 254

III. Die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Gerichtes

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fahren der Richterwahl. Das Statut des SCSL überträgt die Zusammensetzung des Gerichts nicht allein den Vereinten Nationen, sondern stellt die Ernennung der nationalen Richter in die Verantwortung staatlicher Institutionen. Während die fünf internationalen Richter vom Generalsekretär der Vereinten Nationen festgelegt werden, bestimmt die Regierung Sierra Leones die Auswahl der drei inländischen Vertreter bei Gericht. Wenngleich die direkte Ernennung von Richtern ohne ein vorgeschaltetes Wahlverfahren grundsätzlich als wenig transparent zu kritisieren ist, bestehen hinsichtlich der Befugnisse des Generalsekretärs keine Bedenken. Es ist Schabas darin zuzustimmen, dass der Generalsekretär als neutraler Repräsentant der Vereinten Nationen regelmäßig keine politischen Eigeninteressen, sondern allein die Ernennung unparteilicher Richter verfolgen wird.256 Im Hinblick auf die Unabhängigkeit des Tribunals gestaltet sich jedoch die Kompetenz der nationalen Regierung zur Bestimmung einheimischer Richter als problematisch. Die Führung Sierra Leones war selbst aktiv an den Konfliktsituationen beteiligt, die zur Gründung der internationalisierten Strafkammern geführt hatten. Dass sich die Regierung bislang nicht hinreichend klar von den begangenen Verbrechen distanzierte, belegen ihre personellen Verbindungen mit den früheren Kriegsparteien. Verdeutlicht wird die Nähe zu den Konfliktgeschehnissen durch den Fall Hinga Normans, der im Zeitpunkt seiner Festnahme als amtierender Außenminister der Regierung angehörte.257 Angesichts der politischen Hintergründe stellt sich die Ermächtigung der Regierung zur Bestimmung nationaler Richter als unvereinbar mit dem Grundsatz der gerichtlichen Unabhängigkeit dar. Die Beteiligung der Regierung an den Kriegsereignissen in Sierra Leone lässt begründete Zweifel an der Objektivität ihrer Entscheidungsfindung zu. Das intransparente Bestimmungsverfahren eröffnet wenige Möglichkeiten zur Kontrolle einer neutralen Bewerberauswahl und kann die Verfolgung politischer Partikularinteressen nicht wirksam verhindern. Das Modell einer Einbeziehung nationaler Regierungen in den Ablauf der Richterwahl erweist sich mit Blick auf die Gewährleistung richterlicher Unabhängigkeit als nicht tragbar. In ihrer Funktion als politisches Organ kann die staatliche Regierung kein Garant für die Durchführung eines objektiven und auf persönlicher Eignung beruhenden Ernennungsverfahrens sein. (c) Die Bestimmung der Richter durch nationale Organe am Beispiel Kambodschas Die Gründung der Außerordentlichen Kammern von Kambodscha hatte eine Reihe von Zugeständnissen seitens der Vereinten Nationen erforderlich gemacht.258 Die Regierung Kambodschas verband ihre Bereitschaft zur Durchführung völkerrecht256 257 258

Schabas, The UN International Criminal Tribunals, 2008, S. 507. Schabas, The UN International Criminal Tribunals, 2008, S. 507. Vgl. hierzu Kapitel C. I. 3. b).

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

licher Strafverfahren mit einer umfassenden Beteiligung an der Organisation und Verfahrensweise des Gerichts. Vor dem Hintergrund der Entstehungsgeschichte erklären sich die nationale Prägung der Richterwahl sowie die alleinige Entscheidungsbefugnis staatlicher Organe. Nach Art. 3 des bilateralen Vertrages zwischen Kambodscha und den Vereinten Nationen obliegt die Bestimmung der Richter ausschließlich dem nationalen Supreme Council of the Magistracy. Die Ernennung der insgesamt fünf internationalen Richter erfolgt auf Vorschlag des Generalsekretärs, der dem Council eine Liste potentieller Kandidaten bereitstellt.259 Wenngleich der Rat an die getroffene Bewerberauswahl gebunden ist, eröffnen ihm seine Kompetenzen die Möglichkeit zur Kontrolle der Richterbesetzung. Die Befugnis des Supreme Council of the Magistracy zur Einsetzung der Richter an den ECCC schließt die internationale Gemeinschaft von einer Kontrolle des Ernennungsverfahrens aus. Bedenken an der Unabhängigkeit nationaler Richter werden durch den intransparenten Wahlvorgang sowie die Regierungsnähe des Councils verstärkt.260 „It is safe to say, however, that if the Cambodian government wishes to influence the court through politically motivating appointments, the statutes governing the Extraordinary Chambers give it the flexibility to do so.“261

Die Einbindung nationaler Instanzen in den Vorgang der Richterwahl wirft – wie die Beispiele Sierra Leones und Kambodschas belegen – Probleme im Hinblick auf die Gewährleistung eines unabhängigen Gerichts auf. Die Gründung hybrider Tribunale ist als Reaktion auf die systematische Begehung völkerrechtlicher Verbrechen eng mit der politischen Vergangenheit des Tatortstaates verknüpft. Die räumliche und zeitliche Nähe zu den Konfliktsituationen begründet die grundsätzliche Gefahr einer mangelnden Distanz staatlicher Organe zu den Verfahren der internationalisierten Gerichte.262 Das Fortbestehen staatlicher Strukturen verhindert eine klare Trennung der nationalen Institutionen von der einst verantwortlichen Führungsebene. (4) Vorschläge zur Ausgestaltung der Richterwahl Die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Gerichtes setzt eine objektive Richterwahl nach den Kriterien fachlicher und persönlicher Eignung voraus. Um eine neutrale Entscheidungsfindung zu gewährleisten, dürfen frühere Konfliktparteien 259 Der Generalsekretär entwickelt gemäß Art. 3 V Agreement eine Liste von mindestens sieben Bewerbern, von denen der Supreme Council of the Magistracy fünf Richter bestimmt. 260 United Nations, Press Release, The United Nations Special Representative of the Secretary General for human rights in Cambodia and the Special Rapporteur on the Independence of Judges and Lawyers express concern over judicial independence in Cambodia in the light of recent judicial appointments, 23.08.2007 (letzter Zugriff am 25.03.2010). 261 Worden, An Anatomy, in: Abrams / Ramji et al. (Hrsg.), Awaiting Justice, 2005, S. 172 (208 f.). 262 Ambach, Hybride internationale Strafgerichte, 2009, S. 321.

III. Die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Gerichtes

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oder Organe mit politischen Eigeninteressen keinen Einfluss auf die Zusammensetzung der Tribunale nehmen können. Die Darstellung der völkerstrafrechtlichen Richterwahl hat verschiedene Probleme im Hinblick auf die Objektivität und Unvoreingenommenheit der Ernennungsverfahren gezeigt. Aufgabe des internationalen Prozessrechts ist es, für bestehende und künftige Tribunale allgemeine Richtlinien zur Durchführung unabhängiger Wahlvorgänge zu entwickeln. Besondere Berücksichtigung muss hierbei die Zusammensetzung der hybriden Gerichte erfahren, die aufgrund der Beteiligung nationaler Organe erhebliche rechtsstaatliche Schwierigkeiten aufwirft. (a) Allgemeine Richtlinien für das Verfahren der Richterwahl im Völkerstrafrecht Die Gewährleistung unabhängiger Richter erfordert ein transparentes und nachvollziehbares Verfahren auf Grundlage objektiver Bewertungsmaßstäbe.263 Die einseitige Bestimmung von Kandidaten ohne eine offengelegte Durchführung des Auswahlprozesses ist daher bereits mit Blick auf die fehlende Überprüfbarkeit der Entscheidungsmotivation kritisch zu sehen. Um die Besetzung der Gerichte für die Öffentlichkeit verständlich zu machen, sollten Diskussionen über die Eignung von Bewerbern im Rahmen eines offenen Wahlverfahrens erfolgen. Wesentlich für die Wahrung richterlicher Unabhängigkeit ist die Frage nach der Übertragung von Entscheidungszuständigkeiten auf internationale Organe. Insbesondere die Beteiligung des Sicherheitsrates als exekutiver Instanz der Vereinten Nationen stößt auf Kritik. Ziel einer unparteilichen Richterwahl muss es sein, einen politischen Einfluss durch konfliktbeteiligte Organe rechtlich und organisatorisch auszuschließen. Ein möglicher Weg zur Vermeidung durchsetzbarer Einzelinteressen ist die Aufteilung der Entscheidungsgewalt zwischen den mitwirkenden Rechtssubjekten. Die Ernennung von Richtern sollte daher nicht in die Verantwortung eines Beteiligten – ob Staat oder internationaler Einrichtung – gestellt, sondern auf ein parlamentarisch strukturiertes Organ übertragen werden.264 Die Möglichkeit gegenseitiger Kontrolle und die Notwendigkeit eines allgemeinen Kompromisses erschweren die Verfolgung von Partikularinteressen. Je diversifizierter die Entscheidungsinstanz besetzt ist, desto geringer wirken sich politische Einflusstendenzen einzelner Beteiligter aus. Die Besetzung des ICC durch die Versammlung der Vertragsstaaten oder die Ermächtigung der Generalversammlung nach dem Vorbild der Ad-hoc-Tribunale stellen sinnvolle Lösungsansätze zur Gewährleistung eines unabhängigen Gerichtes dar. Die Notwendigkeit eines gemeinsamen Konsenses macht die Einigung der Staaten auf gemeinsame Auswahlkriterien erforderlich. Angesichts der Vielzahl be263 264

Linton, JICJ 4 / 2 (2006), S. 327 (332). Cassese, International Criminal Law, 2008, S. 379.

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

teiligter Staaten mit unterschiedlichen politischen Zielstellungen bleibt wenig Raum für die Berücksichtigung nationaler Einzelinteressen. Wenngleich Wahlen durch die Staatengemeinschaft wirksame Garantien für die richterliche Unabhängigkeit sind, ist das aufwendige und zeitintensive Verfahren möglicherweise nicht in jeder Konfliktsituation durchführbar. Als Alternative zu den bestehenden Verfahrensoptionen könnte sich das Modell eines gemischten Wahlgremiums anbieten, das neben staatlichen Vertretern auch juristische Experten beteiligt. Im Wege einer Einbeziehung von Sachverständigen und der verstärkten Berücksichtigung fachlicher Aspekte wäre eine Entpolitisierung der Richterernennung denkbar. Die Vorteile einer unabhängigen Expertenkommission werden indes durch das Problem einer Verlagerung der politischen Einflussnahme relativiert. Staaten könnten versuchen, ihre Eigeninteressen bereits bei der Ernennung des Gremiums durchzusetzen und auf diese Weise die Auswahl der Kommission im Vorfeld zu lenken. Es bleibt daher festzuhalten, dass die geltenden Bestimmungen für die Einsetzung von Richtern an internationalen Tribunalen aufgrund der besonderen Gefahren für ihre persönliche Unabhängigkeit modifiziert werden sollten. Um eine politische Instrumentalisierung der Gerichte zu vermeiden, muss die Wahl der Richter möglichst durch eine Gemeinschaft von Staaten im System gegenseitiger Kontrolle und Kompromissbereitschaft erfolgen. (b) Die Richterwahl an hybriden Tribunalen Probleme eigener Art stellen sich im Zusammenhang mit der Besetzung internationalisierter Tribunale. Der hybride Charakter der Gerichte erfordert die Kooperation nationaler und internationaler Instanzen sowie die Einbeziehung staatlicher Entscheidungsträger in den Gründungsprozess. Eine Übersicht der bestehenden Verfahrenspraxis hat gezeigt, dass die Beteiligung nationaler Organe am Verfahren der Richterwahl die Unabhängigkeit der Tribunale gefährden kann. Angesichts der begründeten Bedenken an der politischen Neutralität staatlicher Instanzen stellt sich die Frage nach der Notwendigkeit ihrer Einbindung in den Wahlvorgang. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass Ziel der Ernennung nationaler Richter nicht die Einflussnahme des Tatortstaates auf den Prozess, sondern die Integration nationaler Elemente in das Verfahren ist.265 Die Berücksichtigung der lokalen Prägung auf rechtlicher und sprachlicher Ebene soll eine Identifikation der Bevölkerung mit dem Gericht ermöglichen und den nationalen Aufarbeitungsprozess unterstützten. Entscheidend für diese Zwecke ist nicht die Einbindung staatlicher Organe in die Richterwahl, sondern allein die Beteiligung nationaler Richter im Strafverfahren. Für die Errichtung hybrider Tribunale bietet es sich künftig an, einheimische Richter durch internationale Instanzen wählen zu lassen. Im Vergleich der bestehenden Gerichte konnte mit Blick auf die Gewährleistung richterlicher Unabhängigkeit allein das Modell Ost-Timors überzeugen. Während die verbindliche Entscheidung über 265

Siehe Kapitel D. III. 2. a) bb) (1) (a).

III. Die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Gerichtes

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die Wahl nationaler Richter einem internationalen Organ übertragen wird, kann staatlichen Vertretungen ein allgemeines Vorschlagsrecht eingeräumt werden. Auf diese Weise besteht die Möglichkeit, nationalen Sachverstand in den Ernennungsvorgang einzubeziehen ohne an politisch motivierte Entscheidungen gebunden zu sein.266 Wenngleich die Sonderkammern von Ost-Timor im Rahmen einer Übergangsverwaltung der Vereinten Nationen gegründet wurden, besteht kein Anlass, das Modell auf diesen Rahmen zu beschränken. Die Richterwahl durch internationale Organe darf nicht als Ausdruck einer Vorrangstellung der Vereinten Nationen missverstanden werden, sondern ist als Garant richterlicher Unabhängigkeit wichtige Voraussetzung eines rechtsstaatlichen Verfahrens. Bei den Verhandlungen bilateraler Verträge zur Errichtung hybrider Tribunale muss die Bedeutung einer objektiven Richterwahl in Zukunft deutlichere Berücksichtigung finden. Um die Tatortstaaten sinnvoll einzubeziehen, werden verschiedene Beteiligungsmöglichkeiten in Form von Vorschlagsrechten oder Kommissionsvertretungen267 zu diskutieren sein. Die Verlagerung der Richterwahl auf internationale Instanzen kann die Bedenken am Einfluss staatlicher Organe jedoch nicht vollständig ausräumen. Wenngleich eine unmittelbare Einwirkung auf die Besetzung des Gerichtes hierdurch ausgeschlossen wird, gefährden berufliche und soziale Abhängigkeiten von nationalen Einrichtungen die richterliche Unparteilichkeit. Als temporäre Justizorgane bestehen hybride Tribunale für einen begrenzten Zeitraum und schließen ihre Arbeit regelmäßig nach einigen Jahren ab. Da die Tätigkeit am Gericht keine dauerhafte Alternative zu einer staatlichen Anstellung bietet, sind die nationalen Richter auf eine Rückkehr in ihre früheren Positionen angewiesen.268 Ihre Abhängigkeit von einer staatlichen Beschäftigung eröffnet dem Tatortstaat verschiedene Möglichkeiten der Einflussnahme auf das Gericht. Zum einen obliegt es den Staaten, einen ernannten Richter für die Zeit seiner Berufung an das hybride Gericht freizustellen. Durch eine Weigerung, die den Richter in den meisten Fällen zu einer Absage zwingen würde, könnte der Staat indirekt Einfluss auf die Besetzung des Gerichtes nehmen.269 Zum anderen besteht die Gefahr einer mittelbaren Einwirkung auf die Entscheidungsfindung des Richters. Steht seine Wiedereinstellung zur Disposition staatlicher Organe, muss ein Richter bei politisch unerwünschten Urteilen um die Rückkehr in seinen Beruf fürchten.270 266 Im Widerspruch zu den entwickelten Grundsätzen steht hingegen das Modell Sierra Leones. Die Entscheidungsbefugnis nationaler Instanzen ohne zwingende Ankopplung an die Staatsangehörigkeit der Kandidaten ermöglicht eine Einflussnahme staatlicher Organe auf das Verfahren, ohne jedoch die Beteiligung nationaler Richter verbindlich sicherzustellen. 267 Um die politische Neutralität des Gremiums sicherzustellen, dürften staatliche Repräsentanten lediglich den Status von Beisitzern erhalten oder nur in klarer Minderheit vertreten sein. 268 Romano / Nollkaemper / Kleffner, Internationalized Criminal Courts, 2004, S. 256. 269 Romano / Nollkaemper / Kleffner, Internationalized Criminal Courts, 2004, S. 256. 270 Report of the Group of Experts for Cambodia established pursuant to General Assembly resolution 52 / 135, Rn. 129.

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

Um den dargelegten Problemen für die Gewährleistung richterlicher Objektivität zu begegnen, bedarf es einer wirksamen Unterbindung mittelbarer Einflussmöglichkeiten des Tatortstaates. Voraussetzung hierfür ist eine berufliche Absicherung der nationalen Richter, die sie von späteren Entscheidungen staatlicher Organe unabhängig macht. Rechtlich ließe sich eine entsprechende Schutzvorkehrung durch die Gestaltung der Gründungsverträge realisieren. Die Statuten müssten eine obligatorische Freistellung der ernannten Richters vorsehen und zugleich seinen Anspruch auf Wiedereinstellung nach Beendigung der Tribunalstätigkeit begründen. Nur durch die garantierte Rückkehrmöglichkeit in den ausgeübten Beruf kann die Ausübung unzulässigen Drucks nachhaltig verhindert werden.

b) Wiederwahl der Richter „Usually, there is a direct relationship between the degree of independence and the length of terms. Short terms of service coupled with the decision about the renewal of the appointment being placed in the hands of a political organ, might make judicial operators over-responsive to the dictates of politics rather than justice.“271

Die Möglichkeit einer Wiederwahl von Richtern wirft Bedenken hinsichtlich der Gewährleistung ihrer Unabhängigkeit von den Entscheidungen des Wahlorgans auf. Wird die Amtsführung des Richters nach Ablauf seiner Dienstzeit überprüft, können die rechtlichen und politischen Vorstellungen des Gremiums auf die Arbeit des Gerichts Einfluss nehmen. Die implizite Kontrolle seiner Tätigkeit birgt die Gefahr, dass der Richter seine Urteile an den Ansichten und Zielen der Wahlinstanz ausrichtet. Abweichende oder kontroverse Entscheidungen wird der Richter zur Absicherung seiner Wiederwahl nach Möglichkeit vermeiden. Um die Unabhängigkeit internationaler Richter von externen Wertungen zu garantieren, muss ihre Wiederwahl kritisch gesehen werden. Die nachfolgende Analyse der rechtlichen Situation an internationalen Straftribunalen soll den Grundstein für einen Vorschlag zur Ausgestaltung der richterlichen Amtsdauer legen.

aa) Die Rechtslage zur Wiederwahl von Richtern an internationalen Straftribunalen Die Ad-hoc-Tribunale sehen eine reguläre Amtszeit von vier Jahren mit der grundsätzlichen Möglichkeit einer Wiederwahl vor.272 Während das Amt des ad litemRichters zu Beginn auf eine einmalige Dienstperiode begrenzt war, änderte Sicherheitsratsresolution 1597 (2005) die Bestimmungen des Statuts zu Gunsten einer Verlängerung ihres Einsatzes.273 Im Gegensatz zu den Ad-hoc-Tribunalen ist am Inter271 272 273

Romano / Nollkaemper / Kleffner, Internationalized Criminal Courts, 2004, 265. Art. 13bis III ICTY-Statute, Art. 12bis III ICTR-Statute. UN Doc. S. / RES / 1597 (2005); Art. 13ter I (e): „They shall be eligible for re-election.“

III. Die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Gerichtes

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nationalen Strafgerichtshof eine Wiederwahl von Richtern grundsätzlich ausgeschlossen. Art. 36 ICC-Statute normiert eine vergleichsweise lange Dienstzeit von neun Jahren und versagt im Gegenzug die Möglichkeit einer zweiten Amtsperiode.274 Differenziert gestaltet sich die Rechtslage an den internationalisierten Tribunalen, die drei verschiedene Verfahrensmodelle herausgebildet haben. Während der Sondergerichtshof für Sierra Leone nach Ablauf der dreijährigen Amtszeit eine Wiederwahl zulässt,275 werden die Richter an den Kammern für Kambodscha, Ost-Timor und dem Kosovo grundsätzlich für die gesamte Dauer der Verfahren ernannt.276 Wenngleich sich die Frage nach einer möglichen Wiederwahl bei dauerhafter Ernennung nicht stellt, wirft die Einführung von Probezeiten vergleichbare Rechtsprobleme auf. Die Sonderkammern Ost-Timors sehen eine Amtszeit von höchstens drei Jahren vor, nach der über eine endgültige Ernennung des Richters befunden wird. Die Entscheidung für eine Verlängerung der Dienstperiode wird auf Grundlage einer umfassenden Überprüfung („monitoring“) der richterlichen Arbeit während der Probezeit getroffen. Die aus nationalen und internationalen Vertretern bestehende Transitional Judicial Service Commission bewertet die Amtsführung des Richters und unterbreitet nach Ablauf der Probezeit einen Vorschlag über Fortsetzung oder Beendigung des Anstellungsverhältnisses. Mit Blick auf die Gewährleistung des rechtsstaatlichen Unabhängigkeitsgebots erweist sich eine Kontrolle des Richters als grundsätzlich problematisch. Das System der Probezeit birgt die Gefahr einer Evaluierung der richterlichen Tätigkeit nach Maßgabe der politischen Erwünschtheit seiner Urteile. Um den Eindruck unzulässiger Einflussnahme zu vermeiden, beschränkt Section 28 Abs. 2 der UNTAET Regulation 2000 / 11 die Prüfungskompetenz der Kommission ausdrücklich auf das berufliche Verhalten des Richters.277 Das Bemühen um eine weitgehen274 Jones, Composition of the Court, in: Cassese / Gaeta / Jones (Hrsg.), The Rome Statute, Bd. 1, 2002, S. 235 (247). Eine Ausnahme hierzu findet sich in Art. 36 IX (c) ICC-Statute: „(c) A judge who is selected to serve for a term of three years under subparagraph (b) shall be eligible for re-election for a full term.“ Hiernach ist eine zweite Amtszeit der Richter, die im Rahmen der ersten Wahl des ICC für einen Zeitraum von drei Jahren ernannt wurden, zulässig. Angesichts des begrenzten Anwendungsbereichs der Bestimmung wird der Ausnahmevorschrift keine grundlegende Bedeutung beigemessen. 275 Art. 13 III SCSL-Statute. 276 Vgl. Art. 3 VII ECCC-Agreement: „The judges shall be appointed for the duration of the proceedings.“ 277 Section 28 UNTAET Regulation 2000 / 11, 28.1 After an initial period of no less than two (2) but no more than three (3) years, judges shall be appointed for life. 28.2 During the initial period, the performance of duties of every judge shall be solely monitored by the Transitional Judicial Service Commission. With regard to the independence of each judge, the Commission shall only monitor the professional conduct of the judge, including the judge’s integrity and dedication, regular attendance in court, ability to cope with the workload, impartiality shown in dealing with the cases, without any interference with, or influence upon, the substantive decisions of the judge. 28.3 At the end of the initial period, or at any given time before, the Transitional Judicial Service Commission, in accordance with UNTAET Regulation No. 1999 / 3, may recommend

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de Gewährleistung objektiver Entscheidungskriterien wird durch die Auflistung möglicher Prüfungsmaßstäbe unterstrichen. Als Grundlagen für eine Verlängerung der Dienstzeit sollen insbesondere das berufliche Engagement und die unparteiliche Amtsführung des Richters bewertet werden. bb) Bewertung der Modelle zur Wiederwahl An internationalen Straftribunalen hat sich bislang keine einheitliche Praxis im Hinblick auf die Fragen von Wiederwahl und Probezeit herausbilden können. Um das Recht des Angeklagten auf ein unabhängiges Gericht bestmöglich zu gewährleisten, müssen homogene Maßstäbe an die rechtsstaatliche Ausgestaltung des Richteramtes angelegt werden. Folglich gilt es, eine grundsätzliche Entscheidung über die Zulässigkeit einer Wiederwahl zu treffen. Die notwendige Bestätigung des Richters in seinem Amt dient der Effizienz und Qualitätssicherung des Verfahrens.278 Dem liegt die Vorstellung zugrunde, dass eine objektive Überprüfung seiner Amtsführung den Richter zur zügigen und sachgemäßen Durchführung der Prozesse anhalten wird. Dies kann insbesondere für die Einsetzung inländischer Juristen an hybriden Tribunalen von Vorteil sein, wenn aufgrund eines geringen Ausbildungsniveaus und fehlender Praxiserfahrung Zweifel an der fachlichen Eignung bestehen.279 Auch die Einführung einer Probezeit an den Sonderkammern Ost-Timors rechtfertigt sich mit den Bedenken an der richterlichen Befähigung zur Durchführung völkerstrafrechtlicher Prozesse. Obgleich in Ost-Timor weder universitäre Einrichtungen noch ein funktionierendes Ausbildungssystem existierten, hatte die Gründung der Kammern eine zeitnahe Einstellung nationaler Juristen erforderlich gemacht.280 Die Kontrolle der Richtertätigkeit ermöglicht eine Nachprüfung der Eignungsvoraussetzungen auf Grundlage ihrer praktischen Bewährung und sichert hierdurch die Qualität des strafrechtlichen Verfahrens. Wenngleich Wiederwahl und Probezeit in der Tat Anreize zur effektiven Amtsführung bieten können, überwiegen die rechtsstaatlichen Zweifel an der Gewährleistung richterlicher Unabhängigkeit. Die Bestätigung eines Richters liegt im Ermessen von Organen, die ihre Motive für oder gegen eine Verlängerung der Amtszeit nicht offenzulegen brauchen. Die fehlende Transparenz des Wahlvorgangs eröffnet Spielräume für die Berücksichtigung politischer Interessen und eine unzulässige Einwirkung auf den Richter. that the judge be appointed for life, unless the performance of the duties of that judge, as specified in Section 28.2 of the present regulation, was unsatisfactory, in which case the judge shall be dismissed from judicial service. 278 van der Doelen, Quality, in: Fabri / Langbroek (Hrsg.), The Challenge of Change for Judicial Systems, 2000, S. 155 (158). 279 Hierzu vgl. bereits oben D. II. 2. a) bb) (2) (c). 280 Forster, Nation Building, 2005, S. 92.

III. Die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Gerichtes

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Obschon eine Wiederwahl daher grundsätzlich kritisch zu betrachten ist, stellt sich die Frage nach möglichen Einschränkungen. Diskussionswürdig erscheint in diesem Zusammenhang der Vorschlag von Romano / Nollkaemper, internationale Kontrollinstanzen vom Regelverbot auszunehmen. Ihre Überlegung gründet sich auf die Annahme, dass eine Verfolgung von Partikularinteressen durch ein Organ der internationalen Staatengemeinschaft nicht zu befürchten sei. Aufgrund ihrer Bindung an die Ziele der Institution sowie die Gewährleistung eines fairen Verfahrens könne eine rechtswidrige Einflussnahme von Untergliederungen der Vereinten Nationen ausgeschlossen werden. Romano / Nollkaemper sprechen sich daher für eine umfassende Legitimation der Vereinten Nationen zur Einsetzung und Entlassung internationaler Richter aus: „The decision to deploy and withdraw international judges is a strategic function that should be in the hands of the United Nations and free from restrictions.“281

Die Argumentation von Romano / Nollkaemper erweist sich bereits hinsichtlich ihrer Grundannahme als problematisch. Angesichts der Fortführung des staatlichen Wirkungsbereichs im Rahmen internationaler Organisationen ist die Möglichkeit einer strikten Trennung staatlicher und internationaler Interessenvertretung zweifelhaft. Die Durchsetzung politischer Ziele durch einzelne Mitglieder erscheint auch im Rahmen zwischenstaatlicher Einrichtungen denkbar. So konnte das politische Übergewicht der USA die Entscheidungen des Sicherheitsrates zur prozessualen Gestaltung der Ad-hoc-Tribunale wesentlich prägen.282 Für eine Beeinträchtigung der gerichtlichen Unabhängigkeit genügt es bereits, wenn der Richter eine politische Bewertung seiner Amtsführung nicht ausschließen kann. Da entsprechende Bedenken auch bei Einsetzung internationaler Prüfungsorgane nicht vollständig zu widerlegen sind, kann für die Institutionen der Vereinten Nationen keine grundsätzlich andere Wertung getroffen werden. Um die rechtsstaatliche Voraussetzung eines unvoreingenommenen Gerichts zu erfüllen, ist ein möglicher Konflikt zwischen praktischer Effizienz und garantierter Unabhängigkeit zu Gunsten der richterlichen Freiheit zu lösen. Maßgebendes Modell muss die abschließende Ernennung des Richters für eine hinreichend lange Amtszeit nach dem Vorbild des ICC und der ECCC sein. Eine vergleichbare Entwicklung ist am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu beobachten. Das 14. Zusatzprotokoll erhöht einheitlich die Amtsdauer der Richter und versagt im Gegenzug die Möglichkeit einer Wiederwahl.283 Als wesentliches Reformziel wird hierbei ausdrücklich die verbesserte Gewährleistung richterlicher Unabhängigkeit genannt.284 Das Problem des geringen Ausbildungsniveaus an hybriden Tribunalen kann im Wege beRomano / Nollkaemper / Kleffner, Internationalized Criminal Courts, 2004, S. 267. Schabas, The UN International Criminal Tribunals, 2008, S. 508; siehe hierzu oben D. II. 3. b) cc) (1). 283 Mit der Zustimmung Russlands vom 15. Januar 2010 trat das 14. Zusatzprotokoll in Kraft. 284 Caflisch, HRLR 6 / 2 (2006), S. 403 (407). 281 282

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gleitender Schulungen und eine Unterstützung durch internationale Richter relativiert werden. In schweren Fällen von bewussten Verstößen gegen Amtspflichten besteht die Möglichkeit einer Absetzung des Richters im Einzelfall.

c) Inkompatibilitäten Im Interesse einer umfassenden Unabhängigkeit des Richters von staatlichen wie privaten Institutionen müssen externe Tätigkeiten strengen Anforderungen unterliegen. Die gleichzeitige Ausübung verschiedener Funktionen kann sowohl eine persönliche Tendenz des Richters reflektieren als auch Ursprung unzulässigen Drucks auf seine Amtsführung sein. Vor diesem Hintergrund überzeugt die Regelung in Art. 40 ICC-Statut. Eine berufliche Nebentätigkeit wird den Richtern ausnahmslos untersagt (Art. 40 Abs.3 ICC-Statut); privates und soziales Engagement nur zugelassen, soweit es mit den dienstlichen Pflichten des Richters nicht in Konflikt treten kann (Art. 40 Abs. 2 ICC-Statut).285

3. Die Gewährleistung von Unparteilichkeit im Einzelfall Die entwickelten Grundsätze für die Wahl der Richter bilden das wesentliche Fundament einer unabhängigen und unparteilichen Strafgerichtsbarkeit. Gleichwohl können im Rahmen des Verfahrensverlaufs Interessengegensätze auftreten, die eine unvoreingenommene Entscheidung des Richters im Einzelfall gefährden. Die Gewährleistung richterlicher Unparteilichkeit wirft die Frage nach Reichweite und Bestimmbarkeit einer persönlichen Befangenheit auf. Im Folgenden sollen Kriterien erarbeitet werden, die eine rechtliche Bewertung von Interessenkonflikten erlauben. Vor dem Hintergrund der entwickelten Parameter wird die Judikatur völkerstrafrechtlicher Tribunale zur Feststellung von Befangenheit erörtert und auf mögliche Schwachstellen untersucht. Im letzten Punkt soll das Problem einer Befangenheit aufgrund fehlender interner Funktionstrennung diskutiert werden.

a) Maßstab zur Feststellung von Befangenheit Die Rechtsgrundlagen internationaler Straftribunale normieren zwingende Ausschlussgründe für eine Beteiligung des Richters am gerichtlichen Verfahren. Um ihr Vorliegen im Rahmen eines konkreten Sachverhaltes zu beurteilen, muss zunächst ein Maßstab für die Bewertung individueller Befangenheit bestimmt werden. Wel285 Article 40 ICC-Statute: „2. Judges shall not engage in any activity which is likely to interfere with their udicial functions or to affect confidence in their independence. 3. Judges required to serve on a full-time basis at the seat of the Court shall not engage in any other occupation of a professional nature.“

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che Anforderungen an die Annahme einer Parteilichkeit zu stellen sind, kann erst auf Grundlage der gewählten rechtlichen Betrachtungsweise entschieden werden. Die Regelungen der Ad-hoc-Tribunale erfassen konkrete Befangenheitsgründe ohne eine allgemeine Perspektive zur Bewertung richterlicher Unvoreingenommenheit zu präzisieren. Erst die Rechtsprechung des ICTY definierte praktikable Voraussetzungen für die verbindliche Feststellung von Befangenheiten. Ausgehend von den Entscheidungen des EGMR286 und gestützt auf die Ausgestaltung nationaler Rechtsordnungen287 entwickelte der ICTY in seinem Furundzija-Urteil eine differenzierte Prüfungsfolge. Das als „Furundzija-Test“288 bezeichnete zweistufige Verfahren zur Beurteilung richterlicher Unparteilichkeit bezieht gleichermaßen objektive wie subjektive Komponenten ein.289 Der subjektive Ansatz stellt auf die Sichtweise des betroffenen Richters ab und fragt nach dessen tatsächlicher Einstellung zum Verfahrensgegenstand.290 Ausgehend von der grundsätzlichen Vermutung richterlicher Unparteilichkeit erfordert die subjektive Theorie den positiven Nachweis einer faktischen Befangenheit des Richters im konkreten Einzelfall.291 Die ausschließliche Berücksichtigung eines persönlichen Blickwinkels weist jedoch zwei grundlegende Schwächen auf. Als subjektive Erfahrung unterliegt die individuelle Einschätzung des Richters einer eingeschränkten Beweisbarkeit. Der erforderliche Gegenbeweis zur Feststellung richterlicher Befangenheit wird in der Praxis nur in Ausnahmefällen zu erbringen sein. Die Schwierigkeit eines effektiven Nachweises möglicher Parteilichkeit steht daher im Widerspruch zur Gewährleistung eines fairen Verfahrens durch unvoreingenommene Richter. Ein weiterer Einwand gegen eine rein subjektive Bewertung richterlicher Befangenheit liegt in der Notwendigkeit eines breiten Vertrauens der Öffentlichkeit in die Rechtsstaatlichkeit internationaler Strafverfahren. Da bereits der Anschein einer Unvoreingenommenheit des Gerichts Zweifel an der prozessualen Fairness begründet, kann eine alleinige Bezugnahme auf die persönliche Perspektive des Richters nicht genügen.292 Die Verfahren der Tribunale müssen somit nicht nur tatsächlich unparteilich erfolgen, sondern von der Öffentlichkeit auch entsprechend wahrgenommen 286 Der EGMR äußerte sich wiederholt zur Frage der Befangenheit von Richtern. So auch in den Rechtssachen Piersack v. Belgien, Application no. 8692 / 79, 1. Oktober 1982 und Incal v. Turkey, Application No. 22678 / 93, 9. Juni 1998, die der ICTY seiner Rechtsprechung zugrunde legte. 287 ICTY Appeals Chamber Judgement Furundzija, IT-95-17 / 1-A, 21. Juli 2000, Rn. 188; Kamaradi, Die Ausformung, 2009, S. 259 f. 288 Kamaradi, Die Ausformung, 2009, S. 257. 289 ICTY Appeals Chamber Judgement Furundzija, IT-95-17 / 1-A, 21. Juli 2000, Rn. 179. 290 ICTY Appeals Chamber Judgement Furundzija, IT-95-17 / 1-A, 21. Juli 2000, Rn. 182. 291 Kamaradi, Die Ausformung, 2009, S. 259; zur Vermutung der Unvoreingenommenheit bereits EGMR, Le Compte, Van Leuven and de Meyere v. Belgien, Application No 6878 / 75 und 7238 / 75, 27. Mai 1981, Rn. 58. 292 ICTY Appeals Chamber Judgement Furundzija, IT-95-17 / 1-A, 21. Juli 2000, Rn. 182.

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werden. Die objektive Theorie übernimmt diesen Gedanken, indem sie die Frage der richterlichen Befangenheit aus der Sichtweise eines objektiven Betrachters beurteilt.293 Unabhängig von einer faktischen Einseitigkeit des Richters genügen vernünftige Bedenken an seiner Integrität um einen Ausschluss vom Verfahren zu rechtfertigen.294 Zur Annahme prozessualer Befangenheit muss folglich nicht der Beweis tatsächlicher Parteilichkeit erbracht, sondern lediglich das Bestehen eines objektiven Anscheins richterlicher Voreingenommenheit dargelegt werden.295 Mit der Ergänzung objektiver und subjektiver Elemente formulierte der ICTY eine Grundannahme des Völkerstrafprozessrechts, die in den Rechtsgrundlagen späterer Gerichte aufgenommen wurde. So lautet Art. 41 Abs. 2 lit. a ICC-Statut: „Art. 41 Abs. 2 lit. a ICC-Statut: A judge shall not participate in any case in which his or her impartiality might reasonably be doubted on any ground.“

Ein ähnlicher Wortlaut findet sich in Regel 34 der Internal Rules der ECCC: „Regel 34 ECCC-IR: A judge may recuse him / herself in any case in which he or she has, or has had, (…) an association which objectively might affect his or her impartiality, or objectively give rise to the appearance of bias.“

Die Annahme eines objektiven Bewertungsmaßstabs beantwortet indes nicht die Frage, in welchen Fällen von einem vernünftigen Anschein der Befangenheit auszugehen ist. Im Folgenden soll daher die notwendige Konkretisierung des entwickelten Grundsatzes durch die Ausgestaltung normativer Vorgaben und die Rechtsprechung der internationalen Strafgerichte beleuchtet werden.

b) Die rechtlichen Grundlagen Den Rechtsgrundlagen der Gerichte lassen sich allgemeine Richtlinien für die Feststellung richterlicher Befangenheit entnehmen. Regel 15 A ICTY-RPE schließt die Mitwirkung von Richtern im Falle eines persönlichen Interesses am Verfahrensverlauf aus. Die Berufungskammer konkretisierte die Bestimmung durch eine Erweiterung des Kriteriums auf finanzielle Vorteile und die Förderung privater Vorhaben: „There is an unacceptable appearance of bias if: (i) a Judge is a party to the case, or has a financial or proprietary interest in the outcome of a case, or if the Judge’s decision will lead to the promotion of a cause in which he or she is involved, together with one of the parties. Under these circumstances, a Judge’s disqualification from the case is automatic.“296

Die Rechtsprechung des ICTY wird durch das Prozessrecht der ECCC kodifiziert. Regel 34 ECCC-IR normiert das Vorliegen „persönlicher oder finanzieller Interessen“ als Grund einer Disqualifikation des Richters vom Verfahren. 293 294 295 296

ICTY Appeals Chamber Judgement Furundzija, IT-95-17 / 1-A, 21. Juli 2000, Rn. 190. Kamaradi, Die Ausformung, 2009, S. 259. ICTY Appeals Chamber Judgement Furundzija, IT-95-17 / 1-A, 21. Juli 2000, Rn. 190. ICTY Appeals Chamber Judgement Furundzija, IT-95-17 / 1-A, 21. Juli 2000, Rn. 189.

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„Regel 34 Abs. 1 S. 1 ECCC-IR: A judge may recuse him / herself in any case in which he or she has, or has had, a personal or financial interest, or concerning which the Judge has, or has had, an association which objectively might affect his or her impartiality, or objectively give rise to the appearance of bias.“

Einen Schritt weiter geht die Verfahrensordnung des ICC, die präzise Regelbeispiele für die Annahme richterlicher Befangenheit enthält. Neben der Berücksichtigung persönlicher Belange schließt Regel 34 ICC-RPE eine frühere rechtliche Befassung mit der Person des Angeklagten aus. In entsprechender Weise unterfallen berufliche Tätigkeiten den Befangenheitsregelungen, die auf eine Parteilichkeit des Richters hinweisen. Auch öffentliche Meinungsäußerungen, die als Ausdruck einer vorgefassten Entscheidung zu werten sind, können eine Disqualifikation des Richters begründen. „Regel 34 Abs. 1 ICC-RPE: [T]he grounds for disqualification of a judge (…) shall include, inter alia, the following: (a) Personal interest in the case, including a spousal, parental or other close family, personal or professional relationship, or a subordinate relationship, with any of the parties; (b) Involvement, in his or her private capacity, in any legal proceedings initiated prior to his or her involvement in the case, or initiated by him or her subsequently, in which the person being investigated or prosecuted was or is an opposing party; (c) Performance of functions, prior to taking office, during which he or she could be expected to have formed an opinion on the case in question, on the parties or on their legal representatives that, objectively, could adversely affect the required impartiality of the person concerned; (d) Expression of opinions, through the communications media, in writing or in public actions, that, objectively, could adversely affect the required impartiality of the person concerned.“

Durch die Benennung wesentlicher Beurteilungskriterien verdeutlichen die Vorschriften des ICC Anforderungen und Zweck der Normaussage. Um die Grenzen richterlicher Unparteilichkeit klar zu ziehen, sollte die Festlegung ausdrücklicher Maßstäbe künftig Vorbild für den internationalen Strafprozess sein. Wenngleich die Befangenheitsvoraussetzungen in der Verfahrensordnung des ICC bereits ausführlicher gestaltet werden, eröffnen sie dem Gericht grundsätzlich einen weiten Bewertungs- und Interpretationsspielraum. Richtlinien für die Auslegung normativer Ausschlussgründe können der Rechtsprechung internationaler Strafgerichte entnommen werden. In zentralen Entscheidungen über die Besetzung der Kammern hat sich ein grundlegendes Verständnis von der Definition richterlicher Befangenheit im Völkerstrafrecht gebildet. Die nachfolgende Betrachtung der internationalen Judikatur soll einen Schwerpunkt auf die Rechtsprechung des ICTY legen, der sich in der Vergangenheit wiederholt mit Fragen der richterlichen Unparteilichkeit zu beschäftigen hatte.

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c) Befangenheit aufgrund staatlicher Funktionsausübung – Die Delalić-Entscheidung des ICTY Im Fall Delalić et al. hatte das Bureau des ICTY297 über einen Befangenheitsantrag der Verteidigung in Bezug auf Richterin Odito Benito aus Costa Rica zu entscheiden. Während ihrer Tätigkeit am Gericht war Benito von ihrem Heimatland zur Vizepräsidentin ernannt und vereidigt worden. Die Vertretung des Angeklagten machte geltend, dass die zeitgleiche Ausübung staatlicher Exekutivfunktionen den Anschein einer parteilichen Wahrnehmung der richterlichen Pflichten erwecken könne. Das Bureau lehnte den Antrag mit der Begründung ab, dass ein Interessenkonflikt zumindest vor der tatsächlichen Übernahme des Amtes nicht bestünde.298 Da Richterin Odito Benito ihren staatlichen Aufgaben als Vizepräsidentin erst nach Ende ihrer Beschäftigung am ICTY nachkommen wollte, konnte das Bureau keine vernünftigen Zweifel an ihrer Unvoreingenommenheit erkennen. Von Seiten der Verteidigung wurde die Entscheidung der Richter insbesondere im Hinblick auf den Grundsatz der Gewaltenteilung kritisiert. Durch die Ernennung zur Vizepräsidentin vereine die Richterin in ihrer Person sowohl judikative als auch exekutive Kompetenzen und verstoße hiermit gegen das Prinzip personeller Gewaltentrennung.299 Im Rahmen internationaler Gerichtsverfahren erscheint die Argumentation des Angeklagten jedoch wenig überzeugend. Ein Konflikt zwischen exekutiven und judikativen Interessen ist angesichts der unterschiedlichen Ebenen ihrer rechtlichen Wahrnehmung nicht denkbar. Da die divergierenden Kompetenzen der Richterin auf verschiedene Hoheitsträger rückführbar sind, scheidet eine Verflechtung der Gewalten innerhalb eines Rechtssystems aus. Der Grundsatz der Gewaltenteilung kann ausschließlich im Rahmen eines Verbundes, nicht jedoch im Verhältnis staatlicher und internationaler Instanzen bestimmt werden. Die Verknüpfung des internationalen Richteramtes mit staatlichen Exekutivfunktionen erscheint indes unter einem anderen Blickwinkel problematisch. Die Übernahme einer führenden Rolle in der nationalen Regierung birgt die Gefahr einer Einflussnahme staatlicher Politik auf die Entscheidungsfindung des Richters. Es stellt sich die Frage, ob ein Mitglied der Staatsleitung hinreichend zwischen den formulierten Zielen auf nationaler Ebene und seiner Rolle als unparteilicher Richter im internationalen Strafverfahren zu differenzieren vermag. Die gleichzeitige Wahrnehmung eines politischen Amtes ist zumindest geeignet, objektive Zweifel an der Unabhängigkeit des Richters von staatlichen Interessen zu begründen. Aufgrund der engen Bindung an die nationale Führung besteht der Anschein möglicher Befangenheit auch dann, wenn der Richter das staatliche Amt noch nicht tatsächlich ausübt. 297 Das Büro des ICTY besteht aus dem Präsidenten, dem Vizepräsidenten sowie den vorsitzenden Richtern der Strafkammern, Regel 23 ICTY-RPE. 298 ICTY Delalić et al., Decision of the Bureau on Motion on Judicial Independence, IT-9621, 4. September 1998. 299 Mit Bezug auf das Appeals Transcript, S. 654, 672 ICTY, IT-96-21-A, 20. Februar 2001, Rn. 681.

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Um eine klare Grenze zwischen den politischen Zielen des Heimatstaates und den Interessen internationaler Strafverfolgung zu ziehen, muss – in Abweichung zur bisherigen Rechtsprechung – von einer grundsätzlichen Unvereinbarkeit des Richteramtes mit einer staatlichen Regierungsarbeit ausgegangen werden. d) Befangenheit aufgrund politischen Engagements – Die Furundzija-Entscheidung des ICTY In ihrer Furundzija-Entscheidung erörterte die Berufungskammer des ICTY die Frage einer Vereinbarkeit politischen Engagements mit den Pflichten des Richteramtes.300 Die Verteidigung hatte beantragt, Richterin Mumba aufgrund ihrer früheren Beschäftigung in der UN-Commission on the Status of Women (UNCSW) vom Verfahren auszuschließen. Im Rahmen ihrer Tätigkeit in der UNCSW hatte Mumba die Problematik systematischer Vergewaltigungen während des Jugoslawienkonfliktes untersucht und den ICTY zur nachhaltigen Verfolgung von Sexualdelikten aufgefordert.301 Aus Sicht des Angeklagten begründete das besondere Engagement der Richterin für die Ahndung von Verbrechen an Frauen erhebliche Zweifel an ihrer Unparteilichkeit in Fragen sexueller Gewalt. Der ICTY lehnte einen Ausschluss Mumbas unter Hinweis auf die erforderliche Erfahrung internationaler Richter im Bereich des Menschenrechtsschutzes ab.302 Da die Expertise auf dem Gebiet völkerstrafrechtlicher Verbrechen Einstellungsvoraussetzung für die Arbeit eines internationalen Richters sei, könne das aktive Engagement in einer Kommission der Vereinten Nationen nicht nachteilig gewertet werden.303 In einem weiteren Schritt verneinte das Gericht einen Interessenkonflikt zwischen den Forderungen der Kommission und den Aufgaben des Tribunals. Die konsequente Verfolgung von Sexualstraftaten und die gerechte Verurteilung der Verantwortlichen seien keine Sonderanliegen der UNCSW, sondern wesentliche Prämissen der internationalen Strafgerichtsbarkeit. Angesichts der Kongruenz ihrer Zielvorstellungen muss der Entscheidung des ICTY gegen einen Ausschluss der Richterin zugestimmt werden. Es ist davon auszugehen, dass aus der Perspektive einer frauenrechtlichen Organisation allein eine gerechte Verurteilung auf Grundlage eines fairen Verfahrens angestrebt wird. Eine Parteilichkeit aufgrund des politischen Engagements für die Durchsetzung von Menschenrechten ist daher prinzipiell abzulehnen. Ein ähnlicher Sachverhalt lag dem Sondergerichtshof für Sierra Leone im Falle des Richters Winter vor, der an einem Report der UNICEF zur Bedeutung von Kinderrechten im Völkerstrafrecht mitgewirkt hatte.304 Der Angeklagte, gegen den vorICTY Appeals Chamber Judgement Furundzija, IT-95-17 / 1-A, 21. Juli 2000. Vgl. Kamaradi, Die Ausformung, 2009, S. 262. 302 ICTY Appeals Chamber Judgement Furundzija, IT-95-17 / 1-A, 21. Juli 2000, Rn. 164 ff. 303 Schabas, The UN International Criminal Tribunals, 2008, S. 506. 304 Norman, Decision on the Motion to Recuse Judge Winter from Deliberation in the Preliminary Motion on the Recruitment of Child soldiers, SCSL-2004-14, 28. Mai 2004, Rn. 30. 300 301

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rangig wegen Einsetzung von Kindersoldaten ermittelt wurde, begründete seinen Befangenheitsantrag mit der besonderen Parteinahme des Richters für die Opfer. Unter Rückgriff auf die Argumentation des Furundzija-Urteils lehnte das Gericht den Antrag ab und bestätigte die Vereinbarkeit eines Engagements im Rahmen menschenrechtlicher Organisationen mit den Aufgaben eines internationalen Richters. Die in den gerichtlichen Entscheidungen entwickelten Annahmen entsprechen der Rechtsauffassung der Europäischen Menschenrechtskommission, die selbst offene Bekundungen politischer Sympathien nicht als zwingendes Indiz für eine Parteilichkeit des Richters wertete.305 Der scheinbare Konsens über die Zulässigkeit menschenrechtlichen Engagements wird jedoch durch die Formulierung der Rule 34 Abs. 1 lit. c ICC-RPE in Frage gestellt. Die Norm regelt als möglichen Befangenheitsgrund die Ausübung von Funktionen, die erkennbaren Einfluss auf die Meinungsbildung des Richters und seine Haltung zum Verfahrensgegenstand haben konnten. Der Wortlaut der Norm eröffnet Spielraum für eine unterschiedliche Interpretation des intendierten Ausschlusskriteriums. Vieles spricht für ein enges Verständnis der Regelung, das eine Prägung der richterlichen Entscheidungsfindung im konkreten Einzelfall voraussetzt. Eine allgemeine Auseinandersetzung mit der Thematik des Verfahrens – wie in den Fällen der Richter Mumba und Winter – würde nach einer restriktiven Auslegung der Bestimmung auch vor dem ICC keinen hinreichenden Befangenheitsgrund darstellen. Im Interesse einer sachkundigen Prozessführung ist es von Nachteil, Richter mit praktischen Erfahrungen auf dem Gebiet des völkerrechtlichen Menschenrechtsschutzes grundsätzlich vom Verfahren auszunehmen. Der erforderliche Anschein von Parteilichkeit wird nicht durch eine generelle Beschäftigung mit Fragen des Völkerrechts erzeugt, sondern gründet sich allein auf die Kenntnis des konkreten Sachverhalts und der Person des Angeklagten. Die Annahme von Befangenheit als Folge eines allgemeinen Engagements im Bereich des Menschenrechtsschutzes muss daher abgelehnt werden. Die Grundsätze der Furundzija-Entscheidung sollten als Richtlinien für die Auslegung der ICC-Verfahrensordnung herangezogen werden. e) Befangenheit aufgrund publizierter Stellungnahmen – Die Sesay-Entscheidung des SCSL Die dargelegte Differenzierung zwischen einer abstrakt-theoretischen und einer einzelfallorientierten Auseinandersetzung mit den Inhalten eines völkerstrafrechtlichen Verfahrens gewinnt vor dem Hintergrund der Sesay-Entscheidung des SCSL praktische Bedeutung. Im Vorfeld seiner Ernennung zum Richter am Tribunal hatte Geoffrey Robertson ein Buch publiziert, das die Konfliktsituation in Sierra Leone näher beleuchtete.306 Seine Ausführungen enthielten wertende Stellungnahmen zur 305 European Commission on Human Rights, Crociani et al. v. Italy, Decisions and Reports Band 22 (1981), 18. Dezember 1980, S. 147. 306 Robertson, Crimes against Humanity, 2002.

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individuellen Beteiligung der Angeklagten und wiesen der Rebellenorganisation RUF (Revolutionary United Front) die Hauptverantwortlichkeit für die Begehung völkerstrafrechtlicher Verbrechen zu. Die direkten Kommentare zu Personen und Ereignissen des Prozesses begründeten die Bedenken des Angeklagten an einer unbefangenen Würdigung seines Falles.307 Das Gericht folgte dem Antrag der Verteidigung und schloss Richter Robertson von weiteren Verfahren gegen Mitglieder der RUF aus.308 Seine eindeutige Positionierung zur rechtlichen Bewertung der Geschehnisse war geeignet, den Anschein vorgefasster Meinungsbildung zu erwecken. Angesichts der klaren Stellungnahmen zur RUF konnten bei einem objektiven Beobachter Zweifel an der notwendigen Ergebnisoffenheit des Richters auftreten. Als weiteres Argument für die Annahme einer Befangenheit aufgrund öffentlicher Äußerungen kann das Interesse des Richters an der Bestätigung seiner Thesen gesehen werden. Es erscheint naheliegend, dass ein Richter seine Theorien nicht durch eine gegenläufige Entscheidung widerlegen und hiermit seine Publikation der Kritik aussetzen will. Die Problematik der öffentlichen Meinungskundgabe wird durch Regel 34 Abs. 1 lit. d ICC-RPE in gleicher Weise zu Lasten des Richters geregelt.309 Die praktische Bedeutsamkeit dieser Fragestellung zeigte sich erneut im Verfahren gegen Ieng Sary vor den ECCC. Die Verteidigung machte die Befangenheit eines Mitarbeiters der Anklage310 geltend, der die Arbeit der Kammern in zahlreichen Zeitschriftenartikeln kommentiert hatte. Wenngleich das Gericht über den Antrag des Angeklagten aufgrund fehlender Entscheidungskompetenz nicht befand, zeigt der Fall David Boyles mögliche Grenzen des Ausschlusskriteriums auf. Die Argumentation der Verteidigung überdehnt den Schutz der Befangenheitsregelungen und verdeutlicht die Notwendigkeit einer klaren Unterscheidung zwischen generellen und konkreten Meinungsäußerungen. In ihrer Begründung verwies die Verteidigung auf Aussagen Boyles zur Beurteilung von Amnestien und stützte sich exemplarisch auf den folgenden Konferenzbeitrag: „Ieng Sary has been granted a constitutionally valid pardon and immunity for certain crimes (…). To what extend is the constitutionally valid amnesty and pardon applicable before the Khmer Rouge trial? This has been left to the court to decide. All these questions will be raised by the defense, and should be dealt with beforehand in order to avoid that talented lawyers will slow trials down so much that three years will not be enough to finish. There

Vgl. Zahar / Sluiter, International Criminal Law, 2008, S. 299. SCSL Sesay, Decision on Defence Motion Seeking the Disqualification of Judge Robertson from the Appeals Chamber, SCSL-04-15-AR15, 13. März 2004. 309 Rule 34 (d) ICC-RPE: Expression of opinions, through the communications media, in writing or in public actions, that, objectively, could adversely affect the required impartiality of the person concerned. 310 Boyle arbeitete im Büro des Co-Investigative Judge und nahm daher eine Funktion wahr, die mit der Rolle des Richters nicht vollständig vergleichbar ist. Da die Befangenheitsregelungen jedoch in gleicher Weise gelten, können die Probleme des Falles auf den Ausschluss von Richtern übertragen werden. 307 308

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are two possible avenues for partially resolving these issues. One would be for the judges (…) to get together with prosecutors and investigative judges and work out exactly what is the applicable procedure for the courts.“311

Der Angeklagte kritisierte die Stellungnahme Boyles im Hinblick auf eine Benachteiligung der Verteidigung und die Verkürzung ihrer Rolle im Prozessverlauf.312 Aus seinem Beitrag leitete der Angeklagte eine Parteilichkeit zu Lasten der Verteidigung ab und wertete die Äußerungen als möglichen Befangenheitsgrund. Der Fall David Boyles offenbart den schmalen Grat zwischen einer allgemeinen Auseinandersetzung mit den Rechtsfragen eines Prozesses und konkreten Aussagen zu einem Verfahrensbeteiligten. In seinen Ausführungen zu den rechtlichen Problemen der ECCC diskutierte Boyle die bekannte Thematik der Amnestien und entwickelte einen allgemeinen Lösungsvorschlag. Boyle setzte sich nicht im Detail mit der Person Ieng Sarys auseinander, sondern erwähnte den Angeklagten lediglich beispielhaft zur Erläuterung der Problematik bestehender Begnadigungen. Als wichtiger Grundsatz eines rechtsstaatlichen Verfahrens entspricht die von Boyle geforderte zeitnahe Durchführung des Prozesses den erklärten Zielen der internationalen Strafgerichtsbarkeit. Seine Argumentation zu Gunsten einer beschleunigten Verfahrensgestaltung kann folglich nicht als Voreingenommenheit gegenüber dem Angeklagten gewertet werden. Der Vorschlag eines effizienten Vorgehens stellt kein Urteil im Einzelfall, sondern allein eine generelle Beschäftigung mit einem Themenfeld des Völkerstrafrechts dar. Vor dem Hintergrund des Falles wird deutlich, dass die Auslegung von Befangenheitsvorschriften nicht über den notwendigen Schutz des Angeklagten hinausgehen darf. Die Bedeutung der Meinungsfreiheit gebietet es, Stellungnahmen eines Richters nur in besonderen Ausnahmefällen zum Anlass für seinen Ausschluss vom Verfahren zu nehmen. Um die Grenze zur allgemeinen fachlichen Auseinandersetzung nicht zu überschreiten, muss die Annahme von Parteilichkeit restriktiv verstanden werden. f) Befangenheit aufgrund persönlicher Merkmale des Richters – Die Šešelj-Entscheidung des ICTY Der vom ICTY verhandelte Fall Šešelj warf die grundsätzliche Frage nach der Berücksichtigung persönlicher Merkmale als Kriterium für den Ausschluss interna311 International Federation for Human Rights, Report, International Criminal Court, Programme, Articulation between the International Criminal Court and the Khmer Rouge Tribunal: The Place of Victims, 2.– 3.03.2005, S. 18 (letzter Zugriff am 25.03.2010). 312 ECCC Appeal of Mr. Ieng Sary Against the OCIJ’s Decision ob the Defence Request for Information concerning the apparent bias and potential existence of conflict of interest of OCIJ Legal Officer David Boyle, 002 / 19-09-2007-ECCC-OCIJ (PTC), 6. Juni 2008, S. 2: „This statement clearly shows Mr. Boyle’s misguided beliefs that the Defence should be excluded from assisting the court in its determination of any issues related to Mr. Ieng Sary’s ‚constitutionally valid pardon and amnesty‘.“

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tionaler Richter auf. Der Angeklagte hatte beantragt, die Richter Schomburg, Agius und Mumba aufgrund ihrer nationalen Herkunft und religiösen Überzeugung für befangen zu erklären.313 Angesichts der traditionellen Konflikte zwischen Deutschland und Serbien sowie der deutschen Beteiligung am Vorgehen der NATO zog Šešelj die Unparteilichkeit Schomburgs in Zweifel. Als deutscher Staatsangehöriger könne der Richter keine neutrale und politisch unvoreingenommene Entscheidung über die Vorgänge im ehemaligen Jugoslawien treffen.314 In gleicher Weise argumentierte der Angeklagte im Hinblick auf die katholische Religionszugehörigkeit der Richter Agius und Mumba. Die langjährigen Kontroversen zwischen der katholischen Kirche und der serbisch-orthodoxen Glaubensgemeinschaft des Angeklagten stünden einem objektiven Urteil der Richter entgegen.315 Das Bureau des ICTY lehnte die Bedeutung persönlicher Eigenschaften – wie der nationalen oder ethnischen Herkunft, des Geschlechts oder der Religion – als Maßstab für die Beurteilung richterlicher Unparteilichkeit kategorisch ab.316 Die Trennung persönlicher Anschauungen und rechtlicher Würdigungen sei wesentliche Prämisse des Richteramtes, die an internationalen Strafgerichten vorausgesetzt werden könne.317 Nach Auffassung des Bureaus sei insbesondere der Ausschluss von Angehörigen konfliktbeteiligter Staaten angesichts der rechtlichen und institutionellen Unabhängigkeit des Richters von seinem Herkunftsland nicht zu rechtfertigen. Da der Richter nicht im Dienste seines Heimatstaates, sondern in der Pflicht der internationalen Gemeinschaft stehe, könne die nationale Politik weder Anforderungen noch Konsequenzen für seine Amtsausübung begründen.318 Die bisherigen Erfahrungen der völkerrechtlichen Strafgerichtsbarkeit können einen Einfluss der staatlichen Herkunft auf die Arbeit des Richters nicht grundsätzlich widerlegen. Gleichwohl ist der Entscheidung des Bureaus, persönliche Eigenschaften nicht als Befangenheitsgründe zu bewerten, im Ergebnis zuzustimmen. Die Feststellung einer Befangenheit muss ausschließlich von der Person des Richters ausgehen und klar zwischen den Überzeugungen des Einzelnen sowie den Handlungen seines Herkunftsstaates differenzieren. Eine Gleichsetzung von Staat und Richter verkennt die individuelle Wahrnehmung des Richteramtes und fördert eine Politisierung des internationalen Verfahrens. Um ein problematisches Übergewicht 313

ICTY Šešelj, Bureau Decision on the Motion for Disqualification, IT-03-67-PT, 10. Juni

2003. 314 ICTY Šešelj, Bureau Decision on the Motion for Disqualification, IT-03-67-PT, 10. Juni 2003, Rn. 2. 315 ICTY Šešelj, Bureau Decision on the Motion for Disqualification, IT-03-67-PT, 10. Juni 2003, Rn. 2. 316 ICTY Šešelj, Bureau Decision on the Motion for Disqualification, IT-03-67-PT, 10. Juni 2003, Rn. 3. 317 ICTY Šešelj, Bureau Decision on the Motion for Disqualification, IT-03-67-PT, 10. Juni 2003, Rn. 3. 318 ICTY Šešelj, Bureau Decision on the Motion for Disqualification, IT-03-67-PT, 10. Juni 2003, Rn. 4.

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nationaler Interessen bereits im Ansatz zu verhindern, genügt die Berücksichtigung verschiedener Staatsangehörigkeiten im Rahmen der Richterwahl.319

g) Befangenheit aufgrund eines Verhaltens in den Verhandlungen Zuletzt stellt sich die Frage, inwiefern das Verhalten eines Richters in den Verhandlungen Grundlage für seinen Ausschluss vom Verfahren sein kann. Einem Befangenheitsantrag der Verteidigung im Fall Blagojevic begegnete die Anklage unter Verweis auf die Unanwendbarkeit der verfahrensrechtlichen Ausschlussgründe. Regel 15 ICTY-RPE erfasse allein außerprozessuale Handlungen und könne nicht auf Ereignisse in den Verfahren übertragen werden.320 Das Gericht sah hingegen keinen Anlass für einen Ausschluss des Prozessverhaltens vom Geltungsbereich der Befangenheitsregelungen und erklärte die Grundsätze des Furundzija-Urteils für allgemein anwendbar.321 Tatsächlich bestehen keine Bedenken an einer Übertragbarkeit der Befangenheitskriterien auf die Verfahrenshandlungen eines Richters. Um seine autonome Prozessführung nicht unangemessen zu beschränken, darf die Annahme von Parteilichkeit nur unter engen Voraussetzungen erfolgen. Die Akayesu-Entscheidung des ICTR belegt beispielhaft, welche Grenzen die internationalen Straftribunale der Befangenheitsvermutung im Rahmen des Verfahrensablaufs gezogen haben. Hintergrund des Ausschlussantrages der Verteidigung im Fall Akayesu war eine Frage von Richter Pillay, die inhaltlich über den konkreten Gegenstand des Verfahrens hinausging.322 Pillay hatte einen Zeugen zu Vorfällen sexueller Gewalt vernommen, obgleich Sexualstraftaten nicht Teil der Anklage waren. Die Verteidigung sah im Verhalten des Richters eine Voreingenommenheit im Bereich der Sexualdelikte und bezweifelte die Objektivität seiner Verfahrensführung. Die Berufungskammer des ICTR befand jedoch, dass eine neutral gestellte Frage unabhängig von ihrem unmittelbaren Bezug zum Verfahrensgegenstand keinen hinreichenden Anschein von Befangenheit begründen könne.323 Das Recht des Richters, sich ein verlässliches und ganzheitliches Bild von der Gesamtsituation zu verschaffen, dürfe nicht durch eine Beschränkung seiner Fragemöglichkeiten umgangen werden. Eine weitere Kritik des Angeklagten richtete sich gegen das Verhalten des Richters Kama während des Kreuzverhörs im Hauptverfahren. Nachdem die Verteidigung eine beigeladene Zeugin wiederholt nach der Anzahl der erfahrenen VergewalSiehe hierzu Kapitel D. III. 2. a) bb). ICTY Blagojevic et al., Decision on Blagojevic’s Application Pursuant to Rule 15 (B), IT-02-60, 19. März 2003, Rn. 12. 321 ICTY Blagojevic et al., Decision on Blagojevic’s Application Pursuant to Rule 15 (B), IT-02-60, 19. März 2003, Rn. 12. 322 ICTR Akayesu, Judgement, ICTR-96-4-A, 1. Juni 2001, Rn. 197 ff. 323 ICTR Akayesu, Judgement, ICTR-96-4-A, 1. Juni 2001, Rn. 197– 200. 319 320

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tigungen gefragt hatte, unterbrach Kama die Vernehmung mit den Worten: „Is that important? She was raped so frequently that she can no longer remember how often it was.“324 Die Verteidigung warf Richter Kama vor, die notwendige Neutralität des Gerichts sowie die Unparteilichkeit gegenüber der Zeugin verletzt zu haben. Mit seiner Aussage habe Kama erkennbar zum Ausdruck gebracht, dass er den Darstellungen der Zeugin Glauben schenke und zu ihrem Schutze Partei ergreife. In der Tat bedingt der Ablauf eines Kreuzverhörs Probleme hinsichtlich Umfang und Reichweite richterlicher Befugnisse. Die Rolle des Richters während der Zeugenbefragung ist bislang nicht abschließend definiert und bedarf einer grundsätzlichen Klärung.325 Die konkreten Umstände des Akayesu-Falles bieten jedoch keinen Anlass für eine Einschränkung der richterlichen Rechte im Kreuzverhör. In einer Gesamtbetrachtung kam die Berufungsinstanz zu dem Ergebnis, dass Richter Kama seine Befugnis zur Leitung der Zeugenvernehmung nach Regel 90 (F) ICTRRPE nicht überschritten habe.326 Da die Verteidigung mehrfach nach der Anzahl der Vergewaltigung gefragt hätte, könne die Äußerung des Richters nicht als Vereitelung einer Vernehmung, sondern lediglich als Hinweis auf die zuvor gegebene Antwort verstanden werden. Die Bewertung der richterlichen Prozessgestaltung muss eine sinnvolle Abgrenzung zwischen einer möglichen Parteilichkeit und der Notwendigkeit einer transparenten Beweiswürdigung treffen. Um in der Sache zu entscheiden, hat das Gericht die Schlüssigkeit des vorgelegten Beweismaterials umfassend zu überprüfen. Erkennt der Richter eine Zeugenaussage für glaubwürdig an, ist hierin keine unzulässige Parteilichkeit, sondern eine erforderliche Entscheidung über die Beurteilung von Beweismitteln zu sehen.

h) Befangenheit aufgrund einer Vorbefassung Der Schwerpunkt der nachfolgenden Darstellung soll in der Kompatibilität verschiedener interner Aufgabenbereiche liegen. Im Fokus der Überlegung steht die Frage nach der Zulässigkeit einer wiederholten Beteiligung des Richters im Rahmen desselben Verfahrens. Eine erneute Entscheidungsbefugnis erscheint auch im Lichte der Unschuldsvermutung als mögliche Beeinträchtigung eines fairen Prozessverlaufs. Die Ausübung unterschiedlicher Funktionen bei Gericht berührt grundlegende Probleme der Prozessorganisation und ist somit entscheidend für die rechtliche Gestaltung des Verfahrens.

ICTR Akayesu, Judgement, ICTR-96-4-A, 1. Juni 2001, Rn. 205. Die generelle Ausgestaltung der Rolle des Richters wird in Kapitel D. VIII. 3. b) näher erörtert. 326 ICTR Akayesu, Judgement, ICTR-96-4-A, 1. Juni 2001, Rn. 205. 324 325

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

aa) Die Beteiligung des Richters im Vorfeld des Hauptverfahrens Eine Mitwirkung des Richters vor Prozessbeginn begründet Zweifel an seiner Objektivität und Unvoreingenommenheit im späteren Hauptverfahren. Die Statuten des ICC und der Ad-hoc-Tribunale bestimmen verschiedene Formen der Beteiligung eines Richters im Vorfeld der Verhandlungen. Während am ICC eine eigene Kammer sowohl für die Leitung des Vorverfahrens als auch für die Bestätigung der Anklage zuständig ist327, werden vergleichbare Aufgaben an den Ad-hoc-Tribunalen von einzelnen Vorverfahrensrichtern (Pre-Trial Judges) wahrgenommen.328 An den ECCC erfolgt die Aufteilung richterlicher Kompetenzen auf drei Instanzen. Die Ermittlungsrichter untersuchen den Sachverhalt und beschließen im Rahmen der „closing order“ die Eröffnung oder Einstellung eines Verfahrens (Regel 67 ECCCIR). Die Vorverfahrenskammer entscheidet über Rechtsfragen im Vorfeld der Hauptverhandlung sowie bei Uneinigkeiten zwischen den nationalen und internationalen Beteiligten.329 Das Hauptverfahren wird vor einer separaten Kammer geführt, die Schuldspruch und Strafmaß festlegt.330 Eine Beteiligung des Richters im Vorverfahren garantiert seine frühzeitige Kenntnis der Sachlage und dient der Beschleunigung des Prozessverlaufs. Zugleich wirft jedoch eine Funktion im Vorverfahren die Frage nach ihrer Vereinbarkeit mit einer Richtertätigkeit in der Hauptverhandlung auf. Die mehrfache Einbeziehung eines Richters findet ihre Grenzen in der Gewährleistung einer unparteilichen Amtsführung. Inwieweit dieser Konflikt zu Gunsten der Verfahrenseffektivität gelöst werden kann, hängt entscheidend von der Tragweite der vorherigen Mitwirkung ab.331 (1) Die Beteiligung des Richters an der Leitung des Vorverfahrens Die Zulässigkeit der Beteiligung eines Richters an der Organisation des Vorverfahrens wird von den Statuten der internationalen Straftribunale unterschiedlich beurteilt. Der ICC überträgt der Vorverfahrenskammer (Pre-Trial Chamber) in Art. 56 und 57 ICC-Statut weitreichende Befugnisse zum Erlass von Maßnahmen im Vorfeld der Hauptverhandlung.332 Infolge ihrer bestimmenden Rolle im VorverArt. 56, 61 ICC-Statut. Regel 65ter ICTY-RPE, Art. 18 ICTY-Statut. 329 Regel 71ff. ECCC-IR. 330 Regel 79ff. ECCC-IR. 331 Hiernach differenzierte bereits der EGMR Saravia de Carval / Portugal, Application No. 15651 / 89, 22. April 1994, Serie A, Bd. 286, S. 38. 332 Art. 56 ICC-Statut: 1. (a) Where the Prosecutor considers an investigation to present a unique opportunity to take testimony or a statement from a witness or to examine, collect or test evidence, which may not be available subsequently for the purposes of a trial, the Prosecutor shall so inform the Pre-Trial Chamber. (b) In that case, the Pre-Trial Chamber may, upon request of the Prosecutor, take such measures as may be necessary to ensure the efficiency and integrity of the proceedings and, in particular, to protect the rights of the defence. 327 328

III. Die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Gerichtes

265

fahren schließt Art. 39 Abs. 4 S. 2 ICC-Statut die Richter des Pre-Trial Chambers explizit von einer Mitwirkung am späteren Verfahren aus. An den ECCC stellt sich das Problem einer Kompatibilität richterlicher Tätigkeiten bereits aus organisatorischen Gründen nicht und kann daher von einer weiteren Betrachtung ausgenommen werden. Aufgrund der klaren Aufgabentrennung zwischen den Kammern scheidet die Beteiligung eines Richters im Vor- und Hauptverfahren generell aus. Im Gegensatz zu ICC und ECCC wird nach dem Prozessrecht der Ad-hoc-Tribunale keine eigenständige Vorverfahrenskammer eingesetzt. Nach Regel 65ter ICTYRPE obliegt einem Richter der Hauptkammer (Trial Chamber) die Koordination des Vorverfahrens und die Gewährleistung einer Kommunikation zwischen den Parteien. Zentrale Funktion des sogenannten Pre-Trial Judges ist die zügige Vorbereitung der Hauptverhandlung sowie die Durchsetzung einer kooperativen Verfahrensgestaltung. Anders als der ICC legen die Ad-hoc-Tribunale keinen zwingenden Ausschluss des Pre-Trial Judges vom Hauptverfahren fest. Es ist daher grundsätzlich möglich, dass ein im Vorverfahren beteiligter Richter im Rahmen der Hauptverhandlung erneut mit der Rechtssache befasst wird.333 Die unterschiedliche Rechtslage im internationalen Strafprozess wirft die Frage nach der Bewertung einer parallelen Mitwirkung am Vor- und Hauptverfahren auf. Impliziert eine Zuständigkeit im Vorverfahren die Parteilichkeit des Richters während der nachfolgenden Verhandlungen, müssen die Statuten der Ad-hoc-Tribunale um eine entsprechende Ausschlussbestimmung erweitert werden. Zappalà sieht die Problematik einer wiederholten Beteiligung des Richters in seiner vorherigen Kenntnis von Sach- und Rechtslage des Falles:

2. The measures referred to in paragraph 1 (b) may include: (a) Making recommendations or orders regarding procedures to be followed; (b) Directing that a record be made of the proceedings; (c) Appointing an expert to assist; (d) Authorizing counsel for a person who has been arrested, or appeared before the Court in response to a summons, to participate, or where there has not yet been such an arrest or appearance or counsel has not been designated, appointing another counsel to attend and represent the interests of the defence; (e) Naming one of its members or, if necessary, another available judge of the Pre-Trial or Trial Division to observe and make recommendations or orders regarding the collection and preservation of evidence and the questioning of persons; (f) Taking such other action as may be necessary to collect or preserve evidence. Article 57 ICC-Statut: (…) 3. In addition to its other functions under this Statute, the PreTrial Chamber may: (a) At the request of the Prosecutor, issue such orders and warrants as may be required for the purposes of an investigation; (…) (c) Where necessary, provide for the protection and privacy of victims and witnesses, the preservation of evidence, the protection of persons who have been arrested or appeared in response to a summons, and the protection of national security information (…). 333 van Heeck, Die Weiterentwicklung des formellen Völkerstrafrechts, 2006, S. 114.

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

„Since this cluster of power and tasks may (…) lead to the judge being heavily involved in the case prior to the opening of the debates, it could be argued that this involvement might subsequently prejudice his or her impartiality at trial.“334

Als Argument für einen Ausschluss des Pre-Trial Judges ließe sich die Gefahr einer Vorverurteilung anführen. Aufgrund seiner Erkenntnisse im Vorverfahren könnte sich der Richter bereits ein festes Bild vom Sachverhalt gemacht haben.335 Eine vorgefasste Meinung zu den Umständen des Falles stünde einer unvoreingenommenen Beweiswürdigung in der Hauptverhandlung entgegen.336 Inwiefern die Durchführung des Vorverfahrens tatsächlich Einfluss auf den Entscheidungsprozess des Richters nehmen kann, erscheint angesichts ihrer praktischen Bedeutung fraglich. Im Rahmen des Vorverfahrens findet weder eine förmliche Beweisaufnahme noch eine Erörterung möglicher Rechtsfragen statt. Maßnahmen des Pre-Trial Judges bezwecken keine Entscheidung in der Hauptsache, sondern dienen allein einer effektiven Prozessvorbereitung. Da der Vorverfahrensrichter in Kenntnis unvollständiger und gerichtlich nicht nachgeprüfter Tatsachen agiert, wird er keine abschließende Bewertung des Falles vornehmen. Gegen die Annahme einer Parteilichkeit spricht weiterhin, dass eine einseitige Beeinflussung des Richters aufgrund seiner Rolle in den Vorverhandlungen nicht zu erwarten ist. Indem er die Kommunikation zwischen den Parteien unterstützt, wird seine Information von beiden Seiten in gleichem Maße gewährleistet. Sofern die Gestaltung des Vorverfahrens eine ausgewogene Darstellung des Sachverhaltes zulässt, kann eine frühzeitige Beschäftigung des Richters mit den Umständen des Falles nicht nachteilig gewertet werden. Seine vorherige Kenntnis der Tatsituation erscheint vielmehr als sinnvolles Mittel zur Absicherung der notwendigen richterlichen Sachkunde und der Umsetzung eines beschleunigten Prozessverlaufs. Ob hieraus auf eine obligatorische Beteiligung des Pre-Trial Judges am Hauptverfahren geschlossen werden kann, wird an späterer Stelle zu erörtern sein.337 Die zeitlichen und organisatorischen Vorteile lassen zumindest Raum für die Diskussion einer nachfolgenden Mitwirkung als normativen Regelfall.338 Eine Beteiligung des Richters am Vorverfahren ist folglich nicht ausreichend, um seinen Ausschluss von der Hauptverhandlung zu rechtfertigen. Anders könnte die Beurteilung ausfallen, wenn der Richter bereits im Vorfeld des Verfahrens eine Entscheidung zum Fall getroffen hat. Vor diesem Hintergrund muss die Vereinbarkeit einer Anklagebestätigung mit dem Amt des Hauptverfahrensrichters erörtert werden.

334 335 336 337 338

Zappalà, Human Rights, 2005, S. 108. Vgl. Fairlie, ICLR 4 (2004), S. 243 (273 ff.). Morris / Scharf, An Insider’s Guide, 1995, S. 155. Zur Diskussion siehe D. VIII. 2. b) aa) (2). Hierfür Harmon, JICJ 5 / 2 (2007), S. 377 (377 ff.).

III. Die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Gerichtes

267

(2) Die Beteiligung des für die Anklagebestätigung zuständigen Richters Mit Bestätigung der Anklage veranlasst der zuständige Richter die Eröffnung des Hauptverfahrens gegen den Beschuldigten.339 Am Internationalen Strafgerichtshof ist nach Art. 61 Abs. 7 des Statuts die Vorverfahrenskammer zur Entscheidung über die Anklagepunkte befugt. Erneut schließt Art. 39 Abs. 4 S. 2 ICC-Statut eine nachfolgende Mitwirkung der Richter in der Hauptverhandlung zwingend aus. Die Rechtslage an den Ad-hoc-Tribunalen weicht in zweierlei Hinsicht von den Grundsätzen des ICC-Statuts ab. Nach Maßgabe von Art. 19 ICTY-Statut sowie der Regeln 28, 47 ICTY-RPE überträgt der Präsident des Gerichtshofes die Kompetenz zur Anklagebestätigung einem Einzelrichter der Strafkammern (Reviewing Judge).340 Während die ursprüngliche Fassung der Regel 15 (C) ICTY-RPE eine Beteiligung des Reviewing Judges am Hauptverfahren explizit zunächst untersagte, legt die spätere Normänderung nunmehr eine generelle Vereinbarkeit der Funktionen fest. Nach den Vorgaben des ICTY-Statuts ist die Anklagebestätigung durch den Richter somit keine hinreichende Grundlage für seinen Ausschluss vom späteren Verfahren. (a) Die Rechtsprechung des EGMR Angesichts der zunehmenden Arbeitsbelastung des Gerichts spricht vieles dafür, dass die Entscheidung für eine Kompatibilität der Richterämter vorrangig durch praktische Erwägungen veranlasst wurde.341 Aus rechtlicher Sicht erscheint die Vereinbarkeit einer Beteiligung als Reviewing Judge mit den Pflichten des Hauptverfahrens indes fraglich. Im Fall Saravia de Carval v. Portugal macht der EGMR den Ausschluss eines Richters vom Grad seiner früheren Verfahrensbeteiligung abhängig. Nach den vom EGMR entwickelten Grundsätzen darf die Entscheidung des Vorverfahrensrichters in ihrer Tragweite nicht dem Beschluss in der Hauptsache entsprechen.342 Wenngleich die Rechtsprechung des EGMR für die internationalen Straftribunale nicht bindend ist, geben ihre Urteilsgründe Aufschluss über das völkerrechtliche Verständnis rechtsstaatlicher Anforderungen. Tatsächlich kann die Unvoreingenommenheit eines Richters bezweifelt werden, der vor dem Hintergrund einer bestehenden Beweislage bereits eine rechtliche Wertung zum Fall getroffen hat.

Wilhelmi, Die Verfahrensordnung, 2004, S. 39. Der zur Anklagebestätigung ernannte Richter ist nicht identisch mit dem Pre-Trial Judge. 341 Zappalà, Human Rights, 2005, S. 105: „This amendment was probably due to the fact that the Tribunal was faced with too many pending cases and not enough judges.“ 342 EGMR Saravia de Carval / Portugal, Application No. 15651 / 89, 22. April 1994, Serie A, Bd. 286, S. 38. 339 340

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

(b) Der Prüfungsumfang in Zwischen- und Hauptverfahren Übertragen auf die Beteiligung des Reviewing Judges müsste nach den Vorgaben des EGMR eine materielle Vergleichbarkeit zwischen der Anklagebestätigung und dem Schuldspruch in der Hauptsache bestehen. Die Beantwortung dieser Frage hängt maßgeblich vom Prüfungsumfang des Reviewing Judges im Vorverfahren ab. Nach Art. 19 Abs. 1 ICTY-Statut hat ein Richter die Anklage bei Vorliegen eines prima facie-Falles zu bestätigen. „Art. 19 Abs. 1 ICTY-Statut: The judge of the Trial Chamber to whom the indictment has been transmitted shall review it. If satisfied that a prima facie case has been established by the Prosecutor, he shall confirm the indictment. If not so satisfied, the indictment shall be dismissed.“

Aufgrund der fehlenden normativen Definition des Begriffs müssen die Voraussetzungen eines prima facie-Beweises der rechtlichen Systematik entnommen werden.343 Da angesichts der national verschiedenen Begriffsverständnisse kein universell anerkannter Bedeutungsinhalt existiert, erfolgt die Bestimmung des Prüfungsumfangs auf Grundlage der gerichtlichen Rechtsquellen.344 Regel 47 (B) ICTY-RPE legt die Bedingungen fest, unter denen der Ankläger dem Reviewing Judge einen Sachverhalt zur Bestätigung vorlegen soll. „Regel 47 (B) ICTY-RPE: The Prosecutor, if satisfied in the course of an investigation that there is sufficient evidence to provide reasonable grounds for believing that a suspect has committed a crime within the jurisdiction of the Tribunal, shall prepare and forward to the Registrar an indictment for confirmation by a Judge, together with supporting material.“

Der Ankläger leitet einen Fall erst dann an den Richter weiter, wenn hinreichende Beweise für die Vermutung der Tatbegehung bestehen. Die vorherige Prüfung einer ausreichenden Beweislage ist darauf gerichtet, den Erfolg der Anklageerhebung im Verfahren vor dem Reviewing Judge zu gewährleisten. Der Ankläger wird daher nur solche Punkte zu berücksichtigen haben, die zugleich in der Entscheidung des Richters über die Anklagebestätigung bewertet werden. Dies belegt auch der Wortlaut des Art. 18 Abs. 4 ICTY-Statuts, der für die Vorlage des Anklägers terminologisch in gleicher Weise die Darlegung eines prima facie-Falles erfordert. Da der Prüfungsumfang von Richter und Ankläger zur Beurteilung der Schuldprognose identisch sein muss, finden die Voraussetzungen der Regel 47 ICTY-RPE auf die Einschätzung des Reviewing Judges entsprechende Anwendung.345 Der Richter wird die Anklage folglich dann zulassen, wenn eine hinreichende Beweisbarkeit der Tatbegehung anzunehmen ist. Hinsichtlich der Kompatibilität der richterlichen Funktionen stellt sich die Frage, ob die Bestätigung der Anklage als Vermutung einer nachweisbaren Tatverantwor343 344 345

van Heeck, Die Weiterentwicklung des formellen Völkerstrafrechts, 2006, S. 325. van Heeck, Die Weiterentwicklung des formellen Völkerstrafrechts, 2006, S. 325. Vgl. hierzu Jones, The Practice, 2000, S. 172 f.

III. Die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Gerichtes

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tung in ihrer Tragweite einem Schuldspruch im Hauptverfahren vergleichbar ist. Mit seiner Definition des prima facie-Falles in der Rechtssache Kordić et al. rückte Richter McDonald den Aspekt der Beweislast in den Vordergrund. „[A] prima facie case for this purpose is understood to be a credible case which would (if not contradicted by the Defence) be sufficient basis to convict the accused on the charge.“346

Die Formulierung McDonalds scheint eine Widerlegung der Unschuldsvermutung durch die Verfahrenseröffnung zu implizieren. Die Auffassung des Gerichts legt nahe, dass die Bestätigung der Anklage durch den Reviewing Judge als Umkehr der Beweislast zum Nachteil der Verteidigung verstanden werden kann.347 Hiernach müsste dem Richter in Abkehr vom Grundsatz des „in dubio pro reo“ die Unschuld des Angeklagten in einem weiteren Verfahren positiv nachgewiesen werden.348 Eine solche Schuldvermutung widerspräche der notwendigen Unvoreingenommenheit und Objektivität des Reviewing Judges im strafrechtlichen Prozess. In der Tat kann argumentiert werden, dass der Richter durch die Bestätigung einer ausreichenden Möglichkeit der Tatbegehung bereits eine Vorentscheidung zum Sachverhalt trifft. Gegen die Annahme einer Parteilichkeit spricht jedoch entscheidend die unterschiedliche Qualität von Zwischen- und Hauptverfahren. Der Reviewing Judge trifft seine Entscheidung über die Eröffnung der Hauptsache auf Grundlage einer summarischen Beweiswürdigung. Bei Bestätigung der Anklage ist dem Richter bewusst, dass er sich ohne Zeugenvernehmungen und umfassende Tatsachenüberprüfung allenfalls einen groben Eindruck von den Umständen des Falles verschaffen kann. Mit der Eröffnung des Hauptverfahrens erkennt der Reviewing Judge die Notwendigkeit einer näheren Überprüfung des Falles an, ohne hiermit den Ausgang des Verfahrens zu antizipieren. Während die Entscheidung in der Hauptverhandlung ein definitives Urteil über die Schuld des Angeklagten darstellt, muss zur Bestätigung der Anklage allein der Anschein einer Verantwortlichkeit gegeben sein. Vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Anforderungen und Zielsetzungen ist der Beschluss des Reviewing Judges einem Schuldspruch der Hauptverfahrenskammer in seiner rechtlichen Bedeutung nicht vergleichbar. Eine Beteiligung des Reviewing Judges am späteren Verfahren steht der Gewährleistung eines unvoreingenommenen Gerichts daher nicht grundsätzlich entgegen.349 Die strengen Ausschlussgründe des ICC-Statuts sind aus rechtsstaatlicher Sicht nicht zwingend geboten. 346 ICTY Kordic et al. ICTY, Review of the Indictment against Kordic et al., IT-95-14-I, 10. November 1995; vgl. Third Annual Report of the ICTY, UN Doc. A / 51 / 292, 16. August 1996, Rn. 13. 347 Zappalà, Human Rights, 2005, S. 106. 348 Zappalà, Human Rights, 2005, S. 106: „[T]he defence will have to make an additional effort to persuade such a judge that the Prosecutor’s case is not convincing, and it can, thus, hardly be said that this judge will be seen (…) as an impartial organ.“ 349 Eine solche Interpretation steht im Einklang mit der Rechtsprechung der EGMR. Im Fall Depiets gegen Frankreich unterschied das Gericht zwischen der Bewertung der Schuldfrage und der Vermutung einer Tatbegehung. Letztere stellt nach Ansicht des EGMR keinen

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

bb) Die Beteiligung eines Richters der Hauptverfahrenskammer am Rechtsmittelverfahren Die Beteiligung eines Richters der Hauptverfahrenskammer im nachfolgenden Rechtsmittelverfahren (Appeals Chamber) stellt sich in besonderer Weise problematisch dar. Durch das Urteil im Hauptverfahren hat der Richter seine rechtliche Bewertung des Sachverhaltes bereits abschließend zum Ausdruck gebracht. Mit einem Schuldspruch setzt das Gericht den Schlusspunkt unter das erstinstanzliche Verfahren und erkennt die Verantwortlichkeit des Angeklagten für erwiesen an. Die vorherige Entscheidung in der Sache kann mit der Idee des Rechtsmittelverfahrens, eine unabhängige Neubewertung zu garantieren, nicht vereinbart werden. Folgerichtig schließen sämtliche Statuten der internationalen Strafgerichte eine Mitwirkung des Verfahrensrichters an den Verhandlungen der Rechtsmittelkammer zum selben Fall aus. Während das ICC-Statut jegliche Beteiligung im Vorfeld einer Verhandlung untersagt350, benennt Regel 15 (D) ICTY-RPE explizit den Ausschluss des erstinstanzlichen Richters vom Berufungsverfahren.351 Die Unvereinbarkeit der richterlichen Funktionen in Haupt- und Berufungsverfahren wirft die weitergehende Frage nach der Zulässigkeit eines Rotationsmodells für die Besetzung der Kammern auf. Regel 27 ICTY-Statut352 sieht die zeitlich wechselnde Zuordnung der Richter an die Straf- und Rechtsmittelkammer vor.353 Wenngleich die erneute Mitwirkung des Richters an einem konkreten Einzelfall nach Regel 15 D ICTY-RPE ausgeschlossen bleibt, kann bereits das Bestehen eines Rotationssystems den Eindruck einer fehlenden Ämtertrennung erwecken.354 Der Einwand Triffterers, die Praxis des ICTY hätte keine messbaren Nachteile begründet, vermag daher nicht zu überzeugen.355 Um den Anschein einer möglichen Parteilichkeit zu verhindern, sollte nach dem Vorbild der ECCC eine dauerhafte Zuteilung der Richter zu einer Kammer erfolgen.356 Ausschlussgrund für die Mitwirkung des Richters dar; EGMR Depiets v. Frankreich, Application no. 53971 / 00, 10. Februar 2004. 350 Art. 41 II a ICC-Statut: A judge shall be disqualified from a case in accordance with this paragraph if, inter alia, that judge has previously been involved in any capacity in that case before the Court (…). 351 Regel 15 (D) (i) ICTY-RPE: No Judge shall sit on any appeal in a case in which that Judge sat as a member of the Trial Chamber. 352 Regel 27 ICTY-RPE: Permanent judges shall rotate on a regular basis between the Trial Chamber and the Appeals Chamber. 353 Hintergrund dieser Ausgestaltung war ein Streit der Richter über ihre Verteilung auf die Kammern. Da die Rechtsmittelkammer als prestigeträchtiger galt, wurde letztlich als Kompromisslösung ein Rotationssystem entwickelt; Kamardi, Die Ausformung, 2009, S. 100. Das Rotationsmodell steht im Widerspruch zu der von Art. 12 und 14 III ICTY-Statut intendierten personellen Trennung der Kammern. 354 Kamardi, Die Ausformung, 2009, S. 100. Vor diesem Hintergrund kritisierte auch der Sicherheitsrat das Rotationssystem des ICTY, UN S / Res / 1329 vom 30. November 2000. 355 Triffterer, Commentary, 2008, Art. 39 Rn. 6: „No harmful effects have apparently been felt as a result of that practice.“

III. Die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Gerichtes

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cc) Die vorherige Beteiligung an einem ähnlichen Verfahren Gerade im Rahmen internationaler Ad-hoc-Prozesse stellt sich die Frage nach der Zulässigkeit einer vorherigen Beteiligung des Richters an ähnlich gelagerten Verfahren. Da die Strafgerichte zur Aufarbeitung einer konkreten Konfliktsituation eingesetzt werden, können sich die zu erörternden Rechts- und Sachfragen überschneiden. Anhand zweier Fälle aus der Praxis des ICTY sollen die Grenzen einer Mitwirkung an parallelen Verfahrensentscheidungen thematisiert werden. Im Fall Brdanin & Talić beantragte die Verteidigung den Ausschluss der Richterin Mumba aufgrund ihrer vorherigen Beteiligung in der Rechtssache Tadić.357 Gegenstand beider Verfahren war das Vorliegen eines internationalen Konfliktes als Geltungsvoraussetzung der Genfer Konvention. Der Angeklagte argumentierte, dass Richterin Mumba als Mitglied der Rechtsmittelkammer im Fall Tadić bereits eine positive Entscheidung für die Anwendung des Tatbestandes getroffen habe. Durch die Annahme eines internationalen Konflikts in einem früheren Verfahren hätte die Richterin eine Streitfrage des laufenden Prozesses abschließend beurteilt, so dass Zweifel an der gebotenen Unvoreingenommenheit ihrer erneuten Bewertung bestünden.358 Das Begehren der Verteidigung wurde unter Berufung auf eine fehlende Bindungswirkung des vorangegangenen Urteils abgelehnt. Jede Strafkammer stütze ihre Entscheidung auf die konkrete Beweislage im jeweiligen Verfahren und würde Erkenntnisse aus anderen Verfahren nicht ohne eingehende Prüfung verwenden.359 Der ICTY konnte keine Anzeichen dafür erkennen, dass Richterin Mumba dieser Pflicht zur neutralen Würdigung des Sachverhalts nicht nachkommen wolle.360 Bestätigt wurde diese Einschätzung jüngst im Fall Renzaho am ICTR. Die Berufungskammer lehnte einen Befangenheitsantrag der Verteidigung mit der grundsätzlichen Begründung ab, eine Beteiligung an ähnlichen Verfahren stelle die Unparteilichkeit der Richter nicht in Frage.361 Dies gelte auch für die erneute Vernehmung eines Zeugen, der bereits in einer anderen Verhandlung zu vergleichbaren Fragen gehört worden war.362 Die Rechtsprechung des Tribunals liegt auf einer Linie mit den vom EGMR entwickelten Grundsätzen zur Beteiligung an vergleichbaren Fällen. In der Rechtssache 356 Vgl. Art. 39 IV ICC-Statut: Judges assigned to the Appeals Division shall serve only in that division. 357 ICTY Brdanin / Talic, Decision on Application by Momir Talic for the Disqualification and Withdrawal of a Judge, IT-99-36, 18. Mai 2000. 358 ICTY Brdanin / Talic, Decision on Application by Momir Talic for the Disqualification and Withdrawal of a Judge, IT-99-36, 18. Mai 2000. 359 ICTY Brdanin / Talic, Decision on Application by Momir Talic for the Disqualification and Withdrawal of a Judge, IT-99-36, 18. Mai 2000, Rn. 16 f. 360 ICTY Brdanin / Talic, Decision on Application by Momir Talic for the Disqualification and Withdrawal of a Judge, IT-99-36, 18. Mai 2000, Rn. 16 f. 361 ICTR Renzaho, Appeal Judgement, ICTR-97-31-A, 1. April 2011, Rn. 19. 362 ICTR Renzaho, Appeal Judgement, ICTR-97-31-A, 1. April 2011, Rn. 29, 33.

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

Craxi v. Italien bejahte der Gerichtshof die prinzipielle Möglichkeit einer Mitwirkung an ähnlich gelagerten Verfahren.363 Eine Grenze sei lediglich dort zu ziehen, wo bereits eine Entscheidung über die Schuld des Angeklagten getroffen wurde.364 Der schmale Grat zwischen einer legitimen Bewertung vergleichbarer Sachfragen und der Unzulässigkeit einer erfolgten Schuldannahme wird anhand des KaradžićProzesses deutlich. Karadžić’ Verteidigung richtete sich gegen die Beteiligung von Richter Orie am Verfahren gegen den Angeklagten. Orie hatte zuvor an der Verurteilung im Fall Krajišnik mitgewirkt und den Angeklagten einer gemeinschaftlichen Tatbegehung mit Karadžić für schuldig befunden. Die notwendige Zurechnung der Tatbeiträge hatte eine Feststellung der Beteiligung Karadžić’ erforderlich gemacht. Vor diesem Hintergrund konnte argumentiert werden, dass die Verurteilung Krajišniks eine implizite Bewertung der Schuldfrage im Falle Karadžić enthalte. „Judge Orie and his Chamber established that Krajišnik and Karadžić were members of a joint criminal enterprise, which served as the basis for the conviction of Mr Krajišnik. Reading the Krajišnik judgment one notices numerous highly incriminating findings concerning Mr Karadžić. (…) Basically, it appears that by considering Karadžić as a member of this joint criminal enterprise, the Chamber not only convicted Krajišnik, but also Karadžić.“365

Relativiert wird diese Sichtweise durch den begrenzten Umfang des strafprozessualen Untersuchungsgegenstandes. Da Karadžić’ persönliche Verantwortlichkeit nicht Inhalt des Verfahrens war, wurde keine eigenständige Beweiserhebung über das konkrete Vorliegen der objektiven und subjektiven Merkmale durchgeführt. Eine abschließende Beurteilung der individuellen Tatvoraussetzungen durch den Richter ist somit noch nicht erfolgt. Ohne in der Sache selbst zu entscheiden, löste der ICTY die Streitfrage durch die Überweisung des Verfahrens aus organisatorischen Gründen an eine andere Strafkammer des Gerichts.366 Wenngleich die Mitwirkung von Richter Orie im Ergebnis verhindert wurde, wäre eine inhaltliche Stellungnahme des Tribunals zum Antrag des Angeklagten wünschenswert gewesen.367 Im Vergleich zur Rechtssache Brdanin & Talić weist der Fall Karadžić eine bedeutende Änderung hinsichtlich der Beteiligung des Richters an ähnlich strukturierten Verfahren auf. Während Richterin Mumba ausschließlich im Rahmen einer identischen Sachfrage mit dem Fall befasst war, hatte sich Richter Orie bereits mittelbar mit der Verantwortlichkeit des Angeklagten auseinandergesetzt. Die konkrete Beschäftigung mit der Person des Beschuldigten 363 EGMR Craxi v. Italien, Application No. 63226 / 00, 14. Juni 2001. Auch die vorherige Beteiligung an einer Entscheidung über eine Richterablehnung könne keinen Ausschluss rechtfertigen, EGMR Priebke v. Italien, Application No. 4879999, 5. April 2001, EuGRZ 2001, S. 387. 364 EGMR Priebke v. Italien, Application No. 4879999, 5. April 2001, EuGRZ 2001, S. 387. 365 Sluiter, JICJ 6 / 4 (2008), S. 617 (622 f.). 366 ICTY Karadžić, President Order Reassigning a Case to a Trial Chamber, IT-95-5 / 18-I, 21. August 2008. 367 Sluiter, JICJ 6 / 4 (2008), S. 617 (623).

III. Die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Gerichtes

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und seiner Rolle im Tatgeschehen könnte eine unterschiedliche Bewertung der richterlichen Unparteilichkeit begründen. Aus rechtsstaatlicher Perspektive muss der Anspruch des Angeklagten auf ein unvoreingenommenes Gericht mit den Erfordernissen eines effektiven Verfahrens abgewogen werden. Ließe sich der Ausschluss eines Richters mit jeder thematischen Vorbefassung rechtfertigen, wären Ad-hoc-Verfahren in konkreten Krisensituationen nur mit ständig wechselnder Richterbank durchführbar. Um einen sinnvollen Ausgleich zwischen den Rechten des Angeklagten und der Effektivität des Strafprozesses herzustellen, ist eine restriktive Befangenheitserklärung in besonderen Ausnahmefällen geboten. Die Rechtsprechung des EGMR, die eine vorherige Befassung mit der Verantwortlichkeit des Angeklagten voraussetzt, erscheint aus Sicht der Rechtsstaatlichkeit auf das internationale Strafverfahren übertragbar. Die Feststellung abstrakter Tatbestandsvoraussetzungen ohne Bezug zur Person des Angeklagten steht einer erneuten Beteiligung des Richters am Verfahren nicht entgegen. Seine Mitwirkung müsste jedoch dann versagt werden, wenn im früheren Prozess eine Tatbegehung des Beschuldigten erörtert wurde. Aufgrund seiner Beteiligung an der Rechtssache Krajišnik hätte Richter Orie von einem Verfahren gegen den Mittäter folglich ausgeschlossen werden müssen. An diesem Ergebnis ließe sich mit Blick auf die geltende Auslegung des deutschen Strafprozessrechts zweifeln.368 Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts beruht auf der Überzeugung, dass „der Richter auch dann unvoreingenommen an die Beurteilung einer Sache herantritt, wenn er sich schon früher über denselben Sachverhalt ein Urteil gebildet hat.“369 Dem folgend lehnt der Bundesgerichtshof einen Ausschluss von Richtern aufgrund einer Beteiligung am Verfahren gegen den Mittäter prinzipiell ab.370 Nach Auffassung des Gerichts ist eine formale Trennung der Prozesse genügende Voraussetzung für die Gewährleistung richterlicher Unbefangenheit. Das Gericht dürfe den anerkannten Tatbeitrag im späteren Prozess nicht berücksichtigen, sondern müsse sein Urteil ausschließlich auf die Ergebnisse der konkreten Beweisaufnahme stützen. Da im Verfahren gegen den Mittäter noch keine endgültigen oder verbindlichen Feststellungen zu Lasten des Angeklagten getroffen würden, könne von einer Vorentscheidung des Richters nicht ausgegangen werden.371 Vielmehr gewährleiste der selbständige Verantwortungsbereich des Richters die Unabhängigkeit seines Urteils von früheren Entscheidungen und eine nötige Differenzierung zwischen den Verfahren.372 BVerfGE 30, 149; E 78, 331. BVerfGE 30, 149 (153 f.). 370 BGH, 5 StR 485 / 05, Urt. v. 29.6.2006, Rn. 31, bestätigt durch BVerfG, 2 BvR 1743 / 06 v. 29.1.2007. 371 BGH, 5 StR 485 / 05, Urt. v. 29.6.2006, Rn. 31. 372 BGH, 5 StR 485 / 05, Urt. v. 29.6.2006, Rn. 31; Bittmann, Insolvenzstrafrecht, 2004, S. 732. 368 369

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

Die deutsche Rechtsprechung ist aus rechtsstaatlicher Sicht indes wenig überzeugend und sollte auf internationaler Ebene nicht übernommen werden. Die formale Trennung der Verfahren erscheint unzureichend, um eine tatsächliche Befangenheit des Richters auszuschließen. Ein Richter, der bereits einen Schuldspruch gegen den Mittäter getragen hat, müsste Willens sein, auch eine von der eigenen Entscheidung abweichende Bewertung der Sachlage zu treffen. Mag dies als rechtliche Pflicht begründbar sein, wirft seine Beteiligung in der Praxis berechtigte Zweifel an einer erforderlichen Objektivität im Folgeprozess auf. Eine Befangenheit ist daher grundsätzlich anzunehmen, wenn im Vorfeld des Verfahrens über die Person des Angeklagten – ob mittelbar oder unmittelbar – verhandelt wurde.

4. Vorschläge zur praktischen Gewährleistung von Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Gerichts „In conclusion, it can be stated that, in general, there should be no problem in terms of the protection of the rights of the accused to an independent and impartial tribunal in respect of external pressures.“373

Der optimistischen Betrachtung Zappalàs kann im Hinblick auf die normativen Gewährleistungen eines unabhängigen Gerichts zugestimmt werden. Neben der allgemeinen Verankerung des Prinzips in den Rechtsgrundlagen der Tribunale belegt auch die umfangreiche Rechtsprechung des ICTY ein erkennbares Bewusstsein der internationalen Gemeinschaft für Fragen der Unparteilichkeit. Das theoretische Bekenntnis völkerstrafrechtlicher Tribunale zur Notwendigkeit unabhängiger Gerichtsbarkeit ist indes keine Garantie für die praktische Umsetzung rechtsstaatlicher Grundsätze. Während die Ad-hoc-Tribunale und der ICC aufgrund ihrer internationalen Fundierung auf wenig Kritik bezüglich der Unabhängigkeit ihrer Urteilsfindung stoßen, stellt die Möglichkeit staatlicher Einflussnahme ein Kernproblem hybrider Justizorgane dar. Wenngleich das Verfahrensrecht der hybriden Gerichte das Prinzip richterlicher Unabhängigkeit normativ verwirklicht, bestehen in der Praxis erhebliche Bedenken an der Autonomie nationaler Richter. Das Beispiel der ECCC zeigt die Gefahr einer Einflussnahme staatlicher Instanzen durch die selektive Auswahl und politische Kontrolle juristischen Personals: „[S]trong political interests are involved and (…) a prevalence of corruption and political influence exist in general. Under such circumstances, the risk is that a formal provision that judges shall be independent in the performance of their function will be of little help in practice.“374

Zur wirksamen Umsetzung des rechtsstaatlichen Verfahrensgebotes muss die abstrakte Gewährleistung richterlicher Unabhängigkeit durch flankierende MaßnahZappalà, Human Rights, 2005, S. 104. Friman, Procedural Law, in: Romano / Nollkaemper / Kleffner (Hrsg.), Internationalized Criminal Courts and Tribunals, 2004, S. 317 (331 f.). 373 374

III. Die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Gerichtes

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men ergänzt werden. Ein denkbarer Ansatz zur Verringerung externer Einflussnahmen auf das Gericht ist die verstärkte Einbeziehung der Öffentlichkeit in die Kontrolle der Verfahren. Um eine Auswahl der Richter nach gerechten Kriterien sicherzustellen, muss bereits das Verfahren ihrer Ernennung transparent gestaltet werden.375 Monitoring-Projekte sowie eine enge Zusammenarbeit mit der Presse ermöglichen eine weltweite Beobachtung der Prozesse und eine objektive Bewertung ihrer Unabhängigkeit. Ein weiterer Weg zur Gewährleistung unparteilicher Gerichtsbarkeit besteht in der praktischen Bekämpfung von Korruption und physischer Bedrohung der Richter. Der Anreiz zu unzulässigen Vorteilsannahmen kann bereits durch eine angemessene Bezahlung verringert werden.376 Die Bestechlichkeit von Gerichten stellt sich gerade in Kambodscha als Folge ihrer schlechten Entlohnung und der Notwendigkeit eines Zuverdienstes dar.377 Im internationalen Kontext sollten die Gehälter der nationalen Richter an das Einkommen ihrer ausländischen Kollegen angeglichen werden.378 Einen wichtigen disziplinar- und strafrechtlichen Rahmen können darüber hinaus juristische Verhaltenskodexe379 sowie strenge Vorschriften zur Sanktionierung von Nötigung und Bestechungsdelikten bilden.380 Mit der Einführung einer umfassenden Strafbarkeit und öffentlichen Stigmatisierung wird dem Problem der Korruption auf repressiver wie präventiver Ebene begegnet. Grundlegende Voraussetzung für die Wirksamkeit der Maßnahmen ist jedoch ihre tatsächliche Durchsetzung im Wege gewissenhafter Strafverfolgung durch nationale Behörden. Wenngleich die rechtlichen Möglichkeiten der internationalen Gemeinschaft begrenzt sind, kann politischer Druck die Realisierung des Strafanspruchs fördern. Ein weiteres Hindernis für die autonome Urteilsfindung hybrider Gerichte besteht in der Sorge der Richter um ihre berufliche Zukunft. Hängt ihre Anstellung nach Beendigung der hybriden Verfahren von der Regierung ab, werden nationale Richter einen Konflikt mit staatlichen Interessen vermeiden. Um einen Einfluss des Tatortstaates durch das Druckmittel der beruflichen Existenz zu vermeiden, sollte künftig ein Rechtsanspruch der Richter auf Rückkehr in ihre vorherige Stellung in die Statuten aufgenommen werden.

375

Worden, An Anatomy, in: Abrams / Ramji et al. (Hrsg.), Awaiting Justice, 2005, S. 172

(192). 376 377

Linton, JICJ 4 / 2 (2006), S. 327 (335). Worden, An Anatomy, in: Abrams / Ramji et al. (Hrsg.), Awaiting Justice, 2005, S. 172

(192). 378

Worden, An Anatomy, in: Abrams / Ramji et al. (Hrsg.), Awaiting Justice, 2005, S. 172

(192). 379 Worden, An Anatomy, in: Abrams / Ramji et al. (Hrsg.), Awaiting Justice, 2005, S. 172 (193): „The ECCC should therefore be bound by rigorous and complete rules regarding misconduct by judges, prosecutors and other court personnel and subject to enforceable penalties.“ 380 Linton, JICJ 4 / 2 (2006), S. 330.

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

IV. Die Öffentlichkeit des Verfahrens 1. Inhalt und Reichweite des Öffentlichkeitsprinzips a) Die rechtlichen Grundlagen des öffentlichen Verfahrens Das Prinzip der Öffentlichkeit wird in völkerrechtlichen Verträgen als prozessuales Grundrecht des Angeklagten verankert. Art. 14 Abs. 1 S. 2, 3 IPbpR und Art. 6 Abs. 1 S. 1, 2 EMRK gewährleisten den Zugang der Allgemeinheit zum Verfahren sowie eine öffentliche Verkündung des strafrechtlichen Urteils. „Art. 14 Abs. 1 IPbpR [E]veryone shall be entitled to a fair and public hearing (…) [A]ny judgement rendered in a criminal case or in a suit at law shall be made public (…).“

Die Statuten internationaler Strafgerichte sehen die Öffentlichkeit der Verhandlungen sowohl als individuellen Anspruch des Beschuldigten als auch in Form einer objektiven Prozessgarantie vor. Der Doppelcharakter des Verfahrensgebotes spiegelt sich am ICTY in Art. 20 Abs. 4 und Art. 21 Abs. 2 ICTY-Statut wider. Durch die wiederholte Normierung des Grundsatzes wird die Öffentlichkeit der Verfahren systematisch zugleich als Strukturvorgabe und Prozessrecht verortet. Nähere Präzisierung erfährt das Prinzip durch Regel 78 und 100 B ICTY-RPE, die eine Gewährleistung von Öffentlichkeit für alle Phasen des Verfahrens vorsehen. Die Reichweite der Prozessmaxime am Internationalen Strafgerichtshof entspricht weitgehend den Bestimmungen der Ad-hoc-Tribunale. Während Art. 64 Abs. 7 ICC-Statut das Öffentlichkeitsgebot in der Aufgabendefinition der Hauptverfahrenskammer normiert, legt Art. 67 Abs. 1 ICC-Statut seine subjektive Geltung für den Angeklagten fest. Eine Ausprägung des Grundsatzes für die Veröffentlichung des gerichtlichen Urteils enthält Art. 76 ICC-Statut. Demgegenüber formuliert das Prozessrecht der ECCC das Prinzip der Öffentlichkeit als objektive Garantie des Strafverfahrens. Während die Gewährleistung öffentlicher Verhandlungen in den Rechten des Angeklagten nicht aufgeführt wird, normieren Art. 34 ECCC-LoE sowie Regel 79 Abs. 6 ECCCIR den Grundsatz als allgemeine Prozessvorgabe. Das Prinzip der Öffentlichkeit strafrechtlicher Verfahren gewährleistet jedermann Zugang zu den Verhandlungen eines Gerichts.381 Während eine Eingrenzung der Öffentlichkeit durch beschränkte räumliche Kapazitäten zulässig ist, darf weder ein willkürlicher Ausschluss noch eine bewusste Auswahl des Publikums erfolgen.382 Der Grundsatz verpflichtet das Gericht zu einer offenen Gestaltung der Verfahren und fordert neben der Möglichkeit persönlicher Teilnahme die Aufdeckung prozessrelevanter Dokumente.383 Das Gebot des öffentlichen Verfahrens steht im engen Zusammenhang zu der Mündlichkeit strafprozessualer Verhandlungen. Der rechtsstaatRiepl, Informationelle Selbstbestimmung, 1998, S. 35. Gollwitzer, Menschenrechte, 2005, Art. 6, Rn. 87. 383 Boas, The Milošević Trial, 2007, S. 23; Schabas, The UN International Criminal Tribunals, 2008, S. 515. 381 382

IV. Die Öffentlichkeit des Verfahrens

277

lichen Garantie von Öffentlichkeit wird ein Anspruch auf den unmittelbaren Vortrag wesentlicher Verfahrensvorgänge entnommen. Anderenfalls könnte der beabsichtigte Kontrollzweck öffentlicher Verhandlungen durch die Verlagerung auf eine schriftliche Beweisaufnahme umgangen werden.384 b) Subjektiv- und objektivrechtliche Elemente des Öffentlichkeitsprinzips – Zur Frage der Disponibilität Die Öffentlichkeit strafgerichtlicher Verfahren gilt als Grundprinzip einer demokratischen Gesellschaft.385 Sie erlaubt eine Kontrolle staatlicher Entscheidungen durch die Bevölkerung und wahrt die Einhaltung prozessualer Fairness gegenüber dem Bürger.386 Die primäre Zwecksetzung der Öffentlichkeitsmaxime besteht im Rechtsanspruch des Angeklagten auf eine transparente Verhandlung der Schuldfrage.387 Wenngleich der Schwerpunkt des Verfahrensprinzips in seiner individuellen Schutzfunktion zu sehen ist, enthält das Gebot des öffentlichen Zugangs zugleich objektivrechtliche Gewährleistungen. Der EGMR betont die Bedeutung des Prozessgrundsatzes für die Durchführung eines fairen Verfahrens und das Vertrauen der Bevölkerung in das Justizsystem: „This public character protects litigants against the administration of justice in secret with no public scrutiny; it is also one of the means whereby confidence in the courts can be maintained. By rendering the administration of justice transparent, publicity contributes to the achievement of the aim of article 6(1), namely a fair trial.“388

Obwohl der EGMR einen objektiven Charakter des Öffentlichkeitsgebots erkennt, wird seine Geltung grundsätzlich zur Disposition des Angeklagten gestellt. Nach überwiegender Auffassung im internationalen Recht ist ein Verzicht des Beschuldigten wirksame Grundlage für einen Ausschluss der Öffentlichkeit vom Verfahren.389 Aus rechtsstaatlicher Perspektive muss die Disponibilität des Öffentlichkeitsprinzips jedoch hinterfragt werden. Die Kontrolle strafrechtlicher Verhandlungen dient der Objektivität des Verfahrens sowie der Wahrung richterlicher Unparteilichkeit.390

384 Gollwitzer, Menschenrechte, 2005, Art. 6, Rn. 89. Dies schließt eine Einbringung einzelner Beweisstücke und Zeugenaussagen im Wege des schriftlichen Verfahrens nicht generell aus, fordert jedoch im Interesse der Mündlichkeit eine gesonderte Rechtfertigung. 385 Gollwitzer, Menschenrechte, 2005, Art. 6, Rn. 86. 386 ICTY Tadić, Decision on the Prosecutor’s Motion Requesting Protective Measures for Victims and Witnesses, IT-94-1-T, 10. August 1995, Rn. 32. 387 Gollwitzer, Menschenrechte, 2005, Art. 6, Rn. 91. 388 EGMR Werner v. Austria, Application No. 21835 / 93, 24. November 1997, EHHR 310, Rn. 45. 389 Gollwitzer, Menschenrechte, 2005, Art. 6, Rn. 91 m.w. N. 390 Gollwitzer, Menschenrechte, 2005, Art. 6, Rn. 86.

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

Bedeutendes Gewicht erlangt die Öffentlichkeit der Prozesse mit Blick auf die Strafzwecke internationaler Gerichtsbarkeit. Die Beteiligung der Bevölkerung an den Verfahren ist grundlegende Bedingung einer historischen Aufarbeitung und nationalen Versöhnungspolitik.391 Insbesondere die Einsetzung hybrider Tribunale beruht im Wesentlichen auf einer Integration der Opfer in den Strafprozess. In der Umfrage des Khmer Institute of Democracy (KID) sprachen sich über 95 Prozent der Kambodschaner für die Öffentlichkeit der Verfahren aus. Gut zwei Drittel äußerten den Wunsch, selbst die Verhandlungen der Kammern zu besuchen.392 Die Möglichkeit zu einer besseren Identifikation der Bevölkerung mit den Verfahren würde durch einen Ausschluss von Publikum unterlaufen. Nach Auffassung von Richterin Mumba am ICTY unterstützt die Teilnahme der Öffentlichkeit am Prozess das Verständnis von Inhalt und Ablauf des komplexen völkerstrafrechtlichen Verfahrens: „[P]ublic hearings serve an important educational purpose, by helping people understand how the law is applied to facts that constitute crimes, acting as a check on ‚framed‘ trials, and giving the public a chance to suggest changes to the law or justice system.“393

Können internationale Tribunale die wesentlichen Sach- und Rechtsfragen nicht vermitteln, büßen sie das notwendige Vertrauen der Bevölkerung in ihre Arbeit ein. Da die Anerkennung der Tribunale durch die Betroffenen wesentliche Grundlage ihrer politischen Legitimation ist, sind sie in besonderem Maße zur Transparenz verpflichtet. Wichtiger Maßstab für die Rechtmäßigkeit hoheitlicher Gewalt in demokratischen Strukturen ist das Modell der Legitimation durch Kontrolle.394 Im Wege einer öffentlichen Beobachtung der Verfahren können Entscheidungen des Tribunals nachvollzogen und unter dem Blickwinkel der Rechtsstaatlichkeit geprüft werden. Wird hierdurch das Vertrauen der Bevölkerung in die Urteile der Gerichte gestärkt, erhöht sich die Akzeptanz internationaler Verfahren. Die Möglichkeit objektiver Prozesskontrolle ist grundlegende Bedingung gerichtlicher Legitimität. Der Grundsatz der Öffentlichkeit sollte daher als rechtsstaatlicher Standard anerkannt werden, dessen objektive Gewährleistungen nicht zur individuellen Disposition stehen dürfen. Dem entsprechen die bisherigen Regelungen internationaler Strafgerichte, die das Öffentlichkeitsprinzip als objektiven Verfahrensstandard vorsehen.

391 Mumba, Ensuring a Fair Trial, in: May / Kirk Mc Donald (Hrsg.), Essays on ICTY Procedure and Evidence in Honour of Gabrielle Kirk McDonald, 2001, S. 359 (365). 392 Umfrage des Khmer Institutes of Democracy, The Khmer Institute of Democracy, Results of the Survey in Detail, Fragen 18 und 20 (letzter Zugriff am 24.05.2010). 393 Mumba, Ensuring a Fair Trial, in: May / Kirk Mc Donald (Hrsg.), Essays on ICTY Procedure and Evidence in Honour of Gabrielle Kirk McDonald, 2001, S. 359 (365). 394 Gusy, Gewährleistung, in: Kokott / Vesting et al. (Hrsg.), Die Staatsrechtslehre und die Veränderung ihres Gegenstandes, 2004, S. 151 (184 ff.).

IV. Die Öffentlichkeit des Verfahrens

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2. Die Verwirklichung des Öffentlichkeitsprinzips an internationalen Strafgerichten Die Betrachtung der internationalen Prozessordnungen soll Aufschluss über Inhalt und Reichweite der Gewährleistung des Öffentlichkeitsprinzips im völkerstrafrechtlichen Verfahren geben. Hierbei werden insbesondere die Rolle der Medien sowie die Gestaltung seiner prozessrechtlichen Grenzen in den Blick genommen. a) Mediale Berichterstattung – Die Zulässigkeit audiovisueller Übertragung Die Präsenz der Medien ist als „qualifizierte Form“ der Allgemeinheit vom Grundsatz des öffentlichen Verfahrens erfasst.395 Die Teilnahme von Vertretern der Presse wird im Wege eines Rückschlusses aus Art. 14 Abs. 1 S. 2 IPbpR und Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMKR rechtlich garantiert. Hingegen wirft die Forderung nach einer audiovisuellen Übertragung der Verhandlungen aus dem Gerichtssaal die Frage nach der normativen Reichweite des Öffentlichkeitsprinzips auf. Britz argumentiert mit dem Wortlaut der Bestimmungen und schließt den Geltungsbereich für Rundfunk und Fernsehen aufgrund ihrer fehlenden expliziten Erwähnung aus.396 Der Einwand gegen eine restriktive grammatikalische Auslegung liegt indes auf der Hand. Bei Entstehung der völkerrechtlichen Verträge nahmen audiovisuelle Medien in der Praxis noch keine Rolle ein, die ihre ausdrückliche Normierung gerechtfertigt hätte. Entscheidend ist daher, ob der Telos des Prinzips eine Anwendung des Pressebegriffs auf Radio- und Fernsehprogramme erfordert. Eine überwiegende Ansicht im Schrifttum lehnt eine weite Interpretation der Prozessmaxime mit Blick auf ihre Schutzrichtung ab.397 Der Grundsatz der Öffentlichkeit erfasse lediglich die Gewährleistung einer unmittelbaren Präsenz von Publikum als Garant prozessualer Transparenz. Das Ziel öffentlicher Kontrolle werde bereits durch den persönlichen Zugang der Allgemeinheit erreicht und setze eine Anwesenheit audiovisueller Medien nicht zwingend voraus.398 Entsprechend wird die Zulassung von Film- und Tonaufnahmen im deutschen Strafprozess grundsätzlich untersagt (§ 168 S. 2 GVG). Nach internationalen Standards ist die Öffnung des Verfahrens für Rundfunk und Fernsehen normativ nicht geboten. Aus rechtspolitischer Sicht könnten sich jedoch Gründe für ein umfassenderes Verständnis des Öffentlichkeitsprinzips ergeben. Die Argumente gegen eine Übertragung von Gerichtsverhandlungen sind insbesondere auf internationaler Ebene nicht überzeugend. Als wesentliche Einwände 395 396 397 398

Ehlers / Becker, Europäische Grundrechte, 2005, § 6 Rn. 49. Britz, Fernsehaufnahmen, 1999, S. 95. Gollwitzer, Menschenrechte, 2005, Art. 6, Rn. 88. Gollwitzer, Menschenrechte, 2005, Art. 6, Rn. 88.

