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German Pages 734 Year 2023
Rechtsgeschichtlicher Kommentar zum Neuen Testament I
Rechtsgeschichtlicher Kommentar zum Neuen Testament Band I: Einleitung Arbeitsmittel und Voraussetzungen Herausgegeben von Folker Siegert In Verbindung mit Johann Maier † und Frieder Lötzsch
ISBN 978-3-11-065606-0 e-ISBN (PDF) 978-3-11-065834-7 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-065695-4 Library of Congress Control Number: 2022942497 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: Manuscript 5/6 Hev16, Plate *123, item N° B-497978 mit freundlicher Genehmigung der Israel Antiquities Authority Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Dieser Band ist gewidmet dem Andenken an Professor Dr. theol. Dr. phil.
Johann Maier
(1934 – 2019), den Berater dieses Werkes und Mitverfasser des ersten und des letzten Bandes.
Inhalt Vorwort
XI
A. Einleitung Folker Siegert 1 Das Anliegen dieses Kommentars
3
2
Der Begriff des Rechts. Recht vs. Ethik, Moral, Religion
3
Charakteristika des römischen Rechts
4
Die Barockjurisprudenz als Brücke zur Gegenwart: Grotius, Pufendorf und 77 das „lutherische“ Naturrecht
5
Vorarbeiten zu diesem Kommentar
6
Der Aufbau dieses Kommentars
15
53
85 119
B. Grundwissen und Voraussetzungen Johann Maier 1 Verfassungsgeschichte Judäas von der Königszeit bis zum Patriarchat des 125 Hauses Hillel Johann Maier 2 Einführung in die Quellen des jüdischen Rechts
175
Johann Maier 3 Übersicht über die Quellen des jüdischen Rechts Folker Siegert 4 Liste der Papyri aus der Wüste Juda
209
235
Martin Schermaier 5 Übersicht über die römischen Rechtsquellen
239
VIII
Inhalt
Folker Siegert 6 Glossar der wichtigsten Fachausdrücke
253
C. Übergreifende Themen Boaz Cohen Thema 1: Buchstabe und Geist in jüdischem und römischem Recht Johann Maier Thema 2: Schwören im Recht des antiken Judentums
271
287
Ulrich Kellermann Thema 3: Witwen und Waisen in Judentum und Urchristentum
311
Folker Siegert Thema 4: Bibel und Recht. Ein Durchgang vom Dekalog bis zur Gegenwart Folker Siegert 467 Exkurse Exkurs 1: Gesetz und Evangelium. Der lutherische Ansatz 467 Exkurs 2: 478 Samuel Pufendorf als Theologe Exkurs 3: 485 Bibel und Geschichte. Hermeneutisches Exkurs 4: Das Ungenügen der Metaphern 497 Exkurs 5: „Theologie ist Eschatologie“ 503 Exkurs 6: Kosmisches und menschliches Naturrecht 510 Exkurs 7: Naturrecht und Offenbarung bei Thomas von Aquin und im 519 Thomismus Exkurs 8: 533 Ius gentium und Natur der Sache Exkurs 9: Die Achsenzeit 1660 – 1680 und die Logique de Port-Royal 537
341
Inhalt
Exkurs 10: Der empirische Ansatz 546 Exkurs 11: Der Begriff der Evidenz 566 Exkurs 12: Von der Ontologie zur Handlungstheorie 577 Exkurs 13: Leibniz’ Kritik an Pufendorf 590 Exkurs 14: 593 Verdeckte Erfahrungswissenschaft bei Christian Wolff Exkurs 15: 601 Die Verführung des Totalitarismus: Carl Schmitt, Jacob Taubes Exkurs 16: 607 Schieflagen der rechtstheologischen Diskussion im 20. Jahrhundert Exkurs 17: Überwindung der Aufklärung? 619 Schluss: Theologie und Jurisprudenz 624 Konkordanztabelle zu Pufendorf, Eris Scandica Zitierkonventionen und Transkriptionsregeln Abkürzungsverzeichnis Literaturverzeichnis
635 641
Liste der behandelten Perikopen Liste der Rechtsthemen
699
689
627 629
IX
Vorwort Mit diesem Band wird ein Gespräch zwischen Neutestamentlicher Wissenschaft und Jurisprudenz wieder aufgenommen, das in den letzten beiden Jahrhunderten – nach zunehmender Vereinzelung der Wissenschaften – nur noch sporadisch stattgefunden hat. Heute, nach vielen neuen Textfunden, verspricht ein solches Gespräch viel reichere Ergebnisse, als sie in den besten Zeiten der theologisch-juristischen Kollaboration, damals noch auf Latein, möglich waren. Während rechtsgeschichtliche Fragestellungen zum Alten Testament ihren festen Platz haben in der Bibelwissenschaft und sich sogar einer eigenen Zeitschrift erfreuen, ist zum Neuen Testament, wo jü dische und römische Rechtsgeschichte sich auf wechselvolle Arten überkreuzen, nur wenig und unzusammenhängend gearbeitet worden. Noch immer liegt die neutestamentliche Wissenschaft methodisch im Windschatten der alttestamentlichen, sehr viel experimentierfreudigeren. Eine Schwierigkeit, deren Behebung abgewartet werden musste und die sich bei den Kolloquien zur Vorbereitung dieses Kommentars (seit 2006) deutlich herausgestellt hat, besteht im Erfordernis einer hinreichend genauen Datierung und Lokalisierung der Texte. Jedes der vier Evangelien hat einen komplexen Entstehungsgang hinter sich, und ihrer keines lässt sich ohne weiteres fü r den halbautonomen Tempelstaat Judaä der Zeit Jesu in Anspruch nehmen. Als schriftliche Texte sind sie sämtlich erst außerhalb Judäas entstanden, und die mit dem Jahr 70 n.Chr. dort radikal veränderten Verhältnisse haben in die überlieferte Textgestalt, deren Bezeugung erst im 2. Jh. einsetzt, stark eingewirkt. Nötig war eine kritische Scheidung der zeitlich differenzierbaren Schichten der drei größeren Evangelien, an einigen Stellen auch in dem des Markus. Ihr gilt, unter vielem anderen, dieser Band, gewiss nicht als letztes Wort zur Sache, aber doch als Einladung zu weiterer Forschung. In der wissenschaftstheoretischen Grundlegung, die dieser Band gleichfalls zu leisten hat, erweist sich das Folgende als ein Werk des nachmetaphysischen – dabei aber keineswegs nachreligiösen – Zeitalters, in dem wir heute leben. Dieses begann mit einigen heute zwar noch genannten, aber kaum mehr gelesenen Denkern des 17. Jahrhunderts. Deren für dieses Unternehmen wichtigster ist der lutherische Jurist Samuel Pufendorf (1632– 1694). Der in Bänden II bis VI folgende Kommentar, so innovativ er ist und so sehr er einstimmen könnte in das postmoderne Konzert sich gerade „erfindender“ Wissenschaften, beruht doch, was das Gespräch zwischen Theologie und Recht angeht, auf längst Vergessenem, einst nur auf Latein Gesagtem. Doch werden für die Leserschaft dieses Werkes keine aktiven Kenntnisse in Alten Sprachen vorausgesetzt, sondern stets Transkriptionen und Übersetzungen geboten. Fachwissen, sei es theologisch oder juristisch, wird auch unter der Gefahr der Redundanz zur Verfü gung gestellt. Trotz vieler Querverweise sind gewisse Wiederholungen unvermeidlich, sollen denn die Einträge auch einzeln zu rascher Information taugen. https://doi.org/10.1515/9783110658347-001
XII
Vorwort
Vieles an diesem Werk ist im Stadium der Skizze geblieben, damit es nicht noch mehr Bände werden. Es war nicht mein Ehrgeiz, die hier vorgeschlagene Forschungsrichtung selbst schon zu erschöpfen. Allen Kolleginnen und Kollegen, die an diesem Werk mitgearbeitet haben und derzeit noch mitarbeiten, gebü hrt an dieser Stelle schon mein Dank. Es sind vor allem, salvis titulis, Martin Avenarius, Michael Memmer und Martin Pennitz für das römische Recht sowie Susanne Benöhr-Laqueur für die Anschlüsse an heutiges deutsches Recht. Mitautor des vorliegenden ersten Bandes und unermüdlicher Berater in allen judaistischen Fragen war Johann Maier, bekannt noch immer als einer der ersten Übersetzer und Vermittler der Qumran-Funde. Er war ein unvergleichlicher Kenner des Judentums in all seinen Epochen und Sprachen. Das Glossar des jüdischen Rechts für Bd. VII, separat bereits als Broschur erschienen, ist sein opus postumum. Einige Beiträge zu diesem I. Band, die er vorab dort bereits publizierte, erscheinen hier in derjenigen Form, wie er sie für den RKNT eingereicht hat. Der Ideengeber war einst mein Assistent in Neuchâtel, Jean-Jaques Aubert, Historiker von Beruf, der sich mit einer Publikation, betitelt Speculum iuris, auch an den Prozess Jesu heranwagte. Seine Idee, Rechtstexte als Spiegel antiken Lebens nutzbar zu machen, zündete vollends bei einer ebenso unerwarteten wie freundlichen Begegnung mit dem bibelkundigen Rechtshistoriker Dieter Nörr 2004 an fellows’ table im St. John’s College, Cambridge. Jahre später wurden mir dessen gesammelte Aufsätze der Leitfaden. In Münster, meiner Arbeitsstelle während 16 Jahren, hat Bodo Pieroth, Staatsrechtler (Kürzel für: Professor für öffentliches Recht), mein Nachbar sowohl am Arbeitswie am Wohnort, mich prompt und sicher in allen aktuellen Terminologiefragen beraten. Statt von seinen Vorlesungen zu profitieren, was ich im Nachhinein gerne getan hätte, biete ich Definitionen und Beispiele aus seinen Schriften, auch wo diese thematisch nicht einschlägig zu sein scheinen. Das vorliegende Werk, auch wenn es wie ein Handbuch aufgebaut ist, kann die Zufälligkeiten seiner Entstehung, gerade was die Informationsquellen betrifft, nicht verleugnen. Mit eigenen Beiträgen zur Rechtsgeschichte halfen einige ausgewiesene Fachleute, zunächst Münsteraner Kollegen: Martin Schermaier bot gleich auf dem ersten Kolloquium eine Übersicht über die römischen Rechtsquellen (hier B 5), Fabian Wittreck gab Hinweise auf wenig beachtete Quellen aus dem Orient und beriet mich zur Gesamtgliederung, Sebastian Lohsse initiierte mich mündlich in den Fundus seines Römischen Privatrechts, Peter Oestmann half in „germanistischen“ (deutsch-rechtlichen) Fragen und Thomas Schüller von der Katholisch-Theologischen Fakultät in solchen des kanonischen Rechts. Den Prozess gegen Paulus bearbeitete bereits in der Anfangsphase des Projekts in einem für mich bahnbrechenden Beitrag Hans Kiefner (†), Jurist an Münsters Juristenfakultät wie am Landgericht. Den Prozess gegen Jesus, Hauptstück des Ganzen und tragende Säule, analysierte – nicht zuletzt unter Kenntnisnahme der theologischen Literatur – Martin Pennitz. Auch hier war der Befund ermutigend: In jedem der Berichte, nämlich in den drei unter sich divergierenden Darstellungen des Verfahrens
Vorwort
XIII
gegen Jesus (Mk./Mt., Lk., Joh.), ist ein juristisch zumindest mögliches Prozessgeschehen dargestellt. Die meisten Genannten haben Teile des Werkes im Entstehungsstadium kritisch gelesen, haben Korrekturen sowie eigene Teile (in […]) beigesteuert und mich wenigstens vor groben Missverständnissen bewahren können. Das Einarbeiten der Korrekturen war meine Sache und fällt in meine Verantwortung. Dass Fachleute prüfen, was ein Fachfremder mithilfe ihrer Ressourcen gefunden zu haben meint, war höchst wünschenswert: Juristische Auskünfte stimmen nur, wenn sie auch im Detail stimmen. Zu leicht lässt eine summarische Ausdrucksweise irrige Schlüsse zu. Leider aber: Perfekt sind auf juristischem Gebiet nur solche Texte, die keiner versteht als die Spezialistengruppe, von der sie kommen; da ist selbst unter Juristen die Verständigung begrenzt. So muss ich denn zugeben, dass meine Versuche, Juristisches fachübergreifend und in allgemeinverständlicher Sprache auszudrücken, bei meinen freundlichen Helfern durchaus auch Bedenken ausgelöst haben. Doch hoffe ich, insgesamt keine Enttäuschung auszulösen; besser konnte ich es nicht. Die Forschung, die ich nur anstoßen, aber nur anfangsweise selber leisten konnte, möge es besser machen.Wichtigstes war mir der Hinweis auf die relevanten Quellen. Als Lektor des vorliegenden Einleitungsbandes diente Pfr. Dr. Dr. Frieder Lötzsch, Philosoph und Theologe, Lehrbeauftragter des Instituts während langer Jahre, sattelfest in den Schriften Kants. Gern hätte ich für die Ausarbeitung dieses Kommentars ein ganzes Team beschäftigt, schon um noch mehr an Säkundärliteratur aufspüren und die gefundene gründlicher lesen zu können. Die angeschriebenen Förderorganisationen erwiesen sich jedoch entweder für Jura zuständig oder für Theologie. Ein Dank an die öffentliche Hand entfällt somit; dies war keine Zuschussarbeit. Dankbar benutzt habe ich jedoch Münsters Bibliotheken, insbesondere die des Institutum Judaicum Delitzschianum und die nicht weniger gut bestückte des Rechtsgeschichtlichen Seminars. Gutachten für die Drucklegung erstellten die Kollegen David du Toit als Neutestamentler und Jan Rohls als Systematiker. Dr. theol. Albrecht Döhnert, Lektor fü r Religion und Theologie beim Verlag de Gruyter, war ein kritischer Leser und aufmerksamer Korrektor meiner Beiträge zu diesem Bd. I, wofür ihm extra gedankt sei. Er und sein Stab beim Verlag, darunter Frau Katharina Zühlke und Frau Sabina Dabrowski, haben diesen Band mit viel Mühe und Sorgfalt betreut. Institutum Judaicum Delitzschianum Evangelisch-Theologische Fakultät, Universität Mü nster/ Ober-Ohmen (Vogelsberg), im Juni 2022 Folker Siegert.
A. Einleitung
Meister allen Rechtes bleibe die Vernunft. (Luther, WA 11,272,15)
Folker Siegert
1 Das Anliegen dieses Kommentars Das Christentum, wie die westliche Welt es kennt, ist die Synthese aus einer orientalischen Religion, griechischer Philosophie und römischem Recht. Während die ersten beiden Komponenten sattsam untersucht wurden und bestens erforscht sind, blieb die dritte im Schatten. Die Rechtsbegriffe des Alten Testaments – hier muss man sogar sagen: der Hebräischen Bibel – schienen der Theologie zu genügen; und was das Neue Testament betrifft, wo sie nur sehr verblasst wiederkehren, wirkte die ‘Globalisierung’ Judäas durch das Eindringen römischer Verwaltung und eben auch römischen Rechts wie eine Verwischung, eher störend. Sollte man sich nicht wenigstens darüber wundern können, dass wir hier von „Testamenten“ sprechen, wo es solche im jüdischen Recht doch gar nicht gibt? Auch wo man mit „Bund“ übersetzt, bleibt merkwürdig, dass es so etwas innerhalb des Judentums nicht gibt, sondern immer nur als Rechtsvorgang nach außen hin (s.u. # 301), und jedenfalls ist es dann ein untypischer Bund. Anderes Beispiel: Wir sind an Jesu Aufforderung, „mit den Pfunden zu wuchern“, so sehr gewohnt, dass niemand sich fragt: Wie passt das in eine Welt, wo doch das Zinsnehmen verboten war? (hier # 110). Wir sprechen von „Schuld“, ohne zu unterscheiden zwischen der Schuldigkeit (debitum) eines Vertragsnehmers – einer Geldschuld etwa –, die nichts Strafbares ist, und der Schuld (reatus) eines Verbrechers- zu schweigen von causa „Ursache“ („Schuld“ im Alltagssprachgebrauch) im philosophischen Sinne: All dies liegt auf sehr verschiedenen Ebenen, auch in der Bibel. Umgekehrt, was die antike Rechtsgeschichte betrifft, die bisher noch wenig aus dem Neuen Testament geschöpft hat: Dieses bietet ihr zahlreiche Beispiele von Gerichtsverfahren – mit dem Verfahren gegen Jesus sogar im Zentrum – und von Rechtsvorgängen aller Art, und ein erheblicher Teil seines Wortschatzes hat zumindest auch eine juristische Bedeutung. Da helfen die Definitionen aus antiken Rechtsquellen nicht nur zu einer Profilierung und Kontextualisierung der Textaussagen, sondern auch die rechtsgeschichtliche Forschung erhält reichlich Illustration aus dem weitest verbreiteten Buch der Welt.
1.1 Ein interdisziplinäres Vorhaben Ziel dieser nach langer Ankündigung nunmehr erscheinenden Bände ist, das Neue Testament aus antiken Rechtsquellen zu erläutern, um das an Konkretion und an Lebensnähe wiederzugewinnen, was in den Begriffen und Texten einst steckte. Konkrete Rechtsfälle – das Verfahren gegen Jesus und auch das gegen Paulus – finden ebenso https://doi.org/10.1515/9783110658347-002
4
A. Einleitung
Beachtung wie der aus dem Rechtsleben kommende metaphorische Gehalt vieler Ausdrücke in solchen Texten, die selbst nicht juristischer Natur sind. Rechtsfragen und -begriffe werden als Mittel benutzt, um stärker ins Profil zu setzen, worum es in den Texten theologisch geht. Andererseits aber sind sie auch Zweck: Das Neue Testament wird sich in fast allen seinen Teilen als Quelle zur antiken Rechtsgeschichte erweisen, aus der zu schöpfen ganz profane Wissensinteressen wird stillen können. Nicht selten wird aus Jesusüberlieferungen zu lernen sein sowohl für die judäische Lebenswelt der ersten Jünger wie auch für die des Christentums, als dieses in die Weiten des Römischen Reiches einwanderte. Die westlichen Kulturen sind seither eine Synthese aus Biblischem und Griechisch-Römischem, und deren Komponenten an der Herkunftsstelle kennenzulernen ist lehrreich. Der eben genannte Testaments-Begriff ist das Beispiel: Jedes Titelblatt, das ein Neues Testament ankündigt, lässt das dann Folgende aus dem Rahmen des Judentums und des ihm eigenen mosaischen Rechtes heraustreten, denn Testamente gibt es im Judentum nicht. Sie gehören, als Sache wie als Begriff, der hellenistisch-römischen Umwelt an (# 301). Eine Umbenennung in „Neuer Bund“ wäre nur eine halbe Lösung, denn selbst die eine Bezugsstelle, wo der Ausdruck „neue berît“ bzw. „neue diathēkē“ von der Hebräischen Bibel bzw. der Septuaginta vorgegeben ist, Jer 31,31, spricht noch nicht vom letzten Willen eines Sterbenden. Ein gleich großes Interesse liegt also auf einem vertieften Verstehen der Texte wie auf der Erweiterung unserer Kenntnis antiker Rechte. Eine Kontinuität der Begriffsbildung und der Problemlösung durch die Zeiten hindurch erleichtert sowohl das historische Verstehen wie auch die Übertragung der biblischen Botschaft in die heutige Zeit. Der Zwang zur Konkretheit – juristische Begriffe sind stets handlungsrelevant – ist geeignet, der theologischen Sprache herauszuhelfen aus der Selbstgenügsamkeit dessen, was man schon als „sprachliches Kunsthandwerk“ bezeichnet hat.¹ Neutral und voraussetzungslos kann solche Forschung allerdings nicht geschehen. Inhaltliche Vorgabe für das vorliegende Werk ist – erstens – die Bestimmung des Verhältnisses von Kirche und Staat, Christentum und Gesellschaft, wie sie im ersten großen Rechtsdokument der Reformation, der Confessio Augustana (CA) 1530 niedergelegt wurde, die Zwei-Reiche-Lehre nämlich, und es ist – zweitens – diejenige Art von Rechtsbegründung, genannt „Naturrecht“, die sich im Protestantismus des 17. und 18. Jh. herausgebildet hat. Eine genaue Begründung für diese Wahl ist Ziel dieser Einleitung wie auch der Exkurse am Ende dieses Bandes. Anders als es in der Antike war und als es im scholastischen Naturrecht noch ist, gilt hier als Bezugspunkt allein die menschliche Natur, so wie wir sie an uns und aus der Geschichte erkennen, nicht die animalische, die vegetale oder gar die mineralische bis hin zu den Gestirnen. Für ein historisches Verständnis der biblischen Texte wie auch für einen hermeneutisch reflektierten Umgang mit ihnen hat juristische Fragestellung den Vorteil, dass
Dieses Wort aus einer mir nicht mehr erinnerlichen Predigtkritik passt sehr gut auf all jene Predigten über biblische Erzähltexte, die abstrahieren von der Frage, was da einstens geschehen sein soll. Auch viele Dogmatiken neigen zu selbstreferenziellen Definitionen ihrer Begriffe.
A 1 Das Anliegen dieses Kommentars
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sie den wörtlichen von symbolischem Gebrauch der Sprache zu unterscheiden lehrt. Sie erleichtert den Blick auf das tatsächliche Leben von damals,² seine Regeln, sein Funktionieren und seine Konflikte. Was einem antiken Publikum solcher Texte aus eigener Erfahrung noch bekannt war, dann aber in den Auslegungen der Kirchenväter mit ihren moralisierenden Verallgemeinerungen und heils- und geschichtstheologischen Ausweitungen bereits verschwindet, soll hier als historische Konkretion wieder hervortreten. Gleichnisse können Außergewöhnliches verdeutlichen, müssen dieses aber doch im Gewohnten verankern: Besitz und Kauf, Versprechen und Täuschung, Geschenk und Gewinn gegenüber Diebstahl und Raub – all dies hatte ja damals schon Rechtsregeln, und es sind nur selten dieselben wie heute. Die juristische Fragestellung wird ganz neue Möglichkeiten eröffnen, die sog. Realien des Neuen Testaments kennenzulernen und sie von freien Erfindungen der erzählenden Phantasie oder von den unhistorischen Annahmen seitheriger Übersetzer zu unterscheiden. Vieles Auslegen und Predigen biblischer Texte gibt traditionell dem Tiefsinn den Vorzug vor der Deutlichkeit; ja, der hier Schreibende kennt auch aus Vortrags- und Diskussionsveranstaltungen eine gewisse Angst, mit Klärungen das Transzendente an den Texten zu beschädigen. Ist aber doxa nicht „Klarheit“, jedenfalls im biblischen Gebrauch dieses Wortes (lat. dann: gloria)? Sie wird manchmal als blendend dargestellt, eher aber doch als freundliches Licht, „zu erleuchten die Heiden“. Soviel nämlich kann behauptet werden: Die hier untersuchten Texte waren alle einmal klarer, als sie es heute sind; sie hatten Leser und Hörer, die die Verhältnisse kannten, besser als wir. In deren Nähe begeben wir uns jetzt und begeben uns v. a. in die Nähe derer, die die Gegebenheiten ihrer Zeit reflektierten und darstellten. Die juristische Literatur der Antike ist eine für die Bibelauslegung noch zu erschließende Quelle. Ein Werk dieser Art gibt es noch in keiner Sprache, obwohl Stoff da ist für viele Bände. Warum? Ein Hindernis war bisher sicherlich die eher moralische als juridische Sprache der Texte selbst (s.u. 2.). Ein weiteres, subtileres Hindernis liegt in der – zunächst wenigstens – unübersichtlichen Überlappung mehrerer Kulturen gerade in Rechtsfragen. Der traditionelle Vergleich mit dem Alten Testament und mit antiken Religionen reicht nicht aus; antike Rechte kommen ins Spiel, das aber im Plural. Da wird Spezialistenwissen nötig. Drittens schließlich gilt es ein Dilemma zu überwinden: Der Katholizismus, obwohl rechtsaffin, hat seine Naturrechtstradition bisher nicht für die Exegese fruchtbar gemacht (was auch schwierig sein dürfte),³ und der Protestantismus ist seit Karl Barths Römerbrief (1919; 1922) allen „weltlichen“ Strukturen, insbesondere den im Luthertum allzu hoch gehaltenen „Schöpfungsordnungen“ (# 266), fremd geworden. Damals pflegte man v. a. in der Theologie einen Argumentationsstil, der sich
In diesem Anliegen folgen wir Adolf Deissmanns Licht vom Osten und anderen, unter 5.3 zu nennenden Arbeiten, ohne indes „das unreflektiert Naive des rein Religösen, Prophetischen und Kultischen“ (so LvO 325) zum Ziel zu haben, sondern – ganz umgekehrt – die in vielen, oft nur halbbewusst gebrauchten Ausdrücken steckenden Kenntnisse der Fachleute. Über Versuche in dieser Richtung s.u. 2.5.4.
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A. Einleitung
„dialektisch“ nannte,⁴ jedoch auf dem Gebiet der Rechtsbegründung keine neuen Chancen bietet – erlaubt er es doch, jeder These bei passender Gelegenheit die Gegenthese gegenüber zu stellen. Diskurse, die handlungsleitend sein sollen, können so nicht verfahren. In seiner Kirchlichen Dogmatik optiert Barth für eine „Bekenntniskirche“ im Sinne einer Gemeinschaft derer, die sich bewusst und aus eigener Entscheidung zu ihr bekennen, im Gegensatz zum Luthertum als „Bekenntniskirche“ im Sinne einer Gemeinschaft, die an ein bestimmtes, textlich gegebenes Bekenntnis (bes. die CA) gebunden ist und sich in deren Sinne öffentlich äußert. Das ist bei Elert und vielen andern die herkömmliche Volkskirche als Anstalt des öffentlichen Rechts. Barth hingegen hält im letzten erschienenen Band (KD IV/4) nur noch ein vereinsrechtliches Kirchentum baptistischen Zuschnitts für theologisch begründbar, beruhend auf Erwachsenentaufe. Diese Position verkennt den Rechtscharakter der Kirche (# 136; # 300); deren einmalige Stiftung löst sich auf in sich wiederholende Bundesschlüsse. Schon der vielzitierte Jurist – Romanist wie Kirchenrechtler – Rudof SOHM (s. # 287), persönlich der lutherischen Kirche zugehörig, hatte dennoch im Geiste Zwinglis gesetzliche Regelungen in der Kirche für Behinderungen des freien Wirkens des Geistes gehalten und der Kirche eigene Rechtssetzungen absprechen wollen. Da mag es hilfreich sein, hinter diese Alternative zurückzugehen, um herauszufinden, welche Impulse die Bibel, und hier insbesondere das Neue Testament, zur Setzung von Rechten in Gottes Reich „zur Linken“ beigesteuert hat. Potentiell enthält das Neue Testament mindestens so viel Information – bezogen auf seine Länge – über jüdisches Recht in Zeiten des Zweiten Tempels⁵ wie die rabbinischen Quellen, so schätzt Bernard Jackson als Historiker des jüdischen Rechts (Essays Jewish 4), denn: die Evangelien zumindest beanspruchen, Ereignisse der Zeit des Zweiten Tempels zu beschreiben, und die Traditionen über diese Ereignisse begannen sich zu bilden kurz nach den Ereignissen selbst.
Die neutestamentliche Wissenschaft aber ist gefordert, wenn er desweiteren sagt: Jedoch verlangt die Trennung der ursprünglichen Traditionen von späterem Zuwachs all die spezialisierten Techniken der Neutestamentlichen Wissenschaft. Dies zu versuchen ist, aus dem Gesichtspunkt der jüdischen Rechtsgeschichte gesehen, die Mühe wert.
Die selbstgegebene Bezeichnung dieser Richtung war: „Dialektische Theologie“. Vgl. R. BULTMANN: „Die liberale Theologie und die jüngste theologische Bewegung“ (1924), in: ders., GuV I 1– 25. In Bultmanns eigenen Schriften macht das Adverb „zugleich“ häufig auf Gegensätze aufmerksam, die er dann aber zu überbrücken versteht. Wie sehr jedoch in dieser Richtung historisches Interesse ideologisch verdrängt wurde, s. Exkurs 3. [Im Original: Jewish Law in the Second Commonwealth.]
A 1 Das Anliegen dieses Kommentars
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1.2 Die historisch-kritische Methode Unerlässlich, um auf dieser Höhe der Reflexion zu bleiben, ist der Methodenkanon des historisch-kritischen Arbeitens. Er beginnt mit der – in den Ausgaben des griechischen Urtexts bereits weitgehend geleisteten – Textkritik, auf die wir nur in wenigen strittigen Fällen zurückkommen werden. Ihr folgt die Literarkritik, die nach der Homogenität bzw. Zusammensetzung des Textes fragt, nach Zitaten, deklarierten wie undeklarierten, auch nach Anspielungen an ältere Texte, ergänzt um die Überlieferungskritik, welche die anzunehmenden mündlichen Überlieferungen aus ihrer literarischen Wiederverwendung herausschält – eine Sache für viel Fingerspitzengefühl, die sich der vorhandenen Analogien bedient, aber keiner strengen Beweise – und die Redaktionskritik, welche die Veränderungen verfolgt, die der jeweilige Evangelist beim Einpassen seiner Vorlagen in seinen Kontext vorgenommen hat.⁶ Wo die Vorlagen noch erhalten sind, sind exakte Beobachtungen leicht zu machen; wo nicht, ist man auf Vermutungen angewiesen, die aber auf wichtige Spuren führen können – Spuren zurück in die Anfänge des Christentums bei Jesus. Gemeinsam ist all diesen Arbeitsschritten, dass man nicht einfach zitiert: „Jesus sprach“ oder „Jesus sagte“,⁷ sondern dass man in jedem gegebenen Text zunächst den berichtenden Evangelisten hört und erst danach den Versuch unternimmt, zeitlich hinter ihn zurück zu gehen. Diese Mühe wurde den Forschern vom kirchlichen Publikum und insbesondere vom Fundamentalismus bisher keineswegs gedankt, sondern als Relativismus verrufen und als Eigenmächtigkeit. Das Wort „Kritik“ störte. Der Protestantismus zerfiel in zwei Lager,⁸ als wäre das Ernstnehmen der Texte und ihre entstehungsgeschichtliche Binnendifferenzierung eine Alternative, und als wäre Ernstnehmen und Wörtlichnehmen das Gleiche. Ausgangspunkt jeder solchen Kritik war der prinzipielle, der wissenschaftliche Zweifel. Der wurde freilich diskreditiert durch etwas, was man zu Recht als „Hyperkritik“ bezeichnete: Die ganz Schlauen bezweifelten auch so unproblematische Dinge wie die Autorschaft des Lukas für die Apostelgeschichte – nur aus Prinzip und ohne die Der renommierte Neutestamentler Günther BORNKAMM wurde 1948 mit einem Artikel über Mt 8,23 – 27 (die Sturmstillung) hierfür bekannt; s. Cuvillier, „Justes et petits“ (# 146) 345. – Dass nicht jeder verstanden hat, was „redigieren, Redaktion“ hier überhaupt meint, hat auch sprachliche Gründe: Das Englische hat dieses Verbum nicht (man muss to edit sagen), und im Französischen meint rédiger „verfassen“. Zu schweigen von dem Wort „Kritik“, das hier im kantischen Sinn die Ergründung meint, nicht das Schlechtreden. Allein schon der Unterschied im Urtext zwischen eipen „er sprach“ (Aorist, für Einmaliges) zu elegen „er sagte/pflegte zu sagen“ (Imperfekt, für Wiederholtes) wird hierbei übersehen. Nur ersteres wäre ein Logion, letzteres aber ein sog. Summarium, eine Zusammenfassung mehrerer Äußerungen, die weit eher auf den Berichterstatter zurückgeht. Im Streit um den Ereignisgehalt der Osterperikopen bildete sich 1966 eine Front gegen solches Fragen, nämlich die „Bekenntnisbewegung Kein anderes Evangelium“, im Titel an Gal 1,6 anspielend und ihrem Selbstverständis nach eine Fortführung des Anliegens der Bekennenden Kirche – insofern zu Recht, als diese in der Tat, wie unter Stress verständlich ist, fundamentalistisch zu kommunizieren pflegte.
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A. Einleitung
Methoden der Textzuschreibung aus der klassischen Philologie hinreichend zu kennen oder gar aktiv zu beherrschen. Die eben genannte Alternative ist ohnehin nur eine scheinbare; denn ist erst einmal die Frage der Authentizität gestellt, kann nur durch eine Antwort, die den Worten und den Szenen einen Ort gibt und eine Zeit, eine hinreichende Auskunft erreicht werden. Es ist dann allerdings nur in einem Teil der Fälle die Autorität Jesu selbst, was resultiert; die übrigen Texte gehen auf das zurück, was die Urgemeinde als Weisungen des himmlischen Christus empfing – wie auch immer.⁹ Dass der Fundamentalismus, der nur dieses letztere sucht, genau dafür eine – nicht geprüfte – Historie zur Bestätigung haben wollte, ist ein Selbstwiderspruch. Entweder „das Wort“ bestätigt sich selbst, oder man lässt sich ein auf historisches Forschen. In Bezug auf Erzählinhalte besteht seit langem das gleiche Problem. Ein Streitwort gerade in jener heißen Zeit war z. B. „Auferstehung“, insbesondere in Bezug auf Jesus: Was bei Marxsen zu einer Erinnerung und zum Verweis auf das „Weitergehen“ seiner Botschaft „im Wort“ verdünnt worden war,¹⁰ wird konkreter gefasst werden müssen (# 81, # 82), denn Worte allein können Ereignisse nicht ersetzen. Auch Gerichte müssen entscheiden in Fällen, wo die quaestio facti Rätsel lässt, die Folgen aber handgreiflich sind. Das Ironische im Streit um die historisch-kritische Methodik ist: Die Fragen der Biblizisten lassen sich nur mit den Mitteln der anderen, der kritischen Seite beantworten. Hätte diese es damals nur getan! Rudolf Bultmann war eher existenzialistischer Philosoph als Historiker, und historisches Fragen nach Jesus war damals verpönt.¹¹ Vollends sind die Ressourcen der Rechtsgeschichte, die in Fragen dieser Art die Antwort hätten erleichtern können, fürs Neue Testament (fürs Alte ist das anders) in den letzten hundert Jahren kaum genutzt worden.
So ausdrücklich Paulus in 1Kor 7 (# 289), auf eine Vision bezogen (ebd. 9,1). Auf dem tumultuarischen Deutschen Evangelischen Kirchentag von 1969 hätte Willi Marxsen im Mittelpunkt einer der zu demokratischer Debatte inszenierten Streite stehen können, ließ sich aber krank melden. Seine Münsteraner Kollegen versteckten sich hinter wolkigen Formulierungen (Stuttgart 1969, 217– 227; vgl. zur Jungfrauengeburt: 182– 193). Je „radikaler“ formuliert wurde, umso geringer war der Erfahrungsbezug. Wer damals Klartext redete, war der Züricher – vormals Erlanger – Neutestamentler Siegfried SCHULZ, wenn auch zu anderen, aber gleichfalls heiklen Fragen. Seine Voten zum (damals von rechts wie links geforderten) wörtlichen Verständnis der Bergpredigt und zur Eschatologie sind hier aufgenommen. Bei der Schlussveranstaltung jenes Kirchentages wurde von Studierenden ein Schluss des „Streites um Jesus“ gefordert – was nicht weiter wundert, wenn man sieht, zu welchen Quisquilien die Jesus-Forschung abgesunken war.Wäre an den Debatten von damals ein Historiker beteiligt gewesen, hätte er oder sie für Konkretion sorgen können.
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1.3 Das Erklärungspotenzial der antiken Rechtstexte 1.3.1 Vier Rechtssysteme, vier Sprachen Vier verschiedene Rechtsterminologien sind für das Vorhaben dieses Kommentars zu berücksichtigen, auch wenn sie nie alle zugleich vorkommen. Ihrer zwei sind aber oftmals beisammen und überschneiden sich, wo nicht auch drei. Dies sind: 1. Das einstige Gebrauchsrecht des Alten Orients, großenteils noch mündlich, in dessen internationaler Sprache, bevor das Griechische kam, nämlich Aramäisch. Daher kommt im jüdischen Aramäisch z. B. šeṭar „Urkunde“, ein Wort, das die Hebräische Bibel nicht hat und nachbiblisch-jüdische Texte auch nur als Fremdwort. Auch berît (man sagt: „Bund“), was für hebräisch gilt, ist altorientalisch, in diesem Fall sogar akkadisch, und dient v. a. für Rechtsverhältnisse nach außen. 2. Die Rechtsterminologie der Tora, hebräisch, weiterentwickelt in derselben Sprache bei den „Weisen“ der Jahrhunderte um die Zeitenwende und übergegangen in die Rechtskodizes der Rabbinen: Hierzu, und zu den schon erwähnten Übernahmen aus dem Aramäischen und den noch zu erwähnenden aus Griechisch und Latein, s.u. B 2 sowie das Glossar des jüdischen Rechts in Bd. VII. 3. Das hellenistische Recht, das mit der griechischen Sprache und Bildung im Osten fast denselben Raum umfasste. Ihm entstammt diathēkē „Verfügung, Testament“. Auch ist in seiner Transkription als dijjatêqê o. ä. ist dies ein nichtmosaischer Begriff und in Judäa als Kompromiss mit äußeren Gegebenheiten im Gebrauch. 4. Das römische Recht, auf Latein, erkennbar an den Latinismen des neutestamentlichen Wortschatzes (z. B. census, centurio, praetorium, speculator), auch an sekundären – nämlich übersetzten – Latinismen wie speira als Übersetzung von lat. cohors oder peripoiēsis als Übersetzung von peculium (1Petr 2,9; # 361). Auch aus diesen beiden letzten Bereichen gibt es Fremdwörter und inhaltliche Übernahmen in den rabbinischen Texten, erfasst im Glossar und mit Belegen versehen. Über das Zusammenspiel dieser Terminologien letztlich unter dem Dach des römischen Rechts folgt unten Abschnitt 3. Dass vor allem auf dieses letztere zurückgegriffen wird, liegt nicht nur an seiner besonderen Differenziertheit und Klarheit, sondern auch an seiner Geltung – zumindest auf hoher Ebene – im ganzen Römischen Reich. Mehr und mehr hat sich bei der Ausarbeitung dieses Kommentars gezeigt, dass die Verhältnisse in Jesu Umwelt viel römischer bestimmt waren, als eine ausschließlich „biblische“ Exegese wahrzunehmen vermag. Diese Feststellung ist aber nicht nur von antiquarischem Wert; sie zeigt auf, an welcher Stelle und über welche Achse die Wirkung des Neuen Testaments auf die westlichen Kulturen weiterging.
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1.3.2 Das Erklärungspotenzial des römischen Rechts Ein Vorteil rechtsgeschichtlicher Untersuchungen ist, dass Rechtstermini meist konkret sind oder, was die abstrakteren betrifft („Vertrag“, „[Rechts‐]Geschäft, „Person“ u. a.m.), anwendungsbezogen. Ziel juristischer Definitionen ist ja, dass ein Gericht sie muss handhaben können, um Fälle zu entscheiden. Sie haben keinen Bezug auf bloße Ideen oder auf Dinge „an sich“, sondern auf den menschlichen Umgang mit den Dingen und überhaupt auf Handlungen (Exkurs 12). Hier ist man selten den Vagheiten eines uneigentlichen Sprachgebrauchs ausgesetzt, wie sonst oft und namentlich in der Theologie (Exkurs 4). In rechtsgeschichtlicher Auslegung aber wird die Frage sein: Ist das gemeint, was die Worte in ihrem Primärsinn besagen, oder nur etwas ihm Ähnliches? Beides ist möglich; doch ist die Möglichkeit eines wörtlichen Verständnisses – und damit des Konkretnehmens – allzuoft übersehen worden. Ein inhaltliches Moment kommt hinzu, warum in systematisch-theologischer Hinsicht (bis wohin die Auslegungen sich steigern werden) das römische Recht nicht weniger interessiert als das jüdische: Das Angenehme, das Moderne, ja das Christliche (im Sinne Jesu) am römischen Recht ist: Es ist kein Züchtigungs-, sondern ein Streitvermeidungsrecht. Latein ist die Metasprache, die damals schon die Gegebenheiten der übrigen Kulturen zu benennen und zu unterscheiden in der Lage war (s. Exkurs 8: ius gentium). Wir gebrauchen diese Metasprache, angefangen von den Übersetzungsäquivalenten der Vulgata, die wir stets angeben werden, bis hin zu den Neubildungen von der Spätantike bis in die Neuzeit, zumal sie fast stets auch Fremdwörter im heutigen Deutsch geworden sind. Die Rubrik „Antike Begriffe“ wird jeweils die relevanten Informationen bieten und dazu, wo nötig, eine diachrone Unterscheidung des Sprachgebrauchs. Jedem aus dem Neuen Testament zu zitierenden griechischen Wort wird sein Vulgata-Äquivalent beigegeben werden in der Form: nomos/lex. Trotz leichter Verschiedenheiten des Sprachgebrauchs in Alltagsdingen ist die Vulgata in ihrer Wortwahl gerade auf juristischem Gebiet von bewundernswerter Genauigkeit, nicht selten sogar (in kontextgemäßen Entscheidungen) genauer als der Urtext. Gerade in rechtsgeschichtlicher Hinsicht ist die Vulgata eine Glanzleistung. Man sieht, wie viel die Muttersprache derer, die einen Text schreiben bzw. festlegen, zu dessen Klarheit beiträgt. In allen wichtigen Begriffen ist sie von einem konstanten Sprachgebrauch, was spätestens das Verdienst ihres berühmten Herausgebers ist, Hieronymus (um 400).¹² Seine Arbeit hat die Inhomogenität älterer Vorlagen (die er stets schon hatte)¹³ vereinheitlicht. Nur
Man kann es sehen an den lateinischen Lemmata, die in Schmollers Handkonkordanz zum Griechischen Neuen Testament seinen griechischen Stichworten beigegeben sind, stets nach der Vulgata. Wo immer es der lateinischen Sprache möglich war, findet sich für ein griechisches Wort ein lateinisches, mit gelegentlichen Präzisierungen gegenüber dem Urtext. So wird z. B. das unspezifische epitropos aufgeteilt in procurator „Verwalter, Treuhänder“ (# 142) und tutor „Vormund“ (# 322). Sie werden zusammenfassend Vetus Latina genannt und sind oft nur aus Zitaten bei vorhieronymianischen Kirchenschriftstellern zu erschließen. Vgl. B. METZGER: The Early Versions of the New Testa-
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aufgrund liturgischer Gewohnheit ist sie nicht in den Psalter der Vulgata eingegangen; dieser ist und blieb der unrevidierte, nur aus dem Griechischen übersetzte, sodass, wo irgend nötig, auch Hieronymus’ Revision, überliefert als seine Privatarbeit, mit herangezogen wird. So ist die Kontinuität und die Präzision der lateinischen Rechtssprache zuallererst der Vulgata zugute gekommen, und wir dürfen davon zehren. Ihr einziger, leider unbehebbarer Mangel ist das Fehlen eines Artikels im Lateinischen; dadurch ist mancher wichtige Unterschied verloren gegangen.¹⁴ Die Kontinuität der Begriffsbildungen, von der dieser Kommentar zehrt, geht also von den Sprachen der Bibel über das Lateinische ins Deutsche, mit bündelnder Wirkung des Lateins. Das römische Recht war schon damals, in der sog. frühklassischen Zeit, über deren Rechtssystem Gaius rückblickend seinen Grundkurs schrieb (Institutiones, um 160; s.u.), von einer Klarheit und inneren Stimmigkeit, die auch modernen Lesern noch Achtung abnötigt. Seine Gliederung in Personenrecht (Buch 1), Sachenrecht (Buch 2 und 3, des Umfangs wegen; auch Obligationen sind hier enthalten) und Privatklagerecht (alle actiones = Klagemöglichkeiten) betreffend (Buch 4) zieht sich von da ab durch die Institutionen Justinians, die Digesten und viele weiteren Kodifikationen Europas durch.¹⁵ Auf diesem Gebiet waren die Römer im Ordnen ihrer Gedanken, mehr als je die Griechen, Aristoteliker.
1.4 Zur Anlegung spät- und nachantiker Rechtsbegriffe In der Tabelle „Rechtsthemen“ und in den zahlreichen Querverweisen, die den Auslegungen beigegeben werden, kommen Texte in thematische Nachbarschaft, die bisher noch nicht, oder nicht unter diesem Aspekt, sich gegenseitig erläutern konnten. Möglich wird das nicht nur aufgrund des damaligen Lateins, wo es um die Benennung der Probleme geht, sondern auch aufgrund einer Fülle seitheriger Begriffsbildungen bis hin, wie gesagt, zum Deutschen. Solange dieses Verfahren im Bewusstsein der historischen Unterschiede angelegt wird, ist es allemal besser als der Historismus einer mal hebräischen, mal griechischen, dabei aber mit unerkannten Anleihen bei der Neuzeit vermischten ‘Bibelsprache’. Deren Unzulänglichkeit und Unschärfe wurden an den Beispielen „Gesetz“ und „Bund“ schon gezeigt.
ment, 1977, 285 – 374 („The Latin versions“). Diese innerlateinische Entwicklung wird hier nicht mitverfolgt. Darunter fällt der Unterschied zwischen kyrios HERR (JHWH) und ho kyrios „der/unser Herr“ (Christus), systematisch-theologisch unaufgebbar, der im lateinischen Westen den sog. Modalismus geradezu programmiert hat. „Herrgottschnitzer“ im Bayrischen sind Christusdarsteller. Becker, „Systembildung“ 19 f. Dieses „Gaius-Schema“, wonach sich auch die Lehrbücher richten (so noch K/K/L, Privatrecht bis zur 21. Auflage), erweiterte sich in der Rezeption so: 1. Personen, 2. Gegenstände und Forderungen, 3. rechtserhebliche Handlungen.
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Das Ideal der Reformatoren, die Heilige Schrift sich selbst interpretieren zu lassen (Scriptura Sacra sui ipsius interpres), zu welchem Zweck man die ersten präzisen Bibelkonkordanzen verfertigte, findet neue Möglichkeiten einer Verwirklichung anhand der genauer bestimmbaren sachlichen Nachbarschaft der Probleme. Schon die Autoren der neutestamentlichen Schriften übertrugen diese nach bestem Wissen aus ihrem judäischen Urspungsmilieu in die griechisch-römische Welt, für die sie schrieben.
1.4.1 Latein als Brücke zwischen Antike und europäischer Neuzeit Die Rechtsgeschichte des nachantiken Europa bis hin zur Entstehung der modernen Staatsverfassungen und Gesetzeskorpora weist immer wieder Konstellationen auf, wo das römische Recht als das ius commune herangezogen wurde, sofern regionale und lokale Rechte zur Lösung der Aufgabe nicht zureichten. Das römische Recht lieferte die Begriffe, anhand derer man zu einer Einigung kam. So diente in den Ständestaaten des Mittelalters das römische Recht, ohne jemals formal in Kraft gesetzt worden zu sein, als ,Recht ohne Staat‘,¹⁶ ähnlich wie das griechische Recht im einstigen Judäa in vorrömischer Zeit. Wie in allen Bereichen des menschlichen Lebens, so kommt auch im Recht die Fachsprache in der Regel später als die zu beschreibenden Sachen. Das Wort „Verwaltung“ z. B. klingt modern, und es gab im römischen Recht noch keinen Terminus dafür; man sagte einfach nur rem gerere und hatte Worte für bestimmte Amtshandlungen und Verwaltungstätigkeiten (darunter gestio negotii); singularisches administratio als Oberbegriff jedoch ist erst spätantik. Dennoch wird niemand bestreiten, dass die Römer Meister waren auf dem Gebiet der Verwaltung. Die wichtigste sprachgeschichtliche Entwicklung, deren Kenntnisnahme uns hier nützen wird, ist die allmähliche Ausweitung von obligatio, einem zunächst nur dem Vertragsrecht angehörenden Terminus (vgl. # 134), bis hin zu dem, was man im neuzeitlichen Gebrauch dieses Ausdrucks am besten mit „Pflicht“ wiedergibt. Da wird das mit hineingenommen, was Cicero noch officium genannt hatte (in Übersetzung des gr. kathēkon)¹⁷ und damals der politischen Ethik zurechnete. Quer durch alle Disziplinen haben die westlichen Kulturen eine Wissenschaftssprache gemeinsam, die auf dem Latein beruht, insbesondere auf dem Neulatein des
Máthé, Entwicklung 163. Ebd. 35 – 49.156 – 166 zum einstigen ius commune Europas. Es handelte sich hierbei um das Corpus Iuris in der von den Glossatoren (13. Jh.) angereicherten Form. S. 158: „Der Rechtsanwender wendet das ius proprium und nicht das ius commune an, braucht letzteres aber, um das ius proprium anwenden zu können.“ – Lingua Franca war zwischen Ungarns Völkerschaften bis ins 19. Jh. das Latein, so wie Griechisch im ntl. Judäa (# 180 zur Sprachenfrage im Prozess Jesu). Wolff, JN, praefatio b2 r (vgl. b1 v) kündigt an, den Ausdruck officium zu vermeiden, weil er Pflichten und Erlaubnisse zugleich umfasst. Er wolle aber nur von den Pflichten reden; so sei obligatio (wenn auch nichtklassisch) besser.
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16.–18. Jahrhunderts.¹⁸ Von der Antike über die Barockjurisprudenz und die Aufklärungsphilosophie verläuft der Weg bis in die Gegenwart, in das Grundgesetz von 1949 und in das heutige BGB, das SGB (Sozialgesetzbuch) und sonstige Gesetzgebungswerke. Zusätzlich werden Stichproben aus zwischenzeitlich Gesagtem gegeben werden, welche den Gang der Überlegungen, manchmal auch der Verirrungen, durch die Jahrhunderte andeuten, und gelegentlich wird ein Gedanke oder eine Alternative über längere Zeitstrecken hin verfolgt. Historisch-kritische Bibelhermeneutik – sie folgt der juristischen Hermeneutik (s.u. C 1) weit mehr als ihren eigenen Vorläufern bei Philon oder bei den Kirchenvätern (s.u., Exkurs 3) – gründet in der Einsicht, dass gleiche Worte in veränderten Zeiten Verschiedenes bedeuten¹⁹ und dass dementsprechend gleiche Aussagen in veränderten Zeiten auf andere Worte angewiesen sind.
1.4.2 Deutsch als Wissenschaftssprache Ein guter Teil der Sekundärliteratur einschließlich der Papyruseditonen orientiert sich am angelsächsischen Recht, das dem römischen weit weniger ähnelt als etwa das BGB. Das mag ein kommunikativer Gewinn sein, aber kein inhaltlicher, denn in Fragen des Rechts, zumal des römischen, sind diejenigen Sprachen deutlicher, deren Rechtsausdrücke direkt vom Latein herkommen – Italienisch zumal, Deutsch und Französisch. Was ist damit gewonnen, wenn will ein Testament sein soll, bar der Anwaltsberuf, evidence die Beweislage, transfer of title eine Eigentumsübertragung, conveyance dasselbe, succession die Erbfolge (nicht nur die Nachfolge), effects das Vermögen (wie asset; assets sind dann „Vermögenswerte“), execution das Eintreiben von Schulden (nicht nur die Urteilsvollstreckung), motion ein Antrag, prescription die Verjährung, deed eine Urkunde und act ein Gesetz, charter ein Mietvertrag, aber auch eine Verfassung und law das Recht überhaupt?²⁰ Tie ist da ein Patt (bei der Abstimmung), aber auch eine Art Quittung,²¹ knocking down eine Versteigerung, To whom it may concern eine Bescheinigung. Das ist kein Fortschritt gegenüber dem einstigen Latein. Die englische Rechtssprache zehrt von Nebenbedeutungen sonst anders gebrauchter Wörter, wo der europäische Kontinent die römische Terminologie zur Verfügung hat. Am gravierendsten ist das Fehlen eines Pendants zu ius. ²² Arnold EHRHARDT, Jurist und Theologe (er wurde im
A. LIBURDI: Per una storia del Lessico Intellettuale Europeo, Rom 2000, bes. S. 5. Dies (und Folgehefte) ist der Arbeitsbericht eines diesen Namen tragenden Forschungsunternehmens der Universität La Sapienza, einzusehen über http://www.iliesi.cnr.it/lessici. „Lessico“ meint hier „Wortschatz“. Juristische Hermeneutik berücksichtigt überdies, dass – etwa im Beispiel von Verträgen – „der Wille der Parteien maßgeblicher ist als die Worte, die dafür gebraucht werden“ (Anderson, A Lawyer 16 f ). Die sog. Habeas-Corpus-Akte von 1679, frühes Denkmal verbriefter Grundrechte, ist also kein Aktenstück, sondern ein Gesetz, in Kraft getreten durch die Unterschrift des Königs. So in Yadin u. a., Cave of Letters III, zur Übersetzung von qäšär, einem selbst mehrdeutigen Wort. Das Wort right als Substantiv gibt es zwar, und in Wendungen wie one’s own right oder to have the right to… bedeutet es den Anspruch und die Berechtigung zu etwas Bestimmtem, ein Einzelrecht also und
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englischen Exil²³ anglikanischer Priester), schrieb aus eigener Erfahrung: „Der Unterschied von Recht und Gesetz kann dem Menschen, der nur englisch spricht, nicht deutlich gemacht werden“ („Geltendes Recht“ 317).²⁴ Ein anderer Vorzug des Deutschen beim Übersetzen aus den klassischen Sprachen der Antike liegt darin, dass es den Satzbau des Originals nachzubilden vermag. Die Leserlenkung der ursprünglichen Satzsyntax bleibt erhalten. Nachteile des Deutschen werden freilich auch deutlich werden, nicht ohne Lerneffekt. „Schuld“ und „Schulden“ z. B. sind zu wenig differenziert (anders guilt vs. debt), „Gewalt“ deckt ein Spektrum von Legalem wie Illegalem ab, und zu „Eigentum“ gibt es kein Verbum (wie to own), wofür dann irreführend „besitzen“ gebraucht wird (aber nicht hier). Schade ist auch die mangelnde Differenzierung zwischen „Begriff“ i.S.v. term und „Begriff“ i.S.v. notion (ersteres ein bestimmtes Wort, letzteres hingegen eine Wortbedeutung, Synonyme einschließend). Unterschieden werden kann hingegen im Deutschen, gängigem Anglizismus entgegen, zwischen „Wortschatz“ und „Lexikon“ (lexicon), „Literaturverzeichnis“ und „Bibliographie“ (bibliography), „Lebenslauf“ und „Biographie“ (biography), „Kontext“ und „Situation“ (context).
nicht das Recht im Ganzen. Dafür muss man sagen: the law, und der Positivismus ist vorprogrammiert.Vgl. R. PATTARO: The Law and the Right. A Reappraisal of the Reality that Ought to Be, 2007. Seine Mutter war nach NS-Definition Jüdin gewesen. Studiert hat er anfangs unter Karl Barth, promoviert wurde er als Theologe in Cambridge. Erst zwölf Jahre nach Kriegsende erreichten ihn Rufe zur Rückkehr; die schlug er aus. Dass die Formel „Gesetz und Recht“ tautologisch sei, wie Pieroth, RuFL 121 zu ihrem Vorkommen in Art. 20 (3) GG bemerkt, gilt nur dann, wenn positives Recht mit wünschbarem „überpositivem“ Recht (Naturrecht) übereinstimmt – was er in der Tat für diese Stelle annimmt.
2 Der Begriff des Rechts. Recht vs. Ethik, Moral, Religion Theologie und Jurisprudenz sind, wissenschaftstheoretisch gesehen, nicht so weit voneinander entfernt, wie die Praxis akademischen Forschens und Lehrens es im universitären Lehrbetrieb erscheinen lässt. Beide antworten auf Fragen des menschlichen Zusammenlebens¹ und pflegen höchste Werte, deswegen auch Traditionen, und auch die Jurisprudenz hat ihre kanonischen Texte, ihre Dogmatik und ihre Hermeneutik. Die Theologie ihrerseits ist nicht nur ein Nachdenken über „Gott und die Seele“, wie Augustin es einmal sagte, sondern die Religionsgemeinschaften erheben über ihre Sprecher Ansprüche auf die Gesellschaft. Dem Recht, nicht der Moral und auch nicht der Ethik, gilt das Interesse dieses Kommentars. Moral gibt es auch ohne jede Theologie, und Ethik ist, ob mit oder ohne Anschluss an Theologie, Gegenstand einer sehr differenzierten Literatur, die hier nicht bereichert zu werden braucht. „Recht“ ist in einer Hinsicht mehr als beide: Recht ist nicht nur Pflicht, ob als Gebot oder Verbot ausgedrückt, sondern auch Anrecht. ² Das wird in der Theologie, zumal wenn sie auch noch zur Rechtsbegründung herangezogen wird, oft übersehen: Recht, römisches zumal, geht aus vom Vertrag, nicht von Gebot und Verbot und nicht vom Belohnen und Bestrafen.³ Der juristische, erst von den Römern entwickelte Begriff von „Recht“ – in # 52 anhand von Mt 23,23 darzustellen – umfasst nicht nur ein „Du sollst“, sondern auch, über Gebotstexte aller Art hinausgehend, ein „Du darfst“ und ein „Du hast Anspruch“.
Historisch gesehen, bildeten sie einst mitsamt der Medizin die „praktischen“ (= praxisrelevanten) Fakultäten europäischer Universitäten (Tanner, „Die Rechtswissenschaft“ 472), welche auch die „höheren“ waren gegenüber der Philosophischen Fakultät, die sich mit Theorien begnügte. Noch bei Kant, Der Streit der Fakultäten (1798), der dagegen opponiert, ist das so. Die Meinung, dass Theorie der Praxis vorausgehe, ist eine ideologische Vereinfachung. Auch bei Kant, wie vorher schon bei Wolff, folgt sie ihr, um dann aber zu neuen, nach Möglichkeit besser überlegten Entscheidungen Hilfe zu geben. Vom jüdischen Recht hingegen, selbst wie es modern gelehrt wird, muss v. Daniels, Rel. Recht 33 zugeben: „Das Rechtssystem ist auf die Erfüllung der 613 Verhaltensnormen ausgerichtet, die Handlungsund Unterlassungspflichten sind. Ihnen korrespondieren aber keine Rechte, so wie in westlichen Rechtsordnungen von Rechten und Pflichten gesprochen wird.“ Dem Schutz des Individuums, der kein primäres Rechtsziel sei (so auch 218 u. ö.), setzt v. Daniels die „Heilserwartung“ entgegen, die sich mit der Erfüllung der 613 Verhaltensnormen verbinde. Mindestens eine Annäherung an die Gottesebenbildlichkeit des Menschen sei zu erwarten; dazu # 288, Exkurs. Wenn Elert es eine „Zwangsordnung“ nennt (Ethos 100 u. ö.), so ist ihm dabei bewusst, nicht von „Recht“ im Sinne des Gaius zu sprechen (ebd. 75 mit Zitat aus Gaius 1,3). Das gilt für„Gesetz Gottes“, das er dort meint, wie für dessen Unterbegriff lex naturalis, dessen schillernde Inhalte Ethos 100 ff beschreibt. https://doi.org/10.1515/9783110658347-003
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2.1 „Recht“ Um einen rechtsgeschichtlichen Kommentar zum Neuen Testament zu erstellen, bedarf es eines Standpunktes außerhalb desselben. Der Begriff des Rechts ist nämlich in den neutestamentlichen Texten an keiner Stelle gegeben, so reich es auch sein mag an Rechtsbegriffen partieller Art.⁴ Der konstante Bezug auf den Nomos (die Tora) macht an diesem Befund nichts besser, denn auch die Tora war und ist kein Recht in unserem Sinne: non vi sono ,diritti‘, ma solo ,doveri‘, sagt Daniela Piattelli im Zuge ihrer Darstellung des mosaischen Erbes für eine Festschrift mit dem sprechenden Titel Iuris vincula („Fesseln des Rechts“):⁵ Es gibt dort nur Pflichten, keine Rechte im Sinne des Anspruchs und der Erlaubnis. Das „Recht zu…“ ist gegenüber der „Pflicht zu…“ der jüngere Begriff, ist auch der komplexere. Er hat nicht die Befehlsgewalt zur Voraussetzung, die rein physisch gegeben – damit aber noch nicht berechtigt – sein kann;⁶ sondern Voraussetzung ist eine organisierte Gesellschaft aufgrund eines wenigstens impliziten Gesellschaftsvertrags (# 280), der gewisse Instanzen einer Rechtsdurchsetzung bereitstellt. Diese gewährleisten nicht nur ein Strafrecht, sondern – im Rom weit differenzierter – ein Zivilrecht. Das Zivilrecht eröffnet Handlungsmöglichkeiten. Aus gesellschaftlichem Konsens heraus bestimmt es den Ablauf komplexer Transaktionen (= Rechtsgeschäfte zwischen zwei oder mehreren Partien) und nimmt Absprachen vorweg, die sonst jeweils erst getroffen werden müssten. – Demgegenüber ist das Sakralrecht, ein drittes, aber längst erforschtes Gebiet, nicht Gegenstand der folgenden Bände, außer wo es ins Zivilleben oder in die Staatspolitik hineinwirkt. Ein Vorteil des römischen Rechtsbegriffs ist seine Produktivität. Nicht auf dem Verbot beruht es, sondern auf der Zulassung. Wenn Gesetze in der heutigen Öffentlichkeit mehr als Verhinderungs- denn als Ermöglichungsinstrumente wahrgenommen werden, ist das immer noch eine Folge von verengtem, allzu ,alttestamentlichem‘ Christentum. In westlichen Kulturen ist es nicht das biblische Erbe, sondern das römische, das im Sinne eines Pflichtenrechts, Rechte wie Pflichten umfassend, zivilisatorisch gewirkt hat. Das gilt insbesondere seit jenen rechts- wie bibelkundigen Autoren des 17. und 18. Jh., deren Namen im vorliegenden Werk bereits das Titelblatt zieren. Nicht als hilfreich erwiesen haben sich demgegenüber solche Publikationen, die ein spezifisch biblisches Recht aus den präskriptiven Partien beider Testamente zu extrahieren suchten. Sie blieben befangen in jener Verquickung von Sakral- und Zivilrecht sowie von Tabu und
So auch in der Vulgata. Dort hat ius „Recht“ im AT zwei Dutzend Belege, im NT keinen. S. Literaturverzeichnis, 5.3. Kontext ist die Frage nach einer religiösen Begründung für Menschenrechte (unsere # 288): Dafür eigne sich die Tora nicht. Selbst für die Menschenwürde hat man andere Texte bemüht, namentlich Ps 8. In der Hebräischen Bibel betont das am meisten Hi 40 – 42. Im NT sind Beispiele die Tötungen mißliebiger Untertanen durch ihre Herrscher: Mk 6 (# 50); Apg 12,2.
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Ethik, aus welcher ein profanes Recht sich nie entwickeln konnte. Die Eigenständigkeit dieses letzteren anzuerkennen, womit eine Mitarbeit der Christen und der Kirchen an seiner Entwicklung keineswegs entwertet, sondern motiviert wird, ist Grundlage der vorliegenden Arbeit.
2.1.1 Lexikalisches Die deutsche Sprache hat mit der lateinischen etwas gemeinsam, wohinter andere, Griechisch wie Englisch, zurücktreten: „Recht“ ist, wie ius, ein sehr einfach gebildeter Einsilber, ein Urwort. Im Latein kommt er aus der Wurzelbedeutung des „Gebotenen“ (ius < *iubs,⁷ von iubere „gebieten“). Deutsch ist es das „Gerade“, das „Gerichtete“ (als Substantiv zu „recht“ bzw. „richten“). Definitionen zum Sprachgebrauch von ius vom alten Rom bis zu den Digesten bietet Martin Schermaier unten in B 5.3.1. Das Wichtigste daraus ist folgende Unterscheidung: Ius aequum steht nie für sich, sondern immer als Gegenbegriff zum ius strictum und meint „Billigkeit, Gerechtigkeit“ (gr. epieikeia, „Angemessenheit“ – sc. gegenüber der Person bzw. dem besonderen Fall) – vgl. # 235. Dass die neutestamentliche Wissenschaft bisher keinen rechtsgeschichtlichen Zweig hatte, wird erklärlich, wenn man sieht, dass in der Vulgata das Wort ius, im Pentateuch immerhin 15-mal vorkommend und dann bis 2Makk 4,11⁸ auch noch 15-mal, im Neuen Testament überhaupt nicht begegnet. Das griechische Äquivalent to dikaion kommt in den griechischen Texten des Alten und Neuen Testaments nur ganz am Rande vor (Dtn 16,20; Mt 20,4; Kol 4,1), nicht als Thema. So haben wir im Neuen Testament also nur wenig Ausdrückliches über „Recht“, dafür über 200mal nomos. Fast überall im Neuen Testament müsste man es mit Großbuchstaben schreiben, weil „der“ Nomos, die Tora nämlich, gemeint ist. Einmal (# 18) werden wir anhand eines Jesuswortes Grundsätzliches zu diesem Thema zu sagen versuchen, als Ansatzpunkt zu dem, was dann Paulus daraus machte. Für die nichtpaulinische Theologie werden wir auf Mt 23,23 zurückgreifen, eine krisis-Stelle, wo dieses Wort sehr emphatisch vorkommt („Rechtsspruch“) und zu grundsätzlichen Überlegungen einlädt (# 132). Es gibt sonst im ganzen Neuen Testament kaum eine passendere Stelle dafür; man müsste schon to dikaion = „der angemessene Betrag“ in Mt 20,4 oder dikaion estin = „es ist recht“ in Apg 4,19 (s.u. „Liste der Rechtsthemen“, Rubrik 1a) dafür nehmen. Ganz ähnlich geht es übrigens im Bereich der Politik. Paul Mikat beobachtet (Spektrum 86), „daß der für das politische Denken der Griechen so zentrale Begriff polis im Neuen Testament zwar 161mal vorkommt, aber nicht ein einziges Mal im politischen Sinn, und daß auch der Begriff politeia, der nur in Apg 22,28 und Eph 2,12 begegnet, nicht im abstrakten Sinn von ,Staat‘ oder ,Staatsverfassung‘ verwandt wird.“ Darum mit langem u zu sprechen (Ersatzdehnung). Ein ius mit kurzem Vokal gibt es auch: „Saft“ (frz. jus). Dort der Plural ta nomima/iura. – Für das rein graphische Homonym ius (mit Kurzvokal) gibt das AT auch drei Belege.
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Im Griechischen war Dikē eine Gottheit und Throngenossin (parhedros) des Zeus; das macht verständlich, dass die Bibel dieses Wort nicht gebraucht.⁹ Das Gegenstück, themis für das Sakralrecht, kommt auch nur zweimal, in 2Makk 6,20; 12,14 vor in der Formel ou/mē themis „unerlaubt, Tabu“ (Vulg. illicita bzw. quae fas non est).¹⁰ Im Neuen Testament kommt themis nicht vor und dikē nur in speziellen Bedeutungen: In Apg 28,4 setzt die Vulgata ultio, in 2Thess 1,9 und Jud 7 poena. Was die profangriechische Verwendung von nomos betrifft, so ist hier mit einer großen Breite zu rechnen. Ungeschriebene Verhaltensregeln konnten bereits nomos heißen,¹¹ und nomos graptos, „geschriebenes Recht“ folgte zeitlich dem meist schon vorangegangenen nomos agraptos (oder häufiger:) agraphos, dem „ungeschriebenen Recht“, also der Sitte.¹² Nur im Judentum ging es umgekehrt: Von einem geschriebenen Gesetz herkommend, ergänzt es dieses um ein mündliches (die sog. Mündliche Tora; # 51). In der übrigen Welt war es anders: Noch in D. 50,17,1 steht als Wort des Julius Paulus (frühes 3. Jh.): „Nicht aus der Regel ist das Recht zu nehmen, sondern aus dem Recht, das schon gilt, ist die Regel zu gewinnen“.¹³ – Im Folgenden wird „Recht“ sowohl groß wie klein geschrieben. Als Empfinden für das, was recht ist (mit klein-r), lat. iustum, griechisch dikaion, meint es zugleich etwas Ethisches, die Stimme des Gewissens; so sagt man es auch auf dem Wege zur Rechtsfindung. Die Redensart „zu Recht“ ist unspezifisch, nämlich Kürzel für „mit gutem Grund“; das schließt Begründungen aller Art mit ein. Das Adverb „zurecht“ (zusammengeschrieben) hingegen ist Synonym zu „passend“. Ius „Recht“ ist im Latein, wie auch im Deutschen, differenzierbar gegenüber diversen Unterbegriffen, nämlich lex „Gesetz“¹⁴ und anderen Ausdrücken für „Verord-
Götternamen wurden vermieden. Es ist schon viel, wenn in Apg 28,11 der Name des Schiffes, auf dem Paulus fährt, mit Dioskouroi angegeben wird, wohl wegen der Symbolik, welche Kastor und Pollux auf die beiden Erdhemisphären bezog. Monographie: Hirzel, Themis, Dike und Verwandtes (445 S.; im Internet). – Ein Wort für „heiliges Recht“, das in positivem Sinne dienen konnte, findet sich in einer Überlegung über Gelübde bei Philon: hē hosia (Hypothetica 8,7,5 und 7), aber nicht im Neuen Testament. „Die Gewohnheit gilt als Gesetz, wo ein (geschriebenes) Gesetz fehlt“ (Flückiger, G.Naturr. 397). Belege für nomos i.S.v. „Gewohnheit, Brauch“ sind zahlreich, z. B. Plutarch, SSC 157 A (ein nomos für den Weisen). In 157 E ist nomos die „Regel“ für eine Diät, nicht von einem Gesetzgeber kommend, sondern von einem Dichter (Hesiod). In 161 C ist es eine „Melodie“; so auch bei Plutarch, CP 138 B. – Monographie: Hirzel, Agraphos nomos. Aus den Papyri informiert R. TAUBENSCHLAG: „Nomos in the papyri“, in: ders., OM II 107– 114. Non ex regula ius sumatur, sed ex iure quod est regula fiat; vgl. Flückiger, G.Naturr. 259. Dies ist also ein induktives, kein deduktives Verfahren der Rechtsfindung. Rechtssetzungen durch die Kaiser (vgl. # 91), mögen sie auch einer anderen Ideologie folgen, nennen doch oft die Anlässe, auf die sie reagieren. Zur Etymologie von lex, die auf gr. legein „sprechen“ zurückgeht, s. Manthe, Geschichte 43 f. Er übersetzt mit: „rechtswirksame Erklärung“, da es anfangs neben einer lex publica auch Verfügungen gab von privater Art, lex privata genannt. – Eine andere Ableitung von ligare „binden“ wird auch vorgeschlagen. Auch sie muss eine Längung des Stammvokals annehmen.
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nung“, „Erlass“, „Anweisung“ usw. (# 256).¹⁵ Nach der kultischen Seite hin unterscheidet es sich von religiösen Pflichten oder Tabus, genannt themis/fas. Eine große Zahl säkularrömischer Gesetze, benannt nach dem Familiennamen des jeweiligen Antragstellers (z. B. die lex Iulia de vi Julius Caesars), sind im Tenor (der Hauptbestimmung) noch erhalten und über die Register der rechtsgeschichtlichen Sekundärliteratur leicht aufzufinden.¹⁶ Im Vorgriff auf weitere noch vorzunehmende Differenzierungen (unten B 5.3 und B 6) lässt sich hier schon sagen: Recht besteht aus Verhaltensregeln, gegründet in Einsichten, die von einer menschlichen Gemeinschaft geteilt werden. Religion kann, muss aber nicht hieran ihren Anteil haben. Dass de facto der Anteil groß ist, wird dieser Kommentar erweisen, ohne es als notwendig zu postulieren. Recht schlägt sich nieder in Normen, die als postulierte, „unvollkommene Rechte“ noch nicht durchsetzbar sind,¹⁷ wohl aber als gesellschaftlich in Geltung gesetzte, „vollkommene“ Rechte (K/K/L, Privatrecht § 9,7 → 19,7; Pufendorf, JN&G 1,6,14). „Eine Norm kann in Geltung sein, aber übertreten werden; wird sie befolgt, ist dies ihr Gebrauch“ (so Martin Schermaier, unten B 5.3.1). Vollkommene Rechte sind „zwangsbewehrt“; ich (das Rechtssubjekt) kann zu ihrer Einhaltung mit staatlichen Mitteln gezwungen werden bzw. kann, was meine Schutzund Anspruchsrechte sind, sie mit Hilfe öffentlicher Instanzen durchsetzen. Eine Grauzone zwischen beidem ist derzeit das Europarecht, das zwar den Charakter positiven Rechtes hat; doch hat es keine Zwangsmittel hinter sich. Die Gültigkeit des Rechts, sei es dass sie auf Einsichten gründet (beim Naturrecht) oder auf bestimmten Inkraftsetzungsakten (beim positiven Recht), ist von anderer Art als die der Moral oder gar die eines Tabus.¹⁸ Für das Naturrecht muss es mindestens Gründe geben, wo nicht Evidenzen; seine Normen sind auf Argumentation angewiesen. Die Setzung positiven Rechts ist in der Regel – heute sogar obligatorisch – mit Tag und Ort dokumentiert, und der Gesetzgebungsvorgang steht der Nachprüfung offen bis zurück zu den zugrunde liegenden Debatten. Will man die Tora als positives Recht für das Volk Israel auffassen, wie in den antiken Quellen geschieht, so liegt dessen Ursprung einer historischen Nachprüfung voraus; ja er wurde auch durch ein Narrativ, das ihn um tausend Jahre zurückverlegt, einer solchen entzogen. Für uns freilich wird die Tora einzuordnen sein auf die Zeit seit der Auch ein Vertragsinhalt konnte lex (privata) genannt werden. Von diesem Sprachgebrauch sehen wir hier ab, auch davon, dass eine jede Entscheidung des Senats lex heißen konnte. Das Latein des alten Rom war noch nicht so klar wie das der Digesten oder das schon sehr raffinierte Latein der barocken Naturrechtslehrer. Am einfachsten ist das Nachschlagen bei Heumann, Handlexikon unter den besagten Familien(Gentil‐)Namen. Aber auch unter lex bietet er eine Auswahl. Es wäre aber irreführend, sie deswegen „Moral“ zu nennen (wie selbst Elert es einmal tut, Morphologie 359, aber er denkt dabei wohl an „Moral“ im kantischen Sinne); Moral wäre ja das jetzt schon gesellschaftlich Geltende. Beispiel eines Tabus, das bei genauerer Nachfrage erst unlängst in nichts zerfiel, ist der biblische Bann über die Homosexualität, hier # 264.
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Rückkehr vom Babylonischen Exil (536 v.Chr.): Von da bis zum Abschluss des Babylonischen Talmud an ebendieser Stelle sind wieder tausend Jahre, die sich aber überblicken lassen (vgl. unten B 1).
2.1.2 Biblisches Die Rechtsbegriffe der Tora, wohlbekannt den Fachleuten für Altes Testament und Alten Orient überhaupt, sind in die Septuaginta und von dort ins Neue Testament nur mit großen Verlusten eingegangen. Schon die Grundbedeutung von tôrah, nämlich „Weisung“ (von j-r-h „zeigen“), ging in nomos verloren; sie wurde verengt zu „Gesetz“.¹⁹ Dazu muss man aber wissen, dass dieses Wort mehr meinen sollte als was der allgemeine Sprachgebrauch darunter verstand, nämlich soviel wie politeia in seiner Bedeutung als „Verfassung“ (# 340). Innerhalb des so benannten Identitätsmerkmals Israel ist nun aber vieles, was in der Tora Rechtsbestimmungen waren, in der Übersetzung und vollends in der Rezeption aufgelöst worden in Moralbegriffe.²⁰ Solches geschah vor dem Hintergrund eines nicht von Menschen zu vollziehenden, vielmehr Gott reservierten Gerichtsverfahrens (s. # 179 zum Gottesgericht und # 146 zum Weltgericht). Offenbar gab es im alexandrinischen Judentum, dem wir die Übersetzung der Mosebücher verdanken, nur eine sehr begrenzte Gerichtsbarkeit,²¹ sonst wären die Rechtsausdrücke des Urtextes nicht so sehr abgeschliffen und in Moral umgewandelt worden. Die in der Hebräischen Bibel durchaus differenzierten Ausdrücke für „Recht“ und „Gericht“ – mišpaṭ schließt auch Schutzrechte der kleinen Leute ein, dîn Herrschaftsrechte der großen²² – fließen in den Schriften der griechischen Bibel Alten wie
Dass diese Wortwahl, in welcher schon die Pentateuch-Übersetzer (damit fing die Übersetzung an) sich einig waren, Absicht ist, zeigt sich schon am bloßen Vorkommen des Wortes nomos: Die Genesis hat es nicht (nur einmal, in Gen 26,5, wird der Plural tôrôt mit nomima übersetzt und in Gen 19,5 ‘awon „Verbrechen“ mit anomia) und auch das Buch Exodus bietet es erst ab 12,43: „Dies sind die Vorschriften des Passa“. Hier, wo für ḥuqqôt der Singular nomos gesetzt wird, fand man offenbar, beginnt der normative Teil der Tora, und danach benannte man sie insgesamt als Nomos. Auch die Wurzel j-r-h „zeigen“ wird mit nomothetein übersetzt (Ex 24,12; Dtn 17,10 und noch sechsmal in den Psalmen). Diese Sprachregelung entwertet den Erzählinhalt der Tora und eliminiert den Zeitaspekt. Das Bestreben geht schon hier auf zeitlose Lebensregeln. Über diese Tendenz gibt der sonst legendäre Aristeasbrief insofern authentische Auskunft, als er den Begriff dianoia „Gesinnung“, der in der Septuaginta dutzende Male das Wort leb „Herz“ ersetzt, in betonter Weise ins Spiel bringt, nämlich als Motivation des ganzen Unternehmens (Siegert, Septuaginta 259). S.u. 4.1.3; 4.2.3. Dort wird im Detail gezeigt, dass Philon seinerseits den Begriff des Rechts verloren hat. Der Ausdruck to dikaion begegnet zwar bei ihm durchaus häufig, ist aber i. d. R. als Personen- oder Seeleneigenschaft gemeint, wie dikaiosynē. Siegert, Septuaginta 165 – 167. Im nachbiblischen Hebräisch verschwindet mišpaṭ nach und nach aus dem Gebrauch, um erst im Neuhebräischen wiederzukehren für „staatliches Recht“; dîn hingegen dient für die Entscheidungen der Rabbinatsgerichte, also v. a. in Kult- und Reinheitsfragen, wozu auch das Eherecht gehört. Vgl. Maier, Judentum 180.
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Neuen Testaments zusammen in krisis/iudicium, was einheitlich mit „Gericht“ übersetzt wird (# 132, Exkurs 2). Extrembeispiel der Reduzierung von Recht auf Moral im Griechischen der Bibel ist eine Stelle wie Ps 103(102),6, wo çedaqah wie auch mišpaṭ das meinen, was wir heute „Schutzrechte“ nennen, genauer: die Wahrung von Schutzrechten. Stattdessen wird aus çidqat JHWH (neutestamentlich wäre das „Gerechtigkeit Gottes“) unter Hineinlesen einer Pluralform „Erbarmungen (eleēmosynai, Almosen) des HERRn“, und aus mišpaṭ wird krima; man denkt da schlicht an die Bestrafung der Bösen. Solchermaßen ging schon in der Septuaginta der Begriff des Rechts verloren, und selbst derjenige für „Gericht“ wurde synonym mit „Urteil“, ja „Verurteilung“, als hätten Gerichte nichts anderes zu tun als das. Die Vulgata, deren Grundlage zunächst die Septuaginta war, ehe Hieronymus sie nach dem Hebräischen revidierte, setzt dementsprechend in vielen Zusammenhängen undifferenziert iustitia, was meistens die Gerechtigkeit/Rechtschaffenheit einer Person meint und nicht das Rechtswesen. Nicht erst das Neue Testament, sondern bereits Septuaginta hat also – obwohl ihre fünf wichtigsten Bücher nunmehr den Titel Nomos tragen – den Begriff des Rechtes verloren. Es ist kaum zu glauben, aber sie hat für mišpaṭ kein Wort!²³ Man hätte to dikaion sagen können, aber dieser Ausdruck findet sich nur zweimal weit außerhalb der Tora, nämlich in Spr 19,25 und in Hi 34,12 Cod. A (hingegen krisis Cod. B, S und ursprünglich auch Cod. V). Hinzu kommt der Plural ta dikaia „die Rechte“ (partikular) in Spr 16,33; 21,7. Überall sonst wird krisis „Urteil“ eingesetzt mit einer offenbar gewollten, seit Gen 14,7 bereits die Tora durchziehenden Vokabelgleichung (Siegert, Septuaginta 266); in der Vulgata ist es iudicium. Das Motiv dürfte sein, an Gott als den Richter aller Menschen zu gemahnen. Das Gottesgericht (# 279) ist der Horizont, nicht irdische Gerichtsbarkeit. Gelegentlich gebrauchte Synonyme kommen stets aus dem Bereich der individuellen Ethik, nicht aus dem der zivilen oder gar staatlichen Verwaltung. Auch das Wort çädäq, „Gerechtigkeit“ wie „Recht“ meinend, wird nicht mit dikē wiedergegeben, auch nicht, wie gesagt, mit to dikaion, sondern mit dikaiosynē, „Rechtschaffenheit“, was es zu einer Personeigenschaft reduziert. Sooft dieses Wort im Neuen Testament wiederkehrt, wird jedoch unsere Frage nicht sein: Wer ist ein gerechter Mensch?, sondern: Welches Verhalten wird hier nach welcher Rechtsordnung dargestellt und ggf. auch bewertet? Die Bewertung von Menschen ist nicht Aufgabe des Rechts, und so auch nicht die unsere. Wir werden den personalen Begriff von Gerechtigkeit, wie er noch Leibniz vorzuschweben schien (Exkurs 13), an gegebener Stelle zwar vorstellen (# 125 zu Mt 5), aber nicht zugrunde legen. Dombois, „Rechtfertigung“ sagt es als heutiger nichttheologischer Bibelleser ganz drastisch:
Die Bibel der Griechen, die homerischen Epen, boten ein analoges Problem, und dieses wurde bemerkt: nomos kommt nicht vor. Das war im Hellenismus, der es zum Universallehrbuch machte, misslich, und man verwies auf das immerhin einmal stehende Derivat eunomiē, „Wohlverfasstheit“ (Od. 17,487; Siegert, Hell.-jüd. Predigten II 99).
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Sämtlichen uns bekannten Rechtsvölkern ist die Vorstellung personaler Gerechtigkeit überhaupt fremd. Sehen wir von möglicherweise vorhandenen Verwandtschaften der vorderasiatischen Umgebung des Judentums ab, so handelt es sich bei der Vorstellung der personalen Gerechtigkeit um eine singuläre Bildung des biblischen Bereichs.
Recht, wie es in einer Gesellschaft gilt, ist eine Sache und Gerechtigkeit, wie Einzelne sie besitzen oder nicht besitzen mögen, eine andere. Das Neue Testament nach Rechtsbegriffen zu erläutern und diese, je nach Text, vielleicht sogar zum Schlüssel des Verständnisses zu machen, ist nur möglich im Überblick über die vier in Frage kommenden Rechtsbereiche, den orientalisch-aramäischen, den hebräischen, den griechischen und den – in bestimmten Personen sogar vertretenen – lateinischen. Was beiden biblischen Sprachen z. B. fehlt, auch der hebräischen, ist im römischen Recht ein Grundbegriff: der des Vertrags. Es ist merkwürdig, aber mosaisches Recht kennt keine Verträge, sondern nur Versprechen – oder Urkunden, so etwa die Eheurkunde (die Ketubba) oder Schuldscheine. Versprechen sind nicht judiziabel; Urkunden immerhin sind es, aber sie sind auf wenige Rechtsverhältnisse begrenzt.²⁴ Dabei findet in der Welt der Bibel vieles statt, was vom alten Rom bis heute vertragsrechtlich geregelt wurde: Käufe und Verkäufe, Vormundschaften, Hinterlegungen, Arbeitsverträge u. a.m. Letztere werden immerhin, ohne so genannt zu sein, im Neuen Testament als Mietverhältnis geführt, was römisch eine Art Vertrag wäre (# 10). Der grundsätzliche Unterschied aber zwischen dem, was ein Bibelleser aus Geboten und Verboten erfährt und dem, was das Lehrbuch des Gaius, das prätorische Edikt und die Digesten aufgrund des Vertragsbegriffs uns zeigen, ist dieser: Im römischen Recht geht es nicht so sehr darum, Bösewichter zu bestrafen, sondern primär darum, Pflichten zu regeln und Konflikte zu entschärfen.²⁵ In diesem Sinne ist schon die Gesetzgebung des Deuteronomiuns ,ziviler‘ als vieles Ältere im Leviticus, und auch das rabbinische Recht der „Schädigungen“ (Ordnung Neziqin) beginnt mit Ermutugungen zur Rückgabe (bei Diebstahl) und zum Ausgleich.²⁶
Und das sogar mit Überschneidung. Die Ketubba ist nicht zuletzt ein Schuldschein des Ehemannes über die Höhe der erhaltenen Mitgift. Das römische Recht hat eine zivilisierende Wirkung, die man den Religionen der Bibel manchmal noch wünschen möchte. Gerade da, wo Gesellschaften unserer Zeit am stärksten dem Einfluss der Bibel unterliegen, in den USA nämlich und in Israel, ist – im Vergleich mit der westlichen Welt sonst – die Bereitschaft gering, sich ans Völkerrecht zu binden, welches an der Konfliktbegrenzung ausgerichtet ist. Vielmehr werden Verbote erlassen und ganze Staaten „bestraft“. Auch das europäische Recht begibt sich in ein schiefes Licht, wenn es daran geht, Mitgliedsstaaten zu „bestrafen“. Seine Vergünstigungen sind an Vereinbarungen gebunden, und es genügte, diese ins Werk zu setzen. So Elon, Jew. Law 601– 605.
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2.1.3 Juristisches (heute) Für die heutige juristische Terminologie dient vor allem das von Carl Creifelds u. a. initiierte Rechtswörterbuch als Auskunftsquelle. Dort lesen wir unter Recht: Recht im objektiven Sinne ist die Rechtsordnung, d. h. die Gesamtheit der Rechtsvorschriften, durch die das Verhältnis einer Gruppe von Menschen zueinander oder zu den übergeordneten Hoheitsträgern oder zwischen diesen geregelt ist. Diese Regeln können ausdrücklich gesetzt sein (gesetztes R. oder Rechtsnorm; s. Gesetz) oder sich in langjähriger Übung herausgebildet haben (Gewohnheitsrecht).
Unter „subjektivem Recht“ hingegen ist – eine Befugnis zu verstehen, die sich für den Berechtigten aus dem objektiven R. unmittelbar ergibt (gesetzliches R.) oder die auf Grund des objektiven R. erworben wird (erworbenes R.). Das subjektive R. kann ein Herrschaftsrecht, ein Anspruch oder ein Gestaltungsrecht sein.
Das ergibt drei Rechtsbereiche, die auch im vorliegenden Kommentar reichlich Illustration finden: ‒ Herrschaftsrechte ergeben sich aus dem Eigentumsverhältnis, dem dominium (# 8). Beispiele sind „Forderungen aus Darlehen, Kauf- und Mietvertrag, Schadensersatzansprüche usw.“ (Creifelds a.a.O.). ‒ „Kraft eines Anspruchs kann der Berechtigte von einem anderen ein Tun oder Unterlassen verlangen, § 194 I BGB (z. B. der Mieter vom Vermieter die Einräumung des Besitzes an der Mietsache, der Grundstückseigentümer vom Nachbarn das Unterlassen unzulässiger Einwirkungen)“ (ebd.). ‒ „Die Gestaltungsrechte verleihen dem Berechtigten die Befugnis, subjektive Rechte zu begründen, zu verändern oder aufzuheben (z. B. Kündigung eines Darlehensvertrags, die einen Rückzahlungsanspruch auslöst, Anfechtung von Willenserklärungen oder Rücktritt vom Vertrag) (…)“ (ebd.). Zu den Anspruchsrechten dürfte gehören, was man seit der Aufklärung als „Schutzrecht“ bezeichnet. Wolff, JN b2v bietet hierzu den gegenüber Pufendorf neuen Terminus ius securiatis – in § 917 ausdrücklich und auf Deutsch: „Schutzrecht“ – und sagt dazu, ein solches sei jedem Menschen schon im Naturzustand (= im vorgesellschaftlichen Zustand) gegeben;²⁷ niemand sei verpflichtet, sich ohne Rechtsgrund von einem anderen verletzen zu lassen. Derlei war bisher in Dekalog-Katechesen gesagt worden (etwa in Luthers Kleinem Katechismus zum 5. und 8. Gebot) als Ethik; den Naturrechtslehrern aber zählt es zu den Pflichten des Staates, derethalben den Staatsbürgern überhaupt erst Gehorsam obliegt (vgl. Puf., JN&G 7,8,1).
Die zitierten Definitionen bei Creifelds sind an den positiven Rechten orientiert. Das Rwb. hat keinen besonderen Eintrag „Schutzrecht“, sondern nur folgendes: „Schutzrechtsverletzung ist die Verletzung von Immaterialgüterrechten, insbes. gewerblichen Schutzrechten.“ Das ist zu wenig.
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2.1.4 Philosophisches: Das Naturrecht Unerwartet vielleicht für ein Werk protestantischen Zuschnitts, wird der Begriff des „Naturrechts“ – nicht der eines „Gottesrechts“ – durchgängig gebraucht werden als Sammelbegriff für all die Rechtseinsichten, die menschliche Vernunft zustande bringt. Kurz gesagt, ist damit all das an ethischen Werten und Sätzen gemeint, was sich dafür eignet, in Form von Gesetzen für ein Gemeinwesen verbindlich gemacht zu werden. Hierbei eignen sich zur „Verrechtlichung“ (man sagt auch: „Positivierung“) nur solche Regeln, für die es zweckmäßig ist, sie mit sog. Zwangsmitteln (# 127) zu versehen, sie also auch gegenüber Unwilligen durchsetzbar zu machen. Die positive Seite ist, dass auch Schutzrechte damit in Kraft gesetzt werden können, womit weit mehr getan ist als mit ethischen Appellen (z. B. im Umgang mit Armen und Benachteiligten). Dieser Begriff wird als Brücke dienen zwischen Bibelexegese und Rechtswissenschaft. Was in der einen „Gebote“ sind und in der anderen „Gesetze“, findet seine Überlappung in dem Grundbegriff des Naturrechts: „Pflichten“ (# 134; in nachklassischem Latein: obligationes). Pflichten sind etwas anderes als Zwänge oder Notwendigkeiten; sie werden nicht erst befolgt, wenn es erzwungen wird, sondern schon, wenn sie einsichtig sind. Hier hat angesichts der zahlreichen Imperative des Neuen Testaments die rechtsgeschichtliche Exegese eine lohnende Aufgabe. In der Antike und stärker noch im Mittelalter, wo die Kirche jeglicher Skepsis zu schweigen gebot, antwortete man auf Fragen der Rechtsbegründung mit der Hypothese „ewiger“ Wahrheiten, deren es in einer Art platonischer Anamnese innezuwerden gelte.²⁸ Diese Hypothese verband sich seit Philon von Alexandrien, dem bekennenden Platoniker unter Alexandriens Juden, mit dem, was sich biblisch „Offenbarung“ nennt.²⁹ Noch die römisch-katholische Soziallehre, die im 20. Jh. der am deutlichsten wahrnehmbare Einfluss von Naturrecht in Deutschlands Gesetzgebung war, liegt auf dieser Linie (Exkurse 6, 7 und 12). Solchen Apriorismus hat französischsprachige Philosophie des 17. Jh. bereits in Zweifel gezogen (C 4.7.1). Pufendorf reagiert auf Leute wie Descartes, indem er Recht begründet aus dem, was sich unter Menschen bewährt hat als das ihnen Gemäße. Er ist, ohne es selbst mit diesem (erst modernen) Wort zu sagen, Empiriker (s.u. Exkurs 10). Nicht das Recht ist ihm gottgegeben, wohl aber der Mensch sich selbst. Einigen Lehrmeinungen des letzten Jahrhunderts muss an dieser Stelle widersprochen werden. Im Schatten Karl Barths gilt weithin noch heute das Verdikt, „für eine klassische Naturrechtslehre“ fehle „bei Luther jede Basis“. Dasselbe Buch, wo diese
Über den kirchlich unwillkommenen Nominalismus (von Ockham hat ihn Luther), den noch heutige Kanonistik ineins wirft mit Voluntarismus, s.u. Exkurs 1. Dort meist verbal: g-l-h/apokalyptein/revelare; # 262. Das Substantiv apokalypsis meinte an Stellen wie Gal 2,2 oder der Apk-Überschrift zunächst ein eher partielles Zukunftswissen, ehe der Begriff einer „offenbarten“ (genauer: auf Offenbarung beruhenden) Lehre sich bildete.
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These wieder einmal zu lesen steht,³⁰ zitierte jedoch den Reformator zwei Seiten vorher³¹ mit dem Dictum: So halte ich nun die Gebote, die Mose gegeben hat, nicht deshalb, weil sie Mose geboten hat, sondern weil sie mir von Natur eingepflanzt sind und Mose allhier mit der Natur übereinstimmt.
Nicht weiter als über zwei Seiten hinweg hat das Gedächtnis der hier schreibenden Theologen angehalten.Wichtiger als das Ernstnehmen des von Luther Gesagten ist ihnen die Distanz zu weltlichen, vernünftigen Wissenschaften zugunsten eines extrem enggeführten Protestantismus.³² Dass in diesem Zitat das „weil“ sogar einschränkend als ein „sofern“ zu nehmen ist, zeigt Luthers eigener Katechismus, der – in alter christlicher Tradition – die Sabbatruhe in eine Feiertagsheiligung umwandelt und das Bilderverbot – obwohl es von allen das längste ist, mit ausführlicher Begründung (in Ex 20 wie Dtn 5 jeweils fünf Verse) – ganz weglässt. Dem System des Gaius folgend, der für seine Darstellung des Zivil- oder Privatrechts bei dem Nebeneinander von Naturrecht und positivem Recht (das meint dort ius civile) einsetzt (so 1,1),³³ nehmen die protestantischen Naturrechtslehrer der Barockzeit als Grundbegriff aller beider den des Vertrags. Naturrecht, wie sie es verstehen, ist dann nichts den Menschen Auferlegtes, sondern: Die vernünftige Natur des Menschen (s.u. 4.2) befähigt ihn, seine Angelegenheiten konfliktarm, wo nicht konfliktfrei, zu regeln oder doch zumindest so, dass der „Kampf aller gegen alle“ in Bahnen gelenkt wird. Im positiven Recht werden diese dann näherhin unterschieden als pacta, contractus und Ähnliches (# 113); und auf einem pactum, das – nicht als historisches Geschehen, sondern als theoretische Annahme des Naturrechts – all dies begründet, ruhen die positiven Gesetze auf. Es ist der Gesellschaftsvertrag (# 280)³⁴ und keine mit ihren eigenen Gesetzen zwingende Natur.
T. JÄHNICHEN/W. MAASER: Die Ethik Martin Luthers (Studienreihe Luther, 17), 2018, 57. – Ganz anders Lehmann, „Luthers Naturrechtsverständnis“; dort 369 Anm. 1 neueste Lit. zum Naturrecht allgemein und 371 Anm. 4 zum Naturrecht bei Luther insbesondere; zu letzterem Thema s.u. C 4.6.1. Ebd. 55 nach WA 24,10,3, aus einer Predigt, betitelt „Eine Unterrichtung, wie sich die Christen in Mosen sollen schicken“. Derselbe Text auch bei Siegert, Luther und das Recht 121, ohne nachträgliches Durchstreichen. Zur Begründung dient ihnen im Kontext die Rechtfertigungslehre: Um der Rechtfertigung zu bedürfen, muss der menschliche Wille (hier # 274) ganz und gar sündig sein (vgl. # 271 zur „Personsünde“). Als ob nicht Luther selbst in seinen letzten Worten Cicero als Vorsteher eines vorzüglichen Staatswesens gewürdigt hätte! Da war er offenbar kein Sünder, nicht in Person. (Hingegen werden wir ihm gewisse Unterschleife nicht unerwähnt lassen: # 130). Das Strafrecht bleibt bei dieser Betrachtungsweise im Schatten. So auch noch bei den barocken Naturrechtslehrern (# 381). Bestrafendürfen ist für sie nichts Primäres, sondern etwas aus der Pflichtenlehre Abgeleitetes und zugleich Beschränktes. Zugegeben sei hier schon, dass von den Reformatoren nicht Luther, sondern Melanchthon es war, der diesen Begriff benutzte. Letzterem folgen wir auch in der Bevorzugung von „Magistrat“ vor „Obrigkeit“ oder (bei Elert noch) „Staat“.
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2.2 „Gesetz“ Das Wort nomos, wovon in 2.1.1 sprachgeschichtlich das Nötige gesagt ist, meint im Neuen Testament fast immer die Tora (# 266). Der nachmalige theologische Sprachgebrauch ist davon jedoch oft verschieden und meint Dinge, welche die Rechtswissenschaft kaum berührt. Hier ist eine Vorklärung nötig.
2.2.1 „Gesetz“: Begriff vs. Eigenname Von „Gesetz“ zu reden bleibt missverständlich, solange nicht dazugesagt wird, ob ein bestimmtes Gesetz gemeint ist oder jedes. Was im Römerbrief des Paulus und, von da ausgehend, auch im Gespräch mit Juristen als „Ambivalenz des Gesetzes“ benannt wird,³⁵ beruht auf der Vieldeutigkeit des Wortes nomos in beiden Teilen der Bibel, dem übersetzten und dem nicht übersetzten. Der Alttestamentler Rudolf Smend (jun.) bemerkte im Gespräch mit Juristen: Das Gegenüber des Paulus war das pharisäische Judentum, in dem er verwurzelt war, das Luthers der spätmittelalterliche Katholizismus, in dem er nicht weniger verwurzelt war, Barth hatte außer dem zeitgenössischen Luthertum die „Deutschen Christen“ vor sich, die sich auf die „geschichtliche Stunde“ eines „Volksnomos“ beriefen. In derart wechselnden Kontexten mußte das große Thema notwendig verschiedene Variationen erfahren.
Dennoch redet eine umfangreiche theologische Literatur von „Gesetz“, als wüsste man schon, was das ist. Hier liegt nicht nur ein Problem des Protestantismus, wo die Diskussion das Verhältnis von Gesetz und Evangelium verwirrt ist durch wechselnde oder überhaupt fehlende Definitionen (s.u. 2.2.2); sondern auch im Katechismus der Katholischen Kirche §§ 1975 – 1986 finden sich die gleichen Unschärfen, als wären sie unvermeidlich. In der Bibelwissenschaft wie auch im christlich-jüdischen Gespräch ist „Gesetz“ als Übersetzung von nomos und dies wiederum als Übersetzung von tôrah anerkanntermaßen unzureichend; tôrah ist im Judentum jedenfalls mehr. Aus den besten Zeiten der (1938 in Deutschland ausgelöschten) Wissenschaft des Judentums lässt sich der Artikel „Gesetzgebung“ aus der Encyclopaedia Judaica, Bd. 7, 1931, Sp. 377– 383 heranziehen (E. BIN GORION, S. BERNFELD). Dort werden zunächst, ganz im Sinne der alttestamentlichen Wissenschaft historisch-kritischen Zuschnitts, die wichtigsten Gesetzescorpora genannt,
R. SMEND: „,Gesetz‘ im Alten Testament“, in: Behrends, Der biblische Gesetzesbegriff, 17– 41. Ein Beitrag zum NT fehlt in diesem Band wie in vielen seinesgleichen. Auch Jesus ist dort nicht im Register, die Evangelisten nicht, Paulus nur mit Bemerkungen zur Wirkungsgeschichte, Pufendorf übrigens auch nicht (trotz S. 133).
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aus denen die Tora besteht,³⁶ neben Hinweisen auf abweichende Verhaltensweisen und -regeln in den Geschichts- und Prophetenbüchern der Hebräischen Bibel, die oftmals ältere Verhältnisse wiedergeben als die im Babylonischen Exil erst fertig gewordene „Tora vom Sinai“. Hier greift die Einsicht, dass in dem Jahrtausend zwischen dem Aufenthalt der Hebräer in Ägypten und der Fixierung des Toratextes in der Frühzeit des Zweiten Tempels sich vieles geändert hat an den Anschauungen und den Verhaltensweisen.³⁷ Instruktiv ist auch der – zeitlich danach, alphabetisch davor rangierende – Artikel „Gesetze“ (Sp. 355 – 377; A. MENES, S. BIALOBLOCKI), der ähnlich ansetzt, dann aber all die weiteren Kodifizierungen beschreibt, welche die rabbinische Tradition hervorgebracht hat bis hin zu Maimonides. Aus diesem Artikel sei der Anfang zitiert als nochmalige Definition von „Gesetz“: Das hebr. Wort für Gesetz, tôrah (auch: Lehre, Unterweisung), dient gleichzeitig zur Bezeichnung der ersten fünf Bücher der Bibel, der Bücher Mosis, in denen die Hauptlehren der jüd. Religion, das alte jüd. Recht und die Vorschriften über den Kultus enthalten sind. Es kennzeichnet in besonderem Maße die jüd. Kultur der biblischen Zeit, daß hier Recht und Kultus, Religion und Moral aufs engste verbunden sind.
Diese Verbindung wird bei der Erläuterung neutestamentlicher Passagen freilich aufzulösen sein in dem Maße, wie der Übergang in Sprachen und Kulturen des Westens eine Klärung der Zuständigkeiten erheischt: Wer hat wem Vorgaben zu machen? In dieser Hinsicht überlappen sich im Neuen Testament vier verschiedene Kulturen.
2.2.2 Sieben Definitionsmöglichkeiten Jede der oben gehörten Stimmen meinte mit „Gesetz“ etwas anderes, mit Überlappungen zwar, aber auch mit gravierenden Unterschieden. So sei denn hier aus Siegert, Luther und das Recht 17 f ein Differenzierungsvorschlag wiederholt,³⁸ wie er eigentlich in jeder Dogmatik zu erwarten wäre. Unter „Gesetz“ lässt sich verstehen und wurde bisher verstanden:
Eine neuere, bis ins Detail der Einzelverse gehende Separatdarbietung dieser Tora-Bestandteile mit historischem Kommentar ist G. LASSERRE: Synopse des lois du Pentateuque (VT.S 59), 1994. Zum wohl ältesten Kern, dem sog. Bundesbuch (= Hauptbestand von Ex 20,22– 23,19), s. Armgardt, „Naturrecht“ 1 mit Anm. 2 (Lit.). – Als rein nummerische und dann auch nach Themen gegliederte Aufzählung der (nach rabbinischer Zählung) 613 Tora-Gebote s. E. KATZ: A Classified Concordance of the Torah (1964), 1974. Dort ist alles gleichzeitig. Rein sprachlich musste man freilich als jüdischer Autor vorsichtig sein, wenn etwa auf Sp. 61 die Überschrift lautet: „Die Darstellung der G(esetze) im nachbiblischen Judentum“, wo westliche Rechtsgeschichte ohne Scheu von „Entwicklung“ geredet hätte. Nach jüdischem Selbstverständnis gibt es das nicht, sondern allenfalls eine Vermehrung von Tora: So spricht denn Sp. 365/366 von „Neuzuschaffenden G(esetzes)-Bestimmungen“ etwa in bŠeb. 39a; bNed. 25a. Ähnlich schon Bandy, „,Das‘ Gesetz und die Tora“ (Lit.-verz. 3.4.1).
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a) „natürliche“ Rechtserkenntnis, die es in allen Völkern gibt, in allen Gesellschaften und Kulturen, also lex naturae in diesem Sinne (besser: ius naturae oder naturale; deutsch: „Naturrecht“, denn Naturgesetze sind etwas Anderes); b) die Setzungen des Dekalogs und der Tora, die Gottes Gabe waren und sind an das damit ausgezeichnete Volk Israel; das ist, einer alten christlichen Lehrunterscheidung zufolge: (b 1) die moralische Tora – ihr wurde Universalität zugemessen –, (b 2) die rituelle Tora oder Zeremonialtora, etwas eher Partikulares, und (b 3) die judiziale (d. h. das Gerichtswesen betreffende) Tora, auch diese ohne Ewigkeitswert;³⁹ c) das Alte Testament insgesamt, sofern es im antiken Judentum und darum auch in der Sprache des Neuen Testaments als nomos (wir schreiben: Nomos) zitiert wird; d) präskriptive Passagen im Neuen Testament, etwa in den sog. Haustafeln (z. B. 1Tim 2,8 – 15), die allerdings in heutigem Verständnis so wenig Autorität haben wie die Kleidervorschrift des Schleiers (1Kor 11,10) und anderes mehr (wieweit Jesusworte dazu gehören, wird noch zu fragen sein); e) Gesetze im säkularen Sinn, erlassen von dazu berechtigten Instanzen. Die Frage, was die Instanzen wiederum berechtigt, führt nur dann nicht in den Zirkel, wenn man eine „natürliche“ Rechtserkenntnis mit ansetzt; darum oben (a). f ) Im weitesten Sinn steht in theologischer Sondersprache „Gesetz“ für die Lebensbedingungen des Menschen allgemein und überhaupt für die conditio humana, aufgefasst als der „Ordnungsbereich Gottes“ (Elert, Ethos 75). Das ist aber ein weniger gnädiger als vielmehr sehr strenger Gott, und die Verhältnisse sind die außerhalb des Paradieses. Diese letztere Bedeutung ist die von der römischen wie der heutigen Jurisprudenz entfernteste. Auch die anderen haben, zumindest in christlicher Adaptation, mehr mit Ethik zu tun als mit Recht. Der eben (f ) zitierte Abschnitt bei Elert, betitelt „Das Gesetz Gottes“, beginnt mit dem Satz: „Die Ethik fragt nach der Qualität des Menschen gemäß göttlichem Urteil“ (74). Dieses Urteil wird dann dem entnommen, was in so weiter Fassung „Gesetz“ heißen kann. Es ist aber kein Urteil im Sinne einer Gerichtsentscheidung, wie Menschen sie fällen; nur Gott, der „Kenner der Herzen“, kann so urteilen. Wir werden in 2.4 („Gesetz und Evangelium“) nochmals darauf zurückkommen. Beiseite lassen können wir, wie unter (a) schon angedeutet, Naturgesetze, auch wenn seit Philon Toragebote mit Naturgesetzen assoziiert werden, was eine siebte Bedeutungsmöglichkeit ergäbe. Wir lassen sie aber ganz beiseite, denn Naturgesetze haben nichts Präskriptives an sich, sondern es sind Regeln automatischer oder in Grenzen von Wahrscheinlichkeitsgesetzen zufälliger Abläufe.
Details s. # 60. In der Theologie denkt man oft nur an die moralische Tora und übersieht sowohl das Ritual als auch das Gerichtswesen, nicht achtend, dass die Unterscheidungsmerkmale des Judentums vor allem rituelle sind und dass die rituelle wie die judiziale Tora nicht selten bis zur Todesstrafe gehen. Das gilt auch noch im Neuen Testament.
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Auch jener Missbrauch an Worten wird im Folgenden vermieden werden, womit eine einzelne Vorschrift schon „Gesetz“ genannt wird, etwa das Verbot des Schöpfers an Adam, vom Baum der Erkenntnis zu essen (Gen 2,17; Beispiele bei Flückiger, G.Naturr. 314): Dafür gibt es passendere Wörter wie „Gebot, Anordnung“ (entolē/mandatum, prostagma /praeceptum). Eine Theologie der lex daran anzuschließen und sie gar bis zum ius auszudehnen, war ein Missbrauch der Sprache, wie ihn auch der biblische Kontext nicht rechtfertigt. Vieler Theologenstreit um die Gültigkeit und Wertigkeit „des“ Gesetzes dreht sich mithin um unterschiedliche Dinge von unterschiedlichem Ursprung und unterschiedlichem Anspruch. Luther trat ein für Freiheit vom Gesetz (bes. im Sinne b 2, b 3 und c), aber auch für die Freiheit, sich Gesetze zu machen. Im Calvinismus hingegen hat der Gesetzesbegriff in all seiner Mehrdeutigkeit geradezu fundamentaltheologische Würden erhalten.⁴⁰ Demgegenüber werden wir als ersten Schritt zur Klarheit den Eigennamen Nomos = Tora separat halten von sonstigen Verwendungen dieses Wortes. So entspricht es auch der sog. new perspective on Paul, der Wahrnehmung des jüdischen Paulus.
2.3 „Gerechtigkeit“, „Moral“, „Gesetzlichkeit“ 2.3.1 „Gerechtigkeit“ Der philosophische Begriff der Gerechtigkeit kommt im Rechtsdenken des Abendlandes eher aus Aristoteles, zumal aus dessen Nikomachischer Ethik und seiner Politik, als aus der Bibel. Das werden nicht nur die zahlreichen Unterschiede erweisen, die sich im Laufe der Auslegungen bemerkbar machen werden, sondern es zeigt auch schon ein Blick auf die quantitative Verteilung. So sehr das Wort dikaiosynē/iustitia Lesern des Matthäusevangeliums und der Paulusbriefe geläufig sein wird, so sehr lässt es sich anderwärts vermissen: Markus formuliert sein Evangelium ganz ohne dieses Wort, das lukanische Doppelwerk hat es nur an wenigen zitatähnlichen Stellen und das Johannesevangelium verwendet es auch nur in einem kryptischen Zusatz, der Stellung zu nehmen scheint auf einen nachpaulinisch aufgetretenen Streit um Worte (Joh 16,8.10; # 94). Im Griechisch der Bibel wird „Gerechtigkeit“ vor allem ethisch gefasst: dikaiosynē meint zunächst Rechtschaffenheit.⁴¹ Gleiches gilt für den Richter; auf dessen dikaiosynē = Rechtschaffenheit – dass er z. B. unbestechlich ist – kommt es an. Was bei dieser Verengung verloren geht, ist das fürs Recht Spezifische, nämlich dass es sich um Normen handelt, die Pflicht wie Anrecht bestimmen. Es gibt nicht nur gesetzlichen Zwang, etwas
M. MARLET: Grundlinien der Kalvinischen ,Philosophie der Gesetzesidee‘ als christlicher Transzendentalphilosophie (MThS II/8), 1954. In englischen Bibeln wird mit righteousness übersetzt, „Rechtschaffenheit“.
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zu tun oder auch zu unterlassen, sondern es gibt auch gesetzliche Garantien, etwa über Unversehrtheit. Das übersehen auch die Aristoteliker mit ihrer Neigung zu deduzieren. Gegen den Schweizer Theologen Emil BRUNNER , einen der vielen, die Recht aus Gerechtigkeit ableiten wollten, sagt Werner Elert (Ethos 107): Er hat entschieden recht, daß es besser ist, wenn überhaupt etwas, als wenn gar nichts gesagt wird. Aber die Tragfähigkeit dieser Formel [Recht komme aus Gerechtigkeit] wird von ihm überschätzt. Das suum cuique war auch die Devise der preußischen Könige, aber sie haben daraus wesentlich andre Folgerungen gezogen, denen man eine gewisse immanente Folgerichtigkeit nicht absprechen kann.
Aus diesem und weiteren Gründen (s. Exkurs 13) bezieht sich das vorliegende Werk nicht auf einen vorgegebenen oder gar ‘göttlichen’ Begriff von Gerechtigkeit, woraus sich Maßstäbe für das Recht auf Erden deduzieren ließen, sondern auf eine empirisch begründete, nachbiblische Theorie von Naturrecht, die die aus dem Neuen Testament kommenden Denkanstöße nicht mitbegründen muss, sie aber durchaus integriert hat. Was aus dem Blick gerät bei dem Versuch, das Recht aus dem Gerechtigkeitsbegriff abzuleiten, ist der Unterschied zwischen Gott und Mensch. Schon Pufendorf als juristischer Bibelleser mahnte seine theologischen Zeitgenossen: Achtet doch bitte darauf, dass „Gerechtigkeit“ von Gott in anderem Sinne ausgesagt wird als von Menschen (# 262)! Anders gesagt: Aus einem Anthropomorphismus in der Gotteslehre lässt sich keine ,theomorphe‘ Rechtslehre entwickeln. Im Hinblick auf Karl Barths These in KD IV/2, 815, dass die Christengemeinden im eben genannten Sinne eine Modellgesellschaft sein sollten,⁴² sagt Wilhelm Maurer, KuR 25: Es stimmt nicht, was Karl Barth sagt, daß die menschliche Gerechtigkeit, die in der Welt gilt, die göttliche abzubilden habe und insofern Gottes Willen entspreche. (…) Gegenüber der Behauptung, das Recht der Kirche sei „exemplarisch für die Bildung und Handhabung des menschlichen Rechtes überhaupt“, ist (…) äußerste Vorsicht geboten.
Denn die Kirche ist nicht die Welt und die Welt nicht die Kirche. Ein Richter ist kein Seelsorger und auch nicht umgekehrt. Im vorliegenden Kommentar wird das Wort „Gerechtigkeit“ nicht im moralischen Sinn, als Personeigenschaft, sondern im Sinne der Legalität eines Verhaltens, d. h. seiner Entsprechung gegenüber formuliertem oder wenigstens formulierbarem Recht, gebraucht werden. Das ist auch wichtig im Hinblick darauf, dass naturrechtliche Argu-
Er hatte sie bereits aufgestellt in seinem vielbeachteten Vortrag Christengemeinde und Bürgergemeinde (1946; s.u. # 287). Die Kirche als Modell der Zivilgesellschaft? Aus einer lex caritatis lassen sich schwerlich Dinge wie ein Strafrecht oder gar ein Völkerrecht gewinnen, die aber doch nötig sind, bis hin zum Kriegsrecht. Der Blickwinkel dieses Entwurfs ist jedoch weit enger, aus Schweizer Verhältnissen gewonnen. Die CA, im Rahmen des Alten Reiches gedacht, hat einen viel weiteren, macht jedoch mit politischen Thesen weit früher halt.
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mentation autonom neben theologischer stehen wird in einer zu erstrebenden Synergie: Ein Naturrecht, das sich als Explikation des Begriffs der Gerechtigkeit versteht und göttliche Gerechtigkeit zum Vorbild der menschlichen macht, wäre nur eine scheinbare Lösung dieser Aufgabe, weil Gerechtigkeit unter Menschen und Gerechtigkeit Gottes sich metaphorisch zueinander verhalten, wie Pufendorf nicht müde wurde zu betonen (vgl. Exkurs 4). Es ist a priori unmöglich, sie in einer gemeinsamen Begriffspyramide zu vereinen, wie Leibniz das zwar forderte,⁴³ aber nicht erreichte.
2.3.2 „Moral“ vs. „Ethik“ Moral ist Konformität des Verhaltens; Ethik gibt Gründe an für Verhalten. Werner Elert hat eine ganze Ethik geschrieben, ohne einen einzigen Imperativ aufzustellen. Diese Ethik ist nicht Gesetz; was sie sein will, ist: Evangelium. Römisch-katholische Theologie ist stets auch Moral, jedenfalls in der Sprache der offiziellen Dokumente. Die Unfehlbarkeit, welche die Päpste beanspruchen, gilt in rebus fidei et morum. Das Wort mores meint das Verhalten, und zwar das geregelte. Die dafür vom Lehramt publizierten Regeln erheben den Anspruch einer über jede empirische Erkenntnis und damit über Psychologie, Soziologie, Politologie usw. überlegenen Erkenntis. Darin liegt auch heute noch eine Stellungnahme zu dem alten Streit schon im klassischen Athen, ob Moralgrundsätze physei, „von Natur“ gälten oder nur thesei, „durch Setzung“. Letzteres heißt mit einem modernen Wort „Konvention“, und ihre Urheber sind Menschen. Was hingegen die Ethik betrifft, sowohl aus Theologie wie aus Philosophie lassen sich Ethiken gewinnen. Jurisprudenz hingegen hat zu Ethik ein anderes Verhältnis: Mit Georg Jellinek (# 80, Anm.) lässt sie sich als Minimalethik verstehen, denn sie regelt nur, was zur Konfliktvermeidung in konkreten Gesellschaften geregelt werden muss. Dies sei gesagt entgegen dem Anspruch einer metaphysischen Begründung sogar für die Moral;⁴⁴ diese hängt mit einem weiteren, hier aber abgelehnten Begriff von Naturrecht zusammen, der über jedes überprüfbare Wissen hinausgeht und die vorliegende Arbeit eher behindern als fördern würde. Es reicht völlig, Moral als Konvention aufzufassen und nicht sie mit Metaphysik absichern zu wollen, wo doch das weit weniger wandelbare Naturrecht, das wir jenseits aller Konventionen suchen, eine solche auch nicht nötig hat, sondern besser auf einer Verhaltenstheorie aufgebaut werden kann (Exkurs 12). So gelten denn im vorliegenden
S.u. Exkurs 13. Diese Unmöglichkeit steht in Zusammenhang mit dem systemimmanent unlösbaren Problem der species entis; s. # 255 zu „Gott ist“. Dies ist – wer’s denn schätzt – eine ontologische Begründung für den Vorbehalt gegenüber dem Gerechtigkeitsbegriff. Taubes, Paulus, Nachwort der Herausgeber S. 171: „Moral lässt sich nur transzendent fundieren, als Verantwortung gegenüber einem außerweltlichen Beobachter und Richter.“ Das sei es, wogegen Friedrich Nietzsche revoltiert habe. Das dürfte stimmen, ist jedoch alles andere als evangelische Theologie. Gibt es in der CA auch nur einen Satz, der die Moral heiligt? – Jedes Gemeinwesen regelt seine Angelegenheiten, und das möglichst einvernehmlich. Ein Verständnis der Moral als Konvention ist m. E. völlig ausreichend.
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Werk Theologie, Recht und Moral als Wissensgebiete, deren jedes für sich besteht und der anderen zu seiner Begründung nicht bedarf. Ethik ist ein Teil der Philosophie, nämlich „praktische“ (handlungsleitende) Philosophie. Es gibt christliche Ethik – um nur, als besonders renommiert, Dietrich Bonhoeffer hierfür zu nennen.⁴⁵ Es gibt aber auch eine von jeder Religion unabhängige Ethik, und zwar schon seit den Ethik-Schriften des Aristoteles. Aber auch Paulus kann sagen: „Prüfet alles, das Gute behaltet!“ (1Thess 5,21).Was gut ist auf der einen Seite, ist es meist auch auf der anderen. Prinzipiell aber gilt: There is no Christian act, but a Christian’s act: Vor Kenntnisnahme der Situation kann nicht gesagt werden, welche Entscheidung die christliche wäre. Ein Christ ist anders – und breiter – motiviert als ein Nichtchrist. Nicht vorformulierte Imperative, sondern Werte⁴⁶ und persönliche Beispiele, deren die Bibel viele bietet, sind christliches Proprium. Gerade in den Texten der Logienquelle (# 1– 20), die weit formuliert sind und unterminologisch, wird davon einiges sichtbar werden. Da im vorliegenden Kommentar viel auf ältere Literatur zurückgegriffen wird, ist auch noch hinzuweisen auf eine Verschiebung im Sprachgebrauch des Deutschen. Was Kant „Moral“ nannte, ist in heutigem Sprachgebrauch „Ethik“. Im Französischen sagt man bis heute moraliste für einen Ethiker (in der Philosophie). Der katholische Sprachgebrauch bevorzugt ohnehin „Moral“ (in „Moralphilosophie“, „Moraltheologie“), was insofern zutrifft, als ein Gesteuertwerden gemeint ist, keine Selbststeuerung. Moral hängt außerdem enger mit Ritual, ja sogar mit Tabus zusammen als das, was hier als „Recht“ definiert wurde. Das was wir „Ethos“ nennen, kommt hingegen mit der Entscheidungsfreiheit überein, ja diese beiden bedingen sich gegenseitig. Auf jener Reflexionsebene schließlich, die wir „Ethik“ nennen und wo Gesinnungsethik heute in Konkurrenz liegt zur Verantwortungsethik, wird letzterer, als der Rechtspflege näher, der Vorzug gegeben werden. Für diese ist niemals im Vorhinein entschieden, welche Verhaltensweisen gut sind, sondern es ergibt sich erst in Bezug auf die Situation, in welcher gehandelt werden soll bzw. muss. Aus den Befunden der Rechtsgeschichte die Texte zu illustrieren, wird ihnen ein anderes Profil geben als die moralische, auf Individualtugenden zielende Betrachtungsweise, die in westlicher Theologie schon ab den Kirchenvätern üblich wurde.⁴⁷ Wird vollends Theologie mit Moral vermengt, entsteht das, was man als „Gesetzlichkeit“ in kirchlicher Verkündigung zu Recht beklagt.
Seine Ethik wurde 1949 postum ediert. Am bekanntesten ist sein Wort von der „teuren Gnade“, welches das Evangelium – hier bes. Mt 5 – 7– an eine Art von Gesetz bindet, „weil sie den Menschen unter das Joch der Nachfolge Jesu Christi zwingt“ (zit. Mt 11,30): D. BONHOEFFER: Nachfolge (1937 u. ö.), 1971, 11.15. Im geisteswissenschaftlichen Sinn, also: Handlungsgesichtspunkte. Leider war kein Kirchenvater, ob griechisch oder lateinisch, Jurist. Augustin, der für den Westen einflussreichste, hatte nach damaligen Begriffen sehr wohl die Befähigung zum Anwalt und hat hohe Ämter ausgeübt, aber nicht das eines Praetors.
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2.3.3 Gesetzlichkeit als Schieflage der Theologie Viel hängt ab von einer klaren Unterscheidung Ethik bzw. Moral und Recht. Unter den großen Theologen hat keiner diesen Unterschied konsequenter gezogen als Martin Luther, und der noch näher vorzustellende Werner Elert (Exkurs 1) hat sie auf die Rechtsgeschichte anzuwenden gelehrt, in Abgrenzung gegen die Kanonistik und gegen begrifflich unscharfe Kompromisshaltungen wie etwa die Melanchthons. Im Gegensatz zu „Legalität“ (Rechtlichkeit) als Verhalten nach dem Gesetz, einem sehr positiven Begriff, meint der Ausdruck „Gesetzlichkeit“ (frz. légalisme, engl. legalism) in der Theologie die Beanspruchung der Bibel oder der Glaubenslehren zur Steuerung fremden Verhaltens. Die Zusagen des Evangeliums werden umgewandelt in Leistungsforderungen oder werden zumindest an solche geknüpft. Die „effektive“ Rechtfertigungslehre Calvins, womit dieser Luther zu übertreffen gedachte (# 262), hat diese Wirkung. Sie ist die Gefahr bes. im „jakobeischen“ Lehrtyp des Christentums (# 363). Aber auch das Matthäusevangelium, das seinerseits an den Forderungen der Tora festhält (wenn auch nicht klar ist, in welchem Umfang) und v. a. auf dem Tun besteht, wenn von einer Gottesbeziehung des Menschen die Rede sein soll (Mt 21,28 – 32),⁴⁸ ist nicht weit davon entfernt. „Gesetzlichkeit“ in Theologie und kirchlicher Verkündigung ist die mangelnde Unterscheidung zwischen Recht und Moral. Auch für das Recht ist es besser, nicht für Moral genommen zu werden. Jene Vermischung von Recht und Moral, die wir eben als „Gesetzlichkeit“ definierten, ist typisch für ein mit der konstantinischen Wende (s.u. C 4.5.1– 2) üblich gewordenes Rechtsdenken, das dem Recht die Aufgabe einer Besserung des Menschen zuwies – als „gefallener“ schien er es ja nötig zu haben. Zu diesem Zweck moralisierte sich in der Spätaufklärung, mehr als je bisher, die Theologie, und es moralisierte sich in Kants Einfluss auch das Recht. Jedoch, die Menschen zu bessern, ist nicht Aufgabe des Rechtes.⁴⁹ Recht hat seinen Zweck schon erfüllt, wenn es dazu dient, Konflikte zu vermeiden oder wenigstens zu entschärfen und Fairness im Widerstreit der Interessen herbeizuführen. Da wo Gesetzgebung mit Moral vermischt und Personen, nicht Verhaltensweisen beurteilt werden, herrscht die als christlich geltende Überzeugung, als müsse oder könne man die Menschen zum Besserwerden zwingen. Dass dies nicht Zweck des Rechts ist, hatte schon Pufendorf deutlich genug gesagt (Eris 360). Es gibt genug Möglichkeiten, Moral zu lehren; es muss nicht gerade über die Zwangsmittel des Staates geschehen. Das
Dies ist die direkte, und wohl auch gewollte, Alternative zum lk. Gleichnis vom Verlorenen Sohn (richtiger: von den ungleichen Söhnen, # 105). Mindestforderung ist die Arbeit „der 12. Stunde“ (# 142 – gemeint ist die letzte Stunde, wo solches noch möglich ist). Sie ist kirchlich akzeptiert worden, zumal wo sie minimalistisch gedeutet wird auf eine Konversion noch zu Lebzeiten. Auch nicht der Politik. Winfried KRETSCHMANN als Ministerpräsident von Baden-Württemberg sagte in Die Zeit 6.10. 2016, S. 7: „Wir sind keine Heiligen und werden es auch dann nicht, wenn man uns dazu machen will. Wir sollten daher das Moralisieren lassen. Anstatt Vorgaben für das gute Leben und die individuelle Lebensgestaltung zu machen, sollten wir uns auf den Kampf für eine gute Ordnung der Dinge konzentrieren.“
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Ethos einer Person, ihre Selbstbestimmung zum Guten, wird nicht oder nur schwerlich aus Zwang erwachsen.⁵⁰ Ein wichtiger Vorzug des Rechts vor der Moral besteht zudem darin, dass es Minderheiten schützt, und zwar auch solche, die von der Moral gerade an den Rand gedrängt werden. Manchmal zieht die Moral dann nach und ändert sich – so geschehen in unseren Tagen z. B. in Fragen des Umgangs der Geschlechter miteinander. Jedenfalls müssen Schutzrechte⁵¹ nicht selten gegen eine zurückgebliebene Moral gesellschaftlich durchgesetzt werden. Pufendorf, Eris 16 sagte schon zu seiner Zeit: Naturrechtliche Überlegungen dürfen herkömmlicher Moral widersprechen, auch wo diese specie religionis, unter dem Anschein (christlicher) Religion vorgetragen wird. Auf einer ganz anderen Ebene liegt demgegenüber die Mitwirkung von Christen und Kirchen bei der Festsetzung dessen, was zwischen den Gliedern einer Gesellschaft legal sein soll: Darüber verständigt man sich unter Gläubigen und Ungläubigen, und die Gläubigen haben dabei den Vorteil eines nur religiös beschreibbaren Gehaltenseins. Daraus kommt u. a. die Freiheit von dem Drang, sich in solchem Tun selbst zu bestätigen. Die Trennlinie zwischen Recht und Moral ist manchmal nur schmal, ja eine Frage des Ausdrucks. Man nehme hierfür, was Römelt, Menschenwürde 159 an protestantischer Ethik beobachtet:⁵² Sie ist die Option für eine Objektivität der Verantwortung des Menschen vor Gott, die der Einzelne in der Auseinandersetzung mit der Geschichte erfassen und über jeden oberflächlichen Halt in Gesetzlichkeit, gesellschaftlichen Tendenzen und menschlichen Rationalisierungen hinaus gemäß seinem Gewissen verwirklichen muss.
Pardon: Jedes „muss“, das keine Alternative benennt, ist gesetzlich. Es hilft nichts, sich von „Gesetzlichkeit“ (was hier aber Legalität meint!) abzugrenzen, wenn man dabei in Gesetzlichkeit verfällt. Genauso pflegt das Lehramt der Katholischen Kirche den Glauben als ein Muss zu verbreiten. Soundsovieles „ist zu glauben“. So war schon das nur im Westen übliche sog. Athanasianische Glaubensbekenntnis gehalten, das Quicunque vult (zitiert auch in der CA: BSLK 28 – 30). Nun ist nicht zu tadeln, dass versucht wird, den Glauben nicht nur subjektiv sein zu lassen und ein menschliches Bedürfnis, sondern ihm auch etwas Objektives beizulegen, so wahr es ja ein Glaube an Gott sein soll. Wie tut es Christian Wolff? Sein Kap. 4 im Jus naturae, betitelt „Von den Pflichten gegenüber Gott und was sich an Rechten daraus Ein Beispiel für das hier Gemeinte, aus dem Talmud genommen, findet sich in # 10 zitiert aus bBM 83a. Ein anderes Beispiel unguter Überlappung von Recht und Moral ist die Gesinnungsjustiz (vgl. # 128). Als klassisch-griechisches Beispiel für ein solches kann die inschriftlich erhaltene Stadtverfassung von Gortyn (Kreta, frühes 5. Jh. v.Chr.) zitiert werden: Gortyn (M. GUARDUCCI/F. HALBHERR [Hg.], Inscriptiones Creticae, Bd. 4, 1950, Nr. 72), wo Strafen bei Vergewaltigung festgesetzt sind (Z. 16 – 20), abgestuft nach Personenstand. Er zitiert hierzu: H. SCHLÖGEL: Nicht moralisch, sondern theologisch. Zum Gewissensverständnis von Gerhard Ebeling (Walberberger Studien, Theol. Reihe, 15), 1992.
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ergibt“, beginnt so (§ 1121): Deus vult ab hominibus coli, „Gott will von den Menschen verehrt werden.“ So ist es objektiv gesagt, bleibt freilich ohne Beweis. In dieser Sache verbietet sich ein solcher. In der nota fügt Wolff dann hinzu: „Wer meint, es komme Gott nicht darauf an, ob er verehrt wird oder nicht, dem mangelt genauere Kenntnis des Gottesdienstes.“ Das ist auch kein Beweis, aber ein Verweis auf Erfahrung: Ein Leben mit Gebet und Gottesdienst hat eine andere Tiefe. Dazu lässt sich einladen, aber nicht drängen. Eine häufige Folge gesetzlicher Predigt ist, dass das Gottesverhältnis verknüpft wird oder gar identisch wird mit dem Wohlverhalten gegenüber menschlichen Erwartungen. Reiche Anschauung liefert gerade auf protestantischer Seite seit Jahrhunderten der Pietismus. Er nennt sich gerne lutherisch, ist aber gerade in seinem Umgang mit Verhaltensregeln, mit biblischen oder angeblich biblischen, das ganze Gegenteil.⁵³ Seine Theoriefeindlichkeit hat das Verhältnis zwischen Kirchen und Jurisprudenz seit der Generation des Thomasius nicht wenig belastet. Schon im Neuen Testament, bes. in dessen späteren Schriften, bringt Gesetzlichkeit streckenweise das zum Verschwinden, was die christliche Freiheit wäre, ja Erlösung, versteht man unter diesem Wort als Lösung von unguten Bindungen in der Vergangenheit (# 61; # 172). Für das Judentum gelten andere Voraussetzungen, und es ist in dieser Hinsicht weniger anfällig gewesen als das Christentum, zumal das zur Staatsreligion gewordene. Wohl ist Judentum eine Gesetzesreligion; dass es hingegen auf Selbsterlösung durch Toragehorsam hinauslaufe,⁵⁴ ist ein ebenso altes wie falsches Vorurteil. „Die Aufnahme mancher G(esetze) – z. B. des auch vom natürlichen Abscheu diktierten Verbots, Reptilien und Kriechtiere zu genießen – bezweckt nur, die für die Erfüllung der G(esetze) Israel verheißene Belohnung zu vermehren“ – so sagte es die Encyclopaedia Judaica 7 (1931) 363 unter Berufung auf mMak. 3,16, den Schlusssatz dieses Traktats. Gesetzlichkeit ist v.a ein Rezeptionsproblem. Imitiertes Judentum – wenn etwa der Klerus nach dem Mosegesetz leben soll, und die Laien so viel wie möglich – führt niemals zu jener christlichen Freiheit, die Paulus meinte und als erster mit dem Namen „Evangelium“ versah (1Thesss 1,5; # 30). Gesetzlichkeit hat Gehorsam zur Folge oder Flucht. Letztere beginnt manchmal schon im System mit einer Kasuistik von Ausnahmen, sei sie mischnaisch, sei sie scholastisch. Man erlaubt sich, was man zu tun gedenkt, auf Umwegen. „Alle Gesetzlichkeit führt zu einem Als-Ob“ (Werner Elert; s. # 269). Moral führt zu ihrer scheinbaren Erfüllung. Das ist bei Ethik anders: Sie befasst sich mit der
In C 4.6.2 wird das Beispiel geboten von einem frommen, dem Namen nach lutherischen Verein, dessen Sabbatobservanz am Sonntag mehr als calvinistisch ist: Selbst das Basteln wird den Kindern verboten. Die „christlichen“ Vorschriften sind zahlreich: kein Tanzenlernen, keine rhythmische Musik machen usw. Hingegen Geldverdienen und schnelle Autos fahren ist von Spener, Francke, Bengel, Wesley, Spurgeon usw. nicht verboten worden. Paul BILLERBECK, der mit seinem Sammelfleiß einem ganzen Jahrhundert den Zugang zu den rabbinischen Schriften eröffnet hat, ist zu Recht getadelt worden für seine im Rückblick getroffene Bezeichnung des Judentums als „eine Religion völligster Selbsterlösung“ (Bill. IV/1, 6).
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Begründung von Handlungsmaximen und mit der Motivation zum Handeln selbst, begnügt sich aber nie mit Ausflüchten.
2.4 Gesetz und Evangelium 2.4.1 Die Frage Die theologische Leserschaft dieses Kommentars wird eine Antwort auf die mit diesem Begriffspaar verbundenen Differenzen innerhalb des Protestantismus erwarten, und diese kann hier durchaus gegeben werden im Rückgriff auf die unter 2.2.2 dargestellten Unterschiede in der Definition von „Gesetz“. Die Streitfrage ist nun schon seit hundert Jahren, ob innerhalb der Bibel Gesetz und Evangelium zwei inhaltlich äquivalente, nur im Ausdruck verschiedene und in sich überführbare Äußerungen Gottes sind – das Evangelium schon „im“ Gesetz (= AT), das Gesetz auch „im“ Evangelium (= NT), wie Karl Barth lehrt –, oder ob das Gesetz der düstere Hintergrund ist, von dem sich das Evangelium leuchtend abhebt, wie lutherische Tradition es hinstellt. Ein Streit um diese Frage ist unentscheidbar, solange nicht vereinbart ist, was in diesem Zusammenhang mit „Gesetz“ gemeint sein soll. Da nämlich liegt der wahre Unterschied.
2.4.2 Die reformierte Antwort Die reformierte Auffassung, derzeit die bekannteste, denkt streng innerbiblisch und hat als „Gesetz“ das des Mose vor Augen und was sonst an normativen Texten in der Bibel beider Testamente enthalten ist. Die lutherische hingegen bezog mit ein, was schon Antike und Mittelalter als lex Dei hatten gelten lassen; das ist außer all dem biblisch Offenbarten eben auch die Summe der Lebensbedingungen, unter denen der Mensch außerhalb des Paradieses auskommen muss, die conditio humana. Verglichen mit den Einzeldefinitionen oben unter 2.2.2, meint reformierte Theologie mit „Gesetz“ die Bedeutungen (b) bis (d), lutherische aber diejenigen von (a) bis (f ) – auch hier, und noch entschiedener, unter Ausschluss von (e), der säkularen Gesetzgebung. Damit wird dieser Streit marginal gegenüber dem Interesse an Rechtgeschichte – auf (e) gerichtet – und überhaupt an Recht im folgenden Kommentar. All das unter Theologen Debattierte mag zwar mit „Gesetz“ zu bezeichnen sein, aber „Recht“ im umfassenden Sinne von ius ist es nicht. Nur für (b), die Tora, ist das anders, weil sie nach jüdischem Verständnis das Gottesrecht des Volkes Israel ist und nach reformiertem auch in der Kirche immer wieder geltend gemacht wird. Hier liegt der Streitpunkt, und aus diesem Grunde wird über die Länge der nächsten Bände die Frage verfolgt werden, was die Tora für die Kirche „aus den Völkern“ zu bedeuten habe. Je klarer man in dieser Frage sieht, umso eher wird sich sagen lassen, was für Christen ein „Gesetz Gottes“ oder ein „Gottesrecht“ sein soll.
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So gestellt, erhält die Frage von reformierter Seite zwei Antworten. Zum einen, so sagt Wilhelm Niesel in Die Theologie Calvins, ⁵⁵ lässt Calvin (den er dabei zitiert) die Redeweise Melanchthons gelten, das Gesetz sei für die Gläubigen aufgehoben, „nicht zwar, daß es ihnen nicht mehr gebiete, was recht ist, sondern daß es ihnen hinfort nicht mehr dasjenige sei, das es ihnen zuvor war, das ist, daß es ihnen die Gewissen nicht mehr mit Schrecken zuschanden mache und sie also verdamme und verderbe“.
Denn die Forderungen der Tora – die Bundesbedingungen, können wir im Blick auf nachmalige Bundestheologie hinzusetzen – sind durch Jesus Christus für uns erfüllt. Dennoch gilt in reformierten Kirchen, dass auch Nichtisraeliten sie zu erfüllen hätten. Darum lautet die andere, gegenläufige Antwort, daß Calvin eine Abschaffung des Gesetzes im strengen Sinne nicht lehrt. (…) Weil er das Gesetz ausschließlich von Christus her versteht, kann von einer Aufhebung des Gesetzes keine Rede sein. Jesus Christus ist die Seele des Gesetzes. Darum sind wir von dem Fluch und dem Zwang des Gesetzes, seinen Zeremonien und politischen Satzungen befreit, darum bleiben wir aber auch an die Lehre des Gesetzes gebunden.
Das entscheidende Stichwort hier ist „Lehre des Gesetzes“. Das meint, blickt man in die dogmatische Literatur oder in die Predigten, zeitgemäße Abwandlungen biblischer Imperative, denn (so argumentiert auch der Katholizismus): „Der Grund der Regeln, die dem Volke Israel für sein politisches Leben gegeben wurden, ist unvergänglich.“ Niesel, den wir hier nochmals zitierten, sagt letzteres gemäß Calvins Institutio 4,20,15. Dort lesen wir, die lex moralis bestehe in zwei Hauptteilen, „deren eines schlicht gebietet, Gott mit reinem Glauben und in reiner Frömmigkeit zu verehren, und das andere, den Menschen in ehrlicher Zuneigung zu begegnen“ – Jesu Doppelgebot der Liebe (Mk 12; # 69). Damit werden Glaube und Frömmigkeit unter „Moral“ subsumiert – die oben (2.3.3) problematisierte Schieflage, zumal wenn Moral zugleich gesellschaftlich definiert wird. Den daraus entstehenden „Calvinischen Aktivismus“ gibt Niesel durchaus zu und umrankt ihn mit schönen Worten (94). Luthertum und Calvinismus, können wir sagen, verhalten sich in mancher Hinsicht zueinander wie vita contemplativa und vita activa – wobei freilich die Berufsethik auf der lutherischen Seite ebenso stark ausgeprägt ist wie das Gebet, zumal das freie, auf der reformierten. Typisch jedenfalls ist Karl Barths Umkehrung der Formel „Gesetz und Evangelium“ in „Evangelium und Gesetz“: Der „Zuspruch“ des Evangeliums habe in den „Anspruch“ einer im Namen Christi erhobenen Forderung zu münden – lex divina also; ihr Sprecher im Alten Testament sind Mose und die Propheten, im Neuen Testament ist es Christus. Da wird eine Epochengrenze ignoriert, die im Neuen Testament schon so alt ist wie das Q-Wort Lk 16,16 (# 18).
W. NIESEL: Die Theologie Calvins (1934), 1957, 94, nachstehend: 96.97, mit ständigen Zitaten aus Calvins Schriften.
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2.4.3 Die lutherische Antwort Werner Elert, „Gesetz und Evangelium“ lehnt ein Ineinander von Gesetz und Evangelium ab: „Das Gesetz verheißt die Gnade [der Gottesbeziehung, der Sündenvergebung] den Gerechten, die es erfüllt haben, das Evangelium Sündern, die es nicht erfüllt haben“ (54). Das ist im Sinne des obigen Melanchthon-Zitates gesagt, bleibt aber auch in dessen Grenzen und lässt nicht Christus einen Gebieter sein, wie einst Mose war. Was man als „Gesetz“ bietet, sagt Elert dann weiter, macht aus der Bibel noch einmal „das Buch von Lohn und Strafe“; ja schlimmer: „Das Gesetz der Vergeltung ist Gottesgesetz im strengsten Sinne“ (ebd.). So steht es ja schon im Dekalog (Ex 20,5; Dtn 5,9; vgl. Ex 34,7; Num 14,18). Vgl. noch unten, Exkurs 1. Wenn andrerseits der Dekalog durch seinen Eröffnungssatz „Ich bin JHWH, dein Gott…“ (Ex 20,2 = Dtn 5,6) das „Urevangelium“ sein soll, wie auch auf lutherischer Seite betont wird, der Verweis nämlich auf geleistete Hilfe, anschließend zu verstärken durch die Zusage weiterer Hilfe, bleibt zu klären, inwieweit in einer den Ge- und Verboten ähnlichen Weise das Neue Testament das Begonnene fortsetzt, oder ob es nicht vielmehr anders verfährt. Die Antwort wird sein, dass Imperative des Neuen Testaments nur eine situations- und zeitgemäße Ergänzung und Veranschaulichlung dessen sind, was dieses „Testament“ (nunmehr im Wortsinn) als Gabe, erworben durch Jesu Tod, anbietet. Dies ist nicht die einzige Antwort, die seitens christlicher Kirchen auf diese Frage gegeben wird, aber sie zählt hier zu den theoretischen Grundlagen. Auch wer sie nicht teilt, wird doch von den gebotenen Materialien zehren können. Man kann den Wert der nächsten Bände auch allein in ihren Zitaten sehen, die anderswo in dieser Fülle und Ordnung nicht greifbar sind. Wenigstens eine Interpretation aber wird durchgehend angeboten, und wenigstens diese wird sich theologisch orientieren an CA 16 (de rebus civilibus) einerseits und CA 28 (de potestate ecclesiastica) andererseits; das sind die klassischen Formulierungen der Zwei-Reiche-Lehre.
2.5 Weitere Definitionen Ehe noch einiges Weitere aus der Sprache der Theologie erläutert werden soll, ist vorab Stellung zu nehmen zu dem recht unterschiedlich-wertigen Begriff „Religion“, „religiös“. Bekanntlich wollte Karl Barth Christentum etwas Anderes sein lassen als eine Religion, und schon Dietrich Bonhoeffer stellte sich auf eine künftig unreligiöse Welt ein. Nach Barths Römerbrief, 1. Aufl. 1919, 401 steht Religion in der Gefahr, dass der Name Gottes missbraucht wird „zur Durchführung und Krönung dessen, was die Menschen von sich aus begannen“.⁵⁶ Zu sehr vermochte Religion – gerade in Deutschland – staatlichen
Hier befindet er sich mit den alten Römern in guter Gesellschaft: Lukrez 5,101 schließt seine Invektive auf römischen Volksglauben mit einem Tantum relligio potuit suadere malorum (relligio metrisch mit zwei l).
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Zwecken dienstbar zu sein. In KD I/2 (1945) wiederholt Barth ganz grundsätzlich und ohne Zeitbezug die These: „Religion ist Unglaube“ (327). Die Überschrift dafür lautet: „Gottes Offenbarung als Aufhebung der Religion“. – Nichtsdestoweniger folgt noch im selben Band (357) die These: „Die christliche Religion ist die wahre Religion“. Wohl in Antwort darauf sagte Elert wenig später: „Ein schriftwidriger Irrtum (…) war es, mit der zweifellos richtig bezeugten Singularität des in Christus gesprochenen Gotteswortes auch seine Exklusivität zu behaupten“ („Gesetz und Evangelium“ 52). Singularität, aber nicht Exklusivität – das war bereits 1948 Elerts Antwort auf die Herausforderung einer Pluralität von Religionen. Als Definition für den kommenden Kommentar mag dienen: Religion besteht darin, zu Gott als dem Ursprung aller Dinge – den kann, muss man aber nicht personalisieren – eine Beziehung zu unterhalten.⁵⁷ Deren Formen, zugleich gemeinschaftsbildend unter den Kultteilnehmern, sind die Riten. Riten können etwas Exklusives an sich haben⁵⁸ und sind jedenfalls nicht alle unter sich verträglich (s. 1Kor 8 und 10 zur Frage des Götzenopferfleischs); die Ebene der gedanklichen Voraussetzungen jedoch liegt höher (Apg 17; # 224).
2.5.1 Konfessionelle Unterschiede in der Rechtsbegründung Das, was sich in der deutschsprachigen Literatur „evangelisch“ nennt, kann, inhaltlich gesehen, lutherisch geprägt sein oder reformiert im Sinne Zwinglis, Calvins, des Heidelberger Katechismus oder anderer, sich häufig neu bildender Richtungen. Historisches hierzu s. unter dem Stichwort „Bekenntnis“ in # 251. Seit dem 18. Jh. haben sich diese Unterschiede zwar abgeschliffen, sind aber auf manchen Gebieten, nicht selten ohne Wissen der juristischen Autoren, für Theologen noch kenntlich und sind auch relevant für ein genaueres Verständnis der Positionen. Insbesondere ist der Rückgriff auf Texte der Bibel unterschiedlich, angefangen von der Gewichtung des Alten Testaments gegenüber dem Neuen. Auch wirkt die religiöse Prägung interesselenkend: Es ist kein Zufall, dass das Genossenschaftsrecht im Bereich der reformierten Kirche besonders bearbeitet worden ist (Otto v. Gierke), das Stif-
R. BULTMANN: Marburger Predigten, 1956 (1968), 3 (zu Apg 17; # 223): „Die Religion ist der Versuch, der Angst vor den dunklen Mächten, die den Menschen aus Natur und Schicksal und aus dem eigenen Wesen begegnen, Herr zu werden; diese Mächte gleichsam zu bannen, dadurch, daß man sie im Bilde darstellt, daß man sie sich bekannt und vertraut macht und mit ihnen einen geregelten Verkehr einrichtet, so wie man mit anderen Menschen verkehrt.“ – Inzwischen weicht diese Angst vor dunklen Mächten mehr und mehr der Angst der Menschen vor ihren eigenen Möglichkeiten und deren Missbrauch, was aber einer Religion aus Verehrung, wie sie schon unsere Naturrechtler kennzeichnet, nicht im Wege steht. Stephen HAWKING hat Dollarmillionen investieren lassen, um Echos des Urknalls feststellbar zu machen. Der Neurologe Valentin BRAITENBACH sagte von sich, er verkehre mit Gott durch das Mikroskop. Pagane Beispiele hierfür aus inschriftlich erhaltenen Kultordnungen bietet Ascough, „Voluntary Associations“ 173 f.
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tungsrecht aber im Bereich der lutherischen Kirche (Hans Liermann):⁵⁹ Der einen ist die Kirche ein Zusammenschluss Gleichgesinnter, der anderen aber eine Stiftung. Gerade in Rechtsfragen sind die beiden protestantischen Konfessionen verschieden, auch seit sie sich hierzulande zusammengefunden haben zu einer „Evangelischen Kirche in Deutschland“. Dies ist ein 1948 gegründeter Kirchenverbund, heute eingebettet in die Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE). Dieser hatte sich in der 1973 geschlossenen Leuenberger Konkordie ein gemeinsames Lehrdokument gegeben, welches die Zusammenarbeit ermöglicht unter Absehung von allen noch bestehenden Lehrunterschieden. Da – anders als im Katholizismus – sich damit keine Machtansprüche verbinden, werden sie nicht mehr als kirchentrennend empfunden. Im Inneren hat man sich also juristisch „verglichen“ (angeglichen); nach außen können die Positionen indes recht verschieden sein. Angriffe auf den autonomen Menschen, wie sie in protestantischer Theologie des 20. Jh. weithin üblich waren und noch sind,⁶⁰ können im Luthertum unterbleiben auf denjenigen Gebieten, wo Luther den Menschen – das meint dann auch die Gesellschaft – autonom sein lässt. Das vorliegende Werk greift zurück auf das von den Vertretern der Wittenberger Reformation auf dem Reichstag zu Augsburg 1530 vorgetragene Bekenntnis, die Confessio Augustana,⁶¹ Art. 16, und insbesondere auf ihren letzten und ausführlichsten Artikel (CA 28): Dieser bietet die Zwei-Reiche-Lehre, wonach der Anspruch der Kirchen auf Autorität und Mitwirkung klare Grenzen hat (# 280), innerhalb dieser aber auch frei ist von Maßgaben von außen. Das ius in sacra (# 362) ist dabei gewahrt; die Kirche beansprucht aber kein Mitspracherecht in säkularen Dingen. Damit darf nach gebührendem Zeitabstand von den Blamagen des 20. Jh. die kleinlaut oder gar stumm gewordene lutherische Theologie an einer Stelle, die man ihr bisher nicht zutraute, ihr Klärungspotenzial erweisen. Wir verstehen hierbei unter „lutherisch“ das, was Autor/-innen wie Werner ELERT (s. Exkurs 1), und Dorothee SÖLLE, systematische Theologin und Publizistin, gemeinsam haben. Politisch mögen diese beiden um Welten getrennt sein, stilistisch auch; ihre theologische Basis aber ist dieselbe. Der Gott, von dem Nietzsche, pietismusgeschädigt und von großer Begeisterung ins Nichts gefallen, sich lossagte, von dem hat auch Sölle sich losgesagt⁶² – nachdem Elert
Dazu vgl. Elert, Morphologie II 432 f. Ein Beispiel unter vielen: 4.8.3 Anm. 344. Sie wird meist in ihrer lateinischen Fassung zitiert. Die beim ursprünglichen Anlass 1530 verlesene deutsche Übersetzung war (zeitbedingt) sprachlich unbeholfen; die Lehrbildung seither orientierte sich an der damals zugleich überreichten, klareren lateinischen Fassung. Zitiert wird in eigener Übersetzung nach der Ausgabe BSLK (Lit.-verz. 8.1.1), deren Zähleinteilung, auch die Seitenzahlen, sich in der Neuedition von Irene Dingel wiederfinden. Die deutsche Fassung wird in einer (bis auf die Umlaute) modernisierten Schreibweise zitiert und kommentiert bei Asmussen, Warum 31– 317, mit Hinweis auf evtl. interessante Textdivergenzen. In ihrem Manifest Stellvertretung. Ein Kapitel Theologie nach dem ,Tode Gottes‘ (1965) steht letzteres wohlweislich in Anführungzeichen. Nietzsche ist gemeint, und es wird akzeptiert, dass der Gott, von dem er sich losgesagt hat, tatsächlich tot ist und nicht etwa, wie das Johannesevangelium sagt, Leben bringt. Evangelium – so Elert – ist nicht Weltanschauung (wie man im 19. Jh. sagte) und nicht Moral; es ist
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in seinem (für verloren erklärten) Kampf um das Christentum diesem Gottesbild, gemischt aus Wunschgedanken und Machtgelüst, längst die Grabrede gehalten hatte. Beide pflegen sie eine „von unten“ kommende, nicht an der Herrschaft Christi, sondern an seinem Dienst ausgerichtete Theologie. Nur mit einem Wort sei hinzugesetzt, dass die im Luthertum manchmal starke Aversion gegen alles Jüdische – man war und ist gegen Außenlenkung durch Vorschriften auf religiösem Gebiet – politisch verheerend wirkte, aber nicht zu den Glaubenslehren gehörte; die Amtskirchen haben ihr längst ihre Absage erteilt. Luthers Antijudaismus in seinen Spätschriften ist keine Folge seiner Theologie, sondern seiner Emotionen. Das gleiche gilt schon für Paulus in seinem heute nur noch zu bedauernden Pauschalurteil von 1Thess 2,15. Die seit der zweiten Hälfte des 20. Jh. geübte Buße kann an der Vergangenheit nichts wieder gut machen; sie wird hier aber nicht bis dahin gesteigert werden, dass alles Jüdische nunmehr als Vorbild gilt. Von jedem Nationalismus als solchem sollten wir genesen sein. Doch weiter zu konfessionellen Unterschieden: Das Wort „protestantisch“ wurde gebildet, um Anhänger aller Arten von Reformation zusammenzufassen – so geschehen beim Westfälischen Frieden von 1648 (# 251). Im deutschen Sprachgebrauch meint „evangelisch“ nach wie vor eher die lutherische Option.⁶³ Die reformierte kann von Luthers Ansichten über das Verhältnis von Kirche und Säkulargesellschaft und damit von der Rechtsbegründung erheblich abweichen. Aber auch von eigenen Vorgaben weicht sie gerne ab; so ist Calvins Lehre von der doppelten Prädestination, deren Durchsetzung einst bis zu Todesurteilen ging (4.3), im Heidelberger Katechismus schon nicht mehr enthalten, und Karl Barth hat sie mit Verweis darauf fallen lassen (Die christliche Lehre 19). Die Säkularität des Rechts und die Autonomie menschlicher Gesellschaften im Setzen eigener Dekaloge, nämlich Verfassungen, sind eine Errungenschaft der Neuzeit, die – auch wenn sich viel kirchlicher Widerstand ihnen entgegenstellte – nur aufgrund lutherischer Theologie legitim sein konnte (s.u. C 4.6.1; 4.7.2– 3). Die Verdächtigung des autonomen Menschen als gottlos, derethalben die Kirchen im 18.–20. Jh. mehrheitlich auf Konfrontation zur Aufklärung gingen, war, folgt man Pufendorf, im Gespräch über das Recht verfehlt. Mit der damaligen, von Barth erneuerten Verdächtigung jedes Humanismus als menschlicher „Selbstmächtigkeit“ und damit Sünde verdarb sich der Freiheit von weltlichen Bindungen. Selbst aus Pfarrhäusern, die sich lutherisch nannten (Nietzsche kommt aus einem solchen), hatte der Pietismus die evangelische Freiheit verbannt. Das Evangelium war Gesetz geworden – Gesetz von einer Sorte, wie Nietzsches Anti-Moral es zu Recht ablehnt.Vgl.W. SCHRÖDER: „Umwertung aller Werte“, HWP 11, 105 – 107, bes. 107, wo immerhin ein jüdisch-christlicher Impuls zu solcher Kühnheit anerkannt wird, der Ersatz einer „Sklavenmoral“ durch eine „Herrenmoral“ sich allerdings als Absage an ebendiese Tradition erweist. Der von Nietzsche vorausgesagte letzte Tag des Christentums, der 30.9.1888, ist darüber ereignislos verstrichen. Das Englische hat leider nur evangelical, was „evangelikal“ meint, fundamentalistisch, und im Französischen vollends ist église évangelique eine Bezeichnung für Evangelisationskampagnen freikirchlicher Art. Für „evangelisch“ im Sinne Luthers muss man sagen: luthérien, Lutheran, sofern protestant nicht ausreicht.
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Protestantismus seine Einflusschancen. Das gilt auch für den Versuch, sich auf den Begriff eines ius divinum einzulassen. Die CA hatte diesen nur für kirchliche, nicht für weltliche Tätigkeiten gekannt.
2.5.2 Göttliches Recht? Der Begriff eines „göttlichen“ Rechts (ius divinum), der in katholischer Theologie stets beansprucht wird und in reformierter Theologie immer wieder, ist von Luther auf politischem, auch gesellschaftspolitischem Gebiet abgelehnt worden. Vom Ursprung her gesehen, als Wortbildung, ist er ohnehin nicht biblisch. Ist er denn auch theologisch sinnvoll? Es wäre ein Eigentor des Biblizismus, wollte er sich für die Frage nach „göttlichem“ Recht auf das berufen, was in deutschen Bibeln – der Zürcher wie der Luthers – als „Gottes Recht“ wörtlich vorkommt: Es ist die eine Stelle Röm 1,32. Dort steht im Urtext genauer: to dikaiōma tou theou, „der Rechtsanspruch Gottes“.⁶⁴ Man mag dies sogar als die stärkere Formulierung empfinden gegenüber der Adjektivfügung „göttliches Recht“, doch ist gerade hier ein Todesurteil zu lesen über ein menschliches Verhalten – Sexualverhalten (# 264) –, wie es heute innerhalb protestantischer Kirchen nur noch der Fundamentalismus unter Gottes Zorn stellt. Der Begriff ius divinum ist eine von der Bibel unabhängige Neubildung, entstanden im Zuge christlicher Auslegung des Alten Testaments. Ältester Beleg ist nach der hier konsultierten Literatur eine Bemerkung des Bischofs Zeno v. Verona (4. Jh.) über Abrahams Bereitschaft, Isaak zu opfern (Gen 22,1– 19): „Der keiner Bindung durch die Lex [Tora] unterlag, hat jedes göttliche Recht beispielhaft befolgt“.⁶⁵ – Schulbildend wirkte aber erst der Bischof Ivo v. Chartres (gest. 1116, nicht identisch mit dem Juristen und Heiligen Ivo, dem Bretonen) mit seiner Unterscheidung zwischen ius divinum und ius humanum ecclesiasticum (Link, KRG § 5,15). Die Kanonistik (= Rechtslehre der Römisch-Katholischen Kirche) hat seither eine feste Terminologie. Diese unterscheidet: ius divinum (göttliches Recht, unwandelbar) von ius ecclesiasticum (Kirchenrecht, nach den Umständen ausgerichtet)
und im Bereich des ersteren wiederum:
Dazu s. # 264. Die Vulgata sagt weniger spezifisch: iustitia Dei. Griechisch steht die gleiche Formulierung nochmals in Röm 8,4 (# 275) in aporetischem Zusammenhang; die Übersetzungen weichen Paulus’ Formulierung bereits auf. Tract. 2,10,4 (MPL 11,420 B): qui nullo iure legis tenebatur, omne ius divinum praecipue custodivit. Hier steht ius für das, was das Griechische der Septuaginta wie des NT mit dikaiōma belegt: „Rechtsforderung“ (# 275).Was Gott in der – für Abraham in der Zukunft liegenden – Tora noch nicht gefordert hatte, ja nicht einmal fordern würde, erfüllt dieser beispielhafte Gerechte im Voraus.
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ius divinum positivum (Offenbarungsrecht) von ius divinum naturale (Naturrecht).⁶⁶
Ersteres zumindest gilt als unwandelbar. – Protestantischerseits findet sich in der RGG(3), Bd. 3, Sp. 1074 f ein kurzer Artikel „ius divinum“ von Erik WOLF. Dort macht der zweite Satz schon stutzig: Gottes Recht auf den Menschen bedeutet mittelbar i(us) d(ivinum), sofern es im Gesetz (lex Mosis) Rechtspflichten begründet, die (in der Kirche) gegen Gott zu erfüllen sind; im Gebot Christi werden sie zu Forderungen (…) –
Theologisch fragt sich hier: Was begründet dieses „(in der Kirche)“, und warum steht es in Klammern? Ist gemeint, dass das Mosegesetz in der Kirche zu erfüllen sei? Der Umstand, dass Jesus wie auch all jene Christen, die selbst Israeliten waren, von Geburt ans Mosegesetz gebunden waren,⁶⁷ besagt noch nicht, dass Nichtisraeliten damals oder heute an das Mosegesetz gebunden seien.Was Jesusworte betrifft, die aus dessen eigener Autorität heraus formuliert sind, so mildert Wolf selbst deren auf reformierter Seite beliebtes Geltendmachen als „biblische Rechtssätze“ ab: Nicht „Rechtssätze“ seien sie, sondern „Rechtsgrundsätze“; er sagt auch: „Leitgedanken“.⁶⁸ Wir werden solche Leitgedanken als Werte bezeichnen, ihre imperativische Form aber situationsbedingt sein lassen und nicht verrechtlichen. Anderwärts sagt Wolf es so: Christus habe „grundsätzliche Weisungen für das Rechtsleben erteilt“. Maurer, KuR 31 Anm. 9, der dies aus Wolfs Rechtsgedanke und biblische Weisung 36 zitiert, hält dagegen: „Das Hören seines Wortes ist ein völlig rechtsfreier Vorgang (…). Das Kirchenrecht hat nur subsidiär damit zu tun.“ Erik Wolf verlangt ein „tätig gehorchendes Hören“; dieses sei eine lex Christi. Jedoch, dem Neuen Testament ohne hermeneutische Vermittlung Vorschriften zu entnehmen, hieße den Unterschied der Zeiten und Gesellschaften zu ignorieren. Und vor allem: Gebote sind noch kein Recht. Mögen sich ihrer auch viele in einem Textcorpus finden lassen, so bilden sie doch noch kein System. Ein solches meinte man zwar im Pentateuch bereits zu finden und aus den übrigen Schriften der Hebräischen Bibel und denen der Rabbinen vervollständigen zu können –
M. GRAULICH: „Das ius divinum im Decretum Gratiani – ein Wegweiser“ in: ders./Weimann, Ewige Ordnung 116 – 129 (dazu s.u.). – Liermann, „Zur Geschichte“ (bes. 298.313) findet diese Auffassung von Naturrecht als einem zugleich göttlichen (ius divinum), das zu seinem vollen Verständnis der Offenbarung bedarf, von den Kirchenvätern bis in seine Zeit als einheitsbildende Grundlage hinter allen Ausprägungen. Der durchaus lutherischen Säkularität eines Samuel Pufendorf und seiner Schule wird er damit nicht gerecht. Es entspricht einem viel neueren, liberalisierten Verständnis von Judentum, wenn v. Daniels, Rel. Recht 28 (vgl. 31) sagt: „Es gibt keinen äußeren Zwang, Subjekt des jüdischen Rechts zu sein.“ In der Antike war das anders. Zitiert bei Herr, Naturrecht I 83 (vgl. 153 – 158) aus Erik WOLF: Rechtsgedanke und biblische Weisung, 1948, mit der Kritik: Trotz gegenteiligen Anspruchs weiß dieses Buch keine „verpflichtenden Normen aus der Offenbarung zu füllen“. Nicht anders ist lt. Herr 165 – 178 der Befund bei Emil Brunners „Versuch (…), ein biblisch qualifiziertes Naturrecht vorzulegen“.
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so John SELDEN, Anglikaner und Zeitgenosse Pufendorfs, dessen De iure naturali et gentium iuxta disciplinam Iudaeorum (1640) zugleich eine Naturrechtslehre sein sollte. Was er dabei übersieht bzw. überspielt: Hauptzweck der Tora war die Abgrenzung des Volkes Israel gegen die übrige Welt. Erst gewisse Prophetensprüche sehen eine ökumenische Öffnung vor. Grundsatz aber bleibt Num 23,9: „Siehe, das Volk wird abgesondert wohnen und sich nicht unter die Heiden rechnen.“ Demgegenüber ist die Kirche mit einer anderen Sendung angetreten. Die Bibel des Alten Testaments ist von vornherein ungeeignet, ein Gottesrecht für alle Völker herzugeben. Und wenn man das Neue Testament hinzunimmt? Der Versuch ist gemacht worden in allen größeren Kirchen des Ostens und des Westens. Auch die RGG(4) enthält wieder einen Eintrag Ius divinum (Dietrich PIRSON): Dieser differenziert, ohne Mose noch zu erwähnen, archaische von kirchlichen Vorstellungen, welche rasch auf Kanonistik bzw. Kirchenrecht hinauslaufen. Dazu bemerkt er, reformierte Theologie habe „die Frage nach einer vom biblischen Befund her gebotenen Verfassung der Kirche bes. dringlich gemacht“, und: mitunter werde „eine Kontinuität zu einer überzeitlichen Gottesherrschaft angenommen.“ Bei Reformierten wie Althusius war es sogar mehr als das (s.u. C 4.6.2); doch wird sich im vorliegenden Werk theologisch erweisen, was Eckert und Hattenhauer, Bibel und Recht (6) historisch feststellen: Die Bibel war keine unmittelbar geltende Rechtsquelle, kein Gesetzbuch wie Koran und Mosaisches Recht. Sie hat vielmehr als Grundlage und Motivation den theologisch-anthropologischen Rahmen des Rechts geliefert und in dieser Hinsicht ungeheuer wichtige Wirkungen auf das Recht gehabt, trat aber im europäischen Recht nicht mit unmittelbarem und absolutem Rechtsgeltungsanspruch auf.
Immerhin steckt auch in unseren heutigen Gesetzen viel unerkanntes Christentum, und wir werden dem nachgehen. Zurückhaltend blieb der kirchliche Einfluss von protestantischer Seite, während der katholische gut wahrnehmbar war. Er geschah vor allem im Namen des Naturrechts,⁶⁹ etwa bei Johannes MESSNER. Eckert/Hattenhauer weiter (7): Die Theologie forderte, die Jurisprudenz definierte das Recht – die Bibel predigte und das Recht verwirklichte die eine Gerechtigkeit, welche vor Gott und Menschen gelten mußte.
Da nun das Naturrecht nach römisch-katholischer Auffassung Forderungen Gottes an die Menschen ausdrückt, war der begriffliche Unterschied zwischen Gottes- und Naturrecht für die Praxis anscheinend ohne Bedeutung. Damit aber verwischte sich, was Luther als „zwei Reiche“ (Regimente, Regierweisen) unterschieden hatte.
Beispiele dafür gibt Mikat, RRS 222.645. Im Ahlener Programm der CDU von 1947 kommt die „Sozialbindung des Eigentums“ (nachmals Art. 14 II und III GG) aus dieser Richtung, wohingegen die dort erklärte Absicht, zwischen Kapitalismus und Marxismus ein Drittes zu finden, utopisch blieb. Die Bezeichnung dieses Dritten als „Sozialismus“ (so nicht im Programm) blieb der protestantischen Seite eigen, z. B. bei Helmut GOLLWITZER, vorher schon bei Paul TILLICH und noch früher bei Leonhard RAGAZ, womit diese wiederum ins Abseits geriet.
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Im Katholizismus umfasst der Ausdruck „göttliches Recht“ traditionell v. a. vier Dinge: den „Primat des Papstes, die apostolische Sukzession, die Unterscheidung zwischen Klerus und Laien und das Eherecht“ (Hübner, „Recht“ 215).⁷⁰ Details dazu s. Exkurs 7. Auf evangelischer, zumal auf lutherischer Seite hingegen gilt: Göttlichen Rechts ist allein der Auftrag zur Evangeliumsverkündigung, zur Reichung der Sakramente und zur Handhabung der Schlüsselgewalt und daraus resultierend die Einsetzung des Predigtamtes.
So Hübner a.a.O., in Übereinstimmung mit CA 28,21, wo die Aufgabe und die „Macht“ der Bischöfe so bestimmt wird: Ihnen ist anvertraut der Dienst des Wortes und der Sakramente, Sünden zu vergeben, Lehren zu verwerfen, die dem Evangelium zuwider stehen, und Frevler (impios), deren Frevel (impietas) bekannt ist, auszuschließen aus der Gemeinschaft der Kirche – ohne menschliche Gewalt, sondern (nur) mit dem Wort (non vi humana, sed verbo).
In diesem Zusammenhang gebraucht dann auch die CA zweimal den Ausdruck ius divinum: im oberen Kontext ablehnend, was bischöfliche Gerichtsbarkeit in weltlichen Dingen betrifft, dann aber (28,22) positiv, indem sie fortfährt: Hier müssen notwendigerweise und nach göttlichem Recht (de iure divino) die Gemeinden (ecclesiae) ihnen Gehorsam erweisen, gemäß jenem (Jesuswort [# 43]): „Wer euch hört, hört mich“.
Außerhalb des Geltungsbereichs des CIC, in Parlamentsdebatten und angesichts von Regierungsentscheiden, ist das Geltendmachen römisch-katholischer Naturrechtspositionen indes stets hörbar gewesen und war mitunter durchaus wirkungsvoll. Der Einspruch gegen die sog. Euthanasie in der NS-Zeit hat der Römisch-Katholischen Kirche Ehre gemacht. Ihr Einspruch gegen assistierte Zeugung und assistiertes Sterben (das meint medizinische Assistenz) in unseren Tagen ist umstrittener und wird vielfach nicht als angemessen empfunden. Vereinzelt ist auch auf anderen Bereichen von einem „göttlichen Recht“ die Rede, etwa im Dialog westlicher Demokratien mit islamischen Staaten oder im Dialog beider mit dem „jüdischen Staat“ Israel. Der dabei gelegentlich angedeutete Gottesbezug verdeckt mehr, als er aussagt. Ein beredtes Beispiel liefert malgré elle Piattelli, „Il vincolo verso il divino. Fondamento della teocrazia d’Israele“ (s. Lit.-verz., 8.3). Nach einer Skizze der israelitischen, jüdischen und nunmehr israelischen Rechtgeschichte – die eigentlich nur eine Pflichtengeschichte ist⁷¹ – zitiert sie die wichtigsten Ausgangsdokumente der israelischen Autonomie seit 1948, die sich stets zu „Gleichheit, Freiheit, Gerechtigkeit“ bekennen im Sinne der UNO-Menschenrechtsdeklaration, daneben aber sich auf die
S. hier # 136; # 349; # 361. So 342: Gottesrecht in dieser Tradition sind nur Pflichten. Ein Recht i. e.S. ist es demnach nicht. Zu den Pflichten – wie anschließend zu lesen ist (344), kommen die Verheißungen hinzu.
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Propheten Israels berufen. Bekanntlich haben diese selten etwas Günstiges für andere Völker verlauten lassen.Von einem „jüdischen Staat“ ist in diesen Exzerpten keine Rede, und eine konfliktträchtige Problematik bleibt verdeckt.⁷² Was soll man hier für göttliches Recht ansehen: die liberalen Grundsatzerklärungen, so wie sie zitiert werden, oder die Praxis der Diskriminierung nichtjüdischer Bevölkerungsteile und der Okkupation nichtjüdisch bewohnter Gebiete? Am Ende des Artikels wird ein weiterer Dialog der Gesellschaften empfohlenen; doch wagt die Autorin nicht, ihm die Frage aufzugeben, was hier göttliches Recht sein soll. So wird es denn besser sein, sie fallen zu lassen. Ein säkulares Pendant zu all diesen Arten von „göttlichem“ Recht ist „das“ Sittengesetz – so, singularisch und ohne weitere Qualifizierung, z. B. in Art. 2 I GG in Anspruch genommen. Die Freiheit des Einzelnen wird dort garantiert, aber auch begrenzt, „soweit sie nicht gegen die [d. h. diese, die im GG vorgelegte] verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt“. Welches Gesetz ist da gemeint, und gibt es das als Text? Die Auffassungen sind hier geteilt. Fabian Wittreck als Verfassungsrechtler weist nach,⁷³ dass die Autoren dieser Formulierung etwas wie Sittlichkeit im Allgemeinen, eine Art gesamtgesellschaftlichen Gewissens gedacht haben (das kann auch die herrschende Meinung der jeweiligen Mehrheit in der Gesellschaft sein), und etwas Absolutes kann es nur im Bewusstsein derer gewesen sein, die dabei die katholische Morallehre im Sinn hatten. Oder aber, als Protestanten oder zumindest als aufgeschlossene Leser Kants, dachten sie an den Kategorischen Imperativ (s.u. C 4.7.6). Dieser freilich hat, so wenig wie die Zweite Tafel der Zehn Gebote, Verbotscharakter; vielmehr ist es eine Regel der Motivation zum Guten. Begrenzend wirken kann er nur, indem er solche Handlungsziele, die nicht verallgemeinerungsfähig sind auf die gesamte Gesellschaft, für illegitim erklärt. Dieser Hinweis mag genügen, um für die folgenden Untersuchungen solch vage Formeln wie „das Sittengesetz“ nicht mehr in Anspruch zu nehmen. Der eine Text, den wir dafür haben, der kürzeste zugleich, ist der von Kant; doch geht das Grundgesetz gerade nicht von dessen Unterscheidung von „Legalität“ und „Moralität“ aus. So haben denn Bodo Pieroth und Bernhard Schlink aus protestantischer Sicht heraus den Vorschlag gemacht, das „Sittengesetz“ in der verfassungsmäßigen Ordnung aufgehen zu lassen.⁷⁴ Eine übermenschliche Perfektion kann dieser dann freilich nicht zugetraut werden, sondern sie bleibt darauf angewiesen, den sich ändernden Erfordernissen der Zeit und den sich schärfenden Einsichten angepasst zu werden.⁷⁵
Dazu Josef JOFFE, Die Zeit 2.7. 2020, S. 1b: „Israel kann nicht sowohl ein jüdischer als auch ein demokratischer Staat bleiben. Entweder haben alle die gleichen Rechte, oder das Land zerfällt in Bürger erster und zweiter Klasse.“ Wittreck, „Jesus Christus oder Immanuel Kant“ 23 f. Ebd. 24 mit Verweis auf B. PIEROTH/B. SCHLINK: Grundrechte. Staatsrecht II, 25. Aufl. 2009, Rdz. 411 ff. In gleichem Sinn sagt Wittreck (31) über die Balance zwischen christlicher Prägung und kantischer Philosophie im GG: Ein Konflikt wäre das nur, „wenn man beide Traditionen nicht als mögliches kritisches Korrektiv oder als ideengeschichtliche Erweiterung des Horizonts heranzieht, sondern sie als verbindliche Interpretationsmaximen etabliert.“
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2.5.3 Die Zwei-Reiche-Lehre und die Weltlichkeit des Rechts Erneut im Gespräch⁷⁶ ist heute wieder die in CA 16 ausgesprochene und in CA 28,12– 19 zum Thema des Bischofsamts näher explizierte Unterscheidung der beiden „Reiche“ oder besser „Regimente“ (Regierweisen, regimina; CA: potestates) Gottes in dieser Welt. Sie dient dem vorliegenden Werk als theoretische Grundlage, anders als die von Luther später noch entwickelte, von den Naturrechtslehrern aber mit gutem Grund nicht aufgenommene Lehre von den drei Hierarchien (nämlich Staat, Kirche und Familie in ihrem Verhältnis zueinander), die nur einer veralteten Soziologie dienen könnte, nicht einer entwicklungsoffenen Jurisprudenz. Die neutestamentliche Grundlage der Zwei-Reiche-Lehre bei Paulus wird in # 280 (zu Röm 13) darzulegen sein. Sie besagt: Geistlich ist nur der Dienst Christi an der Welt, wie ihn die Kirche in „Wort der Vergebung“ (2Kor 5; # 309) ausrichtet, und der dadurch motivierte Liebesdienst. In Erweiterung des letzteren kann man hinzusagen: Gesetzgebung ist auch eine Form von Liebe (# 3). Im Sinne moderner Demokratien sollte das nicht im Sinne der Herablassung, sondern im Sinne einer Dienstleistung verstanden werden. Jede Wahrnehmung eines ehrlichen Berufs (vgl. 1Kor 7; # 291) ist bei Luther Gottes Regiment „zur Linken“, sein indirektes Handeln: Es dient der Erhaltung der Welt und der Menschen, wie Gott der Schöpfer sie jedenfalls will. Doch hat hierzu der Mensch sich seiner eigenen Mittel zu bedienen, und darum gilt Luther das Recht als weltlich.⁷⁷ Was Gott der Erlöser den Menschen sagt und Gott der Heilige Geist sie annehmen lässt, kreuzt sich nicht mit dem Fachwissen – in Exkurs 10 werden wir sagen: dem Erfahrungswissen – der Menschen. Martin Luther hat, konsequenter als Melanchthon, auf den Begriff eines „göttlichen“ Rechts verzichtet. Im Neuen Testament – das war seine Entdeckung am Römerbrief – sind Gottes Rechtsforderungen an Israel bzw. an die Menschheit nicht mehr strafbewehrt. Gott hat seinen Sohn vorgreifend bereits verurteilt (Röm 8,3 f; # 275); er hat das Gericht über uns Sünder an Jesus, dem Unschuldigen, vollziehen lassen. Damit ergibt sich ein ganz anderes Verhältnis zwischen Bibel und Recht, auch zwischen dem Herrsein Gottes über die Welt – bzw. Christi über die Kirche – und dem Herrschen und den Befugnissen irdischer Institutionen (# 6). Umso freier ist man dann auch, nach „natürlichem“ Recht zu fragen, welches insofern – aber nur insofern – göttlich ist, als die zu erforschende, uns belehrende Natur Gottes Schöpfung ist. Aus dem ius divinum naturale der Tradition (s.u. C 4.5.4) wird in der Naturrechtslehre Pufendorfs ein ius naturale als Explikation der Bedürfnisse des gott-
Und erneut umstritten: S. z. B. Johannes FISCHER: „Aus dem Geist des Glaubens und der Liebe“, FAZ 26. 5. 2017, 13 (eine Replik auf Heinrich BEDFORD-STROHMs Plädoyer für„öffentliche Theologie“). Die Frage ist, ob die Kirche vom Evangelium her ein allgemeinpolitisches Mandat hat. Dietrich BONHOEFFER wird dafür zitiert, hat das aber nicht gemeint. Paulus selbst können wir dazu nicht mehr befragen, rechnen aber i.S.v. Röm 13,7 (# 282) mit seiner Zustimmung.
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geschaffenen Menschen, ein humanum. Das aber geschieht in voller Wahrnehmung „evangelischer“ Freiheit. Das Recht muss den Menschen nicht verbessern; das Gutsein wird ihm von Gott geschenkt (Rechtfertigungslehre, # 262). Umso freier ist er, seine Belange in der Horizontalen selbst zu regeln (so auch # 287 u. ö.). „Das Leben ist nicht bloß Gnade, die irgendjemand irgendjemandem gewährt“, sagt Hans LEYENDECKER,⁷⁸ ExKatholik und ab 2019 Präsident des Deutschen Evangelischen Kirchentags; er widerspricht damit einer „vertikalen“ Frömmigkeit des Abhängigseins. Für konkrete Gesellschaftspolitik nämlich gilt: „Das wäre zu wenig. Menschen haben Rechte, für die es sich einzusetzen lohnt.“ Dies ist – für die evangelische Seite ungewohnt – eine Position des Naturrechts. Wollte man hingegen die Rechtspflege als Gnade auffassen, hätte man sich noch nicht gelöst von der archaischen Auffassung vom Recht als Privileg, das gegeben oder vorenthalten werden kann. Die Autonomie der menschlichen Vernunft in Dingen der Politik war von niemandem klarer gelehrt worden als von Luther.⁷⁹ Das ist vom konfessionellen Luthertum der Folgezeit verdeckt worden, und es wurde erfolgreich bestritten, ja bekämpft vom Pietismus.⁸⁰ Noch heute steht in protestantischer Theologie der autonome Mensch unter Verdacht.⁸¹ Luthers Auffassung von weltlichen Tätigkeiten impliziert hingegen überhaupt keine Warnung vor dem Gebrauch der Vernunft; vielmehr ermutigt sie zu Entscheidungen, auch wo der Christ nicht sicher sein kann, wie richtig sie sind (pecca fortiter!). Als Menschen, die ihren Selbstwert nicht erst aus ihrem Erfolg beziehen, sondern ihn schon aus dem Evangelium haben, sind sie freier von der Rücksicht auf sich selbst als andere. Das Engagement in der Gesellschaft muss ihnen keine Selbstbestätigung sein und weder ihnen noch anderen das Heil bringen; es kann aus der geschenkten Bestätigung, der Rechtfertigung heraus umso zwangfreier gestaltet werden. – Den Vertretern der Zwei-Reiche-Lehre ist oft vorgeworfen worden, sie entzögen sich der politischen Verantwortung und ließen den Staat machen, was er will. So passt es in der Tat auf viele Lutheraner der katastrophalen 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts – und wäre es nur, weil sie Anhalt bei Luther suchten, ihn aber nicht fanden und dem Zug der Zeit folgend, auf einen geschichtsphilosophisch gefassten Begriff von „Wille Gottes“ hinauswollten:⁸² Ein solcher sollte an den Ereignissen ablesbar oder wenigstens er-
Christ und Welt 27.9. 2018, S. 3a. – Papst Franziskus hatte das Jahr 2016 zum „Jahr der Gnade“ ausgerufen. Diesem Nachweis gilt Siegert, Luther und das Recht, mit einer Sammlung einschlägiger Äußerungen Luthers auf S. 73 – 158. Und zwar in seiner intoleranten Phase, wie sie unter August Hermann Francke begann. Pufendorf und Spener hatten sich noch gegenseitig geschätzt; Christian Wolff hingegen bekam unter Francke und den Hallenser Begriffen von Christentum und Bekehrung zu leiden (s.u. C 4.7.4). S.u. 4.8.2, Anm. 344. Dies offensichtlich im Gefolge Hegels, dessen Geschichtsmetaphysik bekanntlich zu mehr als einer Ideologie den Anlass gegeben hat. Popularisiert wurde sie in Oswald SPENGLERs bis heute nachgedrucktem Untergang des Abendlandes (1919 u. ö.) mit seinen aufsehenerregenden Prognosen. Unter denen, die davor zu warnen suchten, ist Merz, „Glaube und Politik“ 251: Luther habe klar gesehen, „daß wir Politik, d. h. tätige Teilnahme an den Geschicken dieser Welt, nicht üben können von einer Deutung der Geschichte
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ahnbar sein – und diese haben dem als „positives Christentum“ sich bezeichnenden, zu Wundern sich erbietenden⁸³ Nationalsozialismus auf tragische Weise recht gegeben. Der Sinn der Zwei-Reiche-Lehre, derethalben sie hier rehabilitiert zu werden verdient, liegt woanders: Sie ist die Beanspruchung eines gewaltfreien Raumes für die Kirche. Das meint die inneren Verhältnisse der Kirche bzw. der Kirchen ebenso sehr wie die äußeren Bedingungen ihres Bestehens und Wirkens, an denen sie immerhin mitgestalten dürfen.
2.5.4 Keine Rechtstheologie, keine Politische Theologie Vonseiten reformierter Theologie wird die Bibel gern beansprucht für direkte Antworten auf Fragen der Politik und des Rechts. Überblicke über das, was als „Rechtstheologie“ in der Nachkriegszeit von evangelischer Seite dem Naturrecht und kanonischen Recht des Katholizismus entgegengehalten wurde, haben Wilhelm STEINMÜLLER (Evangelische Rechtstheologie, 1966) als Jurist und Theodor HERR (Zur Frage nach dem Naturrecht im deutschen Protestantismus der Gegenwart, 1972) als katholischer Moraltheologe gegeben, letzterer mit einer Rückverlängerung der Fragestellung bis ins Neue Testament (Naturrecht aus der kritischen Sicht des Neuen Testamentes, 1976). Der EKD-Jurist Hans DOMBOIS hat drei Bände geschrieben, betitelt Das Recht der Gnade. Ökumenisches Kirchenrecht, 1961 (1969).1974.1983, worüber Steinmüller, Rechtstheologie II ausführlich referiert.⁸⁴ „Recht der Gnade“ meint hier, wie bei Johannes Heckel (s. Exkurs 16), das aus Gnade kommende Recht der Kirche. Mit Hans Leyendeckers Einspruch im Ohr, präzisieren wir: Kirchliches Recht sollte die im Evangelium angebotene Gnade Gottes – keine selbsterfundene – in kirchliche Verhaltensregeln umsetzen. Dennoch bleibt diese Auffassung von Recht bedenklich. Doch wie dem sei, Hilfen für besseres Verständnis des Neuen Testaments sind aus diesen Bemühungen nicht erwachsen, allenfalls aus der Arbeit von Herr, einem Vertreter der katholischen „Bibelbewegung“ zur Zeit des Zweiten Vaticanums (so er selbst, II 273). Sein Forschungsgebiet, um dessentwillen er auch die evangelische Exegese aufnimmt, ist neutestamentliche Moral vor dem Hintergrund antiken Naturrechtsdenkens.
aus, auch nicht von einer frommen Deutung“. Positiv hatte er dem freilich nichts entgegenzusetzen; die Rede von „Gottes Reich“ und „Gottes Gericht“ blieb vage. Man war sich in Theologenkreisen nicht bewusst, wieweit die sog. Schöpfungsordnungen Gesellschaftsordnungen sind, mithin eine Gestaltungsaufgabe. Im Parteiprogramm der NSDAP von 24. 2.1920 sagt Art. 24: „Die Partei als solche vertritt den Standpunkt eines positiven Christentums, ohne sich konfessionell an ein bestimmtes Bekenntnis zu binden“. Den „Glauben, der Berge versetzt,“ beanspruchte sie für sich selbst. – Im selben Programm übrigens, Art. 19, findet sich das Vorurteil gegen das „der materialistischen Weltordnung dienende römische Recht“, welches durch ein „deutsches Gemeinrecht“ zu ersetzen sei. Die Bände von Dombois haben keinen Bibelstellenindex. Ersatzweise hierfür ist das Register bei Steinmüller durchgeprüft worden, damit möglichst keine der in der in dieser Literatur befindlichen Anregungen verloren geht.
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A. Einleitung
Als Katholik möchte er einer „natürlichen Ethik“ (ebd. 116) biblische Verstärkung geben. Auch bei ihm kommt also nur ein kleiner Ausschnitt der neutestamentlichen Rechtsfragen in den Blick. Wenn trotz allen Interesses an Rechtstheologie von all ihren Vertretern bisher kein Rechtsgeschichtlicher Kommentar zum neuen Testament zustande gebracht worden ist, nicht einmal ein Pendant zu Dieter Nörrs Aufsätzen, die schon die richtigen Fragen stellten und auf das Material hinwiesen, dürfte das seine Gründe haben in der gedanklichen Ausrichtung auf Theokratie. Auf katholischer wie auf protestantischer (inhaltlich meint das: reformierter) Seite wäre ein an Rechtsfragen orientierter Bibelkommentar der Erwartung ausgesetzt gewesen, dass sich Gottesrecht daraus begründen müsste. Für die Kirche hat man, wie gesagt, Rechtsmaximen aus der Bibel gewonnen, wenn auch keine allseits überzeugenden. Doch reichen die Ansprüche des römisch-katholischen Naturrechts weiter, ins gesellschaftliche Leben hinein, und da gab es, wo Protestanten mitmachten, mehr große Worte als konkrete Vorschläge (s.u. C 4.8.2– 3). Was es gar nicht gibt und auch künftig nicht geben wird, ist eine lutherische Rechtstheologie. Gerade das aber ist von Vorteil. Luthers Ansatz bei den beiden Reichen (Regimenten) ist bestens geeignet zu einem vorurteilsfreien und unbefangenen Umgang mit Rechtsfragen sowohl in der Bibel wie auch in konkreter gesellschaftlicher Praxis. Sie kennt keine offenbarten Imperative, auch keine Ableitungen aus solchen, sondern hält sich innerhalb der Grenzen dessen, was aus Sündenvergebung heraus evangelische Freiheit ist. Was politische Theologie betrifft, wonach auf jüdischer wie christlicher Seite offenbar ein Verlangen besteht, doch wiederum nicht im Luthtertum, so sind im Laufe des 20. Jahrhunderts allerlei Versuche gemacht worden, das Wort „Theokratie“, das keinen guten Klang mehr hat, zu ersetzen durch diesen Begriff. Als Name für eine Richtung in der Philosophie wird er auch mit groß-P geschrieben (Lit.-verz. 8.3). In den 30-er wie auch wieder in den 60-er Jahren hat der berühmt-berüchtigte Jurist Carl SCHMITT diesen Ausdruck für sein Programm gebraucht. Einen Einblick in die damit verbundene Diskussion geben die Exkurse 5, 15 und 16. Sie ist – mit Recht wohl – abgeflaut. Parallel zu diesem Bemühen sind Karl BARTH und seine Schule (bes. Erik WOLF seit 1948, Jacques ELLUL, Günther HARDER)⁸⁵ hervorgetreten mit der Proklamation bzw. Forderung einer „Christokratie“ für die gesamte Gesellschaft.⁸⁶ Dies ist ein Wort, das in den
Letzterer in „Die Christusbotschaft und das Recht“ (s. Lit.-verz., 7.2.2). Dort wird „ein eigenständiges Recht der Kirchen“ befürwortet, wie es ja in zahlreichen Grundordnungen auf Johannes Heckels Spuren Form annahm; dann aber werden Stellen wie 1Kor 1,25 und 3,19, wo Paulus die „Weisheit dieser Welt“ von der Gotteserkenntnis in Christus disqualifiziert, missverstanden und missbraucht als Abqualifizierung menschlich-vernünftiger Rechtserkenntnis. Erik WOLF: „Die Königsherrschaft Christi und der Staat“ in: W. SCHMAUCH/ders.: Königsherrschaft Christi (ThExH.NF 64), 1958 (1968), 20 – 61, auf Stellen der ’kosmischen Christologie’ wie Eph 1,19 – 22 beruhend. Bei ihm ist zunächst v. a. an die Pfarrerschaft gedacht als eine an die biblischen Weisungen besonders gebundene „Bruderschaft“ – in Verlängerung des Anliegens der Bekennenden Kirche, die aus einem „Pfarrernotbund“ hervorgegangen war, also einer Sache des damals noch rein männlichen Klerus.
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ersten Auflagen des Evangelischen Staatslexikons noch häufig zu finden ist, aber nirgends in einer Weise präzisiert wird, dass ein Gesetzgeber oder Richter sich daran orientieren könnte. Auch dieser Begriff, um den es schon wieder still geworden ist, hat nichts für die Erschließung des Neuen Testaments Relevantes ausgetragen. Überlegungen dieser Art, die nun schon weit zurückreichen, sind in der westlichen Welt unterschwellig wirksam, auch wenn ihr Ursprung in unterschiedlicher Rezeption der Bibel kaum jemandem bewusst ist. Insbesondere das angelsächsische Recht hat sich unter starkem Einfluss des Alten Testaments und sogar des Talmuds entwickelt; es blieb denn auch ähnlich unsystematisch wie beide.⁸⁷ Kontinentales und darum auch deutsches Recht hat sich stärker an das römische angelehnt, zusätzlich zu all den eigenen, weltlichen Traditionen. Die Freiheit dazu gab Luther. Das kanonische Recht behielt Vorbildcharakter v. a. als Prozessrecht, also in Verfahrensfragen, die schon dort römisch, nicht biblisch behandelt wurden. Angelsächsisches Recht ist übrigens auch moralischer als das römische – so lobt es Justus VON DANIELS – ,⁸⁸ aber ist das ein Vorteil? Ist die Orientierung eines Gemeinwesens einfach nur die Vergrößerung dessen, was für die Einzelnen gilt?
In englischer Literatur ist seit dem 17. Jh. das Interesse an biblischem und eben auch rabbinischem Recht offenkundig, insbes. in den Arbeiten von John SELDEN (s.o. 2.5.2), während Judaisten des deutschen Sprachraums wie Johannes BUXTORF (Vater und Sohn) eher philologisch-bibelexegetisch orientiert waren. Auch ist in der hier besonders berücksichtigten lutherischen Tradition das Naturrecht nie mit der Tora oder mit Offenbarung verbunden worden. V. Daniels, Rel. Recht empfiehlt, ein „Zusammenfallen von Recht und Moral (…) als Ausdruck einer umfassenden Lebensordnung“ (ebd. 223). Dieser Versuch, Religion, Moral und Recht miteinander zu verklammern, lässt ungeklärt, ob jene Lebensordnung eine „Schöpfungsordnung“ sein soll (dazu vgl. # 263; # 266) oder etwas in gesellschaftlichem Konsens Bestimmtes. Dinge wie das Völkerrecht, die in der Tora überhaupt keine Verankerung haben, bleiben außer Betracht.
3 Charakteristika des römischen Rechts Ehe von jüdischem Recht unter verschiedenen Aspekten die Rede sein soll (B 1– 3; C 4.1– 3),¹ wird eine kurze Charakterisierung des römischen Rechts dienlich sein, insbesondere was seinen Unterschied zu jeder Art von biblischem Recht betrifft. Es sind diese: ‒ Das römische Recht hat Autoren; ‒ es beruht nicht auf Lohn und Strafe, sondern auf dem Vertrag; ‒ es ist nicht person-, sondern sachbezogen; ‒ es ist wandelbar, es geht auf die sich wandelnden Zeitumstände ein.
3.1 Ursprünge und Allgemeines In der Antike ist das römische Recht ein Spätling; es hat nämlich seine Anfänge in der Geschichte. Sowohl Gaius, sein erster Lehrbuchautor, wie auch der noch noch etwas ältere Plutarch berichten darüber. Noch tausend Jahre nach den Anfängen Roms erinnert die Einleitung der Digesten (Pomponius D. 1,2,2– 4) daran, dass zu Beginn der römischen civitas deren Könige es waren, die Gesetze erließen. Diese leges regiae (dazu s. # 2, Exkurs, und Verweise) seien aber außer Gebrauch gekommen (exoleverunt, vgl. # 252), und man habe publica autoritate, also durch Beschluss des populus (das meint die wehrfähigen freien Männer Roms) eine Zehnerkommission (decemviri) eingesetzt, die zunächst in griechischen Stadtrepubliken sich über die dort eingeführten Bestimmungen informierte² und sodann, nach einer ersten Publikation auf zehn „elfenbeinernen“ Tafeln,³ die bekannten Zwölf Tafeln aus Erz auf dem Forum aufstellen ließ. Die Namen dieser zehn Männer sind noch bekannt (Diodorus Siculus 12,23,1). Von da an walteten demokratische Prozeduren bei der Absprache und Abstimmung von Rechten; s.u. 3.2.1 zu den Komitien = Bürgerversammlungen. Der Begriff lex war im republikanischen Rom freilich noch nicht das, was das klassische römische Recht mit diesem Ausdruck meint; es waren Beschlüsse (so wie die consulta des Senats auch nur Ratschläge, damit aber auch Berechtigungen). Erst durch häufige Anwendung wurde geltendes Recht daraus – solange nicht nach neuer Beratung und Abstimmung eine neue Regel sich durchsetzte. Die Digesten Justinians, in ihrer Endfassung in Kraft gesetzt 533
Eine kurze Übersicht über Entstehung und Quellen des jüdischen Rechts aus der Feder eines Juristen ist Armgardt, „Die Bedeutung“ (Lit.-verz. 3.1) 40 – 44. Pomponius D. 1,2,2,3 f (lat. u. dt. bei Wesel, Geschichte des Rechts 158 f ), ein Vorgang um 450 v.Chr. Aus I. 1,2,2– 4 erfahren wir dazu: Athen und Sparta interessierten besonders. Pomponius seinerseits nennt als wichtigsten Ideengeber einen gewissen Hermodorus aus Ephesus. Er hatte ins Exil gehen müssen (nach Italien), weil er den Ephesiern zu klug war: so Cicero, Tusc. 5,105. Das Wort eboreas bei Pomponius D. 1,2,2,4 lässt Fragen offen (Text korrekt?); vielleicht ist nur die Farbe von Elfenbein gemeint. https://doi.org/10.1515/9783110658347-004
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(Kunkel/Sch., RRG 211 f ), haben alles bis dahin Bewährte, thematisch gegliedert und nach Bedarf modernisiert, in 50 Büchern festgehalten; was daneben erhalten blieb, ist vergleichsweise wenig (s.u. C 4.3.5; 4.4.2– 3). Zur Terminologie der römischen Gesetzgebung s.u. B 5 (Martin Schermaier) sowie # 18 und vor # 252. Der chronologische Rahmen, den es für unsere Zwecke zu beachten gilt, wird von Bernard Jackson („Roman influence“ 173) so skizziert: Das letzte Jahrhundert des Second Jewish Commonwealth [= der Zeit des Zweiten Tempels] entspricht dem ersten Jahrhundert des römischen Prinzipats. Die Zeit der Tannaiten [der ersten Rabbinen] in Judäa entspricht dem, was Romanisten [Erforscher des römischen Rechts] die klassische Periode des römischen Rechts nennen – eine Periode mit einigermaßen klaren und stabilen politischen Verhältnissen in Rom (bis zum frühen 3. Jh.), während derer die Hauptaktivität in der Ausbildung des römischen Rechts in den Schriften der klassischen Juristen besteht. Von diesen, auch das sei bemerkt, kamen einige aus den Provinzen, so etwa Ulpian, der so überaus häufig Genannte in Justinians Digesten (redigiert im 6. Jh.) (…), der aus Tyrus kam.
Die damit umrissene klassische Epoche des römischen Rechts – auch Pufendorf bereits nennt sie so (Eris 165 f ) – ist in ihrer ersten Hälfte zugleich die Entstehungszeit des Neuen Testaments; das war eine „Achsenzeit“ in mehrerer Hinsicht. – Nun zu den Besonderheiten des römischen Rechts: 3.1.1 Das römische Recht hat Autoren. Hier kommt nichts von den Göttern,⁴ höchstens von den Griechen. Gaius 1,1– 8: Es sind die Gesetze des römischen Volkes, erlassen von dessen Organen. Als wichtigster Ideengeber für die Zwölf Tafeln wird Hermodorus aus Ephesus, ein Exulant in Italien, genannt (oben Anm. 2.) –Wann und wie hingegen im Judentum die Tora sich durchgesetzt hat, ist weitaus weniger klar. Zu denken ist an die Zeit nach dem Babylonischen Exil, mit welcher das Judentum (so benannt in Abgrenzung gegen das alte Israel) sich seine Verfassung gab; der diesbezügliche Bericht Neh 8 – 10 ist aber durchzogen von Unklarheiten und von Wunschdenken in Bezug auf kommende Zeiten. Manches an der Tora kam nie in Kraft (s. # 40 zum Erlassjahr und # 171 zu den Todessstrafen). Erwähnt sei noch als indirekte Rechtsbegründung die bei Gaius 1,1 und in den Digesten immer wieder begegnende Bezugnahme auf ein ius gentium, ein allen Völkern (Gesellschaften) ungefähr und ähnlich bekanntes Recht (s.u., Exkurs 8). Nicht wenige Juristen kamen damals aus der Provinz, um nur Gaius zu nennen (von dem keine drei Namen, sondern nur dieser bekannt ist): Er schrieb in 30 Büchern einen Kommentar Ad edictum provinciale und nur eines Ad edictum praetoris urbani. 3.1.2 Das römische Recht beruht nicht auf Lohn und Strafe, sondern auf der Pflicht und dem Vertrag. Das ist umso bemerkenswerter, als es Verträge in jüdischem Recht nicht gibt; die Hebräische Bibel kennt allenfalls Verträge mit Ausländern (# 113). Dementsprechend ist in römischem Recht nicht das Strafrecht, sondern das Privatrecht
Außer dass das Naturrecht nach I. 1,2,11 divinā quadam providentiā entstanden ist. – Über Gesetzgebungsmythen und Rechtstheologie im Orient s. # 2, Exkurs.
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zentral.⁵ Gerichte sind weniger Strafinstanzen im Spannungsfeld zwischen Staatsmacht und Privatperson (vertikal) als vielmehr Streitschlichter zwischen Privatpersonen (horizontal). Das Wort actio (verkürzt aus actio in ius „Rechtsbeanspruchung“) meint die Anstrengung eines Zivilprozesses, juristendeutsch: die Klage,⁶ ein Grundbegriff, „denn das römische Recht drückte die Verpflichtungen der Rechtsteilnehmer untereinander stets als Klagemöglichkeit aus“ (Becker, „Sytembildung“ 22). Einen Prozess kann man gewinnen oder verlieren und muss im letzteren Fall Ausgleich leisten; doch versteht sich letzteres nicht als Strafe und nicht als Erziehungsmaßnahme, sondern als Herstellung des guten Friedens. Ebenso hat die Rechtsfindung (oder -begründung) wenig zu tun mit Erziehung (das war Platons Meinung in den Nomoi), umso mehr aber mit Lebensweisheit⁷ und mit Diplomatie.⁸ Zu der strengen Sachlichkeit des römischen Rechts gehört auch ein steigender Grad an Abstraktion. Grundform der Rechtssätze ist ja, wie gesagt, nicht das Gebot oder das Verbot, sondern es ist die Verpflichtung von A gegenüber B, wie sie sowohl willentlich wie nichtwillentlich durch das Verhalten erzeugt werden kann. Gewollte Verpflichtungen sind Verträge, nicht gewollte sind solche Situationen, wo man nach Maßgabe der Rechtsordnung Schäden beheben oder Ausgleich (nicht Sühne) leisten muss. 3.1.3 Das römische Recht ist nicht person-, sondern sachbezogen. Eine rasch sich differenzierende Fachsprache unterschied und benannte in steigender Zahl die „judiziablen“ Tatbestände. Die Bewertung von Personen und ihrem Charakter⁹ unterblieb zugunsten einer genauen Erfassung des Tatbestandes. Das was schon die Griechen als to krinomenon bezeichnet hatten, der Prozessgegenstand, wird von Cicero, Orator 126
So kann denn die hier maßgebliche Überblicksdarstellung des römischen Rechts, das Werk von Kaser/ Knütel/Lohsse (K/K/L), den Titel Römisches Privatrecht tragen. Dieses blieb die Achse der Jurisprudenz bis einschließlich zu den hier eingearbeiteten Naturrechtswerken des 17. und 18. Jh. – Wenn beim späten Kant die Waage umschlägt und das Rechtsdenken sich an der Strafe orientiert (s.u. C 4.7.6), geschieht dies offenbar unter biblischem Einfluss. Schon die Lex Dei quam praecepit ad Moysen (sog. Collatio, C 4.3.5) beginnt mit dem Strafrecht. In der Philologie, auch der biblischen, ist „Klage“ etwas völlig anderes, nämlich Wehklage. Holzhauer, „Natur“ 9: „Rechtsfindung volllzieht sich (…) auf jeder Stufe, auf der ein Spielraum auszufüllen ist, und zwar von den Senaten der höheren Gerichte bis zu den Kammern der Landgerichte in Richterkollegien. Die Meinungsbildung im Kollegkum kann streitig verlaufen, nicht in einem Rechts-, sondern in einem Meinungsstreit, der mit Argumenten geführt wird.“ Das gilt umso mehr von der Rechtssetzung in Parlamenten. Das insbesondere, wenn Rechte in Absprache mit den daran Interessierten festgelegt werden, etwa zwischen Kirche und Staat. Mikat, RRS 531: „Selbstverständlich setzt das Zusammenwirken von Kirche und Staat ein Intersse auf beiden Seiten voraus“ (usw., zit. in # 124). Das hat Rhetoren nicht gehindert, auch auf diesem Gebiet zu glänzen, so wie heute noch im USamerikanischen Strafrecht üblich. Für den Praetor wie für den Richter aber war die Aufgabe: Sachlichkeit. Der Artikel von H. DOMBOIS: „Historisch-kritische Theologie, Recht und Kirchenrecht“ in Hesse u. a., Staatsverfassung 287– 307 würdigt, wie das römische Recht die Sachlichkeit von Rechtsgeschäften von ihrer anfänglichen Personbezogenheit zu lösen vermochte. Gerechtigkeit war und ist bis heute die Gleichbehandlung gleicher Fälle.
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A. Einleitung
umschrieben als das, in quo certamen est controversiae, und in seinen Topica 95 findet sich die seither gebräuchliche Übersetzung, die auch Gaius übernimmt: qua de re agitur. Sie wurde obligatorischer Bestandteil für Prozessformeln, belegt auch in Papyri (in Judäa: C 4.4.1). In Rom war die typische Aufgabe eines Praetors – in den Provinzen des Gouverneurs oder eines hohen Offiziers –, die Prozesseinleitung: Bürgern bzw. Provinzialen, die sich bei ihm beschwerten und einen Gerichtsentscheid begehrten, wurde auf ihre Worte hin der Konfliktkern so benannt, dass er judiziabel war. Der Fachmann formulierte den Prozessgegenstand, die iudicii quaestio, gr. to krinomenon, wofür ihm fertige Begriffe zur Verfügung standen, und machte daraus eine Entscheidungsfrage für den anschließend zu beauftragenden Richter, einen Laien. Traditionell-römische Prozesse waren also zweiteilig.¹⁰ Die Ermittlung des Tatbestandes (die quaestio facti)¹¹ und die Entscheidung des Streits war dann Sache dieses iudex; das war damals kein Beruf, sondern ein Ehrenamt (# 108). 3.1.4 Das römische Recht ist wandelbar. Von Anfang an war man sich in Rom bewusst, dass Gesetze veralten. Livius 3,31,7 schildert den oben skizzierten Entstehungsvorgang so: „Infolge der Abschaffung eines Gesetzes, das nach seiner Veröffentlichung veraltet war (abiecta lege, quae promulgata consenuerat)“, entschloss man sich zu einer Neufassung und schickte Gesandtschaften nach Griechenland, bes. Athen (ebd. 3,31,8), um dortige Gesetze, bes. die Solons, aufzuschreiben (describere). Dieser Vorgang sei – so 3,32,6 – der Anfang schriftlicher Gesetze für Rom gewesen. – Diodorus Siculus 1,77.79.94 weiß seinerseits zu berichten, dass Solon sich Auskünfte über ägyptische Rechtspflege eingeholt hatte. Seit Pharao Psammetich hatte das Land sich Gästen – Kaufleuten wie Bildungsreisenden – geöffnet (1,67,9). So hat diese Rechtssetzung also eine breite empirische Basis. Was die damit erreichte Säkularität des Rechtes betrifft, die erst in der Wittenberger Reformation (C 4.6.1) für das Abendland wieder in Geltung kam, kann man hinzusetzen: Jene zehn Männer haben im rechten Moment gefragt. Ältere Auffassungen waren auch in Griechenland anders gewesen, weit weniger flexibel. Im Judentum galt die Tora für erhaben über jede Verbesserung (# 18, Exkurs und Verweise); die Rabbinen haben sich daran abgearbeitet und konnten vieles einfach nur einklammern (z. B. # 53). Die Sicht von innen nach außen ist hingegen in der Hebräischen Bibel eine ganz andere: Der Erzähler von Dan 6,9.13.16 macht sich lustig über ein „Gesetz (dat)¹² der Meder und Perser, das nicht geändert werden kann“. Ob es das je gab
Und nicht erst sie: Das inschriftlich erhaltene Stadtrecht von Gortyn (Kreta, 5. Jh. v.Chr.) hatte das auch: Selb, Antike Rechte 94. Genau genommen ein neulateinischer Ausdruck. Er beruht aber auf dem „Quaestions-“ (Ermittlungs‐) Verfahren schon des repubikanischen Rom; s.u. 3.2.1. „Gesetz“ und „Verordnung“ gehen in der Sprache damaliger Zeiten noch durcheinander (wie im republikanischen Rom lex). An den Septuaginta-Äquivalenten zu Dan 6,9.13.16 sieht man übrigens, dass dieser polemische Zug erst in die überarbeitete Fassung dieses Buches hineingekommen ist. Der LXX-Text hat ihn noch nicht, erst der sog. Theodotion-Text (dogma zweimal, in V. 16 dann stasis neben dem Verbum
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in dem hier verdeckt attackierten Seleukidenreich, sei dahingestellt. Bei den Römern jedenfalls war es anders; dort war die Möglichkeit grundsätzlich offen, Gesetze zu innovieren; ja, der Antragsteller einer neuen Bestimmung, wo sie denn in Geltung kam, wurde geradezu belohnt durch die Benennung des Gesetzes mit seinem Namen – für die Antike eine Form von Unsterblichkeit.¹³ Die Bestimmung des prätorischen, also von den Praetoren in Rom bzw. den Provinzchefs zu deklarierenden Rechts war sodann, das althergebrachte Civilrecht (dazu gleich 3.2.1) „zu unterstützen oder zu ergänzen oder zu korrigieren“ (Papinian D. 1,1,7,1: iuvare, supplere, corrigere). Was davon überlebt war, wurde entweder ausdrücklich aufgehoben oder einfach nicht weiter tradiert. Eine Jurisprudenz, wie die Römer sie unter solchen Voraussetzungen entwickelten, kannten die Griechen zwar noch nicht und es gab bei ihnen auch späterhin keine Berufsjuristen, wohl aber „[e]ine hoch entwickelte Rechtsphilosophie. Und sie sind es gewesen, die das Recht von der Religion getrennt und die Legalität erfunden haben, die Bindung des Richters an das Gesetz, das an die Stelle der Götter getreten ist“ (Wesel, GRE 44).
3.2 Die Entwicklungsphasen des römischen Rechts 3.2.1 Aus der Republik kennen wir in Zitaten noch das Zwölf-Tafel-Gesetz, sowohl Zivilwie Strafrecht¹⁴ enthaltend, mit dem Prozessrecht gleich auf Tafel 1,¹⁵ sowie die leges des römischen Volkes, wie sie auf den comitia („Zusammenkünften“)¹⁶ erlassen wurden, von verschiedener Tragweite. Hinzu kommen Senatsbeschlüsse (senatus consulta) und die von der nichtsenatorischen und nichtadligen Bürgerschaft gefassten plebiscita. Dies alles bildet zusammen mit dem überlieferten, damals noch stark ritualisierten Brauchtum¹⁷ das ius civile (Civilrecht, mit C), welches beides umfasst, Zivilrecht (bürgerliches Recht, Privatrecht) in unserem Sinne und Strafrecht. Das Nebeneinander dieser beiden Wörter mit C und mit Z könnte verwirren; doch galt das Civilrecht nur für die Bürger der Stadtrepublik Rom und für römische Bürger auswärts, sofern diese es von den Behörden begehrten; ein Zivilrecht hingegen gibt es auch in Judäa. Derlei ist im
stēnai) und der ihm entsprechende MT hat ihn. Das ergibt eine Datierung in weit nachpersische, nämlich bereits hasmonäische Zeit (Siegert, EHJL 257 f ). Im Judentum ist nur Mose auf diese Art unsterblich geworden, und erst mit dem Lehrbetrieb der rabbinischen Toraschulen machten auch Rabbinen sich einen Namen, und so gibt es z. B. eine Maxime des R. Samuel, nämlich das in C 4.3.2 zitierte dîna’ de-malkûta’ dîna’. Dieses noch in den Anfängen des sog. Privatstrafrechts: Ein Gericht erteilte die Berechtigung zu privater Ausübung von Rache. Übersicht bei Wesel, GRE 53. Tafel 10 enthielt Begräbnisvorschriften; Sakralrecht ist sonst nicht dabei. Details über das komplizierte Abstimmungsverfahren, das trotz diverser Verkürzungs- (und Manipulations‐)Möglichkeiten die Zeiten der römischen Republik nicht überdauert hat, s. DKP 1,1254– 1256. Ein Beispiel hierfür sind Vertragsformeln, die ohne Stottern gesprochen werden mussten, um nicht ungültig zu werden, und die auch nicht wiederholt werden durften. „Performative“ Sprache, so sieht man hier, hat einen magischen Ursprung.
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Neuen Testament aber nicht belegt, sondern nur die Inanspruchnahme des prätorischen Rechtes durch nichtrömische Provinzbewohner (für Judäa: 4.4.1; für Paulus auf Griechenlandreise: # 221). Gesetze aus der republikanischen Zeit¹⁸ sind erkennbar an ihrer Benennung nach dem Familiennamen des Antragstellers, der sie im Senat oder (insbesondere) in den Komitien eingebracht hat: So etwa die sehr alte, frührepublikanische lex Atinia, die in # 44 zur Frage des Diebstahls zu zitieren sein wird, oder die lex Iulia (nämlich von dem Julier Augustus vorgeschlagene) de adulteriis hier in # 59. Letztere ist mit einer zusätzlichen Themenangabe versehen, weil es daneben eine lex Iulia maiestatis gibt und andere mehr (# 75; # 159). Dieses Recht aus der Zeit der römischen Republik wurde für Nichtrömer, zunehmend aber auch für die Römer selbst ergänzt durch das für neue Erfordernisse jeweils neu geschaffene prätorische Recht (s.u. 3.3),¹⁹ Bestimmungen also, die teils supplendi, teils iuvandi und schließlich sogar corrigendi gratia das bisherige römische Recht erweiterten. Dass auch das Abändern bisheriger Normen Aufgabe der Praetoren war, zumal der in den Provinzen agierenden, bildet einen fundamentalen Unterschied zur rabbinischen Rechtssetzung, die gebunden war, sich als Auslegung des Tora-Textes darzustellen. Das prätorische Recht war legitimiert nicht durch den Offenbarungsanspruch seines Anfangs, sondern durch das Volk von Rom,²⁰ das sich seine Sprecher und Gesetzgeber wählte. Von dieser sehr nüchternen Art war, bei allem in der Praxis noch üblichen Ritual, die Rechtsauffassung Roms in republikanischen Zeiten. Dieses ius Quiritium, nur für die Bürger Roms geltend, d. h. für die Stadt und ihren Umkreis, ist für die Bibelauslegung ohne Belang, zumal es auch in Rom selbst nach und nach außer Gebrauch kam. Lehrreich ist aber der in # 100 skizzierte, noch im 1. Jh. v.Chr. aufgebrochene Lehrgegensatz zwischen dieser – der positivistischen – Auffassung und einer mehr philosophischen, die als Grundlage allen Rechtes solche Begriffe vermutete, die allen Menschen vorgegeben seien („Naturrecht“ der Stoiker). Erst die hier im Titelblatt schon genannten Barockjuristen haben diesen Gegensatz in einer übergreifenden Theorie zu vereinigen gewusst. – Als Zwischenstufe zur späteren Vereinheitlichung der von Rom aus beherrschten Welt kann man man das – hier nur wenig interessierende – „italische“ Recht ansprechen; immerhin wird dieses in # 218, eine römische Kolonie betreffend, wo Paulus wirkte, wieder zu erwähnen sein. Wichtigstes aus jenen Zeiten ist die actio (in ius), die zivilrechtliche Klage zwischen römischen Bürgern. Ihr kam der Praetor zur Hilfe, nämlich für die Bestimmung des Prozessgegenstandes und für die Fragestellung, über welche in einem zweiten Teil des Verfahrens ein Privatmann als Richter entschied. S.o. 2.1.1; auch K/K/L, Privatrecht im Index s.v. lex. In den Quellen heißt es auch ius honorarium, weil von den Inhabern von hohen Ämtern (honores) ausgeübt. Dass dieses seinerseits legitimiert sei, über die Völker zu herrschen, ist freilich ein Mythos, begründet mit nichts als einer Dichtung (Vergil, Aeneis 6,850: Tu regere imperio populos, Romane, memento).
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Davon zu unterscheiden ist das römische Strafrecht, auf welches wir zwar nur wenige Male werden zurückgreifen müssen, dem aber gerade die zwei wichtigsten Prozesse, derjenige gegen Jesus und der gegen Paulus, zugehören (# 159; # 249). Beide Verfahren sind nach innerjüdischen Anfängen letztlich vor die übergeordneten Entscheidungsträger gelangt (die übrigens, wie die Berichte klar zeigen, beidemale nicht danach begierig waren). Eine in # 75 noch zu erläuternde Unterscheidung betrifft ferner crimen „Verbrechen“ als das strafrechtlich zu Verfolgende, delictum „Vergehen“ aber als jegliches vom Zivilrecht zu bewältigende Fehlverhalten gegenüber der Rechtsordnung. Ein wichtiger Unterschied ist auch, dass Strafprozesse nicht aus privatem, sondern aus öffentlichem Interesse betrieben werden, also nicht auf eine Klage, sondern auf eine Anzeige bzw. Anklage hin – wobei schon in Rom damals die Möglichkeiten erweitert wurden, wonach eine Behörde den Prozess von sich aus beginnen konnte. Da ist dann Acht zu geben, dass gleiche Vokabeln unterschiedliche Dinge meinen können: Wenn im Strafrecht poena eine (vom Gericht verhängte, oft nach gesetzlicher Vorschrift bemessene) Strafe ist, meint dasselbe Wort im zivilrechtlichen Zusammenhang eine sog. Konventional- oder Vertragsstrafe (Heumann s.v. poena, 3.; K/K/L, Privatrecht §§ 32,7 → 42,7; 34,30 → 44,30) – etwa eine Abstandszahlung bei Nichterfüllung eines Auftrags. Der dazu Verurteilte gilt nicht als Straftäter. Dazwischen liegen zwei Dinge, die es im Neuen Testament öfters gibt, die aber nicht dem Strafrecht zugehören: ‒ das von Privatleuten durch Anzeige bei Behörden ausgelöste Disziplinieren von Mitbürgern (# 219), das mit Auflagen, z. B. Zahlungen, verbunden sein kann – sog. Privatstrafe (Heumann s.v. poena, 2.), und ‒ die überhaupt von Behörden kommende Disziplinierung von Privatpersonen. Dies ist eine Ordnungsmaßnahme, auf imperium (Ordnungsmacht, Polizeigewalt; # 8; # 91) beruhend, nichts Gerichtliches. Da wird dann poena am besten mit „Buße“ (im säkularen Sinn) übersetzt (# 31; K/K/L, Privatrecht § 50,3 → 61,3). Als Leitfaden durch das Gebiet des römischen Strafrechts dient uns die Darstellung von Bernardo Santalucia: Verbrechen und ihre Verfolgung im antiken Rom, bequemerweise in ihrer deutschen Fassung.²¹ Hier erfährt man, dass das älteste römische Recht, noch vor den Zwölf Tafeln formuliert in sog. „Königsgesetzen“ (leges regiae) – von ihnen berichten in der Kaiserzeit fast nur noch die Historiker, nicht die Juristen – ähnlich stark auf Verbot und Strafe beruhte wie im Judentum die Tora. Sie hatten z.T. kultischen Charakter, wenn etwa auf gewisse Verbechen anstelle einer Todesstrafe der Bann stand (# 315).²² Manches von diesen Gesetzen hat noch Eingang gefunden in die Zwölf Tafeln; aber rasch verschwanden diese meist recht derben Bestimmungen zugunsten moder-
Für genauere und aktuellere Information ist die italienische 2. Aufl. 1998 (noch unübersetzt) zu konsultieren bzw. Robinson, Criminal Law. Einen mehr soziologischen Zugang pflegt Harries, Law and Crime. Als Kurzdarstellung von hoher Anschaulichkeit sei ferner empfohlen Kunkel, „Prinzipien des römischen Strafverfahrens“. Ein anderer Gedanke liegt zugrunde, wenn man später dem Adel gegenüber die Todesstrafe umging, indem man nur Verbannung und Konfiskation der Güter verhängte (# 281).
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nerer, die vom anfänglichen Sühnedenken (# 224) abgingen hin zu etwas in den Tafeln selbst auch schon Angelegtem, nämlich der gütlichen Einigung und der Wiedergutmachung materieller und sozialer Schäden. Einige Verhaltensweisen, die man als schädlich für das ganze Gemeinwesen erkannte,²³ wurden aus öffentlichem Interesse heraus unter Strafe gestellt (Santalucia 33 f ). Sie wurden jedoch nur dann verfolgt, wenn ein Geschädigter Klage führte.²⁴ Der Umstand, dass Spaniens römische Provinzen bereits im 2. Jh. v.Chr. erfolgreich eine quaestio (das meint hier: ein Strafverfahren) durchgesetzt hatten zur Rückerstattung übermäßig erpresster Steuern, führte zur Einrichtung der profiliertesten Spielart von quaestiones, nämlich dem sog. Repetundenprozess (dt. Rückforderungsklage) zur Rückgabe der erpressten Gelder.²⁵ Damit rief der Senat (…) ein Verfahren ins Leben, dem bezüglich der Formen der Privatprozeß Modell stand (…). Gegenstand des Verfahrens war nicht die Ahndung des Verbrechens, sondern ausschließlich die Rückerstattung des unrechtmäßig Entzogenen.
Im Falle geringerer Vergehen, z. B. Beerdigen von Leichnamen innerhalb der Stadtgrenzen oder Abhalten nächtlicher Versammlungen, fand nicht erst ein Verfahren statt, sondern sie „wurden vom Magistrat in Ausübung seiner Polizeigewalt unterdrückt“ (ebd. 34).²⁶ Daneben aber (so fährt Santalucia fort) sehen die XII-Tafeln auch andere Straftaten vor, die man als Verletzungen von Rechten einzelner Personen, anstatt des staatlichen Gefüges, erachtet und deren Unterdrückung deshalb der Initiative der verletzten Partei anheimgestellt wird.
Bei Vergehen jedoch, wo nicht nur Einzelne die Geschädigten waren, sondern das Gemeinwesen insgesamt, bildeten sich neue Arten von Prozessen aus, Strafprozesse, für welche die Initiative je nach politischer Lage mal mehr der Volksversammlung und ihren Sprechern lag, den Tribunen, mal mehr beim Adel und dem Senat. So wurden noch in der Republik außerordentliche Gerichtsverfahren eingeführt, als quaestiones extaordinariae bezeichnet,²⁷ woraus im Kaiserreich die cognitio (Kognitionsverfahren; # 75), entstand, die auch erst als extra ordinem qualifiziert war, aber noch in der Prinzipatszeit zum strafrechtlichen Regelverfahren wurde. Die langsame Humanisierung dieses Santalucia nennt Brandstiftung (# 16), Schädigung landwirtschaftlicher Erträge durch Diebstahl, auch schon durch Weidenlassen eigenen Viehs auf fremdem Grund und auch durch Zaubersprüche. In heutiger deutscher Gesetzgebung wird heftig gerungen um Regeln, die es erlauben könnten, Dinge wie die Luft- oder Wasserverschmutzung großer Betriebe vor Gericht zu bringen: Wie stark geschädigt muss jemand sein, bis er es darf (im Zivilverfahren)? – Eher entwickelt man derzeit unter dem Druck der Klimakrise Strafverfahren mit dem Ziel ihrer Begrenzung. Da reicht die Anzeige, und anstelle eines Privatklägers wird die Staatsanwaltschaft tätig. Kunkel/Schermaier, RRG 47; K/K/L, Privatrecht § 8,32 → 18,33; Santalucia 56 f (anschließend zitiert). In heutiger Auffassung wären es Ordnugswidrigkeiten. Auch die Gerichte selbst hießen so (Metonymie, ausgehend von quaestio „Befragung“; s. Ulpian D. 48,18,1 pr.). Details zum Ursprung dieses Verfahrens s. Santalucia 34– 38.40 – 50.
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Rechtsgebiets schloss das Definieren und Ahnden neu hinzukommender Straftatbestände nicht aus (Santalucia 79 – 85). Wieweit ein römisches Gericht der Kaiserzeit Spielraum hatte in der Bemessung von Strafen (er war nicht groß, war erst einmal die Straftat mit einem Gesetzesausdruck qualifiziert), s. ebd. 98. Wichtig war und blieb in Rom der gesellschaftliche Rang der gerichtlich belangten Person (ebd.; vgl. # 281 zur Todesstrafe), ein in mosaischem Recht ausdrücklich verbotenes Prinzip (# 265), dem freilich die Macht der oftmals neben allem Recht agierenden judäischen Potentaten entgegenstand. Das naheliegende Motiv für die Einrichtung, aber auch zugleich die Versachlichung der Repetundenprozesse in Rom dürfte gewesen sein, dass Roms hohe Funktionäre nicht persönlich als Verbrecher dastehen wollten. Damit verschwand aber auch der Sühneaspekt aus dieser Art von Verfahren. Aus anderen Motiven, im Ergebnis aber ähnlich, ist das, was später²⁸ die Rabbinen aus dem Strafrecht der Tora machten – Geldstrafen nämlich, und im Privatprozess (Zivilprozess) natürlich die Wiedergutmachung –, frei vom Sühnedenken. Das was so nicht zu bewältigen war, verblieb dem „Gericht des Himmels“ (# 279). 3.2.2. Vollzogen war in Rom schon vor Christi Geburt ein tiefgreifender Wechsel im Staats- und Verfassungsrecht. Ein von Caesar entfachter Bürgerkrieg hatte die – für eine Stadt gedachte, für ein Reich nicht mehr aureichende – republikanische Verfassung ausgehebelt²⁹ zugunsten einer neuen Art von Monarchie, dem Kaisertum (# 91). Gaius Octavius wurde durch Adoption durch seinen Onkel Caesar ein Gaius Julius, zubenannt Caesar, später auch zubenannt Augustus, letzteres zunächst nur ad personam. Der Name Caesar blieb fortan seinen Nachfolgern als automatischer Beiname (# 214); ihre weiteren, formell vom Senat zu verleihenden Titel (das geschah nicht immer freiwillig) waren princeps Senatus („Erster Mann des Senats“) und v. a. imperator, womit der Oberbefehl über Roms Heere gemeint war. Man spricht zunächst vom „Prinzipat“, einer noch teilweise republikanischen Regierungsform, gerade was Gesetzgebung angeht; förmlich beschloss im 1. Jh., nachdem die Volksversammlungen im rasch wachsenden Rom zu umständlich geworden waren,³⁰ immer noch der Senat. Doch gab es auch schon den kurzen Dienstweg zum Kaiser direkt über seine hohen Funktionäre, und er antwortete in rescripta (brieflichen Antworten, die Gesetzeskraft hatten). Im Römischen Reich war, wie schon gesagt, den Provinzgou-
In nach-ntl. Zeit. Um genau zu sein: Sie griffen zurück auf Hillel, einen älteren Zeitgenossen Jesu, und verwarfen dabei fast stets die strengeren Auffassungen Šammais, die in Zeiten des Zweiten Tempels noch überwogen hatten. Formal beseitigt wurde sie nie, hat vielmehr die Kaiserzeit noch überdauert. Noch nach dem Ende des Westreichs, unter dem Gotenkönig Theoderich, hat der christliche Philosoph und Politiker Anicius Manlius Torquatus Severinus BOETHIUS i.J. 510 ein Konsulat innegehabt und republikanischen Pomp gepflegt, ehe er vollends Verwaltungschef (magister officiorum) wurde. Manthe, Geschichte 89: „(D)as letzte datierbare von einer Volksversmmlung beschlossene Gesetz war wahrscheinlich die lex Cocceia unter Nerva, 96 – 98 n.Chr.“, ein Beschluss ohne erkennbare Nachwirkungen.
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verneuren diejenige Rolle eigen, die in Rom die Prätoren innehatten: Ihre edicta, von Gouverneur zu Gouverneur erneuert und erweitert, waren die Richtlinien für Rechtspflege und Verwaltung. Schon seit Augustus fusionieren nach und nach Legislative und Exekutive in dem Anspruch und der Macht des Kaisers, selber Recht zu setzen (constitutio principis). Die Zeit dieser umfassenden Zusammenarbeit der Instanzen und der Gelehrten bei der Rechtsentwicklung seit ca. 30 v.Chr. heißt die klassische Zeit. Belegen aus dieser Zeit ist für die Auslegung des Neuen Testaments naturgemäß der Vorzug zu geben. Unter den bekanntesten Namen dieser sog. Frühklassik sind M(arcus) Antistius Labeo und C. (= Gaius) Ateius Capito. Ein Einschnitt innerhalb dieser Phase erfolgte unter Hadrian (reg. 117– 138): Er entzog den Praetoren die Rechtssetzungsbefugnis, um sie künftig in eigener Person auszuüben, im Benehmen mit dem Senat.³¹ Durch den besten Juristen seiner Zeit, Salvius Julianus, ließ er die diversen Ediktstexte – die für die Stadt Rom wie auch die aus den Provinzen – zu einem nunmehr textlich kanonisierten edictum perpetuum zusammenschreiben; das Recht der Innovierung reservierte er sich und damit auch den Kaisern nach ihm (Kunkel/Sch., RRG 119; Oxf. Handbook 33). Dies geschah, ob zufällig oder nicht, zeitgleich mit der textlichen Festlegung des Vier-Evangelien-Kanons seitens der Kirche, worüber noch nachzudenken sein wird (3.4).³² Von Hadrian bis Justinian sind die nun noch hinzukommenden Gesetze, constitutiones genannt, kaiserliche Erlasse. Der Senat war in Fragen der Gesetzgebung ab Mitte des 2. Jh. nur noch Kontrollinstanz, und ein anderer als hinhaltender Widerstand gegen den Willen des Kaisers – etwa als Blockade von Finanzierungen – war nicht mehr möglich. Die ursprünglich republikanische Verfassung hatte sich gewandelt in eine Art von Monarchie. Im griechischsprachigen Osten, wo imperium sich nur schwer übersetzen ließ (archē war zu schwach; offizielle Inschriften haben autokratorikē archē „Selbstherrschaft“), nannte man das Kaisertum ohne Umschweife eine basileia (s. Magie, De vocabulis 68). – Vielzitierte Juristen aus dieser Zeit sind Julius Paulus, Publius Salvius Julianus, Domitius Ulpianus u. a. (ihre gebräuchlichsten Namen, ihre Rufnamen sozusagen in den Digesten, in Kursive).³³ Noch aus dem 2. Jh., also noch ehe Rabbi Juda die Mischna redigierte, datiert das einzige komplett erhaltene Lehrbuch des klassischen römischen Rechts, die Institutiones Die Formel war (Gaius 1,47): Senatus ita censuit ex auctoritate Hadriani, „der Senat beschloss auf Antrag Hadrians“. Die Entscheidung der Großkirche, nur die somit abgeschlossenen vier Evangelien in ihren Gottesdiensten und ihrer Lehrtätigkeit gelten zu lassen, der sog. neutestamentliche Kanon also, verdankt sich einer von Irenaeus, Bischof von Lyon, begründeten und geforderten, uns allerdings nicht näher dokumentierten kirchlichen – und wohl stadtrömischen – Entscheidung des späten 2. Jh. Um Verwechslungen zu vermeiden, sagen wir für den Juristen Paulus hier immer: Julius Paulus. Texte von ihm, die nicht in den Digesten enthalten sind (wo er sehr oft vorkommt), s. FIRA II 420 – 424. Die seinen Namen tragenden Pauli Sententiae, die gelegentlich zu zitieren sein werden, sind abgedruckt ebd. 317– 417. Für die Textherstellung wäre, wenn es auf Details ankommt, hinzuzunehmen Liebs, Röm. Jurisprudenz 62– 128.
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(„Elementarunterricht“)³⁴ des Gaius. Dies ist ein schmales Werk (160 Druckseiten), aber von bewundernswerter Architektur und Klarheit. Aufgebaut ist es nach einem klaren Schema (das nur manchmal, wo Dinge gerade in der Diskussion waren, exkursartig gedehnt wird): 1 Buch Personenrecht, 2 Bücher (wegen der Stoffmenge) Vermögensrecht, 1 Buch über Prozesse und rechtserhebliche Handlungen,
jeweils mit Definitionen nach aristotelischem Verfahren (Genus – Species) beginnend. Sein Autor – das macht das Buch uns zusätzlich interessant – muss ein Mann aus der Provinz gewesen sein.³⁵ Ein Beobachter von außen sieht manches schärfer; die Gefahr der Betriebsblindheit war für Gaius weit geringer, als wenn er Mitglied des römischen Senats oder Funktionär der kaiserlichen Kanzlei gewesen wäre.³⁶ Vielfach zitiert in den Digesten, ist dieses Werk durch Zufall auch in seiner Originalfassung noch erhalten geblieben, in einem Palimpsest-Codex des 5./6. Jh., überschrieben mit Hieronymus-Texten, in sehr zerzaustem Zustand. Die Wiederherstellung dieses Textes und das Füllen seiner meisten Lücken aus der Sekundärüberlieferung in den Digesten und aus dem einen Papyrus (P. Oxy. 2103 aus Ägypten)³⁷ war ein Meisterstück der Philologie. Darüber hinaus hat Gaius einen Kommentar zum edictum provinciale geschrieben in dreißig Büchern und manches andere mehr; nicht weniger als 339mal wird er in den Digesten zitiert (Oxf. Handbook 118).³⁸ Die jüngste von Gaius zitierte Autorität ist – nächst Hadrian, der die Gesetzgebung an sich gezogen hatte und entsprechend häufig vorkommt – Antoninus Pius (reg. 138 – 161 n.Chr.). Rückblenden führen immer wieder zurück bis zu den Zwölf Tafeln und kontrastieren das „prätorische“ Recht gegen das Civilrecht der Stadt Rom mit seinen Legisaktionen und Formularprozessen, die zu Gaius’ Zeiten selbst dort allmählich selten wurden; ähnliche Rechtsvorgänge in den Provinzen liefen meist einfacher ab.³⁹ Das
Noch heute heißt im Französischen ein Grundschullehrer instituteur, die Grundschullehrerin institutrice. Das deutet sein schlichter Name bereits an; keiner römischen gens beansprucht er zuzugehören. Hingegen kennt er galatische und bithynische Verhältnisse (1,55.193), und er spricht im „wir“ von den Provinzialen (2,7). In Bezug auf die römischen Rechtsschulen schließt er sich dem Pragmatismus des Sabinus und des Cassius an (4,79.114). Man wünschte sich, ein Nichtjude hätte uns im Gegenzug etwas über das rabbinische Recht geschrieben! Aber dieses hatte mit dem Hebräischen eine noch entferntere Fachsprache als das römische Recht mit seinem Latein. Und es steckte keine Macht dahinter. In Manthes Handausgabe wird dieser Papyrus um 200 datiert, wäre also, wie er selbst bemerkt (S. 18), an der Entstehungszeit des Textes ähnlich nahe wie im Falle des Johannesevangeliums der P. Ryl. 457 = P 52 der Aland-Liste. Das spricht für rasche Verbreitung. Eine genaue Liste der Quellen der Digesten ist geboten in der Ausg. Krüger/Mommsen, 927– 957. Das Kognitionenverfahren (# 199; # 218) ist ein Beispiel; Instruktions- und Entscheidungsverfahren fallen hier zusammen. Selbst wo die civilrechtliche Prozedur wie die der Stipulation (als Vertragsschluss) in den Papyri aus der Wüste Juda im 2. Jh. greifbar wird, ist sie doch stark vereinfacht, ohne die sonst
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Werk zeigt historisches Bewusstsein und spricht auch öfters von der Abschaffung oder Verbesserung „ungerechter“ Rechte (z. B. 4,116.127– 129). Mit diesem Werk, das die römische Jurisprudenz in ihrer höchsten Blüte zeigt, endet die sog. Hochklassik. Zeitlich läuft sie etwa gleich mit der „tannaitischen“ Periode des rabbinischen Rechts, mit leichtem Rückstand. Die Parallele reicht weiter: So wie Gaius’ Definitionen und sogar seine Gliederung wiederkehrt in den Institutiones Justinians, gleichfalls in vier Büchern,⁴⁰ und weit später erneut in den fünfzig Büchern der Digesten, so kehrt die Mischna mit ihrer Gliederung und ihren Definitionen – die dann erläutert und ausgefächert werden – in der Tosefta und den beiden Talmudim wieder. Politisch folgte im Kaisertum des 2. Jh. ein Stilwandel. Nachdem schon Antoninus Pius den Anspruch erhoben haben soll, „Herr der Welt“ zu sein⁴¹ – seinen Einfluss auf die Entstehung der Mischna werden wir noch erwähnen – haben Kaiser wie Caracalla (der „Antoninus“ der Mischna – s.u. C 4.3.2) und Severus Alexander sich wie orientalische Despoten gebärdet; ab 235 folgte die Reihe der sog. „Soldatenkaiser“, von ihren Heeren per acclamationem ernannt und zumeist nach kurzem Regierungsversuch ermordet. Ab Diokletians einschneidender Staatsreform im späten 3. Jh., die jede Verbindung mit dem Verfassungsrecht der einstigen Republik aufgab, spricht man von einem „Dominat“, dem entsprechend, dass er für sich und alle seine Nachfolger zwei Titel beanspruchte, die bis dahin keinem Caesar zugestanden hatten: lat. dominus und gr. basileus. Die Fiktion eines Regierens aufgrund von Roms Verfassung, d. h. im Auftrag des römischen Volkes, war damit aufgegeben. Rom war ja auch nicht mehr Regierungssitz, und „Römer“ war seit Caracalla die gesamte Bevölkerung der Freien im Land. – Juristisch fällt mit diesem Einschnitt die Spätklassik zusammen, eine Zeit des Sammelns und Systematisierens. Ihr gehören große, vielzitierte Juristen an wie Julius Paulus und Domitius Ulpianus. Nach ersterem sind die gegen 400 entstandenen Pauli Sententiae benannt, die aber nicht aus seiner Feder kommen; sie sind sozusagen deuteropaulinisch. Die Folgejahrhunderte sahen eine geradezu monumentale Entfaltung des römischen Rechts, doch laufen Quantität und Qualität auseinander. Mochte Hadrian auch noch so viele glückliche Korrekturen älterer Missstände oder auch eine Füllung störender Lücken erreicht haben, die Menge der Texte überforderte je länger, je mehr die praktischen Möglichkeiten der Gerichte. Die Perfektion dieses Rechts wuchs umgekehrt proportional zu seiner Wirksamkeit. Das merkt man an den kläglichen Zusammenfas-
obligatorischen Geseten und ohne das nur Römern erlaubte spondeo „ich gelobe“ (K/K/L, Privatrecht § 57,7 → 68,5). Nur dass das Prozessrecht dort erst in 4,12 beginnt. Über Justinians Kodifizierung in Kürze: Manthe, Geschichte 112 f. Als Gelegenheitsäußerung berichtet bei Volusius Maecianus, D. 14,2,9: Egō men tou kosmou kyrios – „Ich bin doch der Herr der Welt“. In der Fortsetzung des Satzes tritt der Kaiser dann freilich hinter der Gültigkeit des rhodischen Seerechts zurück. Domitian aber hatte sich bereits als dominus et deus akklamieren lassen (s.o. zu Joh 20,28, hinter # 181).
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sungen, die in der Spätantike und im Frühmittelalter für den Gebrauch gemacht wurden⁴² und die noch nicht mal ein System haben. 3.2.3. Die dritte Phase reicht bis zur Abfassung der Digesten („geordnete Sammlung“ von digerere „sammeln, ordnen“; griechisch sagte man: Pandekten, „Allesaufnahme“), entstanden im Auftrag Justinians (reg. 527– 565) und von ihm autorisiert. Ein Lehrbuch namens Institutiones, gedacht als Aktualisierung derer des Gaius, bildet dort den Vorspann, und ein Codex (Iustiniani), Ablösung des vorangegangen Codex Theodosii, bot das von den byzantinischen Kaisern aus eigener Machtvollkommenheit Hinzugefügte. Ihres Datums wegen sind diese letzteren für die Auslegung des Neuen Testaments nicht mehr von Interesse; die Digesten hingegen sind eine Fundgrube all dessen, was aus vormaliger Gesetzgebung gültig bleiben sollte. Jede Einzelbestimmung dieser gigantischen Sammlung nannte man nunmehr, auch wenn es vorher nur ein Vorschlag gewesen war, dank kaiserlicher Inkraftsetzung lex, „Gesetz“.⁴³ Erst in dieser dritten Phase, nämlich ab Theodosius, macht sich christlicher Einfluss auf die Gesetzgebung des Römischen Reiches (Hauptstadt mittlerweile: Byzanz) geltend; dazu s.u. C 4.5.1– 2. Im Blick auf die Folianten dieser eindrucksvollen – und in seiner Differenziertheit die Kapazitäten damaliger Verwaltung bereits überfordernden – Textmasse gibt das Oxf. Handbook 38 den Hinweis, dass die 50 Bücher der Digesten ein verzerrtes Bild dessen liefern, was die ursprüngliche Natur der dort exzerpierten mehr als hundert Juristenschriften gewesen waren. Diese Schriften, von denen nur eine in einem einzigen Exemplar separat überdauert hat (Gaius’ Institutiones), waren, wie schon Pufendorf wusste (Eris 166), von sehr viel stärker argumentativem Charakter gewesen.⁴⁴ Sie waren ursprünglich dem Talmud durchaus näher als das, was auf römischer Seite kodifiziert wurde als „Gesetze“ des Corpus Iuris (wie die justinianischen Rechtssammlungen seit dem Mittelalter heißen). Es war „Juristenrecht“ gewesen,⁴⁵ erweitert um eine Fülle von Edikten von hoheitlichem Charakter, welche erst noch von Provinzchefs, dann aber vom Kaiser ausgegangen waren.
S.u. 4.4.2– 3 für den Osten; die entsprechenden Rechtskompendien des lat. Westens sind nicht anders. Daher rührt auch die bis in 19. Jh. üblich gewesene Zitierweise: l(ex) Nr., deren Abschnitt, dann: D(igestorum) mit Buch und Kapitel. Die Ziffern begegnen da gegenüber der „dezimalen“ Zitierweise von heute in der Reihenfolge 3 – 4– 1– 2. Spuren divergierender Meinung sind auch geblieben. Manthe, Geschichte 98 gibt ein Beispiel aus D. 41,1,36 (Juian) vs. D. 12,1,18 pr. (Ulpian), wo aber die räumliche Trennung zeigt, dass man das nicht als Diskussion zu bieten beabsichtigte. Man hat den Widerspruch vielleicht einfach nur übersehen. – Die Rezeption im ius commune des späteren Europa schlug sich dann auf eine der beiden Seiten. Ein frühes Beispiel: Cicero, Off. 3,61– 67 erwähnt eine Mitteilungspflicht betr. Mängel bei Immobilienverkäufen. Das Zwölftafelgesetz hatte nur Regressansprüche bezüglich des ausdrücklichen Vertragsinhalts geregelt; „von den Rechtsgelehrten aber wurde eine Strafe auch für das Verschweigen (von Mängeln) festgesetzt.“ Solches wurde geltendes Recht mit der lex Laetoria (oder Plaetoria, um 200 v.Chr.). – Ein europäisches Beispiel unter vielen ist das älteste ungarische Gesetzbuch, István WERBÖCZYs Tripartitum opus (1514): Unterschrieben von zuständiger Seite, aber ohne königliches Siegel, „wurde es über den Weg des Gewohnheitsrechts zu einem Bestandteil des ungarischen Rechts“ (Máthé, Entwicklung 365).
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Natürlich haben die Kaiser, die selber keine Juristen zu sein brauchten, sich von solchen beraten lassen, ganz wie nachmals Napoleon es machte für seinen Code Napoléon. Einmal mehr wurden da responsa prudentium zur Grundlage der Rechtssetzung von Regierungsseite. Anders als im Talmud und anderen Responsensammlungen im Judentum sind die römisch-rechtlichen Responsen stets schriftlich gewesen und die Zuschreibungen und Namensnennungen darum verlässlich. Weniger sicher ist man bei der Zuschreibung bestimmter Rechtssätze an individuelle Rabbinen; hier ist mit Gedächtnisirrtümern zu rechnen.⁴⁶ In Rechts- und Verwaltungsfragen war auch das „neue Rom“, Konstantinopel, zweisprachig: Im griechischsprachigen Orient lebend, bediente man sich auf diesen Gebieten mündlich wie v. a. schriftlich des terminologisch präziseren Lateins. Auch die seit dem 3.Jh. bestehende Rechtshochschule in Berytos (Beirut) war lateinischsprachig, erteilte aber dem Orient Auskünfte auf die dort weit eher verstandene Sprache Griechisch (C 4.4.2). Auch im Westen, bei den die Römer ablösenden Goten, entstanden Kompendien in Latein. Das römische Rechtswesen hat, gerade weil es entwicklungsfähig war, in einer für die Antike beispiellosen Weise tausend Jahre lang funktioniert, bis es an seinem eigenen Perfektionismus erlahmte. War schon das Gesetzescorpus Justinians zum Ausmaß von 50 damaligen Büchern angewachsen, so konnten die weiteren Konstitutionen, Erlasse und Reskripte, die in Byzanz von Kaiser zu Kaiser bis ins 10. Jh. hinein folgten, schon ihrer Masse wegen nicht mehr mit allgemeiner Bekanntheit auch nur unter den Fachleuten rechnen. Selb, Antike Rechte 74 umreißt das verhältnismäßig geringe Verbreitungsgebiet der Digesten im Byzantinischen Reich, wo immerhin eine griechische Übersetzung nebst Kommentaren von Rechtslehrern erhalten blieb. Im lateinischen Sprachraum ist zufällig (man vermutet, im Exarchat Ravenna, einem Kaisersitz) ein sehr altes Exemplar, nämlich noch aus dem 6. Jh. und wohl östlicher Herkunft, in zwei dicken Folianten erhalten geblieben, der sog. Codex Florentinus, mit dem bzw. dessen Kopien (um die spärliche Nebenüberlieferung hier nicht zu nennen) man im Laufe des Mittelalters allmählich wieder zu arbeiten lernte: Von hier nahm die europäische Rechtswissenschaft ihren Ausgangspunkt. Medizin und Jurisprudenz waren die ersten Lehrstoffe an den von Italien aus sich bildenden Universitäten. – Eine kurze Übersicht über die für das 1.–2. Jh. aussagekräftigen römischen Rechtsquellen wird von Martin Schermaier unten (B 5) gegeben. Für diejenigen Texte, die außerhalb der Codifikationen Justinians erhalten blieben, ist die Textsammlung von Riccobono u. a. (Kürzel: FIRA) das Sammelbecken.⁴⁷ Besonders wertvoll sind hier in Bd. I
Die gelegentlich zu hörende Schätzung, nur die Hälfte davon sei korrekt, ist zu pessimistisch: Mag man sich auch in den Individuen täuschen und insbes. berühmtere Namen sich gemerkt haben anstelle weniger berühmter, so ist doch wenigstens die Generation i. d. R. getroffen. Unter rechtsgeschichtlicher Fragestellung hat sich hier kein Anachronismus gezeigt. Sie ist die Nachfolgerin des in 6 Auflagen (zuletzt zweibändig, 1911.1927 [1988]) erschienenen TeubnerBandes Iurisprudentiae anteiustinianae quae supersunt von Ph. E. HUSCHKE. Zur Systematik der FIRA: Bd. I: Leges sammelt die Gesetze der Könige und sodann des Senats von Rom, Bd. II: Auctores die Reste der
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die Edikte der Praetoren, die konkrete Problemen praktisch regeln, und in Bd. III die Dokumente über angewandtes Recht, bis herunter zu Ostraka und sonstigen Alltagszeugnissen. Was sodann die in den Digesten überlieferten Texte betrifft: Man zitiert sie nach Möglichkeit unter Beifügung des (dort meistens genannten) Autorennamens, um eine zeitliche Einstufung zu haben, einen terminus ad quem. Eine weitere Auskunftsquelle über römisches Recht sind die lateinischen Rechtssprichwörter (griechische sind kaum bekannt), hier aus Liebs, Rechtsregeln, aus dem Anhang in K/K/L, Privatrecht (dort jeweils auch auf Deutsch) sowie aus Guinchard, Lexique genommen. Diese können jeweils weit älter sein als ihre erste schriftliche Quelle. Es sind keine Gesetze – dazu sind sie zu allgemein –, sind aber Erfahrungsregeln aus der Rechtspraxis. Sie geben das bonum et aequum wieder, wie auch viele Rabbinenantworten im Talmud ein solches illustrieren. Auch heute, mehr noch als es früher möglich war, beobachten sich die Gerichte, wo immer etwas gesetzlich nicht gänzlich Geregeltes den Entscheidungsspielraum der Fachleute beansprucht.⁴⁸
3.3 Roms Rechtspolitik in den Provinzen; das prätorische Recht 3.3.1 Colonia und provincia Zunächst ein Blick zurück auf die ursprüngliche Stadtrepublik: Hatte die Stadt selbst schon einen praetor urbanus für die eigenen Bürger und einen praetor peregrinus für die Ausländer (peregrini) gehabt, Posten, die alsbald doppelt besetzt wurden, so fielen beide Funktionen auswärts im praeses provinciae (wir sagen: Provinzchef, Provinzgouverneur) zusammen.⁴⁹ Dieser durfte einen Teil der Steuereinkünfte für sich behalten, um seine vormals in Rom ehrenamtlich ausgeführte Tätigkeit (seinen cursus honorum) nachzufinanzieren.⁵⁰ Darüber hatte er, wie auch ein zurückkehrender Feldherr, dem Senat eine Abrechnung vorzulegen. Hatte er dort Feinde oder kam eine Delegation
vielen Juristenschriften, die sonst nur in Zitaten innerhalb der Digesten erhalten blieben, und Bd. III: Negotia die Dokumente über konkrete Rechtsgeschäfte (Transaktionen), die aus den verschiedensten Quellen erhalten blieben, vorzugsweise aber aus Inschriften, und aus den Papyri nur eine Auswahl des Bezeichnendsten. Noch das heutige common law des Commonwealth zehrt hauptsächlich aus einmal getroffenen Entscheidungen bestimmter Gerichte, das allerdings auch im Detail. Reinhard Zimmermanns großartig dokumentiertes Law of Obligations ist ein Ausschnitt daraus, der zivilrechtliche. Sein Darstellungsziel ist die Konvergenz dieser Entscheidungen mit der juristischen Weisheit der Römer und ihrer kontinentaleuropäischen Nachfolger. Lit. s. Literaturverzeichnis, 2.3.3; auch F. HURLET: „Entre juridiction civique et juridiction impériale: La sphère de compétences du proconsul“, in Haensch u. a., Recht haben 63 – 88. Ähnlich verfuhr man ja auch mit den örtlichen Funktionären, die die Steuern einzuheben hatten und Jahr für Jahr dafür in Vorleistung treten, d. h. wohlhabenden Schichten angehören mussten; s. # 39; # 109.
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aus der betreffenden Provinz mit einer Klage wegen Missbrauchs, so konnte es zu einem sog. Repetundenprozess kommen, einer „Rückforderungs“-Klage (s.o. 3.2.1). Cicero, als Politiker kaltgestellt, versuchte sich den kommenden Machthabern unter Caesar damit zu empfehlen,⁵¹ dass er sein letztes Prokonsulat, das ihm 51/50 v.Chr. für Kilikien übertragen wurde, kostenlos ausführte (Att. 5,12– 6,2), also mehr als mustergültig. Dieses System ähnelt dem neuzeitlichen Kolonialismus; doch sind die Unterschiede nicht zu übersehen. Sie liegen zunächst in der Benennung. Als colonia bezeichnete man eine Ansiedlung römischer Bürger unter Beibehaltung ihres Rechts und ihrer Bräuche auf fremdem Gebiet, man kann sagen: eine Usurpation von Gelände. Von dort aus das Umland zu beherrschen, war nicht der Zweck der dort sich niederlassenden Zivilisten und Veteranen; das geschah vielmehr im Auftrag des Senats durch hochrangige, auch militärisch hochrangige und jedenfalls mit imperium versehene Funktionäre, die sich in diversen Posten bis in den Senat hochgedient hatten. Selbst mit dem Wort provincia war etwas anderes gemeint als heute, nämlich die Durchsetzung römischer Militärmacht jenseits der eigenen Grenzen. Eine territoriale Bedeutung erhielt dieses Wort erst mit Ende der Republik (Oxf. Handbook 112 f ), also in dem uns interessierenden Zeitraum (# 92). Mit Philippi (# 326, # 327) haben wir eine colonia vor uns, und es überrascht nun nicht mehr, dass dort andere Gemeindestrukturen bestehen und dass gerade dort Paulus auf den Gedanken kommt, die Christen könnten exterritorial sein zur übrigen Welt. Die Provinzchefs waren also, nicht weniger als in Roms Stadtgebiet die Praetoren, rechtsschöpferisch tätig. Das album (sc. lignum album), ein weiß gekalktes Brett zum öffentlichen Anschreiben von Erlassen (Kunkel/Sch., RRG 119; Oxf. Handbook 28), diente, in Parallelaufzeichnung auf Papyrus allmählich zum Buch anwachsend, als Rechtssammlung des gerade Aktuellen (K/K/L, Privatrecht § 2,1– 17 → 2,10 – 21; Oxf. Handbook 120; s. # 92 zur „Rechtspublizistik“). In den Provinzen, allerdings nicht in Judäa, sind Inschriften mit Auszügen aus den Edikten bekannt.⁵² Hadrian (reg. 117– 138) war es, der sie in ihrem damaligen römischen Textbestand festschreiben ließ zum dem besagten edictum perpetuum. Fortan waren es dann die Kaiser selbst, die Gesetze erließen;⁵³ aber diese Entwicklung liegt schon außerhalb des neutestamentlichen Zeitraums (der ja zufällig genau bis Hadrian reicht: Apk.; 2Petr.). Alle jüngeren Rechtsquellen sind zur Interpretation neutestamentlicher Texte mit derselben Vorsicht zu heranzuziehen wie die Mischna und was ihr auf jüdischer Seite folgte. Geltendes Recht war all das weder für Jesus noch für seine Boten und Zeugen. Doch lässt sich je nach Wortlaut oder auch nach externen Zeugnissen evtl. feststellen,
Vielleicht ist es auch schon seine Nachwelt, der er sich damit empfiehlt – ganz wie Nehemia in der in # 294 zu zitierenden Notiz Neh 5,14. Details z. B. bei Jackson, „Roman influence“ 177. Selbst der Ausdruck „Rubrik“ kommt von dort; was heute Überschriften wären, waren auf dem album solche Wörter, die mit Rötel (rubrica) ausgeführt waren. Vgl. Oxf. Handbook 32. S.u. B 5 unter constitutio principis. Details bei F. HURLET: „Les origines de la juridiction impériale: Imperator Caesar Augustus iudex“, in Haensch u. a., Recht haben 5 – 40; J.-P. CORIAT: „L’empereur juge et son tribunal à la fin du Principat“, ebd. 41– 62.
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dass eine schon länger geübte Praxis hier festgeschrieben – oder, je nachdem, ihr eine neue, wünschenswertere entgegengesetzt wurde.
3.3.2 Das prätorische Recht in den Provinzen Auf jedem Gebiet, das sie eroberten, trafen die Römer Rechtsverhältnisse an, die anders waren als ihre gewohnten, wenigstens teilweise. Eine kleine Auswahl an Unterschieden bietet das Oxf. Handbook 61. Die Erwartung, dass daraus Schwierigkeiten gekommen wären, bestätigt sich jedoch nicht. „Das Römische Reich war in Rechtsfragen pluralistisch (legally pluralist)“, stellt das Oxf. Handbook (283, C. ANDO) fest, und weiter (übersetzt): das heißt: in jedem politischen Raum konnten unterschiedliche Rechtsinstanzen, aus unterschiedlichen Quellen kommend, und unterschiedliche Institutionen der Konfliktbewältigung Autorität haben in jedem auftretenden Fall.
Das gilt zunächst gegenüber Griechenland und dem Hellenismus. Was in Rom eine bewusste Übernahme war und ein bewusstes Lernen,⁵⁴ geschah im Osten über Handel und Verkehr. Als Grundsatz benennt das Oxf. Handbook (284) noch aus der Zeit der Republik: „Rom hatte eine klare Praxis, besiegten Völkerschaften sogenannte ,Autonomie‘ zu gewähren“.⁵⁵ Cicero als Gouverneur von Kilikien urteilte in den dortigen Städten nach einheimischem, griechischem Recht,⁵⁶ wenn auch – so wird im Oxf. Handbook 117 plausibel vermutet – in einem auf römische Art geführten Prozess. Auch Plinius als Statthalter Bithyniens richtete sich nach den jeweiligen Polis-Verfassungen (Ep. 10,109.113; Oxf. Handbook 290), und P. Oxy. 3015 bestätigt das für die Handhabung ägyptischer Gesetze durch die Römer (Oxf. Handbook ebd.). – In wichtigen Dingen jedoch, die Roms Oberbefehl (imperium), seine Kriegserfolge und seine Sicherheit betrafen, galt nur römisches Recht (Cicero, Pro Balbo 20 – 22; Oxf. Handbook 285). Erst wo lokales Recht nicht mehr ausreichte, wurde ohne weiteres das römische angewandt (Oxf. Handbook 292). Insofern kann man sagen, die römische Justiz verhielt sich subsidiär zur einheimischen. Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, holten die römischen Funktionäre sich Auskünfte bei lokalen Experten (ebd. 291; # 100); hierbei wurde auch nachgefragt, ob die angegebenen Bestimmungen bei früheren Prozessen S.o. 3.1 über die Senatskommission, die Griechenland besuchte, ehe sie die Zwölf Tafeln textete. Anspielung an Cicero, Att. 6,1,12 (s. nächste Anm.), wo Cicero seine eigene Praxis beschreibt und auch dazusagt, welche Autonomiebereiche er den ihm unterstellten kleinasiatischen Griechenstädten beließ. Eine Dankinschrift, die im Blick auf sein Prokonsulat in der Provinz Asia um 58 v.Chr. ihm zu Ehren in Klaros (Lydien) aufgestellt wurde und ihn als Wohltäter (euergetēs) preist, ist bei H/L, Documents 9 Nr. 6 (15 f ) abgedruckt und kommentiert. Att. 6,2,3 f: „Omnes, suis legibus et iudiciis usae, autonomian adeptae, revixerunt“ – sie seien davon aufgelebt.
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tatsächlich Anwendung gefunden hätten (Ulpian D. 1,3,34). Auf „Schubladengesetze“, zumal fremde, oder auch auf Selbstidealisierungen, wie sie sich in schöngeistiger Literatur finden,⁵⁷ hat Rom sich nicht eingelassen. Als Beispiel für das Zusammenspiel der Rechte im lateinischen Westen sei die 1981 im einstigen Irni (Provinz Baetica, Andalusien) auf Bronzetafeln (6 von 10) aufgefundene Stadtverfassung vom Ende des 1. Jh., lex Irnitana genannt. Sie bietet viele Details, die auch in anderen Provinzstädten ähnlich geregelt gewesen sein mögen.⁵⁸ Dazu gehört die Begrenzung der Zuständigkeit der lokalen Jurisprudenz auf Zivilsachen im Streitwert bis 1000 Sesterzen. Alles Ehrenrührige (actiones famosae) – Diebstahl, Betrug, Gewalt u. a.m. – blieb dem Provinzgouverneur zur Beurteilung überlassen (Oxf. Handbook 130). Daraus ist allerdings nicht ohne weiteres auf Judäa zu schließen, denn Jerusalem, eine weit größere Stadt mit seinem angestammten Synhedrium, lebte unter anderen Bedingungen. Zu denken ist aber an die kleineren Städte Judäas, die hellenisierten am Rande zumal, aber auch eine wie Kapharnaum, Bethsaida oder Magdala, nur dass wir konkrete Nachrichten darüber nicht haben. Im Freiraum des damals noch Ungeregelten erfolgten die Ad-hoc-Urteile, besser aber Grundsatzentscheidungen der Provinzgouverneure, die ihre römischen Prinzipien regionalspezifisch anwendeten; als oberste Ordnungshüter waren sie dafür zuständig, die Rechtsprechung den Gegebenheiten anzupassen. Sie taten es durch öffentliche Bekanntgaben (edicta) des Inhalts, welche Art von Zivilklage (actio), die es bisher noch nicht gab, nunmehr akzeptiert werden würde. Actionem do, „ich gebe die Möglichkeit zum Prozess“, heißt es dann auf dem album. Über den Unterschied zwischen „in ius konzipierte“ (dem Civilrecht eingepasste) und „in factum konzipierte“, der vereinfachten Prozesspraxis gegenüber Nichtrömern entsprechende Entscheidungsformeln s. Kaser, Ius gentium 125 (Gaius 4,45 – 47). Die Ämter- und Gerichtshierarchie, welche die Römer in den Provinzen gemeinhin einführten, ist detailliert dargestellt bei Czajkowski, Localized Law 166 – 198. Dahinter stand als Exekutivmacht das Heer. Der Provinzchef war auch dessen Oberbefehlshaber. Zu Zeiten Jesu hatte der Präfekt von Syrien zwei Legionen (in anderen, kleineren Provinzen war es nur eine) in Antiochien stehen, der Prokurator von Judäa verfügte über einige Hundertschaften in Caesarea Maritima und eine Garnison („die“ Kohorte, # 164) in Jerusalem. Mehr als „Ruhe und Ordnung“ und den Fluss der Abgaben mussten diese nicht gewährleisten; in innere Strukturen griff man nicht ein. Nicht nur im konfliktreichen Lebenslauf des Paulus, der bei Gefahr auf seine zweite, römische Identität zurückgriff (# 221), sondern auch an Dokumenten, die in der Zeit zwischen den beiden jüdischen Kriegen entstanden sind und heute als die P. Yadin be-
Bei Diodor 1,94 f (# 235) wird, offenbar aus dem Mund ägyptischer Priester, die Griechisch gelernt hatten, ein Idealbild des einheimischen Zivilrechts vermittelt, das die Römer sicher nicht für bare Münze nahmen. Noch übertriebener sind die Darstellungen jüdischen Strafrechts auf Griechisch, die sich bei Josephus, C.Ap. 2,190 – 218 (aus einer heute verlorenen alexandrinischen Quelle) finden (vgl. Siegert, EHJL 516– 518); doch hier kamen die Römer nicht in die Rolle ausführender Behörden. Oxf. Handbook 49 f.120 f u. ö.; vgl. # 97. Solch eine Verfassung muss „funktioniert“ haben.
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kannt sind (s.u. C 4.4.1), erweist sich: Es gab Wahlmöglichkeiten, nach welchem Recht man seine Interessen wahren wollte. Jackson, „Roman influence“ 171 gibt die Verteilungsformel: „Tendenziell bevorzugte man örtliches Recht für Wirtschaftliches, aber römische Vorbilder für Testamente und Verwandtschaftsbeziehungen.“⁵⁹ Das römische ius civile galt sowieso nur als Privileg römischer Bürger, der cives (vgl. B 5,5); für die Nichtrömer, die peregrini, galten einfachere Bestimmungen und Prozeduren ohne den religiösen Anstrich der altlateinischen Formeln. Aber auch eine Lösung wie in Spanien, wo dortigen Städten latinisches Recht und latinische Bürgerschaft gegeben wurde (womit sie peregrini blieben, wenn auch bevorzugte; Oxf. Handbook 121), wurde nur in lateinischsprachigen Gegenden praktiziert. Das Oxf. Handbook bestätigt unter der Überschrift „Roman jurisdiction and peregrine law“ (60 – 62, J. L. ALONSO) das bisher gewonnene Bild: fremdes Recht sei nicht nur toleriert, sondern zweckdienlich angewendet worden. Ein Beispiel ist die Geschwisterehe für Nichtrömer in Ägypten, wo sie nun mal üblich war. Solange keine römischen Interessen betroffen waren (die bezogen sich auf die Steuern und die Getreidelieferungen an die Stadt Rom), mochte alles so bleiben.⁶⁰ Die Provinzen galten nicht als rechtsgleich, sondern man ging von einer lex provinciae aus, einem je eigenen Entwicklungsstand des Rechtes, der auch in den Dienstaufträgen an die Provinzchefs berücksichtigt, mitunter sogar präzisiert wurde (Oxf. Handbook 116). Ältere Publikationen zu den P. Yadin (Babata-Korrespondenz; s.u. C 4.4.1) tendierten zu einer Überzeichnung des Gegensatzes zwischen Jüdischem und Nichtjüdischem. Inzwischen aber ist klar: Es war gerade das Zusammenspiel der Rechte, ja das Überwiegen des römischen, welches für die Interessen dieser wohlhabenden Dame funktionierte. In einer Gesamtstudie dieser Dokumenation (Oudshoorn, Relationship) plädiert die Autorin mit vollem Recht für ein „und“ an vielen Stellen, wo bisher die Analysen ein „oder“ setzten, desgleichen Cotton, „The Rabbis and the documents“ 170 – 173, ebenso Czajkowski, Localized Law 162– 165 („Local tribunals and Roman imperial power: effects and interaction“). Dass die frühen Rabbinen, die Tannaiten, die Inanspruchnahme paganer Justiz verboten hätten, hat Hannah Cotton nur an zwei Stellen in deren eigener Literatur finden können (170/171). Die Praxis zu ihrer Zeit wird großenteils anders gewesen sein, rein zivil und nach Gewohnheitsrechten. Dem Nebeneinander und Ineinander der Dienste entspricht eine gewisse Verteilungsregel: Alles, was vor römischen Behörden gelten sollte, wurde auf Griechisch geschrieben, auch wenn die Auftraggeber der Urkunde es nur halb verstanden. Nur Privaturkunden sind auf Aramäisch bzw. Nabatäisch geschrieben. Römisches Recht hatte also dienende Funktion, im Übrigen auch Schutzfunktion für römische Bürger im Ausland. Es bestand kein Interesse an einer Rechtsvereinheitli Im Gegenzug dazu – auch das bemerkt Jackson 363 Anm. 112 – war das römische Recht der peregrini darauf angelegt, ihnen Wirtschaftsbeziehungen zu Römern zu erleichtern, sogar über juristische Fiktionen. Der Sinn (das Interesse) der Geschwisterehen war denn auch ein anderer, nämlich die Vermeidung einer Teilung von Grunderbe in der Familie (H. J. Wolff, „Hellenistic private law“ 539).
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chung etwa als Machtmittel. Als solches hatte man das Militär; das Recht aber empfahl sich durch bloßes Funktionieren. Die römischen Verwaltungschefs pflegten Rechtsberater (nomikoi, vgl. # 100; # 108) aus der Region bei sich zu haben, um zu möglichst niedrigschwelligen Konfliktlösungen zu kommen (Czajkowski, Localized Law 181– 184). Auch Archive bisheriger Entscheidungen wurden zu diesem Zweck gehalten (ebd. 184– 187). Nicht nur konnte den Streitparteien nachgewiesen werden, was für sie aus bisherigen Verfahren bindend war; auch der Senator oder der Offizier, der dem Gerichte vorsaß, ließ sich daraus informieren. Von Salvius Julianus, einem angesehenen Juristen der Zeit Hadrians, wird folgende Regel tradiert (D. 1,3,32 pr.; lat. u. engl. auch bei Czajkowski, Localized Law 171): In Verfahren, wo wir keine geschriebenen Gesetze zur Verfügung haben, hält man sich passenderweise an das, was durch Herkommen und Gewohnheit eingeführt ist, und wenn es das in irgendeiner Angelegenheit nicht gibt, gehen wir nach der nächsten Analogie (quod proximum et consequens ei est).⁶¹ Wenn auch eine solche nicht vorliegt, ist dasjenige Recht, dessen auch die Stadt Rom sich bedient, anzuwenden.
Für die vorhandenen Verwaltungsstrukturen in den Provinzen werden wir sehen (# 92 zum Thema „Provinz“; # 39 zum Thema „Zöllner“): Sie wurden keineswegs ersetzt, sondern nur um die oberste Verwaltungs- und Entscheidungsebene ergänzt. Die lokalen Eliten blieben im Dienst; so hatte bereits Alexander, der große Eroberer, es in seinem expandierenden Reich gehalten. Roms Emissäre hatten, um ihren Entscheidungen Nachdruck zu verleihen, als ultima ratio das Militär zur Verfügung, wobei übrigens die Offiziere der Reiterarmee, stets selbst equites von Rang, nicht selten Dienste ausübten,⁶² ähnlich einem Notariat oder einem Amtsgericht – einfacher natürlich, aber wohl auch schon gegen Gebührenzahlung. In vielen Artikeln führt das Oxf. Handbook vor Augen, wie „schlank“ und effektiv die römische Verwaltung war.⁶³ Hier hat der römische Geburts- und Verdienstadel die Aufgaben – auch die Einkünfte – unter sich verteilt. In Rom erprobte Funktionäre, dem Senatoren- oder wenigstens dem Ritterstand angehörend (# 92), wurden vom Senat in die Provinzen entsandt; für deren Respektierung sorgten zusätzlich die ihrem Befehl unterstehenden Legionen. Alles Zivile jedoch lief über Kollaboration. Man wird die dafür zu gewinnenden lokalen Eliten schon daran erkannt haben, dass sie, ähnlich gut wie jene Römer selbst, Griechisch konnten. Lokale Autori Vielleicht soll man das in einer Rangfolge denken; dann wären übergeordnete Gesichtspunkte gemeint. Details s. Cotton/Eck, „Roman officials“. Der P. Yadin 11 v.J. 124 (s. # 104) ist hierfür ein Beispiel. Kirner, Strafgewalt 64 schätzt, „daß es möglich sein musste, rund 40 Provinzen bei einer Bevölkerung von immerhin 50 – 60 Millionen mit im ganzen nur von einhundertfünfzig Spitzenbeamten aus dem Senatoren- und Ritterstand zu verwalten“. Ebenso Krause, Gefängnisse 350: „Trotz aller Ansätze zum Aufbau eines Verwaltungsapparates blieb das Römische Reich, selbst noch in der Spätantike, unteradministriert. Straftaten konnten staatlicherseits nur selektiv geahndet werden. Es kam dann gar nicht darauf an, sämtliche Straftäter zu inhaftieren, wie dies in unserem Rechtssystem angestrebt wird (…). In der Antike mußte man sich bei einem fehlenden Polizeiapparat von vornherein mit einer exemplarischen Bestrafung begnügen.“
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täten jedenfalls waren es, welche die von Rom geforderten Abgaben (# 38; # 92) einzuziehen hatten. So hat man denn Roms Übermacht an der Präsenz von Militär und am Steuernzahlen gespürt, sich aber auch der Fähigkeiten – und der Zuständigkeiten – dieser Fremden bedient, die eine hohe Konfliktlösungskompetenz mitbrachten. Im Rückblick auf die Auswertung der Babata-Papyri schreibt Hannah Cotton („Jewish Jurisdiction“ 18): Ohne Zwang und ohne den Versuch, Einheitlichkeit aufzuerlegen, lud die bloße Präsenz der Römer als oberster Autorität in der Provinz dazu ein, an ihre Autorität zu appellieren, an ihre Gerichte ebenso wie an ihre Gesetze.
Ebenso Oxf. Handbook 173 (M. PEACHIN): Rechtssicherheit (…) war ein tragendes Element in Roms Beharrungsvermögen, genau deswegen, weil diese Rechtssicherheit ein inhaltlicher Grund war für die Akzeptierung von Roms Herrschaft seitens derer, die unter ihr lebten.
3.4 Die Evangelien, das Prätorische Edikt und die Mischna: Ihre parallele Entstehung Kann das Zufall sein?: Die drei Hauptquellen für die hier vorzunehmenden Rechtsvergleiche sind in einer zeitlichen Parallelität entstanden. Das gilt auch für den jeweiligen Vorlauf im 1. Jh. v.Chr., dessen folgenreiche Rechtsneuerungen auf römischer Seite ihr Gegenstück haben in der Halacha des Pharisaismus auf der judäischen (wohingegen der Sadduzaismus ja konservativ blieb, sozusagen dem Civilrecht verhaftet). Selbst forschungsgeschichtlich ergibt sich eine Parallele. Unsere Kenntnis des Prätorischen Ediktes, von dessen älteren Fassungen nur Fragmente an verschiedenen Stellen erhalten sind, verdankt sich einer ähnlichen Rekonstruktionsarbeit der Philologen wie die Logienquelle Q; d. h. zeitlich ist es sogar umgekehrt: Otto Lenel hatte seine – hypothetisch geordnete – Fragmentensammlung Das edictum perpetuum ein erstes Mal fertig (1883),⁶⁴ ehe Adolf Harnack seine Sprüche und Reden Jesu (1907) herausgab. Lenels Rekonstruktion bietet an Textumfang vielleicht nur ein Viertel dessen, was unsere andere Rechtsquelle des 2. Jh., die Institutionen des Gaius, bieten; doch waren die Ediktstexte von anderer, viel verbindlicherer Art. Sie waren kein Lehrbuch über das Recht, sondern geltendes Recht. Auoch die Weiterverwendung überlieferter Rechtstexte in den sich bildenden Schriftwerken zeigt parallele Eingriffe redaktioneller Art: Die Wortwahl wurde dem neuen Kontext angeglichen, Preise für Buß- und Garantiezahlungen wurden dem ge-
Die Wiedergabe dieser Rekonstruktion „des“ Edikts (eigentlich ist es eine Ediktensammlung, in FIRA I umfasst nur gut 50 Seiten, unter Übernahme der von Lenel eingeführen Nummerierung. Nach dieser wird hier zitiert (mit §) und zusätzlich nach den Seiten der Letztauflage der FIRA.
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sunkenen Geldwert angepasst und Widersprüchlichkeiten durch Textänderung bzw. -kürzung ausgemerzt, wenn auch nicht immer. Manches an Unterschieden blieb unbemerkt, zur Freude der Philologen und Historiker. Folgendermaßen lassen die diversen Textentstehungen sich vergleichen (Vermutetes mit Fragezeichen, Unterschiede in Kursive): Arbeitsschritt
Evangelien
Edikt
Sammlung auf provisorischem Textträger Wachstafeln (?) Album Ordnung und Redaktion; Kursieren vorläufiger Fassungen Papyruskopien (?) Papyruskopien narrative Folge thematische Folge (> Gaius-Schema)
Mischna
Zeit
Gedächtnis
meist . Jh.
Gedächtnisstoff Ordnungen, massäktôt (aus der Zeit Hillels)
Festlegung des Textes und Veröffentlichung (aus Q verarbeitet: Lk., Mt., EvThom.) Salvius Iulianus
ca. –
R. Juda ha-Naśi’
ca. kurz nach
Kommentare Apollinaris v. Laodicea orthodoxe Kirchenväter
Gaius Ulpian, Julius Paulus
Jerusalemer Talmud Babylonischer Talmud
noch . Jh. ./. Jh. ./. Jh.
Was die textliche Festlegung angeht, so läuft die Kanonisierung der vier Evangelien (ca. 170) mit der Festschreibung des edictum perpetuum etwa synchron. Letztere wiederum könnte, als Text von Rechtscharakter, den Rabbinen den Anstoß gegeben haben zu ihrem Abgehen vom Mündlichkeitsprinzip. Anders als die vier Evangelien oder das edictum perpetuum ist R. Judas Fassung der Mischna allerdings zunächst noch ein Zwischenergebnis gewesen; einiges an Zusätzen kam hinzu, was im Text selbst die Namen späterer Rabbinen trägt. Etwa gleichzeitig hat man die alternativen Traditionen eigens archiviert in der Tosefta (s.u. B 2.6.4). Diese ist uns wichtig als Reservoir von Entscheidungen, die noch das Jerusalem des Zweiten Tempels betreffen. Was sodann die beiden Talmudim angeht, wovon der Babylonische nicht nur der größere, sondern der anschließend allein noch maßgebliche wurde, so könnte man eine gewisse Parallele ziehen zum Codex Theodosianus, der von den Digesten und dem Codex Iustinianus seinerseits abgelöst wurde. Auch wird es kein Zufall sein, dass der Babylonische Talmud schon in den (stets schon mittelalterlichen) Manuskripten und dann auch in den Drucken das gleiche Schriftbild aufweist wie die Digesten. Auch da noch haben sich, scheint es, die Juristen gegenseitig über die Schultern geguckt. Textblöcke wurden umrahmt mit Glossen und Kommentaren und auch diese wieder mit Kommentaren.
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3.5 Konflikt der Rechtsordnungen im Neuen Testament? Ein erstes Projekt des vorliegenden Werkes war ausgegangen von der Konfrontation der Jerusalemer mit dem zögernden Pilatus in Joh 19,7, wo sie sagen: „Wir haben ein Gesetz, und nach dem Gesetz muss er sterben“. Im selben Prozess fällt der Satz: „Uns ist [das meint: von römischer Seite] nicht erlaubt, jemanden zu töten“ (Joh 18,31) – als hätte Pilatus nicht gerade selber gesagt: „Richtet ihn nach eurem Gesetz!“ (ebd.). Solche erzählerische Dramatisierung ist für rechtsgeschichtliche Wahrheit genommen worden, obwohl schon der innere Widerspruch des Textes davor hätte warnen müssen. Auf Blasphemie (deren man Jesus beschuldigte – in Mk 14,64 parr. gilt er als überführt) stand in der Tora ja die Todesstrafe, und Pilatus gibt sie den Judäern frei.Vielmehr hat sich bei der Kommentararbeit herausgestellt, dass die diversen Rechtsordnungen, die man in Judäa kannte, auch in Jesu Umgebung so miteinander harmonierten wie oben dargestellt. Das Zöllnerproblem war ein innerjüdisches (# 39), keines mit Rom, und die Provokation des jährlich zu entrichtenden Kaiserdenars, an Jesus weitergereicht, führt zu einer völlig gelassenen Reaktion seinerseits (# 67). Die Spannungen, die es gab, lagen nicht auf dem Gebiet der Justiz. Am Halten der Tora waren die Judäer ungehindert – im Privatleben; allerdings musste es sie wurmen, wie wenig ihre Vasallenkönige den von Tora und Propheten herrührenden Vorstellungen von Herrschaft entsprachen. Der Wunsch nach mehr Autonomie steht im Hintergrund vieler Anfragen an Jesus (bes. in Joh 8; # 173), aber seine Reich-Gottes-Botschaft appelliert an die Selbstkorrektur der Einzelnen. Die Treue im Kleinen (Lk 16,10; # 106) sollte ein Gott-dienen-Dürfen im Großen⁶⁵ vorbereiten. Erst die spätesten Johannestexte (hier„Joh C“ genannt) und die Johannesapokalypse, die beide in dem uns überlieferten Text der hadrianischen Zeit zuzuschreiben sind, lassen mit ihrer Ablehnung der „Welt“ (das meint dort die griechisch-römische Gesellschaft) und mit der Erwähnung eines ersten Märtyrers gegenüber Rom (Antipas, # 392) einen Konflikt erkennen. Keine Steuerforderung, sondern zunehmende Selbstvergottung der Kaiser in Kleinasien nährten die Spannung, und die ersten, die an den Kaiserdenkmalen in kleinasiatischen Neubauten Anstoß nahmen, waren die dortigen Christen, während die Juden dank Caesars Privilegien (s.u. C 4.2.2) unbehelligt blieben.⁶⁶ Hier wurden Weichen gestellt für eine Jahrhunderte währende Konfrontation mit dem Staat. Erst als dieser selbst christlich wurde, verschoben sich die Parameter. Nun wurde auch hin und wieder die Bibel als Rechtsquelle genutzt, allerdings nur inkonsequent und auf eine Art, die zur Exegese der Texte in ihrem Ursinn nichts mehr beiträgt. Dazu Die Fragen, die an Johannes den Täufer in Joh 3 (# 94) gerichtet werden, zielen darauf. Nicht zuletzt das dürfte ihnen den Neid und den Hass eingetragen haben, von dem die Apk sprüht. Da hilft es auch nichts, Apg 2,9 und 3,9 zum Konflikt zwischen Heiden- und Judenchristen zu verkleinern (s.u. vor # 391); Judenchristen hatten immer noch die ärgerlichen Privilegien.
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wird hier nicht mehr zu sagen sein als unten in C 4.5.1– 2. – Vorgreifend jedoch auf das, was ab C 4.5.3 im Detail folgen wird, soll der nunmehr folgende Abschnitt Auskunft geben, warum gerade die protestantischen Barockjuristen in den folgenden Kommentarbänden so ausgiebige Beachtung finden werden. Nicht nur dass einer der bekanntesten, Hugo Grotius, selbst einen NT-Kommentar geschrieben hat, einen bis heute bekannten und benutzten; einige weitere sind es, die den von Luther neu eröffneten Zugang zur Bibel zu einer Rechtsbegründung genützt haben, die nicht in Verlängerung der Gesetzgebung vom Sinai geschieht, sondern aus christlicher Freiheit kommt. Diese aber ist ein Ur-Anliegen des Neuen Testaments wie auch der Reformation.
4 Die Barockjurisprudenz als Brücke zur Gegenwart: Grotius, Pufendorf und das „lutherische“ Naturrecht 4.1 Naturrecht als Rechtsbegründung Die große Überraschung bei der Vorbereitung dieses Kommentars war die neulateinische Fachliteratur bibelkundiger Autoren zu Fragen der Rechtsbegründung. Sie reicht von der Spätrenaissance (Grotius) bis in die Aufklärungszeit (Schule Pufendorfs und Wolffs). Die gesamte Antike steht diesen Gelehrten zur Verfügung so wie heute nur noch professionellen Altertumswissenschaftlern. – Folgende Werke werden im Folgenden kontinuierlich herangezogen: ‒ Hugo GROTIUS’ Annotationes in Novum Testamentum (1641); ‒ Samuel PUFENDORF, De Jure Naturae et Gentium (1672) mit Kurzform De officio hominis et civis iuxta legem naturalem (1673) und Verteidigung in Eris Scandica (1674– 1686); ‒ Christian WOLFF, Jus Naturae, Bd. 1 (1740) sowie Grundsätze des Natur- und Völckerrechts (1754). Hinzu kommen einige über die Grenzen ihrer Disziplin hinausblickende Theologen der Zeit, Dietrich HACKSPAN, Tobias PFANNER (beide 17. Jh.) und Lorenz MOSHEIM (18. Jh.).¹ Bei ihnen findet man manches an kritischen Analysen und klugen Beobachtungen, was heute schon wieder eine Überraschung ist. Diese Werke sind, vom lateinischen Sprachgewand abgesehen, von einer erstaunlichen Modernität, und sie sind bis heute unausgeschöpft. Insbesondere von Pufendorf hat sich bei der Lektüre seiner Werke herausgestellt, dass überall, wo er sich von der herrschenden Theologenmeinung seiner Zeit absetzt, die Folgezeit ihm Recht gab; was damals die Kirchenvertreter ihm bestreiten wollten, ist akademische Theologie von heute. Im Gegensatz zu ihnen, jedoch in konsequenter Anwendung von Luthers Zwei-Reiche-Lehre betreibt er Jurisprudenz als ein ganz weltliches Geschäft – anders als es in der „Theopolitik“ der Reformierten und der Anglikaner (C 4.6.2– 3) der Fall war. Jeder „christlichen“ Philosophie, Politik, Rechts- oder gar Naturwissenschaft, wie sie damals noch gefordert wurden, hält Pufendorf entgegen, dass die biblischen Texte nur ihrem Zweck gemäß interpretiert werden dürfen, als Brückenschlag zu Gott dem Schöpfer und Erlöser, nicht aber als objektives Wissen: Niemand werde wegen 1Kön 7,23
Dabei seien Unterschiede in den Auffassungen dieser Gelehrten hier nicht geleugnet, werden aber nur genannt, wo sie relevant sind. Pfanner z. B. als Platoniker wäre mit Pufendorfs empirischem Ansatz vermutlich nicht einverstanden gewesen. https://doi.org/10.1515/9783110658347-005
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oder 2Chr 4,2 die Zahl π auf 3 festlegen (Eris 337). Die Bibel, sagt er, spricht ad captum populi, sie eignet sich nicht, um eine Philosophie daraus zu gewinnen und ist darum auch keine unmittelbar relevante Rechtsquelle für die Gegenwart. An der damals geführten Debatte lässt sich ermessen, welch nutzlose Rückzugsgefechte die christlichen Kirchen – je nach Denomination unterschiedlich stark – geführt haben und bis heute führen, um das Weltbild der Bibel und ihre vorempirische Naturauffassung als Glaubensgut aufrecht zu erhalten. Selbst mangelnden Glauben an den Teufel und an Gespenster musste nicht nur Spinoza, sondern auch Pufendorf sich damals von theologischer Seite vorwerfen lassen (# 219). So ist nun auf den altertümlich klingenden, dabei aber hochaktuellen Begriff des Naturrechts – als Rechtsbegründung nämlich – zurückzukommen.
4.2 Ius, nicht lex naturae Die Rechtslehre dieser Barockgelehrten lief v. a. unter der Bezeichnung „Naturrecht“ (ius naturae), in Ablösung des mehrdeutigen Ausdrucks lex naturae „Naturgesetz“, in dessen Gebrauch die herkömmliche Scholastik und die sich bildenden Naturwissenschaften sich nur missverstehen konnten. Damit ist die Definition aus der antiken Stoa, wie sie aus I. 1,2 pr. = D. 1,1,1,3 noch heute zitiert wird, überholt. Gegen dieses – wie man es nennen könnte – kosmische Naturrecht haben die eben genannten Barockgelehrten ein menschliches Naturrecht gesetzt. Sie sind damit von der griechisch-spekulativen auf die römisch-pragmatische Seite der antiken Tradition übergewechselt. Zwar bietet Heumann, Handlexikon unter natura nur lex naturae ² und sonst Umschreibungen; doch bezeugt uns gerade ein in Rom lebender Grieche, Dionysius v. Halikarnass, Antiquitates Romanae 7,41,4 im Munde des Volkstribuns Marcus Decius in einer Rede, die dieser i.J. 352 vor dem Senat gehalten haben müsste, dass er sich auf ein agraphon physeōs dikaion berief, „ungeschriebenes Naturrecht“.³ Wenn es dafür eine lateinische Vorlage gab, müsste sie ius naturale gelautet haben, Adjektiv: non scriptum. Es handelt sich um eine rein politische Entscheidung zum Prozessrecht. Die auch von Philon gehegte Vorstellung, es gebe einen „Willen der Natur“ (in Opif. 3 sogar mit Artikel: to boulēma tēs physeōs), der aus der Struktur des Kosmos zu erkennen sei (und die er dann recht rasch mit dem nomos des Mose identifiziert – Mos. 2,48 u. ö.), wird in der von Grotius ausgehenden Rechtsschule aufgegeben:⁴ Nur um die Natur des Menschen soll es gehen (Exkurs 6; # 263 zu Röm 1,18 ff ) – was auch schon ein komplexer
Die Stelle Ulpian D. 1,5,24 ist immerhin typisch: Uneheliche Kinder erben nur von ihrer Mutter. Auch hier ist der Fall typisch: Decius richtet an die Senatoren die Bitte, ein ungerechtfertigtes Privileg in ihrer – ja auch ungeschriebenen – Geschäftsordnung aufzugeben zugunsten der Plebejer. Wesel, GRE 395 zitiert aus De jure belli ac pacis, Einleitung § 16: „(…) die Mutter des Naturrechts ist die Natur des Menschen selbst (ipsa humana natura), die uns die gegenseitige Gesellschaft anstreben lässt, auch wenn uns sonst gar nichts fehlen würde (…)“.