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

werden die Beeinträchtigung der Wahrheitsfindung und eine Gefahr für die richterliche Unabhängigkeit erhoben.399 Das Bewusstsein eines öffentlichen Auftritts beeinflusse das Aussageverhalten der Zeugen und übe unzulässigen Druck auf die Kammer aus.400 Tatsächliche Auswirkungen medialer Präsenz sind empirisch indes nicht nachgewiesen und aus sozialpsychologischer Sicht vielfach bestritten.401 Ferner werden mögliche Folgen von Film- und Rundfunkübertragungen im Rahmen des völkerstrafrechtlichen Verfahrens weiter abgeschwächt. Angesichts der politischen Brisanz der Verbrechen erreichen bereits die Printmedien eine weltweite Öffentlichkeit. Ein nachteiliger Effekt audiovisueller Aufnahmen erscheint vor dem Hintergrund des bestehenden Bekanntheitsgrades internationaler Strafprozesse nur begrenzt denkbar. Demgegenüber kommt der Verbreitung völkerstrafrechtlicher Verfahren gerade in der Bevölkerung des Tatortstaates eine wichtige Bedeutung zu. Die Gewährleistung einer umfassenden Öffentlichkeit dient der politischen Bildung und Aufklärung in der Region. Finden die Verfahren außerhalb des Konfliktgebietes statt, kann eine Teilnahme der Betroffenen oftmals nur durch Fernseh- oder Radioberichte verwirklicht werden. Auch an hybriden Tribunalen mit Sitz im Tatortstaat ist es einem Großteil der Bevölkerung nicht möglich, die Verfahren dauerhaft persönlich zu verfolgen. Die Übertragung im Fernsehen wird daher mehrheitlich als Chance zur praktischen Öffnung der Prozesse für die breite Allgemeinheit angesehen. Eine Umfrage des KID belegt die rechtspolitische Zweckmäßigkeit audiovisueller Berichterstattung im internationalen Strafverfahren aus Sicht der Bevölkerung: „If the trials should be public how should it be made public? 75.4 % Radio 89.3 % Television.“402

Völkerrechtliche Straftribunale sehen die Zulassung von Film- und Tonaufnahmen in ihren Verhandlungen explizit vor. Regulation 21 Abs. 1 Geschäftsordnung des ICC erweitert die Garantie des öffentlichen Verfahrens ausdrücklich auf eine adäquate Außendarstellung: „The publicity of hearings may extend beyond the courtroom and may be through broadcasting by the Registry or release of transcripts or recordings, unless otherwise ordered by the Chamber.“

Entsprechend verpflichtet Regel 79 Abs. 6 der Internal Rules die ECCC zur öffentlichen Übertragung ihrer Prozesse. Die Verfahrensordnung des ICTY erlaubt neben den audiovisuellen Aufzeichnungen durch die Gerichtskanzlei einen Mitschnitt seiner Verhandlungen durch private Medien. Nach Regel 82 ICTY-RPE steht Weiler, ZRP 1995, S. 130 (134); Hamm, NJW 1995, S. 760. Hofmann, ZRP 1996, S. 403. 401 Gehring, ZRP 1998, S. 8 (9 f.). 402 The Khmer Institute of Democracy, Results of the Survey in Detail, STAND, Frage 19 (letzter Zugriff am 24.05.2010). 399 400

IV. Die Öffentlichkeit des Verfahrens

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die Zulassung von Fernseh- und Rundfunkunternehmen im Ermessen des Tribunals, dessen Ausübung jedoch keinen festgelegten Richtlinien unterworfen ist. Aufgrund der Bedeutung medialer Berichterstattung für die praktische Herstellung von Öffentlichkeit sollten künftig eindeutige Maßstäbe für Anerkennung und Ausschluss der Presse entwickelt werden. In der Praxis sieht sich der ICTY einer transparenten Verfahrensgestaltung verpflichtet und erlaubt durchgängige Übertragungen der Verhandlungen im Internet.403

b) Einschränkungen des Öffentlichkeitsprinzips Wenngleich die Öffentlichkeit der Prozesse für die Umsetzung internationaler Verfahrensziele wesentlich ist, können Einschränkungen des Grundsatzes im Einzelfall geboten sein.

aa) Der Ausschluss der Öffentlichkeit im Einzelfall Völkerrechtliche Abkommen sehen die Möglichkeit zur Begrenzung des Öffentlichkeitsprinzips bereits explizit in ihren Vertragstexten vor. EMRK und IPbpR bestimmen im Wesentlichen fünf Gründe, die einen Ausschluss der Allgemeinheit rechtfertigen können. Interessen der Moral, der öffentlichen Ordnung und nationalen Sicherheit sowie die Belange privater Personen und der Justiz werden als Legitimation prozessualer Eingriffe anerkannt. „Art. 6 Abs. 1 S. 2 EMRK: [The] public may be excluded from all or part of the trial in the interests of morals, public order or national security in a democratic society, where the interests of juveniles or the protection of the private life of the parties so require, or to the extent strictly necessary in the opinion of the court in special circumstances where publicity would prejudice the interests of justice.“404

Als Handlungsgrundlage für staatliche Verfahrensordnungen werden die Grenzen des Öffentlichkeitsgebotes in internationalen Menschenrechtsverträgen weit gezogen. Die unterschiedlichen Anforderungen innerstaatlicher Strafprozesse erfordern eine flexible Gestaltung des öffentlichen Zugangs zu gerichtlichen Verhandlungen. Aufgrund der klaren Verpflichtung internationaler Straftribunale auf eine historische Aufarbeitung regionaler Konflikte sind Einschränkungen des Öffentlichkeitsprin403 United Nations, International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia, About the ICTY, Courtroom Broadcast (letzter Zugriff am 24.05.2010): „The Tribunal has a policy of transparency and of making its proceedings as open as any court in the world. All trials at the ICTY are open to the public and proceedings from the Tribunal’s three courtrooms are broadcast on the internet in order for audiences across the globe to follow proceedings. Judgements and initial appearances – when the accused faces the court for the first time – are broadcast live. All other sessions are broadcast with a 30-minute delay as part of system to correct any confidential information that any party may accidentally provide the court.“ 404 Eine entsprechende Formulierung findet sich in Art. 14 Abs. 1 IPbpR.

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

zips im völkerstrafrechtlichen Kontext grundsätzlich restriktiver zu fassen. Da die Öffentlichkeit der Verhandlungen ein wesentliches Verfahrensziel ist, können gegenläufige Belange nur in wenigen Ausnahmefällen überwiegen. Im Vordergrund von Eingriffsbestimmungen stehen in erster Linie die Interessen von Zeugen und Opfern, deren Sicherheit im internationalen Verfahren besondere Bedeutung beizumessen ist. Die Möglichkeit von in camera Prozessen zum Schutz der Beteiligten wird in den Verfahrensregelungen der völkerstrafrechtlichen Tribunale ohne Ausnahme verwirklicht (Art. 22 ICTY-Statut, Art. 68 Abs. 2 ICC-Statut sowie Regel 29 Abs. 4 ECCC-IR). Vorbildcharakter sollte hierbei den Vorgaben des ICC zukommen, die der Abwägung zwischen Öffentlichkeit und persönlicher Sicherheit einen klaren rechtlichen Rahmen setzen. Durch die Festlegung eines Regelfalles wird die Vorstellung des Normgebers von den Parametern eines fairen Ausgleichs der Prozessinteressen präzisiert. „Art. 68 Abs. 2 ICC-Statut: As an exception to the principle of public hearings (…), the Chambers of the Court may, to protect victims and witnesses or an accused, conduct any part of the proceedings in camera (…). In particular, such measures shall be implemented in the case of a victim of sexual violence or a child who is a victim or a witness, unless otherwise ordered by the Court, having regard to all the circumstances, particularly the views of the victim or witness.“

Am ICTY hat die Rechtsprechung den Versuch unternommen, gerechte Kriterien für die Durchsetzung des Öffentlichkeitsprinzips zu entwickeln.405 Im Fall Milosević verdeutlichte das Gericht die Notwendigkeit einer restriktiven Interpretation prozessualer Eingriffstatbestände für die Gewährleistung internationaler Verfahrensziele. „This Trial Chamber exercised great care in granting closed session testimony due to its regards for the rights of the accused to a fair and public hearing (…) and accordingly has granted closed session testimony only in very limited circumstances, including where extraordinary risks attach to the witness’s own safety.“406

Im Widerspruch zu den judikativ entwickelten Grundsätzen steht die Normierung allgemeiner Rechtfertigungsgründe zum Ausschluss der Öffentlichkeit. Die Prozessordnung des ICTY übernimmt die weiten Bestimmungen völkerrechtlicher Verträge ohne ihren Geltungsbereich an die Besonderheiten des internationalen Strafrechts anzupassen.407 Die Formulierung von Regel 79 ICTY-RPE entspricht den Vorgaben der EMRK ohne die begriffliche Unschärfe ihrer Voraussetzungen zu mildern.408 Insbesondere die Annahme einer Einschränkungsmöglichkeit im Interesse Boas, The Milošević Trial, 2007, S. 24. ICTY Milosević, Confidential Decision on Prosecution Motion for Protective Measures for Sensitive Source Witnesses Testifying During the Croatia Phase of the Trial, IT-02-54-T, 17. September 2002, Rn. 15. 407 Britz, Fernsehaufnahmen, 1999, S. 95 m.w. N. 408 Regel 79 ICTY-RPE: (A) The Trial Chamber may order that the press and the public be excluded from all or part of the proceedings for reasons of: 405 406

IV. Die Öffentlichkeit des Verfahrens

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der Gerechtigkeit („interests of justice“) kann in ihrer Unbestimmtheit den notwendig hohen Anforderungen an die Versagung von Öffentlichkeit im internationalen Strafverfahren nicht genügen.409 An den ECCC wird ein Ausschluss von Publikum zum Schutz von Zeugen sowie zur Wahrung der öffentlichen Ordnung („public order“) vorgesehen (Regeln 29 Abs. 4, 79 Abs. 6 und 109 Abs. 3 ECCC-IR). Wenngleich die Bestimmungen gegenüber den Vorgaben der Ad-hoc-Tribunale enger gefasst sind, wäre eine Präzisierung ihrer Voraussetzung zur Lenkung des richterlichen Ermessens wünschenswert. Dem Begriff der öffentlichen Ordnung könnte durch die Normierung von Regelbeispielen klare Konturen gegeben werden.

bb) Der grundsätzliche Ausschluss der Öffentlichkeit im Vorverfahren der ECCC Eine besondere Problematik im Hinblick auf die Gewährleistung öffentlicher Verhandlungen stellen die Regelungen des Vorverfahrens an den ECCC dar. Art. 13 ECCC-Agreement sowie Art. 34 ECCC-LoE enthalten das Prinzip der Öffentlichkeit als allgemeinen Verfahrensgrundsatz. Die Internal Rules formen das Gebot näher aus und differenzieren seinen materiellen Gehalt nach den Phasen des Verfahrens. Für das Hauptverfahren sieht Regel 79 Abs. 6 ECCC-IR die öffentliche Verhandlung und Bekanntgabe des Schuldspruchs als normativen Regelfall vor. In entsprechender Weise wird die Allgemeinheit nach Regel 109 Abs. 1 ECCC-IR zum Berufungsverfahren zugelassen. Als grundlegend verschieden erweist sich jedoch die Gestaltung des Vorverfahrens. Die Verhandlungen der Kammer sind im Grundsatz vertraulich und erlauben den Zugang der Öffentlichkeit lediglich im Ausnahmefall. Die Einschränkung des Öffentlichkeitsprinzips gilt gemäß den Regeln 71 und 72 ECCC-IR zunächst für Entscheidungen über interne Streitigkeiten zwischen den nationalen und internationalen Organen des Gerichts.410 Regel 77 Abs. 5 ECCC-IR erweitert den Ausschluss der Öffentlichkeit auf die übrigen Verfahren der Kammer. Verhandlungen über die Untersuchungshaft des Angeklagten oder die Jurisdiktion des Gerichts finden daher regelmäßig in camera statt. Die Öffentlichkeit kann nach Regel 77 Abs. 6 ECCC-IR zum Verfahren zugelassen werden, wenn weder Interessen der Gerechtigkeit noch der Schutz von Zeugen oder der gesellschaftlichen Ordnung entgegenstehen. Dies gilt in besonderer Weise im Falle eines vorzeitigen Abschlusses des Prozesses. Folgerichtig ordnete die Vorverfahrenskam(i) public order or morality; (ii) safety, security or non-disclosure of the identity of a victim or witness as provided in Rule 75; or (iii) the protection of the interests of justice. 409 Britz, Fernsehaufnahmen, 1999, S. 95 m.w. N. 410 Regel 71 ECCC-IR betrifft Verfahren zwischen den Staatsanwälten (Co-Prosecutor), Regel 72 ECCC-IR Konflikte zwischen den Ermittlungsrichtern (Co-Investigating Judges).

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

mer im Fall Khieu Samphan eine öffentliche Durchführung der Verhandlungen über die Untersuchungshaft an. Aufgrund von Verfahrensfehlern hatte die Verteidigung die endgültige Freilassung des Beschuldigten gefordert.411 Wenngleich das Vorverfahren nicht unmittelbarer Gegenstand dieser Untersuchungen ist, soll in gebotener Kürze auf die geäußerte Kritik an den in camera Prozessen eingegangen werden. Internationale Nichtregierungsorganisationen (NGO) bemängeln die generelle Vertraulichkeit des Vorverfahrens als wesentliche Einschränkung der Prozessgrundrechte des Angeklagten.412 Ferner sei ein grundsätzlicher Ausschluss von Publikum angesichts der Bedeutung öffentlicher Verhandlungen für den regionalen Versöhnungsprozess abzulehnen. Die Regelungen der ECCC stünden im Widerspruch zu den erklärten Verfahrenszielen des Tribunals, das sich einer umfassenden gesellschaftlichen Aufarbeitung verpflichtet habe.413 Da insbesondere im kontinentaleuropäischen Recht wichtige Entscheidungen bereits durch die Vorverfahrenskammer getroffen würden, müsse der Grundsatz der Öffentlichkeit auf alle Phasen des Strafprozesses Anwendung finden. Verwiesen werden könne hierbei auf jüngere Änderungen des französischen Verfahrensrechts, das die Verhandlungen vor dem „chambre d’instruction“ nunmehr öffentlich gestalte.414 Die Bewertung der Verfahrensregelung an den ECCC muss anhand rechtlicher wie rechtspolitischer Maßstäbe erfolgen. Aus normativer Perspektive stellt sich zunächst die Frage nach ihrer Vereinbarkeit mit internationalen Prozessstandards.415 Der grundsätzliche Ausschluss der Allgemeinheit vom Vorverfahren könnte als Verstoß gegen die Gewährleistung des Öffentlichkeitsprinzips in EMKR und IPbpR zu werten sein. Verpflichtet die internationale Geltung des Gebotes völkerstrafrechtliche Tribunale zur Durchführung öffentlicher Verhandlungen in allen Instanzen, wären die Vorgaben der Internal Rules nicht haltbar. Nach überwiegender Ansicht beschränkt sich der Grundsatz des öffentlichen Verfahrens auf die Hauptverhandlung als Kernstück des strafrechtlichen Prozesses.416 Eine öffentliche Kontrolle sei allein im Rahmen des Beweisverfahrens zwingend, das die rechtliche Grundlage für eine spätere Urteilsfindung bilde. Verhandlungen im Vorfeld oder Nachgang des Hauptverfahrens könnten dann von der Geltung des 411 ECCC, Decision on Khieu Samphan’s Request for a Public Hearing, 002 / 19-09-2007ECCC / OCIJ (PTC11), 4. November 2008. 412 Cambodian Human Rights Action Committee, Comments on the ECCC Drafts Internal Rules, Phnom Penh, Cambodia, 17. November 2006 (letzter Zugriff am 24.05.2010). 413 Human Rights Watch, Paper vom 17. November 2006, To: Secretariat of the Rules and Procedure Committee Extraordinary Chambers of the Courts of Cambodia (letzter Zugriff am 24.05.2010). 414 Human Rights Watch, Paper v. 17. November 2006, To: Secretariat of the Rules and Procedure Committee Extraordinary Chambers of the Courts of Cambodia (letzter Zugriff am 24.05.2010). 415 Bassiouni / Manikas, The Law, S. 959. 416 Gollwitzer, Menschenrechte, 2005, Art. 6, Rn. 92; EKMR, ÖJZ 1991, S. 324.

IV. Die Öffentlichkeit des Verfahrens

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Prinzips ausgenommen werden, wenn effektive Ausnahmeregelungen bestehen.417 Unter dem Blickwinkel völkerrechtlicher Zulässigkeit sind die Bestimmungen der ECCC für das Vorverfahren nicht zu beanstanden. Wenngleich internationale Menschenrechtsverträge keine zwingende Geltung des Öffentlichkeitsgrundsatzes für das Vorverfahren bestimmen, kann rechtspolitisch eine andere Wertung geboten sein. Der Kritik internationaler Verbände ist zuzugeben, dass eine transparente Prozessgestaltung wesentliche Voraussetzung für die Verwirklichung völkerstrafrechtlicher Zielvorstellungen ist. Aus rechtsstaatlicher Sicht ist eine Kontrolle der Prozesse zur Sicherstellung einer unabhängigen Aufgabenwahrnehmung zu jedem Zeitpunkt des Verfahrens von Bedeutung. Um eine tatsächliche Identifikation der Bevölkerung mit den Tribunalen zu erreichen, muss ihr Ausschluss von den Verhandlungen rechtlicher und praktischer Ausnahmefall bleiben. Interne Konflikte zwischen den nationalen und internationalen Vertretern des Gerichts sind hiervon jedoch weiterhin auszunehmen. Die Integrität der Tribunale erfordert es, Streitigkeiten zwischen den eigenen Organen vertraulich zu behandeln. Im Rahmen einer Revision der Internal Rules sollte die Zulassung von Öffentlichkeit als Regelfall des Vorverfahrens festgelegt werden.

3. Die praktischen Voraussetzungen von Öffentlichkeit im Völkerstrafrecht Der Grundsatz des öffentlichen Verfahrens wird in den Prozessordnungen der internationalen Strafgerichte ausnahmslos garantiert. Soll die Zulassung der Allgemeinheit nicht abstraktes Verfahrensprinzip bleiben, muss sie sich in der gerichtlichen Praxis auswirken. Erschöpft sich die Gewährleistung prozessualer Öffentlichkeit in einer verbindlichen Normaussage, sind die Verfahrensziele von Kontrolle und Aufklärung nicht abschließend erreicht. Die Verantwortung internationaler Tribunale endet nicht mit einer formalen Anerkennung prozessualer Rechte, sondern verpflichtet die Gerichte zur Gestaltung praktischer Grundlagen für ihre Umsetzung. Was bedeutet das Gebot der Öffentlichkeit in der Realität des völkerstrafrechtlichen Verfahrens? Wenngleich nach den Aussagen der Statuten jedermann zur Prozessteilnahme befugt ist, setzt der internationale Kontext einer effektiven Rechtsausübung tatsächliche Grenzen. Während im nationalen Recht Tatort und Gerichtssitz regelmäßig zusammenfallen, finden völkerstrafrechtliche Verfahren oftmals außerhalb der Krisenregion statt. In diesen Fällen ist der Bevölkerung eine persönliche Anwesenheit in den Verhandlungen nicht ohne Weiteres möglich. Wie dargelegt, stehen der öffentlichen Teilnahme auch an hybriden Tribunalen mit Sitz im Konfliktgebiet praktische Hürden entgegen. Gerade in wirtschaftlich schwachen Staaten können die Bewohner nur selten den Weg zum Gericht auf sich nehmen und für einen Besuch der Verhandlungen auf Arbeitseinkünfte verzichten. 417

Gollwitzer, Menschenrechte, 2005, Art. 6, Rn. 92; EKMR, ÖJZ 1991, S. 324.

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

Um die Öffentlichkeit der Verfahren substanziell zu garantieren, müssen andere Formen einer Gewährleistung von Präsenz und demokratischer Kontrolle entwickelt werden. Besonderes Gewicht kommt hierbei den Medien zu, die eine Überwachung und Verbreitung des Prozessgeschehens bewirken können. Ferner macht eine reflektierende Begleitung der Prozesse durch internationale Monitoring-Projekte das komplexe völkerstrafrechtliche Verfahren einer globalen Öffentlichkeit verständlich.418 Hierbei erstellen Mitarbeiter vor Ort wöchentliche Berichte zum Stand der Verhandlungen und ihren wesentlichen materiellen wie prozessualen Problemen. Die Beobachtung der Verfahren durch Monitoring-Gruppen ermöglicht eine transparente Prozessgestaltung und fördert die Einhaltung notwendiger Rechtsstandards. Entsprechende Vorhaben sollten vom Gericht privilegiert behandelt und durch die Staatengemeinschaft unterstützt werden. Mit der medialen Übertragung der Gerichtsverfahren wird ein wichtiger Beitrag zur Bildung der Öffentlichkeit geleistet.419 Gleichwohl sind der Informationstätigkeit der Medien in den Tatortstaaten praktische Grenzen gesetzt. Aufgrund der hohen Rate von Analphabetismus in Ländern wie Kambodscha420 oder Osttimor421 kann eine flächendeckende Information durch Berichte der Zeitungen nicht erreicht werden. Insbesondere in den Randprovinzen sich entwickelnder Staaten fehlt es zudem regelmäßig an den materiellen Voraussetzungen für die Anschaffung von Fernsehapparaten. Die effektivste Möglichkeit zur Kommunikation der gerichtlichen Verfahren besteht in der Gestaltung von Radioprogrammen, die einem Großteil der Bevölkerung zugänglich sind.422 In Kambodscha haben sich eigens geschaffene Radiosendungen und Hörspiele als geeignetes Mittel zur weitgehenden Information der Bevölkerung über die Arbeit der ECCC erwiesen.423 Das Prinzip der Öffentlichkeit ist im internationalen Strafverfahren nicht ausschließlich normativ zu realisieren. Um das Ziel öffentlicher Kontrolle und Transparenz tatsächlich zu gewährleisten, müssen ergänzende Konzepte zur Aufklärung der Bevölkerung umgesetzt werden.424 Die Staatengemeinschaft steht hierbei in der Verantwortung, durch eine Zusammenarbeit mit Medien und internationalen NGOs die Grundlagen der gerichtlichen Arbeit zu vermitteln. In seinem Bericht zu den ECCC 418 Siehe beispielhaft die Monitoring-Projekte der UC Berkeley, War Crimes Studies Center, University of California, Berkeley (letzter Zugriff am 24.05.2010). 419 von Braun, VN 55 / 4, 2007, S. 148 (150). 420 In Kambodscha liegt die Quote des Analphabetismus bei ca 30 Prozent; http://www.81asien.s-cool.org/?action=ctr (letzter Zugriff am 26.05.2010). 421 Zum Zeitpunkt der Verfahren in Osttimor lag die Rate von Analphabetisten bei über 54%. Heute geht man von schätzungsweise 41% aus; http://www.127-australien.s-cool.org/? action=ctr (letzter Zugriff am 26.05.2010). 422 Fleschenberg, Asien 102 (2007), S. 63 (70). 423 Siehe beispielhaft das Radioprogramm des Women’s Media Center of Cambodia, http:// www.womensmediacenter.com (letzter Zugriff am 26.05.2010). 424 Open Society Justice Initiative, Priority Issues For Interested States concerning the Extraordinary Chambers, April 2006 (letzter Zugriff am 24.05.2010).

V. Die Unschuldsvermutung

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bewertete der UN-Generalsekretär eine aktive Öffentlichkeitsarbeit des Gerichts als integralen Bestandteil seiner Verpflichtung zur nationalen und individuellen Aufarbeitung.425 In einem ersten Schritt haben die Statuten internationaler Tribunale eine generelle Zulassung von Printmedien, Rundfunk und Fernsehen zu garantieren.426 Mit der zusätzlichen Unterstützung von Outreach-Programmen können die Menschen vor Ort über die Verfahren informiert und Transporte zu den Kammern organisiert werden. Aufklärungsveranstaltungen, Theater- und Filmvorführungen erreichen einen breiten Teil der Bevölkerung und stellen eine faktische Öffentlichkeit für das internationale Strafverfahren her.427 Die wirksame Gewährleistung des Öffentlichkeitsprinzips ist Pfeiler eines transparenten und rechtsstaatlichen Strafverfahrens. Soll die Prozessmaxime im internationalen Recht keine Leerformel sein, müssen Gericht und Staatengemeinschaft die materielle Herstellung von Öffentlichkeit durchsetzen.

V. Die Unschuldsvermutung 1. Die rechtlichen Grundlagen a) Die normative Verankerung der Unschuldsvermutung Das Prinzip der Unschuldsvermutung findet seine rechtliche Fundierung bereits in Art. 9 der Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen aus dem Jahr 1789.428 In der Folgezeit wurde die Unschuldsvermutung durch Art. 11 AEMR sowie nahezu wortgleich in Art. 6 Abs. 2 EMRK und Art. 14 Abs. 2 IPbpR übernommen. „Art. 14 Abs. 2 IPbpR: Everyone charged with a criminal offence shall have the right to be presumed innocent until proved guilty according to law.“

Als allgemeiner Rechtsgrundsatz kann die Unschuldsvermutung in den nationalen Verfassungen einer weit überwiegenden Mehrheit der Staaten Geltung beanspruchen.429 Ein Blick auf das deutsche Grundgesetz führt jedoch zu der überraschenden Erkenntnis, dass keine explizite normative Festschreibung des Prinzips existiert. Gleichwohl bestätigte das BVerfG den Verfassungsrang der Unschuldsvermutung 425 Report of the Secretary-General on the Khmer Rouge Trials, UN. General Assembly, 59th Session, U.N. doc A / 59 / 43, 12. Oktober 2004, Rn. 22. 426 Ambach, Hybride internationale Strafgerichte, 2009, S. 324. 427 War Crimes Studies Center, University of California, Berkeley, Cambodia Outreach Program, Watching Justice in Motion: Trial films at the Extraordinary Chambers in the Courts of Cambodia, http://socrates.berkeley.edu/~warcrime/cambodia_outreach_program.html (letzter Zugriff am 24.05.2010). 428 Art. 9 Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen: Tout homme étant présumé innocent jusqu’à ce qu’il ait été coupable (…). 429 Gropp, JZ 1991, S. 804.

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

als unmittelbare Konsequenz des Rechtsstaatsprinzips und der Menschenwürde des Einzelnen.430 Stellt sich die Gewährleistung der Unschuldsvermutung als Grundvoraussetzung einer an rechtsstaatlichen Maßstäben orientierten Verfahrensordnung dar, musste sie notwendige Vorgabe für die Entwicklung völkerrechtlicher Prozessnormen sein. Folgerichtig hat das Prinzip der Unschuldsvermutung in den Rechtsgrundlagen der internationalen Straftribunale ausdrückliche Berücksichtigung gefunden. Das Statut des ICC normiert Geltung und Folgen des Grundsatzes sowie seine Bedeutung für die Beweislastverteilung im Verfahren. „Art. 66 ICC-Statut: 1. Everyone shall be presumed innocent until proved guilty before the Court in accordance with the applicable law. 2. The onus is on the Prosecutor to prove the guilt of the accused. 3. In order to convict the accused, the Court must be convinced of the guilt of the accused beyond reasonable doubt.“

Die Bestimmungen der Ad-hoc-Tribunale und der hybriden Gerichte beschränken sich auf eine grundsätzliche Einbeziehung des Prinzips in den Rechten des Angeklagten. Die Verankerung der Unschuldsvermutung in Art. 35 Abs. 1 new ECCC-LoE sowie Art. 21 Abs. 3 ICTY-Statut enthalten keine Ausführungen zu den Wirkungen des Prinzips:431 „Article 21 Abs. 3: The accused shall be presumed innocent until proved guilty according to the provisions of the present Statute.“

Trotz ihrer abweichenden Normierung knüpfen sich an die Unschuldsvermutung in den Statuten völkerstrafrechtlicher Tribunale vergleichbare prozessuale Rechtsfolgen. Die Reichweite des Prinzips erstreckt sich auf grundsätzliche Fragen der Beweiswürdigung sowie auf die Voraussetzungen des richterlichen Urteilsspruchs. Nach einer Darstellung der rechtlichen Folgen und grundsätzlichen Bedeutung der Unschuldsvermutung für die Gewährleistung eines rechtsstaatlichen Verfahrens sollen drei wesentliche Problemkreise umrissen werden. Die Rolle der Medien, das Verfahren der guilty plea und die Anordnung von Untersuchungshaft stellen besondere Herausforderungen an die Umsetzung des Prinzips im internationalen Strafrecht.

430 BVerfGE 19, 342 (347); 22, 254 (265); 74, 358 (369): „Die Unschuldsvermutung ist eine besondere Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips und hat damit Verfassungsrang.“ Die Landesverfassungen sehen hingegen ausdrückich die Geltung der Unschuldsvermutung vor, so beispielsweise in Art. 65 II VvB, Art. 6 III Landesverfassung Bremen, Art. 30 II 1 Landesverfassung Hessen. 431 Gleiches gilt für die Bestimmungen der hybriden Gerichte. Beispielhaft sei die Formulierung der Regel 21 I d) der Internal Rules der ECCC genannt: „Every person suspected or prosecuted shall be presumed innocent as long as his / her guilt has not been established.“

V. Die Unschuldsvermutung

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b) Die rechtlichen Folgen der Unschuldsvermutung Die Anerkennung der Unschuldsvermutung erstreckt sich auf alle Stadien des Verfahrens und fordert eine entsprechende Behandlung des Angeklagten innerhalb und außerhalb des Prozessgeschehens.432 Die wichtigsten Konsequenzen aus der Annahme einer Nichtschuld des Verdächtigen bestehen in der Beweislastverteilung zu seinen Gunsten und der materiellrechtlichen Geltung des Grundsatzes „in dubio pro reo“.433 Art. 66 Abs. 2 ICC-Statut überträgt die Pflicht zum positiven Schuldnachweis ausdrücklich auf den Ankläger, in dessen Aufgabenbereich die Darlegung einer belastenden Beweissituation fällt. Wenngleich eine äquivalente Bestimmung in den Statuten der Ad-hoc-Tribunale fehlt, ist die Beweislastregelung als notwendige Folge der Unschuldsvermutung im völkerstrafrechtlichen Verfahren allgemein anerkannt.434 Ein Unterschied in der Reichweite der Beweispflicht ergibt sich aus der Anwendung von Art. 67 Abs. 1 (i) ICC-Statut, der ein generelles Verbot der Beweislastumkehr begründet.435 Während hierdurch eine umfassende Geltung der Beweisregel begründet wird, sieht das Verfahrensrecht des ICTY einzelne Ausnahmen im prozessualen Bereich vor. Nach Regel 92 der ICTY-RPE gilt beispielsweise ein Geständnis, das unter Einhaltung der verfahrensrechtlichen Vorgaben abgelegt wurde, als freiwillig.436 Der Angeklagte kann sein Schuldbekenntnis nicht unter Hinweis auf eine mögliche Zwangseinwirkung frei widerrufen, sondern muss die Unfreiwilligkeit seiner Aussage nachweisen. Angesichts der allgemeinen Verbotsregel des ICC-Statuts stellt Cassese die Zulässigkeit einer Beweislastumkehr in den ICTYRPE in Frage.437 Ein Vergleich mit der deutschen Strafprozessordnung zeigt jedoch, dass im nationalen Recht die Anwendung von „in dubio pro reo“ auf prozessuale Fragen grundsätzlich ausgeschlossen werden kann. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) ist eine Beweislastumkehr im Rahmen verfahrensrechtlicher Vorfragen mit dem Prinzip der Unschuldsvermutung vereinbar.438 Aus der Idee der Unschuldsvermutung lässt sich somit kein zwingendes Verbot hinsichtlich der Auferlegung prozessualer Beweisobliegenheiten des Angeklagten entnehmen. 432 Cassese, International Criminal Law, 2008, S. 390; Safferling, Towards an International Criminal Procedure, 1999, S. 89. 433 Cassese, International Criminal Law, 2008, S. 391. 434 Zappalà, Human Rights, 2005, S. 91. 435 Art. 67 I (i) IStGH-Statut: Not to have imposed on him or her any reversal of the burden of proof or any onus of rebuttal. 436 Regel 92 ICTY-RPE: A confession by the accused given during questioning by the Prosecutor shall, provided the requirements of Rule 63 were strictly complied with, be presumed to have been free and voluntary unless the contrary is proved. 437 Cassese, International Criminal Law, 2008, S. 391: „The reversal of the burdon of proof provided for in Rule 92 of the ICTY RPE (…) is perhaps of doubtful legality.“ 438 Statt aller: BGHSt 38, 214 (224).

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

In engem Zusammenhang mit der Darlegungspflicht der Anklagebehörde steht die Anwendung des Grundsatzes „in dubio pro reo“ als Gebot der richterlichen Entscheidungsfindung.439 Eine Verurteilung des Angeklagten ist nur auf Grundlage eines Schuldnachweises zulässig, der die Verantwortlichkeit des Täters ohne vernünftigen Zweifel („beyond reasonable doubt“440) belegt. Eine Ausprägung des Prinzips ist die Möglichkeit eines frühzeitigen Freispruchs bei unzureichender Beweislage nach Regel 98bis ICTY-RPE dar. Sieht das Gericht nach Beendigung der Beweisführung durch den Ankläger keine Hinweise für die Bestätigung des Tatvorwurfs, stellt es das Verfahren gegen den Beschuldigten proprio motu ein. Basierend auf der angloamerikanischen Rechtsfigur des „no case to answer“ führt Regel 98bis ICTY-RPE den Gedanken des „in dubio pro reo“ konsequent fort.441 Da dem Ankläger die Erbringung des Schuldnachweises obliegt, ist eine weitere Stellungnahme des Beklagten bei fehlender Beweisbarkeit nicht erforderlich.442

c) Die Bedeutung der Unschuldsvermutung für das rechtsstaatliche Strafverfahren Die Unschuldsvermutung zugunsten des Angeklagten ist eine Grundbedingung des rechtsstaatlichen Verfahrens. Ziel des Strafprozesses muss ein autonomer Schuldnachweis sein, der auf einer objektiven und unvoreingenommenen Beweiswürdigung beruht. Zwingende Voraussetzung für die Gewährleistung eines fairen Prozesses, der dem Beschuldigten eine gerechte Chance gegenüber der Anklage einräumt, ist die widerlegbare Annahme seiner Unschuld bis zum Urteilsspruch. Die Besonderheiten des Völkerstrafrechts lassen jedoch an der tatsächlichen Bedeutung der Unschuldsvermutung für das internationale Strafverfahren zweifeln. In seiner ersten Stellungnahme vor dem ICTY fragte der Angeklagte Karadžić: „What regularity can I expect when everything takes place in an atmosphere in which, regardless of what truths may be demonstrated in this room, no one on earth believes in the possibility of an acquittal?“443

Cassese, International Criminal Law, 2008, S. 390. Art. 66 III IStGH-Statut: In order to convict the accused, the Court must be convinced of the guilt of the accused beyond reasonable doubt. Regel 87 A ICTY-RPE: A finding of guilt may be reached only when a majority of the Trial Chamber is satisfied that guilt has been proved beyond reasonable doubt. 441 Genaueres bei Zappalà, Human Rights, 2005, S. 93 ff. Siehe zum Maßstab der Beweiswertung des Gerichts auch ICTY Jelisic, Appeal Judgement, IT-95-10-A, 5. Juli 2001, Rn. 37. 442 ICTY Milosević, Decision on Motion for Judgement of Acquittal, IT-02-54-T, 16. Juni 2004, Rn. 11: „The main rationale for the ‚no case to answer‘ procedure is that an accused charged with a crime hould not be called upon to answer that charge if, at the end of the prosecution case, there is insufficient evidence on which a jury acting reasonably could convict him.“ 443 ICTY Karadžić, Written submission by accused to Chamber: ‚Irregularities linked to my arrival before the tribunal‘, IT-95-5 / 18-I, 1. August 2008. 439 440

V. Die Unschuldsvermutung

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Aufgrund einseitiger Darstellungen in den Medien und des weltweiten Bekanntheitsgrads der Angeklagten erscheint die Geltungskraft der Unschuldsvermutung fraglich. Als Bedrohung des internationalen Friedens ist die Begehung völkerrechtlicher Verbrechen notwendig Gegenstand des globalen öffentlichen Interesses. Die Information der Medien über die Ereignisse und ihre Verantwortlichen kann zur Zementierung einer vermeintlichen Beweislage sowie einer Vorverurteilung der Täter führen. Indem populistische und tendenziöse Berichterstattungen den gerichtlichen Schuldspruch antizipieren, schwächen sie die Idee der Unschuldsvermutung in der öffentlichen Wahrnehmung. Welche Rolle kann dem Prinzip in einem Verfahren zukommen, in dem die Verantwortlichkeit der Täter bereits aufgrund ihrer politischen oder militärischen Positionen festzustehen scheint? Vor dem Hintergrund rechtsstaatlicher Verfahrensanforderungen darf von der allgemeinen Unschuldsvermutung zugunsten des Angeklagten keine Ausnahme gemacht werden. Die Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens gebietet es, den Betroffenen bis zum Nachweis seiner Schuld als straflos anzusehen.444 Eine Relativierung der Unschuldsvermutung im internationalen Strafprozess würde die Legitimität der Tribunale in Frage stellen und der rechtlichen Zielsetzung des Völkerstrafrechts widersprechen. Neben einer gerechten Verurteilung begangener Taten dient die Durchführung völkerstrafrechtlicher Verfahren zugleich der historischen Aufarbeitung von Krisensituationen im Interesse regionaler Befriedung.445 Eine fundierte Auseinandersetzung mit den juristischen und politischen Problemen des Konfliktgeschehens erfordert den positiven Schuldnachweis auf Grundlage einer umfassenden öffentlichen Beweisführung. Um die Gefahr eines Scheinprozesses gegen weltweit bekannte Täter zu vermeiden, ist das Prinzip der Unschuldsvermutung im internationalen Strafverfahren mit besonderer Aufmerksamkeit und Sensibilität anzuwenden. Vor diesem Hintergrund gilt es, die Bedeutung der Medien für die Gewährleistung der Unschuldsvermutung näher zu beleuchten.

2. Rolle der Medien „Kambodschas Massenmörder vor Gericht“446, „Die Suche nach dem finsteren Schlächter“447, „Ratko Mladić: So wurde er zum Schlächter von Srebrenica“448 – 444 Friman, Procedural Law, in: Romano / Nollkaemper / Kleffner (Hrsg.), Internationalized Criminal Courts and Tribunals, 2004, S. 317 (332): „The presumption of innocence is an essential principle of a fair trial.“ 445 Trumbull, MJIL 29 / 4 (2008), S. 780 (778), Aldana-Pindell, HRQ 26 / 3 (2004), S. 605 (657). 446 Kambodschas Massenmörder vor Gericht, NZZ, 23.11.2007 (letzter Zugriff am 16.03. 2010). 447 In Bezug auf Ratko Mladić: Gasteiger, Die Suche nach dem finsteren Schlächter, SZ, 22.07.2008, http://www.sueddeutsche.de/politik/109/303104/text/ (letzter Zugriff am 16.03. 2010).

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

die Schlagzeilen der Presse zum Prozessauftakt gegen internationale Straftäter ähneln sich. Wenngleich die Medien wichtige Garanten für die Öffentlichkeit der Verfahren sind, ist ihre Rolle im Hinblick auf die Gewährleistung der Unschuldsvermutung in internationalen Strafprozessen nicht unproblematisch. Eine Vorverurteilung des Täters durch öffentliche Berichterstattung, die in Form und Inhalt eine Schuld des Angeklagten impliziert, steht im Gegensatz zu den Grundsätzen eines fairen Verfahrens. Die Verteidiger des Angeklagten Duško Tadić wiesen in ihren Anträgen an den ICTY ausdrücklich auf die negativen Folgen einer Beeinflussung von Richtern und Zeugen durch die Medien hin.449 Die Auswirkungen einer tendenziösen Berichterstattung erschöpfen sich jedoch nicht in der Wahrnehmung der Prozessbeteiligten, sondern prägen zugleich die Rezeption der Verfahren in der Öffentlichkeit. Eine vorgefasste öffentliche Meinung stellt in zweifacher Weise eine Gefahr für die Akzeptanz der Gerichtsurteile dar. Auf der einen Seite erschwert eine Vorverurteilung in der Presse das Verständnis für einen Freispruch oder eine geringe Freiheitsstrafe. Zum anderen kann eine einseitige Darstellung in den Medien den Eindruck eines Scheinprozesses gegen bereits für schuldig erkannte Täter erwecken. Die Bedeutung medialer Meinungsbildung für die Wahrung der Unschuldsvermutung wirft die Frage nach möglichen Lösungswegen zur Umgehung einer öffentlichen Vorverurteilung auf. Eine besondere Problematik für die normative Anbindung der Presse ergibt sich aus ihrer privatrechtlichen Ausgestaltung. Vor dem Hintergrund der fehlenden Verpflichtung privater Medien auf die Statuten der Gerichte sieht Sluiter keine juristischen Handlungsspielräume: „It has already been noticed in the literature that the ‚mediatization‘ of these trials may be problematic in terms of the presumption of innocence. But there is not much the Tribunal can do about that.“450

Nach überwiegender Anschauung gilt eine rechtliche Bindung aus internationalen Verträgen und gerichtlichen Statuten ausschließlich für die handelnden Hoheitsträger.451 Wenngleich private Medien vom unmittelbaren Geltungsbereich ausgenommen werden, bleiben die Tribunale im Rahmen einer Schutzverantwortung zur wirksamen Durchsetzung der Unschuldsvermutung verpflichtet. Können aus der Garantie eines fairen Verfahrens Schutzpflichten der Richter zu Gunsten des Angeklagten hergeleitet werden, muss das Gericht im Rahmen seiner rechtlichen Möglichkeiten auch im gesellschaftlichen Bereich einer Vorverurteilung des Beschuldig448 Simon, Ratko Mladić: So wurde er zum Schlächter von Srebrenica, Welt online, 23.02. 2006, http://www.welt.de/print-welt/article200240/Ratko_Mladić_So_wurde_er_zum_Schlaechter_von_Srebrenica.html (letzter Zugriff am 16.03.2010). 449 ICTY Tadić, Opinion and Judgment, IT-94-1-T, 7. Mai 1997. 450 Sluiter, JICJ 6 / 4 (2008), S. 617 (622). 451 Zappalà, Human Rights, 2005, S. 86.

V. Die Unschuldsvermutung

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ten entgegenwirken. Zappalà erkennt die Existenz richterlicher Schutzpflichten als Ausdruck einer generellen Verantwortung für die Rechtswahrung des Angeklagten prinzipiell an: „[T]he scope of the protection offered by the presumption of innocence to the individual (…) should include violations of the presumption by other persons, including NGOs and the international media.“452

Mit der Feststellung eines grundsätzlichen Handlungsbedarfs wird die Frage nach sinnvollen Wegen zur Absicherung der Unschuldsvermutung nicht beantwortet. Da sich in der Literatur bislang nur wenige Vorschläge zur Lösung der erkannten Problematik finden, sollen im Folgenden denkbare Ansätze aufgezeigt und diskutiert werden. Angesichts der schwierigen Abwägung zwischen Pressefreiheit und Unschuldsvermutung soll nicht jeder Fall einer wertenden Stellungnahme, sondern allein der gravierende Verstoß gegen das Prinzip sanktioniert werden.

a) Gerichtliche Sanktionen durch Informationsbeschränkung Eine weitgehende Sanktion diffamierender Berichterstattungen könnte durch die Einschränkung der gerichtlichen Informationstätigkeit gegenüber einzelnen Pressevertretern erreicht werden. Interne Auskünfte würden hiernach allein an solche Medien erteilt, die im Rahmen ihrer Publikationen das Prinzip der Unschuldsvermutung respektierten. Im Falle gravierender Verstöße kämen zudem ein Ausschluss vom Verfahren sowie die Aufhebung presserechtlicher Privilegien in Betracht. Gegen den Gedanken einer Sanktionierung durch das Gericht spricht indes der Grundsatz der Öffentlichkeit als wesentliches Verfahrensprinzip.453 Die Presse nimmt im Strafverfahren die Rolle eines objektiven Beobachters ein und gewährleistet – auch im Interesse des Angeklagten – eine öffentliche Kontrolle der prozesualen Fairness.454 Dient die Arbeit der Presse auch einer Überprüfung der richterlichen Tätigkeit, darf das Gericht den Zugang der Medien zum Verfahren nicht einschränken.

b) Die Durchsetzung zivilrechtlicher Schadensersatzansprüche durch den Angeklagten Ein wirksames Mittel, Vorverurteilungen durch die Presse zu sanktionieren ohne ihren Informationszugang zu beschränken, besteht in der Durchsetzung zivilrechtlicher Haftungsansprüche durch den Angeklagten. Rechtsdogmatisch ist jedoch bereits die Verpflichtung der Medien zur Achtung der Unschuldsvermutung umstrit452 453 454

Zappalà, Human Rights, 2005, S. 86. Gollwitzer, Menschenrechte, 2005, Art. 6, Rn. 86. Ehlers / Becker, Europäische Grundrechte, 2005, §6 Rn. 49.

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

ten.455 Wie dargelegt, entfalten die Regelungen menschenrechtlicher Konventionen ihre unmittelbare Bindungswirkung allein gegenüber staatlichen Institutionen. In gleicher Weise richten sich die Verfahrensgrundsätze der gerichtlichen Statuten ausschließlich an die Prozessbeteiligten und vermögen keine direkte völkerrechtliche Verantwortlichkeit privater Presseunternehmen zu begründen. Eine deliktische Haftung der Medien wird vor dem Hintergrund einer mittelbaren Drittwirkung menschenrechtlicher Gewährleistungen diskutiert.456 In Analogie zur Rechtsprechung des BVerfG werden die Bestimmungen von EMRK und IPbpR teilweise als objektive Wertesysteme verstanden, deren Grundsätze auf die geltende Privatrechtsordnung ausstrahlen.457 Hiernach könnte das Prinzip der Unschuldsvermutung über allgemeine Generalklauseln als Einbruchsstellen für menschenrechtliche Vorgaben in das staatliche Haftungsregime integriert werden. Gegen die Annahme einer mittelbaren Drittwirkung der Unschuldsvermutung wird ihre Herleitung aus dem Rechtsstaatsprinzip geltend gemacht.458 In der Tat kann argumentiert werden, dass die Unschuldsvermutung weniger ein individuelles Schutzrecht als vielmehr Ausdruck der prozessualen Fairness einer an Gerechtigkeit orientierten Hoheitsgewalt ist. Wird eine mittelbare Drittwirkung abgelehnt, kommt eine Berücksichtigung der Unschuldsvermutung im Wege einer weiten Auslegung nationaler Haftungstatbestände in Betracht. Soehring sieht in der Verletzung der Unschuldsvermutung einen Verstoß gegen das allgemeine Persönlichkeitsrecht, der eine Schadensersatzpflicht gegenüber dem Angeklagten begründet.459 Unabhängig von der dogmatischen Integration der Unschuldsvermutung in das private Haftungsrecht kann die Geltendmachung zivilrechtlicher Schadensersatzansprüche nur begrenzten Schutz gegen eine Vorverurteilung durch die Medien gewähren.460 Aufgrund ihres notwendigen Anknüpfungspunktes im nationalen Recht wird eine Haftung der Presse durch die jeweilige Reichweite der staatlichen Ersatzansprüche bedingt. Ein allgemeingültiger Maßstab, der die schwierige Grenze zwischen legitimer Meinungsäußerung und unzulässiger Vorverurteilung zieht, wird hierdurch nicht vorgegeben. Zudem erschweren praktische Probleme die tatsächliche Durchsetzung deliktischer Ansprüche. Zu Recht weist Zappalà auf die Situation des Angeklagten hin, der das finanzielle Risiko einer Klage häufig nicht selbständig tragen kann.461 Im Kontext internationaler Berichterstattung stellen sich überdies komplexe Rechtsfragen hinsichtlich der Bestimmung des Gerichtsstandes Soehring, Vorverurteilung durch die Presse, 1999, S. 5. Karlsruher Kommentar zur StPO, Art. EMKR, Rn. 44: „Medien müssen bei der Prozessberichterstattung die Unschuldsvermutung respektieren.“ 457 Vgl. das Lüth-Urt. des BVerfGE 7, 198, 15. Januar 1958. 458 Soehring, Vorverurteilung durch die Presse, 1999, S. 51 ff. 459 Soehring, Vorverurteilung durch die Presse, 1999, S. 57 ff. 460 Zappalà, Human Rights, 2005, S. 86. 461 Zappalà, Human Rights, 2005, S. 86 f. 455 456

V. Die Unschuldsvermutung

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sowie des anwendbaren Rechts, die eine qualifizierte juristische Vertretung des Angeklagten erforderlich machen würden.462 Die praktische Bedeutung einer haftungsrechtlichen Präventivwirkung erscheint somit vergleichsweise gering. Aufgrund ihrer Abhängigkeit von den Voraussetzungen des nationalen Schadensrechts stellt die zivilrechtliche Verantwortlichkeit kein hinreichendes Instrument zur wirksamen Unterbindung öffentlicher Vorverurteilungen dar.

c) Eine ausgewogene Informationstätigkeit des Gerichts Kann eine öffentliche Vorverurteilung durch richterlichen oder privaten Zwang nicht wirksam unterbunden werden, muss das Gericht selbst eine ausgewogene Informationstätigkeit gewährleisten. Eine zentrale Ursache für die tendenziöse Berichterstattung der Medien sieht Zappalà in der einseitigen Außendarstellung der Tribunale im Rahmen ihrer Pressearbeit.463 Insbesondere die Internetpräsenz der Gerichte führe zu einem Ungleichgewicht zwischen den Parteien und beeinflusse die Wahrnehmung der Verfahren durch die Medien. Indem in erster Linie Stellungnahmen der Anklage, nicht jedoch der Verteidigung veröffentlicht würden, verstärke das Gericht eine Vorverurteilung des Beschuldigten.464 Die Sicherstellung einer fairen Öffentlichkeitsarbeit ist vorrangige Aufgabe einer institutionalisierten Verteidigungseinheit.465 Die Verantwortung der Tribunale für die Wahrung der Unschuldsvermutung erfordert darüber hinaus eine besondere Sensibilität aller Gerichtsorgane im Umgang mit der Presse. Wird die Presse ihrerseits einseitig informiert, spiegelt sich das vermittelte Bild in ihrer Berichterstattung wider. Um eine ausgewogene mediale Darstellung zu garantieren, müssen auch entlastende Tatsachen und mögliche Zweifel an der Schuld des Angeklagten aufgezeigt werden. Wenngleich die Vermittlung einer differenzierteren Sichtweise die Gefahren für die allgemeine Akzeptanz der Unschuldsvermutung nicht vollständig beseitigt, kann eine faire Informationsbereitstellung das öffentliche Bewusstsein für die Achtung rechtsstaatlicher Prozessgrundsätze stärken.

462 Cassese kommt zu dem Ergebnis, dass wirksame Schadensersatzforderungen im internationalen Strafverfahren nicht denkbar sind. Vgl. Cassese, International Criminal Law, 2008, S. 391. 463 Zappalà, Human Rights, 2005, S. 85. 464 Zappalà, Human Rights, 2005, S. 85. 465 Wie beispielsweise der Defence Support Section am Internationalen Strafgerichtshof. Hierfür auch Zappalà, Human Rights, 2005, S. 85.

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

3. Das guilty-plea-Verfahren vor dem Hintergrund der Unschuldsvermutung Das Verfahren der guilty plea ist ein klassisches Rechtsinstrument der angloamerikanischen Prozessordnung. Zu Beginn des Strafverfahrens trifft der Angeklagte die grundsätzliche Entscheidung über seine Einlassung zu den Tatvorwürfen. Bekennt er sich im Sinne der Anklage für schuldig, knüpfen sich hieran die besonderen prozessualen Folgen der guilty plea.466 Die Bestätigung der Anklagepunkte durch den Beschuldigten lässt regelmäßig die Durchführung einer Beweisaufnahme entfallen und führt zu einer direkten Entscheidung über die Höhe des Strafmaßes.467 Der Schuldspruch des Gerichtes basiert somit ausschließlich auf dem Geständnis des Angeklagten und überantwortet dem Richter lediglich die Festlegung einer Sanktion. In der kontinentaleuropäischen Rechtsordnung hat das Verfahren der guilty plea hingegen keine prozessuale Tradition.468 Ein Schuldbekenntnis des Angeklagten wird hier als mögliches Beweismittel ohne feste Bindungswirkung für das Gericht angesehen und stellt keine obligatorische Grundlage für eine Verurteilung des Täters dar.469 Unabhängig vom Vorliegen eines Geständnisses verpflichten das Gebot der materiellen Wahrheit470 sowie die Geltung des Untersuchungsgrundsatzes den Richter im civil law zur selbständigen Tatsachenermittlung.471 Im Rahmen der gerichtlichen Urteilsfindung bilden die Aussagen der Parteien folglich keine definitiven Entscheidungsmaßstäbe, sondern lediglich unverbindliche Indizien. Eine besondere Form der prozessualen Absprache stellt der sogenannte „Deal“ dar, der durch § 257c StPO in das deutsche Verfahrensrecht integriert wurde. Hiernach ist es dem Gericht in „geeigneten Fällen“ möglich, mit den Prozessbeteiligten eine Verständigung über das Strafmaß zu erzielen. Gleichwohl bleibt das Gericht zu einer selbständigen Beurteilung der Tatschuld verpflichtet. Da das Geständnis des Angeklagten durch die Richter umfassend überprüft werden muss,472 unterscheidet sich die deutsche Regelung maßgeblich vom angloamerikanischen Modell der guilty plea. Prozessualer Vorteil einer guilty plea ist die Beschleunigung des Verfahrens durch den Verzicht auf eine erschöpfende Beweisaufnahme. Das Modell ermöglicht eine Wilhelmi, Die Verfahrensordnung, 2004, S. 11. Triffterer, Commentary, 2008, Art. 65 Rn. 2. 468 Partielle Ausnahmen finden sich in den Rechtsordnungen Spaniens und Italiens, die Grundzüge des guilty-plea-Verfahrens anerkennen (Bosly, JICJ 2 / 4 (2004), S. 1040 (1044 f.). In der deutschen StPO wird mittlerweile der Deal zwischen Anklage und Verteidigung als zulässiges Prozessinstrument vorgesehen, § 257c StPO. 469 Wilhelmi, Die Verfahrensordnung, 2004, S. 25. 470 Spendel, JuS 1964, S. 465 (467). 471 de Smet, La valeur, Rev. dr. Pén 74 / 5 (1994), S. 631 (631 ff.). 472 Bundesministerium der Justiz, Pressemitteilungen, Erstmals gesetzliche Regelungen für Absprachen im Strafverfahren, 19.05.2006 (letzter Zugriff am 24.05.2010): „Dementsprechend darf das Gericht einem abgesprochenen Geständnis nicht blind vertrauen, sondern muss es auf seine Glaubhaftigkeit prüfen.“ 466 467

V. Die Unschuldsvermutung

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Verkürzung des Verfahrens im Interesse der Prozessbeteiligten und entbindet den Ankläger von seiner Obliegenheit zur umfassenden Beweiserbringung. Gerade im internationalen Strafprozess, der mit besonderen Schwierigkeiten für die Ermittlung von Beweismaterial verbunden ist, wird die Arbeit der Verfolgungsbehörden durch eine guilty plea wesentlich erleichtert. Aus dem Interesse des Anklägers an einem Geständnis des Beschuldigten entwickelte sich die Form des plea bargainings, in deren Rahmen über die Folgen einer guilty plea verhandelt wird.473 Anklagebehörde und Verteidigung einigen sich im Vorfeld des Hauptverfahrens auf die Beantragung eines gemeinsamen Strafmaßes als unverbindlichen Vorschlag an das Gericht.474 Um ein Schuldbekenntnis zu erwirken, werden dem Angeklagten Zugeständnisse hinsichtlich der Anklagepunkte oder der Strafhöhe in Aussicht gestellt.475 Wenngleich eine guilty plea die Aufgabenwahrnehmung der Tribunale beschleunigt, ist das plea bargaining im Hinblick auf das Erfordernis gerechter Bestrafung kritisch zu sehen. Verhandlungen über das Strafmaß erscheinen auch aus dem Blickwinkel der Unschuldsvermutung zweifelhaft. Das plea bargaining beruht auf der Annahme einer strafrechtlichen Schuld des Angeklagten vor Abschluss des Hauptverfahrens und Verkündung eines richterlichen Urteilsspruches. Angesichts der rechtsstaatlichen Zweifel am guilty-plea-Verfahren sollen die Regelungen der Tribunale untersucht und Maßstäbe für die Anwendung des Rechtsinstituts erörtert werden. Hierbei wird zu beachten sein, welche Grenzen der guilty plea zur Gewährleistung von Unschuldsvermutung und Strafangemessenheit gesetzt werden müssen. a) Die Bedeutung des guilty-plea-Verfahrens für den internationalen Strafprozess Die Anwendung des guilty-plea-Verfahrens ist im internationalen Strafprozessrecht nicht einheitlich geregelt. Während das Rechtsinstrument an den Ad-hoc-Tribunalen und dem ICC unter Vorbehalten anerkannt ist, wird ein verkürztes Verfahren an den ECCC grundsätzlich abgelehnt. Hintergrund der differenzierten Rechtslage ist erneut das komplexe Zusammenspiel angloamerikanischer und kontinentaleuropäischer Einflüsse auf die Gestaltung des völkerstrafrechtlichen Verfahrens. aa) Die Entwicklung des guilty-plea-Verfahrens an den Ad-hoc-Tribunalen In den ersten Verhandlungen über die Beweisordnung des ICTY wurde die Einführung von plea bargaining kontrovers diskutiert. Während die USA Strafmaß473 Siehe beispielsweise ICTY Banovic, Setencing Judgment, IT-02-65 / 1-S, 25. Oktober 2003, Rn. 94. 474 Siehe beispielsweise ICTY Banovic, Setencing Judgment, IT-02-65 / 1-S, 25. Oktober 2003, Rn. 94. 475 Wilhelmi, Die Verfahrensordnung, 2004, S. 12.

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

verhandlungen zwischen Staatsanwaltschaft und Verteidigung als sinnvolles Instrument zur besseren Transparenz politischer Strukturen und Befehlsketten bewertete, 476 lehnte eine Mehrheit die Zulassung prozessualer Absprachen angesichts der Schwere völkerrechtlicher Verbrechen ab.477 Obgleich sich das Tribunal bewusst gegen die Normierung eines guilty-plea-Verfahrens entschieden hatte, kam es in der Folgezeit wiederholt zu Schuldverhandlungen zwischen den Beteiligten. Aufgrund ihrer angloamerikanischen Herkunft war die Prozessabsprache für eine Mehrheit der Ankläger gängige Verfahrenspraxis.478 Der Fall Drazen Erdemović machte die spezifischen Probleme einer guilty plea im Völkerstrafrecht erstmalig deutlich. Erdemović war als Soldat der bosnischserbischen Armee nachweislich an Massakern im Gebiet Srebrenicas beteiligt.479 Mit Prozessbeginn erklärte sich Erdemović in allen Anklagepunkten für schuldig. Im Rahmen des guilty-plea-Verfahrens wurde der Angeklagte ohne weitere Beweisaufnahme wegen Kriegsverbrechen sowie Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu einer Haftstrafe von zehn Jahren verurteilt. Die Berufungskammer des ICTY hob das Urteil der Eingangsinstanz auf und lehnte die Anerkennung der guilty plea unter Hinweis auf eine unzureichende Information des Angeklagten ab.480 Das Gericht kam zu dem Schluss, dass Erdemović nicht umfassend über die Reichweite und Folgen einer guilty plea unterrichtet worden war. Im Vertrauen auf eine gerichtliche Kontrolle und die Aussicht einer Strafmilderung hatte Erdemovićs Verteidigung sämtliche Anklagepunkte eingeräumt. Ohne die Tatvorwürfe im Einzelnen zu überprüfen hatte sich der Beschuldigte trotz einer schwachen Beweislage der Verbrechen gegen die Menschlichkeit für schuldig bekannt.481 Die Berufungskammer hob Erdemovićs guilty plea auf und verwies die Rechtssache an das Gericht des Hauptverfahrens zurück. In der nachfolgenden Beweisaufnahme konnte die Kammer den Anklagepunkt der Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht bestätigen und reduzierte Erdemovićs Freiheitsstrafe auf fünf Jahre.482 Der Fall Erdemović zeigt die rechtlichen Schwierigkeiten einer guilty plea im internationalen Strafprozess. In ihrem Sondervotum nahmen die Richter McDonald and Vohrah den Sachverhalt zum Anlass, um grundsätzliche Maßstäbe für die An476 Comments of the United States on the Tribunal’s Rules of Procedure, 2. Mai 1994, abgedruckt in Report on the Proposed Rules of Procedure and Evidence of the International Tribunal to adjudicate War Crimes in the Former Yugoslavia, zitiert in Scharf, Balkan Justice, 1997, S. 67. 477 Statement by the President Antonio Cassese made at a Briefing to Members of Diplomatic Missions, UN Doc. IT / 29, 11. Februar 1994. 478 Kamardi, Die Ausformung, 2009, S. 211. 479 Melčić, Der Jugoslawien-Krieg, S. 511. 480 ICTY Prosecutor v. Erdemović, Appeals Chamber Judgement, IT-96-22-A, 7. Oktober 1997, Rn. 20. 481 ICTY Erdemović, Joint Separate Opinion of Judge McDonald and Judge Vohrah, IT96-22-A, 7. Oktober, 1997, Rn. 14. 482 ICTY Erdemović, Sentencing Judgement Trial Chamber, IT-96-22-T, 5. März 1998.

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forderungen und Grenzen einer guilty plea zu entwickeln. Zum Schutze des Angeklagten vor einem leichtfertigen Verzicht auf seine Prozessgrundrechte wurden drei Voraussetzungen für die gerichtliche Anerkennung einer guilty plea bestimmt. Hiernach kann die notwendige Ernsthaftigkeit des Schuldbekenntnisses allein bei Vorlage eines eindeutigen483, auf Freiwilligkeit484 und hinreichender Information485 des Angeklagten basierenden Geständnisses angenommen werden. Das Gericht ist daher nicht zwingend an eine guilty plea gebunden, sondern überprüft selbständig die Zulässigkeit eines verkürzten Verfahrens. Die im Erdemović-Prozess entwickelten Grundsätze wurden in der Folgezeit als Ergänzungen der RPE kodifiziert. Regel 62bis sowie Regel 62ter ICTY-RPE tragen dem Bedürfnis nach einer Formalisierung von Voraussetzungen und Rechtsfolgen der guilty-plea-Rechnung. Die Verfahrensordnung erweitert den Prüfungsmaßstab des Tribunals um einen objektiven Faktor, der eine nachvollziehbare Beweissituation zur Unterstützung des Tatvorwurfs verlangt.486 Neben dem Geständnis des Angeklagten sind zur Einleitung eines guilty-plea-Verfahrens nunmehr zusätzliche Indizien als Schuldnachweis erforderlich. Im Urteil Jelisić bestätigte der ICTY die Notwendigkeit einer ergänzenden Beweislage als Ausdruck der Unschuldsvermutung: „A guilty plea is not in itself a sufficient basis for the conviction of an accused. Although the Trial Chamber notes that the parties managed to agree on the crime charged, it is still necessary for the Judges to find something in the elements of the case upon which to base their conviction both in law and in fact that the accused is indeed guilty of the crime.“487

Die Unschuldsvermutung verlangt vom Richter, bis zum Beweis des Gegenteils an die Nichtschuld des Angeklagten zu glauben. Wird die Unschuldsvermutung als 483 ICTY Erdemović, Joint Separate Opinion of Judge McDonald and Judge Vohrah, IT-9622-A, 7. Oktober 1997, Rn. 31: „Whether a plea of guilty is equivocal must depend on a consideration, in limine, of the question whether the plea was accompanied or qualified by words describing facts which establish a defence in law.“ 484 ICTY Erdemović, Joint Separate Opinion of Judge McDonald and Judge Vohrah, IT96-22-A, 7. Oktober, 1997, Rn. 10: „[A] guilty plea [must] be made voluntarily. Voluntariness involves two elements. Firstly, an accused person must have been mentally competent to understand the consequences of his actions when pleading guilty. Secondly, the plea must not have been the result of any threat or inducement other than the expectation of receiving credit for a guilty plea by way of some reduction of sentence.“ 485 ICTY Erdemović, Joint Separate Opinion of Judge McDonald and Judge Vohrah, IT-9622-A, 7. Oktober, 1997, Rn. 14: „[A]ll common law jurisdictions insist that an accused who pleads guilty must understand the nature and consequences of his plea and to what precisely he is pleading guilty.“ In the case at hand, „an informed plea would require that the Appellant understand (a) the nature of the charges against him and the consequences of pleading guilty generally; and (b) the nature and distinction between the alternative charges and the consequences of pleading guilty to one rather than the other.“ 486 Regel 62bis ICTY-RPE: (iv) there is a sufficient factual basis for the crime and the accused’s participation in it, either on the basis of independent indicia or on lack of any material disagreement between the parties about he facts of the case, the Trial Chamber may enter a finding of guilt and instruct the Registrar to set a date for the sentencing hearing. 487 ICTY Prosecutor v. Jelisic, Trial Chamber Judgement, 14. Dezember 1999, Rn. 25.

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

umfassende Schutzgarantie verstanden, entbindet auch ein Geständnis des Angeklagten den Richter nicht von einer kritischen Würdigung des Sachverhaltes. Im Interesse eines rechtsstaatlichen Verfahrens hat das Gericht ein Schuldbekenntnis auf seine Schlüssigkeit und Eigenverantwortung zu überprüfen. Im Fall Erdemović hatte sich die Möglichkeit einer guilty plea als „Fremdkörper“488 im System des ICTY erwiesen. Aufgrund ihres primär kontinentaleuropäischen Hintergrundes war die Verteidigung mit den Folgen und Wirkungsweisen der angloamerikanischen Verfahrensgestaltung nicht hinreichend vertraut. Die Kodifikation der vom ICTY entwickelten Kontrollmaßstäbe war ein notwendiger Schritt, um einen effektiven Schutz des Angeklagten vor einem leichtfertigen Verzicht auf seine Prozessgrundrechte zu gewährleisten. Wenngleich eine guilty plea nach dem Prozessrecht der Ad-hoc-Tribunale grundsätzlich zulässig ist, belegt die Rechtsprechung des ICTY eine Zurückhaltung im Umgang mit dem Rechtsinstitut. Im Fall Nikolic erkannte das Gericht die generelle Rechtmäßigkeit einer guilty plea an, stellte jedoch deren Angemessenheit („appropriateness“) für den völkerrechtlichen Strafprozess in Frage.489 Die Kammer kritisierte die Praxis von Verfahrensabsprachen als Beeinträchtigung der Zwecksetzung internationaler Gerichtsbarkeit. Eine Verkürzung der Anklage stünde im Spannungsverhältnis mit dem Mandat des Gerichts zur historischen Aufarbeitung und gerechten Sanktion völkerrechtlicher Verbrechen.490 Plea agreements müssten ihre Grenzen in den grundlegenden Zielstellungen eines fairen Strafverfahrens finden. Trotz der Bedenken an ihrer Zweckmäßigkeit für den internationalen Strafprozess wird die Abgabe einer guilty plea strafmildernd berücksichtigt (Regel 101 B ii ICTY-RPE). Nach Überzeugung des ICTY ist ein Schuldbekenntnis des Angeklagten als Anerkennung persönlicher Verantwortung eine wichtige Grundlage für den nationalen Versöhnungsprozess.491 Mit einer guilty plea leiste der Beschuldigte nicht nur einen Beitrag zu Wahrheitsfindung und Friedenssicherung,492 sondern schone zugleich die Ressourcen des Gerichts.493 Melčić, Der Jugoslawien-Krieg, 2007, S. 511. ICTY Momir Nikolic, Sentencing Judgment, IT-02-60 / 1-S, 2. Dezember 2003: „Therefore, the Trial Chamber finds it necessary to examine the question of whether plea agreements are appropriate in cases involving serious violations of international humanitarian law brought before this Tribunal.“ 490 ICTY Momir Nikolic, Sentencing Judgment, IT-02-60 / 1-S, 2. Dezember 2003, Rn. 61 f. 491 ICTY Obrenovic, Sentencing Judgement, IT-02-60 / 2, 10. Dezember 2003, Rn. 111; ICTY Dragan Nikolic, Sentencing Judgement, IT-94-2, 18. Dezember 2003, Rn. 233, 237. 492 ICTY Todorović, Sentencing Judgement, IT-95-9 / 1, 31. Juli 2001, Rn. 81; ICTY Momir Nikolic, Sentencing Judgement, IT-02-60 / 1, 2. Dezember 2003, Rn. 149; ICTY Dragan Nikolic, Sentencing Judgement, IT-94-2, 18. Dezember 2003, Rn. 233. 493 ICTY Sikirica et al., Sentencing Judgement, IT-95-8 13. November 2001, Rn. 149; ICTY Erdemović, Second Sentencing Judgement, IT-96-22-Tbis, 5. März 1998, Rn. 16(ii); ICTY Todorović, Sentencing Judgement, IT-95-9 / 1, 31. Juli 2001, Rn. 81; ICTY Plavšić, Sentencing Judgement, IT-00-39&40 / 1-S, 27. Februar 2003, Rn. 73; ICTY Banovic, Sentenc488 489

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„An admission of guilt demonstrates honesty and it is important for the International Tribunal to encourage people to come forth, whether already indicted or as unknown perpetrators. Furthermore, this voluntary admission of guilt which has saved the International Tribunal the time and effort of a lengthy investigation and trial is to be commended.“494

bb) Die Umsetzung des guilty-plea-Verfahrens am ICC Bei Gründung des ICC wurde die Einführung eines guilty-plea-Verfahrens nach dem Vorbild des angloamerikanischen Rechtssystems mehrheitlich abgelehnt.495 Die erzielte Kompromisslösung orientiert sich erkennbar an den Regelungen des ICTY und verbindet die Grundsätze der guilty plea mit den notwendigen Einschränkungen der Unschuldsvermutung. „Art. 65 ICC-Statut: 1. Where the accused makes an admission of guilt pursuant to article 64, paragraph 8 (a), the Trial Chamber shall determine whether: (a) The accused understands the nature and consequences of the admission of guilt; (b) The admission is voluntarily made by the accused after sufficient consultation with defence counsel; and (c) The admission of guilt is supported by the facts of the case (…) 3. Where the Trial Chamber is not satisfied that the matters referred to in paragraph 1 are established, it shall consider the admission of guilt as not having been made, in which case it shall order that the trial be continued under the ordinary trial procedures provided by this Statute and may remit the case to another Trial Chamber.“

Vergleichbar dem ICTY setzt das Gericht ein freiwilliges und informiertes Geständnis des Angeklagten auf Grundlage einer hinreichenden Beweissituation voraus. Die Bedingungen für eine wirksame guilty plea werden um genauere Vorgaben hinsichtlich der Zulässigkeitskriterien und Verfahrensoptionen erweitert. So präzisiert Art. 65 Abs. 1 ICC-Statut die Anforderungen an den Schuldnachweis und die Rechtsberatung des Angeklagten im Vorfeld des Prozesses. In seinem Abs. 5 legt Art. 65 ICC-Statut die fehlende Bindungswirkung eines plea bargainings für das Urteil des Gerichts fest.496 Der Gewährleistung eines richterlichen Entscheidungsspielraums wird auch in Art. 65 Abs. 3 und 4 ICC-Statut Vorrang eingeräumt. Im Gegensatz zur klassisch angloamerikanischen Konzeption der guilty plea steht ing Judgement, IT-02-65 / 1-S, 28. Oktober 2003, Rn. 67. Der pragmatische Ansatz des ICTY in der Bemessung individueller Schuld erscheint fraglich. Die Voraussetzungen einer Strafmilderung sollen im Rahmen des Schweigerechts des Angeklagten näher erörtert werden, Kapitel D. XI. 494 ICTY Erdemović Second Sentencing Judgement, IT-96-22-Tbis, 5.März 1998, Rn. 16 (iii). 495 Triffterer, Commentary, 2008, Art. 65 Rn. 2; Australien und die Niederlande hatten sich in ihrem Working paper für ein guilty-plea-Verfahren nach den Grundsätzen des common law ausgesprochen, UN Doc. A / AC.249 / L.2, Rule 74. 496 Eine entsprechende Bestimmung für den ICTY enthält Regel 62ter ICTY-RPE.

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

die Verkürzung des Hauptverfahrens im Ermessen des Gerichts. Unabhängig vom Vorliegen einer wirksamen guilty plea bleiben die Richter zur Durchführung eines Beweisverfahrens im Interesse der Opfer und des Rechtsfriedens befugt. Die begrenzte Bindung des Gerichts an ein zulässiges Geständnis stellt einen Ausgleich zwischen den widerstreitenden Prozessmaximen von common law und civil law dar. Der Kompromissversuch in Art. 65 ICC-Statut berücksichtigt sowohl den Schutz des Angeklagten als auch die Umsetzung der materiellen Verfahrensziele. Nach Auffassung Zappalàs gelingt mit den Regelungen des ICC eine ideale Verbindung der Unschuldsvermutung mit den Vorzügen des guilty-plea-Verfahrens.497 Einen anderen Ansatz wählen hingegen die ECCC, die das Verfahrensmodell der guilty plea grundsätzlich ausschließen. cc) Der Ausschluss des guilty-plea-Verfahrens an den ECCC Die Verfahrensordnung der ECCC enthält keine Regelungen über die Durchführung eines guilty-plea-Verfahrens als Möglichkeit einer verkürzten Prozessgestaltung. Bereits im ersten Verfahren vor den ECCC gestand der Angeklagte Kaing Guek Eav, alias Duch, die ihm zur Last gelegten Verbrechen vollumfänglich ein. Nach der prozessrechtlichen Ausrichtung der ECCC führt ein Schuldbekenntnis zu keiner Änderung des Verfahrensablaufs und entbindet insbesondere nicht von der Notwendigkeit einer umfassenden Beweisaufnahme.498 Grund für die Ablehnung einer guilty plea an den ECCC ist die Nähe des Prozessrechts zum kontinentaleuropäischen civil law.499 Die Abhängigkeit des guiltyplea-Verfahrens von den nationalen Rechtstraditionen der beteiligten Staaten wird bereits durch die vom ICC entwickelte Kompromisslösung deutlich. Erneut zeigt sich, wie entscheidend der Entstehungsprozess eines Gerichts und die Gewichtung der staatlichen Stimmverhältnisse auf die Gestaltung des Verfahrensrechts Einfluss nehmen können. Der Verzicht auf ein verkürztes Verfahren trägt jedoch auch dem besonderen Bedürfnis der kambodschanischen Bevölkerung nach einer Aufarbeitung der historischen Zusammenhänge Rechnung. Erst die Aussagen von Opfern und Tätern können ein vollständiges Bild des Roten Khmer Regimes zeichnen, das zur Bewältigung der traumatischen Vergangenheit des Landes notwendig ist. Die unterschiedliche Regelung der guilty plea an internationalen Tribunalen wirft die Frage nach ihrem Geltungsanspruch für das völkerstrafrechtliche Verfahren auf. Im Folgenden sollen die Vorzüge und Nachteile des Rechtsinstrumentes vor dem Hintergrund der Zielstellung der internationalen Strafgerichtsbarkeit diskutiert werden. Zappalà, Human Rights, 2005, S. 89. Vgl. hierzu die Stellungnahme des Cambodian Human Rights Action Committees, „Comments on the eccc draft internals rules“, von Phnom Penh, 17. November 2006, http:// www.dccam.org/Tribunal/Documents/CHRAC%20Comments%20on%20ECCC%20Internal% 20Rules%2017-11-06.pdf (zuletzt besucht am 17.02.2010). 499 Romano / Nollkaemper / Kleffner, Internationalized Criminal Courts, 2004, S. 254. 497 498

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b) Die Bewertung der guilty plea im Völkerstrafprozess „The situation where an innocent accused pleads guilty despite the absence of evidence cannot be held as a fair procedure and must therefore be ruled out.“500

Der Verzicht auf ein objektives Beweisverfahren infolge einer guilty plea stellt die Geltung der Unschuldsvermutung als elementares Prinzip des rechtsstaatlichen Verfahrens in Frage. Die bestehenden Schutzregelungen können die Bedenken an einer unzureichenden Information und Entscheidungsfreiheit des Angeklagten zwar relativieren, nicht jedoch grundlegend ausräumen. Eine künftige Einbeziehung des guilty-plea-Verfahrens in den internationalen Strafprozess sollte davon abhängig gemacht werden, ob seine Vorteile mögliche Nachteile überwiegen.

aa) Die Vorzüge der guilty plea Die Anerkennung einer guilty plea dient der Beschleunigung des Strafverfahrens im Interesse des Angeklagten und einer effektiven Arbeitsentlastung des Gerichts.501 Gerade im Völkerstrafrecht erfordert die Beweisgewinnung umfangreiche personelle und finanzielle Ressourcen, die dem Gericht nur in begrenztem Maße zur Verfügung stehen. Durch die Möglichkeit eines plea bargainings werden die Anforderungen an die Beweispflicht des Anklägers erleichtert, der sich auf den Nachweis einer schlüssigen Indizienlage beschränken kann.502 Eine umfassende Zeugenbefragung, die gerade im Bereich der Sexualdelikte vielfach eine psychische Belastung für die Opfer darstellt, kann durch das verkürzte Verfahren ebenso umgangen werden. Nicht zuletzt legt das plea bargaining den Grundstein für eine weitere Kooperation zwischen Anklage und Verteidigung. Im Wege einer Zusammenarbeit mit dem Beschuldigten kann der Ankläger oftmals wichtige Informationen über politische Hintergründe und weitere Beteiligte erlangen.503 Angesichts der Vorteile des verkürzten Verfahrens für die Beschleunigung der Prozesse und die Funktionsfähigkeit des Gerichts bestätigt Richter Cassese ein öffentliches Interesse an der guilty plea: „Thus by pleading guilty the accused undoubtedly contributes to a public advantage.“504

Bosly, JICJ 2 / 4 (2004), S. 1040 (1047). Vgl. die Ausführungen des Anklägers im Fall Nikolic; ICTY Momir Nikolic, Sentencing Judgment, IT-02-60 / 1-S, 2. Dezember 2003. 502 Kamardi, Die Ausformung, 2009, S. 382. 503 Raab, Evaluating, JICJ 3 / 1 (2005), S. 82 (91). 504 ICTY Erdemović, Seperate and Dissenting Opinion of Judge Cassese, IT-96-22-A, 7. Oktober 1997, Rn. 3. 500 501

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

bb) Die rechtsstaatlichen Probleme der guilty plea Das Instrument der guilty plea wirft für das rechtsstaatliche Verfahren zwei Probleme auf. Zum einen erscheint ein plea bargaining zwischen Anklage und Verteidigung über die Höhe des Strafmaßes mit Blick auf das Schuldprinzip zweifelhaft. Zum anderen stellt der Verzicht auf eine Beweisaufnahme im Falle der guilty plea wichtige Verfahrensziele der internationalen Strafgerichtsbarkeit in Frage. (1) Das Problem der Schuldangemessenheit Die Fälle Deronjić 505 und Todorović 506 verdeutlichen die Gefahren einer Verurteilung des Angeklagten im Wege der guilty plea für die Verwirklichung einer angemessenen Strafe. Der vor dem ICTY angeklagte Miroslav Deronjić bekannte sich zu Prozessbeginn schuldig und arbeitete im Laufe des Verfahrens eng mit der Anklagebehörde zusammen. Seine Kooperation ermöglichte es, wichtige Informationen über die ethnischen Säuberungen im ehemaligen Jugoslawien zu gewinnen.507 Im Gegenzug für seine guilty plea ließ der Ankläger den Vorwurf einer Beteiligung am Völkermord fallen und beschränkte den Strafantrag auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Obwohl hinreichend Anhaltspunkte für seine Mitwirkung vorlagen, konnte Deronjić im Folgenden nur aus minder schweren Delikten bestraft werden. Das Vorgehen der Anklage stieß in der Richterbank auf offene Kritik.508 Richter Schomburg wertete die Praxis einer selektiven Anklage als unzulässige Möglichkeit einer indirekten Amnestie des Täters.509 Im Falle des serbischen Polizeichefs Stevan Todorović 510 stellte sich das Problem der Schuldangemessenheit als Frage einer gerechten Bemessung der Strafhöhe. Als Folge eines plea bargainings hatte sich Todorović der Verbrechen gegen die Menschlichkeit für schuldig bekannt und eine Haftstrafe von zehn Jahren erhalten.511 Angesichts der klaren Parallelen zur Rechtssache Duško Tadić überrascht das vergleichsweise geringe Strafmaß.512 Tadić, der eine Zusammenarbeit mit der Anklage abgelehnt hatte, war zu 25 Jahren Haft verurteilt worden.513 Die milde BeICTY Deronjić, Sentencing Judgment, IT-02-61-S, 30. März 2004. ICTY Todorović, Sentencing Judgment, IT-95-9 / 1-S, 31. Juli 2001. 507 Combs, Guilty Pleas, 2007, S. 68 f. 508 Insbesondere der deutsche Richter Schomburg wandte sich mehrfach ausdrücklich gegen die Form des „selective charging“, vgl. Combs, Guilty Pleas, 2007, S. 68. 509 ICTY Deronjić, Dissenting Opinion of Judge Wolfgang Schomburg, IT-02-61-S, 30. März 2004, Rn. 10. 510 Todorović wurde am 17. April 1992 zum Polizeichef der Gemeinde Bosanski Samac ernannt. Während seiner Amtszeit verringerte sich die Anzahl der in der Gemeinde lebenden 17.000 Muslime und bosnischen Kroaten auf unter 300. 511 ICTY Todorović, Sentencing Judgment, IT-95-9 / 1-S, 31. Juli 2001, Rn. 117. 512 Combs, Guilty Pleas, 2007, S. 71. 513 ICTY Tadić, Sentencing Judgment, IT-94-1-Tbis-R117, 11. November 1999, Rn. 32. 505 506

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strafung eines der Hauptverantwortlichen für ethnische Säuberungen in der Region erklärt sich ausschließlich vor dem Hintergrund seiner umfassenden Schuldanerkennung und Kooperationsbereitschaft.514 Die Fälle Todorović und Deronjić zeigen eine erhebliche Schwachstelle des guilty-plea-Verfahrens.515 Um den Angeklagten zu einem Schuldgeständnis zu bewegen, wird ihm regelmäßig eine Eingrenzung der Tatvorwürfe oder des Strafmaßes in Aussicht gestellt.516 Die Gerechtigkeit einer Bestrafung, die weniger am Grad individueller Verantwortlichkeit als an praktischen Erwägungen der Anklage orientiert ist, erscheint jedoch zweifelhaft. Der Konflikt zwischen Effektivität und Schuldangemessenheit wirft die Frage auf, ob der Vorteil einer Verfahrensverkürzung um den Preis einer Straferleichterung verwirklicht werden darf. Angesichts der Schwere völkerstrafrechtlicher Verbrechen ist die Angemessenheit einer Haftmilderung aus Gründen der Beweisvereinfachung zweifelhaft.517 Delikte des Völkerstrafrechts wie Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Völkermord richten sich gegen die Grundpfeiler der internationalen Gemeinschaft und sind geeignet, den globalen Frieden zu gefährden. In Anbetracht ihrer besonderen Bedrohung für die Wahrung von Menschenrechten und der weltweiten Sicherheit darf die Reaktion auf völkerrechtliche Straftaten nicht verhandelbar sein.518 Auch Cassese, der die guilty plea grundsätzlich als sinnvolles Verfahrensinstrument anerkannt hat, lehnt eine Strafverschonung als Mittel des plea bargainings ab: „The persons appearing before us will be charged with genocide, torture, murder, sexual assault, wanton destruction, persecution and other inhuman acts. After due reflection, we have decided that no one should be immune from prosecution for crimes such as these, no matter how useful their testimony may otherwise be.“519

In seinem Urteil zum Fall Nikolic unterstreicht der ICTY den Konflikt von Verfahrensabsprachen mit seinem Auftrag zur Sanktionierung schwerster völkerrechtlicher Verbrechen: „Once a charge of genocide has been confirmed, it should not simply be bargained away.“520

Der Entwicklung des guilty-plea-Verfahrens im nationalen Recht lag die Idee zugrunde, eine Belastung des Gerichts durch weniger gravierende Straftaten zu vermeiden.521 Eine Kooperation mit dem Angeklagten erscheint sinnvoll, wenn durch seine Aussagen schwerere und systematischere Formen von Kriminalität aufgedeckt Melčić, Der Jugoslawien-Krieg, 2007, S. 575. Raab, JICJ 3 / 1 (2005), S. 82 (91). 516 Combs, Vand. L. Rev 69 / 1 (2006), S. 70 (71). 517 Zappalà, Human Rights, 2005, S. 89. 518 Zu diesem Schluss kommt auch Bosly [Bosly, JICJ 2 / 4 (2004), S. 1040 (1049)]. 519 Statement made at a Briefing of Members of Diplomatic Missions, UN Doc. IT / 29, 11. Februar 1997, S. 649, enthalten in Morris / Scharf, An Insider’s Guide, 1995, S. 112. 520 ICTY Momir Nikolic, Judgement, IT-02-60 / 1, 2. Dezember 2003, Rn. 65. 521 Vandermeersch, Rev. dr. Pén, 2001, S. 467 (501, 507). 514 515

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

werden können. Diese Ziele finden im Rahmen des internationalen Strafprozesses, der sich naturgemäß auf schwerwiegende Verbrechen beschränkt, keine Entsprechung.522 Von einer geringen Schuld der Angeklagten ist angesichts der verhandelten Delikte nur in seltenen Fällen auszugehen. Anders als im staatlichen Recht kann auch eine mögliche Überlastung des Gerichts nicht überzeugend als Begründung für die guilty plea angeführt werden. Während auf nationaler Ebene eine hohe Anzahl von Verbrechen zwingend zu bewältigen ist, hat sich die Staatengemeinschaft bewusst für die Verfolgung bestimmter Straftaten entschieden. Da die Tribunale eigens für die rechtliche Aufarbeitung konkreter Konfliktsituationen eingesetzt werden, müssen die notwendigen Kapazitäten zur Umsetzung ihres Gründungsziels bereitstehen. (2) Das Problem der völkerstrafrechtlichen Zielverwirklichung Ferner widerspricht ein Verzicht auf das Beweisverfahren durch Anerkennung einer guilty plea grundlegenden Zielen des internationalen Strafverfahrens. Im Mittelpunkt völkerstrafrechtlicher Prozesse steht nicht allein die Bestrafung der Täter, sondern eine umfassende Aufarbeitung der politischen Ereignisse.523 Mit der Durchführung öffentlicher Verfahren und einer Aufdeckung der Konfliktursachen soll ein Beitrag zur Wiederherstellung des Friedens in den betroffenen Regionen geleistet werden.524 Erst die Stellungnahmen von Zeugen und Tätern im Rahmen einer umfassenden Beweiswürdigung können dem Bedürfnis der Opfer, das Geschehene zu verstehen, Rechnung tragen. Um die notwendigen Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen, müssen Entstehung und Entwicklung der Verbrechen erschöpfend aufgeklärt werden. „When convictions result from a guilty plea, certain aims of having criminal proceedings are not fully realised, most notably a public trial. A public trial, with the presentation of testimonial and documentary evidence by both parties, creates a more complete and detailed historical record than a guilty plea, which may only establish the bare factual allegations in an indictment or may be supplemented by a statement of facts and acceptance of responsibility by the accused.“525

Ein weiteres Anliegen des völkerstrafrechtlichen Verfahrens ist die Umsetzung einer effektiven Opferbeteiligung. Das internationale Strafverfahren gibt den Opfern der Verbrechen eine Stimme in der Beweisaufnahme und ermöglicht es ihnen, die eigene Geschichte zu erzählen.526 Die hiermit verfolgten Ziele der Genugtuung und Versöhnung werden durch das verkürzte guilty-plea-Verfahren konterkariert. Bosly, JICJ 2 / 4 (2004), S. 1040 (1048). Ambos, KritV 1996, S. 366. 524 Schweisfurth, Völkerstrafrecht, 2006, S. 511. 525 ICTY Momir Nikolic, Sentencing Judgment, IT-02-60 / 1-S, 2. Dezember 2003, Rn. 61. 526 Triffterer, Commentary, 2008, Art. 65, Rn. 6; ICTY Momir Nikolic, Sentencing Judgment, IT-02-60 / 1-S, 2. Dezember 2003, Rn. 62. 522 523

V. Die Unschuldsvermutung

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(3) Das Problem der Rechtswahrung des Angeklagten Nicht zuletzt könnte die Zulässigkeit der guilty plea als Gefahr für die Unschuldsvermutung und die Selbstbelastungsfreiheit des Angeklagten angesehen werden. Wie dargelegt, beruht die Verhandlung des Strafmaßes auf einer Vorverurteilung des Beschuldigten. Im Rahmen eines plea bargainings verhandeln die Beteiligten über die Höhe einer Haftstrafe, ohne dass zuvor ein gerichtlicher Schuldnachweis erbracht wurde. Eine weitere Gefahr des guilty-plea-Verfahrens besteht in der Ausübung einer indirekten Zwangswirkung auf den Angeklagten.527 Durch die Aussicht auf eine geringe Strafe könnte sich der Beschuldigte unter Druck gesetzt fühlen, auf sein Schweigerecht im Verfahren zu verzichten.528 Zudem erscheint es denkbar, dass der Angeklagte ein falsches Geständnis abgibt, um einem höheren Strafmaß zu entgehen.529 Mit der guilty plea verzichtet der Beschuldigte auf die Gewährleistung seiner prozessualen Rechte und die Durchführung eines fairen Beweisverfahrens. Aufgrund eines indirekten Drucks zur Kooperation ist die Freiwilligkeit eines solchen Verzichts zu hinterfragen.

c) Stellungnahme zum guilty-plea-Verfahren Vor dem Hintergrund rechtsstaatlicher Verfahrensgarantien und der Verwirklichung internationaler Strafzwecke wirft das guilty-plea-Verfahren erhebliche Bedenken auf. Der vermeintliche Vorteil einer Prozessbeschleunigung wird durch die Gefahren einer verkürzten Beweisaufnahme für die politischen und rechtlichen Ziele der Gerichte widerlegt. Insbesondere mit der Aufgabe der Tribunale, im Rahmen einer umfassenden Aufarbeitung ein authentisches Bild der Ereignisse zu schaffen, ist die guilty plea nicht vereinbar. Das Rechtsinstitut steht im Widerspruch zu den Grundsätzen und Zielvorgaben des völkerstrafrechtlichen Verfahrens. Bei der Gründung künftiger Tribunale sollte daher auf die Einführung eines guilty-plea-Verfahrens nach Vorbild der ECCC vollständig verzichtet werden. Die Gerichte, deren Statute eine entsprechende Prozessgestaltung bereits vorsehen, sollten die Voraussetzungen der guilty plea restriktiv anwenden und langfristig auf ihre Abschaffung hinwirken. 4. Die Untersuchungshaft Fragen der Untersuchungshaft stehen in einem engen Zusammenhang mit dem Grundsatz der Unschuldsvermutung. Wenngleich die vorläufige Inhaftierung eines Angeklagten zur Gewährleistung seiner Anwesenheit im Verfahren notwendig sein Bosly, JICJ 2 / 4 (2004), S. 1040 (1047). Dieser Aspekt wird ausführlich in Kapitel D. XI. erörtert. 529 Bosly, JICJ 2 / 4 (2004), S. 1040 (1047): „The situation were an innocent accused pleads guilty despite the absence of evidence cannot be held as a fair procedure and must therefore be ruled out.“ 527 528

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

kann, müssen ihre Voraussetzungen rechtsstaatlichen Schranken unterliegen. Gilt der Angeklagte bis zu seiner Verurteilung als nicht schuldig, bedarf seine Inhaftierung einer besonderen Rechtfertigung. Nachfolgend soll die Bedeutung der Unschuldsvermutung für die Anordnung von Untersuchungshaft erörtert und die Umsetzung rechtsstaatlicher Anforderungen in den Haftbestimmungen internationaler Strafgerichte untersucht werden.

a) Untersuchungshaft und Unschuldsvermutung im System des Völkerstrafrechts „[L]e maître d’œuvre du ‚nettoyage ethnique‘ en Bosnie-Herzégovine s’apprête à vivre dans un 5-étoiles. Derrière son enceinte de briques, la maison d’arrêt de Scheveningen ne ressemble en rien aux camps de concentration serbes d’Omarska et Prijedor, dont les images de barbelés révoltèrent l’opinion en 1992.“530

Die Kritik der französische Tageszeitung „Le Figaro“ an den Haftbedingungen des Den Haager Untersuchungsgefängnisses unterstreicht die grundlegende Problematik der Unschuldsvermutung im internationalen Strafverfahren. Mit den geäußerten Bedenken an der guten Haftsituation der Täter wirft der Artikel Fragen nach den Voraussetzungen und Zielstellungen der Untersuchungshaft auf. Die Meinung der Zeitung spiegelt verbreitete Einwände in der Öffentlichkeit gegen eine privilegierte Unterbringung von Tätern wider, die einst die Menschenrechte ihrer Opfer missachteten.531 Die implizierte Forderung nach einer Gleichbehandlung der Täter mit ihren Opfern durch die Versagung rechtsstaatlicher Gewährleistungen berührt die Grundfeste des völkerstrafrechtlichen Verfahrens. Wesentliche Prämisse eines fairen Verfahrens ist die Garantie eines umfassenden Menschenrechtsschutzes auch gegenüber Angeklagten, die dessen Grundsätze selbst nicht respektierten. Ziel des Völkerstrafrechts darf nicht eine Vergeltung begangener Straftaten um den gleichen Preis, sondern ausschließlich ihre gerechte Verurteilung im Rahmen eines rechtsstaatlichen Verfahrens sein. Die Vorbildwirkung eines internationalen Strafverfahrens erfordert eine besondere Berücksichtigung der Rechte des Angeklagten und die ausnahmslose Wahrung rechtsstaatlicher Prozessgrundsätze. Bei der Beurteilung der Haftumstände ist die Rechtsnatur der Untersuchungshaft als Instrument der Prozessabsicherung zu berücksichtigen. Eine vorläufige Inhaftierung des Angeklagten steht im Widerspruch zum Prinzip der Unschuldsvermutung, das belastende Rechtsfolgen im Vorfeld der gerichtlichen Entscheidung grundsätzlich ausschließt.532 Da die Freiheit des Angeklagten ohne richterlichen Schuldspruch eingeschränkt wird, stellt die Untersuchungshaft einen schwerwiegenden „Ce qui attend Karadžić dans sa prison de La Haye“, Le Figaro, 28. Juli 2008. Siehe zur Situation an den ECCC in der Berliner Zeitung: Kerner, Das späte Gericht, BZ, 17.02.2009, http://www.berlinonline.de/berliner-zeitung/archiv/.bin/dump.fcgi/2009/0217/ horizonte/0001/index (letzter Zugriff am 24.05.2010). 532 BVerfGE 19, 342 (347). 530 531

V. Die Unschuldsvermutung

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Eingriff in die Rechte des Beschuldigten dar. Angesichts ihres fehlenden Sanktionscharakters ist die Untersuchungshaft im Rahmen einer rechtlichen Bewertung von der späteren Strafvollstreckung zu unterscheiden. Vor diesem Hintergrund ist eine privilegierte Unterbringung der Untersuchungshäftlinge nicht nur gerechtfertigt, sondern aus rechtsstaatlicher Perspektive zwingend geboten.533 Durch die Anordnung einer Untersuchungshaft wird die Geltung der Unschuldsvermutung für den Betroffenen faktisch aufgehoben. Bei der Beurteilung rechtlicher Problemfelder muss die Unschuldsvermutung als Bedingung eines gerechten Verfahrens eine zentrale Rolle einnehmen. Die Auslegung von Voraussetzungen und Folgen einer einstweiligen Inhaftierung hat daher im Lichte des rechtsstaatlichen Fairnessgebots restriktiv zu erfolgen. In den internationalen Menschenrechtskonventionen wird die Untersuchungshaft nur in ihren Grundzügen geregelt. Art. 9 Abs. 3 IPbpR erkennt die einstweilige Inhaftierung als Schranke der persönlichen Freiheitsrechte des Angeklagtem generell an.534 Wesentliche Aussage der Norm ist die systematische Konzeption der Untersuchungshaft als rechtlicher Ausnahmefall. Nach Art. 9 Abs. 3 IPbpR darf die Anordnung einer Untersuchungshaft nicht zwangsläufige Folge einer Anklage sein, sondern ist als Eingriff in die Freiheitsrechte des Beschuldigten rechtfertigungsbedürftig. Wenngleich eine entsprechende Bestimmung in der EMRK fehlt, wurde der Ausnahmecharakter einer einstweiligen Inhaftierung durch die Rechtsprechung des EGMR535 und das Ministerkomitee des Europarates536 anerkannt. Auf Grundlage der normativen Gewährleistung von Unschuldsvermutung und prozessualer Fairness erklärt der Gerichtshof eine schematische Haftanordnung für unvereinbar mit den geltenden menschenrechtlichen Standards: „Any system of mandatory detention on remand is per se incompatible with human rights standards.“537

Indem ihre Anwendung als typische Begleitfolge des Strafverfahrens versagt wird, zieht Art. 9 Abs. 3 IPbpR der Anordnung von Untersuchungshaft klare Grenzen. Gleichwohl legt die Bestimmung keine eindeutigen Anforderungen an die Zulässigkeit konkreter Haftgründe fest, sondern überantwortet ihre Ausgestaltung den jeweiligen Prozessordnungen. Präzisiert werden die Voraussetzungen der UntersuSchlothauer / Weider, Untersuchungshaft, 2009, S. 402. Art. 9 III IPbpR: Anyone arrested or detained on a criminal charge shall be brought promptly before a judge or other officer authorized by law to exercise judicial power and shall be entitled to trial within a reasonable time or to release. It shall not be the general rule that persons awaiting trial shall be detained in custody, but release may be subject to guarantees to appear for trial, at any other stage of the judicial proceedings, and, should occasion arise, for execution of the judgement. 535 EGMR, Ilijkov v. Bulgaria, Application No. 33977 / 96, 26. Juli 2001, Rn. 8. 536 Ministerkomitee des Europarates, Mitteilungen des Europarats, Beilage zum Bundesanzeiger Nr. 102 v. 3. Juni 1965, S. 38. 537 EGMR, Ilijkov v. Bulgaria, Application No. 33977 / 96, 26. Juli 2001, Rn. 8. 533 534

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

chungshaft in Art. 5 Abs. 1 lit. c EMRK538, der einen hinreichenden Tatverdacht und das Bestehen von Fluchtgefahr als mögliche Gründe für eine vorläufige Inhaftierung gelten lässt.539 Die Vorgaben menschenrechtlicher Verträge an die rechtlichen Voraussetzungen der Untersuchungshaft sind vergleichsweise gering und eröffnen den Tribunalen normative Spielräume. Vor dem Hintergrund einer rechtsstaatlichen Analyse ist zu untersuchen, ob die gerichtlichen Statuten einen gerechten Ausgleich zwischen den Erfordernissen einer Verfahrenssicherung und der Verwirklichung der Unschuldsvermutung finden.

b) Darstellung und Bewertung der Rechtslage an den Tribunalen Die Analyse konkreter Haftgründe in der Praxis völkerstrafrechtlicher Untersuchungshaft setzt zunächst einen Überblick über die normativen Gestaltungen an den Tribunalen voraus. In diesem Zusammenhang sollen die Rechtsgrundlagen der Gerichte in ihren Grundzügen dargestellt und mit Blick auf die Verwirklichung rechtsstaatlicher Prinzipien erörtert werden. Die Untersuchungshaft des Angeklagten wird zumeist während des Vorverfahrens angeordnet und im Rahmen der Hauptverhandlung fortgesetzt. Die Rechtslage des Vorverfahrens soll in dem Maße Berücksichtigung finden, wie es die Bewertung der Haftvoraussetzungen im weiteren Prozessverlauf erfordert. Die Frage nach einer zulässigen Dauer von Untersuchungshaft im Vorfeld des Verfahrens wird daher nicht erörtert.540

aa) Die Untersuchungshaft an den Ad-hoc-Tribunalen Der ICTY nahm die Prüfung der Untersuchungshaft in der Rechtssache Ademi zum Anlass, die komplexe Rechtslage der einstweiligen Inhaftierung abschließend zu klären.541 Unter kritischer Würdigung der normativen Grundlagen erörtert das 538 Art. 5 I EMRK: Everyone has the right to liberty and security of person. No one shall be deprived of his liberty save in the following cases and in accordance with a procedure prescribed by law: c) the lawful arrest or detention of a person effected for the purpose of bringing him before the competent legal authority on reasonable suspicion of having committed an offence or when it is reasonably considered necessary to prevent his committing an offence or fleeing after having done so. 539 Hiermit bleibt die Norm jedoch hinter den nationalen Bestimmungen zurück, die neben dem Vorliegen eines hinreichenden Tatverdachtes regelmäßig weitere Haftgründe erfordern; Gollwitzer, Menschenrechte, 2005, Art. 5 EMRK, Rn. 67. 540 Eine allgemeine Darstellung des Rechts auf ein zügiges Verfahren erfolgt jedoch in Kapitel D. VIII. 541 ICTY Ademi, Order on Motion for Provisional Release, IT-01-46-PT, 20. Februar 2002, Rn. 16 ff.

V. Die Unschuldsvermutung

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Gericht umfassend den Ablauf des Verfahrens sowie die geltenden Voraussetzungen der Untersuchungshaft. Die Ausführungen der Richter zu den rechtlichen Prämissen einer Inhaftierung können als Maßstab zum Verständnis der gerichtlichen Praxis herangezogen werden.542 (1) Die Untersuchungshaft nach Anklageerhebung (a) Die Voraussetzungen der Untersuchungshaft Nach Bestätigung der Anklage gemäß Art. 19 ICTY-Statut erlässt der zuständige Richter einen Haftbefehl mit der Anordnung einer sofortigen Überstellung des Angeklagten an das Tribunal.543 Da bereits der Haftbefehl die rechtliche Grundlage für eine Festnahme des Beschuldigten darstellt, wird die Untersuchungshaft ohne eine formale Prüfung von Haftgründen angeordnet.544 Eine Entscheidung über die inhaltlichen Anforderungen der Untersuchungshaft kann erst im Rahmen einer späteren Haftprüfung gemäß Regel 65 (B) ICTY-RPE erfolgen. Sowohl der Angeklagte als auch das Gericht sind befugt, ein Verfahren zur Kontrolle der Haftvoraussetzungen einzuleiten.545 Auf dieser Grundlage kann das Tribunal die Entlassung des Angeklagten anordnen, wenn keine Hinweise für das Vorliegen einer Flucht- oder Verdunkelungsgefahr bestehen. In ihrer früheren Fassung hatte die Norm neben dem Schutz von Zeugen und Verfahren die Existenz „außergewöhnliche Umstände“546 für die Aufhebung der Untersuchungshaft gefordert. Die Inhaftierung des Angeklagten während des Verfahrens wurde hierdurch zum automatischen Regelfall,547 der nur unter engen Voraussetzun542 Die nachfolgenden Darstellungen beschränken sich auf Aspekte der Untersuchungshaft nach Erhebung der Anklage. Besonderheiten des Ermittlungsverfahrens werden thematisch ausgeklammert, da sie für das Verständnis der Untersuchungshaft im Hauptverfahren nicht maßgebend sind. 543 ICTY Ademi, Order on Motion for Provisional Release, IT-01-46-PT, 20. Februar 2002, Rn. 16. 544 ICTY Ademi, Order on Motion for Provisional Release, IT-01-46-PT, 20. Februar 2002, Rn. 17: „As the accused is already detained as a result of the arrest warrant that has been issued, detention will continue unless further order is made. During the initial appearance, the Trial Chamber generally orders orally that detention will continue until further order and in some cases an order for detention on remand is formally issued.“ 545 ICTY Ademi, Order on Motion for Provisional Release, IT-01-46-PT, 20. Februar 2002, Rn. 16. 546 Der Wortlaut der Regel 65 B ICTY-RPE in ihrer Ursprungsfassung v. 4. Oktober 1994: Release may be ordered by a Trial Chamber only in exceptional circumstances, and only if it is satisfied that the accused will appear for trial and, if released, will not pose a danger to any victim, witness or other person. 547 ICTY Ademi, Order on Motion for Provisional Release, IT-01-46-PT, 20. Februar 2002, Rn. 18: „Rule 65 previously stipulated that notwithstanding satisfaction of these two criteria, provisional release was only to be granted in ‚exceptional circumstances.‘ Detention was therefore in reality the rule.“

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

gen Ausnahmen zuließ. Die damalige Regelung war mit Blick auf die Vorgaben menschenrechtlicher Verträge zu Recht kritisch gesehen worden.548 In seinem Sondervotum zum Fall Krajišnik bezeichnete Richter Robinson die besondere Begründungspflicht einer Haftbeendigung als Verstoß gegen Völkergewohnheitsrecht.549 Die Bedenken an der Rechtmäßigkeit der Norm wurden zum Anlass genommen, den Wortlaut der Bestimmung an die Wertungen der Konventionsrechte anzunähern. Die modifizierte Formulierung von Regel 65 (B) ICTY-RPE hebt die Anforderung „außergewöhnlicher Umstände“ auf, stellt die Entscheidung über eine Freilassung des Angeklagten jedoch weiterhin in das gerichtliche Ermessen: „Regel 65 (B) ICTY-RPE: Release may be ordered by a Trial Chamber (…) if it is satisfied that the accused will appear for trial and, if released, will not pose a danger to any victim, witness or other person.“

Die Rechtslage am ICTY wirft im Hinblick auf die Wahrung der Unschuldsvermutung daher zwei Problemkreise auf. Zunächst geht die Systematik der Norm weiterhin von der grundsätzlichen Anordnung einer Untersuchungshaft aus, deren Rechtmäßigkeit erst im Nachgang überprüft wird. Wenngleich nach der Neufassung der Vorschrift keine besonderen Aufhebungsgründe vorzutragen sind, legt der Wortlaut einen Regelcharakter der Untersuchungshaft nahe. In seiner Betrachtung der Haftvoraussetzungen am ICTY bewertet Safferling die Freilassung des Angeklagten als rechtlichen und praktischen Ausnahmefall: „The rules of detention at the ICTY could be described as [follows]: (1) Generally the suspect must be detained; (…) (3) only if the condition of the suspect, notably his state of health, are such that they are not compatible with any sort of detention, may he be provisionally released.“550

Folgt man Safferlings Auslegung von Regel 65 (B) ICTY-RPE stünde die Norm im Widerspruch zu den Gewährleistungen geltender Konventionsrechte. Im Lichte von Art. 9 Abs. 3 IPbpR müsste eine Konzeption der Haftentlassung als rechtfertigungsbedürftige Ausnahme abgelehnt werden. In der Rechtssache Ademi wies der ICTY ein solches Normverständnis ausdrücklich zurück. Nach Auffassung des Gerichts könne weder die Anordnung noch die Aufhebung von Untersuchungshaft als rechtlicher Regelfall begriffen werden: „This Trial Chamber believes that removal of this requirement has had the following effect. It has neither made detention the exception and release the rule, nor resulted in the situation that despite amendment, detention remains the rule and release the exception.“551

548 ICTY Krajišnik and Plavsic, Decision on Momcilo Krajišnik’s Notice of Motion for Provisional Release, IT-00-39-40-PT, 8. Oktober 2001, Dissenting Opinion of Judge Patrick Robinson. 549 ICTY Krajišnik and Plavsic, Decision on Momcilo Krajišnik’s Notice of Motion for Provisional Release, IT-00-39-40-PT, 8. Oktober 2001, Dissenting Opinion of Judge Patrick Robinson, Rn. 11. Vgl. hierzu auch die ausführliche Darstellung bei DeFrank Texas L. Rev. 80 / 6 (2002), 1429 ff. 550 Safferling, Towards an International Criminal Procedure, 2007, S. 146.

V. Die Unschuldsvermutung

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Obgleich die Kammer eine zwangsläufige Inhaftierung des Beschuldigten verneint, erlaubt die Formulierung von Regel 65 (B) ICTY-RPE eine restriktive Anwendung der Entlassungsgründe. Im Interesse eines weitgehenden Menschenrechtsschutzes nach den Vorgaben internationaler Verträge sollte die Haftanordnung künftig eindeutig als normative Ausnahme festgelegt werden. Ein weiterer Kritikpunkt an der Rechtslage des ICTY besteht in der Gestaltung der Untersuchungshaft als richterliche Ermessensfrage. Nach Regel 65 (B) ICTYRPE kann die Kammer eine Fluchtgefahr des Angeklagten sowie den Schutz von Zeugen berücksichtigen, wird jedoch nicht an zwingende Entscheidungskriterien gebunden. Die Verfahrensordnung des ICTY überantwortet es dem Gericht, im Einzelfall eine Abwägung zwischen den Rechten des Angeklagten und der wirksamen Durchsetzung des Strafverfahrens zu entwickeln.552 Im Folgenden sollen die Bedenken an der offenen Formulierung der Norm und einer fehlenden Verpflichtung der Kammer auf verbindliche Rechtsmaßstäbe erörtert werden. (b) Die Ermessensentscheidung des Gerichts über die Entlassung des Angeklagten Die Aufhebung der Untersuchungshaft steht nach dem Wortlaut der Norm im Ermessen des Tribunals, das nicht zwingend an die Haftgründe in Regel 65 (B) ICTYRPE gebunden ist. Da die Auflistung der Haftvoraussetzungen nicht abschließend ausgestaltet wird, kann das Gericht die Entlassung des Angeklagten aus anderen Gründen verweigern. Im Fall Ademi fasste die Vorverfahrenskammer ihre Befugnisse wie folgt zusammen: „[E]ven if these requirements are met, this Trial Chamber does not believe that it is obliged to release the accused. In this regard, it agrees with the interpretation that a Trial Chamber will still retain a discretion not to grant provisional release (…) Consequently, the express requirements within Rule 65 (B) should not be construed as intending to exhaustively list the reasons why release should be refused in a given case.“553

Nach der Rechtsprechung des Tribunals können die Richter in ihre Erwägungen Faktoren wie die Dauer der Untersuchungshaft, die Gefahr einer Beweisvernichtung oder den Schutz der öffentlichen Ordnung einstellen.554 Die Annahme eines gerichtlichen Entscheidungsspielraums rief jedoch auch kritische Stimmen hervor. In einer abweichenden Stellungnahme lehnte Richter Robinson ein Ermessen des Gerichts 551 ICTY Ademi, Order on Motion for Provisional Release, IT-01-46-PT, 20. Februar 2002, Rn. 18. 552 ICTY Limaj, Decision of the Appeals Chamber, IT-03-66-AR 65, 31. Oktober 2003, Rn. 6. 553 ICTY Ademi, Order on Motion for Provisional Release, IT-01-46-PT, 20. Februar 2002, Rn. 22. 554 ICTY Ademi, Order on Motion for Provisional Release, IT-01-46-PT, 20. Februar 2002, Rn. 22.

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

als Möglichkeit zur beliebigen Beschränkung persönlicher Freiheit ab.555 Nach Auffassung Robinsons wäre allein ein gebundener Entlassungsanspruch des Beschuldigten mit dem Verbot willkürlicher Haft in Art. 9 Abs. 1 IPbpR556 vereinbar.557 Gegen eine Auslegung der bestehenden Regel 65 (B) ICTY-RPE im Sinne einer zwingenden Rechtsfolge spricht der eindeutige Wortlaut der Norm. Trotz der Diskussionen um das Ermessen des Gerichts wurde die Formulierung „may be ordered“ auch nach der Revision der Bestimmung beibehalten.558 Die Übernahme des umstrittenen Wortlautes kann als Votum für die Fortgeltung des angenommenen Entscheidungsspielraums gewertet werden. Die Argumentation Robinsons zeigt ihre Schwäche jedoch insbesondere in der Gleichsetzung von Ermessen und Willkür. Die Anerkennung eines Entscheidungsspielraums darf nicht als Gewährleistung einer beliebigen Einschätzungsprärogative verstanden werden. Die Verlängerung einer Untersuchungshaft muss auch im Rahmen einer Ermessensausübung auf fundierte Gründe gestützt werden, die das Gericht im Einzelfall zu benennen und mit den Rechten des Angeklagten abzuwägen hat. Robinsons Bedenken ist jedoch insoweit zuzustimmen, als die Festlegung von Maßstäben für eine gerechte Abwägung weitgehend der Praxis überlassen wird. Angesichts des offenen Wortlauts entscheiden im Ergebnis die Richter, welche Gründe eine Untersuchungshaft rechtfertigen können. Im Interesse von Transparenz und Rechtssicherheit wäre es sinnvoll, mögliche Haftgründe umfassend zu normieren und hierdurch klare Vorgaben für die Entscheidung des Gerichtes zu schaffen. Folge einer Normrevision müsste nicht zwingend ein gebundener Anspruch, sondern könnte in erster Linie eine Erweiterung der Bestimmung um anerkannte Haftgründe sein. Ohne einzelfallbedingte Abweichungen auszuschließen, könnten hierdurch Regelfälle gezeigt und dem Rechtsanwender vergleichende Maßstäbe an die Hand gegeben werden. (2) Die Untersuchungshaft nach dem erstinstanzlichen Urteil Prozessuale Besonderheiten ergeben sich für die Anordnung von Untersuchungshaft nach Erlass des erstinstanzlichen Urteils. Mit einer Verurteilung des Täters wird seine Inhaftierung grundsätzlich fortgesetzt und gemäß Regel 65 (I) ICTY-RPE nur unter engen Voraussetzungen aufgehoben.559 Eine Freilassung des Angeklagten ist 555 ICTY Krajišnik and Plavsic, Decision on Momcilo Krajišnik’s Notice of Motion for Provisional Release, IT-00-39-40-PT, 8. Oktober 2001, Dissenting Opinion of Judge Patrick Robinson. 556 Art. 9 I IPbpR: Everyone has the right to liberty and security of person. No one shall be subjected to arbitrary arrest or detention. 557 Hierzu DeFrank, Texas L. Rev. 80 / 6 (2002), S. 1429 ff. 558 DeFrank, Texas L. Rev. 80 / 6 (2002), S. 1431. 559 Regel 65 (I) ICTY-RPE: Without prejudice to the provisions of Rule 107, the Appeals Chamber may grant provisional release to convicted persons pending an appeal or for a fixed period if it is satisfied that:

V. Die Unschuldsvermutung

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demnach zulässig, wenn weder Flucht- noch Verdunkelungsgefahr oder sonstige Umstände eine Untersuchungshaft erforderlich machen. Im Falle eines Freispruchs des Beschuldigten sieht Regel 99 (A) ICTY-RPE eine umgehende Haftentlassung vor. Legt der Ankläger jedoch Rechtsmittel gegen das erstinstanzliche Urteil ein, steht die Entscheidung über eine Fortsetzung der Untersuchungshaft erneut im richterlichen Ermessen. Anders als in Regel 65 ICTY-RPE wird das Gericht durch Regel 99 (B) ICTY-RPE nicht an konkrete Haftgründe gebunden. Die Norm überantwortet dem Gericht eine umfassende Beurteilung der Haftvoraussetzungen ohne seinem Entscheidungsspielraum materielle Grenzen zu ziehen. „Regel 99 ICTY-RPE: (A) Subject to paragraph (B), in the case of an acquittal or the upholding of a challenge to jurisdiction, the accused shall be released immediately. (B) If, at the time the judgement is pronounced, the Prosecutor advises the Trial Chamber in open court of the Prosecutor’s intention to file notice of appeal pursuant to Rule 108, the Trial Chamber may, on application in that behalf by the Prosecutor and upon hearing the parties, in its discretion, issue an order for the continued detention of the accused, pending the determination of the appeal.“

Auch im Rahmen der Untersuchungshaft nach einem erstinstanzlichen Urteil ist eine Änderung der Rechtsgrundlagen entsprechend den oben entwickelten Grundsätzen sinnvoll. Mit der Erweiterung von Regel 99 (B) ICTY-RPE um konkrete Haftgründe könnten eindeutige Bewertungsmaßstäbe für die Rechtmäßigkeit der Untersuchungshaft bestimmt werden. Durch die Festlegung inhaltlicher Anforderungen an die richterliche Entscheidung kann eine an rechtsstaatlichen Prämissen orientierte Abwägung bereits auf normativer Ebene garantiert werden.

bb) Die Untersuchungshaft am Internationalen Strafgerichtshof Die Voraussetzungen und Folgen der Untersuchungshaft werden in den Art. 55 Abs. 1 lit. d sowie 58 bis 60 des ICC-Statutes geregelt. Während Art. 58 und 60 ICC-Statut das Verfahren der Untersuchungshaft vor dem Internationalen Strafgerichtshof normieren, legt Art. 59 ICC-Statut die Bedingungen für ihre Anordnung und Aufhebung durch nationale Organe fest.

(i) the appellant, if released, will either appear at the hearing of the appeal or will surrender into detention at the conclusion of the fixed period, as the case may be; (ii) the appellant, if released, will not pose a danger to any victim, witness or other person, and (iii) special circumstances exist warranting such release.

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

(1) Das Verfahren der Untersuchungshaft vor dem Internationalen Strafgerichtshof Nach Art. 58 ICC-Statut wird die Untersuchungshaft auf Grundlage eines Haftbefehls der Vorverfahrenskammer angeordnet. Im Gegensatz zur Rechtslage am ICTY ergeht der Haftbefehl jedoch nicht als automatische Folge einer Anklage, sondern bedarf einer umfassenden gerichtlichen Prüfung. Die Rechtmäßigkeit einer vorläufigen Inhaftierung setzt kumulativ das Bestehen eines Haftgrundes sowie ausreichender Hinweise auf die Tatbegehung voraus.560 Als Rechtfertigung der Untersuchungshaft wird eine Flucht-, Verdunkelungs- oder Wiederholungsgefahr im Rahmen der gerichtlichen Jurisdiktion anerkannt. Liegt ein Haftgrund im Sinne der Norm vor, ist das Gericht zum Erlass eines Haftbefehls verpflichtet. Nach Anordnung der Untersuchungshaft ist das Gericht gemäß Art. 60 Abs. 4 ICC-Statut, Regel 118 ICC-RPE zur regelmäßigen Überprüfung der Haftvoraussetzungen verpflichtet. Ein entsprechender Antrag auf Haftprüfung kann nach Art. 60 Abs. 3 ICC-Statut sowohl vom Ankläger als auch vom Beschuldigten gestellt werden. Da die Untersuchungshaft einen permanenten Eingriff in die Freiheit des Angeklagten darstellt, müssen die Gründe seiner Festnahme dauerhaft fortbestehen. Entfällt die ursprüngliche Rechtfertigung des Haftbefehls ist das Gericht zur Freilassung des Beschuldigten verpflichtet. Ein weiterer Faktor, der eine Beendigung der Untersuchungshaft bedingen kann, ist gemäß Art. 60 Abs. 4 ICC-Statut die unangemessene Dauer des Vorverfahrens aufgrund eines verschuldeten Verzugs des Anklägers. Die Entlassung des Beschuldigten kann nach Regel 119 ICC-RPE unter Auflagen ergehen. Um die Risiken einer Freilassung zu verringern, ist das Gericht zu Sicherungsmaßnahmen wie der Einziehung des Passes oder der Erteilung einer Reisebeschränkung befugt. Eine gesonderte Regelung erfährt die Untersuchungshaft nach Verkündung des erstinstanzlichen Urteils. Nach Art. 81 Abs. 3 ICC-Statut gilt im Grundsatz, dass die Inhaftierung im Falle einer Verurteilung des Angeklagten fortgesetzt und nach erfolgtem Freispruch aufgehoben wird. Trotz eines Schuldspruchs wird der Ange560 Art. 58 ICC-Statut: 1. At any time after the initiation of an investigation, the Pre-Trial Chamber shall, on the application of the Prosecutor, issue a warrant of arrest of a person if, having examined the application and the evidence or other information submitted by the Prosecutor, it is satisfied that: (a) There are reasonable grounds to believe that the person has committed a crime within the jurisdiction of the Court; and (b) The arrest of the person appears necessary: (i) To ensure the person’s appearance at trial; (ii) To ensure that the person does not obstruct or endanger the investigation or the court proceedings; or (iii) Where applicable, to prevent the person from continuing with the commission of that crime or a related crime which is within the jurisdiction of the Court and which arises out of the same circumstances.

V. Die Unschuldsvermutung

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klagte gemäß Art. 81 Abs. 3 lit. b ICC-Statut regelmäßig dann aus der Untersuchungshaft entlassen, wenn die Zeit seiner Inhaftierung die verhängte Freiheitsstrafe bereits überschreitet. Andererseits können Gründe bestehen, die eine Fortdauer der Untersuchungshaft auch nach einem erstinstanzlichen Freispruch erforderlich machen. Um einen rechtsstaatlichen Strafprozess effektiv zu gewährleisten, muss die Präsenz des Angeklagten bis zum Abschluss des Rechtsmittelverfahrens sichergestellt werden. Wenngleich der Begründungsaufwand durch den Freispruch des Beschuldigten erhöht wird, können ein fortbestehendes Fluchtrisiko, die Schwere der zur Last gelegten Verbrechen und die Erfolgswahrscheinlichkeit des Rechtsmittels eine weitere Inhaftierung rechtfertigen.561 Ein Vergleich mit den Regelungen des ICTY macht deutlich, dass Art. 81 Abs. 3 ICC-Statut dem Gericht bereits klarere Richtlinien zur Bewertung der Untersuchungshaft vorgibt. (2) Das Verfahren der Untersuchungshaft vor nationalen Instanzen Ein Haftbefehl des ICC verpflichtet die Vertragsstaaten nach Art. 59 des Statuts zur sofortigen Festnahme des Täters. Bevor der Beschuldigte an den ICC überstellt wird, bleibt er in staatlicher Untersuchungshaft. Auch im Rahmen eines nationalen Arrests muss dem Täter die Möglichkeit eröffnet werden, seine vorläufige Entlassung zu beantragen. Die Voraussetzungen für eine Aufhebung der Untersuchungshaft richten sich hierbei nicht nach nationalem Recht, sondern werden abschließend durch Art. 59 Abs. 4 ICC-Statut bestimmt. Zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit eines Haftbefehls ist das nationale Gericht ausdrücklich nicht befugt. Nach Regel 117 Abs. 3 ICC-RPE kann der Beschuldigte die Voraussetzungen von Art. 58 ICCStatut allein schriftlich vor dem Internationalen Strafgerichtshof geltend machen. Einem Antrag des Täters auf Haftentlassung kann durch das staatliche Gericht nur entsprochen werden, wenn außergewöhnliche Umstände seine Freilassung rechtfertigen und eine spätere Auslieferung an den ICC gewährleistet werden kann.562 Knoops sieht in den Anforderungen des Art. 59 ICC-Statuts einen Verstoß gegen die menschenrechtlichen Vorgaben der geltenden Konventionen.563 Die gleichzeitige Bindung an den IPbpR und das Statut des ICC bringe einen Vertragsstaat in den Konflikt widerstreitender völkerrechtlicher Verpflichtungen. Während Art. 9 IPbpR den Ausnahmecharakter der Untersuchungshaft unterstreiche, beschränke Art. 59 Abs. 4 ICC-Statut das nationale Gericht auf die Entlassung in besonderen Einzelfällen. Durch die Geltung des Statuts würde die Haftaufhebung restriktiveren Voraussetzungen unterworfen und die Rechtsposition des Angeklagten vor nationalen Gerichten geschwächt. Knoops kritisiert, dass die menschenrechtlichen Stan561 Die Fortsetzung der Untersuchungshaft kann nur auf Antrag des Anklägers erfolgen, vgl. Art. 81 Abs. 3 lit. c (i) ICC-Statut. 562 Der ICC kann das nationale Gericht nach Regel 117 V ICC-RPE zur regelmäßigen Berichterstattung über den Stand der Entlassung anweisen. 563 Knoops, Theory and Practice, 2005, S. 149.