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Begriff ist, jedoch einer, der auf Erfahrung beruht, auf Selbsterfahrung nämlich und auf Geschichtskenntnis (Exkurs 10). „Naturrecht“ ist in diesen Schriften zu verstehen als die vorbegriffliche und ausdrücklichen menschlichen Setzungen vorausgehende Einsicht in die Regeln gedeihlichen menschlichen Zusammenlebens. (Inzwischen kommt auch das Zusammenleben der Menschheit mit der Natur hinzu.) Was jedoch auszuschließen ist, gegen die allzu weite Definition der Stoiker, ist der Verweis auf das Verhalten der Tiere. Dieses ist nicht normen-, sondern instinktgeleitet. Seine Beschreibung ist Sache einer ganz anderen Disziplin, nämlich der Verhaltensforschung (Ethologie).⁵ Dort findet all das seine angemessene Behandlung, was einst auch nomos physeōs genannt werden konnte, die Gesamtheit der Triebe und Instinkte – etwa der Wille zu überleben, den Josephus, Bell. 3,370.374 dem naturgesetzlich dann doch folgenden Tod entgegensetzt. Genau dagegen hebt sich ab, was neuzeitliche Naturrechtstheorie als ein Sollen (nicht Müssen) des Menschen erforscht und nicht aus Physik und Zoologie gewinnt, sondern aus kollektiver wie auch individueller Erfahrung. Der Reichtum, den hierzu die antiken Quellen bieten, ist weit größer, als es die Definitionen und Distinktionen der Scholastiker ahnen lassen. Die Barockjuristen haben ihn ausgeschöpft. Im Alten Testament spielt Rechtsbegründung keine Rolle; die Tora ist bereits positives Recht. Sie empfiehlt sich zusätzlich als Heilszusage – Hilfszusage – ihres höheren Gesetzgebers, der sich im Munde des Mose, nach Philons Auffassung sogar mit eigener Stimme, die Befreiung Israels aus Ägypten zugute hält als nach seiner Weisung erfolgt (Ex 20,2, das „Evangelium im Gesetz“). Im Neuen Testament, einer Sammlung von Schriften für die Weltmission, macht Paulus mit Bezug auf Nichtjuden das natürliche Rechtsempfinden geltend: Röm 1,18 ff; 2,12 ff (# 263; # 266). Er tut es zwar nur in einer bestimmten Absicht; das Naturrecht dient nur auf Seiten der Anklage. Der lukanische Paulus der Areopag-Rede Apg 17 (## 223 – 225) jedoch geht auch ins Positive, und weiter noch gingen in seinen Spuren die griechischen und lateinischen Kirchenväter, allerdings ohne zwischen Recht und Moral einen Unterschied zu machen. Nun mögen, historisch gesehen, „Hackordnungen“ unter Tieren ein und derselben Species und Population, wie die moderne Verhaltensforschung sie zu beschreiben weiß, in früheren Zeiten auch innerhalb der Gesellschaften, der Ehen und der Familien gegolten haben, vielleicht sogar unter der Bezeichnung des Rechts. Hier aber, und seit Grotius, zählen sie nicht zu dem, was „Naturrecht“ genannt zu werden verdient. Auch ist, was Rechtsbegründung betrifft, die im späten 19. Jh. (Georg JELLINEK) aufgekommene Rede von der „normativen Kraft des Faktischen“ nur auf weniges anwendbar, etwa auf verjährte Ansprüche; rechtsschöpferisch im positiven Sinn müsste dann „die Geschichte“ gewesen sein, jene übermenschliche Hypostase des Hegelianismus und Historismus. Für die Juristen des Luthertums und auch für uns hat sie nichts Normatives an sich.
„Ethologie“ (mit kurzem e) von ethos „Gewohnheit“, zu unterscheiden von ēthos „Ethos (für überlegtes, verantwortbares Handeln).
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4.3 Hugo Grotius, Samuel Pufendorf und das „lutherische“ Naturrecht Der Niederländer Hugo GROTIUS (de Groot, 1583 – 1645), fast genau ein Jahrhundert nach Luther lebend und wirkend, Humanist von Bildung, Jurist von Beruf und später auch Diplomat, nimmt im kirchlichen Leben seiner Zeit eine Sonderstellung ein. Er gehört einer Minderheit im niederländischen Calvinismus an, die als „Arminianer“ (Anhänger eines Jacob Arminius/Harmensz/Hermanss) oder als „Remonstranten“ bezeichnet wurden, weil sie sich von Calvins These einer doppelten Prädestination distanzierten.⁶ Ihr Sprecher Johan van Oldenbarnevelt wurde 1619 dafür hingerichtet, zur Abschreckung für die ganze Gruppe; Grotius kam ins Gefängnis. Schon 15-jährig war er König Heinrich IV. in Paris als Wunderkind vorgeführt worden; mit 16 war er Doktor der Rechte. Nach seiner Befreiung aus dem Gefängnis 1621 (seine Frau ließ ihn in einer Bücherkiste aus dem Gefängnis tragen) schrieb und wirkte Grotius in Frankreich.⁷ Ein sacrificium intellectus um theologischer Thesen willen wäre für ihn nicht in Frage gekommen. Sein weiteres Leben hat er als Exulant v. a. in Frankreich verbracht, mit einem Diplomatenauftrag aus Schweden. Grotius’ Rechtsauffassung kann man in Kürze nachlesen in seiner Anmerkung zu Mt 5,17 (wo Jesus „das Gesetz aufrichtet“): Ihm reicht eine Unterscheidung zwischen natürlichem (naturale) und positivem (constitutum) Recht. Die Tora lässt er zwischen beidem in der Schwebe: Sie sei bei zunehmendem moralischem Verfall der Menschheit als Hilfe Gottes zunächst an Israel nötig gewesen; sofern die Rechtseinsicht nicht von innen kommt, müssen die äußerlichen Handlungen gesteuert werden, um damit Rechtseinsicht hervorzurufen. Pufendorf würdigt sein De jure belli ac pacis als breit angelegte Übersicht solcher Einsichten. Grotius ist für ihn der erste Systematiker des Naturrechts,⁸ und er folgt ihm, wo immer er kann, und ergänzt sein Werk zu einer kompletten Rechtstheorie.
Dazu Link, KRG § 10,26. Der Heidelberger Katechismus von 1563 hatte von dieser Lehre noch nichts gewusst, und sie ist in Deutschland erst durch die im 17. Jh. einwandernden Hugenotten zum Streitthema geworden. Im Zuge der Lehrstreitigkeiten um die Dordrechter Synode 1621, welche die doppelte Prädestinationslehre für die Generalstaaten als Bekenntnis festschrieb, verlor er sein Bleiberecht in den Generalstaaten und lebte fortan im Exil. – Bei Tennemann/Wendt, Grundriss 353 werden diverse Vorbilder für ihn genannt, darunter Johannes OLDENDORP, ein Melanchthonianer des 16. Jh., der, wie bei Elert, Morphologie 356 zu erfahren, den Dekalog für die oder eine Quelle der Zwölf Tafeln hielt und dem menschlichen Geist keine hinreichende Erkenntnis des Naturrechts zutraute. Diesem Urteil in Eris 163.166 – 168.200, einem Forschungsüberblick über die Zeit vor wie nach Grotius, tritt F. Palladini in der Neuausgabe 2002, S. XV bei. Bei aller Bemühung um Systeme hatten die Vorgänger in der Scholastik – so 1612 der überaus vielgelesene Francisco SUÁREZ – nie das Naturrecht als eigenes Wissensgebiet behandelt, sondern mit Moraltheologie verbunden.
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In einem wichtigen Punkt ist Grotius Luthers Schüler, darin nämlich, dass er die mosaische Gesetzgebung nur für das Volk Israel für verbindlich hält, nicht für alle Welt.⁹ Das erspart ihm die Mühe, allerlei Besonderheiten der Tora durch Allegorisieren, Moralisieren oder wie auch immer allgemeingültig machen zu müssen. Auch findet sich bei ihm die sog. etiamsi-daremus-Formel aus der franziskanischen Scholastik, die Luther in einschlägigem Zusammenhang seinerseits gebraucht hatte (# 255) und worin Rechtserkenntnis nicht von Gotteserkenntnis abhängig gemacht wird. Bei ihm zersprengt der in der reformatorischen Staatslehre mit enthaltne Begriff des natürlichen Rechts die theologischen und kirchlichen Bindungen und führt zur Begründung einer rein vernünftigen und weltlichen Rechts- und Staatslehre
– so Emanuel Hirsch (Geschichte I 15). Zugleich zählt Grotius zu den Vorbildern einer unvoreingenommen historisch-philologischen Schriftauslegung bereits zu Beginn der Barockzeit. Sein De jure belli ac pacis (1625), geschrieben im französischen Exil, noch früh im Dreißigjährigen Krieg, und Ludwig XIII. gewidmet,¹⁰ kam in Rom auf den Index librorum prohibitorum. Pufendorf, der das vermerkt und auch den Grund,¹¹ brauchte dann nur noch diesen Ansatz auf den gesamten Geltungsbereich des Naturrechts auszudehnen, unter Anlegung einer eigenen, im Großen und Ganzen aber Gaius folgenden Gliederung. Grotius’ Einsichten bewährten sich durch Anwendbarkeit. Noch heute ist er bekannt als der geistige Vater des Westfälischen Friedens von 1648. Grotius’ völkerrechtliches Hauptwerk ist in vorliegendem Werk berücksichtigt nach seinen Wiedergaben bei Pufendorf (der nicht versäumt anzugeben, wie sehr er auf ihm fußt) und Späteren; nur im Zweifelsfall wurde das Original herangezogen. Durchverglichen wurden seine beiden Bände Annotationes in Novum Testamentum. Dort sind, neben der Literatur der klassischen Antike, vorzugsweise hebräische und aramäische Quellen, ja sogar die Peschitta (die syrische Bibelübersetzung) verwendet, wenn auch nicht so planmäßig wie im 20. Jh. bei Paul Billerbeck. Der weitaus wichtigste Rechtsgelehrte mit Bibelkenntnis ist für unser Vorhaben jedoch Samuel PUFENDORF. Seine Werke zum Naturrecht waren es wert, aus der Lektüre der Originale komplett eingearbeitet zu werden, trotz ihres barocken Lateins, und obwohl ihnen, als zeittypischen Lehrbüchern, überquellend von Wissen, der Reiz des
Sie ist ihm nicht mit dem Naturrecht identisch, wie sonst oft, wenn auch mit großen Unschärfen, behauptet wurde und wird. Vgl. hier # 324. Auch Melanchthon neigte zu dieser Auffassung; dazu Elert, Morphologie 381 ff u. ö. Zur Zielsetzung s. Wesel, GRE 396 mit Zitat aus Grotius’ Einleitung, § 11. Einen wichtigen Unterschied in der Quellenbenutzung bemerkt Selb, Antike Rechte 29: „Während Grotius noch fast ausschließlich antike Belege für die eine unabhänderliche Wahrheit seines Entwurfes bot, suchten spätere Naturrechtsdenker überall Belege für die nach ihrer Meinung notwendige Relativierung solcher Konzepte nach Zeit und Raum.“ Das meint v. a. Pufendorf. Ihm sind „vom Darstellungsziel her neuzeitliche exempla neben antiken und weltweite neben solchen des Mittelmerraumes weit dienlicher – sollten doch gerade die notwendigen Unterschiede, nicht die Übereinstimmungen wie bei Grotius dargetan werden.“ Eris 166 f: Grotius sagte nichts Unchristliches, beschränkte aber die Kompetenzen des Klerus.
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Fragments abgeht, der die Rezeption seines Gegners Leibniz bis heute beflügelt (Exkurs 13). Bekannt ist er und wird noch heute genannt u. a. als der Vater des modernen, politischen Begriffs der Menschenwürde (# 288). Ausführlicher wird seine theologische und philosophische Basis zu würdigen sein in C 4.7.2 sowie den Exkursen 10 – 12. Anders als mancher Mönch oder Hagestolz stand er im vollen Menschenleben, war gesellig (man sagt sogar: trinkfest) und kein Kind von Traurigkeit. In Heidelberg wurde er der erste Professor für Natur- und Völkerrecht in Europa. Sein Hauptwerk De jure naturae et gentium, 900 Quartseiten stark (so seit der 2. Auflage)¹² oder darüber (in kommentierten Auflagen), erschienen 1672 in Lund¹³ mit königlicher Genehmigung aus Stockholm, ist ein unerschöpflicher Schatz an Wissen. Aufgebaut ist es nach dem Gaius-Schema, ihm bekannt aus den Institutionen, wobei aber das nur im Vorübergehen berührte Prozessrecht ersetzt ist durch ein Staatsrecht. Für praktische Bedürfnisse war damals das Prozessrecht des päpstlichen Liber extra völlig ausreichend (s.u. C 2.6.1). – Es entsprechen sich, in ungefährer Verdoppelung der Bücherzählung: Gaius, Institutiones 1 2– 3
Personenrecht Vermögensrecht
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Prozessrecht
Puf., JN&G 1– 2 3 – 5 (5,12– 13: Prozessrecht) 6: Ehe- und Familienrecht¹⁴ (anders) 7– 8 Staatsrecht.
Das Placet aus der Hauptstadt, das Pufendorf sich für sein Manuskript geholt hatte, erwies sich als sehr hilfreich angesichts der sofort einsetzenden Anfeindungen – zunächst von Seiten neidischer Kollegen aus der Juristenfakultät (als deren primarius er vom König geholt worden war), dann aber auch derjenigen Theologen unter seinen Lesern, die den Verzicht auf biblische Autorität in der Rechtsbegründung sowie auf einen traditionell-metaphysischen Vorbau seiner Theorie¹⁵ für unfromm hielten und ihn des Atheismus ziehen. Gleiches widerfuhr der Kurzfassung dieses Werkes, De officio hominis et civis (1673). Der große Leibniz hat eine völlig verständnislose Rezension dazu geschrieben; den empirischen Ansatz seines Fachkollegen hat er weder erkannt noch
Alle folgenden sind ihr textlich gleich, bis auf die Druckfehler. Leider hat er offenbar nur bei der ersten, in Lund erschienenen Auflage die Korrekturen selber gelesen. Jean DE BARBEYRAC, Rechtsprofessor in Lausanne, später Groningen (s.u. 4.7.2), war als Übersetzer des JN&G ins Französische nicht selten gezwungen, einen falschen Buchstaben oder ein fehlendes Wort, und wäre es eine Verneinung, konjektural einzufügen. Wer übersetzt, muss entscheiden! Die hier v. a. benutzte Ausgabe 1744 hat seine Korrekturen und Anmerkungen übernommen und weist sie aus. Sie finden sich auch in der Neuausgabe von Frank Böhling, 1998. Nicht in London, wie manchmal falsch transkribiert wird. Hinter Lyon, London und Lund steckt dasselbe keltische Wort. Bei Gaius war das Teil des Personenrechts in Buch 1 gewesen; Ehefrauen in manus-Ehe (# 59) liefen mit unter als Personen, die nicht sui iuris sunt. Das war zu Pufendorfs Zeiten nicht mehr der Stand der Dinge. JN&G 1,1 knüpft mit seinem Begriff der entia moralia dort nur an, um ab 1,2 überzuleiten in eine Handlungstheorie: s.u. Exkurs 12.
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begriffen (s. Exkurs 13). Positiv fußt auf Pufendorf hingegen eines der Gründungsdokumente der USA, die Erklärung der Menschenrechte (Virginia Bill of Rights) von 1776¹⁶ sowie die Pariser Déclaration des droits de l’homme et du citoyen, 1789. Die Unabhängigkeit der Theorie Pufendorfs von der Bibel, so genau er sie auch kennt (häufige Zitate erweisen es), beruht theologisch auf der Einsicht Luthers, dass diese kein Gesetzbuch ist. Den Israeliten waren die Mosebücher Gesetz; den Christen ist die gesamte Bibel eine Quelle der Gotteserkenntnis, ist aber weder Naturkunde noch ein Rechtscodex. Überhaupt, Recht ist für ihn – in gut evangelischer Freiheit – die Ermöglichung von Handlungen weit eher als ihre Verhinderung. Zum Neuen Testament im Besondern sagt er, es sei voll von Anschauungsmaterial für das Naturrecht (Eris 164), aber keine Anweisung (paedia) zu einem solchen (165), wozu in Bd. III die Befunde zu Röm 1 (# 263) und Röm 2 (# 265) vollkommen stimmen werden. – Von den NT-Kommentaren schätzt er insbesondere diejenigen, welche um die ursprüngliche Bedeutung der Worte bemüht sind, und warnt vor solchen Arbeiten, denen „es darum geht, dass allein bei den Priestern die Kompetenz verbleibe, die Gewissen der Menschen nach ihrem Gutdünken zu formen, indem allen anderen das Urteil über ihre Verhaltensweisen verwehrt wird.“ Pufendorf schreibt ad captum universi generis humani – dass alle Menschheit es verstehen kann (ebd. 111.164.168 f.212), und nicht nur die Teilhaber einer bestimmten Religion¹⁷ oder Kultur. Alle Religionen, so führt er ebd. 165 aus, versprechen Belohnungen für anständiges Verhalten; solches lehre auch das Naturrecht, befasse sich dann aber nur mit dem diesseitigen Nutzen solchen Verhaltens. – Grotius’ Ansatz ist nicht spekulativ, wie bis dahin (und auch im 19. Jh. oftmals wieder) Geisteswissenschaft anscheinend sein musste, sondern empirisch, auch wenn er selbst es nur selten so nennt (dazu Exkurs 10). Selbst wissenschaftstheoretisch – man kann hier einschließen: fundamentaltheologisch – war er zukunftsweisend und ist in keiner Weise veraltet. Er vermeidet den Apriorismus vorgegebener, angeblich ewiger Begriffe. Sofern ein solcher sich heute noch in der Theologie, nicht nur der römisch-katholischen, immer noch tradiert, mag es hilfreich sein, anhand eines christlichen Juristen des 17. Jh. davon Abstand zu bekommen, sodass kirchliche Dogmatik nur noch ihren eigenen Bereich abdecken muss. Christian WOLFF, unser nächstwichtiger Gewährsmann (S.u. C 4.7.4 sowie Exkurs 14), hat in seinem Jus naturae methodo scientifica partractatum eine Naturrechtslehre ohne
Dazu z. B. Wesel, GRE 407.413. „Die Verbindung der Erklärung von allgemeinen Menschenrechten mit Verfassungen fand (…) zum ersten Mal in den Vereinigten Staaten statt“ (407). Thomas JEFFERSON ist dafür heute noch bekannt; maßgeblich wirkte mit John WISE, der Kongregationalistischen Kirche angehörig; s. H. WELZEL: „Ein Kapitel aus der Geschichte der amerikanischen Erklärung der Menschenrechte“, in: R. SCHNUR (Hg.): Zur Geschichte der Erklärung der Menschenrechte, 1964 (1974), 238 – 266. An Eris 164 kann man sehen, dass er mit einer Pluralität von Religionen auch in Zukunft rechnete: Das Christentum sei in manchen Teilen der Welt nicht unbekannt (sodass Mission dem abhelfen könnte), sondern werde abgelehnt. Feindschaft gegen andere Religionen, so seine Meinung (ebd. 10), ist aber weder vernünftig noch christlich.
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christliche Voraussetzungen vorgelegt,¹⁸ wovon der erste Band, die Grundlagen bietend, hier sorgfältig eingearbeitet ist. Dadurch dass Wolff in anderen Publikationen aufs Deutsche überging, insbesondere in den – hier eingearbeiteten – Grundsätzen des Natur- und Völckerrechts (1754), erwarb er sich seinen Ruf als Deutschlands Erzaufklärer. Sein Wirken war die erfolgreiche Probe auf Pufendorfs Forderung, wissenschaftliche Einsichten müssten in Umgangssprache (popularibus verbis) vermittelbar sein (Eris 282). Der Maxime WITTGENSTEINs „Was sich sagen lässt, lässt sich klar sagen“ hätten beide sofort zugestimmt. Was danach aus diesem großartigen Ansatz wurde, wird, als hier nicht weiter hilfreich, erst später zu erwähnen sein (C 4.7– 8). Die Brücke zur Gegenwart ist noch zu Elerts Lebzeiten, ja sogar in dessen eigenem Werk¹⁹ – man kann sagen: unter Kriegseinwirkung – vollends eingestürzt. Die evangelische Theologie hat vergessen, welch breiten, tragfähigen Ansatz zur Rechtslehre sie einmal besessen hat.
Der dort beanspruchte Apriorismus ist eine durchsichtige Verkleidung; s. Exkurs 14. Sein Abschnitt „Lex naturalis“ in Ethos 100 – 110 ist nicht mehr das, was er in Morphologie I über ius naturae der Barockgelehrten zu sagen gehabt hatte; s. Exkurs 1.
5 Vorarbeiten zu diesem Kommentar 5.1 Sichtung der Quellen. Einleitungswissenschaft Die Anordnung der Schriften des Neuen Testaments in der „kanonischen“ Folge, in der sie meist gedruckt werden, ist weder eine chronologische Aussage noch eine geographische. Die – rein konventionellen – Reihenfolgen wie die Nachbarschaften sind irreführend. Das Mt. ist eines der späteren Evangelien, und der Röm. ist auch nicht der erste Brief des Paulus, sondern eher sein letzter. Unterschiede dieser Art bewusst zu halten, ist einer der Zwecke der sog. Einleitungswissenschaft. Während die Orts- und Zeitunterschiede zwischen den Paulusbriefen rechtsgeschichtlich nicht von Belang sind, ist dies bei den Evangelien sehr viel anders, und so wurde für diese eine eigene Reihenfolge gewählt, für welche die älteren Bestandteile zusätzlich noch separat genommen werden konnten: Nur diese gehören noch in die Zeitumstände des judäischen Tempelstaates. Unter „Einleitungswissenschaft“ (Isagogik)¹ versteht die historisch-kritische Philologie in ihrer seit dem frühen 19. Jh. klassischen Gestalt die Bereitstellung des für ein korrektes Verständnis eines Textes nötigen Vorwissens. Ihr Fragenkatalog² umfasst: Titel (falls vorhanden) und Ursprache des Textes, Textanfang und -schluss, Textsorte, Bezeugung sowohl in Handschriften wie in Zitaten anderwärts, Autor/-in, Adressaten, Abfassungszweck, Abfassungszeit, -ort und -umstände, literarische Integrität (wie zusammengesetzt ist der Text?), textliche Integrität (trägt er Spuren späterer Veränderung?) und Rezeption. Vieles davon sind Dinge, die man dem Text selbst nicht ansieht, sondern wofür man auf textexterne Informationen angewiesen ist. Jene Ideologie, wonach „im Moment des Lesens der Autor stirbt“ (Roland Barthes), huldigt einer subjektivistischen Rezeptionsästhetik, die sich mit Eindrücken begnügt und die Wahrheitsfrage nicht stellt. Das Hintergrund- und Umweltwissen für einen seines Alters wegen dem Unverständnis oder dem Missverständnis ausgesetzten Textes in größtmöglicher Vollständigkeit zu bieten, ist Aufgabe der Einleitungswissenschaft, wobei unter „Rezeption“ wenigstens die allererste zu nennen ist, als eine gewisse Kontrolle für die bis dahin gemachten Angaben.
Namensgebend war die Eisagōgē eis tas theias graphas eines gewissen Adrianos (5. Jh.); s. Siegert, Argumentation 6. Ausführlicher bei Siegert, EHJL 38 – 48. https://doi.org/10.1515/9783110658347-006
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5.1.1 Jüdische Texte aus der Zeit des Neuen Testaments Eine Durchsicht der relevanten griechischsprachigen Quellen, einheitlich gefertigt nach den Kriterien der historisch-kritischen Philologie, war unerlässliche Vorarbeit. Sie wurde vom Hauptherausgeber des vorliegenden Kommentars geleistet mit Ergebnissen, die hier um der chronologischen Genauigkeit willen gebraucht werden, auch wenn ihre Rezeption in der Judaistik und in der neutestamentlichen Wissenschaft nur unter Zögern vor sich geht. Hierzu gehört: ‒ für die Septuaginta: Zwischen Hebräischer Bibel und Altem Testament. Eine Einführung in die Septuaginta, 2 Bde. (durchpag.) (MJSt 9.13), 2001.2003; ‒ für Philon: „Early Jewish Interpretation in a Hellenistic Style“, in: Magne SÆBØ (Hg.): HBOT. Hebrew Bible/ Old Testament. The History of its Interpretation, Bd. I/1, 1996, 130 – 198 (bes. 162– 189); ‒ für Josephus: „Hellenistic Jewish Midrash, III: „Developed Non-Allegorical Forms. Josephus“, in: J. NEUSNER/A. AVERY-PECK (Hg.): Encyclopedia of Midrash. Biblical Interpretation in Formative Judaism, Bd. 1, 2005, 232– 250; ferner die Einleitung zu Josephus: Ursprünglichkeit, Bd. 1, 2008, 11– 95;³ ‒ für alles Übrige, Fragmente eingeschlossen: Einleitung in die hellenistisch-jüdische Literatur: Apokrypha, Pseudepigrapha und Fragmente verlorener Autorenwerke, 2016 (zit.: Siegert, EHJL). Letztere wird in diesem Werk noch häufig zitiert werden: Sie war die unerlässliche Vorarbeit zur genaueren chronologischen Einordnung der vorrabbinisch-jüdischen – und oftmals nur vermeintlich vorrabbinischen, in ihrem historischen Gehalt jedoch fiktiven – Vergleichstexte. Hier war die gleiche Genauigkeit nötig wie bei den neutestamentlichen Texten selber, und keiner wurde, nur weil man ihn unter einheitlichem Titel zitiert („das“ Henochbuch etwa), schon für homogen gehalten. Was noch Josephus betrifft, so sind die aus derselben Werkstatt gekommenen Editionen der Apologien des Josephus (Siegert u. a., Josephus: Leben; Siegert u. a., Ursprünglichkeit) erstmals auf der Grundlage eines kompletten Handschriftenstemmas entstanden (s.u. Anm. 30), und für das überaus zitatenreiche letztere Werk, bekannter als Contra Apionem, ist erstmals ein flächendeckender literarkritischer Apparat beigegeben worden, so wie neuere Ausgaben etwa des Plutarch sie inzwischen auch haben. Ich betrachte diese Arbeit als meine altphilologische „Qualifikationsschrift“ insbesondere im Hinblick auf die von früherem Dilettantismus⁴ diskreditierte Literarkritik.
Hier konnte für einige Quellenzitate, bes. solche, welche Bewunderung des Judentums von außen her behaupten, die Unechtheit nachgewiesen werden (41– 46). Typisch hierfür sind die rein intuitionistischen Fehlleistungen eines J. C. O’Neill zu Josephus (Josephus: Leben 47 Anm. 31) oder eines Emanuel Hirsch zum Johannesevangelium (Siegert, Ev. des Johannes 25 Anm. 29). Bultmanns Vermutung „gnostischer Offenbarungsreden“ im Joh. war ein allzu kühner Anachronismus, den ein Altphilologe vom Fach sich nicht geleistet hätte.
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5.1.2 Die Quellen der Evangelien Die Evangelien setzen einer historisch interessierten Lektüre zwei große Probleme entgegen: ‒ Sie sind uns textlich erst im 2. Jh. greifbar. Was wir „Urtext“ nennen und auch nur haben, ist im Falle des Mt. und des Joh. das Ergebnis eines längeren Redaktionsprozesses, und es sind längst nicht mehr Worte eines Autors. ‒ Mindestens eine der in den Evangelien verarbeiteten christlichen Quellen ist nicht mehr erhalten; sie aber wäre in ihrer Urgestalt die authentischste Auskunft über den historischen Jesus: die Logienquelle, im Mt. wie im Lk. benutzt. Auch JohQuellen werden immer wieder diskutiert (s.u.), und wir werden sie brauchen. Wir besitzen die Evangelien nur in einem Zustand, der in das 2. Viertel des 2. Jh. zu datieren ist. Man zählte also bereits die vierte Generation des Christentums, als neben den Synoptikern auch das jüngste der vier Evangelien in gesamtkirchlichen Umlauf kam. Bis dahin war viel an mündlichen und schriftlichen Überlieferungsvorgängen geschehen, was wir heute nur noch vermutungsweise rekonstruieren können, aber auch müssen, um die damals rasch wechselnden Epochen zu unterscheiden. Was die Entstehungsprozesse von Texten betrifft, so ist das Ermitteln früherer Wortlaute bei fehlenden außertextlichen Zeugnissen schwierig, und die Philologie balanciert ohne Geländer. Nicht einmal in Form von Zitaten ist aus dem ersten Jahrhundert der Textentwicklung etwas zu gewinnen. Das ist das Problem, wie gesagt, für die Evangelien,⁵ wohingegen der im Kanon zu Unrecht weit hinten stehende Hebräerbrief bereits im späten 1. Jh. durch Zitate belegt ist (s.u. vor # 250), ebenso wie ein Teil der echten Paulinen (die unechten nicht, auch nicht der 2Kor, eine späte Montage). Wir müssen uns also auf konjekturale Literaturkritik einlassen, ein bis heute umstrittenes Verfahren, das durch allzu laienhafte Versuche solcher Exegeten, die klassische Philologie nur auf (damaligem) Gymnasialniveau kannten, diskreditiert worden ist. Hier wird es mit neuen Kräften angewendet – wobei es jedem Benutzer dieses Kommentars freisteht, sich ein anderes Urteil zu bilden.⁶ Für die Apostelgeschichte ist die Lage nicht so schwierig; insbesondere ist es unnötig, die lukanische Autorschaft zu bezweifeln (wie in den 1960-er Jahren Mode war). Das lässt sich prüfen: Die Synopsis quattuor evangeliorum von Aland bietet in einem ihrer Anhänge (547– 564) alle griechischen und lateinischen Bezeugungen neutestamentlicher Schriften, die aus der Antike bis hin zu Augustin bekannt sind. Sie setzen ein mit Papias (Mitte 2. Jh.). Für das Lk. wurde verglichen Klinghardt, Das älteste Evangelium (s. Lit.-verz., 6.3). Keiner der dort gebotenen, angeblich vorlukanischen Texte führt hinter die Phase B zurück; es ist nichts dabei, was dem judäischen Tempelstaat vor 70 zugeordnet werden könnte. – Nicht besser steht es mit dem Rekonstruktionsversuch von K. PAFFENROTH: The Story of Jesus According to L, 1997, wo „L“ für eine vermutete Sonderquelle des Lk. steht (Vorläufer war Bernhard Weiß i.J. 1907). Eine lk. Sondertradition wird auch im Stemma von Siegert/Wittkowsky, Pfeil d, angenommen ohne den Anspruch, sie rekonstruieren zu können. Die bei Paffenroth 159 – 165 abgedruckte engl. Rekonstruktion entzieht sich einer Nachprüfung durch das Fehlen jeglicher Kapitel- oder Verszahlen.
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Dieses Werk war sicherlich am Ende des 1. Jh. fertig, ist aber in einem Teil der Überlieferung (Cod. D und der „westliche“ Text) im 2. Jh. nochmals und sehr frei bearbeitet worden, ein übliches Verfahren bei hagiographischen Texten, ehe in der Kirche sich die Auffassung durchsetzte, die Evangelien plus Apostelgeschichte als historische Texte zu nehmen und nicht mehr zu ändern. So blieb man letztlich bei der Fassung des Autors. Glücklicherweise hatte man sie noch, wie auch die authentische Fassung des Lukasevangeliums. Mit geringen Retouchen bewahrte man auch die des Markusevangeliums. In ihrer Abgrenzung gegen die Gnosis wurde der Kirche bewusst, dass sie eine Geschichte hatte und auch noch eine haben würde, und sie begann dieses Erbe zu schützen – spät, aber doch. Das Fehlen textlicher Bezeugungen gerade für die Evangelien in den ersten hundert Jahren ist wohl nur aus einem geringen Interesse der Christenheit an der Kenntnis und Dokumentation ihrer eigenen Entstehung zu erklären. Papias, ein Bischof aus der Johannes-Schule,⁷ hatte ein förmliches Vorurteil gegen Geschriebenes; dem mündlichen Unterricht durch die presbyteroi seiner (der Johannesschule angehörenden)⁸ Ursprungsgemeinde gab er bei weitem den Vorzug: „Was aus Büchern kam, würde nach meiner Auffassung mir nicht so viel Nutzen bringen wie das, was von lebendiger und bleibender Stimme (para zōsēs phōnēs kai menousēs) kam.“ Sicherlich war das „gehörte Wort“⁹ das eindrücklichere; dass es jedoch ohne schriftliche Basis „bleiben“ würde, darin hatte er sich getäuscht. Was das Wirken des historischen Jesus betrifft, so lag für fast hundert Jahre eine Art Bann über der Frage, welche Worte von ihm selbst gesprochen und welche Gesten und Taten von ihm selbst gewirkt sein mögen. Albert SCHWEITZER meinte die Geschichte dieser Bemühungen bereits geschrieben zu haben, und viele dachten davon wie der Fuchs von den „sauren“ Trauben. Karl Barth hielt diese Bemühungen überhaupt für unfromm:¹⁰ „Wer es etwa noch nicht weiß (…), daß wir Christus nach dem Fleische nicht mehr kennen [2Kor 5,16], der mag es sich von der kritischen Bibelwissenschaft sagen lassen“ – unüberhörbare Ironie auf die widersprüchliche Vielfalt ihrer Ergebnisse, wie Albert Schweitzer sie ausgebreitet hatte.
Nämlich als Bischof von Hierapolis in Phrygien. Er beansprucht, Johannes „den Senior“ (das meint den Evangelisten) noch in Person gehört zu haben. Das hier einschlägige Fragment steht bei Euseb, H.e. 3,39,3 f (Aland, Synopsis S. 547). Presbyteroi als Lehramt hatte diese noch lange; das blieb eine ihrer Eigentümlichkeiten. Letzter Ausläufer dieser Johannesschule, die durch Irenaeus v. Lyon auch im Rhonetal heimisch wurde, ist die unlängst erst im Druck bekannt gewordene lateinische Glosa Psalmorum ex traditione seniorum aus dem 7. Jh., gewürdigt bei Siegert, Ev. des Johannes 61. Dieser Ausdruck (zōsē phōnē) war sprichwörtlich. Cicero, Att. 2,12,2 zitiert ihn griechisch – und übrigens in umgekehrter Anwendung: Ihm war ein Brief seines Herzensfreundes (und nachmaligen Herausgebers) Atticus mehr wert als alle mündlichen Berichte aus derselben Richtung. – Innerbiblisch zu vergleichen ist noch Apg 7,38 logia zōnta „Lebensworte“ für den Dekalog und dazu wiederum # 363 (Jak 1) sowie in Apg 5,20 rhēmata zōēs für das Evangelium. Zitiert von Bultmann, GuV I 4 aus der Christlichen Welt 37, 1923, S. 8.
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Bultmann geht auf dieses Diktum insofern ein, als er Barth zugibt, „daß die Welt, die der Glaube erfassen will, mit der Hilfe der wissenschaftlichen Erkenntnis überhaupt nicht erfaßbar wird“ (ebd.). Dass er trotzdem kritische Wissenschaft treibt (wohingegen Barth in seiner KD unausgesetzt predigt), ist insofern ein Paradox. Dieses entsteht aber nur dann, wenn man dem Glauben eine eigene Welt zuweist, als wäre die Alltagswelt davon unberührt. Solche quasi-platonische Weltverdoppelung ist aber nicht in Bultmanns Sinne. Was er meint, ist noch in demselben Aufsatz, wo er die obige Meinungsäußerung Barths zitiert, zu erkennen an Sätzen wie: „In Wahrheit kann Sündenvergebung nie aus der Anschauung der Geschichte gewonnen werden“ (11). Geschichtsforschung liegt sehr wohl der Theologie zugrunde und ist ihr nötig, doch ist das gesprochene Wort noch etwas ganz anderes. Wir werden dem Rechung tragen in der jeweiligen Rubrik „Hermeneutische Überlegung“. Albert Schweitzers 1906 erstmals erschienene, seit 1951 im Text der 6. Auflage nachgedruckte Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, die ein Chaos von Privatmeinungen nebeneinanderstellt, ist allzu lange für die Grenze des Wissbaren angesehen worden. Dabei ignoriert sie die von Adolf HARNACK bereits 1907 erstmals rekonstruierte Quelle Q, mit welcher der Ausweg begann. Die Logienquelle (Quelle Q) lässt sich wiedergewinnen aus denjenigen – meist sehr schlichten – Jesusworten (Logien) bzw. -apophthegmen (das sind Logien, eingebettet in eine kurze Situationsangabe),¹¹ die im Mt. und im Lk. fast wörtlich gleich stehen, wohingegen der ältere Mk. sie nicht kennt. Diese noch vor 70, also etwa zeitgenössisch mit Markus, anzusetzende, griechisch verfasste Spruchsammlung ist, wenn auch mit den für Konjekturen unvermeidlichen Unschärferändern, für die Forschung nach und nach eine Referenz geworden. So konnte bereits Bultmann aus einer Gegenüberstellung von Q und Mk. sein Jesus-Buch (1926) gewinnen, das auf 150 Seiten mehr über den Mann aus Nazareth zu sagen weiß, als Schweitzers voluminöse Gegenüberstellung erahnen lässt. Die Neutestamentler wären noch weiter gekommen, hätten sie die Arbeit professioneller Historiker wie Eduard MEYER, Ursprung und Anfänge des Christentums (1921; s.u.) genauer zur Kenntnis genommen. Adrian Sherwin-White, dessen Roman Society and Roman Law in the New Testament (unten 5.2.5) sich als sehr ertragreich erwiesen hat, wundert sich (187 f ) über Theologen, insbesondere Exegeten, die, ohne selbst Historiker zu sein, historische Arbeit nur deswegen für unmöglich erklären, weil sie keine absoluten Ergebnisse erzielt.¹² Die Sicherheit einer wissenschaftlichen Erkenntnis ist sowieso etwas anderes die Gewissheit des Glaubens. – Auch Anderson, A Lawyer (59) zeigt sich als Jurist beim Lesen theologischer Bücher befremdet,
Dass gerade Harnack, der Verfechter eines „undogmatischen Christentums“, hier Pionierarbeit leistete, ist kein Zufall. Die unterminologische, ja untheologische Schlichtheit dieser Quelle (im Gegensatz schon zum Mk. – s. # 61) hat ihn angesprochen, wohingegen die folgenden Lehrentwicklungen, die er im Detail kannte und in unübertroffener Fülle dargestellt hat, ihm unattraktiv erschienen. Vergleichbar, wenn auch viel älter, ist Ciceros Ablehnung der Naturwissenschaften, weil sie keine absoluten Ergebnisse brächten: s.u. Exkurs 8 (Ende) und Exkurs 10.
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dass, während Historiker der griechisch-römischen Welt immer zuversichtlicher werden, die Erforschung der Evangelienberichte im 20. Jh., die von genauso erfolgversprechendem Material ausgeht, mit dem Aufkommen der Formkritik¹³ eine so traurige Wendung nahm, dass ihre herausragendsten Exponenten anscheinend die Auffassung vertreten – soweit ein Nichtfachmann die Sache verstehen kann –, dass der historische Christus unerkennbar ist¹⁴ und die Geschichte seines Wirkens nicht geschrieben werden kann. Das wirkt sehr sonderbar, wenn man den Fall des bestbekannten Zeitgenossen Christi dagegen hält, der wie Christus eine gut bezeugte Figur ist: Tiberius Caesar. Die Geschichte seiner Herrschaft ist bekannt aus vier Quellen. (…) Diese divergieren untereinander auf die wildesten möglichen Arten, sowohl was die Hauptereignisse betrifft, das politische Geschehen und seine Motivation, wie auch spezifische Details in Nebenfragen. Jedermann wird zugeben, dass Tacitus die beste von allen Quellen ist, und doch würde kein ernstlicher Historiker heute das Meiste von Tacitus’ Angaben übernehmen, wie sie stehen, wenn es um die Motive des Tiberius geht. Doch hindert das nicht die Zuversicht, dass das Material des Tacitus gebraucht werden kann, um eine Geschichte des Tiberius zu schreiben.
Was die historische Vorgehensweise nach Wahrscheinlichkeiten betrifft, so ist sie der Aufgabe eines Gerichtes, ein Urteil zu fällen, durchaus nahe: Erkenntnisse von hinreichender Sicherheit zu akzeptieren, sagt Anderson (65), ist an authentically legal approach. Geschichtsforschung ist die Ungenauigkeit, ja Widersprüchlichkeit ihrer Quellen gewöhnt, und sie urteilt – natürlich erst nach umfassender Sichtung des Materials¹⁵ – mit Aussagen von geringerer oder höherer, selten jedoch oder niemals absoluter Verlässlichkeit. Kaum eine Wissenschaft verfügt über eine solche, nachdem ja die Aussagen der Mathematik, mit denen idealistische Systeme sich so gern zu vergleichen geben, etwas grundsätzlich Anderes sind. Sie sind es darin, dass sie ihre Gegenstände frei definieren; die Mathematik muss deren Existenz nicht nachweisen.Vor allem darf man die spezifische Gewissheit eines Gottesverhältnisses nicht gegen die Schwierigkeiten und Unschärfen historischen Erkennens kontrastieren; diese beiden Dinge liegen auf verschiedenen Ebenen. – Nimmt man nun die mehr oder weniger – nicht vollständig – rekonstruierbaren Vorlagentexte der Evangelien mit hinzu, so ist nicht nur mit der Logienquelle (Q) hinter Mt. und Lk. zu rechnen, sondern auch mit zwei Erzählquellen des Joh., einer an seinen
[Oben in 1.2 nennen wir es „Formgeschichte“. Eine Kritik war es und ist es auch heute insofern, als das Interesse auf Versatzstücke mündlichen Erzählens gerichtet war und damit die Singularität des Berichteten in Frage stellte. Zu Recht warnte sie vor Erzählgewohnheiten, vermuteten oder auch konkret nachweisbaren, die nicht für Fakten genommen werden dürfen. Am stärksten davon betroffen sind Wundererzählungen.] [Hier hätte Sherwin-White sagen müssen: „der historische Jesus“. Das was mit „Christus“ gemeint ist, einem Namen, den er zu Lebzeiten nicht trug, sind theologische Qualifikationen, die in der Tat nicht der Geschichtsforschung unterliegen.] Hier ist der Vergleich zwischen Lukas und Tacitus, den Anderson anstellt, nicht ganz treffend; Tacitus hat zweifellos mehr von einem Historiker an sich. Andersons Hinweis, dass auch Tacitus Propaganda treibt für seine Ansichten, rechtfertigt etwas, was die Exegeten ihrerseits „Tendenzkritik“ nennen; doch wird, wenn es um Faktengenauigkeit geht, Tacitus höher eingeschätzt als Lukas. Aber all das ist graduell in einer Welt des Graduellen. Wir entkommen ihr nicht, auch nicht durch Glaubenssätze.
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Taten („Zeichen“) und einer an seiner Passion interessierten; die Fachausdrücke sind: Sēmeia-Quelle (SQ) und johanneischer Passionsbericht (PB). Ein diesbezüglicher Forschungsbericht¹⁶ aus der Feder des hier Schreibenden ist: „Die ,vierte Suche‘ nach dem historischen Jesus. Zur Einbeziehung des Vierten Evangeliums in die Jesusforschung“, ThLZ 138, 2013, 525 – 536.
Von hier ab ist eine Reihe von Arbeiten zu nennen, die dem noch zu erhoffenden Konsens der Forschung vorausliegen. Ohne eine genaue Chronologie der Evangelientexte, wie sie mittels Literarkritik vorgenommen wird, wäre ihre rechtsgeschichtliche Einordnung nicht möglich gewesen. Was mit der Vermutung der Mk-Priorität innerhalb der Evangelien durch Herder und die weitere Vermutung einer Logienquelle hinter Mt und Lk durch Schleiermacher begann,¹⁷ lässt dich durchaus in den bisher gescheuten Bereich der Johannesschriften fortführen. Über die von Adolf Harnack erstmals publizierte, von Siegfried SCHULZ¹⁸ und anderen fortgeführte Wiedergewinnung der Logienquelle herrscht inzwischen weitgehender Konsens, nimmt man denn gewisse Unsicherheiten in Kauf, die aber das Verfahren als solches nicht diskreditieren. Der Nutzen ist evident, ein Bild von Jesus zu bekommen, das noch von keinen theologischen Begriffen überformt ist. Dass das kanonisch an erster Stelle stehende Matthäusevangelium nicht das älteste sein kann, hat sich seit Johann Gottfried HERDER¹⁹ allmählich herumgesprochen. Nur aus Bequemlichkeit geistert noch immer der „Evangelist Matthäus“ durch die Literatur, eine reine Legendenfigur, in der Christian Gottlieb WILKE, der Vater der Zwei-Quellen-Theorie, schon 1838 eine Gruppe erkannte; er nennt sie „der matthäische Redaktor“. Was die Autorität des Apostelfürsten Petrus betrifft, sie wird weder für das Evangelium des Markus (der in Rom sein Übersetzer gewesen sein soll)²⁰ noch für die nach ihm benannten Briefe beansprucht, es sei denn mit sehr vielen Reserven für den 1. Petrusbrief.
Zum PB vgl. F. SCHLERITT: Der vorjohanneische Passionsbericht. Eine historisch-kritische und theologische Untersuchung zu Joh 2,13 – 22; 11,47 – 14,31 und 18,1 – 20,29 (BZNW 154), 2007. Die dort erreichte Textauswahl ist besser als die gleichzeitig bei Siegert, Ev. des Johannes zugrunde gelegte, deckt sich sodann aber weitgehend mit derjenigen, zunächst unabhängig erarbeiteten, bei Siegert/Bergler, Synopse 96 – 125. Zu Herder s. Siegert/Bergler, Synopse 10 Anm. 4, zu Schleiermacher Bammel, „Das Ende von Q“ 39. Was Schleiermacher zunächst für das Mt. vermutete, hat sich durch den Vergleich von Mt. und Lk. bestätigen lassen. Ihm verdanken wir den kürzesten Buchtitel, den es je gab: Q, 1972. Andere Q-Pioniere aus dem englischen Sprachraum sind gewürdigt bei Kloppenborg, Q Parallels 205. Die neueste, sehr leicht benutzbare Ausgabe ist die von Hoffmann/Heil. Beleg s. Siegert/Bergler, Synopse 10. S.u. # 180, „Zum Text“. Da ist allein schon unklar, aus welcher Sprache in welche die Übersetzung erfolgt sein soll. Petrus mag notdürftig Griechisch gekonnt haben, das war dann auch in Rom verständlich, zumal bei den dort angesiedelten Juden. Mit seinem Aramäisch konnte Markus, der nicht aus Judäa stammt (wovon er geographisch kaum eine Vorstellung hat), sicherlich nichts anfangen.
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Einer, der nicht der Legende überlassen bleiben müsste, ist der Evangelist Johannes. Als unter Trajan (98 – 117) erst Gestorbener (Irenaeus 3,3,4) kann er nicht identisch sein mit gleichnamigen Zeitgenossen Jesu, die wir aus dem Neuen Testament kennen. Es muss derjenige sein, von dem Irenaeus, ein Abkömmling der ephesinischen JohannesSchule des 2. Jh., mancherlei Nachrichten aufbewahrt hat,²¹ vermischt mit Irrigem, weswegen sie bis heute wenig beachtet werden. Dem Namen „Johannes“ nach, den es damals nur in Judäa gab, stammt er von dort, und er kennt auch, wie der griechische Text in mancherlei Anspielungen kenntlich macht, Hebräisch wie Aramäisch. Als christlicher Lehrer aber ist er erst nach dem Jüdischen Krieg sesshaft und wirksam gewesen – als Exulant dann wohl²² – in Ephesus, wo er „unter Trajan“ hochbetagt starb (Beleg s. o.). Auch er schon hatte ein Vorurteil gegen das Schreiben, wie aus 2Joh 12 und 3Joh 13 zu ersehen, Briefen, deren Autor sich als ho presbyteros zu erkennen gibt; wir übersetzen: „der Senior“.²³ Der Zuschreibung dieser – dementsprechend sehr kurzen – Briefe (hier # 370) an ihn, den ephesischen Johannes, steht nichts entgegen; sie sind, anders als der 1Joh., nicht pseudepigraph. Gegen den damals häufigen, nur über Irenaeus bekannten bürgerlichen Namen „Johannes“ besteht gleichfalls kein Verdacht. Sein Evangelium, und zwar in derjenigen Fassung, die wir hier Joh B nennen, hat dieser Senior und Lehrer seiner Gemeinde allem Anschein nach immer nur aus dem Gedächtnis vorgetragen, dabei wohl auch variiert, und hat die ihm bekannten Überlieferungen mit Dialogen ausgeschmückt.²⁴ Die Verschriftlichung war Sache seiner Schüler. Die beiden von ihm benutzten Quellen, SQ (nach ihrem Schlussvermerk, der sich jetzt in Joh 20,30 – 31a findet, war sie bereits schriftlich) und PB (wohl nur mündlich; s. vor # 160) hatte er im Kopf,²⁵ kannte auch schon das Lk. und eine Frühform des Mt. (Mt I; s.u.). Zu einer Aufzeichnung dessen, was er aus alledem zu machen pflegte, kam es offenbar erst nach seinem Tod; dabei ging der chronologische Zusammenhang der Grundberichte verloren zugunsten einer eher thematischen Anordnung.²⁶ Auch wurden den Dialogen Erweiterungen meist polemischen Inhalts gegen „die“ Juden und gegen „die“ Welt (sc. die griechisch-römische) beigegeben; aus Dialogen werden dabei Monologe – die sog. „Offenbarungsreden“, die Bultmann schon als „gnostisch“ bezeichnet. Für
Folgendes nach Siegert, Ev. des Johannes 62– 72. Wenn eine der vielen Legenden, die ihn umranken, angibt, er sei von Verfolgern in einen Kessel siedenden Öls gesteckt worden und unverletzt davongekommen, so ist schon Lorenz Mosheims Vermutung (De rebus 111 b), dass hier ein Erlebnis metaphorisch ausgedrückt wird: Der Hexenkessel, dem er entkam, dürfte der Jüdische Krieg (66 – 70 n.Chr.) gewesen sein. Der bestimmte Artikel bei diesem Wort lässt nicht auf das plurale Presbyteramt schließen, sondern wird ad personam gebraucht. Hierzu ausführlich und mit weiteren Beispielen für nicht schreibende Autoren mündlicher Lehre s. Siegert, Ev. des Johannes 72– 77. Eine minimalistische Erklärung freilich, was diese Quelle betrifft, besagt, sie sei auch etwas Schriftliches gewesen: das Lk., das hier frei paraphrasiert wird (so Siegfried Bergler mündlich). Damit entfiele der Vorteil einer Doppelbezeugung. Hier ist die Forschung noch nicht am Ziel. Die spätere (mittelalterliche) Kapitelzählung hat es wahrgenommen: Jedes Kapitel hat ein, höchstens zwei Themen.
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dieses „vierte“ Evangelium, das in seiner einzig erhaltenen Endredaktion Frühes, Späteres und ganz Spätes in buntem Durcheinander darbietet, dient uns hier die von Bultmann einst vorgeschlagene, von einigen Exegeten seither weitergeführte, bei Siegert/Bergler, Synopse sodann flächendeckend durchgeführte Schichtenscheidung, wie sie schließlich einmündete in: SIEGERT, Folker/BERGLER, Siegfried: Synopse der vorkanonischen Jesusüberlieferungen (SIJD 8/1), 2010.²⁷
Dort sind, stets auf deutsch und in einer gegenüber Ev. des Johannes verbesserten Reihenfolge, die vorjohanneischen Quellen in ihrem ältest-wahrscheinlichen Textbestand und in ihrer vermuteten bzw. aus Textsignalen noch zu erhebenden ältesten Erzählfolge wiedergegeben.²⁸ Die dort vorgenommenen Zuweisungen haben sich unter der danach erst angelegten rechtsgeschichtlichen Fragestellung durchwegs bewährt, wie sich in Bd. IV zeigen wird. Die wenigen notwendig gewordenen Korrekturen im Bereich von Worten oder auch mal einem Satz sind dort vor # 160 aufgeführt. Mithilfe dieses Arbeitsmittels können nunmehr diejenigen Bestandteile des Evangeliums für sich genommen werden, die immer noch judäische Verhältnisse widerspiegeln. Als das Evangelium dieses Johannes in schriftlicher Form bekannt wurde, im 2. Viertel des 2. Jh.,²⁹ identifizierte man den Verfasser – der nicht, wie Paulus, die Gemeinden bereist hatte und kaum bekannt war – willkürlich mit dem galiläischen Fischer aus der Zwölf-Jünger-Liste (# 43), der auch diesen Namen trug. Fünf weitere, aber weniger prominente Johannesse hätte der Text des Neuen Testaments noch hergegeben. Der Evangelist aber, der sich im Text nur als der „Lieblingsjünger“ postfaktisch (hier passt das Wort) ohne Namen einträgt, ist nur über die frühen Kirchenväter identifizierbar, und zwar über seinen Zunamen ho presbyteros im Singular, was hier am besten mit „der Senior“ wiedergegeben wird. Mit dieser Selbstbezeichnung beginnen die beiden kleinen Johannesbriefe (# 370), die älter sein müssen als der große, der auch überlieferungsgeschichtlich eigene Wege ging (die syrische Bibel hat nur diesen). Das „Wir“ der Herausgeber in Joh 21,24 f ist dasselbe wie das der Autoren in 1Joh 1,1 ff; das stellt uns vor ein Authentizitätsproblem (# 190). Datieren dürfen wir die Herausgabe des johanneischen Corpus unter Trajans Nachfolger Hadrian (117– 138); später zu gehen ist nicht ratsam, blickt man auf die mit P 52 mitten im 2. Jh. einsetzende Bezeugung. Dieser Papyrus ist das erste erhaltene Evangelienfragment überhaupt.
Die dort auf S. 28 – 31 gegebene Übersicht über den ursprünglichen Aufbau des Evangeliums ist in ergänzter Form hier vor # 160 wiedergegeben. – Der Seitentitel auf S. 47– 69 ist verdruckt; er sollte lauten: „Jesus in Galiläa“. Andere Rekonstruktionsversuche sind zu weit von klassisch-philologischer Arbeitsweise entfernt, um hier verglichen zu werden, nämlich die von Sydney TEMPLE (The Core of the Fourth Gospel, 1975), Klaus BERGER (Im Anfang war Johannes, 1997 u. ö.) und Peter (Leander) HOFRICHTER (Modell und Vorlage der Synoptiker, 2002). Nirgends ergibt sich dort etwas der zeitlichen Schichtung von Joh A und Joh B (sie ist hier die wichtigste) Ähnliches. Später kann man wegen des P 52 gehen, der Stücke aus Joh 18 bezeugt (Siegert, Ev. des Johannes 64.88).
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Das Vierte Evangelium hat also eine mehrstufige Entstehung gehabt, und zwar in drei Phasen, die hier Joh A, Joh B und Joh C genannt werden und den drei Phasen entsprechen, in welchen überhaupt die Jesusüberlieferungen sich bildeten – textlich zunehmend, an historischem Wert abnehmend. Gegenüber der momentan überwiegenden „integristischen“ Behandlung des Vierten Evangeliums erscheint die hier gepflegte zwar hypothesenlastig; sie statuiert jedoch nichts Neues, was nicht schon in der Literatur vertreten worden wäre, sondern füllt nur die ohnehin bezeugte lange Entstehungszeit des Textes mit Zuweisungen an die jeweils wahrscheinlichste Entstehungsphase. Was noch fehlte, war eine Zusammenführung der diversesten Entstehungshypothesen betreffs der vier Evangelien zu einer Gesamttheorie, die es ermöglicht, den Geltungsbereich jeder der geltend gemachten und sehr widersprüchlich scheinenden Beobachtungen zu ermessen. Das ist geschehen in dem Gesamtstemma³⁰ der Evangelienvorstufen und ihrer gegenseitigen Beeinflussungen, veröffentlicht in SIEGERT, Folker/WITTKOWSKY, Vadim: Von der Zwei- zur Vier-Quellen-Hypothese, 2015; Diagramm (Stemma): S. 68 f; verbesserte Fassung:³¹ dies.: „Von der Zwei- zur Vier-Quellen-Hypothese“, in: Heil u. a. (s. Lit.-verz., 6.1), 2017; Diagramm (Stemma): S. 539.
Wie dieses „stemmatische“ Verfahren der Wiedergewinnung vorgängiger Textzustände funktioniert, wurde bereits bei Siegert/Bergler, Synopse 16 – 25 dargestellt, auch dort mit einer (noch nicht ganz vollständigen) Wiedergabe des Gesamtstemmas. Auch hier, wie bei jeder Edition eines mehrfach überlieferten antiken Textes, bleiben Unschärfen, was das Unternehmen jedoch nicht verunmöglicht. Lesarten können auch spontan entstehen, ohne dass man sie abzuleiten wüsste. Doch gibt es kein besseres Arbeitsmittel für die Einschätzung, welche Lesart jeweils die älteste ist. Absolute Sicherheit ist bei empirischem wie historischem Arbeiten die Ausnahme, möglichst hohe Wahrscheinlichkeit das Ziel. Ziel der stemmatischen Methode ist stets, Entwicklungslinien aufzuweisen und sie auf ihren Anfang zurückzuführen. Für die Erstellung eines „kritischen“ Textes, der zwischen jeweils schon abgeschriebenen Texten von Wort zu Wort die älteste „Lesart“ ermitteln soll, heißt das z. B., dass Sekundärfehler, die nachweislich aus bereits began-
Gr. stemma = „Stammbaum“. Jede kritische Ausgabe eines aus Handschriften gewonnenen Textes bietet ein solches (auch Siegert u. a., Josephus: Ursprünglichkeit 76 f ) oder verweist auf ein solches (Siegert u. a., Josephus: Aus meinem Leben 17 Anm. 59). Nur Ausgaben biblischer Urtexte müssen angesichts der Handschriftenmasse und der Disparatheit der über die ganze Alte Welt verstreuten, oft auch durch Verfolgungen unterbrochenen Überlieferungsabläufe auf ein solches verzichten zugunsten einer umso umfangreicheren Spezialliteratur. Was verbessert wurde: Die Verbindung von [Mt I] zu Lk, der versehentlich die Bezeichnung fehlte, hat den Buchstaben r bekommen; die von Lk zu Mt II den Buchstaben v, die von Lk zu [Joh I] den Buchstaben w, die von [prApk] zu Apk (hier nicht wichtig) den Buchstaben x und die von Mt II zu [Joh I] den Buchstaben y. In dieser Form wird das Stemma im vorliegenden Werk zugrunde gelegt.
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genen Fehlern entstanden sind, aus der Rekonstruktion ausgeschieden werden. Da aber, wo es nicht nur um Versehen geht, sondern um gewollte Änderungen, gehört das Fingerspitzengefühl und die Intuition des Interpreten dazu, diese Absichten zu erkennen, zu benennen und hinter sie zurückzugehen, soll denn die Aussageabsicht des ursprünglichen Autors oder der Autoren ermittelt werden. Im Falle der Evangelien gehen wir sogar noch weiter zurück und fragen, was Jesus in seinen immer nur mündlichen Äußerungen und seinen Gesten hat sagen wollen, und differenzieren davon alles Spätere und für sich Bemerkenswerte.
5.1.3 Authentizität und zeitliche Einordnung der Evangelien Der merkwürdige Titel Evangelium nach… ist eine kirchliche Konvention, die spätestens bei dem In-Umlauf-Setzen vierer verschiedener Evangelien so getroffen wurde, um diese Texte unterscheidbar zu machen, sie aber doch ein und dieselbe Botschaft bezeugen zu lassen. Zwei dieser Namen, Markus und Lukas, sind uns nur aus diesen Überschriften bekannt, nicht aus den Evangelien selbst,³² und nichts hindert uns, dahinter die bürgerlichen Namen der Verfasser zu vermuten. Sie waren gerade nicht autoritätsheischend. Anders ist es mit den beiden nichtgriechischen, nämlich hebräischen Namen „Matthäus“ und „Johannes“: In diesen Namen sah die Kirche die gleichnamigen Jünger aus der Zwölferliste (# 43) genannt, bzw. sie setzte sie selber auf diese beiden – wie wir inzwischen wissen – ziemlich inhomogenen Schöpfungen. „Pseudepigraphie“ ist die Angabe einer anderen Urheberschaft und Herkunft des Textes als der tatsächlichen.³³ Sie ist die in antiken semitischen Kulturen fast ausschließlich übliche Veröffentlichungsweise. Die Bücher der Hebräischen Bibel sind, von gelegentlich feststellbaren Entstehenskernen abgesehen, alle pseudepigraph oder (wie auch vieles Rabbinische) einfach anonym; es sind Gemeinschaftswerke, über längere Zeiträume entstanden. Mit ihrer Benennung nach klingenden Namen verbindet sich der Anspruch der Gültigkeit für die betreffende kultisch-kulturelle Gemeinschaft. Das Griechentum kennt Pseudepigraphie v. a. als durchsichtige Fiktion, welche die Leserschaft gerne merken darf. Doch führt die Rezeption solcher Texte in einer Glaubensgemeinschaft leicht dazu, das einstige Wissen um die konkrete Autorschaft zu vergessen oder es vergessen zu machen im Interesse einer autoritativen Verwendung des betreffenden Textes. So ist es mit dem Mt. und dem Joh. gegangen, wohingegen dem Mk. und dem Lk. die Namen ihrer Autoren verblieben.
Das Vorkommen beider Namen in der Grußliste in Phm 24 (ohne weiteren Vermerk) und auch sonst einige Male bezeugt nur ihre Häufigkeit. Der Bezug auf „Lukas, den Arzt“ in Kol 4,14 hat mit dem Evangelisten Lukas schwerlich etwas zu tun. Das Adjektiv pseudepigraphos ist schon antik. Auch griechische Texte konnten pseudepigraph publiziert werden, jedoch nach anderen Regeln als im semitischen Kulturraum; s. Siegert, EHJL 2 f.
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Seit der o.g. Entdeckung Herders verliert das Mt. im Ansehen der Wissenschaft seine Priorität, es verliert sie sogar gegenüber Lukas,³⁴ wenn auch nicht gänzlich. Mit Ernest Abel („Who wrote Matthew?“ 142) lassen sich darin Bestandteile ausmachen, die noch in die Phase A datierbar sind. In der eben zitierten Analyse von Siegert/Wittkowsky firmieren sie als „Mt I“, ein noch ganz judenchristlicher Text. Andrerseits gibt es Mt-Teile, die nicht nur Q aufnehmen, sondern ganz eindeutig auf solche des Lk reagieren (# 105; # 142). Parallele Überlieferungswege sind möglich.³⁵ Somit lässt sich nun jeder Bestandteil der Evangelien, parallel zu denen des ntl. Briefkorpus, einer bestimmten Epoche zuordnen: ‒ In Phase A liegen die Quellen der Synoptiker,³⁶ die echten Paulusbriefe, der Hebräerbrief und, noch am Ende dieser Phase, optimistisch datiert, das Markusevangelium³⁷ abzüglich geringfügiger Spuren von Überarbeitung, die gelegentlich zum Unterscheiden eines Proto-Mk geführt haben; die wird hier aber, da es nur weniges bestrifft, nicht weiter verfolgt. – Auf jüdischer Seite sind das die letzten Jahre des Jerusalemer Tempels und der um ihn herum organisierten Theokratie von Priestern in ihrem Kompromiss mit der römischen Macht. ‒ In Phase B fallen die Evangelien des Lukas und des Matthäus (eher in dieser Reihenfolge) sowie die meisten unechten Paulusbriefe und der 1. Petrusbrief. In dieser Zeit liegt auch der erste anzunehmende Gesamtwurf des Joh. (hier Joh B genannt, was Joh A einschließt) als noch nicht edierter Text; gleichfalls rein privat blieben zunächst noch die vom selben Autor stammenden Briefe 2Joh und 3Joh.³⁸ – Jüdischerseits ist das eine Übergangszeit, in welcher die Rabbinenschulen, die alte Priesterschaft und die Sadduzäerklasse ersetzend, sich konsolidierten.
So Siegert, Ev. des Johannes 90 – 92 mit Martin Hengel. Mt 14,1 f z. B. ist eine verdünnte Wiederaufnahme von Lk 9,7– 9. Im o.g. Gesamtstemma der Evangelienüberlieferungen läuft die Verbindung zwischen Q und dem MtText, wie wir ihn haben (Mt II) entweder über Lk (Pfeile k und v) oder über ein Ur-Mt (Mt I) (Pfeile l und q). Da dies keine unterschiedliche Chronologie bedingt, ist eine Entscheidung nicht nötig. Sie könnte sich aber nach inhaltlichen (Tendenz‐)Gesichtspunkten nahelegen: Mt I hat judenchristliche, Lk. heidenchristliche Prägung. Die von Klinghardt als „Mcn“ bezeichnete ist, wie oben gesagt, auszunehmen und gehört schon in Phase B. Die Bedrohung des Jerusalemer Tempels mit Entweihung in Mk 13,14 wird meist auf Titus, den Eroberer, gedeutet; manchmal freilich schon auf Caligula, der dort i.J. 40/41 sein Standbild aufstellen lassen wollte – aber das ist, genau genommen, ein Anhaltspunkt nur für die Vorlage dieses durch erkennbare Zusätze schon wieder überarbeiteten Kap. 13, der sog. Synoptischen Apokalypse. – Doch auch zeitlich nach „unten“ (= spät) geht man beim Schätzen des Datums nicht gern, scheint doch der Jüdische Krieg d.J. 70 noch in frischer Erinnerung zu sein. In Umlauf gesetzt wurden diese noch später als das übrige, in Phase C erschienene Corpus Johanneum; die syrische Bibel (Peschitta) hat sie bis heute nicht.
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In Phase C liegt das Johannesevangelium mit all seinen Zusätzen³⁹ (nur 8,2 – 11 war irgendwie übrig geblieben; # 171) zusammen mit dem deutero-johanneischen Lehrbrief (1Joh) und der den Namen „Johannes“ tragenden Apokalypse.
Daraus ergibt sich die einfache Faustregel zum Gewinnen historischer Information aus den Evangelien: Das in Phase A Gesagte ist jedenfalls ernst zu nehmen, außer wo es allzu deutlich den Eindruck des Konstruierten macht (so im Mk das Itinerar Jesu und die erste Phase des Prozesses Jesu, Mk 14). – In Phase B Gesagtes hat meist Kommentarcharakter, aber seitens solcher Leute, die mit Augenzeugen noch im Gespräch waren (im Falle des Joh B ist es sogar ein Judäer; er kannte die Orte und Gebräuche). – Phase C bezeugt Streitigkeiten, innerchristliche, christlich-jüdische und christlich-pagane des 2. Jh. und hat nicht berichtenden, sondern polemischen Charakter – in Kämpfen, die anders ausgingen, als man es damals erwartete.
5.1.4 Die Chronologie der übrigen neutestamentlichen Schriften Zur Klärung der Entstehungszeit der Apostelgeschichte der Episteln war keine neue Forschung mehr nötig. Folgendes ist der Stand: ‒ Die Apg. schließt vorverhandene Texte ein, wie sich schon daran zeigt, dass sie z.T. in Ich-Form, sonst aber in der dritten Person formuliert ist. Das Berichtete gehört aber einheitlich noch in Phase A; nur der Gesamttext entstand erst wenig später in Phase B. Beiseite bleiben kann das Problem des „Westlichen Textes“ der Apg (Cod. D und wenige weitere), der an vielen Stellen verändert ist und Erweiterungen trägt, die (den gemachten Proben zufolge)⁴⁰ in Phase C gehören und jedenfalls nicht von Lukas autorisiert sind. ‒ Die echten Paulusbriefe kommen aus Phase A; nur die Montage des aus mehreren Stücken zusammengesetzten 2Kor. (s. Notiz vor # 307) muss später liegen und mit der Herausgabe des Corpus Paulinum zusammenfallen am Ende von B (unter Trajan, 98 – 117). Lukas hat allenfalls Einzelstücke daraus schon gekannt. ‒ Die unechten Paulinen und überhaupt die pseudepigraphen Episteln liegen in Phasen B und C. ‒ Die Apokalypse, die manches schon im Lk. Bezeugte in sich hat, ist endgültig erst in der besagten Konfliktsituation unter Hadrian herausgekommen: Phase C.⁴¹
Genauso ist, gleichfalls unter Verzicht auf chronologische Ordnung, eine Anzahl von Briefen, die Paulus nach Korinth geschrieben hatte, zum 2. Korintherbrief zusammengesetzt worden; s.u. vor # 307. Vgl. Bemerkung vor # 200. Gerade in rechtsgeschichtlicher Prüfung ist die illegale Volksversammlung in Ephesus Apg 19 (# 229) im kanonischen Text einwandfrei, in den Erweiterungen jedoch unglaubwürdig. Zur historischen Situierung s. # 390, zu Vorstufen (die hier aber nicht von Belang sind) Wittkowsky, Den Heiden 146 – 165.
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Nun erst kann eine historisch verantwortbare, wenn auch immer wieder auf Vermutungen basierende Würdigung der Rechtsverhältnisse in den Texten geleistet werden. Die dabei investierten Hypothesen, deren jede der Forschung bekannt, ihre hier vollzogene Synthese aber neu ist, haben dabei vollste Bestätigung erhalten. Nicht ein Mal hat der rechtsgeschichtliche Befund ihnen widersprochen, im Gegenteil: Die Scheidung des Judäischen vom Externen, des Vor- vom Nachösterlichen und auch des vor und nach 70 Angesetzten hat sich so bewährt, wie sie philologisch bereits am plausibelsten erschien.
5.1.5 Die räumliche Verteilung Nicht alle Jesus-Überlieferungen spielen noch im Judäa des einstigen Tempelstaats; einige sind – in guter Absicht natürlich – hinzuerdacht von Christen, die anderswo lebten und für andere Lebensumstände schrieben. Vorgreifend auf die ad-hoc-Einleitungen zu den einzelnen Evangelien bzw. Briefcorpora (# 1; # 30; # 90; #120; # 160; # 200; # 260; # 340; # 360; # 390) lässt sich resümieren: Nur das vor 70 n.Chr. Formulierte und damals meist noch Mündliche (man erwartete ja sehr bald die Wiederkunft Christi) hat Chancen, noch in Judäa seinen Wortlaut erhalten zu haben, einen allemal schon griechischen Wortlaut übrigens (denn „einstweilen“, bis zur erwarteten Parusie, betrieb man Mission). Judäisch ist also die Quelle Q, ebenso das Joh A. Hinzu kommt die Apostelgeschichte in ihren noch in Judäa spielenden Teilen (## 201– 216; ## 231– 237). Der ganze Rest spielt entweder in römischen Provinzen oder er ist in solchen aufs Papier gekommen: Das Mk. ist mit einiger Sicherheit in Rom, das Lk. in Griechenland, Joh B-C in Ephesus geschrieben. Auch Syrien, wo man die Entstehung des Mt. vermutet, war römische Provinz.⁴² Die Paulusbriefe richten sich an Rom oder andere Städte des griechisch-römischen Kulturraums, aus dem auch ihr Autor kommt; diesem aber ist mit Apg 22,3 eine in Jerusalem erworbene Kenntnis judäischen Kultrechts und Brauchtums zuzutrauen. Die deutero- oder nichtpaulinischen Briefe stehen alle für griechisch-römische Provinzialverhältnisse; die Apk. bezeugt eine Opposition gegen solche. Nimmt man zur Entstehungszeit der Texte auch die Lokalisierung ihres Inhalts bzw. die ihrer Verschriftlichung hinzu (was nicht dasselbe ist), so ist das klassisch-römische Recht überall anzunehmen mit Ausnahme solcher Texte, die das judäische Eigenleben der Zeit vor 70 noch irgendwie wiedergeben (die dortige Nachkriegszeit kommt nicht vor).⁴³ Spezifisch Griechisches, was in Rom nicht gälte, lässt sich im Doppelwerk des
Von deren Zweisprachigkeit (die Bevölkerung war zum guten Teil aramäischsprachig) ist im Mt aber – im Gegensatz zu den kunstvollen Aramaismen des Joh – nichts zu merken. Nur gewisse Hebraismen erweisen die Nähe zu den rabbinischen Synagogen. Die ältere Schicht (Mt I) korrigiert in Mt 27,46 das aramäische ’älôhî lema’ šebaqtanî von Mk 15,34 ins Hebräische des Ps 22(21)2, und die Vaterunser-Anrede, die in Q 11,2 das ’abba’ Jesu wiedergegeben hatte, wird in synagogales ’abînû „unser Vater“ korrigiert. Diese finden wir umso lebhafter repräsentiert in den Papyri aus der Wüste Juda: Liste s.u. B 4, Würdigung: C 4.4.1.
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Lukas gelegentlich wahrnehmen, ist aber i. d. R. lokal bedingt; so z. B. das besonders gegliederte Gerichtswesen in Philippi (# 218), ein römischer Zug auf griechischem Boden. So ist mit Ausnahme Ägyptens und überhaupt Afrikas die römische Mittelmeerwelt, soweit sie Griechisch sprach, im Neuen Testament flächendeckend bezeugt.
5.2 Bibelwissenschaft und Benachbartes 5.2.1 Bibelwissenschaft Der hier methodisch zu begründende Kommentar folgt Bahnen, welche die alttestamentliche Wissenschaft längst geebnet hat, während die Wissenschaft des Neuen Testaments sie zu betreten immer noch zögert. Wohl noch mit jedem Zweig der Neutestamentlichen Wissenschaft ist es so gegangen: Nach einer ungeschriebenen Regel wird am Alten Testament erprobt, was sich am Neuen Testament sodann bewähren soll. Die eben vorgeführte Isagogik und Quellenkritik waltet dort weitgehend unangefochten,⁴⁴ wohingegen die neutestamentliche Wissenschaft, abgesehen von der Q-Forschung und der Echtheitskritik an den Paulusbriefen, der Mehltau des Integrismus weit verbreitet ist, insbesondere was die Johannes-Forschung betrifft. Ohne eine historische Zuordnung auch der johanneischen Jesus-Nachrichten ist aber eine Rechtsgeschichte des Neuen Testaments nicht zu leisten. Die ältesten Johannes-Passagen sind aber dringend nötig zur Vervollständigung des Bildes, insbesondere was das Todesdatum Jesu und die Rolle des Synhedriums betrifft. Zwar hat die alttestamentliche Wissenschaft von jeher ein Auge auf Fragen der Rechtsgeschichte. Der dieser gewidmete Zweig wird deutschsprachig repräsentiert in der seit 1994 erscheinenden, für das vorliegende Unternehmen nachverglichenen Zeitschrift für Altorientalische und Biblische Rechtsgeschichte. Ihrem derzeitigen Herausgeber, Reinhard ACHENBACH, verdankt dieser Kommentar zahlreiche Hilfen. In der Wissenschaft vom Neuen Testament jedoch herrschte jahrzehntelang Flaute. So war die Rektoratsrede des Göttinger Neutestamentlers Johannes BEHM: Religion und Recht im Neuen Testament 1931 eher eine Abstandnahme als ein Brückenschlag.⁴⁵ Nach dem
Das schließt eine gewisse Variabilität der Ergebnisse nicht aus. Insbes. für die narrativen Texte ist die Annahme einer „jahwistischen“ und einer „elohistischen“ Textschicht einem reichhaltigeren, aber diffuseren Bild gewichen. Gesetzestexte jedoch, die meistenteils der „deuteronomistischen“ oder der „priesterschriftlichen“ Schicht zugeordnet werden können, werden innerhalb dieser und der ihnen jeweils zuzuschreibenden Entwicklung datiert. Behm fußt auf Rudolf Sohms These einer Unvereinbarkeit von Evangelium und Recht (# 287). Die o.g. Leistungen der Reformation (4.2– 4) just auf diesem Gebiet kennt er nicht. Die Unzulänglichkeiten von Behms Vortrag werden nach langem Zeitabstand endlich ausgeglichen durch den eines anderen evangelischen Theologen: Tanner, „Die Rechtswissenschaft“. Er nennt als Berührungsflächen zwischen Theologie und Jurisprudenz diese: 1. Sein und Sollen, 2. Macht und Ordnung, 3. Dogmatik (Systembildung), 4. Gerechtigkeit [als Leitbegriff; es gibt bessere] und 5. Hermeneutik. Zu letzterer s.u. C 1 sowie # 351.
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Zweiten Weltkrieg, in Zeiten der Dialektischen Theologie, sank das Interesse noch weiter. Innerhalb der weitverzweigten Bultmann-Schule war es Erich DINKLER, der von der dort üblichen Vorliebe für (spekulative) Religionsgeschichte abschwenkte auf die Concreta der Epigraphik, der Archäologie und eben auch der Rechtsgeschichte.⁴⁶ Einen Rückblick über das nach ihm in der neutestamentlichen Wissenschaft Geleistete gibt Stefan KOCH in seiner Dissertation Rechtliche Regelung von Konflikten im frühen Christentum (2004). Über Rechtsbegriffe (aber nicht Rechtssätze) im Lukasevangelium hat auch Lukas BORMANN mehrfach geschrieben. Ergänzt wird dieser noch schmale Forschungszweig durch sozialgeschichtliche Arbeiten. Bekannt ist in Deutschland Gerd THEIßEN, der in seiner Soziologie der Jesus-Bewegung den Begriff „Wanderradikalismus“ geprägt hat. Was die paulinischen Gemeinden betrifft, aus denen das westliche Christentum letztlich hervorgegangen ist, so berichtet Craig Steven DE VOS, Church and Community Conflicts (1999) darüber ausführlich, allerdings nur aus englischsprachiger Literatur. Vom römischen Recht weiß dieser Neutestamentler nicht viel mehr, als dass es Klassenjustiz gewesen sei. Aus dieser Arbeit wird aber positiv klar, wie sehr die Welt, worin die paulinische Mission ihre Erfolge hatte, bereits römisch geprägt war. Paulus zielte auf die Synagogen, doch wo er positiv „ankam“, waren es eher die römischen Kolonien: die coloniae Philippi und Korinth. Inzwischen ist auch die religionsgeschichtliche Forschung von spekulativen Themen wie der (teilweise selbsterfundenen) Gnosis abgeschwenkt in den Überschneidungsbereich von antiken Religionen mit antiker – und damit auch wieder römischer – Politik. Stellvertretend hierfür seien die quellengesättigten Arbeiten von Stefan KRAUTER genannt. Dort werden Quellenaussagen, auch wenn sie genau auf eine gegebene Frage zu antworten scheinen – das meint bes. Inschriften und Papyri –, nicht sogleich für bare Münze genommen, sondern es wird die Perspektive eines gegebenen Zeugnisses gegen die anderer, vielleicht zunächst weniger passender kontrastiert.
5.2.2 Judaistik Eine eigene Forschungsgeschichte hat das jüdische Recht aufzuweisen. Auf christlicher Seite entstand seit der Barockzeit eine stattliche Reihe an Observationes, Annotationes und Horae Hebraicae – dieser barocke Titel meint eine wenigstens stundenweise Be-
Dinkler bezieht sich in Signum crucis 223 Anm. 38 auch auf Leopold WENGER, beklagt aber, dass dort „das Neue Testament als Quelle allzu unkritisch benutzt wird“. Das wird man sicher noch öfter sagen müssen, sollte aber zugeben, dass die neutestamentliche Wissenschaft der Nach-Bultmann-Zeit sich rasch in Specialissima verfing (die Q-Forschung ausgenommen), die selbst von den anderen theologischen Disziplinen kaum noch zur Kenntnis genommen werden.
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schäftigung mit hebräischen Schriften.⁴⁷ Die reiche Ernte solcher „Nebenstunden“ (wie Christian Wolff es nannte) ist vor nunmehr hundert Jahren eingebracht worden in das immer noch unentbehrliche Sammelwerk des Königsberger Pfarrers Paul BILLERBECK.⁴⁸ Er war allerdings weder Jurist noch Historiker; sein Interesse ist rein religionswissenschaftlich. Doch auch so wäre er selbst schwerlich einverstanden gewesen mit dem naiven Gebrauch, den die neutestamentliche Wissenschaft der Folgezeit von seinen Materialien machte. Die stets beigefügten Datierungen der Rabbinensprücke sind eine Mahnung: Es geht nicht an, Bestimmungen, die für die jüdische Population Babyloniens im Sassanidenreich gedacht waren, in das Judäa der Zeit Jesu zu versetzen. Er bietet sie immer nur für den Fall, dass es möglich wäre; doch gehört schon sehr viel zusätzliches Wissen dazu (das wir oftmals nicht haben), um diese Möglichkeit zur Gewissheit oder wenigstens zur Wahrscheinlichkeit zu machen. Als Nachschlagewerk sind Billerbecks sechs Bände (ein zusätzliches Register von Joachim Jeremias eingerechnet) noch heute unentbehrlich. Als zusammenhängende Darstellung der antik-jüdischen Gedankenwelt, aus den Quellen geschöpft, ist zeitlich noch vor ihm Ferdinand WEBERs Jüdische Theologie von 1897 (so der Titel der 4., postumen Auflage) zu nennen, Nebenarbeit eines lutherischen Pfarrers, gegliedert nach christlichen Begriffen, aber Verfremdungen vermeidend.⁴⁹ Eingehend, wenn auch unter dem von uns anders gebrauchten Ausdruck „Gesetzlichkeit“,⁵⁰ beschreibt Weber, was man heute die „Torazentrik“ der jüdischen Religion und Kultur nennt (und er: „Nomokratie“, 60), und verliert sich dabei nicht in Einzelheiten, wie Billerbeck, sondern geht den großen Linien nach. Mag er auch kritisiert worden sein für seine (zeitgemäß) zu enge Auffassung von jüdischer Verdienstethik (vgl. # 1), so ist doch seine Auswahl und Gewichtung der Quellen repräsentativ für das Mehrheitsjudentum (nur nach diesem fragt er) der Jahrhunderte, die mit dem Neuen Testament beginnen, und der Durchgriff auf die hebräischen Texte ist nirgends direkter und einfacher als bei ihm. Dies ist eine hervorragende Leistung, die auch durch die nunmehr vorherrschenden amerikanischen oder israelischen Arbeiten nicht ersetzt werden wird. Was Weber allerdings noch nicht kennt, ist die Welt der Papyri, die sich seither aufgetan hat und auf die wir gleichfalls achten werden.
Zu nennen sind v. a. John Lightfoot, John Selden und Johann Christian Schöttgen, deren Arbeiten auch bei Pufendorf und Kollegen mitbenutzt wurden. Zu Selden, der auf die Rechtsfragen besonders einging, s. # 216, Exkurs. s. Lit.-verz., 6.2; Siglum: Bill. Hauptmangel dieses unerschöpflichen, ab Bd. 4/2 reichlich mit Registern versehenen Nachschlagewerks ist seine Orientierung am Mt, dem scheinbar„jüdischsten“, dabei aber am wenigsten authentischen Evangelium, fragt man nach den Vorgängen der Phase A. Auch bemüht er sich nicht um die (anstrengende) Unterscheidung zwischen Sein und Sollen, Praxis und Vorschrift. Auf dem Titelblatt der hier zitierten Letztauflage steht empfehlend der Name Delitzschs als Mitherausgebers, so wie Hermann Leberecht Strack Gewisse Kritiken, die dieses Werk erhalten hat, aber weniger noch als Billerbeck verdient, sind eher sprachlicher Natur. Die Lehre vom Verdienst S. 292– 294 z. B. sagt klarer als man es bei Billerbeck erfährt, dass es sich nicht um eine Rechtfertigung aus eigenen Werken handelt. Die Sprache ist manchmal recht nüchtern-geschäftsmäßig, aber das gibt es auch in der Mischna.
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Was Rechtsfragen im Besonderen angeht, so sind die Arbeiten solcher Talmudisten des späten 19. und frühen 20. Jh. von Wert, die selber Juristen waren: Mordché RAPAPORT, David FARBSTEIN und Isaak STEINBERG,⁵¹ auch Moses BLOCH, Professor am Rabbinerseminar Budapest⁵² und Naphtali HIRSCH, Sohn des heute wieder beachteten orthodoxen Rabbiners Samson Raphael Hirsch, u. a.m. Anders als die englischsprachigen Arbeiten, die heute die Diskussion bestimmen, sind sie ganz in der Terminologie des Römischen Rechts gehalten, das zu ihren Lebzeiten teilweise sogar noch galt. Das hat den Vorteil, dass direkte Systemvergleiche möglich werden. Hier kriegt man z. B. klar gesagt, dass das jüdische Vertragsrecht, soweit es ein solches gibt, auf dem Sachenrecht aufruht und dieses auf dem – im Dekalog ja bereits verankerten – Schutz des Eigentums (Rapaport, Talmud 13a-15a). Ein Leitfaden durch den Stoff, Arbeit eines jüdischen Historikers und Juristen, ist Ze’ev W(ilhelm) FALKs Introduction, ergänzt inzwischen durch HECHT u. a., Introduction. Zwar haben neuere Forschungen die „bewundernswerte Eintracht“, die lt. Josephus (C.Ap. 2,179) unter allen Juden geherrscht haben soll, in Zweifel gezogen und ein eher pluralistisches Bild der Halacha (= des nachbiblischen jüdischen Rechts) gezeichnet.⁵³ Das mindert die Brauchbarkeit der älteren Arbeiten jedoch keineswegs, solange man die dort gesammelten Materialien nicht löst von ihren Orts- und Zeitangaben. So werden wir also von Ägypten nicht unbesehen auf Judäa schließen und den Übergang vorrabbinischer in rabbinische Verhältnissen sorgfältig ins Auge fassen. – Einen Forschungsüberblick, was das gegenwärtige Verständnis des antiken Judentums bestrifft, gibt Günter STEMBERGER: „Das Judentum in frührabbinischer Zeit“, HZ 300, 2015, 1– 32. In all den dort vorgestellten Arbeiten kann man sehen, dass im Neuen Testament ein nachhasmonäischer, aber immer noch vorrabbinischer Zustand dokumentiert ist. Wir nennen diese Epoche die „Spätzeit des Zweiten Tempels“. Für die Stellung des antiken Judentums gegenüber Rom ist die detaillierteste Darstellung nach wie vor die von Jean JUSTER , Les Juifs dans l’empire romain (1914), eine
Zu ihm vgl. # 75. Auf seine zahlreichen Distinktionen wird im vorliegenden Werk immer wieder hingewiesen, weil sie alt sein können oder doch unklar Diskutiertes nachträglich klären helfen. Doch gibt er zu, seinem Stoff eine lückenlose Systematik allererst aufgeprägt zu haben, im Gespräch übrigens mit Gustav RADBRUCH (135 = Schlussseite). Die Vergleiche mit römischem Recht sind bei ihm jeweils als „Anmerkung“ überschrieben. Seine jüdischen Belege sind allerdings stets jünger als der ntl. Zeitraum; sie beginnen mit dem Talmud. Das Kürzel „Ch. M.“ meint den Ḥošen mišpaṭ, ein Werk des Jakob ben Ašer (frühes 14. Jh.), vierter Teil seiner Halacha-Sammlung Arba‘a Ṭurim. Blochs Informanten über das römische Recht waren die Pandekten von H. DERNBURG und andere Lehrbücher der Zeit, genannt in seinem Besitzrecht 2 Anm. 1. s. Heger, The Pluralistic Halakhah, und C. HEZSER: „Einheit und Vielfalt in der rabbinischen Halakhah“, in: Konradt/Steinert, Einheit und Vielfalt 149 – 163. Die Auffassung jedoch, dass auch das römische Recht eine Art case law gewesen sei (152 f ), übersieht dessen von Gaius nicht erst erfundene, sondern in den Begriffen bereits liegende systematische Kohärenz. Sicher ist auch das römische Recht auf induktivem Wege entstanden, aus der Praxis, aber in stetem Respekt vor dem Satz vom (zu vermeidenden) Widerspruch. Gleichfalls im klassischen Recht zu finden ist ein gewisser Weitblick, wie ihn den Römern ihr wachsendes Reich abnötigte.
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beispiellose Leistung an Übersicht, Vollständigkeit und Genauigkeit, allerdings ohne Register (welches bei dieser Stofffülle ein eigener Band hätte werden müssen). Unüberholt ist sein Band II,⁵⁴ die Rechtsverhältnisse betreffend; die in C 4.2.4 gegebene Übersicht folgt seiner Gliederung. Der Autor, aus rumänisch-jüdischer Familie stammend, promoviert in Geschichte wie im Recht, bewandert aber auch im Talmud, war praktizierender Jurist.⁵⁵ Dass er 1915 als Freiwilliger im Ersten Weltkrieg fiel, hat die Nachwirkung seiner Arbeit beeinträchtigt, zumal sie nicht leicht zu lesen ist. Sie wurde zwar gelegentlich nachgedruckt, aber kaum gelesen.⁵⁶ Wo wir ihn zitieren, wird es nicht nötig sein, seine stets exakten Quellenangaben zu reproduzieren, außer wo heutige Zählgewohnheiten von den damaligen abweichen. Zu Philon, dessen vier Bücher De specialibus legibus einiges zu besagen versprechen über die Torapraxis einer jüdischen Population der Diaspora noch vor der Zeit der Rabbinen, hat Isaak HEINEMANN, Philons griechische und jüdische Bildung (1932) eine erschöpfende Untersuchung vorgelegt.⁵⁷ Dieser Autor war sowohl Rabbiner – damit auch schon Jurist – wie klassischer Philologe, bekannt u. a. als Mitherausgeber der deutschen Übersetzung von Philons Werken; dort hat er Legum allegoriae und De specialibus legibus beigesteuert. Heinemann kennt das griechische Recht so gut wie das hebräische und vermag zu zeigen, wie sehr Philon letzteres nach ersterem stilisiert.⁵⁸ Einiges bleibt dann aber doch als alexandrinisch-jüdische Halacha zu erwägen und bereichert unsere Kenntnis der Torapraxis in Zeiten des Zweiten Tempels. Ein Spätling der in unserem Lande 1938 mit Gewalt beseitigten deutschsprachigen „Wissenschaft des Judentums“ ist das Wörterbuch des jüdischen Rechts von Marcus COHN, Rechtsanwalt in Basel und zuletzt auch Berater des israelischen Justizministeriums, 1980 erschienen; es fasst die im Jüdischen Lexikon bis 1930 erschienenen Beiträge dieses Experten zusammen als Separatdruck. Auf dieses Werk wird hier nach seiner Spaltenzählung, nicht nach seinen – oftmals hebräischen – Stichworten verwiesen, und zwar in Auswahl des für unseren Zeitraum Relevanten. In die Nachkriegszeit, als die Wissenschaft des Judentums englischsprachig geworden war, fallen die brillanten Aufsätze des Rabbinikers Boaz COHEN, gesammelt in
Bd. I, allgemein-historischen Inhalts, ist ersetzt durch Schürer/Vermes, History und Neueres. Als Würdigung und Bestätigung seiner Leistung s. A. M. RABELLO: „The legal condition of the Jews in the Roman Empire“, ANRW II/13, 662– 762; M. GOODMAN: „Jean Juster and the study of Jews under Roman rule“, in: G. KHAN (Hg.): Studies in Honour of Edward Ullendorff, 2005, 309 – 322. Aus diesem Werk hätte die neutestamentliche Wissenschaft z. B. entnehmen können, wer wem gegenüber im damaligen Judäa das Recht hatte zur Verhängung und Ausführung von Todesstrafen. Stattdessen glaubte man der Schutzbehauptung von Joh 18,31 (# 178). Heinemann, Bildung. Sein Befund im Großen und Ganzen ist, dass Philon versucht, hellenistisches Recht als bereits in der Tora gegeben auszuweisen – ganz wie die Collatio (s.u. C 4.3.5) es später auf Latein in Rom noch tat. Heinemanns Auffassungen sind in der heutigen Judaistik in der Minderheit; aber sofern man den Begriff des Rechts überhaupt anlegt, wird man ihm folgen müssen. Vgl. C 4.3.1. Als Modifikation seiner Ergebnisse aufgrund der judäischen Papyrusfunde sei genannt E. REGEV: „From Qumran to Alexandria and Rome. Qumranic Halakhah in Josephus and Philo“ in: Baumgarten u. a., Halakhah 45 – 63, mit neuerer Lit. in Anm. 1– 5 und 74.
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seinem Jewish and Roman Law; einer davon wird hier in Übersetzung geboten (s.u. C 1). Andere im Neuen Testament kundige jüdischen Juristen und/oder Historiker, die bevorzugt Beachtung verdienen, sind David DAUBE,⁵⁹ Géza VERMES und Bernard JACKSON. Für die Auswertung der Schriften des Josephus, der jedenfalls die Praxis des Landes Israel gut kennt, sofern er nicht – wie in Contra Apionem – das mosaische Recht idealisiert und seinerseits alexandrinisch-jüdische Propagandatexte für Praxis gelten lässt (was sie dort zumindest nicht waren), dienen, außer Piattelli/Jackson, „Jewish Law“ und anderem schon Genanntem (s.o. 5.1.1), Arbeiten von Peter TOMSON und Markus BOCKMUEHL.Wie Heinemann helfen sie dazu, von der übertriebenen Darstellung nach außen, in der Josephus manchmal Philon gleicht, auf das historisch Wahrscheinliche oder überhaupt nur Mögliche zurückzulenken. Eine umfassende Darstellung des hebräischen Rechts aller Epochen ist die vierbändige von Menahem ELON, Jewish Law. Dort ist, wie auch in einer Reihe weiterer, ebd. S. 1554– 1556 empfohlener Werke die Halacha – also die an die Tora anknüpfende Rechtstradition – aller Jahrhunderte dargestellt, mit weniger Präzision für die Antike als bei Falk, dafür aber mit Schwerpunkt auf der Weiterentwicklung der Halacha bis zur Gegenwart, auch und gerade in der Diaspora; daher neben der hebräischen auch die englische Ausgabe. Dem Mutterland wird in der hebräischen Originalausgabe die Ausbildung eines mišpaṭ ‘ibrî, eines spezifisch hebräischen Rechtes empfohlen. Über dieses inzwischen auf bloßes Personenstandsrecht zurückgeschraubte Projekt s. Sinclair, Jewish Law 406 u. ö.; v. Daniels, Rel. Recht 186 – 195.⁶⁰ Saul LIEBERMAN, der die Tosefta auf Hebräisch kommentiert hat, überraschte die Fachwelt durch profunde Studien zur Zweisprachigkeit der frühen Rabbinen; manches Griechische, das er bei ihnen fand, illustriert das Rechtsleben im Palästina des 2. und 3. Jh. – In zwei Bänden Essays, 1978 und 2008 erschienen, dazu noch an anderen Stellen, hat der als Jurist (er war Anwalt nach englischem Recht) wie als Judaist hervorgetretene Bernard JACKSON ausgezeichnete, genau dokumentierte Detailstudien zu Einzelthemen der jüdischen Rechtsgeschichte „aus der Innensicht“ (so Essays Jewish 6) beigesteuert und hat von da aus manches im Neuen Testament neu sehen gelehrt (so v. a. in Essays NT). Sein Aufsatz „On the problem of Roman influence on the halakah and normative self-definition in Judaism“, erschienen in der viel beachteten amerikanischen Dokumentation Jewish and Christian Self-Definition, hat im Detail dargelegt, wie traditionelljüdisches Recht sich in der Mischna mit Griechisch-Römischem verband. Jackson widerspricht dabei dem Evolutionismus des quasi-Naturhaften, wie ihn das 19. Jh. pflegte
Insbes. in seinen biblischen Schriften, wo er das Wissen auch eines Neutestamentlers an den Tag legt. Auskunft über ihn und seine bleibende Verbundenheit mit der deutschen Rechtswissenschaft findet sich als Herausgebernotiz ebd. S. 5. Eine Nähe zu Hans KÜNGs „Projekt Weltethos“ (dort nicht erwähnt) ist nicht zu verkennen, zumal auch dieses auf die Zehn Gebote zurückgeht. Nur ist die Zweite Tafel negativ formuliert, was zu Neufassungen nötigt. Bei Siegert, Kirche und Synagoge 172– 176 wird demgegenüber an Helmut SCHMIDTs „Menschenpflichten“ erinnert, ein in Gesprächen ehemaliger Staats- und Regierungschefs entstandener Text von 1997 in 19 Artikeln, auch ein Beispiel für „neue Dekaloge“ (C 4.6.1).
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(Essays Jewish 8): Rechtsgeschichtliche Forschung ermittelt keine Selbstbewegung eines für uns anonymen Geistes, sondern forscht nach den Entscheidungen bestimmter Menschen in konkreten Situationen. – Sein älterer amerikanischer Kollege ist Jacob RABINOWITZ, Jurist am New York Bar und an der Hebräischen Universität, dessen Jewish Law: Its Influence on the Development of Legal Institutions auf europäische und überhaupt westliche Gesellschaften zielt unter der Frage, was diese aus biblischen oder nachbiblischen Vorgaben des Judentums bewusst oder auch unbewusst sich angeeignet haben. Wichtigstes Vehikel war zu allen Zeiten die Bibel. Eine konkurrenzlose Philologenleistung, von einem souveränen Kenner des rabbinischen Judentums kommend, ist Etan LEVINE, The Aramaic Version of the Bible (1988). Dort sind in den antiken Übersetzungen der Hebräischen Bibel ins Aramäische Minderheitenmeinungen und Laientheologisches, auch zu Rechtsfragen, aufgewiesen. Manche vorrabbinische Auffassung dürfte sich bis hierher durchgehalten haben. Ein Gesichtspunkt, der erst in der neuesten Judaistik stärker bedacht wird, v. a. bei Peter SCHÄFER,⁶¹ ist das Eingehen der Rabbinen auf das sich konsolidierende Christentum. Die Tannaiten, so wird auch im Folgenden angenommen, müssen die Torakritik des Paulus gekannt haben, wenigstens in Umrissen. Sie müssen bemerkt haben, dass den Synagogen Leute abhanden kamen, wenn es auch nicht „Zehntausende“ waren, wie in Apg 21,20 behauptet, und sie müssen sich gefragt haben, woran das lag. Wir werden öfters sehen, dass sie die Unzuträglichkeiten vorheriger Praxis zu beheben wussten; ihr Anspruch dabei war, das zu verwirklichen, was schon Mose am Sinai aufgegeben worden sei. – Für die Einleitungsfragen zu den Rabbinenschriften ist Günter Stembergers Einleitung in Talmud und Midrasch maßgeblich. Was die vorrabbinische hebräische und aramäische Literatur betrifft, so sind die Qumran-Funde in der zweisprachigen Ausgabe von Florentino García Martínez und Eiberg Tigchelaar (mit engl. Übers.) inzwischen komplett zugänglich. Nicht erschöpft sind im vorliegenden Werk die oftmals sehr ausführlichen Einträge zu Rechtsbegriffen, hebräischen wie englischen, welche die Encyclopaedia Judaica in ihren diversen Auflagen gibt. Sie kommen aus einer ununterbrochenen Zitier- und Auslegungstradition für die rabbinischen Schriften von ihrer Entstehung in neutestamentlicher Zeit bis zum heutigen Tage.
Schäfer, Die Geburt des Judentums (2010). Auch sein Jesus im Talmud (2007) widerspricht in dieser Hinsicht Johann Maiers Jesus von Nazareth in der talmudischen Überlieferung (1978). Schäfers Blickrichtung bleibt bedenkenswert, auch wenn dem genannten Buch zahlreiche Interpretationsfehler nachgewiesen werden konnten: D. BOYARIN: „Sehnsucht nach dem Christentum“, in: Bedenbender, JudäoChristentum 121– 158.
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5.2.3 Klassische Philologie Zu den pagan-antiken Quellentexten, die für das Verständnis des Neuen Testaments wichtig sind, ist die Einleitungsarbeit längst geleistet worden. Alles ist bestens ediert, und auch über neue Funde an Inschriften und Papyri wird die neutestamentliche Wissenschaft durch geeignete Publikationen auf dem Laufenden gehalten (s. nächste Rubrik). Neben den spezifischen Rechtsquellen konnte so manches Hellenistisch-Römische in die hier zu gebenden Kommentare eingearbeitet werden, was in der Bibelwissenschaft bisher kaum Beachtung fand, auch nicht in der Serie der „Studia ad corpus Hellenisticum Novi Testamenti“. Was Apophthegmen von Philosophen betrifft, den Logien Jesu vergleichbar, sind die Socraticorum reliquiae, von Giannantoni gesammelt (4 Bde., 1983 – 1985), eine Fundgrube. Ihre Autoren waren zumeist besitzlose Wanderer und Publikumsprovokateure wie Jesus selbst. Gadara in der Dekapolis, nicht weit von Jesu Heimat, war einer der Sitze hellenistischer Philosophie im Osten; selbst im Midrasch (BerR. 65,20) ist der Kyniker Oenomaos v. Gadara noch erwähnt. Auch im alten Rom wurden solche Logiensammlungen, wie es sie damals schon gab, gern gelesen.⁶² Für den lateinischen Westen ist Ciceros De officiis eingearbeitet, ein von dem Stoiker Panaetius inspirierter Text,⁶³ der in der Neuzeit jahrhundertelang Pflichtlektüre der Gymnasiasten war. Eine Entdeckung wert sind seine philosophischen Dialoge, deren Einfluss auf die Naturrechtslehrer und damit auf modernes Rechtsdenken noch zu zeigen sein wird (C 4.7.2), sein De legibus, sein De re publica (leider nur in Fragmenten erhalten), seine Briefe An Atticus, seine Paradoxa u. a.m., die in der Theologie noch wenig verwendet wurden. Cicero war ein Mehrfachtalent, Redner und Politiker nicht weniger als Philosoph und Jurist.⁶⁴ Er hat das Gedankengut des Platonismus und der Stoa der römischen Aristokratie, die damals traditionell eher epikureisch und jedenfalls pragmatisch gesinnt war,⁶⁵ mit literarischem Glanz weitervermittelt und hat viele griechische Begriffe, darunter nicht zuletzt die juristischen, mit Nachhaltigkeit ins Latein gebracht. Reiche Information über römische Verhältnisse bietet Plutarch, ein lateinkundiger Grieche, gest. nach 120 (das macht ihn zu den Schriften des Neuen Testaments zeitge-
Cicero, Off. 1,104 erwähnt eine solche Sammlung, die Cato als Altersbeschäftigung erstellt und griechisch unter dem Titel Apophthegmata veröffentlicht hatte. Die geistige Unabhängigkeit, die sich darin ausdrückte, machte ihm Eindruck. Das weiß Gellius 13,28 zu melden, der sich das (heute verlorene) Werk Peri tou kathēkontos des Panaetios noch hat vorlesen lassen, „Über das, was sich gehört/was Pflicht ist“. Cicero übersetzt diesen Ausdruck mit De officiis. Das war eine Quersumme damals gängiger Überzeugungen ohne Streben nach Originalität (so Flückiger, G.Naturr. 236 – 238), was sie für den gegenwärtigen Zweck durchaus empfiehlt. Er durchlief den cursus honorum bis zum Konsulat (63 v.Chr.; drei Jahre zuvor war er bereits Praetor gewesen) und bis zur Ehrung mit dem Titel pater patriae, ehe seine Opposition gegen Caesars Einführung einer neuen Art von Monarchie ihn das Leben kostete (obwohl er stets Caesars Freundschaft gesucht hatte, aber auch die des Pompeius). Das Manifest des Epikureismus im damaligen Rom, das Lehrgedicht De rerum natura von Lukrez, wurde von seinem Bruder, Quintus Tullius Cicero, ediert.
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nössisch), dessen zahlreiche Schriften im Umfang von zwei Foliobänden erhalten sind, einer betitelt Vitae parallelae, der andere, die philosophischen Schriften bietend, Moralia. Plutarch hat eine phänomenale Kenntnis der alten Welt, und anders als etwa Josephus schildert er sie uns weitgehend sine ira et studio, interessefrei, als mäßig beteiligter Beobachter.⁶⁶ – Ihm folgt, nicht mehr so bedeutend, Aulus Gellius (gest. ca. 170 n.Chr.), Autor einer Noctes Atticae betitelten Sammlung von Anekdoten und Einzelbeobachtungen aus dem kulturellen Leben des einstigen wie des zeitgenössischen Athen bzw. Rom. Er ist einer von den etwa dreißig „Buntschriftstellern“, deren griechische bzw. lateinische Buchtitel er in der praefatio (5 – 9) nennt und deren Werke mit Ausnahme der Memoriales libri eines gewissen Lucius Ampelius sämtlich verloren sind. – Aus dem noch dem 1. Jh. angehörigen, Latein schreibenden Valerius Maximus werden wir gleichfalls schöpfen, dessen Exempla memorabilia Gellius zwar kennt, aber unter seinen 30 Vorläufern nicht erwähnt .⁶⁷ – Auch aus der Poikilē historia (Varia historia) des Claudius Aelianus (frühes 3. Jh.) fällt noch manches Schlaglicht auf antikes Alltagsleben. All dies ist über ausgezeichnete Wörterbücher und Datenbanken den Sprachkundigen ein aufgeschlagenes Buch. Unter vielen Philologenleistungen verdient Heinrich LAUSBERGs Handbuch der literarischen Rhetorik besonders hervorgehoben zu werden; sie hat über die Einbeziehung der Gerichtsrhetorik, namentlich in Quintilians Institutio oratoria, dazu geholfen, Quellen zu erschließen, die in den juristisch orientierten Nachschlagewerken leicht übersehen werden.
5.2.4 Papyrologie und Epigraphik Das Verfahren Roms in den Provinzen, lokale Rechte so weit wie möglich gelten zu lassen bis dahin, dass sogar eigene Funktionäre es anwendeten, ist – klimabedingt – in Ägypten überproportional reich belegt in einer noch lange nicht ausgewerteten Fülle von Originaldokumenten. Abzüglich lokaler Eigenheiten, auf die uns die Spezialforschung aber hinweist, gewähren sie uns konkrete Einblicke in das Rechtsleben ihrer Gegend und ihrer Zeit, ja überhaupt in das gelebte Leben. Gerade die Papyri nämlich, mehr als die oftmals offiziell-pompösen Inschriften, bilden Vorgänge des Zusammenlebens ab, ungeschminkt und ungeschönt; es sind ja in aller Regel keine Phantasieprodukte, wie das Meiste an Literatur bis zum heutigen Tage. Ein noch heute nachgedruckter Klassiker der Papyruskunde ist Gradenwitz, Einführung in die Papyruskunde, Besprechung der vertracktesten Fälle, welche die Berliner Papyrussammlung (BGU = Berliner Griechische Urkunden) aufzuweisen hat, und wo insbesondere gezeigt wird, wie Fehler (nicht nur Fehlstellen) im Original sich beheben lassen. Das Wissen eines Notars oder „Schreibers“ (# 34) der damaligen Mittelmeerwelt, Er war Kommunalpolitiker, auch gegenüber Rom, für das Wohl des armen, ländlichen Böotien und in späten Jahren auch Priester in Delphi, dessen Orakel er mit römischer Unterstützung wieder in Schwung brachte. Gellius nennt keine Schriftsteller, mit denen er persönlich konkurriert.
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kann man sagen, ist von der Papyrologie wiedergewonnen worden; sie ist eine exakte Wissenschaft. Ihr Vergleichsmaterial beziffert sich, um nur das Publizierte zu nehmen, derzeit auf ungefähr 35000 Stücke. Nach und nach zieht auch die neutestamentliche Wissenschaft daraus ihren Nutzen. Otto EGER, Jurist und Mitherausgeber der Gießener Papyri (P. Giss.), hielt 1919 seine Baseler Rektoratsrede über Rechtsgeschichtliches zum Neuen Testament, worin er zahlreiche Beobachtungen juristisch kommentierte, die Adolf DEISSMANN (LvO plus zwei Bände Bibelstudien) als Neutestamentler v. a. an damals frisch publizierten Papyri gemacht hatte. Danach aber kam die oben beschriebene Flaute innerhalb der deutschsprachigen Forschung, und das englisch Geschriebene nahm man nur zu den eigenen Fragen zur Kenntnis. Ein Vortrag über „Bibel und Rechtsgeschichte“ von Artur STEINWENTER im Journal of Juristic Papyrology von 1965 hätte ein neuer Anstoß, ja ein Forschungsprogramm werden können, aber die neutestamentliche Wissenschaft ging nur sehr zögernd darauf ein; die Nachkriegstheologie hatte andere Sorgen. Die Anfänge waren jedoch geleistet, und in einem ausführlichen Wörterbuch zum Neuen Testament aus Papyrusbelegen und Nichtliterarischem haben MOULTON und MILLIGAN (Vocabulary, erschienen 1920 – 30) eine Arbeitshilfe ohnegleichen geschaffen: In ihrer sorgfältigen Kontrastierung des juristisch-geschäftsmäßigen Sprachgebrauchs der Dokumente gegen den literarischen unter ständiger Bezugnahme auf das Neue Testament ist dieses Meisterwerk historischer Lexikographie von allen Vorarbeiten die ergiebigste. Als Speziallexikon für die belegbaren lateinisch-griechischen Äquivalenzen ist Hugh MASON, Greek Terms for Roman Institutions (1974) sehr hilfreich,⁶⁸ begrenzt allerdings, wie auch MAGIE, De Romanorum iuris publici sacrique vocabulis (1905), auf den Bereich von Militär und Verwaltung. Auf Initiative des australischen Altphilologen und Althistorikers Greg HORSLEY, später auch S. LLEWELYN und anderer, erschienen zwischen 1981 und 2012 die RevueBände New Documents Illustrating Early Christianity (zit. H/L, Documents), die alles seit 1976 an Inschriften und Papyri Publizierte oder auch in älteren Publikationen neu Entdeckte vorstellen und daraufhin kommentieren, wie weit es für das Sach- oder Sprachverständnis neutestamentlicher Texte von Belang ist. Die manchmal ausführlichen Kommentare, die sich dort finden, sind hier nicht ausgeschöpft; auf sie wird jedoch stets hingewiesen. Ein Pionier der Rechtspapyrologie war vor wie nach dem Krieg Raphael (Rafał) TAUBENSCHLAG.⁶⁹ Von seinem Wirken kündet das Journal of Juristic Papyrology, seit 1946 in Warschau erscheinend aus Mitteln der Taubenschlag-Stiftung. Eine Sammlung seiner Aufsätze, 1959 erschienen, wegweisend und überaus reich an Belegen, wird im Folgenden auch da zitiert werden, wo neuere Forschungen – oft nur in Details – hinzugekommen sind. Gelegentlich störend sind dort nur Akzentfehler in den griechischstämmigen Wörtern – ein Mangel auch in Giannantoni, Socraticorum reliquiae und dem SRR von Selb/Kaufhold. Raphael (Rafał) Taubenschlag zählt zu jener Minderheit jüdischer Gelehrter, die über Frankreich und die USA dem NS-Terror entkommen konnten und nach 1945 in ihr Heimatland zurückkehrten.
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Ein besonders glücklicher Fund sind seit 1960 die erst vor kurzem vollständig zugänglich gewordenen Papyri aus der Wüste Juda,⁷⁰ die allerdings bis auf eine Ausnahme nicht dem einstigen Tempelstaat und auch nicht der Provinz Judaäa zugehören, sondern zunächst dem Nabatäerreich, dann, seit seiner Ablösung, der Provinz Arabia – zuletzt aber, sensationell genug, der kurzen Herrschaft des „Fürsten Israels“, Bar-Kochba. Unter C 4.4.1 wird darüber mehr zu sagen sein; es ist das sog. Babat(h)a-Archiv. Ein erster, noch heute wertvoller Kommentar ist derjenige der hebräischkundigen Juristin Elisabeth KOFFMAHN (Doppelurkunden, 1968).⁷¹ Eine Fülle von Arbeiten folgte, zuletzt u. a. von Jacobine OUDSHOORN (2007) und Kimberley CZAJKOWSKI (2017), einmal von rechtspapyrologischer Seite aus, das andermal von historischer unter der Frage: Wie sahen Privatleute jener Provinz ihre Chancen, sich des römischen Justizapparats zu bedienen? Eine Separatedition alles Aramäischen aus Qumran und Umgebung, welche das Aramäische auch der Papyri philologisch erschließt, ist von dem Semitisten Klaus BEYER geleistet worden, eigenwillig in manchem⁷² und wenig angenommen von der Forschung; doch ist diese voluminöse Arbeit ohne papyrologische, ja auch ohne semitistische Vorkenntnisse benutzbar. Seit 2003 ist eine Reihe „Papyrologischer Kommentar zum Neuen Testament“ im Entstehen und umfasst bereits mehrere Episteln. Dort wird naturgemäß auf das Vokabular geachtet, das die Papyri belegen, und das ist sehr oft ein geschäftlich-juristisches. – Von Joachim HENGSTL kommt an die neutestamentliche Wissenschaft die Mahnung, den juristischen Gebrauch der von der Papyrologie angebotenen Ausdrücke nicht unbesehen fürs Neue Testament anzunehmen; in der Regel bedient sich dieses einfach der Umgangssprache. Auch insistiert er auf genauer Wahrnehmung örtlicher und zeitlicher Differenzen. – Alle griechischen Papyri werden nach den Siglen und Nummern der Duke Datenbank zitiert (s. Literaturverzeichnis, 1.5); diejenigen in semitischen Sprachen, soweit hier interessant, sind in der Liste unten in B 4 mit erfasst. Für Inschriften ist ein so leichter Zugang nicht gegeben; hier wird nach Möglichkeit verwiesen auf ihr Vorkommen bei Schürer/V., History und im CIJ; den jeweils neuesten Veröffentlichungen nachzuspüren, wäre zu aufwändig gewesen. – Nützlich, aber im Vokabular naturgemäß beschränkt, ist das genannte Glossar von Magie, De vocabulis, gespeist v. a. aus Inschriften, ebenso wie das oben gewürdigte Vocabulary von Moulton/Milligan. Allgemein gilt: Inschriften illustrieren v. a. das öffentliche Recht, die Evangelien hingegen eher das private. Hinzu kommt, dass im damaligen Judäa das Aufstellen von Inschriften weniger üblich war als im sonstigen Römischen Reich.
Zur Auffindungs- und Publikationsgeschichte dieser Papyri s. Baumgarten/Eshel, Halakah 114– 131 (die P. Yadin).146 – 153 (die P. Hev/Se); kürzer: Katzoff/Schaps, Law 1– 6. Eine Eigentümlichkeit ihres Sprachgebrauchs sei vermerkt: „Die gegenständliche Urkunde“ meint die zur Untersuchung anstehende Urkunde. Z. B. in den Datierungen (in B 4 z.T. angegeben), worin man besser den professionellen Historikern und Papyrologen folgt.
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So gewinnt die seit Deissmann in den Schatten geratene Epigraphik zur Zeit wieder an Interesse; so in zahlreichen Veröffentlichungen von John KLOPPENBORG und Richard ASCOUGH; im deutschen Sprachraum ist es Peter ARZT-GRABNER. Ein Überblick über neueste Ergebnisse dieses Forschungszweigs findet sich – unter seiner maßgeblichen Beteiligung – bei Corsten u. a., Epigraphik und Neues Testament (2016).⁷³
5.2.5 Geschichtswissenschaft, insbesondere Rechtsgeschichte Rechtsgeschichte ist eine Wissenschaft, die erst im 19. Jh. sich so nannte,⁷⁴ auch wenn der zugehörige Wissensstoff seit dem 17. Jh. wohlgeordnet bereitlag. Ihre reichen Ergebnisse gilt es im vorliegenden Werk in der von Gaius erstmals systematisch dargebotenen und seither kontinuierlich und weitgehend bruchlos ausdifferenzierten Terminologie nutzbar zu machen. „Es gehört zu den Eigenarten der rechtshistorischen Forschung des 19. und 20. Jahrhunderts, daß sie um die Bibel einen weiten Bogen gemacht hat“, sagen Jörn Eckert und Hans Hattenhauer auf der ersten Seite ihres Kongressbandes Bibel und Recht, der sich dann aspektweise der Wirkungsgeschichte der Bibel zuwendet, nicht aber Fragen der Exegese. Ausnahmen sind umso rühmenswerter: Theodor MOMMSENs Aufsatz über „Die Rechtsverhältnisse des Apostels Paulus“ in der ZNW von 1901 war für lange Zeit eine Referenz. Die zweite Hälfte dieser Studie, den Prozess des Paulus betreffend, ist allerdings veraltet und kann gerade heute durch neueste Arbeiten ersetzt werden. Werner Elert, der unvergleichliche Darsteller von Luthers ursprünglicher Theologie, hat in seiner Zeit als Kirchengeschichtler eine Morphologie (= Entwicklungsgeschichte) des Luthertums veröffentlicht, die nicht nur eine Ursprungs-, sondern v. a. eine Wirkungsgeschichte ist, auch in rechtsgeschichtlicher Hinsicht. In Bd. 2, S. 297– 395 ist eine Darstellung des Rechtsdenkens lutherischer Juristen des 17. und 18. Jh. geboten, worin Querverbindungen zwischen Theologie und Jurisprudenz sichtbar werden, die heute vergessen sind. Diese hundert Seiten zählen zu den entscheidenden Anstößen für das vorliegende Werk.⁷⁵ Das Standardwerk zur jüdischen Geschichte ist The History of the Jewish people in the Age of Jesus Christ, von dem Alttestamentler Emil SCHÜRER einst verfasst und in überarbeiteter und aktualisierter Form neu herausgegeben von Geza VERMES, Fergus
Dort s. als kurzen Forschungsbericht J. KLOPPENBORG: „Epigraphy, papyrology and the interpretation of the New Testament“ (129 – 135). Ein unbekannt gebliebener Vorläufer könnte Jean de Barbeyracs Professur in Lausanne gewesen sein: Er wurde dort 1710 professeur en droit et en histoire (Palladini, „Briefe Barbeyracs“ [wie C 4.7.2] 260), verließ aber nach fünf Jahren diesen schlecht bezahlten Posten, um in Groningen Jurist zu werden (269). Eine zeitbedingte Schieflage dieser sonst so lehrreichen Darstellung besteht allerdings darin, dass sie unter der Überschrift „der Staat“ steht, als wäre das Staatsrecht die Mutter des Zivilrechts. Wie sehr neuzeitliche Staatsbürger Rechtssubjekte sind, ja sogar Subjekte der Rechtssetzung, das dringt hier in Deutschland erst lange nach dem Krieg ins Bewusstsein vor.
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MILLAR und MARTIN GOODMAN 1973 – 87, ein Musterbeispiel wissenschaftlicher Objektivität und religiöser Neutralität im Zusammenarbeiten. Sehr differenziert argumentierend und historisch verlässlich sind die für unsere Fragen einschlägigen Kapitel in Gedalyahu ALON, Jews, 1977 auf Englisch erschienen, und die von Shmuel SAFRAI; dessen „Jewish selfgovernment“ von 1974 ist wohl der beste Einblick in damalige judäische Innenpolitik, den wir haben. Ein Klassiker zur Geschichte des Hellenismus mit Blick auf Bibel und Judentum ist Moses HADAS’ Hellenistische Kultur in der vorzüglichen deutschen Bearbeitung durch Egidius SCHMALZRIEDT. Dort ist außer der klassischen auch die nichtklassische Literatur der Antike in wünschenswerter Breite eingearbeitet. Hadas’ Belege werden im Folgenden nicht wiederholt; der Verweis auf dieses Werk wird genügen. – Für griechisches Recht, so wie es im hellenisierten Osten ankam, sind die Schriften von Hans Julius WOLFF unsere maßgebliche Auskunftsquelle, zusätzlich zu den o.g. Klassikern der Papyruskunde, bes. Gradenwitz.⁷⁶ – Als neueres und leicht zugängliches Übersichtswerk zu den historischen Fragen dienen die von Neutestamentlern (Kurt ERLEMANN, Jürgen ZANGENBERG) und Historikern (Karl-Leo NOETHLICHS, Klaus SCHERBERICH) gemeinsam edierten fünf Taschenbuch-Bände Neues Testament und Antike Kultur. Damit nicht ersetzt sind aber allerlei kritische Ansätze zum historischen Umgang mit NT-Texten, die der Berliner Althistoriker Eduard MEYER gewagt hatte (Ursprung und Anfänge des Christentums, 1921– 1923) und auf die wir auch hundert Jahre nach ihrer Veröffentlichung noch zurückgreifen werden.⁷⁷ Die kritische Haltung Bultmanns und seiner gesamten Schule verdient ihrer Ehrlichkeit halben zwar gleiche Achtung, ist aber methodisch unterlegen, was den Umgang mit antiken Quellen angeht. Von jenseits des Ärmelkanals sind einige Arbeiten zu erwähnen, die bei uns nur wenig rezipiert wurden, darunter Adrian SHERWIN-WHITES 1963 erschienenen Vorlesungen über Roman Society and Roman Law in the New Testament. Hier äußert sich ein ausgewiesener Kenner der römischen Geschichte über das Römische im Neuen Testament insbesondere in Verwaltung und Recht und trägt nach, was Foakes JACKSON und Kirsopp LAKE hätten wissen sollen, ehe sie ihren monumentalen, fünfbändigen Kommentar zur Apostelgeschichte veröffentlichten. Die Treffsicherheit, mit der gerade Sherwin-White als Historiker Scheinprobleme meidet und echte Klärungen bietet (nur für den Prozess Jesu sind seine Analysen inzwischen veraltet), zeigt, wie sehr das Neue Testament ein ,westliches‘ Buch ist, ein auf die griechischsprachige Oekumene zugeschnittenes. – In den 1970-er Jahren ließ Duncan DERRETT, ein sehr bibelkundiger Jurist (als solcher auch praktizierend) und Professor für Orientalische Rechte in London, zahlreiche Studien zu Rechtsfragen des Neuen Testaments erscheinen, unersetzlich für ihre Quellenkenntnis, aber meist überzogen in ihren Schlussfolgerungen. Sein Interesse Eine kommentierte Bibliographie der Literatur vor Wolff gibt dieser selbst in „Hellenistic private law“ 555 – 560, zu ergänzen aus Wolff/Rupprecht, Recht 203 – 251. Kürzer: Selb, Antike Rechte 194. Ein besonderes Verdienst Meyers besteht darin, dass er, entgegen der harmonisierenden Darstellungsweise des Lukas, die Konflikte (sein Ausdruck war noch: „Gegensätze“) im Urchristentum, zwischen Petrus etwa und dem Herrenbruder Jakobus, ungeschminkt zur Sprache bringt (hier # 43).
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gilt v. a. dem, was man bei Lukas und auch bei Matthäus der Quelle Q zuschreibt (er nicht); das vermag er aber nicht hinreichend zu differenzieren, und er achtet wenig auf die sehr viel griechischere Welt des Lukas. Derrett kennt semitische und weiter östliche Sprachen und Kulturen, ist aber weder Exeget noch Talmudist vom Fach. Auch hatte er noch nicht die Hilfe von Falks wichtigem 2. Band (1978) zur Verfügung; dieser hätte ihn vom Verfolgen mancher falschen Spur abgehalten. Für das Privatrecht im Besonderen bewährte sich KASER/KNÜTEL/LOHSSE, Römisches Privatrecht. Dort kann man u. a. alle leges des vorhadrianischen römischen Rechts unter lex mit ihrem Namen finden, und nicht selten stehen dort auch schon Hinweise auf das BGB und andere gegenwärtige Rechtsquellen. – Für das Strafrecht gab willkommene Ergänzung Jens-Uwe KRAUSE, Gefängnisse im Römischen Reich (1996). Der bekannte Jurist und Rechtsgeschichtler Dieter NÖRR hat in seinen zahlreichen Aufsätzen, gesammelt in drei Bänden, immer wieder neutestamentliche Texte analysiert; diese sind, sofern nicht durch Neueres überholt, hier sorgfältig berücksichtigt. Sie informieren weit gründlicher als die Rechtsgeschichtliche Bibelkunde von Theo MAYERMALY (2003). – Sehr ergiebig und bei Nörr auch schon berücksichtigt ist die juristische Dissertation des Katalanen Ramon SUGRANYES DE FRANCH über Mt 18,23 – 35 (# 140) und ähnliche Gleichnisse aus dem Wirtschaftsleben. Abseits der etablierten Forschungsrichtungen liegt die großartige rechtshistorische Arbeit von Felix FLÜCKIGER, einem reformierten Theologen und Schüler Karl Barths, dem er dann allerdings von der Fahne ging.⁷⁸ 1954 hat er eine Geschichte des Naturrechtes vorgelegt, von der frühesten Antike bis zu Thomas v. Aquin reichend, zu deren Fortsetzung er aber, den Rest seines Lebens im Pfarrberuf verbringend (er starb 2003), nicht mehr kam. – Ein katholisches Gegenstück zu Flückigers Werk ist die Abendländische Rechtsphilosophie von Alfred VERDROSS, bis ins 20. Jh. reichend. – Vorzügliche Hilfe leistet von juristischer Seite Hans SCHLOSSERs Neuere europäische Rechtsgeschichte, hier benutzt in der Auflage von 2017.⁷⁹ – Sehr aufschlussreich als von einem Katholiken und praktizierenden Juristen kommend, sind die zahlreichen Aufsätze und Lexikonartikel von Paul MIKAT,⁸⁰ gesammelt in insgesamt fünf opulenten Bänden (s. Lit.-verz., 8.2). Unerbittlich klar in seinen Fragestellungen, vermag er die katholische Position zu vertreten, ohne scholastisch zu argumentieren und auf die Vagheiten der dort üblichen Seins-
Flückiger (1917– 2003) wurde in Basel promoviert mit einer Arbeit über Schleiermacher. „Aber dann kam es, vor allem im Zusammenhang mit Barths Rechtfertigung der Niederschlagung des Ungarn-Aufstands 1956 durch die Sowjetunion, zum Bruch zwischen ihnen“ (Helmut BURKHARDT, https://www.afet.de/ alte-seite/etm/10_1/flueckiger.htm; Zugriff 12. 5. 2021). U. a. war Flückiger 1967– 77 Dozent in St. Chrischona bei Basel, vermittelte dort aber die Sicht Rudolf Bultmanns. Vergleichbar ist noch die Europäische Rechtsgeschichte von Hans Hattenhauer, kritisch zu erwähnen in # 69. Er hat katholische Theologie studiert mit Schwerpunkten in der frühen Kirchengeschichte und im kanonischen Recht, ehe er Jurist wurde. Von 1962– 66 war er Kultusminister des Landes NordrheinWestfalen.
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sprache zurückzugreifen.⁸¹ Im Zusammenhang des Themas „Ehe“ z. B., des bei ihm am detailliertesten behandelten, sagt Mikat, es gehe ihm weder um eine logische oder ontologische Zurückführung der Ehe auf vorgegebene Wertungen oder Ideen noch um ihre Einordnung in juristische Begriffsschemata, sondern um ihre Begründung aus der anthropologischen Eigenart des Menschen und der soziologischen Struktur des zwischenmenschlichen Zusammenlebens.
So lesen wir bei ihm (RRS 995) im Kontext einer Wiedergabe von empirischer Literatur einiges über Menschsein und Sexualität, was ein katholischer Priester um seiner Keuschheit willen besser nicht wissen sollte. Auch was er hier zum Naturrecht sagt, entspricht genau dem empirischen Ansatz Pufendorfs. Dabei ist das, was er als (positives, staatliches) „Religionsrecht“ bezeichnet, in seiner Begründungsweise dem nahe, was der zeitgleiche Barthianismus als „Rechtstheologie“ propagierte (welches Wort er jedoch vermeidet). Mikat ist unser Gewährsmann für die katholische Sicht auf das weltliche, gesellschaftliche Recht; um dieses soll es ja vordringlich gehen. Als Essay aus marxistischer Sicht ist Ernst BLOCHs Naturrecht und menschliche Würde von 1961 zu nennen, bes. S. 49 – 75.⁸² Bloch versucht freilich, die neuzeitliche Naturrechtslehre von ihrem Ausgangspunkt, der Wittenberger Reformation, abzutrennen; für ihn war Luther ein Fürstenknecht. – Als Sozialgeschichte und Anwendungsgeschichte des römischen Rechts steht neu und einzig da das Oxford Handbook of Roman Law and Society von 2016, mit reichen Literaturangaben. Von ganz anderer Natur und dem gegenwärtigen Vorhaben ganz anders nützlich ist das Rechtswörterbuch von Creifelds u. a., ein Gemeinschaftswerk, das heutige deutsche Recht betreffend. Im Übrigen ist die eigentlich juristische Literatur im vorliegenden Werk nur von den mitarbeitenden Jurist/-innen in ihrer Tiefe bekannt; ich selbst als Lehrling auf diesem Gebiet habe mich mit Überblicksdarstellungen begnügen müssen, wovon es ganz ausgezeichnete gibt, meine aber auch, dass es der theologischen und profanhistorischen Leserschaft dieses Werkes entgegenkommen wird, gerade darauf zu verweisen.
5.2.6 Neutestamentliche Arbeiten Ein Klassiker ist immer noch die von dem Neutestamentler und Kirchenhistoriker Hans LIETZMANN besorgte, nunmehr hundert Jahre alte Erstauflage des Handbuchs zum Neuen
Das bei im gelegentlich gebrauchte „seinsmäßig“ lässt sich ohne Verluste durch „unveränderlich“ wiedergeben – bzw. in Frage stellen –, und „ontisch“ heißt „wirklich“. Dass Mikat mit Thomas v. Aquin vertraut ist, zeigt sein unten in C 4.5.4 benutzter großer Aufsatz zu S.Th. 1-II q. 90 ff. Luther bleibt dort übersehen, aber ab S. 65 ist Pufendorf die Referenz. Mehr noch liebt er – schon der deutschen Sprache wegen – seinen Schüler Christian Thomasius, welcher allerdings, anfangs Pietist, sich später polemisch zum Christentum verhielt. Vgl. C 4.7.3.
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Testament (HNT). Keine der zu vielen Bänden angewachsenen Folgeauflagen gibt einen so direkten Durchgriff auf die Quellen. Daneben werden Aufsatzsammlungen renommierter Exegeten (Rudolf BULTMANN, Günter BORNKAMM, Nikolaus WALTER, Eduard SCHWEIZER , Ernst KÄSEMANN) dankbar benutzt. Bei dem gleichfalls viel gelesenen Joachim JEREMIAS ist Reserve angezeigt, nicht was seine Kenntnisse, sondern was seine oftmals voreiligen historischen Schlüsse betrifft. Nicht ungenannt bleiben darf in diesem Zusammenhang Martin HENGEL, dessen Pionierwerk Judentum und Hellenismus 1969 dem gelehrten Publikum die Problematik der Begegnung dieser beiden in der sog. zwischentestamentlichen Zeit bewusst gemacht hat. Das Judentum versuchte sich gegen eine damals schon sehr erfolgreiche Globalisierung, seit dem 19. Jh. „Hellenismus“ genannt,⁸³ zu wehren, angesichts dessen die selbstgenügsame Agrarwirtschaft Israels Kompromisse eingehen musste, die sich außer in seiner Literatur (Siegert, EHJL 142 u. ö.) auch im Rechtsleben niederschlagen, gerade in neutestamentlicher Zeit.⁸⁴ Zu Zeiten eines Bultmann oder Jeremias hat der Neutestamentler Ethelbert STAUFFER in einem Aufsatz „Neue Wege der Jesusforschung“ (1959) inaugurieren wollen⁸⁵ durch programmatische Einbeziehung der Rechtsgeschichte. Das was er als „juristischen Präzisionsverlust“ quer durch die Entstehungsschichten des neuen Testaments beobachtet, ist vollkommen richtig gesehen und ist sogar unser Problem: Die konkrete Erinnerung des in Jesu Tagen Geschehenen wich einer auf Gemeindebedürfnisse des 2. Jh. abgezielten Moralisierung oder bestenfalls Theologisierung. Leider aber ist Stauffers Eingehen auf Literarkritik, gerade dass er die Mk-Priorität und die Quelle Q berücksichtigt, für dieses Vorhaben unzureichend, und er bringt es fertig, Joh 8,1– 11 als einen Block zu behandeln, ohne über die verwirrende Vielfalt der dort zu findenden Texte nachzudenken. Dieser Aufsatz ist ein sonderbarer Alleingang, reich an Beobachtungen, denen wir werden nachgehen müssen; doch verliert er sich in haltlosen Theorien ad hoc, die aus Judas Iskariot einen Spitzel des Synhedriums machen und den Mischna-Traktat Sanhedrin rückprojiziert ins Leben Jesu auf eine Weise, die einen das Fürchten lehrt. Es ist jenes „Fürchten vor den Juden“, auch etwas Spätes und Künstliches, das Joh C 7,13, 19,38 und 20,19 (phobos tōn Ioudaiōn), Est 8,17 LXX zitierend (vgl. # 43), den Jüngern Jesu andichtet. Dieser Autor leidet selbst an Judäophobie, und so ist verständlich, dass auf seinen Spuren niemand gehen wollte.⁸⁶
Ursprünglich meint das Wort einfach nur die Beherrschung der griechischen Sprache. Hengels Arbeiten sind wegweisend für die bessere Kenntnis des vorrabbinischen Judentums bis hin zu seiner viel beachteten Würdigung des vorchristlichen Paulus. Ab dem Aufkommen christlicher Schriften ist die kritische Akribie dann leider weit geringer – außer darin, dass er die These von einer Priorität des Lk. vor dem (fertigen) Mt., die bis zu ihm hin minoritär war, verstärkt hat. „Neue Wege der Jesusforschung“, in Lehmann, Eißfeldt-Festschrift, Teil II = S. 165 – 186. Auch die Arbeit seines Doktoranden Detlev V. DOBSCHÜTZ: Paulus und die jüdische Thorapolizei, 2 Faszikel, theol. Diss. Erlangen 1968, kann nicht ernstlich verwendet werden. Sie liefert alles erdenkliche Quellenmaterial über Disziplinierung im Judentum zwischen 200 v. und 200 n.Chr., aber ohne ein Kriterium zu haben für den Unterschied zwischen präskriptiven Texten und ihrer Ausführung. Hier ist weder ein Historiker noch ein Jurist konsultiert worden. – Folge dieses porte-à-faux war, dass unter
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Die wenig später erschienenen Rechtsgeschichtliche(n) Untersuchungen zum Johannes-Evangelium von Stauffers Schüler Dietrich SCHIRMER, rein judaistisch orientiert und ohne historisches Urteil, sind nur als Materialsammlung brauchbar. Ernst BAMMEL, auch ein Schüler Stauffers, hat in der Tradition der christlichen Talmudistik, aber mit Blick auf das römische Recht das Interesse an Rechtfragen weit seriöser als dieser weitergeführt. Er ist ein Meister im Aufgreifen noch nicht gestellter Fragen. Ihm und seinem englischen Kollegen C. F. D. MOULE ist auch eine umsichtige Verortung des Prozesses Jesu in der politischen Geschichte seiner Zeit zu danken: Jesus and the Politics of his Day (1984), eine Antwort auf S. G. F. Brandons provozierendes Jesus and the Zealots (# 72). An Arbeiten unseres Jahrhunderts ist zu nennen Stefan KOCH, Rechtliche Regelung von Konflikten im frühen Christentum (2004). Dort kann man auf S. 11– 26 die neuere deutschsprachige Forschungsgeschichte über die Namen Sohm, Harnack, Käsemann, Hans v. Campenhausen, Siegfried Meurer, Günter Holstein, Johannes Heckel, Erik Wolf, Hans Dombois, Karl Schelkle, Eduard Lohse, Roman Heiligenthal u. a. rekapituliert finden. Hier in Münster hat sich im Rahmen der Arbeitsgruppe, welche die beiden Apologien des Josephus (Vita und C.Ap.) edierte, Manuel VOGEL um die Klärung zahlreicher Rechtsfragen in diesen Schriften verdient gemacht. Weitere Arbeiten, die gleichfalls unter meinen Augen entstanden sind und von deren Qualität ich mich zu überzeugen hatte, sind die Niclas FÖRSTER über Jesus und die Steuerfrage (2012) und von Jacobus Cornelis DE VOS über Rezeption und Wirkung des Dekalogs (2016). Zur Frage der urchristlichen Ämter hat ein Veteran des Institutum Judaicum, Siegfried BERGLER, in seiner Judas-Monographie einen fast vergessenen Forschungsansatz, wonach der ,Verrat‘ des Judas (# 71) nachösterlich zu datieren ist, mit einer Fülle an Literatur konfrontiert, hat ihn bestätigt und dabei auch Alternativen aufgewiesen für weitere Stellen, wo die Geschichtsdarstellung der Evangelien und der Apostelgeschichte anachronismusverdächtig ist. Ein Curiosum, der Gattung des historischen Romans zugehörig, ist Gerd THEIßEN, Der Anwalt des Paulus (2017), erzählerische Fiktion der Anfrage an einen römischen Juden, ob er Paulus vor Nero verteidigen wolle. Die Erzählung ist voll von (bedachten) Anachronismen, bringt aber die historische Situation mitunter in glücklichen Formulierungen auf den Punkt. Die weithin rezipierten Thesen dieses Autors zur Soziologie des Urchristentums liegen demgegenüber am Rande, so anregend sie auch für die vorliegende Arbeit waren. Wo es um Rechtsgeschichte geht, steht Italien nicht zurück, das auf diesem Gebiet sowieso bis heute führend ist; das wirkt sich auch bis in bibelexegetische Arbeiten aus: Paolo COSTA promovierte über Paolo a Tessalonica (2018) zu Apg 17 und Anna Maria MANDAS über Il processo contro Paolo di Tarso (2017) mit reichen Ergebnissen, die sich von Apg 16 bis Apg 28 erstrecken. Aus dieser Richtung ist noch einiges zu erwarten.
Verweis auf Stauffer vom Verfolgen juristischer Fragen im Neuen Testament damals überhaupt abgeraten wurde (Auskunft Frieder Lötzsch, mündlich); dieser Forschungszweig war blockiert.
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Als Leitfaden durch die europäische Rechtsgeschichte in ihrer Breite diente Uwe WESELs Geschichte des Rechts, zu ergänzen aus dessen Europäischer Rechtsgeschichte, aus Walter SELBs Antike Rechte im Mittelmerraum und aus Reinhard ZIMMERMANNs monumentalem Law of Obligations. ⁸⁷ – Wie das römische Recht in seiner letzten noch praktizierten Gestalt aussah, sagen uns Rudolf Sohms Institutionen des römischen Rechts, hier benutzt in ihrer letzten noch praxisrelevanten Ausgabe von 1896. Dies ist derselbe Sohm, der für seine Problematisierung eines evangelischen Kirchenrechts noch heute zitiert wird (vgl. # 287), hier aber für sein Hauptgebiet, das römische Recht, sprechen darf. – Ulrich Manthes ebenso kurze wie instruktive Geschichte des römischen Rechts ergänzt diesen Überblick sowohl nach „oben“ (= zum Früheren) hin, durch einen genealogischen Vorspann, der vieles überhaupt erst verständlich macht, wie auch nach „unten“ (zum Späteren) hin, bis in das BGB von heute.
5.2.7 Systematische Theologie Dass ein profilierter Lutheraner, Werner Elert, hier der entscheidende Wegbereiter war, als Historiker nicht weniger denn als Dogmatiker, wurde schon gesagt und wird in Exkurs 1 nochmals ausführlich dargelegt werden – nachdem eine konfessionell-lutherische Position heute fast schon für aus der Zeit gefallen gilt. Der „Sündenfall ins Deutschtum“⁸⁸ während mehr als zweihundert Jahren ist eine bis heute andauernde Zeit der Scham gefolgt, in welcher auch das Gute jener Position nicht mehr offen gezeigt wurde, sondern mit der beherrschenden Theologie Karl Barths vermittelt werden musste. Das Ergebnis ist in vielen Publikationen ein zerredeter Luther, dessen Bild und Wirkung sich vom Missbrauch der Jahrhunderte noch nicht erholt hat. Hatte die Studentenrevolte von 1968 Thomas Müntzer gegen Luther hochleben lassen, so hat noch im Vorfeld des Reformationsjubiläums von 2017, nachdem inzwischen das Verhältnis des späten Luther zum Judentum als giftig erkannt war, in Schriften der Ev. Kirche im Rheinland eine wohlfeile Polemik gerade hier das Grundmotiv in Luthers prinzipieller Unterscheidung von Gesetz und Evangelium zu orten vermeint. Dem war nur so abzuhelfen, dass wir auf die klassischen Lehrdokumente der Jahre 1520 – 1530 zurückgreifen und auf solche Darstellungen, die keine Kompromisse späterer Zeiten in Luthers
Dies ist, ähnlich wie das von Máthé herausgegebene ungarische Werk, aber ohne dessen Nationalismus, ein Plädoyer für das Wahrnehmen jenes einstigen ius commune des Lateinschrift schreibenden Europa, das in all seinen Auffächerungen doch auf dem Obligationenbegriff der Römer beruht. Besonderes Augenmerk liegt auf den Konvergenzen des englischsprachigen „Richterrechts“, abzulesen an konkreten Gerichtsentscheidungen (Register dazu: 1196 – 1205; es folgen deutsche: 1205 f ) mit der kontinentalen Tradition. Dies ist eine neue Art, ius gentium aus Quellen der Neuzeit darzustellen. Man kann es auch ein „empirisches Naturrecht“ nennen. So nennt es treffend Lötzsch, Philosophie 99, Bezug nehmend auf das späte 18. Jh. Vgl. Elert, Morphologie II 145 – 158: „Deutschtum als säkularisiertes Luthertum“.
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Theologie hineineinterpretieren (das geht von Melanchthon über Paul Althaus bis heute), worin die Eigenständigkeit des Evangeliums vom Gesetz und die Eigenständigkeit des Reiches Gottes zur Rechten von dem zur Linken verwischt werden. Soviel mag an dieser Stelle genügen.
5.2.8 Kirchenrecht Dankbar benutzt wurden die Schriften des theologisch versierten Juristen und Kollegen Elerts in Erlangen, Hans LIERMANN, zuletzt Chefjuristen der VELKD. Sein Deutsches Evangelisches Kirchenrecht hatte nichts von den Makeln seines Erscheinungsjahres 1933 an sich, und zu einem Ökumenischen Kirchenrecht hatte er zuvor bereits (1930) den Anstoß gegeben.⁸⁹ Die umstandslose Klarheit seiner Sprache hebt sich wohltuend ab von den Proklamationen von Christokratie, die damals im Schwange gingen (s.o. 2.5.4). – Sein Erlanger Nachfolger als Jurist mit besonderem Verständnis für Kirchliches ist Christoph LINK, dessen Kirchliche Rechtsgeschichte (KRG) eine der Referenzen bildet für das vorliegende Werk. Die Arbeiten des einflussreichen Hans V. CAMPENHAUSEN, von ihm in § 1,6 – 8 gewürdigt und für die Alte Kirche gebührend herangezogen, sind über seine Verweise zugänglich; wir folgen ihnen nicht direkt. – Ein weiterer Jurist, der profundes Verständnis für evangelische Theologie aufweist, ist Klaus SCHLAICH, dessen Lutherinterpretation unter C 4.6 wichtig werden wird. Von den Theologen ist noch zu nennen der Erlanger Kirchenhistoriker Wilhelm MAURER, persönlicher Lehrer des hier Schreibenden. Für ihn ist das Kirchenrecht die Ermöglichung oder besser: der Schutz, aber nicht die Verwirklichung des Evangeliums.⁹⁰ Aus lutherischer Sicht, so sagt er,⁹¹ ist ius divinum nichts anderes als das mandatum Dei, nämlich der Auftrag zur Verkündigung des Evangeliums und zur Darreichung der Sakramente. Nicht die Art, wie wir ihn durchführen, sondern der Inhalt ist göttlich. – Interdisziplinäre und zugleich internationale Kolloquien haben haben sich in interessanten Sammelbänden niedergeschlagen, so Vallauri Lombardi/Dilcher, Christentum, Säkularisation und modernes Recht (1981) und das deutsch-französische Kolloquium Bibel und Recht (Eckert/Hattenhauer, 1994). Dort findet sich einleitend (S. 6) ein Befund, der sich in den nächsten Bänden bestätigen wird:⁹²
H. LIERMANN: „Ökumenisches Kirchenrecht“ (Antrittsvorlesung, 1930), in: ders., Der Jurist und die Kirche 13 – 23, unter Bezugnahme auf einen unerfüllten Wunsch schon des Hugo Grotius. Zum Hintergrund: ders., Erlebte Kirchengeschichte 122. In seinem KuR 8 sagt er von den Kirchenjuristen des Luthertums: „Sie blieben dessen eingedenk, daß alles kirchliche Recht menschlichen Bemühungen entspringt; nicht auf den menschlichen Auftrag oder Anspruch kommt es dabei an, sondern daß diese menschlichen Bemühungen der Freiheit der evangelischen Verkündigung dienen.“ Gleiches sagt Liermann an vielen Stellen. Vgl. # 137 zu ius divinum. Maurer, „Bekenntnis und Kirchenrecht“ 14. Vgl. # 137. Dieser Befund wäre noch klarer gewesen, hätte man Pufendorf oder Wolff berücksichtigt. Nicht einmal Grotius findet sich im Register.
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Die Bibel war keine unmittelbar geltende Rechtsquelle, kein Gesetzbuch wie Koran und Mosaisches Recht. Sie hat vielmehr als Grundlage und Motivation den theologisch-anthropologischen Rahmen des Rechts geliefert und in dieser Hinsicht ungeheuer wichtige Wirkungen auf das Recht gehabt (…).
Achtmal zwischen 2005 (dem Start des RKNT-Unternehmens) und 2021 (letzte Absprachen mit den Mitautoren) haben am Institutum Judaicum Delitzschianum in Münster oder auswärts deutsch-österreichische Vorbereitungskolloquien stattgefunden, deren reiche Ernte hier nun eingefahren wird.
5.2.9 Fachübergreifendes Wertvoll als Blick auf die Theologie von außen war von juristischer Seite Norman ANDERSON, A Lawyer Among the Theologians, und von althistorischer Robin Lane FOX, The Unauthorized Version. Beide äußern ihr Befremden über eine Exegese und Biblische Theologie, die frei im Raum mentaler Vorstellungen schwebt, wo sie doch Stützen in der Geschichte haben müsste und auch könnte. Mit Geschichten – das sagen beide zu dem Programm einer Bible as literature – kann man Bibelleser, die nach den Grundlagen fragen, nicht abspeisen. Zu viele Bibeltexte fail to describe what happened (Fox 355).⁹³ Die Frage nach dem Geschehen kann jedoch denkenden Leser/-innen der Bibel nicht verwehrt werden. If we read the Bible as story, we abandon its historical truth (Fox 399; vgl. 360). Mit detaillierten Textanalysen, in unbequeme Fragen mündend, erweist sich Fox als der Reimarus unserer Tage, und wir werden nicht zögern, seine Fragen aufzugreifen. Anderson, auf dem Umschlag sich vorstellend als Anglican layman, denkt in vieler Hinsicht ähnlich, obwohl – oder auch weil – er aus der entgegengesetzten, der evangelikalen Richtung kommt.⁹⁴ Das Ausweichen ins Existenzielle beantwortet auch ihm nicht die Fragen nach dem Faktischen. Den „modernen“ Theologen seiner Zeit empfiehlt er Möglichkeiten, den guten Sinn der bisherigen Bibelsprache erneut zum Ausdruck zu bringen – und genau dafür wird es sich lohnen, Ausdrücke wie „Lohn“, „Versöhnung“ oder auch „Terstament“ juristisch zu nehmen. Einen aufmerksam-kritischen Blick auf die Theologie wirft in vieler Hinsicht das Historische Wörterbuch der Philosophie (HWP).Viele der hier zu behandelnden Themen finden sich dort dargestellt von intelligenten Lesern theologischer Werke, die selbst keine Theologen sind – eine wertvolle Vermittlungsleistung.
Es folgen dort köstliche Kommentare zu gewissen Hermeneutiken, die aus der Unerreichbarkeit des einstigen Geschehens (was subjektiv ein ehrliches Eingeständnis des Auslegers sein kann) eine Ideologie machen. Auf ein Ausweichen in die Eschatologie – die Bibel sei doch v. a. prophetisch – lässt er sich nicht ein (311 ff: „Back to the future“); mindestens der Ursprung der Texte sei eine Untersuchung wert. „Above all, neglect of the text’s origins has led to the wierdest claims on its behalf“ (377). Typisch dafür ist, Bultmann abzulehnen, ohne ihn gelesen zu haben. Sein Gegner, den er aber persönlich kennt und schätzt, ist John A. T. ROBINSON, der Autor des skandalumwitterten Honest to God (1963).
6 Der Aufbau dieses Kommentars 6.1 Die Ordnung nach Entstehungsphasen des Neuen Testaments Eine Forderung seitens der Rechtsgeschichte, mit Nachdruck erhoben auf den eben genannten Kolloquien, betrifft eine hinreichend genaue Datierung der zu behandelnden Schriften und ihrer Teile, auch ihre Lokalisierung. Dem dienten die oben in 5.1 vorgestellten Untersuchungen, und sie werden nun ohne Reserve angewendet. Das gilt auch für die Gliederung der Bände II bis VI. Grundsatz bei der Zuweisung von Themen zu bestimmten Texten („Perikopen“) war, jedes Rechtsproblem oder jeden Rechtsbegriff an der Stelle aufzugreifen, wo erstmals und am deutlichsten davon die Rede ist – ein Kompromiss zweier Gesichtspunkte, wobei „erstmals“ aber jedenfalls chronologisch zu verstehen ist und nicht nach der kanonischen Folge der Schriften, die rein konventionell ist und keine historische Aussage darstellt. So kommen die Quelle Q und Markus vor den großen Evangelien, bei diesen auch Lk. vor Mt., und der Hebräerbrief darf mitsamt den Paulusbriefen den Vortritt haben vor den unechten Paulinen und sonstigen pseudepigraphen Episteln.
6.2 Schema einer Auslegung Das folgende Schema wird innerhalb jeder einzelnen Auslegung wiederkehren. Es ist ein Kompromiss aus einer Abfolge methodischer Schritte und einer chronologischen Darbietung des dabei anfallenden Materials. Das Schema kann nach Bedarf gekürzt oder erweitert werden; nur die Reihenfolge der Rubriken bleibt stets gleich. # (= Nummer),¹ Stelle, Name der Perikope oder Stichwort zum Inhalt Rechtsthema, -themen Verweise auf Perikopen mit ähnlicher Rechtsthematik Text deutsch (Verweis auf eine Spezialübersetzung, bei Evangelientexten) Literatur (sie wird danach nur noch verkürzt genannt) Exegetische Vorgaben, Fragen Definition(en) Antike Begriffe (jüdisch/griechisch-römisch) Rechtsgeschichtlicher Befund (jüdisch/griechisch-römisch) Zum Text: erste Ergebnisse Einzelne Nummern sind nicht besetzt: Jedes Evangelium und jedes Corpus von Briefen sollte mit einer durch 10 teilbaren Zahl beginnen. https://doi.org/10.1515/9783110658347-007
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A. Einleitung
Quellen und ältere Literatur Hermeneutische Überlegungen Heutige Regelung(en). Folgendes wird unter den genannten Rubriken geboten: Rechtsthema, -themen: Diese können sowohl antik sein wie modern; das Interesse ist aber jedenfalls nicht nur antiquarisch, sondern aktuell. Es folgen Verweise auf Perikopen mit ähnlicher Thematik. Text dt.: Bei Texten aus Q, Mk. und Joh. wird angegeben, wo sie in der Synopse von Siegert/Bergler zu finden sind. Benutzt ist außerdem Die Spruchquelle Q von Hofmann/ Heil. Literatur: Innerhalb der Rubriken folgen sich die Angaben ungefähr chronologisch; nur Übersichtswerke werden vorgezogen, ehe Monographien und Spezialuntersuchungen folgen. An einmal genannte Namen wird weiteres ihnen Zugehörige angefügt. Die Anfangsrubrik „lexikalisch“ führt nur solche Werke auf, die, als weniger gängig, übersehen werden könnten; auf die bekannteren und überall zugänglichen Nachschlagewerke, etwa das ThWNT, wird i. d. R. nicht eigens hingewiesen. Alphabetische Anordnung wird nur in solchen Literaturlisten befolgt, die den ausführlicher behandelten Texten vorangestellt sind. Hier und auch bei anderen Literaturangaben stehen KAPITÄLCHEN für den Nachnamen, und zwar überall dort, wo eine ausdrückliche Titelangabe folgt, nicht bei den nach dem Abkürzungs- und dem Literaturverzeichnis dieses I. Bandes verkürzten Literaturangaben. Ein vollständiges Namenregister im Schlussband wird die so hervorgehobenen Namen in alphabetischer Folge auffindbar machen. Gerne wird auf anerkannte Klassiker hingewiesen; im Übrigen erheben diese Angaben nicht den Anspruch, repräsentativ zu sein. Es sind Notizen aus meinen privaten Studien. Insbesondere in der Rubrik „Exegetisches“ könnte man bei gezielter Suche für jede Perikope gut und gerne das Zwanzigfache angeben. Das aber mag künftigen Doktorarbeiten überlassen bleiben; für fast jedes der hier aufgegriffenen Themen könnte eine vergeben werden. Im Übrigen habe ich es mir als Hauptherausgeber erlaubt, auf zahlreiche eigene Vorarbeiten hinzuweisen, die nunmehr ihr Ziel finden. Vieles an Detailargumentation ließ sich so auslagern und eine Vielzahl von Veröffentlichungen zusammenführen, die seit nunmehr fünfzig Jahren alle demselben Zweck dienen: die Quellenbasis der neutestamentlichen Wissenschaft zu erweitern. Das waren zumeist philologische Vorarbeiten; die eigentliche Absicht aber liegt auf historischem Gebiet. Exegetische Vorgaben, Fragen: Hier stehen zunächst einige Auskünfte, v. a. auf die juristische Leserschaft gezielt, wie man sie von jedem NT-Kommentar erwarten kann, präzisiert um die hier in Abschn. 5 gegebenen Zuweisungen zu Quellen und Datierun-
A 6 Der Aufbau dieses Kommentars
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gen. Sodann werden erste Fragen gestellt, bes. nach dem Vorliegen oder der Anwendbarkeit von Rechtsbegriffen. Aus diesem Grund betreffen sie häufig auch die Historizität der berichteten Szenen; es wird darum gehen, ob judäisches Recht angelegt werden soll oder das im sonstigen Römischen Reich gültige. Definition(en): Hier geht es um die Festlegung der modernen Metasprache, meist nach Creifelds bzw. Weber, Rechtswörterbuch, ergänzend zu den unten in B 6 definierten Fachausdrücken aus den drei hier zusammengeführten Disziplinen. Antike Begriffe: Hier wird das aus den antiken Rechtsterminologien Relevante angeführt, zur Überleitung in die antiken Verhältnisse. Rechtsgeschichtlicher Befund: Auch hier wird zwischen Jüdischem und GriechischRömischem unterschieden, ebenso zwischen Früherem und Späterem, und es werden Fusionen vermerkt. Bei Texten, die ihren „Sitz im Leben“ außerhalb Judäas haben, wird das Griechisch-Römische zuerst geboten und Jüdisches nur in dem Maße, wie es sich bis an den Ort des Geschehens bzw. der Textabfassung ausgewirkt haben kann. Zum Text: Hier folgen erste Schlüsse aus dem Dargestellten, gedacht als Anregungen zu künftiger Exegese. Ausgewählt wurde, wie gesagt, der jeweils älteste erreichbare Wortlaut einer Überlieferung; damit liegt, was Jesus-, Petrus- und Paulusüberlieferungen angeht, das Interesse auf dem historischen Geschehen bzw. der ursprünglichen Bedeutung der Worte. Weitere Entwicklungen werden verfolgt, wo es lohnend erschien, teils hier, teils in der folgenden Rubrik: Quellen und ältere Literatur: Dies ist eine Blütenlese, die erweitert werden könnte in alle möglichen Richtungen. Hier kommen vorzugsweise Grotius, Pufendorf und weitere, von der Exegese bisher kaum rezipierte Neulateiner zu Wort. Hermeneutische Besinnung: Dies sind Vorschläge für eine auf heutige Entscheidungen und heutiges Handeln zielende Auslegung.² Als Auflagepunkt der so errichteten Brücke (oder wäre es auch nur ein Steg) zur Gegenwart dient abschließend ein Hinweis auf – Heutige Regelungen nach deutschem Recht. Hierfür diente, außer förmlichen Rechtsquellen, das o. g. Rechtswörterbuch, sofern dieses nicht schon vorher, unter „Definitionen“, mit konkreten Normen zitiert wurde; es dienten auch seriöse, zitierfähige Medien. Inhaltliche Überschneidungen zwischen den Rubriken, auch zwischen den Perikopen, sind gewollt, um das Hin- und Herblättern (es gibt ja sehr viele Querverweise) nicht lästig werden zu lassen.
Im Falle von Joh-Texten verweise ich auch auf eine Publikation eigener Predigten, die auf der gleichen, rigoros historischen Zugangsweise zu den Texten beruhen.
122
A. Einleitung
Am Schluss dieser Einleitung stehe ein Wort von Gustave FLAUBERT, das der bekannte Rechtshistoriker Rolf Knütel seiner Auslegung neutestamentlicher Gleichnisse anfügte:³ „Wenig Wissen entfernt vom Glauben; viel führt zum Glauben zurück.“
Knütel, „Bibelgleichnisse“ 957b; vgl. dens. in „Ungerechter… Haushalter“ (wie # 106) 22 mit Anm. 75.
B. Grundwissen und Voraussetzungen
Johann Maier
1 Verfassungsgeschichte Judäas von der Königszeit bis zum Patriarchat des Hauses Hillel J. BUCHHOLZ: Die Ältesten Israels im Deuteronomium (GTA 36); 1988 A. BÜCHLER: Das Synhedrion in Jerusalem und das große Beth-Din in der Quaderkammer des Jerusalemischen Tempels ( Jahresbericht der Isr.-theol. Lehranstalt Wien für 1901/2), 1902 S. A. COHEN: The Three Crowns: Structures of Communal Politics in Early Rabbinic Jewry, 1990 D. GOODBLATT: The Monarchic Principle. Studies in Jewish Self-Government in Antiquity (TSAJ 38), 1994 L. GRABBE: „Synagogue and Sanhedrin in the First Century“, in: T. HOLMÉN/S. PORTER (Hg.): Handbook for the Study of the Historical Jesus, Bd. 2, 2011, 1723 – 1746 S. B. HOENIG: The Great Sanhedrin. A study of the origin, development, composition and functions of the Bet Din ha-Gadol during the Second Jewish Commonwealth, 1953 M. JACOBS: Die Institution des jüdischen Patriarchen. Eine quellen- u. traditionskritische Studie zur Geschichte der Juden in der Spätantike (TSAJ 52), 1995 A. KUENEN: „Über die Zusammensetzung des Sanhedrin“ (1866), in: ders., Gesammelte Abhandlungen (aus d. Niederländ. v. K. Budde), 1894, 49 – 81. H. MANTEL: Studies in the History of the Sanhedrin, 1961 W. REINBOLD: Der Prozess Jesu (BTSP 28), 2006 H. REVIV: The Elders in Ancient Israel. A Study of a Biblical Institution, 1989 V. WAGNER: „Beobachtungen am Amt der Ältesten im alttestamentlichen Israel“, ZAW 114, 2002, 391 – 411.560 – 576.
1.1 Die Ältesten Israels Während die vorstehende Einführung in die Rechtsquellen Israels v. a. literarisch ausgerichtet war, geht es im Folgenden um die Institutionen, also um die interne Verteilung der Macht und um das Rechtswesen.
1.1.1 In der Hebräischen Bibel In den meisten patriarchalisch geführten Gemeinschaften der antiken Welt fungierten auf mehreren Ebenen sogenannte „Älteste“ (hebr. zeqenîm, aram. s/śabaja′, griechisch presbyteroi, gerontes). Solche Einrichtungen waren in der altorientalischen Umwelt und im vor- und nachexilischen Juda gang und gäbe.¹ Gleiches gilt für die griechische Welt
Reviv, The Elders; Wagner, „Amt der Ältesten“; Z. SAFRAI: „To what extent did the rabbis determine public norms? The internal evidence“, in: L. LEVINE/D. SCHWARTZ (Hg.): Jewish Identities in Antiquity. FS Menahem Stern (TSAJ 130), 2009, 172– 194. https://doi.org/10.1515/9783110658347-008
126
B. Grundwissen und Voraussetzungen
und speziell Sparta,² von wo aus diese Institution unter der Bezeichnung gerousia (Ältestenrat) in hellenistischer Zeit auch in Städten Kleinasiens/Syriens üblich geworden ist.³ Als Älteste galten in erster Linie Familien- bzw. Sippenhäupter (ra′šê ′abôt); daher gab es auch Älteste der Priester (4Kön 19,2 par. Jes 37,2; Jer 19,1; vgl. Neh 12,7 rašê hakohanîm). Weitgehende, nahezu landesherrliche Weisungsbefugnisse hatten auch Begüterte auf ihren Besitzungen, wie das Beispiel der Tobiaden im Ostjordanland zeigt.⁴ Anführer des Heerbanns und Vertreter vorhandener Institutionen in Dorf, Stadt, Provinz und Staat waren kraft ihrer Funktion in den Gremien vertreten, die aus den Ältesten gebildet wurden. Leider ist nicht bekannt, auf welche Weise die Mitglieder der Ältestenräte aus den Ältesten insgesamt berufen wurden. Wahrscheinlich geschah dies teils durch Vererbung (vgl. die Tobiaden), teils durch ein Selbstergänzungsprinzip, und teils durch Ernennung durch den Herrscher bzw. dessen Bevollmächtigen. Folglich konnte von „(allen) Ältesten Israels“ die Rede sein,⁵ den Ältesten des Nordreichs Israel (2Sam 3,27; 5,4), den Ältesten von Juda (2Sam 19,12; Hes 8,1), von Juda und Jerusalem (4Kön 23,1 par. 2Chr 34,29), von „Ältesten des Volkes“⁶, der Stämme (Dtn 31,28), des Landes (3Kön 17,7; Jer 26,17; Spr 31,23), einer Stadt,⁷ einer Region (Ri 9,5.8 – 11: Gilead), einer Gruppe (Jos 9,11: der Gibeoniter), die als Volksvertreter fungierten. So unterscheidet Ps 107(106), 32 die Volksversammlung, qehal ‘am (LXX: ekklēsia laou) vom môšab zeqenîm (LXX: kathedra presbyterōn), ähnlich Joel 2,16. Klag 5,14 beklagt das Verschwinden von Ältesten aus dem „Tor“ und 4,16 nennt neben Priestern noch Älteste (eher als „Alte“). In 2Kön 6,32 sitzen in Nordisrael Älteste bei Elisa. In den jüdischen Ortsgemeinden im Land Israel, die ja Verwaltungseinheiten waren, hatten die Ältesten in erster Linie administrative und judiziale Funktionen innen. In den Diasporagemeinden, die autonome Selbstverwaltungseinheiten einer privilegierten Minorität darstellten, aber zugleich Synagogengemeinden waren, repräsentierten die Ältesten und Amtsträger auch deren Religion.⁸ Es gab also auch Älteste als Mitglieder einer zentralen Institution, die neben und unter dem Herrscher bzw. Statthalter in beratender und gegebenenfalls beschießender
F. SCHULZ: Die homerischen Räte und die spartanische Gerusie, 2011. E. BAUER: Gerusien in den Poleis Kleinasiens in hellenistischer Zeit und der römischen Kaiserzeit. Die Beispiele Ephesos, Pamphylien und Pisidien, Aphrodisias und Iasos, 2014. [Dazu unten 2.1 und 4. Der Erfolgsbericht zweier Generationen dieser schon aus Esr 2,60 und Neh 7,62 bekannten Familie steht bei Josephus, Ant. 12,154– 236; über ihn vgl. Siegert, EJHL 514– 516.] Ex 3,18; 12,21; 17,5 f.; 18,12; 19,7; 24,1.9; LXX 34,30 (statt MT bnj); Lev 9,1; Num 11,16.30; 16,25; Dtn 27,1; 31,9; Jos 7,6; 8,10; 24,1; 1Sam 4,3; 8,4; 2Sam 5,3; 17,4.15; 19,12 (Juda); 3Kön 8,3; 20,7; 4Kön 23,1; 1Chr 19,25; 2Chr 5,1; 34,29; Hes 8,12; 20,3. Ex 19,7; Num 11,16.24; 1Sam 15,30; Jes 3,14; Jer 19,1. Dtn 19,12; 21,1 ff. 20; 22,15 ff.; 25,7 ff.; Jos 8,14 (Sukkot); 20,4; 1Sam 11,3 (Jabeš); 16,4; 3Kön 20,8 (neben ḥôrîm, LXX: eleutheroi); Rt 4,2; Esr 10,14. In jJeb. IV,4 28c wird unter den Ältesten der Stadt ein Dreiergerichtshof verstanden; vgl. # 364 zum rabbinischen bêt-dîn. Schürer/V., History III/1, 1– 176.
B 1 Verfassungsgeschichte Judäas
127
Funktion tätig waren. Diese Position an zweiter Stelle spiegelt sich auch im Pentateuch, wo ab Ex 18 Älteste des Öfteren neben Mose erwähnt werden.
1.1.2 Septuaginta und jüdisch-griechischer Sprachgebrauch Mit der Verwendung des Griechischen heißen ab der Septuaginta die jüdischen Ältesten gerontes oder (meist) presbyteroi (eigtl. Komparativ), und deren Gremien heißen gerousia, wobei für jüdische Stadträte das im Griechischen übliche boulē im Vergleich zur Bezeichnung gerousia eher selten anzutreffen ist.⁹ Die LXX-Übersetzer verwendeten den Begriff gerousia jedenfalls bereits auf selbstverständliche Weise, auch für andere Völkerschaften,¹⁰ und das an Stellen, wo im hebräischen Text nur von zeqenîm (Ältesten), ziqnê ha-‘îr (Älteste der Stadt) oder ziqnê Jiśra′el (Älteste Israels) die Rede ist. Offensichtlich galt im frühen 2. Jh. v.Chr. die Gerusie auf mehreren Ebenen als althergebrachte, feststehende Institution. Daher setzten die LXX-Übersetzer dergleichen schon für die Hebräer in Ägypten (Ex 3,16.18; 4,29; 12,21) und für die Zeit der Wüstenwanderung voraus, etwa in Ex 19,7, wo Mose die „Ältesten des Volkes“ versammelt (vgl. Num 11,24 f.31, Dtn 5,23 und Dtn 27,1). Es ist offensichtlich, dass dieser Sprachgebrauch auf Gegebenheiten im Umfeld der Übersetzer beruht, wie überhaupt die Verhältnisse im ptolemäischen Ägypten für jüdische administrative und rechtliche Belange von beträchtlicher Bedeutung waren.¹¹ Dies gilt nicht nur für Judäa, wo noch für die Verwaltungsreform unter Herodes d.Gr. ptolemäische Vorbilder wirksam waren (vgl. Bell. 1,244.279), sondern – schon aus chronologischen Gründen − auch für die Diasporagemeinden. In jüdischen Diasporagemeinden gab es – wie in christlichen Gemeinden dann auch − presbyteroi und einen Ältestenrat. Sogar der Titel gerousiarchēs ist bezeugt,¹² und natürlich brauchte man auch Schreiber als Sekretäre und Aktenbewahrer.
Das Wort boulē im Sinne einer jüdischen Ratsversammlung ist selten anzutreffen, vgl. Ps 1,5; 89(88),8; 111(110),1 (be-sôd ješarîm wa-‘edah übersetzt als en boulē eutheiōn kai synagōgē). In Spr 15,22 wird be-′ên sôd mit mē timōntes synhedria wiedergegeben. PsSal. 8,20 erwähnt archontes (in v. 16 archontes tēs gēs) und pan sophon en boulēi, „ jedes weise (Element) im Rat“. Auch bei Josephus begegnet der Begriff nur selten, allerdings im Zusammenhang mit der zentralen Institution unter römischer Provinzverwaltung nach 6 n.Chr. (Bell. 2,331 neben archiereis, vgl. 336; Bell. 2,405 neben archontes). Num 22,4.7 für Midian und Moab. A. TOMSIN: „Étude sur les presbuteroi des villages de la chôra égyptienne“, Bull. Classe des lettres et scienc. mor., Acad. Royale de Belgique 38,1952, 95– 130.467– 532; J. MÉLÈZE-MODRZEJEWSKI: „Law and Justice in Ptolemaic Egypt“, in: Geller/Maehler/Lewis, Legal Documents 1– 19. Claußen, Versammlung (s. Literaturverzeichnis) 278 f. Folgendes: 280 f.
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B. Grundwissen und Voraussetzungen
1.1.3 Die deuteronomisch-deuteronomistische Tradition Das Deuteronomium stellt in 17,14– 20 noch eine monarchische Verfassung zur Wahl. Doch der König soll von Gott erwählt sein, d. h. konkret: durch ein priesterlich-prophetisches Orakel bestimmt werden, und er untersteht der Tora, die in levitisch-priesterliche Kompetenz fällt. Überdies ist er für bestimmte Aktionen (Krieg) an das UrimTummim-Orakel gebunden (vgl. 4Q 376). Die staatliche Gewalt erscheint eigentlich als eine delegierte, denn dahinter steht der Machtanspruch für„Levi“ (Dtn 33,8 – 11). Die LXX bietet für mäläk (König) das verfassungsrechtlich neutralere archōn (vgl. unten das zu Lev 4,22 Bemerkte). Im deuteronomistischen Gesichtswerk treten wiederholt die Ältesten als maßgebliche politische Repräsentanten auf. In Jos 7,23 las die LXX zqnj Jṡr′l statt bnj Jṡr′l und übersetzte mit presbyteroi Israēl. In Jos 24,1 ff versammelt Josua die Stämme Israels nach Schilo und rief die Ältesten Israels (LXX: „ihre presbyteroi“), seine Häupter (nicht in LXX), seine Richter und seine šôṭerîm (LXX umgekehrt: seine Richter und seine grammateis) vor das Heiligtum. Noch CD V 4 führt rückblickend neben Josua die zeqenîm an. In 1Sam 4,3 fungieren die Ältesten als Wortführer des „Volkes“. Auch 1Sam 15,30 spricht von Ältesten und dem ‘am (Volk = Gesamtheit der freien Männer). 1Sam 8,4 versammeln sich alle Ältesten Israels und kommen zu Samuel. Abner benützt laut in 2Sam 3,17 die Ältesten, um seine Absprache mit David in die Tat umzusetzen. Daher kommt 2Sam 5,1– 3 par. 1Chr 11,1– 3 Abordnung des Volkes nach Hebron, um David die Königsherrschaft anzubieten und die Ältesten (LXX: presbyteroi) Israels schließen mit ihm einen Vertrag. Josephus, Ant. 7,53 – 60 spricht von prōtoi, läßt die Ältesten und den Vertragsabschluss aus, betont die Rolle der Priester (er selbst war einer) und der Leviten und fügt die Heerbannkommandanten ein.¹³ 3Kön 8,1 par. 2Chr 5,3 f versammelt Salomo die ziqnê Jiṡra′el (LXX: „alle presbyteroi“), die Stammeshäupter und die Sippenfürsten (beide nicht in LXX) für die Ladeüberführung, was den Ältesten, die in V. 3 allein auftreten, einen Vorrang einräumt. Vgl. Jer 29,1, wo die ziqnê ha-gôlah vor Priestern und Propheten rangieren. Das oberste Gremium steht dem König zur Seite. So berät in 3Kön 12,6 par. 2Chr 10,6 sich Rehabeam mit den Ältesten, die seinem Vater gedient hatten, verwirft aber ihren Rat und folgt dem Ratschlag seiner Altersgenossen. Diese Ältesten waren offenkundig nicht Volksvertreter, sondern Vertraute des Herrschers – also anders als „alle Ältesten Israels“¹⁴ oder die Ältesten des Nordreichs Israel (2Sam 3,27; 5,4), die während eines Interregnums aktive Politik betreiben. Ferner ist auch von den Ältesten von Juda die Rede sowie denen von Juda und Jerusalem, auch von „Ältesten des Volkes“, der Stämme oder des Landes (s.o. 1.).
„Heerbann“ = Gesamtheit der Wehrpflichtigen (soweit von Pflicht schon gesprochen werden kann). Die in 2Sam 12,17 auftretenden „Ältesten des Hauses“ Davids hingegen waren wohl Palast- bzw. Hofbedienstete. Vgl. Gen 50,7. Ex 18,12; 19,7; Num 16,25; 2Sam 17,4.15; 19,12 (Juda); 3Kön 20,7; 4Kön 23,1; 2Chr 34,29; Hes 8,12; 20,3.
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Die deutonomomisch-deuteronomistische Tradition enthält Reminiszenzen aus der Königszeit, in der die Ältesten das Volk repräsentierten und ein Vertragsverhältnis zwischen König und Volk bestand. Dieses „Volk“ (‘am) war wohl weithin mit dem ‘am ha‘aräṣ (damaligen Sprachgebrauchs) identisch, also den Vollbürgern, die auch den Heerbann stellten und im Königreich Juda dann und wann politisch aktiv wurden.¹⁵ Es gibt keinen Hinweis darauf, dass diese Ältesten dem Kultpersonal nachgeordnet waren. Die Ältesten eines Landes gehören zu seinem Regenten.
1.1.4 Die Tradition der Priesterschrift In der durch die Exilssituation geprägten P-Tradition beginnen die Vorschriften über die Sühnopfer in Lev 4,3 mit dem „gesalbten Priester“, also den Hohepriester. In V. 13 ff folgt die ganze „Gemeinschaft Israels“ (‘adat Jiṡra′el; LXX: synagōgē Israēl).¹⁶ Laut V. 15 stützen die ziqnê ha-‘edah (LXX: presbyteroi tēs synagōgēs; vgl. Ri 21,15) ihre Hände auf das Opfertier. In 4,22 wird ein naṡî′ erwähnt“, was meist mit „Stammesfürst“ übersetzt wird. In dieser Reihenfolge ist aber eher die Laien-Spitze des Ganzen am Platz, der „Fürst der ‘edah“, weshalb auch die LXX den Artikel setzt: „der Fürst“ (ho archōn). Wenn aber Stammesfürsten gemeint waren, wofür archontes in Josephus, Ant. 3,322 und gerousia in Philo, Mos. 2,153 spricht, käme dies Ex 34,31 (archontes der Versammlung) gleich. In Lev 9,1 begegnet gerousia, auch in V. 3 für MT bnj. Aber ansonsten sind es die Stammesfürsten, Fürsten der ‘edah und Sippenhäupter, die vorrangig genannt werden. So auch in Num 12 bei der Aussendung der Kundschafter oder in 16,1; 17,16 ff. In dem rückblickend-fiktiven Zwölf-Stämme-Verbund der exilisch geprägten und priesterlichlevitisch dominierten „Gemeinschaft Israels“ hingegen haben die Ältesten nur mehr rudimentäre Bedeutung. Das Sagen haben in dieser Rangfolge Hohepriester, Priester und Leviten, Stammesfürsten und Sippenhäupter. In massiver Form begegnet die Konzeption der P-Tradition – verbunden mit der deuteronomischen Überlieferung ‒ wieder in Qumrantexten.
1.1.5 Die priesterliche Programmatik in Texten aus Qumran Die Tempelrolle aus Qumran (11Q 19 und 11Q 20), die meist in die Hasmonäerzeit datiert wird, aber wohl eher schon in spätpersisch-frühhellenistischer Zeit anzusetzen ist und zumindest in ihren Bestandteilen ältere Traditionen enthält, weist in Kol. 56,12 ff gegenüber dem deuteronomischen Königsgesetz (Dtn 17,14– 20; s. # 90) entscheidende A. GUNNEWEG: „Am ha-aretz: Vollbürger, Laien, Heiden“, in: ders., Sola Scriptura. Aufsätze zu alttestamentlichen Texten und Themen, hg. P. Höffken, Bd. 2, 1992, 29 – 36. Die Übersetzung „Gemeinde Israels“ ist irreführend, denn in P ist Israel als eine Art Militärkolonie organisiert (Num 1– 3) und in der P-Tradition lässt sich eine weitreichende Entsprechung von militärischer und kultischer Terminologie beobachten.
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B. Grundwissen und Voraussetzungen
Unterschiede auf.¹⁷ Der König ernennt nach Kol. 57, Z. 2 ff „Befehlshaber (ṡarîm) von Tausendschaften und Befehlshaber von Hundertschaften und Befehlshaber von Fünfzigerschaften und Befehlshaber von Ze{hn}erschaften in all ihren Städten“. Doch im Übrigen amtiert neben dem König ein ständiges Gremium (Z. 11 ff ): „Und die zwölf Fürsten seines Volkes (neśî′ê ‘ammô, die Stammesfürsten) sollen bei ihm sein und von den Priestern zwölf und von den Leviten zwölf, um mit ihm zusammen Sitzungen abzuhalten für Rechtsprechung und für Tora. Und er soll sein Herz nicht über sie erheben und er soll keinerlei Sache tun ohne ihren Ratschluss.“ Die Machtverhältnisse sind abgesehen vom militärisch-organisatorischen Bereich klar: die Kultdienerschaft („Levi“) verfügt über eine Zweidrittelmehrheit in diesem 36 Mitglieder zählenden Gremium, das der soziologischen Makrostruktur Israels entsprechend aus Priester, Leviten und Laien besteht. Bemerkenswerterweise übt es auch legislative und judikative Gewalt aus, was die Frage nach dem Verhältnis zum Höchstgericht (s.u.) aufwirft. Ein Hohepriester wird nicht gesondert erwähnt. Die Mitglieder sind hier offenbar nach ihrer genealogischen Position und nicht kraft ihrer Funktion vertreten. Die programmatische Absicht, sowohl die Laienspitze wie den Hohepriester an dieses von „Levi“ beherrschte Gremium zu binden, ist offensichtlich. Dass auch der Hohepriester davon betroffen ist, dürfte auf seine politische Spitzenfunktion in der spätpersisch-hellenistischen Zeit zurückzuführen sein, mit der man – wie mit fast der ganzen Periode überhaupt − in dieser priesterlichen Richtung negative Erinnerungen verband. Das zweite Ziel war, auf der höchsten Ebene die herkömmlichen „Ältesten“ zu entmachten und durch dieses hierokratische Gremium zu ersetzen.
1.1.6 Der qahal (Volksversammlung) und der Rat des jaḥad (der „Einung“) In einer programmatischen Ordnung für den „Rat des jaḥad“¹⁸ Gesamtisraels in 1Q 28a (= 1Q Sa) werden die Funktionen im Sinne der P-Tradition detaillierter beschrieben. Vorweg begegnet I,22 – 25 (s. auch 4Q 249e Frg. 1 II 1– 3) folgende, grundlegende Feststellung zur Rangfolge (Z. 22 ff ): „Und die Leviten nehmen ein jeder seinem Posten ein laut Anweisung der Söhne Aarons, um die ganze Gemeinde ein- und auszuführen, jeder in seiner Rangordnung, durch die Häupter der [Va]terhäuser der Gemeinde, Befehlshaber und Richter {und Amtmänner} entsprechend der Zahl all ihrer Heerscharen, laut
J. MAIER: Kriegsrecht und Friedensordnung in jüdischer Tradition (Theologie und Frieden, 14), 2000, 32– 46; C. D. ELLEDGE: The Statutes of the King. The Temple Sroll′s Legislation on Kingship (11Q 19 LVI 12 – LIX 21 (Cahiers de la Revue Biblique, 56), 2004; Paganini: Nicht darfst du zu diesen Wörtern etwas hinzufügen. Ch. HEMPEL: „The Earthly Essene Nucleus of 1Q Sa“, DSD 3,1996, 253 – 269. Das Nomen jaḥad, in dieser Literatur terminus technicus, kann man, dies kennzeichnend, mit „Einung“ übersetzen. Damit meint die hinter der Regel der Einung (säräk ha-jaḥad) stehende Gruppe sich selbst, u.z. als Repräsentanten ganz Israels. Im selben Sinne bezeichnete sich das mehrheitliche Israel als laos.
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Anweisung der Söhne Zadoks, der Priester, [und aller H]äupter der Vaterhäuser der Gemeinde.“ Der Text fährt fort (Z. 25 ff ): Wenn ein Aufgebot für die gesamte Volksversammlung (qahal), zu Rechtssprechung oder zu einem jaḥad-Rat (‘aṣat ha-jaḥad) oder zu einem Kriegsaufgebot, dann heiligt man sie drei Tage, damit jeder Teilnehmer ber[eit sei. Sie]he, dies sind die Mä[n]ner, die zum jaḥad-Rat einberufen werden: Alle […] der Gemeinde und die Verständigen und Kundigen von vollkommenem Wandel, und die Wehrfähigen mit [den Häuptern (?) der Stäm]me, alle ihre Richter und ihre Amtmänner, und die Befehlshaber der Tausendschaften und die Befehlshaber [für Hundertschaften] (Kol. II) und für Fünfzigerschaften und für die Zehnerschaften, und die Leviten (ein jeder) innerha[lb der Abtei]lung seines Dienstes. Das sind die Männer des Namens, zur Festversammlung Berufene, die sich einfinden zum Rat des jaḥad in Israel vor den Söhnen Zadoks, den Priestern. (…)
Und weiter, Z. 11 ff: Das ist die S[it]zung der Männer des Namens, der [(zur) Festversammlung] Berufenen, für den Rat des jaḥad, wenn sich mit ihnen [zusammenfin]det [der Priester], der gesalbte.¹⁹ Es tritt ein [der Priester, das H]aupt der ganzen Gemeinde Israels, und [alle seine Brüder, die Söhne] Aarons, die Priester, Festversammlungs-[Berufene], die Männer von Namen, und sie setzen sich v[or ihm hin, ein jeder] entsprechend seiner Würde. Danach [kommt (oder: setzt sich) der Gesal]bte Israels, und es setzen sich vor ihn hin die Häupter der Tausendschaften Israels, ei]n jeder entsprechend seiner Würde, gemäß seinem Rangposten in ihren Kriegslagern und auf ihren Kriegszügen. Und alle Häupter [der Sippen der Gemeind]e mit [den] Wei[sen …] setzen sich vor ihnen hin, ein jeder entsprechend seiner Würde.
Die Zweiteilung in Kultpersonal, dem der Vorrang zukommt, und Laienvertretern ist eindeutig. Die Funktion des Herrschers ist fast ganz auf militärische Belange beschränkt. Interessant wäre, was unter den „Wei[sen]“ zu verstehen ist, etwa sôferîm, Schreiberspezialisten? Basis dieser Entwürfe ist die priesterliche Tradition mit integrierten und adaptierten deuteronomischen Elementen. Die Schlüsselpositionen sind in den Händen des Kultpersonals, die Laien unter dem Herrscher treten vor allem in ihren militärischen Funktionen in Erscheinung, an zweiter Stelle als Sippenhäupter; aber solche hatten auch Priester und Leviten.
Absolutes ha-mašîaḥ als Objekt fiele völlig aus dem Rahmen; eine attributive Verwendung wie „der gesalbte König“ (hmlk hmšjḥ) oder („der gesalbte Priester“ (hkhn hmšjḥ) liegt in jedem Fall näher. Der Kontext spricht mehr für die Ergänzung hkwhn. Die Übersetzung mit „Messias“ ist in Bezug auf den heutigen Sprachgebrauch sachlich irreführend.
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B. Grundwissen und Voraussetzungen
1.1.7 Die Ältesten und die Gerichtsorganisation Eine gewichtige Funktion der Ältesten betraf das Rechtswesen.²⁰ Die deuteronomischdeuteronomistische Tradition setzt für die Gerichtsorganisation gegliederte Instanzen voraus, was in Ex 18,13 – 26 als mosaische Einrichtung dargestellt wird.²¹ 2Chr 19,5 ff schreibt dem König Jehosafat eine Justizreform in diesem Sinne zu. Er soll in allen Städten (d. h. befestigen Orten) Richter eingesetzt haben. Näheres dazu fehlt. In Jerusalem ernannte er aus Priestern, Leviten und Sippenhäuptern (ra’šê ′abôt) Israels (LXX: ek patriarchōn Israel) die Mitglieder für das „Gericht JHWHs“ (mišpaṭ JHWH), was die LXX mit krisis kyriou wiedergibt, und für Rechtsstreit (rîb), und letzteres präzisiert die LXX: „zum Richten der in Jerusalem Einwohnenden“, also zweierlei Gerichtshöfe, der eine mit dem Zentralheiligtum verbunden, der zweite eine städtische Einrichtung. Wie immer die Einordnung in die Zeit des Jehosafat zu beurteilen ist,²² für die Zeit des Chronisten, also die persische Spätzeit, hat die Geschichte jedenfalls Quellenwert. Philo setzt in Spec. 3,80 voraus, dass im Fall einer vermutlichen Falschbeschuldigung einer Ehefrau die „ganze gerousia“ zusammentritt. Die örtliche Instanz („in jedem Tor“) besteht nach Dtn 16,18 aus Richtern (šofeṭîm) und šoṭerîm, jedoch ohne Angabe der Zahl. Letzterer Ausdruck ist von unsicherer Bedeutung. Die LXX-Übersetzer verstanden unter šoṭerîm das Justitzpersonal.²³ Die grammateis und grammatoeisagōgeis gehören als gesetzesgelehrte Schreiberspezialisten (und nicht etwa Büttel, hypēretai) offenbar zur Gerusie, wie auch Dtn 31,28 zeigt, wo „alle Ältesten eurer Stämme“ als phylarchoi und šoṭerîm als kritai (also hebr. šofeṭîm) wiedergegeben wird, aber dazwischen die presbyteroi und danach noch die grammatoeisagōgeis auftauchen, also Funktionäre, die den Übersetzern als Mitglieder einer Gerusie bekannt waren. Dies bestätigt auch Jos 23,2. Der MT nennt hier für „ganz Israel“ folgende Funktionäre: zeqenîm (Älteste) ra’šîm (Häupter), Richter (šofeṭîm) und šoṭerîm. Die LXX bietet für „Älteste“ gerousia, für „Häupter“ archontes, für„Richter“ grammateis, und für šoṭerîm (mit šofeṭîm vertauscht) dikastai. Dtn 27,1 lässt Mose „mit den Ältesten“ zum Volk sprechen und positioniert damit dieses Gremium rangmäßig hoch. In der Dtn 29,9 vorausgesetzten Volksversammlung werden jedoch folgende Teilnehmer aufgeführt: ra′šîm (Häupter), šebaṭîm (Stämme), zeqenîm (Älteste), šoṭerîm, und kol ′iš Jiśra′el (alle [sonstigen] Israeliten). Die „Häupter“, die vor den Stämmen genannt werden, müssen gesamtisraelitische Funktionäre sein (Regent und Hohepriester?). In der LXX fehlen die rašîm am Anfang; die Aufzählung
So auch in Sparta, s. Schulz, Die homerischen Räte (oben Anm. 2), 139 ff.200 ff. Wenn auch auf fremde Anregung hin, wie beim Königtum ja auch. – Ch. SCHÄFER-LICHTENBERGER: „Exodus 18. Zur Begründung königlicher Gerichtsbarkeit in Israel-Judah“, Dielheimer Blätter zum AT 21, 1985, 61– 85; J. VAN SETERS: „Etiology in the Moses tradition: The case of Exodus 18“, Hebrew Annual Review 9, 1985, 355 – 361. H. NIEHR: „Grundzüge der Forschung zur Gerichtsorganisation Israels“, BZ 31, 1987, 206 – 227 (215 ff. 223). šoferîm und šoṭerîm waren in den LXX-Vorlagen manchmal vertauscht.
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beginnt mit archiphyloi (Stammesfürsten), in der Vorlage also rašê ha-šebaṭîm, darauf folgen die Gerusie, die Richter (šôfeṭîm), die grammatoeisagōgeis (šôṭerîm), und „jeder Mann von Israel“. Das setzt offenbar eine doppelte Spitze (Regent/Statthalter und Hohepriester?) über den Stämmen voraus, die Priester werden nicht gesondert erwähnt. Sie sind nur mit dem Haupt des Stammes Levi vertreten; die Leviten erscheinen jedoch z.T. gesondert in bestimmten Funktionen. Die LXX klammert also die Gesamtführung – als anachronistisch ‒ aus und fügt die Gesetzesexperten ein. Josephus bietet in Ant. 3,214 eine von der LXX deutlich unterschiedliche Wiedergabe des Inhalts von Dtn 16,18. Er präzisiert, indem er die Zahl der Ortsrichter mit sieben angibt und diesem Gremium zwei levitische Büttel (hypēretai) zuweist (vgl. Ant. 4,287). Von grammateis ist hier keine Rede. Allem Anschein nach setzte er voraus, dass die Richter, deren moralische Qualifikation er hervorhebt, selber fachlich ausreichend kompetent sind. – Die Rabbinen behaupteten in diesem Sinne, dass die Laienmitglieder des Synhedriums in der Quaderhalle (dazu unten) aus örtlichen Richterkollegien stammten (tSan. 7,1; tŠeq. 3,27). In den Einzelgemeinden v. a. der Diaspora bildeten die Ältesten auch die Gerichtshöfe, und die waren in der Regel auch mit Gerichtsschreibern versehen.²⁴ So jedenfalls in Ägypten, wo die jüdische Gemeinschaft Alexandriens einen gewissen Sonderstatus mit entsprechender organisatorischer Struktur genoss.²⁵ Die Zweitinstanz, an die sich die untere Instanz wenden soll, wenn sie zu keinem eigenen Urteil gelangt, befindet sich nach Dtn 17,8 „an dem Ort, den JHWH, dein Gott erwählen wird“. Und zwar gehe man „zu den levitischen Priestern und zum šofeṭ (Richter/Regent), der in jener Zeit vorhanden sein wird.“Und du stellt eine Anfrage (darašta) und sie geben dir den Inhalt des Urteil bekannt.“ Der Inhalt dieser Bekanntgabe wird im Folgenden ausdrücklich sowohl als tôrah wie auch als mišpaṭ bezeichnet, als absolut verbindliche Anweisung und unanfechtbares Urteil. Das impliziert einen Offenbarungsvorgang, der hier nicht näher geschildert wird. Die Bekanntgabe der Entscheidung erfolgt nach Dtn 17,12 durch den jeweils amtierenden Priester (Hohenpriester) oder Richter/Regenten (šofeṭ). Die Bezeichnung šofeṭ (meist wird übersetzt: „Richter“) kann einen König meinen; die Wortwahl hängt vielleicht mit den Verhältnissen der Perserzeit zusammen, als der – zeitweilig jedenfalls volksfremde – Statthalter die oberste judikative Funktion ausübte. In der Tempelrolle (11Q 19, Kol. 55 – 56) ist von der betreffenden Passage leider zu wenig erhalten. Die LXX teilt den Begriff „levitische Priester“ in Priester und Leviten auf, wie schon in 2Chr 19,8. Als Subjekt der Anfrage wird durch den Plural (ekzētēsantes) das Höchstgericht klargestellt, das Wie aber bleibt offen. Der legislative Aspekt des Vorgangs wird in Num 17,10 verdeutlicht, indem kol ’ašär jôrȗka („was immer sie dich anweisen werden“; Wurzel j-r-h) mit hosa ean nomotethēthēi soi wiedergegeben wird. Mit der erfragten und verkündeten Entscheidung wurde also auch neue, zusätzliche Tora proklamiert.
S. Schürer/V., History II 431– 432. Ebd. III 92– 95 [einschränkend unten C 4.2.3]. In Rom hingegen bildeten die jüdischen Gemeinden, aus freigelassenen Kriegsgefangenen entstanden, nur ein loses Konglomerat s. ebd. 95 – 101.
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B. Grundwissen und Voraussetzungen
Der implizierte Orakel-Vorgang spiegelt sich in Pentateucherzählungen, in denen Mose ins Zeltheiligtum eintritt, um eine göttliche Entscheidung zu erfragen.²⁶ Diese Funktion des Mose hatte einen konkreten Hintergrund, nämlich im Jerusalemer Höchstgericht, wie die viel missdeutete Passage Dtn 18,18 – 22 zeigt. Der „Prophet wie Mose“ ist derjenige, der die göttliche Entscheidung durch einen Orakelvorgang vermitteln soll, im Gegensatz zu den Praktiken in der Umwelt.Wie solche Orakelvorgänge stattfanden, wird in einigen leider fragmentarischen Qumrantexten beschrieben.²⁷ Selbstverständlich muss dieser Tempelprophet wie Mose Priester sein, um im Heiligtum die Antwort auf die Anfrage einholen zu können. Für Josephus war die Funktion eines Toraoffenbarers am Höchstgericht offenbar immer noch das Normale (oder sollte es für die Zukunft sein). Seine Wiedergabe von Dtn 17,8 ff in Ant. 3,218 ist kurz, aber aufschlussreich: Das Höchstgericht besteht aus (a) dem Hohepriester (b) dem Propheten und (c) der Gerusie. Der šôfeṭ fehlt, denn Josephus war antimonarchisch eingestellt und sah in der Hierokratie unter einem Hohepriester die mosaische, offenbarte Verfassung (C.Ap. 2,164). Auch die Qumrantradition vertrat diese priesterliche Linie, aber noch mit einem Regenten. Für die Restauration Israels erwartete man nämlich einen Gesalbten aus Israel (Laienregenten), einen Gesalbten aus Aaron (Hohepriester),²⁸ und einen Propheten (1Q S IX 11). Dieser Prophet kann auf Grund des Geschilderten nicht ein normaler Weissagungsprophet sein, es ist der Toraoffenbarer „wie Mose“, wie ihn Josephus noch für das Höchstgericht der mosaischen Hierokratie voraussetzte.²⁹ Das Höchstgericht, das für sonst unlösbare Fälle zuständig war, bestand demnach in seiner Führung aus drei Spitzenfunktionären: Es gab einen staatlichen (nämlich den Hohenpriester), den Torapropheten und dazu noch die Gerusie. Das Letztere ist wohl das in 2Chr 19,8 vorausgesetzte Gremium, wo aber statt zeqenîm (Ältesten) bzw. der Gerusie die ra’šê ’abôt genannt werden, was der Terminologie der P-Tradition für die Organisation der ‘adat (synagōgē) Jiṡra′el entspricht. Zu Jeremia 26,7– 24: Ein anschauliches Beispiel für das Funktionieren des Rechtswesens in vorexilischer Zeit bietet Jer 26,7 ff. Jeremia spricht im Heiligtum ein Drohwort gegen Jerusalem und „die Priester und die Propheten (LXX: Falschpropheten) und die ganze Volksmenge“ nehmen ihn fest wegen eines todeswürdigen Vergehens: môt
Crüsemann, Die Tora; S. CHAVEL: Oracular Law and Priestly Historiography in the Torah (FAT 2/761), 2014. 4Q 29; 4Q 376. Josephus, Ant. 4,218 nennt in Abwandlung von Dtn 17,9 drei Ämter, nämlich „den Hohenpriester, den Propheten (sic) und den Ältestenrat“. [Die Septuaginta in Ps 9,21 und Ps 84(83),7 setzt das Amt dieses Zweiten noch voraus. Erst der MT hat hier statt môräh „Anweiser“ das nicht gerade sinnvolle môra’ „Furcht“ (Siegert, Septuaginta 125).] Aaron repräsentiert die gesamte Priesterschaft. [Ein schwaches Echo dieser Vorstellung kann auch bei Philon, Spec. 4,190 – 192 gesehen werden, wo der Richter als „Prophet“ neben den Priestern genannt wird. Heinemann, Bildung 181 deutet diese Stelle auf den obersten Gerichtshof in Jerusalem; vgl. ebd. 188. Der rabbinische Verweis geht – nach Bereinigung des Druckfehlers – auf SifreDeb. § 152 zu Dtn 17,8, wo sich sogar eine Reminiszenz an drei einander übergeordnete Gerichtshöfe in Jerusalem findet.]
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jamȗt – „er muss sterben“. Amtleute von Juda (śarê Jehȗdah; LXX: archontes) vernehmen den Tumult, gehen aus dem Palast hinauf ins Heiligtum unsdsetzen sich am Neuen Tor hin. Diesem Tribunal und der ganzen Volksmenge gegenüber wiederholen die Priester und Propheten ihre Anschuldigung und Jeremia rechtfertigt sich. In V. 16 f heißt es: „Da sagten die Amtleute (ṡarîm) und die ganze Volksmenge zu den Propheten: Für diesen Mann gibt es kein Todesurteil. Da erhoben sich Männer von den Ältesten (zeqenîm) des Landes und sprachen zur ganzen Volksmenge (…)“ Eine Entscheidung wird nicht direkt erwähnt, vielmehr lautet v. 24: „Aber die Hand des Ahikam ben Saphan (s. 4Kön 22,14) war mit Jeremia, so dass man ihn nicht dem Volk auslieferte, um ihn zu töten.“ Das Eingreifen der königlichen Amtleute und insbesondere des Schreibers Ahikam verhinderte demnach einen Fall von Lynchjustiz durch Priester und Propheten wegen eines Vergehens gegen das Heiligtum. Josephus aber, antimonarchischer Priester, ändert in Ant. 10,89 – 93 das sakrale Vergehen gegen die Stadt (des Heiligtums) in ein politisches Vergehen gegen den König; daher sind es bei ihm die Amtleute, die Jeremia anklagen. Die Mehrheit votiert hier gegen Jeremia, entgegen den Einwänden mancher Ältester (presbyteroi), die ihn jedoch vor dem Vollzug der Strafe, zu der man ihn verurteilt hatte, retten konnten.³⁰
1.1.8 Fazit für die alttestamentlichen Quellen Über und neben der allgemeinen Rechtsordnung steht die Befugnis des Herrschers, Recht zu üben , und die korrekte Ausübung dieser Tätigkeit zählt traditionell zu den Königstugenden. Die Befürchtung eines Machtmissbrauchs war jedoch so stark, dass sich eine programmatische Abwehr königlicher Willkür entwickelte, mit der Tendenz, richterliche Instanzen einzuschalten. Dieser Zwiespalt wird sich durch die ganze Geschichte der Zeit des Zweiten Tempels hinziehen, denn sowohl Hasmonäer wie Herodianer (s. unten) nahmen das Recht des Herrschers in Anspruch, eigenmächtig als Richter zu handeln, Todesurteile zu fällen und vollstrecken zu lassen. Erst das rabbinische Recht versucht, dem König diese Vollmacht zu entziehen (mSan. 2,2); doch war man sich des Widerspruchs zu den biblischen Verhältnissen bewusst (jSan. 2,3 [20a]), und dem König blieb trotz der Kompetenzen des Synhedrium (wovon noch zu handeln sein wird) ein erheblicher Spielraum für eigenmächtige Entscheidungen erhalten.
Diese sehr geschickte Umerzählung macht aus den Priestern Israels seine Verfassungshüter. – Ch. BEGG: „Jeremiah under Jehoiakim According to Josephus (Ant 10.98 – 95)“, Abr Nahrain 33, 1995, 1– 17; ders./ P. Spilsbury (Übers., Komm.): Flavius Josephus, Bd. 5: Judaean Antiquities, Books 8 – 10, 2005, 234– 236.
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B. Grundwissen und Voraussetzungen
1.2 Die politische Spitze Judäas in persisch-frühhellenistischer Zeit 1.2.1 Esras Reform Die Exilierten mussten sich für den langen Marsch irgendwie organisieren (Lagerordnungen) und so auch innerhalb der neuen Umgebung, wohl in Erwartung einer möglichen Rückkehr. Auch da begegnen zunächst Älteste (Jer 29,1), wobei unter den Exilierten wohl Priester und Leviten wahrscheinlich verhältnismäßig stark vertreten waren. Dasselbe gilt dann für die Rückkehrer. Daher wurden im Exil unter priesterlich-levitischer Ägide programmatische Konzeptionen erstellt, die man in Zukunft zu verwirklichen hoffte. Für Israel wurde nicht mehr eine Königsherrschaft vorgesehen, sondern eine levitisch-priesterliche Führung unter der Figur des Mose, für eine ‘edah, eine rituell konzipierte und militärisch organisierte Zwölfstämmegemeinschaft, ein Zukunftsmodell, zurückprojiziert in die Vorgeschichte Israels zwischen Exodus und Landnahme und mit der Kultgründung und Torahoffenbarung am Sinai als grundlegendem Ereignis.³¹ Das Gebiet von Juda war aber in der Exilszeit unter babylonischer Herrschaft verwaltungsmäßig kein Niemandsland gewesen, und die Perser fanden eine funktionierende Verwaltung mit enger Bindung an Samarien vor, die sie in ihr System der Satrapien integrierten.³² Die Exilsheimkehrer, die auf Grund des Kyros-Edikts nach Jerusalem kamen, sahen sich mit diesen Gegebenheiten konfrontiert und suchten sich nicht zuletzt dadurch als eigene Gruppe zu behaupten, dass sie das Kyrosedikt mit der Erlaubnis zum Wiederaufbau des Tempels (Esr 1,1– 4; 6,3 – 5) exklusiv auf sich bezogen und so innerhalb der Provinz eine neue Gruppierung aufbauten, die ihre Basis vor allem in dem von der Exilierung besonders betroffenen Kultpersonal hatte. Nach dem Scheitern der davidischen Restaurationstendenzen lag die politische Macht beim fremden Statthalter, der aber für alle Bewohner und nicht nur für die Heimkehrergemeinschaft zuständig war. Soweit „Älteste“ aus der Provinzbevölkerung dabei mitwirken konnten, gilt dasselbe; sie waren in der Regel wohl potentielle Gegner der exklusiven Heimkehrergemeinschaft.
M. DIJKSTRA: „The Law of Moses: The Memory of Mosaic Religion in and after the Exile“, in: R. ALBERTZ/B. BECKING (Hg.): Yahwism after the Exile (STAR 5), 2003, 70 – 98. Für die nachexilische Reorganisation des einstigen Israel/Juda zu einer Art Tempelstaat, zugleich persischer Provinz, sei auf die Darstellungen der Geschichte Israels verwiesen, bes. Albertz, Religionsgeschichte 2, 468 ff. Schürer/V., History I 125 ff setzt ein bei der Seleukidenzeit; vgl. 243 ff zur Römerzeit. Im Besonderen s. auch H. G. M. WILLIAMSON: Studies in Persian Period History and Historiography (FAT 38) 2004; O. LIPSCHITS/M. OEMING (Hg,): Judah and Judeans in the Persian Period, 2 Bde. 2006.2011; D. EDELMAN/A. FITZPATRICK-MCKINLEY/Ph. GUILLAUME (Hg.): Religion in the Achaemenid Persian Empire, 2015. Für das Verhältnis von Statthalter und Kultorganisation s. R. ACHENBACH: „Satrapie, Medinah und lokale Hierokratie: zum Einfluss der Statthalter der Achämenidenzeit auf Tempelwirtschaft und Tempelordnungen“, ZABRG 16, 2010, 105 – 144.
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Der Hohepriester befand sich somit in einer schwierigen Position. Er repräsentierte einerseits eine Kultgemeinschaft, die mit den Exilierten im Zweistromland und mit dem persischen Hof weiterhin enge Kontakte unterhielten – was schon schwierig war, denn die kultische Organisation des Tempels und die – in der Folgezeit mehr und mehr privilegierte ‒ Kultdienerschaft war aus dem Rahmen der Provinzgesellschaft nicht ganz auszuklammern, und es waren engeren Beziehungen zur Provinzverwaltung in Samarien nötig. ³³Andrerseits aber suchten altansässige, wohletablierte Familien wie die ostjordanischen Tobiaden den Anschluss an die Jerusalemer Kultgemeinschaft und machten ihren Einfluss auch in Jerusalem geltend.³⁴ Auf diese Weise konnten örtliche und regionale „Älteste“ eine integrative Wirkung zwischen Heimkehrergemeinde und Provinzbevölkerung ausüben. Die maßgebenden Kreise der Heimkehrergemeinschaft konnten diese Integrationstendenzen nicht gutheißen. Dank ihrer Verbindungen mit den Exilierten in Mesopotamien und deren Einflussmöglichkeiten bei Hof vermochten sie es schließlich, ihre Interpretation des Kyrosedikts und ihren Exklusivanspruch auf das Heiligtum und die Stadt des Heiligtums unter Darius II. bestätigt zu bekommen, sowie dank der Ernennung Nehemias zum Statthalter die Macht der Provinzverwaltung in Samarien einzudämmen und mit der Entsendung des Priesters und Gesetzesexperten Esra auch intern die exilische Linie durchzusetzen. Die Heimkehrergemeinschaft hatte ihre eigenen „Ältesten“; so in Esr 3,12 neben den Sippenhäuptern. Esr 5,59 nennt zwar ṡabê (Alte) Israels, doch ist eventuell mit der LXX šabê „Rückkehrer“ vorauszusetzen. 6,7 erwähnt einen Statthalter der Judäer und ṡabê (LXX hier: presbyteroi) der Juden, 6,14 nur letztere, und 10,8 spricht von ṡarîm (Amtleute, Befehlshaber, LXX archontes) und zeqenîm (LXX: presbyteroi). Esr 10,14 kennt Älteste und Richter in jeder Stadt. Neh 11,3 erwähnt ra′šê ha-medînah (LXX: archontes tēs chōras). Öfter begegnen in Neh 2,16; 4,8; 13; 5,7; 5,17 (Zahl dort: 150!) und 7,5 seganîm (Amtleute) sowie ḥôrîn (Freie), was dem Verhältnis von Provinzverwaltung und Volksvertretung entspricht. Der Dualismus von staatlicher Verwaltung und Repräsentanz der Bevölkerung einerseits und der Heimkehrergemeinschaft andrerseits tritt hier deutlich zutage. Letztere stellte eine Art Staat im Staate dar, mit vorprogrammierten Konflikten mit der Landesbevölkerung und deren angestammten „Ältesten“ sowie der Provinzverwaltung in Samarien. Esra gelang es, mit der Unterstützung des Statthalters Nehemia die Heimkehrergemeinschaft wieder fester abzugrenzen. Er erreichte das mittels der geforderten Entlassung „fremder“ Ehefrauen und mit der Androhung des Ausschlusses aus der Heimkehrergemeinschaft und der Beschlagnahme aller Besitztümer bei Fernbleiben von einer Volksversammlung der Heimkehrergemeinschaft (3Esr [Vulg. 1Esr] 9,3/Esr [Vulg. A. ZERTAL: „The Pahwah of Samaria (northern Israel) during the Persian period: types of settlement, economy, history and new discoveries“, Transeuphratène 3, 1990, 9 – 30. S.o. Anm. 4 (auch unten Anm. 54) sowie Neh 13,4: Der Hohepriester Eljaschib war ein Verwandter des Tobia. S. MITTMANN: „Tobia, Sanballat und die persische Provinz Juda“, JNWSL 26/2, 2000, 1– 50.
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2Esr] 10,7 f ). Damit wurde die Unterscheidung zwischen Judäern (im geographischräumlichen Sinn) und „Juden“ (im ethnisch-kulturellen Sinn) begründet, wie sie alle modernen Sprachen haben, auch wenn man in den Quellen – wo Ioudaios/Iudaeus beides sein kann³⁵ – stets auf die Kontexte angewiesen ist. Unter einem eigenen Statthalter ergab sich automatisch die übliche Institution eines Ältestenrates auf höchster Ebene, eine „Gerusie“. In dieser hatte wahrscheinlich das Jerusalemer Kultpersonal einen angemessenen Anteil; aber wie das Beispiel der ostjordanischen Tobiadenfamilie zeigt, gelang es nicht oder nur langsam, die alten Strukturen zu beseitigen, da wirtschaftlich potente Familien sich der Jerusalemer Kultgemeinschaft angeschlossen hatten. Anstelle der einstigen ständigen Konfrontation mit der Provinzverwaltung in Samarien trat ein ständig spannungsgeladenes Verhältnis zur Umwelt Judäas und zugleich bahnte sich eine interne Kraftprobe zwischen den exilisch Orientierten und den mehr oder minder opportunistisch motivierten Neuzugängen aus der judäischen Landesbevölkerung (dem nunmehr so genannten ‘am ha-‘aräṣ) ab. Als der persische Hof auf die Ernennung eines Statthalters in Judäa verzichtete und dessen administrative Funktionen auf den Hohepriester übertrug, ergab sich ein Dualismus aus Hohepriesteramt und Gerusie, und damit wohl auch eine neue Profilierung dieses Gremiums. Die Gerusie erscheint nun fast regelmäßig nach bzw. neben dem Hohepriester als politische Provinzrepräsentation, wie Absender- und Empfängerangaben im Schriftverkehr und dann auch Münzaufschriften bezeugen. Der Hohepriester erhielt so auch ohne zusätzlichem Titel die politische Spitzenfunktion und das entspricht dem Machtanspruch, der Dtn 33,8 – 11 für „Levi“ angemeldet wird. Selbst für den Fall einer Teilung der Spitzenämter wird der Vorrang „Levis“ festgehalten.³⁶ Der Ältestenrat gehört im Grunde weiterhin zur Herrscherfunktion, doch in der Nomenklatur erscheint er nach dem Hohepriester und dies hatte später gewichtige Folgen.³⁷ Eine Angabe über die Führung in Jerusalem enthält ein Elephantine-Papyus (Porten/ Yardeni, TAD A 4.7– 8; früher Pap. 30 – 31) vom Jahre 408 v.Chr. Das Schreiben richtet sich an „unseren Herrn Bagohi (persischer Statthalter), und an Jochanan, Oberpriester (kahana′ rabba′) und ihre Mitarbeiter (kenawatehôn), die Priester, die in Jerusalem sind, und an Ostan, den Bruder des Anan, und die Notablen der Judäer“. Nach dem Statthalter folgt hier an erster Stelle der Oberpriester; unter den „Mitarbeitern“ sind wahrscheinlich nur
Hingegen meint das Verbum htjhd an der einen Stelle, wo es in der hebräischen Bibel vorkommt (Est 8,17): „jüdische Lebensweise annehmen“, und das spielt gerade nicht in Judäa. Die Septuaginta fügt erläuternd (und ritualgesetzlich korrekt) die Beschneidung hinzu. Vgl. Mal 2,1– 9; Jub. 31,12 ff.; T.Juda 21; T.Napht. 5; T.Levi 8 in J. GREENFIELD/M. STONE/E. ESHEL (Hg.): The Aramaic Levi Document. Edition, Translation, Commentary (SVTP 19), 2004; R. A. KUGLER: From Patriarch to Priest. The Levi-Tradition from Aramaic Levi to Testament of Levi (EJIL 9), 1996. J. W. CATALDO: A Theocratic Yehud? Issues of Government in a Persian Period, 2009; B. E. SCOLNIC: Chronology and Papponymy. A List of the Judean High Priests of the Persian Period (SFSHJ 206), 1999; M. BRUTTI: „I sommi sacerdoti di età pre-asmonaica: Il problema della presenza-assenza“, Materia giudaica 8,1,2003,113 – 12; dies.: „Le istituzioni ebraiche di età persiana e il centralismo normativo gerosolomitano“, Ricerche storico bibliche 25, 2013,189 – 209; R. G. KRATZ: „Statthalter, Hohepriester und Schreiber im perserzeitlichen Juda“, in: ders. (Hg.): Das Judentum im Zeitalter des Zweiten Tempels, 2004, 93 – 119.
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die ständigen Jerusalemer Tempelpriester (später griehisch archiereis) gemeint. Ostan und die Notablen repräsentieren das Laienvolk.³⁸ Die Machtverhältnisse sind klar: Unterhalb des Statthalters dominiert eine Hierokratie, sodass mit dem Wegfall des Statthalterpostens automatisch der Hohepriester andie Spitze der Provinz rücken konnte, was auch die Ältesten aufwertete, die wieder an die zweite Stelle rückten. Dort finden sie sich nunmehr neben dem Hohepriesterregenten und sind nicht mehr einem Laienregenten zugeordnet. Bei Hekataios von Abdera (zitiert bei Diodorus Siculus 40,3; Stern, GLAJJ I S. 26 – 29 bzw. 35, um 200 v.Chr.) finden sich Feststellungen, die bezeugen, wie sich diese hierokratische Ordnung mit dem prinzipiellen Machtanspruch für „Levi“ für Außenstehende darstellte:³⁹ Mose habe nach der Vertreibung der Hebräer aus Ägypten unter anderem die Stadt Jerusalem mit allen ihren staatlichen und kultischen Institutionen gegründet, also auch den Tempel und seinen Kult und das Rechtswesen. In § 4 f lesen wir dort: Er wählte Männer von vorzüglichster und größter Befähigung, das ganze Volk zu leiten, und ernannte sie zu Priestern, und ordnete an, dass sie sich mit dem Heiligtum und den Ehrerweisen und den Opfern für ihren Gott befassen sollten. Dieselben (!) Männer ernannte er dazu, Richter in allen schweren Rechtssachen zu sein und vertrauten ihn die Aufsicht über die Gesetze und Bräuche an.
Die Hierokratie der hellenistischen Periode mit dem Anspruch aller Autorität für die priesterliche Gewalt wird danach so beschrieben (§ 5, Forts.): Aus diesem Grund haben die Judäer keinen König, und die Herrschaft über das Volk wird regelmäßig dem Priester verliehen, der über seine Mitpriester als überlegen in Weisheit und Tugend gilt. Sie nennen diesen Mann archiereus, und glauben, dass er als Übermittler der Gebote Gottes amtiert. (6) Er ist es, wurde uns berichtet, der in ihren Versammlungen und anderen Zusammenkünften verkündet, was anzuordnen ist, und die Judäaer sind in diesen Belangen derart unterwürfig, dass sie zu Boden niederfallen und dem Hohepriester huldigen, wenn er ihnen die Gebote darlegt.
Diese Angaben entsprechen der durch Josephus, Ant. 4,218 bezeugten Prozedur: Die durch den Torapropheten „wie Mose“ (aus den nistarôt) offenbarten Gesetze werden durch den Hohepriester verkündet. Der Hohepriester ist für die offenbare Tora (niglah) und für das Rechtswesen insgesamt zuständig. In Samarien hingegen gab es für die Priester offenbar keine offizielle Funktion in der Provinzleitung. In einem Brief an den König werden in Esr 4,9 als Absender genannt: „Rehum, Gouverneur (be‘al ṭa‘ma′; die LXX transkribiert einfach: baaltam), der Schreiber (grammateus) Schimschai und die übrigen ihrer Mitarbeiter (kenawathôn, LXX: syndouloi, als Titel bei Hofe), die Richter, etc. (folgen lexikographisch unklare Bezeichnungen persischer Herkunft und zuletzt Eigennamen – LXX und Vulgata deuten alles als
L. GRABBE: „Sanhedrin, sanhedriyyot, or mere Invention“, JJS 39, 2008, 1– 19 (4 f ). D. MENDELS: „Hecataeus of Abdera and a Jewish patrios politeia of the Persian Period (Diodor Siculus XL,3)“, ZAW 95, 1983, 96 – 116.Vgl. auch das Klearch-Zitat bei Josephus, C.Ap. 1,179, das allerdings ein PseudoKlearch sein dürfte. Doch auch als Fälschung gehört es in vorrömische Zeit.
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Eigennamen). Die Antwort in 4,17 ist nur an die drei Erstgenannten gerichtet. Laut 4,9 Ende befanden sich unter den Mitarbeitern auch Vertreter von Eingewanderten, so dass davor wohl einheimische Funktionäre anzunehmen sind. Es existierte also unterhalb der Provinzverwaltung auch eine Art Volksvertretung. Das Geschichtsbild hat sich während der persischen Periode entscheidend geändert, zugleich die Einstellung gegenüber der Umwelt und der näheren Umgebung, nicht zuletzt zum konkurrierenden Samaria.⁴⁰ Abgesehen von der Programmatik der P-Traditon und deren Beschreibung der Zeit zwischen Exodus und Landnahme, die im Jubiläenbuch erneut behandelt wurde, bezeugt das Verhältnis von deuteronomistischem Geschichtswerk und den Chronikbüchern eine beachtliche Spannweite und Vielfalt der Ansichten.⁴¹ Und damit auch der Vorstellungen von der Organisation „Israels“.
1.2.2 Der Übergang zur hellenistischen Herrschaft In der legendären Erzählung über den Empfang Alexanders d. Gr. vor seinem Einzug in Jerusalem begrüßten ihn nach Ant. 11,329 der Hohepriester mit den Priestern und der „Bürgermenge“ (tou politikou plēthous), ein ungewöhnlicher Ausdruck an einer Stelle, wo man die Gerusie erwartet. Doch ist der Text ohnehin nicht historisch, auch wenn Josephus ihn seiner Leserschaft so bieten möchte. Wie immer der Herrschaftswechsel wirklich von statten ging,⁴² der Status der Tempelprovinz blieb nicht nur unangetastet, er verbesserte sich noch mehr zugunsten der Kultorganisation und damit auch des Hohenpriesters.⁴³
1.2.3 Die ptolemäische Phase Das politische Geschick der Tempelprovinz war nach dem Zerfall des Alexanderreiches⁴⁴ weitgehend durch die Rivalität zwischen den Seleukiden im Norden und den Ptolemäern in Ägypten bestimmt, speziell durch die fünf syrisch-ägyptischen Kriege innerhalb rund eines Jahrhunderts.⁴⁵ So kam es in Jerusalem/Judäa immer wieder zu
M. KARTVEIT: The Origin of the Samaritans (Supplements to Vetus Testamentum 128) 2009; J. ZSENGELLÉR (Hg.): Samaria, Samarians, Samaritans (Studia judaica, 66/Studia samaritana 6) 2011; J. FREY/U. SCHATTNERRIESER/K. SCHMID (Hg.), Die Samaritaner und die Bibel (Studia Judaica 70; Studia Samaritana 7), 2012. R. F. PERSON: The Deuteronomic History and the Book of Chronicles. Scribal Works in an Oral World (SBL – Ancient Israel and Its Literature 6) 2010. Sh. COHEN: „Alexander the Great and Jaddus the High Priest according to Josephus“, Association of Jewish Studies Review 7– 8, 1983, 41– 68. L. GRABBE/O. LIPSHITS (Hg.): Judah between East and West: The Transition from Persian to Greek Rule (ca. 400 – 200 BCE) (Library of Second Temple Studies 75), 2013; Davies/Finkelstein, The Cambridge History of Judaism, Bd. 2. Dazu neuerdings R. WATERFIELD: Dividing the Spoils. The War for Alexander the Great’s Empire, 2011. J. D. GRAINGER: The Syrian Wars (Mn.S 320), 2010.
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entsprechend gegensätzlichen Orientierungen, die mit innenpolitischen und religiösrituellen Tendenzen Hand in Hand gingen. Dabei spielten auch die unterschiedlichen Interessen der Vertreter der Kultorganisation und der „Ältesten“ (im Sinne alteingessener Magnaten) eine erhebliche Rolle. Im hierokratisch regierten Judäa gab es durchaus noch alteingesessene Notable mit weitreichendem Einfluss auf die Jerusalemer Politik, begünstigt durch die Verwaltungspraxis des Ptolemäerreiches.⁴⁶ Die schon genannte Tobiadenfamilie war dazu bis zu den Makkabäerkämpfen nach wie vor in der Lage. Der Tobiade Joseph, dessen Mutter eine Schwester des Hohepriesters Onias II. war (Ant. 12,160), mit guten Beziehungen zu Samarien (12,167), konnte ca. 242– 240 nach der Einstellung der Tributzahlungen durch den Hohepriester Onias II. Schlimmeres verhindern, indem er sich in einer Volksversammlung (Ant. 12,164) die Vollmacht übertragen ließ, mit dem König in Alexandrien zu verhandeln. Das tat er mit Erfolg, vor allem für seine Sippe bzw. Partei, und schließlich wurde ihm die Steuerpacht für den syrischen Teil des Ptolemäerreiches übertragen. Dennoch wechselte er zuletzt die Front und unterstützte die Seleukidenpartei; nur der jüngste Sohn Hyrkan blieb ptolemäertreu. In Qumrantexten wird diese Zeitspanne, die 7. Jobelperiode nach der Exilierung, als eine Periode des Abfalls und als Ursache für die folgenden Katastrophen dargestellt. Die in der septuaginta-offiziellen Darstellung (1.2Makk) als auslösend eingestuften Vorgänge unter Antiochus IV. Epiphanes waren aus der Sicht dieser Texte nur Folgen der vorangegangenen Verfehlungen.
1.2.4 Die Krise unter den Seleukiden Josephus beschreibt in Ant. 12,133 ff, Polybius folgend, den erfolgreichen seleukidischen Feldzug in Palästina und erwähnt dabei in § 136 knapp die Beteiligung „derjenigen Juden, die beim Heiligtum von Jerusalem leben“. Dieser Übergang Jerusalems ging schwerlich ohne vorausgehende interne Auseinandersetzungen vonstatten,⁴⁷ und § 138 erwähnt außer logistischer Unterstützung sogar militärischen Beistand bei der Vertreibung der ptolemäischen Garnison.⁴⁸ Das setzt den Einsatz von Kräften aus potenten Laienkreisen voraus, also eines politisch-militärisch bedeutsamen Teiles der Gerusie, und genau diese wird im Brief 12,138 als die bei der Übergabe der Stadt agierende Instanz lobend genannt. Eine ähnliche Situation ergab sich später unter Antiochus IV., der sich in einem Schreiben auch nur an die Gerusie wandte. Das Lob des Hohepriesters
S. SCHWARTZ: „On the Autonomy of Judaea in the Fourth and Third Centuries B.C.E.“, JJS 45,1994,157– 168. Die Bedeutung dieses Machtwechsels wurde weithin unterschätzt, nicht zuletzt weil die Darstellung Schürers mit Antiochus IV. beginnt. Hieronymus zu Dan 11,13 (MPL 25,562): „Als Antiochus der Große mit den Feldherren des Ptolemäus kämpfte, wurde Judäa, das dazwischen lag, durch die Kämpfe zweier Parteien gespalten, da die einen für Antiochus und die anderen für Ptolemaios eintraten“Vgl. auch Porphyrius bei Hieronymus, In Danielem 11,15.
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Simon (II.) in Sir 50,1– 21 zeigt, dass er die seleukidischen Begünstigungen des Kultes im Sinne von Ant. 12,142 und 145 f gern entgegennahm und gut zu nutzen wusste.⁴⁹ Jedenfalls gewann das Hohepriesteramt in der Folgezeit ein beträchtliches Ansehen, bis es erneut in politische und interreligiöse Turbulenzen geriet.⁵⁰ In Jerusalem war eine Situation eingetreten, in der die Beseitigung von Zerstörungen (vgl. Ant. 12,120) und die Rückkehr von Emigranten ermöglicht wurde, wahrscheinlich mit der Folge, dass nun proptolemäische Judäer aus der Gerusie entfernt wurden und möglicherweise auch nach Ägypten emigrieren mussten. In dem erwähnten Brief des Antiochus III. hatte der König laut Ant. 12,142 der Gerusie und den Priestern, den Schreibern des Heiligtums und den Psalmensängern eine Steuerbegünstigung gewährt. Die Tempelschreiber waren als Gruppe also (noch) nicht Teil der Gerusie. Die Gerusie schien an Bedeutung gewonnen zu haben, denn Älteste werden im Schreiben des Perserkönigs in Ant. 11,128 nicht genannt, nur das gesamte Personal am Heiligtums. ⁵¹ Einige der zugestandenen Privilegien in Ant. 12,145 ff entsprechen übrigens kultgesetzlichen Bestimmungen, die in 4Q MMT und in der Tempelrolle (11Q 19) enthalten sind. Im Buch Judith, das in seiner (verlorenen) hebräischen Erstfassung wie in seiner griechischen Übersetzung der Hasmonäerzeit angehört, spiegeln sich in 4,6 – 8; 11,14; 15,8 die Jerusalemer Verhältnisse in hellenistischer Zeit wider. In 4,8 und 15,8 werden „Jojakim, der Hohenpriester, und die „gerousia des ganzen Volkes (dēmos) Israel, welche in Jerusalem wohnten“ erwähnt, Wie das Wort dēmos (nicht laos) für „Volk“ zeigt, ist auch hier eine politische und nicht nur kultische Instanz gemeint. Die außenpolitische Wende war also von einer innen- und religionspolitischen Auseinandersetzung begleitet, was in CD I,3 ff als epochaler Einschnitt beschrieben wird.⁵² Dort werden aber auch zwanzig Jahre der Unsicherheit bis zum Amtsantritt des môräh ha-ṣädäq („Rechtslehrers“) genannt. Die Neuordnung nach dem Herrschaftswechsel blieb also umstritten und trug die Ursachen für die Krise vor und unter Antiochus IV. bereits in sich.⁵³
O. MULDER: Simon the High Priest in Sirach 50 (JSJ.S 78), 2003. M. BRUTTI: The Development of the High Priesthood During the pre-Hasmonean Period: History, Ideology, Theology (JSJ.S 108), 2006. R. MARCUS: „Antiochus III and the Jews“, in: ders. (Hg., Übers.): Josephus: Jewish Antiquities, Books XIIXIV (1943), Appendix D, S. 743 – 766 (zu Ant. 12,129 – 153); E. BICKERMAN: „Une question d’authenticité: les privilèges des juifs“, in: ders., Studies in Jewish and Christian History II (AGAJ 9/2), 1980, 24– 43. Die Echtheit des Dokumentes wird oft bestritten, vgl. J.-D. GAUGER: Antiochos III. und Artaxerxes: Der Fremdherrscher als Wohltäter (SJ 38) 2007, 196 – 225. Trotz mancher formaler Bedenken dürften die Angaben aber weitgehend zutreffen. Auch in anderen Qumrantexten wird behauptet , dass es in der Zeit nach 247/6, in der 7. Jobelperiode nach der Tempelzestörung, einen Abfall von den richtigen Traditionen und Praktiken gegeben habe. S. PFANN: „Historical implications of the early second century dating of the 4Q 249 – 250 Cryptic A corpus“, in: E. CHAZON/D. SATRAN/R. CLEMENTS (Hg.): Things Revealed. FS Michael E. Stone (JSJ.S 89), 2004, 171– 186. Dazu immer noch lesenswert: A. MOMIGLIANO: „I Tobiadi nella prohistoria del moto Maccabaico“, in: Atti della reale Academia di scienze diTorino 67,1 931/2, 188 – 200.
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Dass man innerhalb des Kultpersonals und der Gerusie uneins war, wird begreiflich, wenn man die Einschätzung der Lage in den Qumrantexten bedenkt und demgegenüber die realpolitisch-machtpolitische Politik der Tobiaden, die bis auf den jüngsten Sohn Hyrkan ihre einst proptolemäische Haltung aufgaben und die Wende unterstützten. Dazu kommt noch die nach wie vor akute Rivalität zwischen Seleukiden und Ptolemäern (trotz der vorübergehenden Kompromissregelung Ant. 12,154) mit entsprechenden Anhängern in Jerusalem/Judäa. Die Familie der Tobiaden war entzweit, und als Hyrkan aus Ägypten zurückkam, führte dies zu militärischen Auseinandersetzungen zwischen den Brüdern und ihrer jeweiligen Anhängerschaft (Ant. 12,222). Nach dem Tod des Joseph und des Hohenpriesters Onias II. ließen die Spannungen kaum nach. Sie verschärften sich infolge der Beschlagnahmung des Tempelschatzes während der – legendär ausgeschmückten – Heliodor-Episode (2Makk 3), die im Kern wohl eine historische Reminiszenz enthält.⁵⁴ Die Ermordung des Seleukidenkönigs durch Heliodor hat damals vielleicht die Aussicht auf einen Herrschaftswechsel verstärkt. Der Hohepriester Onias III. scheint sich in der Folge der proptolemäischen Partei angeschlossen zu haben; er geriet in Konflikt mit den Tobiaden und riskierte sein Amt. Gleichzeitig versuchte der Rechtslehrer (môräh ha-ṣädäq) der Qumrantexte, die zadokidische Tradition, die um 198 v.Chr. teilweise zum Zug gekommen war, endgültig durchzusetzen, stieß aber auf Widerstand und scheiterte. Er konnte das Amt eines „Torapropheten wie Mose“ nicht mehr wahrnehmen, denn die schließlich zur Macht kommenden Hasmonäer hatten kein Interesse an dieser Institution. In Jerusalem kam es also ab 178 v.Chr. zu internen Auseinandersetzungen, die zum Eingreifen des Königs Antiochus IV. führen mußten.⁵⁵ Wie immer Onias III. sein Leben verlor, sein Amt büßte er mit dem Herrschaftsantritt des Seleukidenkönigs Antiochus IV. Epiphanes (175 v.Chr.) ein, und sein Bruder Ješua‘/Jason wurde durch den König zum neuen Hohenpriester ernannt (Ant. 12,239; 2Makk 4,7). Bis zur Absetzung Onias III. war die dynastische Erbfolge in der Familie der Oniaden zwar nicht durch die Tora geboten, aber Usus. Das Recht des Königs, solche Ernennungen auszuführen, war jedoch nicht zu bestreiten (Problem hier in # 65), denn das Amt war mit seiner Bedeutung für den antiochenischen Fiskus ja in der Tat ein Organ im Gesamtstaat und als solches keine Ausnahmeerscheinung.⁵⁶ Antiochus IV. handelte situationsbedingt.⁵⁷ Der Tobiadensohn
So meldete die israelische Zeitung Haaretz am 18.02. 2009: „Maccabee-era relics found near Jerusalem shed light on ancient Jewish warriors“. F. MITTAG: Antiochos IV. Epiphanes. Eine politische Biographie, 2006. – Dass die offizielle, im Sinne der Hasmonäer gehaltene und ursprünglich hebräisch geschriebene Darstellung der Vorgänge im 1Makk. mit Alexander und den Seleukiden einsetzt und die innerjerusalemischen Wirren schlicht übergeht, ist Ideologie. [Als Gegenexpertise s. Lester Grabbe in # 65, Exkurs.] W. AMELING: „Jerusalem als hellenistische Polis: 2 Makk 4,9 – 12 und eine neue Inschrift“, BZ 47, 2003,105 – 111; ders., „Seleukidische Religionspolitik in Koile-Syrien und Phönizien nach der neuen Inschrift von Maresha“, in: S. KREUZER, u. a. (Hg.): Die Septuaginta. Entstehung, Sprache, Geschichte (WUNT 286), 2012, 337– 359. Mittag, Antiochus IV. (s.o. Anm. 56), 235 ff.
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Hyrkan nahm sich angesichts der energischen Maßnahmen des Seleukidenkönigs und der Thronfolgeprobleme in Ägypten das Leben. Die Ptolemäer boten nun keine politische Option mehr, bis sie im Bund mit Rom für Jerusalem erneut interessant wurden. In Jerusalem begann nun die proseleukidische Partei – und offensichtlich auch die Mehrheit der Gerusie – mit Maßnahmen, die auf der Gegenseite als hellenisierende Abtrünnigkeit gewertet wurden. Jason stellte sich dagegen und verlor sein Amt zugunsten seines Bruders Onias/Menelaos, der mit den Tobiaden liiert war. Jason leistete mit seiner Anhängerschaft zunächst erfolgreich Widerstand. Menelaos geriet in Schwierigkeiten, und laut 2Makk 4,44 wurden drei Männer von der Gerusie zum König entsandt, um die Beschwerden gegen Menelaos vorzubringen. Menealos überstand diese Anklagen; doch Jason eroberte Jerusalem bis auf die Akra, musste aber dann doch abziehen und kam nach langen Fluchtstrecken ums Leben. Antiochus IV. versuchte unterdes, die Schwäche Ägyptens zu nutzen und unternahm einen erfolgreichen Feldzug (Ant. 12,242 ff; 1Makk 1,16). Er musste sich aber aufgrund eines römischen Ultimatums zurückziehen, besetzte dafür Jerusalem, bestrafte die Aufständischen und machte reiche Beute (Ant. 12,246 f ). Menelaos hatte nun zwar die Unterstützung des Königs, der ihn ja ernannt hatte; aber der Widerstand gegen ihn hielt an. Im Dezember 168 v.Chr. kehrte der König laut Ant. 12,248 ff nach Jerusalem zurück, plünderte den Tempelschatz,⁵⁸ griff hart gegen die Aufständischen durch und hinterließ eine Garnison in einer in Tempelnähe neu erbauten Festung (Akra), deren syrische Besatzung nun am Tempel auch ihre paganen Kulte pflegten und die Gegner verfolgte. Das Heiligtum galt nun den Gegnern als entweiht. Von der Gerusie ist in diesem Zusammenhang keine Rede mehr; sie war offensichtlich geteilter Meinung und als Gremium handlungsunfähig.
1.3 Der oberste Rat seit den Hasmonäern 1.3.1 Die Wende unter Judas Makkabäus In den Quellen deutet von 2Makk abgesehen wenig auf eine Rolle der Gerusie während des Makkabäeraufstandes. Nach 1Makk 7,33 empfangen Älteste des Volkes (laos) neben den Priestern den Nikanor in Jerusalem; in Ant. 12,406 sind es nur presbyteroi. In 2Makk 11,27 hingegen richtet sich ein Brief Antiochos’ IV. bezüglich der Rücknahme aller Maßnahmen „an die Gerusie der Judäer und die anderen Judäer“. Für den König galt
Entnahmen aus Tempelgütern waren durchaus üblich, in diesem Fall handelte es sch aber um eine spezielle Strafmaßnahme. Allerdings. Auch die Römer haben nach ihrem Eingreifen i.J. 63 v.Chr. und bes. 70 n.Chr. sich die Kosten eines militärischen Eingriffs ersetzen lassen, das erste Mal aus dem Tempelschatz (wo nicht Pompeius, wohl aber Crassus sich unsensibel verhielt), das zweite Mal dann durch die Kriegsbeute und den Fiscus Judaicus.
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normalerweise vorrangig der Hohepriester als verantwortlicher Ansprechpartner, es sei denn, die Position war vakant oder in Frage gestellt. In Judäa kehrte dennoch kein Frieden ein, denn Judas Makkabäus kämpfte weiter. Menelaos versuchte, nochmals Fuß zu fassen, doch König Antiochus V. Eupator ließ ihn hinrichten (2Makk 13,1– 8). Alkimos/Jojaqim wurde zum Hohenpriester ernannt, der kein Oniade war. Judas beriet sich laut 2Makk 13,9 angesichts des anrückenden Königs mit den presbyteroi. Nach der Wiedereinweihung des Tempels heißt es in 2Makk 10,4, man habe durch eine gesetzliche Verordnung die jährliche Feier dieses Ereignisses beschlossen und so den Ursprung des Hanukka-Festes (im NT nur: Joh 7,2) begründet. Hier wäre eine Erwähnung der Gerusie als legislativem Gremium zu erwarten gewesen. In 1Makk 4,59 sind es stattdessen „Judas, seine Brüder und die ganze ekklēsia Israels“. Josephus, Ant. 12,324 lässt es nur„Judas samt den Bürgern“ sein, die sich eine „Innovation der Gebräuche“ erlauben und „ein Gesetz erlassen“ (nomon theinai), es sei fortan die Wiedereinrichtung des Tempelkults acht Tage zu feiern. Erst im Schreiben an den Philosophen Aristobul 2Makk 1,11 ff heißen die Absender: „Wir in Jerusalem und in Judäa mit der Gerusie und Judas (Makkabäus)“; dieses Schreiben ist aber in allen Details eine Fälschung aus dem Blickwinkel einer späteren hasmonäischen Generation (Siegert, EHJL 424). Es ist eine Rückprojektion der Verfassungswirklichkeit unter der etablierten Hasmonäerherrschaft. Judas hat also allem Anschein nach mit seiner Anhängerschaft als „Volksversammlung“ die Macht der Ältesten unterlaufen.
1.3.2 Jerusalemer Außenpolitik. Der Kontakt mit Rom Die Hasmonäer stammen (entgegen Annahmen in der älteren Fachliteratur) sehr wohl aus einer vornehmen Priesterfamilie.⁵⁹ Sie haben sich jedoch in mehrfacher Hinsicht von den alten Strukturen gelöst und schließlich in Kooperation mit den Seleukiden im Namen des Judentums eine erfolgreiche dynastische Machtpoltik betrieben.⁶⁰ Umsichtigerweise taten sie das im Bündnis mit dem noch fernen, aber unaufhaltsam vorrückenden römischen Reich:⁶¹ Judas schloss mit dem Senat zu Rom ein Militärbündnis (symmachia, 1Makk 8,22– 32),⁶² worin die Judäer als „Freunde“ Roms bezeichnet wurden – ein hoher Schutz, für den natürlich Geschenke zu bringen waren. Diese Politik brachte 153/2 v.Chr. dem militärisch erfolgreichen Jonathan die Ernennung zum Hohenpriester ein, ohne dass eine Gerusie beteiligt war; der Ernennende war vielmehr der seleukidische Gegenkönig Alexander Balas (1Makk 10,21 par. Josephus, Ant. 13,45). In Ant. 20,238 f schreibt Josephus im Rückblick, den Hasmonäern sei nach
A. SCHOFIELD/J. VANDERKAM: „Were the Hasmoneans Zadokites?“, JBL 124, 2005, 73 – 87. H. ESHEL: The Dead Sea Scrolls and the Hasmonean State (Studies in the Dead Sea Scrolls and Related Literature), 2008. Ch. SEEMAN: Rome and Judea in Transition: Hasmonean Relations with the Roman Republic and the Evolution of the High Priesthood, 2013. Details hierzu bei Schürer/V., History I 171 f.
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militärischen Erfolgen die prostasia des ethnos übertragen worden, und zwar. von diesem letzteren selbst; das Volk hätte die Tradition wieder aufgenommen und Jonathan zum Hohepriester eingesetzt.⁶³ Josephus’ älterer Bericht in Ant. 13,45.51 weiß jedoch noch, woher die Ernennung kam, zitiert sogar das Dokument: Es war der seleukidische Usurpator Alexander Balas, der, aus gemeinsamer Feindschaft gegen Demetrius II. heraus, Jonathan seinen „Bruder“ nannte (d. h. Verbündeten; # 179), den Judäern ganz großzügig ihre den Seleukiden geschuldeten Steuern erließ und dabei nicht zögerte zu schreiben: „Wir ernennen dich heute zum Hohenpriester der Judäer“ (§ 45). 1Makk 10,59 – 65, das diesen Vorgang d.J. 152 v.Chr. berichtet, nennt ihn einfach den „König Alexander“ und erwähnt opulente Gegengeschenke, die Jonathan zu dieser (in Ptolemais gehaltenen) Ernennung mitbrachte sowie die Immunität vor jeder Anklage, mithin die Gerichtshoheit über Judäa, die Jonathan von ihm verliehen bekam. Es ist eine Pikanterie der Geschichte, dass dieser Alexander seinen Anspruch auf die Herrschaft in Antiochien auf die Behauptung gründete, er sei ein Sohn Antiochus’ IV. (1Makk 10,1).⁶⁴ Der neue Hohepriester trat sein Amt in Jerusalem kraft seiner Ernennung durch den (Zwischen‐)König an, regierte wie andere hellenistische Territiorialfürsten mit ähnlichen Titeln,⁶⁵ und er nahm sogleich auch richterliche Befugnisse in Anspruch. 1Makk 9,73: „Da begann Jonathan, dem Volk Recht zu sprechen, und vertilgte die Frevler aus Israel“ (vgl. Ant. 13,34). Aber er war dennoch auch mit der traditionellen Verfassung und so auch mit der Rolle der Gerusie konfrontiert. Es steht wohl außer Frage, dass er die Zusammensetzung der Gerusie an seine Position angepasst hat, und in dieser neuen Gestalt trat sie nun auch neben den Hohepriestern wieder offiziell in Erscheinung. Als Absender im Brief des Jonathan an die ephoroi und die Gerusie und das Volk (dēmos) von Sparta werden genannt: „der Hohepriester Jonathan und die Gerusie des ethnos ⁶⁶ und die Priester und das übrige Volk (dēmos) der Judäer“ (1Makk 12,6). Vor dēmos kennzeichnet hier ethnos offensichtlich die Vollbürger, aus denen sich die Gerusie rekrutiert.⁶⁷ Bei Josephus, Ant. 13,165 sind es „Jonathan, Hohepriester des ethnos der Judäer, die Gerusie und das koinon (jaḥad?) der Priester“. Eine Mitwirkung der Gerusie bezeugt 1Makk 12,35: Jonathan versammelte die presbyteroi des Volks (laos) und beriet mit Ihnen
Vgl. im Kontrast dazu den späteren Vorgang in Ant. 20,244: Pompeius gab Hyrkan II. die Hohepriesterwürde zurück und gestattete ihm die prostasia des ethnos auszuüben. [Details bei Schürer/V., History I 129 f.178. Alexander Balas – der sich gemäß 1Makk 10,1 auch Epiphanes nannte – regierte schließlich von 150 – 145 v.Chr., bis zu seiner Ermordung. – Das 2Makk. erwähnt diesen Alexander nicht, denn sein Berichtszeitraum endet vorher]. V. TCHERIKOVER: Hellenistic Civilization and the Jews, 1961, 238 ff; V. BABOTA: The Institution of the Hasmonean High Priesthood (NT.S 150), 2013. Zur Verwendung dieses Begriff s. B. ECKHARDT: „Vom Volk zur Stadt? Ethnos und Polis im hellenistischen Orient“, JSJ 45, 2014, 199 – 228. Statt ethnos verwendet 1Makk 12,35 (nachstehend zitiert) sogar das kultische laos. Zu diesen beiden Begriffen s. Claußen, Versammlung 5: Synagogengemeinde und Versammlung.
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den Ausbau von Befestigungen. Ihre Anerkennung des neuen Hohepriesters wird vorausgesetzt.⁶⁸
1.3.3 Judäa unter dem Priesterkönigtum „Levis“ Nach dem Tod Jonathans ersammelte Simon (142– 134 v.Chr.) – nach Ant. 13,212 war er Hoherpriester und „seit vier Jahren prostas des genos“ – laut 1Makk 13,2 den laos und ließ sich (V. 8 f ) per Akklamation zum hēgoumenos und Feldherrn in Nachfolge seiner Brüder ausrufen. Ähnlich Josephus Ant. 13,201. Vom Hohepriesteramt ist zunächst keine Rede.⁶⁹ Aber als Simon sich an Demetrius wandte, antwortete dieser laut 1Makk 13,36 „dem Hohepriester Simon und Freund der Könige [sc. Syriens], den presbyteroi und dem Volk (ethnos) der Judäer. Der König anerkannte also Simon als Hohenpriester, und die presbyteroi nehmen die zweite Stelle ein. Josephus erwähnt in Bell. 1,53 nur, dass Simon glänzend gesiegt habe und „zum Hohenpriester ernannt worden“ sei, wobei offen bleibt, durch wen. In Ant. 13,213 setzt er voraus, dass Simon von der Volksversammlung (hypo tou plēthous) als Hohepriester eingesetzt worden sei. In Ant. 13,214 präzisiert er, man habe nach der Einstellung der Tributzahlungen an Antiochien Urkunden nach Simons Herrschaftsjahren datiert (im NT vgl. # 93) und ihn dabei als „Wohltäter und Ethnarch⁷⁰ der Judäer“ benannt, also nicht als Hohenpriester. Jedoch in 1Makk 13,42 heißt es: „Simon, der große Hohepriester und stratēgos und hēgoumenos der Judäer.“ Das Hohepriesteramt war eine Funktion der militärischen, administrativen und juridischen Spitzenposition in der judäischen Gesellschaft geworden. Auch Antiochus VII. Sidetes (139/8 – 129 v.Chr.) entsandte laut Ant. 13, 223 eine Gesandtschaft an „den Hohepriester der Judäer“. In 1Makk 14,20 lautet die Adresse eines Schreibens aus Sparta: „An den Großpriester Simon und die presbyteroi und an die Priester und den übrigen dēmos“. Die widersprüchlichen Angaben deuten darauf hin, dass die Ernennung zum Hohepriester durch externe Könige erfolgte. Wieso Josephus sich dazu nicht klarer äußerte, ist zu fragen.⁷¹ Denn auch in einem zweiten, noch gewichtigeren Punkt unterscheidet sich Josephus, immerhin Nachfahr der Hasmonäer-
Diese Verwendung der Bezeichnungen ethnos, dēmos und laos läßt keine exakte semantische Differenzierung erkennen (vgl. auch 1Makk 14,28), auch wenn laos des Öfteren in etwa dem Begriff „Israel“ entspricht. Hingegen ist mit plēthos stets eine eher zufällige Zusammrottung gemeint. Die Bezeichnung „Israel“ wird in solchen Kontexten übrigens nicht verwendet, von Juden/Judäern ist jedoch durchaus die Rede. Siehe G. HARVEY:The True Israel. Uses of the Names Jew, Hebrew and Israel in Ancient Jewish and Early Christian Literature (AGJU 35), 1998; D. MILLER: „The Meaning of Ioudaios and its Relationship to Other Group Labels in Ancient Judaism“, Currents in Biblical Research 9/1, 2010, 98 – 126. Dazu vgl. J. VANDERKAM: From Revelation to Canon. Studies in the Hebrew Bible and Second Temple Literature (JSJ.S 62), 2000, 201– 223: „People and High Priesthood in Early Maccabean Times“. Der unter römischer Herrschaft für Hyrkan II. verwendete Titel dürfte hier wohl als anachronistisch zu werten sein.. L. FELDMAN: „Josephus’ portrayal of the Hasmoneans compared with 1 Maccabees“, in: F. PARENTE/J. SIEVERS (Hg.): Josephus and the History of the Greco-Roman Period. FS Morton Smith (StPB 41), 1994, 41– 68.
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dynastie, von der in 1Makk. dokumentierten Hofgeschichtsschreibung: Dort steht (1Makk 14,25 – 49) der ausführliche Bericht von den Feierlichkeiten und sogar der volle Text der Gründungsinschrift der Hasmonäerherrschaft, wie sie im Vorhof des Tempels aufgestellt wurde.⁷² Als die seleukidische Oberherrschaft nicht mehr aktuell war, suchte Simon für seine dynastischen Aspirationen einen Konsens mit den maßgeblichen judäischen Institutionen und Kräften zu erreichen. Beachtenwert ist in 1Makk 14,28 die Formulierung im Namen „der Großen Versammlung (synagōgē) der Priester und des Volkes (laos), der Amtleute (archontes) des Volkes (ethnos) und der Ältesten des Landes (presbyteroi tēs chōras)“. Diese sprachen – sagt dieser Text von 141 v.Chr. – dem erfolgreichen Simon die dynastische Erbfolge in der politisch-militärischen Führung und im Hohepriesteramt zu, jedoch mit einem bemerkenswerten Vorbehalt wie 1Makk in 4,46 in Bezug auf die verunreinigten Altarsteine: bis zum erneuten Amtsantritt eines Propheten (= Torapropheten im Sinne der alten Verfassung). So 1Makk 14,41.
1.3.4 Die Erfahrung der Autonomie und das Ende der (Tempel‐) Prophetie Mit der dynastischen Erbfolgte setzte sich die Hasmonäerfamilie endgültig an die Stelle der Oniadendynastie, und das in einem souveränen Staatswesen. Nicht lange danach dürfte der môräh ha-ṣädäq der Qumrantexte, wohl der letzte, aber entmachtete und verdrängte Inhaber des Toraprophetenamtes, gestorben sein. Eine Wiederbesetzung der Position zur Wiederherstellung der Dreierspitze Regent – Hohepriester – Prophet stand möglicherweise zur Debatte, kam aber seither nicht mehr zustande. In Bell. 1,56 par. Ant. 13,230 setzt Josephus für Johannes Hyrkan (134– 104v. Chr.) die dynastische Erbfolge in der Hohepriesterwürde voraus, erwähnt Bell. 1,66 aber auch innere Widerstände und Aufruhr. Ebd. § 68 f beschreibt er Johannes Hyrkan als Mosefigur mit den drei vereinten Spitzenfunktionen: (a) archē des ethnos, (b) Hohepriesterwürde und (c) Prophetie, was einen totalen Machtanspruch anzeigt. Allerdings, was die prophēteia (so übereinstimmend Bell. 1,69 par. Ant. 13,300, jeweils noch qualifiziert als „Vorherkenntnis des Kommenden“) betrifft, das war nicht mehr die alte Torageberschaft am Tempel, sondern nur mehr, und wiederum, eine Ironie der Geschichte: die Erwartung nämlich, dass seine beiden ältesten Söhne „nicht Herren der Ereignisse bleiben“ würden (so beide Texte). Der Streit zwischen den beiden über Amt (a) und (b) brachte sogar, wie gleich beschrieben werden soll, das Ende des Hasmonäerreiches mit sich. Solchermaßen endete das einstige Amt des Torapropheten. Von da an war keine höchstgerichtliche Entscheidung auf Gund eines Orakels mehr möglich und damit auch A. SCHENKER: „Die zweimalige Einsetzung Simons des Makkabäers zum Hohenpriester. Die Neuordnung des Hohepriestertums unter dem Hasmonäer Simon (1 Makk 14,25 – 49)“, in: ders.: Recht und Kult im Alten Testament (OBO 172), 2000, 158 – 169; F. CLANCY: „Eupolemus the chronographer and 141 BCE.“, SJOT 23, 2009, 276 – 281. Zur Passage s. U. RAPPAPORT: Sefär Makkabîm, Bd. 1, 2004, 311– 327.
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keine Fortschreibung der Tora.⁷³ Die bis dahin allgemein als geschriebene Tora anerkannten Gesetze, in erster Linie im Pentateuch, ersetzten nun die personale Letztinstanz, und der Pentateuch, seit der Perserzeit ohnehin schon als Basisdokument der jüdischen Autonomie⁷⁴ und im Griechischen als „Nomos der Juden“ bekannt, wurde von nun an immer häufiger kopiert und zitiert.
1.4 Neue politische Institutionen bzw. Benennungen 1.4.1 Die Gerusie (das Synhedrium) Möglicherweise kam es im Zuge dieser Neugestaltung zu einer Umbenennung des Ältestenrates. Die Bezeichnung ḥäbär ha-jehȗdîm auf Hasmonäermünzen⁷⁵ könnte von daher erklärt werden, vielleicht sogar als Alternativkonzept zur zadokidischen Priestertradition, die von einem jaḥad bzw. einer ‘aṣat ha-jaḥad sprach. Beide Bezeichnungen ersetzten die „Ältesten“ mit den Vertretern der Kultdienerschaft der alten Verfassung durch eine „Zusammenkunft“; doch genauere Angaben über deren Zusammensetzung sind nur in den Qumrantexten für den jaḥad erhalten. Auch das griechische Lehnwort synhedrion gehört bedeutungsmäßig in diesen Kontext, erscheint aber noch nicht in den Quellen. Die Gemeinschaft der einst hasmonäischen Anhängerschaft, also neben dem Hohepriester die judäischen Vollbürger (vgl. Ps 119[118],6), griechisch also der ethnos, dēmos oder laos gemeint, stellen keine Gerusie. dar Das würde die politische Mitwirkung auf die seltenen Fälle einer Volksversammlung beschränken und für die Vorgeschichte des Synhedriums wenig bedeuten. Wahrscheinlicher ist aber doch die Entstehung des Synhedriums aus einer Abwandlung der alten Gerusie. Johannes Hyrkan (134– 104 v.Chr.) hat eine innenpolitische Wende vollzogen und zudem das Söldnerheer eingeführt, was Folgen für das Verhältnis zu den traditionellen Repräsentanten des Heerbanns haben musste.⁷⁶ Er hat wohl auch den Einfluss einiger anfangs den Makkabäern verbundenen und später teilweise pharisäisch orientierten Gruppierungen zurückgedrängt (Ant. 13,293 – 298), die eine zadokidische Linie begüns-
Zur Bedeutung der Aufgabe vgl. das nichtbiblische Zitat in Josephus, Ant. 8,296 – 297: „wenn kein wahrer Prophet in eurer Volksmenge gefunden wird noch ein Priester, der Rechtssatzungen (orakelmäßig) erteilt.“ Vgl. Auch 2Chr 15,3: „ohne Priester und ohne Tora“. J. W. WATTS (Hg.): Persia and Torah. The Theory of Imperial Authorization of the Pentateuch, 2001. Y. MESHORER: Jewish Coins of the Second Temple Period, 1967; S. OSTERMANN: Die Münzen der Hasmonäer. Ein kritischer Bericht zur Systematik und Chronologie (NTOA 55), 2005; C.-G. SCHWENTZEL: „Images du pouvoir et fonctions des souverains Hasmonéens“, RB 116, 2009, 368 – 386. – Johannes Hyrkan (129 – 104 v.Chr.) setzt auf die Münzen: Jehôḥanan ha-kôhen ha-gadôl ro′š ḥäbär ha-jehȗdîm; so auch Alexander Jannaj/Jehonatan (104– 76 v.Chr.); Antigonos (40 – 37 v.Chr.): griechisch: „Des Königs Antigonos“; zweisprachig: Mattitjah kohen gadôl we-ḥäbär ha-jehȗdîm. A. KASHER: „The Changes and Ethnic Composition of the Hasmonean Army“, JQR 81,1990/91, 325 – 352.
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tigt hatten.⁷⁷ Diese „Sadduzäer“ standen der Priestertradition hinter den Qumrantexten nahe, waren aber bereit, sich mit den wechselnden Machtverhältnissen zu arrangieren.
1.4.2 Das Aufkommen der Pharisäer: Widerstand im Namen der Tora Auch Alexander Jannai (103 – 76 v.Chr.) begünstigte die sadduzäische Richtung, was zu heftigen inneren Auseinandersetzungen geführt hat. Die Pharisäer profilierten sich dabei als führende Kraft der Opposition. Auf welche Weise sie noch in einem ḥäbär hajehȗdîm vertreten waren, ist nicht belegt; aber ohne Änderungen zu ihren Ungunsten war der folgenreiche Richtungswechsel sicher nicht. Nicht bezeugt ist, wieweit der von Josephus (Bell. 1,69 par. Ant. 3,218) als epochal gewertete Verfassungswechsel zur Königsherrschaft unter Jehuda/Aristobul (104– 103 v.Chr.) und Jehonatan/Alexander Jannai Folgen hatte für Struktur und Kompetenzen des ḥäbär ha-Jehȗdîm. Offen ist nämlich, wieweit das traditionelle Königsrecht überhaupt Berücksichtigung finden konnte. Das Machtverhältnis zwischen dem Herrscher und dem ḥäbär ha-jehȗdîm konnte es schwerlich bestimmen, da die Hasmonäer doch deutlich zur hellenistischen Herrscherauffassung neigten.⁷⁸ Sie deklarierten sich jedenfalls nicht als mäläk Jiṡra′el oder neśî′ Jiṡra′el (was biblisch- restaurativ gewesen wäre) und konnten so als Regenten agieren, ohne dem traditionellen Königsrecht zu unterliegen. Andrerseits war die Kompetenzüberschneidung zwischen Herrscher (Kriegsherrn) und Hohempriester schon seit dem letzten persischen Statthalter spürbar gewesen, und die Hasmonäer Jonathan, Simon und Johannes Hyrkan regierten durchaus auch als Fürsten. In dieser Ämterkombination sah man sie – und sie sich – in der priesterlichlevitischen Tradition als legitime Inanspruchnahme der Rechte „Levis“. Münzaufschriften zeigen, dass selbst Alexander Jannai die althergebrachte Institution der Gerusie ‒ freilich in neuer Zusammensetzung ‒ respektierte und diese, wie zuvor, mit der hohepriesterlichen Funktion und nicht mit der Königswürde verband.⁷⁹ War er bemüht, die Tradition der alten Verfassung zum Schein zu wahren, oder ging es ihm mehr darum, für seine königlichen Maßnahmen die Mitwirkung des ḥäbär ha-jehûdîm auszuschließen? ⁸⁰ – Allem Anschein nach übte er die königliche Gerichtshoheit ohne Mitwirkung des ḥäbär ha-jehȗdîm aus, denn er ließ (Bell. 1,97; 4Q 169 Frg. 4 + 3, Kol. I zu Nah 2,12– 14) 800 Gegner „ans Holz hängen“. Diese Todesstrafe ist in 1Q 19, Kol. 64, Z. 6 – 13 (vgl. Dtn 21,22 – 23) für Volksverrat vorgesehen, was zum Verhalten der Pharisäer im Konflikt mit
V. NOAM: „The Story of King Jannaeus (b. Qiddušin 66a): A Pharisaic Reply to Sectarian Polemic Jannaeus (b. Qiddušin 66a)“, HThR 107, 2014, 31– 58. Ihre Legitimität bezogen sie aus internationaler Anerkennung, bis nach Rom hin, und nicht etwa aus einer Salbung durch Jerusalemer Priester. Vgl. auch die Tonsiegelaufschriften bei N. AVIGAD: „Two priestly Seals“, Qad. 8,1975, 118 – 119; ders.: „A Bulla of King Jonathan“, IEJ 25, 1975, 245 – 246; Qad. 9, 1976, 68 – 69 (hebr.). E. REGEV: „Hever ha-Yehudim and the Political Ideology of the Hasmoneans“, Tarbiz 80, 2011/2, 329 – 334.
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Demetrius III. durchaus passt. Möglicherweise hatte er zuletzt auch noch andere Feinde. In bSot. 22b deutet eine Reminiszenz auf eine Konfrontation mit einer militanten Priesterpartei: „Es sagte der König Jannai zu seiner Frau: Fürchte dich nicht vor den Pharisäern und nicht vor jenen, die nicht Pharisäer sind, jedoch vor den Heuchlern (ṣebô‘îm), die den Pharisäern ähneln, deren Taten Zimri-Taten sind [Num 25,14] und die den Lohn des Pinhas [Num 25,12 f ] fordern“. Handelt es sich um die vom König enttäuschten Qumran-Zadokiden, die einen „König Israels“ erwartet hatten? Die Widerstände waren auch grundsätzlich begründet. Mit der Annahme des Königstitels ohne Bindung an das traditionelle Königsrecht war nämlich der Machtanspruch für „Levi“ nur auf den ersten Blick und auf Grund der traditionellen Rangfolge Hohepriester – Gerusie gewahrt. Doch von einer Unterordnung der königlichen Gewalt unter die hohepriesterliche konnte keine Rede sein. Das Verhältnis wurde vielmehr umgekehrt, und so verlor auch der Ältestenrat seine politische Funktion als Beratungsund Kontrollgremium an der Seite des Herrschers. Alle diese Vorgänge vollzogen sich in einem Zeitraum, der in der zadokidischen Zeitrechnung, wie sie in Qumrantexten belegt ist, die letzten Jobelperioden der letzten Periode von 490 Jahren (70 Jahrwochen) nach der Eroberung Jerusalems durch Nebukadnezar ausfüllt.⁸¹ Gegen ca. 98 v.Chr. wäre demnach der Beginn einer neuen, bereits eschatologischen Periode von 490 Jahren zu erwarten gewesen, also während der Zeit des Ausbaus der Anlage von Qumran in der wechselhaften Regierungszeit des Königs Jehonatan/Alexander Jannai. Die Beschreibung der Regierungszeit dieses Königs in 1Makk 14,4– 15 und ebenso das ihm in 4Q 448 gewidmete Gebet tragen Züge einer Endzeiterwartung. Die Hoffnung auf rasche Verwirklichung der Endzeiterwartungen zerrann jedoch während der folgenden inneren Wirren und nicht zuletzt infolge der Erfahrungen mit der Herrschaft der „Kittim“ (Römer). Unter den Qumrantexten tauchen nun Schriften auf, die in Form von aktualisierenden Ausdeutungen prophetischer Texte die eigene Geschichte reflektieren, und andere, in denen die Namen von Zeitgenossen genannt werden.⁸² Die Qumran-Zadokiden waren wieder mit der normalen Geschichte konfrontiert, in der sie zwar keine große politische Rolle mehr spielen konnten, zumal ihre Auffassung vom Lauf der Geschichte sich nicht bewahrheitete. Durch das Sammeln, Kopieren und Verwahren von Handschriften haben sie ihrer Nachwelt aber einen großen Dienst erwiesen.
J. MAIER: Die Qumran-Essener, Bd. 3: Einführung, Zeitrechnung, Register (UTB 1916), 1996, 52– 160. Ferner C. WERMAN: „Epochs and End-Time: The 490-year scheme in second temple literature“, DSD 13, 2006, 229 – 255; D. ULRICH: The Antiochene Crisis and Jubilee Theology in Daniel’s Seventy Sevens (OTS 66), 2015. K. ATKINSON: „Representations of History in 4Q 331 (4Q papHistorical Text C), 4Q 332 (4Q HistoricalText D), 4Q 333 (4QHistorical Text E), and 4Q 468E (4Q Historical Text F): An annalistic Calendar documenting portentous events?“, DSD 14, 2007, 125 – 151.
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1.4.3 Königin Salome Alexandra (76 – 67) und die Konflikte ihrer Söhne Hyrkan und Aristobul Alexander Jannai übertrug die Königswürde vor seinem Lebensende seiner Frau Salome Alexandra⁸³ mit der Empfehlung, die tatsächliche Macht den Pharisäern zu überlassen, was diese dann auch recht energisch ausnützten (Bell. 1,110 – 112 par. Ant. 13,408 – 410). Dort lesen wir (§ 408 f ): Alles erlaubte sie den Pharisäern zu tun und wies dementsprechend die Menge an, ihnen zu gehorchen; und wenn ihr Schwiegervater Hyrkan etwas von den Lebensregeln (nomima) aufgehoben hatte, welche die Pharisäer nach der väterlichen Überlieferung]⁸⁴ eingeführt hatten, setzte sie das wieder in Kraft. So hatte sie nominell das Königtum; die Macht aber hatten die Pharisäer. So riefen sie auch Exilierte zurück und ließen Gefangene frei und unterschieden sich in nichts von Despoten.
Es ist anzunehmen, dass der ḥäbär ha-jehȗdîm entsprechend umbesetzt wurde. Salome Alexandra übertrug das Hohepriesteramt ihrem ältesten Sohn Hyrkan II. Im Fall der monarchischen Herrschaftsform, wie sie sein Bruder Aristobul in Fortführung der Politik seines Vaters anstrebte, wäre der Regent wieder oberste Autorität, also auch Inhaber des Rechts, Hohepriester ein-und abzusetzen. Das war seinerzeit durch Antiochus IV. infolge innerjudäischer Konflikte so geschehen und wurde danach von den Hasmonäern hingenommen. Später machten die Römer davon ganz selbstverständlich Gebrauch. Aristobul wollte offenbar wieder beide Funktionen vereinen und sich dabei von äußeren Mächten unabhängig machen. Während der gesamten Regierungszeit der Königin tritt in den Quellen eine Gerusie oder ein ḥäbär ha-jehȗdîm kaum in Erscheinung. Als sich im Volk Widerspruch regte, kamen nicht Älteste zu Aristobul, um bei ihm Unterstützung gegen die pharisäische Gewaltherrschaft zu suchen, sondern es waren laut Ant. 13,412 dynatoi, offenbar lokal/ regionale Potentaten, die noch Alexander Jannai gedient hatten (vgl. Ant. 13,424; 14,11). Aber als Aristobul die Oberhand zu gewinnen drohte, kamen laut Ant. 13,428 die presbyteroi der Juden mit Hyrkan zur todkranken Königin. Die damals vorhandene Gerusie – hier noch nicht synhedrion genannt ‒ stand also auf der Seite Hyrkans und war wohl ein pharisäisch beherrschtes Gremium. Unter Salome Alexandra dürfte also ein einschneidender Strukturwandel zu Lasten der priesterlichen und sozial-ökonomisch gewichtigen Elemente stattgefunden haben.
K. ATKINSON: Queen Salome. Jerusalem’s Warrior Monarch of the First Century B.C.E., 2012. Zu diesem politischen Testament s. # 114. Aus der älteren Literatur vgl. J. NEUSNER: From Politics to Piety. The Emergence of Pharisaic Judaism, 1979, bes. S. 48 – 52. Dort sind auch die rabbinischen Reminiszenzen gesammelt und besprochen. Gr. patrōia paradosis:,warscheinlich nicht nur die Tora im Pentateuch, vielmehr alte Sondertraditionen dieser Richtung, die sich auf Esra und die „Große Versammlung“ berief. In den aus priesterlicher Tradition stammenden Qumrantexten spielt diese Linie keine Rolle. Die paradosis tōn presbyterōn, die Überlieferung der Altvorderen, die in # 51 behandelt wird, enthält die nachfolgenden pharisäischen Neuerungen.
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Vielleicht hatte die Benennung des neuen Gremiums als synhedrion, welche quellenmäßig erst später zu fassen ist,⁸⁵ schon damals stattgefunden, etwa auch als Gegenkonzept zur zadokidischen Konzeption der ‘aṣat ha-jaḥad? Ein jaḥad (das Wort bedeutet ja auch „Zusammenkunft“) erscheint in 1Q 28a (1QSa) als Organisationsform der ‘edah, der priesterlich-levitisch verfassten Volksversammlung Israels, und diese zadokidische Konzeption war mit Salome Alexandra endgültig bloßes Programm der Entmachteten geworden. Der Ausdruck synhedrion selbst wäre schon damals keine Neuerung gewesen. Spr 15,22 ist bereits bemerkenswert, weil be-′ên sôd („die ohne Rat sind“) mit mē timōntes synhedria wiedergegeben wird. Noch deutlicher wird der neue Sprachgebrauch in der LXX zu Spr 31,22: „Ihr Mann ist an den Toren bekannt, wenn er mit den Ältesten des Landes zusammen sitzt.“ Am Tor ist der Versammlungs- und Tagungsort, auch der örtlichen Gerichtshöfe. Die LXX erweitert: „wenn er en synhedriōi sitzt mit den Alten (gerontes) des Landes.“ Das gab es also dezentral bereits im 2.Jh. v.Chr.⁸⁶ Aristobul (67– 63 v.Chr.) gelang es zunächst, den Thron für sich zu gewinnen und dann Hyrkan völlig zu entmachten, wie die dem Vorbild Alexander Jannais folgende Münzaufschrift „Jehuda, der Hohepriester, und der ḥäbär ha-jehȗdîm“ zeigt. Aber der umtriebige Idumäer Antipater, Vater des späteren Klientelkönigs Herodes, vermittelte dem unterlegenen Hyrkan die Unterstützung durch den Araber Aretas, der Aristobul im Tempel belagerte. Der dēmos entschied sich für Hyrkan, während die Priester dem Aristobul treu blieben (Ant.14,20.25). Beide Parteien entsandten Delegationen zum eben aus Syrien angelangten Propraetor für die Provinz Syria, Marcus Aemilius Scaurus (64– 62 v.Chr.), der sich für Aristobul entschied (Ant. 14,29 ff ). Als Pompeius in Syrien war, entsandten beide Parteien auch zu ihm Delegationen (14,41 ff ). Pompeius warf beiden vor, die althergebrachte, priesterlich bestimmte Ordnung zuungunsten des ethnos ändern zu wollen (14,41; vgl. 43). Seine Entscheidung vertagte er auf seinen Aufenthalt in Judäa. Über den Ältestenrat im Machtkampf zwischen den beiden konkurrierenden Söhnen der Salome Alexandra (Ant. 14,82– 86 par. Bell. 1,160 – 165) ist kaum etwas bekannt. Sollte Aristobul seine Zusammensetzung verändert haben, so blieb das Gremium während der Bürgerkriegszeit doch an Hyrkan orientiert, politisch freilich kaum handlungsfähig.⁸⁷
Zu diesem Thema s. die Artikel „Synhedrium“ bzw. synhedrion (o. ä.) in EJ 14 (1971), 839 f (auch Art. „Elders“ ebd. 6 (1971), 578 – 581; ThWNT 7 (1964), 858 – 869; DBS fasc. 64B-65 (1991), 1353 – 1413; TRE 30 (1998/ 9), 32– 42; Schürer/V., History II (1979), 199 – 226. Die Übersetzung des Buchs der Sprüche, schon dem alexandrinisch-jüdischen Autor Aristobul bekannt (vgl. Siegert, EHJL 400), ist dem 3. Viertel dieses Jahrhunderts zuzuweisen. Th. FISCHER: „Zum jüdischen Verfassungsstreit vor Pompeius“, ZDPV 91, 1975, 46 – 49. Neues zum Verlauf der Auseinandersetzungen s. bei Atkinson, „Representations of History“ (wie Anm. 83).
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1.5 Das Synhedrium unter römischer Herrschaft 1.5.1 Judäa unter römischer Aufsicht Die römische Herrschaft in Palästina begann mit einer Enttäuschung. Der noch ferne, aber das Seleukidenreich bereits bedrängende Bündnispartner der Hasmonäer, Senat und Volk von Rom, erwies sich als eine imperiale Macht mit strengem Ordnungssinn und profilierten fiskalischen Interessen und bestimmte so das Geschick des Landes bis zur arabischen Eroberung.⁸⁸ Aristobul hielt sich nicht an die Anordnungen des Pompeius, wurde festgenommen, Jerusalem wurde belagert und eingenommen. Hyrkan wurde als Hohepriester (63 – 40 v.Chr.) anerkannt (14,73) und Jerusalem/Judäa wurde, um zahlreiche Städte und Territorien verringert, der Provinz Syrien untergeordnet. Die gestörte Ordnung im Lande stellte Gabinius – mit Antipaters Hilfe ‒ wieder her. Dies hätte einem Ältestenrat oder Synhedrium zugute kommen können, aber das Verhalten der Familie des Antipater lässt den Schluss zu, dass unter Hyrkan II. – auch ungeachtet seiner Funktion als Ethnarch⁸⁹ − dem Synhedrium politisch enge Grenzen gesetzt waren, denn die exekutive Gewalt lag nach dem Willen Roms bei Antipater und seinen Söhnen. Antipater galt eventuell schon unter Gabinius, gewiss aber unter Caesar, als epimeletēs (mit der Verwaltung Beauftragter, procurator) von Judäa (Ant. 14,127.139). Wie wenig Rom an einer jüdischen Zentralinstitution interessiert war, zeigt die Verwaltungsreform des syrischen Statthalters Gabinius (57 v.Chr.), durch die das Land in fünf Verwaltungseinheiten mit eigenen synhedria eingeteilt wurde (Ant. 14,91 = Bell. 1,170: synhodoi). Das Synhedrium in Jerusalem war folglich – sicher wider Willen − nur im Jerusalemer Teil des Ganzen zuständig. Gabinius selbst verstand sich als Autorität über diesen synhedria, entließ nach Bell. 2,273 zahlreiche Gefangene und entzog sie der Kompetenz der von ihm geschaffenen Regionalgrichtshöfe. Vielleicht ist die Bezeichnung synhedrion überhaupt erst damals mehr in Gebrauch gekommen. So ist zumindest der Befund in den Schriften des Josephus.
Baltrusch, Die Juden; Horbury (u. a.), Cambridge History of Judaism III; Hadas-Lebel, Jerusalem contre Rome; C. HEZSER: The Oxford Handbook of Jewish Daily Life in Roman Palestine, 2010; Eck, Judäa – Syria Palästina. N. SHARON: „The Title Ethnarch in Second Temple Period Judea“, JSJ 41, 2010, 472– 493.
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1.5.2 Das Jerusalemer Synhedrium in römischer Zeit Mit der Festigung der Stellung Hyrkans II. als Hoherpriester wuchs offenbar auch der Anspruch des Synhedriums in Jerusalem⁹⁰, so dass es sich auch für Galiläa zuständig fühlte, eine Machtprobe mit Herodes wagte und ihm auf Drängen von Gegnern der Antipater-Familie den Prozess machte (Bell. 1,209 – 216 par. Ant. 14,168 – 184). Antipater hatte seine Söhne Phasael und Herodes zu Strategen von Judäa/Idumäa und von Galiläa ernannt. Das grausame Vorgehen des Herodes in Galiläa brachte ihm eine Anklage beim Synhedrium ein.⁹¹ Der Statthalter in Syrien unterstützte aber Herodes gegen das Synhedrium, nötigte Hyrkan, die Anklage fallen zu lassen, und ernannte Herodes auch noch zum stratēgos von Coelesyrien und Samarien. ⁹² Hyrkan II. hat ebenfalls die Münzaufschrift mit Hohepriester und ḥäbär ha-jehȗdîm verwendet, aber diese schließlich auch nach dem Vorbild Johannes Hyrkans I. ergänzt zu „Hohepriester und Haupt des ḥäbär ha-jehȗdîm“, was wohl den Machtzuwachs unter Caesar (ab 47 v.Chr.) illustriert. Josephus spricht von ihm in Bell. 2,221 sogar als König. Die politisch entscheidende Rolle spielte bei alledem und insbesondere während des Aufstiegs Caesars zur Macht im Orient und in Ägypten wiederum Antipater, der tüchtige Gefolgsmann Roms. Ein Vergleich mit Ägypten ist aufschlussreich für die Einschätzung der Lage durch Caesar. Josephus schildert Ant. 14,117 mit einem Zitat aus Strabo die Verhältnisse in der Kyrene und in Ägypten. Der Ethnarch regierte demnach wie ein Fürst. Kein Ältestenrat wird erwähnt. Augustus ersetzte jedoch laut Philon, Flacc. 74 ff (vgl. Josephus, Ant. 19,283) den Ethnarchen durch eine Gerusie. In Palästina kam es hingegen zu keiner Aufwertung des Synhedriums; es blieb dem Hohepriester zugeordnet, und die Interessen Roms blieben dank Antipaters Macht (Bell. 1,207) durch die Funktion des „Ethnarchen“ unberührt. Nach Antipaters Tod und während innerrömischer Machtkämpfe gelang es seinen Söhnen, ihre Position gegen alle Widerstände weiter auszubauen. Als „Tetrarchen“ von Roms Gnaden wurden sie wohl oder übel durch Hyrkan II. unterstützt, dessen Enkelin Mariamme mit Herodes verlobt war. Herodes überstand selbst die letzten Machtwechsel im Imperium glänzend. Caesar hat die Herrschaftsverhältnisse in Judäa bestätigt; auch verlieh er den Juden (wie man Iudaei jetzt übersetzen muss) im ganzen Reich Privilegien, die, von Augustus anerkannt, die Rechtsbasis aller jüdischen Populationen in den folgenden Jahrhunderten blieben. Josephus, Ant. 16,162– 173 zitiert eine ganze Reihe von
Kaum beachtet wurde der forschungsgeschichtlich bemerkenswerte Aufsatz von Abraham Kuenen; s. Anfangsbibliographie. Schon er hielt die Angaben der Mischna für „in hohem Maße unwahrscheinlich“ (55) und hielt sich an die Übereinstimmungen zwischen Josephus und dem Neuen Testament. Die Schilderung in Ant. ist z.T. nicht nachvollziehbar, doch wird deutlich, dass es Differenzen bezüglich der Kompetenzen des Sanhedrin und des Ethnarchen gab. Allem Anschein nach präsidierte Hyrkan die Sitzung des Synhedriums in dessen Funktion als Gerichtshof nicht. A. GILBOA: „The Intervention of Sextus Julius Caesar, Gouvernor of Syria, in the affair of Herod′s Trial“, Scripta Classica Israelica 5, 1979/80, 185 – 194.
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Entscheidungen unter Augustus, die den sehr weit gehenden Rechtsschutz der Iudaei dokumentieren.⁹³ Die Privilegien, die Rom den Juden zugestand, lassen kein Interesse am Synhedrium erkennen. Man hatte für die Provinz eben einen dynastischen Vasallenstatus im Auge und dabei galten Hohepriesteramt und Synhedrium als interne Institutionen. Was Caesar laut Ant. 14,192– 212 über Hyrkan II. schreiben ließ, klingt, für sich gelesen, großartig. Hyrkan wird als Ethnarch der Judäer anerkannt; aber auch über die Hohepriesterwürde verfügte Caesar und sprach sie dem Hyrkan mit dem Recht dynastischer Nachfolge zu. Doch alle exekutive und militärische Gewalt lag in den Händen der Söhne des Antipater, insbesondere des Herodes, und damit letztlich bei Rom. Die kurze Regierungszeit des Hohenpriesters Mattathias Antigonus (40 – 37) mit der erneuten Kombination der Herrscher- und Hohepriesterwürde blieb ein Intermezzo, ermöglicht durch eine Partherinvasion. Er ließ eine zweisprachige Münze prägen, deren griechische Aufschrift lautet: „König Antigonus“, die hebräische: „Mattitjahu, der Hohepriester, und der ḥäbär ha-jehȗdîm“. Das entspricht dem Vorbild seiner Herrschaftsform, Alexander Jannai. Hyrkan II. verlor dabei sein Amt (Bell. 1,270 par. Ant. 14,366), geriet in parthische Gefangenschaft (Bell. 1,273) und verlor später durch Herodes auch sein Leben (Bell. 1,433 f ). Hohepriesterwürde und Synhedrium standen nun völlig in der Verfügung der Weltmacht, und die entschied sich für Herodes als König (Bell. 1,281– 285 par. Ant. 14,381– 388).Vom römischen Senat i.J. 40 v.Chr. bereits zu dieser Würde ernannt, besiegte er Antigonus und eroberte sich sein künftiges Königreich mit römischer Hilfe. Das war das Ende dessen, was Josephus, C.Ap. 2,165 als „Theokratie“ bezeichnen konnte und sich in erneuerter Form offenbar wieder wünschte.
1.6 Die Verhältnisse unter Herodes d. Gr. (40 bzw. 37 – 4 v. Chr.) und Archelaus (4 v.–6 n. Chr.) 1.6.1 Herodes übergeht das Synhedrium Herodes konnte schon wegen seiner edomitischen Herkunft ‒ Proselyt in der zweiten Generation ‒ nicht als „König Israels“ gelten und war daher auch nicht an das israelitische Königsrecht gebunden. Als vom Senat in Rom ernannter König sah er sich daher keinen innerjüdischen Instanzen unterworfen. Er wurde auch stets als eine Art
Dazu Schürer/V., History III 116 – 121; Smallwood, The Jews 136 – 143. [Gemeint sind v. a. eigene Kultausübung und Befreiung von nicht eigenem Kult, die Überbringung der Tempelsteuer und – um des Sabbats willen – die Befreiung vom Militärdienst. Solche „Privilegien“ galten grundsätzlich nur für die Lebenszeit des sie erteilenden Kaisers – womit es nötig wurde, bei jedem Regierungsantritt Delegationen zu schicken, die, ggf. mit Geschenken beladen, um die Erneuerung bitten mussten. Caesars Dekrete und eine Fülle von Folgebestimmungen sind gesammelt und zitiert bei Juster I 139 – 152, v. a. aus Jos., Ant. 14. Chronologisch geordnete Liste dieser und auch vorausgehender Bestimmungen: 158 f.]
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Fremdherrscher angesehen, obschon er in jüdischen Gebieten religiöse Konflikte klug vermied. Er versuchte zwar dank der Heirat mit einer Hasmonäerprinzessin (Bell. 1,344 par. Ant. 14,467) eine dynastische Kontinuität zu erreichen, aber de facto übte er seine Macht als römischer Vasallenkönig aus, ließ auf seine Münzen auch nur„König Herodes“ prägen, und setzte in dieser Funktion Hohepriester nach Belieben ab und ein (Ant. 20,247), vorab seinen Schwager Jonatan, Bruder der Mariamme, den er später ermorden ließ (Bell. 1,437). Das Synhedrium wurde von Herodes neu zusammengesetzt und funktionierte als Gerichtsinstanz folglich nur insoweit als Interessen und Kompetenzen des Herrschers unberührt blieben. So wurde das Synhedrium auch während der Maßnahmen des Königs gegen seine eigenen Verwandten nicht beteiligt, wohl aber Rom. Auch als der König die Aufrührer bestrafte, die den auf seine Anweisung angebrachten goldenen Adler von einem Tempeltor entfernt hatten, beteiligte er kein Synhedrium, er berief laut Bell. 1,654 vielmehr eine ekklēsia zusammen, fällte das Urteil selber und ordnete auch die Exekution an. Ähnlich illustrativ ist das Vorgehen des Herodes gegen Hyrkan II. (Ant. 15,173) wegen eines Briefes des Hyrkan an den Araberkönig Malchus. Herodes ließ demnach den Brief dem Synhedrium vorweisen, desavouierte so den Hohepriester vor diesem Gremium und ließ ihn dann hinrichten (Ant. 15,176 sogar: hängen). In Ant. 15,1– 5 berichtet Josephus, Herodes habe ein Gesetz zur Eindämmung von Eigentumsdelikten erlassen und als Strafe, gegen biblisches Recht (dazu Philon, Spec. 4,2), den Verkauf der Delinquenten als Sklaven an Nichtjuden vorgesehen.⁹⁴ Die Behandlung einer mutmaßlichen Verschwörung durch den König in Bell. 1,488 ff par. Ant. 16,235 ff zeigt ebenfalls, dass der Herrscher nicht gewillt war, in Fällen, die ihn bzw. seine Familie betrafen, eine jüdische Gerichtsinstanz zu befassen (Details dazu s. # 122). Das dikastērion (der Gerichtshof ) bestand in diesem Fall aus ihm, dem Vorsitzenden (zugleich Ankläger) und den synhedroi (Bell. 1,540); es heißt darum auch insgesamt synhedrion (537). – Laut Bell. 1,571 veranstaltete er in einem anderen Fall ein synhedrion tōn philōn („Beratungssitzung mit Freunden“), von dem Jerusalemer Gremium durchaus verschieden. Auch im Prozess gegen seinen Sohn Antipater (Bell. 1,582 ff par. Ant. 17,1 ff ) konsultierte der König nur Rom; das Jerusalemer Synhedrium blieb unbefasst. Im Fall zweier Toralehrer (Ant. 17,149 ff ), die gegen das Anbringen der besagten Adlerfiguren agitierten, urteilte er selbst; hier handelte es sich nicht um römische Bürger. Verwundern muss dann aber doch, dass Josephus in seinen Berichten über den Tempelbau des Herodes das Synhedrium nicht erwähnt, obschon es sich um ein Vorhaben handelt, das gewiss in den Interessenbereich dieses Gremiums gehörte. Der König achtete jedoch sehr darauf, den Bau innerhalb des heiligen Quadrats strikt nach den rituellen Erfordernissen durchzuführen; dabei müssen Priester ihn beraten haben. Das heilige Areal umgab er mit dem sogenannten Heidenhof, eingefasst von gewaltigen Mauern mit Kolonnaden darüber, im Norden verbunden mit der Burg Antonia und auf
[Über diese Härten hellenistischer Wirtschaft, die unter den Rabbinen wieder gemildert wurden, s. # 44 und # 140.]
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der Südseite gekrönt mit der königlichen Basilika, alles zusammen die stärkste Festung des Landes und eine Demonstration der königlichen Macht.
1.6.2 Das Wiedererstarken des Synhedriums nach Herodes Während der Unruhen vor und unter der kurzen Herrschaft des Archelaus, bei denen Rom eingreifen musste, tritt in den Quellen kein Synhedrium in Erscheinung. Laut Bell. 2,80 ff par. Ant. 17,299 ff bringt eine fünfzig Mann starke Gesandtschaft in Rom Anklagen gegen Archelaus vor und plädiert für die autonomia des ethnos. Die Stoßrichtung galt der herodianischen Dynastie. Die Bitte um direkte römische Verwaltung (Bell. 2,91) war freilich mit dem Streben nach Autonomie nur vereinbar, wenn man die Art römischer Provinzverwaltung und deren Methoden zur Aufrechterhaltung der Ordnung verkannte. Rom wollte indes nicht auf die bewährte Vasallenherrschaft verzichten und teilte das Reich des Herodes unter seinen restlichen Erben auf (Bell. 2,93 ff ). Archelaus regierte nun als Ethnarch sein Erbteil mit aller Härte (Bell. 2,114 ff ), setzte den Hohepriester ab und einen neuen ein (Ant. 17,339) und verfuhr so unglücklich, dass Rom schließlich sein Territorium in eine Provinz verwandelte.
1.7 Judäa unter direkter römischer Verwaltung 1.7.1 Der Census unter Coponius Der Senat zu Rom entsandte i.J. 6. n.Chr. Coponius (vgl. # 92, sein voller Name ist nicht bekannt) als Statthalter, und zwar ausdrücklich mit der Vollmacht zur Ausübung der Kapitalgerichtsbarkeit (mechri tou kteinein … exousian). Damit war dem Synhedrium ein wesentlicher Aspekt einer Autonomie genommen;⁹⁵ Herren über Leben und Tod waren nunmehr auch (wenn auch nicht ausschließlich – s.u.) die Römer. Provoziert von der Steuerpflichtigkeit gegenüber Rom, brachte der Galiläer Judas die Zelotenbewegung in Gang, die dem jüdischen Establishment vorwarf, Gottes Herrschaft gegen Menschenherrschaft eingetauscht zu haben (Bell. 2,118).⁹⁶ Damit wurde eine Dämonisierung der Weltmacht Rom eingeleitet, die angesichts der akuten Endzeiterwartungen jener Zeit unvermeidlicherweise die verhängnisvolle Alternative „Jakob/Israel“ (Gottesherrschaft) oder „Esau/Edom“ (Rom) heraufbeschwor. Das Synhedrium musste zwangsläufig früher oder später Stellung beziehen. Bis dahin hatte das Verhältnis zur römischen Oberherrschaft situationsbedingt geschwankt zwischen opportuner Loyalität und mühsam unterdrückter Feindseligkeit.
Um eine solche hatte die Jerusalemer Delegation nach Rom, die von Augustus die Rücknahme des Herrschaftsauftrags an Herodes verlangt hatte (Josephus, Ant. 17,300.303) mithin vergeblich gebeten. Klassisch hierzu: Hengel, Zeloten, 3. Aufl. 2011. Vgl. # 74.
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Josephus bezeichnet in Ant. 20,251 die neue Gesellschaftsstruktur gleichwohl als „aristokratisch“: Es war eine Herrschaft „der Besten“ (kein Feudalsystem), wobei die prostasia über das Volk, die Rolle der Staatsspitze also, dem Hohenpriester zustand. Das heißt, dass der Hohepriester außer seinen kultischen Aufgaben auch eine politische Funktion ausübte, die ihn gegenüber Rom verantwortlich machte, ihm jedoch in rein innerjüdischen Belangen weitgehend freie Hand ließ. Der Hohepriester hatte das Synhedrium unter und neben sich, und das grenzte die ihm offiziell zuerkannte prostasia den Mehrheitsverhältnissen in diesem Gremium entsprechend ein. Der römische Statthalter nahm an den Sitzungen des Synhedriums wohl kaum teil, zumal sie an der Grenze zum heiligen Bereich stattfanden, in der schon genannten Quaderhalle; er nahm jedoch das Recht wahr, Hohepriester ab- und einzusetzen. In der Regel hatte das Synhedrium dennoch mehr Befugnisse als vorher unter Herodes.