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

dards in den Vertragsstaaten durch eine Bindung an das ICC-Statut gesenkt würden.564 Eine Beschränkung des Menschenrechtsschutzes widerspräche der Zielsetzung völkerstrafrechtlicher Gerichtsbarkeit, die als internationales Vorbild für prozessuale Fairness wirken solle. Da der eindeutige Wortlaut keinen Raum für eine konventionsfreundliche Auslegung nach Art. 21 lit. d ICC-Statut lasse, spricht sich Knoops für eine Änderung des Art. 59 Abs. 4 ICC-Statut aus.565 In seiner Normanalyse übersieht Knoops jedoch den rechtssystematischen Hintergrund der Bestimmung. Die Beschränkung nationaler Gerichte auf eine Prüfung außergewöhnlicher Umstände dient weniger der Verkürzung des individuellen Rechtsschutzes als vielmehr der Regelung von Kompetenzfragen. Nach der Intention des Art. 59 Abs.4 ICC-Statut soll die genaue Überprüfung der Haftgründe dem ICC als zuständigem Gericht vorbehalten bleiben. Das Verfahren nach Regel 117 ICC-RPE ermöglicht es dem Angeklagten, eine Entscheidung des ICC über die Rechtmäßigkeit seiner Untersuchungshaft nach den strengeren Maßstäben des Art. 58 ICC-Statut herbeizuführen. Das Recht des ICC bewirkt daher im Ergebnis keine Schwächung des menschenrechtlichen Schutzstandards, sondern lediglich eine Verlagerung der Kompetenzen auf den ICC. Aufgabe der nationalen Justizorgane ist nach dem Römischen Statut eine Kooperation mit dem Gerichtshof in Form der Ausübung von Exekutivgewalt zur Festsetzung und Überstellung des Täters.566 Die endgültige Entscheidung über die Anordnung einer Untersuchungshaft soll hingegen dem Gericht obliegen, das für die Verhandlung der Straftat zuständig ist. Ein nationales Gericht, das bei Kenntnis der bestehenden Rechtsschutzmöglichkeiten des Angeklagten den kompetenzrechtlichen Vorrang des ICC respektiert, verstößt nicht gegen seine völkervertraglichen Pflichten. Aus rechtsstaatlicher oder menschenrechtlicher Perspektive besteht daher kein Anlass für die Änderung der gerichtlichen Rechtsgrundlagen.

cc) Die Untersuchungshaft an den ECCC Die Untersuchungshaft des Angeklagten wird nach Anhörung der Parteien durch den Ermittlungsrichter angeordnet. Zwingende Voraussetzung für die Inhaftierung des Beschuldigten ist das Vorliegen eines Haftgrundes nach Regel 63 Abs. 3 ECCC-IR. „Regel 63 Abs. 3 ECCC-IR: The Co-Investigating Judges may order the Provisional Detention of the Charged Person only where the following conditions are met: a) there is well founded reason to believe that the person may have committed the crime or crimes specified in the Introductory or Supplementary Submission; and

Knoops, Theory and Practice, 2005, S. 149. Knoops, Theory and Practice, 2005, S. 149. 566 Die Kooperationspflichten der Vertragsstaaten sind in Kapitel IV des Statuts ausführlich geregelt. 564 565

V. Die Unschuldsvermutung

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b) The Co-Investigating Judges consider Provisional Detention to be a necessary measure to: i) prevent the Charged Person from exerting pressure on any witnesses or Victims, or prevent any collusion between the Charged Person and accomplices of crimes falling within the jurisdiction of the ECCC; ii) preserve evidence or prevent the destruction of any evidence; iii) ensure the presence of the Charged Person during the proceedings; iv) protect the security of the Charged Person; or v) preserve public order.“

Im Gegensatz zu den offen formulierten Tatbeständen in den Rechtsgrundlagen von ICTY und ICC zieht die Norm dem richterlichen Entscheidungsspielraum eindeutige Grenzen.567 Besteht kein Haftgrund im Sinne der Vorschrift, ist der Ermittlungsrichter zur Anordnung einer Untersuchungshaft nach Maßgabe persönlichen Ermessens nicht befugt. Im Verzicht auf die Entwicklung von Haftvoraussetzungen durch Richterrecht ist der zentrale Unterschied zu den bisherigen Regelungen an internationalen Tribunalen zu sehen. Um die korrekte Normanwendung im Einzelfall zu garantieren, werden die Haftgründe in Regel 63 Abs. 3 ECCC-IR ausführlich dargelegt. Neben einer hinreichenden Beweislage zur Begründung des Tatvorwurfs muss zumindest eine weitere Voraussetzung der Vorschrift erfüllt sein. Als Rechtfertigung für eine Untersuchungshaft erkennen die Internal Rules Flucht- und Verdunkelungsgefahr, den Schutz des Angeklagten sowie die Wahrung der öffentlichen Ordnung an. Durch die Norm werden die existierenden Haftgründe an völkerstrafrechtlichen Gerichten aufgenommen568 und um Rechtfertigungselemente ergänzt, die in den Rechtsgrundlagen von ICTY und ICC bislang nicht explizit enthalten sind.569 Eine weitere Besonderheit der Internal Rules besteht in der festgelegten Dauer der Haftanordnung. Nach Regel 63 Abs. 6 ECCC-IR darf die Untersuchungshaft abhängig von der Schwere des vorgeworfenen Verbrechens eine Zeitspanne von sechs Monaten bis zu einem Jahr nicht überschreiten. Eine Verlängerung der Haft durch den Ermittlungsrichter ist gesondert zu begründen und kann allenfalls in zwei aufeinander folgenden Anordnungen bestimmt werden. Zu jedem Zeitpunkt im Vor- oder Hauptverfahren darf der Angeklagte eine Überprüfung der Haftvoraussetzungen verlangen (Regel 63 Abs. 4, 64 Abs. 2, 82 ECCC-IR). Unabhängig von einem Antrag der Verteidigung obliegt es dem Richter im Untersuchungsverfahren, die Fortgeltung der Haftgründe zu kontrollieren (Regel 64 Abs. 1 ECCC-IR). Während die Ermittlungsrichter im Interesse des Angeklagten zu einer regelmäßigen Revision ihrer Entscheidung verpflichtet sind („shall“), steht 567

Dies wird durch die Formulierung „only where the following conditions are met“ deut-

lich. 568 Flucht- und Verdunkelungsgefahr finden sich bereits in Regel 65 (B) ICTY-RPE und Art. 58 ICC-Statut. 569 Der Schutz des Angeklagten und die Wahrung der öffentlichen Ordnung sind in den Rechtsquellen von ICTY und ICC nicht normativ verankert.

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eine Nachprüfung der Untersuchungshaft im Ermessen der Hauptverfahrenskammer („may“). Eine Besonderheit der ECCC, die im internationalen Strafrecht bislang keine Entsprechung findet, liegt in der Verantwortung der Ermittlungsrichter für die Kontrolle der tatsächlichen Zustände der Haftbedingungen (Regel 63 Abs. 8 ECCC-IR). Um eine faire und würdige Behandlung in der Untersuchungshaft zu gewährleisten, wird dem Beschuldigten regelmäßig Gelegenheit zur Darlegung seiner Haftsituation gegeben. Der Angeklagte erstattet in einem Abstand von höchstens vier Monaten dem Ermittlungsrichter über die Umstände seiner Inhaftierung Bericht. Mit der Ergänzung des individuellen Rechtsschutzes um die Kontrolle der praktischen Haftsituation wurde eine effektive Regelung zur Wahrung rechtsstaatlicher Haftstandards geschaffen. dd) Fazit Ein Vergleich der gerichtlichen Rechtsgrundlagen hat Unterschiede und Parallelen in der normativen Ausgestaltung der Untersuchungshaft verdeutlicht. Insbesondere im Hinblick auf die Normierung von Haftgründen und zeitlichen Vorgaben für die Untersuchungshaft bestehen Möglichkeiten zur Ergänzung des geltenden Verfahrensrechts. Während an den ECCC die prozessualen Voraussetzungen einer Haftanordnung detailliert festgelegt sind, enthalten die Rechtsquellen von ICTY und ICC weitgehend offene Tatbestände. Für die Erweiterung und Fortentwicklung des internationalen Strafprozessrechts sollte eine umfassende Regelung der Rechtsfragen nach dem Vorbild der ECCC angestrebt werden. Die Zulässigkeit der Untersuchungshaft betrifft in erster Linie zwei Kernprobleme, die Gegenstand der nachfolgenden Darstellungen sein sollen. Die umstrittenen Voraussetzungen einer Haftanordnung und die geringen Anforderungen an ihre zeitliche Begrenzung sind wesentliche Kritikpunkte an der Untersuchungshaft im völkerstrafrechtlichen Verfahren. Im Rahmen einer Bewertung der gerichtlichen Praxis sollen die rechtlichen Grundlagen einer fairen Verfahrensweise bestimmt und transparente Maßstäbe für die richterliche Rechtsanwendung entwickelt werden.

c) Die Haftgründe als Voraussetzungen einer Untersuchungshaft Menschenrechtliche Konventionen fordern das Vorliegen spezieller Haftgründe zur Rechtfertigung von Untersuchungshaft.570 Die besondere Schwere völkerrechtlicher Verbrechen wirft die Frage auf, ob aus rechtsstaatlichem Blickwinkel eine Übertragung der Grundsätze auf den internationalen Strafprozess zwingend ist. Anders als im nationalen Strafverfahren könnte zur Begründung einer vorläufigen Inhaftierung bereits der Rückgriff auf die Deliktsnatur genügen. Ein Blick auf § 112 Abs. 3 der deutschen StPO scheint diese Möglichkeit nahezulegen. Nach dem Wort570

Vgl. hierzu in diesem Kapitel 4. a).

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laut der Norm würde die Anordnung von Untersuchungshaft bei Straftaten des Völkerstrafgesetzbuches keinen weiteren Haftgrund voraussetzen.571 In seiner Entscheidung zum Fall Wencker befand das BVerfG eine solche Auslegung der Bestimmung jedoch für nicht verfassungskonform.572 Insbesondere im Hinblick auf die Unschuldsvermutung könne ein Eingriff in die Freiheit des Angeklagten nur durch nachweisbare Gefahren für die Effektivität des Strafverfahrens legitimiert werden.573 Vor dem Hintergrund rechtsstaatlicher Anforderungen lässt sich eine klare Parallele zum internationalen Strafverfahren ziehen. Wird die Untersuchungshaft mit einer prozessualen Absicherung des Strafanspruchs gerechtfertigt, kann eine Inhaftierung nicht ausschließlich aufgrund der Schwere des zur Last gelegten Verbrechens erfolgen.574 Auch im Völkerstrafrecht wird daher die Existenz spezieller Haftgründe für die rechtmäßige Anordnung von Untersuchungshaft vorausgesetzt.575 Das Recht der internationalen Strafgerichte erkennt im Wesentlichen fünf Möglichkeiten zur Begründung der einstweiligen Inhaftierung an.576 Als klassische Haftgründe des innerstaatlichen Rechts gelten Flucht-, Verdunkelungs- und Wiederholungsgefahr, die eine Vereitelung des Strafprozesses sowie die Begehung weiteren Unrechts verhindern sollen. Da in völkerstrafrechtlichen Verfahren meist beendete Konflikte abgeurteilt werden, findet die Wiederholungsgefahr im internationalen Strafprozess naturgemäß wenig Entsprechung. Hingegen kann der Rolle der Öffentlichkeit aufgrund der ausnehmenden gesellschaftlichen Relevanz der Verbrechen besondere Bedeutung beigemessen werden. Das Verfahrensrecht der ECCC nimmt daher explizit den Schutz des Täters sowie die Wahrung der öffentlichen Ordnung als zulässige Rechtfertigungsgründe für die Inhaftierung des Beschuldigten auf. Im Folgenden sollen die einzelnen Haftgründe im Hinblick auf die auftretenden rechtlichen und praktischen Fragestellungen näher erörtert werden. Angesichts der zeitlichen Entfernung zu den verübten Verbrechen gestaltet sich die Rechtslage an 571 § 112 III StPO: „Gegen den Beschuldigten, der einer Straftat nach § 6 Abs. 1 Nr. 1 des Völkerstrafgesetzbuches (…) dringend verdächtig ist, darf die Untersuchungshaft auch angeordnet werden, wenn ein Haftgrund nach Absatz 2 nicht besteht.“ 572 BVerfGE 19, 342 (350): „[§ 112 StPO] müßte dagegen rechtsstaatliche Bedenken erwecken, wenn er dahin auszulegen wäre, daß bei dringendem Verdacht eines der hier bezeichneten Verbrechen gegen das Leben die Untersuchungshaft ohne weiteres, d. h. ohne Prüfung weiterer Voraussetzungen, verhängt werden dürfte. Eine solche Auslegung wäre mit dem Grundgesetz nicht vereinbar.“ 573 BVerfGE 19, 342 (350): „Es müssen vielmehr auch hier stets Umstände vorliegen, die die Gefahr begründen, daß ohne Festnahme des Beschuldigten die alsbaldige Aufklärung und Ahndung der Tat gefährdet sein könnte.“ 574 EGMR, Bernard v. Frankreich, Application No. 27678 / 02 26. September 2006, Rn. 45; EGMR, Muller v. Frankreich, Application No. 21802 / 93, 17. März 1997, Rn. 42; EGMR, Letellier v. Frankreich, Application No. 12369 / 86, 26. Juni 1991, Rn. 43. 575 ICTY Jovica Stanisic, Decision on Provisional Release, IT-03-69-PT, 28. Juli 2004, Rn. 22: „The gravity of the crime cannot by itself serve to justify long periods of detention on remand.“ 576 EGMR Smirnova v. Russia, Application No. 46133 / 99 and 48183 / 99, 24. Juli 2003.

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

den Kammern Kambodschas in besonderer Weise problematisch. Die vorläufige Inhaftierung des Angeklagten Jahrzehnte nach Tatbegehung stellt erhebliche Anforderungen an die Rechtfertigung der gerichtlichen Anordnung. Die besondere Legitimationsbedürftigkeit der Untersuchungshaft an den ECCC erlaubt ein umfassendes Verständnis ihrer rechtlichen Grenzen in der praktischen Handhabung durch ein völkerstrafrechtliches Gericht und soll daher einen Schwerpunkt der Darstellung bilden. Aus rechtsstaatlicher Sicht muss die Anwendung von Haftgründen restriktiv erfolgen, um den Grundsatz der Unschuldsvermutung und die Freiheitsrechte des Angeklagten zu wahren. Eine Analyse der Rechtsprechung soll zeigen, ob die Interpretation der Haftvoraussetzungen nach den geboten engen Maßstäben rechtsstaatlicher Verfahrensgarantie erfolgt. aa) Die Fluchtgefahr als Haftgrund Die Untersuchungshaft dient zunächst einer praktischen Absicherung der Verfahrensdurchführung. Zur Vermeidung eines trial in absentia ist das Erscheinen des Angeklagten wesentliche Grundvoraussetzung für die Gewährleistung eines effektiven Prozesses.577 Das Bestehen einer Fluchtgefahr ist als möglicher Haftgrund zur Anordnung einer vorläufigen Festnahme im Völkerstrafrecht allgemein anerkannt.578 Internationale Gerichte haben verschiedene Kriterien entwickelt, um die Wahrscheinlichkeit einer Flucht des Beschuldigten zu ermessen. Der EGMR berücksichtigt in seiner Rechtsprechung vorrangig persönliche Umstände des Angeklagten, wie seinen Gesundheitszustand, familiäre Bindungen579 oder die ihm zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel.580 (1) Allgemeine Kriterien zur Ermittlung der Fluchtgefahr Die Besonderheiten des Völkerstrafrechts machen es erforderlich, praktische und politische Erwägungen in die Beurteilung der Untersuchungshaft einzubeziehen. Tribunale, die sich außerhalb des Tatortstaates befinden, müssen die Kooperationsbereitschaft der nationalen Behörden berücksichtigen.581 Kann im Falle einer Flucht nicht mit einer effektiven Zusammenarbeit zur Auslieferung des Beschuldigten gerechnet werden, sind strengere Maßstäbe an seine Freilassung anzulegen. Ein weiterer Indikator für die Ermittlung der Fluchtgefahr ist die Akzeptanz des Gerichtsverfahrens durch den Beschuldigten. Leugnet der Angeklagte die Legitimi-

Hierzu im Detail in Kapitel D. IX. Vgl. exemplarisch Regel 63 III b iii Internal Rules ECCC und Art. 58 b (i) ICC Statut. 579 ICC Bemba, Decision on the Interim Release of Jean-Pierre Bemba Gombo, ICC-01 / 05-01 / 08, 14. August 2009, Rn. 68. 580 Siehe hierzu beispielhaft EGMR, Neumeister v. Österreich, Application No. 1936 / 63, 27. Juni 1968, Rn. 10. 581 ICC Bemba, Decision on the Interim Release of Jean-Pierre Bemba Gombo, ICC-01 / 05-01 / 08, 14. August 2009, Rn. 84 ff. 577 578

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tät des Tribunals, wird er versucht sein, einem Strafprozess zu entgehen.582 Besonderes Gewicht wird in diesem Zusammenhang der Frage beigemessen, ob sich der Angeklagte dem Tribunal aus eigenem Willen gestellt hat. Im Fall Brdanin betont der ICTY, dass ein freiwilliges Erscheinen des Beschuldigten als Anerkennung der gerichtlichen Verfahrenskompetenz zu werten sei.583 Das Verhalten des Angeklagten könne eine Fluchtgefahr zwar nicht definitiv ausschließen, sei jedoch entscheidendes Indiz für seine Rückkehrbereitschaft. Demgegenüber dürfe eine fehlende Kooperation des inhaftierten Beschuldigten mit der Anklage nicht nachteilig beurteilt werden. Mit einer Anknüpfung prozessualer Folgen an einen Verzicht auf Zusammenarbeit würde das rechtsstaatlich garantierte Schweigerecht des Angeklagten umgangen.584 Die Bewertung des Fluchtrisikos setzt die Berücksichtigung der praktischen Gegebenheiten des Heimatstaates sowie der individuellen Situation des Angeklagten voraus. In der Rechtsprechung der ECCC kommt zudem der politischen und geographischen Lage entscheidende Bedeutung zu. In den Fällen Ieng Sary und Nuon Chea legten die Richter besonderen Wert auf die Wohnsituation der Beschuldigten. Die Lage im Grenzgebiet585 oder der Besitz von Grundstücken im Ausland wurden als mögliche Indizien zur Erhöhung der Fluchtgefahr angesehen.586 Erschwerend fiel ins Gewicht, dass Kambodscha keine Auslieferungsabkommen mit seinen Nachbarstaaten geschlossen hatte und eine effektive Zusammenarbeit daher nicht garantieren konnte.587 (2) Die Schwere der Tat als Indiz für Fluchtgefahr Als weitere Kriterien zur Feststellung des Fluchtrisikos werden die Rechtsnatur der vorgeworfenen Tat sowie das zu erwartende Strafmaß anerkannt.588 Vom ICC zurückgewiesen wurde hingegen eine Einschätzung des Fluchtrisikos in Abhängigkeit von der Beteiligungsform. Die Verteidigung Jean-Pierre Bemba Gombos hatte

582 ECCC, Ieng Sary’s Appeal against Provisional Detention Order, 002 / 19-09-2007ECCC-OCIJ(PTC03), 15. Januar 2008, Rn. 32. 583 ICTY. Brdanin and Talin, Decision on Motion by Radoslav Brdanin for Provisional Release, IT-99-36, 25. Juli 2000, Rn. 17. 584 ICTY Jokic et al., Orders on Motions for Provisional Release, IT-01-42-PT und IT-0146-PT, 20. Februar 2002, Rn. 33. Zu dieser Thematik ausführlich in Kapitel D. XI. 585 Die ECCC werteten die Nähe seines Wohnsitzes zur thailändischen Grenze als möglichen Risikofaktor, ECCC, Decision on Appeal Against Provisional Detention Order of Nuon Chea, 002 / 19-09-2007-ECCC / OCIJ, 20. März 2008, Rn. 67. 586 ECCC, Ieng Sary’s Appeal against Provisional Detention Order, 002 / 19-09-2007ECCC-OCIJ(PTC03), 15. Januar 2008, Rn. 32. 587 ECCC, Ieng Sary’s Appeal against Provisional Detention Order, 002 / 19-09-2007ECCC-OCIJ(PTC03), 15. Januar 2008, Rn. 32. 588 Siehe beispielhaft ICTY Brdanin, Decision on Motion by Brdanin for Provisional Release, IT-99-36-PT, 18. September 2000 und ECCC, Decision on Appeal Against Provisional Detention Order of Nuon Chea, 002 / 19-09-2007-ECCC / OCIJ, 20. März 2008, Rn. 66.

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mit der Änderung des Tatvorwurfs von einer individuellen Schuld zur Vorgesetztenverantwortlichkeit argumentiert.589 Das Gericht stellte klar, dass hinsichtlich der Schwere möglicher Tatbeteiligungen kein hierarchisches Verhältnis bestimmt werden könne.590 Ungeachtet der Geltung der Unschuldsvermutung begründet die drohende Strafhöhe einen Anreiz zur Umgehung des Schuldspruchs.591 Wenngleich die erwartete Haftstrafe Motiv für eine Flucht des Angeklagten sein kann, darf der bloße Verweis auf den Strafrahmen zur Rechtfertigung einer Untersuchungshaft nicht ausreichen.592 Da die Natur völkerstrafrechtlicher Verbrechen vielfach langjährige Freiheitsstrafen bedingt, würde die Anordnung von Untersuchungshaft durch den ausschließlichen Rückgriff auf das Strafmaß zum faktischen Regelfall. Es bedarf zumindest weiterer Umstände – wie einer fehlenden Anerkennung des Gerichts oder der Unterstützung durch ein nationales Netzwerk – um eine Fluchtgefahr anzunehmen. (3) Die Besonderheiten an den ECCC In den Fällen Nuon Chea und Ieng Sary begründeten die ECCC eine Anordnung von Untersuchungshaft vorrangig mit den Indizien für eine Fluchtgefahr.593 Angesichts der bedeutenden Zeitspanne zwischen Tatbegehung und Verfahrensdurchführung ist die Notwendigkeit einer vorläufigen Haft in besonderem Maße rechtfertigungsbedürftig. Gegen die Annahme eines Fluchtrisikos wandte die Verteidigung im Fall Ieng Sary ein, dass die Gründung eines Tribunals lange geplant und dem Angeklagten hinreichend bekannt war. Die Inhaftierung der Beschuldigten Ta Mok und Duch hätte die Ernsthaftigkeit der Verfolgungsabsicht dokumentiert und Ieng Sary bereits im Vorfeld zu einer Flucht veranlassen können.594 Das Gericht lehnte die Argumentation der Verteidigung unter Hinweis auf die unterschiedliche Drucksituation vor und nach Einsetzung der Kammern ab.595 Erst mit Beginn konkreter Ermittlungs-

589 ICC Bemba, Decision on the Interim Release of Jean-Pierre Bemba Gombo, ICC-01 / 05-01 / 08, 14. August 2009, Rn. 23. 590 ICC Bemba, Decision on the Interim Release of Jean-Pierre Bemba Gombo, ICC-01 / 05-01 / 08, 14. August 2009, Rn. 48. 591 ICTY Brdanin, Decision on Motion by Brdanin for Provisional Release, IT-99-36-PT, 18. September 2000. 592 ICC Bemba, Decision on the Interim Release of Jean-Pierre Bemba Gombo, ICC-01 / 05-01 / 08, 14. August 2009, Rn. 59. 593 ECCC, Decision on Appeal Against Provisional Detention Order of Nuon Chea, 002 / 19-09-2007-ECCC / OCIJ, 20. März 2008, Rn. 66; ECCC Decision on Appeal against Provisional Detention Order of Ieng Sary, 002 / 19-09-2007-ECCC-OCIJ(PTC03), 17. Oktober 2008, Rn. 105. 594 ECCC, Ieng Sary’s Appeal against Provisional Detention Order, 002 / 19-09-2007ECCC-OCIJ(PTC03),15. Januar 2008, Rn. 35.

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tätigkeiten gegen seine Person werde der Angeklagte unmittelbar von der gerichtlichen Strafverfolgung betroffen. Aufgrund der selektiven Ermittlung gegen hochrangige Vertreter des Regimes könne der Beschuldigte eine Anklage regelmäßig nicht mit Sicherheit vorhersehen.596 Den Folgerungen der Vorverfahrenskammer ist mit Blick auf den schwierigen Gründungsvorgang der ECCC zuzustimmen. Die Differenzen zwischen den Vereinten Nationen und der kambodschanischen Regierung mussten bei den Verantwortlichen zu Zweifeln an der tatsächlichen Realisierung der Prozesse führen.597 Aufgrund der politischen Hürden kann das Verhalten des Angeklagten vor Einsetzung eines kompetenten Gerichts das Bestehen eines Fluchtrisikos nicht ausschließen. Die weite Auslegung des Haftgrundes der Fluchtgefahr durch internationale Strafgerichte ist grundsätzlich nicht zu beanstanden. Die Präsenz des Angeklagten ist wesentliche Voraussetzung für die Durchführung eines rechtsstaatlichen Verfahrens und darf auf Kosten der individuellen Freiheit abgesichert werden. Wenngleich prinzipiell mildere Mittel zur Gewährleistung persönlicher Anwesenheit anzudenken sind,598 kommt dem Gericht bei der Bewertung ihrer Effektivität ein erheblicher Entscheidungsspielraum zu. Möglichkeiten wie Hausarrest oder die Einziehung des Passes müssen von den Tribunalen berücksichtigt, aufgrund ihrer geringeren Wirkungskraft jedoch nicht zwingend vorgezogen werden.599 bb) Die Verdunkelungsgefahr als Haftgrund Durch eine Einwirkung auf Belastungszeugen oder die Vernichtung entscheidungserheblicher Informationen kann der Angeklagte den Nachweis seiner Tatbeteiligung erschweren. Die Inhaftierung aufgrund von Verdunkelungsgefahr dient der Sicherung von Beweismitteln und einer effizienten Arbeit der Anklage. Im Völkerstrafrecht muss dem Haftgrund der Verdunkelungsgefahr, der in Regel 63 Abs. 3 lit. b ECCC-IR und Art. 58 Abs. 1 lit. b ICC-Statut verankert ist, eine wesentliche Rolle zukommen. Als ehemalige Funktionäre eines staatlichen oder militärischen 595 ECCC, Decision on Appeal against Provisional Detention Order of Ieng Sary, 002 / 1909-2007-ECCC-OCIJ(PTC03), 17. Oktober 2008, Rn. 105: „While it is true that the Charged Person knew that the national and international communities were engaged in setting up a tribunal with the aim of prosecuting, at a minimum, alleged high-ranking Khmer Rouge leaders and could have attempted to flee before, the situation is no longer the same now that he is under investigation before the ECCC.“ 596 ECCC, Decision on Appeal against Provisional Detention Order of Ieng Sary, 002 / 1909-2007-ECCC-OCIJ(PTC03), 17. Oktober 2008, Rn. 105: „The Charged Person may furthermore not have foreseen that he would me among the first suspects to be arrested by the ECCC.“ 597 Darüber hinaus erschien im Falle Ieng Sarys zunächst fraglich, ob seine Amnestie durch die kambodschanische Führung eine Strafverfolgung verhinderte. 598 EGMR Imre v. Hungary, Application No. 53129 / 99, 2. Dezember 2003, Rn. 47. 599 ECCC, Decision on Appeal Against Provisional Detention Order of Nuon Chea, 002 / 19-09-2007-ECCC / OCIJ, 20. März 2008, Rn. 67.

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Apparates haben die Angeklagten regelmäßig ausreichend finanzielle und personelle Mittel, um Zeugen und Opfer unter Druck zu setzen.600 Wenngleich Einflussmöglichkeiten des Beschuldigten das Verfahrensziel einer gerechten Verurteilung gefährden können, darf die Annahme eines Verdunkelungsrisikos nicht zum Automatismus werden.601 Könnte bereits die abstrakte Möglichkeit der Beweisvernichtung eine Untersuchungshaft begründen, würde ihre Anordnung zur zwangsläufigen Folge der Anklage. Wie dargelegt, stünde das Verständnis der Untersuchungshaft als notwendige Begleiterscheinung des völkerstrafrechtlichen Verfahrens im Widerspruch zu den Vorgaben menschenrechtlicher Konventionen.602 Die problematische Handhabung des Haftgrundes wird durch die Entscheidung der ECCC im Fall Ieng Sary deutlich. Während der Ermittlungsrichter das Bestehen einer Verdunkelungsgefahr noch bejaht hatte,603 lehnte die Vorverfahrenskammer im anschließenden Rechtsmittelverfahren eine Untersuchungshaft auf dieser Grundlage ab.604 Zur Begründung des Verdunkelungsrisikos hatte der Ermittlungsrichter die Möglichkeit einer unzulässigen Prozessbeeinflussung genügen lassen. Nach Auffassung des Richters rechtfertige bereits die persönliche Lebenssituation des Angeklagten, der über zahlreiche Familienmitglieder und ehemalige Anhänger verfüge, die Annahme einer hinreichenden Gefahr für die Einschüchterung von Zeugen und Opfern.605 Da sich völkerstrafrechtliche Verbrechen regelmäßig gegen eine große Zahl anonymer Opfer richteten, könne der Angeklagte die Zeugenbenennung im Vorfeld des Verfahrens kaum vorhersehen. Seien ihm die Belastungszeugen nicht bekannt, habe er vor Prozessbeginn keine sinnvolle Möglichkeit zur Einwirkung auf ihre Aussagen.606 Dies ändere sich grundlegend erst mit Eröffnung des Verfahrens, das dem Angeklagten eine umfassende Einsicht in die Aktenlage gestatte.607 Der Mangel an Hinweisen auf eine Einschüchterung von Zeugen sei daher praktische Folge der Prozessgestaltung und ließe nicht zweifelsfrei auf eine fehlende Verdunkelungsabsicht schließen. Als praktische Konsequenz aus dieser Ansicht wäre eine Inhaftierung der meist einflussreichen Angeklagten vor internationalen Strafgerichten grundsätzlich geSafferling, Towards an International Criminal Procedure, 2007, S. 144. ICTY Prlic et al., Order on Provisional Release of Bruno Stojic, IT-04-74-PT, 30. Juli 2004, Rn. 28. 602 DeFrank, Texas L. Rev. 80 / 6 (2002), S. 1429 ff. 603 ECCC, Ieng Sary’s Appeal against Provisional Detention Order, 002 / 19-09-2007ECCC-OCIJ(PTC03), 15. Januar 2008, Rn. 27. 604 ECCC, Decision on Appeal against Provisional Detention Order of Ieng Sary, 17. Oktober 2008, 002 / 19-09-2007-ECCC-OCIJ(PTC03), Rn. 98 ff. 605 ECCC, Ieng Sary’s Appeal against Provisional Detention Order, 002 / 19-09-2007ECCC-OCIJ(PTC03), 15. Januar 2008, Rn. 27. 606 ECCC, Ieng Sary’s Appeal against Provisional Detention Order, 002 / 19-09-2007ECCC-OCIJ(PTC03), 15. Januar 2008, Rn. 27. 607 ECCC, Ieng Sary’s Appeal against Provisional Detention Order, 002 / 19-09-2007ECCC-OCIJ(PTC03), 15. Januar 2008, Rn. 27. 600 601

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rechtfertigt. Um die Folge einer obligatorischen Untersuchungshaft zu vermeiden, verlangt die Vorverfahrenskammer konkrete Anhaltspunkte für eine Verdunkelungsabsicht.608 Die Argumentation der Kammer, eine generelle Machtposition des Angeklagten dürfe zur Begründung seiner Festnahme nicht ausreichen, ist überzeugend.609 Die abstrakte Möglichkeit der Einflussnahme muss sich durch tatsächliche Hinweise auf ein unzulässiges Eingreifen zu einem konkreten Risiko für die Wirksamkeit des Verfahrens verdichten. Vor dem Hintergrund der Unschuldsvermutung und der persönlichen Freiheit des Angeklagten erfordert die Annahme des Haftgrundes den indiziellen Nachweis eines Verdunkelungsvorsatzes. Kann der Versuch einer rechtswidrigen Zeugenbeeinflussung – wie im Fall Ieng Sarys – nicht eindeutig festgestellt werden, muss das Gericht zu Gunsten des Beschuldigten vom Fehlen des Haftgrundes ausgehen. Die restriktive Anwendung der Haftvoraussetzungen ist aus Sicht einer rechtsstaatlichen Abwägung geboten. Die Entscheidung der Vorverfahrenskammer, den Gefahrentatbestand an einen faktischen Risikobeleg zu knüpfen, sollte daher Maßstab für die Auslegung des Haftgrundes im Völkerstrafrecht sein. cc) Der Schutz des Beschuldigten als Haftgrund Die Begehung völkerstrafrechtlicher Verbrechen wirkt sich auf weite Teile der Gesellschaft aus und hinterlässt einen erheblichen Opferkreis. Die persönliche Betroffenheit einer Vielzahl von Menschen erhöht das Risiko für den Täter, Zielscheibe von Racheakten zu werden. Das Verfahrensrecht der ECCC erkennt den Schutz des Beschuldigten in Regel 63 Abs. 3 lit. b (iv) ECCC-IR als zulässigen Haftgrund an. Das besondere Ausmaß der Verbrechen des Pol Pot-Regimes hat die kambodschanische Bevölkerung und das öffentliche Leben grundlegend geprägt. In einer Umfrage des Khmer Institute of Democracy gaben über 88 Prozent der Befragten an, während der Herrschaft der Roten Khmer mindestens ein Familienmitglied verloren zu haben.610 78 Prozent wurden selbst Augenzeuge einer Tötungshandlung, 55 Prozent mussten Folterungen und 77 Prozent körperliche Zwangsarbeit erleben. Da die große Mehrheit der Kambodschaner unmittelbar von den Verbrechen der Roten Khmer betroffen ist, besteht ein besonderes Risiko für die Begehung von Vergeltungstaten. Die Gefahr für die Sicherheit des Angeklagten durch Bedrohungen seitens der Opfer und ihrer Angehörigen rechtfertigt die Anerkennung des Haftgrundes in Regel 63 Abs. 3 lit. b (iv) ECCC-IR. 608 ECCC, Decision on Appeal against Provisional Detention Order of Ieng Sary, 002 / 1909-2007-ECCC-OCIJ(PTC03), 17. Oktober 2008, Rn. 98. 609 ECCC, Decision on Appeal against Provisional Detention Order of Ieng Sary, 002 / 1909-2007-ECCC-OCIJ(PTC03), 17. Oktober 2008, Rn. 99. Ebenso entschied der ICC im Fall Bemba, ICC. Bemba, Decision on the Interim Release of Jean-Pierre Bemba Gombo, ICC-01 / 05-01 / 08, 14. August 2009, Rn. 72. 610 Insgesamt mussten 13% den Tod von über sechs und fast 12 % den Verlust von über zehn Verwandten miterleben. Vgl. hierzu die Umfrage des The Khmer Institute of Democracy: The Khmer Institute of Democracy, Results of the Survey in Detail, http://www.bigpond.com. kh/users/kid/pdf/Tribunal-Eng/SurveyEvaluation-4.pdf (letzter Zugriff am 17.03.2010).

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

Die Rechtsgrundlagen von ICTY und ICC enthalten keine vergleichbare Bestimmung über den Schutz des Beschuldigten. Gleichwohl ist es im Rahmen der richterlichen Ermessensausübung denkbar, bei entsprechenden Zweifeln an der Sicherheit des Angeklagten Untersuchungshaft anzuordnen. Die Legitimation des ICC für Maßnahmen zum Schutz des Täters kann bereits aus seinen allgemeinen Handlungskompetenzen hergeleitet werden. Die Sicherheit des Täters wird in Art. 64 Abs. 6 lit. e ICC-Statut als mögliches Ziel gerichtlicher Anordnungen festgelegt.611 In den Fällen Nuon Chea und Ieng Sary stellte die Verteidigung die Geltung des Haftgrundes an den ECCC grundlegend in Frage. Angesichts des erheblichen zeitlichen Abstandes zwischen Begehung und Sanktionierung der Verbrechen könne eine akute Gefahr für die Angeklagten nicht begründet werden.612 Die Verteidigung Nuon Cheas betonte, dass der Beschuldigte seit über zehn Jahren unbeeinträchtigt in Kambodscha lebe.613 Da es in der Vergangenheit keine Übergriffe auf die Täter gegeben hätte, sei von einer friedlichen Reintegration der Beschuldigten in die Gesellschaft auszugehen.614 Die Situation in Kambodscha wirft allgemeine Fragen nach Verständnis und Anwendung des Haftgrundes auf. Kann eine Untersuchungshaft zum Schutz des Beschuldigten gerechtfertigt werden, wenn die Bevölkerung über Jahre mit den Tätern gelebt hat? Die Sicherheit des Beschuldigten ist wesentliche Voraussetzung für die Durchführung und Glaubwürdigkeit des völkerstrafrechtlichen Verfahrens. Die Antwort sollte daher grundsätzlich zugunsten des Schutzinteresses ausfallen, muss sich jedoch an den Umständen des konkreten Sachverhalts orientieren. Die ECCC sahen in der bisherigen Reaktion der kambodschanischen Bevölkerung auf die Täter keinen Grund für den Ausschluss eines Sicherheitsrisikos.615 Nach Auffassung der Richter begünstigten die früheren Amnestien ein Klima der Straflosigkeit, das Opfer und Angehörige das Erlebte verdrängen ließ.616 Durch die Aufnahme der Verfahren an den Kammern würde die Schuld der Angeklagten von Neuem in das Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt. Aufgrund der veränderten Situation in der Bevölke611 Art. 64 VI ICC-Statut: 6. In performing its functions prior to trial or during the course of a trial, the Trial Chamber may, as necessary (e) Provide for the protection of the accused, witnesses and victims. 612 ECCC, Decision on Appeal Against Provisional Detention Order of Nuon Chea, 002 / 19-09-2007-ECCC-OCIJ(PTC01), 20. März 2008, Rn. 72; ECCC, Ieng Sary’s Appeal against Provisional Detention Order, 002 / 19-09-2007-ECCC-OCIJ(PTC03), 15. Januar 2008, Rn. 7 d. 613 ECCC, Decision on Appeal Against Provisional Detention Order of Nuon Chea, 002 / 19-09-2007-ECCC-OCIJ(PTC01), 20. März 2008, Rn. 72. 614 ECCC, Decision on Appeal Against Provisional Detention Order of Nuon Chea, 002 / 19-09-2007-ECCC-OCIJ(PTC01), 20. März 2008, Rn. 72. 615 ECCC, Decision on Appeal against Provisional Detention Order of Ieng Sary, 002 / 1909-2007-ECCC-OCIJ(PTC03), 17. Oktober 2008, Rn. 108. 616 ECCC, Decision on Appeal against Provisional Detention Order of Ieng Sary, 002 / 1909-2007-ECCC-OCIJ(PTC03), 17. Oktober 2008, Rn. 108.

V. Die Unschuldsvermutung

329

rung könnten Gefahren für die Sicherheit der Beschuldigten nicht mit hinreichender Gewissheit ausgeschlossen werden.617 Die Einschätzung des Gerichts wird durch die Untersuchungsergebnisse des Khmer Institute of Democracy gestützt. Der Umfrage zufolge spielt die Vergangenheit ihres Landes für fast 90 Prozent der Kambodschaner eine wichtige Rolle. Aufschluss über die Haltung der Bevölkerung zu den Tätern gibt insbesondere die Frage nach ihren Empfindungen im Gespräch über das Pol Pot-Regime. 75 Prozent der Befragten gaben an, sich mit Wut und Zorn an die Herrschaft der Roten Khmer zu erinnern.618 Die Untersuchung belegt demnach klare Ressentiments der Bevölkerung gegenüber den Tätern und ihren Verbrechen. Von einer öffentlichen Aussöhnung und friedlichen Wiedereingliederung der Angeklagten in die Gesellschaft kann nicht ausgegangen werden. Die Entscheidungen der ECCC über die Haftanordnung zum Schutz der Beschuldigten sind mit den Grundsätzen eines rechtsstaatlichen Verfahrens vereinbar. Da ein objektives Interesse am Schutz des Beschuldigten besteht, kann eine Untersuchungshaft auch gegen den Willen des Angeklagten gerechtfertigt sein. Die Tatsache, dass der Täter vor Eröffnung des gerichtlichen Verfahrens nicht zur Zielscheibe von Angriffen wurde, ist nicht als genereller Ausschlussgrund für eine Haftanordnung zu bewerten. dd) Die Wahrung der öffentlichen Ordnung als Haftgrund Im engen Zusammenhang mit dem Schutz des Angeklagten steht die Frage nach der Rechtmäßigkeit einer Untersuchungshaft zur Wahrung der öffentlichen Ordnung. Das große öffentliche Interesse an den internationalen Prozessen und die erheblichen Auswirkungen der Verbrechen auf die Gesellschaft erfordern einen sensiblen Umgang mit den Bedenken der Bevölkerung. Gleichwohl ist die Inhaftierung des Angeklagten zum Schutz der öffentlichen Ordnung unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten kritisch zu sehen. Der ICTY formuliert die Möglichkeit einer Untersuchungshaft aus Gründen der öffentlichen Ordnung nur im Ansatz und unter Vorbehalt ergänzender Umstände.619 Bedeutung gewinnt der Haftgrund hauptsächlich in der Praxis der hybriden Strafgerichte, deren Verhandlungen im Tatortstaat durchgeführt werden.620 Sowohl der 617 ECCC, Decision on Appeal against Provisional Detention Order of Ieng Sary, 002 / 1909-2007-ECCC-OCIJ(PTC03), 17. Oktober 2008, Rn. 108. 618 Vgl. hierzu die Umfrage des The Khmer Institute of Democracy: The Khmer Institute of Democracy, Results of the Survey in Detail, http://www.bigpond.com.kh/users/kid/pdf/Tribunal-Eng/SurveyEvaluation-4.pdf (letzter Zugriff am 17.03.2010). 619 ICTY Ademi, Order on Motion for Provisional Release, IT-01-46-PT, 20. Februar 2002, Rn. 22: „The public interest may also require the detention of the accused under certain circumstances, if there are serious reasons to believe that he or she would commit further serious offences.“ 620 Knoops, Theory and Practice, 2005, S. 146.

330

D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

Sondergerichtshof für Sierra Leone als auch die Außerordentlichen Kammern in Kambodscha erkennen das öffentliche Interesse prinzipiell als Rechtfertigung für eine Haft des Beschuldigten an. In seiner Entscheidung zum Fall Brima bestätigte der SCSL die Geltung des Haftgrundes als Maßstab der gerichtlichen Rechtsprechung: „[W]here the nature of the crime alleged and the likely public reaction is such that a release of the accused may give rise to public disorder then, a contemporary detention or remand may be justifies.“621

Aufgrund der Erfahrungen am SCSL wurde der Schutz der öffentlichen Ordnung in Regel 63 Abs. 3 lit. b (v) ECCC-IR ausdrücklich aufgenommen. Zur Begründung der Haftanordnung im öffentlichen Interesse stützen sich beide Gerichte622 auf die Rechtsprechung des EGMR im Fall Letellier.623 In seinem Urteil hatte der EGMR den Haftgrund generell anerkannt und die notwendigen Voraussetzungen für seine Anwendbarkeit statuiert. Nach Auffassung des EGMR könne allein die Schwere des angeklagten Verbrechens zur Begründung einer Gefahr für die öffentliche Ordnung nicht ausreichen.624 Um eine Untersuchungshaft des Beschuldigten zu legitimieren, müssten tatsächliche Anhaltspunkte für eine Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung nachgewiesen werden.625 Im Fall Nuon Chea zog die Verteidigung eine Parallele zur Rechtssache Letellier und stellte eine Gefahr für die Öffentlichkeit mit Blick auf die Rechtsprechung des EGMR in Frage.626 Die Anklage lehnte hingegen eine unmittelbare Übertragung der vom EGMR entwickelten Anforderungen ab. Unter Hinweis auf die Besonderheiten des Völkerstrafrechts verneinte der Ankläger ihre Anwendbarkeit auf den internationalen Prozess.627 In Ansehung der gegensätzlichen Rechtspositionen nahmen die Kammern zur grundlegenden Frage nach der Bedeutung der EGMR-Rechtsprechung 621 SCSL Brima, Trial chamber Ruling on the Motion Applying for Bail or for Provisional Release, SCSL-03-06-PT, 22. Juli 2003, S. 12. 622 SCSL Brima, Trial Chamber Ruling on the Motion Applying for Bail or for Provisional Release, SCSL-03-06-PT, 22. Juli 2003, S. 12; ECCC, Decision on Appeal Against Provisional Detention Order of Nuon Chea, 002 / 19-09-2007-ECCC / OCIJ(PTC01), 20. März 2008, Rn. 76. 623 EGMR Letellier v. France, 26. Juni 1991. 624 EGMR Letellier v. France, Juni 1991, Rn. 49. 625 EGMR Letellier v. France, 26. Juni 1991, Rn. 51: „51 However, this ground can be regarded as relevant and sufficient only provided that it is based on facts capable of showing that the accused’s release would actually disturb public order must exist.“ 626 ECCC, Decision on Appeal Against Provisional Detention Order of Nuon Chea, 002 19-09-2007-ECCC / OCIJ(PTC01),, 20. März 2008, Rn. 75. 627 ECCC, Co-Prosecutor’s Response to Nuon Chea’s Appeal against Provisional Detention Order of 19 September 2007, 002 / 19-09-2007-ECCC / OCIJ(PTC01), 3. Dezember 2007, Rn. 35: „A domestic court (…) may be able to determine whether the release of a suspect charged with the commission of domestic crimes would inevitably cause public unrest in a localized area. In contrast, it would be nearly impossible for the ECCC to predict with any certainty whether the release of a person charged with the commission of international crimes inevitably would cause public unrest in a country of millions.“

V. Die Unschuldsvermutung

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für ein internationales Strafgericht Stellung. In Anlehnung an Art. 21 Abs. 3 ICCStatut sah das Gericht die Einhaltung menschenrechtlicher Standards als Zielvorgabe des völkerrechtlichen Strafverfahrens an.628 Um auf internationaler Ebene ein einheitliches Schutzniveau zu garantieren, wird die Anwendung der Rechtsprechung des EGMR als Auslegungsrichtlinie grundsätzlich bejaht. Auch im konkreten Fall der Gefahrenbewertung für die öffentliche Ordnung hat das Gericht keine Bedenken an der Übertragbarkeit der materiellen Voraussetzungen. Nach Meinung der ECCC ermöglichen es die Umstände internationaler Gerichtsbarkeit, eine Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung faktisch nachzuweisen. Das große Interesse der Öffentlichkeit an den Verfahren und die erhebliche gesellschaftliche Prägung durch die Verbrechen könnten die Annahme eines relevanten Risikos im Einzelfall begründen.629 Die Entscheidung der ECCC für die Geltung der Judikatur des EGMR ist unter dem Blickwinkel eines effektiven Menschenrechtsschutzes zu begrüßen. In ihrer konkreten Anwendung der vom EGMR entwickelten Prinzipien zieht das Gericht die Grenzen des Haftgrundes jedoch zu weit. Ohne einen tatsächlichen Nachweis für Unruhen in der Öffentlichkeit zu erbringen, stützen sich die ECCC allein auf die allgemeine Betroffenheit des kambodschanischen Volkes.630 Die Gefahr für die öffentliche Ordnung wird daher letztlich mit den typischen Folgewirkungen völkerstrafrechtlicher Verbrechen gleichgesetzt. Eine Anordnung von Untersuchungshaft könnte hierdurch zum Regelfall an internationalen Strafgerichten werden. Um eine nach völkerrechtlichen Standards unzulässige Rechtsfolge zu vermeiden, müssen die Voraussetzungen des Haftgrundes restriktiver verstanden werden. Eine Gefahr für die öffentliche Ordnung darf nicht unter ausschließlicher Berücksichtigung der allgemeinen politischen Situation erfolgen, sondern ist in Bezug auf die konkrete Person des Angeklagten zu ermitteln. Die Schwierigkeiten einer Definition von öffentlicher Ordnung werfen die generelle Frage nach Zulässigkeit und Zweck des Haftgrundes auf. Insbesondere im Falle schwerer Straftaten ist zu befürchten, dass eine vorläufige Entlassung des Beschuldigten zu Protesten in der Öffentlichkeit führen würde.631 Die Sicherheit im Tatortstaat und das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Arbeit des Gerichts sind als wichtige Faktoren für die effektive Aufarbeitung völkerstrafrechtlicher Verbrechen im richterlichen Ermessen zu berücksichtigen. Gleichwohl muss bezweifelt werden, ob die Anordnung von Untersuchungshaft angemessenes Mittel zur Wahrung der öffentlichen Ordnung ist. Die vorübergehende Freilassung des Angeklagten ist Ausdruck der Unschuldsvermutung und des richterlichen Bestrebens nach einem rechts628 ECCC, Decision on Appeal Against Provisional Detention Order of Nuon Chea, 002 / 19-09-2007-ECCC / OCIJ(PTC01), 20. März 2008, Rn. 75. 629 ECCC, Decision on Appeal Against Provisional Detention Order of Nuon Chea, 002 / 19-09-2007-ECCC / OCIJ(PTC01), 20. März 2008, Rn. 77, 79. 630 ECCC, Decision on Appeal Against Provisional Detention Order of Ieng Thirith, 002 / 19-09-2007-ECCC / OCIJ(PTC02), 9. Juli 2008, Rn. 66, 68. 631 Venier, Das Recht, 1999, S. 33.

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

staatlichen Verfahren. Ein fehlendes Bewusstsein der Bevölkerung für die Notwendigkeit prozessualer Fairness darf nicht Anlass für die Einschränkung rechtsstaatlicher Grundsätze sein. Vielmehr muss die öffentliche Kritik als Chance zur Diskussion über die gerechte Behandlung von Angeklagten genutzt werden. Die internationalen Tribunale können gerade in Staaten mit geringer rechtsstaatlicher Tradition eine Vorbildrolle einnehmen und der Bevölkerung die Bedeutung der Unschuldsvermutung vermitteln. Durch die Aufhebung der Untersuchungshaft kann das Gericht ein klares Zeichen für die Achtung der Unschuldsvermutung sowie der persönlichen Freiheit des Angeklagten setzen. Anstatt einer möglichen Kritik in der Öffentlichkeit nachzugeben, muss ihren Ursachen im Wege gezielter Aufklärung über die Prämissen eines fairen Verfahrens begegnet werden. Die Anordnung von Untersuchungshaft wegen Gefährdung der öffentlichen Ordnung unterläuft das Ziel rechtsstaatlicher Vorbildwirkung. Um die Grundsätze prozessualer Fairness sowohl in der Bevölkerung als auch im nationalen Rechtssystem zu verankern, sollte in künftigen Statuten auf die Anerkennung eines entsprechenden Haftgrundes verzichtet werden. Wird der Schutz der öffentlichen Ordnung gleichwohl als Haftgrund anerkannt, muss seine Anwendung auf nachweisbare Ausnahmefälle beschränkt bleiben. Im Gegensatz zur bislang weiten Rechtsprechung der ECCC sollte der Hinweis auf die generelle Situation im Tatortstaat zur Begründung der Untersuchungshaft nicht ausreichen. Eine Gefahr für die öffentliche Ordnung darf allenfalls dann eine Haftanordnung legitimieren, wenn konkrete Belege für eine Bedrohung der allgemeinen Sicherheit erbracht werden können.

d) Die Folgen der Unschuldsvermutung für die Untersuchungshaft aa) Untersuchungshaft als praktischer Regelfall Die Rechtsprechung der internationalen Strafgerichte belegt eine Tendenz der Richter zur Bestätigung von Untersuchungshaft. Aufgrund der besonderen Bedingungen des völkerstrafrechtlichen Verfahrens gestaltet sich die Inhaftierung des Angeklagten als praktischer Regelfall. Der individuelle Schutz von Opfern und Zeugen sowie das erhebliche öffentliche Interesse an den Prozessen können eine Untersuchungshaft des Beschuldigten erforderlich machen. Entscheidender Unterschied zu den Voraussetzungen einer staatlichen Haft ist die fehlende Exekutivgewalt auf internationaler Ebene.632 Da die völkerstrafrechtlichen Tribunale einen Haftbefehl nicht selbständig durchsetzen können, erscheinen die Folgen einer unrechtmäßigen Freilassung ungleich gravierender.633 Die Besonderheiten des Völkerstrafrechts können die Anordnung einer Untersuchungshaft regelmäßig rechtfertigen, dürfen jedoch keinen Automatismus begrün632 ICTY Ademi, Order on Motion for Provisional Release, IT-01-46-PT, 20. Februar 2002, Rn. 23 – 25. 633 DeFrank, Texas L. Rev. 80 / 6 (2002), S. 1436 f.

V. Die Unschuldsvermutung

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den.634 Wie dargelegt, ist eine zwangsläufige Untersuchungshaft mit dem Grundsatz der Unschuldsvermutung und den Bestimmungen internationaler Menschenrechtsverträge nicht vereinbar. In ihrer Auslegung der Haftgründe haben die Richter die konkrete Einzelsituation zu bewerten und können eine Entscheidung nicht auf allgemeine Erwägungen stützen. Um den Anschein einer Zwangsläufigkeit zu vermeiden, muss das Gericht den Unterschied zwischen praktischem und rechtlichem Regelfall klar herausstellen. Die Anwendung der Haftgründe sollte daher restriktiv erfolgen und die Möglichkeit einer Entlassung des Angeklagten ernst nehmen. Vor diesem Hintergrund ist die Entscheidung des ICC zur Aufhebung der Untersuchungshaft gegen Jean-Pierre Bemba Gombo zu begrüßen.635 Die Abwägung des Gerichts beruht erkennbar auf der Intention, den Ausnahmecharakter der Freiheitsentziehung als Ausdruck rechtsstaatlicher Unschuldsvermutung ernst zu nehmen. „[M]indful of the underlying principle that deprivation of liberty is the exception and not the rule, the Single Judge decides that Mr Jean-Pierre Bemba shall therefore be released, albeit under conditions.“636

bb) Die Verteilung der Beweislast Ein weiteres Problem der Unschuldsvermutung stellt sich in Bezug auf die Frage der Beweislastverteilung zwischen Anklage und Verteidigung im Haftverfahren. An den Ad-hoc-Gerichten obliegt der Nachweis von Haftgründen dem Beschuldigten, der ihr Bestehen in seinem Fall widerlegen muss: „As to the question of the burden of proof in satisfying the Trial Chamber that provisional release should be ordered, it is the case that in an application under Rule 65, this rests on the accused.“637

Die Beweislastverteilung zu Ungunsten des Angeklagten wird vom EGMR mit Blick auf die hohe Bedeutung der persönlichen Freiheit kritisch gesehen. „[S]hifting the burden of proof to the detained person in such matters is tantamount to overturning […] a provision which makes detention an exceptional departure from the right to liberty.“638

Kann der Beschuldigte das Vorliegen von Haftgründen nicht hinreichend entkräften, gilt die Anordnung der Untersuchungshaft als rechtmäßig. Vor dem Hintergrund der Unschuldsvermutung ist ein Eingriff in die persönliche Freiheit des AngeHierzu bereits Kapitel D. V. 4. b) aa) (1) (a). ICC Bemba, Decision on the Interim Release of Jean-Pierre Bemba Gombo, ICC-01 / 05-01 / 08, 14. August 2009, Rn. 77. 636 ICC Bemba, Decision on the Interim Release of Jean-Pierre Bemba Gombo, ICC-01 / 05-01 / 08, 14. August 2009, Rn. 77. 637 ICTY. Ademi, Order on Motion for Provisional Release, IT-01-46-PT, 20. Februar 2002, Rn. 19. 638 EGMR Ilijkov v. Bulgaria, Application No. 33977 / 96, 26. Juli 2001, Rn. 85. 634 635

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

klagten jedoch in besonderem Maße rechtfertigungsbedürftig. Eine gegenteilige Zweifelsregelung widerspricht dem rechtlichen Ausnahmecharakter einer vorläufigen Inhaftierung und senkt die Anforderungen an die praktischen Voraussetzungen der Untersuchungshaft. Um eine weitgehend restriktive Anwendung der Untersuchungshaft zu gewährleisten, sollte die Beweislastverteilung nach den Grundsätzen des ICC erfolgen. Das Modell des Internationalen Strafgerichtshofs sieht im Rahmen der erstmaligen Haftanordnung eine Darlegungspflicht des Anklägers zum Nachweis von Haftgründen vor.639 Erst mit Bestätigung der Untersuchungshaft durch das Gericht wird die Beweislast auf den Beschuldigten übertragen. In der Begründung späterer Anträge auf Haftentlassung muss der Angeklagte selbständig darlegen, weshalb die Voraussetzungen einer Untersuchungshaft im Nachhinein entfallen sind. Die differenzierte Beweislastverteilung am ICC berücksichtigt das Prinzip der Unschuldsvermutung angemessen und schafft einen sinnvollen Ausgleich zwischen den Interessen der Parteien. Um Unsicherheiten in der prozessualen Praxis zu vermeiden, sollte die Frage der Beweislast nach dem Vorbild des ICC in den Verfahrensordnungen der Tribunale ausdrücklich bestimmt werden. Abschließend ist zu bemerken, dass die Regelung der Untersuchungshaft an den ICTY grundlegende Modifikationen ihrer Voraussetzungen und Rechtsfolgen erfordert. Während die normative Gestaltung an ICC und ECCC rechtsstaatlichen Anforderungen prinzipiell genügt, sollte die Rechtsprechung der Tribunale künftig restriktiver erfolgen. Im Interesse von Unschuldsvermutung und prozessualer Fairness sind die Bedingungen einer Haftanordnung im Einzelfall nachzuweisen. Zugleich gilt es, die Anwendung der Haftgründe auf klar umgrenzte Ausnahmefälle zu beschränken.

VI. Das Recht auf Information und Kommunikation in eigener Sprache 1. Die rechtlichen Grundlagen Im internationalen Strafprozess muss dem Recht auf Information und Kommunikation in eigener Sprache eine besondere Bedeutung beigemessen werden.640 Menschenrechtliche Verträge gewährleisten das sprachliche Verständnis des Angeklagten durch kumulative Verfahrensansprüche. Art. 14 Abs. 3 IPbpR und Art. 6 Abs. 3 EMRK garantieren dem Beschuldigten die Übermittlung der Anklagepunkte in Knoops, Theory and Practice, 2005, S. 150. Das Recht auf Information über die Anklagepunkte wird in diesem Rahmen nicht näher thematisiert. Der Anspruch des Beschuldigten auf frühzeitige Kenntnisnahme von der Anklage wird im Rahmen des Vorverfahrens durchgesetzt und unterfällt daher nicht dem Gegenstand dieser Arbeit. 639 640

VI. Das Recht auf Information und Kommunikation in eigener Sprache

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einer ihm vertrauten Sprache sowie die unentgeltliche Unterstützung durch einen Übersetzer. „14 Abs. 3 IPbpR: (a) To be informed promptly and in detail in a language which he understands of the nature and cause of the charge against him; (…) (f) To have the free assistance of an interpreter if he cannot understand or speak the language used in court.“

Das Recht auf Information und Kommunikation in eigener Sprache steht systematisch im engen Zusammenhang zum Anspruch auf Waffengleichheit und die Verwirklichung effektiver Verteidigung. Die Möglichkeit einer kompetenten und gleichberechtigten Vorbereitung der Verhandlungen beruht maßgeblich auf dem Verständnis des Angeklagten vom Prozessgeschehen. Soll der Beschuldigte nicht zum Objekt des Strafprozesses degradiert werden, muss der sprachliche Zugang zum Verfahren als Bedingung einer sinnvollen Rechtsausübung gesichert werden.641 Als Garant für die prozessuale Integration des Beschuldigten verwirklicht sich der Anspruch auf Übersetzung in aktiver und passiver Schutzrichtung. Dem Angeklagten wird gewährleistet, sich in seiner Muttersprache an das Gericht wenden zu können. Gleichzeitig setzt der Informationsanspruch die sprachliche Übermittlung der Verfahrensabläufe voraus. Die Statuten völkerstrafrechtlicher Gerichte übernehmen die Prozessrechte aus IPbpR und EMRK beinahe wortgetreu (Art. 21 Abs. 4 lit. a, f ICTY-Statut; Art. 35 lit. a, f new ECCC-LoE). Eine abweichende Formulierung sehen Art. 55 Abs. 1 lit. c und 67 Abs. 1 lit. f ICC-Statut vor, die einen unmittelbaren Bezug zur Voraussetzung verfahrensrechtlicher Fairness herstellen. Praktische Unterschiede in der Anwendung der Norm sind aufgrund des erweiterten Wortlauts jedoch nicht ersichtlich. „Art. 67 Abs. 1 lit. f ICC-Statut: To have, free of any cost, the assistance of a competent interpreter and such translations as are necessary to meet the requirements of fairness, if any of the proceedings of or documents presented to the Court are not in a language which the accused fully understands and speaks.“

2. Die sprachlichen Herausforderungen im internationalen Strafverfahren Internationale Strafverfahren erfordern eine effektive Zusammenarbeit von Richtern, Staatsanwälten und Verteidigern mit unterschiedlichem Sprachhintergrund. Die Schwierigkeit einer einheitlichen Kommunikation äußert sich in der Anerkennung verschiedener Arbeitssprachen an den Tribunalen. Die Sonderkammern in OstTimor verhandelten auf Englisch, Portugiesisch, Tetum und Bahasa Indonesisch; offizielle Sprachen der Außerordentlichen Kammern in Kambodscha sind Khmer, Englisch und Französisch.642 Finden die Verfahren nicht in der Landessprache des 641 642

Zur Bedeutung des Anspruchs: Schomburg, NJIHR 8 / 1 (2009), S. 1 (12). Schabas, The UN International Criminal Tribunals, 2008, S. 531 f.

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

Tatortstaates statt, müssen die Aussagen der Prozessbeteiligten grundsätzlich übersetzt werden.643 Diese Praxis führte insbesondere am ICTR zu erheblichen Verzögerungen der Verfahren. Gerichtliche Vernehmungen konnten überwiegend nicht in den Amtssprachen Englisch und Französisch erfolgen, sondern mussten in das einheimische Ruandisch Kinyarwanda übertragen werden.644 Wenngleich die Garantien menschenrechtlicher Verträge ausschließlich ein individuelles Verfahrensrecht des Angeklagten normieren, verlangt das Prinzip der materiellen Wahrheitsfindung darüber hinaus eine Übersetzung von Zeugen und Sachverständigen.645 Der Umfang der notwendigen Übersetzungsarbeit erfordert einen effektiven Verwaltungsapparat und nimmt bedeutende finanzielle Ressourcen in Anspruch.646 Die Expertenkommission für die Ad-hoc-Tribunale betont in ihrem Bericht zum Verfahrensstand die Problematik adäquater und zeitnaher Dolmetschertätigkeit.647 Als zentrale Herausforderung bewertet die Kommission die Verfügbarkeit von ausreichendem und qualifiziertem Personal zur Bewältigung der gerichtlichen Übersetzungslast. „One of the biggest problem areas is the availability of qualified language staff for the translation. (…) In both Tribunals, translation needs are far greater than translation capacity and it has been difficult to recruit qualified individuals.“648

Die Feststellungen der Kommission betreffen keinen Sonderfall der Ad-hoc-Gerichtsbarkeit, sondern formulieren eine generelle Kritik an der Umsetzung sprachlicher Anforderungen.649 Prozessbeobachter an den ECCC bemängeln die geringe Qualität gerichtlicher Übersetzungen als Ursache für wiederholte Unterbrechungen der Verfahren.650 „[I]nconsistencies and incompleteness in the translation process occurred on a number of occasions. The fact that interpreters are not able to respond to the speaker’s rate / tempo in 643 An den Ad-hoc-Tribunalen sowie dem Internationalen Strafgerichtshof sind lediglich Englisch und Französisch offizielle Amtssprachen. 644 Hirondelle News Agency, ICTR / Military I, Nearly One Thousand Pages of Conclusions of the Prosecution, 27.03.2007, http://www.hirondellenews.com/content/view/9390/99/ (letzter Zugriff am 23.05.2010). 645 Romano / Nollkaemper / Kleffner, Internationalized Criminal Courts, 2004, S. 341. 646 Romano / Nollkaemper / Kleffner, Internationalized Criminal Courts, 2004, S. 342. 647 Report of the Expert Group to Conduct a Review of the Effective Operation and Functioning of the ICTY and the ICTR, UN General Assembly Document A / 54 / 634, 22. November 1999, Rn. 140, 168. 648 Report of the Expert Group to Conduct a Review of the Effective Operation and Functioning of the ICTY and the ICTR, UN General Assembly Document A / 54 / 634, 22. November 1999, Rn. 140. 649 Romano / Nollkaemper / Kleffner, Internationalized Criminal Courts, 2004, S. 342. 650 The KRT Trail Monitor, Prosecutor v Kaing Guek Eav alias ‚Duch‘, Report Issue No. 2: First Week of Trail in the Duch Case, March 30 – April 1, 2009, http://socrates.berkeley. edu/~warcrime/documents/KRT%20Monitor_Final-1_report2.pdf (letzter Zugriff am 23.05. 2010).

VI. Das Recht auf Information und Kommunikation in eigener Sprache

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a discrete and prompt manner should be an issue the court addresses. If the problem is ongoing this might impact the party’s ability to interact in an eloquent and efficient manner.“651

Der Mangel an kompetenten Dolmetschern stellt insbesondere an den hybriden Tribunalen ein bislang unterschätztes Problem dar. In den sozial und wirtschaftlich geschwächten Tatortstaaten fehlt es oftmals an der notwendigen sprachlichen Ausbildung zur Gewährleistung simultaner Übersetzung.652 Zugleich verlangt das hybride Gerichtssystem einen erhöhten Aufwand an verfügbarer Übersetzung. Eine wirksame Zusammenarbeit nationaler und internationaler Mitarbeiter setzt eine tägliche Kommunikation im komplexen rechtlichen Rahmen voraus. Die Folgen von Missverständnissen und zeitlichen Verzögerungen wirken sich nachteilig auf die Effektivität der Verfahren sowie ihre öffentliche Rezeption aus. Die Komplexität gerichtlicher Dolmetschertätigkeit stellt das völkerrechtliche Strafverfahren vor finanzielle und kapazitive Schwierigkeiten. Übersetzungsbedingte Unterbrechungen belasten den Prozessablauf und stehen im Widerspruch zum rechtsstaatlichen Grundsatz des beschleunigten Verfahrens.653 Neben einer verbesserten Organisation des Übersetzungsapparates müssen daher Einschränkungen in der sprachlichen Vermittlung diskutiert werden. In diesem Sinne lehnte der ICTY ein Dolmetschen der Verhandlungen in bestimmte regionale Dialekte ab.654 Eine weitere Frage wirft die Verpflichtung des Gerichts zur Übersetzung von Dokumenten aus den Prozessakten auf. Ausgehend von den jüngeren Entscheidungen der ECCC soll der Anspruch des Angeklagten auf sprachliche Übermittlung sämtlicher Beweisstücke diskutiert werden.

3. Der Anspruch der Verteidigung auf die Übersetzung von Dokumenten In einem Antrag an die ECCC vom 27. August 2009 forderte Strafverteidiger Jacques Vergès eine ausnahmslose Übersetzung schriftlicher Materialien in die französische Sprache.655 Vergès machte geltend, dass eine sinnvolle Verteidigung seines Mandanten den unmittelbaren sprachlichen Zugang der Anwälte zu den Dokumen651 The KRT Trail Monitor, Prosecutor v Kaing Guek Eav alias ‚Duch‘, Report Issue No. 2: First Week of Trail in the Duch Case, March 30 – April 1, 2009, http://socrates.berkeley. edu~warcrime/documents/KRT%20Monitor_Final-1_report2.pdf (letzter Zugriff am 23.05. 2010). 652 Romano / Nollkaemper / Kleffner, Internationalized Criminal Courts, 2004, S. 341. 653 Zum Beschleunigungsgrundsatz siehe Kapitel VIII. 654 ICTY Delalić et al., Order on Zdravko Mucić’s Request for Serbo-Croatian Interpretation, IT-96-2-T, 23. Juni 1997; ebenso ICTY Krsmanovic, Decision Concerning Serbo-Croatian Interpretation, IT-96-16-Misc.1, 29. März 1997. 655 ECCC Samphan, Recours en Annulation pour Abus de Procédure, 002 / 19-09-2007CETC-BCJI, 27. August 2009.

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

ten der Prozessakte voraussetze.656 Die fehlende Übertragung in die Muttersprache des Verteidigers stelle einen grundlegenden Verstoß gegen die Gebote der Waffengleichheit und der prozessualen Fairness dar. Unter Zugrundelegung der „abuse of process“-Doktrin657 verlangte Vergès eine Beendigung der Verfahren sowie die umgehende Freilassung seines Mandanten. Ein Anspruch auf Übersetzung von schriftlichen Beweisstücken wird in den Prozessgarantien menschenrechtlicher Verträge nicht ausdrücklich festgelegt. Mit Ausnahme des ICC normieren die Statuten internationaler Tribunale lediglich die Beiordnung eines Übersetzers, ohne ein generelles Recht auf sprachliche Übermittlung der gerichtlichen Dokumente zu bestimmen. Die Practice Directions der ECCC sehen in Art. 7 Abs. 1 und 2 die Bereitstellung sämtlicher Unterlagen in Khmer und einer weiteren Gerichtssprache vor. Nach dem Recht der Kammern ist eine Übersetzung ins Französische daher nicht zwingend geboten. Vergès’ Antrag stellt die Frage nach einer Vereinbarkeit der geltenden Regelungen mit den Bedingungen fairer Verfahrensgestaltung. Wenngleich ein Anspruch auf schriftliche Übersetzungen normativ nicht explizit erfasst ist, könnte das Recht auf Verhandlung in eigener Sprache eine entsprechende Verpflichtung internationaler Gerichte begründen. Aus rechtsstaatlicher Sicht gilt es daher, die Reichweite des Schutzumfangs im Hinblick auf zwei Kernprobleme zu bestimmen: – Enthalten die Gewährleistungen der Statuten eine rechtliche Verantwortung zur erschöpfenden Übersetzung schriftlicher Dokumente? – Kann ferner aus dem Anspruch des Angeklagten ein unmittelbares Recht seines Verteidigers abgeleitet werden?

a) Die Rechtsprechung der ECCC In der „Order on Translation“ vom 23. Juni 2008 beschlossen die Ermittlungsrichter grundlegende Maßstäbe für den Umfang der gerichtlich gebotenen Übersetzungsarbeit.658 Die Richter bestätigten die Regelung der Practice Directions und lehnten eine ausnahmslose Übersetzung schriftlicher Dokumente ab. Ein Anspruch auf Übermittlung in die Muttersprache des Angeklagten und seines Verteidigers bestehe ausschließlich im Hinblick auf prozessrechtlich wesentliche Unterlagen. Hiernach müssen Dokumente wie die Anklageschrift, gerichtliche Anordnungen oder Anträge der Parteien in alle drei Gerichtssprachen übersetzt werden.659 Ein generel656 ECCC Samphan, Recours en Annulation pour Abus de Procédure, 002 / 19-09-2007CETC-BCJI, 27. August 2009, Rn. 10 – 13, 47. 657 Die „abuse of process“-Doktrin entstammt dem angloamerikanischen Rechtskreis und besagt, dass bedeutende formale Fehler zu einer Einstellung des Verfahrens im Einzelfall führen können (Choo, Abuse of process, 2008, S. 1). 658 ECCC Samphan, Order on Translation Rights and Obligations of the Parties, 002 / 1909-2007 / ECCC-OCIJ, 23. Juni 2008.

VI. Das Recht auf Information und Kommunikation in eigener Sprache

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les Recht des Verteidigers zum Erhalt der vollständigen Prozessakte in einer bestimmten Sprache wird hingegen nicht angenommen. „Remaining case file documents, such as pleadings, internal notes and correspondence are not elements of proof for the determination of the trial chamber and are not therefore covered by the requirement to translate.“660

Mit einem Antrag an die Vorverfahrenskammer wandten sich die Anwälte Khieu Samphans gegen die Vorgaben der Ermittlungsrichter. Ihr Rechtsmittel stützt sich auf eine Entscheidung der ECCC vom Mai 2009, in der das Gericht eine Übersetzung schriftlicher Dokumente als Regelfall anerkannte. „The general rule is that documents should be available in all three languages of the Court in order to be put before the Chamber.“661

Die Aussagen der Hauptverfahrenskammer lassen indes keinen Schluss auf einen verbindlichen Rechtsanspruch des Angeklagten zu. Bereits im Folgesatz grenzt das Gericht die Reichweite des Verfahrensrechts aus praktischen und prozessualen Erwägungen ein. Unter Verweis auf die beschränkten Kapazitäten der Verwaltung lässt die Kammer grundsätzlich eine Übermittlung von Unterlagen in Khmer und einer weiteren Gerichtssprache genügen.662 Das Gericht berücksichtigt ferner, dass ein internationaler Verteidiger nach dem Verfahrensrecht der ECCC durch einen kambodschanischen Anwalt unterstützt werden muss.663 Die Vertretung des Angeklagten verfüge daher über die erforderlichen sprachlichen Kompetenzen zur Durchführung der Prozesse. Zuletzt betont das Gericht die Notwendigkeit einer gerechten Abwägung des Übersetzungsanspruchs mit den Anforderungen eines beschleunigten Verfahrens.664 Zur Vermeidung weiterer Prozessverzögerungen müssten Zugeständnisse an den Umfang der zu übersetzenden Dokumente gemacht werden.665 Dem folgend lehnte die Vorverfahrenskammer im weiteren Prozessverlauf den Antrag Vergès’ als materiell unbegründet ab.666 Nach Ansicht der Richter folge aus dem Recht auf Verhandlung in eigener Sprache weder für den Angeklagten noch 659 ECCC Samphan, Order on Translation Rights and Obligations of the Parties, 002 / 1909-2007 / ECCC-OCIJ, 23. Juni 2008, Rn. B.4, C.2. 660 ECCC Samphan, Order on Translation Rights and Obligations of the Parties, 002 / 1909-2007 / ECCC-OCIJ, 23. Juni 2008, Rn. C.3. 661 ECCC Samphan, Oral Decision on Translation, Transcript v. 19. Mai 2009, S. 31 f. 662 ECCC Samphan, Oral Decision on Translation, Transcript v. 19. Mai 2009, S. 31 f. 663 Regel 22 Abs. 1 ECCC-IR: [A]ll Suspects, Charged Persons, accused or any other persons entitled to a defence lawyer under these IRs, shall have the right to the assistance of a national lawyer, or a foreign lawyer in collaboration with a national lawyer. 664 ECCC Samphan, Oral Decision on Translation, Transcript v. 19. Mai 2009, S. 31 f. 665 ECCC Samphan, Oral Decision on Translation, Transcript v. 19. Mai 2009, S. 31 f. 666 ECCC, Decision on Khieu Samphan’s Appeal Against the Order on Translation Rights and Obligations of the Parties, 002 / 19-09-2007-ECCC / OCIJ, 20. Februar 2009.

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

seinen Verteidiger ein Anspruch auf Übersetzung sämtlicher Dokumente.667 Mit Ausnahme des in der Translation Order benannten Materials müsse der Beschuldigte auf die Möglichkeit verwiesen werden, Übersetzungen im begründeten Einzelfall zu veranlassen. Durch die Beiordnung eines Dolmetschers werde die Verteidigung hinreichend über den Inhalt der Unterlagen informiert, um ihre Relevanz für das Verfahren und die Notwendigkeit einer Translation ermessen zu können.668 Ein weiterer Aspekt wird von der Anklage im Hinblick auf den hybriden Charakter der ECCC erörtert.669 In der Zusammenarbeit nationaler und internationaler Mitarbeiter liegt eine besondere Herausforderung hybrider Gerichte, zugleich jedoch ihre wesentliche Stärke. Nach der Struktur des Tribunals muss eine effektive Kooperation zwischen dem kambodschanischen und dem internationalen Verteidiger vorausgesetzt werden können.670 Eine wirksame Verteidigung des Angeklagten ist daher unabhängig von einer generellen Übersetzung der Prozessakten möglich. Die Gewährleistung prozessualer Fairness kann im Wege sinnvoller Kommunikation zwischen den Anwälten garantiert werden. Mit ihrer Ablehnung einer ausnahmslosen Übersetzung schriftlicher Dokumente können die ECCC auf die Rechtsprechung internationaler Tribunale zurückgreifen.671 Der ICC entschied im Fall Lubanga, dass ein Anspruch auf Übersetzung der Prozessakten nicht aus dem Grundsatz der Verfahrensgerechtigkeit abzuleiten sei. „The principle of fairness does not grant the right to have all procedural documents and all evidentiary materials disclosed by the Prosecutor translated.“672

Unter Berücksichtigung des Beschleunigungsgebotes versagen auch die Ad-hocTribunale eine gerichtliche Pflicht zur Übermittlung sämtlicher Unterlagen in den offiziellen Gerichtssprachen.673 Der zeitliche Aufwand einer lückenlosen Überset667 ECCC, Decision on Khieu Samphan’s Appeal Against the Order on Translation Rights and Obligations of the Parties, 002 / 19-09-2007-ECCC / OCIJ, 20. Februar 2009, Rn. 41. 668 ECCC, Decision on Khieu Samphan’s Appeal Against the Order on Translation Rights and Obligations of the Parties, 002 / 19-09-2007-ECCC / OCIJ, 20. Februar 2009, Rn. 48. 669 ECCC Co-Prosecutors’ Response to Khieu Samphan’s Appeal on Translation Rights and Obligationsof the Parties, 002 / 19-09-2007 / ECCC-OCIJ, 28. August 2008, Rn. 41. 670 ECCC Co-Prosecutors’ Response to Khieu Samphan’s Appeal on Translation Rights and Obligationsof the Parties, 002 / 19-09-2007 / ECCC-OCIJ, 28. August 2008, Rn. 35: „The international Counsel does not work in a vacuum. He is expected to work in collaboration with the Cambodian Counsel and utilise the linguistic capacity provided for and available in the defence team.“ 671 Siehe zum Beispiel ICC Lubanga, Decision on the Request of the Defence of 3 and 4 July 2006, ICC-01 / 04-01 / 06, 4. August 2006, Rn. 5 f.; ICTR Muhimana, Decision on Defence Motion for the Translation of Prosecution and Procedural Documents into Kinyarwanda, ICTR-95-I-B-I, 6. November 2001, Rn. 25. 672 ICC Lubanga, Decision on the Requests of the Defence of 3 and 4 Julay 2006, ICC-01 / 04-01 / 06, 1. August 2006, S. 6. 673 ICTY Ljubicic, Decision on Defence Counsel’s Request for Translation of All Documents, IT-00-41-PT, 20. November 2002, S. 3; ICTY Šešelj, Order on Translation, IT-03-67PT, 6. März 2003, S. 2.

VI. Das Recht auf Information und Kommunikation in eigener Sprache

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zung verstoße gegen das Gebot des zügigen Verfahrens und stehe letztlich im Widerspruch zu den Prozessrechten des Angeklagten. „[T]ranslation in advance of each and every document into the [language of the accused] beyond what is required by the Statute and Rules may seriously jeopardize the Accused’s right to an expeditious trial because of the very substantial time and resources required for translation of all documents.“674

b) Die Bewertung des Rechtsanspruchs auf Übersetzung von Dokumenten Der Anspruch auf Verhandlung in eigener Sprache ist nach geltender Rechtsprechung zunächst weit zu verstehen.675 Im Zusammenspiel mit den Geboten von Waffengleichheit und prozessualer Fairness garantiert das Prinzip ein grundsätzliches Recht auf Übersetzung schriftlicher Dokumente.676 Entgegen dem eingeschränkten Wortlaut internationaler Bestimmungen wird der rechtliche Geltungsbereich der Verfahrensgarantie auf den Verteidiger des Beschuldigten ausgedehnt.677 Das Recht zur freien Wahl eines Anwaltes und der Anspruch auf effektive Vertretung setzen einen wirksamen Zugang des Strafverteidigers zu den Beweisdokumenten generell voraus.678 Der EGMR betont die Zielstellung der Verfahrensgerechtigkeit als Maßstab für die Bestimmung von Reichweite und Grenzen des Übersetzungsrechts. Hiernach muss der Angeklagte durch eine sprachliche Übermittlung der Prozessdokumente lediglich in die Lage versetzt werden, das Verfahren selbständig zu verfolgen.679 Besteht der Zweck schriftlicher Übersetzungen in der Gewährleistung eines grundlegenden Verständnisses der Verhandlungen, genügt eine Übertragung der beweiserheblichen Unterlagen nach Vorbild der ECCC. Ein Anspruch der Verteidigung auf schriftliche Übersetzung bewegt sich folglich in den engen Grenzen prozessualer Fairness. Anträge außerhalb des rechtsstaatlich gebotenen Rahmens stützen sich nicht auf ein zwingendes Recht und können im Interesse der Verfahrensbeschleunigung abgelehnt werden. Unter dem Blickwinkel der Prozessgerechtigkeit können konkrete Verfahrensumstände wie der hybride Charakter eines internationalen Strafgerichtes im Rahmen 674 ICTY Ljubicic, Decision on Defence Counsel’s Request for Translation of All Documents, IT-00-41-PT, 20.November 2002, S. 3. 675 Siehe auch EGMR Leudicke v. Deutschland, Application No. 6210 / 73, 6877 / 75, 28. November 1978, Rn. 48. 676 EGMR Leudicke v. Deutschland, Application No. 6210 / 73, 6877 / 75, 28. November 1978, Rn. 48. 677 ECCC, Decision on Khieu Samphan’s Appeal Against the Order on Translation Rights and Obligations of the Parties, 002 / 19-09-2007 / ECCC-OCIJ, 20. Februar 2002, Rn. 14. 678 Dies wird beispielsweise in Regel 55 Abs. 6 ECCC-IR anerkannt. 679 EGMR Leudicke v. Deutschland, Application No. 6210 / 73, 6877 / 75, 28. November 1978, Rn. 48.

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

des Schutzumfangs berücksichtigt werden. Die Sprachkompetenz der Verteidigung und die Möglichkeit interner Kooperation sind zulässige Faktoren, die einen Verzicht auf ausnahmslose Übersetzung zu begründen vermögen.680 Einschränkungen der Übertragung von Dokumenten in die Gerichtssprachen können durch eine pragmatische Betrachtung der Kapazitäten gerechtfertigt werden. Nach Maßgabe einer rechtsstaatlichen Verfahrensgestaltung sind die Regelungen der ECCC sowie die Rechtsprechung von ICC und ICTY daher nicht zu beanstanden.

VII. Das Recht auf Verteidigung Die effektive Verteidigung des Angeklagten ist ein zentrales Anliegen des rechtsstaatlichen Strafverfahrens. Aus der Perspektive individueller Freiheitsrechte stellt sich ihre Gewährleistung als notwendiges Gegengewicht zur staatlichen Anklage dar. Zugleich verlangt die Durchsetzung des hoheitlichen Strafanspruchs eine wirksame Vertretung des Beschuldigten im Interesse objektiver Wahrheitsfindung.681 In internationalen Menschenrechtsverträgen wird dem Angeklagten ein umfassender Anspruch auf eine selbstbestimmte Verteidigung garantiert. Der IPbpR formuliert die Bedingungen einer fairen Prozessvertretung in Art. 14 Abs. 3 lit. d: „Art. 14 Abs. 3 IPbpR: In the determination of any criminal charge against him, everyone shall be entitled to the following minimum guarantees, in full equality: (…) (d) to defend himself in person or through legal assistance of his own choosing; to be informed, if he does not have legal assistance, of this right; and to have legal assistance assigned to him, in any case where the interests of justice so require, and without payment by him in any such case if he does not have sufficient means to pay for it.“

Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK lautet: „Art. 6 Abs. 3 EMRK: Everyone charged with a criminal offence has the following minimum rights: (…) c) to defend himself in person or through legal assistance of his own choosing or, if he has not sufficient means to pay for legal assistance, to be given it free when the interests of justice so require.“

Die Statuten der internationalen Strafgerichte übernehmen die Regelungen der Verträge weitgehend wörtlich. Art. 21 Abs. 4 lit. d ICTY-Statut, Art. 67 Abs. 1 lit. d ICC-Statut sowie Art. 35 Abs. 2 lit. d new ECCC-LoE formulieren die Ansprüche auf Verteidigung nach dem Vorbild des IPbpR. Im Einklang mit den Bestimmungen des internationalen Menschenrechtsschutzes lassen sich den Rechtsgrundlagen der Tribunale drei wesentliche Gewährleistungen entnehmen. Beruhend auf dem Gedanken einer effizienten und eigenverantwort680 ICTR Muhimana, Decision on Defence Motion for the Translation of Prosecutions and Procedural Documents into Kinyarwanda, ICTR-95-I-B-I, 6. November 2001, Rn. 32 f. 681 Weider, Vom Dealen mit Drogen, 2000, S. 82 f.

VII. Das Recht auf Verteidigung

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lichen Strafverteidigung sehen die Statuten das Recht auf Selbstverteidigung, die freie Wahl eines anwaltlichen Vertreters sowie den Anspruch auf unentgeltliche Verteidigung vor. Aufgrund ihrer besonderen Aktualität in der Praxis internationaler Gerichtsbarkeit wird sich die folgende Darstellung mit den Fragen einer selbständigen Prozessführung und der freien Verteidigerwahl auseinandersetzen.

1. Das Recht auf Selbstverteidigung Mit Milosević, Šešelj, Krajišnik, Prlić und Karadžić am ICTY, Barayagwiza und Ntahobali am ICTR sowie Norman und Gbao am SCSL haben einst hochrangige Führungspersonen von ihrem Recht auf Selbstverteidigung Gebrauch gemacht. Das Misstrauen gegenüber den Institutionen des internationalen Strafrechts und das Bedürfnis nach einer Kontrolle der Verfahren sind wesentliche Beweggründe für den Verzicht auf eine anwaltliche Repräsentanz.682 In der Praxis hat die Selbstverteidigung der Angeklagten zu erheblichen Schwierigkeiten insbesondere im Hinblick auf einen objektiven und effektiven Prozessverlauf geführt. Die folgende Untersuchung soll die Probleme einer Selbstverteidigung vor Gericht identifizieren und mögliche Wege zur Sicherstellung eines effektiven Verfahrens unterbreiten. Zu diesem Zweck werden zunächst die Rechtsgrundlagen der Tribunale untersucht und im Kontext kontinentaleuropäischer sowie angloamerikanischer Einflüsse analysiert. Anschließend sollen im Interesse qualifizierter Prozessführung und objektiver Verfahrensgerechtigkeit die erforderlichen Schranken des Selbstverteidigungsrechts bestimmt werden. Gegenstand der Erörterung sind hierbei nicht die Möglichkeiten einzelner Verhaltensbeschränkungen des Angeklagten, sondern ausschließlich das generelle Konzept der Selbstverteidigung als Gegenmodell zur Pflichtvertretung sein.

a) Die rechtlichen Grundlagen des Selbstverteidigungsrechts Das Recht zur Selbstverteidigung683 wird in den Statuten internationaler Straftribunale einheitlich gewährleistet. Wenngleich die Frage seiner Beschränkung unterschiedlich geregelt ist, liegt dem völkerrechtlichen Verfahrensrecht bislang die weitgehende Überzeugung von einer Notwendigkeit eines Selbstverteidigungsrechts zugrunde.684 Der Anspruch auf eigenverantwortliche Verfahrensführung wird von ihren Befürwortern als Ausdruck persönlicher Freiheit und individueller SelbstbeBoas, JICJ 9 (2011), S. 54. Der deutsche Begriff der Selbstverteidigung ist mehrdeutig, da er zugleich die materielle Frage strafausschließender Rechtfertigung erfasst. Dennoch ist die Terminologie einer Bezeichnung als „Selbstvertretung“ vorzuziehen, da der Begriff einen inneren Widerspruch darstellt; insoweit anders Ambach, ZIS 6 (2009), S. 286. 684 Temminck Tuinstra, JICJ 4 / 1 (2006), S. 47 (55, 57 f.). 682 683

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

stimmung des Angeklagten verstanden. Die freie Entscheidung des Beschuldigten über die Form seiner Verteidigung gilt als Folge seiner Subjektstellung im Verfahren.685 Anders gestaltet sich die Rechtslage in nationalen Strafverfahren, die abhängig von der grundlegenden Ausrichtung des Justizsystems entweder eine Selbst- oder eine Pflichtverteidigung normieren. Während im angloamerikanischen Rechtskreis der Anspruch auf eigenständige Prozessführung allgemein gewährleistet wird, sieht das kontinentaleuropäische Gerichtsverfahren das Institut der Pflichtverteidigung vor.686 aa) Das Recht auf Selbstverteidigung in common law und civil law Im adversatorischen Verfahren ist das Recht auf Selbstverteidigung als Ausdruck individueller Entscheidungsfreiheit anerkannt. Der US Supreme Court urteilte im Fall Faretta v. California, dass der Verzicht auf eine anwaltliche Vertretung aus Respekt vor der Autonomie des Angeklagten akzeptiert werden müsse.687 Das Gericht begründete die grundsätzliche Geltung des Selbstverteidigungsrechts im common law mit seinen Konsequenzen für den Strafprozess. Da die Folgen einer unzureichenden Verteidigung nach Auffassung des Supreme Courts ausschließlich den Beschuldigten träfen, bestünde kein öffentliches Interesse an einer Pflichtverteidigung.688 Im Gegensatz zur Rechtstradition des common law steht die Praxis kontinentaleuropäischer Gerichte zur Anordnung einer anwaltlichen Vertretung im Strafprozess.689 An dieser Stelle soll die Regelung des deutschen Verfahrensrechts als Beispiel für die differenzierte Gewährleistung des Selbstverteidigungsanspruchs im civil law dargestellt werden. Die deutsche Strafprozessordnung (StPO) gestattet im Grundsatz eine Prozessführung durch den Angeklagten, schränkt jedoch seine Wahlfreiheit in erheblichem Umfang ein. § 140 StPO lautet: „§140 StPO: (1) Die Mitwirkung eines Verteidigers ist notwendig, wenn 1. die Hauptverhandlung im ersten Rechtszug vor dem Oberlandesgericht oder dem Landgericht stattfindet; 685 Ambach, ZIS 6 (2009), S. 286 (304): „Betrachtet man Schwierigkeitsgrad und Umfang eines internationalen Strafverfahrens, ist eine wirksame Selbstvertretung des Angeklagten unrealistisch.“ 686 Vgl. die Fälle notwendiger Verteidigung nach § 140 StPO. 687 United States Supreme Court, Faretta v. California, 422 U.S. 806 (1975). 688 United States Supreme Court, Faretta v. California, 422 U.S. 806 (1975). 689 Beispielsweise folgende Staaten kennen die obligatorische Verteidigung im Strafverfahren: nur Deutschland, Frankreich, Österreich, Belgien, Serbien, Bulgarien und Bosnien-Herzegowina; ICTY Krajišnik, Fundamentally Dissenting Opinion of Judge Schomburg on the Right to Self-Representation, Decision on Momčilo Krajišnik´s Request to Self-Represent, on Counsel´s Motions in Relation to Appointment of Amicus Curiae, and on the Prosecution Motion of 16 February 2007, IT-00-39-A, 11. Mai 2007, Rn. 40 – 55.

VII. Das Recht auf Verteidigung

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2. dem Beschuldigten ein Verbrechen zur Last gelegt wird; (…) (2) In anderen Fällen bestellt der Vorsitzende auf Antrag oder von Amts wegen einen Verteidiger, wenn wegen der Schwere der Tat oder wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint oder wenn ersichtlich ist, dass sich der Beschuldigte nicht selbst verteidigen kann.“

Die Entscheidung über die Beiordnung eines Pflichtverteidigers hängt in erster Linie von zwei Faktoren ab. Nach §140 Abs. 1 StPO ist eine Beschränkung des Selbstverteidigungsrechts aufgrund der Schwere des Delikts und der Höhe des zu erwartenden Strafmaßes möglich.690 Gemäß Abs. 2 der Norm kann darüber hinaus die Komplexität der Beweisaufnahme eine Anordnung anwaltlicher Unterstützung gebieten. Trotz der weitreichenden Eingriffe in das Selbstverteidigungsrecht des Beschuldigten wird die restriktive Gewährleistung seiner Wahlfreiheit als vereinbar mit internationalen Prozessgarantien angesehen. Der EGMR erkannte in seiner Entscheidung zu Croissant v. Germany die grundsätzliche Zulässigkeit einer Pflichtvertretung im Interesse der Verfahrensgerechtigkeit an.691 Die deutlichen Divergenzen in der nationalen Rechtspraxis belegen das Fehlen eines Konsenses über die Reichweite einer eigenverantwortlichen Prozessführung. An der Annahme einer völkergewohnheitsrechtlichen Geltung des Rechts auf Selbstverteidigung – wie sie im Fall Milosević anklingt –692 müssen daher durchgreifende Zweifel bestehen.693 Die unterschiedliche Ausgestaltung der Selbstverteidigung in common und civil law erscheint im Hinblick auf die jeweilige Organisation des Hauptverfahrens überraschend. Bonomy bezeichnet es als „Ironie“694, dass eine Pflichtvertretung im inquisitorischen Verfahren vorgesehen und für den adversatorischen Parteiprozess ausgeschlossen wird. Während das Strafverfahren im civil law weitgehend durch den Richter gelenkt werden kann, ist die Beweiserbringung im common law ausschließlich von den Parteien abhängig. Fehlende Rechts- und Prozesskenntnisse des 690 Im Strafprozess ist das Landgericht grundsätzlich bei Verbrechen und schweren Vergehen ab einer Straferwartung von vier Jahren Freiheitsstrafe erstinstanzlich zuständig, §§ 74, 120 des Gerichtsverfassungsgesetzes. 691 EGMR Croissant v. Germany, Application No. 13611 / 88, 25. September 1992, Rn. 29: „[I]t is for the courts to decide whether the interests of justice require that the accused be defended by counsel appointed by them.“ Ebenso entschied die Europäische Menschenrechtskommission, X. v. Norway, EComHR, Application No. 5923 / 72, 30.5.1975. 692 ICTY Milosević, Reasons for Decision on the Prosecution Concerning the Assignment of Counsel, IT-02-54-T, 4. April 2003. 693 Boas, JICJ 9 (2011), S. 58. 694 Bonomy, JICJ 5 / 2 (2007), S. 348 (356 f.): „It is a real irony of the Tribunal that inquisitorial systems, such as that used in the former Yugoslavia, require obligatory legal representation, yet common law systems using adversarial proceedings, where representation is clearly more necessary, do not. It is also ironic that it is in adversarial proceedings that there is real scope for the fact of self-representation to cause disruption to the proceedings, whether as the result of events over which the parties have no control or through deliberate manipulation of the trial process.“

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

Angeklagten wirken sich im adversatorischen Verfahren somit ungleich stärker auf den Verlauf der Verhandlungen aus.695 bb) Das Recht auf Selbstverteidigung im Völkerstrafprozess (1) Zur Gewährleistung des Selbstverteidigungsrechts Nach dem Vorbild des common law wird der Anspruch auf selbständige Verfahrensführung in den Rechtsgrundlagen der internationalen Strafgerichte ausdrücklich gewährleistet. Art. 21 Abs. 5 lit. d ICTY-Statut, Art. 67 Abs. 1 lit. d ICC-Statut sowie Art. 35 Abs. 2 lit. d new ECCC-LoE erkennen das Recht auf Selbstverteidigung übereinstimmend als Prozessgarantie des Angeklagten an.696 Entscheidet sich der Beschuldigte hingegen für eine anwaltliche Vertretung, verliert er seine Mitwirkungsrechte am Verfahren weitgehend.697 In diesem Fall tritt der Angeklagte am ICC und ICTY der Kammer nicht länger selbst gegenüber, sondern kommuniziert durch seinen Verteidiger mit dem Gericht. Als Repräsentant der Verteidigung übernimmt der Anwalt die ausschließliche Leitung der Beweisführung sowie die Befragung von Zeugen und Sachverständigen.698 Zugleich ist der Vertreter nicht an die Vorgaben seines Mandanten gebunden, sondern entscheidet im Einzelfall selbst über Wege und Mittel der Verteidigung.699 Im Fall Praljak rügte der Angeklagte diese Praxis des ICTY als unzulässige Verkürzung seiner Verteidigungsrechte.700 Das Gericht ließ die grundsätzliche Frage nach der wechselseitigen Exklusivität des Rechts auf Selbstverteidigung und des Rechts auf anwaltliche Vertretung letztlich unbeantwortet. Die Berufungskammer betonte, eine Beteiligung am Verfahren sei dem Angeklagten nicht generell versagt, sondern lediglich notwendigen Restriktionen unterworfen worden.701 Das Zögern des Bonomy, JICJ 5 / 2 (2007), S. 348 (356 f.). Der Angeklagte übernimmt in diesen Fällen die Rolle des lead counsel; dies schließt eine weitere anwaltliche Unterstützung nicht aus, Boas, JICJ 9 (2011), S. 55. 697 Dies gilt insbesondere für den ICC sowie die Ad-hoc-Tribunale. Ausnahmen bestehen hingegen an den ECCC, die eine weitere Beteiligung des Angeklagten vorsehen. Hierauf wird an späterer Stelle näher eingegangen. 698 Vgl. Art. R74 Abs. 2 ICC-Regulation of the Court: „When represented by defence counsel, the person entitled to legal assistance shall, subject to article 67, paragraph 1 (h), act before the Court through his or her counsel, unless otherwise authorised by the Chamber.“ Art. 15 (A) ICTR-Directive on the Assignment of Defence Counsel: „[Counsel] shall deal with all stages of the procedure and all matters arising out of the representation of the accused or of the conduct of his Defence.“ 699 Vgl. Art. 8 B ICTY-Code of Professional Conduct for Counsel Appearing before the International Tribunal: „When representing a client, counsel shall: (…) consult with the client about the means by which those objectives are to be pursued, but is not bound by the client’s decision.“ 700 ICTY Prlic et al., Decision on Praljaks Appeal of the Trial Chamber’s Decision on the Mode of Interrogating Witnesses,IT-04-74-AR73.11k 24. August 2007. 701 ICTY Prlic et al., Decision on Praljaks Appeal of the Trial Chamber’s Decision on the Mode of Interrogating Witnesses,IT-04-74-AR73.11k 24. August 2007, Rn. 11. 695 696

VII. Das Recht auf Verteidigung

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Gerichts, sich ausdrücklich für den Ausschluss einer aktiven Mitwirkung des anwaltlich vertretenen Angeklagten auszusprechen, könnte als Hinweis auf eine weniger strikte Trennung der Konzepte verstanden werden.702 (2) Zur Einschränkung des Selbstverteidigungsrechts Weitgehend ungeregelt ist bislang die Möglichkeit einer Begrenzung des Rechts auf Selbstverteidigung. Die Rechtsprechung internationaler Tribunale erkennt die Zulässigkeit beschränkender Maßnahmen – zumindest als ultima ratio – im Interesse eines fairen und beschleunigten Verfahrensablaufs allgemein an.703 Wenngleich die Frage der Selbstverteidigung internationale Strafgerichte bereits wiederholt beschäftigt hat, fehlen rechtsverbindliche Vorgaben zu Umfang und Reichweite der Rechtausübung.704 Die Ad-hoc-Tribunale sehen lediglich am Rande Bestimmungen zur Ausübung des Selbstverteidigungsrechts vor. Nach Regel 45 (F) ICTY-RPE muss der Angeklagte der Gerichtskanzlei seine Entscheidung zum Verzicht auf anwaltliche Vertretung schriftlich bekannt geben.705 Mit der Einführung von Regel 45ter ICTY-RPE im November 2008 wurde erstmals eine Grundlage für die Beiordnung eines Verteidigers durch das Tribunal geschaffen. Die Norm ermöglicht dem Gericht die Veranlassung anwaltlicher Vertretung, wenn dies im Interesse der Gerechtigkeit erforderlich ist: „Regel 45ter ICTY-RPE: The Trial Chamber may, if it decides that it is in the interests of justice, instruct the Registrar to assign a counsel to represent the interests of the accused.“

Im Hinblick auf den Regelungszweck der Norm stellt Ambach die Frage, ob die Vorschrift tatsächlich als rechtliche Basis für eine Pflichtverteidigung dienen kann.706 Eine andere Auslegung könnte den Anwendungsbereich der Bestimmung auf die Ernennung eines Wahlverteidigers für den mittellosen Angeklagten reduzieren. Ambach selbst lehnt ein solches Normverständnis unter Berufung auf Wortlaut und Telos der Regelung jedoch ab.707 Die Einsetzung des Anwalts zur Vertretung der „Interessen des Angeklagten“ lege weniger eine Bindung an ein individuelles Mandat als die Verpflichtung auf objektive Verfahrensinteressen nahe.708 Aus systematischer Sicht ist Ambach zuzustimmen, dass eine Beschränkung der Vorschrift auf die unentgeltliche Vertretung wenig zweckmäßig erscheint. Der Anspruch des Hierzu kritisch Boas JICJ 9 (2011), S. 56. ICTY Milosević, Decision on Interlocutary Appeal of the Trial Chamber’s Decision on the Assignment of Defence Counsel, IT-02-54-AR73.7, 1. November 2004, Rn. 17. 704 Sluiter, JICL 6 / 4 (2008), S. 617 (619 f.). 705 Regel 45 (F) ICTY-RPE: A suspect or an accused electing to conduct his or her own defence shall so notify the Registrar in writing at the first opportunity. 706 Ambach, ZIS 6 (2009), S. 286 (295). 707 Ambach, ZIS 6 (2009), S. 286 (295). 708 Ambach, ZIS 6 (2009), S. 286 (295). 702 703

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

mittellosen Beschuldigten auf anwaltlichen Beistand wird bereits in Art. 21 Abs. 4 lit. d ICTY-Statut verbürgt und bedarf keiner weiteren Präzisierung. Regel 45ter ICTY-RPE ist daher als normative Ermächtigung zum Eingriff in das Recht der Selbstverteidigung zu verstehen.709 Allerdings erscheint fraglich, welche praktische Bedeutung die Kammern der Norm zugestehen werden. Die Vorschrift bestimmt keinerlei verbindliche Voraussetzungen für die gerichtliche Anordnung einer Pflichtverteidigung. Es liegt daher nahe, ihr eine lediglich kodifizierende, nicht indes modifizierende Wirkung beizumessen.710 Eine vergleichbare Regelung enthält Regel 59 der Verfahrens- und Beweisordnung am Sondertribunal für den Libanon. Ihr Inhalt korrespondiert weitestgehend mit Regel 45ter ICTY-RPE, nimmt jedoch ausdrücklich auf die einschränkenden Ziele eines fairen und beschleunigten Verfahrens Bezug.711 In den Rechtsgrundlagen der übrigen hybriden Tribunale sowie des ICC fehlen Regelungen zur Beschränkung des Selbstverteidigungsrechts vollständig. Am SCSL entwickelte die Hauptverfahrenskammer allerdings weitreichende Grundsätze zur Einsetzung von Pflichtverteidigern: „(1) The right to counsel is predicated upon the notion that representation by counsel is an essential and necessary part of a fair trial; (2) counsel relieves the burden on the trial judges of explaining and enforcing basic rules of courtroom protocol and assisting the accused; (3) given the complexity of such trials, permitting an inexperienced (and likely untrained) accused to present his or her own defence risks unfairness to the accused; (4) there is a public interest, national and international, in the expeditious completion of the trial; (5) there is the high potential that self-representation would further disrupt the Court’s timetable and calendar; and (6) there is a tension between giving effect to the right of an accused to self-representation and that of his co-accused to a fair and expeditious trial as required by law.“712

(3) Zur Notwendigkeit einer normativen Fundierung Die Rechtsquellen völkerstrafrechtlicher Gerichte weisen keine abschließenden Regelungen über Ausgestaltung und Eingrenzung des Selbstverteidigungsrechts 709 Ambach, ZIS 6 (2009), S. 286 (295), der hierzu auf die Entscheidung des ICTY im Fall Šešelj verweist; ICTY Šešelj, Decision on Prosecution’s Motion for Order Appointing Counsel to Assist Vojislav Šešelj with his Defence, IT-03-67-PT, 9. Mai 2003, Rn. 11, 20. 710 Boas, JICJ 9 (2011), S. 69. 711 Dort bestimmt Regel 59 der STL-RPE: „A suspect or an accused electing to conduct his own defence shall so notify, in writing, the Pre-Trial Judge or a Chamber of his election. The Pre-Trial Chamber or a Chamber may impose counsel present or otherwise assist the accused in accordance with international criminal law and international human rights where this is deemed necessary in the interest of justice and to ensure a fair and expeditious trial.“ 712 SCSL Norman Fofana, and Kondewa, Decision on the Application of Samuel Hinga Norman for Self Representation under Article17(4)(d), 8. Juni 2004, SCSL-04-14-T, Rn. 8.

VII. Das Recht auf Verteidigung

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auf. Die Ad-hoc-Tribunale und der STL enthalten zwar eine allgemeine Ermächtigungsnorm; konkrete Voraussetzungen für die Beschränkung des Selbstverteidigungsrechts im Einzelfall bestimmen sie indes nicht. An den übrigen hybriden Tribunalen sowie am ICC wurde gänzlich auf eine Normierung rechtlicher Grenzen verzichtet. Hier stellt sich die Frage, auf welcher Grundlage prozessuale Einschränkungen, wie die zwangsweise Beiordnung eines Pflichtverteidigers, ergehen können. Dies wird vereinzelt mit einem generellen Verweis auf die Gewährleistung der Verteidigungsrechte beantwortet.713 „Art. 67 Abs. 1 lit. d ICC-Statut: [T]o have legal assistance assigned by the Court in any case where the interests of justice so require, and without payment if the accused lacks sufficient means to pay for it.“

Aus dogmatischer wie systematischer Sicht erscheint die Verankerung einer Eingriffsbefugnis in die Verfahrensgarantien zum Schutze des Beschuldigten nicht haltbar. Die Herleitung einer Ermächtigung zur Rechtsbeschränkung aus einem Prozessrecht des Angeklagten hieße die formale Schutzrichtung der Norm in ihr Gegenteil zu verkehren. Nach dem Telos der Vorschrift kann die Beiordnung eines Verteidigers allein aufgrund eines ausdrücklichen Willens des Beschuldigten erfolgen. Hierfür spricht auch der abweichende Wortlaut von Art. 35 Abs. 2 lit. d new ECCC-LoE, der ebenso wie Art. 67 Abs. 1 lit. d ICC-Statut die Vorgaben des IPbpR umsetzt. Ohne inhaltlich von Art. 14 Abs. 3 lit. d IPbpR abweichen zu wollen, beschränkt sich die Regelung auf die Einsetzung eines unentgeltlichen Rechtsbeistandes im Interesse des Angeklagten.714 Da der Anspruch auf Selbstverteidigung kein absolutes Recht darstellt, müssen Eingriffsmöglichkeiten aus Gründen prozessualer Fairness bestehen.715 Ambach spricht sich für eine Begrenzung des Selbstverteidigungsrechts im Wege einer Verwirkung des Prozessanspruchs aus.716 Das Rechtsinstitut der Verwirkung beschränkt sich jedoch auf Fälle des bewussten Missbrauchs und kann die Anforderungen einer prozessualen Abwägung nicht abschließend erfassen. Die Beiordnung einer Pflicht713 Dieser Auffassung entsprechend Richter Gunawardana am ICTR; ICTR, Barayagwiza, Concurring and Separate Opinion of Judge Gunawardana, ICTR-97-19-T, 2. November 2000. 714 Art. 14 Abs. 3 lit. d IPbpR ist insoweit nicht eindeutig. Die deutsche Übersetzung zeigt, dass die Norm im Sinne einer Beschränkung auf den Schutz mittelloser Angeklagter ausgelegt werden kann: [S]ich selbst zu verteidigen oder durch einen Verteidiger seiner Wahl verteidigen zu lassen; falls er keinen Verteidiger hat, ist er über das Recht, einen Verteidiger in Anspruch zu nehmen, zu unterrichten; fehlen ihm die Mittel zur Bezahlung eines Verteidigers, so ist ihm ein Verteidiger unentgeltlich zu bestellen, wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist. 715 So bereits der EGMR in Croissant v. Germany, Application No. 13611 / 88, 25. September 1992, Rn. 29: „[T]he right to self-representation could not be considered absolute.“ Im Völkerstrafrecht vgl. insbesondere Schomburg, Prosecutor v. Momčilo Krajišnik, Fundamentally Dissenting Opinion of Judge Schomburg on the Right to Self-Representation, Decision on Momčilo Krajišnik´s Request to Self-Represent, on Counsel’s Motions in Relation to Appointment of Amicus Curiae, and on the Prosecution Motion of 16 February 2007, IT-0039-A, 11. Mai 2007, Rn. 69. 716 Ambach, ZIS 6 (2009), S. 286 (295).

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

verteidigung soll nicht auf eine Sanktion inadäquaten Verhaltens reduziert werden, sondern einen gerechten Ausgleich im Sinne rechtsstaatlicher Verfahrensgestaltung darstellen. Dies entspricht der Verantwortung internationaler Strafgerichte für eine Verbindung individueller und objektiver Prozessgarantien. Die Zielvorgaben in Art. 20 ICTY-Statut, Art. 64 Abs. 2 ICC-Statut und Art. 33 Abs. 1 new ECCC-LoE verpflichten die Tribunale, die Rechte des Beschuldigten in ein sinnvolles Gleichgewicht mit den Anforderungen eines beschleunigten und fairen Verfahrens zu bringen.717 „Art. 20 ICTY-Statut: The Trial Chambers shall ensure that a trial is fair and expeditious, […] with full respect for the rights of the accused.“

Das internationale Strafverfahrensrecht muss dem Recht auf Selbstverteidigung durch eine Abwägung mit den Belangen prozessualer Fairness Grenzen setzen.718 Mangels spezieller Rechtsgrundlagen hängt die Reichweite des Selbstverteidigungsrechts bislang maßgeblich von der Rechtsprechung der Tribunale und ihrer Toleranz gegenüber der Prozessführung des Angeklagten ab.719 Das Fehlen eindeutiger Richtlinien für die Einsetzung eines Pflichtverteidigers ist im Hinblick auf die entstehende Rechtsunsicherheit im Umgang mit der prozessualen Selbstverteidigung kritisch zu sehen.720 Es verwundert, dass entsprechende Ergänzungen des Verfahrensrechts trotz wiederholter Probleme in der Organisation selbständiger Prozessführung bislang nicht erfolgt sind. Sluiter ist daher in seiner Kritik an der unklaren Rechtslage im internationalen Strafverfahren zuzustimmen: „Failing additional rules regulating the conditions attached to self-representation, the matter remains very uncertain. This is especially the case, since the jurisprudence of the ICTY on self-representation has significant flaws, and cannot be regarded as offering appropriate guidelines.“721

cc) Fazit zu den rechtlichen Grundlagen Das Recht auf Selbstverteidigung wird im internationalen Strafprozess umfassend gewährleistet. Dem Angeklagten steht grundsätzlich ein freies Wahlrecht zwischen einer selbständigen Prozessführung und der Vertretung durch einen Anwalt zu. Ein717 Art. 64 Abs. 2 ICC-Statut: „The Trial Chamber shall ensure that a trial is fair and expeditious and is conducted with full respect for the rights of the accused (…). Art. 33 Abs. 1 new ECCC-LoE: The Extraordinary Chambers of the trial court shall ensure that trials are fair and expeditious and are conducted in accordance with existing procedures in force, with full respect for the rights of the accused (…).“ 718 ICTY Šešelj, Decision on Prosecution’s Motion for Order Appointing Counsel to Assist Vojislav Šešelj with his Defence, IT-03-67-PT, 9. Mai 2003, Rn. 21 f.; ICTY Milošević Reasons for Decision on Assignment of Defence Counsel, IT-02-54-T, 22. September 2004, Rn. 32 – 34. 719 Sluiter, JICL 6 / 4 (2008), S. 617 (619 f.). 720 Zur divergierenden Rechtsprechung ausführlich Boas, JICJ 9 (2010), S. 58 – 69. 721 Sluiter, JICL 6 / 4 (2008), S. 617 (619 f.).

VII. Das Recht auf Verteidigung

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griffe in das Selbstverteidigungsrecht können im Rahmen einer Abwägung mit entgegenstehenden Verfahrensgrundsätzen wie dem Gebot eines zügigen und fairen Prozesses gerechtfertigt werden.722 Obwohl in der Vergangenheit die praktische Bedeutung anwaltlicher Repräsentanz offenkundig wurde,723 fehlen bislang klare rechtliche Vorgaben zur Ausgestaltung einer Pflichtverteidigung. Ziel des internationalen Strafverfahrensrechts muss es künftig sein, Voraussetzungen und Grenzen einer Pflichtvertretung abschließend zu normieren. Nachfolgend sollen die Möglichkeiten zur Einschränkung des Selbstverteidigungsrechts erörtert und erforderliche Änderungen des bestehenden Prozessrechts entwickelt werden.

b) Rechtsstaatliche Bewertung der Selbstverteidigung im Völkerstrafrecht Das Recht des Angeklagten zur selbständigen Vertretung seiner Interessen vor Gericht ist als Ausdruck persönlicher Entscheidungsfreiheit grundsätzlich anzuerkennen. Richterliche Eingriffe bedürfen daher einer Rechtfertigung durch die Erfordernisse eines fairen und beschleunigten Verfahrens. Die Frage nach einer Beschränkbarkeit des Selbstverteidigungsrechts hängt somit entscheidend davon ab, ob andere Prozessmaximen durch den Verzicht auf anwaltliche Repräsentanz berührt werden. Wie dargelegt, verneint der US Supreme Court in seinem Urteil zu Faretta v. California eine Beeinträchtigung des staatlichen Strafinteresses durch eine Selbstverteidigung des Angeklagten.724 Nach Überzeugung des Gerichts wirke sich eine mangelhafte Vertretung einzig in der Gefahr eines erhöhten Strafmaßes und somit ausschließlich zu Lasten des Beschuldigten aus. Im Folgenden soll die These des Gerichts auf Grundlage der bisherigen Erfahrungen mit dem Modell der Selbstverteidigung untersucht werden. Zu diesem Zweck werden die wesentlichen Probleme einer Prozessführung durch den Angeklagten sowie Möglichkeiten zu einer besseren Organisation der Verteidigung erörtert. aa) Die Probleme der Selbstverteidigung vor internationalen Strafgerichten Die Ausübung des Selbstverteidigungsrechts hat in der Praxis internationaler Strafgerichtsbarkeit zu drei wesentlichen Konflikten mit rechtsstaatlichen Zielvorgaben geführt. In der Vergangenheit gestaltete sich die selbständige Prozessführung insbesondere im Hinblick auf die Wahrung der Waffengleichheit sowie die Integrität und Beschleunigung des Verfahrens problematisch.725 Sluiter, JICL 6 / 4 (2008), S. 617 (618). Vgl. ICTY Milošević, IT-02-54; ICTY Šešelj, IT-03-67; ICTY Krajišnik, IT-00-39-A. 724 United States Supreme Court, Faretta v. California, 422 U.S. 806 (1975). 725 Bonomy, JICJ 5 / 2 (2007), S. 348 (355 f.). Auf weitere Probleme der Selbstverteidigung wie die Einschüchterung von Zeugen und die Befugnis zur direkten Befragung von Opfern 722 723

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

(1) Die Komplexität des Strafverfahrens als Problem der Waffengleichheit „Against the background of what has already been said about the complexity of proceedings (…), one can have serious doubts if the accused should be allowed to defend him without any counsel at all.“726

Internationale Strafverfahren stellen in besonderem Maße Anforderungen an die Rechtsexpertise der beteiligten Prozessparteien. Eine sinnvolle Auseinandersetzung mit den Anklagepunkten erfordert vertiefte Kenntnisse über Tatbestände und Grenzen völkerstrafrechtlicher Verbrechen. Ein hinreichendes Verständnis des materiellen Völkerstrafrechts setzt darüber hinaus Erfahrungen im Bereich des internationalen Rechts und einen sicheren Umgang mit völkerrechtlichen Konventionen voraus.727 Juristisch schwierig gestaltet sich insbesondere das Prozessrecht internationaler Straftribunale. Durch die Integration von Elementen verschiedener Rechtssysteme im Rahmen des Gründungsvorgangs stellen die Verfahrensordnungen der Gerichte einen komplexen Kompromiss zwischen common law und civil law, nationalen sowie internationalen Rechtsstandards dar. Zugleich ist die Kenntnis des Verfahrensrechts zwingender Bestandteil der Prozesspraxis und Bedingung für die Einhaltung der notwendigen Formalien. Die Unerfahrenheit des Angeklagten im Umgang mit den Institutionen und rechtlichen Regelungen eines Tribunals können seiner Verteidigung erhebliche Nachteile zufügen. Mangelnde berufliche Praxis und fehlende Vertrautheit mit völkerstrafrechtlichen Fragen erschweren eine effektive Selbstverteidigung des Beschuldigten vor Gericht.728 Gerade im Bereich komplexer internationaler Zusammenhänge kann der Angeklagte die notwendige rechtskundige Verteidigung nicht eigenständig leisten. Da die Mehrheit der Beschuldigten bislang aus dem kontinentaleuropäischen Rechtskreis stammt, besteht zudem eine verbreitete Unkenntnis vom angloamerikanischen Prozessmodell.729 Dies hat insbesondere Auswirkungen auf das Kreuzverhör, das der Beschuldigte ohne anwaltlichen Beistand häufig kaum zu handhaben wissen wird.730 Der Fall Slobodan Milosević belegt beispielhaft die Schwierigkeiten einer selbständigen Zeugenbefragung ohne juristische Unterstützung. sexueller Gewalt soll hier nicht eingegangen werden. Siehe hierzu auch Scharf, JICJ 4 / 1 (2006), S. 31 (38). 726 Heinsch, How to achieve, in: Stahn / Sluiter (Hrsg.), The Emerging Practice of the International Criminal Court, 2009, S. 479 (493). 727 Ambach, ZIS 6 (2009), S. 286 (291). 728 Ambach, ZIS 6 (2009), S. 286 (291). 729 Schomburg / Müller, Wolfgang Schomburg im Gespräch. Das Beste, was in Menschenhand liegt, FAZ, 23.01.2010, http://www.faz.net/s/RubD5CB2DA481C04D05AA471FA884 71AEF0/Doc~E307B12CFAE444149BA6F93FDE0FDF9CF~ATpl~Ecommon~Scontent.html (letzter Zugriff am 17.03.2010). 730 Ambach, ZIS 6 (2009), S. 286 (291).

VII. Das Recht auf Verteidigung

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„Counsel normally has a duty to cross-examine a witness on the points on which he is likely to lead contradictory evidence. Milosević’s patent lack of experience and expertise as a trial lawyer led to his generally failing to do that. In some instances the difficulty may have been that the accused was not aware of the contradictory evidence at the time he was cross-examining the prosecution witness.“731

Ähnliche Probleme beobachtete die Kammer im Fall Karadžić. Richter Morrison stellte fundamentale Fehler des Angeklagten in der Durchführung des Kreuzverhörs fest. Einige Bemerkungen von Karadžić während der Fragestellungen konnten nach Auffassung des Richters als implizites Schuldeingeständnis zu werten sein.732 Neben der rechtlichen Komplexität des Völkerstrafprozesses begründet der Umfang des Beweisverfahrens eine entscheidende Hürde für die Selbstverteidigung des Beschuldigten. Im Falle eines Verzichts auf anwaltliche Vertretung obliegt es dem Angeklagten, Zeugen und Dokumente zur Unterstützung seiner Verteidigungsstrategie zu benennen. Die Entfernung zum Tatortstaat und die Schwierigkeit eines Zugangs zu öffentlichen Quellen beschränken die eigenständigen Entlastungsmöglichkeiten des Beschuldigten. Während die Anklage durch zahlreiche Mitarbeiter vor Ort präsent sein kann, muss der Angeklagte seine Verteidigung im Regelfall aus der Untersuchungshaft organisieren.733 Ein weiteres Problem für die Realisierung einer effektiven Selbstverteidigung des Beschuldigten besteht im Umfang des von der Anklage präsentierten Beweismaterials. Im Fall Milosević hatte der Angeklagte insgesamt 1,2 Millionen Seiten offengelegter Dokumente im Hinblick auf entlastendes Beweismaterial zu überprüfen.734 Ohne die rechtskundige Unterstützung durch ein Team von Verteidigern und wissenschaftlichen Mitarbeitern ist eine solche Aufgabe zeitnah nicht zu bewältigen.735 Die offenkundige Überlastung des Beschuldigten mit den rechtlichen und beweispraktischen Anforderungen eines internationalen Strafverfahrens steht im Widerspruch zum rechtsstaatlichen Gebot der Waffengleichheit.736 Das Ungleichgewicht zwischen den Mitteln der Anklagebehörde und den begrenzten Möglichkeiten eines nicht repräsentierten Beschuldigten stellt die grundsätzliche Einhaltung prozessualer Fairness in Frage.737 Im Gegensatz zur Auffassung des US Supreme Court berührt die faktische Benachteiligung des Angeklagten nicht allein sein Recht auf individuelle Chancenwahrung, sondern verletzt die objektiven Gebote rechtsstaatlicher Wahrheitsfindung und Verfahrensgerechtigkeit. In einer abweichenden Stellungnahme Bonomy, JICJ 5 / 2 (2007), S. 348 (355 f.). ICTY Karadžić, Transcript, 13. April 2010, Rn. 1085. 733 Boas, JICJ 9 (2011), S. 78. 734 Boas, JICJ 9 (2011), S. 80. 735 Bonomy, JICJ 5 / 2 (2007), S. 348 (356): „No lawyer would dream of endeavouring to prepare for and conduct such a case on his own.“ 736 Bonomy, JICJ 5 / 2 (2007), S. 348 (356). 737 Boas, JICJ 9 (2011), S. 78 f. 731 732

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

zum Fall Momčilo Krajišniks vor dem ICTY formuliert Richter Schomburg klare Grenzen für die Legitimität der Selbstverteidigung im Völkerstrafprozess: „There is no fair procedure before international tribunals without public legal assistance. (…) [I]n serious cases like those before international criminal tribunals it is impossible for an accused to defend himself.“738

(2) Die Gefahr politischer Zweckentfremdung „A courtroom is a hallowed place where trials must proceed with dignity and not become occasions for entertainment by the participants.“739

Im Rahmen seiner Selbstverteidigung steht dem Angeklagten ein grundsätzlich freies Rede- und Fragerecht in den Verhandlungen zu. Seine Befugnis zur Gestaltung der eigenen Verteidigung ermöglicht ihm weitreichende Stellungnahmen zu den Hintergründen der Konfliktsituation. Dies birgt die Gefahr einer Instrumentalisierung der Verfahren als politisches Podium für die Selbstdarstellung des Beschuldigten. In der Vergangenheit entschieden sich insbesondere politisch und militärisch hochrangige Führungspersonen für eine eigenständige Verteidigung im Strafprozess.740 Prominente Angeklagte wie Slobodan Milosević und Momčilo Krajišnik nutzen den Auftritt vor Gericht zur Verlagerung der politischen Verantwortung und einer Definition ihrer historischen Rolle nach eigenen Vorstellungen. Das Interesse der Medien an den Verhandlungen internationaler Strafgerichte eröffnet den Beschuldigten hierbei ein weites Forum für die Verbreitung ihre politischen Überzeugungen.741 Die Politisierung des Strafverfahrens widerspricht jedoch der Zielsetzung einer rechtlichen Aufarbeitung begangener Verbrechen. Dem Angeklagten soll eine faire Chance zum Nachweis seiner Unschuld, nicht jedoch zur Äußerung politischer Rechtfertigungen gewährt werden. Der Prozess gegen Slobodan Milosević ist ein wichtiges Beispiel für die Zweckentfremdung des Verfahrens zur Verbreitung politischer Stellungnahmen des Angeklagten. Die damalige Chefanklägerin Carla del Ponte beschreibt die Selbstverteidigung Milosević als offene Degradierung der Prozesse zur politischen Plattform des Beschuldigten: „Seine Verteidigung war rein politischer Natur und richtet sich an seine nationalistischen Gefolgsleute in Serbien. Er ließ keinen Tag ohne politische Hetzreden verstreichen. Das hätte nicht so kommen müssen.“742 738 Siehe ICTY Krajišnik, Fundamentally Dissenting Opinion of Judge Schomburg on the Right to Self-Representation, im Anhang zur Decision on Momčilo Krajišnik’s Request to Self-Represent, on Counsel’s Motions in Relation to Appointment of Amicus Curiae, and on the Prosecution Motion of 16 February 2007, IT-00-39-A, 11. Mai 2007, Rn. 2 f. 739 Separate Opinion of Richter Douglas, Illinois v. Allen, 397 U.S. 337, 351, 31. März 1970. 740 Zu nennen seien Barayagwiza und Ntahobali vor dem ICTR, Norman und Gbao vor dem SCSL sowie Milosević, Šešelj, Krajišnik, Tolimir und nunmehr Karadžić vor dem ICTY. Vgl. Sluiter, JICL 6 / 4 (2008), S. 617 (618). 741 Vgl. Sluiter, JICJ 5 / 2 (2007), S. 529 (529); Scharf, JICJ 4 / 1 (2006), S. 31 (32 f.).