1.7.2 Die Kompetenzen des Synhedriums zur Zeit Jesu Die direkte römische Provinzverwaltung klärte die Kompetenzen insofern, als das Problem des jüdischen Regenten und seines Verhältnisses zur Erwartung eines „Königs Israels“ eliminiert war. In rein innerjüdischen Belangen legislativer, judikativer und administrativer Art konnte das Synhedrium nun ungehinderter verfahren, gegebenenfalls sogar weitergehend im Rahmen des Spielraums, den der jeweilige Statthalter zu gewähren bereit war. Das erklärt auch die Bevorzugung der direkten römischen Herrschaft durch die Pharisäer, lässt aber die Frage der faktischen Kompetenzen in gewissen Bereichen offen. Ein Statthalter musste oder konnte ja nicht in jedem Fall SynhedriumsKompetenzen wahrnehmen, auch wenn er eine Kompetenzüberschreitung durch das Synhedrium sicher jederzeit zu ahnden in der Lage war. Der Vorteil, innerjüdische Belange nun ohne jüdischen Regenten regeln zu können, wie es die Pharisäer für erstrebenswert hielten, wurde durch die Verantwortung gegenüber dem römischen Statthalter in politisch heiklen Fragen – wie der öffentlichen Ordnung und Sicherheit ‒ aber wohl weithin aufgewogen. Doch eines ist klar: das Synhedrium hatte nach dem Fortfall der„monarchischen“ Spitze für innerjüdische Belange die Polizeigewalt und war für das Steueraufkommen in der Provinz verantwortlich (Bell. 2,406; mTaan. 3,6). In Umrissen lässt sich eine Art Geschäftsordnung dieses illustren Gremiums erkennen. Die Anzahl von 70 Mitgliedern war nicht bloß durch die biblische Tradition (Ex 24,9⁹⁷ und Num 11,16) begründet, die später gern zitiert wurde; sie entsprach vielmehr
In Num 24 sind es 70 von den Ältesten (LXX: von der Gerusie) mit Mose, Aaron, Nadab und Abihu, eigentlich also 74. Sh. NAGANO: „The Elders of Israel in Exodus 24:9 – 11“, Annual of the Japanese Biblical Institute 19, 1993, 3 – 33. In Vita 56.58.79 begegnen in wichtigen politischen Fragen Delegationen von 70 Mitgliedern.
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einer geläufigen Größenordnung.⁹⁸ In Bell. 2,570 f wählt Josephus in Galiläa 70 Mann aus und ernennt sie zu archontes, je 7 für örtliche Gerichtshöfe, mit Josephus und den besagten 70 als Oberinstanz. Laut Bell. 4,334 – 337 ernannten die radikalen Aufständischen ihrerseits 70 Männer willkürlich zu Richtern. Doch sind dies Ausnahmesituationen. Für die – wohl nur ca. – 70 Mitglieder des Jerusalemer Synhedrium bleibt zu bemerken, dass es sich darin deutlich von einer nichtjüdischen, hellenistischen Gerusie unterscheidet, die zwischen sieben und zehn Mitglieder hatte. In Bezug auf den Tagungsort differenziert die rabbinische Tradition (bJoma 25a). Ein für Jerusalem zuständiger Gerichtshof trat im Außenhof zusammen, ein weiterer am Heiligtum, und der„große Sanhedrin“ in der Quaderhalle (liškat ha-gazît, nach bJoma 8b auch liškat parhedrîn), einem Raum im nördlichen Umfassungsbau des Innenhofes. Diese Verteilung ist möglicherweise eine historische Reminiszenz, weil die Aufgabenteilung einleuchtet, und wurde auch seit Büchler (193 f ) manchmal vertreten. Angeblich gab es auch eine Kleiderordnung und eine Sitzordnung im Halbrund mit abgestufter Rangfolge der Sitzreihen (mSan. 4,3 f; tSan. 7,8 – 8,2). Bestimmte Qumrantexte (1Q S VI 3 – 4.8 – 13; 1Q 28a I 12– 17; CD XI 14; XIV 4) belegen, dass es dergleichen bei offiziellen Zusammenkünften bzw. Sitzungen gab und dass die Redefolge an die Rangfolge der Mitglieder gebunden war.⁹⁹ Offen ist, in welchem Maß das Synhedrium befugt war, mit Billigung des Statthalters Kapitalprozesse durchzuführen, und ob und wie in einem solchen Fall die Exekution eines Todesurteils nach jüdischem Recht (in der Regel ja Steinigung) stattfinden konnte.¹⁰⁰
1.7.3 Die Bedeutung des Synhedriums für die Diaspora Die römische Herrschaft hatte für das Synhedrium noch einen besonders wichtigen Aspekt. Indem Rom die Einhebung der Tempelsteuer und deren Ablieferung an den Jerusalemer Tempel guthieß, gestand es dem Synhedrium dem Heiligtum entsprechend eine überregionale Funktion im Blick auf die Juden im römischen Reich zu. Dieses Prinzip hat dann auch im 3. Jh. den Aufstieg der machtpolitischen Institution des naṡî′ (Patriarchen) ermöglicht. In Num 11,24– 25 werden von den Ältesten Israels 70 ausgewählt bzw. geistbegabt, doch der Kontext präsentiert diese 70 gerade nicht als eine ständige Einrichtung, daher treten 11,30 wieder die Ältesten mit Mose auf. Ri 8,14 LXX nennt für das Sukkot-Fest archontes und presbyteroi, im Ganzen 77, wahrscheinlich 70 archontes und 7 Älteste. Nach 4Kön 10,1 hatte Ahaz 70 Söhne. EpArist. 172 par. Josephus, Ant. 12,85 (vgl. 56) erwähnt die Ankunft von 70 Ältesten (als Übersetzer) in Alexandrien. Nach tSuk. 4,6 gab es in Alexandrien 70 goldene Sitze entsprechend den 70 Ältesten. Bell. 2,482 spricht von einer 70 Mann starken Delegation aus Batanaea, Vita 56 von 70 Mann aus den prōtoi. Siehe Weinfeld, Organizational Pattern 27 f. Vgl. unten 11.2. – Skeptisch urteilte z. B. K. MÜLLER: „Sanhedrin/Synhedrium“, TRE 30, 1998/9, 32– 42 (34 ff.: Die Auskunft der jüdischen Seite: „Wir dürfen niemanden töten“ (Joh 18,31) ist in ihrem Kontext zunächst einmal eine Schutzbehauptung). Näheres s. # 178.
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Von daher gesehen ist es durchaus möglich, dass das Synhedrium auch die Befugnis hatte, in Diasporagemeinden einzugreifen, wenn Interessen der Institution und Roms auf dem Spiel standen. Was Apg 9,1 f (s. hinter # 208) von Paulus berichtet, entspricht also wohl der Realität. Er bittet aber den Hohepriester und nicht das Synhedrium um ein Schreiben, das ihn zu einer Aktion in Damaskus ermächtigen sollte. Dieser „kurze Dienstweg“ setzt aber voraus, dass im Falle einschneidender Maßnahmen die Rückendeckung durch das Synhedrium nötig gewesen wäre.
1.8 Einzelne Befunde im Neuen Testament In der wissenschaftlichen Diskussion über das Synhedrium stehen die Befunde im Neuen Testament im Vordergrund, insbesondere die Vorgänge im Zusammenhang mit Gefangennahme, Verurteilung und Hinrichtung Jesu.¹⁰¹ Demensprechend wurden auch die diesbezüglichen Stellen besonders aufmerksam behandelt. Für das Synhedrium enthält das Neue Testament zwar einige Hinweise, aber die Angaben schwanken und einige gewichtige Fragen bleiben offen.¹⁰²
1.8.1 Angaben der Evangelien In allen vier Evangelien sind es die archiereis, die am deutlichsten als Akteure auftreten, also eine Gruppe hoher Priester („Erzpriester“), die offensichtlich für das Heiligtum und z.T. wohl auch für die Stadt des Heiligtums verantwortlich waren. Wahrscheinlich handelte es sich um Personen mit ererbten Positionen, die sonst als „Zadokiden“ bezeichnet wurden. Als zweite Gruppe treten neben ihnen grammateis in Erscheinung, Tempelschreiber (vgl. Ant. 11,129), also nicht „Schriftgelehrte“, sondern Rechtsexperten, wahrscheinlich Leviten. Beide Gruppen arbeiten in allen Phasen des Geschehens als Behörde des Heiligtums Hand in Hand. Dazu kommen als dritte Gruppe Älteste, aber recht unterschiedlich benannt. Markus (14,43 ff ) nennt als Verantwortliche für die Gefangennahme archiereis, grammateis und presbyteroi, bei Matthäus (Mt 26,3; 26,47 ff ) folgen sie nach den archiereis – also ohne grammateis ‒ mit dem eher archaischen Ausdruck „Älteste des Volkes“ (presbytereoi tou laou). Bei Lukas (22,47 ff ) sind es archiereis und strateȇgoi des Heiligtums sowie presbyteroi. Bei Johannes erfolgt (18,1 ff ) die Gefangennahme Weise durch römische Soldaten
Zur älteren Literatur s. Müller (vorige Anm.), 41 f. Ferner: Davies/Sanders, „Jesus from the Jewish Point of View“, bes. 667– 675 sowie folgende Literatur über den Prozess Jesu (hier # 159): Jossa, Il processo di Gesù; Cook, „The problem of Jewish jurisprudence“; Reinbold, Der Prozess Jesu; Giovanini/Grzybek, Der Prozess Jesu; Webb, „The Roman examination“. E. RIVKIN: „Beth Din, Boulé, Sanhedrin: A Tragedy of Errors“, HUCA 46, 1975, 181– 199.
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und Büttel von den archiereis und Pharisäern. In allen vier Evangelien wird auch ein Büttel des Hohenpriesters erwähnt, der verletzt wurde (s. # 72). In Joh 18,19 ff wird der Gefangene zunächst dem Hannas, demAlthohepriester und Schwiegervater des Hohepriesters Kaiphas, vorgeführt. Der archiereus Hannas verhört Jesus und überstellt ihn danach (18,24) an den amtierenden Hohepriester Kaiphas. Aus dem Lukas-Sondergut ist die Hinzuziehung des Antipas, des eigentlichen Landesherrn Jesu, bemerkenswert (Lk 23,6 – 11, in V. 12 legendär erweitert): An ihn hätte das Verfahren offenbar auch abgegeben werden können. Mehr s. # 115. Die Evangelien bieten also kein einheitliches Bild. Zwar finden sich auch bei Josephus wechselnde Bezeichnungen für die Jerusalemer Spitzeninstanz,¹⁰³ doch hier sind eindeutig tendenziöse Aussagen mit im Spiel, so die zweimalige Einbeziehung der Pharisäer und das Bemühen, die Verantwortung auch auf die Ältesten und auf das Volk auszuweiten. Deutlich tritt eine für das Heiligtum verantwortliche Instanz in Erscheinung, zusammengesetzt aus archiereis und grammateis. Unklar aber ist das Verhältnis der einzelnen genannten Gruppen und dem „ganzen“ synhedrion bzw. presbyterion. Wie dieses im Einzelnen zusammengesetzt ist, bleibt auch hier offen; doch agiert es unter der Ägide des Hohepriesters, und der römische Statthalter hat nichts damit zu tun. Für ihn ist es eine innerjüdische Instanz. Man kann wohl in folgendem mit den Evangelien konform gehen: Pilatus hält sich für ein Delikt nach jüdischen Recht für nicht zuständig und wird erst aufgrund eines angeblichen politischen Delikts tätig. War das Synhedrium aber überhaupt berechtigt, Kapitalprozesse nach biblischjüdischem Recht anzustrengen?¹⁰⁴ Die Meinunngen gehen diesbezüglich auseinander. Wenn ja, dann wohl nur mit dem Placet des Statthalters, und dies gilt speziell für eine Vollstreckung des Urteils. In den Evangelien wird als Delikt eine Gotteslästerung behauptet, auf die als Strafe die Steinigung zu erwarten wäre.¹⁰⁵ Aber der Statthalter geht nicht darauf ein, und auf die Anklage wegen eines Vergehens gegen das Heiligtum (bzw. wegen Blasphemie) verweist er auf die Kompetenz der jüdischen Justiz.
1.8.2 Angaben der Apostelgeschichte Die Apostelgeschichte berichtet mehrere Fälle von Vergehen gegen das Heiligtum: Hier stand es der jüdischen Behörde durchaus zu, von sich aus einzuschreiten. Dies entspricht bereits dem Verhalten der„Priester und Propheten“ in Jer 26,7 ff, und galt es auch späterhin als selbstverständlich.¹⁰⁶ Die an der Umfriedung des heiligen Quadrates an-
M. VOGEL: Anmerkung 6 in: Siegert u. a., Josephus: Leben, S. 165 f. Dafür plädierte u. a. Winter, On the Trial of Jesus (s. # 159); so auch neuerdings mit Entschiedenheit Giovanini/Grzybek, Der Prozess Jesu (Ergebnis: S. 72). Vgl. # 178 zu Joh 18,31. So sahen es auch die Rabbinen nach bSan. 43a, einer vielzitierten Stelle, wo freilich (s. Maier, Jesus im Talmud 222– 225) die Erwähnung Jesu ein späterer rabbinischer Eintrag ist. Vgl. Philon, Legat. 39; Josephus, Bell. 6,124– 126 par. Ant. 15,417.
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gebrachten Warntafeln bedrohten jedermann, der unbefugt das Innere betritt, mit der Todesstrafe.¹⁰⁷ Ob dies auch zu einem Prozess mit Verurteilung führen konnte, ist aufgrund des in Apg 6,8 ff und 7,54 ff geschildeten Verfahrens gegen Stephanus anzunehmen. Als Beteiligte nennt 6,12 zunächst ziemlich global „das Volk (laos),¹⁰⁸ die Ältesten (presbyteroi) und die Schreiber (grammateis)“. Dann führt man Stephans vor das Synhedrium, wo der Hohepriester das Wort ergreift. Doch eine solche Sitzung musste natürlich erst einmal anberaumt werden, auch wenn die Erzählung Züge einer spontanen Lynchjustiz aufweist. Es wird zwar kein Beschluss des Synhedriums erwähnt, aber die Exekution (Steinigung) setzt – sofern sie nicht als Lynchjustiz „ sofort vollzogen wird – ein formales Todesurteil voraus (vgl. # 171). Der Statthalter mischte sich nach diesen Angaben in solchen das Heiligtum betreffenden Fällen nicht ein. Ein weiterer Fall betrifft den Apostel Paulus, dem in Apg 21,27– 30 vorgeworfen wird, er habe einen Unbeschnittenen ins Heiligtum gebracht und überhaupt gegen das Gesetz und „diese Stätte“ agitiert (# 232). Paulus entging der Lynchjustiz nur durch das Eingreifen römischer Soldaten in das aufruhrartige Geschehen. Der Kommandant (chiliarchos) war nach Apg 22,30 beachtlicherweise befugt, „die archiereis und das ganze Synhedrium“ einzuberufen und anzuhören, was dem Paulus vorgeworfen werde, wobei auch der Hohepriester auftritt. Paulus nützt – so der Bericht – die Rivalität zwischen Sadduzäern und Pharisäern zu einem Verwirrspiel (23,6 ff ). Pharisäische grammateis (23,9) sind es schließlich, die für Paulus eintreten. Der römische Kommandant lässt Paulus aus der tumultuösen Versammlung fortbringen¹⁰⁹ und angesichts eines mit Wissen der archiereis und der Ältesten (23,14) geplanten Anschlags nach Caesarea überstellen. Die für das Heiligtum und die Stadt des Heiligtums zuständigen jüdischen Behörden und das Synhedrium waren demnach überzeugt, in einem solchen Fall ein Todesurteil verhängen und vollstrecken zu dürfen. Aber nicht minder deutlich zeigen sich die Grenzen, die dem Synhedrium und dem Hohepriester gesetzt waren, sobald die römische Ordungsmacht aktiv auftrat. In der Apostelgeschichte werden im Unterschied zu den Evangelien die Sadduzäer als aktivste gegnerische Gruppe genannt, und es wird die Differenz zwischen Pharisäern und Sadduzäern bezüglich der Auferstehung ins Spiel gebracht. Die Erzählungen in Apg 4– 9, die Vorgeschichte des Konflikts betreffend, sind allerdings legendär ausgestaltet und von fraglichem Quellenwert. Zutreffen dürfte aber, dass auch dabei vor allem die für das Heiligtum und die Stadt des Heiligtums zuständige Behörde tätig wurde und in der Folge auch das Synhedrium befasst werden musste. So im folgenden Fall: In Apg 4,1– 31 (vgl. # 203) treten nach auf einer Wunderheilung archiereis und der stratēgos des Heiligtums sowie die Sadduzäer in Funktion, letztere wegen der Auferstehungsbotschaft, die jedoch kein Delikt sein konnte. Nach der Festnahme und einer Nacht im Gefängnis S. z. B. Krauter, Bürgerrecht 144– 192 und # 232. Einzige Art von Volksversammlung war die gerade anwesende Kultteilnehmerschaft. An sie scheint Lukas zu denken, auch wenn er den genauen Ort offen lässt. Das katabas in 23,10 wird so gedeutet, dass der Tribun die Eingreiftruppe von der Festung Antonia aus an den Ort der Verhandlung – der im übrigen offen bleibt – „herabkommen“ lässt.
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versammelt man (4,5 f ) die archontes, die presbyteroi und die grammateis und schließlich das Synhedrium (4,15), wobei mit den archontes an erster Stelle die priesterlichen Mitglieder gemeint sein dürften. Neben dem Hohenpriester und seinem Schwiegervater, dem Chef der ganzen Sippe, werden weitere Mitglieder des „hohepriesterlichen genos“ namentlich genannt. Dies ist ist immerhin die größte überlieferte „Teilnehmerliste“ für das Synhedrium. Die Apostel werden befragt und Petrus antwortet mit der Anrede „archontes des Volkes (laos) und presbyteroi“. Da kein Delikt festgestellt werden kann, werden die Apostel verwarnt und freigelassen. Aus Josephus, Ant. 20,11 ist noch vergleichbar jener Brief, bezüglich der Deponierung der Hohenpriesterinsignien und damit des Investitonsrechtes, den Claudius auf Anfrage König Agrippas I. nach Jerusalem schickte; er ist adressiert Hierosolymitōn archousi, boulēi, dēmōi Ioudaiōn, panti ethnei, also „den Magistraten der Jerusalemer, dem Rat, der Bürgerschaft der Judäer (und) dem Volk insgesamt“. Es geht um den Tempelkult. Die „Überlieferungen der presbyteroi“ von Mk 7,3 par. Mt 15,3 (# 51) sind wahrscheinlich Überlieferungen der Alten bzw. Altvorderen (ri′šônîm), wie das Nebeneinander von „Vätern“ und „Alten“ in Dtn 32,7 (LXX: patēr, presbyteroi) zeigt.¹¹⁰ Vgl. Lev 26,45; Dtn 19, 14 und v. a. Sir 8,9: „Verachte nicht die Überlieferung der Alten (gerontōn), die sie übernommen haben von ihren Vätern.“ Mt 5,22 (# 126) setzt ein zweistufiges Gerichtswesen und darüber hinaus eine überirdische Instanz voraus. Mk 13,9 par. Mt 10,17 kündigt Verfolgungen und die Auslieferung an synhedria an. Da auch Synagogen erwähnt werden, dürften Gerichtshöfe in der Diaspora gemeint sein.
1.9 Die Verhältnisse unter den späten herodianischen Herrschern 1.9.1 Agrippa I. und II. Eine ernsthafte Krise im Verhältnis zu Rom entstand durch die Nachricht, Caligula plane die Errichtung von Standbildern, und zwar auch im Tempel zu Jerusalem. In den Berichten (Bell. 2,184 ff par. Ant. 18,240 ff ) über die Affäre, in welcher der Statthalter Syriens, Publius Petronius (39 – 42) die römische Steite vertreten musste, treten Hohepriester und Synhedrium nicht in Erscheinung; es agieren „die Juden“ oder die Volksmenge (plēthos). Petronius verhandelt nach Bell. 2,199 mit den dynatoi und dem plēthos. Nach diesem auch aus römischer Sicht letztlich unglücklichen Zwischenspiel, das mit der Ermordung Caligulas (41 n.Chr.) endete, suchte Rom unter dem neuen Kaiser,
[Ein Beispiel aus der Zeit der Septuaginta-Übersetzung ist das Sirach-Buch, das ja nicht nur von einem Verfasser stammt, sondern auf eine immerhin fünfgliedrige Tradentenkette zurückgeht (Siegert, EHJL 143).]
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Claudius, die Wogen wieder zu glätten, wobei der herodianische Prinz Agrippa eine nicht unwesentliche Role spielte und dafür mit einer Wiedereinsetzung der herodianischen Dynastie belohnt wurde (Bell. 2,215 – 217 par. Ant. 19,274). Die Geschichte kennt ihn als Agrippa I. von Judäa. Apg 12,1 ff nennt ihn einfach „Herodes, der König“. Wieder wurden weder Hohepriester noch Synhedrium an dieser für die Provinz doch recht wichtigen Entscheidung eingebunden. Die Herrschaft der Herodianer, speziell des von Rom geförderten Agrippa I.,¹¹¹ hat im Vergleich zur Lage unter Herodes d. Gr. ein besseres Verhältnis zwischen Herrscher und Synhedrium herbeigeführt. Jedoch die Verfügung über das Hohepriesteramt demonstrierte er sogleich (Ant. 19,297). Wie Herodes d. Gr. nahm keiner der herodianischen Herrscher in den Münzaufschriften einen jüdischen Titel in Anspruch.¹¹² Sie fällten als römische Vasallenkönige auch ohne Mitwirkung des Synhedriums Todesurteile und ließen diese vollstrecken. So Apg 12,2. Kennzeichnend für die römische Tendenz, in diesen Gebieten nach wie vor dynastische Herrschaftsverhältnisse zu unterstützen, ist auch die zunehmende Vermehrung der Kompetenzen des Königs Herodes Agrippa II., dem 48, 53 und 56 n.Chr. zahlreiche Territorien übertragen wurden. Rom war sogar dafür, ihm das Recht zur Ernennung von Hohepriestern zuzugestehen (Bell. 2,223 par. Ant. 20,104), obwohl er keine Regierungsgewalt über Jerusalem/Judäa hatte. Aber ihm oblag die epimeleia des Heiligtums, insbesondere die Verwahrung der Hohenpriestergewänder, und daher baten ihn die Tempelsänger (Ant. 20, 216 f ), das Synhedrium einzuberufen, und die Erlaubnis zu erwirken, dass die Levitensänger wie Priester Leinenkleidung tragen dürfen – eine Entscheidung, die Josephus in Ant. 20,218 als gesetzwidrig bezeichnet.¹¹³ Die Leviten umgingen also den Hohepriester, der doch eigentlich zuständig gewesen wäre und seinen Ärger wohl deutlich zeigte, denn der König ersetzte ihn (Ant. 20,223) durch Matthias ben Theophilus – jenen übrigens, unter dem dann schließlich der Krieg ausbrach, ausgelöst durch eine Kultorder seines Sohnes, des Tempelhauptmanns El‘azar (Bell. 2,409 f ).
1.9.2 Das Ende des judäischen Tempelstaates Unter der erneuten römischen Provinzverwaltung (44– 66 n.Chr.) mehrten sich die Spannungen zwischen Statthaltern in Caesarea und der jüdischen Führung in Jerusalem.¹¹⁴ Dies trotz der Ernennung eines Prokurators von prominenter jüdischer Herkunft, Tiberius Julius Alexander (46 – 48 n.Chr.). Unter seinem Nachfolger Cumanus
K.-St. KRIEGER:, „Die Darstellung König Agrippas I. in Flavius Josephus’ Antiquitates Judaicae“, in: J. KALMS/F. SIEGERT (Hg.): Internationales Josephus-Kolloquium, Dortmund 2002 (MJSt 14), 2003, 94– 118. J. WILKER: Für Rom und Jerusalem. Die herodianische Dynastie im 1. Jahrhundert n. Chr. (Studien zur Alten Geschichte, 5), 2007. Sie schmälerte Priesterprivilegien, also seine eigenen. Hierüber s. z. B. M. GOODMAN: The Ruling Class of Judaea. The Origins of the Jewish Revolt Against Rome A.D. 66 – 70, 1987 (1991, 1993).
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B. Grundwissen und Voraussetzungen
flammten erneut Unruhen auf, und wieder in Tempelnähe und während des Passafestes (Bell. 2,224– 227). Das Zerreißen und Verbrennen einer Torarolle („das heilige Gesetz“) durch Soldaten des Cumanus an einem anderen Ort erhöhte die Spannungen (Bell. 2,228 ff par. Ant. 20,115 ff ) und dazu kamen blutige Auseinandersetzungnen mit den Samaritanern. Diese gaben den archontes in Jerusalem Anlass, tätig zu werden (Bell. 2,237 ff par. Ant. 20,122 f ), und schließlich erschienen die Notablen (gnōrimoi) der Judäer bei Ummidius Quadratus, dem Statthalter Syriens, unter ihnen der Hohepriester Jonathan. Der Statthalter überstellte aber einen Tel der Gesandtschaft samt dem Hohenpriester und dessen Sohn an den Kaiser in Rom. Dank der Intervention des in Rom weilenden Herodes Agrippa II. erging ein günstiges Urtel des Kaisers, der nun Felix (53 – 60 n.Chr.)¹¹⁵ als neuen Statthalter entsandte; doch auch unter ihm kam es nach einiger Zeit, bes. zu den Festzeiten, wieder zu Unruhen. Das Auftreten der Sikarier verschärfte die Lage; der Hohepriester Jonathan wurde sogar ermordet (Bell. 2,254 ff par. Ant. 20,162 f ) Weder dabei noch im Zusammenhang mit den „Falschpropheten“ und Rebellen, die Felix noch zu bekämpfen hatte, erwähnen die Quellen eine Tätigkleit des Synhedriums. Ein Vorfall in jener Zeit zeigt, dass der Hohepriester seine Ansprüche aufrecht zu erhalten versuchte und erneut die Grenzen zu spüren bekam, die ihm durch Rom gesetzt waren. Kaum war die Statthalterschaft vakant, nahm er die volle Gerichtsbarkeit wahr, wie die Verurteilung und Hinrichtung des Jakobus, des Bruders Jesu (Apg 12,2; Ant. 20, 200 ff ) beweist. Der Hohepriester Ananus (Hannas, Ḥ anan) rief nach dem Tod des Statthalters Festus ein synhedrion kritōn zusammen und ließ Jakobus wegen Verletzung der Tora verurteilen und steinigen. In Ant. 20,202 heißt es, Ananus sei nicht befugt gewesen, ohne Zustimmung des Statthalters ein synhedrion (ohne Artikel!) einzuberufen.¹¹⁶ Einige Judäer beschwerten sich bei König Herodes Agrippa II., der für das Heiligtum zuständig war, und andere meldeten dem ankommenden neuen Statthalter Albinus den Vorfall. Die Vakanz bedeutete jedenfalls keine Unterbrechung der römischen Herrschaft, und folgerichtig setzte Agrippa den Hohepriester ab. Die Verwendung des nichtdeterminierten Wortes synhedrion deutet an, dass – ähnlich wie in 7.1 – eine Gerichtsinstanz einberufen wurde, die mit dem Synhedrium nicht ganz identisch war. Auch während der letzten Jahre vor 66 n.Chr. wird vor allem von Aktionen des Hohepriesters und höherer Priester berichtet, während das Synhedrium eher im Hintergrund bleibt.¹¹⁷ Ob in Bell. 2,336 unter archiereis und dynatoi Mitglieder des Synhedriums zu verstehen sind, ist nicht sicher, denn eine boulē wird danach gesondert
Sein voller Name (es ist ein Freigelassener aus der Kaiserfamilie) wird verschieden angegeben; s. Schürer/V. History I 460. Darf man hier synhedrion mit consilium übersetzen, so wäre es das Richtergremium, das der Hohepriester als oberster einheimischer Gerichtsherr Judäas einberuft. Über Einschränkungen der Kapitalgerichtsbarkeit (ius gladii) einheimischer Stellen s.o. 9.1. Offenbar bestand gegenüber Rom eine Meldepflicht für das Einberufen solcher Kapitalgerichte. Das ist vielleicht der wahre Kern an der allzu pauschalen Versicherung von Joh 18,31. Goodblatt, The Monarchic Principle 77– 130.
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erwähnt. Bell. 2,410 erzählt, dass archiereis und gnōrimoi mäßigend einzuwirken versuchten, als aufrührersiche Priester unter Führung des Hohepriestersohnes die Opfer für die römische Herrschaft unterbinden wollten. Auch Bell. 2,411 ff nennt dynatoi, die mit den archiereis und den gnōrimoi der Pharisäer eine Volksversammlung veranstalteten, um eine Revolte abzuwenden: Sie baten den Statthalter und den König Herodes Agrippa II. um Hilfe, die ihnen der König ihnen, den dynatoi, archiereis und dem plȇthos auch zuteil werden ließ. Das war schwerlich das Synhedrium. Nach blutigen Auseinandsetzungen in Jerusalem war der Aufstand nicht mehr zu stoppen; der Hohepriester wurde ermordet (Bell. 2,441). Doch auch nach dem Ausbruch des Aufstandes war dieses Gremium sichtlich bemüht, den Gang der Ereignisse unter Kontrolle zu bringen. Die aufgestauten Ressentiments gegen Rom bestimmten die Haltung der judäischen Führungsschicht,¹¹⁸ und so führte sie den von den radikalen Aufständischen heraufbeschworenen Krieg gegen Rom an. Das Synhedrium und nicht der Hohepriester wurde von Josephus angefragt, wie er als Kommandant in Galiläa verfahren solle. Aber die Lage änderte sich rasch zu Ungunsten der Führung Judäas. Die Radikalen verfolgten die herrschende Elite und ernannten provokativ ein eigenes Gegen-Synhedrium von 70 Personen (Bell. 4,334– 337). Die radikalen Kräfte stürzten das alte Establishment und verschärften die militärische Konfrontation mit Rom bis zur Niederlage und zur Zerstörung des Zweiten Tempels.¹¹⁹ Dementsprechend gibt es aus der Zeit des Krieges 66 – 70 n.Chr. und dann auch aus den Jahren des Bar-Kochba-Aufstandes (132– 135) keine Münze, die einen ḥäbär hajehûdîm oder dergleichen erwähnt. Die Münzen aus den Jahren 66 – 70 lassen eine eher anarchische eschatologische Euphorie erkennen. Bar Kochba himgegen nannte sich „naṡî′ Israels“, verband aber ungeachtet biblischer Vorbilder mit dieser königlichen Funktion keine Institution von Ältesten oder dergleichen. Das Synhedrium hatte sich durch seine Verstrickung in den Krieg für eine weitere Führungsrolle in Judäa disqualifiziert. Seine Mitglieder waren wahrscheinlich zu einem großen Teil nicht mehr am Leben. So wie das Hohepriesteramt mit der Zerstörung des Tempels verschwand, so auch das Synhedrium.
Zur Situation s. G. STEMBERGER: „Hananiah ben Hezekiah ben Garon, the Eighteen Decrees and the Outbreak of the War against Rome“, in: A. HILHORST/É. PUECH/E. TIGCHELAAR (Hg.): Flores Florentino: Dead Sea Scrolls and Other Early Jewish Studies, FS Florentino García Martínez (JSJ.S 122), 2007, 691– 703. C. ROTH: „An Ordinance against Images in Jerusalem A.D. 66“, HThR 49, 1966, 169 – 177 (174: zu Josephus, Vita 65).
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B. Grundwissen und Voraussetzungen
1.10 Die Situation nach 70. n. Chr. 1.10.1 Zwischen der Ersten und der Zweiten Revolte Rechtlich war Judäa nunmehr, wie vorher schon Ägypten, Privatbeute des Kaisers: „Vespasian besaß das Land als sein Privateigentum und verlieh es auf eigenen Gewinn“ (Schürer/V., History I 512). Fortan und (grundsätzlich, wenn auch wohl nicht immer faktisch) bis zum Dekret Caracallas von 212, das allen Reichsbewohnern das römische Bürgerrecht schenkte, war der fiscus Iudaicus in Höhe der Tempelsteuer (Didrachme) an den Tempel des Jupiter Capitolinus zu Rom zu entrichten.¹²⁰ Von Jerusalems politischen Institutionen existierte nichts mehr,¹²¹ und damit könnte diese Darstellung unser Bericht enden. Zu fragen ist noch, welchen Status die verbliebenen Judäer nunmehr hatten. Die Vermutung, sie seien als Besiegte rechtlos gewesen und nur noch Sklaven, wäre voreilig.¹²² Auch Rom wusste ja: Nicht alle in Judäa ansässigen Juden waren Kombattanten oder Kollaborateure gewesen.¹²³ Als Kollektivbestrafung reichte Rom die Kostendeckung in Form der Judensteuer, mit der alle Iudaei des ganzen Reiches belastet wurden, auch die des Westens. Diese Solidarität entsprach durchaus jüdischem Selbstbewusstsein und ersparte Rom jede Inquisition, wer an dem Krieg wie beteiligt gewesen war. Überdies verloren die Judäer den Status eines „befreundeten“ Volkes, wie Judas Makkabäus ihn einst erreicht hatte (oben 5.2). Ohne eigene staatliche Organisation fielen sie als Partner aus. Die Region Palästina – verwaltungstechnisch: der Südteil der Provinz Syrien – konnte die örtlichen und z.T. auch regionalen Verwaltungsstrukturen kontinuierlich
[Die römischen Münzen, die unter Nerva (96 – 98) von einer calumnia fisci Iudaici sublata kündeten, müssen sich auf das Ende einer unter seinem Vorgänger Domitian nachweisbaren üblen Nachrede (calumnia) beziehen, wonach sogar gewisse römische Senatoren die Judensteuer entrichtet hätten. Der Skandal unter Domitian (CASSIUS DIO 67,14), der sogar zur Hinrichtung eines solchermaßen Angeschuldigten aus dem Flavierhaus, Titus Flavius Clemens, geführt und das bis heute andauernde Gerücht einer Juden-, ja sogar Christenverfolgung dieses Kaisers ausgelöst hat (denn Euseb, H.e. 3,18,4 hält Flavius Clemens für einen Christen), findet sein legendär geschmücktes Gegenstück in der Episode von dem „Senator“ in DebR. 2,224; Text und Übers. Siegert, „Gottesfürchtige und Sympathisanten“ (# 97) 110 f; vgl. 150. – Noch die Acta Alexandrinorum, Darstellung eines z.T. wohl fingierten Konflikts alexandrinischer Bürger mit dortigen Juden vor dem kaiserlichen Gericht, beklagen Trajan: „Dein ganzes synhedrion (= der Senat) ist voll von den gottlosen Juden“: CPJ II Nr. 157 = Musurillo, Acta Alexandrinorum Nr. VIII (S. 34).] „Das Verschwinden des Synhedrium und das Aufhören des Opferkults waren die beiden Hauptfaktoren, die jüdisches Leben fortan bestimmten“ (Schürer/V., History I 521; vgl. 523). J. GAUDEMET: „La condition juridique des juifs dans les trois premiers siècles de l’Empire“, Augustinianum 28, 1988, 339 – 359, bes. 348 ff (Lit.: 358 f. In anderen Teilen ist dieser Aufsatz überholt). [Die Essener zwar schon (Schürer/V., History II 588); die Jerusalemer Urgemeinde hingegen, so meldet Euseb, H.e. 3,5,2 f, war abgewandert nach Pella im Ostjordanland. Der nachmaligen Judensteuer werden sie damit nicht entgangen sein (vgl. # 138).]
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weiterhin nutzen; nur auf höherer Ebene gab es keine jüdische Instanz mehr. Erst nachdem die einzelnen rabbinischen Schulen (dazu 12.2) sich als Basiselemente einer neuen jüdischen Gesellschaftsordnung ohne Kultorganisation und ohne Privilegien des Kultpersonals profilierten, und Rom diese Ansätze auszubauen zuließ, indem es die davidisch-dynastisch begründeten Befugnisse des Hauses Hillel akzeptierte und schließlich erweiterte, konnten die Schulhäupter ihre programmatischen Vorstellungen von jüdischer Rechtsprechung und Regierung nach und nach verwirklichen. Aber vieles blieb Programm, weil es in Form idealisierter Beschreibungen biblischer Verhältnisse und zugleich als eschatologisches Modell dargestellt war. Insbes. der Quellenwert des Traktats Sanhedrin in all seinen Formen ist für eine Darstellung der Verfassungswirklichkeit der Zeit vor 70. n.Chr. recht begrenzt und wird in der Forschung kontrovers beurteilt. Im Alltag war, wie die Dokumente aus der Wüste Juda zeigen,¹²⁴ höchstens auf der untersten Ebene fallweise biblisch-jüdisches Recht die Norm.Vor allem in schwierigeren Streitfragen wandte man sich an die römischen Provinzinstanzen, was aber nicht heisst, dass man fremdes Recht in Anspruch nehmen musste.¹²⁵ Da es kein Jerusalemer Obergericht mehr gab und rabbinische Instanzen über die örtlichen Gerichtshöfe hinaus sich erst langsam herauszubilden begannen, blieb der Weg zum römischen Gericht nur erspart, wenn man sich im Sinne eines mehr oder minder offiziellen Schiedsgerichtsverfahrens gütlich einigte. Die Bemühungen der rabbinischen Schulen (ješîbôt, battê midraš) zielten daher nicht zuletzt darauf ab, das Gerichtswesen auf seiner untersten Ebene zu besetzen. Die Richterfunktion blieb von da an ein wesentlicher Bestandteil der Tätigkeit eines rabbinischen „Weisen“.
1.10.2 Die rabbinischen Institutionen als Neuansatz Die Zeit nach dem Fall Jerusalems war durch die Folgen der Zerstörung des Tempels, die radikale Änderung der sozialen Struktur infolge des Zusammenbruchs der gesamten kultisch zentrierten Ordnung und durch den Verlust der jüdischen Selbstverwaltung gekennzeichnet. Was die Tora-Schule von Jabne, deren Ursprung nach rabbinischer Erinnerung noch in den Wirren des Krieges liegt,¹²⁶ auszeichnete, war die besondere Katzoff/Schaps, Law in the Documents of the Judaean Desert; darin bes. 23 – 44: Cotton/Eck, „Roman Officials in Judaea and Arabia and Civil Jurisdiction“ (s.u. Lit.-verz., 2.3.3); H. M. COTTON: „Jewish Jurisdiction under Roman Rule, Prolegomena“, in: Labahn/Zangenberg, Zwischen den Reichen 13 – 28. Z. B. bat in ptolemäischer Zeit eine Frau den König, den epistatēs von Samarien durch den vorgesetzten stratȇgos anweisen zu lassen, ihren Ehemann, der seine Frau nach dem Gesetz (nomos politikos) der Juden geheiratet, aber dann unter unrechtmäßigen Bedingungen verstoßen wollte, zum stratȇgos vorladen zu lassen: CPJ I, Nr. 236. S. z. B. P. SCHÄFER: „Die sogenannte Synode von Jabne. Zur Trennung von Juden und Christen im 1./2. Jh. n.Chr.“ (1975) in: ders., Studien 45 – 64; ders.: „Die Flucht Johanan b. Zakkais aus Jerusalem und die Gründung eines ,Lehrhauses‘ in Jabne“, ANRW II/19,2, 1979, 43 – 101; J. NEUSNER: First-Century Judaism in Crisis. Yohanan ben Zakkai and the Renaissance of Torah (1975), 1982.
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B. Grundwissen und Voraussetzungen
Form ihrer Leitung.¹²⁷ Nach Jochanan ben Zakkai stellte das Haus Hillel, das sich davidischer Abstammung rühmte, in erblicher Folge die Führung und erhielt nach und nach den Charakter einer Erbmonarchie, vielleicht nach dem Vorbild des Exilarchats im Partherreich. Die Schule selbst wuchs sich im Lauf der Zeit im machtpolitischen Schatten des naṡî′ (Fürsten, „Patriarchen“) aus dem Hause Hillel zu einer Zentralbehörde aus, mit wechselndem Sitz. Auch die Römer richteten ihr Augenmerk eher auf die Dynastie als auf die Schule; doch der Bar Kochba-Krieg unterbrach diese Entwicklung. Die Durchsetzung der rabbinischen Tradition und ihr Ausbau zu einer gesamtjüdischen Ordnung war unter diesen Bedingungen ebenfalls nur schrittweise und in stärkerem Ausmaß erst nach dem Bar Kochba-Krieg möglich.¹²⁸ Rabbinische Kreise haben sich seit dem späten 1.Jh. offenbar bemüht, Kontakte mit Rom herzustellen und einen gewissen Einfluss auszuüben.¹²⁹ Aber erst langsam, und durch die Diasporaaufstände 115 – 117 n.Chr. und durch den Bar-Kochba-Krieg (132– 135) zeitweilig zurückgeworfen, normalisierte sich die Situation der Provinz im Rahmen des Imperiums. Das rabbinische Gremium, das aramaisiert als sanhedrîn benannt wurde, erwuchs erst nach und nach mit dem allmählichen Zusammenschluss der rabbinischer Schulen, was zu Ansätzen für eine neue jüdische Selbstverwaltung geführt hat.¹³⁰ Die Tradition schreibt allerdings bereits dem R. Jochanan ben Zakkai und seiner Schule in Jabne eine derartige Rolle zu.¹³¹ Ob aber vor dem Bar-Kochba-Krieg bereits ein Sanhedrin bestand, wie in mSan. und Parallelen definiert, ist fraglich. Die im rabbinischen Rückblick legendenumkränzte Schule von Jabne versuchte wohl eine gewisse Kontinuität aufrecht zu erhalten, aber sie war kein Synhedrium, und Entscheidungen, die das gesamte Judentum betrafen, konnten damals noch nicht gefällt werden, auch wenn die Tradition dem Lehrhaus derartiges in Bezug auf einen „Kanon“ oder über eine Gebetsordnung etc. zuschrieb.¹³² Sie war ein Lehrhaus am Rande der jüdischen Siedlungsgebiete, das dann ja auch verlegt werden musste, um größere Bedeutung zu erlangen, und sie war und blieb nicht die einzige Schule dieser Art.¹³³
E. H. RUBIN: „Rabban Gamaliel of Yavneh and his Son: The Patriarchate before and after the Bar Kokhba Revolt“, JJS 50, 1999, 21– 37. G. STEMBERGER: „Die Umformung des palästinischen Judentums nach 70: der Aufstieg der Rabbinen“, in: Oppenheimer, Jüd. Geschichte 85 – 99. S.u. C 4.3.2 sowie M. D. HERR: „The Historical Significance of the Dialogues between Jewish Sages and Roman Dignitaries“, ScrHie 22, 1971, 123 – 150. Bes. die in mehreren Episoden überlieferte Romreise der vier führenden Rabbinen der 90-er Jahre gehört hierher: mMŠ 4,9; jSan. 7,19 (25d). A. OPPENHEIMER: Tôledôt ha-Sanhedrîn ba-Galîl, in: A. SHEMUELI: ’Arçôt ha-Galîl, 1983, 257– 268. So Jacob Neusner, oben Anm. 127. G. STEMBERGER: „Die sogenannte Synode von Jabne und das frühe Christentum“, Kairos, 19, 1977, 14– 21; ders.: „Jabne und der Kanon“, JBTh 3, 1988, 163 – 174. Sitz der „Patriarchen“ und mit ihnen des Sanhedrin waren nachmals – in Galiläa – Uscha (seit dem Tod Trajans), Bet Schearim, Sepphoris und Tiberias. Siehe B.-Z. ROSENFELD: Torah Centers and Rabbinic Activity in Palestine 70 – 400 C.E. History and Geographic Distribution (JSJ.S 138), 2010.
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Eine erneute Teilautonomie war am ehesten durch die Unterwanderung des örtlichen Rechtswesens möglich. Das aber war ein langwieriger Prozess, da nach dem Krieg natürlich die römisch kontrollierten Instanzen, auf höchster Ebene der Statthalter, das Rechtswesen dominierten, wie die schon genannten Dokumente aus der Wüste Juda zeigen. Ziel war die Kontrolle der örtlichen Gerichtshöfe (bêt dîn genannt), die Einführung eines „kleinen Sanhedrin“ mit 23 Mitgliedern in den Städten, und als Höchstinstanz das (die) „große Sanhedrin“ mit 70 (mit dem Vorsitzenden: 71) Mitgliedern. In Babylonien, im Partherreich, war die Situation anders als im römischen Reich, weil vom Exil her eine davidische Dynastie die jüdische Bevölkerung bei Hof vertrat und relativ autonom regierte. Der Exilarch, das Exilshaupt (rêš galȗta′), wirkte als politische und administrative Spitze, und die vorhandenen rabbinischen Schulen unter ihren Schulhäuptern (ge′ônîm) funktionierten unter ihr als Stätten der rabbinischen Gesetzesgelehrsamkeit (ješîbôt) und als Gerichtshöfe.
1.11 Die Verhältnisse nach dem Bar-Kochba-Krieg Nach dem Bar-Kochba-Krieg, als Rom sich um an eine effektive jüdischen Selbstverwaltung in der Provinz Syrien und auch um eine Klärung der Zuständigkeiten in jüdischen Belangen im Imperium bemühte, boten sich die rabbinischen Schulen und Gerichtshöfe als einzige im Volk ausreichend anerkannte Institutionen an, um die Zustände in der Provinz wieder zu normalisieren. Ab ca. 150 n.Chr. kam es daher wieder zu einer von Rom geduldeten und schließlich anerkannten Ausbildung zentraler Institutionen, vor allem in der Amtszeit des Rabban Jehuda ha-Naśî′.¹³⁴ Aus den einzelnen Schulen, die in der Tradition weitgehend auf die Schulen Hillels und Schammais reduziert dargestellt werden, hatte sich ‒ anders als in Mesopotamien ‒ eine einzige höchste Schule herausentwickelt, die auch höchstgerichtliche Kompetenzen in Anspruch nahm und die man im Rückverweis auf das Synhedrium der Zeit des Tempels als Sanhedrin bezeichnete. Die Bindung an den naśî’ war aber eher formal, ehrenhalber. Der ursprüngliche Titel des Schulhauptes war „Rabban“ (aram. „unser Rab“), doch mit der politischen Aufwertung des Amtes kam der Titel naśî’ dazu, ein Herrschertitel, und damit veränmderte sich das Verhältnis zum Sanhedrin. Dieser sollte nun als höchste Lehrinstanz unter einem rabbinischen Gelehrten (ḥakam) fungieren, und als Gerichtshof unter einem ′ab bêt dîn (Gerichtsvorsitzenden), und das ganze Gremium bestand nun aus rabbinischen Gelehrten, für die man bestimmte Qualitäten voraussetzte.¹³⁵
Cohen, The Three Crowns; M. GOODMAN: „The Roman State and the Jewish Patriarch in the Third Century“, in: L. I. LEVINE: (Hg.): The Galilee in late Antiquity, 127– 139; A. OPPENHEIMER: „The Severan Emperors, Rabbi Judah ha-Nasi and the Cities of Palestine“, in: M. PERANI (Hg.): The Word of the Wise Man′s Mouth are Gracious (Qoh 10,12). FS Günter Stemberger (StJ 32), 2005, 171– 181; S. STERN: „Rabbi and the Origins of the Patriarchate“, JJS 54, 2003, 193 – 215. tHag. 2,9; bSan. 88b; SifBem. § 92; bSan. 19a (Sprachkenntnisse).
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B. Grundwissen und Voraussetzungen
Den Anspruch, Richter zu ernennen, erreichten aber Patriarch bzw. Sanhedrin nur allmählich. Auch dann hatten Streitparteien im Einvernehmen freie Richterwahl, und die Richter konnten nach unterschiedlichen Rechtsordnungen entscheiden. Eine Parodie auf diese Situation enthält bŠab. 116b, wo ein bestechlicher „Philosoph“ von beiden Streitparteien um eine Entscheidung gebeten wird und sich einmal nach biblisch-jüdischem Recht (kein Töchtererbrecht, falls Söhne vorhanden) und einmal nach nichtjüdischem (römischen?) Recht richtet. Vgl. hier # 319. Priester und Leviten konnten nur aufgrund rabbinischer Kompetenz (nämlich Kenntnis der hebräischen Rechtstraditionen in ihrem aktuellen Stand) Mitglieder werden. Dementsprechend erscheint auch ein für die Zukunft erwarteter Hohepriester vergleichsweise entmachtet,¹³⁶ und für einen künftigen König Israels schrieb man das Königsrecht der Tradition entsprechend um. Das Sanhedrin wird als eigentliche höchste Instanz dargestellt und in dieser Form und Funktion auch in die Geschichte zurückprojiziert (Traktat Sanhedrin in Mischna, Tosefta und Talmudim). Diese Institution repräsentiert prinzipiell die höchste Autorität, die jetzt als allumfassendes Normensystem verstandene schriftliche und mündliche Tora (# 51), die hoch über der Autorität eines Hohenpriesters und Regenten rangiert. Doch hatten die Rabbinen im Alltag keineswegs die Möglichkeiten, die sie in ihren Schulen forderten.¹³⁷ Dementsprechend wurde auch die Zulassung als rabbinischer Lehrer und als Richter zu einem wichtigen Instrument ausgebaut, um Torakenntnis in öffentlichen Funktionen zu verankern.¹³⁸ Ein Umstand fällt besonders ins Auge: Für Rom war nach wie vor die dynastische Institution der Ansprechpartner, zuständig für alle Juden im Imperium.¹³⁹ Der naśî′ („Patriarch“) aus dem Hause Hillel war es, der in mancher Hinsicht mit dem Exilarchen in Mesopotamien vergleichbar agierte, teils aber auch mit ihm konkurrierte und auf gewissen Privilegien für Palästina (v. a. Neumondbestimmung und damit Kalenderkontrolle) bestand.¹⁴⁰ Die Sanhedrin war in den Augen Roms, wie einst das Synhedrium, für innerjüdische Angelegenheiten zuständig und in diese mischte sich die Weltmacht nur in Ausnahmefällen ein. Wenn innerjüdisch Autoritätsprobleme auftraten, unterstützte die Weltmacht den Patriarchen.
mJoma 1,3 setzt voraus, dass Älteste des Gerichtshofs (ziqnê bêt-dîn) einen unkundigen Hohepriester über das Ritual des Versöhnungstages belehren. Die Mischna unterstellt rückprojizierend natürlich rabbinische Gelehrte. Zum Fall eines Unkundigen, der als Priester das Monopol zur Entscheidung in rituellen Fragen innehat und belehrt werden muss, s. schon CD XIII 6 f. A. OPPENHEIMER: „The Status of the Sages in the Mishnaic Period. From Model Figures to NationalSpiritual Leadership“ (hebr.) in: I. GAFNI (Hg.): Qehal Jisra’el. Kehal Yiśrael. Jewish Self-Rule Through the Ages, 2001, 85 – 101; Ch. E. HAYES: „Authority and anxiety in the Talmuds. From legal fiction to legal fact“, in: J.WERTHEIMER (Hg.), Jewish Religious Leadership; Image and Reality, 2004; H. I. NEWMAN: „The normativity of rabbinic Judaism: obstacles on the path to a new consensus“, in: Levine/Schwartz, Jewish Identities (wie Anm. 1), 165 – 171. Vgl. die Aufsätze Günter Stembergers in # 206. S. SCHWARTZ: „The Patriarchs and the Diaspora“, JJS 50,1999, 208 – 222. Jacobs, Die Institution; E. H. RUBIN: Ha-naśî’ ba-teqûfah ha-rômît-bîzanṭît, 2 Bde., 1992.
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Das Verhältnis zwischen Patriarchen und Sanhedrin war streckenweise spannungsgeladen.¹⁴¹ Die Macht dieser Institution schwand dahin, als im Zug der Reichsrefomen auch in Palästina um 400 n.Chr. eine neue Provinzeinteilung geschaffen wurde. Die Kompetenz der Zivilgerichtbarkeit ging verloren, als im byzantinischen Reich alle Zivilverfahren endgültig an die staatlichen Gerichte gebunden wurden.¹⁴² Und das zu einer Zeit, als in Mesopotamien sowohl der Exilarchat wie die hohen Schulen immer größere Bedeutung erlangten und diese Vorrangstellung dann auch unter den Kalifen weiter ausbauen konnten. Dementsprechend unvollständig blieb der Talmud Jerušalmi im Vergleich zum Babylonischen Talmud. Unter Theodosius II. wurde i.J. 425 der Patriarchat, zuletzt unter Gamaliel VI., aufgelöst.¹⁴³ Palästina behielt zwar bis weit ins Mittelalter eine ješîbah, die aber für längere Zeitperioden nicht in Jerusalem wirken und das hohe Ansehen der babylonischen ge′ônîm und ihrer Schulen nie erreichen konnte.
B.-Z. DINABURG: „Diocletians Rescript to Judah of 293 and the Rivalry between the Pariarchate and the Sanhedrin in Palestine“ (hebr.), in: Sefär zikkarôn A. Gulak – S. Klein, Jerusalem 1941/2, 76 – 93; C. HESZER: The Social Structure of the Rabbinic Movement in Roman Palestine (TSAJ 66), 1997, bes. 405 ff: „Rabbis and the Patriarch“. A. M. RABELLO: „Civil Jewish jurisdiction in the days of Emperor Justinian (527– 565): Codex Justinianus 1.9.8“, Israel Law Review 33, 1999, 51– 66. – Dass in diesem System auch Bischöfe Zivilrichter waren, wird die Vorstellung der syrischen Rechtsquellen (SRR und Sent. Syr.) in Bd. 2 zeigen. P. W. VAN DER HORST: Japheth in the Tents of Shem. Studies on Jewish Hellenism in Antiquity (CBET 32) 2002, S. 27– 36: „The Last Jewish Patriarch“. Die Aufhebung des jüdischen Patriarchats wurde i.J. 429 in Cod. Theod. 16,8,29 verfügt. Nach Simon, Verus Israel 161 erlosch damals auch die Familie der Patriarchen, d. h. ihre männliche Linie. Das Konzil von Chalcedon 451 nützte die Gelegenheit, den Bischof von Aelia Capitolina (Jerusalem) – jetzt in einem anderen Sinne – zum Patriarchen zu ernennen, stellte ihn also mit dem von Konstantinopel, von Alexandrien und von Rom auf eine (Ehren‐)Stufe.
Johann Maier
2 Einführung in die Quellen des jüdischen Rechts Literatur s. nachstehend B 3; dort nur abgekürzt Genanntens s. Literaturverzeichnis am Ende dieses Bandes, 3.4.4. Nach gängiger Vorstellung wurde das jüdische Leben des neutestamentlichen Zeitalters in hohem Maß durch „das Gesetz“ (die Tora) bestimmt; doch bei näherem Zusehen ergibt sich ein beträchtlicher Unterschied zwischen programmatischen Ansprüchen und rechtsgeschichtlicher Wirklichkeit, insbesondere in zivilrechtlicher Hinsicht.¹ In kultisch-rituellen Belangen hatte die Tora in den fünf Büchern Moses allerdings eine dominante praktische Bedeutung, in erster Linie für das Kultpersonal (Priester und Leviten), aber auch für den Alltag der Laien, bis hin ins Materielle des Abgabenwesens. Diese festgefügte Ordnung blieb bis zur Zerstörung des Tempels intakt und fußte auf der priesterlich-levitischen Konzeption einer Tora, die mit dem Willen Gottes und der Schöpfungs- und Kultordnung für identisch galt. Gleichwohl hatten sich auch in kultisch-rituellen Fragen unterschiedliche Auffassungen und Praktiken ausgebildet, die mit Richtungs- und Machtkämpfen innerhalb des Kultpersonals zusammenhingen. Außerhalb begann sich auch eine Laienbewegung zu formieren, die das priesterlich-levitische Programm einer allumfassenden Tora aufgriff und mittels eigener gesetzesgelehrter Sachkompetenz für sich in Anspruch zu nehmen begann – im Neuen Testament bekannt als „Pharisäer“. In der Rechtswirklichkeit des Alltags waren aber noch andere Faktoren wirksam: einerseits althergebrachte örtlichregionale Traditionen und andrerseits Normen und Praktiken, die sich aus den politischadministrativen Verhältnissen ergaben. Der Vorstellung einer allumfassenden Tora steht folglich rechtsgeschichtlich ein alles andere als einheitlicher Befund gegenüber. Innerhalb der Judenheit der damaligen Zeit war es zu tiefreichenden Differenzen gekommen und die einzelnen Richtungen hatten nicht nur programmatische Forderungen angemeldet, sondern auch eigene Traditionen und Institutionen entwickelt.² Wann und wo erhaltene Rechtsquellen in Geltung waren oder ob sie nur programma-
Zur ersten Orientierung siehe Kellermann, „Jüdisches Recht in Neutestamentlicher Zeit“ in NTAK 1, 258 – 268. Diese Darstellung ist mehr theologisch und auslegungsgeschichtlich als rechtsgeschichtlich orientiert. Die Verwendung des rabbinischen Begriffs „Halacha“ (Rechtsnorm auf der Basis der Schriftlichen wie Mündlichen Tora) und die Beschränkung von „Tora“ auf den entsprechen nicht den Begriffen der damaligen Zeit. So auch bei Müller, „Beobachtungen zum Verhältnis von Tora und Halacha“ (s.u. „Literaturverzeichnis“, 3.4.1). Für die jüdisch-orthodoxe Sicht s. Guttmann, Rabbinic Judaism in the Making, Bd. 1; Falk, Introduction. Sehr instruktiv ist Schiffman, „The Maccabean Halakhah“ (s.u. B 3). – Hier nicht ausführlich Zitiertes, insbes. zu Qumran, s.d. sowie im Literaturverzeichnis, Abschn. 3.2.2. Eine umfassende Darstellung der jüdischen Rechtsgeschichte und ihrer Quellen bietet Elon, Jewish Law. Als raschen Überblick siehe Jacobs, „Halacha“; ferner: Hecht u. a., Introduction; Jewish Law; Studies. https://doi.org/10.1515/9783110658347-009
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tische Bedeutung hatten, ist aber oft nicht mehr feststellbar. Mit der Niederlage im ersten judäisch-römischen Krieg 66 – 70 n.Chr. haben bislang im öffentlichen Leben maßgebliche Richtungen, vor allem die Sadduzäer, ihre Bedeutung weitgehend eingebüßt, und mit der Tempelzerstörung und dem Ende des Kultbetriebes verlor die Kultdienerschaft (Priester und Leviten) ihre bisherige beherrschende soziale und politische Funktion. Es waren die pharisäischen Gruppen, die ab 70 n.Chr. nach und nach in Palästina mit Gleichgesinnten das rabbinische Judentum schufen, das die antirömischen Aufstände von 115 – 117 und 132– 135 n.Chr. als einzige funktionsfähige Kraft im palästinischen Judentum überstand und im Laufe des 3. Jh. unter den „Patriarchen“ aus dem Haus Hillels auch römische Anerkennung erreichte. Die einstige Tempelsteuer (hier # 138), die unter römischer Garantie bis 70 n.Chr. von allen Judäern und Judäerinnen, wo immer sie auch wohnten, nach Jerusalem zu entrichten gewesen war und danach als fiscus Iudaicus zur Deckung der Kriegskosten nach Rom ging, wurde in eine Abgabe an den Patriarchen verwandelt. (Schürer/V., History III 124 f ). Das Neue Testament spiegelt zwar mancherlei Sachverhalte und Vorgänge des Rechtslebens, seine Entstehung liegt aber zu einem guten Teil bereits außerhalb der eigentlichen jüdischen Lebensbereiche. Es ist außerdem durch die einsetzende christliche Auseinandersetzung mit der jeweiligen jüdischen Umgebung geprägt.³ Das Christentum entstand in jener kritischen Phase, in der sich im Frühjudentum die Waagschale bereits zugunsten der pharisäisch-rabbinischen Richtung neigte, weshalb auch die christlich-jüdische Auseinandersetzung vor allem durch diese pharisäisch geprägte Tora-Konzeption bestimmt worden ist. Kaum ins Blickfeld kamen den Christen dabei spezifisch priesterliche, etwa zadokidische⁴ Rechtstraditionen, wie sie in Qumrantexten enthalten sind und bei Sadduzäern üblich waren, da sich diese Gruppen im Gegensatz zu den pharisäischen Zirkeln gegenüber dem Volk bewusst abgrenzten. Die pharisäisch-rabbinische Richtung suchte für ihre Überlieferung eine Kontinuität von Mose bis zur eigenen Zeit zu behaupten, und dieses Anliegen erhielt im Lauf der talmudischen Zeit und des Mittelalters zusätzliches Gewicht durch die Opposition der Karäer, die nur der Bibel eine Offenbarungsqualität zuerkennen wollten und damit das rabbinische Establishment auszuhebeln versuchten. Bis heute wird daher bei den meisten jüdischen Autoren die Kontinuität der Tradition betont und auch versucht, Einzelheiten in der „Mündlichen Tora“ auch von der „Schriftlichen Tora“ her, also biblisch, zu untermauern. Diese Tendenz trifft sich mit einer christlichen, aber anders motivierten Tendenz, möglichst alles auf die Bibel bezogen zu betrachten. Demgemäß sind auch die Auffassungen vom Charakter und von der Bedeutung des „jüdischen Rechts“ unterschiedlich.⁵ Auf christlicher Seite stehen insbesondere die ethischen und theologischen Aspekte des „Gesetzes“ im Vordergrund, auf jüdischer Seite eher die Dazu z. B. H. BASSER (Hg.): Perush. Studies in Exegesis: Christian Critiques of Jewish Law and Rabbinic Responses 70 – 300 CE. (The Brill Reference Library of Ancient Judaism, 2), 2000. Man konstruierte eine genealogische Ableitung vom ersten Hohepriester am salomonischen Tempel, Zadok (Ṣadôq, 3Kön 1,44 ff; 2,35); vgl. vorher 2Sam 15,24– 29 und nachher Hes 40,46; 44,15. Hierzu thematisch Richardson u. a., Law.
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praktisch-rechtlichen. Es empfiehlt sich daher auch für den Spezialisten der neutestamentlichen Zeitgeschichte, die Grundzüge des jüdischen Rechts in seiner Gesamtgeschichte und insbesondere das Funktionieren dieses Rechts mit ins Auge zu fassen.
2.1 Die Tora 2.1.1 Tora, das „Gesetz“ im Pentateuch – und mehr Christen verstehen unter Tora „das Gesetz“ im Pentateuch, das Dokument der Sinaioffenbarung, was mit einer gewissen Verengung verbunden ist. Rechtsgeschichtlich betrachtet, ergibt sich nämlich ein weit komplizierterer Sachverhalt, der allerdings durch die weithin übliche Rückprojizierung der (eigentlich christlichen) Vorstellung von einem „Kanon“ verdeckt wird.⁶ Daher schreibt man dem „Gesetz“ der Bibel von vornherein die Bedeutung eines allgemeinverbindlichen jüdischen Rechtssystems zu, obwohl die Begriffe (bzw. Namen) Tora, Pentateuch und Recht in der jüdischen Tradition nicht in einem so einfachen Verhältnis zueinander stehen.⁷ Anfangs war es wahrscheinlich nur die kultisch-rituelle, priesterlich-levitische Anweisung, die als tôrah bezeichnet wurde und als offenbartes Gottesrecht galt. Von thematisch geordneten kleinen Zusammenstellungen kultischer Vorschriften aus ging diese Wertung automatisch auf alles über, was mit rituellen Gegebenheiten zusammenhing oder der alleinigen Verfügungsgewalt der Gottheit zugeschrieben wurde, also vor allem alles, was mit Leben und Tod zu tun hat und was der Abgrenzung der Gruppe vom Fremdkult diente. In diesem Rahmen erhielten einige Sachverhalte auch strafrechtliche Relevanz, was die Verzahnung mit dem „weltlichen“ Recht förderte. Götzendienst und Sabbatentweihung waren vor allem solche Delikte. Wenn darüber hinaus „weltliches“ Recht als Tora klassifiziert wurde, dann mit konkurrierenden Absichten: entweder, um der königlich/ staatlichen Gewalt höhere Autorität zu verleihen, oder, um die „weltliche“ Gesetzgebung und Gerichtsbarkeit der priesterlichen zu unterwerfen. Der Abschnitt Hes 40 – 48 zeigt, wie konsequent man in der Jerusalemer Priesterschaft bereits im Exil die Einbindung der gesamten gesellschaftlichen Ordnung in ein System ritueller Heiligkeitsbereiche zu treiben gedachte. Die Konkurrenz zwischen priesterlich-levitischem und königlich„weltlichem“ Anspruch lief in persischer Zeit jedenfalls zugunsten der priesterlichen Seite aus; es waren folglich die Jerusalemer Kultinstitutionen, die bestimmten, was als
J. MAIER: Le Scritture prima della Bibbia, 2003. Hinweis auf den Anachronismus eines canonical approach an jüdische Bibeltexte außerhalb des Pentateuch auch bei Siegert, EHJL 6.24.49 f. K. Müller: „Die Bevollmächtigung der Halacha durch die Imagination einer durchgängigen Kontinuität der Überlieferung im Frühjudentum“, in: C. MAYER/K. MÜLLER/G. SCHMALENBERG (Hg.): Nach den Anfängen fragen. FS Gerhard Dautzenberg, 1994, 415 – 440.
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offenbartes Gottesrecht bzw. „Tora des Mose“ gelten sollte.⁸ Das betraf einzelne Gesetze und thematisch geordnete kleinere Sammlungen bis zu Torabüchern, z. B. die im Deuteronomium und in der Tempelrolle von Qumran (11Q 19) verarbeitete Quellenschrift. Die Tempelrolle ist zudem neben Hes 40 – 48 ein eindrückliches Beispiel dafür, das das Konzept graduell unterschiedener, konzentrischer Heiligkeitsbereiche als Rahmen für eine Tora-Sammlung dienen konnte.⁹ Eine endgültig abgeschlossene Torasammlung konnte freilich erst zustande kommen, nachdem keine Möglichkeit mehr bestand, neue Tora zu offenbaren. Bei alledem blieb Tora zum großen Teil in erster Linie auf Kult und Ritual bezogen, während zivil- und strafrechtliche Belange des Alltagslebens eher von Fall zu Fall behandelt wurden, nämlich dann, wenn eine Regelung durch die höhere Instanz erforderlich schien. Der modernen Vorstellung von einem Gesetzbuch entsprechen die alten Sammlungen also nur wenig. Am ehesten ist eine Tendenz zur Abdeckung einzelner Sachverhaltsbereiche durch Vorschriften im kultisch-rituellen Raum zu finden. Die ritualbzw. kultrechtliche Toratradition hat in alter Zeit ohnedies in erster Linie dem Kultpersonal gegolten. Erst im Sinne der Konzeption Israels als „Priesterherrschaft und heiliges Volk“ (Ex 19,6) erweiterte sich der Geltungsbereich zahlreicher Vorschriften über die Levitenschaft hinaus auch auf Laienkreise, wobei allerdings die Grenzen zwischen Kultdienerschaft und Laienvolk (im Gegensatz zur christlichen Deutung des Verses auf ein „allgemeines Priestertum“) nicht verwischt wurden. Das bedeutete eine zunehmende rituelle „Heiligung“ und Absonderung Israels insgesamt und zugleich eine entsprechende Regulierung und gesellschaftliche Kontrolle durch das Kultpersonal, verbunden mit einem kultischen Abgabenwesen, das sich in nachexilischer Zeit dank der Privilegierungen unter persischer und hellenistischer Herrschaft innerhalb der Provinzwirtschaft überdimensional entwickeln konnte. Mit den Abgaben an das Heiligtum sowie an Priester und Leviten waren Vorstellungen von heilig und profan, rein und unrein verbunden, die im (v. a. landwirtschaftlichen) Alltag eine erhebliche Rolle spielten. Die Konfrontation mit rituellen Vorschriften war darum für die Erfahrung dessen, was „Tora“ bedeutet, maßgeblicher als die nur gelegentliche Wahrnehmung von Tora im Sinne des Straf- und Zivilrechts. Bis zur Zerstörung des Tempels im Jahr 70 und dem damit verbundenen Zusammenbruch dieser priesterlich-levitisch bestimmten Gesellschaftsordnung blieb die eigentliche Verfügungsgewalt über die Tora in priesterlicher Hand, jedenfalls auf höherer Ebene. Im örtlich-regionalen Alltag hingegen hatten Priester weniger Einfluss, Leviten wahrscheinlich mehr; doch entscheidend war der Einfluss der gesellschaftlich-ökonomisch dominierenden Personen und Gruppen bzw. Sippen am Ort. In städtischen Siedlungen bildeten sich allerdings auch Laiengruppen, Vorläufer der Pharisäer, die das priesterlich-levitische Tora-Monopol vor Ort dadurch unterliefen, dass sie – wie später auch die Rabbinen – neben zivilrechtlichen Belangen gerade auch die ritualgesetzlichen
Vgl. H. UTZSCHNEIDER: Das Heiligtum und das Gesetz (OBO 77), 1988. J. MAIER: Die Tempelrolle und das „Neue Jerusalem“ (UTB 829), 1997.
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Überlieferungen zum Gegenstand ihrer Sachkompetenz machten und diese Vorschriften in ihrem Sinne adaptierten. In der Tat gelang es dieser Richtung in den letzten 150 Jahren des zweiten Tempels, auf allen Gebieten des Rechts eine Sachkompetenz zu erreichen, die mit der priesterlich-levitischen jedenfalls auf der untersten Ebene ernsthaft konkurrierte und nach der Tempelzerstörung die herkömmliche priesterliche Tora-Autorität überhaupt auf die Rabbinen übertragen konnte.¹⁰ In diesen Richtungskämpfen um die Tora-Autorität gewannen zusätzlich zu ohnehin vorhandenen Differenzen in der Auffassung von Toragesetzen auch weitere gruppenspezifische Traditionen und Praktiken zunehmend an Bedeutung. Dies auch innerpriesterlich, wie 4QMMT illustriert.¹¹ Die Betonung bestimmter Traditionen war und blieb immer ein wirksames Mittel sowohl zur Abwehr von Ansprüchen anderer Gruppen wie zur Abgrenzung der eigenen Anhängerschaft. Die Qumrantexte belegen, dass „Tora (des Mose)“ innerhalb der priesterlichen Tradition noch in der frühhellenistischen Zeit eine unabgeschlossene Größe war und mehr umfasste als die Gesetze im Pentateuch. Es scheint aber laut CD I schon zwischen 200 – 175 v.Chr., also nach dem Übergang von der ptolemäischen zur seleukidischen Herrschaft, zu einer innenpolitischen Krise gekommen zu sein,¹² in der das Amt des „Propheten wie Mose“ (Dtn 18,18) dem aufflammenden Machtkampf zum Opfer fiel. Nur die Anhänger des môreh ha-s ̣ädäq („Lehrers“ oder besser: „Anweisers der Gerechtigkeit“) hielten an der alten Konzeption fest; die anderen hingegen standen vor der Notwendigkeit, den Umfang der schriftlich fixierten Tora zu definieren, und zwar auf eine möglichst unstrittige Weise. Dafür bot sich eine Lösung an, die im staatspolitischen Bereich bereits vorgegeben war: die Fixierung einer schriftlichen Tora.
2.1.2 Zur „Kanonisierung“ des Pentateuch Abermals benutzt man hier ein Wort des christlichen Sprachgebrauchs, womit aber kein historisch fassbarer Vorgang gemeint ist, sondern nur ein Ergebnis. Als Rechtsbasis der jüdischen Autonomie unter der fremden Oberherrschaft galt in der Tat seit der spätpersischen Zeit der Pentateuch, u.zw. unter den Ptolemäern und Seleukiden nicht nur in Judäa, sondern auch für die Diasporagemeinden. Vieles spricht dafür, dass in der jüdischen Diaspora früher als im Mutterland die Pentateuchtora als Einheit (nomos wird dafür in der Septuaginta nur im Singular verwendet) und auch als textlich festgelegt betrachtet wurde (siehe bereits Aristeasbrief § 311). Ins Griechische übertragen, gewann
Zum Verhältnis von Programm und Realität innerhalb dieser Entwicklungen siehe OPPENHEIMER, Aaron, „The Status of the Sages in the Mishnaic Period. From Model Figures to National-Spiritual Leadership“ (hebr.), in: I. Gafni (Hg.), Qehal Jiśra‘el. Kehal Yisrael. Jewish Self-Rule Through the Ages, Bd. 1, Jerusalem 2001, 85 – 101. Qimron/Strugnell, Qumran Cave 4 (Einleitung); Kampen/Bernstein, Reading 4QMMT. Siehe dazu Pfann, „Historical Implications of the Early Second Century Dating of the 4Q 249 – 250 Cryptic A Corpus“ (s.u. B 3.3.3).
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der Pentateuch die Reputation des „Nomos der Juden“ schlechthin. Man wollte damit aber nicht vorhandene Gesetzessammlungen ersetzen oder ein Gesetzbuch schaffen. Die Einflechtung alter Rechtssammlungen innerhalb einer Geschichtskonstruktion hatte vor allem chronographische und apologetische Beweggründe, um eine fixierte und altersmäßig alles Konkurrierende überragende Tradition nachweisen zu können.¹³ Mit diesem Basisdokument waren zugleich alle „Sitten und Bräuche“ als Bestandteil der Autonomieregelung abgedeckt. In dieser Konstruktion liegt die Schwierigkeit für die rechtsgeschichtliche Forschung, denn die Präsentation eines geschriebenen Gesetzes bedeutet nicht unbedingt eine kongruente und einheitliche Anwendung im Rahmen dieses vage umrissenen Begriffs der „Traditionen“ bzw. „Sitten der Väter“, der einen weiten Spielraum für autonomes Handeln gewährleistete.¹⁴ Während der Pentateuch diese staatspolitische Karriere als nomos der Juden machte, verfiel die priesterlich-levitische Torakompetenz. Die Makkabäer bzw. Hasmonäer haben die Institution des Torapropheten „wie Mose“ offenbar ignoriert und vorübergehend sogar eine Vereinigung aller drei Teilämter des Mose (politisch-militärische Führung, Hohepriesteramt und Toraprophetie) in ihrer Hand angestrebt, was freilich nur ansatzweise gelang (vgl. die von Josephus, Bell. 1,69 verwendete Quelle). Die Folge war, dass das im Pentateuch niedergeschriebene Recht als abgeschlossene Tora gelten konnte, was aber weitere Gesetze und Bräuche von geringerer Dignität keineswegs ausschloss. So sahen es jedenfalls die pharisäischen Gruppen, deren Konzept einer abgeschlossenen schriftlichen Tora (im Pentateuch) und einer nicht näher definierten verbindlichen Überlieferung von Sitten und Bräuchen der Väter (Ant. 13,296 f; vgl. # 51) dem Konzept der jüdischen Autonomiebegründung entsprach, ein Umstand, der sich für die pharisäische Richtung auf längere Sicht als großer Vorteil erwies. Auch die streng priesterlich orientierten Anhänger des „Anweisers“ bzw. „Lehrers der Gerechtigkeit“ der Qumrantexte haben nach dessen Tod (ca. 138 v.Chr.) beschlossen, sich für den Rest der Zeit bis zum Eschaton nach ihrer letzten Niederschrift der Tora zu richten (vgl. CD XIX 35–XX 1. Das ergab zwar im Vergleich zu den anderen Richtungen immer noch einen Mehrbestand an geschriebener Tora, wertete aber gleichzeitig den gemeinjüdisch anerkannten Torabestand im Pentateuch erheblich auf. Tatsächlich mehrten sich unter den Qumrantexten die Pentateuchmanuskripte im 1. Jh. v. und n.Chr. kontinuierlich, auch die literarischen Bezugnahmen, und zugleich ist eine Standardisierung des Konsonantentextes im Sinne einer „prä-masoretischen“ Gestalt zu beobachten. Offensichtlich hat der Pentateuch als ein zwischen den Gruppen unstrittiges Dokument im Lauf des 2.–1. Jh. v.Chr. in etwa die Funktion übernommen, die im Rechtswesen früher das Jerusalemer Höchstgericht mit seinem „Propheten wie Mose“ erfüllt hat: Man rekurrierte nun im Zweifelsfall auf diese niedergeschriebene, auch von der fremden Macht anerkannte Überlieferung. P. PILHOFER: Presbyteron kreitton. Der Altersbeweis der jüdischen und christlichen Apologeten und seine Vorgeschichte, 1990. Diese praktische Bedeutung wird meist unterschätzt. Zum Begriff selbst s. Schröder, Die „väterlichen“ Gesetze.
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Neue Tora war somit im Judentum nicht mehr zu erhalten; es war aber möglich, erforderliche Regelungen aus der festgeschriebenen Tora abzuleiten oder zumindest irgendwie zu begründen, was dem Text der Pentateuchtora eine bislang nicht dagewesene Bedeutung verlieh. Der Text des Jesajabuchs stand damals textlich schon längst ziemlich fest und war Gegenstand zahlreicher Ausdeutungen. Nun wurde auch der Pentateuch zum Text, der aktualisierend ausgelegt werden musste.
2.1.3 Anfänge der Tora-Hermeneutik Doch da fällt ein hermeneutischer Unterschied ins Auge: Die Prophetentexte unterlagen einer geschichtstheologischen Ausdeutung, die in Qumran als pešär bezeichnet wird, was in Bezug auf einen gesetzlichen Text nie begegnet, während bei Gesetzen die Termini technici le-hôrôt (als absolut verbindlich anweisen) und lidrôš (als gültig, als anwendbar deklarieren) auftauchen, die in früher Zeit nie auf nichtgesetzliche Texte angewendet worden sind. Erst im 3. Jh. n.Chr. gewannen das Verb d-r-š und das Nomen midraš im Zusammenhang mit Texten auch die Bedeutung von „auslegen“ bzw. „Auslegung“, und dann sogar meist auf nichtgesetzliche Texte bezogen.¹⁵ Unter midraš verstand man in älterer Zeit eine (offizielle) Niederschrift, die LXX verwendete dafür folgerichtig biblion oder graphē. Während die pešär-Auslegung eine Art von zweitem, den wahren Sinn (auch entgegen dem Textsinn) erschließendem Offenbarungsvorgang darstellt, wurde für die juristische Auslegung von Pentateuchgesetzen und für die Ableitung neuer Regelungen von diesen her die Autorität des Mose in Anspruch genommen. Die Auslegung von Gesetzen war selten ein erklärender Vorgang; in der Regel diente sie der Begründung einer bereits vorhandenen angewandten oder einer gewünschten Rechtsnorm. Nicht Pentateuchkommentare, sondern Handbücher des geltenden Rechts (der Halacha) wurden daher später für die Rechtspraxis maßgebend. Und für die Ableitung neuer Regelungen aus der Schriftlichen Tora wurden hermeneutische Regeln erstellt, die – teilweise wie in der antiken rhetorischen Praxis – eine gewisse Kontrollierbarkeit des Verfahrens gewährleisten sollten.¹⁶ Die Konzeption eines – jedenfalls auf der Ebene der Oberinstanzen – weitgehend priesterlich-levitisch kontrollierten Rechtswesens in vor-neutestamentlicher Zeit ebnete die vorhandenen Unterschiede und Rangstufen der als „Tora“ etikettierten Rechtstraditionen auf dem höchsten Autoritätsniveau ein: Alles gilt als in hebräischer Sprache formulierte, direkte Offenbarung an Mose vom Sinai. Von da aus erklärt sich eine profunde Abneigung gegen eine Differenzierung und Klassifizierung rechtlicher Inhalte der Tora. Das entsprach jedoch nicht den tatsächlichen Bedürfnissen des Rechtslebens.
MANDEL, Paul D.: The Origins of Midrash, 2017. Zum Überblick s. Stemberger, Der Talmud 55 ff.
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2.1.4 Vorrabbinische Ansätze zu einem spezifisch-jüdischen Recht Ein Vorrang juridischer Gesichtspunkte und Verfahrensweisen vor textgetreuer Wiedergabe des Überlieferten kam schon in der Art und Weise zum Tragen, wie man die im Pentateuch eingebauten gesetzlichen Traditionen systematisierend zusammenstellte. Eine in der Historiographie und in der Offenbarungsliteratur verwendete Phrase, nämlich „nichts hinzuzufügen und nichts wegzulassen“, begegnet in Dtn 4,2 und 13,1 (vgl. # 395) auch in Bezug auf Tora-Gesetze. Spätere haben dies auf die Unveränderlichkeit des Wortlauts bezogen; doch in alter Zeit dachte man eher an die Wiedergabe des sachlichen Inhalts. Philon und Josephus waren jedenfalls dieser Meinung und haben die biblischen Gesetze gemäß ihrer besonderen Sichtweise nicht nur mehr oder weniger systematisierend geordnet, sondern auch im Sinne der zu ihrer Zeit vorherrschenden Rechtsauffassung umformuliert, ohne sich um exegetische Rechtfertigungen hierfür zu bemühen. Ein Bedürfnis nach Erklärung von Pentateuchgesetzen kam zwar schon früh auf, wie eben gesagt, und zwar zunächst in der hellenistischen Diaspora und aus apologetischen Gründen. Ein Interesse aus „halachischen“ (juristischen) Gründen ergab sich hingegen erst nach der Tempelzerstörung innerhalb der pharisäisch-rabbinischen Richtung. Bis dahin rekurrierte man in Auseinandersetzungen von Fall zu Fall möglichst direkt auf Mose-Tora. Aber man argumentierte nicht auf Grund einer bestimmten Textgestalt und deren Exegese; man nützte den vorhandenen Text vielmehr als Beleg für eine „richtige“ Praxis (ma‘aśäh), wie 4Q MMT vor Augen führt, wobei das entsprechende Verständnis also vorausgesetzt und nicht zur Diskussion gestellt wurde.¹⁷ Die Differenzen beschränkten sich nicht auf Praktiken, die durch Mose-Tora begründet werden konnten. Die für heute aus kanontheologischen Gründen so wichtige Unterscheidung zwischen biblischen und nichtbiblischen Normen hatte trotz der grundsätzlichen Verabsolutierung von Tora als offenbartem Recht nicht die zu erwartende Bedeutung in der Praxis; es reichte, wenn eine Norm an einen Toratext assoziierbar war (etwa # 51; # 52). Es gab auch noch keine gesonderten Schreibvorschriften für Pentateuch-Rollen, wie danach im rabbinischen Judentum.¹⁸ Eine Sprachregelung ist aber bereits auffällig: Wo man absolut verbindliche Verbote, also Toraverbote, formulierte, verwendete man wie im Pentateuch lo’ und nicht den Prohibitiv mit ’al als Verneinung. Deutlich anders steht es bei Autoren wie Philon und Josephus: Auch sie stellen zwar den nomos des Pentateuchs ostentativ in den Vordergrund und lassen erkennen, dass
Anders Schremer, „[T]he[y] Did Not Read in the Book“. Er sieht im Rekurs auf geschriebene Tradition in Qumran den eigentlichen Anstoß zur Begründung von Halacha aus der Schrift. Diese setzen vielmehr Schreibergwohnheiten voraus, die an Nicht-Tora-Texten entstanden waren, etwa in den Jesaja-Rollen. Auch fällt bereits auf, dass es kaum biblische Texte auf Papyrus gibt, fast alle sind auf Leder geschrieben. Doch gibt es wichtige Qumrantexte auch auf Papyrus, aber im Unterschied zu den Funden in der Wüste Juda keine Dokumente des Rechtslebens. Der Charakter der Qumran-Sammlungen ist also ein völlig anderer als jener der Funde in der Wüste Juda. Siehe dazu E. TOV: „The Corpus of the Qumran Papyri“ in: L. H. SCHIFFMAN (Hg.): Semitic Papyrology in Context, 2003, 85 – 104.
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dessen Rechtsauffassungen da und dort einer aktuellen Praxis entsprechen, legen aber das angewandte Recht ihrer Zeit aber über die biblischen Gesetze hinaus nicht dar.¹⁹ Sie halten so die Grenzen dessen, was „väterliche“ Gesetze bzw. Sitten abdecken, bewusst offen, und nur in einzelnen Passagen ihrer Werke wird sichtbar, dass es über die biblischen Gesetze hinaus durchaus noch andere Normen gab. Während also in Bezug auf den Pentateuch als dem nomos der Juden ein Interesse bestand, seine rechtlichen Inhalte (mit bemerkenswerten Ausklammerungen) darzulegen, begnügte man sich hinsichtlich der darüber hinausgehenden Normen mit ihrer Autorisierung als Sitten und Gesetze der Väter und vermied deren öffentliche Darlegung und Definition. Systematisierende Darlegungen der biblischen Gesetze finden sich bei Philon, De praemiis et poenis 1– 3 (Pentateuch-Inhalt); in De specialibus legibus und De virtutibus (65.82– 124). Zeugnisse für sein Verständnis der biblischen Gesetze begegnen zusätzlich in fast allen seinen Werken.²⁰ Josephus hat in C.Ap. 2,190 – 219 eine bemerkenswerte, aber apologetisch bestimmte Übersicht geboten, offenbar am Dekalog orientiert, und in Ant. 3,91– 92 den Dekalog sogar ausdrücklich genannt und paraphrasiert (denn ihn wörtlich wiederzugeben sei nicht erlaubt). In Ant. 3,102– 213 gibt er die Anweisungen für das Zeltheiligtum und die Kultgründung wieder, sicher in der Hoffnung, diese würde bald wieder Aktualität gewinnen. Mose ist ihm dort nicht nur Orakelgeber, sondern auch Schreiber dieser Gesetze. Von da bis 3,286 und in 4,196 – 303 gibt er einen Großteil der Pentateuchgesetze wieder. So lassen sich aus seinen Schriften vielerlei Hinweise auf Anwendung und Verständnis biblischer Normen im 1.Jh. n.Chr. gewinnen.
2.2 Nichtbiblische Rechtstraditionen aus der Zeit des Zweiten Tempels 2.2.1 Kontinuität und Wandel Die örtlichen Instanzen verfuhren sicher wie eh und je nach althergebrachten, aus langer Praxis erwachsenen Normen, die sich begreiflicherweise nicht sonderlich von jenen in der Nachbarschaft unterschieden. Aber auch infolge fremder Oberherrschaft haben sich langlebige Rechtstraditionen eingebürgert. So etwa Vertragsformulare, die nach neuassyrischen nach neubabylonische Mustern gestaltet wurden,²¹ während ägyptische oder persische Traditionen sowohl aus sprachlichen wie kulturellen Grün-
Erweiterungen sind selten und jedenfalls unausdrücklich, etwa bei Josephus, C.Ap. 2,205 die angebliche Toravorschrift über Bestattungen. Eine unausdrückliche Kürzung im Bereich des Sakralrechts ist es, wenn die Möglichkeit einer Nachfeier des Passafestes (für reinheitshalber Verhinderte) im Folgemonat bei ihm nicht anerkannt wird. Er übergeht sie stets, auch an der Stelle, wo Num 9 zu paraphrasieren ist, Ant. 3,294. s. Goodenough, „Philo’s Exposition“. Gropp, „The Wadi Daliyeh documents compared to the Elephantine documents“.
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den ferner standen. Diese altorientalischen Züge blieben in der rabbinischen Tradition auch weiterhin erhalten,²² obwohl es unter der langen römischen Herrschaft in Weiterentwicklung der hellenistischen Grundlagen zu einer massiven Einwirkung auf Institutionen, Formulare und auf die Terminologie in aramäischer bzw. hebräischer Sprache gekommen ist. Urkunden des normalen Rechtslebens sind weithin die wichtigsten Quellen für angewandtes Recht. ²³ Sie betreffen Bereiche des Geschäftslebens und familienrechtliche Angelegenheiten, Erbschaftsachen, Eherecht²⁴ und dabei insbesondere die Eheschließung,²⁵ auch die Ehescheidung, wofür schon Dtn 24,1 die Ausstellung einer Urkunde vorschreibt.²⁶ Urkunden wurden hauptsächlich in der jeweiligen Umgangssprache verfasst, also vor allem auf Aramäisch, unter größerer oder auch geringerer Berücksichtigung der Tora-Vorgaben.²⁷ Im hellenistischen Ägypten, wo man sich neben den griechischen Kolonisten etablierte, und in der westlichen Diaspora geschah dies auf Griechisch.
2.2.2 Elephantine Die aramäischen Papyri von Elephantine in Oberägypten aus dem späten 5. Jh. v.Chr. lassen nicht erkennen, dass „Tora“ in einer jüdischen Militärkolonie mit eigenen Rechtsinstitutionen schon eine maßgebliche Größe war, und das trotz des bekannten Passa-Papyrus und der Hinweise auf Sabbat- und Reinheitspraktiken.²⁸ Die erhaltenen Urkunden belegen die üblichen Geschäfte und Abmachungen im rechtlichen Alltag und lassen trotz gewisser, auch in biblischen Texten erkennbarer priesterlich-levitischer
Noch immer grundlegend: Gulak, Urkundenwesen. Khoury, Urkunden; Katzoff, „Contracts“; Nebe, „Deeds of Sale“; Schiffman, „Witnesses and Signatures“; ders., „Reflections on the Deeds of Sale“. Epstein, Marriage Laws; Piattelli, „The Marriage Contract“; Collins, „Marriage, Divorce, and Family in Second Temple Period“. Cohen, „Dowry“; R. YARON: „Aramaic Marriage Contracts from Elephantine“, JJS 3, 1958,1– 39; Brewer, „Deuteronomy 24:1“; ders., „Jewish women divorcing their husbands in early Judaism. The background to Papyrus Se’elim 13“, HThR 92, 1999, 349 – 357; Lewis, „Papyrus Yadin 18“; Wasserstein, „A marriage contract“; Rabello, „Divorce of Jews“; Friedman, „Babatha’s Ketubba“; Brody, „Evidence for Divorce by Jewish Women?“; Katzoff, „Greek and Jewish Marriage Formulas“; ders.: „Oral Establishment of Dowry in Jewish and Roman Law, dbrjm hnqnjn b′mjrh and dotis dictio“ in Schiffman, Semitic Papyrology in Context 145 – 164. Brewer, Divorce; Cohen, „Concerning Divorce“; Vered, „Divorce in Qumran“; Fixner/Eshel, „Tearing Divorce Documents“; Katzoff, „Philo and Hillel“; ders., „Donatio ante nuptias and Jewish dowry additions“, in: N. Lewis (ed.), Papyrology, 1986, 231– 244; Rabello, „Divorce of Jews“; M. S. FELDBLUM: Talmudic Law and Literature. Tractate Gittin. A Comparative Study of Mishnah, Tosephta, Babylonian and Palestinian Talmuds (hebr.), 1969. Gross, Continuity and Innovation; Jackson, „How Jewish is Jewish Family Law?“ Für einen konzisen Überblick über die Bezüge zu biblischen Sachverhalten s. B. PORTEN: „Elephantine and the Bible“, in Schiffman, Semitic Papyrology in Context 53 – 84.
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Schreiberkonventionen kaum Ansätze zu einem „jüdischen“ Recht erkennen.²⁹ Bemerkenswert ist außer dem neuassyrischen Hintergrund für die Vertragsformulare, die man offensichtlich aus Palästina mitgebracht hatte, auch das noch wenig erforschte Verhältnis zum ägyptischen Hintergrund.³⁰ Auch zahlreiche andere Papyri aus Ägypten demonstrieren im Vergleich mit den aus der Zeit nach der Tempelzerstörung stammenden Rechtsdokumenten aus der Wüste Juda, wie stark die Kontinuität der Rechtstraditionen vor allem im Bereich der Formulare war und wie bedeutend nichtbiblische Normen im Rechtsalltag gerade auch für Familien und insbesondere Frauen waren.³¹
2.3 Die Papyri aus dem Wadi Daliyeh Die Papyrusfunde aus dem Wadi Daliyeh³² ergänzen das Bild, das die Elephantine-Papyri aus dem späten 5. Jh. für Ägypten vermitteln, für ihren Fundort (in Samarien) im 4. Jh. Auch hier zeigt sich deutlich der prägende Einfluss der aramäischsprachigen Administration des Perserreiches, unter der ältere Formulare adaptiert worden sind, z.T. auch regional etwas variierend. Leider sind die meisten der recht formelhaften Texte nur sehr fragmentarisch erhalten.³³ Es handelt sich v. a. um Kaufverträge. In etwa der Hälfte geht es um Sklaven (Nr. 1– 9. 11. 18. 19. evtl. auch 26), den Namen (und Vaternamen!) nach meist „hebräische“ Sklaven, die wohl durch Verschuldung in diese Lage geraten waren. Ein Papyrus (Nr. 13) betrifft eine Sklavenfreilassung. Nichts deutet auf eine Relevanz von Pentateuch-Gesetzen hin, im Gegenteil: entgegen Lev 25,39 – 47 wird der Verkauf auf unbegrenzte Dauer (la-‘alam) vollzogen. Aus der folgenden, hellenistischen Periode bis zu den Funden in der Wüste Juda sind bedauerlicherweise keine vergleichbaren Quellenbestände erhalten, doch belegen diese und auch die späteren rabbinischen Zeugnisse eine beachtliche Stabilität und Kontinuität der aus der Perserzeit ererbten Traditionen einschließlich diverser sonstiger Rechtstraditionen. Die Elephantine-Urkunden, so zeigt sich hierbei, folgen einer regionalen Formulartradition, die auf ältere, nämlich neuassyrische Vorbilder zurückgeht, während in den El-Daliyeh-Verträgen und in den Texten aus der Wüste Juda ein neubabylonischer Hintergrund erkennbar ist. Das entspricht der biblischen Geschichte, wonach Samarien unter assyrischer Herrschaft seinen entscheidenden Wandel erfuhr, Judäa aber erst unter babylonischer.
Muffs, Studies in the Aramaic Legal Papyri. Botta, The Aramaic and Egyptian Legal Traditions. Rabinowitz, Studies in Legal History; I. CARDELLINI: „Dalla legge alla Torah. Una ipotesi di studio“, in: RStB 3, 1991, 57– 81. Gropp, „The Wadi Daliyeh Documents“. Für eine konzise Beschreibung siehe die Einleitung von D. M. GROPP in DJD 28, 2001, 3 (5)-32.
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2.4 Rechtstraditionen in den Schriften aus den Höhlen bei Qumran In den Qumrantexten findet man zahlreiche Zeugnisse für Interpretationen vorgegebener schriftlicher, insbesondere biblischer Normen.³⁴ Das muss aber nicht in jedem Fall auf einen Pentateuchtext zurück gehen. Die in der Forschung verbreitete Neigung, möglichst alles auf biblische Textvorlagen zurückzuführen, dürfte weder dem damaligen Interesse entsprechen noch rechtsgeschichtlich sinnvoll sein. Vor der Publikation der Texte aus den Höhlen 4 und 11 wurden v. a. die Ordnungen in 1QS und CD und deren Bezüge zu den antiken Essenerberichten behandelt. Schon dort wird eine „biblische“ Grundlage nur wenig in Anspruch genommen. Seither ist angesichts zahlreicher Fragmente deutlich geworden, dass Schriftrollen gesetzlichen Inhalts einen beträchtlichen Teil der Qumrantexte ausmachten. Einiges davon präsentiert sich ausdrücklich als Tora, vieles entstammt kultisch-rituellen Traditionen, manches gehört in den Rahmen von Disziplinarordnungen, und verhältnismäßig wenig entspricht dem, was wir heute unter Straf- und Zivilrecht einordnen. Dem entspricht, dass direkte Zeugnisse des Rechtslebens, also Urkunden, in den Qumranhöhlen nicht gefunden wurden. Die publizierten Urkunden gehören zu den später zu datierenden Funden aus der Wüste Juda (s.u. 2.6). Bis heute teilt man die Texte aus Qumran in der Regel in spezifische Qumranschriften („sectarian documents“) und in vor- bzw. außerqumranische Schriften ein, wobei man von einer„Qumrangemeinde“ ausgeht. Deren Existenz, insbes. wenn man sie sich als geschlossene Organisation denken möchte, wird allerdings immer mehr in Frage gestellt. Tatsächlich verteilen sich die rechtlichen Zeugnisse auf drei Organisationsformen: 1. Gemeinschaften in Städten (CD), 2. Lager- bzw. Ortsgemeinschaften (CD), und 3. den jaḥad (man übersetzt: „Einung“). Die Ordnungen für die drei Organisationsformen entsprechen tendenziell einer priesterlich-levitisch dominierten Überlieferung, die den Anspruch erhob, ganz Israel in ihrem Sinne zu gestalten und zu verwalten. Das Grundanliegen dieses Organisationsmodells für Israel besteht in der Wahrung der „Heiligkeit“, und zwar personell im Sinne der rang- und funktionsmäßigen Einteilung in Priester, Leviten und Laien, den jeweils ausgeübten Funktionen entsprechend, und räumlich in der vom Allerheiligsten ausgehenden, konzentrischen Stufenfolge der heiligen Bereiche.³⁵ In diesem komplizierten System ging es auch um handfeste Interessen, um Prestige und um Macht, wobei Konflikte unter anderem auch mit der Verfechtung bestimmter ritueller Praktiken ausgetragen wurden. Innerpriesterliche Differenzen spielten daher im politisch-religiösen Leben der Tempelprovinz Judäa im 2. Jh. v.Chr. und bis in die ersten Jahrzehnte des 1. Jh. v.Chr. eine bedeutende Rolle. Das wird vor allem an der Auflistung von Differenzen in 4Q
Bernstein/Koyfman, „The Interpretation of Biblical Law“. Harrington, „Holiness and Law“.
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MMT deutlich: so markierte die hinter den Qumrantexten stehende Richtung ihre Positionen und Ansprüche. Angesichts der genannten Voraussetzungen können die rechtlichen Qumrantraditionen nicht als einheitliches Gruppenrecht einer „Qumrangemeinde“ gewertet werden. Ein Teil der Traditionen stammt mit Sicherheit aus älterer Zeit und hatte seinen Sitz im Leben im Tempelkult und in den mit ihm verbundenen Institutionen – aus denen man sich aber, nach eigenem Verständnis temporär, zurückgezogen hatte.³⁶ Zeugnisse für das normale Straf- und Zivilrecht sind in diesen Traditionen folglich nur dort zu erwarten, wo es um Regelung des normalen Alltagslebens ging. Ansonsten handelt es sich, sieht man von der besonderen Ausformung des Königs- und Kriegsrechts ab, v. a. um Bestimmungen für Gemeinschaftsformen, deren Organisation weithin denselben praktischen Erfordernissen entspricht, die auch sonst bei vergleichbaren Organisationen von örtlichen Gemeinschaften bis zum Vereinswesen hin wirksam waren.³⁷ Dieser Befund weist gegenüber den späteren, aus dem normalen Rechtsleben stammenden Dokumenten aus der Wüste Juda einen deutlich andersgearteten sozialen Hintergrund aus. Auf dieser priesterlich-levitischen Linie wurden manche Rechtstraditionen ausdrücklich als direkte Offenbarung an Mose (als „Tora“) formuliert. Diese Tatsache hat die herkömmliche Auffassung vom „Kanon“ der hebräischen Bibel ins Wanken gebracht, die Frage nach der Funktion des Pentateuchs für das gesamte Judentum erneut in den Vordergrund gerückt und das Verhältnis von Tora und Recht wieder als Problem der Forschung bewusst gemacht.
2.4.1 Der Jaḥad Unter jaḥad versteht man gemeinhin die eigentliche Qumrangemeinde, doch diese Annahme ist fragwürdig geworden.³⁸ Es handelt sich eigentlich nicht um eine Gruppenorganisationsform, sondern zunächst um eine periodische Veranstaltung, nämlich eine Ratsversammlung (‘aşat ha-jaḥad) auf mehr oder minder begrenzte Zeit und unter bestimmten kultisch-rituellen Bedingungen. Sie hatte ihren eigentlichen Sitz im Leben wahrscheinlich in Institutionen innerhalb des Kultbetriebs, vor allem für die Organisation des Kultpersonals und teilweise auch für Heiligtumsbesucher. Dieses Veranstaltungsmodell wurde aus gegebenen Anlässen auch mit den Organisationsformen für örtliche Gemeinschaften und für Lagergemeinschaften verbunden, was einen engeren Kreis von Teilnahmeberechtigten aus den Gemeinschaftsmitgliedern voraussetzt. Aus diesem Grund variieren die einschlägigen Ordnungen (1QS, 4QS), deren „Sitz im Leben“
Schiffman, „The Maccabean Halakhah“. J. MAIER: „Torah und Normensysteme in den Qumranschriften“, in: M. TIWALD (Hg.): Kein Jota vom Gesetz soll vergehen (BWANT 200), 2012, 36 – 58. Siehe auch J. COLLINS: „The Yahad and the Qumran Community“, in: Ch. HEMPEL/J. M. LIEU, Biblical Traditions in Transmission, 2005, 81– 96.
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B. Grundwissen und Voraussetzungen
offenbar sowohl zeitlich wie örtlich unterschiedlich anzusetzen und nicht als Bearbeitungen einer einlinigen Texttradition zu verstehen sind.³⁹ Diese auf das Heiligtum und die Kultfähigkeit abgestimmten kultisch-rituellen Bedingungen erklären auch die angebliche Ehelosigkeit der jaḥad-Mitglieder⁴⁰ (eher ist es zeitweilige Abstinenz zwecks Priesterreinheit; vgl. Lev 15,18; 1Sam 21,5; auch Ex 19,15) und die Unterstreichung ihrer Heiligkeit, die betonte Hervorhebung der Grenzen zwischen Priestern (allgemein: Aaroniden,⁴¹ Leviten und Laien, und die Notwendigkeit regelmäßiger Überprüfung der Teilnahmeberechtigten und deren Rangfolge. Vieles, was wir von der Jerusalemer Priesterschaft nicht wissen, findet sich hier im Detail geregelt.
2.4.2 Örtliche Gemeinschaften Rechtsnormen im engeren Sinn, etwa des Familienrechts, und Regelungen für das Gerichtswesen begegnen in erster Linie in CD IX-XII 20a, im Rahmen der Ordnung für örtliche bzw. städtische Gemeinschaften.⁴² Frauen und Kinder sind daher selbstverständlich Teil solcher Gemeinschaften. Und selbstverständlich wird auch das Verhältnis zur nichtjüdischen Umgebung berücksichtigt. Nach Philon, Prob. 75 – 91 hat es „Essäer“, die sich auch „Therapeuten“ nannten („Verehrer“, sc. Gottes), in Palästina zahlreich gegeben und auch in Ägypten nahe dem Mareotis-See (von ihm idealisiert beschrieben in Cont.). Die Einzelvorschriften sind aber auch hier in das priesterlich-levitische Konzept einer israelitischen Gesellschaft eingebunden. Sie wurden wahrscheinlich am ehesten in Ortschaften mit priesterlicher und levitischer Bevölkerung praktiziert. Sie darüber hinaus durchzusetzen, ist offenbar nur begrenzt gelungen.
2.4.3 Tora in Qumran Die sog. Tempelrolle (11Q 19; 11Q 20) enthält einen Tempelbauentwurf und eine nach den Heiligtumsbereichen systematisierte Rechtssammlung, zum größten Teil auf der Basis einer Quelle, die auch dem Deuteronomium zugrunde liegt. Das Ganze ist in Form direkter Gottesrede an Mose formuliert, galt folglich als Tora. Wieweit es sich um programmatische oder angewandte, zu einer bestimmten Zeit als allgemein verbindliche Normen oder nur um Gruppentradition handelt, wird kontrovers diskutiert. In jedem Fall handelt es sich um eine frühen Versuch, Normen unter einem bestimmten Ge-
A. SCHOFIELD: „Rereading S: A New Model of Textual Development in Light of the Cave 4 Serekh Copies“, DSD 15, 2008, 96 – 120. E. REGEV: „Cherchez les femmes: Were the yahad Celibates?“, DSD 15, 2008, 253 – 284. S.o. Anm. 4. Baumgarten, „The Laws of the Damascus Document“; Shemesh, „The Scriptural Background of the Penal Code“. Hier wird allerdings nicht das gesellschaftliche Modell, sondern ein angeblicher „scriptural background“ behandelt.
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sichtspunkt, nämlich unter dem von konzentrischen Heiligkeitsbereichen, zu ordnen und zu adaptieren. Das geschah offensichtlich in einer Zeit, als es noch möglich war, neues Recht als Tora, als Offenbarung, zu deklarieren. Aber ein konkretes Beispiel zeigt, dass auch solche Tora nicht unumstritten blieb. Die Todesstrafe, die wörtlich als „ans Holz hängen“ bezeichnet wird, gilt in 11Q 19 LIV 6b-13 ausdrücklich und eindeutig als praktikabel und steht auf Volksverrat (vgl. 4Q 270 Frg. 9 II 12 f.).⁴³ Tatsächlich hat König Alexander Jannaj laut Josephus, Bell. 1,97 (vgl. 4Q 169) zahlreiche Pharisäer wegen Volksverrats „ans Holz hängen“ lassen. Der MT-Text von Dtn 21,22 – 23 hingegen ist schwerlich als Todesart gemeint, sondern als Exhibition eines Leichnams, und so wurde er auch rabbinisch verstanden.⁴⁴ Ein anderes Beispiel liegt im Bereich des Eherechts. Die Tempelrolle verbietet LXVI 14– 17 die Ehe mit Nichten strikt, was auch 4Q 251 Frg. 7 und CD V 7– 11 belegt ist und dort kultrechtlich begründet wird;⁴⁵ von der pharisäisch-rabbinischen Seite jedoch wurde diese „zadokidische“ Einschränkung nicht aufrecht erhalten.⁴⁶ Wie viel von den übrigen rechtlichen Qumrantraditionen ebenfalls als Tora gegolten hat, ist offen, da von den betreffenden Schriftrollen nur Bruchstücke erhalten geblieben sind. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang 4Q 251, weil für diesen Text allem Anschein nach das Bundesbuch (Ex 21,1– 23,19) als Rahmen bzw. Kompositionsbasis benützt wurde.⁴⁷ Die erhaltenen Stücke von 4Q Ordonnances (4Q 159; 4Q 513 – 4Q 514) behandeln wie andere, ursprünglich recht umfangreiche Schriftrollen, kultisch-rituelle Sachverhalte, deren Zusammenhang mit einschlägigen Pentateuchstellen evident ist. Doch das ist nicht einfach das Ergebnis exegetischer Vorgänge, sondern etwas wie Fortschreibung von Tora als Produkt priesterlich-levitischer Tora-Kompetenz. Auch 4Q 421 und 4Q 264a gehören in einen solchen Kontext.⁴⁸ Zu 4Q 159 finden sich zudem Entsprechungen in CD, was auf älteres Traditionsgut schließen lässt.⁴⁹ Auf der Rückseite von 4Q 249 wurde als Titel midraš sefär Mošäh geschrieben. Das wird gemeinhin als „Auslegung“ oder als „Midrasch des Buches Moses“ übersetzt,⁵⁰ doch korrekt ist wohl – nach dem unter 1.3 zu dem Verbum d-r-š Gesagten –: „Niederschrift des Buches Moses“, was schwerlich den Pentateuch bezeichnet, sondern den Inhalt als Tora ausweist.
Weinfeld, „High Treason“. Puech, „Notes sur 11Q 19“. Vgl. auch Le Moyne, Les Sadducéens 312 ff. Schiffman, „Prohibited Marriages“. Shemesh, „4Q 251“. Noam/Qimron, „A Qumran Composition on the Laws of the Sabbath“. Hempel, „4Q Orda (4Q 159)“. Pfann, „4Q 249 Midrash Sefer Moshe“.
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B. Grundwissen und Voraussetzungen
2.4.4 Die Lagerordnung Die Lagerordnung in CD XII 20bff steht in einer doppelten Tradition. Die eine ist das Militärlager (vgl. 1QM + 4Q 491– 496):⁵¹ Während das Kriegslager den wehrfähigen Männern vorbehalten ist, so wie das Heiligtum den kultfähigen Männern, stellt die ständige Einrichtung der Militärkolonie (wie jene auf Elephantine) auch eine örtliche Gemeinschaft dar. Die zweite, kulttheologische, besteht im programmatischen priesterschriftlichen Modell Israels als Lager der Wüstenzeit. Jerusalem als „Stadt des Heiligtums“ hat nach dieser Tradition den Heiligkeitsstatus des „Lagers“. Grundlegend waren Erfahrungen der Exilierungen am Ende der Königszeit, der Zug ins babylonische Exil und die folgenden Heimkehrwellen. Weil damals die Organisation durch das Kultpersonal bestimmt wurde, das den sozial kompaktesten Teil der Exilierten bildete, und die Exilierten sich als die Repräsentanten „Israels“ schlechthin verstanden, wurden Lagerordnungen im Sinne priesterlich-levitischer Programmatik entworfen. Ihre Gültigkeit (als Sakralrecht) ist auf Essenergruppen beschränkt, wie es sie z. Zt. Jesu noch gab; doch sind sie im Neuen Testament nirgends präsent. Anders als die Pharisäer haben die Essener nicht in die Gesellschaft hinein gewirkt. Als „Lager“ (maḥanäh) wurden allerdings auch offene Ortschaften bezeichnet, also dörfliche Siedlungen. Die „Lagerordnung“ im CD betrifft daher wahrscheinlich solche Gemeinschaften.
2.4.5 Der „Penal Code“ Als „Penal Code“ bezeichnet man in den Qumranschriften einen Überlieferungskomplex, der einen mehr oder minder festen Grundbestand aufweist, aber an die jeweilige Zweckbestimmung (innerhalb der drei Organisationsformen; 2.4.0) adaptiert und zeitlich wie örtlich variiert wurde.⁵² Es handelt sich weniger um Recht als um eine Disziplinarordnung. Sie ist am umfangreichsten in 1QS VI 10-VII (und in den entsprechenden Passagen der 4QS-Fassungen) erhalten. Geregelt werden das Verhalten und die Ahndung von Verstößen im Rahmen des jaḥad, aber Entsprechungen in CD zeigen, dass manche Bestimmungen auch für Veranstaltungen (Versammlungen) in den beiden anderen Gemeinschaftsordnungen ihren Platz hatten, was der priesterlich-levitischen Tendenz dieser Tradition entspricht. Andere Texte rechtlichen Inhalts sind nur so fragmentarisch erhalten, dass es nicht möglich ist, Inhalt und Zweckbestimmung dieser möglicherweise einst sehr umfangreichen Schriften genauer zu bestimmen. Das gilt v.a für 4Q Ordonnances = 4Q 513 – 4Q 514, 4Q 264 A = 4Q Halakhab, sowie 4Q 265 = 4Q SD bzw. 4Q Miscellaneous Rules.
C. BATSCH : La guerre et les rites de guerre dans le judaïsme du deuxième Temple, 2005. Pouilly, „L’Évolution de la législation pénale“; Baumgarten, „The Cave 4 Versions“; Hempel, „The Penal Code Reconsidered“.
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2.5 Sonstige vorrabbinische Quellen 2.5.1 Die Rechtsauffassung der Sadduzäer Rechtsauffassung und Rechtspraxis derjenigen Gruppe, die im Neuen Testament und bei Josephus als „Sadduzäer“ bezeichnet wird, folgten, nach den Quellen zu urteilen, einer strengen Linie.⁵³ Das gilt nicht nur für kultisch-rituell Belange, sondern auch im Strafund Zivilrecht.⁵⁴ Die in manchem parallel laufende, streng priesterliche Linie der Qumrantradition weist zahlreiche konkrete Entsprechungen zu dem auf, was den Sadduzäern bzw. rabbinisch den ṣaddûqîm zugeschrieben wird.⁵⁵ Man darf daraus aber kaum schließen, dass die Qumrantexte von den Sadduzäern stammen; es ist aber eine enge Verwandtschaft feststellbar, die auf gemeinsamen „zadokidischen“ Traditionen beruht. Die Orientierungsgrenzen für die Priesterschaft waren freilich nicht so streng gezogen. Zumindest gibt der Jerusalemer Priester Flavius Josephus in Vita 12 an, er habe, nach Kenntnisnahme und Praktizieren verschiedener jüdischer Lebensweisen, sich den Pharisäern angeschlossen⁵⁶ – was ihn aber nicht daran hindert, dann und wann Positionen zu vertreten, die eher als „zadokidisch“ gelten müssen.
2.5.2 Urkundliche Zeugnisse aus der Wüste Juda In Höhlen der Wüste Juda ist eine beträchtliche Zahl von aramäischen und griechischen Rechtsurkunden aus der Zeit zwischen den beiden Aufständen gegen Rom gefunden worden. Dazu gehören auch einige als Qumrantexte publizierte Stücke. Im Unterschied zur elitären Qumranliteratur handelt es sich um Zeugnisse für Vorgänge aus dem regulären Geschäfts- und Rechtsleben in den römischen Provinzen Palaestina und Arabia. Rechtsgeschichtlich sind sie in mehrerer Hinsicht von Bedeutung.⁵⁷ Sie zeigen im Vergleich mit den urkundlichen Zeugnissen von Elephantine und denen aus dem Wadi elDaliyyeh hinsichtlich der Formulare und vieler Details, in welchem Maß sich althergebrachte Konventionen gehalten haben, wie stark die Rechtspraxis in die hellenisierte orientalische Umgebung integriert war, und dass sich in römischer Zeit bestimmte regionale und gruppenspezifische Eigenheiten entfalten konnten, bis im Lauf des 2./3. Jh.
Le Moyne, Les Sadducéens; E. REGEV: Ha-ṣaddûqîm wa-halakatam (The Sadducees und their Halakhah: Religion und Society in the Second Temple Period, hebr.), 2005. Regev, Ha-ṣaddûqîm 116 – 131. Schiffman, „Miqṣat ma‘aseh ha-torah and the Temple Scroll“. Diese Angabe kann eine captatio benevolentiae sein gegenüber dem in Jabne sich formierenden Rabbinat. Cotton, „Die Papyrusdokumente aus der judäischen Wüste“; Lapin, „Maintenance of wives and children“; Katzoff/Schaps, Law.
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die rabbinische Richtung die vorhandenen Traditionen und Praktiken adaptierte und zu einem „jüdischen Recht“ systematisierte.⁵⁸ Aufsehen erregten v. a. zwei Dokumentensammlungen von Frauen, das sog. BabataArchiv⁵⁹ und das Archiv der Salome Komaise.⁶⁰ Die eherechtlichen Befugnisse und Möglichkeiten einer Frau in Bezug auf eine Ehescheidung und die einer Witwe im Verhältnis zu einem Vormund der Kinder brachten der Forschung viel Neues.⁶¹ Von besonderem Wert für rechtsvergleichende Studien sind manche dieser Texte aber auch, weil sie das Funktionieren und die Inanspruchnahme zeitgleicher Rechtsordnungen im Rahmen römischer Provinzverwaltungen erhellen.⁶² Die Dokumente zeigen auf sehr anschauliche Weise, wie stark die Erfordernisse des Berufs und der Familie das Zusammenleben von Angehörigen verschiedener ethnischer und religiöser Gruppen auf Rechtsbegriffe bringen konnten, u.z. solche unterschiedlicher Art.⁶³ So wurden z. B. erbrechtliche Regelungen vorgenommen, wie sie weder aus der Tora noch aus den Überlieferungen der Väter zu gewinnen waren.⁶⁴ Die Urkunden aus der Wüste Juda (so nennt man das hier unter 2.4– 6 Behandelte) bieten somit einen Einblick in die Rechtswirklichkeit zwischen zwei konkurrierenden programmatischen Ansprüchen, die beide alle Lebensbereiche einer „vollkommenen Tora“ unterwerfen und so alles Recht als Gottesrecht ausweisen wollten. Der eine war die priesterlich-levitische Tora-Konzeption, die in extremer (zadokidischer) Form in den Qumrantexten zutage tritt, die andere ihr laizistisch-pharisäisches Gegenstück, das seine volle Ausformung aber erst mit der Mischna bzw. mit dem rabbinischen Konzept einer Schriftlichen und Mündlichen Tora erreichte und damit die Zielsetzung einer alles umfassenden Tora in die Wirklichkeit umsetzen konnte. Die neutestamentlichen Befunde liegen in diesem Spannungsfeld zwischen realen Verhältnissen und programmatischen Ansprüchen, wobei die zadokidische Programmatik aufgrund der unterschiedlichen soziologischen Verhältnisse jedoch kaum in Erscheinung tritt. Mögen auch Jesu gefährlichste Gegner den hohen Priesterkreisen an-
Z. SAFRAI: „Halakhic Observance in the Judaean Desert Documents“, in: Katzoff/Schaps, Law 205 – 236. Das Verhältnis zur rabbinischen Halacha bedarf noch eingehenderer rechtsgeschichtlicher Untersuchungen. A. E. HANSON: „The widow Babatha and the poor orphan boy“, in: Katzoff/Schaps, Law 85 – 103; Chiusi, „Babatha vs. the guardians“. Cotton, „The archive of Salome Komaise“; Eshel, „Another document from the archive of Salome Komaïse“; Cotton, „Introduction to the Archive“; Katzoff, „On P.Yadin 37“. Ilan, „Women′s Archives“; Cotton, „Women and law in the documents“; Yiftach-Firanco, „Judaean Desert marriage documents“. Cotton, „Diplomatics or External Aspects of the Legal Documents from the Judean Desert“, in: Hezser, Rabbinic Law, 49 – 61; dies./Eck, „Roman Officials“; Mélèze Modrzejewski, „What is Hellenistic Law?“; Oudshoorn, The Relationship between Roman and Local Law. B. A. LEVINE: „The Various Workings of the Aramaic Legal Tradition – Jews and Nabataeans in the Naḥal Ḥ eber Archive“, in: Schiffmann u. a., The Dead Sea Scrolls 836 – 851. M. L. SALLOW: „Marriage Payments and Succession Strategies in the Documents from the Judaean Desert“, in: Katzoff/Schaps, Law 51– 65; Rivlin, „Gift and inheritance law“, ebd. 165 – 183.
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gehört haben, ein Gespräch mit ihnen hat er offenbar nicht geführt; vielmehr zeigen ihn die Evangelien nicht selten im Gedankenaustausch – vielleicht auch schon im Kräftemessen – mit den Pharisäern.
2.5.3 Flavius Josephus Rechtsauffassungen, Institutionen und Vorgänge des Rechtslebens, die in den Werken des Josephus zu finden sind, entsprechen zeitlich jenen im Neuen Testament, gehören also im Kontext dieses Kommentars zu den maßgeblichsten Vergleichsmöglichkeiten. Leider gilt für Josephus wie für Philon, dass das Interesse der Forschung an rechtsgeschichtlichen Fragestellungen bis jetzt gering war. Sieht man von ein paar kleinen älteren Untersuchungen⁶⁵ und von einzelnen Bemerkungen zu Textpassagen oder im Rahmen von Publikationen thematisch anderer Art ab, wurde in der Regel fast nur das Verhältnis zu den biblischen Vorgaben untersucht, oder es wurden Angaben über Pharisäer und Sadduzäer verglichen, in letzter Zeit auch einige Qumrantexte.⁶⁶ Nur wenige konkrete Themen rechtlicher Art kamen ins Blickfeld, etwa das Bilderverbot⁶⁷ und die Ehescheidung.⁶⁸ Die vorhandenen Forschungsansätze auf diesem Gebiet⁶⁹ gilt es noch über die auslegungsgeschichtlichen Fragestellungen und über die direkten Bezüge zu neutestamentlichen Themen hinaus konsequent auszuweiten.
2.5.4 Die westliche Diaspora In den Werken des Philon von Alexandrien finden sich über die biblischen Gesetze hinaus allerlei rechtsgeschichtlich interessante Hinweise, und auch deren Behandlung ist ein Stiefkind der Forschung.⁷⁰ Es wurde unter anderem versucht, sie in unmittelbarem Zusammenhang mit den rabbinischen Traditionen zu verstehen,⁷¹ doch diese
Olitzki, „Der jüdische Sklave „; ders., Flavius Josephus und die Halacha; ders., „Rituelle und judizielle Fälle bei Flavius Josephus“; Weyl, Die jüdischen Strafgesetze bei Flavius Josephus. Goldenberg, „The Halakhah in Josephus“; Regev/Nakman, „Josephus and the Halakhah“. C. ROTH: „An ordinance against images in Jerusalem A. D. 66“, HThR 49, 1956, 169 – 177; Vogel, „Vita 64– 69“; D. ROSENTHAL: „Ha-′omanût ba-halakah be-šilḥê ha-bajit ha-šenî“, in: J. SUSSMAN (Hg.), Mäḥqerê Talmûd. Qôbäṣ mäḥqarîm be-Talmûd û-bigbûlîm gôbelîm. FS Efraim Urbach, Bd. 2, 2005, 754– 790. Rabello, „Divorce in Josephus“. Siehe Tomson, „Les systèmes de Halakha“. Immer noch grundlegend ist Heinemann, Philons griechische und jüdische Bildung.Vgl. dens., „Jüdischhellenistische Gerichtshöfe“; Piattelli, „Intorno al problema“; ferner Goodenough, The Jurisprudence; Belkin, Philo and the Oral Law 179 ff; Alon, Jews 89 – 137; D. ROKEAH: „Fîlôn ha-’aleksandrônî. Ha-midraš weha-halakah ha-qedûmah“, Tarbiz 55, 1985/86, 433 – 439. Belkin, Philo and the Oral Law; A. GLICKSBERG: „Zîqqatô šäl Fîlôn ha-’aleksandrônî la-halakah ha-’äräṣjiśre’elît“, Moreshet 8, 1982/83, 51– 63.
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Sicht konnte sich nicht durchsetzen. Näher liegt der Vergleich mit Nachrichten in den Werken des Josephus.⁷² Seine Schrift Legatio ad Gaium lässt übrigens recht deutlich erkennen, welch heikles und für die jüdische Gemeinschaft existenziell wichtiges Anliegen die jüdische Rechtsautonomie darstellte.⁷³ Die Verhältnisse in der gut organisierten Judenheit Alexandriens sind freilich für die kleinen Gemeinden Ägyptens und der Kyrenaika kaum vorauszusetzen, wirkten aber wohl als Vorbild auch über Ägypten hinaus.⁷⁴ Ein Polis-Bürgerrecht für die Ioudaioi in Städten wie Berenike (Kyrenaika) oder Sardes (Kleinasien) ist inschriftlich bezeugt (Schürer/V., History 87– 137). An erstgenannter Stelle werden sie sogar als eigenes politeuma (vgl. # 326) geführt, mit eigenen Archonten, neun an der Zahl. Für Alexandrien wird zwar auch ein politeuma-Status der Juden erwähnt, aber nur von dem pseudepigraphen, pagane Autorschaft vortäuschenden und gerade in seinen Erzählpartien völlig legendären Aristeasbrief (§ 310). Über die vorrabbinischen Rechtsverhältnisse in den jüdischen Diasporagemeinden im lateinischsprachigen Westen ist nur wenig bekannt.⁷⁵ Tatsache ist, dass ihnen auf der Basis des Pentateuchs und der nicht näher definierten Traditionen der Väter Rechtsautonomie gewährt wurde: die berühmten, in der ganzen Antike nie widerrufenen Privilegien Caesars (s.u. C 4.2.3), betreffend Eigenverwaltung und -gerichtsbarkeit für interne Belange; Garantie der Überbringung der Tempelsteuer; Befreiung vom Militärdienst. Welches Recht sie jedoch für die weiten, nicht von Pentateuchgesetzen abgedeckten Bereiche anwandten, ist unbekannt, und als im 5.–8. Jh. n.Chr. die rabbinische Linie sich durchzusetzen begann, war in Byzanz das Monopol der staatlichen Zivilgerichtsbarkeit bereits etabliert. Die dürftige Quellenlage für den Nachweis jüdischen Rechts erklärt sich teilweise aus dem Interesse, das angewandte Recht über den bei Christen sowieso vorhandenen Pentateuch hinaus nicht näher zu definieren, um Fremden keinen Einblick in Interna zu gewähren und so möglichst viel Spielraum zu behalten. Die Rabbinen haben ja auch die „Mündliche Tora“ als spezifische Eigentümlichkeit Israels gewertet und es geradezu verpönt, Nichtjuden (mündliche) Tora zu lehren. Sofern in der Spätantike ein Interesse an einem Vergleich der Rechtstraditionen auftauchte, beschränkte sich dieser daher auf die schriftliche Tora, wie im Fall der sog. Collatio legum Mosaicarum et Romanarum. ⁷⁶ Bis jetzt fehlt eine eindeutige Bezeichnung für dieses von den „Weisen“ Judäas (geschweige denn Babyloniens) und von der Mischna (noch) nicht erreichte, in seinen konkreten Lebensregeln uns kaum bekannte westliche Judentum. In jüdischer For-
Ritter, Philo und die Halacha; Termini, „Taxonomy“. Für den theologisch-theoretischen Bereich s. Weber, Das ,Gesetz‘ bei Philon. Borgen, „Application“ (s.u. B 3.4.1); Martens, One God, One Law. Passoni Dell’Acqua, „Alessandria e la Torah“. Juster, Les Juifs II 127– 215; Applebaum, „The Organisation of the Jewish Community in the Diaspora“; B. BRAVO: „Sulân. Représailles et justice privée entre des étrangers dans les cités grecques“, Annali della Scuola Normale Superiore di Pisa 101, 1980, 675 – 987; Rabello, The Jews in the Roman Empire. S.u. C 4.3.3; Literatur: nachstehend B 3.4.4.
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schung unserer Tage heißt es mitunter „biblisches“ Judentum,⁷⁷ weil andere Lebensregeln als die der Hebräischen Bibel für diese Populationen nicht nachweisbar sind.
2.6 Die rabbinische Rechtsbildung und Rechtstradition 2.6.1 Die pharisäisch-rabbinische Begründung des Rechts: das Prinzip der doppelten (schriftlichen und mündlichen) Tora Josephus vermerkt in Ant. 13,296 f, dass die Pharisäer außer den Pentateuchgesetzen auch noch Vorschriften (nomima) aus der Tradition als verbindlich betrachteten, Verhaltensnormen in einer Zwischenposition zwischen geschriebener Tora und profanen Gesetzen. Nicht lange danach sprachen die Rabbinen von einer „Mündlichen Tora“. Die pharisäische Erweiterung verbindlicher Tradition war ein Mittel, das Volk der weniger Gebildeten anzuleiten und soweit als möglich der priesterlich-levitischen Bevormundung zu entziehen. Dem entsprach auch ein aus der Laienperspektive, also von außen nach innen und nicht konzentrisch von innen nach außen angelegte Konzeption der Heiligkeit. Nicht vom Heiligtum aus und im Interesse der Kultdienerschaft, sondern von der Familie aus und im Rahmen rituell definierter Kreise „reiner“ Personen wird eine Ordnung unter rabbinischer Ägide entworfen, die in Umdeutung der priesterschriftlichen Wüstengemeinde als Gesellschaftsmodell für ganz Israel gelten sollte.⁷⁸ Wieviel von den frührabbinischen Traditionen in die Zeit Jesu zurückreicht, ist eine viel diskutierte Frage.⁷⁹ Gewisse Kontroversen, die in Qumrantexten sichtbar werden, weisen auf eine relativ frühe Auseinandersetzung frühpharisäischer Kreise mit streng priesterlichen Auffassungen und Praktiken.⁸⁰ Aber allem Anschein nach waren es nicht die Normen des alltäglichen Rechtslebens, die im Vordergrund des Interesses standen, sondern kultisch-rituelle Belange, denn es galt, für diese priesterliche Domäne die rabbinische Kompetenz zu demonstrieren. Das traditionelle Judentum unterscheidet die dem Mose am Sinai diktierte „Schriftliche Tora“, also die 613 Vorschriften (darunter 365 Verbote) des Pentateuchs von einer auch dem Mose am Sinai gelehrten „Mündlichen Tora“. Diese Tora sei über Josua und weitere Vermittler in einer ununterbrochenen Tradentenkette bis auf die Rabbinen der Mischna (die Tannaiten) und des Talmud (die Amoräer) weitergegeben worden, und
Mendels/Edrei, Zweierlei Diaspora. A. SIVERTSEV: Households, Sects and the Origin of Rabbinic Judaism, 2005. Siehe die umfangreiche Behandlung durch Neusner, The Rabbinic Traditions. Schiffman, „The Pharisees and their Legal Traditions“.
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zwar als besonderes Proprium Israels. Auf dieser doppelten Tora fußt das ganze spätere jüdische Recht, die „Halacha“. ⁸¹ Oft wird die „mündliche Tora“ zu einseitig als Produkt einer Auslegung der Schriftlichen Tora verstanden. Es trifft zwar zu, dass von Pentateuchgesetzen aus neue Regelungen abgeleitet worden sind; aber daneben enthält gerade die Mischna weit mehr Regelungen, die völlig unabhängig von Pentateuchgesetzen als „Tora des Mose vom Sinai“ bzw. als Halacha deklariert wurden. Es handelt sich nicht um konkurrierende oder zeitlich irgendwie versetzte legislative Verfahrensweisen, sondern um sachbedingte. Bot sich für die Regelung einer Sachfrage ein Pentateuchgesetz als Quelle an, machte man davon natürlich Gebrauch; wenn nicht, suchte man eine nichtbiblische Lösung, die dann von Späteren freilich nicht selten noch irgendwie biblisch untermauert wurde. Aber prinzipiell gilt das, was im 4Esr 14 klipp und klar dargelegt ist: Über die Pentateuchtora und die biblischen Schriften hinaus gibt es noch (70) Bücher, die gewissermaßen das Sondergut des Judentums darstellen.⁸² Erst durch die Tempelzerstörung und die dadurch bedingte Aushebelung der priesterlich-levitisch bestimmten Gesellschaftsstruktur der palästinischen Judenheit ergab sich die Nachfrage nach einer neuen, gesamtjüdischen Organisationsstruktur. Offenbar waren allein die pharisäischen bzw. frührabbinischen Zirkel in der Lage, auf längere Sicht ein geschlossenes Konzept zu entwerfen und ausreichende Unterstützung im Volk zu erreichen. Doch die Durchsetzung dieser neuen Ordnung war ein schwieriger und langwieriger Prozess, der gegen Ende der neutestamentlichen Zeit einsetzte und erst in den Jahrhunderten danach wirklich zum Zug kam. Bis dahin bestimmt die nichtrabbinisch orientierte Bevölkerung (der ‘am ha-′aräs ̣) die Alltagspraxis, und in den Anfängen leisteten noch die sogenannten mînîm Widerstand, antirabbinische und offenbar auch assimilationswillige Juden, die aber zu wenig Rückhalt im Volk hatten, um sich als Führungsschicht etablieren zu können. Christen spielten bei alledem in Palästina und Mesopotamien nur eine Nebenrolle. In der westlichen Diaspora war die Konfrontation mit ihnen allerdings unausweichlich, und christlicherseits wurde eine feindlich gegenüberstehende „Synagoge“ (Sammelbezeichnung in Analogie zu „Kirche“) und daher ein vereinfachtes Bild vom Judentum und seinem „Gesetz“ wahrgenommen. Für die Praxis wie für die Programmatik weit wichtiger als das Verhältnis zum Christentum war die Rechtswirklichkeit in der jeweiligen Umwelt.⁸³
Wie mišnah das ganze Sammelwerk und die einzelne Regelung bezeichnen kann, so auch halakah die Gesamtheit des auf der Schriftlichen und Mündlichen Tora fußenden jüdischen Rechts und eine Einzelregelung. Siegert, EHJL 1; vgl. K. M. HOGAN: „The Meaning of tôrâ in 4 Ezra“, JSJ 38, 2007, 530 – 552. Studien dazu z. B. bei Hezser, Rabbinic Law.
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2.6.2 Die Mischna und das Bild des rabbinischen Judentums von sich selbst Erstmals offiziell verschriftet wurde eine autoritative Auswahl dieser„Mündlichen Tora“ gegen 220 n.Chr. in der sog. Mischna, also lange nach der Zeit des Neuen Testaments. Dass sachlich zusammenhängende Vorschriften, z. B. über Eigentumsfragen und Körperverletzungen, in der Tradition schon früh zusammengestellt überliefert wurden, ist anzunehmen und entsprach den praktischen Erfordernissen der Rechtsprechung. Als Richter tätige Personen hatten wahrscheinlich solch kleine Sammlungen zur Hand, was aber noch lange kein Gesetzbuch ergab. Aber ein Gesetzeswerk, das alle Lebensbereiche abdeckt, war in der Antike etwas Ungewöhnliches. Es setzt ein geradezu enzyklopädisches Programm voraus, nämlich den Willen, alles zu erfassen, zu klassifizieren und zu ordnen. Die Mischna war solch ein programmatisches Werk, freilich nur im Sinne einer groben Sachordnung konzipiert und z.T. auf eine unbestimmte Zukunft ausgerichtet, wo judäische Autonomie und der Tempelkult wieder möglich sein würden. Sie ist in sechs „Ordnungen“ unterteilt, diese wieder in Traktate und in die Einzel-mišnajôt. Diese Einzel-Mišnajot, die Grundbausteine der Mündlichen Tora, begegnen hier oft schon thematisch gebündelt. Die 1. Ordnung, Zera‘îm, umfasst in 11 Traktaten im (ersten) Traktat Berakôt die Gebetsordnung, ansonsten Regelungen zur Abgabenordnung, v. a. im Zusammenhang mit landwirtschaftlichen Produkten. Die 2. Ordnung, Mô‘ed, behandelt in 12 Traktaten Feiertage und Feste. Die 3. Ordnung, Našîm, umfasst 7 Traktate, und zwar zum Eherecht, zur Gelübdepraxis und darin insbesondere zum Naziräat (vgl. # 231). Die 4. Ordnung, Nezîqîn enthält mit 9 (10) Traktaten (der Trakat Avot ist sekundär) das, was üblicherweise als Recht gilt: Schadensrecht,Vermögensrecht und andere zivilrechtliche Themen, im Traktat Sanhedrîn die Gerichtsordnung und das Verfahrensrecht. Weitere Traktate enthalten Strafrecht, Zeugenordnung und Regelungen bei Kontakt mit Götzendienst. Die 5. Ordnung, Qådašîm, behandelt in 11 Traktaten Kult und Opfergaben. Die 6. Ordnung, Ṭ åharôt, gilt mit 12 Traktaten Themen der rituellen Reinheit bzw. Unreinheit.
Die Rabbinen erstrebten mit dieser ansatzweise systematischen Klassifizierung eine detaillierte Regulierung der Lebensbereiche und die Kontrolle über die jüdische Gesellschaft überhaupt, und das mit weit detaillierteren Vorschriften, als es im Rahmen der priesterlich-levitischen Vorstellung vom „heiligen Volk“ geschehen war. In der Regel sind die alten Gesetzesüberlieferungen in der Mischna anonym überliefert. Viele dieser mišnajôt wurden wie andere tannaitische Einzeltraditionen wahrscheinlich aus lebendiger Rechtspraxis übernommen und adaptiert; doch wie weit sie jeweils zurückreichen, ist nur selten belegbar. Ein beträchtlicher Teil davon wurde den Schulen des Hillel und des Schammai zugeschrieben, was aber in erster Linie einen Autoritätsgrad markieren sollte, aber auch eine mildere von einer strengeren, formalistischeren Denkweise unterscheidet. Analoges gilt für all die Traditionen, die einzelnen Rabbinen zugeschrieben werden. Sie klassifizieren die Überlieferung vor allem nach
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den prominenten Schulhäuptern und Schulrichtungen und waren nicht so sehr als biographische Angaben gedacht.⁸⁴ Im Brief des Šerira Gaon ⁸⁵ wird der Versuch unternommen, die Rabbinen nach Generationen chronologisch einzuteilen, nämlich die Tannaiten in vier „Generationen“ und die Amoräer in einige mehr. Diese – zum guten Teil apologetisch motivierte – Konstruktion wurde über den Seder tanna′im wa-′amôra′îm ⁸⁶ zu einem bis heute wirksamen Mittel zur Einschätzung und Datierung der einzelnen Autoritäten.⁸⁷ Für den vorliegenden Kommentar sind diese Angaben von zu geringem Nutzen, als dass ihre Problematik hier verfolgt werden müsste. Eine Eigentümlichkeit aber sei noch erwähnt, die in den Talmudim sogar noch stärker hervortritt: Vieles nunmehr Aufgeschriebene hat den Charakter von Diskussionsprotokollen. Das Für und Wider unterschiedlicher Meinungen ist genauso viel wert wie die – oft nur durch Mehrheitsentscheid positivistisch festgelegte – Lösung. Abgewiesene Argumente sind keine falschen Argumente, sondern können an anderer Stelle die Chance haben, doch zu „ziehen“ (vgl. 3.4).
2.6.3 Halachische Midraschim Die Formulierung als Mischnasätze und deren Zusammenstellung zu thematischen Gruppen war eine – juristisch naheliegende – Möglichkeit, das Traditionsmaterial zu ordnen. So, wie gesagt, in der Mischna. Eine andere Möglichkeit der Anordnung bestand darin, das Traditionsmaterial anhand inhaltlich entsprechender biblischer Passagen aufzuführen, nämlich in sog. halachischen Midraschim, die darum nicht nur als Auslegungen der betreffenden biblischen Texte zu lesen sind. Rechtsgeschichtlich von Interesse sind v. a. die Midraschim Sifra zu Leviticus und Sifre zu Numeri und zum Deuteronomium.
2.6.4 Die Tosefta Die Mischna wurde aus den vom Patriarchen Jehuda ha-Naśî′ (ca. 160 – 220) favorisierten Traditionen erstellt. Eine im Aufbau fast gleiche Sammlung, die Tôsefta′, stammt aus anderen Überlieferungssträngen, hat aber, trotz ihres weit größeren Umfangs (bis zum Dreifachen), nicht die Bedeutung der Mischna als Inbegriff der „Mündlichen Tora“ erreicht.Vielmehr ist sie ein Archiv einstmals diskutierter, dann aber nicht angenommener
Müller, „Zur Datierung rabbinischer Aussagen“; Neusner, „What Use Attributions?“. Dazu Stemberger, Einleitung 16 u. ö. – Der Ehrentitel ga’ôn („Hoheit“) galt bis ins Mittelalter den Häuptern der großen Schulen in Mesopotamien und Palästina/Ägypten. Stemberger a.a.O. Es handelt sich um mittelalterliche Werke. – Auch für das Folgende ist Stemberger nachzuschlagen. So noch bei (Strack)/Billerbeck, Kommentar nebst seinen Registerbänden. Immer noch nützlich ist Bacher, Tradition und Tradenten.
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Rechtssätze bzw. -begründungen (vgl. 3.2, Ende). Der Judaistik ist die Tosefta wichtig als Spiegel vorkonstantinischer Verhältnisse in Judäa, ähnlich wie es auch für den „Jerusalemer“ Talmud gilt.
2.6.5 Die Gemara und die Talmudim Die Mischna diente in den folgenden drei Jahrhunderten in den rabbinischen Schulen als Grundlage für aktualisierende und erweiternde Behandlungen rechtlicher Fragen. Die nunmehr hinzukommenden Erörterungen, von Redaktoren zusammengestellt ineinander verwoben, nennt man zusammengefasst Gemara (gemara′ „Vollendung“). Die Rabbinen dieser Periode (3.–6.Jh.) heißen ‘amôra′îm, Amoräer („Sprecher, Lehrer“). In der Regel erscheint die Diskussion in einem thematisch in sich abgeschlossenen Abschnitt über Mischna-Passagen. in einer sog. sûgjah, zum Großteil in aramäischer Sprache; aber die Entscheidung über die geltende Halacha wird in hebräischer Sprache formuliert. Dabei werden nicht selten auch alte tannaitische Überlieferungen angeführt, die nicht in der Mischna zu finden sind; eine solche Tradition nennt man eine barajta′ („außerhalb [der Mischna] gelegen“). Auch diesbezüglich ist Vorsicht am Platz, denn nicht in jedem Fall ist eine Baraita wirklich alt. Manchmal sollte durch die Etikettierung als Baraita nur die besondere Bedeutung und Verbindlichkeit herausgestellt werden. Für die neutestamentliche Wissenschaft ist natürlich die palästinische Halacha von vorrangigem Interesse, also der Talmûd jerušalmi („Jerusalemer Talmud“, auch Talmûd ’äräṣ Jiśra’el, „Talmud des Landes Israel“, genannt oder „Palästinischer Talmud“), ferner die halachischen Midraschim. Einiges Palästinische ist freilich nur im Babylonischen Talmud vorzufinden. Es handelt sich auch hier in erster Linie um Ergebnisse aus dem Schulbetrieb und nicht immer um Belege für angewandtes Recht. Daher werden auch widersprüchliche Ansichten referiert.Was im Rahmen der oft recht umfangreichen und durch nichtgesetzliche Einschübe auch unübersichtlichen Debatten schließlich als Halacha gilt, wird nicht in jedem Fall klar. In der Folgeperiode kam daher zu einer Nachfrage nach handlichen Sammlungen der verbindlichen Vorschriften für bestimmte Themenbereiche und schließlich zu großen Kompendien, von denen freilich nur der Mišneh tôrah des Moše ben Maimon (gest. 1204) das gesamte jüdische Recht auf der Basis der Schriftlichen und Mündlichen Tora umfasst.
2.7 Jüdische Rechtsinstitutionen 2.7.1 Lokalgerichte; das Richteramt Es gab in alter Zeit kein staatlich durchorganisiertes, flächendeckendes Rechtswesen im heutigen Sinne, so sehr auch Richter und Gerichte in der Tora bereits in Ansehen
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standen.⁸⁸ Die normale Gerichtsbarkeit oblag lokalen Autoritäten bzw. Sippenältesten und entsprach weithin eher schiedsgerichtlichen Verfahren, und dementsprechend war auch die Exekution von Urteilen im zivilrechtlichen Bereich vom Willen der Beteiligten und von der Effektivität des sozialen Drucks der Umgebung abhängig. Außerhalb geschlossener Gruppen bestand insofern auch die Möglichkeit der Wahl zwischen verschiedenen Rechtsordnungen. Einigten sich die Prozesspartner auf die Anrufung eines bestimmten Gerichts bzw. eines bestimmten Richters und auf die Anwendung eines bestimmten Rechts, so implizierte dies auch die Bereitschaft, das Urteil zu akzeptieren und zu vollziehen. Aufgrund von Dtn 16,18 galt die Einsetzung von Richtern (šôfetî ̣m) und Amtsleuten e (šôt rîm) in den Städten der Stämme als verpflichtendes Toragebot. Dazu tritt in Dtn 17,8 – 13 + 18,9 – 19 eine höchstrichterliche Instanz am Heiligtum. Dahinter steht das deuteronomistische Konzept eines teils staatlich-königlichen, teils kultischen, zweistufigen Rechtswesens, das 2Chr 19,4– 11 für eine angebliche Reform des Königs Jehošafat voraussetzt. Kultische und königlich-staatliche Kompetenzen überschnitten sich v. a. im Bereich des Abgabenwesens und waren auch durch Leviten als Personal miteinander verbunden. Wieweit dies Theorie blieb, ist unklar. Doch diente dieses System schon in der Perserzeit als Leitbild bei dem Bemühen der jüdischen Behörden, in der Tempelprovinz Juda die Kontrolle über das zentrale und städtische Rechtswesen zu gewinnen, um das Normensystem der Exilsheimkehrer-Gemeinschaft durchzusetzen. Das deuteronomische Modell dürfte also nach und nach in jenen Orten wirksam geworden sein, in denen sich ausreichend viele Exilsheimkehrer niedergelassen hatten, also abgesehen von Jerusalem v. a. in den Priester- und Leviten-Orten. Die Verhältnisse auf dem flachen Land, in den dörflichen Gemeinschaften und Sippen, also auf der untersten Ebene des Rechtslebens, waren davon kaum betroffen, und so blieb es offenbar auch weiterhin. In den kleinstädtischen und dörflichen Gemeinschaften hatten nämlich – wie in der Umwelt auch – lokale Notable, „Älteste“ (zeqenîm, gr. presbyteroi) das Sagen, die auch Richterfunktionen ausübten.⁸⁹ Später wurden die „Ältesten“ rückblickend als Mitglieder des örtlichen Gerichtshofs verstanden,⁹⁰ wie auch im Talmud, bBQ 82a die örtlichen Gerichtshöfe auf die Reform unter Esra/Nehemia zurückgeführt werden. Gemäß der vorherrschenden patriarchalischen Sippenstruktur wurde Vieles jedoch intern oder zwischen Sippenältesten geregelt. Diese Sippenpatriarchen stellten auch wohl die meisten „Ältesten“ (Esr 10,16), die auf höherer Eben die Sippenverbände einer Region repräsentierten, zu unterscheiden von śarîm, den Funktionären der öffentlichen, flächendeckenden Verwaltung (vgl. Esr 9,1).⁹¹ Die Rolle der „Ältesten“ blieb auch in
[S.u. C 4.3.2 sowie # 108.] Reviv, The Elders in Ancient Israel; Buchholz, Die Ältesten Israels. Dtn 21,19 – 20 und Dtn 22,16 verdeutlich das Targum Onkelos durch einen Zusatz: „die Ältesten sind der örtliche bêt dîn (Gerichtshof )“. Weyl, Die jüdischen Strafgesetze bei Flavius Josephus.
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Diasporagemeinden offensichtlich bis in die talmudische Zeit hinein stabil,⁹² jedenfalls überall dort und solange, als die herkömmliche Sozialstruktur intakt blieb. Mit der massiven Urbanisierung in der herodianischen Zeit änderte sich dies in Palästina weithin; die städtischen und örtlichen Mittelschichten und Institutionen gewannen größeres Gewicht. Die Gerichtsbarkeit auf unterster Ebene sah sich nun flächendeckenden Verwaltungseinheiten gegenüber, wie sie v. a. unter Herodes konsequent eingeführt worden sind (Bell. 3, 54 f.; Plinius, Naturalis historia 5,14,70: 11 bzw. 10 Toparchien bzw. Kleruchien). Gleichwohl dürfte der Bestand der örtlichen Traditionen auch durch solche Verwaltungsmaßnahmen unbeeinträchtigt geblieben sein. Erst aus späterer Zeit, genauer: vom 27.12.293 ist ein Reskript Diokletians an „Juda“ (das dürfte Patriarch Jehuda III. gewesen sein) bekannt, das Ernennungsmodalitäten von Richtern – offenbar auch jüdischen – zu vereinheitlichen bestrebt ist (C. 3,13,3; Linder, The Jews 114– 117).
2.7.2 Jerusalem als Zentrale Offizielles: Das Rechtswesen höherer Instanzen wurde vorrangig durch die politischen Herrschaftsverhältnisse bestimmt, durch Stammesrecht und durch staatliches bzw. königliches Recht, im Rahmen von Provinzverwaltungen und zentral an einem königlichen Hof,⁹³ wobei das Ausmaß der geltenden Normen ebenso wie das von Neuerungen sehr unterschiedlich ausfallen konnte. Es versteht sich von selbst, dass es unter der hasmonäischen Herrschaft des 2./1. Jh. v.Chr., also im souveränen jüdischen Staat, auch ein angewandtes jüdisches Recht gegeben hat. Dessen Praxis im Einzelnen ist aus den vorhandenen Quellen leider nur in geringem Maß erhebbar.⁹⁴ Schon unter Johannes Hyrkan (134 – 104 v.Chr.) soll es zu einer Anzahl von Rechtsverordnungen gekommen sein, die später von den Rabbinen als rechtsgeschichtlich markante Maßnahmen verzeichnet worden sind.⁹⁵ Unter der Hasmonäerkönigin Salome Alexandra (76 – 67 n.Chr.), der einzigen Königin auf dem Hasmonäerthron, gewann die pharisäische Richtung die Oberhand (Bell. 1,110 – 114), und man darf wohl davon ausgehen, dass damals auch die aus dem Neuen Testament bekannte Institution des Synhedrium seine Gestalt erhalten hat, und ferner, dass sich nach der syrischen Statthalterschaft des Gabinius ab 57 v.Chr. infolge der römischen Unterstützung für Hyrkan II. die pharisäischen Tendenzen nochmals festigen konnten. Herodes d. Gr. (reg. 40 – 4 v.Chr.) war darauf bedacht, als König sowohl den Anliegen der Juden als auch der Nichtjuden seines Herrschaftsgebietes Rechnung zu tragen, anerkannte aber nicht die Autorität des Syndriums, soweit es seine eigenen Machtansprüche betraf. Die Möglichkeit der gerichtlichen Durchsetzung von „Tora“ und phari
Klijn, „Scribes, Pharisees, Highpriests, and Elders“. [Lit. s. Bd. II, # 65.] Schiffman, „The Maccabean Halakhah“. Ant. 13,296; mMŠ 5,15; mSoṭa 9,10; Lieberman, Hellenism 139 ff.
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säischer Rechtstraditionen war insofern unter ihm begrenzt. Man kann voraussetzen, dass seine flächendeckende Verwaltungsreform auch das örtliche Rechtswesen betraf, doch fehlen genauere Hinweise, v. a. für eine Darstellung der Rechtspraxis und für zivilrechtliche Belange. Vermutlich sind die bestehenden örtlichen Institutionen in Respektierung der althergebrachten Praxis so integriert worden, dass wenig Änderungen eintraten. Dass Herodes aber bestehende Gesetze aus gegebenen Anlässen auch geändert hat und somit, wie jeder orientalische König, legislative Macht in Anspruch nahm, berichtet Josephus in Ant. 16,1– 5. Die Möglichkeit, in Streitfällen staatliche Instanzen anzurufen, war also nicht neu und blieb auch später unter römischer Provinzverwaltung möglich. Das zeigen Textfunde in der Wüste Juda für die Zeit vom 1. zum 2. Jh. n.Chr. Insbesondere die Dokumente des Babatha-Archivs illustrieren, wie eine selbstbewusste Frau ihre Familien- und Vermögensinteressen unter kluger Ausnutzung der provinziellen Rechtslage zu wahren vermochte.⁹⁶ In gemischt besiedelten Gebieten und vor allem im Falle der Beteiligung von Nichtjuden am Rechtsstreit war die Zuständigkeit der fremden Gerichte allerdings vorgegeben. Innerhalb geschlossener jüdischer Gemeinschaften war ihre Anrufung aber sicher nicht die Regel. Die anhaltende Opposition der Essener: Einige der konkurrierenden jüdischen Gruppen verfügten jedoch über eigene Institutionen. Josephus nennt in Bell. 2,145 für die Essener ein Gremium von 100 Mitgliedern. CD X 4– 6 erwähnt Gerichtsgremien von zehn 25 – 60-jährigen Mitgliedern, sechs Israeliten (Laien) und vier aus Levi/Aaron, und setzt ihre Kenntnis des Buches hhgw und der „Grundlagen des Bundes“ voraus. In 4Q 159 Frg. 2– 4 ist von 12 Männern die Rede, davon 2 Priester, offenbar auch für Tötungsdelikte zuständig. CD IX 16 – 23 fordert für Kapitalprozesse drei, bei geringeren Delikten 2 Zeugen als Voraussetzung, und schreibt dem Aufseher (mebaqqer) der Gemeinschaft eine wichtige Rolle im disziplinarrechtlichen Vorfeld zu. 1QS V 226 – VI 1 enthält für den Jaḥad die Vorschrift der vorausgehenden Vermahnung und öffentlichen Zurechtweisung (vgl. Mt 18,15 – 17 – # 139 –, rabbinisch: hatra′ah). In CD XV 1– 5 wird die Eidesleistung behandelt; das Gremium wird nicht beschrieben, scheint aber aus der Gesamtheit der (örtlichen) Vollmitglieder zu bestehen. Diese Gremien sind jedoch nicht einer einheitlichen Gruppe, etwa einer „Qumrangemeinde“ zuzuordnen; sie begegnen in Ordnungen, die zeitlich und wohl auch örtlich unterschiedlich anzusetzen sind, und zwar für städtische Gemeinschaften, Lagergemeinschaften, und für jaḥad-Gemeinschaften, wobei programmatische und tatsächlich angewandte Regelungen oft nicht getrennt werden können. Die örtlichen Traditionen waren zählebig und haben während der hellenistischrömischen Oberherrschaft eher eine Verfestigung erfahren, weil sie den Gegebenheiten in der nichtjüdischen Umwelt weitgehend entsprachen. Josephus setzte z. B. in seiner
S.u. C 4.4.1 sowie H. COTTON: „The Law of Succession in the Documents from the Judaean Desert again“, Scripta Classica Israelica 17, 1998, 115 – 123; Chiusi, „Babatha vs. the Guardians“.
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Wiedergabe der Gerichts-Tora von Dtn 16 für städtische Ansiedlungen ein Gremium von sieben Mitgliedern und zwei levitischen Bütteln (hypēretai) voraus (Ant. 4,214– 218), und selber hat er lt. Bell. 2,571 als Befehlshaber in Galiläa solche Gremien eingesetzt. Wie diese funktionierten, beschreibt er dort nicht.⁹⁷ Auch in talmudischen Quellen werden für ein städtisches Führungsgremium (sieben t ̣ôbê ha-‘îr, „Beste der Stadt“) vorausgesetzt (bMeg 26a).⁹⁸ Bis ins Mittelalter hinein hat diese Form von Selbstverwaltung auch die Organisation der – ja in der Regel städtischen – jüdischen Diasporagemeinden geprägt.⁹⁹ Selbstverwaltungsgremium und Gerichtshof waren aber wahrscheinlich nur in sehr kleinen Gemeinschaften identisch, auch wenn die Ortsgewaltigen beide Instanzen dominierten. Diese Überlappung haben die Rabbinen erst spät zu entflechten vermocht, indem sie für Dreiergremien die Beteiligung eines rabbinisch Gebildeten durchsetzten.
2.7.3 Älteste in Mutterland und Diaspora Neues Testament und Papyri bezeugen örtliche presbyteroi (hier # 65; # 95). Mt 5,22 setzt ein (wohl lokales/regionales?) synhedrion als höhere Gerichtsinstanz voraus, und auch Mk 13,9/Mt 10,17 spricht von lokalen synhedria, dazu von Synagogen als Stätten des Strafvollzugs, was Diaspora-Gegebenheiten voraussetzt (vgl. 2Kor 11,24). Die Terminologie wechselt und daher ist nicht immer klar, welche Institution tatsächlich dahinter steht.¹⁰⁰ Wo und durch wen über Paulus nach 2Kor 11,24 (# 312) fünf Male die Geißelstrafe verhängt wurde, ist offen, doch dürfte das eher in der Diaspora als in Palästina gewesen sein. Innerhalb der Diaspora hatte das ptolemäische Alexandrien über ein fest ausgebautes jüdisches Gerichtswesen verfügt;¹⁰¹ doch wie weit dessen Strukturen und Funktionen für andere damalige Diasporagemeinden vorausgesetzt werden können, ist eine offene Frage. Anders als in den rein jüdischen Siedlungsbereichen waren die Diasporagemeinden in der Regel jeweils identisch mit einer Synagogengemeinde, und sie verfügten als ethnisch-religiöse Einheiten mit staatlich garantierter Autonomie über eine striktere Organisation. Politische, soziale, rechtliche und religiöse Belange waren hierbei engstens verquickt. Die Gemeindeleitung entsprach ganz dem sozialen Gefüge; die Vermö-
Die Antiquitates-Stelle nennt immerhin für die gerichtliche Funktion dieses Gremiums eine Oberinstanz in Jerusalem, offenkundig das Synhedrium; s. C 4.3.2. Zur Übersicht für die Antike s. Karlin, „Über die Mitgliederzahl der Gerichtshöfe“; Applebaum, „The Organisation“. Umfassende Informationen findet man bei Claußen, Versammlung, v. a. S. 224– 255 (Rechtslage und Rechtspraxis). Siehe die Beiträge in: I. GAFNI (Hg.): Qehal Jiśra‘el. Kehal Yisrael. Jewish Self-Rule Through the Ages, Bd. 1: Ha-‘et ha-‘attîqah, 2001. Rivkin: „Beth Din, Boulé, Sanhedrin“. Die Studien von Goodenough, Jurisprudence (nur zu Philon) und Heinemann, „Jüdisch-hellenistische Gerichtshöfe“ sind veraltet; s. jetzt Piattelli, „Intorno al problema“ sowie unten C 4.2.3. Zur Einschränkung jüdischer Autonomie in Alexandrien unter den Kaisern s. M. VOGEL: „Jüdisches Bürgerrecht in Alexandrien“, in: Siegert u. a., Josephus: Ursprünglichkeit II 130 – 135.
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genden, die für die Gemeinschaftsaufgaben aufkamen, hatten das Sagen. Der Gemeindeleitung fielen alle Kompetenzen zu, und es lag dabei in ihrem Ermessen, wie weit sie sich auf Experten stützen wollte. Sie verhängte jedenfalls Disziplinarstrafen, etwa die Prügelstrafe für unbotmäßige Mitglieder, und bestimmte für die Behandlung von Rechtsfällen die örtlichen Richter. Innerjüdische Belange wurden auch innerjüdisch erledigt. In einem Fall wurde z. B. in Sardes 50/49 v.Chr. von römischer Seite laut Ant. 14,235 ausdrücklich darauf verwiesen, dass solche Rechtssachen intern kata tous patrious nomous zu erledigen seien. Sieht man von einer im öffentlichen Interesse erfolgenden Verfolgung von Straftaten ab, stand es Streitparteien auf unterster Ebene grundsätzlich frei, sich einvernehmlich einen Richter zu wählen. Wie selbstverständlich dies war, illustriert eine ironische Erzählung in bŠabb. 116a, in der die Bestechlichkeit eines „Philosophen“ (einer Person mit rhetorischer Ausbildung) durch Ausnützung der Diskrepanz zwischen dem Erbanspruch einer Tochter in biblisch-jüdischen und im römischen Recht getestet wird. Der „Philosoph“ urteilt angesichts der jüdischen Prozessparteien zuerst nach biblischjüdischem Recht (kein Erbanspruch der Töchter), nach erfolgreicher Bestechung nach römischem.¹⁰² Der frühjüdische Pluralismus und Parteienstreit hat in Palästina die Ausbildung eines einheitlichen, rein jüdischen Rechtswesens verhindert. In der Diaspora, vor allem in Babylonien und im ptolemäischen Alexandrien, waren die organisatorischen Voraussetzungen dafür wegen der Identität von (jüdischer) Ortsgemeinde und „Synagogengemeinde“ günstiger. Diese Institutionen konnten auch nach dem Zusammenbruch des auf Jerusalem zentrierten priesterlich-levitisch beherrschten Tempelstaats ungeschmälert weiter funktionieren, während der Aufstieg der rabbinischen Richtung erst einsetzte. Im Rechtswesen haben darum die pharisäischen und dann rabbinischen Kreise gerade die traditionellen örtlichen Institutionen zu unterwandern versucht, mit dem Ziel, die Positionen der „Ältesten“ durch rabbinische Gelehrte zu besetzen. Dies gelang zunächst nur in den größeren Ortschaften, wo die Mittelschicht, aus der sich die pharisäischrabbinischen Zirkel rekrutierten, entsprechend vertreten war. Auf dem Lande sah es anders aus, wie die zahlreichen negativen Aussagen über die ‘ammê ha-′aräs ̣ (die nichtrabbinisch orientierte Bevölkerung) zeigen. Die traditionellen Institutionen der Städte und kleineren Orte blieben also erhalten, doch Richterstellen wurden nun nach Möglichkeit rabbinisch besetzt, unter den hillelitischen Patriarchen mit römischer Duldung, sogar gezielt durch Ernennung von Richtern, die eine rabbinische semîkah (Ordination; # 206) aufzuweisen hatten. In der Mischna schrieb man dies als vollendetes System fest. Nicht nur die rabbinische Besetzung der traditionellen Institutionen wird in mSan. vorausgesetzt, sondern eine Reorganisation des gesamten Rechtswesens: Ein zentrales Sanhedrin von 70+1 Mitgliedern (nach Num 11,16) dient als Höchstinstanz, dazu treten regionale „kleine Sanhedrin“-
Maier, Jüdische Auseinandersetzung 78 – 93.
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Gremien zu 23 Mitgliedern, sowie Gerichtshöfe mit einer Mindestzahl von 3 Richtern auf unterster Ebene. Das war ein Programm, das auf gewisse reale Gegebenheiten der regionalen und örtlichen Verwaltungsstrukturen zurückgriff,¹⁰³ aber als rabbinische Rechtsordnung nur in dem Maß durchgesetzt werden konnte, wie Rabbinen auch die Kontrolle über die Ortsselbstverwaltung und die örtlichen Synagogen errangen, über die normalerweise die Ortsgewaltigen aus der sozialen Führungsschicht verfügten (vgl. bMeg. 26a in Bezug auf den Verkauf einer Synagoge). Das war ein langwieriger Prozess, der sich bis ins 3.–6. Jh. hinzog. Eine vollständige Zentralisierung dürfen wir uns aber nicht darunter vorstellen. Die Einzelgemeinden v. a. in der Diaspora verstanden sich und verstehen sich auch noch heute als autonome Repräsentationen „Israels“. Fazit: Für die örtlichen und städtischen Gerichtshöfe bestätigten die Rabbinen die von alters her bestehenden Institutionen; sie deklarierten sie als Teil der mosaischen Ordnung im Sinne von Dtn 17,14– 20 (sog. Königsgesetz). Es dauerte aber in der Praxis nach 70 n.Chr. noch Jahrhunderte, bis es dem Patriarchen gelang, durch Ernennung rabbinischer Richter das örtliche Gerichtswesen überall einigermaßen unter Kontrolle zu bringen. Sogar der konkurrierende priesterliche Anspruch (1 Priester unter drei Richtern) wurde teilweise weiterhin aufrechterhalten (mSan. 1,3). Und selbst im Mittelalter blieb es bei einem rabbinisch gebildeten Mitglied der örtlichen Dreierkollegien, weil die Einzelgemeinde sich als autonome „heilige Gemeinde“ und Repräsentantin Israels verstand und die Gemeindeführung nie bei den Rabbinen lag, sondern in den Händen der örtlichen Honoratioren. Daher hatten die Rabbinen (für die Neuzeit sagt man: Rabbiner) auch in den Synagogen nicht das Sagen und der örtliche bwz. regionale Brauch konnte sich sogar gegenüber der Halacha recht gut behaupten.
2.7.4 Höchstinstanzen: Syndrium, Patriarch, Exilarch Unter Salome Alexandra (s.o. 4.2.1) kam die pharisäische Partei an die Macht und in der Folge wurde das höchste staatliche Gremium, der ḥäbär ha-jehûdîm, neu strukturiert. Von nun an sprach man, einen griechischen Terminus technicus wählend, vom synhedrion (hebr. als Fremdwort: sanhedrin, fem.). Dieses tagte unter dem Vorsitz des Hohenpriesters; damals war dies Alexandras Thronfolger Hyrkan II., mit den Pharisäern verbündet und von Roms Gnaden eingesetzt. Die Sadduzäer hatten darin zwar dank bestimmter priesterlicher Ämter und durch sympathisierende Magnaten noch gewisse Positionen, aber offenbar keine Mehrheit. Es gibt leider keine Nachrichten über das Schicksal des Syndriums unter der kurzen Herrschaft des mit den Sadduzäern liierten Königs Antigonos Matthatias (40 – 37), doch dürften die Mehrheitsverhältnisse zuungunsten der Pharisäer drastisch verändert worden sein. Herodes d. Gr., der 40. v.Chr. durch den römischen Senat zum König ernannt worden war, musste der traditionell
Vgl. die Verwaltungsreform des Gabinius mit regionalen synhedria und dann unter Herodes mit den Tetrarchien sowie die Einteilung in Kleruchien oder Toparchien.
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romfreundlichen pharisäischen Partei und der Anhängerschaft des romtreuen Hyrkan II. sicher Rechnung tragen. Aber der König, der schon als Statthalter in Galiläa die Zuständigkeit des Syndrium als Höchstgericht demonstrativ in Frage gestellt hatte, ordnete sich keineswegs unter und bestellte häufig wechselnd zadokidisch-sadduzäische Hohepriester. Die römischen Statthalter haben diese Politik fortgesetzt. Das Syndrium hat sich als Institution im Sinne des Höchstgerichts von Dtn 17 verstanden und war offenbar bemüht, seinen Einfluss (auch über Palästina hinaus, vgl. Apg 9,2) auszudehnen. Seine Möglichkeiten blieben jedoch durch die königlichen bzw. römischen Machtansprüche und durch die Sondertendenzen jüdischer Gruppen eingeschränkt. Unter direkter römischer Verwaltung ab 6 n.Chr. dürfte sich für das Syndrium zwar wieder eine Kompetenzerweiterung ergeben haben, doch war man sich innerjüdisch alles andere als einig, und die Akzeptanz der Entscheidungen war von den internen Macht- und Mehrheitsverhältnissen abhängig. Im Syndrium hatte sich mit der pharisäischen Richtung ein mit der priesterlichen Autorität konkurrierender Faktor eingestellt. Die pharisäischen Gesetzesgelehrten, die sich teilweise aus den Leviten der öffentlichen Verwaltung rekrutiert haben dürften, suchten zudem ihren Einfluss unter der breiten Masse geltend zu machen und damit eben auch in den örtlichen Institutionen. Das Schulwesen und Rechtswesen auf den unteren Ebenen wurde von keiner anderen Richtung so zielstrebig für die eigenen Zielsetzungen in Anspruch genommen, während der Gesichtswinkel der elitären Sadduzäer und auch jener der Essener auf die kultischen Belange fixiert blieb. Die Folge war ein populäres Renommee der Pharisäer als akribischer Gesetzesexperten, wie Josephus bezeugt (vgl. # 13), und eine Verankerung in den Institutionen der unteren Administrationsebenen. Auf das (hebr. sogar: die) sanhädrîn wurden wesentliche Kompetenzen des Synhedriums der Zeit vor 70 n.Chr. übertragen. Als höchstes rabbinisches Gelehrtengremium war es als eine Art von gesetzgebender Körperschaft. Nach dem rabbinischen Geschichtsbild, wie es im Traktat Abot (spät erst) niedergelegt wurde, handelt es sich um eine seit Mose schon bestehende Institution; als Bindeglied postulierte man eine „Große Versammlung“ in all der Zeit zwischen den biblischen Propheten und dem Hohenpriester Simon I., „dem Gerechten“.¹⁰⁴ Diesem Gremium wird ohne Rücksicht auf die tatsächlichen politischen Verhältnisse und Beschränkungen programmatisch die volle Rechtskompetenz zugesprochen. Da dies der Realität immer nur teilweise entsprach, formulierte man als bis zur messianischen Herrschaft geltende Kompromissformel dîna′ de-malkûta′ dîna′ – „das Recht des herrschenden Staates ist gültiges Recht“, was allerdings Delikte wie Götzendienst, Mord oder Unzucht ausschloss.¹⁰⁵ Doch war derartiges So mAb. 1,1– 2. Das Wirken dieses Simon wird in Sir 50 in leuchtenden Farben geschildert. Caligula ordnete die Aufstellung seines Kaiserbildes auch im Jerusalemer Tempel an, was nur durch eine Verschleppungspolitik seitens des Präfekten von Syrien bis zu seinem Tod verhindert werden konnte. Alle überlieferten Details (polemisch Übertriebenes eingeschlossen) s. Schürer/V., History I 394– 397.
B 2 Einführung in die Quellen des jüdischen Rechts
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dank der den Juden gewährten Privilegien nur in Extremfällen (z. B. kurzfristig unter Caligula) aktuell. Das Synhedrium der rabbinischen Tradition hat jedoch erst im Lauf des späten 2. Jh. und des 3. Jh. eine Bedeutung erlangt, die an seine Vorgängerinstitution erinnert, und auch dann unter Ausschluss der hohepriesterlichen Position, an deren Stelle der jeweils angesehenste Rabbi aus dem Hause Hillels unter dem Titel naśî′ „Fürst“ aufrückte. Sie war das Repräsentationsorgan der rabbinischen Schulhäupter und der von ihnen vertretenen „Lehrhäuser“ (Schulen). In seiner politischen und „akademischen“ Funktion unterstand es dem nasî′ bzw. „Patriarchen“ mit dem Titel rabban; in der Funktion als oberster Gerichtshof führte ein ′ab bêt dîn den Vorsitz. Diese Neuorganisation der jüdischen Selbstverwaltung und Gerichtsbarkeit (nach innen) und Vertretung (nach außen) setzte ein nach 70 n.Chr. in Jabne/Jamnia unter „Rabban“ Joḥanan ben Zakkai (S.u. C 4.3.1). Dessen Lehrhaus gewann für die weitere pharisäisch-frührabbinische Entwicklung maßgebliche Bedeutung. Solche Schulen, deren Häupter als „Weise“ mit dem Titel rabbî (in Babylonien aramäisch: rab) haben sich in Galiläa, wohin die Akademie von Jabne „umgezogen“ war, bis gegen 100 lose zusammengeschlossen, um wichtige Entscheidungen zu koordinieren, die Ziele dieser Bewegung überregional durchzusetzen, gegenüber den römischen Behörden eine repräsentative Körperschaft auszubilden und damit nach und nach das Erbe des alten Synhedriums zu übernehmen. Die bisherige judäische Vertretung in Rom, bestehend aus Mitgliedern der Familie des Vasallenkönigs, Söhnen möglichst, die dort als Verbindungsleute (und ein wenig wohl auch als Geiseln) residierten, bis der Senat sie etwa mit der Herrschaftsübernahme betraute, entfiel gegen Ende des 1. Jh. in einer Politik, die dem „großen König“ Agrippa II. (gest. um 100; es ist der in Apg 25 – 26 erwähnte) keinen Nachfolger mehr gab. In jenes selbe Schlussjahrzehnt des 1. Jh. fällt die aus allerlei talmudischen Anekdoten bekannte Romreise der vier maßgeblichsten Rabbinen noch von Jabne aus, deren Absicht wir zwar nicht erfahren, aber im Kontrast zu den Bemühungen des Josephus, selbst das Judentum gegenüber dem Kaiserhaus darzustellen, erschließen können:¹⁰⁶ Es ging um die Entmachtung der alten priesterlichen Aristokratie, der Josephus noch angehört hatte, zugunsten einer Anerkennung der rabbinischen Spitze als Volksvertretung des weltweiten Judentums. In der Zeit nach dem Bar-Kochba-Aufstand (132– 135) erreichte das Sanhedrin eine so maßgebliche Bedeutung, dass auch Rom auf seine Kooperation setzte und das rabbinische Regiment des Patriarchen und seines Hohen Rates als Vertretung der Juden in Palästina und dann darüber hinaus des ganzen römischen Reiches akzeptierte. Die Rabbinen haben auf diese als mosaisch dargestellte Institution allerlei Entscheidungen zurückgeführt, die angeblich zwischen 70 und 132 n.Chr. getroffen wurden, und bestimmte Regelungen haben sie sogar der besagten „Großen Versammlung“ zugeschrieben.
[Vgl. F. SIEGERT: „Einleitung“ in: ders/Schreckenberg/Vogel, Josephus: Leben 2 mit Anmerkungen.]
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B. Grundwissen und Voraussetzungen
Für die frühen Christen, die vor 70 n.Chr. ins Visier des Synhedriums geraten waren, blieben diese neuen Institutionen bis zum Bar-Kochba-Krieg relativ unerheblich, weil sie nur für die rabbinisch orientierten Gruppen Autorität hatte. Die Situation änderte sich unter Bar Kochba für einige Jahre; danach aber rückte das Judenchristentum für das palästinische Judentum an den Rand des Geschehens, und das Heidenchristentum seinerseits wurde nicht mehr als jüdische Richtung empfunden. Gleichzeitig wurden die Beziehungen zum aramäischsprachigen Osten intensiver. Der Patriarch mit Wohnsitz irgendwo in Palästina errang trotz seiner Doppelfunktion nur einen Teil der Machtfülle des babylonischen Exilarchen, der sich sogar direkter davidischer Abstammung rühmte. Erst in christlichen Zeiten, nach dem ersten Viertel des 5. Jh., wurde auch das Amt des Patriarchen wieder aufgelöst, und damit entfiel auch die an ihn zu entrichtende Steuer. Für die Diaspora, v. a. die westliche, bedeutete das eine erhebliche Schwächung der Beziehungen zum Mutterland; die Einzelgemeinden waren auf sich allein gestellt und verstanden sich nun umso mehr als unabhängige „heilige“ Repräsentationen ganz Israels. Trotzdem gelang es der rabbinischen Richtung, sich im Lauf des 6.–8. Jahrhunderts in der gesamten Diaspora, also auch bis ins Abendland hinein, durchzusetzen und mit dem nun voll ausgearbeiteten „jüdischen Recht“ eine Einheit zu begründen, die sich bis zur Emanzipationszeit und in der Orthodoxie noch bis heute auch ohne zentrale Instanz als effektiv erwiesen hat.
Johann Maier
3 Übersicht über die Quellen des jüdischen Rechts Buchtitel, auch Zeitschriftentitel und ihre Abkürzungen, sind kursiv wiedergegeben, Buchkapitel und Aufsätze in „…“ genannt. Auf den Zusatz „Hg.“ wird verzichtet, wo es sich laut Titel um Editionen handelt. [Ergänzungen: F. S., unter Mithilfe von Lutz Doering.] Hier etwa Vermisstes s. Literaturverzeichnis am Ende dieses Bandes. Ein ausführlicheres Literaturverzeichnis, mehr Sekundärliteratur einschließend, gibt J. MAIER: Hebräisch-aramäisches Glossar zum jü dischen Recht in der Antike, 2020, 48 – 111.¹ RAKOVER, N.: The Multi-Language Bibliography of Jewish Law, 1990
3.1 Hebräische Bibel und Targumim 3.1.1 Urtextausgaben und Hilfsmittel TÔRAH, nebîʾîm u-ketûbîm. Biblia Hebraica Stuttgartensia, ed. R. KITTEL (u. a.), A. SCHENKER, 5. Aufl. 1997 (u. ö., 2006 zugleich als CD-Rom; 2014) COHEN, M. (Hg.): Miqra‘ôt gedôlôt ha-kätär, 1992 ff [Textbasis: Aleppo Codex] DOTAN, A. (Hg.): Biblia Hebraica Leningradensia, prepared according to the vocalization, accents, and masora of Aaron Ben Moses Ben Asher in the Leningrad Codex, 2014 (hebr.) KATZ, E.: A Classified Concordance to the Torah (Pentateuch) (1964), 1974 [rabbinische Aufteilung Tora in 613 Vorschriften (248 Gebote und 365 Verbote) in Form thematischer Listen] LASSERRE, G.: Synopse des lois du Pentateuque (VT.S 59), 1994 [Aufteilung der präskriptiven Texte der Tora nach den in historisch-kritischer Forschung unterschiedenen älteren Textcorpora: Bundesbuch, Heiligkeitsgesetz, deuteronomistisches Gesetzbuch, Dekalog, Priesterschrift, sonstige Listen] LISS, H.: Tanach. Lehrbuch der jüdischen Bibel (Schriften der Hochsch. f. Jüd. Studien, Heidelberg, 8), (2005 u. ö.), 2019 [weist in einem Durchgang durch die Tora S. 17 – 192 durch Randnotizen und Eingerahmtes jeweils auf die aus diesen Stellen entstandene Halacha hin] ROFÉ, A.: Introduction to the Literature of the Hebrew Bible, 2009 WÜRTHWEIN, E.: Der Text des Alten Testaments, Neubearbeitung der Einfü hrung in die Biblia Hebraica, hg. A. FISCHER, 2009
Das dort ab S. 115 Folgende ist satzidentischer Vorabdruck des Glossars aus vorliegendem Werk, Bd.VII, S. 1– 208. https://doi.org/10.1515/9783110658347-010
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B. Grundwissen und Voraussetzungen
3.1.2 Targumim LE DÉAUT, R.: Introduction à la littérature targumique, 1966 GROSSFELD, B.: A Bibliography of Targum Literature, 3 Bde., 1972 – 1990 (Targum Onkelos bzw. Jonatan) SPERBER, A. (Hg.): The Bible in Aramaic, Bd. 1 – 3, 1959 – 1962; auch Nachdruck in 1 Bd., 2004 [Targum Onkelos (TO) für die Tora und Targum Jonatan (TJon) für „Vordere‟ und „Hintere‟ Propheten]; dito, Bd. 4/1: The Hagiographa, 1968 [zu 1.2 Chr; Rut; Hhld; Klag; Pred, Est]; Bd. 4/2: The Targum and the Hebrew Bible, 1973 (Targum Ps.-Jonatan, Ms. BM 27031) CLARKE, E. G. (U. a., Hg.): Targum Pseudo-Jonathan of the Pentateuch. Text and Concordance, 1984
Rabbinerbibel (bietet zu jedem Buch den gängigsten Targum) Miqra’ôt gedôlôt ‘im l„b pêrûšîm, Jerusalem 721 (1961) (Nachdruck der Ausgabe Warschau: Lebenzahn o. J.), 10 Bde.
Ausgaben mit Übersetzung (Targum Onkelos) BERLINER, A.: Targum Onkelos, herausgegeben und erläutert, 2 Bde. 1881 – 84; Nachdr. 1968, 1974 (Targum Neofiti, cod. Neofiti 1) DIEZ MACHO, A. (Hg.): Neophyti 1. Targum Palaestinense ms de la biblioteca vaticana, 5 Bde., 1968 – 1976 (Fragmententargum) KLEIN, Michael L.: The Fragment-Targums of the Pentateuch According to Their Extant Sources, Bd.1: Texts, Indices and Introductory Essays; Bd. 2: Translation, 1980
Übersetzungen ETHERIDGE, J. W. (Hg.): The Targums of Onkelos and Jonathan ben Uzziel, 1968 LE DÉAUT, R. (Übers.): Targum du Pentateuque (5 Bde., SC 245.256.261.271.282), 1978 – 1981 [links: Targum Neofiti; rechts: TPsJ nach Ms. BM 27031, mit Einführung]² MCNAMARA, M. (u. a., Übers.): The Aramaic Bible. The Targums, 19 Bde. in 22, 1988 – 1994
Monographien (außer Sperber [s. o.], Bd. 4/2) LEVINE, E.: The Aramaic Version of the Bible (BZAW 174), 1988 MACNAMARA, M.: Targum and Testament. Aramaic Paraphrases of the Hebrew Bible. A Light on the New Testament, 1972
Zur Septuaginta s. Literaturverzeichnis am Ende dieses Bandes, Abschn. 1.1.2.
Beides zusammengenommen heißt „Palästinischer Targum“.
B 3 Übersicht über die Quellen des jüdischen Rechts
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3.2 Außerbiblische Dokumente aus vorchristlicher Zeit 3.2.1 Die Elephantine-Papyri (5./4. Jh. v. Chr.) Empfohlene Zitierausgabe PORTEN, D./YARDENI A.: Textbook of Aramaic Documents from Ancient Egypt, Bd. 1: Letters, Bd. 2: Contracts, Bd. 3: Literature, Accounts, Lists, Bd. 4: Ostraca and Assorted Inscriptions (Bd. 2 – 4 jeweils mit Tafelband extra), 1986 – 1999 (zit.: Porten/Yardeni, TAD I-IV)³
Teilausgaben DRIVER, G. R.: Aramaic Documents of the Fifth Century B.C., 1954 (1965) GRELOT, P. (u. a.): Documents araméens d’Égypte, 1972 KRAELING, E. G.: The Brooklyn Museum Aramaic Papyri. New Documents of the Fifth Cent. B.C. from the Jewish Colony at Elephantine, 1953 (1969)2 PORTEN, B. (u. a., Hg.): The Elephantine Papyri in English (1996), 2011 [123 Texte, mit Kommentar zu 52 aram. Texten] BOTTA, A.: The Aramaic and Egyptian Legal Traditions at Elephantine. An Egyptological Approach, 2007 GROSS, A.: Continuity and Innovation in the Aramaic Legal Tradition ( JSJ.S 128), 2008 MUFFS, Y.: Studies in the Aramaic Legal Papyri from Elephantine, 2002 PORTEN, B.: Archives from Elephantine. The Life of an Ancient Jewish Military Colony, 1968
3.2.2 Das Jubiläenbuch (2. Jh. v. Chr.) Reste des hebr. Originals: 1Q 17 – 19; 2Q 19 f; 3Q 5; 4Q 176a.b.216 – 228; 11Q 12
äthiopischer Gesamttext mit Übersetzung VANDERKAM, J. C.: The Book of Jubilees, 2 Bde. (CSCO 510 – 511), 1989
Übersetzung BERGER, K.: Das Buch der Jubiläen ( JSHRZ II/3), 1981 ALBECK, Ch.: Das Buch der Jubiläen und die Halacha (Bericht der Hochsch. f. Wiss. d. Judentums in Berlin, Beilage), 1930
Diese Gesamtedition der erhaltenen Dokumente ersetzt die bislang vorhandenen Teileditionen. Im Bibel-Programm „Accordance“ auch als E-Book mit ausgezeichneter Suchfunktion angeboten.
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B. Grundwissen und Voraussetzungen
– : Sefär ha-jôbelôt we-ha-halakah, Madda‘e ha-jahadut 45, 2007/08, 3 – 48 BOCCACCINI, G./IBBA, G.: Enoch and the Mosaic Torah: The Evidence of Jubilees, 2009 SCHIFFMAN, L.: “The Maccabean Halakhah in the Dead Sea Scrolls and the Biblical Tradition”, DSD 13, 2006, 348 – 361 SEGAL, M.: The Book of Jubilees: Rewritten Bible, Redaction, Ideology and Theology ( JSJ.S 117), 2006
3.3 Die Qumran-Texte 3.3.1 Gesamtausgaben The Dead Sea Scrolls Electronic Library. Incorporating The Dead Sea Scrolls Reader, hg. E. TOV, 2006 [derzeit bestes Arbeitsmittel]
Ausgaben mit Übersetzung DJD: Discoveries in the Judean Desert,⁴ 1955 – 2008; relevante Bände: Bd. 1: BARTHÉLEMY D./MILIK J. T.: Qumran Cave 1, 1955; 2. Aufl. 1964 Bd. 2 s. Literaturverzeichnis am Ende dieses Bandes, 3.3.2: P. Mur. Bd. 3: BAILLET, M./MILIK, J. T./DE VAUX R.: Les ”Petites grottes” de Qumran. Exploration de la falaise, les grottes 2Q, 3Q, 5Q, 6Q, 7Q à 10Q, le rouleau de cuivre, 2 Bde, 1962 Bd. 7: BAILLET, M.: Qumran grotte IV.3 (4Q 482 – 4Q 520) 1982. Bd. 13: TOV, E., Qumran Cave 4 VIII: Parabiblical Texts, Part 1, 1995 Bd. 19: TOV, E.: Qumran Cave 4 XIV: Parabiblical Texts, Part 2, 1995 Bd. 27: COTTON, H./YARDENI, A. (Hg.): Aramaic, Hebrew and Greek Documentary Texts From Naḥal Ḥever and Other Sites (DJD 27), 1997 Bd. 28, 1 – 116: GROPP, D. M.: Wadi Daliyeh II. The Samaria Papyri from Wadi Daliyeh. 117 ff: BERNSTEIN, M. (u. a.): Qumran Cave 4. XXVIII: Miscellanea, part 2, 2001 [4Q 238.322a.332.362. 363.363b.368.371 – 373.377.468cc-dd.313c.317.324d.324e.324 f.324 g.324 h.324i; xReceipt ar and gr; xReceipt Text 1, xBiblical Text?; xUnidentified Text 2; xJudges] Bd. 31: PUECH, É.: Qumrân grotte 4. XXII: Textes araméens, première partie: 4Q 529 – 549, 2001 Bd. 35: BAUMGARTEN, J. (u. a.): Qumran Cave 4 XXV: Halakhic Texts, 1999 [4Q 249; 4Q 251; 4Q 264a; 4Q 265; 4Q 274 – 278; 4Q 284; 4Q 284a; 4Q 414; 4Q 272a] Bd. 36: PFANN, St. J.: Cryptic Texts. ALEXANDER, Ph. (u. a.), Miscellanea, part I, 2000 Bd. 38: CHARLESWORTH, J.: Miscellaneous Texts from the Judean Desert, 2000 LOHSE, E.: Die Texte aus Qumran, hebräisch und deutsch mit masoretischer Punktation, 1964;⁵ dito, Bd. 2, hg. A. STEUDEL, 2001⁶ GARCÍA MARTÍNEZ, F./TIGCHELAAR, E. (Hg., Übers.): The Dead Sea Scrolls. Study Edition, 2 Bde. (durchpag.),⁷ 1998 (auch Paperback mit einzelnen Korrekturen, 1999)
[Dies ist der Haupttitel und spätere Reihentitel der 40 Bände der von einem internationalen Team begonnenen, von Emanuel Tov zu Ende geführten ”offiziellen” Ausgabe der Qumran-Funde zuzüglich vieler Papyri aus anderen Fundorten zwischen Jericho, Qumran und dem Toten Meer. – Die Serie Dead Sea Discoveries (DSD) hingegen ist eine Zeitschrift.] Bietet nur die ”großen”, mehr oder weniger vollständigen Texte, die bis dahin bekannt waren. Ergänzt Lohse um die Tempelrolle (1– 157) und um Prophetenmidrasch-Fragmente; es fehlt 4QMMT. Verzeichnis aller Kürzel, die für Qumranschriften in Gebrauch sind: S. 1327– 1360.
B 3 Übersicht über die Quellen des jüdischen Rechts
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CHARLESWORTH, J. (u. a.): The Dead Sea Scrolls. Hebrew, Aramic, and Greek texts with Engl. translation. Bisher erschienen: Bd. 1: Rule of the Community and related documents, 1994 Bd. 2: Damascus Document, War Scroll, and related documents, 1995 Bd. 3: Damascus Document II, Some Works of the Torah, and related documents, 2006 Bd. 4a: Pseudepigraphic and non-Masoretic psalms and prayers, 1997 Bd. 4b: Angelic liturgy, Songs of the Sabbath Sacrifices, 1999 Bd. 6b: Pesharim and related documents, 2002 Bd. 7: Temple Scroll Rule and related documents, 2011 PARRY, D./TOV, E. (Hg.): The Dead Sea Scrolls Reader (hebr., engl.): Bd. 1: Texts concerned with religious law, 2004 Bd. 2: Exegetical texts, 2004 Bd. 3: Parabiblical texts, 2005 Bd. 4: Calendrical and sapiential texts, 2004 Bd. 5: Poetic and liturgical texts, 2005 Bd. 6: Additional genres and unclassified texts, 2005
Dt. Übersetzung mit Kommentar MAIER, J.: Die Qumran-Essener: Die Texte vom Toten Meer, Bd. 1: Die Texte der Höhlen 1 – 3 und 5 – 11, 1995; Bd. 2: Die Texte der Höhle 4, 1995; Bd. 3: Einführung, Zeitrechnung, Register und Bibliographie, 1996⁸
3.3.2 Hilfsmittel The Orion Center for the Study of the Dead Sea Scrolls http://orion.mscc.huji.ac.il/ [umfangreiche Informationen und Bibliographie] ABEGG, M. u. a. (Hg.): The Dead Sea Scrolls Concordance, 3 Bde., 2003.2006.2015 LIM, T./COLLINS, J.: The Oxford Handbook of the Dead Sea Scrolls, 2010 SCHIFFMAN, L./VANDERKAM, J. (Hg.): Encyclopedia of the Dead Sea Scrolls, 2 Bde., 2000 STÖKL-BEN EZRA, D.: Qumran. Die Texte vom Toten Meer und das antike Judentum ( Jüd. Studien, 3), 2016
3.3.3 Sekundärliteratur in Auswahl BAUMGARTEN, J.: “The Cave 4 Versions of the Qumran Penal Code”, JJS 43, 1992, 268 – 276 BERNSTEIN, M./KOYFMAN, Sh.: “The Interpretation of Biblical Law in the Dead Sea Scrolls: Forms and Methods”, in: M. HENZE (Hg.), Biblical Interpretation at Qumran, 2005, 61 – 87 CZAJKOWSKI, K.: “Lost and Stolen Property at Qumran”, JSJ 47, 2016, 88 – 103 DÁVID, N. (u. a., Hg.): The Hebrew Bible in Light of the Dead Sea Scrolls (FRLANT 239), 2012
[Bd. 1 und 2 dieser Arbeit ersetzen die dt. Erstübersetzung vieler Qumrantexte, kommentiert: Die Texte aus Qumran, 2 Bde., 1960. Der hinzugekommene Bd. 3 bietet außer dem seither bekannt Gewordenen auf S. 52– 159 den essenischen Kalender und auf S. 161– 377 ein Register, Bibelstellen und Stichworte/Namen, zu den drei Bänden.]
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B. Grundwissen und Voraussetzungen
HARRINGTON, H.: “Holiness and Law in the Dead Sea Scrolls”, in: DSD 8, 2001, 124 – 135 JASSEN, A. P.: Scripture and Law in the Dead Sea Scrolls, 2014 MAIER, J.: „Der Lehrer der Gerechtigkeit“, in: C. J. de VOS/F. SIEGERT (Hg.): Interesse am Judentum. Die Franz Delitzsch-Vorlesungen 1989 – 2008 (MJSt 23), 2008, 72 – 103 – : „Pentateuch, Torah und Recht zwischen Qumran und Septuaginta“ (2001), in: ders., Studien zur jü dischen Bibel und ihrer Geschichte (SJ 28), 2004, 111 – 124 – : „Torah und Normensysteme in den Qumranschriften“, in: M. TIWALD (Hg.): „Kein Jota vom Gesetz soll vergehen“, 2012, 35 – 59 NOAM, V./QIMRON, E: “A Qumran Composition on the Laws of the Sabbath and its Contribution to Early Halakhic History”, Tarbiz 74, 2004/05, 511 – 546 (hebr.) POUILLY, J.: “L’évolution de la législation pénale dans la communauté de Qumran”, RB 82, 1975, 522 – 551 PUECH, E.: “Notes sur 11Q19 LXIV 6 – 13 et 4Q 524 14,2 – 4. A propos de la crucifixion dans le Rouleau du Temple et dans le Judaïsme ancien”, RdQ 19 (69), 1997, 109 – 124 REY, J.-S. (Hg.): The Dead Sea Scrolls and Pauline Literature (STDJ 102), 2014 [zit.: Rey, Scrolls] SCHIFFMAN, L.: “Miqsat maʿaseh ha-Torah and the Temple Scroll”, RdQ 14 (55), 1989, 435 – 457 – : “The Pharisees and their Legal Traditions according to the Dead Sea Scrolls”, DSD 8, 2001, 262 – 277 – : “The Maccabean Halakhah in the Dead Sea Scrolls and the Biblical Tradition”, in: DSD 13, 2006, 348 – 361 SCHIFFMAN, L. (u. a., Hg.): The Dead Sea Scrolls Fifty Years after their Discovery, 2000 SCHREMER, A: “ʻ[T]he[y] Did Not Read in the Book’: Qumran and the Emergence of Torah Study in Ancient Judaism”, in: D. GOODBLATT/A. PINNICK/D. R. SCHWARTZ (Hg.): Historical Perspectives. From the Hasmoneans to Bar Kokhba in Light of the Dead Sea Scrolls, 2001, 105 – 126 SCHWARTZ, D., „Josephus on the Jewish Constitutions and Community“, Scripta Clasica Israelica 7, 1983/84, 30 – 52 SHEMESH, A.: “The Scriptural Background of the Penal Code in the Rule of the Community and the Damascus Document”, DSD 15, 2008, 191 – 224 WEINFELD, M.: The Organizational Pattern and the Penal Code of the Qumran Sect, 1986 Die Tempelrolle (11Q 19 [Tempelrolle A]; 11Q 20 [Tempelrolle B]; 4Q 524 = 4Q Tempelrolle). Die Erstedition von YADIN, Y.: The Temple Scroll, 3 Bde., 1983, ist überholt durch: QIMRON, E.: The Temple Scroll. A critical edition with extensive reconstructions (bibliography by F. García Martínez), 1996 QIMRON, E./ STRUGNELL, J. (Hg.): Qumran Cave 4, Bd. 5: Miqşat Ma‘ase ha-tôrah (DJD 10), 1994
Deutsche Übersetzung STEUDEL, A.: Die Texte aus Qumran, Bd. 2, 2001, 1 – 157. – Vgl. ferner oben Anm. 8. KAMPEN, J./BERNSTEIN, M. (Hg.): Reading 4QMMT. New perspectives on Qumran law and history, 1996 MAIER, J.: Die Tempelrolle vom Toten Meer und das ,Neue Jerusalem‘ (UTB 829), 3. Aufl. 1997 PAGANINI, S.: Nicht darfst du zu diesen Wörtern etwas hinzufügen. Die Rezeption des Deuteronomiums in der Tempelrolle (ZABR.B 11), 2009 SCHIFFMAN, L.: “Miqsat ma‘aseh ha-torah and the Temple Scroll”, RdQ 14 (55), 1989, 435 – 457 WEINFELD, M.: “High Treason in the Temple Scroll and in the Ancient Near Eastern Sources”, in: S. M. PAUL u. a. (Hg.): Emanuel. Studies in the Hebrew Bible, Septuagint and Dead Sea Scrolls. FS Emanuel Tov, 2003, 827 – 883 Damaskusschrift (Zadokite Document; CD + 4Q 266 – 273 = 4QDa-h + 4Q 512; 512 = 5QD) BAUMGARTEN, J.: Qumran Cave 4 XIII. The Damascus Document (4Q 266 – 273) (DJD 18), 1996 BAUMGARTEN, J.: “The Laws of the Damascus Document – Between Bible and Mishnah”, in: ders./E. CHAZON/A. PINNICK (Hg.): The Damascus Document, 2000, 17 – 26
B 3 Übersicht über die Quellen des jüdischen Rechts
215
HEMPEL, Ch.: “4Q Orda (4Q159) and the Laws of the Damascus Document”, in: Schiffman u. a., The Dead Sea Scrolls Fifty Years after their Discovery (s. o.), 372 – 376 WASSEN, C.: Women in the Damascus Document, 2005 ZAHN, M.: “Torah for ‘The Age of Wickedness’. The authority of the Damascus and Serekh Texts in light of biblical and rewritten traditions”, DSD 20, 2013, 410 – 432 Rule of the Community (1QS), Sektenregel (1QS + 4Q 255 – 4Q 264 = 4QSa-j = 4QSa-j 4Q Rule of the Community + 5Q 11 = 5QS) Charlesworth, The Dead Sea Scolls (s. o. 3.3.1), Bd. 1 ALEXANDER, Ph./VERMES, G.: Qumran Cave 4 XIX: Serekh ha-yaḥad ̣ and two related texts, (DJD 26), 1998 GROSSMAN, M.: “Community Rule or Community Rules”, in: R. F. PERSON/R. REZETKO, (Hg.): Empirical Models Challenging Biblical Criticism, 2016, 303 – 330 HEMPEL, Ch.: The Qumran Rule Texts in Context. Collected Studies (TSAJ 154), 2013 LEONHARDT-BALZER, J.: “Israel and the Community in Paul (Rom 9 – 11) and the Rule Texts from Qumran”, in: Rey, The Dead Sea Scrolls (s. o.) 277 – 294 MOYNIHAN GILLIHAN, Y.: Civic Ideology, Organization, and Law in the Rule Scrolls. A comparative study of the covenanters’ sect and contemporary voluntary associations in political context (STDJ 97), 2011 (Vgl. Zahn und Hempel, wie zuvor) 2Q 25 = Juridical Text [minimale Fragmente] 4Q 159 = 4Q Ordonnances (4Q Orda;; DJD 5, 6 – 9, pl. ii) SCHIFFMAN, L. H.: “4Q Ordinancesa.b”, in: Charlesworth, The Dead Sea Scolls (s. o. 3.3.1), Bd. 1, 145 – 175 HEMPEL, Ch.: “4Q Orda (4Q159) and the Laws of the Damascus Document”, in: Schiffman u. a., The Dead Sea Scrolls Fifty Years after their Discovery (s. o.), 372 – 376 vgl. 4Q 513 = 4Q Ordb (DJD 7, 287 – 295); 4Q 514 = 4Q Ordc (DJD 7, 295 – 298, pl. lxxiv) 4Q 249 = 4Qpap cryptA Midrash {Sefer}⁹ Moshe (DJD 35, 1 – 24 + pl. i-ii) DSD 21, 2014, 131 – 149 BEN-DOV, J./STÖKL BEN EZRA, D.: ”4Q 249 Midrash Moshe: A New Reading and Some Implications”, DSD 21, 2014, 131 – 149 PFANN, St. J.: “4Q 249 Midrash Sefer Moshe”, in: M. J. BERNSTEIN (u. a.): Legal Texts and Legal Issues. FS Joseph M. Baumgarten, Cambridge 1995 = Leiden (STDJ 23) 1997, 11 – 18 – : „Historical Implications of the Early Second Century Dating of the 4Q249 – 250 Cryptic A Corpus“, in: CHAZON, E. (u. a., Hg.): Things Revealed. FS Michael E. Stone, 2004, 171 – 186 4Q 251 = 4QHalakhaa/4QMishpatim (DJD 35, 25 – 51 + pl. iii-iv) CHARLESWORTH, J. H./CLAUSSEN, C.: “Halakah A. 4Q 251” in: Charlesworth, Dead Sea Scrolls (s. o. 3.3.1), 3, 271 – 285 SHEMESH, A.: “4Q 251: Midrash Mishpatim”, DSD 12, 2005, 280 – 302 DOERING, L.: Schabbat. Sabbathalacha und -praxis im antiken Judentum und Urchristentum (TSAJ 78), 2000, 215 – 255 SHEMESH, A.: “4Q251, Midrash Mishpatim”, DSD 12, 2005, 280 – 302 – : “The Laws of Incest in the Dead Sea Scrolls and the History of Halakhah”, Sidra 24/25, 2010, 441 – 457 4Q 264a = 4QHalakhab (DJD 35, 53 – 56 + pl. vi) CHARLESWORTH, J./CLAUSSEN, C.: “Halakah B. 4Q 264a”, in: Charlesworth, Dead Sea Scrolls, (s. o. 3.3.1) Bd. 3, 286 – 289
Das Wort sefär auf der Rückseite dieses Schriftstücks ist ausgepunktet und stattdessen midraš davorgeschrieben. Der Haupttext auf der Vorderseite steht in Geheimschrift.
216
B. Grundwissen und Voraussetzungen
HIDARY, R.: “Revisiting the Sabbath Laws in 4Q264a and Their Contribution to Early Halakha” DSD 22, 2015, 68 – 92 NOAM, V./QIMRON, E.: “A Qumran composition on the laws of the sabbath and its contribution to early halakhic history”, Tarbiz 74, 2004/05, 511 – 546 (hebr.) TIGCHELAAR, E. : “More on 4Q 264 A (4Qhalakha A or 4QWays of Righteousness”, RdQ 19 (75), 2000, 453 – 456 4Q 265 = 4Q SD, 4QMiscellaneous Rules (DJD 35, 57 – 78) BAUMGARTEN, J./NOVAKOVIC, L.: “Miscellaneous Rules. 4Q 265”, in: Charlesworth, The Dead Sea Scrolls (s. o. 3.3.1) 3, 253 – 269 SHEMESH, A.: “4Q 265 and the the authoritative status of Jubilees at Qumran” (hebr. 1009), in: Boccaccini/Ibba: Enoch and the Mosaic Torah (s. o. 3.2.2), 247 – 260 WERRET, I.: “A Scroll in One Hand and a Mattock in the Other: Latrines, Essenes, and Khirbet Qumran”, RdQ 23 (92), 2008, 475 – 489 4Q 284a = 4Q Leqet/4Q Harvesting DJD 35, 131 – 133 + pl. xi) CHARLESWORTH, J. H./CLAUSSEN, C.: “Harvesting. 4Q284a” in: Charlesworth, Dead Sea Scrolls (s. o. 3.3.1) 3, 295 – 297 4Q MMT = Halachischer Brief (4Q 394 – 399; 4Q 313) QIMRON, E./STRUGNELL, J.: Qumran Cave 4.V: Miqṣat Ma‘ase ha-Torah (DJD 10) 1994 QIMRON, E.: Some Works of the Torah. 4Q294 – 4Q299 (= 4QMMTa-f ) and 4Q213, in: Charlesworth, Dead Sea Scrolls (s. o. 3.3.1) 3, bes. 87 – 251¹⁰ GRABBE, L.: “4QMMT and Second Temple Jewish Society”, in: Bernstein u. a., Legal Texts 89 – 108 KAMPEN, J./BERNSTEIN, M. J. (Hg.): Reading 4QMMT: New perspectives on Qumran law and history, Atlanta 1996 HEMPEL, Ch.: The Laws of the Damascus Document and 4QMMT, in: J. BAUMGARTEN (u. a., Hg.): The Damascus Document. A centennial of discovery. (STDJ 34) 2000, 69 – 84 SCHWARTZ, D.: “Law and Truth: On Qumran-Sadducean and Rabbinic Views of Law”, in: D. DIMANT/U. RAPPAPORT (Hg.): The Dead Sea Scrolls. Forty years of research, 1992, 229 – 240 SUSSMAN, Y.: “The history of halakhah and the Dead Sea Scrolls. Preliminary observations on Miqsat ma‘ase ha-Torah (4QMMT)”, Tarbiz 59, 1989/90, 11 – 76 (hebr.) 4Q 421 (DJD 20, 183 – 202) TIGCHELAAR, E.: “Sabbath Halakhah and Worship in 4Q 421 11 and 13+2+8 Par 4Q 264a 1 – 2”, RdQ 18 (71), 1998, 359 – 372 4Q 477 = 4Q Rebukes Reported by the Overseer (früher: 4Q Dec; DJD 36, 474 – 483) ESHEL, E.: “4Q477, The Rebukes by the Overseer”, JSJ 45, 1994, 111 – 122 4Q 502 = 4Q papRitMar. (Rituel de mariage; DJD 7, 81 – 105) GROSSMAN, M.: “Reading for Gender in the Damascus Document”, DSD 11, 2004, 212 – 239 REGEV, E.: “Cherchez les femmes. Were the yahad celibates?”, DSD 15, 2008, 253 – 284 5Q 13 = 5Q Rule (DJD 3, 181 – 183, 210 – 211)
Ostrakon 1 (Schenkungs- oder Abtretungsurkunde) DJD 36, 497 – 507 CALLAWAY, Ph.: “A Second Look at Ostracon No. 1 from Khirbet Qumran”, The Qumran Chronicle 7, 1997, 145 – 170 CROSS, F./ESHEL, E.: “Ostraca from Khirbet Quman”, IEJ 47, 1997, 17 – 28
Dort zu 234– 251 zu Fragen der Literarkritik dieses Textes.
B 3 Übersicht über die Quellen des jüdischen Rechts
217
DOUDNA, G.: “Ostraca KhQ1 and KhQ2 from the Cemetary of Qumran. A New Edition”, Journal of Hebrew Scriptures 5, 2004, Article 5; http://www.arts.ualberta.ca/JHS/Articles/article_35.htm (2004) YARDENI, A.: „A Draft of a Deed on an Ostracon from Khirbet Qumran“, IEJ 47, 1997, 233 – 237
3.3.4 Funde in Samarien GROPP, D. M. (Hg.): Wadi Daliyeh II. The Samaria Papyri from Wadi Daliyeh; (im selben Band:) M. BERNSTEIN (u. a., Hg.): Qumran, Cave 4. Miscellanea, Part 2 (DJD 28), 2001 – : “The Wadi Daliyeh Documents Compared to the Elephantine Documents”, in: Schiffman u. a., The Dead Sea Scrolls Fifty Years after their Discovery (s. o.), 826 – 835
3.4 Hellenistisch-jüdische Literatur Siegert, F.: Einleitung in die hellenistisch-jüdische Literatur. Apokrypha, Pseudepigrapha und Fragmente von Autorenwerken, 2015 (zit.: Siegert, EHJL)
3.4.1 Philon von Alexandrien (1. Hälfte 1. Jh. n. Chr.) Ausgaben und Übersetzungen Philonis Alexandrini opera quae supersunt, hg. L. COHN/P. WENDLAND (Bd. 6: und S. REITER), 6 Bde., 1896 – 1915 (1962) Philonis Alexandrini opera quae supersunt. Editio minor, hg. L. COHN (Bd. 6: und S. REITER), 1896 – 1915¹¹ Philo. Works (gr.-engl. hg. u. übers.) F. H. COLSON/G. H. WHITAKER (LCL), 10 Bde., 1929 – 1953 dito, Supplement: Questions and Answers on Genesis (bzw.) on Exodus, hg. u. übers. R. Marcus, 2 Bde., 1952.1953 Les œuvres de Philon d’Alexandrie, (hg. u. übers.) R. ARNALDEZ/J. POUILLOUX J./C. MONDÉSERT (u. a.), 1961 – 1988 Philo von Alexandria. Die Werke in deutscher Übersetzung, hg. I. HEINEMANN/M. ADLER, M./ W. THEILER, 6 Bde. [anders unterteilt als bei Cohn/Wendland], 1909 – 1938 (1962) – dito, Bd. 7 (übers. U. FRÜCHTEL), 1964 SIEGERT, F. (Hg., Übers., Komm.): Philon von Alexandrien: Über die Gottesbezeichnung „wohltätig verzehrendes Feuer“ (De Deo). Rückübersetzung des Fragments aus dem Armenischen, deutsche Übersetzung und Kommentar (WUNT 46), 1988 (zit.: Siegert, Philon)
Register und Konkordanzen Philonis Alexandrini opera quae supersunt, Bd. 7/1 – 2: LEISEGANG, J. (H.): Indices (Philonis Alexandrini opera quae supersunt, Bd. 7,1 – 2, durchpaginiert), 1930 (1962) [griechisch]
Ohne Apparat, aber mit Liste der (in der ”großen” Ausgabe nicht so leicht erkennbaren) Konjekturen in der praefatio jedes Bandes und mit Abdruck der Hypothetica (aus einer älteren Euseb-Ausgabe) in 6, 189 – 200.
218
B. Grundwissen und Voraussetzungen
MAYER, G.: Index Philoneus, 1974 [griechisch, ohne Lemmata, aber komplett] BORGEN, P./FUGLSETH, K./SKARSTEN, R.: The Philo Index. A Complete Greek Word Index to the Wrtitings of Philo of Alexandria, 2000 ALLENBACH, J. (u. a.): Biblia Patristica, Supplément: Philon d’Alexandrie, 1982 [Bibelstellenindex; ersetzt den bei Leisegang 29 – 43]
Bibliographien s. nachstehend: Kamesar 255 bzw. Seland 173 f Einführungen KAMESAR, A. (Hg.): The Cambridge Companion to Philo, 2009 SELAND, T. (Hg.): Reading Philo. A Handbook to Philo of Alexandria, 2014
Sekundärliteratur (Auswahl) BELKIN, S.: Philo and the Oral Law. The Philonic Interpretation of Biblical Law in Relation to the Palestinian Halakah, 1940 BERTHELOT, K.: Philanthropia Judaica. Le débat autour de la ‘misanthropie’ des lois juives dans l’antiquité ( JSJ.S 76), 2003 BORGEN, P.: “Application of and Commitment to the Laws of Moses: Observations on Philo′s Treatise On the Embassy to Caius”, Studia Philonica Annual 13, 2001, 86 – 101 BURKHARDT, H.: Die Inspiration heiliger Schriften bei Philo von Alexandrien, 1988 CALABI, F.: God’s Acting, Man’s Acting, Tradition and Philosophy in Philo of Alexandria, 2008 Carras, G.: “Dependence on common tradition in Philo, Hypothetica VII 6.10 – 7.20 and Josephus, Contra Apionem 2.190 – 219”, SPhA 5, 1993, 24 – 47 Cohen, N.: “The Greek virtues and the Mosaic laws in Philo”, SPhA 5, 1993, 9 – 23 [zu Spec. 4,133 – 135] – : “Context and connotation. Greek words for Jewish concepts in Philo”, in: J. L. KUGEL (Hg.): Shem in the Tents of Japheth. Essays on the Encounter of Judaism and Hellenism ( JSJ.S 74), 2002, 31 – 61 DANIEL, S.: “La Halacha de Philon selon le premier livre des Lois spéciales”, in: R. ARNALDEZ u. a. (Hg.): Philon d’Alexandrie (Colloques nationaux du CNRS), 1967, 221 – 240 FELDMAN, L. H.: Philo’s Portrayal of Moses in the Context of Ancient Judaism, 2007 FRANCIS, M.: “Wasted Seed and Sins of Intent. Sexual Ethics in De specialibus legibus 3.34 – 36 in the Case of Infertile Marriage”, SPhA 27, 2015, 27 – 52 GILAT, Y.: “The Sabbath and its laws in the world of Philo”, in: R. LINK-SALINGER (Hg.): Torah and Wisdom. Studies in Jewish philosophy, Kabbalah and halacha. FS Arthur Hyman, New York 1992, 61 – 73 GOODENOUGH, E. R.: The Jurisprudence of the Jewish Courts in Egypt. Legal administration by the Jews under the early Roman empire, as described by Philo Judaeus (and a critical study of his De specialibus legibus), 1929 (1968) – : “Philo’s Exposition of the Law and his De vita Mosis”, HThR 26, 1933, 109 – 125 HEINEMANN, I.: Philons griechische und jüdische Bildung. Kulturvergleichende Untersuchungen zu Philons Darstellung der jüdischen Gesetze (1929 – 1932), 1962 (1973) KATZOFF, R.: “Philo and Hillel on violation of betrothal in Alexandria”, in: J. MARTENS (Hg.): One God, One Law. Philo of Alexandria on the Mosaic and Greco-Roman Law, 2003 KONRADT, M.: “Torah und Naturgesetz, Interpretatio Graeca und universaler Geltungsanspruch der Mose-Torah bei Philo von Alexandrien”, in: ders./SCHWINGES, R. Ch. (Hg.): Juden in ihrer Umwelt, 2009, 87 – 112 LEONHARDT-BALZER, J.: Jewish Worship in Philo of Alexandria (TSAJ 84), 2001 – : “Priests and priesthood in Philo. Could he have done without them?” in: SCHWARTZ, D./WEISS, Z. (Hg.): Was 70 CE a Watershed in Jewish History? (AJEC 78), 2012, 127 – 153 NIEHOFF, M.: Jewish Exegesis and Homeric Scholarship in Alexandria, 2011
B 3 Übersicht über die Quellen des jüdischen Rechts
219
PEARCE, S.: “Philo of Alexandria on the second commandment”, in: dies. (Hg.), The Image and its Prohibition in Jewish Antiquity ( JSJ.S 2), 2013, 49 – 76 REGEV, E.: “From Qumran to Alexandria and Rome: Qumran halakhah in Josephus and Philo”, in: A. BAUMGARTEN (u. a., Hg.): Halakha in Light of Epigraphy ( JAS.S 3), 2011, 43 – 63 RITTER, B.: Philo und die Halacha. Eine vergleichende Studie unter steter Berücksichtigung des Josephus, 1879 ROGERS, T.: “Philo’s Universalization of Sinai in De Decalogo 32 – 49”, SPhA 24, 2012, 85 – 106 SCHIMANOWSKI, G.: Juden und Nichtjuden in Alexandrien. Koexistenz und Konflikte bis zum Pogrom unter Trajan (117 n. Chr.) (MJSt 18), 2006 (bes. 117 – 126) STERLING, G.: “Was there a Common Ethic in Second Temple Judaism?”, in: J. COLLINS/G. STERLING, G./R. CLEMENTS, R. (Hg.): Sapiential Perspectives, Wisdom Literature in Light of the Dead Sea Scrolls (STDJ 51), 2004, 71 – 94 SVEBAKKEN, H.: Philo of Alexandria’s Exposition on the Tenth Commandment, 2012 TERMINI, C.: “Taxonomy of Biblical laws und philotechnía in Philo of Alexandria. A Comparison wich Josephus and Cicero”, SPhA 16, 2004, 1 – 29 WEBER, R.: Das „Gesetz“ bei Philon von Alexandrien und Flavius Josephus. Studien zumVerständnis und zur Funktion der Thora bei den beiden Hauptzeugen des hellenistischen Judentums (ARGU 11), 2001 WILSON, W. (Übers., Komm.): Philo of Alexandria: On Virtues, Introduction, Translation, and Commentary (Philo of Alexandria Commentary Series, 3), 2011 WOLFSON, H. A.: Philo. Foundations of Religious Philosophy in Judaism, Christianity, and Islam, 2 Bde. 1947 (u. ö.)
Rechtsgeschichtlich relevante Stellen (Reihenfolge der Traktate wie in den Editionen) De ebrietate 34 Elterngebot [# 53] 193 – 197 Recht und Sitte zur Vermeidung von Differenzen De migratione Abrahami 88 ff gegen eine nur metaphorische Auffassung der Mosegesetze De somniis 2,78 f Ansatz zu politischer Philosophie De vita Mosis 2,4 Der König als nomos empsychos, der Nomos als basileus dikaios 2,25 – 42 Die Septuaginta-Legende (die Passage über Mose als Gesetzgeber vor 2,66 ist ausgefallen) De decalogo 32 – 35 Ertönen des Dekalogs vom Himmel [# 2] 51 ff Dekalog-Paraphrase nach jüdischer [lat., luth.] Zählung¹² [# 60] De specialibus legibus (zu Buch 1 s. o.: S. Daniel; zu Buch 2 – 4: I. Heinemann)¹³ 1,136 Erstgeburt [# 60] 2,63 f Zwei Grundgebote [# 69] 3,34 – 36 Sexualethik (s. o.: M. Francis) [# 59; # 264; # 289] 4,90 ff zu Gen 2,16 f [das erste Verbot; # 271] 4,94 f.155 Priesterabgaben; Torah und Natur [# 138] 4,132 – 135 Dekalog und Einzelgesetze [# 60] 4,136 – 142 Einprägung der Gerechtigkeit [# 273] 4,140 f Ehrfurcht vor dem “ungeschriebenen Gesetz” [# 51; # 52 ]
s.o.: T. Rogers; H. Svebakken. [Die o.g. Arbeiten von E. R. Goodenough werden dort inhaltlich korrigiert, ebenso hier in C 4.2.3.]
220
B. Grundwissen und Voraussetzungen
4,143 – 149 Nicht Zufügen, nicht Wegnehmen [# 395] 4,149 ff (nochmals) das ungeschriebene Gesetz De virtutibus (s. o.: W. Wilson) 51 – 174 Verhältnis Judentum-Umwelt (s. o.: K. Berthelot) [# 236] 82 – 87 Zins [# 110] 88 Lohnarbeiter [# 10; # 142] 89 Gläubiger, Pfändung [# 307] 90 – 94 Feldecken [# 40] 93 f Kosmos [# 250] 95 Priesterzehnt [# 13] 96 Entlaufenes Vieh [# 3] 97 – 100 Festkalender [# 391] 102 – 104 Proselyten [# 144] 105 – 108 Haltung zu Wirtsvölkern [# 280; # 362] 109 Haltung gegen Feinde [# 3] 110 – 115 schöne Kriegsgefangene 116 – 120 Esel eines Feindes [# 3] 121 – 124 Dienstpersonal und Sklaven [# 73; # 330] De praemiis et poenis/De exsecrationibus 1 – 3 Pentateuch-Resümee Hypothetica (s. o.: G. Sterling) 7,1 – 9 Gesetzesepitome, in Fragmenten¹⁴ erhalten bei Euseb, Praep. 8,5,11 – 8,6,9; 8,7.1 – 8,8,20; 8,11,1 – 18
3.4.2 Ps.-Philon [Nicht identisch mit dem erst neuzeitlich so benannten Liber antiquitatum; dazu Siegert, EHJL 111– 117] F. SIEGERT (Übers., Komm.): Drei hellenistisch-jüdische Predigten. Ps.-Philon, ”Über Jona” (…) ”Über Simson” (…), 2 Bde. (WUNT 20.61), 1980.1992 (zit.: Siegert, Hell.-jüd. Predigten I.II)
3.4.3 Josephus Zitiert werden seine Schriften nach der Reihenfolge ihrer Entstehung: Bell(um Iudaicum), Ant(iquitates), Vita, C(ontra) Ap(ionem). Ein engl. Index zur Gesamtausgabe (Josephus in nine volumes, LCL) befindet sich dort in Bd. 9 (hg. L. Feldman), 1963 (u. ö.), 589 – 813. Eine auf verlässlicher Textgrundlage beruhende, mit heute gültiger Zählung versehene dt. Übers. gibt es nur für Bell. und Ant.
Unter wechselnden Titeln; vgl. Siegert u. a., Josephus: Ursprünglichkeit I 46 f; Siegert, EHJL 516. In der wichtigen Monographie von Heinemann, Bildung im Register sind folgende Bezugnahmen auf diese Schrift nachzutragen: 205, 207, 214, 352– 358, 524.
B 3 Übersicht über die Quellen des jüdischen Rechts
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http://www.perseus.tufts.edu http://www.earlychristianwritings.com/josephus.html
Ausgaben, Übersetzungen Flavii Iosephi opera, hg. B. NIESE, 7 Bde., Berlin 1885 – 1895 (1955) Josephus with an Engl. Transl., ed. H. St. J. THACKERAY/R. MARCUS/L. FELDMAN, 9 Bde., 1926 – 1965 u. ö. (LCL) Flavius Josephus: De bello Judaico. Der Jüdische Krieg, hg. u. übers. O. BAUERNFEIND/O. MICHEL, 4 Bde., 1959 – 1969 Flavius Josephus: Aus meinem Leben (Vita), hg. u. übers. F. SIEGERT/H. SCHRECKENBERG/M. VOGEL u. a., 2001 (2011) (zit.: Siegert u. a., Josephus: Leben) Flavius Josephus: Über die Ursprünglichkeit des Judentums (Contra Apionem), hg. u. übers. F. SIEGERT (u. a.), komm. M. VOGEL, 2 Bde. (SIJD 6/1.2), 2008 (zit.: Siegert u. a., Josephus: Ursprünglichkeit)
Hilfsmittel A Complete Concordance to Flavius Josephus (gr./engl./dt.) hg. K. H. RENGSTORF, 4 Bde., 1973 – 1983; dito, ”Supplement I”: A. SCHALIT: Namenwörterbuch zu Flavius Josephus, 1968 (Nachdruck der vorgenannten 5 Bände: The Complete Concordance to Flavius Josephus. Study Edition, 2 Bde., 2002) CHAPMAN, H./RODGERS, Z. (Hg.): A Companion to Josephus, 2016 SCHRECKENBERG, H.: Bibliographie zu Flavius Josephus (ALGHJ 1) 1968; dito, Supplementband mit Gesamtregister (ALGHJ 14), 1979 THACKERAY, H. St. J./MARCUS, R.: A Lexicon to Josephus, 4 Bde., 1930 – 1955
Übersetzungen mit Kommentar Flavius Josephus. Translation and Commentary, hg. S. MASON; bisher erschienen: – Bd. 3: FELDMAN, L.: Flavius Josephus. Judean Antiquities Books 1 – 4, 2000 (2004) – Bd. 4: BEGG, Ch.: Judean Antiquities, Books 5 – 7, 2004 – Bd. 5: BEGG, Ch./SPILSBURY, P.: Judean Antiquities, Books 8 – 10, 2005 – Bd. 7b: VAN HENTEN, J. W.: Judean Antiquities, Book 15, 2014 – Bd. 10: BARCLAY, J.: Against Apion, 2007
Sekundärliteratur (Auswahl) ALTSCHULER, D.: “On the Classification of Judaic Laws in the Antiquities of Josephus and the Temple Scroll of Qumran”, AJS Review 7/8,1983, 1 – 14 AMIR, Y., “Josephus on the Mosaic ‘constitutio’”, in: Graf H. REVENTLOW (u. a., Hg.): Politics and Theopolitics in the Bible and Postbiblical Literature ( JSOT.S 171), 1994, 13 – 27 BETZ, O. (u. a., Hg.): Josephus-Studien. FS Otto Michel, 1974 BLOCH, R.: “Moïse chez Flavius Josèphe, un exemple juif de littérature héroïque”, in: Ph. BORGEAUD (u. a., Hg.): Interprétations de Moïse. Égypte, Judée, Grèce et Rome, 2010, 85 – 102 CASTELLI, S.: “Josephan halakhah and the Temple Scroll. Questions of sources and exegetic traditions in the laws of purity”, Henoch 24, 2002, 331 – 341 DAMGAARD, F.: “Brothers in Arms. Josephus’ Portrait of Moses in the Jewish Antiquities in the Light of His Own Self-Portrait in the Jewish War and the Life”, JSJ 59, 2008, 218 – 235
222
B. Grundwissen und Voraussetzungen
DAUBE, D.: „Über die Umbildung biblischem Rechtsgutes”, in: Symbolae Friburgenses in honorem Ottonis Lenel, 1933, 245 – 258 – : “Josephus on Suicide and Liability of Depositee”, Juridical Review 9, 1964, 212 – 224 – : “Three Legal Notes on Josephus After His Surrender”, Law Quarterly Review 93, 1977, 191 – 194 FELDMAN, L.: “Josephus’ Portrait of Moses”, JQR 82, 1991/2, 285 – 328; 83, 1992/3, 7 – 50.301 – 330 – : “The Case of the Blasphemer (Lev. 24,10 – 16) according to Philo and Josephus”, in: L. LIDONNICI/A. LIEBER (Hg.): Heavenly Tablets ( JSJ.S 119), 2007, 213 – 222 FELDMAN, L./LEVISON, J. (Hg.): Josephus’ Contra Apionem. Studies in its Character and Context, with a Latin Concordance to the Portion Missing in Greek, 1996 GIBBS, J./FELDMAN, L.: “Josephus’ Vocabulary for Slavery”, JQR 76, 1985/86, 281 – 310 GOLDENBERG, D.: “The Halakhah in Josephus and in Tannaitic Literature”, JQR 67, 1976/7, 30 – 43 GRIMM, W.: “Die Preisgabe eines Menschen zur Rettung des Volkes. Priesterliche Tradition bei Johannes und Josephus”, in: Betz, Josephus-Studien (s. o.) 133 – 146 GROJNOWSKI, D.: “Can a Body Change? Josephus’s Attitude to Circumcision and Conversion”, in: J. TAYLOR (Hg.): The Body in biblical, Christian and Jewish Texts, 2014, 165 – 183 GUSSMANN, O.: Das Priesterverständnis des Flavius Josephus (TSAJ 124), 2008 HANKOFF, L.: “The Theme of Suicide in the Works of Flavius Josephus”, Clio Medica 11/1, 1975, 15 – 24 HANSEN, D. U.: “Nomothetes und Politeuma. Josephus’ Präsentation des jü dischen Glaubens in Contra Apionem II 125 – 189”, in: Ch. BÖTTRICH/J. HERZER (Hg.): Josephus und das Neue Testament (WUNT 209), 2007, 527 – 533 INOWLOCKI, S.: “‘Neither Adding nor Omitting Anything’. Josephus’ promise not to modify the Scriptures in Greek and Latin context”, JJS 56, 2005, 48 – 65 NODET, E.: “Jewish features in the ‘Slavonic’ War of Josephus”, in: J. KALMS (Hg.): Internationales Josephus-Kolloquium Amsterdam 2000 (MJSt 10), 2001, 105 – 131 KASHER, A.: “Josephus in Praise of Mosaic Laws on Marriage (Contra Apionem II,199 – 201)”, in: M. PERANI (Hg.): The Words of the Wise Man’s Mouth are Gracious (Qoh 10,12). FS Gü nter Stemberger (SJ 32), 2005, 95 – 108 KOHLER, K.: “The Halakhic Portion in Josephus’ Antiquities”, in: ders., Studies, Addresses, and Personal Papers, 1931, 69 – 85 KRAUSE, A.: Synagogues in the Works of Flavius Josephus. Rhetoric, Spatiality, and First-Century Jewish Institutions (AJEC 97), 2017 LEBRAM, J.-Ch.: „Der Idealstaat der Juden“, in: Betz, Josephus-Studien (s. o.), 233 – 253 MANDEL, P.: “Scriptural exegesis and the Pharisees in Josephus”, JJS 58, 2007, 19 – 32 NAKMAN, D.: “Josephus and Halacha”, in: Chapman/Rodgers, Companion to Josephus (s. o.) 282 – 292 NIKIPROWETZKY, V.: “Quelques observations sur la répudiation de l’esclavage par les Thérapeutes et les Esséniens d’après les notices de Philon et de Flavius Josèphe”, in: L’interprétation rabbinique et ses méthodes. FS Marcel-Henri Prévost, 1982, 229 – 271 NODET, E.: Le Pentateuque de Flavius Josèphe, 1996 OLITZKI, M.: Flavius Josephus und die Halacha, I: Einleitung. Die Opfer, 1885 – : „Josephus und die Halacha, II: Die Einkünfte der Leviten und Priester“, Magazin der Wissenschaft des Judentums 16, 1889, 169 – 182 – : „Der jüdische Sklave nach Josephus und der Halacha“, ebd. 73 – 83 – : „Rituelle und judizielle Fälle bei Flavius Josephus“, Israelitische Monatsschrift 1887, Nr. 1, 4, 7 Parente, Fausto/SIEVERS, Joseph (Hg.): Josephus and the History of the Greco-Roman Period (SPB 41), 1994 PEARCE, S.: “Josephus as interpreter of biblical law: The representation of the High Court of Deut. 17,8 – 12 according to Jewish Antiquities 4.218”, JSJ 46, 1995, 30 – 42 PIOTRKOWSKI, M.: „Theokratie am Extrem. Die Auflösung der Formen jü discher Staatlichkeit und die Genese der 4. Philosophie“, Trumah 18, 2009, 228 – 237 RABELLO, A. M.: “Divorce in Josephus”, in: U. RAPPAPORT (Hg.): Josephus Flavius, 1982, 149 – 164
B 3 Übersicht über die Quellen des jüdischen Rechts
223
REGEV, E./NAKMAN, D.: “Josephus and the Halakhah of the Pharisees, the Sadducees and Qumran”, Zion 67, 2002/3, 401 – 433 (hebr.) REINHARTZ, A.: “Josephus on Children and Childhood”, SR 41, 2012, 364 – 375 RODGERS, Z.: “Josephus’ theokratia and Mosaic discourse. The actualization of the revelation at Sinai”, in: G. BROOKE (u. a., Hg.): The Significance of Sinai, Leiden 2008, 129 – 148 SANDERS, E.: Jewish Law from Jesus to the Mishnah, 1990, 61 – 81 SCHIFFMAN, L.: “Proselytism in the Writings of Josephus, Izates of Adiabene in Light of the Halakhah”, in: Rappaport, U. (Hg)., Josephus Flavius, Jerusalem 1982, 247 – 265 SCHLATTER, A.: Die Theologie des Judentums nach dem Bericht des Josefus (BFChTh 2/26), 1932 (1979) SCHRÖDER, B.: Die väterlichen Gesetze. Flavius Josephus als Vermittler von Halacha an die Griechen und Römer (TSAJ 53), 1996 SIEVERS, J: “La Torah in Flavio Giuseppe”, RStB 16, 2004, 231 – 244 – : “Josephus’ Rendering of Latin Terminology in Greek”, JSJ 64, 2013, 1 – 18 TOMSON, P.: “Les systèmes de Halakha du Contre Apion et des Antiquités”, in: F. SIEGERT/J. KALMS (Hg.): Internationales Josephus-Kolloquium Paris 2001 (MJSt 12), 2002, 194 – 220 VERMES, G.: “A Summary of Law by Flavius Josephus”, NovTest. 24, 1982, 289 – 303 VOGEL, M.: „Vita 64 – 69, das Bilderverbot und die Galiläapolitik des Josephus“, JSJ 30, 1999, 65 – 79 WEISS, H.: “The Sabbath in the Writings of Josephus”, JSJ 29, 1998, 363 – 390 WEYL, H.: Die jüdischen Strafgesetze bei Flavius Josephus in ihrem Verhältnis zu Schrift und Halacha. Mit einer Einleitung: Josephus über die jüdischen Gerichtshöfe und Richter, Diss. Bern/Berlin 1900 WINSLOW STRAND, K.: “Moses’ Cushite marriage, Torah, Artapanus, and Josephus”, in: C. FREVEL (Hg.): Mixed Marriages, Intermarriage and Group Identity in the Second Temple Period, 2011, 280 – 302 (ferner 3.4.1: Regev; Termini; Weber)
Rechtsgeschichtlich wichtige Stellen Antiquitates 1,182 Abrahams Grundstückskauf 3,81 Mose als Gesetzgeber 3,91 – 92 Dekalog 3,259 Speisegesetze 3,102 – 213 Anweisungen für das Zeltheiligtum und die Kultgründung 3,224 – 286 und 4,196 – 303 Pentateuchgesetze 4,218 Höchstgericht (s. o.: Pearce) 13,138 ff Privilegien; Gesetz außerhalb des Pentateuchs 16,42 ff Jüdische Gesetze Bräuche die ältesten Contra Apionem (s. o.: Feldman/Levison) 2,165 ”Theokratie” (s. o.: Amir; Rodgers) 2,190 – 218 Epitome des Mosegesetzes (s. o.: Tomson; Vermes, sowie 3.4.1: Carras)
3.4.4 Die Lex Dei (Collatio) FRAKES, R. (Hg., Komm.): Compiling the ‘Collatio Legum Mosaicarum et Romanarum’ in Late Antiquity (Oxford Studies in Roman Society and Law), 2011 [lat. Text: 153 – 201; Übers.: 202 – 241] ––––– DE DOMINICIS, A.: “Ancora sulla Collatio legum Mosaicarum et Romanarum (a proposito di una recente critica)”, Bolletino dell’Istituto di Diritto Romano ’Vittorio Scialosa’ 7, 1966, 337 – 342
224
B. Grundwissen und Voraussetzungen
FRAKES, R.: “The Religious Identity and Purpose of the Compiler of the Collatio Legum Mosaicarum et Romanarum or Lex Dei”, in: ders./D. DEPALMA (Hg.): Religious Identity in Late Antiquity, 2006, 126 – 147 – : “The Manuscript Tradition of the ‘Law of God’ (Lex Dei or Collatio Legum Mosaicarum et Romanarum)”, HThR 100, 2007, 425 – 441 MANTHE, U: “Die Collatio: Inhalt, Textkritik und Verfasserfrage”, in: ders. (Hg.): Aus der Werkstatt römischer Juristen, 2016, 197 – 218 PUGLIESE, G: “A suggestion on the Collatio”, Israel Law Review 29/1 – 2, 1995, 161 – 175 RABELLO, A. M.: “Alcune note sulla Collatio legum mosaicarum et romanarum e sul suo luogo d’origine”, in: Scritti sull’ebraismo in memoria di Guido Bedarida, 1966, 177 – 186 – : “Sull’ebraicità dell’autore della Collatio legum Mosaicarum et Romanarum”, Rassegna Mensile di Israel 33,1967, 339 – 349 – : “Sul decalogo ‘cristianizzato’ e l’autore della Collatio legum Mosaicarum et Romanarum”, Rassegna Mensile di Israel 55, 1989, 133 – 135
3.5 Semitischsprachige Papyri aus vorchristlicher Zeit YARDENI, A.: Textbook of Aramaic, Hebrew and Nabatean Documentary Texts from the Judaean Desert and Related Material, 2000, Bd. 1: The Documents [Begleittext neuhebr.]; Bd 2: Translation [S. 19 – 143 der rechtsläufigen Zählung, engl.], Palaeography, Concordance (S. 1 – 310 der linksläufigen Zählung, hebr./aram./nabatäisch); vgl. oben 3.2.1. – Übersicht:¹⁵ Bd. 1: A 2.2 Geschäft A 2.3 Bezahlung. Bü rgschaft A 2 – 6 Beauftragung A 3.3 Bezahlung A 3.8 Beauftragung. Geschäft A 3.10 Boot-Miteigentum A 4.1 Passah-Datierung A 4.2 Beschwerde A 4.3 Beschwerde wegen Inhaftierung A 4.4 Bericht ü ber Gefangennahmen A 4.5 Beschwerde A 4.7 – 8 (Cowley 31 – 33; Sachau 4) Beschwerden wegen Aktionen gegen den Tempel Bd. 2: B 1.1 Feldverpachtung B 2.1 Cowley 5 (Sayce–Cowley A) Grant of a Built Wall B 2.2 Cowley 6 (Sayce–Cowley B). Withdrawal from Land B 2.3 Cowley 8 (Sayce–Cowley D). Bequest of House to Daughter B 2.4 Cowley 9 (Sayce–Cowley C). Grant of Usufruct to Son-in-law B 2.5 Cowley 48 (Sachau Plate 35). Betrothal Contract Fragment B 2.6 Cowley 15 (Sayce–Cowley G). Document of Wifehood B 2.7 Cowley 13 (Sayce–Cowley E). Grant of House to Daughter B 2.8 Cowley 14 (Sayce–Cowley F). Withdrawal from Goods
Bezug auf ältere Editionen und Nummerierungen in (…). Weitere aram. Papyri aus der persischen Epoche und aus Samarien sind genannt bei Maier, Glossar (s. Kopftext), 60 f.
B 3 Übersicht über die Quellen des jüdischen Rechts
225
B 2.9 Cowley 20 (Sayce–Cowley H). Withdrawal from Goods B 2.10 Cowley 25 (Sayce–Cowley J). Withdrawal from House B 2.11 Cowley 28 (Sayce–Cowley K). Apportionment of Slaves B 3.1 Cowley 10 (Sachau Plates 28, 29). Loan of Silver B 3.2 Kraeling 1 + 18/4. Withdrawal B 3.3 Kraeling 2. Document of Wifehood B 3.4 Kraeling 3. Sale of Abandoned Property B 3.5 Kraeling 4. Bequest of Apartment to Wife B 3.6 Kraeling 5. Testamentary Manumission B 3.7 Kraeling 5. A Life Estate of Usufruct B 3.8 Kraeling 7+15+18/1, 3, 8, 13, 18, 19, 22, 26, 30. Document of Wifehood B 3.9 Kraeling 8. Adoption B 3.10 Kraeling 9. Bequest in Contemplation of Death B 3.11 Kraeling 10. Dowry Addendum B 3.12 Kraeling 12. Sale of Apartment to Son-in-law B 3.13 Kraeling 11. Loan of Grain B 4.1 Verzichtserklärung B 4.2 Zinsgeschäft B 4.3 Anvertrautes B 4.4 Anvertrautes B 4.5 Forderung B 4.6 Forderung B 4.7 Anvertrautes. Zinsgeschäft B 5.1 Tauschgeschäft. Verzeichtserklärung B 5.2 Verzichtserklärung B 5.3 Verzichtserklärung B 5.4 Verzichtserklärung B 5.5 Verzichtserklärung B 5.6 Sklaven B 6.1 Brautwerbung B 6.3 Verzichtserklärung B 6.4 Verzichtserklärung B 7.1 Erklärung gegen Beschuldigung eines Diebstahls B 7.2 Erklärung gegen Beschuldigung einer Misshandlung der Ehefrau B 7.3 Erklärung gegen vorgebliches Miteigentum B 8.3 Diebstahl. Sklaven B 8.4 Hausfriedensbruch B 8.5 Gefangennahme und Freikauf B 8.6 Erklärung zu Forderungen B 8.7 Bericht ü ber Anhörung/Verhör B 8.8 Bericht ü ber Anhörung/Verhör B 8.9 Verzichtserklärung B 8.10 Bericht ü ber eine Anhörung
3.6 Rabbinische Schriften Bei den Traktaten der Mischna, der Tosefta und der Talmudim wird nach jüdischem Brauch jeder als eigenes Buch zitiert, z. B. der Traktat Berakot der Mischna als mBer.
226
B. Grundwissen und Voraussetzungen
Der Gesamtstoff ist geteilt in sechs Ordnungen (sedarîm) und in Traktate (massäktôt), diese wiederum in Kapitel und (Einzel‐)Mischnajot. Die Tosefta stellt eine Parallelfassung mit z.T. erheblichen Besonderheiten dar. Die Mischna war Grundlage für die Gemara. Die Gemara der palästinischen Schulen, im 4. Jh. redigiert, deckt nur 39 Mischnatraktate ab und enthält zahlreiche Dubletten. Dieser Talmûd Jerušalmî oder Talmûd ′äräṣ Jiśra′el wird nach der Mischna-Einteilung und dazu auch meist mit der FolioZahl (Kolumnen a-d) der Standardedition (1866) zitiert, z. B. jSan. 1,1 (17b), gelegentlich mit Hinzufügung der Zeile, der Babylonische Talmud (Talmûd bablî) nur nach Traktat und recto- (Vorderseiten‐)Zahl des Folio der Standardedition (1880 – 86 u. ö.) mit a für die Vorderseite, b für die Rückseite, z. B. bSan. 2a. Die umfangreichste digitale Sammlung der jü dischen Rechtsquellen von der Bibel bis zur Gegenwart bietet, einschließlich der ’Änṣîqlôpädjah Talmûdît, das Bar Ilan Responsa Project, Version 23 plus, Ramat Gan 2015. BACHER, W.: Die Agada der Tannaiten, Bd. 1 (1884) 1903; Bd. 2, 1890 (beide: 1965) – : Tradition und Tradenten in den Schulen Palästinas und Babyloniens, 1914 (1966) Bill. = (STRACK, H./) ¹⁶ BILLERBECK, P.: Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch, 4 Bde. (in 5), 1926 – 1928 (und Nachdrucke. Stichwort- und Bibelstellenregister: IV/2, 1213 – 1323) – dito, Bd. 5: Rabbinischer Index, hg. J. JEREMIAS, 1956 (und Nachdrucke); Bd. 6: Verzeichnis der Schriftgelehrten. Geographisches Register, hg. J. JEREMIAS, 1961 (und Nachdrucke, zus. m. Bd. 5, 1986) [dies alles wird zitiert: Bill.] NEUSNER, J.: ’aggadah. Rabbinic narrative. A documentary perspective, 4 Bde., 2002 – 03 Bd. 1: Forms, types and distribution of narratives in the Mishnah, Tractate Abot and the Tosefta, Bd. 2: Forms, types and distribution of narratives in Sifra, Sifré to Numbers, and Sifré to Deuteronomy, Bd. 3: Forms, types and distribution of narratives in Song of Songs Rabbah and Lamentations Rabbah and a Reprise of Fathers according to Tabbi Nathan Text A, Bd. 4: The Precedent and the Parable in Diachronic View STEMBERGER, G.: Einleitung in Talmud und Midrasch, 7., (gegenüber dem Vorgängerwerk von H. L. Strack) völlig neubearb. Aufl. 1982; 9. Aufl. 2011 – : Der Talmud. Einführung. Texte. Erläuterungen, 4. Aufl. 2008 – : „Grundzü ge rabbinischer Hermeneutik“, in: ders.: Judaica Minora, Bd. 1 (TSAJ 133), 2010, 103 – 117 ALBECK, S.: Dînê ha-mamônôt ba-Talmûd. The Law of Property and Contract in the Talmud, 1976 – : Battê ha-dîn bîmê ha-Talmûd, 1980; 2. Aufl. 1987 – : Jesôdôt be-dînê ha-mamônôt ba-Talmûd, Ramat Gan 1994 – : Jesôdôt ha-ʿabêrah be-dînê ha-Talmûd. ʿäqrônôt jesôd ba-mišpaṭ ha-pelîlî ba-Talmûd, Ramat Gan 1997 – : Mabôʾ la-mišpaṭ ha-ʿibrî bi-jmê ha-Talmûd, 1999; engl.: Introduction to Jewish Law in Talmudic Times, 2014 – : Mäḥqarîm ba-halakah û-be-tôledôtêha, 2012 ZURI, J. S.: Mišpaṭ ha-Talmûd (Talmudisches Recht), 2 Bde., 1921 – : Tôledôt ha-mišpaṭ ha-ʿibrî (Gesch. d. hebr. Rechts), 1931 – 1937 – : Tôledôt ha-mišpaṭ ha-ṣibbûrî ha-ʿibrî (Gesch. d. hebr. öffentl. Rechts), 3 Bde., 1931 – 1934 – : Tôledôt ha-mišpaṭ ha-ʾäzraḥî ha-ʿibrî (Gesch. d. hebr. Zivilrechts), 1934 – 1937
[Prof. Hermann L. Strack war ausweislich des Vorworts von Bd. I nur der Anreger und Förderer dieser von Pastor Paul Billerbeck dann ausgearbeiteten, kommentierten Chrestomathie rabbinischer Texte.]
B 3 Übersicht über die Quellen des jüdischen Rechts
227
3.6.1 Mischna [Zitiert wird nach der Zählung der Traditionsausgaben, wie sie auch bei Danby (verlässlichste Übersetzung) befolgt ist (Verzeichnis der Traktate dort: S. 806).]
Zweisprachige kommentierte Ausgabe Die Mischna. Text, Übersetzung und ausführliche Erklärung, hg. G. BEER/O. HOLTZMANN (u. a.), Gießen 1912 – 1935; (Fortsetzung) Berlin 1956 ff [„Gießener“ Mischna, mit historisch-kritischen Einführungen und Kommentar, unvollständig], daraus insbes.: – Bd. 4/9: MARTI, K./BEER, G. (Hg., Übers., Komm.): Abot, 1927
Andere Ausgaben ALBECK, S.: Šiššah sidrê ha-mišnah, 6 Bde., 1952 – 58 u. ö. BLACKMAN, Ph.: Mishnayot. Hebrew Text, Introductions, Translation, Notes, 1951 CORRENS, D.: Die Mischna ins Deutsche übertragen, mit einer Einleitung und Anmerkungen, 2005¹⁷ DANBY, H.: The Mishnah, tr. from the Hebrew with Introduction and Brief Explanatory Notes, 1933 (u. ö.) (Inhaltsverzeichnis: S. 806. zit.: Danby) KRUPP, M.: Die Mischna. Textkritische Ausgabe mit dt. Übers. u. Komm., 1. Fasz.: Einleitung in die Mischna, 2002; die übrigen Faszikel (pro Traktat eines) 2008 – 2017¹⁸ MILSTEIN, Y.: Šiššah sidrê ha-mišnah. The Mishnah: A New Integrated Translation Commentary. 2007 NEUSNER, J.: The Mishnah. A New Translation, 1988
Einleitung, Kommentar NEUSNER, J.: The Mishnah. An Introduction, 1989 (1994.2004) ders./AVERY-PECK, A. (Hg.): The Mishnah in Contemporary Study, 3 Bde., 2002 – 04 (vgl. vorstehend: Krupp)
3.6.2 Tosefta bezeugt durch zwei Handschriften (Wien und Erfurt), mit leicht abweichender Traktatfolge http://kodesh.snunit.k12.il/b/f/f0.htm
[Diese Übersetzung, oftmals undeutlich, wird im vorliegenden Kommentar nicht benutzt.] Dieser Ausgabe liegt das MS. Kaufmann zugrunde (s. Stemberger, Einleitung 159), das vom Traditionstext mitunter abweicht. Wo auch die Zählung davon betroffen ist, sind beide Zählungen angegeben.
228
B. Grundwissen und Voraussetzungen
Ausgaben LIEBERMANN, S.: Tôsefta’. The Tosefta according to Codex Vienna, 5 Bde. 1955 – 88; 3 Bde. 1992 – 1995 RENGSTORF, K. H. (u. a.): Die Tosefta (Rabbinische Texte, I/1), Bd. 1: Seraim, 1983; Bd. 6: Toharot 1967 (m.n.e.) ZUCKERMANDEL, M. S.: Tosephta, unter Zugrundelegung der Erfurter und Wiener Handschriften, 1880 (1962/3) (Inhaltsverzeichnis: S. 692)
Übersetzung NEUSNER, J.: The Tosefta, translated from the Hebrew, 6 Bde. 1977 – 86; 2. Aufl. 1999 (2002)
Übersetzung mit Kommentar Die Tosefta (Rabbinische Texte, I/1, hg. K. H. Rengstorf u. a.), 1956 ff [in vielen Teilbänden, noch unvollständig]¹⁹
Einleitung, Kommentar BRODY, R.: Mishnah and Tosefta Studies, 2014 COHEN, B.: Mishnah and Tosefta. A comparative study, 1936 FOX, H./MEACHAM, T. (Hg.): Introducing Tosefta. Textual, intratextual and intertextual studies, 1999 HAUPTMAN, J.: Rereading the Mishnah. A new approach to ancient Jewish texts (TSAJ 109), 2005 HOUTMAN, A.: Mishnah and Tosefta. A synoptic comparison of the Tractates Brakhot and Shebiit (TSAJ 59), 1997 LIEBERMANN, S.: Tôsefta ki-fšûṭah, 10 Bde., 1955 – 1988 (hebr.) NEUSNER, J.: The Tosefta. Its structure and its sources, 1986 SPANIER, A.: Die Tosephta-Periode in der tannaitischen Literatur, Berlin 1922
3.6.3 „Jerusalemer“ („Palästinischer“) Talmud, Talmûd ′äräş Jiśra′el [Referenztext für die Zählung ist der Druck von 1866. Die Zählung der Mischna kehrt dort wieder, ist aber kaum zu sehen; so wird zusätzlich nach Blattzahl, Kolumne (a-d) und Zeile zitiert. Die Leerzeilen werden mitgezählt (pro Kolumne 76 Zeilen); Fachleute fertigen sich dafür ein Lineal. – Neuere Ausgaben differieren manchmal in der Zählung der Mišnajot.] http://jewishdelaware.esmartweb.com/JewishTexts.htm Talmud Yerušalmi, Krotošin 1866 ( Jerusalem 1969) Talmud Yerushalmi according to Ms. Or. 4720 of the Leiden University Library, 2001
Dieselbe Nummerierung wie oben Rengstorf, Die Tosefta. Lückenhaft: Seder (= Bd.) 3 und 4; Seder 5 fehlt noch ganz.
B 3 Übersicht über die Quellen des jüdischen Rechts
229
The Jerusalem Talmud, (hg., übers., komm.) H. GUGGENHEIMER, 2000 ff (noch unvollständig)²⁰
Synopse der sich überlappenden Teile SCHÄFER, P./BECKER, H.-J.: (Hg.), Synopse zum Talmud Yerushalmi, 4 Bde., 1991 – 2001
Einleitung MOSKOVITZ, L.: The Terminology of the Yerushalmi. The principal terms, 2009 NEUSNER, J.: The Yerushalmi. The Talmud of the Land of Israel. An introduction, 1992 (2004) SCHÄFER, P. (Hg.): The Talmud Yerushalmi and Graeco-Roman Culture, 3 Bde. (TSAJ 71.79.93), 1998 – 2002
Übersetzung mit Anmerkungen HENGEL, M./SCHÄFER, P. (u. a., Hg.): Der Jerusalemer Talmud in deutscher Übersetzung, 1975 ff (noch unvollständig) NEUSNER, J.: The Talmud of the Land of Israel, 35 Bde., 1982 – 94
Kommentar NEUSNER, J.: The Talmud of the Land of Israel. An academic commentary to the second, third, and fourth divisions, 1999
3.6.4 Babylonischer Talmud [In der Konvention der Manuskripte und Drucke wird jeder Traktat als Buch für sich behandelt; Titel dann z. B.: „Traktat Berachot aus Talmud Babli“ (hebr.), stets mit Angabe weiterer Zutaten (hebr. tôsafôt); Bände bleiben unnummeriert. Bibliographisch werden darum keine Titelblätter transkribiert, sondern Druckorte und -jahre angegeben, wo nötig bzw. wo bekannt, auch Herausgeber oder Verleger/in.] HELLER, M. J.: Printing the Talmud. Complete Editions, Tractates, and Other Works and the Associated Presses from the Mid-17th Century through the 18th Century (Brill’s Series in Jewish Studies 62), 2018 Erstausgabe (und Grundlage der Zählung seither): Venedig: Bomberg 1520 – 23 Talmud Babli, 20 Bde., Wilna: Romm 1880 – 86 [Konventionstext mit vielen hebr. Beigaben bis zur Neuzeit; zahlreiche Nachdrucke, verkleinert auch in weniger Bänden]
Bietet den hebr. Text punktiert mit engl. Übers. und engl. Anmerkungen, jedoch ohne die Zählung der Krotoschin-Ausgabe.
230
B. Grundwissen und Voraussetzungen
Zweisprachige Ausgaben GOLDSCHMIDT, L.: Der Babylonische Talmud., 12 Bde. Berlin 1930 – 36 (Frankfurt [M.] 1996) (hebr. u. dt., Nachdrucke z. T. nur dt.)²¹ STEINSALTZ, A.: Talmûd Bablî, 44 Bde., 1967 – 2010 (hebr. vokalisiert, mit neuem Kommentar); dito (m. engl. Komm.) 1989 ff [frz. und dt. Übersetzungen noch unvollständig] The Schottenstein Talmud, 1972 ff [hebr. vokalisiert, mit ausführlichem engl. Kommentar, noch unvollständig]
Einleitung ABRAMS, J.: The Babylonian Talmud. A topical guide, 2002 HALIVNI, D.: The Formation of the Babylonian Talmud, 2013 Neusner, J.: The Bavli and its Sources (1981), 1987 – : The Bavli. The Talmud of Babylonia. An introduction, 1992 (2004) STERN, T.: The Composition of the Talmud. A complete analysis of the relationship between the Babylonian and the Jerusalem Talmud, 1959 VIDAS, M.: Tradition and the Formation of the Talmud, 2014
Übersetzung mit Anmerkungen EPSTEIN, I.: The Babylonian Talmud, 35 Bde., London 1935 – 52 (18 Bde., 1961) [sog. Soncino-Talmud, mit sehr nützlichen Anmerkungen und Registern, sowohl in den Einzelbänden wie auch im letzten Band: Index Volume to the Soncino Talmud, hg. J. SLOTKI] NEUSNER, J. (Übers.): The Babylonian Talmud, 22 Bde. (1999.2005), 2011
3.6.5 Inhalt von Mischna/Tosefta und Talmudim nach Ordnungen und Traktaten Mischna Ordnung I: Zera‘îm („Saaten“) Gebetsordnung (Berakôt) Agrarische Vorschriften Ernte-Abgaben . Berakôt . Pe’ah . Demaj . Kil’ajim . Šebî‘ît . Terȗmôt . Ma‘aśerôt . Ma‘aśer šenî . Ḥallah . ‘Orlah
jTalmud
bTalmud
fehlt fehlt fehlt fehlt fehlt fehlt fehlt fehlt fehlt
Diese in mancher Hinsicht eigenwillige und fragwürdige Ausgabe wird wissenschaftlich kaum verwendet.
231
B 3 Übersicht über die Quellen des jüdischen Rechts
Fortsetzung Mischna
jTalmud
. Bikkȗrîm
bTalmud fehlt
Ordnung II: Mô‘ed („Festtermin“) Feiertage, Sabbat, Festtage, Fasttage . Šabbat . ‘Erȗbîn . Pesaḥîm . Šeqalîm . Jôma′ . Sȗkkah . Beṣah . Ro′š ha-šanah . Ta‘anît . Megîllah . Mô‘ed qaṭan . Ḥagîgah
fehlt
Ordnung III: Našîm („Frauen“) Eherecht Gelübde . Jebamôt . Ketȗbbôt . Nedarîm . Nazîr . Sôṭah . Giṭṭîn . Qiddȗšîn Ordnung IV: Nezîqîn („Schädigungen“) Schadensrecht Strafrecht Gerichtsordnung . Baba′ qamma′ . Baba′ meṣî‘a′ . Baba′ batra′ . Sanhedrîn . Makkôt . Šebȗ‘ôt . ‘Edȗjôt . ‘abôdah zarah . ′abôt . Horajôt Ordnung V: Qådašîm („Heilige Sachen“) Opfer Profanschlachtung Sakrileg . Zebaḥîm . Menaḥôt
fehlt
fehlt
fehlt
fehlt
fehlt fehlt
232
B. Grundwissen und Voraussetzungen
Fortsetzung Mischna
jTalmud
bTalmud
. Ḥȗllîn . Bekôrôt . ‘arakîn . Temȗrah . Kerîtôt . Me‘îlah . Tamîd . Middôt . Qinnîm
fehlt fehlt fehlt fehlt fehlt fehlt fehlt fehlt fehlt
fehlt fehlt
fehlt fehlt fehlt fehlt fehlt fehlt
fehlt fehlt fehlt fehlt fehlt fehlt
fehlt fehlt fehlt fehlt fehlt
fehlt fehlt fehlt fehlt fehlt
Ordnung VI: Ṭåharôt („Reinheitssachen“) Rituelle Reinheit/Unreinheit und Reinigung von Sachen und Personen . Kelîm . ′ohalôt . Nega‘îm . Parah . Ṭorahôt . Miqwa′ôt . Niddah . Makšîrîn . Zabîm . Ṭebȗl jôm . Jadajîm . ‘ȗqṣîn
3.6.6 Halachische Midraschim Mekilta de R. Jišma‘’el (zu Exodus) Ausgaben HOROWITZ, H. S./RABIN, Ch.: Mekîlta′ de-Rabbî Jišma‘′el (1931), Nachdruck 1960 u. ö. LAUTERBACH, J.Z.: Mekilta de-Rabbi Ishmael. A critical edition, based on the manuscripts and early editions, with an English translation, introduction, and notes, 3 Bde., 1933 – 35 (1976, 2004)
Übersetzung und/oder Kommentar MARTÍNEZ SÁIZ, T.: Mekilta de Rabbi Ismael. Comentario rabinico al libro del Exodo, 1995 NEUSNER, J.: Mekilta According to Rabbi Ishmael, 1988 STEMBERGER, G.: Mekhiltha de-Rabbi Jishmael. Ein früher Midrasch zum Buch Exodus, 2010 WINTER, J./WÜNSCHE, A.: Mechiltha. Ein tannaitischer Midrasch zu Exodus, 1909 (1990)
Mekilta de R. Šim‘on (zu Exodus) EPSTEIN, J./MELAMED, E. Z.: Mekîlta′ de-bê Šim‘ôn bar Jôḥaj, 1955
B 3 Übersicht über die Quellen des jüdischen Rechts
233
HOFFMANN, D.: Mechilta de-Rabbi Simon b. Jochai, nach handschriftlichen Quellen reconstruiert und mit erklärenden Anmerkungen und einer Einleitung, 1905 NELSON, W. D.: Mekhilta de-Rabbi Shimon bar Yoḥai Translated into English with Critical Introduction and Annotations, 2006
Sifra (Tôrat kohanîm, zu Leviticus) Nachdruck der Ausgabe Venedig 1505: Berlin/Leipzig 1925 und Jerusalem 1971 WEIß, I. H.: Sifra′ de-Bê Rab. Hû′ sefär Tôrat kohanîm, 1862 (1947) FINKELSTEIN, L.: Sifra′ de-Bê Rab. We-hû′ Sefär Torat kohanîm. Sifra on Leviticus according to Vatican Manuscript Assemani 66 with variants, 5 Bde., 1989/90 GINSBERG, M.: Sifra with Translation and Commentary, 1999 NEUSNER, J. : Sifra. An Analytical Translation, 3 Bde. (BJS 138 – 140), 1988 SHOSHANA, A.: Sifraʾ de-bê Rab. Tôrat kôhanȋm, 3 Bde., 2017 [nach Ms Rom, Assemani 66] NEUSNER, J. (Übers.): Sifra in Perspective. The documentary comparison of the midrashim of ancient Judaism (BJS 146), 1988 – : Texts Without Boundaries. Protocols of Non-Documentary Writing in the Rabbinic Canon. Bd. 2: Sifra and Sifre to Numbers, 2002
Sifre Erstdruck beider Teile: Venedig 1545; Nachdruck: Sifrê Be-midbar – Debarîm, 2 Bde., Jerusalem 1970.1971
– zu Numeri (SifBem.) Ausgaben FRIEDMANN, M.: Sifre de Be Rab, nach Druckwerken und Handschriften hg., Bd. 1: Text, Noten und Erklärungen, 1864 (m.n.e.) HOROVITZ, H. S.: Siphre d’be Rab (Corpus Tannaiticum 3,1), 1917 (1926), 2. Aufl., hg. I. RABIN, 1966²² PÉREZ FERNÁNDEZ, M.: Midrás Sifre Números. Versión critica, introd. y notas, 1989
Übersetzungen BÖRNER-KLEIN, D.: Sifre zu Numeri übersetzt und erklärt, 1997 KUHN, K. G.: Der tannaitische Midrasch Sifre zu Numeri übersetzt und erklärt (Rabbinische Texte 2/3), 1934 (1954) NEUSNER, J.: Sifre to Numbers. An American Translation and Explanation, 2 Bde. (BJS 118.119), 1986 (nur bis § 115; m.n.e.) (weitere Lit. s. o., Sifra: Neusner)
Der Band zum Dtn. wurde veröffentlicht von Finkelstein; s. nächstes.
234
B. Grundwissen und Voraussetzungen
– zum Deuteronomium (SifDeb.) Ausgaben FINKELSTEIN, L.: Sifrê ‘al sefär Debarîm. Sifre ad Deuteronomium (Corpus Tannaiticum 3,2), 1939 (1969, 1993 u.d.T.: Sifre Deuteronomy) CORTÈS, E./MARTÍNEZ, T.: Sifre Deuteronomium. Comentario Tannaitico al libro del Deuteronomio, 2 Bde., 1989.1997
Übersetzung, Kommentar BIETENHARD, H. (und LJUNGMAN, H.):²³ Der tannaitische Midrasch „Sifre Deuteronomium“, übersetzt und erklärt ( JudChr 8), 1984 HAMMER, R.: Sifre. A Tannaitic commentary on the book of Deuteronomy, 1986 NEUSNER, J.: Sifre to Deuteronomy. Analytical Translation, 2 Bde., 1987; 3 Bde., 1997 FRAADE, S.: From Tradition to Commentary. Torah and its Interpretation in the Midrash Sifre to Deuteronomy, 1991 NEUSNER, J.: Sifre to Deuteronomy. An introduction to the theoretical, logical, and topical program, 1987 (Zur Kommentierung von Sifra, SifBem. und SifDeb. s. dens., Rabbinic Narrative [oben 3.6., Anfang], Bd. 2) Die Rekonstruktion eines nur aus Zitaten bekannten Midrasch zum Dtn. ist: HOFFMANN, D. Z.: Midraš Tanna’îm ‘al sefär Debarîm, 2 Faszikel (durchpag.), 1908 – 09 (1984).
In S. 1– 77 dieses Werkes ist aufgegangen: LJUNGMAN, H.: Sifre zu Deuteronomium, ü bersetzt und erklärt, Lieferg. 1: § 1 – 31 (Deut. 1,1 – 6,4) (Rabbinische Texte 2/4), 1964.
Folker Siegert
4 Liste der Papyri aus der Wüste Juda in chronologischer Folge, unter der jeweils jüngsten Bezeichnung. Nur nach dieser wird im vorliegenden Werk zitiert. Obwohl zufallsbedingt, ist diese Gesamtübersicht der Funde repräsentativ für das, was damals die wichtigsten Rechtsgeschäfte waren. So stehen neben mehreren Heiratsurkunden auch ein Scheidebrief und sogar die Urkunde einer Wiederheirat. Ein „D“ in der vierten Spalte markiert Doppelurkunden (vgl. Exkurs 4.4.1). Alle aramäischen Texte finden sich in neuester kritischer Edition auch bei Yardeni, Textbook; die Hinweise darauf gibt Klaus Beyer, Die aramäischen Texte vom Toten Meer, Bd. 2. Für die griechischen Texte ist über Suchmaschinen eine Datenbank der Duke University aus dem Internet abrufbar unter Papyri.info.html. Über „DDbDP“ und die dann folgende Liste sind die griechischen Papyrustexte in edierter Form lesbar. Die dort gebrauchten Abkürzungen dienen auch hier, mit einer Ausnahme: Was wir hier „P. Yadin“ nennen, heißt dort „P. Babatha“. Ältere, z.T. noch sehr verwirrende Bezeichnungen sind den Publikationen zu entnehmen, auf die hier verwiesen wird. Insbes. die Nummerierung der Papyri aus dem Naḥal Ḥ ever bzw. aus der Seyal Collection, die wegen unsicherer Herkunft nunmehr mit „xHev/Se“ zitiert werden, ist ersetzt, wo immer es möglich war. Die „offizielle“ Ausgabe dieses Materials war DJD 27. Als papyrologischer wie auch juristischer Leitfaden in das Material hat sich Koffmahn, Doppelurkunden bewährt, eine Pionierleistung, gestützt auf die Edition der P. Muraba‘at in DJD 2. Da Yadin, Cave of Letters II (für griechisch Geschriebenes) und III (für in semitischer Schrift Geschriebenes) nicht das gesamte Material umfasst (P. xHev/Se 64 z. B. fehlt, wie auch P. Mur. 42 ff ),¹ wird die Yadin-Kolumne einerseits durch Angaben aus DJD 2 und DJD 27 ergänzt, in deren Lücken auf der Tabelle Verweise auf Beyer, Die aram. Texte I und II sich setzen ließen, und andrerseits durch Verweise auf Koffmahns Ausgabe, in deren Lücken Verweise auf den später erschienenen Band DJD 27 passen. „Beyer“ bezieht sich auf Beyer II, wo die Texte sprachlich erschlossen und ins Deutsche übersetzt sind.² Eingeklammerte Hinweise auf Beyer betreffen nur den jeweils aramäischen Teil der Urkunde. Übergangen sind in der hier gebotenen Liste solche Papyri, von denen zu wenig erhalten ist, als dass sie hier zitiert werden könnten, so die P. Yadin 31– 33, 35, 36 (in Bd. III S. 271 nur als Zeichnung geboten), 38 und 39. P. Yadin 40 und 41 sind Bibelzitate (hebr.). Einen „P. Yadin 48“ gibt es nicht; was so nummeriert wurde, ist ein unbeschriebenes Lederstück. Dahinter zu vermuten sind juristische Verwicklungen, üb die man schwerlich Auskunft in gedruckter Form erhalten wird. Beyer II 262 bietet Nachträge und Korrekturen zu dem in Bd. I bereits Gebotenen; darauf sei hier für Zweifelsfälle hingewiesen. https://doi.org/10.1515/9783110658347-011
236
B. Grundwissen und Voraussetzungen
neueste Bezeichnung
Datum (n. Chr.)
Sprache
Art und Inhalt (D = Doppelurkunde)
P. Mur. P. Mur. P. Yadin P. Yadin und P. Yadin P. Mur. P. Mur. P. Mur. P. Yadin P. Yadin P. Yadin P. Yadin P. Yadin P. Mur. P. Yadin P. Yadin P. Yadin P. Yadin P. Yadin – P. xHev/Se P. Yadin P. xHev/Se P. xHev/Se P. Yadin P. Yadin P. Yadin P. Yadin P. xHev/Se P. xHev/Se P. Yadin P. Yadin und P. Yadin P. Yadin P. Yadin P. Yadin P. Yadin P. Yadin =xHev/Se P. Yadin P. Mur. P. Yadin P. Mur. A-F (etc.) P. Yadin P. Mur. P. Mur. P. Mur. P. Yadin P. Yadin und P. Yadin a/b P. xHev/Se P. xHev/Se P. xHev/Se a P. xHev/Se
/ . Sept. . Nov./. Dez. oder später . Jh. ./. Jh. ./. Jh. . Juni . Juli Juni/Juli . Mai (. Hälfte) (. Hälfte) ./. Ok. . Okt. ca. .. ./. Dez. ./. Dez. . Apr./ . Dez. spätestens ./. Febr. . Apr. . Apr. . Nov. . Jun. . Sept. . Nov. (wohl dasselbe) . Juli . Juli Juli . Aug.
aram. aram. nabat. nabat. nabat. aram. gr. gr. gr. aram. nabat. aram. gr. gr. gr./aram. gr. gr./aram. gr./aram. gr. gr. gr. gr. gr. aram. gr./aram. gr./aram. gr./aram. gr. gr. gr. gr. gr. gr. gr. gr. gr. gr.
D, Schuldschein D, Scheidebrief D, Schuldschein unter Ehegatten D, Verkauf eines Palmenhains/Zusatzurkunde D, Bürgschaft (?) für den Betrieb einer Plantage D, Ketubba Schuldschein (Chirographon) Ketubba (Frg.) „Depositum“ (Kredit) zwischen Verwandten D, Schenkung von Todes wegen, unter Ehegatten Verpachtung von Ackerland Kauf (hier aus Käuferperspektive formuliert) D, Hypothek auf Nutzland, mit unbegrenzter Garantie Wiederverheiratung eines vorher geschiedenen Paares Auszug aus einem amtlichen Protokoll Petition an den Provinzgouverneur von Arabia Vorladung eines Vormunds nach Petra Sicherstellungserklärung (für Güter eines Mündels) Prozessformel für Vormundschaftsklage, Exemplare D, Fragment einer Censuserklärung mit Kaisereid (D, Außentext nur Zeilen) Census-Erklärung der Babata D, Census-Erklärung des Stiefsohns der Babata Verzichterklärung nach Empfang eines Schiedsspruchs D, Babatas Ketubba aus zweiter Ehe Leihe zwischen Eheleuten, als Depositum formuliert Ketubba der Tochter Babatas, z. T. nach griech. Recht Schenkung von Todes wegen: Immobilie an eine Tochter D, Schenkung eines (genau umgrenzten) Nutzlandes D, Ehevertrag (Frg.), durchgestrichen Abtretung einer Immobilie () Verkauf, () Kauf desselben Dattelpalmenhains Vorladung vor den Gouverneur (Propraetor) in Petra Depositum (Fragmente) Vorladung vor das Gericht des Provinzchefs in Petra Protokoll einer Weigerung Eingabe an den Provinzchef Ketubba
. Aug. Anf. Nov. / Anf. Febr. Apr./Mai Jan./Febr. Juli/Aug. Okt./Nov. Okt./Nov. Nov/Dez. Dez./Jan. / / Ende Febr. Feb./März
Quittung von Zahlungen an ein Mündel (Babatas Sohn) D, Immobilienverkauf Quittung über Pachtzahlung Sammelabschrift von Pachtverträgen, Archivstück Landverpachtung D, Verkauf (Frg.) D, Verkauf (Frg.) in Jerusalem D, Verkauf (Frg.) Landaufteilung unter mehreren Nutzern Verpachtung und Unterverpachtung (a) Verkauf; (b) Kauf einer Gemüsepflanzung Abschlussquittung nach Scheidung seitens der Frau (sic) Verkauf eines Hauses Verkauf eines Hauses Verkauf eines Gehöfts
(siehe rechts) (siehe rechts) spätestens spätestens
gr./aram. hebr. aram. hebr. aram. aram. aram. aram. hebr. hebr. aram. aram. aram. aram. aram/ hebr. aram. aram. aram. aram.
hebr.
D, Verkauf einer Immobilie
P. Mur. P. Mur. und P. Mur. und RB , , – P. Mur.
(D, außen nur Resümee) Ketubba Verkäufe (Frg.) jeweils: Verkauf eines Hauses (Frg.) D, Verkauf eines Feigenhains
B 4 Liste der Papyri aus der Wüste Juda
DJD 2 / Beyer – /I f – /I f II – II – II f – /I f – – II – II f II
Yadin Bd., S.
Koffmahn/DJD
Bemerkung
III –
f. – . – .. – . . –
Umgehung des Erlassjahrs der einzige bisher gefundene. Von ungeübter Hand Beyer: „Sicherung der Mitgift“
III – III –
f. – . – – – II – III – III – III – II –
– (II ) (II ) (II f )
II – II – II – II – II –
f. – . – . f – . f. – –
f –
II –
II – (II f ) (II f ) (II )
III – II – II – II –
DJD , – DJD , – . f DJD , – DJD , –
II f II – II
( f ) – II f – II f f – – / I f
II f II II f I f; II – /I f – /I – I f I – –
237
II – II – II – II – II – II – II f II – II f III – III –
III – III – III –
DJD , – f f. – f . . – . f DJD , – DJD , – DJD , . DJD , – . – . – – f. –
Beyer: „ n. Chr.“ Nr modifiziert Nr. Beyer: „/ n. Chr.“, Text dort stark ergänzt Beyer: „wahrscheinlich Febr./März n. Chr.“
ältestes Stück der Babata-Dokumente einzig erhaltener Vertrag dieser Art Beyer: „ n. Chr.“, Vertrag zwischen Judäern datiert nach Hadrian und den Consuln; tyrisches Geld die einzige mit ausdrücklicher Formel; Unterschriften aramaisierendes Griechisch; s. # Vorbereitung für Babatas Vormundschaftsklage dito dito; sie wird vertreten durch ihren epitropos so bezeichnet bei Koffmahn vgl. Gaius , (lat. bei Yadin ) datiert in Rabbat-Moab; gehört zu den Babata-Papieren Annahmevermerk a. d. Lat. übers.; Unterschriften nabat. beglaubigte Abschrift einer Abschrift neu ediert in H. Cotton, „Jewish jurisdiction“; s. # Beyer: „ – n. Chr.“ mit Siebenzeugeneid, auf Aramäisch beurkundet aram. Kurztext vom Brautvater Hälfte von Todes wegen, wie Tob ,; , LXX aram. Rückübersetzung der Hg. auf S. auch die Zeugennamen (verso) sind durchgestrichen Formel homologoumen synkechōrēkenai (Z. f ) Zweitschrift ad personam umformuliert Familienzwist um Versorgung von Babatas Sohn in derselben Sache in derselben Sache zwei Frauen aus früherer Doppelehe streiten sich dito „Salome, genannt Komaïs“ „. Jahr der neuen Provinz Arabia“ „Jahr der Befreiung Israels“; Umgehung des Jobeljahrs „Jahr [] des Simon bar Kosiba“ auf Jahre, bis zum Erlassjahr; Verpächter: Bar Kosiba „Jahr der Befreiung Israels“ „Jahr der Freiheit“ „Jahr der Freiheit“ „Jahr der Freiheit“ „Jahr Simon b. Kosibas, des Fürsten Israels“ „Jahr Simon b. Kosbas, des Fürsten Israels „ „Jahr Simon b. Kosibas, des Fürsten Is.“; tyr. Geld „Jahr der Freiheit Israels im Namen Š. bar Kosibas“ mit Erwähnung des Schlüssels „Jahr der Freiheit Israels“ „Jahr der Freiheit Israels in den Tagen Š. ben Kosibas“ Beyer: „spätestens n. Chr.“ Beyer: „wahrsch. am Ende d. zweiten jüd. Aufstandes“ Anfang nicht erhalten Anfang nicht erhalten. Der Schreiber war Jerusalemer „Jahr der Freiheit“
238
B. Grundwissen und Voraussetzungen
Aus Platzgründen übergangen ist desweiteren P. Mur. 42 (DJD 2, 155 – 159, Spätjahr 134/Frühjahr 135 = Jahr 3 der judäischen Autonomie, hebräisch) in Form eines Rotulus (senkrecht gerollt), enthaltend die Bescheinigung³ über den Kauf einer Kuh sowie einen Privatbrief. Es bedurfte deren als Passierschein, um die Kuh in das Herrschaftsgebiet Bar Kosibas (Bar-Kochbas) einzuführen. Zu weiteren Besonderheiten dieses Stücks s.u. C 4.4.1. Gleichfalls fehlen die kurzen, undatierten Briefe Bar-Kochbas, P. Mur. 43 (DJD 2, 150 – 161) und P. Mur. 44 (ebd. 161– 163, Anforderung einer Weizenlieferung). Felhend bei Yadin, Cave of Letters, sind sie immerhin dafür bemerkenswert, dass sie in der neuen Staatssprache Hebräisch verfasst wurden. Das gilt sonst nur für die P. Yadin 49, 51, und 61 (s.u.). Der sehr fragmentarische P. Yadin 9 v.J. 122 (Beyer II S. 225; Yadin III S. 268 – 276), nabatäisch, ist in vielem das Pendant zum aramäischen P. Yadin 8: Auch dort wird nach Consuln datiert sowie nach Jahren seit der Einrichtung der römischen Provinz Arabia und der Geldwert nach tyrischer Münze bestimmt. Mehr ist ihm für unsere Zwecke nicht zu entnehmen. Die in DJD 38, S. 217– 225 veröffentlichte, fragmentarische Namensliste aus einer Census-Erhebung (P. xHev/Se 4), hebräische Namen in gr. Umschrift bietend sowie Lebensalter, ist in # 92 besprochen. Nicht aufgeführt sind ferner die P. Yadin 49 – 64, nämlich die bei Yadin, Cave of Letters III 277– 348 separat gebotenen Briefe Bar-Kochbas (aram. und hebr.) und nochmals extra auf S. 349 – 366 die P. Yadin 52 und 59 (aus seinem Kreis, griechisch), die von politischem und kultischem, aber nicht von rechtlichem Interesse sind. Eine für ihr Erscheinungsjahr vollständige Übersicht des hier nur im relevanten Ausschnitt genannten originalschriftlichen Materials auf Papyrus, Leder oder Ähnlichem aus dem antiken Judäa und Nachbargebieten geben H. COTTON/F. MILLAR/W. COCKLE: „The papyrology of the Roman Near East. A survey“, JRS 85, 1995, 214– 235 (224– 233).
In damaliger Terminologie (nicht auf dem Dokument selbst) wäre das ein šeṭar ‘edût.
Martin Schermaier
5 Übersicht über die römischen Rechtsquellen
5.1 Quellen und Benennungen 5.1.1 Die klassischen Quellen 1.
2.
Antikes Volksrecht und spätantikes Reichsrecht: Im Römischen Reich konnte jedes Volk nach seinem Recht leben, jede Gemeinschaft ihren Kult pflegen. Die Anrufung römischer Gerichte stand aber jedem Reichsbewohner offen. Im Prinzipat (d. h. ab dem Kaisertum) kam durch die Gesetzgebungstätigkeit des Kaisers die Rechtsangleichung langsam voran. Erst ab 212 n.Chr. (constitutio Antoniniana), als alle Reichsbewohner das römische Bürgerrecht erhielten, kann man das römische Reich als einheitlichen Rechtsraum auffassen. – Der Überlieferungsstand bei den sog. „Volksrechten“ ist sehr unterschiedlich; für das jüdische, griechische und ptolemäische Recht ist er (durch literarische und urkundliche Quellen) verhältnismäßig gut. Das römische Recht der klassischen Zeit ist vor allem durch die Kodifikationen Justinians überliefert (s.u.), aber auch aus zahlreichen und ganz verschiedenen primären und sekundären Quellen bekannt. Für die ntl. Zeit stellt sich – a) das Zeitproblem (können Quellen aus 6. Jahrhunderten Auskunft geben über den Rechtszustand um 100?); b) das inhaltliche Problem (wie hoch war die Ähnlichkeit der Rechte im Mittelmeerraum?); c) das Verschriftlichungsproblem (es gibt zu wenig Quellen zum Volksrecht). Koordinaten einer römischen Quellenkunde: a) Klassisches Recht (schon Gaius [etwa 160 – 180 n.Chr.] schrieb dazu ein Lehrbuch); unsere Kenntnis stammt aber hauptsächlich aus der Kodifikation Justinians (insbes. aus Institutionen und Digesten). b) Ius civile, ius gentium als anfängliche Polarität (vgl. 5.3); dazwischen liegt das von den Praetoren geschaffene ius honorarium. c) Juristen und Rechtsschulen: Umfangreiche zunächst private Veröffentlichungen zum Privat-, Straf- und Prozessrecht; sind in Auswahl in die Kodifikation Justinians (Institutionen und Digesten) eingegangen. d) Personalitätsprinzip und römisches Bürgerrecht: Jeder Mensch stand unter dem Recht seiner Bürgerschaft. Aus Sicht der Nichtrömer waren die Rechte römischer Bürger Vorrechte). e) Justinians Kodifikation bewahrte der späteren Zeit den größten Bestand an Rechtserkenntnisquellen über das (klassische) römische Recht (s.u.: Corpus Iuris Civilis).
https://doi.org/10.1515/9783110658347-012
240
3.
4.
B. Grundwissen und Voraussetzungen
Römische Rechtsquellen im allgemeinen a) Rechtsentstehungsquellen i. ius ius bedeutet das geltende Recht (objektives Recht), kann aber auch in einem gut belegten Brauch bestehen (Gewohnheitsrecht); ii. leges (Gesetze) sind das Resultat geregelter Prozeduren der Gesetzgebung (s. 5.3). b) Rechtserkenntnisquellen i. Kodifikationen und Rechtssammlungen (insbes. Corpus Iuris Civilis; Codex Theodosianus; sog. leges barbarorum – s.u. 3.2); ii. private Rechtsliteratur (vergleichbar mit – und Teil von – 2 c); iii. Urkunden (auf Papyrus oder Täfelchen, insbes. negotia); iv. literarische Quellen (z. B. Prozessreden Ciceros); v. Inschriften (insbes. solche, die Gesetze, Erlasse oder Ordnungen enthalten). Besonderheiten in den östlichen Provinzen a. Römische Provinz und Provinzverwaltung b. Rechtsverwaltung und Rechtsprechung i. Zivilgerichtliches Verfahren ii. Strafgerichtliches Verfahren iii. Notariat c. Rechtsenstehungsquellen (leges provinciae, edictum provinciale) d. Rechtserkenntnisquellen i. Kodifikationen (teilweise Digesten und Codex) ii. private Sammlungen (s.u. Syr.-Röm. Rechtsbuch; Sententiae Syriacae) iii. Urkunden, Inschriften iv. Literarische Quellen
An Literatur sind zu empfehlen: Wenger, Die Quellen; Wieacker, RRG; Bretone, Geschichte; Waldstein/Rainer, RRG; Kunkel/Schermaier, RRG (s. Literaturverzeichnis).
5.1.2 Die wichtigsten Rechtserkenntnisquellen des römischen Rechts 1.
Das Corpus iuris civilis (Iustiniani) besteht aus: a) den Institutiones (533; ein Lehrbuch zur Einleitung in das juristische Studium); b) den Digesta (533); c) dem Codex (534); d) den Novellae leges Iustiniani (Novellen, neu erlassene Gesetze).
Siglum jeweils: I., D., C., Nov. Gängige Ausgaben: Mommsen/Krüger (I., D., C.) sowie Schöll/ Kroll (Nov.). Übersetzung: Otto/Schilling/Sintenis (1831– 1839); Behrends/Knütel/Kupisch/ Seiler (seit 1990, z. Zt. bis Buch 34 der Digesten [s.u. Lit.verz. 5.1.1]).
B 5 Übersicht über die römischen Rechtsquellen
241
Die Übersetzung der Digesten in griechische Sprache (Basilika nomima, Basiliken) ist für den hier behandelten Zeitraum kaum von Belang. 2. Juristenschriften, die nur oder auch außerhalb der Digesten überliefert sind: a) Gaius, Institutiones (Hauptcodex ist der sog. Gaius Veronensis; einzelne Fragmente auch in den Digesten überliefert); b) Gaii epitome (überliefert im Breviarium Alaricianum – s.u.); c) Pauli sententiae (überliefert in den Digesten, im Breviar etc.); d) Ulpiani epitome (oder liber singularis regularum oder Tituli ex corpore Ulpiani, überliefert in einer Handschrift, Vat. Lat. 1128).¹ 3. Sammlungen von Juristenschriften und leges neben den Digesten: a) Fragmenta Vaticana (Fragmente von Juristenschriften und leges, 4./5. Jh.); b) Collatio legum Mosaicarum et Romanarum (s.u. C 4.3.5); c) Consultatio cuiusdam iuris consulti (enthält teils Pauli sententiae, teils leges, um 500); d) Scholia Sinaitica (griechische Scholien zu Ulpian, um 500); e) Syrisch-römisches Rechtsbuch (didaktisches Werk auf Grundlage römischer Rechtstexte, aus dem Griechischen ins Syrische übersetzt; s.u. C 4.4.2); f ) Sententiae Syriacae (didaktisches Werk über römisches Recht in syrischer Sprache; s.u. C 4.4.3);² g) sog. leges Romanae barbarorum, von nichtrömischen Fürsten für die romanische Bevölkerung erstellte Rechtssammlungen (insbes. lex romana Visigothorum = Breviarum Alarici). 4. Sammlungen von leges (neben dem Codex Iustinianus) a) Codex Gregorianus, Codex Hermogenianus (private Sammlungen, nur mittelbar über Breviar überliefert); b) Codex Theodosianus (ebenfalls über Breviar, aber weitgehend im originalen Wortlaut,³ teilweise identisch mit Gesetzen im Codex Justinians, s.o. 1 c). 5. Wichtige Inschriften (insbes. über Provinzialrecht) a) Tabula Heracleensis (lex Iulia municipalis?); b) Lex Rubria de Gallia Cisalpina (Kompetenzteilung zwischen städtischem Gericht und Statthaltergericht); c) Lex coloniae Ursonensis; d) Leges municipales (Salpensana, Malacitana, Irnitana); e) Augustus-Inschrift von Kyrene. 6. Wichtige Urkunden (griechisch und lateinisch): a) Wachstafeln aus Siebenbürgen; b) Wachstafeln aus Pompeji (sog. Archiv des Jucundus); Nicht identisch mit den als nächstes zu erwähnenden, nur in einer einzigen Handschrift des Vatikans erhaltenen Fragmenten, welche auch Ulpian-Texte bieten und einem Sammelwerk angehören müssen, das den Digesten vorausging. Auch an anderen Stellen gibt es noch Ulpian-Fragmente. (F. S.) Zu Punkt e und f vgl. unten C 4.4.2– 3. Erlassen 438, war dies für ein knappes Jahrhundert ein reichsoffizieller Text.
242
7.
B. Grundwissen und Voraussetzungen
c) Wachstafeln aus Herculaneum; d) Wachstafeln aus Murecine/Pompeji (sog. Archiv der Sulpicier); e) Papyri vom Toten Meer (sog. Archiv der Babatha). Literarische Quellen (Cicero, Gellius u. a.m.).
5.1.3 Rechtsquellen (Rechtsentstehungsquellen) a) Juristenschriften: zum großen Teil in den Digesten (oder Pandekten), dem umfangreichsten Teil des Corpus Iuris Civilis (erlassen von Justinian I., 533) überliefert, verhältnismäßig wenig parallel dazu in Einzelschriften (etwa: Gaius, Institutiones) oder Sammlungen (insbes. in den leges Romanae barbarorum). b) Gesetze (Verordnungen etc.): vor allem im Codex (sc. Iustinianus, Teil des Corpus Iuris Civilis), Sammlung von Reskripten, Mandaten, Dekreten aus dem frühen 3. bis frühen 6. Jh.) und in den Novellen (Teil des Corpus Iuris Civilis), darin nur Gesetze Justinians (novellae leges Iustiniani); daneben aber auch in vorjustinianischen Sammlungen (Codex Theodosianus); teilweise aber auch inschriftlich erhalten. c) Urteile: teils in den Digesten (im Rahmen von Gutachten), teils im Codex (im Rahmen von decreta und rescripta). d) Verträge, private Rechtsurkunden: teils in den Digesten (Beschreibnung von Rechtsfällen, Vertragstexte, Schilderung von Testamenten etc.), teils in Form von Originalurkunden (Wachstäfelchen, Papyri) erhalten.
5.2 Zitierweise und Abkürzungen 5.2.1 Juristische Texte Die Zitierweise von Quellen des römischen Rechts folgt der im deutschsprachigen Raum üblichen Weise: D. Digesta Iustiniani, Digesten; z. B.: D. 19,1,1 pr. (= 19. Buch, 1. Titel, 1. Fragment, pr. [principium = der vor der ersten lex stehende Text]).⁴ Sofern bekannt, wird der Autor mit angegeben, in diesem Falle also: Ulpian D. 19,1,1 pr.⁵
Die dann folgende Nummerierung einzelner leges wurde erst in der mittelalterlichen Lehrpraxis eingeführt. [Zu lesen: Ulpian, wie er zitiert wird in den Digesten, 19,1,1 pr. – Auf Nennung der ursprünglichen Buchtitel wird in vorliegendem Werk verzichtet.]
B 5 Übersicht über die römischen Rechtsquellen
243
Ebenso werden die Autoren angefügt beim Zitieren aus den frg. Vat. und der Coll. Mos. Weitere Abkürzungen: Gaius Gaius, Institutiones I. Justinian, Institutiones C. Codex Iustiniani Nov. Novellae leges Iustiniani Cod.Theod. Codex Theodosianus Sent. Syr. Sententiae Syriacae SRR Syrisch-römisches Rechtsbuch Paul. sent. Pauli sententiae Ulp. epit. Ulpiani epitome frg. Vat. fragmenta Vaticana (moderne Sammelbezeichnung) Coll. Mos. Collatio legum Mosaicarum et Romanarum Gai. epit. Gaii epitome Die nur in Zitaten erhaltenen Zwölf Tafeln (XII Tab.) werden zitiert nach der Zählung in Riccobono u. a., FIRA (s. Literaturverzeichnis am Ende dieses Bandes, 5.1.1: Riccobono).
5.2.2 Papyri, Wachstafeln Für die bis in die 50er-Jahre entdeckten bzw. edierten Quellen hält man sich an Wenger, Die Quellen des römischen Rechts, 162 ff. Außerdem vgl.: TabCerD Tabulae ceratae Daciae (ediert in CIL III); TH Tabulae ceratae Herculanenses (ed. Pugliese Carratelli/Arangio-Ruiz); TPomp Tabulae ceratae Pompeianae (ediert in CIL IV 3340); TPSulp Tabulae Pompeianae Sulpiciorum (ed. Camodeca).
5.2.3 Inschriften Inschriften werden in der Regel nach dem Publikationsort zitiert (z. B. CIL = Corpus Inscriptionum Latinarum). Manche juristisch besonders wichtige Inschriften wurden in die Sammlungen von Bruns/Gradenwitz, Fontes (s. Literaturverzeichnis) oder von Riccobono u. a. (FIRA) aufgenommen.
5.2.4 Literarisches [Hierfür dienen im vorliegenden Werk die Abkürzungen der RGG (4. Aufl.). Antike Schriftsteller, von denen nur ein Werk erhalten ist (z. B. Gellius), werden ohne dessen Titel zitiert.]
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B. Grundwissen und Voraussetzungen
5.3 Glossar von Grundbegriffen des römischen Rechts 5.3.1 Zur Rechtsordnung Zur Beschreibung antiker Verhältnisse dient das deutsche Wort „Recht“ v. a. im Sinne von „Rechtsordnung, objektives Recht“ (→ ius). Recht i.S.v. subjektivem Recht (Anrecht, Rechtsanspruch) ist ein moderner Begriff. Wenn röm. Juristen in dieser Hinsicht von „Recht“ sprechen, bezeichnen sie das konkrete Recht, z. B. Eigentum, Servitut (s.u.) oder auch den Anspruch, z. B. mihi debes, habeo actionem, oder ähnlich. ius: „Recht“ im Sinne von „objektivem Recht“, Rechtsordnung; ursprünglich der Ort, an dem der Gerichtsherr Klagen erteilte (= Prozesse eröffnete); verschiedene Differenzierungen (→ ius civile, honorarium, gentium, naturale etc.). lex: entweder Gesetz bzw. Erlass (urspr.: von der Volksversammlung beschlossenes Gesetz); oder lex contractus = bindende Kraft eines Vertrags und die aus ihm entstehenden Ansprüche. ius strictum/ius aequum (striktes vs. billiges Recht): ius strictum ist das aus der Anwendung des Wortlauts (etwa einer Klageformel oder eines Gesetzes) oder das aus dem Fallrecht deduzierte Ergebnis eines Rechtsstreits – ein Ergebnis, das also nach formalen Kriterien gefunden/begründet wird. Ius aequum steht nie für sich, sondern immer als Gegenbegriff zum ius strictum und meint „Billigkeit, Gerechtigkeit“ (gr. epieikeia, „Angemessenheit“ – sc. gegenüber der Person bzw. dem besonderen Fall). ius singulare/privilegium: beide Begriffe bezeichnen ein „Sonderrecht“, privilegium hat Sonderrechte einzelner Personen im Blick, ius singulare Sonderrechte von Bevölkerungsgruppen.⁶ ius civile (vgl. Papinian, D. 1,1,7 pr.), d. h.: ‒ leges: Beschlüsse der Volksversammlungen (es gibt verschiedene) ‒ plebis scita: Gesetze, die vom consilium plebis (Versammlung der plebs) beschlossen werden; Verbindlichkeit für alle Römer ab etwa 287 v.Chr. ‒ senatus consulta: „Ratschläge des Senats“ an den (regierenden) Magistrat (i. d. R. an die Consuln), ein Gesetz vor der Volksversammlung beschließen zu lassen. Wegen politischem Gewicht des Senats galt schon dieser Ratschlag als verbindlich. ‒ decreta principum: Erlässe des princeps (d. h. Kaisers). ‒ auctoritas prudentium: die Gutachten und Entscheidungsempfehlungen von Rechtsgelehrten, die Praetor, Richter und Kaiser berieten, hatten Gesetzeskraft (jedenfalls derer, die vom Kaiser das Recht verliehen bekommen hatten, ex auctoritate principis zu gutachten). Allerdings betonen die Juristen, insbesondere wenn
Dazu etwa: F. WUBBE: „Ius singulare quid sit“, in: M. SCHERMAIER/Z. VÉGH (Hg.): Ars boni et aequi. FS Wolfgang Waldstein 1993, 451 ff.451 ff. – Lit. zu den hier erwähnten Begriffen s. u., Literaturverzeichnis, Abschn. 5.
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sie einander zitieren, ihre eigene auctoritas (auf Grund ihrer Rechtskunde) und nicht die durch den Kaiser verliehene. Dazu kommt „Gewohnheitsrecht“ – Regeln, die man seit jeher nutzt, deren Geltungsgrund man aber nicht reflektiert (oder auf sagenhafte Gesetze zurückführt). ius honorarium/praetorium: (vgl. Papinian, D. 1,1,7,1) = quod praetores introduxerunt: Prätoren (s.u.) waren (auch) zuständig für die Einleitung von Gerichtsverfahren, indem sie einen Richter benannten und eine Klage(formel) erteilten. Die vom Prätor erteilten Klagen (ediziert oder in factum erteilt) und ihre Anwendung machen insgesamt das Honorarrecht oder prätorische Recht aus. Diesem Recht kommt im Hinblick auf das Civilrecht Hilfs-, Ergänzungs- und Korrekturfunktion (zu letzterem: ius aequum korrigiert ius strictum) zu. Papinian: quod praetores introduxerunt adiuvandi vel supplendi vel corrigendi iuris civilis gratia).⁷ ius gentium: „Recht der Völker“ = Recht, das alle Völker beachten. Ist kein empirisch festgestelltes oder (heute etwa) feststellbares Recht, sondern eine Annahme, ein rechtspolitischer Topos der römischen Juristen. Das Recht, die Rechtssätze bzw. Prinzipien, von denen man glaubte, das sie von allen kultivierten (!) Menschen beachtet würden (vgl. Hermogenian D. 1,1,5; Gaius D. 1,1,9). Mit ius gentium werden verschiedene Entwicklungen des prätorischen Rechts (→ ius honorarium) gerechtfertigt (z. B. die Anerkennung bestimmter formloser Verträge). Norm (seit Cicero: norma): rechtsphilosophischer oder -theoretischer Oberbegriff für jede Art von Rechtssatz, gleich, wie er zustande gekommen ist. Grundform ist ein zweiteiliger Satz, der Tatbestand und Rechtsfolge enthält, z. B. „Wer…, der ist des Todes“ (Ex 21– 22; Lev 20). Geltung vs. Gebrauch einer Norm: Eine Norm kann in Geltung sein, aber übertreten werden; wird sie befolgt, ist dies ihr Gebrauch. Civilrecht (im römischen Sinne mit c zu schreiben, ius civile, ius Quiritium) vs. prätorisches Recht (ius honorarium): meint den Unterschied in der Entstehung des römischen Rechts (hier: von Volk/Senat/Princeps gesetzt, dort: vom republikanischen Magistrat geschaffen).⁸ Civilrecht vs. ius gentium: Gegensatz im Hinblick auf Geltungsbereich: ius civile für römische Bürger, ius gentium auch für Nichtbürger. Civilrecht vs. ius naturale: ähnlich wie Gegensatz civile/gentium, aber nach einer Auffassung (Ulpian D. 1,1,1,3) sollen ius naturale Regeln sein, die von allen Lebewesen beachtet werden.⁹
Dazu F. WIEACKER: Zur rechtstheoretischen Präzisierung von § 242 BGB, 1956. Dazu etwa M. KASER: „Ius honorarium und ius civile“, ZSRG.R 101 (1984), 1 ff. Zu diesen Begriffen s. Kaser, Ius gentium (s. Lit.-verz.).
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B. Grundwissen und Voraussetzungen
Privatrecht vs. öffentliches Recht (ius privatum vs. publicum) vgl. Ulpian D. 1,1,1,2: Öffentliches Recht bezieht sich auf Organisation und Verwaltung des Staates (der Bürgerschaft), privates auf die Beziehung von einzelnen Rechtssubjekten (Menschen) untereinander (für röm. Bürger: Civilrecht; für Menschen schlechthin: ius honorarium bzw. gentium)¹⁰. Achtung: Strafrecht ist in Rom (anders als im modernen Recht) teilweise Privatrecht. Nur politische Straftaten, Verbrechen und sonst als für die Gemeinschaft gefährlich angesehene Straftaten werden durch eigene Strafgerichte (die die nach heutigem Maßstab teilweise eher der Exekutive zugehören) verfolgt. Rechtssetzung (iura condere): Republik (bis ins 1. Jh. v.Chr.): leges, senatus consulta und plebis scita (s.o. bei ius civile), bzw. prätorische Klagen (d. h. ediktale und vom Prätor in factum erteilte Klageformeln) und Gutachten der Rechtsgelehrten (iuris prudentes). Prinzipat (bis Mitte 3. Jh.): wie Republik, aber kaiserliche Rechtssetzung wird immer wichtiger: decreta (Erlässe, meist allgemeinen Inhalts), mandata (Dienstanweisungen an Beamte), rescripta (Antwortschreiben auf Rechtsanfragen, i. d. R. zu einem konkreten Fall, aber für alle weiteren gleichen Fälle gültig; s.u.). Dominat (ab Diokletian): Rechtssetzung fast ausschließlich durch den Kaiser. Zur Rechtssetzung gehört die Veröffentlichung (publicatio) durch Anschlag; das galt auch für die nachfolgend zu nennenden Edikte. Edikt (edictum): allg. „Erlass“: Anordnung der Verwaltung; „Ediktionsgewalt“ ist Teil der Machtbefugnis der republikanischen Magistrate (Consul, Praetoren, Aedile), in den Provinzen der Proconsuln bzw. Propraetoren (praesides provinciarum).¹¹ Seit dem Principat, vor allem aber im Dominat sind edicta allgemeine Anordnungen („Verordnungen“) des Kaisers, bes. im verwaltungsrechtlichen Bereich; da auch constitutio genannt (z. B. constitutio Antoniniana, 212). Im privatrechtlichen Bereich → edictum praetoris urbani bzw. provinciale. edictum praetoris (urbani): Edikt, in dem der Prätor zu Amtsantritt die Klagemöglichkeiten bekannt gibt, die er während seiner Amtszeit (ein Jahr) gewähren wird. Bis in den frühen Prinzipat häufig verändert, seither meist unverändert von einem Prätor auf den anderen übernommen (edictum tralaticium). Seit Hadrian (durch Salvius Iulianus) festgeschrieben zum edictum perpetuum („ewiges“, also nicht mehr änderbares Edikt).¹² edictum provinciale: Ein für eine Provinz erlassenes Edikt; erlassen von einem mit der Provinzverwaltung betrauten Propraetor oder Proconsul (seit Prinzipat auch praesides provinciarum genannt); inhaltlich orientiert am stadtrömischen Edikt. Das Edikt
Dazu etwa M. KASER: „ius publicum und ius privatum“, ZSRG.R 103 (1986), 1 ff. [Auch Edictum perpetuum genannt. Im vorliegenden Werk wird es zitiert als „Prätorisches Edikt“, nach FIRA I 335 – 389.] Dazu jetzt Th. LANFRANCHI: „Edicts and decrees during the republic: a reappraisal“, in: ZRG.R 136, 2019, 47 ff. Neuere Rechtssetzungen von gleicher Autorität waren dadurch nicht ausgeschlossen, erfolgten vielmehr reichlich.
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gilt nur für römische Bürger und solchen Provinzialen, die sich freiwillig der Gerichtsbarkeit des Provinzgouverneurs unterstellen. Reskript (rescriptum): Antwort des Kaisers auf eine Rechtsanfrage, hatte Gesetzeskraft (wirkt also über den entschiedenen Fall hinaus); entstanden aus Gutachtertätigkeit der republikanischen Juristen (ebenfalls: rescripta), die während der Kaiserzeit nach und nach weitgehend in die kaiserliche Verwaltung eingebunden werden: zuerst durch das ius respondendi, später durch Tätigkeiten in der kaiserlichen Verwaltung, insbes. in verschiedenen Ministerien (etwa in der Kanzlei a libellis – zuständig für Anfragen Privater). constitutio principis: Erlass des Kaisers: mandatum (Dienstanweisung an Beamte), decretum (Urteil), rescriptum (Beantwortung von Anfragen, bindend für alle gleichen Fälle), edictum (Gesetz oder Verordnung im modernen Sinn). Dekret (decretum): Erlass des Kaisers (wie eben); Urteil des Kaisers (bzw. des kaiserlichen Gerichts, vor kaiserlichen Beamten) in zivil- und strafrechtlichen Angelegenheiten.¹³
5.3.2 Prozessrecht Klage (sc. vor Gericht), actio: Inanspruchnahme staatlicher Einrichtungen von Privaten zur Durchsetzung von Recht (insbes. von Ansprüchen gegen einen anderen). Urspr. agere = rituelles Handeln vor dem König bzw. Gerichtsherrn (insbes. Aufsagen der Klageformeln); im Prinzipat: Klageerhebung durch Schriftformel: Der Prätor wählt aus dem Edikt eine Klageformel aus und stellt sie den Parteien zur Verfügung; auf dieser Grundlage entscheidet der Richter. Später: jede Klage vor Gericht (auch vor dem kaiserlichen Gericht; dort ohne Klageformeln). cognitio: Ermittlung eines Sachverhalts (nach Zeugenaussagen und Indizien) und Rechtsentscheid im ordentlichen Prozess (sog. Formularprozess); → Prozessrecht. Hingegen coercitio: Ausübung von Polizeigewalt; Ordnungs- oder Strafmaßnahme. consilium: Beisitzer des Richters (von Schöffen bis Kronrat). praetor: römisches Ehrenamt (im cursus honorum), die Aufsicht über die Polizei (Prätorianergarde) und die Rechtsprechung umfassend, aufgeteilt in praetor urbanus (nur für die Römer in der Stadt) und praetor peregrinus (für die Ausländer; er war nicht gebunden an die altrömischen Rechtsformeln). Dem Praetor oblag die Instruktion von Prozessen: Er formulierte den Parteien ihren Prozessgegenstand dergestalt, dass der jeweilige Einzelrichter danach tätig werden konnte. – Die Provinzstatthalter (praesides provinciae), die entweder als Proprätor oder Prokonsul tätig waren (je nach ihrem vorherigen Rang in Rom), übten dieses Amt in den Provinzen aus gegenüber den rö-
Auch dazu Lanfranchi (s.o. Anm. 11).
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B. Grundwissen und Voraussetzungen
mischen Bürgern und solchen Einheimischen, die es begehrten, sowie in Konfliktfällen, wo es um die öffentliche Ordnung ging. Praetorium: Gerichtsgebäude. Prozessrecht (Rom): Regeln zur Durchführung einer privatrechtlichen oder strafrechtlichen Klage. Rudimentäre Regeln seit den Zwölf Tafeln (450 v.Chr.); ausgefeiltes Prozessrecht im Prinzipat, Prozessdurchführung abhängig vom Gericht. Im Zivilrecht zwei Hauptrichtungen: a) Prätorischer („ordentlicher“) Prozess: Prätor gewährt Klage (aus Edikt), falls zulässig; Richterspruch wird auf Grundlage der Klage von privatem Richter getroffen (→ iudex); keine appellatio möglich. b) Kaiserlicher Prozess (extraordinaria cognitio – außerordentliches Verfahren): Keine Zweiteilung; ein kaiserlicher Beamter entscheidet über Zulässigkeit und Begründetheit der Klage; appellatio an den Kaiser ist möglich.¹⁴ Prozessrecht (Provinz): grundsätzlich unterschieden danach, ob Römer oder Nichtrömer betroffen waren. a) Für Römer: in senatorischen Provinzen bis ins 2. Jh. n.Chr. ordentlicher (prätorischer) Prozess vor dem Statthaltergericht; in kaiserlichen Provinzen Prozess nach dem Muster der extraordinaria cognitio. Allerdings verschleifen sich die Unterschiede: die Rolle des Prätors nimmt der Statthalter ein, ebenso ist er Anlaufstelle bei extraordinaria cognitio und delegiert dort die Entscheidungsbefugnis häufig auf einen iudex datus/pedaneus (freier Römer, muss nicht Beamter sein) b) Für Nichtrömer: nach angestammtem Recht, eigene Richter. Konnten aber, wenn beide Teile sich dem römischen Recht unterwarfen, auch wie unter a) durchgeführt werden. appellatio: „Berufung“ gegen ein Urteil; nur im Prozess vor dem Kaisergericht möglich (bzw. vor allen kaiserlichen Beamten, auch dem Provinzgouverneur). iudex (Richter): Privatrichter; unbescholtener, männlicher, römischer Bürger. entweder als Einzelrichter (insbes. bei privatrechtlichen Klagen) oder auf Geschworenenbank (Strafrecht). Der Richter wurde entweder vom Praetor bzw. Provinzstatthalter (im Einverständnis mit Parteien) ernannt oder von den Parteien selbst ausgewählt (wenn kein prätorisches Vorverfahren); dann auch arbiter genannt (urspr. keine Bedeutungstrennung).¹⁵ iudex datus (oder iudex pedaneus): Vom Provinzstatthalter eingesetzter Richter zur Durchführung des Prozesses (ähnlich wie: iudex durch Prätor eingesetzt). adsessor (Beisitzer): rechtskundiger Beisitzer im Gericht des Provinzstatthalters oder des sonstigen kaiserlichen Beamten
Zur Ausbildung: J. KELLY: Princeps iudex, 1957; im Übrigen Kaser/Hackl, Zivilprozessrecht 435 ff. Vgl. G. BROGGINI: Iudex arbiterve, 1957.
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Mit „Beamter“ (moderner Begriff ) bezeichnet man oft einen Funktionär des römischen Staates (der res publica Romana bzw. des imperium), der dafür durch geregelte Einkünfte entschädigt wird.
5.3.3 Privatrecht Rechtsgeschäft (negotium): Vorgang zwischen mindestens zwei Personen, der die rechtlichen Beziehungen dieser Personen regelt, insbes. Rechtsfolgen aus ihren Transaktionen, Änderung der Rechtspositionen, Entstehung von Leistungspflichten o. ä. Zunächst heißt negotium freilich nur: über etwas übereinkommen. pactum (Abkommen): Vereinbarung aus übereinstimmender Absicht (s. „Wille“). Kann formlos sein (das Problem ist dann nur der Nachweis);¹⁶ pacta, die keine contractus waren, waren nur zusammen mit einem contractus klagbar. contractus (Vertrag): solche Abkommen, für die der Prätor eine selbständige Klage erteilt (i. d. R.: wofür das Edikt eine solche vorsah). consensus (heute: „Willensübereinstimmung“): dasselbe meinen, dasselbe wollen; Grundlage der Geltung von Verträgen und Verfügungen (consensus contrahentium), soweit sie formfrei sind. Seit dem 2. Jahrhundert als Voraussetzung jeder Übereinkunft (auch der formgebundenen). Wille 1 (bei Verträgen: animus oder affectus): die hinter einem Rechtsgschäft feststellbare oder doch zu vermutende Absicht der jeweiligen Partner. Sie kann als konstitutiver Teil des Rechtsgeschäfts angesehen werden, was die Notwendigkeit einer Interpretation von Äußerungen oder auch nichtsprachlichen Verhaltensweisen nötig macht. Dazu gehören Zustimmungsgesten, Besitzergreifungshandlungen u. a.m. Wille 2 (beim Testament und bei konkludenten Handlungen: voluntas): Die sprachlich und/oder nichtsprachlich ausgedrückte, verbindliche Absicht. Form: Viele Rechtsgeschäfte sind (nach römischem ius civile) formgebunden, häufig in „Wortform“, manchmal auch als bestimmte Handlungsformen (Riten), selten in Schriftform. Im hellenistischen Bereich (Osten) überwiegt hingegen die Schriftform – d. h. Geltung eines Rechtsgeschäfts nur durch Aufsetzung einer Urkunde. Nach röm. Recht des Prinzipats sind aber die meisten wichtigen Rechtsgeschäfte formfrei (bloßer consensus reicht aus). Ausnahme ist immer die stipulatio (förmliches Schuldversprechen): im Westen mündlich, im Osten schriftlich. S. außerdem → Testament.
Der ethische Grundsatz pacta sunt servanda wurde ein Rechtssatz auf dem Wege, dass eines Tages ein Praetor erklärte: pacta… servabo (Pomponius, D. 2,14,7,7), d. h. „Privatabsprachen werde ich als prozessrelevant betrachten“.
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B. Grundwissen und Voraussetzungen
Urkunde: nach römischem Recht i. d. R. nur als Beweisurkunden (sollen mündlichen oder sonst vorgenommenen Akt beweisbar machen). Im Osten (griech.-hell. Provinzen) gilt die Erstellung einer Urkunde in vielen Fällen als konstitutiv für den Rechtsakt, d. h. ohne Urkunde kein gültiges Rechtsgeschäft! Testament (testamentum): „Zeugenakt“ – urspr. mündliche Anordnungen über Vermögen nach dem Tod. Jedenfalls im Prinzipat gilt dann: Zeugenurkunde (Testamentstafel) ersetzt mündlichen Akt. Vermächtnis (legatum): Anordnung in einem Testament, einer bestimmten Person einen bestimmten Vermögensteil zukommen zu lassen; wirkte dinglich (legatum per vindicationem) oder den Erben verpflichtend (legatum per damnationem). Verschiedene Sonderformen. Person, natürliche vs. juristische (persona vs. corpus): a) Natürliche Person ist jeder Mensch, soweit er rechtsfähig ist (also: Sklaven sind nicht persona). Die Rechtsfähigkeit unter den Personen wird allerdings abgestuft (→Rechtsfähigkeit). b) juristische Personen: urspr. Kultvereine, Begräbnisvereine, später auch Gemeinden als Rechtssubjekt angesehen; corpus = Bestand vom Wechsel der Mitglieder unabhängig.¹⁷ Rechtsfähigkeit: Fähigkeit, Träger und Rechten und Pflichten (i.S. des Privatrechts) zu sein. a) nur wer römischer Bürger (civis romanus) ist, ist voll rechtsfähig. Erst ab 212 v.Chr. wurde allen Reichseinwohnern das Bürgerrecht verliehen. Bis dahin gab es volle Rechtsfähigkeit nur in Rom und für Bundesgenossen, bestimmte Munizipien und Einzelpersonen. b) römische Bürger, die unter familienrechtlicher Gewalt stehen (patria potestas VaterKind, manus Mann-Ehefrau). Unter Gewalt stehende Personen sind nicht vermögensfähig (kein Eigentum/Besitz), aber – bei Erreichen der Geschlechtsreife – voll geschäftsfähig (gültige Rechtsgeschäfte). patria potestas: keine Frage des Alters, sondern der Geburt; kann aufgehoben werden, aber auch erwachsene Personen können unter Gewalt stehen. manus: in republikanischer Zeit werden noch die meisten Ehen als manus-Ehen geschlossen ((was Frauen vermögensunfähig, aber zu gesetzlichen Erben des Mannes macht); im Prinzipat wird das unüblich (manus-freie Ehe).
Dazu jetzt A. GROTEN: Corpus und universitas (Ius Romanum, 3), 2015.
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c)
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Nicht rechtsfähig sind Sklaven; aber auch Sklaven wird Vermögen u.U. wirtschaftlich zugerechnet; auch können sie für ihre Herren Rechtsgeschäfte abschließen.
Privatrechtlich sind Frauen und Männer weitgehend gleichgestellt. Frauen benötigen aber einen Vormund (tutor) für alle Rechtsgeschäfte, wenn sie nicht mindestens drei Kinder geboren haben. Sache (res), Gut (bonum): alles was Gegenstand von Rechten sein kann, ist res (auch res, Plural). Körperliche wurden von unkörperlichen Sachen unterschieden. Sklaven waren auch Sachen. Rechtssache (causa, teilweise auch res): Der Gegenstand einer Klage; wurde vor Prozessbeginn vom Praetor sprachlich gefasst. Eigentum (dominium): umfassende Rechtsmacht über eine Sache; begründet Anspruch, von jedem Besitzer (Inhaber, Benutzer) Herausgabe verlangen zu können. Besitz (possessio): die tatsächliche Gewalt über eine Sache und der Wille, sie für sich zu haben (animo et corpore possidere). Der Besitzer muss nicht Berechtigter (etwa Eigentümer) sein und umgekehrt. Die Rechtsordnung strebt danach, dass a) Die Besitzlage nicht eigenmächtig geändert wird (daher Besitzschutzansprüche), b) Besitz- und Rechtslage sich entsprechen (daher dingliche Klagen des Berechtigten gegen den Besitzer auf Herausgabe). Ersitzung: Eigentumserwerb durch langen Besitz: a) usucapio: Ersitzung des Civilrechts (seit den Zwölf Tafeln); kurze Ersitzungszeiten (1 Jahr bei beweglichen Sachen, 2 Jahre bei Grundstücken); b) longi temporis praescriptio: an Grundstücken in der Provinz entwickelt (10 bis 20 Jahre Ersitzungszeit). Gebrauch (usus) vs. Nießbrauch (usus fructus): beides dingliche Rechte (berechtigen gegenüber dem Eigentümer zum Besitz der Sache; von Dritten kann Herausgabe verlangt werden). Usus = Gebrauch einer Sache, ususfructus = Recht der Fruchtziehung (etwa der Ertrag eines Feldes). obligatio (Verbindlichkeit): Verpflichtung zur Leistung gegenüber dem Gläubiger; z. B. der Verkäufer ist verbunden, dem Käufer den Kaufgegenstand zu übergeben. Obligatio = iuris vinculum („rechtliche Fessel“, daher„Verbindlichkeit“). Im Recht der Zwölf Tafeln konnte der Gläubiger auf den Schuldner persönlich zugreifen, ihn fesseln und bis zur Leistung gefangen halten. debitum (Schuld): Inhalt einer obligatio, das was geleistet werden muss; nicht verwechseln mit „Schuld“ im moralischen oder religiösen Sinne. dare, datio (Geben, Hingabe): Eigentumsverschaffung an einer Sache; teilweise (bei bestimmten wichtigen Wirtschaftsgütern, res mancipi) formgebunden. traditio (Übergabe): formlose Besitzverschaffung an Sachen.
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B. Grundwissen und Voraussetzungen
servitus (Servitut, Dienstbarkeit): Recht eines Grundstückseigentümers, ein anderes Grundstück in bestimmter Form zu gebrauchen (zum Durchgehen oder -fahren, zum Wasserschöpfen oder –leiten etc.). auctoritas (Gewähr): Begriff des öffentlichen und des Privatrechts: a) privat: Gewähr dafür, dass die Sache, die man übereignet hat, nicht einem Dritten gehörte bzw. ein Recht eines Dritten daran bestand; b) öffentlich: Attribut des Hausvaters (pater familias), des Magistrats und später des princeps: „Autorität“ als Vollmacht, etwas zu veranlassen, auch für Rückfragen: „auf ihn kann man sich verlassen“.¹⁸ Gewalt (vis): negativer Begriff: von der Rechtsordnung nicht geduldeter Eingriff in bestehende Rechte; z. B. wenn man jemandem zum Abschluss eines pactum zwingt, oder wenn man sich eigenmächtig in den Besitz einer Sache setzt. vis maior („höhere Gewalt“): Ereignisse, die einen Anspruch oder ein Recht ersatzlos zunichte machen. Aus der Sicht eines Schuldners: Eine Verbindlichkeit erlischt, ohne dass man dafür haftbar gemacht wird. Macht (potestas): positiver Begriff; „Rechtsmacht“, vom Recht verliehene Macht: a) privat: etwa patria potestas; b) öffentlich: beschränkte Amtsgewalt der Magistrate über Bürger in Rom, unbeschränkte Gewalt als Behelfshaber außerhalb Roms (auch: imperium).
Dazu F. SCHULZ: Prinzipien des Römischen Rechts, 1954, 112 ff.
Folker Siegert
6 Glossar der wichtigsten Fachausdrücke 6.1 Juristische Fachausdrücke Die folgenden Begriffserklärungen richten sich vor allem an die theologische Leserschaft. Genauere Definitionen, v. a. aus dem Rechtswörterbuch von Creifelds u. a. stammend, werden zu den einzelnen Abschnitten zitiert werden. Ein ausführlicheres Glossar zu den Fachausdrücken des römischen Rechts findet sich bei Huchthausen/Härtel, Römisches Recht 386 – 518. Der Terminus Recht bezeichnet die Regeln menschlichen Zusammenlebens, soweit eine gesellschaftlich anerkannte Autorität hinter ihnen steht.¹ Genauere Definitionen s. # 52; # 132; # 275; # 203. Im Gegensatz zur Ethik (philosophisch, theologisch) oder zur Moral (gesellschaftlich-konventionell) geht es nicht nur um ein „Du sollst“ oder nur ein „Du solltest“, sondern um ein „Du bist verpflichtet“ und um ein „Es steht dir zu“. Der Komplementärbegriff – manchmal mitenthalten, manchmal nicht – ist Pflicht (s.u.: Obligation); dies ist der Anspruch der Gesellschaft an das Individuum oder eine Gruppe, Bestimmtes zu tun oder zu unterlassen. Nach Anwendungsgebieten unterscheidet man v. a. Privatrecht,² öffentliches Recht (ältere Bezeichnung: Staatsrecht; betrifft Regierung und Verwaltung), Personenstandsrecht (betr. familiäre Beziehungen, früher auch Grade der Freiheit, heute: der Verantwortlichkeit), Prozessrecht (Verfahrensrecht für die Gerichte), Wirtschaftsrecht (antik: Marktrecht) u.v.a.m. Gegenstand internationaler Vereinbarungen ist u. a. das Kriegsrecht. Sakralrecht (Kultrecht) war in der Antike sowohl als öffentliches Recht (für eine Polis) wie auch als Privatrecht (in Satzungen für Kultvereine) verbreitet und überlappte sich mit Bereichen, die heute für zivil gelten oder dem Staatskirchenrecht (s.u.) unterliegen. Eine andere Unterscheidung ist die zwischen Zivil- (Privat‐)Recht einerseits und Strafrecht andrerseits.Was in ersterem eine Klage ist, ist in letzterem eine Anklage (vor Gericht); ihr voraus geht die Anzeige (bei der Polizei, einem Organ der Exekutive). Der Kläger in ersterem Fall ist stets eine Privatperson (bzw. juristische Person); der Ankläger in letzterem Falle war in der Antike auch eine solche; heute ist es i. d. R. der Staatsanwalt (# 75).³
Idealdefinition. Auf Diktaturen passt sie wenig. Hinter den folgenden Definitionen steht nur solche Rechtsliteratur, die nicht den Absolutismus stützt. Dieser Ausdruck ist fast synonym zu „Zivilrecht“ oder „bürgerliches Recht“ (civis = Bürger). [Der Staat ist hier ggf. durch die Polizei tätig im Zuge der Strafverfolgung (Legalitätsprinzip), sobald die staatlichen Strafverfolgungsorgane Nachricht von einer Straftat erfahren haben. – S. B.-L.] https://doi.org/10.1515/9783110658347-013
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B. Grundwissen und Voraussetzungen
So stehen sich also Zivilrecht und Strafrecht gegenüber mit je eigenen Regelwerken, wobei gleichlautende Termini je verschiedene Bedeutung haben können.⁴ Unterhalb beider, von der Exekutive direkt gehandhabt und nur im Fall weiteren Konfliktes vor die Gerichte gehend, liegen diejenigen Maßnahmen von Verwaltung und Polizei, die wir als ordnungsrechtlich bezeichnen. Gerechtigkeit ist ein Verhalten nach dem Recht (# 132; # 203). Die Unparteilichkeit (Neutralität) eines Richters kann ebenso gemeint sein (# 265) wie das Eingehen auf die prozessbeteiligten Personen, ihre Umstände und den besonderen Fall (# 310): Ersteres ist die Gleichheit (égalité) der Rechtssuchenden und ihre Gleichbehandlung (# 94), letzteres die Angemessenheit (équité) oder Billigkeit des Urteils (# 235). Gesetz ist ein formuliertes oder in verschiedenen Formulierungen ausdrückbares Recht (# 18). Als Rechtsinstitut (ein missverständlicher Ausdruck) bezeichnet man die Gesamtheit rechtlicher Regelungen für einen bestimmten Lebensbereich. Ein Kodex ist eine en bloc veröffentlichte Gesamtheit von Gesetzen.⁵ Rechtspflege ist die Kunst, nach geltenden Normen und Verfahrensregeln Konflikte zu analysieren, zu regeln oder überhaupt zu vermeiden, also Streit zu versachlichen und mit dem geringstmöglichen Schaden beizulegen (vgl. # 100). Jurisprudenz, kurz Jura,⁶ ist die dahinter stehende Wissenschaft. Das Adjektiv juridisch bezieht sich auf Fragen jenseits des geltenden Rechts, juristisch auf das geltende Recht. Schutzrechte (ein Ausdruck der Neuzeit; s. aber # 64; # 234; # 348) unterscheiden sich von Anspruchsrechten dadurch, dass sie auf ein Unterlassen seitens anderer zielen, Anspruchsrechte hingegen auf ihr Tun. Anspruchsrechte⁷ sind unvollkommen, solange der zur Tätigkeit Verpflichtete nicht genannt ist. Unvollkommene Rechte sind Ansprüche, die ohne gerichtliche Folge verletzt werden können (Creifelds, Rwb. s.v.; K/K/L, Privatrecht § 9,7 → 19,7); vollkommene Rechte sind einklagbar und durchsetzbar. Ein dingliches Recht ist das Recht an einer vorhandenen Sache, etwa als Eigentums- oder Nutzungsrecht (vgl. Creifelds, Rwb. s.v. Recht 1b). Was in Moral und Ethik „Pflicht“ heißt, ist im Recht die Obligation (Verpflichtung, Verbindlichkeit, Schuldigkeit; # 132). Obligatio wurde im römischen Recht (und mehr noch im neuzeitlichen Naturrecht) das Äquivalent zu dem, was in der Bibel noch „Gebot“ heißt (wo Verbote eingeschlossen sind). Beispiel: Durch Vertragsschluss (s.u.) wird ein
„Strafe“ im Zivilrecht (etwa als sog. Vertragsstrafe bei Nichterfüllung einer Vertragsbedingung), ist keine Bestrafung eines Übeltäters, sondern die nach dem Vertrag selbst geschuldete Abstandszahlung, einklagbar in einem Zivilverfahren. Im Gegensatz dazu schreiben wir „Codex“ mit C, wo es sich um die Form eines gebundenen Buches handelt im Gegensatz zur Rolle. Der Plural („Rechte“) geht auf die Zeit zurück, wo kanonisches und profanes Recht nebeneinander gelehrt wurden. Der Dr. jur. war bis ins 20. Jh. ein doctor iuris utriusque, „Doktor beider Rechte“. Etwa auf Wasser für alle oder Nahrung für alle, höchst wünschenswert, aber durchsetzbar allenfalls als Schutzrechte.
B 6 Glossar der wichtigsten Fachausdrücke
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Versprechen zur Obligation, die mithilfe Dritter durchgesetzt werden kann. Die Pflicht, etwas zu tun, impliziert auch das Recht dazu.⁸ Eine Forderung ist das Recht, etwas zu erhalten. Verpflichtungen des Zulassens heißen Servitute („Dienstbarkeiten“), z. B. ein öffentlicher Durchgang durch ein privates Grundstück (# 6; # 160). Schulden sind Obligationen von Geldwert (# 127; # 140; # 341); davon zu unterscheiden ist „Schuld“ im moralischen Sinne (vgl. # 134) und „Schuld“ im strafrechtlichen (s. nächstes). Schuld (Verschulden) entsteht durch vorsätzlich oder fahrlässigerweise rechtswidriges Handeln (# 80; # 271); Schuld (Verschuldung) im Zivilrecht entsteht durch Nichterfüllung einer Pflicht. Maßgeblich ist die Zurechnung der betr. Handlung an die handelnde (bzw. unterlassende) Person (# 269); Voraussetzung ist deren Zurechnungsfähigkeit. Die strafrechtliche Zurechnungsfähigkeit (Schuldfähigkeit) beginnt erst mit dem Jugend- oder Erwachsenenalter (je nach Rechtsordnung), die zivilrechtliche Deliktsfähigkeit (dass man zivilrechtlich zur Verantwortung gezogen werden kann) hat keine Altersgrenze. Normen (Regeln, Rechtsregeln) sind präskriptive Sätze, anders als die rein deskriptiven „Regeln“ oder gar „Gesetze“, in welchen naturwissenschaftliche Erkenntnisse ausgesdrückt werden. Innerhalb einer und derselben Gesetzgebung⁹ unterscheidet man der Tragweite nach: Verfassung, Gesetz, Verordnung, Erlass;¹⁰ # 52; # 256; # 308).¹¹ Sie teilen sich auf in Gebote und Verbote, je nach positiver oder negativer Fassung. Gesetze heißen sie bei offizieller Inkraftsetzung durch die Legislative (# 18). – Die Mindestform einer Rechtsnorm ist zweiteilig:¹² 1. Tatbestand (Typus einer Tat; darf nicht nur ein Einzelfall sein);¹³ 2. Rechtsfolge (Sanktion). Rechtsquellen sind Texte, die aussagen, was für eine bestimmte Zeit und Region das Recht ist bzw. war. Das sind nicht nur die eigentlichen Gesetzestexte.
Das gilt im Judentum analog für die Gebote und ist dort v. a. sakralrechtlich wichtig. Die Pflicht, auch am Sabbat zu opfern, implizierte für die Jerusalemer Priester und Leviten das Recht, am Sabbat Arbeit zu leisten. Die Annahme ist immer, dass der Gesetzgeber sich nicht habe widersprechen wollen. So klärt die rabbinische Halacha an vielen Stellen, welches Toragebot welchem vorzuordnen sei; man sagt auch: welches „verdrängt“. S. Bd. VII, Glossar (J. Maier) unter d-ḥ-h. Hier unter Absehung von internationalen Pakten, Konventionen oder Verträgen. Hierzu s. # 277 (über berît) und # 179 (über „Freundschaft“). Ob oder auf welchen Gebieten EG-Recht (v. a. der Vertrag von Maastricht) über nationalem Recht steht, insbes über den Verfassungen, ist eine noch ungeklärte Frage. Über Normen i.S. einer Industrienorm hingegen s. # 225. Sie sind Vereinbarungen besonderer Art. Römischerseits kamen Gesetze vom Senat als der Legislative, Edikte aber von den Praetoren und bald auch den Kaisern, also der Exekutive. Entsprechend sind „Erlasse“ auch heute Vorschriften lediglich der Exekutive, in Erfüllung gesetzmäßiger Aufträge. So schon Pufendorf, JN&G 1,6,14, zweiter Satz. Andernfalls wäre es ein sog. Maßnahmengesetz und eine Verwischung der Kompetenzen von Legislative und Exekutive. Schon Cicero hat sie getadelt; s. Fögen, Das Lied vom Gesetz 52– 59.
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B. Grundwissen und Voraussetzungen
Delikt ist der Verstoß gegen eine Norm. Man unterscheidet zivilrechtliche von strafrechtlichen Delikten. Wo ein hochrangiges Rechtsgut verletzt wurde, spricht man strafrechtlich von Verbrechen (crimen; # 75). Positives Recht ist das von einem Souverän in Kraft gesetzte, seit der Neuzeit auch stets schriftlich gefasste Recht (vgl. Creifelds, Rwb. s.v. Recht 1a). Rechtspositivismus geht von bestehendem Recht aus, ohne ihm andere Begründungen zu geben als diejenigen, die in den Dokumenten evtl. selber gegeben werden. „In heutigem Sprachgebrauch bedeutet Legitimität rechtmäßig, Legalität gesetzmäßig.“¹⁴ Letzteres, „Legalität“ („Rechtlichkeit“), ist ein klarer Rechtsbegriff, „Legitimität“ hingegen, „Berechtigung“ in einem allgemeinen Sinne meinend, beruht auf übergeordneten Anschauungen dessen, was „recht“ ist. – Der ältere Ausdruck „rechtens“ (= des Rechtes) meint Legalität. Naturrecht ist die zum Rechtspositivismus alternative Rechtsbegründungslehre (Exkurse 6 und 7; # 266). Es umfasst diejenigen Pflichten und Rechte, die bei vernünftigem Nachdenken über die Bedingungen menschlichen Zusammenlebens jedem Menschen zukommen, unter Berücksichtigung des Lebensalters und sonstiger Gegebenheiten, auch historisch-gesellschaftlicher, des Ortes also und und der Zeit. Grundlage bei Grotius, Pufendorf und ihrer Schule ist die „Natur“ (= die vorgegebene, in Grenzen manipulierbare Beschaffenheit) des Menschen, dies aber nicht als zeitlose Konstante, sondern im konkreteren Sinn des Eingebundenseins in kontingente Umstände und deren Wandlung. Als ius gentium bezeichneten die Römer das, was ihnen an Rechtsvorstellungen mit ihren Nachbarvölkern gemeinsam war und beiderseits Anerkennung fand; deutsch sagt man Völkergemeinrecht (Exkurs 8). Gewohnheit (mos maiorum; das Beispiel der veteres) ist das in einer Gesellschaft allgemein Übliche, auch ohne bewusste Normen Befolgte (# 220). Gewohnheitsrecht wird gelegentlich auch solchen Verhaltensweisen zugute gehalten, denen jüngere Normen entgegenstehen.¹⁵ Von jeglichem Recht verschieden ist die Ethik als Lehre des Sollens und Dürfens, die aber keine Ansprüche umfasst. Sie erkennt oder setzt (sei es auch nur zur Erprobung) Werte, wie auch die (gesellschaftlich festgelegte, der Gewohnheit zugehörige und sich eher unbewusst wandelnde) Moral. Ethik kann individuell bestimmt sein, Moral hingegen ist es gesellschaftlich.¹⁶ Carl SCHMITT: Politische Theologie II, 1970, 112. Seine Monographie Legalität und Legitimität (1932 u. ö.) bleibt besser unbenutzt zugunsten von G. RADBRUCH: „Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht“ (1946), in ders., Gesamtausgabe III, 1990, 83 – 93 (89); vgl. W. HEUN: „Legitimität, Legalität“, EStL(4) 1418 – 1422. Der ältere Sprachgebrauch (bei Kant) hatte für „Legitimität“ das Wort „Moralität“ (Tanner, „Die Rechtswissenschaft“ 477). Ein Beispiel: Die Bundesrepublik Deutschland nimmt es hin, dass einer ihrer größten Arbeitgeber, die Katholische Kirche, in Schlüsselpositionen nur Männer beschäftigt: Das war schon so, ehe die Verfassung oder ihre Vorläufer in Geltung kamen. S.o. 2.1.1. – Nicht einschlägig ist hier jener etwas veraltete Sprachgebrauch, der „Moral“ im Sinne der „Motivation“ verwendet, wenn etwa von der „Kampfmoral“ einer Truppe oder der „Arbeitsmoral“ Angestellter die Rede ist.
B 6 Glossar der wichtigsten Fachausdrücke
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Die hinter den Gesetzen stehende Autorität ist die des gesamten organisierten Gemeinwesens, zunächst der Sippe, bei Kulturnationen dann des Staates (# 280). Dieser handelt im Namen seines Auftraggebers, des Staatsvolks (so # 91 und heute; anders damals in Judäa: # 90). Die heutigen westlichen Monarchien kombinieren die Volkssouveränität mit den genau geregelten Repräsentationsaufgaben eines Adelshauses. Als der Souverän¹⁷ und damit als Autor der Gesetze gilt in Demokratien das Staatsvolk. Für nichtdemokratische Staatsformen postuliert die Lehre vom Gesellschaftsvertrag (# 280) Ähnliches; sie fingiert einen unausdrücklichen Souveränitätsverzicht des Volkes zugunsten seines Herrschers.¹⁸ Das gilt dann auch von einer Diktatur, sofern sie nicht von außen aufgezwungen wurde.¹⁹ Öffentliches Recht, früher meist Staatsrecht genannt, sind alle Rechtssätze, welche die Regierung und Verwaltung des Gemeinwesens im Ganzen betreffen, also die gemeinsamen, dem ganzen Staatsvolk eigenen (publica, von populus) Belange. Dieses war, wie auch das Strafrecht, in der Antike weit weniger ausgebildet als heute. Aus diesem Grunde wird im Folgenden das Wort „Beamter“ für staatliche Funktionäre vermieden;²⁰ sie waren noch nicht von solch expliziten Dienstpflichten und Versorgungsrechten umgeben wie heute. Natürliche Person ist ein Mensch zwischen Geburt (ggf. auch schon als nasciturus) und Tod (ggf. länger);²¹ s. # 67; # 270. Einschränkungen der Persönlichkeitsrechte (etwa der Geschäftsfähigkeit) sind mit Minderjährigkeit, Krankheit und anderen Umständen verbunden (# 174). – Juristische Person hingegen kann in römischem Recht eine Gruppe sein (# 96) oder eine Institution, deren Rechte und Pflichten nicht identisch sind mit denen der zu ihr gehörenden natürlichen Personen; sie ergeben sich vielmehr aus der Zwecksetzung und dem Gründungsvertrag des betr. Verbandes (von Personen; # 96) oder Verbundes (von Institutionen). Das römische Recht ist im Laufe seiner Entwicklung weit gediehen im Bilden solcher abstrakter Einheiten, etwa in der Form der Gesellschaft (societas, # 96). Gemeinwesen ist die Gesamtheit einer nach denselben sozialen Regeln lebenden Population; das kann eine Stadt sein (# 233), auch eine Region, sofern sie organisiert ist, und es können Gemeinwesen sich überlappen oder umschließen.²²
Das Maskulinum in diesem Wort ist zufällig und nicht sinntragend. In der Naturrechtslehre der Barockzeit lautet dieser Begriff summa potestas oder summum imperium (# 280). Deutschlands neuere Geschichte liefert dafür die extremsten Beispiele. Für die Parlamentswahlen im Deutschland d.J. 1933 wäre dazuzusagen, dass der „Druck“ einer Situation noch kein Zwang in diesem Sinne ist. Noch war eine gewisse Entscheidungsfreiheit gegeben. Das lat.Wort für„Beamter“, bei Kant, Die Religion 4,1,2 (S. 251 der Originalausgabe) mit officialis zitiert, wird von ihm selbst gegen minister „(Staats‐) Diener“ kontrastiert, was, verglichen mit den Angaben bei Heumann, Handlexikon s.v. officialis, ein weit späterer Sprachgebrauch ist. Vgl. # 294 zum Pfarramt. Sein Testament gilt länger. Selbst die Grabgestaltung kann er im Rahmen eines „Totensorgerechts“ zu Lebzeiten regeln. So z. B. wo die jüdische Population einer Griechenstadt sich als eigenes Gemeinwesen konstituieren, d. h. mit Privilegien versehen lassen durfte.
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B. Grundwissen und Voraussetzungen
Menschenwürde eignet jedem Menschen schon von Geburt wegen einer „Seele, die mit dem Licht des Verstandes, (nämlich) der Fähigkeit, Dinge zu beurteilen und auszuwählen, begabt ist“ (Pufendorf, JN&G 2,1,5). Seit Pufendorf folgt hieraus die Pflicht zum Respekt vor jeder Einzelperson (# 288), auch der schuldig gewordenen, straffälligen. Daraus ergibt sich gegenüber der Antike ein Verbot der Herabsetzung sogar – und besonders – im Strafverfahren. Die Tat wird beurteilt, nicht der Mensch.²³ Menschenrechte sind solche Rechte, die jedem Menschen – nach weiter Auffassung auch schon Ungeborenen – zukommen, proklamiert als zunächst unvollkommene Rechte z. B. in der französischen Déclaration des droits de l’homme et du citoyen von 1791 oder in der Déclaration universelle des droits de l’homme der UNO von 1948.²⁴ Überführt in einklagbare Rechte eines konkreten Gemeinwesens heißen sie Grundrechte; ihr Dokument ist die jeweilige Verfassung (vgl. Creifelds, Rwb. s.v.). Legislative, Exekutive und Judikative sind in modernen Gesellschaften die drei „Gewalten“ oder Funktionen des Staates (# 200). Sie sind in ihrem Zusammenspiel, ihren Kompetenzen und ihrer jeweiligen Unabhängigkeit in der Verfassung definiert; das ist die „Gewaltenteilung“. Gewalt (potestas, manus) heißt in solchen Zusammenhängen soviel wie „Autorität, Vollmacht, Befugnis, Zuständigkeit“ und ist von „Gewalt“ i.S.v. „Gewalttätigkeit“ (lat. vis, frz./engl. violence) zu unterscheiden (# 6; # 232). Von Gewalt in solch umfassendem Sinn unterscheiden sich Vollmachten (Bevollmächtigungen; # 33) die immer nur zu speziellen, inhaltlich begrenzten Aktivitäten gelten; diese dürfen über das dem Veranlasser Erlaubte nicht hinausgehen. Ihre Verrichtung durch andere Personen heißt Vertretung (# 43). Gesetzgeber ist in heutigen Demokratien das Parlament und letztlich – auf dem Umweg der Repräsentation – das Staatsvolk (vgl. Creifelds, Rwb. s.v. Gesetzgebende Gewalt). Bei Plebisziten und Formen der direkten Demokratie ist es das Staatsvolk direkt (# 18). Entscheidend ist, wer als der Souverän gilt. Für das Judentum galt als Gesetzgeber JHWH durch „seinen Knecht“ Mose. Regelungen, die zum Toratext hinzukamen (Halacha; # 51), waren auf Akzeptanz angewiesen und hatten oftmals Alternativen, bis die Rabbinen – die sich aber nicht als Gesetzgeber verstanden – den Bestand anerkannter Halachot vereinheitlichten. Transaktion ist jeder Vorgang zwischen Personen bzw. Parteien, der mindestens eine davon aktiv, die andere(n) wenigstens passiv impliziert. Rechtsgeschäft (s.o. B 5.3.3 zu negotium) ist eine Transaktion zwischen zwei oder mehr Parteien, die eine mindestens einseitige Willenserklärung enthält²⁵ und die nach Rechtsregeln abläuft bzw. an
Ein Analogon hierzu, zunächst nur coram Deo geltend, ist die Rechtfertigung des Sünders ohne Verdienst. Auch sie freilich kann sehr herabsetzend vermittelt werden. Vgl. wiederum # 288. Bei Creifelds, Rwb. s. hierzu den Art. „Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten“. Im vorliegenden Werk war kein Anlass, sie einer bestimmten Perikope zuzuordnen; dazu sind sie zu neu. Auch was im NT an Naturrecht feststellbar ist (vgl. # 266), geht nicht so weit. So Creifelds, Rwb. s.v. „Also zwei Thatbestandsstücke: 1. Wille, 2. Erklärung“ (Sohm, Institutionen 131). Wo der Wille des Handelnden nicht klar ist, kann es immerhin ein sog. „Realakt“ sein und kann Rechtsfolgen haben, wenn etwa ein unbeabsichtigter Diebstahl eine Strafe nach sich zieht.
B 6 Glossar der wichtigsten Fachausdrücke
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solchen sich messen lassen muss, weil sie für das Gemeinwesen bereits gelten (vgl. Creifelds, Rwb. s.v.). Die Rechtsform (oder Form Rechtens = des Rechts) besteht in der Deutlichkeit der Handlung (# 104). Gewisse Rechtsgeschäfte galten schon in der Antike nur bei Einhaltung strenger Formalitäten (Formzwang).²⁶ Der Inhalt dieses Geschäfts heißt „Angelegenheit“ (negotium). Wo kein Formzwang besteht, z. B. beim Kauf, reicht eine konkludente Handlung, d. h. ein Verhalten, das den Schluss auf die Absicht eindeutig macht (am Beispiel: das Mitnehmen und Bezahlen vor den Augen des Verkäufers). Vertrag ist eine gemeinsam eingegangene Verpflichtung zwischen zwei Parteien; sie kann einseitig sein insofern, als nur eine Partei verpflichtet wird, die andere aber einen Anspruch erhält (# 113). Verträge können, müssen aber nicht schriftlich sein. Ihre formgerechte (d. h. auch: unterschriebene) Niederschrift ist eine Urkunde. Eine frühe Form von Vertrag, die im gegenseitigen Aussprechen eines wörtlich gleichen Willens bestand, ist die Stipulation (in # 59). Verträge sind nur in dem Maße gültig, wie sie den Willen der Vertragspartner wiedergeben. Erzwungene Verträge (wo die Vertragsfreiheit fehlte) können in römischem Recht (jüdisches kennt keine Verträge) angefochten werden. – Im öffentlichen Recht gehört zu den vorvertraglichen Abhängigkeiten, die erst nachträglich Klärung erfahren, nicht nur das Verhältnis von Beherrschten zur ihren Herrschern (s.o. zum Gesellschaftsvertrag), sondern auch das der Kinder zu ihren Eltern (Generationenvertrag; # 53). Die Ethik kennt sie nur als ein Aufeinander-Angewiesensein.²⁷ Vermutung ist die Annahme des erfahrungsgegebenen Normalfalls (in Politik und Verwaltung: „ich gehe davon aus, dass…“; vgl. Creifelds, Rwb. s.v.). Umgangssprachlich sagt man eher „Annahme“. Dazu gehört auch die Unschuldsvermutung im Strafprozess. Nur wenn es sich als nötig erweist, wird die Vermutung überprüft. Es ist also nicht das gemeint, was man nicht wissen kann, sondern das, was man bei Bedarf überprüfen muss. Wille ist die bei einem Rechtsgeschäft geäußerte oder doch feststellbare Absicht des oder der Handelnden (# 274). Konflikte entstehen, wo das Erklärte und das Gewollte nicht übereinstimmen. Bei Verträgen ist der gemeinsame Wille konstitutiv. Daraus folgt im Konfliktfall die Notwendigkeit einer Interpretation von Äußerungen oder auch nichtsprachlichen Verhaltensweisen der Handelnden. Berücksichtigt werden dabei auch Zustimmungsgesten, Besitzergreifungshandlungen u. a.m. Lässt sich bei Verträgen der Wille der Beteiligten nicht mehr klären bzw. war kein gemeinsamer Wille vorhan-
Oder milder gesagt: „Formalismus“ (K/K/L § 68,1– 4 >79,1– 4), bei Creifelds, Rwb.: „Formerfordernisse“. Ein altes Beispiel: In Athen musste ein Bürger, der vor Gericht ein Recht in Anspruch nahm, den Gesetzestext zitieren können. – Das Civilrecht Roms hatte sehr viele Formzwänge, derethalben es schon in Rom selbst und weit mehr noch in den Provinzen durch prätorianisches Recht ersetzt wurde; römische Bürger hatten also die Wahl. Dieses wiederum wird durch den Sozialstaat mehr und mehr übernommen und geht in Sozialgesetzgebung über.
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B. Grundwissen und Voraussetzungen
den, führt das vor Gericht unter bestimmten Bedingungen zur Nichtigkeit des Rechtsgeschäfts. Ein Testament (# 123; # 302; # 319) ist die Verfügung eines Eigentümers von Gütern oder auch Rechten über deren Verwendung nach seinem Tod. Es ist eine Verfügung „von Todes wegen“, d. h. sie erhält erst mit dem Tod ihres Autors Gültigkeit. Liegt kein gültiges Testament vor, gilt gesetzliche Erbfolge, auch Intestat-Erbfolge genannt. – Ein Vermächtnis (Legat, # 323) hingegen ist ein Geschenk von Todes wegen an solche Empfänger, die keinen erbrechtlichen Anspruch darauf haben. Klage (vor Gericht, lat. actio; zivilrechtlich; # 127) ist die Inanspruchnahme der Judikative zur Klärung eines Streits. Der Prozess (zivil: actio seitens der Streitparteien, strafrechtlich quaestio oder cognitio seitens der öffentlichen Organe, # 199) ist nach antikem Verständnis ein Compositum aus Dienstleistung und Hoheitsakt.²⁸ Das Urteil erfolgt im Namen, d. h. im Auftrag des Souveräns (früher auch direkt aus dessen Munde; # 146; # 266); die Vollstreckung erfolgt mit dessen Machtmitteln (# 127; # 279). – Im Strafverfahren spricht man von Anklage (# 75), welcher, sofern sie nicht direkt von staatlicher Seite kommt, eine Anzeige (# 71) von privater Seite vorausgehen kann. Prozess-Sache (causa) ist der bei Prozessbeginn festzulegende, in Rechtstermini zu benennende Streitgegenstand. Eine moralische Beurteilung Angeklagter wird im römischen wie im modernen Prozess vermieden zugunsten bloßer Beurteilung der in der Klage genannten Fakten.²⁹ Vollzug (Exekution) ist nicht nur die Ausführung einer Strafe,³⁰ sondern auch die Durchsetzung eines Vertrages oder eines Verwaltungsakts mit Zwangsmitteln. Eine Vollzugsklausel in antiken Verträgen konnte angeben, wie weit diese gehen dürfen. Strafe ist, philosophisch oder pädagogisch gesehen, ein zum Zwecke künftiger Verhaltensänderung zugefügter Nachteil (Spezialprävention). Sie kann auch der Abschreckung dienen (Generalprävention) oder aber das Ziel haben, andere zu schützen. Gaius (# 102; vgl. # 268) definiert sie ganz allgemein als Rechtsfolge einer nicht befolgten Obligation (etwa, das Eigentum anderer unberührt zu lassen). Wiedergutmachungsoder Erziehungszwecke (gegenüber dem Delinquenten) bzw. ein Schutzanliegen (der Gesellschaft) können hinzutreten, sind aber nicht konstitutiv (# 203). Als Rache (Stillung eines emotionalen Bedürfnisses) ist sie nicht rechtens, versteht sich doch das Strafrecht als deren Ablösung. Vergeltung als Zweck der Justiz wurde im Zuge dieser Entwicklung
Im Regelfall ist dieser auf die Bestimmung des Streitgegenstandes und die Festlegung der Prozessformel durch den Praetor beschränkt. Der daraufhin tätig werdende Zivilrichter (iudex) ist bloßer Dienstleister. Beurteilungen medizinischer oder psychologischer Art liegen auf einer anderen Ebene und bleiben streng auf das Verhältnis Täter-Tat bezogen: War er/sie zurechnungsfähig (psychologisch) bzw. deliktfähig (im Blick auf das Lebensalter); ist er/sie im gegenwärtigen Zustand vernehmungsfähig, straffähig? usw. In historischen Texten sagt man „Exekution“ v. a. von der Vollstsreckung einer Todesstrafe.
B 6 Glossar der wichtigsten Fachausdrücke
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außer Kurs gesetzt (# 279).³¹ Vollends ist Sühne (# 268) als vermeintliche Wiederherstellung einer durch Straftat verletzten Weltordnung oder als Besänftigung eines Gotteszorns aus der Rechtspflege der entwickelten Gesellschaften verschwunden. Dogmatik entsteht aus dem Bedürfnis, die in einem Sachzusammenhang gebrauchten Begriffe gegeneinander abzugrenzen und in ein widerspruchsfreies System zu bringen. Sie ist Bedürfnis und Aufgabe der Rechtswissenschaft (Jurisprudenz). Als herrschende Meinung (oder kurz: die Doktrin) bezeichnet man angesichts auslegungsbedürftiger Normen die in der Rechtsprechung und unter den Experten verbreitetste Auffassung. – Jüdische Religion hingegen, eher Praxis als Lehre, bedarf keiner Dogmatik, duldet sie nicht einmal. An ihrer Stelle stehen unterschiedliche Rechtsschulen und Halacha-Traditionen mit eigener innerer Konsequenz. Auch deren Pluralität gilt als jüdisch. Kanonisches Recht ist das von der Römisch-Katholischen Kirche für sich selbst, aber auch für die christlichen Gesellschaften früherer Zeiten dekretierte Recht. Unter Staatskirchenrecht versteht man hingegen diejenigen Rechtssetzungen, die im Einvernehmen zwischen Staat und Kirchen, u.z. den als Körperschaften des öffentlichen Rechts anerkannten, vorgenommen werden (z. B. zur Einziehung von Kirchensteuer und zur Übernahme beamtenrechtlicher Grundsätze und Besoldungstarife). Als Religionsrecht bezeichnet man alle Bestimmungen, welche die Fragen der Religionsausübung, insbes. der öffentlichen, betreffen.
6.2 Judaistische Fachausdrücke Zusätzlich zu den im obigen Glossar aufgeführten Fachausdrücken werden hier einige allgemeinere Begriffe und auch Namen genannt, wobei letztere als Benennungen von Einmaligem stricto sensu nicht definierbar sind. Erklärungen jedoch lassen sich geben; sie bleiben im Bereich des Historisch-Kontingenten, dem auch die Theologie, ob alt- oder neutestamentlich oder beides, stets verpflichtet ist. Volk Israel ist eine Selbstbezeichnung, gültig seit der Hebräischen Bibel, seit der Verleihung des Zunamens „Israel“ an Jakob (Gen 32,29). Sie ist v. a. in kultischem Gebrauch. Der Sg. Jiśra’el gilt dort und in Rechtstexten auch individuell für einzelne Israeliten.³² Den Inhaber heutiger israelischer Staatsangehörigkeit hingegen bezeichnet man als Israeli, Fem. Israelin.³³
Zum Unterschied von Talion und anderen Formen der Vergeltung s. # 131. Das sog. ius talionis, dem schon das NT widersteht, gehört nunmehr der Vergangenheit an. Die Synagogengemeinden teilen sich ein in Priester (Aaronsnachkommen), Leviten (Angehörige des Stammes Levi) und „Israel(iten)“. Zum jetzigen israelischen Nationalstaatsgesetz s.u. # 90.
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B. Grundwissen und Voraussetzungen
Von „Juden“ und „Judentum“ spricht man seit der Rückkehr der (nicht aller) Exulanten des Babylonischen Exils.³⁴ „Judäer“ sagt man da, wo das Land Judäa als Wohnoder Herkunftsort von Belang ist; vgl. # 90. „Jüdisches Volk“ ist eine Bezeichnung aus der Außenperspektive, in der Hebräischen Bibel zu finden in den Dokumenten der Bücher Esr-Neh sowie in Esther und Daniel. Sie geht zurück auf die Namensgebung des Stammes Juda (Gen 29,35), der nach dem Ausscheiden der nördlichen neun Stämme der stärkste war. Der Titel „König der Juden (Judäer)“ ist rein sprachlich nicht messianisch (das wäre „König Israels“; vgl. # 90). Ähnlich unterscheiden sich – in der Benennung, nicht in der Sache – „Land Israel“ und „Judäa“, wobei Galiläa als jüdisch besiedeltes Land dazugehören kann oder auch nicht. Samarien (# 160) trennt diese beiden Teile des einstigen israelitischen Königreichs. Als Entstehungsphasen des Judentums werden unterschieden: Frühjudentum von Esra bis zur Hasmonäerherrschaft; nach deren Ende (63 v.Chr.) folgt die römische Phase bis zur Zerstörung des Tempels (70 n.Chr.); im vorliegenden Werk heißt sie „die Spätzeit des Zweiten Tempels“. Es folgt das rabbinische Judentum, so bezeichnet bis zum Abschluss des Talmuds (6. Jh.); danach folgen mittelalterliches und neuzeitliches Judentum nach diversen Kriterien. Parallel zum rabbinischen Judentum lebte in verschiedenen Siedlungsgebieten des Römischen Reiches ein nichtrabbinisches, einfach nur „biblisches“ Judentum fort (Siegert, EHJL 13 f nach Doron Mendels), dessen Schriften als Vergleichsmaterial hier eine gewisse Rolle spielen. Das Judentum, eine nach ethnischen wie kulturellen wie religiösen Gesichtspunkten zusammengehörige Gemeinschaft, ist heute – und war auch in der Antike schon – organisiert in autonomen Gemeinden (Synagogen in diesem Sinn; vgl. # 95). Gemeinden außerhalb des Landes Israel sind Diaspora-Gemeinden. Die Einzelgemeinden können in Verbänden zusammengeschlossen sein, bildeten aber nie einen Zusammenhang, der einer verfassten Kirche geglichen hätte. Die Leitung einer jüdischen Gemeinde hatte ein gewähltes Gremium aus Laien, neutestamentlich als „Älteste“ bekannt (# 65). Man kommuniziert über Boten, auch „Apostel“ genannt (# 175). Es gibt aber keine Mission, denn es gibt auch keinen von Gott kommenden Botenauftrag an alle Welt. Proselyten („Hinzugekommene“) heißen Konvertiten zum Judentum (# 144). Als Gottesfürchtige bezeichnete man in römischer Zeit Personen, die sich informell dem Judentum anschlossen, etwa in häufigem Synagogenbesuch oder in Spenderrolle (# 97), ohne aber alle Verpflichtungen jüdischer Lebensweise auf sich zu nehmen. Priester sind toragemäß die Nachkommen (in männlicher Linie) der Familie Aarons aus dem Stamm Levi (# 65). Leviten sind sämtliche Nachkommen (in männlicher Linie) dieses Stammes, u.z. erhielt dieser statt eines Anteils am Land Israel die Tempeleinkünfte als Lebensgrundlage. Diese zusammen stellten im Turnus das Tempelpersonal. Das rabbinische Judentum hatte für sie nur noch Ehrenfunktionen in der Synagoge.
So schon Josephus, Ant. 11,173. Dies trägt dem Umstand Rechnung, dass die Tora erst mit Esra fertig war.
B 6 Glossar der wichtigsten Fachausdrücke
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Tempel gab es offiziell nur einen, den in Jerusalem. Bis zum letzten Jahr des Jüdischen Krieges hat er als Opferstätte gedient für das ganze Volk (vgl. # 64). Sein Brand i.J. 70 n.Chr. bedeutet das Ende der Epoche des Zweiten Tempels. Gänzlich abgetragen wurde er erst ab 135 n.Chr. nach dem verlorenen Bar-Kochba-Krieg. – Sichtbares Zeichen des Zusammenhalts aller „Judäer“ war die in Ex 30,13 bereits geregelte Tempelsteuer (# 138), womit die Jerusalemer Opfer auch aus der Diaspora bezahlt wurden. Synagogen sind vom Wort her zunächst „Zusammenkünfte“ jüdischer Kultgemeinden v. a. außerhalb des Tempels,³⁵ dann auch die dazu dienenden Versammlungsstätten (# 95). Die Mischna unterscheidet zusätzlich zwischen „Bethaus“ und „Lehrhaus“, was aber dasselbe Gebäude bzw. derselbe Raum sein kann. Mit die Weisen bezeichnet man die Vorgänger der Rabbinen, Toragelehrte also, die noch nicht den Rabbinentitel trugen. Sie sind in gewissem Sinne die Erben der atl. Weisheit. Die Ablehnung einer „Überlieferung der Älteren“ im Neuen Testament richtet sich gegen sie (# 54). Wir nennen sie dort, wörtlich übersetzend, „Ältere“, um sie zu unterscheiden von den Ältesten als Teil der Jerusalemer Hierarchie (# 65) und gleichfalls von den Ältesten der Synagogen (# 94). Der gr. Ausdruck ist jeweils derselbe (presbyteroi); er gibt hebr. zeqenîm „Greise“ wieder.³⁶ Der Titel Rabbi (Abkürzung: „R.“), Namensbestandteil wie im Deutschen „Dr.“ (allerdings hebräisch mit dem Vornamen verbunden), meint einen geprüften und (ab ca. 3.Jh.) ordinierten Lehrer der schriftlichen wie mündlichen Tora. Vorher, und noch im NT, war rabbî eine Höflichkeitsanrede wie aram. mar(î), gr. kyrie.³⁷ Unter sich wählten die Rabbinen ein Oberhaupt, naśî’ „Fürst“ genannt; er war unter dem Titel „Patriarch“ der Sprecher des Judentums gegenüber der römischen Verwaltung. – Neuzeitliche Benennung für einen ordinierten, im Dienst konkreter Gemeinden befindlichen Gelehrten aus dieser Tradition ist: Rabbiner (so auch im Plural, im Gegensatz zu „Rabbinen“). Tannaim (oder Tannaiten) sind die Rabbinen vom Anfang im späten 1. Jh. bis zum Abschluss der Mischna (um 200), Amoraim (oder Amoräer) diejenigen der folgenden, „talmudischen“ Zeit.³⁸ Die letzten Autoritäten des Talmuds heißen auch Saboräer (aram. sabôra’ê, hebr. sebôra’îm); es folgen bis in die Neuzeit die Geonim (hebr. ge’ônîm, Sg. ga’ôn). Tora sind die fünf Bücher Moses in ihrem überlieferten hebräischen Text. Septuaginta und NT geben diesen Titel konstant mit nomos „Gesetz“ wieder. Die Vokalisie-
Die im Tempel heißen in der Septuaginta vorzugsweise ekklēsia, „Volksversammlung“. Vgl. # 94 und # 136. Seit dem Jerusalemer Talmud (4. Jh.) werden diese als parnasîm (von gr. pronoos „vorausdenkend“) bezeichnet. – Die Formel „Die Weisen sagen“ meint jedoch (im Talmud) die Mehrheit der an einer rabbinischen Entscheidung Beteiligten. Matthäische Polemiken gegen „Pharisäer“ meinen nach aller Wahrscheinlichkeit bereits die ersten Rabbinen. Ihre Benennung, aramäisch gebildet von ’-m-r„sprechen“, erklärt Levine, Aram. Version 11 Anm. 16 so: Es waren diejenigen, die die Tora in der Volkssprache „zum Sprechen“ brachten. – Die gleichfalls aramäisch gebildete Nomen agentis tanna’ meint „Traditionskundiger“ (Dalman, Handwörterbuch s.v.).
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B. Grundwissen und Voraussetzungen
rung des hebräischen Textes mit Punkten ist nachantik; wie wurde im 7.–9. Jh. von den sog. Masoreten vorgenommen: Masoretischer Text. – Als mündliche Tora wird im Talmud die verbindliche, von den Rabbinen festgesetzte Auslegung bezeichnet. Halacha („Gang“; gr. agōgē) meint die Art, wie die Tora praktiziert wird bzw. werden soll, also die eben genannte „mündliche Tora“ (# 51). Sie hat gleiche Verbindlichkeit wie die geschriebene Tora und unterscheidet sich insofern von bloßem Brauchtum (minhag). Agada (aram. ’agada’ „Erzählung“) oder auch Haggada (hebr.) ist die zur Tora illustrativ hinzutretende, fantasievolle, mitunter auch Historisches erinnernde Erzählung. Die rabbinischen Schriften sind davon durchsetzt. In heutigem Sprachgebrauch wird das hebr. Haggada davon unterschieden und gilt nur von den Erzählungen der Passa-Nacht. Midrasch („Nachfrage“) ist bei den Rabbinen die Auslegung eines Bibeltextes.³⁹ Als „halachische“ Midraschim werden solche bezeichnet, die v. a. an Tora und Halacha interessiert sind, als „agadische“ (auch „hag[g]adische“) solche, die eher erzählend-unterhaltenden Charakter haben. Mischna ist die erste Kodifizierung der Halacha, geschehen unter R. Juda I. (um 200 n.Chr.). Auch eine Einzelbestimmung daraus kann „Mischna“ heißen. Eine alternative, aber nicht gültige Sammlung von Traditionen, gleich aufgebaut und als Reservoir möglicher, aber nicht gültiger Entscheidungen gemeint, ist die etwa gleich alte Tosefta: s.o. B 2.6.4. Talmud ist ein vieles (nicht alles) abdeckender Kommentar zur Mischna, erhalten sowohl als sog. Jerusalemer (oder: Palästinischer) Talmud (um 400) wie als – doppelt so großer – Babylonischer Talmud (6. Jh. n.Chr.). „Der“ Talmud ohne Zusatz ist immer der Babylonische. Talmûd tôrah hingegen meint ganz wörtlich – und bis heute – das „Lernen der Tora“ in einer rabbinischen Schule. Targum („Übersetzung“) meint die entweder spontan-mündliche oder auch die schriftlich niedergelegte Übersetzung von Schriften der Hebräischen Bibel ins Aramäische. Schriftliche Targumim von nennenswertem Umfang sind erst aus talmudischer Zeit bekannt; sie unterscheiden sich nach west- und ostaramäischem Dialekt (nach den Regionen: Palästina vs. Babylonien).
6.3 Theologische Fachausdrücke Soweit solche aus dem Neuen Testament kommen, finden sie in den folgenden Bänden reichlich Erklärung. Darüber hinaus darf die Sprache von Luthers Kleinem Katechismus und die der aus liturgischem Gebrauch vertrauten Glaubensbekenntnisse für bekannt gelten. Neuere Fachausdrücke werden an ihren Stellen erklärt.
Ab Qumran bezeugt als midraš tôrah = „Torabefragung, -konsultation“, wozu nicht jeder befugt war.
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Als Perikope („Abschnitt“) bezeichnet man einen abgegrenzten, für sich genommenen Bibeltext. Im vorliegenden Werk ist es manchmal nur ein einzelner Vers, aber jedenfalls ein Textstück, das mit eigener Nummer (#) zitiert wird. Was Textsorten (ein Ausdruck der Linguistik) betrifft, so wird v. a. Erzählung (mit Unterarten) unterschieden vom Diskurs (Argumentation). Auf der Grenze zwischen beiden liegt das Apophthegma: Hier wird eine kurze Erzählung mit einer Sentenz abgeschlossen. Ein Logion ist ein Einzelspruch (im Griechentum: eines Weisen, im NT: Jesu), griechisch oft im Aorist eingeleitet (eipen/dixit „er sprach“); hingegen sind Worte, die im Imperfekt zitiert werden (elegen/dicebat; hier wiedergegeben mit „er redete“)⁴⁰ Summarien aus mehreren Äußerungen, darum nicht im selben Maße wörtlich zu nehmen. Aus den präskriptiven Textsorten sei genannt die Haustafel als Anreihung von Verhaltensregeln für Hausgemeinschaften. Als Hapax oder hapax legomenon (nur einmal Gesagtes) gilt ein Wort, das in einem gegebenen Text oder Textcorpus nicht wieder vorkommt. Mit lectio difficilior ist in der Textkritik eine Formulierung gemeint, die gegenüber der auch überlieferten lectio facilior die Vermutung höherer Ursprungstreue für sich hat: Eher schleift sich ein Satz ab im Sinne des allgemeinen Sprachgebrauchs, als dass er Profil gewinnt. Dieser Gesichtspunkt ist auch da wichtig, wo zwischen synoptischen Überlieferungen zu entscheiden ist, welche ursprünglicher sein könnte. Als synoptische Evangelien bezeichnet man Mt., Mk. und Lk. – in dieser Reihenfolge stehen ihre Texte in gedruckten Synopsen nebeneinander –; diejenigen, die bei Mk. „zusammenschauen“, Mt. nämlich und Lk., heißen auch die Seitenreferenten oder die großen Synoptiker. Als Sondergut bezeichnet man Textteile eines Evangeliums, die in den anderen keine Parallele haben. Mit Ostern als Abgrenzung zwischen „vor-“ und „nachösterlichen“ Ereignissen ist nicht das jährlich wiederkehrende Fest dieses Namens gemeint, sondern sein allererster Anlass, der, so schwer er auch zu fassen und darzustellen sein mag (# 190), datierbar ist auf den dritten Tag nach Jesu Tod. Als Zeitangabe wird die Unterscheidung von vorösterlichen, im Leben Jesu gelegenen Worten und Ereignissen von den nachösterlichen wichtig sein. Als eschatologisch werden Texte bezeichnet, die sich – auf welche Art auch immer – auf das Ende der bestehenden Welt beziehen. Als historisch bezeichnet man feststellbare Ereignisse der Vergangenheit. Dieser Ausdruck ist, ebenso wie „Tatsache“, definiert als etwas mit Ort und Zeit hinreichend genau und hinreichend sicher Feststellbares (vgl. Exkurs 3). Mit geschichtlich kann man im Deutschen auch etwas auf die Folgezeit Wirkendes verstehen und in diesem Sinne den „historischen Jesus“ in einen Gegensatz bringen zum „geschichtlichen Christus“. Dies ist jedoch keine Glaubenssache, sondern eine zeitliche Folge: Der geschichtliche Christus ist der nachösterliche. Auf ihn, den „himmlischen Herrn“, wird im Neuen Testament häufig Bezug genommen, auch und gerade in Legitimationsfragen (# 150; #
Rein grammatisch ist „er sprach“ eine Aoristbildung, „er sagte“ hingegen ein Imperfekt – wie man es auch nennt, obwohl es im Deutschen zugleich als Aorist (Erzähltempus) dient.
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B. Grundwissen und Voraussetzungen
260; # 285; # 289 u. ö.). Dass solche Legitimationen vor irdischen Gerichten nicht gültig wären, wird hier nicht verschwiegen; umso bemerkenswerter ist dann das Maß an gesellschaftlicher und eben auch rechtlicher Anerkennung, das die christlichen Kirchen im Laufe der Zeit errungen haben (# 362). Biblizismus ist das Zitieren und Geltendmachen von Bibeltexten ohne Rücksicht auf den Unterschied zwischen der Entstehung- und der Anwendungssituation, dem ursprünglichen Publikum und dem heutigen; auch ist es die Nichtunterscheidung von Glaubensaussagen und Darstellungen säkularen Wissens (etwa Besonderheiten des biblischen Weltbilds).⁴¹ Im Gegenzug wird das Bemühen, diese Unterschiede methodisch zu überbrücken und gleiche Inhalte (Aussagen, Gebote…) unter veränderten Bedingungen mit veränderten Worten wiederzugeben, Hermeneutik genannt. Als Katholisch („allgemein, weltumspannend“) im Sinne des Nicänischen Glaubensbekenntnisses (#251; vgl. # 136) gilt die Kirche als Gesamtheit der Christen aller Zeiten, sofern sie dieses Bekenntnis und einen darauf beruhenden Gottesdienst gemeinsam haben. Im engeren Sinn und als Selbstbezeichnung steht das Wort für die Römisch-Katholische Kirche; so seit dem Auseinandergehen der Konfessionen im 16. Jh. Als Evangelisch bezeichnet man diejenige Lehre und Praxis der Reformation, die seit dem Augsburger Bekenntnis (1530) und dem Augsburger Religionsfrieden (1555) reichsrechtlich akzeptiert ist; das ist die lutherische. Die damals nicht beteiligten Reformbewegungen, die von Zwingli, Calvin und anderen Reformatoren ausgegangen waren und die erst im Westfälischen Frieden⁴² gleichen Status erhielten, bezeichnet man als reformiert; relevant für das vorliegende Werk ist dort die eigenständige Geltung des Alten Testaments für die Ausbildung von Kirchenordnungen. Beide gemeinsam nennt man Protestanten, eine vom Ursprung her negative Begriffsbildung, die dann aber dazu diente, die gleiche rechtliche Anerkennung der reformierten Kirchen⁴³ auszudrücken. Gängiger hierfür ist das Wort „evangelisch“ i.w.S., im konkreten Zusammenhang dann oft mit dem erläuternden Zusatz „ev.-luth.“ oder „ev.-ref.“; so bes. in Selbstbezeichnungen ganzer Kirchen („Kirche“ i.S.d. rechtlich verfassten Körperschaft von Christen) oder Gemeinden. Manche unierte Kirchen, die aus lutherischen und reformierten zusammengeschlossen wurden (etwa in Hessen oder im Rheinland), belassen ihren Gemeinden die nähere Selbstbezeichnung. Das Wort „evangelisch“ ist gegenüber unseren westlichen Nachbarn unübersetzbar. Das Englische hat nur evangelical in dem Sinne, wie wir dann „evangelikal“ sagen, und
Solche waren in lutherischen Kirchen nie Bekenntnisgegenstand. Vgl. die Definition von „Fundamentalismus“, gegeben von A. BIRMELÉ in LKW 67, 2020, 78: Es gehöre dazu, alternativ oder insgesamt, „1. eine Weltendstimmung, 2. eine Beschränkung auf einige Stellen der Referenztexte, 3. die Behauptung, einziger Besitzer der Wahrheit zu sein, 4. die radikale Unterscheidung von Erlösten und Verdammten, 5. der Millenarismus“ [= die Erwartung einer irdischen Machtergreifung des zurückkommenden Christus]. Zurückgehend nämlich auf den Prostest gegen einen Reichstagsbeschluss. Zu diesem im Vertrag von Osnabrück dann positiv gewendeten Rechtsbegriff s. Maurer, „Die ,Protestantische‘ Kirche“ 120 f. Damals (1648/49) nannte man sie die „Verwandten der Augsburgischen Konfession“ (s. Frotscher/ Pieroth, Verfassungsgeschichte, Rdz. 178).
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das frz. évangélique ist dem Englischen nachgebildet, nicht dem Deutschen. Die Wortbildung „reformatorisch“ hingegen, die hier vermieden wird, überspielt das in wichtigen Punkten – gerade den rechtlichen – gegensätzliche Verhältnis der Reformatoren, insbes. Luthers zu Zwingli und Calvins zu Luther.
C. Übergreifende Themen
Boaz Cohen
Thema 1: Buchstabe und Geist in jüdischem und römischem Recht Das Folgende ist die deutsche Wiedergabe des Aufsatzes von Boaz COHEN: „Letter and Spirit in the New Testament“, in: ders., J&RL 31– 57;¹ Übersetzung: F. Siegert. Die Nachträge dort auf S. 761– 767 sind berücksichtigt. Seitenzahlen des Originals in […]. Anmerkungen in Auswahl, hinzugefügte Anmerkungen gleichfalls in […]. Zusätze in den Anmerkungen, die von Cohens Meinung abweichen, sind gekennzeichnet: F. S. Auslassungen des Übersetzers sind markiert: […]. Zitate sind aus den Originalen übersetzt, nicht aus dem Englischen, und ggf. ergänzt. Falsche oder veraltete Zahlenangaben sind stillschweigend angeglichen. Für „Scripture“ setzen wir ggf. „Heilige Schrift“ oder „Hebräische Bibel“. Quellen- und Literaturangaben sind der hier üblichen Zitierweise angeglichen. Zwischenüberschriften sind hinzugesetzt, die Gliederung in Absätze ist verfeinert. Die Fußnoten des Originals sind nur in Auswahl oder verkürzt wiedergegeben; hingegen wurden wichtigere Belege und Zitate in den Text einbezogen.
„Keine Idee“, sagte John Lightfoot (1602– 1675),² „ist uns vertrauter als die Unterscheidung zwischen dem Geist und dem Buchstaben (…). Dabei begegnet sie, soviel ich weiß, bei Paulus zum ersten Mal. Doch lag die Idee zweifellos vorher schon in der Luft. Er aber ließ sie gerinnen; er machte sie zur gängigen Münze.“ Lightfoot bezieht sich auf den berühmten Satz: „Der Buchstabe tötet, aber der Geist gibt Leben“ [2Kor 3,6; # 308]. Bei dem Versuch, das Denken eines antiken Autors zu erraten, liegt die Schwierigkeit, um Whiteheads Worte zu gebrauchen,³ „nicht bei dem, was ein Autor sagt, sondern was er nicht sagt. Sie liegt auch nicht bei dem, was er wissentlich annimmt, sondern was er unwissentlich annimmmt. Wir bezweifeln nicht die Ehrlichkeit des Autors. Worauf unsere Kritik sich bezieht, ist, wie weit er durchblickt (his perspicacity).“ So sind es die unbewussten Annahmen des Paulus, die wir in dieser kurzen Studie zum Vorschein bringen wollen. Sprache ist, wie passend gesagt wurde, eine Komplikation der Natur. Sinn und Beschaffenheit einer Feststellung, die in einer Atmosphäre von Suggestion getroffen wurde und von einem so ätherischen Geist wie dem des Paulus, können nur richtig erfasst werden im Rückgang in die Umgebung, worin sie erstmals geäußert wurde. Doch bevor wir daran gehen, die Art von Dialektik freizulegen, die den berühmten Aphorismus des Paulus hervorbrachte, sollten wir das Schema prüfen, in welches Paulus den Kontrast zwischen Buchstaben und Geist eingefügt hat.
Boaz Cohen war Professor of Codes, d. h. der nachtalmudischen Rechtssystematik, am Jewish Theological Seminary of America in New York. – Vgl. noch # 308 (zu 2Kor 3,6). [John Lightfoot ist mit seinen Horae Hebraicae et Talmudicae in Novum Testamentum (lat. 1658, engl. 1859) Autor des ausführlichsten Vorgängerwerks zu dem von Billerbeck, von Mt. bis 1Kor. reichend. Cohen zitiert diese Bemerkung nach einem Kommentar zum 2Kor. von Alfred Plummer.] A. N. WHITEHEAD: Science and the Modern World, 1954 (1967), 25. https://doi.org/10.1515/9783110658347-014
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C. Übergreifende Themen
1.1 Die paulinische Torakritik In einem Brief an die römische Gemeinde rechtfertigt er die Abschaffung des Beschneidungsritus mit dem Argument, das Gebot der Heiligen Schrift sei nur allegorisch gemeint gewesen. Um seine eigenen Worte zu zitieren (Röm 2,5): Und wird nicht die Unbeschnittenheit, die körperliche (hē ek physeōs), wo sie das Gesetz erfüllt, dich verurteilen, der du mit dem Buchstaben und beschnitten das Gesetz übertrittst? (…) Und Beschneidung ist die des Herzens [32] im Geist und nicht im Buchstaben (en pneumati, ou grammati).
Die Ansicht des Paulus, dass jemand, der bewusst auf Beschneidung verzichtet, im Übrigen aber das Gesetz erfüllt, kann einem zur Kritik dienen, der beschnitten ist und im Übrigen das Gesetz ignoriert; sie mag sich ergeben aus einem Missverständnis der rabbinischen Regel (tHul. 1,1), dass rituelles Schlachten eines Tieres durch einen Nichtjuden koscher ist. Nach einer bestimmten Interpretation, die sich im Talmud findet (bHul. 4b), bezieht sich diese Feststellung auf einen, der in provozierender Weise das Beschneidungsgebot verletzt (mešûmmad la-‘arlût).⁴ Paulus rechtfertigt die Abschaffung der Beschneidung mit dem Argument, sie sei zum einen wider die Natur;⁵ zum anderen impliziere die Schrift selbst in dem Vers „Du sollst die Vorhaut deines Herzens beschneiden“,⁶ dass dieses Gebot in einem spirituellen Sinn gemeint sei. Dem Paulus gingen in dieser Hinsicht die radikalen alexandrinischen Allegoristen voraus (Philon, Migr. 89 – 94),⁷ die den buchstäblichen Sinn des Gesetzes weginterpretierten und [33] die Beschneidung symbolisch auffassten. Die Ansicht dieser Gruppe war bekämpft worden von Philon, der erklärte (Spec. 1,6):⁸ Wir haben kein Recht, das Gesetz aufzuheben, das in Bezug auf die Beschneidung erlassen worden ist (anhelōmen ton epi tēi peritomēi tithenta nomon), und müssen die Worte einhalten (houtō kai tōn rhētōn epimelēteon),⁹ um das zu verstehen, wovon die Gesetze die Symbole sind.
Der Ausdruck mûmar [Widerstrebender, insbes. Muslim] ist Ersatz des Zensors für mešûmmad [Abtrünniger, insbes. Christ]. [Die Stellensammlung zu diesem Topos (# 217), die Cohen hier in der Fußnote gibt, nennt aus Paulus nur 1Kor 11,14, das in der Tat fragwürdige Argument mit der „Natur“ in einer Bekleidungsfrage (# 299). Von Paulus nimmt er an, der denke im Sinne der zitierten Stellen.] Jer 4,4; vgl. Philon, Spec. 1,7. [Zur allegorischen Ausdrucksweise s.] Quintilian 8,6,14; Horaz, Sat. 2,3,284; Seneca, Ep. 48; Tertullian, Res. 19. [So Cohens Hinweise S. 761 f; folgt ältere Lit. zur allegorischen Auslegung.] [Ähnlich apologetisch verwahrt Philon sich in Conf. 6 – 13 gegen damalige Kritik der Perikope von der Sprachverwirrung (Gen 11,8 f ): Sowohl der wörtliche (und damit „mythische“, mythōdēs) als auch der allegorische Sinn der Stelle könne etwas Besseres meinen als die plumpe Strafe bloßer Schädigung. (Hinweis Cohens S. 761)] [Das „so auch“ lässt Cohen unübersetzt.]
C 1: Buchstabe und Geist in jüdischem und römischem Recht
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Desweiteren proklamiert nun Paulus in einem Brief an ein römisches Auditorium (Röm 7,6), dass die neubekehrten Christen, frei von einer Bindung an das Gesetz, lediglich die neue Verfügung¹⁰ zu befolgen haben, wohingegen die alte Verfügung zu befolgen war nach dem Buchstaben. Nun aber, wo wir befreit sind von dem Gesetz, welches tot ist (nyni de katērgēthēn apo tou nomou apothanontos),¹¹ worin wir niedergehalten wurden, dass wir dienen mögen in der Neuheit des Geistes¹² (en kainotēti pneumatos) und nicht in der Altheit des Buchstabens (palaiotēti grammatos). In einem Schreiben an die Leute von Korinth (2Kor 3,6) trägt er die These vor, er habe den göttlichen Auftrag, Diener des Neuen Testaments zu sein,¹³ „nicht des Buchstabens, sondern des Geistes, denn der Buchstabe tötet, aber der Geist gibt Leben“ (ou grammatos, alla pneumatos. to gar gramma apokteinei, to de pneuma zōopoiei). Wie man weiß, macht Paulus in seinen Schriften häufig Anspielungen an römisches Recht.¹⁴ In der vorliegenden Passage spielt Paulus mit dem juridischen Gedanken, dass ein Testament (diathēkē)¹⁵ von einem [34] Folgetestament abgelöst werden kann (D. 28,3,1; Sententiae Pauli 23,2), und dass ein Testament nach dem Geiste zu interpretieren sei und nicht nach dem Buchstaben.¹⁶ Es ist bemerkenswert, dass in der berühmten causa Curiana 93 v.u.Z. es gerade der Jurist Quintus Scaevola war, der den Buchstaben des Testaments verteidigte,¹⁷ wohingegen der Redner Lucius Crassus darauf bestand, dass es nach dem Geist zu interpretieren sei (D. 50,17,12: In testamentis plenius voluntates testantium interpretamur). Gleicherweise war die Hebräische Bibel oder zumindest ihr ritueller Anteil abrogiert in den Augen des Paulus, und das Neue Testament¹⁸ war nach dem Geiste zu in-
[Engl.: new dispensation. Cohen verweist in der Anmerkung auf kainē diathēkē in Jer 31,30 LXX und auf Deissmann, Bible Studies (1895; hier engl. Ausg. 78.] [So zitiert Cohen den Text von Röm 7,2. In der Anmerkung verweist er auf die semantische Äquivalenz von katargein zu b-ṭ-l „to stop work“ in Esr 4,21; 6,21 MT/LXX.] „Neuheit des Geistes“ ist ein metaphorischer Ausdruck für „neuer Geist“; vgl. Ez 11,19 und Ps 51,12; „Altheit des Buchstabens“ ist ein elliptischer Ausdruck für das alte, verjährte Gesetz. Paulus ist beeinflusst von Dtn 32,39 und 1Sam 2,17. Deissmann, LvO 270 ff [dt. Fassung]; M. ROBERTI: La lettera di S. Paolo a Filemone e la codizione giuridica dello schiavo fuggitivo, 1933; P. J. VERDAM: „St. Paul et un serf fugitif“ [hier # 330]. Das Gleiche gilt in jüdischem Recht: dî’atêqê mebaṭṭälät dî’atêqê, bBB 152b. [Dazu hier # 319. In Cohens Fußnote folgen Rechtsvergleiche mit Griechenland und Ägypten.] [Hier hat Cohen keine Anmerkung. S. aber Manthe, Geschichte 61: „(…) so meinte Servius, dass eine mehrdeutige testamentarische Erklärung eines Erblassers (den man nach seinem Tode ja nicht mehr befragen konnte, was er wirklich gemeint habe) nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch und nicht nach einer vom Erblasser gemeinten Sonderbedeutung auszulegen sei“.] Cicero, De oratore 1,180; vgl. J. HIMMELSCHEIN: „Studien zu der antiken hermeneutica iuris“, in: Symbolae Friburgenses in honorem Ottonis Lenel, 1931, bes. 387 Anm. 1 zum Literalismus des Mucius Scaevola. Die ethischen Gesetze des Pentateuch hingegen scheint Paulus akzeptiert zu haben: Röm 3,31; 13,8 – 10. Andererseits aber sagt er: „Die Heiden, die das Gesetz nicht haben, tun von Natur aus, was im Gesetz enthalten ist“ (Röm 2,14). Das scheint die Ablehnung des Pentateuch auch als Quelle für das moralische Gesetz zu implizieren.Vgl. Moore, Judaism II 10 […]. Die Schwierigkeit, die Haltung des Paulus zum Gesetz
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C. Übergreifende Themen
terpretieren. Diese Lehre des Paulus war den Rabbinen bekannt, und sie bekämpften sie auf sehr subtile Weise. In einem imaginären Dialog zwischen der Tora und der Gottheit, berichtet von R. Šim‘on ben Joḥai,¹⁹ beschwert sich die Tora bei Gott: König Salomo hat meinen Wortlaut in Frage gestellt und mich mit dem Makel des Gefälschten²⁰ behaftet. Du hast in deinem Gesetz geschrieben: „Jedes Testament (dî’atêqê), das teilweise aufgehoben wird, ist insgesamt ungültig“.²¹ Nun hat Salomo räsonniert über [35] Zweck und Absicht deiner Gesetze (häḥäkîm ‘al gezêrôtajw šäl ha-QB„H)²² und sich folgendes gedacht: „Warum hat Gott einem König verboten, viele Frauen zu heiraten, dass sie sein Herz nicht abtrünnig machen?²³ Ich kann viele Frauen heiraten, ohne in diese Versuchung zu geraten.“ Doch in seinem Alter erlag er ihrer Versuchung.²⁴
Darauf antwortete der Heilige, gepriesen sei er: Salomo und Hunderte seinesgleichen werden kommen und gehen; doch nicht ein Iota von ihr wird jemals ungültig werden.“²⁵ Die polemische Absicht²⁶ dieses Dialogs ist daraus ersichtlich, dass die Tora mit einem Testament (dî’atêqê)²⁷ verglichen wird, gerade so wie es Paulus getan hatte.
1.2 Die Antwort der Rabbinen Dieses doppelte Raisonnement des Paulus, wonach ‒ die Tora ein Testament (diathēkē) sei, welches aufgehoben wurde, und ‒ ein Testament „nach seinem Geiste“ zu interpretieren sei, wird [von R. Joḥai, s.o.] folgendermaßen beantwortet. Erstens: Es gibt die gottgegebene Gewissheit, dass nicht ein einziger Buchstabe vom Gesetz jemals aufgehoben werden wird, geschweige denn das Gesetz insgesamt. Zweitens: Eine Interpretation des Gesetzes
zu verstehen, liegt z.T. daran, dass er nomos auf so viele Arten gebraucht, wie „Tora“ gebraucht wird. Vgl. Dodd, The Bible and the Greeks 35. ŠemR 6,1 und Parallelen. Wir bieten hier ein Compositum aus den verschiedenen Fassungen dieses Dialogs. So WajjR 19,2: PLSTR = plastos. Dieser Ausdruck ist ziemlich bekannt aus den Papyri; vgl. R. TAUBENSCHLAG: The Law of Greco-Roman Egypt, 1955, 237 Anm. 13 und 351 Anm. 204. jSan. 2,6 (20c) [hier # 319]. Dies beruht auf der Regel, dass die partielle Ungültigkeit einer Zeugenaussage diese insgesamt ungültig macht (mMak. 1,7; bGit. 33a; jBQ 7,4). [Cohen zitiert noch weiteres, kommentiert aber nicht, dass im Midrasch-Text eine Regel der Mündlichen Tora als Schriftliche zitiert wird.] [Wörtlicher: „räsonniert über die Bestimmungen des Heiligen, gepriesen sei er“.] ŠemR. 6,1 [mit Bezug auf Dtn 17,17]. bSan. 21b [nach 3Kön 11,1– 8]. [Vgl. Mt 5,18 (# 125).] [Will sagen: die gegen Paulus gerichtete.] Vgl. Bacher, Agada der Tannaiten II 123 Anm. 4. Für diathēkē im Neuen Testament vgl. Deissmann, LvO 286 f.
C 1: Buchstabe und Geist in jüdischem und römischem Recht
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„nach dem Geist“ ist von Salomo versucht worden, dem weisesten aller Menschen, und er ging irre. Wieviel gefährlicher wärde das für Sterbliche mit weniger Weisheit! Ein weiterer Versuch, auf Paulus’ Raisonnement zu entgegnen, kann in dem Auspruch von R. Abin bar Kahana gefunden werden, der den Ausdruck „neuer Bund“ (Jer 31,10) auf das neue Gesetz bezog, das in Jes 51,4 impliziert ist, wo Gott spricht: „Ein neues²⁸ Gesetz wird von mir ausgehen; eine Erneuerung der Tora wird von mir ausgehen“ (WajR 13,3). Paulus widerspricht sich selbst, wenn er behauptet, die Verheißung (diathēkē) gegenüber der Nachkommenschaft Abrahams könne nicht aufgehoben werden. In der Form eines Arguments a fortiori ²⁹ schließt er folgendermaßen (Gal 3,15): Brüder, ich spreche auf menschliche Weise: Wäre es auch nur das Testament eines Menschen, so kann doch, wenn es gültig geworden ist, keiner es aufheben oder etwas hinzufügen.
Wieviel mehr, so schließt nun Paulus, gilt das von der Verheißung [36] an Abraham (vgl. jBer. 5,2 [9b]), die von Gott bereits in Geltung gesetzt wurde (Gal 3,17; vgl. D. 28,4,1– 4).³⁰
1.3 Herkunft und ursprünglicher Sinn der paulinischen Formel Diese Art, Buchstabe und Geist des Gesetzes gegeneinander zu stellen, mag ihren Ursprung bei Paulus haben; doch kommen die Ausdrücke der Antithese aus jüdischen Quellen. Die zugrundeliegende Auffassung kann zurückgeführt werden bis auf frühgriechische Autoren vor Aristoteles, und sie war ein Gemeinplatz der griechisch-römischen Welt in der Zeit des Paulus. Der Ausdruck „Geist“ in Verbindung mit „Gesetz“, abwesend von griechischen wie römischen Quellen, ist Pauus fraglos durch Jes 28,5 f eingegeben worden, wo es heißt, der HERR der Heerscharen werde „eine Krone der Herrlichkeit und ein Diadem der Schönheit sein für den Rest seines Volkes und Geist des Rechtes (ruaḥ mišpaṭ) für den, der zu Gericht sitzt (la-jôšeb ‘al ha-mišpaṭ)“.³¹
[Dieses Adjektiv wird von R. Abin – Cohen zitiert die Stelle auch auf Hebräisch – in Jes 51,4 eingefügt, als gewollte Kombination mit Jer 31,10. – Das Wort ḥiddûš „Erneuerung“ kann auch mit „Wiederherstellung“ übersetzt werden; damit wäre – vgl. Cohens Anm. 30a – nicht Innovation gemeint, sondern Repristination.] Vgl. Cicero, Topica 23; Quintilian 5,10,87– 89 und D. 50,17,21.26. [Cohen beruft sich hier, wie Buber, auf den ungekündigten Bund. Dessen Kündigung ist aber nur eine kirchliche, keine paulinische Behauptung.] [Das Wort mišpaṭ bedarf hier zweier Übersetzungen; bei Cohen: law vs. judgment.]
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C. Übergreifende Themen
Den Ausdruck „Buchstabe“ mit Bezug auf das Gesetz hat Paulus ebenfalls sicherlich in jüdischen Kreisen gehört. In Auslegung von Dtn 12,2 („Du sollst die Heiligtümer der Nationen, die du enteignen wirst, zerstören“) sagen die Rabbinen:³² Die Schrift soll nach dem Buchstaben interpretiert werden (be’ôtijjôtäjha nittenah Tôrah).³³ Israel soll nicht sagen: Wenn wir alle Götzen zerstören sollen, dann haben wir auch jede Grube, jeden Brunnen, jede Höhle zu durchsuchen; daher sagt die Schrift: „Auf den hohen Bergen und Hügeln“; also nur was sichtbar ist, und nicht was verborgen ist, [soll zerstört werden].
Ebenso wird in dem oben zitierten imaginären Gespräch gesagt, nicht ein einziger Buchstabe des Gesetzes werde je aufgehoben werden.³⁴ [37] Der Ausdruck „Buchstabe des Gesetzes“ wird bei den Rabbinen in verschiedener Hinsicht verwendet. Zunächst besagt er, dass das Gesetz buchstäblich zu verstehen [und zu befolgen] ist, in seinem einfachen, grammatischen Sinn. Sodann bedeutet er, dass das Auswechseln eines einzelnen Buchstabens die gesamte Bestimmung verändern kann. R. Me’ir, nachmals berühmt als Schreiber wie auch als Gelehrter [vgl. # 100], wurde gewarnt: „Wenn du beim Schreiben einer Torarolle einen Buchstaben auslässt oder hinzufügst, kannst du die ganze Welt zerstören“ (bEr. 13a [vgl. # 395]). Drittens erlaubt er die Interpretation eines redundanten Buchstabens im Gesetz. R. ‘Aqiba sagte zu R. Jišma’‘el (bSan. 51b): Bruder, ich erschließe meine Regel [dass eine Priestertochter im Falle der Unzucht dem Feuertod verfällt; # 207] aus dem überflüssigen Gebrauch des Buchstabens waw [in Lev 22,12].³⁵ Worauf R. Jišma’‘el erwiderte: Deswegen, weil du den Buchstaben waw überzählig findest, sollen wir die unzüchtige Priestertocher verbrennen?
Midraš Tanna’im S. 60, Z. 4 f [der Rekonstruktion von Hoffmann; s. Bd. 1, „Übersicht“ (J. Maier), Ende. Cohen zitiert diesen Midrasch, weil er dem Titel nach noch in tannaitische Zeit zurückreichen müsste. Varianten dieser Stelle, die er verwirft, finden sich in diversen Mechilta-Ausgaben – seine Anm. 35.] [Wörtlich: „In ihren Zeichen wurde die Tora gegeben.“ Die von Cohen zitierte Ausgabe sagt freilich: be’ôtijjôtäjha dibberah Tôrah, „mit ihren Zeichen sprach die Tora“. F. S.] Vgl. bMen. 29b und Mt 5,17 [# 125]. Philon kann gramma von Dekalogbestimmungen gebrauchen: Spec. 3,8; Migr. 85. Eine Auslegung kata grammata (Plur.) meint bei Platon und Aristoteles den Gegensatz zum ungeschriebenen Gesetz, dem Brauch (ethē); Belege bei LSJ s.v. gramma III.4 und bei Hirzel, Agraphos nomos 16 Anm. 5. [Das „Und“ in „Und eine Tochter…“ am Versanfang war nicht nötig; also, meint ‘Aqiba, ist sie nicht nur als Verlobte, sondern auch als Verheiratete dieser Todesart schuldig. – Zu einem anderen überflüssigen Waw am Beginn von Lev 21,12 zitiert Cohen im Nachtrag, S. 762, Auslegungen aus späteren Midraschim, die sich gleichfalls auf den „Buchstaben der Tora“ berufen. Für Origenes, Princ. 2,11,2 sei das der Iudaicus sensus der Schrift. – Bemerkung hierzu: Origenes meint hier keine Torastellen, sondern Zukunftsverheißungen wie die von Jes 61,5 ff; s. # 200. F. S.]
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In rabbinischer Theorie ist Redundanz³⁶ in der Hebräischen Bibel nie Zufall, sondern Überlegung; sie ist eine Form der Emphase in dem Sinn, wie Quintilian diesen Ausdruck definiert (8,3,83): Emphase ist wirkungsvoll im Aufzeigen einer tieferen Bedeutung [altior intellectus], die nicht in den Worten selbst enthalten ist. Es gibt zwei Arten von Emphase: Eine meint mehr, als gesagt wird; die andere meint sogar das, was nicht gesagt wird.
So hat Paulus seinen Gebrauch der Ausdrücke „Buchstabe“ bzw. „Geist des Gesetzes“ aus zeitgenössischer jüdischer Tradition geschöpft; er hat sie aber mit einer Bedeutung versehen, die von ihren griechisch-rhetorischen Äquivalenten rhēton und dianoia herkommen. [38] Paulus, dem es darum ging, Anhänger unter Juden wie Heiden zu finden (Röm 1,15 f ), formulierte seine Antithese [als eine] von gramma und pneuma, statt sich eines rhetorischen Gemeinplatzes seiner Zeit direkt zu bedienen. Der Gegensatz zwischen Buchstabe und Geist kann bis zu Protagoras (481– 411 v.u.Z.) zurückgeführt werden, der dianoia [Meinung, Gedachtes] gegen onoma [Benennung] kontrastierte, wie Diogenes Laërtius (9,52) berichtet: „…und unter Ignorierung des Gedachten trieb er Dialektik mit dem Ausdruck“.³⁷ Er überging die Textintention zugunsten einer Literalauslegung.³⁸ Lysias hingegen³⁹ plädiert vor den Richtern (Contra Theomnestum 1,7), sie sollten sich nicht über bloße Worte (onomata) streiten, sondern über deren Bedeutung (dianoia). Aristoteles steht in seinen Überlegungen über die Natur des Rechtes in seinem Verhältnis zur Gerechtigkeit auf dem Boden jener Theorie, die den Buchstaben mit dem Geist des Gesetzes kontrastierte, logos mit dianoia. ⁴⁰ Nach seiner Meinung sollten Überlegungen über die Gerechtigkeit Eingang finden in die Interpretation eines Gesetzes,⁴¹ wo dieses unzureichend ist wegen zu großer Allgemeinheit oder wegen der Schwierigkeit des Falles⁴² – wo also das Gesetz zwar klar wäre, seine Anwendung jedoch ungerecht; da ist dann das Gesetz nach seinem Geist, nicht nach seinem Buchstaben anzuwenden.
[Gr.: Pleonasmus. Cohen S. 763 erwähnt als Diskussionen hierzu bJeb. 54b mit Parallelen und b Ḥul. 66b. WajR. 31,2 (zu Lev 24,2) rechtfertigt Wiederholungen in der Tora, auch nebensächliche: Umso öfter sei das Übrige in der Tora zu wiederholen.] Tēn dianoian apheis pros tounoma dielechthē. Nach Diogenes Laërtius 11,51 soll Protagoras der Erfinder der antithesis gewesen sein, die in griechischer Rhetorik eine so gewichtige Rolle spielt. Paulus ist eher von hierher beeinflusst als vom Lapidarstil des Antithetikers Heraklit. [Hierher passt der bei Cohen erst auf S. 764 Zu seiner Anm. 58 gebotene Nachtrag, dass Protagoras derjenige gewesen sei, der sich anbot, zu jeder Streitfrage gegenteilig zu plädieren (Cicero, Ep. 88,43). Als rabbinische Kunst erwähnt er dasselbe in seiner Anm. 58: bEr. 13b; bSan. 17a.] [Cohen irrig: „Auch Lysias…“] Dieser Kontrast findet sich auch auch in Philon, Abr. 107 (ta legomena vs. hē dianoia). [vgl. # 235 zum „Augenmaß“ des Richters, der Billigkeit (epieikeia).] Vgl. Ex 18,26, wo die Ältesten [Israels] die schwierigeren Fälle direkt vor Mose bringen.
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C. Übergreifende Themen
Was Ersteres betrifft, so sagt Aristoteles (EN 1137b), das Gesetz habe die Mehrheit der Fälle⁴³ im Blick, das epi to pleon. ⁴⁴ Wo jedoch ein Fall begegne, der eine Ausnahme vom Üblichen [39] darstellt, sei es richtig, den Defekt zu beheben, indem man so entscheidet, wie der Gesetzgeber selbst entschieden hätte, wäre er jetzt dabei. Daraus folgt, dass es gerecht ist, nicht nach dem Wortlaut (logos) des Gesetzes zu gehen, sondern nach der Absicht (dianoia) des Gesetzgebers (Rhet. 1374b). – In der zweiten Hinsicht jedoch, was den schwierigen Rechtsfall betrifft, sagt Aristoteles (ebd. 1375a): Sollte das geschriebene Gesetz⁴⁵ dem Fall nicht gerecht werden, so müssen wir auf das allgemeine Gesetz [das Rechtsempfinden] und auf Gesichtspunkte der Angemessenheit (to epieikes) zurückgreifen, die eher mit der Gerechtigkeit harmonieren, und wir müssen den Schluss ziehen, dass eine Entscheidung „nach bestem Ermessen“ nicht darin besteht, gänzlich beim geschriebenen Gesetz zu bleiben (Rhet. 1374a).⁴⁶ Gerechtigkeit [equity, aequitas] ist ein Recht (dikaion), welches hinter das geschriebene Gesetz zurückreicht: „Billigkeit (to epieikes) ist ein am geschriebenen Gesetz vorbeigehendes Recht (to para ton gegrammenon nomon dikaion, ebd. 1374a 27 f ). [Schon] Platon sagt: Billigkeit (to epieikes) ist striktem Recht entgegengesetzt (para dikēn tēn orthēn), Gesetze 757 D.
1.4 Recht in Abweichung vom Gesetzestext Der Gegensatz zwischen Buchstabe und Geist, der bei Aristoteles auf einem philosophischen Verständnis des Rechts beruhte, hat alles nachmalige Denken über dieses Thema bestimmt. Hier ist daran zu erinnern, dass die alten Griechen höchst ungern ihre Gesetze änderten. Dies war auch ihrem Glauben an deren göttlichen Ursprung geschuldet.⁴⁷ Jedenfalls war es sehr hilfreich, [40] Gesetze nach ihrer Intention (dianoia) interpretieren zu können.
Epi to pleon; vgl. Pomponius, D. 1,3,3 epi to pleiston; Celsus und Paulus, D. 1,3,4– 6; auch Cicero, De inventione 2,152 sowie bEr. 63b: „Eine Sache (mîlleta’)“, die ungewöhnlich ist (de-la’ šekîḥa’), darüber haben die Rabbinen nichts bestimmt.“ [Der Soncino Talmud übersetzt diese von Cohen nur aramäisch zitierte Stelle so: „(T)he Rabbis enacted no prohibitory measures against any occurrence that is unusual.“] Ebenso Pomponius D. 1,3,3 [den Aristotelesschüler Theophrast zitierend]: Rechte betreffen „das, was epi to pleiston [zuallermeist] stattfindet, nicht was ex paralogou geschieht [das Unerwartete]“. Aristoteles äußert diese Meinung für einen konkreten Fall: Das Gesetz bestimmte eine Strafe für jeden, der einen anderen „mit einem Eisen“ verletzt. Wenn ein Mann einen Eisenring trägt und damit einen anderen verletzt, wäre er nach dem Gesetz, buchstäblich genommen, dieser Strafe schuldig und hätte einen Rechtsverstoß begangen; doch ist er in Wahrheit und tatsächlich nicht eines Verstoßes schuldig, und in einer fairen Interpretation läge die Billigkeit. [So Cohen, Nachtrag S. 763 unten. vgl. # 72 zur Definition von „Waffe“.] Cicero, De inventione 2,139 und Pro Cluentio 141 spricht von recitatores der Gesetze, die diese aber nicht verstanden haben; vgl. die Rhetorica ad Herennium 2,10,4. Ähnliches konnte auch von den Tannaim [den „Wiederholern“] gesagt werden: bSot. 22a; Lieberman, Hellenism 88. Z. B. Xenophon, Memorabilia 4,4,14; Sextus Empiricus, Adversus mathematicos 2,34. [Mehr s.o. A 3.1.3]
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Hermagoras (um 150 v.u.Z.), ein Rhetoriklehrer aus der Schule des Aristoteles, definiert den Kontrast zwischen Buchstabe und Geist als [den zwischen] Text (rhēton) und Ausnahme (hypexhairesis), wie Quintilian berichtet.⁴⁸ Hermogenes (auch 2. Jh. v.u.Z.) scheint der erste Autor zu sein, der ausdrücklich rhēton kai dianoia gegeneinander stellt. […]⁴⁹ [41] Sextus Empiricus (er wirkte im 2. Jh. v.u.Z.) bringt diesen Kontrast zur Wirkung in seiner Kritik, die Rhetoriklehrer seien gegen die Gesetze: Einmal rieten sie uns, auf die Worte des Gesetzgebers zu achten, ein andermal sei ihr Rat, weder der Vorschrift noch den Worten, sondern der Absicht zu folgen (mēte tōi rhētōi mēte tais phōnais, alla tēi dianoiāi katakolouthein).⁵⁰ […] Was konkrete Fälle betrifft, sagt Quintilian [in der Tat], dass man manchmal dem Buchstaben folgt, manchmal [44] dem Geist des Gesetzes (3,6,87). […] Im Folgenden notieren wir nur einige der Hauptargumente dafür, dem Geist und nicht dem Buchstaben des Gesetzes zu folgen: ‒ Erstens, wenn der Buchstabe des Gesetzes der Billigkeit und dem öffentlichen Wohl entgegensteht. […] Beleg ist die Passage in den Zwölf Tafeln [3,6], „wonach Gläubigern erlaubt war, den Körper des [insolventen] Schuldners unter sich aufzuteilen, ein Gesetz, das von der öffentlichen Sitte verworfen wurde (quam legem mos publicus repudiavit). Hinwiderum gibt es Gerechtes und Billiges, das vom Gesetz verboten wird; Testamente z. B. sind nicht frei“ (Quintilian 3,6,84).⁵¹ ‒ Zweitens, wenn es gegen die Natur ist (Rhetorica ad Herennium 2,10,14; Quintilian 7,1,49). ‒ Drittens, wenn es der Sitte zuwiderläuft (Rhetorica ad Herennium 2,10,14).⁵² ‒ Viertens, wenn ein bestimmter Fall als Ausnahme angesehen werden muss (Cicero, De inventione 2,130 f.140; Institutio oratoria 7,1,10). Das ius singulare [der Ausnahmesatz; K/K/L § 3,28 → 2,50] (D. 1,3,16) ist eine Art Ausnahme und kann nicht als Praecedens dienen (D. 50,17,141).⁵³
3,6,61: „Legales autem quaestiones has fecit: scripti et voluntatis, quam ipse vocat kata rhēton kai hypexairesin, id est dictum et exceptionem.“ [So überschrieben ist ein Abschnitt bei ihm in] Peri staseōn; s. Hermogenis opera, ed. H. Rabe (BT) 1913 (1969), S. 82 f. [Die dann folgende Bezugnahme auf EpArist. 171 ff ist unpassend; dort geht es um den Gegensatz zwischen „physischer“ und „ethischer“ Allegorisierungsmöglichkeit (insofern dianoia) von Toravorschriften. F. S.] Adversos mathematicos 2 (Pros rhētoras), 36. Vgl. 38: „Daher, als der Rhetor aus Byzanz gefragt wurde, was das Recht der Byzantier hierzu sagt, war seine Antwort: Was ich will.“ [Cohen gibt in der Fußnote 82 weitere Belege und Literatur, verweist auch auf 1Kor 6,12 (# 298): „Alles ist mir erlaubt, aber nicht alles nützt.“ Zur Einschränkung der Testierfreiheit s. # 319.] [Wie eben. – Ein packendes Beispiel gab Quintilian, wobei sich fragt, wie wörtlich die ZwölftafelBestimmung gemeint war.] Vgl. bKet. 45a: „,Wer in Verruf bringt‘ [Dtn 22,14] – das ist ein ḥiddûš [„Neuerung“, Ausnahmebestimmung]“ und jTer. 7,1 (44a 22): „Ein Fall, der [aus dem Gewöhnlichen] herausführt durch seinen ḥiddûš, daraus folgert man nichts.“
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C. Übergreifende Themen
[45] Die römischen Juristen kannten den Unterschied zwischen scriptum und voluntas aus der rhetorischen Lehre von der Mehrdeutigkeit, wie aus zahlreichen Stellen der Digesten ersichtlich.⁵⁴ Beachtung verdient, dass Ulpian die Unterscheidung rhēton apo dianoias [griechisch] gebraucht, als wäre sie ein wohlbekannter Ausdruck, der keine weitere Erklärung braucht (D. 1,3,30).⁵⁵ Anders als den Rhetoren, denen es nur auf den Sieg ankam und die für jede Seite des Verfahrens sprechen konnten,⁵⁶ ging es den Juristen um eine gerechte [Gesetzes‐]Interpretation und Entscheidung. Darum brandmarkte Ulpian als Verstoß (fraud) die Umgehung des Gesetzes im Kleben an seinem Buchstaben auf Kosten seiner Absicht, D. 1,3,29: In fraudem handelt, wer beim Festhalten an den Worten des Gesetzes dessen Sinn und Zweck umgeht (qui salvis verbis legis sententiam eius circumvenit).⁵⁷ Ulpian lehrt, dass der Ausdruck „nach den Gesetzen“ sich auf den Geist ebenso wie auf den Wortlaut bezieht (D. 50,16,6,1).⁵⁸ Nach Celsus (D. 1,3,18) sind die Gesetze benignius [„eher mild“] zu interpretieren, „damit ihre voluntas [Absicht] gewahrt bleibt“.⁵⁹ Ebenso sollen [46], was Verträge und die Auslegung von Testamenten betrifft, die Absicht der Vertragsparteien bzw. des Erblassers großzügig (liberally) ermittelt werden.⁶⁰ […]
[Cohens Anm. 89 bietet späte, „byzantinische“ Belege, und Literatur. Seine Anm. 98 aber verweist auf Iuventius Celsus (2. Jh.), D. 1,3,19:] Zweideutigkeit muss erkärt werden durch Vermutung und vor allem nach der Absicht der Person, die diese Worte schrieb oder äußerte; vgl. Quintilian 3,6,43; 7,9,15; bGit. 32b. [Celsus ist derjenige, der die Jurisprudenz als ars boni et aequi definierte (D. 1,1,1 pr.); s. Kunkel/Sch., RRG 156.] [Wie sehr diese Unterscheidung bekannt war, erweist Lausberg, Handbuch § 200 und § 214 v. a. aus Hermogenes und Quintilian.] Quintilian 2,17,30: Ex utraque parte causae dicatur [„Von beiden Seiten des Verfahrens her kann plädiert werden“]. Ein jüdisches Beispiel für in fraudem legis wäre ha‘amarat rîbît [„Verschleierung von Zinsgewinn“; vgl. # 110]) in bBM 62b und de’atê le‘î‘arûmê [„wenn einer in unlauterer Absicht kommt“] in bGit. 54b. [Jeweils wird in der Behandlung des Falles von der Tora abgewichen.] ‘Ex legibus’ sic accipiendum est: tam ex legum sententia quam ex verbis. Vgl. R. Judas Feststellung in bQid. 49a (Ende): „Wer einen [Tora‐]Vers wörtlich (beçûratô [„nach seiner Gestalt“]) übersetzt, der ist ein Lügner (baddaj [auch: „Erfinder“]); wenn er [gar] etwas hinzufügt, ist er ein Lästerer und Verleumder.“ [Das war Opposition gegen den damaligen Brauch, Toralesungen in die Landessprache zu übersetzen und zu paraphrasieren – die Targumim. Vgl. die Anm. im Soncino-Talmud.] Ebenso Gaius, D. 50,17,56: Semper in dubiis benigniora praeferenda sunt. Vgl. R. Jehošua‘ b. Qorḥa [Mitte 2. Jh.], bAZ 7a (Ende): „In Bestimmungen der Tora folge der strengeren Auffassung, in solchen der sôferîm der milderen!“ [Die Römer mit ihren Zwölf Tafeln hielten es umgekehrt; F. S.] Für ersteres: D. 50,16,219; für letzteres D. 50,17,12 (In testamentis plenius voluntates testantium intepretamur).
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1.5 Der Unterschied zwischen „Recht“ und „Gerechtigkeit“ in der Bibel [47] In biblischen Zeiten wurden die Gesetze und Obligationen des Menschen in der Zivilgesellschaft gewöhnlich als mišpaṭ bezeichnet, ein Wort auch für das „gebührende Maß“ (Jes 28,26; Jer 30,11; 46,28). Der Gesetzgeber verlangte von den Richtern Unparteilichkeit und Unbestechlichkeit (Lev 19,15; Dtn 1,17 [# 265]) und Ehrlichkeit im Entscheiden (Dtn 16,19).⁶¹ In der frühesten Periode, so kann angenommen werden, erfolgten die Urteile in strikter Anwendung des Gesetzes. „Ich werde mišpaṭ zur Richtschnur machen und çädäq zur Waage (Jes 28,17). Auch die Rabbinen nahmen mišpaṭ im Sinne des strikten Rechts.⁶² […] [48] Indes, mit der Zeit bemerkte man, dass ein Festhalten am mišpaṭ den Zweck des Gesetzes verfehlen konnte, nämlich çädäq und das Wohlergehen des Gemeinwesens, „dass man durch sie (die Tora) lebe“ (Lev 18,5), „damit es dir zum Guten gereiche“ (Dtn 5,26).⁶³ Der Prophet konnte keine schlimmere Bestrafung der Israeliten ins Auge fassen als deren erzwungene Unterwerfung unter schlechte und unerträgliche Gesetze (Hes 20,25): „Darüber hinaus habe ich ihnen Bestimmungen gegeben [= gelassen],⁶⁴ die nicht gut sind, und Rechte, unter denen sie nicht werden leben können“. Zur Strafe für ihre Sünden ließ Gott sie ihren eigenen Vorstellungen folgen, welche sie gegebenenfalls ihm zuschrieben (vgl. Ps 81[80],13). Spinozas diesbezügliche Beobachtung passt zu dieser Stelle bei Hesekiel: „Wenn sie (die Juden) etwas begehren, sagen sie, Gott neige ihr Herz dorthin“.⁶⁵ Hat nicht die Schrift mit Stolz herausgestellt, dass die hebräischen Bestimmungen und Gesetze unvergleichlich gerecht sind? (Dtn 4,8)?⁶⁶ Der Unterschied zwischen Gesetz und Gerechtigkeit wurde von den Propheten gebührend bemerkt, wenn sie unablässig die Wichtigkeit des Zusammenhaltens von [Dort auch das Synonym çädäq, V. 20.] So R. Ḥ anina in bBQ 50a, jŠeq. 5,1 und Parallelen. Vgl. laxamentum legis bei Livius, 2,3; Cicero, Pro Cluentio 38 f. [Vgl. # 41.] In gleichem Sinne sagte Aristoteles (Politik 1280a), Zivilgesellschaften seien gegründet worden nicht nur zur Lebenserhaltung ihrer Glieder, sondern auch zu deren Wohlbefinden. Vgl. noch Maimonides, More 1,42; 3,28. [Der Folgevers nennt nicht-toragemäße Opfer, nämlich Menschenopfer von Erstgeborenen, und überhaupt Verunreinigung durch torafremden Kult. Dass derlei von außen aufgezwungen worden sei, wird hier so wenig gesagt, wie die diesbezügliche Behauptung zu Lasten des Seleukidenkönigs Antiochos IV. zutrifft: Auch von ihm sagt 1Makk 1,13, er habe den Israeliten die Erlaubnis (exousia) gegeben, Fremdkulte zu übernehmen. F. S.] [Vgl.] Spinoza, TTP 1,27 f. Für Spinozas eigene Interpretation dieser verblüffenden Hesekielstelle s. ebd. 17,96.102: Deum suum iratum habuerunt sowie Montesquieu, De l’esprit des lois 19,21. Die Rabbinen waren ihrerseits in Verlegenheit angesichts dieses Verses; vgl. ŠemR 30,18 (zu Ex 21,1) [wo ähnliche Stellen erwogen werden. In 30,22 wird Hos 20,25 zitiert, aber auf die Heidenvölker bezogen, die Gott sich eigene Gesetze geben lässt]. Ebenso preist Cicero, De republica 2,36.61 die Zwölf Tafeln für ihre summa aequitas, und Tacitus, Ann. 3,27 bezeichnet sie als finis aequi iuris. [Vgl. aber oben 1.4.]
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mišpaṭ und çädäq betonen. David wird von den Geschichtsschreibern [Israels] gepriesen für seine vorbildliche Gewährung von Gerechtigkeit (2Sam 8,15).⁶⁷ Um Recht und Gerechtigkeit in Übereinstimmung zu bringen, kam das Prinzip der Billigkeit (epieikeia/aequitas) in Gebrauch.⁶⁸ Billigkeit beruht auf einem Verständnis für [49] die Absicht des Gesetzes (3Kön 3,11; Spr 2,9; 28,5). In der Hebräischen Bibel können wir drei Ausdrücke für Billigkeit ausmachen, deren jeder einen bestimmten Aspekt betont: 1. Das Wort mîšôr (Jes 11,4; Mal 2,6; Vulg.: aequitas),⁶⁹ auch pluralisch mîšôrîm,⁷⁰ kommt von j-š-r „gerade machen, ausrichten“; vgl. Dtn 6,18: „…und du sollst das Gerade und das Gute (ha-jašar weha-ṭob) tun“, wovon die Rabbinen gewisse Regeln der Billigkeit abgeleitet haben.⁷¹ Vgl. Jes 40; Spr 11,5.Wahrscheinlich ist dieser Begriff von Billigkeit deshalb mîšôr genannt worden, weil er die „Begradigung“ einer Unebenheit im Gesetz bezeichnet, wie sie mit der Handhabung strikten Rechts verbunden wäre. 2. Der Ausdruck mišpaṭ ’ämät „Recht der Wahrheit“, „wahres Recht“ (Ps 19[18],10; Spr 21,14; Hes 18,8; Sach 7,9)⁷² meint Gesetze, die wahrhaft gerecht und moralisch sind, im Unterschied zu bloßem mišpaṭ, also dem legal Korrekten.⁷³ 3. In mišpaṭ šalôm, „Recht des Friedens/Wohlergehens“ (Sach 8,16) ist auf das Ziel des Rechts abgesehen, das ganz besonders in der Erhaltung des Friedens besteht, dem zuliebe ein Nachlassen gegenüber dem strikten Recht manchmal notwendig ist.⁷⁴ Jesaja stellt die künftige richterliche Aktivität des Messias dar als eine, wo die Biligkeit im Vordergrund steht: „…und er wird nicht richten nach dem Augenschein noch entscheiden [50] nach dem, was seine Ohren hören, sondern mit Gerechtigkeit
Vgl. bSan 6b sowie Salomos Bitte um Einsicht in das Recht: 3Kön 3,9 ff. [# 235. Cohens Anm. 113 bietet ältere Literatur hierzu.] [Als (ungefähre) Synonyme gingen jeweils voraus: çädäq/iustitia und šalôm/pax. Die Septuaginta wandelt ab.] In babylonischem Recht ist misârum („Billigkeit“) der Gegensatz zu kettum („striktes Recht“). Hieronymus übersetzt diese Stellt mit quod placitum est et bonum, vielleicht weil er an die römische Regel denkt, die in D. 1,4,1,1 eingegangen ist: Quod principi placuit, legis habet vigorem. [Da wäre freilich ds Erwägen nach Billigkeit ersetzt durch das Gutdünken eines Machthabers, F. S.] Jedenfalls entspricht hajašar weha-ṭôb dem römischen aequum et bonum. [Cohen verweist hierzu auf die Literaturangaben in seiner Anm. 105.] Zu Ps 19,10 vgl. Rašis Kommentar zu bAZ 4b s.v. dîn lo’ katab bô ’ämät. Im Targum zu Mi 3,8 wird mišpaṭ übersetzt mit dîn qešôṭ, „Urteil der Wahrheit“, „wahres Urteil“. – Cicero, De legibus 2,11: „Aus dem Wort lex selbst lässt sich entnehmen, dass der Interpretation die Möglichkeit und der Sinn innewohnt, das Gerechte und Wahre zu wählen (iusti et veri legendi). Vgl. Hirzel, Themis 114 Anm. 4 und 415 f. [Dt. „positives Recht“. Man unterscheidet es als das bloß Legale vom (auch moralisch) Legitimen.] Die Rabbinen verstehen hierunter den Schiedsspruch [# 124]; bSan. 6b: „Nicht wahr, wo mišpaṭ ist, da ist kein šalôm.“ Vgl. Steinwenter, Streitbeendigung, bes. 29 Anm. 1. [Lateinische Stellen zu laxamentum legis nannte oben Anm. 62]
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(çädäq/iustitia) wird er den Armen richten [= dem Armen Recht sprechen] und mit Billigkeit (mîšôr/aequitas)⁷⁵ für den Niedrigen im Lande entscheiden (Jes 11,3 f ). […] Zu letzterer Stelle ist [was praktische Erfordernisse betrifft] bSan. 6b zu vergleichen: „Er (der Richter) darf nur nach dem richten, was seine Augen sehen.“⁷⁶ Ein Richter, der den Verdacht hat, dass die Zeugen lügen, soll nicht aufgrund von deren Zeugnis entscheiden (bŠebu. 30b/31a). – In römischem Recht ist ein Magistrat oder wer sonst in einem Strafverfaren (publico iudicio) vorsitzt, wenn er zugelassen hat (operam dedisset), dass Falschzeugnis zur Geltung komt, wodurch ein Unschuldiger verfolgt oder überführt wird, schuldig nach der lex Cornelia de sicariis et veneficis (D. 48,8,1 pr.).⁷⁷ […]
1.6 Ergebnis zu Paulus und rabbinische Antwort Aus der bis hier geleisteten Analyse wird klar, dass die hübsche [charming] Antithese des Paulus: „Der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig“ (2Kor 3,6 [# 308])⁷⁸ übertrieben ist. Nimmt [56] man es als buchstäblich, wie irgendeine Hyperbel,⁷⁹ ist es bestenfalls eine gefällige Überzeichnung der Wahrheit. Wenn Paulus tatsächlich sagte – um die Worte [Alfred Lord] Tennysons zu gebrauchen – „Ich habe gegen den Buchstaben verstoßen, um den Sinn zu wahren“, dürften seine jüdischen Zeitgenossen zu sich selbst gesagt haben: „Brich den Krug, aber erhalte den Wein!“ (bBB 16a), oder: „Hau ihm den Kopf ab, aber erhalt ihn am Leben!“ (bKet. 6a und Parallelen). Paulus war durchdrungen von der Kultur seiner Zeit und war zweifellos vertraut mit den gängigen Lehren der griechischen Rhetorik und des römischen Rechts, wie anzunehmen ist für einen Mann, der in Tarsus aufgewachsen war, dem Sitz einer Hochschule, wo stoische Philosophie und römisches Recht gelehrt wurden [# 233]. Als Vorkämpfer einer neuen Religion war Paulus interessiert daran [57], Juden sowohl wie Heiden zu erreichen. Dementsprechend griff er auf seine jüdische und griechische
[Die Septuaginta, wie gewöhnlich an solchen Stellen, paraphrasiert und setzt krisin krinein sowie elenchein.] [Das ist allerdings die gegenteilige Maxime, prozessrechtlich begründet. Die Stelle Dtn 1,17 „Ihr sollt kein Gesicht ansehen im Gericht; einen Kleinen wie einen Großen sollt ihr anhören“ wird ausbalanciert durch Dtn 19,17„Hintreten sollen die beiden Männer, die einen Streit haben vor JHWH,vor die Priester und die Richter, die in jenen Tagen sein werden“, was bei den Amoräern den Satz ergibt: „Zeugen sollen wissen, gegen wen sie aussagen, vor wem sie aussagen und wer sie zur Rechenschaft ziehen wird“ (bei Falschaussage). Vgl. # 108; # 127. F. S.] [So Cohens Wiedergabe der Stelle; operam dare heißt aber nicht „zulassen“, wie im Talmud, sondern „es darauf anlegen“. In jedem Fall aber wird hier definiert, was „Gerechtigkeit“ seitens eines Richters ist.] Diese Antithese ist nicht aus der Denkweise Heraklits zu verstehen (H. LEISEGANG: Der Apostel Paulus als Denker, 1923, 39), sondern im Sinne der [europäisch‐]griechischen Erfinder der [rhetorischen] Antithese (Th. GOMPERZ: Griechische Denker, Bd. 1, 3. Aufl. 1912, 370 ff; W. SÜß: Studien zur älteren griechischen Rhetorik, 1900, 3). Quintilian 8,6,67: decens veri superiectio.
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Bildung zurück, um das jüdische Gesetz zu diskreditieren durch Methoden, wie sie von Advokaten benutzt wurden, um einen Rechtsstreit zu gewinnen. So hat er die Antithese von Buchstabe und Geist geprägt, ein Amalgam aus der bekannten griechischen Entgegensetzung von rhēton und dianoia mit einer hebräischen Einkleidung, gewoben aus rûaḥ mišpaṭ [Jes 4,4; 28,6]⁸⁰ und ’ôt min ha-Torah. ⁸¹ Die Rabbinen – um mit ihnen zu schließen – waren ernstlich darum bemüht, den Geist des Gesetzes zu bewahren,⁸² auf die ihnen eigene Art,⁸³ ohne eitle Darstellung. Die Juristen des Talmuds besaßen, um es mit Sir Henry Maine zu sagen,⁸⁴ dieselbe Geradheit ihrer moralischen Ansichten, denselben Blick für Analogien, dieselbe Erfassung des Allgemeinen und dieselbe unerschöpfliche Wahrnehmung der Einzelheiten. Sollte dies Täuschung sein, kann es nur erklärt werden, indem man selbst Schritt für Schritt das Gebiet abschreitet, das diese Autoren durchmessen haben.
[Ende des Aufsatzes von B. Cohen]
Anhang: Die Terminologie der Rechtshermeneutik Das Folgende ist übernommen (mit typographischen Veränderungen) bzw. zusammengefasst aus R. TAUBENSCHLAG: „Die Auslegung der Gesetze im Rechte der Papyri“, in: ders., OM II 115 – 123.
Subjekte der Auslegung: „Die Auslegung der Gesetze im Rechte der Papyri erfolgt entweder 1. durch den Richter, 2. durch einen rechtserzeugenden Faktor 3. oder durch die Wissenschaft.
[So Cohens Angabe auf S. 60, dem Folgeaufsatz; vgl. hier # 308.] [Vgl. oben 1.3 und wiederum # 308.] Das Anliegen MONTESQUIEUs in seinem klassischen Esprit des lois, zuerst erschienen in Genf 1748, war, zu zeigen, dass die Verschiedenheit der Gesetze nicht das Ergebnis von Willkür ist, sondern Auswirkung oberster Prinzipien wie: Klima, Religion, Handel, Regierung und Gebräuche. Andere Bücher zum „Geist des Gesetzes“ sind R. v. JHERING: Geist des römischen Rechts, 3 Bde., in vielen Auflagen; A. WAGERMANN: Der Geist des deutschen Rechts, 1913, und R. POUND: The Spirit of the Common Law, 1921 [dt. 1947]. „Durch ,Interessenjurisprudenz‘ erfüllt die Rechtswissenschaft ihre praktische Aufgabe, den Inhalt des Rechts zu finden: das Recht auszulegen, das Recht zu ergänzen, neuem Recht die Bahn zu brechen, den überlieferten Buchstaben mit dem Geist der Gegenwart zu erfüllen“; R. SOHM/L. MITTEIS/L. WENGER: Geschichte und System des Römischen Privatrechts, 1933, 30. Dies ist auch eine passende Beschreibung des Ziels der rabbinischen Jurisprudenz. [So weit Cohen. Hier ist nicht eingerechnet, dass der „Geist der Gegenwart“ auch ein Ungeist sein konnte, wie sich alsbald erwies. Der Erfinder dieser Formulierung, Philipp HECK, ursprünglich Unterstützer der NS-„Bewegung“, ist wegen Interessendifferenzen von dieser ab 1933 ausgegrenzt worden; s. Schlosser, ERG 16 §§ 26 – 27.] H. MAINE: Village Communities, 1880, 83.
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Die Papyri kennen somit die drei dem Pandektenrecht geläufigen Arten der Auslegung, die richterliche, die authentische und die wissenschaftliche“ (115). (Zu 1) Die in den Papyri am häufigsten belegte Gesetzesauslegung geschieht durch Richter. Ihr Gegenstand reicht von ungeschriebenen Bräuchen des Landes über Polisrechte und -verfassungen bis zu den kaiserlichen Konstitutionen (Erlassen) der nachklassischen Zeit. (Zu 2) „Ein Beispiel einer authentischen Interpretation enthält [der Papyrus] BGU 19. Es handelt sich darin um die Frage, ob der Erlass Hadrians über das Enkelerbrecht auch auf die Ägypter Anwendung finde. Der Richter hatte darüber Zweifel und ging daher den Präfekten mit der Frage an (…). Der Präfekt bejaht diese Frage, worauf ein entsprechendes Urteil ergeht. Die Interpretation des Präfekten, der hier den Kaiser vertritt, ist für den Richter bindend“ (115 f ). (Zu 3) „Bekanntlich nehmen in Ägypten Juristen bei Verhandlungen teil und helfen dem Richter, das geltende Recht auszulegen“ (116). Solche nomikoi (vgl. # 100) bekommen wir mitunter sogar namentlich genannt. „Diese Gutachten waren für den Richter allerdings ebensowenig bindend wie in Rom die responsa der iurisprudentium ohne ius respondendi“ (116 f ). Methoden der Auslegung: „Wie wir wissen, kann die Interpretation eines Gesetzes eine grammatikalische oder eine logische sein: Die erste stellt den Inhalt eines Gesetzes auf Grund der vom Gesetzgeber gebrauchten Worte, die zweite auf Grund seines Zweckes und seines Zusammenhanges mit verwandten Bestimmungen fest“ (117). „Bei der Anwendung der letzteren kann es sich herausstellen, dass ‒ sich die Worte des Gesetzes mit der Absicht des Gesetzgebers entweder decken (deklaratorische Interpretation) ‒ oder dass sie sich mit ihr nicht decken, weil sie mehr oder weniger enthalten, als was der Gesetzgeber sagen wollte. In solchen Fällen erfolgt die Korrektur der mittels der grammatikalischen Interpretation erreichten Resultate in der Weise, dass man ‒ den Worten einen engeren (intepretatio restrictiva) ‒ oder weiteren Sinn (interpretatio extensiva) unterschiebt. Alle diese drei Arten von Interpretationen: deklaratorische, restriktive und extensive finden wir in den Papyri“ (117, folgen Beispiele). Schließung von Gesetzeslücken: „Die Ausfüllung der Lücken in der Gesetzgebung erfolgt durch Analogie, d.i. die Anwendung der gesetzlichen Regelung eines bestimmten Tatbestandes auf verwandte, durch das Gesetz nicht geregelte Fälle. Auf diese Weise wird das ägyptische Gesetz über die gegenseitige Haftung der Familienmitglieder für ihre Privatschulden von der römischen Verwaltung auf Liturgieschulden [vgl. # 311] übertragen, wovon das Volksrecht nie gedacht hat (…)“ (121). In einem anderen Fall
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werden Entscheidungen des Präfekten „zur Befolgung angeführt (…), die in ähnlichen Fällen dem Vater das Recht abstritten, die Ehe der Tochter gegen ihren Willen aufzulösen“ (122). Das ist der P. Oxy. 237 v.J. 186, ein Prozessprotokoll von epischer Länge, die Prozessphasen samt Abschrift der dabei eingereichten Dokumenten in rücklaufender Ordung vollständig wiedergebend, wo ein Vater die Scheidung seiner Tochter nach agraphos nomos verlangt hatte – er sei nämlich mit seiner Frau auch nur in nichtschriftlicher (ägyptischer) Weise getraut worden –, und ihm das anhand der allerdings schriftlich gemachten Mitgift verneint wird.⁸⁵ Der Richter versäumte hierbei nicht, die Betroffene selbst zu befragen, ob sie in der Ehe bleiben wolle, was sie bejahte. – „Andererseits kennen wir einen Fall, wo der Statthalter die Berücksichtigung einer früheren Entscheidung ablehnt, weil der zu beurteilende Fall keine Ähnlichkeit mit dem vorher entschiedenen aufweist.“ [So weit – Zitat nochmals aus S. 122 – die Miszelle von Raphael Taubenschlag.] Da greift dann die analogia legis nicht.
Der Fall: Kol. VII 37; von da zieht sich der Rechtsstreit bis an den (nicht mehr erhaltenen) Anfang der Papyrusrolle durch. Es ging um die Mitgift, und jeder beigezogene Jurist argumentiert hier anders. Hier sieht man nomikoi als Gutachter und rhētores als Advokaten am Werk und sogar einen Dolmetscher (hermēneus, VII 37 f ) gegenüber der Ägypterin.
Johann Maier
Thema 2: Schwören im Recht des antiken Judentums AZAR, M.: Lešônôt hitḥajjebût ba-miqra’ û-ba-mišnah, 1981 BELKIN, S.: Philo and the Oral Law, 1940 BERNFELD, I.: Eid und Gelübde nach Talmud und Schulchan Aruch, 1930 BERNSTEIN, M.: „Oaths and Vows in the Pentateuchal Targumim“, in: A. MAMAN/S. E. FASSBERG/Y. BREUER (Hg.): Ša‘arê lašôn. Studies in Hebrew, Aramaic, and Jewish Languages presented to Moshe Bar-Asher, Bd. 2, 2007, 20*-41* BLANK, Sh. H.: „The Curse, the Blasphemy, the Spell, the Oath“, HUCA 23/1, 1950/51,73 – 96 BLUMENSTEIN, J.: Die verschiedenen Eidesarten nach mosaisch-talmudischem Rechte, 1883 BRIEND, J.: Traités et serments dans le Proche-Orient ancien, 1992 BUCHANAN, G. W.: „Some Vow and Oath Formulas in the New Testament in comparision with rabbinic and OT literary forms“, HThR 58, 1965, 319 – 326 COHEN, B.: „The Testimonial Oath“, in: ders.: Jewish and Roman Law, Bd. 2, 1966, 710 – 733 COHN, H. H.: „Proof in biblical and talmudical law“, Justice 32, 2002, 27 – 37 CROWN, A. D.: „Aposiopesis in the Old Testament and the Hebrew Conditional Oath“, Abr Nahrain 4, 1963/64, 96 – 111 DERRETT, J. D. M.: Law in the New Testament, 2. Aufl. 1974, 339 – 358 ELITZUR, I.: „Šôrešê ħîjjûbê ha-šebû‘ah ba-tôrah“, in: Y. UNGER (Hg.): Qôbäș mišpeţê ′aräș, Bd. 2, 2004/5, 381 – 439 FALK, Z.: „The Talmudic Vows“, HThR 59, 1966, 309 – 312 GIESEN, G.: Die Wurzel šb’ „schwören“ (BBB 56), 1981 HAPPEL, J.: Der Eid im Alten Testament, vom Standpunkt der vergleichenden Religionsgeschichte aus betrachtet, 1893 HEINEMANN, I.: „Philos Lehre vom Eid“, in: Judaica. Festschrift Herrmann Cohen, 1912, 109 – 118 HORST, F.: „Der Eid im Alten Testament“, EvTheol 16, 1957, 366 – 384 JOANNES, F./LAFONT, S. (Hg.): Jurer et maudire: Pratiques politiques et usages juridiques du serment dans le Proche-Orient ancien, 1996 KLEIN, J.: „Dazu helfe mir Gott! Schwureinleitungsformeln im Alten Testament“, in: NIEMANN, H. M./AUGUSTIN, M. (Hg.): ‘My Spirit at Rest in the North Country’ (Zechariah 6.8). Collected Communications to the XXth Congress of the International Organization for the Study of the Old Testament, Helsinki 2010 (BEAT 57), 2012, 273 – 288 KOLLMANN, B.: „Erwägungen zur Reichweite des Schwurverbots Jesu (Mt 5,34)“, ZNW 92 (2001), 20 – 3201 LEHMANN, M. R.: „Biblical Oaths“, ZAW 81, 1969, 74 – 92 LIEBERMAN, S.: „Oaths and Vows“, in: ders., Greek 115 – 143 LORETZ, O.: „Eiliges Gebet, Eid und Gelübde in Ugarit und Israel nach RS 15.10 und Qohelet 4,17 – 5,6; 8,2 – 3“, in: ALBERTZ, R. (Hg.): Kult, Konflikt und Versöhnung, Bd. 2, 2001, 99 – 121 MERCER, S. A. B.: The Oath in Babylonian and Assyrian Literature, 1912 OSWALD, N., „Eid III“, TRE 9, 1982, 377 – 279 PEDERSEN, J.: Der Eid bei den Semiten, 1914 PORTEN, B.: „An Aramaic Oath Contract“, RB 90, 1983, 563 – 575 PRADEILHES, E.: „Le serment judiciaire dans le Document de Damas, CD 8,8b-12“, Revue d′Études des Civilizations Anciennes du Proche-Orient 7, 1998, 26 – 41 QIMRON, E.: „Shevu‘at ha-banim in the Damascus Document“, JQR 81, 1990/1, 115 – 118 SCHIFFMAN, L. H.: „Sectarian Law in the Dead Sea Scrolls“, 1983 (bes. 111 – 115.136 – 141) – : „The Laws of Vows and Oaths (Num 30,3 – 16) in the Zadokite Fragments and the Temple Scroll“, RdQ 15, 1991, 199 – 214 https://doi.org/10.1515/9783110658347-015
288
C. Übergreifende Themen
– : Oaths and Vows, in: ders./VANDERKAM, J.: Encyclopedia of the Dead Sea Scrolls, Bd. 2, 2000, 621 – 623 SEEBAß, H.: „Eid II“, TRE 9,1982, 376 f SEIDL, E.: Der Eid im römisch-ägyptischen Provinzialrecht. 1. Teil: Die Zeit von der Eroberung Ägyptens bis zum Beginn der Regierung Diokletians, 1933: 2. Teil: Die Zeit vom Beginn der Regierung Diokletians bis zur Eroberung Ägyptens durch die Araber. Mit Anhang: Der Eid im koptischen Recht und in den griechischen Urkunden der Araberzeit (Beitr. z. papyrolog. Forschung, 17), 1935 SMELIK, W. F., „The Use of hzkjr bšm in Classical Hebrew: Josh 23,7; Isa 48,1; Amos 6,10; Ps 20,8; 4Q 504 III,4; 1QS 6:26“, JBL 118, 1999, 321 – 332 SOMMERSTEIN, A/TORRANCE, I. (Hg.): Oaths and Swearing in Ancient Greece, 2013 VAHRENHORST, M.: „Ihr sollt überhaupt nicht schwören“ (WMANT 945), 2003 VAN DER TOORN, K.: „Herem Bethel and Elephantine Oath Procedure“, ZAW 98, 1986, 282 – 285 VANDERKAM, J.: „The Oath and the Community“, Dead Sea Discoveries 16, 2009, 416 – 432 WALLIS, G.: „Der Vollbürgereid in Dt 27,15 – 26“, HUCA 45, 1974, 47 – 83 WEINFELD, M.: The Organizational Pattern and the Penal Code of the Qumran Community, 1986 (bes. 62 – 66.92) – : „Ha-sôd šäl qehȋllat ‘ên Gedȋ“, Tarb. 51,1981/2, 125 – 129 WOZNIAK, J.: „Bedeutung und Belege der Schwurformel ḥaj Jahwe“, BZ 28, 1984, 245 – 249 ZIEGLER, Y.: „‘So shall God do…’: Variations of an oath formula and its literary meaning“, JBL 126, 2007, 59 – 81 – : „‘As the Lord lives and as your soul lives’. An oath of conscious deference“, VT 58 (2008), 117 – 130 – : Promises to Keep. The Oath in Biblical Narrative (VT.S 120), 2008 ZWEIG, J.: Der Schwur im Talmud, 1967.
2.1 Der Sprachgebrauch Im allgemeinen Sprachgebrauch wird zwischen den verschiedenen Bezeichnungen für Schwur, Eid und Gelübde (# 52) nicht immer unterschieden. Ein Gelübde ist an sich zwar ein bindendes Versprechen, das aber (durch einen Priester) gelöst bzw. abgelöst werden kann, und bedeutet, wenn es kultische Empfänger (Priester, Tempel) betrifft und nicht eingehalten wird, eine me‘ȋlah, ein Sakrileg, wird aber nicht strafrechtlich geahndet. Auch der unverlangte Schwur kann, sofern keine Zeugen vorhanden sind, nicht verfolgt werden, aber die Furcht vor den unheilvollen Folgen einer Nichterfüllung eines beschworenen Versprechens wirkte in der Regel abschreckend (Sir 23,9 – 11), sodass man, wie auch beim Gelübde, manchmal Ersatzformulierungen verwendete, um den Fluchfolgen zu entgehen, eine Praxis, die von den Autoritäten aber strikt abgelehnt wurde (vgl. schon Sir 23,12). Das Hebräische verwendet für den Schwur meist das spezifisch-hebräische Wort šebȗ‘ah, auch das Aramäische (šebȗ‘eta’), von der Wortwurzel šb‘, im Hif‘il „schwören lassen, vereidigen“ (griech: omnynai/omnyein, lat. adiurare), auch „beschwören“. Das Nif‘al bedeutet „schwören“, beschwören. Daneben begegnet ′alah von der Wortwurzel ′lh „fluchen“/„verfluchen“ (Ri 17,2; Hos 4,2 und 19,4), im Hif‘il „mit Fluchandrohung beschwören“ (1Sam 14,24; 1Kön 8,31; 2Chr 6,22) und im nif‘al „einander schwören“. Verb wie Nomen haben einen besonderen numinosen, magischen und im Sinne einer Selbstverfluchung bedrohlichen Beiklang. Gelegentlich wird daher šebȗ‘ah zur Betonung der Wirksamkeit mit ′alah kombiniert (Num 5,21).
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Im Aramäischen der Papyri, und speziell in den Targumim, dominiert der Ausdruck mȗma′ und das Verb jm′ „sprechen, schwören“ (z. B. TAD B8, 9,4).¹ In der Septuaginta begegnet horkizein für das Verb šb‘, horkos für šebȗ‘ah, horkismos und katara für ‘alah (Gen 24,41; Lev 5,1; ferner Sir 33[36],8; 1Makk 6,12). Das seltenere horkismos wird in der LXX in Num 4– 5 und in Daniel verwendet, in 1Makk 6,22 im Zusammenhang mit dem Bruch eines beschworenen Friedensabkommens und auch in 2Makk 12,25 im Zusammenhang mit einem Abkommen. Und ara, das auch „Fluch“ bedeutet, steht zumeist für hebr. ′alah. Beides deutet also auf einen besonders ernsten Vorgang. Das Verb šb‘ (Qal, Nif‘al) wird mit l- („jemandem schwören“) und b- (sehr variabel: „bei etwas oder jemandem schwören“), mit ′im („falls“), ′im lo′ („wenn nicht“) und kȋ („dass“) kombiniert. Mit ‘al wird in Bezug auf etwas geschworen (Gen 24,9; Lev 5,24). „Einen Schwur erfüllen“ heißt le-haqȋm šebȗ‘ah (Gen 26,3; Jer 11,5), „einen Schwur einhalten“ lišmôr šebȗ‘ah (Dtn 7,8; 1Kön 2,43). Man unterscheidet zwischen einem promissorischen und einem assertorischen Schwur, šebȗ‘at bițțȗj. Das erstere ist ein Versprechen, kommt einem Gelübde nahe und wird freiwillig abgelegt wird (Zusage). Der promissorische Schwur kann auch als bedingter Schwur formuliert werden (Crown, „Aposiopesis“).² Der assertorische Schwur bestätigt oder verneint einen Sachverhalt oder einen Vorgang (Aussage). So vor allem der Zeugniseid, der auferlegt wird. Erfolgt eine Erweiterung des zu bezeugenden Sachverhalts um einen anderen, für sich nicht bezeugbaren, spricht man von einem gilgûl šebȗ‘ah (bQid 28a), einer „Schwurübertragung“.
2.2 Die Quellen 2.2.1 Die schriftliche Tora enthält nach der Überlieferung der 613 Gebote (+1– 248) und Verbote (‐1– 365) folgende Vorschriften in thematischer Grupperung: Ex 23,13 Schwören bei Götzen Lev 24,16/Ex 22,27 den Namen JHWHs lästern Lev 19,12 Eid bei Gottes Namen brechen Ex 20,7 Missbrauch des Namens Lev 22,32 Entweihung des Namens Lev 5,1 Zeugnispflicht Nu 30,3 Wortbruch
BERNSTEIN, „Oaths and Vows“; J. HOFTIJZER/K. JONGELING: Dictionary of the North-West Semitic Inscriptions, Bd. 1, 1995, 459 f; Belege: SokP 242; SokB 536 (Abkürzungen s. „Glossar des jüdischen Rechts“). [Gemeint ist eine vom Schwörenden nicht genannte Bedingung; s. # 130, Exkurs zur Mentalreservation.]
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C. Übergreifende Themen
Dt 13,15 Dt 19,19 Ex 20,16 Ex 23,1 Dt 24,16 Dt 19,15 Ex 23,7 Nu 35,30 Dt 22,1/Ex 23,4 Dt 22,3 Ex 22,6 – 8 Ex 22,9 – 12 Ex 22,13 Ex 22,8 Lev 19,11 Lev 25,14
Zeugeneinvernahme Bestrafung von Falschzeugen: Maß für Maß Falschzeugnis Zeugnisannahme von einem Missetäter Zeugeneinvernahme von Verwandten des Betroffenen Urteil auf Grund nur eines Zeugen Urteil allein auf Grund von Indizien Zeuge als Richter in Kapitalsachen Verlorenes Gut: Rückgabepflicht (sc. als Anlass zum Schwören) Verhehlen von Fundsachen Verlust von Anvertrautem durch Diebstahl Verlust von in Obhut Gegebenem Verlust von Entliehenem Veruntreungsverdacht Meineid betr. Vermögenssachen. Kauf/Verkauf
Die biblischen Befunde wurden begreiflicherweise am intensivsten erforscht (Seebaß; Lehmann), wobei über die gesetzlichen Belege hinaus der Schwur in den erzählenden Texten besondere Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat (Ziegler, Promises). Im Vergleich mit den vorderorientalischen Zeugnissen (Klein) lässt sich eine breite Übereinstimmung in formaler und inhaltlicher Hinsicht nachweisen (Oswald); es lassen sich aber auch spezifisch israelitische Anwendungen feststellen, und zwar vor allem im Zusammenhang mit der Vorstellung vom „Bund“ Gottes mit Israel (# 271).
2.2.2 Von den frühjüdischen Quellen (s. Oswald) belegen die Papyri aus Elephantine³ und Ägypten überhaupt die starke Einbindung der Praktiken in die Praxis in der Umwelt.⁴ Im Jubiläenbuch s. Kap. 29 und 35 f (vgl. 1Q 18, 1 2,2; 4Q 223 – 224) wird die Vereinbarung, die Jakob mit Esau erzielt, mit Schwüren abgeschlossen. Ansonsten wird auf das Thema wenig Bezug genommen. Neue Aspekte ergaben sich dank der Textfunde voni Qumran.⁵ Die Damaskusschrift (CD) enthält Regelungen, die bestimmte Nachrichten in der Essenerberichten bei Philon
Das Nebeneinander von nichtjüdischen, aramäischen, judäischen und nordisraelitischen Söldnern in dieser Militärkolöonie bietet für die vergleichende Fortschung außergewöhnliche Möglichkeiten. A. TAGGAR-COHEN: „The covenant as contract: Joshua 24 and the legal Aramaic texts from Elephantine“, ZABRG 11, 2005, 27– 50; van der Toorn, „Herem Bethel“; Porten, „An Aramaic Oath Contract“. W. KUNKEL: Griechische und ägyptische Elemente im Eidesrecht der Ptolemäerzeit, 1931; Seidl, Der Eid. S.o. die Veröffentlichungen von Schiffman und Weinfeld. Umfassend behandelt die Befunde VanderKam, „The Oath“.
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und Josephus in etwas anderem Licht erscheinen lassen.⁶ Abgesehen von Schwüren im Zusammenhang mit dem „Bund“ wird in CD IX 8 ff (Diebstahl) und XV 2 ff sowie in 4Q 270 sehr wohl eine übliche Schwurpraxis vorausgesetzt. Die Tempelrolle 11Q 19, Kol. 53,14 f zitiert Num 30,3.⁷ Eine Reihe von Fragmenten enthalten Hinweise darauf, dass das Thema in dieser Tradition von einiger Bedeutung gewesen sein muss.
2.2.3 Philon Philon⁸ behandelt in Spec. 2,1– 35 das Dekalogverbot des Missbrauchs des Gottesnamens, und da recht ausführlich Schwur und Gelübde: Schwören ist an sich zu vermeiden, weil das schlichte Wort ausreichen sollte (1– 5). Schwören bei Eltern oder beim Himmel und dergleichen ist besser als den Namen Gottes zu verwenden, was viele unbesonnen tun (6 – 8). Wenn Schwören erforderlich ist, muss der Eid geleistet werden, wenn er dem Gesetz gemäß erfolgt (9). Gott als Zeugen für etwas Falsches zu benennen, ist frevelhaft (11 f ). Gesetzwidrige oder aus Rache motivierte Schwüre sollen nicht ausgesprochen werden (12– 17). Nach Aussagen zum Gelübde behandelt er das Verbot des Meineids und die darauf stehenden Strafen (26 f ). Zum Verbot, den Gottesnamen mißbräuchlich zu verwenden, äußert sich Philon gleich zu Anfang mit Blick auf den Schwur sehr dezidiert:⁹ (2) Das erste dieser Gebote besteht darin, den Namen Gottes nicht mißbräuchlich zu verwenden. Denn für den tugendhaften Mann sollte, so sagt es das Gesetz, sein Wort als sein Eid gelten, fest und unabänderlich, niemals verlogen, unerschütterlich auf Wahrheit gegründet. Und auch wenn bestimmte Zwänge ihn zu schwören nötigen, dann soll er als Zeugen für seinen Eid die Gesundheit oder das glückliche hohe Alter seines Vaters oder seiner Mutter angeben, falls diese noch am Leben sind, oder deren Gedächtnis, wenn sie verstorben sind. Denn die Eltern eines Menschen sind das Abbild und die Nachhamung der göttlichen Macht, denn diese hat Menschen ins Dasein gebracht, die bis dahin nicht existiert haben.
Es folgt ein Verweis auf einen Patriarchen als Beispiel (Isaak), der bei seinem Vater schwor. (4) Und zu loben sind auch wegen ihrer Bedächtigkeit, Zurückhaltung und Vermeidungsstrategie jene, die, zum Schwören genötigt, nicht nur bei jenen Furcht erregen, die sie sehen, sondern auch bei jenen, die sie auffordern, einen Eid abzulegen. Denn wenn sie den Eid aussprechen, sagen sie gewohnheitsmäßig nur „Bei …“ oder „Nein, bei …“ ohne weitere Hinzufügungen, mit der Verstümmelung der üblichen Formel ihren Worten Nachdruck verleihend, ohne den Eid tatsächlich auszusprechen. (5) Wenn jedoch jemand schwören muss und ist dazu bereit, dann lasse man ihn, wenn
Hierzu Pradeilhes; Qimron; Schiffman, „The Laws“. B.-Z. WACHOLDER.: „Rules of Testimony in Qumranic Jurisprudence: CD 9 and 11Q Torah 64“, JJS 40,1989,163 – 174. Belkin, Philo 140 – 179: Heinemann, Bildung 82– 96; ders. „Philos Lehre vom Eid“ (s.o.). Eigene Übersetzung, möglichst wörtlich.
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es ihm gefällt, etwas hinzufügen, allerdings nicht den allerhöchsten Namen und die maßgebliche Ursache aller Dinge, sondern die Erde, die Sonne, die Sterne, den Himmel, die gesamte Welt. Denn alle diese sind überaus würdig, benannt zu werden, und sie sind älter als unsere eigene Geburt und werden dazu auch nie alt, bleiben immerwährend gemäß dem Willen ihres Schöpfers.
Es folgt einiges über den Missbrauch des Gottesnamens. (8) Nun, da sie aus ihrer maßlosen Gottlosigkeit heraus die ehrwürdigsten Namen im Zusammenhang mit nichtigsten Angelegenheiten verwenden und schamlos eine Bezeichnung (Gottes) auf die andere anhäufen, erröten sie nicht in ihrer Meinung, dass sie durch die Häufigkeit und Anzahl ihrer ständigen Schwüre das Ziel ihres Begehrens erreichen, die überaus Einfältigen. Jedoch, eine große Zahl von Schwüren ist kein Beweis für Glaubwürdigkeit, sonden eher einer dafür, dass der Betreffende nach der Einschätzung von Männern des Vestandes und der Weisheit nicht glaubwürdig ist. (9) Ist aber jemand zu schwören genötigt, schwöre er bei allem auf eine Weise, die das Gesetz nicht verbietet. Man lasse ihn sich mit all seiner Kraft und mit allen ihm verfügbaren Mitteln bemühen, seinem Eid Nachdruck zu verleihen, so keinerlei Hindernis aufstellend für die Erfüllung der beschlossenen Sache. Vor allem, wenn weder ein unversöhnlicher Ärger noch übermäßige Liebe noch haltlose Begierden im Spiel sind, so dass nicht bewußt ist, was gesagt oder getan worden ist, sondern der Eid mit gesundem Verstand und freiwilliger Zweckerfüllung abgelegt worden ist. (10) Denn was ist besser, als all sein Leben lang mit vollkommener Wahrheit zu reden und dies mit Gottes Zeugnis selbst zu belegen. Ein Eid ist nämlich nichts Anderes als das Zeugnis Gottes, aufgerufen in einer Sache, die zweifelhaft ist. Gott zum Zeugnis für eine Aussage anzurufen, die nicht wahr ist, ist das Frevelhafteste aller Dinge. (11) Wer dies tut, sagt eigentlich, auch wenn er Frieden wahrt, „Ich benütze dich als Decke für mein Verbrechen; kooperiere mit mir, der ich mich schäme, öffentlich als unrechtmäßig zu erscheinen. Denn obschon ich unrecht handle, liegt mir daran, nicht als rechtswidrig handelnd zu gelten. Du aber kannst in Bezug auf deinen Ruf in der Allgemeinheit unbesorgt sein, ohne Bedenken bezüglich der guten Nachrede.“ Jedoch, derartiges zu sagen oder zu denken ist äußerst unsittlich, denn nicht nur Gott, der von aller Teilhabe an Unrecht frei ist, sondern auch jeder Vater oder jeder Fremde würden, wenn sie nicht völlig aller Tugend ermangeln, erbost sein, falls sie auf solche Weise angesprochen werden. (12) Somit soll einer, wie ich gesagt habe, sicher sein und allen seinen Eiden Wirkung verleihen, die für ehrenhafte und wünschenwerte Zwecke abgelegt werden, für die notwendige Durchführung von wichtigen Dingen unter der Anleitung von Weisheit, Gerechtigkeit und Heiligkeit.
Das Weitere bis Abschn. 25 betrifft Gelübde. Philon fährt fort: (26) Hat einer Kennntis davon, dass jemand seinen Eid bricht und bringt das nicht zur Anzeige oder überführt ihn nicht, dank Freundschaft, Wertschätzung oder Furcht, also nicht aus Pietät, der verdient dieselbe Strafe wie der Meineidige. Denn Zustimmung zu jemanden, der unrecht handelt, unterscheidet sich in nichts von eigemem unrechten Tun. (27) Die Bestrafung eines Meineidigen erfolgt in manchen Fällen durch Gott und in anderen durch Menschen. Doch sind die Strafen, die von Gott ausgehen, die fürchterlichsten und strengsten, denn Gott erweist Menschen, die derartige Frevel begehen, keine Gnade, sondern belässt sie für immer in unreinem Zustand, nach meiner Ansicht mit vollem Recht und in Richtigkeit, denn wer derart gewichtige Dinge missachtet, der darf sich nicht beklagen, wenn er selber missachtet wird, ein Geschick erleidend, das seinen Taten entspricht.
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(28) Die von Menschen verhängten Strafen sind unterschiedlicher Art, Todesstrafe oder Prügelstrafe. Männer, die in ihrer Frömmigkeit hervorragen und strenger denken, verhängen über solche Missetäter die Todesstrafe. Andere, milder gestimmte, lassen sie öffentlich vor aller Augen mit Ruten schlagen. Für Leute von nicht gerade sklavischer Natur ist die Prügelstrafe nur wenig furchtbarer als die Todesstrafe.
In seinem De Decalogo kommt zum Namensmissbrauchsverbot §§ 84– 95 ebenfalls sogleich das Thema Eid zur Sprache. Der Inhalt ist in juristischer Hinsicht im Wesentlichen identisch mit seinen Aussagen in De specialibus legibus.
2.2.4 Josephus Josephus geht im Vergleich zu Philon so gut wie nicht auf das Thema ein. In Ant. 3,91 fomuliert er zum Namensmissbrauchsverbot lediglich lapidar, „nicht bei Gott in Bezug auf irgendeine Nichtigkeit zu schwören“. Bemerkenswert ist jedoch in Ant. 5,169 ff die Rechtfertigung des Eidbruches in Ri 21 (s.u. 4.16 zum Meineid). In C.Ap. 1,167 bietet er eine Notiz aus Theophrast, die Tyrer hätten fremde Eidesformen verboten, darunter einen korban (so das Wort dort in Umschrift). Ebd. 2,263 notiert er, Sokrates sei wegen neuartiger Eide verurteilt worden. In Bell. 2,135 berichtet er, dass die Essener jede Art von Schwur vermeiden wollten.Weit wichtiger erschien ihm hingegen die Abwehr von Behauptungen über die Anwendung von Schwüren im Zusammenhang von feindseligen Aussagen und Verhaltensweisen gegenüber Nichtjuden (C.Ap. 1,318; 2,95.121– 124).
2.2.5 Die rabbinische Tradition Die rabbinische Tradition¹⁰ behandelt den Schwur in einem eigenen Traktat Šebu‘ot (Mischna, Tosefta, jTalmud, bTalmud), „Schwüre“, und teilweise auch im Traktat Nedarim, „Gelübde“. Ferner sind die Ausführungen zu den einschlägigen Bibelstellen in den halachischen Midraschim zu beachten. Zu Beginn des Traktats Šebu‘ot werden vier Hauptarten des Schwurs unterschieden: 1. šebȗ‘at bițțȗj (Lev 5,4 „… jemand, der schwört, um mit seinen Lippen etwas zum Nachteil oder zum Vorteil auszusagen“). Hier werden vier Unterarten unterschieden, zwei hinsichtlich der Zukunft und zwei hinsichtlich der Vergangenheit. Dieser Schwur wird gültig nur in Bezug auf Dinge geleistet, die ausgeführt werden können, sei es in der Zukunft oder in der Vergangenheit. 2. šebȗ‘at šaw′ ist der ungültige Schwur 3. šebȗ‘at ha-piqqadôn, der Depositeneid 4. šebȗ‘at ‘edȗt, der Zeugniseid. Hierzu Blumenstein, Bernfeld und Falk.
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C. Übergreifende Themen
Kap. 5 handelt sodann vom Depositeneid, Kap. 6 vom Eid vor Gericht. Kap. 7– 8 gelten diversen Einzelfällen, v. a. hinsichtlich abhanden gekommenen Gutes, und dem Verwahrereid.¹¹ Besonderes Augenmerk verdient der Traktat in der Tosefta′ im Vergleich mit der Mischna. Die rabbinische Tradition differenziert ferner zwischen folgenden Eidesarten: Biblisch vorgeschriebener Schwur: šebû‘at ha-tôrah/šebû‘ah de-′ôrajta′ (mŠebu. 7,1 34d; bŠebu. 41a). Schwur im Zusammenhang mit Geboten: šebû‘at miṣwah (mŠebu. 3,6). Rabbinisch verordneter Schwur: šebû‘at taqqanah (jŠeq. 2,1 46a; jBM 1,1 7d; jŠebu. 7,1 34d).¹²
In der Fülle der rabbinischen Belege sind die rechtgeschichtlich relevanten Aussagen nicht ohne Weiteres von dem illustrativen Material zu unterscheiden. Es empfiehlt sich daher, vorweg die meisterhafte Zusammenfassung der Halakah des Mose ben Maimon in seinem Mišneh Tora nachzulesen,¹³ nach einer jemenitischen Handschrift mit unzensiertem Text herausgegeben von J. Kafeh, Jerusalem 1984– 96.¹⁴ Leider beruht die sehr brauchbare englische Soncino-Übersetzung¹⁵ auf einem zensierten Text.
2.2.6 Magisches Schwüre bzw. schwurähnliche Formulierungen, noch viel mehr aber Beschwörungen, sind auch in magischen Texten zu finden. Für einen Fall mit Verwendung einer formal korrekten Schwurformel (mŠebu. 4,13) s. z. B. eine Zauberschale.¹⁶
2.3 Gestik und symbolische Handlungen Eine Eidesleistung mit einer symbolischen Handlung im Zuge einer Beauftragung wird Gen 24,2 f beschrieben, ist aber sonst nicht als Brauch bekannt. Abraham fordert seinen Knecht auf, ihm die Hand „unter die Hüfte“ zu legen.¹⁷
E. Sh. ALEXANDER: „Casuistic Elements in Mishnaic Law: Examples From Mishnah Shevu’ot“, JSQ 10, 2003, 189 – 243. Später erst sind die Regeln für eine šebû‘at de-rabbanan (rabbinisch vorgeschriebener Schwur). Buch VI: Sefär ha-hafla′ah, 1. Šebȗ‘ôt. Dazu auch teilweise ebd. 2. Nedarȋm (Gelübde) und im Buch XIII: Sefär ha-mišpațȋm (1. Miete, 2. Deposita, 3. Geldleihgeschäft, 4.Verfahrensrecht), ferner im Buch XIV: Sefär šôfețȋm, 2. ‘edȗt (Zeugenaussagen). Oder: Rabbi Moshe ben Maimon, Mishne Torah, hg. Y. Makbili, 2013. The Code of Maimonides, New Haven 1949 ff. D. LEVENE: „‘If you appear as a pig‘. Another Incantation Bowl (Moussaieff 164)“, JSS 52, 2007, 59 – 70. M. MALUL: „Touching the Sexual Organs as an Oath Ceremony in an Akkadian Letter“, VT 27, 1987, 491 f.
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Die geläufigsten Schwurgesten sind das Erheben der Hand¹⁸ bzw. der Hände (Philon, Spec. 4,34; 1Tim 2,8) und die Berührung eines sakralen Gegenstandes, später insbesondere einer Torarolle.¹⁹ In Gen 31,44 f wird zur Erinnerung an den beschworenen Vertrag (berȋt) zwischen Jakob und Laban ein Stein bw. Steinhaufen aufgestellt (vgl. Gen 35,14). Der masoretische Text ist hier offensichtlich unvollständig. Die Septuaginta hat eine einleuchtendere Fassung, in der wegen der Abwesenheit weiterer Personen Gott als Zeuge benannt wird (vgl. im Hebräischen V. 50), und in V. 53 schwört Jakob beim Gott seines Vaters Isaak, dem „Schrecken Isaaks“. Josephus, Ant. 1,323 f spricht von einem wechselseitigen Eid (horkos).
2.4 Anwendungsgebiete und „Sitze im Leben“ für den Schwur Will man die Schwur- und Eideshalacha der Rabbinen überblicken, geht man am besten nicht von Begriffen aus, sondern von Anwendungsgebieten. Allgemeines Bestreben war stets, den Missbrauch des Gottesnamens und auch seiner Ersatzwörter zu verhindern.
2.4.1 Nichtiger, unzulässiger, fahrlässiger Schwur: šebȗ‘at šaw′ Schon das Namensmissbrauchsverbot des Dekalogs (Ex 20,7/Dtn 5,11) hatte in dem Ausdruck la-šaw′ (epi mataiōi/in vanum bzw. frustra) „nichtiges“ Schwören verboten, d. h. den Unernst. Das ist keine Nichtigkeitserklärung solcher Schwüre, als wären sie beliebig, sondern es ist ein Verbot. Ein Schwur aus unzulässigem oder nichtigem Anlass, zu verbotenen Zwecken oder gar zum Spaß²⁰ ist nicht nur unwirksam, er zieht als ‘awôn šebȗ‘at šaw′ Unheil nach sich, so wie die falsche Zeugenaussage (‘edȗt šäqär), also der Meineid (s. unten), und die Entweihung des Namens Gottes (ḥillȗl ha-šem).²¹ Ein mutwilliger Schwur zur Erreichung von Vorteilen oder zum Nachteil eines anderen wird mit Geißelstrafe geahndet.²² Wird auf Gott Bezug genommen, handelt es sich um eine Vergehen gegen das Namensmissbrauchsverbot. Ein versehentlich ausge-
E. P. MCGARRY: „The Ambidextrous Angel (Daniel 12:7 and Deuteronomy 32:40): Inner-Biblical Exegesis andTextual Criticism in Counterpoint“, JBL 124, 2005, 211– 228. G. LIBSON: „The use of a sacred object in the administration of a judicial oath“, Jewish Law Association Studies 1, 1985, 53 – 60. Ex 20,7/Dtn 5,11; Jos.Ant 3,91; mŠebu. 3,1 ff; jŠebu. 3,12 (34d); bŠebu. 6b-7a sowie 25b; MekJ bḥwdš 7. jNed. III,2 (37d-38a); 3,8 (38a); jŠebu. 3,8 – 10 (34d-35a); 7,4– 5 (38c-d); ARN B 41,5. mŠebu. 3,7– 8.11; tŠebu. 3,5 f; bBM 2b; bSanh. 27a; bŠebu. 21a/b sowie 25b.27b.29a/b.45a.46b; bAr. 16a (in Lasterkatalog, vgl. Tanch.B mșwr‘ 10); bTem. 3b.
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sprochener²³ Schwur muss eingestanden werden (Lev 5,4) und erfordert die Darbringung eines Schuldopfers (Lev 5,6 ff ).²⁴ Versprechen bzw. Absichtserklärungen in Form einer Schwurformel gehörten zur Alltagssprache, erfolgten also oft leichtfertig, wie heute noch, nicht zuletzt in Redensarten, und konnten wie beim Gelübde (nedär) rechtlich eine problematische Grauzone bilden, wobei die Anwesenheit und Aussagewilligkeit von Zeugen eine gewichtige Rolle spielte (Spr 29,24). Im Unterschied zum Gelübde gibt es beim Schwur eine Ablöse oder Aufhebung. Schon aus diesem Grund gab es in Bezug auf das Schwören Warnungen und Mahnungen, im Extrem bis zur Ablehnung der Praxis überhaupt. Mit ein Grund für die ablehnende Haltung war wohl die Selbstverfluchung (anathema Röm 9,3; # 318), eine an sich gewichtige Art des Schwörens, aber eben auch oft zur Redensart herabgestuft. Im Alltagsleben war die Frage, wie man es mit Fundsachen hält und was als Diebesgut anzusehen ist, keine Seltenheit. Angesichts des Umstandes, dass im Regelfall keine Zeugen zur Verfügung stehen, war die Beweisführung schwierig bis unmöglich. Als Ersatz für die Beweisführung wurde im Rechtsleben daher gern ein Schwur gefordert, aber offensichtlich verleitete dies auch zu missbräuchlicher Praxis, was im Einzelfall nur selten als Verfehlung (Meineid) nachzuweisen war. Geschworen wurde auch angesichts nicht mehr vorhandener Deposita (s.u.) und im Fall, dass der Empfang einer Lohnzahlung strittig war (s.u.). Die Scheu vor den Folgen eines Meineides war so groß, dass man wie im letzten Fall auf eine Eidesleistung verzichtete, die Aussage selbst als glaubwürdig betrachtete und annahm, dass der Betroffene keinen Meineid leisten würde. Dies alles gab Anlass zu einer Neigung zur Vermeidung des – jedenfalls vermeidbaren ‒ Schwörens. Einige frühe Texte lassen erkennen, wie sehr man sich dieser Problematik bewusst war. Im Buch Kohelet finden sich zwei Passagen zu diesem Themenkreis. Pred 4,17– 5,6 lautet:²⁵ Hüte deinen Fuß, wenn du zum Haus Gottes gehst, und nahe (kommst), um zu hören. Das ist besser, als wenn die Toren Opfer darbringen,²⁶ denn sie sind sich nicht bewusst, schlecht zu handeln. (5,1) Überstürze nichts mit deinem Mund und dein Herz eile nicht, etwas vor Gott zu sagen, denn Gott ist im Himmel und du bist auf Erden. Darum seien deine Wörter rar. (2) Denn der Traum kommt durch viel Geschäftigkeit und des Toren Stimme wird mit vielen Wörtern laut. (3) Wenn du Gott ein Gelübde ablegst, zögere nicht, es zu erfüllen, denn es gibt kein Wohlgefallen an den Toren.Was du gelobst, das erfülle. (4) Besser ist, dass du nichts gelobst, als dass du gelobst und es
Das Verb le-bațțe′ (Pi‘el) wird manchmal als „unbedacht aussprechen“ gedeutet, es ist aber eine deutliche Aussprache gemeint, wie die Übersetzung mit diastellein in der LXX hier und in Ps 106,33 und die Übersetzung mit p-r-š in den Targumim zeigt. Philon, Somn. 2,296; mŠebu. 3,1; bŠebu. 21a.27b.46b; G. HEPNER: „Jacob’s oath causes Rachel’s death. Reflecting the Law in Lev. 5:4– 6“, ZABRG 8, 2002, 131– 165. Eigene Übersetzung. Vgl. I. SPANGENBERG: „A century of wrestling with Qohelet: the research history of the book illustrated with a discussion of Qoh 4,17– 5,6“, in: A. SCHOORS: Qohelet in the Context of Wisdom, 1998, 61– 91. Die LXX las: mattat, „Gabe“.
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nicht erfüllst. (5) Lass deinen Mund nicht dein Fleisch zu Verfehlungen veranlassen und sage nicht vor dem Boten (Priester): „Es ist ein Versehen“.²⁷ Warum sollte Gott zürnen können über deine Worte und das Werk deiner Hände verderben? (6) Wegen viel Träumerei und Nichtigkeiten und viele Wörter. Also fürchte Gott!
Pred 9,2: Alles ist wie für jeden. Ein Geschick trifft den Gerechten wie den Frevler, den Guten und Reinen wie den Unreinen, den, der opfert und den, der nicht opfert, wie den Guten, so den Sünder, den, der schwört, und den, der einen Schwur scheut.
Sir 23,8 mahnt zunächst, die Lippen in Zaum zu halten., denn Sünder, Lästerer und Anmaßende stolpern durch sie.… Danach folgt: (23,9) An Schwur gewöhne deinen Mund nicht und gewöhne dich (auch) nicht an das Aussprechen des Namens des Heiligen. (10) Denn wie ein Knecht, der immer wieder zur Rechenschaft gezogen werden muss, nie ohne Wundmale sein wird, so kann auch der immer wieder Schwörende und den Namen des Herrn Aussprechende nie von Sünden rein werden. (11) Ein Mann, der viel schwört, wird Unrechtmäßigkeiten anhäufen und von seinem Haus wird Plage nicht weichen. Hat er sich vergangen, hat er Sündenschuld auf sich geladen, und hat er einen nichtigen Eid geschworen, wird er nicht als gerecht befunden werden und sein Haus wird voll von Heimsuchungen sein. (12) Es gibt eine Redeweise, die dem Schwarzen Tod gleichkommt, sie möge nie gefunden werden im Eigentum Jakobs!
Sir 27,14(15): „Das Geschwätz eines Vielschwörers lässt die Haare zu Berge stehen, und ihr Streit verstopft die Ohren.“ Josephus, Bell. 2,135 berichtet von den Essenern, dass sie es vermieden, zu schwören. Alles von ihnen Gesagte ist stärker als ein Schwur. Schwören vermeiden sie, es für schlechter als Meineid erachtend, denn sie sagen, dass einer, der ohne Anrufung Gottes nicht glaubwürdig wäre, ohnedies bereits verdammt ist.
Doch ist offen, ob damit auch der auferlegte Schwur gemeint ist, denn in der Damaskusschrift (CD) wird Schwören im Rechtsleben vorausgesetzt. Auch Mt 5,33 – 37 (# 130) entspricht der Tendenz, durch eindeutige Formulierungen (Ja, Ja, nein, nein!“); die missbräuchliche Verwendung zu unterbinden. Ähnlich „Redet Wahrheit“ in Eph 4,25; 2Kor 1,17; Jak 5,22. Die Bandbreite der Interpretation reicht von grundsätzlicher Verneinung jedweder Eidesleistung bis zur Ablehnung unachtsamer Rede und leichtfertigen Schwörens im Alltag. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass damit auch die Verweigerung einer auferlegten Eidesleistung verlangt wird. ²⁸
A. ROFE: „The Wisdom Formula ‘Do not say …’ and the Angel in Qohelet 5.5“, in: J. Ch. EXUM/H. G. M. WILLIAMSON (Hg.): Reading from Right to Left. FS David J. A. Clines (JSOT.S 373), 2003, 364– 376. Vahrenhorst, „Ihr sollt überhaupt nicht schwören“ 59 f.
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2.4.2 Vasalleneid und politische Vereinbarungen Zwischenstaatliche Beziehungen, speziell die Beziehung zwischen Oberherrschaft und Vasallenstaat, enthielten, wenn sie vertraglich geregelt wurden, auch einen entsprechenden Schwur.²⁹ Der politische Vertrag wird meist als berȋt bezeichnet, ein Begriff, der in der biblisch-jüdischen Erwählungstheologie (deutsch als „Bund“ übersetzt) eine grundlegende Bedeutung erhalten hat, weil er in der Bibel auf das Verhältnis zwischen Israel und seinem Gott angewendet worden ist.³⁰ Zum Vasallenvertrag zwischen Babylon und Juda vgl. Hes 17,13.16. Von einem durch die Gibeonitern erschlichene vertragliche Vereinbarung (berȋt), die ihnen das Überleben sicherte, wird Jos 9 berichtet. Der Vertrag wird von den Großen Israels beschworen (9,15) und als das Abkommen in Frage gestellt wurde, weil die Gibeoniten inzwischen ihre wahre Identität bekannt gegeben hatten, beriefen sich v. 19 f die Obersten Israels darauf, dass sie geschworen hätten und den Schwur also für gültig erachteten. Für den politisch-militärischen Bereich vgl. 1Makk 6,62, wo berichtet wird, der König habe den Schwur gebrochen.
2.4.3 Der Bundeseid Die Übertragung des Vasallenvertrags auf das Verhältnis zwischen JHWH und Israel hatte eine bestimmte Formelsprache zur Folge, ein „Bundesformular“.³¹ Standardmäßig wird im Zusammenhang mit einer kollektiven Verpflichtung Israels ein Schwur vorausgesetzt, mit der Schwurbezeichnung ′alah (LXX: ara, mit Assonanz übersetzt). So in Gen 24,41; 26,28 und noch ein gutes Dutzend Mal in der hebräischen Bibel. Das Eintreffen der „Bundesflüche“, ′alôt ha-berȋt (LXX: aras tēs diathēkēs) wird Dtn 29,19 f im Zusammenhang mit dem Bund im Land Moab für den Fall des Bundesbruches angedroht. In der sog. Arur-Reihe von Dtn 27,15 – 26³² ist das Partizip Passiv der Wurzel ’-r-r verwendet:
Briend, Traités; A. ALTMAN: The „Historical Prologue“ of the Hittite „Vassal Treaties“. An inquiry into the concepts and rules of the inter-state-law of the Ancient Near East, 2004; W. MORROW: „The Sefire treaty stipulations and the Mesopotamian treaty tradition“, in: M. DAVIAU/J. WEVERS/M. WEIGL (Hg.): The World of the Aramaeans. FS Paul-Eugène Dion, Bd. 3, 2001, 83 – 99; R. J. THOMSON: Terror of Radiance. Assur Covenant to YHWH Covenant (OBO 258), 2013. Zusätzlich zu # 277 vgl. D. J. ELAZAR: „Covenant as the basis of the Jewish political tradition“, in: ders., Kinship and Consent. The Jewish Political Tradition and Its Contemporary Uses, 1981, 21– 58; 2. Aufl. New Brunswick 19972, 9 – 45. K. BALTZER: Das Bundesformular (WMANT 4), 1960; 2. Aufl. 1964 (1971); P. KALLUVEETTIL: Declaration and Covenant. A Comprehensive Review of Covenant Formulae in the Old Testament and the Ancient Near East (AnBibl 88), 1982; Ch. KOCH: Vertrag, Treueid und Bund. Studien zur Rezeption des altorientalischen Vertragsrechts im Deuteronomium und zur Ausbildung der Bundestheologie im Alten Testament (BZAW 383), 2008. Vgl. die zu # 277 genannte Literatur. G. WALLIS: „Der Vollbürgereid in Dt 27,15 – 26“, HUCA 45, 1974, 47– 63.
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’arûr, LXX wieder mit Assonanz, aber auch Verstärkung durch Vorsilben: epikataratos (Vulg.: maledictus). Vgl. als Rückverweise Hes 16,59 und die Paulus-Stellen in # 318). Eine kollektive Selbstverpflichtung setzt der „Landtag von Sichem“ Jos 24 voraus, wenn in V. 22– 24 die Israeliten als Zeugen gegen sich selbst benannt werden. In Berichten des Chronisten über „Reformen“ judäischer Könige werden die getroffenen Maßnahmen als Erneuerung der Bundesverpflichtungen verstanden. So die Reform des Königs Asa (2Chr 15), die Wiederherstellung der davidisch-dynastischen Herrschaft und die Reformen unter König Joas (2Chr 23 f ), die Reform des Rechtswesens unter König Josafats (2Chr 29,4– 11), die Reform des Königs Hiskia (2Chr 30) und besonders markant die Reformen unter König Josia (1Chr 34 f ). Auch die nachexilische Heimkehrergemeinschaft hat nach Neh 10 im Rahmen einer feierlichen Selbstverpflichtung eine Reihe konkreter Maßnahmen auf sich genommen.³³ Laut Esr 10,5 ließ Esra die vornehmen Priester schwören, fremdstämmige Ehefrauen zu entlassen; die Verbindung mit ihnen wird V. 10 als Treuebruch gewertet. – CD I-VIII/XIX setzt voraus, dass eine Bundeserneuerung durch Selbstverpflichtung stattgefunden hat, die Gegner sich aber nicht daran gehalten haben. Bei Josephus warnt in Ant. 4,189 ff Mose das Volk Israel, Dtn 4,26 ff paraphrasierend, vor den Folgen des Ungehorsams. Die Voraussetzung einer kollektiven Verpflichtung auf die Tora und die formelhafte Diktion dieser Verpflichtung kennzeichnet das Judentum jedenfalls bis in die Gegenwart.³⁴ Der „Bund“ wird deutlich als ein zweiseitiger gesehen, doch mit Gott als absolut treuem Bundespartner. Ebenfalls als Wahrung und Erfüllung der Bundespflichten Israels verstanden wurde in der priesterlichen Tradition der Qumranschriften, mit einer jährlichenMusterung der Mitglieder mit Neubestimmung der Rangfolge. Dieses Ritual wird in 1QS (und Paralleltexten) in den Kolumnen I-III, 12 beschrieben und enthält eine kollektive Verpflichtung auf die Tora mit Fluch und Segen im Sinne von Lev 26 und Dtn 29.³⁵ Von den Bundesflüchen (′alôt ha-berȋt) ist sowohl in CD (I 17; XV 2– 3) als auch in 1QS (II 16; vgl. V 12) und in 4Q 390, Frg. 2 i 6 die Rede. In der rabbinischen Literatur hingegen wird der Begriff so gut wie nicht verwendet.
2.4.4 Gott schwört Ein beträchtlicher Teil der biblischen Belege betrifft Zusicherungen bzw. „Verheißungen“, die von der Gottheit an bestimmte Personen oder an Israel gegeben werden.³⁶ In ihnen spiegelt sich der übliche Sprachgebrauch aus dem Alltag und dem Rechtsleben.
M.W. DUGGAN: The Covenantal Renewal in Ezra-Nehemiah (Neh 7:72 – 10:40) (SBL.DS), 2001. F. AVEMARIE/H. LICHTENBERGER (Hg.): Bund und Tora. Zur theologischen Begriffsgeschichte in alttestamentlicher, frühjüdischer und urchristlicher Tradition, 1996. M. WEINFELD: The Organizational Pattern and the Penal Code of the Qumran Community, 1986, 46 f.62– 66.92. Vgl. Philon, Sacr. 91– 96; LA 3, 203 ff.
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Ein nachbiblischer Beleg: Jub. 36,7 spricht von Gottes „großem Schwur“ an Abraham und Isaak: „Jetzt aber beschwöre ich euch mit einem großen Schwur, denn es gibt keinen größeren Schwur als diesen, bei den gelobten, geehrten, großen, glänzenden, wunderbaren und mächtigen Namen, der Himmel und Erde und alles zusammen gemacht hat, dass ihr ihn fürchtet und ihm dient“ (usw.).
2.4.5 Schwören bei… Abgesehen vom Schwören bei Gott bzw. Gottes Namen wurde alles Mögliche in Anspruch genommen, vom eigenen Leben über Personen bis zu belanglosen Sachen. bPes. 113b erwähnt Schwören beim Leben der Rabbinen, „der Heiligen des Landes“. Die Bedenken gegen das Schwören erhielten dann eine besondere Dringlichkeit, wenn die Gottheit angerufen wurde bzw. ein Gottesname Verwendung fand,³⁷ denn damit erhielt der Vorgang eine andere Qualität (MekJ nezîqîn 16): Aus einer Redewendung wird ein sacramentum. Für Belege zur Praxis, bei Gott (′älohȋm, häufiger bei JHWH) zu schwören, s. Gen 21,23; 1Sam 30,15; Jes 65,16); bei JHW: TAD B Nr. 2, beim „Schrecken Isaaks“ Gen 31,53. Beim Namen Gottes zu schwören war offensichtlich geläufiger, s. Lev 19,12; Dtn 10,20; 1Sam 20,42; Jes 48,1; vgl. Lev 19,12; Dtn 6,13; 10,20; Jer 12,16; 44,26; Sach 5,3 – 4; CD XV 1 ff; 11Q 19 Kol. 53,14; Philon, Spec. 2,4.7 ff; tNaz. 2,1; bNed. 10a. Eine Besonderheit enthält CD Kol. XV, wo am Anfang leider Text fehlt. Es geht ums Schwören: …] (1) [schw]öre er, und zwar sowohl bei ’Alef und Lamed ³⁸ als auch bei ’Alef und Dalet,³⁹ es sei denn ein Schwur […] (2) mit den Bundesflüchen. Und die Tora des Mose erwähne er nicht, denn […
Ganz ähnlich hat später die Mischna im Traktat Šebu‘ot das Schwören und damit den Gebrauch von Substituten des Gottesnamens einzuschränken versucht. Doch um noch in vorchristlicher Zeit zu bleiben: Philon spricht sich in Spec. 2,5 (oben in 2.3 zitiert) entschieden gegen die Verwendung des Gottesnamens aus und empfiehlt – wovon dann erst das Jesuswort Mt 5,34– 37 abrät – das Schwören bei „der Erde, der Sonne, den Sternen, dem Himmel und der gesamten Welt: Damit ist die pagane Formel hypo Dia, Gēn, Hēlion („unter Zeus [= Himmel], Erde und Sonne“) für jüdischen Gebrauch freigegeben, wie er sich inschriftlich denn auch belegt findet. Eine andere Art, die Gottheit mit dem Schwur zu verbinden, bestand darin, sie als Zeugen anzurufen, in der Regel eher eine Redensart, die aber theologische Bedeutung gewinnt, wenn man sogar Gott bei sich selbst schwören lässt (oben 4.4; vgl. Hebr
W. F. SMELIK: „The Use of hazkîr ba-šem in Classical Hebrew: Josh 23,7; Isa 48,1; Amos 6,10; Ps 20,8; 4Q 504 iii,4; 1QS 6:26“, JBL 118, 1999, 321– 332. Dort findet sich ’L = Gott. Dort ’D(WNJ) = Herr.
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6,13 – 16). – Es versteht sich, dass das Schwören bei anderen Gottheiten verboten war, wie das Erwähnen eines Götzennamens überhaupt (Ex 23,13; Philon, Spec. 2,256; MekJ zu Ex 23,13).
2.4.6 Die Schwurformel „beim Leben“ (ḥaj…) Die Formel ḥaj X (mit Nennung eines Namens) ist biblisch belegt, in der Bedeutung aber ungeklärt, in der Regel wird sie als „so wahr X lebt“ verstanden. Mit JHWH (ḥaj JHWH) verbunden, aber nicht nur in Schwurformeln, erscheint sie in vorexilischen Texten (1Sam 19,6.20; 25,26; 28,9 – 10; Hos 4,15; Jer 4,2; 12,16; 38,16, auch inschriftlich in LachischOstraka (3 und 8).⁴⁰ Varianten sind Verbindungen mit ′el (Hi 27,21), ′älohȋm (2Sam 2,27), und auch mit dem Schwörenden selbst, nämlich ḥaj ′anȋ (Num 14,21). Bemerkenswerterweise begegnet ḥaj auch in Schwüren bei einem Herrscher (Gen 42,15 f; 1Sam 17,55; 2Sam 11,11; 15,21), was vielleicht auf einen ursprünglich höfischen Sitz im Leben hinweist. Aus römischer Zeit vgl. Lieberman, Greek 118 (# 130): Man konnte „beim Leben“ oder „beim Wohl“ des Kaisers schwören, ja auch „beim Kaiser selbst“ (ba-mäläk ‘aṣmô).
2.4.7 Das Versprechen unter Schwur Die beschworene Absichtserklärung, šebȗ‘at biṭṭȗj,⁴¹ ist wohl die geläufigste Form des promissorischen Schwurs und und ist umgangssprachlich überall bis heute eine eher unbedachte, nicht ganz ernst gemeinte Beteuerung. So kann es auch zu widersprüchlichen Äußerungen solcher Art kommen, wobei nach mŠebi. 3,9 das erste Versprechen als gültiger Schwur, als šebȗ‘at bițțȗj, das zweite, das Gegenteil beinhaltend, als unzulässig, als šebȗ‘at šaw′ (oben 2.4.1) zu werten sei. Eine Eidesleistung mit symbolischer Handlung im Zuge einer Beauftragung wird Gen 24,2– 3 beschrieben. Abraham fordert seinen Knecht auf, ihm die Hand unter die Hüfte zu legen⁴² und lässt ihn bei JHWH schwören (šb′ Hif., LXX: exorkizein), für Isaak eine Frau aus Mesopotamien zu bringen. In 24,41 nennt Abraham dieses Versprechen eine ′alah (LXX: ara). In Jub. 29 und 35 f (vgl. 1Q 18 Frg. 1 II 2; 4Q 223 – 224) wird die Beziehung zwischen Jakob und Esau beschrieben. Die beiden stimmen einem Kompromiss zu und bekräftigen ihn mit Schwüren. In Jub. 46,5 lässt Joseph seine Kinder schwören, ihn im Land Kanaan zu begraben. Der König Zedekia schwört in Jer 38(31),16 dem Jeremia, ihn nicht zu töten. Und im Buch Tobit leistet Reuel seiner Tochter einen Schwur (4Q 200 4,2; vgl. Tob 8,19).
Wozniak, „Bedeutung“ ; Ziegler , „As the Lord lives“. Lev 5,4; Philon, Somn. 2,296; mŠebu. 3,5.7.10 f; jŠebu. 4,6 (35c); 6,8 (37b); bŠebu. 25b-26b. s. Malul (oben 3.)
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Dem Josephus wird laut Vita 275 im Zuge von Auseinandersetzungen um die Kontrolle Galiläas von einigen Männern die Auslieferung eines Gegners versprochen und dieses Versprechen wurde durch Schwüre bekräftigt. Tritt jemand freiwillig in ein Abhängigkeits- oder Kooperationsverhältnis zu einem anderen ein, leistet er (als ba‘al berȋt/ba‘al šebȗ‘ah) diesem unter Umständen einen Solidaritätseid, šebȗ‘at ′ämȗnȋm. Diese Bezeichnung ist aber erst in der Moderne belegt.
2.4.8 Kultisch-rituell: der Eid Zu bestimmten Anlässen wird ein Eid am Heiligtum bzw. „vor Gott“ auferlegt. So der Reinigungseid in Ex 22,8 – 10 und Dtn 19,17 f. Damit erhält eine beschworene Aussage eine besondere, sakrale Bedeutung. Im Ordal (vgl. # 279) von Num 5 lässt in V. 19 der Hohepriester die des Ehebruchs verdächtigte Frau schwören (šb‘ Hif.; LXX: horkizein; Vulg. weniger deutlich: adiurare).⁴³ TPsJ erweitert mit šema′ rabba′, „beim großen Namen“. Das wird v. 21 noch eimal erweitert: der Priester lässt die Frau eine šebu‘at ′alah (TO: mȗmata′ de-lawta′, Flucheid; TPsJ be-qijjȗm ȗ-mȗmata′) schwören, was in der LXX mit en tois horkois tēs aras tautēs präzisiert wiedergegeben wird. Darauf folgt eine bedingte Verwünschung: JHWH soll sie inmitten des Volkes le-′alah (Targumim:. lewat) machen; LXX: dōē kyrios se en arāi kai enhorkion. In einer Fassung der Damaskusschrift (4QDe = 4Q270)⁴⁴ wird das Ritual von Num 5,11 ff nicht das Verb š-b-‘ verwendet, sondern ′-l-h, was wohl den sinistren Charakter des Vorgangs hervorheben soll. In der rabbinischen Tradition wurde dem Thema ein eigener Traktat (Sota) gewidmet.
2.4.9 Streitbeilegung durch beschworenen Vertrag Gen 26 erzählt von einem Streit um einen Brunnen zwischen Isaak und Abimelech. Dieser lenkt schließlich ein und bieten Gen 26,28 einen Schwur (‘alah; LXX wieder: ara, Vulg.: iuramentum) und einen Vertrag (berȋt; LXX: diathēkē, Vulg. hier: foedus) an. Jub. 24,25 ff setzt jedoch voraus, dass Isaak genötigt war zu schwören (nachmals ein Anfechtungsgrund: s.u. 4.19) und verflucht darum die Philister. Nicht selten stand Aussage gegen Aussage ohne Möglichkeit einer Beweisführung. In mŠebu. 5 (s.o. 2.5) werden derartige Fälle erwähnt und die Notwendigkeit eines Schwurs zur Bekräftigung einer Behauptung vorgesehen, und zwar auch eines Schwurs beider
[Von hier aus lässt sich für die Äußerung des Hohenpriesters in Mt 26,63 (S) exorkizō (Var. horkizō) se/ adiuro te die Meinung dieses Evangelisten erschließen, der Hohepriester habe Jesus schwören lassen. F. S.] Sh. NAEH/A. SHEMESH: „Deuteronomy 19:15 – 19 in the Damascus Document and Early Midrash“, DSD 20, 2013, 179 – 199.
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Kontrahenten (mŠebu. 7,5.9). In dieser religiös-abgesichterten Form ist dann doch eine Art von Vertragsrecht⁴⁵ in der Halacha verankert worden.
2.4.10 Fundsachen und Diebstahl: (Nicht‐)Herausgabe unter Eid Die maßgeblichen Quellen über die Regelung zu verlorenen und von anderen gefundenen oder eventuell entwendeten Gegenständen sind: Ex 23,4 (das verirrte Nutztier „deines Feindes“); Dtn 22,1 ff (Lev 5,22 ff (Vulg. 6,1 ff – Hinterlegtes oder durch Diebstahl Verlorenes). Ein Schwur ohne Zeugen und ohne richterliche Anordnung wird in CD IX 8 – 16a als Akt der Selbstjustiz gewertet: Über den Eid: Wenn (9) es heißt: „Es soll dir nicht deine eigene Hand helfen“ (1Sam 25,26), (so gilt:) Ein Mann, der jemanden auf dem freiem Felde schwören läßt, (10), das heißt: nicht auf Grund der Richter oder ihres Spruchs, dem hat seine eigene Hand geholfen. Und jeder, dem etwas verloren gegangen ist, (11) wobei nicht bekannt ist, wer es gestohlen hat aus dem Vermögen des Lagers, in dem es gestohlen worden war, der lasse dessen Besitzer (Finder) schwören (12) mit dem Fluchschwur (′alah). Und wer es hört und davon (etwas) weiß und zeigt es nicht an, macht sich schuldig.⁴⁶
Ferner s. 11Q 19 Kol. 64,13 ff; Philon, Virt. 96; Josephus, Ant. 4,273 f; mBQ 5 ,7; 9 ,7; mBM 2,1.7.9 ff; 3,6; mŠebu. 5,5; 8,1; mHor. III,7; bBQ 66a;113b; bBM 22b.28a-31a. Diebesgut muss vom Zwischenbesitzer oder Käufer entschädigungslos rückerstattet werden: bBM 31a; 40b-41a. Eine Chance liegt hierzu in Folgendem:
2.4.11 Eidliche Klärung von Eigentumsverhältnissen Kauf und Verkauf von beweglichen und unbeweglichen Gütern spielen in den Papyri aus Ägypten und später in den Dokumenten aus der Wüste Juda eine beträchtliche Rolle. Bei Immobilien war die Abgrenzung oft eine heikle Angelegenheit; daher kommt es vor, dass die Beschreibung sehr detailliert ausfiel und in diesem Zusammenhang auch ein Schwur abgelegt wurde. So in TAD B 2 2 bezüglich eines Vorgangs in der Militärkolonie auf Elephantine: (…) Du hast mir bei Jahu, dem Gott, in der Festung Elephantine, du und deine Frau und dein Sohn, allesamt, in Bezug auf mein Grundstück, dessentwegen ich vor Damidata und seinen Richterkollegen Einspruch eingelegt hatte, geschrieben. Und sie haben dir für mich einen Eid auferlegt, um bei Jahu zu schwören, dass das besagte Grundstück nicht ein Grundstück des Dargaman sei. (…) Überdies beachte die Grenzen jenes Grundstücks, in Bezug auf das du geschworen hast (…)
[Das Fehlen des Vertragsbegriffs im jüdischen Recht wird in # 113 zu bemerken sein.] K. CZAJKOWSKI: „Lost and Stolen Property at Qumran: The ‘Oath of Adjuration’“, JSJ 47, 2016, 88 – 103.
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C. Übergreifende Themen
Vgl. TAD 2,3, einen Privatbrief: „…] Mahsejah, Sohn des Jedanjah. Ein Judäer, Inhaber eines Erbeigentums in der Festung Elephantine von der Abteilung des Haumadata, (schreibt) an seine Tochter Mibtaḥjah, wie folgt: Es liegt ein Dokument mit einer Verzichtserkläung vor, die Dargamana, Sohn des Kwaršajna, der Kwarezmiter, für mich bezüglich des Grundstücks geschrieben hat, als er gegen mich vor den Richtern einen Prozess anstrengte und mir ein Eid gegenüber ihm auferlegt wurde, und ich ihm schwor, das es mir gehöre. Da schrieb er eine Verzichtserklärung und gab sie mir. Dieses Dokument habe ich dir übergeben und du sollst es als Erbin behalten.“
mKet. 9,2– 7 listet eine Reihe von Fällen auf, die auch Frauen betreffen, die zwar zur Zeugenaussagen nicht zugelassen sind, wohl aber einen Eid ablegen können. In mKet. 9,3 geht es um eine Hinterlassenschaft, wobei den Erben gegenüber anderen Ansprüchen Vorrang eingeräumt wird. Sie brauchen nicht zu schwören; alle anderen müssen ihren Anspruch beeiden. Laut 9,4 kann eine Frau zu einem Schwur aufgefordert werden, wenn ihr Mann sie als Geschäftsführerin eingesetzt (mŠebu. 7,8) oder für sie einen Vormund bestellt hat. Hat ein Mann laut mKet. 9,5 seiner Frau versprochen, von ihr nie einen Schwur zu verlangen, darf er das auch nicht; wohl aber kann er ihre Erben schwören lassen, es sei den, er hatte dies bei seinem Versprechen mit ausgeschlossen. Ist eine Witwe in ihr Vaterhaus oder ins Haus ihres Schwiegervaters zurückgekehrt, ohne dass für sie ein Vormund bestellt worden ist, können die Nacherben ihres Mannes von ihr laut mKet. 9,6 nur einen Eid verlangen, der die Zeit zwischen Tod des Mannes und Rückkehr ins Vaterhaus betrifft. Eine Eidesleistung kann nach mKet. 9,7– 8 von der Witwe auch bei der Auszahlung der Ketubba-Summe verlangt werden. Dasselbe gilt bei Ansprüchen der Waisen auf Versorgung.
2.4.12 Deposita und anvertrautes Gut: Der Anvertrauungseid (šebȗ‘at piqqadôn) Immer problematisch war in der Rechtspraxis die Feststellung, ob abhanden gekommene Gegenstände möglicherweise entwendet worden sind und daher die verwahrende Person haftbar gemacht werden kann. Angesichts der schwierigen Beweislage blieb meist nichts anderes übrig, als den Sachverhalt durch einen Eid bestätigen zu lassen, in der Annahme, dass das Risiko eines Meineids nicht eingegangen wird. Die Bestimmungen über den Depositeneid fußen auf Lev 6,2 ff; ferner s. Philon, Spec. 4,34; Josephus, Ant. 4,386 f; mŠebu. 5; 7,4; 8 und die Gemara dazu, v. a. bŠebu. 31a/b. 49a/b. Josephus präzisiert in Ant. 4,287, indem er den Eid vor den sieben Richtern des Ortsgerichts (dazu 4,214) ablegen lässt.
C 2: Schwören im Recht des antiken Judentums
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Bei anvertrautem und ausgeliehenem Gut (Ex 22,6 – 12; Ex 22,13; 11Q64,13 ff ) wird für den Fall, dass es abhanden gekommen ist, ein Verwahrereid verlangt (mŠebu. 8,6; tŠebu. 7,7). Man nannte dies šebȗ‘at ha-šômerîm, doch ist diese Bezeichnung erst spät bezeugt.⁴⁷
2.4.13 Der Schwur des Lohnarbeiters (šebȗ‘at ha-śakîr) Die Behauptung eines Lohnarbeiters, keinen Lohn erhalten zu haben, oder eines Arbeitgebers, den fälligen Lohn bezahlt zu haben, wobei also Aussage gegen Aussage steht, konnte mangels anderer Beweismittel nur auf Grund von Eidesleistungen beider Parteien entschieden werden. Die Entscheidung traf dann eben der Richter. Für die Basis in der schriftlichen Tora s. Lev 19,13 und Dtn 24,15. Weiteres bei Philon, Spec. 4, Josephus, Ant. 4,388; jŠebu. 7,1 (37c); bBM 112b; bŠebu. 45a.
2.4.14 Gruppeneid (Vereidigung), Verschwörung, Gildeneid Bilden sich Gruppen, deren Mitglieder durch ein gemeinsames Interesse einander verbunden sind, kann der Fall eintreten, dass sich die Mitglieder durch einen Schwur zur Wahrung dieses Interesses verpflichten. So leisteten die Einwohner von En-Gedi am Toten Meer, die durch die Produktion und den Verkauf von Balsam zu Wohlstand gelangten, eine Art Gildeneid, das Produktionsgeheimnis zu wahren; dies ist durch ein erhaltene Inschrift belegt.⁴⁸ Die Mitglieder der Tempelwache wurden laut Aristeasbrief § 104 auf die strengen Vorschriften zum Schutz des Heiligtums vereidigt. In einem spättalmudischen esoterischen Text, Hekalot Rabba 16,4, wird vorausgesetzt, dass sich rabbinisch gebildete und persönlich würdige Personen zu esoterischen Zirkeln zusammenschlossen und bei der Aufnahme einen Schwur abzulegen hatten.⁴⁹
2.4.15 Auferlegter Schwur (šebȗ‘at ′ônesȋn); der Eid vor Gericht Wem von einer jüdischen Instanz eine Eidesleistung auferlegt wird, unterliegt der absoluten Wahrheitspflicht. Ohne „Amen“ handelt es sich um einen ungültigen Schwur, šebȗ‘at šaw′ (Sifre Num § 16; s.o. 4.1). Die maßgeblichen textlichen Grundlagen finden sich in Dtn 19,16 ff; mŠebu. 6 und Gemara dazu: bŠebu. 29a/b. Ein in der schriftlichen Tora
U. WAHRHAFTIG: „Šebû′at ha-šômerîm“, Mešarim 2, 2002/3, 11– 44. M. WEINFELD: Ha-sôd šäl qehȋllat ‘ên Gedȋ, Tarb. 51,1981/2,125 – 129; E. E. URBACH: „Ha-sôd sä-biktôbät ‘ên Gedî“, in: M. D. HERR u. a. (Hg.), Meḥqarim be-madda‘e ha-jahadut, Bd. 1, 1988/89, 27– 30: S. BEN-YEHOSHUA: „Hasôd säl ‘ên Gedî“, Qatedrah 132, 2008/09, 77– 100. P. SCHÄFER (u. a., Hg.): Synopse zur Hekhalot-Literatur, 1981, §§ 253 f.; ders. (u. a.): Übersetzung der Hekhalot-Literatur, Bd. 2 (TSAJ 17), 1987, §§ 81– 334.
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C. Übergreifende Themen
geforderter Eid wird als šebȗ‘ah de-′ôrajta′ oder als šebȗ‘at ha-tôrah bezeichnet (bŠebu. 41). Ein biblisch für das Gerichtsverfahren geforderter Eid wird bei einem Teilgeständnis šebȗ‘at ha-dajjanîm genannt (mŠebu. 6,1; tSoț. 7,2; tŠebu. 3,9 f ). So auch eine auferlegte Eidesleistung bei Ansprüchen der Streitparteien (mŠebu. 6,1). Ein Eid, der bei völliger Bestreitung der Klage auferlegt werden kann, um eine wahrheitsgemäße Aussage zu erreichen, heißt šebȗ‘at hässet (bQid. 43b; bBM 5a; bŠebu. 40a-b). Will ein Verdächtiger seine Aussage vor Gericht beschwören, nimmt man an, dass er keinen Meineid riskieren würde (bBM 5b) und hält daher seine Aussage für glaubwürdig.
2.4.16 Der Zeugniseid (šebȗ‘at ‘edȗt) [Bill. I 322: šebȗ‘at ha‘edȗt, nicht: „Zeugeneid“ im Sinne unseres heutigen Sprachgebrauchs, nach welchem wir darunter einen Eid verstehn, den die Zeugen über ihre Zeugenaussagen abzulegen haben (einen solchen Zeugeneid kennt das biblisch-jüdische Recht überhaupt nicht), sondern: Zeugniseid, d. h. ein Eid, durch den jemand, der aufgefordert worden ist, für einen andren ein Zeugnis abzulegen, erklärt, daß er von der Sache nichts wisse; der Zeugniseid dient also der Bekräftigung der Ablehnung einer Zeugenaussage.] Die biblische Grundlage für die nachbiblische Entwicklung dieses Gebiets ist Lev 5,1 in Verbindung mit folgenden Geboten bzw. Verboten:⁵⁰ Ex 20,16 Falschzeugnisverbot Ex 23,1 Zeugnisannahme von Missetäter Ex 23,7 Urteil allein auf Grund von Indizien Num 30,3 Wortbruch Num 35,30 Zeuge als Richter in Kapitalsachen Dtn 13,15 Zeugeneinvernahme Dtn 19,15 Urteil auf Grund nur einem Zeugen Dtn 19,19 Falschzeugen; Maß für Maß Dtn 24,16 Zeugnisannahme von Verwandten des Betroffenen. Eine Zwischenstufe der Entwicklung bezeugte oben (2.3) Philon, Spec. 2,26; für das Mutterland vgl. mŠebu. 4 sowie 7,4 und die Gemara dazu. Zeugen unterliegen der Wahrheitspflicht; ein Zeugenschwur fällt folglich besonders schwer ins Gewicht. Zudem kann nicht jedermann als Zeuge aussagen bzw. einen Zeugniseid ablegen. mŠebu. 4,1:
B. WELLS, The Law of Testimony in the Pentateuchal Codes (BZAR 4), 2004.
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Den Zeugenschwur legen ab: Männer und nicht Frauen, nicht verwandte und keine Verwandten, Zugelassene und keine Ausgeschlossenen. Und er wird nur von Personen abgelegt, die geeignet sind, als Zeugen auszusagen, sei es vor einem Gerichtshof, sei es nicht vor einem Gerichtshof. Und zwar persönlich. Auf Grund einer Aussage anderer ist man nicht verpflichtet, bis man seine Kenntnis vor einem Gerichtshof verneint hat. So R. Meir. Aber die Weisen sagen: ob persönlich oder auf Grund der Aussage anderer, man ist nicht verpflichtet, bis man es vor einem Gerichtshof verneint hat.
Benennt jemand für sich einen Zeugen und verlangt von ihm einen Schwur, nimmt das Gericht das zur Kenntnis, es vereidigt aber nicht von sich aus (bŠebu. 32b.26a). Hat jemand einen Schwur aussprechen gehört, muss er das als Zeuge anzeigen (Lev 5,1); andernfalls muss er die Folgen der Schuld eines etwaigen Fehlverhaltens (‘awôn) auf sich nehmen (CD IX 12; Philon, Spec. 2,26). Hat jemand Zeugen mehrfach außergerichtlich schwören lassen, und haben diese ihre Kenntnis vor einem Gerichtshof bejaht, gehen sie frei aus; haben sie aber verneint, sind sie in jedem einzelnen Fall verpflichtet. Hat er sie vor einem Gerichtshof fünfmal schwören lassen und sie verneinten ihre Kenntnis, sind sie nur in einem Fall verpflichtet. R. Šim‘on fragte. Warum? Weil sie ihre Kenntnis nicht nochmals bejahen können (mŠebu. 4,3). – Die Mischna fährt in mŠebu. 4,2 fort: Hat man vorsätzlich falsch geschworen, ist man darauf verpflichtet, sei es irrtümlich oder vorsätzlich gewesen. Haben sie ihre Kenntnis mit Vorsatz verneint, sind sie nicht verpflichtet und sie sind auch nicht verpflichtet im Fall eines Irrtums. Und wozu ist man wegen einer vorsätzlichen Falschaussage verpflichtet? Ein entsprechend großes oder kleines Opfer.
Haben beide gleichzeitig verneint, sind beide verpflichtet, wenn sie aber nacheinander verneint haben, ist der erste verpflichtet. Verneint einer und der andere bejaht, ist der erstere verpflichtet. Sind dabei aber je zwei Zeugen beteiligt, sind beide Seiten verpflichtet (mŠebu. 4,4). Ebd. 4,5 – 13 werden Einzelfälle behandelt, in denen jemand Zeugen sucht und zu einem Schwur auffordert.
2.4.17 Verfluchungseid und Selbstverfluchung Die liturgischen Fluch- und Segensfomulare in den Lev 26 und Dtn 29 f setzen voraus, dass mit der kollektiven Selbstverpflichtung Israels auf die Tora (s.o. 4.3) für den Fall der Nichterfüllung die Bundesflüche wirksam werden. Der Vorgang schließt also eine Selbsterfluchung ein. Einen rituellen Verwünschungsschwur erwähnt Num 5,21 (vgl. Sifre Num § 15) im Rahmen des Sôṭah-Ordals (s. oben 4.8). Für Fälle individueller Selbstverfluchung (gr./lat. anathema) siehe 2Sam 3,35 und 1Kön 8,31/2Chr 6,22. Auch wenn Gott nicht als Zeuge angerufen wird, sondern gebeten
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C. Übergreifende Themen
wird, für den Fall einer Nichterfüllung des Beschworenen strafend zu handeln, ist eine – wenn auch meist formelhafte – Selbstverfluchung inbegriffen.⁵¹
2.4.18 Meineid, „Lügeneid“ (šebȗ‘at šäqär) Meineid gilt von Lev 5,23 ff her als streng verboten und wird als Schwören le-šäqär oder ‘al šäqär bezeichnet (Lev 5,24; vgl. Jer 5,2.22; 7,9).⁵² Nicht zuletzt wird Meineid als Entweihung des Gottesnamens angesehen (Lev 19,12). Er ist ein Vergehen, das Unheil nach sich zieht (ARN B 41,5; bŠab. 33a).⁵³ Für die Bestrafung eines Mannes, der zu jemandes Nachteil einen Meineid geschworen hat, gilt die Talion (Dtn 19,18 ff; # 131): Ihm wird das auferlegt bzw. angetan, was er mit seinem Meineid erreichen wollte. Josephus gibt in Ant. 5,150 ff recht ausführlich die Geschichte mit den Benjaminiten im Richterbuch wieder. Nach Ri 21,1.7.18 hatten die Israeliten geschworen, den Benjaminiten keine Frau zur Ehe zu gebe, und in 21,5 ist betont von einem großen Schwur die Rede. Mit einer List wollte man den Benjaminiten dennoch zu Frauen verhelfen, indem man die Möglichkeit bot, Frauen zu rauben. Josephus thematisiert diese Eideslist in § 169 ff. Angesichts der Gefahr, dass der Stamm Benjamin auszusterben drohte, habe man gemeint, dass Eidesbrüche, die durch den Zwang der Umstände und unbedacht begangen werden, nicht so schwerwiegend wären wie vorsätzliche mit verwerflicher Absicht; schließlich ging es ja um den Fortbestand des Stammes. Josephus schließt die Passage den auch mit dem Hinweis auf die positive Entwicklung des Stammes ab. Eine reservatio mentalis fällt unter den Begriff „Lügeneid“. Im kleinen Talmudtraktat Kalla Rabba 2 heißt es: „er schwört mit seinen Lippen und erklärt ungültig in seinem Herzen“.
2.4.19 Erzwungener (darum ungültiger) Eid Die Bezeichnung šebȗ‘at ′ônesȋn ist erst in nachtalmudischer Zeit aufgekommen und wird auch für korrekt auferlegte Eide verwendet. Das Problem selber ist aber alt. Im Unterschied zu dem durch jüdische Instanzen auferlegten Eid wird ein durch nichtjüdische Instanzen auferlegter Eid als problematisch gewertet. Sofern nicht fremde Gottheiten angerufen werden, kann eine solche Eidesleistung, wenn auch ungern, erfolgen und als gültig anerkannt werden. Die Praxis war in vorrabbinischer Zeit wohl recht variabel. Im P. Yadin 16 v.J. 127 (vgl. oben 4.6 sowie unten # 92) z. B. schwört Babata anlässlich eines Census bei der Tyche des Kaisers.
ZIEGLER Y.: „So shall God do…“: variations of an oath formula and its literary meaning, JBL 126, 2007, 59 – 81. tTa‘an II,6; jNed III,2 37d; jŠebu III,134a ; III,5 ;34c; III,8 34d; bŠebu 3b; 21a-b; 25b; 39a; bTem 3b. Weiteres s. Bill. I, 328 – 336.
C 2: Schwören im Recht des antiken Judentums
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Doch im Fall eines tatsächlich erzwungenen Eides geht es zunächst um die Frage, ob man dem Folge leisten oder das Martyrium auf sich nehmen soll. Letzteres kommt aber wegen des Lebenserhaltungsgebots nur bei einer Nötigung zu Götzendienst, Blutvergießen oder Unzucht in Frage (# 216). Die Frage war also, wie man sich in solchen Situationen beim Ablegen eines Eides (′ônäs) verhalten sollte und ob er dann als gültig zu werten sei.
Ulrich Kellermann
Thema 3: Witwen und Waisen in Judentum und Urchristentum 3.1 Allgemeines zur Geschichte der Armenfürsorge, bes. für Witwen und Waisen, im Judentum und im Frühchristentum
BENOIT, P. (u. a., Hg.): Les Grottes de Murabba′at (DJD 2), 1961 (zit.: P. Mur.) BIETENHARD, H. (Übers.): Sifre Deuteronomium ( JudChr. 8), 1984 BRANDENBURGER, E. (Übers., Komm.): Himmelfahrt Moses ( JSHRZ 5/2), 1976 COWLEY, A.: Aramaic Papyri of the Fifth Century B.C., 1923 (zit.: Cowley) COTTON, H./YARDENI, A. (Hg.): Aramaic Hebrew and Greek Documentary Texts from Naḥal Ḥever and Other Sites (DJD 28), 1997 (zit.: P. xHev/Se) Didache/Zwölf-Apostel-Lehre. Traditio Apostolica/Apostolische Überlieferung, hg. u. übers. v. G. Schöllgen bzw. W. Geerlings (FChr), 1991 KRAELING, E. G. (Hg.): The Brooklyn Museum Aramaic Papyri. New Documents of the Fifth Century B.C. from the Jewish Colony at Elephantine, 1943 (zit.: Kraeling) SCHALLER, B. (Übers., Komm.): Das Testament Hiobs ( JSHRZ 3/3), 1979 YADIN Y./J. C. GREENFIELD, J. C. (Hg.): The Documents from the Bar Kokhba Period in the Cave of Letters, Bd. 1: Greek Papyri (ed. N. Lewis), Aramaic and Nabatean Signatures and Suscriptions ( JDS 2), 1989 (zit.: P.Yadin, mit Nr.) – (u. a., Hg.): The Documents from the Bar Kokhba Period in the Cave of Letters, Bd. 3: Hebrew, Aramaic and Nabatean-Aramaic Papyri ( JDS 3), 2002 (zit.: P. Yadin, mit Nr.) BAMMEL, E.: ptōchos B-D, ThWNT 6, 1959, 888 – 915 BARTSCH, H. W.: Die Anfänge christlicher Rechtsbildungen (ThF 34), 1965 (bes. 112 – 143) Bill. II 37 – 46; 238 f; 643 – 647; IV/1, 536 – 558 (zur privaten und öffentlichen Armenfürsorge) BERGER, K./COLPE, C. (Hg.): Religionsgeschichtliches Textbuch zum Neuen Testament (TNT 1), 1987 BINDEMANN, W.: „Ungerechte als Vorbilder? Gottesreich und Gottesrecht in den Gleichnissen vom ungerechten Verwalter und ungerechten Richter“, ThLZ 120, 1995, 955 – 970 BORMANN, L.: Recht, Gerechtigkeit und Religion im Lukasevangelium (StUNT 24), 2001 BROCKE, M.: „Armenfürsorge, 1. Judentum“, TRE 4, 1979, 10 – 14 BROX, N. (Übers., Komm.): Die Pastoralbriefe (RNT 7,2), 1969 (bes. 189.193) COHN, M.: „Jüdisches Waisenrecht“, WZVR 37, 1920, 417 – 445 – : „Waise“, Jüdisches Lexikon 4/2, 1927 (1982), 1281 – 1283 – : „Witwe“, ebd. 1466 f COTTON, H. M.: „Recht und Wirtschaft. Zur Stellung der jüdischen Frau nach den Papyri aus der judäischen Wüste“, ZNT 6, 2000, 23 – 30 DAUBE, D.: „Neglected Nuances of Exposition in Luke-Acts“, in: ANRW II 25/3, 1985, 2329 – 2356 DERRETT, J. D. M.: „Law in the New Testament: The Parable of the Unjust Judge“, NTS 18, 1971/72, 178 – 191 – : „‘Eating up the House of Widows‘: Jesu’s Comment on Lawyers?“, NTS 14, 1972, 1 – 9 FENSHAM, F. C.: „Widow, Orphan, and the Poor in Ancient Near Eastern Legal and Wisdom Literature“, JNES 21, 1962, 129 – 139 FREED, E. D.: „The Parable of the Judge and the Widow (Luke 18.1 – 8)“, NTS 33, 1987, 38 – 60 https://doi.org/10.1515/9783110658347-016
312
C. Übergreifende Themen
FRIEDMAN: „Orphan, Orphanage“, EJ(2) 15, 2007, 483 – 487 HOFFNER, H. A.: ’almanah, ThWAT 1, 1973, 308 – 313 ILAN, T.: Integrating Women into Second Temple History (TSAJ 76), 1999 – : Jewish Women in Greco-Roman Palestine (TSHJ 44), 2006 JEREMIAS, J.: Jerusalem zur Zeit Jesu, 3. Aufl. 1969 (bes. 145 – 150) – : Die Gleichnisse Jesu, 9. Aufl. 1977 KESSLER, R.: „Armenfürsorge als Aufgabe der Gemeinde. Die Anfänge in Tempel und Synagoge“, in: F. CRÜSEMANN u. a. (Hg.): Dem Tod nicht glauben. FS Luise Schottroff, 2004, 94 – 99 KELLERMANN, U.: „Die Klage der Witwe“, BN 142, 2008, 105 – 117 KIRSCHENBAUM, A.: „Orphan“, EJ 12, 1971, 1478 f KRAUSE, J. U.: Witwen und Waisen im Römischen Reich, 4 Bde. (Heidelberger Althistorische Beiträge und Epigraphische Studien, 16 – 19) (zit.: Krause I-IV): I. Verwitwung und Wiederverheiratung, 1994 II. Wirtschaftliche und gesellschaftliche Stellung von Witwen, 1994 III. Rechtliche und soziale Stellung von Waisen, 1995 IV. Witwen und Waisen im frühen Christentum, 1995 KRAUSS, S.: Talmudische Archäologie, Bd. 3, 1912 (1966) (bes. 63 – 74. 269 – 273) LUZ, U. (Übers., Komm.): Das Evangelium nach Matthäus, Bd. 1 (EKK 1/1), 5. Aufl. 2002 MAYER-MALY, T.: vidua (viduus), PW II 8 A 2, 1958, 2098 – 2107 MERKEL, H. (Übers., Komm.): Die Pastoralbriefe (NTD 9.1) 1991 MERZ, A.: „Die Stärke der Schwachen (Von der bittenden Witwe). Lk 18,1 – 8“, in: R. ZIMMERMANN (Hg.): Kompendium der Gleichnisse Jesu, 2007, 667 – 680 PESCH, R. (Übers., Komm.): Die Apostelgeschichte, Bd. 1 (EKK 5/1), 1986 REICKE, B.: Diakonie, Festfreude und Zelos (UUÅ 1951,5), 1951 RICHTER REIMER, I.: Frauen in der Apostelgeschichte des Lukas. Eine feministisch-theologische Exegese, 1992 RINGREN, H.: jatôm, ThWAT 3, 1982, 1075 – 1079 ROLOFF, J. (Übers., Komm.): Der erste Brief an Timotheus (EKK 15) 1988 (bes. 282 – 304) SAND, A.: „Witwenstand und Ämterstrukturen in den urchristlichen Gemeinden“, Bibel und Leben 15, 1974, 186 – 197 SCHERESCHEWSKY, B.: „Widow in Jewish Law“, EJ 16, 1971, 491 – 496, = EJ(2) 21, 2007, 42 – 44 SCHNEIDER, G. (Übers., Komm.): Die Apostelgeschichte, 1. Teil (HThKNT 5/1), 1980 SCHOTTROFF, L.: „Frauen und Geld im Neuen Testament“, in: ,Geld regiert die Welt‘. Reader der Projektgruppenbeiträge zur Feministisch-Befreiungstheologischen Sommeruniversität 1990, 1991, 27 – 56 – : Lydias ungeduldige Schwestern. Feministische Sozialgeschichte des frühen Christentums, 1994 (bes. 152 – 179. 304 – 308) – : Gleichnisse Jesu, 2005 (bes. 250 – 255) SCHOTTROFF, W.: „Die Armut der Witwen“ (1993) in: ders.: Gerechtigkeit lernen. Beiträge zur biblischen Sozialgeschichte, hg. F. Crüsemann/R. Kessler in Verb. m. L. Schottroff, 1999, 134 – 164 (zit.: W. Schottroff ) SECCOMBE, D.: „Was there Organized Charity in Jerusalem Before the Christians?“ JThSt 29, 1978, 140 – 143 SELIGSOHN, M.: „Orphan“, The Jewish Encyclopedia 9, 1905, 437 f STÄHLIN, G.: chēra, ThWNT 9, 1973, 428 – 454 STANDHARTINGER, A.: „,Wie die verehrteste Judith und die besonnenste Hanna‘. Traditionsgeschichtliche Beobachtungen zur Herkunft der Witwengruppen im entstehenden Christentum“, in: FS Luise Schottroff (wie oben: Kessler), 103 – 126 (Lit.) (zit.: Standhartinger) THURSTON, B. B.: The Widows, A Women’s Ministry in the Early Church, 1989 (bes. 60 ff ) TSUJI, M.: „Zwischen Ideal und Realität: Zu den Witwen in 1Tim 5.3 – 16“, NTS 47, 2001, 92 – 104 WAGENER, U.: Die Ordnung des „Hauses Gottes“. Der Ort von Frauen in der Ekklesiologie und Ethik der Pastoralbriefe (WUNT 2, 65), 1994 (zit.: Wagener)
C 3: Witwen und Waisen in Judentum und Urchristentum
313
WALTER, N.: „Apostelgeschichte 6.1 und die Anfänge der Christengemeinde in Jerusalem“, NTS 29, 1983, 370 – 393 = ders., Praeparatio evangelica 187 – 211. WEILER, I.: „Zum Schicksal der Witwen und Waisen bei den Völkern der Alten Welt. Materialien für eine vergleichende Geschichtswissenschaft“, Saeculum 31, 1980, 157 – 193.
3.1.1 Hebräische Bibel Die rechtliche, soziale und ökonomische Lage der Witwe spiegelt sich in der Hebräischen Bibel in Bestimmungen und Mahnungen der Gesetzescorpora¹ (z. B. Ex 22,21– 23; Dtn 24,17; 27,19), in prophetischen Anklagen und Gerichtsankündigungen (z. B. Jes 1,17.23; 10,2; Jer 7,6; 22,3; Hes 33,7; Sach 7,9 f; Mal 3,5) und in weisheitlichen Texten (z. B. Hi 24,3; Ps 94,6). Witwendasein gilt als schicksalhaftes Unglück (z. B. Rt 1,20 f ). Wie das Gesinde und der Fremde sind die Witwen und Waisen (hebr. jatôm, gr. orphanos für ein Kind, dessen Vater gestorben ist) auf die soziale Geborgenheit und den Schutz in der Großfamilie angewiesen, wenn die Witwe im Falle eines frühen Todes des Ehemannes und der Kinderlosigkeit entweder (a) sich nicht auf eine Schwagerehe (Dtn 25,5 – 10; s. # 68) einlässt, oder (b) sie nicht in ihr Vaterhaus zurückkehren kann (wie nach Gen 38,11; Lev 22,13; Rt 1,8 – 15 der Normalfall wäre) oder (c) sie erneut heiratet,² um ihre schwache soziale Stellung zu kompensieren. Sie hat nach der Rechtsordnung Israels im Allgemeinen kein Erbrecht am Vermögen ihres verstorbenen Ehemannes und bedarf vor Gericht eines männlichen Vertreters. Viele Texte der Hebräischen Bibel verdeutlichen, dass die Nöte der Witwen vor allem im Bereich des Rechts lagen. Sie wurden leichter Opfer des Unrechts. Die prophetische Anklage macht sie zum Paradigma für den Verfall der Solidargemeinschaft. Die hilflosen Witwen gelten in solch besonderer Weise dem Schutz Gottes unterstellt (z.B Dtn 10,18; Sach 7,10; Mal 3,5; Ps 68,6; 146,9; Hi 29,12; Spr 15,25; 23,10), dass sie nicht einmal gekränkt werden dürfen (Ex 22,21) und Prozesse gegen Waisen als unsittlich angesehen werden (z. B. Hi 31,21). Diese Sicht der Hebräischen Bibel gehört in den Zusammenhang allgemein zu beobachtender Verhältnisse der Völker der Antike (vgl. Weiler,“ Zum Schicksal“ 193). Eine solche religiös begründete Sozialethik mit ihren familienrechtlichen Regulierungen verpflichtete vor allem die Herrscher und die Oberschicht,³ wie z. B. die Fürstenspiegel des Alten Orients zeigen.⁴ Das bes. in den deuteronomischen Texten angemahnte soli-
Hier v. a. ist es das sog. Bundesbuch (Ex 20,23 ff; Lasserre, Synopse 197– 201) mit seinen Anklängen im Deuteronomistischen Gesetz (Dtn 12,1 ff; Synopse 21– 217). Die Erwähnung einer solchen Heirat der Witwe findet sich in der Hebräischen Bibel jedoch selten: Lev 21,14; 1Sam 25,39 – 42 und 2Sam 11 (keine Sozialfälle!); Hes 44,22; Rt 1,9; Rt 4,5.10.13 (eher als Leviratsehe angesehen). Vgl. auch so Hi 29,12 f. Zum Schutz der Witwen und Waisen als einem gesellschaftlichem Ideal im Alten Orient vgl. z. B. Fensham, Widow, Orphan, and the Poor in Ancient Near Eastern Legal and Wisdom Literature, JNES 21 (1962), 129 – 132; Schottroff, Schwestern 152 ff; Weiler 168 ff.
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darische Helfen (hebr. çedaqah) gegenüber den sozial Schwachen, zu denen eben vornehmlich Witwen und Waisen gehören, ist folglich mehr als die bloße Ausübung einer privaten Almosentätigkeit. Im Buch Deuteronomium (7./6. Jh. v.) gewinnt es programmatische Bedeutung, was zu konkreten sozialrechtlichen Bestimmungen der Anteilhabe der Armen am Ertragsgut der Vermögenden führt: ‒ Levitenzehnt auch für die Armen in jedem dritten und sechsten Jahr (Dtn 14,28 f; 26,12– 15 f; vgl. Tob 1,6 – 8; mPea 5,4 f; 8,5); ‒ Anteil an den Festmahlzeiten (Neh 8,10.12) des Wochen- und Laubhüttenfestes (Dtn 16,11.14; 14,29; 26,12 f ), des Purimfestes (Est 9,22; vgl. mMeg. 1,4) und auch der Feier des Passanacht (vgl. mPes. 9,11; 10,1); ‒ Recht der Feldecke (Lev 23,22; vgl. mPea 4,5.9); ‒ Nachlese auf den Feldern (Ex 23,11; Lev 19,9; Dtn 24,19; vgl. Rt 2,2 f; mPea 4,10 – 5,6), in den Olivenhainen und in den Weingärten (Ex 23,11; Lev 19,10; Dtn 24,19 – 21; vgl. mPea 7,3 – 8,9); ‒ Recht auf den Wildwuchs im Sabbatjahr (Ex 23,10 f; Lev 25,3 – 7).⁵ Hinzuweisen ist für den Bereich des Pfandrechts auf die Unpfändbarkeit des Kleides der Witwe (Dtn 24,17; vgl. # 307) im Unterschied zur Zeitbegrenzung der Pfändung des Kleides eines Armen im allgemeinen (Dtn 24,12 f )⁶ sowie auf das Gebot der Leviratsehe (Dtn 25,5 – 10; s. # 68), das ja der späteren Intention nach der Versorgung und dem Rechtsschutz der kinderlosen Witwe diente. Unklar bleibt jedoch, ob solche çedaqah in Israel eine juridische Norm darstellte, d. h. ihre Einhaltung der öffentlichen Kontrolle unterlag und gerichtlich erzwungen werden konnte. Dieses wird eher unwahrscheinlich sein, wie z. B. die eher seltene Praktizierung der Leviratsehe (# 68) verrät. So sind ja auch die Bestimmungen des Pfandrechts pure Wohltätigkeit, die einer Bestätigung anderwärts bedürfte, um als Praxis für eine bestimmte Zeit erwiesen zu sein.
3.1.2 Zwischentestamentliche Zeit Die Fürsorgepflicht für Witwen und Waisen (z. B. Sir 4,10; Philon, Decal. 42; Sib. 3,242 f ) und das Eintreten für ihr Recht mahnt man weiterhin an, da diese zu leicht Opfer der „Gottlosen“ werden (vgl. CD 6,16 f; Weish 2,10). Dies gehört zu den klassischen Werken der Barmherzigkeit, wie der unmittelbare Kontext zeigt. Die Witwen und Waisen dürfen nicht unterdrückt werden (SlavHen. 50,6; 5Esr 2,20 [Vulg. 4Esr 2,20]). Gott als ihr Rechtswahrer und Helfer (z. B. Philon, Mos. 2,240 f; Spec. 1,308 – 310; 4,176 f; QE 2,3 zu Ex 22,22 f ⁷; ferner 1QH XIII 20) erhört ihre Gebete (Sir 35,17; 4Q 434 Frg.1 I 2). In 2Makk
Zum Ganzen vgl. aus rabbinischer Sicht ARN A 38 (57a). Vgl. auch das Verbot der Pfändung der zur Versorgung der Witwe notwendigen Nutztiere nach Hi 24,3. Hinweis und Text bei Standhartinger 112 f Anm. 44.
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8,28 lässt man den Witwen und Waisen vorrangig Anteil an der Kriegsbeute. Philon lässt in Spec. 2,108 die Bestimmungen des Sabbatjahrs speziell für die Witwen und Waisen gelten. Josephus, Ant. 4,240 benennt als spanizontes („Mangelleidende“), die den Armenzehnt nach Dtn 14 und 26 erhalten, genau diese: Witwen und Waisen. Zu beachten bleibt dabei, dass mit Zunahme der Verstädterung im Lande Israel und v. a. in der jüdischen Diaspora ohnehin die sozioökonomischen Strukturen sich von der Anteilhabe der Armen an der Ernte zur rein finanziellen Hilfe weiterentwickeln mussten (Brocke, „Armenfürsorge“ 11). Die programmatischen Ansätze der Hebräischen Bibel werden so in den Texten des Frühjudentums rezipiert, haben aber über die Wohltätigkeit des Einzelnen hinaus (vgl. Tob 1,8) zunächst, d. h. vor 70, wohl nicht zur Einrichtung einer geregelten öffentlichen Sozialfürsorge im Land Israel und in der Diaspora geführt. Als spätes Zeugnis privat organisierter jüdischer Armenfürsorge in großem Stil für Witwen und andere Bedürftige bleiben Texte aus dem TestHi. (2. Jh. n.Chr.) zu nennen. Hiob fungiert hier als Vorbild (TestHi. 9,3.5). Das TestHi. 10,2; 13,4; 14,2 kennt im Rahmen privater Wohltätigkeit eine tägliche Witwenspeisung, und 16,3 weist auf Einkleidung der Witwen durch Hiob hin; doch ist dies kein historischer Text (vgl. Siegert, EHJL 583 – 588). Schwerlich spiegelt dies eine synagogal institutionalisierte Witwenversorgung,⁸ zumal Hiob im TestHi. als Proselyt⁹ gilt. Der Armenzehnt scheint – nach Sir 7,32; mAb. 5,9 und ARN A 38 (57a) zu urteilen – vor d.J. 70 und auch später im Allgemeinen eher nicht praktiziert worden zu sein. Eine Ausnahme bilden hier wohl die radikalen Frömmigkeitsgruppen im Rahmen ihres Bereichs wie die Pharisäer (vgl. z. B. jMŠ 5,9 [56d] 26 ff )¹⁰ oder die Gemeinde der Damaskusschrift (CD 6,21). Für eine am zweiten Tempel oder in den judäischen Kommunen vor 70 zentrierte geregelte allgemeine Armenversorgung und die dazu noch in Sonderheit für Witwen und Waisen fehlen hinreichende Belege.¹¹ Die Verteilung des Armenzehnten scheint (noch) in das Belieben des Einzelnen im Rahmen privater Wohltätigkeit gestellt gewesen zu sein (vgl. Luz, Matthäus I 422). Die zum Nachweis des Gegenteils gerne bemühten Texte (Kessler, „Armenfürsorge“) sind nicht deutlich genug. Dass 2Makk 3,10 von Einlagen im Tempel für Witwen und Waisen sprechen könnte, bleibt im Textzusammenhang (V. 10 – 14) und nach der Rezeption des Textes in 4Makk. 4,7 unwahrscheinlich, weil es dort eher um die Gelder der Vermögenden geht, wobei die Erklärung des Hohenpriesters gegen den Zugriff der Seleukiden eher taktisch irreführend an das soziale Gewissen des
Schaller, Testament Hiobs 333 f Anm. 2a, möchte in Hi 10,2 aufgrund terminologischer Übereinstimmungen mit Apg 6,2 (diakonia, trapeza) und einer gewissen Parallelität zu 1Tim 5,9.16 und ActThom. 59 die Spuren einer sonst nicht nachweisbaren älteren Form jüdisch-hellenistischer Sozialfürsorge sehen, die aus der Situation einer von Proselyten durchsetzten Gemeinde hervorgegangen sein könnte. Vgl. dazu schon Reicke, Diakonie 85 – 89. Zu Apg 6,2 s. jedoch oben, Abschn. 1. Vgl. dazu auch Berger/Colpe, Textbuch 191. Vgl. Bammel, Art. ptōchos 899 f. Vgl. Bammel 900 f; bes. Seccombe: „Was there Organized Charity?“
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Heliodor appelliert. Es handelt sich hier aber doch wohl um Einlagen vermögender Witwen und Waisen (s.u. 3.1.4). Die in CD 14,12– 16 erwähnte Versorgungskasse der Gemeinde der Damaskusschrift dürfte entsprechend der Gepflogenheit antiker Kultgemeinschaften nur für die Mitglieder der Gemeinschaft eingerichtet gewesen sein. So weiß auch Josephus in Bell. 2,125 über die Essener zu berichten, dass diese in jeder Stadt einen Fürsorger für mittellos durchreisende Gemeinschaftsglieder beamteten, um solche mit Kleidung und allem anderen zum Leben Notwendigen zu versorgen. Was das mehrheitliche Judentum betrifft, so bleibt die genaue Zweckbestimmung der in Mk 12,41– 44 erwähnten Gabenbehälter offen. Es liegt nahe, hier an Stiftungen für den Tempelkult zu denken. Mt 6,2 (man soll nicht vor seinen Spenden „hertrompeten“ lassen) karikiert ein in jüdischem Gemeindeleben (vgl. Bill. IV 548 – 550) oder sonstwie öffentlich gegebenes Versprechen privater Wohltätigkeit als die Zusage einer Spende für eine bestehende Armenkasse; vgl. # 52. Josephus bleibt in seiner Mitteilung C.Ap. 2,283 über das soziale Netzwerk in den jüdischen Gemeinden sehr vage, wenn er von „unserer bürgerlichen Eintracht“ oder „unserer Wohltätigkeit“ spricht. Dieser Text gibt für eine offizielle Armenversorgung durch die Synagogengemeinde nichts her. Doch steht es im Neuen Testament nicht besser: Das Bild des Lukas in Apg 6,1– 3 von der Witwenfürsorge in der urchristlichen Gemeinde bleibt historisch fragwürdig (s.u. 3.4) und lässt deshalb erst recht keinen Rückschluss zu auf eine als Vorbild dienende jüdische Einrichtung in Jerusalem.¹² Nur mŠeq. 5,6 bleibt ein ernsthaft diskutabler Beleg für organisierte Armenfürsorge im Tempelbereich. In der Rückschau wird hier berichtet: Es gab zwei Kammern im Heiligtum, die eine „Kammer der Verschwiegenen“, die andere „Gerätekammer“. In die Kammer der Verschwiegenen zahlten Sündenscheue anonym ein, und die Armen aus guter Familie wurden daraus anonym unterhalten.
Es geht bei diesen Spendern um Wohltäter, die befürchteten, durch öffentliche Bekanntgabe ihrer Spenden die Sünde des Selbstruhms zu begehen oder „das Gesicht des Nächsten öffentlich zu beschämen“ (bKet. 67b; vgl. Mt 6,2). Aus diesen Spenden wird Verarmten „aus guter Familie“, d. h. aus vornehmen Gesellschaftsschichten,¹³ der bei ihnen angefallene Mangel ausgeglichen, damit sie ihren standesgemäßen Lebensstil weiterführen können.¹⁴ Hier geht es um Privatspenden Wohlhabender zur Versorgung von bedürftig Gewordenen ihrer Gesellschaftsschicht,¹⁵ die am Tempel sicherlich von der tempelführenden oberen Klasse (im Sinne einer Vereinskasse wie etwa bei den
Damit rechnen jedoch z. B. Jeremias, Jerusalem 145 – 150, und Walter, „Apostelgeschichte“. Vgl. kritisch zu Walter vor allem Pesch, Apostelgeschichte I 232 f; ferner Standhartinger 106 Anm. 18. Vgl. WajR. 31,4 zu Lev 24,2: „…eine Frau, die Tochter guter (= vornehmer) Eltern“. Vgl. SifDeb. 116 zu Dtn 15,8; bKet. 67b; dazu Krauss, Talmudische Archäologie III 71 f. 269 Anm. 438. Vgl. zu dem Grundsatz der Priorität der Unterstützung der gesellschaftlich Gleichstehenden vielleicht auch Gal 6,10.
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antiken Begräbnisvereinen) organisiert wurde. Denn „am erbarmungswürdigsten erschien ein Armer aus guter Familie (…), was immer die ganze Familie tief berührte, oder der heruntergekommene Reiche, der seine besseren Tage nie vergessen konnte“ (Krauss, Talmudische Archäologie III 65). Von einer allgemeinen öffentlichen Armenversorgung aus einer Tempelkasse kann hier nicht die Rede sein. Wenn tŠeq. 2,16 meldet, dass es diese Institution in allen Städten gab, spricht das wohl eher für eine spätere Zeit organisierter Armenversorgung nach 70 in den Synagogen. Und wenn dieser Nachtag zu mŠeq. 5,6 (die Tosefta ergänzt ja die Mischna um das dort nicht Aufgenommene) wirklich in letzterem Sinne zutreffen würde, so ist von einer besonderen allgemeinen Witwenfürsorge im zeitgenössischen Judentum, um deren Nachweis es in diesem Zusammenhang geht, auch hier nicht die Rede.
3.1.3 Die Witwen im rabbinischen Judentum Zur Wiederheirat von Witwen: Es war bei jüngeren jüdischen Witwen üblich, sich um Wiederheirat zu bemühen (vgl. Ilan, Jewish Women 149 f ), wozu sie v. a. ihre wirtschaftliche Situation drängte. Auch der ehemals jüdische Rabbi Paulus setzt diese Praxis in Röm 7,2 f und 1Kor 7,8 f.39 f voraus, wiewohl er aus Gründen der Naherwartung eine Heirat nur noch für den Fall nicht zu leistender sexueller Askese empfiehlt.Vor allem die halachischen Bestimmungen für die Ketubba in mKet. lassen diese Praxis erkennen, wenn sie zwischen den Jungfrauen und den Witwen als Heiratswilligen differenzieren (z. B. 1,1 f.4 f; 2,1; 4,2.7; 5,1 f ). Ein schlimmes Geschick stand an, wenn ein Ehemann seine Frau verlassen hatte, sein Aufenthaltsort unbekannt war und dessen Tod sich nicht zureichend gerichtlich bezeugen ließ, da die an einen Mann gebundene aber von ihm verlassene Frau (hebr. ‘agûnah) nicht wieder heiraten durfte (Ilan 148). Mit viel Verständnis für eine solche Situation und großzügiger Aufhebung von Beschränkungen in der Zeugenschaft haben die Rabbinen hier versucht, die Wiederheirat dennoch zu ermöglichen.¹⁶ So gelten in diesem Fall z. B. die Aussage nur eines Zeugen (mJeb. 16,7; tJeb. 14,9), sogar einer Zeugin (mJeb. 16,5) und die von Nichtjuden (tJeb. 14,7 f; bJeb. 116a), ja das bloße Gerücht vom Tode des Ehemanns und das gehörte akustische Echo einer Aussage, ohne den Zeugen identifizieren zu können (mJeb. 16,7; tJeb. 14,7), bei manchen Gelehrten als rechtswirksam.Vor einer drei- oder viermaligen Heirat warnen die Rabbinen freilich (z. B. bJeb. 64b; bKet. 43b; legendär: Tob 7,11 ff ). Versorgung von Waisen durch die Synagogengemeinde: Eine besondere Versorgung der Witwen im Rahmen der gemeindlichen Armenfürsorge kennt das rabbinische Judentum nicht; wohl aber ist eine solche für die Waisen belegt. Die Armenfürsorge ist nun um die Synagogengemeinden zentriert, deren Finanzverwaltung ihren
Vgl. mJeb. 16,5 – 7; tJeb. 14,7– 10; bJeb. 114b-122b; dazu Ilan, Jewish Women 148.151, und oben # 160 zu Joh 4.
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„Ältesten“ oblag.¹⁷ Witwen und Waisen haben ihren Anteil an den traditionellen Rechten und Abgaben für die Armen.¹⁸ Die Mischna klagt jedoch über die vielfache Nichteinhaltung des Armenzehnten (mAb. 5,9). Ausführliche Informationen zur Organisation der Armenpflege, die selbstverständlich bedürftige Witwen und Waisen einschließt (vgl. ARN 3 Ende), liefern erst Texte des nachhadrianischen 2. Jh. (vgl. Brocke, „Armenfürsorge“ 11). Nach der mischnaischen Regelung, wie wir sie schließlich haben, bestellt die Synagogengemeinde für die ortsansässigen Armen zwei (mPea 8,7; bBB 8b Bar.) vertrauenswürdige Einheber (hebr. gabba‘ê zedaqah)¹⁹. Wöchentlich (tPea 4,9), jedoch nicht am Sabbat und an Feiertagen (tDem 3,16; tŠab. 16,22; jDem. 3,1 [23b]), sammeln diese zu zweit²⁰ bei den Mitgliedern Geld für den Kasten (hebr. qûppah) ein (pPea 8,7 [21a]; bBB 8b Bar) zur Sicherung von zwei täglichen Mahlzeiten der ortsansässigen Armen (mPea 8,7). Dieses wird am Vorabend des Sabbat (tPea 4,9; bBB 8a/b Bar.) durch drei (mPea 8,7; bBB 8b) vertrauenswürdige Personen entsprechend den zuvor zu prüfenden sozialen Bedürfnissen verteilt. Bei leeren Kassen sollte man bei Ausübung dieses besonderen Ehrenamts u.U. vom eigenen Geld hergeben oder die erforderlichen Geldmittel leihen (bBB 11a; ARN 3 Ende). Den Almosenerhebern stand unter Beobachtung größtmöglicher Schonung auch das Recht zur Pfändung derer zu, die sich dieser „Armensteuer“ unbegründet verweigerten oder mit der Zahlung säumig waren (bBB 8b; bKet. 49b; bQid. 76b).²¹ Bei Verwaisung muss der Gerichtshof einen Vormund ernennen. Dieser gilt rechtlich nicht als Inhaber der väterlichen Gewalt, sondern als eine besonders in Pflicht genommener Betreuer des Mündels in vermögensrechtlichen und geschäftlichen Angelegenheiten (Cohn, „Waisenrecht“ 435 ff ). Die Gemeinde sorgt für Bekleidung und für die Aussteuer bei Verheiratung von Waisen (mKet. 6,5; bKet. 67b). Die Aufnahme und Erziehung von Waisen wertet man als besonders verdienstvolles Werk (bSan. 19b; bKet. 50a). Sie gilt als Alternative zur halachisch geforderten Scheidung bei Kinderlosigkeit: „Wer ein Waisenkind (…) in seinem Hause erzieht, dem wird es angerechnet, als ob er eigene Kinder hätte“ (bMeg. 13a; bSan. 19b). R. Šemuel b. Nahman (Pal. um 260) bezieht den Makarismus für den Wohltätigen in Ps 106,3 auf den, „der einen Waisenknaben oder ein Waisenmädchen in seinem Hause großzieht und sie verheiratet“ (bKet. 50a). Für die Jungen wurde dabei die Übernahme der Sorgepflicht für Torastudium und Berufsaus-
Vgl. Brocke, „Armenfürsorge“ 11. Freilich ist die Wirkung des Tempels als Sozialkasse, wie oben gezeigt, nur sehr begrenzt zu denken. Vgl. dazu vor allem die Bestimmungen des Mischnatraktats Pea. Zur Terminologie vgl. z. B. mDem. 3,1; mQid. 4,5; SifDeb. § 47 zu Dtn 11,21; bŠab. 118b; bTaan. 24a. Um die Versuchung und die Verdächtigung einer persönlichen Selbstbereicherung auszuschließen; vgl. bTaan 24a; tPea 4,15; tDem. 3,17. Als gemeindliche Armenfürsorge ist auch die ebenfalls erst in Texten nachhadrianischer Zeit bezeugte Institution der Armenschüssel (hebr. tamḥûj) für Durchreisende, denen die beiden täglichen Hauptmahlzeiten fehlten (mPea 8,3), zu erwähnen. Hierzu wurden, wenn sich Bittsteller meldeten (tPea 4,9; jPea 8,7 [21a]; bBB 8b/9a; vgl. dazu Krauss, Talmudische Archäologie III 68 f ), täglich Naturalien von drei Beauftragten eingesammelt und unverzüglich verteilt (bBB 8b Bar.; tPea 4,8 f ).
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bildung angeraten, bei den Mädchen die Versorgung mit einer Mitgift, um ihnen die Ehe zu ermöglichen. Weiteres zum Vermögensrecht s.u. 3.1.5.
3.1.4 Vermögende Witwen Der Fall einer vermögenden und deshalb gesellschaftlich einflussreichen Witwe, die möglicherweise auch deshalb nicht wieder heiraten will, weil sie die gewonnene Unabhängigkeit zu schätzen weiß, liegt mit Ausnahme der Zulassungsbedingungen zu den Gemeindewitwen in 1Tim 5,9 f und der Polemik gegen selbstbewusste reiche Witwen in 5,6 in allen bisher angeführten Texten des Neuen Testaments außerhalb des Blickfelds. In Lk 3,8 (S) und in der vorlukanischen Tradition von Apg 6,1 f könnte man so etwas vermuten.Vermögende Witwen begegnen jedoch in den Überlieferungen des Judentums und Urchristentums, wobei man nicht davon ausgehen kann, dass sie alle zur jeweiligen Oberschicht gehörten und ihr Besitz wirklich signifikant für Reichtum war. Zu nennen wären in der Hebräischen Bibel die Mutter des Ephraemiten Micha in Ri 17,1– 4, Abigail in 1Sam 25 und die hochmütigen Frauen der Jerusalemer Oberschicht nach Jes 3,25 – 4,1 (vgl. W. Schottroff 142). In den jüdischen Schriften der hellenistischen Zeit bleibt die vermögende Judith, die Romanfigur des gleichnamigen Buches, prominent (z. B. Jdt 8,7; 16,22 – 24; dazu Wagener 129). 2Makk 3,10 – 12.22 lässt im Kontext sowie in seiner Rezeption in 4Makk. 4,7 darauf schließen, dass in Zeiten des Zweiten Tempels wohlhabende Witwen und Waisen ihr eigenes Vermögen zur Sicherheit im Tempel deponierten, um es gegen Übergriffe zu schützen.²² Im NT könnte man doch hinweisen auf Tabita²³ in Joppe nach Apg 9,36 – 41, die über die Almosengabe hinaus sozial engagierte jüdische Leiterin einer urchristlichen TextilKooperative von Witwen. Dahingestellt bleiben mag, ob nach Apg 16,11– 15.40 die Purpurhändlerin Lydia, die zu den nichtjüdischen Sympathisanten der Synagoge gehörte und den christlichen Missionaren Quartier sowie der entstehenden christlichen Gemeinde eine Versammlungsstätte in ihrem Hause bot, als Hausherrin nach dem Wortlaut in V. 15 nicht auch Witwe war,²⁴ wenn berichtet wird, dass sie sich zusammen mit ihrem „Haus“ taufen lässt. Nach SifDeb. 281 zu Dtn 24,17 war der Reichtum der Martha, Tochter des Boethos und Witwe des Hohenpriesters Jehošua‘ ben Gamliel (ca. 63 – 65), sprichwörtlich.²⁵ In rab-
So die der meisten Exegeten; z. B. zuletzt Wagener 128. Vgl. jedoch auch Kessler, „Armenfürsorge“ 94– 96, der in der Wendung parathēkai chērōn te kai orphanōn von einer genitivus-obiectivus-Verbindung (Hinterlegung reicher Spender für die Witwen und Waisen) ausgeht. Sie dürfte wohl Witwe sein, da der Name des Ehemanns nicht angegeben ist und sie die Rolle einer Hausherrin spielt. Vgl. dagegen kritisch jedoch Richter Reimer, Frauen 137– 161 und L. Schottroff, Lydias ungeduldige Schwestern 134, die aus feministischen Gründen ursprünglich mit einer ledigen Unternehmerin rechnen möchten: „An die Stelle der arbeitenden Frau wird die wohlhabende Witwe gesetzt“ (L. Schottroff ). Dazu s. Bietenhard, Sifre Deuteronomium 640 Anm. 1.
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binischer Zeit erinnern bKet. 65a und ARN A 6 an den Luxus der verwitweten Schwiegertochter des reichen Jerusalemers Nikodemus (Naqdimon) ben Gurion in der Zeit des ersten antirömischen Aufstands. Unter den Papyri der Judäischen Wüste finden sich aus dem 2. Jh. die Dokumente des Archivs der Babata; die zeitweise Witwe war. Sie war im Führen von Prozessen erfahren, wie besonders die P. Yadin 12– 15 zeigen.²⁶ Zusätzlich sei hingewiesen auf die politisch agile, heirats- und scheidungslustige „Königin“-Witwe Berenike im Herodeshaus zur Zeit des Josephus (Josephus, Ant. 20,145 f ). ²⁷
3.1.5 Zur familien- und vermögensrechtlichen Halacha für Witwen und Waisen In der Mischna spielen vor allem die Fragen der Versorgung eine Rolle.²⁸ Die unter den Rabbinen erzielten Regelungen lassen sich wie folgt zusammenfassen: a) Für den Fall der Kinderlosigkeit der Witwe gelten die Bestimmungen der Leviratsehe nach mJeb. (dazu s. # 68). Wichtige Regulierungen für die familiäre Witwenversorgung finden sich gesammelt im seder Našim („Frauen“) von Mischna und Talmud und dort vor allem jeweils im Traktat Ketubbot. Man unterscheidet für die Wahrnehmung von Ansprüchen zwischen einer Witwe nach der Verlobung (hebr. min ha-’erûsîn) und einer solchen nach der Heirat (hebr. min ha-niśśû’în, z. B. mJeb. 6,4; mKet. 1,2.4) dementsprechend, dass Verlobungen im Judentum ein genauso bindender Rechtsakt waren wie Eheschließungen (# 19). Gegenüber einer Jungfrau ist die heiratswillige Witwe sozial benachteiligt. Als Zeit der Ehevorbereitung werden einer Jungfrau 12 Monate, einer Witwe nur 30 Tage eingeräumt (mKet. 5,2). Die Ketubba-Summe ist bei ihr gemindert wie bei Proselytinnen, Gefangenen und losgekauften Sklavinnen (vgl. unten 3.2). Hinzu kommen einige Schutzrechte: ‒ Nach mKet. 4,12 (vgl. 12,3) hat die Witwe in Jerusalem und Galiläa grundsätzlich auch ohne ehevertragliche Vereinbarung das unantastbare Recht zur Wohnung und Alimentierung im Hause der Familie des verstorbenen Mannes (s.u. 3.3.3), solange sie keine neue Ehe eingeht. ‒ Im übrigen Judäa können die Erben die Ketubba-Summe jedoch auszahlen und dann die Witwe entlassen (mKet. 4,12). Der Unterhalt der Witwe muss dabei dem
Vgl. dazu Cotton, „Recht und Wirtschaft“ 25 f. Näheres dazu bei Ilan, Integrating 92– 97. Zu den politisch-dynastisch bedingten vorübergehenden oder endgültigen Witwenschaften von Frauen im Herodeshaus vgl. dies., Jewish Women 149 f. Vgl. jedoch zum Eherecht auch die witwenfreundliche halachische Festsetzung des Donnerstags als Heiratstag für Witwen (z. B. tKet. 1,1). Ihr und dem vielleicht über eine solche Witwenheirat auch ein wenig unglücklichen Ehemann sind damit drei arbeitsfreie Tage gegeben, die Freude an der neuen sexuellen Gemeinschaft einzuüben; dazu s. Ilan, Jewish Women 148.
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Unterhalt zu ihrer Zeit als Ehefrau entsprechen (mKet. 12,3). Er wird, wenn nötig, aus dem Vermögen der Waisen bestritten (mKet. 11,1). Die Bestimmung mKet. 11,2 ff reguliert das Verfügungsrecht über die KetubbaSumme, wenn der Ehemann diese zu seinen Lebzeiten verkauft, verpfändet oder verschenkt hat. Die Ketubba-Summe ist auszuzahlen, falls die Witwe das Haus der Familie ihres Mannes verlässt.
Die Möglichkeiten, unter denen die Witwe ihre güterrechtlichen Ansprüche aufgrund der Ketubba an die Erben des Ehemanns durchsetzen kann, werden in mKet. 9,2 ff genau geregelt. Die Auszahlung der Ketubba an die Witwe aus dem Vermögen der Waisen als Erben ihres Ehemanns unterliegt besonderer Kontrolle (mGit. 4,3; mKet. 9,7 f ). b) Die Waisen stehen unter besonderen Rechtsschutz dank einer Reihe von Vorrechten²⁹ und Förderungsmaßnahmen, wie sie weitgehend auch im griechischen³⁰ und römischen³¹ Recht eingeräumt werden: ‒ Prozesse gegen Waisen gelten als unsittlich (Hi 31,21). ‒ Gläubiger müssen bis zur Volljährigkeit der Waisen (13 Jahre) warten, um Ansprüche aus dem Erbe des verstorbenen Vaters geltend machen zu können (vgl. 4Kön 4,1). ‒ Diese haften nur mit den im Nachlass des Vaters befindlichen Immobilien für dessen Schulden (Cohn, „Waisenrecht“ 425; Krause III 144). ‒ Den Waisen gegenüber gilt das im Nachbarschaftsrecht wichtige Vorkaufsrecht des Grenznachbarn nicht (bBM 108b). ‒ Lediglich vermögende Waisen leisten öffentliche Abgaben im steuerlichen Sinn und dieses nur, wenn sie dadurch auch Vorteile erlangen (bBB 8a). ‒ Waisengelder werden bei besonders vertrauenswürdigen und verantwortungsbewussten Gelehrten deponiert (bBer. 18b). ‒ Die Forderungen der Waisen verjähren im Jahr des Schuldenerlasses nicht; sie brauchen also keinen perôzbôl (bQid. 37a; # 40, Exkurs). Die Durchführung von Geschäften mit dem Vermögen der Waisen unterliegen aus Gründen der Mündelsicherheit besonderen Restriktionen (bGit. 52a).
Dazu s. Cohn; „Waisenrecht“ 417– 445. [Zu der Ungleichstellung von Töchtern gegenüber den Söhnen – sie haben kein Erbrecht, nur ein Recht auf Versorgung – s. # 59.] Vgl. z. B. Weiler, „Zum Schicksal“ 174 ff. Vgl. z. B. Weiler 184 ff; Krause III 85 ff.
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3.2 Die Ungesichertheit der Witwen und Waisen. Zu Mk 12,41 – 44 (# 70) par. sowie Mk 12,40 parr. A. BEN-DAVID: Talmudische Ökonomie, Bd. 1, 1974 E. KLOSTERMANN (Übers., Komm.): Das Markusevangelium (HNT 3), 5. Aufl. 1971 D. LÜHRMANN (Übers., Komm.): Das Markusevangelium (HNT 3), 1987 R. PESCH (Übers., Komm.): Das Markusevangelium, Bd. 2 (HThK 2/2), 3. Aufl. 1984.
Mk 12,41 – 44 par. Lk 21,1 – 4 Die wahrscheinlich Markus vorgegebene Überlieferung wird vom Evangelisten über das Stichwort chēra „Witwe“ an 12,40 angeschlossen. In der Regel meint ’almanah, gr. chēra oder gynē chēra, lat. vidua im biblischen Schrifttum die ihren Ehemann überlebende und weiterhin unverheiratet bleibende Frau. Gelegentlich kann er auch viel allgemeiner die „Frau ohne Mann“³², d. h. auch die durch Scheidebrief entlassene oder vom Mann verlassene Frau (‘agûnah), bezeichnen. Im zu kommentierenden Text wird in einer idealen (aber nicht nur biblisch bekannten³³) Szene die wohl an ihrer Tracht erkennbare³⁴ Witwe als verarmt typisiert, denn der Witwenstand konnte zu den härtesten sozialen Notfällen in den Gesellschaften der Antike führen; so auch wenn die überlebende Ehefrau in Israel, dem Fremden ähnlich,³⁵ eher am Rande der Gesellschaft oft ohne rechtlichen und sozialen Schutz der Familie (Schwiegervater, Söhne, auch Brüder) auf sich allein gestellt blieb. Philon, Mos. 2,240 spricht von dem „bemitleidenswerten Unglück des Witwenloses von Frauen“. Wirtschaftliche Not musste entstehen, falls die Witwe nicht die Fürsorge ihrer Familie (vgl. Mk 1,30; 1Tim 5,4– 8) mit dem im Judentum üblichen Recht auf Wohnung und Alimentierung (s.u. 3.3.3) im Hause des verstorbenen Mannes genoss und dabei u.U. noch eine Art „matriarchalischer“ Stellung behaupten konnte.³⁶ Ökonomisch selbstständig konnte die Witwe beispielsweise dann werden, wenn ein angemessener Unterhalt möglichst durch einen Ehevertrag (Ketubba), der ja zur Vermögenssicherung der Frau für die Zeit nach der Ehe geschlossen wurde, über die traditionelle Versorgung hinausging oder eigenes Vermögen vorhanden war. Dadurch stiegen ihre Chancen für eine Wiederverheiratung (vgl. 1Tim 5,14). Ein seltener Glücksfall bedeutete in dieser Hinsicht
Vgl. z. B. 2Sam 20,3; LXX 2Sam 13,20; Philon, Det. 147; auch Ignatius, Smyr. 13,1; so auch vidua in römischen Texten, vgl. Mayer-Maly, Art. vidua 2098 f. Zu den rabbinischen, griechischen und römischen Parallelen vgl. Pesch, Markusevangelium II 263. Vgl. Gen 38,14,19; Jdt 8,4 f; 9,1; 10,3; 16,7; Elephantine-Pap. Cowley 30, Z. 15.19 – 21. Zu Kleiderfragen sonst s. # 143; # 300. Vgl. die formelhafte Reihung „Witwen – Waisen – Fremde“ als personae miserae in den Witwen-Texten z. B. in Ex 22,20 f; Dtn 10,18 f; 14,29; 16,11.14; 24,17.19.21; 26,12 f; 27,19; Jer 7,6; 22,3; Hes 22,7; Sach 7,10; Mal 3,5; Ps 94,6; 146,9. Vgl. dazu das überlieferte Bild von der Mutter Jesu in Mk 3,31 f; 6,3; Apg 1,14; ferner 1Tim 5,4.8.
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bei Kinderlosigkeit die Einsetzung der in Israel an sich nicht erbberechtigten Ehefrau als Erbin durch den Ehemann.³⁷ Frauen, die mit geringer Mitgift heirateten, blieben nach der Ehe arm (Standhartinger 105). Die bei der Heirat festgelegte oder traditionelle Überlebenssumme für die Witwe (ebenfalls Ketubba genannt) brachte ökonomische Sicherheit allenfalls für das erste Jahr. Sie betrug nach Ausweis rabbinischer Texte (z. B. mKet. 1,2; 5,1) und des Ehevertrags P. Mur. 115 v.J. 124, Z. 5 normalerweise in der ersten Hälfte des 2. Jh. für eine Witwe, die als Jungfrau geheiratet hatte, 200 und für eine zuvor schon einmal verheiratete Frau 100 Denare (Zuz).³⁸ Eine solche Summe markiert aber auch die Armutsgrenze.³⁹ Alleinstehende Witwen waren so zum Hinzuverdienen durch Erwerbsarbeit genötigt, wobei das Aktionsfeld für Frauen jedoch sehr eingeschränkt blieb⁴⁰ und Hausarbeit oder gewerbliche Arbeit (meistens in der Textilmanufaktur⁴¹) schlecht entlohnt wurden (Standhartinger 105). Selbst bei fürsorglichster Absicherung bestand die Gefahr der Verarmung, wenn die Söhne, denen der Unterhalt oblag, verstarben.⁴² Die oft als besondere Notlage erfahrene Schicksalsgemeinschaft der Witwe mit ihren unmündigen Kindern deutet die gemeinorientalische,⁴³ darum auch biblische Formel „Witwen und Waisen“⁴⁴ an. Um zu überleben, mussten Mutter und Kinder die übliche Armenfürsorge in Anspruch nehmen, die in Nachbarschaftshilfe (z. B. Jer 49,10 f ) und durch Gaben der ökonomisch Bessergestellten (Hi 22,9; 24,21; 29,12 f ) geleistet wurde. Das rabbinisch empfohlene frühe Heiratsalter der Mädchen zwischen 13 und 14 Jahren (Bill. II 374) hatte zur Folge, dass es viele junge Witwen gab.⁴⁵ Auf einem solchen Hintergrund sozialer Verelendung erscheint im Kontext (V. 38 f ) die bettelarme⁴⁶ Witwe als eine in ihrer Frömmigkeit und Freigebigkeit (vgl. 3Kön 17,8 – 16; Lk 4,25 f ) die erwähnten Schriftgelehrten beschämende Gegenfigur, sei es in der Lehre Jesu, sei es in jener der Alten Kirche.⁴⁷ Dieter Lührmann (Markusevangelium 212) vermutet aufgrund der anschließenden Jüngerbelehrung (V. 43) einen urchristlichen Gemeindebezug in Gestalt einer indirekten Mahnung, entsprechend jüdischer Tradition die arme Witwe in der Gemeinde zu achten. Hinter der Geschichte sieht er ferner „die
Vgl. Elephantine-Pap. Cowley 15, Z. 17– 19; zu römischen Verhältnissen Krause II 83 ff. Vgl. Ben-David, Talmudische Ökonomie I 292 f. In bKet. 105b wird deshalb der Terminus ’almanah („Witwe“) gedeutet als ‘al menah („wegen der [Silber‐]Mine“). Ein Besitzer von 200 Zuz hat nach mPea 8,8 kein Anrecht auf Nachlese und Armenzehnten mehr. Vgl. dazu im römischen Recht allgemein Krause II 123 ff. Vgl. dazu Krause II 130 ff. Ein frühes Beispiel ist Tob 2,11– 14 LXX (Vulg. 2,19 – 23; Siegert, EHJL 125). Vgl. Rt 1,5; 2Sam 14,4– 7; 3Kön 17,17; Lk 7,12; auch Joh 19,26 f. Vgl. die entsprechenden Texte in den altorientalischen Rechtscorpora und ethischen Mahnungen z. B. bei Fensham, Widow 129 – 139; Weiler, „Zum Schicksal“ passim; im römischen Bereich bei Krause III 194 ff. S.o. Anm. 4, ferner Jes 1,17.23; 10,2; Hi 24,3; 31,16 f; Jak 1,27. Vgl. im NT Lk 2,36 f; 1Tim 5,11– 14; zu römischen Verhältnissen vgl. Krause I 46.74 ff. 2 Lepta, gemeint sind 2 Peruten, entsprechen 1 röm. Quadrans, dem 64. Teil eines Denars, den nach Mt 20,1– 16 ein Tagelöhner benötigte, um seiner Familie das Überleben zu sichern; vgl. dazu Ben-David 294 f. In Predigten in der Alten Kirche diente ihr Beispiel gerne der Aufforderung an die Gläubigen zum Almosenspenden und unter ihnen besonders an die reichen Witwen; dazu vgl. Krause IV 93 Anm.1.
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Konkurrenz im Werben um Witwen zwischen Christen und Juden, gerade wenn die ‚Schriftgelehrten‘ für die Leser Repräsentanten der Synagoge ihrer jüdischen Nachbarn“ seien. In der Parallele Lk 21,4 wird der Gegensatz zwischen den reichen Spendern im Tempel und der arme Witwe verschärft, wenn Lukas aus der Markusvorlage die Mitteilung, dass die Reichen viel einlegen, nicht aufnimmt und das mk. ptōchē durch das biblisch seltene, dort aber betonte penichrē ersetzt.⁴⁸ Die Witwe gibt so von ihrem Überlebensgeld, das zum täglichen Leben nicht einmal reichte und das sie wohl auch nur durch die Mildtätigkeit anderer empfangen hatte. Eine solche im Text idealisierte Gestalt erfährt für ihre Opferbereitschaft auch in späteren jüdischen Texten viel Lob.⁴⁹ Offen lässt der Text, ob die Spende in einen etwa vorhandenen Opferkasten für die Armen gegeben wird (vgl. dazu ballein „hineinwerfen“ V. 41 f ), dessen Verwaltung in einer an den Tempel gebundenen Armenfürsorge jedoch zur Zeit Jesu nicht belegt ist (s.u. 3.4), oder aber eine Stiftung für den Kultbetrieb darstellt, die nach rabbinischer Überlieferung ja zuvor durch das Tempelpersonal zu prüfen war und in besondere Gabenbehälter im Frauenvorhof ⁵⁰ eingelegt wurde (vgl. den Terminus gazophylakeion „Schatzkammer“ in V. 41.43). Für den ersten, jedoch weniger wahrscheinlichen Fall könnte man anmerken, dass nach der späteren synagogalen Praxis (tPea 4,10) auch derjenige, der von der öffentlichen Fürsorge lebt, freiwillig seinen Teil zur Versorgung der Armen beitragen soll, wobei aber nach bBB 8a Frauen, Kinder und Waisen nicht zur Spende genötigt sind. In unserem Fall würde die Witwe entsprechend der späteren Regel Mar Zutras (4. Jh.) handeln: „Ein Armer, der sich von Almosen ernährt, soll Almosen geben“ (bGit. 7b). Für die talmudische Regelung wäre auf jüdische, griechische und lateinische Texte hinzuweisen, die von der ausdrücklichen Würdigung auch der materiell geringen kultischen Opfergabe der Witwe durch die Gottheit sprechen: s. Klostermann, Markusevangelium 130; Pesch, Markusevangelium 263.
Mk 12,40 par. Mt 23,14; Lk 21,4 Im Rahmen der Spruchkomposition Mk 12,38 – 40 nimmt in V. 40 Jesus in sarkastischer Redeweise die prophetische Klage über das Unrecht auf, das Witwen oft zugefügt wurde. Der Vers setzt ein gewisses Eigentum bei Witwen voraus: das bescheidene Anwesen.⁵¹ Wenn die Erwähnung der Schrift- (= Rechts‐) Gelehrten in V. 38 in einen ursprünglichen Überlieferungszusammenhang mit V. 40 gehört, ist hier möglicherweise mit der Anschuldigung, „die Häuser der Witwen aufzufressen“, angespielt auf deren zunächst im
Einzige Tora-Stelle ist Ex 22,25, Kern der sozialen Tora; deneben gibt es nur noch Spr 28,15; 29,7. Vgl. z. B. WajR. 3 zu Lev 2,1 (Ende); MidrTeh. 1,15 zu Ps 1,1. Vgl. dazu im Einzelnen Bill. II 37 ff, bes. 43. Vgl. zum Hausbesitz der Witwe 3Kön 17,8 – 24; 4Kön 4,1– 7; 8,3; Mi 2,9; zum Acker 4Kön 8,3; die Rechtsverhältnisse bei dem Besitz des Grundstücks in Rt 4,3 sind nicht ganz deutlich; dazu siehe W. Schottroff 156.
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Zeichen der Wohltätigkeit angebotenen Rechtsbeistand in einem Rechtsstreit, wie ihn eben die Witwe nach Lk 18,2– 5 verfolgt (vgl. Jes 1,17; Sir 4,10; s. # 108). Die hier anvisierten Rechtsbeistände hätten dann nach einem Erfolg vor Gericht nachträglich die Forderung hoher Bezahlung erhoben, die das glücklich erstrittene Eigentum der Witwe letztlich aufzehren würde (Stählin, chēra 437). So weiß, freilich nicht expressis verbis auf die Schriftgelehrten bezogen, AssMos. 7,6: „Der Armen Güter fressen sie, und sie behaupten, sie täten dieses nur aus Gerechtigkeit (d. h. Wohltätigkeit) … (Sie sind) Vertreiber …“⁵². Weil der Arme seinem Rechtsbeistand das Honorar nicht zahlen kann, hält sich dieser an dessen gewonnenem Eigentum schadlos und vertreibt ihn aus seinem Besitz.
3.3 Der Richter und die Witwe. Zu Lk 18,2 – 5 (# 108) H. BRUNNER: Altägyptische Weisheit. Lehren für das Leben, 1988 W. ECK: Rom und Judaea, 2007 M. HENGEL/A. M. SCHWEMER: Geschichte des frühen Christentums, Bd. 1: Jesus und das Judentum, 2007 E. KLOSTERMANN (Übers., Komm.): Das Lukasevangelium (HNT 5), 3. Aufl. 1975 U. KELLERMANN: „Die Klage der Witwe“, BN 142, 2005, 105 – 117 H. THIERFELDER: Unbekannte antike Welt, 1963.
3.3.1 Zum Text Wie oft in Gleichnisreden Jesu ist hier wohl eine bekannte umlaufende Geschichte als Anknüpfungspunkt herangezogen, um die Hörer mit einer unerwarteten Folgerung daraus zu überraschen. Kein Motiv weist darauf hin, dass diese unbedingt in jüdischem Milieu entstanden oder tradiert sein müsste; nur die Textgestalt der Jüngerunterweisung (so seit Lk 17,22) verortet sie im jüdischen Alltag. Im Endtext Lk 18,1– 8 mit seinen traditions- und redaktionsgeschichtlich gewachsenen Aussageintentionen⁵³ dient das unbeirrbare Schreien der Witwe nach ihrem Recht wohl als Analogon zum Gebet der Gemeinde zu Gott „bei Tag und Nacht“ (V. 7).⁵⁴ Die Hauptperson des Vergleichs bleibt jedoch als Symbolfigur für Gott und sein Handeln der Richter, der durch die Hartnäckigkeit einer Witwe zur Veränderung seiner Verhaltensweise genötigt wird. Trotz ihrer vereinfachenden Typisierung spiegelt die Erzählung dieses Vorgangs Details rechtlicher und sozialer Gegebenheiten des jüdischen Witwendaseins.
Zum Wortlaut der Übersetzung siehe Brandenburger, Himmelfahrt Moses 74, Noten zu 6. Datierung und jüdischer Charakter dieses Textes sind umstritten. Siegert, EHJL 342 weist jedoch (nach J. Dochhorn) Zeitbezüge auf das frühe 1. Jh. n.Chr. nach. Vgl. dazu die einschlägigen Kommentare, Aufsätze und Monographien, zuletzt Merz, „Die Stärke der Schwachen“ 677 f. Zur Intensitätsformel als Gebetstopos in Witwentexten vgl. Lk 2,37; 1Tim 5,5.
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Der Erzählstoff kommt aus Anschauungen und Erfahrungen der ärmeren Bevölkerung von der mangelnden Integrität eines Richters und vom verschleppten Fortgang der zivilrechtlichen Angelegenheiten bei sozial Schwachen. Er „ist ein Mann, wie die orientalischen Richter es zumeist sind“ (Klostermann, Lukasevangelium 177). Die einzig wirksame Waffe des Armen bleibt in einem solchen Fall die Impertinenz. Der Stand des Prozesses: Die Aufforderung der Witwe in V. 3: „Schaffe mir mein Recht gegen meinen Prozessgegner!“ zeigt, dass das Verfahren bereits begonnen hat.⁵⁵ Es geht um die Weiterführung eines bereits eröffneten zivilrechtlichen Verfahrens und nicht wie etwa in Lk 12,13 f (# 101) um das Ersuchen einer Schlichtungsautorität zur Erteilung eines Schiedsspruchs. – Als Prozessgegenstand ist eine Vermögenssache vorausgesetzt, bei der die Witwe das ihr von einem männlichen Prozessgegner⁵⁶ nicht anerkannte oder genommene Recht selbst in die Hand nehmen muss. Sie bemüht hartnäckig das Gericht für die Wiederherstellung ihres Rechts.
3.3.2 Vergleichbare Fälle In Vermögensangelegenheiten ist nach rabbinischem Recht bei der Klage vor jüdischen Eigengerichten durchaus die Entscheidung eines autorisierten Einzelrichters statt des allgemein üblichen Dreierkollegiums⁵⁷ möglich. So wird in bSan. 4b eine Baraita überliefert: „Wenn einer als Rechtskundiger anerkannt ist, dann darf er auch als Einzelrichter entscheiden“.⁵⁸ Der Richter scheint in Lk 18 aber eher im Rahmen städtischer Justiz wirksam zu sein (ähnlich wohl Mt 5,25 f par. Lk 12,58 f ), wie man sie sich in den 63 v. von Pompeius nach der hasmonäischen Unterwerfung wiederhergestellten poleis in Palästina und im Ostjordanland und in den Polis-Gründungen des Herodes und seiner Söhne mit ihrer heidnisch-jüdischen Mischbevölkerung in der Zeit bis zur Neuordnung nach 70 durch die Römer vorstellen kann.⁵⁹ Dort überlagerten sich jüdische, griechische und römische Rechtssysteme und -verhältnisse. Man könnte auch annehmen, dass eine jüdische Klägerin in zivilrechtlichen Angelegenheiten alternativ zur Anrufung des jüdischen Gerichts ein römisches bemüht, weil ihr dieses wirksamer zu sein scheint (vgl. Derret, „Law“ 184 f.187). Das rabbinische Verbot für Juden, Recht gegen ihre Volksgenossen bei Nichtjuden zu suchen,⁶⁰ setzt ja das Bestehen solcher Alternativen voraus.
Vgl. Jeremias, Gleichnisse 153. Zu antidikos vgl. Mt 5,25 par. Lk 12,58. Vgl. z. B. mSan. 1,1; auch bSan. 3a. 4b/5a; bBM 32a. Übersetzung Bill. III 364; vgl. auch z. B. bSan. 5a; ferner Mt 5,25 f par. Lk 12,58. Vgl. dazu Hengel/Schwemer, Jesus 55 ff.274 f; Eck, Rom und Judaea 203 f. Vgl. z. B. auch bBQ 113b; ebenso den Rat des jüdischen Schriftgelehrten Paulus zu (vermögensrechtlichen) Regelungen bei Auseinandersetzungen in der freilich überwiegend heidenchristlichen Gemeinde von Korinth 1Kor 6,5.
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Der älteste Beleg für diese Reglementierung bleibt der Ausspruch des R. Tarfon um 100 n. nach einer Baraita zu bGit. 88b:⁶¹ Überall, wo du Gerichtskollegien der Nichtisraeliten findest, auch wenn ihre Gerichte (Rechte, Rechtsverfahren, Rechtsentscheidungen) denen der Israeliten entsprechen, bist du nicht berechtigt, mit ihnen in Verbindung zu treten; denn es heißt: „Dies sind die Rechtssetzungen, die du ihnen vorlegen sollst“ (Ex 21,1) – „ihnen“ (den Israeliten) und nicht den Fremden (= Nichtisraeliten).
Als analoger Fall wäre hier vielleicht die Klage der jüdischen (zeitweiligen) Witwe Babata aus einem Dorf am Südufer des Toten Meeres (P.Yadin 15 v.J. 125) zu nennen. Sie geht bei dem Gouverneur von Arabia (dort hatte Babata ihre Ländereien, also ihre wirtschaftliche Basis) nach römischem Recht gegen jüdische Gegner vor. Die Streitfrage um die Vormundschaft ihrer Söhne findet sich in den Papyri vom Naḥal Ḥ ever (vgl. P. Yadin 13 – 15.23 – 26) unter den erhaltenen Dokumenten des Archivs dieser vermögenden Frau.⁶² Der nach jüdischer Tradition von der Witwe als Rechtshelfer ⁶³ angerufene Stadtrichter schiebt trotz wiederholten Drängens die Weiterführung des Verfahrens auf die lange Bank, wo doch nach altem jüdischen Rechtsbrauch die Klage der Witwen eher vorrangig zu behandeln gewesen wäre.⁶⁴ Er hat nach V. 2.4 den üblen Ruf, der hier in gemeinantiker sprichwörtlicher Redeweise zum Ausdruck kommt,⁶⁵ sich nicht an die Normen göttlichen Rechts gebunden zu wissen⁶⁶ und vor einem schlechten Leumund selbst in der Öffentlichkeit nicht zurückzuschrecken. Es gibt in der Erzählüberlieferung keinen direkten eindeutigen Anhaltspunkt dafür, dass das Verhalten des Richters in Sonderheit an den Maßstäben der Tora und der prophetischen Mahnung Israels gemessen wird. Er steht als „anti-hero“ (Daube, „Neglected nuances“ 2340) im Gegensatz sowohl zum hellenistischen⁶⁷ als auch zum jüdischen⁶⁸ Sittlichkeitsideal, dessen Verwirklichung man von einem Richter einfordern sollte. Ob seine Charakterisierung auch Unbestechlichkeit einschließt, bleibt eher offen. Mit Rücksicht auf den Prozessgegner wagt er es wohl nicht, das Verfahren zugunsten der Witwe abzuschließen (vgl. Stählin, Die Parallele Tanḥuma Mišp. 93a führt das Wort auf R. Šim‘on (um 150) zurück; vgl. ferner zum Verbot ebd. 91a; Mekilta 81b zu Ex 21,1; Texte bei Bill. III 362 f. Nähere Hinweise dazu z. B. bei Cotton, „Recht und Wirtschaft“ 24– 26; Eck 210. Die viermal im Text gebrauchte Wendung „Recht schaffen“ hat durch V. 7 und V. 8 in V. 3 und 5 die spezielle Bedeutung „solidarische Hilfe“. So darf nach Maimonides, Hilkot Sanhedrin 21,6 eine Witwe bei Gericht den Anspruch stellen, vor allen anderen Parteien bei dem Richter zu erscheinen; Cohn, „Witwe“ 1467. Vgl. dazu z. B. Josephus, Ant. 10,83; Philon, Spec. 3,209; Dionysios von Halikarnass, Romanae Antiquitates 10,10,7; dazu Freed, „The Parable“ 42. Vgl. zu dieser Beurteilung bes. 2Chr 19,6 f. Vgl. Daube 2340 f; Borman, Recht 311. Der Richter nimmt eine Haltung ein, die bei Platon, Politeia 362 D367 E; Nomoi 885 B, unter Strafe gestellt wird (Hinweis bei Bormann 311 Anm. 56). Vgl. auch Plutarch, Demetrius 24: „Das, was König Demetrios (sc. Poliorketes) befiehlt, dies gelte den Göttern als fromm und den Menschen als gerecht“ (Hinweis bei Bormann 38). Vgl. z. B. 1Sam 2,26; Spr 3,3 f; Lk 2,52.
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chēra 438). Ihre Darstellung im Text erweckt den Eindruck, dass sie zu unbedeutend ist, um sich gegen einen gesellschaftlich angesehenen Prozessgegner, zudem gegen einen Mann (vgl. Bindemann, „Ungerechte“ 957), den Richter geneigt zu machen. Der Hartnäckigkeit seiner Weigerung entspricht aber ihr ebenso beharrliches Insistieren, das ihn an seiner Schwachstelle trifft: der Angst vor dauerhafter Belästigung und öffentlichen Auftritten (vgl. Daube 2339 f ), dazu noch von Seiten einer Frau. Seine ironischen Erwägungen dienen mehr seiner eigenen Ruhe als seiner Sorge um die Gerechtigkeit. Der Erzählstoff lässt zugleich erkennen, wie eine Frau der jüdischen Gesellschaft als Witwe ihre personale Unabhängigkeit auch in rechtlicher Hinsicht gewinnen kann. „Eine Frau erlangt ihre Freiheit auf zwei Weisen (…): durch Scheidungsurkunde und durch den Tod des Ehemanns“ (mQid. 1,1; vgl. auch bGit. 12b). Hatte z. B. ein Vater seine Tochter minderjährig verheiratet, so kehrt sie als Witwe selbst im Fall noch bestehender Minderjährigkeit, nach rabbinischem Recht nicht mehr unter die elterliche Gewalt zurück (mKet. 4,2). Freilich ist diese Freiheit bei den sozial Schwachen mit dem Verlust der rechtlichen und ökonomischen Sicherheit verbunden, wie der Gleichnisstoff erkennen lässt. „Die gesellschaftliche Diskriminierung der Frau generell lässt sich am deutlichsten bei den Witwen aufzeigen“ (Krause II 253). Man kann sich als Anlass zu dem anstehenden hinausgezögerten Rechtsstreit auf dem Hintergrund alttestamentlicher, frühjüdischer und rabbinischer Texte in einem sehr breiten Spektrum verschiedene Möglichkeiten von Rechtsbeugung vorstellen.