VII. Das Recht auf Verteidigung

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Auszüge aus den Verfahrensprotokollen des ICTY belegen die Häufigkeit sachfremder Stellungnahmen im Kontext persönlicher Prozessführung. Milosević musste in seinen Reden wiederholt unterbrochen und an die Pflichten der Verteidigung erinnert werden. „[T]his is not the place, as you know quite well, for political speeches.“743 „You know that political speeches are not allowed here.“744

Auch in den Verhandlungen gegen Šešelj, der sich nach Androhung eines Hungerstreiks selbst verteidigen durfte, hatten die Richter mehrfach lenkend in Befragungen durch den Beschuldigten einzugreifen: „We are all aware that you held very high political positions. We know that you’re a prominent political leader in your country. Please do not overstep the mark, and proceed with your cross-examination.“745

Eine politische Instrumentalisierung des Strafprozesses stellt die Integrität und Glaubwürdigkeit internationaler Gerichtsbarkeit in Frage. Im Interesse einer effektiven Durchsetzung des rechtsstaatlichen Strafanspruchs dürfen die Prozesse nicht zur politischen Bühne des Angeklagten gemacht werden. (3) Die Verzögerung des Verfahrens Ein zentrales Problem der Selbstverteidigung vor internationalen Strafgerichten liegt in der Gefahr einer Verzögerung des Prozessverlaufs. Bereits im Fall Šešelj hatte die Kammer das Verfahren gegen den Angeklagten aufgrund seines unangemessenen Prozessverhaltens aussetzen müssen, um einen Standby Counsel zu ernennen.746 Das Verfahren gegen Radovan Karadžić hat nunmehr erneut die Frage nach einer Vereinbarkeit des Selbstverteidigungsrechts mit dem Gebot der Prozessbeschleunigung aufgeworfen. Karadžić hatte die Verhandlungen zunächst boykottiert, entschloss sich jedoch später zur Aufnahme einer eigenständigen Verteidigung vor Gericht.747 Gleichwohl erschien der Angeklagte nicht zur Verfahrenseröffnung am 26. Oktober 2009.748 Trotz mehrfacher Warnungen durch die Kammer blieb Karadžić den Folgeterminen fern und begründete seine Abwesenheit mit einer undel Ponte, Im Namen der Anklage, 2009, S. 190. Richter May, ICTY Milošević, IT-02-54, Transcript T. 7699, 8. Juli 2002, Z. 2. 744 Richter May, ICTY Milošević, IT-02-54, Transcript T. 8459, 23. Juli 2003, Z. 13. 745 Richter Antonetti, ICTY Šešelj, IT-03-67-T, Transcript T. 12171, 2. November 2008, Z. 23 – 25. 746 Šešelj hatte die Richter wiederholt persönlich beleidigt, ICTY Šešelj, Order Concerning Appointment of Standby Counsel and Delayed Commencement of Trial, IT-03-67-PT), 25. Oktober 2006. 747 Sluiter, JICL 6 / 4 (2008), S. 617 (618). 748 ICTY Karadžić, Decision on Radovan Karadžić’s Appeal of the Decision on Commencement of Trial, IТ-95-5 / 18-AR73.5, 13. Oktober 2009, Rn. 27. 742 743

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

zureichenden Vorbereitungszeit.749 Nachdem das Gericht den Angeklagten wiederholt auf mögliche Konsequenzen seines Verhaltens hingewiesen hatte, beschloss die Kammer am 5. November 2009 die Beiordnung eines Standby Counsel.750 Um eine qualifizierte Einarbeitung des Anwalts zu ermöglichen, musste das Gericht die Verhandlungen um gut vier Monate auf den 1. März 2010 vertagen.751 Eine weitere Verzögerung der Beweisverhandlungen, wie vom Angeklagten am 22. Februar 2010 beantragt, lehnten die Kammern ab.752 Wenngleich die Richter das Verhalten des Angeklagten als bewusste Verfahrensstörung werteten, gestatten sie ihm weiterhin eine Selbstverteidigung vor Gericht. „Turning then to the assignment of counsel to the Accused in the interests of justice, the Chamber finds that the Accused has indeed substantially and persistently obstructed the proper and expeditious conduct of his trial by refusing to attend the proceedings until such time as he considers himself to be ready, despite this Chamber’s decision, upheld by the Appeals Chamber, that he has had sufficient time to prepare, and the warnings that were given to him by the Chamber. (…) In the present circumstances, considering the fundamental nature of the right to self representation, which cannot be diminished lightly, and in accordance with the principle of proportionality, the Trial Chamber finds it necessary to instruct the Registrar to appoint counsel, who will begin immediately to prepare him or herself to represent the interests of the Accused when the trial resumes, if that should be required. Notwithstanding the appointment of counsel for this specific purpose, the Accused will continue to represent himself.“753

Die Weigerung des Angeklagten zur Präsentation einer Verteidigung bei Eröffnung der Hauptverhandlung zwang das Gericht zu einer mehrmonatigen Aufschiebung der Prozesse.754 Die Vertagung der Verfahren im Fall Karadžić zeigt die nachteiligen Folgen der Selbstverteidigung für die Gewährleistung eines zeiteffektiven Verfahrens. Das Recht auf Selbstverteidigung und die Freiheiten eines adversatorischen Parteiprozesses eröffnen dem Beschuldigten einen bedeutenden Spielraum zur Gestaltung seiner Verteidigungsstrategie in den Verhandlungen.755 Während das Gericht im inquisitorischen Verfahren zur aktiven Prozessorganisation befugt ist, 749 ICTY Karadžić, Decision on Radovan Karadžić’s Appeal of the Decision on Commencement of Trial, IТ-95-5 / 18-AR73.5, 13. Oktober 2009, Rn. 27. 750 ICTY Karadžić, Decision on Appointment of Counsel and Order on Further Trial Proceedings, IT-95-5 / 18-T, 5. November 2009. 751 ICTY. Karadžić, Decision on Appointment of Counsel and Order on Further Trial Proceedings, IT-95-5 / 18-T, 5. November 2009, Rn. 24: „No counsel, not even the most experienced and efficient, could reasonably be expected to be in a position to assist the Accused and, by extension, the trial process, without sufficient, albeit defined, preparation time.“ 752 ICTY Karadžić, Decision on Appeal from Decision on Motion for Further Postponment of Trial, IT-95-5 / 18-AR73.7, 31. März 2010. 753 ICTY Karadžić, Decision on Appointment of Counsel and Order on Further Trial Proceedings, IT-95-5 / 18-T, 5. November 2009, Rn. 21, 25. 754 ICTY Karadžić, Decision on Appointment of Counsel and Order on Further Trial Proceedings, IT-95-5 / 18-T, 5. November 2009. 755 Damaška, JICJ 3 (2005), S. 3 (5).

VII. Das Recht auf Verteidigung

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dürfen internationale Straftribunale die Ausführungen der Parteien lediglich im Ausnahmefall unterbrechen.756 Intendiert der Angeklagte eine Verschleppung der Verhandlungen, ermöglicht ihm sein Rede- und Antragsrecht beständige Störungen des Verfahrens. Durch die ausführliche Erörterung historischer und politischer Hintergründe ohne rechtsrelevanten Bezug kann der Angeklagte Befragungen wie Plädoyers erheblich in die Länge ziehen.757 Da die Richter zur Überprüfung sämtlicher Anträge der Verteidigung verpflichtet sind, verringert die Überhäufung des Gerichts mit überflüssigem und widersprüchlichem Schriftverkehr die Kapazitäten des Tribunals.758 Beispielhaft kann auf das Verfahren gegen Vojislav Šešelj hingewiesen werden, der das Gericht bereits vor Eröffnung des Hauptverfahrens mit über 190 überwiegend als „missbräuchlich und beleidigend“759 eingestuften Schriftsätzen überlastete. Unabhängig von einer Störungsabsicht des Angeklagten bewirken die rechtlichen wie praktischen Umstände des internationalen Strafprozesses regelmäßig Verfahrensverzögerungen. Die rechtliche Komplexität des Völkerstrafrechts ist wesentliche Ursache für eine erhebliche Dauer selbst geführter Verfahren.760 Da dem Angeklagten zumeist die notwendigen Erfahrungen im Umgang mit den prozessualen Anforderungen eines Völkerstrafverfahrens fehlen, muss das Gericht wiederholt Hinweise auf die geltende Rechtslage geben.761 Ohne anwaltliche Unterstützung benötigt der Beschuldigte ungleich mehr Zeit zur Sichtung des umfangreichen Beweismaterials und einer sinnvollen Vorbereitung der eigenen Verteidigung.762 Oftmals treten gesundheitliche Probleme des Angeklagten hinzu, dem eine aktive Prozessteilnahme häufig nur in begrenztem zeitlichem Rahmen zugemutet werden kann.763 (4) Fazit „In meinen Augen schufen die Richter am Ende aus Sorge, nur ja einen fairen Prozess zu führen, eine Situation, die niemandem gegenüber fair war.“764

Mit ihrer Einschätzung der Konsequenzen eines unbeschränkten Selbstverteidigungsrechts bringt die ehemalige Chefanklägerin des ICTY, Carla del Ponte, 756 Anders verhält es sich an den ECCC, das entscheidend vom inquisitorischen Modell des französischen Rechtssystem geprägt wurde, siehe oben, Kapitel C. II. 2. b) cc) (1). 757 Bonomy, JICJ 5 / 2 (2007), S. 348 (355 f.). 758 Ambos, Internationales Strafrecht, 2008, § 10 Rn. 28. 759 ICTY Šešelj, Decision on Assignment of Counsel, IT-03-67-PT, 21. August 2006, Rn. 75. 760 Boas, The Milošević Trial, 2007, S. 187. 761 Ambach, ZIS 6 (2009), S. 286 (293). 762 Bonomy, JICJ 5 / 2 (2007), S. 348 (355 f.). 763 Im Verfahren gegen Milošević mussten die Verhandlungen aufgrund der schwachen Gesundheit des Angeklagten auf drei Verhandlungstage in der Woche reduziert werden; ICTY Milošević, Decision on the Interlocutory Appeal of the Trial Chamber´s Decision on the Assignment of Defence Counsel, IT-02-54-AR73.7, 1. November 2004, Rn. 4. 764 del Ponte, Im Namen der Anklage, 2009, S. 191.

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

grundsätzliche Bedenken zum Ausdruck. Eine Prozessführung durch den Angeklagten stellt das völkerstrafrechtliche Verfahren vor erhebliche rechtsstaatliche Probleme. Die komplexe Beweisaufnahme sowie die meist adversatorische Struktur der Verfahren erschweren eine gerechte und effektive Organisation der persönlichen Prozessführung. Entgegen der Auffassung des US Supreme Courts765 berühren die Folgen einer unzureichenden Selbstverteidigung nicht ausschließlich private Belange als soziales Gegengewicht,766 sondern das legitime öffentliche Interesse an einem fairen Strafverfahren. In der Praxis der internationalen Straftribunale wird das Recht auf Selbstverteidigung bislang weitgehend gewährleistet. Die Schwierigkeiten für ein effektives und waffengleiches Verfahren sowie die Gefahr einer Politisierung der Prozesse erfordern jedoch eine grundlegende Änderung des bisherigen Modells. Einschränkungen des Rechts auf Selbstverteidigung durch die Beiordnung anwaltlicher Vertreter sind im Grundsatz zulässig. In welcher Form einer Unterstützung des Angeklagten im Einzelnen geschehen kann, soll in der nachfolgenden Diskussion verschiedener Beratungs- und Vertretungsmöglichkeiten untersucht werden. bb) Lösungsansätze zur Gewährleistung eines rechtsstaatlichen Verfahrens In der Vergangenheit entwickelten internationale Strafgerichte verschiedene Modelle zum Ausgleich des Selbstverteidigungsrechts mit dem Erfordernis anwaltlicher Vertretung. Die Einsetzung von Verteidigern in Bereitschaft (Standby Counsel) sowie die Ernennung von amici curiae sollten das Recht des Angeklagten zur Prozessführung im Interesse eines gerechten Verfahrens beschränken. In Anbetracht der Bedeutung prozessualer Fairness muss überprüft werden, ob die bisherigen Lösungen den Anforderungen an ein rechtsstaatliches Verfahren gerecht werden können. (1) Die Einsetzung eines Standby Counsel Die Einsetzung eines Standby Counsel wie in den Fällen Šešelj und Karadžić beruht auf einer klaren Ausnahmeregelung für die Anordnung von Pflichtverteidigung. Ausgehend von der grundsätzlichen Gewährleistung des Selbstverteidigungsrechts wird die Möglichkeit einer Vertretung lediglich für den Einzelfall anerkannt. Die Beiordnung eines Standby Counsel berührt das Recht zur persönlichen Prozessführung zunächst nicht. Während der Beschuldigte sein Rede- und Fragerecht eigenständig ausübt, begleitet der Standby Counsel die Verhandlungen im Gerichtssaal und wird über alle prozessrelevanten Schritte informiert. Muss dem AngeklagUnited States Supreme Court, Faretta v. California, 422 U.S. 806 (1975). Lüderssen / Jahn in: Löwe / Lüderssen / Riess (Hrsg.), Die Strafprozessordnung, Bd. 4, 2008, Vor § 137, Rn. 100. 765 766

VII. Das Recht auf Verteidigung

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ten im Laufe des Verfahrens eine Selbstverteidigung aus Gründen fairer und zügiger Prozessführung verwehrt werden, kann der Standby Counsel die Verteidigung zeitnah übernehmen.767 Im Fall Šešelj definierte der ICTY Bedeutung und Aufgaben des Standby Counsel im Verfahren ausführlich. Nach der Rechtsprechung des Tribunals lassen sich die Obliegenheiten eines Verteidigers in Bereitschaft wie folgt zusammenfassen: „The Registrar is to appoint standby counsel (…) to perform the following functions in this case: (a) to assist the Accused in the preparation and representation of his case (…) whenever so requested by the Accused: (…) (c) to address the court whenever so requested by the Accused or the Trial Chamber; (d) to receive copies of all court documents, filings and disclosed material that are received by or sent to the Accused; (e) to be present in the courtroom during proceedings; (f) to be prepared to take over the conduct of the defence from the Accused and effectively bring the defence case to conclusion; (…) (h) to temporarily take over the conduct of the defence from the Accused should the Trial Chamber find, following a warning, that the Accused is engaged in disruptive conduct or conduct requiring his removal from the courtroom (…); (i) to permanently take over the conduct of the defence from the Accused should the Trial Chamber find that the Accused’s conduct is substantially obstructing the proper and expeditious proceedings, having allowed the Accused the right to be heard with respect to this question.“768

Die Grundaussagen der Entscheidung werden in den Verfahren internationaler Straftribunale als Richtlinien für den Umgang mit der Selbstverteidigung des Angeklagten herangezogen. Im Fall Norman akzeptierte der SCSL grundsätzlich die Prozessführung durch den Beschuldigten, ordnete jedoch die Präsenz von vier Standby Counsel an.769 Nachdem Norman wiederholt Verhandlungstermine versäumt hatte, hob das Gericht sein Selbstverteidigungsrecht auf und ernannte seine Standby Counsel zu Pflichtverteidigern.770 Die Besonderheit des Standby Counsel besteht in der weitreichenden Gewährleistung des Selbstverteidigungsrechts bei gleichzeitiger Absicherung eines zügigen Prozessverlaufs.771 Welche Rolle der Standby Counsel im konkreten Verfahren einnimmt, hängt entscheidend vom Prozessverhalten des Beschuldigten und seiner Be767 ICTY Šešelj, Decision on Prosecution’s Motion for Order Appointment Counsel to Assist Vojislav Seslj with his Defense, IT-03-67-PT, 9. Mai 2003, Rn. 29 ff. 768 ICTY Šešelj, Order Concerning Appointment of Standby Counsel and Delayed Commencement of Trial, 25. Oktober 2006, Rn. 5. 769 SCSL, Sam Hinga Norman et al., Consequential Order on Assignment and Role of Standby Counsel, SCSL-04-14-T, 14. Juni 2004. 770 SCSL, Sam Hinga Norman et al., Consequential Order on Assignment and Role of Standby Counsel, SCSL-04-14-T, 14. Juni 2004. 771 Ambach, ZIS 2009, S. 286 (301).

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

reitschaft zur Zusammenarbeit mit dem Gericht ab.772 Wie die Norman-Entscheidung belegt, ermöglicht das Modell der Standby Counsel eine zügige Reaktion auf Schwächen in der Selbstverteidigung des Angeklagten. Durch die Bereitschaft anwaltlicher Vertretung soll nicht allein die Bedingung des fairen Verfahrens repressiv durchgesetzt, sondern bereits präventiv auf das Verhalten des Beschuldigten vor Gericht eingewirkt werden.773 Zugleich ist eine Beschränkung der Selbstverteidigung nur dann zulässig, wenn in der Praxis bedeutende Nachteile für die Durchführung eines rechtsstaatlichen Verfahrens offenkundig werden.774 Eine entscheidende Stärke des Modells liegt in der Wahrung eines beschleunigten Verfahrens durch die prozessbegleitende Vorbereitung des Standby Counsel. Aufgrund seiner Präsenz in den Verhandlungen benötigt der Anwalt keine weitere Einarbeitungszeit für die Übernahme der Verteidigung. Der Vorteil zügiger Vertretung entfällt jedoch, wenn die Einsetzung eines Standby Counsel erst nach mehrfachen Prozessverzögerungen erfolgt. Der Fall Karadžić zeigt, dass die spätere Beiordnung von Bereitschaftsverteidigern eine Unterbrechung der Verfahren zur umfassenden Information des Verteidigers notwendig macht.775 Um das System der Bereitschaftsverteidigung nachhaltig zu verbessern, darf ihre Anordnung nicht ausschließlich anlassbezogen erfolgen. Zur Vermeidung von Zeitverlusten erscheint es sinnvoll, Standby Counsel bereits zu Beginn des Verfahrens zu ernennen. Da der Angeklagte weiterhin zur Prozessführung berechtigt bliebe, würde eine generelle Verfahrensbegleitung durch Bereitschaftsanwälte keinen Eingriff in das Selbstverteidigungsrecht darstellen. Das Modell des Standby Counsel trägt dem Aspekt der Prozessbeschleunigung Rechnung, klammert jedoch die Frage der Waffengleichheit weitgehend aus. Folgt man Schomburg in seine Annahme eines strukturellen Ungleichgewichts zwischen Ankläger und Beschuldigtem776, kann das Ziel fachkompetenter Verteidigung durch eine Bereitschaftsvertretung nicht hinreichend garantiert werden. Da der Standby Counsel nur im Ausnahmefall direkten Einfluss auf die Prozesse nimmt, bleibt eine Rechtsberatung für den Angeklagten fakultativ. Die Einsetzung von Bereitschafts772 Es sei jedoch erneut darauf hingewiesen, dass die Pflichtvertretung keine Sanktion, sondern eine Reaktion auf das Verhalten des Angeklagten darstellen soll. 773 Ambach, ZIS 6 (2009), S. 286 (301). 774 Sluiter, JICL 6 / 4 (2008), S. 617 (619). Unabhängig von einer vollständigen Übernahme der Verteidigung kann der Standby Counsel in besonders sensiblen Fällen anstelle des Angeklagten das Verfahren durchführen, ICTY Šešelj, Decision on Prosecution’s Motion for Order Appointment Counsel to Assist Vojislav Seslj with his Defense, IT-03-67-PT, 9. Mai 2003, Rn. 30. 775 ICTY Karadžić, Decision on Appointment of Counsel and Order on Further Trial Proceedings, IT-95-5 / 18-T, 5. November 2009, Rn. 21, 25. 776 Siehe ICTY Krajišnik, Fundamentally Dissenting Opinion of Judge Schomburg on the Right to Self-Representation, im Anhang zur Decision on Momčilo Krajišnik’s Request to Self-Represent, on Counsel´s Motions in Relation to Appointment of Amicus Curiae, and on the Prosecution Motion of 16 February 2007, IT-00-39-A, 11. Mai 2007, Rn. 2 f.

VII. Das Recht auf Verteidigung

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verteidigern bietet daher keine Gewähr für die Durchführung eines fairen Verfahrens im Sinne einer objektiven Chancengleichheit der Parteien. Auch in praktischer Hinsicht begegnet die Beiordnung eines Standby Counsel erheblichen Problemen.777 Bislang nicht abschließend geklärt ist die Frage, unter welchen Voraussetzungen das Gericht die Übernahme der Verteidigung durch den Anwalt beschließen kann. Die Grenzziehung zwischen einfachen Verfahrensfehlern und bewussten Verschleppungstaktiken des Angeklagten ist im Einzelfall schwer bestimmbar. In diesem Zusammenhang wirft Boas die Frage auf, ob bereits ein mangelhaft geführtes Kreuzverhör Anlass für eine Ermächtigung des Standby Counsel zur erneuten Zeugenvernehmung sein darf.778 „Is a court meant to interject every time an accused strays or misuses an opportunity to lead or cross-examine a witness and insist that standby counsel take over that process? How is counsel to prepare for that task?“779

Soll eine Pflichtverteidigung in den skizzierten Fällen angeordnet werden, muss das Gericht regelmäßig wertend in das Verfahren eingreifen. Der lenkende Einfluss der Richter auf die Verteidigung des Angeklagten würde ihre Kompetenz zur neutralen Prozessführung übersteigen. Zudem bergen regelmäßige Interventionen des Gerichts und nachfolgende Rechtsmittelverfahren die Gefahr, das angestrebte Ziel eines zügigen Verfahrens im Ergebnis nicht zu erreichen. Wenngleich die Beiordnung eines Standby Counsel ein sinnvolles Mittel zur Vermeidung längerer Einarbeitungszeiten des Pflichtverteidigers sein mag, kann sie wesentliche Schwächen der Selbstverteidigung nicht ausgleichen. Nach dem Bereitschaftsmodell nimmt der Anwalt erst Einfluss auf das Verfahren, wenn die Selbstverteidigung durch den Beschuldigten gescheitert ist. Im Interesse objektiver Prozessgerechtigkeit darf eine Mitwirkung des Verteidigers nicht nur alternativ möglich sein, sondern muss ergänzend zur Prozessführung des Angeklagten gewährleistet werden.780 (2) Die Einsetzung eines amicus curiae Mit der Einsetzung von amici curiae (lat.: Freund des Gerichts) auf der Seite des Angeklagten intendierte der ICTY in den Fällen Milosević und Krajišnik781 eine Boas, The Milošević Trial, 2007, S. 230. Boas, The Milošević Trial, 2007, S. 230. 779 Boas, The Milošević Trial, 2007, S. 230. 780 So im Ergebnis auch Boas, The Milošević Trial, 2007, S. 230: „It is my assertion that it is more consistent with the objective if a fair trial to give counsel control over the presentation of thedefense case so that they may focus on representing the accused’s best forensic interests.“ 781 ICTY Milošević, Order Inviting Designation of Amicus Curiae, IT-02-54-T, 30. August 2001; ICTY Krajišnik, Decision on Momčilo Krajišnik’s Request to Self-Represent, on Counsel’s Motions in Relation to Appointment of Amicus Curiae, and on the Prosecution Motion of 16 February 2007, IT-00-39-A, 11. Mai 2007, Rn. 19, 25. 777 778

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

Verbesserung des prozessualen Gleichgewichts zwischen den Parteien. Aufgabe des amicus curiae ist nach der Vorstellung der Kammer eine unabhängige Unterstützung der Verteidigung durch die Übernahme anwaltlicher Funktionen im Verfahren.782 Durch seine Teilnahme an der Beweisaufnahme und die Möglichkeit eigener Zeugenbefragung soll er den Blick des Gerichts auf entlastende Umstände lenken.783 Der amicus curiae arbeitet selbständig und ist mangels Mandatsverpflichtung nicht an Vorgaben des Angeklagten gebunden. Die Einsetzung eines amicus curiae beeinträchtigt das Selbstverteidigungsrecht des Beschuldigten nur marginal, da dieser weiterhin zur Prozessführung befugt bleibt. Mit der parallelen Zuständigkeit von Angeklagtem und Rechtsberater werden die Entscheidungen des Beschuldigten respektiert und zugleich eine notwendige Unterstützung seiner Rechtsposition geleistet. Trotz seiner klaren Vorteile gegenüber der Pflichtverteidigung im Einzelfall begegnet das Modell des amicus curiae konzeptioneller Kritik. In den Rechtsgrundlagen internationaler Strafgerichte wird das Institut des amicus curiae als neutrale Instanz zur Unterstützung des Gerichts ausgestaltet.784 „Regel 74 ICTY-RPE: A Chamber may, if it considers it desirable for the proper determination of the case, invite or grant leave to a State, organization or person to appear before it and make submissions on any issue specified by the Chamber. Regel 103 Abs. 1 ICC-RPE: At any stage of the proceedings, a Chamber may, if it considers it desirable for the proper determination of the case, invite or grant leave to a State, organization or person to submit, in writing or orally, any observation on any issue that the Chamber deems appropriate. Regel 33 Abs. 1 ECCC-RPE: At any stage of the proceedings, the Co-Investigating Judges or the Chambers may, if they consider it desirable for the proper adjudication of the case, invite or grant leave to an organization or person to submit an amicus curiae brief in writing concerning any issue.“

Die Beteiligung von amici curiae dient ihrem Grundsatz nach der Klärung umstrittener Rechtsfragen im Einzelfall. Durch die Einbeziehung von Organisationen und Experten als amici curiae kann sich das Gericht fachkompetent über verschiedene rechtliche Aspekte eines Problembereichs informieren.785 Die Rolle eines amicus curiae zur Unterstützung der Selbstverteidigung eines Angeklagten weicht erheblich von der ursprünglichen Idee einer objektiven Rechts782 ICTY Krajišnik, Decision on Momčilo Krajišnik’s Request to Self-Represent, on Counsel’s Motions in Relation to Appointment of Amicus Curiae, and on the Prosecution Motion of 16 February 2007, IT-00-39-A, 11. Mai 2007, Rn. 16. 783 Knoops, Theory and Practice, 2005, S. 67. 784 Ambach, ZIS 6 (2009), S. 286 (298). 785 ICTY Krajišnik, Fundamentally Dissenting Opinion of Judge Schomburg on the Right to Self-Representation, Decision on Momčilo Krajišnik’s Request to Self-Represent, on Counsel’s Motions in Relation to Appointment of Amicus Curiae, and on the Prosecution Motion of 16 February 2007, IT-00-39-A, 11. Mai 2007, Rn. 80.

VII. Das Recht auf Verteidigung

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beratung ab. Die Aufgabe des amicus curiae beschränkt sich im Kontext der Selbstverteidigung auf die Mitwirkung an der Verteidigung und ist daher auf die Belange einer Partei zugeschnitten.786 Zugleich thematisiert der amicus curiae nicht einzelne Rechtsfragen, sondern begleitet den Prozess fortlaufend. Knoops ist zuzustimmen, wenn er die Rolle des amicus curiae im Fall Milosević als „a cross between a typical ‚friend of the court‘ and a standby counsel“787 beschreibt. Der ICTY betont verschiedentlich, dass der amicus curiae als externer Berater nicht selbst Verfahrenspartei sei.788 In dieser Aussage des Gerichts manifestiert sich der Widerspruch des Modells. Seiner normativen Konstruktion entsprechend muss der amicus curiae neutraler Rechtsberater sein, zugleich jedoch zur Wahrung von Waffengleichheit die Interessen der Verteidigung vertreten.789 Ist der amicus curiae nicht Prozesspartei, kann das Gericht Richtung und Schranken seiner Mitwirkung bestimmen.790 Werden ihm hingegen prozessuale Parteirechte zuerkannt, überschreitet die Kammer die normativen Grenzen des Instituts. Die Inkonsequenz des Modells zeigt sich ebenfalls im praktischen Umgang des Gerichts mit den Befugnissen des amicus curiae. Wenngleich ihm formal keine Parteistellung gewährt wird, entsprechen seine Kompetenzen in weiten Teilen denen eines Verteidigers. Im Fall Milosević nahm der ICTY einen Berufungsantrag der amici curiae entgegen, obgleich die Einlegung von Rechtsmitteln nach der Prozessordnung des Gerichts ausschließlich den Parteien vorbehalten ist.791 In seiner Krajišnik-Entscheidung zog das Gericht eine ausdrückliche Parallele zu den Rechten der Parteien und gestand dem amicus curiae eine vergleichbare Rechtsposition zu: 786 Damit steht das Modell im Widerspruch zum Normzweck. ICTY Krajišnik, Fundamentally Dissenting Opinion of Judge Schomburg on the Right to Self-Representation, Decision on Momčilo Krajišnik’s Request to Self-Represent, on Counsel’s Motions in Relation to Appointment of Amicus Curiae, and on the Prosecution Motion of 16 February 2007, IT-0039-A, 11. Mai 2007, Rn. 80: „It is obvious that the rule was not meant to introduce a third party to the courtroom.“ 787 Knoops, Theory and Practice, 2005, S. 67. 788 ICTY Milosević, Decision on the Interlocutory Appeal by the Amici Curiae Against the Trial Chamber Order Concerning the Presentation and Preparation of the Defence Case, IT-0254-AR73.6, 20. Januar 2004, Rn. 4: „The Appeals Chamber emphasizes that amicus curiae is not a party to the proceedings.“ ICTY Krajišnik, Decision on Momčilo Krajišnik’s Request to Self-Represent, on Counsel’s Motions in Relation to Appointment of Amicus Curiae, and on the Prosecution Motion of 16 February 2007, IT-00-39-A, 11. Mai 2007, Rn. 20. 789 ICTY Krajišnik, Decision on Momčilo Krajišnik’s Request to Self-Represent, on Counsel’s Motions in Relation to Appointment of Amicus Curiae, and on the Prosecution Motion of 16 February 2007, IT-00-39-A, 11. Mai 2007, Rn. 17: „The Appeals Chamber can ask the amicus curiae to argue in favour of the interests of a particular party where this approach will serve the interests of justice.“ 790 Ambach, ZIS 6 (2009), S. 286 (299). 791 ICTY Milošević, Decision on the Interlocutory Appeal of Amici Curiae Against the Trial Chamber Order Concerning the Presentation and Preparation of the Defence Case, IT-0254-AR73.6, 20. Januar 2004, Rn. 4.

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

„[A]micus curiae is to make submissions to the Appeals Chamber similar to those which a party would make (including a notice of appeal, appeal brief, response brief, and reply brief).“

Richter Schomburg kritisiert in seiner abweichenden Meinung zum Fall Krajišnik die Beiordnung eines amicus curiae als „künstliche Konstruktion“792; die ehemalige Chefanklägerin Carla del Ponte spricht von einer „Pervertierung“793 des Rechtsmodells. Nach Auffassung Schomburgs ist die Arbeit des amicus curiae auf Seiten der Verteidigung als Verstoß gegen eindeutige Normvorgaben und eine unzulässige Überdehnung des Institutszwecks zu werten: „It is obvious that the rule was not meant to introduce a third party to the courtroom. However, this is exactly what the decision does: the amicus curiae is supposed to ‚make submission the Appeals Chamber similar to those which a party would make‘.“794

In der Tat findet sich in den Verfahrensordnungen internationaler Straftribunale keine rechtliche Basis für die notwendigen prozessualen Kompetenzen des amicus curiae.795 Bislang fehlen eine umfassende Definition seiner Aufgaben im Verfahren sowie eine klare Abgrenzung zu den Befugnissen eines anwaltlichen Vertreters. Die grundsätzliche Idee eines amicus curiae ist in vielfacher Hinsicht begrüßenswert. Mit der Verbindung des Selbstverteidigungsanspruchs und der Möglichkeit qualifizierter Beratung wird der Versuch unternommen, konträren Verfahrenszielen Rechnung zu tragen. Soll jedoch Waffengleichheit zwischen Anklage und Verteidigung gewährleistet werden, dürfen die Kompetenzen des amicus curiae nicht im Ermessen des Gerichts liegen. Um eine effektive Verteidigung zu garantieren, muss der Rechtsbeistand von der Kammer unabhängig als Verfahrenspartei und Interessenvertreter des Beschuldigten auftreten. Das auf die Klärung objektiver Rechtsfragen ausgerichtete Modell des amicus curiae eignet sich hierfür bereits konzeptionell nicht. (3) Die generelle Pflichtverteidigung unter Beteiligung des Angeklagten Die bisherigen Versuche zur Ausgestaltung des Selbstverteidigungsrechts konnten den Anforderungen eines fairen und zügigen Verfahrens nicht ausreichend entsprechen. Während das Modell des amicus curiae eine normativ wie systematisch 792 ICTY Krajišnik, Fundamentally Dissenting Opinion of Judge Schomburg on the Right to Self-Representation, Decision on Momčilo Krajišnik’s Request to Self-Represent, on Counsel’s Motions in Relation to Appointment of Amicus Curiae, and on the Prosecution Motion of 16 February 2007, IT-00-39-A, 11. Mai 2007, Rn. 80: „Artificial construct“. 793 del Ponte, Im Namen der Anklage, 2009, S. 191. 794 ICTY Krajišnik, Fundamentally Dissenting Opinion of Judge Schomburg on the Right to Self-Representation, Decision on Momčilo Krajišnik’s Request to Self-Represent, on Counsel’s Motions in Relation to Appointment of Amicus Curiae, and on the Prosecution Motion of 16 February 2007, IT-00-39-A, 11. Mai 2007, Rn. 80. 795 Meisenberg, The Right to Legal Assistance, in: Decaux (Hrsg.), From Human Rights to International Criminal Law, 2007, S. 125 (153).

VII. Das Recht auf Verteidigung

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inkonsequente Lösung darstellt, kann die Einsetzung eines Standby Counsel die erforderliche Waffengleichheit der Parteien nicht gewährleisten. Im Interesse einer rechtsstaatlichen Prozessführung muss das Recht auf Selbstverteidigung im internationalen Strafverfahren grundsätzlich in Frage gestellt werden. Die Idee einer generellen Pflichtverteidigung im Völkerstrafprozess soll nachfolgend an rechtlichen wie rechtspolitischen Maßstäben gemessen werden. Wird eine obligatorische Vertretung des Angeklagten bejaht, müssen seine Möglichkeiten zur weiteren Mitwirkung am Verfahren diskutiert werden. (a) Die Beiordnung eines Pflichtverteidigers nach dem Vorbild des civil law Das kontinentaleuropäische Strafprozessrecht erlaubt weitgehende Einschränkungen des Selbstverteidigungsanspruchs des Beschuldigten.796 Grundsätzlich wird der Konflikt zwischen individueller Selbstbestimmung und den Erfordernissen prozessualer Fairness zu Gunsten der Verfahrensgerechtigkeit gelöst. Entscheidende Kriterien für die Anordnung einer Pflichtverteidigung sind die Schwere der Straftat sowie die Komplexität der Sach- oder Rechtslage.797 Die anwaltliche Vertretung dient dem Schutze des Angeklagten, der den Fall aufgrund von Tragweite und Umfang nicht selbständig bewältigen kann. Eine Anwendung der Maßstäbe des civil law auf das Völkerstrafrecht belegt die Notwendigkeit einer allgemeinen Pflichtvertretung im internationalen Prozess. Die Verfahren völkerstrafrechtlicher Tribunale weisen per se einen besonderen Grad an rechtlichen wie praktischen Schwierigkeiten auf. Es lässt sich im internationalen Strafverfahren kaum ein Sachverhalt denken, dessen Beweisaufnahme und prozessrechtliche Voraussetzungen nicht in besonderer Weise komplexe Anforderungen an die Verteidigung stellen. Erneut sei auf die grundlegende Aussage Richter Schomburgs hingewiesen, der eine sinnvolle Selbstverteidigung im internationalen Strafrecht für ausgeschlossen erachtet: „[I]n serious cases like those before international criminal tribunals, it is impossible for an accused to defend himself.“798

Eine weitere Entsprechung findet das Modell des civil law in der Annahme des zu erwartenden Strafmaßes als Auslöser einer Pflichtvertretung des Angeklagten. Angesichts der Schwere völkerrechtlicher Verbrechen ist die hohe Strafandrohung grundsätzlich geeignet, ein Schutzbedürfnis des Beschuldigten zu begründen. Die Folgen einer unzureichenden Verteidigung wirken sich im Rahmen der langjährigen ICTY Šešelj, Decision on Assignment of Counsel, IT-03-67-PT, 21. August 2006, Rn. 21. Vgl. erneut § 140 StPO. 798 ICTY Krajišnik, Fundamentally Dissenting Opinion of Judge Schomburg on the Right to Self-Representation, Decision on Momčilo Krajišnik’s Request to Self-Represent, on Counsel’s Motions in Relation to Appointment of Amicus Curiae, and on the Prosecution Motion of 16 February 2007, IT-00-39-A, 11. Mai 2007, Rn. 3. 796 797

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

Haftstrafen des internationalen Rechts in erheblicher Weise auf den Angeklagten aus. Es lässt sich daher feststellen, dass der Beschuldigte im Völkerstrafprozess grundsätzlich in der sensiblen Rechtsposition ist, die das civil law zur Anordnung einer Pflichtverteidigung voraussetzt. (b) Für und Wider einer Pflichtverteidigung im Völkerstrafprozess Grundgedanke des kontinentaleuropäischen Ansatzes ist die Überzeugung von der Notwendigkeit angemessener Verteidigung auch gegen den Willen des Angeklagten. Sind die Belange der Waffengleichheit und Prozessbeschleunigung objektive Bedingungen eines rechtsstaatlichen Verfahrens, dürfen sie nicht zur Disposition des Angeklagten stehen. Kann das Recht auf Selbstverteidigung im internationalen Strafverfahren grundsätzlich nicht sinnvoll ausgeübt werden, muss sein Wert für den Prozess hinterfragt werden.799 Ein Blick auf die vergangene Praxis zeigt, dass der Verzicht auf anwaltliche Vertretung wiederholt als Mittel zur politischen Instrumentalisierung und Verschleppung der Verhandlungen genutzt wurde.800 Eine Zweckentfremdung des Rechts erscheint umso wahrscheinlicher, je weniger es seinem wahren Ziel einer eigenverantwortlichen und aufrichtigen Verteidigung realistisch genügen kann. Vor diesem Hintergrund relativiert sich die gängige Kritik an einem „Autonomiedefizit“801 der Pflichtverteidigung. Grundlegende Bedenken an einer Einschränkung des Selbstverteidigungsrechts werden mit Blick auf eine mögliche Konfliktsituation des Verteidigers sowie der Gefahr eines Verfahrensboykotts des Beschuldigten erhoben. Durch die Übernahme einer Vertretung gegen den Willen des Angeklagten setze sich der Anwalt in Widerspruch zu seinen beruflichen Treuepflichten.802 Im Fall Barayagwiza lehnt der ICTY eine entsprechende Argumentation der Verteidiger unter Hinweis auf ihre Verpflichtung zur objektiven Interessenwahrnehmung jedoch ab. Ein Anwalt sei nicht allein an die Anweisungen seines Mandanten gebunden, sondern trage die unabhängige Verantwortung für eine faire und effektive Verteidigung.803 Von einem „Dilemma“804 des Anwalts könne aufgrund seiner Pflicht zur wirksamen Vertretung 799 Heinsch, How to achieve, in: Stahn / Sluiter (Hrsg.), The Emerging Practice of the International Criminal Court, 2009, S. 479 (493). 800 Siehe hierzu bereits oben, Kapitel 1. c) aa). 801 Lüderssen / Jahn, in: Löwe / Lüderssen / Riess (Hrsg.), Die Strafprozessordnung, Bd. 4, 2008, § 140, Rn. 8. 802 Temminck Tuinstra, JICJ 4 / 1 (2006), S. 47 (55, 57f.); ICTR Barayagwiza, Decision on Defence Counsel Motion to Withdraw, ICTR-97-19-T, 2. November 2000, Rn. 19. 803 ICTR Barayagwiza, Decision on Defence Counsel Motion to Withdraw, ICTR-97-19-T, 2. November 2000, Rn. 21: „In the view of the Chamber, this does not only entail obligations towards the client, but also implies that he represents the interest of the Tribunal to ensure that the Accused receives a fair trial. The aim is to obtain efficient representation and adversarial proceedings.“ 804 Ambach, ZIS 6 (2009), S. 286 (299).

VII. Das Recht auf Verteidigung

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der Position des Mandanten nicht gesprochen werden. Die fehlende Kooperation des Angeklagten mit seinem Pflichtverteidiger kann die Vorteile einer gerechten Prozessgestaltung nicht überwiegen. Sluiter stellt in diesem Zusammenhang Rolle und Bedeutung des Verteidigers bei Boykott des Beschuldigten grundsätzlich in Frage: „But denial of this choice by way of imposing defence counsel is just as problematic (…) [T]he cure may be worse than the disease; accused wishing to represent themselves generally do not communicate with assigned counsel, which legitimately raises the question what such counsel could effectively do.“805

Sluiters Kritik an der Effektivität einer Pflichtverteidigung wird bereits durch die vorangestellte Argumentation des ICTY widerlegt. Bestimmen sich die Aufgaben eines Anwaltes nicht nach den Anordnungen seines Mandanten, sondern den Geboten einer fairen Verteidigung, ist eine Kommunikation nicht zwingend. Zudem erscheint es denkbar, dass die Reaktion des Angeklagten bei einer generellen Pflichtverteidigung im Völkerstrafprozess anders ausfällt. Wird dem Beschuldigten zunächst ein Selbstverteidigungsanspruch gewährt, sieht er sich durch die nachträgliche Beiordnung eines Anwalts mit einem Eingriff in seine Rechte konfrontiert. Der Verlust seiner Befugnisse kann eine psychologische Schranke für die Kooperation mit dem Verteidiger darstellen. Ist eine Pflichtverteidigung hingegen obligatorisch vorgesehen, lässt sich eine Protesthaltung des Angeklagten womöglich vermeiden. Die vergleichsweise geringen Nachteile einer zwingenden Prozessvertretung vor internationalen Strafgerichten können durch die Absicherung rechtsstaatlicher Verfahrensgrundsätze aufgewogen werden. Die Ernennung eines Pflichtverteidigers dient gleichermaßen einer objektiven Rechtsfindung im Interesse prozessualer Fairness wie dem Schutz des Beschuldigten vor unangemessener Strafe. Im rechtsstaatlichen Verfahren muss der Schuldspruch des Gerichts auf einer gerechten Beweiswürdigung und objektiven Chancengleichheit der Parteien beruhen.806 In Anbetracht der besonderen Umstände des Völkerstrafprozesses lassen sich diese Voraussetzungen nur durch eine zwingende anwaltliche Unterstützung des Angeklagten verwirklichen. Wenngleich die Literatur die Notwendigkeit zur Beschränkung des Selbstverteidigungsrechts anerkennt, wird der Gedanke einer generellen Pflichtverteidigung im internationalen Strafrecht nicht konsequent verfolgt.807 So betont Ambach die Unverzichtbarkeit anwaltlicher Unterstützung zur Gewährleistung prozessualer Fairness, ohne hieraus auf eine allgemeine Eingrenzung der persönlichen ProzessfühSluiter, JICL 6 / 4 (2008), S. 617 (618). Bassiouni, Duke J. of Comp. & Int.’l Law 3 (1993), S. 235 (283 f.). 807 Boas, The Right to Self-Representation, in: Abtahi / Boas (Hrsg.), The Dynamics of International Criminal Justice, 2005, S. 39 ff.; Dimitrijevic / Milanovic, Human Rights, in: Grimheden (Hrsg.), Human Rights Law, 2006, S. 149 (165); Ambach, ZIS 6 (2009), S. 286 ff. 805 806

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

rung zu schließen.808 Wird jedoch eine Selbstverteidigung des Beschuldigten im Interesse eines gerechten Verfahrens als unzureichend angesehen, muss die Annahme einer Pflichtverteidigung zwingend der nächste Schritt sein. Grund für die Zurückhaltung in der Literatur mag die klare Stellungnahme der Gerichte zur Garantie eines umfassenden Selbstverteidigungsrechts sein.809 Wenngleich internationale Straftribunale in das Recht des Angeklagten auf eigenständige Verfahrensgestaltung wiederholt und erheblich eingegriffen haben, wird die grundsätzliche Geltung des Anspruchs nicht bezweifelt: „While the right to self-representation is indisputable, jurisdiction around the world recognize that it is not categorically inviolable.“810

Angesichts der Komplexität völkerstrafrechtlicher Verfahren muss die Prämisse des „unanfechtbaren“ Selbstverteidigungsrechts indes bestritten werden. Mit Blick auf das kontinentaleuropäische Modell ist die unbedingte Anwendung des Anspruchs nicht als selbstverständlich vorauszusetzen. Vielmehr bedarf das Recht auf Selbstverteidigung im internationalen Kontext einer grundlegenden Neudefinition. Um rechtsstaatlichen Prozessanforderungen zu genügen, muss das Recht als Möglichkeit zur Mitwirkung am Verfahren, nicht jedoch als Ausschluss anwaltlicher Verteidigung verstanden werden. (c) Die Gewährleistung von Mitwirkungsrechten des Angeklagten Wesentlicher Kern des Selbstverteidigungsrechts ist die Chance des Angeklagten, aktiv Einfluss auf die Gestaltung seiner Verteidigung zu nehmen. Durch das System an ICC und ICTY wird der Beschuldigten vor die Wahl gestellt, seine Teilnahmerechte selbständig wahrzunehmen oder gänzlich auf eine unmittelbare Einflussnahme zu verzichten.811 Der Angeklagte steht vor dem Dilemma, eine direkte Beteiligung an den Verfahren nur durch die Entscheidung für eine umfassende Selbstverteidigung erreichen zu können.812 Ist eine anwaltliche Unterstützung im Völkerstrafprozess grundsätzlich wünschenswert, sollte der Beschuldigte zur Wahrung seiner Mitwirkungsrechte nicht auf eine Selbstverteidigung verwiesen werden. Erneut bietet das kontinentaleuropäische Prozessrecht ein mögliches Gegenmodell zur bisherigen Verfahrensgestaltung internationaler Strafgerichte. So gewährt 808 Ambach, ZIS 6 (2009), S. 286 (304): „Betrachtet man Schwierigkeitsgrad und Umfang eines internationalen Strafverfahrens, ist eine wirksame Selbstvertretung des Angeklagten unrealistisch.“ 809 Eine Ausnahme bildet Boas, der sich nachdrücklich gegen eine Selbtverteidigung ausspricht, Boas, JICJ 9 (2011), S. 82 f. 810 ICTY, Milošević, Decision on the Interlocutory Appeal of the Trial Chamber’s Decision on the Assignment of Defence Counsel, IT-02-54-AR73.7, 1. November 2004, Rn. 12. 811 Ambach, ZIS 6 (2009), S. 286 (287). 812 Eser, Reflexionen zum Prozesssystem, in: Sieber (Hrsg.), Strafrecht und Wirtschaftsstrafrecht, FS Tiedemann, 2008, S. 1453 (1461).

VII. Das Recht auf Verteidigung

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die deutsche Strafprozessordnung dem Angeklagten neben seinem Verteidiger ein eigenständiges Fragerecht813 und die Möglichkeit zur Abgabe von Erklärungen zur Beweiserhebung.814 Nach Abschluss der Beweisaufnahme bleibt es dem Beschuldigten unbenommen, einen Schlussvortrag zur Darlegung seiner Auffassung der Sach- und Rechtslage zu halten.815 In der Rechtsprechung internationaler Strafgerichte wurde die Notwendigkeit einer weiteren Mitwirkung des anwaltlich repräsentierten Angeklagten bereits teilweise anerkannt. Im Fall Prlić et al. gestand der ICTY dem Beschuldigten grundsätzlich ein nachrangiges Fragerecht im Rahmen des Beweisverfahrens zu.816 Nach Abschluss des Kreuzverhörs durch seinen Verteidiger wurde dem Angeklagten eine unmittelbare Befragung von Zeugen gestattet. Voraussetzung für die Gewährleistung des Rechts war die Feststellung „besonderer Umstände“817 im Wege einer ausdrücklichen Genehmigung durch die Kammer.818 In der Rechtssache Krajišnik verzichtete der ICTY auf das Erfordernis einer gesonderten Erlaubnis und räumte dem Beschuldigten ein generelles Fragerecht ein.819 Wenngleich das Tribunal die Rechtsstellung des vertretenen Angeklagten im Einzelfall erweitert hat, fehlt eine klare Regelung seiner Beteiligungsrechte in der Prozessordnung des Gerichts. Mangels einer Normativierung persönlicher Mitwirkungsrechte steht die Entscheidung über das Fragerecht des Angeklagten im Ermessen der Richter. Ambach unterstützt den Einschätzungsspielraum des Gerichts, da seiner Auffassung nach „gerade diese Variante der Mitwirkung des Angeklagten erlaubt (…), das nötige Gleichgewicht zwischen der Verfahrensbeteiligung des Angeklagten und dem gleichzeitigen Mitwirken eines notwendigen professionellen Rechtsbeistandes zu finden.“820 Im Interesse der Rechtssicherheit sowie einer prozessualen Gleichbehandlung der Beschuldigten sollten Reichweite und Grenzen ihrer Teilnahme jedoch normativ bestimmt werden. Spricht man sich mit der hier vertretenen Ansicht für die Einführung einer generellen Pflichtverteidigung aus, ist eine Mitwirkung des Angeklagten von besonderer Bedeutung. Eine umfassende Einbeziehung des Beschuldigten garantiert den Kern seines Rechts zur aktiven Verfahrensführung ohne den sinnvollen Beitrag anwaltlicher Unterstützung zu gefährden. 813 814 815 816

§ 240 Abs. 2 StPO. § 257 Abs. 1 StPO. § 258 Abs. 1, 3 StPO; Meyer-Goßner, Strafprozessordnung, 2008, § 258. ICTY Prlić et al., Decision on the Mode of Interrogating Witnesses, IT-04-74-T, 10. Mai

2007. 817 ICTY Prlić et al., Decision on the Mode of Interrogating Witnesses, IT-04-74-T, 10. Mai 2007, Rn. 3. 818 ICTY Prlić et al., Decision on the Mode of Interrogating Witnesses, IT-04-74-T, 10. Mai 2007, Rn. 3. 819 ICTY Krajišnik, Transcript 13415-13417, 13439 f., IT-00-39-T, 26. Mai 2005. Gleichwohl konnte der Angeklagte erst Fragen an den Zeugen stellen, wenn sein Verteidiger das Verhör beendet hatte. 820 Ambach, ZIS 6 (2009), S. 286 (303).

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

Vor dem Hintergrund ihrer kontinentaleuropäischen Prägung setzt die Prozessordnung der ECCC die Idee einer prinzipiellen Beteiligung des Angeklagten weitgehend um. Nach Regel 91 Abs. 2 ECCC-IR steht dem Beschuldigten neben seinem Verteidiger das Recht zur Zeugenbefragung zu.821 Um eine direkte Konfrontation mit den Opfern zu vermeiden, werden die Fragen des Beschuldigten durch den Richter gestellt. Angesichts der sensiblen Verhörsituation der Betroffenen erscheint diese Praxis als geeignete Lösung im Umgang mit den Opfern völkerstrafrechtlicher Verbrechen. Gemäß Regel 94 Abs. 1 ECCC-IR ist der Angeklagte zudem berechtigt, nach Beendigung der Beweisaufnahme einen selbständigen Schlussvortrag zu formulieren.822 Die Erfahrungen im Prozess gegen Kaing Guek Eav alias Duch haben gezeigt, dass eine sinnvolle Integration der Stellungnahmen des Beschuldigten in das Verfahren möglich ist. Die persönlichen Äußerungen des Angeklagten können wichtiger Bestandteil der historischen Wahrheitsfindung sein und dem Gericht einen direkten Eindruck von der Persönlichkeit des Beschuldigten vermitteln. Mit der konsequenten Umsetzung des kontinentaleuropäischen Modells wird den rechtsstaatlichen Voraussetzungen eines zügigen und fairen Verfahrens entsprochen. Die Präsenz eines Anwalts garantiert eine fachkompetente Verteidigung und notwendige Chancengleichheit des Beschuldigten gegenüber der Anklage. Durch eine Beschränkung der Mitwirkungsrechte im Einzelfall kann das Gericht flexibel auf Verzögerungen durch den Angeklagten reagieren, ohne im Grundsatz über seine Beteiligung entscheiden zu müssen. Während eine Selbstverteidigung des Beschuldigten im Ergebnis zu einer vollständigen Beschränkung seiner Rechte führen kann, ist dem Angeklagten im Rahmen einer mitbestimmten Pflichtverteidigung weiterhin eine aktive Teilnahme am Verfahren möglich. In Anbetracht seiner Zielsetzung muss das Recht auf Selbstverteidigung nicht als Anspruch auf alleinige Prozessführung, sondern als Befugnis zur individuellen Einflussnahme auf die Verhandlungen verstanden werden. Aufgrund der Komplexität des Völkerstrafrechts begründet die ergänzende Pflichtverteidigung im Ergebnis einen geringeren Eingriff in die Rechte des Angeklagten. „Es erscheint zweckmäßiger, dem Angeklagten in der Auslegung der Verfahrensregeln entgegenzukommen, als ihn durch den Ausschluss von Mitwirkungsrechten im Falle der Prozessvertretung durch einen Verteidiger in die Selbstvertretung zu treiben.“823

Die Verbindung obligatorischer Verfahrensvertretung mit der Gewährleistung prozessualer Teilnahmerechte nach kontinentaleuropäischem Vorbild gibt eine rechtsstaatlich konsequente Antwort auf bislang offene Fragen der selbständigen Prozess821 Regel 91 Abs. 2 ECCC-IR: The Co-Prosecutors and all the other parties and their lawyers shall be allowed to ask questions with the permission of the President. Except for questions asked by the Co-Prosecutors and the lawyers, all questions shall be asked through the President of the Chamber. 822 Regel 94 Abs. 1 ECCC-IR: After examining all the evidence, the President of the Chamber shall call successively upon the following persons to make their closing statements: a) The Civil Parties; (…) c) the lawyers for the Accused; and d) the Accused. 823 Ambach, ZIS 6 (2009), S. 286 (305).

VII. Das Recht auf Verteidigung

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führung. Die Entwicklung eines effektiveren und gerechteren Verfahrenssystems setzt jedoch die Bereitschaft zur umfassenden Neubewertung des Selbstverteidigungsrechts voraus. (d) Die Vereinbarkeit der generellen Pflichtverteidigung mit internationalen Prozessrechten „Es gibt kein Menschenrecht darauf, vorzugaukeln, sich selbst zu verteidigen, in Wirklichkeit aber eine ganze Armada von Verteidigern zu beschäftigen und das Verfahren durch politische Äußerungen in die Länge zu ziehen. Das Wichtigste ist die Garantie eines fairen, also auch zügigen Verfahrens.“824

Die Einführung einer mitbestimmten Pflichtverteidigung erfordert eine umfassende Änderung des geltenden Prozessrechts internationaler Straftribunale. Grenze einer Modifikation der Verfahrensordnungen ist ihre Vereinbarkeit mit den menschenrechtlichen Verpflichtungen der Gerichte.825 Angesichts der Gewährleistung des Selbstverteidigungsrechts in Art. 14 Abs. 3 lit. d IPbpR erscheint die Zulässigkeit einer generellen Prozessvertretung des Angeklagten fraglich. In seiner MilosevićEntscheidung nimmt der ICTY den Ausschluss einer allgemeinen Pflichtverteidigung durch die Garantien des völkerrechtlichen Menschenrechtsschutz an: „In the Trial Chamber’s view, it is appropriate to be guided by the ICCPR and the Human Rights Committee’s interpretation (…), which confirms the right to self-defence and rejects the imposition of defence counsel on an unwilling accused.“826

Die Interpretation der Kammer findet jedoch weder in der Entstehungsgeschichte der Norm noch in der Rechtsprechung internationaler Gerichte eine hinreichende Grundlage. Die Sitzungsprotokolle zur Entwicklung der universellen Menschenrechtskonvention geben keinen Hinweis auf eine besondere Berücksichtigung des Selbstverteidigungsrechts.827 Zu keinem Zeitpunkt der Versammlung wurden die Fragen nach Bedeutung und Reichweite einer persönlichen Prozessführung explizit thematisiert. Als Schwerpunkt in den Diskussionen der Kommission zeichnete sich vielmehr die Notwendigkeit einer anwaltlichen Verfahrensvertretung ab.828 Wesentlicher Inhalt der Gespräche war der rechtlich wie praktisch umstrittene Anspruch des mittellosen Angeklagten auf unentgeltliche Verteidigung.829 Die fehlende Aus824 Schomburg / Müller, Wolfgang Schomburg im Gespräch. Das Beste, was in Menschenhand liegt, FAZ, 23.01.2010, http://www.faz.net/s/RubD5CB2DA481C04D05AA471FA884 71AEF0/Doc~E307B12CFAE444149BA6F93FDE0FDF9CF~ATpl~Ecommon~Scontent.html (letzter Zugriff am 17.03.2010). 825 Siehe hiezu oben B. III. 4. 826 ICTY Milosević, Reasons for Decision on the Prosecution Motion Concerning Assignment of Counsel, IT-02-54-T, 4. April 2003, Rn. 36 f. 827 Weissbrodt, The Right to a Fair Trial, 2001, S. 44 f. 828 Comments on the Secretariat Outline, Art. 6, UN doc. E / CN.4 / AC.1 / 8 (1947), Rn. 1. 829 Scharf, JICJ 4 / 1 (2006), S. 31 (34).

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

einandersetzung der Kommission mit einem anwaltlichen Vertretungszwang legt nahe, dass mit Art. 14 Abs. 3 lit. d nicht in erster Linie ein Selbstverteidigungsrecht statuiert werden sollte. Aufgrund der Kontroversen um die staatliche Finanzierung einer Verteidigung erscheint es überzeugend, die Norm vorrangig als Verankerung eines positiven Rechts auf anwaltlichen Beistand zu werten.830 Neben der Entstehungsgeschichte des IPbpR muss die weitgehende Anerkennung der Pflichtverteidigung im civil law gegen die These des ICTY sprechen. Anderenfalls wäre davon auszugehen, dass die Mehrheit kontinentaleuropäisch geprägter Prozessordnungen den Anforderungen des internationalen Menschenrechtsschutzes nicht genügte. Der Widerspruch dieser Annahme zeigt sich insbesondere in der inhaltsgleichen Gewährleistung der Verteidigungsrechte durch Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK.831 Aufgrund seines regionalen Bezugs richtet sich die EMRK primär an Staaten aus dem Rechtskreis des civil law, die im Rahmen schwerer Verbrechen oftmals eine generelle Pflichtverteidigung vorsehen.832 Da mit Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK erkennbar nicht die Grundsätze des kontinentaleuropäischen Prozessverständnisses in Frage gestellt werden sollten, kann die Formulierung der Norm nicht als Ausschluss der Pflichtverteidigung ausgelegt werden.833 Die Rechtsprechung des EGMR bestätigt die Möglichkeit einer Einschränkung des Selbstverteidigungsrechts nach den Maßstäben kontinentaleuropäischer Rechtsordnungen.834 Die Voraussetzungen von Schwere und Komplexität des Delikts als Rechtfertigung einer obligatorischen Prozessvertretung sind im internationalen Strafrecht grundsätzlich erfüllt. Richtet sich eine generelle Pflichtverteidigung im Völkerstrafprozess nach den anerkannten Bedingungen des civil law, ist sie mit den Vorgaben der internationalen Menschenrechte vereinbar.835 Einer Änderung des bestehenden Prozessrechts zur Einführung einer mitbestimmten Pflichtverteidigung stehen daher keine völkerrechtlichen Bedenken entgegen.836

So auch Ambach, ZIS 6 (2009), S. 286 (288). Art. 6 Abs. 3 EMRK: „Everyone charged with a criminal offence has the following minimum rights: (…) c) to defend himself in person or through legal assistance of his own choosing or, if he has not sufficient means to pay for legal assistance, to be given it free when the interests of justice so require.“ 832 Vgl. das ausführlich dargelegte Beispiel der deutschen StPO. 833 Heinsch, How to achieve, in: Stahn / Sluiter (Hrsg.), The Emerging Practice of the International Criminal Court, 2009, S. 479 (493). 834 EGMR Croissant v. Germany, Application No. 13611 / 88, 25. September 1992, Rn. 29. 835 Aufgrund der Anerkennung der Pflichtverteidigung im civil law kann weder von einem völkergewohnheitsrechtlichen Verbot noch von einem allgemeinen Rechtsgrundsatz ausgegangen werden. 836 So auch Ambach, der die Zulässigkeit einer generellen Pflichtverteidigung im internationalen Strafprozess bejaht. Ambach, ZIS 6 (2009), S. 286 (304), Fn. 177: „Demzufolge dürfte für internationale Strafgerichte kein Zwang bestehen, eine solche Regelung überhaupt in ihre Statuten aufzunehmen.“ 830 831

VII. Das Recht auf Verteidigung

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2. Das Recht auf freie Wahl des Verteidigers Im Einklang mit den geltenden Menschenrechtsverträgen garantieren die Statuten internationaler Gerichte dem Angeklagten die grundsätzlich freie Wahl seines Verteidigers.837 Nach herrschender Auffassung beinhaltet das Recht auf selbständige Entscheidung über die Prozessvertretung die Befugnis, seinen Anwalt im Verfahren zu wechseln.838 Umstritten ist hingegen, ob das Recht zur freien Verteidigerwahl auch einem mittellosen Angeklagten zusteht.839 Der ICTR lehnt in ständiger Rechtsprechung eine Erweiterung des Rechtsanspruchs auf die gerichtlich finanzierte Verteidigung ab: „[I]n the light of textual and systematic interpretation of the provisions of the Statute and the Rules, read in conjunction with relevant decisions from the Human Rights Committee and the organs of the ECHR (…) the right to free legal assistance by counsel does not confer the right to choose one’s counsel.“840

In der Praxis internationaler Straftribunale wird dem Beschuldigten gleichwohl die Auswahl eines vom Gericht anerkannten Anwalts gestattet.841 Obschon die Kanzlei nach Auffassung des ICTR nicht zwingend an eine Entscheidung des Angeklagten gebunden ist, wird ihr im Interesse einer Kooperation des Beschuldigten regelmäßig entsprochen.842 Die entscheidende Frage in der Auseinandersetzung mit dem Recht auf freie Verteidigerwahl betrifft die Zulässigkeit einer Rechtsbeschränkung durch qualitative Anforderungen an den Prozessvertreter. Gerade in der Anfangsphase der Ad-hocGerichtsbarkeit führten fehlende Kenntnisse der Strafverteidiger über den rechtlichen wie praktischen Kontext internationaler Strafverfahren zu prozessualen Problemen.843 Die Vertreter des Angeklagten waren oftmals weder mit den Voraussetzungen materieller Strafbarkeit noch mit den Besonderheiten eines adversatorischen Verfahrens vertraut.844 Der Fall Erdemović offenbarte die Konsequenzen einer man837 Art. 14 Abs. 3 d IPbpR, Art. 21 Abs. 5 lit.d ICTY-Statut, Art. 67 Abs. 1 lit.d ICC-Statut sowie Art. 35 new LoE-ECCC. 838 Schabas, The UN International Criminal Tribunals, 2008, S. 527; Knoops, Theory and Practice, 2005, S. 64 m.w. N. Dieses Recht wird jedoch regelmäßig aus Gründen des effektiven und beschleunigten Verfahrens eingeschränkt, vgl. Art. 19 A ICTR Directive on the Assignment of Defense Counsel, die „besondere Umstände“ voraussetzt. So auch ICTR Akayesu, Decision on the Request of the Accused for the Replacement of Assigned Counsel, ICTR-96-4-T, 20. November 1996; ICTY Milosević, Decision Affirming the Registrar’s Denial of Assigned Counsel’s Application to Withdraw, IT-02-54, 7. Februar 2005. 839 Gute Darstellung bei Schabas, The UN International Criminal Tribunals, 2008, S. 525 f. 840 ICTR Kambanda, Judgment, ICTR-97-23-A, 19. Oktober 2000, Rn. 33; ICTR Akayesu, Judgment, ICTR-96-4-A, 1. Juni 2001, Rn. 60 f.; Ntakirutimana et al., Decision on the Motions of the Accused for Replacement of Assigned Counsel, ICTR-96-10-T, 11. Juni 1997. 841 Schabas, The UN International Criminal Tribunals, 2008, S. 526. 842 ICTR Akayesu, Judgment, ICTR-96-4-A, 1. Juni 2001, Rn. 62. 843 Schabas, The UN International Criminal Tribunals, 2008, S. 525. 844 Schabas, The UN International Criminal Tribunals, 2008, S. 524.

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gelnden Erfahrung des Verteidigers in der Verfahrensgestaltung angloamerikanischer Prozesse. Da Erdemović’ Anwalt seinen Mandanten nicht hinreichend über Bedeutung und Reichweite einer guilty plea informiert hatte, musste das Urteil im Nachgang aufgehoben und erneut verhandelt werden.845 Der Einfluss inkompetenter Prozessvertreter stellt ein Hindernis für die Durchführung eines zügigen und effektiven Verfahrens dar.846 Im Interesse der Waffengleichheit und einer fachkundigen Verteidigung des Angeklagten müssen objektive Standards für die Zulassung von Strafanwälten entwickelt werden.847 Gerechte Anforderungen an die juristische Ausbildung und moralische Integrität verhindern unnötige Verfahrensverzögerungen sowie ein strukturelles Ungleichgewicht der Parteien. Schabas fasst die Notwendigkeit rechtlicher Vorgaben zur Gewährleistung der anwaltlichen Kompetenz zusammen: „Without regulation of the qualifications of defence counsel, there is a threat to both the balance of the judicial system and its credibility.“848

Die Befürworter einer umfassenden Selbstverteidigung des Beschuldigten befinden sich hingegen in einer schwierigen Argumentationslage. Wird dem juristisch nicht vorgebildeten Angeklagten die eigene Verteidigung gestattet, erscheinen hohe Qualifikationsanforderungen an den anwaltlichen Vertreter wenig konsequent.849 Richtigerweise muss die Überzeugung von einer notwendig kompetenten Vertretung einheitlich auf die Frage der Selbstverteidigung und die freie Wahl eines Anwalts angewendet werden.

a) Die Anforderungen an Strafverteidiger vor internationalen Gerichten Die Rechtsgrundlagen der internationalen Straftribunale enthalten verschiedene Anforderungen an die Qualifikation eines Strafverteidigers. Um einen Beschuldigten vor Gericht zu vertreten, muss ein Anwalt im Völkerstrafrecht fachliche, sprachliche und ethische Voraussetzungen erfüllen. Ein Vergleich der Zulassungsregeln belegt die Schwächen der bestehenden Bedingungen für die Anerkennung eines Verteidigers. 845 ICTY Erdemović, Judgment, IT-96-22-A, 7. Oktober 1997, Rn. 5; siehe hierzu oben, Kapitel D. V. 3. a) aa). 846 Schabas, The UN International Criminal Tribunals, 2008, S. 525: „[I]ncompetent or inexperienced counsel have contributed to costly and unnecessary delays in the proceedings.“ 847 Hierfür auch Safferling, Towards an International Criminal Procedure, 2007, S. 111 ff., der jedoch eine Einschränkung der Wahlfreiheit restriktiv gestalten will. 848 Schabas, The UN International Criminal Tribunals, 2008, S. 524 f.; so auch Rhode, Legal Aid, in: Dixon / Kahn (Hrsg.), International Criminal Courts: Practice, Procedure and Evidence, 2003, S. 543 (556). 849 Eser, Verteidigung in der internationalen Strafgerichtsbarkeit, in: Schöch (Hrsg.), Strafverteidigung, Revision und die gesamten Strafrechtswissenschaften, FS Widmaier, 2008, S. 147 (165).

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aa) Die Anforderungen am ICTY Regel 44 ICTY-RPE normiert die rechtlichen Anforderungen zur Anerkennung eines Strafverteidigers durch das Tribunal. Regel 44 A ICTY-RPE: „(i) is admitted to the practice of law in a State, or is a university professor of law; (ii) has written and oral proficiency in one of the two working languages of the Tribunal, unless the Registrar deems it in the interests of justice to waive this requirement (…); (iii) is a member in good standing of an association of counsel practicing at the Tribunal recognised by the Registrar; (iv) has not been found guilty or otherwise disciplined in relevant disciplinary proceedings against him in a national or international forum, including proceedings pursuant to the Code of Professional Conduct for Defence Counsel Appearing Before the International Tribunal, unless the Registrar deems that, in the circumstances, it would be disproportionate to exclude such counsel; (v) has not been found guilty in relevant criminal proceedings; (vi) has not engaged in conduct whether in pursuit of his or her profession or otherwise which is dishonest or otherwise discreditable to a counsel, prejudicial to the administration of justice, or likely to diminish public confidence in the International Tribunal or the administration of justice, or otherwise bring the International Tribunal into disrepute; and (vii) has not provided false or misleading information in relation to his or her qualifications and fitness to practice or failed to provide relevant information.“

Als berufsspezifische Voraussetzungen bestimmen die Unterpunkte (i) und (iii) eine nationale Zulassung als Anwalt oder den Status eines Universitätsprofessors. Weiterhin wird die „untadelige“ Mitgliedschaft in einer am Tribunal anerkannten Anwaltsvereinigung verlangt. Nach Regel 44 A (ii) ICTY-RPE muss der Verteidiger zudem mindestens eine der gerichtlichen Amtssprachen fließend beherrschen. Ausnahmen können im Interesse der Verfahrensgerechtigkeit gestattet werden, wenn der Anwalt die Muttersprache des Angeklagten erlernt hat.850 In diesen Fällen kann das Gericht dem Beschuldigten die Kosten für notwendige Übersetzungen auferlegen. Der Schwerpunkt der Zulassungsregeln am ICTY liegt jedoch in der Bestimmung ethisch-moralischen Bedingungen für eine Vertretung vor Gericht.851 Der Verteidiger darf weder vorbestraft sein (iv, v) noch dem Tribunal falsche Informationen über seine Qualifikationen vorgelegt haben (vii). Das offen formulierte Ausschlusskriterium in Regel 44 A (vi) ICTY-RPE setzt zudem voraus, dass der Anwalt durch sein bisheriges Verhalten nicht die Würde seines Berufsstandes und die Integrität des internationalen Gerichts verletzt hat. Kritik an den Maßstäben des ICTY muss insbesondere im Hinblick auf die geringen fachlichen Anforderungen an den Strafverteidiger geäußert werden. Nach der Regel 44 B ICTY-RPE. Eser, Verteidigung in der internationalen Strafgerichtsbarkeit, in: Schöch (Hrsg.), Strafverteidigung, Revision und die gesamten Strafrechtswissenschaften, FS Widmaier, 2008, S. 147 (165). 850 851

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Verfahrensordnung des Gerichts werden von einem Anwalt weder juristische Kenntnisse noch berufliche Erfahrungen im Bereich des Völkerstrafrechts erwartet. Angesichts der prozessualen Komplexität der Verfahren sowie ihrer erheblichen praktischen Herausforderungen müssen strengere Bedingungen an die berufliche Qualifikation des Anwalts geknüpft werden.852 Zur Gewährleistung fachkompetenter Verteidigung ist eine Vorbildung im internationalen Strafrecht zwingend vorauszusetzen. bb) Die Anforderungen am ICC Die Anforderungen an den Strafverteidiger werden durch Regel 22 Abs. 1 ICCRPE im Grundsatz bestimmt und in Art. 67 Regulation of the Court näher präzisiert. Regel 22 Abs. 1 ICC-RPE: „A counsel for the defence shall have established competence in international or criminal law and procedure, as well as the necessary relevant experience, whether as judge, prosecutor, advocate or in other similar capacity, in criminal proceedings. A counsel for the defence shall have an excellent knowledge of and be fluent in at least one of the working languages of the Court. Counsel for the defence may be assisted by other persons, including professors of law, with relevant expertise. Art. 67 Regulation of the Court: 1. The necessary relevant experience for counsel as described in rule 22 shall be at least ten years. 2. Counsel should not have been convicted of a serious criminal or disciplinary offence considered to be incompatible with the nature of the office of counsel before the Court.“

Im Gegensatz zur Prozessordnung des ICTY enthält das Verfahrensrecht des ICC gesonderte Bestimmungen zu fachspezifischen Kompetenzen. Verteidiger vor dem ICC müssen Kenntnisse im Straf- oder Völkerrecht nachweisen und mit den Gegebenheiten eines strafrechtlichen Verfahrens vertraut sein. Um den Schwierigkeiten der völkerstrafrechtlichen Prozessführung gerecht zu werden, setzt das Gericht eine berufspraktische Erfahrung auf nationaler oder internationaler Ebene von mindestens zehn Jahren voraus.853 Neben fachlichen Anforderungen sieht das Prozessrecht des ICC das Beherrschen einer gerichtlichen Amtssprache sowie ethische Einschränkungen der Anwaltszulassung vor. Nach Art. 67 Regulation of the Court ist ein Verteidiger abzulehnen, der sich schwerer Straftaten oder Disziplinarverstöße schuldig gemacht hat, die mit der Natur seines Amtes unvereinbar sind. Wenngleich die Regelungen für den ICC weniger ausführlich gestaltet sind als am ICTY, erfassen sie wichtige Kriterien fachlicher Qualifikation als Voraussetzung einer kompetenten Prozessvertretung. Unmittelbare Erfahrungen im Bereich des Sluiter, JICL 6 / 4 (2008), S. 617 (619). Universitätsprofessoren können nach Regel 22 Abs. 1 ICC-RPE daher lediglich als unterstützende Experten, nicht jedoch als unmittelbare Vertreter des Angeklagten vor Gericht tätig werden. 852 853

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internationalen Strafverfahrens sind indes auch nach dem Recht des ICC nicht erforderlich. cc) Die Anforderungen an den ECCC Das Prozessrecht der ECCC enthält eine differenzierte Regelung der Anforderungen an eine wirksame Verteidigung. Die Voraussetzungen der Zulassungsregelungen variieren für nationale und internationale, gerichtlich oder selbständig finanzierte Verteidiger. Neben einer Rechtfertigung der abweichenden Maßstäbe soll das umstrittene Erfordernis einer Registrierung in der nationalen Anwaltskammer diskutiert werden. (1) Fachliche, sprachliche und ethische Anforderungen an den ECCC Regel 11 Abs. 2 und 4 ECCC-IR ermächtigen die Defence Support Section (DSS) des Gerichts, in einem transparenten Verfahren geeignete Kriterien für die Zulassung von Strafverteidigern festzulegen. Der Ermessensspielraum der Behörde wird in Regel 11 Abs. 4 ECCC-IR durch Richtlinien begrenzt, die wesentliche Voraussetzungen einer effektiven Verfahrensvertretung garantieren. Regel 11 Abs. 4 ECCC-IR: „The criteria for inclusion in the Defence Support Section list for defending indigent persons before the ECCC, (…), shall comply with the following principles: a) The procedure for inclusion in such lists shall be fair, transparent and expeditious; b) An applicant shall not have been convicted of a serious criminal or disciplinary offence considered by their professional association to be incompatible with acting as a defence lawyer; c) A foreign applicant shall only be required to: i) be a current member in good standing of a recognised association of lawyers in a United Nations Member State; ii) have a degree in law or an equivalent legal or professional qualification; iii) have at least 10 (ten) years working experience in criminal proceedings, as a lawyer, judge or prosecutor, or in some other capacity; iv) have established competence in criminal law and procedure at the international or national level; and v) be fluent in Khmer, French or English. d) A national applicant shall only be required to: i) be a member of the BAKC; and ii) have established competence in criminal law and procedure at the national or international level.“854

Die Regelungen der ECCC beruhen auf zwei entscheidenden Differenzierungen – der Nationalität des Verteidigers sowie der Finanzierung seiner Tätigkeit. Im Ge854

Hervorhebungen durch Verfasser.

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gensatz zu ICTY und ICC erstreckt sich der Geltungsbereich der Norm ausschließlich auf Anwälte, die dem mittellosen Angeklagten durch das Gericht bestellt werden. Entsprechend der fehlenden Vorgaben durch die Internal Rules nimmt die DSS keine Einschränkungen für die Wahl entgeltlicher Verteidigung vor: „Applicants not seeking payment by the ECCC (such as those seeking to be privately paid or to act pro bono) need only complete the application for Registration which should also be sent with supporting documentation by post to the address on the registration form.855

Dem Angeklagten, der die Kosten seine Prozessvertretung selbst trägt, wird eine grundsätzlich freie Entscheidung über die Anstellung eines Anwalts zugestanden. Hinter der Differenzierung steht offenbar die Annahme, dass die Legitimität der gerichtlichen Kontrolle von einer finanziellen Verantwortung für die Verteidigung abhängt. Die Gewährleistung eines fairen Strafprozesses liegt jedoch als zentrale Aufgabe des Tribunals grundsätzlich im Interesse der Kammern. Die Verfahrensverantwortung des Gerichts erfordert die Garantie einer kompetenten und integeren Verteidigung durch objektive Anforderungen an die Person des anwaltlichen Vertreters. Die Differenzierung der ECCC-IR steht damit im Widerspruch zur umfassenden rechtsstaatlichen Zwecksetzung qualitativer Einschränkungen. Eine weitere Unterscheidung treffen die ECCC im Umgang mit nationalen und internationalen Verteidigern. Während ausländische Anwälte erhebliche berufliche Voraussetzungen erfüllen müssen, werden an ihre kambodschanischen Kollegen vergleichsweise geringe Anforderungen gestellt. Unabhängig von der nationalen Herkunft dürfen Strafverteidiger an den ECCC keine gravierenden Rechtsverletzungen begangen haben und müssen eine Amtssprache des Gerichts sicher beherrschen. Deutliche Divergenzen zeigen sich indes im Hinblick auf die Ansprüche an eine fachliche Qualifikation des Anwalts. Während alle Verteidiger Kompetenzen im materiellen und prozessualen Strafrecht nachweisen müssen,856 verlangen die Internal Rules ausschließlich für internationale Anwälte einen juristischen Abschluss sowie eine zehnjährige Berufserfahrung im Strafverfahren. Rechtliche Gründe für eine Differenzierung zwischen nationalen und internationalen Anwälten sind nicht ersichtlich. Zur Verwirklichung einer gerechten Verteidigung kann der Staatsangehörigkeit des Anwaltes grundsätzlich keine rechtfertigende Bedeutung zukommen. Die geringeren Anforderungen an nationale Verteidiger sind jedoch den Realitäten Kambodschas geschuldet. Ein schwacher Ausbildungsstandard und der begrenzte Zugang zu universitärer Bildung verhindern eine juristische Qualifikation kambodschanischer Anwälte nach westlichen Standards.857 Durch die Zusammenarbeit inländischer Verteidiger mit ihren internationalen Kollegen sowie den hybriden Institutionen des Gerichts wird die Gefahr für eine faire 855 Vgl. Extraordinary Chambers in the Court of Cambodia, Defence Support Section, http://www.eccc.gov.kh/english/dss_the_list.aspx (letzter Zugriff am 17.03.2010). 856 Vgl. Regel 11 Abs. 4 lit. c (iv) und d (ii) ECCC-IR. 857 Karbaum, Kambodscha, 2008, S. 262, 268.

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Verteidigung gemindert. Soll ein hybrides Strafverfahren mit staatlicher Beteiligung durchgeführt werden, müssen praktische Zugeständnisse an die nationalen Gegebenheiten möglich sein. (2) Das Erfordernis der Registrierung in der kambodschanischen Anwaltskammer Regel 11 Abs. 2 ECCC-IR setzt die Registrierung nationaler und internationaler Verteidiger durch die kambodschanische Anwaltskammer (BAKC)858 voraus.859 Die Anerkennung durch die BAKC wird unabhängig von der Finanzierung der Verteidigung als Bedingung einer Anwaltstätigkeit in Kambodscha gefordert. Praktisch führte die Bedingung einer Registrierung zu erheblichen Problemen für die Teilnahme ausländischer Strafverteidiger an den Verfahren der ECCC. Zu Beginn der Prozesse im Frühjahr 2007 verlangte die BAKC eine Gebühr von 4900$ für die Erfassung internationaler Anwälte. Eine Mehrheit der Verteidiger lehnte die Zahlung des erhöhten Betrages kategorisch ab.860 Insbesondere Anwälte, die für ihre Mandanten pro bono tätig wurden, konnten den notwendigen Beitrag nicht leisten. Die Politik der BAKC begründete eine faktische Beschränkung des Prozessanspruchs auf freie Verteidigerwahl. Die Forderung der hohen Gebühren begrenzte den Kreis verfügbarer Anwälte und wirkte sich mittelbar auf die Entscheidungsmöglichkeiten des Angeklagten aus.861 Die internationalen Richter der ECCC erkannten die Gefahr einer indirekten Beeinträchtigung des Wahlrechts und mahnten die Anwaltskammer wiederholt zur Änderung ihrer Beitragsordnung.862 „[This] is unacceptable to the international judges, who consider that it severely limits the rights of accused and victims to select counsel of their choice.“863 Bar Association Kingdom of Cambodia. Regel 11 Abs. 2 ECCC-IR: „c) i) national lawyers registered by the BAKC; and ii) foreign lawyers admitted to the bar in a United Nations Member State who have been registered by the BAKC for the purposes of defending persons before the ECCC, as set out in paragraph (b) above. d) After consultations between the Defence Support Section and the BAKC, compile and maintain a sub-list of: i) national lawyers registered by the BAKC who meet Defence Support Section criteria, as set out in its administrative regulations, for defending indigent persons before the ECCC; and ii) foreign lawyers admitted to the bar in a United Nations Member State who have been registered by the BAKC and who meet Defence Support Section criteria, as set out in its administrative regulations, for defending indigentpersons before the ECCC.“ 860 Der Beitrag für kambodschanische Anwälte belief sich auf einen Bruchteil der Gebühr. 861 Cambodian Human Rights Action Committee, Civil Society Gravely Concerned Over Exorbitant Fees Derailing ECCC, http://www.licadho-cambodia.org/press/files/149CHRAC PRECCCDerail07.pdf (letzter Zugriff am 23.05.2010). 862 UN News Center, International judges at UN-backed Khmer Rouge trials say fee dispute rules out meeting (letzter Zugriff am 25.03.2010): „The proposed fee would severely limit the number of foreign lawyers able to appear before the ECCC and would allow the accused to argue that they have not been afforded the right to have the counsel of their choice, thereby breaching the International Covenant of Civil and Political Rights (ICCPR), the judges believe.“ 858 859

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Angesichts der unveränderten Haltung der BAKC versagten die Richter ihre Zustimmung zu den Internal Rules in der vorgesehenen Form und vertagten die Plenarsitzung des Gerichts.864 Die Verzögerung des Verfahrens durch die anhaltenden Diskussionen über die Gebührenfrage stellte einen Rückschritt in der Kooperation staatlicher und internationaler Institutionen dar. Der Boykott der Richter sowie finanzielle Unterstützungszusagen der japanischen Regierung konnten den Konflikt letztlich beenden.865 Ende April 2007 erklärte sich die BAKC bereit, den Beitrag internationaler Verteidiger auf 500$ zu begrenzen.866 Die Erfahrung an den ECCC sind bei der Gestaltung künftiger Zulassungsvoraussetzungen hybrider Tribunale zu berücksichtigen. Gerade in schwachen und korrupten Rechtssystemen besteht die Gefahr einer Instrumentalisierung der Gebührenerhebung zur Beschränkung internationaler Einflussnahme. In Kambodscha wurde die Politik der Anwaltskammer von vielen Prozessbeobachtern als bewusster Versuch einer Störung des Verfahrensverlaufs gewertet.867 Als faktisches Hindernis für die Arbeit internationaler Verteidiger muss die Möglichkeit überhöhter Beitragsforderungen bei Einsetzung des Gerichts rechtlich ausgeschlossen werden. Zu diesem Zweck sollte auf das Erfordernis einer Registrierung in nationalen Kammern grundsätzlich verzichtet oder im Gründungsvertrag ein Höchstbetrag vereinbart werden.

b) Vorschläge zur Änderung der Zulassungsvoraussetzungen Die Zulassungsregelungen internationaler Strafgerichte entsprechen sich in den wesentlichen Kernforderungen fachlicher, sprachlicher und moralischer Kompetenzen des Verteidigers. Zugleich zeigt eine Gegenüberstellung der Prozessordnungen entscheidende Unterschiede in der konkreten Gestaltung der freien Verteidigerwahl und dokumentiert die Notwendigkeit rechtlicher Änderungen. Aufgrund der Komplexität einer völkerstrafrechtlichen Verteidigung sind besondere juristische Vorkenntnisse und berufspraktische Erfahrungen zwingend erforderlich. Die Regelung des ICTY lässt hingegen eine anwaltliche Zulassung nach nationalem Recht genügen, ohne weitere Qualifikationen im Strafverfahren vorauszusetzen. Wenngleich ICC und ECCC strengere Anforderungen an die Prozesserfahrung 863 Zitiert durch UN News Center, International judges at UN-backed Khmer Rouge trials say fee dispute rules out meeting, http://www.un.org/apps/news/story.asp?NewsID=22120& Cr=cambodia&Cr1 (letzter Zugriff am 25.03.2010). 864 Daniel, The Far East, 2008, S. 151; UN News Center: International judges at UN-backed Khmer Rouge trials say fee dispute rules out meeting, http://www.un.org/apps/news/story.asp? NewsID=22120&Cr=cambodia&Cr1 (letzter Zugriff am 25.03.2010). 865 Meyer, Das Khmer-Rouge-Tribunal. Kambodscha im Schatten der Geschichte, S. 65 (88) http://www.kas.de/wf/doc/kas_13579-544-1-30.pdf, (letzter Zugriff am 25.03.2010). 866 The Khmer Rouge Trial (KRT), The Khmer Rouge Trial and the Destiny of the Cambodian People, http://cambodiana.org/cambodianaorg.aspx (letzter Zugriff am17.03.2010). 867 Meyer, Das Khmer-Rouge-Tribunal. Kambodscha im Schatten der Geschichte, S. 65 (88), http://www.kas.de/wf/doc/kas_13579-544-1-30.pdf (letzter Zugriff am 25.03.2010).

VIII. Der Beschleunigungsgrundsatz

381

eines Anwaltes stellen, verlangen auch sie keine Expertise im Bereich des Völkerstrafrechts. Da das internationale Strafrecht jedoch eigene prozessuale und materielle Fragen aufwirft, erscheint die von Sluiter geforderte Bedingung einer fachspezifischen Aus- oder Weiterbildung sinnvoll.868 Erheblicher Änderungsbedarf besteht im Hinblick auf die Zulassungsvoraussetzungen an den ECCC. Zunächst gilt es, im Interesse fairer Verfahrensgestaltung die normativen Anforderungen auf selbständig finanzierte Verteidiger zu erweitern. Wenngleich die Differenzierung zwischen nationalen und internationalen Anwälten rechtlich ebenfalls nicht überzeugt, ist sie den praktischen Gegebenheiten eines hybriden Strafverfahrens geschuldet. Die notwendig geringeren Ansprüche an nationale Verteidiger sind durch kompensatorische Maßnahmen einer prozessualen Fortbildung auszugleichen. Neben konkreten Kenntnissen des internationalen Strafrechts muss die Bedeutung von Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit als Prämissen des Völkerrechts vermittelt werden. Zur Gewährleistung der juristischen Mindeststandards bietet die Defence Support Section der ECCC regelmäßige Seminare zu Themen des materiellen Völkerstrafrechts sowie einer praktischen Verfahrensorganisation an.869 Um eine effektive Verteidigung des Angeklagten durch seinen nationalen Anwalt zu garantieren, sollte eine Teilnahme an Weiterbildungen künftig obligatorisch vorgesehen werden. Nur unter der Bedingung eines gemeinsamen rechtlichen Verständnisses ist eine Kooperation der internationalen Gemeinschaft mit dem Tatortstaat auf Augenhöhe möglich.

VIII. Der Beschleunigungsgrundsatz 1. Einführung „With respect to the delivery of the Trial Judgement, the Appeals Chamber notes that it was delivered one and a half years after the close of trial. In the context of this case, such a delay is concerning.“870

In ihrer Entscheidung vom 1. April 2011 übte die Berufungskammer des ICTR erstmals deutliche Kritik an der Dauer einer Urteilsfindung durch das Gericht. Nach 868 Sluiter, JICJ 6 / 4 (2008), S. 617 (619): „The international criminal justice system lacks proper mechanisms for ensuring the quality of defence (and other) counsel. For example, there is no requirement of a law degree in international criminal law nor is there a bar exam in international criminal law. As a result, assistance of defence counsel is by no means always a guarantee of reasonably effective defence.“ 869 Hierzu wird sie in Regel 11 Abs. 2 lit. k ECCC-IR ermächtigt; Extraordinary Chambers in the Courts of Cambodia, Defence Support Section (DSS), http://www.eccc.gov.kh/english/ dss_legacy.aspx (letzter Zugriff am17.03.2010). Vergleichbare Bemühungen gab es auch am ICC, der ein zweijähriges Fortbildungsprogramm für Strafverteidiger organisierte, vgl. Academy of European Law, http://www.era.int/web/en/html/nodes_main/4_1649_459/4_2153_462/ events_2005/5_1625_1268.htm (letzter Zugriff am17.03.2010). 870 ICTR Renzaho, Appeals Judgement, ICTR-97-31-A, 1. April 2011, Rn. 241.

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

Abschluss des Hauptverfahrens im Fall Renzaho am 15. Februar 2008 hatte die Kammer fast eineinhalb Jahre bis zur Verkündung ihres Urteils verstreichen lassen. Die lange Zeitspanne zwischen Abschluss der Verhandlungen und Bekanntgabe des Schuldspruchs stellt am ICTR indes keine Ausnahme dar. Im Fall Bizimungu et al. warteten die Angeklagten mit Ende der „Oral hearings“ am 5. Dezember 2008 fast drei Jahre auf ihr Urteil, das am 30. September 2011 erging.871 Die Praxis am ICTR gibt Grund zur Sorge um die Gewährleistung des rechtsstaatlichen Anspruchs des Angeklagten auf ein zügiges Strafverfahren. Eine Betrachtung der Verfahren vor dem ICTY zeigt, dass auch hier ein zeitnaher Abschluss der Strafprozesse bislang nicht realisiert werden konnte. Bis ins Jahr 2004 vergingen vom Zeitpunkt der Vorführung des Beschuldigten bis zu seiner Verurteilung im erstinstanzlichen Verfahren durchschnittlich 37 Monate.872 Die Bedeutung einer zügigen Verfahrensgestaltung zeigt sich in besonderer Weise an den ECCC. Das hohe Alter der Angeklagten verpflichtet die Kammern zu einer zeitnahen Verhandlung und Verurteilung der hauptverantwortlichen Täter. Sollte in Kambodscha ein Schuldspruch aufgrund von Prozessverzögerungen scheitern, würde das wesentliche Verfahrensziel einer gerechten Ahndung völkerrechtlicher Verbrechen nicht erreicht. Wenngleich der Ton der Berufungskammer am ICTR kritischer geworden ist – eine Rechtsverletzung hat sie bislang nicht feststellen wollen. Die Zurückhaltung der Gerichte in der Beurteilung von Verfahrensverzögerungen soll Anlass für eine grundlegende Betrachtung von Voraussetzungen und Zielen des Beschleunigungsgebotes im völkerstrafrechtlichen Verfahren geben. Vor dem Hintergrund der Bedeutung des Beschleunigungsgebotes für die Durchsetzung eines fairen Verfahrens sollen die Grenzen legitimer Prozessdauer diskutiert werden. Auf der anderen Seite wird zu prüfen sein, inwieweit der Anspruch auf ein zügiges Verfahren als Rechtfertigung prozessualer Einschränkungen dienen kann. Im Fokus der Betrachtungen stehen hierbei die Completion Strategies an den Ad-hocTribunalen, die umfassende Maßnahmen zur Beschleunigung internationaler Strafverfahren enthalten. Auf dieser Grundlage sollen inhaltliche wie strukturelle Möglichkeiten zu einer Verkürzung der Beweisaufnahme diskutiert werden.

2. Die rechtlichen Grundlagen des Beschleunigungsgebotes Internationale Menschenrechtsverträge gewährleisten dem Angeklagten einen Anspruch auf zügige Durchführung seines Strafverfahrens. In Art. 14 Abs. 3 lit. c IPbpR heißt es: 871 Siehe ICTR Bizimungu et al., Decision on Prosper Mugiraneza’s Fourth Motion to Dismiss Indictment for Violation of Right to Trial Without Undue Delay, ICTR-99-50-T, 23. Juni 2010; ICTR Bizimungo et al, Judgement and Sentence, ICTR-99-50-T, 30. September 2011. 872 Bachmann, Die Rolle des Internationalen Jugoslawien-Tribunals, in: Daxner / Jordan (Hrsg.), Bilanz Balkan, 2005, S. 224 (230).

VIII. Der Beschleunigungsgrundsatz

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„In the determination of any criminal charge against him, everyone shall be entitled to the following minimum guarantees, in full equality: (…) (c) To be tried without undue delay.“

Art. 6 Abs. 1 EMRK weicht in seinem Wortlaut von der Bestimmung des IPbpR ab und normiert den Beschleunigungsgrundsatz als allgemeines Merkmal einer fairen Verfahrensgestaltung: „Art. 6 Abs. 1 EMRK: In the determination of his civil rights and obligations or of any criminal charge against him, everyone is entitled to a fair and public hearing within a reasonable time.“

Die Unterschiede in der Formulierung des Prozessrechts wirken sich jedoch nicht auf die Reichweite des materiellen Schutzverständnisses aus. Art. 6 Abs. 1 EMRK und Art. Art. 14 Abs. 3 lit. c IPbpR normieren keine absoluten zeitlichen Grenzen, sondern bestimmen die Wahrung einer angemessenen Verfahrensdauer in Abhängigkeit von den konkreten Umständen des Strafprozesses.873 Art. 9 Abs. 3 IPbpR sowie Art. 5 Abs. 3 EMRK erfassen ferner eine Ausprägung des Beschleunigungsgrundsatzes für die Untersuchungshaft. Das Gebot der Beschleunigung wird in den Statuten der internationalen Strafgerichte auf zwei Ebenen verwirklicht. Eine individualrechtliche Ausgestaltung nach dem Vorbild völkerrechtlicher Menschenrechtsverträge findet sich in den Beschuldigtenrechten der Prozessordnungen. Art. 67 Abs. 1 lit. c ICC-Statut, Art. 21 Abs. 4 lit. c ICTY-Statut, Art. 20 Abs. 4 lit. c ICTR-Statut und Art. 35 Abs. 2 lit. c new ECCC-LoE übernehmen wortgleich den Verfahrensanspruch aus Art. 14 Abs. 3 lit. c IPbpR. Eine weitere Bedeutung erlangt die Gewährleistung eines beschleunigten Verfahrens als allgemeine Zielvorgabe der gerichtlichen Prozessordnung. Im Rahmen des Hauptverfahrens wird der Kammer die Verantwortung für die Garantie eines „fairen und zügigen“ Prozessverlaufs übertragen. Art. 64 Abs. 2 ICC-Statut, Art. 20 Abs. 1 ICTY-Statut, Art. 19 Abs. 1 ICTR-Statut und Art. 33 new ECCC-LoE verbürgen einheitlich den Auftrag an das Gericht zur aktiven Umsetzung des Beschleunigungsgebots: „Art. 19 Abs. 1 ICTR-Statute: The Trial Chambers shall ensure that a trial is fair and expeditious (…).“

Die zweifache Verankerung führt zur Frage nach der Schutzrichtung und dogmatischen Einordnung des Prinzips. Die Bestimmung der Rechtsnatur ist Voraussetzung für die Anwendung des Verfahrensgebotes als Grundlage und Grenze individueller Prozessansprüche.

3. Die Rechtsnatur des Beschleunigungsgebotes Die normative Ausgestaltung des Beschleunigungsgrundsatzes in den Statuten der Gerichte reflektiert die verschiedenen Gewährleistungen des Prinzips. Die Ver873

EGMR Rachevi v. Bulgarien, Application No. 47877 / 99, 23. September 2004, Rn. 90.

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

wirklichung eines zügigen Verfahrens ist seiner Rechtsnatur nach nicht nur subjektiver Anspruch, sondern zugleich objektive Prozessmaxime.874 Die Forderung nach einem zügigen Verfahren begründet zunächst einen individuellen Anspruch des Angeklagten. Darüber hinaus dient der Rückgriff auf das Beschleunigungsgebot der Durchsetzung allgemeiner Verfahrensziele des internationalen Strafprozesses.

a) Der individualrechtliche Gehalt des Beschleunigungsgebotes Ausgehend von den Verfahrensrechten in EMRK und IPbpR enthält der Grundsatz der Beschleunigung zunächst eine individuelle Garantie im Interesse des Angeklagten.875 Die Forderung nach einer zügigen Verhandlung muss vor dem Hintergrund der Freiheitsrechte des Beschuldigten verstanden werden. Streitet die Unschuldsvermutung bis zum Abschluss des Verfahrens für den Angeklagten, darf er den Belastungen des Strafprozesses nur im Rahmen zwingender Notwendigkeit ausgesetzt werden.876 Die Ungewissheit über den Ausgang des Verfahrens sowie die Unterwerfung unter Zwangsmaßnahmen stellen erhebliche Eingriffe in die Rechtssphäre des Beschuldigten dar. Dies gilt in besonderem Maße bei Anordnung von Untersuchungshaft, die als Regelfall völkerstrafrechtlicher Praxis eine fortwährende Beeinträchtigung der persönlichen Freiheit des Angeklagten begründet.877 Angesichts der Auswirkungen prozessualer Verzögerungen auf den inhaftierten Angeklagten erscheint eine mehr als elf Jahre andauernde Untersuchungshaft wie im Falle des am ICTR Angeklagten Mugiraneza rechtsstaatlich bedenklich.

b) Der objektivrechtliche Gehalt des Beschleunigungsgebotes Eine dauerhafte Bereitschaft der Staaten zur Finanzierung der Verfahren beruht praktisch auf einer effektiven Mittelverwendung des Gerichts. Die Unterstützung der Ad-hoc-Tribunale durch die Staatengemeinschaft ist essentielle Grundlage ihrer Arbeit und daher an einen zweckmäßigen Umgang mit den verfügbaren Ressourcen geknüpft.878 Wenngleich die Kostenfrage eine notwendige Existenzbedingung internationaler Gerichte ist, können Maßnahmen zur Verfahrensbeschleunigung nicht vorwiegend durch finanzielle Einsparungen gerechtfertigt werden. Die Verurteilung völkerrechtlicher Verbrechen ist als Voraussetzung von Frieden und Gerechtigkeit Zappalà, Human Rights, 2005, S. 124; Kamardi, Die Ausformung, 2009, S. 208. Donatsch, Das Beschleunigungsgebot im Strafprozess gemäß Art. 6 Ziff. 1 EMRK in der Rechtsprechung der Konventionsorgane, in: Thürer, D. [et al.], Aktuelle Fragen zur Europäischen Menschenrechtskonvention, 1994, S. 69 (70). 876 Donatsch, a. a. O., S.72. 877 Safferling, Towards an International Criminal Procedure, 2007, S. 251. 878 Die hohen Verfahrenskosten an ICTY und ICTR sind ein wesentlicher Kritikpunkt der Vereinten Nationen am Modell der Ad-hoc-Tribunale, siehe beispielhaft Grabenwarter / Griller / Holoubek, Europäisches und öffentliches Wirtschaftsrecht, 2010, S. 401. 874 875

VIII. Der Beschleunigungsgrundsatz

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wesentliche Aufgabe der Staatengemeinschaft, deren Wahrnehmung nicht maßgeblich von wirtschaftlichen Erwägungen abhängen darf. Mit der Beschleunigung völkerrechtlicher Verfahren werden jedoch auch wesentliche Ziele internationaler Strafprozesse erreicht.879 Ein zentrales Anliegen des Völkerstrafrechts ist die Gewährleistung globalen Friedens durch die Prävention und Sanktionierung internationaler Verbrechen.880 Die Wiederherstellung von Gerechtigkeit durch eine Verurteilung der verantwortlichen Täter ist wichtige Voraussetzung für den nationalen Versöhnungsprozess.881 Einen Beitrag zur Beendigung von Konflikten in der Region kann das internationale Strafrecht bestmöglich durch eine zeitnahe Aufarbeitung der Gewalttaten leisten. Insbesondere für die Opfer völkerrechtlicher Verbrechen ist eine zügige Ahndung der Taten ein notwendiger Schritt zur individuellen und kollektiven Verarbeitung der Ereignisse.882 Im Fall Norman betont der SCSL die Bedeutung einer unmittelbaren Reaktion der Vereinten Nationen auf die Begehung internationaler Straftaten: „If there is no peace without justice, there can be no peace until justice is done, Victims (…) may not achieve personal closure until the process concludes.“883

Will die Staatengemeinschaft mit der Einsetzung völkerrechtlicher Tribunale glaubwürdig Stellung für Frieden und Menschenrechte beziehen, muss sie eine direkte Antwort auf das begangene Unrecht geben. Seine generalpräventive Wirkung kann das Völkerstrafrecht nur entfalten, wenn es sich als effektives Instrument internationaler Gerechtigkeit erweist. Verzögerungen der Verfahren können Zweifel an einer Handlungsfähigkeit der internationalen Gemeinschaft begründen und das Vertrauen in die Arbeit der Gerichte schwächen. Da die Legitimität der Prozesse in erheblichem Maße von ihrer öffentlichen Wahrnehmung abhängt,884 ist eine zügige Verfahrensführung Bedingung für eine breite Akzeptanz der Tribunale und ihrer Urteile. Besonderes Gewicht erlangt vor dem Hintergrund rechtsstaatlicher Prozessgestaltung das Argument der materiellen Wahrheitsfindung. Eine zeitliche Distanz zu den Ereignissen erschwert eine effektive Ermittlungsarbeit und behindert den Zugang zu notwendigem Beweismaterial.885 Mit zunehmendem Zeitablauf verringert sich das Erinnerungsvermögen der Zeugen und entkräftet die Glaubwürdigkeit ihrer Aussagen.886 Boas, The Milošević Trial, 2007, S. 13. Schweisfurth, Völkerrecht, 2006, S. 511. 881 Jongkind, Die Aufarbeitung, in: Schmidt / Pickel / Pickel (Hrsg.), Amnesie, Amnestie oder Aufarbeitung?, 2009, S. 265 (278). 882 Hess, Aufarbeitung, 2007, S. 180; Schmidt / Pickel / Pickel, Einführung, in: Schmidt / Pickel / Pickel (Hrsg.), Amnesie, Amnestie oder Aufarbeitung?, 2009, S. 7 (18). 883 SCSL Norman et al., Decision on the Application for a Stay of Proceedings and Denial of Right to Appeal, SCSL-2003-7 / 8 / 9-PT, 4. November 2003, Rn. 8. 884 Jäger, Das Internationale Tribunal, 2005, S. 174 f. 885 Donatsch, a. a. O., S. 70. 886 von Ungern-Sternberg / Reinau, Vergangenheit, 1988, S. 295. 879 880

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

Der Grundsatz des zügigen Verfahrens ist individueller Anspruch des Angeklagten und zugleich Ausdruck objektiver Prozessgerechtigkeit. Die Gewährleistung eines zügigen Prozesses ist Grundlage für die Glaubwürdigkeit und Effektivität des Völkerstrafrechts. Diese „Doppelnatur“887 des Prinzips bedingt ein zweiseitiges Verhältnis der Beschleunigungsmaxime zur Rechtsposition des Beschuldigten. Die Erfahrungen am ICTY zeigen nicht zuletzt die Gefahr einer Behinderung der Justiz und Verschleppung der Prozesse durch den Beschuldigten.888 Wenngleich das Gebot der Prozessbeschleunigung wesentlich seinen Interessen Rechnung tragen soll, steht eine zeitnahe Verfahrensbeendigung nicht zur Disposition des Angeklagten.889 Der Grundsatz der effektiven Verfahrensführung muss sich auch dann bewähren, wenn die Verteidigung einen zügigen Abschluss der Verhandlungen zu vereiteln sucht.

c) Die Grenzen des Beschleunigungsgebotes – Grundsätze der Abwägung Die Durchsetzung eines zügigen Verfahrens ist im Interesse eines fairen und nachhaltigen Strafprozesses geboten. Gleichwohl müssen Maßnahmen zur Prozessbeschleunigung sorgsam mit der Verantwortung völkerstrafrechtlicher Tribunale für die Wahrung von Gerechtigkeit und Menschenrechten abgewogen werden. Im Fall Kovačević hatte der ICTY über einen Antrag der Anklage auf nachträgliche Erweiterung der Anklage um vierzehn zusätzliche Punkte zu entscheiden890 Die Hauptverfahrenskammer lehnte das Gesuch nach Regel 50 and 73(A) ICTYRPE aufgrund des entstehenden Mehraufwandes in der Beweisaufnahme ab. Durch die Ergänzung der Anklageschrift zu einem fortgeschrittenen Zeitpunkt des Verfahrens sah das Gericht den Anspruch des Beschuldigten auf eine zügige Prozessführung beeinträchtigt.891 In der Berufung verwarfen die Richter den Beschluss der Kammer.892 Angesichts der Komplexität von Sach- und Rechtslage könne die zu erwartende Verzögerung des Verfahrens um weitere sieben Monate nicht als unangemessen bewertet werden.893 Der Sachverhalt in Kovačević weist auf die notwendigen Grenzen des Beschleunigungsgebotes hin. Eine erschöpfende Verhandlung der Anklagepunkte ist wesentliche Voraussetzung für die Ermittlung der historiBoas, The Milošević Trial, 2007, S. 13 f. Boas, The Milošević Trial, 2007, S. 13. 889 Boas, The Milošević Trial, 2007, S. 13. 890 ICTY Kovacevic, Decision on Prosecutor’s Request to File an Amended Indictment, IT97-24, 5. März 1998. 891 Die Kammer stütze ihre Entscheidung zudem auf die Tatsache, dass der Ankläger keine hinreichenden Gründe für die verspätete Geltendmachung der Anklagepunkte vorgebracht hätte. 892 ICTY Prosecutor v. Kovacevic, Decision Stating Reasons for Appeals Chamber’s Order of 29 May 1998, IT-97-24-AR73, 2. Juli 1998. 893 ICTY Kovacevic, Decision Stating Reasons for Appeals Chamber’s Order of 29 May 1998, IT-97-24-AR73, 2. Juli 1998, Rn. 31. 887 888

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schen Tatsachen und eine umfassende Aufarbeitung im Interesse der Opfer. Die Durchsetzung eines zügigen Verfahrens darf der Verantwortung des Strafprozesses für eine gerechte und umfassende Ahndung völkerrechtlicher Verbrechen nicht entgegenstehen.894 Der Schutz einer materiellen Wahrheitsfindung ist als widerstreitende Verfahrensprämisse mit dem Recht des Angeklagten auf ein zügiges Verfahren in Abwägung zu bringen. Als weitere Grenze des Beschleunigungsgebotes ist das Spannungsfeld zu den Verteidigungsrechten des Angeklagten zu beachten.895 Dem Angeklagten steht nach den Verfahrensgarantien der Statuten das Recht auf „hinreichend Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung seiner Verteidigung“ zu.896 Zappalà beschreibt die Prozessrechte des Beschuldigten als Schranke der Verfahrensbeschleunigung und lehnt eine Rechtfertigung gerichtlicher Eingriffe auf Grundlage des Prinzips ab: „The desire to ensure speedy trials can under no circumstances be taken as a justification for reducing the rights of the defendants.“897

Die Aussage Zappalàs geht, wird sie grundsätzlich verstanden, zu weit. Es ist ihm darin beizupflichten, dass die Durchführung eines zügigen Verfahrens eine generelle Beschränkung anerkannter Beschuldigtenrechte nicht zu rechtfertigen vermag. Für den jeweiligen Einzelfall kann die Absolutheit eines Eingriffsverbots jedoch nicht gelten. Vielmehr muss in Normierung und Praxis des internationalen Strafverfahrensrechts ein sinnvoller Ausgleich zwischen den Verteidigungsrechten und dem Beschleunigungsgebot angestrebt werden.898 Einigkeit sollte hierbei in der Überzeugung bestehen, dass das Bedürfnis nach einem zügigen Urteilsspruch die Zwecke des völkerstrafrechtlichen Verfahrens nicht grundsätzlich in Frage stellen darf. Als rechtsstaatliche Maxime muss das Gebot der Beschleunigung neben die bestehenden Verfahrensziele treten und ihre prozessualen Vorgaben ergänzen. Konsequenz des Beschleunigungsgebotes kann daher ausschließlich eine Abwägung, nicht jedoch die Aufgabe der bestehenden Verfahrensziele sein. So darf unter Hinweis auf denkbare Verfahrensverzögerungen beispielsweise eine zunehmende Integration von Opfern in den internationalen Strafprozess nicht generell abgelehnt, wohl aber beschränkt oder modifiziert werden.899

894 ICTY. Kovacevic, Decision Stating Reasons for Appeals Chamber’s Order of 29 May 1998, IT-97-24-AR73, 2. Juli 1998, Rn. 31. 895 Boas, The Milošević Trial, 2007, S. 26. 896 Siehe Art. 67 Abs. 1 lit. b ICC-Statut, Art. 21 Abs. 4 lit. c ICTY-Statut, Art. 20 Abs. 4 lit. b ICTR-Statut; ebenfalls enthalten in Art. 14 III b IPbpR, 6 III b EMRK. 897 Zappalà, Human Rights, 2005, S. 28. 898 Boas, The Milošević Trial, 2007, S. 68: „The pressure of these sometimes conflicting goals are enormous.“ 899 Die Berücksichtigung von Opferinteressen gewinnt im internationalen Strafrecht an Bedeutung. Der ICC sieht eine Kompensation, die ECCC eine Nebenklägerbeteiligung der Opfer vor; vgl. Hoven, HuV 22 (2009), S. 176 (176 ff.).

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4. Der Beschleunigungsgrundsatz als individuelles Recht des Angeklagten Im Interesse des Angeklagten erfordert der Grundsatz der Beschleunigung einen zeitnahen und zügigen Abschluss des Strafverfahrens. Der Anspruch auf einen beschleunigten Prozessverlauf beginnt mit der Unterrichtung des Verdächtigen von den Ermittlungen gegen seine Person.900 Da der Beschuldigte zum Zeitpunkt der Bekanntgabe dem Druck strafrechtlicher Verfolgung unterworfen ist, hat er bereits vor Eröffnung des Verfahrens das Recht auf ein zügiges Vorgehen des Gerichts.901 Der Anspruch auf Beschleunigung endet mit der Erschöpfung der Rechtsmittel und der Verkündung des letztinstanzlichen Urteils.902

a) Kriterien zur Bestimmung der zulässigen Verfahrensdauer Die Bestimmung der zulässigen Verfahrensdauer setzt eine Festlegung legitimer Bewertungsmaßstäbe voraus. Auf internationaler Ebene entwickelte der EGMR erstmals konkrete Richtlinien für die Beurteilung prozessualer Verzögerungen. Ausgehend von der Rechtsprechung des EGMR präzisierten insbesondere die Ad-hocTribunale die Indizien für eine Verletzung des Beschleunigungsgrundsatzes im völkerstrafrechtlichen Kontext. aa) Die Rechtsprechung des EGMR Im Rahmen einer Konkretisierung von Art. 6 Abs. 1 EMRK entwickelte der EGMR Kriterien für die Ermittlung einer angemessenen Prozessdauer:903  Die Komplexität des Verfahrens,904  das Prozessverhalten des Angeklagten,905  das öffentliche Interesse an den Verhandlungen.906

Wesentlich für die Bewertung der Verfahrenszeit ist nach Auffassung des Gerichtshofs die Komplexität der Sach- und Rechtslage des Einzelfalles.907 Eine ent900 EGMR Ringeisen v. Österreich, Application No. 2614 / 65, 16. Juli 1971, Series A, No. 13, Z. 110. 901 EGMR Neumeister v. Österreich, Application No. 1936 / 63, 27. Juni 1968, Series B, S. 81. 902 Safferling, Towards an International Criminal Procedure, 2007, S. 250. 903 Ehlers / Becker, Europäische Grundrechte, 2005, S. 170. 904 EGMR Smirnova v. Russland, Application No. 46133 / 99, 48183 / 99, 24. Juli 2003. 905 EGMR König v. Deutschland, Application No. 6232 / 73, 28. Juni 1978, Series A, No. 27, Rn. 111. 906 EGMR Ruiz-Mateos v. Spanien, Application No. 12952 / 87, 23. Juni 1993, Series A, No. 262, Z. 52.

VIII. Der Beschleunigungsgrundsatz

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scheidende Rolle spielen hierbei der Umfang des Beweismaterials908, die Anzahl der Beschuldigten909 sowie die Notwendigkeit einer Ermittlungstätigkeit im Ausland.910 Die Grenze zulässiger Verfahrensdauer ist zudem vom Verhalten des Angeklagten selbst abhängig. Absichtliche Verzögerungen der Verhandlungen werden zu Lasten der Verteidigung in die Prüfung einer Rechtsverletzung einbezogen.911 An die Ausschöpfung legitimer Prozessmittel dürfen sich indes keine negativen Folgen für den Beschuldigten knüpfen. Die Berücksichtigung seines Verhaltens ist nicht als Pflicht zur Kooperation mit der Anklage misszuverstehen, sondern sanktioniert ausschließlich Fälle bewusster Prozessverschleppung.912 Zuletzt erkennt das Gericht die Bedeutung der Verfahren für die Gesellschaft als vertretbaren Grund einer umfangreichen Beweisermittlung und konsequenten Verlängerung der Prozessdauer an.913 bb) Die Rechtsprechung der Ad-hoc-Tribunale Der Rechtsprechung des EGMR wird von den Ad-hoc-Tribunalen ein Persuasionseffekt („persuasive effect“) für die Auslegung der prozessualen Garantien ihrer Statuten zuerkannt.914 So nahm der ICTY im Fall Blaškić explizit auf die Erkenntnisse des EGMR Bezug und legte sie seiner Interpretation des Beschleunigungsgebotes zugrunde.915 In der Rechtssache Bizimungu et al. betonte die Hauptverfahrenskammer des ICTR demgegenüber die fehlende Verbindlichkeit einer Auslegung durch den EGMR. Als primäre Rechtsquellen für den ICTR müssten das Statut sowie die bestehende Judikatur der Kammern zugrunde gelegt werden. Ein Rückgriff auf die Grundsätze der EGMR-Rechtsprechung sei angesichts der existierenden Verfahrenspraxis am ICTR nicht geboten.916 Die Entscheidung über eine Verletzung des 907 EGMR Smirnova v. Russland, Application No. 46133 / 99, 48183 / 99, 24. Juli 2003, Rn. 86. 908 EGMR Boddaert v. Belgien, Application No. 12919 / 87, 12. Oktober 1992, Series A, No. 235-D, Rn. 37. 909 EGMR Eckle v. Deutschland, Application No. 8130 / 78, 15. Juli 1982, Series A, No. 51. 910 EGRM Neumeister v. Österreich, Application No. 1936 / 63, 27. Juni 1968, Series A, No. 8, Rn. 21. 911 EGRM König v. Deutschland, Application No. 6232 / 73, 28. Juni 1978, Series A, No. 27, Rn. 111. 912 Safferling, Towards an International Criminal Procedure, 2007, S. 254. 913 EGMR Ruiz-Mateos v. Spanien, Application No. 12952 / 87, 23. Juni 1993, Series A, No. 262, Z. 52. 914 ICTR Bizimungu et al., Decision on Prosper Mugiraneza’s Fourth Motion to Dismiss Indictment for Violation of Right to Trial Without Undue Delay, ICTR-99-50-T, 23. Juni 2010, Rn. 6. 915 ICTY Blaskic, Order Denying a Motion for Provisional Release, IT-95-14-T, 20. Dezember 1996. 916 ICTR Bizimungu et al., Decision on Prosper Mugiraneza’s Fourth Motion to Dismiss Indictment for Violation of Right to Trial Without Undue Delay, ICTR-99-50-T, 23. Juni 2010,

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

Beschleunigungsgebots könne nicht generalisiert werden, sondern habe auf „caseby-case basis“917 zu erfolgen. Maßgeblich für die Feststellung eines Verfahrensverstoßes sind nach Auffassung der Berufungskammer des ICTR die folgenden Kriterien:918  Die Dauer der Verzögerung,  die Komplexität des Verfahrens,  das Verhalten der Verfahrensbeteiligten,  das Verhalten der zuständigen Organe („relevant authorities“),  die Benachteiligung des Angeklagten durch die Verzögerungen.

Die Kammer konkretisiert die Anforderungen an die Komplexität eines Verfahrens durch den Faktor der Anzahl von Anklagepunkten, Angeklagten, Zeugen und Beweismitteln.919 Als wesentlich für die Annahme einer Rechtsverletzung des Angeklagten wird zudem eine Zurechnung der Verzögerungen zum Verantwortungsbereich der Anklage oder des Gerichtes angenommen.920 Übertragen auf das Völkerstrafrecht können die entwickelten Richtlinien eine nicht unerhebliche Dauer internationaler Strafverfahren dem Grunde nach rechtfertigen. Die hochgradige Komplexität des Beweisverfahrens, das neben Untersuchungen im Ausland die Sichtung zahlreicher Dokumente und Zeugenaussagen erfordert, muss zu Verzögerungen im Prozessverlauf führen.921 In Anbetracht der Vielzahl von Tätern und Opfern in internationalen Konflikten gestalten sich die Ermittlungen der Anklage von Beginn an zeitintensiv.922 Zugleich begründen die Gewährleistung von Zeugenschutz sowie die Notwendigkeit staatlicher Kooperation besondere Herausforderungen für eine effektive Prozessführung.923 Schließlich erschwert die differenzierte Zwecksetzung des internationalen Strafverfahrens einen zügigen Abschluss Rn. 6. Eine andere Ansicht hierzu vertritt Richter Short, der in seiner Dissenting Opinion auf die vom EGMR entwickelten Richtlinien zurückgreift. 917 ICTR Renzaho, Appeals Judgement, ICTR-97-31-A, 1. April 2011, Rn. 238. 918 ICTR Bizimungu et al., Decision on Prosper Mugiraneza’s Interlocutory Appeal from Trial Chamber II Decision of 2 October 2003 Denying the Motion to Dismiss the Indictment, Demand Speedy Trial and for Appropriate Relief, ICTR-99-50-AR73, 27. Februar 2004, S. 2 f. 919 ICTR Bizimungu et al., Decision on Prosper Mugiraneza’s Interlocutory Appeal from Trial Chamber II Decision of 2 October 2003 Denying the Motion to Dismiss the Indictment, Demand Speedy Trial and for Appropriate Relief,. ICTR-99-50-AR73, 27. Februar 2004, S. 2. 920 ICTR Renzaho, Appeals Judgement, ICTR-97-31-A, 1. April 2011, Rn. 239; ICTR Bizimungu et al., Decision on on Prosper Mugiraneza’s Interlocutory Appeal from Trial Chamber II Decision of 2 October 2003 Denying the Motion to Dismiss the Indictment, Demand Speedy Trial and for Appropriate Relief, ICTR-99-50, 27. Februar 2004, S. 3. 921 Heinsch, How to achieve Fair and Expeditious Trial Proceedings before the ICC, in: Stahn / Sluiter (Hrsg.), The Emerging Practice of the International Criminal Court, 2009, S. 479 (483). 922 Heinsch, a. a. O. 923 Heinsch, a. a. O., S. 484.