3.3.3 Detailfragen Angelegenheiten der üblichen Witwenversorgung: Die besonders durch das Elterngebot verpflichteten Kinder versuchen, die als Last empfundene Witwe und ihren durch die Ketubba vertraglich oder nach dem Gewohnheitsrecht bestehenden Anspruch auf Versorgung wie Wohnung und Alimentierung⁶⁹ im Hause des verstorbenen Mannes mit irgendwelchen Druckmitteln, durch Schikanen oder Anwendung von Tricks loszuwerden.⁷⁰ – Die Erben des verstorbenen Mannes verweigern oder mindern der Witwe direkt und offen die ihr durch die Ehe zustehenden Vermögens- oder Versorgungswerte (vgl. mKet. 12,3). Das kann z. B. auch die Auszahlung des Ketubba-Betrags im speziellen Fall
Dazu vgl. z. B. P. Mur. 20 (1. Jh.), Z. 9 – 11; P. Mur. 21 (Bar-Kochba-Zeit), Z. 14– 16; P. Mur. 115 (v.J. 124), Z. 10 ff; P. Mur. 116 (1./2. Jh.), Z. 9 ff; P. Yadin 7 (v.J. 120), Z. 25; mKet. 4,12; 11,1; 12,3. Vgl. dazu z. B. Codex Hammurabi § 172: „ … wenn ihre Kinder, um sie aus dem Haus zu vertreiben, sie schikanieren, so sollen die Richter ihre Angelegenheit überprüfen und den Kindern eine Strafe auferlegen; diese Frau braucht aus dem Hause ihres Ehemanns nicht auszuziehen“. – Eine Mahnung in der ägyptischen Lehre des Ani (7,17– 18,1) lautet: „Gib deiner Mutter doppelt so viel Nahrung, wie sie dir gegeben hat. Sie hatte eine schwere Last an dir, aber sie sagte nicht: „Fort mit dir! … „; Übers. Brunner, Altägyptische Weisheit 208. – In Spr 19,26 heißt es: „Wer dem Vater Gewalt antut, die Mutter verjagt – ein schandbarer und schändlicher Sohn ist er“; vgl. auch Ex 21,15.17; Lev 20,9; Dtn 27,16; Hes 22,7; Spr 20,20; 23,22; 30,11.17.
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ihrer Wiederverheiratung einschließen.⁷¹ – Sie wollen der ansonsten mittellosen Witwe gegen ihren Willen die übliche karge Ketubba-Summe auszahlen, um sie aus dem Haus zu bekommen (auch hierzu: mKet. 12,3). Diese reicht aber zum Überleben nur für den Zeitraum eines Jahres aus (s. # 70 zu Mk 12). Die Erben würden sie damit nun verantwortungs – los, im wahren Sinne des Wortes, sozialem Elend aussetzen. Vermögensangelegenheiten der Witwe: Man verweigert der Witwe die Verfügung über ihr eigenes Vermögen,⁷² das sie mit in die Ehe gebracht⁷³ bzw. bei oder nach der Heirat als Schenkung des Vaters⁷⁴ oder des Ehemannes⁷⁵ erhalten hatte. – Es liegt der für eine jüdische Witwe seltene und glückhafte Fall vor, dass der kinderlose Ehemann seine Ehefrau als Erbin eingesetzt hatte.⁷⁶ Die Großfamilie weigert sich nun aber, das Erbe der nach herkömmlichem jüdischen Recht an sich nicht erbberechtigten Witwe auszuzahlen. – Die Erben sind bei ihren Verpflichtungen gegenüber der Witwe zahlungsunwillig und -unfähig, weil der verstorbene Ehemann das Vermögen oder die Ketubba seiner Ehefrau, für die er hypothekarisch etwa zur Tilgung von Schulden haftete,⁷⁷ aufgebraucht hatte. Angelegenheiten in der Führung der Vormundschaft: Die Großfamilie verweigert der Witwe die Verwaltung des Vermögens der unmündigen Waisen,⁷⁸ um die sie sich aus Mißtrauen gegenüber den gerichtlich eingesetzten Vormündern (gr. epitropos; ⁷⁹ aram. ’äppîṭrôfa’ – P. Yadin 27, Z. 12 –, hebr. ’äppîṭrôfôs) bemüht. So kämpft z. B. nach den Urkunden des sog. Babata-Archivs diese „Witwe“ derartig nachdrücklich darum, dass sie anbietet, ihr eigenes Vermögen als Sicherheit zu stellen.⁸⁰ – Die Witwe wird von der Familie des Verstorbenen bei einem Versuch gehindert, etwas aus dessen Nachlass zur Sicherung ihres und ihrer Kinder Unterhalt, möglicherweise ohne Hinzuziehung des Gerichts,⁸¹ aus Not zu verkaufen. – Es wird eine Klage durch die Mutter in Vertretung der
Vgl. dazu den Gelehrtenstreit zwischen den Schulen Hillels und Schammais nach mJeb. 15,3; mEd. 1,12. Vgl. zu Immobilien # 70 zu Mk 12, zum Barvermögen Ri 17,2 f; 2Makk 3,10; auch Jes 3,25 – 4,1. Das Vermögen der wohlhabenden Witwen Judith (Jdt 8,7; 16,24) oder Babata (s.u. C 4.4.1) dürfte in diesem Zusammenhang nicht repräsentativ sein. Vgl. z. B. Num 27,1– 11; 36,1– 9; Jos 15,18 f; Ri, 1,14 f; Sir 25,21. Zu römischen Verhältnissen vgl. Krause II 47 ff. Vgl. z. B. Elephantine-Pap. Cowley 8; 9; 13; 14; 25; 28 und Kraeling 6; 9; 10; P. Yadin 18; 19. Vgl. z. B. Elephantine-Pap. Kraeling 4; P. Mur. 20 (1. Jh.), Z. 6; 21,10; mPea 3,7; P. Yadin 7 (v.J. 120); 19 (v.J. 128); P. xHev/Se 64 (v.J. 129). Vgl. Elephantine-Pap. Cowley 15, Z. 17– 19; Beispiele aus römischen Rechtsverhältnissen bei Krause II 83 ff. Vgl. dazu Beispiele aus römischen Verhältnissen bei Krause II 59 f.108 ff. Vgl. z. B. 4Kön 8,1– 6; mKet. 9,7. Vgl. P. Yadin 12 (v.J. 124), Z. 4; 14, Z. 6.24; P. Yadin 15 (v.J. 125), Z. 4 f.20.29 f; P. Yadin 24 (v.J. 130), Z. 1; 25, Z. 4; P. Yadin 27 (v.J. 132), Z. 4.7.18. So in P. Yadin 15; dazu Cotton 25 f. Die Mutter des Libanius lehnt es ab, einen Vormund zu akzeptieren nach Libanius, Autobiographische Schriften I 4,7; dazu s. L. Schottroff, „Frauen und Geld“ 41. Zu einem solchen strittigen Fall vgl. z. B. mKet. 11,2; bBM 32a (Texte bei Bill. III 364).
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minderjährigen Kinder⁸² zur Wahrung von deren Vermögensinteressen notwendig.⁸³ So könnte es z. B. in der Vermögensverwaltung bei den Vormündern Versäumnisse oder fahrlässige Minderungen zum Schaden der Kinder gegeben haben, wie der Fall der Babata für die Waisen aus ihrer ersten Ehe nach P. Yadin 15 (eben erwähnt) zeigt; vgl. auch P. Yadin 27, Z. 9. Auch bestünde die Möglichkeit, dass die Vormünder sich am Vermögen der Mündel bereichert hätten.⁸⁴ Angelegenheiten der Haftung: Ein Gläubiger hat eine bestehende Forderung an den verstorbenen Ehemann und macht die Witwe und die verwaisten unmündigen Kindern für die Schulden haftbar.⁸⁵ Solche Forderungen an die Waisen müssten nach talmudischen Waisenrecht zunächst nicht eingelöst werden.⁸⁶ – Es droht der verschuldeten Witwe eine Vertreibung durch den Gläubiger aus ihrem Besitztum wegen nicht begleichbarer Forderungen; vgl. AssMos. 7,6 f; Mk 12,40 (oben 3.2). Widerrechtliche Fälle im Pfändungswesen aufgrund von Schuldtiteln: Es kann eine grundsätzlich widerrechtliche Pfändung von lebensnotwendigem Besitz der Witwe, wie etwa die der Nutztiere (vgl. Hi 24,3), ihrer Alltagskleidung (vgl. Dtn 24,17), ihres Hauses (vgl. vielleicht Mi 2,9), erfolgt sein.⁸⁷ – Es liegt eine bösartige und unverantwortliche Übersteigerung des Pfandrechts wegen einer Lappalie vor (vgl. Mi 2,9 f ). – Denkbar ist auch eine direkte bösartige Verweigerung der Zurückerstattung eines Pfandes oder gar einer Schuldsumme. Widerrechtliche Aneignung von Eigentum der Witwe: Spr 15,25; 23,10 weiß z. B. vom heimlichen Versetzen der Grenzsteine unter dem Schutz des Dunkels der Nacht. Man kann sich in Anbetracht der Wehrlosigkeit einer Witwe auch einen direkten dreisten Landraub vorstellen. 4Kön 8,2– 6 wäre hier zu vergleichen; Beispiele aus dem römischen Rechtsbereich bietet Krause II 234 f. P. Oxy. 1120 (Thierfelder, Unbekannte antike Welt 63) erwähnt den Raub einer Sklavin; dazu s. Schottroff 41.
Freilich war die Alleinvertretung der Waisen vor Gericht durch eine Frau, auch durch die Mutter, ohne Beistand eines Mannes nach römischem und jüdischem Recht normalerweise verboten; dazu siehe Ilan, Integrating 231 f. Im Fall der Babata liegt der formelle Beistand eines Mannes vor (P. Yadin 14– 17; 22; 25; 27). Eine Ausnahme von dieser Regel ist jedoch nach tannaitischem Recht gegeben, wenn der verstorbene Vater vor seinem Tode für die Witwe die Alleinvertretung der Kinder verfügt hat (tTer. 1,11; tBB 8,17). Zu den späteren rabbinischen Bestimmungen vgl. Cohn, „Waisenrecht“ 425 f; Krause III 144. Vgl. z. B. bGit. 52b; Beispiele aus dem Bereich des römischen Rechts, besonders in den ägyptischen Papyri bei Krause III 85 ff. Vgl. 4Kön 4,1; Mi 2,9 f; auch Hi 24,9; Beispiele aus dem Bereich des römischen Rechts bei Krause III 140 ff. Gläubiger müssen bis zur Volljährigkeit von Waisen (mit 13 Jahren) warten, um Ansprüche aus dem Erbe an dem verstorbenen Vater geltend machen und zwangsvollstrecken zu können. Die mündigen Waisen haften in talmudischer Zeit für die Schulden des Vaters nur mit den im Nachlass vorhandenen Immobilien. Vgl. dazu Cohn, „Waisenrecht“ 425 f; ders., „Waise“ 1282. Vgl. noch. mBM 9,13: „Eine Witwe, ob arm oder reich, darf man nicht pfänden“; ferner SifDeb. 22 zu Dtn 14,12 f; ebd. 281 zu Dtn 24,17.
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3.4 Die Frage der urgemeindlichen Witwenfürsorge. Zu Apg 6,1 – 6 (# 206) und 9,36 – 41 W. BEYER: diakoneō, ThWNT 2, 1935, 81 – 93 D. GEORGI: Der Armen zu gedenken. Die Geschichte der Kollekte des Paulus für Jerusalem, 2. Aufl. 1994 E. HAENCHEN (Übers., Komm.): Die Apostelgeschichte (KEK 3), 12. Aufl. 1959 J. LEIPOLDT: Die Frau in der antiken Welt und im Urchristentum, 1962 G. LÜDEMANN: Das frühe Christentum nach den Traditionen der Apostelgeschichte, 1987 W. SCHMITHALS (Übers., Komm.): Die Apostelgeschichte des Lukas (ZBK.NT 3/2), 1982 L. SCHOTTROFF: „Über hartnäckige Witwen und das Amt der Verkündigung. Apostelgeschichte 6,1 – 7“, in: C. JANSSEN/B. WEHN (Hg.): Wie Freiheit entsteht. Sozialgeschichtliche Bibelauslegung, 1999, 120 – 127 L. SCHOTTROFF/W. STEGEMANN: Jesus von Nazareth – Hoffnung der Armen (UTB 639), 2. Aufl. 1981 E. SCHÜSSLER-FIORENZA: Zu ihrem Gedächtnis. Eine feministisch-theologische Rekonstruktion der christlichen Ursprünge, 1988 E. W. STEGEMANN/W. STEGEMANN: Urchristliche Sozialgeschichte, 2. Aufl. 1997.
3.4.1 Zum Text Nach dem lukanisch⁸⁸ formulierten und an seiner Theologie ausgerichteten Text Apg 6,1– 7 ist es mit dem Anwachsen der Jerusalemer Urgemeinde im Zusammenhang der Entwicklung ihrer durch eschatologischen Enthusiasmus begründeten sozialen Lebensformen (vgl. Apg 2,42; 4,35) auch zu einer täglichen Witwenversorgung unter Leitung der (ergänzten) Zwölf gekommen. Anlass zu der hier geschilderten Neuordnung war nach der Darstellung des Lukas ein Versorgungskonflikt: die Vernachlässigung der hellenistischen Witwen, d. h. jener griechisch-sprachigen jüdischen Frauen, die wahrscheinlich am Lebensabend mit ihren Ehepartnern aus der Diaspora nach Jerusalem übergesiedelt waren (vgl. auch Apg 2,5 – 11), um dort begraben zu werden, und nun verwitwet ohne den Schutz der Großfamilie existieren mussten (vgl. Haenchen, Apostelgeschichte 215). Lukas will hier, so wird oft vermutet, die besondere, gemeindliche Witwenfürsorge der Christen von der allgemeinen (privaten) jüdischen Armenfürsorge unterschieden wissen (vgl. Schneider 424), wohingegen die Apg sonst in allen übrigen Lebensbereichen noch die Teilhabe der ersten Christen Jerusalems an den Einrichtungen des Tempels voraussetzt (vgl. Schmithals, Apostelgeschichte 66). Der Konflikt wird nach Lukas gelöst durch Übertragung der Verteilungsverantwortung auf führende hellenistische Judenchristen.
Vgl. Schneider, Apostelgeschichte 420 f.
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C. Übergreifende Themen
3.4.2 Drei Fragen Die mit Apg 6,1– 7 gerne begründete historische These einer besonderen sozialen Sicherung der Witwen in der Urgemeinde reibt sich 1. inhaltlich mit anderen Elementen in der lukanischen Verarbeitung der Überlieferung, entspricht 2. schwerlich dem quellenbedingten Gesamtbild in der Apg vom Wirken der hier erwähnten prominenten hellenistischen Judenchristen und übersieht 3. die inhaltliche Zweideutigkeit der Wendung „bei der täglichen Diakonie“. Zu 1: Es bestehen Unstimmigkeiten im Text bei dem üblichen Verständnis: Es passt nicht zur lukanischen Darstellung der Einmütigkeit und der Zulänglichkeit der Mittel in der urchristlichen Gemeinschaft (Apg 2,44– 46; 4,32– 37), dass die Apostel einigen armen Witwen, wenn auch aus Versehen, das notwendige Essen verweigert hätten.⁸⁹ Auffallenderweise geht Lukas auch gar nicht auf die Fragen der Schuld und des konkreten Anlasses zu den unklaren Beschwerden ein. – Die eben erwähnte, zu vermutende Altersübersiedlung von Ehepaaren aus der griechisch sprechenden Diaspora nach Jerusalem, setzt doch eher einen gewissen Wohlstand der Witwen voraus.⁹⁰ Zu 2: Das zur Konfliktlösung neu bestimmte Regulierungsgremium unter der Oberleitung der Zwölf bestünde allein aus „Landsleuten“ der bisher Benachteiligten. Dass die „hebräischen Witwen“ ihrerseits solche hellenistische Überfremdung ihrer Betreuung nun als Konfliktlösung hinnehmen sollen, bleibt schwer vorstellbar.⁹¹ An den Personen der hellenistischen Judenchristen Stephanus und Philippus wird in den nachfolgenden Geschichten (Apg 6,8 – 8,40) erkennbar, dass das Charisma und die weitere Tätigkeit dieser prominenten Gemeindeglieder eher in einer von den Jerusalemer Aposteln unabhängigen Mission bestand und sie dabei einem Konflikt mit der Jerusalemer Gemeindeleitung⁹² auswichen. Es bleibt schwer vorstellbar, dass solche „Pioniere“ urchristlicher Mission sich primär als „Almosenpfleger“ zunächst um Querelen in der Witwenversorgung gekümmert haben sollten.⁹³ Zu 3: Man muss die Beschwerde, „bei der täglichen Diakonie vernachlässigt zu werden“, nicht als ein Geschehen an den Witwen deuten, es kann auch – zumindest in der vorlukanischen Tradition – sprachlich eine Aktivität der Witwen selbst bezeichnen; so jedenfalls vermutete schon Beyer, diakoneō 84. Gemeint wäre dann die Leitung der täglichen Versorgung oder der mit der Hauptmahlzeit verbundenen Eucharistiefeier (Apg 2,46). „Wahrscheinlicher (…) als die Annahme einer speziellen Witwenversorgung ist, dass die ‚Witwen‘ aktiv an einem Konflikt um das Abendmahl und/oder um die gemeindliche Arbeitsteilung beteiligt waren“ (so Standhartinger 106, mit weiteren Hinweisen). Dann würde es ursprünglich eher um eine Auseinandersetzung in der Wahr-
Schottroff, „Über hartnäckige Witwen“ 125. So schon Schottroff/Stegemann, Jesus 152. So jedoch die narrative Umgestaltung bei Schottroff 120 – 127. Vgl. Schüssler-Fiorenza, Zu ihrem Gedächtnis 208. Vgl. dazu Schottroff, Lydias ungeduldige Schwestern 319.
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nehmung von Leitungsaufgaben zwischen den Zwölfen und Jakobus einerseits und den „Hellenisten“ andererseits gehen.⁹⁴ Aus Apg 6,1– 3 lässt sich also allenfalls auf eine besondere Witwenfürsorge in den lukanischen Gemeinden und die Vorstellung des Lukas von der Witwenversorgung in der frühen Jerusalemer Urgemeinde geschichtlich schließen. Dem entsprechen die Verhältnisse gemeindlicher Witwenfürsorge in Kleinasien in der zweiten Hälfte des 1. Jh. nach 1Tim 5,3 – 16. Dieser Witwenspiegel zeigt das Bemühen, den zunehmenden finanziellen Aufwand dafür einzugrenzen, d. h. nach Möglichkeit die ökonomische Eigeninitiative der Witwen im Rahmen der Solidarität der Großfamilie einzufordern (vgl. # 65 zum Generationenvertrag), die Erfüllung des Elterngebots in den Familien anzumahnen und die gemeindliche Aufgabe auch der organisatorischen Privatinitiative frommer Wohlhabender zu übertragen. Beide Texte verraten, dass das Witwenproblem also „nicht nur zu innergemeindlichen Krisen führte, sondern auch schon bald nach ordnenden Regeln verlangte“ (Sand, Witwenstand 192). Dazu gehörte auch die Bildung von Witwenkommunitäten. Im Fall der Tabita (Apg 9,36 – 41) aus der urchristlichen Gemeinde in Jaffa werden diese auch als Produktionsgemeinschaft zur Textilmanufaktur wahrnehmbar;⁹⁵ vgl. hier # 62 zu dem Frauenhaushalt in Joh 11. – 1Tim 5,16 (# 348) kennt in ähnlicher Weise die Aufnahme und Versorgung bedürftiger Witwen im Hause einer wohlhabenden Frau. Für die frühe Kirche, noch in neutestamentlicher Zeit, ist mit z. B. Ignatius, Smyr. 13,1; Polykarp, Phil. 4,3; ActPetr. 8.22.29 auf die Existenz solcher familienähnlicher Verbände im Hause wohlhabender Männer hinzuweisen.⁹⁶ Man kann so für die frühe Christenheit spätestens ab 70 von einer speziellen Witwenversorgung sprechen. Die – nie mehr erwähnten – Waisen sind dabei entweder eingeschlossen als Mitversorgte, oder sie erhalten neue soziale Chancen und bilden keine Problemgruppe mehr. Eine zur ur- und frühchristlichen Witwenversorgung analoge Institution im zeitgenössischen Judentum ist in den hier durchsuchten Materialien nicht erkennbar.
Vgl. Schüssler-Fiorenza 208. Nach Georgi, Der Armen zu gedenken 108 – 116 stehen hinter den Witwen als der eigentlichen Konfliktpartei die Osterzeuginnen mit ihrem Anspruch auf Leitungsrechte in der Jerusalemer Urgemeinde. Vgl. Richter Reimer, Frauen 55 – 90; Standhartinger 105. – Xenophon, Mem. 2,7 berichtet von einer ähnlichen Textil-Kooperative mittelloser Frauen im Hause eines Wohlhabenden; dazu s. Leipoldt, Die Frau 24 f. Zu den Witwengruppen im frühen Christentum vgl. bes. Standhartinger 108 f.
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3.4.3 Ergebnis Es kann nicht mehr sicher rekonstruiert werden, welcher historische Konflikt sich hinter dem Übersehen der griechischsprachigen Witwen verbirgt.⁹⁷ Apg 6,1 f bleibt damit als Beleg für eine urchristliche gemeindliche Witwenversorgung in Jerusalem fragwürdig. Nach Lüdemann, Das frühe Christentum 81 ist die literarische Darstellung der Auseinandersetzung um die Speisung der hellenistischen Witwen überhaupt redaktionell. Das Material habe Lukas aus vagen Kenntnissen der jüdischen Armenfürsorge bezogen. Da eine besondere Witwenversorgung im zeitgenössischen Judentum am Tempel oder in der Synagogengemeinde aber bisher nicht nachweisbar ist (s.o. 3.1.2), legt sich eher die Annahme nahe, dass Lukas hier eine speziell christliche Institution der Witwenversorgung aus seiner Zeit auf die von ihm idealisierten Verhältnisse der Urgemeinde übertragen (vgl. Schmithals 63.66) und/oder auch die private, oft im großen Stil organisierte jüdische Armenfürsorge seiner Zeit als Modell dafür vor Augen hat, wie sie z. B. TestHi. 10,1– 11,4 (s.o. 3.1.2) erkennen lässt.
3.5 Der Witwenstand im paulinischen Christentum. Zu 1Tim 5,3 – 16 H. W. BARTSCH: Die Anfänge christlicher Rechtsbildungen (ThF 34), 1965 U. E. EISEN: Amtsträgerinnen im frühen Christentum. Epigraphische und literarische Studien (FKDG 61), 1996 A. JENSEN: Gottes selbstbewußte Töchter. Frauenemanzipation im frühen Christentum? 1992 B. KÖTTING: „Digamus“, RAC 3 (1957), 1016 – 1024 – : Die Bewertung der Wiederverheiratung (der zweiten Ehe) in der Antike und in der Frühen Kirche (RHWAW.G 292), 1988 M. KORENHOFF: „1Timotheus 5,3 – 16. Witwe – Betschwester – Klatschbase – Ketzerin“, in: E. R. SCHMIDT u. a. (Hg.): Feministisch gelesen, Bd. 2, 1989, 238 – 250 H. MERKEL (Übers., Komm.): Die Pastoralbriefe (NTD 9/1), 1991 J. ROLOFF (Übers., Komm.): Der erste Brief an Timotheus (EKK 15), 1988.
3.5.1 Soziale Verhältnisse der christlichen Diaspora in trajanisch-hadrianischer Zeit In den thematischen Zusammenhang der Witwenarmut gehören nur einzelne Verse dieses vielschichtigen, spannungsreichen⁹⁸ und in seiner Interpretation sehr umstrittenen Textes aus der Zeit der neutestamentlichen Pseudepigraphie zwischen 90 – 150. Er hat weitgehend einen präskriptiv-juridischen Charakter, wobei Absichtserklärung und So auch Stegemann/Stegemann, Sozialgeschichte 330; Standhartinger 106. Richter Reimer, Frauen 241 f versucht beide Erklärungen (Benachteiligung in der Versorgung und in der aktiven Teilnahme an kultischen Tätigkeiten) zu kombinieren. Dazu vgl. den Überblick bei Wagener 115 – 117.
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Beschreibung von Gemeindeverhältnissen nicht immer klar zu unterscheiden sind. Die Ausführungen differenzieren, wenn auch unscharf, zwischen: 1. jungen Witwen, denen Wiederheirat empfohlen wird (V. 11– 15); 2. Witwen, die sich ökonomisch in ihre eigenen Familien in führender Rolle zu integrieren wissen (V. 4.8); 3. unterstützungsbedürftigen, alleinstehenden Witwen, den hier genannten „wirklichen Witwen“ (V. 3.5.16); 4. Witwen, die in einer Art Lebens- und Versorgungsgemeinschaft im Hause einer vermögenden Christin unterhalten werden (V. 16), und 5. besonderen Gemeindewitwen, einem „spirituellen“ Stand (V. 9 f ), die durch eine vom Gemeindeleiter vorgenommene⁹⁹ Eintragung in eine Liste als solche anerkannt sind. Der personelle Zusammenhang zwischen den „wirklichen“ (armen) Witwen (1) und den anerkannten Gemeindewitwen (4) wird im Textgefüge nicht ganz deutlich. Die meisten Interpreten identifizieren beide Gruppierungen, was aber zu Verstehensschwierigkeiten führt. Von Witwen als Empfängerinnen gemeindlicher Fürsorge ist nur in den Rahmenversen V. 1 und V. 16 die Rede; dazu s. o. 3.4. Der Text setzt keine umfassende Witwenversorgung durch die Gemeinde voraus. Er weist die Lösung der ökonomischen Probleme zunächst den betroffenen Witwen selbst zu: den älteren durch Empfehlung, ihre dominierende Position in der Familie zu pflegen, den jüngeren durch die Zumutung der Wiederheirat. Er rechnet mit der ökonomischen Absicherung der bedürftigen Witwen in deren Großfamilien oder durch Privatinitiative einzelner Gemeindeglieder. Der Gemeinde bleibt als Aufgabe nur die finanzielle Versorgung derer, die durch dieses soziale Sicherungsnetz gefallen sind, d. h. der „wirklichen“ Witwen. Hier soll die Gemeinde unter der Verantwortlichkeit des Timotheus ersatzweise in die Kindespflicht des Elterngebots eintreten und die gebührende Wertschätzung und (natürlich auch) Versorgung erbringen (V. 3). Die inhaltliche und formalsprachliche Parallelität im Leitwort timan zwischen V. 3 und V. 17 f verrät, dass es nach Meinung des Verfassers hier auch einen Rechtsanspruch solcher Witwen auf finanzielle Unterstützung gibt. Die Bestimmungen V. 9 – 11a regulieren aber den Zugang zum besonderen Stand der Gemeindewitwen so restriktiv, und V. 11b-13 skizziert dazu einen zu vermeidenden Mißbrauch so polemisch, dass der Verfasser diesen Stand wohl eher nur als „Auslaufmodell“ zu dulden scheint (vgl. Roloff, Der erste Brief 302 f ). Es müssen zur Anerkennung bestimmte Kriterien erfüllt sein: Das Mindestalter der Zulassung beträgt 60 Jahre; die Zeitmarke des Altwerdens (vgl. mAb. 5,21) bürgt für die Unmöglichkeit einer weiteren Ehe (dazu s. Krause I 115 ff ) und sexuelle Enthaltsamkeit. Es soll das Ideal der monandros/univira ¹⁰⁰ und des Vorbilds an Vgl. das „weise ab“ in V. 11. Eine Ordination, so wird sich noch zeigen, war nicht vorgesehen. Zur univira vgl. die Literaturhinweise in den einschlägigen Kommentaren (z. B. Roloff 294) z.St.; ferner G. Stählin, Art. chēra, 431; Kötting, „Digamus“; ders., Die Bewertung 7– 43; Krause I 106; Wagener 172– 177 mit weiteren Hinweisen.
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„guten Werken“, nach der Ethik der Pastoralbriefe Kennzeichen des wahren Christseins, verwirklicht sein. Vgl. 1Tim 2,10; 5,25 f; Tit 1.16; 2,7.14; 3,5.8.14. Das inhaltliche Verständnis der Wendung „eines Mannes Frau“ bleibt in der Auslegung umstritten. Die Bestimmung zielt m. E. für die Zeit der Ehe und der Restriktionsabsicht des Verfassers entsprechend auch darüber hinaus auf die eheliche Treue.¹⁰¹ Das bedeutet für eine junge Witwe Verzicht auf eine weitere Ehe wohl auch mit Rücksicht auf die Betreuung und Erziehung der noch unmündigen Kinder (vgl.V. 10; Krause III 33 f ). Zu einem „Leben in guten Werken“ gehören vor allem: Engagement in der Aufziehung der eigenen Kinder, Beherbergung von Fremden, Unterwerfung unter die Autorität der Verkündiger (durch die Demutshandlung der wie auch immer gearteten Fußwaschung)¹⁰² und durch Hilfeleistung jeder Art für notleidende Gemeindeglieder (vgl. Apg 9,36). Solche Witwen können nach den hier geforderten Qualifikationsmerkmalen keineswegs unvermögend gewesen sein;¹⁰³ ihnen eignet eher die Rolle wohlhabender Hausherrinnen. Für einen Unterstützungsfall wäre das Zulassungsalter von 60 Jahren auch unbotmäßig (vgl. Standhartinger 107). So erscheint die Stellung der anerkannten Gemeindewitwen nicht an einen bestimmten Sozialstatus gebunden. „Die Existenz gemeindlicher Armenfürsorge erklärt die Konstituierung von Witwengruppen nicht“ (ebd. 109). Eine besondere gemeindlich öffentliche Funktion nach dem Modell des freilich ebenso umstrittenen Witwenamts der Alten Kirche lässt der Text nicht erkennen (vgl. ebd. 107 f ). Zu diesem in patristischer Literatur kaum belegten Witwenamt sei auf die einschlägige Literatur verwiesen¹⁰⁴ und hier nur das Nötigste referiert.
3.5.2 Das „Witwenamt“: weibliche Diakonie Die zum „Witwenamt“ in der Regel angeführten Texte (Ignatius, Smyr. 13,1; Polyc. 4,1; Polykarp, Phil. 4,3; Hippolyt, Trad. Apost. 10; 19; Const. Apost. 8,25; die syrische Didaskalie [vgl. Siegert, EHJL 242] 14 f u. ö.) haben die Tendenz, die Gemeindewitwen in die Kategorie der Almosenempfänger einzuordnen und sie vor allem aus einer etwaigen Rolle als theologische „Lehrerinnen“ aus der Öffentlichkeit zu verdrängen und überhaupt sie dem Bischofsamt botmäßig zu machen (vgl. Jensen 74.76; Korenhoff 246). Ihre Bezeichnung als „Altar“ (Polykarp, Phil. 4,3; Didaskalie 9) gibt eine passive Rolle an: durch ihre Unterstützungsbedürftigkeit werden sie zum Ort, an dem die Gemeinde ihre Gaben vor Gott darbringen kann.
Damit ist auch jede Art versteckter Polyandrie aufgrund von Scheidung ausgeschlossen; vgl. Bill. III 648. Dazu s. die Ausführungen von Wagener 187– 199; vgl. auch ARN 16 (6a) Bill.III 653. So schon Johannes Chrysostomos zu 1Tim 5,9 (In illud: vidua eligatur, MPG 51,323); vgl. zuletzt Wagener 200.222; Standhartinger 109. Z. B. die Überblicke bei Stählin 451– 454; Krause IV 52– 73; Thurston, The Widows 60 ff; Wagener 115 ff, bes. 172– 177; Korenhoff, „1Timotheus 5,3 – 16“, 238 – 250; Eisen, „Amtsträgerinnen“.
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Nach der in unserer Sache kritisch eingestellten Trad. Apost. 10 soll die Witwe nicht wie der Klerus ordiniert, sondern nur (ohne Handauflegung) gesegnet werden,¹⁰⁵ „da sie nicht die Gabe darbringt und kein liturgisches Amt hat“. Sie wird „zum Gebet eingesetzt; dies aber ist die Aufgabe aller“ (Text bei Jensen 77 f ). – In der syrischen Didaskalie wird die Gemeindewitwe vom Bischof ausgewählt und eingesetzt ohne ordinierende Handauflegung (15; 74,26). Sie untersteht seiner oder des Diakons Autorität (15; 79,38). Ihre Verpflichtung der Gemeinde gegenüber besteht im „unaufhörlichen“ Privatgebet (15; 79,10 – 12). Dieses ist Lohn für die Spender (17; 88,7– 14), heiliger wohlgefälliger Dienst vor Gott (18; 89,10) mit sühnender Wirkung (18; 90; vgl. Korenhoff 241). Daneben scheint es charismatisch begabte Witwen zu geben, die noch eine seelsorgerliche Tätigkeit (Hausbesuche, Bekehrungen, Feiern von Agapen, Fasten mit den Büßern, Handauflegung) ausüben (15; 80), von der Funktion des gemeindlichen Lehrens aber ausgeschlossen (15; 77,8.10 – 17) und in die Gehorsamspflicht dem Bischof gegenüber genommen werden (15; 79,36 – 80,10; Vgl. Korenhoff 244 f ). Über das (als Dienstleitung verstandene) Gebet für die Gemeinde daheim hinaus bleibt doch eher von einer gemeindlichen Funktionslosigkeit zu sprechen.¹⁰⁶ In jedem Fall wird in diesen Texten ein „Witwenamt“, wie immer es auch strukturiert war, in seiner öffentlichen Bedeutung heruntergespielt (Vgl. Jensen 76). Die Fürbitte für die Gemeinde (V. 5), „die einzige sichere, quasi-amtliche Funktion“ (Brox, Pastoralbriefe 189.193), auf die dazu gerne hingewiesen wird, gehört damit doch eher in den Bereich und in die Tradition der vom Verfasser hoch geschätzten häuslichen Privatfrömmigkeit verarmter Witwen. Die Analogie zu der sakralrechtlichen Anforderung an die Bischöfe und Diakone, nur einmal verheiratet zu sein (1Tim 3,2.12; Tit 1,6), könnte zwar für einen Amtscharakter des Ordo der Gemeindewitwen sprechen (Krause IV 54). Die betont vorangestellte Aufforderung in V. 3 dazu im Sinne eines „Ehrensoldes“ (Bartsch, Anfänge 112) als Parallele zur Bezahlung im Ältestenamt nach V. 17 f zu deuten, erscheint aber eher als Über- und Fehlinterpretation,¹⁰⁷ da in V. 3 ein Bezug auf die wirklich armen Witwen genommen wird, timan in den Pastoralbriefen ein breiteres Bedeutungsspektrum hat und eine Besoldung der – in der Regel doch eher wohlhabenden – Gemeindewitwen dem in V. 16 angedeuteten gemeindlichen Sparzwang und der restriktiven Haltung des Verfassers eigentlich zuwiderläuft. Es sei denn, dass man mit der Bezahlung jedem standesgemäß helfen wollte, seinen bisherigen Lebensstil zu wahren, wie es Armenpflege in den jüdischen Gemeinden rabbinischer Zeit empfiehlt; dazu vgl. z. B. SifDeb. 116 zu Dtn 15,8; bKet. 66a; 67b. – V. 17 f bildet zudem zur Interpretation von V. 3 eine
Die Ausg. Geerlings (FChr) gibt auf S. 240 (vgl. 172) die dem syr. Text zugrundeliegenden gr. Äquivalente: kathistanai („einsetzen“) ist für sie vorgesehen, aber kein cheirotonein, was hier heißen muss: „mit Handauflegung segnen“. Vgl. # 206 (Apg 6,6) im Gegensatz zu # 215 (Apg 14,23), wo cheirotonein lt. Grotius für das Handzeichen steht, das bei der Abstimmung gegeben wird. Wenn in Apg 6,6 noch gesagt wurde: „Sie legten ihnen die Hände auf“, so erweitert sich die Bedeutung von cheirotonein nunmehr auf diese Segensgeste. Vgl. Roloff 286; Jensen 74; Standhartinger 108 Sand 193 f; Brox 187; Merkel, Pastoralbriefe 42
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schwierige Parallele: wiewohl in V. 18b vom Lohn (für die Presbyter) die Rede ist, bleibt doch offen, wie man sich die Bemessung der Qualität der Arbeit und die Auszahlung eines Doppelgehalts bei einzelnen Ältesten praktisch vorstellen soll.
3.5.3 Schluss In Anbetracht der im Text getroffenen Restriktionen sollte man davon ausgehen, dass die Sonderstellung bestimmter Witwen in den Gemeinden Kleinasiens schon länger bestand. Die Konturen dieser Gruppe werden im Text nicht deutlich, da dieser die Ansprüche und Vorkommnisse im gemeindlichen Alltag der Witwen polemisch verzerrt. Als Motive dafür erscheinen vordergründig die Entlastung der Gemeindefinanzen (V. 16) und die Befürchtung des ökonomischen Missbrauchs der Zugehörigkeit zu dieser besonderen Gruppe (V. 11– 15). Hintergründig steht aber wohl ein Konflikt zwischen Charisma und Amt oder ein Interessenkonflikt zwischen Männern und Frauen um gemeindliche Führungspositionen an (Wagener). Der Text verrät die Anschauung des Verfassers, dass der Ort der Witwe das Haus und nicht die gemeindliche Öffentlichkeit ist (vgl. Roloff 292.). Er bekämpft Ansprüche der Gemeindewitwen, indem er das traditionelle Witwenbild stark macht.¹⁰⁸ Er möchte Führungsansprüche eines sich bildenden Witwenstandes mit der Ausübung eines katechetischen Dienstes in der Gemeindeöffentlichkeit im Rahmen seiner oikos-Theologie (vgl. # 34 zu Mk 1,29 etc.) von Gemeinde als patriarchalisch strukturiertem Haushalt Gottes mit den Männern im Amt als Hausvätern und unter der Verdächtigung des Irrlehrens (2,11 f; 5,13; vgl. # 352) ¹⁰⁹ so stark wie möglich herabdrücken. Rabbinische Texte hingegen kennen m.W. keinen Witwenstand als tragende und gestaltende Kräfte des Gemeindelebens. Für das Lebensvorbild von Witwen und der damit verbundenen geistlichen Autorität gibt es freilich in der Gestalt der (vermögenden) Judith und der (eher auf Almosen angewiesenen) frommen Hanna in Lk 2,36 – 38 frühjüdische Vorbilder.¹¹⁰ Beide Frauen genießen Autorität (aus Jdt 8,11.29.31 darf auch auf die neutestamentliche Hanna geschlossen werden) in der Gemeinschaft durch ihren Verzicht auf Wiederheirat (Jdt 8,4; 16,22) und durch die Funktion der besonderen Fürbitte für die Gemeinde (Jdt 8,31; 9,1.4; 10,1.9; 12,8; 13,4). Am Ende bleibt der sozial- und rechtsgeschichtlichen Beurteilung von Annette Merz in ihrer Auslegung von Lk 18,1– 8 grundsätzlich zuzustimmen („Die Stärke“ 673): Am chronischen Elend der Witwen und Waisen wird die Schwäche eines in patriarchalen und feudalistischen Strukturen gegründeten Rechtssystems, in dem Witwen (…) nur eine eingeschränkte
Vgl. Tsuji, Zwischen Ideal und Realität 104. Vgl. auch die Diskriminierung der „herumlaufenden Witwe“ in bSot. 22a Bar; jSot. 3 (19a) 37; BerR. 18 zu Gen 2,22, dazu Bill. III 653. Standhartinger 113 – 115 erwägt, zu ihnen auch die Therapeutinnen zu zählen, über die Philon in De vita contemplativa informiert.
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Rechtsfähigkeit hatten, besonders deutlich. Dies zeigt sich auch daran, dass in all diesen Texten Witwen und Waisen, Fremde und Arme ausschließlich wahrgenommen werden als Objekte des Handelns anderer. Sie sind entweder Opfer des gegen ihre Interessen gerichteten Handelns der Mächtigen und Reichen, oder sie sind Fürsorgeobjekte der in ihrem Interesse auftretenden Richter, Propheten oder Gott selbst.
[Manuskript abgegeben 2012, ergänzt 2019]
Folker Siegert
Thema 4: Bibel und Recht. Ein Durchgang vom Dekalog bis zur Gegenwart 4.1 Israels Rechtsbuch: Hebräische Bibel und Septuaginta 4.1.1 Die Hebräische Bibel, die Tora, der Dekalog Die Bezeichnung „Altes Testament“ für die Bibelbücher von Genesis bis Maleachi (oder, in anderer Reihenfolge, bis 2. Chronik bzw. in Erweiterung bis 2. Makkabäer) ist nur im Christentum gebräuchlich. Den ältesten Beleg liefert Paulus (2Kor 3,14, auf die Mosebücher bezogen). Diese Bezeichnung kontrastiert den Ausdruck Neue Verfügung, die dank Polysemie des Wortes diathēkē zugleich Testament ist (# 277; # 301), gegen eine Alte Verfügung, deren Urkunde die Tora war. Alles in den gedruckten Bibeln bzw. schon in den großen Handschriften auf die Mosebücher Folgende war damit zunächst ungenannt. Heute bezeichnet man dieses Ensemble, im christlich-jüdischen Gespräch vor allem, als „Hebräische Bibel“, auch wo man sie in Übersetzung liest.¹ Traditionell jedoch sagt man im Judentum statt „Altes Testament“ etwas anderes, nämlich tôrah, nebi’îm u-ketûbîm, „Tora, Propheten und (sonstige) Schriften“ (Kürzel: tenak). Hier ist der Vorrang der Tora vor den übrigen Bestandteilen ausgedrückt, und es wird eine ungleiche, nämlich abnehmende, Gewichtung vorgenommen zwischen diesen drei Teilen.² Diese geht aber nach „alt“ und „neu“ – in gut-antiker Höherwertung des Alten –; sie geht vor allem nach dem Unterschied des Präskriptiven gegenüber dem Deskriptiven. Die größte Autorität fällt der Tora zu, den fünf Mosebüchern, als Lebensregel des Judentums und einst auch als Landesverfassung. Eine moderne Übersicht des dort Gebotenen, quellenkritisch geordnet, findet sich bei Guy LASSERRE: Synopse des lois du Pentateuque, Leiden (usw.) 1994 (VT.S 59). Dort bieten die S. 197– 225, waagrecht gelesen, in Spalten nebeneinander die inhaltlich sich entsprechenden Bestimmungen aus folgenden Textcorpora: CA (code de l’Alliance) CS (code de sainteté)
Bundesbuch Heiligkeitsgesetz
(S. – ) (S. – )
Grundbestand von Ex , – , Reinheitsbestimmungen des Lev.
Dass kleine Teile dieses Textcorpus auf Aramäisch verfasst sind, darf dabei nicht stören; es handelt sich um eine Namensgebung (darum mit groß-H), also eine Konvention, nützlich v. a. für das christlich-jüdische Gespräch. Hier ist dann zusätzlich bemerkenswert, dass der im Christentum so wichtige Daniel nicht unter den Propheten aufgereiht ist, sondern erst unter den „Schriften“, also den Dichtungen. https://doi.org/10.1515/9783110658347-017
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C. Übergreifende Themen
CD (code deutéronomique) P (code des prêtres) Dcl (décalogue) AL (autres listes)
Deuteronomistisches Gesetz Priesterschrift Dekalog sonstige Reihen
(S. – )
Sonderbestimm. des Dtn (Soziales)
(S. – ) (S. f ) (S. – )
Vorwiegend Kultisches aus Ex.-Num. Ex , – par. Dtn , – Sonstiges aus Ex. und Dtn.
Zur Datierung: Die schlichten, leicht memorierbaren Reihen gelten als alt (vorstaatliche Zeit? Königszeit?), Dtn als vorexilisch, P (von Gen bis Lev reichend) als exilisch (586 – 536 v.Chr.), Num heutzutage als nachexilisches Zwischenstück zwischen P und Dtn–2Kön (dem sog. Deuteronomistischen Geschichtswerk). All diese Corpora enthalten auch älteres, welches sich, geht man die Kolumnen senkrecht durch, im ursprünglichen Zusammenhang lesen lässt. S. 157– 196 kommentiert die – zu diesem Zweck mit §-Nummern versehenen – Bestimmungen. Hinzu kommen die erzählenden Partien, die in der Genesis das Meiste ausmachen, im Deuteronomium dann nur noch wenig. Was nun die Bezeichnung Tora(h) betrifft für all dies, so übersetzt man seit Martin Buber dieses von j-r-h „zeigen“ kommende Wort³ mit „Weisung“, und als Oberbegriff über die darin enthaltenen Gebote und (überwiegend) Verbote wird neuerdings „Anweisung“ vorgeschlagen.⁴ Das Wort jedoch, das die Septuaginta-Übersetzer wählten und das dementsprechend überaus häufig im Neuen Testament wiederkehrt, ist nomos „Gesetz“ (s.o. A 2.2). Das ist insofern zu wenig gesagt, als die Tora zu erheblichen Teilen ein Erzähltext ist, und auch wieder zu viel, wenn dieser insgesamt mit der Bedeutung eines Gesetzeswerks, ja einer Nationalverfassung belastet wird; aber genau das war mit nomos im Judentum der hellenistischen Zeit gemeint, und dafür wurden die Mosebücher von den großen Apologeten des Judentums, Philon und Josephus, in Anspruch genommen. Dass das Ernst war und nicht nur Darstellung nach außen, kann man aus folgendem historischen Befund entnehmen: Keiner der Hasmonäerkönige ist als Gesetzgeber bekannt geworden (s. # 95), auch sonst keine jüdische Institution. Nach Mose – wer immer das war – hat es im antiken Judentum keinen Gesetzgeber mehr gegeben. Deutlicher lässt sich nicht mehr bezeugen, dass die Tora doch ein Gesetz war. Die jüdische Literatur aus der Zeit des Zweiten Tempels betont auf jede denkbare Weise: Das ist unser Gesetz – oder, wie man in Anspielung an Platon und an gewisse Pythagoreerschriften⁵ auch sagte: Das sind unsre Nomoi; auch wir haben solche, und sie stammen von einem Weisen und Kulturbegründer, der älter ist als alle anderen (Beweisziel von Josephus’ Contra Apionem). Im Gegensatz zu dem paganen Buchtitel bzw. der paganen Textsortenbezeichnung nomoi wurde dann für die fünf Bücher des Mose der Singular nomos üblich.⁶ Daraus physisch eine einzige Rolle zu machen, gelang nur im buchstabensparenden Hebräisch und auf zäh-robustem Leder. Als Name für das Auch gr. dikē kommt, wie oben gesagt, von deik- „zeigen“. So Timotheus ARNDT; s. Siegert, Kirche und Synagoge 122. Viele der unter den Namen des Charondas oder Zaleukos überlieferten Texte wollen Gesetze für griechischsprachige Städte Süditaliens gewesen sein; Nachweise: Siegert, Hell.-jüd. Predigten II 13 f Anm. 3. Siegert, Septuaginta 264– 266; ders., EHJL 230 f.
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Mosegesetz ist nomos sogar älter als der Singular tôrah (Siegert, Septuaginta 264– 266). Während deren Urtext noch Einzel-tôrôt im Plural enthält, wird in der Septuaginta regelmäßig mit einem anderen Wort (etwa entolē „Bestimmung“) übersetzt; nomos als Singular blieb für das Gesamte reserviert. Dem entspricht, dass inhaltliche Eingriffe für die Diaspora sich verboten. Nur im Mutterland ist noch in geringem Umfang gebessert worden, und nur dort hat man – auch nur bei den Essenern – Torot neu gebildet (s.o. B 1.1– 2). Soviel zum Buchtitel, und nun ein Wort zum Inhalt. Dieser Nomos ist es, dessen Zitierung im Neuen Testament Geltungsfragen aufwirft. Als Text längst buchstäblich festgelegt,⁷ war er, so sehr Teile davon (insbesondere vom Dtn) einstens Zivilgesetz gewesen sein mochten, insgesamt zu einem sakralen Gesetz geworden, vergleichbar den Kultgesetzen (man sagt auch: leges sacrae) der übrigen Alten Welt.⁸ Die Behauptung besonderer Heiligkeit für den Dekalog, wie sie sich bei Philon findet, ist im Christentum übernommen, von den Rabbinen dann aber wieder eingeebnet worden in Konsequenz der bereits getroffenen Entscheidung, dass jedes Wort – im Hebräischen jeder Buchstabe – der Gesamttora heilig sei. Dies ist die besondere Auffassung des Judentums von sich selbst im Unterschied zu allen anderen Kulturen der Alten Welt, dass es unter einem insgesamt sakralen, unveränderlichen Gesetz lebte. Die Beanspruchung der Tora, ja vorher schon des Nomos als Symbol einer Nation kommt aus dem Judentum der griechischsprachigen, mediterranen Diaspora. Sie wurde überboten durch die Behauptung von der universalen Gültigkeit dieser Gesetzgebung als Gottesgeschenk an alle Menschen. Jes 2,3 kündigt an – und manche Synagoge unserer Tage hat es an ihrer Fassade stehen – : „Von Zion wird Tora ausgehen und des Herrn Wort von Jerusalem“ (vgl. Flückiger, G.Naturr. 293; vgl. Exkurs 8). Diese Stelle hat die nachmalige Auffassung vom Naturrecht im Christentum nicht wenig beeinflusst (4.5.4; 4.6.2). – Ähnlich erwartete schon Mi 4,2, die Völker würden eines Tages nach Jerusalem kommen zum Gott Jakobs: „…und er soll uns zeigen (j-r-h) (einige) von seinen Wegen (= Lebensregeln)“, so wörtlich.⁹ Das wird im Zusammenhang mit dem Dekalog zu bedenken sein (# 60; # 69): Es passen tatsächlich nicht alle Lebensregeln des Dekalogs auf alle Völker; das Sabbatgebot zumindest, das in seiner Begründung nur auf Israel zielte, wird ausgenommen werden müssen. – Deuterojesaja schließlich (Jes 42,4) weist dem zu erwartenden Gottesknecht die Rolle zu, Recht (mišpaṭ) in Kraft zu setzen, „und auf seine Weisung (tôrah)¹⁰ werden die Inseln hoffen“: „Die Inseln“ meint Griechenland, den Is-
Die minimalen Varianten, die sich in Tora-Handschriften aus Qumran gefunden haben, beweisen jedenfalls die Absicht hierzu. Achenbach, „Leges sacrae“ passim. Die Septuaginta wandelt das ab: „…und man wird uns den Weg des HERRn zeigen“. Da ist an Priester gedacht, die die ganze Tora zu lehren haben. Die Septuaginta verändert hier noch mehr: Statt „Recht“ hat sie, wie schon zu erwarten, „Gericht“, und statt „Weisung“ hat sie „Name“.
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raeliten bekannt vom Archipel her.¹¹ Über eine Tora des Messias ist dann auch spekuliert worden, und auch darauf wird einzugehen sein (# 125). Einstweilen aber stellen wir uns, mit Blick auf das griechisch geschriebene Neue Testament, eine zur obigen „Verfassungsgeschichte Judäas“ (B 1) komplementäre Frage, das griechischsprachige Judentum betreffend: Wie weit ist ein juristisches Verständnis der Septuaginta überhaupt nachweisbar?
4.1.2 Die Septuaginta als Rechtsbuch Die Übersetzung „der Siebzig“, auch wenn sie, als nomos bezeichnet, die Verfassung Israels sein sollte zum Vorzeigen nach außen, war nach innen hin, wie die Wortwahl ihrer Übersetzer vielfach erweist (oben A 2.1.2), eine Lebensregel zu eigener freiwilliger Befolgung. Sie war für die Diaspora, wo kein jüdischer Kult stattfand, jedenfalls keiner mit Opfern, umständehalber nur oder vor allem Ethik. Ihr Geltendmachen nach außen bezog sich auf die Nichtteilnahme an heidnischen Bräuchen und Verpflichtungen, war also zunächst negativ. Gab es Situationen, wo sie vielleicht doch durchsetzbares Recht war? Angleichungen der Septuaginta an ptolemäische Rechtsverhältnisse hat Elias Bickermann im Bereich des Ehe- und Erbrechts nachweisen können;¹² das zielt auf positive Handhabung. Für die römische Zeit wissen wir zusätzlich, dass den Provinzen ein beachtlicher Grad an „Autonomie“ (so der offizielle Ausdruck; oben A 3.1) gewährt wurde. In der kaiserlichen Domäne Ägypten galt das zwar nicht mehr für die Griechen, in mancher Hinsicht aber doch für die Juden (s.u.). Doch um zunächst in der hellenistischen Zeit zu bleiben: Aus ägyptischen Papyri, die schon Jean Juster 1914 verwerten konnte, ist bekannt, dass die ägyptische Justiz gelegentlich, wo es die Rechtsuchenden erheischten, nach dem Mosegesetz in seiner griechischen Fassung entschied. Ein schönes Beispiel hierfür ist nunmehr der seit 2001 bekannte P. Polit. Jud. 4 (Fajjum, 134 v.Chr.), wo ein Paar von Griechen in Ägypten bzw. griechischsprachigen Ägyptern eine Verlobung nach jüdischem Recht eingegangen war und gegen deren Auflösung seitens des Brautvaters Widerspruch einlegt vor dem Gericht des dortigen jüdischen Politeuma.¹³ Text und Kommentar s. Arzt-Grabner, „Die Stellung“ 129 – 133 sowie unten # 121. Dass hier an ein jüdisches Gericht appelliert wurde, erweist sich an dem auf Papyri bisher nicht bekannt gewesenen Fachausdruck biblos apostasiou aus Dtn 24 LXX. Weitere Beispiele aus diesem Bündel von Verwaltungs- bzw. Gerichtsakten bespricht Arzt-Grabner 133 – 139. Die Entscheidungen wurden gefällt von den Archonten dieses Politeumas unter dem Vorsitz des Politarchen (was wohl ein jährliches Wahlamt war, wie in griechischen Städten) oder von den Ältesten (presbyteroi, # 215). Sie handelten in ihrer Funktion (nicht Der Name für Griechenland ist in der Hebräischen Bibel jawan, „Ionien“ oder eben ha-’ijjîm „die Inseln“ für den Archipel. Näheres bei Siegert, Septuaginta 294 (nur der Bezug auf Lev 21,13 dort ist zu streichen) und EHJL 232. Zu diesem Ausdruck s.u. 4.2.3 sowie # 327.
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ihrem Beruf ) als kritai „Richter“. Ein gewisser Instanzenzug ist erkennbar auf P. Polit. Jud. 6 in der Beschwerde eines Theodotos gegen einen Timotheos (das sind jüdische Namen auf Griechisch) gegen eine Presbyter-Entscheidung „an die Archonten des 36. Jahres“ (das war 135/134 v.Chr.). Das sei an dieser Stelle vermerkt im Hinblick auf die Frage, ob es Gerichtsinstanzen auch in Judäa gab (# 127). Der Grundsatz war offenbar, dass ein Vertrag, der nach einem bestimmten Recht geschlossen worden war, nach diesem besonderen Recht auch beurteilt wurde – das bedeutete im Fall Ägyptens eine Wahl zwischen griechischen, herkömmlich-ägyptischem oder in der Septuaginta zu findendem jüdischem Recht.Weitere Beispiele werden unter 4.2.3 vorzustellen sein, aufgrund deren Wolff/Rupprecht (Recht 58) hinzufügen: „Zum Rückgriff auf ein Heimatgesetz konnte es (…) nur kommen, wenn dieses dem Gericht vorgetragen wurde.“ Schon dafür war eine griechische Fassung des Mosegesetzes nötig.
4.1.3 Philons Schriften – eine Rechtsquelle? Diese Befunde machen neugierig auf die Schriften Philons: Geben sie uns etwa Auskunft über vorrabbinische Halacha (4.3.), soweit diese im damaligen Diasporajudentum vergleichbar war? Könnte eine Durchsicht der Schriften Philons, insbesondere seiner vier Bücher De specialibus legibus, nach Niederschlägen konkreter Rechtspraxis im damaligen Alexandrien, diese als Rechtsquelle erweisen? Die Antwort von Heinemann, Philons griechische und jüdische Bildung, der dieser Frage im Detail nachging (152– 446), ist negativ:¹⁴ Philon sucht vor allem die gedankliche Verbindung zwischen biblischen Vorgaben, nämlich dem Septuaginta-Nomos, und der griechischen Philosophie.¹⁵ Da wo er einigermaßen konkret wird, ähneln seine Angaben weit eher griechischem Recht als der vorrabbinischen Halacha Judäas.¹⁶ Heinemanns Gesamtergebnis ist – wohl entgegen seiner eigenen Erwartung – „Philons völlige Unabhängigkeit von jener Weiterbildung des biblischen Rechtes, die wir in der Mischna finden“ (327). Das Gesamturteil über die nichtjuristische Art, wie Philon seinen Stoff behandelt, lautet bei Heinemann so (519):
Vgl. Alon, Jews 89 – 137: „On Philo’s halakha“; zustimmend Elon, Jewish Law IV 1030 f.1037. Der Anspruch eines Neuansatzes, Philon für vorrabbinische Halacha zu beanspruchen, ist R. HECHT: „Preliminary issues in the analysis of Philo’s De Specialibus Legibus“, Studia Philonica 5, 1978, 1– 55. Er berücksichtigt Heinemann erst auf S. 18 f und gibt als dessen Resultat ungefähr das an, was dieser gerade bestritten hatte, nämlich dass er mit den „Weisen“ Judäas im Gespräch gewesen sei. Nur diese, und nicht die Philologie, interessiert ihn. Die alexandrinische Bibliothek erwähnt er mit keinem Wort; er hat sie vermutlich nicht gekannt, und die kritische Philologie der dortigen Gelehrten ist ihm fremd. Seine Kenntnis der griechischen Literatur kommt von Privatlektüre und letztlich wohl von Hauslehrern. 152 f.209.211.228 – 230.259.327.488.490, im Endresümee bes. 534.542.557. Was der vielzitierte E. R. GOODENOUGH einst über jüdische Gerichtsbarkeit in Alexandrien vermutete, weist er mit guten Gründen als phantastisch zurück (z. B. 223 f ).
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Ein (…) Symptom der durchaus unwissenschaftlichen [= unhalachischen] Art Philons ist, daß er eine ernsthafte Erwägung ethischer Probleme, insbesondere in Konfliktsfällen, gar nicht kennt und sich in echt homiletischer Weise mit der erbaulichen Einschärfung des von vornherein feststehenden Ergebnisses begnügt.
Zur Führung eines Prozesses, vor welchem Gericht auch immer, hätten Philons ToraAuslegungen keine Relevanz gehabt. Was Philon stattdessen treibt als Apologet jüdischer Eigenart – nach innen zuvörderst, aber auch nach außen –, ist die Plausibilisierung des Toragehorsams durch allegorisierende Auslegung des Pentateuchs in Richtung auf einen oftmals sogar mehrfachen symbolischen Mehrwert. Dieses Verfahren soll auch seine These stützen, das mosaische Recht sei offenbartes Naturrecht.¹⁷ Diese wiederum hat Nachklang gefunden in dem zu Grotius’ Zeiten erschienenen, sehr einflussreichen Werk von John SELDEN, De iure naturali et gentium iuxta disciplinam Ebraeorum (1640; vgl. 4.6.3 sowie # 216, Exkurs), aus welchem auch Pufendorf seine Kenntnis der jüdischen Positionen, die rabbinischen eingeschlossen, bezieht. Was in den Papyri als Angleichung an hellenistisches Recht nachweisbar ist, das ist bei Philon eine förmliche Anlehnung – wenn er etwa in Decal. 141 die Vereidigung von Richtern für jüdische Tradition hält, was sie nie war. Bei ihm wird das jüdische Recht, auch um den Preis von Ungenauigkeiten, dem griechischen so ähnlich gemacht, wie die Collatio (s.u. 4.3.5) es dem römischen annähert. Philon gibt sich als Platoniker; „Wirklichkeit“ (ta onta) sind für ihn Begriffe. Entsprechend gering ist sein Respekt für die tatsächlichen Gegebenheiten. (Umso schlimmer für sie, wenn sie nicht zu den Begriffen stimmen, hätte Hegel gesagt.) Wie die politischen Verhältnisse im römischen Alexandrien beschaffen waren, lässt sich aus seinen Traktaten, selbst wo sie politischen Inhalts sind (Flacc., Legat., Prov. I und II), kaum erheben. Rom durfte in ganz Ägypten machen, was es wollte, und selbst im Einfordern von Verlängerungen der Privilegien Caesars musste man bei den jeweils folgenden Caesaren vorsichtig sein. Sie taten es nur aus politischer Vernunft und nicht weil sie sich an die Worte ihrer Vorgänger gebunden fühlten. Hier hat sich Philon einer blutigen Täuschung hingegeben, wie sich zeigen wird, sobald wir von der anderen, der römischen Seite aus die Rechtslage in seiner Heimatstadt Alexandrien ins Auge fassen (4.2.3). Eine Gegenprobe, was Wirklichkeitskontakt betrifft, ließe sich vornehmen anhand derjenigen Torabestimmungen, die Philon übergeht selbst an solchen Stellen des von ihm erhaltenen Werkes, die dazu Anlass geboten hätten. Heinemann, Bildung gibt eine Aufzählung (519 f ), wo man sich fragen möchte, ob die betreffenden Mosegesetze unserem Alexandriner peinlich waren oder mangels konkreter Praxis einfach nur irrelevant. Wir heben uns diese Frage auf bis zum Durchgang durch die Rechtsgebiete im Einzelnen (4.2.4).
Das SPhA 15, 2003, ist hierzu eine Sondernummer. Neueres bei Kamesar, Cambridge Companion to Philo 169 f.244.247.
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4.2 Das römische Recht im Osten des Reiches Was dem römischen Recht im Osten des Reiches den Weg gebahnt hatte, ehe die Römer auch nach Judäa kamen, war die Rezeption hellenistischen Gewohnheitsrechts. Im Judentum sowohl der Diaspora wie Judäas selbst wurde üblich, Testamente zu schreiben, Verträge zu schließen, Zinsen zu nehmen u. a.m., Dinge, die die mosaische Verfassung nicht gekannt hatte. Wir müssen uns auf vielfältig gemischte Verhältnisse einstellen.
4.2.1 Der Hellenismus als Wegbereiter. Griechisches Recht in den Ostprovinzen Zum griechischen Recht, das über die hellenistische Kultur in vielen Details nun auch Gewohnheitsrecht des Ostens geworden war, s. die Kurzdarstellungen bei Selb, Antike Rechte 82– 96 oder in NTAK I 253 (M. MIGLIETTA), ferner # 2, Exkurs I. Während Ludwig Mitteis in Reichsrecht und Volksrecht in den östlichen Provinzen des römischen Kaiserreichs (1891 u. ö.), seiner Zeit gemäß, noch geneigt gewesen war, vorrömische Volksrechte (im Plural) auszumachen, sagt Wenger, Stellvertretung 3 Anm. 1: „Das eine griechische Stammrecht, aus dem wir auf die anderen schließen müssen und über das wir allein genügend Quellen haben, ist aber das attische Recht.“¹⁸ Joseph Mélèze-Modrzejewski bestätigt das für Judäa: „Hellenistisches“ Recht ist griechisches Recht,¹⁹ und: Was man früher als „hellenistische Rechtskoinē“ bezeichnete, „die aus griechischen und orientalischen Elementen gemischt wäre“ (so noch Dieter Nörr), ist attisches Recht, so wie es sich mit den Städtegründungen Alexanders d.Gr. ausbreitete, allenfalls unterminologisch ausgedrückt. Schon in Athen war die Regel, dass nur solche Gesetze vor Gericht galten, die von den prozessführenden Parteien zitiert werden konnten.²⁰ Im ptolemäischen Ägypten wurde gleich verfahren (4.1.2); hierbei waren Einmischungen von Lokalem nicht ausgeschlossen. Es gab ein Nebeneinander unterschiedlicher Rechte, die vor demselben Gericht geltend gemacht werden konnten; dabei hatte man allerdings immer nur einen Versuch. Was mithin als Einfluss auf das antike Judäa in Betracht zu ziehen ist, hat einen sehr einfachen griechischen Ursprung. Die griechischsprachigen Eroberer des Ostens, wenn auch unter makedonischer Führung, orientierten sich an dem militärisch zwar besiegten, kulturell jedoch überlegenen Attika.²¹ Damit ist nicht nur die Verfassung Athens
Das heißt nicht, dass es entsprechend dominiert haben müsste (was Selb 89 f nämlich bezweifelt); aber es ist eben literarisch am besten belegt. Mélèze-Modrzejewski, „What is Hellenistic law?“ 8. Folgendes: ders., „Hellenistic Law“ 21. Wesel, Geschichte 125: „Gesetzliche Bestimmungen, auf die man sich berief, mußte man selbst vortragen.“ Die Situation des Victi victoribus leges dederunt (# 97) gab es also schon einmal. – Attikas Rechtsgeschichte beginnt mit dem Gründer Athens, Theseus, und weist v. a. Solon als Reformer auf. Plutarch in seinen diesbezüglichen Biographien bietet viele Details, auch darüber, wie man aus Erfahrung lernte. Als
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(Politeia Athēnaiōn, ein Aristoteles-Text, auf 1 Papyrus erhalten), sondern es sind auch, was Einzelheiten des Zivil- und Strafrechts betrifft, dessen Redner, zumal der glühend antimakedonische Patriot Demosthenes, zitierbar als Quellen für„(gemein‐)griechisches Recht“,²² wo immer dieses im Osten fortgewirkt hat. Für die Praxis im Bereich des Zivilrechts wissen wir aus dem hellenisierten Osten dann weit besser Bescheid als aus Griechenland selbst, müssen dann allerdings aus ägyptischen Papyri das abziehen, was dort landesspezifisch ist gegenüber Judäa. Dort ist seit den Hasmonäern eine eigene Mischung von Einheimischem und Ausländischem spürbar. Auffälligstes Beispiel, was Judäa betrifft, ist die Kreuzigungsstrafe: Nicht die Römer, sondern, längst vorher, hasmonäische Könige haben sie eingeführt (Juster II 165; das meint Alexander Jannai, den „Zorneslöwen“ der Qumran-Schriften). Pontius Pilatus brauchte sich da nichts Neues einfallen zu lassen. Herodes sodann hat solch unjüdische Maßnahmen vorgenommen wie Befragungen unter Folter (sogar von Frauen: Jos., Ant. 15,290), Verurteilungen ad bestias, Verkäufe von Schuldsklaven an Nichtjuden und Verbannungen (Juster II 128 Anm. 5). Bernard Jackson bemerkt sehr plausibel („Roman influence“ 171), dass es für Judäer der damaligen Zeit, die fremde Rechte aus der Anwendung kennenlernten und nicht aus den Texten, kaum unterscheidbar und darüber hinaus auch gleichgültig war, ob es griechische Fremdeinflüsse waren, ausgelöst durch die Alexanderzüge, oder römische, die mit der Provinzialverwaltung Eingang fanden. Gemeinsames Ausdrucksmedium war ohnehin die griechische Sprache. Noch weit bis in rabbinische Zeit hieß der Marktaufseher (ein Amt, das man vorher nicht hatte) im ganzen Osten ’agradmôs, ’agradêmôs o. ä., von agoranomos (# 142). Und wer dieses Amt wahrnahm, war nicht selten ein Römer. Ein Wort dieser Art, das uns theologisch sehr beschäftigen wird, ist das schon von der Septuaginta verwendete diathēkē „Testament“. Jackson (a.a.O. 194) schätzt, dass Einfluss des griechischen Rechts v. a. im Bereich von zivilen Prozeduren und Klagen stattgefunden hat, wohingegen im Strafrecht, zumal in der sog. kapitalen Gerichtsbarkeit (die über Todesstrafen befindet) eher der römische Einfluss vorherrscht. Das ist nicht zu verwundern, lernte man doch den Handel von den Griechen, und die Römer setzten Ordnung durch, zumindest in den schwereren Konflikten.
leitende Werte benennt er aidōs, dikaiosynē, to ison, to philanthrōpon (Ziegler: „Ehrfurcht, Gerechtigkeit, Billigkeit und Menschlichkeit“, Theseus 6). Der Versuch einer Ewigkeitsklausel hingegen kommt aus Sparta: # 395. Gut lesbare, detaillierte Darstellung: Wesel, GRE 16 – 46. Dort auch eine Erklärung dafür, dass zwar Republiken, aber keine eigentliche Rechtswissenschaft auf diesem Boden entstanden sind: Jeder Bürger hatte sein eigener Jurist zu sein. „Die Griechen sind die Erfinder der Legalität. Der Kläger oder Ankläger muss vor den Richtern das Gesetz nennen, auf das er seine private Klage oder strafrechtliche Anklage stützt“ (43).
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4.2.2 Caesars Privilegien für die Ioudaioi des Reiches Der Tempelstaat Judäa, nach außen vertreten durch seinen Hohenpriester bzw. dessen Abgesandte, war seit dem in 1Makk 8,22– 32 berichteten und auch in 2Makk 4,11 erwähnten „Freundschafts“-Vertrag des Judas Makkabäus mit dem römischen Volk, geschlossen mit dem Senat durch zwei Abgesandte Judäas, Eupolemus und Iason (die sicherlich den „Hohenpriestern“ angehörten); Judäa befand sich fortan in einem Bündnisverhältnis mit Rom (s.o. B 1.10.1). Dies war, um auf das zum Stichwort berît noch zu Sagende (# 277) vorzugreifen, ein Bündnis zwischen Ungleichen, und zwar nicht nur was das Machtgefälle betrifft, sondern auch im Hinblick auf den Begriff der Souveränität: Während in Rom das Volk sein eigener Gesetzgeber war, in der Republik wie auch noch im Prinzipat, war in Judäa das Volk nicht Souverän seiner Gesetzgebung. Diese galt als jedem menschlichen Zugriff entrückt. Das Bündnisverhältnis mit Rom hat auch nach der Niederschlagung des judäischen Bürgerkriegs durch Pompeius i.J. 63 v.Chr. fortbestanden, oder zumindest ist von einer Kündigung nichts bekannt. Was Ioudaioi außerhalb des Stammlandes betraf, so berichtet uns Josephus einiges über politische Abkommen mit Stadtstaaten Kleinasiens, worauf hier aber nicht näher einzugehen ist, da in der Kaiserzeit, die mit Augustus beginnt (# 91) die Dinge von Rom aus gesteuert wurden. Was diese nun betrifft, waren die Ioudaioi, wo immer sie sich befanden, in der günstigen Lage, von Caesar her privilegiert zu sein. Sie waren in dessen Kriegen gegen seinen Rivalen Pompeius weltweit seine Parteigänger gewesen – kein Wunder: Pompeius war ja derjenige gewesen, der verbotenermaßen den Jerusalemer Tempel betreten hatte. Nunmehr, seit den Siegen Caesars, wozu auch die Eroberung Ägyptens gehörte, genossen die „Judäer“, wo immer sie auch lebten, eine Reihe von Privilegien, die ihnen ein hohes Maß an kultureller und organisatorischer Eigenständigkeit garantierten.²³ Die Texte sind leider schlecht erhalten,²⁴ lassen aber das Wichtigste erkennen. Das war„eine wahre Magna Charta, die ihre Privilegien garantierte“ (Juster I 217), nämlich: ‒ Befreiung von jeder Art von Staatsreligion (Rücksicht auf das Bilderverbot); ‒ Schutz der Arbeitsruhe am Sabbat (daher auch Befreiung vom Militärdienst); ‒ Schutz der jährlichen Überbringung der Tempelsteuer nach Jerusalem.
Das kam auf Seiten Caesars nicht so sehr aus Dankbarkeit (solch edle Gefühle merkt man bei ihm selten) als vielmehr aus Kalkül. Man schätzt, dass ein Siebtel des von ihm beherrschten Reiches aus Ioudaioi bestand – mit größerer Dichte im griechischsprachigen Osten als im Westen; s. B. MCGING: „Population and proselytism. How many Jews were there in the ancient world?“ in: Bartlett, Jews 88 – 106. Dass Babylonien, nicht weit außerhalb der Reichsgrenzen, weitere Populationen aufgenommen hatte, wird man in Rom gewusst haben. Juster I 217– 224 (Texte); Schürer/V. I 272 f und III 116 f, hauptsächlich nach Josephus, Ant. 14,185 – 267; vgl. C.Ap. 2,37.61. In Ant. 14,188 täuscht sich Josephus allerdings (oder täuscht uns) im Datum: Nicht Caesar, sondern nur Augustus kann den dort zitierten Text im eroberten Alexandrien aufgestellt haben. Dazu ein „völkerrechtliches“ (genauer: Privilegien der Zentralmacht an ihre Vasallen betreffendes) Detail: Rechtlich waren jüngere Privilegien mehr wert als ältere, von diesen vielleicht überholte.
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Von Loyalitätsbekundungen kultischer Art waren die Judäer sogar in ihrem Zentralheiligtum ausgenommen: Es genügte ein von Caesar selber gestiftetes, von seinen Nachfolgern weiterfinanziertes tägliches Opfer zugunsten des Reiches und seines Herrschers (# 91). Nach einem kurzfristigen Konflikt unter Caligula war dann endgültig geklärt, dass Juden nicht zum Kaiserkult verpflichtet waren (# 392). Das galt auch weiter, als der Tempel nach dem Krieg von 66 – 70 nicht mehr bestand. Teilnahme an öffentlichen Opfern wurde nicht erwartet, sondern Gebete für das Heil des Reiches (salus imperii) am Tempel und in den Synagogen genügten. Diese Privilegien blieben nach 70, so sehr man Judäa auch „bestrafte“, unwiderrufen (Juster I 224– 227), hatten die in den übrigen Ländern lebenden „Judäer“ doch klugerweise stillgehalten. Angesichts eines erheblichen Anteils der Reichsbevölkerung, den sie damals ausmachten – vielleicht ein Siebtel (s.o. Anm. 23) –, war das von Roms Seite eine umsichtige Politik. Nur die Christen haben von ihr nicht profitiert, wie zahlreiche Perikopen aus der Apg. und aus der Apk. zeigen werden: Sobald sie sich vom Judentum zu unterscheiden begannen – der Fiscus Judaicus nach 70 forcierte das – gerieten sie zwischen die Stühle. Das ist der Anfang einer langen Geschichte von Martyrien, wovon fürs Neue Testament aber nur eines zu erwähnen ist (# 392; Apk 2). – Für Ruhe und Ordnung sorgte zu allen Zeiten die römische Armee, in Antiochien stationiert mit (respektvollerweise) nur kleinen Abordnungen in Caesarea Maritima und einer noch kleineren in Jerusalem, dort allerdings direkt am Tempel (# 164). Oberster Richter für den Provinzteil Iudaea war zur Zeit Jesu der Präfekt Pontius Pilatus (# 92). Er übte – zu seiner Militärgewalt hinzu – das Amt eines Praetors aus, wobei, wie überall in den Provinzen, jenes Recht nicht vorgesehen war, das römische Bürger in ihrer Heimatstadt genossen, nämlich an den Volkstribun appellieren zu können. Der nächste Band wird an den Evangelientexten aufzeigen, welche Rechtsverhältnisse im Judäa der Zeit Jesu herrschten. Im Großen und Ganzen war es ein gut funktionierender Kompromiss. In Sprachen des Ostens wie des Westens wird sich angeben lassen, wie der Fall zu benennen und welche Lösung zu erwarten war. In allem, was nicht Staatsinteresse tangierte, blieb der Respekt vor der Tora unangetastet, außer einmal unter Caligula, als dieser zumindest vorhatte, das Bilderverbot zu übergehen (Schürer/V., History III 121 f ), und ein andermal unter Hadrian, als er – wem und wann, ist nicht ganz klar – die Beschneidung verbot (ebd. 537– 540; # 217). Wie oben schon erwähnt, ist hellenistisches Gewohnheitsrecht in den letzten Jahrhunderten v.Chr. auch in Judäa eingedrungen. Begriffe des hellenistischen Rechts – diathēkē etwa, auch Wörter für „Vertrag“, „Anwalt“ und viele andere Rechtsinstitute bürgerten sich ein, ganze Rechtssätze allerdings kaum. Die griechischen Fremdwörter noch bei den Rabbinen zeigen an, dass gewisse Lücken – etwa im Erbrecht und im Wirtschaftsrecht – gefüllt wurden, ehe der pharisäische Purismus und später die rabbinischen Reformen diese Entwicklung zurückzudrängen vermochten. Es sieht nämlich nicht so aus, als ob die Herrschaft der Hasmonäer, obwohl aus einem Protest gegen die Hellenisierung des Tempelkults entstanden, sich ihr widersetzt hätte. Allein schon dass die völlig unjüdische Todesstrafe der Kreuzigung von ihnen gehandhabt wurde, längst bevor es dann auch die Römer taten, spricht eine andere Sprache – um nur den ältesten
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und zugleich spektakulärsten Fall unter Alexander Jannai hier zu erwähnen, Josephus, Bell. 1,97. Zum Fall Jesu werden wir erfahren: Todesstrafen nach mosaischem Recht hat es noch gegeben, natürlich nur gegenüber Judäern (# 207: Stephanus). Solange es Einzelfälle waren, welche die öffentliche Ordnung eher wahrten als störten, bestand für Roms Funktionäre kein Grund zum Eingreifen. Im Falle der Steinigung des Jakobus, des Bruders Jesu, war lediglich ein Formfehler zu rügen (ebd.). So ist denn von einem ideologischen Konflikt, wie man ihn aus Joh 19,7 vermuten könnte, kein Beleg zutage gekommen. Keine der im Prozess Jesu sich gegenüber stehenden Seiten, jüdisch oder römisch, machte geltend, man verfüge über „göttliches“ Recht, das von jedermann respektiert werden müsse. Die Römer hatten ihr Recht, nach dem sie auch in den Provinzen lebten und regierten, und die Judäer wiederum hatten ihren Nomos, der in Judäa gelten durfte und in den Diasporagemeinden intern auch. Dieser modus vivendi, säkular in sich, überdauerte das Ende des judäischen Tempelstaates in all den Gebieten außerhalb des Jerusalemer Umlandes, wo Juden weiterhin leben durften. Ein heikles Problem war vor wie nach 70 die Kollaboration mit Rom im Strafrecht. Wollte eine jüdische Instanz einen Straftäter gegen dessen Widerstand belangen, war, zumal in rabbinischer Zeit und ohne Polizei, Amtshilfe von Seiten Roms erforderlich. Oder, vonseiten Straffälliger aus gesehen (Safrai, „Jewish self-government“ 408): Eine Begrenzung [jüdischer Eigengerichtsbarkeit], die jüdischen Gerichten zeitweise Schwierigkeiten bereitete, bestand darin, dass Juden, die sich ungerecht behandelt fühlten von einem jüdischen Richter, an den römischen Gouverneur appellieren und über den Richter Beschwerde führen konnten.
David Daube, Collaboration with Tyranny (bes. 18 ff.69 ff ) hat Fälle dargestellt, wie sie sich in rabbinischer Literatur finden (mit tyranny übersetzt er malkût, was die römische Provinzverwaltung meint), situationsgemäß in der Zeit nach 70 n.Chr. Diese Vorkommnisse waren extrem peinlich für diejenigen, welche Anzeige erstatteten, und mögen darum sehr selten gewesen sein. Auch dem Prozess gegen Jesus haftet diese Peinlichkeit an, worauf die Evangelien hinweisen. Auch Josephus sagt, „auf Anzeige unserer ersten Männer“ sei das Verfahren erfolgt, ohne zu sagen, wofür die Anzeige nötig war. Die Rolle des Pilatus in den Passionsgeschichten ist schillernd und birgt Probleme. „Richtet ihn nach eurem Gesetz!“ sagt in Joh 18,31 Pilatus voller Unmut, und die Jerusalemer behaupten: „Wir dürfen niemanden töten“, als hätte Rom ihnen das verboten, und um ihn zu einem Schuldspruch zu nötigen, setzen sie nach: „Wir haben ein Gesetz, und nach diesem Gesetz muss er sterben“ (Joh 19,7). Das klingt nach einem tiefen Riss zwischen mosaischer und römischer Rechtsauffassung und war einst Ausgangspunkt der Überlegungen für diesen Kommentar. Über die Jahre jedoch stellte sich umso deutlicher heraus, dass ein Konflikt dieser Art von Rom aus zumindest nicht provoziert wurde; vielmehr war die Verwaltung der Provinzen, was das Rechtswesen betrifft, äußerst liberal. Ärger erregten die Steuern, und zwar nicht weil sie hoch gewesen wären –
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die Kopfsteuer war ein Tageslohn pro Jahr –, sondern weil die Münze, die auch den sonst nicht grund- oder erwerbssteuerpflichtigen Provinzbewohnern auferlegt wurde, ein Symbol der Unterordnung war. Hinzu kommt die ziemlich unsensible Verhaltensweise der damals regierenden Herodessöhne und -enkel, die bloße Kreaturen Roms waren. Politisch bestand also Spannung; aber was die Rechtsordnungen betrifft, hätten die Judäer ungehindert bei ihren so hochgeschätzten mosaischen Rechten, für deren Weiterentwicklung sie selbst sorgten, bleiben können. Am jüngeren Ende des für uns zu beachtenden Zeitraumes liegt das 2. Jahrhundert. Was dort die Situation Babatas betrifft, einer reichen Frau, die allen Ehrgeiz in die Förderung ihres Sohnes setzte (s.u. 4.4.1), so fügt Cotton ihrer in A 3.3 zitierten Bemerkung („Jewish Jurisdiction“ 18) hinzu: Babata scheint das Kommen der Römer als Morgenröte eines neuen Zeitalters zu sehen; sie wünscht, dass ihr Sohn „glanzvoll unterhalten wird (diasōthēi) im Dank gegenüber diesen seligen Zeiten unter der Regierung des Heerführers Julius Julianus“.
Letzteres, aus P. Yadin 15 Z. 10 f (innen) bzw. 29 f (außen) zitiert, wird in # 41 zur Erläuterung der politischen Bedeutung des Verbums sōizein „retten“ dienen, wie sie in der Bibelwissenschaft kaum bekannt ist, sondern eher von wohlfeiler Polemik gegen die pax Romana überdeckt wird.²⁵ Im Römischen Reich war die Versorgung der Bevölkerung Regierungsanliegen, juristisch gesprochen: Staatszweck. Hier bietet sich ein Vergleich an zwischen dem römischen Recht und dem jüdischen, soweit sie jeweils als Grundlage eines Staatswesens dienten. Das Verhältnis des Civilrechts, aus Erinnerungen an die Zwölf Tafeln und aus Volks- und Senatsbeschlüssen zusammengesetzt, zum dem im 1. Jh. bereits herrschenden praetorischen Recht lässt sich etwa so vorstellen wie im Judentum das Verhältnis der Tora (deren Hauptteil, die zwei Tafeln, materiell auch nicht mehr existierte) zur Halacha. In beiden Fällen sind beträchtliche Zeiträume überbrückt, mehr als ein halbes Jahrtausend (im Judentum evtl. viel mehr). Dabei zeigt sich eine Rochade: War in Rom das Ältere v. a. mündlich bekannt, das Neuere hingegen schriftlich fixiert, so war es im Judentum umgekehrt. Und was Geltung betrifft: Während das Civilrecht Stück für Stück praktischere Konkurrenz erhielt durch das Prätorenrecht und so durch eine Art fortlaufenden Plebiszits nach und nach abgelöst wurde, durfte im Judentum von der in Lederrollen vorhandenen Tora „kein Iota fallen“, ja im Hebräischen auch „kein Häkchen“, keine Verzierung (Q 16,17; # 18). – Im Rückblick auf viele Jahrhunderte der Geltung des römischen Rechts und im letzten Jahr seiner Geltung auch noch im Deutschen Reich sagt Naphtali Hirsch in einem
Lit. s. # 91 (K. Wengst). Wahr ist, dass die angeblich göttliche potestas der Kaiser nur eine dürftig kaschierte Militärdiktatur war, welcher der Senat seine Beauftragung zum imperium nur beifügte. Doch hat außerhalb seiner und zeitlich nach ihm (nach Ausgang der Antike) jahrhundertelang kein so verlässliches, die Bürgerinteressen schützendes Rechtswesen bestanden.
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Festvortrag „Das Vermächtnis Roms“ (Schriften 91– 101) gleich zu Beginn, das römische Volk habe sich ein Denkmal gesetzt in dem Kreise der Völker, das den Untergang seines Staates nun schon über ein Jahrtausend überdauert.²⁶ Nicht die uns noch erhaltenen Zeugnisse seiner Kunst oder die uns überlieferten Werke seiner Dichter und Philosophen sind ein solches Denkmal des römischen Volksgeistes. In ihnen offenbart sich (…) der hellenische Genius, dessen Blüten sich Rom angeeignet hatte. Eine wahre Schöpfung des römischen Volkslebens aber (…) ist das „Römische Recht“. Es ist das Vermächtnis Roms an die Völker. (…) So ist das Volk der Gewalt nach dem Sturze seiner Macht der Apostel des Rechts an die Völker geworden (…).
Abzüglich der „völkischen“ Begeisterung, die alsbald, auf germanischen „Boden“ umgesetzt, eine ganz andere Richtung nahm und die damit schon verdeckt, dass es sich um die Leistungen herausragender Intellektueller handelt, können wir im Blick auf das in diesem Kommentar zu Zeigende dieser Würdigung immer noch beipflichten. Hinter den Digesten, ja auch schon hinter dem schmalen Bändchen des Gaius steht ein ganz anderer Erfahrungshorizont als hinter dem Sachsenspiegel oder Benedikt Carpzows barbarischer Kriminalrechtslehre von 1635 (s. # 381). Der Talmud liegt auf der Seite der Digesten, hat sich aber durch seine Sprache eingekapselt. Was aus Richtung des Judentums an Rechtskultur nach Europa kam, ging über die Bibel, ihre Übersetzung und Auslegung, und diese war Sache der Christen. Die Sprache der Rabbinen blieb esoterisch, und das Anliegen ihrer Bemühungen war die Bewahrung der Besonderheit Israels. Was Hirsch demgegenüber dem Römertum neidlos anerkennt, ist die Flexibilität seiner Art von Rechtspflege. Mit Bezug auf das album der Praetoren beispielsweise erklärt er (92 f ): Hiermit (…) war die Möglichkeit gegeben, einer jeden neuen Erscheinung oder Erfahrung im Rechtsleben des Volkes alsbald die erforderliche Beachtung und Würdigung im Rechte und der Verwaltung zu gewähren[,] und sofern sich die aufgestellten Rechtssätze als zweckmäßig bewährten, wurden sie vom Amtsnachfolger stets beibehalten und zu dauerndem Rechte, während andererseits etwaige Mißgriffe in der rechtlichen Behandlung in dem neuen Edikte des Amtsnachfolgers alsbald ihr Korrektiv finden konnten.
Vor diesem Hintergrund und dem von B 1 („Verfassungsgeschichte Judäas“) kommen wir zurück auf die Frage, was jüdisches Recht in neutestamentlicher Zeit war und welche Umbrüche es gerade damals erfuhr.
Hirsch, von Beruf Justizrat in Frankfurt (M.), hielt diesen (in der Druckfassung undatierten) Vortrag offenbar in den letzten Tagen des in manchen Gegenden Deutschlands noch geltenden römischen Rechts. Dessen Anliegen sind im BGB, wie es ab 1.1.1900 im ganzen Deutschen Reich in Kraft trat, aufgenommen; dieses galt es mitzufeiern.
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4.2.3 Der Sonderfall Ägypten Literatur (zusätzlich zu der in B 3 und im Literaturverzeichnis am Ende dieses Bandes genannnten):²⁷ Acta Alexandrinorum, hg. H. MUSURILLO (BT), 1961 R. ARNALDEZ/C. MONDÉSERT/J. POUILLOUX (Hg.): Philon d’Alexandrie. Lyon 11 – 15 septembre 1966 (Colloques nationaux du CNRS), 1967 E. BALOGH/H.-G. PFLAUM: „Le ‘consilium’ du préfet d’Egypte. Sa composition“, Revue historique de droit français et étranger, 4e série, 30, 1952, 117 – 124 F. BURKHALTER: „Les fermiers de l’arabarchie: notables et hommes d’affaires à Alexandrie“, in: Alexandrie: une mégapole cosmopolite. Actes du 9ème colloque de la Villa Kérylos les 2 et 3 oct. 1998 (Cahiers de la Villa Kérylos, 9), 1999, 41 – 54 F. CALABI/O. MUNNICH/G. REYDAMS-SCHILS (Hg.): Pouvoir et puissances chez Philon d’Alexandrie (Monothéismes et philosophie, 22), 2015 E. FRIEDHEIM: „Quelques notes sur la signification historique du silence philonien à propos de la bibliothèque d’Alexandrie“, in: C. RICO C./A. DAN: The Library of Alexandria. Proceedings of the Second Polis Institute Interdisciplinary Conference, 2017, 245 – 255 P. F. GIRARD: Manuel élémentaire du droit romain de, 5. Aufl. 1911 (6. Aufl. 1929) E. R. GOODENOUGH: The Jurisprudence of the Jewish Courts in Egypt, 1929 (1969) J. GAUDEMET: „La condition juridique des Juifs dans les trois premiers siècles de l’Empire“, Augustinianum 28, 1988, 339 – 359 S. HONIGMAN: „Philon, Flavius Josèphe, et la citoyenneté alexandrine. Vers une utopie politique“, JJS 28, 1997, 62 – 90 – : „Jewish communities of Hellenistic Egypt“, in: L. I. LEVINE – D. R. SCHWARTZ (Hg.): Jewish Identities in Antiquity. Studies in Memory of Menahem Stern, 2009, 117 – 135 – : „Les Juifs dans la société de l’Égypte romaine au croisement des sources documentaires et littéraires“, in: C. CLIVAZ/J. ZUMSTEIN (Hg.): New Testament Papyri in Context /Lire les papyrus du Nouveau Testament dans leur contexte, 2011, 131 – 167 A. KERKESLAGER: „Agrippa and the mourning rites for Drusilla in Alexandria“, JSJ 37, 2006, 367 – 400 A. LEONAS: „Notes concerning Philo’s chronology and social position“, Adamantius 24, 2018, 334 – 348 J. MÉLÈZE-MODRZEJEWSKI: Les Juifs d’Egypte de Ramsès II à Hadrien, 1991 – : „La Septante comme nomos: comment la Torah est devenue une ‘loi civique’ pour les Juifs d’Égypte“, in: Annali di Scienze Religiose 2, 1997, 143 – 158 = ders.: „The Septuagint as Nomos: How the Torah became a ‘civic law’ for the Jews of Egypt“, in: J. CAIRNS/O. ROBINSON O. (Hg.): Critical Studies in Ancient Law (FS Alain Watson), 2001, 183 – 199 A. M. RABELLO: „The legal conditions of the Jews in the Roman Empire“, in: ANRW II/13, 1980, 662 – 762 J. R. ROYSE: „The works of Philo“, in: A. KAMESAR (Hg.), The Cambridge Companion to Philo, 2009, 32 – 64 J. SCHWARTZ: „L’Egypte de Philon“, in: R. ARNALDEZ/C. MONDÉSERT/J. POUILLOUX (Hg.): Philon d’Alexandrie. Lyon 11 – 15 septembre 1966 (Colloques nationaux du CNRS), 1967, 35 – 44 F. SIEGERT: „L’Egypte de Philon : compléments d’histoire du droit“, in: S. MORLET/O. MUNNICH (Hg.): Les études philoniennes. Regards sur cinquante ans de recherche, 2021, 104 – 136 N. VEGA NAVARRETE: Die Acta Alexandrinorum im Lichte neuerer und neuester Papyrusfunde (Papyrologica Coloniensia 40), 2017
Für Hinweise auf viele der hier genannten Titel und kritische Mitarbeit an diesem Abschnitt danke ich Herrn Dr. Alexis LÉONAS, Historiker an der Gáspár Károli-Universität der Reformierten Kirche Ungarns in Budapest.
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M. VOGEL: „Exkurs: Jüdisches Bürgerrecht in Alexandrien“, in: Siegert u. a., Josephus: Ursprünglichkeit, Bd. 2, 130 – 135.
Ägypten lag sehr viel mehr im Blick der damaligen Weltpolitik als Judäa, war es doch Roms Kornkammer. Zudem hat sein trockener Sand uns ganze Bibliotheken an Papyri konserviert, und nimmt man auch noch den – allerdings höchst subjektiven – Blick Philons v. Alexandrien auf die Dinge hinzu, so sind wir über die dortigen Verhältnisse zehnmal besser informiert als über die judäischen. So seien sie hier berichtet als Fallstudie für römische Politik im Osten, aus welcher mit gebotener Vorsicht auch auf judäische Verhältnisse wird geschlossen werden können. Jüdische Sondersiedlungen mit Selbstverwaltung (politeumata), wie wir sie verschiedentlich aus Kleinasien kennen, sind auch in Ägypten und westlich angrenzenden Gebieten bezeugt (s.u. 4.2.4 § 2), was aber gerade nicht für Alexandriens Stadtteil IV (gr. Δ, einer von fünf ) gilt, der überwiegend von Juden bewohnt war. Zwar behaupten sowohl Philon wie Josephus, dass Alexandriens Juden eine eigene politeia (Summe von Lebensregeln,Verfassung) für sich beanspruchten (vgl. # 327) und alles taten, um sich diese von außen her genehmigen zu lassen; doch gibt es außer einer Absichtserklärung des Claudius, der bald sein restriktiveres Reskript v.J. 41 folgte (s.u. Anm. 58), keinen außerjüdischen Beleg dafür. Unter Claudius’ Vorgänger Caligula hatte gerade in diesem Anliegen Philon sich einmal als Diplomat versucht, als man ihm nämlich zum Leiter (prohestōs) einer Gesandtschaft der alexandrinischen Juden zu Caligula bestimmte (Jos., Ant. 18,259); das war i.J. 39/40. Ein bis zur Gewalt eskalierter Zwist mit Alexandriens Griechen, die damals ihrerseits eine Gesandtschaft schickten, war zu schlichten; es ging justament um Bürgerrechte. Die Reibungsflächen zwischen den beiden Populationen muss Philon aus eigener Anschauung gekannt haben. Daneben war er eng verwandt mit hochrangigen römischen Funktionären.²⁸ Selbst ist er aber kein Jurist gewesen; als solcher diente der Gesandtschaft ein gewisser Sopatros von Antiochien (Leonas, „Notes“ 345). So viel wir nun aus seiner Feder dazu haben, kann doch alles nur mit äußerster Vorsicht verwendet werden: Philons Blick auf die Verhältnisse ist sehr getrübt; die Wirklichkeit passte nicht zu seinen Ideen. Ägyptens rechtsgeschichtliche Vergangenheit: Bei Wolff/Rupprecht, Recht 71– 98 ist dargestellt, wie erst hellenistisches, dann römisches Recht in Ägypten eindrang. Dort war schon seit den Ptolemäern üblich, die Rechtsordnung anzuwenden, auf welche die Prozessteilnehmer sich jeweils beriefen. Nunmehr gab es eine neu eingerichtete Justiz für die eingewanderten Griechen, also die sich selbst privilegierende Oberschicht, neben der fortbestehenden einheimischen Justiz lokaler Gerichte, die sich – Ägypten war ein Einwanderungsland – mit den verschiedensten Bevölkerungsgruppen, bes. Persern und Juden, verständigen mussten. Griechische „Dikasterien“ von bis zu zehn Richtern funktionierten neben den laokritai, den „Volksrichtern“ (Richtern aus Einheimischen) in
Alles diesbezüglich Bekannte ist bei Leonas, „Notes“ ausgebreitet.
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Ägypten. Hierbei herrschte keine strikte Trennung. Aus den reichlich vorhandenen Papyri lässt sich nachweisen, dass Griechen auch laokritai für sich bemühen konnten und umgekehrt, Thraker und Juden die griechischen Dikasterien. Die Herkunft derer, die das Gericht bemühten, war nicht entscheidend. Im P. Gurob 2, der unser Beispiel sein wird für die Beanspruchung ägyptischer Justiz durch Juden, sind alle Richter Griechen.²⁹ In Ägypten sind aus hellenistischer Zeit Rechtssammlungen bekannt, demotisch geschrieben, spätestens in römischer Zeit dann griechisch, worin Rechtsregeln, die von der neuen Regierung kamen, zum Gebrauch für lokale Behörden zusammengefasst wurden. Es sind die heute sog. case books,³⁰ ähnlich ungeordnet wie die Bekanntmachungen am Veröffentlichungsbrett (dem album, gr. leukōma) des Gouverneurs,³¹ und die Instanz, die damit umging, waren die laokritai, die „Volksrichter“, aus dem Volk und für das Volk. Als Regel lässt sich beobachten: Es wird die Sprache und das Recht desjenigen Lebensbereichs bevorzugt, in welchem der Konflikt oder die Transaktion sich abspielt.³² Die römische Rechtspflege war bewusst multikulturell. Eine andere Regel aber, die im Konfliktfall jedenfalls römischerseits galt, ist die sog. Personalität der Rechtsordnung (Selb, Antike Rechte 126): Wer Römer war, konnte beanspruchen, nach römischem Recht beurteilt zu werden; Nichtrömer hatten einen derartigen Anspruch nur gegenüber ihren eigenen Gerichten. In ähnlicher Absicht ist später im Osten des byzantinischen Reiches das von Christen unter dem Islam benutzte Syrisch-Römische Rechtsbuch entstanden (C 4.4.2). Allgemein gilt: Einheimisches „Volksrecht“ wurde dem „Reichsrecht“ ein- und untergeordnet (diese Terminologie ist von dem o.g. Papyrusforscher und Rechtshistoriker Mitteis aufgebracht worden). Angesichts der vielerlei Immigranten Ägyptens sprechen Wolff/Rupprecht, Recht 58 von einem mitgebrachten „Heimatgesetz“. Ein sehr sprechendes Beispiel ist der griechische P. Gurob 2 aus Krokodilopolis (226 v.Chr.),³³ Protokoll eines Prozesses wegen Beleidigung und Sachbeschädigung; die Klage Hingegen bieten aus Peraea, also aus dem Ostjordanland, die P.Yadin 25 und 26 (beide vom 9.7.131) eine Vorladung zum Gericht des Präfekten in Petra nebst Protokoll über eine Weigerung zu erscheinen. Hier hat die Autorität des ortsnahen Gerichts (modern würde man sagen: des Amtsgerichts) nicht ausgereicht; man appelliert an die diagnōsis (= cognitio) des Präfekten. Mélèze M., „Jewish Law“ 80 f mit Beispielen auf Papyri. Das war das Amtsblatt von damals (Wesel, Geschichte 175 f ); Stellen bei Heumann, Handlexikon s.v. albus, Belege bei Corsten u. a., Epigraphik 13 Anm. 40. Auch in Caesarea Maritima muss ein solches Brett gestanden haben, sicherlich in griechischer Sprache als dem ‘kleinsten Nenner’ zwischen dem Römer und den Judäern. Auch war die Bevölkerung in den Städten des judäischen Randgebiets weder des Lateins noch des Hebräischen kundig. H. J. Wolff, Das Problem der Konkurrenz. Heinemann, Bildung erhält genau dieses Ergebnis – wohl eher malgré lui – bei Philon: Der hat eine übersetzte Tora vor sich und deutet sie eher griechisch als im Sinne der judäischen Tradition (der Halacha). = CPJ 19, auch bei Hunt/Edgar, Select Papyri Nr. 256, teilidentisch mit P. Petri 21 (so wurde er früher zitiert). Vgl. noch Mélèze M., „Jewish law“ 82. Ein Gerichtshof von zehn Personen wurde bemüht; die Streiter erschienen aber nicht, sandten auch keine Sprecher und keine Papiere (was beides möglich gewesen wäre, anders als in Judäa). Der Prozess wurde ergebnislos niedergeschlagen. Leider steht nicht dabei, was das kostete.
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lautete auf Schadensersatz. Dort „trat vor dem dort urteilenden griechischen Dikasterion eine Jüdin namens Herakleia mit einem kyrios auf, der überdies bemerkenswerterweise ein Athener war“ (Wolff/Rupprecht 70 Anm. 165, nach Z. 38 ff ). Dass Frauen einen Vormund mitnehmen vor Gericht, ist keine jüdische Rechtsregel, ist auch keine ägyptische: „Von Haus aus war die Frauentutel [# 162] auch dem jüdischen Recht, wie überhaupt den orientalischen Ordnungen, fremd.“ Sie kommt nämlich aus Griechenland. Wir erfahren auf diesem Papyrus den Verlauf der Klage (engklēma) eines im Inland geborenen (tēs epigonēs) Juden gegen eine Jüdin in einem Fall von Beleidigung (loidorein, hybrizein, # 13) und Sachbeschädigung. Der Kläger verlangt 200 Drachmen Schadensersatz – was ein beträchtlicher Streitwert war – zuzüglich Gerichtskosten. Eingaben an das Gericht (als graptos logos bezeichnet) waren vorausgegangen und werden im vollen Wortlaut zitiert, die Klageschrift natürlich auch. Der Kläger war daraufhin durch einen Amtsboten (klētōr)³⁴ zur Verhandlung vorgeladen worden, blieb ihr dann aber fern. Der Fall war also nicht einfach. Hier folgt nun ein aufschlussreiches Detail: Die Beklagte, die einen im Lande geborenen (wieder tēs epigonēs) Griechen als Vormund mit sich führte (wohl nur vorsichtshalber, um etwaige Minderberechtigung der Frau aus dem Prozess fern zu halten), wusste sich auf eine schriftliche Anordnung (diagramma)³⁵ des Ptolemäerkönigs zu berufen (Z. 42 ff ), prozessrechtlichen Inhalts. Diese enthielt eine über den Einzelfall hinausreichende Abstufung in der Gültigkeit von Rechtsordnungen: ‒ Wo königliches Recht (das diagramma) nicht einschlägig sei, verfahre man ‒ nach politikoi nomoi des jeweiligen Gaues,³⁶ und wo auch solche nicht erhältlich seien, ‒ nach bestem Ermessen (gnōmē dikaiotatē).³⁷ Als nomoi tēs chōras bezeichnete man in diesen Zusammenhängen das einheimischägyptische Recht (ebd.). Mélèze M., „Jewish law“ 80 – 84 nutzt diesen Text als Hauptbeispiel für die rechtlichen Verhältnisse im Vielvölkerstaat Ägypten. Er betont (mit H. J.Wolff ), dass diese Jüdin in Ägypten griechisches (will sagen: gräko-ägyptisches) Recht in Anspruch nimmt. Man könnte sich hinter oder neben Zeile 2 dieser Abstufung auch den politikos nomos der Juden denken, und tatsächlich gibt es so einen Fall, einen allerdings eher kuriosen. Der P. Enteux. 23,³⁸ datiert in Magdola (Fayum) i.J. 218 v.Chr., erwähnt die Eheschließung einer
Sonst klētēr, dt.: „Vorlader“ (engl. summoner).Vgl. # 363 zur Pflicht, zum Gerichtstermin zu erscheinen. Ausnahmsweise ist es hier der Kläger, der ihr nicht nachkommt. Dazu s. H. J. Wolff, „Hellenistic pr. law“ 550.555. – In römischer Kaiserzeit diente dieser Ausdruck für Edikte bzw. (auf Anfrage) Reskripte der Kaiser, in Byzanz dann für deren constitutiones. Die Formel in Z. 44 f spricht von politikoi nomoi kata tous nomous; hier muss m. E. letzteres nomoús akzentuiert werden: „je nach Gau“, sonst wäre die Formel allzu pleonastisch. Vgl. # 235 zur Billigkeit. So benannt nach seiner Erstveröffentlichung bei O. GUÉRAUD: Enteuxeis, Kairo 1931/32. Text auch in CPJ 128; Kommentare: Falk 286; Mélèze M., „Jewish law“ 87.
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Frau namens Helladote, Tochter des Philonides, mit „Jonathan, dem Juden“. Diese war geschehen, „damit ich sie nach dem Zivilgesetz der Juden zur Frau habe“; [kata ton nomon p]olitikon tōn [Iou]daiōn echein me gynaika – Z. 2 f zitiert hier offenbar die Trauformel, wie sie auch den Rabbinen noch bekannt war (# 59). – Nun aber liegt das Paar in Scheidung, und ausgerechnet Jonathan ist es, der sich an die jüdische Formel nicht halten will: Das Schriftstück ist nämlich die Eingabe der Frau an Ptolemaeus IV. wegen Vorenthaltung ihres in die Ehe eingebrachten Eigentums (der phernē = Mitgift). Dies ist ein wertvoller Beleg für die Beanspruchung jüdischen Rechts (das in damaligen Ketubbot solche Rückgabe verlangt) außerhalb des Landes Israel. Leider wissen wir nicht, wie der König (d. h. sein Stab) entschied und ob er dem zuständigen stratēgos (Chef der Exekutive für den Gau) tatsächlich die auf Z. 7 erbetene Anweisung gab, das genannte Gut mit behördlichen Zwangsmitteln einziehen zu lassen. Unmöglich ist es nicht und auf den ersten Blick sogar wahrscheinlich, denn ägyptischgriechische Gerichte erkannten die Beanspruchung partikularer Rechte aus Privatverträgen durchaus an. Allerdings: Hier wird kein Gericht angerufen, sondern es ist die Zentralregierung. Was wusste diese wohl vom nomos der Judäer? Dieser war zwar inzwischen ins Griechische übersetzt, und moderne Geschichtsschreibung ist mitunter, zumal in Israel, geneigt, die Legende des Aristeasbriefs für historisch zu nehmen, wonach Ptolemaeus II. selbst und sein Oberbibliothekar nach diesem Text begehrt hätten; sie hätten ihn nämlich zu Verwaltungszwecken der Bibliothek des Museons einverleiben wollen (EpArist. 9 – 11 u. ö.). Doch wer mochte die fünf Rollen dort gelesen haben? Um zu wissen, in welcher der fünf Rollen man nachsehen muss, hätte man einen jüdischen Ratgeber gebraucht. Selbst der aber hätte dem Kläger kaum helfen können; die Übertragung der allenfalls einschlägigen Passage Ex 21,18 – 35 auf Beleidigung und Sachbeschädigung wäre schwierig gewesen.³⁹ Auch die zwei Stellen, wo die Mitgift (phernē) überhaupt nur vorkommt, Gen 34,12 und Ex 22,16 f, regeln nichts zu dieser Frage.⁴⁰ Folgerung also: Das was die Petition als „Nomos der Judäer“ ins Spiel bringt, ist deren Brauchtum. Aber wer stellt fest, was das in diesem Falle ist? Immerhin, die in dem Schriftstück zitierte Formel findet sich auf Aramäisch wieder im Munde Hillels, eines der „Weisen“ noch aus der Zeit des Zweiten Tempels (tKet. 4,9; Falk, Introduction 283 f ): Man heiratete ke-dat Mošäh weJiśra’el „nach der Bestimmung Moses und Israels.⁴¹ Gemeint ist das Von hier bis zum Traktat Neziqin („Schädigungen“) bei den Rabbinen war noch ein weiter Weg. Dtn 24,1– 4 hingegen (# 59), regelt nur noch, dass dem Mann das Ausstellen eines Scheidebriefs erlaubt, die Wiederheirat der so Geschiedenen aber verboten ist. Das Wort dat lässt an die Halacha mit denken; für die Tora gäbe es das aramäische Wort für „Weisung“, ’ôrajeta’. Diese jedoch liefert nur für den Scheidebrief (geṭ), nicht für die Eheurkunde (ketubbah) die Grundlage. – Die Parallelüberlieferung in jJeb. 15,3 (14d) und jKet. 4,8 (29a Z. 1; vgl. Mélèze M., „Jewish law“ 97 Anm. 58) sagt sogar: „nach dem Gesetz des Mose und der Juden“ (ke-dat Mošäh w-Îhûda’ê). Originalbelege hierzu sind nunmehr P. Mur. 20, Z. 3 und P.Yadin 10 v.J. 128, Z. 5, wo beide Male steht: kedîn Mošäh wÎhûda’ê (Cotton, „The Rabbis“ 174 Anm. 27). Diese Merkwürdigkeit, dass Juden sich selbst als „Juden“ bezeichnen und nicht als „Israel“, bezeugt den Blickwinkel nach außen. Die Eheschließung nach religiösem Zeremoniell war zugleich als Zivilehe in der umgebenden Gesellschaft gültig.
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Eigentumsrecht an der Mitgift, die Ketubba. Davon haben wir noch Beispiele, die ältesten davon aus Ägypten (# 59; # 121). Doch ist kaum anzunehmen, dass der alexandrinische Bearbeiter des Falles (wenn es denn einen Juden in dieser Funktion gab) sich die Ketubba dieses Paares hätte zustellen lassen, um über deren Legitimität zu entscheiden. Von solchen Prozeduren meldet dieses immerhin detaillierte Prozessprotokoll jedoch nichts. – Die Hauptverhandlung im Übrigen war nur kurz: Der Kläger war nicht erschienen; so lautete das Urteil auf Freispruch (apodikazein) der Beschuldigten. Wolff, Das Problem der Konkurrenz von Rechtsordnungen 65 konstatiert für die spätptolemäische Zeit und dann auch für die römische Epoche einen „Pluralismus von Normenkomplexen, deren sich die Bevölkerung jeglicher Herkunft nach Belieben und unterschiedslos bedienen konnte“ und fügt hinzu: „Das römische Ägypten war ja gleichfalls ein bloßes Herrschaftsgebiet, kein ,Staat‘ mit einer ihm eigentümlichen Rechtsordnung.“ Schon unter den Ptolemäern, genauer gesagt seit Ptolemaeus VI. (reg. 180 – 145 v.Chr.), einem Zeitgenossen des Wechsels der Jerusalemer Führungsspitze von den Oniaden zu den Makkabäern, der den Zuzug judäischer Dissidenten in sein Land begünstigte, hatten diese Immigranten eine Sonderstellung. Nicht nur ihren Nomos, wie er alsbald hieß, durften sie gebrauchen, sondern sie waren auch die Aufseher des Handels und die Zolleinnehmer an den Häfen des Delta wie auch am hormos (der Anlegestelle) des heute Fajjum genannten Binnensees. Sie waren in ihrer Umwelt keine Parias, sondern eher Polizisten, z.T. sogar bewaffnet und in Garnisonen stationiert.⁴² Aufseher über Ägypten – das war eine Rolle, in der sie sich aufgrund der Josephsgeschichte (Gen 41,40!) oder auch aufgrund der Mose-Episoden in Ex 2,11– 22 gerne wiedererkannten. Der Historiker Joseph Mélèze Modrzejewski hat Fälle zusammengetragen, wo Juden und Ägypter vor Gericht zu Kontrahenten wurden und jede Seite ihre angestammten Rechte berücksichtigt haben wollte. Einige wenige Papyri bieten Fragmente von Prozessakten solchen Inhalts und belegen eine Anwendung von Septuaginta-Bestimmungen im Bereich des Eherechts.⁴³ Daraus lässt sich ersehen, dass wenigstens eine der an der Transaktion beteiligten Personen diese nach jüdischem nomos (das ist „Recht“ wie „Brauch“) durchgeführt haben wollte. Ja es hat sich sogar eine Septuaginta-Formulierung gefunden auf einer sonst völlig paganen Urkunde, nämlich Ex 21,10 auf dem Papyrus BGU 1101,10 f.⁴⁴ – Ein Prozess vor ägyptischem Gericht über die Nichteinhaltung einer Ketubba (P. Enteux. 23) ist oben schon zitiert worden.
So Josephus, C.Ap. 2,49 (dazu Vogel, „Anmerkungen“ 102) und unten folgende Papyri aus dem Fajjum. J. MÉLÈZE-MODRZEJEWSKI: „La Septante comme nomos: comment la Torah est devenue une ‘loi civique’ pour les Juifs d’Égypte“, in: Annali di Scienze Religiose 2, 1997, 143 – 158 (gr. Fragmente: 150 – 156; engl. Text: 188 – 194) = ders.: „The Septuagint as Nomos: How the Torah became a ‘civic law’ for the Jews of Egypt“, in: J. CAIRNS/O. ROBINSON (Hg.): Critical Studies in Ancient Law (FS Alain Watson), 2001, 183 – 199. Dieses Dokument v.J. 13 v.Chr. ist der Eheerneuerungsvertrag des alexandrinischen Bürgers Ammonios, Sohn des Dionysios, mit Dionysia, Tochter eines damit wohl nicht identischen Dionysios, die sich getrennt hatten; er verspricht ihr nunmehr, zu ihrem Lebensunterhalt ta deonta panta kai ton himatismon zu gewähren (LXX: ta deonta kai ton himatismon).
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Das römische Ägypten: Mit Caesars Eroberung Ägyptens und dem Ende der Ptolemäerherrschaft war das ganze Land, seine griechische Hauptstadt Alexandrien eingeschlossen, Eigentum des Kaisers geworden,⁴⁵ übertragbar mit der Kaiserwürde. Was zu Philons Zeiten und danach noch mehr zur Ansammlung von Konfliktstoff führte: Ägypten samt seiner einst extraterritorialen, rein griechisch verfassten Hauptstadt Alexandrien war seit der Eroberung durch Caesar und seit dem Sieg Octavians, des nachmaligen Augustus, über seinen Rivalen Antonius keine Provinz geworden (von der bisherigen Autonomie zu schweigen), sondern es wurde als Kriegsbeute persönliches Eigentum des Kaisers, in gewisser Weise auch seines Heeres. Es war des Kaisers „Hausmacht“, und mehrere Kaiser haben sich im 1. Jh. in Alexandrien von ihrem Heer krönen lassen. Diesen gänzlichen Souveränitätsverlust kriegten Alexandriens Griechen zu spüren (die Ägypter hingegen waren Sklaverei von jeher gewöhnt). Selbst das Recht, einen eigenen Magistrat zu wählen, hatte Augustus den Nachfahren der Gründer Alexandriens versagt.⁴⁶ Was hingegen die jüdische Bevölkerung Alexandriens betrifft, so war es ein Gunsterweis des Augustus i.J. 11, dass er ihnen in Nachfolge des bisherigen genarchēs (Synonym für ethnarchēs, Oberhaupt einer Völkerschaft) eine Gerusie genehmigte (Philon, Flacc. 73; Schürer/V., History III 93), womit sie einen gewissen Grad an Selbstverwaltung behielten. So wie Philon das versteht, hätten Alexandriens Judäer ein ihnen eigenes Bürgerrecht damit bestätigt bekommen. So mochte es in seinen eigenen Augen erscheinen; konkret war es nämlich die von Caesar ja schon erteilte Garantie, ihr Leben in allem, was den Ritus berührt, nach dem Mosegesetz führen zu dürfen. Das war in der Tat nicht viel verschieden von dem, was die Griechen der Stadt auch hatten, nämlich kulturelles Eigenleben im Betreiben der Gymnasien und im Weiterführen der Ephebenlisten mit dem dabei zu verleihenden „Bürger“-Titel. Eine Asymmetrie aber bestand darin, dass auf griechischer Seite der Titel, auf jüdischer aber die Teilautonomie etabliert waren. Dass das Neid erzeugte und schließlich – nach offenbar unzureichender interkultureller Kommunikation – sogar Hass, scheint Philon zu überraschen. Dem Historiker freilich ist es kein Rätsel (Juster I 7 Anm. 5). Man muss nur die Acta Alexandrinorum aus dem 2. Jh. lesen, um zu merken, wie sehr das Alexandriens Griechen erbitterte – Philon hatte das ignoriert –, ehe sie wenig später in einer Art Bürgerkrieg der jüdischen Population den Garaus machten. Für Ägyptens „Judäer“ war die Konstellation zu beginnender Kaiserzeit also zunächst sehr günstig; aufgrund von Caesars o.g. Privilegien behielten sie mehr von einer
KP I 170, 52 f; NTAK I 179. Schürer/V., History I 358 Anm. 20 gibt eine Liste weiterer, weniger bedeutender Provinzen, die gleichfalls nur von einem kaiserlichen Präfekten regiert wurden. Selbst Thessalonich, eine mit Rom befreundete Griechenstadt (# 222), stand nach einem Konflikt innerhalb der Bevölkerung kurzzeitig unter kaiserlicher Aufsicht, ehe ihr der Status einer senatorischen Provinz mit zusätzlichen Freiheiten zurückgegeben wurde (Costa, Paolo 53). Etwas von der Art scheinen die alexandrinischen Juden für sich erträumt zu haben – aber nur für sich. Schürer/V., History I 92. So war der Zustand von Augustus bis Septimius Severus.
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Selbstverwaltung als die dortigen Griechen. In tPea 4,6 sowie in bKet. 25a wird erwähnt, dass Alexandrien einen halachischen Gerichtshof, einen bêt dîn, gehabt habe.⁴⁷ Von dessen Wirken meldet diese Stelle allerdings nichts Näheres, und auch Philons diesbezügliche Angaben sind vage und widersprüchlich (Heinemann, Bildung 180.203.408.426). Dass dieses jüdische Gericht in Alexandrien etwa habe Todesurteile ausführen lassen, hält Heinemann – mit vielen anderen – für „mehr als unwahrscheinlich“ (286), nämlich ausgeschlossen; sie waren ja nicht die Herren im Lande. Vielmehr ist es ein Missverständnis: Was Philon u. a. – etwa die alexandrinisch-jüdische Propagandaschrift, die Josephus in C.Ap. 2,199 – 215 hierzu zitiert – unter mosaischen Todesurteilen verstehen, ist schlicht das Gottesgericht (# 279), kein menschlicher Eingriff. Bezeichnender ist der Papyrus BGU 1151 (= CPJ 143 v.J. 13 v.Chr., aus dem Herakleotischen Gau): Dort wird eine Privaturkunde deponiert „im Archiv der Juden“ (Z. 7 f ). Die Lesung von I[oudai]ō[n] ist zwar unsicher; doch da die griechische Polis Alexandrien unter den Römern gerade keine Selbstverwaltung mehr hatte, sondern nur noch – in Grenzen – die in ihr lebenden „Judäer“ über eine solche verfügten, ist diese Lesung die allgemein akzeptierte. Der Hinterleger des Dokuments heißt Alexander, Sohn des Nikodemus, woraus auf Volkszugehörigkeit nichts weiter hervorgeht; sein Bruder indes, Theodor, trägt einen Namen, der v. a. in jüdischen Familien gängig war. Alle beide aber bezeichnen sich als „Makedonen“. Unter den gegebenen Umständen ist das ein Synonym zu „Griechen“. Es würde das alexandrinische Bürgerrecht implizieren, und wir hätten hier einen Beleg für Juden mit griechischem Bürgerrecht in dieser Stadt. – Leider wissen wir weiter nichts über die Kompetenzen der dieses Archiv betreibenden Verwaltung. Wolff/Rupprecht, Recht unterscheiden in ihrem o.g. Kapitel 71– 98 zwischen „Symbiose ohne Verschmelzung“ und „gegenseitiger Beeinflussung“. Man arrangierte sich. Das Prinzip, dass Israels Nationalgesetz – das mosaische – keine Ergänzung oder gar Veränderung erfahren dürfe (s. # 395 zu Dtn 4,2 in 12,32) wurde selten durchbrochen⁴⁸ und niemals ausdrücklich. In der jüdischen Diaspora des Römischen Reiches hingegen geschah das Eindringen griechischer Rechtsvorstellungen ins Judentum so konfliktlos, dass der philosophierende Pentateuchausleger Philon von Alexandrien sie nicht einmal bemerkte oder jedenfalls rhetorisch minimieren konnte.⁴⁹ Keineswegs konfliktlos war jedoch das Zusammenleben von Juden und Griechen in Ägyptens einstiger Hauptstadt und nunmehrigem Verwaltungszentrum Alexandrien. Die Anfragen aus Alexandrien, Reinheitsfragen für Frauen betreffend, in rabbinischer Zeit (bNid. 69b), datieren aus einer Zeit, wo dieser Gerichtshof nicht mehr existierte. Heger, The Pluralistic Halakhah 25 nennt als Beispiele: „die drastische Veränderung des Talionsgesetzes [# 131], ein ,Verbrennen‘ ohne Feuer als Exekutionsmethode, und die Ausweitung des Verbots, ein Tier in der Milch seiner Mutter zu kochen [was eigentlich niemand macht; darum nahm man es als symbolische Aussage] als Verbot gleichzeitigen Verzehrs von Milch- mit Fleischprodukten“. Das mittlere dieser drei Beispiele, das einschlägig wäre für # 207 im Falle von Unzucht einer Priestertochter, wird bei ihm allerdings nicht wieder thematisiert. Philon, Mos. 2,17– 19: Jedes Gemeinwesen bleibt bei seinen eigenen Gesetzen und übernimmt keine fremden; 2,20 ff: darum auch wir Juden. Möglicherweise ist diese Passage, wie vieles bei Philon, ideologisch, und er sieht nicht, was er nicht sehen will.
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C. Übergreifende Themen
Nicht aus Philon, sondern aus Jos., C.Ap. 2,49.64 wissen wir, wie schon gesagt: Bereits in spätpharaonischer Zeit hatten jüdische Immigranten in Ägypten sich als Soldaten und als Wach- und Aufsichtspersonal verdingt. Anschließend im Dienst der persischen Okkupation, wovon die Elephantine-Papyri reichlich zeugen, gingen sie sodann in ähnlicher Funktion in die Dienste der Ptolemäer,⁵⁰ stets als Ordnungshüter gegenüber der einheimischen Bevölkerung: Sie waren Kontrolleure für die Transporte und Steuereinnehmer; z. B. patrouillierten sie mit Boten vor dem Delta und sammelten die Durchfahrtsgebühr, das portorium, vor den Nilmündungen ein.⁵¹ Das CPJ I hat vor Nr. 47 (S. 194– 203) einen ausführlichen Eintrag über „Jewish tax-collectors, government officials, and peasants in upper Egypt“, mit langer Namensliste (200 – 202). So wie sich Ägyptens Ioudaioi den nunmehr griechischen Pharaonen nützlich erwiesen, taten sie es wieder gegenüber den Römern, als diese die Herren im Lande waren. Das kann zu ihrer Beliebtheit oder auch nur Akzeptanz weder Ägyptern noch Griechen gegenüber beigetragen haben. Insbesondere der immens lukrative Posten des „Alabarchen“ (Arabarchen), der die Zölle und Akzisen auf den Osthandel Ägyptens unter sich hatte, ist in drei von neun bekannten Fällen mit Juden besetzt gewesen.⁵² Philons eigener Bruder Alexander gehörte dazu, und das wird die ganze Familie sorgenfrei gestellt haben. Unser Philosoph nimmt das gelassen hin und wundert sich, wie unbeliebt Alexandriens Juden sind gerade bei denen, deren Sprache sie sprechen, den Griechen. Besonders sicher glaubte sich seine Familie offenbar deswegen, weil der Alabarch Alexander zugleich Vermögensverwalter (epitropos, vgl. Jos., Ant. 19,276) der Antonia war, einer Tochter des Augustus und der Octavia und, selber „Augusta“, Mutter des Claudius. Er konnte Herodes Antipas, den Landesherrn Jesu (# 115), mit großzügigen Geldgeschenken unterstützen und neun Tore im Jerusalemer Tempel mit Silber und Gold beschlagen lassen (Schimanowski, Juden 131). Tiberius oder spätestens Nero hatte ihn in die Kaiserfamilie der Iulii aufgenommen (Juster II 221); seither war sein voller Name Gaius Iulius Alexander. ⁵³ Sein Sohn Tiberius Julius Alexander⁵⁴ trat in die politische Karriere ein (Schürer/V., History I 456 f; III 815). Die dafür nötigen Zugeständnisse in der Lebensweise werden ihm von Josephus als Apostasie gedeutet (Jos., Ant. 20,100), und tatsächlich hat er sich als Prokurator von Judäa ganz und gar römisch verhalten, als er die Söhne des galiläischen Revolutionärs Judas (Judas Galiläus) nicht nur hinrichten ließ – das mochte aus gegebenem Anlass seine Pflicht sein –, sondern dafür die Kreuzigung wählte (20,102). Er hatte diesen Posten ca. 46 – 48, ohne sich dort Ruhm zu erwerben;
Die Arbeitsverhältnisse dieser Soldaten sind bezeugt vom P. Colon. 144 u. a. Dokumenten; s. Horsley u. a., New Documents 6, 164– 168. Burkhalter, „Les fermiers“ 54 nach Jos., C.Ap. 2,64; vgl. das anonyme Bellum Alexandrinum 13; Strabon 2,3,5. Alles über sie derzeit Bekannte bietet Burkhalter, „Les fermiers“, hier bes. 50 – 53. Mélèze-Modrzejewski, Les Juifs 150 f. Seine beiden Söhne trugen auch die tria nomina der Römer, hier also mit Iulius in der Mitte. Der jüngere heiratete Berenike, die Tochter des Königs von Judäa, Agrippa I; der ältere wurde seinerseits Alabarch. Über ihn s. Schürer/V., History I 456 f; III 815; ausführlicher Schimanowski, Juden 126 – 139.
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solches gelang ihm als Präfekt Ägyptens, wo wir Inschriften von ihm haben und v. a. die detaillierte Verwaltungsvorschrift Gnomon des Idios Logos (letzteres ist der Titel des obersten Steuereinnehmers in Ägypten)⁵⁵ v.J. 68, den Papyrus BGU 1210.⁵⁶ Man kann sich denken, dass er sich in der Rolle des biblischen Joseph nicht wenig gefallen haben wird.⁵⁷ Soweit diese Erfolgssträhne, die über Philons Leben hinausreicht. Doch bevor Claudius Kaiser wurde und die Rechtsverhältnisse unter Alexandriens Bewohnern näher regelte, kam Caligula an die Reihe, und als Philon ihm in Rom klar machen wollte, er müsse doch eigentlich ein Freund der Juden sein, erfuhr er zu seiner abgrundtiefen Überraschung das Gegenteil. Wohl waren Alexandriens Juden – und nicht nur dort – Freunde Roms; aber dass dies eine Garantie sein würde zur Unterstützung gegen den Unmut einheimischer Bevölkerungen, glaubte Philons jüdische Bourgeoisie nur zu ihrem Schaden. Caesars Privilegien konnten sie gegen Angriffe aus dem Nahbereich nicht schützen – zumal wenn das Wohlwollen aus der Hauptstadt auf einmal fortfiel. Wir wenden uns der rechtlichen Situation zu: Sie hat, bis Claudius sein Reskript v.J. 41 schickte, drei Jahre nach schweren Zusammenstößen in der alexandrinischen Bevölkerung, bis dahin zwar das jüdisch-römische, nicht aber das jüdisch-griechische Verhältnis in Ägypten geregelt, woraus gleich noch zu zitieren sein wird. Diesbezügliche Anstrengungen sind, nachdem das innerstädtische Klima sich bereits vergiftet hatte, zu spät gekommen. Alexandriens Juden wurden „Opfer ihrer Ergebenheit an Rom“ (Juster I 219). Die jüdische Autonomie in Alexandrien: eine Parallelgesellschaft? „Die Juden genossen im ganzen Reich Kultusfreiheit, weil sie eine Nation waren“ (Juster I 244 Anm.). Deren Besonderheiten waren durch Caesars Privilegien gesichert. Was z. B. den Kult der dea Roma und der Kaiser selbst angeht, dessen Verweigerung wurde akzeptiert selbst da, wo die betreffenden Ioudaioi zugleich römische Bürger waren (I 245; vgl. # 234), sei es als Einzelperson, sei es mit ihren Familien. Hier ist nun aufschlussreich, was wir bei Juster weiterhin erfahren (258 Anm. 2), dass nämlich Juden auch das Privileg hatten, städtische Funktionen (die unbesoldet waren und eher mit Kosten verbunden und mit dem Vollzug paganer Riten) abzulehnen. Das mochte bequem sein und Kompromisse ersparen; es markierte aber auch eine soziale Distanz – wenn nämlich Juden nur für ihr partielles Gemeinwesen Verantwortung übernahmen, nicht aber für das Ganze.
Dieser Titel kommt metonymisch von der ebenso bezeichneten Steuer; diese war das „eigene Konto“ (logos in diesem Sinne) des Kaisers, bekannt aus Papyri und Inschriften. Als literarischen Beleg s. Strabon 17,1,12. Dieser Gnomon (= Dienstanweisung) ist vielfach publiziert worden, auch in FIRA I 469 – 478; Auszüge s. Hunt/Edgar, Papyri II 42– 53. Ein anderer Joseph, der auch Verwalter des Königs von Ägypten war, das aber in Judäa und angrenzenden Gebieten, ist Joseph der Tobiade, Held der Tobiadenerzählung bei Jos., Ant. 12,154– 236 (Siegert, EHJL 514– 516).
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Wie aber war das Verhältnis zwischen griechischem Polis-Recht zu den Privilegien der Ioudaioi einerseits und den Rechten und Pflichten eines römischen Bürgers andererseits beschaffen? Diese Frage, vor die uns auch Paulus wieder stellen wird (# 233), lässt sich wenigstens für die Kreise, in denen Philon verkehrte, einigermaßen beantworten. Das allerdings nur mit äußerster Vorsicht, denn Philon ist ein Meister nicht nur im Schönfärben und Übertreiben, sondern auch im Wegdenken dessen, was ihm peinlich sein könnte. Man nimmt seine Legatio ad Gaium, den Erlebnisbericht von seinem Einsatz als Leiter einer Delegation des alexandrinischen Judentums an Caligula, als Geschichtsquelle – wann hat man schon mal den Text eines Augenzeugen (§ 191)? Doch nichts als ein Papyrusfund, Privatabschrift des Reskripts, das Caligulas Nachfolger Claudius i.J. 41 nach Alexandrien geschickt hatte, um die griechischen wie jüdischen Ansprüche in der Stadt endlich ins Gleichgewicht zu bringen,⁵⁸ sagt uns, wie zerfallen sogar das dortige Judentum war in Fragen des innerstädtischen Zusammenlebens. Auch diejenige Claudius-Antwort, die Josephus, Ant. 19,280 – 250 angeblich wörtlich bietet, lässt nicht erwarten, was wir in Claudius’ eigenen Worten hier nun erfahren; es ist ein von Josephus zensierter Text. Auf Z. 88 – 92 befiehlt Claudius den Juden Alexandriens, „nicht mehr, als sie bisher hatten, zu erreichen zu versuchen und fortan⁵⁹ nicht mehr, wie in zwei Städten wohnend, zwei Gesandtschaften loszuschicken, was bisher noch nie vorgekommen ist“. Wenn das immer noch jene Gesandtschaft an Caligula meint, von der Philon aus seinem (sehr engen) Blickwinkel berichtet, lässt sich leicht verstehen, wieso Caligula unserem Philon noch nicht einmal zuhörte. Das politische Zerwürfnis war sogar ein innerjüdisches.⁶⁰ – „Richter solcher Dinge möchte ich nicht sein“, sagte in Korinth der Proconsul Gallio (# 226). Gegründet war Alexandrien als Polis nach griechischem Recht.⁶¹ Die Vergabe griechischen Bürgerrechts, für die Männer an das Durchlaufen der Ephebie gebunden, blieb auch unter den Römern gängige Praxis, beschränkt aber auf das Kulturelle, während die Selbstverwaltung der dortigen Griechen, die unter den Ptolemäerkönigen
Erhalten als P. Lond. 1912 = Hunt/Edgar, Select Papyri 212 = CPJ II Nr. 153; Text u. Übers. in Auswahl auch bei Schimanowski, Juden 242– 255; Kommentar: 165 – 175. Hingegen ist des Josephus Wiedergabe der Politik des Claudius in Ant. 19,280 – 285 unzuverlässig und kann nur eine frühere Äußerung dieses Kaisers betreffen, nicht dessen sehr viel restriktiveres Reskript v.J. 41 n.Chr., welches die von da ab gültige Regelung wiedergibt. Das ist die Bedeutung von tou loipou auch bei Josephus. Der erhaltene Text übrigens, eine Privatabschrift, ist voll von Schreibfehlern, die für ihre Zeit zeigen, wie schlecht man in Ägypten das Griechische aussprach. Unsere großen alten NT-Codices sind von Ägyptern geschrieben… Mit Troiani, „The politeia“ 20; Schimanowski, Juden 174. Das Nebeneinander einer griechischen und einer jüdischen Gesandtschaft kann nicht gemeint sein; beides waren Körperschaften, die das Recht hatten, für sich zu sprechen. – Das in Alexandriens Judentum Vorgefallene steht nicht einzig da in der Zeit des Zweiten Tempels. Man denke nur an den Zerfall der Hasmonäerherrschaft in insgesamt drei Parteien, deren zwei damals (63 v.Chr.) Pompeius ins Land riefen. Außer Alexandrien hatte Ägypten in der hier interessierenden Zeit nur zwei weitere Städte mit PolisVerfassung, nämlich Naukratis und Ptolemais, später (ab Hadrian) auch Antinoupolis (Sherwin-White, Citizenship 335).
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die Führungsschicht gewesen waren, seit der Eroberung Caesars ersetzt war durch den praefectus Aegypti mit seinem Stab. Das dortige Judentum hatte als seinen Vertreter einen ethnarchēs oder genarchēs gehabt; an dessen Stelle der „Heiland und Wohltäter (sōtēr kai euergetēs)“ Augustus, wie Philon, Flacc. 74 ihn bei dieser Meldung nennt,⁶² eine gerousia setzte, den o.g. Ältestenrat. Dies dürfte der in tPea 4,6 und bKet. 25a erwähnte bêt dîn sein. Dessen Existenz ist bemerkenswert angesichts des Umstandes, dass die Griechen von Augustus bis Septimius Severus keinen Stadtrat (boulē, Magistrat) hatten (Schürer/Vermes, History III/1, 92 f ).⁶³ Nach Philon, Spec. 3,80 hätte diese gerousia ihnen als Zivilgericht gedient in Ehefragen,⁶⁴ womit ja Erbschaftssachen u. a. verbunden sind. Wenn bSuk. 51b für die alexandrinische Riesensynagoge 71 Sitze erwähnt, die dem dortigen „großen Synhedrium“ reserviert waren, so können wir uns auf deren einem Philon vorstellen. Die phantastischen Vorstellungen jedoch, die sich Erwin Goodenough,⁶⁵ der bekannte Religionspsychologe, von den Kompetenzen dieses Gremiums machte, sind von Heinemann (215 – 217) auf ihr historisches Maß zurückgenommen worden. Wenn Philon z. B. in Decal. 111 ein theion dikastērion erwähnt, übergeordnet über weltliche Gerichtshöfe, so müsste das nach Goodenough 167.249 jenes große Synhedrium gewesen sein;⁶⁶ dabei spricht Philon hier und an vielen ähnlichen Stellen mit derlei Worten von der Strafe Gottes für sonst nicht fassbare Übeltäter, insbesondere Meineidige (# 279: das Gottesgericht).⁶⁷
Hier verwendet er statt „Augustus“ das im Orient übliche Äquivalent Sebastos, „der Verehrungswürdige“. Wie weit eine gerousia einem solchen entsprach, ist freilich schwer zu sehen. Ein wichtiger Unterschied war, dass Magistrate periodisch gewählt wurden, jeweils auf Zeit, wohingegen eine Ältestenwürde auf Lebenszeit galt. Das lässt eher auf Beratungs- als auf Verwaltungstägigkeit schließen. Ein Schiedsgericht waren die „Ältesten“ sicher. Heinemann, Bildung 180.203.408.426 mit dem Bedauern, dass Philon sich nicht genauer ausdrückt. Goodenough: The Jurisprudence of the Jewish Courts in Egypt, 1929 (1968) verfolgt die These, Philon habe „seine aktive Arbeitszeit auf praktische Gesetzgebung verwendet“, wohingegen seine mystischen Betrachtungen eine Freizeitbeschäftigung gewesen seien (9); vgl. 22 u. ö. über die von ihm vermutete unmittelbare Relevanz von Philons Auslegungen für jüdische Gerichtsbarkeit in Alexandrien. Er kennt Juster (24) wie auch Heinemanns kommentierte Übersetzung von Spec. und kritisiert sie (z. B. 67– 69), obwohl er der generellen Beobachtung zustimmt, dass Philon das mosaische Recht gräzisiert; er sagt sogar: romanisiert. Sein Beispiel ist die Tora vom widerspenstigen Sohn (Dtn 21,18 – 21; # 53) in Spec. 2,132, die dort – statt vieler Einschränkungen, wie später bei den Rabbinen – im Sinne der römischen patria potestas verschärft worden sei. Das aber ist alles nur beschriebenes Papier, nicht Geschichte. Das Rom der Kaiserzeit kannte längst keine häuslichen Todesstrafen mehr (außer bei Sklaven). Er zitiert allerdings nicht Decal. 110 (wozu sich in seinem Buch nichts findet), wohl aber die Stelle über die gerousia in Spec. 3,80. Er meint, auf dieses theion dikastērion habe man gehen können, um dort z. B. Eide zu leisten. In Cher. 72, wo er von einem kritērion tou theou kai dikastou spricht, könnte man versucht sein, es konkreter zu nehmen; es geht nämlich um die Tora-Anweisung an den Sklaven, der Sklave bleiben will, er möge sich vor den Augen eines Richters zum Zeichen dessen ein Ohr durchbohren lassen (Ex 21,5 f ). Doch ist die Formulierung to kritērion tou theou die der Septuaginta, ein Missverständnis von ’älohîm in der Nebenbedeutung „Richter“ (das bei Philon zugesetzte kai dikastou könnte sich einer von ihm nun wieder
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An dieser Stelle modifiziert Heinemann sein sonst ganz negatives Votum zu der bis heute ideologisierten Frage, ob Philon Hebräisch gekonnt habe (was für eine nach judäischen Maßstäben gültige Entscheidung in Rechtsfragen unerlässlich gewesen wäre): Mehr als die damals schon existierenden Onomastika zur Übersetzung hebräischer Namen hergaben,⁶⁸ weiß Philon von der eigentlich so hoch verehrten Sprache der Schöpfung nicht, außer dass er unter dem Eindruck gewisser Septuagintatexte Bereitschaft zeigt, zwei griechische Begriffe zu verwischen. Heinemann 524: Es gibt einen einzigen hebräischen Ausdruck, dessen Doppelsinn auf Philon gewirkt hat: das ist šebû‘ah, eigentlich „Eid“, zugleich aber das Gelübde einschließend; denn nur dieser Doppelsinn erklärt die Einbeziehung der Gelübde in die Lehre vom Eid.
Die Überschrift über Spec. 2,2– 38 lautet horkōn peri kai euchōn, und in 2,12 behandelt er tatsächlich das Gelübde innerhalb seiner Lehre vom Eid. Das ist aber auch alles. Philon hat keine Kenntnis der differenzierten Rechtsbegriffe der Hebräischen Bibel; mit der Septuaginta verwechselt er „Recht“ mit „Gericht“ in dem einen Wort krisis. In allen seinen Schriften ist er Moralist und ähnelt gerade in zivilrechtlichen Fragen, wo es um die Selbstverwaltung ginge, in nichts den „Weisen“ des Mutterlandes. Mit ihnen hatte er offenbar keinen intellektuellen Kontakt. So hat er von deren Lebens- und Überlebenskunst, wie sie danach bei den Rabbinen weiterging, nichts gelernt. Zeit seines Lebens hat er sich geweigert wahrzunehmen, in welch prekäre Situation seine Gemeinde angekommen war, als plötzlich das Wohlwollen des Caesar fehlte. Da war dann plötzlich ein Pharao über Ägypten, „der nichts mehr wusste von Joseph“ (Ex 1,8) – eine Situation, die er eigentlich aus seiner Bibellektüre hätte kennen können. Er ahnt nicht, wie gefährlich es war, keinen modus vivendi zu pflegen mit der Bevölkerungsmehrheit der Stadt. Als Platoniker entschwebt er solchen Fragen nach oben. Recht ist die Kunst, Konflikte zu bewältigen oder, besser noch, ihrem Entstehen zuvorzukommen. Moral kann sich darauf beschränken, die Unterordnung zu predigen unter die bestehende Macht, zumal wo man sich auf deren Seite glaubt. Philon als Kommentator eines nomos ist kein Jurist, er bleibt Moralist. Als Philosoph führt er seine Leser „aufwärts“ in eine transzendente Welt, „jenseits des Seins“, wie er mit Platon sagt.⁶⁹ Die Welt von hier unten gibt er preis, um Gott zu gewinnen. So sehr diese Haltung im Christentum Schule gemacht hat und sogar sich auf ein Jesuswort stützen kann (Mk 8,35 parr.; # 41), so beruht doch die Botschaft des Neuen missverstandenen Glosse verdanken), und schon die Septuaginta kann hier nichts konkret-Institutionelles gemeint haben. Siegert, EHJL 233 – 238. Ein klares Anzeichen, dass Philon Einträge in solchen Listen, die in unakzentuierter griechischer Schrift mehrdeutig waren, so verstand, wie es hebräisch gerade nicht geht, ist in Post. 61 die Wiedergabe des Namens Šešai (Num 13,22) mit „außerhalb meiner“: Offenbar hat er bei dem Eintrag EKTOS MOU, „mein Sechster“, mit vorgesetztem h zu lesen (was man aber nicht schrieb), das Wort šeš für „sechs“ nicht bemerkt. Er kannte vom Hebräischen nicht einmal die kleinen Zahlen. Stellen und Erläuterungen zu dieser Formel s. Siegert, Philon 67.
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Testaments insgesamt auf etwas anderem. Gott hielt es für nötig, die Welt zurückzugewinnen, indem er abstieg und Mensch wurde (Joh B 3,16). Über eine Botschaft dieser Art wäre Philon vermutlich sehr erstaunt gewesen, und sicherlich hätte er sie abgelehnt. Erst zwei Generationen später, nach den Katastrophen des judäischen wie auch alexandrinischen Judentums, haben die Rabbinen, Träumer wie sie waren und doch Realisten zugleich, ihren Zeitgenossen Anleitung gegeben, wie sie leben könnten zu Ehren des Gottes Israels und „Königs des Universums“ (mäläk ha-‘ôlam). Sie wussten sich beim Auslegen der Tora mit Umsicht zu orientieren in der sozialen und politischen Welt ihrer Zeit.
4.2.4 Die rechtliche Situation des Diasporajudentums: Ein Überblick Das nun Folgende gründet vor allem auf zwei umfangreichen Darstellungen älteren Datums, die in ihrer Detailliertheit noch nicht wiederholt worden sind: Jean JUSTER, Les Juifs dans l’empire romain, leur condition juridique, économique et sociale (1914) und Isaak HEINEMANN: Philons griechische und jüdische Bildung (1929 – 1932). Das Werk von Juster, eine Fleißarbeit sondergleichen und überreich dokumentiert, ist oben (A 5.2.5) schon gewürdigt worden. Das Werk von Heinemann, einem promovierten Altphilologen, Rabbiner und Ausbilder von Rabbinern am Jüdisch-Theologischen Seminar in Breslau, ist angelegt als Kommentar zu Philons vier Büchern De specialibus legibus. Deren Übersetzung hat er damals zu der deutschen Philon-Ausgabe, von ihm und Leopold Cohn zusammen 1909 – 1938 herausgegeben, beigesteuert.⁷⁰ Als Rabbiner musste Heinemann immer auch Jurist sein; als Altphilologe erweist er sich als profunder Kenner der hellenistischen Philosophie und der Geschichte des griechischen Rechts. Hier interessieren besonders seine Analysen zu Spec. 2– 4 (S. 180 – 578), wo es um Zivil- und Strafrecht geht. Was Buch 1 betrifft, das Ritualrecht der Tora betreffend, darüber ist hinreichend weitergearbeitet worden;⁷¹ das Zivilrecht aber bleibt bis heute im Schatten – was daran liegen mag, dass Philons diesbezügliche Angaben, so ausführlich sie sein mögen, eher spekulativen als praktischen Charakter tragen. Das bleibt hier zu prüfen. Der Verdacht wird sich bestätigen; zugleich wird aber manches Praktisch-Konkrete über das alexandrinische Diasporajudentum zu lernen sein, was Philon uns eher unwillig bezeugt, weil er sich selbst nicht darum hatte kümmern wollen. Justers I. Band, die Quellen über das antike Judentum und seine Geschichte im Allgemeinen betreffend, ist abgelöst durch Schürer/Vermes, History sowie durch spezifischere Arbeiten wie Mary Smallwood, The Jews under Roman Rule (1976, bes. S. 220 – 255) sowie, was Ägypten betrifft, durch Joseph Mélèze-Modrzejewski, Les Juifs d’Egypte 1938 ist das Jahr, wo im Zuge der Schoa die Wissenschaft des Judentums im deutschen Sprachraum ausgelöscht wurde. S. DANIEL: „La halacha de Philon selon le premier livre des Lois Spéciales“ in: Arnaldez u. a. (Hg.), Philon 221– 240; sehr ausführlich G. ALON: „On Philo’s halakha“, in: ders., Jews 89 – 137.
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(1991) und durch Sylvie Honigman, „Les Juifs dans la société de l’Égypte romaine“ (1997).⁷² Sie referiert den in der alexandrinisch-jüdischen Literatur, insbesondere im Aristeasbrief, erhobenen Anspruch, zur ersten Generation der Siedler Alexandriens zu gehören, noch unter Ptolemaeus I. Sie beanspruchten, eine eigene, teilautonome Bevölkerungsgruppe (politeuma) zu sein und ähnliche Rechte zu genießen (das meint der Ausdruck isopoliteia)⁷³ wie die dortigen Griechen. Das am klarsten belegte Politeuma dieser Art, das eingewanderte Ioudaioi bilden durften, ist das von Herakleopolis (Fajjum, Ägypten), belegt durch die P. Polit. Jud., worüber Arzt-Grabner, „Die Stellung des Judentums“ 127– 139 erschöpfende Auskunft gibt. Ob die Übertragung des dort Geltenden auf Alexandrien (ebd. 139 – 146) das Richtige trifft, wird noch diskutiert. Eines mindestens war in Alexandrien besonders gegenüber der sonstigen Diaspora: Die dortigen Juden erhoben – gerade in der Person Philons – den Anspruch, die besseren Griechen zu sein. Ihre Vorstellung war, aus Alexandrien eine sowohl griechische wie jüdische Stadt werden zu lassen⁷⁴ – multikulturell, mit einem modernen Wort gesagt. Waren Politeumata sonst eine Art Beisassenschaft (# 360) mit garantierter Selbstverwaltung, aber eben nur nach innen, so wollten Alexandriens Juden gleichberechtigt sein, keine Untergruppe. Das war nicht gut für den sozialen Frieden, zumal die Griechen der Stadt unter den Römern, anders als die Juden, an politischer Zurücksetzung litten, wie gesagt. Auch Philon aber ist sich bewusst, dass die Ioudaioi der Stadt nicht die ersten Bewohner dieser Stadt und nicht ihre Gründer gewesen waren. Er schreibt (Legat. 183; vgl. Flacc. 43), sie seien „der andere Teil der Alexandriner“; immerhin hätten sie deren Sprache übernommen. Diese Anfänge wurden von Alexandriens Juden seit langem idealisiert. In EpArist. 182– 184 nimmt Ptolemaeus I. auf die Ernährungsregeln seiner jüdischen – in diesem Fall sogar judäischen – Gäste höfliche Rücksicht. Aber das war Wunsch, nicht Wirklichkeit. Honigman (72) kommentiert die Behauptung in EpArist. 182, je nach Speisegebräuchen hätten die Städte Ägyptens unter eigenen Verwaltern (prohestōtes) gestanden, folgendermaßen:⁷⁵
Kurzfassung einer noch umfangreicheren Dissertation. Die S. 135 – 154 bieten die in Ägypten vorkommenden jüdischen Namen, 154– 161 Nachweise de proseuchai (Synagogen). Es folgen Details über das idumäische politeuma von Hermupolis, das auch im Serapeum von Memphis eine Vertretung hatte (161), sodann Überlegungen über die merkwürdige Unbeliebtheit der Juden in Ägypten. Doch wenn man liest, was Philon über Ägypten schreibt und über seine angestammte Bevölkerung, ist das kein so großes Rätsel mehr. Auf diesen zwar nicht von Philon selbst, wohl aber von Josephus (Ant. 12,8; vgl. 20,173.183 für Caesarea Maritima) gebrauchten und aus Inschriften und politischen Texten wohlbekannten Ausdruck bringt Troiani, „The politeia“ passim diese Frage. Es waren nicht „gleiche“ Rechte, wie der Ausdruck suggeriert, sondern nur ähnliche (13 f ). Honigman 63 – 67. Zum Folgenden: 72.74. Original: „Une telle définition de la polis et de la politeia gommait en effet tout ce qui, pour un Juif, pouvait être gênant dans la cité grecque, notamment l’exigence de participation aux rites de sociabilité, sacrifices, banquets de citoyens, etc.“
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Eine solche Definition von polis und politeia überspielte alles, was für Juden in einer griechischen Stadt hinderlich sein konnte, insbesondere das Erfordernis einer Teilnahme an der Geselligkeit der Riten, an Opfern, Festmählern für die Bürger usw.
– nicht zu vergessen die Beschneidung, eine Verunstaltung in griechischen Augen,⁷⁶ die eine Teilnahme am Sport der Epheben und eine Eintragung in die Bürgerliste nach durchlaufener Ephebie für Juden höchst unwahrscheinlich macht. Sie bildeten eine Parallelgesellschaft; diese aber hielt sich mit Entschiedenheit für die bessere, moralisch und intellektuell überlegene.⁷⁷ Philon, Flacc. 78 zieht – so Honigman 81 – eine Dichotomie zwischen ,Alexandrinern‘ und ,Ägyptern‘. Flacc. 79 versichert uns, dass in dieser Dichotomie die Juden auf der Seite der Alexandriner sind. (…) Die Juden sind Alexandriner [nur dann], wenn das Wort einen kulturellen Sinn hat, keinen juridischen.
Bei Philon aber stellen wir fest: Selbst in politischen Fragen ist er nicht bereit, in einer rechtlich gültigen Weise zu argumentieren. „Der jüdisch-alexandrinische Philosoph geht, wie sich gezeigt hat, so weit, die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Utopie zu verwischen“ – sagt Honigman weiter (85).⁷⁸ Das sei hier zitiert, weil es in der neueren Sekundärliteratur wenige so klare Stellen gibt. Gab es Teilautonomien? Juster II 110 – 115 sagt unter der Überschrift „l’autonomie judiciaire des Juifs“ zunächst einmal, dass weder von griechischer noch von römischer Seite etwas dem entgegenstand, dass Privatleute sich an ein Gericht ihrer Wahl wendeten und dessen Spruch sich fügten. Das also, was wir noch heute „Privatrecht“ nennen, war damals in der Tat völlig privat. Der Staat, genauer: das Imperium Romanum beanspruchte hier kein Privileg, sondern gewährte in solchen Dingen auf Anfrage (und Bezahlung) Dienstleistungen. Juster II 30: „Ob es nun vor einem jüdischen Gericht war oder vor einem römischen, ein Jude konnte damit rechnen, dass in Fragen der Erbnachfolge, der Ehe und der [zur Altersversorgung wichtigen] Mitgift, der Freilassung u. ä. jüdisches Recht Anwendung fand.“⁷⁹ Das heißt vor allem, dass jüdische Instanzen das selber machen durften – was sie auch taten (II 93).
Der einzige Körperteil, den man als junger Mann nicht zeigen durfte, war justament die Eichel. Die Beschwerde über einen jüdischen Sportler wegen Obszönität ist erhalten im P. Schub. 37 (CPJ III Nr. 519, ägyptisch, 1. Jh.). Text und Kommentar auch bei Schimanowski, Juden 236 f. Jos., C.Ap. 2,151– 219 gibt aus einer nicht von ihm stammenden, vermutlich alexandrinischen Vorlage diesen Anspruch wieder, und noch in dem christlich überarbeiteten Liebesroman Joseph und Aseneth (Siegert, EHJL 281– 289), dessen Ursprung im jüdischen Alexandrien angesetzt wird, ist dieses Überlegenheitsbewusstsein, gepaart mit der Verachtung alles Ägyptischen, der Grundton. Philon war beileibe nicht allein. „Le philosophe judéo-alexandrin en arrive, comme on l’a vu, à brouiller les frontières entre réalité et utopie.“ Ebenso S. 42 unter Berufung auf Eduard Mommsen. Eheschließungen wie Testamente waren dann gültig, wenn sie den ortsüblichen Regeln folgten. Hier gab es kein Innovierungs- oder Vereinheitlichungsbedürfnis.
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Im Folgenden soll die rechtliche Situation des alexandrinischen Judentums zur Zeit Philons umrissen werden, so weit wie wir sie überhaupt kennen – und wir kennen sie besser als für jede andere Stelle der jüdischen Diaspora. Die detaillierte Übersicht über die Juden im römischen Recht, die Juster II auf über 300 Seiten liefert,⁸⁰ unterscheidet in jedem Abschnitt die Verhältnisse vor d.J. 70 (unsere Periode A) von denen danach (unsere Perioden B-C) und schließlich noch von denen nach Caracalla, als das römische Bürgerrecht auf alle Freien auch in den Provinzen ausgedehnt wurde.Wir folgen seinen Rubriken, unter Auslassung all des nach Caracalla, ja auch schon nach Hadrian erst Gültigen und mit besonderem Augenmerk auf Alexandrien, wo Philon sich mit den Papyri konfrontieren lässt, und unter Hinzufügung einer Paragraphenzählung. § 1 Status civitatis (1– 27): Diesen Ausdruck, dem Manuel élémentaire du droit romain von Paul Frédéric Girard entnommen (dort 104– 133), meint das Haben oder Nichthaben eines Bürgerrechts im Sinne der antiken Polis oder – a fortiori – Roms. Diese Frage wird sich für Paulus noch stellen (# 233: Tarsus; # 234: Rom); hier sei sie auf Philon und seine „Mitbürger“ angewendet: Inwiefern hatten Alexandriens Juden ein solches? Deren oben referierter Anspruch, schon unter Ptolemaeus I. angekommen und damit keine Immigranten zu sein, sondern Mitgründer der Polis, war unbewiesen. Anders als in Syrien und Kleinasien, wo Nikolaus v. Damaskus, Herodes’ paganer Hofgeschichtsschreiber und Emissär, gegenüber Marcus Agrippa, Augustus’ damaligem Gesandten, mit Erfolg für gleiche Bürgerrechte plädierte, wie die dortigen Griechen sie hatten (so jedenfalls Jos., Bell. 16,58 – 60; Ant. 12,125 – 128, was Juster II 11 Anm. 3 für Ephesus gelten lässt aufgrund des Erlasses des Dolabella in Ant. 14,225 – 227; Schürer/V., History III 117), hatten Alexandriens Juden keine konkrete Entscheidung zu ihren Gunsten aufzuweisen. So übrigens auch nicht die Juden Antiochiens, für die Jos., Ant. 12,119 f zwar solches behauptet, doch ist auch hier der Anspruch, seit der Stadtgründung durch Seleukos I. dabeigewesen zu sein, unbelegt.⁸¹ Antiochiens Juden scheinen sich im Laufe der Jahrhunderte eine Art Bleiberecht, ja sogar Bürgerrecht (Jos., Ant. 12,121: dikaia tēs politeias) ersessen zu haben, von denen wir in dem Moment erfahren, wo Josephus Roms Kaiser dafür rühmt, es auch nach dem Jüdischen Krieg haben bestehen zu lassen.⁸² Aber vielleicht übertreibt er, wie oft, auch hier; das Bürgerrecht einer antiken Polis wurde immer nur ad personam verliehen, vererbbar zwar, aber es ging nicht an ganze Gruppen oder Bevölkerungsteile (Mandas, Processo 87; s. # 233). Aus römischem Blickwinkel kann Juster soviel sagen: Alle Bewohner Alexandriens außer denen, die römische Bürger waren, galten als peregrini. Sie konnten – und sollten
Sehr viel kürzer ist die bei Schürer/V., History III 113 – 137. Die Ausgabe von R. Marcus (LCL) bietet in „Appendix C“ (737– 742, bes. 739) die Gründe, hier zu zweifeln. Infolge dessen kann Josephus, Ant. 12,122 von ihnen und den alexandrinischen Juden sowie in 12,128 von den Juden Kleinasiens die Milde Vespasians und des Titus rühmen, die darin bestand, ihnen ihre Bürgerrechte zu belassen – eine gerade nach dem Krieg nicht selbstverständliche clemenza di Tito. Sie musste freilich durch den fiscus Iudaicus (# 138) bezahlt werden.
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auch – sich zuallererst ihrer eigenen Institutionen bedienen. So gesehen, war zwischen Griechen und Juden in Alexandrien kein Unterschied. Diese aber führten unter sich einen Streit um das Wort „Alexandriner“, das eine enge und eine weite Bedeutung haben konnte. In enger Bedeutung bezeichnete es Träger des griechischen Bürgerrechts in Alexandrien; in weiter, geographischer Bedeutung war solches hingegen nicht impliziert.⁸³ Juster bereits (II 9) zitiert hierzu den Papyrus BGU 1140,⁸⁴ eine unter Augustus an den Präfekten Ägyptens gerichtete Petition des „Helenos, Sohn Tryphons, eines Alexandriners“. Doch ist auf dem Papyrus das Wort Alexandreōs vom Schreiber durchgestrichen und ersetzt worden durch: Ioudaiou tōn apo Alexandreias, „eines Juden aus Alexandrien“. Damit ist der Rechtsstatus dieser Person auf einmal völlig offen. Auch Juster vermag, was das betrifft, nur da klare Auskünfte zu geben, wo es sich um Personen mit römischem Bürgerrecht handelt. Ob griechische Alexandriner (von den eingesickerten Ägyptern zu schweigen) zugleich römische Bürger waren, lässt sich nur da sagen, wo die Quellen es zufällig angeben. Für Philons Bruder und dessen Nachkommen wissen wir es. Es mag sein, dass römisches Bürgerrecht unter den dortigen Juden häufiger war als unter den Griechen, die der römischen Eroberung ablehnend gegenübergestanden hatten. Von Ephesus sind Fälle lokal-griechischen wie römischen Bürgerrechts bezeugt bei Jos., Ant. 14,228, akzeptiert von Juster II 11 Anm. 3. War Philon selbst Römer? Schwartz (35) vermutete es und gab ihm tria nomina, und ohne so weit zu gehen, tut es auch Schimanowski (Juden 121– 123: „Philon der Römer“). Wir wissen ja, dass sein Bruder Römer war, sogar der hochadligen Familie der Iulii zugehörig, in die seine Funktion ihn gebracht hatte; dessen Söhne, Philons Neffen, waren es damit auch, denn diese Würde war erblich.⁸⁵ Sie wirkte aber nicht zur Seite. Alles was man sagen kann und was auch Schimanowski nur sagt, ist dies: Philons Römertum war eines der Gesinnung (und die war für ihn ja schon das Ganze), aber nicht des Rechts. Seine politischen Schriften sind davon getragen. Seine Lobeshymnen auf die kaiserliche Familie und insbesondere auf Livia, nach ihrer Heirat mit Augustus genannt Ioulia Sebastē, die Kaiserinmutter, in Legat. 143 – 147 und 316 – 320 kennen kein Maß.⁸⁶ Augustus gilt ihm als übermenschlich (tēn anthrōpinēn physin hyperbalōn, 143) und als der Schöpfer der gegenwärtigen Welt, der Verwandler des Chaos in Ordnung (ho tēn ataxian eis taxin agagōn).⁸⁷ In Rom selbst und vor den Nachfolgern der so Gepriesenen passten So ist es auch bei Hieronymus zu verstehen, Vir. ill. 11: Philo Iudaeus, natione Alexandrinus (Juster II 7 Anm. 5). = CPJ II Nr. 151 (5/4 av. J.-C.); Text m. Komm. auch bei Schimanowski, Juden 240 f. Mit ihm folgen wir der Analyse von Mélèze-Modrzejewski, Les Juifs 133 f. Genauer gesagt, war sie das nur, falls auch die Mutter Römerin war oder dies in einem Ehevertrag gehobener Art, genannt connubium (conubium), zugestanden bekommen hatte (K/K/L, Privatrecht § 58,4.17 → 69,4.17; Goodman, „Josephus“ 337). Und das, kann man hinzusetzen, bei einer Frau! Philons Misogynie lässt sonst fast nur noch Sara als Vorbild gelten. Diese schöpfungstheologische Formel (im NT: Röm 4,17; Hebr 11,3) ist, wie man sieht, schon jüdisch. – Jenes Chaos war übrigens rein römisch gewesen; gemeint ist der von Caesar angezettelte Bürgerkrieg, aus
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solche Reden; Philon aber hält sie ganz freiwillig vor seinen jüdisch-alexandrinischen Mitbürgern. § 2 Personenstandsrecht (28 – 33): Hier ist aus römischer Sicht zu unterscheiden zwischen „Juden [oder eigentlich: Judäern] als peregrini“ (ohne römisches Bürgerrecht), „ Juden, die zugleich griechische oder anderweitige Bürger sind“ und „ Juden, die römische Bürger sind“. Der Status als Bürger (civitas, frz. genauer: citoyenneté) meint die Zugehörigkeit zu einem Gemeinwesen, das nach eigenen, politisch gültigen Gesetzen lebt. Da zeigt sich ein Problem: Der nomos der Juden, den Philon, Josephus und andere für sich reklamieren als Verfassung (politeia) ihres Volkes (bei Philon z. B. Spec. 1,51; zu Josephus s. # 327), fällt schwerlich unter diese Definition, wo Juden außerhalb ihres eigenen Landes leben. Die Antike kennt keine Verfassung ohne Staatsgebiet;⁸⁸ so weit gingen Caesars Privilegien nicht. Normalerweise akzeptierten griechische Städte für die Aufnahme in die Ephebie keine Personen ohne griechische Vorfahren. Listen der einmal Aufgenommenen wurden im kommunalen Archiv aufbewahrt und nicht selten auf Stein veröffentlicht. Beispiele dafür gibt es anderswo;⁸⁹ sie sind aber nicht übertragbar auf die besonderen Verhältnisse in Alexandrien. Experten wie Tcherikover (CPJ I, Prolegomena 39 f ) und Mélèze-Modrzejewski (Les Juifs 133) schätzen, dass Alexandriens Juden „mit ganz wenigen Ausnahmen keine alexandrinischen Bürger waren“ (so letzterer). Einen eigenen Bürgerstatus scheint ihnen Rom aber nicht zugebilligt zu haben. § 3 [# 59] Die Ehe (41– 56): In der gesamten Antike waren Ehen Privatverträge. Als Römer konnte man sich wahlweise mit oder ohne die traditionellen Formalitäten verheiraten. Von daher stand der Anerkennung einer Ketubba als Ehevertrag nichts im Wege; die in # 121 zu zitierenden ägyptischen Ketubbot waren sicherlich gültig. Wo allerdings ein römisches oder sonstwelches Bürgerrecht mit im Spiel war, komplizierte sich die Lage, insbesondere was die mit dem Vertrag verbundenen Eigentumsrechte betraf, sind sie doch ein Präjudiz für Erbschaftsfragen (42– 45). Hierbei belegt Juster in den Fußnoten auch das, was Philon auf Stärkste widerrät,⁹⁰ Mischehen mit Nichtjuden.
welchem das Kaisertum sich erhob. Freilich, wie sehr die vormalige Republik auch schon in ataxia entartet war, kann ermessen, wer in Ciceros Briefen an Atticus dessen Kommentare zu den römischen Wahlen und den politischen Prozessen liest: Es ging nichts mehr ohne Bestechung ab, und zur Stimmungsmache unter den Massen waren die schlimmsten Formen von Populismus üblich geworden. Das himmlische Bürgerrecht, auf das Phil 3,20 verweist (# 327), ist mithin die christliche Umsetzung eines Elements von jüdischer Tora-Theologie. „Inschriftliche Ephebenlisten, die uns aus der antiken Cyrenaica erhalten sind, verzeichnen Dutzende jüdischer Namen und nichtsdestoweniger am Ende die obligatorische Widmung Hermāi, Hēraklei“ (Siegert, Hell.-jüd. Predigten II 314 aufgrund von SEG 20 Nr. 740 f; Schürer/V., History III 61.130 f ). Auf anderen Dokumenten derselben Gegend sind sie als eigenes politeuma geführt, was weniger vorteilhaft erscheint, wenn etwa Strabon meldet, in der Cyrenaika seien unterschieden worden 1. Bürger, 2. Bauern, 3. Beisassen (vgl. # 216) und 4. Juden. Josephus, der uns diesen Text erhalten hat (Ant. 14,115; vgl. Schürer/V. 94), folgert daraus auf eigene Faust, das sei eine isonomia gewesen, ein gleichwertiges Bürgerrecht. Spec. 2,50; 3,29; 4,203. Auch Jos., Ant. 8,191 hält Salomos Ehen mit Ausländerinnen für torawidrig.
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Was die Verlobung betrifft, die durch Dtn 22,23 – 28 unter besonderem Schutz steht – die Verführung einer Verlobten durch einen Dritten stand unter Todesstrafe, evtl. für alle beide –, so findet sich hierzu in Spec. 3,77 f eine Interpretation, die bei den Rabbinen wiederkehrt und mithin einen gemeinsamen Ursprung haben dürfte:⁹¹ Die Schuld oder Unschuld des Mädchens bemisst sich nicht danach, ob der Geschlechtsverkehr in einem Siedlungsgebiet geschah oder außerhalb (wo mit Hilfe Dritter nicht zu rechnen ist), sondern danach, ob tatsächlich jemand in der Nähe war, der hätte helfen können. Dem zu einfachen Schema des Tora-Textes wird widersprochen, das aber doch wohl in dessen Sinne. Das wäre ein Beispiel für „sinngemäße“ Tora-Interpretation, auch wenn es im Philontext nicht so heißt. § 4 [# 19; # 129] Scheidung (57– 61) war im Judentum alleiniges Recht des Mannes, in Rom aber von beiden Seiten gleichermaßen zu erreichen (# 59). „Wollte eine jüdische Frau sich vom jüdischen Gesetz nicht hindern lassen, brauchte sie sich nur auf ihre Eigenschaft als Römerin zu berufen, um den Scheidebrief ihrem Mann zuzuschicken (58 f ).⁹² § 5 [#81; # 162; # 299; # 321] Die Rechtsfähigkeit der Frau (62 f ): Für Judäa wird hierzu in # 81 und in # 162, für die hellenistisch-römische Welt und das Christentum darin in # 299 und # 321 einiges zu sagen sein. Dürfte für Alexandriens Judentum Philon Auskunft geben, so wäre die Lage dort extrem. In Spec. 3,169 – 197 verbannt er die Frauen aus dem öffentlichen Leben an den häuslichen Herd. Ob jüdische Frauen seiner Stadt für solche Rechtsgeschäfte, die sie beurkunden ließen (etwa einen größeren Kauf ), dem römisch-ägyptischen Brauch folgten, einen Mann als pro-forma-Vormund mit unterschreiben zu lassen (oben 4.2.3), wissen wir nicht mangels Beispielen. Für Eheschließungen im Judentum und damit auch als Unterschriftsgeber für Ketubbot waren auch auf der Brautseite Männer nötig (handelte es sich doch auch um eine Vermögensübereignung); so auch bei Philon (Heinemann 307). Was indes die grundsätzliche Vormundschaft des Mannes (Vaters, Ehemannes, Bruders) über die Frau in allem geschäftlich Wichtigen angeht, so findet Heinemann (309):⁹³ Philon ist durchaus von griechischem Recht abhängig; und dazu stimmt, daß er die beiden Ausdrücke kyrios als Führer [Inhaber] der Geschlechtstutel [Mann beaufsichtigt Frau] und epitropos als Führer der Alterstutel [Erwachsener beaufsichtigt Minderjährige] vollkommen richtig unterscheidet.
§ 6 [# 322] Vormundschaft für Minderjährige (63 f ): Die Septuaginta kennt epitropos in dieser Bedeutung nicht, außer wo sie hellenistische Verhältnisse beschreibt (2Makk 11 – Philon unbekannt). So ist dann auch in Philons Tora-Paraphrasen epitropos
Nicht bei Heinemann, nicht bei Alon; s. aber Elon, Jewish Law III 1030 f. Ein solcher ist uns zwar nicht erhalten, weder im Text noch im Original; doch kann der P. XHev/Se 13 v.J. 134/135, zwischen Judäern ausgetauscht, zumindest die Praxis belegen, nicht das Recht dazu. Zusätze: F. S. Der Beleg „Spec. 2,125“ in Anm. 4 ist zu ändern in Spec. 2,24 (für kyrios) und Somn. 1,107 (für epitropos).
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jedweder Aufseher oder Chef, außer wo ihm der griechisch-römische Sprachgebrauch in die Feder fließt (Somn. 1,107: „der epitropos von Waisenkindern“). Hier fügt Juster hinzu: Ein Jude, der nur peregrinus war, hätte nicht Vormund sein dürfen für ein Kind, welches das römische Bürgerrecht hatte. § 7 [# 113] Verträge (65 – 68): Wie noch zu sagen sein wird (# 113), fehlt dieser sowohl aramäische wie griechische wie römische Begriff im mosaischen Recht völlig. Man kann jemanden etwas versprechen, aber das ist nicht einklagbar. So kommt denn in Philons griechisch erhaltenen Schriften synthēkē „Vertrag“ gar nicht⁹⁴ und auch sonst, in anderer Bedeutung, gerade nur zweimal vor (Congr. 78; Legat. 37).⁹⁵ § 8 [# 8] Eigentum: Hierzu verweist Juster 69 f auf Girard, Manuel 262– 265, wo man erfährt, dass ein Eigentum (dominium), das vor römischen Gerichten gelten sollte, Römern vorbehalten war (das dominium ex iure Quiritium); Auswärtigen wurde solches nur als Ausnahme zugestanden und hieß dann schlicht dominium, bei den Kommentatoren dann dominium ex iure gentium. Für Juden in Alexandrien bedeutete dies – so sagt nun wieder Juster –, dass sie römische Bürger sein mussten, wenn sie von dem Staatsland, das zu dieser Stadt gehörte, etwas kaufen wollten, und er findet dafür einen positiven Beleg im Papyrus BGU 129. § 9 [# 107] Sklaven (71– 79): Eigentlich ist das kein jüdisches Thema, wie in # 127 noch zu sagen sein wird; was die Tora „Sklaven“ nennt (LXX: douloi), sind zeitweise unfreie Arbeiter. Philon weiß das (Spec. 2,80; Heinemann 329 – 345), denn er liest es in seiner Bibel; die aber ist in solchen Fragen nur für das Land Israel gültig. Ob jüdische Familien anderwärts oder sogar in Judäa⁹⁶ sich Sklaven nach römischem Recht hielten, ist eine andere Frage, und Philon würde es uns jedenfalls nicht sagen.⁹⁷ Wenn die Regel war: „Alexandriner dürfen Alexandrinern nicht als Sklaven dienen“ (Heinemann 336), so wird ein Sklavesein gegenüber dortigen Juden a fortiori ausgeschlossen gewesen sein, nicht aber, was die in der Stadt auch vorhandenen Ägypter angeht. Hier breitet Juster v. a. die Frage aus, in welcher Weise in theodosianischer und späterer Gesetzgebung Christen als Sklaven dienen durften: Auf keinen Fall gegenüber Juden. § 10 Freilassung (80 – 84): Die diesbezügliche Bestimmung Ex 21,6 (par. Dt 15,17) zitiert Philon in Cher. 72, um sie allegorisch auf den Sinnesmenschen anzuwenden, der sich für die Freiheit intellektueller Spekulation nicht interessiert. Dass damit keine alexandrinisch-jüdische Rechtspraxis gemeint sein kann, ist klar. So bleibt nur die Frage, wie die römische Justiz bzw. Verwaltung die Gültigkeit einer Freilassung seitens eines
Auch in den Quaestiones, die wir nur auf Armenisch haben, ist von Verträgen nicht die Rede. Einmal ist metaphorisch ein Ausbildungsvertrag mit Frau Philosophie gemeint; der andere Beleg betrifft römische Politik. In # 73 (zu Mk 14,47 parr.) werden wir annehmen, dass der dort erwähnte Sklave des Hohenpriesters ein Nichtisraelit war – was den Vorteil hatte, dass er ihn nicht jedes siebte Jahr entlassen musste. Das Beispiel des Jerusalemer Hohenpriesters wird in # 73 diskutiert; dort auch der Hinweis auf rabbinische Regeln in diesem Fall.
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Nichtrömers hätte beurteilen können. Sie hätte, was die Person des Freilassenden betrifft, unterschieden zwischen 1. Juden, die weder römisches noch ein sonstwelches Bürgerrecht haben; 2. Juden mit griechischem Bürgerrecht; 3. Juden mit römischem Bürgerrecht. In ersterem Fall würde nach jüdischem Recht entschieden, was besagt, dass für den Freikauf ein Dritter nötig wäre, der den Betrag aufbringt (vgl. # 61 zu Mk 10,45); das Geld des Sklaven gehörte nämlich dem Herrn. Natürlich durfte der Herr ihn auch kostenlos freilassen, und im Sabbatjahr musste er es sogar. Auf diese Torabestimmung konnte ein hebräischer Sklave sich berufen. Die nachbiblisch-jüdische Gesetzgebung verlangte außerdem, dass die Freilassung „mit schriftlichem Dokument erfolgt, mit paganem Datum, einzeln für jeden Sklaven“ (81, mit Anm. 1, S. 80). Zur zweiten Möglichkeit gibt es die vieldiskutierten Freilassungsinschriften von Pantikapaeon (Nordufer des Schwarzen Meeres, 1.–3. Jh.),⁹⁸ wo Nichtjuden sich der Synagoge bedienen, um gültig Freilassungen vornehmen zu können. Hier muss dann nach griechischem Recht der Freilassende versichern, dass seine Erben einverstanden sind, und sie kann, was auch nur griechisch ist, mit einer Auflage zum künftigen Verhalten verbunden sein, hier: die Synagoge regelmäßig zu besuchen. Die Synagogengemeinde als Rechtsperson (bei welcher die Freigelassenen deswegen nicht Mitglied wurden) durfte das überwachen. Die dritte ist am Hof des Herodes gegeben, der ja römischer Bürger war und von dessen zahlreichen Sklaven und Freigelassenen Josephus berichtet (s. # 42 zu den „Herodianern“). Hier erfahren wir aber keine Einzelheiten.⁹⁹ Aus Alexandrien gibt es hierzu keine Nachricht. Rabbinische Bestimmungen bis hin zum Traktat ‘abadîm (83) spiegeln spätere Zustände wider.¹⁰⁰ Wissenswert ist noch, dass ein Sklave nach römischem Recht sich mit Hilfe etwaiger Ersparnisse, die ihm gehören durften, sich selbst freikaufen konnte (K/K/L, Privatrecht § 15,19 → 25,19). § 11 [# 113; # 301] Testament und Erbfolge (85 – 88): Testamente gab es in Judäa zwar nicht (# 123); wohl aber waren sie in der Diaspora üblich (# 301). „Nachdem aber die Juden der Diaspora früh schon das Testament von den Griechen übernommen hatten, ist sicher, dass die Römer diese Praxis anerkannt hätten. Tatsächlich ist belegt,
B. LATYSCHEV (Hg.): Corpus Insriptionum Regni Bosporani, 1890 (1965); Schürer/V., History III 36 – 38 (mit Zitaten).105 f; eine der Inschriften steht im CIJ I S. 576 – 578. – Im Gegenzug zitiert Juster 327 und 328 zwei Freilassungsinschriften aus Delphi (2. Jh. v.Chr.), wo nicht der Höchste Gott (theos hypsistos) oder seine Synagoge (sic), sondern Apollon die Garantiegottheit ist, auch wo der Freigelassene Jude ist (und bleibt); dazu Schürer/V., History III 65. Anzunehmen ist aber mit Sicherheit, dass es von vornherein Sklaven nach römischem Recht waren, wie auch oben für den Sklaven des Hohenpriesters (# 73) angenommen. Herodes wird nicht alle sieben Jahre auf seine Sklaven verzichtet haben. Z. B. in der Erwähnung des Freilassungsritus der manumissio vindicta; letzteres Wort, auch in hebr. Transkription erhalten (Juster 83 Anm. 5), ist aber erst nachtalmudisch belegt.
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dass unter römischer Herrschaft Diasporajuden die Testierfreiheit in Anspruch nahmen.“ So Juster 85 Anm. 4 mit Bezug auf Juden, die sich auf ihr im städtischen Archiv deponiertes, also offiziell anerkanntes Testament berufen. Eine dieser Inschriften, in Pantikapaeon (am Schwarzen Meer) i.J. 81, also kurz nach dem Jüdischen Krieg, errichtet, beweist zudem durch ihre Bezugnahme auf ein anerkanntes Testament, dass außerhalb des Kriegsgebiets die Iudaei ihren Freiheitsstatus nicht verloren hatten. Testamente errichten durften nur Freie. Wir werden uns noch fragen müssen, was das Wort diathēkē/testamentum, das bei den Rabbinen auch in hebräischer Transkription begegnet, im Neuen Testament besagen soll, wird doch das Neue „Testament“ auf ein Jesuswort zurückgeführt (# 301; nicht in Q). Philon selbst sagt, dass das mosaische Recht dergleichen nicht kennt, und rekapituliert in Mos. 2,243 – 245 die Erbfolge von Dtn 27 usw.: Söhne – (im Fall des Fehlens) Töchter – Bruder – Onkel väterlicherseits.¹⁰¹ Er hält es für Naturrecht (nomos physeōs), „dass Eltern von Kindern beerbt werden, nicht aber an sie vererben“ (§ 245), also in dieser Hinsicht keine Willensfreiheit haben: So gebe es keine Erbschleicherei. Hier übrigens stimmt Philon mit der Halacha, die wir von den Rabbinen kennen, partiell überein, versucht aber auch hier wieder, griechisches mit jüdischem Recht Recht konvergieren zu lassen (Heinemann 322 f ), wobei dann vielerlei Details unklar bleiben. Ein passives Erbrecht für Frauen wird in Philons Spec. 2,124 f immerhin eingeräumt, über das bloße Übernehmen der von Männern verwaisten Parzelle des Landes Israel (Num 27,6 – 11; mBB 8,1.8) hinaus (Mayer, Die jüd. Frau 65). Frauen als Empfängerinnen eines Erbes sind auch erwähnt in Hi 42,15 LXX neben den gleichfalls erbenden Söhnen – aber hier ist man wieder weit im Osten – und in ägyptischen Dokumenten, die Mayer 65 f zitiert. Dass Herodes auch Töchter mit Erbteilen bedenken konnte – am Rande oder außerhalb Judäas – (Mayer 66), geschah ganz fraglos nach griechisch-römischem Recht. Nun gibt es von Philon einen langen, gedankenreichen Traktat zu dem Thema „Wer der göttlichen (Dinge) Erbe ist“; er geht über das Thema klēros „Erbteil“ und klēronomein „ein Erbteil bekommen“, jedoch ganz metaphorisch: Israels Erbe (wir setzen dazu: auch und gerade in der Diaspora) ist seine Tora.¹⁰² Wie in Alexandrien oder sonstwo unter Juden die Güter unter den Generationen weitergingen, ist daraus nicht zu erfahren. § 12 [# 126; # 127] Zivilprozesse (judication contentieuse, 93 – 101): Dass Juden in ihrem Mutterland über Juden richten durften und sogar über Nichtjuden, die nicht
Juster 86, der diese Passage zitiert – eine Zusammenfassung jüdischen Erbrechts –, bemerkt, dass Josephus dazu nichts bietet, und nennt Literatur zur weiteren Entwicklung unter den Rabbinen. Wir können, über ihn hinausgehend, annehmen, dass das allmähliche Üblichwerden von Testamenten die tolerierte Praxis der Diaspora wiedergibt (so ist es ja bis heute) und nicht das, was man sich für eine Wiederbesiedlung des Landes Israel dachte. Das muss er aus Dtn 33,4 haben, wo die Tora das „Erbteil“ (môrašah/klēronomia) Israels ist. Seltsamerweise ist diese Stelle in seinen uns erhaltenen Schriften nicht als Zitat zu finden. Grundtext in Heres ist Gen 15,2– 18, die Verheißung an Abraham. Unter Hinzunahme der Parallele Gen 17,2 erklärt Philon das Wort diathēkē als „Geschenk“ (dōrea) „Gnadengabe“ (charis). Man erbt nicht als Israelit – das ist die Botschaft –, sondern man wird beschenkt.
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Römer waren, kann vorausgesetzt werden – mit Ausnahme der als Polis verfassten Städte, und das waren alle außer Jerusalem (94). (Jesus, werden wir in # 36 noch bemerken, hat diese Städte nie betreten, tut es jedenfalls nicht in den Evangelientexten: Eine Reich-Gottes-Verheißung galt ihnen nicht.) Nun hat es Schiedsinstanzen immer gegeben; die Frage ist, welches Gericht auch eine Exekutive (modern gesprochen) auf seiner Seite hatte und insofern mit römischen Gerichten auf einer Höhe lag. Hier ist der paradoxe Befund, dass auch nach dem Verlust der Autonomie Judäas es jüdische Gerichte neben den römischen gab (97). Dort in Anm. 1 bemerkt er mit Bezug auf die Traktate mBQ und mBB passim: „Im Talmud wird eine sehr genaue Unterscheidung gemacht zwischen einem autorisierten Richter und einem, der es nicht ist. Der erste braucht seine Irrtümer nicht zu verantworten, während der zweite dafür haftbar ist.“¹⁰³ Die Kompetenzen konnten nach bSan. 5 a/b begrenzt sein auf Zivilsachen oder auch Strafrecht und Ritualrecht umfassen (vgl. # 108). Was das Alexandrien Philons betrifft, so dürfte die in Flacc. 74 erwähnte gerousia nur ein Schiedsgericht gewesen sein; für durchgreifende Entscheidungen hatte man sich an die römischen Funktionäre zu wenden. Juster fragt sich ausdrücklich (99): „Wer vollzog die Urteile eines jüdischen Gerichts?“ – An die Herren im Lande, die Römer, sich zu wenden, war peinlich. Im Babylonischen Talmud ist es dann so: Ein nicht zahlender Schulder konnte mit der Exkommunikation (§ 18) bedroht werden; half das nicht und hatte er auch nicht geschworen, mittellos zu sein, schritt man zur Pfändung von Wertsachen (# 127). Das war dann private Gewalt.Wollte man es amtlich erreichen, so ist Justers Auskunft (101): „Die Urteile jüdischer Gerichte (…) waren vollziehbar durch die römischen Behörden“ – versteht sich: sofern diese dazu bereit waren und dem Urteil folgten. Es konnte aber auch vorkommen, dass die verurteilte Person sich bei der römischen Behörde beschwerte und diese dann die Richter bestrafte; s. Juster 150 in seiner langen Anm. 2, Mitte. Zu der Problematik externer Rechtshilfe vgl. 1Kor 6 (# 287). § 13 Freiwillige Gerichtsbarkeit (107– 110): So nennt man im Deutschen das, was Juster mit juridiction gracieuse betitelt: Verwaltungsakte, für welche die Autorität bei einem Gericht liegt. Das sind keine Prozesse, sondern Verwaltungsakte, wofür juristische Kompetenz gebraucht wird. In # 101 wird uns das für Erbschaftsfragen, in # 272 für eine Toterklärung begegnen, als Dienstleistungen heutiger Amtsgerichte. Solche fungierten auf römischer Seite auch als Vormundschaftsgericht.¹⁰⁴ § 14 [# 170; # 314] Zeugnis (123 f ): Hier erließ erst Justinian Restriktionen, was die Akzeptanz der Aussagen von Juden vor römischen Gerichten betrifft. Als Zeugen für
Man hätte das Umgekehrte erwartet. – Diese Unterschiede kamen offenbar, was jüdische Richter betrifft, von jüdischer Seite. Nämlich wenn etwa ein Vormund seiner Aufgabe nicht genügte oder ein anderer als der von Vatersseite zunächst Bestimmte zum Vormund zu berufen war. Aus den Juster noch nicht bekannten BabataPapyri liefertn die P. Yadin 28 – 30 (ca. 125) und die Folgedokumente bis zum P. Yadin 27 v.J. 132 das Beispiel. Das hier beschäftigte Gericht war eine römische Dienststelle in Maḥoza (Provinz Arabia). – Philon kennt Vormünder in dieser Form, wie schon gesagt, nicht.
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Verträge oder Testamente durften sie auch unter ihm noch dienen, woraus sich die frühere Praxis rückerschließen lässt. Vor jüdischen Gerichten (hierzu Heinemann 209 – 211) galt bekanntlich das Erfordernis mindestens doppelten Zeugnisses von Dtn 19,15, das auch Paulus noch zitiert (# 314). Philon seinerseits tut es in Spec. 4,53 f. Ganz am Wortsinn bleibend, nimmt er ihn als Ausschluss von testes singulares (vgl. # 170), wohingegen die Rabbinen bereit waren, in Zivilprozessen auch den Eid einer Einzelperson gelten zu lassen (ebd.). Auf seine Weise aber weicht Philon von der Tora ab und gräzisiert seinen Mose, wenn er in Decal. 138 – 141, für Beweismittel (pisteis) eine gegenüber dem Mosegesetz und auch gegenüber den Rabbinen kopfstehende Wertfolge angibt: Wo keine Plädoyers (logoi) gehalten und keine Schriftsätze (grammata) vorgelegt würden, nehme man „Zuflucht“ zu Zeugenaussagen. War das vielleicht die Praxis im jüdischen Alexandrien? In Decal. 141 geht Philon so weit zu sagen, es sei Brauch (ethos), Richter „mit den schauerlichsten Eiden“ zu vereidigen. Das hat er aus seiner Griechenlektüre, wie oben gesagt; es ist Papierwissenschaft. So muss die Frage der tatsächlichen Praxis wieder einmal offen bleiben. § 15 [# 130] Der Eid (124– 126): Die Benutzung paganer Formeln hätte aufgrund von Caesars Privilegien nicht obligatorisch gemacht werden können, meint Juster hierzu, kennt aber noch kein Dokument dieses Inhalts. Inzwischen haben wir im P. xHev/Se 61 v.J. 127 das Fragment einer Steuererklärung vor uns, die „beim Glück (tychē) des Kyrios Caesar“ beschworen wurde; das zeigt, auf welch vage Formeln die Eidespflicht verdünnt werden konnte. Für die Beamten, die sie verlangten, mochte der amtierende Caesar ein Gott sein, für die steuerpflichtige Person nicht unbedingt.¹⁰⁵ Philon jedenfalls sieht bei seiner Auslegung des Dekalogs keinen Anlass,¹⁰⁶ den Kaisereid zum Problem zu machen. Dass Philon, von hebräischem Sprachgebrauch beeinflusst, den (freiwilligen) Schwur vom (pflichtgemäßen) Eid nicht unterscheidet, wurde oben schon gesagt (4.2.3). An entlegener Stelle, nämlich in einem Fragment aus Philons Hypothetica, bekommen wir eine Regel zu fassen, die eine alexandrinisch-jüdische Schwurhalacha wiedergibt (zit. b. Euseb, Praep. 8,7,5). Dort steht in typischem, nämlich elliptischen Juristenstil: Wenn ein Mann den Lebensunterhalt (seiner) Frau geweiht hat, dass er heilig sei, (so ist) vom Lebensunterhalt abzulassen; gleiches (gilt), wenn ein Vater (den Lebensunterhalt) des Sohnes (oder) wenn ein Herrscher (den Lebensunterhalt) des Untergebenen (geweiht hat). Die vollkommenste und größte Entbindung von den Weihungen ist aber, wenn der Priester (sie) ausspricht, denn dieser ist von Gott berechtigt, (sie) anzunehmen. Nach dieser aber besteht das göttliche Recht von den jeweils
Auch die Schwurformel hypo Dia, Gēn, Hēlion, die in den o.g. Freilassungsinschriften vom Schwarzen Meer mehrfach begegnet, war schlichtweg konventionell: „Unter Zeus, Ge und Helios“ oder auch, je nachdem wie man es verstand, „unter Himmel, Erde und Sonne“. Sieht man auf den Text, reibt sich der Kaisereid mit dem Dekalog auch keineswegs. Das Namensmissbrauchsverbot wird ja gerade so geschützt, dass der Gott Israels nicht für Pflichteide gegenüber den Behörden herhalten muss. Das Verbot, fremden Göttern zu dienen, woran man hier am ehesten denken könnte, ist Teil des Bilderverbots, das beim Steuereid wiederum nicht gefährdet ist. Einschlägig wäre nur das Falschzeugnisverbot, und das wiederum wird auch mit dem Kaisereid erfüllt.
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höher Berechtigten darin, Gott als gnädig zu erklären, sodass keine Notwendigkeit besteht, die Weihegabe anzunehmen.
Ob das hier Gemeinte sich notwendigerweise in Jerusalem abspielte oder vielleicht auch woanders, wo aaronitische Priester lebten, erfahren wir nicht. Philons Nichtunterscheidung von Schwüren und Eiden betrifft übrigens auch das Recht jüdischer Männer, Gelübde ihrer Frauen (Num 30,10: euchē) aufzuheben: In Spec. 2,24 bezieht er das auf horkoi, was nach griechischem Sprachgebrauch Schwüre wären; er meint aber vermutlich etwas Kultisch-Religiöses, etwa die Selbstverpflichtung, zu einem Tempelfest nach Jerusalem zu pilgern (was er u.W. selbst immerhin einmal getan hat). § 16 [# 75] Strafgerichtsbarkeit: Was Juster zu Judäa zu sagen hat (127– 152), wird in den Auslegungen der Folgebände aufzugreifen sein; die relevanten Rechtstexte zitiert er hier schon alle. – Zur Diaspora (153 – 156) sagt er gleich eingangs: „Die Juden der Diaspora hatten ihre Eigengerichtsbarkeit nur in religiösen Fragen, aber nicht im allgemeinen Strafrecht. Kein Dokument bezeugt das.“ M.a.W., jüdische Gerichte waren in Fragen des Zivilrechts immer nur Schiedsgerichte ohne Exekutionsgewalt. Juster verweist hier (154 Anm. 3) auf Paulus in Korinth (Apg 18; # 226), wo es der jüdischen Gemeinde nicht gelingt, Paulus, der ihnen lästig fällt, bestrafen zu lassen; Gallio verweist sie auf ihre eigenen Disziplinierungsmittel. Diese aber reichen über das Prügeln (# 312, hier formlos) nicht hinaus. Hier zeigt sich der völlig theoretische Charakter all der Stellen, wo in Schriften jüdischer Selbstdarstellung die drakonische Härte mosaischer Todesstrafen gerühmt wird. Das gilt sowohl für Philons Hypothetica wie auch für das von Josephus in C.Ap. 2,215 – 217.225 – 228 verwendete, vermutlich alexandrinische Dokument, das beiden die Vorlage gewesen sein dürfte. Die dort erwähnten Todesstrafen erweisen bei näherem Hinsehen sich als nichts anderes als das dîn šamajîm der Rabbinen, die Gottesstrafe, die man erwartete als Lebensverkürzung, Krankheit, Tod von Kindern oder sonst ein Unglück. Plutarch hat in De sera numinis vindicta thematisch davon gehandelt. – Heinemann (535): So wenig wir über einen mit Profansachen befaßten jüdischen Gerichtshof in Alexandreia wissen, so viel steht fest, daß ihm das ius gladii und die Befugnis zur Verhängung schwerer Körperstrafen unmöglich zugestanden haben kann; die hervorstechendsten Abweichungen Philons, die Neigung zu häufiger Verhängung des Todesurteils und die buchstäbliche Auffassung der Talion, können also unmöglich aus der Praxis stammen.
Dass von der Tora immerhin eine psychologische Wirkung ausging, bestätigt Juvenal 14,101 von solchen Römern, die (was er missbilligt) sich für die Mosegesetze interessieren:¹⁰⁷
Text mit ausführlichem Kommentar bei Stern, GLAJJ II S. 102– 107; vgl. Siegert, „Gottesfürchtige“ 153 f.
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Iudaicum ediscunt et servant ac metuunt ius – Übers. Berg:¹⁰⁸ „…lernen sie jüdisches Recht auswendig, halten und ehren’s“ –
wobei metuunt anklingt an das phobein der Septuaginta (deren nomos ist gemeint), ein „furchtsames“ Gottesverhältnis, und die danach benannten „Gottesfürchtigen“. Hier fällt, blicken wir auf Alexandrien, etwas auf: Anders als in Rom und sonst an vielen Orten der römischen Welt, gab es dort, nach allem was wir wissen, keine Gottesfürchtigen. Das Christentum seinerseits hat dort erst spät Fuß gefasst.Woran das wohl liegen mag? Hätte man Philon gefragt, der das römische Milieu ja auch kannte, hätte er vielleicht geantwortet: Merkwürdig… Hier sind wir anscheinend unbeliebt. § 17 [# 82; # 207; # 281] Die Todesstrafe (156 – 159) war für die Diaspora, wie eben gesagt, jüdischerseits etwas rein Theoretisches.¹⁰⁹ Für Judaä indes und für die dortigen Autoritäten lautet der Befund: „In bestimmten Fällen hatten sie vor d.J. 70 dieses Recht“ (156; die Belege: 132– 137). S. # 159. § 18 [# 285] Exkommunikation (159 – 161), jüdisch gesprochen: der Bann (römisch wäre es das Exil): Dies war wohl – außer den 39 Schlägen mit dem Lederriemen (§ 20) – das einzige, was dem Judentum außerhalb des judäischen Tempelstaats zur Verfügung stand. Das Christentum kennt sie im selben Sinne (1Kor 5; # 285), die Rabbinen auch, einschließlich der Bannandrohung und des „kleinen Bannes“ (# 315). Juster 159 bezeichnet die rabbinische Exkommunikation (ḥeräm) als „bürgerlichen Tod“,¹¹⁰ etwas Schreckliches, und stellt auch Möglichkeiten der Rücknahme dar. § 19 [# 48] Gefängnis: Hierzu hat Juster (161) den einen Satz: „Die Juden verwendeten die Gefängnisstrafe gegenüber Religionsfrevlern, aber auch gegenüber zahlungsunfähigen Schuldnern“ (hier # 140). Zu ersterem nennt er Apg 22,19, wo der lukanische Paulus angibt, als Emissär des Hohen Rates die Vollmacht zu Verhaftungen gehabt zu haben (# 208, historisch fraglich) und auf die damals gerade bekannt gewordene Damaskus-Schrift (CD), die wir aber, wie die gesamte Sonderentwicklung des essenischen Judentums, zur Illustration des öffentlichen Lebens, aus dem sie sich zurückgezogen hatten (vgl. B 1.4.2), nicht heranziehen. Wie die alexandrinischen Juden mit inneren Konflikten umgingen, wissen wir nicht. § 20 [# 312] Die Prügelstrafe (161 f ): Wenn Juster diesen Abschnitt überschreibt mit flagellation, unterläuft ihm die gleiche Wortverwechslung, mit der deutschsprachige Literatur hier von „Geißelung“ spricht: Geißeln, also metallbestückte Schlagwerkzeuge zur Körperverletzung, sind u.W. von Juden nie angewendet worden (# 221),¹¹¹ wohl aber A. BERG (Übers.): Des Decimus Junius Juvenalis Satiren (1855), 1912, 284. In einer die ganze S. 157 deckenden Fußnote weist Juster in anderslautenden Meinungen einen Denkfehler nach (erreur de raisonnement): Man hält Bibelexegese für gesellschaftliche Praxis. Ein positiv-wertiges Gegenstück dazu ist der „Tod“ der Taufe (Röm 6; # 272); auch dieser unterbricht Beziehungen zur bisherigen sozialen Umwelt. Das betrifft auch Justers Vermutung (161), diese Strafe habe tödlich sein können. Wenn mMak. 3,14 diese Eventualität ins Auge fasst, ist eher an einen plötzlichen Tod (Herzschlag) gedacht als an ein Sterben an den Verletzungsfolgen.
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ein Schlagwerkzeug aus Lederriemen, das wir besser, wenn auch noch ungenau, „Peitsche“ nennen werden. Französisch würde hier passen: bastonnade, auf Deutsch ist es die Prügelstrafe. Das sind in den Synagogengemeinden die bekannten 39 Schläge nach Dtn 25,3; s. # 312. Jos., Ant. 238 kennt dieses „öffentliche Leder“ (dēmosion skytos). Philon bemerkt in Spec. 2,28, diese Strafe (schon er übertreibt hier und nennt sie mastix, „Geißel“) sei für einen Ehrenmann schlimmer als die Todesstrafe, weil sie öffentlich geschieht. Das meint sicherlich die gemeindeinterne Öffentlichkeit, denn gerade weil Philon so spricht, können wir sicher sein, dass Judengemeinden in griechischen Städten sich nicht in dieser Weise der paganen Öffentlichkeit bloßstellten. § 21 [# 381] Geldstrafen (162): Der eine Satz hierzu lautet: „Die Juden konnten in aller Freiheit zu Geldstrafen verurteilen.“ Wie es mit der Durchsetzung aussah und auch mit der Verwendung des Geldes, wissen wir nicht. Zwangsmittel standen jüdischen Gerichten nur wenige zur Verfügung (Juster 150 Anm. 2); was bSan. 7b hierzu aufzählt, bezieht sich auf die 39 Schläge, den Bann und die Exkommunikation (Weber, Theologie 142). – Soviel war zu sagen zu der begrenzten Eigengerichtsbarkeit einer jüdischen Diasporagemeinde im Römischen Reich. Bleibt noch zu fragen nach den Bestimmungen, die für Roms Gerichte und Behörden galten im Umgang mit Juden, zumal solchen, die keine römischen Bürger waren. Auf S. 162– 182 geht es um „Die Lage der Juden vor der römischen Strafgerichtsbarkeit“. Die jetzt folgenden Rubriken sind: § 22 [# 222] Der Einfluss des status civitatis der Juden auf ihre Stellung im Strafrecht (162– 165): „Ein Jude als peregrinus unterliegt gerichtlich allein dem römischen Gouverneur“ – was die von diesem beauftragten Chargen mit einschließt. „Der Jude, der römischer Bürger ist, hat Anspruch darauf, dass im consilium [d. h. mit Beisitzern] geurteilt wird“ – hier zitiert Juster Apg 25,12 (symboulion/consilium) – „und auch das nur, wenn dem Gouverneur das ius gladii zukommt“ (162). „Sollte es sich um einen Kapitalprozess handeln, hat er zudem das Recht einer provocatio nach Rom“ (162 f ).¹¹² Erspart blieben ihm folgende Strafen: Prügel, In-Eisen-Legen, Gefängnis, Verbannung (164). Zum Gefängnis insbesondere hatte die lex Iulia de vi es so bestimmt, und wenn Paulus in Rom oder auch vorher schon unter Hausarrest steht und einen Soldaten zugeordnet erhält (# 240), ist das kein Gefängnis, sondern eine custodia militaris und damit jedenfalls nichts Ehrenrühriges. Soviel zu römischen Bürgern. Ein Jude, der Bürger war in einer Griechenstadt, unterlag in römischer Sicht deren Bedingungen, den lokalen also. „Z. B. wissen wir, dass die alexandrinischen Juden, ganz wie die alexandrinischen Griechen, nicht der Prügelstrafe unterzogen werden durften; im Falle der Bestrafung hatten sie das Recht, [allenfalls] von einem alexandrinischen spathēphoros [‚Klingenträger‘] geschlagen zu werden“ – so 163 f (nach Philon, Flacc. 78), was immer das konkret heißen mochte; Philons Leser werden es gewusst haben. Hier wären Alexandriens Juden dadurch ge-
Dieses damals gerade im Entstehen befindliche Provokations- (Appellations‐)Recht ist auf neuestem Quellenstand von Mandas, Processo dargestellt worden; s. # 249.
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schützt gewesen, dass man sie wie Griechen behandeltete – eine isopoliteia wenigstens auf diesem Gebiet des Strafrechts. Es war Roms Entscheidung, hier analog zu verfahren. Demgegenüber berichtet Philon vom Geißeln von Mitgliedern der jüdischen gerousia in voller Öffentlichkeit (Flacc. 75), später auch noch von der Folterung Gefangener (Legat. 368: basanoi) und auch sonst vielerlei, worin die Römer handelten, als wären Alexandriens Juden rechtlos. Nach Flacc. 73 ging diesen Übergriffen eine politeias anhairesis, ein „Aberkennen der Bürgerrechte“ durch den Statthalter Flaccus voraus – ob eigene oder die griechischen Bürgerrechte Alexandriens damit gemeint waren, erfahren wir wieder nicht –, die Philon als pure Willkür des Statthalters darstellt, mithin als Unrechtstat. Sein Bericht schweigt freilich von dem vorangegangenen Tag, sodass mangels sonstiger Texte nur noch vermutet werden kann, was dort vorgefallen war. Dieser Tag d.J. 38 n.Chr. war eine von Caligula angeordnete Staatstrauer um die von ihm vergötterte Schwester Drusilla gewesen (Flacc. 56 erwähnt es immerhin noch) mit den zugehörigen Umzügen und politischen Demonstrationen, und dort muss ein Übergriff von jüdischer Seite erfolgt sein, den Flaccus als laesa maiestas des römischen Volkes auffassen konnte, etwa das Umstürzen einer Statue der Drusilla.¹¹³ Flaccus konnte daraufhin erklären, dass Alexandriens Juden eo ipso rechtlos geworden seien gegenüber Rom.¹¹⁴ Dieser Deutungshinweis stützt sich auf eine Analogie, die Philon selbst uns liefert, Legat. 200 – 203. Dort hatten die Juden von Jamnia (Jabne) eine Statue Caligulas umgestürzt. „Es geschah in Reaktion auf die Ereignisse in Alexandrien und in Jamnia (…), dass Caligula entschied, nunmehr überall seine Standbilder in den Synagogen aufstellen zu lassen“ (Juster I 351 Anm. 5).Wie die Folgen dieser Krise den Iudaei im ganzen Reich denn doch erspart blieben, schildert Josephus in Ant. 19,105 ff; es war die Ermordung des Kaisers durch seine eigenen Bewacher. Was schließlich noch die Berufung auf den Kaiser betrifft, sagt Juster mit Bezug auf den Prozess des Paulus (162 f ): Der Gouverneur wird den Angeklagten „nur aus politischen Motiven nach Rom schicken, wenn er etwa eine wichtige Position einnimmt“. Eine Pflicht dazu hatte er nicht. Dem wird in # 249 ausführlich Recht zu geben sein.
So Kerkeslager, „Mourning rites“, bes. 398. – Mommsen, „Paulus“ 91 spricht von der „fast unbeschränkten Dehnbarkeit des römischen Majestätsverbrechens“. Es wäre sicherlich aussichtslos gewesen, hier gegenüber Rom sich gegen Kollektivhaftung wehren zu wollen und die Schuldigen einzukreisen. Dafür hätte die jüdische Seite, also die besagte Gerusie, sie benennen und ausliefern müssen, was allein schon unwahrscheinlich ist, und die römische Seite hätte die Gelegenheit eines politischen Prozesses ungenutzt gelassen, auf den nun wieder Caligula nicht verzichtet hätte.
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4.3 Jüdisches Recht nach Abschluss der Hebräischen Bibel Judentum war zu allen Zeiten in gewissem Sinne eine Religion des Rechts. Ein markanter Zug der Hebräischen Bibel ist die Passage Dtn 16,18 – 20, wo die Judikative als selbstständige Kraft im gesellschaftlichen Geschehen verankert wird. Im Neuen Testament schlägt sich das an solchen Stellen nieder, wo von einem – offenbar einheimischen, lokalen – Richter die Rede ist (vgl. # 108).¹¹⁵ Hier liegt eine gewisse Besonderheit gegenüber dem römischen Recht, das als Teil der Verwaltung, nicht als „dritte Säule“ konzipiert war (modern gesprochen). Sherwin-White, RSRL 133 f sagt es so: „Richten ist nur ein Aspekt des imperium des römischen Magistrats (…). Im Judentum hingegen und damit auch in den Evangelien ist es eine Sache für sich, eine Funktion eigenen Rechts.“ Indes, die Texte sind keine 1:1-Abbildung des gesellschaftlichen Geschehens. Die Hebräische Bibel hat mit der Mischna gemeinsam, dass präskriptive und deskriptive Passagen sich durchdringen und selbst Fachleute damit überfordert sind, beides auseinander zu halten. Auch muss mit einem eigentümlichen Sprachgebrauch gerechnet werden. Das Wort „richten“ (š-p-ṭ) kann genauso gut „regieren“ bedeuten – s. Glossar im Schlussband. Dieser Biblizismus aus den Richter-Büchern findet sich griechisch auch bei Josephus, wenn er beispielsweise sagt (Ant. 18,1), Quirinius sei nach Judäa gekommen, vom Kaiser gesandt, „als Richter (dikaiodotēs) der Nation“. – Im folgenden sollen einige Besonderheiten jüdischen Rechtsdenkens herausgestellt werden¹¹⁶ in Ergänzung von Johann Maiers Vorstellung der jüdischen Rechtsquellen (oben B 2– 3) und unter Einbezug seines Aufsatzes „Voraussetzung und Ausformung eines jüdischen Rechts im antiken Judentum“ in der Zeitschrift für Altorientalische und Biblische Rechtsgeschichte (ZAR) 18, 2012, 309 – 340.
4.3.1 Von den „Überlieferungen der Älteren“ zur Mischna Beginnen wir mit einer Beobachtung zur Sprache: Als Abraham mit einem Kanaaniter zum Abschluss eines interkulturellen Abkommens, einer berît, einen Denkstein setzt,
Die Wirkungsgeschichte dieser Passage ist allerdings dürftig und ist es schon im Judentum. Luthers Dtn-Vorlesung würdigt sie zwar in einem dreiseitigen Exkurs, WA 14, 664,30 ff (vgl. Luther und das Recht, Abschn. 2, Text 24). Danach wird die Wirkungsgeschichte dünn: Pufendorf erwähnt die Stelle nur einmal (JN&G 6,1,6), ohne ihre grundsätzliche Tragweite zu erkennen. Auch die anderen hier konsultierten Naturrechtsbücher haben sie nicht; Wolff, JN nennt die Stelle nicht, auch nicht in den übrigen sieben Bänden seines Jus naturale. Eine „Gewaltenteilung“ hingegen hat erst John LOCKE gefordert (1690; s.Wesel, Geschichte des Rechts 403). Bekannter dafür wurde MONTESQUIEU (Schlosser, ERG 9 § 44). Als kürzere Darstellung vgl. NTAK I 258 – 268: „Jüdisches Recht in neutestamentlicher Zeit“ (U. KELLERMANN); Selb, Antike Rechte 157– 168: „Die jüdische Rechtsgeschichte“ (noch ohne Zugang zu den BabataTexten); Izhak ENGLARD: „Jüdisches Recht“ in: Trumah 11, 2001, 119 – 125; Wittreck, Interaktion 69 – 76.
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erhält dieser seine Benennung als „Stein des Zeugnisses“ auf Aramäisch wie auf Hebräisch (Gen 31,47). Noch das judäische Recht der neutestamentlichen Zeit war ein interkulturelles Gebilde. Über dreitausend Jahre später, als 1948 der Staat Israel ausgerufen wurde, ohne dass es schon eine Rechtsordnung für ihn gegeben hätte, übernahm man kurzerhand das Mandatsrecht, also englisches Recht, in der Absicht, es von da ab anzupassen. Die erste Verwaltungsvorschrift des jungen Staates besagte dann allerdings, dass Bestimmungen, die zu ihrer Verständlichkeit des Englischen bedürften, nicht gelten dürften.¹¹⁷ Damit war Hebräisch als Staatssprache eingeführt – in einer Strenge, wie sie zu Jesu Zeiten nicht gegolten hatte. Die Sprache Jesu, das Aramäische (dessen letzte Sprachinseln im Orient derzeit im Namen des Islam vernichtet werden) war länger noch als das Griechische ein Verständigungsmittel zwischen den Völkerschaften des Ostens gewesen. Nationalsprache war es in jener Zeit nirgends, sondern immer eine grenzübergreifende Geschäfts- und Verkehrssprache. Hebräisch hingegen war die den Juden eigene Sprache (Est 8,9). Als „Sprache der Schöpfung“ gilt sie seit dem Jubiläenbuch (12,25 f; 2. Jh. v.Chr.). Den Rabbinen ist sie die „heilige Sprache“ (lešôn ha-qôdäš), und nur in dieser Sprache trafen sie – wie vor ihnen auch die Qumran-Essener – ihre Regelungen.¹¹⁸ Auch einem Philon war Hebräisch die Sprache der Schöpfung und die Sprache Adams¹¹⁹ – was allerdings nicht heißt, dass er sich, als Diasporabewohner, die Mühe gemacht hätte, sie zu erlernen; stattdessen verstärkte er den Mythos der „fehlerfreien“ Septuaginta-Übersetzung (Siegert, Septuaginta 30). R. Šim‘on b. Gamli’el II., der Vater R. Judas, erinnert an eine Regel seiner Zeit, dass nur das Griechische zum Übersetzen der heiligen Bücher (bisher) erlaubt gewesen sei (mMeg. 1,8). Dazu findet sich in jMeg. 71b 63 ff ¹²⁰ der Kommentar, dass vier Sprachen in der Welt nützlich seien: „la‘az (Griechisch) für den Gesang, rômî (Latein)¹²¹ für den Krieg, sûrsî (Aramäisch) für das Lallen¹²² und ‘ibrî für die (Gottes)rede (la-dibbûr). – Noch R. Juda I. soll gesagt haben (bSot. 49b; Bill. II 451 Punkt c): „Was soll mir das sûrsî (Syrisch als „verstümmeltes“ Hebräisch – Anspielung an die Wurzel s-r-s) Elon, Jewish Law IV 1621 zitiert sie: „Every provision of law requiring the use of the English language is hereby repealed.“ M. RUBIN: „The Language of Creation and the Primordial Language“, JJS 39, 1998, 306 – 333; G. VELTRI: „Die Heilige Sprache. Sprachphilosophien und Übersetzungstheorien“, in: ders.: Gegenwart der Tradition (JSJ.S 69), 2002, 38 – 52; G. STEMBERGER: „Hebräisch als ideale Sprache“ (2003), in: ders., Judaica Minora I 88 – 102. V. a. in den Traktaten Conf. und Mos. II. Wenn Philon das Hebräische oft „Chaldäisch“ nennt (wie andere Autoren nur das Aramäische oder das Syrische), dann offenbar mit Bezug auf die Quadratschrift, die in der Tat mit dem Aramäischen aus dem Babylonischen Exil ins Land Israel gelangte. In der Antike verwechselte man oft die geschriebene Sprache mit der gesprochenen, ja hielt sie dieser gegenüber für primär. Vgl. Bill. II 444 oben, nach einem schlechteren Text. Übrigens geht in den jeweiligen Kontexten die Diskussion der Sprachen mit der der Schriften durcheinander, was sie noch schwerer verständlich macht. Vgl. gr. rhōmaïsti in Joh 19,20 (# 180) sowie die Überschrift des SRR (s.u. 4.4.2). Aram. ’ilja’ (vgl. hebr. ’älî „Klage“ in Joel 1,8), m. E. Lautmalerei für „Lallen“. Weder in ihrem Formenschatz noch in ihrer – die Gutturale damals schon verschleifenden – Aussprache war diese Sprache besonders deutlich.
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im Heiligen Land? Entweder die Heilige Sprache oder Griechisch.“ In jMeg. 71c 9 heißt es dazu: „Man prüfte und fand, dass die Tora nach all ihren Erfordernissen nur ins Griechische übersetzt werden kann.“ Zu Jesu Zeiten war Hebräisch eine Kunstsprache geworden, spezialisiert auf gewisse Bereiche, wo man es nicht ersetzen wollte, nämlich in der Tempelliturgie, in der Poesie (allerlei Qumran-Psalmen sind auf Hebräisch erhalten, die pharisäischen Psalmen Salomos wohl auf Hebräisch verfasst gewesen) und – worauf es hier nun ankommt – in der Weiterentwicklung der Tora zur Halacha, also in der Rechtspflege. Weisheitssprüche, Lebensweisheiten also, kann man von Hillel u. a. in der Mischna auch auf aramäisch überliefert finden; alles Normative hingegen wurde in Kontinuität aus alten Zeiten auf Hebräisch formuliert – das nämlich, was man halakah nannte, „Lebenswandel“ (gr. agōgē).¹²³ Dieses Wort ist und blieb im Christentum selten; die ab dem 2. Jh. entstehenden Kirchenordnungen – die älteste ist die Didachē – liefen unter anderen Bezeichnungen. Soviel zum Nebeneinander mehrerer Sprachen. Sie transportierten ein Nebeneinander von Rechtsordnungen. Die in den Auslegungen der nächsten Bände konstant zu findende Rubrik „Rechtsgeschichtlicher Befund (jüdisch)“ wird an vielen Beispielen zeigen, dass die Rechtspraxis in Judäa ein Gemisch war aus allem, was in Frage kommt: altorientalisch-Aramäischem,¹²⁴ mosaisch-Hebräischem, hellenistisch-Griechischem und römisch-Lateinischem. Vor allem dieses letztere war in rascher Fortbildung begriffen; Roms Senat, seine Praetoren und zunehmend auch der Kaiser selbst waren sich bewusst, Rechtsschöpfer zu sein. Das Judentum war in dieser Hinsicht zögerlich. Mündliche Rechtssetzungen der „Weisen“ (hebr. ḥakamîm) Judäas aus den letzten Zeiten des Zweiten Tempels begegnen uns außer in rabbinischen Texten auch in den Evangelien (# 51), oftmals freilich in einem Kontext, der sie ablehnt. Über diese Phase der jüdischen Rechtsentwicklung sind wir nicht gut unterrichtet, sodass die Durchmusterung der neutestamentlichen Texte unter dieser Fragestellung einiges an zusätzlichen Einsichten zu erbringen verspricht. Auf Hebräisch aus späterer Zeit haben wir eine Fülle von Reminiszenzen in der rabbinischen Literatur; sie sind zwar detailliert, aber Gedächtnisfehlern unterworfen. Man ist nicht geschützt vor Anachronismen und Personenverwechslungen. Zum Glück aber sind in den Jahrzehnten seit dem Zweiten Weltkrieg Originaldokumente, geschrieben auf Leder oder auf Papyrus, zutage gekommen und ediert worden, woraus sich ein klareres Bild ergibt. Johann Maier („Voraussetzungen“ 327 f ):
Zu diesem Terminus s. Spicq, Lexique 41– 43; Siegert, EHJL 254.576. Euseb, H.e. 2,17,15 bezeichnet die monastische Lebensweise, wie er sie bei Philon, Cont. beschrieben fand (er zitiert daraus), als ekklēsiastikē agōgē und sogar als kata to euangelion politeia, „Lebensweise nach dem Evangelium“. Eine gewisse Übersicht gibt A. GROSS: Continuity and Innovation in the Aramic Legal Tradition (JSJ.S 128), 2008: 20 ff Transportrecht; 78 ff Kaufrecht, Quittungen; 124 ff Beauftragung, Vollmacht; 178 ff Bürgschaft.
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Die Urkunden aus der Wüste Juda bieten einen Einblick in die Rechtswirklichkeit zwischen zwei konkurrierenden programmatischen Ansprüchen, die beide alle Lebensbereiche einer „vollkommenen Torah“ unterwerfen und so alles Recht als Gottesrecht ausweisen wollten. Der eine war die priesterlich-levitische Torah-Konzeption, die in extremer (zadokitischer) Form in den Qumrantexten zutage tritt, die andere ihr laizistisch-pharisäisches Gegenstück, das seine volle Ausformung erst mit der Mischna (…) erreichte (…).
Josephus, Ant. 13,293 – 297, der von dieser Konkurrenz berichtet – persönlich gehört er der Generation des Paulus an –, kennt bereits Vorschriften außerhalb der Pentateuchgrenzen als nomima, „Gesetze“. Nicht lange danach sprachen die Rabbinen von einer Mündlichen Torah. Die pharisäische Erweiterung verbindlicher Tradition war ein Mittel, das Volk unter Kontrolle zu bringen und soweit als möglich der priesterlich-levitischen Bevormundung zu entziehen.
So Maier a.a.O. 329. Die Ausrichtung dieser neuen Rechtssetzungen ist das zwischen Pharisäern und Rabbinen Verbindende, worin aber auch die Nähe zu den Schriften des Neuen Testaments sich zeigt (Maier ebd.): Nicht vom Heiligtum aus und im Interesse der Kultdienerschaft, sondern von der Familie aus und im Rahmen rituell definierter Kreise „reiner“ Personen wird eine Ordnung unter rabbinischer Ägide entworfen, die in Umdeutung der priesterschriftlichen¹²⁵ Wüstengemeinde als Gesellschaftsmodell für ganz Israel dienen sollte.
Was die Frommen im damaligen Judäa, insbesondere die Pharisäer, in jenen Jahrhunderten gar nicht gern sahen, war das Eindringen hellenistischer Rechtsgewohnheiten (etwa des Testamentemachens oder des Zinsnehmens) in der Bevölkerung. Modern gesprochen, geschah hier seit über zweihundert Jahren schon ein Globalisierungsschub; Schriften wie das Sirachbuch hatten mit geringem Erfolg versucht, dagegen zu opponieren.¹²⁶ Die dort deutlich spürbare Spannung durchzieht auch noch die Zeit des Neuen Testaments in dessen Phase A. Die Rabbinen – ab 70 n.Chr. kenntlich an dem Namenszusatz (nicht nur der Anrede) rabbî vor ihrem Namen (s. # 206 zur Ordination) –, sichteten und kodifizierten das, was an „Überlieferungen der Älteren“ in Umlauf war. Ihr erster Wortführer, Rabban („unser Meister“) Joḥanan ben Zakkai – chronologisch liegt er zwischen dem im Neuen Testament erwähnten Synhedristen Gamaliel (I.) und seinem Enkel, Rabbi Gamaliel (II.) – scharte um sich eine Gruppe (in diesem Sinn „Schule“) von Rechtsgelehrten, zunächst noch in seinem während des Jüdischen Krieges bezogenen Exilsort Jabne (Iamneia/ Iamnia) am Südrand Judäas. Dort begann man, diejenigen Traditionen zu sammeln, zu S.u. C 4.1.1. Gemeint ist diejenige Komponente der Mosebücher, die sie mit dem roten Faden des Motivs vom wandernden Gottesvolk zusammenfügte – ein Motiv, unter dem Ernst KÄSEMANN in Das wandernde Gottesvolk (1938 u. ö.) den Hebräerbrief vorstellte. Das Problem in seinem ganzen Ausmaß ist dargestellt bei Hengel, Judentum und Hellenismus; zum Sirachbuch im Besonderen s. Siegert, EHJL 141– 156.
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sichten und zu memorieren, die als Halacha in Zukunft maßgeblich sein sollten. Die tEd. 1,1 berichtet: Als die Weisen den Weinberg von Jabne betraten,¹²⁷ sprachen sie: Die Stunde wird kommen, wo man eines der Worte der Tora suchen wird und wird es nicht finden, eines der Worte der Weisen und man wird es nicht finden (…). [Folgt Zitat von Am 8,11 f.] Denn eine Lehre der Tora stimmt nicht überein mit ihresgleichen. Sie sprachen (also): Lasst uns mit Hillel und Šammai anfangen!
Hillel und Šammai, eine Generation vor Jesus lebend, beide noch ohne Rabbinentitel, sind die prominentesten unter den „Weisen“ der Spätzeit des Zweiten Tempels. Ihre Namen stehen für dasjenige Überlieferungsgut, das überhaupt mit Namen historisch fassbarer Persönlichkeiten zusammenhängt, in Konkurrenz zu – und bald noch stattfindender Ablösung von – Schriften unter solch sagenhaften Namen wie Henoch, Abraham, ja Adam. Mit der Entscheidung von Jabne war die gesamte damals schon bestehende Apokalyptik kein Orientierungswissen mehr (wenn sie es denn je hatte sein sollen – außerhalb des Essenismus ist das nicht erwiesen). Nach dem Fehlschlag der zweiten Revolte gegen Rom, bekannt als Bar-Kochba-Krieg (kein Geringerer als Rabbi ‘Aqiba, der maßgebliche Tora-Lehrer seiner Generation, soll diesem Milizenführer seinen messianischen Zunamen gegeben haben: „Sternensohn“, in Anlehnung an Num 24,17),¹²⁸ verzichteten die Rabbinen auf jenen militanten Nationalismus, der zweimal in kurzer Zeit das Volk Israel dezimiert hatte. Nunmehr galt – wenn auch resignierend und mit innerer Distanz – das im nächsten Abschnitt zu zitierende Prinzip der Loyalität zur römischen bzw. (im Osten) persischen Oberherrschaft. Das messianisch-politische Denken blieb eingekapselt in gewissen apokalyptischen Schriften auf Hebräisch¹²⁹ und in dem Anspruch der führenden Rabbinen, R. Judas I. nämlich und seiner direkten Nachkommen in männlicher Linie, deren mehrere den Titel „Patriarch“ trugen –, aus der Familie Davids zu stammen. Als Gottes „Weinberg“ bezeichnete sich fortan die in Jabne gegründete Akademie für mosaisches Recht, in gezielter oder auch nur sprachlich-zufälliger Replik auf das Weinberggleichnis von Mk 12 parr. (# 66). Seit biblischen Zeiten haben die Worte „Weinberg“ und „Weinstock“ den Wohlklang einer stehenden Metapher für ein gottgefälliges Israel – womit ja wohl eine schon alte Scharte wie die von Jes 5,1– 7 (Weinberglied) ausgewetzt werden sollte. In einer Toraschule wurde das neue Pflänzlein gehegt und großgezogen, welches das Judentum der Zukunft werden sollte. Anknüpfend an den einstigen Pharisaismus, der zur Zeit Jesu vermutlich noch der strengen Richtung Šammais angehört hatte, und in einem Richtungswechsel hin zu dem milderen, konzilianteren Hillel, der stets als zweiter genannt wird, dann aber die Oberhand erhält.
Blumige Ausdrucksweise für Jabne als Ort des Tora-Unterrichts. Für „Weinberg“ in diesem Sinne vgl. mKet. 4,6 und bBB 131b sowie im Folgenden. Freilich bezweifelt Jacob NEUSNER, „Akiba ben Josef“, TRE 2, 146 f, dass diese aus ‘Aqibas eigener Zeit noch nicht belegte Nachricht richtig ist. Sie blieben selten: Siegert, EHJL 218; Mittelalterliches: 223 f.
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Der Anspruch der Rabbinen war nicht nur, Ausleger der Geschriebenen Tora zu sein, sondern auch eine parallel dazu vom Sinai herkommende Mündliche Tora in Worte zu fassen. Nach Maier, „Voraussetzungen“ 330 ist die Mischna nur zum kleineren Teil Tora-Auslegung; „daneben enthält gerade die Mischna weit mehr Regelungen, die völlig unabhängig von Pentateuchgesetzen als Torah des Mose vom Sinai bzw. als Halakah deklariert werden.“ Zur Legitimation führten die Rabbinen unter sich die Ordination ein (# 206), in Ablösung des geburtsbestimmten Priestertums am einstigen Tempel. Ein Adel des Geistes ersetzte den der Geburt. Ein etwas späterer Text, MekJ, Jitrô 2 zu Ex 18,13 mag die Mentalität der Rabbinen noch weiter illustrieren. Die dort zu kommentierende Bibelstelle lautet: „Und es war am Tage darauf, da saß Mose, zu richten das Volk“:¹³⁰ Vom Morgen bis zum Abend. Hat Mose wirklich vom Morgen bis zum Abend Israel gerichtet? Die Richter haben ja nur bis zur Zeit der Mahlzeit Recht zu sprechen; was will es sagen: vom Morgen bis zum Abend? – Allein, das lehrt, dass jeder, der einen wahrhaftigen Urteilsspruch nach seiner Wahrheit hervorbringt, dies die Schrift ihm so betrachtet, als wäre er mit dem Heiligen, gebenedeit sei er [d.i. Gott], am Werke der Schöpfung beteiligt. [Begründung:] Hier heißt es: vom Morgen bis zum Abend, und beim Schöpfungswerke heißt es: Es ward Abend und es ward Morgen.
Nebenbei erfährt man hier, dass in heißen Ländern wie jenen der Levante für Richter mittags Dienstschluss war.¹³¹ Übrigens waren es ja auch keine Berufsrichter. Auch als Rabbi noch war man gehalten, sich durch einen bürgerlichen Broterwerb unabhängig zu stellen. Das war eine Regel für Richter, um sie möglichst unempfänglich zu machen für Bestechung. So entstand und konsolidierte sich nach und nach jenes Recht, welches seit dem Ende der Jerusalemer Theokratie i.J. 70 n.Chr. von dem neu eingerichteten Rabbinenstand in seine Pflege übernommen und als „Mündliche Tora“ (tôrah šä-be‘al päh) auf gleiche Wichtigkeit wie der Pentateuch gehoben wurde. Es war eine Entwicklung zur Professionalisierung des Rechtswesens. Moore, Judaism II 183 sagt es in seinen Worten so: So long as the local judges settled the cases that came before them after a customary law and with a rude kind of equity, they had no need for much learning; but the growth of a scholastic law with its exact definitions and manifold refinements made it necessary that from the lowest courts to the highest the judges should be learned in the Law.
Zitiert nach der Übersetzung Winter/Wünsche, S. 186 (Schreibweise angepasst; Klammerbemerkungen: F. S.). Das ist auch für die Rolle des Pilatus anzunehmen beim Prozess Jesu (# 159). Wenn Joh A 19,14 die 6. Stunde (= Mittag) für die Verurteilung Jesu angibt, ist das der späteste reguläre Zeitpunkt. Manche Manuskripte korrigieren hier, dem mk. und synoptischen Schema gemäß, den Vormittag hinein (3. Stunde Urteil, 6. Stunde Kreuzigung, 9. Stunde Tod), welches aber eher Solarsymbolik wiedergibt (s. die Kommentare), als dass es konkrete Erinnerung wäre.
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Erst mit der Mischna wurde die dabei entstehende Vielfalt von Regelungen – oftmals zusammen mit den damals diskutierten Alternativen – in Schriftform gegeben. Beim Lesen der Rabbinenwerke (Übersicht: oben B 3.6), die inzwischen großenteils auf Deutsch und komplett auf Englisch zugänglich sind, gerät man in ein verwirrendes Hin und Her zwischen praktischer Klugheit, ja Lebensweisheit auf der einen Seite und abstrakter Konsequenzmacherei sowie purer Utopie auf der anderen. Sehr vieles in der Mischna sind Schubladengesetze, überall da nämlich, wo der einstige bzw. der für dereinst erhoffte Tempelstaat mit Jerusalem und den Synhedrium im Zentrum Voraussetzung ist. Das ist v. a. im Strafrecht (Traktat Sanhedrin) der Fall, weit weniger im Wirtschaftsrecht („Marktrecht“; Traktate Baba Qamma bis Batra). Entscheidungen, die in der Mischna noch offen sind, finden oft im Talmud Jerušalmi bzw. Babli eine Festlegung, ersteres mit Blick auf die Juden im Römischen Reich, letzteres auf diejenigen unter babylonischer (arsakidischer) bzw. persischer (sassanidischer) Herrschaft. Die akademische Judaistik hat viel damit zu tun, das Maß an Fiktionalität oder gar Utopie zu bestimmen, das den Vorschriften eignet, und die konkrete Praxis davon zu unterscheiden.¹³² Das Interessanteste für unsere Zwecke sind jedoch die Reminiszenzen aus vorrabbinischer Zeit, wie sie bes. das ausführliche, aber nichtoffizielle Seitenstück zur Mischna bietet, nämlich die von Falk, Lieberman u. a. reichlich benutzte Tosefta. Mochte man die Tora auch für universal gültig halten – dies andere nun, die Halacha (gr. agōgē „Gang/Wandel/Lebensweise“),¹³³ wurde Israels Nationalgut, und es wurde eifrig gehütet. Es blieb auch gegen fremde Einblicke geschützt durch seine Sondersprache und eine extrem abgekürzte Formulierungsweise. Wenn nach dem Verschwinden des Tempels die Rabbinen konstatierten, Gott habe nunmehr auf Erden nicht mehr als „die vier Ellen der Tora“ (bBer. 8a),¹³⁴ so meinten sie damit den Studienplatz, wo ein Israelit sich in sie vertieft. Das wachsende rabbinische Traditionsgut gehörte dazu. Dieser Ausdruck von „persönlicher“ und jedenfalls nichtkultischer Frömmigkeit hat dazu geführt, die rabbinische Gelehrsamkeit für eine Fortsetzung der pharisäischen anzusehen – nicht ohne Grund, wobei nur zu bemerken bleibt, dass Joḥanan ben Zakkai selbst nie als Pharisäer bezeichnet wird. Was noch unter diesem Namen bei den Rabbinen Erwähnung findet, ist eher eine sektenhafte Einschrumpfung jener einst so bedeutenden Reformbewegung (# 13).
H. LAPIN: Early Rabbinic Civil Law and the Social History of Roman Galilee. A Study of Mishnah Tractate Baba’ Meṣi‘a’ (Brown Judaic Studies, 307), 1995, z. B. S. 29 (mit J. Neusner). Auf S. 237– 341 folgt der vorsichtige Versuch eines historischen Resümees in Bezug auf das „römische“ (d. h. Teil einer Provinz gewordene) Galiläa, den damaligen Sitz der Rabbinenakademie. Der früheste Beleg für dieses Wort im Judentum ist Est 2,20 LXX; bei Josephus s. Ant. 14,195 sogar in einem aus Rom kommenden amtlichen Dokument, den Privilegien Caesars, und dort im Anschluss an die Erwähnung der„väterlichen Gebräuche“ und der„eigenen Gesetze“ der Juden: „Sollte fürderhin ein Streit aufkommen über die agōgē der Juden, ist mein Wille, dass darüber bei ihnen geurteilt wird.“ Das sind ganz offensichtlich Anwendungsfragen der Tora. Rom will sich da nicht hineinmischen; vgl. Apg 18,15 (# 226); 25,19. Vgl. die Baruch-Apokalypse 85,3; Siegert, EHJL 381.
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4.3.2 Die Abstimmung mit Rom Welchen Leitlinien Roms Judäa-Politik in neutestamentlicher Zeit folgte, ist oben in A 3.3 schon gesagt. Nunmehr soll es um diejenigen Abstimmungen gehen, die nach dem Auflösen des letzten Restes an Eigenstaatlichkeit, in rabbinischer Zeit also, nötig waren. Zeitlich liegt das für uns am Rande, ist aber wichtig zu wissen zum rechten Verständnis von Mischna, Tosefta usw. Eine Überlieferung lautet: „In den Tagen des Šim‘on ben Joḥai“ [Mitte 2.Jh.] sind die dînê mamônôt [Zivilprozesse um Sachwerte] von Israel genommen worden“ (jSan. 7,2, 24b Z. 56).¹³⁵ Das wäre ein Verbot oder eine Einschränkung jüdischer Zivilgerichtsbarkeit nach dem Bar-Kochba-Aufstand gewesen und ein Rückschlag für das rabbinische Bemühen um Eigenverwaltung. Doch blieben letztlich die Römer bei ihrem Prinzip, die Arbeit von anderen tun zu lassen, solange nur Ruhe und Ordnung gewährleistet waren. Safrai, „Jewish self-government“ 398 nennt das eine „parallele Jurisdiktion“. Die letzte Entscheidung lag beim Provinzchef, einem Römer: Im Allgemeinen ließ er Rechtsentscheidungen den örtlichen jüdischen Gerichten; doch konnte er deren Entscheidungen widerrufen bzw. ganz ohne Weiteres bestimmen, dass gewisse Fälle ihm überlassen blieben.
Was oberhalb von dessen Kompetenzen lag, etwa gar ihn selbst betraf, musste in Rom entschieden werden (Beispiel: Josephus, Bell. 2,178 – 181; auf diese Art verlor Pilatus seinen Posten: Ant. 18,87– 89). – Für die Folgezeit sagt Jackson, „Roman influence“ 165:¹³⁶ Am Ende des 2.Jh., unter dem Patriarchat Judas I., finden wir ein Wiederaufleben sogar der jüdischen Kapitalgerichtsbarkeit – vermutlich ohne Deckung de iure, aber doch von Rom aus ungestört.
Das ist allerdings, was Kapitalprozesse betrifft, übertrieben; kein einziger Fall ist aus der Zeit nach 70, der sog. tannaitischen, historisch belegt, es sei denn, man glaubt dem gern übertreibenden Origenes, auf den Jackson sich beruft. Safrai, „Self-government“ 410, der Jacksons Belegstelle, Ep. ad Africanum 14 ausführlich zitiert, bezieht sie auf die Zeit Patriarch Judas I., des Herausgebers der Mischna. Für die Zeit davor aber erfahren wir bei ihm (398), dass abseits vom Jerusalemer Altar keine Todesurteile ausgesprochen wurden, weder vor 70, wo die Quaderkammer zugänglich war, noch danach, als jede jüdische Organisation aus Jerusalem verbannt war. Die von Safrai angegebenen rabbinischen Quellen lassen, was Todesstrafen betrifft, sowohl die Motivation zu solchen wie das Hemmnis erkennen; beides hat denselben archaisch-reliösen Hintergrund im Sühnedenken. Sühnehandlungen, ob durch Opfer von (Ersatz‐)Tieren oder durch Tötung der Schuldigen in eigener Person (# 224 grie Jackson, „Roman influence“ 165 mit Lit. auf S. 359 f Anm. 74. – In jSan. 1,1, 18a Z. 42 f wird das gleiche Ereignis in die Zeit des Šim‘on ben Šeṭaḥ gelegt, also in die Hasmonäerzeit; das dürfte auf Namensverwechslung beruhen. Die zugehörigen Belege stehen auf S. 360, Anm. 76; s. im Weiteren.
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chisch; # 268 biblisch), sind Ausübungen von Ritualrecht, und zwar von sehr altertümlichem, meistenteils ungeschriebenem. Es ging um Wahrung der pax deorum (Santalucia 1), des „Friedens mit den Göttern“, deren Unheil stiftender Zorn (# 263) tunlichst zu vermeiden war. So sehr die Ausführung an einen profanen Ort gehörte (Belege: # 207), so sehr gehörte die vorgängige Urteilsfällung an einen Sakralort – das war im Judentum der Jerusalemer Tempel, insbes. die dortige „Quaderkammer“. Das Ende der judäischen Eigenstaatlichkeit i.J. 70 markiert einen tiefen Einschnitt auch im Rechtsleben. Jill Harries, „Courts and the judicial system“ differenziert sehr treffend zwischen „Jurisdiction in Roman Palestine“ vorher und „Rabbinic arbitration“ danach (88 – 90 vs. 90 – 92), es folgt: „Rabbinic and Roman law“ (92– 95), mit Besprechung der judäischen Papyrusfunde anschließend (95 – 98). Nach wie vor war Rom zufrieden, wenn Streitigkeiten ortsnah beigelegt wurden. Die Rabbinen ihrerseits kodifizierten die Rahmenbedingungen jüdischen Lebens im Benehmen mit Rom. Von Rabbi Samuel (Mar Šemu’el, 2. Viertel 3. Jh.), seinerzeit neben Rab (Abba Arika) Hauptautorität des babylonischen Judentums, kommt der Leitsatz dîna’ demalkûta’ dîna’, „das Recht der Oberherrschaft ist das Recht“¹³⁷ – auf Aramäisch, denn das ist ein Kompromiss mit der Außenwelt, kein Satz der Halacha. Er meint hierbei, wie Juster II Anm. 2 präzisiert, das öffentliche Recht einschließlich des Steuer- und Strafrechts, nicht jedoch das Privatrecht, also jenen Bereich, worin man den Juden ihre Autonomie beließ. Entsprechend setzte man an die Spitze der Noachidischen Gebote dînîn, den Respekt vor Gerichten; auch der Heidenwelt war nichts Besseres anzuempfehlen (# 216). Reibungen zwischen kaiserlicher und rabbinischer Gesetzgebung sind aus dieser Zeit belegt. Ein Beispiel, wie kaiserliche Entscheidung ein Testament annullierte, von dem Antiochiens Juden gern profitiert hätten, wird in # 319 zu berichten sein. Der dort entscheidende Caracalla war derselbe, mit dessen Zustimmung die Mischna in Kraft gesetzt wurde und dem überhaupt Judenfreundlichkeit nachgesagt wird.¹³⁸ Das römische Erbrecht war hierin jedoch enger gefasst. – Kaiserliche Aufsicht auf die Ausbildung der Halacha in Wirtschaftsdingen ist zu sehen in dem Antoninus-Pius-Reskript D. 48,8,11,¹³⁹ wo eine gewisse Autonomie jüdischer Märkte abgesichert wird; Haftungsbestimmungen können dort die herkömmlich-jüdischen sein, die weniger Regressmög-
bBQ 113a/b; bBB 55a; bGit. 10b; bNed. 28a/b; Elon, Jewish Law I 132– 137; ders.: „Dina de-malkhuta dina“, EJ(2) 5, 663b-669a; R. YARON: „‘Regulae Iuris’ in oriental sources“, in: Iuris vincula (Lit.-verz. 5.3), 479 – 511 (492), in Anspielung an D. 50,17 (De diversis regulis iuris antiqui). Piattelli, „Il vincolo verso il divino“ (Lit.-verz. ebd.) weist auf die Situation hin, in der Mar Samuel so entschied: Es war der Wechsel der Arsakiden- zur Sassanidenherrschaft (zugleich Sprachwechsel vom Aramäischen zum Persischen) i.J. 224, in welchem er sich dem neuen Herrscher, König Šahpur, persönlich anfreundete, um erneut eine liberale Haltung der Regierung gegenüber dem jüdischen Autonomiewunsch zu erreichen (343; vgl. Maier, Judentum 348 f ); was er ihm anbot, war die Loyalität des jüdischen Bevölkerungsanteils. Für dessen innere Autonomie ging es v. a. um die Bereiche der dînê nefašôt (Personenrecht, Strafrecht) und dînê ha-šûq (Marktrecht, Sachenrecht). S. # 280, auch zu Juden als römischen Bürgern in kommunalen Funktionen. Text mit Übersetzung bei Linder, The Jews 99 – 101. Vgl. Juster I 361 f.
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lichkeiten zulassen gegenüber dem Händler, sondern die Pflicht zur Vergewisserung, dass es kein Diebesgut ist, v. a. dem Käufer auferlegen. Von jüdischer Seite gibt es Spuren rabbinisch-römischer Absprachen und Kompromisse z. B. im Eigentumsrecht, wo Requiriertes unter der Bezeichnung je’ûš „Verzweiflung“ (den die Gemara schon nicht mehr versteht) preisgegeben wurde.¹⁴⁰ Schöner noch, und beiderseits belegt: In mBQ 10,3 wird die Rückgabe einer gestohlenen, dann verkauften Ware an den Eigentümer unter die Bedingung gestellt, dass dieser, sofern schon ein Verdacht auf Diebstahl bestand, den Kaufpreis dem Käufer ersetzen muss. Diese Regelung entspricht einem Gewohnheitsrecht der Märkte und der Kaufleute, das sich auch in einer Anfrage an just diese beiden Kaiser niederschlägt (überliefert in C. 6,2,2). Die Antwort des Severus und des Antoninus (Caracalla) beseitigt zwar diese Regelung; nach römischem Recht war dieser Anspruch nicht (mehr) einklagbar, sondern der Käufer war verpflichtet, sich von der Herkunft der Ware zu vergewissern (sinnvoll bei einem Handel, der sich über das ganze Mittelmeergebiet erstreckt). Umso bemerkenswerter ist, dass die von den Rabbinen bevorzugte, gegenteilige Bestimmung als taqqanat ha-šûq („Bestimmung für den Markt“) für ihren Binnenbereich stehenbleiben durfte. Die im Talmud verstreuten, vergnüglichen Anekdoten über einen Gedankenaustausch zwischen „Rabbi“ (Jehuda I.) und „Antoninus“ (Caracalla)¹⁴¹ ergeben den Eindruck, dass diese beiden Seiten sich recht munter verständigt haben.¹⁴² Die Rabbinen gefallen sich durch Witz und freundliche Überlegenheit. Dass indes die Situation durchaus kritisch gewesen sein kann in jener Zeit, wo nach zwei verlorenen Kriegen die Judäer zunächst nur noch peregrini dediticii waren, Fremdlinge aufgrund Kapitulation (# 92), erweisen solche Anekdoten, die vom Abgleich der Rechtsvorstellungen Kunde geben. Eine solche ist in bBQ 38a überliefert:¹⁴³ Die römische Regierung habe Emissäre zu den „Weisen“ (das meint nunmehr die Rabbinen) geschickt, um bei ihnen „Tora zu lernen“. Diese Römer, heißt es, ließen sich die Toraregeln (hier: für das Marktrecht) dreimal vortragen und nahmen Anstoß an der diskriminierenden Bestimmung, es bestehe keine Haftpflicht eines Israeliten, der wegen der Stößigkeit seines Rindes gewarnt worden sei, gegenüber einem Auswärtigen, den dieses geschädigt habe. (Wenn man es nachschlägt: So steht es nicht in Ex 21,28 – 36, der Perikope über das stößige Rind, dem klassischen Ansatz zum Schadenshaftungsrecht; wohl aber steht es in der Mischna: mBQ Folgendes nach Armgardt, Lösungsrecht (s. # 61). Andere Beispiele, etwa aus dem Personenstandsund Sklavenrecht, bietet die Serie The Talmud Yerushalmi and Graeco-Roman Culture (s. B 3.6.3: P. Schäfer), bes. in Bd. 3. Vielleicht in eigener Person; vgl. S. KRAUSS: Antoninus und Rabbi (17. Jahresbericht der Israelit.-Theol. Lehranstalt in Wien), 1910. Sonst war es einer von Caracallas hohen Funktionären. Die Erinnerung vereinfacht. Z. B. bAZ 10a ff; bSan. 9a ff u. ö. Caracalla hat i.J. 199 und 215 Palästina besucht; letzteres aber liegt für eine Absprache in Sachen Mischna zu spät. Smallwood, The Jews 485 f denkt bereits an Mark Aurel und dessen Orientbesuch i.J. 175. Engl. Übers. der Stelle bei Jackson, „Roman Influence“ 162 f; Diskussion der Überlieferungs- und Textvarianten ebd. 357 Anm. 51 f.
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4,3; vgl. jBQ 4,3)¹⁴⁴ Es geht bei dieser Befragung also um die sog. Mündliche Tora; sie soll geprüft werden, und da findet sich ein Anstoß. Die Kommission entscheidet dann aber, dessenthalben die Regierung nicht zu „warnen“ (der Text ist ein Wortspiel). – Hier lässt sich hinzusetzen: Die Klage eines Käufers vor der römischen Verwaltung wäre auf jeden Fall zulässig gewesen. Der Geschädigte hätte nicht nötig gehabt (und wäre wohl nicht einmal auf den Gedanken gekommen), vor einem jüdischen Richter sein Recht zu suchen.¹⁴⁵ Diese Mischna-Bestimmung war harmlos. Soviel zu einem Jahrhunderte dauernden modus (con‐)vivendi. Man vermied auf Seiten der Synagogengemeinden die Provokation; man vermied insbesondere, Konflikte vor die römischen Behörden zu tragen. Einen Fall im Neuen Testament, wo noch zu Zeiten des Paulus in der jüdischen Diaspora diese Regel verletzt wurde und dabei mehr Gefahr für die Angreifer (die Juden von Thessalonich) als für den Angegriffenen (Paulus) bestand, schildert Apg 17,1– 9 (# 222).
4.3.3 Charakteristika des rabbinischen Rechts Charakteristisch für das rabbinische Recht ist die Bindung an einen nicht änderbaren schriftlichen Text und, damit verbunden, eine gewisse Scheu, über dessen Themenbereich hinauszugehen. Die Tora kennt nur gesetzliche Erbfolge (# 123), also kommt kein Testierrecht hinzu, und was sich an diathēkē-Stellen findet, dient der Begrenzung einer Rechtspraxis, die bereits begonnen hatte, sich einzubürgern. Soll ein Versprechen verbindlich gemacht werden, sieht griechisch-römisches Recht eine wachsende Zahl an Vertragsformen vor (# 113); die Rabbinen, die dazu keine Vorgabe haben, elaborieren Schwüre und Gelübde, die nichts Judiziables sind (außer für Annullierungen), sondern die je einseitige Belastung des Gottesverhältnisses. Positiv macht sich bemerkbar ein humaner Zug und eine Neigung zu sanften, gewaltfreien Lösungen – und käme es auch nur daher, dass die rabbinischen Gerichtshöfe über keine Polizeimacht verfügten. Sie waren Schiedsstellen, und ihr Einfluss war nicht größer als ihre Akzeptanz innerhalb der Synagogengemeinden. An die Stelle der durchaus zahlreichen mosaischen Todesstrafen traten Schläge mit Riemen – aber auch nur vierzig, von denen traditionell einer erlassen wurde (# 312) – und Strafzahlungen (# 381). Gerichtliche Verurteilungen werden in der Mischna durch enge Verfahrensregeln weit schwerer gemacht als Freisprüche; auch Revisionen dürfen nur zur Verbesserung des Ergebnisses für den Angeklagten führen. Todesstrafen werden an so viele Bedin-
Details zur Jerušalmi-Fassung bei Cohen, J&RL 579 f; engl. Übers. bei Oppenheimer, „Jewish penal authority“ 181 f. Hier wird der frühe Tannait R. Gamaliel II. als Auskunftgeber gegenüber Rom namhaft gemacht und als derjenige, der bereit war, eine von römischer Seite beanstandete Bestimmungen zu ändern – womit, wenn dieser Name stimmt, die Absprache schon in der Zeit um 100 stattgefunden hätte. Immerhin, jüdischerseits wurde mit dieser Möglichkeit gerechnet und die Behauptung, einem Heiden müsse der Schaden nicht ersetzt werden, wieder aufgehoben (tBQ 4,2; jBQ 4,3, 4b; Jackson 168).
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gungen geknüpft, dass keine mehr zu befürchten ist.¹⁴⁶ Der Bestand Israels war zu erhalten, zu fördern und zu mehren. Das sonst als römisch bekannte in dubio pro reo (# 75; # 240) findet sich hier in konsequentester Anwendung. Der Anspruch dieser Rechtsgelehrten – das sind sie eher als „Theologen“ in unserem Sinne – ist, die Tora nicht zu kürzen und nicht zu verlängern (vgl. # 395), vor allem sie nicht zu ändern (vgl. # 18 zu Mt 5,18), sondern sie auszulegen. Dabei ist aber die Begründung ihrer Entscheidungen aus Toraversen oft erst nachträglicher Art, fehlt auch nicht selten: Das Maß an Freiheit, mit der sie verfuhren, ist mit vielen Details dargestellt bei Heger, The Pluralistic Halahkah, Untertitel: Legal Innovations in the Late Second Commonwealth and Rabbinic Periods. Eine reiche Terminologie für die angewendeten Verfahren wird dort ausgebreitet, allerdings so wirr und unsystematisch wie diese selbst. Nur den interessantesten Terminus von allen sucht man dort vergebens: Als taqqanah galt eine Verordnung nur aus rabbinischer Autorität zu einem Thema, das in der Tora noch unentschieden war (s. Bd. IV, Glossar). Was die gedankliche Ordnung innerhalb der Mischna betrifft, so war diese auf Memorisierungsformeln des mündichen Unterrichts, wie sie der Talmud dann auch zitiert, angewiesen. Anders als Gaius, methodisch ein Aristoteliker, es gemacht hatte mit seiner vom Allgemeinen zum Speziellen fortschreitenden begrifflichen Ordnung, besteht die Mischna größtenteils aus Assoziationen. Sehr oft wird, wie man bei uns sagen würde, das Pferd am Schwanz aufgezäumt, nämlich mit Nebensachen begonnen. Der Traktat Joma („Versöhnungstag“) z. B. beginnt mit Details des Ritus und verliert sich in Spezialitäten einstiger Zulieferungshandwerke für den Tempelbetrieb; Sinn und Wirkung des Ritus werden erst ganz am Ende (8,8 f ) genannt. Generell ist das Schwierige an dieser Sammlung von Bestimmungen, aber auch Reminiszenzen, dass es kein Textsignal gibt, keine Jussiv-Form z. B., wonach sich normative Partien von deskriptiven unterscheiden. Auch werden bereits geltende und erst noch einzuführende Normen gleich ausgedrückt. Israel lebt, der Urkirche weithin ähnlich, in einer eschatologisch aufgefassten (d. h. spätere Vollendung erwartenden) Vorläufigkeit, und gemeinsam wartet man auf die große Wende. Das über die Pflege dieser Texte sich verfestigende rabbinische Recht war beabsichtigt als Weg zurück zur Tora, weg von den Kompromissen, die unter den hasmonäischen und herodianischen Königen üblich geworden waren. In mancher Hinsicht antwortet es auch auf Herausforderungen durch das Christentum.¹⁴⁷ In praktischer
Details bei Falk, Introduction I 98 – 112. Vgl. Joseph Kohler in Rapaport, Talmud S. IVf: „Man will die Todessstrafe möglichst vermeiden und schärft deswegen den gesetzlichen Beweis, so daß er nur ausnahmsweise erbracht werden kann; kann er aber nicht erbracht werden, so tritt die Gefängisstrafe als poena extraordinaria ein; ebenso ersetzt die Geisselung die religiöse Ausrottung, und die Talion wird durch Geldstrafe verdrängt. (…) Von Folter und ähnlichen Barbareien ist keine Rede.“ Jackson, Essays NT 29 gibt als Beispiel die rabbinische Zurückweisung der „Himmelsstimme“ (bat qôl): Sie schmückt noch manche rabbinische Erzählung, hat aber nichts zu entscheiden in Fragen der Halacha. Ferner nennt er die Zurückweisung singulärer Zeugen, die bei den Essenern u.U. anerkannt gewesen wären und im Christentum dann ganz besonders (hier # 170).
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Hinsicht war es so angelegt, dass Streitigkeiten rasch beigelegt werden konnten; dass Prozesse aus lauter Perfektionismus sich hingezogen hätten (vgl. # 108), ist nicht bekannt.
4.3.4 Das erreichte Gleichgewicht Die Geschichte des jüdisch-römischen Zusammenspiels in der Rechtspflege vom 2.–4. Jh. ist von Hayim LAPIN geschrieben worden.¹⁴⁸ Dass es Reibungen gab mit den nationalen Rechten der umgebenden Gesellschaften, zumal in den Jahrhunderten, wo den Judäern ihr Stammland überhaupt verwehrt war, liegt nicht zuletzt an den unterschiedlichen Kalendern und Festrhythmen: Es konnte vorkommen, dass Ḥ anukka auf den Tag einer Staatstrauer fiel und dann trotzdem gehalten wurde, oder umgekehrt: Ein Geburtstag im Kaiserhaus fiel auf den 9. Ab, den rabbinischen Volkstrauertag (Gedenktag der Tempelzerstörung). Das verlangte Kompromisse,¹⁴⁹ damit ein Konflikt wie der von Philon in Flacc. 53 – 57 eher verschwiegene als geschilderte nicht noch einmal vorkam.¹⁵⁰ Tertullian nennt das Judentum in seinem Apologicum 21,1 eine religio licita, was allerdings seine Wortwahl ist, nicht die offizielle.¹⁵¹ Die Digesten sprechen von der Iudaica superstitio, schonen sie aber (wegen Caesars Privilegien) mit einer gewissen Herablassung. So das Dekret des Severus und des Antoninus (Caracalla, um 200 n.Chr.), das denen, „die dem jüdischen Aberglauben anhängen“ (qui Iudaicam superstitionem sequuntur), die Übernahme städtischer Ämter (honores) erlaubt, ihnen aber auch Reihendienste (necessitates, Liturgien im politischen Sinn, wie # 311) auferlegt, „welche ihren Aberglauben nicht verletzen“:¹⁵² Da steht dieses abschätzige Wort noch einmal; doch hatte die jüdische Seite erhalten, was sie verlangte, den Schutz ihrer Sabbatruhe.
H. LAPIN: Rabbis as Romans. The Rabbinical Movenemt in Palestine, 100 – 400 C.E., 2012; dort bes. 98 – 125: „Provincial arbitration. Cases and rabbinical authority“. Rabello, „L’observance des fêtes juives dans l’Empire romain“ 1294; folgendes: 1295. S.o. 4.2 Anm. 115; Siegert, EHJL 551 mit Anm. 55. Diskussion dieser vielzitierten Stelle z. B. bei F. GRANT: Roman Hellenism and the New Testament, 1962, 172– 178: „A note on religio licita“. Tertullian hatte mehr nicht sagen wollen, als dass die Christen vergeblich Unterschlupf gesucht hätten „unter dem Schirm einer sehr bekannten Religion, die jedenfalls erlaubt war (sub umbraculo insignissimae religionis, certe licitae)“; eine andere dieser Art gab es nicht.Vgl. Simon, Verus Israel 134 f. – Wenn bei Linder, The Jews 107 im Kommentar der Ausdruck collegia licita vorkommt (als auch für Judengemeinden zutreffend), so ist das wiederum seine Formulierung für ein collegium (Verein) als corpus cui licet coire in D. 36,5,20. Text mit Übers. und Komm. bei Linder, The Jews 103 – 106; auch bei Stern, GLAJJ III S. 63 f. Eine Bestätigung dieser Regelung unter Verwendung des höflicheren Wortes thrēskeia (hier schon im Sinn von „Religion“) aus der 1. Hälfte des 3. Jh. ist D. 27,1,15,6 (Modestin; Linder 110 – 113). Das Wort religio für jüdische Observanz und Zugehörigkeit wird vom selben Modestin in Latein bezeugt in D. 48,8,11 (Linder 99 – 102).
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Das Zusammenspiel der Rechtssysteme ist in großen Kodifikationen des christlich werdenden römischen Rechts, sowohl in Cod. Theod. 2,1,10 wie – als Übernahme, leicht verändert – in C. 1,9,8 festgehalten, eine Bestimmung v.J. 398:¹⁵³ Die Juden, die unter römischem und allgemeinem Recht leben, sollen in den Angelegenheiten, die nicht so sehr ihre Sonderreligion (superstitio) als vielmehr zum öffentlichen Leben (ad forum) mit seinen Gesetzen und Rechten gehören, in aller Form die Gerichte beanspruchen und sollen alle Prozesse nach römischen Gesetzen anstrengen und sich ihnen unterziehen; letztlich sollen sie unter unseren Gesetzen sein (postremo sub legibus nostris sint). Immerhin (sane), wenn welche in gegenseitigem Einverständnis (per compromissum) ähnlich wie zu Schiedsrichtern zu Juden oder zu ihren Patriarchen¹⁵⁴ im Konsens der Parteien¹⁵⁵ den Streit zu führen für gut halten, u..z. nur in Angelegenheiten des Zivilrechts, so sei ihnen nicht verwehrt, deren Urteil mit öffentlicher Gültigkeit (iure publico) zu empfangen, und deren (Schieds‐)Sprüche sollen die Richter in den Provinzen¹⁵⁶ bestätigen (oder: durchsetzen, exsequantur), als ob auf Weisung (sententia) eines Richters (cognitor) hin die Schiedsrichter zugewiesen worden wären.
Jüdische Gerichte waren also für Nichtjuden als Schiedsgerichte brauchbar, aber nur nach Abschluss eines ausdrücklichen, seinerseits römisch-rechtlichen Kompromissvertrags.
4.3.5 Die Lex Dei quam praecepit ad Moysen Ein Spätling, aus dem lateinischen Westen kommend, ist das nun zu nennende, erst aus dem 4. Jh. stammende Werk, in zwei Handschriften überliefert unter dem Titel Lex Dei quam praecepit ad Moysen. Für Druckausgaben wählte man den Titel Mosaicarum et Romanarum legum collatio, und unter Rechtshistorikern heißt sie kurz Collatio (Oxf. Handbook 159 f ).¹⁵⁷ Nur als Torso erhalten,¹⁵⁸ ist sie leider auch nur theoretischen
Text z. B. bei Juster I 101 Anm. 2; beide Texte Linder, Jews 207 f.209, jeweils mit Kommentar. Vgl. J. HARRIES: „Creating legal space: Settling disputes in the Roman Empire“, in: Hezser, Rabbinic Law 63 – 81. Sic: Die Quellen der Spätantike nennen nicht selten patriarchae (z. B. Juster I 407 f ). In der jüngeren C.-Fassung fehlt dieses Wort. Die Klausel mit consensus verdoppelt die vorige mit compromissum. Die römische Seite betont, sie übernehme keine Verantwortung für etwaige Unzufriedenheit der so Vorgehenden mit dem erzielten Ergebnis. Auch dieses Wort (provinciarum) fehlt im C., der vielleicht noch weiter verallgemeinern wollte – oder es ist ein Textversehen. Ein solches neuerer Herkunft ist jedenfalls das Wort sententiarum im Textzitat bei Harries (vorvorige Anm.) 63: Gemeint ist, wie die dortige Übersetzung zeigt, der TheodosiusWortlaut; aus diesem wäre zu ergänzen sententiarum. Für sie ist sie nun mal kein Gottesgesetz, sondern Material zu Textvergleichen. Dort etwa Überschießendes wird in der Digesten-Ausgabe von Mommsen/Krüger im Apparat mitgeteilt. – Vgl. Liebs, RRC 239 – 242; Siegert, EHJL 454– 456 sowie Cohen, J&RL 3 mit Verweis auf ältere Literatur. Text auch in FIRA II 541– 589. Der neuesten kritischen Ausgabe zufolge (s.o. B 3.4.4: Frakes) ist das Werk immer nur ein Torso gewesen. Nichtwörtliche Textdoubletten bei Bibelzitaten können nicht auf Abschreiber zurückgeführt
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Charakters. In mancher Hinsicht ist sie ein Unicum, und zwar schon als eine der überaus raren literarischen Äußerungen des lateinischsprachigen Judentums. Ihr Verfasser könnte sehr gut jener „Isaak“ genannte, mit römischem Namen aber uns nicht bekannte Verfasser origineller Bibelkommentare sein, die ihn als Konvertiten zum Christentum ausweisen; es sind die Quaestiones Veteris et Novi Testamenti (als Ps.-Augustin ediert: CSEL 50) und ein Kommentar zu den Paulusbriefern (Röm-Phm), der unter Ambrosius’ Namen abgeschrieben wurde und deswegen Ambrosiaster heißt (CSEL 81,1– 3). In der Collatio wird Rechtsvergleich getrieben, nicht systematisch zwar, dafür aber kulturübergreifend.¹⁵⁹ Von Titel zu Titel, deren jeder ein bestimmtes Rechtsgebiet benennt, wird die Lex des Mose den einschlägigen römischen Bestimmungen vorangestellt, um sodann eine Konvergenz aufzuweisen: Was Mose schon perfekt erkannt hatte, das holen die Römer allmählich nach. Erhalten sind von Buch 1 die ersten 16 tituli. Deren jeder beginnt mit einem Bibelzitat, übersetzt offenbar aus der Septuaginta und nicht einem normativen lateinischen Bibeltext entnommen¹⁶⁰ (einen solchen hatte erst die Kirche). Die tituli sind nicht in biblischer Folge geordnet. Das römische Vergleichsmaterial geht jeweils vom Älteren zum Neueren. Eine systematische Anordnung unter den Titeln ist kaum zu erkennen, außer dass nach 15 Titeln Kriminalrecht (Sexualvergehen eingerechnet) ein 16. von privatrechtlichem Inhalt folgt. Bis zum Ende des 1. Buches hätten es deren sicher noch mehr sein sollen. Ein Edikt Konstantins gegen den Manichäismus (15,3), datierbar auf 315 n.Chr., ist der jüngste Text. Die genannten Juristen sind genau diejenigen, deren Autorität durch die ab 321 ergangenen Zitiergesetze im Vorfeld des Corpus Iuris festgestellt wurde. Ein erratisches Zitat von 390 (Theodosius) dürfte christlicher Nachtrag sein und eine gewisse Rezeption dieses Schriftchens bezeugen. Das Interesse dieser nur wenig kommentierten Sammlung von Zitaten liegt fast nur an deren Textgestalt, die nämlich – abzüglich möglicher Zitier- oder Abschreibfehler – ursprünglicher ist als das, was später in den Digesten aus denselben Schriften entnommen wurde. Man kann die Arbeitsweise der Digesten-Redaktoren daran ermessen. Als jüdische Schrift und auch noch als christlich weitertradierte muss sie ein nach innen gerichtetes Interesse verfolgt haben. Schon der Titel Lex Dei… ist jüdischer Sprachgebrauch und wäre einem römischen Publikum unklar geblieben. Auch hätte kein Römer die Gedächtniszitate verifizieren können, die aus der – stets zuerst genannten – Tora beigebracht werden. Erst die römischen Zitate sind dann genau gegeben, offenbar für eine sie noch nicht kennende Leserschaft. Auch wäre kein römischer Jurist davon zu beeindrucken, wie dieser Rechtsvergleich die Unterschiede überspielt und jüdisches Recht stillschweigend an römisches anpasst. Für einen Römer wäre damit kein Erkenntnisgewinn verbunden, auch nicht, wenn er staatlicher Funktionär wäre, ein werden, sondern erweisen das Erhaltene als einen Entwurf im Rohzustand. – Zur Verfasserfrage s. Manthe, „Die Collatio“ (B 3.4.4) 213 – 215.218. Das ist etwas ganz Seltenes. Aus unserer Gegenwart vgl. Cohen, J&RL 17– 21 zu den Zwölf Tafeln im Vergleich zu altem jüdischem Recht. Dtn 27,23 wird sogar in drei verschiedenen Fassungen geboten (Siegert, EHJL 454 f ).
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Machtgewinn. So ist diese Schrift immerhin ein Zeugnis dafür, wie Juden, die im römischen Reich lebten, sich in dessen Verfassungs- und Rechtswirklichkeit einfügten, nicht weniger als ihre Verwandten in Babylonien es im persischen Reich taten.
4.4 Römisch-orientalische Rechtsquellen Es bleiben noch Niederschläge römischen Rechts im Orient zu besprechen, beginnend mit dem Grenzgebiet Judäas nach Arabien hin und mit einem gerade noch in die Tempelzeit hineinreichenden Zufallsfund an Papyri, dann aber fortgehend mit einigen syrischen Manuskripten, die früher für eine Mischung mit Volksrecht galten, in ihrer nunmehr definitiven Ausgabe sich aber als treuer Niederschlag römischen Rechts erwiesen haben, zu handhaben nicht mehr durch römische Behörden, sondern durch christliche Bischöfe.
4.4.1 Das sog. Babata-Archiv und die übrigen Papyrusfunde aus der Wüste Juda In Einzelstücken seit den 1950er-Jahren bekannt, planmäßig ausgegraben unter Yigal Yadin 1960/1961 und vollständig ediert seit 2002¹⁶¹ ist eine Mehrzahl privater Aktenbündel, deren Bestand von der Mitte des 1. Jh. bis hin zum Ende des Bar-Kochba-Krieges reicht. Eine chronologisch geordnete Liste s.o. B 4. Die Benennung „Archiv“ ist für eine private Sammlung von Aktenstücken etwas zu hoch gegriffen, nicht nur quantitativ gesehen; sie verdeckt auch den Umstand, dass gerade deswegen so viele Urkunden in doppeltem Text darin enthalten sind, weil es ein von Juden geführtes Aktendepot im antiken Judäa nicht gab (# 341). Zum Glück für die Geschichtsforschung konnte diese Sammlung in einem Privatversteck überdauern, wohingegen Archive – das ist bis heute so – im Kriegsfall gewöhnlich als erstes vernichtet werden.¹⁶² Das größte Kontingent aus diesen Papyri auf Felshöhlen im zerklüfteten Judäischen Gebirge, wo es zum Toten Meer abfällt, nämlich dem Wadi Muraba‘at, dem Wadi Ḥ ever oder dem benachbarten Wadi Seyyal¹⁶³ gehörte einer reichen Judäerin, die wir hier beobachten können beim Durchfechten einer Familienangelegenheit. Babata (aram.
Yadin u. a., Cave of Letters II (gr.) und III (aram., hebr.) bietet das letzte Unedierte, ist aber keine vollständige Wiedergabe der Funde. Ein Beispiel aus Josephus ist Bell. 2,427, wo auch das Motiv genannt wird: Schuldurkunden sollten verschwinden. Ebenso in 7,61 (dēmosia grammata). Z.T. ist die genauere Herkunft nicht mehr klärbar. Das X in dem Siglum „xHev/Se“ deutet an, dass eine Herkunft aus dem Wadi Ḥ ever oder dem Wadi Seyyal nicht sicher ist, sondern Angabe der Beduinen, die die Herkunft der von ihnen gefundenen und verkauften Manuskripte nicht gern angaben. Sie hatten die Cave of Letters und auch andere schon vorher auszuräumen begonnen, ehe die amtlichen Archäologen sie ihrerseits fanden.
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babeta’ „Pupille“),¹⁶⁴ Witwe aus einer einstigen Doppelehe (das gab es noch – # 323), versucht die Versorgung ihres minderjährigen Sohnes Ješua‘ durch Androhung von Rechtsschritten gegen dessen Vormünder, einen Judäer und einen Nabatäer, aufzubessern. Eine förmliche Vormundschaftsklage (actio tutelae, # 322) anzustrengen, hätte ihr als Frau zwar nicht zugestanden, weder nach jüdischem noch nach römischem Recht;¹⁶⁵ was sie jedoch tun konnte, war die Vorbereitung dieser Klage für den Tag der Volljährigkeit ihres Sohnes. Dann mochte die Klage von dessen Seite, mit oder ohne von ihm gewählte Prozesshelfer, durchgefochten werden. Als Richter ist, der Situation entsprechend, kein Privatrichter (iudex) vorgesehen, wie Gaius 4,47 für Vormundschaftsklagen angibt, sondern es ist das für multiethnische Verhältnisse vorgesehene Gremium von „Fremdenrichtern“ (gr. xenokritai), wie wir sie bereits aus der gräko-ägyptischen Verwaltung als für die Einheimischen zuständig kennen.¹⁶⁶ Die Prozesseinleitungsformel lautet dort: Zwischen A. A. als Kläger (tou deinos enkalountos) und N. N. als Beklagtem (tou deinos enkaloumenou) seien bis zum Betrag von 2500 Denaren X. X. und Y. Y. [folgt Platz zur Namenseinsetzung – so in P. Yadin 30] die Fremdenrichter.
Da wird also auf behördliche Anordnung (wofür der Gebrauch dieser Formel nötig ist) ein Laiengericht eingesetzt und zugleich der maximale Streitwert bestimmt. Jenseits dieses Betrages müsste die römische Behörde selbst – etwa ein dazu beauftrager Centurio, der einen nomikos/legis peritus als Berater bei sich haben könnte – den Streit entscheiden. Gleich dreimal findet sich in Babatas Papieren, auf Griechisch, diese völlig römische, auch bei Gaius a.a.O. erhaltene Prozessformel,¹⁶⁷ mit welcher dieser Jesus bei Volljährigkeit eine actio tutelae hätte einleiten und auf das hätte klagen können, was schon Babata ek kalēs pisteōs/bona fide (so in der Formel; vgl. # 38 zur pistis) hätte erwarten dürfen. Nörr, „The xenokritai“ 2178 nennt diese Urkunden „ein kaum widerlegbares Zeugnis für die Existenz des Provinzialedikts in Arabia“; gemeint ist das von Gaius 1,6 benannte ius edicendi der Provinzgouverneure, also ihrer Vollmacht, Verord Ihr Name wird griechisch manchmal ohne das mittlere a transkribiert, welches also nur ein Murmelvokal gewesen sein kann. Man könnte für heutigen Gebrauch genauso gut „Babta“ oder „Bavta“ transkribieren. Nur hellenistisches Recht hätte die Mutter eines Halbwaisen dessen natürlichen Vormund sein lassen: H. J. Wolff, „Hell. private law“ 542. Vgl. A 4.2.3 zu den laokritai in Ägypten; Katzoff/Schaps, Law 124 (Lit.: Anm. 44) und v. a. Nörr, „The xenokritai“ und „Prozessuales“: Dieses Wort meint nicht „Richter für Fremde“, sondern „Richter aus der Fremde“, die nämlich selbst peregrini sind, wie es Inschriften belegen (S. 2281: Lit.). Wenn Stephanus’ Thesaurus noch mit iudex peregrinorum übersetzt, stellt er sich anscheinend vor, die Römer hätten solche Richter den Provinzialen aufgedrängt. Das Gegenteil ist, wie wir jetzt wissen, der Fall: Es sind Fremde, die gegenüber Fremden römisches oder auch einheimisches Recht anwenden. P. Yadin 28, Z. 4– 15 (zu ergänzen aus den entsprechenden Zeilen von P. Yadin 29 und 30); zwei Exemplare sind von demselben Berufsschreiber, eines anscheinend eine private Kopie. Das in dieser Formel begegnende peri hou pragmatos agetai (lat. qua de re agitur) ist ein sehr sprechender Beleg für Versachlichung eines Streits im römischen Recht.
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nungen zu erlassen: Veröffentlicht (auf Griechisch) auf dem Weißen Brett, dem album, waren sie für die ganze Provinz verbindlich. Sammlungen solcher Edikte haben wenig später das seit Hadrian reichsweit vereinheitlichte edictum perpetuum ergeben. Mehrere Eheverträge in dieser Sammlung, teils aramäisch, teils griechisch abgefasst, teils sogar beides, dokumentieren die gegenseitigen Ansprüche in dieser kompliziert verzweigten Familie. Die Absicht, etwas vor römischen Behörden und Gerichten Gültiges zu erreichen (Czajkowski, Localized Law 129), ist offensichtlich. Dass die für die künftige Klage dienenden Schriftstücke alle auf Griechisch geschrieben sind – während andere, auf Babatas Ländereien bezogene, auch Aramäisch oder Nabatäisch¹⁶⁸ sein können –, hat hier seinen Grund. Babata rechnete damit, vor höheren Instanzen als den lokalen¹⁶⁹ sich behaupten zu müssen. Aus der Basilika (der Markthalle) von Rabbat kommen die erhaltenen Abschriften von Census-Erklärungen, darunter Babatas eigener; dort an den Wänden waren sie i.J. 127 öffentlich zu lesen. Babata war zwar Analphabetin, verstand sich aber umso besser aufs Materielle, und überhaupt gehört sie zu einer Familie resoluter Frauen: Die Ketubba ihrer Tochter wie auch die ihrer Nichte sind in der Absicherung der Versorgungsansprüche der Frauen und ihrer Nachkommen sehr strikt und greifen zu diesem Zweck auf griechisch-römische Regelungen zurück (# 53), in P. 10 und 18 sogar ausdrücklich (s. # 59). Starke Anleihen werden genommen an nichtjüdischem Erbrecht. Cotton, „The Rabbis“ 176 f sagt dazu: „Offenbar nahmen die Juden, die diese Dokumente schrieben, sich die Freiheit, das Rechtsinstrument zu nutzen, das ihnen am wirksamsten erschien.“ Vielleicht am stärksten romanisiert ist ein Kreditvertrag – auch etwas, was es nach jüdischem Recht gar nicht gäbe –, nämlich der vollständig erhaltene, griechische P.Yadin 17 v.J. 128 (mit Quittung des Kreditnehmers auf Aramäisch), wo unter jüdischen Bezeichnungen rein römisches Recht beansprucht wird.¹⁷⁰ Hannah Cotton, „The Rabbis and the Documents“ 179 spricht im Rückblick auf all dies von – einer polyethnischen Gesellschaft aramäischsprachiger Leute (…), deren kulturelles und gesellschaftliches Leben ebenso wie das Rechtsleben viele verschiedene Elemente aus unterschiedlichen Quellen absorbierte, wovon eine der Hellenismus war (…). Diese Dokumente sind der Rohstoff, woraus das Leben besteht und auf welchen die Rabbinen bemüht waren ihren Stempel zu drücken.
Trotz ihrer geographischen und sprachlichen Marginalität am Südostrand des judäischen Siedlungsgebiet sind diese Dokumente bezeichnend für Judäa in seiner ganzen Breite (ebd. 172 f ). Ja auch in Zeiten des judäischen Tempelstaats (aus dem immerhin Nabatäisch ist ein aramäischer Dialekt mit Ähnlichkeit zum Arabischen, geschrieben in einer der Quadratschrift nur wenig ähnelnden Kursive. Es verschwindet aus den Dokumenten ab dem Moment, wo das Nabatäerreich römische Provinz wird, zugunsten des Griechischen. Das nabatäische Maḥoza, ein Landstädtchen, ist vergleichbar den in # 36 für Judäa genannten. S. # 98. Wenn die Judäerin Babata einen hohen Geldbetrag, den sie ihrem Mann leiht, für den Fall unvollständigen Rückerhalts pfändbar machen will und dazu die Ausleihe als Hinterlegung formulieren lässt, so hätte im Konfliktfall die Behörde vermutlich gesagt: Was zum Gebrauch ausgeliehen wird, ist kein Depositum mehr, sondern ein Kapital.
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eines der Dokumente noch kommt) sei die Rechtsentwicklung ähnlich im Fluss gewesen wie auf diesen Papieren. Wo immer die Rabbinen Anderes festgelegt und in der Mischna codifiziert haben, sind es Reformvorschläge, die sich erst noch durchsetzen mussten. Deutliche Belege für die Langsamkeit dieses Prozesses sind die Ehedokumente in dem Babata-Bestand: „Von keinem der fünf griechisch geschriebenen Eheverträge kann gesagt werden, er sei die Übersetzung einer aramäischen Ketubba“ (174). Die Analoga finden sich vielmehr in den älteren Dokumenten aus dem Judentum Ägyptens. Und was die aramäisch geschriebenen Ketubbot P.Yadin 10 v.J. 128 und P. Mur. 21 v.J. 135 betrifft, wo die Formel „das Geld deiner Ketubba“ begegnet, so „zwingt uns nichts zu denken, dass „das Geld deiner Ketubba“ der fiktive rabbinische môhar [Brautpreis] ist, sondern die Mitgift der griechischen Eheverträge“ (175), wie sie auf den griechischen Exemplaren denn auch benannt wird (als proix). Nicht eine Bezahlung der Braut an den Schwiegervater ist gemeint (das wäre der biblische Brautpreis), sondern eine finanzielle Garantie für die Versorgung der Frau für den Fall der Scheidung oder der Witwenschaft. Hannah Cottons Analyse dieser Dokumente ist ein methodisches Musterstück, zeigt sie doch, dass sogar die Berufung der Rabbinen auf einen fernen Vorgänger, den noch der Hasmonäerzeit angehörenden Šim‘on ben Šeṭaḥ, von dem die Versorgungsformel der rabbinischen Ketubbot ausdrücklich hergeleitet wird (S. 174 nennt sieben Belege), nur eine unter mehreren Möglichkeiten betrifft, die, über Jahrhunderte nebeneinander bestehend, spät erst in diese eine einmündeten. Orientalische Züge fehlen in diesen judäisch-nabatäischen Dokumenten nicht, liegen aber in Details, in Namensangaben nach orientalischem Brauch (# 214), in der Nennung von Denaren statt Sesterzen und in gewissen Feinheiten des Verfahrens (Nörr 2175.2182 f.2197); insbesondere ist es die Nebenrolle der xenokritai als Rekuperatoren, d. h. als amtliche Eintreiber privater (Geld‐) Forderungen (K/K/L, Privatrecht § 82,15 → 7,15); im NT vgl. den praktōr von Lk 12,58 (# 127). Wie ging der Streit aus? Das späteste Dokument aus Babatas Privatsammlung, der P. Yadin 27 v.J. 132, ist die feierliche, von Zeugen bestätigte Quittung für die Auszahlung eines Quartalsbetrags, der trotz aller Drohungen um nichts höher geworden war als die vorher geflossenen. Alles was Babata erreicht hatte, war, dass einer der Tutoren aufgab (in P. Yadin 27 fehlt er)¹⁷¹ und dass die unverbessert gebliebene Versorgung ihres Sohnes vor Zeugen dokumentiert wurde. Man hat sie offenbar als Querulantin behandelt.¹⁷²
Nörr, „The xenokritai“ sagt: Was Babatha hätte erreichen können, wäre die Auswechlung eines Tutors gewesen. Tatsächlich hat einer gewechselt, aber vielleicht auch nur als Nachfolger seines verstorbenen Vaters. Wie es weiterging, dazu vermutet Beyer, Die aram. Texte II 226 folgendes: „Nach dem Tode auch ihres zweiten Mannes zog Babata aus ihrer Heimat, dem nabatäischen Maḥosa, zu seiner Verwandtschaft ins judäische Engedi. Dort kam sie im Alter von höchstens dreißig Jahren in den Wirren des zweiten jüdischen Aufstandes ums Leben.“ Letzteres ist zwar nur eine Vermutung, ist aber gefolgert aus dem Umstand, dass ihr Urkundendepot in der Höhle verblieb. Zu den Funden in der Cave of Letters gehören auch Skelette.
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Insgesamt ist zu bedenken: Der Gerichtsstand ist in diesen Urkunden nicht das zerstörte Jerusalem, auch keine der judäischen Landstädte (# 36), die einst zu solchen Dingen gedient hatten. An den Rabbinensitz in Jabne ist kein Gedanke; der war ein Club von Gelehrten, aber noch längst keine öffentliche Institution. Cotton, „Jewish Jurisdiction“ 20: Welche Art von Gerichtshöfen es auch immer ist, von denen wir hören in den rabbinischen Quellen, sie können (…) nicht mehr gewesen sein als Formen privater Schlichtung (forms of private arbitration) ohne Rückhalt bei vorhandener Macht – etwa der römischen Behörden in der Provinz.
Und ebd. 21: Bei näherer Prüfung der rabbinischen Quellen findet sich nirgends, dass jemand sich an ein förmliches Gericht wendet, sondern immer nur an einen einzelnen Rabbi. Das deutet auf einen privatrechtlichen Schiedsrichter eher als auf einen Gerichtshof.
Der Unterschied zu einem iudex nach römischem Recht war, dass dieser, obwohl kein Fachmann für Rechtsfragen und nur beauftragt, den Sachverhalt zu prüfen und auf die vom Praetor bereits gestellte Entscheidungsfrage seine Antwort zu geben, die Zwangsmittel des Staates hinter sich hatte. Dieser Unterschied ist nun auch von Belang für das oben (4.3.2– 4) über die Mischna Gesagte.Wer als Leser der vielbeachteten und – als hätten sie fürs Neue Testament etwas zu sagen – viel kommentierten Mischnatraktate Sanhedrin und Makkot von der eben gegebenen Auskunft enttäuscht ist, erhält im selben Aufsatz von Hannah Cotton (Anm. 43 nebst weiteren Literaturangaben) die gleichfalls enttäuschende Auskunft, dass der eine rabbinische Bericht, wo ein Gerichtshof mit drei Richtern in Funktion zu sein scheint, jMeg. 3,3 (74a), so konfus ist, dass sich daraus historisch nichts entnehmen lässt. – Urkundentechnisch gibt es in den Papyri aus der Wüste Juda einige Besonderheiten zu bemerken. Die Schriftstücke sind oftmals als Doppelurkunden ausgeführt, was typisch ist für Zeiten ohne Archive – sei es vor deren Einrichtung, sei es nach deren Zerstörung (vgl. # 341). Sie sind fälschungssicher auf eine Art, wie schon die alten Babylonier sie erfunden haben. Bei ihnen wurden wichtige Urkunden auf Ton zweimal geschrieben: Die äußere, stets lesbare, lag als Schutz um die innere, zu deren Nachprüfung man die äußere zerbrechen musste. Für die Entzifferung der – heute meist beschädigten – Texte ist das natürlich sehr günstig; nur muss man mit einer gewissen Variationsbreite an Rechtschreibung und Wortformen rechnen, wie sie den Editoren antiker Texte aus den Handschriften wohlbekannt sind. Das Prinzip der Doppelurkunde ist aus Jer 32,8 – 44 bekannt, dem Ackerkauf in Anatot. Ein solches Schriftstück besteht aus einem offenen und einem verschlossenen, oft auch versiegelten Teil. Koffmahn, Doppelurkunden 10 f schildert es und gibt nach damaligem Forschungsstand etwa zwei Dutzend Beispiele – nicht viel angesichts des tausendfach höheren Bestandes an bisher gefundenen Papyri; doch häufen sich die Beispiele, blickt man auf das Datum, in Krisensituationen. In Auslegung von Kol 2,14 (der Schuldschein; # 241) wird noch zu unterscheiden sein, ob Urkunden einen Rechtsvor-
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gang nur bezeugen (ältere Auffassung) oder ihn sogar bewirken (neuer: ihr Vorlesen und unterschreiben ist selbst der Rechtsakt). Zu dem biblischen Fall von Jer 32 sagten die Rabbinen, dass „die dort auftauchende Urkunde lediglich als ein Protokoll angesehen wird“ (Prenzel, Pacht 40 mit Belegen: 73 Anm. 4). Das Beurkundungsverfahren der Doppelurkunde ist vom Alten Orient¹⁷³ bis zu Hieronymus¹⁷⁴ literarisch bekannt. Es funktioniert näherhin so (Koffmahn 11), daß derselbe Text zweimal untereinander auf ein und denselben Papyrus geschrieben wurde, u.z. so, daß zwischen den beiden Texten ein leerer Raum von ca. 2– 3 cm Breite gelassen war; der obere Schrifttext wurde dann zusammengerollt, [sodann] mit Papyrusfäden, die durch einen Einschnitt oder einige Löcher in der Mitte des Spatiums gezogen waren, gebunden und [schließlich] versiegelt, während der untere Text nur zusammengefaltet wurde, damit er leicht nachgelesen werden konnte.
Ersteres nennt man die „Innenschrift“ (recto), letzteres, durch Falten nach außen geraten, die äußere (verso). Die Unterschriften – nicht unbedingt eigenhändig; es kann auch nur die Nennung der Zeugen sein – stehen auf dem äußeren Teil; sie benennen die – zunächst noch lebenden – Zeugen des Vorgangs.¹⁷⁵ Das Gleiche auf Wachstafeln heißt diplōma, „Verdoppelung“.¹⁷⁶ Ebenso benennt man auch die Bronzetäfelchen, welche ausscheidenden Legionären ausgehändigt wurden. Dies war zugleich die Verleihung des römischen Bürgerrechts, also auch der Testierfreiheit usw., womit sie ein – auf seine Weise fälschungssicheres – Doppel einer amtlichen Registrierung darstellten. In Judäa wurde in Ermangelung öffentlicher Registrierungsstellen dieses Verfahren auf Papyrus vor allem angewendet für das, was in heutiger Fachsprache als „dispositive, in subjektiver Form abgefaßte Privaturkunden“ zu bezeichnen wäre (Koffmahn 62; vgl. # 341), wohingegen der von einem Administrator Bar-Kochbas ausgefertigte hebräische Landaufteilungsvertrag P. Yadin 44 v.J. 134 „eine öffentliche Objektivurkunde darstellt“. Koffmahn weiter (a.a.O.): Diese Urkunde ist auch ein indirekter Beweis dafür, daß vor allem die Privaturkunden, für die es im Kriege keine Registrierungsstelle mehr gab, in Doppelurkundform abgefaßt wurden, während die öffentlichen Urkunden (…) nur einfach ausgefertigt waren.
Soweit dieser Einblick in die Anfänge erneut versuchter jüdischer Eigenstaatlichkeit, worauf wir noch zurückkommen werden. Wie Babatas privatrechtlicher Prozess in der
Schon tönerne Exemplare in Keilschrift sind bekannt. Deissmann, LvO 27 f bietet als Beispiel auf Pergament eine parthische Urkunde, Erbpachtvertrag über einen Weinberg, v.J. 22/21 v.Chr. Hieronymus, Comm. in Jer 32,12, MPL 24,891 C/D schildert korrekt die Beschaffenheit von Jeremias Kaufurkunde. Auch die Rabbinen kennen dieses Verfahren: mBB 10,1– 2. Diese und andere Urkundenformen sind gewürdigt bei Juster II 66 f. Ferner gibt es eine waagrecht angeordnete Variante (Koffmahn, Doppelurkunden 11). Oftmals auf den sonst erhaltenen Exemplaren wird einer der Zeugen als Depositär (Verwahrer) der Urkunde genannt; er ist der „Urkundenhüter“ (syngraphophylax): H. J. Wolff, Recht 58 f. Auch lat. als Fremdwort diploma, dort aber eher für einen Pass oder Geleitbrief verwendet (Heumann, Handlexikon s.v.).
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Vormundschaftsangelegenheit weitergegangen wäre, hätte Bar-Kochbas Herrschaft Bestand gehabt, darüber kann nur spekuliert werden – sofern nicht aus dem P. Yadin 27 v.J. 132 schon zu schließen ist, dass die Behörde ihre Klagen letztendlich für unbegründet hielt und den einen der beiden Tutoren, der zum Weitermachen bereit war, weitermachen ließ. Dass sie auf römisches Recht rekurriert, liegt schlicht daran, dass weder die Tora noch die Halacha Regeln vorsehen für eine Vormundschaft über Minderjährige. Da wäre man auf Wohlwollen angewiesen gewesen. An anderen Stellen lässt sich noch besser studieren, wie sich die Rechtssysteme in der Praxis ineinanderfügten. In # 53 werden Eheurkunden zu besprechen sein, P. Yadin 18 v.J. 128 und 37 v.J. 131, welche die Absicherung der Witwe und der Waisen im Fall, dass der Ehemann stirbt, „nach griechischem nomos“ vorsehen; siehe dort. – Die Schenkung einer nabatäischen Immobilie mit Nutzungsvorbehalt für ihren judäischen Eigentümer im P. Yadin 7 v.J. 120 beispielsweise entspricht in diesem wichtigen Detail – dem Nutzungsvorbehalt – nicht dem jüdischen Schenkungsrecht (# 204). Andere, gleichfalls griechisch-römische Züge dieser Urkunden sind bei Cotton, „Jewish jurisdiction“ 14 f aufgeführt: Darunter ist besonders typisch, dass eine Frau, die einen Vertrag schließt, von einem Mann begleitet wird, der als ihr Vormund (epitropos) gilt, auch wenn sie de facto selbst entscheidet. Diese römische Eigentümlichkeit, die schon in der frühen Kaiserzeit keine Aktivität des so Bezeichneten mehr bedeuten muss, ist eine in den Osten eingedrungene Formalität aus dem einstigen römischen Civilrecht (s. # 322 zu epitropos). In diesem Fall allerdings waren Männer nötig wenigstens zum Schreiben. Babata, selbst des Schreibens unkundig, wie in P. Yadin 15 v.J. 125 der für sie unterschreibende epitropos (bald auch ihr zweiter Mann) ausdrücklich feststellt, intervenierte mit Hilfe von Schreibern (# 33) und unter Hinzuziehung von Zeugen (# 314) vor den zuständigen Behörden, die daraufhin sozusagen als Jugendamt fungierten. Völlig unjüdisch, trotz der aramäischen Sprache, ist P. xHev/Se 13 v.J. 134/135, Zusatzquittung zu einem Scheidebrief der Šelamçijjon („Zions Heil“), Babatas Stieftochter, an ihren bisherigen Mann.¹⁷⁷ „Nicht habe ich, Šelamçijjon bat Josef aus Engedi, noch etwas bei dir, El‘azar bar Ḥ ananja!“ (Z. 3 – 5), d. h. der Hausrat ist geteilt (und die Ketubba, wie wir annehmen müssen, ausgezahlt); die Geschiedene hat keine Ansprüche mehr. Z. 7 bestätigt es: „Du bekamst von mir einen Scheide- und Fortschickungsbrief (geṭ šabaqîn watarakîn)“. Diese resolute Dame konnte so wenig selber schreiben wie ihre Stiefmutter; sie ließ (Z. 11) für sich unterschreiben. Den Schreiber bekommen wir genannt sowie zwei Zeugen, dies dann auf Hebräisch: N. bän N., ‘ed (= Zeuge). Darin drückt sich möglicherweise ein Bewusstsein davon aus, dass nur dieser letzte Teil der Urkunde toragemäß ist. Eine Scheidung hingegen, ausgehend von der Frau, folgt römischem Recht (# 59). Wenn das je vor ein Gericht kam, hing alles davon ab, vor welche Art von Gericht man ging: Ein einheimisches hätte den ganzen Vorgang annullieren können (vgl. # 287 für
Vokalisierte Transkription und Übersetzung auch bei K. BEYER: „Der Wandel des Aramäischen veranschaulicht durch Transkriptionen alter aramäischer Texte“ in: A. BOTTA (Hg.): In the Shadow of Bezalel. FS Bezalel Porten (Culture and History of the Ancient Near East, 60), 2013, 13 – 28 (22).
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ähnliche Probleme in paulinischen Gemeinden). Die in diesen Papieren agierenden Judäerinnen halten es aber offenkundig mit der römischen Justiz. Das gilt auch in politischer Hinsicht. Als Illustration zu dem Wort „Heiland“ in Lk 2,11 (# 91) wird uns der P. Yadin 15 v.J. 125 dienen; dort steht auf Z. 10 f (innen) = 29 f (außen) der Wunsch der Babata, dass ihr Sohn „glanzvoll unterhalten werde (lamprōs diasōthēi) im Dank gegenüber diesen seligen Zeiten (eucharistōn tois makariotatois kairois)¹⁷⁸ unter der Regierung (hēgemonias) des Heerführers (hēgemonos) Julius Julianus“. Das ist keine Schmeichelei, da es gar nicht an den Gemeinten oder an seine Verwaltung gerichtet ist. Diese begegnet hier nur in der 3. Person, und zwar in Babatas drohendem Verweis auf eine dorthin bereits gemachte Eingabe, die Bitte nämlich, den säumigen Vormund Joḥanan (es ist sogar der Judäer, nicht der Nabatäer von den beiden) zu sich vorzuladen. Dann aber erlebte das Land eine Wende. Sensationellerweise ist unter den Funden auch eine kleine Sammlung von Briefen des Šim‘on bar Kosiba. Hier fehlt dann selbstredend die Sprache Griechisch, bis auf zwei Briefe von Assistenten. Das meiste ist aramäisch geschrieben. Doch wo es um Dinge der Festhalacha geht (ein Laubhüttenfest stand bevor, das man wieder im umkämpften Jerusalem zu feiern hoffte), auf Hebräisch. Wechsel in der Politik sieht man sogleich an den Datierungen. Nabatäisch als Urkundensprache ist am häufigsten in jener Zeit zwischen 70 und 106 n.Chr., wo Nabatäa sich für unabhängig erklärt hatte und unter König Rabb’el II. seine Freiheit feierte. Hebräisch als Urkundensprache¹⁷⁹ und Datierung nach „Jahr 1 (usw.) der Befreiung Israels“ finden sich ab 132 in den drei Jahren der Herrschaft Bar-Kochbas. In den Urkunden heißt er Šim‘on bar Koseba¹⁸⁰ und trägt den Titel „Fürst Israels“ (neśî’ Jiśra’el),¹⁸¹ der um einiges messianischer ist als das „König der Judäer“, das Pilatus hatte schreiben lassen (# 90; # 180). War auf dem P. Mur. 22 noch die Umgehung des Erlassjahrs vorgesehen, so ist dies nunmehr, im Jahrzehnte jüngeren P. Mur. 24, nicht mehr so; der hat keine Umgehungsklausel. Immerhin, diejenigen Urkunden aus der Cave of Letters (= P. Mur., in DJD 2,159 – 168, jetzt P. Yadin 49 – 63),¹⁸² die den Namen Šim‘on bar Kosiba im Datum tragen oder gar als Unterschrift, bezeugen: In den Jahren 133 – 135 beanspruchte er die Souveränität über Judäa. Rechtsgeschichtlich interessant sind daraus die P. Yadin 44– 47 v.J. 134 und 135 sowie P. Mur. 24 v.J. 133 (bereits genannt) und P. Mur. 42 v.J. 134/135 (s. B 4, Begleittext). Transkribiert unter Ignorierung der Schreibfehler des Originals. In einem der beiden parallelen Texte ist die Partizipialform eucharistōn bereits mittelgriechisch im „starren“ Akkusativ gegeben. Einmal begegnet es sogar in einer aramäisch-hebräischen Bilingue: P. XHev/Se 8. Die Schreibweise auf den Urkunden ist hebr. KŚBH, aram. KWSB’, KWSBH. Die griechische Transkription bei den Kirchenvätern und nunmehr auch in P. Yadin 59, Z. 2 ist Chōsiba, Genitiv eines zu erschließenden Nominativs Chōsibas. Das im Aramäischen sich darauf reimende Bar-Kochba wird transkribiert Barchōchebas. Yadin u. a., Cave of Letters III 369 – 372 modernisiert diesen Titel: „Premier of Israel“, eine Verharmlosung. Als Interpretation dieser Dokumente im Hinblick auf den Messianismus des Neuen Testamens s. S. BERGLER: „Jesus, Bar Kochba und das messianische Laubhüttenfest“, JSJ 29, 1998, 143 – 191. Darunter sind zwei griechische Stücke, Nr. 52 und 59, aus der Umgebung Bar-Kochbas; s. # 180.
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Letzterer, eine Kaufquittung, zugleich Passierschein für eine Kuh, die nur unter dem Nachweis ihres rechtmäßigen Erwerbs ins judäische Hoheitsgebiet eingeführt werden konnte, zeugt von einer rigiden Kontroll- und Verwaltungspraxis. Dieses Schriftstück, auf Hebräisch, wurde von den Verwaltern (parnassîm) des Dorfes Bet-Maško dem „Lagerhauptmann“ (rô’š ha-maḥanäh) Ješua‘ ben Galgula ausgestellt und bestimmt zur Weitergabe an ein Archiv, die sich allerdings angesichts der näher rückenden „Heiden“ (gojîm) verzögerte. Sie trägt nicht weniger als sechs Unterschriften, darunter die des bezeugenden Schreibers (me‘îd). Die Befreiung Israels, so sehen wir, war mit verstärkter Bürokratie verbunden. Auch war Šim‘on bar Kosiba nicht schüchtern im Sichern seiner Einkünfte: Der erwähnte P. Mur. 24, amtliche Kopie von sechs gleichartigen Pachtverträgen (s. Foto bei Maier, Judentum 337), verpflichtet die Pächter zu einer jährlichen Naturalabgabe in fester Höhe und lässt das Ernterisiko allein ihnen. Noch härter sind die Bedingungen im P.Yadin 42. Dort verlangt Šim‘on bar Kosiba von seinem Pächter eine Zahlung in Silber, selbst bei Ernteausfall (Z. 4 – 8), und die Vollzugsformel (Z. 9) macht ihn haftbar mit seinem Haus und seiner beweglichen Habe (min bêtka u-min neskasêka). Jetzt war die Tora Gesetz im Lande, wenn auch sicher nicht zu jedermanns Zufriedenheit, und es lässt sich ermessen, wofür R. Aqiba, der strenge, sich begeisterte, wenn er ihm den Namen „Sternensohn“ gab. Zugleich sehen wir, wie wenig „messianisch“ im Sinne der Davids- und Salomonachfolge sich Jesus verhalten hat. Die Wende war leider nicht von Dauer. Das Eingreifen der Römer beraubt uns der Möglichkeit zu erfahren, wie die Pachtverhältnisse der eben genannten Papyri über das Erlassjahr gekommen wären. – Dass in römischen Provinzen der Präfekt für die Rechtssicherheit die Verantwortung trug, ist in diesen Schriftstücken, wo sie nicht gerade aus der Herrschaft Rabb’els oder Bar-Kochbas datieren, offenkundige Voraussetzung. Ausdrücklich festgeschrieben wurde es allerdings erst i.J. 215 in C. 5,50,1.¹⁸³ Die Schriftlichkeit hinkt immer nach, außer bei solchen Rechtsakten, die als solche schriftlich sind, also bei Urkunden von Vollzugscharakter (wenn etwa ein Kauf gültig wird mit einer Unterschrift oder – häufiger – ein Schuldverhältnis).
4.4.2 Das Syrisch-Römische Rechtsbuch Unter diesem Konventionstitel läuft ein ca. 50 Druckseiten langes, sentenzenartig gefasstes und merkwürdig unstrukturiertes Sammelsurium von Rechtsregeln, dessen Inhalt römisch, die Ursprache aber ausweislich zahlreicher Fremdwörter griechisch ist. Die erhaltenen Handschriften sind entweder syrisch oder aus dem Syrischen weiterübersetzt ins Armenische, Georgische, Arabische. In der Londoner Handschrift, der Cotton/Eck, „Roman officials“ 44 verbindet mit dieser Beobachtung die methodische Bemerkung, dass die Gültigkeit eines Rechtes seiner Bezeugung in den uns erhaltenen Quellen um Jahrunderte vorausgehen könne. Man kann also in der Geschichtsforschung nicht positivistisch sein, sondern muss Entwicklungen nachverfolgen.
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ältesten (6. Jh.), ist es betitelt: Nāmose ‘ālmānāje da-nfiqin men lešānā rehumājā le-’ārmājā = „Weltliche Gesetze, übersetzt aus der römischen (= griechischen) in die aramäische (= syrische) Sprache“. Wie der Titel der griechischen Urfassung lautete, erfahren wir nicht. Mitsamt den noch zu nennenden Sententiae Syriacae gehört dieses Werk in eine ganze Reihe provinzialer Rechtssummarien, die das unkopierbar groß gewordene justinianische Corpus in Zeiten, wo dieses noch immer wuchs, reduzierten auf das praktisch Wichtigste. Im lateinischen Sprachraum vergleichbar sind Dinge wie der Codex Euricianus bei den Goten, die Lex Romana Visigotorum (auch Breviarium Alarici) und die Lex Romana Burgundionum (Texte in FIRA II 547– 636). So wie wir es haben, ist das SRR ein breviarium (Auszug) zum Gebrauch der – auch im Islam erlaubt gewesenen – kirchlichen Eigenjustiz. Das war aber, wie Walter Selb und Hubert Kaufhold in ihrer 2002 erschienenen, definitiven Ausgabe gezeigt haben,¹⁸⁴ nicht der ursprüngliche Zweck. In seiner griechischen Gestalt, zu deren Rückgewinnung die besagte Ausgabe alle nur erdenklichen Hilfen gibt, war es eine Zusammenfassung römischen Rechts aus Texten des frühen konstantinischen Zeitalters. Die Textsorte ist die einer interpretatio, einer modernisierenden Wiedergabe der Rechtslage. Anders als bei der Collatio zitiert sie ihre Vorlagen nicht (schon weil sie lateinisch waren), sondern paraphrasiert sie und bringt sie nach damaligem Bedarf auf den aktuellen Stand. Entsprechend der anwendungsorientierten, nicht dokumentarischen Textsorte ist jede der weiteren Übersetzungen wieder etwas verändert. Diese Texte wurden nie offiziell erlassen; es sind Rechtsratgeber, die nur indirekt vom Renommee der christlichen Kaiser zehren. Was in früheren Arbeiten zum SRR als „Volksrecht“ des Orients oder als übrig gebliebenes griechisches Recht angesprochen wurde,¹⁸⁵ ist in der jetzt vorliegenden Ausgabe restlos auf römisch-rechtliche Vorlagen zurückgeführt. Der Kommentar zu jedem Paragraphen in Selb/Kaufhold, Bd. III ermittelt die römisch-rechtlichen Vorlagen. Zitiert wird – nachdem jedes Manuskript Anordnungs- und Zählungsvarianten aufweist, die nur ihm eigen sind – nach der bei Selb/Kaufhold eingeführten, eine rekonstruierte Textfolge wiedergebenden Nummerierung sowie in der dortigen deutschen Übersetzung. Für das Verständnis des Neuen Testaments ist dieser Text, chronologisch gesehen, zwar nicht mehr einschlägig, so wenig wie der Talmud; doch ist er ein Hinweis auf die zu diesem gleichzeitigen Konfliktlagen im Christentum, und er liefert aufschlussreiche
Diese Edition mit Vergleich aller existierenden Fassungen, eine Herkulesarbeit, ist perfekt bis auf ihre Schreib- u. a. Fehler im Griechischen (der in I S. 184 gesuchte Infinitiv Aorist wäre epitheinai) und bis auf gelegentliches Vorkommen von dt. „Besitz“, wo Eigentum gemeint ist. – Im Internet ist dieser Text einzusehen unter https://archive.org/details/syrischrmisches00sachgoog. – An Literatur zum SRR vgl. Wittreck, Interaktion 109 mit Anm. 381, zur Entstehung und Charakteristik dieses Werkes ebd. 35 – 38. Mitteis, Reichsrecht 29 f u. ö.; 537– 542 „Beilage I: Synoptische Zusammenstellung der griechischen Rechtsinstitutionen des syrischen Rechtsbuchs“; 561: „Register der Beiträge zur Kenntniss des griechischen Rechts“. Das war voreilig; der dt. Text der Ausg. Bruns/Sachau (Syrisch-römisches Rechtsbuch aus dem fünften Jahrhundert, 1880) hatte den Nachteil gehabt, dass Bruns kein Orientalist war und Sachau kein Jurist.
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Begriffsäquivalenzen bzw. -unterschiede¹⁸⁶ zwischen den beteiligten Kulturen, wie sie in der Zeit des Zweiten Tempels ähnlich gewesen sein müssen. Das Interesse, römisches Recht in dieser Brechung vor Augen zu bekommen, liegt nicht zuletzt darin, dass es angewandtes Recht war. Es fand noch bis weit ins Mittelalter Verwendung im multikulturellen Osten. Beispielsweise finden wir dort Regeln über unterschiedlich berechtigte Ehen und unterschiedlich berechtigte Kinder; Verhältnisse wie die in Gal 4 (# 323) vorausgesetzten lassen sich hier in einer immer noch gelebten Form studieren. Auch enthält der Prolog eine theologische Pointe, die zu # 18 zu notieren sein wird, zu der Frage nämlich, was eine gottgewollte Gesetzgebung unter Christen sein kann. Für Klerus und Mönche war die Antwort auf diese Frage eine andere. Da begnügte man sich nicht mit der Gesetzgebung christlicher Kaiser, sondern versuchte, nach der Bibel Alten wie Neuen Testaments direkt zu leben, naturgemäß dann eben vor allem nach der des Alten. Eine Sammlung der aus diesem übernommenen Vorschriften wird weiter unten (4.5.3) vorzustellen sein.
4.4.3 Die Sententiae Syriacae Unter diesem gleichfalls modern-konventionellen Titel läuft ein dem SRR ähnlicher, aber nur etwa 100 Sentenzen umfassender Text, der im westsyrischen Christentum ein – in den Manuskripten stets vorangestellter – Begleiter des SRR gewesen ist. Der Originaltitel lautet: Nāmose ālmānāje d-malke hrisṭjāne w-zakkāje = Gesetze der christlichen und gerechten Könige (meint: basileis, Kaiser); gemeint sind Konstantin, Theodosius und Leo.¹⁸⁷ Die Erstausgabe ist die von Walter Selb.¹⁸⁸ Dessen Befund lautet (S. 16): Das Rechtswerk enthält rein römisches Recht, zumeist in einer frühnachklassischen Entwicklungsstufe der Zeit Diokletians, entweder gleich in griechischer Sprache aufgezeichnet oder ins Griechische übersetzt und (…) später vom Griechischen ins Syrische übersetzt.
Selbst für die Phonetik des byzantinischen Griechisch ist der Text aufschlussreich: In einer Zeit, wo das Eta längst i war, waren doch die Phoneme /y/ und /h/ noch bekannt, und Wörter mit der Vorsilbe hypowurden syrisch huppā- transkribiert. Das Adjektiv zakkaj kann übrigens genauso gut „siegreich“ meinen. – Liebs, RRC 97: „(A)ls im Osten die Araber weite Teile des Byzantinischen Reichs unter ihre Herrschaft gebracht hatten, wurde Konstantin unter der christlich gebliebenen Bevölkerung, die weiterhin nach ihrem angestammten Recht leben durfte, zum Inbegriff des gerechten Gesetzgebers, neben dem alle anderen abfielen; nur mit Abstand sind noch Theodosius und Leo genannt.“ s. Bibliographie; zur Editions- und Forschungsgeschichte vgl. Wittreck, Interaktion 34 f Anm. 63. Text (syr.-dt.): Selb S. 34– 67. Liste der verwendeten kaiserlichen Reskripte (oft von 293/294 n.Chr.) und Nennung möglicher Zwischenquellen: S. 190 f; komplette Liste der zugrunde liegenden lateinischen Rechtstexte S. 203 – 208; thematischer Index: 209 f.
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Die Endredaktion dieser Zusammenstellung lässt sich datieren zwischen 472 (das meiste ihres Inhalts datiert nämlich vor diesem Jahr) und 529 n.Chr. (für diverse Nachträge; Selb 196). Der „Sitz im Leben“ der griechischen Vorlage und/oder auch der syrischen Fassung dürfte bei byzantinischen Behörden gelegen haben, die wohl damals schon mit den Bischofssitzen mehr oder weniger identisch waren. Ab dem 7. Jh. gilt dann für das SRR im Islam: Es sind Rechtssätze, nach denen unter islamischer Oberherrschaft die bischöflichen Gerichte Angelegenheiten der Christenfamilien regeln durften.¹⁸⁹ – Zitate aus diesem Werk folgen der Übersetzung von Selb.
4.5 Zur Christianisierung des Rechts in Byzanz 4.5.1 Kritische Vorbemerkung Im Jahre 313 erhielt von den Kaisern Konstantin und Licinius im Mailänder Abkommen (wie man es heute nennt)¹⁹⁰ die Christenheit ihre „Gleichstellung mit den anderen Reichskulten und die Rechtsfähigkeit der Gemeinden“ (Link, KRG § 3,4). Ein Edikt, von Kaiser Theodosius 380 erlassen, grenzte die Anerkennung ein auf die katholische, nämlich dem Bekenntnis von Nicaea (325)¹⁹¹ anhängende Christenheit (ebd. § 3,6). Abweichende Arten von Christentum verfielen der Verfolgung aufgrund von Ketzergesetzen. Was vorher die Ausweisung Anderslehrender aus den Gemeinden gewesen war (Tit 3; # 352), wurde jetzt zum Entzug der Lebensgrundlage. Man nennt dies zu Recht eine Staatskirche, zumal nunmehr die „orthodoxen“ (auch das wurde jetzt ein Rechtsterminus) Bischöfe Verwaltungs- und Gerichtsaufgaben bekamen. Bis heute herrschen Zweifel, wie weit die damit vollzogene „konstantinische Wende“ der Christenheit oder gar der Menschheit zum Guten diente. Euseb, ihr Geschichtssschreiber, hat sie noch gefeiert; doch in den Jahrhunderten der größten
Vgl. Link, KRG § 3,6 und v. a. KKL, Privatrecht § 88,22 zur episcopalis audientia (Lit.). Den mittleren und niederen Klerus – Priester, Diakon, Älteste – sehen wir in Notarsfunktion in SRR § 88b. Aus staatlicher Sicht war das nur eine Schiedsgerichtsbarkeit, der man aber – wie zuvor die Römer – die Arbeit überließ, die sie zu leisten vermochte. Die Appellationsinstanzen lagen dann beim Islam. – Für die armen. und die georg. Fassung war die Situation eine andere, ältere; der „König“ war entweder ein eigener oder der Sassanide, entweder direkt oder als Suzerän. So nennt man es heute; die bisherige Bezeichnung „Mailänder Edikt“ kommt von der Wortwahl diataxis bei Euseb, H.e. 10,5,20, in der Überschrift. Die Texte stehen bei Lactantius, De mortibus persecutorum 48 (gekürzt) und übersetzt bei Euseb, H.e. 10,5 (erweitert um Überschriften seiner Wahl). Mosheims Wachsamkeit macht darauf aufmerksam (De rebus 959b/960a), dass die (ausschließlich kirchliche) Überlieferung ein Edikt auf die Katholische Kirche einengt, welches ursprünglich alle möglichen Sorten von Christentum gemeint haben kann. Die Entscheidung von 380 fiel nicht schon 313. Der für „Bekenntnis“ in jener Zeit dienende Terminus war nicht das allgemeine homologia (# 251), sondern symbolon „Erkennungszeichen“.
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Machtentfaltung der Katholischen Kirche wurden Zweifel laut.¹⁹² Anders als im Osten war die Westkirche mächtiger als das „römische“ Kaisertum, ihre eigene Kreatur; vgl. Link, KRG 5,10 zu der klug gefälschten Konstantinischen Schenkung. Was hier aber, im Rahmen eines Geschichtsüberblicks über „Bibel und Recht“, in Zweifel zu ziehen ist, das ist die Güte und Legitimität direkten christlichen Einflusses auf die staatliche Gesetzgebung seit jener Wende. Abweichungen von römischen Prinzipien der Rechtlichkeit machten sich bemerkbar, die theologisch nur als Rückkehr hinter das Evangelium gelten können, nämlich in Richtung auf einen vom Klerus besetzten Sinai. Die Donnerstimme kam vom Bischof Roms. Dieser, zum Monarchen geworden (auch wenn es keine erbliche Monarchie war), erlag den Gefahren, die allen Monarchien drohen. Die Entwicklung ging jedoch langsam. Der Codex Theodosianus, beredtestes Zeugnis jener Wende zum Staatskirchentum, betrieb bereits eine Verschärfung des bisherigen Strafrechts und erweiterte es um Tatbestände, die in der Neuzeit, und nach schlechten Erfahrungen, sämtlich wieder aufgegeben wurden (Beispiele s. 4.5.2). Aus Bibelstellen, v. a. alttestamentlichen, und aus Konzilsbeschlüssen, bald auch aus Dekreten der Päpste bildete sich das sog. kanonische Recht heraus, das hier aber am Rande bleiben wird, weil es für Zwecke der neutestamentlichen Exegese wenig austrägt, wenngleich seine Ursprüng in einzelnen Punkten im Neuen Testament liegen mögen (wir werden darauf hinweisen). Angesichts vieler Zweifel an den Segnungen eines tausendjährigen Staatskirchentums lautet das Votum des Juristen und katholischen Theologen Paul Mikat (Spektrum 83): Der uns heute so geläufige Gegensatz zwischen Religion und Politik als Dualität der Ordnungen wurde erst möglich durch die Kirche, die nicht nur in ihren Anfängen sich in Distanz zum Staat befand, sondern die, unbeschadet einer geschichtlichen Entwicklung, in deren Verlauf an die Stelle der Distanz Nähe bis zur faktischen Identifikation trat, ihrem Wesen nach nicht von dieser Welt ist und sich somit im „Gegenüber“ zur politischen Herrschaft befindet.
Am stärksten ist dieses Gegenüber in Deutschlands Geschichte von der Bekennenden Kirche der Jahre 1933 – 1945 praktiziert worden, namentlich in deren Theologischer Erklärung von Barmen 1934. Doch wenn es stimmt, dass die Kirche den Staat an seine Vorläufigkeit erinnert – das ist der „eschatologische Vorbehalt“, der in der Bitte „Dein Reich komme“ täglich ausgesprochen wird –, dann hat die Kirche gerade nicht die Rolle des Gesetzgebers. Wohl aber sind die Christen mitverantwortlich für die Gesetze, die unter ihrem Einfluss ergehen; doch davon wird der nächste, der Reformation gewidmete Abschnitt (4.6) mehr sagen können.
Mitten im Hochmittelalter schrieb einer der höchsten Kleriker Deutschlands, Bischof OTTO V. FREISING, ein Onkel Friedrich Barbarossas, in seiner dem augustinischen Geschichtsentwurf folgenden Historia de duabus civitatibus (hg. A. Hofmeister, MGH, 2. Aufl. 1912) im Prolog von Buch 4, welches die konstantinische Wende berichtet: Er wisse nicht, was Gott besser gefallen habe, die einstige Erniedrigung der Kirche oder die jetzige Erhöhung. „Mir jedenfalls scheint jener Zustand der bessere gewesen zu sein, dieser der glücklichere“ (videtur quidem status ille fuisse melior, iste felicior, S. 183,6).
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4.5.2 Recht wird Staatskirchenrecht Der Einfluss des Christentums auf die Gesetzgebung des Theodosius und – milder schon wieder – Justinians ist problematisch, so sehr man es dem Christentum des 4.Jh. gönnen kann, aus der Ecke der Reichsgegner herauszukommen. Schnell wurden aus Verfolgten Verfolger. Was nunmehr resultierte, waren staatlich gedeckte Kultstörungen, wo nicht Tempelzerstörungen, auch Synagogenzerstörungen,¹⁹³ bis Kaiser Theodosius, so eifrig er nun schon für das Christentum zu wirken gedachte, wenigstens den Synagogen ein Bestandsrecht im Reich beließ, im übrigen aber die Gesetzgebung kräftig moralisierte. Das römische Recht hatte auf das Gemeinwohl gezielt und auf Konfliktminimierung, war aber nicht zur Erziehung der Staatsbürger gedacht gewesen. Seit Konstantin und verstärkt seit Theodosius wurde nun das Recht zu einem Versuch der Menschenverbesserung.¹⁹⁴ Das Einkreuzen von Moralvorschriften zeigt sich am deutlichsten im Eherecht (# 59; # 129; # 293), wo nunmehr bei Scheidungen die Schuldfrage vor Gericht gebracht wurde. Diese Tendenz der kaiserlichen Gesetzgebung teilte der gleichzeitige Talmud nicht. Sie ist aber auch nicht erst christlich: Schon die Ehegesetze des Augustus, nämlich die spätestens von ihm stammende, hier viel zitierte lex Iulia de maritandis ordinibus, sowie seine Gesetze zur Sklavenfreilassung mit folgender Dankbarkeitspflicht moralisierten das römische Recht bereits in Zeiten der späten Republik (Oxf. Handbook 409). Detlev Liebs, „Römische Jurisprudenz und Christentum“ (2001; jetzt RRC 219 – 255)¹⁹⁵ stellt die Quereinflüsse zwischen antikem Christentum und römischem Recht in Kürze dar, beginnend mit der Einstellung der vorkonstantinischen römischen Juristen zum Christentum und fortgehend über den Codex Theodosianus, dessen letztes, 16. Buch die christliche Kirche nicänischen Bekenntnisses privilegiert,¹⁹⁶ das Judentum aber immer noch schützt. Insbesondere bespricht er „Die Einbeziehung des Kirchenrechts in das Rechtssystem“ (246-Ende), um im Blick auf Justinians C. 1,2 zu konstatieren: „Das staatliche Kirchenrecht ist (…) vom Schluß an die Spitze des ganzen Werkes gerückt“ (251). Die Glaubenseinheit, von Theodosius 380 durch die ausschließliche Legalisierung des
Ein Konflikt zwischen Religion und Recht wurde offenkundig i.J. 388, als Ambrosius, Bischof von Mailand und einer der mächtigsten Männer Italiens geworden, von Kaiser Theodosius verlangte, die Brandstifter, denen die Synagoge von Kallinikon (am Euphrat) zum Opfer gefallen war, straffrei zu lassen (Ep. 40,6 – 28), und dies auch erreichte (vgl. Juster I 462– 464). Liebs schildert, wie dieser Bischof in die Belange der Justiz sogar fern noch von seinem Bischofssitz „hineinregierte“ (227). Das Theokratiedenken (# 200) lebte in christlich-klerikaler Form wieder auf. Heutiges Recht kennt dieses Anliegen nur im Strafrecht, zumal im Jugendstrafrecht. Strafe versteht sich dort ergänzend zur Erziehung und hat die gleiche Begründung (vgl. # 53). Vgl. dens.: „Die konstantinische Wende und das Recht“ (2006, 2007), jetzt RRC 75 – 97, bes. 90 – 96. Vorteile für die Kirche sowie moralisierende Verschärfung sind das Typische; s. aber auch 95 f über Humanes und Soziales in den neuen Gesetzen. „Es [das 16. Buch] beginnt mit ,Über den katholischen Glauben‘ als der Grundlage des Ganzen, vergleichbar mit den weltlichen Rechtsquellen“ (249, zu Cod. Theod. 1,1– 4).
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katholischen (nicaenischen) Christentums gewollt, diente zur Garantie der Reichseinheit. Nicht nur Ketzer (# 352) bekamen fortan die Einengung erlaubter Religionsausübung auf die katholische zu spüren, sondern auch die Katholiken selbst. Unter christlich-klerikalem Druck erfolgte eine Moralisierung des Rechts. Jetzt wurden auch solche Verhaltensweisen strafbar, die es vorher nicht gewesen waren: ‒ die Strafbarkeit bereits der Absicht zu einem Delikt (# 80), ‒ die Ehescheidung nur nach erwiesener – und zugewiesener – Schuld (# 59) und ‒ die Todesstrafe für praktizierte Homosexualität (# 264). Andererseits, und positiv, bildeten sich allerlei zivilisatorische Errungenschaften der Spätantike im römischen Recht ab: vgl. 4.6.1 zum Prozessrecht und #162 (Ende) zu Sozialeinrichtungen. Dem Nutzen der Kirche diente, was auch noch zum öffentlichen Nutzen gegenüber dem privaten gezählt werden kann, die Ausweitung des Schenkungsrechts (# 204).¹⁹⁷ Seit der mittelalterlichen Rezeption in Italiens Rechtsschulen (Bologna u. a.) und der erneuten Verbreitung und Beachtung des römischen Rechts in den Reichen des Mittelalters nennt man das aus I., D. und C. bestehende Ergebnis, mit oder ohne Einschluss der Novellae, ¹⁹⁸ das Corpus iuris. Die voluminösen Zusätze zeigen nur noch, wie staatlicher Dirigismus an den Publikationsmöglichkeiten seine Grenze findet: Die regionalen Teilsammlungen entstehen, die von der Majestät des einstigen Gedankengebäudes und von der Konsequenz seiner Architektur nichts mehr erkennen lassen. Der Zusatz civilis zu Corpus iuris (der nichts mit dem republikanisch-römischen Civilrecht zu tun hat) ist übrigens erst üblich geworden in Abgrenzung gegen das seit Gregor XIII. 1580 publizierte Corpus iuris canonici. Damit haben wir für die lateinische Seite des einstigen Römerreichs die Neuzeit erreicht. Auch wenn die Behauptung Melanchthons, Kaiser Lothar III. habe i.J. 1137 das römische Recht für das ganze Reich für verbindlich erklärt, sich als Geschichtslegende erwies,¹⁹⁹ so hat doch das Corpus Iuris durch erfolgreichen Gebrauch die Autorität eines Gewohnheitsrechts erhalten und hat den modernen europäischen Rechten alterprobte Begriffe vermittelt. Das Lehrbuch von Rudolf Sohm: Institutionen des römischen Rechts, hier benutzt in seiner Ausgabe von 1896, war in gewissen Teilen des Deutschen Reiches (dort aufgezählt auf S. 3) noch immer unmittelbar geltendes Recht, ehe das BGB es am 1.1.1900 ablöste.
Diese Beispiele gibt Zimmermann, „Römisches Recht und Römische Kirche“. Diese (= Bd. 3 der Berliner Ausgabe 1899) waren in Byzanz nach der Veröffentlichung des Codex Justinians noch hinzugekommen. Sie haben für unser Vorhaben nichts mehr zu besagen. Wesel, Geschichte 357; Oestmann, Gerichtsbarkeit 128; auch schon Elert, Morphologie II 358.
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4.5.3 Der byzantinische Nomos Mōsaïkos Vor wenigen Jahren erst im Druck veröffentlicht wurde eine unter diesem Titel überlieferte, nicht näher datierbare byzantinische Sammlung von Septuaginta-Vorschriften, gruppiert unter diversen Rubriken.²⁰⁰ Dies ist kein Werk eines Juristen, sondern eher eines weltfern lebenden Mönchs; höchstens im Kloster oder allenfalls noch innerhalb des Klerus (der immerhin Weltkontakte hatte) konnte es je von Bedeutung gewesen sein. Welche Praxis ihm je entsprochen hätte, können auch die Herausgeber nicht sagen. Wenn wir hierzu in Analogie zum Zinsverbot und seiner gut erforschten Wirkungsgeschichte (# 110) einen Schluss ziehen dürfen, dann ist es der, dass wenigstens der Klerus sich bemühte, nicht nur nach der Bergpredigt, sondern nach alttestamentlichen Vorschriften zu leben. Die ungekürzten Bärte von Priestern der Ostkirchen kommen auf solche Weise immer noch aus Lev 19,27 und 21,5. Aus dieser Schrift, die den imperativen Inhalt des Pentateuchs einfach nur wörtlich wiederholt, lohnt sich’s nicht zu zitieren, außer wo ihre Rubrizierung oder auch die Zusammenstellung des Ähnlichen von Interesse ist. Hier wird ja im Kleinen das gemacht, was Maimonides mit der Tora plus Halacha machte: ihre thematische Ordnung.
4.5.4 „Göttliches Recht“ und Naturrecht in der Scholastik Kommen wir von hier auf das Recht, das in Zeiten eines staatlichen Machtvakuums die Römisch-Katholische Kirche sich selber gab! Eine Kontinuität des Rechtsdenkens seit der Antike ist im Katholizismus gegeben sowohl in der Naturrechtslehre wie auch im kanonischen Recht – so heißt das aus Konzilsbeschlüssen (gr. kanones > lat. Fremdwort canones)²⁰¹ und päpstlichen Dekreten herausentwickelte Kirchenrecht. Manches daraus hat heute die Form von sog. Staatskirchenrecht angenommen (# 361); das sind Vereinbarungen zwischen Bundes- oder Landesregierungen und der Römisch-Katholischen Kirche auf verschiedenen Ebenen, wobei Älteres, etwa das Konkordat der Reichsregierung von 1933 mit dem Papst, fortgilt. Seit 1917 und in Neubearbeitung seit 1983 ist dieses im Codex Iuris Canonici zusammengefasst. Was seine faktische Geltung betrifft, ist es heute kaum noch unterschieden von den „Lebensordnungen“ der protestantischen Kirchen. Dass wir hier darauf zu sprechen kommen und es auch in den Folgebänden öfters tun werden, liegt an seinem „göttlichen“ Geltungsanspruch. Geprägt ist es, wie alles, durch seine Entstehung. Bedingt durch das Verschwinden des Westreichs, mussten im lateinischen Teil des einstigen Imperium Romanum ab dem 5. Jh. die Bischöfe mit ihren Verwaltungsstäben das ersetzen, was vorher die vom Senat S.u. Literaturverzeichnis, 5.5 sowie Bemerkungen zu dieser Schrift bei Wittreck, Interaktion 30 u. ö. Die ältere Zitierweise nannte Einzelbestimmungen der Digesten l(ex), so wie Einzelbestimmungen des kanonischen Rechts als c(anon) zitiert wurden und werden; „Legisten“ waren die staatlichen, „Kanonisten“ die kirchlichen Juristen.
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und v. a. von den Prätoren organisierte Verwaltung gewesen war. Nicht nur im Orient, sondern mehr noch im christlich gewordenen und auch bleibenden Okzident stellte die in Bistümern organisierte Kirche eine Verwaltungsstruktur zur Verfügung, die den verfallenden säkularen Instanzen überlegen war. Erbschaftsstreitigkeiten z. B. oder Vormundschaftssachen konnte man vor Kirchengerichten entscheiden lassen; das war eine Dienstleistung (und dementsprechend meist eine zu bezahlende). In diesem Bereich war das kanonische Recht weit entwickelt und galt als besonders fair. In Ehefragen war das anders; da mischte sich die Kirche aus eigenem Auftrag (wie sie meinte; # 59) ein und bestritt sogar jahrhundertelang dem Staat die Zuständigkeit (vgl. # 129).²⁰² Das kanonische Recht, beruhend auf Rechtsquellen eigener Art (Konzilien, zumindest die rezipierten, galten für inspiriert; vgl. # 216 zu Apg 15), ist ein Seitenspross des römischen Rechtes aus einer Zeit, als der römische Staat nicht mehr bestand; er war zur bloßen Benennung eingeschrumpft. Seit dem 6. Jh. amtierten Bischöfe zugleich als Grund- oder gar Landesherren. Zusätzlich zum herkömmlichen Landrecht konnten sie auf das für sie ohnehin geltende Kirchenrecht zurückgreifen. Wenn im Mittelalter römisches Recht angewendet wurde und man sogar daran ging, die Digesten erneut zu studieren und zur Grundlage einer Wissenschaft zu machen, geschah dies nicht deswegen, weil dieses Recht Vorschrift gewesen wäre im Sinne einer staatlichen Autorität, sondern weil Richter und Prozessparteien es als gerecht empfanden. Förmlich vorgeschrieben war nur das kanonische Recht, und zwar für den Klerus; und wo dieser die Richter stellte, wandten diese es natürlich an. Das Recht der Digesten indes war immer nur Gewohnheitsrecht. Noch Rudolph Sohm schreibt 1896, als dessen Ersatz durch das BGB schon angekündigt war (für Preußen war der Ersatz im Allgemeinen Preußischen Landrecht bereits geschehen), dass es „die Geister gefangen nahm“ (Institutionen 2).²⁰³ Mehr hat er – in Zeiten, wo in der Rechtswissenschaft der Positivismus herrschte – als Geltungsgrundlage nicht anzugeben. Anders ist es mit dem kanonischen Recht, zumindest nach dessen Anspruch (vgl. # 18). Einen Eindruck von Umfang,Vielfalt und Gesamtzweck des kanonischen Rechts gibt Helmholz, Kanonisches Recht und europäische Rechtskultur in 14 Rubriken.²⁰⁴ Resümierend nennt er als Hauptanliegen des kanonischen Rechts die folgenden (430 – 435): ‒ die Unabhängigkeit des Klerus von säkularen Gerichten (vgl. # 287); ‒ Sorge für das Seelenheil bei Handhabung des Rechts, bes. bei Eiden (vgl. # 130);
Unberührt bleiben können hier die eher staatsrechtlichen Fragen betreffs „geistlicher“ Territorien und Besitzansprüche. Zur Ketzergerichtsbarkeit s. # 352. Eine Wissenschaft hätte sich darauf gründen können, was vom germanischen Recht nicht der Fall ist. Genauer gesagt: Aus dem römischen Recht entstand Rechtswissenschaft; der Sachsenspiegel blieb Gegenstand der Rechtsgeschichte. Eine andere, sogar amtliche Wiedergabe von Entstehung und Inhalt des kanonischen Rechts vor dessen Neufassung im CIC gibt dessen Vorrede, S. XXVII der lat.-dt. Ausgabe. Dort wird auch, was das einstige Corpus iuris canonici betrifft, auf das Pendant in der Griechischen Kirche, das [fünfbändige] Syntagma kanonōn/Syntagma canonum, hingewiesen. Andere Sammlungen existieren in anderssprachigen orientalischen Kirchen bzw. wurden im Westen aus deren Texten zusammengetragen.
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„Gerechtigkeit für die Benachteiligten“ (431): Die Kirche bot Rechtsschutz für personae miserabiles.
Auch andere zivilisatorischen Fortschritte werden dem kanonischen Recht zugeschrieben. Aus dem innerkirchlichen Wahlrecht haben sich Wahlrecht und Geschäftsordnung europäischer demokratischer Gremien allmählich herausentwicket (ebd.). Wenn zu der damaligen Rechtstheologie hier einiges Kritische gesagt wird im Vergleich zum säkularen römischen Recht, so soll daraus kein unfairer Vergleich werden. Die Scholastiker hatten eine völlig andere Aufgabe als die Rechtslehrer der römischen Tradition. Ihre Blickrichtung war entgegengesetzt. Sie hatten biblische und christlichtheologische Texte von sehr unterschiedlichem Inhalt, aber unhinterfragter Autorität, unter sich in Einklang zu bringen – rückblickend –, während Luther und diejenigen Juristen, die aus der Reformation hervorgingen, sich Gedanken machten, was künftig Recht sein solle. Theologisch liegt hier die evangelische Freiheit dazwischen, die mit Festlegungen der Vergangenheit, auch wenn sie schon für heilig galten, durchaus zu brechen vermag. Um es anhand der hier zu behandelnden Rechtsthemen zu illustrieren: Die Reformation hat das Evangelium kein Depositum sein lassen (# 349), das unberührt in einem geschützten Winkel zu liegen hätte, sondern ein Kapital (# 110), das einzusetzen war in sich wandelnde Geschäfte. Ihre klassische Form erreichte die Rechtstheologie der lateinischen Kirche in Thomas von Aquins Summa theologica 1-II (prima secundae), Quaestionen 90 (De legibus) bis 97, woran sich die Quaestionen 98 – 105 über die Gültigkeit des „Alten Gesetzes“ (sc. des Mose) anschließen. Als Leitfaden zum Verständnis dieser Partien diene uns nunmehr Paul MIKAT: „Gesetz und Staat nach Thomas von Aquin unter besonderer Berücksichtigung der Lehre vom Gesetz in der Summa Theologiae“ (1979, in: ders., GRRP 489 – 516).²⁰⁵ Am Anfang steht, wie sich’s gehört, eine Definition, und sie lässt die Problematik des Weiteren ahnen. Thomas sagt, lex aller Art zähle zu den principia exteriora actuum, den von außen kommenden Handlungsauslösungen (q. 90, pr.). Der Unterschied eines physikalisch wirkenden von einem Motivation erzeugenden Gesetz ist hier ausgeblendet, und auch das Einbeziehen einer differenzierten Gnadenlehre in den weiteren Quaestionen gleicht diesen Mangel nicht aus. Unbemerkt bleibt, dass auch bei den nicht Begnadeten ein Bewusstseinsakt, etwas Inneres also, vorausgeht, ehe sie einer Vorschrift folgen oder, elastischer formuliert, einen Wert respektieren und realisieren. In diesem Zusammenhang (q. 90,1 ad 2) fällt bereits der Ausdruck „praktische Vernunft“ (ratio practica).Von ihr soll die Rede sein, ehe die Gnadenlehre (q. 110 – 114) das Gegenüber von Gesetz und Gnade vervollständigt. Die These ist, dass Gott „uns unterweist durch das Gesetz und hilft durch die Gnade“ (q. 90 pr.); bei „unterweisen“ (instruere) hören wir Dort auch Literaturangaben. Mikat achtet v. a. auf die Gesamtstruktur, ehe er auf Details eingeht. Auch wenn, wie er beobachtet, „Thomas in der Prima Secundae von Christus und dem Evangelium prinzipiell nicht spricht“ (489), ist dieser Teil doch nicht weniger als die anderen als Theologie anzusehen, als christliche. Die Belange des Gesetzgebers sind nicht im Blick, oder höchstens nachrangig.
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tôrah heraus. Zu erwarten ist eine Lehre ähnlich derjenigen, die Calvin dann aufbrachte, dass nämlich Gottes Wille seit der Tora bekannt sei und das Evangelium mithelfe zu seiner Erfüllung. Thomas möchte in der Tat (wie schon vorher das hellenistische Judentum) das Mosegesetz allen Menschen gelten lassen, mit einer gewissen Relativierung: Diejenigen Bestimmungen, die auf eine Sonderstellung Israels abheben, gelten ihm als würdige Vorbereitung auf das Kommen Christi. Ein heilsgeschichtlicher Rahmen liegt um das Ganze: Die Kirche hat mit dem Volk Israel den Vorzug gemeinsam, den Willen Gottes näher zu kennen, und sie hat dazu eine ihr eigene Hilfe zu für dessen Erfüllung. Eben diese Hilfe, behauptet Thomas in einer unten näher zu betrachtenden Quaestionenfolge (Exkurs 7), sei zugleich das Naturrecht, nach dem die Philosophen fragten. Dies ist ein Kompromiss aus Offenbarung und philosophischem Naturrecht des „kosmischen“ Typs, der wir nicht folgen werden, und zwar aus vor allem methodischen Gründen: Besser wird sein, Offenbarung eine Sache sein zu lassen und Vernunfteinsichten eine andere. Dass lässt beiden ihre Eigenständigkeit. Es wird sich zeigen, dass sie damit keineswegs gegeneinander stehen. Solches Gegeneinander entsteht immer nur aus Verengungen auf der einen oder anderen Seite, also aus Fundamentalismus einerseits und Ideologie andererseits. Beherrschend für die Barockzeit, auch an den Universitäten der protestantischen Länder, war der Thomist Francisco SUÁREZ S. J. mit seinem De legibus ac Deo legislatore (1612), der eine – wie man es heute nennt – „theonome“ Rechtslehre vertrat.²⁰⁶ Pufendorf, der die Position des Suárez sehr wohl kennt, seinen Namen aber zu nennen vermeidet, distanziert sich ironisch von dessen „apostolischer“ Geltung (Eris 270). Ein nur aus der Bibel einsichtiger Offenbarungsanspruch für das Recht könne kein allgemeines Erkenntniskriterium sein. Es gab aber im Jahrhundert der Reformation auch Naturrechtslehren, die nicht so streng an apriorische Begriffe geknüpft waren. Erwähnt wurde schon (A 3.1) die Auffassung des Francisco DE VITORIA vom ius gentium als einem ius inter gentes, worüber man übereinkommen könne: Auf diesem Gedanken fußt Grotius. Hier wurde Naturrecht ermittelt aus den Konvergenzen im Rechtsbewusstsein der Völker. Dahinter steckt eine theologische Lehre von der Schöpfung, die nicht so pessimistisch ist wie die derjenigen Protestanten, die lehrten, mit Adams Fall sei die ganze Schöpfung „gefallen“ (# 271); da war sie dann ohne Vorbildcharakter. Es muß geradezu als ein wesentliches Kennzeichen katholischen Denkens überhaupt angesehen werden, daß es ein Denken von der Schöpfung her ist, ein Denken, das nicht bei der Sünde (als der
Für diesen modernen Ausdruck (ein Anonymus d.J. 1793 hat ihn lt. HWP 10, 1113 erstmals gebraucht) ist v. a. Paul TILLICH bekannt geworden, der aber schwerlich erkennen lässt, was er damit meint (vgl. ebd. 1114); eine „am Absoluten“ orientierte Ethik verwaltet auch die Römisch-Katholische Kirche. Klarer ist Jürgen HABERMAS, in dessen Spätwerk dieselbe (?) Sache als „autonome Moral“ zu stehen kommt, orientiert nämlich an überpersonal geltenden Begriffen, die zu finden freilich eine gewaltfreie Kommunikation voraussetzt. Diese Moral ist bei ihm komplementär zu dem stets auf Begründung ad hoc angewiesenen positiven Recht; s. Tanner, „Die Rechtswissenschaft“ 478.
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eigentlichen Un-Ordnung) anknüpft, sondern bei einer objektiven, von Gott gesetzten und dadurch geheiligten Seinsordnung.
So Mikat, RRS 628.²⁰⁷ Wenn wir im Folgenden auf die Reformation zu sprechen kommen und auf die ihr spezifische Rechtslehre, so finden wir in ihr eine Theologie des Ersten Artikels in einer weit optimistischeren Fassung als der von der gefallenen Schöpfung. Diese war ein gedankliches Monstrum, das dem hier Schreibenden im Studium sogar noch zugemutet wurde, das aber Männer wie Samuel Pufendorf und Christian Wolff schon hinter sich gelassen hatten. Von deren nicht weniger evangelischem Gesichtspunkt aus wäre gar nichts einzuwenden gegen die Feststellung von Paul Mikat (ebd. 638): Es gehört unserer Auffassung nach zum Wesen des Naturrechts, daß es dem Menschen einen weiten Spielraum für die Entfaltung der menschlichen Entscheidungsfreiheit gibt; es beläßt dem Menschen die Möglichkeit, zwischen mehreren an sich erlaubten und möglichen Lösungen in Freiheit sachgerecht zu entscheiden.
4.6 Rechtsbegründung der Reformation 4.6.1 Rechtsbegründung bei Luther. Die Freiheit zu neuen Dekalogen Luthers Theologie ist entworfen für eine Kirche des Neuen Bundes. Die Bestimmungen des Alten müssen in dieser, wie Paulus den Christen Galatiens schon sagte (# 318 – 324), nicht miterfüllt werden. Paulus und v. a. dessen Römerbrief war es, was ihn von der religiösen Angst seines Mönchtums – ob jemals an Werken der Frömmigkeit genug geleistet sei – befreite, aber auch in Distanz brachte zu den vielen unnötigen Reglementierungen der Amtskirche. Die klassische Darstellung seines theologischen Ansatzes²⁰⁸ mit stetem Ausblick auf dessen Weiterwirken ist Elerts Morphologie des Luthertums, Bd. I. Unterschiede zu Melanchthon und anderen Reformatoren, auch denen aus der Schweiz und aus Frankreich, sind dort sorgfältig notiert. Gerade in Fragen des Rechts sind sie beträchtlich.²⁰⁹
Hervorhebung original; vgl. 640. – Der Ausdruck „Seinsordnung“ oder mehr noch „Schöpfungsordnung“ ist im Luthertum gängig gewesen (s. Exkurs 1), dort allerdings verbunden mit einem zu weiten, das Schicksal mit umfassenden Gesetzesbegriff. Seine römisch-katholische Fassung, wie sie auch nach dem Zweiten Vaticanum gängig ist, findet sich z. B. bei Mikat, RRS 218 f dargestellt, in Abgrenzung zur lutherischen Zwei-Reiche-Lehre. Ihr zuliebe übergehen wir mehrere andere, auch im Protestantismus verbreitete, worüber z. B. Herr, Naturrecht I 39 f referiert und die, wie Herr selbst, Naturrecht an eine „natürliche Theologie“ binden wollen. Das tut Luther gerade nicht. Dahinter stehen unterschiedliche Auffassungen von der Kirche. Vgl. Ch. SPEHR: „Luther, Martin“, HRG2, Bd. 3 (2016), 1100 – 1107 (1105).
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Was nach Luthers reformatorischer Entdeckung an evangelischen Kirchen in Deutschland entstand – in Loslösung von Rom, das in den Luther zustimmenden Gebieten keine Kleriker mehr legitimieren wollte –, geschah in Nachwirkung seiner Hauptschriften von 1520 – 1530. Die Rechtfertigungslehre, aus Röm 1– 8 gewonnen (# 262) und 1999 vom römischen Lehramt auch approbiert, ist die Achse, um die sich alles dreht. Diese Schriften beschreiben das Reich Gottes „zur Rechten“, die Kirche. Was Luther vom Reich Gottes „zur Linken“, der menschlichen Gesellschaft oder besser: den Gesellschaften dachte, ist nur ein Nebenaspekt seiner Botschaft; diesem aber wenden wir uns nun zu. Hier sei zunächst das Luther-Zitat nachgeholt, das Johannes Heckels Akademieschrift Lex charitatis (s.u. Exkurs 16) den Titel gab. Es steht auf der vorletzten Seite seines Galater-Kommentars vom 1519:²¹⁰ Für ein Gemeinwesen (res publica) gilt: mit je weniger Gesetzen es regiert wird, umso glücklicher ist es – und unser kirchliches (Gemeinwesen), dem allein die Liebe sein Grundgesetz ist (unica lege charitatis instituta), damit es allein das glücklichste sei von allen, – aus welchem Gotteszorn erträgt es für dieses eine, ausgelöschte (Gesetz) Wolken, Wälder und Meere von Gesetzen, von denen sich kaum jemand auch nur die Titel merken kann!
Das war gesagt gegen die Regelungswut des spätmittelalterlichen Frömmigkeitsbetriebs mit all seinen „Platten und Kappen“, Kasteiungen und Bruderschaften, gegen deren Anspruch besonderer Gottesnähe (nach oben) und Vorbildlichkeit (zur Seite) er nicht müde wird, die heftigsten Absagen zu erteilen.²¹¹ Grundlage von alledem war das kanonische Recht, dessen Masse an Regelungen ins Unermessliche gesteigert wurde durch „geistliche“ Satzungen freiwilliger Art. Jegliche Relevanz aber im Reich „zur Rechten“ sprach er diesem Rechtswesen ab; ihm jedenfalls verschloss es den Himmel weit eher, als es ihn öffnete (vgl. Mt 23,13).²¹² Ganz anders als zum kanonischen Recht aber stand er zum Naturrecht. Diesbezüglich muss eine häufig zu findende Lehrbuchmeinung korrigiert werden. „Die Luther’sche Rechtfertigungslehre“, so lautet eine unter Juristen wie Theologen verbreitete Ansicht, „sprach dem Menschen die Fähigkeit ab, das Naturrecht zu erkennen“.²¹³ In solch einem Satz steckt nicht nur Unkenntnis der Quellen, sondern auch neuprotestantische Ideologie. Einmal mehr wird hier Gottes Wirken „rechter“ und „linker“ Hand WA 2, 617,1– 5 (Hinweis: Schlaich, „Martin Luther“ 13 mit Anm. 45). Wir übersetzen charitatis als explizierenden Genitiv. – In dieser mittelalterlichen Schreibweise (mit ch) steckt, wie auch bei den Scholastikern, eine Anspielung an gr. charis „Gnade“, auch „Freundlichkeit, gewinnnendes Wesen“, eine Gotteseigenschaft. Vgl. seine – höflich-sanfte, aber deutliche – Antwort an Philipp von Hessen über die Homberger Kirchenordnung von 1526, dazu unten. Man könnte sogar Mt 24,12 hiermit vergleichen, allerdings nach Auswechselung eines Wortes: „Durch das Überhandnehmen der Gesetzlosigkeit [lies: der Einzelgesetze!] wird die Liebe bei den Vielen erkalten.“ Ähnliches hatte der mt. Autor vorher schon erkannt, aber nur auf der Gegenseite, der der „Pharisäer“ (Rabbinen): Mt 23,3 – 7. S. HÄHNCHEN: Rechtsgeschichte von der Römischen Antike bis zur Neuzeit, 5. Aufl. 2016, S. 233 Rdz. 489.
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vermischt.Was Luther abweist – Pufendorf noch viel mehr, aber wer liest ihn noch? –, ist die Scholastik mit ihren Begriffen, die älter sein sollen als die Schöpfung. Er selbst sagt 1538 in seinen Tischreden (WA.TR 4 Nr. 3911):²¹⁴ Das Recht ist fürnehmlich zweierlei: eins natürlich, das ander beschrieben oder gesatzt Recht. Das natürliche Recht lehret, wie man sich in diesem Leben halten soll, beide gegen Gott und Menschen, so viel den äußerlichen Wandel und die Sitten belangt; verbeut was böse und unrecht ist, und gebeut, was gut und recht ist; und des Stifter ist Gott, der solch Licht geschaffen und dem Menschen ins Herz gepflanzt und geschrieben hat [# 267]. Geschriebene und gesetzte Rechte aber sind die Gesetze und Ordnungen, so ihre Umstände haben und aus bewährlichen und vernünftigen Ursachen also gesetzt sind und mit dem natürlichen Rechte übereinstimmen; ob sie wohl bisweilen in etlichen Umständen aus Ursachen geändert sind; und derselben Stifter ist die Oberkeit.
Ähnlich dachte er sogar über die Tora. Dem Landgrafen Philipp von Hessen, der mit einem am grünen Tisch erdachten Regelungswerk 1526 eine Idealkirche zu gründen gedachte,²¹⁵ versagte er – obwohl es von vorn bis hinten biblisch war – die erhoffte Empfehlung und riet vielmehr dem Landgrafen, er möge verfahren, „wie Mose mit seinen Gesetzen getan hat, welches²¹⁶ er fast [= wohl] das mehrere Teil als schon im Brauch ganghaftig [= gängig] unter dem Volk von altem Herkommen hat genommen, aufgeschrieben und geordnet“ (WA.Br 4 Nr. 1071, S. 157,14; vgl. # 287). Nach dieser Auffassung ist die Tora keineswegs Wort für Wort offenbart, sondern ist großen-, wo nicht größerenteils ein Spiegel der Rechtsbräuche einer antiken Gesellschaft. Autoren dieser Auffassung seit Origenes und Ambrosius nennt Grotius zu Mt 5,31 („Den Alten wurde gesagt…“), lehnt sie aber für seine Person ab. Vgl. # 18. – „Wir können es heute als gesichert ansehen, daß Luther nicht das Recht aus der Kirche verbannt hat. Verbannt hat er das kanonische Recht mit seinen Heils- und Machtansprüchen“ – so Klaus Schlaich i.J. 1997.²¹⁷ Martin Heckel, Martin Luthers Reformation und das Recht 452 sagt es seinerseits ganz korrekt: Luthers Leistung zum Naturrecht liegt (…) nicht im juristischen Gehalt seiner einzelnen Aussagen, sondern im Grundsätzlichen: Zum einen in der Auflösung der katholischen Naturrechtsauffassung und des auf ihr beruhenden katholischen Kirchenrechts im evangelischen Teil des Reichs und zum anderen in der Gründung des Naturrechts auf die ratio. Sie löste einen Schub zur Rationalisierung, Modernisierung, Uniformierung und Verwissenschaftlichung des Rechts aus, der die Begründung und Legitimierung der Rechtsverhältnisse aus der Tradition zunehmend schwächte.
Zitiert in der Schreibweise bei Siegert, Luther und das Recht 103. Dies ist eine grundsätzliche Äußerung über das Recht. Luthers Einstellung zu den Juristen (die er in Wittelberg als schlechte Kollegen kannte) war demgegenüber sehr negativ; dazu unten. Dies war die o.g. Reformatio ecclesiarum Hassiae von 1526, auch Homberger Kirchenordnung genannt. Orig.: „wilchs“; gemeint ist: deren Inhalt. Schlaich, „Martin Luther“ 14. An die Adresse von Katholiken und Reformierten sagte er ebd. kurz voher: „Die Kirche hat Freiheit in der Wahl der kirchlichen Verfassungsformen“, und: „Die äußere Kirchenverfassung entbehrt der Heilsnotwendigkeit“.
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Ebenso Lehmann, „Luthers Naturrechtsverständnis“ 407 f („Schluss“): Luthers theologiegeschichtliche Leistung besteht darin, das [ihm überlieferte] Naturrechtsverständnis mit der Zwei-Regimenten-Lehre verknüpft zu haben. Da das Naturrecht nach Luther sowohl der Vernunft eingeschrieben und göttlich geoffenbart ist als auch in Form von menschlichem Recht verschriftlicht vorkommen kann, bildet es die Brücke zwischen dem geistlichen und dem weltlichen Regiment Gottes (…).
Genau so finden wir es bei Pufendorf wieder: Naturrecht ist dreifach bekannt, nämlich 1. der Vernunft eingeschrieben, 2. göttlich geoffenbart und schließlich auch 3. in Form von menschlichem Recht verschriftlicht anzutreffen, letzteres in wachsendem Maße. Der Nachwirkung dieser rationalen Rechtslehre eines großen Theologen werden wir in den folgenden Abschnitten durch die Jahrhunderte nachgehen; ihr krönendes Ergebnis sind die modernen Rechtsstaaten mit ihren Verfassungen. Geistige Voraussetzung ist ein gewisser Pluralismus, ermöglicht durch die Abkopplung politischer Fragen von solchen des ewigen Heils: Denn das mittelalterliche Reich war auf die eine, einzige Wahrheit der einen Kirche von Rom verpflichtet – als „heiliges“ römisches Reich. Deshalb war der Lehrstreit notwendig zum Verfassungsstreit, die Glaubenskrise zur Verfassungskrise geworden
– so nochmals Schlaich (15) mit Hinblick auf die schwierigen Verhandlungen für den Westfälischen Frieden von 1648. Umso gewagter, sehen wir nun, ist das gewesen, was die protestantischen Fürsten 1530 in Augsburg durchsetzten.²¹⁸ Bekannt, wenn auch selten ausgelegt, für unser Unternehmen aber wichtig ist Luthers These von 1535:²¹⁹ Haben wir Christus, so werden wir leicht Gesetze aufstellen (facile condemus leges) und alles richtig richten (iudicare). Wir werden sogar neue Dekaloge machen (novos decalogos faciemus), wie Paulus es macht in allen Briefen, auch Petrus, am meisten Christus im Evangelium.
Diese These ist der Grundgedanke des gegenwärtigen Kommentars, und sie beruht auf folgenden Gegebenheiten:
Man kann es noch ein Jahr zurückverfolgen: „Beim Reichtag zu Speyer 1529 brachten die protestierenden Fürsten und Stände das moderne rechtsstaatliche Prinzip, daß es in Religionsfragen keine Mehrheitsabstimmung gibt, zur Geltung“ (Schlaich 16). Übertragen ins Säkulare, wurde daraus – unter Beibehaltung der dort unerlässlichen Mehrheitsentscheidungen – die Meinungsfreiheit und der Minderheitenschutz. Doch tat man sich schwer damit und probierte es erst mit der absoluten Monarchie. Thesen De fide und De lege,WA 39/1, 46 – 48, hier: De fide 52 f; lat. bei Siegert, Kirche und Synagoge 150; dt. ebd. 160, mit zwei Kommentaren: 127– 149 (G. GREMELS, zur traditionellen Nichtanwendung dieser These); 153 – 170 (F. SIEGERT, zur Anwendung). Heckel, Lex charitatis hatte sie in Anm. 1052 zitiert, im Vorbeigehen. Neuerdings erinnert D. LANGE: Art. „Autonomie“ in RGG 4 (Bd. 1, Sp. 1011) wieder an sie und verbindet sie mit der Vollmacht der Christen, ihre Bibel selbst zu verstehen.
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Die Gebote der Ersten Tafel sind längst abgeändert worden.²²⁰ Das Arbeitsverbot am Sabbat (Samstag) ist ein Gottesdienstgebot für den Sonntag geworden; das hat die Kirche aller Jahrhunderte (mit Ausnahme gewisser Splittergruppen des Calvinismus wie der Adventisten) sich unwidersprochen zugetraut. Die Gebote der Zweiten Tafel sind allesamt negativ formuliert. Für eine Rechtsordnung, die das Zusammenleben der Menschen in einer Gesellschaft ordnen soll, sind positive Regelungen vonnöten.
Was einst der pseudepigraphe Barnabasbrief (er ist erst seit 1645 im Westen bekannt) in seinem Epilog gesagt hatte: „Werdet eure eigenen, guten Gesetzgeber!“ (21,4), dort aber auf dem Hintergrund einer Ablehnung des Alten Testaments, das schlug Luther nunmehr vor im Rückgriff auf die gesamte Bibel. Nur ist ihm Christus nicht, wie seit der Alten Kirche auch gesagt wurde, der „neue Gesetzgeber“ (so Justin der Märtyrer, Dial. 12,2; 14,3).²²¹ Seine Rollen als „Priester, Prophet und König“ (# 55) waren schon genug, wobei überdies alle drei Ausdrücke einen neuen und anderen Sinn bekamen. Ist mit „neue Dekaloge“ zuviel gesagt? – Eher zu wenig, blickt man auf all die Neufassungen der Zweiten Tafel, die sich längst als nötig erwiesen. Die abendländische Geschichte verzeichnet eine Fülle an Verfassungen menschlicher Gesellschaften, und sie haben sich bewährt nicht zuletzt als Anwendungsfeld christlicher Verantwortung für Gottesdienst, das Wohl der Menschen und nunmehr auch die Erhaltung der Schöpfung. Ergänzend mag, was das positive Recht angeht und dessen außerbiblische Quellen, Luthers Auslegung des 101. Psalms hier dienen (1535/35; WA 51, 242; Siegert a.a.O. 106): Und ist mein Gedanken, daß Gott darum gegeben und erhalten habe solche heidnischen Bücher als der Poeten und Historien wie Homerum, Virgilium, Demosthenem, Ciceronem, Livium und hernach die alten feinen Juristen – gleich wie er auch andere zeitliche Güter unter die Heiden und Gottlosen allezeit gegeben und erhalten hat –, daß die Heiden und Gottlosen allezeit auch haben sollten ihre Propheten, Aposteln und Theologos oder Prediger zum weltlichen Regiment, wie auch St. Paulus der Cretenser Poeten, Epimeniden, ihren Propheten nennet Tit. 1[,12] und Matthäus die heiligen drei Könige Magos nennet, darum daß sie der Araber Priester, Propheten oder Lehrer waren. Also sind bei ihnen Homerus, Plato, Aristoteles, Cicero, Ulpianus usw. gewest wie bei Gottes Volk Mose, Elia, Jesaja usw. Und ihre Kaiser, Könige, Fürsten als Alexander, Augustus usw. sind ihre Davides und Salomones gewest.
So weit Luther. Doch haben dessen eigene Worte sich nicht durchsetzen können gegen das Verdikt Ernst TROELTSCHs und des von ihm zitierten Karl HOLL: „Die Reformation drängt überall das Naturrecht zurück.“²²² Es sind die Berliner Protestanten von damals, Nur eine an „ewigen Gesetzen“ interessierte Theologie kann das übersehen. So J. HÜBNER: „Gesetz und Evangelium bei Luther“, in: W. BOCK (Hg.): Gesetz und Gesetzlichkeit in den Wissenschaften, 2006, 87– 106, 93 (zu Luthers hier genannter These): „Gemeint ist hier jedoch die zweite Tafel.“ Das stimmt nicht. Auch den Gottesdienst hat die Kirche, so sehr sie die Mosebücher in Ehren hält, geändert. Eine ähnliche Stelle bei Clemens v. Alexandrien, Stromata 1,26, hat leider gerade nach dem Wort nomothetēs eine Textlücke. Zitiert bei Elert, Ethos 107 f Anm. 1.
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die das Naturrecht nicht haben wollten; nicht anders war es im Barthianismus der Folgezeit. Die auf Luther fußende Rechtswissenschaft war anders verfahren. Neue Dekaloge waren ihr – ohne dass sie ausdrücklich so genannt worden wären – schon deswegen nötig, weil die Gebote der Zweiten Tafel nur negativ formuliert worden waren – was Luthers Katechismen bereits änderten. Die Neuzeit hatte Bedarf an einer Antwort auf die Frage Kants: „Was soll ich tun?“²²³ Luthers Meinung vom Recht war verschieden von derjenigen seiner im mittelalterlichen Kirchen- und Staatskirchenrecht aufgewachsenen Kollegen in der Juristenfakultät. Mit Ausnahme von Justus Jonas, einem seiner engsten Mitarbeiter, Jurist und Dr. theol. geworden im Zweitstudium, mochte er die Juristen nicht („Juristen, schlechte Christen“) und hat seinen eigenen ältesten Sohn zeitlebens daran gehindert, Jurist zu werden (was er dann dennoch wurde, und mit Erfolg). Für weltliches Recht jedoch, Naturrecht eingeschlossen, hatte Luther ein profundes Verständnis. Jene seit Philon empfohlene, aber niemals sauber durchgeführte Identifikation von Naturrecht und Tora²²⁴ oder Naturrecht und Dekalog ist ihm gleichgültig. Auch sieht er keine Notwendigkeit, das Alte Testament als Gesetzbuch zu nehmen, weder im Ganzen noch in Teilen, sondern es ist ihm nur ein Vorbild für neuere Gesetzgebung. Vom Neuen Testament und den Worten Jesu gilt das a fortiori. Luthers heute allmählich wieder rehabilitierte Zwei-Reiche-Lehre, einstmals vorgetragen vor Kaiser und Reich in CA 28, später missbraucht als Ausrede für fromme Gefügigkeit (und damit einem der vielen Verdikte Karl Barths verfallen), ist die theologische Grundlage für Luthers Auffassung von der Weltlichkeit aller Rechtsfindung.²²⁵ Elert, Ethos 153 hat darauf hingewiesen, dass mit einer Verlängerung hergebrachten Rechtes, sei es biblisch oder altdeutsch, die Aufgabe der Gesetzgebung und Rechtsfindung nicht hinreichend zu erfüllen ist: „Es war und ist (…) in modernen Industriestaaten auch völlig neues Recht zu setzen.“ ²²⁶ Das kann in Auslegung des Dekalogs geschehen; verantwortlich ist aber doch der Ausleger. So wenig beispielsweise das Tötungsverbot auf militärische Verteidigung anwendbar ist (das ist schon in der Hebräischen Bibel so), so sehr muss neben dem Diebstahlsverbot auch ein Enteignungsgesetz bestehen können, wo denn lebenswichtige Belange eines Gemeinwesens von dessen öffentlichen Organen wahrgenommen werden. Oder nehmen wir das Ehebruchsverbot: Heute sehen wir, wie die Legalisierung, ja der Schutz bisher nicht vorgesehener Lebenspartnerschaften Gestalt gewinnt. Stand die Menschenwürde nicht im Dekalog, so dient sie jetzt zur Begründung neuer Grundrechte – aus einer Freiheit heraus, die weder von der Scholastik,
Kant, KrRV B 833: „Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen?“ Es war vielmehr eine Vermengung; s. D. RUNIA/G. STERLING/H. NAJMAN: Laws Stamped with the Seals of Nature. Law and Nature in Hellenistic Philosophy and Philo of Alexandria (SPhA 15), 2003, passim. Von der eher mittelalterlichen Drei-Stände-Lehre (Familie – Kirche – Staat), über die er in seinen späten Jahren nachdachte und die manchmal wieder zitiert wird, kann man das nicht sagen. Aus dem Luthertum in den USA sei hier genannt R. DUTY/M. FAILINGER (Hg.): On Secular Governance. Lutheran Perspectives on Contemporary Legal Issues, 2016, mit Stellungnahmen zu Frauenrechten, Eigentums- und Umweltfragen, Einwanderung, Menschenhandel u. a.
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noch von Zwingli oder Calvin, sondern von Luther theologisch begründet wurde (vgl. # 172 zu Joh 8). Geht man nach den Quellen und nicht nur nach den Wiedergaben, so zeigt sich: Ausgehend von der Reformation und fortschreitend über die Säkularisierung der westlichen Welt,²²⁷ konnte das rationale Erbe der Antike die Gottesrechts-Vorstellungen des Mittelalters ablösen und – nach einigem Hin und Her, wo die verfassten Kirchen sich der Entwicklung entgegenstellten – schließlich einmünden in den Rechtsstaat heutigen Stils, beruhend auf den Menschenrechten und der Volkssouveränität. Seine Verdienste um diese Entwicklung hat der Calvinismus insofern, als seine Volk-Gottes-Theologie die Demokratie forcierte und seine Bundestheologie den Gesellschaftsvertrag; davon wird noch zu reden sein. In der Frage jedoch, ob das Recht aus der Macht oder nicht vielmehr die Macht aus dem Recht zu begründen sei, blieb er so undeutlich wie das Judentum. – Als Martin Luther am 10. Dezember 1520 vor Wittenbergs Stadttor zusammen mit seiner Bannbulle auch ein Exemplar der päpstlichen Dekretalen verbrannte,²²⁸ ließ er unmissverständlich erkennen, dass es ein „geistliches“ oder „göttliches“ Recht für ihn nicht mehr gab, noch nicht einmal in der Kirche selbst (s. # 287, „Hermeneutische Überlegung“). Als i.J. 1543 die Dresdener Hoftheologen die Wiedereinführung des Bannes als Disziplinierungsmittel im Luthertum erwogen, hat er heftig widerraten mit der Begründung, es sei falsch gewesen, dass die Kirche in den Staat hineinregiert; doch auch das Umgekehrte, was man jetzt erwäge, sei vom Teufel (s. # 315). Zwar erwies sich für einen Teil des Corpus iuris canonici, insbesondere für das durchaus nützliche 2. Buch der (auch Liber extra genannten) Dekretalen, das Prozessrecht enthaltend,²²⁹ diese Geste als voreilig: Dieses Buch wurde durchaus noch gebraucht, lag nunmehr aber in den Händen einer weltlichen Justiz. Melanchthon half hierbei nach (Link, KRG § 13,6). Einer von dessen Schülern, Johannes HONTER (1498 – 1549), der Reformator Siebenbürgens, zugleich Jurist, ist mit Anpassungen des römischen Rechts an die Erfordernisse bahnbrechend geworden in Osteuropa.²³⁰ Von den vier Lehrstühlen für kanonisches Recht, die Wittenbergs Universität i.J. 1511 hatte, behielt man 1521 nur einen bei für den „Sekundisten“, den Prozessrechtler,²³¹ dessen einstmals päpstliche Vorlage nunmehr als Zivilrecht diente. Es hat die evangelische Freiheit keineswegs beeinträchtigt, dass die maßgeblichen Ausgaben des Corpus iuris canonici des 18. und 19. Jh. von evangelischen Gelehrten veranstaltet wurden (Link, Zu diesem Thema, das auch bei Elert Leitgedanke ist (ein anderer Lutheraner, Friedrich GOGARTEN, ist dessen bekanntester Theoretiker), sei hier nur zitiert der Sammelband VL/D, Christentum und Gutmann, „Säkularisierung“; dort 242: Spätestens mit Pufendorf beginnt eine rein säkulare Rechtsbegründung. Link, KRG § 10,3. Zu Bücherverbrennungen vgl. # 228. Gegen Personen gerichtet, sind solche Symbolhandlungen – Drohgesten – problematisch. Link, KRG § 6,5 – 6; Schlosser, ERG § 2,46; Oestmann, Gerichtsbarkeit 116.119. Über ihn s. Elert, Morphologie I 180 f u. ö.; Máthé, Entwicklung 369 – 371. H. LIERMANN: „Das kanonische Recht als Gegenstand des gelehrten Unterrichts an den protestantischen Universitäten Deutschlands in den ersten Jahrhunderten nach der Reformation“ (1955), in: ders., Der Jurist und die Kirche 108 – 131 (111– 118.130); die Angaben bei Siegert, Luther und das Recht 41 waren zu einfach. Vgl. Wolter, „Die Fortgeltung“ 18 und Link, KRG § 6,12 und v. a. § 13,8 mit Anmerkung.
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KRG § 6,11). Es bestand keine Gefahr, dass diese Regelungen für den Willen Gottes gehalten würden. Was daneben an Kirchenrecht auf evangelischer Seite entstand, nicht selten in Parallele zum kanonischen Recht, verstand sich als Dienst- und Verwaltungsrecht, zweckdienlich und ohne jede Heiligkeit. Bezeichnend blieb bis heute, dass katholische Bistümer über ein Ehegericht verfügen, was es auf protestantischer Seite nicht gibt, und umgekehrt: Die katholische Seite kennt keine Verwaltungsgerichtsbarkeit (Grethlein, Kirchenrecht 194). Evangelischerseits aber – so Link, KRG § 6,12 – bleibt es bei der paradoxen Tatsache, dass ein nicht mehr in Kraft stehendes katholisches Gesetzbuch bis heute eine subsidiäre Rechtsquelle des evangelischen Kirchenrechts bildet, und in manchen Streitfällen mit weltlich-rechlichem Einschlag (etwa Fragen der Baulast an kirchlichen Gebäuden, in Patronatssachen oder Streitigkeiten um Kirchennutzung) muss es auch von den staatlichen Gerichten herangezogen werden.
So lag ein Interesse an der Benutzung des alten Corpus Iuris Canonici zuletzt eher noch bei den Protestanten. Wovon diese jedoch völlig absahen, war die darin enthaltene Ideologie. Noch im Codex Iuris Canonici von 1917 hatte die Römisch-Katholische Kirche sich selbst als societas perfecta definiert; dazu vgl. # 297. Das paradoxe Ergebnis ist, dass Martin Luther, der erklärte Feind des Juristenstandes, doch der Anreger wurde für die Rechtsbildung und Rechtsbegründung der Territorien, die der Reformation beitraten. Juristen wie Johann OLDENDORP waren schon im 16. Jh. einflussreiche Lehrer eines säkular begründeten Zivilrechts.²³² Es gibt, wie Mathias Schmoeckel unlängst gezeigt hat (s.u. 5.3), eine spezifisch lutherische Erkenntnislehre, welche der Vernunft in profanen Dingen ihre Kompetenz nicht bestreitet. Sie wird in rechtsgeschichtlichen Studien und Lehrbüchern genauso oft übersehen, wie die Wirksamkeit der eigentlich-theologischen Voraussetzungen übersehen wird. Christoph Strohms Meinung: „Grundsätzliche Unterschiede zwischen lutherischen und calvinistischen Juristen herauszuarbeiten, ist (…) kaum möglich“,²³³ hat das theologische Kriterium der direkten Geltung der Tora für die Kirche, wie Calvin sie forderte und Althusius (s.u.) sie befolgte, nicht in Betracht gezogen. – Mehr s. Exkurs 6.
Elert, Morphologie II 108.356.358, Verdross, Rechtsphilosophie 91 („Das Naturrecht als Billigkeit“) und F. MERZBACHER: „Johann Oldendorp und das kanonische Recht“, in: Grundmann, Für Kirche 222– 249. Er zählt zu den eben genannten „Sekundisten“, die das Kanonische Recht zu säkularen Gebrauch anpassten – mehr als Luther gewollt hatte, aber auch weniger biblizistisch als Juristen aus der Schule Melanchthons oder Calvins. Ch. STROHM: „Der Einfluss des Protestantismus auf die Entwicklung der Rechtswissenschaft, in: Campi/Opitz/Schmid, Calvin 75 – 88 (77). Die zahlreichen Rückgriffe auf die Bibel bei Althusius relativiert er als zeitbedingt (83 f ); sie sind aber v. a. konfessionsbedingt – und wäre es nur darin, dass beim Zitieren auch gleich metaphorisiert wird. Luthers trotziges „Das Wort sie sollen lassen stahn“ hatte sich auf die zentralen Heilszusagen des Neuen Testaments bezogen, namentlich auf die Abendmahlsworte, deren Metaphorisierung (als handle es sich um etwas wie den Leib Christi) er sich verbat.
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4.6.2 Rechtsbegründung im Calvinismus Luthers Auffassung blieb nicht unwidersprochen. Sein nur wenig jüngerer, damals viel gelesener Zeitgenosse Wolfgang MUSCULUS (Mäuslin), als Reformator v. a. in Bern tätig, entwickelte eine Rechtsbegründung, welche den klerikalen Einfluss Roms durch den einer als christlich vorgestellten Kommunalverwaltung ersetzte.²³⁴ Das war praktisch gedacht für die gegebene Situation: Ein Magistrat, der mehrheitlich aus Mitgliedern der „geistlichen Kirche“ (ein Ausdruck aus Zwinglis Ekklesiologie, den überzeugten und aktiven Kern der Ortsgemeinde meinend) bestehen sollte, würde biblische Gebote durchsetzen, bes. wenn sie zugleich als Naturrecht einsichtig seien. Die „zweite Reformation“ CALVINs²³⁵ ging darauf aus, die Messe abzuschaffen und demgegenüber das Mosegesetz, insbesondere das Bilderverbot und das (veränderte) Sabbatgebot in der Christenheit durchzusetzen. Die Altäre mussten verschwinden, als wären es noch immer – oder wieder – die Altäre von Bethel und Gilgal (Amos 4). Der Schwerpunkt kirchlichen Lebens verlagerte sich von den Sakramenten auf die Ethik und auf die Politik. Was das Verhältnis von Glaube und Recht, Theologie und Jurisprudenz betrifft, so liegen die Dinge im Calvinismus scheinbar einfach. Das „Gesetz Gottes“ ist das Mosegesetz, verpflichtend auch für die Kirche, freilich „nicht als Gesetz, aber doch als Richtschnur für jede gute und gerechte Ordnung eines christlichen Gemeinwesens“ (Link, KRG § 10,21). Hier deutet sich eine hermeneutische Unschärfe an: Die Tora wird passend gemacht, während man dennoch auf ihren Wortlaut pocht. So kommt das Sabbatgebot des Dekalogs wieder wörtlich in die Katechismen, wird aber doch verkirchlicht zum Sonn- und Feiertagsgebot (vgl. # 40), nunmehr aber unter toragemäßer Verschärfung des Arbeitsverbots. Potentiell und je nach Situation kann jeder Imperativ der Bibel, und wäre er auch nur einen Vers lang, ein Gebot für Christen werden.²³⁶ Hinzu kommen die präskriptiven Partien des Neuen Testaments, seien es Jesusoder Apostelworte. Das Evangelium wird, wie Karl Barth es wieder propagiert hat, ein Teil des „Gesetzes Gottes“, und dieses wiederum soll der Christenheit das Evangelium sein. Für das, was die Christen, sei es allein oder auch gemeinsam, an Gehorsam nicht zu leisten vermögen, müssen sie sich um Christi willen bei Gott Vergebung erbitten (Institutio 2,7– 8). Die Unterscheidung der beiden „Reiche“, auch wenn Calvin gelegentlich noch auf sie zurückgreift, wurde von ihm bereits aufgegeben, um der Tora und den Geboten Christi auch im Reich „zur Linken“ zur Geltung zu verhelfen. Damit wird diese
R. BÄUMLIN: „Naturrecht und obrigkeitliches Kirchenregiment bei Wolfgang Musculus“, in: Grundmann, Für Kirche 120 – 143. Da sie auf Hussiten und Böhmische Brüder zurückgriff, wird sie manchmal auch schon als die „dritte“ bezeichnet; die lutherische läge dazwischen. Vor allem aber verstand sich Calvin als Verbesserer Luthers. Stilistisch orientiert er sich an Augustin; der Verblüffungseffekt geschickter Formulierungen war diesem Kirchenvater wichtiger als die Kohärenz seiner Voraussetzungen. Die bis auf die Straßen getragene Mahnung der„Zeugen Jehovas“, nach den Vorschriften der Bibel zu leben, ist dafür ein Beispiel.
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Position aber so widersprüchlich wie diejenige des Matthäusevangeliums, der Hauptquelle Calvins in dieser Sache. So kann man bei Bohatec, Calvin und das Recht 128 lesen, „daß die Liebe das Gesetz Gottes ist, was in dem einheitlichen Doppelgebot der Gottesund Nächstenliebe zum Vorschein kommt“ (# 69), und nur einen Satz später, nach einer Erwähnung der Liebe Gottes (sc. in der Sündenvergebung), „daß diese Erkenntnis mit dem Liebesgebot nichts zu tun hat“ – die bei Calvin zu findende Erkenntnis nämlich, dass man Liebe anbieten kann und schenken, aber nicht fordern.²³⁷ Doch statt über das Paradox eines Liebesgebots nachzudenken, wird dann auf dessen Absolutheit gepocht – alles noch auf derselben Seite – und mit weiterem Calvin-Zitat zu erkennen gegeben, dass das eben eine Überforderung ist.²³⁸ Calvin war in seinem weltlichen Beruf Jurist und hat mitunter als solcher gedient; er hat der Stadtrepublik Genf, als diese sich ihres römisch-katholischen Bischofs entledigt hatte, ein neues Zivilrecht entworfen.²³⁹ Noch Rousseau preist ihn dafür (Du contrat social 2,7 Anm. 4). Von seiner Kompetenz als Jurist merkt man allerdings in seinen Exegesen – die außer der Apostelgeschichte das ganze Neue Testament abdecken, hier also wichtig sein könnten – nur wenig. Ethik genügt ihm bzw., je nach Text, Kirchenordnung. In seiner Institutio Christianae religionis denkt er sich, wie Augustin, eine civitas Christiana, welche die Gesamtgesellschaft sein soll.²⁴⁰ Dieses Ideal hat sich auf katholischer wie protestantischer Seite durchgehalten. Link, KRG § 20,6 zitiert aus dem Art. 14 der preußischen Verfassung von 1850, wonach bei „denjenigen Einrichtungen des Staats, welche mit der Religionsausübung in Zusammenhang stehen“, unbeschadet der Religionsfreiheit die christliche Religion zugrunde gelegt werden solle.²⁴¹ Das Christentum sollte in gemilderter Form Staatsreligion bleiben. Dagegen hat zwar auch die lutherische Seite nichts einzuwenden gehabt, doch wäre eine christliche Gesetzgebung aus ihren Prämissen, insbes. aus der CA, nicht zu begründen. Diese Position trägt zahlreiche Widersprüche in sich. Man begibt sich als Kirche „aus den Heiden“ (# 216) in just diejenige Lage, die Paulus als „Unmöglichkeit der Tora“ (# Er zitiert hierzu in Anm. 137 Calvin: aliud est exigi quod debetur, aliud offerri quod nobis deest. Dort Anm. 138: Deum in legis praeceptis respicere, non quid possint homines, sed quid debeant – „Gott sieht in den Geboten des Gesetzes [das meint hier ja wohl ein in der Bibel enthaltenes] nicht darauf, wessen die Menschen fähig sind, sondern was sie sollen.“ Hierzu Bohatec, Calvin 209 – 279. Ferner Máthé, Entwicklung 334: Calvin, licencié ès lois, war nach Genfs Ständeverfassung erst nur habitant, „Bewohner“, später bourgeois (etwa: „Besitzbürger“); bis zum citoyen („Staatsbürger“) erhob man ihn nicht [wohl aus Furcht vor einer Monarchie]. – Das unter dem Namen eines Johannes Calvinus in Genf 1734 erschienene Magnum lexicon juridicum stammt von einem Johannes KAHL, mit Calvin nicht identisch. Herr, Naturrecht I 43 – 45 ordnet Melanchthon ihm zu, mit einigem Recht, zumal beide den tertius usus Legis befürworteten, den Gebrauch biblischer Vorschriften in der Ordnung des Staatswesens. Das „biblisch fundierte christliche Naturrecht“ dieser beiden (so 45) wäre ein hölzernes Eisen. Dahinter steht Friedrich Julius STAHL, aus jüdischer Familie kommend und bekennender Lutheraner; politisch war er aber einfach nur ein Konservativer. Pufendorf war nicht weniger bekennender Lutheraner gewesen (Eris 18), hat aber der Forderung nach einer „christlichen Politik“ seine Absage erteilt (ebd. 16); eine vernünftige Politik wäre genug. Das Neue Testament enthalte nun mal keine politischen Direktiven.
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275) von ihr hatte fernhalten wollen. Die Unterscheidungsmerkmale Israels werden von dieser Theologie entweder ignoriert (etwa die Beschneidung und die Speisetabus, zu schweigen von Schläfenlocken und Kleiderquasten), oder sie werden zu Metaphern: Die Taufe z. B. wird als Beschneidung interpretiert – dann eben „des Herzens“. Das kommt schon bei Calvin mit dem Brauch der Kindertaufe schwerlich überein und bekommt infolgedessen von Karl Barth die Legitimität bestritten (KD IV/4). Das Bilderverbot muss nun auch der Christenheit gelten, mag auch im Neuen Testament Christus als das Bild (eikōn) Gottes gelten (2Kor 4,4; Kol 1,15); stattdessen tragen die Kirchenräume nunmehr Bibelsprüche. Das biblische Arbeitsverbot für den Sabbat wurde in seiner mittlerweile auf den Sonntag verlegten Form durchgesetzt bis dahin, dass in England eine königliche Verlautbarung, nämlich das sog. Book of Sports Jakobs I. (1618) in seiner Eigenschaft als Oberhaupt der anglikanischen Kirche definieren musste, Sport sei keine Arbeit und dürfe sonntags getrieben werden.²⁴² Die radikale Abschaffung der Klöster war in eine vita regularis für das gesamte Kirchenvolk eingemündet. Dass Kart Barth im letzten Teilband seiner Kirchlichen Dogmatik nur die Erwachsenentaufe anerkennt, also den baptistischen Standpunkt einnimmt, hat manchen überrascht; es ist aber die direkte Konsequenz aus der Kombination einer Christologie „von oben“ mit einer Ekklesiologie „von unten“, auf menschlicher Entscheidung gründend. Werner Elert macht es erklärtermaßen umgekehrt mit seiner Christologie „von unten“ (s.u. Exkurs 1) und lässt die Kirche eine Stiftung sein (# 136). Beides ist möglich; jedoch hat die Forderung nach einem Recht „von oben“ nicht viel erbracht, wie oben schon erwähnt (A 2.5.4), der empirische Blickwinkel im Luthertum dafür ums mehr – geht man denn in der Literatur ein Stück zurück und orientiert sich nicht nur an der Aktualität. Aus neutestamentlich-exegetischer Sicht liegt die Inkonsequenz bei einem unmittelbaren Geltendmachen alttestamentlicher Normen darin, dass die Tora, ihrem eigenen Anspruch entgegen (# 324), nur eklektisch wahrgenommen wird.²⁴³ Da bleibt die Frage offen: Wer wählt aus und nach welchen Kriterien? Auch wo ein reformierter Jurist, Althusius etwa in seiner Politica (s.u.), die Tora wörtlich zitiert, geschieht es nach Belieben. Diese Theologie hat etwas Synkretistisches an sich; das Verhältnis von Juden- und Christentum ist unausgeglichen. Offenbar hat Calvin seine Bibellektüre mit dem Alten Testament begonnen und die des Neuen von Matthäus aus und passt stets das später Gelesene dem Früheren an; so gewinnt etwa „Viele sind berufen (klētoi), wenige sind
Vergangene Zeiten? Ich kenne eine Familie, wo es sonntags den Kindern verboten war, eine Schere anzufassen. Musik durfte gehört werden, aber nur geistliche. – Zu den vielen Kurven, die der Calvinismus bisher genommen hat, zählt auch, dass der Catéchisme de l’Eglise de Genève (1542) in Art. 168 den Sabbat schon einmal für abgeschafft erklärt hatte. Crüsemann, Die Tora 10.11 bezeichnet diesen Zugang ganz offen als „eklektisch“, ohne ein Problem dabei zu empfinden, auch ohne sein Verfahren zu begründen. Die Art wiederum, wie kirchliche Verlautbarungen heute selbst alte Tabus, etwa das gegen die Homosexualität, unter Berufung auf bisher übersehene oder anders gedeutete AT-Stellen aufheben oder gar in ihr Gegenteil wandeln, ist von einer bemerkenswerten Virtuosität, ermangelt aber der Methode und der Durchsichtigkeit.
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auserwählt“ (Mt 22,14) unumschränkte Geltung, und das gegenläufige Pauluswort, wonach Gott seine Berufung (klēsis) nicht bereut (Röm 11,29) fällt unter den Tisch, jedenfalls für die Christen (Institutio 4,16,14, einziges Zitat dort, lässt es nur für die Juden gelten). Auch systematisch-theologisch ist diese Haltung inkonsequent. Eines nämlich darf im Calvinismus nicht Metapher sein, das ist der Raum. „Raum“ ist dort immer der physikalische Raum, eine Distanz zwischen Körpern, und der himmlische Christus muss weit außen sein. Diese Theologie hat offene Angriffsflächen gegenüber jeder Weltwissenschaft, die diesen Raum vermisst und füllt; ein unfruchtbarer Streit mit Weltanschauungen ist die Folge. Seit seinem Kampf um das Christentum (1920) weist Elert unermüdlich darauf hin. Eine Eigentümlichkeit, die sich noch nicht bei Calvin, wohl aber bei seinen Schülern findet, ist die Wiedergabe des Wortes testamentum in der Bibel durch foedus „Bund“. Das wird der Besonderheit des hebr. berît nicht gerecht (# 277) und hat die Wiedergabe mit diathēkē in der Septuaginta wie im Neuen Testament nicht hinreichend erklärt (darum # 301). Umso mehr gedient hat es einer von Augustin übernommenen Geschichtstheologie, die der Errichtung von Gottesstaaten dienen sollte mit dem Ziel einer christlichen Einheitsgesellschaft und dem Reich Gottes auf Erden. Die Positivität der Tora enthebt Calvin einer näheren Klärung des Verhältnisses zwischen Naturrecht und Dekalog.²⁴⁴ Dass sie sich ähneln bzw. überschneiden, hat – wie schon Philon u. a. – jeder der großen Reformatoren gesagt.²⁴⁵ Dass jedoch im Bilderverbot und im Sabbatgebot Besonderheiten Israels ausgedrückt seien (weshalb sie auch ausführliche Begründungen haben), war nicht Calvins Meinung; allen beiden misst er, wie einst schon Philon und Josephus taten, universale Gültigkeit bei (Institutio 4,20,9).²⁴⁶ Auf politischer Ebene begegnet uns ein weiteres Paradox: Bei Calvin „äußert sich die Überlegenheit des Dekalogs über das Naturgesetz in der Forderung des Gehorsams auch gegen unwürdige Träger der Autorität“ (Bohatec 33) – einerseits, und andrerseits liefert er in anderen Schriften, die nicht gerade, wie die Institutio, dem König von Frankreich gewidmet sind, die Grundlagen für ein ausdrückliches Widerstandsrecht,²⁴⁷ und er unterstützte Gemeindegründungen außerhalb der Gallikanischen Kirche (wie die katholische Staatskirche Frankreichs sich nannte – Link, KRG § 9,3) und des französischen Rechts wie auch des Reichsrechts. Solche Politik war im Calvinismus der Anlauf zur
Um hierzu ein weiteres Werk von BOHATEC zu vergleichen: Calvins Lehre von Staat und Kirche, 1937 (1961), bes. 19 f zum „Begriff des Naturrechts“: Da geht – wie übrigens auch in der Institutio – lex und ius bunt durcheinander. An Gebote ist gedacht, nicht an Rechte. Belege bei Bohatec (wie vorige Anm.) 12, Anm. 56. Vgl. K. ELONHEIMO: Das universale Recht bei Johannes Calvin, 2006, bes. 69. – In Institutio 4,20,15 würdigt Calvin die Zeremonialtora als die besondere Erziehung Israels zum Gehorsam gegenüber dem Gotteswillen. Bohatec 133 – 206. Vgl. W. NEUSER: „Calvinismus“, EStL (3. Aufl.) I 394– 400. Unter den Auswirkungen verweist er auch auf H. LANGUET: Vindiciae contra tyrannos (1576) und G. BUCHANAN: De iure regni apud Scotos (1579), wo schon die Idee der Volkssouveränität leitend sei.
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Übernahme ganzer Territorien, und zwar über die Konversion von Fürsten, künftiger oder bereits regierender.²⁴⁸ Von Fürsten abhängig wollte man nie sein, stellte lieber selbst die Fürsten – so Guillaume d’Orange (WILHELM VON ORANIEN), der, nach seinem Sieg über die spanische Okkupation der Niederlande Nationalheld geworden, über seine Töchter eine hocheffektive Heiratspolitik betrieb, jeweils mit der Bedingung des Konfessionswechsels der Ehepartner. Dass im Jahrhundert nach der Reformation zahlreiche Territorialherren Deutschlands zum Calvinismus übertraten,²⁴⁹ waren politische Entscheidungen gegen das lutherische Arrangement mit dem „Römischen“ Reich. So entstand eine Liga gegen das Kaisertum der Habsburger. Das nachmalige Königreich Preußen, als Markgrafschaft Brandenburg bereits 1613 calvinistisch geworden, und dessen nachmals unierte Staatskirche, welcher der König die Agende vorschrieb, zählt zu den größten Erfolgen des Calvinismus in dessen Bestreben, staatliche Religionspolitik zu bestimmen. Allerdings ist zuzugeben: Jahrhundertelang sind gerade Anhänger der reformierten Konfession als hervorragende Politiker bekannt geworden, anzufangen von Pufendorfs letztem Arbeitgeber, dem Großen Kurfürsten bis in Reformstaaten wie Anhalt-Dessau oder Baden-Durlach. Doch zurück zu Calvin: Die vom Rat der Stadt Genf 1561 erlassenen Ordonnances ecclésiastiques erhielten den Rang einer Bekenntnisschrift. Ihnen vorausgegangen war Calvins Confession de foi, übergehend in eine Discipline ecclésiastique von 1559; diese hat die Reformierten vieler europäischer Länder unter sich vereint. Ihr Pendant war und ist in Deutschland bis heute der Heidelberger Katechismus, Teil der kurpfälzischen Kirchenordnung von 1563. Mehr als im Katholizismus die Priester, haben im Calvinismus die Presbyter Aufsichtsrecht und Ermahnungspflicht gehabt. In den letzten zwei Jahrhunderten freilich hat sich vieles davon abgeschliffen, und die Bereitschaft zur Steuerung von außen hat nachgelassen. Der wichtigste Jurist des orthodoxen Calvinismus ist Johannes ALTHUSIUS (Althaus, 1563 – 1638; seine Politica erschien 1603).²⁵⁰ Ihm ist der Bundesgedanke (vgl. # 277) das Verbindende zwischen Theologie und Recht. Er wendet ihn „von oben“ an wie auch „von unten“: Einerseits geht er aus vom antiken Gedanken des Gesellschaftsvertrags (dazu s. gleichfalls # 277) als eines Zusammenschlusses Vieler zugunsten eines Mandats an Wenige; andrerseits kombiniert er diesen Ansatz mit dem Dekalog, so wie man ihn christlicherseits anzuwenden pflegte; hierbei ist die Politik ebenso für den Gottesdienst verantwortlich wie die Kirche für die Moral der Bevölkerung; die cura utriusque Tabulae
Beinahe wäre das Kurfürstentum Sachsen über sein Herrscherhaus mit umgestimmt worden; der Kanzler Kurfürst Christians I., Nikolaus Crell, wurde für seine diesbezüglichen Bemühungen 1601 in Dresden hingerichtet. Es hätte eine Liga gegen den Kaiser entstehen sollen (dem Luther stets treu gewesen war). 1605 Moritz „der Gelehrte“ von Hessen (der seinem Land einen Bildersturm bescherte); 1613 Johann Sigismund von Brandenburg u. a.m. Lit. über ihn und seine Nachwirkung s. H. HOLZHAUER: „Johannes Althusius“ (1991), 215 – 226; R. POLLEY: „Bibel und Staatsverfassung im 19. Jh.“, in: Eckert/Hattenhauer, Bibel und Recht 369 – 385 (369 f Anm. 1). Über Ähnliches im Luthertum, aber nur in der Schule Melanchthons, s. Stolleis, „Naturgesetz“ 139.
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obliegt beiden.²⁵¹ Diese Auffassung ist weniger Naturrecht als vielmehr eine Staatslehre, passend für diejenige civitas Christiana, als welche, ganz im Sinne Calvins, die Generalstaaten sich damals verstanden.²⁵² Sie ist die Alternative zu der Art von Legalität der Kirchen, welche die Lutheraner durch die Augsburger Reichstage von 1530 und 1555 erhalten hatten. Althusius wird noch heute hochgehalten als geistiger Mitbegründer der modernen Demokratie.²⁵³ Seine Politica, deren Anliegen man als „Theopolitik“ zusammenzufassen pflegt, ist ein bedeutender Schritt hinaus über diejenige Theokratie von einst, die aus Priestern und Militärs bestanden hatte,²⁵⁴ in Richtung auf das, was den Römern, solange ihr Staatswesen noch überschaubare Ausdehnung hatte, auch schon gelungen war: eine Republik. Der Wunsch, Gott selber herrschen zu lassen, steht hinter vielen Publikationen von calvinistischer, anglikanischer und schließlich pietistischer Seite. Der einflussreiche Hallenser Alttestamentler Johann David MICHAELIS (1717– 1791) wird im HWP 6, 890 f s.v. „Nomokratie“ (gezeichnet: „Red.“) als Klassiker folgenden Bemühens erwähnt: Er rekonstruierte erstmals (…) das mosaische Recht als dem theokratischen Despotismus entgegengesetzte Verfassungsform, die jenseits der Ausformung durch bestimmte Regierungsformen wie Demokratie und Monarchie stand. Er charakterisierte sie als eine Art Gesetzesherrschaft als Stellvertretung einer unmittelbaren Königschaft Gottes. Darin erblickte er den entscheidenden Vorteil, den immer wieder fälligen Übergang von einer Regierungsform in eine andere gesetzlich und nicht durch Gewalt abwickeln zu können.²⁵⁵ Michaelis lehnte es explizit ab, für die geschilderte Staatsform die Lehre von den Herrschaftsformen zu erweitern, wobei er freilich an ,Theokratie‘ dachte; er hielt sie vielmehr für eine Staatsform, zu deren Ausfüllung Demokratie besonders geeignet sei.
Für eine kurze, bündige Darstellung seiner Verhältnisbestimmung von Theologie und Recht s. H. DE WALL: „Pactum religiosum und kirchliche Verwaltung in der Politica des Johannes Althusius“, in: R. V. FRIEDEBURG/M. SCHMOECKEL (Hg.): Recht, Konfession und Verfassung im 17. Jahrhundert, 2015, 53 – 65. Dass diese aus einem erfolgreichen Widerstand gegen die habsburgische Staatsgewalt hervorgegangen waren, hat das Rechtsdenken im Calvinismus beflügelt und hat es sich anders entwickeln lassen als im Luthertum. V. a. Otto und Julius V. GIERKE, angesehene Juristen, haben sich im späten 19. Jh. und der ersten Hälfte des 20. Jh. dafür verwendet. In der Stadt Emden hatte er frelich ein autokratisches Regiment geführt (Holzhauer 217– 220). Neuere Würdigung: K.-W. DAHM: „Traditionsbezug und Systemtranszendierung. Zur religiösen Dimension der Politiktheorie von Johannes Althusius“ (2004), in: ders.: Evangelische Kirche im gesellschaftlichen Wandel, 2016, 357– 367. Vgl. das israelitische Ritual der Königssalbung in # 55, dessen Details freilich nicht aus der Tora kommen, sondern aus dem Alten Orient. Der diesbezügliche Text, 4Kön 11,4– 14, auf den Puf., JN&G immerhin zweimal hinweist (7,6.10; 7,8,10), wird bis heute, scheint es, selbst im Biblizismus nur mit spitzen Fingern angefasst. Verwiesen wird hierzu auf J. D. Michaelis: Mosaisches Recht, Bd. 1, 1777, 299, wo man freilich nicht erfährt, wie durch Propheten wie Samuel bewerkstelligten Regierungswechsel des einstigen Israel im Europa der Gegenwart ablaufen sollen.
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Das ist, in Buchlänge ausgeweitet, die Staatslehre des Josephus, Ant. 223 f in Paraphrase des schon genannten, sehr antiroyalistischen „Königsgesetzes“ Dtn 17,14– 20.²⁵⁶ Wenn wenig später der bekannte Publizist Johann Heinrich JUNG-STILLING für diese Auffassung das Wort „Nomokratie“ geprägt hat (HWP 6, 891), seinerseits eher an eine Monarchie denkend, so war sein Wunsch, (d)aß in dem vollkommensten Regierungssystem nicht Landstände, nicht das Volk, nicht irgendein Stand, nicht einmal der Regent selbst, sondern blos und allein das Gesetz der wahre Souverän sei.
Solch „diffuses politisches Wollen“, wie der Artikel es nennt, ist in der Folge „funktionslos geworden, seitdem das Wort ,Rechtsstaat‘ zur Bezeichnung eines Postulats an ein Formenprinzip staatlichen Handelns zur Verfügung steht“. Genau das, fügen wir nun hinzu, ist aber nur dadurch zustande gekommen, dass man im Gefolge des Grotius und seiner Schüler die Setzung von Gesetzen, ja auch von Verfassungen als weltliches, menschliches Tun betrieb. Die Politiktheorie des Luthertums, das in den Stadtrepubliken nicht weniger Erfolg gehabt hatte als in den Fürstentümern, war dem immer schon nahe gewesen, stand doch seit Melanchthons Loci (Erstfassung 1521, vorletzter locus) und von da ab in der lutherischen Orthodoxie der politische Abschnitt unter der Überschrift De magistratibus (# 280). Dies geschah mit oder ohne Einbezug der Hypothese vom Gesellschaftsvertrag, die Luther zwar persönlich nicht geteilt hatte, die Naturrechtler dann aber schon. Politisch teilte sich der Protestantismus an einer anderen Stelle, nämlich der Frage der Loyalität zum Kaisertum unabhängig davon, wie „römisch“ oder wie „heilig“ man dieses fand: Hielten die lutherischen Fürsten und Stadtrepubliken zur Reichsloyalität, um die i.d.J. 1530 und v. a. 1555 erhaltene Anerkennung nicht zu verlieren, so ging eine große Zahl an Fürsten, die in der Folgezeit sich gegen Wien verbündeten, zur reformierten Konfession über, die ihnen dafür ein biblisches Recht zusprach. Der Sieg dieser Politik war ihre Anerkennung i.J. 1648. Mit dem Übergang der theologischen Lehrbildung in die deutsche Sprache in Zeiten des Absolutismus wurde das von Luther gebrauchte Wort „Obrigkeit“ für zweihundert – nunmehr verflossene – Jahre der Oberbegriff; doch an die Stelle der Zwei-Reiche-Lehre trat das von Augustin wie Calvin propagierte Ideal des christlichen Staates, nunmehr unter dem Schlagwort „Thron und Altar“ stehend (Friedrich Julius STAHL; Link, KRG § 20,6). Damit sind wir aber in der Gedankenwelt der Altpreußischen (Kirchen‐)Union angelangt, einer Fusion von Luthertum und Calvinismus, welcher Stahl sich zwar wortreich widersetzte, der er jedoch zugleich das Hauptargument für die Durchsetzung
Dass Aristoteles’ Lehre von den Regierungsformen nicht passt, sieht man schon dort, wo Josephus es als „Aristokratie“ bezeichnet, meinend: Das Beste (Neutrum; nicht der König ist gemeint, sondern das Gesetz) soll über uns Israeliten herrschen, und „Gott soll unser Führer sein“ (223). Vgl. die Bemerkungen hierzu in # 200. Philon bezeichnete genau das – die über das Gute informierte Selbstentscheidung der Israeliten – als „Demokratie“: Spec. 4,237; vgl. Abr. 242 u. ö.
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calvinistischer Theopolitik lieferte: der Staat habe „Gottes Willen auch in seinen Ordnungen wirksam werden (zu) lassen“.²⁵⁷ Zum „Ende der Einheit von Thron und Altar“ schreibt Mikat, „Kirche und Staat“ 277 f: Bereits 1919 war für die evangelische Kirche eine entscheidende Neuerung ihres Verhältnisses zum Staat eingeleitet worden. An die Stelle der traditionellen Bindung der Kirche an den Staat trat die Betonung der kirchlichen Autonomie, und vollends zwangen die Maßnahmen des Nationalsozialismus nach 1933 zur Abgrenzung gegenüber dem Staat, die ihren ersten großen Ausdruck in der Barmer Theologischen Erklärung von 1934 (Bekennende Kirche) fand, zu der sich auch die Grundordnung der Evangelischen Kirche in Deutschland vom 13.7.1948 bekennt, die in Art. 3 die Unabhängigkeit der kirchlichen Ordnung und Verwaltung bekräftigt und die Regelund ihres Verhätnisses zum Staat einem Übereinkommen vorbehält.
Kirchliche Rechtssetzung auf evangelischer Seite kann also und soll ein Versuch sein, Evangelium darzustellen sowie ein Leben nach dem Evangelium zu schützen.²⁵⁸ Auch die These 5 von Barmen wendet sich in ihrem letzten Satz gegen kirchliche Übergriffe auf Staatliches. Darin ist ungenannterweise die Zwei-Reiche-Lehre wiedergekehrt.
4.6.3 Rechtsbegründung im Anglikanismus Im englischen Sprachraum ist die Reformation nicht von Wittenberg, sondern von Strassburg (Bucer) und Zürich (Bullinger) ausgegangen; nicht Luther und Melanchthon, sondern Erasmus und Calvin wurden ihre Kirchenväter. Die von König und Parlament 1562 angenommenen 39 Glaubensartikel vertreten eine eindeutig reformierte Position mit sehr reduzierter Sakramentenlehre, aber großem Gewicht auf sichtbarer Betätigung des Glaubens²⁵⁹ und auf Gemeindedisziplin. Noch im 16. Jh. begab sich der Puritanismus in Opposition zur reformierten Staatskirche, indem er die Bibel beider Testamente als unmittelbar geltendes Recht im ganzen Königreich angewandt wissen wollte. Einig war man sich in dem Ideal, nach biblischen Gesetzen zu leben. 1603 empfahl der Calvinist Jean HOTMAN (Hotomannus) in seinem Antitribonianus die Abkehr vom Corpus Iuris (Tribonian war der Hauptbearbeiter der Digesten gewesen) zugunsten eines mosaischen Rechts.²⁶⁰ 1640 erschien John SELDENs De iure naturali et gentium iuxta disciplinam Eb-
In seinem Die lutherische Kirche und die Union 1852 hat Stahl sich gegen die staatlich forcierte sog. Altpreußische Union zwar verwahrt, hat ihr aber mit Calvins Gedanken der civitas Christiana und mit der„theokratischen Herrschaftsbegründung“ (Link a.a.O. Anm. 14) das entscheidende Argument geliefert. Dies ist das Aussageziel von Johannes Heckel, Lex charitatis, weithin gebilligt, etwa bei Maurer, KuR passim. Die von Calvin geforderte „effektive“ Rechtfertigungslehre, worin er Luther zu verbessern gedachte, besteht darin, dass christlicher Glaube erst in der Betätigung besteht. Für diesen Zweck wird dann auch festgelegt, was christliche Verhaltensweisen sind. Die Tora des Mose geht hier mit ein. Selb, Antike Rechte 26. In Pufendorfs JN&G begegnet Hotman nur in den Anmerkungen der Kommentatoren.
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raeorum, wo Philons These erneuert wird, das hebräische Recht sei eine offenbarte – und damit unüberholbare – Kenntnisgabe des Naturrechts.²⁶¹ 1659 schrieb George LAWSON seine Theo-Politica, or, a body of divinity [Theologie] containing the rules of the special government of God, according to which he orders the immortal and intellectual creatures, angels, and men, to their final and eternal estate, öfters nachgedruckt und verbreitet bis ins elektronische Zeitalter.²⁶² Der Stadtstaat Genf mit seinen Konformitätsmaßnahmen war das große Vorbild, und ziviler Ungehorsam gegen die Zentralregierung, der mit keiner Strafe zu brechen war, zeugte von absolutem Richtigkeitsbewusstsein derer, die nunmehr nach der Bibel lebten. Für die clausula Petri (# 205) gingen die Minderheitschristen ins Gefängnis. Eine presbyterial-synodale Kirchenordnung von dieser Seite, die ganz und gar biblisch sein sollte, wurde 1587 dem Parlament zur Genehmigung vorgelegt.²⁶³ Sie ist am Matthäusevangelium orientiert (z. B. Kap. 21 < Mt 18, # 139) und enthält im letzten Absatz des letzten Kapitels, nämlich Kap. 23 über die Synoden, eine Öffnungsklausel: Sie besagt, dass Fragen, die nicht schon in der Bibel geregelt sind, nach Umständen und Zweckmäßigkeit entschieden werden und insofern diese Kirchenordnung geändert werden kann (mutari potest). Alles andere aber galt für ewig (aeterna), wie auch ein weiteres Aktenstück desselben Jahres besagt (Paget, Introduction 95 f ). Dementsprechend hätte das britische Königreich ein großes Genf werden sollen. Derjenige, der damals erreichte, dass das Königreich nicht in zwei Lager zerfiel, sondern dass die „Renitenten“ (deren Programm das war) sich in Schach halten ließen, ist der Jurist Richard HOOKER in seinem Treatise of the Laws of Ecclesiastical Polity, vollendet in seinem Todesjahr (1600). Damit wurde er der Schöpfer des englischen Kirchenrechts bis zum heutigen Tage. Für unsere Zwecke ist sein Traktat erwähnenswert für seine ausgesprochen differenzierte, deswegen aber keineswegs komplizierte Rechtsbegründung. Francis Paget fasst sie in seiner Introduction so zusammen (130): Hätte unser Herr im Evangelium eine Kirchenordnung niedergelegt dergestalt, dass es verboten wäre, sie zu ändern, könnte keiner sie ändern. Doch das hat er nirgends getan, und diejenigen, die die Unveränderlichkeit seiner Offenbarung ausdehnen auf alle Punkte der Politik, verwischen einen tiefen Unterschied. Denn [Zitat Hooker, Treatise 3,10,7] „es gibt keinen Grund in der Welt, warum wir es für notwendig halten sollten, immer dasselbe zu tun, wie wir dasselbe glauben. Jeder Einsichtige
Pufendorf lehnt das a limine ab: JN&G, praefatio XXVIIf: Wie kann das, was einem Volk galt, allen Völkern gelten? Seine detaillierte Meinung zu Selden in Eris 163 f s. # 216 zu den Noachidischen Geboten. – Schon Paulus betonte: Der Bundesschluss war einer mit den Israeliten (Röm 9; # 277); der Neue Bund ist eine diathēkē in anderem Sinne (1Kor 11; # 301). Pufendorfs Eris hingegen mahnte, Gesetzgebung ja nicht mit dem Anspruch eines Weges zum ewigen Heil auszustatten. Doch bis in unser 20. Jh. setzt dieser Sprachgebrauch sich fort; s. D. WALTER: Theopolitik. Studien zur Theologie und Ethik des Alten Testaments, 2002. Dort beginnt das Vorwort mit dem Satz (9): „,Theopolitik‘: Den Ausdruck hat Martin Buber geprägt und damit die an religiösen Maximen orientierte Gestaltung des politischen und gesellschaftlichen Lebens gemeint, wie sie die Hebräische Bibel beschreibt.“ Lat. Text bei Paget, Introduction 296 – 312.
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weiß doch, dass der Glaubensinhalt zwar konstant ist, der Inhalt unserer Handlungen jedoch täglich wechselt, besonders in Dingen der Kirchenpolitik.“
Hier hat die Kirche teil an der Wandelbarkeit aller weltlichen Dinge, und so unterliegt denn auch die Betätigung des Glaubens dem Wandel, gerade wenn dieser – als Verhältnis zum selbst unwandelbaren Gott – sich in der Antwort darauf gleich bleiben soll. Paget weiter (144): Gegen die puritanische Disqualifizierung der Vernunft und gegen das vulgäre Verachten menschlicher Fähigkeiten, „als ob der Weg zur Reife im Glauben über die Unreife in Denken und Urteilen ginge“ [Zitat Hooker, Treatise 3,8,4], insistiert Hooker darauf, dass, wie die Natur der Gnade bedarf, so auch die Gnade sich der Natur bedient.
Das führt bei Hooker zu einem System von Rechtsgebieten, aufgeteilt in nicht weniger als sieben Niveaus und mit unterschiedlichen Dependenzen bzw. Parallelitäten zwischen diesen, wie es auf einer erweiterten Buchseite (Paget 124 f ) immerhin Platz hat. Die wichtigste Unterscheidung, auf der Mittelebene gelegen, ist diejenige zwischen „natürlichen“ Gesetzen (Naturrecht), menschlichen Gesetzen (positivem Recht) und – wie er es nennt – „übernatürlichen Gesetzen, von Gott offenbart, um die Menschheit zu lehren, was natürlich erstrebenswert ist“ (Paget a.a.O.). Das führt zur Überschneidung, wo nicht Deckungsgleichheit der ersten Gruppe mit der dritten, wie sie sich bei Christian Wolff wiederfindet, und auf eine Parallelität von Erkenntniswegen, die sich in dieser Theologie aber nicht behindern, sondern verstärken.²⁶⁴ In der Praxis ist Hookers System die Freigabe menschlicher, näherhin: gesellschaftlicher Entscheidungen sowohl in staatlichen wie in kirchlichen Angelegenheiten.²⁶⁵ Indes, das Ideal eines direkten Bibelgehorsams fand immer wieder seine Verfechter.²⁶⁶ Die Missionare des Pietismus, der vom England des 17. Jh. seinen Ausgang nahm, überzogen auch die lutherischen Kirchen des Kontinents nicht nur mit einem zur Schau getragenen Gebetseifer (Puf., Eris 19 fühlte sich an die biblischen Pharisäer erinnert), sondern auch mit einer dem Luthertum bislang fremden Gesetzlichkeit.²⁶⁷ Als „Pietis S. Paget 122 über das Nebeneinander von clear revelation und necessary proof. Vieles aber sind einfach nur Entscheidungsfragen, wo das Urteil der Gesellschaft (judgment of the society) den Vorrang verdient vor individuellen Ansichten. Paget a.a.O.: „Gesellschaften haben innerhalb eines bestimmten Bereichs das Recht, Individuen Gesetze aufzuerlegen und gegen sie durchzusetzen“. Dazu gehörte für Hooker auch die Gestaltung des Gottesdienstes. Beispiele aus dem damaligen England für die Forderung, Stellen wie Gen 4,7; 10,5.20.31 f; 14,14; 21,22 ff; 25,16; 27,29; 36,40; 38,24 wörtlich in die Rechtspraxis zu übernehmen, bietet H. SCHRÖDER: „Bibel und Prärogative in der englischen Rechts- und Verfassungsgeschichte des 17. Jh.“, in: Eckert/Hattenhauer, Bibel und Recht 387– 411 (401 f ). Das Elterngebot Ex 20,12 musste herhalten, den Gehorsam gegenüber dem König als göttliches Gebot erscheinen zu lassen (womit die Wörtlichkeit sogar verlassen ist). John LOCKE trat damals den Auswüchsen einer radikalen Laientheologie entgegen. Vgl. Siegert, Kirche und Synagoge 65 – 69. Bis heute ist auf diesem Gebiet viel Missbrauch mit dem Namen Luthers geschehen. Ein „Evangelisch-lutherischer Gebetsverein“, mit dem der hier Schreibende
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mus“ insgesamt lässt sich bezeichnen ein seit damals andauerndes Reformbestreben innerhalb der evangelischen Kirchen im Sinne der „effektiven“ Rechtfertigungslehre Calvins (vgl. # 262), welche Luthers Lehre von der christlichen Freiheit ersetzt hatte (vgl. # 172 mit Anmerkungen). Angesichts der ab 1660 schon sich anbahnenden Aufklärung propagierten sie für die Christen ein sacrificium intellectus, ein Verzichten auf kritische Fragen und auf vernünftiges Verstehenwollen, gepaart mit einer Abwertung der menschlichen Natur als „verdorben“ durch den Sündenfall (dagegen unten Exkurs 6 sowie # 263), woraus sich jene Disqualifizierung der Vernunft ergab. Doch bis diese Haltung sich durchsetzte und die Theologie zum Rückzug in die Innerlichkeit bewog, sind bibelkundige Nichttheologen zu Glanzleistungen bereit gewesen, die nunmehr vorgestellt werden sollen.
4.7 Naturrechtslehren der Barockzeit. Das „lutherische“ Naturrecht 4.7.1 Das fruchtbare 17. Jahrhundert Nunmehr ist ein wenig bekanntes Kapitel der Wissenschaftsgeschichte zu berühren, aus welchem verständlich werden soll, warum ausgerechnet Juristen der Barockzeit, obwohl sie das heute kaum mehr gelesene Latein schrieben, in den nächsten Bänden so viel zu Wort kommen werden. Es handelt sich um eine Zeit, wo alle Wissenschaften miteinander kommunizierten und die Kenntnis der Antike nicht weniger intensiv war als die Bereitschaft, Neues zu entdecken. Die Einheitsgesellschaft des lateinischen Mittelalters war zerbrochen und die pensée unique, die unter kirchlicher Aufsicht gestanden hatte, in einem Bündnis aus Christentum und Humanismus überwunden worden. Nunmehr blühten die Wissenschaften auf in der von der Reformation ertrotzten Denkfreiheit. Hugo Grotius war uns schon ein Beispiel (A 4.3), und er hat eine neue, auf Rechtsbegriffen beruhende Einheit des Abendlandes begründet. An seinen, Spinozas, Boyles, Leibniz’ und vieler anderer Schriften ist zu sehen, dass hohe Bereitschaft bestand, die Theologie in das Gespräch der Wissenschaften einzubeziehen. Diese freilich war in ihrer Rücksichtnahme auf offenbarte Wahrheiten befangen, was Fragen historischer Art an ihr Offenbarungsdokument, die Bibel, betraf, und war hilflos gegenüber der oftmals mythischen Ausdrucksweise der Bibel. Diese Furcht führte sie zum Ausweichen vor kritischer Forschung in den Elfenbeinturm einer konfessionsübergreifenden Neuscholastik. Das hier darzustellende Gespräch der Wissenschaften liegt noch vor diesem Rückzug, der im 18. Jh. geschah und
leidigen Kontakt hatte und an dem nichts lutherisch ist, sondern alles pietistisch, pflegte an Sonntagen den Kindern sogar Bastelarbeiten zu verwehren, ja auch das Anhören von Musik, sofern sie nicht „geistlich“ war.
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dem auf protestantischer Seite andere Rückzugsbewegungen folgten, z. B. der Sieg des Pietismus in Preußens bedeutendster Universität Halle (s.u. 4.7.4) und die Bezugnahme auf die Innerlichkeit bei Schleiermacher. Dessen Reden über die Religion (1799), eine literarisch gewandte Apologetik, haben zwar aus vielen Verlegenheiten geholfen, das aber um den Preis, der Religion ihre eigene „Provinz“ zu sichern, die mit der Außenwelt in deren Begriffen nicht zu kommunizieren brauchte. Anders als die vom deutschen Sprachraum ausgegangene Erneuerung der Theologie in der Reformation ist in Fragen der Geistes- und Naturwissenschaften Frankreich führend gewesen in einer glücklichen Periode, die als „Achsenzeit“ der Wissenschaftsgeschichte bezeichnet werden darf (s. Exkurs 9).²⁶⁸ Diesseits des Rheins ist kaum bekannt, wie einflussreich im 17. Jh. das im Pariser Raum geführte, durch Besuche und Korrespondenz wahrhaft europäische Gelehrtengespräch war als Weichenstellung für die dann folgende Aufklärung.
4.7.2 Samuel Pufendorf Die Entwicklung der Rechtswissenschaft war ungestörter, denn sie konnte sich kirchlichen Wünschen und kirchlicher Aufsicht entziehen. Für einen Mann wie Grotius bedeutete das zwar ein Leben im Exil (A 4.3), ja sogar noch für Wolff (s.u.); das waren Opfer, die man für ein umso größeres Publikum erbrachte. Unter den Lesern von Grotius’ De jure belli ac pacis bildete sich eine ganze Schule von Juristen, von deren bedeutendsten Köpfen nun die Rede sein soll. Von Pufendorf ist hier am ausführlichsten zu sprechen, denn sein philosophischer Ansatz bei Historie und Empirie, fern aller Metaphysik,²⁶⁹ ist von unverwelkter Modernität (und darin theologisch treu bei Luther). Hier begegnen sich in aller Breite Antike und Neuzeit, und auf dem Boden einer nichts präjudizierenden Philosophie begegnen sich Rechtswissenschaft und Theologie. Eine Skizze von Pufendorfs unglaublichem Belesenheitsprofil gibt Selb, Antike Rechte 32. Dabei ist er kein unkritischer Sammler, so „barock“ seine Werke auch aussehen mögen, sondern sichtet sein Material nach klaren Begriffen. Wer seine Originaltexte gelesen hat, wird vielerlei Schulweisheiten, die von langem Weitertragen und Weiterschreiben der Lehrbücher längst nicht mehr stimmen, widersprechen wollen – was hier aus Platzgründen nicht ausdrücklich, wohl aber mit genauen Zitaten aus Pufendorfs Werken geschieht. Insbesondere der Anspruch apriorischen Wissens, womit seine Gegner ihm entgegentraten, wird sich als eine widersprüchliche Vermischung erweisen zwischen biblischem Offenbarungsanspruch und griechischer Metaphysik, ein Gemisch, dessen Inhomogenität ihn nicht beeindrucken konnte. Auch hat die Menge der Autoritäten, die gerade diese Gegner gegen ihn aufführen, ihn un Der Ausdruck „Achsenzeit“, kulturvergleichend gemeint, stammt von Karl Jaspers (s. HWP s.v.); vgl. Bultmann, GE 148 f. Hier meinen wir damit interdisziplinäre Gemeinsamkeit und gegenseitige Befruchtung von seltener Intensität. S.o. A 4.3 Anm. 10 (W. Selb) sowie unten, Exkurse 2 und 10 – 12.
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gerührt gelassen, wo immer deren angeblich selbstbeweisende Wahrheiten ihm nicht einleuchteten (Eris 85/86). Wahrheiten, von denen man annimmt, sie seien höheren Wesen evident und per se notae (Exkurs 11), sind es deswegen noch nicht den unter irdischen Bedingungen lebenden Menschen. Samuel PUFENDORF (1632– 94), dessen Hauptschriften schon erwähnt wurden,²⁷⁰ entstammt einer alten lutherischen Pfarrerdynastie des Meißener Landes, wie er selbst angibt (Eris 123). Wie jeder Abgänger eines sächsischen Gymnasiums in jener Zeit, wo Latein ja noch Schulsprache war, kannte er die altlutherische Dogmatik wie seine Westentasche. Er wurde nach einem Theologie-, Philosophie- und v. a. Jurastudium zunächst in Leipzig, dann aber in dem viel liberaleren Jena zunächst Privatsekretär eines Adligen, dann aber, nach der erfolgreichen Publikation einer Einführung in die Rechtswissenschaft für Studierende, ohne weiteres Examen (dafür hatte er nie das Geld gehabt) i.J. 1660 der erste Inhaber des neugegündeten Lehrstuhls für Natur- und Völkerrecht an der Universität Heidelberg, allerdings „nur“ an der Philosophischen Fakultät (die war schlechter bezahlt). Er bekam diesen Posten auf Vermittlung eines Sohnes von Grotius, den er in den Niederlanden besucht hatte. In Heidelberg herrschte ein liberaler Geist, der über die innerprotestantischen Konfessionsunterschiede erhaben war (Puf., JFD 61 [129]). Zur Grundsteinlegung einer lutherischen Kirche neben den übrigen, die des Kurfürsten wegen reformiert waren, erschien der Kurfürst selbst (Eris 18); nur das Recht zu einem Geläut bekam sie nicht. Dort, in Heidelberg, hat man wenige Jahre später sogar versucht, Baruch Spinoza an die Philosophische Fakultät zu bekommen, ohne auf eine Konversion zu drängen.²⁷¹ I.J. 1667 erschien unter dem Pseudonym Severinus de Monzambano sein De statu imperii Germanici – etwa: „Über das deutsche Reich als Staat“, eine aufsehenerregende Kritik der Verfassung dieses Staatsgebildes als Stückwerk. Im selben Jahr berief ihn König Karl XI. von Schweden als primarius iuris an die neu gegründete Universität Lund, womit er, der sich ein juristisches Examen nie hatte leisten können (geschweige denn eine Doktorprüfung), endlich offiziell Jurist wurde. Seine Berufsauffassung blieb die gleiche: Wie er in der Widmung seines JN&G an Karl XI. von Schweden betont, wollte er der ganzen Menschheit damit dienen, dass er von diesem königlicherseits verliehenen Lehrstuhl aus nicht nur die Meinungen eines Ulpian oder Papinian auseinandersetzt, sondern „die Gesetze des Schöpfers, creatoris o(ptimi) m(aximi) leges, die den Sterbli-
Oben A 4.3; Details zu seiner Philosophie und Theologie s.u. Exkurse 2, 10 und 12. Konsultiert wurden v. a. Hirsch, Geschichte I 78.89 – 94, Winiger, Pflichtenrecht 46 – 64 und Welzel, Naturrecht, bes. 145 ff (bemerkt leider nicht Pufendorfs Loslösung von der Substanzmetaphysik zugunsten einer Handlungstheorie) sowie die Arbeiten von Detlev Döring. Als neueste biographische Studie über ihn, gestützt auf Kenntnis aller seiner Schriften und ihres literarischen Umfelds, sei Fiammetta PALLADINIs Einleitung zu Bd. 5 seiner Gesammelten Werke, 2002, S. VII-XVII, empfohlen. Was das Verhältnis Kirche-Staat im Besonderen betrifft, s. Lehmann, Kirchenbegriff 137– 184. Dort 137– 139 Überblick über Sekundärliteratur; 370 f: neuere Ausgaben seiner Schriften einschl. Übersetzungen; 140 Anm. 21: Verbreitung seiner Werke in ganz Europa. Die Anfrage und Spinozas höfliche Absage wurden gedruckt als Ep. 47 f [53 f ].
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chen durch die ihnen angeborene Vernunftfähigkeit (congenitae rationis lumen) eingegeben (insinuatae) sind“ (S. XXIV). Dort, in Lund, erschienen erstmals 1672 die acht Bücher (= 1 dicker Quartband) seines Jus naturae et gentium, thematisch wohlgeordnet, ein unerschöpflicher Schatz an praktischer Weisheit aus Antike und Neuzeit. Die Titelwahl lässt rechtsdogmatisch zweierlei erkennen: ‒ Nicht nur ein ideales, intelligibles Naturrecht ist gemeint, sondern auch die Vielfalt des historisch belegten Rechtes, das in früheren wie in modernen Gesellschaften sich bewährt hat; ‒ kein Naturgesetz, das auch in der animalischen oder den weiter darunter liegenden Schichten des Kosmos gilt, wird hier dargestellt, sondern Recht in einem Sinn, wie er nur unter entscheidungsbegabten Wesen, Menschen eben, anzutreffen ist. Zwar betitelt die unten zu erwähnende Kurzfassung sich doch wieder als lex naturae, doch wird auch da keinerlei Physik bemüht, auch keine Metaphysik. Nicht um die ganze Welt geht es und schon gar nicht um eine Überwelt, sondern um Verhaltensregeln unter Menschen. Pufendorfs Kenntnis der griechischen und lateinischen Literatur einschließlich der spezifischen Rechtsliteratur in diversen Sprachen ist phänomenal. Schon als Schüler las er lieber die antiken Klassiker als seine Schulbücher. Man kommt ihm am besten auf die Spur, wenn man diejenigen antiken Autoren liest, die damals die Klassiker waren. Dazu gehörte damals Cicero auch mit seinen – heute durch anderes ersetzten – philosophischen Dialogen, v. a. die Tusculanae disputationes, sein De officiis und offenbar auch die Academica, ferner Plutarch nicht nur aus seinen Vitae, sondern ebenso sehr aus seinen Lehrschriften und Dialogen, die auf die in Jahrhunderten entwickelte griechische Philosophie einen höchst lesbaren Rückblik liefern. Cicero war zugleich, und ist bis heute unbestritten, das Vorbild für das beste Latein. Auf Pufendorf wirkte er auch als Philosoph, etwa was die Einsicht betrifft, dass die Sachen oftmals älter sind als die sie benennenden Begriffe.²⁷² Die Bibel und die lutherische Dogmatik kannte er von Jugend auf und zitiert v. a. erstere immer wieder, das aber nicht der Autorität halben: Seine Rechtsbegründungen sollen nicht an die Vorherrschaft einer bestimmten Religion gebunden sein. Dies versuchte er in seinen Verteidigungsschriften immer wieder klar zu machen (Eris 25.45 f.164 f.250.367). Auch sollen sie nicht nur einem Volk gelten und einer Gesellschaft (ebd. 262), sondern allen.
Das lehrt nicht erst die Analytische Philosophie, auf die wir in Exkurs 10 zurückkommen werden. Cicero, Tusc. 5,7 sagt vom Hauptgegenstand dieses Buches, dem seligen Leben (vita beata, vitae tranquillitas): „Die Sache, so sehen wir, ist uralt; ihre Bezeichnung aber ist zugegebenermaßen neu (nomen tamen esse confitemur recens).“ Ein Gegenbeispiel ist für ihn sapientia: Sie sei so alt wie ihr Wort. (Seine Definition dafür in 4,57 lautet: „Wissen und Erkennen göttlicher und menschlicher Dinge, und was jeweils die Ursache ist.“)
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Als seine Haupteinflüsse benennt er immer wieder Grotius, sodann Hobbes (dessen machtideologischer Tendenz er aber keineswegs folgt und dessen gründlichster Widerleger er zu sein beansprucht), für Alttestamentliches und Rabinisches John Selden (dessen Verallgemeinerungen auf die übrige Menschheit oder auf die Christenheit er aber auch nicht folgt) und, was Wissenschaftstheorie ganz allgemein anlangt, Francis BACON (von Verulam) in seinen Cogitata et visa und in seinem Novum Organon. Dieses hat für ihn das Organon des Aristoteles abgelöst (Eris 167).²⁷³ Die erste Aufnahme des JN&G geschah in einer Kampagne gegen ihren Autor; Juristen wie Theologen stellten sich gegen ihn. Die örtliche Justiz rehabilitierte ihn zwar unverzüglich (vgl. # 228) und die Folgezeit sowieso; zu dem angestrebten Berufsverbot kam es nicht. Pufendorf reagierte mit einer Reihe von Verteidigungsschriften, teils apologetischer Natur und durchaus sachlich formuliert, teils aber auch Stilübungen in lateinischer Polemik von einer Ausfälligkeit, wie nur die Barockzeit sie noch kannte.²⁷⁴ Sie erschienen noch mehrmals gesammelt u.d.T. Eris Scandica. ²⁷⁵ Die apologetischlehrhaft gehaltenen Schriften, darunter eine an Schwedens höchsten Geistlichen, den Erzbischof von Uppsala, gerichtet (Specimen controversiarum circa ius naturale, 1678), zeigen den Philosophen wie auch den Theologen in Pufendorf in bestem Licht. Was die übrigen betrifft, so schrieb Pufendorf dem Ireniker Tobias Pfanner in Jena (über ihn s. Exkurs 9), Mäßigung im Antworten sei nicht ratsam gewesen, „denn eine modeste Reaktion hätte bei den rectores Sueciae den Verdacht erwecken können, an den Anklagen sei irgendetwas wahr“.²⁷⁶ Das bezieht sich auf die Wahrer der Rechtgläubigkeit, in welcher Rolle Schwedens Theologen sich damals wähnten. Sie – wie auch die Leipziger mit ihrem „prälapsarischen“ Wissen – müssen ihm sehr von oben herab begegnet sein; er nennt sie nie pastores, sondern stets sacerdotes, mit unüberhörbarer Ironie.²⁷⁷ Der Streit zog sich hin. Schließlich gewährte Karl XI. mit Mandat vom 17.4.1689 in seinem Lande Lehrfreiheit, verbot aber Kritik an den Lehren der Theologie. Was Pufendorfs persönliche Lehrer betrifft: In JN&G 1,2,3 sowie Eris 102.105 erwähnt er dankbar den Jenaer Philosophen Erhard WEIGEL, seinen Förderer, der ihn auf die Spur der Rechtsphilosophie gebracht hatte; derselbe war übrigens auch noch Leibniz’ Lehrer. Er ist es, der nach Hobbes’ Vorgang (dazu Stolleis, „Naturgesetz“ 144 Anm. 19) die „mathematische“ Darstellungsmethode in Mode brachte in seiner Analysis Aristotelica ex Euclide restituta (1658). Dort vermengt er allerdings Wissenschaften, deren Unterschiedlichkeit in methodischer Hinsicht Aristoteles bereits erkannt hatte. – Die kommentierte Ausgabe des JN&G von 1744 verweist zusätzlich auf Nicolaus HEMMING(SEN), einen Melanchthon-Schüler, und auf dessen 1562 in Wittenberg erschienene Naturrechtslehre (vgl. Elert, Morphologie II 354) und auf weitere Lehrer, darunter auch den bedeutenden Juristen Hermann CONRING (ebd. 358 – 363.383). Selbstkritisch dazu: Eris 330 f. Spätere Auflagen der Logique de Port Royal analysieren bereits die Faktoren wissenschaftlicher Fehlkommunikation und lesen sich wie eine Reaktion auf die Ausfälligkeiten in Pufendorfs Eris. Scandia ist Skandinavien, Scania aber, dort auch erwähnt, die südlichste Provinz des Königreichs Schweden (Schonen), worin Lund liegt. Sie wurde damals von dänischem Militär erobert, was Pufendorfs Abgang aus Lund zur Folge hatte. Pufendorf, Kleine Vorträge 452 (Brief v. 15.12.1688). Folgendes dort 431. Diese Kirche nannte sich lutherisch, um mit Rom nichts zu tun zu haben; doch konnte es noch in der Aufklärungszeit dort vorkommen, dass ein Todesurteil nach Dtn 22,5 gefällt wurde: s.u. # 299.
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Die Verbreitung seines Hauptwerks JN&G, textlich unverändert seit der erweiterten 2. Auflage 1688,²⁷⁸ geschah stets zensurfrei²⁷⁹ unter zunächst schwedischem, dann – wiederholt sogar – kaiserlichem Privileg, datiert aus Wien. Das ist bei seiner Ablehnung alles spezifisch Katholischen (respektlos spricht er von der secta Romana, praef. XXIX) durchaus bemerkenswert. Es hat kein zweites Werk dieser Art mehr gegeben, so umfassend belegt wie dieses war. Vieles hingegen, was man in heutiger Literatur über ihn gesagt findet, kommt aus zweiter oder dritter Hand und ist halbwahr oder nur noch falsch.²⁸⁰ Der Begriff der Sozialität: „Der als ,Vater des Naturrechts‘ gerühmte Hugo Grotius konstatierte am Menschen zwei Eigenschaften: den appetitus societatis und die infirmitas“ (Holzhauer, „Natur“ 17), also das Streben nach Geselligkeit und die Bedürftigkeit. Ähnlich hatte es schon Cicero gesehen in De re publica 25.²⁸¹ Doch anders als die Antike und auch das Corpus Juris reduziert Grotius den Begriff „Naturrecht“ auf das, was aus der so beschriebenen Natur des Menschen zu erkennen ist. Dies war ein folgenreicher Neueinsatz. Dieser Spur folgend, ist Pufendorfs prima philosophia (wie er sie im Anfangssatz von JN&G bereits nennt) empirischer Natur (Exkurs 10), geschichtskundig, erfahrungsgesättigt und nicht weniger reich an Begriffen als jede spekulativ-apriorische – und ihre Begriffe haben alle einen klaren, aufweisbaren Bezug. Er vermeidet den unhaltbaren Anspruch derjenigen Moral- und Rechtsteheologen, die meinten, das Naturrecht an der unverdorbenen Natur des „prälapsarischen“ Adam ablesen zu können (# 263; vgl. Eris 204: auch Grotius kann dafür nicht beansprucht werden). Vom Menschen ganz allgemein gilt ihm, Aristoteles variierend: Homo est animal sociabile, „der Mensch ist ein Lebewesen, das der Geselligkeit fähig/auf Geselligkeit angewiesen ist“ (Eris 357). Nicht nur gesellschaftsfähig ist er (Aristoteles’ zōion politikon), sondern gesellschaftsbedürftig. Hier, und nicht in Spekulationen über Gerechtigkeit „an sich“ oder über Gotteseigenschaften, liegt bei ihm die Anschlussstelle zur Theologie, da ja der Mensch
Hier wird v. a. benutzt die 2-bändige, kommentierte Auflage 1744. Sie ist sehr gründlich korrekturgelesen worden bis auf gelegentliche Fehler in den griechischen Zitaten; diese aber finden sich revidiert und sogar neu gesetzt im Nachdruck (1934) der 2. Auflage, S. 955 – 1002. – Diese beiden Ausgaben haben je eigene Register. Genauer gesagt, Pufendorf hat sich damals freiwillig einer Art von Zensur gestellt – nicht der seiner inferioren Kollegen in Lund, auch keiner kirchlichen, sondern derer am Hof in Stockholm (Eris 109) –, wo er anstandslos die Approbation (so muss man es nennen) erhielt. Das war politisch klug; den Angriffen seiner Kollegen und auch zahlreicher Theologen, er sei ein Epikureer, Indifferentist, Atheist und was nicht alles, konnte er unter königlichem Schutz ungehemmt begegnen. Nur einiges allzu Persönliche ist in der hier benutzten Eris-Ausgabe von 1743 ausgelassen; Namen sind gelegentlich (und waren wohl auch vorher schon) durch Sternchen ersetzt. In der Druckausgabe von Jacob Taubes’ Vorträgen über Politische Theologie bei Paulus ist die einzige Bezugnahme auf Pufendorf (S. 119) eine Verwechslung mit Grotius. Dort lässt er jede menschliche Gesellschaft aus einem Konsens entstehen (s. # 280 zum Gesellschaftsvertrag) aus den Motiven der imbecillitas und, mehr noch, einer naturalis quaedam hominum quasi congregatio.
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für ihn ganz fraglos ein Geschöpf Gottes ist. Dessen beobachtbares Bedürfnis nach Sozialität (# 4; # 266) ist darum zugleich der Wille Gottes. In JN&G 2,3,20 referiert Pufendorf aus Johannes Chrysostomus, Or. 12 ad populum Antiochenum (MPG 49, 131 f ) eine exegetische Beobachtung am Dekalog: Wieso ergehen diese Gebote meist ohne Begründung, mit der Ausnahme des Verbots der Kultbilder und des Arbeitsverbots am Sabbat? Antwort: Die Tora richtet sich an das Volk Israel, gerade in diesen beiden Geboten. Damit ist noch nicht gesagt, was der Menschheit als Ganzer gilt. Das vielmehr lässt sich aus bisheriger Erfahrung gewinnen. – Die Freiheit, so zu denken, kommt unserem Autor aus seinem lutherischen Christentum. Das Recht muss ihm keine Heilslehre sein und die Heilslehre kein Recht. Die Kurzfassung des pufendorfschen Hauptwerks trägt den Titel Samuelis Pufendorfii De officio HOMINIS et civis iuxta legem naturalem libri duo, Lund (nicht London) 1673. Das Wort hominis ist dort in Großbuchstaben gedruckt, worin der nichtmetaphysische Ansatz bereits deutlich wird.²⁸² Nicht auf dem Sein oder auf dem Kosmos, sondern auf dem Menschen, wie er sich selbst kennt – als Species, nicht als einzelner Geist – gründet Pufendorfs Denken. Das De off. ist hier benutzt in der französischen Übersetzung Les devoirs de l’homme et du citoyen, Amsterdam 1707, die ihrerseits stichwortgebend war für die Pariser Déclaration des droits de l’homme et du citoyen von 1789 (Schlosser, NERG 9 § 18) u. a.m., letztlich auch die Déclaration universelle des droits de l’homme in der Resolution 217 der Vereinten Nationen von 1948. Willkommene Unterstützung fand er, wenn auch erst in dem Jahr, wo die Erstauflage des JN&G bereits im Druck war, durch Hobbes’ Gegenspieler, den Anglikaner Richard CUMBERLAND, De legibus naturae (1672), der, schöpfungstheologisch argumentierend, den Machtpositivismus irdischer Instanzen zu vermeiden wusste. Auch er schrieb, obwohl Theologe, für Christen wie Nichtchristen, und vom Streit der Theologen hielt er das Recht so fern wie möglich. Mit ihm weiß Pufendorf sich weitgehend einig, nur dass die Bestreitung von Hobbes’ Machtphilosophie für ihn nicht so wichtig war (Eris 103.168 f ).Was ihn von dem Landsmann jener beiden, John Selden, unterscheidet, ist die Auffassung der Tora als positivem Recht der Israeliten und nicht schon als einem gemeinmenschlichen.²⁸³ Aus seinem Lebenslauf sei noch erwähnt, dass der König von Schweden ihn im letzten Jahr seines Lebens in den Adelsstand erhob, was mit einer beschwerlichen, von ihm nicht gewünschten Reise nach Stockholm verbunden war, die er nur um wenige Monate überlebte. Ihn als „Baron v. Pufendorf“ zu zitieren, wäre jedoch irreführend;
Hattenhauer, Europ. Rechtsgeschichte 391: „Eine Besonderheit seines Vernunftrechts war für Pufendorf dessen Menschenbild. Er wußte wohl, daß sich am Menschenbild einer Rechtslehre alles entscheidet“. Damit verbindet sich bei Hattenhauer das Bedauern, dass dieses Menschenbild kein biblisches sei. So Eris 163 f, dort auch über Seldens unkritische Anhängerschaft an hebräische Lehrer. – Hier ließe sich nun trefflich streiten, was der anscheinend gemeinsame Begriff „überpositiv“, der in neuerer Literatur gebraucht wird, heißen könnte. Er verdankt sich dem Versuch, Sätze der Bibel als Gebot Gottes an alle Menschen zu kennzeichnen.
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geschrieben hat er seine Rechtslehre als Bürgerlicher, und so etwas wie Geburtsadel kommt in seinem Naturrecht nicht vor (# 280). Pufendorfs Hauptwerk, in Lang- wie Kurzfassung in zahlreiche Sprachen übersetzt,²⁸⁴ ist heute bekannt für das Verdienst, den Begriff der Menschenwürde in seinem heutigen, individuellen Sinn aufgebracht zu haben (JN&G 2,1,4– 5 u. ö.; # 288) – was zunächst übrigens nicht auffiel; man findet ihn nicht in den (wohl nicht von ihm selbst gemachten) Registern der hier benutzten Ausgaben. Dass er auch den Gesellschaftsvertrag vertrat, ist darüber vergessen und wird in den Lexika erst Rousseau zugeschrieben; dabei ist diese Lehre auch schon die seinige, geschöpft aus antikem Erbe (# 280). Seine Nachwirkung ist ziemlich direkt verfolgbar bis in die ersten modernen Verfassungen und Menschenrechtserklärungen hinein, die der USA und die Frankreichs (# 288). Das 1734 fertiggestellte, für 1736 in Geltung gesetzte Reichsgesetzbuch des Königreichs Schweden beruht, zumal im zivilrechtlichen Teil, auf seinen Vorgaben,²⁸⁵ und selbst in die Gesetzgebung katholischer Länder, insbes. Österreichs seit Maria Theresia, ist der Einfluss des von ihm vertretenen Naturrechtsdenkens eingedrungen. Der Höhepunkt seines Einflusses liegt in Zeiten, wo man es offiziell nicht so nannte, sondern als den Willen von Monarchen ausgab (s.u. 4.7.6). Weitere Werke aus Pufendorfs Feder sind Auftragsarbeiten, betreffend die schwedische und anschließend die preußische Geschichte. Auch in Berlin diente er die letzten Jahre seines Lebens als Hofhistoriograph (wie Leibniz in Hannover und Pfanner, der Geschichtsschreiber des Westfälischen Friedens, in Gotha). Einflussreich wurde er dort durch sein De habitu religionis christianae ad vitam civilem („Das Verhältnis der christlichen Religion zum politischen Leben“) von 1687, ein Votum zur Toleranz in einem Land, wo zwei sich damals befehdende Protestantismen, der angestammte lutherische und der vom Hof begünstigte reformierte, die Koexistenz im selben Gebiet zu erlernen hatten. Diesem Anliegen diente sein letztes Werk, ein explizit theologisches, postum 1695 erschienenen unter dem Titel Jus feciale divinum, ein in Exkurs 2 näher zu erläuternder Titel, der nicht von ihm selbst gewählt worden war. Ein ius divinum wird auch dort von ihm nicht beansprucht, sondern eine Mindesttheologie skizziert, auf die sowohl Lutheraner wie Reformierte sich müssten einigen können – eine ausführliche Vorwegnahme der Leuenberger Konkordie.
Ein Nachweis vorhandener Übersetzungen (darunter auch 1711 eine deutsche [Nachdruck 1998]) findet sich in der 1934 erschienenen Nachdruckausgabe der 2.Aufl. des JN&G, S. 64a-66a (Autor ist der vom NS-Terror exilierte Berliner Richter Walter SIMONS). Vgl. Lehmann, Kirchenbegriff 370 f. Das Buch von Hägerström, Recht erschien anlässlich von dessen 200-jährigem Jubiläum. Zu dieser Gesetzgebung s.Wesel, GRE 335 (die Regierung Karls XII. hatte einen früheren Erlass verhindert) und 353. An letzterer Stelle weist er auf das in diesem Codex enthaltene „drakonische“ Strafrecht hin, das noch mehr Todesstrafen bereit halte als das Alte Testament. Wesel, für den die Reformation eine „Glaubensspaltung“ war, bezeichnet das als „lutherische Strenge“. Anscheinend denkt er an Carpzow und nimmt den „Leipziger Henker“ (wie Pufendorf ihn nennt, s.u.) als emblematisch für Luthertum. Er hätte besser „atavistisch“ gesagt oder, wenn schon ein Kollektiv belastet werden soll, „germanisch“.
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Die Modernität von Pufendorfs Rechtsauffassungen kann man ermessen, wenn man den evangelischen Juristen Hans LIERMANN dagegen hält, der in seiner Skizze „Zur Geschichte des Naturrechts in der evangelischen Kirche“ auf Melanchthons katholisierende, dabei auch dem Calvinismus nahestehende Auffassung zurückgeht, „daß die ratio an der revelatio einen festen Halt suchen muss“ (298; vgl. 300). Er fragt nach einem „christlichen Naturrecht“ (313.319), das aber dann doch auf der ganzen Welt nur eines sein dürfe (321) – was ist mit den nichtchristlichen Teilen der Welt? Er bestritt damals, direkt nach dem Krieg, die „Auffassung (…), daß das Recht etwas Profanes ist“ – es war die Pufendorfs. Auf sie ist er in ruhigeren Jahren wieder zurückgekommen. Zu allen in diesem Kommentar zu bewegenden Rechtsfragen werden wir Pufendorfs Votum einholen. Selbst da, wo theologische Fragen hereinspielen, ist bei ihm von einer Antiquiertheit keine Spur. Sein theologischer Ansatz ist genau derjenige von Luthers Reformationsschriften (s. Exkurs 1), wie Elert ihn als Konstante durch die Jahrhunderte aufgewiesen hat, abzüglich allen Fundamentalismus (der die menschliche Vernunft auch in Fragen des Rechts disqualifizieren wollte) und allen Pietismus (wie Wolff ihn dann zu spüren bekam).
4.7.3 Bemerkung zu weiterer Naturrechtsliteratur des 17. und 18. Jh. Populärer damals wie heute, auch schon weil er mehr auf Deutsch schrieb, ist der Jurist Christian THOMASIUS (1655 – 1728), Primarius des Rechts in Halle in der Nachfolge des aus Wittenberg gekommenen, von Luthers Rechtsauffassung jedoch unbeeinflussten Johann Samuel STRYK.²⁸⁶ Bekannt durch unkonventionelle Thesen und eine überhaupt provokante Publizistik, ist Thomasius für den vorliegenden Kommentar jedoch kaum von Bedeutung, weil seine rechtsphilosophische Position undeutlich und seine Haltung zur Theologie sehr schwankend waren. Nach anfänglichem Bündnis mit dem Pietismus (dieser beherrschte Halles Universität seit ihrer Gründung 1694) schlug seine Einstellung in Polemik um. Von dieser blieb auch Luther nicht verschont, bis schließlich sogar Friedrich II. von Preußen mit einem Brief vom 27.10.1702 sein Missfallen kundgab, dass er „auf den Lutherum, welchen doch Gott mit sonderbaren Gaben ausgerüstet hat, öf-
Über die damaligen Hallenser Juristen siehe, anhand von Thomasius’ prominentestem Schüler Justus Henning BÖHMER , Autor eines Ius ecclesiasticum Protestantium (1714– 37, adaptiert viel kanonisches Recht), R. SCHULZE: Justus Henning Böhmer und die Dissertationen seiner Schüler (JusEcc 90), 2009.Wolff, an der Philosophenfakultät lehrend, kommt dort nur in einer Nebenbemerkung vor (44). Über Halle und Böhmer: Link, KRG § 13,7 u. ö. Mehr über Juristen jener Zeit, die als Pragmatiker nicht in die PufendorfSchule gehören, bieten R. V. FRIEDEBURG/M. SCHMOECKEL (Hg.): Recht, Konfession und Verfassung im 17. Jh. (Historische Forschungen, 105), 2015.
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fentlich schmähet“, und ihm fortan jede Einmischung in die Theologie untersagte.²⁸⁷ – Wir werden seinen jüngeren Kollegen Wolff ihm vorziehen, obwohl dieser „nur“ Philosoph war. Verdienste hat Thomasius sich durch andere Dinge erworben, etwa durch sein – im Gefolge von Friedrich Spee (Cautio criminalis, 1631) stehendes – Plädoyer für ein Ende der Hexenprozesse (De crimine magiae, 1701), worin er sich als echter Aufklärer erwies – und als Ironiker, wie dieser Titel zeigt. Er fand jedoch kein gedeihliches Verhältnis zur christlichen Religion. Berücksichtigen werden wir aber, was der Kommentar der 1744-er Ausgabe von Pufendorfs JN&G aus seinen Schriften referiert. Hier muss erneut den Lehrbüchern widersprochen werden. Thomasius ist so rezipiert worden, als habe er das ius divinum gedanklich abgeschafft.Was aber beim Blick in seine Institutiones iurisprudentiae divinae (1688 u. ö.) sofort befremdet, ist der konstante Verweis auf eine lex divina. Im pietismusbeherrschten Halle musste man darunter das Alte Testament verstehen, evtl. zu ergänzen aus dem Neuen.²⁸⁸ Meint er das oder ist es nicht vielmehr Ironie? – Hirsch, Geschichte I 98: In seinen Institutionen hilft er sich damit, neben das vernunftgegründete Naturrecht ein schlechthin allen Menschen durch Offenbarung gegebenes positives göttliches Recht zu stellen. Er hat mit der an Grotius anschließenden Erarbeitung dieses sonderbaren Begriffs bei der spätlutherischen Orthodoxie Glück gehabt. Ihn selber konnte diese mit seinem Empirismus schwer vereinbare willkürliche Ausflucht nicht befriedigen –
– und uns hier noch viel weniger, nachdem Pufendorf die 370 Quartseiten seiner Eris Scandica fast durchgehend dieser Vermischung der Gebiete und der Begründungsweisen entgegengesetzt hatte. Thomasius redete wie die Pietisten, wenn es Erfolg brachte, war aber genauso fähig zu einem totalen Säkularismus. Nicht bereit, sich festzulegen, war er ein Virtuose in Gedankenspielen – der Carl Schmitt seiner Tage. Unpräzis und schwankend in seinen Meinungen wie im Sprachgebrauch, ist er in den Augen Bachmanns (Staatslehre 28 – 31) letztlich doch nur ein Positivist. Mit den Augen des Theologen gelesen, ist seine Iurisprudentia divina eine Ironie auf den Pietismus und dessen Anspruch, den Willen Gottes durchzusetzen.²⁸⁹ Offen reden und sich aus Halle vertreiben lassen wollte er jedoch sicher nicht.²⁹⁰ Korrekt sagt Heinrich Mitteis, Über das Naturrecht 24, von ihm:
G. SCHUBART-FIKENTSCHER: „Decorum Thomasii“, in: Lehmann, FS Eißfeldt 142– 151 (zitiert: 148b). Natürlich sind das nicht seine eigenen Worte, sondern die seines Kabinetts. Ihm war Religion gleichgültig, nicht jedoch der Religionsfriede zwischen den Lutheranern und Reformierten seines Königreichs. Belege dazu gibt Polley, „Bibel und Staatsverfassung“ 371. Proben seines Versteckspiels finden sich in # 287 und # 323 in den Anmerkungen.Wozu er immerhin auch fähig war, war die Formulierung eines gut lutherischen Glaubensbekenntnisses; s. C. STROHM: „Die produktive Kraft konfessioneller Konkurrenz für die Rechtsentwicklung“, in: ders., Reformation und Recht 131– 171, hier: 171 Anm. 98. Leo STRAUSS’ Persecution and the Art of Writing (1952) hätte gut ein Kapitel über ihn aufnehmen könnten, wäre es nicht befasst mit innerjüdischer Verfolgung und Ausgrenzung wegen Freidenkertum.
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Er leitete eine Spätzeit des Naturrechts ein, in der der Quietismus eines unpolitisch gewordenen Bürgertums in den stagnierenden deutschen Kleinstaaten des 18. Jh. seinen Ausdruck findet, wo der Bürger zwar die Förderung seines Erwerbs im Zeichen des Merkantilismus dankbar hinnahm, dabei aber den Verlust einer politischen Selbstbestimmung (…) nicht mehr schmerzlich empfand (…).
Ein guter Schüler Pufendorfs unter Halles Juristen war jedoch Nikolaus Hieronymus GUNDLING.²⁹¹ In seinem Ius naturae ac gentium (1714, 3. Aufl. 1736) blickt er bereits zurück auf eine Vielfalt von Ansätzen zur Rechtsbegründung (24 f ) und schließt sich daraufhin an Grotius, Hobbes und „Puffendorf“ an (25). Sein Anspruch, einen neuen Ansatz gefunden zu haben, bezieht sich auf das von Leibniz hoch gehaltene, aus Ulpian D. 1,10,1 kommende Prinzip des neminem laedere ²⁹² (man beeinträchtige niemandes Person und Rechte – in 14,4 als axioma per se clarum bezeichnet), anders formuliert: als das Gebot, mit jedermann Frieden zu halten (pax externa, 2,18).²⁹³ Neu ist dieses aber nicht, denn schon Pufendorf hatte in JN&G 3,1 das Obligationenrecht mit eben diesem vollkommen evidenten Grundsatz beginnen lassen: „Ein Mensch darf den anderen und dessen Sachen nicht beschädigen (laedere).“ Zu der Frage der Scholastiker, ob es Werte gebe, die sich zur Erschaffung des Menschen antecedenter verhalten (s.u. Exkurs 10), antwortet Gundling: „Nirgends dürfen der göttliche Verstand und der göttliche Wille geteilt werden. Gott schreibt das vor, wovon er sieht (videt), dass es dem Maß der menschlichen Natur entspricht“ (5 f, seltsam ausgedrückt). Er würdigt durchaus das menschliche Bestreben, zu vollkommener Gerechtigkeit und Anständigkeit (honestas) zu gelangen, verweist es aber in die Ethik (7). Zeitgenössische Versuche, eine lex divina positiva zu bestimmen – in diesem Zusammenhang erwähnt er erstmals „den berühmten Thomasius“ –, leiden an Widersprüchen. Eine Art von lex divina, die sich immerhin bestimmen lässt, weil sie konkret vorliegt, ist bei ihm qualifiziert als positiva particularis; sie betrifft aber nur „ein bestimmtes Volk, nämlich die Juden, und wird überdies bekannt durch eine eigene Art von Offenbarung (peculiari revelatione innotescit)“. Naturrecht hingegen ist, was „alle Menschen bindet“; dieses wird „nur aus Vernunft bekannt“ (19). So kann man, wenn man denn will, dem Versteckspiel des Thomasius um eine lex divina ein Ende machen. Der große Unterschied ist doch, ob man sie diktiert bekommt oder ob man sie mit eigenem Verstand entdeckt.
Nicolai Hieronymi Gundlingii j(uris) c(onsulti) Ius naturae ac gentium connexa ratione novaque methodo elaboratum (1714, 1728), 3. Aufl. 1736 (556 S., 12°). Über ihn: Becker, „Systembildung“ 39 f; Monographie: R. HÄFNER/M. MULTHAMMER (Hg.): Nicolaus Hieronymus Gundling (1671 – 1729) im Kontext der Frühaufklärung, 2018. Voller Text: Iuris praecepta sunt haec: honeste vivere, alterum non laedere, suum cuique tribuere. Auch bei Liebs, Rechtsregeln J 177, dort als Ps.-Ulpian bezeichnet. Dem Leser des Neuen Testaments ist das nicht fremd: Röm 12,18; vgl. Mk 9,50; 1Thess 5,13, 2Kor 3,11 (jeweils eirēneuein/pacem habere). Für das Naturrecht ist das nur ein Gesichtspunkt und keineswegs eine Universalformel. Mitunter ist auch die Pflicht zu fördern eine naturrechtliche Evidenz, etwa im ElternKind-Verhältnis (vgl. # 53, der Generationenvertrag).
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Kein Fortschritt gegenüber Pufendorf oder Thomasius sind die 1738 in Halle erschienenen Elementa iuris naturae et gentium des damals einflussreichen Johann Gottlieb HEINECCIUS (Heinecke; Schlosser, NERG 9 § 17). Dieses übersichtliche Oktavbändchen hat in Universitäten aller Couleur Eingang gefunden und hat bestimmt, was bis in 19. Jh., als diese Tradition vollends erlosch, für„Naturrecht“ galt. Dort lesen wir in I 65 einen aus Missverständnissen bestehenden Profilierungsversuch gegenüber Leibniz, den Heinecke sich hätte sparen können, hätte er Pufendorfs Beobachtung beherzigt, dass „Gerechtigkeit“ als Gotteseigenschaft nur metonymisch verwandt ist mit der in vieler Hinsicht andersartigen Gerechtigkeit unter Menschen (Eris 280).²⁹⁴ In II 26 findet sich immer noch die altertümliche Auffassung, die menschliche Gesellschaft wachse aus der Familie heraus – eine Lieblingsidee der Konservativen (Leibniz zählt dazu), die einen Vertrag in Freiheit nicht zur Theoriegrundlage nehmen, sondern unausweichliche Gegebenheiten. Von einem Gesellschaftsvertrag zu sprechen, war im Königreich Preußen offenbar nicht ratsam.
4.7.4 Christian Wolff Leibniz und viele Pufendorf-Kritiker hingen einem Apriorismus von der„objektiven“ Art an, der auf dem Gebiet der Rechtsbegründung vom Begriff der göttlichen Gerechtigkeit ausgehen möchte, als wäre sie mit menschlicher Gerechtigkeit kommensurabel, ja ihr Maßstab. Stattdessen die Handlungstheorie (vgl. Exkurs 11) weiterentwickelt und ausdifferenziert zu haben, ist eines der vielen Verdienste des Philosophen und auch examinierten lutherischen Theologen (nämlich der konzilianten Richtung von Jena) Christian WOLFF (1679 – 1754).²⁹⁵ Dessen Schriften haben zwar nicht, wie bei Leibniz vielfach, den Reiz des Fragments oder der persönlichen Kommunikation; es sind knochentrockene Lehrbücher. Bei ihm blieb nichts nur im Entwurf, sondern es wurde, wie bei Pufendorf, alles fertig – bester Beweis der Durchführbarkeit. Man muss schon genau hinsehen, um dann doch Spannungen und Detailwidersprüche zu entdecken, die eine Entwicklung bezeugen. Es ist eine Entwicklung weg von der traditionellen Ontologie. Von Wolffs letztem großen Projekt, dem Jus naturae methodo scientifica pertractatum (1740 ff ), ist der erste, grundlegende Band hier eingearbeitet; für die anderen
Er sagt dies dort von allen Gotteseigenschaften. Aus ihnen etwas zu deduzieren, ist für ihn illusionär, genauer: zirkulär, weil diese Eigenschaften vorher aus menschlichen Eigenschaften abstrahiert wurden. Über ihn s. Bachmann, Staatslehre (Biographisches: 32– 36); Winiger, Pflichtenrecht, v. a. 267 ff. Wolff hat auch Theologie studiert und mitunter gepredigt. Dem preußischen Staat galt er bis 1727 als Atheist; Druck und Verkauf seiner metaphysischen und moralischen Schriften war „bei legenslanger Karrenstrafe“ verboten (Bachmann 41). Für seine Verdienste erhielt er (aus Bayern) den Titel eines Reichsfreiherrn, so wie vorher Pufendorf (aus Schweden) den eines Barons. Der noch zu nennende Mosheim war aus altem, aber exiliertem Adel. Stets waren es andere, die davon Aufhebens machten. Leibniz übrigens, der mit seinen Leistungen den Adel zu erreichen strebte, hat ihn nicht erlangt, auch wenn er ihm auf gewissen Titelblättern zugesprochen wird (s. Tennemann/Wendt, Grundriss 412 unten).
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sieben Bände ist die Kurzfassung des Ganzen, betitelt Grundsätze des Natur- und Völckerrechts, seine letzte Publikation übrigens (1754), für unsere Zwecke ausreichend.²⁹⁶ Es handelt sich durchwegs um Sammlungen aufeinander abgestimmter Definitionen. Hier wird nur noch wenig zitiert, sondern ein Geflecht von Begriffen entwickelt, von dem schon das Titelblatt behauptet, a priori zu gelten, vor jeder empirischen Bestätigung also. Leibniz hätte sich gefreut, das zu lesen; der Herausgeber des Nachdrucks von 1972 hingegen hat den Titel des Bandes I um den Untertitel gekürzt, welcher ankündigte, dieses Naturrecht werde „aus der Natur des Menschen selbst a priori erwiesen“ (s.u. Exkurs 14). Er fand ihn so wenig einleuchtend, dass er ihn vor der Reproduktion abdeckte. Im Sinne Wolffs soll a priori heißen: Vor jeder einschlägigen Beweisführung sollen die Definitionen bereits gelten, die er vorschlägt, und brauchen sich nur gegenseitig abzustützen. Nicht anders hatte auch Pufendorf schon sagen können, er „deduziere“ (deducere) seine Begriffsbildungen (Eris 187); das schrieb er aber nicht aufs Titelblatt. Auch setzte er hinzu, Ausgangspunkt seien diejenigen Beobachtungen (observationes), welche die Natur der Dinge und des Menschen ihm liefert (quas ipsa natura rerum et hominis suppeditat; s.u. Exkurs 10); das ist bei Wolff nicht so klar. Wolff schöpft aus denselben Quellen, d. h. aus versprachlichter Erfahrung vieler Generationen, und er vermeidet zuzugeben, was er alles Pufendorf verdankt. Diese Lehrart ist gewöhnungsbedürftig. Die Darstellung scheint auf weiten Strecken auf der Stelle zu treten oder nur in Millimeterschritten voranzukommen; konkrete Verweise oder gar Beispiele sind rar. Trotzdem ist das Buch ein Leseerlebnis eigener Art: Öffnet man es nach getätigter Lektüre des Haupt- oder gar auch des Nebentextes (notae) wieder an irgendeiner Stelle, wird man stets wieder von neuen Einsichten überrascht. Trotz allen Anscheins ist es nirgends banal. Bénédict Winiger hat Wolffs Lehre gekennzeichnet als „theistisches Naturrecht“,²⁹⁷ was ja im Gegensatz zu dem damals in England und v. a. in Frankreich herrschenden Deismus besagt, dass eine konkrete (positive) Religon als menschengemäß einbezogen ist (so JN §§ 1121– 1263), wobei Wolff sich aus methodischen Gründen nicht auf die christliche festlegt. Nur der Deismus ist ihm zu wenig, da Gottesverehrung für ihn auch zu den Menschenpflichten gehört (§ 1142). Diese Offenheit hat ihm die Anfeindung durch den Pietismus eingetragen. Heute, wo sich allmählich die Notwendigkeit eines die ganze Gesellschaft bindenden Religionsrechts herausstellt (das aber keine Kultverpflichtung sein wird), erweist sich seine Haltung zu Religion und Religionen als die für die Gesetzgebung beste.
Zwischen den beiden liegt noch ein Ius gentium methodo scientifica pertractatum, 1750 (1764, 1934), hier nicht konsultiert. Bachmann (vorvorige Anm.), 267 ff. Den Deismus lehnt Wolff, nächst dem Atheismus, ab (JN § 150). – Sicherlich ist Theismus noch keine Theologie, noch nicht einmal eine Heilslehre; aber als Bestandteil einer Rechtslehre hat er seinen guten Sinn. Pufendorfs These, ius naturae (…) a Deo optimo maximo originem trahere (so formuliert er sie in Eris 136) nennt den D. O. M. römischer Inschriften. Christlich bezeichnet, ist es, wie oben gesagt, Theologie des 1. Artikels, Schöpfungstheologie.
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Dieses hinzusetzend, lesen wir Wolff mit den Augen seines Vorgängers Pufendorf. Das JN lässt sich, wie seine lateinischen Lehrbücher überhaupt, in drei Geschwindigkeiten lesen: Wo nicht alles interessiert, beschränkt man sich auf das Großgedruckte (ohne das kleiner Gedruckte der notae) oder auch dort nur auf die kursiven Textteile; zum ganz schnellen Durchlauf hat man die Überschriften als Thesen auf dem Rande. Alle Lehrbücher Wolffs tragen detaillierte Register und sind durchsetzt von einem engen System von Querverweisen – man wird im vorliegenden Werk diesen Einfluss wiedererkennen (viele Klammern, viele Nummern). Solche Lesehilfen hat man bei späteren, deutsch schreibenden Philosophen nicht. Christian Wolff gilt als Deutschlands Erzaufklärer, weil er, auf Allgemeinverständlichkeit bedacht, vieles auf Deutsch schrieb, längst vor Kant, der schon der Spätaufklärung angehört. Was man aus der deutschen Literaturgeschichte über ihn erfährt,²⁹⁸ ist genug, um ihn als Vater der Populärwissenschaft hochzuschätzen. Es liegt ein gewisser intellektueller Snobismus darin, wenn an seiner Stelle für das 18. Jh. meist nur die Genies Leibniz und Kant zitiert werden.Wirkungsvoller durch die allgemeine Lesbarkeit seiner Schriften, wenigstens der deutschen, war Wolff. Er war seinem Jahrhundert ein Vorbild an solidem Wissen und klarem Ausdruck. Das altertümliche Aussehen seiner dickleibigen Lehrbücher ist nur auf ersten Blick „barock“. Rasch sieht man, dass er weit weniger zitiert als vielmehr räsonniert. Andrerseits aber hat er es nicht nötig, wie viele Aufklärer zumal in Frankreich, sich als Brandstifter des Alten zu gebärden. Sein Protest, in den kleiner gedruckten Partien seines Jus naturae zu finden, gilt lediglich der geistigen Enge des Hallenser Pietismus und den Schikanen, denen er dort seitens der „NeoPharisäer“ (wie er sie nennt) persönlich ausgesetzt war. Wolffs Lebenslauf ist leider emblematisch für das Zurückdrängen der Aufklärung durch das Christentum des 18. Jh. und seither. Seine erste Professur erhielt er in Halle als Mathematiker, lehrte aber bald auch als Philosoph in aller Breite und landete zuletzt – thematisch, nicht institutionell – beim Recht. Dazwischen aber und auf halber Strecke nahm sein Lebenslauf einen Knick. Bei einer akademischen Rede zur Übergabe des Prorektorats äußerte er sich über die praktische Philosophie der Chinesen als Beispiel dafür, wie ethische Werte auch ohne Anleitung durch eine bestimmte Religion erkannt werden könnten (Oratio de Sinarum philosophia, 1721, veröffentlicht 1726). Diese Rede brachte die Pietistenpartei derart gegen ihn auf, dass sie mit Intrigen bei dem ihnen gleich gesinnten König Friedrich Wilhelm I. (dem sog. „Soldatenkönig“) 1723 die Ausweisung aus Preußen erwirkten.²⁹⁹ Wolff erhielt keine Gelegenheit zu seiner Verteidi-
Eine Probe unter vielen: E. ENGEL: Geschichte der deutschen Literatur, Bd. 1, 6. Aufl 1910, 264 f, wo aus Wolffs deutschen Schriften sogar die etiamsi-daremus-Formel (# 255) zitiert wird. Diese Formel – heute Gemeinbesitz aller nichttheologischen Universitätsdisziplinen – brachte ihn mehrfach in Gefahr; dennoch trug er keine Bedenken, dem breiten Publikum zu sagen, was er dachte. „Die Theologen von Halle beschuldigten Wolff der Heterodoxie. Der König war in Verlegenheit, was das heißen sollte; doch als einer seiner Generäle ihm sagte, Wolffs Lehre vom Eid könnte einen Soldaten glauben machen, Desertieren sei keine Sünde, befahl er Wolff, das Land innerhalb 48 Stunden zu verlassen“; so J. E. KING: „Introduction“, in: ders. (Hg., Übers.): Cicero: Tusculan Disputations (LCL), 1945 (u. ö.),
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gung. Seine Lehre, dass die menschliche Vernunft in weltlichen Dingen sich selbst zu helfen weiß, war den dortigen Superchristen unerträglich. Dabei hatte Luther über die Vernunft in weltlichen Dingen nichts anderes gelehrt, und überdies war Wolffs Beruf die Philosophie, nicht die Theologie. Wolff lehrte weiter in Marburg, wo er auch sein Jus naturae zu schreiben begann, und ließ sich erst von Friedrich II. nach Halle zurückberufen. Bd. 1, diesem gewidmet, erschien im Jahr seines Regierungsantritts, 1740. Dort wo Thomasius begonnen hatte, auf Deutsch zu lehren, tat auch er es; seine Grundsätze des Natur- und Völckerrechts, oben schon erwähnt, erschienen in seinem Todesjahr 1754 als Werk letzter Hand. Sein wichtigster Schüler unter den Fachjuristen ist Daniel NETTELBLADT, Verfasser eines Systema elementare universae jurisprudentiae naturalis bzw. positivae (beides 1749), einer Kurzfassung bzw. Anwendung der Wolffschen Rechtslehre. Wolffs Werk ist für uns wichtig als das Scharnier von der lateinisch- zur deutschsprachigen Jurisprudenz. Die Wortwahl in den Grundsätzen von 1754 ist, wie das Vorwort kundgibt, wohlüberlegt, und sie hat sich im deutschen Sprachgebrauch gehalten. Seine Voraussetzungen sind klar, zumal wenn man, wie oben geschehen, im JN die äußerst knappe praefatio mitliest. Das Naturrecht – JN § 1 wiederholt es aus PhPU § 127– ist eine scientia actionum bonarum atque malarum (ob die Anspielung an Gen 2,17; 3,5 Absicht ist?), frei übertragen: eine Handlungwissenschaft mit Wertungen. Dort hat sich Wolff die Freiheit zum Finalargument bewahrt, welche dem Spinozismus wie auch den Naturwissenschaften verloren ging – ganz unnötigerweise, denn menschliche Handlungen, zweckgeleitet, sind nun mal keine Naturvorgänge. Außerhalb der Schriften Wolffs macht sich immer noch die Verwechslung von außermenschlicher und menschlicher Natur bemerkbar, der bisher nur vom „lutherischen“ Naturrecht begegnet wurde. Selbst die Humanwissenschaften, darunter die Jurisprudenz, haben sich im 19. Jh. ungebührlich stark auf das Kausaldenken verlegt; das Zweckdenken (abschätzig so benannt) der Aufklärer wurde – in Ablösung des Leibnizschen Determinismus, der nur Zwecke Gottes kannte – durch Warum-Erklärungen aus historischer oder biologischer Ableitung verdrängt. Dies mag, thematisch wie chronologisch, der Anlass sein, einen heute noch bekannten Autor jener Zeit zu erwähnen, der das empirische Denken verstärkt hat: MONTESQUIEU, dessen vielgelesener Essay De l’esprit des lois (1748) auf die regional, klimatisch usw. bedingte Verschiedenheit der Rechtsanschauungen und Rechtssetzungen der Menschen – und übrigens auch ihrer Religionen – hinwies.Was er da schrieb, war in der Antike schon einmal ein relativierendes Argument gegen Naturrecht gewesen, bei dem christlichen (und nach Meinung vieler eher gnostischen) Philosophen und Astro-
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vgl. Wolff, Staatslehre 40. – In allen bekannten Details ist die Affäre dargestellt bei A. BEUTEL: „Causa Wolffiana“, in: U. KÖPF (Hg.): Wissenschaftliche Theologie und Kirchenleitung. FS Rolf Schäfer, 2001, 150 – 202. Geprüft wurde v. a. Wolffs dt. Metaphysik, und die fand man „atheistisch“ – als ob sein christlicher Glaube, den er in vielbeachteten Predigten längst bezeugt hatte, in einem Buch dieses Titels wiederkehren oder gar seine Begründung finden müsste. Wolffs großer Gegner war übrigens August Hermann FRANCKE; dem war Wolffs Vertreibung eine causa Dei.
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logen Bardaiṣan (Bardesanes, gest. 222). Sein Buch der Gesetze der Länder beweist, dass „Natur“ etwas regional verschiedenes ist.³⁰⁰ Ein Argument gegen Naturrecht ist das freilich in dem Moment nicht mehr, wo man bemerkt, dass gleiche menschliche Bedürfnisse in unterschiedlichen Lebensbedingungen zu erfüllen sind.³⁰¹
4.7.5 Lorenz Mosheim Zu den Juristen und Philosophen, die uns bis hier beschäftigt haben, tritt nun ein Theologe hinzu, der zugleich Historiker war – Kirchenhistoriker – und Kirchenrechtler: Lorenz (von) MOSHEIM (1694– 1755), von Harnack hoch geschätzt als „der Erasmus des 18. Jahrhunderts“.³⁰² Beruflich ist er der Universität Helmstedt (nachmals Göttingen) zugehörig mit ihrer liberalen, auf Georg Calixt zurückgehenden Tradition, welche bedacht war auf die Einebnung der Unterschiede zwischen Lutheranern und Calvinisten. Benutzt wurde von ihm v. a. sein De rebus Christianorum (1753), eine Geschichte der Alten Kirche, wie man sie sich umsichtiger und kritischer nicht wünschen konnte.³⁰³ Er bot seiner Zeit das Beispiel einer historisch-kritischen Arbeit, wie man sie an den Evangelien noch lange nicht zu leisten wagte.³⁰⁴ Er wusste die Glaubwürdigkeit von Berichten, mochten sie auch klingende Namen für sich haben, an ihrem Maß an Genauigkeit und an Stimmigkeit einzuschätzen und beherrschte bereits, längst vor Lachmann, die stemmatische Methode zur Herkunftsklärung der Informationen.³⁰⁵ Er hat von solch instinktsicheren Historikern wie Joseph Justus Scaliger oder Isaac Casaubon (beides übrigens Hugenotten, die in die Schusslinie des Katholizismus gerieten) das Nötige gelernt. Sein Scharfsinn hat viele der hier behandelten Fragen beantworten, ja
Liber legum regionum, syr./lat. ediert bei F. NAU: Patrologia Syriaca 1/2, 1907. Seine Erwähnung bei Euseb, H.e. 4,30, wenig empfehlend, dürfte die Wirkung dieser Schrift begrenzt haben. Neben Hymnen desselben Autors sind dies übrigens die ersten Denkmälern der syrischen Literatursprache. Als später Beitrag zu der bis in die Neuzeit versäumten Diskussion dieser Frage sei Becker, „Systembildung“ 37 zitiert: „(D)as Naturrecht hält es für möglich, dass eine jede Gesellschaft sich besondere Gesetze und Gewohnheiten zulegt. Viele Besonderheiten, welche das gemeine Recht oder örtliches Recht kennen, kommen im Naturrecht nicht vor. Das Naturrecht steht diesen Besonderheiten nicht entgegen.“ A. HARNACK: Lehrbuch der Dogmengeschichte, Bd. 1, 4. Aufl., 1909, 29; er sei der erste unparteiliche Historiker der antik-christlichen Lehrentwicklungen gewesen. Hirsch, Geschichte II 354– 370; Lehmann, Kirchenbegriff 243 – 339. Hirsch hat an ihm zu bemängeln, dass er in seiner Dogmatik die Taufe durch die Erweckung ersetzt und die Gewissheit des Glaubens durch dessen Betätigung. Hier zeigt sich bei dem im Luthertum aufgewachsenen Gelehrten denn doch der Sauerteig der Zwinglianer und Calvinisten, nämlich die Selbstvergewisserung des Glaubens durch Aktivität. Sie hat über das Vordringen des Pietismus auch diesen Autor erfasst. Noch der verdiente Alttestamentler Julius Wellhausen, Autor der Quellenscheidung am Pentateuch, hat sich, als die Übertragung seiner strikt historischen Arbeitsweise auf die Evangelien 1882 das kirchliche Jesusbild in Gefahr brachte, in die philosophische Fakultät (von Halle; später war auch er Göttinger) versetzen lassen. Beispiele bietet sein De rebus z. B. in 63b; 474a/b; 682a; 981b. Die Regel für die Bewertung von Quellenaussagen ist bei ihm, wie schon seit den Humanisten: Testes non numerantur, sed ponderantur.
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allererst stellen gelehrt. In seinem De rebus liest er die Apostelgeschichte – was selten war und lange noch blieb – mit den Augen des Historikers und des Kirchenjuristen (s. z. B. # 204; # 216), und auch sein weiterer Durchgang durch die Kirchengeschichte liefert Musterbeispiele historischen Arbeitens mit den Quellen. Vor allem beherrscht er die sog. stemmatischen Methode der Quellenkritik. Die Art, wie er in De rebus 978a-986b Konstantins Himmelserscheinung mit ihrem toutōi nika (hoc vince) zurückführt auf das erstmalig Berichtete – das kommt nur von ihm, nicht von den Soldaten oder gar von den Besiegten – und von da aus auf das davor wohl – wo? wann? von wem? – Erlebte, ist beispielhaft für jene Arbeit, die in Vorbereitung auf diesen Kommentar zu leisten war an den Jesusüberieferungen. Mosheim betreibt eine geradezu kriminalistische Wahrscheinlichkeitsprüfung. Sein Vergleich aller verfügbaren Quellen im Blick auf ihre Chronologie und ihre gegenseitigen Abhängigkeiten führt ihn zunächst auf den Befund, dass alle Berichte auf einen zurückgehen – wiedergegeben bei Euseb, und auch dort erst in seiner Vita Constantini. Das dort Erzählte beruht auf einem viele Jahre zurückliegenden Gespräch Eusebs mit dem Kaiser – immerhin noch mit diesem selbst. Er hatte diese Vision; erst spätere Berichte lassen das ganze Heer daran teilnehmen.³⁰⁶ Mosheim fragt sodann nach dem, was die enorme Wirkung dieser Vison begreiflich macht. Seine Antwort: Es ist die – wohl in einem Traum an der Schwelle des Tages empfangene – Anweisung, ein Christusmonogramm auf die Schilder der Soldaten setzen zu lassen. Die „mit diesem Zeichen“ gewonnene Schlacht an der Milvischen Brücke am 28.10.312 ist Geschichte. Mosheim nun: Auf Christentum als solches hätten sich die Germanen und Kelten des damaligen Heeres nicht bringen lassen, wohl aber auf den Gebrauch eines magischen Zeichens. Erst in der Folgezeit, von den Erzählungen teleskopisch verkürzt, wurde daraus ein Übergang zum Christentum sowohl beim Kaiser wie im übrigen Reich. – Damit erübrigen sich die pseudo-objektiven, meteorologischen Erklärungsversuche dieses Himmelszeichens seitens der naiveren Aufklärer.³⁰⁷ Für Mosheim als Dogmatiker geben seine 1766 erschienenen Elementa theologiae dogmaticae ein Zeugnis. Dies ist ein postum veröffentlichtes Vorlesungsskriptum, im Stil der protestantischen Neuscholastik aus lauter Definitionen und Verhältnisbestimmungen bestehend, worin er der in der Theologie damals obligatorischen Mode folgt. Diese sagt uns heute nur wenig; doch fällt auf die oftmals beigegebenen Bibelstellen mitunter ein ungewohntes Licht. Bei ihm findet sich auch die Beobachung, die Theologie hätte „einen anderen Begriff von Sünde, Gesetz und guten Werken“ als die Jurisprudenz (77; vgl. hier # 271). Leider verlieren Mosheims theologische Begriffe im dritten, letzten Teil, der Heilslehre, an Profil: Was man ab S. 83 über den „Bund“ zu lesen bekommt, hat mit Ein genau gleiches Bild zeigt sich in den NT-Synopsen z. B. bei der Vision der Taube und Audition einer Gottesstimme in Mk 1,10 parr. (Siegert/Bergler, Synopose 38): Jedes Evangelium gibt andere Auskünfte darüber, wer hier was gesehen und gehört hat. In den ältesten Fassungen ist es nur Jesus selbst. Auch das Neue Testament hatte solche, und sie brachten die Aufklärung als „flach“ in Verruf – um nur an den Neutestamentler Heinrich Eberhard Gottlob PAULUS (1761– 1851) zu erinnern.
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foedus im juristischen Sinn nur wenig zu tun, sondern entspricht eher der von den Kirchenvätern aus Eph 1,10 und 3,9 entwickelten Anschauung der „Heilsökonomie“ (Heilsgeschichte) und dem reformierten Schema der Föderaltheologie. Auf dieses letztere war Pufendorf in der Form eingegangen, dass er es als Feudaltheologie erwies (# 277), beruhend auf einem sehr einseitigen Gefolgschaftsverhältnis germanisch-rechtlichen Zuschnitts. Doch lag der Bündnisgedanke damals, d. h. unter den Intellektuellen des 18. Jh., in der Luft, und zwar unter denen, die vom monistisch-monarchistischen Denken Abstand nahmen. Was an der Föderaltheologie interessant ist, wirkungsgeschichtlich gesehen, sind ihre Säkularisierungsprodukte in der Politik; diese waren zukunftsträchtig in Richtung auf konstitutionelle Monarchien und v. a. Demokratien. Dass die Vereinigten Staaten von Amerika, 1787 als Bündnis (federation) konstituiert, der mächtigste Staat der Welt geworden sind, ist eine Frucht reformierter Theologie.³⁰⁸ Mosheim ist auch bekannt als Autor eines auf Deutsch geschriebenen, mithin praxisbezogenen Allgemeinen Kirchenrechts der Protestanten (1760, postum), wiederum 800 Quartseiten stark. Als spiritus rector hinter der Gründung der – bekanntermaßen liberalen – Universität Göttingen und zuletzt auch ihr Kanzler, ist er zu einer Zeit, als das Fach „Geschichte“ an den Universitäten noch neu war, das gewesen, was heute ein professioneller Historiker wäre: quellenkritisch arbeitend und stets darauf bedacht, die Motive der Handelnden zu ermitteln, ehe er dem Bericht über einen Ablauf traute. Wissenschaftsgeschichtlich ist er ein Zeuge dafür, dass eine traditionelle Dogmatik – Mosheim gehört zur letzten Generation der Altprotestantischen Orthodoxie – sich mit vorurteilsfreier Geschichtsforschung durchaus zu verbinden vermag, zumindest was die Apostelgeschichte und die Briefe angeht; an die Evangelien hat er sich, wie gesagt, noch nicht herangetraut.³⁰⁹ Die wenigen, die es im 19. Jh. machten (Wilke etwa oder Weiße, die bereits mit die Mk-Priorität erkannten), blieben Außenseiter ohne theologischen Lehrstuhl.
4.7.6 Das Aufgehen des Naturrechts in positivem Recht Rechtsgeschichtlich ist es ein großes Paradox, dass trotz expliziter Rückgriffe auf den Gesellschaftsvertrag im 17. Jh. das Folgejahrhundert, das in Deutschland als „das der
Freilich hat auch hier ein jedes Ding seine zwei Seiten. Dass dieser Staat sich anmaßt, andere, die seiner Politik nicht entsprechen, mit „Verboten“ (z. B. Flugverboten) und „Strafen“ (z. B. Einfuhrzöllen) zu belegen, verrät – und wäre es auch nur in der Ausdrucksweise – den Paternalismus einer Moral als Aufsichtspflicht und -recht. Dies war gerade damals das reformierte Modell von Kirche (vgl. # 215). Einer, der es damals machte, aber im Vergleich mit Mosheim unprofessionell und ohne das Augenmaß des Historikers für das Wahrscheinliche, war Hermann Samuel REIMARUS. Sein Manuskript, das sich nach seinem Tode 1768 in einer Schublade fand, ist in Auszügen, genannt „Fragmente“, 1774 durch Lessing berühmt geworden (als Anlass zum Skandal, nicht als wissenschaftliche Leistung); ganz erschien es mit 200 Jahren Verspätung: Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes, 2 Bde., hg. G. Alexander, 1972.
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Aufklärung“ bezeichnet wird, beim Absolutismus ankam. Der politischen Entwicklung folgte die geistige: Flächenstaaten waren entstanden, von Fürsten regiert, welche die einstigen Stadtrepubliken, die für die Reformation so bedeutend gewesen waren, nach und nach absorbierten. Dort hatte man den Gesellschaftsvertrag in Wahlen noch wahrgenommen. Umso mehr wurde die Mentalität jetzt die von Untertanen, auch wenn diesen nach und nach Lasten wie die der Leibeigenschaft „gnädig“ erlassen wurden. Die Aufklärer haben sich zur Durchsetzung ihrer Vorschläge an die Fürsten gewendet; die Städte waren zu klein. Der Artikel „Naturrecht“ im HWP 6, 604 (R. RUŽIČKA) nennt Justus MÖSER und insbesondere Gustav HUGO (Lehrbuch des Naturrechts als einer Philosophie des positiven Rechts, 1799) für das Aufgehenlassen des Naturrechts im (jeweiligen) positiven Recht. Nur Lausanne, Jean de Barbeyracs erste Wirkungsstätte, hat noch bis 1890 einen Lehrstuhl für Naturrecht gehabt (Bachmann, Staatslehre 15). Karl Marx hat gesagt: Das Bewusstsein folgt dem Sein. Zum Rechtsstudium jener Zeit, wie Goethe es selbst durchgemacht hatte, ließ er seinen Mephisto folgendes bemerken:³¹⁰ Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage; weh dir, dass du ein Enkel bist! Vom Rechte, das mit uns geboren ist, von dem ist leider! nie die Frage.
Selbst aber war er überzeugter Monarchist und Rechtspositivist. In einer Art von innerer Emigration durchziehen politikabstinente Ich-Philosophien die rechtstheoretische Literatur. Sie ließen den empirischen Ansatz der Frühaufklärung, der so fruchtbar gewesen war (Exkurs 10), in Vergessenheit geraten. Michael Stolleis, „Naturgesetz“ 145: „(D)er Souverän als irdischer Gott sollte nun die Macht haben, als Gesetzgeber die soziale Welt nach seinem Willen zu ordnen.“ Den Staat dachte man sich als eine Maschine, die „von einer einzigen Kraft bewegt wird, von der des Souveräns“. Bei diesem „durchregierenden Absolutismus“, wie Stolleis es nennt, verschwand die Lehre vom Gesellschaftsvertrag für Jahrhunderte aus dem – ohnehin auf schmale Broschüren eingeschrumpften – Naturrecht. Wo es nicht Idealismus war, nicht die Ich-Orientierung, die das Denken beherrschte, war es der Naturalismus dann v. a. des 19. Jh., dem alles irgendwie „gewachsen“ war und nicht unbedingt aus vorheriger Überlegung kam. Die Organmetaphern überwogen. Hier ist noch einmal von Immanuel KANT zu sprechen. Im europäischen Rahmen gehört er zur Spätaufklärung. Er ist vor allem bekannt als derjenige, der das altehrwürdige Projekt einer Metaphysik „des Seins“, das Leibniz und Wolff noch gepflegt hatten, aufgab und stattdessen eine Grundlegung zur Metaphysik der Sitten schrieb (1785), diese ausbauend zu einer Kritik der praktischen Vernunft (1788) und den Metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre (1797), die er im selben Jahr noch erweiterte
Faust I 1976 ff. Nach RGG(3) 1,1039 ist das eine Anspielung an die Rechtskritik des Jeremy BENTHAM (vgl. # 2). Goethe selber war, anders als Bentham und unsere Naturrechtler, mit traditionellem Recht durchaus zufrieden.
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zu einer Metaphysik der Sitten. Damit war die Hauptaufgabe des Metaphysikers, etwas absolut Wahres, absolut Geltendes aufzuweisen, im Bereich der Handlungstheorie gelöst. Kants Antwort besagt: Ist das „Ding an sich“ uns auch entrückt, so gibt es doch apriorische Regeln für rechtes Handeln. Man könnte nun Großes von ihm erwarten, was die von Pufendorf im JN&G an die Spitze seines Werkes gestellte prima philosophia des Rechts betrifft, und in der Tat ist aus dem Kategorischen Imperativ auch eine Definition für „Recht“ zu gewinnen; es ist in Kants Worten die folgende:³¹¹ Das Recht ist (…) der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür [= der Wille] des einen mit der Willkür [dito] des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann.
Dieses „allgemeine Gesetz der Freiheit“³¹² ist eine von vielen möglichen Formulierungen des Kategorischen Imperativs. Dieser wird im unmittelbar folgenden Abschnitt, betitelt „Allgemeines Prinzip des Rechts“, erneut formuliert als deduktiver Ausgangspunkt für das Recht sowohl wie für die Ethik (Kant sagte: Moral): Ersterem gilt die hier zitierte erste, „Rechtslehre“ betitelte Hälfte dieser Metaphysik der Sitten, der Ethik die zweite, als „Tugendlehre“ betitelte. So weit, so gut. In dem, was Kant „Freiheit“ nennt, hat er ein paulinisch-johanneischlutherisches Anliegen gewahrt. Eine eigenständige Begründung des Rechts wie bei Pufendorf ist es jedoch nicht.³¹³ Als Ethik für den Gesetzgeber mag diese Philosophie geradezu perfekt sein und noch heute unüberholt; was sonst aber noch an Wissen und Urteilsvermögen in eine nachhaltige Gesetzgebung eingehen müsste, wird sich nie mit einem einzelnen Satz benennen lassen. Habe ich „Recht“ definiert, habe ich noch lange nicht Recht gesetzt. So weit ging Kant aber nicht, die einzelnen Bereiche des menschlichen Zusammenlebens nach den für sie nötigen Verhaltensnormen durchzumustern. An anderer Stelle äußert er eine interessante Bemerkung zur Rechtsgeschichte (AA 6, 239,13 – 21), und zwar im Rückgriff auf all diejenigen, die De officiis geschrieben hatten (so noch Pufendorf ) oder vom Begriff der obligatio ausgegangen waren (Wolff ): Warum wird aber Sittenlehre (Moral) gewöhnlich (namentlich von Cicero) die Lehre von den Pflichten und nicht auch von den Rechten betitelt? da doch die einen sich auf die andern beziehen. – Der Grund ist dieser: Wir kennen unsere Freiheit (von der alle moralische[n] Gesetze, mithin auch alle Rechte sowohl als Pflichten ausgehen) nur durch den moralischen Imperativ, welcher ein
S. 34 f Ausg. Vorländer = AA 6, 230,24– 26 (dort als ganzer Absatz eingerückt). Im NT begegnet der Ausdruck „Gesetz der Freiheit“, völlig anders gefüllt, in Jak 1,25 (# 363). – Etwas vorher (S. 28 Vorländer = AA 6, 225,6 – 8) hatte Kant diesen Imperativ in vereinfachter Form so geboten: „Der kategorische Imperativ, der überhaupt nur aussagt, was Verbindlichkeit [Pflicht] sei, ist: handle nach einer Maxime, welche zugleich als ein allgemeines Gesetz gelten kann!“ Es ist fraglich, ob oder wieweit er Pufendorfs Werk kannte. Sooft er Rechtsphilosophie zu lesen hatte, begnügte er sich nach Vorschrift seiner Universität bzw. seines Landesherrn mit dem Kompendium eines Epigonen, des Göttinger Juristen Gottfried ACHENWALL.
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pflichtgebietender Satz ist, aus welchem nachher das Vermögen, andere zu verpflichten, d.i. der Begriff des Rechts, entwickelt werden kann.
„Freiheit“ ist hier, gut evangelisch, Selbstbestimmung, und diese ist nur denkbar als Motivation von innen, und zwar eine zum Guten. Dem Bösen mangelt die Evidenz; Kant würde sagen: ihm mangelt die Allgemeingültigkeit, will man es in einer Norm fassen.³¹⁴ So hat denn, anders als in Goethes offenbar technokratischem Rechtsstudium, die Suche nach einer obersten Evidenz für die Naturrechtslehre in Kant ihren Gipfel erreicht, seine Anhänger sagten: ihren Abschluss. Der Preis hierfür war jedoch, dass die Rechtslehre ein Teil der Ethik wurde und ihre Selbstständigkeit verlor.³¹⁵ Zur gleichen Zeit jedoch adaptierte die Praxis gerade katholischer Länder in aller Stille das Pufendorf-Wolffsche Vernunftrecht. In der Gesetzgebungspraxis hatte „das positive göttliche Recht als Faktor des weltlichen Rechts jegliche Bedeutung verloren“, konstatiert Rainer POLLEY³¹⁶ mit Blick auf das 18. Jh. und fügt hinzu: Dafür spricht, daß die großen Vernunftrechtskodifikationen um die Wende des 18. zum 19. Jahrhundert – das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794, der Code civil von 1804 und das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch für Österreich von 1811 – das positive göttliche Recht keiner Erwähnung mehr für wert hielten.
Einiges aus den Zivilrechtsvorstellungen des aufgeklärten Naturrechts war bereits 1734 in das Reichsgesetzbuch für Schweden eingegangen; reformwillige Herrscher wie Max III. Joseph in Bayern, Friedrich II. in Preußen und Maria Theresia in Österreich folgten (Wesel, GRE 404; Becker, „Systembildung“ 43 – 49). In Preußen machte sich weiterhin Carl Gottlieb SVAREZ (gest. 1798)³¹⁷ um das Allgemeine Landrecht von 1794 verdient (Schlosser, NERG 10 § 35; Becker a.a.O.); in Österreich entstand unter Joseph II. und Nachfolgern ein neues Zivilrecht (ebd. §§ 87– 93), verbunden mit allgemeiner Schulpflicht und Aufhebung der Leibeigenschaft; die Gerichtshoheit des Adels ging an den Staat über. Preußens vergleichbare Reformen überzeugten dann wieder den Zaren (hier Nikolaus III.). Die reifste Frucht des bis dahin geleisteten Naturrechtsdenkens ist jedoch der Code civil des Français von 1804, dem eine Zivilprozessordnung folgte, ein Handelsrecht, ein Strafprozessrecht und – als Schluss (1810) erst – ein Strafrecht, alles zusammen bekannt als Code Napoléon, da der Erste Konsul und nachmalige Kaiser an seiner Entstehung als Zuhörer seiner Juristen und als Verhandlungsleiter bei der Mehrzahl der Sitzungen maßgeblichen Anteil gehabt hatte (Schlosser, NERG § 10,65 – 76). Gewohnheitsrecht aus verschiedenen Gegenden Frankreichs, ob codifiziert oder auch nicht, wurde, sofern
Dass normalerweise niemand Böses tut, um Böses zu tun, ist eine Einsicht schon der alten Griechen. Belege s. Siegert, Hell.-jüd. Predigten II 102. Typisch dafür und für die Nachwirkung ist Friedrich Adolf TRENDELENBURGs Naturrecht auf dem Grunde der Ethik, 1860, 1868 (1969). Polley, „Bibel und Staatsverfassung“ 373; dort auch das folgende Zitat. Nicht zu verwechseln mit Francisco Suarez S.J., einem viel zitierten Scholastiker des 16. Jh.
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bewährt, mit einbezogen und das Ganze nach dem Gaius-Schema geordnet, beginnend mit den Personen- und Bürgerrechten. In der wiederhergestellten Monarchie wurde diese bemerkenswert knappe und luzide Gesetzgebung³¹⁸ – nunmehr ohne jede Erwähnung Napoleons – beibehalten unter dem Titel Les cinq codes und in der Verfassung dieser Monarchie v.J. 1814 als Wille Ludwigs XVIII. erneut proklamiert.³¹⁹ Diese fünf Regelwerke, die, humanitäre Grundsätze der vorangegangenen Revolution aufgreifend (Schlosser, NERG § 10,62– 64), bis ins 20. Jh. galten – der code civil mit Änderungen gilt sogar noch heute –, sind ein Beispiel klarer Systematik und luciden Stils geworden.³²⁰ „Die rechtshistorische Literatur rechnet den Code civil zu den klassischen Naturrechtsgesetzbüchern und rühmt das Gesetz als reifste Frucht dieser Ära“ (Schlosser).³²¹ Stichproben daraus werden das vorliegende Werk zieren dürfen. Hingegen können wir die Naturrechtsliteratur des 19. Jh., soweit sie dieses Wort im Titel trägt, getrost überspringen. Die für die damalige Zeit typischen Versuche, außerhalb der Geschichte anzusetzen beim eigenen Ich (oder auch dem „intelligiblen Ich“, mit dem selbst Elert in seinen Frühschriften noch operierte), helfen für die hier zu leistende Arbeit gar nichts. Ein später Vertreter des „lutherischen“ Naturrechtsdenkens noch im frühen 20. Jh. ist der schwedische Ethiker und Kant-Interpret Axel HÄGERSTRÖM.³²² Er publizierte auf Deutsch, doch leider ist es bei ihm nicht gut bestellt um die Differenzierung der damals gerade viel missbrauchten Begriffe „Macht“, „Kraft“ (= Wirkung, auch: Gültigkeit) und „Gewalt“ (= Befugnis, Zuständigkeit; pejorativ aber: Gewalttat).³²³ Zu schnell ist ihm metaphysikverdächtig, was doch nur Sprachregelungen, also Konventionen einer Sprechergemeinschaft sind. Solche sind „bindend“ auf eine andere Art, als das physikalisch oder politisch belegte Wort „Macht“ zu denken gibt.³²⁴ Typisch für seinen Sprachgebrauch (bzw. den seines Übersetzers) dürfte folgender Satz sein, worin er „das
Sie passt insgesamt in ein einziges Buch (532 Seiten der hier zitierten Ausgabe; Lit.-verz. 7.2.1). Die diesbezügliche Willenserklärung in Art. 68 der vom König erlassenen Verfassung, wiederholt in dessen Ordonnances sur les cinq codes v.J. 1816, ist eine Rechtfiktion monumentalen Ausmaßes; er tritt als Gesetzgeber auf, ohne es bis dahin gewesen zu sein. Ihre fünf Teile sind: Code civil, Code de procédure civile, Code de commerce (damals noch kurz), Code d’instruction criminelle, Code pénal. Dem entsprechen bis auf die Reihenfolge die fünf klassischen Rechtsgebiete, wie Liermann, ERG 39 sie aufzählt: „Bürgerliches Gesetzbuch, Handelsgesetzbuch, Strafgesetzbuch, Zivilprozeßordnung und Strapfrozeßordnung“. NERG § 10,69, mit einigen Einschränkungen. Auf manchen Gebieten, etwas was Gleichstellung der Frau betrifft, war diese Gesetzgebung eher reaktionär. Den Hinweis auf diesen in Deutschland unbekannt gebliebenen Kant-Interpreten (obwohl er Deutsch schrieb) verdanke ich meinem Gießener Kollegen in der katholischen Theologie, Linus Hauser. Genannt z. B. in # 134 zu obligatio. Benutzt wurde von ihm Recht, Pflicht und bindende Kraft des Vertrages nach römischer und naturrechtlicher Anschauung (1934), 1965. Zum Verständnis dieser Schrift sei noch gesagt, dass das Wort „moralisch“ im Sinne Kants gebraucht wird für das, was heutiger Sprachgebrauch als „ethisch“ bezeichnet. Die Soziologie und damit auch die Sprachsoziologie haben einen anderen Machtbegriff. Die erst nach Hägerström aufgekommene analytische Sprachphilosophie, die ihm sicher genützt hätte und der wir hier folgen, leistet mittlerweile wichtige Hilfe im Freikommen von herkömmlichen Polysemien.
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natürliche Recht“ für das 17./18. Jh. definiert: „Dieses bestand in der mit der Natur gegebenen Macht, andere in den mit dem menschlichen Zusammenleben gegebenen Grenzen zu verpflichten“ (44). Diese „Macht“, bei Grotius als qualitas occulta aufgefasst, gründend „auf Kräfte, die außerhalb der natürlichen Welt liegen“ (54), ist spätestens von Pufendorf und seinen Schülern nicht mehr naturalistisch oder schicksalhaft gedacht worden, sondern als Konvention; vielfach ist es die Auswirkung des Gesellschaftsvertrags. Was dahinter steht, sind keine Naturgewalten, sondern es ist die Einsicht in die natürliche Bedürftigkeit der neu Geborenen. Aber diese Art von „Natur“ wurde von Geschichtsphilosophien und einem auf sie gestützten Positivismus verdeckt, sodass vor hundert Jahren Hans Liermann in seinem Rechtsstudium zu hören bekam: „Das Naturrecht ist tot und wird nie mehr wieder auferstehen“ (Liermann, ERG 42). Einer, der dem aus scheinbar verlorener Position in zahlreichen Veröffentlichungen widersprach, war der Philosoph Rudolf STAMMLER (1856 – 1938). Gültig bleibt unter vielem damals Gesagtem, aber dann Vergessenem, Hägerströms Nachweis, wie sehr heutige Rechtsbegriffe geprägt sind vom Naturrecht der Barockzeit, mag dieses auch zeitweise für überholt gegolten haben. „Pflicht“ insbesondere, dieser Grundbegriff jeglichen Rechtes in römischer Tradition, ist heute sehr viel mehr, als das Wort obligatio einstens meinte (# 134).
4.8 Zur neueren Naturrechtsdiskussion Das 19. Jh. kann für unseren Durchgang durch die gemeinsame Geschichte von Rechtswissenschaft und Theologie übersprungen werden; die beiden kommunizierten kaum noch. An den Universitäten spezialisierte sich das Wissen und teilten sich die Methoden. Nicht einmal die Geschichtswissenschaft, die in einem von Mosheim noch ungeahnten Maße aufblühte und eine eigene Wissenschaft wurde samt Hilfwissenschaften wie Epigraphik und Papyrologie, diente als Brücke, so sehr auch der Gegenstandsbereich und die Fragen dieser Wissenschaften mit denen der neutestamentlichen Exegese sich überlappen. Den Glanzleistungen bei der Erforschung des Alten Testaments – einer der immer noch Meistgenannten, Julius WELLHAUSEN, wechselte angesichts seiner unkonventionellen Ergebnisse vorsichtshalber in die philosophische Fakultät – steht im neutestamentlichen Fach nichts Gleichrangiges gegenüber. Man vergleiche nur – um schon zur Ernte des 19. Jh. zu springen – die Arbeiten des Historikers Eduard MEYER zum Neuen Testament (Lit.-verz. 6.2) mit denen seines Zeitgenossen, des Neutestamentlers Theodor ZAHN, welche letztere heute nur noch als Materialsammlung brauchbar sind! Zahn ist wohl der kenntnisreichste aller damaligen Kommentatoren des Neuen Testaments wenigstens auf evangelischer Seite, doch hat ihm, wie in der katholischen Literatur ja auch, seine Dogmatik die Ergebnisse vorgegeben. Man vergleiche nur, wie wenige Neutestamentler dem Verdacht Wellhausens, dass die Apostel als Zwölfergruppe
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erst eine nachösterliche Gruppierung seien (und auch Judas Iskariot da erst seine Rolle gespielt habe; # 71) überhaupt nachzugehen wagten.³²⁵
4.8.1 Absolutismus und Diktatur Was wir eben von Hägerström zitierten, ist eine Publikation von 1934. Wer damals auf den Höhepunkt seiner Karrierere gelangte, war der vormalige Demokrat, jetzt aber Chefjurist der deutschen Diktatur, Carl SCHMITT.³²⁶ Die deutsche Nation, immer noch aus Untertanen bestehend und nicht aus Staatsbürgern, war politisch so unreif, dass sie „geführt“ werden musste, und es war ein Spitzenjurist, der ihr das bewies. Tief verwurzelt im Katholizismus, hat er einen Aspekt von Göttlichkeit ins Recht eingeführt. Der auch heute immer wieder zu hörende Ausdruck „politische Theologie“ ist von ihm ins Gespräch gebracht worden;³²⁷ Leo Strauss und Jacob Taubes, beides jüdische Philosophen, haben ihn aufgegriffen. Jeweils handelt es sich um Ausläufer eines im Ursprung durchaus biblischen Theokratiedenkens – gerade Schmitt hat die theologische Herkunft der wichtigsten staatsrechtlichen Begriffe stets betont –, jedoch in Gegenentwürfen zu dem, was Luther in seiner Zwei-Reiche-Lehre gemeint hatte. Carl Schmitts Schrift Politische Theologie „beginnt mit einem Paukenschlag: ,Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet‘“ (dazu Taubes, Paulus 89). Das ist zwar nicht seine Verfassungslehre, sondern ein nachgeschobener Essay mit eigenem Titel; Taubes als Philosoph hat jedoch alles Recht, sich zu wundern: Wie kann ein Jurist so schreiben? Zu Beginn dieses politologischen Traktats wird das Recht schon ausgehebelt und die Ausnahme zur Regel gemacht. Hier ist exemplarisch zu sehen, wie verdeckte Theologie (oder Kryptoreligion) zu Denkfehlern in der Jurisprudenz führen kann. Wie kommt Schmitt dazu, solchermaßen den Bock zum Gärtner zu machen? Die Antwort lautet mit Goethe: Das Wunder ist des Glaubens liebstes Kind (s.u. Exkurs 3). Ilse Staff ³²⁸ sieht Schmitts durchaus zutreffende
Damals ist selbst Eduard Meyer den Neutestamentlern und ihrer Biblischen Geschichte beigesprungen mit dem Hinweis auf den Apostolat bereits zwischen jüdischen Gemeinden (Evangelien 264). Doch sind die Verschiedenheiten dessen, was er hier vergleicht, so groß, dass im vorliegenden Kommentar getrennte Einträge nötig waren: jüdisch (# 175; christlich, falls vorösterlich: # 43, nachösterlich: # 260). Über ihn und seine Politische Theologie (1922 u. ö.) s. HWP 6, 894 (s.v. Nomos) sowie R. FABER: „Carl Schmitt, der Katholik“, in: G. PALMER (u. a., Hg.): Torah, Nomos, Ius, 1999, 263 – 284. Nur solche Katholiken waren gegen ihn, die am Begriff des Naturrechts festhielten. Lit. zur Debatte jener Jahre s. Taubes, Paulus 92, Anm. 48 (H. Kelsen; E. Topitsch). Vgl. # 280 zu Röm 13. Das gilt m. E. auch von den Versuchen, das Rechtsdenken des damals emigrierten jüdischen Philosophen Leo STRAUSS wieder ins Gespräch zu bringen. Sein Persecution and the Art of Writing (1952) hat ein besonderes Interesse für die Judaistik – dadurch, dass es den Selbstschutz minderheitlichen jüdischen Denkens gegenüber dem mehrheitlichen zum Thema macht. Staff, „Zum Begriff der politischen Theologie bei Carl Schmitt“ 702 mit Zitat aus dessen Politische Theologie I 49. Ebd. 703 referiert Staff „die (…) These, die Nation, bzw. der souveräne Staat seien säku-
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These von der Parallelität theologischer und juristischer Begriffe gerade bei ihm bestätigt darin, dass er selbst „dem Ausnahmezustand für die Jurisprudenz ,eine analoge Bedeutung‘ gibt wie dem Wunder für die Theologie.“ Das kann nur bei einer Theologie passieren, welche so sehr fixiert ist auf die Macht, dass sie die Wunder zu den Glaubensartikeln zählt. Kein kirchliches Glaubensbekenntnis, ob alt oder neu, gäbe dazu die Grundlage. Schmitt, der heute noch faszinierende, ist das Musterbeispiel für die Säkularisierung des Christentums ins Politische im Sinne des Totalitarismus. Nochmals Ilse Staff (703 f ): Die Notwendigkeit einer Totalität des Politischen begründet C(arl) S(chmitt) damit, daß staatliche Entscheidung einheitliche Entscheidung in dem Sinn sein müsse, daß sie den homogenen Willen aller dem Staat Zugehörigen repräsentiere.
Als ob Mehrheiten nicht reichten! Für die Rechtsauffassung eines Gaius, Tribonian (er war der Hauptredaktor der Digesten) und dann wieder Luther, Pufendorf, Wolff und ihresgleichen ist der Kompromiss weit wertvoller als die Totalität einer erzwungenen Angleichung. Der Wunsch nach einer „höheren“ Macht auf Erden als der durch Konsens etablierten ist das Motiv, das die Konservativen aller Couleur unter sich eint – auch Taubes, den jüdischen Emigranten, mit Schmitt, dem Antisemiten (den Taubes im Alter noch besuchte). Es steckt aber auch „Amnesie“ dahinter (so wieder Taubes), und zwar ist es nicht das Vergessen der (teilweise) biblischen Ursprünge unseres Rechtsdenkens als vielmehr das Vergessen einer rationalen, dem Christentum jedoch freundlich zugekehrten Rechtstheorie, welche den ersten westlichen Verfassungen zur Grundlage diente, ehe das diffus-religöse Suchen nach Tranzendenz in der Romantik diese Tradition für längere Zeit verschüttete. Mancher Jurist, der dem „Dritten Reich“ allzu treu gedient hatte, durfte sich nach dem Krieg „drehen“, mancher Theologie wie Wilhelm Stapel, von dem das Unwort „Volksnomos“ herrührt, auch.³²⁹ Auf kirchlicher Seite aber ließ man der reformierten Dogmatik Karl Barths das Wort, welche die Zwei-Reiche-Lehre durch das ChristokratieIdeal ersetzen wollte (s.o. A 2.5.4). Die Theologie des Widerstandes verliert aber an Profil, sobald ihr Anspruchspotenzial gegen ungerechtfertigte Macht nicht mehr gebraucht wird. In den Jahren nach 1945 ist Deutschland in der Demokratie angekommen. Deren
larisierte absolute Instanzen“, nach Politische Theologie I 59 und II 101. Die Suche nach Absolutem, welcher die Kirchen nicht mehr genügt, mündet, coûte que coûte, in der Politik. – Auf linker Seite ist die „Theologie der Revolution“ nichts anderes gewesen. Er publizierte noch 1951 Über das Christentum, an die Denkenden unter seinen Verächtern, als wäre er ein neuer Schleiermacher. Über ihn s. W. KEINHORST: Wilhelm Stapel, ein evangelischer Journalist im Nationalsozialismus (EHS 31.242), 1993, bes. 10 – 16: „Volk, Volkstum und Volkheit. Die Grundlagen der Volksnomoslehre“. Dort finden sich die Blut-und-Boden-Parolen des politisch Ahnungslosen und Beobachtungen wie: „Das Entwicklungsgesetz des Volkes nennt Stapel Schicksal“ (15).
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Gesellschaftsvertrag beruht nicht auf der Abgabe von Verantwortung (das war der Untertanengeist gewesen), sondern auf deren Mitübernahme.
4.8.2 Das Abreißen der lutherischen Tradition nach dem Zweiten Weltkrieg In den Jahren ab 1940 war der lutherische Bischof von Oslo, Eivind BERGGRAV,³³⁰ führend im geistigen Widerstand gegen die NS-Okkupation seines Landes. Dass man von ihm nicht das lernte, was er den Deutschen – in ihrer Sprache – damals hatte sagen wollen, zeigt jener Kommissionsbericht von 1956, der unter # 280 zur Zwei-Reiche-Lehre noch zu zitierenden sein wird. Allein schon der Titel Macht und Recht ist ein Fehlgriff – als hätte Berggrav, der Anreger jener Kommission, nicht gemahnt: „Wenn die Macht zuerst kommt und erst nach ihr das Recht, dann sind wir in Satans Reich. Luther nennt das die Tyrannei.“ – Doch ist vom lutherischen Naturrechtsdenken in dem besagten Bericht selbst bei Ulrich SCHEUNER, einem einflussreichen Juristen und Mitgestalter des Staatskirchenrechts nach 1945, kein Gebrauch gemacht worden; vielmehr schwenkte auch er um in die Gegenthesen.³³¹ Berggrav, der Initiator, war bei diesen Besprechungen nicht dabei; Elert, der politisch diskreditierte, damals auch schon erkrankte, gleichfalls nicht. Das war eine verpasste Gelegenheit in der Zeit eines ganz neuen Interesses an Naturrecht, als es nämlich darum ging, den drei westlichen Besatzungszonen des besiegten Deutschland eine gemeinsame Verfassung zu geben, das Grundgesetz für die zu bildende Bundesrepublik Deutschland. Positiv-naturrechtliche Gesichtspunkte sind damals fast nur von katholischer Seite, etwa von Gustav GUNDLACH und Johannes MESSNER , eingebracht worden. Ein Zeitdokument hierzu ist Georg Stadtmüllers Broschüre über Naturrecht von 1948.³³² Er distanziert sich von der „Selbstüberspannung des aufklärerischen Vernunftrechts“ (25) und wünscht sich „die Wiedergeburt des ewigen Naturrechts“ (33), wie es ihm bis dahin er am ehsten die iberische Nachscholastik des 16. Jh. darbot (18 f – hier C 4.5.4), zuletzt aber die „apriorische Rechtslehre“ eines Adolf REINACH, der zufolge „Rechtssätze und Rechtsbegriffe nicht ,Schöpfungen‘ menschlicher Vereinbarung, eines Gesetzgebers oder anderer rechtserzeugender Faktoren sind, sondern ihr
Über ihn s. F. LÖTZSCH: „Blick über den Zaun: Die skandinavische Alternative“, in Siegert, Luther und das Recht 184– 190. – Nachstehend zitiert: Berggrav, Der Staat und der Mensch 307. Wenig vorher hatte er geschrieben: „Zum Problem des Naturrechts nach evangelischer Auffassung“ (1950; s. Lit.-verz.), wo er solch kurzschlüssige Thesen wie „Dem Menschen ist (…) die Möglichkeit der Erkenntnis der Gerechtigkeit verschlossen“ (J. ELLUL) ernstlich zu bedenken gibt (391). Er hatte sich weismachen lassen, Luther sei in Rechtsfragen nicht Rationalist, sondern Voluntarist gewesen (379). Pufendorf nennt er nur en passant als den, der das Naturrecht „von der religiösen Basis gelöst und ganz auf die menschliche Vernunft gegründet“ habe (382). Woher er diese Freiheit hatte und nach welcher Natur er sich richtet, erwähnt er nicht, bringt ihn vielmehr in „Zusammenhang mit einer Theologie des Bundes des Volkes Gottes mit Gott (covenant)“ (397), einen Puritaner des 18. Jh. zitierend. Solche Theologisierung des Rechts ist überhaupt nicht Pufendorfs Sache. G. STADTMÜLLER: Das Naturrecht im Lichte der geschichtlichen Erfahrung, 1948.
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eigenes apriorische Sein besitzen“ (45).³³³ Dass Pufendorf (den er nur einige Male flüchtig erwähnt) diesem nie einlösbaren Anspruch schon längst eine ganz anders geartete Rechtsbegründung entgegengesetzt hatte, hat damals, als sie mehr als je zeitgemäß gewesen wäre, niemand geltend gemacht. Diejenigen Partner, welche der Jurisprudenz in jener Zeit von kirchlicher Seite zur Verfügung standen, hegten also mehrheitlich völlig andere Auffassungen als die oben referierten evangelischen Barockjuristen. Sie waren entweder Katholiken, die auf den Lehrbesitz der thomistischen Metaphysik und der in ihr gegründeten Soziallehre unveränderlicher Werte zurückgriffen, oder Protestanten aus der Schule Karl Barths, die im Namen Christi Propheten sein wollten mit Eingebungen ad hoc. Selbst solche Theologen, die sich lutherisch nannten, haben also im 20. Jh. der Autonomie der Vernunft in politischen Dingen ihre Absage erteilt – als wenn das der Schade der NS-Zeit gewesen wäre! – und haben das Evangelium im Gesetz gesucht: so Johannes Heckel als Kirchenjurist (s.o.), so Ernst Käsemann als Neutestamentler (# 285), so Ernst Wolf als Systematiker³³⁴ und zeitweise sogar der evangelische Jurist Hans Liermann (oben zitiert), um nur die wichtigsten zu nennen.³³⁵ Die Mündigkeit des Menschen war in jener nach-aufgeklärten Zeit verpönt, und man flüchtete sich nach dem neuerlichen Krieg in subtile Entschuldigungs- und Schicksalsphilosophien, in Existenzialismus³³⁶ und in Heideggers Raunen vom „Geschick“. Der studentische Protest der Jahre 1968 ff richtete sich sodann gegen diejenigen, die sich eine sturmfreie Zone hatten einrichten wollen, wo Verantwortungsfragen politischer Art nicht auftreten konnten. Paul Mikat berichtet: „In den Gremien machte man die Erfahrung, dass evangelische Christen (…) aufgrund der natura-deleta-Lehre das Naturrecht als solches nicht anerkennen“ (RRS 642). Ein Dogma hatte sich durchgesetzt, welches Pufendorf, nicht weniger als vor ihm schon die lutherischen Bekenntnisschriften, abgelehnt hatten (Eris 39 u. ö.; # 263). Dieses besagte, die Natur des Menschen sei durch den Sündenfall so verdorben, dass keine positiven Erkenntnisse aus ihrer Betrachtung zu gewinnen seien. Solches zu versuchen, wurde nunmehr als Eigenmächtigkeit und als „Humanismus“ verschrien. Joseph Kardinal Höffner, der dieses Abgehen von Luthers diesbezüglicher
Dieser sonst wenig bekannte Philosoph aus der Richtung der Phänomenologie (Wesensschau) ist bei Verdross, Rechtsphilosophie 193 kurz erwähnt. Seiner Herkunft wegen gilt er in Asmussen, Warum 350 Anm. 1 als „lutherischer Professor“; doch schwenkte auch er über zu reformierten Positionen. 1941 veröffentlichte er ein Kirchenbuch mit dem Untertitel Ordnungen für die Versammlungen der nach Gottes Wort reformierten Gemeinde. Ihm galt die Bekennende Kirche (sie ist gemeint) für reformiert, und wäre es aus Zorn über die Trägheit der Lutheraner. Diese Fehldiagnose ist immer noch aktuell. Ein maßgeblicher Dogmatiker des gegenwäritigen Protestantismus, Ingolf DALFERTH, sagt in seiner Rede Naturrecht in protestantischer Perspektive, 2008, S. 38, im Rückblick auf die NS-Zeit: „Es hatte sich als Grundirrtum herausgestellt, auf die Einsicht der Vernunft und einen Kanon allgemein einsichtiger Werte zu setzen.“ Hatte nicht auch der Altnazi Emanuel Hirsch vom „Scheitern der autonomen Vernunft“ orakelt? Ein treffendes Aperçu hierzu stammt von Pfr. Dr. Walter MAGAß (Bonn, mündlich): „Der Existenzialismus ist die katastrophale Reaktion auf ein katastrophales Ereignis“.
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Auffassung seitens der Protestanten durchaus bemerkt (Chr. Gesellschaftslehre 70), hat allen Grund, sich darüber zu wundern. So ist denn, trotz freundlicher Anregungen von außen,³³⁷ die Rückbesinnung auf ein vernunftgemäßes (nicht transzendentes, nicht mythisches, schon gar nicht „völkisches“) Naturrecht auf evangelischer Seite unterblieben zugunsten solcher Thesen, die ein sich „stets reformierendes“,³³⁸ damals sehr fundamentalistisches Christentum ihr aufgedrängt hatte. Öffentlich wahrnehmbar blieb nur noch die katholisch-neuscholastische Naturrechtslehre, und die ist eine Sache für Spezialisten. Jahr für Jahr erscheinen dennoch allein in deutscher Sprache mehrere Bücher, welche „Naturrecht“ im Haupttitel haben, Untertitel nicht gezählt. Es scheint aussichtslos, darüber eine Übersicht gewinnen zu wollen (vgl. aber Exkurs 16). Oftmals verraten allein schon die Titel, dass es entweder um Soziallehre geht in römisch-katholischer Tradition oder um Menschenwürde in protestantischer, oder aber um noch zu bildendes internationales Recht; im Schatten bleibt, was für die Auslegung des Neuen Testaments das Relevanteste wäre, das Zivilrecht. – Ein anderer Zweig der Literatur betrifft Rechtsgeschichte der Neuzeit; dort mussten solche Werke, die Pufendorf noch nicht einmal im Register haben, beiseite bleiben. Rückgriffe auf bestimmte Texte des Neuen Testaments oder gar ein Bemühen um deren Auslegung waren ein anderes Suchkriterium, welches meist enttäuscht wurde. – Was schließlich nach näherer Inspektion auch beiseite blieb, sind solche Arbeiten, die noch immer aus der animalischen Natur statt aus der spezifisch-menschlichen ihre Anschauungen beziehen wollen – manchmal in der wohlmeinenden Absicht, Gott nicht auszuschließen:³³⁹ Der Mensch dürfe doch nicht „das Maß aller Dinge“ sein! Doch, hier schon, und hier gerade! Sein Verhältnis zum Schöpfer wird bei unseren Barockautoren nicht ausgeblendet. Das hat erst im 19. Jh. die Ichbezogenheit des Deutschen Idealismus zustande gebracht, und ihr entglitt das Naturrechtsdenken.
4.8.3 Der Neuanfang Wenn dieser Abschnitt mit einem positiven Ausblick schließen kann, dann aufgrund einer allmählich wachsenden Übereinstimmung, die das verkrampfte Gespräch der Bei einer Vortragsreise i.J. 1964 warnte der jüdische Philosoph (und Bultmann-Schüler) Hans JONAS, nachmaliger Autor des Prinzip Verantwortung (1979), die Theologie vor der Faszination Heideggers (zitiert bei Siegert, Argumentation 177.260). Auf Karl Barth wird das Motto einer ecclesia semper reformanda zurückgeführt. Er selber ließ davon auch nicht ab und empfahl im letzten Teilband seiner KD die Abschaffung der Kindertaufe, um von der Volkskirche zur Bekenntniskirche (im Sinne persönlicher Glaubensbekenntnisse) zurückzukehren. Das Luthertum, wo es noch fortdauert, bleibt Bekenntniskirche im Sinne des in der CA niedergelegten kollektiven Bekenntnisses v.J. 1530, ohne es restriktiv zu gebrauchen. Neue Fragen erhalten auch hier neue Antworten. Aus diesem Grund bleiben Arbeiten aus der Schule von Klaus LUIG (s. Lit.-verz.: Armgardt/Repgen, Naturrecht) hier am Rande. Sie verteidigen einen verengten Evidenzbegriff (s.u. Exkurs 11).
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Nachkriegszeit zu entspannen verspricht. Die einst so missbrauchte Zwei-Reiche-Lehre von CA 28 findet, auch wenn es nicht ausdrücklich gesagt wird, wenigstens von römischkatholischer Seite nunmehr Anerkennung, v. a. im liberalen Katholizismus, der keinen Primat der (katholischen) Theologie über staatliche Politik mehr beansprucht.³⁴⁰ Viel zitiert wird in diesem Zusammenhang der Satz eines Schülers von Carl Schmitt und – im Gegensatz zu ihm – praktizierenden Katholiken, nämlich des Bundesrichters a.D. Ernst-Wolfgang BÖCKENFÖRDE, geäußert 2011:³⁴¹ „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Da bleibt der Kirche – allerdings auch der Philosophie – eine Aufgabe. Böckenförde wünschte sich hierbei keine politische Theologie, wohl aber eine „Theologie der Politik“, worunter er verstand: ein christliches Ethos des politischen Engagements. Dieses trieb ihn, als Mitglied der Kirche in den Staatsdienst zu treten. Diese Haltung entspricht genau der oben (A 2.3.2) zitierten, dem Lutherum geschuldeten Maxime: There is no Christian act, but a Christian’s act. ³⁴² Um Worte des späten Habermas (er ist Glied der Ev.-Luth. Kirche in Bayern) daneben zu halten:³⁴³ „Heilige Schriften“, „religiöse Überlieferungen“, das „Gemeindeleben der Religionsgemeinschaften“ und ihre „kultische Praxis“ bleiben auch unter den Bedingungen der modernen Ausdifferenzierung von Recht und Moral wichtige „Quellen (…), aus denen sich das Normbewußtsein und die Solidarität von Bürgern speisen“.
Das sind Einreden gegen den Positivismus des 20. Jh., der die Garantie der Menschenwürde nur als Grundrecht kannte. Grundrechte können in einer Verfassung stehen, aber auch nicht stehen, in unterschiedlicher Auswahl: Da fehlt für Böckenförde die „tragende Achse“.³⁴⁴ Um einer solchen willen ließ er als Katholik nicht ab von der Voraussetzung eines vorpositiven Naturrechts, und auch der Rechtsgeschichtliche Kommentar zum Neuen Testament wird sie brauchen. In Böckenfördes Kritik jedoch, dass „die Menschenwürdegarantie als rechtlicher Begriff (…) ganz auf sich selbst gestellt“ sei, d. h.
Irlenborn, „Christlicher Glaube und europäische Integration“ (s. # 280), 189: „Die Unterscheidung zwischen Religion und Politik im Selbstverständnis der katholischen Kirche bildet den Rahmen, in dem die Beziehung des christlichen Glaubens zur europäischen Integration näher konturiert werden kann. (…) Josef PIEPER beispielsweise spricht von der ,theologisch begründeten Weltlichkeit‘ des ,christlichen Abendlandes‘.“ Zitiert z. B. bei Tanner, „Die Rechtswissenschaft“ 479 und bei Mehring, „Politische Theologie“ (Lit.verz. 8.3), 155. Dort 159 Bibliographie seiner Hauptschriften. Für Böckenförde herrschte ein „Einklang von Glaube und Wissen“ (157; dort auch das Zitat zum Staatsdienst). Elert, Morphologie II 332 sagt im Sinne Luthers: Einen christlichen Staat kann es nicht geben, wohl aber einen christlichen Fürsten. „In diesem Fall haftet das Merkmal der Christlichkeit genau genommmen nur an der Person; an ihren Handlungen und transsubjektiven Beziehungen jedenfalls nur abgeleiteterweise.“ Vgl. noch ebd. 474 (unten). Gerafftes Zitat aus Zwischen Naturalismus und Religion (2005), Abschnitt „Vorpolitische Grundlagen des demokratischen Rechtsstaates“ (109 f ) bei Tanner, „Die Rechtswissenschaft“ 478. Wald, „Menschenwürde“ (wie # 288) 55.
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einer zureichenden Begründung ermangle – „die Absolutheit tritt (…) zurück“ –,³⁴⁵ dürfte ein Missverständnis stecken oder ein geheimer Monarchismus. Positive Gesetze sind immer das Ergebnis von Überlegungen, die nicht im selben Text mitdokumentiert werden, zumal es unterschiedliche Überlegungen sein können, religiöse und nichtreligiöse, die zu gleichen Ergebnissen führen.³⁴⁶ Nur die Überlegungen sind es, die an Absolutes rühren können; der Staat selbst ist weder, noch vertritt er Absolutes, verdankt er sich doch dem Gesellschaftsvertrag. Hinter diese Voraussetzung, die mit christlichem Engagement bestens verträglich ist,³⁴⁷ gehen wir nicht zurück. So führt denn dieser kritische Durchgang durch die Problemgeschichte zu folgenden – in den Exkursen noch näher zu begründenden – Überlegungen: Verfassungsrecht und öffentliches Recht leisten bei aller Zeitgebundenheit nichts anderes, aber auch nicht weniger, als die Positivierung von bislang lediglich naturrechlichen Normen. Mögen letztere sich als perfekt und göttlich imponieren, so gelten staatliche Gesetze, ebenso auch gerichtliche Urteile, in heutigen Demokratien nicht im Namen Gottes (wie diese Kritik zu wünschen scheint), sondern im Namen des Volkes. Diesem gegenüber hat die Kirche ihre Verkündigungsaufgabe. Wenden wir es an auf das Gespräch der Wissenschaften! Methodisch hat Theologie nichts Spezifisches an sich, sondern lernt von allen Wissenschaften, die mit geschichtlicher Erfahrung zu tun haben. Sie hat jedoch von ihrem Gegenstandsbereich her, den religiösen Traditionen und Zeugnissen zunächst eines Volkes, dann einer international werdenden Glaubensgemeinschaft, besondere Voraussetzungen. Was die Theologie „Offenbarung“ nennt, kommt aus dem Nachdenken über Erfahrungen, die in den heiligen Texten berichtet werden, dort schon verbunden mit Vorschlägen zu ihrer Deutung (# 262). Zum Offenbarungsbegriff wird in # 262 noch näher zu sagen sein, dass philosophischer Apriorismus und biblische Offenbarung nur Analogien aufweisen von formaler Art; inhaltlich überlappen sie sich nicht so sehr, wie sie sich vielmehr widersprechen (etwa in der Seelenlehre und überhaupt der Anthropologie: # 41). Die von den Kirchenvätern ins Lehrgut der Kirche eingebrachte Parallelisierung, ja Fusionierung der biblischen Offenbarung mit einer vom Griechentum übernommenen Lehre vom zeitlosewigen Sein hat wohl die Ansprüche erhöht, nicht aber die Deutlichkeit der Botschaft. Fruchtbarer, so wird sich zeigen, wurde die Verbindung biblischer Ethik mit römischem
Beide Zitate bei B. WALD: „Menschenwürde und Menschenrechte. Unverzichtbarkeit und Tragweite naturrechtlicher Begründungen“, in: Nissing, Naturrecht 53 – 74 (55). In diesem Beitrag und vielen seiner Art versucht die katholische Rechtsauffassung ihre Absolutheit darzustellen, indem sie sich für die angeborenen Rechte Ungeborener verkämpft. „Auch der Grundgesetzartikel von der Menschenwürde konnte 1949 im Parlamentarischen Rat nur verabschiedet werden, weil auf einseitige Begründungen dieses Artikels verzichtet wurde“ (Tanner, „Die Rechtswissenschaft“ 480). Beispiele eines solchen gibt Mehring 184, bes. Robert SCHUMAN, den Vordenker der Europäischen Union: „Durch den ,Aufbau Europas‘ verwirklicht sich Schuman zufolge die Demokratie in christlichem Sinne“, nämlich nicht nur als Machtgebilde, sondern als Schutz von „Nächstenliebe und Barmherzigkeit“.
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Recht. Insbesondere die neutestamentliche Wertschätzung der Einzelperson ließ sich im Zuge neuzeitlicher Ausbildung von Naturrecht hineinintegrieren und hat, zugleich mit dem Wegfall des Sklavenrechts, den Begriff der Menschenwürde hervorgebracht (# 288). Ganz nebenbei ergibt sich hier eine Antwort auf die seit Harnacks Tagen heiß diskutierte Frage der „Hellenisierung“ des Christentums, als sei diese als Verfremdung der biblischen Botschaft zu vermeiden. Das ging gegen die Terminologie des Nicänischen Glaubensbekenntnisses – ohne Erfolg, denn sie ist bis zum heutigen Tage durch nichts Besseres ersetzt worden.Vom Platonismus einer doppelten Welt, deren besserem Teil die unvergänglichen Seelen angehörten, kann man das weit eher sagen. Das folgende Werk wird mit der Annahme einer einzigen Welt auskommen. Eine Gemeinsamkeit der biblischen Texte mit dem römischen Recht ist darüber hinaus ihr Erfahrungsbezug und damit auch ihr Sicheinlassen auf Zeit und Vergänglichkeit. Vor einer Änderung des Rechts, wo immer sie sich förderlich erweist für das Wohl der Teilnehmer einer Rechtsgemeinschaft, besteht da keine Reserve, und es gibt auch keine Notwendigkeit, Überlebtes festzuhalten.³⁴⁸ Zahlreiche Begriffsbildungen sowohl innerhalb der Bibel wie auch außerhalb ihrer werden in den nächsten Bänden aus diesem Blickwinkel nachzuverfolgen sein. Sie kulminieren im Offenbarungsbegriff, jedoch in keinem spezifisch biblischen Begriff des Rechts. Ein „Wille Gottes“, losgelöst von jeder Situation, wird nicht zu lehren sein und ist im Neuen Testament jedenfalls nicht codifiziert, sondern situative Beispiele werden ihn illustrieren, und gewisse Wertbegriffe werden sich herauskristallisieren: „Gerechtigkeit“, „Gnade“, „Liebe“, säkularisiert und latinisiert später zu „Humanität“. Die „Tora für die Völker“, sofern das Neue Testament eine solche enthält, ist säkular, und der neue „Opfergottesdienst“ (latreia), als welchen Paulus in Röm 12,1 f die Erfüllung des Willens Gottes (to thelēma tou theou) bezeichnet, geschieht außerhalb jedes Tempels, wie auch der Tod Christi, als Opfer verstanden, „außerhalb des Lagers“ (Hebr 13,11.13) geschah. Was jedoch Liturgie im engeren, religiösen Sinn betrifft, dafür gibt es auf evangelischer Seite kein Kultrecht mehr, sondern Gottesdienstordnungen und Agenden auf der einen Seite, wobei das ius liturgicum der Anwendung im Einzelnen bei Pfarrer und Presbyterium liegt, und dem kirchlichen Dienstrecht auf der anderen, was das angestellte Personal (die „Religionsdiener“ des Staatskirchenrechts) betrifft. Diese beiden Gebiete, längst wohlerforscht, werden hier nur randlich zu berühren sein. Was Luthers Ethik auch als „Gottesdienst“ bezeichnet, ist, ganz im Sinne des Paulus, jede ehrliche und legitime Berufsausübung (# 291) bis hin zu der des Soldaten; dazu zählt dann a fortiori auch die des Juristen. Er gehorcht einem Erhaltungsauftrag Gottes an der Schöpfung, zu welcher die Gesellschaften als von den Menschen ganz besonders zu verantworten mit gehört.
Das sog. hebräische Recht (mišpaṭ ‘ibrî) hingegen, wofür uns das vierbändige Werk von Menaḥem Elon der Hauptzeuge ist, vermag unanwendbar gewordene Torabestimmungen nur einzukapseln; es muss sie bestehen lassen. Schlacken dieser Art hat bekanntlich auch das britische Recht angesammelt.
Folker Siegert
Exkurse
Exkurs 1: Gesetz und Evangelium. Der lutherische Ansatz Warum wird in diesem Kommentar zum Neuen Testament auf dem Hintergrund der Rechtsgeschichte ein Rechtsbegründungsansatz des 17. Jh. zugrunde gelegt, wo es doch so viele neuere gibt?¹ Nun, der theologische Ansatz, der hier gleichfalls zugrunde liegt, ist sogar noch älter; es ist der Luthers aus den Jahren 1520 – 30, so wie er zur historischen Urkunde geworden ist 1530 in den 28 Artikeln des Augsburger Bekenntnisses (CA). Ihr Begriffsgerüst ist tragfähig bis heute, vorausgesetzt, man platziert die Sündenlehre, die in Art. 2 neben der Gotteslehre als zweiter Pfeiler dient, weiter hinten.² Zunächst ist der Mensch ja ein Geschöpf und als solcher etwas Gutes. Die Schöpfungslehre, und nicht die Erlösungslehre, wird der gemeinsame Boden zwischen Theologie und Naturrechtslehre sein. Was sodann die Inkarnation betrifft, so ist diese – auch das können wir aus den übrigen Theologien ergänzen – nicht nur Reaktion auf die menschliche Sünde, sondern entspricht einer schon im Alten Testament bezeugten Absicht Gottes auf Selbstoffenbarung in der Zeit. Wortführer der ursprünglich lutherschen Theologie im 20. Jh., heute fast vergessen, ist der nunmehr näher vorzustellende Werner ELERT (1885 – 1954). Elert hat wegen seines angepassten Verhaltens während Deutschlands politischer Katastrophe 1933 – 45 bis heute kein Renommee mehr. Ja er unterliegt einer damnatio memoriae, kaum dass er noch abschätzig erwähnt wird.³ Dass er in seiner Morphologie (= Entwicklungsge-
S.o. A 2.5 sowie unten 5.3. Als Momentaufnahme v.J. 2016 wird uns dienen Mehring, „Politische Theologie oder Staatskirchenrecht?“ in: Nissing, Naturrecht 141– 161. Hingegen nennen die fast gleichzeitigen Marburger Artikel von 1529, die bis auf den 15. und letzten den Konsens Luthers mit Zwingli wiedergeben, die Sünde erst im Art. 4. An zweiter Stelle steht die Inkarnation. Dem neuesten einschlägigen Nachschlagewerk z. B., genannt Das Luther-Lexikon (hg. V. LEPPIN/G. SCHNEIDER-LUDORFF), 2014, 188 f ist er eine Unperson. – Ein Persönlichkeitsbild gibt W. v. LOEWENICH: Erlebte Theologie, 1979, v. a. 117 ff.169 ff. Manchen war Elert kein angenehmer Zeitgenosse. Insbesondere gegen uneingelöste Ansprüche wurde er sarkastisch; das betrifft manchmal auch Karl Barth. Dass er, trotz seines forschen Auftretens, nicht in der NSDAP war, passt zu seiner Frontstellung gegen jede „Weltanschauung“; es passt auch zu seinem Humor. Eine Theologie der Lebensfreude, puritanischem Dauerernst frontal entgegengesetzt, findet sich bei ihm in Morphologie I 398 f; vgl. von ihm „Das Lachen in der Kirchengeschichte“ (1927) in: Keller-H., Ein Lehrer 184– 189. https://doi.org/10.1515/9783110658347-018
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schichte) des Luthertums 1932 für eine „Möglichkeit des Führertums“ optierte (II 78 f ),⁴ ist ihm nicht verziehen worden, auch nicht sein Fehltritt von 1934, als er, zusammen mit seinem Erlanger Kollegen Paul ALTHAUS, den Rückzug aller getauften Juden aus kirchlichen Ämtern forderte (sog. Ansbacher Ratschlag). Dieser Ansbacher Fehlschlag, wie man ihn nach dem Krieg nannte,⁵ hat Elerts Leistungen ihrer verdienten Nachwirkung beraubt. Er war zwar nie „in der Partei“, hielt auch nichts von Rassentheorien (Elert, Kampf 365), war aber als langjähriger Dekan der Theologischen Fakultät Erlangen um gute Beziehungen zu den NS-Behörden bemüht.⁶ Die NS-Lehren und -Ansprüche ließ er gelten, indem er sie als „Gesetz“ einstufte; Evangelium war und blieb für ihn etwas anderes. (Zu Recht kam aus der Richtung Karl Barths hierzu die Mahnung, das sei zu einfach). Kirchlich war er Glied der Ev.-Luth. Kirche Bayerns und hat nach dem Krieg, anders als sein jüngerer Kollege Hermann SASSE, deren Eintritt in die – aber nicht Aufgehen in der – EKD befürwortet. Beide Kollegen übrigens waren, weit früher als ihre Kirchen, Ökumeniker: Die Eröffnungsansprache für die Weltkonferenz für Glauben und Kirchenverfassung 1927 hat Elert gehalten; Sasse hat der Konferenz als Dolmetscher und als der Herausgeber ihrer Akten gedient. Erst später ist Sasse der enge Konfessionalist geworden, als den man ihn kennt. Sperrig für eine heutige Lektüre von Elerts Hauptschriften sind die geschichts- und daseinsphilosophischen Einstiege, die man als Tribut an die Zeit getrost überspringen kann.⁷ Anklänge an den damaligen Nationalismus sind selten, und einige abfälligen Äußerungen über das Judentum sind von dem Herausgeber der Nachkriegsauflagen, Ernst KINDER, ohne jeden Verlust gestrichen worden. So sei dem Sprecher des Erlanger Luthertums hier etwas gewidmet, was Herder eine „Rettung“ genannt hätte,⁸ nämlich
Bedenklich nahe bei Carl Schmitt ist die in Morphologie II, S. XI für S. 333 angekündigte „Überschreitung der Idee des Rechtsstaates“; das meint aber, liest man diese Stelle, die angebliche „Überschreitung“ eines „bloß“ positiven Rechts. Dieses Papier hat in der übrigen Fakultät und bei der Landeskirche damals schon Befremden ausgelöst; vgl. die Zeit- und Archivstudien bei G. MÜLLER: Argument und Einsicht. Studien zur Kirchengeschichte Bayerns, 2019, 146 – 219. – Ob Elert 1933 für die NSDAP gestimmt hat, ist nicht bekannt; in protestantischkonservativen Kreisen wählte man eher die Christlich-Soziale Partei des evangelischen Theologen Adolf STOECKER, eines erklärten Antisemiten, dem er sicherlich nahestand. Das Wort „völkisch“ in dem besagten Gutachten ist bei ihm aber kulturell gemeint, nicht biologisch-rassisch. Sein Amt hat er, so weit es ging, auf dem Korrespondenzwege erledigt, nicht auf Sitzungen, um die Monologe der NS-Funktionäre nicht anhören zu müssen. – Bei seiner Einsetzung zum Dekan 1935 hat sich (lt. mündlicher Mitteilung seines letzten Habilitanden, Niels-Peter MORITZEN) folgende Szene abgespielt: Er wurde seinen künftigen Kollegen aus den übrigen Fakultäten vom NS-Rektor vorgestellt als „Dr. D. Elert, Professor für systematische Theologie – sowas gibt’s noch“, worauf er antwortete: „Uns wird’s auch noch geben, wenn’s euch nicht mehr gibt.“ Damals waren, in Hegels immer noch anhaltender Nachwirkung, Geschichtsmetaphysik und -theologie eine intellektuelle Mode, auch wenn ihre orientierende Wirkung heute eher negativ einzuschätzen ist; s. Exkurs 16. Vgl. Johann Gottfried Herder: Denkmale und Rettungen. Literarische Porträts, hg. R. Otto, 1978. Dort wird Pufendorf übrigens kaum erwähnt, Leibniz jedoch gefeiert. Die Originale zu dieser Sammlung sind meist in Herders Briefen zur Beförderung der Humanität erschienen.
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eine Rückholung seiner Persönlichkeit und seiner Leistung in das Gedächtnis der Gebildeten. Er selbst war ja ein anerkannter Historiker seines Fachs, der vieles zu Unrecht Vergessene aus der Versenkung hob. Ohne seine auf ausgedehnter Quellenlektüre beruhende Würdigung der Rechtstheorien im Luthertum des 17. und 18. Jh. in der Morphologie (s.o. A 5.2.5) wäre der vorliegende Rechtsgeschichtliche Kommentar zum Neuen Testament nicht zustande gekommen. Zu dieser„Rettung“ Elerts und damit auch des von ihm verteidigten, ursprünglichen Luther gehört, dass wir Abstand nehmen von jener Selbst-Disqualifikation des konfessionellen Luthertums in Fragen der Politik und des Rechts, die diesen ganzen Bereich unter den (bei Elert vermiedenen) Begriff der „Notordnung“ stellte. So Z. B. bei Merz, „Glaube und Politik“ 223: „Der Staat als eine Ordnung [= als verfasster] ist ihm [sc. Luther] eine Notordnung gegen die Sünde, aber es liegt zugleich auf ihm der Glanz, der ausgeht von dem kommenden Reiche Gottes.“ Beide Hälften dieser – ohne Beleg vorgebrachten – These lassen Abstand nehmen von dem Gedanken, Politik und Recht seien Gestaltungsmöglichkeiten für das Zusammenleben der Menschen. So zu denken, überließ man Utopisten, Ideologen und Demagogen. Denn – so Merz weiter – (223 f ): „Nicht diese Welt soll bestehen bleiben; es findet vielmehr das Tun des Fürsten und des Staates daran die Grenze, daß es der Welt angehört.“ Dass protestantische Theologie aller Richtungen damals mit solchen Tönen von der Welt und ihren Nöten Abstand nahm, hat ihr nach 1945 die Wirkung verwehrt, die sie auf die Neudefinierung von Rechtsstaatlichkeit hätte ausüben können (Exkurse 16 – 18). Doch zurück zu Werner Elert: Aus Schlesien stammend, promoviert in Theologie wie in Philosophie, war er nach ersten Lehrerfahrungen im Seminar der Altlutherischen Kirche in Breslau zunächst Kirchengeschichtler, dann Dogmatiker und Ethiker an der Theologischen Fakultät der Universität Erlangen. Mit dem spekulativen Denken des 19. Jh. hatte er sich in seiner Dissertation zum Dr. phil. und sodann in seinem Kampf um das Christentum (1920 – er wurde ihm als Habilitationsschrift angerechnet) hinreichend auseinandergesetzt, um die Theologie nicht selbst für eine Spekulation, sondern für eine auf Geschichte und damit auf Erfahrung (wenn auch nicht auf Empirie im Sinne des Wiederholbaren) gründende Lehre zu halten. Was seine Position mit der Bultmanns, des wichtigsten Repräsentanten kritischer Forschung am Neuen Testament, verbindet, ist die Akzeptanz der Geschichte, so wie sie sich mit menschlichen Mitteln erforschen lässt, und nicht wie eine vorgefasste Dogmatik sie bräuchte. Sein großer Wurf: Der christliche Glaube: Eine lutherische Dogmatik (1941), auf einen kompakten Band begrenzt, und ebenso seine Ethik (1949) lehren eine vollkommen klare Zuordnung von Glaubenslehre und weltlichen Wissenschaften. Wenn hier vor allem auf die erstere zurückgegriffen wird, dann aus dem Grund, dass in der Ethik zwar auch ein Kapitel mit „Lex naturalis“ betitelt ist (100 – 110), dort aber nicht mehr in dem konstruktiven Sinne, dass der Mensch auf eigene Rechtseinsichten bauen könne (was, recht verstanden, den Erfahrungsaustausch einschließt), sondern im an-
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klagenden Sinne.⁹ Themenbedingt, aber auch zeitbedingt hat er dort die „Dämonie des Bösen“ bis hin zu dem von Paulus beklagten „Gesetz der Sünde“ dargestellt (dazu unten). Elerts Wissen um die lutherische Rechtstradition, wofür er damals in Deutschland kein Echo fand, ist es wert, ihm eine „Rettung“ angedeihen zu lassen. Zu profund war seine Kenntnis der Quellen,¹⁰ und zu schnöde ist er unter bloßem Verweis auf jenen Fehlschlag von 1934 beiseite gestoßen worden.¹¹ Er hatte das aggressive Neuheidentum, das in Gestalt der NS-Politik auf Deutschland zukam, unterschätzt und zählte lange zu denen, die die damalige Politik von innen zu verchristlichen versuchten. Der von außen kommende Blick des demokratiegewohnten Schweizers Karl BARTH war in diesen Dingen viel schärfer. Hinzu kommt, dass Reformierte sich traditionell als erwählte Minderheit empfinden, die Lutheraner jedoch als Volkskirche; sie gehen nicht so leicht auf Distanz zur Mehrheit. Damals haben in Deutschland Theologen wie Paul Althaus oder Friedrich Gogarten, Dorothee Sölles nachmaliger Doktorvater, noch viel nationalistischer getönt. Und was die sog. „Judenfrage“ betrifft (# 340), an welcher Elert strauchelte, so hat der Bruderrat der Bekennenden Kirche sogar noch 1948 die These von der Gottverlassenheit der Juden öffentlich wiederholt (ebd., Exkurs). Der Streit ging damals u. a. um die Ausschließlichkeit des Christentums. Das was Elerts Kollege Althaus aus der romantischen Lehre von einer „Uroffenbarung“ (# 263, Exkurs) machte, vertrug sich nur allzu gut mit dem sog. Volksnomos (# 266) und den damals modischen Germanisierungen des Christentums; er betrieb Synkretismus mit dem rassisch-völkischen Neo-Mythos. Zu Ehren des Luthertums sei hier wenigstens erwähnt, dass der systematische Theologe Walter KÜNNETH – eine Professur konnte er erst nach dem Krieg erhalten, in Erlangen – in seiner Antwort auf den Mythus (sc. des zwanzigsten Jahrhunderts, Alfred Rosenbergs NS-Programmschrift) 1935 mutig Widerspruch eingelegt hat. Nach 1945 mussten viele mühsam Rehabilitierte sich wegducken. Wer als Dogmatiker nicht mit Karl Barth konform ging, flüchtete sich in Bultmanns Existenzialismus der nicht mehr angreifbaren Ich-Aussagen, oder man versteckte sich hinter dem politisch unbelasteten Paul TILLICH mit seinen unüberbietbaren Vagheiten. Unter diesen Umständen blieb die Anregung Elerts wie auch des norwegischen Bischofs Eivind BERGGRAV (C 4.8.2), sich theologisch mit Jurisprudenz zu befassen, ohne gleich ein Gottesrecht zu postulieren, ungenutzt. So unterblieb denn auch auf Seiten der Theologie, ob
Verbittert vom Tod seiner Söhne im Krieg (er selbst starb mit 69 Jahren an Krebs), hat Elert auch Bedrückendes gesagt und geschrieben, was hier unerwähnt bleiben kann. Durch ihn bin ich auf das gr.-lat. Glossar von Magie, De Romanorum iuris publici sacrique vocabulis allererst aufmerksam geworden. Dazu noch ein biographisches Detail: Kirchenrat i.R. Dr. Wilhelm GERHOLD, Elerts Schwiegersohn, hat mir in seinem letzten Lebensjahr (2014) berichtet, dass Elert von sich aus hätte Jurist werden wollen; erst auf Drängen seiner Mutter sei er Theologe geworden. Z. B. bei Ernst WOLF: „Christum habere omnia Mosis. Bemerkungen zum Problem Gesetz und Evangelium“, in: Grundmann, Für Kirche 287– 303, 288. Zwei Sätze genügen dort, um sich mit Elert nicht weiter zu befassen und die Zwei-Reiche-Lehre, nur weil sie damals zerredet worden war, für unbrauchbar zu erklären.
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evangelisch oder katholisch, mangels Interesses eine rechtsgeschichtliche Erforschung des Neuen Testaments. Der lutherische Ansatz – das ist sein wichtigster Vorteil – erlaubt eine klare Arbeitsteilung zwischen Theologie und Philosophie, Theologie und Politik, Theologie und Recht. Grotius, Pufendorf und ihre Schüler suchen nicht die Überlappungen von Theologie, Philosophie und Recht, um sich daraus zu legitimieren, sondern sie errichten ihre Theorien in der Beschränkung auf ihr jeweiliges Proprium als Juristen – das aber in einem interdisziplinären Gespräch, das bis heute als Sternstunde, als Achsenzeit gelten darf (Exkurs 9). Ausgangspunkt des theologischen Denkens ist bei Luther nicht das Wort, das vom Sinai tönt und als Dekalog wörtlich gelten muss; es ist auch nicht die momentane Inspiration eines Propheten und auch nicht die judäische, später rabbinische Halacha, Israels stolzes Eigentum,¹² sondern es ist das WORT, das „Fleisch ward“, also eine historische Person. Zu ihrer gottgewollten Niedrigkeit zählt auch die Mühe für uns, ihre Spuren in der Menschengeschichte zu erforschen. Jesus, und zwar der historische, ist die Bezugsperson der Auslegungen des vorliegenden Werkes, teilweise auch Paulus, eine im Gegensatz zu ihm spannungsgeladene Personlichkeit. Zwar wissen wir fast nichts über Jesu erste Lebenszeit, und sie wird wohl nichts Besonderes an sich gehabt haben. „Gottessohnschaft“ ist ein Interpretament für die außergewöhnliche Vermittlerrolle zwischen Gott und Menschen, die man an ihm empfand. Sein Tod und dessen Umstände sind Faktum. Von seinem Wirken weiß man mehr als über manche wichtige Person der Neuzeit, etwa William Shakespeare. Unter solchen Voraussetzungen ist alles, was sich mit historischen Mitteln, also unter Anwendung einer profanen Methodik, erkennen lässt, wahrnehmenswert, und nur die Abwehr wäre unfromm. Mose hingegen ist historisch nicht mehr greifbar, und dass es Gesetze gäbe, die direkt aus dem Munde Gottes kommen, ist eine Vereinfachung, die einen langen Prozess in der Zeit zusammendrängt auf vierzig Tage. Will man das auf Gegebenheiten der Jurisprudenz übertragen, so wäre der Positivismus mit dem Sinai zu vergleichen, stehe dieser Berg nun in Berlin, in Wien oder wo immer, wohingegen das Naturrechtsdenken eines Pufendorf Erfahrungen der Menschheit mit sich selbst in größter Breite zugrunde legt. Für das vorliegende Unternehmen eines Rechtsgeschichtlichen Kommentars zum Neuen Testament ist der lutherische Ansatz schon deswegen der geeignetste, weil er es erlaubt, die historischen Befunde zu nehmen, wie sie sind. Dort muss der irdische Jesus nicht allmächtig sein, befindet er sich doch im Zustand der Entäußerung von seiner Macht (status exinanitionis, Phil 2,7). Selbst sein Vorherwissen hat Grenzen, die man nicht durch Metaphorisierung seiner Worte in hohe Lehren umwandeln muss. Die Welt, deren Ende er ganz nahe fühlte, steht noch (trotz Mk 9,1); und die große Bußbewegung, die er auslösen wollte (# 30), hat nicht stattgefunden. Sein Tod kam ihr zuvor, wenn auch nicht ohne Ankündigung (# 301). Die Enttäuschung, die er auf seinen Wegen erlebt hat, ist an einigen Zornesausbrüchen noch zu spüren (Q 10,13 – 15 in Galiläa, Mk 11,14.20 par.
Jeder Abschnitt jedes Talmudtraktats endet mit dem Vermerk hadran ‘aläka, „unser Ruhm auf dich!“
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[Mt] in Jerusalem); sie lässt sich theologisch in den status exinanitionis der lutherischen Orthodoxie subsumieren,¹³ ist diese doch eine „Christologie von unten“ (Elert, Glaube 312). Jesus von Nazareth teilte die Überzeugungen frommer Juden seiner Zeit, insbesondere die Erwartungen der damaligen Apokalyptik. Dass diese enttäuscht worden sind und einer tief greifenden Umgestaltung bedurften, braucht nicht verschwiegen zu werden (vgl. Exkurs 5).¹⁴ Was wir aber aufnehmen, ist der Anspruch der Texte, dass in dem von ihnen Berichteten ein Handeln und eine Selbstmitteilung Gottes zu sehen sei. Prüfen lässt sich das nicht, nur nachvollziehen – im vollen Bewusstsein dessen, was wir von der Welt im Übrigen wissen. Theologie ist demgemäß das Nachdenken über Ereignisse, die von den Berichten als Offenbarung qualifiziert werden. Solches Nachdenken beginnt im Neuen Testament schon in den Evangelien selbst und in der Apostelgeschichte; in den Episteln ist es überhaupt der Inhalt. Ein gewisses Verhältnis zur Geschichte, und zwar zur Zeitgeschichte, hat sogar die Apokalypse; sie ist, wie schon der älteste Text dieser Art, das aramäische Henoch-Buch,¹⁵ weithin ein Kommentar zum politischen Geschehen ihrer Generation – verschlüsselt natürlich, denn er ist polemisch. Soviel zum Verhältnis zwischen Theologie und Geschichte. Was das Verhältnis zum Recht betrifft, so ist die Wahrnehmung evangelischer Theologie von Seiten der Jurisprudenz von Missverständnissen behaftet, welche den evangelischen Ansatz nicht betreffen würden, hätte man ihn näher wahrgenommen. Ein Beispiel unter vielen liefert Helmuth PREE, ein Experte für kanonisches Recht und insbesondere für dessen metaphysische Voraussetzungen. In seiner Studie Die evolutive Interpretation der Rechtsnorm im Kanonischen Recht finden sich unter der Überschrift „Überblick – Luther – Reformation“ drei typische Verzerrungen.¹⁶ Er unterteilt das bisherige Naturrechtsdenken in zwei große Ströme, einen „intellektualistischen“, dem insbesondere der Thomismus zugehört, und einen „voluntaristischen“, wozu bei ihm auch „Nominalismus, Individualismus, Empirismus“ gehören. Letzteres Wort, in seinem heutigen Sinn genommen (in dem es auch gemeint ist), wird unten in Exkurs 10 noch ausführlich zur Charakterisierung des lutherischen Naturrechtsdenkens verwendet werden. Jedoch den Empirismus in ein mittelalterliches Begriffskorsett zurückzustecken und ihn als „Voluntarismus“ zu diskreditieren (102 f ), ist üble Nachrede: als ob die Reflexion auf Erfahrungen etwas Gewolltes oder gar Willkürliches wäre und nicht etwas rezeptiv zum Bewusstsein
Um es nachzuprüfen am Klassiker der altlutherischen Orthodoxie, Johann Gerhard: In seinen Loci I 601a beruft er sich auf Luther selbst mit der These, dass der Gottessohn im Zustand der Erniedrigung (nämlich in seinem Erdenleben – Phil 2,6 – 11) „nicht zu allen Zeiten alles bedachte, verstand und wusste“. Wichtigster biblischer Beleg gerade zur Frage des Jüngsten Tages ist ihm Mk 13,32 par. Dass Karl Barth das am wenigsten Historische am Neuen Testament, die Jungfräulichkeit Marias bei der Geburt Jesu, für Faktum nimmt, zeugt für die Gegenposition. Zu diesem Werk des 2. Jh. v.Chr., wovon sich Fragmente in Qumran gefunden haben und dessen erste Abfassung noch vor der des biblischen Danielbuches liegt, s. Siegert, EHJL 196 – 202. Pree, Interpretation 102 f.
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Kommendes. Was ist tadelnswert an einer Philosophie, die einsieht: Zu jeder Erkenntnis gehört auch die Einsicht in die Grenzen ihrer Gültigkeit? Sodann sagt er im Referat von Luthers Zwei-Reiche-Lehre (103): Dem Reich zur Rechten Gottes, dem die lex divina entspricht (…), steht das Reich zu seiner Linken, das Reich der Welt (des Satans), dem das weltliche Naturrecht entspricht, gegenüber.
Vom Satan ist aber an der hierfür angegebenen Stelle aus Von weltlicher Oberkeit WA 11,262,3 nicht die Rede.¹⁷ Erst der Pietismus verwendete den Spruch aus 1Joh 5,19: „Die ganze Welt liegt in dem Bösen“ zu einer Absage an die Welt im Allgemeinen und an Mitverantwortung für ihr Wohlergehen im Besonderen – unglaubwürdig im Munde derer, die ihre Lebensverhältnisse und die der Gesellschaft, in der sie leben, längst mitgestalten. Aber das ist ein innerprotestantisches Problem.Von ähnlicher Pauschalität, was das Luthertum betrifft, ist bei Pree auf derselben Seite die Meinung: Beide Momente, die durch den Sündenfall eingetretene totale Korrumpiertheit der Natur, wodurch der Mensch die Teilhabe an der lex divina verwirkt habe, und der voluntaristische Ansatz stehen bei Luther der Annahme eines Ewigen Gesetzes als metaphysischer Legitimierung des Naturrechts entgegen.
Dass die menschliche Natur „total“ korrumpiert sei und menschlicher Verstand nicht in der Lage, das Gute (das will hier sagen: das fürs Zusammenleben und Förderliche) zu erkennen, ist eine Minderheitenlehre des 16. Jh., die bereits im Konkordienbuch von 1580 zurückgewiesen wurde,¹⁸ ehe wiederum der Pietismus und der moderne Fundamentalismus sie sich auf die Schilde schrieb. Mag auch Luther sich in anderen Zusammenhängen so geäußert haben,¹⁹ so beruht doch seine Auffassung vom Recht, ob Naturrecht oder positiv, nicht auf dieser These.²⁰ Zurück zu Elert: Unter vielen Autoren, deren Leistungen und v. a. deren theoretische Ansätze er darstellt, ist natürlich auch Pufendorf; nur beschränkt sich seine Darstellung dort auf das Ehe- und das Staatsrecht, wie überhaupt der ganze Abschnitt „Der Staat“
Stattdessen sagt Luther wenige Zeilen weiter (11,262,9): „[Ü]ber die Seele kann und will Gott niemand regieren lassen denn sich selbst allein.“ Das steht einer Priesterschaft, die „die Gewissen lenken“ will, entgegen. Das ältere Luthertum hatte sich noch gewehrt gegen eine These des Matthias FLACIUS Illyricus (der sich als „Echtlutheraner“ gab, Gnesiolutheranus; dazu gehörte ein bis auf die Punkte des Hebräischen sich erstreckender Inspirationsglaube, vom damaligen Calvinismus übernommen. Diese These war, die Sünde gehöre zur Natur des Menschen. Im Konkordienbuch von 1580 verwahrt sich die Solida declaratio gleich in Art. 1,1 gegen diese Übertreibung des Flacius. Pree a.a.O. Anm. 160 weiß eine Stelle zu nennen aus WA 40/2, 324,8. Es gibt sicher noch mehr. In De servo arbitrio (# 274), einer auch häufig falsch zitierten Schrift, sind sie anders gemeint, ohne Bezug auf Rechtserkenntnis oder Rechtssetzungen. Näheres s. Siegert, Luther und das Recht, bes. seine eigenen Äußerungen S. 73 – 158.
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überschrieben ist.²¹ Quer durch die Lehrbücher der Barockzeit und der Aufklärung betreibt er den Aufweis der Entwicklungslinien in den diversen Anwendungsgebieten der reformatorischen Botschaft. Soviel zu seiner rechtshistorischen Leistung. In systematisch-theologischer Hinsicht ist er ein strikter Verfechter der Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium. Bezogen auf das Handeln Gottes sagt er es so (Ethos 82 f ): Es gibt ein gubernatorisches, ein legislatorisches und ein judikatorisches Handeln Gottes. Aus ersterem entspringen die Seinsordnungen, aus dem nächsten die davon durchaus verschiedenen Sollensordnungen (Dekalog und anderes Biblische); das dritte differenziert sich dann wieder nach „Gesetz“ (im theologischen Sinne, in welchem er sagt: Lex semper accusat) und „Evangelium“: Dieses zu verkünden, ist die Gnaden(an)ordnung, welcher die Kirche gehorcht, ihr ius divinum. Der Lehrsatz Lex semper accusat ist genommen aus Röm 1,18 ff (# 263; # 264) und v. a. 4,15 („Der Nomos bewirkt Zorn [sc. Gottes]“). In einer für die Theologie typischen Engführung denkt Elert hier nur an Strafrecht; dabei war die Tora (von der Paulus hier spricht) zu guten Teilen auch Zivilrecht und überdies Kultrecht. Freilich, Zivilrecht war sie unter den Israeliten; gegenüber Gott ist sie in einer auf alle Menschen beziehbaren Anwendung Strafrecht. Selbst eine ’biblische Theologie’ reformierten Zuschnitts, die von der Tora ein breiteres Bild hat als Elert, bewahrt die Bibelleser nicht davor, Recht immer schon als Strafrecht zu denken. Es ist ein merkwürdiger Zufall, aber ein folgenreicher, dass an keiner Stelle des Neuen Testaments ein Zivilprozess mit einer förmlichen Klage – nicht einer Anklage – beginnt (vgl. # 108). Vom Gang vor Gericht wird höchstens abgeraten zugunsten innerchristlicher Schiedsverfahren. Das war zeitbedingt; noch war nicht abzusehen, dass das Christentum einst eine prägende Kraft in westlichen wie östlichen Gesellschaften werden würde. – Hilfreich ist an Elerts Dogmatik Der christliche Glaube eine Modernität, die keinerlei Restbestände früheren Weltwissens heutigen Lesern zumutet. Es wird keiner Apologetik betrieben für das biblische Weltbild. Gott ist nicht weit draußen außerhalb der Welt; auch Christus muss nicht über den Sternen sitzen, und Wunder müssen die Naturgesetze nicht aufheben. Diese Modernität bleibt hinter Elerts traditioneller Sprache immer noch zu entdecken. Was Elert unermüdlich betont und an den Quellen nachweist, ist, dass die Wittenberger Reformation in ihrer Abkehr von der Scholastik zugleich Verzicht übte auf jedes Weltbild, das biblische eingeschlossen. Dieses galt ihr nicht als offenbart, sondern als menschliche Anschauung – war es doch klar, dass das Evangelium keine Weltwissenschaft sein sollte. Die Astronomie des Nikolaus KOPERNIKUS wurde in Wittenberg so An dieser Perspektive merkt man die Zeitgebundenheit. Der Ausdruck „Gesellschaft“ im soziologischen Sinne ist ihm verdächtig, zumal Melanchthon es ist, der in ethisch-politischen Zusammenhängen von societas spricht (# 280), nicht Luther. – Heute, zehn Jahre nach meiner Gesamtlektüre von Elerts Werk, bin ich nicht mehr sicher, ihn überall in seinem Sinne verstanden zu haben. Doch wo nicht, sind es wenigstens produktive Missverständnisse.
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gleich gelehrt,²² und Kepler versuchte man als Professor zu bekommen. Wenn hin und wieder kolportiert wird, Kopernikus habe „dem christlichen Weltbild“ den Boden entzogen, weswegen die Religion sich in die Innerlichkeit verlagert habe, und wenn das die Klage über einen Verlust sein soll, so ist kein Geringerer als der Reformator dafür ausschlaggebend gewesen. Für Luther gab es kein christliches Weltbild mehr. Glaube ist Glaube, und säkulares Wissen hat andere Quellen und andere Gegenstände. Pufendorf erweist sich als Lutheraner gerade darin, dass er sich in seinem Beruf als Jurist gegen jedes Maßregeln von theologischer Seite verwahrt, nicht weniger als gegen den Atheismus-Vorwurf (oben C 4.7.2). Diejenigen, die damals ein „christliches“ Weltbild verteidigten, mussten sich von ihm fragen lassen: Gehören die Wasser über dem Himmel (Gen 1,2) auch dazu? Muss man an unterirdische Röhren vom Meer her glauben, um sich das Vorhandensein von Wasserquellen zu erklären (Pred 1,7),²³ oder darf ’s auch der Steigungsregen sein (Eris 290.311 f )? Das freilich wäre Beobachtungswissen; doch wozu ihm ein Bibelwissen entgegensetzen? – Noch Rudolf Bultmann hat für eine Loslösung kirchlicher Theologie vom biblischen Weltbild der Genesis, aber auch noch des Neuen Testaments, viele Lanzen gebrochen, ohne dabei von seinem anfänglichen Weggenossen Karl Barth Hilfe zu erhalten. Elert war es, der – ohne das Reizwort „Entmyth(olog) isierung“ in den Mund zu nehmen – in seiner Dogmatik diesem Anliegen Rechnung trug. Freilich, diejenigen, die Bultmanns Fragen nicht teilen, werden auch seine Antworten nicht zu schätzen wissen. Nur was Elert in späten Jahren noch über „Das Gesetz Gottes“ schrieb (Ethos 74– 110), ist für unsere Fragestellung nicht maßgeblich, weil das „Gericht“, an das dort gedacht wird, eine Art von Menschenbeurteilung ist, die zur Selbstkritik dienen soll; er meint das, was in der Theologie „Gottes Gericht“ heißt. Insbesondere was er dort unter der Überschrift lex naturalis schreibt, ist etwas völlig Anderes²⁴ als zuvor im Rechtsabschnitt seiner Morphologie. Er selbst ist der erste, der uns das sagt und zugleich diesen rein theologischen Begriff von „Gesetz“ (der nicht Gegenstand des vorliegenden Werkes ist) kontrastiert gegen die Definition bei Gaius 1,3: „Gesetz ist, was das Volk befiehlt und bestimmt hat“.²⁵ Das kann man vom Gesetz Gottes, wie immer es inhaltlich bestimmt sein soll, nicht sagen. Hingegen ist die in der Morphologie aufgezeigte Spur in ein theologie-verträgliches Vernunftrecht diejenige, auf der ein rechtsgeschichtlicher Kommentar zum Neuen Testament wird gehen können. Wenn auch Elert persönlich noch jener Generation angehörte, die, von rühmlichen Ausnahmen abgesehen, nichts zu bereuen vermochte, so ist er doch in seinem letzten
Elert, Morphologie I 374 f; vorsichtshalber bezeichnete man sie nur als „Hypothesen“, nützlich für bessere Berechnungen als bisher. Luther freilich, wie auch Melanchthon, fand die Vorstellung einer um die Sonne kreisenden Erde lächerlich; s. H. G. ZEKL (Hg., Übers., Komm.): Nicolaus Copernicus: Das neue Weltbild (PhB 300), 1990, LXIII Anm. 118. Doch war das im Luthertum nie eine Frage des Glaubens. Zur Verwirrung antiker Geister in dieser Frage s. Siegert, Hell.-jüd. Predigten II 199. Technisch gesprochen, denkt er an den elenktischen Gebrauch des Gesetzes (primus usus) und nicht an den usus in renatis oder überhaupt den gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft. Lex est quod populus iubet atque constituit (zit. in Ethos 75).
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großen Werk Das christliche Ethos bereits in der Demokratie angekommen (Ethos 151 f ).²⁶ Dass der Absolutismus kein Kind der Reformation sei und infolgedessen nicht deren säkularisierenden Tendenzen angelastet werden könne, hatte er vorher schon gezeigt (Morphologie II S. XI bzw. 380 f ). Was man von Elert unter vielem anderem lernen kann, ist die Begrenzung der Theologie auf ihre eigene Aufgabe und die der Kirche auf ihr Kerngeschäft. Unermüdlich und in unerschöpflicher Detailkenntnis zeigt er von Luther ab bis in die verlorenen Weltanschauungskämpfe des 19. Jh.: Theologie ist nicht Kosmologie. Luthers Theologie ist unabhängig von dem Bild, das wir uns von der Welt machen. Umso klarer aber ist sie gegründet in dem, was wir aus der Geschichte Israels, Jesu und der Apostel wissen. In seiner sehr profilierten Argumentation ist Elert ein Meister darin, die Konservativen (das war damals auch die Bekennende Kirche) rechts zu überholen und vor ihnen links herauszukommen. Beispiele sind seine Stellungnahmen zum Lehramt der Frau (# 304) oder zur Legitimität der Ehescheidung (# 59; # 289). Entgegen dem Fundamentalismus von rechts (lutherisch) wie von links (reformiert) erklärt er das angeblich urprotestantische Dogma von der Verbalinspiration zur „Irrlehre“ (Glaube 171). Daneben hat er den für die Paulus-Exegese wichtigen Nachweis erbracht, dass der sog. tertius usus Legis (nämlich der Gebrauch der präskriptiven – nicht nur der narrativen – Tora gegenüber Christen) eine kirchliche Entscheidung war, die Luther gerade nicht teilt.²⁷ Wenn man, wie Paulus es in Röm 6,18 f ausdrückt, „seine Glieder der Gerechtigkeit zur Verfügung stellt“ oder gar„unterwirft/versklavt“, so geschieht das, Luther wie Elert zufolge, nicht als Gehorsamsleistung gegenüber der Tora, sondern eis hagiasmon, „zur Heiligung“, als freiwillige Leistung also, die der bereits empfangenen Rechtfertigung folgt und der Gottesbeziehung nichts hinzufügt und nichts nimmt (# 262). Diese Ethik schließt Loyalität gegenüber Gottes Reich „zur Linken“ ein (# 280), mit der einzigen Grenze der clausula Petri (# 205). – Inzwischen ist von rechtshistorischer Seite Bedeutendes geleistet worden zur Auffrischung des kulturellen Gedächtnisses: Kritische Ausgaben oder wenigstens Reproduktionen der Schriften Pufendorfs und Wolffs sind fast fertig, im Falle Wolffs sogar ganz, und eine Reihe von Juristen und Historikern hat qualitätvolle Studien vorgelegt.²⁸ Ein neuer Elert aber ist von theologischer Seite nicht gekommen, auch nicht von juristischer. Das spezifisch lutherische Naturrecht blieb vergessen.²⁹
Das Buch ist von 1949, dem Gründungsjahr der BRD. Asmussen hingegen, Warum 207 („Wir regieren uns angeblich selbst“ – auch 1949) hält Beherrschtwerden für Schicksal und zieht eine Beteiligung der Christen an Gottes Reich „zur Linken“ nicht ernstlich in Betracht. Elert, Morphologie II S. V.27; Ethos 91– 99 („Zweifacher Brauch des Gesetzes“) sowie unten # 216. S.o. 5.5 – 6. Bei J. WITTE: Law and Protestantism, 2002 (dt.: Recht und Protestantismus, 2014) bleibt die Besonderheit von Luthers Ansatz gegenüber anderen Reformatoren, z. B. Melanchthon oder Calvin übersehen, so auch häufig in den Arbeiten von Johannes und Martin Heckel. Bei N. DOE: Christianity and Natural Law, 2017 siehe 77– 97: A. RAUNIO: „Natural law in the Lutheran tradition“; bietet über Pufendorf 2 Seiten (188 f ), über Wolff nur 1 Absatz. Im Übrigen muss man sich begnügen mit Tagungsberichten wie dem von M. WELKER/G. ETZELMÜLLER, Concepts of Law in the Sciences,
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Im Folgenden halten wir uns, von Elert geleitet als Theologen und von Klaus Schlaich als Juristen,³⁰ an Luthers eigene Äußerungen. Was deren historische Situierung betrifft, diente als Informationsquelle v. a. Walther v. LOEWENICHs Martin Luther (1982), geschrieben unter direktem Zugriff auf die zahlreichen Bände der Weimarer Ausgabe (WA).³¹ Sehr gründlich recherchiert ist die neueste Studie zum Thema, ja zu dessen Kern: Roland Lehmann, „Luthers Naturrechtsverständnis“.³² Als Gegengewicht gegen die politische Rechtslastigkeit bei Elert ist derjenige Kommentar zum Augsburger Bekenntnis eingearbeitet worden, den Pastor Hans ASMUSSEN im selben Jahr 1949 veröffentlicht hat, wo Elerts letzte große Arbeit (Ethos) erschien – Asmussen ist derjenige, welcher 1934 als Vertreter lutherischer Theologie den von Karl Barth konzipierten Text der Barmer Theologischen Erklärung eingebracht hat – ; diese Veröffentlichung aus dem Geburtsjahr der beiden deutschen Staaten trägt den Titel: Warum noch lutherische Kirche? Dies ist eine grundehrliche Arbeit, die das Versagen des deutschen Luthertums frei zugibt, für die Zukunft dann aber die richtigen Fragen stellt. Aufgebaut als Kommentar zur CA, ist es ein treuer Spiegel der theologischen Meinungsbildung innerhalb der Bekennenden Kirche; auch ihren inhärenten Fundamentalismus gibt es deutlich wieder.³³ In der Stellungnahme zu CA 28, der Trennung von Staat und Kirche in der Zwei-Reiche-Lehre, zeigt er sich irritiert (310) und lehnt sie ab, weil er den Staat so positiv nicht würdigen kann. Schließlich hatte er, anders als der von seinem Schweizer Pass geschützte Barth, für seine öffentlichen Äußerungen im Gefängnis gesessen und bis zum Ende des „Tausendjährigen Reiches“ Auftrittsverbot gehabt. In dieser Hinsicht ist sein Buch für uns heute antiquiert. Asmussen ist, wie schon gesagt, noch nicht in der Demokratie angekommen. Noch verharrt er in der Opposition zur staatlichen Macht und ist, weltablehnendem Pietismus gleich, auf ein Mittragen und eine Mitverantwortung nicht eingestellt.
Legal Studies, and Theology, 2013. Dort wird Althusius beachtet, aber Pufendorf und Wolff bleiben noch immer unerwähnt. Schlaich, „Martin Luther und das Recht“. Die Weimarana ist ihrerseits heute leicht einsehbar über Suchmaschinen als „Luther Weimarer Ausgabe online“. Einen Nachweis aller Luther-Stellen zum Thema „Naturrecht“ bietet er auf S. 373 Anm. 23; Rückblick auf die neuere Forschung seit Ernst Troeltsch ebd. 371– 374. – Ich danke diesem Autor für eine kritische Lektüre des unten Folgenden. Dinge wie eine Unterscheidung echter von unechten Paulusbriefen sind ihm fremd. Hieran ist manches zu entschuldigen: In Zeiten äußerer Unterdrückung wird kirchliche Theologie erfahrungsgemäß fundamentalistisch. Aus dem gleichen Grund sind die bemerkenswerten Reformbestrebungen der Russisch-Orthodoxen Kirche 1918 zum Stehen gekommen.
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Exkurs 2
Exkurs 2: Samuel Pufendorf als Theologe Pufendorfs Schriften sind das ermutigende Beispiel dafür, wie ein evangelischer Christ, ohne beruflich Theologe zu sein, der Lehre seiner Kirche Ehre machen kann. Als Pfarrerssohn und als Gymnasiast hatte er, über Luthers allbekannten Kleinen Katechismus hinaus, auch das Augsburger Bekenntnis (CA) und die Lehren des Konkordienbuches über Jahre in sich aufgesogen. Sowohl die Freiheit eines Christenmenschen wie auch die Zwei-Reiche-Lehre werden von ihm reichlich illustriert. Pufendorf wirkte in der Epoche der sog. altprotestantischen Orthodoxie, also einer in allen Details gefestigten Doktrin, deren calvinistischer Flügel sich vom lutherischen ebenso eifrig unterschied wie beide von den Verlautbarungen des Konzils von Trient. Im Blick auf Pufendorf werden wir den Ausdruck „Orthodoxie“ jedoch, so berechtigt er im Lehrinhalt ist, vermeiden, denn mit diesem Ausdruck verbindet sich, was den Stil der Universitätstheologie betrifft, eine Begriffsakrobatik neuscholastischen Zuschnitts, die er persönlich zutiefst verabscheut hat (unten Exkurs 10 und 12). Trotz schnöder Behandlung seitens der schwedischen Theologen, die er in seiner Eris stets als „Priester“ bezeichnet, nie als „Pastoren“, war er doch ein unbeirrbar gläubiger Mensch. Mit dem damals gerade entstehenden Pietismus verband ihn die Ablehnung des scholastischen Panzers, mit dem die Universitätstheologie, die protestantische nicht weniger als die katholische, sich umgeben hatte, um als apriorische Wissenschaft (dazu Exkurs 10) aufzutreten. Kein Geringerer als Philipp Jakob SPENER, der Propagator des (unter August Hermann Francke dann leider intolerant gewordenen) Pietismus in Deutschland,³⁴ hat ihm die Leichenrede gehalten.³⁵ Spezifisch christliche Lehren hält er von seiner Rechtslehre heraus, denn sie soll religions- und kulturübergreifend gelten. Nur den Ersten Glaubensartikel, den über Gott den Schöpfer, setzt er stets voraus; ein Glaube dieser Art lässt sich auf der ganzen Erde finden, wie gerade damals (1679) Tobias PFANNERs Systema theologiae gentilis purioris nachwies, Werk eines Juristen. Was eine Lenkung der Welt durch Gott betrifft, ist Pufendorf vorsichtig, zumal seine Überlegungen nur Gottes Reich „zur Linken“ betreffen. Er spricht nicht von „der“ Vorsehung und vermeidet jeden Determinismus. Religionsausübung ist ihm ein zu schützendes Gut, so wie überhaupt die gesamte Arbeit der Kirche da, wo sie kompetent ist. Was Pufendorf von Gott denkt, sagt er uns in JN&G 2,4 unter der Überschrift: Was der Mensch sich selber schuldig sei, § 3 (These: animus primo religione imbuendus – das
Spener, examiniert von Wittenbergs Erzlutheraner Calovius, war vor seinem Wechsel nach Berlin an St. Nicolai (1691) als Oberhofprediger in Dresden der ranghöchste Vetreter des Luthertums im damaligen Deutschland gewesen, welches er nach der Konversion Augusts v. Sachsen, seines prominentesten Konfirmanden, und nach allerlei Hofquerelen enttäuscht verließ. Eine Abneigung gegen Metaphysik muss die beiden verbunden haben. Erst der Hallesche Pietismus wandte sich gegen die entstehende Aufklärung und verlor damit große Köpfe wie Christian Wolff. Genauer: die Gedenkrede zum Jahrtag seines Todes. Sie erschien 1696.
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Gemüt sei von Anfang an mit Religion vertraut zu machen) über Gott als „Schöpfer und Erlöser dieses Universums“: …dass wahrhaftig (revera) ein höchstes Wesen existiert, von dem die übrigen Dinge ihren Ursprung haben und den Anfang ihrer Bewegung – das aber nicht als eine physische Gewalt, so wie das Gewicht an einer Uhr diese antreibt, sondern dass es intelligent ist und frei und dass es dieselbe Leitung (regimen) sowohl gegenüber der gesamten Welt ausübt wie auch gegenüber dem Menschengeschlecht, ja auch gegenüber den einzelnen Menschen, und dass seiner Kenntnis nichts entgeht. Von ihm werden durch natürliches Gesetz (per legem naturalem) bestimmte Pflichten den Menschen bindend (pro imperio) auferlegt; deren Einhaltung findet seine Billigung, Verletzung und Vernachlässigung aber Missfallen. Aufgrund all dessen wird es von allen unbestechlich und ohne Ansehen der Person Rechenschaft fordern.
Dies ist Pufendorfs Glaubensbekenntnis, soweit er sich dessen als Vorraussetzung seines Rechtsdenkens bewusst ist. Christlich gesprochen, ist es nur der Erste und ansatzweise auch der Dritte Artikel, jene also, worin die meisten Religionen sich einig sind, wie Pfanners Systema gezeigt hatte.³⁶ – Zu Recht verweist die kommentierte Ausgabe des JN&G von 1744 auf die antik-polytheistische Vorstufe dieses Bekenntnisses bei Seneca, Ep. 95,50: Die erste Gottesverehrung ist, (überhaupt) an Götter zu glauben (deos credere), sodann, ihnen ihre Hoheit (maiestas) anzuerkennen, ihre Güte, ohne die es keine Hoheit gibt; zu wissen, dass sie es sind, die der Welt vorstehen (praesident mundo), die alles mit ihrer Macht leiten (vi sua temperant),³⁷ dem Menschengeschlecht Vormunddienste leisten (tutelam gerunt) und manchmal sich sogar um einzelne kümmern. Sie fügen nichts Böses zu, noch haben sie welches an sich; jedoch züchtigen sie manche, halten sie zurück und legen ihnen Strafen auf; manchmal strafen sie sie auch mit etwas anscheinend Gutem. Willst du die Götter günstig stimmen? Sei (selbst) gut! Hinreichend ehrt sie derjenige, der sie zum Vorbild nimmt.
Soviel zum Deismus, demgegenüber Pufendorf, der konkrete Gottesverehrung zur Menschenpflicht erklärt, mehr als das meint, nämlich Theismus: nicht nur eusebeia (JN&G 2,4,3), sondern theosebēs zu sein („Verehrer Gottes“) chōris deisidaimonias – aber ohne Aberglauben: so zitiert er Mark Aurel 6,30 in JN&G 2,4,4. Man kennt diese Unterschiede seit der Antike.³⁸ Etwas anderes sind Pufendorfs Gedanken zu der sog. etiamsidaremus-Formel, der Möglichkeit einer nichttheistischen Wissenschaft (# 255).
Dort einschlägig ist das Kapitel De lege Dei (291– 339) mit einem Spiegel der damaligen Diskussion (296 f ): Mehrheitsmeinung war noch immer, Naturrecht sei dasselbe wie die moralische Tora. Das Wort vi ist hier Konjektur eines modernen Herausgebers; die Handschriften haben ut, was einen Sinn ergibt, der Pufendorf durchaus näher läge: „…die alles als ihnen gehörig leiten“; s. # 6 über Eigentum und Herrschaft. Ciceros De fato beispielsweise illustriert den Deismus, De divinatione hingegen (wo Buch II Ciceros Meinung wiedergibt) den Theismus; so mit Vorsicht auch De natura deorum III. Beides liegt intellektuell oberhalb dessen, was in De Divinatione I und in De natura deorum I-II als Aberglaube zu stehen kommt.