VIII. Der Beschleunigungsgrundsatz

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der Verhandlungen. Im Unterschied zum Regelfall nationaler Verfahren erschöpft sich das Ziel der Prozesse nicht in der Bestrafung des Täters, sondern verlangt im Interesse der Öffentlichkeit eine umfassende historische Aufarbeitung der Ereignisse.924 Ungeachtet der grundsätzlichen Anerkennung eines bedeutenden Zeitaufwandes internationaler Strafprozesse muss die Dauer eines Verfahrens im Einzelfall gerechtfertigt sein. Dies gilt in besonderer Weise für den Zeitraum zwischen Beendigung der Verhandlungen und Verkündung des Urteils. Die Auswirkungen der Kriterien von Zeugenschutz oder Kooperation relativieren sich nach Abschluss der Hauptverhandlung. Zwar erfordert die Entscheidung über den Schuldspruch eine gewissenhafte Würdigung des umfangreichen Beweismaterials. Die mit den Besonderheiten einer völkerstrafrechtlichen Beweisaufnahme verbundenen Verzögerungen wirken sich in diesem Stadium jedoch nicht länger aus.

cc) Die Anwendung der Kriterien durch den ICTR In ihrer jüngsten Entscheidung über den Antrag des Angeklagten Renzaho lehnt die Berufungskammer eine Verletzung des Beschleunigungsgebotes trotz einer Zeitspanne von gut eineinhalb Jahren zwischen Verhandlungsende und Urteilsverkündung ab.925 Im Juni 2010 hatte bereits die Hauptverfahrenskammer II in der Rechtssache Bizimungu et al. mehrheitlich eine Rechtsverletzung des Angeklagten Mugiraneza verneint.926 Mugiraneza, der sich seit April 1999 in Untersuchungshaft befindet, wartet seit Dezember 2008 auf sein Urteil. Einzig Richter Emile Francis Short aus Ghana wich in einem Sondervotum von der Kammeransicht ab und bejahte einen Verstoß gegen den Anspruch des Angeklagten auf ein zügiges Verfahren.927 (1) Die Argumentation der Rechtsprechung In der Rechtssache Renzaho stützte die Berufungskammer ihre Entscheidung auf eine fehlende Zurechnung der Verfahrensverzögerungen zum Verantwortungsbereich des Gerichts.928 Der Angeklagte habe nicht dargelegt, welche Handlungen der Anklagebehörde oder der Kammern zu einer unzulässigen Prozessdauer geführt hätten. Allein der Verweis auf die tatsächliche Dauer des Verfahrens könne nicht genügen, um eine Verletzung des Beschleunigungsgebotes zu begründen. Zudem müsse bei der Bewertung prozessualer Verzögerungen die Komplexität eines ProRomano / Nollkaemper / Kleffner, Internationalized Criminal Courts, 2004, S. 338. ICTR Renzaho, Appeals Judgement, ICTR-97-31-A, 1. April 2011. 926 ICTR Bizimungu et al., Decision on Prosper Mugiraneza’s Fourth Motion to Dismiss Indictment for Violation of Right to Trial Without Undue Delay, ICTR-99-50-T, 23. Juni 2010. 927 ICTR Bizimungu et al., Partially Dissenting Opinion of Judge Emile Francis Short, ICTR-99-50-T, 23. Juni 2010. 928 ICTR Renzaho, Appeals Judgement, ICTR-97-31-A, 1. April 2011, Rn. 239. 924 925

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zesses mit sechs Anklagepunkten sowie räumlich und zeitlich gestreuten Tatvorwürfen berücksichtigt werden.929 Unbeantwortet lässt die Berufungskammer allerdings die Frage, weshalb die Fertigung des Urteils fast ein halbes Jahr mehr in Anspruch nahm als die Durchführung des Hauptverfahrens. Im Falle des Angeklagten Mugiraneza beruft sich die Hauptverfahrenskammer ebenfalls auf den Umfang von Beweismaterial und Anklagevorwurf.930 In seinem Urteil wird das Gericht über die Schuld von vier Mitangeklagten zu befinden haben und hierbei Aussagen von 171 Zeugen an insgesamt 404 Verhandlungstagen berücksichtigen müssen. Angesichts der komplexen Beweislage stelle eine Zeitspanne von zwei Jahren zwischen Verfahrensende und Urteilsverkündung nicht per se eine Verletzung des Rechts auf zügige Prozessführung dar.931 Hinzutreten müsse eine Verantwortlichkeit der zuständigen Organe („relevant authorities“) für die Verzögerung des Verfahrens. Die Verteidigung Mugiranezas hatte ein zurechenbares Verhalten aufgrund der fehlenden Bereitstellung notwendiger Ressourcen durch den UN-Sicherheitsrat angenommen.932 Die Kammer wies die Argumentation mit der Begründung zurück, Mugiraneza habe keinen Nachweis für einen Mangel an personellen und finanziellen Mitteln am ICTR erbracht: „Mugiraneza had failed to provide any details to support his assertion that the Tribunal lacks the personnel and facilities to perform its functions.“933

Schließlich könne auch die Dauer der Untersuchungshaft die Annahme einer Rechtsverletzung des Angeklagten nicht stützen.934 Auch eine Haftdauer von elf Jahren könne bei entsprechender Komplexität des Sachverhaltes geboten sein. (2) Kritik an der Rechtsprechung des ICTR Die Rechtsprechung des ICTR kann weder in ihren Begründungsansätzen noch in ihren prozessualen Konsequenzen überzeugen. ICTR Renzaho, Appeals Judgement, ICTR-97-31-A, 1. April 2011, Rn. 240. ICTR Bizimungu et al., Decision on Prosper Mugiraneza’s Fourth Motion to Dismiss Indictment for Violation of Right to Trial Without Undue Delay, ICTR-99-50-T, 23. Juni 2010, Rn. 12, 13. 931 ICTR Bizimungu et al., Decision on Prosper Mugiraneza’s Fourth Motion to Dismiss Indictment for Violation of Right to Trial Without Undue Delay, ICTR-99-50-T, 23. Juni 2010, Rn. 11. 932 ICTR Bizimungu et al., Prosper Mugiraneza’s Reply to Prosecutor’s Response to Prosper Mugiraneza’s 11th Anniversary Motion to Dismiss Indictment for Violation of Right to Trial Without Undue Delay, ICTR-99-50-T, 15. April 2010, Rn. 17b. 933 ICTR Bizimungu et al., Decision on Prosper Mugiraneza’s Fourth Motion to Dismiss Indictment for Violation of Right to Trial Without Undue Delay, ICTR-99-50-T, 23. Juni 2010, Rn. 16. 934 ICTR Bizimungu et al., Decision on Prosper Mugiraneza’s Fourth Motion to Dismiss Indictment for Violation of Right to Trial Without Undue Delay, ICTR-99-50-T, 23. Juni 2010, Rn. 17, 18. 929 930

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Der Rückgriff auf die Komplexität der Beweisaufnahme birgt die Gefahr einer generellen Rechtfertigung überlanger Verfahren an internationalen Strafgerichten. Der Umfang der Beweislage sowie die Schwierigkeit ihrer tatsächlichen und rechtlichen Würdigung sind völkerstrafrechtlichen Prozessen immanent. Erscheint eine Verzögerung des Urteilsspruchs auch nach den Maßstäben der internationalen Praxis erheblich, bedarf sie einer besonderen Rechtfertigung. Der pauschale Verweis der Kammern auf die Anzahl von Anklagepunkten und Zeugen kann nicht genügen. Das Gericht hätte im Einzelfall ausführen müssen, welche besonderen Probleme die Urteile in Renzaho und Mugiraneza im Vergleich zu sonstigen Verfahren vor internationalen Straftribunalen aufwarfen. Angesichts der Bedeutung des Beschleunigungsgrundsatzes als objektive Verfahrensgarantie und individuelles Recht des Angeklagten wäre an dieser Stelle ein deutlich höherer Begründungsaufwand erforderlich gewesen. In jedem Falle nicht nachvollziehbar erscheint die Tatsache, dass die Bewertung des Beweismaterials in der Rechtssache Renzaho mehr Zeit in Anspruch nahm als seine Präsentation in der Hauptverhandlung. Eine Erklärung bleibt das Gericht insoweit schuldig. Ein weiterer Kritikpunkt an den Entscheidungen der Kammern betrifft die Frage der gerichtlichen Verantwortlichkeit für die Prozessverzögerung. Die Verteidigung Mugiranezas hatte dem UN-Sicherheitsrat vorgeworfen, nicht genügend Ressourcen für die Gewährleistung eines zügigen Verfahrens bereitzustellen. In der Rechtsprechung des EGMR wird die Annahme eines Organisationsverschuldens durch die unzureichende Ausstattung nationaler Gerichte grundsätzlich anerkannt.935 Nach der Entscheidung des Gerichtshofes in O’Reilly and others v. Ireland trifft die Staaten eine Verpflichtung zur effektiven Organisation ihres Justizsystems.936 Anklagebehörden und Gerichte sind so einzurichten, dass ein zügiger Prozessabschluss garantiert werden kann. Strukturelle Überlastungen verletzen die Justizgewährleistungspflicht und begründen aus sich heraus die Unangemessenheit der Verfahrensdauer.937 Eine Berufung auf fehlende personelle Mittel und die Arbeitsbelastung der Richter können eine Prozessverzögerung daher nicht rechtfertigen. Die Erwägungen des EGMR sind auf die Ebene internationaler Gerichtsbarkeit übertragbar. Als Gründungsorgan steht der UN-Sicherheitsrat in der Pflicht, die Adhoc-Tribunale mit den erforderlichen finanziellen Ressourcen auszustatten. Mit der Einsetzung eines Strafgerichts übernimmt der Sicherheitsrat die Verantwortung für die Gewährleistung fairer und rechtsstaatlicher Verfahren. Ihm obliegt es, die notwendigen Rahmenbedingungen für eine effektive Verwirklichung prozessualer Garantien zu schaffen. An dieser Stelle bleibt die Argumentation der Kammer schwach. Dem Angeklagten wird angelastet, keine „Details“ zum Nachweis für einen Ressourcenmangel am 935 EGRM Muti v. Italy (1994) Séries A No. 281-C, Rn. 15; Pélissier and Sassi v. France, ECHR 1999-II, Rn. 74. 936 EGMR O’Reilly and others v. Ireland, Application No. 54725 / 00, 29. Juli 2004, Rn. 33. 937 Donatsch, a. a. O., S. 79.

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ICTR vorgebracht zu haben.938 Der Verteidigung dürfte es indes regelmäßig schwer fallen, die im Einzelfall ursächlichen personellen und strukturellen Defizite zu benennen. Die besondere Dauer des Verfahrens muss hier richtigerweise zu einer Umkehr der Darlegungslast führen. Ist in eineinhalb Jahren nach Abschluss der Hauptverhandlungen kein Urteil ergangen, streitet eine widerlegliche Vermutung für ein Organisationsverschulden des Gründungsorgans. In der Rechtsache Eckle v. Deutschland stellte auch der EGMR eine entsprechende Darlegungsumkehr für gravierende Verfahrensverzögerungen fest.939 In Fällen von erheblicher Prozessdauer obliege es den Staaten, die Vermutung für eine Unangemessenheit der Prozessdauer zu entkräften. Die Indizwirkung einer Verzögerung kann in Fällen besonderer Komplexität entfallen. Hier ist es jedoch abermals Aufgabe des Gerichts, konkrete Umstände für einen erheblichen Mehraufwand in der Beweiswürdigung darzulegen. Gelingt dies nicht, muss eine Verfahrensverzögerung dem Verantwortungsbereich des Gerichts zugerechnet werden. In den Fällen Renzaho und Mugiraneza wäre somit eine Verletzung der Angeklagten in ihrem Recht auf ein zügiges Verfahren anzunehmen gewesen. In seinem Sondervotum weist Richter Short darüber hinaus auf Fehler in der internen Organisation der Kammern hin. Der ICTR räume einer zeitnahen Beendigung der Prozesse nicht die notwendige Priorität ein. Es habe sich eine Praxis entwickelt, zunehmend neue Verhandlungen zu eröffnen anstatt laufende Verfahren abzuschließen.940 Dieses Vorgehen führe zu einer zusätzlichen Arbeitsbelastung der Richter, die ihrem Auftrag einer beschleunigten Prozessführung nicht gerecht werden könnten.941 In der Tat erscheint die Beteiligung der Richter an einer Vielzahl verschiedener Verfahren nicht unproblematisch. Die im Fall Bizimungu et al. verantwortlichen Richter Khan und Muthoga wurden nach Ende der Hauptverhandlung für die Prozesse gegen Zigiranyirazo, Nshogoza, Ntawukulilyayo und Gatete eingesetzt. Ihre Inanspruchnahme durch laufende Hauptverhandlungen geht zu Lasten einer zügigen Urteilsfindung. Kann das Gericht seine Verfahren personell nicht sinnvoll bewältigen, muss es notwendige Ressourcen – wie die Beiordnung weiterer Ad-litem-Richter – anfordern. Nicht zuletzt begründet die hohe personelle Fluktuation in den Kammern ein strukturelles Defizit. Aufgrund der Durchsetzung der „Completion Strategies“ am ICTR kann das Gericht seinem Personal keine Arbeitsplatzsicherheit gewährleisten. Mitarbeiter, die ein Angebot von einer anderen Institution erhalten, geben daher regelmäßig ihre Stelle am ICTR auf. Da sie maßgeblich an der Formulierung von 938 ICTR Bizimungu et al., Decision on Prosper Mugiraneza’s Fourth Motion to Dismiss Indictment for Violation of Right to Trial Without Undue Delay, ICTR-99-50-T, 23. Juni 2010, Rn.16. 939 EGMR Eckle v. Deutschland, Séries A. Vol. 51. Rn. 82. 940 ICTR Bizimungu et al., Partially Dissenting Opinion of Judge Emile Francis Short, ICTR-99-50-T, 23. Juni 2010, Rn. 4. 941 ICTR Bizimungu et al., Partially Dissenting Opinion of Judge Emile Francis Short, ICTR-99-50-T, 23. Juni 2010, Rn. 4, 5.

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Urteilen beteiligt sind, entstehen Lücken in der Erarbeitung der Entscheidungsgrundlagen. Durch die notwendige Einarbeitungsphase neuer Beschäftigter fehlt es in den Kammern an der erforderlichen personellen Konstanz, um ein Verfahren zeitnah zu beenden.

b) Fazit zum Anspruch des Angeklagten auf ein zügiges Verfahren Das Gebot der Beschleunigung ist eine wichtige Prämisse für die Gewährleistung eines rechtsstaatlichen und fairen Strafverfahrens. Dem Anspruch an einen zügigen Prozessverlauf werden durch das Bedürfnis nach materieller Wahrheitsfindung und effektiver Verteidigung rechtliche wie praktische Grenzen gesetzt. Angesichts der notwendigen Vereinbarung der divergierenden Ziele völkerstrafrechtlicher Prozesse ist eine abstrakte Bestimmung der zulässigen Verfahrensdauer nicht sinnvoll möglich.942 Die Aussage von Richter Jorda zur angemessenen Dauer von Ad-hoc-Verfahren – „A trial should never last more than 18 months total.“943 – ist daher weniger als rechtsverbindliches Gebot denn als politische Zielvorgabe zu verstehen. Die von der internationalen Rechtsprechung entwickelten Maßstäbe erscheinen grundsätzlich geeignet, das Beschleunigungsgebot unter Berücksichtigung der besonderen Herausforderungen eines internationalen Strafverfahrens zu verwirklichen. In der Praxis fehlt es jedoch oftmals an einer konsequenten Anwendung der Kriterien. Auch erhebliche Verfahrensverzögerungen werden – möglicherweise aus Sorge um die prozessualen Folgen – bislang hingenommen.944 Hierbei ist zu bedenken, dass die Annahme einer Rechtsverletzung nicht zwingend ein Verfahrenshindernis begründet. Entsprechend der Strafzumessungslösung im deutschen Recht945 könnte ein Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot im Rahmen der Strafzumessung oder einer schadensrechtlichen Kompensation Berücksichtigung finden.946 Der Zeitraum zwischen Verhandlungsende und Urteilsverkündung bedarf in besonderer Weise einer kritischen Würdigung unter dem Blickwinkel der Beschleunigung. In dieser Phase bestehen keine der Hauptverhandlung vergleichbaren Unwäg942 Die Anwendung einer starren zeitlichen Grenze, die in Anlehnung an die Rechtsprechung des EGMR häufig auf 33 Monate festgesetzt wird, muss daher abgelehnt werden; Bachmann, Die Rolle des Internationalen Jugoslawien-Tribunals, in: Daxner / Jordan (Hrsg.), Bilanz Balkan, 2005, S. 224 (229). So auch ICTY Kovacevic, Decision Stating Reasons for Appeals Chamber’s Order of 29 May 1998, IT-97-24-AR73, 2. Juli 1998, Rn. 28. 943 Franck Petit (Hrsg.), Interview with Judge Claude Jorda, president of the Pre-TrialChamber: „A trial should never last more than 18 months total.“, in: International Justice Tribune, ICC in 2006: Year One, 2007, S. 63. 944 Hierbei ist zu bedenken, dass die Annahme einer Rechtsverletzung keine Aussetzung des Verfahrens zur Folge haben muss – entsprechend der Strafzumessungslösung im deutschen Strafrecht. 945 BGHSt 52, 124. 946 So auch ICTR Bizimungu et al., Partially Dissenting Opinion of Judge Emile Francis Short, ICTR-99-50-T, 23. Juni 2010, Rn. 6.

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barkeiten durch die Erfordernisse einer Beweisaufnahme. Beispielhaft sei die Übersetzung von Zeugenaussagen genannt, die einen wesentlichen Grund für die lange Verfahrensdauer am ICTR darstellen. Die Vernehmung der Zeugen muss von Kinyarwanda ins Englische und Französische übertragen sowie eine Zusammenfassung des Aussageprotokolls erstellt werden. Die notwendige Übersetzungsarbeit wird abschließend im Rahmen der Hauptverhandlung geleistet und kann in der Phase der Urteilsfindung zu keiner Verzögerung führen. Somit wirkt sich die generelle Komplexität eines internationalen Strafverfahrens vorrangig im Rahmen der Beweisgewinnung aus. Die spätere Auswertung des dokumentierten Beweismaterials ist demgegenüber primär Ressourcenfrage. Kommt es nach Abschluss der Hauptverhandlung zu besonderen Verzögerungen, trifft das Gericht eine Darlegungslast für ihre Angemessenheit im konkreten Fall. Strukturelle und organisatorische Defizite der Kammern begründen dabei grundsätzlich eine Verletzung des Rechts auf ein zügiges Verfahren. Angesichts der zunehmend bedenklichen Prozessdauer am ICTR liegt es nahe, Mängel in der Organisation und finanziellen Ausstattung des Gerichts anzunehmen. Es ist bedauerlich, dass die Kammern die Chance vergeben haben, mit der Feststellung einer Verletzung des Beschleunigungsgrundsatzes auf bestehende Probleme hinzuweisen. Eine Entscheidung mit Appellwirkung wäre auch im Hinblick auf eine präventive Wirkung für zukünftige Verfahren wünschenswert gewesen. Mit der Rüge eines Rechtsverstoßes in den Fällen Renzaho und Mugiraneza hätte das Gericht ein eindeutiges Bekenntnis zu einem fairen Verfahren und der Forderung nach einer effektiven internationalen Gerichtsbarkeit formulieren können.

5. Der Beschleunigungsgrundsatz als objektives Verfahrensprinzip am Beispiel der Completion Strategies Eine konsequente Verwirklichung der Ziele des internationalen Strafverfahrens zieht dem Grundsatz des zügigen Verfahrens Grenzen. Das Gebot der materiellen Wahrheitsfindung im Interesse einer nachhaltigen Vergangenheitsbewältigung sowie die Ansprüche an ein faires Verfahren erfordern eine umfassende Aufarbeitung der Beweislage. Maßnahmen der Prozessbeschleunigung müssen daher sorgsam mit der Verantwortung völkerstrafrechtlicher Tribunale für die Wahrung von Gerechtigkeit und Menschenrechten abgewogen werden. Vor diesem Hintergrund sollen die Completion Strategies an den Ad-hoc-Tribunalen untersucht werden. Die Befristung der Arbeitsdauer von ICTY und ICTR hat erhebliche Schritte zur Verkürzung der laufenden Verfahren erforderlich gemacht. Unter dem Blickwinkel rechtsstaatlicher Abwägung ist die Vereinbarkeit der Maßnahmen mit den Verfahrenszielen der Tribunale zu beurteilen. Mit der zeitlichen Beschränkung der Mandate völkerrechtlicher Strafgerichte soll die Effektivität ihrer Verfahren garantiert werden. Die Fristsetzungen für die Adhoc-Tribunale stellen auf internationaler Ebene keinen Einzelfall dar. Bereits in Ost-

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Timor wurde die Dauer der Prozesse durch Beschluss der Vereinten Nationen begrenzt. Auch in Zukunft ist nicht auszuschließen, dass temporär eingesetzte Gerichte zeitlichen Restriktionen unterworfen werden. Wenngleich die Entscheidung für die Completion Strategies an den Ad-hoc-Tribunalen weniger durch das Beschuldigtenrecht auf ein faires Verfahren als vielmehr durch finanzielle Erwägungen motiviert sind, zeigen sie exemplarisch die Möglichkeiten und Grenzen von Maßnahmen zur Prozessverkürzung.

a) Rechtlicher und politischer Hintergrund der Completion Strategies „The Tribunal has always been mindful that its role is not that of a permanent court, but of an ad hoc entity intended to complete a task that is finite, albeit large and complex.“947

Mit Einsetzung der Ad-hoc-Tribunale für Ruanda und das ehemalige Jugoslawien sollte eine juristische Aufarbeitung von konkreten Konfliktsituationen erfolgen. Nach dem Willen der Vereinten Nationen war das Mandat der Gerichte von Beginn an zeitlich und inhaltlich beschränkt. Gleichwohl fehlte es zunächst an einer Festlegung klarer Grenzen für den Abschluss der Verhandlungen. Mit zunehmender Inanspruchnahme personeller und finanzieller Ressourcen wuchs die Kritik der Staatengemeinschaft an der Dauer des Verfahrens. Da der Friedensprozess in der Region bereits weitgehend abgeschlossen war, schien zudem eine wesentliche Aufgabe des Tribunals beendet.948 Den entscheidenden Anstoß zur Feststellung einer notwendigen Prozessbeschleunigung gaben letztlich die Gerichte selbst. Richter Claude Jorda – einst Präsident des ICTY – kritisierte die bisherige Verfahrenspraxis der Ad-hoc-Tribunale und sprach sich für eine grundlegende Umstrukturierung der Prozessorganisation aus.949 Aufgrund ihrer Verantwortung gegenüber der internationalen Gemeinschaft seien die Gerichte zu einer effektiven Gestaltung ihrer Arbeit verpflichtet. Jordas Bedenken an der Dauer internationaler Strafprozesse war Ausgangspunkt für die Resolutionen 1503 (2003)950 und 1534 (2004)951, in denen der Sicherheitsrat erstmalig Zielvorgaben für die Beendigung der Verfahren formulierte (Completion Strategies). Die dem ICTY gesetzte Frist für die Durchführung des Ermittlungsverfahrens wurde mit Abschluss der Untersuchungen des Anklägers am 31. Dezember 2004 eingehalten. Hingegen erwies sich bereits frühzeitig die geforderte Beendigung von Haupt- und Berufungsverfahren bis Ende 2008 als nicht realisierbar.952 Wenngleich der Sicherheitsrat das Mandat des Tribunals durch Resolution 1877 (2009) auf den 947 United Nations Security Concil, Completion Strategy Report, 24.05.2004, Rn. 8, http:// www.icty.org/x/file/About/Reports%20and%20Publications / CompletionStrategy/completion_ strategy_24may2004_en.pdf (letzter Zugriff am 17.03.2010). 948 Raab, JICJ 3 / 1 (2005), S. 82 (84). 949 http://www.un.org/icty/pressreal/p466-e.htm (letzter Zugriff am 20.04.2010). 950 S/RES/1503 (2003), 28. August 2003. 951 S/RES/1534 (2004), 26. März 2004. 952 http://www.un.org/icty/pressreal/p790-e.htm (letzter Zugriff am 20.04.2010).

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31. Dezember 2010953 verlängerte, werden die Ziele der Vereinten Nationen erneut nicht zeitgerecht zu erfüllen sein. Nach Einschätzung des Gerichts ist von einer Fortdauer der Haupt- und Berufungsverfahren bis Mitte 2011 respektive 2013 auszugehen.954 Angesichts der späten Inhaftierung von Radovan Karadžićs kann mit dem Abschluss seines Prozesses frühestens im Februar 2014 gerechnet werden.955 Mit der Verhaftung von Ratko Mladić Ende Mai 2011 steht dem ICTY nunmehr ein weiteres zentrales Verfahren noch bevor. Die Wahrung der Fristen hängt hierbei nicht zuletzt vom Prozessverhalten der Angeklagten sowie von den Umständen der konkreten Beweisaufnahme und einer effektiven Staatenkooperation ab.

b) Maßnahmen zur Beschleunigung der Verfahren Erste Möglichkeiten zur Beschleunigung der Ad-hoc-Verfahren wurden bereits im Vorfeld der Completion Strategies entwickelt. Im Jahr 1999 hatte die Generalversammlung der Vereinten Nationen den Sicherheitsrat zu einer Untersuchung der Arbeitsweise seiner Tribunale aufgefordert. In der Folgezeit wurde eine Expertenkommission eingesetzt, die den effektiven Gebrauch der gerichtlichen Ressourcen überprüfen und Änderungen der bestehenden Prozesspraxis vorschlagen sollte.956 Diese Empfehlungen der Kommission bildeten eine entscheidende Grundlage für die spätere Umsetzung der Completion Strategies an den Ad-hoc-Gerichten.957 Um die klaren Zielvorgaben der Resolutionen zu verwirklichen, wurden die rechtlichen und organisatorischen Strukturen der Tribunale an das Ziel eines beschleunigten Verfahrens angepasst. Im Mittelpunkt des Maßnahmenkataloges stehen neben einer Erweiterung des Richterkollegiums Kürzungen in der Anklageschrift. Eine Bewertung der bisherigen Schritte zur Prozessbeschleunigung muss ihre Vereinbarkeit mit der gerichtlichen Verpflichtung auf Fairness und Wahrheitsfindung berücksichtigen. Nachfolgend sollen die Vorteile und Schwächen in der Verwirklichung der Completion Strategies dargestellt und gegeneinander abgewogen werden.958 Security Council resolution 1877 (2009), 7. Juli 2009. United Nations Security Concil, Completion Strategy Report, 13.11.2009, Enclosure IX (letzter Zugriff am 17.03.2010). 955 Das Gericht nimmt eine Beendigung des Hauptverfahrens im September 2012 und des Berufungsprozesses im Februar 2014 an. 956 Report of the Expert Group to Conduct a Review of the Effective Operation and Functioning of the ICTY and the ICTR, UN General Assembly Document A / 54 / 634, 22. November 1999, Rn. 82. 957 Boas, The Milošević Trial, 2007, S. 65. 958 Vor neue Herausforderungen stellen die International Residual Mechanism for Criminal Tribunals die Ad-hoc-Tribunale. Die Mechanismen sollen die Fortführung notwendiger Funktionen der Gerichte nach ihrer Schließung regeln. Im Hinblick auf den Grundsatz der Beschleunigung erscheint die Regelung zur Einleitung neuer Verfahren gegen bislang flüchtige Personen. Die Tribunale wären in einer Vielzahl von Fällen lediglich zu Maßnahmen des Vorverfahrens kompetent. Auf den Beginn des Hauptverfahrens müsste der Beschuldigte zwingend warten; siehe hierzu Denis, JICJ 9 (2011), S. 824. 953 954

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aa) Änderungen der Prozessorganisation Eine wichtige Folge der Completion Strategies bestand in einem verstärkten Bewusstsein des Gerichts für die Notwendigkeit einer zügigen Prozessgestaltung. Mit klaren Fristsetzungen gegenüber den Beteiligten und einer Verbesserung des Trialmanagements gelang den Richtern eine erste Beschleunigung der Verfahren.959 Die Frage der Prozessverkürzung war Gegenstand zahlreicher Modifikationen der Beweisordnung, die eine wirksame Reaktion auf Verzögerungen der Verhandlungen erlaubten. Hervorzuheben sei insbesondere eine Änderung des Verfahrensrechts zur Gewährleistung einer zeitnahen Fortsetzung der Prozesse bei Ausfall eines Richters.960 Bereits in der Rechtssache Blaškić hatte der ICTY erkannt, dass der Anspruch des Angeklagten auf einen zügigen Abschluss seines Verfahrens nicht durch Personalfragen gefährdet werden dürfe.961 Im Prozess gegen Milosević erwies sich die effiziente Gestaltung der Abwesenheitsregelungen in Regel 15bis ICTY-RPE als entscheidend für die Beschleunigung des Verfahrens. Nach dem gesundheitlich bedingten Rücktritt von Richter May konnte sogleich ein Nachfolger bestimmt und die Verhandlung ohne nennenswerte Verzögerung weitergeführt werden.962 Um die Dauer der Prozesse jedoch anhaltend zu verkürzen, bedurfte es grundlegender Änderungen der gerichtlichen Organisation. (1) Die Einsetzung von ad litem-Richtern Als wesentlicher Grund für die Verzögerung der Verfahren wurde eine zunehmende Überlastung des Gerichts durch Umfang und Vielzahl der Anklagen ausgemacht. Um auf das wachsende Arbeitspensum des Tribunals zu reagieren, ordnet man den Kammern ad litem-Richter zur Unterstützung in Prozessfragen bei.963 Der ICTY verfügt derzeit über einen Pool von 27 ad litem-Richter, aus dem bis zu neun Vertreter parallel in die Verfahren eingebunden werden können.964 Die ad litemRichter werden auf Vorschlag des Sicherheitsrates von der Generalversammlung der Vereinten Nationen für einen Zeitraum von vier Jahren ohne Möglichkeit einer Wiederwahl bestimmt (Art. 13ter Abs. 1 lit. e ICTY-RPE).965 Gestaltet sich ein konkreter Prozess in besonderem Maße aufwendig, weist das Tribunal der Kammer einen ad litem-Richter zur Mitwirkung am Verfahren zu. Im Rahmen seiner Beteiligung nimmt der ad litem-Richter grundsätzlich dieselben Kompetenzen wahr wie 959 United Nations Security Concil, Completion Strategy Report, 13.11.2009, Rn. 16 (letzter Zugriff am 17.03.2010). 960 Raab, JICJ 3 / 1 (2005), S. 82 (89). 961 ICTY. Blaskic, Decision on Prosecutor and Defence Motions to Proceed by Deposition, IT-95-14, 19. Februar 1998. 962 Raab, JICJ 3 / 1 (2005), S. 82 (89). 963 Raab, JICJ 3 / 1 (2005), S. 82 (84). 964 Raab, JICJ 3 / 1 (2005), S. 82 (84). 965 Eine Wiederwahl ist nach dem Statut ausgeschlossen.

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seine regulären Kollegen (Art. 13 quarter Abs. 1 lit. a, b ICTY-Statut). Die Befugnis der ad litem-Richter beschränkt sich jedoch auf das Einzelverfahren und schließt eine gleichberechtigte Partizipation an allgemeinen Fragen der Prozessorganisation aus. Sie haben folglich weder eine Stimme bei der Wahl des Gerichtspräsidenten noch unmittelbaren Einfluss auf Änderungen der Verfahrensordnung.966 Wenngleich die Beiziehung temporärer Richter eine flexible Reaktion auf die unterschiedlichen Anforderungen eines internationalen Strafprozesses erlaubt, erfordert ihre Mitwirkung eine Erhöhung der personellen wie finanziellen Kapazitäten des Tribunals. Unter praktischen Gesichtspunkten wird der Vorteil einer Beschleunigung des Verfahrens durch den Nachteil seiner Kostspieligkeit nicht unerheblich ausgeglichen. Angesichts der hohen Arbeitsbelastung des Tribunals führt jedoch kaum ein Weg an einer verstärkten Unterstützung der Gerichtsorgane vorbei. (2) Die Einsetzung von Vorverfahrensrichtern (Pre-Trial Judges) Ein weiterer Weg zur Beschleunigung der Prozesse besteht in der Einsetzung von Vorverfahrensrichtern (Pre-Trial Judges) zur Koordination des Vorverfahrens.967 Nach Regel 65ter ICTY-RPE obliegt einem Richter der Strafkammer die Leitung der Prozessvorbereitung im Interesse einer zügigen Gestaltung der Hauptverhandlung. Seine Aufgaben beinhalten die Entwicklung eines Zeitplans für die Durchführung des Vorverfahrens sowie die Gewährleistung einer wirksamen Kooperation der Parteien (Regel 65ter D ii ICTY-RPE). Mit der Einführung von Pre-Trial Judges sollte ein zügiger Abschluss des Vorverfahrens durch eine verbesserte Strukturierung der Verhandlungen erreicht werden.968 Die Verpflichtung des Richters auf eine praktische Beschleunigung des Verfahrens kommt in der grundlegenden Definition seiner prozessualen Rolle zum Ausdruck: Regel 65ter B ICTY-RPE: The pre-trial Judge shall ensure that the proceedings are not unduly delayed and shall take any measure necessary to prepare the case for a fair and expeditious trial. Soll das Modell des Pre-Trial Judges Vorbild für künftige Tribunale sein, müssen seine Vorteile für die Garantie eines zügigen Verfahrensverlaufs bemessen werden. Eine Kritik an der Regelung berührt die Einbindung des Pre-Trial Judges in das nachfolgende Hauptverfahren. Wenngleich seine weitere Mitwirkung am Prozess rechtlich nicht ausgeschlossen ist, besteht im Gegenzug keine normative Pflicht zu einer künftigen Beteiligung.969 Um die Einarbeitung der Kammer in den SachverArt. 13 quarter Abs. 2 ICTY-Statut. Da die Arbeit der Pre-Trial Judges nur begrenzte Auswirkungen auf das Hauptverfahren hat, soll das Thema hier lediglich in seinen Grundzügen dargestellt werden. 968 Report of the Expert Group to Conduct a Review of the Effective Operation and Functioning of the ICTY and the ICTR, UN General Assembly Document A / 54 / 634, 22. November 1999, Rn. 82. 969 van Heeck, Die Weiterentwicklung des formellen Völkerstrafrechts, 2006, S. 114. 966 967

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halt zu beschleunigen, fordert Harmon eine zwingende Integration des Pre-Trial Judges in die Hauptverhandlungen. „The pre-trial Judge should be a member of the Trial Chamber that will later hear the trial. Critically, knowledge gained by a pre-trial Judge who is a member of the Trial Chamber that will hear the case will better enable a Trial Chamber to make decisions in respect of a wide range of trial issues.“970

Aufgrund seiner Beschäftigung mit dem Sachverhalt verfüge der Vorverfahrensrichter über weitreichende Kenntnisse von den Herausforderungen des Falles. Durch seine Mitwirkung an der Hauptphase des Verfahrens könne die Kammer frühzeitig an Sachkunde gewinnen und ihre bestehenden Ressourcen effizient nutzen.971 Dem Vorschlag Harmons stehen aus rechtsstaatlicher Perspektive keine Bedenken entgegen. Wie dargelegt, ist die Beteiligung des Pre-Trial Judges am Hauptverfahren insbesondere nicht als Verstoß gegen das Prinzip der richterlichen Unvoreingenommenheit zu bewerten.972 Gleichwohl erscheint eine frühzeitige Information des Richters von den rechtlichen und praktischen Umständen des Falles mit dem angloamerikanischen Rollenverständnis schwer vereinbar. Die Entscheidung für eine Einsetzung des Pre-Trial Judges in der Hauptverhandlung ist daher eng an die grundsätzliche Frage nach der Wahl des prozessualen Rechtssystems geknüpft. Die Antwort setzt eine generelle Bewertung der richterlichen Aufgabendefinition für die Realisierung des Beschleunigungsgrundsatzes voraus. Am Ende dieses Kapitels sollen daher die unterschiedlichen Ansätze von common law und civil law unter dem Aspekt zügiger Verfahrensführung thematisiert werden.

bb) Die Beschränkung der personellen Zuständigkeit des Tribunals Der Arbeitsumfang internationaler Tribunale hängt wesentlich von der Reichweite ihrer personellen Jurisdiktion sowie der Anzahl der verhandelten Verfahren ab. Gegenstand völkerrechtlicher Strafprozesse sind vorwiegend Taten, die im Rahmen nationaler oder internationaler Konfliktsituationen begangen wurden. Die Systematik von Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder das Erfordernis einer bewaffneten Auseinandersetzung für die Verhandlung von Kriegsverbrechen setzen naturgemäß die Verantwortlichkeit einer Vielzahl von Personen voraus. Entscheidende Maßnahmen zur Beschleunigung der Prozesse konnten folglich an einer Begrenzung des Täterkreises anknüpfen. Um die Vorgaben der Completion Strategies zu erfüllen, fokussierte der ICTY seine Arbeit auf die Verfolgung militärisch wie politisch hauptverantwortlicher Personen.973 Mit der Einführung von Regel 28 A ICTY-RPE wird der Präsident des 970 971 972 973

Harmon, JICJ 2007, S. 377 (377 ff.). Harmon, JICJ 2007, S. 377 (377 ff.). Siehe Kapitel D. III. 2. c) aa (1). Riznik, GJIL 3 (2011), S. 912; Raab, JICJ 3 / 1 (2005), S. 82 (89).

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Gerichts vor Prozesseröffnung zu einer Überprüfung der personellen Voraussetzungen ermächtigt. Ist der notwendige Grad individueller Verantwortlichkeit nicht erreicht, kann das Tribunal die Rechtssache an ein nationales Gericht verweisen. Die Kompetenz zur Entscheidung über Sinn und Notwendigkeit einer Übergabe des Falles an ein staatliches Justizorgan liegt gemäß Regel 11bis ICTY-RPE bei der eigens eingesetzten „Referral Bench“.974 Zwischen 2005 und 2007 wurden auf diesem Wege acht Verfahren mit dreizehn Verdächtigen an Gerichte in den Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawiens überwiesen.975 Der ICTY überstellte eine Mehrheit von zehn Beschuldigten an Bosnien-Herzegowina; an Kroatien und Serbien wurden lediglich zwei beziehungsweise ein Verdächtiger ausgeliefert. Der entscheidende Vorzug einer Beschränkung der personellen Jurisdiktion liegt in der effektiven Entlastung des Gerichts. Der Bericht des Tribunals zur Umsetzung der Completion Strategies aus dem Jahr 2009 bestätigt eine erhebliche Verringerung des gerichtlichen Arbeitspensums durch die Begrenzung des Täterkreises. „This significantly reduced the overall workload of the Tribunal, making it possible to bring the cases of the most senior leaders to trial as early as possible.“976

Ein weiterer Vorteil der Überweisung sekundärer Fälle an lokale Gerichte besteht in der Unterstützung der staatlichen Rechtssysteme als Teil des Friedensprozesses. Um faire und wirksame Verfahren zu garantieren, wurden in Bosnien-Herzegowina mit internationaler Hilfe selbständige Kammern für Kriegsverbrechen gegründet.977 Wirken die Verfahren als Vorbilder gerechter Justiz, können sie einen bedeutenden Beitrag zur Entwicklung rechtsstaatlicher Institutionen leisten. Die Übernahme von Eigenverantwortung ist hierbei ein wichtiger Schritt zur Gewährleistung dauerhafter Stabilität in der Region.978 Durch die Einbindung staatlicher Autoritäten in den Prozess der juristischen Aufarbeitung gewinnen die Verfahren an Legitimität in der Bevölkerung. Die Beteiligung lokaler Richter kann das Vertrauen der Menschen in die Herstellung von Gerechtigkeit stärken und ihre Identifikation mit den Aufgaben des Tribunals verbessern.979 Mit der Überweisung von Verfahren an nationale Gerichte macht sich der ICTY jedoch zugleich von der Effektivität staatlicher Justiz abhängig. Die Glaubwürdigkeit seiner Arbeit sowie der Erfolg der historischen Aufarbeitung werden von der Unabhängigkeit und Fairness lokaler Gerichtsbarkeit bestimmt. Ein Rückblick auf Die Referral Bench setzt sich aus drei Richtern des Tribunals zusammen. United Nations Security Concil, Completion Strategy Report, 13.11.2009, Rn. 46 ff, http://www.icty.org/x/file/About/Reports%20and%20Publications/CompletionStrategy/completion_strategy_13nov2009_en.pdf (letzter Zugriff am 17.03.2010). 976 United Nations Security Concil, Completion Strategy Report, 13.11.2009, Rn. 46 ff, http://www.icty.org/x/file/About/Reports%20and%20Publications/CompletionStrategy/completion_strategy_13nov2009_en.pdf (letzter Zugriff am 17.03.2010). 977 United Nations Security Concil, Completion Strategy Report, 24.05.2004. 978 Boas, The Milošević Trial, 2007, S. 67. 979 Raab, JICJ 3 / 1 (2005), S. 82 (92). 974 975

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den bisherigen Verlauf der nationalen Verfahren zeigt ein gemischtes Bild. Bis zum November 2009 konnten neun Angeklagte durch die bosnisch-herzegowinische Justiz verurteilt werden; die übrigen Prozesse sind weiterhin anhängig.980 In einem Bericht der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) von 2003 wird insbesondere die Eignung des serbischen Gerichtssystems zur Verhandlung von Kriegsverbrechen nach internationalen Standards in Zweifel gezogen.981 Die Auffassung der OSZE wurde im Folgejahr vom Präsidenten des ICTY bestätigt, der die Durchführung fairer Prozesse in Serbien, Montenegro und Kroatien in Frage stellte: „[T]here are still doubts that credible war crimes trials can take place in the domestic jurisdictions of Croatia or Serbia and Montenegro.“982

Wenngleich sich die Lage in der Region gebessert zu haben scheint,983 muss die Entwicklung der Verfahren an den lokalen Gerichten aufmerksam beobachtet werden. Die Pflicht der Tribunale zur gerechten Ahndung völkerrechtlicher Verbrechen und die Wahrung ihrer Integrität erfordern einen kritischen Umgang mit der nationalen Gerichtsbarkeit. Grundsätzliche Erwägungen stehen der Begrenzung des Täterkreises an den Tribunalen indes nicht entgegen. Es wäre illusorisch zu glauben, dass ein internationales Gericht die Verurteilung sämtlicher Täter garantieren könne. Bleibt ihr Umfang im angemessenen Rahmen, rechtfertigt das Beschleunigungsgebot eine Beschränkung der personellen Jurisdiktion. Eine rechtsstaatliche Grenze wäre allenfalls erreicht, wenn das Ziel historischer Wahrheitsfindung grundlegend in Frage gestellt würde. cc) Die Beschränkung der Verfahrensinhalte Ein wesentlicher Faktor für die Dauer internationaler Strafverfahren ist der Umfang der Anklageschrift.984 Mit Festlegung des konkreten Schuldvorwurfs trifft der Staatsanwalt eine wichtige Vorentscheidung über die Länge der Prozesse. Im Zuge der Completion Strategies wurde die Hauptverfahrenskammer ermächtigt, den Ankläger zu einer Begrenzung des Verfahrensgegenstandes anzuhalten.985 United Nations Security Concil, Completion Strategy Report, 13.11.2009, Rn. 46 ff. OSCE Mission to Serbia and Montenegro, ‚War Crimes Before Domestic Courts‘, Belgrade October 2003, „[T]he national judiciary lacks full capacity to conduct war crimes trials in accordance with universally adopted standards.“ Vgl. http://www.icty.org/sid/8405 (letzter Zugriff am 26.05.2010). 982 Meron, Address of the President of the International Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia, to the United Nations Security Council, 29.06.2004, http://www.icty.org/sid/8405 (letzter Zugriff am 17.03.2010). 983 Completion Strategy Report, Annex II Report of Serge Brammertz, Prosecutor of the International Tribunal for the Former Yugoslavia, provided to the Security Council under paragraph 6 of Security Council Resolution 1534 (2004), 13. November 2009, Rn. 30 ff. 984 Raab, JICJ 3 / 1 (2005), S. 82 (89). 985 Eser, Vorzugswürdigkeit, in: Müller-Dietz (Hrsg.), FS Jung, 2007, S. 167 (172). 980 981

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„Regel 73bis D ICTY-RPE986: After having heard the Prosecutor, the Trial Chamber, in the interest of a fair and expeditious trial, may invite the Prosecutor to reduce the number of counts charged in the indictment and may fix a number of crime sites (…). Regel 73bis E ICTY-RPE987: Upon or after the submission by the pre-trial Judge of the complete file of the Prosecution case (…) the Trial Chamber, having heard the parties and in the interest of a fair and expeditious trial, may direct the Prosecutor to select the counts in the indictment on which to proceed.“

Um einen zügigen Prozessverlauf zu gewährleisten, kann das Gericht an zwei Stellen ansetzen. Eine erhebliche Verkürzung der Verfahren wird zunächst durch die Beschränkung der Anklagepunkte auf leicht beweisbare Verbrechen erreicht. In diesem Zusammenhang kann auf eine Berücksichtigung verschiedener Tatbestandsalternativen verzichtet oder die Anklage auf ein konkretes Verbrechen begrenzt werden. Da jede Strafvorschrift eigene Anwendungsvoraussetzungen enthält, erfordert ihre Aufnahme in das Verfahren den Nachweis zusätzlicher Fakten. Die Erweiterung der Anklage wirkt sich auf die Länge der Verfahren in besonderem Maße aus, wenn neben objektiven Tatsachen eine spezifische Intention des Beschuldigten belegt werden muss. Eine zweite Möglichkeit zur Prozessbeschleunigung besteht in einer Verkürzung der Anklagebegründung durch die Einengung der Beweissituation. In diesem Fall lässt der Staatsanwalt einzelne Ortschaften oder Zeiträume aus, wenn der Tatvorwurf bereits an anderer Stelle belegt werden kann. Können beispielsweise Verbrechen gegen die Menschlichkeit in einer Region nachgewiesen werden, wird auf ihre Anklage in einem anderen Kontext verzichtet. (1) Die Vorteile einer Beschränkung der Anklage Aus streng juristischer Perspektive spricht wenig gegen eine Verkürzung der Anklagebegründung. Kann die Verwirklichung des Tatbestandes durch hinreichend Beweismaterial bestätigt werden, bedarf es zu einer angemessenen Verurteilung des Beschuldigten keiner zusätzlichen Nachweise. Durch den Verzicht auf eine erschöpfende Darlegung der Beweissituation wird der Verfahrensverlauf erheblich beschleunigt, ohne dass Zugeständnisse an den materiellrechtlichen Umfang der Anklage notwendig sind.988 986 Im Fall Seselj wies die Hauptverfahrenskammer die Anklagebehörde erstmalig an, die Anklage um ein Drittel des geplanten Umfanges zu reduzieren, ICTY Seslj, Request tot he Prosecutor to Make Proposals to Reduce the Scope of the Indictment, IT-03-67-PT, 31. August 2006, Rn. 2. Von ihrer Befugnis zur Anordnung einer Beschränkung der Anklage hat die Kammer erstmals 2006 im Fall Milutinović Gebrauch gemacht, ICTY Milutinović and others, Decision on Application of Rule 73bis, IT-05-87-T, 11. Juli 2006, Rn. 13. 987 Von ihrer Befugnis zur Anordnung einer Beschränkung der Anklage hat die Kammer erstmals 2006 im Fall Milutinović Gebrauch gemacht, ICTY Milutinović and others, Decision on Application of Rule 73bis, IT-05-87-T, 11. Juli 2006, Rn. 13. 988 Hierfür Kwon, JICJ 5 (2007), S. 375.

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Als ungleich problematischer stellt sich hingegen eine Verringerung der Anklagepunkte dar. Eine Beschränkung der Untersuchungen auf bestimmte Verbrechen wird mit der Möglichkeit zügiger Prozessgestaltung und einer effektiveren Mittelverwendung gerechtfertigt. Raab verdeutlicht die Vorteile des Konzepts wie folgt: Angenommen ein Angeklagter könne mit verhältnismäßig geringem Aufwand für schwere Verbrechen vor Gericht gebracht und verurteilt werden. Macht es nun Sinn, unter Verwendung erheblicher finanzieller und personeller Ressourcen weitere Taten anzuklagen, wenngleich die Mittel nun an anderer Stelle fehlen?989 Einen ähnlichen Ansatz wählt Richter Schomburg, der in einem Interview die Arbeit der Anklägerin am ICTY, Carla del Ponte, kritisiert. Nach Auffassung Schomburgs verpflichte der Beschleunigungsgrundsatz die Anklage zur Selektion ihrer Anklagepunkte: „Man kann sich nicht erlauben, bei einem Angeklagten, der wegen Völkermordes angeklagt ist, Monate damit zu verbringen, herauszufinden, ob er auch ein Haus geplündert hat oder nicht.“990

(2) Kritik an einer Beschränkung der Anklage Die Einwände gegen eine Begrenzung des Verfahrensinhaltes liegen auf der Hand. Im Interesse der Gerechtigkeit kann auf eine Verurteilung begangener Straftaten grundsätzlich nicht verzichtet werden. Unabhängig von einer juristischen Notwendigkeit erfordert das Prinzip materieller Wahrheitsfindung eine umfassende Aufklärung der Ereignisse.991 An dieser Stelle darf nicht vergessen werden, dass es sich im Völkerstrafrecht um schwere Verbrechen gegen die Grundpfeiler der internationalen Gemeinschaft handelt. Eine lückenlose historische Aufarbeitung ist insbesondere für die Opfer des Regimes von Bedeutung.992 Es wird den Betroffenen schwer zu vermitteln sein, dass von ihnen konkret erlebte Verbrechen unter Hinweis auf eine Beschleunigung der Prozesse nicht verurteilt werden können. Streicht das Gericht einzelne Anklagepunkte oder Elemente ihrer Begründung, muss es sich der Auswirkungen seines Handelns und seiner Verantwortung gegenüber den Opfern bewusst sein. (3) Fazit zur Beschränkung der Anklage Um die Ziele der internationalen Strafgerichtsbarkeit zu erfüllen, muss das Tribunal eine glaubwürdige Aufarbeitung der Verbrechen leisten.993 Zugleich verpflichten Raab, JICJ 3 / 1 (2005), S. 82 (90). Reichstein, Die Anklägerin unter Anklage, Hb, 22.08.2006, http://www.handelsblatt.com/ politik/international/die-anklaegerin-unter-anklage;1124414 (letzter Zugriff am 17.03.2010). 991 Amnesty International, ‚Bosnia-Herzegovina: Shelving justice – war crimes prosecutions in paralysis‘, 12. November 2003, S. 3, http://www.amnesty.org/en/library/info/EUR63/ 018/2003. 992 Raab, JICJ 3 / 1 (2005), S. 82 (90). 993 Hierzu offensichtlich kritisch Kwon, JICJ 5 (2007), S. 373. 989 990

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die praktischen Realitäten sowie die Grenzen der verfügbaren Mittel das Gericht zu einem sinnvollen Umgang mit seinen Ressourcen. Auch eine Berücksichtigung von Opferinteressen erfordert die Einbeziehung verschiedener Erwägungen in die Gestaltung des Verfahrens. Während im Rahmen individueller Betroffenheit eine ausnahmslose Ermittlung unentbehrlich ist, verlangt eine Gesamtbetrachtung die effektive und zeitnahe Verurteilung des Täters. Die Diskrepanz zwischen Gerechtigkeit im Einzelfall und dem Wunsch nach einer zügigen Ahndung von Verbrechen belegt die Notwendigkeit einer rechtlichen Abwägung der Prozessinteressen. Einschränkungen des Verfahrensgegenstandes sind von der Anklage ausführlich zu prüfen und dürfen nur unter engen Voraussetzungen zugelassen werden. Maßstäbe der Abwägung müssen die Komplexität der Beweiserhebung sowie Schwere und Gewicht des Verbrechens für die Opfer sein. Insbesondere müssen hohe Anforderungen an eine Begrenzung der Anklagepunkte gestellt werden. Aus juristischer wie historischer Perspektive ist es nicht gleichgültig, ob eine Tat als Kriegsverbrechen oder darüber hinaus als Völkermord zu qualifizieren ist. Nach der hier vertretenen Auffassung ist eine Beschränkung der Anklagepunkte aufgrund ihrer Bedeutung für die historische Wahrheitsfindung nur im Ausnahmefall möglich.994 Der Grundsatz der Beschleunigung gebietet lediglich eine Vernachlässigung minder schwerer Anklagen, denen weder für die persönliche Schuld des Angeklagten noch im Rahmen der geschichtlichen Aufarbeitung ein eigenständiger Wert beigemessen werden muss.

dd) Die beschränkte Zulassung von Zeugen Die Befragung von Zeugen nimmt einen wesentlichen Teil des Beweisverfahrens in Anspruch. Das Kreuzverhör eines Zeugen durch die Parteien gestaltet sich oftmals als langwierig und trägt entscheidend zur Dauer der Prozesse bei.995 Verzögerung der Verfahren können daher maßgeblich auf die hohe Anzahl von Zeugen im internationalen Strafrecht zurückgeführt werden. Um den Umfang der Beweisaufnahme zu ermessen, seien beispielhaft die Rechtssachen Kupreškić und Blaškić genannt, in denen 157 beziehungsweise 161 Personen vor dem ICTY aussagten.996 Eine Beschränkung der Zeugen im Hauptverfahren kann daher ein wirksames Mittel zur Verkürzung der Prozessdauer darstellen. Im Interesse materieller Wahrheitsfindung ist der Wert einer Aussage für das Verfahren im Rahmen der Abwägung vorrangig zu berücksichtigen. 994 Im Gegensatz zu der hier vertretenen Auffassung fordert Kwon eine häufigere Anwendung von Regel 73bis ICTY-Statut, Kwon, JICJ 5 (2007), S. 373. 995 Kamardi, Die Ausformung, 2009, S. 277. 996 Vesa, Protectice Measures for Witnesses and the Right of the Accused at the ICTY, CEELI Discussion Paper Series, 15.06.2003, S. 6, http://www.abanet.org/rol7publications/ discussion_paper_witness_protection_rights_accused_icty_2003.pdf (letzter Zugriff am 17.03. 2010).

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Um die Zweckmäßigkeit einer Aussage zu bewerten, müssen zwei Kategorien von Zeugen unterschieden werden. Wesentlicher Ausgangspunkt für eine Differenzierung der Anklage ist der individuelle Bezug des Zeugen zum Angeklagten. Nach der Praxis des ICTY werden die Aussagepersonen in „crime based witnesses“ und „linkage witnesses“ eingeteilt.997 Erstgenannte erbringen den Nachweis einer generellen Begehung völkerrechtlicher Verbrechen, ohne eine direkte Verbindung zum Beschuldigten zu begründen. „Linkage witnesses“ stellen schließlich eine Verknüpfung zwischen den jeweiligen Straftaten und der Person des Angeklagten her. Eine restriktive Auswahl von Zeugen muss an ihrer Rolle im Beweisverfahren ansetzen. Naturgemäß steht der Anklage im internationalen Strafprozess eine Vielzahl von „crime based witnesses“ zur Verfügung, während Zeugen zur Bestätigung des persönlichen Schuldvorwurfs rar sind. Um im Sinne der Completion Strategies ein beschleunigtes Verfahren zu gewährleisten, wird ihre Zulassung im Hauptverfahren zunehmend eingegrenzt. Ein weiterer Versuch zur Verkürzung der Beweisaufnahme besteht im Ersatz mündlicher Ausführungen durch schriftliche Stellungnahmen. Um den Aufwand eines Kreuzverhörs in jedem Einzelfall zu vermeiden, können nunmehr auf Grundlage von Regel 92ter ICTY-RPE Zeugenaussagen als Protokolle in das Verfahren eingebracht werden. Die schriftliche Form genügt den Anforderungen der Prozessordnung, wenn der Zeuge bei Gericht anwesend und im Zweifel zu einer Vernehmung bereit ist. Die Auswirkungen der genannten Maßnahmen auf die Beschleunigung der Prozesse sind deutlich erkennbar. Im Bericht über die Verwirklichung der Completion Strategies von 2009 wurde die vermehrte Anwendung von Regel 92ter ICTY-RPE als wesentlicher Grund für die verbesserte Effektivität der Verfahren genannt.998 In der Rechtssache Gotovina konnten die Aussagen von 72 der 78 Zeugen durch schriftliche Stellungnahme in die Beweisaufnahme eingeführt werden.999 Im Fall Dordević zog die Anklage 17 ihrer ursprünglich 132 Zeugen auf Antrag des Gerichts zurück und veranlasste die Protokollierung weiterer 100 Aussagen nach Regel 92ter ICTY-RPE.1000 Den Vorteilen des beschleunigten Verfahrens stehen Einbußen an Unmittelbarkeit und Transparenz der Prozesse gegenüber. Durch den Verzicht auf eine mündliche Vernehmung werden der Öffentlichkeit historische Einzelheiten und Grundlagen der gerichtlichen Urteilsfindung weitgehend vorenthalten. Der wesentliche Einwand gegen die Beschränkung von Verfahrenszeugen muss jedoch in ihrem notwendigen Zugeständnis an eine wirksame Opferbeteiligung gesehen werden. Für die Zeugen bedeutet der Verweis auf eine schriftliche Stellungnahme eine erhebliche Enttäu997 Siehe beispielhaft, ICTY Stanisic und Simatovic, Decision Persuant to Rule 73bis D, IT-03-69-PT, 4. Februar 2008, Rn. 14. 998 United Nations Security Concil, Completion Strategy Report, 13.11.2009, Rn. 16. 999 ICTY Gotovina et al., IT-06-90. 1000 ICTY Dordevic, IT-05-87 / 1.

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schung ihrer Erwartungen an das Gericht.1001 Die Bereitschaft zur Aussage vor dem Tribunal erfordert von den Opfern eine erneute Konfrontation mit dem Erlebten. Die Belastungen eines Strafverfahrens werden indes in Kauf genommen, um einen aktiven Beitrag zur Verurteilung des Täters leisten zu können. Wird die Rolle des Zeugen auf ein schriftliches Protokoll herabgesetzt, entfällt die wesentliche Zielsetzung seiner Beteiligung. Um sowohl den legitimen Erwartungen der Opfer als auch den Anforderungen einer zügigen Beweisaufnahme gerecht zu werden, muss die Auswahl der Zeugen von Beginn an restriktiv erfolgen.

ee) Der Rückgriff auf plea bargaining Wenngleich die Verhandlung über ein Schuldbekenntnis des Angeklagten kein explizites Mittel der Completion Strategies ist, kann am ICTY ein zunehmender Rückgriff auf plea bargaining beobachtet werden.1002 Im Gegenzug für sein Geständnis stellt der Staatsanwalt dem Beschuldigten ein geringeres Strafmaß in Aussicht. Mit der Anerkennung des Tatvorwurfes verzichtet die Verteidigung in der Folge auf eine Prüfung der Anklagepunkte. Da die guilty plea des Beschuldigten eine umfassende Beweisaufnahme obsolet macht, trägt sie entscheidend zur Beschleunigung des gerichtlichen Hauptverfahrens bei. Raab beurteilt die Praxis des plea bargaining als sinnvollen Weg zur Einsparung zeitlicher und finanzieller Ressourcen: „The increased practice of plea-bargain agreements, since 2000, has had a significant impact on the ICTY’s activities. Plea bargains speed up proceedings, which free resources to be allocated elsewhere, enabling the prosecution of more of more accused.“1003

Auch Ambos wertet das verkürzte Verfahren der guilty plea als „wichtiges Element zur Beschleunigung der Prozesse“.1004 Wie an anderer Stelle bereits ausgeführt, muss eine Verhandlung des Sanktionsanspruchs aus rechtsstaatlicher Perspektive kritisch gesehen werden.1005 Das internationale Strafrecht beschränkt sich in seiner Zielsetzung nicht auf eine Verurteilung der Täter, sondern ist verschiedenen Prozessinteressen verpflichtet. Wenngleich ein zügiger Abschluss der Prozesse erstrebenswert ist, darf er nicht einseitig zu Lasten materieller Gerechtigkeit erfolgen.1006 Eine wesentliche Handlungsmaxime der Gerichte muss ihre Verantwortung für die historische Aufarbeitung als Grundlage eines globalen Friedensprozesses sein.1007 Die öffentliche Verhandlung der Straftat ist daher als ebenso bedeutsam anzusehen wie der Schuldspruch selbst. 1001 1002 1003 1004 1005 1006 1007

Swoboda, ZIS 2010, S. 100 (107). Raab, JICJ 3 / 1 (2005), S. 82 (90). Raab, JICJ 3 / 1 (2005), S. 82 (90). Ambos, ICLR 3 (2003), S. 1 (37). Siehe Kapitel D. III. 3. b). Kamardi, Die Ausformung, 2009, S. 382. Werle, Völkerstrafrecht, 2007, S. 265 f.; kritisch hierzu Zappalà, JICJ 5 (2007), S. 346.

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Im Fall Nikolic bestätigte der ICTY die Bedenken an Strafmaßvereinbarungen zur Umsetzung der Completion Strategies. Die Kammer unterstreicht den Ausnahmecharakter eines plea bargaining und lehnt seine generelle Verwendung als Mittel zur Verfahrensbeschleunigung ab. „[The tribunals] very raison d’être is to have criminal proceedings, such that the persons most responsible for serious violations of international humanitarian law are held accountable for their criminal conduct – not simply a portion thereof. Thus, while savings of time and resources may be a result of guilty pleas, this consideration should not be the main reason for promoting guilty pleas through plea agreements.“1008

Der Druck strenger Zeitvorgaben zur zügigen Beendigung der Verfahren begünstigt plea agreements zwischen Anklage und Verteidigung. Die Anklage muss dazu angehalten werden, eine Beschleunigung der Prozesse nicht auf Kosten notwendiger Verfahrensziele zu erreichen. Aufgabe der Kammern ist es, im Rahmen ihrer Kompetenzen eine restriktive Anwendung des Instruments zu überwachen.

c) Bewertung der Completion Strategies Die Completion Strategies konnten einen tatsächlichen Anreiz für die Beschleunigung der Verhandlungen und ein verbessertes Prozessmanagements setzen. Während die durchschnittliche Dauer des Hauptverfahrens im Jahre 2003 noch 17 Monate betragen hatte, sank sie binnen eines Jahres auf 12 Monate.1009 Wenngleich die Ziele der Completion Strategies im Ergebnis nicht vollständig erreicht werden, zeigen die Bestrebungen nach einem beschleunigten Verfahren praktische Wirkung. Die zeitliche Begrenzung des Mandats der Ad-hoc-Gerichte erfordert Einschränkungen in Inhalt und Umfang der Anklage zur Verkürzung des Prozessverlaufs. Die Beschleunigung der Verfahren steht daher notwendig im Konflikt mit solchen Zielen der internationalen Strafgerichtsbarkeit, die eine umfassende prozessuale Aufarbeitung verlangen. Ob mit den Completion Strategies im Ergebnis ein sinnvoller Ausgleich der divergierenden Verfahrenszwecke verwirklicht wird, muss vor dem Hintergrund der Schwächen ihrer praktischen Umsetzung untersucht werden.1010

aa) Der Einfluss externer Faktoren auf die Verfahrensdauer Eine Schwäche von Mandatsbeschränkungen offenbart sich zunächst in der Unwägbarkeit ihres Erfolges. Die Dauer der Verfahren wird zu einem wesentlichen Grad von Faktoren bestimmt, die außerhalb des gerichtlichen Einflussbereiches lieICTY Momir Nikolic, Sentencing Judgment, IT-02-60 / 1-S, 2. Dezember 2003, Rn. 67. Raab, JICJ 2005, S. 82 (89). 1010 „It may not be perfect from any single perspective, but it represents a reasonable compromise between the competing interests and values at stake.“ Raab, JICJ 2005, S. 82 (97). 1008 1009

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gen.1011 Die Verhandlungsfähigkeit der Angeklagten sowie die Effektivität staatlicher Kooperation haben entscheidenden Einfluss auf die Verfahrenslänge.1012 Ein weiteres Problem stellen zunehmende Sachmittel- und Personalkürzungen dar, die im Widerspruch zur Forderung nach einem zügigen Abschluss der Prozesse stehen. Wenngleich die hohen Kosten der Tribunale einen Grund für die Beschleunigung der Verfahren bilden, können die Ziele der Completion Strategies bei erheblichen Einsparungen nicht sinnvoll realisiert werden: „In addition, the ICTY will not be able to complete its mandate in an effective manner if its budget is cut dramatically. Continued non-payment of contributions (…) is unlikely to bring about the early winding up of the ICTY.“1013

bb) Die Abwägung der Verfahrensziele Dem Völkerstrafrecht kommt die schwierige Aufgabe zu, die gegensätzlichen Zielvorstellungen eines internationalen Prozesses zu vereinbaren. Die Beschleunigung der Verfahren und ihr Anspruch auf historische Aufarbeitung stehen im grundlegenden Widerspruch, der nicht generell zu Gunsten eines Prinzips aufgelöst werden kann. Versuche eines prozessualen Ausgleichs erfordern wechselseitige Einschränkungen der Verfahrenszwecke und setzen sich zwingend rechtlicher Kritik aus. Im Rahmen einer gerechten Abwägung müssen die unterschiedlichen Interessen von Opfern und Angeklagten angemessen Berücksichtigung finden. Durch eine zeitliche Begrenzung des Mandats erlangt die Prozessbeschleunigung gegenüber den weiteren Zielen des Völkerstrafrechts überragendes Gewicht. Die Vorgaben des Sicherheitsrates führen zu einer einseitigen Fokussierung der Beteiligten auf Belange der Effektivität. Angesichts der Notwendigkeit eines zeitnahen Verfahrensabschlusses erscheint es unvermeidlich, dass Fragen der Aufarbeitung und Wahrheitsfindung aus dem Blick geraten.1014 Die Abwägung der Prozessziele erfolgt in diesem Fall nicht nach den gebotenen Maßstäben der Rechtsstaatlichkeit, sondern kommt unter dem Druck der Completion Strategies zustande. Das Streben nach einem zügigen Verfahren muss sich grundsätzlich dem Gedanken einer fairen und wahrhaftigen Verurteilung völkerrechtlicher Verbrechen unterordnen.1015 Der Grundsatz der Beschleunigung stößt an seine Grenzen, wenn er die rechtlichen Pfeiler des Strafverfahrens in Frage stellt. In einer Grundsatzentscheidung betonte die Hauptverfahrenskammer des ICTY die maßgebliche Verantwortung des Gerichts für eine glaubwürdige Aufarbeitung: 1011 United Nations Security Concil, Completion Strategy Report, 24.05.2004, Rn. 8 (letzter Zugriff am 17.03.2010). 1012 ICTY Jovica Stanišić. IT-03-69; Kamardi, Die Ausformung, 2009, S. 230. 1013 Raab, JICJ 3 / 1 (2005), S. 82 (95). 1014 Eser, Vorzugswürdigkeit, in: Müller-Dietz (Hrsg.), FS Jung, 2007, S. 167 (171). 1015 Eser, Vorzugswürdigkeit, in: Müller-Dietz (Hrsg.), FS Jung, 2007, S. 167 (185).

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„While it appreciates this saving of Tribunal resources, the Trial Chamber finds that in cases of this magnitude, where the Tribunal has been entrusted by the United Nations Security Council – and by extension, the international community as a whole – to bring justice to the former Yugoslavia through criminal proceedings that are fair, in accordance with international human rights standards, and accord due regard to the rights of the accused and the interests of victims, the saving of resources cannot be given undue consideration or importance. The quality of the justice and the fulfilment of the mandate of the Tribunal, including the establishment of a complete and accurate record of the crimes committed in the former Yugoslavia, must not be compromised.“1016

Bleibt die Ermittlung der Wahrheit wichtigstes Ziel des Strafverfahrens, müssen die Maßnahmen der Completion Strategies restriktiv angewendet werden. Insbesondere eine Beschränkung individueller Verantwortung durch die Kürzung der Anklage darf nur in Ausnahmefällen zulässig sein. Zudem ist der vermehrte Rückgriff auf plea bargaining als wesentlicher Einwand gegen die bisherige Umsetzung der Zeitvorgaben zu werten. Kann die Anklage die gesteckten Grenzen nur im Wege von Strafmaßverhandlungen erreichen, müssen die Fristsetzungen überdacht werden. Unter Verweis auf die öffentliche Rezeption der Verfahren und ihre Vorbildwirkung für das internationale Recht lehnt Richter David Hunt weitgehende Maßnahmen zur Prozessbeschleunigung ab: „This Tribunal will not be judged by the number of convictions which it enters, or by the speed with which it concludes the Completion Strategy which the Security Council has endorsed, but by the fairness of its trials.“1017

Wenngleich Hunts Aussage in ihrer Allgemeinheit zu weit geht – schließlich ist auch die erhebliche Verfahrensdauer Gegenstand öffentlicher Kritik – spricht er einen entscheidenden Aspekt der Außenwirkung völkerstrafrechtlicher Gerichte an. Der Erfolg eines Tribunals wird sich im Ergebnis daran bemessen, ob ihm eine gerechte Verurteilung der hauptverantwortlichen Täter gelungen ist. Fairness und Beschleunigung bilden hierbei untrennbare Bestandteile einer glaubwürdigen Reaktion auf internationale Konflikte. Eine zügige Durchführung der Verhandlungen ist ein legitimes Anliegen der Staatengemeinschaft, darf jedoch die Arbeit der Gerichte nicht maßgeblich dominieren. Zeitvorgaben des Sicherheitsrates sollten daher nicht im Sinne strikter Grenzen, sondern als Richtlinien zur Beschleunigung der Prozesse verstanden werden. In keinem Falle darf einem Tribunal aus Kostengründen das Mandat zur Verurteilung völkerrechtlicher Verbrechen entzogen werden. Eine Bewertung und Fortführung der Completion Strategies muss künftig verstärkt unter Berücksichtigung der wesentlichen Ziele des internationalen Strafrechts erfolgen. Nach den zutreffenden Worten der ehemaligen Chefanklägerin Carla del Ponte stehen Maßnahmen zur Verfahrensbeschleunigung unter dem Vorbehalt einer gerechten und unabhängigen Strafverfolgung: ICTY Momir Nikolic, Sentencing Judgment, IT-02-60 / 1-S, 2. Dezember 2003. ICTY Milosević, Dissenting Opinion of Judge David Hunt on Admissibility of Evidence in Chief in the form of Written Statement, IT-02-54-AR73.4, 21. Oktober 2003, Rn. 22. 1016 1017

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

„Die Pflicht des (…) Tribunals, so betonte ich, den Teufelskreis der Straflosigkeit zu durchbrechen und die Hauptverantwortlichen (…) zur Rechenschaft zu ziehen, habe zweifellos Vorrang vor einer willkürlichen zeitlichen Beschränkung.“1018

6. Beschleunigung durch Annäherung an das kontinentaleuropäische Recht „Wenn die Remedur jedoch nicht nur von kosmetischer Natur sein soll und nicht nur akuten Engpässen abhelfen darf, wird man nicht darum herum kommen, nach den tieferen Gründen dieser Dauermalaise zu fragen und notfalls grundlegendere Strukturreformen ins Auge zu fassen.“1019

Die Maßnahmen der Completion Strategies reagieren auf erkennbare Verzögerungen der Prozesse, ohne die Ursachen ihrer Entstehung zu hinterfragen. Um dauerhaft eine Beschleunigung internationaler Strafverfahren zu erreichen, bedarf es nach Eser einer grundlegenden Reform ihrer prozessualen Strukturen. Effektive Änderungen der Verfahrensordnung setzen eine Neubewertung der systematischen Ausrichtung am angloamerikanischen und kontinentaleuropäischen Rechtsmodell voraus. Im Fokus der Untersuchungen stehen daher die unterschiedlichen Auswirkungen eines adversatorischen beziehungsweise inquisitorischen Verfahrens auf die Prozessdauer.

a) Die Auswirkung des Prozesssystems auf die Dauer der Verfahren Der Parteiprozess des angloamerikanischen Rechtskreises gilt aufgrund der Komplexität seines Beweisverfahrens als besonders zeitintensiv.1020 In einem grundlegenden Vergleich der Prozesssysteme kommt Tiedemann zu dem Ergebnis, dass kontinentaleuropäische Verfahren gewöhnlich einen zügigeren Verlauf nehmen.1021 Die Expertenkommission des ICTY teilte Tiedemanns Überzeugung und sprach sich für eine Übernahme kontinentaleuropäischer Elemente zur Prozessbeschleunigung aus: „[S]ome civil law models can doubtlessly deal with criminal cases more expeditiously than the common law adversarial system.“1022

Als Gründe für die effektivere Gestaltung des civil law-Verfahrens lassen sich im Wesentlichen drei Faktoren benennen. Zunächst stellte die Kommission eine erhöhte del Ponte, Im Namen der Anklage, 2009, S. 313. Eser, Vorzugswürdigkeit, in: Müller-Dietz (Hrsg.), FS Jung, 2007, S. 167 (171). 1020 Zappalà, Human Rights, 2005, S. 114; Heinsch, How to achieve, in: Stahn / Sluiter (Hrsg.), The Emerging Practice of the International Criminal Court, 2009, S. 479 (487). 1021 Tiedemann, ZRP 1992, S. 107 (108). 1022 Report of the Expert Group to Conduct a Review of the Effective Operation and Functioning of the ICTY and the ICTR, UN General Assembly Document A / 54 / 634, 22. November 1999, Rn. 82. 1018 1019

VIII. Der Beschleunigungsgrundsatz

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Kooperationsbereitschaft des Angeklagten im inquisitorischen Verfahren fest. Da die Anklage im adversatorischen Parteiprozess als Gegenpart der Verteidigung auftritt, wird der Beschuldigte regelmäßig eine Zusammenarbeit vermeiden und weniger Beiträge zur Tataufklärung leisten.1023 Eine weitere Ursache für die Dauer des angloamerikanischen Verfahrens liegt in der praktischen Durchführung ihrer Beweisaufnahme.1024 Die Einteilung in „prosecutor’s case“ und „defence case“ gibt den Verhandlungen eine klare Struktur vor und verhindert einen flexiblen Ablauf der Beweispräsentation.1025 Mit Prozessbeginn muss der Ankläger sein gesamtes Belastungsmaterial in das Verfahren einführen. Zu diesem Zeitpunkt kann die Anklage nicht voraussagen, welche Beweise die Verteidigung zur Entlastung des Beschuldigten erbringen wird. Da ein Nachschieben von Dokumenten nur nach strengen Bedingungen zulässig ist, hat der Ankläger seine Beweisführung – „sicherheitshalber“1026 – so umfangreich wie möglich zu gestalten. Die Beweisführung durch die Parteien garantiert jedoch zugleich eine umfassende Würdigung des Sachverhalts unter Berücksichtigung der gegensätzlichen Blickwinkel.1027 Dieser Gewinn an prozessualer Fairness muss neben den Anforderungen an ein effektives Verfahren gewahrt bleiben. Besondere Aufmerksamkeit soll dem letzten Grund für die Beschleunigung kontinentaleuropäischer Verfahren gewidmet werden. Im adversatorischen Prozess nimmt der Richter die Rolle eines neutralen Beobachters ein, der die Einhaltung prozessualer und formaler Voraussetzungen durch die Parteien überwacht.1028 Die Verfahrensleitung obliegt den Parteien, die den Ablauf der Verhandlungen selbständig bestimmen und erheblich in die Länge ziehen können. Seine stärkere Funktion im inquisitorischen Verfahren erlaubt dem Richter eine effektive Lenkung der Prozesse sowie notwendige Eingriffe zur Beschleunigung der Beweisaufnahme. Eine vertiefte Betrachtung der richterlichen Aufgaben soll die Frage beantworten, ob eine Annäherung an das kontinentaleuropäische Modell unter dem Aspekt der Beschleunigung verfahrensrechtlich sinnvoll ist.

b) Die Rolle des Richters im Verfahren „Vom Richter wird hier erwartet, dass er zu Beginn eines Verfahrens nichts über dessen Inhalt weiß, dass er sozusagen den Gerichtssaal mit einem weißen Stück Papier betritt, sich die eine Seite, dann die andere Seite anhört, die Erwiderung, die Erwiderung auf die Er1023 Report of the Expert Group to Conduct a Review of the Effective Operation and Functioning of the ICTY and the ICTR, UN General Assembly Document A / 54 / 634, 22. November 1999, Rn. 67. 1024 Kwon favorisiert daher die Zulassung von written statements, wie sie nunmehr in Regel 89 (F) und 92bis ICTY-Statut vorgesehen ist, Kwon, JICJ 5 (2007), S. 363 f. 1025 Eser, Reflexionen zum Prozesssystem, in: Sieber (Hrsg.), Strafrecht und Wirtschaftsstrafrecht. Dogmatik, Rechtsvergleich, Rechtstatsachen, FS Tiedemann, 2008, S. 1453 (1463). 1026 Eser, Vorzugswürdigkeit, in: Müller-Dietz (Hrsg.), FS Jung, 2007, S. 167 (174). 1027 Thibaut / Walker, Cal.L.Rev. 66 (1978), S. 541 (547). 1028 Sadoghi, ZfRV 2007, S. 231 (232).

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

widerung, sich zurückzieht und schließlich ein Urteil fällt. Der Richter hat also eine ausgesprochen passive Rolle und ist dem Vortrag der Parteien im wahrsten Sinne des Wortes ausgeliefert.“1029

Der Kritik Wolfgang Schomburgs an der passiven Rolle des Richters im internationalen Strafverfahren lassen sich vornehmlich zwei Ansätze zur Verbesserung des Prozessrechts entnehmen. Die späte Information der Kammer vom Sachverhalt sowie ihre geringen Einwirkungsmöglichkeiten auf den Prozessverlauf sind Folgen der adversatorischen Prägung ihrer Verfahrensordnungen. Kann eine Beschränkung des richterlichen Verantwortungsbereichs im staatlichen Strafverfahren gerechtfertigt werden, so muss ihr Geltungsgrund im internationalen Kontext überprüft werden. Gründe, die auf nationaler Ebene weitgehende Zurückhaltung des Richters erfordern, lassen sich nicht unmittelbar auf die Voraussetzungen des Völkerstrafrechts übertragen. aa) Die frühzeitige Information des Richters Eine Möglichkeit zur effektiveren Gestaltung des Verfahrens besteht in der frühzeitigen Information des Richters über die konkreten Umstände des Sachverhalts. Wie dargelegt, garantiert eine Integration von Vorverfahrensrichtern in die Hauptverhandlung eine zügige Einarbeitung der Kammer in die Rechtssache. Im Interesse der Prozessbeschleunigung erscheint es sinnvoll, das Gericht bereits im Vorfeld der Verfahren mit den Problemen des Falls vertraut zu machen. Heinsch spricht sich daher für eine grundlegende Neudefinition des richterlichen Rollenbildes aus: „But if one wants to speed up proceedings, it seems that one should overcome this general suspicion towards an ‚informed‘ judge.“1030

Der wesentliche Einwand des adversatorischen Verfahrens gegen eine frühzeitige Information des Richters wird in der Gefahr einer prozessualen Voreingenommenheit gesehen. Um diese Argumentation zu entkräften, kann auf die Erörterungen zur richterlichen Unabhängigkeit verwiesen werden.1031 Die Vorbereitung der Kammer auf das Hauptverfahren dient nicht einer vorgefassten Meinungsbildung, sondern einer effektiven Planung der Beweisaufnahme. Wird beiden Parteien das Recht zur Übermittlung von Stellungnahmen zugestanden, kann eine einseitige Einwirkung auf den Richter vermieden werden. Die Sorge um die richterliche Unabhängigkeit hängt eng zusammen mit seiner Rolle als neutrale Schiedsperson im adversatorischen Verfahren. Um beiden Par1029 Schomburg, Wolfgang, Internationale Strafgerichtsbarkeit. Lektionen aus den UN-Tribunalen für das frühere Jugoslawien und Ruanda. Vortrag vor der Gesellschaft für Außenpolitik, 18.02.2008, http:/7www.auslandskunde.de/volltext.php?id=124 (letzter Zugriff am 23.05. 2010). 1030 Heinsch, How to achieve, in: Stahn / Sluiter (Hrsg.), The Emerging Practice of the International Criminal Court, 2009, S. 479 (488). 1031 Siehe Kapitel D. III. 2. c) aa) (1).

VIII. Der Beschleunigungsgrundsatz

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teien unvoreingenommen begegnen zu können, darf der Richter nach der Vorstellung des common law keine Informationen über das Verfahren erhalten haben. Seine Objektivität ist notwendige Voraussetzung für den fairen Ablauf des angloamerikanischen Jury-Prozesses. Beruhend auf einer eigenständigen Tatsachenbewertung trägt die Jury alleinige Verantwortung für die Entscheidung über Schuld oder Nichtschuld des Täters.1032 Die Aufgabe des Richters erschöpft sich in rechtlichen Hinweisen sowie der Überwachung formaler Prozessregelungen. Zur Vermeidung einer ungewollten Beeinflussung der Jury wird der Richter zur ausnahmslosen Neutralität verpflichtet. Sollen Jury und Richter von identischen Tatsachen ausgehen, muss sich der Verfahrensgegenstand auf das Vorbringen der Parteien in der Verhandlung beschränken.1033 Mag diese Regelung in staatlichen Verfahren sinnvoll sein, verliert sie im internationalen Recht ihre Überzeugungskraft. Die Ursache für die Kritik an einer frühen Information des Richters liegt im Wesentlichen in ihren Auswirkungen auf die Jury. Da das Völkerstrafrecht eine Beteiligung von Laienrichtern jedoch prinzipiell ausschließt, entfällt der erforderliche Anknüpfungspunkt für ein Verbot von Sachverhaltskenntnissen. Im Gegenteil – entscheidet allein der Richter über eine Verurteilung des Angeklagten, müssen ihm im Interesse effektiver Prozessführung alle Informationen möglichst zeitnah übergeben werden. Wolfgang Schomburg vom ICTY bringt sein Unverständnis über den begrenzten Zugang der Richter zu notwendigem Beweismaterial klar zum Ausdruck: „Insbesondere aus der Sicht eines Richters, der über die Zukunft eines Menschen zu entscheiden hat, ihn möglicherweise zu einer lebenslangen Haft verurteilen muß, ist es sehr schwer zu verstehen, warum nicht auch der Richter Zugang zu allen Beweismitteln haben darf, oder besser: haben muss!“1034

An dieser Stelle zeigt sich eine Inkonsequenz des internationalen Verfahrensrechts. Die Verwirklichung einer adversatorischen Beweisaufnahme wird unabhängig von den vorausgesetzten angloamerikanischer Strukturen verlangt. Verzichtet die völkerstrafrechtliche Gerichtsbarkeit auf die Beiziehung einer Jury, muss die Geltung deduzierter Prinzipien überdacht werden. Ohne die gebotene Rücksichtnahme auf eine Jury ist kein überzeugender Grund für eine Zurückhaltung von Informationen ersichtlich. Vor diesem Hintergrund sind die ersten Schritte des ICTY zu einer frühzeitigen Übergabe von Beweismaterial an die Kammer begrüßenswert.1035 Der vorsitzende 1032 Eser, Reflexionen zum Prozesssytem, in: Sieber (Hrsg.), Strafrecht und Wirtschaftsstrafrecht. Dogmatik, Rechtsvergleich, Rechtstatsachen, FS Tiedemann, 2008, S. 1453 (1470). 1033 Eser, Reflexionen zum Prozesssytem, in: Sieber (Hrsg.), Strafrecht und Wirtschaftsstrafrecht. Dogmatik, Rechtsvergleich, Rechtstatsachen, FS Tiedemann, 2008, S. 1453 (1470). 1034 Schomburg, Wolfgang: Internationale Strafgerichtsbarkeit. Lektionen aus den UN-Tribunalen für das frühere Jugoslawien und Ruanda. Vortrag vor der Gesellschaft für Außenpolitik, 18.02.2008. 1035 Zappalà, Human Rights, 2005, S. 118.

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

Richter erhält Zugang zu den Stellungnahmen der Zeugen sowie den wesentlichen Dokumenten des Vorverfahrens.1036 Die Maßnahmen des Tribunals ermöglichen eine tatsächliche Beschleunigung der Prozesse und sind als wirkungsvolle Entwicklung in der Verfahrenspraxis des Tribunals anzuerkennen. Zukünftig sollten die Bemühungen des Gerichts um eine frühzeitige Information der Richter erweitert und normativ klar fundiert werden.

bb) Der Richter als Leiter des Verfahrens Die prozessuale Rolle des Richters bestimmt den Ablauf der Verhandlungen maßgeblich. Die Befugnisse der Kammer zur Leitung und Ergänzung der Beweisaufnahme sind wesentliche Faktoren für die Dauer eines Strafverfahrens. Die Gestaltung der richterlichen Aufgabenbereiche an internationalen Straftribunalen kann daher Ansatzpunkt für prozessuale Modifikationen im Interesse einer Verfahrensbeschleunigung sein. (1) Die Rechtslage Unter dem Blickwinkel verfahrensrechtlicher Effizienz soll in gebotener Kürze an die Rechtslage im internationalen Strafverfahren erinnert werden.1037 Die Beweisaufnahme des ICTY orientiert sich maßgeblich am Modell des adversatorischen Parteiprozesses. Die Beibringung von Beweismitteln sowie die Befragung von Zeugen und Sachverständigen werden von den Parteien vorgenommen. Als zentrales Instrument der Prozessführung dient das Kreuzverhör, das eine wesentliche Grundlage für die Verfahrensstrategie von Anklage und Verteidigung bildet. Eine eigenständige Vernehmung durch die Kammer ist am ICTY nicht vorgesehen. Nach Regel 85 B ICTY-RPE können die Richter ein Verhör jedoch nach Belieben unterbrechen, um Fragen an die Aussageperson zu richten. Ferner wird die Kammer im Interesse eines beschleunigten Verfahrens zur Überwachung eines effektiven Ablaufs des Beweisverfahrens ermächtigt (Regel 90 F ICTY-RPE). Wenngleich die Prozessordnung des ICTY maßgeblich auf den Grundgedanken des adversatorischen Parteiverfahrens beruht, sieht sie Möglichkeiten zur Einflussnahme der Richter vor. In der Praxis zeigt sich jedoch eine erhebliche Zurückhaltung der Kammer bei Ausübung ihrer Verfahrensrechte. „Doch trotz dieser dem ICTY eingeräumten Chancen, in Ergänzung der Beweispräsentation durch die Parteien auf volle Wahrheitsermittlung hinzuwirken, tut man sich in der Praxis dieses Gerichts offensichtlich schwer, über die richterliche ‚Nichteinmischungseinstellung‘ adversatorischer Tradition hinwegzukommen.“1038 Fairlie, ICLR 4 (2004), S. 243 (253). Siehe hierzu bereits Kapitel C. II. 2. 1038 Eser, Reflexionen zum Prozesssytem, in: Sieber (Hrsg.), Strafrecht und Wirtschaftsstrafrecht. Dogmatik, Rechtsvergleich, Rechtstatsachen, FS Tiedemann, 2008, S. 1453 (1470). 1036 1037

VIII. Der Beschleunigungsgrundsatz

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Die Prozessordnung des ICC geht von vergleichbaren Grundsätzen aus.1039 So liegt die Verantwortung für eine Durchführung des Beweisverfahrens in erster Linie bei den Parteien, denen die Vernehmung von Zeugen sowie die Präsentation der Beweismittel übertragen wird. Im Vergleich zum ICTY sind die Befugnisse der Kammer zur Gestaltung des Verfahrensverlaufs jedoch weiter gezogen. Eine bedeutende Ergänzung der richterlichen Kompetenzen enthält Art. 69 Abs. 3 ICC-Statut, der die Kammer zur Anforderung zusätzlichen Beweismaterials legitimiert. Unabhängig vom Vortrag der Parteien kann das Gericht die Beibringung weiterer Dokumente sowie die erneute Anhörung von Zeugen verlangen.1040 Einen grundlegend verschiedenen Ansatz wählt die Prozessordnung der ECCC, die das Beweisverfahren nach kontinentaleuropäischem Vorbild gestaltet. Basierend auf dem inquisitorischen System des französischen Rechts obliegt den Richtern die ausschließliche Leitung des Hauptverfahrens (Regel 85 ECCC-IR). Gemäß Regel 87 Abs. 4 ECCC-IR wird die Kammer zur Zulassung des relevanten Beweismaterials und einer Vorladung von Zeugen ermächtigt. Ein maßgeblicher Unterschied zu den adversatorisch geprägten Verfahren an ICC und ICTY besteht in der richterlichen Kompetenz zur Befragung von Zeugen und Angeklagten. Erst nach abschließender Vernehmung durch die Kammer wird der Anklage sowie der Verteidigung ein Verhör der Aussageperson gestattet (Regel 90, 91 ECCC-IR). (2) Die Einflüsse von common law und civil law auf die Befugnisse des Richters Die verschiedenen Regelungen völkerstrafrechtlicher Tribunale sind Ausdruck und Folge der differenzierten Rechtslage in common law und civil law. Angloamerikanische und kontinentaleuropäische Prozessordnungen beruhen auf grundlegend verschiedenen Konzepten von der Rolle des Richters in der Beweisverhandlung. Im adversatorischen Verfahren sind ausschließlich die Parteien für die Ermittlung und Darstellung von Beweismaterial zuständig. Während sie die Befragung von Zeugen und Sachverständigen leiten, nimmt der Richter eine zumeist passive Rolle im Prozessgeschehen ein.1041 Demgegenüber wird das inquisitorische Verfahren maßgeblich durch den Richter bestimmt, dem die Vernehmung der Zeugen sowie die Entscheidung über den Umfang der Beweisaufnahme obliegen. In den weitreichenden Befugnissen der Kammer sieht Eser einen zentralen Grund für die zügige Verhandlung kontinentaleuropäischer Prozesse: „[Das inquisitorische Verfahren] ist der den Parteien überlassenen Präsentation der Beweismittel naturgemäß schon dadurch überlegen, dass der Richter zielstrebig auf die für die Urteilsfindung relevanten Punkte hinwirken kann.“1042 Wilhelmi, Die Verfahrensordnung, 2004, S. 39. Röben, Max Planck UNYB 7 (2003), S. 513 (527). 1041 Eser, Reflexionen zum Prozesssytem, in: Sieber (Hrsg.), Strafrecht und Wirtschaftsstrafrecht. Dogmatik, Rechtsvergleich, Rechtstatsachen, FS Tiedemann, 2008, S. 1453 (1458). 1039 1040

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

Die freie Gestaltung der Beweisaufnahme durch die Parteien nimmt im adversatorischen Prozess erhebliche Zeit in Anspruch. Das kontinentaleuropäische Modell erlaubt es hingegen dem Richter, die Stellungnahmen der Beteiligten auf wesentliche Aspekte zu begrenzen und notwendige Verfahrensschwerpunkte zu setzen. Durch eine effektive Strukturierung der Beweiserhebung kann eine unnötige Verzögerung der Prozesse verhindert sowie die Dauer des Hauptverfahrens bedeutend verkürzt werden.1043 Auch die Expertenkommission des ICTY empfahl in ihrem Entwurf zur Verfahrensbeschleunigung eine Übertragung der inquisitorischen Grundsätze auf den internationalen Strafprozess.1044 Nach Überzeugung der Kommission begünstigten eine stärkere Kompetenzausübung der Richter und ihre Beteiligung an der Zeugenbefragung einen zügigen Abschluss der Verhandlungen.1045 Die aktive Rolle des Richters im Prozess dient zugleich dem Ziel objektiver Wahrheitsfindung durch das Tribunal. Einer authentischen Aufklärung der Ereignisse ist gerade im Völkerstrafrecht erhebliches Gewicht beizumessen. Die nachhaltige Gewährleistung des globalen Friedens setzt eine glaubhafte Aufarbeitung der Konfliktsituation voraus.1046 Die Beweisaufnahme internationaler Tribunale muss sich daher in besonderer Weise der Gerechtigkeit verpflichten und ein Korrektiv zu den Stärken oder Schwächen einer Beweispräsentation der Parteien bereithalten. „Auch wenn Richter keine Historiker sind, dient das den Urteilen zugrunde gelegte Datenmaterial der Geschichtsschreibung. In dieser Hinsicht geht die Wahrheitsermittlungspflicht einer internationalen Strafgerichtsbarkeit sicherlich über die eines typischen nationalen Gerichts hinaus.“1047

Im kontinentaleuropäischen Strafprozess ist die Ermittlung der materiellen Wahrheit unbestrittenes Verfahrensziel.1048 Mit der Befugnis zur Befragung von Zeugen und Sachverständigen wird den Richtern ein wichtiges Instrument zur eigenständigen Untersuchung des Falles an die Hand gegeben. Während die Kammer inquisitorischen Verfahren zur Ermittlung der Sachlage verpflichtet ist, bleibt sie im angloamerikanischen Recht streng an die Darlegungen der Parteien gebunden.1049 Das adversatorische Modell beruht auf dem Gedanken des Parteiprozesses, der das Er1042 Eser, Reflexionen zum Prozesssytem, in: Sieber (Hrsg.), Strafrecht und Wirtschaftsstrafrecht, FS Tiedemann, 2008, S. 1453 (1462). 1043 Heinsch, How to achieve, in: Stahn / Sluiter (Hrsg.), The Emerging Practice of the International Criminal Court, 2009, S. 479 (486 ff.). 1044 Ambos, ICLR 3 (2003), S. 1 (37). 1045 Report of the Expert Group to Conduct a Review of the Effective Operation and Functioning of the ICTY and the ICTR, UN General Assembly Document A / 54 / 634, 22. November 1999, Rn. 82. 1046 Eser, Reflexionen zum Prozesssytem, in: Sieber (Hrsg.), Strafrecht und Wirtschaftsstrafrecht, FS Tiedemann, 2008, S. 1453 (1470). 1047 Eser, Vorzugswürdigkeit, in: Müller-Dietz (Hrsg.), FS Jung, 2007, S. 167 (186). 1048 Wilhelmi, Die Verfahrensordnung, 2004, S. 23. 1049 Eser, Reflexionen zum Prozesssytem, in: Sieber (Hrsg.), Strafrecht und Wirtschaftsstrafrecht, FS Tiedemann, 2008, S. 1453 (1470).

VIII. Der Beschleunigungsgrundsatz

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gebnis eines fairen Wettstreits als grundsätzlich gerecht anerkennt. Es ist Aufgabe und Verantwortung der Parteien, die Jury durch eine konsequente Beweispräsentation von der eigenen Position zu überzeugen. Da die prozessuale Gleichheit der Parteien Grundbedingung des adversatorischen Prozesses ist, darf die Neutralität der Geschworenen nicht in Zweifel gezogen werden. Mit Übernahme der Verfahrensleitung könnten die Richter unzulässigen Einfluss auf die Wertungen der Jury nehmen und auf diese Weise die Grundlagen eines fairen Parteiverfahrens hinterfragen.1050 Die Passivität des Richters im angloamerikanischen Prozess erklärt sich maßgeblich durch die Einsetzung von Geschworenen zur Urteilsfindung. Wird das Modell der Jury im völkerstrafrechtlichen Prozess weiterhin ausgeschlossen, verliert die Argumentation zur Beschränkung der richterlichen Verfahrensbefugnisse ihre Berechtigung. Die Festlegung der Kammer auf eine bloße Prozesskontrolle ist allein dann sinnvoll, wenn die Objektivität einer unabhängigen Jury gewahrt werden muss. Treffen die Richter jedoch selbst eine Entscheidung über die Verurteilung des Angeklagten, entfällt erneut der Anknüpfungspunkt für prozessuale Vorbehalte. Da die Verantwortung für ein gerechtes Urteil ausschließlich bei der Kammer liegt, sollten ihr weitreichende Frage- und Beweisrechte zur Ermittlung der materiellen Wahrheit zugestanden werden.1051 Für das völkerstrafrechtliche Verfahren fordert Eser: „Deshalb ist es mitnichten ein Systembruch denn vielmehr konsequent, bei einem reinen Berufsgericht wie dem des ICTY den Richtern das Recht einzuräumen, (1) in jedem Stadium des Verfahrens einem Zeugen Fragen zu stellen, (2) die Untersuchung weiterer Gegenstände zuzulassen sowie (3) eine Partei anzuweisen, weitere Beweise vorzulegen bzw. von Amts wegen Zeugen zu laden und ihre Mitwirkung anzuordnen.“1052

cc) Fazit zur Rolle des Richters „It appears that judges cannot simply be regarded as umpires, but must play a more active role in the conduct of proceedings.“1053

Die Rolle des Richters im internationalen Strafprozess hat sich in der Vergangenheit dem Verständnis des civil law von einer aktiven Prozessleitung angenähert.1054 Wenngleich die Beweisaufnahme an ICTY und ICC noch immer adversatorisch geprägt ist, werden der Kammer begrenzte Kompetenzen zur Leitung der Verfahren 1050 Eser, Reflexionen zum Prozesssytem, in: Sieber (Hrsg.), Strafrecht und Wirtschaftsstrafrecht, FS Tiedemann, 2008, S. 1453 (1470). 1051 Safferling, Towards an International Criminal Procedure, 2007, S. 371: „[T)he judges are expected to give a reasoned decision and must therefore be at least allowed to ask additional questions.“ 1052 Eser, Reflexionen zum Prozesssytem, in: Sieber (Hrsg.), Strafrecht und Wirtschaftsstrafrecht, FS Tiedemann, 2008, S. 1453 (1470). 1053 Zappalà, Human Rights, 2005, S. 250 f. 1054 Fairlie, ICLR 4 (2004), S. 243 (317).

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

gewährt. Es besteht zunehmend Konsens, dass die Erweiterung der richterlichen Befugnisse eine wesentliche Voraussetzung für die Beschleunigung der Verhandlungen darstellt.1055 An ICTY und ICC bewegt sich die Einführung allgemeiner Frage- und Kontrollrechte der Kammer jedoch weiterhin im Kontext des parteibetriebenen Beweisverfahrens. Werden Elemente des inquisitorischen Strafprozesses unreflektiert in die unveränderten Strukturen des common law integriert, sind Inkonsequenzen bei Umsetzung des Verfahrensrechts die Folge. Der Konflikt der prozessualen Konzepte zeigt sich beispielhaft in der Durchführung von Kreuzverhören an internationalen Strafgerichten. Das Kreuzverhör entstammt dem angloamerikanischen Verfahrensrecht und ist wesentlicher Bestandteil der Beweispräsentation. Die Parteien bereiten Inhalt und Ablauf ihrer Befragung ausführlich vor, um die gewünschte Aussage zu erhalten. Werden die Richter zu beliebigen Unterbrechungen der Vernehmung ermächtigt, können sie die Argumentationsstruktur vereiteln und die intendierte Wirkung der cross examination zerstören.1056 Die Problematik der Zeugenbefragung verdeutlicht die Schwächen der bisherigen Eingliederung kontinentaleuropäischer Ideen. Da common law und civil law teilweise konträre Ansätze verfolgen, ist ihre Kombination zu einem einheitlichen und schlüssigen Rechtssystem schwierig. Im Interesse einer effektiven Verwirklichung der Verfahrensziele spricht vieles dafür, die Befugnisse des Richters nach Maßgabe inquisitorischer Grundsätze zu erweitern. Insoweit überzeugt Safferlings Vorschlag, dem Richter durch die Einräumung weitreichender Fragerechte die notwendigen Instrumente zur objektiven Wahrheitssuche an die Hand zu geben. „The judge, however, should be given a more active role. His duty would be to actively search for the truth himeslf, request further evidence, and put questions to the witnesses.“1057

Das Bedürfnis nach einer Prozessbeschleunigung sowie die Bedeutung der historischen Wahrheitsfindung für das Völkerstrafrecht begünstigen das Modell des informierten und aktiven Richters nach dem Vorbild der ECCC. Zugleich müssen die Rechte des Angeklagten und seine Möglichkeit zur selbstbestimmten Verteidigung gewahrt werden. Adversatorische Elemente der Beweispräsentation und -würdigung als Garanten einer umfassenden Wahrheitsfindung dürfen aus Gründen der Effektivität nicht vollständig aufgegeben werden. „Nonetheless, adversarial principles should not be put aside too easily and the desire to ensure efficiency should never negatively affect and curtail the rights of defendants. Usually, a trial conducted the adversarial style offers a better guarantee to the accused that his case will be more carefully examined and evidence cautiously tested.“1058 1055 Orie, Accusatorial v. Inquisitorial Approach, in: Cassese / Gaeta / Jones, The Rome Statute, Bd. 2, 2002, S. 1439 (1476). 1056 Vgl. Schabas, The UN International Criminal Tribunals, 2008, S. 511. 1057 Safferling, Towards an International Criminal Procedure, 2007, S. 372. 1058 Zappalà, Human rights, 2005, S. 28.

IX. Das Anwesenheitsrecht des Angeklagten und trial in absentia

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Die Vereinbarung adversatorischer Beteiligungsrechte mit einer notwendig aktiveren Rolle des Richters im internationalen Strafverfahren erfordert ihre eindeutige Abstimmung für die konkrete Prozesssituation. Trotz der Ausweitung richterlicher Frage- und Entscheidungsbefugnisse sollte beispielsweise eine Unterbrechung des Kreuzverhörs nicht gestattet sein.1059

IX. Das Anwesenheitsrecht des Angeklagten und trial in absentia 1. Die rechtlichen Grundlagen Das Recht des Angeklagten auf Anwesenheit im Strafverfahren wird in Art. 14 Abs. 3 lit. d IPbpR festgelegt. „Art. 14 Abs. 3 IPbpR: In the determination of any criminal charge against him, everyone shall be entitled to the following minimum guarantees, in full equality: (…) (d) To be tried in his presence.“

Demgegenüber enthält Art. 6 EMRK keine vergleichbare Regelung des prozessualen Präsenzanspruchs. Hintergrund der normativen Lücke ist das unterschiedliche Verständnis des Anwesenheitsrechts im angloamerikanischen und kontinentaleuropäischen Rechtskreis, das eine Einigung auf die Reichweite einer menschenrechtlichen Schutzbestimmung erschwerte.1060 In seinen Entscheidungen zu Poitrimol v. Frankreich und Colozza v. Italien bewertet der EGMR die Präsenz des Beschuldigten gleichwohl als wesentlichen Bestandteil eines fairen Verfahrens.1061 Nach Ansicht des Gerichts beruhen die Prozessgarantien in Art. 6 Abs. 3 EMRK auf der Vorstellung eines gleichberechtigten Verfahrens unter aktiver Beteiligung des Angeklagten. Elementaren Gewährleistungen wie dem Recht zur eigenen Verteidigung und der persönlichen Befragung von Zeugen würde bei Abwesenheit des Beschuldigten die notwendige Grundlage entzogen.1062 Die Statuten der internationalen Strafgerichte übernehmen das Recht des Angeklagten auf persönliche Teilnahme am Verfahren nach Vorgabe des IPbpR. Art. 21 1059 Hierzu Sadoghi, ZfRV 2007, S. 231 (233, 236); a. A. Safferling, Towards an International Criminal Procedure, 2007, S. 372. 1060 Knoops, Theory and Practice, 2005, S. 85 f. 1061 EGMR, Colozza v. Italy, Application No. 9024 / 80, 12. Februar 1985, 7 E.H.R.R. 516, Rn. 27; EGMR Poitrimol v. Frankreich, 39 / 1992 / 384 / 462, 23. November 1993. 1062 EGMR, Colozza v. Italy, Application No. 9024 / 80, 12. Februar 1985, 7 E.H.R.R. 516, Rn. 27: „Moreover, sub-paragraphs (c), (d) and (e) of paragraph 3 guarantee to ‚everyone charged with a criminal offence‘ the right ‚to defend himself in person,‘ ‚to examine or have examined witnesses‘ and ‚to have the free assistance of an interpreter if he cannot understand or speak the language used in court,‘ and it is difficult to see how he could exercise these rights without being present.“

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

Abs. 4 lit. d ICTY-RPE und Art. 35 Abs. 2 lit. d new ECCC-LoE normieren die Anwesenheit des Beschuldigten als individuellen Prozessanspruch. Das Verfahrensrecht des ICC enthält eine gesonderte Bestimmung über die Reichweite und Einschränkbarkeit des Präsenzrechts. „Art. 63 ICC-Statut 1. The accused shall be present during the trial. 2. If the accused, being present before the Court, continues to disrupt the trial, the Trial Chamber may remove the accused and shall make provision for him or her to observe the trial and instruct counsel from outside the courtroom, through the use of communications technology, if required. Such measures shall be taken only in exceptional circumstances after other reasonable alternatives have proved inadequate, and only for such duration as is strictly required.“

Angesichts seiner Verankerung in den Statuten erscheint das Anwesenheitsrecht des Beschuldigten als wesentliche Verfahrensvoraussetzung internationaler Strafgerichte. Trotz der einheitlichen Verbürgung des Präsenzanspruchs wird die Möglichkeit eines Abwesenheitsverfahrens – des trial in absentia – im Völkerstrafrecht diskutiert. Ausgangspunkt der Betrachtung ist die Darstellung der Rechtslage in nationalen und internationalen Verfahrensordnungen. Auf Grundlage der normativen Vorgaben soll untersucht werden, inwieweit ein Prozess in Abwesenheit mit den Zielen des Völkerstrafrechts und seinen rechtsstaatlichen Prämissen vereinbar ist.

2. Die Zulässigkeit von trial in absentia im nationalen und internationalen Strafrecht Die Frage nach der Zulässigkeit von trial in absentia gewinnt im Kontext des internationalen Strafprozessrechts besondere Bedeutung. Völkerstrafrechtliche Tribunale verfügen über keine eigenständigen Exekutivorgane zur Durchsetzung ihrer Haftbefehle. Im Gegensatz zum innerstaatlichen Recht fehlt auf internationaler Ebene eine permanente und kompetente Polizeieinheit zur Festnahme von Beschuldigten. Die Gerichte sind daher auf die Bereitschaft der Staaten zur Kooperation und Auslieferung der flüchtigen Personen angewiesen. Der Fall Mladić am ICTY zeigt beispielhaft die Problematik einer effektiven Gewährleistung der Präsenz des Beschuldigten. Obwohl die Anklage gegen Mladić bereits im Jahr 1995 bestätigt wurde, befindet sich der ehemalige General der bosnischen Serben erst seit Ende Mai 2011 in Haft.1063 Die politischen Hindernisse seiner Festnahme haben die Grenzen der gerichtlichen Autorität und ihrer Möglichkeit zur Verwirklichung des Anwesenheitsrechts offenbart. 1063 Die ehemalige Chefanklägerin des ICTY Carla del Ponte macht hierfür in erster Linie die fehlende Kooperation der serbischen Behörden verantwortlich. Nach Informationen der Anklagebehörde stand Mladić zumindest für einen erheblichen Zeitraum unter dem Schutz des Militärs (del Ponte, Im Namen der Anklage, 2009, S. 221 ff.).

IX. Das Anwesenheitsrecht des Angeklagten und trial in absentia

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Den Schwierigkeiten einer Verhaftung steht ein erhebliches Interesse an der Durchführung des Strafverfahrens gegenüber. Die abschließende Aufarbeitung der Konfliktsituation sowie das begrenzte Mandat temporärer Gerichte erfordern eine umfassende und zeitnahe Beendigung der Verhandlungen. Kann ein Verfahren aufgrund der Abwesenheit des Beschuldigten nicht stattfinden, bleiben wichtige Prozessziele des internationalen Strafrechts unerreicht. Besteht im Völkerstrafprozess auf der einen Seite ein erkennbares Bedürfnis für trial in absentia, so wird andererseits der Wahrung prozessualer Fairness besonderes Gewicht beigemessen. Die divergierenden Interessen an einer Realisierung des Strafverfahrens und einer Garantie des Anwesenheitsrechts werfen die Frage nach der Zulässigkeit von trial in absentia vor völkerrechtlichen Strafgerichten auf. Eine einheitliche Antwort kann sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene nicht gegeben werden. Common law und civil law folgen in ihrer Gestaltung von Anwesenheitsverfahren verschiedenen Ansätzen. Zugleich zeichnet sich im Völkerstrafrecht eine differenzierte Haltung zur Anerkennung von trial in absentia ab. Während das Militärtribunal von Nürnberg Verfahren in absentia noch ausdrücklich vorsah, setzen die Statuten der Ad-hoc-Tribunale und des ICC eine Präsenz des Beschuldigten zwingend voraus. Hybride Tribunale, wie die ECCC oder das Sondertribunal für den Libanon gestatten die Verhandlung in Abwesenheit unter restriktiven Bedingungen. Die nachfolgende Darstellung der innerstaatlichen und völkerstrafrechtlichen Rechtslage soll die Basis für eine Diskussion der Akzeptanz von trial in absentia im internationalen Strafrecht bilden.

a) Trial in absentia im nationalen Strafverfahren Die Untersuchung nationaler Rechtsvorschriften zu trial in absentia zeichnet ein differenziertes Bild. Eine verallgemeinernde Darstellung zeigt, dass Verfahren in Abwesenheit des Beschuldigten im System des civil law grundsätzlich anerkannt sind, während sie im common law weitgehend ausgeschlossen werden.1064 Aufgrund seiner adversatorischen Gestaltung erscheint das angloamerikanische Verfahren nur schwer mit einer Verhandlung in absentia vereinbar. Dieser Grundsatz gilt jedoch in beiden Fällen nicht ohne Ausnahmen. Nach Regel 43 lit. b der Federal Rules of Criminal Procedure wird in den USA ein trial in absentia gestattet, sofern der Angeklagte bei Eröffnung des Verfahrens anwesend war und freiwillig auf eine weitere Teilnahme verzichtete.1065 Wenngleich ein Prozess in absentia im kontinentaleuropäischen Rechtskreis allgemein für zulässig erachtet wird, sind an seine Einleitung unterschiedliche recht1064 Stankovic, Guilty Until Proven Guilty: Rule 61 of the ICTY, 2010, S. 18, http://works. bepress.com/aleksandra_stankovic/2 (letzter Zugriff am 26.05.2010). 1065 Schwartz, Herman, Trial in absentia, The Center for Human Rights and Humanitarian Law at Washington College of Law, American University, 1996 (letzter Zugriff am 23.05. 2010).

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

liche Bedingungen geknüpft. Voraussetzung für einen trial in absentia ist die Gewährleistung elementarer Prozessrechte des Angeklagten durch objektive Schutzmaßnahmen sowie sein Anspruch auf eine Wiederholung des Verfahrens im Falle einer späteren Festnahme.1066 Während der trial in absentia in den Niederlanden, Frankreich und Italien allein von einem rechtswidrigen Fernbleiben des Beschuldigten abhängig gemacht wird,1067 ist in Deutschland ein Verfahren in Abwesenheit bei Anklage schwerer Verbrechen generell nicht möglich.1068

b) Trial in absentia in der internationalen Rechtsprechung Die Praxis des kontinentaleuropäischen Verfahrensrechts wird durch die internationale Rechtsprechung bestätigt. Obgleich der Anwesenheit des Angeklagten prozessuale Bedeutung beigemessen wird, erkennt der EGMR die Zulässigkeit von trial in absentia grundsätzlich an.1069 Nach der Rechtsprechung des EGMR kann ein Prozess in absentia allein im Falle eines eindeutigen und ausdrücklichen Rechtsverzichts des Angeklagten in Kenntnis der Verfahren stattfinden.1070 Das Gericht benennt vier Voraussetzungen, die kumulativ eine Durchführung des Abwesenheitsverfahrens rechtfertigen können:  Der Beschuldigte wurde über die Anklage unterrichtet.  Es bestehen Beweise, dass der Angeklagte dem Verfahren freiwillig fernbleibt.  Der Beschuldigte darf sein Recht zur persönlichen Teilnahme am Prozess nicht verwirken. Ihm ist auch nach Beginn des Verfahrens jederzeit Zugang zu den Verhandlungen zu gewähren.  Der Angeklagte muss durch einen Verteidiger vertreten werden können.1071

Wenngleich der EGMR einen trial in absentia nicht ausschließt, beschränkt das Gericht seine Anwendbarkeit auf Ausnahmefälle. Neben der Bedingung eines wirksamen Verzichts wird die Zulässigkeit eines trial in absentia im internationalen Recht von der nachhaltigen Gewährleistung eines fairen Verfahrens abhängig ge1066 Stankovic, Guilty Until Proven Guilty: Rule 61 of the ICTY, 2010, S. 19, http://works. bepress.com/aleksandra_stankovic/2 (letzter Zugriff am 26.05.2010); EGMR Colozza v. Italy, Application No. 9024 / 80, 12. Februar 1985, Rn. 29. 1067 Stankovic, Guilty Until Proven Guilty: Rule 61 of the ICTY, 2010, S. 19, http://works. bepress.com/aleksandra_stankovic/2 (letzter Zugriff am 26.05.2010). 1068 §§ 230(1), 232 StPO. 1069 EGMR Krombach v. Frankreich, Application No. 29731 / 96, 13. Februar 2001, Rn. 85 ff. 1070 EGMR Colozza v. Italy, Application No. 9024 / 80, 12. Februar 1985, Rn. 18, 19, 28; EGMR Lala v. Niederlande, Application No. 14861 / 89, 22. September 1994, 18 E.H.R.R. 586, Rn. 14; EGMR Poitrimol v. Frankreich, Application No. 39 / 1992 / 384 / 462, 23. November 1993, Rn. 31. 1071 EGMR Colozza v. Italy, Application No. 9024 / 80, 12. Februar 1985, Rn. 29; EGMR Krombach v. Frankreich, Application No. 29731 / 96, 13. Februar 2001, Rn. 85 ff.

IX. Das Anwesenheitsrecht des Angeklagten und trial in absentia

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macht. Das Human Rights Committee betont in seinen „General Comments“ die besondere Verantwortung der Gerichte für den Schutz der Beschuldigtenrechte in einem trial in absentia.1072 Die Abwesenheit des Angeklagten darf ihm weder eine anwaltliche Vertretung noch eine Rückkehr in die Verhandlungen versagen.1073

c) Trial in absentia im Völkerstrafprozess Den Verfahrensordnungen völkerstrafrechtlicher Tribunale kann bislang keine eindeutige Aussage zur Akzeptanz von Abwesenheitsprozessen entnommen werden. Art. 12 des Statuts für den Nürnberger Militärgerichtshof 1074 sah die Möglichkeit eines trial in absentia ausdrücklich vor.1075 In der Folge verurteilte das Nürnberger Tribunal den Angeklagten Martin Bormann in Abwesenheit zum Tode. Die Praxis des Internationalen Militärgerichtshofs wurde bei Gründung der Ad-hoc-Tribunale im Sicherheitsrat kontrovers diskutiert.1076 Im Ergebnis lehnte eine Mehrheit die Zulässigkeit eines trial in absentia aus rechtsstaatlicher Perspektive ab. Der Generalsekretär der Vereinten Nationen äußerte die Überzeugung, ein Abwesenheitsverfahren sei mit den Anforderungen prozessualer Fairness aus Art. 14 IPbpR unvereinbar. „[T]here is a widespread perception that trials in absentia should not be provided for as this would be inconsistent with Art. 14 ICCPR, which provides that the accused shall be entitled to be tried in his presence.“1077

Nach dem Vorbild der Ad-hoc-Tribunale wurde auch für das Statut des ICC ein Verzicht auf trial in absentia beschlossen. Die Argumentation des Generalsekretärs ist jedoch keine zwingende Grundlage für den Ausschluss von Abwesenheitsprozessen an internationalen Strafgerichten. Bereits das Human Rights Committee stellte in seiner Auslegung des Paktes die Kompatibilität von Art. 14 IPbpR mit einem trial in absentia fest.1078 1072 UN Human Rights Committee, General Comment 13, Article 14 (Twenty-first session, 1984), Compilation of General Comments and General Recommendations Adopted by Human Rights Treaty Bodies, UN Doc. HRI\GEN\1\Rev.1 (1994), 1994, Rn. 11 (on equality before the courts and the right to a fair and public hearing by an independent court established by law). 1073 EGMR Pelladoah v. Niederlande, Application No. 16737 / 90, 22. September 1994, 19 E.H.R.R. 81, Rn. 23. 1074 Art. 12 IMG-Statut: The Tribunal shall have the right to take proceedings against a person charged with crimes set out in Article 6 of this Charter in his absence, if he has not been found or if the Tribunal, for any reason, finds it necessary, in the interests of justice, to conduct the hearing in his absence. 1075 Gaeta, JICJ 5 (2007), S. 1165. 1076 Quintal, Colum. J. Transnat’l L. 36 (1998), S. 723 (743); Iliopoulos, Hariri Tribunal Opens in The Hague, Crimes of War Project, 13. März 2009 (letzter Zugriff am 23.05.2010). 1077 Report of the Secretary General Pursuant to Paragraph 2 of Security Council Resolution 808 (1993), UN Doc. S / 25704, 3. Mai 1993, § 101.

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

Ausgehend von der Wertung des Komitees erkennen die Verfahrensordnungen hybrider Tribunale die Möglichkeit von Verhandlungen in Abwesenheit des Beschuldigten grundsätzlich an. Während am SCSL und den ECCC ein trial in absentia nur unter der Bedingung eines einmaligen Erscheinens vor Gericht statthaft ist, verzichtet das Sondertribunal für den Libanon auf eine vergleichbare Einschränkung. Die generelle Zulässigkeit von Abwesenheitsverfahren stellt eine bedeutende Neuerung im jüngeren Prozessrecht internationaler Strafgerichte dar.1079 Im Folgenden soll die Rechtslage im Völkerstrafrecht unter Berücksichtigung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden in der Anerkennung eines trial in absentia untersucht werden. Die Bewertung eines Abwesenheitsprozesses muss zwei wesentliche Fallkonstellationen unterscheiden – die Abwesenheit des flüchtigen Beschuldigten vom Gericht auf der einen und das Fernbleiben des inhaftierten Angeklagten auf der anderen Seite. Während der Teilnahmeverzicht des festgenommenen Beschuldigten weitgehend akzeptiert wird, ist ein Verfahren gegen den Flüchtigen umstritten.

aa) Trial in absentia an den Ad-hoc-Tribunalen (1) Die Abwesenheit des flüchtigen Beschuldigten vom Gericht Die Statuten der Ad-hoc-Tribunale enthalten lediglich vereinzelte Regelungen zur Präsenz des Beschuldigten und schließen Prozesse in absentia nicht ausdrücklich aus. Die langjährige Flucht von Ratko Mladić und Radovan Karadžić’ löste Diskussionen über die Möglichkeit von Prozessen in Abwesenheit des Angeklagten vom Gericht aus. Ist der Haftbefehl gegen einen Beschuldigten nicht durchsetzbar, kann ein Verfahren in absentia gleichwohl die Aufklärung der Ereignisse und eine öffentliche Verurteilung des Täters gewährleisten. Obschon die normativen Grundlagen der Ad-hoc-Gerichte kein explizites Verbot des trial in absentia statuieren, belegen Entstehungsgeschichte und Systematik seinen Ausschluss für das Verfahrensrecht der Tribunale. Der Vorschlag Frankreichs, Prozesse gegen flüchtige Beschuldigte unter der Voraussetzung eines obligatorischen Wiederaufnahmeverfahrens zu verhandeln, wurde mehrheitlich abgelehnt.1080 Der Generalsekretär der Vereinten Nationen fasste die Position des Sicherheitsrates zur Durchführung von trial in absentia klar zusammen: „A trial should not commence until the accused is physically present before the international tribunal. There is a widespread perception the trials in absentia should not be provided for in the statute [of the ICTY] as this would not be consistent with Article 14 of the 1078 Human Rights Committee, Views of the Human Rights Committee under article 5, paragraph 4, of the Optional Protocol to the International Covenant on Civil and Political Rights, CCPR / C / 18 / D / 16 / 1977, 25. März 1983, Rn. 14. 1079 Aptel, JICJ 5 / 2 (2007), S. 1107 (1122). 1080 Quintal, Colum. J. Transnat’l L. 36 (1998), S. 723 (743).

IX. Das Anwesenheitsrecht des Angeklagten und trial in absentia

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International Covenant of Civil and Political Rights, which provides that the accused should be tried in presence.“1081

Die Darstellungen des Generalsekretärs sind im Hinblick auf das normative Verständnis von Art. 14 IPbpR kritisch zu sehen, da nach geltendem Völkerrecht ein Ausschluss von trial in absentia nicht zwingend geboten ist.1082 Seine Aussagen reflektieren jedoch die ablehnende Haltung der Staaten bei Errichtung der Ad-hocTribunale.1083 Nach der Systematik des ICTY-Prozessrechts muss eine generelle Zulässigkeit von trial in absentia verneint werden. Die Verfahrensordnungen der Ad-hoc-Gerichte setzen die Anwesenheit des Beschuldigten als prozessuale Notwendigkeit implizit voraus.1084 Angesichts der eindeutigen Intention der Normgeber erscheint die Gegenansicht, welche im Schweigen der Statuten hinreichend Raum für die Anerkennung von in-absentia-Prozessen sieht, wenig überzeugend.1085 Gleichwohl spricht sich die Expertengruppe für Effizienzsteigerung für die Einführung von in absentia-Prozessen aus, um den Abschluss der Verfahren trotz offener Haftbefehle zu erreichen.1086 Ein Kompromiss zwischen der grundsätzlichen Wahrung des Präsenzrechts und dem Erfordernis wirksamer Prozessgestaltung soll durch die Einführung des sogenannten „Regel-61-Verfahrens“ erzielt werden.1087 Kann der Beschuldigte innerhalb eines angemessenen Zeitraums nicht vor Gericht gestellt werden, ist nach Regel 61 ICTY-RPE1088 eine eingeschränkte Beweisaufnahme der Hauptverfahrenskammer möglich. In diesem Rahmen legt die Anklage dem Gericht die Anklageschrift sowie belastendes Beweismaterial vor. Zur Unterstützung der Anklage kann der Staatsanwalt Zeugen laden, deren Aussagen in der gerichtlichen Anhörung festgehalten werden.1089 Der wesentliche Unterschied zum trial in absentia liegt in der begrenzten Entscheidungskompetenz des Gerichts, das im „Regel-61-Verfahren“ nicht zum Erlass eines Urteils ermächtigt ist. Anstelle 1081 Report of the Secretary-General Pursuant to Paragraph 2 of Security Council Resolution 808 (1993), UN Doc. S / 25704 / Corr.1, 30. Juli 1993, Rn. 101. 1082 Siehe oben, Kapitel D. IX. 2. b). 1083 Wie dargelegt, ist nach internationaler Rechtsprechung ein trial in absentia nicht generell unvereinbar mit den Prozessgarantien menschenrechtlicher Verträge. 1084 Zappalà, Human Rights, 2005, S. 421, vgl. Regel 65 C, 65ter D vi, 100 B, 102 B, 62 und 84bis. 1085 So jedoch Schwartz, Trial in absentia, The Center for Human Rights and Humanitarian Law at Washington College of Law, American University, 1996, http://www.wcl.american. edu/hrbrief/v4i1/schwar41.htm (letzter Zugriff am 23.05.2010). 1086 Hofstetter, Das Verfahrensrecht, 2005, Fn. 351. Der Vorschlag wurde jedoch von den Richtern mehrheitlich abgelehnt. UN Doc. A / 54 / 850 (2000): „Comments on the Report of the Expert Group to Conduct a Review of the Effective Operation and Functioning of the International Tribunal for the Former Yugoslawia and the International Criminal Tribunal for Rwanda.“ 1087 Stankovic, Guilty Until Proven Guilty: Rule 61 of the ICTY, 2010, S. 18, http://works. bepress.com/aleksandra_stankovic/2 (letzter Zugriff am 26.05.2010). 1088 Die Norm entspricht Art. 61 ICTR-RPE. 1089 Regel 61 B ICTY-RPE.

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

eines Schuldspruchs kann das Tribunal lediglich die Anklage bestätigen sowie einen internationalen Haftbefehl ausstellen. Die maßgebliche Bedeutung des Verfahrens besteht in seiner symbolischen Wirkung und dem politischen Gewicht eines Haftbeschlusses. Durch die Offenlegung der Beweismittel und die vorläufige Anerkennung der Anklagepunkte soll der Druck auf unkooperative Staaten zur Zusammenarbeit mit dem Gericht erhöht werden.1090 Während eine Verurteilung des Angeklagten in Abwesenheit nicht zulässig ist, werden in den Anhörungen nach Regel 61 ICTY-RPE wichtige Fragen des Hauptverfahrens erörtert. Die Vernehmung von Zeugen und die weitreichende Überprüfung der Anklagepunkte erschweren die erforderliche Grenzziehung zur späteren Beweisaufnahme im Prozess.1091 Die Möglichkeit einer antizipierten Beweiswürdigung birgt jedoch die Gefahr einer Vorverurteilung des Angeklagten, dessen strafrechtliche Schuld bereits in absentia bewertet wurde. Zugleich fehlen die notwendigen Schutzvorkehrungen eines trial in absentia, deren Nichtbeachtung mit der bloßen Symbolkraft einer Entscheidung nach Regel 61 ICTY-RPE begründet wird.1092 Wenngleich das Verfahren nach Regel 61 ICTY-RPE keinen trial in absentia im eigentlichen Sinne darstellt, erfordert die Bedeutung einer gerichtlichen Anklagebestätigung eine umfassende Wahrung der Verteidigungsrechte.1093 (2) Die Abwesenheit des Angeklagten von den Verhandlungen Nach Überstellung des Beschuldigten an das Gericht werden trial in absentia in den Fällen freiwilligen Verzichts sowie permanenter Störungen des Verfahrens anerkannt. Regel 80 B ICTY-RPE erlaubt den Fortgang der Verhandlungen in Abwesenheit des Angeklagten, wenn sich dessen Verhalten als erhebliche Beeinträchtigung des Prozessverlaufs erweist. In der Rechtssache Barayagwiza setzt sich der ICTR ausführlich mit den Folgen eines Verfahrensboykotts auseinander. Unter Hinweis auf die Entscheidung des EGMR in F C B v Italien1094 billigt das Gericht die Ablehnung einer weiteren Prozessteilnahme als eigenverantwortliche Entscheidung des Angeklagten: „Human rights case law does not prevent that a trial takes place in the absence of the accused provided that he has been duly notified of the proceedings.“1095 1090 Stankovic, Guilty Until Proven Guilty: Rule 61 of the ICTY, 2010, S. 18, http://works. bepress.com/aleksandra_stankovic/2 (letzter Zugriff am 26.05.2010). 1091 Rabinovitch attestiert dem Verfahren nach Regel 61 eine „trial-like quality“; vgl. Rabinovitch, Fordham Int’l L.J 500 / 28 (2005), S. 500 (527). 1092 Stankovic, Guilty Until Proven Guilty: Rule 61 of the ICTY, 2010, S. 18, http://works. bepress.com/aleksandra_stankovic/2 (letzter Zugriff am 26.05.2010). 1093 Stankovic, Guilty Until Proven Guilty: Rule 61 of the ICTY, 2010, S. 18, http://works. bepress.com/aleksandra_stankovic/2 (letzter Zugriff am 26.05.2010). 1094 EGMR F C B v. Italien, App. No. 12151 / 86, 28. August 1991, Series A 208-B, Rn. 29 – 36 m.w. N. 1095 ICTR Barayagwiza, Decision on Defence Counsel Motion to Withdraw, ICTR-97-19T, 2. November 2000, Rn. 7.