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Exkurs 2
Den Vertretern der im 20. Jh. entworfenen „Rechtstheologie“ (s.o. I A 2.5.4) würde hier der Christusbezug fehlen und damit der Rekurs auf das, was ihnen überhaupt nur als Offenbarung gilt (Theologische Erklärung von Barmen, Art. 1). Offenbarung – um hier im Sinne Pufendorfs zu antworten – kann mit dem Erkennen von Naturrecht niemals kollidieren, gilt ihm dieses doch seinerseits als ein Wahrnehmen des Willens Gottes. Eben damit aber hat es sein eigenes Fundament und borgt es nicht von der (biblischen, christlichen) Offenbarung (Eris 355). Man kennt Pufendorf sonst nicht als Theologen. Seine letzte, postum veröffentlichte Schrift jedoch ist eine theologische: Jus feciale divinum (1695). Also gibt es für ihn doch ein Gottesrecht? könnte man fragen; doch ist die Titelwahl die seiner Berliner Herausgeber, und er selbst gebraucht diesen Ausdruck im Text nirgends. Ius divinum wäre etwas Absolutes; dies aber ist ein Kompromissvorschlag. Das Manuskript trug vielmehr den Titel De consensu et dissensu inter Protestantes und war gemeint als Vorschlag zur Güte zwischen den lutherischen und calvinistischen Bevölkerungsteilen BrandenburgPreußens: Mögen doch die Theologen nicht auf ihren Sonderlehren beharren, welche nicht heilsnotwendig seien,³⁹ und jedenfalls das nicht bestreiten, was dem Gegenüber jeweils als heilsnotwendig gelte! (Was den Titel Jus feciale divinum, betrifft: Die fetiales im alten Rom waren eine Priesterklasse gewesen, die als Friedensrichter gedient hatten).⁴⁰ Diese Schrift zeigt in wünschenswerter Deutlichkeit, wie Pufendorf theologisch dachte; davon muss selbst heute nichts als zeitgebunden entschuldigt werden. Pufendorf drängt den Reformierten Preußens die CA nicht auf (JFD 2 [38]; 62 [130]), sondern entwirft eine Mindesttheologie, welche alles zum Heil Nötige zusammenstellt. Zur Begründung zitiert er fast nur die Bibel, das aber überreichlich; mitunter glaubt man – zumal in der unlängst wieder nachgedruckten englischen Fassung von 1714 – einen Erweckungsprediger methodistischer Herkunft zu hören.⁴¹ Offenbar hat Pufendorf in seiner preußischen Zeit deren nicht wenige gehört oder (eher) gelesen und bedient sich nun ihrer Sprache. Friedliche Koexistenz, nicht Fusion – wie später die preußische Kirchenunion es sein sollte – ist Pufendorfs Ziel. Derartiges ist im 20. Jh. in
Das betrifft bei ihm v. a. die spätaugustinische, übrigens auch von den Jansenisten geteilte Prädestinations- und Gnadenlehre, die auf eine Allwirksamkeit Gottes pocht und dem Menschen nur am Unheil die Kausalität belässt. Den sog. Unterscheidungslehren widerspricht er nur da, wo sie sich selbst widersprechen – etwa einer Gnadenlehre, die den Menschen entmündigt, aber doch mit Schuld belegt – ; dafür bietet er gemeinsames Terrain etwa im Bereich einer zu entwickelnden Föderaltheologie, auch wenn sie, wie zu # 277 zu sagen sein wird, als Feudaltheologie verstanden werden müsste, einseitig und nicht verhandelbar. Vgl. # 12; # 124. In neuer Anwendung nannte man im Neulatein Botschafter als feciales, z. B. J. N. Hertz in seiner Anmerkung zu JN&G 8,7,6. Die richtige Schreibung fetiales ist griechisch bezeugt bei Dionysios v. Halikarnass, Antiquitates Romanae 6,89,1, der den fētialeis die Rolle von eirēnodikai, „Friedensrichtern“, zuschreibt. Dass Philipp Jacob Spener Pufendorf schätzte, wie oben gesagt, kann man auch aus dessen Insistieren auf gelebtem Christentum z. B. in JFD 54 (117 f ) verstehen. Theologie war für ihn kein theoretisches Wissen, worüber man hätte streiten können.
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Form der Leuenberger Konkordie endlich erreicht worden, zum Glück ohne obrigkeitlichen Druck. – Was religiöse Vielfalt betrifft, so hat Pufendorf in seinem JFD mit dem Widerstreit christlicher Konfessionen seine Mühe gehabt. In der damaligen Lage hat er zur Verständigung zwischen Luthertum und Calvinismus im Preußen des Großen Kurfürsten eine Mindesttheologie skizziert, die wenigstens unter diesen beiden konsensfähig sein müsste, ohne dass ihr etwas Wichtiges fehlte (JFD 16 – 20 [60 – 66]). Dazu gehört „zuallererst, dass die natürliche Erkenntnis Gottes nicht ausreicht zu dem gebührenden Gottesdienst und der gebührenden Anerkennung, durch welche er uns wohlgesinnt und förderlich sein könnte“ (16 [60]). Vom Nachdenken über Gott kommt noch keine Gottesbeziehung, die dem menschlichen Partner „Heil“ sein könnte. Dazu folgt dann eine detaillierte Betrachtung des Umgangs Gottes mit den Menschen – teils ihnen allen, teils und zeitweise nur den Israeliten – unter dem Begriff foedus „Bund“ (JFD 20 [63]–33 [85]; s.u. # 277 zu Röm 9). Die im Bundesschluss erfolgende Selbstmitteilung Gottes ist auch die Mitteilung der Modalitäten seiner Verehrung (17[61].20[63 f ]).⁴² Selbsterfundener Gottesdienst ist zu vermeiden, denn er kann fehlgehen (17[61 f ]). Pufendorfs Verzicht auf Offenbarungswissen in seinen Rechtssystemen ist ihm viel vorgeworfen worden, als sei eine allgemeingültige Begründung des Rechts (worum es ihm ging) dasselbe wie eine christlich-religiöse (die seine Kritiker haben wollten). Solche Selbstbeschränkung ist ein durchgängiges Thema seiner Selbstverteidigung in der Eris Scandica. Was hierbei seine theologischen Äußerungen betrifft: All das, was er den Berufstheologen seiner Zeit entgegenhielt und was sie damals ablehnten, ist heute gängige Lehre, zumindest auf evangelischer Seite. Der Säkularität des Rechts entspricht bei ihm eine nicht minder entschiedene Verteidigung der Selbstständigkeit der Kirchen gegenüber staatlichen Interessen. Ihr diente sein De habitu religionis christianae ad vitam civilem (1687), eine politisch-konkrete Anwendung der Zwei-Reiche-Lehre auf den brandenburgischen (nachmals preußischen) Staat und dessen Streben nach einer Einheitskonfession. Zu diesem Teil seines Wirkens, der erst unlängst genauer gewürdigt worden ist,⁴³ muss hier aber nicht weiter
Dort wird auch hingewiesen auf Hebr 9,1 dikaiōmata latreias, was mit iustificationes culturae in der Vulgata schlecht übersetzt ist; gemeint sind „Regeln der Ehrerbietung“. Sie werden als dikaiōmata, „Rechtsforderungen“ bezeichnet, weil derjenige, der sie erlässt, das Recht dazu hat. Der Punkt ist aber, dass er auf Annahme dieser Regeln rechnet, ja auf sie wartet und sie nicht erzwingt. Er hat aber, betont Pufendorf gegen Calvin, nicht selber schon bestimmt, wem sein Verhalten zum Heil ausschlägt und wem nicht. Es gibt hier durchaus eine Mitarbeit des Gläubigen – Paulus drängt in Phil 2,12 sehr darauf –, nicht jedoch dessen Initiative. Die bleibt bei Gott, wie denn auch im Folgevers er als der eigentlich Wirkende dargestellt wird. Diesen Zusatz hat Calvin auf Kosten der Logik verabsolutiert. Lehmann, Kirchenbegriff 137– 184: „Die Fassung der Kirche als religiöser Verein“. Dass dies nur den rechtlichen, nicht den theologischen Aspekt der Kirche betrifft, also ihre Außenbeziehungen und nicht ihr Selbstverständnis, wird in # 298 (zu 1Kor 10) darzulegen sein.
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Stellung genommen werden, auch nicht zu der dabei herangezogenen, immerhin auch bei Luther zu findenden Drei-Stände-Lehre.⁴⁴ Pufendorfs Auffassungen von Recht und Religion in den nächsten Bänden wörtlich zu zitieren, wird nützlich sein angesichts des Umstands, dass das Wissen über ihn, wie es die Nachschlagewerke bieten, zusehends falscher wird. Es geht auch nicht mehr an, Juristen seiner Zeit wie Benedikt CARPZOW, bloß weil er in Wittenberg studiert hatte und im lutherischen Leipzig Richter war, mit seiner aus mittelalterlich-germanischem Strafrecht geschöpften Strafrechtsordnung von 1635⁴⁵ für einen Vertreter protestantischer oder gar lutherischer Rechtsauffassung auszugeben. Seine Auffassungen sind vorreformatorisch. Pufendorf hatte für den „Henker von Leipzig“, wie er ihn nennt (carnifex Lipsiensis, Eris 8 unten), nur Verachtung übrig. Wenn Pree, Evolutive Interpretation 130 als Überschrift formuliert: „Der Beginn der evangelischen Kirchenrechtswissenschaft. Benedikt Carpzov“, so mag das auf kirchenrechtlichem Gebiet verdient sein (ebd. 133), wo es um niemandes Gesundheit oder Leben ging. Als Richter und Gutachter in Zivil- und Strafsachen jedoch publizierte er ganz andere als reformatorische Prinzipien. Das Verhältnis des Rechts zur Offenbarung bestimmte Pufendorf so, dass die Evidenzen (dazu Exkurs 11), welche die Menschen im Gewissen wahrnehmen im Bezug auf ihr Zusammenleben, dem freien Willen des Schöpfers entsprechen, der sie so und nicht anders geschaffen hat (JN&G 1,1,8 – 10; vgl. Röm 9,20 f ). Aus Röm 1,20 (# 263) wurde damals allgemein entnommen, und so auch von ihm (Eris 237), dass die Beschaffenheit der Welt und des Menschen den Willen des Schöpfers erkennbar mache. Aber nicht nur sie. Offenbarung kennt Pufendorf von drei Arten: ‒ Gott macht sich als Stimme vernehmlich (das meint den Dekalog nach traditioneller Auffassung);⁴⁶ ‒ Gott spricht durch Medien (die Propheten); ‒ Gott spricht durch die innere Stimme des Gewissens. So JN&G 2,3,20 (vgl. # 262) in Abgrenzung gegen das Betrachten von Weltstrukturen und außermenschlichen Naturgegebenheiten, woraus vom römischen Recht und auch von Philon, später dann von der Scholastik, zwischenmenschliches Recht abgeleitet worden war – stets mit begrifflichen Unschärfen, die die Willkür verdecken. Umfassende Geschichtskenntnisse, sagten wir (C 4.7.2), ersetzen bei Pufendorf jene Naivität damaliger Bibelausleger, die meinten, das Naturrecht an der unverdorbenen Natur des „prälapsarischen“ Adam ablesen zu können. Noch sein Zeitgenosse Valentin
Zu dieser sei hier nur eine bei Lehmann nicht genannte Monographie nachzutragen: W. MAURER: Luthers Lehre von den drei Hierarchien und ihr mittelalterlicher Hintergrund (SBAW.PPH 1970/4), 1970. Practica nova imperialis Saxonica rerum criminalium, 1635 u. ö. Ihr Titelblatt ist oben mit dem hebräischen Gottesnamen geschmückt, darunter aber mit allen erdenklichen Folter- und Tötungsinstrumenten. Philon ging von der akustischen Vernehmlickeit des Dekalogs in der Sinai-Szene aus (Decal. 33). Das Neue Testament ist in dieser Hinsicht zurückhaltender.
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ALBERTI hatte auf der Suche nach einem „biblischen“ Naturrecht diesen Grundgedanken der Scholastik, der mit Platons Anamnese pränataler Erkenntnisse eine lockende Verwandtschaft aufwies, wieder aufgegriffen und war darüber in Gegnerschaft zu Pufendorf geraten. In Eris 172 f.202– 209.283 – 300 u. ö. verwahrt sich dieser gegen solches Hineinreden der Theologie in die Rechtswissenschaft – galt doch gerade den Theologen die Anamnese als getrübt und damit als hilfsbedürftig aus Quellen der Offenbarung (# 263). Demgegenüber betont er, seine Naturrechtslehre speise sich weder aus dem einen noch dem anderen, sondern aus Geschichts- und Menschenkenntnis. Sie gelte den Bedürfnissen solcher Menschen, die nicht den Vorteil hätten, ein Paradies zu bewohnen. Hienieden jedoch kann die „wahre und aus der Beschaffenheit der Dinge geschöpfte Philosophie“ der Heiligen Schrift nicht widersprechen, sind sie doch beide „Gottes Stimme“ (Eris 199; vgl. 202). Leider hat die Universitätstheologie – von jener anfänglichen Aufregung um seinen angeblichen Atheismus (4.7.2) abgesehen – seine Schriften später kaum mehr beachtet; der oben gewürdigte Mosheim (4.7.5) könnte eine Ausnahme sein. Sie hätte sich den Kampf gegen die Aufklärung in den folgenden Zeiten durchaus sparen können, wäre sie zu Positionen bereit gewesen, wie Pufendorf sie bereits vertrat. Was dieser an theologischen Einwänden in seiner Eris zu beantworten bekam, war in keinem Punkt die Theologie Luthers, selbst wenn man die CA und das umfangreiche Konkordienbuch von 1580 dafür zum Maßstab nimmt, sondern es war die erneut in Mode gekommene Seinsund damit Weltlehre, welcher die Theologie aller Konfessionen sich anschloss, um sich mit ihr zusammen als Dachwissenschaft über alles zu geben.⁴⁷ Demgegenüber hat niemand die Eigenständigkeit der Einzelwissenschaften konsequenter gelten lassen als er – und hat doch die Wissenschaften in ein gedeihliches Verhältnis zueinander gebracht. Ihm reichten gemeinsame Begriffe; es mussten nicht die Oberbegriffe sein. Die Amtstheologie brauchte dazu noch Jahrhunderte und verbrachte sie in erfolglosen Rückzugsgefechten.⁴⁸ So verfiel denn sein empirischer Ansatz (unten Exkurs 10), dessen schöpfungstheologische Absicherung den Kirchen hätte genügen können, ideologischen Angriffen von ihrer Seite, welche nur die Wahl zwischen Aristoteles, und zwar dem Metaphysiker,⁴⁹ ließen, und Platon mit dem ihm eigenen Offenbarungsanspruch. „Empiriker“ konnte man sein als Arzt, „Empiristen“ jedoch als Philosophen waren erst noch im
Analoges geschah im Nachkriegs-Deutschland, als Theologen beider Konfessionen Heidegger ersuchten, ihre Disziplin als „anfängliches Denken“ anzuerkennen. Als Zeitzeuge davon sagt Hans JONAS (zit. b. Siegert, Argumentation 260): „Es scheint, daß erst nachträglich, dem Drängen von Theologen nachgebend, die ihre Disziplin vom Geruch der Wissenschaft befreit wünschten, nachdem Wissenschaft als Seinsvergessenheit enthüllt worden war (,die Wissenschaft denkt nicht‘), Heidegger zuließ (wenigstens mündlich), daß die Theologie der Philosophie und Dichtung als mögliche Weisen wesentlichen Denkens hinzugefügt werde.“ Theologie sollte jetzt mehr sein als eine Wissenschaft. > S.u. Anm. 351. Einen Überblick darüber hat Elert in seinem Kampf um das Christentum gegeben. Seine empirischen Arbeiten dienten nur als Stoffsammlungen, und sie sind in der Tat erst ein Anfang.
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Kommen. Ihrer keiner war damals renommiert genug,⁵⁰ um der Universitätstheologie als Referenz zu dienen. Auch nur gelernt zu haben von Hobbes, dem Pragmatiker der Macht, wurde Pufendorf vorgeworfen. Dabei hatte er doch gerade etwas Besseres begründen wollen als den Kampf aller gegen alle. – Nachmals nahm sich Kant den weit weniger bedeutenden Hume zum Gegenüber. Hirsch, Geschichte I 84 urteilt: „Der Streit Pufendorfs mit den Theologen (…) ist der erste große wissenschaftliche Streit, in dem die lutherische Orthodoxie sich eine klare und eindeutige Niederlage zugezogen hat.“ Das ist eine höchstens halbe Wahrheit. Was unterlag, war die von Luther selbst bereits verworfene Metaphysik; es war die erneut aufgekommene Autorität des Aristoteles, und zwar in seinen spekulativen Schriften (nicht den empirischen), „als wäre er der Fürst der Apostel“ (unten 3.7.1). Was Pufendorfs Verhältnis zur Theologie betrifft, so bestimmt Thomas Gutmann, „Säkularisierung und Normenbegründung“ 242 das von Hirsch Gemeinte zutreffender: Der Rückgriff auf jene theologumena, mit denen die Theorie einst verbunden war [sc. das „prälapsarische“ Wissen gemäß Gen 1– 3], kann keinen Erkenntnisgewinn mehr bieten; die theologischen Wurzeln der westlichen Rechtswissenschaft bergen für diese keine Begründungsressourcen mehr.
Das ist ein wichtiges Votum zur Säkularisierung und zur Aufgabenteilung zwischen Theologie und Jurisprudenz. Man mag den Bedeutungsverlust der Theologie beklagen; sieht man jedoch deren Aufabe nicht in einer Welt- oder Gesellschaftslehre, sondern ganz biblisch und traditionell in einer Heilslehre, „Heil“ verstanden als ein sowohl affektives wie intellektuelles Gottesverhältnis, so ist nicht Physik oder gar Kosmologie der Raum, in welchem sie ihre Anschaulichkeit gewinnt, sondern die Geschichte, und es sind Poesie und die gestaltenden Künste.
Sextus Empiricus (so benannt als Angehöriger der„empirischen“ Schule der Medizin) ist in Dingen der Philosophie nur ein Berichterstatter und Kritiker und will selber kein Philosoph sein. Aus der Neuzeit wäre der wenigstens in England beachtete, auch Pufendorf bekannte (Eris 167) Francis BACON zu nennen, Autor der ersten umfassenden Wissenschaftstheorie.
Bibel und Geschichte
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Exkurs 3: Bibel und Geschichte. Hermeneutisches Oben (A 1.4.1 Ende) wurde kurz behauptet, die seit hundert Jahren mehr oder weniger etablierte, in der „Postmoderne“ aber schon wieder bestrittene historisch-kritische Bibelhermeneutik ähnele der juristischen Hermeneutik weit mehr als ihren eigenen Vorläufern in der Geschichte der Bibelauslegung. Sie rechnet nämlich mit menschlichen Autoren und mit der zeitbedingten Begrenztheit von deren Ausdrucksvermögen. Nun ist diese Hermeneutik allerdings eine Frucht – hauptsächlich – der Liberalen Theologie, wie sie von der zweiten Hälfte des 19. bis weit ins 20. Jh. die theologischen Lehrstühle beherrschte. Der Biblizismus, organisiert im Pietismus, hat sich ihr stets widersetzt, und das, was man „Gemeindetheologie“ nennt und wohl stets nur ein um hundert Jahre verzögerter Reflexionsstand ist, fühlt sich auch heute verunsichert, wenn biblisch Erzähltes nicht gleich Tatsache der Vergangenheit sein kann. Die Vermittlungserfolge der kirchlichen Publizistik, so stark sie gerade damals waren, haben nicht ausgereicht gegen die gewohnheitsmäßigen Vereinfachungen auf den Kanzeln. Inzwischen wird mehr denn je „Spiritualität“ zum Thema, unter noch weiter gehendem Ausblenden historischer Fragen an die Bibel. Sie ist hier auch nicht mehr die einzige Quelle; den Buchhandel beherrscht Anderes. Innerkirchlich aber sind die Angriffe auf Bultmanns Hermeneutik und alles ihr Gleichende, was ihre Motivation angeht, Angriffe dagegen, dass überhaupt eine Hermeneutik angelegt wird. Dürfen wir überhaupt kritisch fragen und dürfen wir das Handwerkszeug der Geisteswissenschaften an die heiligen Texte anlegen? Schon Luther hatte Gegner, die nur das gelten lassen wollten, was ihnen der Bibeltext unmittelbar sagte, ohne alles Dazwischentreten menschlicher Künste (Karstadt; Müntzer). Da ignorierte man bereits, dass es ein übersetzter Text war (lateinisch oder dann schon meist deutsch), den man zum Zeugen nahm. Ein beträchtlicher Teil der einstmals Hermeneutica sacra genannten Literatur versucht seit Jahrhunderten, Auslegungsregeln zur Bibel aus bestimmten Bibelstellen zu gewinnen. Nicht eine „Hermeneutik heiliger Schriften“, sondern eine „heilige Hermeneutik“ sollte es sein.⁵¹ Da war aber die Substantiv-Adjektiv-Fügung in diesem Ausdruck allzu wörtlich genommen worden.⁵² Das Prinzip des Matthias FLACIUS: Sacra Scriptura sui ipsius interpres wurde dahin überdehnt, dass man es nicht nur auf die Inhalte, also den Geschichten- und Begriffsschatz bezog und auf Querbeziehungen des Alten und Neuen Testaments (zurück als Reminiszenz, nach vorn als Prophetie), sondern auch auf die Methodik des Analysierens – logisch, grammatisch, rhetorisch. Die Metasprache sollte auch aus der Bibel kommen, und neue Begriffe standen unter dem Verdacht der Eigenmächtigkeit – der übrigens auch der Trinitätslehre der Ökumenischen Konzilien immer wieder entgegengestellt
Das gilt schon seit dem oben, Exkurs 1, Anm. 18 genannten Matthias Flacius. Näheres über diese Literatur s. Siegert Argumentation 8 – 10. Der erweiterte Gebrauch des Adjektivs ist äquivalent zu einem Genitiv: Hermeneutik des Heiligen, von Heiligem.
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Exkurs 3
wurde. Dagegen hat der als Spinoza-Schüler bekannte Lutheraner Ludwig MEYER eine Philosophia Scripturae interpres geschrieben (1666),⁵³ die manches erst heute wieder Gültige damals schon gesagt hat. HERDERs Satz⁵⁴ „Das beste Lesen dieses göttlichen Buchs ist menschlich“ widerspricht der allegorisierenden Zeitlosigkeit einer von Philon herrührenden und von den Kirchenvätern über Jahrhunderte hin weitergepflegten Auslegungstradition, die das Kunstmäßige, Professionelle ihres Vorgehens verleugnet – der Rhetorik verpflichtet bei Philon, später auch der Grammatik (Philologie), wobei diese wieder verschiedenen Tendenzen folgte: Gegen die Hypostasierung einer „heiligen“ Sprache der Bibel, des Hebräischen und der Hebraismen des Neuen Testaments, stand mehr und mehr die historisch ausgerichtete Erforschung der Sprachen Hebräisch, Aramäisch und Griechisch. Erst letztere weiß das Aramäische als Sprache Jesu gebührend zu würdigen (Gustaf DALMAN). Die neuerdings so viel beachtete, mit hebräischen Worten spielende rabbinische Hermeneutik führt auch eher auf Abwege, wollte man sie repristinieren. Zwar empfiehlt es die Rabbinen, die ihrerseits so gern allegorisierten, dass sie in praktischen Fragen Juristen waren und die Techniken antiker Rechtshermeneutik sich zunutze zu machen wussten;⁵⁵ doch wollen auch sie den Gedanken an menschliche Autoren nicht zulassen. Was bei ihnen ausgeblendet wird, ist der Ursprung biblischer Texte in bestimmten Situationen; jede Situation, in die der Text dann wieder passt, ist ihnen gleichwertig. In ihrer Tora gibt es kein Größer und kein Kleiner (# 69), aber auch kein Früher oder Später. Diese Haltung ist einer Einbeziehung historischer Fragen und Methoden ebenso nachteilig, wie die eingangs (A 1.1) bereits kritisch erwähnte Dialektische Theologie. Sie verstand sich als Theologie „des Wortes“, so wie man als reformierter Pfarrer sich verbi divini minister (v.d.m.) nennt, „Diener des göttlichen Wortes“. Das ist gewiss eine schöne Aufgabe; aber unter „Wort“ wird hierbei meist nur das verstanden, was französisch parole heißt, wohingegen das menschgewordene Wort Gottes (frz.: le Verbe) zur Formel verblasst, Fleisch und Blut verliert, ebenso wie Zeit und Umstände. Die Dialektische Theologie war erklärtermaßen eine Theologie des gesprochenen, des verlautenden Wortes, eine Engführung also. Das hat Tradition; reformierter Theologie war das Prophetenwort stets ebenso wichtig wie katholischer und lutherischer das inkarnierte. Damit konnte die Frage nach einem Geschehen einstiger Offenbarung verschwinden hinter einer Verabsolutierung von Wortlauten. Hinzu kommt, dass Luther das Alte Testament nur durch den Filter des Neuen hindurch hat gelten lassen, wohingegen
Engl. neu veröffentlicht als L. MEIJER: Philosophy as the Interpreter of Holy Scripture, 2005. Textproben gibt van Vlotens und Lands Spinoza-Ausgabe (s. Lit.-Verz., 7.2.1), S. 186 f mit Bezug auf Lesenotizen des Philosophen. Briefe, das Studium der Theologie betreffend (1780; 2. Aufl. 1785), Anfangssatz; vorausging: „(D)as beste Studium der Gottesgelehrsamkeit ist Studium der Bibel“. Darüber s. Siegert, Argumentation 158 mit Verweis auf die hierzu grundlegenden Arbeiten von David DAUBE.
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Zwingli und Calvin beides zur unmittelbaren Norm haben wollten, ungeachtet der damit unvermeidlichen Widersprüche.⁵⁶ Oben wurde schon gesagt, wie gleichgültig dem Barthianismus und damit auch der o.g. Rechtstheologie (A 2.5.4) die rechtsgeschichtlichen Fragestellungen waren, die hier nun durch einen anders gearteten Neuansatz zu einer ungeahnten Fülle an Ergebnissen führen werden. Das ist nicht nur gut für die biblischen Disziplinen, es zeigt auch einen Ausweg aus einer defensiven Ecke, in welche die Kirchen und die theologischen Ausbildungsstätten geraten sind durch ihr Schweigen zu (bzw. Ausweichen vor) historischen Rückfragen an die Kirchenlehre. Längst gibt es eine umfangreiche Skandalliteratur,⁵⁷ in welcher die von den Amtskirchen verschwiegenen Peinlichkeiten der Quellen „aufgedeckt“ und ihre Geheimnisse „entschlüsselt“ werden. Das gäbe es nicht in dem Maße und mit dem Erfolg, wenn die Kirchen auf Rückfragen vom Typ „Was ist wohl an Ostern passiert?“ (# 191) mit so trotzigen Durchhalteparolen geantwortet hätten wie „Die Sache Jesu geht weiter“. Nun war gerade die Bultmann-Schule schwach in diesem Punkt. Andrerseits, was soll man einem Pfarrer oder Theologieprofessor glauben, der alles für historisch nimmt, was in der Bibel erzählt wird, auch (wie Karl Barth) die Jungfrauengeburt? Historische Hermeneutik lehrt hier die verschiedenen Darstellungsebenen zu unterscheiden, die in antiken wie auch modernen Texten möglich sind. Historische Forschung und heutige Verkündigung werden voneinander lernen in dem, was wir hier den „hermeneutischen Zirkel“ nennen und in jeder Textauslegung der Bände II-VI wieder durchlaufen werden: von der Gegenwart wieder zurück bis zur Gegenwart. Insbesondere zwingt juristische Betrachtungsweise zur Konkretion da, wo sie möglich ist. Steuern und Abgaben z. B., ein im NT durchaus häufiges Thema, gehen für uns an „den Staat“. Das ist schon in der Schweiz nicht so, wo sie an die Kommune gehen, an den Kanton oder an den Bund; jeder Instanz antwortet man dort einzeln.⁵⁸ In Judäa war es ein wichtiger Unterschied, ob der Empfänger der Tempel in Jerusalem war, ein Klientelkönig in Galiläa oder gar die Zentralmacht Rom, in welchem Fall es wiederum Schon im NT bedarf es einer stark wertenden, gewichtenden Hermeneutik, um so untrschiedliche Texte wie das Mt. und die Paulusbriefe zu einer homogenen Aussage, dem Evangelium, zu vereinigen. Beim Jak. hat Luther es gar nicht erst versucht. Aber auch die Apk. und im AT das blutrünstige Estherbuch blieben ihm fremd („bin ihm feind“ – Siegert, EHJL 443 Anm. 84). Umso vorsichtiger wäre mit dem AT insgesamt umzugehen, will man denn eine in sich stimmige Lehre erreichen. Vieles daraus ist referiert bei H.-H. SCHADE: Jesus von Nazareth. Was die Quellen wirklich sagen, 2010. Morton SMITH, ein überaus verdienter und angesehener Historiker, hat das Fragment eines (wie er es nennt) „geheimen Markusevangeliums“ veröffentlicht (The Secret Gospel, 1973; dt. 1974, aus einem seither „unzugänglichen“ Manuskript), dessen Interesse nur ermisst, wer auch weiß, dass er als anglikanischer Priester gehindert war (damals noch) an einem coming out als Homosexueller; man lese nur den von ihm „entdeckten“ Text. – Ein gleichfalls, und auch in der Jesusfrage, seriöser Historiker ist Robin Lane FOX, dessen Unauthorized Version (1992) hier nach dem Original zitiert wird; es gibt davon eine seriöse und eine unseriöse dt. Ausgabe (s. Bd. I, Lit.-verz., 8.2). Sie ist lesenswert als Abrechnung mit den Halbheiten und Vergleichgültigungsformeln der universitären Bibelwissenschaft gleich welcher Denomination. Das System ist in der Bundesrepublik das gleiche, nur verdeckter: Der einziehende Staat – das Bundesland über sein Finanzministerium – überweist den Bundesanteil von sich aus weiter, und wer seine kommunalen Abgaben automatisiert hat, merkt sie auch kaum noch.
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nicht dasselbe war, ob die Staatskasse der Empfänger war oder die Kasse des Kaisers: Erstere waren die zivilen Finanzen, letztere hingegen war der Militäretat, über den nur der Kaiser verfügte. „Gebt dem Kaiser…“ bezieht sich auf das Abbild auf einer jeden dieser Münzen; Empfänger war aber doch die zivile Staatskasse (# 67). Ob das in Judäa überhaupt wahrgenommen wurde, wissen wir nicht; die Begründungen und Berechtigungen der genannten Maßnahmen oder Institutionen waren aber doch unterschiedlich. Wenn ermittelt ist – in unserem Fall mit rechtsgeschichtlichen Mitteln –, um welche Sache oder welches Problem es jeweils ursprünglich ging, ist noch nicht gesagt, auf welche heutige Fragestellung der Text Antwort geben könnte. Das kann eine damals nebensächliche oder noch nie gestellte Frage sein. Den Text dazu sprechen zu lassen, ist Sache der hermeneutischen Besinnung, und die dafür nötige Hermeneutik hat auch die Kirchenlehre in ihrer Gesamtheit als Grundlage und Leitlinie. Die Kirchenlehre – bei Karl Barth war es der Heidelberger Katechismus, hier ist es die CA – dient dem Anliegen, dass solche Antworten auf Gegenwartsfragen, die man aus einem bestimmten Text gewinnt, denjenigen nicht widersprechen, die man aus einem anderen Text gewinnt. Was nochmals Rechtshermeneutik betrifft, und zwar schon die antike, so ist hier schon die Unterscheidung zwischen Wortlaut und Sinn, gr. rhēton vs. dianoia, lat. scriptum vs. voluntas gefunden worden (oben C 1). Philons älterer römischer Zeitgenosse Cicero kannte sie bereits, wenn er sagt, Gesetze seien sinngemäß auszulegen, nicht wortklauberisch (De inventione 2,139). Man fragte nach der mens (bei Cicero a.a.O. auch: cogitatio) auctoris: Was hatte der Gesetzgeber im Sinn, als er diese oder jene Vorschrift erließ? Die römischen Gesetze nannten sich ja nach ihrem Antragsteller, und das mochten Personen sein, die in vergangenen Jahrhunderten unter anderen als jetzigen Umständen lebten. Autoren wie Gellius achteten besonders auf solche Veränderungen, auch im Sprachgebrauch. Gleiches hat die Bibelwissenschaft erst in der Neuzeit allmählich gelernt und respektiert nun auch mehr oder weniger das Menschliche und die Zeitgebundenheit an den biblischen Schriften. „Geboren von einer Frau, geboren unter den Nomos“, so sagt es mit Wiederholung des Verbs Paulus in Gal 4,4 und ist sich des Anstößigen dieser Botschaft wohl bewusst. Zahlreich sind die Ausweichbewegungen, die sich in theologischen Publikationen der Nachkriegszeit mit dem Stichwort „Geschichtlichkeit“ verbinden. Man spielt mit dem Doppelsinn dieses Wortes, das im 19. Jh. „Historizität“ meinte, also geschichtliche Nachweisbarkeit (rückblickend), das nun aber mehr und mehr den Sinn von „Wirksamkeit in der Geschichte“ (vorausblickend) bekommt.⁵⁹ In diesem Sinne wird der „historische Jesus“, über den man nach Albert Schweitzers Verdikt nichts Sicheres mehr zu wissen meint, ersetzt durch den „geschichtlichen Christus“, der uns von jedem Kruzifix erneut anblickt.⁶⁰ Das Englische hat in historicity diesen Doppelsinn nicht; „Geschichtlichkeit“ wäre impact – es sei denn, man lässt sich diesbezüglich auf einen Germanismus ein. Dieselbe Unterscheidung kehrt wieder im Jesus von Nazareth BENEDIKTS XVI. (2013), das ein Buch nicht über den „historischen“, sondern über den „wirklichen“ Jesus sein will.
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Nun ist die Wirksamkeit des Nazareners keine Frage, und sie wissenschaftlich zu erfassen, ein edles Bestreben; doch kann es die eigentlich historische Arbeit, wo denn ernstliche Fragen sind, nicht ersetzen oder vergleichgültigen. Doch schon das 19. Jh. hatte sich vom „historischen Jesus“, der beunruhigende Seiten hatte, auf Distanz begeben, um den „geschichtlichen Christus“ zu verkünden. Nur dies sei die Aufgabe der Kirche, und nur dies die Aufgabe der wissenschaftlichen Theologie. Einen Alfred Loisy, der die weite Kluft zwischen Jesu Endzeiterwartung und dem, was aus seinen Impulsen in der Folgzeit wurde, aufwies (s.u. # 31), hat seine Kirche nicht hören wollen, hat ihn vielmehr ausgeschlossen. Nun, mit „Geschichte“ vs. „Geschichtlichkeit“ geht es um die Unterscheidung zweier verschiedener Fragen einschließlich zugehöriger Methodiken. Historizität als etwas von der Geschichtswissenschaft Einzuschätzendes und Geschichtlichkeit als Erkenntnisgegenstand wirkungsgeschichtlich orientierter Hermeneutik sind keine Alternativen, sondern das eine dient dem anderen, solange man es nur nicht verwechselt und eines für das andere nimmt. Eine Theologie, die sich mit „wirkendem Wort“ begnügt und darin fürs Predigen zu reichen scheint, ist in dieser letzteren Gefahr. Worte sind Vergegenwärtigung, sind Zeugnis, wo sie nicht Verzerrung sind oder gar Fiktion; da liegt ein Problem aller Religionen.⁶¹ Eine Hermeneutik, die in dieser Situation helfen soll, wird grundsätzlich die Textebene von der historischen unterscheiden, ebenso innerhalb der Texte Objektsprache von Metasprache. Dazu einige Sprachregelungen: Ereignisse sind ein Geschehen, das sich der Wahrnehmung einer oder mehrerer Personen darbietet (etymologisch: Eräugnisse, von „Auge“). Tatsachen sind Ereignisse, die mit hinreichender Sicherheit festgestellt wurden – bei längerer Zeitdistanz mithilfe der historisch-kritischen Methodik;⁶² Deutungen hingegen sind nie zwingend, sondern gehören, sofern sie überpersönlich gelten sollen, zu den Konventionen, um welche ggf. sich eine ganze Gemeinschaft gruppieren kann (Glaubensbekenntnisse).
Stets wird seriöse historisch-kritische Exegese daran erinnern, dass die Ereignisse der Vergangenheit und das ggf. darin erkannte Handeln Gottes nicht miteinander identisch sind; sie verhalten sich zueinander wie Tatsache und Deutung. Das ist es, was der Fundamentalismus kurzschlüssig überspielen möchte und was auch in diversen neueren Ansätzen zur Hermeneutik, wo Texte aus Texten oder aus puren Gedanken hervorgehen, postmodern-postfaktisch ausgeblendet wird. Das ist aber, wollte man so lehren oder predigen, ein Rückfall in jene „Sonntagskausalität“, die Ernst Troeltsch einst ver-
Nur wo man Theologie als Ankündigung nimmt und als Eschatologie, muss man sie für die noch nicht vorhandene Sache nehmen; s.u. Exkurs 5. In dieser Hinsicht ist der Buchtitel von W. FRICKE: Der Fall Jesus. Eine juristische Beweisführung (1995) kurzschlüssig. Nach solch einem Zeitabstand bedarf es nicht nur der Dokumenten-, sondern auch der Quellenprüfung.
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spottete,⁶³ ohne indes eine Hermeneutik anbieten zu können, die das Mythische durch Besseres ersetzt hätte. Dem damals noch tobenden Apostolicums-Streit, wo es um Dinge wie die Jungfrauengeburt und die Höllenfahrt ging, hätte das zur Versachlichung und zur Schlichtung dienen können. Stattdessen propagierte man ein „undogmatisches“ Christentum, wo ein unmythisches nötig gewesen wäre. Worin besteht das Problem des Mythos? So willkommen er der religionsgeschichtlichen Forschung und der philosophischen Ästhetik sein mag, so unpassend ist er doch im Gebiet des Rechts und Ethik, wo es um Handlungsanleitung geht. Dort ist Rationalität – verstanden als Übereinstimmung mit allem gesicherten Wissen – das Allerbeste, denn wie bewahrt vor Widersprüchen. Mythos, zumal wenn er auf vorläufigen, von besserem Wissen überholten Anschauungen beruht, stiftet auf diesem Gebiet Verwirrung. Insbesondere kann unsere Kenntnis der Geschichte, wichtig wie sie ist zur Orientierung in der Gegenwart und für ein Lernen aus Erfahrung, durch mythische Übermalung nur verlieren. Die Farben der Legende wirken hier, um in der Metapher zu bleiben, als Deckfarben. Bultmanns seit 1941 so heiß diskutierte Aufgabenstellung an die Bibelxegese, genannt „Entmyth(olog)isierung“, war dann aber, den Mythos „nicht zu eliminieren, sondern zu interpretieren“.⁶⁴ Genauer gesagt: Die Exegese stellt zunächst mythisch Gedachtes fest; es ist aber Aufgabe der Interpretation, das Gemeinte unter Verzicht auf überlebte, nicht mehr gültige Voraussetzungen zu vermitteln.⁶⁵ Die scheinbare Objektivität der mythischen Sprache ist in Subjektivität zu übersetzen – womit nicht Individualität gemeint ist, sondern der Ausdruck vielfach gemachter Erfahrung. In den Mythen der Antike ist kollektive Erfahrung kodiert, zu der die Altertumswissenschaft, von
Näheres bei Siegert, Argumentation 209. Gemeint ist ein Bibelverständnis, das solche Dinge wie die sog. Naturwunder wörtlich nahm. Auch die scheinbare Synonymie von „Herr der Welt“ und „Lenker der Geschichte“ ist durch nichts gewährleistet. Vielmehr ist sie durch die Schoa nicht nur für das Judentum, sondern auch für das Christentum erschüttert, wo nicht widerlegt. Einen knappen Einblick in diese Debatte gibt H.-W. BARTSCH: „Entmythologisierung“, HWP 2 (1972), 539 f, mit einem zeittypischen Fehler: Ein „Desinteresse“ an historischer Fragestellung hat nicht Bultmann „proklamiert“, sondern es war einer seiner allzu begeisterten Leser (dort genannt in Anm. 4), und was Bartsch die „geschichtliche Begegnung mit dem Kerygma“ nennt, ist für uns durchaus die geschichtliche Begegnung mit Jesus selbst im Judäa der Jahre 29/30, so wie er in den Berichten (und nicht nur in „proklamierenden“ Texten) sich zeigt. Dinkler, Signum crucis 373 f sagt mit Bezug auf Bultmanns Vortrag von 1941 (übrigens auf einer Theologenzusammenkunft der Bekennenden Kirche gehalten): Seither gingen „die Wellen hoch, wo man den Vortrag entweder nicht gelesen oder nur halb verstanden hatte. Der Vortrag behandelte gar nicht die Entmyhologisierung der Bibel, sondern – wie der Untertitel sehr präzise sagt –: das Problem der Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung“, um dabei solche Anstößigkeiten zu vermeiden, die mit Zweck und Inhalt der Botschaft nichts zu tun haben. Auf solchen aber beharrt der Fundamentalismus, als wären sie Glaubenssätze. Im NT gehören Dinge wie der bei den Synoptikern (nicht bei Joh.) stark vorhandene Geisterglaube dazu sowie (auch im Joh C) die magische Auffassung der Heilungen und sonstigen Wundertaten Jesu.
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Psychologie unterstützt (C. G. JUNG; Eugen DREWERMANN)⁶⁶ durchaus Schlüssel gefunden hat; existenziale Interpretation macht sich die durchaus anerkennenswerte Aufgabe, diese kollektiv gemachte Erfahrung zu übersetzen in individuelle Erfahrung von jetzt, sei es Selbsterlebtes oder oft Erlebbares, worauf man sein Publikum anspricht, seien es Hoffnungen und Befürchtungen, die auch heute wieder kollektiven Charakter tragen. Und nochmals zur Terminologie: Sachverhalte ⁶⁷ als etwas mündlich oder schriftlich, jedenfalls aber sprachlich Vorgestelltes rufen die Vorstellung von ähnlich schon Erlebtem auf, für die Interpretation zu ergänzen aus den verfügbaren Informationsquellen. Was an Geschehen in Raum und Zeit hinter einer Darstellung steckt, liegt auf einer anderen Ebene, einer nicht so leicht zugänglichen; hierfür braucht es in unserem Fall genauestmögliche Kenntnis der Antike im Allgemeinen und der Verhältnisse eines Jesus von Nazareth oder Paulus von Tarsus im Besonderen. Die von den Reformatoren beanspruchte claritas Scripturae, die ihnen zehnmal mehr wert war als alle von der Kirche verwalteten mysteria, wird umso größer, je mehr man sich im Vorstellungsvermögen und im Kenntnisstand dem gelebten Leben der Zeugen nähert. Selbst für die Osterperikopen, die dementsprechend unter dem Begriff des „Zeugnisses“ zu betrachten sein werden (# 191), lohnt es sich, nach einem Geschehen zu fragen; ganz ohne Auslösung – so ist hierbei die Annahme – werden diese Berichte nicht zustande gekommen sein. Insbesondere wo Rechtsbegriffe gebraucht oder Rechtsvorgänge benannt werden, ist eine Verankerung im gesellschaftlichen Leben rein sprachlich schon impliziert und dementsprechend bei der Auslegung nach Möglichkeit aufzuspüren. Mit Norman Anderson sprachen wir oben (A 5.1.2) schon von einem authentically legal approach. Mehr noch als Rechtsvorstellungen, die richtig oder falsch, präzise oder vage sein können, ist das angewandte Recht der damaligen Lebenswelt Gegenstand des hier zu begründenden Kommentars. Die Bildhälfte der Gleichnisse wird bei dieser Fragestellung zur Sachhälfte; die Plausibilität der Gleichnisse steht ja in direktem Verhältnis zu ihrer Übereinstimmung mit der damaligen Erfahrungswelt. Welche das jeweils ist, wird
Wenn Drewermann (Tiefenpsychologie und Exegese, Bd. 1, 1984 u. ö.) sich gegen das Entmythisierungsprogramm ausspricht, dann liegt darin ein Missverständnis. Er diagnostiziert eine „tiefe Zerrissenheit, die den Bereich des Verstandes, mithin der äußeren Realität, von der Welt der psychischen Realität, des Unbewußten, des Gefühls, trennt“ (31; Hervorhebung original): als ob das, was der hier getadelte Kant analysierte, der Verstand, nicht auch unser Innerstes wäre! Nur kommt er leichter zum Bewusstsein seiner selbst. – Dass bei der Entmythisierung eine „Kluft zwischen Dogmatik und Exegese“ unvermeidlich sei (ebd.), stimmt nur, wenn Wundererzählungen naiv genommen werden, was Bultmann gerade nicht tut. Und dass die Frage nach dem faktisch Geschehenen eine „Veräußerlichung“ sei, woraus „die Lebensferne“ und „die unveremeidliche religiöse Nichtigkeit“ der so entstehenden Kommentare resultiere, das wird man der hier zu begründenden rechtsgeschichtlichen Auslegungsweise nicht vorwerfen können. Nach Kamlahs Definition (Logische Propädeutik 131) verstehen wir darunter etwas Mentales, Vorgestelltes, im Gegensatz zu Tatsachen als etwas Feststellbarem, Objektivem. Ein Einzelner kann sich immer etwas vorstellen; Tatsachen feststellen können hingegen immer nur mehrere. Der juristische Begriff des „Tatbestandes“ meint mal eines, mal das andere, mal beides.
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von Fall zu Fall zu ermitteln sein; die Sichtung, Lokalisierung und Datierung der Quellen oben in A 5 resümiert die dazu nötigen Vorarbeiten. Mit solchen Analysen befinden wir uns in dem immer nur relativ sicheren Gebiet des Historischen. Die theologische These hierbei ist, dass Gott selbst sich in der Person Jesu Christi in die Grauzone menschlicher Wahrnehmung begeben hat mit allen Risiken, die damit verbunden sind. Der Evangelist der Inkarnation reflektiert darauf (Joh B 6,41– 64). Hier befindet sich historische Exegese in guter Nachbarschaft zu angewandter Jurisprudenz: Sicherheit vor Gericht ist oftmals nur ein hoher Grad an Wahrscheinlichkeit. Dessen Höhe wird je nach Wichtigkeit des Falles mehr oder weniger hoch angesetzt (Anderson, A Lawyer 24). Für jüdische Exegese hingegen, läuft sie in traditionellen Bahnen, können Geschichte und Geschichten dasselbe sein.⁶⁸ Da ist es nicht weiter wichtig, zu wissen, in welchem Jahrhundert der Exodus stattfand oder welche Teile des Pentateuch etwa noch von Mose stammen. Judentum trägt sich selbst durch seine Existenz als Volk und eine ihm eigene Überlieferung. Das Christentum hingegen hat Pontius Pilatus im Credo, und der Tag, wo die von ihm angeordnete Hinrichtung Jesu stattfand, ist ein Datum der Geschichte.⁶⁹ Wir wissen auch hinreichend genau, wie sie geschah; legendäre Zusätze (etwa eine Sonnenfinsternis an einem Tag direkt nach dem Vollmond⁷⁰ und dergleichen mehr) lassen sich durch kritisches Gegeneinanderhalten der Berichte herausfiltern. Erst das Warum dieser Hinrichtung macht Schwierigkeiten; hier mischen bereits, und mischten wohl schon beim damaligen Zusehen, Deutungen mit ein in die Wahrnehmung. Fox, Unauthorized Version 360 bringt die Unterschiede auf den Punkt: Man hat viel Aufhebens gemacht von der Geschichtlichkeit der Hebräischen Bibel; doch ist jüdischer Glaube nicht abhängig davon, ob das Berichtete geschah oder nicht. (…) Nur im Herzen des Christentums ist Glaube abhängig von historischer Wahrheit: Entweder ist Jesus von den Toten auferstanden, oder er ist es nicht.
Z. B. EMMANUEL (Pseud.): Commentaire juif des Psaumes, Paris: Payot 1963, S. 40 zu Ps 22,17: „C’est aux tortures du Moyen-Age que pense le psalmiste.“ Ebd. 50: „Il n’existe pour Israël aucune évolution.“ Jedenfalls gilt: „La loi de Moïse est immuable“ (146). Für ihn leben „der Glaubende und der Nichtglaubende in zwei verschiedenen Welten“ (154) und: „C’est par une étrange méconaissance de la réalité des choses que le peuple juif a pu paraître le grand errant du monde, simplement parce que, à un moment de son histoire, il a été privé d’un territoire.“ Aus dem Vergleich der glaubwürdigen Angaben hierzu – nur diese haben sich durch paläoastronomisches Nachrechnen bestätigen lassen – ergibt sich der 7.4.30 heutigen Kalenders (Siegert, Leben Jesu 19 – 22). Lk 23,45 (eklipontos tou hēliou) nach ältester gr. Bezeugung – dafür hätte schon an jenem Tag das Weltgebäude einstürzen müssen. Eine Korrektur, welcher auch die Vulgata weislich folgt, mildert das zu einem „Verdunkeln“ der Sonne, wofür eine Wolke reicht. Gemeint war aber letztlich etwas anderes, nicht Astronomisches oder Meterologisches, nämlich der abgrundtiefe Schrecken der Anhänger dieses Messias und erhofften Welterlösers.
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Das hat schon Paulus gesagt (1Kor 15,12)⁷¹ und denjenigen unter seinen Zeitgenossen, die die Bibelsprache offenbar damals schon auf das Symbolische reduzieren wollten, klar zu machen versucht, wie etwas nicht unserer materiellen Welt Angehöriges sich doch vor Zeugen zeigen könne (# 191); es gebe auch eine immaterielle Körperlichkeit (1Kor 15,35 – 53). Freilich, wenn Fox weiterhin meint, Christen müsse daran gelegen sein nachzuweisen, „dass da jemand auf Wasser umherging oder einen Feigenbaum zu Tode fluchte“ (382), so ist zu diesen sog. Naturwundern die spezielle Erzähltechnik, ja Poetik (im ursprünglichen Sinn) in Anschlag zu bringen, der diese Texte sich verdanken. Sie sind nicht in der gleichen Weise Berichte wie andere. Ein Prüfstein für eine Hermeneutik, die die vorgestellte Welt alter Texte zu unterscheiden vermag von der Lebenswelt ihrer Autoren, sind für die Bibel beider Testamente die Wundergeschichten. Ganz rasch überwuchert dort die vorgestellte Welt die tatsächliche. Wunder ist, worüber Menschen sich wundern. Man darf daraus keine Metaphysik und schon gar keine Anti-Physik machen. Jesus wusste kranken Menschen aufzuhelfen, Herztote eingeschlossen,⁷² wo immer eine Spontanheilung bzw. Wiederbelebung möglich war. Das wird oft – was Morton Smith in böswilliger Absicht ausnützte – im Stile von Zaubergeschichten dargestellt. Aber dass Jesus so etwas wie einen Knochenbruch augenblicklich hätte zusammenwachsen lassen, wird nicht behauptet. Das subjektiv Erstaunliche der Vorkommnisse wird beim Erzählen in ein pseudo-objektives sprachliches Gewand gegeben; es geht wohl auch kaum anders. Hinzu kommen dann fast automatisch die Emphasen des Erzählens und Weitererzählens, im Verbund mit der Ungenauigkeit des Gedächtnisses. Das Landen der Jünger Jesu im Morgennebel am Ufer des Sees Genezareth, wo Jesus, der nicht im Boot war, unerwartet vor ihnen erschien (Joh A 6,16 – 21), steigert sich mit wenigen Zutaten zu einem Über-das-Wasser-Gehen mit gleichzeitigem Stillen des Windes (Mk 6,47– 51), von wo der Weg nicht mehr weit ist bis zu Jesus mit im Boot – sehr viel sinniger! –, von wo aus er einen Seesturm stillt (Mk 4,35 – 41). Es ist diese Fassung, die schließlich das Mt aufgreift und nochmals verlängert um Jesu Aufforderung an Petrus, über das Wasser zu schreiten (Mt 14,22– 32). Erst da gebietet sich die Phantasie des Erzählers Einhalt. Was die Theologie von den übrigen Wissenschaften, angefangen von der Geschichtswissenschaft, unnötig entfremdet hat, ist eine Auffassung der biblischen Wundererzählungen, als bezeugten sie ihrer Nachwelt eine Aufhebung der Naturgesetze.⁷³
Und natürlich auch Anderson, A Lawyer in zweien seiner sechs Kapitel (nämlich 3 und 4, im Herzen des Buches). Versteht sich: die noch warm waren. Joh 11,39 (Lazarus) ist eine konstruierte Ausnahme, Ineinander einer Totenerweckungsgeschichte, den sterblichen Leib betreffend, mit der Ostergeschichte, wo es um das ewige Leben geht. Im Rahmen der einstigen Zeichenquelle (die hier endet, ehe nur noch Joh 20,30 f folgt) ist das die Ostergeschichte. v. Weizsäcker, Zum Weltbild der Physik 261: „Den Begriff des Wunders hat man (…), schon unter dem Einfluß des heranrückenden naturwissenschaftlichen Denkens, so verengt, daß er die Durchbrechung von Naturgesetzen fordert.“ Sodann definiert er: „Das Wunder ist ein Erweis von Macht, die über Menschenkraft und über alles vertraute Geschehen hinausgeht.“ – Ders., Der Garten des Menschlichen,
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Diese Auffassung wird zwar heute nicht mehr so penetrant vertreten wie vom Supranaturalismus des 19. Jh.; doch was man stattdessen in Kommentaren und Predigten geboten bekommt, ist sehr häufig eine Flucht aus der Geschichte in die Metapher. Totenauferweckung wird Ermunterung der Lebendigen, und das Besondere wird banal. Übersehen wird hierbei die Subjektivität der Wahrnehmung des „Erstaunlichen“ (nichts Anderes meint der Begriff thauma/miraculum, wo er denn vorkommt),⁷⁴ die in den Texten manchmal authentisch zu greifen ist. Übersehen wird auch die schon erwähnte Eigengesetzlichkeit des Erzählens, welches zu allen Zeiten steigert und weiter profiliert, was anfangs eine Wahrnehmung der Sinne war. Hier kommt die Literaturwissenschaft dem historischen Bemühen zur Hilfe. Was die exegetische Terminologie als „Naturwunder“ bezeichnet, ohne sagen zu können, was das sein soll, wird besser erzähltechnisch als Hyperbel eingestuft, als Übertreibung,⁷⁵ und zwar in der Erzählgattung; die diskursiven Textsorten haben auch ihre Hyperbeln. Das Steigern zählt zu den Universalien des Erzählens wie auch der Poesie.⁷⁶ In einer Sprache, die auch Berge hüpfen und Bäume in die Hände klatschen lässt (Ps 114[113],4.6; Jes 55,12), können auch Wassermassen senkrecht stehen wie Mauern (Ex 14,22.29).⁷⁷ Jenen Supranaturalismus, der dem Schöpfer der Welt oder seinen Boten Ausnahmen abverlangt von den Naturgesetzen, hat lutherische Theologie, sie zumindest, nie nötig gehabt. Bekanntestes Beispiel, einst Zankapfel der Wissenschaften, ist das Stillstehen der Sonne während der Schlacht bei Gibeon (Jos 10,12– 14), bis die Israeliten gesiegt hatten. Dies ist eine der Schriftstellen, aufgrund deren die Kirchen – mit rühmlichen Ausnahmen, darunter Wittenberg (oben 4.6) – die wissenschaftliche Astronomie behindert und das geozentrische Weltbild – wo allenfalls die Sonne sich bewegt, nicht die Erde – für verbindlich erklärt haben. Dass dieses sog. factum Iosuae Poesie ist, hat Herder erkannt.⁷⁸ Den Kern dieses Textes bildet das kleine Gedicht von V. 12b/13a, ein Dankgebet in
1977 (1984), 557: „Schließlich schien mir die Tendenz, die religiöse Wahrheit durch Brüche in der göttlichen Ordnung der Natur zu bestätigen, eher unfromm.“ Übrigens wird dieses Wort für die Taten Jesu nirgends gebraucht. Die Synoptiker sprechen von dynamis/virtus „Kraft(tat)“, das Joh. von sēmeion/signum „Zeichen“ (sc. für die göttliche Herkunft Jesu) Das ist sicher schon empirisch überprüft worden; jeder kennt es aber auch. Einem Sohn unseres Hauses ist eine von ihm aus eigenem Erleben berichtete, erstaunliche Geschichte wenige Wochen später von einem Zuhörer, der sich dabei nicht an ihn erinnerte, erneut zu Ohren gekommen – mit mehr als verdoppelten Zahl- und Mengenangaben. Diese hat sich bis heute nicht geändert. Jeder Film über historische Personen oder Ereignisse übersteigert das Typische bis hin zum Dazuerfinden ganzer Szenen. Se non è vero, è ben trovato. Vgl. Ps 78[77],13. Dies ist übrigens die Stelle, worauf die ntl. Rede von „Zeichen und Wundern (terata)“, Apg 7,26 u. ö., zurückgreift. Es ist die poetisch gesteigerte Exodus-Tradition und nicht das demgegenüber eher nüchtern berichtete Handeln Jesu. J. G: HERDER: Vom Geist der ebräischen Poesie, 2. Teil (1783),7 („Siegesgesänge der Israeliten“). Beispiele könnte man noch viele geben. Als Elia vor der Religionspolitik des Königshauses floh, haben bestimmt nicht nur Raben ihn dabei gesehen, sodass auf einmal morgens beim Aufwachen Reiseverpflegung neben ihm lag (3Kön 19,5.7; vgl. den „Engel“ in 3Kön 17,4.6). Das ist orientalische Erzählweise, und nur der
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zwei Verszeilen.⁷⁹ Im Rückblick auf eine gewonnene Schlacht spricht Josua (versteht sich: der Josua des Berichts; der wird nicht am selben Tag formuliert worden sein): „Sonne, steh still zu Gibeon, und Mond, im Tale Ajalon!“ (V. 12a) So hatte man die Schlacht erlebt: Der Tag war so lang, dass noch der letzte Feind vertrieben werden konnte, unterstützt durch „Steine“ vom Himmel, nämlich Hagel. Dies, als Imperativ an Sonne und Mond sehr poetisch ausgedrückt, erhält in V. 13a den offenbar nachträglichen Kommentar: „Da stand die Sonne still…“, und seit dieser Bemerkung des Redaktors, dem wir den Text in seiner schriftlichen Form verdanken, las man das Ganze als Faktum.⁸⁰ Solches Wundererzeugen durch Weitererzählen ist auch in der Neuzeit noch anzutreffen. Die in # 110 zum Thema „Spekulation“ berichtete Anekdote über Thales, der Ölpressen für wenig Geld erwarb und dann vermietete, um anschließend von einer ungewöhnlich reichen Jahresernte, die nur er erwartete, schlagartig reich zu werden, hat in der ältesten Version noch nichts Mirakulöses an sich. Im Nacherzählen werden es dann die Ölpressen „ganz Griechenlands“ (so bei Spinoza, Ep. 44 [47]) – wie hätte er das wohl angestellt? Der Historiker fragt sich obendrein, was hier „Griechenland“ heißt, wenn Thales in Milet lebte. Hier hat man aber zum Glück die weit ältere Version des nüchtern-sachlichen Aristoteles zur Verfügung, bei der sich höchstens fragen lässt, ob Sternkunde auch schon Wetterkunde wäre; das ist eine gemeinsame Voraussetzung aller Versionen. Historisch-kritische Hermeneutik berücksichtigt angesichts antiker Erzähltexte darüber hinaus die alte Gewohnheit, sich der Faktensprache und des Erzähltempus zu bedienen auch da, wo man nicht berichtet, sondern deutet. Nach einem ungeschriebenen Gesetz antiker Geschichtsschreibung kommentiert ein Erzähler die Ereignisse nie selbst, sondern lässt dafür die handelnden Personen sprechen. – Entsprechend vorsichtig werden wir sein mit der Behandlung von Worten Jesu in den Evangelien. Nur in der Logienquelle sind sie der eigentliche Gegenstand der Überlieferung, gerahmt von Erzählresten, die mitunter schon von den Evangelisten kommen können; am anderen Ende der Skala liegt das Johannesevangelium, wo der Erzählinhalt, bes. wo er sich der Schicht A zuweisen lässt, das Alte ist und die Jesusworte, soweit sie über Einzelsätze hinausgehen, erst der Schicht B oder C sich zuschreiben lassen. Der Supranaturalismus des 19. Jh. hat in Abkehr von der Aufklärung die Wunder der Bibel in die Höhe von Glaubensinhalten gehoben, obwohl die altkirchlichen GlaubensBierernst europäischer Lesegewohnheiten versteht das falsch. Nicht anders ist es mit dem Wein bei der Hochzeit zu Kana (Joh 2,1– 11), wo kein Wort des Textes von „Verwandlung“ redet, usw. Die Zürcher Bibel druckt es zu Recht typographisch abgesetzt. Rein formal ist auch der Kommentar in V. 13a gedichtförmig, aber nicht im selben Metrum, und aus dem plastischen Imperativ der 2. Pers. wird dort ein Indikativ der 3. Vgl. Siegert, EHJL 116 (z. St.). Ähnliches im Griechentum, wo bei Oedipus’ vorherbestimmter Sünde die Sonne sogar rückwärts geht, s. Hadas, Hell. Kultur 71. – Das Judentum, auch wenn im Midrasch gelegentlich auf Jos 10,13 zurückgegriffen wird (zwei Beispiele gibt Bill. I 424.800), hat nie von Wundern gezehrt. Im Namen R. Joḥanans (3. Jh.) ist überliefert: Sollte ein Prophet auftreten, der zur Verehrung der Gestirne auffordert, höre ihn nicht, selbst wenn er in der Lage ist, „die Sonne mitten im Himmel zum Stehen zu bringen“ (bSan. 90a).
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bekenntnisse nichts davon erwähnen, die CA auch nicht, sonstige Bekenntnisschriften gleichfalls kaum.Werner Elert sagte es 1940 ganz nüchtern: „Die biblischen Wunder sind längst aus einem Beweismittel zum Beweisgegenstand der Apologeten geworden“ (Glaube 282). Zwar geschehen Spontanheilungen auch noch heute, mit gleicher Seltenheit wohl wie eh und je, und Totenerweckungen mit den angemessenen Methoden (die biblischen Texte sagen davon nicht viel)⁸¹ sind sogar Routine geworden und bei frisch Verstorbenen Pflicht der Ärzte, ehe sie einen Totenschein ausstellen dürfen.⁸² Von da bis zum Aufweis eines Heilshandelns Gottes ist aber ein weiter Weg. Ein häufiger Einwand gegen das historische Bemühen lautet: Der Glaube darf sich nicht auf die Ergebnisse historischer Forschung stützen; diese führen ja bestenfalls zu einer gewissen Sicherheit, aber nie zur Gewissheit des Glaubens. Darin steckt ein Missverständnis, denn offenbar liegt die Gewissheit des Gottesverhältnisses, die in der Aneignung der Botschaft besteht und im Gebet, auf einer anderen Ebene.⁸³ Hingegen kann es den Glauben nur schwächen, wenn er sich an Vorstellungen bindet, die einer anderen Zeit angehören und heute auch eine andere Welt nötig machen würden.Was im Folgenden gelegentlich als „jenseitig“ qualifiziert werden wird (# 191; # 327), hat nichts zu tun mit Blitz und Donner, Sturm und Erdbeben, auch nicht mit Wasserflächen, ob senk- oder waagrecht, die stehen wie Mauern. Nun werden Wundererzählungen im vorliegenden Kommentar nur selten das Thema sein (vgl. immerhin # 219), doch soll mit alledem nochmals gesagt sein: Es ist nichts zu verlieren, viel jedoch zu gewinnen, wenn man die Evangelien historisch liest, unter Anwendung der dazu nötigen Methodik. Wie unter A 1.2 schon gesagt, ist die verfemte Redaktionskritik – d. h. Zustandekommensanalyse – der Texte genau das, was ihnen einen historischen Kern sichert.
Am deutlichsten ist die für die ganze Gattung motivgebende Perikope 1Kön 17,17– 24, und zwar in V. 21; vgl. Siegert, Leben Jesu 93 f. – Problem der Wunderheilungen ist in vielen Fällen (der hier Schreibende hat welche miterlebt) nicht ihre Tatsächlichkeit, sondern ihre geringe Nachhaltigkeit. Zwei meiner persönlichen Bekannten, deren einer auch jetzt noch lebt, sind auferweckte Tote. „Nur was wir glauben, wissen wir gewiss“ (Wilhelm BUSCH). Er meint dabei ein Glauben im Vollsinn, nicht nur ein Vermuten – fides, nicht opinio (vgl. # 38).
Das Ungenügen der Metaphern
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Exkurs 4: Das Ungenügen der Metaphern Ein kirchenspezifisches Hemmnis im Gespräch mit anderen Wissenschaften besteht darin, dass Predigt geboten wird, wo Theorie gefragt wäre. Die Theologie begnügt sich allzu leicht mit Metaphern, wo die Jurisprudenz Termini gebraucht.⁸⁴ Das ist zwar verständlich angesichts einer unvermeidlichen Nicht-Gegenständlichkeit im Zentrum des Interesses: Ihr theos ist ihr nicht in der gleichen Weise gegeben wie der Jurisprudenz ihr ius. Doch bleibt der Gegenstand theologischer Texte oder der Inhalt theologischer Sätze so lange unbestimmt, wie man ihn nicht auch in eigentlicher Sprache benannt hat. Diese eigentliche Sprache kann wenigstens von menschlichen Erfahrungen reden. Im Umkreis der Gadamer-Schule wird von Metaphern so geredet, als wäre ihr Gebrauch unausweichlich. Das ist er aber nur da, wo es für die zu bezeichnende Sache (noch) keinen Terminus gibt. Dann muss man umschreiben und, wenn es kurz und packend sein solle, eine Metapher wählen. Welche jedoch man wählt oder auch selbst bildet, darin ist man frei. Mag es auch Schicksal sein, dass alle menschlichen Sprachen unvollkommen sind, so ist doch stets die Möglichkeit der Verbesserung und Erweiterung gegeben. In seiner Logik der Forschung hat Karl POPPER 1935 aufgewiesen, dass empirische Aussagen nicht so leicht verifizierbar sind, wie sie sich „falsifizieren“ lassen;⁸⁵ nur Widerlegungen können so sicher sein, dass sie auch in Zukunft gelten. Das heißt aber auch, dass Sätze, die so formuliert sind, dass sie nicht widerlegt werden können, Tautologien etwa, keiner Bewahrheitung zugänglich sind (dazu Exkurs 12). Auf diesem Hintergrund hat Eberhard Jüngel als Teilnehmer einer lebhaften Diskussion über metaphorisches Reden in der Theologie – ob dieses für sie nicht das „eigentliche“ sei – folgendes geschrieben:⁸⁶ Das Ungenügen der Metapher für ein auf Richtigkeit bedachtes Aussagen läßt sich auch daran erkennen, daß sie im Streit um die Wahrheit deren Gegenteil unfalsifizierbar machen kann. Wenn man hinsichtlich der Wahrheit selber im Ungewissen ist, dann läßt sich die Metapher dazu mißbrauchen, den Logos, der selber nicht wahr ist, unwiderlegbar zu machen.
Wörter metaphorischen Ursprungs – worauf theologische Metaphorologie so gerne hinweist – sind etwas anderes als Metaphern. So ist noch heute ersichtlich, dass viele Wortbildungen auf schichte Körperbewegungen zurückgehen, etwa vom Abstellen
Beispiele metaphorischen Sprachgebrauchs in der Jurisprudenz sind selten. Vgl. immerhin # 343 zu 1Tim 1,2 (ein „leiblicher Sohn“ des Paulus, der genau das nicht ist): Das fällt in den Bereich der juristischen Fiktionen, die auch eine gewisse Gültigkeit haben können. Sehr oft zeigen sich bei richtigen Sätzen die Wahrheitsbedingungen (Randbedingungen) erst nach wiederholter Anwendung. Das entwertet sie nicht, sondern schränkt die Anwendung nur ein. P. RICŒUR/E. JÜNGEL: Metapher. Zur Hermeneutik religiöser Sprache (EvTh, Sonderheft), 1974, 98, unter Hinzufügung der Aristoteles-Stelle, die er hier übersetzt: ἡ δὲ μεταφορὰ ποιήσει τὸν λόγον ἀνεξέλεγκτον (Sophistici elenchi 176b 24 f ).
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Exkurs 4
(Absetzen) einer Sache. Im Griechischen kommt apothēkē „Speicher“ vom Abstellen, synthēkē „Vereinbarung“ vom Zusammenstellen; gleichfalls im Immateriellen bleiben diathēkē „Verfügung“ (eigtl. „Verteilung, Austeilung“; parathēkē „Depositum“ kommt vom Danebenstellen (eigener Sachen neben fremde), deutlicher benannt als parakatathēkē als dem „Ab“-stellen einer Sache „bei“ jemandem. Das Wort hypothēkē „Pfandhinterlegung“ weckt die Vorstellung, eine Vereinbarung bekomme ein Fundament – zu schweigen von Wortbildungen wie hypothesis, der „Zugrundelegung“ eines weiteren Folgerungen dienenden Satzes und vielen anderen Bildungen mit thesis, angefangen von thesis selbst als der „Setzung“ einer Aussage. Ähnlich immateriell und von der Tätigkeit der Hände auf die des Geistes übertragen sind synthesis, antithesis, parathesis, parenthesis usw. Solcher Ursprung vieler Wörter aus Metaphern ist hier aber nicht das Problem, sondern es ist die Metaphorisierung solcher Ausdrücke, die bereits definierte Begriffe waren, in theologischen Texten. Schon unser ‘erster Kirchenvater’ Philon, der ein überreiches Vokabular hat, zehnmal größer als das seines Vorbildes Platon, geht hier mit schlechtem Beispiel voran. Er plündert die Terminologie aller ihm bekannten Philosophien – selbst die epikureische ist dabei –, ohne sich um die recht unterschiedlichen Voraussetzungen zu kümmern, welche den Begriffsbildungen zugrunde liegen.⁸⁷ Am Unterschied zwischen eigentlichem vom uneigentlichem Gebrauch des Wortes „Gerechtigkeit“ gab schon Pufendorf seinen theologischen Kritikern ein Beispiel (s.o. A 2.3.1; C 4.7.2): Denjenigen, die zu wissen meinten, was „Gerechtigkeit“ auf Seiten bzw. in den Augen (auch eine Metapher) Gottes ist und daran die menschliche messen wollten, hält er entgegen, dass Aussagen, die auf der einen Seite dieses Vergleichs gelten, nicht ohne Berücksichtigung einer Differenz auf die andere übertragbar sind.⁸⁸ Der Scholastik seiner Zeit, insbesondere der protestantischen Neuscholastik, gilt sein Einwand, dass Gerechtigkeit unter irdischen Verhältnissen Pflichten umfasst, die für Gott gerade nicht bestehen. „Gerechtigkeit“, so mahnt er immer wieder, wird von Gott nicht im selben Sinne ausgesagt wie von den Menschen (Eris 189 – 194.328; # 262). Unter den Menschen ist das Recht etwas anderes; es hilft ihnen auf in ihrer Bedürftigkeit.⁸⁹
F. SIEGERT: „Remarks on the metaphorical language of Philo“, SPhA 10, 1998, 29 f. Was Epikur betrifft, s. C. LÉVY: „Philo and ataraxia“, SPhA 28, 2016, 122– 132 anhand von tarachos, telos, oikeiōsis und katastēmatikos („stabil“, vom Wohlbefinden). Philon kümmert sich in seinem Synkretismus auch nicht um die Frage, was die Schau der Propheten mit der Ideenschau Platons zu tun hat, sondern sie sind für ihn ein und dasselbe, und sein Himmel sind die Ideen des menschlichen Geistes. Das gilt sogar, wie er in Eris 362 richtig bemerkt, von so abstrakt-metaphysischen Begriffen wie existentia vs. subsistentia (< gr. hyparxis vs. hypostasis), eine für die Trinitätslehre des Nicaenums wichtige Unterscheidung, die in gleichem Sinne in der Philosophie nicht wiederkehrt. Immerhin ergibt sich aus dieser Argumentation eine gewisse Erläuterung zu Leibniz’ These von der „besten aller möglichen Welten“. Zu der Vexierfrage, ob Gott selber dem Naturrecht folgt oder ob er es willkürlich setzt, sagt Pufendorf, Eris 225 (u. ö.): So wie er den Menschen schuf, bedürftig, aber auch gesellig, passt auf ihn nur eine genau dies berücksichtigende Rechtsordnung. Sie ist Setzung und Notwendigkeit in einem. Die Frage der Metaphysiker, ob etwas „an sich“ gut sei, „an sich“ ehrenhaft usw.,
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Der Mensch ist ans Recht gebunden; Gott aber ist „gebunden“ (besser: hat sich gebunden) nur an seine Verheißungen. Was ist mit „nicht stehlen“, „nicht ehebrechen“? Gott ist „gerecht“ im Halten von Zusagen, aber nicht im Enthalten von Diebstahl oder Ehebruch.⁹⁰ Welche Gerechtigkeit oder Rechtlichkeit beim Kaufen etwa und beim Verkaufen ließe sich an Gott ablesen? Bibelstellen wie Ps 50(49),10 – 12 und Röm 11,35 sprechen vielmehr ausdrücklich gegen solche Verdiesseitigung des uns Übersteigenden, und wo Gottes Großzügigkeit als Vorbild hingestellt wird (# 132; # 133), ist es ethisch gemeint und nicht als Rechtssatz. Darum: „Gerechtigkeit“ kann von Gott nur in einem anderen Sinn ausgesagt werden als von Menschen, uneigentlich (Eris 191: akyrōs). Wenn schon ein ethischer Wert als Oberbegriff für das Recht tauge, dann der der Menschenliebe (dilectio, ebd. 164). Eine Begriffsverschiebung, die noch nicht mal eine ganze Metapher sein muss, kann gleichfalls Scheinprobleme erzeugen: Die „Rechtfertigung“ einer theoretischen Position ist nicht dasselbe wie die „Rechtfertigung“ eines Menschen oder seines Verhaltens. In letzterer ist auch eine Beziehung mitenthalten, und das ist in der Theologie der eigentliche Sprachgebrauch. Ernst Wolfs Vortrag „Gottesrecht und Menschenrecht“ (s.u. Lit.-verz. 8.2) liefert ein Beispiel. Dort zitiert er eingangs (10) Hans Dombois für das Problem, wie die Parallele zwischen „Rechtfertigung des Sünders“ und „Rechtfertigung des Rechts“ zu beurteilen sei. Ist das ein Problem oder nur ein Gefangensein in Worten? Was im einen Fall „Rechtfertigung“ ist, sollte im andern Fall besser nur „Begründung“ heißen, denn hier handelt es sich um ein nichtbelebtes, nichtpersönliches Objekt.⁹¹ Theologische Begriffe hingegen sind häufig Beziehungsbegriffe. Die Bevorzugung der Metaphern vor der eigentlichen Sprache ist in der Nachkriegstheologie geradezu ideologisch geworden. Gerade im Zentrum ihres Anliegens, so wird gelehrt, kommt Theologie ohne Metaphern nicht aus und „ist“ darum Metapher.⁹² Eine solche, sagt Eberhard JÜNGEL in seinem Artikel „Wahrheit IV: Fundamentaltheologisch“ in RGG(4) 8, 1251, ist bes(onders) geeignet, die der Wirklichkeit der Welt und dem menschlichen Leben durch die Offenbarung und Zuwendung Gottes neu zukommenden Möglichkeiten auszusagen, die nicht bereits Möglichkeiten der vorhandenen Wirklichkeit sind.
beantwortet er mit dem schlichten Hinweis: Für den Menschen, so wie er ist, ist es gut und ehrenhaft, dem erkannten Naturrecht zu folgen. Eris 81– 84. Es handelt sich um eine Metonymie, wie sie der Begriffsrealismus regelmäßig übersieht. In Eris 84 zitiert er eine Distinktion der Scholastiker: formaliter sei Gerechtigkeit auf beiden Seiten das Gleiche, nur nicht materialiter: Genau das aber, ist hierzu sein Vermerk, verhindert die Ableitung eines materialen Naturrechts aus der Gotteslehre. Das hat Dombois an anderer Stelle später selbst gesagt: s. das Referat seines Artikels „Rechtfertigungslehre“ in # 262. Das gilt am allermeisten von der Eschatologie. Dort betrifft es nicht nur die Stadt aus Edelsteinen in Apk 21; es betrifft auch schon das Wort „Land“ in Mt 5,5 (# 123), was manche auf das Land Israel im Vorderen Orient beziehen, andere nicht.
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Exkurs 4
Dahinter steht die Auffassung, „erst im Eschaton“ würden die theologischen Begriffe ihre volle Wahrheit erhalten (vgl. 1Kor 12,13) – dann aber werden sie nicht mehr gebraucht (ebd.) Wahr ist: Alle kirchlichen Glaubensbekenntnisse enthalten Metaphern, angefangen von „Vater“ (wo es doch keine Mutter gibt) und über eine „Zeugung“ (ohne Frau) schon des vorweltlichen Logos. So wie in den Passionsüberlieferungen Jesus der Priester eines Opfervorgangs ist und das Opfer zugleich, so ist er auch im Abendmahl sowohl Gastgeber als auch Gabe – materialiter sogar, wenn auch in der niederen Form von etwas Geschöpflichem, ja von uns Hergestelltem. So wird denn die Eschatologie, worauf reformierte Theologie so großen Wert legt, der übrigen Theologie nicht zur Verständlichkeit helfen können, sondern nur umgekehrt. All das ist jedoch noch kein Grund, aus der Not eine Tugend zu machen und Metaphern den Gegenstand der Theologie sein zu lassen. Es ist eine krasse Inkonsequenz, wenn in reformierter Theologie die Abendmahlsworte Metaphern sein müssen, wohingegen dann andererseits die Jungfrauengeburt, bei Karl Barth zumindest, im physischen Sinne gelten soll.⁹³ Für wörtliches Verständnis gibt es noch weit geeignetere Gegenstände in den biblischen Überlieferungen, zumal in den historisch gehaltvollen, aus Erinnerung (und nicht nur aus Gehörtem) sich speisenden, als etwa diesen. Die folgenden Bände werden dem Bestreben dienen, die biblischen Texte möglichst wörtlich zu nehmen – das jedoch nicht nach Art des Fundamentalismus, der allem dort Erzähltem Geschichtswahrheit zubilligt, sondern in kritischem Ermitteln des historischen Gehalts. Genauso groß wird aber auch der Abstand sein zu jenen selbsttragenden Konstruktionen, die aus einer erwarteten Bewahrheitung der Bibeltexte sowohl Verkündigung wie Theologie ableiten (s. nächsten Exkurs). Die oben skizzierte Nachkriegslage in den Geisteswissenschaften und ihr aus vielen Ursachen kommendes Unbehagen mit der Geschichte hat eine theologische Rhetorikforschung nach sich gezogen, der auch der Schreiber dieser Zeilen lange Zeit seinen Tribut geleistet hat. Theologie im Wirkungskreis Karl Barths bestand aus Worten, deren Bezug, in der Zukunft liegend, deren eigene Wirkung sein sollte. Rezeptionsästhetische und nunmehr auch bildtheoretische Untersuchungen, wie sie nunmehr im Schwange gehen, verstärken das. Auf säkularer Seite hat die Rhetorik-, Topik- und Metaphernforschung der bald darauf eintretenden postmodernen Beliebigkeit betreffs der Wahrheitsfragen⁹⁴ den Weg gebahnt. Theologischerseits aber steht die Seriosität auf dem KD 1/2, 202: „nicht aufgrund von männlicher Zeugung“; 207: „Geburt ohne vorangegangene geschlechtliche Vereinigung von Mann und Weib“. War das nötig, um „souveränes Handeln Gottes“ auszudrücken? Dabei ist doch gemeint, dass kein irdischer Vater es erreichen kann, dass sein Kind Gottes Sohn wird (Joh 1,13: „nicht aus dem Willen des Fleisches noch aus dem Willen eines Mannes“). Mk 6,3 par. (Mt) bestritt noch nicht, dass Jesus der Sohn des Zimmermanns Josef ist, erwähnt es vielmehr als anstößig (was es heute noch ist); so auch noch Joh B 6,42. Daneben und danach kamen die Geburtslegenden. Ein Beispiel ist bei Josef KOPPERSCHMIDT (s. Siegert, Argumentation 104) die Übernahme eines undifferenzierten Gebrauchs von to persuade für das von der Rhetorik zu Leistende. Der weniger populäre Gegenbegriff to convince, einer Unterscheidung zwischen „überzeugen“ und „überreden“ dienend, wird der Philosophie überlassen. (Umgekehrt sagte man im einstigen SED-Regime den Funktionären, die auf Ablehnung ihrer Ideologeme stießen: „Ihr müsst die Menschen überzeugen“, was bei dem täglich erlebten
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Spiel. Wo auf den Erfahrungsbezug, sei er vergangen oder gegenwärtig (eigentlich braucht es beides), verzichtet wird und weder Empirie (im Sinne der experimentellen Wissenschaften) noch Apriorität (im Sinne der Mathematik) aufgeboten werden können, wird sie ein Spiel mit Worten.⁹⁵ Damit sollen die Errungenschaften der Rhetorikforschung aber nicht bestritten werden. Vieles, was die herkömmliche Philologie für akademische Oberseminare reservierte, hat sie, im Bunde mit der gleichzeitig aufblühenden Linguistik, einem größeren Publikum ins Bewusstsein gehoben. Manches Rätselraten an Bibeltexten ließe sich verkürzen, wenn schon die Proseminare den Begriff der Metonymie vermitteln würden, wie schon die Antike ihn kannte.⁹⁶ Wie könnte denn, wie in 1Kor 11,10 steht, in den gottesdienstlichen Zusammenkünften die Frau eine „Macht“ (exousia/potestas) auf ihrem Haupt tragen? – Das natürlich nicht, aber das Zeichen der Macht ihres Mannes über sie, das hat sie nach dieser Kleidervorschrift (# 299) zu tragen. Die „neue Wirklichkeit“, worauf Jüngels o.g. Votum abhebt, ist doch unzählige Male schon erlebt und auch erzählt worden; Gottes Reich war und ist doch in der von Jesus begründeten Form „unter uns“ (Lk 17,21), und sind wir nicht die Beschenkten seines „Testaments“ (# 114; # 301), das einen höchst realen, historischen Tod voraussetzt? Davon lässt sich berichten. Das Schwierige ist nur, dass religiöse Texte nicht einfach von Gewesenem oder Gegebenem handeln (wie es sonst für die Alltagslogik reicht), sondern zu ihrem Gegenstand eine Beziehung darstellen. Ob eine solche im Spiel ist oder nicht, machte oben den Unterschied aus zwischen „Rechtfertigung“ im einen oder anderen Sinne. Bekanntlich stößt schon für ganz gewöhnliche zwischenmenschliche Beziehungen diejenige Sprache, die Objekte darstellt, rasch an ihre Grenzen.⁹⁷ Sie bedarf der Erweiterung durch indirektere Ausdrucksweisen. Reformierte Theologie freilich, die in ihrer konsequentesten Form nichts als Eschatologie sein will, kann naturgemäß davon nur metaphorisch reden. Da kann dann, was Vergangenes betrifft, der Prozess Jesu gelaufen sein, wie immer er will, und man
Auseinanderklaffen von Schein und Sein ein schwierig Ding war.) Einspruch habe ich erhoben in Argumentation 21 f (betr. die Unterscheidung zwischen einem starken und einem gültigen Argument in vielen akademischen Disziplinen, darunter der Theologie, unaufgebbar) und in „Rhetorik und Philosophie in der ,Neuen Rhetorik‘ Chaim Perelmans“, in: H: SCHANZE/J. KOPPERSCHMIDT (Hg.): Rhetorik und Philosophie, 1989, 217– 228. Philosophisches zur Wahrheitsfrage s. Bultmann, GE 177, wo sogar ein „echtes“ von einem „falschen“ Selbstverständnis unterschieden wird. Eine Studie hierzu, auf die Philosophie bezogen, ist J. L. H. THOMAS: En quête du sérieux, 1999. Ergänzend darf ich hier wenigstens fußnotenweise wiedergeben, was der Autor mir persönlich sagte, als ich ihn in einem Gespräch (Neuchâtel 1992) nach unseren großen deutschen Theologen fragte. Seine Antwort zu Bultmann war: „sérieux“. Und zu Karl Barth (er sagte es auf Deutsch): „ein Windbeutel“. Damals hat mich das überrascht. Siegert, Argumentation 96 f. Einfaches Beispiel: Man trinkt „eine Tasse“ – aber natürlich nicht die Tasse, sondern den Inhalt. Aus ebendiesem Grund werden wir aber auch an gegebener Stelle (Hebr 11,6; # 255) auf die Begrenztheit der Seinssprache hinweisen, die von vornherein ein An-sich und kein Für-uns meint – gerade gegen Jüngel, der sie merkwürdigerweise mit seiner Empfehlung der Metapher verbindet.
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Exkurs 4
liest mit Inbrunst ein Evangelium der Maria, Evangelium des Judas und noch vieles dergleichen. Rechtsgeschichtliche Forschung jedoch hat konkrete Gegenstände; in Ideen- oder Motivgeschichte wird sie sich nie verlieren. Schon der altehrwürdige Thomismus hat die Schwäche, an entscheidenden Stellen in Metaphern auszuweichen. Auf die uns so sehr beschäftigende Frage z. B., inwiefern das Neue Testament ein „neues Gesetz“ sei, antwortet Thomas v. Aquin (S.Th. 1-II 106,1 c.) bejahend, denn das, was im Gesetz des Neuen Testaments vorwiegt (potissimum est) und worin seine ganze Kraft (virtus) besteht, ist die Gnade des Heiligen Geistes, welche gegeben wird durch den Glauben an Jesus Christus; aus diesem Grund ist das neue Gesetz (lex nova) hauptsächlich (principaliter) die Gnade des Heiligen Geistes (…)
– doch wieso sollte man es dann noch „Gesetz“ nennen, wenn nicht der präskriptive Charakter der Texte, sondern der auf die Lesenden ausgegossene Geist die Handlungen bestimmt? – Eine halbe Antwort finden wir ebd. ad 2: Der Heilige Geist hilft uns einzuhalten, was das Neue Testament als lex nova vorschreibt (so auch Calvin; s. o. C 4.6.2), und das ist wenigstens eine Aussage mit klaren drei Elementen; das sind: Der Text, der Geist und wir. Was aber soll heißen: „Das Gesetz ist hauptsächlich die Gnade…“? Wenn in christlichem Gottesdienst Ps 119(118) als das „Gesetz Gottes“ gepriesen wird (z. B. in EG 295 und in Psalmenauszügen zum Mitsprechen im Gottesdienst), so meint man damit doch kein Gesetz, sondern eine Art von Ethik, die man kirchlicherseits aus Dekalog und Tora gewinnt.⁹⁸ Man kann nun vom Bibeltext nicht erwarten, dass er das einer völlig anderen Tradition angehörige Wort „Ethik“ zur Verfügung stellt; Theologie jedoch, die im Konzert moderner Wissenschaften mitsprechen will, kann hier bei der Bibelsprache nicht stehen bleiben. Die Aporien der heute vergessenen „Rechtstheologie“ und ähnlicher Theoriebildungen, die doch keine sind, lagen nicht zuletzt in einem mangelnden Bewusstsein vom Ungenügen des Redens in Metaphern. Ein Satz wie „Recht macht gesellschaftliches Leben bewohnbar“, unlängst erst geschrieben, kann nur von einem Theologen kommen.⁹⁹ Rechtstexte hingegen sind eine unablässige Übung in Eindeutigkeit des Ausdrucks,¹⁰⁰ und so soll es auch dem Kommentarunternehmen zugute kommen.
F. SIEGERT: „Die Psalmen, der aaronitische Segen und der Name Gottes in christlicher Liturgie“ in: ders., Kirche und Synagoge 347– 366 versucht auf die Metaphorisierungsprozesse bei der Verwendung des Alten Testaments in kirchlicher Liturgie aufmerksam zu machen. Das ist Poesie, nicht Dogmatik. Josef Römelt in: ders., Menschenwürde, „Einleitung“ 10. Ausnahmen stoßen auf Kritik, wenn etwa Pree, Evolutive Interpretation 132 Anm. 289 sagt, „das evangelische Kirchenrecht in einer Reihe von Punkten bis zum heutigen Tage nicht dazu gelangt ist, scharfe, juristische Begriffe zur Anerkennung zu bringen“.
„Theologie ist Eschatologie“
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Exkurs 5: „Theologie ist Eschatologie“ Unter der Dominanz Karl Barths ist im Protestantismus eine Auslegungsweise üblich geworden, rein wirkungsorientiert, die von den historischen oder gar rechtshistorischen Detailfragen zu den Texten ablenkt auf eine rein wirkungsbezogene Betrachtungsweise. „Die Parabel bildet die Welt der Hörer nicht ab, sie ist ein Entwurf von Welt“ – auf diese Formel konnte man es bringen.¹⁰¹ Wozu nach der rechtlichen Stimmigkeit von Gleichnissen oder einzelnen Gleichnisfassungen fragen, wenn der hermeneutische Schlüssel darin bestehen soll, dass „die Rechtsverhältnisse vom Erzähler ignoriert, durchbrochen, vernachlässigt werden“?¹⁰² Der Hintergrund dazu ist eine Fixierung gerade der reformierten Theologie auf Eschatologie, also aus der Bibel gewonnene Zukunftserwartungen; erst sie vermöge zu sagen, worin das Heil besteht. Folgendes schrieb Karl BARTH als frisch ernannter Professor für reformierte Theologie in Göttingen in seinem vielbeachteten (und ihm als Habilitationsschrift gewerteten) Römerbrief: „Christentum, das nicht ganz und gar und restlos Eschatologie ist, hat mit Christus ganz und gar und restlos nichts zu tun“ (hier zitiert: 2. Aufl. 1922, S. 300). Wenn das stimmt, dann werden die folgenden Bände leider ganz und gar keine Theologie bieten können. Rechtsgeschichte wäre gleichgültig, wie ja überhaupt jede Rechtssetzung nur die direkt bevorliegende Zukunft (frz. futur, nicht avenir) betrifft, und zwar soweit sie im Bereich des „Machbaren“ liegt und damit per definitionem außerhalb jeder Eschatologie. Nun war die Zukunftserwartung Jesu selbst längst diskreditiert durch die Ergebnisse der Jesusforschung der Wende vom 19. zum 20. Jh., die Albert Schweitzer dahingehend resümierte, dass der „Feuerbrand“ des Gottesgerichts über Israel, den Jesus in seinem Wirken auszulösen meinte, ausgeblieben war und er sich daher stellvertretend (# 270) selbst dem Gericht ausgeliefert habe.¹⁰³ Schon die johanneische Darstellung der Passion Jesu hatte auf diesen das Weltgericht kumuliert.¹⁰⁴
So, referierend, Pöhlmann, „Die Abschichtung des Verlorenen Sohnes“ (s. # 105), 196, der seinerseits zwar rechtsgeschichtliche Auslegungen bietet, dann aber im Stile seiner Zeit (1979) schließt: „(D)ie alte Rechtsordnung gibt ihren Platz nicht kampflos auf. Nur durch Protest und Widerspruch hindurch kann von der Gottesherrschaft gesprochen werden“ (212). Luise SCHOTTROFF, zitiert von Pöhlmann a.a.O. 211 Anm. 71. Ihre NT-Auslegungen waren schulbildend. A. SCHWEITZER: Geschichte der Leben-Jesu-Forschung 1906), 6. Aufl. 1951, 435: „Die Bußbewegung hatte nicht ausgereicht. Als er seiner Vollmacht gemäß bei der Aussendung den Feuerbrand [# 16], der die Drangsal zum Auflodern bringen sollte, in die Welt schleuderte, erlosch er. (…) Die Drangsal war nicht gekommen: also hatte Gott in seiner allmächtigen Barmherzigkeit sie [sc. die Jünger] aus dem Gang der eschatologischen Ereignisse ausgeschaltet und den einen, dessen Vollmacht es gewesen war sie heraufzuführen [sc. Jesus], bezeichnet, daß er sie an sich allein vollzöge.“ Schweitzer nennt Mk 10,45 (# 61); 14,24; Joh B 17,1 (hōra = Zeitpunkt des Gottesgerichts) passt noch besser. Schweitzer a.a.O. nennt das die „konsequente Eschatologie“ Jesu, welcher erwartet habe, dass „sein Tod – endlich! das Reich herbeizwingt“. Das wollte damals niemand hören; der Weg auf eine neutestamentliche Professur (Schweitzer war habilitiert) wurde ihm versperrt.
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Exkurs 5
Auch Lutheraner wie Rudolf Bultmann oder Paul Althaus zollten der Ausrichtung der Theologie auf Eschatologie ihren Tribut.¹⁰⁵ Das geistige Dilemma im Deutschland der Vorkriegsjahre wird von Adolf Sannwald (systematischer Theologe, gefallen im Zweiten Weltkrieg) beschrieben als Alternative zweier entgegengesetzter Auffassungen:¹⁰⁶ Entweder„Der Mensch ist das, von wo er herkommt“ (Naturalismus) oder seine Fähigkeit zu entscheiden „ist etwas toto coelo Verschiedenes gegenüber jeglicher Vergangenheit“ (Existenzialismus). Da schien die Ausrichtung an einer – wie immer in den Blick geratenden – Zukunft der Ausweg zu sein: „Erst das Eschaton meiner Zukunft öffnet mein Gewesen-sein für die Entscheidung im Augenblick“ (Heidegger wird genannt). Lesern des Neuen Testaments kann kein Zweifel sein, dass Jesus in der Erwartung eines nahen Weltendes (oder wenigstens Gerichts über das Volk Israel) lebte; aber was wurde daraus noch im 20. Jh. gemacht? Selbst das Verhältnis von Theologie und Recht musste ein eschatologisches werden. Aus der Nachkriegszeit sei hierfür der oben (A 2.5.4) schon genannte Jurist und Theologe Günther HARDER zitiert. Er sagt zunächst:¹⁰⁷ Das der Vernunft einsichtige Naturrecht ist nicht geoffenbart. Jus divinum ist ein Recht, das alles menschliche Recht, alles Recht, das der Mensch kennt, aufhebt, begrenzt und begründet.
Seine Begründung lautet sodann: Diese Offenbarung erfolgt in der Auferstehung Christi, also in einem eschatologischen Tatbestand. Gottes Recht und Gerechtigkeit treten als letzte erst in der Auferstehung der Toten zutage. Sie sind nicht aus dem Gang der Geschichte abzulesen.
Dieses Denken orientiert sich an der Erwartung des Weltgerichts (Mt 25; # 146), worin Geschehendes beurteilt, aber nichts Zukünftiges mehr entschieden wird;¹⁰⁸ es ist ja gedacht als Ende der Zeit. Ein Lernen aus der Geschichte, also aus Erfahrung (unten
Siegert, Ev. des Johannes 765. – Was die Johannes-Schule meinte, wenn sie in 1Joh 2,18 proklamiert: „Jetzt ist letzte Stunde“, bleibe dahingestellt. Sie greift angesichts innerchristlicher Lehrstreitigkeiten und Trennungsprozesse (vgl. # 352) auf Weltuntergangs-Vokabular zurück. Ersterem kann man zugute halten, dass er damit auf Schweitzers Aporien antwortet. Letzteren zitiert Th. MAHLMANN, „Eschatologie“, HWP 2, 740 – 743 mit dem verharmlosenden Satz „Heute liest man das Neue Testament mit Heimatgefühl eschatologisch“ (741) sowie Paul Tillichs Würdigung des „Eschaton, Gegenstand der E(schatologie)“ als die „jedes Geschehen tragende Geschehenstranszendenz“ (ebd.). Gogarten hingegen sprach in einer contradiction in terms von „eschatologischer Geschichte“ (ebd.), usw. So sind Massen feierlichen Unsinns entstanden, über den mit anderen Wissenschaften nicht zu reden war. A. SANNWALD: „Entscheidung und Entwicklung“, ZZ 11, 1933, 254– 280 (278 Anm. 15). „Die Christusbotschaft und das Recht“ 263. Die Rede von „Zukunft“ leidet im Deutschen an einer Unklarheit, die sich im Französischen vermeiden ließe: Dort ist futur das in der Verlängerung aus der Gegenwart Gedachte, das Weiterlaufen des physikalischen Zeitstrahls; avenir hingegen ist wörtlich das „Auf-uns-Zukommende“. Da haben denn Zukunftsforschung (s.O. FLECHTHEIM: „Futurologie“, HWP 2, 1150 – 1152) und Eschatologie nichts miteinander zu tun.
„Theologie ist Eschatologie“
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Exkurs 10), wird ausdrücklich abgelehnt.¹⁰⁹ Inwiefern die Auferstehung Christi auch ein historischer Tatbestand wäre, etwas einstens Erlebtes (# 191),¹¹⁰ solches Fragen wird hier abgewiesen und historisches Arbeiten vergleichgültigt. Staunend steht man hier vor der Hypostasierung eines Wortes Gottes, das keinen Bezug zu irgendetwas Vorfindlichem zu haben braucht, sondern das, was es sagt, allererst erschafft. So hoch geschraubt hat der Protestantismus des 20. Jh. die Wort-GottesTheologie! Ein Exzess auf exegetischem Gebiet, um den es heute still geworden ist, war das Programm einer „generativen Poetik des Neuen Testaments“ des Bonner Neutestamentlers Erhardt GÜTTGEMANNS, das allerdings über Vorarbeiten nicht hinaus gekommen ist.¹¹¹ Auf den Spitzen der Rhetorik-Welle der 1970-er Jahre reitend und unter Absage an das, was er „Historismus“ nennt (die Gewinnung von Erkenntnissen aus der Geschichte), wollte er die Matrix aufweisen, nach welcher auch das Neue Testament „Wirklichkeitskonstitution“ betreibe. Ist hier bedacht, dass die Erwartungen an die nächste Zukunft, die Jesus hegte, wie die jüdische Apokalyptik seiner Zeit überhaupt, und die den Hintergrund bildet für seine Reich-Gottes-Verkündigung, nicht eingetroffen sind? Das ist aber nicht erst ein Problem des Christentums: Nichts hat das Volk Israel, genauer: dessen in Judäa wohnenden Teil größere Enttäuschungen gekostet und höhere Opfer als seine messianischen Erwartungen. Doch wer hat heute den Mut, als Theologe zuzugeben, dass „diese apokalyptische Naherwartung“, in der man für den wiederkehrenden Jesus eine Richter- und Herrscherrolle einfügte, „nicht eingetreten ist“, wie Siegfried SCHULZ auf einem nicht nur von sommerlicher, sondern auch von eschatologischer Hitze brodelnden Kirchentag zu sagen wagte (# 8)? Was hilft die kunstvollste Verlängerung biblischer Ankündigungen, wenn längst die Verantwortung dessen, was auf uns zukommt, das Klima und die ganze Natur eingeschlossen, nicht erst Gegenstand von Hoffnung ist (Röm 8,22),¹¹² sondern Folge unseres gegenwärtigen Handelns? Mit Recht hat Hans JONAS, dieses „unerlöste, aber dem Anliegen der Theologie freundlich gesinnte Weltkind“, wie er sich selbst bezeichnet,¹¹³ eine Ablösung des Prinzips Hoffnung (Ernst Bloch, 1959) durch das Prinzip Verantwortung (so er, 1979) verlangt. Nichts als Eschatologie? Auf diese Art sind die Kirchen in die Klimakrise
Die Pauschalität solchen Redens überdeckt eine Teilwahrheit: Jene Ideologien des 19. Jh., die aus dem Gang der Geschichte „Gesetze“ (in welchem Sinn auch immer) abzulesen beanspruchten, haben sich in zwei Weltkriegen hinreichend diskreditiert. Wir dürfen uns nicht treiben lassen; wir müssen steuern. Warum wohl wird Pontius Pilatus bis heute im Glaubensbekenntnis erwähnt? Auch was der „dritte Tag“ danach gewesen sein soll, wird sich nicht nur symbolisch-motivgeschichtlich oder gar metaphorologisch beantworten lassen. Als Überblick über dieses Vorhaben sei genannt: N. PETERSEN (Hg.): Erhardt Güttgemanns’ Generative Poetics (Semeia, 6), 1976. Ich könnte mich zu seinen Eingeweihten zählen: Im September desselben Jahres habe ich, auf seinem Sofa übernachtend, mir seine Metaphysik mündlich erläutern lassen. Dieses Wort des Paulus vom „Mit-uns-Seufzen“ der ganzen Kreatur hat heute eine völlig andere und nicht weniger konkrete Bedeutung. So seine Selbstbezeichnung, zit. nebst Kontext bei Siegert, Argumentation 177. Bloch hingegen, gleichfalls jüdischer Philosoph, machte Furore mit einer säkularisierten, ja ideologisierten Eschatologie.
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Exkurs 5
hineingeschlingert, und der amerikanische Fundamentalismus heizt sie immer noch an, ganz buchstäblich. Traditionelles Kirchentum hat mit einer Erhaltung der Schöpfung (das Paradies ist ja vorbei) nichts zu tun, denn „demnächst“ soll ja alles abgeräumt werden. „Es komme die Gnade und es vergehe diese Welt!“ (Did. 10,6). Schon die Liberale Theologie des 19./20. Jh. war vorsichtig geworden und hatte all die Ankündigungen besserer Zeiten, die die Kirche aus dem Judentum übernommen hatte, als „Gemälde“ bezeichnet und damit einen hohen Anteil an Phantasie eingeräumt. Auch Rudolf Bultmann und viele ‘Bibelkritiker’ seiner Richtung waren dagegen, die Texte wörtlich zu nehmen. Doch ehe man die ganze Bibel nur noch metaphorisch-zeitlos oder metaphorisch-futurisch auslegt, lohnt sich der Versuch, die Wirklichkeitsnähe der einzelnen Texte mit den Mitteln der Geschichtswissenschaft wahrzunehmen und die Texte danach zu differenzieren. Das freilich verlangt historische Kenntnisse und die Mühen methodischen Arbeitens auf der Höhe von echten Wissenschaften. Die Reformatoren waren Humanisten an Wissen und Können.¹¹⁴ Was heißt überhaupt „Eschatologie“? „Die Endung ,–logie‘ ist irreführend, indem sie an das griechische Wort logos und an Wortbildungen wie ,Geologie‘, ,Philologie‘ erinnert, an die Namen von Wissenschaften also“, bemerkt aus philosophischer Warte Wilhelm Kamlah und setzt hinzu, dass eschata, „letzte Dinge“ (wie man in der Theologie sagt), uns nicht als Gegenstände einer wie auch immer gearteten Untersuchung gegeben sind, sondern nur als Gegenstände „der gläubigen Hoffnung“.¹¹⁵ Höher ist – zugegebenermaßen – ihr Anspruch nicht. Das aus dem Barocklatein stammende Wort „Eschatologie“ meint unter Einbezug des Wortes logos immerhin einen aussagbaren Inhalt; doch auch so definiert, vermag „Christologie“ (als Vergleich der Aussagen über Christus) weit eher etwas Konkretes zu besagen als gerade „Eschatologie“. Die „letzten Dinge“ (novissima), wovon eine aus der Bibel zu extrahierende eschatologia Kunde gäbe, sind nichts als ein Katalog von Erwartungen des Volkes Israel, genährt von seinen Propheten und von Jesus konzentriert auf seine Lebzeiten (Mk 9,1 parr.), ja auf seine Person (Mk 14,62 parr.). Diesen ins nunmehrige dritte Jahrtausend verlängern zu wollen, ist zumindest paradox, wo nicht unseriös. Umsichtiger hatte Rudolf Bultmann 1926 in einer Karl Barth betreffenden Rezension definiert, eschatologische Verkündigung meine „das Ende dieses irdischen Menschen und seiner Welt“ (GuV I 39). Hier betrifft Eschatologie einen jeden spätestens bei seinem Tod und ist relevant als Vorbereitung und Gefasstmachen auf diesen. In dem Maße, wie das Land Israel als einstens gedachter Erfüllungsort verblasst, wird auch die ganze kosmische Szenerie, welche das Neue Testament noch aufbietet (1Kor 15; Mk 13 parr.; Apk.), Metapher für je
Mit Ausnahmen, die in Radikalismus und Primitivismus abglitten, Andreas BODENSTEIN (Karlstadt) etwa und sonstige Bilderstürmer. Thomas MÜNTZER hat seiner humanistischen Bildung abgesagt, hat die Äußerungen unvorbereiteter, naiver Bibelleser als Orakel genommen und ist schließlich Feldherr geworden für ein nicht mit Wissen, sondern mit Waffen durchzusetzendes „Reich Gottes“. W. KAMLAH: Utopie, Eschatologie, Geschichtsteleologie, 1969, 25. – Vgl. Th. MAHLMANN: „Eschatologie“, HWP 2, 740 – 743. Für das antike Judentum überschreibt Weber, Theologie die Seiten 336 – 405 mit „Der eschatologische Lehrkreis“ – was offen lässt, wie weit das dort Gesammelte zusammenpasst.
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persönlich zu Erwartendes. Diese bereits in Joh B 3,13 – 21; 6,47– 51 klar ausgedrückte Auffassung wird zu Recht als „präsentische Eschatologie“ bezeichnet, ist sie doch der Ausdruck eines Gottesverhältnisses als einer jetzt schon (punktuell) erfahrenen Ewigkeit.¹¹⁶ Doch waren andere Teile des Neuen Testaments im Forttragen und Repristinieren kosmischer Erwartungen für die Folgezeit – und bis heute – wirksamer. Präsentisch oder futurisch? – Nach mehreren Jahrzehnten inflationären Gebrauchs von „Eschatologie, eschatologisch“ und allerlei fundamentalistischen Bemühungen, an einer „Endgeschichte“ festzuhalten, hat Rudolf Bultmann im allerersten Artikel der neu gegründeten, internationalen und interkonfessionellen Zeitschrift New Testament Studies (1, 1954, 5 – 16) die Gelegenheit erhalten, Klärendes zu sagen zum Thema „Geschichte und Eschatologie“, woraus – über eine Zwischenstufe als Gifford Lectures von 1955 – sein gleichnamiger Band von 1958 wurde (Bultmann, GE). In unbeirrbarer Nüchternheit schlägt er dort Schneisen durch den Urwald über hundertjähriger Geschichtsphilosophien und -metaphysiken, wobei „Geschichte“ auch bei ihm im weiten Sinne eines nicht nur berichteten, sondern eines erfahrenen Geschehens gemeint ist (GE 49). Gar manche seiner scharfsinnigen Beobachtungen werden im vorliegenden Werk zu zitieren sein, was sich umso mehr empfiehlt, als sein Buch auf einem völlig anderen Lektüreprofil beruht als die hier vorzulegenden Bände. Umso signifikanter sind dann die Übereinstimmungen in der Sache. „Eschatologisch“ ist bei Bultmann nur noch eine bestimmte Haltung angesichts der Zukunft, aber kein irgendwie beanspruchtes Wissen über sie. Vor allem ist „eschatologische Existenz“ (wie er es in der Sprache seiner Zeit nennt) Verantwortung vor der Zukunft (GE 162.172 u. ö., geschrieben lange vor der ökologischen Krise). Mit Bezug auf das im deutschen Idealismus so fundamentale Ich (FICHTE behauptete von ihm, es „setze sich selbst“)¹¹⁷ sagt GE 174: „Das Leben des Ich ist immer ein zeitlich geschichtliches, dessen Erfülltheit immer vor ihm liegt in der Zukunft“. Gerade unter Verzicht auf vermeintliches Zukunfts- oder Jenseitswissen lässt sich der Gegenstandsbereich der Theologie eindeutig bestimmen als das Verhältnis der Menschen zu Gott in seinen verschiedensten Formen.¹¹⁸ Erst mit dieser Definition erhalten wir die für eine jede Wissenschaft nötige Vielfalt vergleichbaren Materials. Der Grad an Objektivität, den theologische Wissenschaft erreichen kann, ist auch dann noch
Siegert, Ev. des Johannes 757– 776. Die futurisch gefassten Zusätze des Joh C, die schon Bultmann beiseite ließ, sind als Metaphern auf Präsentisch-Zeitloses interpretierbar. Ewigkeit ist etwas anderes als gedehnte Zeit; vgl. Augustin bzw. Boethius in # 395. Lt. H. HERRING: „Ich“, HWP 4, 1– 6 (3) soll dieses allerdings ein „allgemeines“, kein individuelles Ich sein. So hat es mit dem sehr individuellen, „geschichtlichen“ (raum-zeitlich festgelegten) Ich des Existenzialismus wohl nichts als das Wort gemeinsam. Das gilt auch und gerade in Bultmanns GE in Sätzen von scheinbarer Objektivität wie S. 180: „Das Neue Testament verkündigt Jesus Christus als das eschatologische Ereignis, als die Tat Gottes, in der er der alten Welt ihr Ende gesetzt hat“ – versteht sich: hinsichtlich ihrer Wirkung auf den Glaubenden. Sein Gottesverhältnis erneuert sich unabhängig von seiner Vergangenheit (Sündenvergebung), was nicht ausschließt, dass zwischen Menschen ihn diese Verangenheit einholen kann (vgl. # 31 zum Thema „Buße“). Aber es gibt Querverbindungen; die Erleichterung wirkt.
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Exkurs 5
begrenzt; da ist schon auf menschlicher Seite der Personbegriff wissenschaftshemmend. Diese Schwierigkeit kennen und bewältigen auf ihre jeweilige Art auch Philosophie, Psychologie und Geschichtswissenschft. Die Person gibt es eben nicht an sich, sondern immer nur konkret-kontingent, und alles über sie können wir nie wissen. Je näher eine Theorie dem menschlichen Leben kommt in seinen konkreten Bedingungen, umso eher ist das so. – Zwei Sätze weiter sagt Barth: „Was nicht Hoffnung ist, das ist Klotz, Block, Fessel, schwer und eckig wie das Wort ,Wirklichkeit‘.“ In eben diese hinein werden die zu findenden Auslegungen aber zielen, die frühere wie die heutige, wobei zwischen beiden gerade in rechtsgeschichtlicher Hinsicht eine große Kontinuität besteht. Wenn Jesus antizipatorisch schon in einer anderen Welt lebte und dies in einer Art Spiel (# 7) zu feiern wussste, so ist die Umwandlung seiner Erwartungen in eine kirchliche Lehre als Hoffnung gemeint, ist aber als Handlungsanweisung oder gar als Grundlage einer Gesetzgebung untauglich.¹¹⁹ Um nichts wird dieser Kommentar sich mehr bemühen als um die historisch erforschbare Welt, in der Jesus und die Apostel lebten – das aber um einer ewigen, nie veraltenden Wahrheit willen, die sich darin zeigt. Die theologische Würde historischen Arbeitens besteht darin, dass die Inkarnation des Sohnes Gottes, das Gestaltwerden des Wortes (logos, Joh 1,1) Gottes in einer menschlichen Person gerade so am ehesten ernst genommen wird. Diese Lehre hat ihr historisches Substrat, das vorurteilslosem Forschen zugänglich ist.¹²⁰ Anderson, A Lawyer 29: Anders als viele Weltreligionen erhebt das Christentum den unmissverständlichen Anspruch, dass sein Ursprung in einer historischen Person liegt, die zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort tatsächlich lebte.
Was demgegenüber als „Christusmythos“ angeboten wird im Interesse einer Deutung der Evangelien ohne die Last historischen Nachfragens (D. F. STRAUß, Arthur DREWS),¹²¹ würde die Inkarnation „auf gleiche Ebene setzen mit einem der Avatars des Wischnu, abgesehen höchstens von dem Unterschied, der dann noch bestehen könnte zwischen den ethischen Implikationen des einen oder des anderen“ (ebd.). Die paulinische Auffassung von der Inkarnation, die auch eine „Entäußerung“ war (Phil 2,7), besagt: Derjenige, der Mensch wurde, ja „Fleisch“ (Joh 1,14), d. h. begrenzt in
Ein Beispiel gibt # 8 anhand des Eigentumsverzichts, der für Einzelne wohl vorbildhaft sein kann, nicht aber für eine ganze Gesellschaft. Es ist ein fundamentaler Unterschied, ob man in einer demnächst untergehenden oder in einer zu erhaltenden Welt lebt. R. BULTMANN: „Ist voraussetzungslose Exegese möglich?“ (1957), in: ders., GuV III 142– 150 beginnt mit dem Satz: „Die Frage, ob voraussetzungslose Exegese möglich ist, muß mit Ja beantwortet werden, wenn ,voraussetzungslos‘ meint: ohne daß die Ergebnisse der Exegese vorausgesetzt werden.“ Zugleich hat er darauf bestanden, dass der Exeget sich seines Vorverständnisses inne wird, um es ggf. korrigieren zu können (der hermeneutische Zirkel). Es ist schon paradox, wie mitten im „historischen“ Jahrhundert aufseiten der Theologie, sobald es Jesus betraf, historisches Fragen und Forschen so sehr gescheut werden konnte.
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Raum und Zeit, begrenzt an Möglichkeiten, in eigener Person zu wirken (# 41), setzt sich den ihrerseits begrenzten Möglichkeiten menschlicher Wahrnehmung aus. Geschichtsforschung ist nötig – nicht um Sicherheiten zu liefern, die mit der Gewissheit des Glaubens (des Gottesverhältnisses) konkurrieren könnten oder dürften, sondern um die Botschaft, die der Nazarener in Wort und Tat der Menschheit brachte, in allen wahrnehmbaren Nuancen aufzunehmen. „Gott ist ins Fleisch eingegangen; darum ist das Historische nötig“ (Pierre GIBERT S.J.).¹²² Rechtsgeschichte mit ganz weltlichen Mitteln ist ein Beitrag mehr zu diesem geistlichen Geschäft. Unter den Dogmatiken des 20. Jh. dürfte kaum eine zu finden sein, die den Ansatz bei der Geschichte – und damit bei den Geschehnissen mehr als bei den Begriffen – gründlicher durchführt als die von Werner Elert, der immerhin auch Historiker war.¹²³ Er hat die exegetische Arbeit seiner Zeit, auch die des umstrittenen Bultmann, aufmerksam verfolgt, kannte ihn auch persönlich. Hieraus und aus den Niederungen der Geschichte ist das, was er zum Zweiten Glaubensartikel zu sagen hat, seinen eigenen Worten zufolge eine „Christologie von unten“.¹²⁴ Seinen evangelischen Ansatz (wie er es nennt) setzt er einer „senkrecht von oben“ kommenden Theologie entgegen, die nicht den Sohn des Zimmermanns zum Vorbild hat, sondern den Donner vom Sinai.
Dieu s’est fait chair; donc l’historique est nécessaire; Siegert, Leben Jesu 17. Das ist das Mindeste, was man sagen kann. Selbst Bultmann, der im Stile seiner Zeit schrieb, der Neue Bund sei „kein historisches Ereignis“ gewesen, sondern ein „eschatologisches“ (GE 41 – meint die christliche Deutung des für Andere Bedeutungslosen), hat sich daran gehalten, als er aufgrund des Mk. und der Logienquelle seinen Jesus verfasste (1926). In seiner Morphologie, die an Detailgenauigkeit nichts zu wünschen übrig lässt, hat er es bewiesen. – Karl Barth hingegen, der, nicht promoviert, aber Autor einer aufsehenerregenden Römerbriefauslegung, mit seiner Berufung 1921 auf den Lehrstuhl für Reformierte Theologie in Göttingen den Professorentitel geschenkt bekam, hat in Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert: Ihre Vorgeschichte und ihre Geschichte (1947) anachronistisch all die Entwürfe, die er las, an seinem eigenen gemessen. Sofern solche Parteilichkeit auch bei Elert festzustellen ist, bleibt sie doch innerhalb der eigenen Tradition und richtet nicht über andere. Deren Eigenständigkeit, auch wo er sie inhaltlich verwirft, stellt er korrekt dar. Glaube 312 (oben schon zitiert) und vorher schon: 292. Zahlreiche Luther-Belege hierfür bietet Morphologie I 98.
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Exkurs 6
Exkurs 6: Kosmisches und menschliches Naturrecht Im abendländischen Denken gibt es zwei große Linien der Naturrechtstheorie, einmal die thomistische Variante, die von einer unveränderlichen, auch unverfügbaren lex aeterna ausgeht, transzendent für uns Menschen; zum andern ist es die protestantische These eine allgemeinen, interkulturellen Rechtserkenntnis der menschlichen Vernunft. Für die erste Linie haben wir oben Thomas von Aquin zitiert: „Weil die göttliche Vernunft nichts aus Zeitumständen konzipiert, sondern einen ewigen Plan (aeternum conceptum) hat“ – Thomas beruft sich auf Spr 8,22– 31¹²⁵ –, „muss es ein ewiges Gesetz geben“ (STh. 1-II q. 1 c.; 2 c.). Dieses soll der Gegenpol sein zu der viel beklagten mutatio rerum, der Geschichtlichkeit der Lebensbedingungen und entsprechend auch der Lebensregeln hier auf Erden, in konkreten Gesellschaften. – Die zweite Linie führt in das rationalistische Naturrecht der evangelischen Barockjuristen. Dort wird von einem Naturzustand der Menschheit ausgegangen, der nichts Normatives oder Ideales an sich hat, sondern durch Vertragsschlüsse, die sich ändern können, zustande kommt – so Hume, Grotius u. a. bis gegen 1800. Die Entwicklung beginnt bei den antiken Begriffen, wie sie in A 4.2 schon genannt sind. Eine wichtige Frage blieb dort offen: Auf welcher oder wessen „Natur“ beruht das Naturrecht? – Cicero, De re publica 3,(12)16¹²⁶ hatte definiert: Wahres Gesetz (vera lex) ist die treffende Überlegung (recta ratio),¹²⁷ welche mit der Natur übereinstimmt (naturae congruens), über alle verteilt ist (diffusa in omnes), sich gleich bleibend (constans) und ewig (sempiterna). Sie ruft zur Pflicht durch Gebote (iubendo) und schreckt ab vom Verbrechen durch Verbote (vetando). (…) Dieses wird kein anderes sein in Athen als in Rom, auch nicht jetzt so und später anders, sondern alle Völker wird zu allen Zeiten ein sowohl ewiges wie unveränderliches Gesetz in Zucht halten (continebit), und einer wird der gemeinsame Lehrer (magister) sozusagen und Befehlshaber (imperator) aller sein, Gott: Er ist der Erfinder (inventor) dieses Gesetzes, Erörterer (disceptator) und Erlasser (lator). Wer ihm nicht gehorcht, flieht vor sich
Dort behauptet die Weisheit im Ich-Stil ihre Mitwirkung schon bei der Schöpfung. Dieser Grundgedanke jüdischer Schöpfungstheologie (Gott schuf alles „mit Weisheit“) ist in Joh 1,1– 18 (Gott schuf alles „mit Vernunft“, logos) auf andere Weise aufgenommen, auch mit Tora-Bezug, dabei aber mit einem Zeitaspekt (Joh 1,17): „Das Gesetz wurde durch Mose gegeben, die Gnade und die Wahrheit kamen mit Jesus Christus zur Welt.“ Kein Text, sondern eine Person verdeutlicht nunmehr den Willen Gottes. Als Fragment überliefert bei Lactantius, Inst. 6,8; zitiert auch bei Pfanner, Systema 295 im Abschnitt „De lege Dei“. Dies dürfte unter den Humanisten aller Zeiten der Konsens gewesen sein. Das ist der orthos logos der Stoiker, das mit Umsicht angewandte Denkvermögen. In De legibus 1,33 übersetzt Cicero diesen Begriff mit recta ratio und meint das Denkvermögen (wir sagen hinzu: in Abgrenzung vom Vermögen zu phantasieren, zu wünschen, zu wollen usw.). Ebd. 2,8 – 11 nennt er es die ratio recta summi Iovis, also den orthos logos des obersten Gottes; er nennt es auch mens divina, ein „göttliches Denken“ (vgl. 1Kor 2,16: nous Christou). In seinem Namen, zugleich aber im Namen der „Natur“, erlaubte er sich bereits Gesetzeskritik an dem oftmals willkürlichen positiven Recht: ebd. 1,43 – 47. Das Gelüst (voluptas) vermöge vielen zu verdecken, was von Natur gut ist (quae natura bona sunt), etwa sich von Raub und Ehebruch zu enthalten. Was Pufendorf „Sozialität“ nennt, hat an dieser Stelle, nämlich 1,43, schon er: „Wir sind von Natur geneigt, Menschen zu lieben. Dies ist die Grundlage des Rechts.“
Kosmisches und menschliches Naturrecht
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selbst (ipse se fugiet) und wird darin, dass er die menschliche Natur verachtet (naturam hominis aspernatus), eben darin (hoc ipso) schärfste Strafen erleiden, auch wenn er allem, was sonst als Bestrafung gilt, entfliehen sollte.
In dieser einst vielbeachteten, das Christentum mit der Antike verbindenden Überlegung ist zweierlei unentschieden und bedarf hier der Klärung: 1. Ist lex hier synonym mit ius? Wenn ja, wäre letzteres Wort das passendere,¹²⁸ weil nicht zugleich Naturabläufe gemeint sind, welche ja auch gesetzmäßig sind in einem anderen als menschlichen, willensabhängigen Sinne. 2. Über welchen Bereich erstreckt sich der Naturbegriff? Erst ist natura ganz unbegrenzt gesagt und scheint die ganze Welt zu umfassen; dann aber ist es die Natur des Menschen: Unnatürliches Verhalten bestraft sich selbst, war eine stoische Überzeugung – durch Krankheit, Verlust der Selbstachtung, Gewissensbisse, Fehlentscheidungen in Folge u. a.m. Das sind menschliche Phänomene, aus dem Bewusstsein kommend. Hier sind weitere Klärungen nötig, insbesondere im Hinblick auf den zu wünschenden Übergang der „unvollkommenen“ Rechte dieses Komplexes von Überlegungen der Theoretiker hin zu „vollkommenen“ Rechten konkreter Gesellschaften. Vielfach wird ja behauptet, dass Naturrecht nur ein Teil der Ethik sei; so etwa bei Novak, Natural Law 123 mit Berufung auf Thomas v. Aquin, STh. 2-II q. 90: nur promulgiertes Recht sei gültiges Recht. Das ist eine Verwechslung von positivem Recht mit dem, was hier gesucht wird: vorpositiven Einsichten in das, was Gesetz zu werden verdient. Nicht jede ethische Einsicht und schon gar nicht jedes ethische Ideal darf man zum Gesetz machen, wie im nächsten Band anhand von Geboten wie dem der Feindesliebe (# 3), des Verzichts auf Eigentum („alles, was du hast…“, # 60; # 202; # 204) oder der Treue im Kleinsten (# 106, Anhang) darzustellen sein wird. Als Naturrecht galt bisher, je nach Epoche (s.o. A 2.1.4): 1. in der Antike: der Einbezug des Menschen in den Kosmos und in dessen Regelmäßigkeiten als Regel auch für ihn (naturam optimam ducem sequimur, stoisch); 2. im Mittelalter: Deduktionen aus dem Begriff der göttlichen Gerechtigkeit (scholastisch);¹²⁹ methodische Grundlage war Aristoteles’ Metaphysik als Wissenschaft von Gott und Welt zugleich. Neu ist seit Renaissance und Reformation die Verantwortung des Subjekts des Einzelnen und für diese nun wieder das Gewissen als Letztinstanz, wie Paulus sie bereits Bei Dionysius v. Halikarnass, Antiquitates Romanae 7,41,4 (s.o. A 4.2) spricht der römische Volkstribun Decius von einem agraphon (…) physeōs dikaion, ungeschriebenem Naturrecht – wie Dionys den Römer hier übersetzt. Pree, Evolutive Interpretation 54: „Die derivatio ist für Thomas Grundbedingung des Bestandes menschlichen Rechts überhaupt, andernfall müsse von Rechtsmissbrauch statt von Recht gesprochen werden.“ Für dieses harte Verdikt über emprisch gewonnenes Recht und über jede menschliche Rechtsetzung zitiert er ausführlich S.Th. 1-II 95,2 c.
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Exkurs 6
Gott gegenüber kante (# 267). Luther lehnte die kirchliche Bevormundung nicht nur in Gewissensfragen (des Einzelnen, moralisch), sondern auch in Rechtsfragen (für die Gesellschaft, juristisch) ab; es folgte darum – 3. bei Grotius, Pufendorf, Wolff und Anhängern: die systematische Ordnung historisch gegebener (darunter auch biblisch gegebener) Begriffe von Pflicht (obligatio), begründet aus der Natur des Menschen und was diesem zum Gedeihen und zur Entfaltung nötig ist; 4. im 19. Jh.: die Erhebung des historisch Gewordenen zur Norm (romantisch) und die Verabsolutierung der Macht (auch romantisch, im Nachgang zum Absolutismus) mit einer Rückkehr des Sühnegedankens und einem Rechtsdenken in Begriffen des Gehorsams und der Strafe (# 268). Nur die unter (3) genannte Rechtsauffassung wird hier zugrunde gelegt. Wir greifen hierfür ganz tief in den Fundus der Philosophie, sogar der Ersten Philosophie, derjenigen über die Letztbegründungsfragen, um die Grundlage des Zusammenspiels von Theologie und Jurisprudenz darzustellen, das dabei zustande kommt. Gegenüber den geistigen Höhen des kanonischen Rechts (nächster Exkurs) ist das kein unangemessener Luxus; auch soll diese Arbeit nicht unter dem Reflexionsniveau eines Pufendorf im Jus naturae et gentium und in seiner Eris Scandica zurückbleiben. Eine Empfehlung ist schließlich auch, dass nur diese dritte Option zu nennenswerten Beobachtungen am Neuen Testament geführt hat. Das „menschliche“ Naturrecht – wie wir es im Gegensatz zum „kosmischen“ der älteren Ansätze nunmehr nennen wollen – ist keine Begriffspyramide, sondern ein geordnetes Erfahrungswissen, organisiert um zwei zentrale Begriffe: den der Natur des Menschen, wie gesagt, und den der Pflicht. Als geistiger Vater des Begriffs „Pflicht“ – in klassischem Latein: officium – ist Cicero in C 4.7 schon mehrfach genannt worden. Bei ihm übrigens, und nicht erst bei Spinoza, findet sich, vom Stoizismus übernommen,¹³⁰ die Formulierung deus sive natura, und zwar in einschlägigem Zusammenhang. In seinen Paradoxa 2,14 redet er seinen Freund Brutus so an: Du, dem entweder ein Gott (sive deus) oder (sive) die Mutter aller Dinge, ich meine die Natur (natura), den Verstand (animum) gab, an dem gemessen es nichts Vorzüglicheres und nichts Göttlicheres gibt, wirst du dich selbst so wegwerfen und erniedrigen, dass du zwischen dir und irgendeinem vierfüßigen Tier keinen Unterschied annimmst?
Das ist das Grundargument der nichtkosmologischen Naturrechtslehre: Unser Verstand gibt uns Lehren, die wir dem Tierreich nicht abgewinnen könnten. Die Gesetze, die für
Dort freilich zwischen Wechselbegriffen: Für den Schulgründer Zenon war das Göttliche „entweder Verstand oder Seele oder Natur oder Gegebenheit“ (nous, psychē, physis, hexis, v. Arnim, SVF I Nr. 158), für Chrysipp, mengenmäßig den Hauptautor, war es „das Schicksal selbst und die Natur, und die Vernunft, nach welcher alles gelenkt wird“ (heimarmenē, physis, logos, ebd. II Nr. 945, S. 273,25 f ) – dort übrigens mit phasi „man sagt“ als Gemeingut bezeichnet.
Kosmisches und menschliches Naturrecht
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uns gelten, denen gehorchen wir mit Bewusstsein (auch das ist animus). So ist denn Grundlage des hier vorzustellenden Naturrechts ipse homo, der Mensch (Eris 78). In einer Selbstbeobachtung unter unseresgleichen – das ist nicht die Introspektion, die Descartes, Spinoza und der gesamte Idealismus zugrunde legen wollten – entdecken wir die Pflichten, deren das Menschengeschlecht bedarf. „Derjenige aber, der der Gründer des Menschengeschlechts ist, gilt uns auch als Urheber der obligatio im Menschen und des gesamten Naturrechts“ (Eris ebd.).¹³¹ Dem aristotelischen Begriff eines dikaion physikon, das meinend, was „von Natur gerecht“ ist, ist er auf seine Weise auf der Spur (Eris 79). Er versteht ihn als Gegenbegriff zu positivem Recht, das, sofern es ortsgebunden ist, nicht für die ganze Menschheit das Richtige sein kann. Normengeleitetes Verhalten ist allein den Menschen eigen (Eris 188 u. ö.).¹³² Schon in JN&G 2,2,3 hatte er Spinozas Tractatus theologico-politicus 16,2 widersprochen: Von einem Naturrecht der Fische zu sprechen, ist schlicht Unsinn,¹³³ mochte auch Hesiod (Opera et dies 276 – 279) schon so gedacht und gedichtet haben. Kein Wunder, dass Spinoza das naturrechtliche Argumentieren in TTP 16 schließlich ablehnt. Pufendorf hingegen wiederholt in JN&G 2,3,2 (Überschrift) seine Abstandnahme von einer alten Schulmeinung; er sagt schlicht und klar: „Den Menschen und den Tieren ist kein Naturrecht gemeinsam.“ Die Sprachfähigkeit des Menschen, können wir hinzusetzen, bringt Rechte zustande, die die Tiere mit ihren wenigen Lauten unter sich nicht vereinbaren können. Gerade wenn man die Obligation und den Vertrag – nicht das Gebot oder das Verbot – zum Grundbegriff der Rechtslehre macht, ist man bereits unter Menschen. Die konkurrierende, nur scheinbar theologieaffine Rechtsbegründung liegt in dem Satz auctoritas, non veritas facit legem. Positivisten von Thomas Hobbes bis Carl Schmitt (um nur die bekanntesten zu nennen)¹³⁴ haben ihn hochgehalten. Nach den Erfahrungen des 20. Jh. hat er in heutigen Demokratien an Kredit verloren. Theoretisch ist er jedenfalls defizitär, denn was wäre dann die Begründung von Autorität? – Dieser Satz hinderte jede Rechtskritik, zumal wenn in auctoritas sich ein säkularisierter Gott ver-
Hier nennt er es lex naturalis, in kollektivem Singular. Dort führt er aus: Was Tiere tun, ist nie unrecht, sondern Befehl des Schöpfers. Nur menschliches Verhalten fällt unter ein Werturteil. Nur dieses ist frei, als vorher überlegtes; die Menschen haben eine actuum suorum antegressa cognitio. Diese ersetzt ihm – so können wir hinzufügen – die angeblich angeborenen Begriffe, auch Moralbegriffe, Platons und der Stoiker. Spinoza war eben Metaphysiker, zeigt sich jedoch in seinen Briefen, darunter Anfragen an Robert Boyle bezüglich der damals in Gang befindlichen Entdeckung des Stickstoffs, durchaus an empirischen Wissenschaften interessiert. Doch hat er seine Ethik und insbesondere die dortige Anthropologie (Teil IV) nicht empirisch anlegen wollen. Das hat, in Aufnahme englischer Impulse, Christian Wolff nachgeholt. Der eine ist anglikanischer, der andere katholischer Konfession; auf beiden Seiten herrscht eine ähnliche, von absoluten Geboten ausgehende Auffassung vom „Willen Gottes“ (s.u. Exkurs 15). Sie findet sich nicht weniger bei jüdischen Autoren, von Philon (s. Heinemann, Bildung 182) über Spinoza (TTP 16,3 f, inspiriert von Hi 42) bis zu Leo Strauss und zahlreichen Politikern der Republikanischen Partei in den USA.
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Exkurs 6
steckt hielt. Wenn bis heute immer wieder Recht primär als Absicherung von Macht aufgefasst wird,¹³⁵ so steht dem in vorliegendem Kommentar die These von der Eigenständigkeit des Rechts entgegen als eines Gebiets menschlicher Erkenntnis. Zu dieser gehört dann, zu sagen: Recht ist auch und genauso gut eine Begrenzung von Macht und eine Zweckbindung von Eigentum. Recht ist die Dämpfung von Willkür durch Vernunft, und zwar eine auf Erfahrung sich gründende Vernunft. Perfektion ist nicht deren Anspruch; angemessenes Reagierenkönnen auf Zeitumstände aber ist ihre Stärke. Der wichtigste Sprechakt im Recht ist – um Gaius zu folgen und ebenso den Begründern der neuzeitlichen Naturrechtslehre – nicht der Befehl oder das Verbot, wie ein gewisser Biblizismus im Englischen noch heute sagt,¹³⁶ sondern es ist der Vertrag. Es ist die gegenseitige Zusage, die mehr ist als ein bloßes Versprechen, denn hinter ihr steht die Exekutive eines organisierten Gemeinwesens. Auf diesem Hintergrund fällt auf: Der Septuaginta fehlt nicht nur der Rechtsbegriff, sondern auch der Vertragsbegriff kommt nur an unbedeutenden Stellen vor. Das Wort synthēkē/pactum, im Pentateuch gar nicht vertreten, begegnet frühestens im Jesajabuch, dort noch in polemischem Zusammenhang als etwas Fremdes (Jes 28,15; 30,1).¹³⁷ Andere Stellen, nur eine Handvoll, verteilen sich auf Daniel und 1.2Makk; dort ist es hellenistische Politik. Einmal nur, ganz marginal (4Kön 17,15 Cod. A), dient es zur Wiedergabe von berît. Hinzu kommt ohne hebräische Vorlage Weish 12,21, pluralisch, für die Verheißungen (Vulg: iuramenta) der Tora. Im Neuen Testament sodann fehlt synthēkē ganz; nur für das Verbum syntithesthai/pacisci „vereinbaren“ bietet Lukas, der Grieche, ein einziges Mal einen Ansatzpunkt, den wir nützen werden (# 113). Das römische Recht ruht, Gaius zufolge, auf dem Vertrag auf. Der Vertrag, ob ausdrücklich oder unausdrücklich, schafft eine Obligation (Gaius 3,88 – 181), deren Durchsetzung die Rechtsgemeinschaft gewährleistet. Gaius ordnet von da aus sogar das Strafrecht dem Obligationenrecht unter (3,182– 225). Klarer als er kann man die Strafe nicht von der Rache und von der Sühne trennen. Strafe ist, ganz unemotional, die Rechtsfolge einer nicht erfüllten Verpflichtung – etwa das Gut des Nachbarn unangetastet zu lassen. Das mosaische Recht hingegen geht von Geboten und Verboten aus; diese, und nicht Verträge, begründen bei Nichterfüllung die Strafe. Diese Auffassung hielt sich durch. Prenzel, Pacht 46: Der Talmud behandelt das gesamte Privatrecht im wesentlichen unter dem Gesichtspunkt der Schadenszufügung, es werden die Deliktsmomente hervorgehoben, die Obligation dagegen bleibt weitgehend unberücksichtigt.
Von dieser Art war der Ursprung des Kaisertums in Rom; s. # 91. Schlosser, NERG 15 § 33 nennt sowohl Thomas Hobbes wie John Austin (19. Jh.) für die Auffassung: Law in general is command. Neuere Nuancen angelsächsischer Rechtslehre s. ebd. §§ 36 – 37. Immerhin ist eine Unterscheidung zwischen „primären Pflicht- und sekundären Ermächtigungsregeln“ dabei. Als Imitation vgl. Weish 1,16.
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Daraus erklärt sich die Wichtigkeit und Ausführlichkeit des seder Neziqin („Schädigungen“) in Mischna, Tosefta und Talmudim: Das Meiste vom rabbinischen Zivil- und Strafrecht findet sich hier. Macht, wenn sie legal sein soll, gründet auf einem Vertrag. Kein Mensch muss etwas tun, unterlassen oder hinnehmen, bloß weil es ein anderer will. Der Gesellschaftsvertrag (# 280), den wahrhaft nicht erst Rousseau erfunden hat (er hat ihm aber eine griffige Bezeichnung gegeben, die als solche neu ist), bildet das säkulare Pendant zur berît Gottes mit Israel; und er ist jedoch ein Vertrag unter Gleichen, so wahr das beherrschte Volk nach dieser Theorie der Geber dieser Macht ist. Pufendorf, so sehr er auch Monarchien rechtfertigte (seine Dienstherren waren ein Kurfürst, ein König und wieder ein Kurfürst),¹³⁸ gründete bereits die Berechtigung von Monarchien auf ein pactum und nicht auf die „Geburt“, die besondere Abstammung von Individuen. Die These von der Weltlichkeit des Rechts, in CA 16 bereits ausgesprochen, ist kein Verlust für das Christentum. Jedenfalls war gerade Luther der Meinung: „Meister alles Rechtes bleibe die Vernunft“ (WA 11,272,15 – Motto dieses Werkes). In damaligem Deutsch war „eines Buches Meister“ sein Autor. Christen beteiligen sich demnach in evangelischer Freiheit (# 172)¹³⁹ an säkularer Gesetzgebung. Ihnen reicht zu wissen, dass „weltlich Regiment, Polizei und Ehestand (…) wahrhaftige Gottesordnung“ sind (CA 16,5). Ein wichtiger Schritt zur Klarheit war in der Barockzeit die Unterscheidung zwischen lex naturae und ius naturae. Natur- und Geisteswissenschaften begannen sich zu differenzieren, womit die einen wie die anderen in die Lage kamen, sich ihrer Besonderheit inne zu werden. Naturgesetze studierte man als Fall-, Pendel- und Gasgesetze usw. im Bereich der Physik. Als dann Darwin die Regel vom survival of the fittest entdeckte, war das ein Naturgesetz (in einem weiten Sinne) – aber gerade nicht Naturrecht in dem Sinn, wie die Barockjuristen es bereits definiert hatten. Pufendorfs großer Fortschritt, was die philosophische Grundlegung des Rechtsdenkens bestrifft, ist der folgende: Hatte die Scholastik und hatte ganz ähnlich auch Spinoza als jüdischer Freidenker noch gelehrt: „Das Naturrecht hängt von den Naturgesetzen ab“ (Tractatus theologico-politicus 16,60),¹⁴⁰ wobei Bezug genommen wurde auf die Natur als ganze einschließlich der unvernünftigen Geschöpfe, ist bei Pufendorf nur
Ein demokratisches (oder aristokratisches) Staatswesen kannte er aber auch durch seinen Studienaufenthalt bei einem von Grotius’ Söhnen. Eine Annäherung an dieses Thema von katholischer Seite ist das Buch des Theologen und Juristen Peter KISTNER: Das Recht der Freiheit und das Recht der Autorität (Tübinger Kirchenrechtliche Studien, 16), 2015. Ius autem naturae pendet a legibus naturae – im Gegensatz zum ius civile, von dem Spinoza mit Blick auf die summa potestas, also den Souverän, meinte: ab eius decreto pendet (§ 59). Das ist, wie im Judentum überhaupt, Rechtspositivismus, und in diesem fällt der Obrigkeit auch das Religionsrecht zu (§ 65 – so noch bei Spinozas begeistertem Leser Goethe). Puf., JN&G 2,2,3 und 3,4,4 lehnt Spinozas naturalistischen Ansatz der Naturrechtslehre mit sorgfältiger Begründung ab: Spinoza hatte nicht unterschieden, was Lebewesen physisch können und was sie rechtlich dürfen. Sein „Naturrecht“ war das „Recht“ des Stärkeren, nicht wert, so zu heißen. Ebenso Wolff, PhPU I § 267: Revera igitur tollit omnem actionum intrinsecam moralitatem, qui fontem iuris potentiam facit, quemadmodum facit Spinosa.
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noch die Natur des Menschen die Basis der Überlegungen, also des Vernunftbegabten und – auch das betont er immer wieder – der Zivilisation Bedürftigen. Wenn von Pufendorf kolportiert wird, auch bei ihm seien „die natürlichen Gesetze von Gott befohlen“,¹⁴¹ so ist das eine irreführende Verkürzung: Wohl ist ihm Gott der Urheber des Naturrechts, aber eben vermittelt über die Bedürfnisse und Anlagen des Menschen, so wie er „ihn“ (d. h. einen jeden) geschaffen hat. Damit spricht er als Christ, verpflichtet aber niemanden zum Christentum. „Das Gemeinwesen sollte für alle da sein. Das Naturrecht bot eine Chance religionsneutraler Argumentation“ (Stolleis, „Naturgesetz“ 147). Von dieser dezidiert humanwissenschaftlichen Art war das „lutherische“ Naturrecht – mit Anführungszeichen so zu nennen, denn es handelt sich um keine kirchlichen Stellungnahmen, sondern um private, und auch diese geschahen i. d. R. nicht unter Berufung auf Luther (außer in Pufendorfs Eris in Antwort auf Theologen Schwedens, Sachsens und Preußens). Wahr ist jedoch selbst von der Aufklärung noch, dass „ihre philosophisch-naturrechtliche Ausrichung (…) in Deutschland immer konfessionell gefärbt geblieben war“ (Holzhauer, Beiträge 72). Anders als im Katholizismus haben protestantische Kirchen sich in Fragen der staatlichen Gesetzgebung nicht oder wenig eingemischt. Gemeinsam aber war und ist allen Protestanten das Anliegen der Glaubens- und Gewissensfreiheit, welchem die Römisch-Katholische Kirche erst fünfhundert Jahre später sich zu öffnen begann. Bis dahin, nämlich bis ins 20. Jh., blieb das Hauptwerk des Grotius auf dem Index librorum prohibitorum (Schlosser, NERG 9 § 11). Strohm, Reformation und Recht 79 beobachtet: Die protestantischen Rechtstheoretiker waren zumeist Juristen von Beruf, die katholischen hingegen „sind in zunehmendem Maße Jesuiten und unterrichten das Recht im Wesentlichen im Rahmen der Moraltheologie“. Wer jedoch die Trennlinie zwischen Recht und Moral am deutlichsten zog, das waren – mit gewissen Ausnahmen¹⁴² – Rechtsgelehrte aus dem Luthertum. Ihre Auffassung von der Natur des Menschen war eine horizontale, erfahrungsgegebene (Exkurs 10), keine vertikale, offenbarte (nächster Exkurs). Nach ihrer Auffassung, der wir hier beipflichten, war es besser, Gen 1– 3 nicht zu belasten zur Errichtung einer „prälapsarischen“ Naturrechtslehre. Vielmehr werden die Natur des Menschen und die aus deren Erkenntnis sich ergebenden Pflichten dargestellt als Summe von Beobachtungen, die jeder an sich und an seinesgleichen machen kann (# 263); daran ist nichts Metaphysisches. Es bleibt ein Proprium des Glaubens, zu sagen: So hat ihn Gott gewollt. Wer nicht so denkt, hat dennoch Zugang zu ähnlichen Einsichten, sodass Glaube und Humanismus sich durchaus verständigen können.
So A. HÜGLI: „Naturrecht“ IV. 3, HWP 6, 589 – 591 mit Verweis auf JN&G 1,6,2.4; 2,3,20. Der große Leibniz, promovierter Jurist, zählt zu den katholisierenden Ausnahmen. Er wollte, streng platonisch, das Recht aus dem Begriff der Gerechtigkeit ableiten, und zwar der Gottes, von der Pufendorf vergeblich gemahnt hatte, sie könne nicht in Verlängerung der menschlichen gesehen werden, auch nicht umgekehrt. In Leibniz’ Ansatz ist das Recht so wenig von der Moral unterschieden wie die Theologie von der Ontologie.
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Anders – mindestens im Ausdruck – sagt es Joseph HÖFFNER, nachmals Kardinal Höffner, der Träger vierer Doktortitel und 1951 Gründer des Instituts für christliche Sozialwissenschaften an der Universität Münster. Seine Naturrechtslehre setzt an „bei der Natur als dem Wesenskonstitutiv des Menschen als solchem [sic], d. h. bei dem, was zu allen Zeiten und in allen Kulturkreisen den Menschen metaphysisch als Menschen bestimmt, wozu Leiblichkeit und Geistigkeit, Personalität und Sozialität sowie die Geschöpflichkeit gehören“ (Chr. Gesellschaftslehre 63 f ). Wir fragen: Was ist daran metaphysisch? Vier dieser fünf Merkmale kennen unsere Barockjuristen aus Erfahrung und Geschichte; das fünfte hingegen ist eine Glaubensaussage, ihnen zwar wichtig als Christen, jedoch – wie sie selbst sagen – nicht einsetzbar als Bedingung für die Verständigung mit Andersdenkenden. Höffner nun begründet seinen Rückgriff auf Metaphysik aus einem Kontrast (65): „,Es gibt keine Menschennatur‘, behauptet Jean-Paul SARTRE, ,weil es keinen Gott gibt, der sie hätte entwerfen können.‘“ – Hier lässt sich der große Gelehrte von einem Fangschluss beeindrucken, einem Scheinargument. Methodisch sind alle Autoren des „menschlichen“ Naturrechts Atheisten, nur persönlich sind sie es nicht. Weder der hier Zitierte noch der ihn Zitierende scheinen zu wissen, woraus historische und empirische Forschung – die Naturrechtslehre des Luthertums gehört dazu – ihre Einsichten gewinnt.¹⁴³ Bedenkenswerter ist eine andere Stelle bei Höffner (ebd. 67): „Auch das Bundesverfassungsgericht erklärte 1952, es erkenne ,die Existenz überpositiven, auch den Verfassungsgesetzgeber bindenden Rechtes an‘.“ Was es damit auf sich hat, wird in # 288 zum Thema „Menschwürde“ und „Menschenrechte“ darzustellen sein: Es sind Einsichten, welche die kultivierte Menschheit mit und ohne Religion gewonnen hat. Das „und ohne“ mag man schade finden; es liegt aber ganz konkret an der jahrhundertelangen Opposition des Klerus gegen Vernunfteinsichten, und das auf katholischer wie auf evangelischer Seite. Wir lassen also, wie Herder einst sagte, „alle Metaphysik beiseite und halten uns an Physiologie und Erfahrung“.¹⁴⁴ Das einstens beinahe obligatorische Anlegen einer „biblischen“ Anthropologie, die einen „prälapsarischen“ Adam zum Maßstab des empirischen machte, schuf mehr Probleme, als es löste – von einem Idealisieren, das nur in Ethik, nicht in Recht überführbar ist, auf katholischer Seite bis zu der oben (A 4.8.2– 3) genannten natura-deleta-Lehre auf evangelischer. Unsere Barockjuristen bleiben auf der Erde, und sie sehen in den Anlagen des Menschen etwas Positives, von Gott Gewolltes; das gilt auch von seinen Schwächen. Aus den Bedürfnissen, die allen Menschen mehr oder weniger gemeinsam sind, lässt sich ein Wille des Schöpfers erheben. Man darf hinzusetzen: Mit einer sich ändernden Welt ändern sich die Orientierungen (s. nächsten
Dabei war Höffner mit Arbeiten historischer Art (seine Habilitationsschrift Christentum und Menschenwürde ging über Menschenrechte im frühen Kolonialismus) bereits hervorgetreten; seines Lernens aus der Geschichte könnte er sich bewusst sein. Mit empirischen Forschungen ist er vertraut. J. G. HERDER: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, 1. Teil (1784), 3. Buch, Kap. 6. Es folgt seine Anthropologie: „Die Gestalt des Menschen ist aufrecht“ (usw.). – S.u. Exkurs 10.
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Exkurs 6
Exkurs) – langsam nur, evolutiv; aber Brüche sind nicht nötig. Hier kommt uns Joseph Höffner sogar zur Hilfe, wenn er sagt:¹⁴⁵ Das Naturrecht ist zwar übergeschichtlich gültig, wird aber selbstverständlich nur in der Geschichte wirksam, ist also in dieser Hinsicht keineswegs „geschichtslos“ oder „übergeschichtlich“ oder „transzendent“, sondern den jeweiligen geschichtlichen Rechtsordnungen immanent. Das Naturrecht ist ein ständig zu verwirklichendes „Programm“.
Chr. Gesellschaftslehre 73. Dass er vorher (72 Anm. 32) zu diesem Zwecke sich auf Thomas v. Aquin beruft, ist (Selbst‐)Täuschung: Dieser meint an der angegebenen Stelle (S.Th. 1-II 97,1) nur die lex humana, also das positive Recht.
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Exkurs 7: Naturrecht und Offenbarung bei Thomas von Aquin und im Thomismus Wenn ein Protestant über Naturrecht schreibt, positiv zwar, aber nicht im Sinne des Thomas v. Aquin, dann ist eine Auskunft fällig über das, was ihn trennt von den Lehren des doctor angelicus. Sie beginnt gleich bei dem Wort lex, das bei ihm „Gesetz“ wie „Recht“ heißen kann (wie law im Englischen), um an dieser die Nachteile zu weiter – später dann zu enger – Begriffe in seinem System aufzuzeigen. In seiner Summa Theologica 1-II, q. 90 („De legibus“) setzt er bereits beim Plural ein, bei gegebenen Gesetzen. Seine Definition lautet (q. 90,4 c.):¹⁴⁶ Gesetz ist „eine Ausrichtung der Vernunft auf das Gemeinwohl, promulgiert seitens dessen, der die Fürsorge über das Gemeinwesens ausübt.“ Thomas zielt also von vornherein auf positive Gesetze, auch wenn er anschließend einen gewissen Theorieapparat aufbietet, um sie in Naturgegebenheiten zu verankern. In q. 91 („De legum diversitate“), 1 c. definiert Thomas näherhin lex als „das Diktat der praktischen Vernunft im Fürsten (dictamen practicae rationis in principe), welcher ein autonomes Gemeinwesen regiert (qui gubernat aliquam communitatem perfectam)“; vgl. q. 92,1 c. Ergänzend wird weiter hinten auch an eine Mitwirkung der Bürger an der Gesetzgebung des Gemeinwesens gedacht;¹⁴⁷ ein Anwalt der absoluten Monarchie ist Thomas nicht. Bedenklich aber und vom säkular-römischen Recht charakteristisch abweichend ist die in q. 92 vertretene Auffassung, es sei Aufgabe des Gesetzes, die Menschen zu bessern, wörtlich: sie „gut zu machen“ (facere homines bonos). Das ist diejenige Überlappung von Recht und Moral, deren Gefahren oben in A 2.4.1 angedeutet wurden und uns quer durch den Kommentar wiederbegegnen werden. Gesetz ist hier die Reduktion, nicht der Schutz von Freiheit, und es kommt eher als Vorschrift bzw. Verbot in den Blick denn als Ermöglichung von Handlungen. Von der durchwegs negativen Fassung der zweiten Tafel des Dekalogs bis zu den Ermöglichungs- und den Schutzrechten der Moderne ist hier noch ein weiter Weg, und er wurde nur durch die Unterscheidung von Recht und Moral möglich.¹⁴⁸ In q. 94,5 c. werden einander zugeordnet: lex naturalis (in der Schöpfung enthalten), lex divina (aus Offenbarung) und leges humanae (die positiven Gesetze). Die überraschende Feststellung, dass in gewissem Sinne die lex naturalis veränderbar sei, wird
(D)efinitio legis (…) nihil aliud est quam quaedam rationis ordinatio ad bonum commune, ab eo, qui curam communitatis habet, promulgata. S.Th. 1-II q. 105c (Mikat 505 f ). Thomas denkt sich eine Aristokratie mit einer gewissen Beteiligung der Bürger durch Wahlen (Ex 18,21; Dtn 1,13). Perfekter könne nur eine Monarchie sein (ebd. ad 1 und ad 2), vorausgesetzt, der Monarch seinerseits ist perfekt. Darum gab Gott seinem Volk „einen Richter und Regenten“ (Mose – sein principatus verlängert sich in Josua) und für künftig das Königsgesetz (Dtn 17,14– 20). Doch selbst dem „gerechten David“, heißt es dann weiter, haben sie nicht gehorcht. Nur dann nämlich genießt ein unmoralischer Mensch dieselben Rechte wie ein moralischer; vgl. # 132 (Mt 5).
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Exkurs 7
dahingehend ausgeführt, dass nach der positiven Seite hin, im Sinne der Vermehrung, die beiden letztgenannten die erstere erweitern könnten; negativ aber, im Sinne der Verminderung, seien die Umstände in Anschlag zu bringen (vgl. q. 94,4), wo sie die Anwendbarkeit einschränken. Eine andere Gleitformel besteht in der Unterscheidung zwischen unveränderlichen principia primaria im Naturrecht und veränderlichen, Zeitbedingungen aufnehmenden principia secundaria; s. Stolleis, „Naturgesetz“ 138.¹⁴⁹ Das ist zweifellos ein moderner Zug an dieser Theorie, und ein solcher ist auch die Finalität der Gesetzgebung, ob göttlich oder menschlich, im leiblich-seelischen Wohlbefinden (beatitudo) der Menschen (Mikat 490; vgl. 4.7.4 zu Wolff ). Ihr wird jeder einigermaßen vernünftige Gesetzgeber seinen Beifall zollen. Dass menschliche Gesetze geändert werden müssen je nach sich wandelnden Umständen, wird von Thomas in q. 97 erneut anerkannt.¹⁵⁰ Helmuth Pree, Die evolutive Interpretation der Rechtsnorm im Kanonischen Recht stützt sich auf solche Stellen, und wenn er aus q. 91,3 c. wiederholt: „Nichts ist gerecht und legitim, was nicht aus einem ewigen Gesetz die Menschen sich abgeleitet haben (sibi derivaverint)“, so reflektiert er gerade dort auf die „Verschiedenartigkeit der Umstände, unter denen Naturrecht positiviert und in je angepaßter Weise konkretisiert werden muss“, wofür Thmas ja die multa varietas rerum humanarum in Anschlag bringe (q. 95,2 ad 3). Das durchgängige Postulat, dass die Norm schon früher dasein müsse, und wäre es nur das prius der Deduktionskette, verdeckt das Faktum eines Lernens aus Erfahrung.¹⁵¹ Man könnte diese Engführung der römisch-katholischen Morallehre – die hausintern für ihre Stärke gilt – nur so umgehen, dass man empirisch eine Natur des Menschen (mit Variation nach Ort und Zeit) ermittelt und diese Erkenntnis, die dann aber nicht in wenigen Sätzen bestehen wird, apriorisch an die Spitze einer Ableitung setzt. So etwa macht es Christian Wolff. Da hat er aber die Begründung in einer (auch in seiner) Ontologie aufgegeben, und sie lässt sich auch nicht nachträglich mehr vorschalten, etwa als Ersatz für das allemal mit Unschärfen und Unsicherheiten behaftete Erfahrungswissen. Die Vagheiten der ontologischen Terminologie (Exkurs 12) können dem nicht abhelfen. –
Eine ähnliche Auffassung kann man bei Luther finden, nur dass bei ihm das Recht auf der Seite des Veränderlichen zu stehen kommt. Elert, Morphologie II 366: „(D)as Ethische bleibt. Es bleibt auch die ethische Forderung, daß Recht unter Menschen sein soll. Das Recht selbst aber ist wandelbar. Das war wenigstens die Überzeugung Luthers.“ Auch q. 106,3 ad 2: statu(s) humani generis (…) variatur per temporis successionem; Mikat 497. Damit meint Thomas jedoch nicht, dass das Naturrecht sich mitwandeln müsse. Die diesbezügliche These bei A. KAUFMANN: Naturrecht und Geschichtlichkeit, 1957, 12, der dies aus Thomas v. Aquin, STh. 2-II q. 57,2 ad 1 zu zitieren vermeint (natura autem hominis est mutabilis) beruht auf einem Missverständnis: Gemeint ist, wie er in Anm. 13 selbst zitiert, der Fall, wo ein depositum nicht zurückgegeben werden darf – weil es (das muss man dann aus der damaligen Diskussion ergänzen; er sagt es uns nicht) eine Waffe war und der Hinterlegende zwischenzeitig wahnsinnig geworden ist (K/K/L, Privatrecht § 38,18a > 48,18a). Das hat nichts mit den hier interessierenden kulturellen Wandlungen zu tun. Der zweite Teil von Prees Monographie versucht dann dennoch eine Dynamisierung des kanonischen Rechts. Im Himmel soll gleich bleiben, was sich auf Erden wandelt.
Naturrecht und Offenbarung
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Für Zwecke der Exegese ergibt sich noch eine ganz andere Frage: Wie steht Thomas zum Gesetz des Mose? – Die Quaestionen 98 – 105 handeln in vielen Details von der Beschaffenheit und Gültigkeit des „Alten Gesetzes“.Vieles, was daran partikular aussieht und nicht allgemein einsichtig ist, wird historisch relativiert als Erziehungsmaßnahme Gottes an Israel – und über Israel an der Menschheit (q. 91,5 ad 3), ein schon von den Apologeten des 2. Jh. und von den Kirchenvätern seit Clemens v. Alexandrien entwickelter Gedanke.¹⁵² Die ethische Tora, wofür die zweite Tafel des Dekalogs die gewohnte Zusammenfassung ist, gilt dementsprechend für ewig. Also sehen wir nach, was Thomas für den Inhalt dieser wenigen, aber elementaren Gebote ansieht. Er erläutert es in q. 100 und später nochmals ausführlicher in 2-II q. 64– 79. Wie sehr solche Dekalogkatechesen umständebedingt sind und dass die Begründung von Geboten nicht schon Rechtsbegründung ist, wird nicht problematisiert. Was die Judizialtora betrifft, so denkt Thomas an eine teilweise Weiterverwendung (q. 104,3 c.) und fügt sowohl motivierend wie einschränkend hinzu (ad 1): Gerechtigkeit erfordert, dass die Bestimmung dessen, was jeweils gerecht sein soll (determinatio eorum, quae sunt iusta), nach den Umständen zu erfolgen habe. So erhält bei ihm die Judizialtora, als nur bedingt gültig, eine Mittelstellung zwischen der Zeremonialtora, die abgetan ist (q. 103; vgl. # 252 zum Hebr.), und der ewig geltenden ethischen Tora. Zur Frage nach der Zeremonialtora steht in STh. 1-II q. 98,5 c.: „Das alte Gesetz offenbarte Vorschriften des Naturgesetzes, und es fügte einige eigene Vorschriften hinzu.“ Der Sinn der letzteren bestand darin – so erfahren wir weiter –, dem jüdischen Volk eine „Prärogative an Heiligkeit“ zu sichern. Das kommt jüdischem Selbstverständnis durchaus nahe, wird nun aber bei Thomas überführt in Stufen der Heiligkeit nach christlichen Lebens-, Ordens- und Ordinationsregeln, wie überhaupt die Besonderheiten der Tora teleologisch als gottgewollte Vorbereitungen des Christentums ihren Nutzen behalten. Thomas wagt es aber nicht, diese Distinktion auf den Dekalog anzuwenden und auf die beiden dort verankerten Besonderheiten Israels, das Bilderverbot und den Sabbat. Wenn zum Dekalog postuliert wird, eine „erste Kenntnis“ davon habe der Mensch „von sich selbst“ (q. 100,3 c.), so fragt sich, wie der Mensch wohl von sich aus auf den Sabbat kommen soll und auf den Verzicht auf Bilder im Gottesdienst.¹⁵³ Noch fragwürdiger ist dann der Begriff einer lex nova, worunter er das Evangelium versteht (ab q. 106). Diese Auffassung macht es notwendig, die Bergpredigt, die hier zu einem neuen und umfassenderen Dekalog wird, aufzugliedern in Vorschriften (prae-
Zu diesem Gedanken bei Thomas s. Mikat 496. Bekannter ist er aus Lessings Erziehung des Menschengeschlechts (1778). In q. 100,12 (Mikat 504) gibt Thomas zu der paulinischen Frage, ob die Gebote der Tora zur Gerechtigkeit vor Gott gedient hätten, eine von der Selbsterfahrung des Paulus durchaus abweichende Antwort: „Ja, soweit sie die Menschen auf die Gnade Christi vorbereiteten“. Diese Frage scheint sogar jenen aaronitischen Priestern, deren Arbeit wir höchstwahrscheinlich die Schriftfassung der Tora verdanken, bewusst gewesen zu sein: Nur diese zwei Gebote sind es, die eine ausdrückliche Begründung erfahren, wobei die Dtn-Fassung sogar beide Male auf Israels Geschichte Bezug nimmt, auch zum Sabbatgebot (Dtn 5,15).
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Exkurs 7
cepta) und Ratschläge (consilia),¹⁵⁴ letztere für die Personen geistlichen Standes geltend und für partiell oder auch stärker aus der Welt sich zurückziehende Bruder- und Schwesternschaften (das ist für ihn religio; s.u.). Da ist es dann wieder die Kirche, die über Grade der Verbindlichkeit befindet; es gibt kein Jesuswort und kein Textmerkmal im Mt. selbst für diese Unterscheidung. Sieht man weiter nach, was Thomas zu den einschlägigen Paulusstellen Röm 1,18 ff und 2,12 ff (# 266) zu sagen hat, findet man im Bereich von 1-II q. 90 – 114 nur Röm 2,14 einmal gestreift (q. 90,3: in gewisser Hinsicht sei jeder „sich selbst ein Gesetz“) und einmal zitiert (q. 109,4,1); dort wird es aber im corpus articuli sowie ad 1. gleich wieder eingeschränkt: Ohne Gnade lebt doch niemand nach dem Naturrecht. Wenn Thomas hier dem Wortlaut der Paulus-Stelle widerspricht, dann wohl nur, um von einem vollkommenen Gehorsam zu sprechen; den hatte Paulus nicht behauptet.¹⁵⁵ Was die Ansprüche der Naturrechtslehre auf konkrete Gesetzgebung begrifft, so ist eine Einflussnahme auf weltliche Gesetzgebung von Rom aus betrieben worden und wird es noch, etwa wo es um den Schutz des ungeborenen Lebens geht, aber auch als Verhinderung von so etwas wie Geburtenkontrolle. Dafür wäre die thomistische Gnadenlehre nicht nötig gewesen. Die Enzyklika Humanae vitae Papsts Pauls VI. von 1968, die naturrechtlich argumentiert statt theologisch,¹⁵⁶ verfährt sehr ungnädig mit den Nöten der sich übervölkernden Erde. Man kann sich in diesem letzten Teil von STh. 1-II durch viele Quaestionen durcharbeiten und Distinktionen über Distinktionen zur Kenntnis nehmen; die Ausgangsbegriffe bleiben undeutlich, der Sachbezug am Ende auch. Überdies haftet der Sprache des Thomas, dem Latein, die unüberwindliche Unschärfe an, dass es keinen Artikel hat und zunächst ja auch keinen Unterschied zwischen Groß- und Kleinbuchstaben. Man weiß oft nicht, ob man es mit lex generell oder mit einer besonderen Lex, etwa der des Mose, zu tun hat. Mit dieser Methode lassen sich Worte aus Worten gewinnen, ohne dass der Sachbezug jemals geklärt werden müsste.¹⁵⁷ Die Statik „ewiger“ Begriffe hat ihre inzwischen bekannten Schwächen. An vielen Stellen fehlt die nötige Unterscheidung zwischen Struktur (statisch) und Ablauf (in der Zeit); Entwicklungen werden nicht zur Kenntnis genommen.¹⁵⁸ Ebenso fehlt die Unter-
Der katholische Sprachgebrauch sagt, im Deutschen missverständlich: „evangelische Räte“. Dafür begegnet hier ein seltener, aber nachdenkenswerter Gedanke: „Das nämlich bewirkt der Geist der Gnade, dass er die Gottesebenbildlichkeit, in der wir natürlich geschaffen (naturaliter facti) sind, in uns wiederherstellt (instauret in nobis).“ Zu dieser auch bei Elert zu findenden Lehre von der „Redintegration“ s.u. # 288. Voller Titel: Pauli VI pont(ificis) max(imi) litterae encyclicae de propagatione humanae prolis recte ordinanda. Zu diesem Dokument und zur päpstlich kanonisierten Ontologie s.u. Exkurs 12. Man nennt das „Begriffsrealismus“: als ob die Worte schon die Sachen wären. Nicht einmal Begriffe und Namen werden unterschieden. Die Behauptung bei Pieper, Thomas 143, die STh. „bring[e] es zustande, Geschichte und System zu verknüpfen, die Erfassung des Geschehenscharakters der Wirklichkeit im Ordnungsgefüge der Gedanken zu vollziehen“, bleibt ohne Beleg. Was sie meint, ist vermutlich nur der heilsgeschichtliche Rahmen im Denken des Thomas.
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scheidung zwischen Verursachung (auch wenn sie bei Thomas viele Modi haben kann) und Urheberschaft, einem nicht physikalischen, sondern menschlichen Tatbestand. Ersterem kann man eine Finalität anmerken; Absichten gibt es nur in letzterem.¹⁵⁹ Naturgesetze und Naturrecht werden in der sonst so differenzierungsfreudigen Scholastik unter einem Begriff, lex, zusammengezwungen. Fragen wir nach seinem Begriff von Recht (ius) bei Thomas, so müssen wir weitergehen bis in die secunda secundae, die freilich ihrerseits fast gänzlich Tugendlehre ist. Im Anschluss an eine Betrachtung über prudentia (Klugheit, Augenmaß), eine der vier aristotelischen Kardinaltugenden, finden wir in STh. 2-II q. 57 den Titel: „De iure“. Dort leitet er ius von iustitia ab, stellt also um des Primats der Ethik willen das Verhältnis der beiden Wörter um. Das dürfte unter biblischem Einfluss so geschehen, nachdem die Bibel beider Testamente weit mehr von dikaiosynē, also persönlicher Gerechtigkeit und Rechtschaffenheit, spricht als von dem dikaion/ius griechisch-römischer Terminologie. Der Begriff ius ist bei Thomas dem Begriff lex eher unter- als übergeordnet. Das ist ein systematischer Mangel und stört dort nur deshalb nicht, weil der gesamte Kontext, nämlich der in der Summa überhaupt größte Teil II, Tugendlehre ist. Inhaltlich besteht ius, so lesen wir weiter, in der Bereitschaft, dem anderen zu geben, was ihm gebührt, ein opus adaequatum alteri (q. 57,2 c.).¹⁶⁰ Ähnlich hat man die Rechtsbegriffe des Alten Testaments zusammenfassen können als „gemeinschaftsgerechtes Verhalten“; ähnlich dürfte auch der Begriff der Sozialität bei Pufendorf dann gemeint sein. Hier folgt auch gleich der Begriff der„Natur der Sache“ (natura rei), „wenn z. B. jemand soviel gibt wie er nimmt“: Das sei ius naturale, auch wenn man gegenseitiger Vereinbarung (condictum) folgt, wobei die Vereinbarungen jedoch ihre Grenze und Kritik finden an einer naturalis iustitia (so ebd. ad 2), die Handlungen wie Stehlen und Ehebrechen verbietet.¹⁶¹ Diesem Begriff wird der eines ius divinum auf eigentümliche Weise zugeordnet (ebd. ad 3): Als ein solches gilt, „was von Gott aus proklamiert wird“ (quod divinitus promulgatur) – das dürfte die Bibel meinen, denn die Stimme des Gewissens ist keine Veröffentlichung. Manches, sagt er nun weiter, ist lege divina vorgeschrieben, weil es gut ist (quia bona);¹⁶² anderes ist nur dadurch gut, dass es vom Gottesgesetz vorgeschrieben wird (quia praecepta). Hier folgt kein Beispiel, aber man kann an Dinge wie den Sabbat denken und für das Judentum eben die Beschneidung. Selbst wenn man Finalitäten in Naturabläufen für Absichten Gottes nehmen wollte, wäre der Unterschied zwischen Absichten Gottes und denen der Menschen fundamental. Eigene Ansprüche und Schutzrechte sind hier unerwähnt; Recht soll ja eine Form von Nächstenliebe sein. Ein edler Grundsatz fürwahr, nur ist auf eine außerklösterliche Umwelt hier kaum Rücksicht genommen. Dort muss Lieblosigkeit nicht geduldet werden, wo sie aggressiv wird; es gibt gegen sie das Recht. Er beruft sich hier auf das physikon dikaion bei Aristoteles, E.N. 1134b 18. Hieraus wurde von Theologen – denselben, die Pufendorf ein zu weltliches Denken vorwarfen – gefolgert, gewisse Werte oder Begriffe seien Gott dem Schöpfer vorgegeben (s.u. Exkurs 10, Stichwort antecedenter), wozu er die Rückfrage stellt: Was habt ihr für eine Gotteslehre? Kennt ihr „Älteres“ (in welchem Sinn auch immer) als Gott?
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Exkurs 7
In q. 57,3 gibt er dann leider jenem Naturalismus Raum, welcher behauptet, das Naturrecht sei „uns und den übrigen Tieren gemeinsam“ (so 57,3 c.). Dass Zivilisationen auch höher organisiert sein können und die Sozialität viel weiter, über ganze Staaten (und heute sogar noch weiter) ausdehnen, wird ausgeblendet, und zwar nachhaltig: Wer Insekten-„Staaten“ für Staaten hält, kommt nicht leicht auf den Gesellschaftsvertrag. – Ein anderer Gedanke, der in q. 57,1 ad 3 anklingt, wäre hingegen nachdenkenswert gewesen: „Das göttliche Gesetzt (lex divina) wird nicht eigentlich „Recht“ (ius) genannt, sondern fas („Spruch“, heilige Pflicht). Über ius findet sich in der Summa sonst nicht mehr viel. Immerhin gibt STh. 1-II 71,6 ad 4 eine Definition von ius naturale: Dieses bestehe in lege aeterna (wie gehabt) sowie, zweitens, in naturali iudicatorio rationis humanae – „im natürlichen Urteilsvermögen der menschlichen Vernunft“. Von diesem letzteren wird angenommen – auch im modernen Thomismus noch –, es reproduziere eine „Seinsordnung“ (Flückiger, G.Naturr. 452). – Und wenn Darwin von der Vielfalt der Welt mehr wahrgenommen hätte als Aristoteles und, was Seelisches betrifft, Sigmund Freud mehr als Platon? Der philosophisch-theologische Apriorismus hat sich schon zu Zeiten Pufendorfs dem Hinzukommen empirischer Einsichten verschlossen. Bertold BRECHTs Leben des Galilei zeigt es in einer unvergesslichen Szene (4) am Prozess gegen Galilei: Da verlangen die römischen Gelehrten von ihm, er solle ihnen a priori beweisen, dass es nötig sei, durch sein Fernrohr zu blicken. Als er das nicht kann, verurteilen sie ihn, weil er kein Wissenschaftler sei („Die Wissenschaft denkt nicht“, sagte ein Zeitgenosse Brechts). – Pufendorf, was ihn betrifft, schlug sich klar und mutig auf die Seite des Empirismus und reklamierte für diesen eine eigene erkenntnistheoretische Basis, ohne Seinsbegriffe. Die von ihm beanspruchten Evidenzen, so sagt er selbst, sind nicht das Gleiche wie die von der Scholastik angenommenen propositiones natura notae (Eris 187; dazu unten Exkurs 11). – Thomas-Stellen wie die eben zitierte haben zu dem Eindruck geführt, das Naturrecht im Sinne des Aquinaten sei ein reines Vernunftrecht (so Link, KRG § 3,9). Zwar setzt es gerne ein bei der ratio des Menschen; doch worauf es hinausläuft, ist eine Theologie der Gnade. Da gilt dann, was Paulus vom Wirken der Christen sagt: „Gott ist es, der beides in euch bewirkt, sowohl das Wollen wie das Vollbringen“ (Phil 2,13).¹⁶³ In 2-II q. 8,1 c beruft sich Thomas, wo es um die Erkenntnis des Guten und Wahren geht, auf „übernatürliche Erleuchtung“ (lumen supernaturale) durch den Heiligen Geist.¹⁶⁴ Über dessen Eingebungen hat nun aber die menschliche Vernunft kein Urteil; dieses liegt – so müssen wir nun folgern und so war die Praxis – beim Klerus, beim Lehramt. So be-
Diese Stelle wird bei Thomas zwar nicht hier zitiert, wohl aber in I 83,1,3, wo er das liberum arbitrium gegen diesen Satz hochhält sowie in I 105,4,1 und ad 1 in der Behauptung, wo Gott den menschlichen Willen „bewege“, sei das kein Zwang (voluntas non cogitur, eine analytische Wahrheit), sondern „er gibt ihr (der voluntas) ihre eigene Neigung“. Eingebungen denkt man sich zwangsfrei, als Einfälle. In q. 91,1 und 93,1 bildet Thomas hierfür den Hilfsbegriff der irradiatio. Mikat 494: „Die Weitergabe des Ewigen in diese Welt hinein geschieht nicht kraft der diskursiven Vernunft, sondern nach Art einer ,Einstrahlung‘, die bezeichnenderweise nicht weiter erläutert wird.“ – Vernunftrecht?
Naturrecht und Offenbarung
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schaffen ist seither – in Horst DREIERs Worten¹⁶⁵ – die Naturrechtslehre der RömischKatholischen Kirche, die sich seit jeher „kraft der Gnadengabe der Erleuchtung“ dazu befähigt sieht, das ewige Sittengesetz im allgemeinen und den Dekalog im besonderen aktualisierend und konkretisierend zu deuten – um dann in „kreativ-hermeneutischer“ Auslegung aus dem sechsten Gebot („Du sollst nicht ehebrechen“) zwingend das Verbot der Selbstbefriedigung, der Pornographie, der Prostitution und der homosexuellen Handlungen (…) zu folgern.
In diesem Beispiel sind zwar keine besonderen Kulturgüter angesprochen, aber doch ein gravierendes Problem der Zweiten und Dritten Welt, an welchem der römisch-katholische Klerus sich nur in Form seiner verordneten Kinderlosigkeit beteiligt. Die RömischKatholische Kirche beansprucht, inspiriert sagen zu können, was Natur ist – und zwingt doch ihre Kleriker zu einer so unnatürlichen Lebensweise wie dem Zölibat.¹⁶⁶ Vor allem ist aus diesem Ansatz nicht ersichtlich, wie ein Sollen abgeleitet werden soll aus einem Sein. Übertragungen von kosmischen Strukturen oder auch nur von Gegebenheiten des Tierreichs auf den Menschen sind alles andere als evident; sie wären jedenfalls begründungsbedürftig. Wir Menschen essen doch auch nicht nur, um uns zu ernähren! Gar manches dient beim Menschen der Geselligkeit und nicht nur seinem animalischen oder gar vegetabilen Primärzweck. Hingegen: Die Natur des Menschen in ihrer Bedürftigkeit, aber auch ihren Entfaltungsmöglichkeiten ist bei Pufendorf und Schülern hinreichende Begründung für das Naturrecht.¹⁶⁷ So kommt er ja völlig nackt auf die Welt, ohne dass ihm dann noch eine Kleidung wüchse. Will man derlei Dinge in all ihrer Fülle einer „Seinsordnung“ zuschreiben, so ist diese doch noch keine „Sollensordnung“ (Elert, Ethos 111 f; s.o. Exkurs 1). Aber vielleicht haben wir all die zitierten Thomas-Passagen überfordert, als wir sie als Rechtsbegründung nehmen wollten: So weit reicht, sieht man sie im Kontext, ihr Anspruch nicht. Ihr Ort in der Summa ist bescheidener; die Lehre von der lex Dei ist bei Thomas, wie gesagt, Tugendlehre. Sie setzt ein in 1-II q. 90; das ist der direkte Anschluss an die Sündenlehre. Nicht Jurisprudenz ist es, was darauf folgt, auch nicht Politik, sondern Ethik in der Form einer Tugendlehre. Ähnlich beschaffen ist ja sogar seine Glaubenslehre (2-II q. 5, q. 6 u. ö.): Der Glaube ist ihm ein habitus im Spannungsfeld
Dreier, Grundgesetz 105. Er zitiert hierzu aus Messner, Naturrecht, 7. Aufl. 1984, 546 ff. Dessen Probleme s. # 141 (zu Mt 19). Dies sei gesagt in Antwort auf W. WINKLER: Die Biologie der Zehn Gebote und die Natur des Menschen. Wissen und Glauben im Widerstreit, 2014 (ohne diesen Untertitel bereits 1971 erschienen). Hier ist kein Widerstreit, wenn man nicht verengt nach Geboten fragt, deren Wortlaut nur von fragwürdiger Ewigkeit sein kann, sondern in weiterem Sinn: nach Rechten. Winkler vermag aus biologischem Blickwinkel das Unzureichende früherer – damit auch religiöser – Rechtsordnungen zu kritisieren und meint das als Religionskritik überhaupt. Schon Grotius hätte ihm darauf antworten können, Pufendorf und Wolff nicht weniger, indem sie den Bereich der Religion und insbesondere die Kompetenz der Priester in die Grenzen ihres – zwar göttlichen, damit aber nicht unbegrenzten – Amtes verweisen.
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Exkurs 7
zwischen Tugend und Laster.¹⁶⁸ Die Reformation hingegen, auch wenn sie zunächst ausgelöst war durch Nebenfragen (Bußsakrament, Fegefeuer), besteht in ihrem Kern in der Bekämpfung genau dieser These vom anzuerziehenden Habitus. Der Glaube ist ihr keine Tugend; das Recht auch nicht. Beides sind ihr eigenständige Bereiche menschlichen Verhaltens und Erlebens. Von religio hat Thomas in 2-II einen sehr spezialisierten Begriff (q. 186 – 189): Er meint Ordensleute, also einen status, definiert durch Gelübde. Heutiges Deutsch ist von diesem Sprachgebrauch abgerückt: Religion ist ihr – wie SCHLEIERMACHER dargelegt hat – schon im Prinzip etwas anderes als Tugend oder Moral. Für das Recht gilt das aber auch, und zwar schon seit der Abkehr von der Scholastik, wie Luther, Grotius und Pufendorf sie vorgenommen haben. – Nicht ausgeschöpft sind bei diesem Durchgang der relevantesten Passagen diejenigen Quaestionen am Anfang von Teil II, die eine Handlungstheorie bieten, ausgehend vom Begriff der Freiwilligkeit (1-II, q. 6); es folgt der der Handlung (actus, q. 7), des Willens (voluntas, q. 8) und seiner Antriebs (hier schon: motivum; q. 9), mit vielen weiteren Verästelungen. Wir werden in Exkurs 12 auf Neubegründungen der Handlungstheorie in der Neuzeit eingehen; sie sind der Naturrechtslehre in dem Maße zugute gekommen, wie sie sich von der Ontologie lösten, indem sie sie ersetzten. Im Rückblick ist aus dem Blickwinkel der Rechtsgeschichte zu sagen: Das Recht eine Ausübung von Tugend sein zu lassen, war eine personalisierende Engführung, so wie christliche Theologie ihre gesellschaftliche Relevanz langezeit nicht ausdrücklich reflektiert hat. Auch pflegten die Scholastiker zwar einen hochgradigen Intellektualismus, dabei aber keinen Rationalismus. Die Vernunft allein darf bei ihnen gerade in den wichtigsten Dingen nicht urteilen; da muss es dann eine erleuchtete, geleitete Vernunft sein. Immerhin aber – das sei Thomas zugute gehalten – wird bei ihm die Gerechtigkeit und damit das Recht nicht aus der Macht abgeleitet (es sei denn die Übermacht Gottes). Was er jedoch abstützen möchte und wovon die Reformation Abstand nahm, ist das Deutungsmonopol der Kirche. Gelegentliche Anerkennungen von Erkenntnisquellen auch der Heiden, wie sie sich bei Thomas durchaus finden und in dem Satz „vielen Heiden ist Offenbarung widerfahren“ gipfeln,¹⁶⁹ sind – trotz ihrer positiven Aufnahme im Zweiten Vatikanischen Konzil – langezeit ohne Auswirkung geblieben auf die Weisungsbefugnis, welche die Römisch-Katholische Kirche auf die Moral- und Rechtsauffassungen ihrer Glieder beansprucht. –
Auch das Naturrecht sollte in der Scholastik begründet werden aus gewissen habitus intellectuales als einer vorsprachlichen Rechtskenntnis, eine Lehre, die Puf., Eris 40 f als unbrauchbar und unbeweisbar ablehnt. Pieper, Thomas 202 nach STh. 2-II 2,7, ad 3 (multis gentilium facta fuit revelatio) mit weiteren Belegen auf S. 240. – Übrigens könnte die Anerkennung eines ius gentium als offenbarungsträchtig auch nach hinten führen: Die Überzeugung von der „natürlichen“ und darum rechtlichen Ungleichheit der Menschen und der Völker, die sich von der Antike bis in die Romantik und schließlich den Rassismus hielt, war lange Zeit mehrheitsfähig, und nur eine spezifisch naturrechtliche Argumentation seitens Intellektueller hat sie entwurzelt.
Naturrecht und Offenbarung
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Welches ist heute die Position der Römisch-Katholischen Kirche in dieser Sache? Was beansprucht sie konkret als „göttliches Recht“? Hierüber informiert in wünschenswerter Klarheit der Sammelband von Graulich/Weimann, Ewige Ordnung in sich verändernder Gesellschaft? (2018). Dies ist ein Durchgang durch die Disziplinen der römisch-katholischen Theologie im Hinblick auf die gestellte Frage, und die Antworten entsprechen einem sehr ’weichgespülten’ Thomismus. Thomas SÖDING sagt dort, heute sei offen „was eigentlich als ius divinum zu gelten hat. Es werden Topoi wie die gleiche Würde aller Getauften (can. 202 CIC), das kirchliche Amt einschließlich des Petrusprimates (can. 330 CIC) und die Unauflöslichkeit der Ehe genannt (can. 1141 CIC)“ – so S. 71 f (vgl. # 363). Seine eigene Antwort als Neutestamentler wird unten zu Jak 2 (# 363) zu referieren sein. Markus GRAULICH selbst statuiert für die Kanonistik das Prinzip (116): Im Recht der Kirche wird das ius divinum, sei es als Offenbarungsrecht (ius divinum positivum), sei es als Naturrecht (ius divinum naturale) vorausgesetzt und gilt als vor-positive Grundlage der kirchlichen Rechtsordnung, welcher die positiven Rechtsnormen nicht widersprechen dürfen.
Ein Anspruch auf die Gesamtgesellschaft ist also nicht gemeint (was das Bestreben einer Einflussnahme in der politischen Praxis aber nicht ausschließt). Was das Problem der Geschichtlichkeit jeder Rechtserkenntnis und -setzung angeht, Thema des Bandes insgesamt,¹⁷⁰ so sagt Ralph WEIMANN (131) zum Problem der „veränderten Lebensverhältnisse des modernen Menschen“: Tatsächlich ist früher vieles dem göttlichen Recht zugeordnet worden, was es tatsächlich nicht war, z. B. die Überordnung des Mannes über die Frau. (…) Man mag urteilen, das Sein müsse als Gewordensein erkannt werden (…). Aber deshalb ist die Figur [der Begriff; F. S.] eines göttlichen Rechts, das in allem kulturellen Wandel gültig bleibt, nicht obsolet, im Gegenteil.
Je schwieriger die Antwort wird, umso dringender die Frage.Weimann fragt „nach jenen unwandelbaren Prinzipien, die Wandel ermöglichen, ja anstoßen“ (132). Mit diesen beiden Verben ist er in der Veränderlichkeit angelangt; nicht offenbarte (und damit für Menschen vor-positive) Rechtssätze werden gesucht, sondern eine Begründung von Freiheit im Sinne einer Entfaltung von Verhaltensmöglichkeiten innerhalb konkreter Gesellschaften. Es geht um „Autonomie im christlichen Sinn als Schlüssel zum ius divinum“ (137). Indem Gott den Menschen Freiheit lässt, lässt er ihnen auch die Aufgabe der Gottsuche (Zweites Vaticanum, Gaudium et spes 17). Dass solche Autonomie, die Freiheit eines Christenmenschen, sich einer Offenbarung in der Zeit verdankt, wird nun aber ausgeblendet, da das gesuchte Gottesrecht ja zugleich Naturrecht sein soll. Weimann nimmt den Weg über die Schöpfungstheologie, Ps 148,5 f zitierend (Gott „gebot, und sie waren erschaffen…“): Zu der englischsprachigen Debatte s. J. HAHN: Church Law in Modernity. Toward a Theory of Canon Law between Nature and Culture (Law and Christianity), 2019, und zahlreiche andere Bände in dieser Reihe. Man wünscht sich eine Dynamisierung des Kirchenrechts, angefangen von seiner (angeblichen) Naturrechts-Grundlage.
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Exkurs 7
Die Offenbarung Gottes [aus der Natur] erweist sich gerade dadurch als barmherzig, dass sie einen Weg eröffnet [zur Gotteserkenntnis] und dazu Wegweiser vorgibt [sc. die biblischen Gesetzessammlungen], den Urgrund des ius divinum. ¹⁷¹
So Weimann 140 f (Zusätze aus dem Kontext: F. S.). Für den Rekurs auf „die biblischen Gesetzessammlungen“ zitiert er Papst Franziskus, Enzyklika Laudato si 68. Söding nennt sie uns im selben Band (s.u. # 363); hier liegt ein Rückbezug auf heutige alttestamentliche Exegese. Die Haustafeln des Neuen Testaments (auch das sind Sammlungen von Verhaltensregeln) könnten auf den Rang solcher Grundsätzlichkeit nicht gehoben werden. Da muss denn, damit diese ganze Theorie die Kirche als solche überhaupt etwas angeht, eine Berufung auf Jesus Christus kommen. Mit dieser beginnt folgerichtig der Beitrag des Kanonisten Thomas MECKEL:¹⁷² „Jesus Christus [ist] nicht nur als Erlöser zu den Menschen gesandt worden, sondern auch als Gesetzgeber“ (209). Dieser aus einer Veröffentlichung d.J. 1951 zitierte Lehrsatz hat aber, so Meckel weiter, seine Selbstverständlichkeit mittlerweile verloren, „da im CIC/1917 und CIC/1983 Abweichungen bezüglich des Ius divinum festzustellen sind“ – z. B. das „aufschiebende Ehehindernis der Bekenntnisverschiedenheit“, das in can. 1060 von 1917 noch „göttlichen Rechts“ war.¹⁷³ Daran knüpft Meckel für die Zukunft die Aufgabe (210), es müsse „das Verhältnis von Unveränderlichkeit und Veränderlichkeit bestimt werden.“ Diese Aufgabe ist im deutschen Sprachraum seit 1962 von Karl RAHNER aufgegriffen worden (223); er begründete bzw. forderte für das kanonische Recht eine „Wesensidentität in Gestaltwandel“ (223 f ); dabei unterscheidet er „wesensnotwendige“ von „wesensgemäßen“ (und insofern also freieren) Entscheidungen kirchlicher Rechtssetzung: Eine wesensgemäße geschichtliche Entscheidung ist irreversibel, rechtschaffend und sie kann „dann als ius divinum betrachtet werden, wenn sie in der Zeit der Urkirche erfolgte“ –
so zitiert Meckel (224) Rahners Kriterium.¹⁷⁴ Hierbei gibt es für Rahner „auch in nachapostolischer Zeit wesensgemäße, irreversible und rechtschaffende Entscheidungen“. Beispiele hierzu nennt Meckel allerdings nicht. Als Papst Johannes Paul II. Frauen für
Weimann zitiert in einer Fußnote zu dieser Stelle O. DE BERTOLIS, L’ellisse giuridica (Biblioteca di Lex Naturalis, 8), 2011, 113 – 118, mit einer Reihe von Definitionen, die alles Weitere verwirren müssen, z. B.: „Dabei ist der Unterschied zwischen ius und lex zu berücksichtigen, denn lex ist die Regel für ein Verhalten, während das [sic] ius ein bestimmtes Verhalten bezeichnet.“ Als wäre lex der allgemeinere Begriff und ius der speziellere! Voller Titel: „Ius divinum – Befund und Begrü ndungen einer Begrü ndungsfigur [sic] kirchlichen Rechts“. Demnach geht es um eine Begründungsbegründung. Sie wird aber nicht, wie bei den Scholastikern, im Sein (das auch das Gute wäre usw.) gesucht. Anderes Beispiel (ebd. 213 f ): Der can. 1008 über das Weihesakrament ist von Papst Benedikt XVI. in einem Motu proprio geändert worden: aus ex Christi institutione (so can. 948 alt) machte er ex divina institutione aus der Einsicht heraus, dass „Christus Priesteramt und Diakonat nicht direkt eingesetzt“ habe. Das betrifft unsere # 137 (vgl. # 136 zur Situation) und # 206. Vgl. # 343 zur „Apostolizität“, wie auch evangelische Kirchen sie beanspruchen.
Naturrecht und Offenbarung
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alle Zeiten aus den höheren Weihen ausschloss (# 283), dürfte er eine solche beansprucht und damit dem ökumenischen Zusammenwachsen der Kirchen, was immer der CIC dazu sagt (s.u.), eine ewige Grenze gesetzt haben. Andere Entwürfe, wie das kanonische Recht in Fluss gebracht werden kann (224 ff ), arbeiten z.T. mit einer Unterscheidung von primärem und sekundärem göttlichem Recht. Auf S. 228 f zitiert Meckel eine Definition des auf diesem Gebiet prominenten Hellmuth PREE: Unwandelbar im Sinne von bleibend maßgeblich ist allein die dahinterstehende göttliche Wahrheit, die von der Rechtsnorm nur annäherungsweise und unvollkommen erreicht wird.
„Das Ius divinum selbst verändert sich nicht substantiell, nur akzidentiell“ (sic), sagt Meckel (229) weiter, und zwar – er zitiert abermals Pree – „im Hinblick auf die Bedingtheit der menschlichen Erkenntnis und der Lebensumstände.“ Zwischen Ius divinum und Ius humanum bestehe – immer noch Pree zufolge – „ein fließender Übergang“. Da kann man nun mit Heraklit sagen: Alles fließt!, was Meckel so rechtfertigt: Die Normen des CIC „haben am inkarnatorischen Charakter der Kirche teil“.¹⁷⁵ Fragt man, welche Verhaltensnormen für katholische Christinnen und Christen im jetzigen CIC inhaltlich gegeben sind, so verzeichnet Meckel (ebd. 210 – 216) als ius divinum positivum Folgendes: can. 204 § 1: die Gemeinschaft der Gläubigen; nach can. 113 besitzt „die Katholische Kirche und der Apostolische Stuhl (…) aufgrund göttlicher Anordnung den Charakter einer moralischen [= juristischen] Person; nach can. 203 i.V.m. 96, 207 § 1 und 208 – 223 die Pflichte und Rechten der Gläubigen, wobei can. 224– 231 solche der Laien hinzufügt, can. 273 – 289 solche der Kleriker; can. 375: Bischöfe kommen „kraft göttlicher Einsetzung durch den Heiligen Geist“ ins Amt; nach can. 840 sind „die Sakramente des Neuen Bundes (…) von Christus dem Herrn eingesetzt“;¹⁷⁶ nach can. 1055 § 1 ist die Ehe zwischen Getauften ein Sakrament, „von Christus dem Herrn gestiftet“; nach can. 1056, 1085 § 1, 1134 und 1141 ist sie unauflöslich; „Das paulinische Privileg [1Kor 7,15: der ungläubige Ehepartner darf sich scheiden lassen] gemäß can. 1143 gründet (…) im Ius divinum positivum“; can. 755 § 1: Die Katholische Kirche ist „nach Christi Willen“ [Joh 17,21] gehalten, die Einheit aller Christen anzustreben;
So mit Verweis auf das Zweite Vaticanum, Lumen gentium 8. Solche Redeweise (die übrigens auch von jüdischen Autoren beansprucht wird, für das Erwählte Volk) entkleidet das et incarnatus est seiner historischen Einmaligkeit. Vgl. CA 28, den Artikel über den Unterschied der beiden „Regimente“ Gottes bzw. der beiden „Gewalten“ auf Erden, der kirchlichen und der politischen. Exegetisch ist zu beachten: „Christus der Herr“ meint den Christus der Kirche (den „himmlischen“), nicht nur den historischen Jesus.
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Exkurs 7
can. 1249: Alle Christen sind verpflichtet zum Bußetun;¹⁷⁷ can. 232 die Ausbildung der Kleriker; can. 362 das Recht des Papstes, sich durch Gesandte (legati [# 43]) vertreten zu lassen; can. 747 § 1 „die Freiheit kirchlicher Verkündigung“; can. 1311 „das kirchliche Strafrecht“;¹⁷⁸ can. 1401 „die kirchliche Gerichtsbarkeit“; can. 1254 § 1; can. 1260 „die Vermögens- und Abgabenhoheit der Kirche“.¹⁷⁹ Eine Reihe weiterer Bestimmungen (ebd. 216) haben ihre Begründung „aus dem Wesen der Kirche“. – Es folgen (217– 221) „Normen des Ius divinum naturale“: can. 212 § 3 die freie Meinungsäußerung innerhalb der Kirche;¹⁸⁰ can. 218 die Forschungsfreiheit der Theologie; can. 215 die „Koalitionsfreiheit der Gläubigen“;¹⁸¹ can. 219 die „freie Wahl des Lebensstandes“ [Personenstandes]; dazu gehört auch: can. 1058 das ius connubii; ¹⁸² can. 221 das Recht der Gläubigen, ihre Rechte gegenüber der Kirche geltend zu machen;¹⁸³ can. 226, 793, 1136 die „Pflicht zur Erziehung der Nachkommen“; can. 217 das „Recht des Gläubigen auf christliche Erziehung“; can. 748 Religionsfreiheit (aber nicht als negative Religionsfreiheit);¹⁸⁴
Wovon, wird zunächst nicht gesagt, sondern Riten der Selbstverleugnung, Fasten und Enthaltsamkeit zur Pflicht gemacht. Meckel bezieht diese Vorschrift auf Mk 1,15. Nativum et proprium Ecclesiae ius est christifideles poenalibus sanctionibus coercendi qui delicta commiserint. An letzterer Stelle (216 Anm. 37) kommentiert Meckel den in CIC can. 362, 747 § 1, 1260 und 1311 § 1 begegnenden Begriff eines ius nativum der Römischen Kirche als eines ius exclusivum, also unbeeinflussbar von außen, und a civili potestate independens. In can. 1260 erlaubt sich die Römisch-Katholische Kirche gegenüber ihren Gliedern schlicht alles: Ecclesiae nativum ius est exigendi a christifidelibus, quae ad fines sibi proprios sint necessaria. So auch die offizielle Übersetzung: „Die Kirche hat das angeborene Recht, von den Gläubigen zu fordern, was für die ihr eigenen Zwecke notwendig ist.“ Offizieller dt. Text: „Entsprechend ihrem Wissen, ihrer Zuständigkeit und ihrer hervorragenden Stellung haben sie [§ 2: die Gläubigen] das Recht und bisweilen sogar die Pflicht, ihre Meinung in dem, was das Wohl der Kirche angeht, den geistlichen Hirten mitzuteilen“. Dt.: „…Vereinigungen für Zwecke der Caritas oder der Frömmigkeit (…) zu gründen (…) und Versammlungen abzuhalten“. Dt: „Alle können die Ehe schließen, die rechtlich nicht daran gehindert werden.“ Da dürfte das jeweilige staatliche Recht mitgemeint sein, denn der Folgecanon lautet: „Die Ehe von Katholiken, auch wenn nur ein Partner katholisch ist, richtet sich nicht allein nach dem göttlichen, sondern auch nach dem kirchlichen Recht, unbeschadet der Zuständigkeit der weltlichen Gewalt hinsichtlich der rein bürgerlichen Wirkungen dieser Ehe.“ Man fragt sich, wieso das (in vier Unterparagraphen) extra bestimmt werden musste. Hatte die Römisch-Katholische Kirche, die civitas perfecta (# 280), sich bis dahin nicht als Rechtsstaat verstanden? Gottsuche ist Pflicht (§ 1); nur darf zum katholischen Glauben niemand gezwungen werden (§ 2).
Naturrecht und Offenbarung
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can. 231 § 2 das Recht der für die Kirche arbeitenden Laien auf angemessene Vergütung;¹⁸⁵ can. 222 § 2 die „Pflicht zur Förderung der sozialen Gerechtigkeit und der Unterstützung der Armen“; can. 1059 eine Ehe, woran ein Katholik beteiligt ist, richtet sich „nicht allein nach dem göttlichen, sondern auch nach dem kirchlichen Recht,¹⁸⁶ unbeschadet der Zuständigkeit der weltlichen Gewalt hinsichtlich der rein bürgerlichen Wirkungen der Ehe“; can. 1057 der Konsens als Wirkursache der Ehe;¹⁸⁷ auch die can. 1095 – 1103 über etwaige Ehekonsensmängel haben ein „naturrechtliches Substrat“; can. 1095 bestimmt über Eheschließungs- bzw. -führungsunfähigkeit. Es folgen weitere Verästelungen des Eherechts (bis S. 221); z. B. ist lt. can. 1103 das über Ehekonsensmangel Gesagte auch auf Nichtkatholiken anzwenden (Ausschaltung von Zwang), usw. Angesichts des Überwiegens von Ehebestimmungen, welche Meckel sehr wohl bemerkt, fügt er noch eine Bemerkung hinzu (231 f ), die aufhorchen lässt: Hier liegt bei fortschreitenden Erkenntnissen, etwa im humanwissenschaftlichen Bereich und der Anthropologie, die Aufgabe und Notwendigkeit der Weiterentwicklung der Normen, sodass diese nicht in metaphysische Erstarrung münden.
An diesem Punkt bewegt sich diese ganze Theorie in Richtung auf eine Erkenntnis der Natur des Menschen, wie die evangelischen Naturrechtler sie längst zugrunde legten. Theologisch bemerkenswert ist der Übergang von einstiger Seins- und Wesensmetaphysik in Betrachtungen heilsgeschichtlicher Art, wie sie das Novum des Zweiten Vaticanum ausmachen. Die Abkehr von der Scholastik, wenn auch unausgesprochen, ist nunmehr radikal: Man traut sich keine Definitionen mehr zu und keine Deduktionen; das oben zitierte, auf das Decretum Gratiani zurückgehende Grobschema muss reichen. Alle an diesem Buch beteiligten Disziplinen arbeiten mit gleitenden Übergängen. So weit dieser Überblick über ius divinum im heutigen Katholizismus. Zuletzt waren es Normen des ius divinum naturale, für welches – dem Begriff nach – eine kirchliche Vermittlung nicht einmal nötig wäre, aber doch für hilfreich gilt. In Bezug auf die Akzeptanz des CIC in der Lebenspraxis des Laienvolks erfahren wir an anderer Stelle:¹⁸⁸ Lat. honesta remuneratio. In Übernahme einer biblischen Unschärfe (# 10) sagt man „Belohnung“: So etwas geht nicht nach Tarif. Mit „Entlohnung“ wäre es anders. Lat.: regitur iure non solum divino, sed etiam canonico. Demnach gibt es in der Römisch-Katholischen Kirche auch ein rein positives Recht, änderbar weil ohne göttlichen Anspruch – eine kircheninterne Zwei-Reiche-Lehre! Und nicht erst der Geschlechtsverkehr; anders (jüdisch und auch sonst gelegentlich) in # 121. U. BROSI: Recht, Strukturen, Freiräume. Kirchenrecht (Studiengang Theologie 9), 2013, 19 (Hinweis Ch. Grethlein, Münster).
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Exkurs 7
Das kanonische Recht ist mangels Durchsetzbarkeit dabei, die soziale Wirksamkeit und damit seine Berechtigung zu verlieren, Recht genannt zu werden. Man wird irgendwann besser von einer Kirchenordnung sprechen, so wie dies bei den evangelischen Kirchen bereits der Fall ist.
Das gilt natürlich nicht für das kircheneigene Dienstrecht, das schon manche Laufbahn bestimmt oder auch beendet hat. Ihm gehört die Zölibatsregel sowie der Ausschluss der Frauen vom Priesterdienst an – beides, wenn man will, biblisch (# 141; # 299) –, wobei letztere Bestimmung für einen Arbeitgeber unserer Tage grundgesetzwidrig wäre, wäre sie nicht schon weit älter als das GG.
Ius gentium und Natur der Sache
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Exkurs 8: Ius gentium und Natur der Sache Auch eine Art von Rechtsbegründung ist, was die alten Römer als ius gentium bezeichneten. Das ist nicht so sehr „Völkerrecht“ in unserem Sinne, welches auf Vereinbarungen beruht, sondern es sind Rechtsbräuche, von denen man beobachtet hat, dass sie überall, d. h. rings um Roms Einfluss, ‘praktisch’ gleich sind. Man sagt: Völkergemeinrecht. Die maßgebliche Monographie hierzu ist die von Max KASER, Ius gentium. Gemäß Ulpian D. 1,1,1,2– 6 unterscheidet er zwischen ius civile (das bürgerliche, positive Recht der Römer seit den Zwölf Tafeln), ius gentium (was auch außerhalb gilt, mehr oder weniger) und ius naturale (Naturrecht, ein philosophisches Ideal).¹⁸⁹ Martin Schermaier definierte oben (B 5.3.1) ius gentium als „das Recht, die Rechtssätze bzw. Prinzipien, von denen man glaubte, das sie von allen kultivierten Menschen beachtet würden (vgl. Hermog. D. 1,1,5; Gaius D. 1,1,9).“ Damit – so Schermaier weiter – „werden verschiedene Entwicklungen des prätorischen Rechts gerechtfertigt (z. B. die Anerkennung bestimmter formloser Verträge).“ Cicero, Off. 3,69 lehrt, nicht alles Zivilrecht sei ius gentium und könne es auch nicht sein; alles ius gentium aber solle (debet) auch Zivilrecht sein. Das ist, wenn man es weiterdenkt, die Aufforderung zur Angleichung der Rechtsbestimmungen unter benachbarten Gesellschaften. Doch beklagt er dann im Folgenden, wie schwer es sei, einen in Rom so gängigen Begriff wie bona fides (Treu und Glaube, # 38) zu definieren. [Für den Ausdruck ius gentium unterscheidet man mehrere Bedeutungsschichten. Im Hinblick auf die archaische Zeit handelt es sich um das „Recht der Siedlungen“, also der protorömischen, agrarisch geprägten Gemeinschaften, die durch ein Recht miteinander verbunden waren, das u. a. Wirtschaftsbeziehungen, exogame Eheschließungen und die Bewältigung von Konflikten regelte. Noch im Prinzipat führten sich die patrizischen gentes auf diese Gemeinschaften zurück; hieran knüpfte ein Gentilenerbrecht an. – Seit der hellenistischen Zeit bezeichnete man als ius gentium dasjenige Recht, das (aus römischer Sicht) bei allen Völkern galt. Die moderne deutsche Digestenübersetzung verwendet dafür durchgehend den Ausdruck „Völkergemeinrecht“. Die vorklassischen Juristen der republikanischen Zeit führten das ius gentium auf Naturrechtsprinzipien zurück (Cicero, Off. 3,5,23). Die klassischen Juristen seit dem 1. Jh. v.Chr. verstanden es als Zivilisationsrecht; sie verbanden es mit der Vorstellung, dass man sich überall jeweils unter den Bedingungen der Zivilisation auf diese Regelungen verständigt habe. – Neben dem ius gentium gab es jeweils das der einzelnen Gemeinschaft besondere Recht (proprium ius civile). Adressaten des Rechts waren nach vorklassischer und klassischer Auffassung jeweils Menschen, also nicht Völker oder Staaten. Dass der Ausdruck ius
Cicero, Tusc. 1,30: Consensio omnium gentium lex naturae putanda est war noch zu einfach gewesen. Wie will man solch einen großen Konsens feststellen? Besser war, ius gentium eine weit gehende Vermutung sein zu lassen, Generalisierung von Erfahrungen, und ius naturae ein Ergebnis zusätzlicher kritischer Reflexion und wissenschaftlichen Dialogs.
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Exkurs 8
gentium in erster Linie für Völkerrecht verwendet wird, geht erst auf die frühe Neuzeit zurück. Autoren des säkularen Naturrechts wie Grotius, Pufendorf, Thomasius und Wolff verwenden ihn in diesem Sinne. – M. A.] Hinzu kommt bei dem, was wir heute „Völkerrecht“ nennen, die Vereinbarung in Form internationaler Verträge (man sagt: Abkommen; Wolff, JN, praefatio b3 r: ius gentium voluntarium). Der deutsche Ausdruck „Völkergemeinrecht“ gibt die römische Meinung wieder, dies seien die allen (oder wenigstens den benachbarten) Völkern gemeinsamen Rechtsauffassungen.¹⁹⁰ Das waren Verhaltensregeln und Riten, welche z. B. die Modalitäten der Eröffnung oder Beendigung von Kriegen betrafen oder den Schutz der Boten (# 11); zum anderen Teil war es Privatrecht, das z. B. Personenstandsfragen oder den Handel zwischen Römern und Nichtrömern regelte. Wenn man übersetzt: „Recht für die Völker“, ist man nahe bei Mi 4,2 und Jes 2,3 („Von Zion wird Weisung ausgehen…“), einem Spruch, der hebräisch nicht selten heutige Synagogen ziert. Angesichts dessen kann man sogar sagen: Rom hat diesen Gedanken konsequenter umgesetzt, als Jerusalem oder die Synagogen es taten – freilich im Zusammenhang mit militärischer Machtentfaltung. Es bleibt das Verdienst neuzeitlicher Juristen wie Francicso DE VITORIA, zu erklären, „das Recht der Völker müsse als ius inter gentes verstanden werden und (…) auch auf die Rechtsbeziehungen zwischen den einzelnen Völkern Anwendung finden“ (Schlosser, NERG 8 § 38). Jedenfalls ist der Entwicklung des römischen Rechts die Kenntnis auswärtiger Verhältnisse zugute gekommen. „Wissen ist Macht“: Allein schon als Herrschaftsmittel schätzten Roms Senatoren die vielfältigen Informationen, welche schreibselige Griechen als Ethnographen und Historiker ihnen vor die Tür brachten. Als Lucullus, dessen Gaben als Intellektueller bei Cicero, Acad. 2,2– 4 gewürdigt werden, mit einem Feldzug im Osten beauftragt wurde, nützte er die Dauer seiner Seefahrt „teils zum Ausfragen von Erfahrenen, teils zum Lesen von Geschichtsbüchern“, und er „kam an als gemachter imperator, der er doch aus Rom aufgebrochen war ohne militärische Kenntnisse (rei militaris rudis)“ (ebd. 2,2).¹⁹¹ Mitunter sind Lücken der römischen Gesetzgebung aus Wahrnehmungen des Externen ausgefüllt worden; das freilich nicht gerade in Judäa. Es wird kein Fall zu nennen sein, wo der Nomos der Juden für Roms Juristen eine Rolle gespielt hätte – obwohl jüdisches Brauchtum ja in Umrissen überall bekannt war und die Lehren Moses, als Ethik geboten, in den Synagogen durch Lesung und Predigt (vgl. Apg 15,21) auch einem paganen Publikum, den sog. Gottesfürchtigen (# 97), zu Ohren kamen, das auch in Rom.
Kaser a.a.O. 6 bezeichnet mit Otto Lenel das ius gentium als „die Gesamtheit derjenigen römischen Rechtsinstitute, die sie [die Römer] in dem Recht der anderen antiken Völker (der gentes, griechisch genē) übereinstimmend wiederfanden.“ Bei seiner Rückkehr von dort und von den Mithridatischen Kriegen brachte er die Kirsche nach Europa. Offenbar verstand er sich nicht nur aufs Verzehren von Gutem, sondern nicht weniger aufs Beschaffen.
Ius gentium und Natur der Sache
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Ein typisches Wort für Bezugnahmen auf das Völkergemeinrecht ist in den Quellen das Adverb naturaliter: „natürlich“ gelte das und das. Das liegt noch nicht auf der theoretischen Höhe des Naturrechts. Den Unterschied illustriert Pufendorf (JN&G 3,2,8) so: „Alle Menschen werden mit demselben Wort bezeichnet; doch nach ius gentium begannen sie, in dreierlei zu zerfallen: Freie, Sklaven und Freigelassene“. Manche glauben, sagt er weiter, diejenigen Völkerschaften, die nicht nach ihren Bräuchen leben, seien Barbaren „und man dürfe allein schon aus diesem Vorwand bei ihnen Invasion machen“. Das Naturrecht beginnt spätestens hier, sich dieser Auffassung entgegenzustellen. – Gleichfalls ohne metaphysischen Anspruch begegnet in der Rechtsbegründungsdiskussion des 20. Jh. der Terminus einer „Natur der Sache“. Gustav RADBRUCH ist hierfür der Klassiker.¹⁹² Auch Helmut COING wird dafür genannt,¹⁹³ in Die obersten Grundsätze des Rechts (1947) die „Natur des Menschen“ verbunden zu haben mit der „Natur der Sache“ – gemeint ist: der Rechtssache. Das liegt nahe bei dem eben umrissenen ius gentium; es meint nämlich die für bestimmte Rechtsgeschäfte – man muss sie nur erst einmal benannt haben – sich herausschälende, praktischste Regelung; z. B.: Was gehört zu einem Kauf, dass beide Seiten ihren Zweck erreichen? Wer haftet wofür, ab wann? usw. „Natur der Sache“ oder auch „Sachlogik“ meint ein induktives Erkennen aufgrund freiwilligen oder unfreiwilligen Erprobens; es meint „historisch-kontingente Erfahrungen, die wir teilen“ (Klaus Tanner).¹⁹⁴ Solches, unter Hinzunahme der geschichtlichen Dimension, d. h. einer breiten Kenntnis bisheriger Lösungen, war und bleibt das große Verdienst der barocken Naturrechtslehren. Entscheidend wichtig ist, dass man für die „Sache“ ein Wort findet; erst dadurch wird sie zu einer solchen.¹⁹⁵ Dem werden die Auslegungsbände des RKNT Rechnung tragen, indem sie zu jeder Perikope die Begriffe anführen – die modernen zunächst, dann aber auch die alten –, wodurch eine behandelbare Sache allererst entstand; da wird dann auch den Wandlungen der Sprache nachzugehen sein bis in unsere heutige, in der wir uns verständigen. Zur Begründung einer Rechtsnorm reicht es, wenn sie ihre Tauglichkeit zur Konfliktlösung hinreichend oft erwiesen hat. Aus gutem Grund hat Pufendorf ius gentium
Dazu s. Radbruch, Rechtsphilosophie 99 u. ö. Erik Wolfs Einleitung zu dieser Ausgabe des RadbruchTextes geht hierfür bis aufs Jahr 1932 zurück (69); Hegel hatte aber auch schon davon gesprochen (HWP 6, 602). Referate: Kühl (wie nächste Anm.) 614 f; Herr, Naturrecht I 205 – 208 (Lit.). Nach R. KÜHL: „Naturrecht V: Neuere Diskussion“, HWP 6 (1984), 609 – 632 (Lit.), hier 614 f, wo nicht weniger als 15 weitere Naturrechtsentwürfe der Nachkriegszeit referiert werden, die Kritiken und Ablehnungen nicht gerechnet. Zu Coing im Besonderen: Herr, Naturrecht I 202– 208. Tanner, „Die Rechtswissenschaft“ 480. Dieser Beitrag der Sprache ist es, der von idealistischer Philosophie überschätzt wird, als gehe er der Erfassung der Sache voraus. Dabei bedingen sich beide, und es ändern sich beide. Hier ist kein Platz für ewige Begriffe. Meist ist materiell oder ereignishaft schon etwas gegeben, und wir grenzen es nur ab durch „Setzung“ eines Begriffs, einer Definition. Mit Athens Sophisten können wir sagen: Begriffe gelten nur thesei, sollten aber dem physei Gegebenen möglichst genau entsprechen.
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Exkurs 8
mit im Titel und Wolff wenigstens im Vorwort¹⁹⁶ – nicht als Übersicht über alles Gegebene einschließlich der Verrücktheiten, sondern in Auswahl des Bewährten. Das haben alle hier verglichenen Naturrechtslehrer gemeinsam. Denn auch Wolff referiert nicht einfach Definitionen, wie sie „denkenden Wesen“ in den Sinn kommen müssen, sondern bringt, wie schon Gaius, diejenigen Begriffe bisherigen Rechtsdenkens¹⁹⁷ in ein System, die das widerspruchsfrei zulassen. Das logische Prinzip des Nicht-Widerspruchs ist befolgt; die Quelle der Erkenntnisse wird bei ihm jedoch kaum je offengelegt, sondern aus bisherigen Naturrechtswerken als bekannt vorausgesetzt. Auch das, was Leibniz eine „zureichende Begründung“ (raison suffisante) nannte, geht den Begriffsbildungen voraus und bedarf materieller Anstöße, nicht nur formaler Kontrolle. Mittlerweile haben die Erfolge der exakten Naturwissenschaften die Maßstäbe der Akzeptanz und der Plausibilität verändert, und Astronomie z. B. ist als seriöse Wissenschaft etabliert, auch wenn man selbst heute noch nicht weiß, ob die Zahl der Sterne gerade ist oder ungerade – so war eine von Ciceros „akademischen“ Vexierfragen, worin er seine Distanz zu empirischen Wissenschaften begründen wollte.¹⁹⁸ Was soll dieser Perfektionismus, der eine Erkenntnis durch Annäherung grundsätzlich ablehnt (Acad. 2,41 Ende)? Unsere Empirie ist Stückwerk und wird es bleiben, so sehr sie auch wächst; aber gerade damit können wir uns mit Paulus abfinden (1Kor 13,9).
JN, praefatio b2 v und v. a. B 3 v: Der Autor verspricht ein systema iuris naturae et gentium. So nennt der denn in JN, praefatio a3 v seine Arbeit eine iuris naturae et gentium doctrina – mit dem et gentium ist auch hier der historisch gegebene Stoff für den Rechtskomparatismus gemeint. – Was die Fiktion „vernünftiger Wesen“ betrifft, die Kants Schriften durchzieht, s. Exkurs 9. Acad. 2,110. Übrigens kennt Cicero auch schon das, was man in der Neuzeit als Laplaces Dämon bezeichnet, nämlich in der Frage, „wie einen scheinbaren Anblick (falsa visa) (…) ein Gott zum wahrscheinlichen machen kann, einen solchen aber, der ganz nahe an die Wahrheit herankommt, nicht dazu machen kann“ (Acad. 2,47). Der weitere Text ist leider korrupt, sodass wir die Antwort nicht mehr wissen.
Die Achsenzeit 1660 – 1680
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Exkurs 9: Die Achsenzeit 1660 – 1680 und die Logique de Port-Royal In C 4.7.1 war kurz die Rede von einer „Achsenzeit“ (in Deutschland nicht als solche bekannt) im Frankreich der Zeit Pufendorfs. Dort war zwischen 1660 und 1680 eine gewisse Kampfpause eingetreten in der Auseinandersetzung Roms bzw. der Pariser Hoftheologen mit dem Jansenismus (das war ein aus Belgien und den Generalstaaten importiertes, stark calvinisierendes Elite-Christentum, das aber doch katholisch sein wollte, mit Sitz im Kloster Port-Royal des Champs westlich von Paris), und es konzentrierte sich um die hier arbeitenden Gelehrten – Klosterpräzeptoren – eine internationale Korrespondenz. Für den vorliegenden Kommentar sind die Leistungen dieser Zeit eine Niveauvorgabe, nicht nur was die Kommunikation unter den Disziplinen und die Breite des Wissens, sondern auch und mehr noch, was die Rationalität der entwickelten Methoden betrifft.¹⁹⁹ Auslösend gewesen war ein Sprachdenkmal der französischen Wissenschaftssprache, Descartes’ Discours de la méthode pour bien conduire sa raison et chercher la vérité dans les sciences (1637), ein leicht lesbarer Traktat, der, kurz und bescheiden formuliert wie er war (wenn auch im Ich-Stil), doch in ganz Europa Aufsehen, ja Schrecken erregte: Er zog – weit früher als bei uns Kant – die tradierten Lehrsätze der Metaphysik in Zweifel. Künftiger Neubegründung der Philosophie hat Descartes ein Element an Subjektivität vorgegeben, das sich seither auch beim stärksten Willen nicht mehr hat eliminieren lassen. Das nachmetaphysische Zeitalter, von dem heute so viel Aufhebens gemacht wird, beginnt schon hier, mit verzögerter Wirkung auf Deutschland. Der Einsatz in Discours 1 ist beim gesunden Menschenverstand (bon sens), und der Schluss von Teil 6 rechtfertigt die Verständigung in der Landessprache als Appell an den sens commun und die raison naturelle (S. 77 [185 f ]). Wichtig ist v. a. der 2. Teil (bes. S. 18 f [88 f ]), welcher nur von klar Erkanntem Deduktionen zulässt; anderes ist veraltet. Teil 4 bringt das bekannte je pense, donc je suis (S. 32 [115]), den subjektiven Anker seiner Art von Ontologie.²⁰⁰ Der 6. Teil ist die Einladung zum Dialog, und diesen pflegte Descartes v. a. in brieflicher Form (vgl. # 255, auch zu Descartes’ Vorläufern).²⁰¹ Endpunkt dieses
Stolleis, „Naturgesetz“ 148: „Die mathematische Methode und die empirische Induktion führten den Forschritt an. Die Juristen wollten hier nicht zurückbleiben. (…) Naturgesetz und Naturrecht waren gleichermaßen von Gott gestiftet, aufeinander angewiesen und beflügelten sich gegenseitig.“ Ganz Neues hat er seiner Zeit damit nicht gesagt. Schon bei Cic., Tusc. 1,55 las man, was Platon und Sokrates von allen „plebejischen Philosophen“ unterscheidet, „nämlich: Das Bewusstsein nimmt seine eigenen Bewegungen wahr (sentit igitur animus se moveri), und indem es das wahrnimmt, nimmt es zugleich wahr, dass es aus eigenem Antrieb (vis), nicht aus einem fremden, sich bewegt“. Teil 5 hingegen, wo Descartes seine Leistungen in angewandter Naturwissenschaft präsentiert, ist unwiderruflich veraltet und bleibt in Details hängen. Auch wie man Induktion (etwa das Erfahrungswissen eines Handwerkers – S. 168) mit Deduktion verbinden könnte (S. 169), darüber sagt er uns nichts. Zu KEPLERs empirisch gemachten, aber mathematisch nachvollzogenen Entdeckungen schweigt D. sich aus; er wollte nicht in Konflikt geraten mit deren Ablehnung seitens der Römisch-Katholischen Kirche.
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Exkurs 9
Denkweges war erst im 20. Jh. die Definition von „Objektivität“ als Maximum intersubjektiver Übereinstimmung unter den Sachkundigen. Dass ein hinreichendes Maß an Vorbildung stets nötig ist, gibt dieser Definition eine unbehebbare Unschärfe, mit der die Gelehrtenwelt auch in Zukunft wird leben müssen. Keine menschliche Kunst und keine Wissenschaft kommt ohne sie aus. Doch ist man so jener trügerischen Gewissheit überlegen, in welcher die Vertreter des deutschen Idealismus nachmals meinten, aus ihrem je eigenen Bewusstsein heraus für alle „denkenden Wesen“ sprechen zu können.²⁰² Descartes’ Discours setzte den Anfang zu einer intellektuellen Schwerarbeit, die für Deutschland in den kritischen Schriften Kants einen klassischen, die Subjektivität (was nicht heißt: Individualität) integrierenden Abschluss fand. Längst vor ihm aber hatten die Arbeiten kritischer Philosophen Frankreichs (Englands weniger) aus Renaissanceund Barockzeit ihre Wirkung getan, darunter schon die von Michel DE MONTAIGNE (Essais, 1580 u. ö.) und Pierre CHARRON (De la sagesse, 1601). Pufendorf, der ihre Schriften im Original las, hat v. a. in methodischer Hinsicht vieles noch heute Gültige aus ihnen gelernt. In den wenigen Jahren zwischen 1660 und 1680 fielen zusammen und ergänzten sich: ‒ Pufendorfs Erstlingsschrift Elementa jurisprudentiae universalis (1660), eine allgemeine Rechtslehre, die politische Denker seiner Zeit wie John Locke auf ihn aufmerskam machte und ihm den Weg an die Universität bahnte; ‒ das Erscheinen der Logique de Port-Royal (1662), Einlösung von Descartes’ Forderung, nur in klaren, unterscheidbaren Begriffen zu denken, zugleich Abkehr von der Seinsmetaphysik; ‒ die Anfänge der historisch-kritischen Bibelwissenschaft in SPINOZAs Tractatus Theologico-Politicus (1670), damals freilich zumeist abgelehnt²⁰³ und bis heute unterschätzt, wo nicht ignoriert;
Was es mit dieser v. a. bei Kant in der KrV häufigen Formel auf sich hat, erfährt man in seiner Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels (1755, zit. bei Lötzsch, Vernunft 32 aus AA 1,358, im Original hervorgehoben), wonach alle Planeten des Sonnensystems von „denkenden Naturen“ besiedelt sind, die „nach dem Verhältniß des Abstandes ihrer Wohnplätze von der Sonne immer trefflicher und vollkommener werden“. – Von solch phantastischen Annahmen ist in der Logique keine Spur. Ausnahmen gab es. Spinozas Schüler Lodewijk Meijer (Ludwig MEYER), Lutheraner, kam dem Tractatus mit einer anonym veröffentlichten Philosophia Scripturae Sacrae interpres publizistisch sogar um einige Jahre zuvor (1666; 1776; engl. Übers. 2005). Für Leseproben aus diesem Werk s. Spinoza, Epistolae (hg. Vloten/Land) 186 – 188. Was damals anonym erscheinen musste oder auch gleich bei Erscheinen eingestampft wurde (so im 18. Jh. Richard SIMONs exegetische Schriften), ist heute akademischer Standard. Diejenigen, die damals Spinozas Exegesen zu widerlegen meinten, bemühten eine Sonderhermeneutik, welche die Bibel nicht „nach der Sprache der Menschen“ (so selbst die Rabbinen: bBer. 31b) reden lässt. Demgegenüber leistete der TTP 1– 10 Exegesen, die noch heutigem Frageniveau entsprechen.
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Spinozas Descartes-Darstellung,²⁰⁴ seine Briefe und seine postum edierten Schriften De intellectus emendatione (1672) und seine Ethik (1677), Entwurf einer nicht autoritätsgebundenen Metaphysik;²⁰⁵ maßgebliche Erfolge der empirischen Physik (NEWTON, HUYGENS), der Chemie (BOYLE)²⁰⁶ sowie der vom Buchwissen in ein Erfahrungswissen übergehenden Medizin;²⁰⁷ die Vermittlertätigkeit LEIBNIZens als Universalgelehrter (seit 1667 Dr. jur.); und nicht zuletzt: die vollständige Darstellung der Rechtswissenschaft (als Naturrechtslehre) durch Samuel PUFENDORF in seinem Jus naturae et gentium (1. Aufl. 1672).
Wenig später, 1686, erschien die Histoire des oracles von FONTENELLE, ein frühes Meisterstück an religionsgeschichtlicher Sachlichkeit.²⁰⁸ Der Scharfblick eines Voltaire herrscht hier schon, aber nicht der aggressive Ton. Was das Bemühen um Letztbegründungen betrifft, so waren sowohl der junge Descartes (Discours) wie auch der junge Spinoza in seinen Descartes-Wiedergaben auf der Spur einer nichtontologischen Ersten Philosophie, und beide nahmen lebhaften Anteil an den von einer magia naturalis auf Empirie sich umstellenden Naturwissenschaften. Doch waren diese noch nicht so weit methodisch gesichert, dass ein philosophischer Empirismus hätte gefestigt und anerkannt sein können, und so sind beide Autoren in Entwürfe ontologischer Art zurückgekehrt. Pufendorf, was ihn betrifft, berief sich auf die Medizin, wo es „Empiriker“ seit der Antike gegeben hatte (Sextus Empiricus heißt sogar mit Beinamen so), deren wachsende Erfolge in der Neuzeit erste Anerkennung fanden. Im 18. Jh. wurden Juristen und Literaten wie Gianbattista VICO²⁰⁹ oder der Baron DE MONTESQUIEU bekannt als Deuter der Geschichte, insbesondere der Kultur- und Rechtsgeschichte und ihrer Veränderungen.
Renati Des Cartes principiorum philosophiae pars prima et secunda more geometrico demonstratae, 2 Bde., 1663. Dass diese sich Ethik nannte, bahnt jene Wendung an, die Kant dann zu Ende führte. Man war damals dem Entdecken des Stickstoffs nahe; selbst Spinoza ist in jenen Briefen, die er mit dem Sekretär Robert BOYLEs wechselte, daran beteiligt. – Die Verdienste Boyles als Paulus-Ausleger sind heute vergessen (vgl. aber Siegert, Argumentation 9 u.ö). An Heilpflanzen, die die Antike noch nicht kannte, hatte diese zu experimentieren begonnen. Pufendorf, Eris 343.357.371 nimmt auf die Medizin Bezug und auf den Einzug cartesianischen Denkens an der medizinischen Fakultät von Leipzig. Descarts seinerseits gab die Medizin als Beispiel des von ihm geforderten klaren Erkennens an, welches er der spekulativen Philosophie vorziehe (Discours 6, S. 62 [166]). – Anspielungsreich betitelte der große Experimentator in Sachen Licht und Energie Ehrenfried TSCHIRNHAUS, ein Briefpartner Spinozas, seine 1682 erschienene Philosophie als Medicina mentis. Sein inhaltliches Vorbild waren die De oraculis veterum ethnicorum dissertationes (1683) des niederländischen Mennoniten Antonius VAN DALE. Als ich im Sommer 2004 in Neuchâtel und Genf eine Ringvorlesung u.d.T. Un dieu qui parle? zu leiten und zu halten hatte, konnte ich mir dieses verständnisvoll geschriebene, von Obskuritäten freie Werk als Leitfaden nehmen. Über ihn s. Selb, Antike Rechte 34 f.
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Exkurs 9
Besonders gewürdigt zu werden verdient aus der obigen Liste die anonym erschienene Schrift La logique ou l’art de penser, bekannter als Logique de Port Royal. Inhaltlich nimmt sie in obiger Liste den ersten Platz ein, auch wenn sie diesseits des Rheins von den Berufsphilosophen übersehen wurde. In vielen Auflagen erschienen, war sie das Ergebnis eines philosophischen Gesprächs zwischen Antoine ARNAULD und Pierre NICOLE, ihren Hauptautoren, und Blaise PASCAL.²¹⁰ Dies ist eine Ideenlehre oder materiale Logik (Fragen der formalen Logik stellen sich weder dort noch hier für uns),²¹¹ welche die o.g. Forderung von Descartes erfüllt, nur klar Erkanntes²¹² zum Ausgangspunkt von Deduktionen zu machen. Als prima philosophia ist diese Kunst des Denkens (so müsste ihr Titel deutsch lauten) bezogen auf die erkennenden Subjekte; sie findet, ganz modern, die Objektivität erst in gelingender Verständigung (z. B. 1,13; 3,20; 4,6).²¹³ Hier spricht kein solitäres Ich, das immer schon eine Fiktion war und eine fehlerträchtige Abstraktion, sondern es sprechen Menschen, die wissen, dass sie nicht purer Geist sind. Logische Strukturen werden in der Logique nicht nur in der Mathematik gesucht, sondern auch in – oder vielmehr hinter – den natürlichen Sprachen. Leider ist dieses Methodenbuch der beginnenden Aufklärung östlich des Rheins so gut wie unbeachtet geblieben. Leibniz ignoriert es;²¹⁴ auch die Vernunftlehre eines Hermann Samuel REIMARUS (1756 u. ö.) lässt sich nur nachteilig mit ihm vergleichen. Kant kennt es nicht,²¹⁵ was schade ist, denn allein schon die Unterscheidung von Definitionsund Sachproblemen (4,5; vgl. 1,12; 2,16) ist dort genial einfach und würde für sich allein ausreichen, die Entbehrlichkeit eines ontologischen Vorbaus für die Wissenschaften zu erweisen – eine Folgerung, die Pufendorf dann ausdrücklich gezogen hat (Exkurse 10 und 12).
Pascals Kritik am Probabilismus der Jesuiten, einer Form des Autoritätsarguments, erschienen unter dem Pseudonym „Montaltius“, ist Pufendorf gleichfalls bekannt (JN&G 1,3,5), und er teilt sie voll. Außer dass Paralogismen – Fehlschlüsse – schon dort mit teils logisch-formalen, teils semantischinhaltlichen, teils übrigens auch schon kommunikationstheoretischen (sprachpragmatischen) Begriffen als ungültig erwiesen werden: 3,10 – 20. Es hat gar keinen Wert, erfährt man auch in 4,4 wieder, dass ein Syllogismus logisch funktioniert, solange die verwendeten Ausdrücke nicht an allen Stellen dasselbe meinen. – Ich kenne keine Ontologie, die des Aristoteles eingeschlossen, die nicht immer wieder unentschieden ließe, ob einai „sein“ im existentialen Sinn (1. Kategorie) oder im prädikativen (übrige Kategorien) gemeint ist. Solchen Stellen fehlt dann aber die Kraft des Arguments. Die Forderung ist alt. Der Begriff katalēpsis/perceptio steht seit Zenon von Kition für einen gesicherten Erfahrungsbegriff; s. Cicero, Acad. 1,41 (mit Anm. Rackham); 2,22.31; De finibus 3,5. Der Abschnitt 3,20 VIII [bis] S. 350 – 353 ist eine förmliche Ethik der Wissenschaftskommunikation, die allerdings, wie das Meiste in 3,19 und 3,20, erst in späteren Auflagen hinzukam (bis 1683). Pufendorfs Eris hat davon nicht mehr profitiert; eher ist diese bereits im Blick als Negativbeispiel. Worauf er in seinen Nouveaux essais sur l’entendement humain 1703 (veröffentlicht 1765) reagierte, war jedenfalls Locke und nicht die Logique. Von deren Einfluss weiß die deutsche Philosophiegeschichte nichts. Deren Anliegen aber ist aufgenommen bei Kamlah/L., Logische Propädeutik. Kants Fortschritt gegenüber seinen deutschen und englischen Vorgängern (v. a. Hume) soll damit nicht bestritten sein. Gegenüber der Logique besteht er v. a. darin, dass bei ihm Mathematik bzw. Geometrie nicht mehr verwechselt werden mit empirischen Wissenschaften (wie in der Logique z. B. in 4,1).
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Man kann die Verdienste Pufendorfs um eine philosophia prima des Rechts (JN&G 1,1,1) erst dann in vollem Umfang ermessen, wenn man die thematische Weite jenes Gelehrtengesprächs wahrnimmt, das damals im Gange war. Wenn Pufendorf in Eris 201 rühmend erwähnt, dass „in diesem Jahrhundert“ endlich „einige herausragende Geister“ die Wissenschaften weiter gebracht haben als bis zum Kommentieren des bisher Gesagten, so bezieht er sich auf dieses Gelehrtengespräch (Eris 201.342).²¹⁶ Er hat die Logique gekannt, jedenfalls ihr Ende, wie sein Kommentator Mascow in der letzten Anmerkung zu JN&G 5,9,8 bemerkt (# 238),²¹⁷ und liegt ganz auf ihrer Linie. Ebenso kannte er Pascals Pensées (z. B. 1,3,7), und auf einen Spinosa exiudaeus verweist er mit Namen (2,2,3; 3,4,4). Er gibt sich offen als Schüler des damals viel angegriffenen Descartes zu erkennen, ohne auf dessen Worte zu schwören – er schwört auf niemandes Worte (Eris 340 – 342). Vorher schon (Eris 15) verwahrte er sich gegen Verdächtigungen kleingeistiger Kritiker, seine Lektüre betreffend, mit der Antwort, auch was ein Katholik geschrieben habe, könne vernünftig sein. Schließlich, und überhaupt, gehe es hier nicht um Glaubensdinge. Nicole und Antoine, an einer Klosterschule lehrend (Port-Royal im Inneren von Paris), waren zugleich Theologen. Doch was die Theologie betrifft, so kam aus deren Richtung vergleichsweise wenig ins Gespräch der Gelehrten und auch später eher Widerstand als Hilfe. Auf lutherischer Seite rühmend zu erwähnen ist nun aber das frühe Beispiel einer interreligiösen Dogmatik,²¹⁸ Tobias PFANNERs Systema theologiae gentilis purioris von 1679, eine nach Begriffen der lutherischen Orthodoxie geordnete Übersicht über die Vielfalt der religiösen Lehren des Altertums, ja auch ferner Kontinente, gedruckt im reformierten Basel und gewidmet dem (katholischen) Bischof von Bamberg. Am bekanntesten wurde dieser Autor damals als der Geschichtsschreiber des Westfälischen Friedens.²¹⁹ Die katholischen bzw. reformierten Vorgänger für sein Systema, die er uns nennt (praefatio, Bl. 1r/v sowie S. 13), hatten entweder die exklusive Wahrheit des Christentums oder die Verkehrheit des Götzendienstes zu erweisen gesucht. Dazwischen lag der Anglikaner Edward Herbert, Earl of CHERBURY mit einem De religione gentilium (1663), den Pfanner später noch nennt (494). Im Frankreich jener Zeit gehörte das Kloster von Port-Royal des Champs zu den Freiräumen unzensierten Gedankenaustauschs, bis der König es wegen „Jansenismus“
An letzterer Stelle vermerkt er, in Frankreich seien Zweifel aufgekommen an der Transsubstantiationslehre: ob sich da nicht unpassenderweise Physik mit Theologie mische. Die Logique de Port-Royal versucht das zeichentheoretisch abzufangen (1,4.15; 2,12.14), ehe sie sich in 4,12 mit einer bloßen Wiederholung der römischen Doktrin zufrieden gibt. Hier wollte man keine offene Flanke riskieren. Das dort von Mascow als Ars cogitandi zitierte Werk ist die Logique de Port-Royal, die inzwischen auch in lateinischer Übersetzung zugänglich war, mit einer Vorrede des Jenenser Reformtheologen Franz BUDDE(us), Halle 1704. Ein spätes, aus unserer Zeit, gleichfalls von lutherischer Seite kommend, ist H.-M. BARTH: Dogmatik. Evangelischer Glaube im Kontext der Weltreligionen (2001), 2008. T. PFANNER: Historia pacis Germano-Gallo-Suecicae, 1681; ders: Historia pacis Westphalicae, 1697.
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schließen und 1710 sogar abreißen ließ.²²⁰ Was jenes Gelehrtengespräch an Maßstäben für Objektivität – je nach Wissenschaft – zustande brachte, ist bis heute vorbildgebend.²²¹ Die Logique hat die Einsichten und das Analysepotenzial der im 20. Jh. von England aus auch nach Deutschland gekommenen ordinary language philosophy vorausgenommen,²²² nicht weniger seinerzeit Pufendorf, der für die Rechtsphilosophie angibt, der popularis sermo, nicht Metaphysik, sei Grundlage derjenigen Unterscheidungen, auf die es ankommt (Eris 361).²²³ Genauer gesagt, Ontologie ist es, die er ablehnt (unter der damals gängigen Bezeichnung metaphysica), indem seine Antwort auf die Frage der Metaphysik nach Letztgegebenheiten diese ist: Die Umgangssprache, die ein jeder erlernt, ehe er seine Empfindungen zu ordnen vermag, ist ihm die Letztgegebenheit – eine durch Lernen weiterer Sprachen durchaus flexible – und nicht das „Sein“, wovon Platon und die Eleaten träumten und wovon Aristoteles eine Theorie zu geben versuchte. Obwohl Pufendorf sich noch immer der Gelehrtensprache Latein bedient, möchte er doch möglichst voraussetzungslos, ad omnium hominum captum („für alle Menschen verständlich“, Eris 175.176.262.285.367) geschrieben haben.²²⁴ Er sagt (175): Mein Vorhaben ist nämlich nicht, mit den Päpstlichen zu disputieren, sondern das Recht, das allen Menschen gemeinsam ist, zu lehren aufgrund von Prinzipien, die dem Fassungsvermögen aller Menschen angepasst sind (ex principiis ad omnium hominum captum accommodatis).
Der tödliche Hass des Hofes und seiner Jesuiten rührt daher, dass letztere in ihrer traditionellen Rolle als Beichtväter des Königs von den Jansenisten bloßgestellt worden waren für ihre Gefälligkeit, ihn für seine zwar standesgemäße, aber nicht moralkonforme Polygamie zu absolvieren. Der Streit um Cornelius JANSENs streng augustinische Gnadenlehre (s. D/S, Enchiridion 2001 ff.2301 ff ) hat auch die Ablehnung jeder Doppelmoral seitens der Jansenisten zum Hintergrund. So sind die in der Ontologie üblichen Verwechslungen von Begriff und Sache in der Logique bemerkenswert selten. Eine folgenreiche Ausnahme freilich begegnet in der Zeichenlehre (1,4; S. 80 f Marin), wo die Idee des Zeichens, zusammengesetzt aus signifiant und signifié, im weiteren Kontext verwechselt wird mit dem Zeichen als bloßem (klanglichen, optischen) signifiant, demgegenüber das signifié – das wird vergessen – der objektiven Welt („Außenwelt“) angehört und keine Idee ist. Ebenso zielt Puf., JN&G 2,1,5 mit signa, per quae [homo] notiones in animo haerentes aliis communicari queat, etwas zu kurz: Er meint die Fähigkeit, sogar über Abwesendes zu reden; doch ist diese sekundär gegenüber der Fähigkeit, Anwesendes, aber bisher nur sinnlich Gegebenes zu benennen (Gen 2,19 f ). Doch selbst in DE SAUSSUREs einflussreichem Cours de linguistique générale ist in ihrem Semantik-Abschnitt (3. Aufl. 1922 u. ö., Kap. 4 § 1) der Unterschied noch nicht erkannt, dass man mit der Sprache Gedanken ausdrückt, aber Sachen bezeichnet. Spinoza dagegen, De intell. emend. 89 hatte es schon besser gesagt; ihm sind die Wörter, konventionell (ad libitum) wie sie sind, „nichts als Zeichen für die Sachen, so wie wir sie uns vorstellen (signa rerum prout sunt in imaginatione)“. Als deutschsprachiges Lehrbuch s. Kamlah/Lorenzen, Logische Propädeutik. Dem hier Schreibenden war dieses Buch die größte Hilfe im Vermeiden von Scheinproblemen, die überhaupt nur aus dem Sprachgebrauch einer Einzelsprache oder einer Gruppe von Sprachen erwachsen. Nur umständehalber schrieb er sein JN&G auf Latein; von seinem De officiis erschien bald eine französische Übersetzung, und natürlich gutachtete er für die preußische Regierung auf Deutsch. So auch schon Spinoza, De intell. emend. 17; dort lautet die erste der aufzustellenden Regeln: Ad captum vulgi loqui. In seiner postumen Ethik hat er sich nicht mehr daran gehalten, so wenig wie der späte Descartes in seinen an Kollegen gerichteten Meditationes de prima philosophia.
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Seine Argumentation beruht nirgends auf Begriffen, die in natürlichen Sprachen nicht wiederzugeben wären. In Eris 285 wiederholt er, er wende sich an die Lernwilligen; er wende sich ad captum omnium hominum, queis aliqua rationem excolendi cura, „an das Fassungsvermögen aller Menschen, denen an der Ausbildung ihrer Vernunft etwas liegt“. Gebührende Mühe bei der Prüfung der Sachverhalte darf verlangt werden (Eris 38). Diese Bedingungen, so betont er, sind weder an europäische Kultur noch an das Christentum gebunden. All das lehrte auf ihre Art, und sogar schon von vornherein in der Landessprache – wie zuvor schon Descartes’ Discours –, die Logique. Dem theologischen Naturrechtler Valentin ALBERTI in Leipzig, der gesagt hatte, er wolle lieber ein christlicher als ein cartesianischer Philosoph sein, entgegnete damals Pufendorf: „Was für ein läppischer Gegensatz! Als ob Descartes kein Christ gewesen wäre und Aristoteles stattdessen der Fürst der Apostel“ (Eris 371). Gut lutherisch protestiert er gegen das Verbindlichmachen einer Philosophie und/oder eines Weltbildes. Alles was Philosophie vorgeben kann, sind Methoden, nicht Inhalte. – Die Theologie ist bei diesem Gespräch nicht führend gewesen, sondern eher hindernd; Alberti als Dogmatiker wurde genannt. Zurückgreifen werden wir immer wieder auf Johann GERHARDs monumentale Loci theologici (1657 u. ö.), durch Register bestens erschlossen, und auf das Compendium theologiae positivae von Johann Wilhelm BAIER (1686 u. ö.),²²⁵ einem Schüler des für liberales Denken bekannten, von Pufendorf geschätzten Jenensers Johannes MUSÄUS. Sie alle betrieben noch immer eher eine Sach- als eine Begriffswissenschaft. – Spannend liest sich auf diesem Hintergrund ein Bekehrungsbrief, den ein Schüler Spinozas an diesen richtete, nachdem er selbst vom reformierten Christentum zum Katholizismus konvertiert war, überliefert als Ep. 67 (73; 1677 postum erschienen). Spinoza antwortete mit einer offenherzigen Darlegung seiner Privatreligion, Ep. 76 (74), worin Jesus immerhin einen Ehrenplatz erhält.²²⁶ Dort findet sich auch der Satz: Est enim verum index sui et falsi, „Wahrheit erweist sich selbst wie auch ihr Gegenteil“.²²⁷ Letzteres – et falsi – muss dazugesagt werden, denn es geht um Erfahrungswissen, und dieses ist der Falsifikation zugänglich – ein großer Vorteil gegenüber angeblich alternativlosen Aprioritäten der scholastischen Systeme, denen die Nachprüfbarkeit abgeht. Es gibt – das muss wohl auch gegen Spinoza durchgehalten werden – kein vorempirisches Wissen außerhalb von Mathematik und formaler Logik. Offenbarung ist nichts
Auch er ist, wie nachmals Wolff (4.7.3), ein vom Hallenser Pietismus Vertriebener. Pufendorf, Eris 112 f ordnet sich theologisch den Jenensern zu, die ein bekenntnistreues, aber (im Gegensatz zu Calovius in Wittenberg) konziliantes, nicht auf Abgrenzung bedachtes Luthertum vertraten. Vgl. seinen TTP 1,23 (eingeschränkt in 1,24: keine Christologie). So wie ihm das Christentum in diesem Schüler begegnete (aus der Synagoge war er durch Bann ausgeschlossen worden), blieb ihm nur die freireligiöse Option. Dass Spinoza nicht zum Christentum konvertiert ist, kann sich umso leichter erklären, wer nicht nur den eben genannten, unglaublich plumpen Bekehrungsversuch gelesen hat, sondern auch die Eris Scandica und was diese aus damaliger christlicher Publizistik zitiert. Wolff, JN S. 1 ist geschmückt von einer Vignette mit der Beschriftung SVI INDEX. Das Bild, zwei Wölfe im Kampf um einen Kohlkopf, bleibt zu deuten.
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Exkurs 9
Apriorisches. Der Gott der Bibel begegnet Israel und der Menschheit in Raum und Zeit; dem hat die ausgesprochen historische Qualität des Tractatus theologico-politicus sogar Rechnung getragen. Hundertmal musste nachmals Pufendorf seine theologischen Kritiker daran erinnern, dass ihre Quelle nicht Platon sei, sondern die Bibel. Die Theologen jener Zeit, auch die Protestanten, gefielen sich jedoch mehr und mehr in scholastischen Begriffszergliederungen, die offenbar die Wissenschaftlichkeit ausmachen sollten. Schon Nikolaus Selnecker hat in seinem Examen ordinandorum 1584 genau das gemacht, wovor sein Lehrer Melanchthon in seinen Loci gewarnt hatte: „über die Modalitäten der Inkarnation zu spekulieren“.²²⁸ Lewalter, Metaphysik beschreibt dieses Phänomen mit Befremden, nicht ohne Pufendorfs Einspruch am Ende zu erwähnen.²²⁹ Selbst Mosheim, der geniale Historiker des Christentums, hielt seine Dogmatikvorlesung nach einem pseudo-deduktiven Begriffsgerüst (Elementa theologiae dogmaticae, 1766).²³⁰ Wenige haben sich damals, wie Pufendorf in Eris 136 f u. ö., darüber gewundert, wie nach dem Wiederaufleben der „guten Literatur“ (seit der Renaissance meinte man damit etwas aus dem Leben geschöpftes, ästhetisch Ansprechendes) nunmehr eine Rückkehr zu den „päpstlichen Schatten“ einstiger Scholastik stattfindet. Die Ausdrucksweise seiner Gegner erinnert ihn stark an Ulrich v. Huttens Satire, die Dunkelmännerbriefe (136.148 f ). In Eris 174 f schreibt er: Wenn jetzt die evangelischen Theologen meinen, scholastische Philosophie erlernen zu müssen, um mit den Päpstlichen diskutieren zu können, überspringt das Luthers so oft geäußerte Warnung vor den „Sophisten“. Auch ist es kurzschlüssig: Müssen wir denn, um mit ihnen zu reden, reden wie sie? Vor allem aber – das sagt er dort als Jurist – : Aus alledem folgt nicht, dass das Naturrecht „in die gleichen Windeln zu wickeln“ wäre.
Melanchthon, Loci 1521, Einleitung (S. 7, Z. 12 Engelland): modos incarnationis contueri. Genau das geschieht in peinlicher Breite bei N. Selneccerus (SELNECKER): Forma explicationis examinis ordinandorum, 1584, einer von Melanchthon einst in nüchternem Geist begonnenen, von ihm aber umgeschriebenen Dogmatik, bes. S. 517– 534. In der dann folgenden Abendmahlslehre lässt er mit Joh C 6,51 ff das Fleisch Christi in den Himmel (das ist nicht mehr Luthers Himmel) aufsteigen (554), usw. Melanchthon selbst hatte noch in den Loci 1559 gewarnt vor illa methodus demonstrativa, die in den Freien Künsten möglich sei, aber nicht in der Theologie (168,10 Engell.); die Wahrheit einer Selbstoffenbarung Gottes (169,13 f Engell.) lasse sich nicht durch Beweise ersetzen. Im Weiteren pocht er dann aber in unvorsichtigem Maße auf die biblischen Wunder. Eine Rechtfertigung dieser Neuscholastik versucht Liermann, „Zur Geschichte“ 303 u. ö., wo er den Aristotelismus verteidigt als einigendes Band europäischer Geistesgeschichte. Da ist übersehen, dass der Aristoteles der Metaphysik schon den Fragen eines Descartes nicht standgehalten hatte und für veraltet gelten konnte, wohingegen Pufendorf an den Aristoteles der Nikomachischen Ethik, der Politik und der Rhetorik anknüpft. Vgl. die Aristoteles-Anekdote in # 172, wo der Philosoph selbst als Lohn seines Philosophierens die Freiheit zum Handeln bezeichnet (und nicht etwa die Entdeckung der Ontologischen Differenz). Ein ausführlicheres Werk Mosheims unter demselben Titel Elementa theologiae dogmaticae, hg. C. E. v. WINDHEIM, ging 1758 voraus, eine reine Bibeltheologie ohne natürlich-theologischen Vorbau; ausführliche Würdigung bei Hirsch, Geschichte II 359 – 365 („…einfache, den Tatbefund ohne Einmischung ungeklärter Voraussetzungen wiedergebende Begriffsbestimmmungen“, 361). Sehr skeptisch gegenüber der Verwendung philosophischer Begriffe in der Theologie äußert sich Mosheim in De rebus 302 f.
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So fragt er dann: Wie konnte nur ein solcher Gralshüter des Luthertums wie der „Gnesiolutheraner“ und Leipziger Theologieprofessor Valtentin Alberti Aprioris ganz anderer als biblischer Herkunft seiner Doktrin zugrunde legen (343 f )? – Zu Recht hat sich der Pietismus dieser Scholastik entgegengestellt, ohne jedoch das Gespräch der Wissenschaften wieder aufzugreifen; im Gegenteil. Verbindungen hielt er nur zur Philologie, der orientalischen wie der griechischen, wobei die Ansätze zu biblischer Textkritik – vorerst nur am Alten Testament – dann wieder der Festigung des Buchstabenglaubens dienen sollten und die immerhin sorgfältig gepflegten Künste der Rhetorik und der Poetik wirkungs-, nicht wahrheitsbezogen waren. Dass protestantische Theologie damals keine andere Wahl als die zwischen Neuscholastik und Pietismus zu haben meinte und die schlichten, aber wohlinformierten Räsonnements eines Pufendorf, ja seines Luther verachtete, hat dazu geführt, dass die Aufklärung sie doppelt hart erwischte.
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Exkurs 10
Exkurs 10: Der empirische Ansatz Den protestantischen Naturrechtslehrern zumindest ab Pufendorf ²³¹ eigen ist der Empirismus (wie man es heute nennen würde) ihres methodischen Ansatzes: Welche Verhaltensregeln haben sich unter welchen Umständen als praktikabel erwiesen, als gut und als die bis jetzt besten? Dazu braucht es Geschichtskenntnis und einen hinreichend großen Begriffsraster, aber keine Metaphysik, die beansprucht, Gut und Böse schon vorher zu wissen, unabhängig davon, in welcher Situation und welchen Menschen gegenüber man sich verhält. Der gegenteilige Ansatz, dem wir hier folgen, entspricht der von Mathias Schmoeckel unlängst herausgestellten, spezifisch lutherischen (will sagen: in lutherischer Freiheit säkularen) Erkenntnislehre unserer Barockjuristen.²³² Mochte deren Denken auch den Metaphysikern ihrer Zeit für „epikureisch“ gelten,²³³ ja für „atheistisch“ (Eris 101.108 u. ö.), so ist es doch eine direkte Folge der Wittenberger Reformation in ihrer Abkehr vom scholastischen Pochen auf Autoritäten. In Wittenberg wurde nämlich gelehrt – Schmoeckel zitiert dafür einen gewissen Georg GUTHE sowie Abraham CALOVIUS – : Jede Erkenntis beruht auf Sinneswahrnehmung unter Anwendung des logischen Vermögens, womit auch gesagt ist: In jeder Erkenntnis steckt eine Abstraktion,²³⁴ so wahr wir in Begriffen denken. All das mag heute selbstverständlich erscheinen; damals war es das nicht. Der Philosoph Petrus RAMUS, ein vermeintlicher Verbesserer des Aristoteles, den sein Tod in
Zu Grotius, der noch stärker der Vorstellung eines orts- und zeitunabhängigen Naturrechts verpflichtet ist, s.o. A 4.3. Siehe Schmoeckel, „Pufendorfs Vernunftrecht“. – Ders.: Recht der Reformation (2014), 62 lässt den Wittenberger Erzdogmatiker Calovius sagen: „Jede abstrakte Erkenntnis sei daher vor allem die bessere konkrete Erkenntnis.“ Das ist aber eine Fehlübersetzung für: „Jede abstrakte Erkenntnis ist besser als eine konkrete“; in abstracta cognitio est melior concretâ (sic) war das letzte Wort deutlich als Ablativ gekennzeichnet. Semantisch wäre zu vermerken, dass „besser“ hier den Sinn hat von „allgemeingültiger“. Gemeint ist nämlich nicht, dass man mit der Abstraktion anfange, sondern über sie schreitet man weiter zur Generalisation. Th. AHNERT: „Problematische Bindungswirkung. Zum ,Epikureismus‘ im Naturrecht der deutschen Frühaufklärung“, in: Fiorillo/Grundert, Das Naturrecht 39 – 54: Pufendorf insbesondere wurde „Voluntarismus“ vorgeworfen [für Belege aus unseren Tagen s. Exkurs 1], und es fehlten bei ihm die [von Leibniz dann wieder betonten] Strafen Gottes – als ob es Aufgabe eines Naturrechtslehrers wäre, davon zu sprechen. S. 43: Pufendorf wie Thomasius waren der Auffassung, „daß die Unsterblichkeit der Seele nicht innerhalb der Grenzen der natürlichen Vernunft erkannt werden könne. Die Konsequenz, so behauptete Leibniz (…), sei die Reduzierung der Moral auf typisch epikureischen Eigennutz“ (folgt Zitat). Schmoeckel, „Pufendorfs Vernunftrecht“ 63 (zu Guthe: 59); folgendes Zitat: 64. Zu Pufendorfs Erkenntnislehre: 67. Calovs abstractio dürfte dasselbe sein wie Epikurs noēma (s.u.). Dass abstrakte Begriffe den Dingen in irgendeiner Weise vorausgingen, ist damit gerade nicht gesagt. So steht denn auch das meiste, was F. LÖTZSCH: „Apprehension“, HWP 1, 459 – 461 wahrheitsgemäß aus der philosophischen Literatur seit der Scholastik referiert, auf dem Kopf – als würden wir uns die Dinge schon vorstellen, ehe wir sie kennten. Eine Priorität dieser Art gilt zwar in der Handlungstheorie; genau diese jedoch fehlt wiederum im HWP.
Der empirische Ansatz
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der Bartholomäusnacht 1572 zum Märtyrer der reformierten Kirche werden ließ, wie auch seine Anhänger „sahen dagegen stets die Mitwirkung des Heiligen Geistes bei der Gewinnung von Erkenntnis“.²³⁵ Solches war schon Thomas v. Aquins Meinung (Exkurs 7), und aus solchem Anspruch heraus haben sich, früher mehr als heute, die Kirchen eingemischt in Fragen der empirischen Wissenschaften, auch des Rechts. Die rechtsgeschichtlichen Auslegungen der folgenden Bände werden zurückgehen bis hinter jene Synthese von biblischer Botschaft und Platonismus, die in Philons Gefolge von den Kirchenvätern seit Clemens v. Alexandrien (bei Tertullian noch nicht) betrieben wurde. Nicht nur dass sie im Neuen Testament noch lange nicht abzusehen ist; sie auch mit Notwendigkeit begrifflich unsauber. Man kann nicht das Sein über Gott stellen (in Form ewiger Begriffe, zu denen er „aufblickt“) und dann wieder Gott über das Sein (als Schöpfer von „allem“); s. # 255. Platon verachtete das Handwerk und diejenigen, die davon leben mussten (die banausoi), obwohl die gedanklich von ihm viel beanspruchte Bildhauerei ein Handwerk war. Anscheinend war es die Beanspruchung vorempirischen Wissens, was die seltsame Allianz von Platonismus und kirchlicher Theologie zustande brachte, in deren Folge noch in Christian Wolffs Zeiten kein Gelehrter, der etwas auf sich hielt, sich als Empiriker zu erkennen geben durfte. Adolf Harnack würdigte es als „Beweis für die Kräftigkeit der sittlichen Anlagen in der Menschheit“, dass die einzige Kulturepoche, die wir zur Gänze kennen, die Antike, „nicht mit dem Materialismus, sondern mit dem entschlossensten Idealismus geendet hat“ – das meint bei ihm den Neuplatonismus.²³⁶ Dann setzt er aber hinzu, das sei in anderer Hinsicht „ein Bankrott“ gewesen, „denn die Verachtung der exakten Naturwissenschaft leitet schließlich zur Barbarei über, weil sie den rohesten Aberglauben zur Folge hat und gegen keinen Betrug mehr geschützt ist.“ Schon viel war in diesen Exkursen von „empirisch“, „Empirismus“ die Rede, womit jedesmal ein Gegenpol zur Beanspruchung eines besseren als nur erfahrungsgemäßen Wissens gemeint war. „Apriorismus“ sowohl wie „Idealismus“ sind Bezeichnungen für die Inanspruchnahme solchen Wissens, wie Platon es in seiner Ideenlehre behauptet hatte und wovon Aristoteles in seinen (nachmals) als Meta ta physika betitelten Schriften eine Begriffsklärung versucht hat, seither „Metaphysik“ genannt. Er selber nannte es „erste Philosophie“ und meinte damit die Behandlung von Letztbegründungsfragen. Dass er daneben auch Empiriker war und große Mengen an Naturbeobachtungen wenigstens in Fragenform zusammenfasste, auf künftige Forschung hoffend, ist jahrhundertelang vergessen worden. Der Aristotelismus der Scholastiker ist kein
Schmoeckel 64. Ramus’ Anspruch war, aus Dialektik und Rhetorik eine nichtaristotelische Philosophie gewonnen zu haben. Puf., Eris 345 sagt von ihm, seine Philosophie sei Aristoteles nicht überlegen, sondern nur komplizierter (er war eben Neuscholastiker). Holzhauer, „Althusius“ (s. o. C 4.6.2) 216 sagt über sie: „Bei Althusius trägt sie dazu bei, die Lektüre seiner Werke zu erschweren.“ A. HARNACK: Lehrbuch der Dogmengeschichte, Bd. 1, 4. Aufl. 1909, 809. – Als Justinian i.J. 529 die Athener Akademie schließen ließ, war das nur konsequent: Deren Seins- und Seelenlehre vertraten längst die Bischöfe.
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anderer als der schon von Boethius (frühes 6. Jh.) verbreitete, nämlich reinster Platonismus.²³⁷ Beeindruckt von Platons Ideenschau, versucht eine in dieser Tradition stehende Rechtsmetaphysik ihren Gegenstand, das Recht (to dikaion), aus dem Begriff der Gerechtigkeit (auch: to dikaion) abzuleiten. Mit Seitenblicken auf die Tugendlehre und auf den Begriff der Gerechtigkeit im personalen Sinne (dikaiosynē, A 2.3.1) bringt man einige Hilfsbegriffe ins Spiel, aus denen sich dann ein System ergeben soll. Dabei wird ignoriert, wie erfahrungsgesättigt diese Begriffe sind. Um es an einem gegenwärtigen Beispiel zu zeigen: Die Straßenverkehrsordnung ist nicht aus dem Begriff des Verkehrs abgeleitet worden, sondern zehrt von der reichen Erfahrung mit Verkehrsunfällen und insbesondere von der Analyse von deren Ursachen. Das Recht insgesamt zehrt aus der Erfahrung mit früheren Konflikten. Was den heute als „empirisch“ bezeichneten Gegenpol betrifft, den Aristoteles in seinen physika genauso intensiv erkundete,²³⁸ muss spätestens hier gesagt werden, dass das griechische Adjektiv empeirikos bis ins 18. Jh. reserviert war für einen Zweig der Medizin, nämlich die an selbstgemachter Erfahrung sich orientierende, wohingegen die als logikē bezeichnete Medizin (irreführend im Latein: rationalis) auf Texten beruhte, v. a. auf dem Corpus Hippocrateum (HWP 3, 477 f ). Dass dieser selbst aus Erfahrung spricht, geriet in dem nachmals fast nur noch literarisch getriebenen Medizinstudium in Vergessenheit. Noch bei Kant wird die auf Schlüsse aus Erfahrung sich begrenzende Philosophie Epikurs zunächst als „Sensualismus“ bezeichnet (KrV B 882), ein abwertendes Wort, da „sinnlich“ auch „wollüstig“ meint. Das HWP a.a.O. aber, das diese Stelle zitiert, gebraucht dabei, heutigem Sprachgebrauch gemäß, „Empirismus“. Es folgt nämlich gerade dort, bei Kant, die Bemerkung über eine Veränderung in den Wissenschaften, was die Begründung des von ihnen beanspruchten Wissens betrifft; darunter fällt: 2. In Ansehung des Ursprungs reiner Vernunfterkenntnisse, ob sie aus der Erfahrung abgeleitet, oder unabhängig von ihr, in der Vernunft ihre Quelle haben[:] Aristoteles kann als das Haupt der Empiristen, Plato aber der Noologisten [Idealisten] angesehen werden.
Hier bezieht sich Kant auf die naturkundlichen Schriften des Aristoteles. Was man langezeit vergessen hatte, ist, wie anders – nämlich gegenstandsbedingt – dessen Me-
Nämlich ein streng anti-empirischer, z. B. Cons. 5, prosa 6, Anfang: „Alles, was sich wissen lässt, wird nicht aus seiner Natur, sondern aus der der Erkennenden erkannt.“ Man dachte ja auch, das Licht des Sehvorgangs werde von den Augen erzeugt. Dass es rezeptive Nerven sind, konnte erst erkannt und beschrieben werden, als Nerven im heutigen Sinn (im Latein heißt nervus „Muskel“) entdeckt worden waren. Auch aus Descartes’ Discours sind die Partien, wo er sich als Physiologe gibt (etwa im 5. Teil), heute nicht mehr lesenswert. Gleiches gilt von denjenigen Briefen Spinozas, die Probleme der Chemie betreffen. Inzwischen ist der Stickstoff entdeckt, und vieles damalige Tasten ist beendet. Wissenswert bleibt, dass auch ein Spinoza sich um allgemeine Weltkenntnis bemühte, bis hin in die neuesten wissenschaftlichen Fragen.
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thode dort ist. In seinen zahl- und umfangreichen naturkundlichen Schriften²³⁹ geht er von Beobachtungen aus und nicht, wie in der Metaphysik, von menschlicher Sprache. Vielfach bleibt er bei offenen Fragen stehen (Problēmata) und überlässt sie künftiger Forschung. Eine gut gestellte Frage ist ja bereits der beste Weg zu einer Antwort. Eine zureichende Methodik zum Verarbeiten empirischer Daten zu entwickeln, blieb der Neuzeit vorbehalten, und sie erzeugte eine Vielfalt höchst erfolgreicher Wissenschaften. Die sog. künstliche Intelligenz unserer Tage ist nichts anderes als die Befähigung von Computern, sich selbst aus Erfahrungsdaten zu speisen. Deduktiv arbeiten können sie schon längst; das ist vergleichsweise einfach. – Um uns nun dem empirischen Ansatz Pufendorfs zu nähern, ist ein zu flacher Begriff von „Empirie“ abzuwehren, wie etwa Novak, Natural Law 122 f ihn skizziert und mit einer Handbewegung abweist. Nicht statistische Mittelwerte, sondern Einsichten in das, was sich an Rechten bisher bewährte, sind Pufendorfs Ausgangsbasis. Sein Lernen aus der Geschichte hat jene Extension des Wissens und zugleich Intensität des Eindringens und Sich-hinein-Versetzens,²⁴⁰ wie sie von recht verstandener Geschichtswissenschaft nur gefordert werden kann. Was nun Epikur betrifft, dem er in manchem tatsächlich folgt, so muss man diesem Athener nach gebührender Lektüre des Wenigen, was wir aus seinen einst zahlreichen Schriften noch haben, zugute halten: Nicht bloße Gefühle oder gar „Lüste“, sondern Eindrücke einschließlich des sie verarbeitenden Denkens sind von seiner Erkenntnistheorie – der für die ganze Antike besten, umfassendsten – gemeint (Exkurs 11). Man würde ihn heute einen Empiriker nennen. Bis vor zweihundert Jahren aber sagte man stattdessen „Epikureer“, ließ Immoralität vermuten und schmähte die so Benannten, welbst wenn sie Theorien von hohem Erklärungspotential von sich gaben. Modern gesagt und in Anlehnung an Konrad Lorenz,²⁴¹ besagt der empirische Ansatz: Wir Menschen orientieren uns längst in unserer Welt – nicht von oben, sondern von innen²⁴² – und haben dabei umso mehr Überlebenschancen, je zutreffender unsere Wahrnehmungen sind. Die Unterschiedlichkeit der individuellen Blickwinkel wird dadurch ausgeglichen, dass wir miteinander kommunizieren, und wir tun es unvergleichlich intensiver, als Tiere es können. Grundlage für all das ist die Umgangssprache, die wir seit unvordenklichen Zeiten zu eigen haben und die sich mit uns entwickelt. Sie
Es sind die Spalten 486a–973b von insges. 1462 der Berliner Ausgabe. Eine solche findet sich meisterhaft dargestellt bei Bultmann (GE 133 f ) im Anschluss an Robin COLLINGWOOD. K. LORENZ: Die Rückseite des Spiegels. Versuch einer Naturgeschichte menschlichen Erkennens, 1973 (u. ö.). Es ist von symbolischem Wert, dass Lorenz, Mediziner und Biologe, 1938 – 41 (bis zu seinem Kriegsdienst) Kants Lehrstuhl in Königsberg zu versehen bekam, wenn auch in Zeiten eines Biologismus, für den man ihn nicht verantwortlich machen darf. In diesem Sinne sagte schon Paulus: „Wir erkennen nur Teile (ek merous/ex parte, 1Kor 13,9)“, all unsere Erkenntnis ist Stückwerk.
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ist die unhintergebare, damit aber keineswegs unwandelbare Voraussetzung unseres Denkens.²⁴³ So bereits die Logique de Port-Royal 1,13. Bei Pufendorf macht seine Eris Scandica klar erkennbar, was man in seinen Naturrechtsschriften schon erkennen konnte: Hier schreibt ein Empiriker. Der Aristoteles, auf den er sich bezieht, ist der Aristoteles der Ethik-Schriften, namentlich der Nicomachischen Ethik, einer von der Umgangssprache des Autors ausgehenden, erfahrungsgesättigten Schrift. Gleich in JN&G 1,2,4 zitiert er hierfür die Berufung auf empeiria („Erfahrung“) in EN 1143b 14. Sein Ausdruck dafür ist dann observatio „Beobachtung“, z. B. in Eris 237: Der Satz, homini colenda est socialitas ist gewonnen ex observationibus e natura rerum et hominis petitis. Diese Methode ist induktiv (JN&G 1,2,5: inducere). Aus der Betrachtung (hier: consideratio) der menschlichen Natur wird zur Ermittlung des Naturrechts „aufgestiegen“ (ascenditur, Eris 276). Ebd. 236 erklärt er Überlegungen, die Geisteswissenschaften in Analogie zur Mathematik apriorisch aufzubauen, für verfehlt.²⁴⁴ In Pufendorfs Sich-Absetzen gegen die „analytische Lehre“ eines Toletus oder Zabarella (239), die für „die Sophisten“ der „einzige Weg bis an die Sterne“ sei, lag bereits die Antwort an Leibniz’ nachmals erhobene Forderung nach einem apriorischen Naturrecht (s.u. Exkurs 13). Auf ganz anderen Grundlagen als der o.g. Konrad Lorenz konnte Pufendorf schon wissen: Der Mensch lernt nur aus Erfahrung, eigener wie fremder; zur Kenntnisnahme dieser letzteren hat er die Sprache. Anders gesagt, weniger dogmatisch: Die Annahme pränatalen Wissens, wovon der Platonismus ausgeht, ist für unser Vorhaben nicht nötig; vorsichtiger ist der Verzicht. Sie hat sich bis heute nicht bestätigen lassen, und wenn sich Physiker unserer Tage davon beeindruckt zeigen,²⁴⁵ ist das Liebhaberei, aber nicht Grundlage ihrer Arbeit. Für jedes Tier und noch viel mehr für jeden Menschen gilt: Sein Körperbau ist es, der ihn das meiste lehrt. Aristoteles, De partibus animalium 687a 8 zitiert es aus Anaxagoras: „Dadurch, dass der Mensch Hände hat, ist er das vernünftigste (phronimōtaton) aller Lebewesen“ – aber nur, um danach zu postulieren, das Verhältnis sei umgekehrt. Das ist der traditionelle „Kopfstand“ der griechischen Philosophie, den Pufendorf klugerweise nicht mitmacht, und seine Frage an Alberti ist sinngemäß: Warum sollte ich? Nachmals haben Intellektuelle wie Herder wieder geahnt, wie viel wir Menschen mit den Händen lernen, „begreifen“. Unser Zugang zur Welt ist durch sie vermittelt, nicht weniger als durch die Augen oder gar die Introspektion bei geschlossenen Augen.
Keine der Umgangssprachen, in denen wir das Denken lernen, ist vollkommen; jede gibt eine etwas andere Orientierung in der Welt. Auch hier gibt es keinen Standpunkt „jenseits“, sondern sie haben alle ihren Wert. In der Tat, „Werte“ in der Mathematik sind etwas anderes als Werte in der Ethik. C. F. V. WEIZSÄCKER: Im Garten des Menschlichen, 1977, 587 f; vgl. 319 – 345. – Die Annahme einer Welt über der Welt wird zwar als Annahme eines Jenseits in theologischen Partien der vorzunehmenden Auslegungen wiederkehren; sie wird aber nicht zur Begründung von Rechtssätzen dienen. Das Recht ist eine Angelegenheit des Diesseits.
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Im Blick auf die von Pufendorf beiseite gelassene Ontologie (s. Exkurs 12) merkte man in der Aufklärung: Das Denken, das über sich selbst nachdenkt, wird in Reinkultur zirkulär und erkennt nichts. Herder als Autor von Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784– 91)²⁴⁶ bricht aus diesem Zirkel aus und gründet seine Theorien nur „auf Physiologie und Erfahrung“; aber damit blieb er in der Minderheit. Zu seiner Zeit wichen die meisten Philosophen aus in die Moral. Zumal wo Konflikte zwischen Menschen unter jeweils gegebenen Lebensumständen der Gegenstand einer Wissenschaft waren, der Rechtswissenschaft nämlich, konnte das Ergebnis sein, dass diese sich solcher Regeln bewusst wurde, die „nicht philosophisch [apriorisch], sondern bloß historisch erwiesen sind. Das thut der Gewißheit der Regel so wenig, als ihrer Brauchbarkeit, Abbruch.“ So sagte es i.J. 1763 der Göttinger Jurist Gottfried ACHENWALL,²⁴⁷ über dessen Rechtslehre Kant in Königsberg seine Vorlesungen zu halten hatte. Ebenso bestätigt sich „Koschakers Wort, dass ,das Naturrecht zur Mutter der Rechtsvergleichung wurde‘“ (Mohnhaupt, „Vergleichung“ 114). Selbst Kants eigene, so hochabstrakte Terminologie, aus Introspektion gewonnen, zielt auf Erfahrung und bleibt freischwebend, solange sie nicht von dieser bestätigt wird.²⁴⁸ Die Analytische Philosophie des 20. Jh., die in der Theologie bisher nur wenig rezipiert wurde, besagt: Was unserem Denken vorgegeben ist, das ist die Alltagssprache, in der ein jeder aufwächst. Sie bestimmt zunächst einen jeden, ist aber keine Fessel, beobachtet man denn die Übersetzbarkeit der Sprachen ineinander und erweitert damit die seinige. Die einzige Wissenschaft, die ohne empirische Elemente auskommt, ist das, was die Antike „Geometrie“ nannte, heute betrieben als Mengenlehre, formale Logik, Mathematik und Geometrie, und selbst darin hat bisher noch jeder unterwiesen werden müssen, obwohl es, wenn man sie erst verstanden hat, Evidenzen sind (Exkurs 11). Alle anderen Wissensgebiete sind erfahrungshaltig; zugleich aber kommt ihrer keiner ohne Logik aus, auch nicht der Alltag. Die Theologie verfügt über kein apriorisches Wissen, und wenn es noch so oft behauptet wird. Sie beruht auf Erfahrungen,²⁴⁹ und zwar auf solchen, die in einer – sich
S.o. Exkurs 6 (Ende). Herders Hauptquellen für Sachwissen waren die Histoire naturelle und die Epoques de la nature von Georges Louis BUFFON. Zit. n. Mohnhaupt, „Vergleichung“ 110. Ebd. 110 f: „Die neue Philosophie des aufgeklärten mos Gottingensis bestand maßgeblich im Prinzip der ,Erfahrung‘, die die ,Regel‘ – d. h. eine Gesetzmäßigkeit – durch Vergleichung erkennbar macht und freilegt.“ Wie wenig das neu war, erweist Pufendorfs Eris in fast jedem der zugehörigen Traktate, wobei dort aber Gesetzmäßigkeiten eines Ablaufs niemals verwechselt werden mit Gesetzen als Regeln menschlichen Verhaltens. S. o. 4.7.2. Kant hat die Ontologie in Erkenntnislehre verwandelt. – Seine Einstellung zur Theologie ist bei Behrends, Der biblische Gesetzesbegriff 11, Anm 3, in einer halbseitigen Fußnote umrissen. Monographie: Lötzsch, Vernunft und Religion im Denken Kants; dort wird insbesondere der bis dahin unbekannte Einfluss des Aufklärungstheologen Johann Joachim SPALDING auf Kant nachgewiesen. – Kants theologische Äußerungen werden gern als defizitär getadelt; doch erhebt er nicht den Anspruch, das Gebiet der Theologie abzudecken. Seine Schrift Der Streit der Fakultäten (1798) gibt darüber in Kürze Auskunft. Elert, der in Glaube 114 die doxographische Einordnung für diese Auffassung gibt, tut dies im Rückgriff v. a. auf den Erfahrungsbegriff seines Erlanger Vorgängers im 19. Jh., Reinhold FRANK. Zur Kritik
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dabei bildenden – Religionsgemeinschaft gedeutet werden als Einwirkungen und Selbstäußerungen Gottes – „Gott“ verstanden als die Vernunft hinter dieser Welt (der logos, Joh B 1,1– 3). Die Annahme einer höheren und besseren Welt als dieser hiesigen braucht es dazu nicht, es bedarf keiner Übernatur über der Natur. Jene ferne Adresse, wohin das Wort von der himmlischen Bürgerschaft (Phil 3,20; # 327) einlädt, ebenso das „In-Christus-Sein“ (# 272) der ihren Herrn anbetenden Christengemeinschaft, ist nicht nach unseren drei Dimensionen lokalisierbar. Das Paradies, wovon Gen 2– 3 spricht, war irdisch gedacht, als Naturzustand der Menschheit, worin diese aber, auf Entwicklung angelegt, nicht bleiben konnte – insofern ist es dann auch ein symbolischer Ort, Benennung eines unwiederbringlich verlorenen Zustandes.Wenn die himmlische Heimat im Neuen Testament auch so heißt,²⁵⁰ ist an ein Wiedergewinnen jenes Zustandes gedacht als Ausgang aus der Zeit.²⁵¹ Doch weder mit dem einen noch mit dem anderen Paradies hat die Jurisprudenz etwas zu tun; Grotius, Pufendorf und auch Wolff holen kein „ideales“ Recht aus einer anderen Welt. Auch in der Jurisprudenz herrscht die Wahrnehmung der Menschenwelt, wie sie ist und nicht, wie sie sein sollte. Pufendorfs Leitbegriff der Sozialität hat sich bewährt, zumal er nicht nur historischer, sondern auch empirischer – nämlich soziologischer – Nachprüfung fähig ist. An diesem Ergebnis der beginnenden Aufklärung gibt es nichts zu „überwinden“; korrekturbedürftig ist vielmehr die Vergesslichkeit gerade der Humanwissenschaften.²⁵² Wie eine Mauer liegt in der deutschsprachigen Kultur das 19. Jh. zwischen uns und den Errungenschaften der Zeit davor. Was noch Hobbes betrifft, den gelesen zu haben man Pufendorf vorwarf (s.o. C 4.7.2): Dessen These vom „Krieg aller gegen alle“ als angeblichem Naturzustand – er war für Hobbes eine nahe, prägende Erfahrung gewesen,²⁵³ vergleichbar Platons Nomoi (626 A) –, weist er als Theoriegrundlage zurück (Eris 357 f; vgl. 45 – 48.314.338 – 340). Das hindert ihn aber nicht, Hobbes als scharfen Beobachter gesellschaftlicher Vorgänge zu würdigen
von dessen Position s. Elert selbst, Kampf 291– 296; sie trifft nur in dem Maße, wie man sich auf die Fiktion eines solitären Individuum einlässt statt auf die Religionsgemeinschaft. Es ging lange, bis evangelische Theologie diese Engführung des deutschen Idealismus (für die der sonst so maßgebliche Schleiermacher nicht verantwortlich war) wieder ablegte. Lk 23,43: „Heute wirst du mit mir im Paradiese sein“; vgl. 2Kor 12,4; Apk 2,7– das ist alles Einschlägige zum Stichwort „Paradies“ im Neuen Testament. Sachlich identisch ist das „Bei-Christus-Sein“, worauf Paulus sich gefasst macht in Phil 1,23. Vgl. # 301 zur Gleichzeitigkeit aller Glaubenden im Leib Christi. Vgl. G. GABRIEL in der „Vorbemerkung“ zum 13. und letzten Band des HWP (13, 2007, S. V): „Es geht darum, das vermeintlich Überwundene für mögliche zukünftige Aktualisierungen präsent zu halten und so Material bereitszustellen für (…) das Vermögen, neue, bislang nicht gesehene Zusammenhänge zu entdecken.“ Verallgemeinerungsfähig war sie deswegen noch nicht. Auch Grotius schrieb sein De jure belli ac pacis im Krieg (dem Dreißigjährigen) und optierte doch für den Primat des Rechts über der Macht. Bis heute unterscheiden sich angelsächsische und kontinentaleuropäische Rechtfertigungen politischen Handelns nach diesen beiden Optionen.
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(JN&G, praefatio XXVII) mit dem Zusatz: Es lehnen ihn diejenigen ab, die ihn am wenigsten gelesen haben. Pufendorfs Modernität erschließt sich erst, wenn man ihn in seinen eigenen Worten liest. Seine Sprache ist kein Scholastikerlatein, welches sich aus seinen eigenen Definitionen zu erneuern sucht, sondern das der Historiker, gesättigt aus zweitausendjähriger Erfahrung zivilisierter Gesellschaften.²⁵⁴ Die Bewältigung eines überreichen Vokabulars, die es verlangt, wird belohnt durch Anschaulichkeit und Konkretheit. Mit Pedanten (sein Ausdruck!) unter seinen Lesern rechnend, entschuldigt er seine Neologismen gleich in JN&G 1,1,1 mit einem eleganten Zitat aus Cicero. Mit dem Fortschreiten der Theorie darf sich bei ihm auch die Sprache entwickeln. Was er zutiefst verabscheut, ist die in Distinktionen sich erschöpfende Scholastik, die damals auch im Luthertum die Fächer Philosophie und Theologie all dem entfremdete, was Renaissance und Reformation an Fortschritt gebracht hatten. Wozu, fragt er sich an anderer Stelle (Eris 174 f ), hat Luther so sehr darum gekämpft, freizukommen aus den Denkgewohnheiten der päpstlichen Seite? Damit sind wir bei den inhaltlichen Fragen. Für Pufendorf ist die Metaphysik nicht mehr die Voraussetzung aller Wissenschaften (Eris 351; vgl. 202 ff.244 u. ö.). Schon für Grotius, bemerkt er dort, war sie es nicht mehr. Zu sehr krankt sie an Unklarheit und Mehrdeutigkeit (obscuritate et ambiguitate laborat) – so ebd. 251, mit vielen Zitaten aus Schriften seiner Kritiker, die unfreiwilligerweise genau dies belegen. Dem Jenenser Professor Valentin Veltheim, der ihn an seinem angeblich vorkosmischen Wissen messen wollte, antwortet er: Wie komme ich als Jurist dazu, mir von einem Philosophen und Theologen sagen zu lassen, welche Begriffe ich vorauszusetzen hätte (Eris 173 ff ) ? – Wir setzen hinzu: Eine Einheit der Wissenschaften kann man nicht im Vorab postulieren und eine Brücke zwischen ihnen kann man nicht vorher bauen; sie besteht im Austausch über ihre inhaltlichen und methodischen Gemeinsamkeiten. Hierin aber ist Pufendorf stark, auch im Wahrnehmen der Verschiedenheiten. Er selbst lässt sich an keiner Stelle versuchen, etwas Unerklärtes oder gar Unerklärliches mit dem Mantel des Tiefsinns zu umkleiden. Das Autoritätsargument (dass, wer einmal Autorität hatte, sie immer haben müsste)²⁵⁵ gilt für ihn nicht mehr (JN&G, praefatio XXVII; Eris 86 f.174.175). Große Namen sagen ihm nicht so viel wie sein eigenes Urteil. Die Voten der Früheren werden von ihm gehört, aber nicht nach ihrem bisherigen Renomee bewertet und nicht nach der Zahl der Anhänger. Nicht Autorität beeindruckt, sondern allenfalls die Gründe für das von den Autoritäten Gesagte. Diese erwägt der gesunde Menschenverstand, die sana ratio (262), bei ihm auch recta ratio (39) und nativa ingenii bonitas genannt (174) und den Distinktionen der Scholastiker weit vorgeordnet: Das ist der orthos logos der antiken Stoiker (s. Zu diesem an Archaismen wie Neologismen reichen Latein ist noch zu bemerken, dass citra im abstrakt-logischen Sinne „ohne“ meint. Eine andere Besonderheit des Juristenlateins, die aber auch schon in den Digesten häufig ist, besteht in der Nichtunterscheidung zwischen vel und aut; beides dient für „und/oder“. Siegert, Argumentation 65 f (nach Chaïm Perelman).
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# 263 zum „natürlichen Menschen“ und # 266 zum Naturrecht).²⁵⁶ Die dabei mögliche Schieflage des „gesunden Volksempfindens“ hat er bereits erkannt (151 f gegen den populi genius bei einem seiner Gegner)²⁵⁷ mit einem Scharfblick, welcher dem Rechtsnaturalismus des 19. Jh. abging. Die recta ratio, sagt er in diesem Zusammenhang, ist nicht die lex, sondern nur das Organ, welche das Recht erkennt; sie erzeugt nicht, sondern empfängt ihre Einsichten, und zwar aus detaillierter Kenntnisnahme der menschlichen Lebensbedingungen, der conditio humani generis (87.229). Hier gilt eine Sorgfaltspflicht.²⁵⁸ Da wo er von der Prüfungskompetenz der Vernunft spricht, die keiner Autorität etwas glauben müsse, fährt er fort (Eris 38): „Ich setze allerdings hinzu: mit der nötigen Sorgfalt und nach gründlicher Untersuchung – damit nicht jemand meint, ich traute in diesen Dingen der Vernunft völlige Perfektion zu.“ In diesem Sinne ist Pufendorfs großer Wurf das, was wir oben dem Thomas v. Aquin absprachen: ein Vernunftrecht, erstellt unice rationis lumine („allein mit dem Licht der Vernunft“, Eris 311– 313, hier 312). Offenbarung lässt er gelten da, wo der forschende Geist selbst nicht hinreicht; anderwärts aber lässt dieser sich nicht bremsen. Damals war Pufendorfs historisch-empirischer Ansatz in seiner Schlichtheit so neu, dass er die Inhaber akademischer Schulweisheit auf die Barrikaden holte. Deren Angriffe von juristischer, philosophischer und theologischer Seite (da wird dann „Irrlehre!“ gerufen) laufen meist darauf hinaus, dass Pufendorf keine Ontologie mehr kenne, sondern Cartesianer sei (Rationalist also, kein Traditionalist) und, horribile dictu, einiges von Thomas Hobbes gelernt habe, diesem schrecklichen Empiristen. Dass er dessen Warnung vor dem „Kampf aller gegen alle“ nicht die größere Macht, sondern das bessere Recht entgegensetzte, wird von seinen Gegnern nicht gewürdigt.²⁵⁹ Dabei scheut Pufendorf metaphysische Fragen – Letztbegründungsfragen – keineswegs, sondern eröffnet sein Werk mit einer Anknüpfung an dem Anliegen einer philosophia prima (JN&G 1,1,1) und gibt diesem breiten Raum, so wie er sich dann auch in
Auf tieferer Ebene liegt der angeblich vom Earl of SHAFTESBURY um 1700 aufgebrachte Begriff des common sense, dem das Moment der Kritik des vermeintlich schon Erkannten nicht unbedingt eigen ist. Vollends war dessen dt. Wiedergabe mit „gesunder Menschenverstand“ ideologieanfällig; dazu s. M. PROBST: „Anschlag auf die Vernunft. Der ,gesunde Menschenverstand‘“, Die Zeit 26.9. 2019, 37. Ein Jurist namens Scharschmidt, gegen den er sich hier wendet, hatte, was die Einrichtung von Staatswesen bestrifft, mithilfe des Paulussatzes „der Buchstabe tötet“ (# 308) sich gegen schriftliche Verfassungen ausgesprochen. Dazu Pufendorf: Allerdings kann nur eine solche Verfassung gelten, die vom Volk auch angenommen wird. Insoweit ist das Volksempfinden zu respektieren. Von dieser wurde inzwischen erkannt, dass nur die gemeinsame Anstrengung der Wissenschaftler, und nicht nur die eines einzelnen, ihr genügen kann, wie oben gesagt. Die Auffassung des Theologen Alberti, das Wohl der gesamten Menschheit könne nicht zugleich das Wohl einer einzelnen Gesellschaft sein (s. Eris 313 unten), kennzeichnet einen Biblizismus und ein Erwählungsdenken, das gegenwärtig, von den USA ausgehend, die Konfrontationen der Gesellschaften und der Systeme weltweit verschärft. Carl Friedrich v. WEIZSÄCKERs Anregungen zu einer „Weltinnenpolitik“ wären die ganz im Sinne Pufendorfs liegende Alternative dazu.