IX. Das Anwesenheitsrecht des Angeklagten und trial in absentia

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Neben der dogmatischen Idee eines subjektiven Rechtsverzichts bezieht das Gericht die Gefahr taktischer Verzögerungen durch den Angeklagten in seine Wertung ein. Um eine Verlängerung der Verfahrensdauer zu vermeiden, dürfe die Abwesenheit des Beschuldigten kein Prozesshindernis begründen.1096 Eine rechtliche Grenze findet die Dispositionsbefugnis des Angeklagten nach Auffassung des ICTR in der Frage seiner anwaltlichen Vertretung vor Gericht. Da ihr Mandant eine Repräsentanz im Verfahren ablehnte, beantragten die Verteidiger Barayagwizas die Entbindung von ihren Pflichten. Der ICTR verwarf den Antrag unter Verweis auf den objektiven Schutzgehalt der Verteidigungsrechte und die Unveräußerlichkeit verfahrensrechtlicher Fairness. Wenngleich der Beschuldigte auf sein Recht zur persönlichen Anwesenheit im Verfahren verzichten könne, müsse die prozessuale Wahrnehmung seiner Interessen weiterhin gewährleistet werden. Der Grundsatz des fairen Verfahrens sowie die Integrität des Gerichts erforderten auch im Rahmen von trial in absentia eine wirksame Vertretung des Anklagten.1097

bb) Trial in absentia am Internationalen Strafgerichtshof Die unterschiedliche Bewertung von trial in absentia im nationalen Recht prägte die Diskussionen über ihre Aufnahme in das Statut des Internationalen Strafgerichtshofes. Während sich Frankreich für die Möglichkeit von Verfahren in Abwesenheit des Angeklagten aussprach,1098 lehnte die Mehrheit der Staaten eine generelle Zulässigkeit von trial in absentia ab.1099 Die Generalversammlung einigte sich in der Folge auf einen umfassenden Ausschluss von trial in absentia und normierte in Art. 63 ICC-Statut die Anwesenheit des Beschuldigten als grundlegende Voraussetzung des Hauptverfahrens. Nach Art. 63 Abs. 2 ICC-Statut kann ein Prozess in absentia ausschließlich im Falle wiederholter Störungen des Verfahrens durch den Angeklagten gestattet werden. Die Norm ist deutlich restriktiver formuliert als ihr Äquivalent in den Statuten der Ad-hoc-Tribunale. So darf der Ausschluss des Beschuldigten erst erfolgen, wenn die effektive Durchführung des Verfahrens nicht mit anderen Mitteln erreicht werden kann. Im Rahmen des Prozesses in absentia muss dem Angeklagten zudem die Möglichkeit zur weiteren Verfolgung der Verhandlungen und fortbestehenden Einflussnahme auf seine Verteidigung eröffnet werden. Nach Intention und Wortlaut der Norm stellt der trial in absentia im System des ICC ein Ausnahmemodell dar, dessen Zulässigkeit an eine restriktive Anwendung geknüpft ist. Bedingung für ein Verfahren in absentia ist die Anwesenheit des Beschuldigten am Gericht, wodurch die Verurteilung eines flüchtigen Täters ausgeschlossen wird. Zappalà, Human Rights, 2005, S. 419. ICTR Barayagwiza, Decision on Defence Counsel Motion to Withdraw, ICTR-97-19T, 2. November 2000, Rn. 24: „Counsel are under an obligation to mount an active defence in the best interest of the Accused.“ 1098 Hofstetter, Das Verfahrensrecht, 2005, Fn. 328. 1099 Triffterer, Commentary, 2008, Art. 67 Rn. 47. 1096 1097

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

Besondere Regelungen gelten hingegen im Rahmen des Vor- und Rechtsmittelverfahrens, die weniger strenge Voraussetzungen für Prozesshandlungen in Abwesenheit des Beschuldigten vorsehen. Gemäß Art. 61 Abs. 2 ICC-Statut können Verhandlungen über die Anklagebestätigung im Falle einer Flucht oder eines Verzichts des Beschuldigten auf sein Teilnahmerecht stattfinden. Auf Veranlassung der Kammer wird der Beschuldigte durch einen Anwalt repräsentiert, wenn seine Vertretung im Interesse der Gerechtigkeit erforderlich erscheint.1100 In der Berufungsinstanz wird auf vergleichbare Schutzvorschriften verzichtet. Die Verkündung der Rechtmittelentscheidung kann nach Art. 83 Abs. 5 ICC-Statut in Abwesenheit des Angeklagten ergehen. Hintergrund der Norm ist das angloamerikanische Verständnis der Berufung als primäre Rechtskontrolle, die eine Präsenz des Verurteilten nicht zwingend notwendig macht.1101

cc) Trial in absentia an den hybriden Tribunalen (1) Das Präsenzerfordernis bei Prozesseröffnung an den ECCC Die hybriden Tribunale in Sierra Leone, Osttimor und Kambodscha orientieren sich bei der Regelung von trial in absentia am Vorbild des US-amerikanischen Prozessrechts. Voraussetzung eines Verfahrens in Abwesenheit des Angeklagten ist sein Erscheinen bei Eröffnung des Prozesses.1102 Sein späterer Ausschluss von den Verhandlungen oder ein freiwilliger Verzicht des Beschuldigten auf Präsenz im Verfahren stehen der Fortsetzung des Gerichtsprozesses nicht entgegen. Regel 60 SCSLRPE verdeutlicht, dass ein trial in absentia weder bei nachträglicher Flucht des Angeklagten noch im Falle seiner Weigerung zur Teilnahme einen Verstoß gegen das Anwesenheitsrecht darstellen soll:1103 „An accused may not be tried in his absence, unless (i) the accused has made his initial appearance, has been afforded the right to appear at his own trial, but refuses so to do; or (ii) the accused, having made his initial appearance, is at large and refuses to appear in court.“

Eine vergleichbare Regelung trifft das Prozessrecht der Sonderkammern in Osttimor, das Boykott und Flucht als mögliche Formen des Rechtsverzichts anerkennt.1104 1100 Art. 61 Abs. 2 b): In that case, the person shall be represented by counsel where the Pre-Trial-Chamber determines that it is in the interests of justice. 1101 Hofstetter, Das Verfahrensrecht, 2005, S. 88. 1102 Schwartz, Trial in absentia, The Center for Human Rights and Humanitarian Law at Washington College of Law, American University, 1996. 1103 Das Verfahrensrecht des SCSL basiert auf der Prozessordnung des ICTR. Die Richter des SCSL änderten die Bestimmungen zum trial in absentia, um ein Verfahren in Abwesenheit des Angeklagten zu ermöglichen, Friman, Procedural Law, in: Romano / Nollkaemper / Kleffner (Hrsg.), Internationalized Criminal Courts and Tribunals, 2004, S. 317 (329). 1104 Art. 5 Abs. 2 sowie 48 Abs. 2 der Richtlinie zur Gründung der Sonderkammern in Osttimor, Regulation No. 2000 / 15 On the Establishment of Panels With Exclusive Jurisdiction

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Die Internal Rules des ECCC messen der Anwesenheit des Beschuldigten ausdrücklich Bedeutung bei. Nach Regel 81 Abs. 3 ECCC-IR wird der Angeklagte grundsätzlich zur Teilnahme an den Verhandlungen verpflichtet und sein Erscheinen notfalls unter Anwendung von Gewalt durchgesetzt.1105 Wenngleich der Beschuldigte nach Belehrung über seine Rechte auf eine Präsenz im Verfahren verzichten kann, bleibt seine anwaltliche Vertretung obligatorisch.1106 Gemeinsame Grundvoraussetzung des trial in absentia in den Verfahrensordnungen der hybriden Tribunale ist das ursprüngliche Erscheinen des Angeklagten vor Gericht. Die Verurteilung eines Beschuldigten, der zu keinem Zeitpunkt an das Gericht überführt werden konnte, wäre mit dem Recht der internationalisierten Tribunale nicht vereinbar. Welchen Zweck das Erfordernis einer „initial appearance“ erfüllt, ist jedoch im Rahmen eines internationalen Strafprozesses fraglich. Im staatlichen Verfahrensrecht dient die Voraussetzung des erstmaligen Erscheinens der Gewährleistung eines wirksamen Rechtsverzichts. Mit seinem Auftritt vor Gericht soll sichergestellt werden, dass der Angeklagte Kenntnis von den Verfahren und seinen prozessualen Rechten besitzt.1107 Angesichts der weltweiten Berichterstattung und der politischen Präsenz der Verfahren kann im Völkerstrafrecht jedoch grundsätzlich von einer hinreichenden Information des Beschuldigten über die Anklagepunkte ausgegangen werden. Vor dem Hintergrund der breiten öffentlichen Bedeutung der Prozesse lassen sich Schutzzweck und normativer Sinngehalt der US-amerikanischen Bestimmung nicht auf die Ebene des internationalen Strafrechts übertragen. Die Voraussetzung der „initial appearance“ ist im völkerstrafrechtlichen Verfahren kein überzeugendes Kriterium zur Bewertung der Zulässigkeit von trial in absentia. Zu diesem Ergebnis gelangt auch Schwartz, der die Übernahme des amerikanischen Rechtsmodells für den Völkerstrafprozess ablehnt: „The ‚initial presence‘ requirement (…) is designed to ensure that the accused has notice of the charges and proceedings. (…) Because there is no doubt about the (…) defendants’ awareness of the charges, there is no reason to insist on the formality of an initial appearance where proceedings before the Tribunal are concerned.“

Over Serious Criminal Offences, United Nations Transitional Administration in East Timor (UNTAET), U.N. Doc. UNTAET / REG / 2000 / 15, 6. Juni 2000 [United Nations Transitional Administration in East Timor, Regulation No. 2000 / 15, On the establishment of panels with exclusive jurisdiction over serious criminal offences, 06.06.2000, http://www.un.org/en/peacekeeping/missions/past/etimor/untaetR/Reg0015E.pdf (letzter Zugriff am 25.03.2010)]; Romano / Nollkaemper / Kleffner, Internationalized Criminal Courts, 2004, S. 329. 1105 Art. 81 Abs. 3 ECCC-IR: Where the Accused refuses to attend the proceedings, he or she shall be brought before the Chamber, by public force if necessary, where he or she shall be notified of the inalienable right to be assisted by a lawyer of choice, to have one assigned as provided in these IRs or to represent him or herself. 1106 Art. 81 Abs. 4 und 6 ECCC-IR. 1107 Schwartz, Trial in absentia, The Center for Human Rights and Humanitarian Law at Washington College of Law, American University, 1996.

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

(2) Die Zulässigkeit von trial in absentia am Sondertribunal für den Libanon Eine grundsätzliche Anerkennung des trial in absentia findet sich erstmalig im Statut des Sondertribunals für den Libanon. Die Regelungen des Verfahrensrechts orientieren sich an den vom EGMR entwickelten Kriterien. Unabhängig von einem Erscheinen des Angeklagten bei Gericht wird die Möglichkeit eines Abwesenheitsverfahrens als legitimes Mittel effektiver Prozessgestaltung bestätigt. „Art. 22 Statute of the Special Tribunal for Lebanon 1. The Special Tribunal shall conduct trial proceedings in the absence of the accused, if he or she: (a) Has expressly and in writing waived his or her right to be present; (b) Has not been handed over to the Tribunal by the State authorities concerned; (c) Has absconded or otherwise cannot be found and all reasonable steps have been taken to secure his or her appearance before the Tribunal and to inform him or her of the charges confirmed by the Pre-Trial Judge. 2. When hearings are conducted in the absence of the accused, the Special Tribunal shall ensure that: (a) The accused has been notified, or served with the indictment, or notice has otherwise been given of the indictment through publication in the media or communication to the State of residence or nationality; (b) The accused has designated a defence counsel of his or her own choosing, to be remunerated either by the accused or, if the accused is proved to be indigent, by the Tribunal; (c) Whenever the accused refuses or fails to appoint a defence counsel, such counsel has been assigned by the Defence Office of the Tribunal with a view to ensuring full representation of the interests and rights of the accused. 3. In case of conviction in absentia, the accused, if he or she had not designated a defence counsel of his or her choosing, shall have the right to be retried in his or her presence before the Special Tribunal, unless he or she accepts the judgement.“

Ein trial in absentia kann sowohl durch ausdrücklichen Verzicht des Beschuldigten auf sein Präsenzrecht als auch durch Flucht oder wissentliches Fernbleiben begründet werden (Abs. 1). Voraussetzung für die Durchführung des Verfahrens ist lediglich die gesicherte Kenntnis des Beschuldigten vom Beginn der Verhandlungen. Um eine hinreichende Information des Angeklagten festzustellen, gilt bereits die öffentliche Bekanntmachung der Prozesseröffnung als ausreichend (Abs. 2 lit. a). Die grundlegende Zulässigkeit von trial in absentia erfordert wirksame Schutzmaßnahmen zur Wahrung der prozessualen Rechte des Beschuldigten. Soll in Abwesenheit des Angeklagten ein faires Verfahren realisiert werden, muss seine immanente Benachteiligung durch eine effektive Interessenvertretung ausgeglichen werden. Aufgabe der Verteidigungseinheit bei Gericht ist daher die Beiordnung eines Anwaltes, der unabhängig von einem tatsächlichen Mandat die Belange des Beschuldigten repräsentiert (Abs. 2 lit. c). Zugleich bleibt es dem verurteilten Täter unbenommen, durch sein Erscheinen bei Gericht eine Wiederaufnahme des Verfahrens zu erwirken (Abs. 3). Dies gilt jedoch nicht, wenn der Angeklagte in den Verhandlungen

IX. Das Anwesenheitsrecht des Angeklagten und trial in absentia

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durch einen selbst bestimmten Verteidiger vertreten wurde. Nach teleologischer Reduktion ebenfalls ausgeschlossen ist ein erneutes Verfahren nach ausdrücklichem schriftlichem Verzicht des Verurteilten auf die Ausübung seines Präsenzrechts.1108 Die Verfahrensordnungen der internationalen Strafgerichte sehen die Möglichkeit von trial in absentia mit unterschiedlichen Einschränkungen und verschiedenen normativen Bedingungen vor. Aus rechtsstaatlicher Perspektive gilt es zu fragen, ob die Praxis völkerstrafrechtlicher Tribunale dem Anwesenheitsrecht des Angeklagten sinnvolle Grenzen zieht. 3. Die rechtsstaatliche Bewertung von trial in absentia Wenngleich das Recht des Beschuldigten auf Anwesenheit im Strafverfahren im nationalen und internationalen Prozessrecht unbestritten ist, wird die Zulässigkeit von trial in absentia unterschiedlich bewertet. Die komplexe Rechtslage reflektiert die Schwierigkeit des rechtsstaatlichen Abwägungsvorgangs als Grundlage einer normativen Entscheidung. In Anerkennung der Verfahrensgarantie kann eine Rechtfertigung von trial in absentia dogmatisch auf zwei Wegen begründet werden. Wird die Präsenz des Angeklagten als subjektives Recht zu seiner Disposition gestellt, ermöglicht ein Rechtsverzicht den trial in absentia.1109 Alternativ kann eine Einschränkung des Anwesenheitsrechts durch entgegenstehende Prozessgrundsätze erfolgen. Die Effektivität der Verfahren sowie die wirksame Durchsetzung des Strafanspruchs sind als konträre Rechtsgüter in einer Abwägung zu berücksichtigen. Beide dogmatischen Ansätze sollen als rechtfertigende Grundlagen eines trial in absentia diskutiert werden. Besondere Aufmerksamkeit wird der umstrittenen Frage zukommen, ob ein Strafverfahren in Abwesenheit eines flüchtigen Angeklagten zulässig ist. a) Trial in absentia in Folge eines Rechtsverzichts Das Verbot von trial in absentia stützt sich vorrangig auf das Recht des Angeklagten zur Anwesenheit im Verfahren. Daher stellt sich die Frage, ob ein Verzicht des Beschuldigten auf persönliche Teilnahme an den Verhandlungen einen trial in absentia legitimieren kann. Die Annahme eines Verzichts setzt zunächst die Disponibilität des Rechtsgutes voraus. Diese könnte in zwei Fällen ausgeschlossen sein. Zum einen verbietet die Absolutheit des Menschenwürdeschutzes einen Verzicht auf seine Gewährleistungen. Berührt die Durchführung eines Abwesenheitsprozesses die Würde des Angeklagten, wäre ein Verzicht generell unzulässig. Zum anderen setzt die Disponibilität eines Prozessanspruchs dessen ausschließlich individuelle Rechtswirkung voraus. Begreift man die Prozessgarantie als subjektiven An1108 1109

Gaeta, JICJ 5 (2007), S. 1165 (1168). Hofstetter, Das Verfahrensrecht, 2005, S. 82.

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

spruch des Angeklagten, kann sein Verzicht die normativen Schranken aufheben, die der Verfahrensgestaltung durch das Individualrecht gesetzt werden. Wird die Präsenz des Beschuldigten hingegen als objektives Verfahrensprinzip verstanden, ist eine Disponibilität über das Erfordernis seines Erscheinens unzulässig. aa) Die Disponibilität des Anwesenheitsrechts Gegen eine ausschließlich subjektive Interpretation der Norm könnte ihre Bedeutung für die Rechtsstellung des Angeklagten sprechen. In Anlehnung an die Objektstheorie der Menschenwürde1110 ließe sich argumentieren, dass der Beschuldigte im Rahmen eines trial in absentia zum Gegenstand des Verfahrens degradiert würde. Stellt ein Prozess in Abwesenheit zugleich einen Verstoß gegen die Würde des Angeklagten dar, unterfiele das Präsenzrecht ihrer ausnahmslosen Indisponibilität.1111 Wenngleich der Beschuldigte in einem trial in absentia keine aktive Rolle einnimmt, stellt das Verfahren gegen ihn eine unmittelbare Reaktion des Gerichts auf seine Abwesenheit dar. Da dem Prozess in absentia eine bewusste Entscheidung des Angeklagten zugrunde liegt, kann seiner Rolle im Verfahren eine generelle Subjektqualität nicht abgesprochen werden.1112 Überzeugender erscheint demgegenüber der Einwand objektiver Prozessgerechtigkeit. Als Grundlage einer gleichberechtigten Verteidigung könnte die Anwesenheit des Angeklagten unverzichtbare Voraussetzung für die Einhaltung prozessualer Fairness sein. Liegt die Präsenz des Beschuldigten gleichsam im Interesse von Gerechtigkeit und Glaubwürdigkeit des Verfahrens,1113 wäre sie als objektiver Prozessgrundsatz vorbehaltlos zu verwirklichen. Die Frage nach der Disponibilität des Anwesenheitsrechts erfordert die Verhältnisbestimmung des Präsenzgebotes zur rechtsstaatlichen Grundbedingung des gerechten Verfahrens. Die individuellen Prozessgarantien der Statuten sind Inhalt und Voraussetzung des allgemeinen Anspruchs auf einen fairen Verfahrensablauf. Die Gewährleistung prozessualer Fairness begründet jedoch nicht allein eine subjektive Forderung des Angeklagten, sondern ist zugleich ein objektives Prinzip des Rechtsstaats. Der Verzicht auf ein Verfahrensrecht kann daher im Einzelnen nur statthaft sein, wenn er die grundsätzliche Verwirklichung objektiver Prozessgerechtigkeit nicht in Frage stellt.1114 BVerfGE 30, 1 (25 f.). Ein Verzicht auf die eigene Menschenwürde ist nach ganz herrschender Meinung nicht möglich, BVerfGE 45, 187 (229); Höfling / Gern, NJW 1983, S. 1585 (1588 f.); Gronimus, JuS 1985, S. 174 (175) m.w. N. 1112 Zur Argumentation: Bundesverfassungsgericht, Entscheidungen, BVerfG, 1 BvR 357 / 05, 15.2.2006. 1113 ICTR Barayagwiza, Decision on Defence Counsel Motion to Withdraw, ICTR-97-19-T, 2. November 2000, Rn. 24. 1114 Für die grundsätzliche Möglichkeit zu einem Verzicht auf prozessuale Garantien, Rzepka, Fairness, 2000, S. 95 m.w. N. 1110 1111

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Im Hinblick auf das Fairnessgebot besteht die Gefahr eines trial in absentia im Ausschluss des Angeklagten von seiner Interessenvertretung vor Gericht. Die Möglichkeit zu Beweis und Gegenbeweis ist als Grundlage der späteren Urteilsfindung unveräußerliches Recht der Verteidigung. Zum Schutz der Waffengleichheit zwischen den Parteien erscheint ein persönliches Erscheinen des Beschuldigten jedoch nicht zwingend erforderlich. In einem Verfahren in absentia kann die Mitwirkung der Verteidigung an der Beweisaufnahme im Wege einer anwaltlichen Repräsentation des Angeklagten hinreichend gewährleistet werden. Wenngleich der Abwesenheitsprozess eine erhebliche Beschränkung der Beschuldigtenrechte darstellt, wird die Fairness des Verfahrens bei entsprechenden Schutzvorkehrungen nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Eine verpflichtende Vertretung eines abwesenden Beschuldigten eröffnet die Möglichkeit eines trial in absentia und ist zugleich unabdingbare Voraussetzung für seine Rechtmäßigkeit.1115 Vor diesem Hintergrund ist das „Regel-61“-Verfahren am ICTY kritisch zu erwähnen. Obwohl im Rahmen der Verhandlungen kein Schuldspruch ergeht, erfordert die gerichtliche Beweiswürdigung die Gegenwart der Verteidigung. Belange der Prozessgerechtigkeit werden im Falle einer anwaltlichen Vertretung nicht verletzt. Als subjektiver Verfahrensanspruch steht die persönliche Teilnahme des Angeklagten an den Verhandlungen daher grundsätzlich zu seiner Disposition.1116 Welche Anforderungen im Einzelnen an einen wirksamen Verzicht zu stellen sind, ist bislang nicht abschließend geklärt.1117 bb) Voraussetzungen eines wirksamen Verzichts – das Problem des flüchtigen Beschuldigten In den Fällen eines politischen Boykotts oder willentlicher Störungen der Verfahren kann ein konkludenter Rechtsverzicht bzw. eine Verwirkung des Prozessanspruchs angenommen werden. Handelt der Angeklagte in Kenntnis der Rechtsfolgen, führt er seinen Ausschluss vom Verfahren in freier Entscheidung selbst herbei. Fraglich ist hingegen, ob die Abwesenheit des flüchtigen Angeklagten als Einwilligung in einen trial in absentia zu werten sein kann.1118 Würde ein freiwilliges Fernbleiben des Beschuldigten als impliziter Rechtsverzicht gedeutet, wäre ein trial in absentia nahezu ausnahmslos möglich. Bliebe der Beschuldigte flüchtig, könnte das 1115 Vor diesem Hintergrund muss das sogenannte „Regel-61“-Verfahren erneut kritisch erwähnt werden. Wenngleich in diesem Rahmen kein Schuldspruch ergeht, muss eine anwaltliche Vertretung des Beschuldigten in der Beweiswürdigung erfolgen. 1116 Hofstetter, Das Verfahrensrecht, 2005, S. 82. 1117 EGMR Colozza v. Italy, Application No. 9024 / 80, 12. Februar 1985, Rn. 28. 1118 EGMR Colozza v. Italy, Application No. 9024 / 80, 12. Februar 1985, Rn. 28: „It is therefore not necessary to decide whether a person accused of a criminal offence who does actually abscond thereby forfeits the benefit of the rights in question.“ Da diese Frage im internationalen Recht bislang nicht eindeutig beantwortet ist, sollen die Argumente für und wider einen Verzicht des Angeklagten an dieser Stelle ausführlich diskutiert werden.

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Urteil in seiner Abwesenheit ergehen und nach einer späteren Festnahme vollstreckt werden. Der Vergleich zu einem Verfahrensboykott zeigt indes erkennbare Unterschiede gegenüber einer Flucht des Angeklagten. (1) Die unmissverständliche und ernsthafte Einwilligung des Beschuldigten Nach der Rechtsprechung des EGMR setzt ein wirksamer Verzicht zunächst die unmissverständliche und ernsthafte Einwilligung des Beschuldigten in einen trial in absentia voraus.1119 Nimmt der Beschuldigte nach seiner Festsetzung willentlich nicht in persona an den Prozessen teil,1120 kann seine Ablehnung als Verzicht auf sein Präsenzrecht verstanden werden.1121 Hingegen ist eine Flucht des Angeklagten womöglich nicht als Einverständnis mit einem Verfahren in Abwesenheit auszulegen. Die Flucht des Beschuldigten erscheint in erster Linie als Ausdruck persönlichen Freiheitsstrebens und der Intention, einer gerichtlichen Strafe zu entgehen.1122 Mit seiner Abwesenheit trifft der Angeklagte keine direkte Aussage über seinen Willen zur Inanspruchnahme persönlicher Verteidigungsrechte im Rahmen eines Strafverfahrens. Angesichts der strengen Vorgaben des EGMR ist zweifelhaft, ob ein Schweigen des Beschuldigten das Erfordernis einer „unmissverständlichen und ernsthaften Einwilligung“ in den trial in absentia erfüllen kann. (2) Die Freiwilligkeit des Rechtsverzichts Zweite Bedingung für einen wirksamen Rechtsverzicht ist die Freiwilligkeit der Entscheidung zur Aufgabe der persönlichen Verfahrensrechte.1123 Wird die Abwesenheit des Beschuldigten trotz bestehender Zweifel als Einverständnis mit einem 1119 EGMR Colozza v. Italy, Application No. 9024 / 80, 12. Februar 1985, Rn. 28: „In the instant case, the Court does not have to determine whether and under what conditions an accused can waive exercise of his right to appear at the hearing since in any event, according to the Court’s established case-law, waiver of the exercise of a right guaranteed by the Convention must be established in an unequivocal manner.“ EGMR Neumeister v. Österreich, Application No. 1936 / 63, 7. Mai 1974, Series A. No. 17, S. 16, Rn. 36; EGMR Le Compte, van Leuven and de Meyere, Judgement, Eur. Ct. H.R., 27. Mai 1981, Series A, No. 43, S. 25 – 26, Rn. 59; EGMR Albert and Le Compte v. Belgien, Application No. 7299 / 75, 7496 / 76, 10. Februar 1983, Series A, No. 58, S. 19, Rn. 35. 1120 Erneut sei darauf hingewiesen, dass auch der selbst herbeigeführte Ausschluss vom Verfahren letztlich willentlich erfolgt. 1121 ICTR Barayagwiza, Decision on Defence Counsel Motion to Withdraw, ICTR-97-19-T, 2. November 2000, Rn. 6: „Thus, in the present case, Mr Barayagwiza is fully aware of his trial, but has chosen not to be present, despite being informed by the Chamber that he may join the proceedings at any time. In such circumstances, where the accused has been duly informed of his ongoing trial, neither the Statute nor human rights law prevent the case against him from proceeding in his absence.“ 1122 Magold, Die Kostentragungspflicht, 2009, S. 137 f. 1123 Rzepka, Fairness, 2000, S. 96.

IX. Das Anwesenheitsrecht des Angeklagten und trial in absentia

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trial in absentia gewertet, muss sein Fernbleiben auf einem freien Entschluss beruhen. Vergleichbar einem Verfahrensboykott verzichtet der flüchtige Täter aus autonomen Erwägungen auf eine Teilnahme, obwohl ihm ein Erscheinen bei Gericht grundsätzlich möglich wäre. Beschränkte sich das Erfordernis der Freiwilligkeit auf ein Fehlen äußeren Zwangs, könnte eine Flucht des Angeklagten als zulässiger Rechtsverzicht gelten. Gegen eine Annahme von Freiwilligkeit spricht jedoch der Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit.1124 Das BVerfG versteht das Gebot als Freiheit des Angeklagten, „nichts zu seiner Verurteilung beitragen“ zu müssen.1125 Neben dem klassischen Schweigerecht im Prozess sind hiervon auch Handlungen erfasst, die dazu dienen, der Strafverfolgung zu entgehen.1126 Folgerichtig dürfen sich an eine Selbstbegünstigung des Beschuldigten grundsätzlich keine persönlich nachteiligen Konsequenzen knüpfen.1127 Vor diesem Hintergrund erscheint die Annahme eines Verzichts bei Abwesenheit des Angeklagten problematisch. Würde das Fernbleiben des Beschuldigten als Zustimmung zum trial in absentia gewertet, wäre der Verlust prozessualer Rechte zwingende – und immanent nachteilige – Folge seiner Flucht. Mit Blick auf die Selbstbelastungsfreiheit des Angeklagten kann auch das Prinzip der rechtswidrigen Veranlassung widerlegt werden. Die Theorie geht davon aus, dass der Täter durch die Begehung des deliktischen Handelns selbst den Anlass für eine Strafverfolgung gesetzt habe.1128 Im Folgenden müsse von ihm eine konsequente Verantwortung für sein Tun verlangt werden können.1129 Eine Anwendung des Veranlassungsprinzips auf die Strafverfolgung würde der besonderen Drucksituation des Beschuldigten jedoch nicht hinreichend gerecht. Der Angeklagte könnte seine Verfahrensansprüche nur wahren, indem er sich den Prozessen und einer möglichen Bestrafung durch das Gericht stellt. Die Gewährleistung umfassender Prozessgarantien liefe Gefahr, von einem Fahndungserfolg der Anklage abhängig zu werden. Soll das Gebot der Selbstbelastungsfreiheit nicht umgangen werden, darf die Einhaltung seiner Verfahrensrechte nicht von einem freiwilligen Erscheinen abhängen. Im Ergebnis sprechen daher die besseren Argumente gegen die Annahme eines Rechtsverzichts durch den flüchtigen Beschuldigten.

1124 Zur Herleitung des Gebots der Selbstbelastungsfreiheit vgl. Magold, Die Kostentragungspflicht, 2009, S. 132. 1125 BVerfG NJW 1981, 1433. 1126 Magold nennt ausdrücklich die Flucht des Angeklagten (Magold, Die Kostentragungspflicht, 2009, S. 132). 1127 In diesem Sinne auch Rengier, der die Inkaufnahme einer Festnahme vor dem Hintergrund des Selbstbegünstigungsprivilegs als unzumutbar versteht; Rengier, Strafrecht, Teil 2, 2009, § 42 / 15. 1128 Meier, Die Kostenlast des Verurteilten, 1991, S. 39. 1129 In diesem Sinne BGHSt 39, 164 (166); Otto BT7 § 67 Rn. 12; SKStGB-Rudolphi / Stein.

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b) Die Verurteilung des flüchtigen Beschuldigten im Lichte rechtsstaatlicher Abwägung Dem Verzicht des inhaftierten Angeklagten auf Teilnahme an den Verhandlungen stehen grundsätzlich keine rechtlichen Bedenken entgegen. Boykottiert oder stört der Angeklagte die Verfahren, muss ein Prozess in Abwesenheit zur Wahrung eines effektiven Strafverfahrens möglich sein. Ist der Beschuldigte jedoch flüchtig, kann sein Fernbleiben nicht als wirksame Einwilligung in ein Abwesenheitsverfahren gewertet werden. Die Durchführung eines trial in absentia gegen den flüchtigen Angeklagten ist gleichwohl möglich, wenn eine Abwägung der rechtsstaatlichen Prozessmaximen ein Abwesenheitsverfahren gebietet.1130 Das Präsenzrecht des Beschuldigten unterliegt keiner absoluten Geltung und kann im Wege einer Interessenkollision hinter wichtigen Belangen eines wirksamen Prozesses zurückstehen.1131 In diesem Fall müsste die Verwirklichung des internationalen Strafanspruchs höher zu bemessen sein als die Folgen einer Einschränkung des Anwesenheitsrechts für die Fairness des völkerrechtlichen Verfahrens. Voraussetzung einer rechtsstaatlichen Bewertung von trial in absentia ist daher eine umfassende Einschätzung ihrer Bedeutung für eine effektive und gerechte Prozessgestaltung. aa) Die Vorzüge des trial in absentia Die Abwesenheit des Angeklagten stellt insbesondere an temporären Tribunalen ein zeitliches und finanzielles Problem dar. Ad-hoc-Tribunale und hybride Gerichte werden zur Aufarbeitung konkreter Konfliktsituationen für eine begrenzte Dauer eingesetzt. Angesichts der beschränkten Ressourcen müssen die Gerichte ihre Arbeit möglichst zeitnah abschließen. Kann ein Beschuldigter in diesem Zeitraum nicht gefasst und verurteilt werden, bleibt die Aufgabe des Tribunals unvollendet. Eine fehlende Durchsetzung des rechtsstaatlichen Strafanspruchs stellt eine empfindliche Niederlage für den Erfolg des Völkerstrafprozesses dar. So wäre zu bezweifeln gewesen, dass der ICTY ohne einen Prozess gegen die Hauptverantwortlichen Radovan Karadžić und Ratko Mladić das gesteckte Ziel einer umfassenden Ahndung der Verbrechen im ehemaligen Jugoslawien hätte erreichen können. Die Verurteilung eines Täters in absentia ermöglicht es dem Gericht, den notwendigen Schlusspunkt unter die Verfahren zu setzen. Zugleich können im Rahmen eines Abwesenheitsprozesses weitere Zwecke der internationalen Strafgerichtsbarkeit verwirklicht werden. Soll mit den Verhandlungen die historische Wahrheit ermittelt werden, kann die öffentliche Beweiswürdigung im absentia-Verfahren einen Beitrag zur Aufarbeitung der Vergangenheit leisten.1132 Insbesondere die Anhörung der 1130 ICTY Šešelj, Decision on Appeal Against the Trial Chamber’s Decision on Assignment of Counsel, IT-03-67-AR73.3, 20. Oktober 2006, Rn. 22 f. 1131 ICTY Karadžić, Decision on Appointment of Counsel and Order on Further Trial Proceedings, IT-95-5 / 18-T, 5. November 2009, Rn. 14. 1132 King, NYUJIL & Pol. 29 (1997), S. 523 (527).

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Opfer ist als wichtiger Schritt zur individuellen Rehabilitation und offiziellen Anerkennung der Verbrechen nicht von der Präsenz des Angeklagten abhängig.1133 Ferner könnte ein möglicher Vorteil des trial in absentia in Anlehnung an die Argumentation von Stankovic1134 in einer verbesserten Kooperation der Tatortstaaten zu sehen sein. Wird der Angeklagte durch ein internationales Gericht rechtskräftig verurteilt, wächst der Druck zur effektiven Strafverfolgung und Auslieferung des Täters. bb) Die rechtsstaatlichen Schwächen des trial in absentia Den Vorteilen eines trial in absentia werden rechtsstaatliche Bedenken an Fairness und Zielverwirklichung internationaler Strafprozesse entgegengehalten.1135 Die Durchführung eines Verfahrens in Abwesenheit bedingt zunächst eine grundlegende Einschränkung des individuellen Verteidigungsrechts des Angeklagten.1136 Im Rahmen eines trial in absentia ist es dem Beschuldigten nicht möglich, persönlich zu den Tatvorwürfen Stellung nehmen und Entlastungszeugen befragen zu können. Mit dem Verzicht auf eine Beteiligung des Angeklagten werden darüber hinaus ein gerechter Schuldspruch sowie die Realisierung prozessualer Zwecksetzungen erschwert. Der ICTY weist in seiner Blaškić -Entscheidung auf das praktische Problem hin, ohne eine Aussage des Beschuldigten über dessen strafrechtliche Verantwortlichkeit zu urteilen: „Even if the accused clearly waived his right to be tried in his presence, it would prove extremely difficult or even impossible for an international criminal court to determine the innocence or guilt of that accused.“1137

Als wichtiges Zeitdokument ist die Stellungnahme des Angeklagten zugleich Bestandteil einer vollständigen Aufarbeitung der Vergangenheit.1138 Allein der Beschuldigte kann Auskunft über seine Motive und die persönlichen Hintergründe der Verbrechen geben. Sehen die Befürworter des trial in absentia seinen Vorzug in der Anerkennung der historischen Ereignisse,1139 besteht im Gegenzug die Gefahr einer 1133 Thieroff / Amley, YaleJ. INT’L. 23 (1998), S. 231 (249); Danieli, Victims. Essential Voices at the Court. Report der Victims Rights Working Group, 09.2004, http://www.vrwg. org/downloads/publications/04/ENG01.pdf (letzter Zugriff am 28.05.2010). 1134 Siehe hierzu bereits oben, 1. c) aa) (1); Stankovic, Guilty Until Proven Guilty: Rule 61 of the ICTY, 2010, S. 21 f., http://works.bepress.com/aleksandra_stankovic / 2 (letzter Zugriff am 26.05.2010). 1135 Human Rights Watch, Paper v. 17.11.2006, To: Secretariat of the Rules and Procedure Committee Extraordinary Chambers of the Courts of Cambodia, http://www.dccam.org/Tribunal/Documents/HRW-ECCCRules.pdf (letzter Zugriff am 24.05.2010). 1136 Gaeta, JICJ 5 (2007), S. 1165 (1166). 1137 ICTY Blaskic, Judgment on the Request of the Republic of Croatia for Review of the Decision of Trial Chamber II of 18 July 1997, ICTY-95-14-AR08bis), 29. Oktober 1997, Rn. 59. 1138 Zappalà, Human Rights, 2005, S. 126. 1139 King, NYUJIL&Pol. 29 (1997), S. 523 (527).

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Einseitigkeit des Blickwinkels.1140 Um ein authentisches Bild der Vergangenheit festzuhalten, muss nach Zappalà auch der Beschuldigte Gelegenheit zur Darstellung seiner Sichtweise haben.1141 Die Aussage des Beschuldigten kann zudem ein bedeutender Schritt im Rahmen des nationalen Versöhnungsprozesses sein.1142 Wenngleich die Stimmen der Opfer im Verfahren gehört werden können, ist das Ziel der Aussöhnung ohne einen Beitrag des Täters nicht in gleicher Weise erreichbar. Ein Grundgedanke der Opferpartizipation besteht in der Möglichkeit, den Beschuldigten mit den eigenen Fragen und Erlebnissen zu konfrontieren. Durch die Unterstützung der Anklage wirken die Opfer an einer gerechten Verurteilung des Täters nach internationalen Standards mit. Soll die Beteiligung von Opfern nicht auf Zeugenaussagen reduziert werden, ist die Präsenz des Angeklagten erforderlich. Der ICTY betont im Fall Karadžić die Nachteile eines Verfahrens in absentia für die Ziele von Frieden und Versöhnung: „Secondly, an important function of the trial process, as originally envisaged by the Security Council of the United Nations in the very creation of the Tribunal, was to seek to further peace and reconciliation amongst and between the various factions involved in the conflict in the former Yugoslavia. To allow the Trial Chamber to hear and assess only half of the evidence, albeit from the party charged with the burden of proving its case beyond reasonable doubt, would be to deny the opportunity the trial process may have to engender such peace and reconciliation as may be gleaned from a full hearing of the evidence brought by both the Prosecution and the Accused.“1143

Nicht zuletzt erscheint eine mögliche Begründung des Abwesenheitsverfahrens mit der Durchsetzung des Strafanspruchs wenig überzeugend.1144 Mit einem Schuldspruch in absentia würde der Angeklagte zwar formal verurteilt, seine Strafe jedoch in der Praxis nicht vollzogen.1145 Hofstetter sieht hierin die Gefahr, dass ein Gericht durch Abwesenheitsurteile zu einem „Papiertiger degradiert (würde), dessen Urteile Schall und Rauch blieben“1146. cc) Stellungnahme zur Zulässigkeit und den Voraussetzungen eines trial in absentia Die Entscheidung für eine Anerkennung von Abwesenheitsverfahren im Völkerstrafrecht muss durch Abwägung ihrer prozessualen Vor- und Nachteile erfolgen. 1140 Stankovic, Guilty Until Proven Guilty: Rule 61 of the ICTY, 2010, S. 27, http://works. bepress.com aleksandra_stankovic 2 (letzter Zugriff am 26.05.2010). 1141 Zappalà, Human Rights, 2005, S. 126. 1142 ICTY Karadžić, Decision on Appointment of Counsel and Order on Further Trial Proceedings, 5. November 2009, Rn. 20. 1143 ICTY Karadžić, Decision on Appointment of Counsel and Order on Further Trial Proceedings, 5. November 2009, Rn. 20. 1144 Zappalà, Human Rights, 2005, S. 126. 1145 Zappalà, Human Rights, 2005, S. 126. 1146 Hofstetter, Das Verfahrensrecht, 2005, S. 82.

IX. Das Anwesenheitsrecht des Angeklagten und trial in absentia

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Aus rechtsstaatlicher Perspektive sind die Einhaltung individueller Verfahrensrechte sowie die Auswirkungen von trial in absentia auf Rezeption und Zweckerreichung internationaler Strafprozesse zu berücksichtigen. Der Einwand einer fehlenden Zielverwirklichung kann ein Verbot von trial in absentia nicht sinnvoll rechtfertigen. Der Kritik ist zuzugeben, dass Opferbeteiligung und materielle Wahrheitsfindung im Rahmen eines Abwesenheitsverfahrens nur eingeschränkt umzusetzen sind. Hierdurch werden die Vorteile eines trial in absentia zwar relativiert, seine Berechtigung jedoch nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Wesentlich für die Bewertung des Abwesenheitsprozesses ist die Festlegung des Vergleichsmaßstabes. Die prozessualen Nachteile des trial in absentia werden in Relation zu einem Verfahren in Anwesenheit des Angeklagten gesehen. Dabei versteht sich, dass die Ziele des Strafprozesses im Falle einer Präsenz des Beschuldigten besser zu erreichen sind. Bezugspunkt einer Gegenüberstellung darf jedoch methodisch nicht das Anwesenheitsverfahren sein. Die praktische Alternative zum trial in absentia ist vielmehr ein vollständiger Verzicht auf die Verhandlung der Strafsache. Im Gegensatz zum Ausfall des Verfahrens können die Strafzwecke durch einen Prozess in Abwesenheit des Beschuldigten zumindest teilweise realisiert werden. Die Anhörung der Zeugen sowie die Präsentation von Beweismaterial leisten einen Beitrag zur historischen Aufarbeitung völkerstrafrechtlicher Verbrechen. Mit der Offenlegung politischer Hintergründe werden Zusammenhänge und Ursachen der Konfliktsituation beleuchtet. Die Gefahr von Einseitigkeit kann durch eine neutrale Aufgabenwahrnehmung der Anklage und die Beiordnung einer Verteidigung gemindert werden. Während eine prozessuale Wahrheitsfindung im Sinne adversatorischer Verfahrensführung in absentia nicht sinnvoll möglich ist, kann die materielle Wahrheit durch eine objektive Beweispräsentation weitgehend dargestellt werden. Es ist ferner zu berücksichtigen, dass auch bei Anwesenheit des Beschuldigten nicht zwingend von einer aktiven Teilnahme ausgegangen werden kann. Macht der Angeklagte von seinem Schweigerecht Gebrauch, müssen persönliche Motive und innere Tatsachen ebenfalls im Wege objektiver Beweiswürdigung ermittelt werden. Trotz Abwesenheit des Beschuldigten steht am Ende des trial in absentia eine Verurteilung des Täters. Ein Schuldspruch in absentia trägt dem Interesse der Opfer an individueller Gerechtigkeit stärker Rechnung als ein Verzicht auf die Aufklärung der Verbrechen. Mit dem gerichtlichen Urteil werden die Straftaten und ihre Opfer rechtlich anerkannt. Zugleich erhalten die Opfer durch eine Aussage im Verfahren die Möglichkeit, über das Erlebte zu berichten und den Aufklärungsprozess des Gerichts zu unterstützen. Die Verkürzung der Verfahrensziele vermag einen rechtsstaatlichen Ausschluss von trial in absentia folglich nicht zu begründen. Überzeugender sind hingegen die Bedenken gegen Fairness und Legitimation von Prozessen in Abwesenheit des Angeklagten. Verteidigt sich der Beschuldigte gegen die Tatvorwürfe nicht, kann der

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Anschein von Einseitigkeit und Vorverurteilung erweckt werden.1147 Kritiker sehen die Gefahr eines Schauprozesses, der die Arbeit internationaler Strafgerichte als parteilich diskreditiert.1148 Vergangene Verfahren hätten einen Zusammenhang zwischen der fehlenden Akzeptanz eines Tribunals und der Durchführung von Abwesenheitsprozessen dokumentiert. Als Beleg wird das Peoples Revolutionary Tribunal in Kambodscha angeführt, dessen Urteile gegen Pol Pot und Ieng Sary in der Praxis keine Anerkennung fanden.1149 Den Einwänden von Akzeptanz und Fairness kann mit einer restriktiven Gestaltung des trial in absentia begegnet werden. Die Vorbehalte gegen bisherige Abwesenheitsverfahren erklären sich maßgeblich durch ihre fehlende Gewährleistung prozessualer Schutzgarantien.1150 Um den Eindruck eines ungerechten Verfahrens zu vermeiden, müssen die Rechte des Angeklagten in einem trial in absentia auf drei Ebenen gewahrt werden. Nach der Rechtsprechung des EGMR und dem Vorbild des STL setzt ein Abwesenheitsprozess vor, während und nach Abschluss des Verfahrens Maßnahmen zur Sicherung prozessualer Fairness voraus. Bedingung für die Eröffnung eines trial in absentia ist zunächst eine Information des Beschuldigten über die Anklage.1151 Seine Kenntnis vom Beginn der Prozesse ist durch öffentliche Bekanntgabe des Haftbefehls sicherzustellen. Soll die Durchführung eines Abwesenheitsverfahrens den rechtlichen Ausnahmefall bilden, müssen die Möglichkeiten zur Festnahme des Angeklagten erschöpft werden. Während des Verfahrens ist der Beschuldigte durch einen Verteidiger zu vertreten. Bestimmt der Angeklagte selbst keinen Anwalt, muss das Gericht eine Pflichtverteidigung anordnen. Mit der Gewährleistung einer prozessualen Interessenwahrnehmung kann auf die Bedenken einer einseitigen Verfahrensführung reagiert werden. Die Übernahme des Prozesses durch einen unabhängigen Verteidiger stellt eine bedeutende Garantie für die Umsetzung einer gerechten und ausgewogenen Beweisaufnahme dar. Wird eine Selbstverteidigung des Angeklagten ohnehin als unzureichend gewertet, vermag seine anwaltliche Vertretung die Einwände gegen den trial in absentia wesentlich zu entkräften. Ergänzt werden die Schutzvorkehrungen im Statut des STL durch das Recht des Verurteilten auf Wiederaufnahme seines Verfahrens (Retrial). Nicht abschließend geklärt ist hingegen die Frage nach der Reichweite des Prozessanspruchs. Nach dem Wortlaut des Statuts ist ein Retrial ausgeschlossen, wenn der Beschuldigte im 1147 International Center for Transitional Justice, Handbook on the Special Tribunal for Lebanon, 10. April 2008, S. 27 (letzter Zugriff am 24.05.2010). 1148 Skilbeck, JICJ, 2010, S. 451 (461); Human Rights Watch, Paper v. 17. November 2006, To: Secretariat of the Rules and Procedure Committee Extraordinary Chambers of the Courts of Cambodia. 1149 Siehe hierzu bereits in Kapitel C. I. 3. b) aa). 1150 Siehe hierzu die Kritik an der Verteidigung am Peoples Revolutionary Tribunal, Kapitel C. I. 3. b) aa). 1151 Vgl. Art. 22 Abs. 1 lit. c STL-Statut.

IX. Das Anwesenheitsrecht des Angeklagten und trial in absentia

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Verfahren durch einen selbst gewählten Verteidiger repräsentiert wurde. Gaeta fordert darüber hinaus eine umfassende Einschränkung der Verfahrenswiederholung für den Fall eines bewussten Fernbleibens: „Therefore, where a court is satisfied that the accused was notified with the indictment (…) and nonetheless the accused did not appear in court, there is no logical reason to afford him the possibility of a retrial.“1152

Gaetas Argumentation beruht indirekt auf der Idee eines prozessualen Rechtsverzichts. Wird jedoch für den flüchtigen Beschuldigten eine freiwillige Disposition über sein Anwesenheitsrecht verneint, kann sich der Ausschluss einer Wiederaufnahme nicht auf seine Kenntnis der Anklage stützen. Als Ausdruck objektiver Verfahrensgerechtigkeit muss ein Anspruch auf Neuverhandlung daher voraussetzungslos gewährt werden.1153 Die Regelungen des STL-Statuts enthalten klare Maßstäbe zur Einhaltung prozessualer Fairness im Rahmen eines trial in absentia. Sie bilden die Grundlage für eine Anerkennung und Legitimation des Abwesenheitsverfahrens in der Öffentlichkeit. Eine zuverlässige Information des Beschuldigten, seine Vertretung in den Verhandlungen sowie der Anspruch auf Wiederaufnahme können rechtsstaatliche Bedenken am trial in absentia weitgehend ausräumen. Prozesse in Abwesenheit des Angeklagten bieten die Chance, die Zwecke der internationalen Strafgerichtsbarkeit zumindest eingeschränkt zu erreichen. Im Vordergrund eines trial in absentia steht weniger eine Beurteilung der individuellen Schuldfrage, als der Dokumentationszweck völkerstrafrechtlicher Tribunale. Das strikte Verbot eines Abwesenheitsverfahrens ermöglicht es dem Beschuldigten, die Aufklärung seiner Verbrechen durch eine Flucht zu vermeiden. Hierdurch entzieht sich der Angeklagte nicht allein einer gerechten Bestrafung, sondern vereitelt zugleich das internationale Ziel der historischen Wahrheitsfindung. Nach der bisherigen Rechtslage am ICC und den Ad-hoc-Tribunalen kann der Beschuldigte durch sein Fernbleiben die notwendige Aufarbeitung einer bestimmten Konfliktsituation verhindern. Die Entscheidung über eine Anhörung von Opfern sowie die Darstellung der Beweislage würde im Ergebnis zur Disposition des Angeklagten gestellt. Der trial in absentia begegnet Nachteilen in der Realisierung seiner Prozessziele und einer effektiven Bestrafung des Angeklagten. Der Rückgriff auf ein Abwesenheitsverfahren muss restriktiv erfolgen und an rechtsstaatliche Schutzmaßnahmen gebunden sein. Solange eine tatsächliche Bereitschaft zur Auslieferung gesuchter Personen fehlt, ist der trial in absentia jedoch das einzige Mittel, um eine Ahndung völkerstrafrechtlicher Verbrechen zu garantieren.1154 Das Urteil internationaler Strafgerichte ist eine Stellungnahme der Staatengemeinschaft für die Achtung von MenGaeta, JICJ 5 (2007), S. 1165 (1168). Skilbeck, JICJ 2010, S. 451 (460). 1154 Schwartz, Trial in absentia, The Center for Human Rights and Humanitarian Law at Washington College of Law, American University, 1996 (letzter Zugriff am 23.05.2010). 1152 1153

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

schenrechten. Soll mit den Verfahren ein Beitrag zur Friedenssicherung geleistet und der Straflosigkeit auf internationaler Ebene ein Ende gesetzt werden, darf ihre Durchführung nicht vom Verhalten des Angeklagten abhängen. „The Tribunal was established by the world community to serve as a step in the process of bringing an anarchic world community under the rule of law. If the Tribunal needlessly allows the perpetrators of some of the worst crimes of this bloody century to thumb their noses at it, it will have done both world peace and international justice far more harm than good.“1155

Es wird daher empfohlen, trial in absentia künftig nach den Bedingungen der EGMR-Rechtsprechung und des STL-Statuts zuzulassen. Werden mutmaßlich hauptverantwortliche Täter nicht gefasst, kann ein Abwesenheitsprozess die Hintergründe der Verbrechen aufdecken und die Arbeit eines internationalen Gerichts zu einem vorläufigen Abschluss bringen.

X. Die Waffengleichheit im Beweisverfahren 1. Die rechtlichen Grundlagen Das Gebot der Waffengleichheit gewährleistet den Parteien des Strafverfahrens eine gleichberechtigte Mitwirkung in allen Prozessphasen. Ausgehend von der angloamerikanischen Verfahrenstradition hat sich die „equality of arms“ zu einem Rechtsgrundsatz des Völkerrechts1156 und einer zwingenden Voraussetzung rechtsstaatlicher Verfahrensgestaltung entwickelt.1157 In menschenrechtlichen Verträgen wird der Gedanke prozessualer Gleichbehandlung durch die Gewährleistung unterschiedlicher Verfahrensansprüche verwirklicht. Als Ausprägung der Waffengleichheit werden insbesondere die Bestimmungen in Art. 14 Abs. 3 lit. b und e IPbpR verstanden. „Art. 14 Abs. 3 IPbpR: In the determination of any criminal charge against him, everyone shall be entitled to the following minimum guarantees, in full equality: (…) (b) To have adequate time and facilities for the preparation of his defence and to communicate with counsel of his own choosing; (…) (e) To examine, or have examined, the witnesses against him and to obtain the attendance and examination of witnesses on his behalf under the same conditions as witnesses against him.“

Auch in den Statuten internationaler Strafgerichte wird die Idee der Waffengleichheit durch die Prozessrechte des Angeklagten abgesichert. Die Verfahrensord1155 Stankovic, Guilty Until Proven Guilty: Rule 61 of the ICTY, 2010, S. 19, http://works. bepress.com/aleksandra_stankovic/2 (letzter Zugriff am 26.05.2010); EGMR Colozza v. Italy, Application No. 9024 / 80, 12. Februar 1985, Rn. 29. 1156 Safferling, Towards an International Criminal Procedure, 2007, S. 265. 1157 Reid, A Practioner’s Guide, 2004, S. 100; Boas, The Milošević Trial, 2007, S. 40; Zappalà, JICJ 2 / 2 (2004), S. 620 (628).

X. Die Waffengleichheit im Beweisverfahren

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nungen der Tribunale garantieren einheitlich den Anspruch des Beschuldigten auf ausreichende zeitliche und sachliche Mittel zur Vorbereitung der Verteidigung. Im Interesse einer fairen Vernehmungssituation werden dem Angeklagten eine gleichberechtigte Befragung der Belastungszeugen sowie die Benennung eigener Entlastungszeugen gestattet (Art. 67 Abs. 1 lit. b, e ICC-Statut; Art. 21 Abs. 4 lit. b, e ICTY-Statut; Art. 35 Abs. 2 lit. b, e new ECCC-LoE). Die Gewährleistungen der Statuten sind Ausdruck der Waffengleichheit als generelles Prinzip des internationalen Strafverfahrens. Ihr Anwendungsbereich erfasst die rechtlichen wie praktischen Voraussetzungen einer äquivalenten Prozessführung. Als Folgen einer rechtsstaatlich garantierten Waffengleichheit werden der Anspruch des Angeklagten auf Beweispräsentation sowie sein Recht zu Rede und Gegenrede verstanden.1158 Die nachfolgende Darstellung der „equality of arms“ soll im Schwerpunkt die Anwendung des Prinzips auf das Beweisverfahren internationaler Strafgerichte erfassen. Die komplexe Beweissituation im Völkerstrafprozess erfordert eine besondere Berücksichtigung der Waffengleichheit als Instrument eines gerechten Ausgleichs prozessualer Nachteile.1159 Die Untersuchung des Beweisverfahrens vor dem Hintergrund rechtsstaatlicher Gleichbehandlung setzt zunächst eine nähere Definition des Begriffsverständnisses voraus. Die Heranziehung des Grundsatzes der „equality of arms“ als Bewertungsmaßstab des internationalen Strafverfahrens erfordert die Bestimmung seines materiellen Gehalts sowie eine Festlegung der normativen Schutzrichtung. 2. Das Begriffsverständnis von Waffengleichheit Die Komplexität des Begriffs birgt das Problem einer allgemeingültigen Definition von Waffengleichheit. In seiner Entscheidung Bulut gegen Österreich fasste der EGMR den Grundsatz als umfassenden Ausgleich der Parteien im Beweisverfahren zusammen: „It implies that each party must be afforded a reasonable opportunity to present his case under conditions that do not place him at a substantial disadvantage vis-à-vis his opponent.“1160

Die Verwirklichung einer „equality of arms“ gewährt keine Identität der jeweiligen Rechtsansprüche, sondern fordert ihre sinnvolle Annäherung im Sinne einer generellen Chancengleichheit der Parteien.1161 Waffengleichheit wird hierbei oftmals als Recht auf formale Gleichbehandlung ohne eigenen materiellen Gehalt begrif-

1158 Reid, A Practioner’s Guide, 2004, S. 100; Kälin / Künzli, Universeller Menschenrechtsschutz, 2005, S. 506. 1159 Knoops, Theory and Practice, 2005, S. 42. Hierzu ausführlich unter Kapitel D. I. 1160 EGMR Bulut v. Österreich, Application No. 17358 / 90, 22. Februar 1996, ECtHR 10, Rn. 47. 1161 Safferling, Towards an International Criminal Procedure, 2007, S. 265; Knoops, Theory and Practice, 2005, S. 38.

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

fen.1162 Interpretiert man den Grundsatz im Lichte rechtsstaatlicher Verfahrensgestaltung, kann ihm ein substanzieller Kern entnommen werden. Als Bestandteil prozessualer Fairness muss das Prinzip der „equality of arms“ den Parteien eine sinnvolle Darlegung der eigenen Position als inhaltliches Minimalziel gewährleisten. Die Ausprägung der Waffengleichheit in den Verfahrensrechten des Angeklagten wirft die Frage nach der wechselseitigen Geltung des Prinzips auf. Der Grundsatz äquivalenter Prozessvoraussetzungen wird oftmals einseitig zu Gunsten der Verteidigung formuliert. „Equality of arms (…) requires that (…) the accused must not be put at a fundamental procedural disadvantage compared to the prosecution.“1163

Die Auslegung der „equality of arms“ als alleiniges Recht des Beschuldigten stützt sich auf ihre Schutzfunktion im strafrechtlichen Verfahren. Nach teilweise vertretener Ansicht widerspräche eine Anwendung des Grundsatzes im Interesse der Anklage der Intention zur Absicherung einer fairen Verteidigung gegenüber der hoheitlichen Strafgewalt. Zappalà meint: „However, it certainly seems incorrect to argue that there is a right of the prosecution that corresponds to the right of the accused to a fair hearing in full equality. This is a right specifically attributed to the defendant and not to any party to the proceedings.“1164

Zustimmung erfährt Zappalàs Begriffsverständnis durch Richter Vohrar am ICTY, der aus dem Anspruch auf Waffengleichheit ebenfalls keine Rechte der Anklage herleiten will: „The principle is intended in an ordinary trial to ensure that the Defence has means to prepare and present its case equal to those available to the Prosecution which has all the advantages (…) on its side. (…) It seems to me (…) that the application of the equality of arms principle especially in criminal proceedings should be inclined in favour of the Defence.“1165

Gegen die Beschränkung der Waffengleichheit auf eine prozessuale Unterstützung der Verteidigung spricht jedoch ihre dogmatische Fundierung. Als originäres Gleichheitsrecht kann der Grundsatz der „equality of arms“ nicht in ein einseitiges Freiheitsrecht des Beschuldigten umgedeutet werden. Der Ausschluss der Anklage von den Gewährleistungen der Waffengleichheit negiert die systematische Bedeutung des Prinzips im Rahmen des Fairnessgrundsatzes.1166 Aufgrund seiner Rechtsnatur als Gleichheitsanspruch würde die einseitige Anwendung des Prinzips eine 1162

Steiner, Fairneßprinzip, 1995, S. 205; Zahar / Sluiter, International Criminal Law, 2008,

S. 293. Knoops, Theory and Practice, 2005, S. 37. Zappalà, The Rights of the Accused, in: Cassese / Gaeta / Jones (Hrsg.), The Rome Statute of the International Criminal Court, Bd. 2, 2002, S. 1319 (1330). 1165 ICTY Tadić, Prosecution Motion for Production of Defence Witness Statements, Separate Opinion of Judge Vohrah, IT-94-1, 27. November 1996, Rn. 4, 7. 1166 Siehe hierzu oben Kapitel D. I. 1163 1164

X. Die Waffengleichheit im Beweisverfahren

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prozessuale „inequality of arms“ der Parteien bewirken.1167 Der ICTY betont im Fall Delalić et al, dass sich eine Interpretation zu Gunsten des Beschuldigten in terminologischen Widerspruch zur Begriffsbedeutung setze: „No doubt that procedural equality means what it says, equality between the Prosecution and the Defense.“1168

Aus rechtsdogmatischer Sicht muss der Grundsatz der Waffengleichheit als wechselseitiger Anspruch der Parteien verstanden werden. Da in der Praxis des internationalen Strafverfahrens jedoch ein eindeutiges Ungleichgewicht zu Lasten der Verteidigung besteht, beschränkt sich der faktische Geltungsbereich des Prinzips auf einen tatsächlichen Leistungsanspruch des Angeklagten.1169 Ansatzpunkt der Untersuchung sollen daher die Schwierigkeiten der Verteidigung im Rahmen einer gleichberechtigten Vorbereitung und Durchführung der Beweisaufnahme sein. Ausgehend von den Besonderheiten des internationalen Strafrechts werden Möglichkeiten zur Kompensation bestehender Benachteiligungen des Angeklagten entwickelt. Als Wege zum Ausgleich faktischer Unterschiede sind insbesondere die Institutionalisierung der Verteidigung, beweisrechtliche Offenlegungspflichten des Anklägers sowie die Einsetzung neutraler Ermittlungsrichter zu diskutieren. Da sich die Ergebnisse der Voruntersuchungen unmittelbar auf die Beweiserhebung im Hauptverfahren auswirken, wird das Ermittlungsverfahren in die Erörterungen einbezogen.

3. Die Probleme der Waffengleichheit im Beweisverfahren Das zentrale Problem für die Umsetzung tatsächlicher Chancengleichheit der Parteien liegt in den praktischen Schwierigkeiten des internationalen Beweisverfahrens.1170 Im Vergleich zum nationalen Recht setzen die Tatbestände völkerstrafrechtlicher Verbrechen oftmals den Nachweis einer generellen Konfliktsituation voraus.1171 So erfordert beispielsweise eine Verurteilung wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit neben dem konkreten Handlungsakt das Vorliegen eines „ausgedehnten oder systematischen Angriffs“.1172 Die Untersuchung völkerrechtlicher Straftaten verlangt die grundlegende Aufarbeitung einer politischen und militärischen Auseinandersetzung. Der Notwendigkeit einer umfangreichen Ermittlungsarbeit stehen die begrenzten zeitlichen, finanziellen und personellen Ressourcen internationaler Gerichte gegenüber. Zudem erschwert Boas, The Milošević Trial, 2007, S. 35 ff. ICTY Delalić et al., Decision on the Prosecuter’s Motion for an Order requiring Advance Disclosure of Witnesses by the Defence, IT-96-21-T, 4. Februar 1998, Rn. 49. 1169 Hierzu ausführlich im folgenden Kapitel. 1170 Cryer / Friman / Robinson / Wilmshurst, An Introduction to International Criminal Law, 2007, S. 360. 1171 Kamardi, Die Ausformung, 2009, S. 277. 1172 Vgl. beispielhaft Art. 7 ICC-Statut. 1167 1168

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

eine geringe Kooperationsbereitschaft staatlicher Institutionen den Zugang der Anwälte zu beweisrelevanten Dokumenten und Zeugenaussagen.1173 Im Hinblick auf die Gewährleistung rechtsstaatlicher Waffengleichheit gilt es zu untersuchen, ob sich die Schwierigkeiten internationaler Strafprozesse unterschiedlich auf die Parteien auswirken. Ist ein rechtliches oder praktisches Ungleichgewicht zwischen Anklage und Verteidigung festzustellen, gebietet die „equality of arms“ Maßnahmen zur Anpassung der Verfahrensbedingungen.

a) Das Ungleichgewicht der Ressourcen von Anklage und Verteidigung Das Ausmaß völkerstrafrechtlicher Verbrechen macht eine aufwendige Ermittlung und Auswertung von Beweismaterial notwendig. Die politische Dimension der Konflikte erfordert eine umfassende Aufarbeitung der Ereignisse unter Einbeziehung einer Vielzahl von Zeugen und Tatorten.1174 Der schwierige Zugang zu Archiven und Dokumenten sowie die oftmals weite Entfernung zum Tatortstaat beanspruchen erhebliche zeitliche wie personelle Mittel.1175 Eine sinnvolle Beweiserhebung hängt im internationalen Strafverfahren daher maßgeblich von den verfügbaren Ressourcen der Parteien ab. Sind die praktischen Möglichkeiten für den Erfolg von Anklage und Verteidigung mitbestimmend, kommt ihrer gerechten Verteilung rechtsstaatliche Bedeutung zu. Ein wesentlicher Unterschied in der Ausstattung kann die reelle Chancengleichheit der Parteien und eine faktische Verwirklichung einer „equality of arms“ beeinträchtigen. aa) Die Ressourcenverteilung in der Praxis Die Frage nach einem tatsächlichen Ungleichgewicht der Beweisbedingungen kann bestmöglich von Praktikern im internationalen Strafrecht beantwortet werden. Wolfgang Schomburg, Richter am ICTY, kritisiert die strukturelle Benachteiligung der Verteidigung als Gefahr für die Waffengleichheit im Verfahren. Seine Bewertung der bestehenden Prozesspraxis belegt eine personelle und organisatorische Überlegenheit der Anklage: „[Die passive Rolle des Richters im Verfahren] würde dann weniger ins Gewicht fallen, wenn zwischen den Parteien eine absolute Waffengleichheit („equality of arms“) bestünde, die ein wichtiger Bestandteil des Common Law Verfahrens ist. Dies ist hier aber gerade nicht der Fall. Die Anklage ist nicht nur personalmäßig allen anderen Beteiligten überlegen, Wald, HILJ 42 (2001), S. 535 (537). „Considerable investigating effort, involving activities as wide ranging as exhumation of mass graves and the conduct of forensic work at such sites, locating and interviewing witnesses throughout the world, and accessing and sifting large volumes of governmental records.“ Triffterer, Commentary, 2008, Art. 54 Rn. 2. 1175 ICTY Tadić, Judgment, IT-94-1-A, 15. Juli 1999, Rn. 52. 1173 1174

X. Die Waffengleichheit im Beweisverfahren

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sondern sie ist das einzige Organ, das einzige Gremium innerhalb dieser Tribunale, das Zugang zu allen Beweismitteln hat.“1176

James Cockayne, Mitarbeiter in der Verteidigungsbehörde am Sondertribunal für Sierra Leone, äußert ähnliche Bedenken. In seiner Stellungnahme rügt Cockayne die finanziellen und sachlichen Vorteile der Anklage gegenüber der Verteidigung im völkerstrafrechtlichen Verfahren: „The Prosecution investigates with court vehicles, satellite phones, dedicated drivers and security, translators, and professional international investigators; Defense team staff are not formally permitted to use Court transport (transport costs are supposed to be covered by each team’s budget), have no dedicated drivers or security or access to logistical equipment, and must find their own translators and investigation staff, with only national-level salaries for those staff covered by their budgets. (…) The Prosecution budget takes up a large percentage of the overall U.S. $83 million budget; the Defense teams receive around U.S. $4 million altogether. (…) The Prosecution has until recently received approximately five times the office space assigned to the Defense, and also greater access to office resources.“1177

Ein Blick auf die offiziellen Zahlen der Gerichte belegt die Einschätzung der Praktiker und zeichnet das Bild einer eindeutigen Privilegierung der Anklagebehörde. Im Rahmen der Beweiserhebung erfährt die Verteidigung bereits naturgemäß einen zeitlichen Nachteil gegenüber dem Ankläger. Während die Anklage zumeist Jahre vor Prozesseröffnung mit den Untersuchungen beginnt, kann die Verteidigung ihre Ermittlungen regelmäßig erst nach Anklageerhebung aufnehmen.1178 Der zeitliche Vorsprung der Anklage ermöglicht eine frühzeitige Beschlagnahme relevanter Dokumente, zu denen die Verteidigung nunmehr keinen direkten Zugang bekommen kann.1179 Bedeutsam für die faktische Benachteiligung des Beschuldigten ist jedoch primär das Ungleichgewicht der finanziellen und personellen Ressourcen. So verfügt beispielsweise die Anklage am ICTY um ein drei- bis vierfach höheres Budget als die Verteidigung.1180 Wenngleich eine Begünstigung der Anklage aufgrund ihrer Beweislast prinzipiell gerechtfertigt erscheint, ist der Umfang einer angemessenen Privilegierung fraglich.1181 Die finanzielle Ausstattung der Parteien ist ein entscheidender Faktor in der Ermittlung und Auswertung des Beweismaterials. Der Umfang der Dokumente 1176 Schomburg, Internationale Strafgerichtsbarkeit. Lektionen aus den UN-Tribunalen für das frühere Jugoslawien und Ruanda. Vortrag vor der Gesellschaft für Außenpolitik, 18.02. 2008. 1177 Zitiert in Heller, (In)equality of Arms at the International Tribunals, 07.02.2006, http:// lawofnations.blogspot.com/2006/02/inequality-of-arms-at-international.html (letzter Zugriff am 17.03.2010). 1178 Kamardi, Die Ausformung, 2009, S. 299. 1179 Kamardi, Die Ausformung, 2009, S. 300. 1180 Kamardi, Die Ausformung, 2009, S. 294; Karen Meirik, IWPR 356, 28. April 2004, http://www.iwpr.net/report-news/defence-lawyers-cry-foul-over-pay-system (letzter Zugriff am 28.05.2010) . 1181 Kamardi, Die Ausformung, 2009, S. 294.

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kann nur durch eine erhebliche personelle Unterstützung der Prozessbeteiligten bewältigt werden.1182 Einen Eindruck vom Ausmaß der völkerstrafrechtlichen Beweiswürdigung gibt die Anzahl der eingebrachten Beweisstücke im Hauptverfahren. Im Prozess des ICTY gegen Tihomir Blaškić wurden von den Parteien 161 Zeugen gehört und 1423 Dokumente vorgelegt.1183 Ihre personelle Überlegenheit sichert der Anklage daher einen bedeutenden Vorteil in der Beweisgewinnung als Grundlage ihrer Prozessvorbereitung: „At various times, between 20 and 40 members of the OTP1184, including attorneys, investigators, analysts, legal interns, trial support assistants, language assistants, computer specialists and administrators were mobilised to sustain a (…) review of all the material in the OTP’s possession. (…) To date, the Prosecution team has reviewed nearly two million pages of documentary material.“1185

Mit Recht weist Boas darauf hin, dass die Verteidigung eine entsprechende Beweisermittlung nicht leisten kann.1186 Die Vertreter des Beschuldigten verfügen über keinen vergleichbaren Mitarbeiterstab zur Sichtung des umfangreichen Materials. Verstärkt wird das faktische Ungleichgewicht der Parteien durch die weitgehend fehlende Institutionalisierung der Verteidigung.1187 Anders als die Anklagebehörde ist die Verteidigung zumeist kein Organ des Tribunals und daher nicht unmittelbar in die gerichtlichen Strukturen eingebunden. Ihre Ausgliederung aus der Organisationseinheit des Gerichts erfordert einen gesonderten Beschluss über Ausstattung und Mittel der Anwälte.1188 Zugleich erschwert der mangelnde Organstatus eine Kooperation mit Staaten und internationalen Organisationen.1189

bb) Die Verletzung von Waffengleichheit durch ungleiche Ressourcen „[I]t is obvious that the resources at the disposal of the prosecution in any proceedings before the ICTY is substantially greater than that available to the accused.“1190

Die Realität des internationalen Strafverfahrens offenbart erhebliche Unterschiede in den finanziellen und strukturellen Mitteln der Prozessparteien. Doch ist das Boas, JICJ 9 (2011), S. 78. May / Wierda, Evidence, in: May / Tolbert et al. (Hrsg.), Essays on ICTY Prosedure and Evidence in Honour of Gabrielle Kirk McDonald, 2001, S. 249 (249 f.). 1184 Office of the Prosecutor, Anm. Verf. 1185 ICTY Milosević, Prosecution’s Comprhensive Report Concerning Its Compliance to Date with Rule 68, IT-02-54-T, 20. Februar 2004, Rn. 2. 1186 Boas, The Milošević Trial, 2007, S. 34: „[I]t is clear that no legally aided defence team (at not many privately funded defence teams) could boast these sorts of resources.“ 1187 Hierzu ausführlich in diesem Kapitel unter 2. 1188 Beispielsweise musste der Anspruch auf Nutzung von Büroräumen am SCSL durch Art. 26 Directive on the Assignment of Counsel ausdrücklich festgeschrieben werden. 1189 Kamardi, Die Ausformung, 2009, S. 300. 1190 Boas, The Milošević Trial, 2007, S. 33. 1182 1183

X. Die Waffengleichheit im Beweisverfahren

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praktische Ungleichgewicht zwischen Anklage und Verteidigung als relevanter Rechtsverstoß gegen den Grundsatz der „equality of arms“ zu werten? Die besondere Bedeutung finanzieller und personeller Ressourcen für die Beweisermittlung könnte eine solche Beurteilung nahelegen. Eine gleichberechtigte Vorbereitung der Prozessführung ist den Verfahrensbeteiligten nur unter entsprechenden praktischen Voraussetzungen möglich. Die Anwendung des Anspruchs auf Waffengleichheit im Rahmen praktischer Ressourcenäquivalenz wäre auch mit der Rechtsprechung des EGMR vereinbar. In seiner Entscheidung Mantovanelli v. Frankreich knüpft das Gericht die Feststellung einer Rechtsverletzung nicht an die Ursache, sondern primär an das Ergebnis des prozessualen Ungleichgewichts: „[I]ssues may arise where one party enjoys by their position advantages over the conduct of the proceedings or access to material.“1191

Wenngleich gute Argumente gegen eine Differenzierung zwischen rechtlicher und praktischer Chancengleichheit sprechen, wird die Gewährleistung einer faktischen „equality of arms“ im völkerstrafrechtlichen Verfahren bislang abgelehnt.1192 Im Fall Kayishema and Ruzindana hatte die Verteidigung vor dem ICTR unter Verweis auf das Gebot der Waffengleichheit eine Offenlegung der Mittel der Anklage beantragt.1193 In einer grundlegenden Stellungnahme zur Reichweite der „equality of arms“ verwarf das Gericht das Anliegen der Verteidigung und beschränkte das Prinzip auf eine prozessrechtliche Stellung des Beschuldigten.1194 Forderungen nach einer Äquivalenz der praktischen Verfahrensvoraussetzungen wurden vom Anwendungsbereich explizit ausgenommen: „The rights of the accused and equality between the parties should not be confused with the equality of means and resources; (…) the rights of the accused should in no way be interpreted to mean that the defence is entitled to the same means and resources as available to the prosecution. (…) The Appeals Chamber observes in this regard that equality of arms between the Defence and the Prosecution does not necessarily amount to the material equality of possessing the same financial and / or personal resources.“1195

Die restriktive Rechtsprechung des ICTR wurde vom SCSL im Grundsatz bestätigt. Zwar erkannte das Sondertribunal die Notwendigkeit eines weiteren VerständEGMR Mantovanelli v. Frankreich, Application No. 8 / 1996 / 627 / 810, 18. März 1997. Heller, (In)equality of Arms at the International Tribunals, 07.02.2006; Zahar / Sluiter, International Criminal Law, 2008, S.293. 1193 ICTR Kayishema and Ruzindana, Judgment, ICTR-95-1-T, 21. Mai 1999, Rn. 56: „The Defence submitted that in order to conduct a fair trial, full equality should exist between the Prosecution and the Defence in terms of the means and facilities placed at their disposal. To this end, the Defence requested the Chamber to order the disclosure of the number of lawyers, consultants, assistants and investigators that had been at the disposal of the Prosecution since the beginning of the case.“ 1194 ICTR Kayishema and Ruzindana, Judgment, ICTR-95-1-A, 1. Juni 2001, Rn. 63. 1195 ICTR Kayishema and Ruzindana, Judgment, ICTR-95-1-A, Urt. v. 1. Juni 2001, Rn. 63 und 69 mit Verweis auf EGMR Hentrich v. France, Application No. 13616 / 88, 22. September 1994, Rn. 56. 1191 1192

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nisses der „equality of arms“ an, schloss eine konsequente Einbeziehung finanzieller und personeller Mittel jedoch ebenfalls aus. „The ‚Special Court‘ is of the opinion that equality of arms before international criminal tribunals is more than a mere procedural equality, (…) but does not necessarily entail a strict equality in terms of means and resources.“1196

In der Literatur stößt die einschränkende Auslegung der Waffengleichheit bislang überwiegend auf Zuspruch.1197 Eine Gleichheit der Ressourcen wird als legitimes Ziel der praktischen Gerichtsorganisation, nicht hingegen als rechtlich zwingender Bestandteil der „equality of arms“ gewertet. Zaher / Sluiter meinen: „Full equality between the parties to criminal proceedings is an idle aspiration from a practical perspective and not the required standard in the human rights area.“1198

In der Tat kann sich ein Anspruch auf prozessuale Gleichbehandlung nicht auf die Gewährleistung identischer Verfahrensbedingungen richten. Die einseitige Beweislastverteilung sowie die Verpflichtung der Anklage zur objektiven Wahrheitsermittlung rechtfertigen eine unterschiedliche Mittelverteilung. Wenngleich die „equality of arms“ keine absolute Ressourcengleichheit garantiert, können praktische Vorteile der Anklage durch prozessuale Maßnahmen zu Gunsten der Verteidigung sinnvoll ausgeglichen werden. Offenlegungspflichten der Anklage sowie eine Institutionalisierung der Verteidigung mildern die Folgen einer faktischen Benachteiligung des Angeklagten. Die Grenze legitimer Ungleichbehandlung ist jedoch dann erreicht, wenn die praktischen Divergenzen die Durchführung eines fairen Verfahrens in Frage stellen. Die Unterschiede zwischen Anklage und Verteidigung dürfen nicht im Widerspruch zur grundsätzlichen Gewährleistung einer gerechten Prozessgestaltung stehen.1199 Vereiteln die finanziellen und personellen Nachteile des Beschuldigten seine effektive Verteidigung, stellt dies einen Verstoß gegen das Gebot der rechtsstaatlichen Waffengleichheit dar.1200 Es muss daher Aufgabe internationaler Strafgerichte sein, ein angemessenes Verhältnis in der Mittelverteilung zu wahren.1201 1196 SCSL Gbao, Decision on the Prosecution Motion for Immediate Protective Measures for Witnesses and Victims and for Non-public Disclosure, SCSL-2003-09-PT, 10. Oktober 2003, Rn. 49. 1197 Zahar / Sluiter, International Criminal Law, 2008, S. 293; Heller, (In)equality of Arms at the International Tribunals, 07.02.2006; kritisch hingegen Wilson, ICLR 2 (2002), S. 145 (188). 1198 Zahar / Sluiter, International Criminal Law, 2008, S. 293. 1199 May / Wierda, Evidence, in: May / Tolbert et al. (Hrsg.), Essays on ICTY Prosedure and Evidence in Honour of Gabrielle Kirk McDonald, 2001, S. 249 (271). 1200 May / Wierda, Evidence, in: May / Tolbert et al. (Hrsg.), Essays on ICTY Prosedure and Evidence in Honour of Gabrielle Kirk McDonald, 2001, S. 249 (271): „Although it is clear that the question of equality of arms cannot be reduced to an exact equation, there must, in the least, be an approximate equality in terms of resources. Any substantial inequality will call into question the fairness of the trial.“ 1201 In diesem Sinne auch Wilson, ICLR 2 (2002), S. 145 (188).

X. Die Waffengleichheit im Beweisverfahren

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b) Fehlende Staatenkooperation als Problem der Waffengleichheit „In a case like Milosević, where the prosecution heavily depends on intelligence information, would anyone seriously believe that the CIA or any other secret service would voluntarily co-operate with private defence lawyers?“1202

Die Kooperation staatlicher und zwischenstaatlicher Institutionen ist eine entscheidende Voraussetzung für die Prozessvorbereitung der Parteien.1203 Berichte internationaler Organisationen sowie Akten und Dokumente des Tatortstaates sind wichtige Beweisstücke im völkerstrafrechtlichen Verfahren.1204 Bereits die Anklage trifft regelmäßig auf politische Widerstände, die ihren Zugang zu beweisrelevanten Informationen erschweren.1205 Angesichts der schwachen institutionellen Stellung der Verteidiger sind ihre Nachteile in der Zusammenarbeit mit nationalen und internationalen Akteuren jedoch noch gravierender.1206 Die fehlende Bereitschaft zur Offenlegung des notwendigen Beweismaterials an den Beschuldigten beruht auf politischen wie organisationsrechtlichen Gründen. Das Interesse der Tatortstaaten an einer Verurteilung des früheren Regimes kann ursächlich für eine einseitige Kooperation mit der Anklage sein.1207 Ferner bedingt die unterschiedliche Organisationsform der Parteien Vorbehalte im Umgang mit ihren Interessen. Die Anklage tritt im Rahmen ihrer Ermittlungen als offizielles Organ des Gerichts auf. Ihre unmittelbare Zugehörigkeit zu einer Institution der internationalen Gemeinschaft veranlasst insbesondere zwischenstaatliche Einrichtungen zur Unterstützung der Anklage.1208 Zeigen sich internationale Organisationen gegenüber der Anklage kooperativ, besteht im Gegenzug nur wenig Interesse an einer Zusammenarbeit mit dem Beschuldigten.1209 Durch Berichterstattung an den Sicherheitsrat kann die Anklagebehörde zudem wirtschaftlichen und politischen Druck auf unkooperative Staaten ausüben. Die Vermeidung von SankAmbos, ICLR 3 (2003), S. 1 (36). Triffterer, Commentary, 2008, Art. 54 Rn. 2. 1204 Kamardi, Die Ausformung, 2009, S. 277. 1205 del Ponte, Im Namen der Anklage, 2009, S. 394 ff. 1206 Kingsley E. Belle, „Equality of Arms“ A Significant Aspect of Fairness, 14. November 2006, http://209.85.129.132/search?q=cache%3AYBLaz0ccrHUJ%3Awww.carl-sl.org%2Fhome %2Findex.php%3Fview%3Darticle%26catid%3D4%253Aarticles%26id%3D191%253Aqequality-of-armsa-significant-aspect-of-fair-ness%26format%3Dpdf%26option%3Dcom_content%26Itemid%3D23+icty+equality+of+arms+prosecution&hl=de&gl=de: „Other situations of inequality may occur where a government or international organisation may have granted the prosecution access to archives or materials, but is unwilling to do the same for the defence. This has sometimes been the case in the past.“ Triffterer, Commentary, 2008, Art. 54 Rn. 2. 1207 Kamardi, Die Ausformung, 2009, S. 300. Es ist jedoch ebenfalls zu berücksichtigen, dass gerade im ehemaligen Jugoslawien die Bereitschaft zur Unterstützung der Anklage oftmals als sehr gering einzustufen war, da noch enge Verbindungen zwischen der Regierung und den Beschuldigten bestanden: del Ponte, Im Namen der Anklage, 2009, S. 394 ff. 1208 Kamardi, Die Ausformung, 2009, S. 300. 1209 Kamardi, Die Ausformung, S. 300. 1202 1203

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

tionen steht im nationalen Interesse und begünstigt eine pflichtgemäße Beweisoffenlegung der Staaten. Demgegenüber verfügt die Verteidigung über keine vergleichbaren Möglichkeiten zur Durchsetzung effektiver Kooperation. Ihre mangelnde institutionelle Autorität sowie beschränkte Rechtsmittel zur Erwirkung einer Beweisübergabe begründen einen erheblichen prozessualen Nachteil der Verteidigung.1210 Die fehlende Kooperation der Behörden wurde als Problem rechtsstaatlicher Waffengleichheit von der Berufungskammer des ICTY im Fall Tadić umfassend erörtert.1211 Die Verteidigung hatte geltend gemacht, dass ihr eine erschöpfende Beweisgewinnung angesichts der geringen Unterstützung durch die serbische Regierung versagt worden war.1212 Obgleich der ICTY die Einwände der Verteidigung im Grundsatz anerkannte, verneinte das Gericht eine Verletzung der „equality of arms“.1213 In Anlehnung an den Gedanken objektiver Zurechnung schloss die Kammer eine Verantwortung für die Verweigerung staatlicher Zusammenarbeit prinzipiell aus.1214 Nach Auffassung der Richter beschränke sich das Gebot der Waffengleichheit auf Bedingungen innerhalb des direkten Einflussbereichs internationaler Straftribunale.1215 Im Rahmen seiner rechtlichen Möglichkeiten bliebe das Gericht zum Ausgleich praktischer Beweisprobleme verpflichtet: „It follows that the Chamber shall provide every practical facility it is capable of granting under the Rules and Statute when faced with a request by a party for assistance in presenting its case.“1216

Das Prinzip der „equality of arms“ begründet im internationalen Strafverfahren folglich einen Leistungsanspruch des Beschuldigten gegenüber den Gerichten. Da die Kammer zum Erlass verbindlicher Anordnungen an den Tatortstaat legitimiert ist, verfügt sie über effektive Mittel zur Verbesserung der Beweissituation des Angeklagten.1217 Ein prozessrelevanter Verstoß gegen die Waffengleichheit ist nach Ansicht des ICTY daher allein unter der Voraussetzung anzunehmen, dass die Richter eine erforderliche Unterstützung der Verteidigung unterlassen.1218 1210 Triffterer, Commentary, 2008, Art. 54, Rn. 2: „Suspects and accused before international tribunals and courts would, however, generally lack the authority and standing to solicit the assistance of Governments.“ 1211 ICTY Tadić, Judgment, IT-94-1-A, 15. Juli 1999. Bestätigt wurde die Rechtsprechung des ICTY durch den ICTR im Fall Kayishema, Judgment, ICTR-95-1-A, 1. Juni 2001, Rn. 73. 1212 ICTY Tadić, Judgment, IT-94-1-A, 15. Juli 1999, Rn. 53. 1213 ICTY Tadić, Judgment, IT-94-1-A, 15. Juli 1999, Rn. 49. 1214 ICTY Tadić, Judgment, IT-94-1-A, 15. Juli 1999, Rn. 53. 1215 Kamardi, Die Ausformung, 2009, S. 333. 1216 ICTY Tadić, Judgment IT-94-1-A, 15. Juli 1999, Rn. 52. 1217 ICTY Tadić, Judgment, IT-94-1-A, 15. Juli 1999, Rn. 52. 1218 Als Beispiele für mögliche Maßnahmen des Gerichts nennt der ICTY folgende (ICTY Tadić, Judgment, IT-94-1-A, Urt., Juli 1999, Rn. 52): „(1) adopt witness protection measures, ranging from partial to full protection; (2) take evidence by video-link or by way of deposition; (3) summon witnesses and order their attendance; (4) issue binding orders to States for, inter alia, the taking and production of evidence; and (5) issue binding orders to States to assist a

X. Die Waffengleichheit im Beweisverfahren

455

Die Entscheidungsbegründung des Gerichts entspricht der Argumentation des ICTR zur Bewertung praktischer Unterschiede in den Verfahrensbedingungen. Wiederum wird das Gebot der „equality of arms“ nicht im Sinne einer faktischen Äquivalenz verstanden, sondern auf die Gewährleistung streng prozessrechtlicher Gleichbehandlung beschränkt. Eine klare Abgrenzung rechtlicher und praktischer Aspekte der Beweiswürdigung erscheint jedoch zweifelhaft. Reale Unterschiede in der Informationsgewinnung wirken sich mittelbar auf die prozessuale Stellung des Angeklagten im Rahmen des Beweisverfahrens aus.1219 Unabhängig von ihren Ursachen darf das Ungleichgewicht der Parteien die Gewährleistung eines rechtsstaatlichen Verfahrens nicht in Frage stellen. Ist die Grenze prozessualer Fairness überschritten, kann eine Verletzung der Waffengleichheit auch durch praktische Gründe bewirkt werden.

c) Fazit zur praktischen Gewährleistung von Waffengleichheit Die Komplexität des völkerstrafrechtlichen Verfahrens bedingt ein tatsächliches Ungleichgewicht der Parteien in der Erhebung und Auswertung des notwendigen Beweismaterials.1220 Die praktischen Probleme des Beweisverfahrens treffen die Verteidigung aufgrund ihrer mangelnden Ressourcen sowie der geringen behördlichen Kooperationsbereitschaft in besonderem Maße.1221 Aus der Feststellung ihrer faktischen Benachteiligung müssen sich Konsequenzen für die künftige Gestaltung von Organisation und Rechtsstellung der Verteidigung ergeben. Wenngleich eine Verletzung der Waffengleichheit durch praktische Unterschiede bislang verneint wurde, erfordert ein rechtsstaatliches Verfahren die bestmögliche Gewährleistung fairer Prozessbedingungen. Zweifellos kann eine Erhöhung der finanziellen und personellen Mittel die Position des Angeklagten gegenüber der Anklage verbessern. Um ein dauerhaftes Gleichgewicht zwischen den Parteien zu schaffen, sind darüber hinaus grundlegende Änderungen der institutionellen wie prozessrechtlichen Voraussetzungen geboten. Nachfolgend sollen Wege zur Unterstützung der Verteidigung im Beweisverfahren entwickelt und bewertet werden.

party or to summon a witness and order his or her attendance under the Rules. A further important measure available in such circumstances is: (6) for the President of the Tribunal to send, at the instance of the Trial Chamber, a request to the State authorities in question for their assistance in securing the attendance of a witness. In addition, whenever the aforementioned measures have proved to be to no avail, a Chamber may, upon the request of a party or proprio motu: (7) order that proceedings be adjourned or, if the circumstances so require, that they be stayed.“ 1219 So auch der EGMR in Borgers v. Belgien, Application No. 12005 / 86, 30. Oktober 1991, A214-A, 15 EHRR 92, Rn. 42; Kamardi, Die Ausformung, 2009, S. 335. 1220 Kamardi, Die Ausformung, 2009, S. 301. 1221 Ambos, ICLR 3 (2003), S. 1 (36).

456

D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

4. Die Institutionalisierung der Verteidigung Die Darstellung der praktischen Probleme einer gleichberechtigten Verteidigung wirft die Frage nach der Notwendigkeit ihrer Institutionalisierung auf. Die fehlende Einbindung in die Organisationsstruktur der Gerichte erscheint als wichtiger Grund für eine tatsächliche Benachteiligung des Angeklagten.1222 Sowohl die zurückhaltende Kooperation der Behörden als auch das Ungleichgewicht in der Ressourcenverteilung lassen sich mitursächlich auf die Ausgliederung der Verteidigung zurückführen.1223 Anhand der divergierenden Regelungsansätze internationaler Tribunale soll die Entwicklung eigenständiger Verteidigungseinheiten für das völkerstrafrechtliche Verfahren skizziert werden.

a) Die Rechtslage an den internationalen Strafgerichten aa) Die Ad-hoc-Tribunale Die Statuten der Ad-hoc-Tribunale treffen keine Aussagen über die institutionelle Organisationsform der Verteidigung. In der Einsetzung gerichtlicher Organe durch Art. 11 ICTY-Statut wird eine selbständige Verteidigungseinheit als Bestandteil des Tribunals ausgeklammert. „Article 11 The International Tribunal shall consist of the following organs: (a) the Chambers, comprising three Trial Chambers and an Appeals Chamber; (b) the Prosecutor; and (c) a Registry, servicing both the Chambers and the Prosecutor.“

Mit der ersten Verfahrenspraxis wurde jedoch die Notwendigkeit einer organisierten Interessenvertretung des Angeklagten deutlich. In der Folgezeit übernahmen die Gerichtskanzleien die Verantwortung für eine institutionelle Unterstützung der Verteidigung.1224 Im Rahmen ihres Kompetenzbereichs errichteten die Kanzleien Einheiten zur Wahrnehmung der rechtlichen und praktischen Belange des Angeklagten. Primäre Aufgaben der „Defence Counsel & Detention Management Section“ am ICTR und des „Office of Legal Aid and Detention Matters“ am ICTY sind die Auswahl von Anwälten sowie die Gewährleistung unentgeltlicher Verteidigung.1225 Eine weitere Unterstützung erfährt der Angeklagte am ICTY durch die Gründung der „Association of Defence Counsel“ (ADC). Als unabhängiger Zusammenschluss von Verteidigern beschränkt sich die Tätigkeit des Verbandes auf eine generelle Absicherung qualifizierter Rechtsvertretung durch Kontrollen und Fortbildungsmaßnahmen.1226 Zahar / Sluiter, International Criminal Law, 2008, S. 364. Zahar / Sluiter, International Criminal Law, 2008, S. 364. 1224 Meisenberg, The Right to Legal Assistance, in: Decaux (Hrsg.), From Human Rights to International Criminal Law, 2007, S. 125 (129). 1225 Wilson, ICLR 2 (2002), S. 145 (157). 1222 1223

X. Die Waffengleichheit im Beweisverfahren

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Die fehlende Berücksichtigung der Verteidigung in den Statuten der Ad-hoc-Tribunale ist Gegenstand berechtigter Kritik an der Ungleichbehandlung der Parteien.1227 Die Zuständigkeit der Gerichtskanzleien für organisatorische Fragen der Verteidigung erscheint wenig kompatibel mit ihrem generellen Aufgabenbereich. Im Rahmen ihrer allgemeinen Verwaltungstätigkeit ist die Kanzlei für eine zeitlich wie finanziell effektive Prozessgestaltung verantwortlich. Ihre Pflicht zur Kosteneffizienz muss an verschiedenen Stellen in Konflikt mit der Notwendigkeit einer parteilichen Interessenwahrnehmung treten.1228 Zugleich verhindern die verschiedenen Kompetenzbereiche der Kanzlei eine besondere Identifikation mit den Belangen der Verteidigung. Die fehlende Exklusivität der Verteidigungseinheit im Aufgabengefüge der Kanzlei ist als erhebliche Schwachstelle einer wirksamen Gleichstellung der Parteien zu werten.1229

bb) Der Internationale Strafgerichtshof Vergleichbar den Ad-hoc-Tribunalen schließt Art. 34 ICC-Statut einen Organstatus der Verteidigung vor dem Internationalen Strafgerichtshof aus.1230 Im Gegenzug gewährt das Gericht dem Angeklagten finanzielle und organisatorische Unterstützung durch die Kanzlei. Der Rahmen für eine Zusammenarbeit mit der Verteidigung wird in Regel 20 ICC-RPE präzisiert und erfasst die Koordination von Sachmitteln sowie eine umfassende Informationstätigkeit der Kanzlei. „Regel 20 Abs. ICC-RPE [T]he Registrar shall organize the staff of the Registry in a manner that promotes the rights of the defence, consistent with the principle of fair trial as defined in the Statute. For that purpose, the Registrar shall, inter alia: (…) (b) Provide support, assistance, and information to all defence counsel appearing before the Court and, as appropriate, support for professional investigators necessary for the efficient and effective conduct of the defence (…) (d) Advise the Prosecutor and the Chambers, as necessary, on relevant defence-related issues; (e) Provide the defence with such facilities as may be necessary for the direct performance of the duty of the defence.“

Die Kritik an den Ad-hoc-Tribunalen hatte das Bedürfnis nach einer eigenständig organisierten Verteidigungseinheit deutlich gemacht. Zur Gewährleistung effektiver 1226 Vgl. United Nations, International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia: Homepage des ICTY, Defence, http://www.icty.org/sections / AbouttheICTY/Defence (letzter Zugriff am 17.03.2010). 1227 Wilson, ICLR 2 (2002), S. 145 (176). 1228 Wilson, ICLR 2 (2002), S. 145 (176). 1229 Wilson, ICLR 2002, S. 145 (177). 1230 Art. 34 ICC-Statut: The Court shall be composed of the following organs: (a) The Presidency; (b) An Appeals Division, a Trial Division and a Pre-Trial Division; (c) The Office of the Prosecutor; (d) The Registry.

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

Interessenvertretung ermächtigt Regel 77 der Geschäftsordnung die Kanzlei zur Gründung des „Office of Public Counsel for the defence“ (OPCD). „Regulation 77 1. The Registrar shall establish and develop an Office of Public Counsel for the defence for the purpose of providing assistance as described in subregulations 4 and 5. 2. The Office of Public Counsel for the defence shall fall within the remit of the Registry solely for administrative purposes and otherwise shall function as a wholly independent office. Counsel and assistants within the Office shall act independently.“

Das OCPD agiert unabhängig von den gerichtlichen Institutionen und ist ausschließlich im Rahmen seiner verwaltungsrechtlichen Organisation der Kanzlei beigeordnet. Als selbständige Behörde ist das OCPD für eine zweckmäßige Verwendung der zeitlichen und materiellen Ressourcen der Verteidigung verantwortlich.1231 Die rechtliche Stellung des OCPD garantiert dem Beschuldigten eine unabhängige Wahrnehmung seiner Belange und schafft wichtige Voraussetzungen für eine gleichberechtigte Vertretung der Parteien. Wenngleich die Gewährleistung einer „equality of arms“ ausdrückliches Ziel des OCPD ist1232, kann seine Arbeit die bestehenden Nachteile der Verteidigung nicht vollständig ausgleichen. Die Organstellung des Anklägers eröffnet der Anklage rechtliche Privilegien, die der Verteidigung weiterhin vorenthalten werden. Beispielhaft sei Art. 48 ICC-Statut genannt, der eine Immunität im Rahmen von Tatortermittlungen ausdrücklich auf die Vertreter der Anklagebehörde beschränkt. Ein weiterer Prozessnachteil ihrer fehlenden Institutionalisierung besteht in den geringen Mitteln der Verteidigung zur Erwirkung staatlicher Kooperation.1233 Während die Anklage durch Art. 99 ICC-Statut beim Zugang zu Zeugen und Beweismaterial unterstützt wird, kann die Verteidigung keine verbindlichen Maßnahmen zur Sicherung ihres Beweisinteresses treffen. Zahar / Sluiter bewerten die ungleiche Ausgestaltung der prozessualen Befugnisse als „ernsthafte Verletzung der Waffengleichheit“1234. Obwohl mit der OCPD eine unabhängige Behörde zur Organisation der Verteidigung geschaffen wurde, kann das Ungleichgewicht der Parteien aufgrund ihrer institutionellen Unterschiede nicht kompensiert werden.

1231

International Criminal Court, Newsletter Nr. 15, 05.2007, S. 4 (letzter Zugriff am 17.03.

2010). 1232 Katy Glassborow, Defending the Defenders, Global Policy Forum, 21. August 2006, http://www.globalpolicy.org/component/content/article/168/28321.html (letzter Zugriff am 18.05.2001). 1233 Zahar / Sluiter, International Criminal Law, 2008, S. 295. 1234 Zahar / Sluiter, International Criminal Law, 2008, S. 295; „[S]erious violation of the principle of equality of arms.“

X. Die Waffengleichheit im Beweisverfahren

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cc) Die hybriden Tribunale Die Organisation der Verteidigung an den ECCC entspricht in weiten Teilen dem Modell des OPCD am Internationalen Strafgerichtshof. Nach Art. 11 der Internal Rules ist die „Defence Support Section“ (DSS) am Khmer-Rouge-Tribunal der allgemeinen Verwaltungsbehörde unterstellt1235 und erhält keinen eigenen Organstatus. Anders als das OPCD arbeitet die Verteidigungseinheit an den Kammern jedoch ausschließlich in materiellen Fragen unabhängig von der Gerichtsverwaltung.1236 Die wesentlichen Aufgaben der DSS bestehen in der Zulassung von Anwälten sowie der administrativen und finanziellen Unterstützung der Verteidigung. Im Unterschied zu den Einrichtungen am SCSL oder dem ICC sind Vertreter der DSS nicht zum Auftreten vor Gericht legitimiert. Der Ausschluss einer temporären Repräsentation des Angeklagten durch Anwälte der DSS wurde von der Behörde unter Hinweis auf den Beschleunigungsgrundsatz und die Notwendigkeit eines kostenwirksamen Verfahrens kritisiert.1237 Wenngleich die DSS einen effektiven Beitrag zur Unterstützung der Verteidigung leisten kann, stellt sie keine abschließende Lösung für das grundlegende Problem des institutionellen Ungleichgewichts dar. Eine Neuerung in der Gestaltung organisierter Verteidigung wird durch die Einsetzung des „Defence Office“ am Sondertribunal für den Libanon begründet. Erstmals in der Geschichte des völkerstrafrechtlichen Verfahrens tritt die Verteidigungseinheit als gleichberechtigtes Organ neben die Anklagebehörde. „Article 2 Agreement between the United Nations and the Lebanese Republic on the establishment of a Special Tribunal for Lebanon 1. The Special Tribunal shall consist of the following organs: the Chambers, the Prosecutor, the Registry and the Defence Office.“

Art. 13 des Statuts überträgt dem Defence Office umfassende Zuständigkeiten zur Beratung und Ergänzung der Verteidigung. Neben der Befugnis zur eigenständigen Beweiserhebung wird der Behörde eine zeitweilige Vertretungskompetenz vor Gericht eingeräumt. Die Errichtung des Defence Office als unabhängige und institutionell selbständige Behörde stellt eine bedeutende Entwicklung in der tatsächlichen Gewährleistung von Waffengleichheit im internationalen Strafprozess dar.

Office of Administration, Art. 8 ECCC-Agreement. Skilbeck, EHRR 1 / 1 (2004), S. 66 (76). 1237 Skilbeck, Defence Support Section (DSS), Statement from the Head of the Defence Support Section, 13.06.2007, http://www.eccc.gov.kh/english/cabinet/press/28/DSS_Statement _13_June.pdf (letzter Zugriff am 17.03.2010). 1235 1236

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

b) Stellungnahme zur Institutionalisierung der Verteidigung Die Institutionalisierung der Verteidigung ist notwendiges Mittel zur Unterstützung des Angeklagten in personellen, finanziellen und administrativen Fragen.1238 Die Gewährleistung der organisatorischen Eigenständigkeit von Verteidigungseinheiten an ICC und ECCC stellt bereits eine Verbesserung gegenüber dem Modell der Ad-hoc-Tribunale dar.1239 Die Übertragung des Organstatus am Sondertribunal für den Libanon setzt einen Schlusspunkt unter die Realisierung institutioneller Waffengleichheit im internationalen Strafprozess. Bedeutung kommt einer allgemeinen Verteidigungsbehörde insbesondere in frühen Verfahrensstadien zu, wenn im Rahmen der Ermittlungsarbeit noch keine anwaltliche Vertretung garantiert werden kann.1240 Ein häufiger Einwand gegen die Organstellung der Verteidigung macht sich an der Gefahr ihrer fehlenden Unabhängigkeit vom gerichtlichen Einflussbereich fest.1241 Triffterer begegnet der Kritik jedoch zu Recht mit einem Vergleich zur Organisationsform der Anklage. Trotz ihres Organstatus könne die Fähigkeit der Anklage zur unabhängigen Prozessführung nicht bezweifelt werden.1242 Mit Blick auf die Verfahrenspraxis des Internationalen Strafgerichtshofs spricht sich Triffterer daher für die Notwendigkeit institutioneller Gleichberechtigung aus: „The institutional difference (in terms of resources, having a ‚voice‘ within the Court and more balanced media reporting) that being an ‚organ‘ brings cannot be underestimated.“1243

Die Entwicklung von zunehmend selbständigen Verteidigungseinheiten zeigt das wachsende Bewusstsein für die Bedeutung von Waffengleichheit im institutionellen Rahmen. Während die Verteidigung in den Prozessen von Nürnberg und Tokyo kaum Unterstützung erfuhr,1244 gewährleisten die Statuten internationaler Gerichte nunmehr ihre umfassende organisatorische Integration. Im Interesse der „equality of arms“ sollten Verteidigungsbehörden künftig nach dem Vorbild des Libanontribunals als festes Organ der Gerichtsverwaltung eingesetzt werden.

5. Die Offenlegung von Beweismitteln Die Institutionalisierung der Verteidigung stellt eine bedeutende Verbesserung der Rechtsposition des Angeklagten dar. Dessen ungeachtet vermag die administra1238 Groulx, A Strong Defence, in: Bevers / Joubert (Hrsg.), An Independent Defence, 2000, S. 7 (13); Bassiouni / Manikas, The Law, 1996, S. 789. 1239 Zahar / Sluiter, International Criminal Law, 2008, S. 61. 1240 Werle, Völkerstrafrecht, 2007, Rn. 243. 1241 Jones, Composition of the Courts, in: Cassese et al. Rome Statute Commentary, Bd. 1, S. 240. 1242 Triffterer, Commentary, 2008, Art. 34 Rn. 10. 1243 Triffterer, Commentary, 2008, Art. 34 Rn. 10. 1244 Skilbeck, EHRR 1 / 1 (2004), S. 66 (71 f.).

X. Die Waffengleichheit im Beweisverfahren

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tive Gleichordnung der Parteien die finanziellen und personellen Nachteile der Verteidigung nicht vollständig zu kompensieren. Die Praxis des internationalen Strafverfahrens zeigt, dass eine Beweiserhebung durch die Anklage effektiver und umfassender erfolgen kann. Können die Vorteile der Anklage im völkerrechtlichen Beweisverfahren nicht generell ausgeglichen werden, muss die Unterstützung des Beschuldigten auf einer Kooperation von Verteidigung und Anklage beruhen. Die Gewährleistung eines gleichberechtigten Zugangs zu Beweismitteln ist Grundvoraussetzung einer fairen Verfahrensführung. Um die Schwierigkeiten der Verteidigung im Rahmen der Beweisgewinnung zu mindern, wird vom Ankläger eine umfassende Offenlegung prozessrelevanter Informationen verlangt.1245 Die Möglichkeit zur Sichtung des erlangten Beweismaterials stellt ein Zugeständnis an die faktische Benachteiligung des Beschuldigten im Ermittlungsverfahren dar. Die internationale Gerichtsbarkeit bestätigt die Offenlegungspflicht der Anklage als wesentliche Bedingung der „equality of arms“. Der EGMR urteilt: „It is a requirement of fairness (…) that the prosecution authorities disclose to the defence all material evidence for or against the accused.“1246

Als völkerrechtlicher Standard1247 ist der Zugang der Verteidigung zu den Beweismitteln der Anklage auch in den UN Basic Principles on the Role of Lawyers enthalten: „Prinzip 21 UN Basic Principles on the Role of Lawyers:[I]t is the duty of the competent authorities to ensure lawyers access to appropriate information, files and documents in their possession or control in sufficient time to enable lawyers to provide effective legal assistance to their clients.“1248

Die Statuten der völkerstrafrechtlichen Tribunale gewährleisten eine grundsätzliche Offenlegungspflicht des Anklägers im Einklang mit den internationalen Vorgaben.1249 Wenngleich das Recht der Verteidigung auf Beweiszugang allgemein anerkannt ist, gilt es im Einzelfall nicht absolut.1250 Die Möglichkeit von Einschränkungen zum Schutz von Zeugen und Informanten prägt die unterschiedliche Ausgestal1245 Cryer / Friman / Robinson / Wilmshurst, An Introduction to International Criminal Law, 2007, S. 381. 1246 EGMR Edwards v. Großbritannien, Application No. 13071 / 87, 16. Dezember 1992, Series A, No. 247-B. So auch in Reid, A Practioner’s Guide, 2004, S. 100 mit Verweis auf EGMR Jespers v. Belgien, Application No. 8403 / 78, 14. Dezember 1981; EGMR Edwards v. Großbritannien, Application No. 13071 / 87, 16. Dezember 1992, Series A, No. 247-B, Rn. 36. 1247 Cryer / Friman / Robinson / Wilmshurst, An Introduction to International Criminal Law, 2007, S. 381: „A fundamental feature of a fair trial – a manifestation of ‚equality of arms‘ – is the disclosure of evidence of the prosecuor’s evidence to the accused.“ 1248 UN Doc.A / CONF.144 / 28 / Rev. 1 (1990). 1249 Anders gestaltet sich die Rechtslage an den ECCC, die einen neutralen Ermittlungsrichter vorsehen. Das Modell der Kammern wird am Ende des Kapitels erörtert. 1250 EGMR Rowe und Davis v. Großbritannien, Application No. 28901 / 95, 16. Februar 2000, Rn. 61.

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

tung der Kooperationspflichten im Prozessrecht der Gerichte. Die nachfolgende Untersuchung soll die rechtlichen Gegensätze in den Regelungswerken beleuchten. Anhand der bisherigen Rechtsprechung werden die Probleme einer effektiven Beweisoffenlegung erörtert. Als Antwort auf die Schwächen des Beweiszugangs sollen zuletzt Vorschläge zur Verbesserung der bestehenden Rechtsmodelle entwickelt werden.

a) Die Pflichten des Anklägers nach den Statuten der Gerichte Zunächst sei anzumerken, dass die Pflicht des Anklägers zur Bereitstellung von Beweismaterial nicht mit einer entsprechenden Obliegenheit der Verteidigung korrespondiert.1251 Der Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit verbietet der Anklage einen generellen Zugang zu den Beweismitteln der Verteidigung. Eine Anordnung zur Vorlage von belastendem Material würde einen Verstoß gegen das rechtsstaatliche Prinzip „nemo tenetur se ipsum accusare“ bedeuten.1252 Folgerichtig wird die Anklagebehörde auf einzelne Ansprüche zur Einsichtnahme verwiesen.1253 Aufgrund ihrer praktischen Bedeutung für die Umsetzung von Waffengleichheit soll der Untersuchungsgegenstand ausschließlich die Offenlegungspflichten des Anklägers erfassen. Ein Vergleich der Rechtslage an ICTY und ICC belegt eine unterschiedliche Konzeption in der generellen Aufgabenwahrnehmung des Anklägers. Die grundsätzliche Rolle der Anklage im Verfahren ist wesentlicher Ausgangspunkt für eine rechtsstaatliche Bewertung seiner Offenlegungspflichten.

aa) Der Ankläger am Jugoslawientribunal Das Statut des ICTY enthält keine Aussagen zu den Voraussetzungen einer Offenlegungspflicht des Anklägers. Eine detaillierte Regelung findet sich erst in der Verfahrensordnung des Gerichts, die Reichweite und Grenzen des Beweiszugangs abschließend bestimmt. Nach Regel 66 und 68 ICTY-RPE kann die Verteidigung eine Übergabe des von der Anklage ermittelten Beweismaterials verlangen. Das Prozessrecht des ICTY gewährleistet dem Beschuldigten jedoch keinen generellen Anspruch auf Offenlegung, sondern knüpft eine Pflicht des Anklägers an unterschiedliche normative Bedingungen.

1251 ICTY Tadić, Separate Opinion of Judge Stephen on Prosecution Motion for Production of Defence Witness Statements, IT-94-1-T, 27. November 1996; Triffterer, Commentary, 2008, Art. 67 Rn. 52. 1252 ICTY Tadić, Separate Opinion of Judge Stephen on Prosecution Motion for Production of Defence Witness Statements, IT-94-1-T, 27. November 1996; Triffterer, Commentary, 2008, Art. 67 Rn. 52. 1253 Vgl. Regel 67 ICTY-RPE, Regel 77 ICC-RPE.

X. Die Waffengleichheit im Beweisverfahren

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(1) Voraussetzungen der Offenlegungspflicht Regel 66 ICTY-RPE legt drei Gründe für eine Offenlegung von Beweismitteln fest. Zunächst erhält die Verteidigung gemäß Regel 66 A ICTY-RPE Zugang zu den Materialien, die von der Anklage als Grundlage der Prozesseröffnung (A i) oder des späteren Hauptverfahrens (A ii) einbezogen werden. Ferner verpflichtet Regel 66 B ICTY-RPE die Anklage zur Offenlegung aller Dokumente mit unmittelbarem Bezug zur Verfahrensvorbereitung der Verteidigung. „Regel 66 B ICTY-RPE: The Prosecutor shall, on request, permit the defence to inspect any books, documents, photographs and tangible objects in the Prosecutor’s custody or control, which are material to the preparation of the defence, or are intended for use by the Prosecutor as evidence at trial or were obtained from or belonged to the accused.“

Eine Schwäche der Norm offenbart sich in der Bestimmung ihres Anwendungsbereichs. Regel 66 B ICTY-RPE überantwortet der Anklage die Entscheidung über den Wert des Beweismittels für die Verteidigung. Wenngleich der Ankläger in Zweifelsfällen das Gericht anrufen kann,1254 setzt ein entsprechender Antrag bereits das Bewusstsein von einer möglichen Bedeutung des Beweisstücks voraus. Besondere Schwierigkeiten bereitet die Offenlegungspflicht der Anklage für entlastende Beweismittel nach Regel 68 ICTY-RPE. Unabhängig von einer konkreten Verwendungsabsicht muss die Anklage solche Beweise zugänglich machen, die eine Schuld des Angeklagten oder die Glaubwürdigkeit belastenden Materials in Frage stellen. „Regel 68 ICTY-RPE: (i) the Prosecutor shall, as soon as practicable, disclose to the Defence any material which in the actual knowledge of the Prosecutor may suggest the innocence or mitigate the guilt of the accused or affect the credibility of Prosecution evidence.“

Der erhebliche Umfang des Beweismaterials erschwert dem Angeklagten eine selbständige Sichtung und Auswertung der erhaltenen Dokumente.1255 Angesichts ihrer beschränkten Ressourcen fehlt der Verteidigung regelmäßig das erforderliche Personal zur umfassenden Erarbeitung der Beweislage. Der rechtliche Zweck einer Beweisoffenlegung wird jedoch untergraben, verhindern praktische Nachteile einen effektiven Zugang des Beschuldigten zu entlastendem Material. Um tatsächliche Chancengleichheit zu garantieren, erweiterte der ICTY die Pflicht des Anklägers im Fall Brdjanin auf eine Kennzeichnung der prozessrelevanten Informationen.1256 Die Obliegenheit der Anklage erschöpft sich folglich nicht in einer Offenlegung von Dokumenten, sondern setzt eine eindeutige Benennung entlastender Punkte voraus: Zappalà, JICJ 2 / 2 (2004), S. 620 (625). Schomburg, Internationale Strafgerichtsbarkeit. Lektionen aus den UN-Tribunalen für das frühere Jugoslawien und Ruanda. Vortrag vor der Gesellschaft für Außenpolitik, 18.02. 2008; Zappalà, JICJ 2 / 2 (2004), S. 620 (625). 1256 ICTY Brdjanin, Decision on motion for relief from rule 68 violations by the prosecutor and for sanctions to be imposed pursuant to rule 68bis and motion for adjournment while matters affecting justice and a fair trial can be resolved, IT-99-36-T, 30. Oktober 2002. 1254 1255

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

„The Prosecution alone is responsible for identifying which evidence might be exculpatory and for disclosing Rule 68 material, under the control of the Trial Chamber which will duly respond to an established failure to comply, particularly at trial, and provide the necessary remedies.“1257

Die Kammer ergänzt den Anspruch der Verteidigung um einen wichtigen Aspekt der Verfahrensrealität. Kritisch anzumerken bleibt, dass es bislang an einer Normierung des entwickelten Grundsatzes fehlt.1258 (2) Die Bedeutung der Offenlegungspflicht für die Rolle des Anklägers Die Verantwortung des Anklägers für die Offenlegung von Beweismaterial nach Regel 68 ICTY-RPE wirft eine grundsätzliche dogmatische Frage auf. Verpflichtet die Obliegenheit des Staatsanwalts zur Aufdeckung entlastender Tatsachen ihn zugleich auf deren gleichrangige Ermittlung? Die Antwort berührt die Grundlagen des konzeptionellen Rollenverständnisses der Anklage als Organ des Gerichts. Ist der Offenlegungspflicht eine neutrale Untersuchungsfunktion zu entnehmen, würde das Prinzip der materiellen Wahrheitsfindung gegenüber dem adversatorischen Charakter des Verfahrens überwiegen. Der Wortlaut von Regel 68 ICTY-RPE lässt grundsätzlich beide Auslegungswege zu. Im Fall Kupreškić leitet der ICTY aus der Organstellung des Anklägers eine Pflicht zur objektiven Tatsachenermittlung her: „[T]he Prosecutor of the Tribunal is (…) an organ of international criminal justice whose object is nor simply to secure a conviction but to present the case for the Prosecution, which includes not only inculpatory, but also exculpatory evidence, in order to assist the Chamber to discover the truth in a judicial setting.“1259

Während der ICTR die Annahme des Gerichts in der Rechtssache Barayagwiza bestätigt,1260 bezweifelt Zappalà die Bedeutung von Regel 68 ICTY-RPE als relevante Aufgabennorm im Vorverfahren.1261 Nach Auffassung Zappalàs erstreckt sich die Vorschrift ausschließlich auf zufälliges Wissen der Anklage ohne eine implizite Obliegenheit zur Ermittlung im Beschuldigteninteresse zu enthalten. Aus systematischer Sicht spricht die adversatorische Prägung der Ad-hoc-Tribunale gegen eine Pflicht des Anklägers zur Recherche entlastender Beweismittel. In Anbetracht ihrer 1257 ICTY Brdjanin, Decision on motion for relief from rule 68 violations by the prosecutor and for sanctions to be imposed pursuant to rule 68bis and motion for adjournment while matters affecting justice and a fair trial can be resolved, IT-99-36-T, 30. Oktober 2002, Rn. 23. 1258 Zappalà, JICJ 2 / 2 (2004), S. 620 (626). 1259 ICTY Kupreškić, Decision on Communication Between the Parties and their Witnesses, IT-95.16.T, 21. September 1998, S. 3. 1260 ICTR Barayagwiza, Separate Opinion of Judge Shahabuddeen, ICTR-97-19-AR72, 31. März 2000, Rn. 68. 1261 Zappalà, JICJ 2 / 2 (2004), S. 620 (625).

X. Die Waffengleichheit im Beweisverfahren

465

Parteistellung erscheint es auch in der Praxis unwahrscheinlich, dass die Anklage gleichrangig zu Gunsten des Beschuldigten ermittelt. (3) Einschränkungen der Offenlegungspflicht Neben der Möglichkeit einer inhärenten Beschränkung der Offenlegungspflicht durch restriktive Auslegung des Anwendungsbereichs sieht die Verfahrensordnung ausdrückliche Gründe für die Zurückhaltung von Beweismaterial vor. Nach Regel 66 C sowie Regel 68 (iv) ICTY-RPE sind Ausnahmen von einer Beweisaufdeckung im Interesse öffentlicher und staatlicher Sicherheit zulässig. Eine Offenlegung von Dokumenten und Zeugenaussagen kann ferner verweigert werden, wenn sie eine Gefahr für die weitere Ermittlungsarbeit der Anklage darstellt. „Regel 66 C ICTY-RPE: Where information is in the possession of the Prosecutor, the disclosure of which may prejudice further or ongoing investigations, or for any other reasons may be contrary to the public interest or affect the security interests of any State, the Prosecutor may apply to the Trial Chamber sitting in camera to be relieved from an obligation under the Rules to disclose that information.“

Die Geltendmachung eines Ausschlussgrundes ist nach der Prozessordnung allein unter der Voraussetzung eines entsprechenden Gerichtsentscheides möglich. Das Erfordernis gerichtlicher Kontrolle garantiert zum Schutz der Verteidigung eine objektive Überprüfung der Vorlagepflicht. Eine weitere Einschränkung der Beweisoffenlegung enthält Regel 70 B ICTY-RPE, die vertrauliche Informationen vom Anwendungsbereich der Normen ausklammert. „Regel 70 (B) ICTY-RPE: If the Prosecutor is in possession of information which has been provided to the Prosecutor on a confidential basis and which has been used solely for the purpose of generating new evidence, that initial information and its origin shall not be disclosed by the Prosecutor without the consent of the person or entity providing the initial information and shall in any event not be given in evidence without prior disclosure to the accused.“

Der Ankläger darf seinen Informanten grundsätzlich die Geheimhaltung ihrer Berichte garantieren. Auf diesem Weg erlangte Dokumente können der Verteidigung nur mit ausdrücklichem Einverständnis der Quelle offengelegt werden. Wird eine Veröffentlichung der Inhalte verweigert, schließt die Zusicherung ihrer Vertraulichkeit eine unmittelbare Verwendung im Verfahren aus. Die Bedeutung vertraulicher Informationen für die Anklage liegt in ihrer Funktion als „Sprungbrett“ zur Ermittlung weiteren Beweismaterials. Die erhaltenen Hinweise geben der Anklage eine Richtung für Folgeuntersuchungen vor, in deren Rahmen selbständig Beweise erhoben werden können. Der Zugang zu vertraulichen Dokumenten garantiert der Anklage einen bedeutenden Vorteil gegenüber der Verteidigung, der wichtige Informationen für eigene Ermittlungen vorenthalten werden. Die geringere Bereitschaft der Behörden zur Kooperation mit dem Beschuldigten vertieft das Ungleichgewicht der Parteien.

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

Zappalà kritisiert die Fassung von Regel 68 ICTY-RPE als erhebliche Einschränkung der prozessualen Fairness.1262 Wenngleich die Gewährleistung von Vertraulichkeit als grundsätzliche Zielstellung legitim sei, fehlten ergänzende Maßnahmen zum Schutze des Angeklagten. Um den Beweisnachteil der Verteidigung auszugleichen, fordert Zappalà eine ausdrückliche Pflicht des Anklägers zur Ermittlung entlastenden Beweismaterials.1263 Zappalàs Kritik an der Ausgestaltung von Regel 68 ICTY-RPE ist im Ergebnis zuzustimmen. Die Norm begünstigt die Beweiserhebung der Anklage und regelt die Frage nach einem Umgang mit vertraulichen Informationen einseitig zu Lasten der Verteidigung. Durch eine Pflicht zur unparteilichen Ermittlung würde der Chancengleichheit des Angeklagten und der Bedeutung einer prozessualen „equality of arms“ sinnvoll Rechnung getragen. (4) Folgen von Verstößen gegen die Offenlegungspflicht Regel 68bis ICTY-RPE eröffnet dem Gericht die Möglichkeit zur Sanktionierung von Verstößen gegen die Offenlegungspflichten der Parteien. „Regel 68bis ICTY-RPE: The pre-trial Judge or the Trial Chamber may decide proprio motu, or at the request of either party, on sanctions to be imposed on a party which fails to perform its disclosure obligations pursuant to the Rules.“

Ohne konkrete Rechtsfolgen festzulegen, erschöpft sich der Regelungsgehalt der Vorschrift in einer generellen Ermächtigung des Tribunals. Es fehlt ein klarer Indikator, welche Maßnahmen als angemessenes Mittel zum Ausgleich des Pflichtverstoßes anzusehen sind. Um wirksame Sanktionen für die Zurückhaltung von Beweismaterial sicherzustellen, müssen eindeutige Handlungsmaßstäbe bestimmt werden. Im Interesse der Vorhersehbarkeit sollte die Prozessordnung eine grundlegende Entscheidung über die Art der anzuwendenden Rechtsfolgen treffen.1264 Möglichkeiten einer gerichtlichen Reaktion bestehen in Form von Disziplinarmaßnahmen, Strafgebühren oder prozessualen Beschränkungen. Als wesentliche Frage der Waffengleichheit muss eine Entscheidung über den allgemeinen Sanktionscharakter auf legislativer Ebene erfolgen. Inwiefern die Anknüpfung von Rechtsfolgen an eine Verletzung der Offenlegungspflicht aus prozessualer und rechtsstaatlicher Sicht sinnvoll ist, soll am Ende der Darstellung gesondert thematisiert werden.1265 Eine weitere Konsequenz aus der Zurückhaltung von Beweismitteln kann in der Wiedereröffnung des Hauptverfahrens liegen. In seiner Furundzija-Entscheidung hatte sich der ICTY mit einem Antrag des Angeklagten auf Neuverhandlung gemäß Regel 117 ICTY-RPE auseinanderzusetzen.1266 Entgegen den Vorgaben aus Regel 1262 1263 1264 1265 1266

Zappalà, JICJ 2 / 2 (2004), S. 620 (625). Zappalà, JICJ 2 / 2 (2004), S. 620 (626). Zappalà, JICJ 2 / 2 (2004), S. 620 (627). Siehe Kapitel D. X. 5. b). ICTY Furundzija, Judgment, IT-95-17 / 1-T, 16. Juli 1998.

X. Die Waffengleichheit im Beweisverfahren

467

68 ICTY-RPE war der Verteidigung Beweismaterial vorenthalten worden, das die Integrität einer Zeugin der Anklage in Frage stellte. Das Gericht bestätigte das Rechtsmittel der Verteidigung und ließ eine Wiederaufnahme des Verfahrens mit der Möglichkeit erneuter Zeugenbefragung zu.1267 Die Entscheidung zeigt ein erkennbares Bewusstsein des Gerichts von der Bedeutung eines gleichberechtigten Beweiszugangs als Voraussetzung fairer Verfahrensgestaltung. Durch die klare Antwort des Tribunals wird ein deutliches Zeichen für die wirksame Umsetzung der Offenlegungspflichten des Anklägers gesetzt.

bb) Der Ankläger am Internationalen Strafgerichtshof (1) Die Rechtslage am ICC Während eine Obliegenheit des Anklägers zur Ermittlung entlastenden Beweismaterials am ICTY umstritten ist, legt das Statut des Internationalen Strafgerichtshofs seine ausdrückliche Verpflichtung auf materielle Wahrheitsfindung fest.1268 Geprägt durch das Inquisitionsverfahren des civil law normiert Art. 54 ICC-Statut im Interesse prozessualer Fairness eine gleichberechtigte Beweiserhebung.1269 „Art. 54 Abs. 1 ICC-Statut: The Prosecutor shall: (a) In order to establish the truth, extend the investigation to cover all facts and evidence relevant to an assessment of whether there is criminal responsibility under this Statute, and, in doing so, investigate incriminating and exonerating circumstances equally.“

Die Rechtsgrundlagen des ICC enthalten eine ausführliche Gestaltung von Reichweite und Schranken der Offenlegungspflicht des Anklägers.1270 Die Verantwortung der Anklage für die Aufdeckung von Beweismaterial ist weitgehend deckungsgleich mit den Regelungen des ICTY und umfasst entlastende (Art. 67 ICC-Statut) wie prozessrelevante (Regel 76, 77 ICC-RPE) Dokumente. Angesichts der normativen Gewährleistung konkreter Offenlegungsansprüche wird ein allgemeiner Zugang der Verteidigung zum Beweismaterial der Anklage abgelehnt.1271 Eine systematische Besonderheit stellt die Verankerung der Offenlegungspflicht in den „Rechten des Angeklagten“ (Art. 67 ICC-Statut) dar. „Art. 67 Abs. 2 ICC-Statut: In addition to any other disclosure provided for in this Statute, the Prosecutor shall, as soon as practicable, disclose to the defence evidence in the Prosecutor’s possession or control which he or she believes shows or tends to show the innocence of the accused, or to mitigate the guilt of the accused, or which may affect the credibility of ICTY Furundzija, Judgment, IT-95-17 / 1-T, 16. Juli 1998, Rn. 17. Wilhelmi, Die Verfahrensordnung, 2004, S. 46 ff. 1269 Triffterer, Commentary, 2008, Art. 54 Rn. 3. 1270 Vgl. Art. 61 Abs.3, 64 Abs. 3, 72, 73 ICC-Statut; Regel 76-84 ICC-RPE. 1271 ICC Lubanga, Reasons for Oral Decision lifting the stay of proceedings, ICC-01 / 0401 / 06-1644, 23. Januar 2009, Rn. 53. 1267 1268

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

prosecution evidence. In case of doubt as to the application of this paragraph, the Court shall decide.“

Mit ihrer Einordnung als subjektives Prozessrecht wird die Aufdeckung entlastenden Beweismaterials als Voraussetzung der Waffengleichheit anerkannt. Die Stellung der Beweisregel als Individualanspruch des Beschuldigten unterstreicht ihren Wert für ein faires und chancengleiches Verfahren. Der Offenlegungspflicht des Anklägers können jedoch im Interesse der beteiligten Staaten und Zeugen rechtliche Grenzen gezogen werden. Praktische Bedeutung erlangte in der Vergangenheit die Einschränkung des Beweiszugangs aus Gründen der Vertraulichkeit nach Art. 54 Abs. 3 ICC-Statut. „54 Abs. 3 ICC-Statut: The Prosecutor may: (…) (e)Agree not to disclose, at any stage of the proceedings, documents or information that the Prosecutor obtains on the condition of confidentiality and solely for the purpose of generating new evidence, unless the provider of the information consents.“

Die Regelung des Art. 54 Abs.3 lit. e ICC-Statut bildet den rechtlichen Gegensatz zur allgemeinen Offenlegungspflicht des Anklägers nach Art. 67 Abs. 2 ICC-Statut. Während der Staatsanwalt einerseits an die Wahrung von Vertraulichkeit gegenüber seinen Informanten gebunden ist, bleibt er zugleich zur Vorlage entlastender Beweise verpflichtet.1272 Die divergierenden Verantwortungen begründen einen grundlegenden Aufgabenkonflikt des Anklägers, der einen verhältnismäßigen Ausgleich der Normaussagen erfordert. Die Abwägung der gegensätzlichen Pflichten zu Vertraulichkeit und Offenlegung war Gegenstand im Falle des Angeklagten Thomas Lubanga. Das Gericht hatte auf die erhebliche Zurückhaltung entlastenden Beweismaterials zum Schutze vertraulicher Quellen mit einer unbestimmten Unterbrechung der Verfahren reagiert. Das Beispiel Lubangas zeigt die Vereinbarkeit von Art. 54 Abs.3 lit. e und Art. 67 Abs. 2 ICC-Statut als Problem rechtsstaatlicher Verfahrensführung. Das Vorgehen des Gerichts verdeutlicht die Möglichkeit und rechtliche Notwendigkeit einer konsequenten Umsetzung von Waffengleichheit. (2) Der Fall Lubanga Der Fall Lubanga führte zu einer richtungweisenden Entscheidung über den Umfang einer rechtsstaatlichen Pflicht zur Offenlegung von Beweismaterial.1273 Hintergrund der Streitfrage war die Geheimhaltung einer Vielzahl vertraulicher Dokumente, die internationale Organisationen der Anklage zur Verfügung gestellt hatten. Unter Berufung auf seine Pflicht zur Vertraulichkeit aus Art. 54 Abs. 3 lit. d ICCTriffterer, Commentary, 2008, Art. 54, Rn. 38. ICC Lubanga, Decision on the consequences of non-disclosure of exculpatory materials covered by Article 54 (3) (e) agreements and the application to stay the prosecution of the accused, together with other issues raised at the Status Conference on 10 June 2008, ICC01704-01 / 06-1417, 13. Juni 2008. 1272 1273

X. Die Waffengleichheit im Beweisverfahren

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Statut verweigerte der Ankläger die Übergabe von knapp einhundert Dokumenten mit möglicherweise entlastenden Informationen.1274 Mit Entscheidung vom 13. Juni 2008 beschloss die Hauptverfahrenskammer eine vorläufige Aussetzung der Prozesse gegen Thomas Lubanga.1275 Die Richter bewerteten die Zurückhaltung des umfangreichen Beweismaterials als unvereinbar mit der Gewährleistung eines fairen und chancengleichen Verfahrens. Es sei Aufgabe des Anklägers, einen angemessenen Ausgleich zwischen der Geheimhaltungspflicht und seiner prozessualen Verantwortung gegenüber der Verteidigung zu treffen. Die Anklage dürfe vertrauliche Informationen nicht in einem Maße entgegennehmen, das ihre Pflicht zur Offenlegung und die Verantwortung für ein waffengleiches Verfahren grundlegend beeinträchtigen könne. Im Interesse einer wirksamen Umsetzung der „equality of arms“ müsse der Ankläger ein Einverständnis zur Offenlegung erwirken oder auf die Übergabe von Beweismaterial teilweise verzichten. Eine rechtsstaatliche Abwägung zwischen den divergierenden Pflichten der Anklage erfordere eine restriktive Handhabung ihrer Kompetenz aus Art. 54 Abs. 3 lit. d ICC-Statut.1276 Angesichts der fehlenden Beweisoffenlegung sah sich das Gericht außer Stande, die Einhaltung eines fairen Verfahrens sicher zu garantieren. Die Kammer begründete eine Befugnis zur Aussetzung der Verhandlungen mit ihrer Verpflichtung auf die Wahrung von Verfahrensgerechtigkeit nach Art. 64 Abs. 2 ICC-Statut. Da die Zurückhaltung entlastender Beweisstücke eine mögliche Beeinträchtigung der chancengleichen Prozessgestaltung darstelle, könne das Gericht die Verfahren ohne Kenntnis der Dokumente nicht fortführen. In einer Folgeentscheidung vom 3. September 2008 legte der ICC die notwendigen Bedingungen für eine Wiederaufnahme der Verhandlungen fest.1277 In Anleh1274 Von 207 vertraulichen Dokumenten enthielten ca. 95 möglicherweise entlastendes Beweismaterial. 112 Dokumente beinhalteten Informationen von Bedeutung für die Verteidigung, die nach Regel 77 ICC-RPE offengelegt werden müssten. 156 der Dokumente waren dem Ankläger von den Vereinten Nationen überlassen worden; ICC Lubanga, Decision on the consequences of non-disclosure of exculpatory materials covered by Article 54 (3) (e) agreements and the application to stay the prosecution of the accused, together with other issues raised at the Status Conference on 10 June 2008, 13 Juni 2008, Rn. 63. 1275 ICC Lubanga, Decision on the consequences of non-disclosure of exculpatory materials covered by Article 54 (3) (e) agreements and the application to stay the prosecution of the accused, together with other issues raised at the Status Conference on 10 June 2008, ICC01704-01 / 06-1417, 13. Juni 2008. 1276 ICC Lubanga, Decision on the consequences of non-disclosure of exculpatory materials covered by Article 54 (3) (e) agreements and the application to stay the prosecution of the accused, together with other issues raised at the Status Conference on 10 June 2008, ICC01704-01 / 06-1417, 13 Juni 2008, Rn. 59 ff. 1277 ICC, Lubanga, Decision on the Prosecution’s Application to Lift the Stay of Proceedings, 3 September 2008, ICC-01 / 04-01 / 06-1466-Conf-Exp; Redacted Version of „Decision on the Prosecution’s Application to Lift the Stay of Proceedings“, ICC-01 / 04-01 / 06-1467, 3. September 2008.

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

nung an das Urteil des EGMR in Fitt v. Großbritannien forderten die Richter eine vollständige Offenlegung des Beweismaterials gegenüber der Kammer.1278 Die selbständige Würdigung der Originaldokumente sei Voraussetzung für eine gerechte Entscheidung des Gerichts über die Einhaltung der Waffengleichheit im Beweisverfahren. Falls die Kammer eine Verletzung der „equality of arms“ feststellen sollte, müsste die Anklage einer Aufdeckung des relevanten Beweismaterials zustimmen. Der Anklage obliegt es daher, durch Rücksprache mit ihren Informanten die grundsätzliche Möglichkeit einer Übergabe des Beweismaterials an die Verteidigung sicherstellen. Die Beschlüsse der Hauptverfahrenskammer wurden im Berufungsverfahren vom 21. Oktober 2008 bestätigt.1279 Die Richter folgten der restriktiven Anwendung von Art. 54 Abs. 3 lit. d ICC-Statut und sprachen sich für eine weitere Aussetzung des Verfahrens bis zur Offenlegung der Beweismittel aus: „Therefore, whenever the Prosecutor relies on article 54 (3) (e) of the Statute he must bear in mind his obligations under the Statute and apply that provision in a manner that will allow the Court to resolve the potential tension between the confidentiality to which the Prosecutor has agreed and the requirements of a fair trial. If the Prosecutor has obtained potentially exculpatory material on the condition of confidentiality pursuant to article 54 (3) (e) of the Statute, the final assessment as to whether the material in the possession or control of the Prosecutor would have to be disclosed pursuant to article 67 (2) of the Statute, had it not been obtained on the condition of confidentiality, will have to be carried out by the Trial Chamber and therefore the Chamber should receive the material.“1280

Die Anklage kam den Forderungen des Gerichts nach und erreichte ein Einverständnis seiner Informanten mit einer Übergabe des Beweismaterials an die Kammer.1281 Um die Reichweite einer Offenlegungspflicht gegenüber der Verteidigung

1278 EGMR Fitt v. Großbritannien, Application No. 29777 / 96, 16. Februar 2000; EGMR Dowsett v. Großbritannien, Application No. 39482 / 98, 24. Juni 2003, Rn. 50. 1279 ICC Lubanga, Judgment on the appeal of the Prosecutor against the decision of Trial Chamber I entitled „Decision on the consequences of non-disclosure of exculpatory materials covered by Article 54 (3) (e) agreements and the application to stay the prosecution of the accused, together with certain other issues raised at the Status Conference on 10 June 2008, ICC-01 / 04-01 / 06-1486, 21 Oktober 2008. 1280 ICC Lubanga, Judgment on the appeal of the Prosecutor against the decision of Trial Chamber I entitled „Decision on the consequences of non-disclosure of exculpatory materials covered by Article 54 (3) (e) agreements and the application to stay the prosecution of the accused, together with certain other issues raised at the Status Conference on 10 June 2008, ICC-01 / 04-01 / 06-1486, 21 Oktober 2008, Rn. 2 f. 1281 ICC Lubanga, Prosecution’s notice to the registrar of its discontinuance, as moot, of the first and second grounds of appeal in its appeal against the decision to stay proceedings, ICC-01 / 04-01 / 06-1479, 14 Oktober 2008. Mit Beschluss v. 15. Oktober 2008 verlangte das Gericht die ausdrückliche Kennzeichnung entlastender Inhalte, ICC Lubanga, Order for further information regarding potentially exculpatory documents and for expedited defence response, ICC-01 / 04-01 / 06-1480, 15. Oktober 2008, Rn. 5.

X. Die Waffengleichheit im Beweisverfahren

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festzulegen, verlangte das Gericht konkrete Nachweise für die notwendige Vertraulichkeit einzelner Unterlagen.1282 Nachdem die Anklage einer Aufdeckung der Dokumente mit wenigen Ausnahmen zugestimmt hatte,1283 beschloss die Kammer mit Entscheidung vom 18. November 2008 eine Fortsetzung des Verfahrens.1284 Am 8. Juli 2010 ordnete die Hauptverfahrenskammer erneut die Aussetzung des Verfahrens an, da der Ankläger einer Aufforderung des Gerichts zur Offenlegung eines Mittelsmannes nicht nachgekommen war.1285 An dieser Stelle folgte die Berufungskammer der erstinstanzlichen Entscheidung indes nicht.1286 Wenngleich die Richter einen Verstoß des Anklägers gegen die Offenlegungspflicht bestätigten, sprachen sie sich mit Entscheidung vom 8. Oktober 2010 für einen restriktiven Umgang mit dem Instrument einer Verfahrensaussetzung aus. Angesichts ihrer „drastischen“ Auswirkungen müsse eine temporäre Verfahrenssperre letztes Mittel zur Gewährleistung der Rechte des Angeklagten sein. Sie sei nur zulässig, wenn andere Sanktionen wirkungslos blieben und die Verwirklichung eines rechtsstaatlichen Verfahrens durch die Pflichtverletzung in Frage gestellt würde: „This judgment sets a high threshold for a Trial Chamber to impose a stay of proceedings, requiring that it be ‚impossible to piece together the constituent elements of a fair trial.“1287

Mit erheblicher Verzögerung konnte das Hauptverfahren gegen Lubanga am 26. August 2011 beendet werden. (3) Fazit zur Rechtslage am ICC In einer ausführlichen Begründung vom 23. Januar 2009 fasst das Gericht die entwickelten Grundsätze für die Verhältnisbestimmung von Vertraulichkeit und Of1282 ICC Lubanga, Order for further information regarding potentially exculpatory documents and for expedited defence response, ICC-01 / 04-01 / 06-1480, 15. Oktober 2008, Rn. 5. 1283 Lediglich neun Dokumente wurden der Verteidigung auf Verlangen der Vereinten Nationen vorenthalten. 1284 ICC Lubanga, Transcript of hearing on 18 November 2008, ICC-01 / 04-01 / 06-T-98ENG, S. 3, Z. 25, S. 4, Z. 1 und S. 4, Z. 2 – 9. 1285 ICC Lubanga, Redacted Decision on the Prosecutor’s Urgent Request for Variation of the Time-Limit to Disclose the Identity of Intermediary 143 or Alternativley to Stay Proceedings Pending Further Consultations with the VWU, ICC-01 / 04-01 / 06, 8. Juli 2010. 1286 ICC Lubanga, Judgment on the appeal of the Prosecutor against the decision of Trial Chamber I of 8 July 2010 entitled „Decision on the Prosecutor’s Urgent Request for Variation of the Time-Limit to Disclose the Identity of Intermediary 143 or Alternativley to Stay Proceedings Pending Further Consultations with the VWU“, ICC-01 / 04-01 / 06 OA 18, 8. Oktober 2010. 1287 ICC Lubanga, Judgment on the appeal of the Prosecutor against the decision of Trial Chamber I of 8 July 2010 entitled „Decision on the Prosecutor’s Urgent Request for Variation of the Time-Limit to Disclose the Identity of Intermediary 143 or Alternativley to Stay Proceedings Pending Further Consultations with the VWU“, ICC-01 / 04-01 / 06 OA 18, 8. Oktober 2010, Rn. 55.

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

fenlegung abschließend zusammen.1288 Die Kammer trifft ihre Abwägung prinzipiell zu Gunsten eines gleichberechtigten Beweiszugangs und sieht eine restriktive Auslegung von Art. 54 Abs. 3 lit. d ICC-Statut vor. Aufgrund seiner Verantwortung für die Wahrung eines fairen Verfahrens obliegt dem Gericht die Bewertung der Beweissituation als Voraussetzung prozessualer Waffengleichheit. Im Falle eines Konfliktes von Art. 67 Abs.2 und Art. 54 Abs. 3 lit. d ICC-Statut ist es Aufgabe der Kammer, über die Vereinbarkeit einer Zurückhaltung von Dokumenten mit dem Prinzip der „equality of arms“ zu entscheiden.1289 Zu diesem Zweck müssen dem Gericht sämtliche Unterlagen der Anklage zur Verfügung gestellt werden. Fordert das Gericht nach Durchsicht der Materialien ihre Offenlegung gegenüber der Verteidigung, hat der Ankläger die Zustimmung seiner Informanten zu erwirken. Gelingt ihm dies nicht, muss die Kammer zunächst Sanktionen in Erwägung ziehen. Zeigen diese keine Wirkung, ist über eine Aussetzung der Verhandlungen zu entscheiden. Das Gericht prüft, ob und unter welchen zusätzlichen Voraussetzungen ein faires Verfahren trotz der Geheimhaltung von Dokumenten realisiert werden kann.1290 Als denkbare Maßnahmen zur Gewährleistung eines gerechten Beweisverfahrens nennt das Gericht die Möglichkeit einer Zusammenfassung oder Schwärzung von Originaldokumenten zur Sicherstellung des Identitätsschutzes.1291 Das Lubanga-Verfahren hat Schwächen in der prozessualen Aufgabenwahrnehmung des Anklägers offenbart. Das Verhalten der Anklage lässt auf ein geringes Bewusstsein für die Bedeutung der Offenlegungspflicht als Grundbedingung eines fairen Verfahrens schließen. Hingegen kann die Reaktion des Gerichts als Beleg für eine hohe Sensibilität im Umgang mit den Rechten des Angeklagten und den Erfordernissen prozessualer Waffengleichheit verstanden werden. Wenngleich das Vorgehen der Kammer Ausdruck einer rechtsstaatlichen Verfahrensführung ist, stellt die Unterbrechung der Verhandlungen einen bedeutenden Eingriff in den Ablauf der Prozesse dar. Die Aussetzung der Verfahren aufgrund fehlender Beweisoffenlegung gefährdet eine wirksame Durchsetzung des Strafanspruchs sowie das Interesse der Opfer an einer zeitnahen Aufarbeitung der Ereignisse. Aus rechtsstaatlicher Perspektive kann eine Unterbrechung oder Beendigung der Verhandlungen somit keine sinnvolle Antwort auf die Zurückhaltung von Beweismaterial sein. Die restriktive Anwendung der Verfahrensaussetzung durch die Entscheidung der ICC-Berufungskammer vom 8. Oktober 2010 trägt diesen Bedenken Rechnung. Es bleibt zu hoffen, dass die Entscheidungen des Gerichts Einfluss auf das prozessuale Selbstverständnis und den Umgang des Anklägers mit seiner Pflicht zur Offen1288 ICC Lubanga, Reasons for Oral 01 / 06-1644, 23. Januar 2009. 1289 ICC Lubanga, Reasons for Oral 01 / 06-1644, 23. Januar 2009, Rn. 33. 1290 ICC Lubanga, Reasons for Oral 01 / 06-1644, 23. Januar 2009, Rn. 35. 1291 ICC Lubanga, Reasons for Oral 01 / 06-1644, 23. Januar 2009, Rn. 35.

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X. Die Waffengleichheit im Beweisverfahren

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legung haben. Um ein faires und zugleich effektives Strafverfahren zu garantieren, müssen grundlegende Änderungen der bisherigen Beweisregeln in Erwägung gezogen werden. b) Der Erlass von Sanktionen bei Verletzung der Offenlegungspflicht Ein möglicher Weg zur praktischen Gewährleistung von Waffengleichheit wird im Erlass von Sanktionen für Verletzungen der Offenlegungspflicht gesehen.1292 Nach dem Vorbild von Regel 68bis ICTY-RPE könnten prozessuale und disziplinarrechtliche Maßnahmen die Verantwortung der Anklage für eine gerechte Beweisaufnahme durchsetzen. Die Wirkung von Sanktionen auf die Einhaltung verbindlicher Verfahrensziele ist jedoch aus rechtlichen wie praktischen Gründen begrenzt. Bislang fehlt es an einem allgemeinen Konsens über mögliche Formen einer gerichtlichen Reaktion auf Normverstöße. Die Entwicklung eines konkreten Maßnahmenkatalogs, der dem Gericht effektive Instrumente zur Garantie eines waffengleichen Verfahrens an die Hand gibt, steht noch aus.1293 Als Reaktion auf eine Verletzung von Offenlegungspflichten fordert Zappalà den umfassenden Ausschluss von Beweismaterial: „Perhaps the most effective sanctions (…) would be procedural in nature, such as the exclusion of evidence not properly disclosed, or the exclusion of evidence relating to facts on which exculpatory material existed.“1294

Wenngleich die Schwere der Rechtsfolge eine besondere Präventivwirkung annehmen lässt, stellt die Zurückweisung beweisrelevanter Dokumente eine erhebliche Beeinträchtigung der materiellen Wahrheitsfindung dar. Da die Ermittlung der Wahrheit ein wesentliches Ziel des rechtsstaatlichen Strafverfahrens ist, muss ein Beweisverbot letztes Mittel zur Rechtswahrung des Angeklagten sein. Weitere Bedenken gegen einen Rückgriff auf Sanktionen zeigen sich im Hinblick auf die praktischen Schwierigkeiten einer Feststellung von Normverstößen. Mit Recht werfen Kritiker die Frage auf, wie eine Verletzung der Offenlegungspflicht im Einzelfall nachgewiesen werden kann.1295 Werden Richtern und Verteidigung notwendige Unterlagen vorenthalten, ist eine effektive Kontrolle der Anklage nur begrenzt realisierbar. Dies gilt in besonderem Maße im Hinblick auf eine fehlende Ermittlung entlastenden Beweismaterials. Es ist für das Gericht in der Regel schwer zu ermessen, aus welchen Gründen im Einzelfall weitere Untersuchungen des Anklägers unterblieben sind. Da die Kammer keinen direkten Einblick in die unabhängige Ermittlungsarbeit der Anklage hat, können bewusste wie unbewusste Versäumnisse kaum erkannt werden. 1292 1293 1294 1295

Kamardi, Die Ausformung, 2009, S. 338. Zappalà, JICJ 2 / 2 (2004), S. 620 (627). Zappalà, JICJ 2 / 2 (2004), S. 620 (627). Kamardi, Die Ausformung, 2009, S. 325.

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

Ferner erschweren Vermutungsregelungen zu Gunsten der Anklage die Möglichkeit einer wirksamen Kontrolle ihrer Offenlegungspflicht. Nach der Rechtsprechung des ICTY muss die Verteidigung im Wege eines prima facie Nachweises den Beleg für eine Verletzung ihrer Zugangsrechte erbringen.1296 Im Falle eines tatsächlichen Rechtsverstoßes geht das Gericht von einem Handeln bona fide aus, wodurch eine effektive Anwendung von Sanktionen abermals in Frage gestellt wird.1297 Der wesentliche Vorteil von Sanktionsnormen liegt in ihrem strukturellen Einfluss auf die Gestaltung des Ermittlungsverfahrens. Die Möglichkeit von Sanktionen zwingt die Anklage zur Verbesserung ihrer Beweisverwaltung und internen Organisationsform.1298 Aufgrund der Probleme ihrer praktischen Durchsetzung können prozessuale und disziplinarrechtliche Reaktionen jedoch keine abschließende Lösung für die Gewährleistung eines gleichberechtigten Beweisverfahrens darstellen.

6. Die Anpassung des Beweisverfahrens an das kontinentaleuropäische Recht Die Einführung von Offenlegungspflichten und Sanktionen können die Folgen einer faktischen Benachteiligung des Angeklagten mildern. Die Praxis internationaler Strafverfahren zeigt jedoch, dass die bestehenden Unterschiede in den Prozessvoraussetzungen der Parteien nicht im Sinne einer absoluten Waffengleichheit kompensiert werden können.1299 Muss das Ungleichgewicht der Parteien als gegebener Faktor anerkannt werden, ist zur Gewährleistung von „equality of arms“ eine grundlegende Änderung des Verfahrensrechts notwendig. Die tatsächlichen Divergenzen zwischen Anklage und Verteidigung wirken sich im adversatorischen Parteiprozess in besonderem Maße aus. Stehen sich die Parteien als prozessuale Gegner gegenüber, führen verschiedene Bedingungen in der Ermittlungsarbeit zu einer strukturellen Benachteiligung des Angeklagten. Die praktischen Hindernisse der Verteidigung fallen umso deutlicher ins Gewicht, je geringer die prozessuale Unterstützung durch Richter und Anklage ausgestaltet wird. Durch die Gewährleistung einer neutralen Prozessführung erscheint das inquisitorische Verfahren daher grundsätzlich besser geeignet, die beweisrechtlichen Probleme der Verteidigung auszugleichen. Im Folgenden soll die Anwendung verschiedener Modelle der kontinentaleuropäischen Prozessordnung auf das Beweisverfahren im internationalen Strafrecht diskutiert werden. 1296 ICTY Blaskic, Decision on the motion to compel the production of discovery materials, IT-95-14, 27. Januar 1997, Rn. 50. 1297 ICTY Blaskic, Appeals Chamber Decision on the Appellant’s Motion for the Production of Material, Suspension or Extension of the Briefing Schedule, and Additional Filings, IT95-14, 26. September 2000, Rn. 45. 1298 Kamardi, Die Ausformung, 2009, S. 338. 1299 Kamardi, Die Ausformung, 2009, S. 301.

X. Die Waffengleichheit im Beweisverfahren

475

a) Die prozessuale Unterstützung der Verteidigung Besondere Bedeutung für die Gewährleistung von Waffengleichheit kommt der Rolle des Anklägers als Gegenpart der Verteidigung im Rahmen einer Beweisaufnahme zu. Einen ersten Schritt zur Verwirklichung gleichberechtigter Verfahrensführung stellt die normative Verpflichtung der Anklage zur Ermittlung entlastenden Beweismaterials dar. Um den Aufgabenbereich des Anklägers klar zu definieren, sollte eine entsprechende Bestimmung ausdrücklich in die Statuten der Ad-hoc-Tribunale aufgenommen werden. Gleichwohl kann die Normierung einer Wahrheitspflicht keine Gewähr für eine gleichberechtigte Ermittlungsleitung sein. Die berufliche Vorprägung des Anklägers und die Nähe internationaler Prozessordnungen zum angloamerikanischen Recht bestimmen weiterhin die praktische Aufgabenwahrnehmung der Anklage. Auch im Kontext des ICC, der die Anklage explizit zur objektiven Ermittlungstätigkeit verpflichtet, beobachtet Heinsch eine parteiliche Ausrichtung der Anklagebehörde: „At the moment, one can get the feeling that the ICC OTP still is behaving much more like an actor in a typical adversatorial proceeding.“1300

Wird im Grundsatz an der adversatorischen Ausrichtung der Verfahren festgehalten, bleibt die prozessuale Unterstützung der Verteidigung durch die Anklage im Ergebnis zu schwach.1301 Nach Eser verhindert das Selbstverständnis des Anklägers als Verfahrenspartei eine gleichrangige Interessenwahrnehmung und tatsächliche Objektivität in der Ermittlungsarbeit: „Indem sich die Parteien buchstäblich ‚adversatorisch‘ als Gegner zu begreifen haben, gerät das Verfahren von vornherein zum Kampf, in dem jede Seite verzweifelt auf Sieg kämpft. Dadurch wird – bei aller vordergründigen Vornehmheit in den Umgangsformen – ein Geist von Feindseligkeit in das Verfahren hineingetragen.“1302

Tritt der Staatsanwalt in adversatorischen Verhandlungen gegenüber dem Beschuldigten als Partei auf, erscheint eine neutrale Untersuchungsleitung zumindest fraglich. „The prosecutor in an adversarial system does not generally act under the same duty to investigate thoroughly both sides of the case. The Prosecutor’s file is therefore likely to be somewhat one-sided, and the picture of the case it may present to judges could be a distorted one.“1303

Da im internationalen Strafverfahren ein inhärentes Ungleichgewicht zwischen Anklage und Verteidigung besteht, erscheint eine Aufgabe des strengen Parteiprozesses durch die Annäherung an kontinentaleuropäische Strukturen sinnvoll. 1300 Heinsch, How to achieve, in: Stahn / Sluiter (Hrsg.), The Emerging Practice of the International Criminal Court, 2009, S. 479 (485). 1301 Heinsch, How to achieve, in: Stahn / Sluiter (Hrsg.), The Emerging Practice of the International Criminal Court, 2009, S. 479 (485). 1302 Eser, Vorzugswürdigkeit, in: Müller-Dietz (Hrsg.), FS Jung, 2007, S. 167 (177). 1303 Schabas, The UN international criminal tribunals, 2008, S. 402; so auch Fairlie, ICLR 4 (2004), S. 243 (306 ff.).

476

D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

Ein weiterer Vorteil des civil law ist hierbei in der Kompetenz des Richters zur aktiven Gestaltung des Prozessverlaufs zu sehen. Im inquisitorischen Verfahren obliegt dem Tribunal die Leitung der Beweisaufnahme, wodurch eine gerechte Berücksichtigung belastender und entlastender Umstände gesichert wird.1304 Die Verantwortung der Kammer für die Durchführung des Beweisverfahrens stellt eine Möglichkeit zum Schutz des Angeklagten sowie zum Ausgleich prozessualer Nachteile im Interesse eines waffengleichen Verfahrens dar.1305 An dieser Stelle bestätigt sich der Vorteil einer aktiven Ausgestaltung der richterlichen Verfahrensrolle.1306 Die normative Annäherung an das kontinentaleuropäische Rechtssystem garantiert als theoretisches Konzept eine verbesserte Unterstützung der Verteidigung. Die Umsetzung der „equality of arms“ erfordert jedoch nicht allein die Modifikation der rechtlichen Rollendefinition, sondern zugleich eine Änderung des prozessualen Selbstverständnisses der Parteien.1307

b) Die Einsetzung eines Ermittlungsrichters nach dem Modell der ECCC Ein effektiver Zugang der Verteidigung zu den Beweismitteln der Anklage ist wesentliche Voraussetzung für die Gewährleistung eines fairen und waffengleichen Verfahrens. Obschon die Normierung von Offenlegungspflichten die prozessrechtliche Situation des Angeklagten formal verbessert, ist ihre Wirkung in der Praxis begrenzt. Der Fall Lubanga belegt die Schwierigkeiten einer Realisierung gleichberechtigter Beweiswürdigung im adversatorisch geprägten System. Selbst eine umfassende Aufdeckung von Beweisdokumenten vermag wenig Auskunft über den Verlauf der Ermittlungstätigkeit und die Berücksichtigung entlastender Materialien zu geben. Im Fall Blaškić äußerte die Verteidigung erstmals den Vorschlag, ein unabhängiges Organ mit der Durchsicht und Auswertung von Beweismitteln zu betrauen.1308 Während der ICTY eine entsprechende Normänderung ablehnte, wird die Idee zur Einsetzung einer dritten Instanz mit dem Ziel einer neutralen Beweiserhebung nunmehr an den ECCC verwirklicht.1309 Nach dem Vorbild des französischen Verfahrensrechts führen vorrangig Ermittlungsrichter die Untersuchungen im Vorfeld der Safferling, Towards an International Criminal Procedure, 2007, S. 266. Heinsch, How to achieve, in: Stahn / Sluiter (Hrsg.), The Emerging Practice of the International Criminal Court, 2009, S. 479 ff. 1306 Vgl. Kapitel D. VII. 3. b) bb). 1307 Die Aufgabenwahrnehmung der Parteien hängt von ihrer individuellen juristischen Vorbildung ab. Viele Richter und Staatsanwälte kommen aus dem common law. Ihre Verpflichtung zur Unterstützung des Angeklagten begegnet besonderen Schwierigkeiten. 1308 ICTY Blaskic, Decision on the Production of Discovery Material, IT-95-14-PT, 27. Januar 1997, Rn. 51. 1309 Siehe hierzu bereits Kapitel C. II. 2. b) cc) (2). 1304 1305

X. Die Waffengleichheit im Beweisverfahren

477

Prozesse durch.1310 Im Interesse einer objektiven Prüfung des Tatvorwurfs ermitteln die „Investigating Judges“ auf Grundlage einer Voruntersuchung der Anklage gleichrangig entlastendes wie belastendes Material.

aa) Die Vorzüge der Einsetzung von Ermittlungsrichtern „The civil law approach of an investigating judge showed the way to a workable solution to the problem of potential inequality between the resources of the Prosecutor and of the suspect or accused.“1311

Mit dem Modell des Untersuchungsrichters an den ECCC wurde der Versuch unternommen, dem Vorwurf einer einseitigen Ermittlungsarbeit zu Lasten des Angeklagten zu begegnen. Ausgehend von den Realitäten des Parteiprozesses und dem funktionalen Selbstverständnis der Beteiligten1312 ermöglicht die Übertragung der Untersuchungskompetenz auf ein neutrales Organ prozessuale Objektivität. Die Durchführung entlastender wie belastender Ermittlungen durch eine unabhängige Instanz fördert zum einen das Ziel der Wahrheitsfindung.1313 Zum anderen wird durch die Einsetzung von Ermittlungsrichtern das bestehende Ungleichgewicht zwischen Anklage und Verteidigung nivelliert. Da die Verantwortung für die Beweiserhebung auf den Investigating Judge verlagert wird, wirken sich finanzielle und strukturelle Vorteile der Anklage nicht im Untersuchungsverfahren aus.1314 Triffterers Einschätzung des Prozessmodells als Garant für ein waffengleiches Verfahren ist grundsätzlich überzeugend. Aus theoretischer Perspektive bietet die Arbeit von Ermittlungsrichtern einen effektiven Ausgleich prozessualer Nachteile sowie die Gewährleistung einer fairen Beweiserbringung. Die bisherigen Erfahrungen an den ECCC offenbaren jedoch Probleme in der praktischen Umsetzung des Prozessrechts. Diese bestehen maßgeblich im Vorwurf einer Einflussnahme der kambodschanischen Regierung auf die Arbeit der Ermittlungsrichter. Der Rücktritt von Co-Investigating Judge Siegfried Blunks und die Diskussionen um die Einsetzung seines Nachfolgers Laurent Kasper-Ansermet haben deutliche Zweifel an der Unabhängigkeit der Untersuchungen aufkommen lassen. Die Bedenken an einer ordnungsgemäßen Durchführung der Ermittlungen in Kambodscha stellen indes keine Einwände gegen das Institut des Investigating Judges als solches dar. Sie bedingen sich vielmehr durch die konkrete Ausgestaltung des hybriden Modells im Kontext der politischen Verhältnisse in Phnom Penh. Aufschluss über systematische Defizite kann demgegenüber eine Kritik der Verteidigung an den Ermittlungen der Investigating Judges geben. Da das Modell maß1310 1311 1312 1313 1314

Kamardi, Die Ausformung, 2009, S. 284. Triffterer, Commentary, 2008, Art. 54, Rn. 2. Eser, Vorzugswürdigkeit, in: Müller-Dietz (Hrsg.), FS Jung, 2007, S. 167 (177). Muff, Investigating Judges, S. 25. Kamardi, Die Ausformung, 2009, S. 337; Muff, Investigating Judges, S. 31.

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

geblich den Beweisinteressen des Angeklagten dienen soll, müssen die Einwände der Verteidigung Ausgangspunkt für Verbesserungen der Verfahrensnormen sein.

bb) Kritik an der Einsetzung von Ermittlungsrichtern Verfahrensrechtlicher Ausgangspunkt der Untersuchungen durch die Investigating Judges ist ihre Entscheidung über das Vorliegen eines hinreichenden Anfangsverdachts. Auf Grundlage des vom Staatsanwalt vorgelegten Beweismaterials beschließt der Ermittlungsrichter die Aufnahme weiterer Ermittlungen gegen den Beschuldigten. Bedenken an der Gestaltung des Prozessverlaufs knüpfen sich an die notwendige Bestätigung einer ersten Schuldvermutung. Der Erfolg des Prozessmodells für die Gewährleistung beweisrechtlicher Waffengleichheit hängt von der Annahme einer gleichberechtigten und unvoreingenommenen Arbeit der Ermittlungsrichter ab. Durch die einseitige Berücksichtigung belastender Beweisdokumente zu Beginn der Untersuchungen sieht die Verteidigung jedoch die Objektivität nachfolgender Ermittlungen gefährdet.1315 Mit der Entscheidung gegen eine Verfahrenseröffnung müssten die Investigating Judges nicht nur den Erfolg der Ermittlungsarbeit, sondern zugleich ihre frühere Einschätzung der Beweissituation in Frage stellen. „[O]bviously, an investigating judge will never be as meticulous in seeking exculpatory evidence as a defence lawyer would be, especially if he is already convinced that he has gathered sufficient evidence to indict the defendant.“1316

Der Vorwurf einer vorgefassten Meinungsbildung lässt sich unter Hinweis auf die systematische Verschiedenheit der Prozessbeschlüsse teilweise entkräften. Während eine Entscheidung über die Aufnahme von Untersuchungen lediglich einen allgemeinen Verdacht erfordert, setzt die Eröffnung des Hauptverfahrens eine Verdichtung der Schuldannahme voraus. Vergleichbar der Differenzierung zwischen Anfangs- und hinreichendem Tatverdacht im deutschen Strafprozessrecht werden unterschiedliche Maßstäbe an ihre Bewertung angelegt. Die Einleitung erster Ermittlungen stellt gerade keinen Beschluss über die Schuld der Person dar, sondern belegt die Notwendigkeit einer Überprüfung und Erweiterung des Beweismaterials. Ein weiterer Kritikpunkt der Verteidigung betrifft die Bindung der Investigating Judges an die vom Ankläger ermittelten Tatsachen. Nach Regel 55 ECCC-IR bilden die Voruntersuchungen der Anklage in der „Introductory Submission“ die rechtliche Grundlage für die Folgeermittlungen der Richter. „Actually, the investigating judge does not investigate on behalf of both the prosecution and the defence; rather, the judge has the duty to investigate the facts referred by the prosecution, and has discretion in implementing investigative requests submitted by the defence.“1317 1315 1316 1317

Stellungnahme der Defense Support Section an den ECCC liegt Verf. vor. Stellungnahme der Defense Support Section an den ECCC liegt Verf. vor. Stellungnahme der Defense Support Section an den ECCC liegt Verf. vor.

X. Die Waffengleichheit im Beweisverfahren

479

Die Verteidigung lässt hierbei jedoch außer Acht, dass die Vorgaben der Anklage lediglich eine Begrenzung zu Gunsten des Angeklagten darstellen. Im Interesse des Beschuldigten darf der Ermittlungsrichter die Anklagepunkte nicht selbständig erweitern.1318 Die Untersuchung entlastender Umstände kann hingegen nicht durch die „Introductory Submission“ der Anklage beeinträchtigt werden. Überzeugender erscheint demgegenüber die Argumentation der Verteidigung im Hinblick auf eine effektive Zusammenarbeit von Ermittlungsrichter und Beschuldigtem. Die Kooperation des Angeklagten im Rahmen der Untersuchungen ist wesentliche Voraussetzung für den Zugang zu entlastendem Beweismaterial. Um im Interesse der Verteidigung zu ermitteln, benötigt der Investigating Judge eine umfassende Aussage des Beschuldigten über seine Rolle und Verantwortlichkeit. Anders als in Gesprächen mit seinem Verteidiger sieht sich der Angeklagte hierbei einer neutralen Untersuchungsperson gegenüber, die in gleicher Weise zur Ermittlung belastender Beweise verpflichtet ist. Eine Offenlegung der Tatumstände birgt für den Beschuldigten daher grundsätzlich die Gefahr einer Selbstbelastung und Verschlechterung seiner prozessualen Situation. Der Angeklagte steht vor dem Dilemma, zur Gewährleistung einer sinnvollen Ermittlungsarbeit der Richter auf die Ausübung seines Schweigerechts verzichten zu müssen: „[I]f a charged person decides to exercise his right to remain silent, the judge cannot investigate properly. In other words, in this system (with these types of cases) an accused must either sacrifice his right to silence or sacrifice his right to investigate. He can not retain both.“1319

Im Völkerstrafrecht fordert eine Untersuchung zu Gunsten des Beschuldigten ein besonderes Engagement der Ermittlungsperson. Da die Beweise für einen Zweifel an der Schuld des Angeklagten weniger deutlich auf der Hand liegen, bedarf es einer weit intensiveren Auseinandersetzung mit den entlastenden Aspekten des Falles. Nach Auffassung der Verteidigung sei ein entsprechender Einsatz von den Investigating Judges als neutraler Untersuchungsinstanz jedoch nicht zu erwarten. „This is far from the efforts a defence lawyer would make to restore the honour of a person presumed innocent but whom the evidence so far collected overwhelmingly condemns.“1320

cc) Fazit zur Einsetzung von Ermittlungsrichtern Die Einsetzung von Ermittlungsrichtern kann einen wichtigen Beitrag zur Verwirklichung von Waffengleichheit im internationalen Strafverfahren leisten. Praktische Probleme belegen die Notwendigkeit prozessualer Reformen, sollten das Modell jedoch nicht grundsätzlich in Frage stellen. Den Bedenken der Verteidigung 1318 Nach Regel 55 Abs. 3 ECCC-IR ist eine „Supplementary Submission“ der Anklage nötig, um weitergehende Untersuchungen zu ermöglichen. 1319 Stellungnahme der Defense Support Section an den ECCC liegt Verf. vor. 1320 Stellungnahme der Defense Support Section an den ECCC liegt Verf. vor.

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

kann in weiten Teilen durch die Gewährleistung aktiver Mitwirkungsrechte an den Untersuchungen Rechnung getragen werden.1321 Um die Interessen des Angeklagten effektiv zu gewährleisten, müssen die Möglichkeiten des Verteidigers zur Einflussnahme auf die Ausrichtung und Durchführung der Ermittlungen verstärkt werden. Eine Zusammenarbeit zwischen den Anwälten und den Investigating Judges vermag die Aufgabenwahrnehmung beider Seiten zu erleichtern und das Ziel der materiellen Wahrheitsfindung zu fördern. Die Ermittlungstätigkeit der Investigating Judges sollte daher nicht absolut verstanden werden;1322 eigenständige Untersuchungen der Verteidigung und ihre Kooperation mit den Ermittlungsrichtern stellen eine sinnvolle Unterstützung der Beweiserhebung dar. Unter Berücksichtigung notwendiger prozessualer Ergänzungen könnte das Modell des Ermittlungsrichters künftig Vorbild für die Organisation völkerstrafrechtlicher Verfahren sein.

XI. Das Prinzip „Nemo tenetur se ipsum accusare“ Der Grundsatz „Nemo tenetur se ipsum accusare“ erfasst das Recht der Prozessbeteiligten, sich nicht durch eine Mitwirkung am Verfahren selbst zu belasten.1323 Der Gewährleistungsbereich der Prozessmaxime garantiert dem Beschuldigten ein grundsätzliches Schweigerecht in allen Phasen des Verfahrens. Historisch geht die Selbstbelastungsfreiheit im Strafprozess auf das kanonische Recht und den jüdischen Talmud zurück.1324 Nachdem das Prinzip in den Inquisitionsverfahren des Mittelalters aufgehoben wurde, führte das englische common law seine Geltung um 1640 verbindlich ein.1325 Die Freiheit vom Zwang zur Prozessteilnahme wird regelmäßig in Zusammenhang mit dem rechtsstaatlichen Gebot der Unschuldsvermutung gesetzt.1326 Das Prinzip überantwortet dem Ankläger die Erbringung des Schuldnachweises unabhängig von einem aktiven Beitrag des Beschuldigten zur Aufklärung des Sachverhaltes.1327 Wird die Unschuld des Angeklagten vermutet, kann er grundsätzlich nicht zur Mitwirkung am Verfahren gegen seine Person verpflichtet werden. Die Unschuldsvermutung wirkt insofern als „Spiegelbild des Schweigerechts“ im Rahmen des Beweisver1321 Hierfür auch Muff, Investigating Judges, S. 30 f. Muff spricht sich insbesondere vor dem Hintergrund der komplexen Beweislage für eine aktivere Beteiligung der Verteidigung aus. 1322 So ist jedoch bislang das Selbstverständnis der Ermittlungsrichter an den ECCC, siehe bspw. Letter from the OCIJ tot he Nuon CHea Defence: Response to your letter dated 20 December 2007 concerning the conduct of the judicial investigation, 10 Januar 2008, A 110 / 1, ERN:00157729-00157730. 1323 Rogall, Der Beschuldigte, 1977, S. 42 ff. m.w. N. 1324 Müller, EuGRZ 28 (2001), S. 546. 1325 Ambos, LJIL 15 / 1 (2002), S. 155 (159). 1326 Knoops, Theory and Practice, 2005, S. 28. 1327 Bosch, Aspekte, 1998, S. 189; Zappalà, Human Rights, 2005, S. 90; Guradze, Schweigerecht, in: Commager / Doeker et al. (Hrsg.), FS Löwenstein, 1971, S. 151 (160).

XI. Das Prinzip „Nemo tenetur se ipsum accusare“

481

fahrens.1328 Aufgrund der individuellen Schutzrichtung des Nemo-tenetur-Grundsatzes steht es dem Angeklagten frei, auf sein Schweigerecht zu verzichten und sich durch eine Aussage vor Gericht selbst zu belasten.1329 Der Nemo-tenetur-Grundsatz erschöpft sich indes nicht in einer Prozessgarantie des Beschuldigten, sondern enthält als rechtsstaatliches Verfahrensprinzip einen generellen Schutzgedanken. Die Geltung des Prinzips umfasst ein äquivalentes Recht von Verfahrenszeugen und sichert ihren Anspruch auf Selbstbelastungsfreiheit im Rahmen der gerichtlichen Vernehmung.1330 Beide Ausprägungen des Nemo-teneturGebotes werden in den Statuten internationaler Strafgerichte verwirklicht. Die Darstellung soll die Umsetzung ihrer Kerninhalte in der Gestaltung völkerstrafrechtlicher Verfahren untersuchen und die Reichweite ihrer Schutzbestimmungen erörtern. Ein Schwerpunkt wird auf die umstrittene Zulässigkeit prozessualer Folgeregelungen für die Ausübung des Schweigerechts gelegt.

1. Schweigerecht und Selbstbelastungsfreiheit des Angeklagten a) Die rechtlichen Grundlagen Die Bedeutung des Nemo-tenetur-Prinzips wird als Prozessanspruch des Beschuldigten in Art. 14 Abs. 3 lit. g IPbpR ausdrücklich anerkannt. „Art.14 Abs. 3 IPbpR: In the determination of any criminal charge against him, everyone shall be entitled to the following minimum guarantees, in full equality: (…) (g) Not to be compelled to testify against himself or to confess guilt.“

Dagegen überrascht die Formulierung der Verfahrensrechte in Art. 6 EMRK, die keine explizite Regelung des prozessualen Schweigerechts vorsehen. Die Rechtsprechung des EGMR schließt die normative Lücke im Wege einer systematischen Auslegung und bestätigt die Geltung des Nemo-tenetur-Grundsatzes als Folge des fairen Verfahrens. Im Fall Murray äußert sich der EGMR grundlegend zur Gewährleistung eines Schweigerechts: „Although not specifically mentioned in Article 6 of the Convention, there can be no doubt that the right to remain silent under police questioning and the privilege against self-incrimination are generally recognised international standards which lie at the heart of the notion of a fair procedure under Article 6.“1331

Nach Überzeugung des Gerichts sind die Vorgaben des Art. 6 EMRK rechtlich nicht abschließend und erlauben eine Erweiterung der Verfahrensgarantien um allSafferling / Hartwig, ZIS 13 (2009), S. 784 (787). Klip / Sluiter, Annotated Leading Cases, 2005, S. 654. 1330 Rogall, Der Beschuldigte, 1977, S. 62. 1331 EGMR Murray v. Großbritannien, Application No. 18731 / 91, 8. Februar 1996, 22 EHHR 29. 1328 1329

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

gemeine Gebote prozessualer Gerechtigkeit.1332 Dem Kernbereich von Fairness und Unschuldsvermutung wird die Verbindlichkeit der Selbstbelastungsfreiheit als Verfahrensprinzip entnommen.1333 Das Prozessrecht internationaler Gerichte erfasst die individuellen Ausformungen des Nemo-tenetur-Grundsatzes im Rahmen der Beschuldigtenrechte. Im Folgenden seien einige Kernaussagen der internationalen Verfahrensordnungen erwähnt. In Art. 21 Abs. 4 lit. g ICTY-Statut sowie Art. 35 new Abs. 2 lit. g ECCC-LoE findet sich die Gewährleistung des Schweigerechts entsprechend dem Wortlaut von 14 Abs. 3 lit. g IPbpR.1334 Eine abweichende Fassung enthält Art. 67 Abs. 1 lit. g ICCStatut, der den Schutz der Bestimmung auf ein konkretes Schweigerecht sowie die Frage der Rechtsausübung erstreckt. Die Norm präzisiert den Anwendungsbereich der Prozessmaxime und schließt eine Berücksichtigung der Aussageverweigerung in der Schuldfrage konsequent aus: „Art. 67 Abs. 1 ICC-Statut: In the determination of any charge, the accused shall be entitled to (…) the following minimum guarantees, in full equality: (…) (g) Not to be compelled to testify or to confess guilt and to remain silent, without such silence being a consideration in the determination of guilt or innocence.“

Besondere Regelungen des Nemo-tenetur-Prinzips bestehen im Bereich des Vorverfahrens. Die Geltung der Selbstbelastungsfreiheit wird für die Ermittlungsphase bestätigt und im Hinblick auf die Umstände ihrer Wahrnehmung präzisiert. Am ICTY heißt es beispielsweise: „Regel 42 A ICTY-RPE: A suspect who is to be questioned by the Prosecutor shall have the following rights, of which the Prosecutor shall inform the suspect prior to questioning, in a language the suspect understands: (…) (iii) the right to remain silent, and to be cautioned that any statement the suspect makes shall be recorded and may be used in evidence.“

Art. 55 ICC-Statut sieht differenzierte Anordnungen des Prozessgrundsatzes für die Vernehmungspersonen vor. Während Art. 55 Abs. 1 ICC-Statut allen Verfahrensbeteiligten die Selbstbelastungsfreiheit garantiert, verdichtet Abs. 2 die Gewährleistung des Nemo-tenetur-Prinzips auf ein Schweigerecht des Angeklagten. „Article 55 ICC: 1. In respect of an investigation under this Statute, a person: (a) Shall not be compelled to incriminate himself or herself or to confess guilt; (…) 2. that person shall also have the following rights of which he or she shall be informed prior to being questioned: (…) (b) To remain silent without such silence being a consideration in the determination of guilt or innocence.“ Hussner, Umsetzung, 2008, S. 133. EGMR Funke v. Frankreich, Application No.10828 / 84, 25. Februar 1993, ÖJZ 1993, S. 532; EGMR Saunders v. Großbritannien, Application No. 19187 / 91 17. Dezember 1996, ÖJZ 1998, S. 32. Insbesondere gegen eine Herleitung aus der Unschuldsvermutung Rogall, Der Beschuldigte, 1977, S. 111 f. 1334 Vgl. Art. 21 Abs. 4 lit. g ICTY-Statut: (…) not to be compelled to testify against himself or to confess guilt. 1332 1333

XI. Das Prinzip „Nemo tenetur se ipsum accusare“

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b) Die Reichweite des Schutzbereichs Das Nemo-tenetur-Prinzip wirkt sich in den Stufen des strafrechtlichen Prozesses in verschiedener Form aus. Während des Vorverfahrens schützt der Grundsatz vorrangig die Selbstbelastungsfreiheit des Beschuldigten im Rahmen der gerichtlichen Ermittlungen.1335 Im Hauptverfahren gewährt das Prinzip ein umfassendes Schweigerecht und entbindet den Angeklagten von einer Pflicht zur Aussage. Die Formulierung der Prozessgarantien spiegelt die unterschiedlichen Komponenten des Nemo-tenetur-Gebotes für die Verwirklichung einer rechtsstaatlichen Verfahrenspraxis wider. Nach dem Wortlaut der Bestimmungen1336 darf der Angeklagte weder zu einer selbstbelastenden Prozessteilnahme („not to be compelled to testify against himself“) noch zu einem Eingeständnis persönlicher Schuld („to confess guilt“) angehalten werden.1337 Wenngleich ein allgemeines Schweigerecht lediglich im Statut des ICC explizit verankert ist, muss seine Geltung als Ausprägung des Nemo-tenetur-Prinzips in der internationalen Strafgerichtsbarkeit generell anerkannt werden. Neben der Freiheit von einem Aussagezwang entpflichtet die Verfahrensmaxime den Angeklagten ferner von allen selbstbelastenden Prozesshandlungen. Da kein rechtsrelevanter Unterschied zwischen einer Nötigung zur Aussage und der Vorlage von Beweismitteln besteht, darf der Beschuldigte nicht zur Aufklärung des Sachverhaltes durch Tatrekonstruktionen oder Schriftproben verpflichtet werden.1338 Für die Beweisaufnahme folgt zudem, dass die Verteidigung keine Obliegenheit zur Offenlegung belastenden Materials treffen kann.1339 Den wesentlichen Inhalt des Nemotenetur-Prinzips stellt das Verbot unmittelbarer Zwangseinwirkung auf den Beschuldigten dar.1340 Der Angeklagte darf weder durch Drohungen noch mittels Gewalt zu einem Geständnis oder einer aktiven Mitwirkung am Prozess genötigt werden. Mit der Ausübung des Schweigerechtes verbunden ist die Frage nach der Zulässigkeit prozessualer Anknüpfungen an die Wahrnehmung des Verfahrensanspruchs. Wird ein Schweigen des Angeklagten in der Urteilsfindung nachteilig berücksichtigt, besteht die Gefahr eines indirekten Zwangs zur Aussage. Daher gilt es zu klären, in welchem Maße die Schutzfunktion des Nemo-tenetur-Gebotes eine Berücksichtigung der Aussageverweigerung im Rahmen des Schuldspruchs untersagt.

Zappalà, Human Rights, 2005, S. 77. Art. 14 Abs. 3 lit. g IPbpR, Art. 67 Abs. 1 lit. g ICC-Statut, 21 Abs. 4 lit. g ICTY-Statut, Art. 35 new Abs. 2 lit. g ECCC-LoE. 1337 Zappalà, Human Rights, 2005, S. 78. 1338 BGHSt 34, 39 (46). 1339 Gollwitzer, Menschenrechte, 2005, Rn. 249. 1340 ICTY Tadić, Separate Opinion of Judge Stephen on prosecution moion for production of defence witness statements, IT-94-1-T, 27. November 1996; Triffterer, Commentary, 2008, Art. 67 Rn. 52; Zappalà, Human Rights, 2005, S. 78. Demgegenüber bestreitet Bosch die völkerrechtliche Verbindlichkeit dieser Ausprägung des Nemo-tenetur-Prinzips (Bosch, Aspekte, 1998, S. 26). 1335 1336

484

D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

aa) Die nachteilige Berücksichtigung des Schweigens in Schuldspruch und Strafmaß Die Anknüpfung prozessualer Folgen an die Ausübung des Schweigerechts ist im nationalen und internationalen Recht unterschiedlich bestimmt. Mit Ausnahme von Art. 67 Abs. 1 lit. g ICC-Statut, der beweis- und schuldrechtliche Konsequenzen grundsätzlich ausschließt, enthalten die Statuten völkerstrafrechtlicher Tribunale keine ausdrücklichen Regelungen. Trotz der fehlenden Normierung nehmen Safferling / Hartwig eine einheitliche Rechtslage im internationalen Strafverfahren an. Nach dieser Auffassung bestünde „Einigkeit unter den Kammern des (…), dass aus dem Gebrauch des Schweigerechts durch den Beschuldigten oder Angeklagten keine Rückschlüsse auf dessen Schuld gezogen werden dürfen“.1341 Diese Einschätzung kann im Hinblick auf die Begründung der richtungweisenden Entscheidung des ICTY im Fall Mucić jedoch nicht geteilt werden. Ausgehend von der differenzierten Rechtslage auf nationaler Ebene erkennt das Gericht die Möglichkeit strafrechtlicher Folgeregelungen grundsätzlich an. (1) Der Fall Mucić am ICTY Der Fall Mucić am ICTY war Anlass für eine grundlegende Diskussion über die zulässigen Rechtsfolgen der Selbstbelastungsfreiheit.1342 Im Urteil des Hauptverfahrens hatte das Gericht die fehlende Kooperationsbereitschaft des Angeklagten als Maßstab zur Bestimmung der Strafhöhe erörtert. Der Wortlaut der Entscheidung legt nahe, dass die Kammer den Aussageverzicht des Angeklagten als erschwerenden Umstand bewertete. „The conduct of Mr. Mucić before the Trial Chamber during the course of the trial raises separately the issue of aggravation. (…) His demeanour throughout the proceedings suggests that he appears to have regarded this trial as a farce and an expensive joke. Zdravko Mucić has declined to give any oral evidence, notwithstanding the dominant position he played in the facts giving rise to the prosecution of the accused persons.“1343

Das Gericht der Rechtsmittelinstanz prüfte die Ermessensausübung im Hauptverfahren auf ihre Vereinbarkeit mit einer effektiven Gewährleistung der Selbstbelastungsfreiheit. In ihrer Entscheidung setzte sich die Berufungskammer ausführlich mit der Möglichkeit einer strafschärfenden Berücksichtigung des Schweigerechts auseinander.1344 Die Richter wiesen zunächst darauf hin, dass in den Verfahrensordnungen internationaler Straftribunale weitgehend auf eine Normierung prozessualer Safferling / Hartwig, ZIS 13 (2009), S. 784 (790). Siehe die Urteile im Hauptverfahren sowie im Berufungsverfahren – ICTY Delalić et al., Judgment, IT-96-21-T, 16. November 1998; ICTY Delalić et al., Judgment, IT-96-21-A, 20. Februar 1991. 1343 ICTY Delalić et al., Judgment, IT-96-21-T, 16. November 1998, Rn. 1244 und 1251. 1344 ICTY Delalić et al., Judgment, IT-96-21-A, 20. Februar 1991, Rn. 781 ff. 1341 1342

XI. Das Prinzip „Nemo tenetur se ipsum accusare“

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Folgeregelungen verzichtet wurde.1345 Angesichts der unklaren Rechtslage verwies das Gericht auf eine Untersuchung der nationalen und internationalen Rechtsprechung zur Reichweite des Nemo-tenetur-Prinzips. (a) Die differenzierte innerstaatliche Rechtslage Mit Blick auf staatliche Verfahrensvorgaben konnte der ICTY keine einheitliche Regelung des prozessualen Schweigerechts feststellen. Während das deutsche und amerikanische Strafverfahren nachteilige Konsequenzen der Rechtsausübung prinzipiell ausschließen,1346 legen andere Prozessmodelle einen restriktiven Maßstab an die Gewährleistung des Nemo-tenetur-Grundsatzes an.1347 Bezug nahm die Kammer hierbei in erster Linie auf die grundlegende Neugestaltung des Schweigerechts im Verfahrenssystem Großbritanniens. Der Criminal Justice and Public Order Act 1994 ermöglicht es Richtern und Jury, aus einem unbegründeten Aussageverzicht des Angeklagten Rückschlüsse auf die Bewertung der Schuldfrage zu ziehen: „Art. 35 Abs 2 Criminal Justice and Public Order Act 1994: [I]f he chooses not to give evidence, or having been sworn, without good cause refuses to answer any question, it will be permissible for the court or jury to draw such inferences as appear proper from his failure to give evidence or his refusal, without good cause, to answer any question.“

Wenngleich eine Verurteilung nicht ausschließlich auf Grundlage von Schweigen erfolgen kann, berücksichtigt das Prozessrecht Großbritanniens das Verhalten des Beschuldigten in Beweis- und Straffragen zu seinen Lasten.1348 In der Gesetzesbegründung heißt es, ein weit verstandenes Schweigerecht privilegiere den Täter und könne zu einer ungerechtfertigten Straflosigkeit führen.1349 Auf staatlicher Ebene ist ein Konsens über das Verbot zur Anknüpfung prozessualer Nachteile an den Gebrauch des Schweigerechts damit in der Tat zu verneinen. (b) Die Rechtsprechung des EGMR Eine Bestätigung des differenzierten Ergebnisses sieht der ICTY für das internationale Verfahrensrecht in der Rechtsprechung des EGMR zum Fall Funke v. Frankreich.1350 Der ICTY interpretiert die Entscheidung des Gerichts als Ablehnung einer absoluten Geltung des Nemo-tenetur-Prinzips. In seiner Auslegung des Gebotes erkenne der EGMR Einschränkungen des Schweigerechts sowie die Anordnung ICTY Delalić et al., Judgment, IT-96-21-A, 20. Februar 1991, Rn. 781 ff. BGHSt 32, 140, 144; 38, 302, 305; BGH NJW 2000, 1426; Griffen v California, 380 US 609. 1347 Vgl. ICTY Delalić et al., Judgment, IT-96-21-A, 20. Februar 1991, Fn. 1322. 1348 Art. 35, 38 Criminal Justice and Public Order Act 1994. 1349 Safferling / Hartwig, ZIS 13 (2009), S. 784 (786). 1350 EGMR Funke v. Frankreich, Application No.10828 / 84, 25. Februar 1993, Serie A, Bd. 256-A, S. 22, Nr. 48. 1345 1346

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

prozessualer Folgewirkungen grundsätzlich an.1351 Der ICTY schließt aus dem Urteil des Gerichts auf die generelle Zulässigkeit einer strafschärfenden Würdigung der Aussageverweigerung. Die Umstände der Entscheidung in Funke v. Frankreich lassen indes an einer Allgemeingültigkeit der Urteilsgründe zweifeln. Gegenstand der Verhandlungen war die Frage nach der Rechtmäßigkeit normativer Herausgabepflichten von selbstbelastenden Steuerunterlagen. Der EGMR rechtfertigte die gesetzliche Regelung mit der Notwendigkeit eines schlüssigen und konsequenten Systems der Steuerprüfung. Die Mitwirkung des Bürgers könne als Bedingung für eine sinnvolle Gestaltung der Fiskalverwaltung verlangt werden. Aufgrund der speziellen Konstellation im Fall Funke erscheint eine Übertragung der gerichtlichen Feststellungen auf Sachverhalte des internationalen Strafrechts fraglich. Deutlicher positionierte sich der EGMR hingegen in der Entscheidung Murray gegen Großbritannien.1352 Das Gericht verwies auf die fehlenden internationalen Standards zur Anwendung des Nemo-tenetur-Prinzips. In seinem Urteil wandte sich der EGMR gegen eine absolute Wirkung des Gebotes und schloss die Möglichkeit nachteiliger Prozessfolgen nicht grundsätzlich aus.1353 „It cannot be said therefore that an accused’s decision to remain silent throughout criminal proceedings should necessarily have no implications when the trial court seeks to evaluate the evidence against him. In particular, as the Government have pointed out, established international standards in this area, while providing for the right to silence and the privilege against self-incrimination, are silent on this point.“1354

In ständiger Rechtsprechung nimmt der EGMR eine Verletzung von Art. 6 EMRK nur an, wenn das Verfahren im Wege einer Gesamtbetrachtung als nicht fair zu bewerten ist. In seine Würdigung stellt der Gerichtshof die Umstände der Aussageverweigerung sowie eine allgemeine Beurteilung der Beweislage ein. Ein Schweigen des Beschuldigten könne insbesondere in Situationen berücksichtigt werden, die eine Erklärung des Sachverhaltes erwarten lassen.1355 Gleichwohl dürfe ein Aussageverzicht des Angeklagten nicht Grundlage des Schuldspruchs sein, sondern könne allenfalls als zusätzliches Indiz im Beweisverfahren gelten. Den Urteilen des EGMR sind nur wenig eindeutige Aussagen für eine Bestimmung des Schutzbereichs zu entnehmen. In Ansehung der Murray-Entscheidung lässt sich ein generelles Verbot der strafschärfenden Berücksichtigung des Schweigerechts jedenfalls nicht begründen.

ICTY Delalić et al., Judgment, IT-96-21-A, 20. Februar 1991, Rn. 782. EGMR Murray v. Großbritannien, Application No. 18731 / 91, 8. Februar EHHR 29. 1353 EGMR Murray v. Großbritannien, Application No. 18731 / 91, 8. Februar EHHR 29. 1354 EGMR Murray v. Großbritannien, Application. No. 18731 / 91, 8. Februar EHHR 29. 1355 EGMR Murray v. Großbritannien, Application No. 18731 / 91, 8. Februar EHHR 29. 1351 1352

1996, 22 1996, 22 1996, 22 1996, 22

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(c) Die Entscheidungsgründe des ICTY Angesichts der divergierenden Vorgaben in nationalen und internationalen Prozessordnungen lehnt der ICTY eine rechtsstaatlich zwingende Auslegung des Nemotenetur-Prinzips ab.1356 Die Berufungskammer verlagert die Frage nach der Reichweite des Schweigerechts auf die Ebene einfachgesetzlicher Regelung und beschränkt ihre Prüfung auf den Gewährleistungsgehalt des Statuts. Da für die Interpretation der Selbstbelastungsfreiheit keine übergeordneten Maßstäbe des Menschenrechtsschutzes bestünden, stellt der ICTY eine Bewertung des prozessualen Schweigerechts in das Ermessen völkerstrafrechtlicher Gerichte. Voraussetzung für eine Berücksichtigung des Aussageverzichts im Strafmaß ist nach Auffassung der Kammer lediglich eine ausdrückliche Normierung in der Prozessordnung. Das Statut des ICTY enthalte jedoch keine Vorgabe, nach der das Schweigen des Angeklagten als erschwerender Umstand gelten dürfe. Existiere keine ausdrückliche Rechtsgrundlage zur Einbeziehung des Schweigerechts in die Strafmaßfestlegung, könne das Gericht seine Maßstäbe nicht eigenmächtig erweitern. Aus diesem Grunde stellten die Richter eine fehlerhafte Ermessensausübung der Hauptverfahrenskammer fest und gaben der Berufung des Angeklagten im Hinblick auf die Bestimmung der Strafhöhe statt. „Should it have been intended that such adverse consequences could result, the Appeals Chamber concludes that an express provision and warning would have been required under the Statute, setting out the appropriate safeguards. Therefore, it finds that an absolute prohibition against consideration of silence in the determination of guilt or innocence is guaranteed within the Statute and the Rules (…). Similarly, this absolute prohibition must extend to an inference being drawn in the determination of sentence.“1357

Die Entscheidung im Fall Mucić bildete eine wichtige Grundlage für die spätere Spruchpraxis des ICTY. In seinen Urteilen zu Blaškić1358 und Boskoski1359 bestätigte das Gericht den Ausschluss des Schweigerechts als strafschärfenden Umstand. Es bleibt festzuhalten, dass nach Ansicht des Tribunals nachteilige Prozessfolgen in den Verfahrensordnungen internationaler Gerichte vorgesehen werden können. Der ICTY legt seiner Entscheidung keine rechtsstaatlichen Erwägungen zugrunde und fasst den zwingenden Kernbereich des Nemo-tenetur-Prinzips normativ eng.

ICTY Delalić et al., Judgment, IT-96-21-A, 20. Februar 1991, Rn. 782. ICTY Delalić et al., Judgment, IT-96-21-A, 20. Februar 1991, Rn. 783. 1358 ICTY Blaskic, Judgment, IT-95-14-A, 29. Juli 2004, Rn. 687: „Not included as an aggravating circumstance is the decision of an accused to make use of his right to remain silent.“ 1359 ICTY Boskoski / Tarculovski, Judgment, IT-04-82-T, 10. Juli 2008, Rn. 595: „The exercise by an accused of his right to remain silent may not constitute an aggravating circumstance.“ 1356 1357

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

(2) Die Zulässigkeit einer strafschärfenden Berücksichtigung des Schweigens nach den unterschiedlichen Konzepten des Nemo-tenetur-Prinzips Nach Überzeugung des ICTY bestehen keine rechtsstaatlichen Vorgaben für die Anknüpfung prozessualer Nachteile an das Schweigerecht. Die Reichweite des Schutzbereichs begründe sich nicht aus materiell zwingenden Erwägungen, sondern sei eine formale Frage der normativen Regelung. Die Entscheidung des Gerichts reflektiert die uneinheitliche Rechtslage in nationalen und internationalen Verfahrensordnungen. Fehlen verbindliche Richtlinien für die Auslegung des Prinzips, muss die Zulässigkeit indirekter Sanktionen als rechtspolitisches Problem behandelt werden. Aus der Perspektive des deutschen Strafprozessrechts überrascht das weite Ermessen in der Umsetzung des Nemo-tenetur-Prinzips. Als unmittelbare Folge rechtsstaatlicher Verfahrensfairness wird der Schutz der Selbstbelastungsfreiheit in der Rechtsprechung des BVerfG umfassend gewährleistet.1360 Ein Vergleich der unterschiedlichen Interpretationen des Geltungsbereichs am Beispiel Deutschlands und Großbritanniens soll die rechtsstaatlichen Vorgaben für die Reichweite des Schweigerechts festlegen. (a) Das weite Verständnis des Nemo-tenetur-Prinzips in der deutschen StPO Entscheidende Voraussetzung für die Bestimmung der rechtlichen Reichweite des Nemo-tenetur-Prinzips ist die Frage nach seinem normativen Geltungsgrund. In der deutschen Literatur haben sich zwei wesentliche Konzepte zur verfassungsrechtlichen Herleitung der Selbstbelastungsfreiheit herausgebildet.1361 Mangels einer ausdrücklichen Verankerung im Wortlaut des Grundgesetzes knüpft ein erster Begründungsversuch unmittelbar an die rechtsstaatliche Garantie des fairen Verfahrens an.1362 Prozessuale Fairness und die Beachtung der Unschuldsvermutung erforderten den Schutz des Angeklagten vor hoheitlichem Aussagezwang.1363 Ein individualrechtlicher Ansatz zur Fundierung des Nemo-tenetur-Grundsatzes führt die Geltung des Prinzips hingegen auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht1364 sowie die Achtung der Menschenwürde1365 zurück. Die Frage nach einer Verletzung der Menschenwürde aus Art. 1 Abs. 1 GG ist für die Definition des Schutzbereichs des Nemo-tenetur-Prinzips von erheblicher Bedeutung. Wäre die SelbstbelastungsfreiBVerfGE 38, 105 (113). Bosch, Aspekte, 1998, S. 28. 1362 Dahs / Langkeit, NStZ 1993, S. 213 (214). 1363 Guradze, Schweigerecht, in: Commager / Doeker et al. (Hrsg.), FS Löwenstein, 1971, S. 151 (160). 1364 Sachs, Das Grundgesetz, 1996, Art. 2 Abs. 1 GG, Rn. 45; BGHSt 25, 325 (330). 1365 BVerfGE 38, 105 (113). 1360 1361

XI. Das Prinzip „Nemo tenetur se ipsum accusare“

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heit Ausfluss des Würdegedankens, müsste sie als unantastbarer Kernbereich der Grundrechtsgewährleistung einer Abwägung entzogen sein. Ein Verstoß gegen die Menschenwürde wird in der Verwendung des Angeklagten als „Beweismittel gegen sich selbst“ gesehen.1366 Eine überwiegende literarische Ansicht erkennt in der Degradierung des Beschuldigten zum Mittel der Wahrheitsfindung eine unzulässige Leugnung seiner Subjektstellung.1367 Unter Verkennung des menschlichen Selbsterhaltungstriebes und der freien Selbstbestimmung des Individuums würde der Täter zur Offenlegung strafbarer Handlungen gezwungen.1368 Eine Versagung des Schweigerechts setze den Angeklagten einem schweren inneren Konflikt aus, der seine Rechtstreue von einer unzumutbaren Pflicht zur Selbstbezichtigung abhängig mache. Die Rechtsprechung des BVerfG führt die Ansätze des Schrifttums zusammen1369 und erkennt die Aussagefreiheit als „rechtsstaatliche Grundhaltung“ an, die „auf dem Leitgedanken der Achtung der Menschenwürde“ beruhe.1370 Die deutsche Strafprozessordnung folgert aus der Zuordnung des Nemo-teneturGebotes zum Schutzbereich der Menschenwürde die Notwendigkeit seiner absoluten Geltung.1371 Eine Durchsicht der Literatur zeigt ein klares Bild von der anerkannten Reichweite der Selbstbelastungsfreiheit. Eine „verfassungsrechtliche Ausstrahlungswirkung“1372 des Nemo-tenetur-Prinzips gilt weitgehend als „unstreitig“1373. Dem folgend bezeichnet Rogall die Möglichkeit belastender Folgen der Rechtsausübung als „unerträgliche Einschränkung“1374 des durch die Menschenwürde verbürgten Prinzips. Nach nahezu „einhelliger Auffassung“1375 korrespondiert eine wirksame Garantie des Schweigerechts mit ihrer Absicherung durch das Verbot einer nachteiligen Berücksichtigung im Urteil.1376 Der Schutz der Selbstbelastungsfreiheit würde leerlaufen, könnte eine Aussageweigerung des Angeklagten zu seinen Lasten gewertet werden. Der Schluss auf ein Rechtsfolgenverbot wird im Schrifttum beinahe apodiktisch vorausgesetzt: „Indem der nemo-tenetur-Satz dem Beschuldigten das Schweigen erlaubt, schließt er gleichzeitig aus, dass die Wahrnehmung dieses Rechts eine Benachteiligung nach sich zieht.“1377 Bosch, Aspekte, 1998, S. 18; BGHSt 14, 364. Nothelfer, Freiheit, 1989, S. 63. 1368 Sautter, AcP 161 (1962), S. 215 (257); Rüping, JR 4 (1974), S. 135 (136); Bosch, Aspekte, 1998, S. 32, 42. 1369 Kraft, Das nemo tenetur-Prinzip, 2002, S. 143. 1370 BVerfGE 56, 36 (43). 1371 Dencker, NStZ 1982, S. 154. 1372 Rogall, Der Beschuldigte, 1977, S. 249. 1373 Moos, Geständnis, 1980, S. 98. 1374 Rogall, Der Beschuldigte, 1977, S. 249. 1375 Rogall, Der Beschuldigte, 1977, S. 247. 1376 Petry, Beweisverbote, 1971, S. 41 ff.; Stree, JZ 1966, S. 593; Wessels, JuS 1966, S. 169 (171); Dencker, NStZ 1982, S. 154; Kraft, Das nemo tenetur-Prinzip, 2002, S. 155. 1377 Ralf Kölbel, Selbstbelastungsfreiheiten, 2006, S. 31. 1366 1367

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Safferling / Hartwig unterstreichen, dass der Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit zwingend mit einem Verbot prozessualer Folgeregelungen verbunden sei.1378 Durch Rückschlüsse auf die Schuld des Angeklagten würde sein Schweigerecht „durch die Hintertür“ umgangen.1379 Die deutsche Rechtsprechung teilt die Einschätzung des Schrifttums und spricht sich klar gegen eine Einbeziehung des Schweigens in Schuldspruch und Strafmaßbestimmung aus.1380 „Der Gewährleistung der ungeschmälerten Entscheidungsfreiheit dient schließlich die Rechtsprechung zu den Folgen eines Gebrauchs dieser Freiheit. Danach ist es unzulässig, aus dem (völligen) Schweigen des Beschuldigten diesem nachteilige Schlüsse zu ziehen. Denn seine Schweigebefugnis würde in nicht vertretbarer Weise beschränkt, müßte er befürchten, daß das Schweigen bei der Beweiswürdigung zu seinem Nachteil ausschlagen kann. Dasselbe gilt im Rahmen der Strafzumessung.“1381

Kritik an der weiten Interpretation des Schutzumfangs bleibt hingegen vereinzelt.1382 Zweifel werden im Hinblick auf die Zwangsläufigkeit einer rechtsstaatlich gebotenen Absicherung des Schweigerechts erhoben. Roschmann betont das Fehlen eines Verfahrensgrundsatzes, der „besagt, dass dem Beschuldigten die Wahrnehmung seiner Rechte nicht angelastet werden dürfe“1383. Die Verfahrensregelungen Großbritanniens, die eine nachteilige Berücksichtigung des Schweigens zulassen, sind mit dem deutschen Verständnis des Nemo-tenetur-Prinzips offensichtlich nicht vereinbar. Für die Bewertung des internationalen Prozessrechts ist die innerstaatliche Auslegung des Grundsatzes insoweit relevant, als sie mögliche Vorgaben der Rechtsstaatlichkeit reflektiert. Gebietet eine rechtsstaatliche Verfahrensführung die Ausdehnung des Anwendungsbereichs nach Vorbild der deutschen StPO, muss eine strafschärfende Wirkung des Schweigerechts im Völkerstrafprozess klar untersagt werden. (b) Die Kritik an einer weiten Auslegung des Nemo-tenetur-Prinzips Der besondere Schutz des Nemo-tenetur-Prinzips im deutschen Prozessrecht gründet sich auf die Annahme seiner zwingenden Verankerung im Grundsatz der Menschenwürde. Folgt die Selbstbelastungsfreiheit aus den Gewährleistungen des Art. 1 Abs. 1 GG, sind bereits mittelbare Eingriffe in das Schweigerecht zu untersagen. Auf Grundlage der Objektstheorie1384 müsste ein Zwang zur Aussage im Straf-

Safferling / Hartwig, ZIS 13 (2009), S. 784. Safferling / Hartwig, ZIS 13 (2009), S. 784 (785). 1380 BGHSt 20, 281 ff.; BGH NJW 1974, S. 2295 f.; BGH GA 1969, S. 307. 1381 BGHSt 20, 281 (282). 1382 OLG Oldenburg NJW 1969, S. 806; Stümpfler, Das Schweigen des Beschuldigten im Strafprozess oder Bußgeldverfahren, DAR 1973, S. 1 (6 f.). 1383 Roschmann, Schweigerecht 1983, S. 114. 1384 BVerfGE 27, 1 (6); 45, 187 (228); 96, 375 (399). 1378 1379

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prozess als Herabsetzung des Angeklagten zum Gegenstand staatlichen Handelns gedeutet werden. Die Annahme einer individuellen Objektstellung trifft indes auf Kritik. So wirft Bosch die Frage auf, ob eine Aufforderung des Beschuldigten zur aktiven Mitwirkung am Verfahren nicht vielmehr Konsequenz seiner „individuellen Fähigkeit zur Selbstbestimmung“ sei.1385 Erst die Teilnahme am Prozess gewähre dem Angeklagten einen Ausdruck seiner Subjektqualität, während ihn ein passives Schweigen zum Objekt des Strafverfahrens degradiere.1386 Dieser Einwand verkennt jedoch die grundlegende Zielsetzung des Nemo-tenetur-Prinzips als Antwort auf die innere Konfliktsituation eines aussageverpflichteten Täters. Das Schweigerecht garantiert dem Angeklagten effektiven Schutz vor einer Verkürzung seiner Entscheidungsfreiheit durch die Schaffung einer rechtlichen Zwangslage. Wesentlicher Anknüpfungspunkt einer Würdeverletzung ist daher nicht das konkrete Prozessverhalten, sondern der Eingriff in die Selbstbestimmtheit seines Entschlusses für oder wider eine Verfahrensteilnahme. Eine interessante Parallele kann hingegen zur Rechtsprechung des BVerfG im Luftsicherheitsgesetz-Urteil gezogen werden.1387 Das Gericht differenzierte die Beurteilung eines verfassungsrechtlichen Würdeverstoßes nach der Verantwortlichkeit des Betroffenen für das hoheitliche Handeln.1388 Reagiere der Staat mit seiner Maßnahme auf ein Verhalten des Bürgers, sei dieser nicht als Objekt im Sinne von Art. 1 Abs. 1 GG, sondern vielmehr als Subjekt der rechtlichen Folge anzusehen. „Es entspricht im Gegenteil gerade der Subjektstellung (…), wenn ihm die Folgen seines selbstbestimmten Verhaltens persönlich zugerechnet werden und er für das von ihm in Gang gesetzte Geschehen in Verantwortung genommen wird. Er wird daher in seinem Recht auf Achtung der auch ihm eigenen menschlichen Würde nicht beeinträchtigt.“1389

Übertragen auf die Selbstbelastungsfreiheit des Beschuldigten ließe sich eine vergleichbare Betrachtungsweise begründen. Als Angeklagter im Strafprozess ist der Betroffene nicht Gegenstand, sondern unmittelbarer Bezugspunkt verfahrensrechtlicher Zwangsmittel. Mit einem indirekten Druck zur Aussage wird auf die mögliche Beteiligung des Beschuldigten an einer Straftat reagiert. Ausgehend von der Rechtsprechung des BVerfG ist die Begrenzung des prozessualen Schweigerechts als Folge eines strafrechtlichen Verdachtes Ausdruck der Subjektqualität des BetrofBosch, Aspekte, 1998, S. 39. Bosch, Aspekte, 1998, S. 40. 1387 BVerfG, 1 BvR 357 / 05 v. 15.2.2006, Bundesverfassungsgericht, Entscheidungen, Leitsätze zum Urteil des Ersten Senats vom 15.03.2006, 1 BvR 357 / 05. 1388 Während der gezielte Abschuss einer Maschine gegen die Menschenwürde der Geiseln verstoße, könne eine Verletzung der Würde des Täters nicht angenommen werden, BVerfG, 1 BvR 357 / 05 v. 15.2.2006, Rn. 141; Bundesverfassungsgericht, Entscheidungen, Leitsätze zum Urteil des Ersten Senats vom 15.03.2006, 1 BvR 357 / 05. 1389 BVerfG, 1 BvR 357 / 05 v. 15.2.2006: Bundesverfassungsgericht, Entscheidungen, Leitsätze zum Urteil des Ersten Senats vom 15.03.2006, 1 BvR 357 / 05. 1385 1386

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fenen. Die grundsätzliche Stellung des Angeklagten im Strafverfahren rechtfertigt daher keinen generellen Rückgriff auf den Objektgedanken der Menschenwürde. Bosch bestätigt diese Sichtweise und lehnt den Maßstab von Art. 1 Abs. 1 GG als wenig praktikabel für die Regelung strafrechtlicher Prozesse ab.1390 Vorzugswürdig sei demgegenüber die Einordnung des Nemo-tenetur-Prinzips als Ausprägung verfahrensrechtlicher Fairness. Die Qualifikation der Selbstbelastungsfreiheit als rechtsstaatliche Prozessgarantie ermögliche eine notwendige Einzelfallabwägung mit den widerstreitenden Interessen der Strafverfolgung.1391 Wird ein umfassender Schutz des Schweigerechts nicht durch den Kernbereich der Menschenwürde bedingt, bestimmt sich die Geltung des Prinzips nach rechtsstaatlichem Verständnis. Die gebotene Reichweite des Nemo-tenetur-Grundsatzes für den Anwendungsbereich des Völkerstrafrechts muss im internationalen Vergleich ermittelt werden. Bereits die Existenz restriktiver Regelungen im europäischen Raum lässt an der Verbindlichkeit des deutschen Rechtsverständnisses zweifeln. Die Zulässigkeit nachteiliger Konsequenzen der Selbstbelastungsfreiheit im englischen Verfahrensrecht legt nahe, dass der Ausschluss indirekten Drucks nicht als zwingende Folge der Rechtsstaatlichkeit anzusehen ist. Safferling / Hartwig widersprechen dieser Argumentation unter Hinweis auf die Unterschiede prozessrechtlicher Modelle.1392 Ihrer Ansicht nach ließen sich die Grundsätze des englischen Verfahrensrechts sowie die restriktive Auslegung des Schutzbereichs durch den EGMR nicht generell auf andere Rechtsordnungen übertragen. Die Begründung, dass in den verschiedenen Rechtssystemen „Fairness strukturell anders hergestellt“ würde, stützt jedoch die Annahme eines rechtsstaatlichen Entscheidungsspielraums. Mit der Anerkennung divergierender Strukturbedingungen bestätigen Safferling / Hartwig im Ergebnis die Möglichkeit unterschiedlicher Ansatzpunkte zur Gewährleistung prozessualer Fairness. Das Prozessmodell Großbritanniens reflektiert ein verschiedenes Konzept von der Ausformung des Nemo-tenetur-Gebots. Hiernach erfasst das Schweigerecht des Beschuldigten vorrangig die Sanktion eines unmittelbaren Aussagezwangs und ordnet die Schutzfunktion des Prinzips in der Nähe des Folterverbotes ein. Die Begrenzung des Gewährleistungsgehalts auf direkte Formen von Drohungen und Gewalt steht im Einklang mit der historischen Entwicklung der Selbstbelastungsfreiheit. Ihrem Ursprung nach wurde der Nemo-tenetur-Grundsatz als Reaktion auf das inquisitorische Verhör im Mittelalter etabliert.1393 Die ideengeschichtliche Grundlage des Prinzips rechtfertigt seine wesentliche Fokussierung auf den Schutz des Angeklagten vor individueller Gewaltanwendung. Gestützt wird die restriktive Auslegung des Nemo-tenetur-Gedankens durch ein enges Verständnis seiner teleologiBosch, Aspekte, 1998, S. 41. Bosch, Aspekte, 1998, S. 41; Stalinski, Aussagefreiheit, 2000, S. 24. 1392 Safferling / Hartwig, ZIS 13 (2009), S. 784 (794). 1393 Kölbel, Selbstbelastungsfreiheiten, 2006, S. 217 ff.; Floyd / ABA, The Right, 2001, S. 2; Rogall, Der Beschuldigte, 1977, S. 99. 1390 1391

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schen Schutzrichtung. Wesentliche Voraussetzung für die Formulierung der Prozessgarantie ist die Frage, in welchem Umfang das Schweigerecht des Beschuldigten tatsächlich schutzwürdig ist. Wenngleich der Täter vor den Folgen unmittelbaren Zwangs bewahrt werden muss, besteht ein legitimes Interesse an der Aufklärung des wahren Sachverhaltes.1394 Vor dem Hintergrund rechtsstaatlicher Werte wie der materiellen Wahrheitsfindung, der effektiven Durchsetzung des Strafanspruchs und dem Schutz von Opfern ließen sich Eingriffe in die Reichweite der Selbstbelastungsfreiheit grundsätzlich rechtfertigen.1395 Eine Differenzierung des Anwendungsbereichs für direkte und indirekte Druckmittel erscheint als denkbares Instrument, um eine Mitwirkung des Angeklagten unter Wahrung seiner persönlichen Integrität zu fördern. So könnte sich aus dem Blickwinkel rechtsstaatlicher Verfahrensgestaltung folgende Feststellung ergeben. Dem Beschuldigten muss das Schweigen im Verfahren durch Ausschluss unzulässiger Vernehmungsmethoden ausnahmslos möglich sein. Zugleich wird sein Schweigerecht nicht folgenlos garantiert, so dass ein Niederschlag in der Bemessung der Strafhöhe generell zumutbar ist. Entgegen der verbreiteten Kritik bestimmt sich die Wirksamkeit des Schweigerechts nicht durch den Verzicht auf prozessuale Folgeregelungen. Legt man der Auslegung des Nemo-tenetur-Prinzips ein restriktives Schutzverständnis zugrunde, kann von einem „Leerlaufen“ der Selbstbelastungsfreiheit nicht die Rede sein.1396 Ein weiteres Argument für die restriktive Anwendung der Selbstbelastungsfreiheit besteht in der Schutzrichtung der Norm. Redmayne sieht in der Anknüpfung strafrechtlicher Konsequenzen an die Ausübung des Schweigerechts allein für den schuldigen Angeklagten eine prozessuale Zwangslage.1397 Die Möglichkeit beweisrechtlicher Rückschlüsse stelle den Täter vor ein persönliches Dilemma. Für ihn bestünde einerseits die Gefahr, durch sein Schweigen Nachteile in Schuldspruch und Strafmaß zu erwirken. Im Falle einer Aussage wäre er hingegen gezwungen, selbstbelastende Informationen preiszugeben. Nach Auffassung Redmaynes könne sich ein vergleichbarer Konflikt für den Unschuldigen grundsätzlich nicht ergeben. Da ihm durch eine wahrheitsgemäße Aussage keine Strafverfolgung drohe, befinde er sich nicht in einer prozessualen Pattsituation. Ein Verbot strafrechtlicher Konsequenzen privilegiere daher letztlich nur den Schuldigen, der den Schutz der Norm im Beweisverfahren nicht verdient hätte. Redmayne ist zuzugeben, dass das vorbehaltlos angenommene Schutzbedürfnis des schuldigen Angeklagten tatsächlich überdacht werden kann. Es ließe sich überzeugend vertreten, den notwendigen Schutz des Täters auf einen unmittelbaren Zwang in Form physischer und psychischer Gewalt zu beschränken. Redmaynes Argumentation berücksichtigt jedoch nur unzureichend die Stellung des unschuldigen Angeklagten im Verfahren. Redmayne verkennt, dass auch für den Unschuldigen nachvollziehbare persönliche Gründe zur 1394 1395 1396 1397

Bosch, Aspekte, 1998, S. 68. Eser, ZStW 1967, S. 565 (570). Kölbel, Selbstbelastungsfreiheiten, 2006, S. 31. Redmayne, OJLS 27 / 2, 2007, S. 209 (210 ff.).

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Aussageverweigerung bestehen können. In diesem Falle wäre der nicht schuldige Angeklagte einem ähnlichen Druck zur prozessualen Mitwirkung ausgesetzt wie der Täter. Aus der normativen Schutzrichtung lässt sich daher keine klare Entscheidung für die Bewertung der Folgeregelungen entnehmen. (c) Ausblick und Stellungnahme Der internationale Vergleich belegt das Fehlen eines einheitlichen Verständnisses von der gebotenen Reichweite des Nemo-tenetur-Prinzips. Ein Verbot nachteiliger Verfahrensfolgen entsprechend der deutschen StPO ist rechtspolitisch möglich, aus Perspektive der Rechtsstaatlichkeit jedoch nicht zwingend. Die grundlegende Annahme des deutschen Strafverfahrens, die Selbstbelastungsfreiheit erfasse „denknotwendig“1398 den Ausschluss prozessualer Konsequenzen, ist in ihrer Allgemeinheit nicht zutreffend. Der Verzicht auf eine strafrelevante Berücksichtigung des Schweigens ist keine rechtsstaatliche Prämisse, sondern unterfällt dem Entscheidungsspielraum des Normgebers. Nach rechtspolitischer Betrachtung sprechen im Ergebnis wesentliche Argumente der Strafbestimmung gegen eine Einbeziehung des Schweigens in die gerichtliche Strafzumessung. Die Strafhöhe im Urteilsspruch reflektiert die individuelle Verantwortung und persönliche Schuld des Täters.1399 Eine Verschärfung des Strafmaßes ist folglich gleichbedeutend mit der Vorstellung von einer vertieften Schuld des Angeklagten. Das Schweigerecht sollte im Urteilsspruch lediglich Berücksichtigung finden, wenn die Wahrnehmung der Prozessgarantie als Zeichen einer erhöhten Strafschuld zu werten ist. Das Nemo-tenetur-Prinzip beruht auf der rechtlichen Anerkennung einer psychologischen Zwangslage des Angeklagten. Wenngleich eine Verfahrensteilnahme des Beschuldigten wünschenswert erscheint, kann ihm ein Aussageverzicht als Folge natürlicher Selbsterhaltung nicht straferschwerend angelastet werden. Gilt die Mitwirkung an der eigenen Verurteilung als unzumutbar, ist der Gebrauch des Schweigerechts kein Indiz für eine besondere Schuld des Täters.1400 Eine Bewertung von Schweigen zu Lasten des Angeklagten setzt sich in Widerspruch zur Systematik der Strafzumessung und dem Grundsatz schuldangemessener Sanktion. Die jüngere Judikatur internationaler Gerichte bestätigt die rechtspolitische Entscheidung gegen eine Anknüpfung nachteiliger Prozessfolgen an die Wahrnehmung der Selbstbelastungsfreiheit. Eine Ursache für die zunehmend deutliche Ausrichtung der Rechtsprechung ist womöglich in der umfassenden Gewährleistung des Schweigerechts durch das ICC-Statut zu sehen. Der konsequente Ausschluss proSafferling / Hartwig, ZIS 13 (2009), S. 784. Moos, Geständnis, 1980, S. 122. 1400 Dingeldey, JA 1984, S. 407 (413); Grünwald, Beweisrecht, 1993, S. 67; Bosch, Aspekte, 1998, S. 202. 1398 1399

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zessualer Schlussfolgerungen durch die Verfahrensordnung des permanenten Gerichtshofs könnte Vorbildcharakter für die Gestaltung internationaler Straftribunale entfalten. Im Fall Ademi vor dem ICTY begründete der Staatsanwalt eine Verlängerung der Untersuchungshaft mit dem Schweigen des Beschuldigten im Ermittlungsverfahren. Der ICTY wandte sich gegen die Argumentation der Anklage und betonte, dass eine fehlende Kooperation keine rechtlichen Folgen im Verfahren der Haftanordnung nach sich ziehen dürfe.1401 In der Rechtssache Niyitegeka reagierte der ICTR auf Bedenken der Verteidigung und nahm das Schweigen des Beschuldigten ausdrücklich von einer rechtlichen Bewertung aus.1402 „The Accused chose not to testify in his own defence in the present case. The Defence made submissions concerning the right to remain silent and the right not to testify. The Chamber is mindful of the Accused’s rights in this regard and has not drawn any adverse inference in the present case.“1403

Es bleibt festzuhalten, dass eine weite Auslegung des Nemo-tenetur-Prinzips nach den Vorstellungen der deutschen StPO rechtsstaatlich nicht notwendig ist. Auf internationaler Ebene steht es den Gerichten grundsätzlich frei, eine strafschärfende Berücksichtigung des Schweigerechts zu normieren. Aus rechtspolitischer Perspektive erscheint eine entsprechende Regelung jedoch mit Blick auf ein schlüssiges Konzept der Strafmaßbestimmung fraglich. Das Verbot prozessualer Konsequenzen aus Art. 67 Abs. 1 lit. g ICC-Statut ist daher als sinnvolle Definition des Schweigerechts für das völkerstrafrechtliche Verfahren anzusehen. In jedem Fall sollte die Reichweite des Nemo-tenetur-Prinzips in den Statuten internationaler Gerichte künftig ausdrücklich festgelegt werden.1404

bb) Die strafmildernde Berücksichtigung eines Geständnisses Mit dem Ausschluss prozessualer Nachteile in der Urteilsfindung ist die spiegelbildliche Frage nach den Rechtsfolgen eines Geständnisses noch nicht beantwortet. Vor dem Hintergrund der Selbstbelastungsfreiheit erscheint zweifelhaft, ob das Schweigerecht im Rahmen des Strafmaßes Berücksichtigung finden kann. Es ließe sich einwenden, dass die Entlastung des Beschuldigten durch eine aktive Verfahrensteilnahme in ihren mittelbaren Konsequenzen einer Sanktionierung des Schweigerechts entspricht. Durch die Aussicht auf einen Prozessvorteil könnte sich der Angeklagte einer vergleichbaren psychologischen Zwangslage zur Aufgabe seiner Selbstbelastungsfreiheit ausgesetzt sehen.1405 1401 ICTY. Ademi, Order on Motion for Provisional Release, IT-99-37-PT, 20. Februar 2002, Rn. 33; „It is emphasized that the lack of co-operation of an accused should not, as a rule, be taken into consideration as a factor.“ 1402 ICTR Niyitegeka, Judgment and Sentence, ICTR-96-14-T, 16. Mai 2003, Rn. 46. 1403 ICTR Niyitegeka, Judgment and Sentence, ICTR-96-14-T, 16. Mai 2003, Rn. 46. 1404 Creta, HJIL 20 (1998), S. 381 (405). 1405 Kölbel, Selbstbelastungsfreiheiten, 2006, S. 33.

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

Die Verfahrensordnungen von ICTY und ICC sehen eine Zusammenarbeit des Beschuldigten mit dem Gericht ausdrücklich als straferleichternden Umstand vor (Regel 101 B ii ICTY-RPE, Regel 145 Abs. 2 ICC-RPE).1406 In seiner Spruchpraxis bestätigt der ICTY die Bedeutung einer substanziellen Kooperation des Angeklagten für die Bemessung der Strafhöhe.1407 Eine Milderung des Urteils bestimme sich maßgeblich nach der Qualität und Quantität einer Mitwirkung am Verfahren sowie der beigebrachten Informationen.1408 Ferner erkennt das Gericht in ständiger Rechtsprechung die Berücksichtigung einer guilty plea1409, die freiwilligen Auslieferung an das Gericht1410 sowie eine aufrichtige Reue des Täters1411 im Schuldspruch an. Die entwickelten Kriterien des Tribunals zur Bewertung entlastender Sachverhalte zeigen eine eindeutige Begünstigung aktiver Prozessbeteiligung. Eine Strafmilderung nach den genannten Gesichtspunkten setzt regelmäßig einen Verzicht auf das prozessuale Schweigerecht des Angeklagten voraus. Die Gestaltung der Strafzumessung an den internationalen Tribunalen bedarf daher einer weiteren Diskussion über den Schutzgehalt des Nemo-tenetur-Prinzips. Das deutsche Strafrecht schließt eine Einbeziehung des Nachtatverhaltens in den Schuldspruch nicht aus,1412 lehnt jedoch eine generelle Privilegierung von Geständnissen ab. Nach Auffassung des BGH sei es „unzulässig, den geständigen Verbrecher nur seines Geständnisses wegen milder (…) zu bestrafen, weil eine solche schematische Berücksichtigung (…) als unzulässiger Druck auf den Angeklagten wirken könnte“.1413 In der Literatur wird die Einschätzung des BGH überwiegend geteilt und eine obligatorische Strafmilderung als „subtiler Aussagedruck“ und „Korrumpierung“ des Beschuldigten abgelehnt.1414 Die Gewährleistung von Vortei1406 Die Prozessordnung der ECCC enthält demgegenüber keine weiteren Regelungen zur Strafmaßbestimmung. 1407 ICTY Miodrag Jokić, Sentencing Judgement, IT-01-42 / 1-S, 18. März 2004, Rn. 95 f.; Todorović Sentencing Judgement, IT-95-9 / 1-S, 31. Juli 2001, Rn. 88. 1408 ICTY Blaskic, Trial Judgement, IT-95-14-T, 3. März 2000, Rn. 774: „Therefore, the evaluation of the accused’s co-operation depends both on the quantity and quality of the information he provides. (…) Providing that the co-operation lent respects the aforesaid requirements, the Trial Chamber classes such co-operation as a ‚significant mitigating factor‘.“ So auch in ICTY Bralo, Sentencing Judgment, IT-95-17-S, 7. Dezember 2005, Rn. 76. 1409 ICTY Jelisić, Appeal Judgement, IT-95-10-A, 5. Juli 2001, Rn. 122; ICTY Miodrag Jokić, Sentencing Judgement, IT-01-42 / 1-S, 18. März 2004, Rn. 76. 1410 ICTY Miodrag Jokić, Sentencing Judgement, IT-01-42 / 1-S, 18. März 2004, Rn. 73. 1411 ICTY Blaskic, Judgment, IT-95-14-A, 29. Juli 2004, Rn. 705; ICTY Miodrag Jokic, Sentencing Judgement, IT-01-42 / 1-S, 18. März 2004, Rn. 89; ICTY Erdemović, Second Sentencing Judgement, IT-96-22-Tbis, 5. März 1998, Rn. 16 (iii). 1412 § 46 Abs. 2 StGB: Bei der Zumessung wägt das Gericht die Umstände, die für und gegen den Täter sprechen, gegeneinander ab. Dabei kommen namentlich in Betracht: (…) sein Verhalten nach der Tat, besonders sein Bemühen, den Schaden wiedergutzumachen, sowie das Bemühen des Täters, einen Ausgleich mit dem Verletzten zu erreichen. 1413 BGHSt 1, 105 (106). 1414 Kölbel, Selbstbelastungsfreiheiten, 2006, S. 33.

XI. Das Prinzip „Nemo tenetur se ipsum accusare“

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len durch eine Kooperation mit dem Tribunal setze den Angeklagten einem indirekten Zwang zum Rechtsverzicht aus.1415 Nach Überzeugung der deutschen Strafrechtslehre dürfe ein Geständnis allein dann strafmildernd berücksichtigt werden, wenn es auf eine ernsthafte Reue des Täters schließen lasse.1416 Auf diese Weise würde nicht die Aufgabe des Schweigerechts honoriert, sondern eine verminderte Tatschuld festgestellt.1417 Der BGH bekräftigt das Argument der Strafzielerreichung und beschränkt die entlastende Wirkung einer Aussage auf die Indizierung einer geringen Strafwürdigkeit: „Das Prozessverhalten des Angeklagten (Leugnen oder Geständnis) darf nicht um seiner selbst willen als Strafzumessungsgrund berücksichtigt werden. Dagegen ist es zulässig und unter Umständen geboten, daraus Schlüsse darauf zu ziehen, wie der Täter innerlich zu seiner Tat steht, und diesen Umstand, soweit sich dabei Anhaltspunkte für das Maß seiner persönlichen Schuld ergeben, bei der Strafmessung zu berücksichtigen.“1418

Die Bewertung des Aussageverhaltens nach der deutschen StPO begegnet jedoch praktischen wie rechtlichen Vorbehalten. Zunächst bleibt die Frage nach der Aufrichtigkeit eines Geständnisses in der Praxis ein weitgehend formales Unterscheidungskriterium. Als innere Tatsachen sind die Hintergründe der Aussagen vom Gericht regelmäßig schwer zu ermessen. Die Diskussionen im Fall Duch vor den ECCC zeigen die Schwierigkeiten einer sicheren Einschätzung der persönlichen Motivlage.1419 Ob die Kooperation des Angeklagten im Interesse einer Strafmilderung oder als Ausdruck ehrlicher Reue erfolgt, lässt sich anhand objektiver Maßstäbe nicht eindeutig ermitteln. Die inneren Beweggründe des geständigen Täters sind als Richtlinien normativer Abgrenzung folglich wenig praktikabel. Auch aus rechtlicher Perspektive erscheinen die Einwände gegen eine generelle Berücksichtigung prozessualer Zusammenarbeit nicht zwingend.1420 Die deutsche Rechtsprechung unterscheidet nicht hinreichend zwischen der Anknüpfung vorteilhafter und nachteiliger Prozessfolgen an das Aussageverhalten des Beschuldigten. Während die Androhung einer Strafschärfung mittelbare Zwangswirkung entfaltet, setzt die Entlastung des Angeklagten durch ein Geständnis lediglich den Anreiz für eine Kooperation. Bereits systematisch ist fraglich, ob aus der Möglichkeit eines Vorteils auf die Existenz einer mittelbaren Pflicht geschlossen werden kann. Die Aussicht auf eine Milderung des Schuldspruchs richtet sich nicht gegen das SelbstBosch, Aspekte, 1998, S. 198. Beulke / Satzger, JuS1997, S. 1072 (1077); Kölbel, Selbstbelastungsfreiheiten, 2006, S. 32; F. Dencker, ZStW 102 (1990), S. 51 (60 f.); Jeßberger, Kooperation, 1999, S. 68 f.; Hönig, Die strafmildernde Wirkung, 2004, S. 169 ff. 1417 Moos, Geständnis, 1980, S. 121. 1418 BGHSt 1, 105. 1419 Siehe zur Diskussion beispielsweise Radio Netherlands Worldwide, Genuine remorse or crocodile tears?, 23.11.2009, http://www.rnw.nl/international-justice/article/genuine-remorseor-crocodile-tears (letzter Zugriff am 24.05.2010). 1420 Schabas, The UN International Criminal Tribunals, 2008, S. 532. 1415 1416

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

bestimmungsrecht des Angeklagten, sondern begünstigt seine Entscheidung für eine aktive Verfahrensteilnahme. Hieraus einen Verstoß gegen das Nemo-tenetur-Prinzip abzuleiten, hieße einen Zwang zum Privileg festzustellen. Die Einordnung der Schuldminderung als unzulässige Einflussnahme kann daher im systematischen Vergleich mit der Konsequenz einer nachteiligen Straferhöhung nicht überzeugen. Es bleibt die Frage zu beantworten, ob eine obligatorische Berücksichtigung des Geständnisses mit den Grundsätzen der Strafzumessung vereinbar ist. Bosch argumentiert, dass eine Verringerung der Strafhöhe nur zu begründen sei, „ginge [man] davon aus, der Täter schaffe dadurch, dass er sich verteidigt, zusätzliches Unrecht“1421. Dieser Schlussfolgerung muss jedoch klar widersprochen werden. Die Milderung des Urteils intendiert keine – unmittelbare oder mittelbare – Sanktion des Schweigens, sondern honoriert die Aussage des Angeklagten als offene Distanzierung zur Tat. Die Anerkennung einer Privilegierung des kooperativen Täters impliziert keine Vertiefung der Strafschuld bei Wahrnehmung des Schweigerechts. Eine Spiegelbildlichkeit zwischen strafschärfenden und -entlastenden Zumessungsregeln besteht nicht. Nach der Rechtsprechung des ICTY müssen sich mildernde Umstände nicht direkt aus der Tatbegehung herleiten lassen.1422 Als Reflexion individueller Schuld können sie gleichfalls Ausdruck der Täterpersönlichkeit sein. Die generelle Begünstigung von Geständnissen im Strafmaß begegnet in diesem Zusammenhang keinen rechtlichen Bedenken. Unabhängig von einem konkreten Nachweis persönlicher Reue dokumentiert das Bekenntnis des Angeklagten zu seiner Tat eine gewisse Einsicht in die eigene Verantwortlichkeit. Durch die ausnahmslose Privilegierung einer Aussage werden zeitaufwendige und wenig ergiebige Diskussionen im Einzelfall vermieden. Aus rechtsstaatlichen Gesichtspunkten sind die Regelungen am ICTY und ICC folglich nicht zu beanstanden. Rechtspolitisch gilt es zu berücksichtigen, dass die Kooperation des Angeklagten im Interesse von Wahrheitsfindung und Beschleunigung erstrebenswert ist. Im Rahmen schuldangemessener Urteilsfindung sind Anreize zur Förderung einer Aussagebereitschaft an internationalen Strafgerichten legitim und normativ sinnvoll.

2. Das Schweigerecht der Zeugen Das Nemo-tenetur-Prinzip bewahrt unstreitig den Angeklagten vor einem Aussagezwang im Strafprozess. Doch gewährt der Grundsatz auch dem Zeugen ein Schweigerecht zum Schutz vor einer Selbstbelastung in der gerichtlichen Vernehmung? Art. 14 Abs. 3 lit. g IPbpR formuliert den Nemo-tenetur-Grundsatz als individuellen Verfahrensanspruch des Angeklagten („in the determination of any criminal 1421 1422

Bosch, Aspekte, 1998, S. 199. ICTY Stakic, Judgment, IT-97-24-T, 31. Juli 2003, Rn. 920.

XI. Das Prinzip „Nemo tenetur se ipsum accusare“

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charge against him“). Nach dem Wortlaut der Norm wird die Situation der Zeugenbefragung nicht vom Geltungsbereich der Prozessmaxime erfasst. Eine Erweiterung des Prinzips auf den Zeugen könnte sich jedoch im Wege einer teleologischen Auslegung ergeben. Sinn und Zweck der Prozessgarantie ist die Auflösung des Spannungsverhältnisses zwischen einer Aussagepflicht und der Gefahr einer Selbstbelastung im Strafverfahren.1423 Die psychologische Zwangslage – durch eine Mitwirkung am Prozess Beweismittel gegen sich selbst zu liefern – besteht für Angeklagte und Zeugen gleichermaßen.1424 Die unterschiedliche Stellung der Verfahrensbeteiligten reduziert sich auf einen zeitlichen Faktor – ein Zeuge, der sich durch seine Aussage belastet, wird im Folgeverfahren selbst zum Beschuldigten. Da sich der Zeuge in einer vergleichbaren Konfliktsituation befindet, rechtfertigen teleologische Gesichtspunkte eine entsprechende Schutzbestimmung zu seinen Gunsten. Eine Parallele zum US-amerikanischen Recht belegt die Möglichkeit einer weiten Interpretation des Verfahrensanspruchs. Das Nemo-tenetur-Gebot wird im fünften Zusatzartikel der Verfassung als Schweigerecht im eigenen Strafprozess normiert.1425 Nach grammatikalischem Verständnis erfasst die Vorschrift lediglich den unmittelbaren Schutz des Angeklagten vor einer selbstbelastenden Aussage. Unter Zugrundelegung der normativen Intention sprach sich der Supreme Court in der Rechtssache Counselman v. Hitchcock gleichwohl für eine Ausdehnung des rechtlichen Anwendungsbereichs auf den Verfahrenszeugen aus.1426 Ist das Nemo-tenetur-Prinzip Bestandteil des prozessualen Fairnessgedankens, kann seine Geltung nicht durch die formale Anforderung der Verfahrensstellung beschränkt werden.1427 Trotz ihrer Verankerung in den Prozessansprüchen des Angeklagten muss die Selbstbelastungsfreiheit als Ausdruck eines allgemeinen rechtsstaatlichen Prinzips begriffen werden.1428 Vor diesem Hintergrund liest sich die Bestimmung des Schweigerechts in Art. 14 Abs. 3 lit. g IPbpR im Sinne einer generellen Gewährleistung des Nemo-tenetur-Grundsatzes.1429 Als anerkannte Ausprägung des Prinzips1430 ist die Garantie der Selbstbelastungsfreiheit von Zeugen eine verbindliche Vorgabe für die Prozessgestaltung internationaler Straftribunale.

1423 BGHSt 9, 34 (36); BGHSt 11, 213 (216 f.); Sautter, AcP 161 (1962), S. 215 (257); Rüping, JR 4 (1974), S. 135 (136). 1424 Rogall, Der Beschuldigte, 1977, S. 62. 1425 Fünfter Zusatzartikel der Verfassung der Vereinigte Staaten von Amerika: No person (…) shall be compelled in any Criminal Case to be witness against himself. 1426 US Supreme Court, Counselman v. Hitchcock, 11. Januar 1892, 142 US, Rn. 562. 1427 Nothelfer, Die Freiheit, 1989, S. 92. 1428 Ambos, LJIL 15 (2002), S. 155 (161). 1429 Dies geht auch aus der Entstehungsgeschichte der Norm hervor; Rogall, Der Beschuldigte, 1977, S. 118. 1430 Rogall, Der Beschuldigte, 1977, S. 117.

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

a) Die rechtlichen Grundlagen an internationalen Strafgerichten Das Statut des ICTY enthält keine ausdrückliche Gewährleistung des Schweigerechts im Rahmen einer Zeugenvernehmung. Erst die Verfahrensordnung des Gerichts legt in Regel 90 (E) S. 1 ICTY-RPE ein Aussageverweigerungsrecht für den Zeugen der Hauptverhandlung fest. Eine erhebliche materielle Einschränkung erfährt seine Selbstbelastungsfreiheit durch die Bestimmung des Folgesatzes. Nach Regel 90 (E) S. 2 ICTY-RPE kann die Kammer den Zeugen grundsätzlich zu einer inkriminierenden Aussage verpflichten. In diesem Falle unterliegt seine Antwort einem umfassenden Beweisverwertungsverbot und darf strafrechtlich nicht gegen ihn verwendet werden. „Regel 90 (E) ICTY-RPE: A witness may object to making any statement which might tend to incriminate the witness. The Chamber may, however, compel the witness to answer the question. Testimony compelled in this way shall not be used as evidence in a subsequent prosecution against the witness for any offence other than false testimony.“

Im Rahmen des Vorverfahrens normiert das Prozessrecht des Internationalen Strafgerichtshofs ein ausnahmsloses Schweigerecht für Zeugen und Beschuldigte (Art. 55 Abs. 1 ICC-Statut). Eine entsprechende Bestimmung für das Hauptverfahren sieht das Statut des ICC indes nicht vor.1431 Regel 65 der Prozessordnung begründet eine allgemeine Aussagepflicht des Zeugen, deren Durchsetzung im Wege eines Zwangsgeldes erfolgen kann (Regel 65 Abs. 2 i.V. m 171 ICC-RPE).1432 Belastet sich der Zeuge mit seinen Ausführungen selbst, kann er die Antwort auf eine gestellte Frage verweigern (Regel 74 Abs. 3 ICC-RPE). Seinem Schweigerecht werden durch die Vorgaben in Regel 74 jedoch klare Grenzen gesetzt. Das Verfahrensrecht übernimmt den Gedanken der ICTY-RPE und legitimiert die Kammer zur Aufhebung des Zeugnisverweigerungsrechts im Einzelfall. Wird der Zeuge zur Aussage vor Gericht verpflichtet, muss ihm die Kammer Vertraulichkeit seiner Informationen und die Gewährleistung von Straffreiheit zusichern (Regel 74 Abs. 3 ICC-RPE).1433 Im Gegensatz zur Prozessordnung des Ad-hoc-Tribunals formuliert Regel 74 ICC-RPE ausführliche formale wie materielle Bedingungen für eine Einschränkung 1431 Die Ausdehnung von Art. 67 ICC-Statut auf die Vernehmung von Zeugen muss aus den gleichen Gründen abgelehnt werden wie am ICTY; Schabas, in: Triffterer, Commentary, 2008, Art. 67 Rn. 47. 1432 Eine interessante Problematik knüpft sich an die Frage, inwiefern internationalen Straftribunalen eine unmittelbare Verpflichtung privater Personen rechtlich möglich ist. Ambos vertritt die Auffassung, dass lediglich ein mittelbarer Aussagezwang besteht. Hiernach liegt es in der Verantwortung des Heimatstaates, den Zeugen zu einer Zusammenarbeit mit dem Gericht zu verpflichten. Auf diese Thematik soll im Rahmen dieser Arbeit nicht weiter eingegangen werden. Zur Vertiefung: Ambos, LJIL 15 (2002), S. 155 (167 ff.) und ICTY Blaskic, Judgment, IT-95-14-A, 29. Juli 1997. 1433 Das Beweisverwertungsverbot gilt umfassend und erstreckt sich auch auf indirekte Beweismittel, die infolge der Aussage aufgedeckt werden können, vgl. Ambos, LJIL 15 (2002), S. 155 (177). Regel 74 Abs. 7 ICC-RPE normiert konkrete Möglichkeiten einer Absicherung der Vertraulichkeitsgarantie durch Identitätsschutz und in camera Verfahren.

XI. Das Prinzip „Nemo tenetur se ipsum accusare“

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des Schweigerechts. Auf substanzieller Ebene setzt die gerichtliche Anordnung eine Abwägungsentscheidung voraus. Die Garantie einer persönlichen Straffreiheit steht im Widerspruch zur Gewährleistung individueller Gerechtigkeit. Des Weiteren wird das Interesse der objektiven Wahrheitsfindung durch ein Schweigerecht des Zeugen in Frage gestellt. Regel 74 Abs. 5 ICC-RPE legt konkrete Maßstäbe für die richterliche Ermessensausübung fest. Bei der Anordnung einer Aussageverpflichtung muss das Gericht die Bedeutung der erwarteten Beweismittel gegen die Schwere einer möglichen Straftat abwägen. Hierbei gilt es zu berücksichtigen, ob die notwendigen Informationen auch auf anderem Wege zu beschaffen sind. Ein weiterer Aspekt ist die Umsetzbarkeit eines effektiven Schutzes des Zeugen, dessen Sicherheit im Falle einer Selbstbelastung besonders gewährleistet werden muss. In formaler Hinsicht bestimmt Regel 74 Abs. 4 ICC-RPE die Notwendigkeit einer Absprache der richterlichen Anordnung mit dem Staatsanwalt. Die Beteiligung des Anklägers im Vorfeld einer gerichtlichen Zusage von Straffreiheit ist wichtige Voraussetzung, um eine Beeinträchtigung vorgesehener Ermittlungen gegen den Zeugen zu vermeiden. Es wäre künftig zu überlegen, ob die Entscheidung über eine Aussagepflicht des Zeugen vollständig in den Kompetenzbereich des Anklägers gestellt werden sollte. Die Abwägung divergierender Strafverfolgungsinteressen erfordert eine umfassende Bewertung der beweispraktischen Hintergründe eines Sachverhaltes. Das Gewicht einer Zeugenaussage und die Möglichkeit alternativer Informationsgewinnung können am effektivsten von der ermittelnden Anklagebehörde eingeschätzt werden. Es erscheint fraglich, ob die Beschränkung des Staatsanwaltes auf eine unverbindliche Meinungsäußerung seiner Verantwortlichkeit für die Durchsetzung des internationalen Strafanspruchs gerecht wird. Nach der hier vertretenen Ansicht sollte der Behörde zumindest ein wirksames Vetorecht eingeräumt werden, um Erfolg und Strategie der Untersuchungsarbeit nicht zu gefährden. Die Regelungen an den ECCC entsprechen nahezu wortgleich den Anforderungen der Prozessordnung des ICC. Wesentliche Unterschiede zu den Vorgaben des Ad-hoc-Tribunals bestehen im Umfang der getroffenen Regelung. Während der ICTY keine prozessualen Bedingungen an die Aufhebung des Schweigerechts knüpft, normiert das Verfahrensrecht von ECCC und ICC Voraussetzungen wie Rechtsfolgen abschließend.1434 Regel 90 (E) ICTY-RPE verzichtet zudem auf die Zusicherung von Vertraulichkeit und beschränkt ihren normativen Schutz auf ein Beweisverwertungsverbot. Ferner sieht die Prozessordnung des ICTY keine förmliche Garantie der Straffreiheit durch das Gericht vor. Mit einer ausdrücklichen Gewährleistung des Verfolgungsschutzes kann jedoch der innere Konflikt des Zeugen entsprechend der Zielsetzung des Nemo-tenetur-Prinzips gemindert werden.

1434 Die ICTY-RPE enthalten weder die Verpflichtung zur Rücksprache mit dem Ankläger noch Kriterien zur Abwägung.

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

b) Die Reichweite des Nemo-tenetur-Prinzips zu Gunsten des Zeugen Die Verfahrensordnungen internationaler Strafgerichte grenzen die Selbstbelastungsfreiheit des Zeugen im Interesse materieller Wahrheitsfindung ein. Sein Schweigerecht reduziert sich im Völkerstrafprozess auf die Zusicherung vertraulicher Behandlung und persönlicher Strafverschonung.1435 Die Wertung des internationalen Verfahrensrechts wirft die Frage nach ihrer Vereinbarkeit mit dem Nemotenetur-Grundsatz auf. Erschöpft sich die Gewährleistung des Prinzips im Ausschluss einer Strafverfolgung des Zeugen oder muss bereits die Aussagehandlung selbst geschützt werden? Ein Vergleich auf nationaler Ebene zeigt unterschiedliche Vorstellungen von der Definition der Schutzrichtung im angloamerikanischen und kontinentaleuropäischen Rechtskreis.1436 Das civil law verfolgt den Ansatz einer präventiven Garantie des Nemo-tenetur-Gebotes im Wege einer ex ante-Perspektive. Die Selbstbelastungsfreiheit des Zeugen verwirklicht sich in einer strikten Beachtung seines Schweigerechts und dem Verzicht auf eine Beweisgewinnung durch Aussagezwang.1437 Demgegenüber beruht das angloamerikanische Modell auf einem restriktiven Konzept des Nemo-tenetur-Prinzips. Vergleichbar den internationalen Strafgerichten wird im Sinne einer ex post-Betrachtung die Beweisermittlung durch Aufhebung des Schweigerechts gestattet, eine anschließende Beweisverwertung zu Lasten des Zeugen hingegen untersagt.1438 Aus dem Vergleich der nationalen Rechtsordnungen lässt sich erneut kein einheitliches Verständnis des Nemo-tenetur-Prinzips herleiten. Um seine rechtsstaatlichen Anforderungen an das internationale Strafverfahren zu bestimmen, muss auf eine Abwägung der prozessualen Interessen zurückgegriffen werden. Ambos wertet die ex post-Lösung des Völkerstrafprozessrechts als bestmöglichen Ausgleich des bestehenden Zielkonflikts.1439 Zu berücksichtigen sei zum einen die Verpflichtung der internationalen Gemeinschaft auf eine effektive Sanktion völkerrechtlicher Verbrechen. Auf der anderen Seite stünde das Interesse des Zeugen an seiner Straffreiheit.1440 Diese Betrachtung vernachlässigt jedoch einen Schutz des Zeugen vor der belastenden Aussagesituation selbst. Begreift man den Nemo-tenetur-Grundsatz als Ausdruck eines allgemeinen Persönlichkeitsrechts, geht seine Anwendung über die Rechtsfolgen einer Vernehmung hinaus.1441 Mit dem Konflikt des Betroffenen zwischen Aussagepflicht und Selbsterhaltung wird im kontinentaleuropäischen Recht das Verbot der Beweisgewinnung durch die Anordnung eines AusAmbos, LJIL 15 (2002), S. 155 (157). Ambos, LJIL 15 (2002), S. 155 (165). 1437 Beispiele hierfür sind unter anderem Deutschland (§55 StPO) und Spanien (Art. 24 Abs. 2 Spanische Verfassung). 1438 Als Beispiele sind die USA oder Kanada (Section 13 Canadian Charter of Rights and Freedoms) zu nennen. 1439 Ambos, LJIL 15 (2002), S. 155 (173). 1440 Ambos, LJIL 15 (2002), S. 155 (173). 1441 Decaux / Dieng, Human Rights, 2007, S. 99. 1435 1436

XI. Das Prinzip „Nemo tenetur se ipsum accusare“

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sagezwangs begründet.1442 Die innere Zwangslage, die als Argument für eine ausnahmslose Selbstbelastungsfreiheit gilt, beruht jedoch wesentlich auf der Vermeidung persönlicher Strafverfolgung. Knüpfen sich an die Aussage im Verfahren keine strafrechtlichen Folgen, besteht für den Zeugen keine vergleichbare psychologische Drucksituation. Die Zusicherung eines Beweisverwertungsverbotes ist grundsätzlich geeignet, den Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht erheblich einzuschränken. Die rechtsstaatliche Abwägungsentscheidung muss sich daher vorrangig im Rahmen einer effektiven Durchsetzung des Strafanspruchs vollziehen. Internationale Tribunale sehen sich vor die Schwierigkeit gestellt, die Strafverfolgung eines Täters nur auf Kosten der Straffreiheit eines anderen realisieren zu können. Der Nachweis von Befehlsketten und Verantwortlichkeiten auf Führungsebene erfordert in hohem Maße die Kooperation von Personen im Umfeld des Verdächtigen.1443 Hierbei handelt es sich oftmals um politisch oder militärisch Untergebene, die selbst an der Begehung völkerrechtlicher Verbrechen beteiligt waren. Ein Ausgleich der Verfolgungsinteressen setzt zunächst voraus, dass der Anklage die Möglichkeit einer Abwägung generell offen steht. Gegen die Zulässigkeit einer Ermessensentscheidung könnte ihre grundsätzliche Ermittlungspflicht sprechen, die in Art. 53 Abs. 1 ICC-Statut1444 und Art. 18 Abs. 1 ICTY-Statut niedergelegt ist. Das Statut des ICC erkennt den Verzicht auf Strafverfolgung indes im Einzelfall an (93 Abs. 2 ICC-Statut). Die Formulierungen von Art. 53 Abs. 1 lit. c und Abs. 2 lit. c ICC-Statut gewähren der Anklage Spielraum im Rahmen der Anklageerhebung. Liegt ein Strafverfahren nicht im Interesse der Gerechtigkeit, kann trotz hinreichender Beweislage von seiner Einleitung abgesehen werden. Eine entsprechende Regelung fehlt im Statut des ICTY, wird jedoch implizit vorausgesetzt.1445 An dieser Stelle wäre eine ausdrückliche Aufhebung der allgemeinen Ermittlungspflicht wünschenswert. Ist eine Abwägung der Strafverfolgungsinteressen zulässig, müssen die Kriterien eines gerechten Ausgleichs festgelegt werden. Nach welchen Maßstäben sich die Priorität einer Verurteilung bestimmt, unterliegt der politischen Einschätzung des Tribunals. Die bisherige Praxis internationaler Gerichte, die einer Überführung hochrangiger Täter den Vorzug einräumt, begegnet keiner Kritik.1446 Der historische 1442 Sautter, AcP 161 (1962), S. 215 (257); Rüping, JR 4 (1974), S. 135 (136); Bosch, Aspekte, 1998, S. 32, 42. 1443 Siehe beispielhaft zur Bedeutung von Zeugen ICTY Kupreškić et al, Judgment, IT95.16, 23. Oktober 2001, Rn. 73 ff. 1444 In Art. 15 Abs. 1 ICC-Statut wird die Ermittlung in das Ermessen des Anklägers gestellt. Art. 53 ICC-Statut wird jedoch als normative Präzisierung und Ausdruck des Legalitätsprinzips verstanden, Ambos, LJIL 15 (2002), S. 155 (174). 1445 Ambos, LJIL 15 (2002), S. 155 (175). 1446 Ambos, LJIL 15 (2002), S. 155 (175): „[I]f a little subordinate can give crucial evidence as a witness to convict a major criminal, it can be justified that the former obtains immunity from prosecution.“

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D. Verfahrensgarantien im völkerrechtlichen Strafverfahren

Auftrag der Tribunale gebietet eine umfassende Aufdeckung der politischen Zusammenhänge. Sollen schwere Menschenrechtsverletzungen präventiv verhindert sowie eine Straflosigkeit auf Regierungsebene beendet werden, gilt es Befehlshaber und Führungspersonen vor Gericht zu stellen.1447 Die ausführlichen Regelungen an ICC und ECCC geben klare Richtlinien für die Zusicherung individueller Straffreiheit vor. Die Bedeutung des Strafanspruchs erfordert eine gewissenhafte Würdigung der gegenläufigen Ermittlungspflichten sowie den restriktiven Umgang mit der Durchbrechung des Schweigerechts. Die Vorgaben des ICTY sind hingegen nicht ausreichend, um eine transparente und angemessene Abwägung der Strafnotwendigkeiten zu gewährleisten. Künftig sollte die Anordnung eines Aussagezwangs nach den eindeutigen Prämissen von ICC und ECCC erfolgen.

c) Die Schutzvorschriften zu Gunsten des aussageverpflichteten Zeugen Die Tribunale garantieren dem Zeugen Straffreiheit im Rahmen ihrer Jurisdiktion. Regel 74 Abs. 3 lit. c (ii) ICC-RPE beschränkt den Verfolgungsschutz explizit auf Folgeuntersuchungen durch den Internationalen Strafgerichtshof („any subsequent prosecution by the Court“).1448 In gleicher Weise sieht das Verfahrensrecht der ECCC ein Beweisverwertungsverbot ausschließlich für Strafprozesse der hybriden Kammern vor („will not be used either directly or indirectly against that person in any subsequent prosecution by the ECCC“). Regel 90 E ICTY-RPE enthält keine ausdrückliche Bestimmung zum Anwendungsbereich, verpflichtet jedoch ebenso wenig zur Gewährleistung von Straffreiheit außerhalb des gerichtlichen Kompetenzbereichs. Die Prozessordnungen der Gerichte begrenzen die Reichweite eines Verwertungsschutzes auf die eigene Ermittlungszuständigkeit. Eine Verwendung der Zeugenaussagen im nationalen Zivil- oder Strafverfahren untersagt das Völkerstrafrecht folglich nicht. Erlangt eine staatliche Anklagebehörde Kenntnis von den selbstbelastenden Inhalten der Vernehmung, kann sie ein selbständiges Verfahren gegen den Zeugen einleiten. Angesichts der geltenden Universaljurisdiktion für völkerrechtliche Verbrechen wäre nahezu jeder Staat zur Durchführung strafrechtlicher Ermittlungen befugt.1449 Können völkerrechtliche Tribunale eine umfassende Straffreiheit ihrer Zeugen nicht garantieren, erscheint die Vereinbarkeit einer Aussagepflicht mit dem Nemotenetur-Grundsatz zweifelhaft. Das rechtsstaatliche Schweigerecht erfordert die del Ponte, Im Namen der Anklage, 2009, S. 14. Ausgenommen hiervon sind Verfahren wegen Falschaussage oder Fehlverhalten vor Gericht nach Artt. 70, 71 ICC-Statut. 1449 Cassese, International Criminal Law, 2008, S. 284; Kreß, JICJ 4 / 3 (2006), S. 561; Werle, Völkerstrafrecht, 2007, Rn. 184 m.w. N. 1447 1448

XI. Das Prinzip „Nemo tenetur se ipsum accusare“

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Auflösung des Konflikts einer erzwungenen Selbstbelastung durch die Zusicherung eines Beweisverwertungsverbotes. Sollen die Regelungen der internationalen Strafgerichte rechtsstaatlichen Grundsätzen genügen, müssen Wege zur Gewährleistung eines effektiven Zeugenschutzes gefunden werden. Ambos verortet das Problem im nationalen Recht und weist auf die innerstaatliche Geltung des Nemo-tenetur-Prinzips hin. Durch eine Verwendung der Zeugenaussagen im Rahmen nationaler Strafverfolgung würde der handelnde Staat gegen eigene Rechtsgrundsätze verstoßen.1450 Da die Staaten völkergewohnheitsrechtlich an die Grundsätze der Selbstbelastungsfreiheit gebunden wären, sei ihnen eine Strafverfolgung der aussageverpflichteten Täter untersagt. Aus rechtlicher Perspektive erscheint jedoch fraglich, ob sich ein Staat den Aussagezwang eines internationalen Strafgerichts zurechnen lassen muss. Inwiefern das Ausnutzen einer Selbstbelastungspflicht durch einen anderen Hoheitsträger als Verletzung innerstaatlichen Rechts gewertet wird, lässt sich nicht mit Sicherheit vorhersagen. In praktischer Hinsicht ist zudem nicht auszuschließen, dass politische Interessen an der Verfolgung bestimmter Straftäter die Bedenken an einer Verwertung ihrer Aussagen überwiegen. Um der Verantwortung für den Verfolgungsschutz der Zeugen gerecht zu werden, müssen die Staaten auf internationaler Ebene zu einer Zusicherung von Straffreiheit verpflichtet werden.1451 Es ist Aufgabe völkerrechtlicher Gerichte, auf eine Integration des Beweisverwertungsverbotes in die nationalen Kooperationsgesetze hinzuwirken. Angesichts der Vielzahl verfolgungsberechtigter Staaten kann die Möglichkeit weiterer Strafverfahren jedoch nicht vollständig ausgeschlossen werden.1452 Eine wichtige Ergänzung des Zeugenschutzes ist daher die Gewährleistung von Vertraulichkeit nach dem Vorbild der Prozessordnungen von ICC und ECCC. Durch Maßnahmen des Identitätsschutzes können selbstbelastenden Aussagen von Verfahrenszeugen für den internationalen Strafprozess nutzbar gemacht werden, ohne Beweismittel für eine staatliche Anklage zu liefern. Des Weiteren muss die Gefahr einer nationalen Strafverfolgung in die Entscheidung des Gerichts über die Anordnung eines Aussagezwangs einbezogen werden. Ist der Schutz des Zeugen vor strafrechtlichen Ermittlungen nicht weitgehend sichergestellt, verlangt das Nemo-tenetur-Prinzip die Wahrung seines Schweigerechts.

Ambos, LJIL 15 (2002), S. 155 (175). Kreß, Witnesses, in: Fischer / Kreß et al. (Hrsg.), International and National Prosecutions of Crimes under International Law, 2001, S. 309 (347). 1452 Insbesondere an hybriden Tribunalen erscheint eine Verpflichtung von Einzelstaaten schwierig. Handelt es sich – wie in Kambodscha – um einen bilateralen Gründungsvertrag, können beispielsweise Nachbarstaaten nicht unmittelbar zur Gewährleistung von Straffreiheit verpflichtet werden. 1450 1451

E. Die Gestaltung des Prozessmodells In den vergangenen Kapiteln wurden die rechtsstaatlichen Grundsätze internationaler Strafverfahren untersucht sowie Vorschläge zur Verbesserung und Neugestaltung des Prozessrechts diskutiert. Ein Vergleich der divergierenden Regelungen im Völkerstrafrecht hat zahlreiche Ansatzpunkte für die Integration inquisitorischer Verfahrenselemente nachgewiesen. Eine zusammenfassende Würdigung prozessualer Probleme und Zielstellungen soll die grundsätzliche Bedeutung des civil law für die Zukunft des internationalen Strafverfahrens bestätigen. Nach der hier vertretenen These gewährleistet eine deutlichere Ausrichtung am kontinentaleuropäischen Prozessmodell wichtige Voraussetzungen für eine faire und effektive Verwirklichung völkerstrafrechtlicher Verfahren. Gleichwohl soll das civil law ausdrücklich nicht als Alternative zum common law, sondern als notwendige Ergänzung der bestehenden adversatorischen Strukturen erörtert werden. Safferling ist in seiner Kritik an einem unbedingten Beharren auf nationalen Rechtstraditionen zuzustimmen. „[E]in Beharren auf verschiedenen Traditionen [muss] endlich beendet werden (…). Es geht nicht darum, welches System das bessere ist, es geht um die Entwicklung einer funktionstüchtigen internationalen Strafrechtspflege auf der Grundlage universeller Menschenrechte.“1

Gegenstand einer grundlegenden prozessualen Diskussion soll daher nicht die Frage nach einer möglichen konzeptionellen Überlegenheit eines Rechtssystems sein. Vielmehr gilt es, die Stärken beider Verfahrenssysteme zu analysieren und bestmöglich zu verbinden. Ein gemischtes Prozessmodell bietet die Chance, den besonderen Anforderungen eines völkerrechtlichen Strafverfahrens durch eine Berücksichtigung der jeweiligen Vorzüge nationaler Verfahrensordnungen gerecht zu werden. Zugleich ist die Kombination der Prinzipien Ausdruck eines notwendigen Misstrauens gegen die ausnahmslose Überlegenheit eines Verfahrensmodells. Sie trägt der Annahme Rechnung, dass jedes Prozesssystem strukturelle Schwächen aufweist und nicht ohne Einschränkungen auf die internationale Ebene übertragbar ist. Nicht zuletzt liegt der Wert einer Zusammenführung adversatorischer und inquisitorischer Elemente in der Relativierung ihrer Gegensätze. Nach Safferling zeichnet die Annäherung ihrer Philosophien ein realistisches Bild der Möglichkeiten und Grenzen des Strafverfahrens. „Such a combination neither sticks to the wrong allusion that cross-examination is the only ‚vehicle for the truth‘ nor is glued to the belief that a single person can on his own extract 1

Safferling, ZStW 2010, S. 111.

E. Die Gestaltung des Prozessmodells

507

the truth. It acknowledges systematic and practical failures in both approaches and tries to combine their positive effects.“2

Auch Eser, der die adversatorische Prägung völkerstrafrechtlicher Verfahren äußerst kritisch betrachtet, lehnt eine vollständige Ausklammerung angloamerikanischer Grundsätze aus einem internationalen Prozessrecht ab.3 Trotz seiner klaren Stellungnahme zu Gunsten einer inquisitorischen Verfahrensführung befürwortet Eser einen sinnvollen Ausgleich der nationalen Rechtstraditionen.4 Nachfolgend gilt es zu untersuchen, inwieweit die divergierenden Prinzipien im Kontext eines völkerrechtlichen Strafverfahrens Geltung beanspruchen können. Die Bewertung der Modelle erfolgt unter dem Blickwinkel der besonderen Anforderungen des Völkerstrafrechts an eine effektive und faire Verfahrensführung. Maßstäbe für die Gestaltung eines internationalen Prozessrechts müssen die Eignung der Rechtssysteme zur Lösung aufgetretener Verfahrensprobleme, die Umsetzung internationaler Prozessziele sowie ihre Vereinbarkeit mit den strafprozessualen Strukturen des Völkerrechts sein. Von der Betrachtung ausgenommen werden die Verfahrenssysteme hybrider Tribunale. Ihre besondere Verantwortung für die Integration nationaler Rechtsvorstellungen rechtfertigt eine einzelfallorientierte Entscheidung über die Wahl des Prozessmodells. Um der grundsätzlichen Kritik an einem wertenden Vergleich angloamerikanischer und kontinentaleuropäischer Elemente zu begegnen, sei auf den strengen Bezug der Untersuchung zum internationalen Strafrecht hingewiesen. Es soll an dieser Stelle keine Wertung über die Effektivität und Gerechtigkeit der Rechtsysteme auf staatlicher Ebene getroffen werden. Die Ausführungen beschränken sich ausdrücklich auf Umstände und Herausforderungen des völkerstrafrechtlichen Verfahrens. Ferner muss die Argumentation für die Stärken eines Prozessmodells in dem Bewusstsein erfolgen, dass seine Realisierung wesentlich durch politische Faktoren bedingt ist. Eine wissenschaftliche Betrachtung darf sich jedoch nicht von aktuellen politischen Interessen abhängig machen, sondern hat eine objektive Bewertung der Rechtslage vorzunehmen.5 Entscheidungen zu Gunsten der Prinzipien eines Rechtssystems werden bei den Befürwortern des Gegenmodells auf Widerstand treffen, können jedoch wichtige Impulse für eine grundlegende Diskussion des Verfahrensrechts geben. Die Darstellung soll zugleich ein Plädoyer dafür sein, das bestehende Verfahrensrecht des Internationalen Strafgerichtshofs nicht kritiklos anzunehmen. Angesichts ihrer Permanenz ist zu erwarten, dass sich die Prozessordnung des ICC zum Maßstab des internationalen Verfahrensrechts entwickeln wird. Dies bedeutet jedoch Safferling, Towards an International Criminal Procedure, 2007, S. 371 f. Eser, The „Adversarial“ Procedure, 2008, S. 207 (223). 4 Eser, The „Adversarial“ Procedure, 2008, S. 207 (225). 5 Eser, Reflexionen zum Prozesssystem, in: Sieber (Hrsg.), Strafrecht und Wirtschaftsstrafrecht, FS Tiedemann, 2008, S. 1453 (1457). 2 3

508

E. Die Gestaltung des Prozessmodells

nicht, die existierenden Regelungen als unveränderbar zu verstehen. Dient das Prozessrecht des Gerichtshofs als Vorbild für eine Gestaltung des Völkerstrafverfahrens, müssen im Gegenzug hohe Anforderungen an seine Gewährleistungen gestellt werden. Da die Divergenzen zwischen dem angloamerikanischen und kontinentaleuropäischen Recht bereits mehrfach erörtert wurden, kann auf eine erneute Darstellung verzichtet werden. Hier sei lediglich an die Besonderheiten des civil law erinnert, die im entscheidenden Gegensatz zur adversatorischen Prozessführung stehen. Das kontinentaleuropäische Verfahren unterscheidet sich vom common law in erster Linie durch die Gestaltung der prozessualen Funktionen von Richtern und Anklägern. Im inquisitorischen Verfahren obliegt dem Richter die Leitung der Hauptverhandlung und Durchführung der Beweisaufnahme. Die Anklage unterstützt das Gericht in seiner Pflicht zur materiellen Wahrheitsfindung durch eine objektive Ermittlungsarbeit. Der Ankläger steht der Verteidigung nicht als Partei gegenüber, sondern wird auf eine neutrale Verfahrensrolle festgelegt.6

I. Die Vorzüge des adversatorischen Strafprozesses Ein Vergleich der Statuten internationaler Strafgerichte belegt eine eindeutige Dominanz des angloamerikanischen Verfahrensmodells.7 Angesichts der praktischen Bedeutung adversatorischer Strukturen sollen deren Vorzüge für einen rechtsstaatlichen Strafprozess kurz erörtert werden. Wenngleich die bisherigen Darstellungen weitgehend kontinentaleuropäische Ansätze begünstigt haben, sprechen gute Gründe für eine kontradiktorische Verfahrensführung. Wesentliche Argumente für das adversatorische System stützen sich auf die Annahme einer umfassenderen Beweiswürdigung, größerer subjektiver Fairness sowie einer besseren Gewährleistung objektiver Entscheidungsfindung.

1. Die Garantie einer umfassenden Beweiswürdigung In der Literatur wird vielfach die Ansicht vertreten, das adversatorische Verfahren gewährleiste gegenüber dem inquisitorischen Modell einen effektiveren Schutz der prozessualen Rechte des Angeklagten.8 Diese Einschätzung ist vornehmlich auf die Annahme zurückzuführen, dass die Gestaltung der Beweisaufnahme eine faire Verteidigung des Angeklagten vor Gericht privilegiere. Eine Verhandlung nach den Grundsätzen des common law sichere eine umfassendere Berücksichtigung entWilhelmi, Die Verfahrensordnung, 2004, S. 23. Eser, The „Adversarial“ Procedure, 2008, S. 207. 8 Zappalà, Human rights, 2005, S. 244; Sadoghi, ZfRV 2007, S. 231 (236); Groulx, A Strong Defence, in: Bevers / Joubert (Hrsg.), An Independent Defence, 2000, S. 7 (17). 6 7

I. Die Vorzüge des adversatorischen Strafprozesses

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lastender und zugleich eine kritischere Überprüfung belastender Beweismittel. Zappalà meint: „Usually, a trial conducted the adversarial style offers a better guarantee to the accused that his case will be more carefully examined and evidence cautiously tested.“9

Der adversatorische Parteiprozess beruht auf der grundlegenden Prämisse, die Wahrheitsfindung habe im Wege einer kontradiktorischen Auseinandersetzung mit der Beweislage zu erfolgen.10 Der Interessengegensatz zwischen den Parteien fördere die Ambition zur Verfolgung der eigenen Rechtsposition und stelle hierdurch die Vollständigkeit der Beweisaufnahme sicher.11 Der antagonistische Charakter der Beweispräsentation erscheint in der Tat geeignet, die Suche nach entlastendem Beweismaterial zu begünstigen. Das Spannungsverhältnis zwischen den Parteien ermöglicht überdies eine genaue Kontrolle der eingebrachten Beweismittel. Durch die wechselseitige Prüfung der Beweisstücke wird eine differenzierte Bewertung des Sachverhaltes garantiert. Da sämtliche Dokumente unter den gegensätzlichen Blickwinkeln von Anklage und Verteidigung gewürdigt werden, kann der Beschuldigte nachteilige Schlussfolgerungen umgehend hinterfragen und alternative Deutungen anbieten.12 Wenngleich die Wahrheit nicht zwingend im Widerspruch liegen muss, vermag eine adversatorische Verfahrensgestaltung die Voraussetzungen für eine erschöpfende Beweisermittlung zu schaffen. Ein weiterer Vorteil des angloamerikanischen Strafprozesses wird in der gleichberechtigten Stellung von Anklage und Verteidigung gesehen.13 Während das adversatorische Verfahren dem Angeklagten uneingeschränkte Subjektqualität zugestehe, begründe das inquisitorische Modell ein Verhältnis der Unterordnung gegenüber staatlichen Organen.14 Da sich der Parteiprozess deutlicher an individuellen Freiheiten denn an gesellschaftlichen Strafzielen ausrichte, berücksichtige das angloamerikanische Rechtssystem in besonderem Maße die Interessen einer fairen Verteidigung.15 Die Vorzüge einer adversatorischen Verfahrensgestaltung relativieren sich jedoch im Kontext des internationalen Strafprozesses. Da im Folgenden noch ausführlich auf die besonderen Anforderungen des Völkerstrafrechts eingegangen wird, sei an dieser Stelle nur knapp auf die Probleme eines strengen Parteiprozesses hingewiesen. Die Komplexität völkerstrafrechtlicher Verbrechen sowie die praktischen Schwierigkeiten der Beweisgewinnung wirken sich vorwiegend zum Nachteil der Zappalà, Human rights, 2005, S. 28. Sadoghi, ZfRV 2007, S. 231 (235). 11 Thibaut / Walker, Cal.L.Rev. 66 (1978), S. 541 (547). 12 Thibaut / Walker, Cal.L.Rev. 66 (1978), S. 541 (547). 13 Zappalà, Human rights, 2005, S. 249. 14 Arnold, Symbols of Government 1962, S. 134 f.; Trüg, Lösungskonvergenzen, 2008, S. 27. 15 Zappalà, Human rights, 2005, S. 249. 9

10

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E. Die Gestaltung des Prozessmodells

Verteidigung aus.16 Ein adversatorischer „Wettstreit“ birgt die Gefahr, die strukturell unterlegene Partei im Verfahren zu schwächen. Die Übernahme kontradiktorischer Ansätze muss daher unter dem Vorbehalt korrektiver Maßnahmen stehen, die den Anforderungen prozessualer Fairness im internationalen Rahmen gerecht werden. Auch Zappalà, der das adversatorische Verfahren grundsätzlich befürwortet, verlangt im Interesse der Verteidigung eine Einschränkung des reinen Parteiprozesses.17 „It soon appeared that a [fundamentally adversarial] model did not fully meet the demands of international criminal proceedings. (…) Hence, it became clear that in international criminal proceedings some changes to the adversarial model were necessary.“18

Die Notwendigkeit prozessualer Modifikationen stellt jedoch die Vorzüge einer kontradiktorischen Beweisaufnahme nicht generell in Frage. Die Gewährleistung unabhängiger Handlungsspielräume der Verteidigung muss auch im Völkerstrafrecht ein wesentlicher Bestandteil fairer Verfahrensgestaltung sein.19

2. Die Gewährleistung subjektiver Fairness In den Siebzigerjahren führten die amerikanischen Wissenschaftler LaTour, Lind, Houlden, Walker und Thibaut verschiedene Untersuchungen zum Vergleich adversatorischer und inquisitorischer Verfahren durch.20 Einen Schwerpunkt ihrer Forschung legten sie auf die Wahrnehmung prozessualer Fairness durch Beteiligte und Zuschauer. Die subjektive Bewertung eines Verfahrens als „gerecht“ oder „ungerecht“ sollte Auskunft über die Akzeptanz der Prozessmodelle geben.21 In einer Studie von Thibaut und Walker wurden verschiedenen Probandengruppen simulierte Strafverfahren vorgeführt.22 Die Probanden nahmen hierbei teils die Rolle des Zuschauers, teils die Position des Angeklagten ein. Um Vergleichbarkeit zu gewährleisten, blieben Sachverhalt und verfügbare Beweismittel unverändert. Als variable Faktoren wurden die wesentlichen Unterschiede adversatorischer und inquisitorischer Verfahren im Ablauf der Beweisaufnahme berücksichtigt.23 Die Probanden verfolgten den simulierten Strafprozess in vier Gruppen, wobei zwischen adversatorischer und inquisitorischer Beweisführung sowie zwischen positivem und negatiKamardi, Die Ausformung, 2009, S. 331. Zappalà, Human rights, 2005, S. 250. 18 Zappalà, Human rights, 2005, S. 249 f. 19 Groulx, A Strong Defence, in: Bevers / Joubert (Hrsg.), An Independent Defence, 2000, S. 7 (17). 20 Siehe beispielsweise Thibaut / Walker / Lind, Va.L.Rev 62 (197), S. 271 ff.: Thibaut / Houlden / LaTour / Walker, Yale L.Rev 86 (1976), S. 258 ff.: LaTour, J. Personality & Soc. Psychol. 36 (1978), S. 1531 ff. 21 Hierzu auch Colquitt / Greenberg / Zapata-Phelan, Organizational justice, in: Greenberg, J. / Colquitt, J.A. (Hrsg.), Handbook of Organizational Justice, 2005, S. 3 (22). 22 Thibaut / Walker, Procedural justice, 1975. 23 Gute Darstellung und Auswertung bei Lind / Tyler, Procedural justice, 1988, S. 17 ff. 16 17

I. Die Vorzüge des adversatorischen Strafprozesses

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vem Verfahrensausgang differenziert wurde. Im Anschluss an die Urteilsverkündung sollten die Teilnehmer ihre Zufriedenheit mit Ergebnis und Ablauf der Verhandlungen bewerten. Die Studie belegt einen eindeutigen Zusammenhang zwischen der Wahrnehmung prozessualer Fairness und der Wahl des Verfahrensmodells. Beteiligte wie Beobachter schätzten die Gerechtigkeit des Parteiprozesses im Vergleich zum inquisitorischen Gegenmodell deutlich höher ein.24 Als maßgeblich für die Beurteilung der Fairness eines Verfahrens erwies sich nicht allein der Inhalt des Urteilsspruchs, sondern ebenso die Gestaltung der Beweisaufnahme.25 Dies galt insbesondere dann, wenn sich die teilnehmenden Probanden mit der unterlegenen Partei identifizierten. Das adversatorische Verfahren erschien folglich besser geeignet, die Akzeptanz gerichtlicher Entscheidungen durch den Angeklagten und die Öffentlichkeit zu gewährleisten. Thibaut und Walker führen das Ergebnis ihrer Untersuchungen im Wesentlichen auf den Gedanken einer unterschiedlichen Prozesskontrolle („process control“) zurück. Die subjektive Legitimation eines Verfahrens hänge entscheidend von den Möglichkeiten des Angeklagten zur Einwirkung auf den Fortgang der Verhandlungen ab. „We suggest that the just procedure (…) is a procedure that entrusts much control over the process to the disputants themselves and relatively little control to the decision maker. There are many correlated and subsidiary elements of procedural justice, but the key requirement for procedural justice is this optimal distribution of control.“26

Das adversatorische Verfahren erlaubt der Verteidigung eine weitgehend unbeschränkte Präsentation ihres Falles. Die Freiheit in der Beweisführung vermittelt dem Angeklagten den Eindruck, den Verfahrensausgang durch eigenes Handeln beeinflussen zu können.27 Trägt hingegen ein Richter die Verantwortung für eine vollständige Würdigung des Sachverhaltes, wird der Angeklagte bereits die Grundlagen der gerichtlichen Entscheidungsfindung in Zweifel ziehen. Im Falle eines Schuldspruches besteht im inquisitorischen Verfahren die Gefahr, den nachteiligen Ausgang auf eine einseitige Beweisermittlung zurückzuführen. Das Maß an Kontrolle über Verlauf und Umfang der Verhandlungen ist daher in der Tat ein wesentliches Kriterium für die subjektive Einschätzung ihrer Fairness. Kritisch sei jedoch anzumerken, dass die Studien von deutlich vereinfachten Grundmodellen der Prozesssysteme ausgehen mussten. So wurde die Beweispräsentation im simuliert inquisitorischen Verfahren einem neutralen Anwalt übertragen, der gleichberechtigt für Anklage und Verteidigung agieren sollte.28 Die Unter24 25 26 27 28

Lind / Tyler, Procedural justice, 1988, S. 29. So bereits in Thibaut / LaTour / Lind / Walker, J. Appl. Soc. Psychol. 1974, S. 295 (304). Thibaut / Walker, Procedural justice, 1975, S. 2. Lind / Tyler, Procedural justice, 1988, S. 30. Lind / Tyler, Procedural justice, 1988, S. 27.

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E. Die Gestaltung des Prozessmodells

suchung ließ unberücksichtigt, dass eine Interessenvertretung des Angeklagten auch im kontinentaleuropäischen Recht durch einen Verteidiger gewährleistet wird. Zum Zwecke einer klaren Abgrenzbarkeit adversatorischer und inquisitorischer Elemente im Rahmen der Studie war ihre Beschränkung auf wesentliche Strukturen des Prozessmodells gerechtfertigt. Gleichwohl begünstigt eine verkürzte Darstellung der Beweisaufnahme den Eindruck geringer Verfahrenskontrolle. Ist die Möglichkeit eigener Einflussnahme auf den Prozessverlauf maßgebliche Determinante einer subjektiven Bewertung von Fairness, müssen Abweichungen von den tatsächlichen Verfahrensbedingungen das Ergebnis der Untersuchungen relativieren. Das subjektive Verständnis prozessualer Gerechtigkeit ist ein wichtiger Indikator für die Akzeptanz des Urteils sowie die Befriedigung gesellschaftlicher Strafinteressen. Die Aussagekraft der Studie ist jedoch angesichts ihrer Fokussierung auf die Rolle des Angeklagten begrenzt. Die Fairness eines Strafprozesses erschöpft sich nicht in der Feststellung einer Interessenwahrung des Angeklagten. Die Wahrnehmung des Verfahrens in der Öffentlichkeit wird sich in vergleichbarer Weise nach der Opferperspektive richten. Es ist anzunehmen, dass die Gerechtigkeit gegenüber den Opfern der Straftat einen bedeutenden Faktor für die Bewertung einer fairen Prozessgestaltung darstellt. Das parteizentrierte Verfahren adversatorischer Rechtssysteme klammert die Bedürfnisse des Opfers jedoch weitgehend aus.29 Aus dem Blickwinkel eines Opferschutzes stellen die Möglichkeiten zur Verzögerung der Beweisaufnahme sowie die Belastungen eines Kreuzverhörs erhebliche Schwächen des angloamerikanischen Strafprozesses dar. Ein umfassender Vergleich der prozessualen Fairness adversatorischer und inquisitorischer Verfahren muss die Opferperspektive als Bestandteil subjektiven Gerechtigkeitsempfindens einbeziehen. In der Studie ebenfalls unberücksichtigt bleibt die Problematik überlanger Verfahrensdauer, die eine wichtige Voraussetzung für das faire Verfahren bildet. Insbesondere auf internationaler Ebene kann die Fairness des Strafprozesses nicht gänzlich unabhängig von einer Umsetzung des rechtsstaatlichen Beschleunigungsgebotes beurteilt werden. Die adversatorische Beweisaufnahme erfordert eine weitaus zeitintensivere Auseinandersetzung mit den Beweismitteln der Gegenseite.30 Da Fragen der Verfahrensbeschleunigung im Rahmen der Untersuchung nicht simulierbar waren, entfiel abermals ein Ansatzpunkt für die Kritik am adversatorischen Prozess.

3. Die Sicherstellung eines unvoreingenommenen Verfahrens Die Untersuchung subjektiv wahrgenommener Fairness beschränkt sich auf die Abbildung individueller Eindrücke von Gerechtigkeit, ohne eine Aussage über deren objektive Verwirklichung zu treffen. Eine Bewertung prozessualer Fairness nach 29 Heinsch, How to achieve, in: Stahn / Sluiter (Hrsg.), The Emerging Practice of the International Criminal Court, 2009, S. 479 (494). 30 Tiedemann, ZRP 1992, S. 107 (108).

I. Die Vorzüge des adversatorischen Strafprozesses

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Maßgabe objektiver Kriterien gestaltet sich jedoch bereits in der Wahl ihrer Vergleichsgrundlage schwierig. Die Beurteilung eines Verfahrensmodells nach seiner Eignung zur Gewährleistung gerechter Entscheidungen muss unter der Annahme erfolgen, den objektiv richtigen Verfahrensausgang bestimmen zu können. Neben der Frage, ob sich Gerechtigkeit einer objektiven Einschätzung generell entzieht, setzt eine Würdigung des Urteilsinhalts sichere Kenntnis von Schuld oder Unschuld des Angeklagten voraus. Da die materielle Fairness des Richterspruchs folglich kaum zu ermessen ist, können lediglich die Rahmenbedingungen für eine gerechte Entscheidungsfindung untersucht werden. In einer weiteren Studie verglichen Thibaut und Walker die Auswirkungen richterlicher Voreingenommenheit im adversatorischen und inquisitorischen Verfahren.31 Die Unparteilichkeit des Gerichts ist notwendige Voraussetzung eines ausgewogenen Urteils und dadurch wichtiger Indikator für die Gerechtigkeit seiner Wertungen. Im Rahmen der Untersuchung wurde den Probanden zunächst eine Reihe von Strafprozessen gezeigt, in denen die eindeutige Beweislage eine Schuld des Angeklagten belegen konnte. Anschließend hatten die Teilnehmer einen ähnlich gelagerten Sachverhalt zu beurteilen, der jedoch gleichermaßen belastende wie entlastende Beweismittel enthielt. Die Probanden wurden in zwei Versuchsgruppen aufgeteilt und sahen die simulierte Beweisaufnahme entweder nach adversatorischem oder inquisitorischem Modell. Durch die Erfahrung einer Verurteilung in den früheren Prozessen sollte eine Voreingenommenheit der Probanden zu Ungunsten des Angeklagten hervorgerufen werden. Ihre Entscheidung im Untersuchungsfall konnte Auskunft darüber geben, inwieweit sich eine bestehende Parteilichkeit im Rahmen der verschiedenen Verfahrensmodelle auswirkte. Da die simulierte Beweislage kein eindeutiges Ergebnis zuließ, hätte eine unvoreingenommene Würdigung des Sachverhaltes zu einer annähernd hälftigen Verteilung zwischen Schuld- und Freispruch führen müssen. Während ein entsprechendes Resultat nach adversatorischer Prozessführung erreicht wurde, entschieden sich die Teilnehmer des inquisitorischen Verfahrens deutlich häufiger für eine Verurteilung des Angeklagten.32 Thibaut und Walker ziehen hieraus die Schlussfolgerung, dass anfängliche Vorbehalte durch eine kontradiktorische Beweiswürdigung wirksamer ausgeglichen werden können.33 Die Gewährleistung richterlicher Unparteilichkeit hat sich im internationalen Strafverfahren als besondere Herausforderung erwiesen.34 Angesichts der politischen Hintergründe völkerrechtlicher Verbrechen besteht die Gefahr einer Einflussnahme staatlicher Interessen auf die Überzeugungsbildung des Gerichts. Die Präsenz der Konfliktsituation in den Medien legt die Vermutung nahe, dass sich der Richter bereits im Vorfeld des Verfahrens eine Meinung zu den wesentlichen Fragen des Sachverhaltes gebildet hat. Die Vorverurteilung der Taten durch die Öffentlich31 32 33 34

Thibaut / Walker, Procedural justice, 1975 Kapitel 7. Siehe Auswertung bei Lind / Tyler, Procedural justice, 1988, S. 20 ff. Thibaut / Walker, Procedural justice, 1975 Kapitel 7. Siehe hierzu Kapitel D. III.

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E. Die Gestaltung des Prozessmodells

keit muss als psychologischer Faktor zum Nachteil des geltenden Unschuldsprinzips berücksichtigt werden. Eine adversatorische Prozessgestaltung relativiert die praktischen Konsequenzen einer Parteilichkeit internationaler Strafrichter. Da das inquisitorische Verfahren dem Gericht die Kompetenz zur Durchführung der Beweisaufnahme überträgt, kann sich eine Voreingenommenheit bereits in der Selektion der Beweismittel auswirken. Die weitreichenden Möglichkeiten der Prozessgestaltung erlauben es dem Richter, Beweisanträge der Parteien abzulehnen und angebotene Belegstücke in der Hauptverhandlung zurückzuweisen. Erfolgt eine richterliche Befragung von Zeugen und Angeklagten nicht unter der Prämisse materieller Wahrheitsfindung, ist die Aussagekraft des Beweismittels begrenzt.35 Im Unterschied zum adversatorischen Verfahren erfährt eine einseitig geführte Vernehmung kein Korrektiv durch die gleichberechtigte Anhörung der Gegenseite. Eine fehlende Berücksichtigung entlastender Argumente unterläuft das Ziel einer historisch umfassenden Aufarbeitung und rechtsstaatlichen Verurteilung internationaler Straftaten. Das inquisitorische Verfahren beruht maßgeblich auf der Vorstellung eines unabhängigen und objektiv handelnden Gerichts. Die Befugnisse des Richters zur Gestaltung der Beweisaufnahme rechtfertigen sich durch seine Rolle als neutrale Entscheidungsinstanz. Mit der Feststellung subjektiver Voreingenommenheit entfällt eine wesentliche Prämisse des kontinentaleuropäischen Prozessmodells. Kann die Objektivität eines Richters nicht gewährleistet werden, ist seiner Berechtigung zur Verfahrensführung die teleologische Grundlage entzogen. Folgerichtig stehen die Auswirkungen einer richterlichen Parteilichkeit im Verhältnis zum Umfang seiner prozessualen Kompetenzen. Angesichts der passiven Rolle des angloamerikanischen Richters sind die Konsequenzen einer vorgefassten Meinungsbildung im adversatorischen Verfahren erheblich begrenzt. Die rechtsstaatlichen Grundsätze von Unschuldsvermutung und Unvoreingenommenheit sprechen für einen Parteiprozess nach adversatorischem Modell. Gleichwohl darf nicht übersehen werden, dass die Komplexität des internationalen Strafverfahrens sowie das Ziel der Prozessbeschleunigung eine richterliche Verhandlungsführung weitgehend notwendig machen. Um den Bedenken gegenüber einer streng inquisitorischen Methode zu begegnen, müssen die Mitwirkungsrechte der Beteiligten eine effektive Einbeziehung ihrer Interessen garantieren. Die Zuständigkeit zur Verfahrensleitung darf dem Gericht nicht die Möglichkeit einräumen, die Parteien von einer Beweispräsentation auszuschließen. Die grundsätzlich kontradiktorische Beweisaufnahme erweist sich hierbei erneut von Vorteil für die Gewährleistung einer umfassenden Sachverhaltswürdigung und fairen Verteidigung des Angeklagten.

35

Sadoghi, ZfRV 2007, S. 231 (236).

II. Ein Plädoyer für das kontinentaleuropäische Recht

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II. Ein Plädoyer für das kontinentaleuropäische Recht 1. Die Analyse der prozessualen Probleme und ihre Bedeutung für die Verfahrensgestaltung Im Rahmen der Betrachtung rechtsstaatlicher Anforderungen an das internationale Strafverfahren sind drei zentrale Problemgruppen deutlich geworden. Die Wahrung von Waffengleichheit, die Durchsetzung eines beschleunigten Prozesses sowie die Komplexität des Verfahrens haben sich im internationalen Kontext als wesentliche Herausforderungen erwiesen.

a) Das Problem der Waffengleichheit Eine effektive Vorbereitung der Beweisaufnahme im Völkerstrafrecht erfordert erhebliche personelle und finanzielle Ressourcen. Die Notwendigkeit von Ermittlungen im Tatortstaat sowie die politische Tragweite der Konflikte erschweren die Beweisgewinnung der Parteien. Zugleich belegt die Praxis völkerstrafrechtlicher Verfahren eine klare Privilegierung der Anklage beim Zugang zu relevantem Beweismaterial.36 Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang die Wahl des Rechtssystems? Der adversatorische Prozess beruht auf der Annahme eines grundsätzlichen Gleichgewichtes der Parteien. Unabhängig von einer Verpflichtung zur materiellen Wahrheit wird das gerichtliche Urteil als Ergebnis eines fairen Wettstreits der Parteien anerkannt.37 Treten Anklage und Verteidigung mit gleichen Mitteln gegeneinander an, wird nach Überzeugung des common law die richtige Entscheidung erreicht. Im angloamerikanischen Verfahren müssen Fairness und Waffengleichheit daher untrennbar miteinander verknüpft sein. Das Bestehen äquivalenter Ressourcen ist unabdingbare Voraussetzung für die Angemessenheit des Schuldspruchs und die Gewährleistung von Prozessgerechtigkeit. Ist die „equality of arms“ nicht garantiert, wird dem Konzept der prozessualen Wahrheitsfindung im adversatorischen Verfahren die notwendige Grundlage entzogen. Bedingt durch die Besonderheiten internationaler Ermittlungstätigkeit existiert im Völkerstrafrecht ein praktisches Ungleichgewicht zwischen Anklage und Verteidigung.38 Da sich die strukturellen und organisatorischen Divergenzen der Parteien nicht abschließend beseitigen lassen, muss die Begünstigung der Anklage als Fakt des internationalen Rechts anerkannt werden. Dem Völkerstrafrecht fehlt somit ein wesentliches Element, um die Zielsetzung des adversatorischen Verfahrens zu verwirklichen. 36 37 38

Kapitel D. X. Sadoghi, ZfRV 2007, S. 231 (232). Kamardi, Die Ausformung, 2009, S. 331.

516

E. Die Gestaltung des Prozessmodells

Die ungleiche Ressourcenverteilung zwischen den Parteien wird im kontinentaleuropäischen Prozess weitgehend durch eine rechtliche Einbindung von Richtern und Anklage in den Schutz des Angeklagten kompensiert. Kann strukturelle Waffengleichheit im internationalen Kontext nicht garantiert werden, ist eine Unterstützung der Verteidigung im Beweisverfahren zur Gewährleistung prozessualer Fairness geboten. Zappalà schreibt: „[T]he prosecutor must play a more impartial role than it usually does in traditional adversarial trials and the Cambers cannot limit themselves to being silent arbiters.“39

Die Absage an ein reines Parteiverfahren sowie die Verpflichtung des Anklägers zur objektiven Wahrheitsfindung mindern die Folgen der unterschiedlichen Prozessvoraussetzungen.40 Nach Ambos kann eine objektiv ermittelnde Anklage eine wichtige Garantie für die Rechtswahrung des Beschuldigten darstellen: „It may be argued that, from a conceptual perspective, an impartial prosecutor, as provided for in the civil law system, guarantees at least a certain protection for the accused and may, if willing, ensure that the accused’s rights are respected.“41

Ferner sichert die aktive Rolle des Richters im inquisitorischen Verfahrensmodell die Rechte des Beschuldigten in der Beweisaufnahme. Durch ihre Befugnis zur Lenkung und Gestaltung der Verhandlungen kann die Kammer bestehende Nachteile der Verteidigung unmittelbar ausgleichen.42 Um dem Problem der Waffengleichheit zu begegnen, bedarf es einer Annäherung des internationalen Strafprozesses an das kontinentaleuropäische Recht. Aufgrund des festen Rollenbildes im adversatorischen Verfahren ist die Normierung einzelner Pflichten des Anklägers allein nicht ausreichend.43 Der Fall Lubanga belegt, dass eine effektive Kooperation zwischen Anklage und Verteidigung maßgeblich von ihrem prozessualen Selbstverständnis abhängt.44 In einem parteibetriebenen Verfahren steht die Verantwortung des Anklägers für die Offenlegung von Beweismaterial im Widerspruch zur Idee des rechtlichen Wettstreits. Es genügt daher nicht, die Rolle des Staatsanwaltes in einzelnen Punkten zu modifizieren – eine normative Lösung des strukturellen Ungleichgewichts muss sich im Rahmen eines schlüssigen Gesamtmodells bewegen. Die Gewährleistung einer fairen Beweisaufnahme erfordert daher eine grundlegende Neudefinition von Aufgaben und Pflichten der Anklage.

39 40 41 42 43 44

Zappalà, Human Rights, 2005, S. 27. Zappalà, JICL 2 / 2 (2004), S. 620 (628). Ambos, ICLR 3 (2003), S. 1 (36). Ambos, JURA 30 (2008), S. 586 (593). Eser, Vorzugswürdigkeit, in: Müller-Dietz (Hrsg.), FS Jung, 2007, S. 167 (177). Vgl. Kapitel D. X. 5. a) bb) (2).

II. Ein Plädoyer für das kontinentaleuropäische Recht

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b) Die Beschleunigung der Verfahren Die erhebliche Dauer der Verhandlungen hat sich in der Vergangenheit als zunehmendes Problem des internationalen Verfahrens erwiesen.45 Der Anspruch auf einen beschleunigten Prozess garantiert dem Angeklagten eine zügige Entscheidung über die Schuldfrage. Zugleich trägt der Grundsatz dem politischen Interesse an einer effektiven Durchsetzung des Strafanspruchs sowie dem Bedürfnis der Opfer nach einer zeitnahen Aufarbeitung der Ereignisse Rechnung. Die Untersuchung der Verfahrenspraxis hat deutliche Unterscheide in der Dauer angloamerikanischer und kontinentaleuropäischer Prozesse belegt.46 Die Stärke des angloamerikanischen Modells, durch die kontradiktorische Verfahrensführung eine umfassende Beweiswürdigung zu gewährleisten, stellt sich im internationalen Recht zugleich als ihr wesentlicher Nachteil dar.47 Eine adversatorische Gestaltung des Verfahrens begünstigt eine Verlängerung der Beweisaufnahme sowie taktische Verzögerungen der Prozesse.48 Im civil law wird dem Richter die Verantwortung für eine zügige Durchführung der Verhandlungen übertragen. Durch ihre aktive Rolle im Prozess kann die Kammer den Ablauf des Beweisverfahrens strukturieren und klare Zeitvorgaben bestimmen.49 Vor dem Hintergrund einer notwendigen Beschleunigung völkerstrafrechtlicher Verfahren stellt das kontinentaleuropäische Modell eine hinreichende Gewähr für eine effektive Prozessorganisation dar.

c) Die Komplexität des völkerstrafrechtlichen Verfahrens Die praktische wie rechtliche Komplexität des internationalen Strafverfahrens erschwert eine faire Verteidigung des Angeklagten. Überschaubarkeit und Transparenz des Prozessrechts stehen im engen Zusammenhang mit der Frage nach Waffengleichheit. Aufgrund der strukturellen Benachteiligung des Angeklagten wirken sich die Folgen eines komplexen Rechtssystems insbesondere auf die Verteidigung aus.50 Die Diversität des Völkerstrafrechts stellt eine besondere Herausforderung für das praktische Verständnis und die konsequente Anwendung der prozessualen Grundlagen dar. Die Komplexität der Verfahrensführung ist daher zunächst wesentlicher Einwand gegen die Anerkennung eines Selbstverteidigungsrechts nach angloamerikanischem Vorbild.51 Angesichts der hohen Anforderungen an die Prozessgestaltung können die Rechte des Angeklagten sowie das rechtsstaatliche Bedürfnis nach EffekVgl. Kapitel D. VIII. Tiedemann, ZRP 1992, S. 107 (108). 47 Zappalà, Human rights, 2005, S. 11. 48 Eser, The „Adversarial“ Procedure, 2008, S. 207 (216); Kwon, JICJ 5 (2007), S. 364. 49 Ambos, ICLR 3 (2003), S. 1 (36). 50 Kamardi, Die Ausformung, 2009, S. 277; Ambos, ICLR 3 (2003), S. 1 (36). 51 Eser, Reflexionen zum Prozesssystem, in: Sieber (Hrsg.), Strafrecht und Wirtschaftsstrafrecht, FS Tiedemann, 2008, S. 1453 (1460 f.). 45 46

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E. Die Gestaltung des Prozessmodells

tivität bestmöglich durch eine Pflichtverteidigung garantiert werden. Des Weiteren erscheint eine anwaltliche Vertretung nicht zwingend ausreichend, um die angemessene Verteidigung des Beschuldigten sicherzustellen. Hier sei auf den Fall Erdemović verwiesen,52 der die Notwendigkeit einer gerichtlichen Unterstützung des Angeklagten deutlich gemacht hat. Können weder der Beschuldigte noch sein Verteidiger die Konsequenzen einer Prozesshandlung – in diesem Falle der guilty plea – abschätzen, muss die Kammer zum Schutz prozessualer Fairness eingreifen. Das kontinentaleuropäische Recht gewährt den Richtern die insoweit erforderlichen Befugnisse zur Lenkung der Beweisaufnahme im Interesse der Verfahrensgerechtigkeit.53 „A purely adversarial model in international criminal proceedings can lead to some unfairness. It is not possible to leave it only to the defendants to protect their interests in an international context.“54

Die Schwierigkeiten im Umgang mit den Prozessordnungen internationaler Gerichte werden durch die Abkehr vom nationalen Recht des Tatortstaates noch verstärkt. Wenngleich Ruanda und das ehemalige Jugoslawien traditionell im civil law verankert sind, ist das Verfahren der Ad-hoc-Tribunale angloamerikanisch geprägt. Zeugen, Angeklagten und regionalen Verteidigern sind die Feinheiten des common law regelmäßig nicht hinreichend vertraut.55 Fehlende Kenntnisse von der Gestaltung eines Kreuzverhörs oder den Bedingungen einer guilty plea begünstigen prozessuale Missverständnisse und verzögern den Ablauf der Verhandlungen.56 Richter Wolfgang Schomburg betont, dass „[es] der Respekt vor den gewachsenen Rechtsordnungen geboten [hätte], in diesen beiden Bereichen so nahe wie möglich an der Rechtsordnung zu arbeiten, die der Bevölkerung und den Verfahrensbeteiligten am meisten vertraut ist.“57

Zur Vereinfachung der Prozessführung für die Verteidigung ist die Anpassung der Verfahrensordnung an das Recht des Tatortstaates grundsätzlich von Vorteil. Soll eine generelle Entscheidung für ein Prozessmodell getroffen werden, spricht diese Feststellung letztlich ebenfalls für einen größeren Einfluss des weiter verbreiteten civil law. Die Komplexität internationaler Strafverfahren führt im Ergebnis zu zwei prozessualen Schlussfolgerungen. Zum einen muss die Unterstützung des Angeklagten durch einen aktiven Richter sowie eine neutrale Anklage garantiert werden. Zum anderen gilt es, den Grad an prozessualer Transparenz durch eine Vereinheitlichung 52 ICTY Erdemović, Appeals Chamber Judgement, IT-96-22-A, 7.Oktober 1997, Rn. 20; siehe hierzu Kapitel D. V. 3. a) aa). 53 Zappalà, Human rights, 2005, S. 18. 54 Romano / Nollkaemper / Kleffner, Internationalized Criminal, 2004, S. 27. 55 Kwon, JICJ 5 (2007), S. 364. 56 Schomburg / Müller, Wolfgang Schomburg im Gespräch. Das Beste, was in Menschenhand liegt, FAZ, 23.01.2010. 57 Schomburg / Müller, Wolfgang Schomburg im Gespräch. Das Beste, was in Menschenhand liegt, FAZ, 23.01.2010.

II. Ein Plädoyer für das kontinentaleuropäische Recht

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des Verfahrensrechts zu erhöhen. Beiden Zielen kann durch die Übernahme des kontinentaleuropäischen Rechts entsprochen werden.

2. Die Gestaltung des Rechtssystems vor dem Hintergrund der Verfahrensziele Ein bedeutender Gegensatz zwischen nationalen und internationalen Strafprozessen besteht in der Verpflichtung des Völkerstrafrechts auf verschiedene Zielvorgaben. Im Mittelpunkt des Verfahrens stehen nicht allein die Verurteilung des Täters, sondern zugleich die historische Wahrheitsfindung sowie die Berücksichtigung von Opferinteressen.58 Ein wesentlicher Maßstab für die Bewertung der Rechtssysteme muss daher die Frage nach ihrer Eignung zur Verwirklichung der internationalen Prozesszwecke sein. a) Die materielle Wahrheitsfindung Die Ermittlung der materiellen Wahrheit ist als Grundlage einer historischen Aufarbeitung sowie der Absicherung des regionalen Friedens- und Versöhnungsprozesses bedeutendes Ziel des internationalen Strafverfahrens.59 Das angloamerikanische Recht ersetzt die objektive Pflicht zur Wahrheitsfindung durch das Ergebnis eines adversatorischen Prozesses. Die Gerechtigkeit des Urteils stützt sich nicht auf eine neutrale Untersuchungsarbeit, sondern wird von den Darlegungen der Parteien abhängig gemacht. Die Natur des adversatorischen Verfahrens bedingt eine einseitige Ausrichtung der Beweispräsentation und kann einer umfassenden Aufklärung des Sachverhaltes entgegenstehen.60 Angesichts der klaren Festlegung von Anklage und Verteidigung auf prozessuale Rollen erscheint eine überparteiliche Wahrheitsermittlung im common law schwer durchsetzbar.61 Steiner kritisiert den kompetitiven Charakter des Parteiprozesses als Hindernis einer objektiven Ermittlungsarbeit des Anklägers: „[Es] ergibt sich nahezu zwangsläufig, dass es oberstes Ziel des Anklägers sein muss, eine Verurteilung zu erreichen, die Erforschung der materiellen Wahrheit tritt dabei in den Hintergrund. Die Prozessführung ist maßgeblich von dem Willen geprägt, die Schuld des Angeklagten nachzuweisen.“62 58 ICTY Momir Nikolic, Sentencing Judgment, IT-02-60 / 1-S, 2. Dezember 2003, Rn. 61; Eser, The „Adversarial“ Procedure, 2008, S. 207 (210). 59 Eser, Reflexionen zum Prozesssystem, in: Sieber (Hrsg.), Strafrecht und Wirtschaftsstrafrecht, FS Tiedemann, 2008, S. 1453 (1466). 60 Eser, Reflexionen zum Prozesssystem, in: Sieber (Hrsg.), Strafrecht und Wirtschaftsstrafrecht, FS Tiedemann, 2008, S. 1453 (1465). 61 Eser, Reflexionen zum Prozesssystem, in: Sieber (Hrsg.), Strafrecht und Wirtschaftsstrafrecht, FS Tiedemann, 2008, S. 1453 (1464). 62 Steiner, Fairneßprinzip, 1995, S. 31.

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E. Die Gestaltung des Prozessmodells

Auf Grundlage seiner Erfahrungen am ICTY bestätigt Richter Schomburg die Annahmen Steiners über das Verhältnis des angloamerikanischen Rechts zum Gebot objektiver Gerechtigkeit: „Jede Partei möchte gewinnen, zur Not um jeden Preis. Es geht, entgegen der Mandate, nicht um die reine Wahrheitsfindung – ein Gedanke, der von überzeugten Common Law Juristen als idealistisch belächelt wird.“63

Die Aufdeckung der historischen Wahrheit darf im Völkerstrafrecht nicht auf einen idealistischen Anspruch reduziert werden. Vielmehr gebietet seine Zielsetzung eine unbedingte Verpflichtung internationaler Gerichte auf die unparteiliche Untersuchung der Beweislage. Ein objektives Vorgehen der Anklage ist Voraussetzung für eine gerechte Verurteilung der Verbrechen und Grundlage der politischen Legitimität völkerrechtlicher Straftribunale. Die Schwächen des adversatorischen Verfahrens im Hinblick auf die materielle Wahrheitsfindung offenbaren sich sowohl in der Rollengestaltung der Parteien als auch im Ablauf der Beweisaufnahme. Nach dem Modell des Parteiprozesses werden die Zeugen der Hauptverhandlung in „prosecution witnesses“ und „defence witnesses“ eingeteilt.64 Durch ihre Zuordnung zu Anklage oder Verteidigung werden die Zeugen auf eine einseitige Position im Verfahren festgelegt. Fühlen sich die Zeugen weniger der Wahrheit als den Interessen einer Partei verpflichtet, steht die Objektivität ihrer Aussage in Frage. Ferner begünstigt eine ausschließliche Befugnis der Parteien zur Ernennung und Vernehmung von Zeugen eine gemeinsame Vorbereitung der Aussage. In diesem Falle wird es dem Zeugen schwerfallen, ein eingenommenes Rollenverständnis im Interesse der Verfahrensgerechtigkeit zu verlassen.65 Der Richter kann im angloamerikanischen Verfahren nur wenig Einfluss auf die Gestaltung der Zeugenbefragung nehmen. Da der Kammer eine selbständige Durchführung der Beweisaufnahme untersagt ist, bleibt sie auf die Beibringung der Parteien angewiesen. Ohne effektive Kompetenzen im Beweisverfahren kann das Gericht seiner Verantwortung für die materielle Wahrheitsfindung nicht hinreichend gerecht werden. Eser kritisiert die schwache Stellung des Richters im adversatorischen Prozess und betont ihre Unvereinbarkeit mit den Anforderungen an eine objektive Tatsachenermittlung: „Ohne sich dadurch selbst ein vollständiges und von einseitigen Vorenthaltungen freies Bild von an sich rechtsstaatlich erlangbaren Beweismitteln machen zu können, wird das Gericht im rein adversatorischen Verfahren zu einer Art ‚Moot Court‘ herabgewürdigt: Es hat über eine von den Parteien inszenierte Beweispräsentation und damit im Grunde nur hypothetische Tatsachenkonstellation zu entscheiden.“66 63 Schomburg, Internationale Strafgerichtsbarkeit. Lektionen aus den UN-Tribunalen für das frühere Jugoslawien und Ruanda. Vortrag vor der Gesellschaft für Außenpolitik, 18.02.2008. 64 Eser, Reflexionen zum Prozesssystem, in: Sieber (Hrsg.), Strafrecht und Wirtschaftsstrafrecht, FS Tiedemann, 2008, S. 1453 (1470 f.). 65 Eser, Reflexionen zum Prozesssystem, in: Sieber (Hrsg.), Strafrecht und Wirtschaftsstrafrecht, FS Tiedemann, 2008, S. 1453 (1470 f.).

II. Ein Plädoyer für das kontinentaleuropäische Recht

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Im völkerstrafrechtlichen Verfahren ist die passive Rolle des Richters nach adversatorischem Vorbild nur schwer mit der Maxime objektiver Wahrheitsfindung vereinbar.67 Hingegen richtet sich das kontinentaleuropäische Rechtssystem durch die richterliche Befugnis zur Prozessleitung sowie die neutrale Stellung des Anklägers eindeutig am übergeordneten Ziel der historischen Wahrheit aus.68 Die Möglichkeit der Kammer zur selbständigen Befragung von Zeugen und Sachverständigen ist wichtige Voraussetzung für eine umfassende Ermittlung der Tatsachen. Um eine glaubwürdige Aufarbeitung der Verbrechen zu garantieren, bedarf es einer weitgehend objektiven und unabhängigen Erörterung der Ereignisse. Der subjektive Blickwinkel der Parteien muss hierbei maßgeblich Berücksichtigung finden, darf jedoch nicht ausschließliche Grundlage der Beweiswürdigung sein.

b) Die Beteiligung von Opfern am völkerstrafrechtlichen Verfahren Den Opfern eines völkerstrafrechtlichen Verbrechens Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, ist anerkanntes Ziel des internationalen Strafverfahrens.69 Gleichwohl erfolgt eine Berücksichtigung der Opferinteressen durch ihre Beteiligung am Prozess bislang zurückhaltend. Während die Ad-hoc-Tribunale für Jugoslawien und Ruanda keine eigenständige Mitwirkung der Geschädigten vorsehen, gewährt die Prozessordnung des Internationalen Strafgerichtshofs einzelne Verfahrens- und Entschädigungsrechte. Mit der Gründung der ECCC wurde der Versuch unternommen, auf internationaler Ebene eine Nebenklägerbeteiligung nach kontinentaleuropäischem Vorbild umzusetzen.70 Hierbei werden die Opfer nicht auf eine Mitwirkung im Rahmen einer Zeugenvernehmung beschränkt, sondern als Prozessparteien (civil parties) aktiv in das Verfahren einbezogen. Eine Beteiligung von Opfern am Strafverfahren ist dem angloamerikanischen Recht grundsätzlich fremd.71 Im common law übernimmt der Ankläger die Rolle der Gegenpartei zur Verteidigung und vertritt das Interesse an einer Durchsetzung des Strafanspruchs. Der Beschuldigte sieht sich mit dem Geschädigten nicht unmittelbar konfrontiert, sondern steht der Anklage als unabhängiger Instanz gegenüber. 66 Eser, Reflexionen zum Prozesssystem, in: Sieber (Hrsg.), Strafrecht und Wirtschaftsstrafrecht, FS Tiedemann, 2008, S. 1453 (1459). 67 Eser, Reflexionen zum Prozesssystem, in: Sieber (Hrsg.), Strafrecht und Wirtschaftsstrafrecht, FS Tiedemann, 2008, S. 1453 (1185). 68 MacCarrick, The Right to a Fair Trial in International Criminal Law. Rules of Procedure and Evidence in Transition From Nuremberg to East Timor, S. 56, http://www.isrcl.org/Papers/2005/MacCarrick.pdf (letzter Zugriff am 17.03.2010). 69 Eser, The „Adversarial“ Procedure, 2008, S. 207 (210). 70 Human Rights Watch, Publications, Courting History, The Landmark International Criminal Court’s First Years, III. Defence, 10.07.2008, S. 20, http://www.hrw.org/en/node/62135/ section/7 (letzter Zugriff am 24.05.2010). 71 Heinsch, How to achieve, in: Stahn / Sluiter (Hrsg.), The Emerging Practice of the International Criminal Court, 2009, S. 479 (494).

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E. Die Gestaltung des Prozessmodells

Die rechtliche Struktur des Parteiverfahrens begründet hierbei die Ablehnung prozessualer Opferbeteiligung im angloamerikanischen Modell. Ist der Strafprozess als juristischer Wettstreit zu begreifen, besteht neben Anklage und Verteidigung kein Raum für die Integration einer weiteren Partei.72 Gegen eine verfahrensrechtliche Einbindung der Opfer als Nebenkläger wird die Bedeutung der Waffengleichheit im adversatorischen Verfahren angeführt.73 Eine Unterstützung der Anklage durch civil parties bewirke eine Verschiebung des Gleichgewichts zwischen den Parteien zu Lasten des Beschuldigten. Die Einführung eines Nebenklägerstatus mit der Möglichkeit verfahrensrechtlicher Beteiligung sei daher bereits systematisch auszuschließen.74 Würde ein rechtliches Verständnis der Waffengleichheit von der Anzahl der beteiligten Parteien abhängig gemacht, richtete sich die Gewährleistung prozessualer Fairness nach quantitativen Maßstäben. Unter Zugrundelegung dieser Prämisse würde durch die gemeinsame Anklage mehrerer Personen die Garantie der „equality of arms“ ebenfalls in Frage gestellt. Eine Bewertung von Verfahrensgleichheit muss daher auf einer Abwägung praktischer Ressourcen und rechtlicher Kompetenzen beruhen. Während eine Opferbeteiligung im angloamerikanischen Rechtskreis kritisch betrachtet wird, sieht das civil law eine Mitwirkung von Geschädigten im Strafverfahren regelmäßig vor.75 Es verwundert daher nicht, dass sich die prozessuale Einbindung der Opfer an internationalen Tribunalen bislang weitgehend abhängig von ihrer rechtstheoretischen Prägung gestaltet. Schließen die adversatorisch ausgerichteten Ad-hoc-Tribunale eine Mitwirkung der Opfer generell aus, erkennt das kontinentaleuropäische Modell der ECCC ihren Nebenklägerstatus im Verfahren an. Die grundlegende Entscheidung für ein Rechtssystem setzt daher zugleich eine rechtspolitische Beurteilung der Opferpartizipation im Völkerstrafprozess voraus. Stellt ihre Mitwirkung ein sinnvolles Ziel internationaler Strafverfahren dar, spricht dies für eine Ausrichtung der Prozessordnungen am civil law. Kritiker sehen in der Beteiligung von Opfern eine Beeinträchtigung des Beschleunigungsgrundsatzes sowie eine Verletzung der rechtsstaatlichen Unschuldsvermutung.76 Die Anerkennung von Opfern impliziere eine Schuld des Angeklagten bereits vor Abschluss der Beweisaufnahme. Die Zulassung von civil parties lege den Beschuldigten notwendig auf die Rolle des Täters fest und setze sich hierdurch in Widerspruch zum Grundsatz des „in dubio pro reo“.77 Dem Einwand einer Vorverurteilung kann indes unter Hinweis auf ein restriktives Rollenverständnis der be72 Eser, Reflexionen zum Prozesssystem, in: Sieber (Hrsg.), Strafrecht und Wirtschaftsstrafrecht, FS Tiedemann, 2008, S. 1453 (1462). 73 Greco, ICLR 7 / 2-3 (2007), S. 531 (546). 74 Greco, ICLR 7 / 2-3 (2007), S. 531 (546). 75 Wemmers, Victims, 1996, S. 45; Schroth, Die Rechte des Opfers, 2005, S. 11. 76 Jouet, St Louis Univ Publ Law Rev 26 (2007), S. 249 (265 f.). 77 Jouet, St Louis Univ Publ Law Rev 2007, S. 249 (265 f.): „Recognizing victims creates an appearance of prejudgment, if not an actual prejudgment, against the defendant.“

II. Ein Plädoyer für das kontinentaleuropäische Recht

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teiligten Opfer begegnet werden. Die Voraussetzungen verfahrensrechtlicher Fairness sind gewahrt, wird der Nebenkläger bis zum Schuldspruch nicht als Opfer eines Täters, sondern als Opfer einer Straftat angesehen. Überzeugender erscheint hingegen die Kritik an einer Verlängerung der Verfahrensdauer durch die Mitwirkung einer dritten Prozesspartei. Die Erfahrungen an den ECCC haben gezeigt, dass eine Intervention von Nebenklägern zu erheblichen Verzögerungen der Verhandlungen führt.78 Die rechtliche Vertretung der civil parties sowie die Ausübung ihrer prozessualen Frage- und Rederechte beanspruchen zusätzliche Ressourcen des Gerichts. Insbesondere die Prüfung der individuellen Zulassungsanträge hat sich als bedeutender personeller und zeitlicher Mehraufwand erwiesen. Die Beschleunigung der Verhandlungen ist nicht nur ein wichtiges Prozessrecht des Beschuldigten, sondern liegt zugleich maßgeblich im Interesse der Opfer selbst. Als Voraussetzung für Gerechtigkeit und Genugtuung muss die Verurteilung der Täter wesentliches Verfahrensziel sein. Daher geben die Bedenken an der geringen Effizienz einer Opferbeteiligung Anlass für eine Reform der bestehenden Modelle. Die Notwendigkeit einer Verfahrensbeschleunigung begründet jedoch keinen generellen Verzicht auf eine Mitwirkung von Opfern im internationalen Strafverfahren.79 Die prozessuale Integration der Opfer bietet der Bevölkerung die Möglichkeit zur Identifikation mit den Verfahren. Durch die Nähe zur Öffentlichkeit wird die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit unterstützt und ein wichtiger Beitrag zur Friedenswahrung geleistet.80 Wenngleich die psychologische Wirkung für den Einzelnen in einem Massenprozess geringer sein kann,81 garantiert ihre Beteiligung eine grundsätzliche Berücksichtigung von Opferinteressen im Strafverfahren. Die Teilnahme an der rechtlichen Aufarbeitung des Geschehens gibt den Opfern Kontrolle über die eigene Vergangenheit und ein Forum zum Ausdruck ihrer Trauer. Die Möglichkeit, aktiv an den Verhandlungen mitzuwirken, kann das Vertrauen der Opfer in Recht und Gerechtigkeit wieder herstellen. Obschon ein Gerichtsprozess in erster Linie der Bestrafung der Täter dienen soll, muss gerade im Völkerstrafrecht den Zielen von Kompensation und Versöhnung entsprochen werden. Die Sicherung nationalen Friedens kann nur im Rahmen einer individuellen Auseinandersetzung und persönlichen Aussöhnung erfolgen. Die Bedeutung einer Einbeziehung der Betroffenen in den Strafprozess wird durch die Erfahrungen der Ad-hoc-Gerichte für Ruanda und das ehemalige Jugoslawien bestätigt. Der Ausschluss der Opfer von einer direkten Mitwirkung am VerfahHoven, HuV 22 (2009) 176 (181 f.). Boyle, JICJ 4 (2006), S. 307 (309). 80 Trumbull, MJIL 29 / 4 (2008), S. 780, (778); Aldana-Pindell, HRQ 23 / 3 (2004), S. 605 (657). 81 J. O’Connell, HILJ 2005, 330, 337; Danieli, Victims. Essential Voices at the Court. Report der Victims Rights Working Group, 09.2004, http://www.vrwg.org/downloads/publications/04/ENG01.pdf (letzter Zugriff am 28.05.2010). 78 79

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E. Die Gestaltung des Prozessmodells

ren wird als wesentliche Ursache für die geringe Akzeptanz der Tribunale in den Tatortstaaten gewertet.82 Die Anerkennung der Gerichtsbarkeit durch die Bevölkerung ist eine wichtige Voraussetzung für die Verwirklichung der politischen Ziele des internationalen Strafrechts. Soll das völkerstrafrechtliche Verfahren – gerade an den Ad-hoc-Tribunalen –83 der Friedenssicherung dienen, muss es zur Stabilität und Versöhnung im Tatortstaat beitragen. Wird die Bevölkerung vom Prozess ausgeschlossen, kann die notwendige individuelle und kollektive Aufarbeitung nicht sinnvoll stattfinden.84 Ein weiterer Vorteil der Opferbeteiligung besteht in ihrer Unterstützung der Anklage im Haupt- und Vorverfahren.85 Die Einbeziehung der Geschädigten ermöglicht dem Gericht einen unmittelbaren Rückgriff auf Beweismaterial und Zeugenaussagen. Die Praxis der ECCC belegt, dass die Nebenkläger gerade in der Ermittlungsphase hilfreiche Hinweise für die Arbeit der Untersuchungsrichter geben können. Die Mitwirkung von Opfern am völkerrechtlichen Strafverfahren ist ein wichtiges Instrument für die staatliche Vergangenheitsbewältigung und internationale Friedenssicherung. Praktische Schwierigkeiten stellen den Sinn einer Opferbeteiligung nicht generell in Frage, müssen jedoch Anstoß für normative Veränderungen ihrer prozessualen Voraussetzungen sein.86 So bedarf insbesondere das Modell des Nebenklägers einer besseren Anpassung an den internationalen Kontext. Die prozessuale Mitwirkung von Geschädigten ist im Grundsatz nicht auf ein Massenverfahren nach völkerstrafrechtlichem Vorbild zugeschnitten. Der systematische Charakter internationaler Verbrechen bedingt eine erhebliche Anzahl von Opfern, deren Integration in die Verhandlungen eine entsprechende Gestaltung ihrer Interessenvertretung erfordert. Um ein wirksames System der Opferbeteiligung zu schaffen, müssen die nationalen Voraussetzungen der Nebenklägerstellung um die organisatorischen Anforderungen des Völkerstrafverfahrens ergänzt werden.87 Wenngleich in diesem Rahmen keine Entscheidung für eine konkrete Form der Opferbeteiligung getroffen werden kann, ist ihre prozessuale Einbindung rechtspolitisch zu begrüßen. Die Aufgabe einer strikt adversatorischen Verfahrenskonzeption und die Einbindung von Opfern im Rahmen inquisitorischer Strukturen schafft die notwendige Bedingung für eine sinnvolle Mitwirkung der Betroffenen am internationalen Strafprozess. 82 Trumbull, MJIL 29 / 4 (2008), S. 780 (787); Kälin / Kamatali, New Eng. J. Int’l & Comp. L. 12 (2005), S. 89 (90). 83 Zur Gründung von Ad-hoc-Tribunalen stützt sich der Sicherheitsrat auf seine Kompetenz zur Wahrung von Frieden und internationaler Sicherheit aus Kapitel VII der UN-Charta (Art. 39). 84 Kälin / Kamatali, New Eng. J. Int’l & Comp. L. 12 (2005), S. 89 (96, Fn. 66). 85 Bassiouni, HRLR 6 / 2 (2006), S. 203 (205 f.). 86 Boyle, JICJ 4 (2006), S. 307 (309). 87 Boyle, JICJ 4 (2006), S. 307.

III. Fazit zur Wahl des Rechtssystems

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3. Der Verzicht auf eine Jury als Faktor für die Gestaltung des Rechtssystems Die Einsetzung einer Laienjury wird im common law als Ausdruck von Demokratiestreben und einer Nähe zur Lebenswirklichkeit verstanden.88 Im Völkerstrafrecht sprechen hingegen die politische Dimension der Verbrechen sowie die Komplexität der Beweislage gegen die Verantwortung einer Jury für den Schuldspruch. Mit der Beteiligung der Jury auf nationaler Ebene sollen die grundlegenden Ansichten einer Rechtsgemeinschaft über die Strafbarkeit eines Angeklagten widergespiegelt werden.89 Da der internationale Strafprozess außerhalb einer geschlossenen Gesellschaftsordnung geführt wird, fehlt die Bezugsgrundlage für eine repräsentative Vertretung der öffentlichen Rechtsauffassung. Wird im völkerstrafrechtlichen Verfahren auf die Einsetzung einer Jury verzichtet, fehlt es an einer wesentlichen Bedingung des angloamerikanischen Prozessrechts.90 Die beschränkten Kompetenzen der Kammer zur Leitung des Beweisverfahrens begründen sich maßgeblich mit ihrem Verhältnis zur Jury. Soll die Urteilsfindung der Laienrichter nicht durch das Gericht beeinflusst werden, muss seine Funktion auf die Einhaltung prozessualer Regeln begrenzt werden.91 Entscheidet hingegen die Kammer selbst über Schuld oder Nichtschuld des Angeklagten, besteht kein Grund für ihre passive Rolle im Verfahren. Im Gegenteil – die Verantwortung für ein gerechtes Urteil muss an eine Befugnis zur eigenverantwortlichen Würdigung der Beweissituation gekoppelt sein. Mit dem Verzicht auf die Beteiligung einer Jury im Völkerstrafprozess wird wesentlichen Prinzipien des angloamerikanischen Verfahrens die Grundlage entzogen. Die Einsetzung eines Berufsgerichtes nach kontinentaleuropäischer Tradition erfordert eine Annäherung ihres Aufgabenkreises an die Herausforderungen eines inquisitorischen Verfahrens.

III. Fazit zur Wahl des Rechtssystems 1. Die verstärkte Einbeziehung kontinentaleuropäischer Verfahrenselemente Eine Annäherung an das kontinentaleuropäische Rechtsmodell stellt sich als konsequente Antwort auf die Herausforderungen des internationalen Strafprozesses dar. Während auf nationaler Ebene beide Rechtssysteme ein faires Verfahren garantieren können, trägt eine überwiegend adversatorische Ausrichtung den rechtlichen wie 88 89 90 91

Abrahamson, We, the Jury, 2000, S. 18. Abrahamson, We, the Jury, 2000, S. 45 f. Safferling, Towards an International Criminal Procedure, 2007, S. 371. Eser, Vorzugswürdigkeit, in: Müller-Dietz (Hrsg.), FS Jung, 2007, S. 167 (177).

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E. Die Gestaltung des Prozessmodells

praktischen Problemen des Völkerstrafrechts nicht hinreichend Rechnung. Mit der verstärkt inquisitorischen Prozessgestaltung werden die Rechte des Angeklagten gestärkt und wesentliche Verfahrensziele des Völkerstrafrechts verwirklicht. Die Integration kontinentaleuropäischer Prinzipien schafft die notwendige Basis für eine effektive Umsetzung von Beschleunigung und Waffengleichheit als Prämissen eines rechtsstaatlichen Prozesses. Die Bedenken an der fehlenden politischen Akzeptanz eines weitgehend kontinentaleuropäisch geprägten Verfahrensrechts können dem Gewinn an Effektivität und Prozessgerechtigkeit nicht überwiegen. Wesentliche Kriterien für die Anerkennung internationaler Tribunale sind die Praktikabilität und Rechtsstaatlichkeit ihrer normativen Grundlagen. Erweist sich eine Annäherung an das civil law als bestmöglicher Garant für die Zwecke des Völkerstrafrechts, werden rechtspolitische Einwände langfristig entkräftet. Eine bedeutende Herausforderung bei der Gestaltung einer internationalen Prozessordnung liegt in der sinnvollen Verknüpfung adversatorischer und inquisitorischer Verfahrensgrundsätze. Die Analyse von Problemfeldern und Zielen völkerrechtlicher Strafverfahren hat die Vorteile einer an materieller Wahrheitsfindung orientierten Verfahrensführung offenbart. Wenngleich zu diesem Zwecke nicht zuletzt eine Erweiterung der richterlichen Kompetenzen notwendig erscheint, soll sie eine umfassende und kontradiktorische Verteidigung nicht ersetzen. Unter Berücksichtigung eines veränderten Rollenverständnisses der Anklage kann die Präsentation von Beweismitteln im Wege von Rede und Gegenrede erfolgen. Nach Ausübung des richterlichen Fragerechts soll das Kreuzverhör als adversatorische Vernehmungsmethode weiterhin Berücksichtigung finden.92 Der Anklage muss hierbei die Aufgabe zukommen, entlastende wie belastende Beweismittel gleichermaßen zu würdigen. Während die Verteidigung eindeutig Partei ergreifen soll, ist die Anklage auf Objektivität und materielle Wahrheitsfindung verpflichtet. Das Erfordernis einer Vereinbarung angloamerikanischer und kontinentaleuropäischer Elemente zeigt sich auch im Rahmen des Ermittlungsverfahrens. Die Einsetzung von Investigating Judges soll durch eine logistische und personelle Unterstützung der Verteidigung die Waffengleichheit zwischen den Parteien gewährleisten. Die Arbeit der Ermittlungsrichter darf jedoch die Möglichkeit einer eigenverantwortlichen Verteidigung nicht beschränken. Insbesondere vor dem Hintergrund der Gefahren einer politisch oder historisch geprägten Parteilichkeit muss die Verteidigung Einfluss auf die Beweisermittlung und -bewertung nehmen können.

92

Sadoghi, ZfRV 2007, S. 231 (237).

III. Fazit zur Wahl des Rechtssystems

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2. Anforderungen an die Normierung einer völkerstrafrechtlichen Verfahrensordnung Die Gestaltung eines internationalen Prozessrechts muss künftig in noch weiterem Maße in der Verantwortung der Staatengemeinschaft liegen. Wenngleich im Wege einer richterlichen Rechtsfortbildung auf neue Entwicklungen des Völkerstrafrechts reagiert werden kann, dürfen die Grundlagen der Prozessgestaltung nicht zur Disposition stehen. Sollen die Gewährleistung prozessualer Rechte sowie die Aufgabenwahrnehmung der Beteiligten nicht von der gegenwärtigen Besetzung des Gerichts abhängig gemacht werden, müssen ihre normativen Spielräume begrenzt sein. Die nationale Herkunft der Richter nimmt maßgeblichen Einfluss auf ihr Verständnis von Anwendung und Formulierung prozessualer Garantien.93 Es wird schwerlich zu bestreiten sein, dass sich die Richter bei der Entwicklung rechtlicher Grundlagen von ihrer persönlichen Vorprägung durch common law oder civil law leiten lassen: „[T]here is a strong likelihood that each judge will tend to be guided by his or her own legal experience, and that the procedure of different chambers will actually vary as a result. The disadvantages and potential unfairness which this may create weighs particularly heavily on the defendant.“94 „[T]he legal culture and background of the judges who come from one system tends to make them cautious about quickly or uncritically accepting features of the other system.“95 „[C]ommon law colleagues sometimes seem to guard their knowledge and try to ‚defend‘ their system in any way possible.“96

Um einen weitgehend objektiven, an den Kriterien von Rechtsstaatlichkeit orientierten Ausgleich der Verfahrensmodelle zu erreichen, muss ein systematisches Konzept durch die normativ verbindliche Regelung völkerrechtlicher Strafprozesse entwickelt werden. Die bisherigen Versuche einer Vereinbarung adversatorischer und inquisitorischer Prinzipien zeigen jedoch ebenfalls Schwächen in der Wahl ihrer Bewertungsmaßstäbe. Die Entstehung internationaler Verfahrensnormen belegt die Abhängigkeit prozessualer Regelungen vom Gründungsvorgang des Tribunals. Die Betrachtung der verschiedenen Verfahrensmodelle weist einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen seiner rechtssystematischen Ausrichtung und der jeweiligen Prägung des einsetzenden Organs nach. Die angloamerikanische Fundierung der Ad-hoc-Tribunale gründet sich maßgeblich auf den Einfluss der USA im Sicher93 Hofstetter, Das Verfahrensrecht, 2005, S. 193; Eser, The „Adversarial“ Procedure, 2008, S. 207 (210). 94 Borek, The proposed International Criminal Court, in: Cullen / Gilmore (Hrsg.), Crime sans frontiers. International and European Legal Approaches, 1998, S. 73 (79). 95 Report of the Expert Group to Conduct a Review of the Effective Operation and Functioning of the ICTY and the ICTR, UN General Assembly Document A / 54 / 634, 22. November 1999, Rn. 82. 96 Heinsch, How to achieve, in: Stahn / Sluiter (Hrsg.), The Emerging Practice of the International Criminal Court, 2009, S. 479 (497).

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E. Die Gestaltung des Prozessmodells

heitsrat. Gleichzeitig lässt sich die zunehmende Berücksichtigung kontinentaleuropäischer Elemente am ICC auf die Diversität in der UN-Generalversammlung zurückführen.97 Die geltenden Verfahrensmodelle sind folglich das Ergebnis einer zwischenstaatlichen Kompromisssuche. Wechselseitige Zugeständnisse im Rahmen eines politischen Einigungsprozesses bergen jedoch die Gefahr einer Reduktion internationaler Verfahrensordnungen auf den kleinsten gemeinsamen Nenner und eine rechtsstaatliche Minimallösung.98 Im Interesse einer gerechten und effektiven Regelung prozessualer Fragen hat die Gestaltung des Verfahrensrechts nach objektiven Maßstäben zu erfolgen. Wesentliche Grundlage einer Vereinbarung der Prozessmaximen muss die Gewährleistung von Rechtsstaatlichkeit und die Entscheidung für die verfahrensrechtlich sinnvollste Regelung sein. Um den Einfluss politischer Interessen künftig zu verringern, muss ein langfristiges Ziel des Völkerstrafrechts in der Formulierung eines einheitlichen internationalen Prozessrechts liegen. Ein allgemeingültiges Konzept zur Verfahrensgestaltung wird die immanenten Widersprüche zwischen adversatorischen und inquisitorischen Prinzipien aufzulösen haben. Die Integration angloamerikanischer und kontinentaleuropäischer Elemente in eine systematisch konsequente und rechtsstaatliche Verfahrensordnung setzt eine politisch unabhängige Abwägung ihrer Stärken und Schwächen im internationalen Kontext voraus. Soll das Statut des ICC künftig eine entsprechende Vorbildrolle übernehmen, bedarf es inhaltlicher Änderungen nach Maßgabe der dargestellten Grundsätze. Die in der Praxis aufgetretenen Probleme sowie die besonderen Zielstellungen des Völkerstrafrechts müssen Kriterien für eine umfassende Modifikation des Prozessrechts sein. Eine Verfahrensordnung, die den Anspruch auf allgemeine Geltung erhebt, darf nicht Folge einer politisch motivierten Kompromisslösung zwischen angloamerikanischem und kontinentaleuropäischem Rechtskreis sein. Ihre Inhalte müssen vielmehr auf einem konsequenten dogmatischen Verständnis beruhen und Ausdruck eines rechtlichen Konsenses sein. Die Existenz unterschiedlicher Regelungen an den Tribunalen verhindert bislang die Entstehung einer einheitlichen Verfahrenspraxis im internationalen Recht. Trotz beruflicher Vorkenntnisse können die beteiligten Juristen nur begrenzt auf ihre Erfahrungen an anderen Gerichten zurückgreifen. Die Notwendigkeit einer erneuten Einarbeitung in das Prozessrecht verzögert den Ablauf des Verfahrens und nimmt wichtige Ressourcen in Anspruch.99 Angesichts ihrer strukturellen Unterlegenheit wirken sich normative Schwierigkeiten zudem vornehmlich zum Nachteil des AnSiehe hierzu bereits Kapitel C. II. 2. b) bb) (1). MacCarrick, The Right to a Fair Trial in International Criminal Law. Rules of Procedure and Evidence in Transition From Nuremberg to East Timor, S. 20; Eser, Reflexionen zum Prozesssystem, in: Sieber (Hrsg.), Strafrecht und Wirtschaftsstrafrecht, FS Tiedemann, 2008, S. 1453 (1458). 99 Heinsch, How to achieve, in: Stahn / Sluiter (Hrsg.), The Emerging Practice of the International Criminal Court, 2009, S. 479 (497). 97 98

III. Fazit zur Wahl des Rechtssystems

529

geklagten und seiner gleichberechtigten prozessualen Mitwirkung aus.100 Die Kenntnis des Verfahrensrechts ist jedoch wesentliche Bedingung fairer Verhandlungen. Die Geltung eines – zumindest in seinen Grundzügen – allgemeinen Völkerstrafprozessrechts kann die Arbeit internationaler Strafverteidiger bedeutend erleichtern. Die Entwicklung eines konsequenten Prozessrechts schafft eine glaubhafte und stabile Basis für internationale Strafgerichte. Durch die Einigung auf verbindliche Prozessgrundsätze verliert das Völkerstrafverfahren seinen experimentellen und provisorischen Charakter. Ein gemeinsames Verfahrensmodell erhöht die Transparenz der gerichtlichen Verhandlungen und kann Vorbildwirkung für die Gewährleistung internationaler Prozessstandards entfalten. Unabhängig von einem politischen Kräfteverhältnis müssen die systematischen Grundlagen des inquisitorischen Verfahrens künftig stärkeren Einfluss auf die normative Gestaltung völkerrechtlicher Tribunale nehmen.

100

Kapitel D. X. 3.

F. Schlussbetrachtung Ziel der Untersuchung war die Beantwortung zweier wesentlicher Kernfragen. Zunächst galt es, die Verbindlichkeit rechtsstaatlicher Anforderungen für internationale Strafgerichte zu bestimmen. Zum anderen war zu ermitteln, ob die Voraussetzungen prozessualer Rechtsstaatlichkeit in den Statuten und der Rechtsprechung der Tribunale verwirklicht werden. Völkerstrafrechtliche Gerichte sind in der Gestaltung ihrer Prozessordnung an die Grundsätze eines rechtsstaatlichen Verfahrens gebunden. Das geltende Völkerrecht verpflichtet sie – unmittelbar oder mittelbar – auf die Prozessgarantien in Art. 14 IPbpR. Um der rechtspolitischen Forderung nach Rechtsstaatlichkeit zu genügen, muss das Völkerstrafrecht eine gerechte Abwägung der divergierenden Gewährleistungen von prozessualer Fairness und praktischer Effektivität treffen. Der rechtliche und politische Erfolg internationaler Strafgerichte bestimmt sich durch die Verwirklichung eines angemessenen Ausgleichs seiner Verfahrensziele. Eine rechtsstaatliche Prozessordnung steht in der Verantwortung, die Gegensätze von materieller Wahrheitsfindung, gerechter Verurteilung und individuellem Verfahrensschutz miteinander zu vereinbaren. Recht und Praxis völkerstrafrechtlicher Prozesse belegen das Bemühen der Tribunale um eine Verfahrensführung nach rechtsstaatlichen Maßstäben. Wenngleich eine Überzeugung von der Bedeutung prozessualer Fairness ersichtlich besteht, weist das internationale Prozessrecht derzeit einige rechtsstaatliche Schwächen auf. Als wesentliche Kritikpunkte haben sich das Recht auf Selbstverteidigung sowie das strukturelle Ungleichgewicht der Verfahrensparteien gezeigt. Um angesichts der Komplexität des Völkerstrafprozesses eine effektive Verteidigung des Angeklagten zu gewährleisten, muss künftig eine generelle Pflichtvertretung vorgesehen werden. Zudem erfordert der Grundsatz der Waffengleichheit eine Veränderung von Rollenbild und Aufgabenverständnis des Anklägers. Die Annäherung an das kontinentaleuropäische Verfahrensrecht legt den Grundstein für die Durchsetzung prozessualer Fairness und historischer Aufarbeitung. Ebenfalls rechtsstaatlichen Bedenken ausgesetzt sieht sich die Praxis der Verfahrensbeschleunigung an den Ad-hoc-Tribunalen. Obschon eine zügige Durchführung internationaler Verfahren grundsätzlich notwendig ist, übertreten Maßnahmen der Completion Strategies die rechtsstaatlichen Grenzen einer Prozessbeschleunigung. Die Completion Strategies verwirklichen das Gebot prozessualer Effektivität einseitig auf Kosten der Verfahrensziele von Gerechtigkeit und Wahrheitsermittlung. Insbesondere der zunehmende Rückgriff auf das Modell der guilty plea erscheint aus Perspektive der rechtsstaatlichen Prämissen von Strafangemessenheit und Unschuldsvermutung problematisch. Eine

F. Schlussbetrachtung

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obligatorische Verkürzung der Hauptverhandlung ist mit den Bedürfnissen der Opfer und der Dokumentationsfunktion internationaler Strafprozesse nicht vereinbar. In formaler Hinsicht erfordert die Idee der Rechtsstaatlichkeit eine detaillierte Normierung der entwickelten Grundsätze. Als rechtspolitische Entscheidung folgt die Abwägung der Rechtsgüter nicht ausschließlich zwingenden Vorgaben, sondern eröffnet Spielräume in der Bewertung konkreter Verfahrensfragen. Auf staatlicher Ebene wird eine grundlegende Verhältnisbestimmung gegensätzlicher Interessen durch die soziale Wertung des Gesetzgebers getroffen. Im internationalen Kontext lässt sich das Gebot als Regelungsauftrag an das Gründungsorgan begreifen. Künftig sollte die Formulierung des Verfahrensrechts weder im Einzelfall noch durch eine generelle Ermächtigung zum Erlass von RPE dem Kompetenzbereich der Richter unterfallen. Gründe der Rechtssicherheit, Rechteinheitlichkeit und der Gewaltentrennung sprechen für die Notwendigkeit einer allgemeingültigen Konkretisierung des Abwägungsergebnisses in den Statuten der Gerichte. Bislang weitgehend ungeklärt ist das Folgeproblem einer wirksamen Sanktion von Verstößen gegen rechtsstaatliche Anforderungen. Eine externe Instanz zur Überprüfung prozessualer Rechtsverletzungen besteht im Völkerstrafrecht derzeit nicht. Ob nationale Gerichte in Zukunft eine selbständige Haftung der Staaten für die von ihnen gegründeten Tribunale anerkennen, erscheint fraglich. Gegenwärtig können die Beteiligten eine Durchsetzung ihrer Prozessrechte ausschließlich im Rahmen des internen Rechtsmittelverfahrens verlangen. Es wird Aufgabe völkerstrafrechtlicher Tribunale sein, eindeutige Regelungen für den Fall individueller Rechtsverstöße zu erlassen. Die Gewährleistung rechtsstaatlicher Verfahrensgebote beschränkt sich nicht auf ihre normative Verbürgung, sondern realisiert sich maßgeblich in ihrer praktischen Umsetzung. Vor dem Hintergrund rechtsstaatlicher Abwägung sind die Möglichkeiten von Strafzumessungsregelungen, finanziellen Entschädigungen sowie Beweisverwertungsverboten zu erörtern. Kompensations- und Präventivwirkung einer Sanktion müssen hierbei in Ausgleich mit der Verwirklichung des Strafanspruchs gebracht werden. Unterbrechungen der Verhandlungen wie im Fall Lubanga am ICC setzen individuelle Prozessansprüche einseitig auf Kosten des Verfahrensziels einer gerechten Verurteilung durch. Um die rechtsstaatliche Grenze zwischen Fairness und Effektivität zu bestimmen, sind klare Richtlinien für den Umgang mit Verfahrensmängeln erforderlich. Neben der Garantie prozessualer Ansprüche in den normativen Grundlagen und der Spruchpraxis internationaler Strafgerichte stellt die wirksame Sanktion von Rechtsverletzungen einen dritten Pfeiler für die Gewährleistung eines rechtsstaatlichen Verfahrens dar. Das zunehmende Engagement des ICC sowie die Gründung der hybriden Tribunale für Kambodscha und den Libanon manifestieren die herausragende Bedeutung des internationalen Strafrechts im 21. Jahrhundert. Als Instrument zur Friedenssicherung und der Durchsetzung von Menschenrechten wird das Völkerstrafrecht in Zukunft eine wesentliche Rolle für die Zielverwirklichung der internationalen Staatengemeinschaft spielen. Die gegenwärtigen Schwierigkeiten eines zügigen Verfahrensabschlusses und die Erweiterung prozessualer Opferbeteiligung stellen das Völ-

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F. Schlussbetrachtung

kerstrafrecht vor neue Fragen. Als Basis eines wachsenden Rechtsgebietes muss das internationale Strafverfahrensrecht ein einheitliches und systematisch schlüssiges Prozessmodell gewährleisten. Um den Herausforderungen des Völkerstrafrechts künftig wirksam begegnen zu können, bedarf es einer normativen Festlegung der rechtsstaatlichen Verfahrensmaßstäbe. Die entwickelten Änderungsvorschläge ermöglichen eine Realisierung der prozessualen Anforderungen an Gerechtigkeit und Effektivität. Allein durch die konsequente Orientierung an den Grundsätzen von Rechtsstaatlichkeit sind die Prämissen für einen Erfolg der internationalen Strafgerichtsbarkeit zu erreichen – ihre Glaubwürdigkeit und Integrität.

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Sachverzeichnis Abwehrrechte 185 Ademi 310 ff., 329, 332 f., 495 Ad-hoc-Tribunale 27, 95, 99, 110, 115, 118 f., 122, 126, 130 f., 133 ff., 137, 141 ff., 146, 148, 154, 159, 162, 167 f., 172 ff., 187 ff., 193, 195 ff., 201 f., 204 f., 207 ff., 211 ff., 215 ff., 238, 240 f., 245, 248, 251, 253, 264 f., 267, 274, 276, 283, 288 f., 297, 300, 310, 336, 340, 346 f., 349, 382, 384, 388 f., 393, 396 ff., 423, 425 ff., 429, 438, 443, 456 f., 460, 464, 475, 500 f., 518, 521 f., 524, 527, 530

– Rolle 118, 174, 180, 182, 462, 464, 475, 521, 526, 530 Anwesenheitsrecht 421 ff., 430, 433 f., 438 – Ausschluss vom Verfahren 429 f., 435 f. – Verzicht 423 f., 428 ff. Aufarbeitung 25, 95, 98, 118, 121, 124, 125, 129 f., 168 f., 205, 208, 211 f., 217, 236, 246, 271, 278, 281, 284, 287, 291, 300, 302, 306 f., 331, 385, 387, 391, 396 f., 402, 405 f., 408 ff., 418, 423, 438 f., 441, 443, 447 f., 472, 514, 517, 519, 521, 523 f., 530

Ad-litem-Richter 218, 220, 223, 248, 399 f. Adversatorisches Verfahren 171, 173 ff., 177 ff., 182, 186, 344 ff., 356, 358, 373, 412 ff., 423, 441, 464, 474 ff., 506 ff., 519 ff., 524 ff. Akayesu 262 f., 373 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, AEMR 56, 62, 70, 72, 218, 287 Allgemeine Rechtsgrundsätze 54, 73 ff., 86, 99 f., 105, 149 f., 218 Amici curiae 358, 361 ff. Analogie 74, 76 ff., 85, 100 ff., 107, 294 Angloamerikanisches Recht siehe common law Anklage, Anklagebehörde, Ankläger 116, 118, 125, 129, 138 ff., 144, 147, 153, 162, 166, 168, 171, 174, 177, 180 ff., 185, 197, 214, 230 f., 259, 262, 264, 266 ff., 289 f., 295 ff., 300, 303 ff., 309, 311, 315 ff., 323, 325 f., 330, 333 f., 340, 342, 353, 360, 370, 386, 389 ff., 393, 399, 403 ff., 409, 411, 413, 416 f., 422, 424, 427 f., 437, 440 ff., 446 ff., 455, 458 ff., 495, 501, 503 ff., 508 f., 511, 515 f., 518 ff., 524, 526, 530 – Pflichten 462

Barayagwiza 85, 349, 354, 366, 428 f., 434, 436, 464 Befangenheit siehe Unparteilichkeit Behrami v. Frankreich 92 ff., 96 ff., 107 Berufungskammer, Appeals Chamber 81, 110 f., 194 f., 209, 214, 254, 257, 262, 270 f., 298, 314, 346, 356, 363 f., 381 f., 391 f., 451, 454, 456 f., 471 f., 484, 487 Beschleunigungsgrundsatz 59, 70, 381, 383, 388, 393, 396, 401, 405, 522 Beschränkung der Anklage 404 ff. Bestätigung der Anklage, Anklagebestätigung 174, 264, 267 ff., 296, 311, 428 Beweise 43, 129, 171, 268, 413, 419, 463, 465, 468, 479 – Beweislast 269, 288 f., 333 f., 449, 452 – Beweisverfahren 145, 182, 284, 302 f., 306 f., 353, 369, 390, 406 f., 412, 416 f., 420, 444 f., 447, 455, 461, 470, 472, 474, 476, 516 f., 520, 525 – Offenlegung von Beweismitteln 140, 175, 428, 447, 453 f., 460 ff., 483, 516 Bizimungu 382, 389 ff., 394 Bosphorus Airways 88 f., 91 ff., 97 Bundesverfassungsgericht, BVerfG 44, 91, 273

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Sachverzeichnis

Civil law 27, 131, 150, 167, 170 ff., 175 ff., 182, 296, 302, 344 f., 352, 365 f., 372, 401, 412, 417, 419 f., 423, 467, 476 f., 502, 506, 508, 516 ff., 522, 526 f. Co-Investigating Judges siehe Ermittlungsrichter Common law 27 f., 131, 134, 150, 167, 170 ff., 176 ff., 182, 299, 301 f., 344 ff., 352, 401, 412, 415, 417, 420, 423, 448, 476, 480, 506, 508, 515, 518 ff., 525, 527 Completion Strategies 382, 394, 396 ff., 401 ff., 407 ff., 530 Dauer des Verfahrens 391, 394, 397 Delalić 256, 337, 447, 484 ff. Erdemović 298 Ermächtigungsgrundlage 38, 210, 217 Ermittlungsgrundsatz 171, 178 Ermittlungsrichter 153, 159 f., 171, 180 f., 223, 236, 264, 283, 318 ff., 326, 338 f., 447, 461, 476 ff., 526 Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK 32, 57 ff., 70 f., 80, 83, 85 ff., 95 ff., 187, 189, 217, 276, 281 f., 287, 294, 309 f., 334 f., 342, 372, 383 f., 387 f., 421, 481, 486 Europäischer Gerichtshof, EuGH 47, 49, 91, 105, 133 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, EGMR 47, 49, 57, 59, 70, 86, 88 ff., 251, 253, 264, 267 ff., 277, 309, 322, 330 f., 333, 341, 345, 349, 372, 388 ff., 393 ff., 421, 424 f., 428, 432, 436, 442, 444 f., 451, 461, 470, 481, 485 f., 492 Extraordinary Chambers in the Courts of Cambodia, ECCC 5, 27, 112 f., 115, 124, 128, 130, 154 ff., 168, 178 ff., 218, 223, 226 ff., 236, 244, 251, 254, 259 f., 264 f., 270, 274, 276, 280, 283 ff., 297, 302, 307 f., 318 ff., 334, 336 ff., 346, 357, 370, 377 ff., 387, 417, 420, 423, 426, 430 f., 459 ff., 476 ff., 496 f., 501, 504 f., 521 ff.

Fair trial 25 f., 36 ff., 40, 70, 141, 192, 277, 291, 348, 361, 366, 451, 457, 461, 470 f. Freiheitsrechte 33, 78, 185, 189, 309, 322, 342, 384, 446 Frieden 25, 52, 55, 64, 95 ff., 101, 107 f., 111, 114, 117 f., 121 f., 169, 198 ff., 206, 208 ff., 216 f., 226, 291, 300, 305 f., 384 f., 397, 402, 408, 418, 444, 519, 523 f., 531 Furundzija 142, 253 f., 257 f., 262, 466 f. G8 64 Generalsekretär der Vereinten Nationen 56, 65, 68 f., 81, 106 f., 109, 114, 126 f., 131, 224, 238, 243 f., 287, 425 ff. Generalversammlung der Vereinten Nationen 62 ff., 83, 119 f., 127, 169, 208, 230, 238 ff., 245, 398 f., 429, 528 Gerechtigkeit 25 f., 29 ff., 34, 36 ff., 41 ff., 52 f., 56 f., 74, 76, 79, 104, 113, 185 f., 222, 236, 238, 283, 294, 305, 347, 384 ff., 396, 402, 405 f., 408, 418, 430, 434, 441, 482, 501, 503, 507, 511 ff., 519 f., 521, 523, 530, 532 Gesetzesvorbehalt 134 ff., 162 Gesetzlicher Richter, 32, 73, 187, 189, 193, 196, 215, 217 Geständnis 289, 296 f., 299 ff., 305, 307, 408, 483 Gewaltenteilung 32, 116, 131 f., 134 ff., 150, 159, 190, 207 f., 227, 229, 256 Gewaltentrennung 136 f., 144, 147, 162, 166, 256, 531 Gotovina 407 Gründung 27, 54 f., 57, 81 f., 85 f., 90, 94 f., 99, 111 f., 116, 118 f., 121 ff., 133, 137, 142, 154 ff., 158 f., 161 f., 164 f., 170, 172 ff., 182, 187, 189 ff., 202, 204 f., 207 f., 212 f., 215, 217, 221 ff., 226, 237, 241 ff., 246, 248, 250, 301, 306 f., 324 f., 352, 380, 393 f., 425, 456, 458, 505, 521, 524, 527, 531 Grundgesetz 32, 46, 56, 76, 82, 85, 287, 321, 488 Guilty plea 288, 296 ff., 374, 408 f., 496, 518, 530

Sachverzeichnis Haftordnung, Rules of Detention 141, 148, 312 Hauptverfahrenskammer, Trial Chamber 81, 104, 115, 140, 160, 172, 177, 186, 193 f., 195 ff., 205, 217, 265, 268 ff., 276, 282, 290, 299 ff., 311 ff., 315 f., 320, 328, 333, 339, 347 f., 350, 356, 359, 371, 383, 386, 389, 391 f., 401, 403 f., 410 f., 422, 427, 438, 440, 455 f., 464 ff., 469 ff., 484, 487, 496 Hybride Tribunale 27, 99, 115, 121 ff., 127 ff., 153 ff., 166 ff., 174 f., 178, 180, 190, 193, 217, 221, 223 ff., 228 f., 231, 234, 236, 241 f., 244 ff., 250 f., 274 f., 278, 280, 285, 288, 329, 337, 340 f., 348 f., 378 ff., 423, 426, 430 f., 438, 459, 477, 504 f., 507, 531 Ieng Sary 123 ff., 232, 259 f., 323 ff., 327 f., 442, Implied powers 132 f., 162 In dubio pro reo siehe Unschuldsvermutung Information 70, 172, 266, 286, 291, 293, 295, 298 f., 303 f., 325, 334 f., 360, 375, 401, 414 ff., 431 f., 442 f., 453, 457, 461, 463, 465 f., 469, 493, 496, 500 f. Inkompatibilität 252 Inquisitorisches Verfahren 171 f., 174 f., 177 ff., 182, 345, 356 f., 412 f., 417 f., 420, 474, 476, 492, 506 ff., 516, 524 ff. Internal Rules, 139, 156, 158 ff., 178, 254, 280, 283 ff., 288, 319, 322, 378, 380, 431 Internationaler Gerichtshof, IGH 53, 60 f., 67, 73 f., 76 ff., 100, 148, 153, 195 ff., 199, 207 ff., 218 Internationaler Militärgerichtshof für den Fernen Osten siehe Tokyo Internationaler Militärgerichtshof Nürnberg 25, 117 ff., 133, 173, 222 f., 423, 425, 460 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte, IPbpR 58 f., 70 ff., 80, 83 ff., 90, 110 ff., 156, 184 ff., 217 f., 276, 279, 281, 284, 287, 294, 309, 312, 314, 317, 334 f., 342, 349, 371 ff., 382 ff., 387, 421, 425, 427, 444, 481 ff., 498 f., 530 Internationaler Strafgerichtshof, ICC 27, 40, 85 f., 95, 107, 115, 118 ff., 122, 128, 130, 142, 159, 175, 180, 193, 218, 240, 267,

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276, 295, 315 ff., 334, 336, 429, 457, 460, 467, 500, 504, 507, 521 Internationaler Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien, ICTY 27, 40, 81, 104, 108, 110 f., 115, 118 f., 131 ff., 138 ff., 154, 173, 175, 187 f., 190 ff., 200, 204 ff., 213 f., 218, 220, 223, 238 f., 253 ff., 260 ff., 265, 267 f., 270 ff., 274, 276, 278, 280 ff., 288 ff., 292, 297 ff., 300 f., 304 f., 310 ff., 319 f., 323, 328 f., 334 f., 337, 342 f., 346 ff., 350, 354 f., 357, 359, 361 ff., 366 ff., 371 f., 375 f., 378, 380, 382 ff., 386, 389, 395 ff., 415 ff., 422, 426 ff., 435, 438 f., 440, 445 ff., 454, 456, 462 ff., 473 f., 476, 482, 484 ff., 495 f., 498, 500 f., 503 f., 520 Internationaler Strafgerichtshof für Ruanda, ICTR 84 f., 110, 118, 131, 133, 144, 155, 188, 190, 202, 213, 223, 238, 262 f., 271, 336, 343, 349, 354, 373, 381 ff., 389 ff., 394, 396, 428 ff., 451, 455 f., 464, 495 Internationalisierte Gerichte siehe Hybride Tribunale Investigating Judges siehe Ermittlungsrichter Ius cogens 71, 77, 109 ff. Janusköpfigkeit 43 ff. Jugoslawien 27, 40, 95, 118 f., 122, 126, 131, 133 f., 137, 143, 154, 172, 198, 201 f., 213, 238 f., 257, 261, 304, 397, 402, 438, 453, 462, 518, 521, 523 Jurisdiktion 44, 90, 92, 116, 118, 127, 129, 153, 187, 194 f., 216, 283, 316, 401 ff., 504 Jury 228, 415, 419, 485, 525 Kaing Guek Eav, alias Duch 302, 324, 370, 497 Kambodscha 27, 112, 121 ff., 130, 139, 153 ff., 157 ff., 164 f., 167 f., 178, 180, 224, 226 f., 229 ff., 237, 243 f., 249, 275, 286, 291, 302, 322 f., 325, 327 ff., 335, 339 f., 378 ff., 382, 430, 442, 477, 505, 531 Kammern für Kriegsverbrechen in BosnienHerzegowina 123 Kapitel VII UN-Charta 92, 95 f., 118, 120, 122, 142, 190, 197 f., 200, 202 ff., 209 ff., 216 f., 524

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Sachverzeichnis

Karadžić 272, 290, 343, 353 ff., 358, 360, 398, 426, 438, 440 Khmer Institute of Democracy, KID 278, 280, 329 Kodifizierung 132, 162 Komplexität 137, 166, 174 f., 182, 193, 210, 228, 240, 337, 345, 352 f., 357, 365, 368, 370, 372, 376, 380, 386, 388, 390 ff., 396, 406, 412, 445, 455, 509, 514 f., 517 f., 525, 530 Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, KSZE 63 Kontinentaleuropäisches Recht siehe Civil law Kooperation 82, 93 f., 108, 118, 124, 128 f., 155, 168 f., 178, 213, 216, 235, 246, 303 ff., 307, 318, 322 f., 340, 342, 367, 373, 380 f., 389 ff., 398, 400, 422, 439, 448, 450, 453 ff., 458, 461, 465, 479 f., 484, 495 ff., 503, 505, 516 Korruption 127, 223, 227, 231 ff., 237, 275 Kosovo 100, 106, 178, 225, 249 Kosovo Force, KFOR 92 f., 97 Krajišnik 364, 369 Kreuzverhör 171, 177, 179, 262 f., 352 f., 361, 369, 406, 416, 420 f., 512, 518, 526 Kupreškić 406, 464

Nationales Recht 44, 47, 74 ff., 82, 85, 103, 123, 127, 129, 133, 136, 149 f., 153 ff., 157 f., 160 ff., 170, 175 f., 189 f., 285, 289, 294, 302, 305, 317, 332, 345, 380, 429, 447, 484, 502, 505 ff., 518 Nemo plus iuris transferre potest quam ipse habet 87 f. Nemo tenetur se ipsum accusare siehe Schweigerecht Niyitegeka 495 Normenhierarchie 148

Lubanga 340, 468 ff., 476, 516, 531

Peoples Revolutionary Tribunal, PRT 124, 127, 442 Pflichtverteidigung, Pflichtverteidiger 344 f., 347 ff., 358 f., 361 f., 364 ff., 442, 518 Plea agreement siehe Guilty plea Plea bargaining siehe Guilty plea Pol Pot 124 ff., 156, 232, 327, 329, 442 Politik 55, 60, 62, 69, 98, 101, 128, 197, 256, 261, 278, 379 f. Preparatory Committee 120, 143 Prozessmodell 178, 352, 477 f., 485, 492, 506 f., 510, 512, 514, 518, 532

Matthews v. Vereinigtes Königreich 88 ff., 95 Medien 130, 241, 279 f., 286 ff., 295, 354, 513 – Haftung 293 f. – Unschuldsvermutung 291 ff. Menschenrechte 33 ff., 49, 57, 59, 62 ff., 68, 70, 80 ff., 84, 88, 93, 98, 108 f., 112, 125, 151 ff., 167, 184, 203, 211, 216, 251, 257, 305, 308, 372, 381, 386, 396, 506, 531 Millenniumskonferenz 63 Milosević 282, 343, 345, 352 ff., 361, 363, 371, 399, 453 Mladić 291, 398, 422, 426, 438 Monitoring 249, 275, 286 Mucić 484, 487

Öffentlichkeit 37, 72 f., 79, 156, 163, 167, 231, 233, 241, 245, 253, 275 ff., 285 ff., 292 f., 295, 308, 321, 328, 330 ff., 391, 407, 443, 511 f., 523 – Ausschluss der Öffentlichkeit 281 ff. Offenlegung von Beweismitteln 460, 463 – Sanktionen 466, 471 ff. Opfer 130, 160, 163, 177, 212, 223, 232, 258, 278, 282, 302 f., 306, 308, 326 ff., 332, 351, 370, 385, 387, 390, 405 f., 408, 410, 439 ff., 443, 472, 493, 512, 517, 519, 531 – Beteiligung 160, 306, 387, 407, 440 f., 521 ff. Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, OSZE 64, 403

Rahmenkonvention für hybride Tribunale 168 f. Rechtsgrundlagen 94, 130 f., 141 f., 147 f., 152 ff., 162, 224, 226, 240, 252, 254, 274, 288, 310, 315, 318 ff., 342 f., 346, 348, 350, 362, 374, 467

Sachverzeichnis

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Rechtssicherheit 29, 31 f., 116, 140, 145 ff., 158, 182, 314, 369, 531 Rechtsstaatlichkeit 26 f., 29 ff., 44, 50, 52 ff., 62, 73, 76, 78 ff., 106, 108 ff., 113 ff., 124 f., 127 ff., 135, 143, 157 f., 169, 183 f., 186, 192, 227, 229, 233, 253, 273, 278, 291, 381, 410, 490, 492, 494, 526 ff., 530 ff. – Begriff 26, 29 ff., 33 ff., 43 ff., 53 f., 57, 66 ff., 111, 114, 131 – Bindungswirkung 62, 67, 101, 103, 150, 271, 294, 296 – Geltung 26, 29, 31, 40, 53 f., 56, 59 ff., 65 f., 69 f., 76, 79 ff., 86 Regierung 60, 88, 123, 125, 127 f., 165, 169, 178, 213, 221, 223 ff., 227, 229 ff., 241, 243 f., 256 f., 275, 325, 380, 453 f., 477, 504 Renzaho 271, 382, 391, 393 f., 396 Resolution 827 (1993) 118, 131 Resolution 955 (1994) 118, 131, 213 Ressourcen 129, 206, 300, 303, 384, 392 ff., 396 ff., 401, 405 f., 408, 438, 447 ff., 455 f., 458, 463, 515 f., 522 f., 528 Richter 32, 35, 45, 53, 59, 73, 84, 122 f., 131, 133 f., 136 ff., 141 ff., 147, 150 ff., 158 ff., 165, 168, 171 ff., 177 ff., 187 ff., 193, 196, 215, 217 ff., 220 ff., 292, 296, 299 f., 302, 311, 313 f., 319, 332 f., 345, 369 f., 393 f., 399 ff., 413 ff., 478 f., 508, 511, 513 f., 517 f., 520, 527, 531 – Information 172, 266, 401, 414 ff. – nationale 168, 222 ff., 402 – Rolle 171 ff., 177 ff., 345, 413 ff., 508, 517, 520 – Wahl 220 ff. – Wiederwahl 248 ff. Richterrecht 150 Rote Khmer 122, 124, 127, 230, 232, 259, 302, 325, 327, 329 Ruanda 84, 95, 118 f., 122, 131, 172, 198, 201 f., 213, 397, 518, 521, 523 Rückwirkungsverbot 32, 146

– des Zeugen 498 ff., 504 Selbstbelastungsfreiheit siehe Schweigerecht Selbstverteidigung 58, 343 ff., 358 ff., 365 f., 368, 370, 374, 442, 530 Sesay 258 Šešelj 260 f., 343, 355, 357 ff. Sicherheitsrat 66, 83, 92, 95 f., 98, 108 ff., 118, 120 f., 123, 126, 129, 131 f., 135, 137 f., 169, 173, 190, 195, 197 ff., 204 ff., 238 ff., 270, 392 f., 397 f., 425, 453, 524 Siegerjustiz 104, 223 Soft law 66, 75 Sondergerichtshof für Sierra Leone, SCSL 155, 224, 249, 257, 330 Sonderkammern in Ost-Timor, SOSC 123, 242, 335 Sondertribunal für den Libanon, STL 123, 423, 426, 432, 459 f. Souveränität 117, 119, 126, 144, 155, 168, 201, 203, 213 ff. Sprache 112, 236, 334 f., 337 ff., 341 – Dolmetscher 58, 336 f. – Übersetzung 112, 335, 337 ff., 396 Staatlicher Strafanspruch 38 f., 43, 46, 48, 50, 115 Standby Counsel 355 f., 358 ff., 363, 365

Saramati v. Frankreich, Deutschland und Norwegen 92 ff., 96 ff., 107 Schuldangemessenheit 304 f. Schweigerecht – des Angeklagten 37, 58 f., 185, 307, 323, 437, 441, 480 ff., 485, 488, 490 ff.

Übersetzung siehe Sprache Umgehungsverbot 88 f. Unabhängigkeit 32, 37, 71, 79, 96 f., 154, 178, 217 ff., 223 f., 227, 229 f., 234, 236 f., 241 ff., 256, 261, 274 f., 280, 402, 414, 460, 477

Tadic 81, 110, 115, 119, 188, 190, 193 f., 196 f., 200, 213, 271, 292, 304, 454 Tatort 84, 86, 121 ff., 128 ff., 150, 154 f., 167 f., 175, 178, 213, 216, 223 f., 229, 231 ff., 244, 246 ff., 275, 280, 285 f., 322, 329, 331 f., 336 f., 353, 381, 439, 448, 453 f., 458, 515, 518, 524 Todorović 304 f. Tokyo 25, 117 ff., 133, 173, 222 f., 460 Transparency International 127, 233 Transparenz 158, 163, 241, 250, 278 f., 286, 298, 314, 407, 517 f., 529 Trial in absentia 322, 421 ff.

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Sachverzeichnis

United Nations Transitional Administration in Kosovo, UNMIK 92 f., 106, 225 Unparteilichkeit 79, 217 ff., 222 f., 226 ff., 231 f., 234, 236, 244, 247, 252 f., 255, 257, 261, 263, 271, 273 f., 277, 513 Unschuldsvermutung 35, 37, 51, 58 f., 70 f., 79, 156, 185, 263, 269, 287 ff., 299, 301 ff., 307 ff., 312, 321 f., 324, 327, 332 ff., 384, 480, 482, 488, 514, 522, 530 United Nations Transitional Administration in East-Timor, UNTAET 123, 224, 242, 249 Untersuchungshaft 180, 283 f., 288, 307 ff., 324 ff., 353, 383 f., 391 f., 495 – Fluchtgefahr 315 f., 319, 322, 324 – Haftgründe 310 f., 320 ff. – Haftumstände 308 f. – Verdunkelungsgefahr 315 f., 319, 325 f. – Wiederholungsgefahr 316 Untersuchungsrichter siehe Ermittlungsrichter Vereinigte Staaten von Amerika, USA 59, 121, 125, 170, 173, 176, 223, 228, 251, 297, 423, 502, 527 Vereinte Nationen 55, 57, 59, 63 ff., 68 ff., 79, 81, 83 ff., 92 f., 96 f., 99 f., 106 ff., 111, 114, 118 ff., 131, 142, 154 ff., 165 ff., 178, 190 f., 195 ff., 200 f., 203, 206 f., 213, 215 ff., 226, 236, 238, 240, 242 ff., 247, 251, 257, 325, 384 f., 397 ff., 425 f., 469, 471 Verfahrens- und Beweisordnung – der Ad-hoc-Tribunale 131 ff., 137, 141, 173 – des Internationalen Strafgerichtshofs 121, 142 f., 146, 149 Verhältnismäßigkeit 28, 45 ff., 53, 210 Versammlung der Vertragsstaaten 145, 147, 245 Verteidiger, Verteidigung 37, 58 f., 70, 112, 116, 124 f., 129, 138 f., 141 ff., 147, 171, 174 f., 177, 180, 186, 295 ff., 303 f., 319, 333, 335, 337 ff., 351 ff., 386 f., 389, 394 f., 408 f., 413, 416 f., 420 f., 424, 428 f., 432, 434 ff., 439, 441 ff., 445 ff., 469 f., 472 ff., 483, 495, 508 ff., 514 ff., 526, 530 – Anforderungen 374 ff. – freie Wahl 37, 58, 343 f., 373

– Institutionalisierung 456 ff. – Pflichtverteidigung 344 f., 365 ff., 442 Vertragsstaaten 85, 89, 92, 94, 120, 143 ff., 147, 188, 240 f., 245, 317 f. Völkergewohnheitsrecht 27, 59 f., 62, 67, 70, 73, 80, 99, 101, 105, 107, 110, 312 Völkermord 26, 118, 120, 123 f., 127, 204, 304 f., 405 f. Völkerrechtliche Verträge 57, 83 Völkerrechtskommission, ILC 119 f. Vorverfahren 131, 141, 160, 171 f., 174, 177 f., 180 f., 264 ff., 268, 283 ff., 310, 316, 334, 398, 400, 416, 464, 482 f., 500, 524 Vorverfahrenskammer, Pre-Trial-Chamber 162 f., 177, 180, 264 f., 267, 313, 316, 325 ff., 339, 348, 430 Waffengleichheit 35 ff., 72, 138 f., 174, 182, 185 f., 335, 338, 341, 351 ff., 360, 363 ff., 374, 435, 444 ff., 458 ff., 466, 468, 470, 472 ff., 478 f., 515 ff., 522, 526, 530 Wahrheitsfindung 41 ff., 52 f., 125, 171, 177, 179, 280, 300, 336, 342, 353, 370, 385, 387, 395 f., 398, 403, 405 f., 410, 418, 420, 441, 443, 464, 467, 473, 477, 480, 493, 498, 501 f., 508 f., 514 ff., 519 ff., 526, 530 Waite and Kennedy 88 f. Wesentlichkeitstheorie 134, 136 Zeuge 58, 113, 129, 140, 171 f., 175, 177 ff., 181, 186, 262 f., 269, 271, 277, 280, 282 f., 292, 303, 306, 311, 313, 326 f., 332, 336, 346, 351 ff., 361 f., 369 f., 385, 390 ff., 396, 406 ff., 416 ff., 427 f., 440 f., 448, 450, 458, 461, 465, 467 f., 514, 518, 520 f., 524 – Aussagepflicht 504 f. – Schweigerecht 498 ff. Ziele des Völkerstrafrechts 410, 422, 526 Zurechnung 86, 91, 93, 97, 106, 272, 390 f., 454 Zuständigkeit 84, 87 f., 92 f., 120, 122, 127 f., 132 f., 147, 152, 161 f., 167, 173, 179, 187, 194 ff., 200, 207 f., 210, 212, 214, 216, 265, 362, 401, 457, 459, 504, 514 Zwischenverfahren 172