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seiner Eris reichlich darauf einlässt. Nur ist es, wie in Descartes’ Discours, ²⁶⁰ in Spinozas früheren Schriften²⁶¹ und in der Logique de Port-Royal, nicht die herkömmliche Substanzmetaphysik. Beharrlich verzichtet er auf Scheinlösungen ontologischer Art, die darin bestünden, Wirklichkeit a priori zu definieren, ohne sie (d. h. die Umwelt) wahrzunehmen, genauer gesagt: ohne anzugeben, was auf welche Weise wahrgenommen wurde bzw. wahrgenommen werden kann. Was die Begriffsmetaphysik liefern könnte, ist für Pufendorf „nichts als Staub und Schatten“ (Eris 361).²⁶² Befremdet fragte er damals seine Kritiker auf theologischen Lehrstühlen in Leipzig und anderswo: Was sollen – nach Luther – die Scholastik, die Aufspaltungen vorweltlicher Begriffe in der Theologie? – Sprachliche Anleihen bei der Ontologie können zwar auch bei ihm noch vorkommen, etwa in der Rede vom „Höchsten Wesen“, sind aber konventionell und bei ihm nicht Bestandteil einer Theorie des Seins, geschweige denn eines Spinnennetzes von Entitäten, Aseitäten, Quidditäten usw. Der Begriff entia moralia in JN&G 1,1,1– 2²⁶³ ist immerhin eine Anknüpfung, gedacht ad analogiam substantiarum (so 1,1,17 – „als wären es Sachen“), und genau das hat man ihm dann wieder verübelt. Dass es keine Substanzen sind, sondern ebensogut Akzidentien oder – wie er dann lieber sagt – Modi, ist bei ihm von Anfang an klar (1,1,3; Eris 185). Spinoza seinerseits hatte neben Sachen (res) auch Handlungen (actiones) als „in Natur existierend“ bezeichnet (De intell. emend. 65) und war damit abgewichen vom platonischen Begriff der onta/entia, der „seienden“ Dinge. Wir können ens auch übersetzen mit „Gegenstand“ (sc. einer Wahrnehmung und/oder einer Überlegung).²⁶⁴ Was Descartes dort von der Scholastik übernimmt, ist eine bestimmte Form des ontologischen Gottesbeweises, gegründet auf Gegebenheiten des menschlichen Bewusstseins (s. # 255), deren Herkunft freilich noch zu ergründen wäre. Vor der obscurité des distinctions et des principes dont ils (die Scholastiker) ses servent, warnte er damals (Discours 6, S. 70 [177]). In die Höhle Platons (auf S. 70 [178] spielt an das Höhlengleichnis an) will er Licht hineingelassen haben durch die Ausrichtung des Bewusstseins nicht auf pränatale Erinnerungen, sondern auf im Wachzustand gemachte Erfahrungen (expériences). – Descartes spätere Meditationes de prima philosophia sind demgegenüber ein Rückschritt in Richtung auf die offizielle Universitätsphilosophie. Es sei denn, man nehme die sibyllinische Formel in De intell. emend. 35 vom „Wahrnehmen (sentire)“ einer essentia formalis für eine solche, oder Abschn. 53 den Begriff von res necessariae für Dinge, deren Benennung ihr Dasein bereits impliziere – das wäre, pluralisch gefasst, der ontologische Gottesbeweis (so dann Abschn. 54 Anm. 1), mit dem noch nicht einmal die Existenz einer Welt bewiesen werden kann. Im Folgenden gehen bei ihm perceptio (was normalerweise „Wahrnehmung“ heißt) und conceptio („Vorstellung“) durcheinander. Goethe, Faust I, 1950 ff: „Da seht, dass Ihr tiefsinnig fasst,/ was in des Menschen Hirn nicht passt./ Für was drein geht und nicht drein geht,/ ein prächtig Wort zu Diensten steht.“ Er hat ihn von seinem Jenenser Lehrer Erhard WEIGEL (1625 – 1699; Verdross, Rechtsphilosophie 129), in dessen Haus er zeitweise lebte (Eris 102.105), und dieser Begriff hat ihm bessere Dienste geleistet als der Descartes-Schule die Unterscheidung von res cogitans (was zuallererst Gott sein sollte) und res extensa (womit die räumlich begrenzten Dinge gemeint sind). Noch weiter wäre der Begriff „Gegenstand“, wenn es der Gegenstand einer Aussage sein sollte, denn da wären Fiktionen eingeschlossen (schon der Mythos redete frei von Kentauren oder siebenköpfigen Schlangen). Das juristische Sachenrecht hingegen ist seit den Römern streng begrenzt auf Materielles, Anfassbares (§ 90 BGB), und um Dinge wie Computerprogramme zu Rechtsgegenständen zu machen,
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So freundlich bei Pufendorf die Anknüpfung bei der traditionellen Metaphysik gemeint war, so schroff ist sie von den Traditionalisten in der damaligen Rechtswissenschaft wie auch in der Theologie abgelehnt worden. Sein Buch war noch nicht gedruckt, da verteilte sein eigener Kollege unter den Lunder Juristen, ein Professor für römisches Recht, bereits Brandbriefe: das sei Atheimus!²⁶⁵ – offenbar nur deswegen, weil diese entia moralia nicht für „älter“ gelten konnten als der Mensch, aus dessen Natur sie sich bei Pufendorf überhaupt erst ergaben. Dass derselbe Pufendorf den Menschen als Geschöpf Gottes verstand und daraus auch Pflichten gegenüber dem Schöpfer ableitete, hat ihm in den Augen seiner Gegner nichts geholfen. Denn nicht die Gotteslehre oder gar eine ihr vorausgehende Ideenlehre diente ihm zur Letztbegründung seiner Rechtstheorie, sondern es war „nur“ eine – wenn auch theologisch abgestützte – Anthropologie. Auch der Immoralität wurde er geziehen, weil er die Mehrehe nicht für „an sich“ verboten hielt, was sie in der Bibel ja auch nicht ist, sondern ihr nur aus Erfahrungsgründen (Streitvermeidung) widerriet. Tatsächlich hatte er in JN&G 6,1,17 f das Pochen auf ein „göttliches“ Recht ad absurdum geführt mit dem Argument, was in 2Sam 12,8 als besondere Vergünstigung Gottes an seinen Messias auf Erden, David, dastehe, könne nicht „an sich“ oder iure divino verboten sein (vgl. Eris 46 u. ö.; s. # 323). Es seien zivile Gesetze, die es verböten, und aus vernünftigen Gründen. Den Schreckeffekt dieses Arguments hat Thomasius in satirischer Form aufgegriffen, auf Deutsch, und hat ihn im pietistischen Halle sehr genossen. Pufendorfs Ansatz ist bei der socialitas des Menschen, was mit „Geselligkeitsbedürfnis“ zu schwach übersetzt wäre; es ist das Aufeinander-angewiesen-Sein (JN&G 2,3,16; De off. 1,3,15; Eris 92 u. ö.).²⁶⁶ Auch „Pflege der Geselligkeit“ wäre zu schwach übersetzt, geht es doch um die Ausbildung der im Menschen angelegten Gemein-
gebraucht man heute den Begriff der„immateriellen Güter“. Dieser aber hat mit der hier darzustellenden Handlungstheorie nichts zu tun. Im vollen Wortlaut abgedruckt in Eris 122. – Zu Pufendorfs Abstand von jedem Apriorismus s. Lewalter, Metaphysik 80 f mit Leseproben aus der Eris Scandica. Ganz ähnlich knüpft Wolff, JN, praefatio, Bl. b4 v zunächst beim scholastischen Begriff einer Lex Dei aeterna an, welcher alle Geschöpfe, auch die unvernünftigen, unterworfen seien, geht dann aber eigene Wege. – Grotius hatte den Ausdruck qualitas moralis personae so definiert: „Qualitas (…) moralis perfecta facultas nobis dicitur; minus perfecta aptitudo: quibus respondent in naturalibus, illi quidem actus, huic autem potentia“ (De jure belli ac pacis 1,1,4 nach Hägerström, Recht 53). So kann man Termini der Ethik in Analogie mit Naturwissenschaft (dieser diente bei Aristoteles die Akt/Potenz-Unterscheidung) definieren. Auch Pufendorf spricht gelegentlich von quantitas bzw. qualitas moralis einer Handlung, letzteres, um die Nichtzuständigkeit der Mathematik aufzuzeigen. Zukunftsweisend waren seine Begriffsbildungen eher im Bereich dessen, was wir mit Wolff „Motivation“ nennen (# 274). Dazu Wesel, Gesch. des Rechts 370 sowie unten, Bd. II, # 3. Dahinter steht nicht nur Hobbes, was man ihm vorwarf, sondern auch schon Cicero: ius hominum (…) situm est in generis humani societate (Tusc. 1,64). Die Scholastik, von der er sich hier abgrenzt, hatte einen Begriff von Gerechtigkeit an sich (als Gotteseigenschaft oder gar als Gott vorgegebene Idee) an dieser Stelle erwartet, ebenso wie Pufendorfs Kritiker Leibniz (s.u.).
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schaftsfähigkeit, das Aneinander-Anteilnehmen (vgl. # 298). Dieses Anliegen überragt sogar die Interessen partikularer Gesellschaften (Eris 291). Für diesen von Hobbes bereits gebrauchten Begriff (wie er in Eris 45 zugibt), dem die transzendente Würde abzugehen schien, ist er viel angefeindet worden. Doch er blieb dabei: In Eris 239 u. ö. nennt er die cultura socialitatis sein Grundaxiom (fundamentalis propositio). Diesen Einsatz hat sein späterer Herausgeber Mascow gerne gelten lassen, war er doch durch die im 18. Jh. sehr hochgehaltenen Stoiker längst gesprächsfähig; auf S. XIV zitiert er in extenso die von Grotius wie von Pufendorf hierfür genannte Stelle, Mark Aurel 6,44,6. Er akzeptiert gleichfalls das Ausgehen nicht von „notwendigen“, sondern von hypothetischen Sätzen. Diese seien immerhin aus der conditio humana zu gewinnen (XI), ebenso aber auch aus Christi Gebot der Nächstenliebe (# 3). Dementsprechend legt Pufendorf, wo er Aristoteles zitiert, nicht dessen Metaphysik zugrunde, sondern, wie gesagt, v. a. die Nikomachische Ethik. ²⁶⁷ Diese schließlich hat mit Handlungen zu tun, nicht jene. So sagt er in Eris 216: Und deshalb sind die Beobachtungen, die aus der Beschaffenheit der Dinge zu gewinnen sind, tatsächlich jenes Letzte in den Humanwissenschaften (ultimum illud in scientiis humanis), vor welchem, sobald man hingelangt ist, keine apriorische Begründung mehr Platz hat (eoque observationes ex natura rerum petitae revera sunt ultimum illud in scientiis humanis, quo ubi perventum fuerit, nulla amplius ratio a priori locum habet).
Und eine Seite weiter: Es ist noch keine Medizin, zu sagen: Das Heilsame ist anzuwenden, das Ungesunde zu meiden! Sondern was für eine jede Krankheit heilsam ist und was schädlich, das zu erkennen „ist der Mühe wert“ (hic labor, hoc opus est).²⁶⁸
Den Theologen, die auf einem zugleich in der Bibel offenbarten, insbesondere einem aus der Schöpfungsgeschichte hervorgehenden Naturrecht bestanden, antwortet er: „Wir behandeln hier nur diejenigen Menschenpflichten (hominis officia), deren Notwendig-
So Eris 124; vgl. 344 zur Geschichte des Aristotelismus im europäischen Mittelalter. In JN&G 2,3,5 verweist er auf die Tugendlehre in EN 10,8, wo Aristoteles sagt (1178a 13 f ): „All dies erweist sich als menschlich (panta anthrōpika)“; von den Göttern bzw. dem Gott müsse man es sehr viel anders denken (1178b 12 ff.21 ff ): Sie hätten keine Schulden zu begleichen, kein Depositum zurückzuerstatten, keine Ehe respektieren usw. (Pufendorfs Beispiele). Aristoteles hat sich eben nicht nur an einer Metaphysik versucht; in anderen Schriften ist er Empiriker. Seine Wissenschaft auf diesem Gebiet ist freilich noch im Versuchsstadium und zugegebenermaßen eher eine Problemsammlung. Seine Schriften in Auswahl zum Wissenskanon zu machen, war eine willkürliche Reduktion. Nach Ovid, Ars amatoria 1,771. – Das hält er denen entgegen, die meinten, Maßgebliches gesagt zu haben, indem sie definierten: Honestum est faciendum, turpe omittendum (so schon Thomas v. Aquin, S.Th. 1-II 94,2 c.: bonum est faciendum et prosequendum, et malum vitandum). Hier wäre mindestens hinzuzusagen – so Pufendorf –, für wen und wann es schicklich oder unschicklich wäre, dies oder jenes zu tun. Thomas sagt es allgemeiner, sodass man gar nichts mehr dagegen einwenden kann; daraus ist aber für konkrete Entscheidungen nichts zu deduzieren.
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keit aus dem Licht der Vernunft (ex lumine rationis) eingesehen werden kann“ (Eris 111). Er fügt die Frage hinzu: Ob wohl jene theologische These, wonach die wesentliche Gerechtigkeit Gottes urbildlich (archetypa) sei für eine menschliche lex naturae, geeignet ist, als Ausgangssatz (fundamentalis propositio) zu dienen für die Disziplin des Naturrechts, welche allein auf Vernunft aufbaut und dem Fassungsvermögen des gesamten Menschengeschlechts angepasst sein soll, soweit es sich der Vernunft bedient, welche besondere Religion es auch immer habe?
Vielmehr sind Einsichten in die Natur des Menschen sein Ausgangspunkt (# 263). Von einer Philosophie, die sich ihre Grundlagen aus Offenbarung geben lässt, von einer „christlichen Philosophie“ etwa, hält er gar nichts; sie wäre ihm ein hölzernes Eisen.²⁶⁹ Auch der Pietismus wünschte sich eine „getaufte“ Vernunft,²⁷⁰ und von dem schon genannten Valentin ALBERTI, einem Wortführer lutherischer Orthodoxie der engsten und ängstlichsten Sorte, kam die Forderung nach einer logica Christiana (Eris 370 f ). Ihm ist das ein Widerspruch in sich. Logik entscheidet nur über die formale Richtigkeit von Aussagenverknüpfungen; ob „Mohammed ist ein großer Prophet“ falsch sei oder „Das Wort ward Fleisch“ richtig, könne sie nicht entscheiden. Die philosophia Christiana dieses Alberti beanspruchte „Aussagen (assertiones) des Heiligen Geistes“ als sicherste Grundlagen, worauf die Wissenschaften bauen könnten – worauf Pufendorf zurückfragt, ob das auch für die Wasser über dem Himmel von Gen 1,7 gelten solle (Eris 290).²⁷¹ Die principia rationis, mahnt er, sind mit Offenbarung nicht zu verwechseln und bedürfen auch von daher keiner Korrektur (ebd. 358). Das Verfahren, Aristoteles aus der Bibel korrigieren zu wollen, hält er für neue Flicken auf einen alten Schlauch (Eris 346 unten, zit. Lk 5,36). Die verständnislosesten unter Pufendorfs Kritikern waren Theologen. Sie warfen ihm vor, er treibe – keine Metaphysik. Als läge hier eine Aufgabe für Kirche und Theologie, und als dürfe sie damit der Jurisprudenz hineinreden! Diese ist für Pufendorf so wenig eine ancilla theologiae, wie er der Philosophie das zumuten würde. Er antwortet gelassen: Nicht ich habe mich in ihre Belange gemischt, sondern sie sich in die meinen (Eris 351), und: Diese Leute kämpfen mit ihren eigenen Schatten (ebd. 317). Sein Naturrecht ist unabhängig von dem, was die Theologen für Philosophie halten (336). Für ihn sei es kein Dekret von oben, sondern brauche nur den Bedürfnissen des menschlichen Lebens angemessen zu sein (81). So wie sie sind – theologisch gesprochen: in ihrer
Diesen Ausdruck (sidēroxylon) gebraucht er selbst von den „potentiellen Essenzen“ der Scholastik (Eris 318.320). Essentiae von noch nicht existierenden Dingen (das beträfe im 20. Jh. etwa einen Paul ALTHAUS, der in Die letzten Dinge [1922 u. ö.] von „eschatologischer Realität“ spricht) sind ihm conceptus rerum inadaequati. Allenfalls könnte der Vernunftgebrauch des religiösen Menschen gemeint sein und die in gegenwärtiger Philosophie sich festigende Bereitschaft, die „religiöse Verankerung der kulturellen Lebenswelt als eine wichtige Ressource anzuerkennen“; so Tanner, „Die Rechtswissenschaft“ 479 nach Udo DI FABIO. Vgl. Eris 311.346.361.371. Für ihn als Lutheraner hatten Fragen des Weltbilds nichts mit dem Glauben zu tun.
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Geschöpflichkeit –, sind die Menschen für ihn der Maßstab. Sie mit Gott zusammen in eine Klasse „vernünftiger Wesen“ zu fassen, wäre ihm als eine Anmaßung erschienen. Er sagt (252): Nur dies hatte ich vor: Recht zu erforschen, das den Menschen gilt. Vom Recht der Engel und der Teufel mögen jene subtilen Leute Theorien machen, die mit Doctores Angelici und Seraphici Bekanntschaft geschlossen haben und die über die Beschaffenheit (conditio) der Geister mit keiner geringeren Zuversicht disputieren als die Ärzte über die Teile des menschlichen Körpers.
Mit dem beanspruchten Apriorismus der katholischen Scholastiker oder auch Spinozas hat er nichts gemeinsam. Auf jene damals mit Ernst diskutierten Vexierfrage, ob Gott sich nach dem Guten richte (Platon) oder das Gute nach Gott (die Bibel),²⁷² antwortet er: Es gibt kein Naturrecht, das vom Willen Gottes, sofern er die Menschheit insgesamt betrifft, unterscheidbar wäre (Eris 324– 330).²⁷³ Pufendorf leistete damals eine Entmythisierung der von ihm berührten Geisteswissenschaften durch das Ausscheiden jeglichen angeblich präkosmischen, prähistorischen oder pränatalen Wissens. In Eris 76.78 u. ö., überall wo das Wort antecedenter „vorgängig“ in seinen Zitaten vorkommt (vgl. hier # 263 sowie die Bemerkung zu Röm 9,20 – 23 hinter # 277), verwahrt er sich gegen eine als Auslegung der Schöpfungsgeschichte sich gebende, scheinbar fromme Herleitung des Naturrechts aus abstrakten Werten, die Gott selbst noch vorgegeben seien.²⁷⁴ Die seltsame Vorstellung, das Recht müsse „älter“ sein als Gott, hat sich dennoch lange gehalten.²⁷⁵ Das HWP s.v. „Naturrecht, IV. Neuzeit“ bemerkt hingegen als Besonderheit der Rechtsauffassung Luthers, die ihn von seiner Epoche und von späteren unterscheidet: „Gott schreibt nicht das Recht vor, das unabhängig von ihm schon Geltung hat“ – wie könnte es das? –, „sondern umgekehrt: Das natürliche Recht hat Geltung, weil er es vorschreibt“ (A. HÜGLI, HWP 6, 582 mit Zitat aus De servo arbitrio,WA 18, 712,35). Hier hält Luther ganz treu zur Bibel: Die platonische Schöpfungslehre, wo der Demiurg zu den ihm vorgegebenen Ideen aufblickt (Tim. 40 C; 41 A ff ), lässt sich mit der biblischen nicht vereinbaren, so sehr es auch seit Philon versucht wird. Er hat das in der Septuaginta nirgends²⁷⁶ gebrauchte Wort dēmiourgos (eigtl.: „Handwerker“, nicht weit entfernt von banausos) in seine Genesis-
Sie begegnete schon bei Thomas v. Aquin: s.o. Exkurs 7. Ebd. 256 bemüht er hierfür Ps 115,3; Eph 1,11; Apk 4,11. Das mag als Schriftbeleg heute nicht mehr taugen; die These aber war uns erwägenswert zum Thema „Wille Gottes“ in # 46. So aber Thomas v. Aquin mit seiner in Exkurs 7 zitierten Auffassung, manches sei lege divina vorgeschrieben, weil es gut ist (quia bona); anderes hingegen werde erst gut durch göttliche Vorschrift. Grotius war ihm gefolgt; ausführliche Zitate dazu gibt Novak, Natural Law 42. – Dieser Gott ist ein griechisches Mythologem, nämlich der zu den ewigen Ideen aufblickende Demiurg Platons im Timaeus (s.o.), der Schöpfer des Zeitlichen; es ist nicht der Gott der Bibel. Leibniz ist ein Beispiel, aktueller der sich auf Leibniz beziehende Kant-Artikel von Lötzsch, „Ein Evangelium, das sich ,Gesetz‘ nennt“ 214. Mit einer bezeichnenden Ausnahme, die die Regel bestätigt: In 2Makk 4,1 ist ein unlautere Mittel benutzender Politiker ein kakōn dēmiourgos/incentor malorum, ein „Verursacher von Übeln“.
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Auslegungen hineingebracht, und der „Seiende“ von Ex 3,14 ist ihm der prominenteste Bewohner einer Welt von Ideen (Philon, Opif. 17.20 u. ö.). Die dem Naturrecht zugrunde liegende „Vorschrift“, welche mit der Schöpfung zusammenfällt, ergeht für Pufendorf aus diesem Grund ganz ohne Worte; sie ist Gegenstand des Ersten, nicht des Zweiten oder gar Dritten Artikels des Glaubensbekenntisses. Sie gehört nicht zur Offenbarung durch das Wort oder mittels des Heiligen Geistes. Dagegen ist auch heute theologisch nicht das Mindeste einzuwenden. Den Metaphysikern seiner Zeit aber missfiel, dass historische Erfahrung, auf Begriffe gebracht, als Rechtserkenntnisgrund reichen sollte. Das war zugegebenermaßen Empirismus (Eris 340), wenn auch ein an Gottes Schöpfung sich betätigender. Seine lutherischen Leser erinnert Pufendorf daran, dass die CA sie auf keinerlei philosophische Voraussetzungen festlege. Dass keine Wissenschaft sei, was nicht aus vorgefassten Begriffen deduziert werde, dagegen verwahrt er sich (Eris 238 f ), und das wäre wohl auch seine Antwort an Leibniz gewesen, hätte er dessen Kritik (hier Exkurs 13) bereits gekannt. Es ist schade, dass er seine Einsichten, die jedem Philosophen Ehre machen würden, nicht in einem eigenen Traktat dargelegt hat; das stand ihm anscheinend beruflich nicht zu.²⁷⁷ – Oben (C 4.6.1) bemerkten wir bei Luther die „Abkopplung politischer Fragen von solchen des ewigen Heils“. Pufendorf ist darin völlig konsequent und wehrt den Vorwurf ab, er vertrete den Reduktionismus einer „natürlichen Religion“. In England gab es das (Thomas BROWNEs Religio medici [1643]²⁷⁸ u. a.), auf dem Kontinent inzwischen auch, aber für ihn wäre das ein eklatantes Missverständnis. Mein Naturrecht ist doch keine Heilslehre! erwidert er (Eris 93). Natürliche Religion mache niemanden selig (ex sola religione naturali nemo salvatur), und so macht auch das Naturrecht keinerlei Heilsverheißungen, sondern beschränkt sich auf die Verhältnisse in dieser Welt und in diesem Leben (ebd.). Das sagt er gerade um der Heilsreligion willen, die ihm zufolge von der Staatsmacht nicht vertreten, sondern nur geschützt wird (# 362). Recht und Politik dienen dem Glück, nicht dem Heil (De off. 1,3,13; 1,4,8). Für Pufendorf zählt es zu den Gaben der Schöpfung, dass wir über deren Gegebenheiten nachdenken, ja sie nach-denken können. Will man es mit Thomas’ Bezugnahme auf den Heiligen Geist (Exkurs 7) vergleichen, so nimmt Pufendorf den Einsatz beim Ersten Glaubensartikel, etwas allen Religionen und selbst dem Deismus Gemeinsamen,²⁷⁹ und nicht beim Dritten, der nach christlichem Verständnis durch den Zweiten vermittelt sein müsste. Hierbei können wir noch deutlicher, als er es tut, zugeben: Evidenzen haben, wie alle Wahrnehmungen, ihre subjektive Seite sowie ihre objektiven Begrenzungen. Sie sind für viele, aber selten für alle Menschen gleich. Letzterer Vorzug, der Mathematik in ihren Zweigen und der formalen Logik eigen, wird vom Idealismus für anderweitige Überlegungen in Anspruch genommen, wo der menschliche Geist sich Auch Wolff, von Beruf und Anstellung nur Philosoph, wird aus diesem Grunde von Rechtshistorikern nicht immer wohlwollend zitiert. Natürlich kennt Pufendorf auch dieses Manifest des Deismus: JN&G 3,6,6; 8,12,7. Das „Licht, das in der Finsternis scheint“ von Joh 1,5.
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mit sich selbst unterhält. Mitunter hält er sich dabei sogar für den Weltgeist, ohne sich klar zu machen, wieviel „Welt“ er vorher mit seinen Sinnen wahrgenommen hat. – Mal um Mal antwortet Pufendorf seinen Kritikern gerade aus der Universitätstheologie, es gebe keine „an sich“ guten oder bösen Taten, und schon gar keine solchen, nach deren Unterschied Gott sich beim Setzen des Naturrechts gerichtet habe oder gar habe richten müssen; sondern so wie er in aller Freiheit die Menschennatur bestimmt habe, so entspreche ihr das daraus entspringende Recht. Die Kompliziertheit der scholastischen Rechtslehre ist ihm – um es mit einem modernen Wort zu bezeichnen – ein Herrschaftsinstrument der Römischen Kirche, dazu bestimmt, das Verhalten der Menschen abhängig zu machen von Weisungen der Priester (Eris 165). Gottfried Mascow bestätigt es ihm in seinem Vorwort zur 1744-er Ausgabe des JN&G (S. IX): er habe den Einfluss der Theologen – das meint hier in erster Linie sogar die protestantischen – auf die Moralauffassungen der Bevölkerung gebrochen. Im Übrigen hat diese Arbeit konfessionsübergreifend gewirkt. Nicht nur dass sie im Katholizismus der romanischen Länder Freunde fand, auch die innerprotestantischen Unterschiede, um die damals auf Kathedern und Kanzeln heftig gekämpft wurde, werden in seinen Texten irrelevant. Sein Übersetzer ins Französische und Kommentator in völliger Gesinnugsverwandtschaft, Jean DE BARBEYRAC, Berliner Hugenotte und Remonstrant (Gegner des strengen Calvinismus, wie Grotius), verdankt seine Karriere als Jurist dem Umstand, dass die Orthodoxie der Berliner französisch-reformierten Theologen ihn nicht ins Pfarramt kommen ließ.²⁸⁰ Berühmt geworden als Vermittler Pufendorfs, beschloss er seine Tage als Rechtsprofessor in Groningen. – Wie sich Pufendorf den Übergang von Naturrecht in positives Recht denkt, sagt er in JN&G 8,1,5 so: Es liegt bei den Königen, den Bestimmungen des Naturrechts (legibus naturalibus) die Gültigkeit bürgerlichen Rechts (vim iuris civilis) zu verleihen oder auch zu versagen, unter Zufügung oder Verhinderung von Strafen, und zugleich vieles, was außerhalb des Naturrechts liegt, als „Recht“ zu setzen durch Anordnung, als „Unrecht“ durch Verbot.
– wobei sinngemäß nicht nur Könige, sondern auch gesetzgebende Körperschaften in dieser Rolle zu sehen sind (s. # 280). Auch geht es nicht nur um Zivilrecht, sondern seit Grotius zugleich um öffentliches und sogar internationales Recht. Klar ist jedenfalls, dass „vollkommene“ Gesetze (s.o. A 2.1.1) nur solche sind, die von Durchsetzungsmaßnahmen gestützt werden; das sind allemal nur die positiven Rechte. In konsequenter Anwendung von Luthers Zwei-Reiche-Lehre verficht er die Säkularität des Rechts. Gegenüber der von der Kanonistik herkommenden Rechtstheologie seiner Zeit betont er (Eris 360), Gott als letztes Ziel menschlichen Strebens sei eine These der Moraltheogie, für die er nicht zuständig sei, so wenig wie er sich ein Wissen anmaße über prälapsarische Verhältnisse. Was er aber aus der Theologie wisse, sei, Über ihn s. F. PALLADINI: „Die Briefe Jean Barbeyracs an Jean-Alphonse Turretini“, in: S. (u. a., Hg.): Natur, Naturrecht und Geschichte, 2010, 257– 285.
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Exkurs 10
dass unsere Taten Gott nicht gefallen außer in Jesus Christus, von welchem die Urstandslehre kein Wort zu sagen hat (de quo in statu paradisiaco altum est silentium). Mein Vorhaben ist schließlich nicht, Menschen das Heil zu bringen; mir ist genug, wenn sie im Lenken ihrer Aktivitäten das Zusammenleben (societas) berücksichtigen als nächstes Ziel – was ja ein höchstes und edleres Ziel keineswegs ausschließt.
Ziel der Naturrechtslehre, so sagt er in De officio (praefatio § 6), ist nicht die Seligkeit – sie gibt, anders als die Theologie, keine Verheißungen Gottes wieder –;²⁸¹ sondern ihr Ziel ist die menschliche Geselligkeit, das gedeihliche Zusammenleben. Man muss sich heute wundern, wie sehr er dafür gescholten worden ist. Pufendorfs Naturrecht hat teilweise – manche werden sagen: überhaupt – Postulatscharakter, der aber unterstützt wird von der Evidenz seiner Grundannahmen (JN&G 1,2,3; nächster Exkurs) und von einer Vielfalt an Erfahrungen, die unter dem Terminus ius gentium vom Titel her schon mit angezeigt sind. Auch mit geringerer Gewissheit als einer vollkommenen muss auskommen, wer in konkreter Situation zu handeln hat (verisimilitudo, ebd.).²⁸² Eris 214: „Damit das Gesetz bindet (ut lex obliget), ist eine allgemein zugängliche (popularis) und schlichte (simplex) Erkenntnis genug, und es wird keine kunstvolle Beweisführung und Deduktion zu diesem Zweck erfordert.“ Bei seiner Cicero-Lektüre mochte er beobachtet haben, wie dieser Autor in Problemen des praktischen Lebens durchaus mit dem simile veri argumentiert (z. B. Tusc. 1,17), welches er auf philosophem Gebiet dann aber verwirft; dort will Cicero nur gelten lassen, was man ganz sicher weiß, und zitiert für alles andere Sokrates’ Maxime „Ich weiß, dass ich (es) nicht weiß“ (Acad. 1,44; 2,14.74). Auf absolute Gewissheit, nach der in den Diskussionen der Athener Akademie die Frage war, erhebt Pufendorf keinen Anspruch, lässt sich aber auch nicht von daher verunsichern. Seine prima philosophia gründet auf Evidenzen einer menschlichen, empirischen Art, nicht einer deduktiv-abstrakten. Was Pufendorf vermeidet, ist die Herleitung des Rechtes aus politischer Macht: „Es ist keineswegs mein Vorhaben, die Letztbegründung (ultima ratio) meiner Lehre aus Knüppeln und Schwertern zu gewinnen. Wer meine Argumente nicht verstehen kann oder will, hat für seine Haut nichts zu befürchten“ (241).
Diese Zurückhaltung – wir würden sogar sagen: methodische Sauberkeit – wollte Leibniz nicht gelten lassen mit dem Argument, die göttliche Vorsehung umfasse das zeitliche wie das ewige Heil der Menschen, und so müsse eine Rechtslehre, die um ersteres bemüht sei, auch letzteres ins Auge fassen (Leibniz, „Jugement“ § 6, S. 391) – nicht ohne seinerseits den Verdacht des Atheismus gegen Pufendorf zu richten. Der Kommentar der Ausgabe 1744 zitiert hierzu Seneca, De beneficiis 4,33,2: „Wir folgen dem, wohin uns die Vernunft, nicht die Wahrheit zog“ (ratio vs. veritas): Das ist die Vernunft i.S.d. raisonnable, nicht des rationnel, wonach der Idealismus dann gefragt hat. Kants Antwort ist bekannt, deckt jedoch nicht alle Entscheidungssituationen ab – mangels Konkretion, die er ja auch nicht wollte.
Der empirische Ansatz
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So ist er – in seiner Eris Scandica noch deutlicher – ein Aufklärer avant la lettre. ²⁸³ Anders als es damals in Frankreich und England geschah, stellte er sich als treuer Lutheraner keineswegs gegen christliche Theologie oder Kirche (die Römische allenfalls), sondern nur gegen deren Zensuranspruch gegenüber Theorien, über die zu urteilen die Bibel ihnen keine Legitimation gab. Sein Kampf ²⁸⁴ gilt der Unabhängigkeit der Geisteswissenschaften von theologischer Bevormundung, wie sie heute selbstverständlich ist – am Ende langer Rückzugskämpfe, welche die Kirchen sich hätten sparen können, hätten sie auf Denker wie ihn, dessen treues Christentum selbst der Pietistenvater Philipp Jacob Spener in seiner oben erwähnten Leichenrede zu rühmen wusste, aufmerksamer gehört. Dass er je des Atheismus geziehen wurde, zumal von Leipzigs angeblich so orthodoxen Theologen, kommt v. a. daher, dass er keine Seinsmetaphysik für nötig hielt und an keine präkosmischen Ideen glaubte. Die beiden Kapitel Gen 1– 2 reichten ihm nicht, um derlei Lehren für göttlich zu halten. Auch sah er die Zuständigkeit des Klerus in Fragen der Politik und des Rechtes sehr viel enger als die meisten seiner Zeitgenossen. In all diesen Fragen gibt es nichts, worin ihm die Nachwelt nicht Recht gegeben hätte. Die Kurzfassung (De officio) ist an manchen Stellen deutlicher als die lange. Ohne eine Erwähnung von Wesenheiten (entia) setzt sie direkt mit der Handlungstheorie ein, entsprechend JN&G ab 1,5. Den Ausdruck „Handlungstheorie“ für die neu gefundene Basis hat dann schließlich Wolff geprägt (s.u. Exkurs 12). Jedenfalls ist diese Wissenschaft erklärtermaßen postlapsarisch (# 263), d. h. nicht auf den paradiesischen Adam, sondern auf die erfahrungsgegebene Menschheit bezogen. Selbst den „Verhaltens“-Begriff hat Pufendorf gelegentlich schon, wenn er in JN&G 5,2,9 das Verb facere in einem so weiten Sinn nimmt, dass auch Formen des Nichttuns darunter begriffen werden, nämlich das Zulassen fremden Handelns.²⁸⁵ Ein anderer Neologismus bei ihm ist der moderne „Kultur“-Begriff. Hatte cultura bis dahin „Kultivierung“ (von Äckern) oder „Kult“ (von Gottheiten) bedeutet, so stellt JN&G 2,4,1– 2 dem jetzt die cultura animi voran, Geisteskultur (so auch 2,4,13, nach Cicero), und
Selbst Hattenhauer, Europ. Rechtsgeschichte 389 f nennt es ein „Vernunftrecht“, wobei seine Rede von der „Göttin Vernunft“ hier und öfter, bes. zu Wolff, polemisch ist. Geradezu irreführend ist die Kapitelüberschrift, unter der sie beide zu stehen kommen: „Der Absolutismus“ (383 – 445). Was noch den polemischen Ton in der Eris (und nur da) betrifft: Selbst der ernste Pascal hat damals Satiren geschrieben (Lettres à un provincial, 1657), gerade weil es ihm ernst war (in seinem Falle: mit der Moral). Als Einblick in heutige Handlungstheorie sei genannt H.-J. HÖHN: Zeit und Sinn. Religionsphilosophie postsäkular, 2010, 223 – 225. Bei Siegert, Argumentation zugrunde gelegt ist H. J. HERINGER: Praktische Semantik, 1974. In der Rechtswissenschaft wird seit einiger Zeit ein „finaler Handlungsbegriff“ diskutiert; doch ist dieser unbrauchbar, solange man sich nicht festlegt, ob die Finalität eine bewusste sein soll – dann reicht der Begriff „Absicht“ – oder eine unbewusste Zweckrichtung, wie in Naturvorgängen: Solches war eine Annahme des Aristoteles, die, von den Naturwissenschaften inzwischen aufgegeben, besser der Handlungstheorie verbleibt, in deren Zusammenhang er sie auch geäußert hat (s. # 128).
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Exkurs 10
findet ganz generell: Homini cultura sui est necessaria, „der Mensch braucht Kultur (wörtl. „…Ausbildung seiner selbst“).²⁸⁶ Im Übrigen ist das Humanitätsideal bereits bei Pufendorf, und nicht erst bei Herder, klar formuliert: JN&G 3,3 handelt „von den diversen Pflichten der Humanität“, und 3,3,1 hat zur Überschrift: Homo hominis commoda promovere debet, „jeder Mensch hat den Nutzen des anderen zu fördern“. Einfacher und zugleich deutlicher ist das Naturrecht nicht mehr begründet worden. Bei ihm ist vollkommen klarer Wein, was bei Thomasius in seiner unbestimmten Rede von einer lex divina (s. C 4.7.3) wieder zu gären anfing (weswegen Bloch diesen letzteren so sehr schätzt).²⁸⁷ Pufendorfs Gegründetsein in Erfahrung hätte LESSINGs nachmalige Forderung nach „ewigen Vernunftwahrheiten“ gar nicht erst aufkommen lassen;²⁸⁸ das Wirkliche war für ihn historisch oder physisch gegeben und musste nicht erst irgendwoher deduziert werden. Auch musste für ihn das Christentum nicht die wahre Religion sein,²⁸⁹ solang es nur überhaupt Religion war im Sinne einer Bindung des Menschen an Gott über einsehbare Pflichten. Dass christliche Religion an vielen Stellen darüber hinausgeht und bestimmte Ereignisse der Geschichte zugrunde legt für ein besonderes und in mancher Hinsicht paradoxes Gottesverhältnis (die „Torheit des Kreuzes“, 1Kor 1,18, bleibt bei Pufendorf nicht verborgen, und er hält es für schützenswert, wie jede konkrete Religion, die mit Recht verträglich ist. Soviel zur Erfahrung im Bereich der Religion, zumal der christlichen. Sie hat stets ein persönliches Element an sich, eine Aneignung des Überlieferten, die für eine rechtsgeschichtliche Betrachtung der Bibeltexte nicht das Thema sein kann. Was das Recht betrifft, so kann sich eine ihm gewidmete Theorie nur auf überpersönliche Erfahrung gründen: JN&G 1,2,5 (dort der Terminus inductio); ebenso 1,3,1; Eris 202.301 u. ö. Über Hobbes’ Dictum Auctoritas, non veritas facit legem (Schlosser, NERG 9 § 24 – als ob Gesetze, bloß weil sie keine Aussagesätze sind, mit Wahrheit nichts zu tun haben könnten) kam er weit hinaus, indem er gemeinschaftlich gewonnene Einsichten höher stellte als die Autorität einzelner Mächtiger. Wenn also Pufendorf in den nächsten beiden Bänden fast auf jeder Seite zu Worte kommt und gelegentlich auch seine Kommentatoren im Folgejahrhundert,²⁹⁰ so ge-
W. PERPEET: „Kultur“ in: HWP 4 (1976), 1309 – 1324. Die Cicero-Stelle ist: Tusc. 2,13. Bloch, Naturrecht 65 ff singt sein Lob, weil er frech war und unkonventionell, jedenfalls auch unklerikal. Diese ist, wie wir jetzt sehen, gegen den Stil der damaligen Theologie gerichtet, nicht gegen die biblische Botschaft oder gegen Bibelauslegung als solche. Herder stand ihm darin, wie auch sonst, durchaus nahe. Damals hatte Abraham CALOVIUS in seiner seit 1655 erscheinenden Dogmatik die von ihm gestellten Frage An judaica religio sit vera nicht als Frage nach der, sondern nach einer wahren Religion beantwortet; s. Lötzsch, Philosophie 81– 92. Am meisten beachtet wurde der celeberrimus (wie er ständig heißt: „cl.“) Jean DE BARBEYRAC, Rechtsprofessor in Lausanne und dann in Groningen, der das JN&G wie auch das De officio komplett übersetzt und dabei auch manche durchaus nötigen Textverbesserungen (Konjekturen) angebracht hat. Diese sind in die Ausgabe von 1744 aufgenommen und dort ausgewiesen.
Der empirische Ansatz
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schieht dies sowohl seiner griffigen Definitionen wegen wie auch, auf zwei Jahrtausende bezogen, wegen seiner enzyklopädischen Darstellung der europäischen Rechtsgeschichte. Mit seinem Einsatz beim Menschen und dessen Lebensbedingungen ist er ganz entschieden in seiner Gegenwart angekommen, und einem Weiterdenken in unsere heutige ist der Weg gebahnt.
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Exkurs 11
Exkurs 11: Der Begriff der Evidenz Dem empirischen Ansatz zugehörig ist sogar das, was wir nunmehr als Zentrum der Erkenntnislehre in den Blick nehmen werden: der Begriff der „Evidenz“, im vorigen Exkurs mit Blick auf die Mathematik schon gebraucht. Diese ist nun aber eine untypische Wissenschaft, weil sie rein apriorisch betrieben werden kann, so wie die formale Logik, die Mengenlehre und die immhin anschauliche Geometrie. Platon hätte es gerne für die Philosophie des Kosmos und der menschlichen Dinge so gehabt, aber zwischen Mathematik und den übrigen, erfahrungsbezogenen Wissenschaften klafft da ein breiter Graben. Wenn wir oben sagten, dass historische Ereignisse eine „Außenseite“ haben, das Feststellbare, und eine „Innenseite“, die Motive, so sind es die letzteren, deren Wahrnehmung oder Ermittlung uns die Ereignisse überhaupt erst „verstehen“ lässt. Damit sind wir im Bereich des Einsehbaren (bzw. auch Uneinsichtigen), und die höchste Stufe von Einsicht nennen wir „Evidenz“. Von ihr nimmt man mit hoher Gewissheit an, dass viele Zeitgenossen – sofern von ähnlichem Bildungsstand ausgehend – sie teilen werden. Bultmann, GE 157: „Echte historische Erkenntnis beruht nicht auf Feststellungen, sondern auf Evidenz“. Gleiches wird von den protestantischen Naturrechtlern beansprucht. Grotius, De jure belli ac pacis, Prolegomena § 39: Die Anfangsgründe (principia) dieses Rechtes, sofern du dich nur recht darauf besinnst (si modo animum recte advertas), sind klar aus sich selbst (per se patent) und evident (evidentia), etwa so wie das, was wir mit den äußeren Sinnen wahrnehmen, weil diese ihrerseits, sofern angemessene Instrumente der Wahrnehmung und das übrige dazu Notwendige gegeben sind, nicht täuschen.
Unter „das übrige Notwendige“ wäre hier u. a. die Unterscheidung von Traum und Wachsein zu verstehen, die nur in Ausnahmesituationen fehlgeht.²⁹¹ Hier hat sich die Menschheit, wie in allem, gegenseitig zur Hilfe. – Ebenso sagt es Pufendorf, JN&G 1,3,3 unter der Überschrift Intellectus circa moralia naturaliter rectus est, also: Die Einsicht in Fragen des Handelns ist etwas von Natur Verlässliches.²⁹² Dem steht die biblische Auffassung vom „Gefallensein“ des Menschen gegenüber Gott nicht entgegen, denn sie
Sie war nie ein ernstliches Problem. Den Unterschied zwischen Wachsein und Träumen kennt ein jeder – Nervenkranke ausgenommen – aus Erfahrung (was auch immer die Verdächtigung der Sinne im Idealismus dazu sagen mag) und lässt sich nicht dauerhaft davon täuschen. Ein ernstes Problem hingegen ist der Wirklichkeitsverlust (psychologisch gesprochen) solcher Politiker, die nur mehr das wissen bzw. sich sagen lassen, was ihren Machtrausch nährt. Von Adolf Hitler ist z. B. bekannt, dass er kritische Rückmeldungen zu seiner Politik, wie seine Spitzel sie ihm direkt nach der Pogromnacht von 1938 hinterbrachten, in einem seiner Tobsuchtsanfälle sich für alle Zukunft strengstens verbat. Im Text verweist er hierzu auf Richard Cumberland, De legibus naturae 2,10.
Der Begriff der Evidenz
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betrifft nur das Gottesverhältnis, nicht das rechte Handeln.²⁹³ Eine Verbindung besteht hier nur auf der negativen Seite: Der Mensch kann sich falsche Götter machen (die biblischen Schriften warnen davor unablässig), und diese können ihn zu falschem Handeln verleiten. Das aber ist ein irrationales Verhalten, wie man bei monotheistischer wie bei atheistischer Betrachtungsweise sagen wird. Pufendorf a.a.O. sagt weiter: Wenn aus Sorglosigkeit, Verführung durch andere oder was auch immer sich falsche Handlungsweisen ausbilden bis dahin, dass sich jemand Verhaltensregeln setzt, die der lex naturalis entgegenstehen, „so halten wir doch diese Ignoranz oder diesen Irrtum keineswegs für unbesieglich und für so weit reichend, dass die daraus kommenden Handlungen nicht angerechnet werden könnten.“ Evidenz im Recht ist z. B. dies: Zwei Parteien werden sich angesichts entgegenstehender Ansprüche nicht einig, einigen sich aber per Kompromiss auf einen Schiedsrichter. Dass auf diese Weise ein Streit geschlichtet werden kann, ist evident; Voraussetzung ist nur, dass die Kompetenzen des Schiedsgerichts hinreichend klar bestimmt sind – nämlich ob er nur einen Vorschlag zu machen hat oder ob man sich seinem Spruch von vornherein unterordnet, auch, wie der Spruch durchsetzbar ist. Das ist dann die Frage der klar abgegrenzten Begriffe (notions claires et distinctes) der Descartesschen Erkenntnis- und Entscheidungslehre, die die protestantischen Barockjuristen – anstelle der Ontologie bei den Katholiken – voraussetzen. Mehr ist, theoretisch gesehen, nicht nötig; in praktischer Hinsicht müssen freilich Institutionen mit Handlungsbefugnis hinzukommen, Vollzugsinstanzen. Evident, d. h. mit Sicherheit erkannt wird in der hier zu skizzierenden Philosophie nur, wozu die Sinne eine Vorlage lieferten. Hier liegt ein Unterschied zu jenen wenigen Wissenschaften, die rein apriorisch betrieben können. Deren Figuren haben eine ihnen eigene Evidenz – oder besser: eine dem „inneren Auge“ genügende Sinnfälligkeit –, von der Platon sich wünschte, sie eigne auch Begriffen anderer Art wie etwa „Gerechtigkeit“. Doch verbindet sich mit diesem wie mit vielen anderen keine dem Sehen analoge Tätigkeit, und als ein gegenstandsloses Kalkül lässt sich Gerechtigkeit auch nicht darstellen. Ist Pufendorf schon Empirist, wie Hobbes es in mancher Hinsicht auch war, so ist er doch kein Relativist. Er rechnet mit Evidenzen, erzeugt durch Eindrücke von außen und deren Verarbeitung von innen. Anders als Spinoza und nachmals der deutsche Idealismus erhebt er nicht den Anspruch bzw. erweckt nicht den Eindruck, sein Geist habe sie selbst generiert; gemeint sind – um es mit Descartes zu sagen – solche Sätze, die man „nur verstanden haben muss, um sie zu teilen“ (Discours 6, S. 68 [174]: il ne faut que les entendre pour les croire). Eine Philosophie dieser Art muss er aus Ciceros Academica bereits gekannt haben, und zwar aus dem Bericht über Lucullus in 2,1– 104, oben schon genannt (Exkurs 8). Dort wird dem sei es dogmatischen, sei es skeptischen Platonismus (über all dies berichtet Cicero im Kontext) eine Philosophie der Wahrnehmung (ka-
Luther hat bekanntlich eine sehr hohe Meinung von Cicero gehabt, insbes. von seinem De officiis: so in seinen Tischreden Nr. 3925 und 5012d (WA.TR).
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Exkurs 11
talēpsis; Cicero übersetzt wörtlich comprehensio)²⁹⁴ entgegengesetzt, welche letztere sich bis zur Evidenz steigern könne (enargeia; Cicero schlägt hierfür evidentia vor: 2,17). Est maxima in sensibus veritas, sagt Lucullus dem Gelehrtenkreis, aus dem Cicero referiert (2,19), und Sinnestäuschungen seien nie total, sondern korrigierbar; dafür gebe es eine Kunst (ars, 2,22), „die sich aus vielen Wahrnehmungen, vom Geist gemacht, zusammensetzt“. – Heute nennt man das nicht mehr nur „Kunst“, sondern auch „Wissenschaft“. In dieser Hinsicht ist Pufendorf horribile dictu ein Schüler Epikurs. Um nicht schon deswegen den Stab über ihm zu brechen, sollte man wissen, was Epikur, dessen Lehre über die Auszüge bei Diogenes Laërtius, Buch 10, stets zugänglich war, selber gemeint hat. Auch hier ist eine „Rettung“ fällig. Epikur hatte über Religion beklagenswert wenig zusagen, oder vielmehr: Sie war für ihn durchaus ein Thema,²⁹⁵ aber er hielt sie als bloße Konvention sich vom Leibe. Anscheinend ist sie ihm auf die falsche Art nahegebracht worden, als Angstmache; dieser Auffassung erteilte er eine schneidende Absage. Für uns aber ist er wichtig als der Vater des Begriffs „Evidenz“. Seine Art, ihn zu bestimmen, ist, im Gegensatz zu Platons sehr reduktionistischer „Höhle“, in der wir angeblich gefangen sind und die uns auf pränatale Erinnerungen hoffen lässt, nachweislich durchführbar, ja sie bedingt unser Überleben auf der Erde. Thomas von Aquin definierte Erkenntnis (intellectus) so: sie sei „einfach das Erfassen einer erkennbaren Wahrheit“.²⁹⁶ Für ihn sind ratio (Vernunft) und intellectus (Verstand) Synonyme. So weit, so gut; auch wir werden hier keinen Unterschied brauchen. Dass aber die damit gemeinte Leistung – unsere Denkleistung – abgetrennt von den Sinnen geschähe, ist dann eine falsche These, wenn man meint, es gäbe für sie keine Vorlage. Der Mensch ist nicht reiner Geist, so sehr er auch bei Bedarf seine körperlichen Funktionen aus dem Bewusstsein ausblenden kann. Thomas aber, obwohl er die als vollkommen, nämlich als augenblickliches Geschehen, vorgestellte Erkenntnis (cognitio) der Engel von derer der Menschen unterscheidet, welche nur in Schritten von einem zu etwas anderem geschehe (de uno ad aliud), verbindet dies mit der unbewiesenen Annahme, jede Bewegung gehe von etwas Unbe-
Ebd. 2,145 sagt er mehr über den Ursprung dieses Begriffs im Stoizismus. Juristisch interessant: Er sagt hinzu, dass das römische Recht beim Schwören (iurare) wie auch bei dem, was geschworene Richter erkennten (quaeque iurati iudices cognovissent), dies nicht als „geschehen“ (esse facta), sondern als ein „mir scheint“ (videri) vorzutragen sei. Über das Ermessen von Wahrscheinlichkeiten durch den Richter s.o. Norman Anderson in Exkurs 3. Das wissen wir nunmehr aus einer Reihe von Papyrusfragmenten aus Herculaneum (P. Herc.), die Schrift des Epikureers Philodemos, De pietate, bietend, worin dieser auch Epikurs Über die Götter und Über die Heiligkeit zitiert. Dort wird sehr empfohlen, Götterfeste mitzufeiern und Götternamen zu nennen. Insgesamt angezielt ist in dieser Philosophie ein hohes Ethos, verbunden mit Geselligkeit, wozu die Kulte nun mal gehören; s. D. Obbink (Hg., Komm.): Philodemus: On Piety, Bd. 1: Critical text with Commentary, 1966. STh. I 79,8 c.: Intelligere enim est simpliciter veritatem intelligibilem apprehendere. Anschließend wird ratiocinari dagegen differenziert als das Herstellen von Verbindungen zwischen erkannten Wahrheiten.
Der Begriff der Evidenz
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wegtem aus.²⁹⁷ Daraus folgt bei ihm, auch menschliche Erkenntnis gehe aus von schlechthinnigen Gegebenheiten (procedit a quibusdam simpliciter intellectis); diese seien ihre obersten Ausgangspunkte (prima principia). In Umkehrung der eben eingeschlagenen Richtung sagt er sodann: Der menschliche Geist „geht zurück bis auf die obersten Ausgangspunkte“ (redit ad prima principia, ebd.).Wie können wohl Anfang und Ziel dasselbe sein?²⁹⁸ Würden wir das, was Thomas hier meint, „Evidenz“ nennen, gebrauchten wir einen Begriff, den Epikur bereits geprägt hat, der damit allerdings Wahrnehmungen der Sinne meinte, und zwar die sicheren. Epikur, Ep. ad Herodotum 48 sagt in größerer Klarheit, als es die konkurrierenden Stoiker je vermochten: „Das Entstehen von Sinneseindrücken (eidōla) geschieht zusammen mit einem Denkaufwand (hama noēmati). Hier lässt er enargeiai klare Sinneseindrücke sein, verarbeitet von unserem Denkvermögen im Wachsein.²⁹⁹ Von „absoluter“ Sicherheit sagt er nichts. Wenn sein wenig jüngerer Zeitgenosse Euklid Evidenzen geometrischer Art darzustellen vermochte, beruht das auf einem gedanklichen Aufwand, welcher die Dinge, die ihn möglicherweise ausgelöst hatten, im Endergebnis nicht mehr brauchte. Gleiches vom „Sein“ zu behaupten, wäre in sich widersprüchlich, denn dieses soll ja kein bloßer Gedanke sein. Parmenides freilich, der mit Offenbarungsanspruch auftritt, meinte eine Evidenz erzeugt zu haben in der These: „Das Sein ist“ (Frg. 6, Z. 1), oder anders gesagt, fürs Sein als solches reiche das Gedachtwerden dafür aus, dass es „ist“.³⁰⁰ Damit bleibt es aber das einzige Geschöpf des menschlichen Geistes (und der griechischen Sprache), das dieser allein zustande bringt. Von der übrigen Welt ist damit noch nichts erfasst; wir wissen so noch nichts. Was inhaltliche Evidenzen betrifft, so ist deren erster Theoretiker Epikur gewesen. Sein Begriff enargeia meint die gedankliche Verarbeitung von Sinneseindrücken bis zur Klarheit – also das, was Descartes, ohne eine Quelle zu nennen, als notions claires et distinctes bezeichnet, gefolgt von Spinozas clare et distincte percipere (De intell. emend. 62). Solches Wahrnehmen bezieht sich nicht nur auf einzelne Dinge, sondern auch auf Sachverhalte. Aus Wahrnehmungen entstehen Einsichten, und deren Mitteilung erzeugt, wo sie gelingt, wiederum Evidenzen. Aus Spinozas früheren Schriften wurde oben schon (Exkurs 9) das Wort zitiert: Est (…) verum index sui et falsi, „Wahrheit erweist sich selbst wie auch ihr Gegenteil“.³⁰¹ Ebd.: motus semper ab immobili procedit. Man müsste schon die vertikale Linie umwandeln in einen Kreis (den hermeneutischen Zirkel; Exkurs 10), was Thomas aber nicht tut, weil es Empirie einschließen müsste. Vgl. ebd. 52.71.82 und Kyriai doxai 22. Dies alles wird zitiert bei Diogenes Laërtius 10,35 – 83 (Ep. ad Hdt.) bzw. 10,139 – 154 (K. d.); Nummerierung hier nach C. BAILEY (Hg.): Epicurus. The Extant Remains, 1926 (1975). Hexameter: To gar auto noein estin te kai einai (Frg. 3); vgl. Frg. 8, Z. 34: Tauton esti noein te kai houneken esti noēma: „Dasselbe ist das Denken und worüber das Denken geht.“ Ebenso in seiner gleichfalls 1677 pubizierten Ethik 2,43, scholion: Veritas norma sui et falsi est und, vorher schon, in De intell. emend. 44 und 46 (es folgt leider eine Lücke im Text): veritas se ipsam patefacit, „Wahrheit offenbart sich selbst“. Doch ist es nicht menschenmöglich, Irrtum a priori auszuschließen; jede
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Exkurs 11
Pufendorf, der den Begriff evidentia aus Cicero kennt (s. Exkurs 10), gebraucht ihn für solche observationes, die kein Vernünftiger in Zweifel ziehen könne (Eris 187). Dies ist keine religiöse Prämisse, sondern ein Anknüpfen bei der Alltagsbewältigung. Thomas von Aquin hingegen hatte die besten, die unzweifelbaren Erkenntnisse abhängig gemacht vom Wirken des Heiligen Geistes (s.o. Exkurs 7), was eine christliche oder gläubige Vernunft voraussetzt. Dass eine heidnische und insbesondere eine islamische Vernunft zu solch hohen Erkenntnissen nicht in der Lage sei, war das Beweisziel seiner Summa contra gentiles. ³⁰² Später freilich getraute er sich zu sagen: „Vielen Völkern ist eine Offenbarung widerfahren“ (S.Th. 2-II 2,7 ad 3 u. ö.; Pieper, Thomas 202). Eine Erkenntnislehre allgemeiner Art ist aber auch das nicht. Dafür musste das Abendland auf Francis Bacons Novum organon warten und auf dessen Leser. Die thomistische Philosophie geht aus von solchen Sätzen (propositiones), die „von Natur bekannt“ sind (natura notae, S.th. 2-II 1,5 c.), womit gemeint ist: von ihrer Natur, als sich selbst beweisende Formulierungen. Man vermeinte, solche zu kennen, die keine Tautologien sind. Wenn Pufendorf nun als „evident“ solche Ausgangssätze (hypotheses) bezeichnet, „welche weiteren Beweises nicht bedürfen, sondern durch ihre Offensichtlichkeit (evidentia) Glauben verdienen“ (JN&G 1,2,3), so könnte man auf ersten Blick vermeinen, das sei dasselbe wie bei den Scholastikern. In Eris 187 jedoch, wo er gegenüber dem Erzbischof von Uppsala seine Grundvoraussetzungen am deutlichsten ausführt, sagt er unter der Überschrift De fundamentali propositione legis naturalis, eine solche These (propositio) sei „nicht aus der Zahl derer, die gemeinhin als ,von Natur bekannt‘ (natura notae) bezeichnet werden, sondern deren evidentia ohne Herleitung dem Verstande sich empfiehlt (citra ratiocinationem intellectui sese adprobat). Was ist der Unterschied? Im Folgesatz erfahren wir es: Pufendorf geht aus von Beobachtungen (observationes), „welche die Natur der Dinge und des Menschen selbst liefert“ (quas ipsa natura rerum et hominis suppeditat).³⁰³ Nicht die Natur der Sätze ist gemeint, als hätten die Begriffe sich selbst erzeugt (Anspruch der Ontologie), sondern die Natur der Dinge, die wir beobachten, uns selbst eingeschlossen, ist das, worauf diese Wissenschaft sich gründet. Ein Postulat der scholastischen Moral- und Rechtslehre war ja, bei gewissen Handlungen liege in ihrer Natur (in natura actus) ihre Gebotenheit oder Verbotenheit, und ein Hauptsatz seiner Gegner war: Honesta per se sunt expetenda,
Evidenz beruht auch auf Wahrnehmung. Evidenzen sind und bleiben subjektiv; sie hängen stark von den Fähigkeiten des Verstandes ab. Ein Argument, als in den 70-er Jahren in Deutschland die Einwegflaschen eingeführt wurden, lautete: „Einweg – ein Weg…!“ Das war als Evidenz gemeint… Kommt drauf an, wie weit einer denkt. Wenn in der islamischen Welt eine „Erkenntnis“ der Menschenrechte bis heute ausbleibt, hat das ganz andere Gründe. Auch den Kirchen mussten sie im Laufe des 20. Jh. erst beigebogen werden. Und schließlich sind Bomben, Drohnen u. dgl. keine Argumente, am wenigstens das Auswechseln von Regierungen seitens christlicher Länder in nichtchristlichen. So wenig wie mit Kreuzzügen der Glaube, haben mit Kriegen die Menschenrechte sich ausgebreitet. Oben 4.7.2; dagegen auch Eris 74 f.
Der Begriff der Evidenz
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turpia per se sunt fugenda ³⁰⁴ – worauf er mit der Frage antwortet: Wie kommen wir dazu, gewisse Handlungen als „ehrenwert“ oder als „schändlich“ zu bezeichnen? Definitionen der apriorischen Art, so ist sein Ergebnis, kommen über die Zirkularität nicht hinaus. So beschaffen ist bei Pufendorf die Letztbegründung seiner Theorie. Dass zu deren Anwendung eine Methodik des Beobachtens gehört – ebenso, für Vergangenes, die Methodik der Geschichtswissenschaft –, ist den Folgejahrhunderten klarer geworden,³⁰⁵ und eine sehr aufgefächterte Wissenschaftslehre oder -theorie, für jede Wissenschaft ein Stück anders, hat die Folge angetreten für die allzu einfache, im Zirkel der Tautologien rotierende Lehre vom „Sein selbst“ und vom gleichfalls unqualifiziert „Seienden“. – Heutige Wissenschaften bewegen sich alle mehr oder weniger bewusst im Regelkreis des Vermutens, Erhebens von Befunden und Deutens durch neue Vermutungen, die wiederum der Überprüfung unterliegen. Hier braucht die Theologie, sofern sie sich ihrer historischen Basis vergewissert und einer widerspruchsfreien Terminologie befleißigt, sich nicht zu verstecken. Es gibt andere, sogar gefragtere Wissenschaften, deren Ergebnisse – ja selbst deren Grundlagen – weniger sicher sind.³⁰⁶ Die Spitze der Römisch-Katholischen Kirche lebt demgegenüber gedanklich in einer anderen Welt. Der zweite Band von Karl Rahners Sämtlichen Werken, Geist in Welt betitelt und seine Fundamentaltheologie bietend,³⁰⁷ setzt sich vom „klassischen vorkantischen Rationalismus“ ab, indem er inhaltlichen Sätzen – in unserem Falle solchen des Naturrechts – „keine Evidenz des Sachgehaltes“ zubilligt, um mit Thomas v. Aquin auf höherer, nämlich von jedem Sachbezug abstrahierender Ebene die „Gelichtetheit des Seins“ zum Ziel- und wieder Ausgangspunkt des Denkens zu machen (305 u. ö.). Das meint etwas Ähnliches wie bei Kant die Rede von den „transzendentalen“ Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung (rezeptiv) und der ethischen Entscheidung (produktiv).³⁰⁸ Doch was heißt hier „keine Evidenz des Sachgehaltes“? Das Beispiel, das Rahner gibt (310), ist ein Fehlgriff: Es ist der ontologische Gottesbeweis, den einige (darunter Puf., Eris 75.78.88. Diese Zirkularität, fügen wir hinzu, ist keineswegs der hermeneutische Zirkel, welcher stets Erfahrung mit einschließt und in wiederholten Durchläufen sich der Sicherheit annähert. Es bleibt aber ein Paradox der Wissenschaftsgeschichte, dass gerade das 19. Jh., das „historische“, am entschiedensten an idealistischen Voraussetzungen festhielt. War es keine Seins-, so wurde es eine Geschichtsmetaphysik. Nichts ging ohne eine vermeintlich allumfassende Ideologie. Um nur an die Wirtschaftswissenschaft zu denken, zumal wenn sie globale Vorgänge zu erfassen versucht. K. RAHNER: Sämtliche Werke, Bd. 2: Geist in Welt. Philosophische Schriften, 1996. Diesem Band folgend, könnte man „Fundamentaltheologie“ definieren als den Versuch der Römisch-Katholischen Kirche, den Absolutheitsanspruch ihrer Lehren in rebus fidei et morum abzusichern in den Tautologien einer Ontologie. Diese haben ja durchaus eine Art von Evidenz; nur folgt aus dieser nichts Bestimmtes. Die „transzendentale Einbildungskraft“ des katholischen Kantianismus, die hier dazwischen liegen müsste, ist kein Begriff Kants selbst.Was er kennt, ist die „ursprüngliche Apperzeption“ als ein „Actus der Spontaneität“ (KrV B 131– 133); doch hat diese keinen anderen Gegenstand als das Ich in seinem Unterschied zur Umwelt. Danach verliert sich sein Raisonnement im Ungefähren. Was er später (B 180) vom Begriff eines Dreiecks sagt, mag noch reinem geistigem Innenleben entspringen, nicht jedoch (ebd.) der Begriff des Hundes. Einen Hund kann ich nicht imaginieren, ohne einen gesehen zu haben.
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Exkurs 11
Descartes, Spinoza, Wolff ) für evident halten, andere nicht (vgl. # 255). Gerade dieser aber ist ein Räsonnement ohne Sachgehalt; es funktioniert nämlich nur, solange man die verwendeten Ausdrücke, insbesondere „groß“, undefiniert lässt: Was soll der Maßstab sein? Dass etwas, „im Vergleich mit dem nichts Größeres gedacht werden kann“, Gott sein müsse,³⁰⁹ ist immer nur einigen evident erschienen, anderen nicht. Luthers Gottesvorstellung z. B. umfasste das Größte wie das Kleinste (# 300 zum Thema „Körper“); Pascal seinerseits hat ja eine Unendlichkeit im Größten wie im Kleinsten entdeckt. Welcher Unterschied, fragen wir nun, wäre in Rahners Fundamentaltheologie zwischen „Sein“ und „existentem Sein“ (a.a.O.)? Gibt es auch ein nichtexistentes Sein – rein begrifflich, versteht sich, denn Wirklichkeit ist das längst keine mehr? Welchen Sinn hat ein Nachdenken über nichts Bestimmtes? Den Seinsbegriff zum Ausgangspunkt zu nehmen, der alles oder auch nichts meinen kann, und a priori getätigte Ableitungen mit frei geschaffener Anschauung zu füllen (das sind die phantasmata des Thomas),³¹⁰ ist ein Verfahren, das sich jeder Kontrolle entzieht, mithin für keine Wissenschaft eine Grundlage sein kann. Die principia per se nota des Aquinaten, auf die auch Rahner sich beruft (310 u. ö.; S.Th. 2-II 1,5 c.), sind für Pufendorfs Philosophie gerade nicht abstrakt, sondern müssen, um einzuleuchten, konkret sein, auch um den Preis einer nicht so hohen Universalität. Hier wird ein subjektives Moment jedes Evidenzen-Empfangens sichtbar, das zu den Ansprüchen der römisch-katholischen Naturrechtslehre überhaupt nicht passt. Die hinter ihr stehende Autorität ist ja nicht der menschliche Geist als solcher – wer könnte wohl für diesen sprechen? –, und es ist auch nicht der Heilige Geist, denn dann wäre es kein Naturrecht. Vielmehr hat diese Autorität einen Namen – Aristoteles –, und von dessen nichtempirischen Schriften wird, was ihre Methodik betrifft, zeitlose Gültigkeit behauptet. Dass ihnen keine Empirie zugrunde läge, ist Teil dieser Behauptung; sonst müsste man sie schon wieder relativieren. Die Geschichte des Naturrechtsdenkens, welcher oben Abschnitt C 4 gewidmet war, zeigt, wie falsch diese Behauptung ist. Ohne das Hinzunehmen all der Begriffsentwicklungen und Lösungsvorschläge, die bei Pufendorf in der Nennung von ius gentium im Titel mitgemeint sind, hätte man den Blickwinkel des Aristotelismus nicht zu öffnen vermocht, und es wäre so etwas wie Menschenwürde z. B. nicht ins Naturrecht und nicht in konkrete Verfassungen gekommen. Wenn nun aber „Zur Fähigkeit des menschlichen
Wirklichkeit, das weiß man heute besser denn je, kann auch sehr klein sein. Doch funktioniert der ontologische Gottesbeweis auch dann nicht, wenn man „groß“ durch „wirklich“ ersetzt, denn dann wird es ein unendlicher Regress, und Gott verschwindet in unermesslicher Ferne. Rahner a.a.O. 307. Dieser Begriff entspricht dem, was Kant „Anschauung“ nennt (Rahner ebd. mit Verweis auf Kant, KrV B 75). Eine Ideenschau à la Platon, inhaltlicher Art, lehnt Rahner – mit Thomas – jedoch ab (310), und Pufendorf braucht sie gar nicht erst: Ihm genügt, dass materielle Erkenntnisse aus Erfahrung kommen, und anders als der Thomismus nutzt er den Regelkreis des bei der Erfahrung Gedachten mit dem dann wieder zu Erfahrenden. – Mathematiker machen sich von ihren Abstakta dreidimensionale, mehrfarbige, klingende Vorstellungen, wohl wissend, dass diese nicht zutreffen; sie helfen aber weiter. Ähnliches wird hier offenbar versucht.
Der Begriff der Evidenz
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Geistes, Naturrecht zu erkennen“,³¹¹ die Lebenserfahrung, die Aristoteles selbst hierfür in Anschlag bringt (EN 1143b 11– 14; empeiros heißt dort schlicht: „erfahren“), umgewandelt wird in ein Autoritätsargument zugunsten dessen, was einem Aristoteles zu seiner Zeit klar war – als ob das keine Aufforderung wäre, aus weiterer, hinzukommender Lebenserfahrung zu lernen! –, entsteht jenes auf Einsichten der Vergangenheit sich berufende römisch-katholische Naturrecht, welches den Begriff des Naturrechts außerhalb des Katholizismus in Verruf gebracht hat. Demgegenüber wird jedes Bevormunden, man müsse in der Fage x doch der Überzeugung y sein – wobei es für schuldhaft gilt, die Meinung w oder z zu hegen (vgl. # 288 zur Frage der Menschenwürde) –, im vorliegenden Werk vermieden. Der oben zitierte Begriff von principia per se nota et per consequens visa, also „Anfängen, die sich selbst bekannt machen und daher gesehen werden können“ (um es überdeutlich zu übersetzen) bei Thomas (S.Th. 2-II 1,5 c.) nimmt das „innere Auge“ zur Hilfe bei der Vorstellung von etwas, was nicht erfahrungsgegeben sein soll. Da diese Sehergabe, die besser sein sollte als verarbeitete Sinneserfahrung, bis heute nur wenigen eigen ist, kann es als ein Schritt nach vorn gelten, wenn in moderner Philosophie und Wahrnehmungspsychologie der Begriff disclosure, dt. „Erschließung“,³¹² diese Stelle einnimmt. Er meint eine allgemein-menschliche, wenn auch bei keinen zwei Menschen völlig gleiche Erfahrung, die des „Aha-Erlebnisses“. Der „Groschen fällt“, „ein Licht geht auf“ usw. Das Wort „Lernen“ im emphatischen Sinn meint Evidenz. Wenn jemand im Rückblick auf eine Situation sagt: „Daraus hab’ ich was gelernt“, dann meint er mehr, als etwas gesagt zu bekommen und zu memorieren. Es meint: „Hier ist mir etwas klar geworden; jetzt weiß ich mehr.“ Für dieses ehedem im Deutschen nur mit Metaphern bezeichnete Phänomen der disclosure – der Terminus ist inzwischen: „Erschließung“ – sind schon Theorien entwickelt worden.³¹³ Dass solche Theorien v. a. der Psychologie angehören, spricht nicht gegen sie; es hilft der Philosophie heraus aus dem goldenem Käfig einer nur ihr eigenen Terminologie. Auch hat Pufendorf, von evidentia sprechend, noch nicht einmal psychologische Argumente gebraucht, sondern sie definiert als etwas, was nach kürzerem oder längerem Lernprozess einsichtig wird (Eris 164), wobei er allerdings hinzufügt: unabhängig von religiösen oder kulturellen Voraussetzungen. Das kann nicht viel sein,
Ein Aufsatz dieses Titels von W. WALDSTEIN bildet den Abschluss des Tagungsbandes von Armgardt/ Repgen, Naturrecht, 173 – 187. Der inhaltlich entgegengesetzte Vortrag eines italienischen Jesuiten, dessen Publikation die päpstliche Glaubenskongregation verboten hatte, wird dort nach einem Typoskript zitiert. Dies ist der Zentralbegriff in der Arbeit des auch als Thomas-Kenner ausgewiesenen W. DE PATER (O.P.): Reden von Gott, 1974; Kurzfassung: ders.: „Erschließungssituationen und religiöse Sprache“, Linguistica Biblica 33, Dez. 1974, 65 – 87. Seine Beiträge basieren auf der analytischen Philosophie religiöser Sprache. Schon W. CHRISTIAN: Meaning and Truth in Religion, 1964, hatte Tillichs Kritik an objektivierendem Reden in der Theologie dahingehend fruchtbar gemacht, dass er religiösen Aussagen suggestive Kraft zuschrieb (256 – 260): „We can suggest religious truth but we cannot say it, even in part“ (257). Worauf er zielt, ohne den Begriff schon zur Verfügung zu haben, ist „entdeckendes“ Reden, disclosure. Siegert, Argumentation 105 – 107 (Lit.).
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Exkurs 11
müssen wir hinzusetzen, sondern hängt noch ab von einer (hoffentlich fortschreitenden) Völkerverständigung. Evidenz kann erlebnishaft erfahren werden. Manches Bekehrungserlebnis ist von dieser Art, oder auch das Damaskuserlebnis des Paulus (Röm 9,1– 19), bei dem ihm schlagartig klar wurde, dass die Christenverfolgung, zu der er gerade unterwegs war, der falsche Weg war, und er – inhaltlich gesehen – um 180° umkehrte. Ähnlich ja Luther in seinem Bemühen, mit Fasten und Kasteien einen gnädigen Gott zu finden, das sich in dem Moment auflöste, wo ihm bei seinem „Turmerlebnis“ klar wurde, was „Gerechtigkeit Gottes“ bei Paulus meint (# 262), und einer neuen Freiheit Raum gab. Erlebnisse dieser Art ohne Inhalt („Gelichtetheit des Seins“) dürften rar sein, und ihre Wichtigkeit für die Humanwissenschaften (von den Naturwissenschaften ganz zu schweigen) wird von HEIDEGGER grotesk überschätzt. Er selbst setzte sie unter der Bezeichnung „das Denken“ (sc. welches sich selbst denkt) in Gegensatz zu den Wissenschaften, von denen er bekanntlich sagte, sie „denken nicht“. Damit ist ihnen aber keine Hilfe geleistet. Immanuel KANT, in dessen Kritiken die Ontologie der europäischen Tradition ihr Ende fand – man nannte ihn den „Alleszermalmer“, als hätte jede Wissenschaft auf Ontologie beruht –, hatte nicht mehr den Anspruch erhoben, ein Theoretiker des Seins zu sein, sondern einer der Erfahrung (KrV) und einer der Entscheidung (KpV). Er ist zur Breite des aristotelischen Denkens zurückgekehrt. Inzwischen ist auch im Katholizismus die Ontologie nicht mehr die Mutter aller Wissenschaften. Josef RÖMELT versucht, „Rechtsethik und Theologie des Rechts jenseits von Naturrecht und Positivismus“ zu betreiben (so der Untertitel seines Menschenwürde und Freiheit):³¹⁴ Positivismus (das wäre z. B. die Reine Rechtslehre von Hans Kelsen, zu schweigen von Carl Schmitt) sei abzulehnen, weil er die Grundfragen ausklammert, Naturrecht nach katholischem Verständnis aber auch, weil dieses eine nicht mehr konsensfähige Metaphysik voraussetzt. So verlegt sich Römelt – mit seinen Überlegungen beschließen wir diesen Exkurs – auf Jürgen HABERMAS’ Diskurstheorie und auf eine „diskursethische“ (will sagen: aus freiem Meinungsaustausch kommende) Rechtsbegründung (so 30 f u. ö.), was Pufendorfs historisch-empirischem Ansatz durchaus nahe ist – abgesehen lediglich von Römelts Unkenntnis aller Rechtstheorien, die dem 20. Jh. vorausgingen. Gelegentlich dringt jedoch auch bei ihm noch jene antike Auffassung durch, als müssten menschliche Handlungen mit kosmischen oder physikalischen Gegebenheiten übereinstimmen. Die Begriffe „Geschehen“ bzw. „Verhalten“ bzw. „Handlung“ (nur letztere wäre für Menschen zu reservieren) werden nicht hinreichend geschieden.³¹⁵
Wir nehmen dieses Buch hier beispielhaft für weitere, ähnliche Entwürfe, wie sie ebd. 37 Anm. 39 (E. SCHOCKENHOFF) und 62 Anm. 80 (K. TANNER) genannt werden. Aus diesem Grund wird auch die streckenweise so brillante Arbeit von Jürgen RÖDIG: Die Denkform der Alternative in der Jurisprudenz, 1969, obwohl sie auf weiten Strecken eine Handlungstheorie ist, hier nicht dienen können.
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Dem „gewaltfreien Diskurs“ (Meinungsaustausch) kann man zutrauen, das zu ermitteln, was der Sozialität entspricht. Der „Menschenrechtsgedanke“, den Römelt zugrunde legt (43), ist ja wohl ein Destillat aus Überlegungen über gewaltfreies Zusammenleben. Wenn auch Römelt auf derselben Seite die „Transzendenzverwiesenheit des Menschen“ anmahnt, so bleibt dies doch folgenlos, weil unausgeführt.³¹⁶ Im öffentlichen Gespräch seien die „Dimensionen der Erfahrung von sozialer Verbundenheit und von Transzendenz“ wahrnehmbar (ebd., bezogen wohl auf christliche oder überhaupt religiöse Impulse in diesem Gespräch). Weder formale noch inhaltliche Vorgaben werden hier vom kirchlichen Lehramt entgegengenommen; Freiheit der Meinungsäußerung genügt: „Und es ist die Frage, ob es nicht erst diese Freiheit ist, welche die Aufgabe der Legitimation nach dem Verlust des Naturrechts zu übernehmen vermag“ (46). Diese Frage kann Römelt allerdings nur teilweise bejahen angesichts dessen, „dass die entscheidenden Werteinsichten auch innerhalb der modernen, komplexen Gesellschaften nicht durch die Rationalität allgemeiner kommunikativer Regeln oder gar rechtlicher Sicherungsstrukturen des demokratischen Diskurses (…) gestützt und hervorgebracht werden“ (53). Wertorientierungen – das lehrt in der Tat die empirische Soziologie bis hin zur Völkerkunde – haben etwas Irrationales, auch schon diesseits jeder religiösen Orientierung. So gibt Römelt sich nicht damit zufrieden, „dass man die Theorie des kommnikativen Handelns als ,letzte Chance des Naturrechts‘ bezeichnet hat“ (62, nach Klaus TANNER), sondern sucht weiteren Grund zu finden in der Systemtheorie, einer vertieften Soziologie. „Jenseits von Naturrecht und Positivismus“ (so Römelts Untertitel) gibt es keine Normen. Was aber könnte, von „jenseits“ kommend, der Aufstellung von Normen in der – manchmal ja sogar erbetenen – Beratung des Gesetzgebers hilfreich sein? S. 97 fordert eine „Offenheit menschlichen Daseins auf Transzendenz hin“. Das hatten die lutherischen Naturrechtler aber auch schon in ihrer These Deum esse colendum (# 224, zu Apg 17), was für sie aber keinen Führungs- oder Weisungsanspruch der Kirche(n) ergab, sondern deren Schutzwürdigkeit. – Letztlich aber steht Begriff der Evidenz in keinem alternativen Verhältnis zur Behauptung vor- oder überweltlichen Wissens, sondern in einem explikativen.Was Platons vielbewundertes Höhlengleichnis (Politeia 514 A bis 521 B; 539 D bis 541 B) darstellt, lässt sich entmythisieren³¹⁷ als einer von vielen möglichen Ausdrücken des inneren Erleb-
Stattdessen verweist er zunächst (43 Anm. 52) auf ein i.J. 2004 veröffentlichtes Gespräch zwischen Jürgen HABERMAS und Joseph RATZINGER zu dieser Frage. Weiter hinten (100) liest man: „Die lehramtliche Theologie bindet sich (…) immer an den Gedanken eines Personrechts [vgl. # 288], das mit dem naturrechtlichen Ordnungsdenken im Sinne der Voraussetzungen des menschlichen Freiheitsvollzuges verbunden bleibt. Freiheit (…) bleibt danach auf eine religiöse Erfahrung bezogen, in der sie sich ihrer selbst als Geschenk bewusst wird.“ In Andeutungen dieser Art erschöpft sich des Autors Theologie; aufs Neue Testament nimmt sie so gut wie nie Bezug. Hier: im Verzicht auf Platons Seelen-Mythos. In lutherischer Theologie (CA, Elert) wird er weder für ein Vor-Leben bemüht, noch für ein Nachleben (biblisch: ewiges Leben); s. # 41 zum biblischen SeelenBegriff und vor # 163 (zu Joh 11) zum Thema „ewiges Leben“.
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Exkurs 11
nisses der Evidenz. Dem Schreiber dieser Zeilen ist ein solches widerfahren beim Lesen eines Gedichts des Boëthius, eines bekennenden Platonikers, zum Thema der Wahrheitssuche. Dessen zentrale These ist (Z. 11):³¹⁸ Haeret profecto semen introrsum veri –
„Ein Samenkorn von Wahrheit haftet (einem jeden) im Inneren.“ Und die Schlusszeile lautet: Quod quisque discit, immemor recordatur –
„Was einer lernt, daran erinnert er sich ohne (Anstrengung des) Gedächtnis(ses)“; man kann auch übersetzen: „…erinnert er/sie sich unbewusst“. Was ist das anderes als die innere Erfahrung von Evidenz?
De consolatione Philosophiae 3, metrum 11. Die Verse sind Iamben mit gelängter vorletzter Silbe (Choliamben).
Von der Ontologie zur Handlungstheorie
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Exkurs 12: Von der Ontologie zur Handlungstheorie Mag sein, dass das Folgende der überflüssige Versuch ist, eine Leiche zu töten. Betrachtet heute noch jemand die Metaphysik in ihrer „Ontologie“ genannten Form als Wissenschaft, ja als „erste Wissenschaft“? – Auf naturwissenschaftlicher Seite bestimmt nicht. Die Philologien, was sie betrifft, haben es mit Worten zu tun und mit Sprache, aber nicht mit Wirklichkeit. In der Ersten Philosophie aber (wie Aristoteles selbst seine Metaphysik nannte) geht es um Wirklichkeit im Gegensatz zu bloßen Vorstellungen, die ja mit genau den gleichen Worten beschrieben werden können.³¹⁹ Die Linguistik beschäftigt sich mit Fragen einer Ersten Philosophie insofern, als sie – im Bunde mit der Analytischen Philosophie – das Wortfeld um „Wahrheit“ und „Wirklichkeit“ klärt.³²⁰ Voraussetzung ist der sorgfältige Unterschied zwischen Objektsprache und Metasprache,³²¹ der auch im vorliegenden Kommentar sorgfältig gewahrt bleiben wird. Die Unterscheidung der Wörter von den Sachen ist fundamental für jede Wissenschaft, die ihren Gegenstand nicht verlieren will. Um welche Art von Sachen aber handelt es sich in der Rechtsgeschichte wie auch in der Rechtswissenschaft überhaupt? Pufendorf ist der erste, der uns klar sagt – wie gleich zu zeigen sein wird – : Sie ist eine Handlungswissenschaft. Sie ist darin nicht allein; viele Humanwissenschaften haben diesen Charakter. Für die Geschichtswissenschaft hat Bultmann, GE 155 – 165, dem Philosophen Robin Collingwood folgend, diesen Nachweis erbracht. Von der Menschengeschichte gilt: „Jedes Ereignis hat eine Außen- und eine Innenseite“ (155). Von außen gesehen, ist es ein Ereignis,³²² von innen gesehen aber ist es eine Handlung. Ihr geht ein Denkprozess voraus, und sei es auch ein unvollkommener (Nähe zum Reflex, wie bei Tieren). Eine Handlung
Nur ein – allerdings häufiges – Missverständnis weist der Metaphysik das „Übernatürliche“ zu. Tatsächlich greift sie oft in das Übersinnliche aus, das nicht Wahrnehmbare, welches ja auch auf irgendeine Art gegeben oder „notwendig“ sein könnte. Dass es für das sinnlich Wahrnehmbare auch schon eine Wissenschaft geben könne, belegen diejenigen Aristotelesschriften, die unter der Rubrik physika, „Natürliches“, laufen. Das macht die Wortbildung „Übernatürliches“ verständlich, aber doch nicht korrekt, denn von einer Welt „über“ der unseren (was immer das heißen mag) beansprucht Aristoteles keine Kenntnis. Eine Übersicht, gegeben bei einem englischsprachigen Anlass, ist F. SIEGERT: „On referring to something, meaning something, and truth: A terminological proposal“, in: Z. RODGERS (Hg.): Making History. Josephus and Historical Method (JSJ.S 110), 2007, 27– 48. Der Titel des eben genannten Sammelbandes ist ein Beispiel für das Gegenteil. Er unterscheidet nicht zwischen making history und writing history. Wir sehen ab von dem Moment an Subjektivität, das in der Bezeichnung von Ereignissen innewohnt. Die Wortwahl grenzt sie überhaupt erst ab aus einem sonst ununterschiedenen Kontinuum. Insofern gibt es, wie Bultmann auch betont, keine Ereignisse „an sich“, so sehr sie auch unserem nachträglichen Einfluss entzogen sein mögen.
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Exkurs 12
„setzt (…) eine reflektierte Willensbewegung voraus, nämlich die Absicht, ,etwas zu tun, von dem wir eine Vorstellung haben, bevor wir es tun‘“ (161).³²³ Genauer (167): Menschliche Handlungen sind im Unterschied von Naturvorgängen und mechanischen Abläufen gewollte Handlungen. Das Wollen setzt eine Vorstellung vom Gewollten, vom Zweck, voraus, und das Handeln, das das Gewollte erreichen will, die Vorstellung von Mitteln.
Die dem Handeln innewohnende Entscheidung ist auch eine „Entscheidung gegenüber der Zukunft“ sowie eine „Entscheidung gegenüber der Vergangenheit (…): ob und wie sie für die Zukunft maßgebend ist“ (169). Das ist eine Absage an jeden Determinismus auf diesem Gebiet, wie sie auch die Jurisprudenz nicht anders fassen könnte. Dabei ist das Phänomen der unreflektierten Entscheidung, worin die Freiheit ja bis auf einen Reflex reduziert sein kann, durchaus berücksichtigt.³²⁴ Die Geschichte, ob biblisch oder profan, hat es also mit Handlungen zu tun, das Recht nicht weniger. Demgegenüber wird in akademischer Theologie, insbesondere in der Fundamentaltheologie römisch-katholischen Zuschnitts, gerne beim „Sein“ (ens, esse als wiedergabe von to on, to einai) eingesetzt und nicht bei der Geschichte. Diese letztere, detailbelastet wie sie ist und mit größeren oder geringeren Margen an Unsicherheit behaftet, scheint weniger geeignet zu sein als der Anfang „oberhalb“ von allem, bei einer reinen Deduktion. Rein formal scheint solcher Absolutheitsanspruch angesichts der Relativitäten der Geschichtsforschung näher zu sein bei dem, was sich „Offenbarung“ nennt und menschlicher Unsicherheit entnommen zu sein scheint – dem Anspruch nach. Tatsächlich aber ist Offenbarung uns in all ihren Facetten historisch gegeben – es sei denn, jemand verschriftlicht seine Visionen, was es ja auch gab, aber keinen verallgemeinerbaren Erfahrungsbezug hat, insbesondere keinen zu gegenwärtig möglichen Erfahrungen. Pufendorfs Kampf mit den Theologen, die ihm einen Metaphysikverlust vorwarfen (Exkurs 10), ist immer noch aktuell. Zumindest Reste der einstigen Seinssprache sind in den Theologien aller Konfessionen nach wie vor im Umlauf und sorgen für eine Aura des Geheimnisses, worin die Theologie sich von vielen weiteren Wissenschaften unnötig isoliert. Das Bestreben eines Albertus Magnus, Thomas und all der übrigen Scholastiker war, die Theologie mit des Aristoteles Hilfe eine Wissenschaft sein zu lassen und nicht nur Traditionspflege. So stellte man sie mit allen sonst anerkannten Wissenschaften unter das Dach einer Seinslehre – doch deren Vor- und Überordnung wurde das Problem. Dass
Das Zitat ist aus R. COLLINGWOOD: The Idea of History, 1946 (dt.: Philosophie der Geschichte, 1955) 309 (323), dem Bultmann hier, unter Vergleich anderer Ansätze, folgt. GE 175 – nach Erwähnung solcher personbezogener Begleiterscheinungen menschlicher Entscheidungen wie der Erinnerung, des Gewissens und der Reue (174). All dies ist theologisch wie juristisch in der Lehre vom Willen und seinen evtl. Mängeln (# 274) von unmittelbarer Bedeutung.
Von der Ontologie zur Handlungstheorie
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die Philosophie damit die „Magd der Theologie“ geworden wäre, ist eine Illusion; das Gegenteil war der Fall, wie Luther wohl bemerkte.³²⁵ Zwar ist ein Zurücktreten der platonischen oder auch aristotelischen Ontologie selbst auf katholischer Seite seit längerem schon zu verzeichnen,³²⁶ und man könte das Thema für die Theologie insgesamt für erledigt halten, wenn nicht die Lehre von einem ius divinum, welches die Römisch-Katholische Kirche als ihr Depositum verteidigt, ihre Begründung in einem scholastischen, dem Anspruch nach apriorischen Begriffssystem hätte, das mit dem Sein beginnt.³²⁷ Ja selbst auf evangelischer Seite wird geredet, als müsse das Sein oder gar das Seyn (Heidegger) noch immer „bedacht“ werden, und soeben (2020) erscheint in einem renommierten Verlag ein Buch, betitelt Seinsschwingungen. Der große Paul Tillich hat als Theologe überhaupt nur vom „Sein“ geredet, in seinem Falle vom „neuen Sein“ (was immer er damit gemeint haben mag). Was einst als Verbindung aller Wissenschaften gedacht war, die Lehre vom Sein, ist heute ihre Trennung. Rationalität und Tiefsinn gabeln sich, und diejenigen, die mit Heidegger sagen „Die Wissenschaft denkt nicht“ (s.u. Exkurs 2, Anm. 47), begeben sich in ein Glashaus. Jeder Mensch befindet sich von Geburt an, ja vorher schon, in allem mitten drin und kann sich über die Voraussetzungen nur nachträglich und unvollkommen Klarheit
In seiner Disputatio contra scholasticam theologiam (1517; WA 1,224– 228) ging er sogar so weit zu sagen: „Ein Theologe wird man nur ohne Aristoteles“ (These 44). Die Trinitätslehre ist ihm etwas, was man nicht wissen, sondern nur glauben kann; darum ist sie aber keineswegs widervernünftig, sondern nur nicht ableitbar (Thesen 47– 49). – These 40 bietet dort schon in einem Satz die Rechtfertigungslehre.Vgl.W. LINK: Das Ringen Luthers um die Freiheit der Theologie von der Philosophie (FGLP 9,3), 1940 (1955). Wichtig ist bei diesem Thema aber, dass die Theologie sich nicht aus dem Gespräch der Wissenschaften (ein Beispiel: Exkurs 9) ausklinkt. Auskunft Prof. Dr. Jürgen WERBICK, Münster: „Fundamentaltheologie wird in Deutschland, aber etwa auch in Italien eher mit einem hermeneutisch-philosophischen Ansatz gelehrt oder aber in der Nachfolge Karl Rahners mit einem an Kant und Fichte orientierten transzendentaltheologischen Design. In Frankreich spielt etwa Blondel noch eine größere Rolle. In Lateinamerika sind eher – auch in der Nachfolge der Befreiungstheologie – handlungstheoretische Ansätze verbreitet. In den Vereinigten Staaten reicht die Bandbreite von thomistischen Positionen bis hin zu Konzepten einer Öffentlichen Theologie, die etwa die Politische Theologie von Johann Baptist Metz weiterentwickeln und sich so in (zivil‐)gesellschaftliche Prozesse einbringen wollen. Vielfach wird in der Fundamentaltheologie auch die interreligiöse Fragestellung aufgenommen, etwa in Konzepten einer Komparativen Theologie. Es gibt da viele unterschiedliche Akzentsetzungen; die thomistische kommt noch vor, aber sie ist bei Weitem nicht mehr die vorherrschende.“ Vgl. M. SEEWALD, Dogma im Wandel, 2018. Auskunft Prof. Dr. Thomas SCHÜLLER, Münster: „Im Grunde gibt es zwei große Linien der Naturrechtstheorie, einmal die thomistische Variante, die von der unverfügbaren lex aeterna ausgeht, die dem Menschen nicht zugänglich ist. Ein „Abglanz“ dieser ist einmal über die Offenbarung (ius divinum positivum) und andererseits über die menschliche Vernunft (ius naturale) zugänglich, da jeder Mensch Geschöpf Gottes ist und damit die Erkenntnisfähigkeit für das ius naturale besitzt. Die zweite Linie ist das Naturrecht beruhend auf den Vertragstheorien des 17.–18. Jahrhunderts, bei denen von einem „Naturzustand“ der Menschheit ausgegangen wird, der sich durch einen Vertragsschluss geändert habe (Hume, Grotius etc.).“ Letztere ist, je genauer man die Natur beobachtet, umso weniger geeignet, ein unveränderliches göttliches Gesetz zu begründen. – Nicht mehr prüfen konnte ich in dieser Hinsicht J. HAHN: Church Law in Modernity. Toward a Theory of Canon Law between Nature and Culture, Cambridge 2019.
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verschaffen. Der Weg dahin geht über das Erlernen einer und bald auch mehrerer Sprachen; diese sind von gleicher Unhintergehbarkeit, aber nicht unabänderlich, sind sie doch selbst im Wandel begriffen. Die griechische Annahme vorsprachlicher Begriffe ist bis heute unbewiesen. Ein gleichfalls nachträgliches und unvollkommenes, weil nie endendes, Bemühen sind die Wissenschaften als gemeinsame Anstrengung der Menschheit um Klärung ihrer Daseinsvoraussetzungen. Davon auszugehen, dass „das Sein ist“, entspricht dem verständlichen Wunsch, einen Ausgangspunkt oberhalb allerFragen zu haben; es führt aber aus der Komplexität der Situation nicht heraus. Aus einer Tautologie lassen sich keine inhaltlichen Aussagen gewinnen. Dem trägt Pufendorfs Ansatz Rechnung. Sein Jus naturae et gentium setzt ein (1,1,1) bei der Frage nach dem ontologischen Status der zu behandelnden Gegenstände, der entia moralia. Anknüpfend an Aufgabenstellung und Terminologie bisheriger Metaphysik, ersetzt er sodann als Empiriker die angeblich so unentbehrliche Lehre vom Sein, die gerade in seinen Tagen die Bezeichnung „Ontologie“ bekam, durch das, was wenig nach ihm die passende Bezeichnung „Handlungstheorie“ erhielt.³²⁸ Er ist darin moderner als der in C 4.8 öfters zitierte protestantische Theologe Erik Wolf, dessen Bestreben auf eine „Ergänzung der natürlichen Gerechtigkeit durch die Weisungen der Schrift“ hinausging,³²⁹ wobei er immer noch die These für nötig hielt: „Die Naturrechtslehre folgt den Grundfragen des Seins“ (zit. bei Herr 154).³³⁰ Das wäre der Gang vom Sein zum Sollen. So schwierig und begründungsbedürftig ein solcher ist, so klar ist doch schon Pufendorfs Antwort gewesen, die keine Seinslehre, sondern nur eine bestimmte Anthropologie, eine nicht ausschließlich christliche, zugrunde legt. Das erste Argument für solche Enthaltung ist systemimmanent. Die Ähnlichkeit der Ontologie mit Aussagen, die – bei Parmenides zumindest und bei Platon – Offenbarungsanspruch tragen, ist trügerisch, und zwar schon deshalb, weil das Verhältnis zwischen Gott und dem Sein nicht bestimmbar ist (# 255). Identität würde die Welt vergotten, Differenz würde ihm Konkurrenz machen – denn das Sein soll ja ungeschaffen sein, „vor“ jedem Einzelding bestehend. In dieser Form hatte man des Aristoteles tastende Versuche, in seinen meta ta Physika (= hinter seinen Naturbeobachtungen) eingeordneten Schriften eine Lehre über alle denkbaren Dinge aufzustellen, zur Doktrin erhoben, nicht ahnend, dass eine Erkenntnistheorie – oder heute zusätzlich: eine Wissenschaftstheorie – den gleichen Dienst besser leisten würde. Nur würde sie
Lit. dazu s.o. Exkurs 10, Anm. 285. So Herr, Naturrecht I 153; vgl. oben A 2.5.2. Arthur KAUFMANN schrieb und edierte 1965 Die ontologische Begründung des Rechts, wo er aber – lt. Referaten bei Herr 204 f und Kühl 618 – das Naturrecht nicht mehr als überzeitlich ansieht, sondern in einer Polarität zwischen Stehendem und Bewegtem verortet. Er sieht „zwischen dem Wesen und der Existenz des Rechts eine ,ontologische Differenz‘“. Unter anderer Bezeichnung (oben A 2.1.1) kennen wir diese schon: Es ist die zwischen unvollkommenen (= idealen, wünschenswerten) und vollkommenen (positiven) Rechten – nur dass erstere für uns nichts Metaphysisches an sich haben, sondern menschliche Zielvorstellungen sind.
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nunmehr „von unten“ kommen, aus geordneten Einzelerkenntnissen. Der Reiz der aristotelisch-scholastischen Ontologie und damit auch des kanonischen Rechts war aber, „von oben“ zu kommen, als könnte hier jemand, von außerhalb der Welt kommend, diese aus dem Überblick ordnen. Derlei tut in der ganzen Bibel niemand, auch nicht der Philosoph unter den Evangelisten, Johannes. Gerade er lässt seinen Text – und die ganze Welt – beginnen mit dem Logos, der sowohl „Wort“ ist und „Vernunft“ wie „Sprechen“. Dem „Sein“ der griechischen Philosophie, das bei ihm nur als Imperfekt vorkommt (ēn/erat, Joh B 1,1 ff ), unbewegt also, setzt er ab 1,3 das egeneto „wurde“ entgegen,³³¹ dem in 1,14 der Logos selbst sich einfügt. Das ganze Wirken Jesu ist daraufhin ein „Geschehen“ und ein Eintreffen von Unvorhersehbarem. Die Metaphysik des vierten Evangeliums ist keine des Seins, sondern eine des Werdens – das auch als Hoffnung für die Glaubenden (1Joh 3,2). Auf dieser Spur lassen wir uns ganz auf das Werden ein und damit auf die Geschichte. Zugegeben: Die Ordnung der Sinneseindrücke und ihre Weitergabe in Form von Erkenntnissen ist auf Sprache angewiesen, auf Aussagen mindestens vom Typ „x ist ein P“ (so die sog. Elementaraussage, die etwas einzeln Greifbarem oder greifbar Gewesenem einen Begriff oder „Prädikator“ zuordnet). Die in allen westlichen Sprachen hierfür gebrauchte Copula („ist“, logisches Symbol: ε) hat zu der Meinung geführt, eine Theorie über dieses „ist“ müsse eine Theorie über alles sein. Sie vermag sich aber nicht zu konkretisieren. Die Substantivierung „das Sein“ wurde der Joker im Kartenspiel der Metaphysiker. Er sticht nur, wenn man Joker zulässt.³³² „Hier ist auf die ontologische Begründung der Logik bei Thomas (De ente et essentia, 4) hinzuweisen“, sagt nach vielen Generationen anderer Gelehrter auch Helmuth Pree.³³³ Eben diese aber ist das Problem und nicht die Lösung. Der Ausdruck „Sein“ soll Fülle signalisieren und ist doch semantisch leer. Auch die Proklamation eines „neuen Seins“, also der Neuheit als solcher, bei Paul Tillich ist semantisch leer; es ist eine Münze ohne Wert, weil ohne Prägung. Hier liegt eine unüberwindliche Schwierigkeit; eine andere besteht in der Zeitlosigkeit dieser Theorie, impliziert in der Illusion einer Kontinuität der in ihr unterschiedenen „Substanzen“.³³⁴
Das lat. factum est betont hier zu sehr die Passivität; da gibt es keine Ausdrucksalternative. – Das Folgende mit Jullien, Ressources du christianisme, 39 – 51. Er reflektiert auch über die Selbstentfremdung Gottes, um doch, den Stillstand der Ewigkeit in Zeit verwandelnd, bei sich selbst anzukommen: „Darin steckt der ganze HEGEL“ (74). Die Spielverderber in diesem Fall sind diejenigen, die mit Karl POPPER sagen: Eine Aussage, die von ihrer Formulierung her („analytisch“) nicht falsch sein kann, kann auch nicht wahr sein, sondern ist tautologisch oder leer. Parmenides’ esti gar einai z. B. mag manchem als Evidenz gelten; es ist aber eine Tautologie, d. h. es fehlt der Unterschied zwischen Subjekt und Prädikat. Genau dieser aber soll die Evidenz ausmachen. Pree, Die evolutive Interpretation 73 Anm. 29. „Wo ist der Wind, wenn er nicht weht?“ (Kinderfrage; soll ich selbst einmal gestellt haben). Im Deutschen wird durch Schreiben der (ideologisch so heißenden) Substantive mit Großbuchstaben ein Vorrang signalisiert, als wären es immer schon Substanzen. Insbesondere angesichts von Substantivierungen, wie das Deutsche sie so leicht bildet wie schon das Griechische, ist Misstrauen am Platze.
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In Thomas v. Aquins eben genanntem Erstlingswerk, seiner Programmschrift, wird definiert: Essentia est id quod per diffinitionem rei significatur (Kap. 2 Anf.). Was ist die „Definition einer Sache“? Wer außer dem Schöpfer – und uns als Schöpfern von Artefakten – kann Dinge definieren? Hat Thomas denn gemerkt, dass wir Menschen beim „Definieren“ solcher Dinge, die uns vorgegeben sind, auf diese keinen Einfluss ausüben, sondern bestenfalls ihnen passende Bezeichnungen zuordnen (sog. Elementarprädikation; vgl. Gen 2,19 f )? All diejenigen Fälle aber, wo wir selbst Autoren einer Definition sind, woraus das Ding sich allererst bestimmt, sind das, was schon die Sophisten als thesis („Setzung“) im Gegensatz zu physis („Gewachsenes“) charakterisierten, nämlich Menschengemachtes, Konventionen. Diesen ordneten sie mit gutem Grund die positiven Gesetze zu – was den Positivismus derer, die stattdessen Naturnotwendigkeiten behaupteten, nicht wenig störte und auch Thomas stören müsste, hätte er denn daran gedacht, statt es definitorisch auszublenden. Die Verbindung von Gesetzen zu physei Gegebenem ist Pufendorfs großes Thema, und er entfaltet es an dem, was die Menschen sich selber sind (s.o. Exkurs 6). Es an dem entfalten zu wollen, was das Sein sich selber ist, wäre, metaphysisch gesprochen, eine Verwechslung von Sein und Werden. Wir sind es nicht, die das Sein „setzen“. Und überhaupt, unser keiner hat sich selbst zur Welt gebracht. Will man diesem Einwand ausweichen und unter diffinitio (definitio) die „Bestimmtheit“ einer Sache verstehen, wird der eben zitierte Satz tautologisch, oder er bleibt beschränkt auf Gedankengebilde, deren Bezug zur Außenwelt unsicher bleibt.Von energeia/actus sagt Thomas selbst, dass er keine Definition geben kann (zit. in # 255). Aus der hier aufgezeigten Aporie in De ente et essentia hilft es nicht heraus, wenn Pree, auf den wir hier zurückkommen, fortfährt (a.a.O.): Die unlösbare Verbindung und gegenseitige Abhängigkeit von Ontologie und Logik ergab sich daraus, daß das Wesen, das den eigentlichen Seinsgehalt des konkret Seienden zum Ausdruck bringt, als identisch mit dessen Definition und Begriff verstanden wird.
In dieser Erklärung wird, wie bei Thomas selbst, der Unterschied zwischen einer Sache und ihrer Bezeichnung gleich zweimal ignoriert; in selbstreferentieller Sprache³³⁵ wird er virtuos übersprungen. Manche empfinden dabei den Schauder der Transzendenz des Einen (ens et unum convertuntur). Da wäre aber anbetendes Schweigen angemessener als zergliederndes Definieren. Mögen solche Höhenflüge noch eine gewisse Befriedigung bereiten, so ist der Erdkontakt der päpstlichen Metaphysik von anderer Natur. Wir würden uns mit ihr nicht aufhalten, wenn sie nicht unter der Bezeichnung eines gottgegebenen Naturrechts transformiert worden wäre in Verhaltensvorschriften für die Christen, in diesem Fall die katholischen. Zu reden ist einen Moment von der oben (Exkurs 7) schon genannten, ontologisch-naturrechtlich argumentierenden Enzyklika Humanae vitae von 1968, bei Ausdruck der Linguistik. Scholastisch gesagt: Definiens und definiendum fallen in eins zusammen.
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deren Lekture noch im Erscheinungsjahr dem hier Schreibenden erstmals die Zumutung eines apriorischen Naturrechts – statt Theologie! – vor Augen trat. Dort wird die „schönste Nebensache der Welt“ und die harmloseste zugleich, der Geschlechtsverkehr zwischen denen, die ihre Wunschkinder schon haben, der Entstehung weiterer aber vorbeugen, „naturrechtlich“ untersagt. War es die Aufgabe der Katholischen Kirche, im Namen eines Ewigen Naturrechts hineinzureden? Man wird sich diese seltsame Intervention eher psychologisch als theologisch erklären können. Pufendorf seinerseits hatte seinen Kampf mit Theologen, auch protestantischen, die im Rückenwind des damaligen Zeitgeistes auf Apriorizität der Begriffe auch des Rechts bestanden. Wer längst vor Kant schon auf dieses Problem des a priori Sagbaren und seiner Grenzen einging, war die Logique de Port-Royal 1,12 mit ihrer Unterscheidung von Verbal- und Realdefinitionen: Nur erstere sind dem Belieben anheimgegeben, sind Konvention; letztere hingegen sind das, was Kant nachmals „analytische Urteile“ nannte, Wesensbestimmungen, die allerdings auf konkreten Kenntnissen beruhen müssen. – Die andere, schon angekündigte Schwierigkeit in der Begründung von Handlungsnormen aus ewigen Gegebenheiten, seien sie vermutet oder auch beweisbar, besteht darin, dass eine Theorie des „Seins“ oder auch nur des „Seienden“ – diese auch nach Heidegger noch alles entscheidende „ontologische Differenz“ ist hier ohne Belang – den Zeitfaktor nicht ohne Willkür hereinholen kann. Das „Früher“ und „Später“ logischer Deduktionen ist eine bloße Reihenfolge, kein Ablauf in der Zeit; das ist schon bei Aristoteles klar, ja auch schon bei den Vorsokratikern, auch wenn sie sich in manchem des Vergangenheitstempus mythischer Sprache bedienen.³³⁶ Eine Theorie aber, die keine Zeit kennt, ist a priori ungeeignet, Handlungen zu beschreiben oder gar zu orientieren, die stets unter Zeitbedingungen stattfinden. Diese letzteren kommen bei Thomas dann als mutabilitas wie ein Störfaktor von der Seite herein und werden zugegeben, von der Theorie aber möglichst fern gehalten. Pufendorf, JN&G 1,1,1 beginnt mit dem Satz: „Zur Ersten Philosophie gehörte…“ (Imperfekt!) und weist dieser die Kunst des Definierens zu, um sogleich, im zweiten Satz, so fortzufahren: Den entia moralia, frei übersetzt: den Gegebenheiten, wonach sich das Handeln orientiert, kam sie nicht hinreichend bei. Von Spinoza selbst, dem renommierten Metaphysiker, werden wir den Einwand hören, dass abstrakte Begriffe nie konkrete Folgerungen hergeben (zitiert unten, Exkurs 14). Impliziert schon bei Grotius, deutlich ausgesprochen dann bei Pufendorf ist der Verzicht auf Ontologie zugunsten einer für die Rechtsbegründung völlig ausreichenden Handlungstheorie. Dieser ist enger als bislang in der Scholastik: Gemeint sind keine
Dass „Tempus“ im Sinne der Grammatik etwas ganz anderes ist und mit dem Unterschied zwischen Beschreibung und Erzählung, Vorder- und Hintergrund zusammenhängt, hat Harald Weinrich (Tempus, 1964 u. ö.) erwiesen. Der Aorist kann auch für den bloßen Verlauf dienen und das Impferfekt für den – zeitlich unbestimmten – Zustand, etwa in Aristoteles’ Formel to ti ēn einai; vgl. das En archēi ēn… von Joh B 1,1.
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bloßen Bewegungen, wie auch die Physik sie beschreibt,³³⁷ sondern „Handlungen (actiones), die in Bezug auf eine Norm geschehen“ (Eris 34). Das Recht, ob positiv oder ü berpositiv (wie man vom Naturrecht alsbald sagte), ist ihm eine Gegebenheit, und zwar eine komplexe. Denn was menschliche Handlungen angeht (nur mit solchen befasst er sich), so ist der bloße motus physicus, die beobachtbare Bewegung, noch nicht ausreichender Gegenstand der Handlungstheorie, sondern es ist ihre Übereinstimmung oder Nichtü bereinstimmung mit einer Regel (Eris 113.221 f ). Als actio im Sinne seiner Theorie – die hier anders definieren muss als die Physik – gilt ihm immer nur das, worü ber der Täter selbst entscheiden konnte (ebd. 30 f.34). Sie wird darum bei ihm actio moralis genannt, auch in Unterscheidung zu actio = „Prozess“ im antik-römischen Recht. Die Absicht, aus welcher die actio erfolgt, geht in die Definition mit ein (ebd. 218 f ).³³⁸ Das Substantiv moralitas meint bei ihm die ethische Qualität menschlicher Handlungsweisen (in actionibus humanis, Eris 320). Es gibt, wie er in diesen Zusammenhängen immer wieder betont, keine „an sich“ guten oder bösen Handlungen (Eris 77– 89.219.253),³³⁹ und eine Metaphysik des Guten oder Bösen ist ihm weder nötig noch plausibel. Sein Ansatz bei einer Theorie der actio humana beruht auf dem Unterschied zwischen physikalischen Bewegungen, die nach Naturgesetzen ablaufen, und menschlichen Handlungen, die im Hinblick auf ihre Übereinstimmung mit Regeln oder (modern gesprochen) Werten beurteilt werden können. Das Ziel dieser Theorie ist, den zu eigenen Entscheidungen fähigen Menschen zu unterscheiden von allen sonstigen Naturgegebenheiten (den entia physica), seien sie belebt oder unbelebt. Es geht um die Freiheit der Handelnden bzw. der Handlungen (JN&G 1,2,5) und die daraus folgende Verantwortlichkeit im Gegensatz zu der von der cartesianischen, dann auch spinozianischen und schließlich leibnizianischen Metaphysik behaupteten Notwendigkeit und kausalen Determiniertheit allen Seins und Geschehens. Dieser Ausdruck – entia moralia – wird ab 1,5 (= De off. 1,1) denn auch abgelöst durch den Handlungsbegriff, also actio moralis, dann oft nur noch actio. Mit Grotius weiß er freilich um die Dehnbarkeit (latitudo, JN&G 1,2,8 – 10) von Handlungsbegriffen: Oft sind sie nur graduell-bewertend und nicht binär,³⁴⁰ haben auch keinen messbaren Gegenstand wie in der Physik, sondern die Umstände gehen in die Beschreibung und Bewertung mit ein. Meist geht es um Qualitäten, nicht um abzählbare oder messbare Quantitäten. – Etwa in dem Satz actio aequat reactionem; man kann an einem Gegenstand nicht stärker ziehen, als sein Widerstand ist. Ein Beispiel gibt uns in # 14 das Asylrecht: Ob jemand flieht (vor einer Pflicht) oder Asyl sucht (vor einem Angreifer), ist dieselbe Bewegung, und sie kann in beiden Fällen vor einer Kaiserstatue enden; das Recht aber unterscheidet die Legalität dieses Verhaltens nach der Absicht (animus, D. 21,1,17,12). Vgl. # 266. Sein Beispiel ist die Tötung eines Menschen durch einen anderen: Die durch einen Räuber ist etwas anderes als die durch einen Soldaten (gegenüber Kombattanten) und wieder etwas anderes als die eines Verurteilten durch den Henker. Extreme Unterschiede, was die Bewertung betrifft, weist der actus physicus eines Geschlechtsverkehrs auf (Eris 235), je nach den legalen Voraussetzungen. So ist es leider sehr oft in der israelitisch-jüdischen Weisheit, wie sie in unseren Bibeln steht; sie ist Schwarzweißmalerei. Vgl. Siegert, EHJL 141– 156 zum Sirachbuch im Vergleich etwa zu Aristoteles.
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Ebenso beschaffen ist auch der Einsatz bei Heineccius I § 1– 4 und bei Wolff, Grundsätze § 1– 34 (= „Erstes Hauptstück“), obwohl dieser eine Ontologia früher einmal selber geschrieben hatte. Gerade er aber ist es, der für das von seinen Vorgängern Betriebene das passende Wort fand: actionum theoria (so PPU I § 127).³⁴¹ Vorgegeben ist dieser Theorie als – nicht absolute – Konstante die Natur des Menschen und damit kein abstraktes Sein, sondern ein komplexes Bündel an Beobachtungen, die – das wird den Weisen nicht stören – niemals abgeschlossen sind. Mag sich die Menschennatur, wie wir heute deutlicher merken als früher, auch langsam wandeln (s. # 263), so ist sie doch für diesen selbst nicht veränderbar – es sei denn neuerdings durch Geschlechtsumwandlung bzw. – was Nachkommen betrifft – Genmanipulation, deren ethische und rechtliche Fragen aber hier nicht zur Diskussion stehen. Was den Zusammenhang zwischen Entschluss und Ausführung betrifft, so verwahrt sich Pufendorf gegen eine Theologie, die über Gedanken Gottes und ihre Ausführung spekuliert dahingehend, dass die essentiae rerum nur deren Möglichkeit seien (Eris 305 f, gegen den reformierten Theologen Samuel STRIMESIUS). Muss denn die socialitas schon existiert haben, ehe es Menschen gab (Eris 73)? Mit Thesen dieser überflüssigen Art, vor die ihn seine scholastisch denkenden Kollegen stellten, verbrauchte der in der Barockzeit herrschende Begriffsrealismus viel Energie, hier auch die seine. Für ihn aber gibt es keine „an sich“ guten oder verwerflichen Handlungen, schon weil man sie nicht ohne die handelnde Person beurteilen kann. Das muss er als Jurist den Begriffespaltern entgegenhalten, die ein „geschaffenes“ von einem „ungeschaffenen“ Naturrecht unterscheiden wollten (Eris 79). Das Problem kann bei Pufendorf nicht entstehen, dass er Normen übernimmt, nach deren Anwendung er sich fragen müsste.³⁴² Was hat, so fragen wir nun, Ontologie mit der Theologie zu tun, wenn sie weder von Gott noch von der Welt (von der sie abstrahiert) angemessen zu denken lehrt? In der ihr zugedachten Funktion, Brücke zwischen den Wissenschaften zu sein, versagt sie schon seit dem 17. Jh. Pufendorf zählt zu denjenigen Autoren, die das bemerkten und, wie die Logique de Port-Royal, eine den menschlichen Erkenntnisquellen gemäße Sprache zu entwickeln wussten. Pascal hatte den Kopf geschüttelt angesichts von Theorien „über alles“. Inzwischen ist selbst vonseiten der Mathematik der Beweis geliefert, dass keine Theorie ihre Voraussetzungen allein schon bieten kann; jegliche All-Aussagen finden ihre Grenze an GÖDELs Unvollständigkeitstheorem.³⁴³ Dass auch außerhalb der Mathe Geschrieben 1738, direkt vor dem JN. Die ganze PPU versteht sich nach I § 1 als eine scientia actionum bonarum atque malarum. – Dass Wolff auch im JN noch hin und wieder auf seine Ontologia verweist, hat ornamentale, nicht begründende Wirkung. Er zitiert ja auch, mit Verbeugung, Thomas v. Aquin. Dies aber ist der Ausgangspunkt bei Pree, Die evolutive Interpretation der Rechtsnorm im Kanonischen Recht. Dessen Bemühen richtet sich (S. 1 f ) „auf die gedanklichen Instrumente zur Bewältigung des In-Entsprechung-Bringens von Norm und Wirklichkeit“. Dieses Problem entsteht erst, wenn man meint, vorher (a priori) schon zu wissen oder gar definiert zu haben, was Sein ist und was Wirklichkeit. Siehe HWP 11, 1138. Zu früheren Formen davon s. Siegert, Leben Jesu, Anhang (275 f ). – Das mag der tiefere Sinn sein von Sokrates’ bekanntem „Ich weiß, dass ich (es) nicht weiß“, eine Position, auf die dann Cicero in seiner Anhängerschaft an die skeptische Akademie sich gern zurückzog. Empirismus wendet das anders: Absolut sicher ist gar nichts; jede Einsicht hat ihre Grenzen.
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matik (oder nach antiker Benennung: der Geometrie) Theorien möglich seien von gleicher Sicherheit wie diese, unbelastet von „trügerischen“ Sinneswahrnehmungen, war ein verständlicher Wunsch Platons und vieler anderer, der sich aber nicht hat erfüllen lassen. Was Paulus auf religiösem Gebiet sagte: ek merous ginōskomen (1Kor 13,9), gilt sogar für die Wissenschaften: „Wir erkennen nur teilweise“, nie das Ganze. Das lässt sich auch mit der gewagtesten Absichtserklärung („Ich spreche über alles zugleich“, s.u. Exkurs 15) nicht überspringen. Unser Zwischenergebnis lautet: Metaphysik im Sinne des Stellens der sog. Letztbegründungsfragen ist unumgänglich; Pufendorf setzt bei einer handlungstheoretisch gefassten prima philosophia sogar ein (JN&G 1,1,1). Doch ist eine als Ontologie betriebene, auf das Unveränderliche abhebende Metaphysik wenig geeignet, das zu klären, was Theologie und Jurisprudenz gemeinsam bewegt. Meint „Ich bin, der ich bin“ (Ex 3,14) Unveränderlichkeit? Drei Gründe sind es, deretwegen Ontologie für Rechtsbegründung keine geeignete Basis abgibt: 1. Der semantische Grund: Ontologie läuft ins Leere. Der Begriff des „Seins“ ist nicht bestimmbar und soll es auch nicht sein, denn er soll ja allen Begriffen vorausgehen. Damit ist er aber kein wissenschaftlicher Begriff. 2. Der kosmologische Grund: Wo gibt es ein Sein, das unveränderlich wäre? Das aristotelische Weltbild beruht auf der Annahme,³⁴⁴ es gebe unbewegliche Fixsterne (die deshalb so heißen), und die Planeten zögen zeit ihres Bestehens (wo nicht gar ewig) dieselben Bahnen. Inzwischen ist bekannt, dass keine Konstellation je wiederkehrt. 3. Der theologische Grund: Christliche Theologie – so sagte jedenfalls Luther, und Elert wiederholt es unermüdlich – beruht auf keinem Weltbild, so abstrakt-apriorisch oder so konkret-forschungsbezogen es auch immer sein möge. Sie beruht auf Geschichte, die ihrerseits nicht mehr begründungsfähig ist. Letzteres mag man bedauern; Geschichte ist nicht nur nicht mehr begründungsfähig, sondern sogar forschungsbedürftig. Genau das aber gibt uns eine Arbeit, die zu tun sich lohnt, ja beglückt. Handlungen als etwas Dynamisches sind von einer Theorie, die sich am immer Gleichbleibenden orientiert, nicht adäquat zu erfassen – zu schweigen von den Kämpfen, die um ein gleichfalls für endgültig gehaltenes, weil biblisches Weltbild geführt wurden und deretwegen Galilei in Rom i.J. 1633 Lehrverbot erhielt. Noch Descartes ließ sich davon, was seine eigenen Forschungen betraf, mundtot machen; Pufendorf brauchte kein Hehl daraus zu machen, dass er diese Kämpfe für verloren hielt.³⁴⁵ Nicht
Genauer gesagt, war es – mit damaligen Mitteln – eine Beobachtung. Das kann man aber gegen ein Lernen aus Beobachtung gerade nicht ins Feld führen, denn nur Beobachtung, und zwar schärfere, hat den Fehler der vorherigen, stumpferen ans Licht gebracht, nicht pures Denken. In Eris 52 (unten) kündigt Pufendorf seinen Glauben an die vier Elemente auf, ebenso wie den an die zehn Kategorien (vgl. die Logique de Port-Royal 2,3.16), und ebd. 205 gilt ihm das biblische wie das ptolemäische Weltbild für abgetan. Wenn noch im 20. Jh. apologetische Kämpfe gegen „das moderne Welt-
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einmal die Planetenbahnen – wissen wir heute – bleiben sich gleich. Sie folgen einer seit Kepler bekannten Formel, die sie aber, wenn er sie als Ellipsen beschreibt, immer noch vereinfacht; jede deren macht außerdem noch Schraubbewegungen. „Alles fließt“ (Heraklit). So kennen wir jetzt Naturgesetze, die innerhalb ihrer Geltungsbereiche, die jedesmal noch bestimmt werden müssen, bewiesen und dann auch verlässlich sind. Wahrheiten jedoch, die handlungsleitend sein könnten, ergeben sich nicht aus kosmischen oder gar überkosmischen Strukturen, sondern nur aus der Selbstbeobachtung der änderungsunterworfenen Menschheit. Die ontologische Frage nach dem „Sein“ oder (eher) der „Wirklichkeit“ der Gegenstände seiner Theorie hat Pufendorf gleich in JN&G 1,5,4 beantwortet mit dem Hinweis, Handlungen seien zwar keine Substanzen, sondern nur Bewegungen, aber als solche durchaus wirklich; jede Handlung ist ihm ein ens positivum. Was wirkt, ist auch wirklich.³⁴⁶ Ens positivum ist, modern übersetzt, eine „Gegebenheit“; das reicht für eine Theorie. Handlungstheorie befasst sich mit dem, was Menschen aus- bzw. anrichten.³⁴⁷ Wenn Pufendorf gelegentlich von einer „Natur“ oder einer essentia Gottes spricht als Summe seiner Eigenschaften (etwa Eris 87), so kennen wir doch seine Kritik an der diesbezüglichen Begriffsbildung als Anthropomorphismus (# 262); ein Ausgangspunkt für Deduktionen sind sie für ihn nicht. Und wenn er Gott als Ens perfectissimum bezeichnet (z. B. Eris 230),³⁴⁸ so ist damit keine Einordnung in eine ihn etwa miterfassende Ontologie gemeint, sondern seine Urheberschaft gegenüber der Schöpfung und seine Überlegenheit, wie die Lehre von den Gotteseigenschaften sie ausdrückt. Dazu mag gehören – aber das ist eine eher moderne Einsicht – sein nicht-Gegebensein für menschliche Erkenntnismethoden (# 265). Pufendorf deutet sie auf seinem Gebiet an, indem er hinzusetzt, über das „Tun“ Gottes gebe es keine Theorie; das wäre „eine Be-
bild“ und seine angeblich einlinige Kausalität gefochten wurden, so verrät sich darin nicht nur Unkenntnis vom Stand der betr. Wissenschaften; man hätte vorher schon von Werner Elert lernen können, dass die Botschaft des Evangeliums ein Weltbild weder impliziert noch fordert. In heutigen Naturwissenschaften sieht man das genauso. Max PLANCK wird zitiert für das Wort: „Was man messen kann, das existiert auch“. Vgl. v. Weizsäcker, Zum Weltbild der Physik 171– 174 („Das Objekt in der Physik“). Ebd. 169 beruft er sich freilich auf Kant für die These, „daß die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt“. Lernen ist demnach ein Regelkreis; „Empirie ist ohne nichtempirische Elemente nicht möglich“ (ebd. 99) – mag sein, aber ohne Rückgriff auf Empirie sind diese ihrerseits nicht darstellbar. Das HWP, stark an deutscher Philosophie orientiert, hat zwar einen Eintrag „Handeln, Handlung“ (wo aber Wolff übersehen ist) und weitere über Composita mit „Handlung“, doch keinen zur Handlungstheorie, obwohl es die Sache bereits für Aristoteles nachweist: 3, 992 (J. DERBOLAV): „Aristoteles entwickelt seine H.-Analyse von konkreten Problemen der Rechtspraxis aus“; EN 1009b 30 – 1119b 10; vgl. #274). Von ihm springt es dann übergangslos zu Kant und Hegel (993) und bietet den Terminus „Handlungstheorie“ in einer gerade 4 Zeilen langen Notiz über das 20. Jh. – Der Artikel „Handlung, Handlungstheorie“ in Enzyklopädie Philosophie, hg. H. J. SANDKÜHLER (u. a.), 1999, Sp. 534a-547a, leidet bei all seiner Länge und seiner Fülle an Literaturangaben an mangelnder Differenzierung zwischen „Ablauf“ und „Handlung“, aristotelisch gesprochen: zwischen causa efficiens und causa finalis. Noch unvorsichtiger spricht er ebd. 241 von einer Dei … definitio et determinatio, was aber weiter nichts meint als die notwendig anzunehmenden Gotteseigenschaften.
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leidigung der göttlichen Majestät“ (Eris 81). Unsere Begriffe, wenn wir von Gott so sprechen, sind eben auch nur metonymisch, sind übertragen (Eris 173, insbesondere zu iustitia). Über die „Seinsweise“ von Rechtsnormen ist damit genug gesagt. Die ihnen geltende prima philosophia hat Pufendorf geliefert; an diesem Punkt setzt er sogar ein.³⁴⁹ In JN&G 4,1,4 sagt er dann: Die Vorstellungen, die ein Wort in uns wachruft, kommen „nicht von Natur oder aus einer inneren Notwendigkeit, sondern aus menschlichem Gutdünken, menschlicher Konvention“ (ex mero hominum arbitrio atque instituto). In der Sprache des Juristen und Philosophen Chaïm Perelman sind all diese Begriffe objets d’accord, ³⁵⁰ Ergebnisse menschlicher Übereinkünfte. Von solchen wird nicht mehr verlangt, als sich in der Praxis der Verständigung zu bewähren. Aber vielleicht soll die Seinslehre keine Wissenschaft sein im üblichen Sinne, so wie auch Heidegger dies nicht für sich beanspruchte („Die Wissenschaft denkt nicht“)?³⁵¹ Mancher hält auch heute Parmenides’ Satz „(Das) Sein ist“³⁵² für die höchste aller Evidenzen, auch wenn sie in die sachgebundenen Wissenschaften nicht vermittelbar ist. Was hat sie dann mit der Theologie zu tun? Nicht mehr, als dass auch in der Theologie nicht alles objektivierbar ist, wovon sie spricht. Es ist aber doch eine grundlegende Weichenstellung, ob man eine Theologie auf das „Sein“ gründen will oder auf Erfahrung – hier vor allem: geschichtliche Erfahrung. Das „Sein“ gehört nicht in die Semantik möglicher Objektsprachen, und Folgerungen aus der Erkenntnis der ontologischen Differenz kommen über Tautologien nicht hinaus. Eine Menge ist niemals identisch mit ihren Elementen, und enthielte sie auch nur deren eines. Diese Denkregel (sie gehört zur Definition von „Menge“; # 351) bewahrt davor, Gott den Schöpfer allen Seins und zugleich das „Sein selbst“ sein zu lassen (vgl. # 255). Doch noch in heutigen Metaphysiklehrbüchern kann man Denkfehler im Bereich elementarer Logik bzw. Semantik als Ausgangspunkt tiefschürfender Überlegungen vorfinden.³⁵³
Dies sieht und würdigt auch sein Kommentator Nicolaus Hertz in der Ausgabe 1744, Bd. 1 S. XXXIV. Referat bei Siegert, Argumentation 33.39. Diesen Satz aus einer seiner Freiburger Vorlesungen kann man ihn im Internet wiederholen hören (und sehen), wobei er ihn dann so erläutert: „Was Bewegung, was Raum, was Zeit ist, kann die Wissenschaft als solche nicht entscheiden.“ Das heißt aber noch nicht, dass eine Ontologie (wie die des Thomas) oder gar eine Meta-Ontologie (wie die seine) es könnte oder gar – was wohl noch mehr verlangt ist – in der Lage wäre, es zu kommunizieren. Parmenides, Frg. 6 D/K, Zeile 1: esti gar einai (oben zitiert). Das klingt wie eine analytische Wahrheit, lässt aber unbestimmt, ob esti „es ist möglich“ oder „es ist wirklich“ bedeuten soll. Beides gibt der griechische Sprachgebrauch her; beides kann aber nicht zugleich wahr sein, wo es um die Frage von Einbildung und Wirklichkeit geht. Aktuelles Beispiel: Der Anspruch bei F. HERMANNI: Metaphysik (Collegium Metaphysicum, 1), 2011, 59 f, den ontologischen Gottesbeweis erneuert zu haben, beruht auf der Nichtbeachtung des Unterschieds zwischen Begriff (sein Beispiel: „Junggeselle“) und Eigenname (sein Beispiel: „Friedrich Nietzsche“). Dass die Gültigkeit eines Syllogismus nicht nur von der Unterscheidung zwischen Bejahung und Verneinung abhängt (Positionen a vs. i und e vs. o im logischen Quadrat), sondern auch von der zwischen Allgemeinem und Einzelnem (Positionen a vs. e und i vs. o), hatte eigentlich schon die aristotelisch-scholas-
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Ein anderes, inzwischen gut bekanntes Analogon, worin die Naturwissenschaften über das vereinfachend-objektivierende Denken von einst hinausgelangt sind, ist das Paradox der Elementarteilchen, die sich je nach Versuchsanordnung mal als Welle, mal als Korpuskel verhalten. Diese Teilchen „sind“ weder das eine noch das andere. Was Autoren wie Carl Friedrich V. WEIZSÄCKER für die Physik dargestellt haben, nämlich die Wechselwirkung des Experimentierenden mit dem Ergebnis seiner Experimente, ist als subjektiver Anteil der Geschichtswissenschaft bei Bultmann, GE 133 f dargestellt, Robin COLLINGWOOD folgend: Auch bei der größten Unparteilichkeit bringt man doch stets aus eigener Erfahrung eine vorauslaufende Kenntnis des für die Vergangenheit Darzustellenden mit (und muss es auch, um überhaupt einen Zugang zu finden); damit verbindet sich ein nicht ausschaltbares, aber korrekturfähiges „Vorverständnis“ der Sache.³⁵⁴ Fazit: Sowohl im Kleinsten wie im Größten versagt die Seinssprache. Dass das Kausaldenken des 18. und 19. Jh. gleichfalls zu kurz griff, ist kein Grund, an ihr festzuhalten. Dass das Denken der Aufklärer zu eng war, wie überhaupt das mechanistische Weltbild (dessen man Pufendorf übrigens nicht bezichtigen kann), hat sich herumgesprochen. Längst begreifen und beschreiben empirische Wissenschaften auch Nichtdeterminiertes und komplexe Wechselwirkungen. Damit sind sie der Theologie näher gekommen denn je. Heutige Metaphysik, soll sie denn eine Universal- oder Dachwissenschaft bleiben, bedient sich anderer Anschauungen und anderer sprachlicher Mittel. Sie ist Erkenntnisund Wissenschaftstheorie geworden. Nicht das hierarchische, sondern das vernetzte Denken fasst die Fülle des Wissens, und nicht Kausalität in immer nur einer Richtung, sondern das Erfassen von Wechselwirkungen ist Wissenschaft – wobei ein Absehen vom Zeitfaktor, wie gewisse Theorien es pflegen, die sich dem Weltgeschehen enthoben wissen, faszinierend sein mag, aber zu keinen nachprüfbaren Ergebnissen führt.
tische Logik gelehrt, wie auch die Logique 3,3 – 9 referiert, um von da zu anderen, durchaus schwierigeren Gültigkeitsproben für logische Schlüsse überzugehen. Für diese Erkenntnis ist Bultmann viel angegriffen worden, als wolle er dem verbum externum der Offenbarung damit etwas Menschengewolltes aufzwingen und es profanieren; dabei ist niemand seiner fundamentalistischen Gegner aufnahmebereiter und für Fragen offener gewesen als er. – Was Kritik verdient (aber weiter zu keinen Verzerrungen führt), ist sein allzu naives Verständnis vom Subjekt-Objekt-Verhältnis in den empirischen Wissenschaften (z. B. GE 158). Sie stehen den historisch arbeitenden Wissenschaften näher, als er ahnt.
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Exkurs 13
Exkurs 13: Leibniz’ Kritik an Pufendorf Der„hochberühmte Herr Leibniz“ (1646 – 1716), oben schon erwähnt als doctor iuris, war beruflich tätig als Vermittler in Angelegenheiten der Diplomatie, der Wissenschaften und der Kirchen (nämlich in damaligen Unionsbemühungen zwischen Luthertum und Römisch-Katholischer Kirche). Er wurde rasch bekannt als Universalgenie. Seine meist nur skizzenhaften Schriften auf Latein, Französisch und Deutsch und insbesondere seine überaus weit gefächerte Korrespondenz sind ein Editionsproblem; ganze Institute brüten über seinen Aufzeichnungen. Auf dem Gebiet der Mathematik ist es ihm gelungen, über Pascal hinauszukommen. In Dingen des Rechts und der Theologie jedoch ist er ein Traditionalist, bedacht darauf, einmal gültig Gewordenes nicht mehr aufzugeben. Das geht im Bereich der Theologie bis zu einer Verteidigung der Ewigkeit der Höllenstrafen.³⁵⁵ Gefragt nach seiner Meinung über das De officio hominis et civis Pufendorfs, schrieb er eine Rezension, die seine völlige Verständnislositkeit dokumentiert.³⁵⁶ In der Ausgabe von Barbeyrac S. 379 – 435 findet sie sich zitiert in französischer Übersetzung, nebst Replik von ihm. Leibniz’ Kritik beruht auf einer völligen Ablehnung von Pufendorfs Position; auch die Logique de Port-Royal hat er nicht gekannt. Sein Apriorismus blendete solche Ansätze aus. Was er zur Rechtsbegründung äußerte, gehört der Neuscholastik an,³⁵⁷ insbesondere was den Ansatz bei einer supra- und präkosmischen Gerechtigkeit betrifft. Schlosser, NERG § 10,7 und 10,86 erwähnt ihn nur für seine Bestrebungen, eine Kodifizierung überregionalen Rechts in mitteleuropäischen Ländern anzustoßen. Das war wenigstens ein praktischer Gedanke. Der Weg von abstrakten Begriffen zu den konkreteren ist, wo immer er als „apriorisch“ beansprucht wird, ein Schmugglerpfad. Man redet, als hätte man die betr. Erfahrungen nie gemacht und auch als hätte man sie nicht nötig. Die Forderung eines apriorisch begründeten Rechts bei Leibniz, an sich schon überzogen, steht in unlösbarem Widerspruch zu seiner weiteren Forderung, dieses müsse christlich sein. Leibniz misst Pufendorfs Rechtslehre an genau denjenigen mittelalterlich-scholastischen Thesen, die dieser ablehnt. Es sind die folgenden [Bemerkungen: F. S.]: ‒ Die Gerechtigkeit Gottes ist die Quelle allen Naturrechts (§ 12). [Ihre Verschiedenheit von jeder menschlichen Gerechtigkeit, von Pufendorf klar gesehen, bleibt unbe-
Leibniz, Essais de Théodicée (1710; ed. J. Brunschwig 1969), § 266: Dem Einwand, eine begrenzte Schuld rechtfertige keine unbegrenzte Strafe, begegnet er ganz „logisch“: Il suffisait de dire que la durée de la coulpe causait la durée de la peine – es reiche doch zu sagen, dass die Fortdauer der [unvergebenen] Schuld hinreichender Grund sei für die Fortdauer der Strafe. Es ist schwer zu glauben, dass dieses Votum von einem Berufsjuristen kommt. Leibniz meint, Gottes Gerechtigkeit so weit zu kennen, dass er menschliches Recht daraus ableitet; ja er meint sogar, man müsse so verfahren. Doch nicht Pufendorf, sondern Carpzow (s. Exkurs 2) war es, der den Namen JHWHs und Insignien der göttlichen Gerechtigkeit auf sein Titelblatt setzte. Das ist einer seiner vielen Briefe, genannt auch bei Tennemann/Wendt, Grundriss 418 unten. Eine Zusammenfassung des von ihm seit 1677 hierzu Gesagten gibt HWP 6,584.
Leibniz’ Kritik an Pufendorf
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dacht. Unberücksichtigt bleibt auch, dass „Gerechtigkeit“ als Personeigenschaft kein juristischer Begriff ist – so Hans Dombois, oben A 2.1.2.] Naturrecht ist aus der rerum natura, der Weltbeschaffenheit, zu gewinnen (§ 13). [Pufendorf hatte sich mit klaren Gründen auf die Natur des Menschen, und zwar des „postlapsarischen“, beschränkt.] Selbst Gott richtet sich nach ewigen Wahrheiten; man kann also die etiamsi-daremus-Formel gerne gelten lassen (auch § 13).³⁵⁸ Es gibt diese Wahrheiten auch ohne Gott. [Platons Ideenhimmel³⁵⁹ gilt unserem Leibniz als ungeschaffen, mithin übergöttlich.] Den Schöpfer als Herrn des Geschaffenen zugleich den Setzer der darin implizierten Normen sein zu lassen, sei „eines derjenigen Paradoxe, deren Autor und Verteidiger vor allem Hobbes war“ (noch § 13). [Schlimmer kann man Pufendorf nicht mehr missverstehen als mit der Verdächtigung, er habe die Macht über das Recht gestellt.]³⁶⁰ Der Wille Gottes gilt Leibniz nicht als Grund des Naturrechts, weil es nur Wille sei (§ 19). [Wieder ist übersehen, dass dieselben Ausdrücke, die man auf Menschliches anwendet, auf Gott übertragen ihren Sinn verändern.]³⁶¹ Die Unsterblichkeit der Seele kann mit Vernunftmitteln bewiesen werden; also hat das Naturrecht sich auch mit dem Zugang zur ewigen Seligkeit zu befassen (§ 6). Dass Pufendorfs Rechtstheorie sich „innerhalb der Grenzen dieses Lebens“ aufhält (ebd.), findet er tadelnswert. Bloße Gesinnungen (actus interni), die nicht zur Tat werden, auszuklammern und sie der Moraltheologie zu überlassen, findet Leibniz „absurd“ und eines aufgeklärten Jahrhunderts unwürdig (§ 7). [Als ob Gesinnungsjustiz etwas Aufgeklärtes wäre!]³⁶²
Zu dieser Formel s.o. A 4.3 und v. a. # 255. Bei Grotius war ihre Akzeptierung anders gemeint gewesen: Die Naturrechtslehre muss einsichtig sein auch für Nichtreligiöse und Nichtgläubige. Schon Cicero hatte bemerkt, dass Platon mit seinen „Ideen“ etwas Göttliches entdeckt zu haben meinte (quiddam divinum, Acad. 1,33). Seiner Nachwelt hat er einen subtilen Polytheismus hinterlassen: Bekanntlich richtet sich bei ihm – und bei Leibniz – der Schöpfer nach den Ideen und nicht umgekehrt. Die Ursache dieses Missverständnisses liegt in Leibniz’ Idealismus. Wenn er vom „Machthaber“ spricht (supérieur), meint er den Begriff eines Machthabers; dieser „als solcher“ tut niemandem weh. Pufendorf hingegen meint konkrete, politische Macht. Wie immer man die Lehre von den Gotteseigenschaften fassen mag, ein „Wille“ Gottes kann darin nicht die Unvollkommenheiten haben, die menschlichen Willensbildungen und -erklärungen (# 274) häufig anhaften. Naturrecht, wie Pufendorf es versteht, ist keine Moral des „man sollte“, sondern ist Vorschlag für konkrete Gesetzgebung – als welche es alsbald auch diente. Leibnizens Position, praktisch genommen (und Recht ist praktisch), hätte einen Überwachungsstaat ergeben.
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Exkurs 13
Sünden wie auch gute Taten vor Gott allein³⁶³ gehören ins Naturrecht (§ 11). [Das hieße, dass außer Pflichten gegenüber Gott auch das Sündenproblem ins Naturrecht gehörte.] Die Versöhnungslehre gehört ins Naturrecht. „Eine gute Rechtsphilosophie“, meint er, „ist nicht nur auf Ruhe unter den Menschen gerichtet, sondern auch auf Gottes Freundschaft“ (§ 18). [Das würde die Evangeliumsverkündigung zur Juristenaufgabe machen.] Mit „Licht der ewigen Vernunft, das Gott in unserem Bewusstsein entzündet hat“ (in § 20 als Wirkursache des Naturrechts genannt) verwendet Leibniz Ausdrücke des Dritten Glaubensartikels für etwas, was nach Pufendorf eine Gegebenheit des Ersten wäre, so wie Thomas bei Lücken in seiner Theorie den Heiligen Geist ins Spiel bringt (oben Exkurs 7).
All das ist, wie gesagt, genau jene Vermengung von Recht, Moral und Theologie,³⁶⁴ aus der Pufendorf hatte herauskommen wollen. Die von Descartes und Spinoza popularisierte „mathematische“ Darstellungsweise zum Kanon machend, fordert Leibniz in formaler Hinsicht dies: ‒ Wissenschaft muss aus Prinzipien deduziert sein nach mathematischem Muster (§ 1). Aus diesen muss das System „geradlinig“ (determinata via) entwickelt werden (§ 2) nach den Gesichtspunkten der Final- und Wirkursache (§ 5). Dass Pufendorf sein Erfahrungswissen dem Begriff der socialitas untergeordnet hat (so ausdrücklich Eris 40), hätte er immerhin erkennen und würdigen können; selbst das gelingt ihm nicht, und Jean de Barbeyrac muss es in seinem Kommentar zu § 20 (dem letzten) nachtragen. Dabei ist Leibniz’ (bzw. Ulpians) Grundsatz des neminem laedere, den Gundling dann von ihm übernahm (s.o. C 4.7.3), nur die minimalistische Fassung derselben Idee, zurückgenommen auf die negative Formulierung des Dekalogs in seiner Zweiten Tafel. Deren positive Fassung in Luthers Katechismen hingegen ist die bei Pufendorf zugrunde liegende. Kurz, Leibniz verlangte von Pufendorf, genau das zu tun (getan zu haben), was er mit Absicht vermied, nämlich das Naturrecht – warum wohl heißt es so? – zu theologisieren. Er erwartete von ihm ein christliches Naturrecht, nicht achtend, dass es Pufendorf auf etwas auch außerhalb christlicher Länder Konsensfähiges ankam. Sicher, Leibniz’ beruflicher Wirkungskreis lag innerhalb dieser; sein älterer sächsischer Landsmann aber dachte darüber hinaus.
Hierin liegt eine Anspielung an das Gebet Davids, Ps 51(50),6: „Gegen dich (Gott) allein habe ich gesündigt“. Von hier aus kann man verstehen, dass die Kurie ihn gern als Konvertiten gehabt hätte und ihm 1687 sogar die Kardinalswürde in Aussicht stellte; unverheiratet war er jedenfalls. Details s. M. FLEISCHER: Katholische und lutherische Ireniker, 1968, 61. – Leibnizens Nein kann man gut nachvolllziehen; ein Ja wäre das sofortige Ende seiner Unionsbemühungen gewesen.
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Exkurs 14: Verdeckte Erfahrungswissenschaft bei Christian Wolff Erfahrung ist die Grundlage menschlichen Wissens, ob zugegeben oder nicht. Auch diejenige Philosophie, die Christian Wolff auf dem Titelblatt des Jus naturae als eine a priori dargestellte bezeichnet, beruht auf der Erfahrung vieler Jahrhunderte. Danach befragt, würde er die Herkunft seines Wissens wohl auch nicht ableugnen, vielmehr zunächst darauf hinweisen, dass er gesagt habe, seine Rechtslehre sei apriorisch dargestellt, was ja noch nicht heißt: apriorisch gewonnen. Soviel zunächst. Wenn nun Leibniz, wie eben referiert, an Pufendorf bemängelte, seine Theorie nicht more geometrico dargestellt zu haben, aus Axiomen deduzierend, so findet dieser „Fehler“ sich bei Wolff behoben. Euklid, an den man dabei denkt, beginnt bei Axiomen – ein vornehmes Wort für „Annahmen“ – und verfolgt deren Anwendbarkeit mit der einen Maßgabe, dass kein Widerspruch des später Gesagten mit dem vorherigen entstehen darf; so kennt man es in der Mathematik bis heute. In jenem Jahrhundert aber, wo Leibniz geboren wurde, war der Sprachgebrauch anders. Als „mathematische“ oder „geometrische“ Methode verstand sich die Arbeitsweise der Naturwissenschaften – also der empirischen, Regelmäßigkeiten mathematisch darstellenden – Wissenschaften seit Galilei. Hanns-Martin Bachmann (Staatslehre 24) kennzeichnet diese Darstellungsweise als „analytisch-synthetisch“. Es ist eine solche, bei der „rationale Deduktion und empirische Induktion ständig durcheinandergehen“ (ebd. 27). Deutlicher sagt er es ebd. 65 unter der Überschrift „Ein Mißverständnis wird geklärt“: Wenn Christian Wolff (…) davon spricht, daß er continuo ratiocinationis filo (am Faden eines fortlaufenden Vernunftschlusses) alles aus obersten Prinzipien ableite, so bedeutet das nicht (…), daß Wolff aus diesen obersten Prinzipien auf analytischem Wege alles deduziere, als ob der oberste Begriff alles übrige ohne Hinzutreten weiterer Elemente schon in sich enthielte.
So gilt es bereits für Grotius, der „am Ende seiner Vorrede zu De jure belli ac pacis meint, er habe nach Art der Mathematiker gearbeitet“ (ebd. 24); auch Hobbes meinte das, Spinoza in seinem postumen Werk dann ja auch. Pufendorf, was ihn betrifft, war in seinem Sprachgebrauch genauer, war aber auch unabhängig von literarischen Moden. In JN&G 1,2,10 sagt er ausdrücklich, dass die Exaktheit der Mathematik in der Wissenschaft vom menschlichen Handeln nicht zu erwarten sei. Er kannte die Verschiedenheit der Wissenschaften gut genug, um solch laschen Sprachgebrauch zu vermeiden. Wolff war zwar Mathematiker (das war sogar seine erste Universitätsanstellung), und zwar, soweit bekannt, der erste, der die Infinitesimalrechnung, auf die sein Förderer Leibniz gekommen war, öffentlich lehrte.³⁶⁵ Doch lebte er in einem Jahrhundert, wo jede So Bachmann, Staatslehre 36, der im Übrigen zeigt, dass er ein Universalgelehrter war nicht weniger als Leibniz (ebd. 47: Aufzählung seiner Fächer).
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Exkurs 14
Theorie, die ernst genommen werden sollte, sich als deduktiv geben musste. Formal also hatte Pufendorf, als er sich gegen die damalige Neuscholastik stemmte, verloren; nur inhaltlich haben sich seine Werke durchgesetzt (und das ist schließlich wichtiger). Von hier aus können wir zurückkommen auf die in 4.7.4 schon gestellte Frage, ob die Worte a priori auf dem Bd. I seines Jus naturae stehen dürften oder, wie in der modernen Reproduktion, weggenommen werden müssten. Die Antwort war eine „weiche“, relative Definition dieses Ausdrucks, deren Berechtigung wir hier sehen. Nimmt man das Wort „apriorisch“ streng, so sind Wolffs Begriffe es nicht; seine Sätze aber sind es in gewissem Sinne schon, und so dürfte die Ankündigung gemeint sein. Was man später, im 19. Jh., als „Notwendigkeit“ für philosophische Theorien in Anspruch nahm, ist hier – bescheidener, dafür aber menschenmöglich – die Widerspruchsfreiheit (Kohärenz) des Systems. Klarheit der Begriffe ist – um den Preis, platt zu wirken – für Wolff wichtiger als ein etwa mittransportierter Tiefsinn. Wolffs eigene Definition von Apriorismus ist diese: „Was wir mit Hilfe der Vernunft erkennen, erkennen wir a priori“ (PhPU § 269). Da waltet keine „Notwendigkeit“, wie sie im Deutschen Idealismus des 19. Jh. so oft und so ideologisch beansprucht wurde, sondern es gilt der Satz vom zu vermeidenden Widerspruch sowie die Vermeidung einer Sondersprache, die nicht in den allgemeinen Sprachgebrauch übersetzbar wäre. Dass Wolff in erfahrungsgesättigten Begriffen denkt, war vorher schon klar aus seiner Erkenntnistheorie, wie er sie in JN §§ 244– 246 rekapituliert. Durchwegs geht es ihm, wie aus seiner PhPU (praefatio, c3 r) zu erfahren, um das, was Descartes (den er dazu nicht erst nennen muss) als notiones clarae et distinctae bezeichnet hatte. Das meint, wie auch wieder in JN §§ 219 f, Begriffe, die eindeutig definiert und sauber gegeneinander abgesetzt sind. Methodisch ist der späte Wolff, dem wir u. a. eine Psychologia empirica verdanken, erstaunlich modern. Seine früher erschienene Ontologia, auf die er immer noch verweist (§ 21 ff ) wie auch seine Cosmologia (§ 30 u. ö.) sind nur fünftes und sechstes Rad an einem Wagen, der ohne sie bereits sicher läuft. Wahrscheinlich kannte und jedenfalls befolgt er in alledem die Definitionslehre Spinozas, der in De intellectus emendatione 93 gesagt hatte: Niemals wird es uns erlaubt sein, solange es um die Ermittlung von Sachen geht, aus Abstrakta etwas zu erschließen; und wir werden uns sehr hüten, das, was nur im Verstand ist, zu mischen mit dem, was wirklich ist (quae sunt in re). Sondern die beste Schlussfolgerung wird zu gewinnen sein aus einer partikularen Wesensbestimmung (ab essentia aliqua particulari affirmativa), d. h. aus der wahren und legitimen Definition (a vera et legitima definitione). Denn von allgemein geltenden Axiomen kann der Verstand zum Einzelnen nicht herabsteigen (…).
Der Anspruch an Apriorizität, worin Wolff sich über Pufendorf erhaben wähnt (JN § 2),³⁶⁶ ist also weiter nichts als eine – allerdings überaus reiche – Fülle an Definiti-
Dem Herausgeber der Nachdruckausgabe von 1972 ist dieser Anspruch so unglaubwürdig gewesen, dass er eine Abbildung des Originaltitels unterließ, den Titel des Nachdrucks kürzte und dessen vollen
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onsvorschlägen, die sich durch ihr widerspruchsloses Nebeneinander (ein deduktives System ist es nicht) empfehlen.³⁶⁷ Diese müssen sich – Spinoza und viele andere vergessen das zu erwähnen – an Erfahrung bewähren, um einzuleuchten; bei Wolff sind sie Teil eines Regelkreises aus Erfahrung und Reflexion. Dass Wolff einen solchen durchlaufen hat, ist erkennbar am Vorgängerwerk, seiner zwei Jahre zuvor veröffentlichten Philosophia practica universalis. Diese setzt ein bei dem „Unterschied der menschlichen Handlungen und ihrer Zurechnung“ (§§ 1– 34). Bereits in der Praefatio macht er dort klar, dass „nicht nur die Pflicht, sie [die naturae lex] zu befolgen, von Gott ist, so sehr sie ihren hinreichenden Grund (rationem sufficientem) in Wesen und Natur des Menschen hat, sondern auch das Höchste Wesen eine positive Pflicht durch die natura rerum (modern gesagt: die Lebensbedingungen) eingeführt hat, damit sie Belohnungen und Strafen vergebe gemäß göttlichem Willen“ (c2 v). Diese Grundthese des Deismus – dessen Engführungen auf Mechanik und auf ein viel zu enges Weltbild er weislich vermeidet – hat er mit seinem ganzen Zeitalter gemeinsam; „natürliche“ Theologie (# 263) war auch in der lutherischen Orthodoxie wie im Katholizismus (im Osten auch) Teil der Dogmatik. Wenn Pufendorf den Rekurs auf die Natur des Menschen schöpfungstheologisch absicherte, so tut dies Wolff auch (JN § 198 f ),³⁶⁸ und es ist nicht viel anders gemeint, wenn er im gegenseitigen Angewiesensein der Menschen aufeinander die Vorsehung am Werk sieht (JN § 165). All das sind gedeutete Erfahrungen. Jenen Optimismus aber, wonach die Natur des Menschen ebenso sicher zu erkennen sei, wie die „Geometrie“ (§ 41 n.; das meint immer noch die ganze Mathematik) ihre Objekte erkennt, brauchen wir nicht zu teilen, zumal Wolff später selbst zugibt (§ 203): „Es gibt keinen Gebrauch des Verstandes ohne den Dienst der Sinne, des Vorstellungsvermögens und der Erinnerung.“³⁶⁹ Auch dies weiß er (§ 199): „Der Gebrauch der höheren Fähigkeiten der Seele, [nämlich] des Verstandes und des freien Willens [# 274], ist dem Menschen nicht von Natur gegeben, sondern wird durch Übung erworben.“ Die im 18. Jh. so beliebte Wendung a priori ist also, wie gesagt, zeitbedingt zu nehmen. In seinem Jus naturae ist Wolff kein Apriorist, der sich’s zutrauen würde,
Wortlaut nur ganz verstohlen auf S. LXXVII wiedergab. Er hat auch unbegreiflicherweise die 6 Seiten Widmung getilgt, worin Wolff zunächst (konventionell) seinem Gönnner schmeichelt, er sei bereits ein Philosoph, dann aber die Absichten seines Werkes kundgibt, wozu dann bemerkenswerterweise gehört, eine „wahrere Metaphysik“ zu finden (Blatt a3 v). Diese wird schon bei ihm – in der Reife seines Denkens – nicht mehr als eine Lehre vom Sein geboten, sondern als eine Lehre vom Handeln. Worum es ihm geht, ist die actionum rectitudo (Blatt a4 r). In diesem Sinne ist es wohl zu verstehen, wenn Wolff seinen positiven Sätzen in pedantischer Ausführlichkeit die negierten Kehrsätze zur Seite stellt. Das sind keine Deduktionen, sondern Alternativformulierungen, semantische Variationen also. Dass doppelte Negationen zur Position zurückführen, ist nur dann der Fall, wenn sichergestellt ist, dass der ganze Satz der Verneinung unterlag und nicht nur ein Teil von ihm. Die Syntax natürlicher Sprachen ist da überfordert, sofern man nicht – schriftlich – mit Klammersetzungen arbeiten will; s. HWP 6, 669. Dort auch das Sprichwort neminem hominem nasci, sed fieri, „keiner wird als Mensch schon geboren; er wird es.“ Wir befinden uns im Jahrhundert der Erziehung. Intellectus usus nullus est absque ministerio sensuum et imaginationis atque memoriae.
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Begriffspyramiden an ihrer Spitze aufzuhängen – etwa die Rechtslehre am Begriff der Gerechtigkeit (wie die Scholastiker es wollten und Leibniz wieder). Die häufigen und überraschenden Themenwechsel in seinem Jus naturae weisen keine Über- und Unterordnung auf. Ja man fragt sich, ob er überhaupt ein System hatte. Die Antwort mag überraschen: Ja, doch; nur ist dieses System verborgen. Für sich selber hatte er es vielleicht auf große Blätter geschrieben, sofern deren Zweidimensionalität dafür ausreichte. Wie sehr Wolff systematisch denkt, erfährt man erst bei einer ganz genauen Lektüre der zuletzt geschriebenen Seiten dieses Bandes; es ist die mit b bezeichnete, unpaginierte Lage, die praefatio enthaltend. Sie ist den §§ 1 ff (S. 1 ff; Lage A ff ) vorgeheftet und könnte am leichtesten überschlagen werden von denen, die gleich zum Haupttext eilen. Aber nur dort, auf Blatt b1 v/b2 r, zeigt sich die dem ganzen Werk zugrunde liegende Begriffspyramide (oder moderner gesagt, der Spielbaum): 1. Anknüpfend an älterer Terminologie, definiert Wolff zunächst: „Handlungen, die gemäß dem Naturecht geleitet sind (actiones iuxta legem naturalem determinatae), heißen officia.“ Dies ist seine Anknüpfung an älterem, insbesondere katholischem Sprachgebrauch; demnächst wird es statt lex korrekter ius heißen. Das ciceronianische Wort officia, das Rechte und Pflichten zugleich meint, synonym setzend mit obligationes, erklärt er sodann – 2. zum Gegenstand seiner Theorie die Rechte und Pflichten des Menschen, die diesem von Geburt an obliegen (obligationes naturales homini connatae, b2 r). – Mit dem Entstehen von Gemeinwesen (civitates) beginnt sich weiterhin zu unterscheiden: 3. der status naturalis (originarius) des Menschen vom status civilis (adventitius), wo also neue Bedingungen hinzukommen. Diese letzteren unterscheiden sich – 4. in Eigentums- und Herrschaftsverhältnisse (dominia vs. imperia) und diese wiederum – 5. in private und öffentliche.³⁷⁰ 6. Mit den Kombinationsmöglichkeiten, die der status civilis mit all dem ihm Folgenden hergibt, differenziert sich das weitere Naturrecht, wobei schon auf Ebene 3 folgende Grundrechte angelegt sind: 7. „Recht auf Freiheit und Gleichheit, Recht auf die Dinge, deren Gebrauch dem Menschen nötig ist,³⁷¹ sofern er seiner natürlichen Obligation und ihren Pflichten nachkommen will, Recht auf Sicherheit und Recht auf Religionsausübung“ (b2 v). „Beides“, sagt er auf Blatt b2v, „beruht auf dem Naturzustand; jedoch hebt das imperium publicum, das auch civile genannt wird, den Naturzustand auf und verwandelt ihn in den Kulturzustand (status civilis). Dabei hebt es die Pflichten und Rechte nicht auf, die im Naturzustand gelten, sondern lässt jene unberührt, benimmt jedoch, was diese betrifft, Einzelnen ihren Genuss oder schränkt ihn ein.“ Eigentum (dominium) und Befehlsgewalt (imperium) gibt es also bereits im Naturzustand; wo sie staatlich geregelt und entsprechend verändert sind, spricht Wolff vom Kulturzustand. – Ähnlich sagte es schon Pufendorf (De off. 2,1,2– 7) mit der Konsequenz, dass (zu seiner Zeit, versteht sich) die Gesellschaften unter sich immer noch im Naturzustand leben, ohne verbindliche Regeln. Wenn gegenwärtig die Länder der Zweiten und Dritten Welt über die UNO ein Menschenrecht auf Trinkwasser und überhaupt auf Grundversorgung einfordern und damit eine Pflicht für die entwickelteren Gesellschaften meinen, so könnte nach dem Gesagten nur das gemeint sein: Niemand darf anderen
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Diese Theorie ist aposteriorisch gewonnen, was Wolff nicht daran hindert, sie apriorisch zu bieten, d. h. sie im Darbieten der Begriffe so aufzubauen, dass man der Richtung des Findens entgegen gehen kann im Nachdenken. Der Weg der Darstellung geht vom Einfachen, wenn auch Umfassenden, der hohen Begriffe hinab zur Vielfalt des Einzelnen und in diesem Sinne „Einfachen“, eng Festgelegten. – Eine freundliche Erwähnung der Scholastik und ihrer Suche nach einer lex Dei aeterna, wohl als Gesprächsangebot gedacht, auf der letzten Seite dieser Lage (b4 v) rundet das Ganze ab. So wird denn in den zahlreichen Paragraphen dieses Buches immer wieder auf höherer Ebene angeknüpft und heruntergeführt (in diesem Sinne „deduziert“). Man erfährt z. B. in diesem Band vieles über das dominium (s. # 6); dessen Gegenstück, das imperium jedoch (s. # 91), obwohl es gleichhohen Rang hat im System, kommt erst in einem der späteren Bände an die Reihe. Nur in § 133 ist vorsorglich eine potestas civitatis in singula eius membra, eine „Befugnis des Gemeinwesens gegenüber jedem seiner Glieder“, und in § 137 ein „Einwirkungsrecht auf Handlungen (ius in actiones) eines Anderen“ verankert. Dies ist eine von unzähligen Querverbindungen zwischen einzelnen Zweigen dieses riesigen Spielbaums, und sie durchziehen dank der immerhin praktischen Paragraphenzählung, einer Zitierkonvention ohne metaphysischen Rang, das ganze Werk. Leider fehlen bei Wolff die Zwischenüberschriften (die bei Kant manchmal ganze Titelblätter ausmachen); nur die Äste seines Spielbaums notiert er gelegentlich (in diesem Band ganze viermal, als Kapitelüberschriften), die Zweige aber nicht. So kommt z. B. eine Definition für honor „Ehre“ (bei ihm: „Geehrtwerden“, passiv) im Gegensatz zu existimatio („Ehrerbietung“, aktiv), die er in § 538 gegeben hatte, in §§ 839 – 841 wieder, erweitert um magni aliquem facere (für „Hochschätzung“), nunmehr abgesetzt gegen contumelia (für „Geringschätzung“) – warum? Kap. 2 behandelte die Pflichten des Einzelnen gegen sich selbst, wozu die Selbstachtung gehört, Kap. 3 aber die Pflichten des Einzelnen gegen andere; da sind es dann Regeln des Umgangs. Wolffs PhPU hatte in §§ 1– 128 des 1. Bandes diese Grundlage gelegt,³⁷² so wie in §§ 129 – 270 desselben Bandes ein Naturrecht sich bereits in Kurzform findet. Hier wie in der Wiederaufnahme seiner Handlungstheorie in JN §§ 427– 444 ist Wolff der scholastischen Rechtslehre um ein Zeitalter voraus. Er ist es auch darin, dass er Ethik und Naturrecht deutlich unterscheidet. Demgemäß spricht er im JN nicht mehr von lex naturalis – was noch thomistisch hätte verstanden werden können, moralisch also, oder mit der Regelmäßigkeit von Naturvorgängen hätte verwechselt werden können –, son-
das Trinkwasser und überhaupt die Lebensgrundlage entziehen oder verderben.Was auf solche Weise zu Papier kommt, sind allerdings immer nur unvollkommene Rechte, zu deren Gewährleistung niemand verpflichtet ist, und es gilt JN § 132: Tuum non est, ad quod imperfectum tantummodo ius habes. Eine Psychologia empirica ging ihrerseits voraus, aus der er gleichfalls schöpft, und dass seine Begriffe letztlich doch aus Erfahrungen kommen, leugnet er nicht (vgl. PhPU I, praefatio, c4 r Z. 6: Nos multiplici experimento edocti…). Im JN beruft er sich durchaus auf Erfahrungen, z. B. § 714 (Selbsterfahrung) oder §§ 775 f, nicht ohne eben vorher gesagt zu haben (§ 774): „Wir hatten dies zu beweisen aus den Allgemeinbegriffen selbst (ex ipsis notionibus generalibus), damit alles im System unter sich zusammenhängt und jene Evidenz sich einstellt, die das systematische Denken (…) zur Zustimmung nötigt.“
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dern von einem ius naturale. Dieses ist nicht nur Pflicht zum Handeln, Unterlassen oder Hinnehmen, sondern auch Recht im Sinne der jedem Menschen zustehenden Ansprüche. Den alten Ausdruck lex naturae verwendet er allenfalls im Plural (JN § 3; vgl. PhPU §§ 156 ff ): leges naturae sind bei ihm die Einzelbestimmungen (also Einzelerkenntnisse und -wertungen) dessen, was insgesamt „Naturrecht“ heißt. Seine Praktische Philosophie, an die er im JN anknüpft, lehrt, nach welchen Regeln wir unsere freien Handlungen einrichten sollen (JN § 5). Auch hier nun, im Naturrecht, werden Einsichten ausgebreitet, die allen Menschen zugänglich sein müssten ohne Bezugnahme auf eine bestimmte Offenbarung.³⁷³ Im Weiteren gelangen Begriffe wie „Wille (Absicht)“, „Pflicht“, „Erwartung (Anspruch)“, „Verantwortung“ und viele andere zu einer Klarheit, die auch Kant nicht mehr übertreffen konnte. Wenn Kant nachmals den Kategorischen Imperativ als Obersatz über alle praktische Philosophie formulierte, so ist schon bei Wolff ein solcher gefunden in einer weniger formalen Formulierung, durchaus als inhaltlicher Wert. Was bei Pufendorf die Sozialität gewesen war, ist bei ihm, bereits ein Stück individualistischer, die Pflicht jedes Menschen, sich in dem ihm möglichen Maße zu vervollkommnen (Bachmann, Staatslehre 78 – 89). Der deutschen Aufklärung wurde das zur weithin akzeptierten Evidenz. In seinen Worten und bezogen auf seine Anthropologie, die nicht nur Leib und Seele, sondern auch die Lebensumstände einschließt, lautet das so (JN § 180): Unusquisque operam dare debet, ut eam consequatur animae, corporis ac status externi perfectionem, quam consequi in potestate ipsius positum. Ein jeder soll sich Mühe geben, diejenige Vervollkommnung von Seele, Leib und Lebensumständen zu erreichen, die zu erreichen in seiner eigenen Macht liegt.
Dass biblisch all dies „Leben“ heißt, wird in # 41 anhand einer Heilungsgeschichte zu zeigen sein, wo wir auf die Wichtigkeit der Lebensumstände zurückkommen werden. Es gibt eine Übergangszone zwischen Ich und nicht-Ich, ignoriert vom Deutschen Idealismus, wohlerwogen aber vom Recht. Zur körperlichen Vollkommenheit gehören bei Wolff übrigens auch Körperpflege, Kleidung und Schmuck (s. hinter # 345 zu 1Tim 2,9) – eine von vielen Stellen, die bei den Hallenser Pietisten nur Verdruss ausgelöst haben können. Zu Unrecht sprechen heutige Lehrbücher summarisch von „Leibniz-Wolffscher Schulphilosophie“;³⁷⁴ auch ist sie keineswegs abgetan durch Kants große Kritiken. Die Aporien, in die Leibniz’ Apriorismus geraten war und die ihm einen Entwurf nach dem anderen unvollendet sein ließen, hat Wolff in seinem Spätwerk erfolgreich vermieden,
Bachmann, Staatslehre 23. Theologisch lässt sich präzisieren: Wie seine Vorgänger bezieht sich Wolff an dieser Stelle, wie schon Luther, nicht auf Inhalte des Zweiten oder Dritten Glaubensartikels, welche ja dem Christentum spezifisch sind. Die des Ersten hingegen können aufgrund der Ähnlichekit der Religionen eine Verständigungsbasis sein weltweit. Vgl. Joh 1,4 f; dass die dort in 1,5 ausgedrückte Verneinung nach biblischem Sprachgebrauch keine kategorische ist, s. # 351. Über Ursprung und Irrigkeit dieser Verklammerung s. Bachmann, Staatslehre 52 f.
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und er hat der Rechtswissenschaft, anders als Kant, ihre Eigenständigkeit neben, ja sogar über der Ethik gelassen.³⁷⁵ So ist denn Wolff für das vorliegende Werk weit mehr als nur der vergessene Vorläufer Kants. Seine Rechtsphilosophie bietet Definitionen, die bis heute gültig sind, ebenso wie die von ihm gewählten bzw. allererst gebildeten Wiedergaben im Deutschen (so Bachmann, Staatslehre 48 f ).³⁷⁶ In der wohlgeordneten Vielfalt seiner Begriffe spiegelt sich das „pralle Leben“ wider, von dem er mehr wusste als mancher auch – und nur – philosophierende Mönch oder Hagestolz; seine Theorie ist nicht beschränkt auf eine Selbsterkundung des Bewusstseins. Sooft in den folgenden Bänden unter „Definitionen“ oder unter „Quellen und ältere Literatur“ Wolff zitiert wird, ist das kein Rückgang hinter Kant. Dessen Gründung des Naturrechts und der Ethik zugleich auf den Kategorischen Imperativ ist nur die Benennung einer Grundevidenz, von der er ausgeht; sie lässt sich verstehen als eine Fassung des Sozialitätsbegriffs. Wolff, was ihn betrifft, zählt eher auf eine Vielfalt kleinerer Evidenzen.³⁷⁷ Evidenz ist es, was Wolff beansprucht bzw. anstrebt. Jede seiner Definitionen bietet er in zahlreichen Varianten. Man darf hier nicht erwarten, dass die eine die andere „beweist“, auch wenn er sie gern in Syllogismen anordnet. Sondern der merkwürdige Leseeffekt ist der, dass man an irgendeiner nicht vorhersehbaren Stelle (bei jeder erneuten Lektüre kann es eine andere sein) eine Querverbindung entdeckt im bisher Gelernten – die unter Wolffs eigenen Büchern bestehenden Querverbindungen werden von ihm selbst genannt –; und nach und nach gewahrt man die Kohärenz der gesamten Theorie. Das ist keine deduzierende, sondern eine evozierende Sprache. Es ist kein zwingendes Denken, sondern ein aufmerksam machendes. Auch in der Sache, was Recht und Rechte betrifft, argumentiert Wolff nie für den Zwang, außer wo ein solcher sich aus den Bedürfnissen des Selbstschutzes ergibt (denn natürlich geht er vom Individuum aus und nicht, wie es selbst im 20. Jh. in Deutschland wieder gemacht wurde, vom „Volkskörper“ oder dergleichen). Seine Begriffe – so ist der Anspruch – sind gereinigt von allerlei Mitgedachtem, was sonst zu Widersprüchen führen müsste. Ein Beispiel, das in # 131 zu geben sein wird, ist seine Definition von „Talion“, die ohne den seither wieder hineingemischten Aspekt der Sühne auskommt.
Der vollen Titel seines JN I lautet: Jus naturae methodo scientifica pertractatum. Pars prima, in qua obligationes et jura connata ex ipsa hominis essentia atque natura a priori demonstrantur et philosophiae moralis omnisque juris reliqui fundamenta solida jaciuntur. Er vermeidet in der Terminologie Metaphern. Liest man Kant, so ist dort mit dem Ausdruck „Triebfeder“ (eine Metapher aus der Mechanik) nichts gewonnen, wo doch Wolff schon den Terminus „Motiv“ hatte (PhPU § 7 ff; JN § 466 nota) und die rationalen von den affektiven Antrieben längst zu scheiden wusste (PhPU § 14 ff ). Auch was Kant „Urteil“ nennt, ist juristisch oft nur eine „Aussage“. Ein Rechtsphilosoph hingegen ist Kant nicht gewesen, sonst hätte er nicht das Wort „Urteil“ für Aussagen aller Art verbraucht.
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Man muss sich an Wolffs Schreibweise gewöhnen, nicht weniger als bei Kant, muss bei ihm aber keine neuen Fachausdrücke lernen.³⁷⁸ Das scholastische Aufspalten von Begriffen, wie es einst nötig war, um Autoritäten wörtlich gelten zu lassen, ist ihm fremd; sein Latein und ebenso sein Deutsch hat genug Wörter, deren Bedeutungen er gegeneinander kontrastieren kann. Er treibt auf seine Art eine ordinary language philosophy (vgl. seine Ankündigung in PhPU I, praefatio, c4 r Z. 4 f ): Seine Definitionen gründen auf dem Sprachgebrauch – dem lateinischen zunächst, aber auch schon dem deutschen³⁷⁹ – mit dem einzigen Ziel, Unklarheiten für künftige Verständigung zu beheben.³⁸⁰ Wolff liegt damit, auch wenn er es vielleicht nicht weiß, ganz auf der Linie der Logique de Port-Royal. Ist somit die Umgangssprache – die der Römer, jetzt auch die der Deutschen, davor schon die der Franzosen – die Ausgangsbasis, so ist sie doch keineswegs die Norm; Präzisionen eines ungenauen und Korrekturen eines irrigen Sprachgebrauchs können sich als nötig erweisen (JN § 841 n.). Schließlich kommt Umgangssprache aus einer Unmenge immer noch zu verarbeitender Erfahrung und nicht aus dem Himmel des immer schon Bestimmten. Als das 19. Jh. schließlich eine „vergleichende Rechtswissenschaft“ hervorbrachte,³⁸¹ war man sich nicht bewusst, in welch hohem Maße man das Gleiche wie Wolff noch einmal machte, nur ohne generalisierende Absicht; so nannte man es auch nicht mehr „Naturrecht“.
Mit wenigen Ausnahmen, die wir aber nicht brauchen werden, etwa noluntas, das „Nichtwollen“ i.S.v. „Wollen, dass nicht…“. Er gibt immer wieder Glossen auf Deutsch, denkt auch manchmal deutsch. Ein schönes Beispiel ist § 585, wo er „Selbstverachtung“ (das meint eine Komponente pietistischer Frömmigkeit) auf Deutsch benennt, sie aber in den lateinischen Kontext einflicht als abiectus animus. Das Begriffespalten der Scholastiker, ob katholisch oder zu seiner Zeit auch protestantisch, ging ja meist in die andere Richtung, nach rückwärts, um Texten, deren Wortlaut bereits Autorität hatte, einen wünschenswerten Sinn abzugewinnen. Dazu Mohnhaupt, „Vergleichung“, bes. 102– 105. Ganz richtig gelten ihm Pufendorf, Gundling u. a. als Vorläufer für diese sowohl synchrone wie diachrone Vergleichsarbeit (106 f ).
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Exkurs 15: Die Verführung des Totalitarismus: Carl Schmitt, Jacob Taubes Seit dem 19. Jh. redet in in den großen Menschheitsfragen die Biologie mit, jene Heilswissenschaft von damals, der wir leider auch den Sozialdarwinismus und schließlich den Rassismus verdanken. Werner Elert hat die Geistesgeschichte dieser Para-Theologie im Detail dargestellt unter dem Gesichtspunkt, dass es nutzlos war, dagegen Apologetik zu betreiben,³⁸² solange man seiner eigenen, positiven Botschaft nicht sicher war. Diese aber war geschwächt, solange man sie an ein vergangenes („biblisches“) Weltbild rückbinden wollte, dem neuere Weltbilder sich nunmehr entgegensetzten, zu schweigen von den anthropologischen Defiziten.³⁸³ Anschließend, im 20. Jh., hat ein ähnlich unnützer Kampf gegen die Freudsche Psychologie und gegen die empirische Soziologie stattgefunden, als sei man auf diesen Gebieten kompetent. Inzwischen – aber spät – haben die Kirchen angefangen, von diesen Wissenschaften zu lernen, und sie geben unnütze Konfrontationen auf. Das 19. Jh. war das Jahrhundert der Ideologien gewesen, der allumfassenden Welterkärungen. Deren Auswirkungen auf die Politik und das Weltgeschehen sind nur allzu bekannt; die auf das Rechtswesen sind es weniger. Selbst Menschen, die gar nicht in der Lage waren, ihre Position in der Gesellschaft zum Herrschen zu missbrauchen, etwa ein Jude im NS-Staat, konnten fasziniert sein vom Denken eines Hegel oder Marx und so zu geistigen Nachbarn ihrer eigenen Unterdrücker werden. Der in Bd. V mit scharfsinnigen Beobachtungen zu Paulus noch zu zitierende jüdische Philosoph Jacob TAUBES, ein Überlebender der rechtlosen Periode Deutschlands 1933 – 45, hat danach an der Freien Universität Berlin Vorträge gehalten über den 1. Korintherbrief, an welchem ihn die außergewöhnliche Häufigkeit von Aussagen mit den Quantoren „jeder, alle, alles“ (pas, pantes, panta) faszinierten. Was die Unsicherheit jener Zeiten suchte, waren Aussagen von unbegrenzter Gültigkeit – dabei hätte ein wissenschaftlicher Grenzgänger wie der Physiker und Phlosoph Carl Friedrich v.Weizsäcker ihnen damals schon sagen können, dass noch jede Theorie im Laufe ihrer Anwendung mit Grenzen ihrer Gültigkeit versehen worden ist; in den Naturwissenschaften weiß man das. Taubes war nicht nur von Paulus fasziniert, sondern auch vom Chefjuristen der „Bewegung“ der 1930-er Jahre, Carl SCHMITT. Den Kontakt mit ihm hat er, der SchoaÜberlebende, langezeit gemieden, ehe er ihn noch vor seinem Tod in seinem Geburtsort Plettenberg, einem der katholischsten Orte Westfalens, besuchte zu tiefschürfenden
Das ist sein Beweisziel in Der Kampf um das Christentum (1921). Nämlich den Menschen nur als Seele in den Blick zu nehmen. Das hatten sie nicht aus der Bibel, sondern von Platon. Die res extensae dieser Welt auszublenden zugunsten der res cogitans als einzig würdigem Gegenstand der Philosophie, das liest man nicht gerne von einem Autor, dessen einzige Tochter vaterlos irgendwo verkümmerte.
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Gesprächen.³⁸⁴ Schmitts Selbstanpassung in Zeiten der Diktatur rechtfertigte Taubes in Paulus 139 nachträglich mit folgender Bemerkung: Der Jurist muß die Welt, wie sie ist, legitimieren. Das liegt in der ganzen Ausbildung, in der ganzen Vorstellung des Amtes des Juristen. (…) Er ist ein clerk, ³⁸⁵ und er versteht seine Aufgabe nicht darin, Recht zu setzen, sondern Recht zu interpretieren.
Es wirkt wie Bescheidenheit, wenn Taubes das sagt; logisch kommt es jedoch aus einer Grundeinstellung, die er mit Schmitt gemeinsam hat: Macht begründet Recht, nicht umgekehrt. Umso mehr fasziniert dann „unbeschränkte“ Macht. Mag auch die Arbeit praktizierender Juristen, Richter zumal, in dieser Äußerung richtig dargestellt sein, so liegt doch Wissenschaft eine Stufe darüber und reicht bis an die sog. Letztfragen oder Letztbegründungen hinan. Wenn Taubes auf der zitierten Seite sagt, er würde Carl Schmitt gerne „zeigen, daß die Gewaltentrennung zwischen weltlich und geistlich absolut notwendig ist“, und zwar gegen „seinen totalitären Begriff“ von Macht,³⁸⁶ so befindet er sich mit Luther, dem Autor der Zwei-Reiche-Lehre, in guter Gesellschaft – wobei Luthers Einfluss lange Umwege nehmen musste, denn die traditionell-jüdische Position vertritt in dieser Diskussion gerade Schmitt und nicht er. Wenn Intellektuelle wie die eben Genannten von All-Aussagen fasziniert waren, dann nicht nur, weil sie an den Problemen, aber auch den Erfolgen der Naturwissenschaften keinen Anteil nahmen, sondern auch daran, dass sie apriorische Einsichten, sofern sich solche finden lassen, nicht im Rahmen ihrer Grenzbedingungen verstanden. Der Satz des Pythagoras z. B., ein geometrisches Theorem a priori, gilt nur auf der Ebene, nicht auf einer Kugel. Auf einer solchen aber leben wir. Das wird vom Idealismus allzu gern vergessen. Unsere Erfahrungswelt ist sehr viel reicher, als eine Zeichnung auf dem Papier es wiedergeben kann. Sie ist vernetzt, und ihre relative Ordnung ist voll von Bewegung in den verschiedensten Richtungen. Alle Ideologien, die die Menschheit bisher genarrt haben, sind verallgemeinerte Teiltheorien, wahr allenfalls für einen bestimmten Bereich, irreführend aber jenseits seiner – wenn etwa Darwins Erkenntnisse zur Soziallehre erhoben wurden und wieder s. Taubes, Paulus, Anhang 132– 142: „Die Geschichte Jacob Taubes – Carl Schmitt“, wo er sagt: „Ich weiß noch viel mehr, einen Teil, den ich mit priesterlichem Schweigen bedecke, der nicht in die Öffentlichkeit gelangt“ (137). Hans BLUMENBERG hatte ihn zur Kontaktnahme ermuntert. Auch Joachim RITTER, Initiator des HWP, pflegte mit seinem Oberseminar, dem legendären „Ritter-Kreis“, zu gleichem Zweck nach Plettenberg zu fahren – so F. Lötzsch (mündlich), der davon aber sich abmeldete. [= Diener seiner Institution. Dieses engl. Wort kommt von lat. clericus und aus einer Zeit, als das – einzig lateinkundige – Kirchenpersonal zugleich Zivilpersonal war für Verwaltungsaufgaben.] Dieser Satz wird von den Herausgebern wiederholt als Schlusssatz des Bandes (181). Dazu noch ein Element an petite histoire aus Taubes, Paulus 97: „Carl Schmitt hat mir mal erzählt, daß er zusammen mit deutschen Staatsräten und Professoren, darunter auch Heidegger, von Göring in einem Nachtzug nach Rom verfrachtet worden ist zu einem Gespräch mit Mussolini. Und Mussolini hätte ihm gesagt, damals, 1934: ,Retten Sie den Staat vor der Partei. ‘“ – Was Heidegger etwa daraus gelernt hat, mögen die Experten wissen. Was Schmitt betrifft, so erschien im selben Jahr sein Kommentar zu den Morden nach dem sog. Röhm-Putsch, betitelt: Der Führer schützt das Recht, sowie die 2. Auflage seiner Politischen Theologie.
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einmal die Menschheit dem Tierreich angeglichen wurde, was schon ein Fehler der stoischen und der scholastischen Naturrechtslehren gewesen war. Blaise PASCAL, einer der geistigen Väter der Logique de Port-Royal, äußert in seinen Pensées sein Befremden über jede Wissenschaft, die eine Theorie „von allem“ sein will.³⁸⁷ Als Mathematiker bewies er, dass es eine Unendlichkeit nicht nur im Größten gibt, sondern auch im Kleinsten,³⁸⁸ und er hat das geahnt, was Kurt GÖDEL, gleichfalls ein Mathematiker, 1931 als Unvollständigkeit jedes formalen Systems der Arithmetik bewies (s.o. Exkurs 12). Das lässt für die weniger formalen, eher sprachgebundenen Wissenschaften nichts Besseres erwarten. Doch zurück in die Politik: Carl Schmitts Verfassungslehre (1928) wurde ein Klassiker, und selbst das frisch gebildete israelische Justizministerium hat ihn zum Zweck der Ausarbeitung einer (dann nicht entstandenen) israelischen Verfassung herangezogen.³⁸⁹ Wenig nach jenem Buch hat Carl Schmitt in seinem Staat, Bewegung, Volk 1933 das eingerissen, was er vorher gebaut hatte; er hat dem „Führerstaat“ (wie er es nennt) die noch fehlende sakrale Weihe verliehen im Rekurs auf den vom damaligen Biologismus propagierten Wertbegriff „Volk“. Die Reinigung des deutschen Volkes von allen ihm genetisch fremden Elementen, damit das Volksempfinden Grundlage der Gesetzgebung werde, war ihm eine heilige Pflicht. – Man kann auch hierauf anwenden, was Taubes selbst (Paulus 135) über sein Verhältnis zu Carl Schmitt sagt: Les extrêmes se touchent. Lutherische Theologen, deren geistiges Erbe eigentlich keine Machttheologie war, haben der Ideologie des „Volkstums“ damals in der Weise zugestimmt, dass sie dieses zur„Schöpfungsordnung“ erhoben, was insbesondere für Paul ALTHAUS (nicht für Werner Elert) ein Normbegriff war.³⁹⁰ Das Theokratiedenken wurde von einem seltsamen Bündnis aus Katholizismus (Schmitt) und Judentum (Leo STRAUSS)³⁹¹ gepflegt und die Säkularisierung der Begriffe und Anschauungen, die seit der Renaissance politische Macht begründeten, für unzureichend erklärt; allerwärts wurde nach etwas Absolutem
Pensées, S. 104 Ausg. Havet (= Nr. 199, Sp. 536b Ausg. Lafuma). Demokrit, ein Materialist übrigens und Atomist, kein Platoniker, hatte sich peri tōn xympantōn, „Über alles zugleich“ geäußert (Sextus Empiricus, Adv. mathematicos 7,265), was Cicero großartig fand (Acad. 2,73), und Pico della Mirandola hat 1497 in Rom eine Rede De omni re scibili halten wollen. Zu deren Schriftfassung hat nachmals ein Witzbold im Titel hinzugesetzt: …et de quibusdam aliis. – Einer, der in dieser Frage später erfolgreich Klärung brachte, war Immanuel Kant. Vgl. # 300 zu Luthers Wort über das Abendmahl und zu dem Emblemwort Deus in minimis maximus. Das war gleich i.J. 1948. Die diesbezügliche petite histoire erzählt aus eigenem Erleben Taubes, Paulus 133 – 135. Für Elert waren diese Seinsordnungen (wie er lieber sagte) eine pure Gegebenheit; man müsse sich hinein fügen. Für ihn war das Schicksal, keine Norm. S.o. C 4.8.1. Ein Gegenbeispiel ist Hugo PREUß, der Autor des Entwurfs zur Weimarer Verfassung; er war Jude und Demokrat. Carl Schmitt hat in seinem Essay Hugo Preuss: Sein Staatsbegriff und seine Stellung in der deutschen Staatslehre 1930 seine Leistung gewürdigt in dem Sinne, dass er einem „Volksstaat“ (in Ablösung eines Obrigkeitsstaates) das Wort geredet habe; doch gleich 1933 verkündet er in Staat, Bewegung, Volk auf der ersten Textseite (S. 5): „Die Weimarer Verfassung gilt nicht mehr.“ Dieser Essay zielt auf die „Artgleichheit des Rechts“ im Führerstaat (46).
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gesucht. Man bezog sich auf eine Autorität, gelegentlich „Offenbarung“ genannt, die aber nicht näher identifiziert, geschweige denn textlich präzisiert wurde.³⁹² Der katholische Theologe Erik PETERSON war es, der 1935 Einspruch erhob. Sein Essay Der Monotheismus als politisches Problem. Ein Beitrag zur Geschichte der politischen Theologie im Imperium Romanum „gipfelt in der These, daß mit dem Christentum jeder politischen Theologie der Boden entzogen sei, weil sich der dreieinige Gott der Christenheit in keiner politischen Ordnung repräsentieren ließe.“³⁹³ Das brachte einen Carl Schmitt allerdings nicht zum Umdenken. Getreu dem Grundsatz „Angriff ist die beste Verteidigung“ ließ er 1970 seine Politische Theologie II erscheinen mit dem polemischen Untertitel: Die Legende von der Erledigung jeder Politischen Theologie. Diese Titelwahl suggeriert, die Dunkelmänner des Neomythos stünden auf der Gegenseite; dabei lässt er sich in der Kunst, Angreifbares ungenannt zu lassen und dafür lieber selbst anzugreifen, von niemandem übertreffen. Es wird uns an entsprechender Stelle (# 200; # 280) einige Mühe kosten, Klarheit zu gewinnen über die religiösen Voraussetzungen solchen Theokratiedenkens, wo es denn heute noch laut wird. So wichtig und nützlich die von Schmitt einst dem Staatsrecht zugrunde gelegte Unterscheidung von „Feind“ (politisch) und „Verbrecher“ (rechtlich) sein mag (a.a.O. 110 f ), die Gründung des Staatsrechts auf die „Unterscheidung von Freund und Feind“ (116) war fatal.³⁹⁴ Zu viele Bomben sind zwischen Völkern und Gesellschaften niedergegangen, die sich nichts angetan hatten, ehe dieses Denken in der zweiten Hälfte des 20. Jh. langsam außer Kurs geriet – für wie lange, wird man sehen. Schmitts Einspruch gegen die Säkularisation von Staat und Recht und damit auch gegen das, was Grotius betrieben hatte, war ein Versuch, das Rad der Geschichte zurückzudrehen, ohne dass er angeben könnte, was am Auseinandertreten von Priestertum und Herrschaft verkehrt gewesen wäre. Legalität müsse eine sakrale Legitimität haben, ist Schmitts Überzeugung (113); hierbei denkt er aber an eine Art von Weihe und nicht an etwas Rationales wie das Naturrecht, wie Grotius es begründet hatte.³⁹⁵ Hans
So noch bei Heinrich MEIER: Die Lehre Carl Schmitts, 1994 und wieder: Was ist Politische Theologie?, 2006. Zitiert im Nachwort zu Taubes, Paulus 143 – 181 (177). – Zugunsten von Taubes sei der Verdacht erlaubt, dass der Buchtitel Die politische Theologie des Paulus – er stamme von ihm selber oder auch nicht – ironisch gemeint ist im Sinne dessen, was Paulus zur„politischen Theologie“ dieses Philosophenkreises zu sagen hätte, nämlich Kritisch-Ablehnendes. In diesem Sinne gebraucht er auf S. 169 die Formulierung „Paulus’ negative Politische Theologie“ (mit groß-P); vgl. 152.176. „Danach ist der Staat jenes Gebilde, das Feinde haben kann. Auch Freunde; vor allem aber Feinde“: So charakterisiert ein anderer prominenter Katholik seiner Zeit, Romano GUARDINI (1962; zit. in Christ und Welt 27.9. 2018, Sp. 5d) diese Mentalität, und zwar als Hindernis für eine Einigung Europas. In seinem Hugo Preuss (oben genannt) lautet sein Befund: „Der Staat ist jetzt ,Selbstorganisation‘ der Gesellschaft“ (20): Diese liege „wieder nur in der Hand von Parteien“ – als ob die Wahl von Abgeordneten, vorgeschlagen von einer sie stützenden Partei, keine Legitimation wäre für deren gesetzgeberischer Tätigkeit. Schmitt spricht, als gebe es Besseres als die repräsentative Demokratie, nennt dieses Bessere aber nicht, sondern beschwört den „Geist der Nation“ (24; vgl. 22, wo statt Herders [von dem diese Formel ist] diese selbe auf Französisch zitiert wird).
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BLUMENBERGs Legitimität der Neuzeit (1966 u. ö.) widerspricht er, wenn dort die „Wißbegierde des Menschen“ für „rechtfertigungsunbedürftig“ erklärt wird (114): „Ihre Immanenz, die sich polemisch gegen eine theologische Transzendenz richtet“, so sagt er (ebd.), „ist nichts anderes als Selbstermächtigung.“ Diesen Verdacht werden wir, v. a. auf Pufendorf gestützt, zurückweisen: Hier liegt für den Menschen ein Schöpfungsauftrag, und dieser ist nicht nur Priestern gegeben, sondern der Menschheit ohne Unterschied. Wozu soll das Wissen eine sakrale Würde haben? Wenn der Mensch sich der Gaben seines Schöpfers bedient, ist das Würde genug – selbst wenn er sich über deren Herkunft keine Gedanken macht. Gerade dabei nämlich hilft ihm die Politische Theologie in keiner Weise. Schmitt braucht stattdessen das Übernatürliche, das Wunder (a.a.O., 113 unten), und ein solches war in den Augen vieler die „Bewegung“ von 1933.³⁹⁶ Uneingestanden durchziehen Reste von Katholizismus seine auf Totalitäten abzielenden, meist polemisch (sein Lieblingswort) formulierten Abhandlungen.Von der Amtskirche muss er, als diese ihm eine Scheidung verweigerte, einigen Abstand gehabt haben. „1926 heiratete er seine serbisch-orthodoxe Gefährtin und war damit automatisch exkommuniziert“.³⁹⁷ Aber nihil obstat: Der Bischof von Limburg hat ihn beerdigt (Taubes, Paulus 138). Wenn wir gegen all das seinen jüdischen Kritiker Jacob Taubes anführen, einen Philosophen von von gleichfalls totalitärer Ausrichtung in dem hier skizzierten Sinne, verbindet sich damit der Vorteil, dass die Paulusauslegung dieses unabhängigen Denkers Zusammenhänge sehen lehrt, die der Schultheologie gewöhnlicherweise entgehen. Erst bei einem sauberen In-Beziehung-Setzen von Recht und Verkündigung, Jurisprudenz und Theologie verlieren sie ihre pseudoreligiöse Würde. Die Erwähnung dieser Denker lässt uns noch einmal – und vorbereitend auf Abschnitte über Messianismus (# 55; # 63) und seine Wandlungen (# 200; # 250 ff ) – auf die sehr belasteten Begriffe „Theokratie“ und „Christokratie“ zurückkommen. Auf theologischer Seite dient die Beanspruchung offenbarter Normen und Werte auch heute zur Begründung eines gewissen, wenn auch nur gedanklichen Absolutismus, der überall da harmlos bleibt, wo er nicht konkret wird (und das ist meistens so). Auf römisch-katholischer Seite ist es die angeblich unverhandelbare Ablehnung von Dingen wie der Empfängnisverhütung und der Sterbehilfe, wo privates Entscheiden mehr und mehr staatlichen Schutz genießt; die Ablehung von Demokratie und von Verfassungen, die mit dem Volk ausgehandelt wurden, gehört zum Glück der Vergangenheit an. Letz-
Im Nachwort (169) wird dazu erklärt: „Schmitt spielt die charismatische Legitimität der Ausnahme (Wunder) gegen die regelhafte Legalität des Parlamentarismus aus und aktiviert damit auf seine Weise die paulinische Überbietungsformel von Geist und Gesetz“ (# 308). Global gesehen, ist indes ein Rechtsstaat mit funktionierender Infrastruktur ein weit größeres Wunder als die charismatisch regierten Führerstaaten der Zweiten und Dritten Welt. Mehring, „Politische Theologie“ (Lit.-verz. 8.3), 145 (dort 145 – 149 Genaueres über Schmitts Verhältnis zum Katholizismus). Kirchenrechtlich ist diese Ehe, die ihn fürderhin von der Eucharistie ausschloss, ein Beispiel dessen, was das kanonische Recht eine „Tatstrafe“ nennt (# 317).
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teres war auch im protestantischen Preußen ein quasi-religiöser Widerstand gewesen, eine sich christlich nennende Zivilreligion.
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Exkurs 16: Schieflagen der rechtstheologischen Diskussion im 20. Jahrhundert Zu keiner Zeit haben sich die Missverständnisse zwischen Theologie und Jurisprudenz so stark ausgedrückt wie im 20. Jahrhundert. An Deutschlands „Schicksalsjahr“ 1933 ist es nun schon mehrfach gezeigt worden; erwähnt wurde auch schon (Exkurs 5) derJahrgang 11 (1933) der Zeitschrift Zwischen den Zeiten (ZZ). Kants Philosophie der freien Entscheidung, die, evangelische Freiheit ins Säkulare übersetzend, selbst „innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ noch ein Niederschlag authentischen Luthertums gewesen war,³⁹⁸ hatte in ihrer Wirkung auf das breite Publikum den sehr viel spektakläreren Geschichtsphilosophien des Deutschen Idealismus weichen müssen, einer Art Biologismus (alles Gültige musste „gewachsen“ sein), versetzt mit säkularisierter Apokalyptik.³⁹⁹ Ein Beispiel unter vielen, wie das Warten auf Winke aus der Geschichte, oftmals verbunden mit einem Warten auf das Reich Gottes, eine Orientierung sein sollte, ohne es sein zu können, ist ZZ 11/3, 1933, ein Zeitdokument gerade darin, dass es davor warnen möchte. Neben einem mutigen Protest gegen Nationalsozialismus als Religion (Heinrich VOGEL: „Kreuz und Hakenkreuz“, 201– 206) findet sich dort ein langer Vortrag des ausgewiesenen Lutherforschers Georg MERZ: „Glaube und Politik im Handeln Luthers“ (207– 254), der vor Geschichtsmetaphysik warnt, ohne ihr etwas entgegensetzen zu können; der Beitrag endet in einem über zehn Zeilen sich hinwindenden Schlusssatz negativen Inhalts. Die Freiheit der Christen, in Situationen der Entscheidung auch etwas Unvollkommenes hervorzubringen (Luthers pecca fortiter) unbeschadet ihres Gerechtseins vor Gott, ist einer Berufung auf Gottes Gericht und auf Eschatologie gewichen, die hier gar nichts hilft. Anschließend ist Adolf SANNWALD: „Entscheidung und Entwicklung“ (254– 280) seinerseits bemüht, jenem „Idealismus“ (= Deutschen Idealismus) zu begegnen, der Entscheidungen aus Entwicklungen abzuleiten versucht. Im Jargon des beginnenden Existenzialismus meint er darüber hinwegzuhelfen mit Thesen wie: „Im Glauben ist unsere Existenz als ganze eine neue, damit, daß sie als ganze in einem neuen Bezug steht (auf Gottes Zukunft)“ (279, vgl. 278). Solches Reden machte geistig machtlos gegenüber dem Walten von Diktatoren, die sich von der Vorsehung berufen glaubten. Nach den Erfahrungen mit Diktatur und Krieg hat mancher, der erst noch dem „Führer“ zugejubelt hatte,⁴⁰⁰ versucht, die demokratische Staatsverfassung mit theologischen Argumenten zu stützen, die stets aus einer Reich-Gottes-Erwartung mehr zu gewinnen erstrebten als aus der Zwei-Reiche-Lehre. Wie weit Johannes HECKELs vielzitiertes Lex charitatis, Werte anbietend für das neu zu bildende Kirchenrecht der Nachkriegszeit, zur Begründung profanen Rechts auch etwas beitragen sollte, mag hier Lötzsch, „Ein Evangelium, das sich ,Gesetz‘ nennt“ (Lit.-verz. 7.2.2) passim. Dass Luther selbst viel Apokalyptisches von sich gab (zur Türkengefahr usw.), steht auf einem anderen Blatt; zu keiner Zeit ist das die offizielle Lehre lutherischer Kirchen gewesen. Man nennt solche Talente auch heute „charismatisch“.
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offen bleiben; rezipiert wurde es in diesem Sinne.⁴⁰¹ Theologisch wäre das bedenklich: Die dabei auflebende alttestamentliche Auffassung, wonach Rechtssetzung (dort: in der Tora) Gnade ist, taugt nicht für eine Übertragung auf weltliche Gesetzgeber; da würden Menschen sich die Rolle Gottes anmaßen.⁴⁰² Solches hatte man viel zu lange im Absolutismus erlebt und erlitten. Dass aber Gesetzgebung eine gesellschaftliche Aufgabe sei, war noch nicht im Bewusstsein der Staatsbürger verankert, und was diese Einsicht evangelischer Naturrechtslehrer vergangener Zeiten am wirksamsten verhinderte, war just die Sünden- und auch die Gnadenlehre des damaligen Protestantismus. An gut gemeinten, letztlich aber fehlgehenden Appellen war in der Nachkriegszeit kein Mangel. Liebe als Motiv menschlichen Handelns in Gottes Reich „zur Linken“ ist allen Lobes wert; doch eine Gesetzgebung als Gnade ist nicht das, was die folgenden Bände aus dem Neuen Testament gewinnen werden. Ein Geschenk von oben taugt nicht als Grundlage für Forderungen und für Anspruchsrechte. Der französische Jurist Jacques ELLUL,⁴⁰³ damals Glied der Eglise Réformée de France (aus der er später wieder austrat), konzipierte in diesem Sinne, was er „das Recht des Evangeliums“ nannte. Er beobachtet: Ein „Rechte haben“ gibt es in der Polis, nicht im Judentum; sondern Gott gibt Gnade – in den Geboten der Tora, die ihrerseits keine Forderungsrechte sind, oder höchstens ausnahmsweise. Wie ein princeps legibus solutus (# 91) ist JHWH „frei hinsichtlich der Gesetze, die er selbst gab“, und selbst „ungute“ Bestimmungen darf er auferlegen (Hes 20,25 f; ebd.). Es gibt hier „keine Entwicklung“, nur jeweils Gnade. Solches Denken – ist unser Einwand – eignet sich wenig oder gar nicht für eine Rechtsbegründung in Zivilgesellschaften. Gnade kann nicht die Regel sein für große Gemeinwesen, sondern immer nur die Ausnahme. In demokratischen Gesellschaften ist wichtiger als jede Gewährung von Gnade, dass es verbriefte Schutzrechte gibt für die Schwächeren. Der biblische Appell, sich um Witwen und Waisen zu kümmern, ist im Christentum seit seinen Anfängen in die Bildlung organisierter Sozialhilfe umgesetzt worden (oben B 3; # 206). Das Programm So bei Erik WOLF: Recht des Nächsten. Ein rechtstheologischer Entwurf, 1958 (1966) mit Rückgriff auf Heckel in der Rede von einer„Lex Christi“ als „direktives Gebot der,Solidarität‘ (Lex Charitatis)“ (19 f ). Als Rechtstheoretiker geht er auch zurück auf die socialitas Pufendorfs (57 Anm. 4; vgl. C 4.7.2), wofür dieser aber, obwohl selbst Anhänger der CA, kein christliches Bekenntnis bemüht hatte. Das ist der gemeinsame Tenor etwa der Broschüre ZZ 1933/3 ebenso wie nach dem Krieg der Nr. 15 von ThExH.NF (1949), einem Bericht von der ersten Vollversammlung des Ökumenischen Rats der Kirchen in Amsterdam 1948, betitelt Die Unordnung der Welt und Gottes Heilsplan. Sie beginnt mit dem Eröffnungsreferat der Vollversammlung durch Karl BARTH (S. 3 – 10). Dort warnt der Autor von Christengemeinde und Bürgergemeinde vor jedem Projektemachen, vor jedem „eigenmächtigen“ Ordnenwollen der Gesellschaft seitens der Kirche. Sein englischsprachiges Auditorium zeigte sich davon enttäuscht (auch Karl Barths deutlich ausgedrückte Befriedigung über das Fernbleiben der Römisch-Katholischen Kirche erzeugte Befremden). Damals ermahnten er als Sprecher des europäischen Protestantismus („Kontinentale Theologie“) wie auch Reinhold NIEBUHR als Vertreter einer ihr entgegengesetzten „Angelsächsischen Theologie“ sich gegenseitig unter dem Motto „Wir sind Menschen und nicht Gott“ (S. 20 – 36) – woraus am Ende klar wurde, dass sie aneinander vorbeigeredet hatten. J. ELLUL: „Recherches sur le droit et l’Evangile“, in: VL/D, Christentum 115 – 139 (116.117). Der Rest des Artikels ist ein Appell an künftige Sozialpolitik.
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einer sozialen Marktwirtschaft in der Nachkriegszeit, so sehr es auf die Appelle von Ellul antworten mag und v. a. auf die Forderungen der katholischen Soziallehre, hat die ‘unfromme’ Form von Ansprüchen angenommen, niedergelegt im Sozialgesetzbuch (SGB), Bd. I-VI (Fortsetzung folgt); doch ist diese christlicher als die vorangegangenen Appelle. Nach und nach verstehen die das Sozialrecht (auch den Jugendschutz u. a.m.) verwaltenden Behörden sich nicht so sehr als Verteiler von charites (hoheitlichen Geschenken; # 52; # 260) sondern als Dienstleister. Übertragungen theologischer Maßstäbe in die Gesellschaftspolitik, damals „Rechtstheologie“ genannt (A 2.5.4), blieben vage und erschöpften sich in Appellen an eine möglichst humane Sozialpolitik. So hat sich Erik WOLF: Rechtsgedanke und biblische Weisung (1948) sich jenes Schlagwort der Fundamentalisten – „biblische Weisung“ – zu eigen macht, dann aber „keinen Ersatz für die individuelle Gewissensentscheidung, sondern eine Anleitung zu ihr“ verstanden wissen wollen (33). Wir fügen hinzu: Biblische Impulse zum Nachdenken sind nicht schon eine Weisung und schon gar keine Theologie. Doch sollen die Verdienste reformierter Theologen und Kirchenmänner in den Jahren ab 1933 und erneut in der Nachkriegszeit, dort besonders in der ihrerseits wieder totalitären DDR, nicht vergessen sein; gar manche von ihnen haben als Nonkonformisten, mehr als das staatstragende Luthertum, auf der Selbstständigkeit der Kirche gegenüber dem Staat bestanden. Man könnte darum hohe Erwartungen hegen an die Schriften der Barth-Schule zu Fragen des Rechts. Es gibt sie auch reichlich; doch ist der Ertrag dieser Literatur für unser Vorhaben gering. Zu sehr hatte sie das Alte Testament zum Modell, Tora und Propheten. Die Mahnungen einstiger Propheten in Weisungen an heutige Politik umzusetzen, ging nicht in inhaltlicher Kontinuität, sondern vor allem in der Übernahme von Gestus und Stil. Wo auch das Neue Testament eine „Weisung“ (wie man das Wort tôrah heute übersetzt) sein sollte, eine Rechtsquelle, oberhalb säkularer Entscheidungsmechanismen gelegen, blieb es inhaltlich den Interpretationskünsten der Theologen unterworfen. Die vorgegebene Direktheit des Gotteswortes ist künstlich; mindestens die Auswahl der jeweils zitierten Bibelstellen ist Menschenwerk, sich verlassend auf Inspiration ad hoc. Die römisch-katholische Soziallehre, die wir immer wieder zum Vergleich heranziehen werden, ist demgegenüber ein unbeweglicher Block – das andere Extrem. Das Zweite Vaticanum, das mit einer innerkatholischen „Bibelbewegung“ verbunden war,⁴⁰⁴ hat eine gewisse Liberalisierung, genannt aggiornamento, mit sich gebracht, jedoch um den Preis, den charakteristischen Absolutheitsanspruch noch unfasslicher werden zu lassen, als er ohnehin schon war. Luthers Ansicht, dass in Gottes Reich „zur Linken“ – das meint Recht und Politik – der Mensch sich selbst regiere und auf seine eigenen Kräfte angewiesen sei, hat in weiten Teilen des Protestantismus bis heute ihre Gegner. Rechtshistorisch jedoch hat sich bereits erwiesen: Die Emanzipation der Vernunft auf diesen Gebieten kommt von
Über diese Zusammenhänge informiert ausführlich Herr, Naturrecht I.II.
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Luther, auch wenn der aus Luthertum und Calvinismus fusionierte Protestantismus der letzten beiden Jahrhunderte es nicht wahrhaben wollte. Calvin wollte einst Luther übertreffen und alle Bereiche des menschlichen Zusammenlebens „Christus unterwerfen“. Diese Auffassung, in der 2. Barmer These von 1934 wiederholt,⁴⁰⁵ war ein – freilich zu spät kommender – Einspruch gegen die neodarwinistische Pseudoreligion der NS-Diktatur. Sie passt aber heute nicht mehr in eine Gesellschaft, die als solche nicht christlich ist und Religion nur fördert, indem sie keine bestimmte Gottesverehrung vorschreibt, sondern nur den vorhandenen einen Rechtsrahmen bietet. Zunächst aber erhob sich bei Kriegsende vonseiten der Barth-Schule die in A 2.5.4 schon erwähnte Forderung nach „Christokratie“,⁴⁰⁶ gemeint nicht nur für die Kirche, sondern für die Gesellschaft im Ganzen, insofern als die Kirche sie nach außen ausstrahlen sollte. Johann Karl EGLI, ein prominenter Jurist unter den österreichischen Reformierten, formulierte das so:⁴⁰⁷ Kirche ist (1.) Christokratie, die in Verkündigung und Sakramenten Gestalt annimmt. Kirche und Kirchenrecht hat (2.) grundsätzlich Dienstcharakter, ist Angebot von Diensten. Dabei bedeutet das allgemeine Priestertum (3.) ein universales Dienstrecht. 4. gibt es unaufgebbar das Öffentlichkeitshandeln und das Wächteramt der Kirche. 5. gibt es das Prinzip, dass Kirche immer Sammlung und Sendung von Gemeinde ist. 6. orientiert sich Kirche und Kirchenrecht am Grundsatz der Reformation ,ecclesia semper reformanda‘. 7. Das Kirchenrecht speziell hat Zeichencharakter, es zeigt auf die Christokratie und grenzt sich von Ideologien ab.
Ganz zeittypisch wird hier in einer ebenso aufdringlichen wie schlampigen Schreibweise Herrschen und Dienen ineins gemischt. Zugleich hält man sich für vorbildgebend; dies war das „Wiener Modell“. Es will keine Ideologie sein, aber hier„gibt es“ Prinzipien. Sicherlich würde es sich lohnen, über jeden dieser Punkte nachzudenken und etwa die Spannung zwischen Herrschen und Dienen so aufzulösen: Christus hat uns befohlen, der Welt zu dienen. ⁴⁰⁸ Das ist gut biblisch, kein Zweifel; aber gerade wenn man Rechtsbe-
Barmer Theologische Erklärung, These 2: „Wir verwerfen die falsche Lehre, als gebe es Bereiche unseres Lebens, in denen wir nicht Jesus Christus, sondern anderen Herren zu eigen wären“. Hier ist auf das „Wir“ zu achten: Es ist nicht die Gesellschaft insgesamt, sondern die Kirche. Eine ausführliche Darstellung von juristischer Seite gibt Steinmüller, Rechtstheologie I 259 – 453 (insbesondere 291– 294). Nur randlich interessant sind Wolfs Entdeckungen an dem Begriff diatagē „Verfügung“ in Röm 13,2 (Steinmüllers 295). Hier muss, wie auch in der einzigen weiteren Stelle, Apg 7,53, vom Kontext abgesehen werden; keine der beiden spricht von Anordnungen Christi. Zitiert von Karl W. SCHWARZ: „Kirchenrecht zwischen Theologie und Jurisprudenz“, in: R. KNEUCKER/ ders.: Religionsrecht und Theologie. Das „Wiener Modell“, 2014, 61– 135 (92 f ). Diese Auffassung hat mit dem 1925 eingeführten Christkönigsfest der Katholiken, das zusammengelegt wurde mit dem Ewigkeitssonntag, nur wenig zu tun. Dieses gehört einer jenseitigen Eschatologie an, die reformierte Christokratie-Vorstellung hingegen, nach welcher es auch Christkönigs-Kirchen gibt, einer diesseitigen. – Das EStL hat auch in seiner neuesten Auflage (2006) wieder den Eintrag „Königsherrschaft Christi“ (Sp. 1270 – 1274, M. ROTH), nun aber distanzierend-kritisch gehalten. Etwas gemilderter spricht die heutige Spitze der EKD von „öffentlicher Theologie“ im Aufgreifen der sog. Loccumer Formel
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gründung daraus gewinnen will, kommt Recht hier aus dem Befehl und nicht aus der Evidenz seiner Prinzipien oder aus der Einsehbarkeit seines zu erwartenden Nutzens oder eines bereits erwiesenen Vorteils. Das Evangelische Staatslexikon brachte bis zu seiner 3. Auflage, der ausführlichsten, einen langen Artikel „Rechtstheologie Luthers“ (von M. HECKEL, S. 2818 – 2849), Referat der o.g. Akademieschrift seines Vaters Johannes Heckel. Das sind Gedankengänge des 20. Jh., von Amnesie befallen, was die mit Luthers Reformation einst begonnene, evangelische Rechtslehre betrifft. Elert hätte darüber Auskunft geben können, aber sein Stern war gesunken. Statt, wie er, evangelische Freiheit in Anspruch zu nehmen, missbrauchsanfällig wie sie auch sei, suchte auch Heckel jun. wieder nach etwas wie Theokratie. Wenn Heckel sen. „im Begriff des Reiches Gottes eine der stärksten Wurzeln der Rechtslehre der Wittenberger Reformatoren und namentlich Luthers eingebettet“ fand (Lex charitatis 13), so widerspricht das nicht nur dem textlichen Befund;⁴⁰⁹ es überdeckt auch, dass Luther zwei „Reiche“ Gottes lehrte, das zur Rechten und das zur Linken, und deren jeweiligen Auftrag wohl zu unterscheiden wusste. Die Rede von einer „Herrschaft Christi“ ist überall da fragwürdig, wo sie über die Kirche hinausgreift. Der Anspruch der Kirche(n), eine bessere Lebensweise zu kennen als die unerlöste Welt, kann nur durch das Vorbild überzeugen und nicht in Form politischer Forderungen. Wenn hingegen die Herrschaft Christi so „verborgen“ ist, wie Erik Wolf von Anfang an zugibt, kann man sie sich gut „über die ganze Welt“ erstrecken lassen; davon merkt die Welt nichts. Sinnvoller ist es, von einer verborgenen, sub contrario erfolgenden Herrlichkeit Christi im Dienen zu sprechen (# 283; vgl. # 61). Eine vorsichtigere Fassung des Christokratie-Ideals gab Karl Barth in seinem viel gehaltenen und -publizierten Vortrag Christengemeinde und Bürgergemeinde (1946 u. ö.; vgl. # 287) zu erkennen. Dort weist er den Christengemeinden die Aufgabe zu, Keimzellen einer besseren Gesellschaft zu sein.⁴¹⁰ Der Nachkriegszeit war das ein wichtiger Stimulus. Juristisch gesprochen, betrifft er das Erproben, Vorstufe der Gesetzgebung, auch wenn die dahinter stehende Rechtstheologie so bescheiden nicht war, sondern prophetische Forderungen erhob.⁴¹¹ Die Aufnahme der Anregungen und ihre Umsetzung ist dann jedenfalls nicht mehr im Namen Christi erfolgt, und es wäre auch eine bedenkliche Einengung, wo man das täte.
von 1955; ihr gilt Titel und Inhalt des Aufsatzes von K. SCHLAICH: „Der Öffentlichkeitsauftrag der Kirchen“ (1975), in: ders., Gesammelte Aufsätze 480 – 523. Die bei Siegert, Luther und das Recht 75 – 158 abgedruckte, wohl repräsentative Textsammlung zu diesem Thema enthält den Ausdruck „Reich Gottes“ nicht ein Mal.Wo von einem „Gottesreich“ die Rede ist (Text 30), ist dieses jenseitig (wie auch das im katholischen Christkönigsfest gemeinte), und „Reich Chrsti“ meint Vergebung und nicht Strafe (oder gar Machtausübung), eben das Reich „zur Rechten“. Die theologische Grundlage dazu hatte er bereits 1938 geliefert in seiner Schrift Rechtfertigung und Recht (Theologische Studien, 1; 47 S., oft nachgedruckt); s. Schlaich, „Martin Luther“ 3. Unten verwendet wird die gleichnamige Schrift Wolfgang Hubers von 2001, und zwar im Zusammenhang mit dem Begriff der Menschenwürde (# 288). In gemildertem Stil nannte sich diese Tätigkeit „politische Diakonie“. Die derzeitige EKD-Spitze spricht von „öffentlicher Theologie“.
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Einen wohlwollenden Rückblick auf dieses Unternehmen gibt der Kirchenjurist und Lutherkenner Klaus SCHLAICH in „Martin Luther und das Recht“. Mit Vorsicht bringt er dabei wieder Einsichten des Reformators zur Geltung, die damals nicht gern gehört wurden, darunter: „Die Welt lässt sich nicht mit dem Evangelium regieren“ (5). Dann aber stellt er Luthers Einfluss auf Kirchenrecht, Reichsrecht und Territorialrecht der Folgezeit dar (11– 17), welcher gipfelt in dem auch hier als Motto dienenden Satz „Meister allen Rechtes bleibe die Vernunft“ (18). „Luther legt (…) auch der Obrigkeit in ganz moderner Weise das Prinzip der Verhältnismäßigkeit auf“ (ebd.).⁴¹² Dass auf reformierter Seite ein „göttliches Recht“ beansprucht wurde, blieb im Katholizismus nicht unbemerkt. Antonio Maria ROUCO VARELA hat sich positiv darauf eingelassen,⁴¹³ findet allerdings in der Christokratie-Lehre das Verhältnis „zwischen glaubensmäßiger Rechtserkenntnis und rationaler Rechtserkenntnis“ nicht geklärt (7). Aus einer einschlägigen Dissertation von Bruno Schüller referiert er Vorschläge: „Die Aufgabe einer katholischen Rechtstheologie läge daher nach Schüller darin, durch eine konsequenter betriebene transzendentale Analyse der Glaubensexistenz das Naturrecht als deren inneres Moment aufzuweisen“ (10). Am Ende empfiehlt er, „von einer übernatürlich-heilsgeschichtlichen Idee der Gerechtigkeit“ auszugehen – was wir hier aber nicht tun werden, um dem Recht einschließlich des Naturrechts seine Weltlichkeit zu lassen. Die evangeliumsgemäße Gestalt der Kirche, um die es in diesen Schriften meistens geht, ist ja etwas anderes als die Verfassung einer Zivilgesellschaft. Nur letztere kennt ein Staatsrecht, ein Wirtschaftsrecht, ein Strafrecht, kennt Militär, Polizei und Gefängnisse. Was Gesellschaftspolitik betrifft, so findet sich im Nachwort zu Taubes, Paulus, worauf wir hiermit zurückkommen, die folgende Bemerkung (178): Wer den Begriff der „politischen Theologie“ verwendet, geht von der Nichtautarkie des Menschen, der Insuffizienz seiner angeborenen und erworbenen Kompetenzen, der Unmöglichkeit einer immanenten, rationalen Begründung der eigenen Lebensweise aus. Es handelt sich um ein aufklärungskritisches Konzept, das Wollen und Sollen des Menschen in einen metaphysischen Kontext stellt.
Auf den Ruf nach „Überwindung der Aufklärung“ wird noch zurückzukommen sein (nächster Exkurs). – Im Weiteren wird dort angedeutet, dass Jacob Taubes die charismatische Führerschaft in modernen Gesellschaften keinen Einzelpersonen zutraut, sondern dem Volk – wobei aber in der Schwebe bleibt, ob er das Staatsvolk meint oder das jüdische Volk als globale Elite.
Jeweils mit Literaturangaben. Leider hat Luther im Bauernkrieg dieses Prinzip nicht gewahrt, und so blieb seine Fürstenschelte aus jener Zeit (Schlaich zitiert daraus, 19) unbeachtet: „Gott ist’s selber, der sich setzt wider euch, heimzusuchen eure Wüterei“ (WA 18, 295). A. M. ROUCO VARELA: „Was ist Rechtstheologie? Gedanken zu dem Buch von B. Schüller: Die Herrschaft Christi und das weltliche Recht“, in: ders.: Schriften zur Theologie des Kirchenrechts und zur Kirchenverfassung, hg.W. Aymans/L. Gerosa/L. Müller, 2000, 3 – 14, Rezension einer 1963 erschienenen Dissertation von Bruno SCHÜLLER. – Vgl., dens.: „Evangelische Kirchenrechtstheologie heute“, ebd. 113 – 140.
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Was heutige Orientierung angeht, so haben ja all die eben referierten Positionen ihre Schwächen. Sie spornen zwar an zu politischer Aktion, doch bieten sie keine Orientierung in dem weiträumigen Hin und Her zwischen wörtlichem Geltenlassen und völligem Ignorieren biblischer Imperative. Man denke nur – um ein heutiges Beispiel zu nehmen – an den kirchlichen Umgang mit Homosexuellen, weltlicherseits Gegenstand des Strafrechts, worin auch reformierte Kirchen in ihrem Dienstrecht sich um nahezu 180 Grad gedreht haben. Wo liegt da der Gehorsam und wo soll er künftig liegen? Von reformierter und EKD-Seite bekommen wir nunmehr eine liberal-humane Ethik präsentiert, die respektabel sein mag, aber nichts mehr vom Daseinszweck der Kirche erkennen lässt; es ist Gemeingut unserer Zeit, etwa zu Fragen von Sexualität und Ethik. Da ist nun auch die Christokratie, die man vormals proklamiert hatte, wortlos aufgegeben. So ist es denn um die einst so vollmundig vorgetragene Rechtstheologie still geworden. Was mehr Anklang fand und findet, ist eine v. a. aus dem lateinamerikanischen Katholizismus kommende Theologie der Armen, mündend in sozialpolitische Forderungen und nunmehr auch verbunden mit Feminismus. Sie beruht auf dem Beispiel Jesu (daher das Schlagwort social gospel) mehr als auf der Tora; insofern kann eine im Luthertum gründende Theologin wie Dorothee SÖLLE, der Bürgerschreck der 60-er Jahre und darüber hinaus, all dies glaubwürdig vertreten. Diese Theologie kann zwar, um biblisch zu sein, den im Dekalog verankerten Schutz des Eigentums nicht bestreiten, besteht aber auf dessen Sozialbindung.⁴¹⁴ Um von hier aus auf Carl Schmitt zurückzukommen: Dessen These, dass viele Begriffe des Rechts und der Politik säkularisierte Theolgie seien, wäre falsch angewendet, wenn man sie re-sakralisieren wollte, als wäre damit ein Verlust auszugleichen. In der Ankündigung eines Buches des Staatsrechtlers Horst DREIER: Säkularisierung und Sakralität (2013) liest man:⁴¹⁵ Der freiheitliche Verfassungsstaat muss auch die Wiederkehr des Religiösen säkular verwalten.⁴¹⁶ Es bedarf keiner sakralen Aura und keines Mythos. Um seine [sc. des Verfassungsstaats] ratio zu verstehen, müssen wir weder vom Fortwirken des Heiligen im politischen Gemeinwesen ausgehen noch dessen Bürger mit dem Attribut der Sakralität versehen oder hinter fundamentalen Rechtsgarantien sogleich etwas Numinoses vermuten. Die Trennung von Politik und Religion ist und bleibt die Basis der Freiheitlichkeit des politischen Gemeinwesens.
Der Weg bis zu dieser Klärung war lang. Die Diskussion der Nachkriegszeit zwischen Juristen und Theologen war voll von Emotionen (Mitläufer und bisher benachteiligte Nichtmitläufer standen gegeneinander) und von Verdachten wegen früherer Verstricktheit in Deutschlands so willig angenommenes „Schicksal“; insbesondere mussten
Eine Auswahlbibliographie hierzu s.o. C 3. Mohr Kurier 2013/3, S. 51. [Dreier verstärkt hier die Forderung nach einem deutschen und darüber hinaus europäischen Religionsrecht, das Rahmenbedingungen für die Ausübung der verfassungsrechtlich garantierten Religionsfreiheit setzt bzw. gewährt.]
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die Lutheraner sich ducken bis auf diejenigen, die in der Bekennenden Kirche die Illegalität riskiert hatten. Ein Zeitdokument ist, was Ernst KÄSEMANN im 1. Jahrgang der neu gegründeten, internationalen Zeitschrift New Testament Studies 1955 kundgab, nämlich „Sätze heiligen Rechts“ bei Paulus gefunden zu haben. Seine These war: „Das durch Charismatiker verkündigte eschatologische Gottesrecht hat die älteste Gemeinde aufs stärkste charakterisiert, und es ist zum Ausgangspunkt für alle spätere Gemeindeordnung und das Kirchenrecht selber geworden“ (75; vgl. # 287). So hätte man es wohl nach der deutschen Diktatur, wo dem Totalitarismus eines Machtanspruchs der ebenso umfassende prophetische Anspruch der 1. These der Barmer Erklärung entgegengesetzt worden war, gerne gehabt. Beides jedoch sind Stressphänomene und keine Normalität. Allein schon dass der einzige uns in Berichtsform bekannte Fall eines auf Prophetenwort hin erfolgten Todes, der doppelte sogar von Hananias und Sapphira (Apg 5; # 204), bei diesem Autor unerwähnt bleibt, zeigt bei ihm das Fehlen historischen Interesses; dabei geht es ihm gerade um christliche Prophetie. Er möchte Rudolf Sohms These korrigieren, „die Urchristenheit habe überhaupt kein Recht besessen und ihre charismatische Ordnung müsse jeder rechtlichen entgegengestellt werden“.⁴¹⁷ Demgegenüber meint er, ein urchristliches Gottesrecht – nicht Kirchenrecht, nicht Sakralrecht, sondern Gottesrecht – sei die Antwort. In ekklesiologischer Hinsicht ist er – wie Leopold v. Ranke in seiner fürs 19. Jh. klassischen Reformationsgeschichte⁴¹⁸ – Zwinglinaner, d. h. nur die „unsichtbare Kirche“ (ecclesia invisibilis), die aus lauter Bekennenern bestehende, ist ihm Kirche. Dieser Ansatz ist zu ideal, um auch nur ein praktikables Kirchenrecht abzugeben. Für Fragen der Rechtsfindung in einer säkularen Gesellschaft ist er irrelevant. Zugleich aber ist das Naturrechtsdenken, das in den voraufgegangenen Jahrhunderten eine Brücke zwischen Theologie und Jurisprudenz erlaubt hatte, in Vergessenheit geraten und im 20. Jh. sogar in Misskredit. Karl Barth hat seinem Schweizer Kollegen in systematischer Theologie, Emil Brunner, in einer Schrift, betitelt Nein (1934), naturrechtliches Denken ausdrücklich verwiesen. Ordnungstheologie aller Art schien ihm überzugehen in Naturalismus oder Positivismus. Bezeichnend für die damit entstandene Lage ist – nun bereits aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg – der Sammelband von Dombois/Wilkens, Macht und Recht (1956), Bericht von drei Jahren Kommissionsarbeit des Lutherischen Weltbundes. Das Schlusscommuniqué dieser Gruppe (197– 201) gibt schon im Kopftext, noch vor der ersten These, zu erkennen, dass hier eine Initiative versandet ist. Man gab, ohne die Schätze der eigenen Tradition zu kennen, den Verdikten Karl Barths nach (s.o. C 4.8.2.) Wer Elert nicht lesen mochte, hätte in der Nachkriegszeit eine auf lutherischer Freiheit beruhende Naturrechtslehre aus Hans WELZELs Naturrecht und materielle Gerechtigkeit von 1951 entnehmen können, Arbeit eines auch in Theologie beschlagenen So seine Wiedergabe, S. 74 des Neudrucks. L. v. RANKE: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation (1839 – 1847), ungekürzte Textausgabe (in 1 Bd.) 1957, 496 f (im Abschnitt „Anfänge Zwinglis“); vgl. 436 (zu dem Kirchenreformer François Lambert).
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Juristen. Jedoch hat die Natur des Menschen als Grundlage für Normensetzung denen, die damals nach Naturrecht fragten, oftmals nicht gereicht. Schon erwähnt (A 5.2.5) wurde Felix Flückigers Geschichte des Naturrechtes von 1953, deren Fortsetzung aber mangels institutioneller Unterstützung leider unterblieb. Im Schatten Karl Barths kam eine Pflanze dieser Art nicht höher. Als der in die USA geflüchtete Leo Strauss sich 1956 mit dem Essay Naturrecht und Geschichte ⁴¹⁹ im Deutschland wieder zu Wort meldete, brauchte er nur auf eine „liberale“ Naturrechtstradition englischen Ursprungs zu antworten und auf die thomistische. Er weiß Bescheid über Grotius und Otto v. Gierke (den Erneuerer der Auffassungen von Althusius im Preußen des 19.Jh.); aber Namen wie Pufendorf, Wolff oder gar Elert sucht man bei ihm vergebens. Mit Heckels damals erschienener Lex charitatis stimmen wir überein, wenn wir – mit Gustav RADBRUCH⁴²⁰ und gegen Carl Schmitt⁴²¹ – grundsätzlich erklären: Nicht Macht setzt das Recht, sondern Recht begründet die Macht (so schon Pufendorf, JN&G 1,4,9 f; Wolff, PhPU § 267).⁴²² Nunmehr lässt sich aus Erfahrung belegen, am allermeisten aus der Geschichte Deutschlands, dass menschliche Gesellschaften mit letzterer Maxime besser fahren. Dass politische Macht auch aus „heiligem“ Recht kommen könnte, ist ein Wunschgedanke, der von alttestamentlichen Anfängen sich bis in moderne westliche Gesellschaften hinzieht, auch die säkularisierten, welche die Volkssouveränität in der Verfassung stehen haben. Der systematische Theologe Ernst WOLF (nicht zu verwechseln mit dem Juristen Erik Wolf und dem Rechtshistoriker Hans Julius Wolff )⁴²³ fragte in Gottesrecht und Menschenrecht (1954) nach einem „evangelischen Naturrecht“, und forschen Schrittes stürmte er dabei in eine Sackgasse. Wir fragen: Wie könnte dieselbe Theorie zugleich
L. STRAUSS: Natural Right and History (1953), dt., Neuausgabe 1977 (Suhrkamp Wissenschaft 216). Dass Strauss keinen klaren Begriff von Naturrecht hat, erhellt schon aus der Wahl der Motti: 2Sam 12,1– 4 (Davids Vergehen an Bathseba und an Uria) passt völlig; aber in 1Kön 21,1– 3 (Ahabs und Isebels Vergehen an Naboth) ist nur der Mord eine Verletzung des Naturrechts; der Vorschlag eines Grundstückstauschs (vgl. # 123) hätte diesem keineswegs widersprochen. – Dass mit alledem ein polemisches Eingreifen in die intellektuelle Gestalt der Adenauer-Republik gemeint gewesen war, kann hier außer Betracht bleiben; dieses Anliegen hat sich überlebt. Radbruch, Rechtsphilosophie, § 7: „Der Zweck des Rechts“ und § 9: „Die Geltung des Rechts“. Befremdlicherweise zitiert Heckel nur letzteren (S. 13 Anm. 12), u.z. mit einer orakelhaften Äußerung der Nachkriegszeit über die Ursachen der „geistigen Katastrophe“ im Rechtsleben der hundert zuvorliegenden Jahre – als ob er selbst nicht deren Verstärker gewesen wäre. Das lässt sich nur erklären als Ausdruck der genau gleichen apologetischen Klemme, in welcher der NS-belastete Heckel sich befand. Spinozas Auskunft in dieser Sache (TTP 16, bes. § 9 f ) war nicht deutlich gewesen; man kann sie am besten als die naturalistische Variante dessen bezeichnen, was bei Hobbes die politische Überordnung der Macht über das Recht war. Es sind Zwänge, ja Triebe der Natur, nicht Evidenzen der Vernunft. Dahinter steht – wie in Hi 40 – 42 – „Gottes Macht, welche das absolute Recht hat über alles“ (§ 3). Gott ist an nichts gebunden, sagt auch Puf., Eris 19 f u. ö.; dennoch ist das uns erkennbare Naturrecht keine Willkür, sondern definiert als jenes Recht, das Sinn hat, weil es auf den Menschen passt. Auch zu Christian Wolff gibt es einen modernen Namensvetter, Autor von Der erste Brief des Paulus an die Korinther, 1989 (hier nicht benutzt).
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natürlich sein und evangelisch? Liegt in dem Begriff „evangelisch“ nicht ein Bekenntnis, eine Vorgabe, die über das natürlich Erkennbare hinausgeht? Wolf hingegen meint: „Das Naturrecht ist eine Frage des Glaubens“ (11), und er hat dafür den EKD-Juristen Hans DOMBOIS auf seiner Seite, welcher sagte (ebd. 10): „Eine Trenung von Theologie und Recht ist denkunmöglich und folgeweise auch geschichtlich unmöglich“. – Das stellt die Dinge auf den Kopf: Geschichtlich gab es diese Trennung in der Tat, es gab sie sogar häufig; und theologisch ist diese Trennung, von Luther aus gesehen, sogar notwendig. Ein christliches Naturrecht wäre, wie Pufendorf sagte (s.u. Exkurs 10), ein hölzernes Eisen. Es müsste ja allen Menschen einleuchten können; aber nicht alle Menschen sind Christen, und sie werden es auch nicht auf diesem Wege. An dieser Stelle teilt also der Barthianismus eine Schwäche mit dem Katholizismus, dessen Universalitätsansprüche auf diesem Gebiet genauso hohl sind. Der oben (C 4.8.2) genannte Johannes MESSNER hat seit 1950 ein großes, vielfach wieder aufgelegtes Naturrecht publiziert, das bei näherem Hinsehen aber Sozialethik ist, eben die katholische Soziallehre, in die Bereiche der Gesesllschaftsethik, Staatsethik und Wirtschaftsethik (so der Untertitel) entfaltet. Von Pufendorf distanziert er sich gleich bei dessen erster Erwähnung (es gibt nur zwei)⁴²⁴ mit einer Ablehnung der „rationalistischen Naturrechtstheorie“ insbes. „in der Prägung von Leibniz-Wolff“. Nun kann man sich ja von einer auf rationale Erkenntnisse beschränkten Wissenschaft absetzen und versuchen, eine transzendente Überwissenschaft zur Geltung zu bringen; der Bindestrich aber zwischen Leibniz (der ein Gegner Pufendorfs war) und Wolff (seinem besten Schüler) verrät die Unkenntnis dessen, was diese beiden unterscheidet (s.o. Exkurs 14). Auch dass er erst Thomasius ein „Bestreben der Befreiung der Rechtsphilosophie von den Banden der Theologie“ zutraut, zeigt, dass er die lutherische Alternative zum römisch-katholischen Absolutheitsanspruch nicht kennt. Das fiel zu seiner Zeit nicht auf, nicht einmal den Protestanten. Als der katholische Sozialethiker Theodor HERR 1972 über die Frage nach dem Naturrecht im deutschen Protestantismus der Gegenwart seine Dissertation schrieb, konnte er das tun, ohne Grotius, Pufendorf oder Wolff auch nur zu erwähnen.⁴²⁵ Der gleiche Befund gilt selbstredend auch von seiner Habilitationsschrift Naturrecht aus der kritischen Sicht des Neuen Testamentes, die schon im Vorwort von der These ausgeht, dass „das Naturrecht nach Herkunft und Anlage unbiblisch sei, mehr noch, dem genuinen neutestamentlichen Ethos in seinen wesentlichen Ansätzen widerspreche“; es sei ja etwas Gemeinantikes.⁴²⁶
Mir vorliegend: die „2. Aufl.“ von 1950, S. 174 und 175, Anm. 6. Weiter hinten (455 Anm. 2) hat er eine Stelle im JN&G nachgeschlagen, zur Gesellschaftslehre; das ist alles. Dort ist Elert kurz gewürdigt (50 – 52), aber nur auf der Grundlage seiner Ethik, welche eine lex naturalis auch nur noch in anklagender Funktion erwähnt (100 – 110). Das weitere Buch widmet sich dann den besonderen Akzenten, die aus dem Neuen Testament zu gewinnen sind, und in dieser Hinsicht sind nicht so sehr die Beobachtungen an den Pastoralbiefen, womit er beginnt, aufnehmenswert, als vielmehr diejenigen an grundsätzlichen Texten, hier zu # 263 (Röm 1,18 ff ) und ## 223 – 225 (Apg 17).
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Allein schon sprachlich kann die These, Naturrecht sei eine Frage des Glaubens, nur befremden.Was „Natur“ sein soll – abgesehen von der Frage, wessen Natur gemeint ist –, das muss doch wohl bekannt oder wenigstens erforschbar sein, sonst wäre es Offenbarung. Der Titel der Broschüre fragt demgemäß ja auch nach Gottesrecht. Diesbezüglich hatte das damalige deutsche Luthertum sich eine Blöße gegeben, gegen welche auf S. 30 f eine Attacke geritten wird: es habe eine Vermischung von Gottes- und Naturrecht angerichtet.⁴²⁷ Dass die Natur des Menschen, d. h. seine Sozialität, worauf Pufendorf seine Lehre gründete, einem Willen Gottes entsprechen könne, kommt für Ernst Wolf nicht in Betracht, da sie durch den Sündenfall ja verdorben sei (14 – die sog. natura deleta).⁴²⁸ „Jede Form von Naturrecht“, so findet er (12 f ), sei „darum Selbstportrait des Menschen“ und damit schlecht und sündhaft. Diesem „Selbstportrait“ normative Gültigkeit zuzusprechen, wäre ist in barthianischen Begriffen der schlimmste aller Verdachte; es wäre ein unbiblisch-irriger „Glaube“. So wird denn auf S. 13 jene philosophische Definition dem nichtchristlichen „Glauben“ zugewiesen und damit abgelehnt, wie Heinrich MITTEIS (Über das Naturrecht, 1948, 7 f ) sie damals zu geben vorschlug: Naturrecht ist dasjenige Recht, das der Idee der menschlichen Gemeinschaft entspricht, das also als Gemeinschaftsregelung zu seiner eigensten eigentlichen Natur, zu sich selbst gekommen ist; insofern ist es eben die Hochform des Rechts, der höchste Niederschlag der in ihm vertretenen Werte.
Für Ernst Wolf ist das kein Verständigungsangebot. Das „Naturrecht der Aufklärung“ nämlich finde, so meint er auf S. 17, „den Boden (…) für seinen universalen Anspruch (…) in einem abstrakten, im Prinzip atheistischen Vernunftbegriff“. Genau so war Pufendorf von den Scholastikern seiner Zeit, insbesondere den evangelischen, geschmäht worden. Liest man von da aus weiter mit der Frage, was wohl eine christliche Vernunft demgegenüber zu leisten vermöchte, so läuft die Diskussion – nach vielerlei Tadel an der Lehre statischer Ordnungen und an der „Zweideutigkeit des ideologischen Naturrechts“ (28) – auf die kirchliche Botschaft hinaus, auf die Rechtfertigungslehre als „radikale Befreiung des Menschen von seiner unheilbaren, alles rechte Verhältnis zu Gott und den Mitmenschen verstörenden Ichbezogenheit“ (32). Wohl wahr! Das ist die Lehre der Kirche, aber worin sollte ihr das Anliegen der socialitas entgegenstehen? Eine Konkurrenz kann doch nur aufkommen, wo man befürchtet, eine Rechtslehre oder gar Rechtsetzung greife über auf das Gebiet der Gottesbeziehung und werde selbst zur
Die Anm. 48 ebd. verweist, wie vorher schon S. 26 f, auf die im Luthertum gängige These einer der Bibel vorausgehenden Uroffenbarung (vgl. Joh 1,3 f ). Zu dieser hatte die Lehre vom „Volksnomos“ (vgl. # 266), woraus alsbald die NS-Gewaltherrschaft gerechtfertigt wurde, eine gefährliche Nähe. – Die Barmer Erklärung war bereits in These 1 ein Protest gegen die Lehre von einer Uroffenbarung; dies war freilich nur Althaus’ These, nicht Elerts. Letzterer hatte die Singularität des Christentums abgegrenzt gegen seine Exklusivität (s.o. A 2.5). Genauer wäre es die verlorene Gottesebenbildlichkeit. Dass Rechtfertigung deren Rückgewinnung wäre, hatte ausgerechnet Elert gelehrt (s. # 288), war aber nicht gehört worden. – Unabhängig davon hatte Puf., Eris 42 u. ö. gesagt: Mag die Gottesebenbildlichkeit auch verloren sein, die Fähigkeit, ein der Natur des Menschen gemäßes Recht zu erkennen, ist geblieben.
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Religion. Geschichtlich mag das nachzuweisen sein; aber gerade die großen Naturrechtslehrer – die Ernst Wolf, anders als sein Namensvetter Erik Wolf, offenbar nicht kennt – sind davon weit entfernt, ja sie haben gegen solche Übergriffe gekämpft. Auch Theodor Herr kennt diese Größen nicht und ist ihnen in seinem Gespräch mit den Protestanten offenbar nie begegnet, wenn er schreibt (Naturrecht II 227): „Als Erstes muß das Naturrecht auf jeden Heils- und Absolutheitsanspruch, auf seinen Selbstbehauptungwillen [sic] verzichten.“ Wer die betreffende Tradition im Ganzen kennt, kann das nur als katholische Selbstkritik begreifen. Im Überspringen des Unterschiedes zwischen einem Reiches Gottes „zur Rechten“ und dem „zur Linken“ verstrickt sich Ernst Wolf zunächst in Paradoxien und schließlich in Widersprüche. Er wollte eine Verbindung „von oben“ herstellen („Gottesrecht“), wo sie doch „von unten“ möglich gewesen wäre, in einer Verständigung über den Menschen, wie Gott ihn geschaffen und auch (in Gen 3, dem Sündenfall-Kapitel) aus seiner Hilfe entlassen hat. An den natürlichen Gaben des Menschen, auch an deren Begrenztheit, wäre aus juristischem Blickwinkel nichts zu tadeln. Letzterer zu begegnen durch Rechtspflege, ist einer der Imperative, worin die Naturrechtslehren ja wohl alle übereinstimmen. Stattdessen folgt nun in dieser Broschüre – man könnte viele gleichzeitige mitzitieren, die Wolf auch nennt – eine Verwirrung auf die andere;⁴²⁹ die negative Dialektik überschlägt sich. Am Ende des Vortrages (34 Anm. 55) wird folgendes Zitat aus einer einer Festschrift für Julius v. Gierke geboten: Das „Naturrecht“ mit seiner „natürlichen“ Moral hilft uns nicht nur nicht weiter, sondern es vernichtet uns. Denn es stellt dem bloß menschlichen Argument das un-menschliche der Natur gegenüber.
Sätze dieser Art vernichteten mit Sicherheit nur eines: eine fruchtbare Diskussion. Eine solche blieb die protestantische Seite der sich bildenden Bundesrepublik damals schuldig.
Auch Berggrav, der 1952 persönlich beteiligt war (S. 28 Anm. 45), scheint auf Unverständnis gestoßen zu sein. S. 30 f Anm. 48 zeigt die Verworrenheit der Diskussion, belastet wie sie war von politischen Verdachten.
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Exkurs 17: Überwindung der Aufklärung? In deutschsprachiger Theologie auch noch der Nachkriegszeit ist viel Mühe darauf verwendet worden, die Aufklärung zu „überwinden“, als hätte durch ihren Einfluss auf die westliche Welt die Theologie etwas verloren. Man beklagt die „Entzauberung“ der Welt, als müsse die Theologie sich von kritisch gesichertem Wissen auf Abstand halten, um das, was an der Bibel und auch an ihrem eigenen Wirken Poesie ist, nicht aus den Augen zu verlieren. Zugegebenermaßen ist die Wahrheit des Glaubens keine beweisbare, da auch der Einfluss Gottes auf die Welt nicht beweisbar ist. Glaubensaussagen sind stets Interpretation von Erfahrungen und von Gegebenheiten, die man auch anders sehen kann oder gar nicht. Auf beidem, den Gegebenheiten wie der Deutung, wird das Augenmerk der nächsten Bände liegen, wobei die Gegebenheiten eher juristischer, die Deutungen theologischer Natur sein werden. Aus dem oben (Exkurs 3) über Hermeneutik Gesagten und all den übrigen Bemerkungen wissenschaftstheoretischer Art dürfte überdies klar sein, dass Theologie, methodisch gesehen, keine eigene Wissenschaft ist (sie ist es nur in Bezug auf ihren Gegenstandsbereich), sondern sie borgt methodisch von allen ihr benachbarten Wissenschaften, philosophischen, philologischen und historischen. Die empirischen sind es weniger, da Versuchsreihen, sich Gott zu nähern, sich also an ihn heranzuarbeiten,⁴³⁰ voraussagbar – darin waren sich schon die Kirchenväter einig – in die Irre führen. Wie sehr sich Verdienst und Gnade unterscheiden, dafür ist Paulus der Klassiker.⁴³¹ Wennn es je etwas an der Aufklärung zu „überwinden“ gab, waren es ihre Engführungen im 18. Jh., insbesondere das mechanistische Denken in der Kosmologie (mit welcher die Theologie, wie nun schon öfters gesagt, eigentlich nichts zu tun hat) und der Moralismus, also die Gesetzlichkeit, die in den Aufklärungstraktaten und -predigten in der Tat vorherrscht. Gesetzlichkeit im hier kritisierten Sinn mündet oft in Appelle, ohne dass die Gottesbeziehung, um die es im Evangelium doch eigentlich geht und die sich in den Sakramenten deutlicher ausdrückt als in dem allerbesten menschlichen Verhalten, überhaupt zur Sprache käme. Die Gesetzlichkeit solcher Traktate und Predigten fordert, statt zu geben. Man vergisst, was die Sakramente auf einfachste Art über die Worte
Über aufwändige Versuchsreihen in Richtung auf außerirdische Intelligenz berichtet der sonst so intelligente Stephen HAWKING: Kurze Antworten auf große Fragen (Brief Answers to the Big Questions, 2018, dt.), 2018, 110: „Breakthrough Listen nutzt den Empfang von Radiowellen, um nach intelligentem außerirdische[m] Leben zu suchen. Und mit modernsten Einrichtungen, 100 Millionen Dollar an Finanzmitteln und Tausenden von Stunden Teleskopzeit ist Breakthrough Listen das größte wissenschaftliche Forschungsvorhaben, das jemals durchgeführt wurde, um Beweise für Zivilisationen jenseits der Erde zu finden.“ Man rechnet auch Augustin dazu, der aber zur Schöpfung sehr auf Distanz stand. – Luthers De servo arbitrio hat dieses Ziel, und man versteht es auch nur, wenn man es danach liest. Missbraucht wurde es als Manifest des Anti-Intellektualismus.
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hinaus bieten: die körperliche Berührung. Das hat der wortlastige Protestantismus in vielen seiner Vertreter völlig aus dem Blick verloren. Ein typisches Beispiel, wie die Kirche unter vielen Worten ihre Botschaft verlieren kann, ist betitelt: Der Mythos und das Wort. Ein Beitrag zur Frage der Verkündigung für den gegenwärtigen Menschen, 1957.⁴³² Dort wird die Kirche auf ihre „eschatologische Verantwortung“ hingewiesen (137), womit eine Prophetenrolle gemeint zu sein scheint. Dietrich Bonhoeffers Martyrium ist das große Vorbild. Dessen Widerstand und Ergebung wird zitiert in dem Spitzensatz: „Wenn die Kirche diesen Auftrag eines Dienstes an der Welt nicht erfüllt, dann wird sie dadurch unfähig, ,Träger des versöhnenden und erlösenden Wortes für die Menschen und für die Welt zu sein‘.“ Solches Wenn-Dann ist typisch für die Gesetzlichkeit protestantischer Theologie seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Was dieses Buch an Zukunftsaussichten bietet (104– 106), ist alles fehlgegangen,⁴³³ und das Ideal einer Selbstaufopferung für andere greift zu hoch. Vor allem, schlimmer noch: Es ist hier ohne Ziel. Ob man Christ ist oder nicht, ist irrelevant – und muss es wohl sein, wenn gar nicht gesagt werden kann, worin das Evangelium inhaltlich besteht. Empfohlen wird stattdessen das „unbewusste Christentum“ einer Selbsthingabe (153 – 160). Dass zur Versöhnung, will ein Christ sie in seiner Umwelt leben, das AufeinanderZugehen gehört, wird in diesem erschütternd belanglosen Traktat noch nicht einmal mit allgemeinsten Worten angedeutet, geschweige denn auf die Nachkriegssituation – bei welcher er einsetzt – angewendet. Stattdessen wird zum Schluss mit Paul TILLICH „das neue Sein“ proklamiert (170 ff ) und „eine neue Wirklichkeit“: „Sie ist erschienen, sie erscheint noch. Sie ist verborgen und sichtbar, sie ist hier, und sie ist da. Nehmt sie an! Laßt euch ergreifen von ihr! Amen“ (182, dixit Tillich; Ende des Buches). Wie kann man Prophet sein, wenn man sich solchermaßen aus der Situation hinauskatapultiert? Große Worte trumpfen hier auf in einer Situation, die Tillich so beschrieb (zit. ebd. 101): „Der maßgebende geistige Typus der Gegenwart ist der autonome Mensch, der in seiner Autonomie unsicher geworden ist.“ Ist ihm damit wohl zu helfen? Die Verdächtigung des autonomen Menschen als des eigentlich ungläubigen durchzieht protestantische Theologie bis zum heutigen Tag und macht sie sprachlos gegenüber denjenigen Instanzen, in denen die Autonomie sich am meisten und am erfolgreichsten betätigt. Sicherlich hat Kants eigenes Ausweichen auf eine Metaphysik der Sitten – dort fand er das Absolute wieder – einen Mitnahmeeffekt gehabt auf die Theologie dahingehend, dass sie weitgehend Moral wurde, und das kann man beklagen, muss es dann aber mehr den Theologen anlasten als den Philosophen oder den Juristen. Es gibt schon Gründe, Sein Autor, Hermann WAGNER, möchte dort die EKD an ihre Aufgaben erinnern. Der Lokalbezug des Bandes ist Dresden, sein Gegenüber der DDR-Atheismus. Ein begabterer Prophet hätte vielleicht geahnt, dass der Globalisierung des Krieges eine solche der Güterproduktion und des Handels folgen würde, eine Ausbreitung des Islams und ein davon wieder bedingtes Ansteigen des Interesses an Religion in den westlichen Gesellschaften.
Überwindung der Aufklärung?
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warum Elerts Morphologie die Aufklärungstheologen fast gänzlich überspringt und den Gegenstand ihres Interesses, das Luthertum, hauptsächlich in seinen säkularisierten Formen weiterverfolgt; die waren profilierter.⁴³⁴ Die Universitätstheologie war sich selbst nicht treu geblieben, wenn sie sich auf die Voraussetzungen eines veralteten Weltwissens – der biblischen und antiken Kosmologie – und auf präkosmische, angeblich selbst Gott noch vorgegebene Begriffe – die Ontologie – einließ, vielleicht nicht so tief wie die römisch-katholische Theologie es tat, dafür aber mit ihrer fatalen Verkennung des Körperlich-Konkreten im gottesdienstlichen und übrigens auch diakonischen Handeln der Kirche. So hat denn die Aufklärung die Theologie dermaßen hart getroffen, dass gerade im Stammland der Reformation, hier in Deutschland, eine schmerzlich empfundene Sprachlosigkeit eintrat, damals schon ein erstes Mal.⁴³⁵ Die Voraussetzungen, die man gemacht hatte und meinte machen zu müssen, galten nicht mehr und besagten nichts mehr; so kam die noch von Ernst TROELTSCH i.J. 1896 mit „Meine Herren, es wackelt alles!“ beschriebene Situation zustande. Troeltsch hatte eine nicht nur geistes-, sondern auch naturwissenschaftliche Bildung genossen. Unter dem Titel einer systematischen Theologie hätten auch im 20. Jh. keine selbsttragenden Theorien entworfen werden müssen, am „Sein“ aufgehängt oder an der Jeweiligkeit einer „Existenz“ oder an sonstigem Unverfügbaren und für uns „Transzendenten“, wenn man sich klar machte, wie sehr die christliche Botschaft aufruht auf der Geschichte – das will hier auch heißen: den Ereignissen – ihres Ursprungs. „Das Wort ward Fleisch“, das ist ein (qualitativ, nicht räumlich) sehr weiter Sprung zwischen Himmel und Erde. Das heißt ja auch: Der Sohn Gottes war für die Tempelpolizei zu greifen, und Rom konnte an ihm seine Macht demonstrieren und eine wenig ruhmreiche Art von Überlegenheit beweisen. Das Johannesevangelium betont hierbei, wie sehr Jesus sich freiwillig gab, und stellt ihn über die ganze Passionsgeschichte hin als souverän dar;⁴³⁶ er war und blieb der Herr des Geschehens. Das kann man in schlichteren Worten ausdrücken als in metaphysischen. Noch Pufendorf hat die Theologie davor warnen wollen, sich auf Gedeih und Verderb mit der Metaphysik zu verbinden. Der akademischen Dogmatik ging sodann im 18. Jh. die Sprache der Metaphysik verloren, an die sie sich trotz Luthers Warnungen ge-
So ist denn auch Kants Aufassung von der Freiheit eines Christenmenschen weit eher in seinem kategorischen Imperativ zu finden als in seiner Religionsschrift. Es ist die Freiheit, die man erwirbt in Gottes Regiment „zur Rechten“ und ausübt in Gottes Regiment „zur Linken“. Ein Beispiel: I.J. 1786 ließ Georg III., Kurfürst von Hannover und König von Großbritannien, einen Preis ausschreiben für den „Beweis der Gottheit Christi“ als Antwort auf die gerade in England starken Sozinianer, Unitarier und Deisten, und keine der eingereichten Arbeiten erschien der Theologischen Fakultät seiner Landesuniversität Göttingen preiswürdig. Dabei hatte kein Geringerer als Johann Salomo SEMLER, damals Senior der Theologischen Fakultät von Halle, unaufgefordert eine Arbeitshilfe dazu veröffentlicht; s. G. HORNIG/H. SCHULZ (Hg.): Johann Salomo Semler: Christologie und Soteriologie (1787), 1990 (Einleitung: 1– 75). Der mythischen Ausmalung von Joh C 18,6 – 8a, die die Römer ungewollt niederfallen lässt, hätte es dafür nicht bedurft.
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Exkurs 17
bunden hatte, und erst SCHLEIERMACHER, der Theologe der Innerlichkeit, half ihr auf seine Weise heraus. Die Metaphysik schrumpfte ein zu einem Restbestand an Supranaturalismus; trotz Goethes Warnung hat protestantische Theologie (die katholische sowieso) sich an Wundern, „des Glaubens liebstem Kind“, aufgehängt wie Baron Münchhausen an seinem Zopf. Die Römisch-Katholische Kirche nahm von alledem weniger Schaden, weil sie sich absichern konnte hinter der zugegebenen Unerklärlichkeit des Messopfers. Die stand einem Ernst Troeltsch nicht zur Verfügung. Dennoch wird auf evangelischer Seite noch immer der Ontologieverlust beklagt, als wäre es ein Transzendenzverlust. Wenn bei alledem Nietzsche auch noch einen „Tod Gottes“ verkündete, so war das der zusätzliche Verlust eines dicken Bündels von Vorstellungen und Worthülsen, welches abzustreifen wie eine tote Haut der Theologie nunmehr zufiel, etwa in Dorothee SÖLLEs Theologie nach dem „Tode Gottes“ (1965; s.o. A 2.5.1). Was damit wegfiel, waren alles Dinge, die nichts zu tun gehabt hatten mit dem Botenauftrag: „Lasst euch versöhnen“ – inzwischen müssen wir sagen: Lasst euch bekannt machen – „…mit Gott!“ (# 309). Spürbarer als jener „Tod Gottes“ war im 20. Jh. die „Gottesfinsternis“ zweier – mehr oder weniger vom Land der Reformation sogar ausgegangener – Weltkriege. Inzwischen ist man bereit zu sehen, dass es eine solche war und dass die Ersetzungen eines totgesagten Gottes nichts Besseres gebracht hatten. Verstärkt durch die Globalisierung, ist die Frage nach Gott in der heutigen Öffentlichkeit lebendiger als je im vorigen Jahrhundert. Die Theologie brauchte die Aufklärung nicht abzuwehren und hat sie auch nicht zu „überwinden“.Wo die Aufklärung behauptete, die Rede von Gott seien leere Worte, wäre das vor allem als Aufforderung zur Selbstkritik zu nehmen gewesen. Theologie muss die Sprache des Alltags reden können. Gleiches forderte von seiner Wissenschaft, der Jurisprudenz, unser Pufendorf, dessen Lehre ins Deutsche zu bringen für Wolff ein Leichtes war. Das Gleiche gilt für Pufendorfs theologische Spätschrift zur Versöhnung der protestantischen Konfessionen, deren heute wiederveröffentlichte englische Fassung außer der damaligen Rechtschreibung und einer traktatmäßigen Häufung von Bibelzitaten noch immer frisch ist. Was man in den Generationen nach Pufendorf und Wolff abzuwehren versäumte, war der Naturalismus im Recht; dieses „wächst“ schließlich nicht von selber, sondern wird nicht ohne Überlegung seitens bestimmter Leute zu Gesetzen. Auch tat man theologischerseits nichts gegen die Aufspaltung der Wirklichkeit in Natur und Übernatur,⁴³⁷ also den gerade damals sich gegen die Natur- wie Geschichtswissenschaften versteifenden Supranaturalismus. Die theologische Orthodoxie von damals machte sich nicht klar, wieviel Mythisches nicht aus einer höheren, sondern aus einer vergangenen Welt sie dem eigenen, erfahrungserprobten Wissen der Zeitgenossen entgegensetzte. –
Nur zu leicht fiel Jesus in den Bereich der Übernatur (dazu z. B. # 120, Stichwort „Jungfrauengeburt“) und wurde eine Christusmythe, wie – nach Vorgängern im 19. Jh. – Arthur DREWS 1924 es dann nannte.
Überwindung der Aufklärung?
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Zur Frage einer Abwehr der Aufklärung ist im 20. Jh. aus ganz anderer Richtung die These geäußert worden, dass diese ihr Ziel noch gar nicht erreicht habe; sie sei in Ideologien stecken geblieben und darum auf philosophischem wie politischem Gebiet heute sogar rückläufig. Das klingt manchmal wie eine Aufforderung, das Unmögliche gar nicht erst zu versuchen. In der Tat: „Postfaktisches“ Denken erzeugt Nachrichten, die nicht richtig sein müssen, um zu wirken – etwa in der Politik vor Wahlen oder als Spekulation an der Börse. Auf die Wirkung kommt es an und auf den Erfolg, so sagte schon die Rhetorikforschung der 1970-er Jahre (s.o. Exkurs 4) und kündigte bereits die postmoderne Indifferenz gegenüber Wahrheitsfragen an, die bis dahin die Geisteswissenschaften so sehr beschäftigt hatten. Geisteswissenschaften, sofern sie entscheidungsund handlungsrelevant sind (also über bloße Philologie hinausgehen), sind jedoch stets auch Wertwissenschaften. Was an der Aufklärung des 18. Jh. zu „überwinden“ war, ist ihre zunehmende Engführung auf Moral. Inwiefern eine wohlgrundierte Ethik Ausgangspunkt von Freiheit ist, hat man jedoch seit Kant wieder besser zu sagen gelernt. Inzwischen hat sich der Blickwinkel weiter geöffnet als nur auf das jeweilige Ich, und die Freiheit zu neuen Dekalogen ist wiedergekommen. Darf man so kühn sein? – Der Blick in die neuere Rechtsgeschichte zeigt: Wir waren es längst! Dieser nie erledigten Aufgabe in Gottes Reich „zur Linken“ dient das mit diesem Band eingeleitete Werk.
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Schluss
Schluss: Theologie und Jurisprudenz Michael Beintker sagt in seinem wegweisenden Artikel über „Schuld und Strafe“ (54): „Wünschenswert wäre (…) ein viel engerer Kontakt zwischen den beiden ältesten Fakultäten der Universität, als er wohl jemals gang und gäbe war.“ Der vorliegende Versuch bedurfte, als erster nach drei Jahrhunderten, einer wissenschaftstheoretischen Begründung. Sie sei in Kürze so zusammengefasst: In methodologischer ist Theologie nichts Eigenes, sondern verdankt sich einer Verbindung aus Philologie(n), Philosophie und Geschichtswissenschaft, mit variierenden Schwerpunktsetzungen und der Möglichkeit weiterer Synergien.⁴³⁸ Im vorliegenden Werk kommt nun noch die Jurisprudenz hinzu. Voraussetzung solchen Zusammenwirkens ist lediglich die Übersetzbarkeit der jeweils spezifischen Einsichten in eine gemeinsam geteilte Umgangssprache. Die Lehre vom „neuen Sein“, die oben als Negativbeispiel diente, könnte weder auf Geschichtswissenschaft sich gründen noch mit Jurisprudenz kommunizieren. Theologie sollte unmissverständlich sagen können, wofür die Kirche steht. Die fortschreitende Verkleinerung der verfassten Kirchen – nachdem vieles an Aufgaben ohnehin in öffentlich-rechtliche oder privatwirtschaftliche Dienste übergegangen ist – erleichtert, ja erzwingt die Konzentration der Kirchen auf ihren Daseinszweck. Auf diesen wird anhand des Stichworts „Botschafter“ in # 309 zurückzukommen sein: „Lasst euch versöhnen mit Gott!“ (2Kor 5,20). Die Worte wie die Riten der Kirche bezwecken ein Miteinander-Bekanntwerden, ein Aufeinander-Zugehen. Gleiches Verhalten unter Menschen soll damit bestärkt, ja auch allererst angeregt werden. Von hier aus lässt sich eine große Gemeinsamkeit zwischen Theologie und Jurisprudenz erkennen. Der Theologie schon der hier zitierten Barockjuristen geht es nicht um das Retten vor der Hölle. Die machen wir uns heute selber mit Hochrüstung und immer raffinierteren Formen von Bedrohung. Demgegenüber sind sowohl Theologie wie Jurisprudenz eine Kunst der Versöhnung. Ihre Aufgabe ist, Konflikte, ehe sie sich steigern, zu benennen, möglichst auch unter den Konfliktparteien gemeinsam zu benennen, sie zu entschärfen und dazu beizutragen, dass die gegenseitigen Beziehungen für beide Seiten gedeihlich sind. Solch ordnendes Wirken, für das man nicht auf die Vorsehung warten kann, dürfte es gewesen sein, was Herder meinte, wenn er dem Menschen innerhalb der Schöpfung die Rolle zuwies, ein „Gott der Erde“ zu sein. Wir setzen hinzu: „Der“ Mensch ist ein kollektiver Singular. Alle sind gemeint, nicht nur wenige Privilegierte. Die Teilnahme möglichst aller an der Lenkung des Geschehens zu regeln, ist eine Aufgabe der Rechtsordnung. Diesbezügliche Strukturen finden sich nicht in der Natur, am wenigsten in einem Insekten-„Staat“, sondern sie sind im Schöpfungsauftrag (Gen 1,28) menschengemacht. In der Praktischen Theologie etwa ist es die mit der Psychologie. Selbst Exegese ist mit Psychologie schon erfolgreich verbunden worden (v. a. bei Eugen DREWERMANN).
Theologie und Jurisprudenz
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Die Jurisprudenz gründet so wenig auf der Strafgewalt wie die Theologie auf der Hölle, auch wenn populäre Zerrbilder so aussehen mögen. Beide Disziplinen sind gestalterische Tätigkeiten – Gesetzgebung als „auch eine Form von Liebe“ (A 2.5.3); es sind Vermittlungskünste. Am Ende seiner Einleitung zu dem Band Der biblische Gesetzesbegriff schreibt der Jurist Okko BEHRENDS (15): So wie die modernen staatlichen oder staatlich anerkannten Religionen im allgemeinen nicht mehr fordern, daß der Staat ihre Lehren rechtlich verbindlich mache, so sind sie auch weit entfernt davon, per analogiam eine politische Theologie zu generieren, die den Staat auf die Aufgabe verpflichtet, seine Bürger durch homogenisierende Zusammenfassung ihrer Willenskräfte (Hobbes), durch schlechthinnige Unterordnung unter eine Vernunftidee (Kant) oder gar durch die Idee der überlegenen Klassen oder Rassen in einer für die Menschheit musterhaften und maßgebenden Weise zu „bessern“. Die in diesen Ansätzen überall durchschimmernde „philosophische“, d. h. letztlich über entsprechende Gesetzgebung eine diesseitige Revolution verheißende „Eschatologie“,⁴³⁹ dürfte erst einmal auf lange Zeit verabschiedet sein, und vorderhand wieder dem Rechtsdenken des ius gentium Raum geben, das Gesetzgebung als Arbeit am Recht, nicht als Arbeit an der menschlichen Natur auffaßt.
Der Richter am Bundesverfassungsgericht a.D. Ernst-Wolfgang BÖCKENFÖRDE würdigte in diesem Sinne das säkulare, positive Recht als „Erhaltungsordnung“,⁴⁴⁰ also dem Willen Gottes in der Schöpfung entsprechend, aber menschengemacht.⁴⁴¹ Er sagt: Es ist heutzutage für die katholische Theologie – Gott sei Dank – nicht mehr ein Argument gegen dieses Ergebnis, daß es eine deutliche Annäherung an die Rechtslehre Martin Luthers beinhaltet. Denn gerade von Luther wird dem Recht, dem usus legis politicus, der Charakter einer Erhaltungsordnung zugewiesen, sozusagen ein mittlerer Status zwischen der lex divina als dem Gesetz göttlicher Liebe und den Befindlichkeiten der durch die Sünde in sich gekehrten menschlichen Natur.
„Das Maß der Verwirklichung der Religionsfreiheit bezeichnet (…) das Maß der Weltlichkeit des Staates“, sagt derselbe Autor an anderer Stelle⁴⁴² und zitiert sodann Karl MARX: „Der sogenannte christliche Staat ist die christliche Verneinung des Staats [als ob er sich nicht aus der Volkssouveränität herleiten dürfe], aber keineswegs die staatliche Verwirklichung des Christentums.“
[Kant ist hier nicht gemeint. Dessen Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784) hat keiner Diktatur zugearbeitet. – Die Idee, Gesetze hätten die Menschen zu bessern, stammt von einem Befürworter totaler Herrschaft, Platon; s. seine Nomoi 719B. (F. S.)] Böckenförde, Kirche und christlicher Glaube 413, mit Verweisen auf Heckel, Lex charitatis. In dem Ausdruck usus legis politicus fließt hier freilich Verschiedenes zusammen, was im vorliegenden Kommentar getrennt gehalten wird. Dem Kontext nach ist eher das gemeint, was Luther das „Regiment Gottes zur Linken“ nannte, nämlich säkulare Gesetzgebung und Politik. So Elert, Ethos 101 (secundus usus). Im gleichen Sinne sei empfohlen: J. SCHRÖTER: „God’s righteousness and human law. A New Testament perspective on law and theology“, JLawRel. 32, 2017, 9 – 16. E.-W. BÖCKENFÖRDE: Der säkularisierte Staat, 2007, 65; nächstes: 66.
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Schluss
Die Leuenberger Konkordie von 1973, eine Lehrübereinkunft unter den Protestanten, enthält einen Artikel 11 über den politischen Auftrag der Christen; er lautet: Diese Botschaft [von der Rechtfertigung] macht die Christen frei zu verantwortlichem Dienst in der Welt und bereit, in diesem Dienst auch zu leiden. Sie erkennen, daß Gottes fordernder und gebender Wille die ganze Welt umfaßt. Sie treten ein für irdische Gerechtigkeit und Frieden zwischen den einzelnen Menschen und unter den Völkern. Dies macht es notwendig, daß sie mit anderen Menschen nach vernünftigen, sachgemäßen Kriterien suchen und sich an ihrer Anwendung beteiligen. Sie tun dies im Vertrauen darauf, daß Gott die Welt erhält, und in Verantwortung vor seinem Gericht.
Nichts anderes hat Luther mit der Freiheit zu „neuen Dekalogen“ gemeint. So empfiehlt sich denn die oben in A 2 vorgenommene Unterscheidung von Recht und Moral, Delikt und Sünde, Staat und Kirche, und man kommt als Mann bzw. Frau der Kirche heraus aus der Defensive, als ob mit der zahlenmäßigen und finanziellen Verkleinerung der Kirchen ein Verlust an Aufgaben zusammenhinge. Theologie wie Jurisprudenz haben die gleiche Art von Aufgabe. Negativ benannt ist es die Dämpfung und Bewältigung von Konflikten, positiv aber ist es die Eröffnung von Freiheit. Freiheit im hier zu erläuternden Sinn (# 172; Joh 8) besteht – hier knüpfen wir beim Negativen nochmals an – darin, nicht festzuhängen an den Folgen eigenen Fehlverhaltens und schon gar nicht an den Folgen fremden Fehlverhaltens (das meint insbesondere die Enge und – im üblen Sinne – Gesetzlichkeit einer sich nicht einsichtig machenden Erziehung). Freiheit ist die Möglichkeit und die Fähigkeit, selbst zu entscheiden. Die einzige Freiheit, deren ich sicher sein kann, ist diejenige, eine Initiative zu ergreifen – und zwar in dem Maße, wie ich die Motive meiner Initiative mir selbst bewusst mache. Darum ging es Kant; darum ging es aber auch schon Luther, ja schon Paulus. Beiden, Theologie wie Jurisprudenz, geht es um Schuld. Keiner hat je alles richtig gemacht (das ist nicht menschenmöglich); jeder leidet an Schuld. Das Vergeben, Bewältigen, Beheben verfehlter Entscheidungen ist auf je verschiedenen Gebieten die große gemeinsame Aufgabe. Sie ist nie nur aus der Rückschau zu leisten, sondern geschieht zugleich im Blick nach vorn, als Anleitung zu richtigem Entscheiden.
Konkordanztabelle zu Pufendorf, Eris Scandica Pufendorfs 1686 erschienene Sammlung seiner bis dahin in Schweden verfassten Streitschriften, heute auch als Bildreproduktion im Internet zugänglich, ist in dieser Vollständigkeit nur einmal, 1743, nachgedruckt worden als Teil von Bd. 2 der dann 1744 erschienenen, reichhaltigsten aller Ausgaben seines Jus Naturae et Gentium. Sie wurde damals erweitert um eine i.J. 1688 noch hinzugekommene Streitschrift. Nach dieser Ausgabe wird hier zitiert, unter Absehung von den Einzeltiteln und pseudonymen Verfasserangaben, hinter denen er stets¹ selber steckt. Er spielt mit Ausdrucksmöglichkeiten in der ersten und der dritten Person. Erst die moderne Pufendorf-Gesamtausgabe bietet in Bd. 5 (2002) diese Texte erneut, ggf. auch mit Varianten sowie mit dem Ersterscheinungsdatum und ausführlicher Einleitung; doch ist dies ein sehr klein gedrucktes Archivexemplar, nicht zum Lesen geeignet. Um die Zitate dort wie auch in der ersten Gesamtausgabe von 1686 auffindbar zu machen, nach welcher in früheren Jahrhunderten zitiert wurde, diene die folgende Seitenkonkordanz. Die Angabe der Gesamtlänge in Seiten² ermöglicht ein Abschätzen der Zwischenwerte. Titel
Ausg. S.
Länge Ausg. S.
Länge Ausg. S.
Länge
Praefatio (mit post scriptum, ) Apologia pro se et suo libro () Epistola ad Joh. Adamum Scherzerum (o.D., ) Appendix ()³ Epistula ad amicos suos per Germaniam () Epistola ad Nicolaum Beckmannum () Discussio calumniarum (…)⁴ Scarenschmidus vapulans (o.D.) Specimen controversiarum circa ius naturale ()
(vor ) ff ff
ff ff ff
ff ff ff
ff ff
ff ff
ff ff
ff ff ff ff
ff ff ff ff
ff – – ff
Nur was das Pseudonym „Johannes Rolletus“ betrifft, so gilt das nicht für einige außerhalb dieser Sammlung erschienenen, hier unberücksichtigte Stücke; diese stammen von Pufendorfs Jenenser Anhänger, Gottfried Klinger. Die in Reproduktion einbezogenen Titelblätter in der Ausgabe von 2002 sind der Vergleichbarkeit halber nicht mitgezählt. Ursprünglich bezogen auf seine Dissertationes academicae selectiores vom selben Jahr; hier unberücksichtigt. quas (…) Nicolaus Beckmannus (…) sparsit, ad genuinum exemplar Mannheimense, in der Augabe 2002 nicht erwähnt. Gleiches gilt für die folgende Schrift, gegen Karl Scharschmid gerichtet, Juristen in Jena und Bestreiter des von Pufendorf anonym veröffentlichten Monzambano. https://doi.org/10.1515/9783110658347-019
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Konkordanztabelle
Fortsetzung Titel
Ausg. S.
Spicilegium controversiarum circa ius naturae ff () Dissertatio epistolica super controversiis (…) () Commentatio super invenusto Veneris Lipsi- – cae pullo ()
Länge Ausg. S.
Länge Ausg. S.
ff
ff
ff
ff
Länge
Die Länge dieser Schriften entspricht ihrem Gewicht: Die seriöseste und gehaltvollste ist auch die längste, das Specimen controversiarum (S. 157 ff ), eine sachlich gehaltene Neuauflage der Apologia, dem Erzbischof von Uppsala gewidmet. Hier ist Pufendorfs philosophische wie theologische Grundlage, die sich im JN&G nur erschließen lässt, in aller Klarheit dargestellt. Die Ausgabe 2002 fügt dieser Sammlung noch hinzu: Josuae Schwartzii dissertatio epistolica (1688), die auch von Pufendorf stammt (als im Ich-Stil gehaltene Parodie einer Schrift von Schwartz selbst), sowie allerlei Indediertes aus dem Briefwechsel. Diese Erweiterungen sind hier nicht berücksichtigt. Eine Inhaltsangabe zu all den im Neudruck 2002 erfassten Schriften enthält dort die Einleitung, S. XVIf sowie Anmerkungen (383 – 433) und ausführliche Register.
Zitierkonventionen und Transkriptionsregeln Textgrundlage dieses Kommentars ist der griechische Text des Neuen Testaments nach dem Novum Testamentum Graece, ed. Nestle/Aland, 28. revidierte Auflage. Stets wird auch auf die Vulgata zurückgegriffen, wobei die seit 1592 in Geltung gewesene editio Sixtina die gleichen Dienste tut wie die Nova Vulgata von 1979, gelegentlich sogar bessere.¹ Die Ungleichheit, griechsch theos stets klein zu schreiben, lateinisch Deus jedoch, wo es nicht polytheistisch gemeint ist, groß (so die Vulgata-Ausgaben), wird beibehalten. Bei der Angabe biblischer Bücher gilt gewöhnliche Schrift ohne Abkürzungspunkt für alle Bücher, die in der Vulgata aufgenommen sind; das sind die der Hebräischen Bibel, die des Neuen Testaments und zusätzlich die meisten AT-Überschüsse der Septuaginta. Alles andere, darunter auch einige erst in neueren Editionen mit abgedruckte Septuaginta-Schriften, wird in Kursive zitiert, wie das Nichtbiblische. Bei Versangaben aus der Bibel bezeichnen die Buchstaben a und b Vershälften, α, β und γ kleinere Versteile. Von alttestamentlichen Stellen ist der hebräische Text derjenige, der damaligen Judäern, zumal Jesus, im Ohr gewesen sein dürfte; für Texte judäischer Herkunft ist er mit heranzuziehen. Der griechische Wortlaut der Septuaginta ist hingegen diejenige, der den Verfassern der neutestamentlichen Schriften allermeist im Ohr und auch zur Konsultation zugänglich war; er wird stets zitiert, so wie auch die neutestamentlichen Texte, u.z. in Umschrift, welcher das Vulgata-Äquivalent stets beigegeben ist, z. B. nomos/lex. Zitiert wird nach der Kapitel- und Verszählung der Septuaginta ed. Rahlfs; gelegentliche Abweichungen der Vulgata sind meistens mitnotiert.² Die Psalmenzählung ist stets doppelt, z. B. Ps 91(90); letzteres ist die Septuaginta- und die Vulgatanummer.³ Inschriften werden vorzugsweise nach den beiden handlichen Sammlungen von Dittenberger (Sylloge und OGIS) zitiert, wonach auch Moulton/M., Vocab. geht.⁴ Bei Inschriften und Papyri – letztere nach den Siglen der Duke-Datenbank – folgen sich die Nummer des Stücks⁵ und der Zeile innerhalb des Originaltextes⁶ wie Kapitel- und Verszahlen.Wo die Kolumne extra gezählt wird, etwa bei den Qumran-Rollen, geht es nach Nummer, Kolumne und Zeile, die Kolumne in römischer Zählung: I, II, III usw. Die Zeit-
Sie bietet als „Appendix“ auch das Gebet Manasses, das 3. (LXX: 1.)Esra-Buch, die erweiterte EsraApokalypse (unser 4.–6. Esra) und einen Ps 151. – Zur Nützlichkeit der Vulgata für die Anlegung antiker Rechtsbegriffe s.o. A 1.3.2. Zu dem Zählungswirrwarr des Sirach-Buches, wovon es zwei hebräische, zwei griechische, die lateinische und zahlreiche weiterübersetzte Editionen gibt, s. Siegert, EHJL 148; hier maßgeblich ist die Septuaginta-Zählung nach Rahlfs. Der Psalter der Vulgata ist nicht der von Hieronymus übersetzte, sondern der ältere der sog. Vetus Latina, die aus dem Griechischen kommt, nicht aus dem Hebräischen, und deshalb die LXX-Nummern hat. Dessen Zitate aus der Sylloge sind stillschweigend umnummeriert auf deren 4. und letzte Auflage. Bandnummern der (meist mehrbändigen) Editionen entfallen, da die Nummerierung stets durchläuft. Evtl. Randzählungen der Ausgaben bleiben unberücksichtigt, ebenso wie die Bandnummern. https://doi.org/10.1515/9783110658347-020
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angabe bei solchen Originaldokumenten, wo es auf das genaue Jahr nicht ankommt, erfolgt nach Jahrhunderten, wobei nur in vorchristlicher Zeit ein „v.Chr.“ davorgesetzt wird. Weitestgehend werden römische Zahlen durch arabische ersetzt. Nur für Bandangaben können sie der Kürze halber dienen. Durchlaufende Abschnittszählungen eines Buches, die nur einmal mit 1 beginnen, werden als §-Nummern gegeben, auch wo sie dieses Zeichen nicht tragen. Literarische Texte, griechisch, lateinisch oder rabbinisch, werden stets nach der neuesten, detailliertesten Zählung angegeben.Wo sie im Kontext älterer Zitate begegnen, wird stillschweigend angeglichen. Wo von einem Autor nur ein Werk vollständig überliefert ist, wird dieses ohne Titel zitiert. Bei Zitaten aus den Digesten (D.) werden die dort oftmals genannten Titel der Originalschriften bei Interesse mit angegeben, unabgekürzt, Buchnummern aber weggelassen. Zitate sind durch „…“ oder durch Einrücken und Kleindruck (dann ohne Anführungszeichen) gekennzeichnet. Auslassungen werden als (…) markiert. Eine Auslassung am Satzende ist kenntlich durch Setzung des Anführungszeichens vor dem Schlusspunkt. Doppelte Anführungszeichen stehen nur, wo jemand zitiert wird (das muss nicht namentlich nachgewiesen sein). Einfache Anführungszeichen ‘…’ hingegen kennzeichnen uneigentlichen Gebrauch eines Wortes; sie kennzeichnen auch die Übernahme fremden Sprachgebrauchs, wo sie nicht abgedeckt ist durch die Terminologie des Autors. Worin z. B. der ’Verrat’ des Judas bestand und ob es überhaupt ein Verrat war, bleibt ununtersucht an all den Stellen, die ihn so anführen. Fremdsprachiges wird, sofern nicht anders angegeben, in einer stets ad hoc gefertigten Neuübersetzung zitiert. Insbesondere wird die Confessio Augustana (CA), ungeachtet des Umstands, dass sie bei der Übergabe an Kaiser und Reich auf Deutsch verlesen wurde, nach ihrer für die Lehrbildung maßgeblichen lateinischen Fassung zitiert und neu übersetzt. Will man sie genau verstehen, ist der lateinische Text hilfreicher als der vergleichsweise unbeholfene deutsche.⁷ Zitate in älterem Deutsch, etwa aus Lutherschriften, sind in Rechtschreibung und Lautstand stillschweigend dem heute Verständlichen angeglichen. Ae und Ue aus Frakturschrift wird durch die in den Typensätzen oft fehlenden Zeichen Ä und Ö ersetzt. Die Abkürzung „u.“ (oft bei Billerbeck) wird in „und“ aufgelöst. Undeutliche Zeichensetzung wird gleichfalls stillschweigend korrigiert, ohne Setzung der allzu schulmeisterlich wirkenden eckigen Klammern. Alle Zitate sind entweder am Original geprüft, oder es wird dazugesagt, wer sie gibt. Zusätze innerhalb von Zitaten sind durch eckige Klammern […] kenntlich gemacht. Wo nicht anders bezeichnet, sind diese vom Hauptherausgeber, Folker Siegert. Zutaten anderer Autor/-innen erfolgen gleichfalls in […] unter Angabe des Namens, ganz oder in Abkürzung.
Die spezifischen Probleme des noch nicht am Lutherdeutsch geschulten Frühneuhochdeutschen sollen hier beiseite bleiben.
Zitierkonventionen und Transkriptionsregeln
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Mitteilungen in unpublizierter Form (Briefe, E-mails) werden in der gleichen Weise zitiert, meist so: [Mitteilung N. N.]. Eine Liste der Namenskürzel steht am Ende dieses Bandes; eine andere mit reichhaltigeren Angaben wird im letzten Band folgen. Personennamen, u.z. die Nachnamen, stehen in KAPITÄLCHEN da, wo eine komplette Literaturangabe folgt, sowie an solchen Stellen, die wichtig genug sind, um für das Register erfasst zu werden. Alles hier Zitierte kommt aus gedruckten Veröffentlichungen mit Ausnahme solcher Zeitschriften und Monographien, die nur im Internet zu finden sind, aber auch dort als fixierter Text.
Transkription und Zitierweise Griechisch und Latein: Alles Griechische wird transkribiert, genauer: transliteriert.⁸ Hierbei wird der Unterschied von e und ē, o und ō wiedergegeben, welches jeweils eigene Buchstaben sind und viele Wortunterschiede ausmacht. Dieselben Wörter finden sich im griechischen Register des Schlussbandes in Originalschreibweise wieder, dort auch mit den Akzenten. Die Rechtschreibung bei Zitaten aus Inschriften und Papyri ist im Interesse besserer Lesbarkeit meistens stillschweigend standardisiert. Wo Vokabeln der Originaltexte in Klammern angegeben sind, geschieht dies meist im Nominativ (bei Substantiven) bzw. im Infinitiv (bei Verben); nur der Numerus bzw. das Genus verbi (Aktiv vs. Passiv), die viel zur Bedeutung beitragen können, sind beibehalten. Für Lateinisches gilt, was Rechtschreibung betrifft, die in der Jurisprudenz übliche italienische Orthographie (mit u verschieden von v, aber i für Vokal wie Konsonant). Eine Eigentümlichkeit des Corpus Iuris ist das häufige Weglassen euphonischer Konsonanten, z. B. emtio statt emptio. Die Wiedergabe lateinischer Amtsbezeichnungen folgt weitestgehend der Herkunftssprache, z. B. „Procurator“, wohingegen „Prokurator“ ein Ausdruck auch des heutigen Rechts ist. Ein römischer Consul ist von einem heutigen Konsul weit verschieden. Daneben gibt es Wörter ohne Endung, die eingedeutscht sind und so geschrieben werden, z. B. „Präfekt“. Vokabelgleichungen wie nomos/lex geben die Wortpaare wieder, die in griechischen Texten mit antiken Übersetzungen (gelegentlich auch umgekehrt) so belegt sind; das betrifft insbesondere den Urtext des Neuen Testaments im Verhältnis zur Vulgata. Die Schreibweise griechischer, lateinischer und semitischer Namen wurde weitestmöglich vereinheitlicht, auch wo gedruckte Übersetzungen zitiert werden. Bekanntere Namen griechischer Herkunft bleiben latinisiert.
Nämlich Buchstabe für Buchstabe. Doppelgrapheme des Griechischen sind ou für /u/ und ei für helles /e/ (spätantik /i/).
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Semitische Sprachen: Hebräisches oder Aramäisches wird stets transkribiert, auch in Kursive. Für die Regeln sowie für die Originalschreibweise s. Bd. VII, „Glossar“. Auch in den Abkürzungen und übernommenen Zitaten wird für hebr. Jod kein y verwendet, sondern j, sowie für Zajin z (nicht s), für Ḥ et ḥ (nicht ch), für Šin š und für Çade ç oder⁹ ṣ (nicht z oder ts). Die Transkription des Hebräischen (stets in Blockschrift) folgt der Praxis der Semitistik, den Buchstabenbestand möglichst genau wiederzugeben. Die weiche Aussprache bei ב/b (als v) und כ/k (als ch) in heutigem Hebräisch wird graphisch nicht angezeigt, außer bei p/f (im Original beides )פ. Der Unterschied zwischen langem und kurzem a (Qamäç vs. Pataḥ) bleibt unbezeichnet.¹⁰ Was die Vokalbuchstaben angeht, so wird h, wo es für auslautende Vokale steht, wiedergegeben wie geschrieben (z. B.: tôrah).¹¹ Das Zeichen ˆ auf a, e, i, o, u markiert das Vorhandensein eines Vokalbuchstaben, also eines Jod für e oder i und eines Waw für o oder u. Bei Eigennamen (nicht in Blockschrift) wird auf die diakritischen Zeichen verzichtet und nur der Unterschied zwischen Alef (’) und ‘Ajin (‘), He (h) und Ḥ et (ḥ) wiedergegeben. Kurzvokale¹² sind a ä å e; das „kleine Qamäç“ wird å geschrieben. Doppelkonsonanten (sie sind nur in punktierten Texten am eingesetzten Punkt erkenntlich) werden in der Transkription doppelt geschrieben; dem entspricht im Hebräischen immer nur ein Buchstabe. Auf die Wiedergabe der Verdoppelung eines Anfangskonsonanten nach gewissen Präfixen wird verzichtet zugunsten eines bloßen Bindestrichs. Zweck dieser Transkription ist die Rückgewinnung des hebräischen Buchstabenbestandes,¹³ die auch Nichthebraisten möglich sein müsste, u.z. nach folgender Tabelle: 1. . . . . . . . . . . .
א ב נ ד ח ו ז ח ט י כ ל
’ b g d h w z ḥ ṭ j k l
. . . . . . . . a. b. .
מ נ ס ע פ צ ק ר שׂ שׁ ת
m n s ‘ p ṣ, ç q r ś š t
Aus computertechnischen Gründen konnte nicht überall dasselbe Umschriftzeichen genommen werden. In offener Silbe ist es Qamäç, in geschlossener Pataḥ. Nur in geschlossener und betonter Silbe kann beides stehen, meist ohne Bedeutungsunterschied. Gesprochen wird dieses h, wie auch auslautendes Aleph (’), nicht; es ist nur Anzeige einer vokalischen Endung. Der Wegfall vieler e im Neuhebräischen ist hier nicht maßgeblich. Wie früh im pluralischen Possessivsuffix -a(j)w das j verstummte, braucht hier nicht bestimmt zu werden; da es geschrieben wird, geben wir es wieder.
Zitierkonventionen und Transkriptionsregeln
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Der Buchstabe śin, in unpunktierter Schreibweise vom šin nicht unterschieden, wird nach lexikographischer Konvention diesem vorgeordnet, auch im Wortinneren. Das ergibt gelegentlich scheinbare Ungenauigkeiten in der alphabetischen Anordnung.¹⁴ Zum Aufsuchen der Wörter in Glossaren (auch dem hier gegebenen) und in Lexika ist wichtig, dass die Buchstaben j und w da, wo sie Vokale wiedergeben (hier geschrieben î und û), optional sind und fehlen können; es ist also das betr. Wort mit wie ohne diese Buchstaben zu suchen.¹⁵ Die Kürzel für rabbinische Texte sind diejenigen der RGG(4), wobei lediglich, nach eben gegebener Regel, kein v gesetzt wird für ב, sondern stets b, und kein kh für כ, sondern stets k, und y wird vermieden zugunsten von j. Für biblische Namen gilt: Solche, die sich in griechischen Texten finden, behalten ihre fürs Griechische übliche Schreibweise. Das ergibt einen Unterschied zwischen Josef (AT) und Joseph (NT), wie man auch Jakob (AT) und Jakobus (NT) unterscheidet. Im Syrischen gelten andere Regeln: Die Setzung von Vokalbuchstaben ist dort so regelmäßig, dass eine Angabe nicht nötig ist; wohl aber ist es die Unterscheidung zwischen a und ā (westsyrisch: o). Geschriebene, aber nicht gesprochene Buchstaben werden eingeklammert wiedergegeben.
Regeln fürs Deutsche Was „inklusive“ Ausdrucksweise anbetrifft, so werden Anachronismen vom Typ „Pharisäerinnen und Pharisäer“ vermieden und Geschlechterdifferenzierung nur da geboten, wo es sachlich naheliegt. Gerade in der Juristensprache (die keine Juristinnen- und Juristensprache zu werden braucht) gilt: Grammatisch ist für Personen das Masculinum erforderlich, z. B. in „der Käufer“, „der Eigentümer“ usw. (sog. generisches Maskulinum).¹⁶ Wo sich die Gelegenheit bietet, „die Person“ zu sagen, ist auch das Femininum inklusiv.
Anwendungsbeispiel: Das Wort mîlah („Beschneidung)“ löst sich auf in m – j – l – h, also den 13., 10., 12. und 5. Buchstaben dieser Tabelle. Hingegen millah („Wort“) ergäbe m – l – h, also nur den 13., 12. und 5. Buchstaben. Für die Benutzung des hebr. bzw. aram.-dt. Handwörterbuchs von Dalman ist zudem wichtig, dass er Vokalbuchstaben nur da für die alphabetische Einordnung berücksichtigt, wo sie lange Vokale wiedergeben; das ist bei ihm eine (in anderen Wörterbüchern nicht erhältliche) Angabe zur antiken Aussprache, so wie sie nach den Wortbildungsregeln die korrekteste gewesen wäre. Bei Fremdwörtern aus dem Griechischen, deren Vokalisierung nicht sicher erschließbar ist, werden Vokalbuchstaben bei ihm, anders als bei Jastrow und auch hier im Glossar, gar nicht berücksichtigt. Das in # 92 erwähnte qîsûma’ (gr. kēnsōma) z. B., bei ihm qissûma’ geschrieben, ist eingeordnet als q-s-m-’ (S. 385a). Das Latein hatte die Regel: Wo „Söhne“ gesagt wird, sind alle Kinder gemeint (Julius Paulus D. 50,16,84); zahlreiche weitere Beispiele für diese Regel s. Oxf. Handbook 435. So ist es ja schon in der Bibel. Die Vulgata sagt stets filii, obwohl ja liberi auch möglich gewesen wäre (wenn auch weniger üblich). Schon Luther aber führte ein: „Kinder Israel“, mit dem Hebramus allerdings, den Genitiv unbezeichnet zu
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Es gelten die Abkürzungen von Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl. – hier RGG(4) genannt –, mit einer Ausnahme: Der Prophet Hesekiel (romanische Schreibweise: Ezechiel) erhält als Kürzel nicht „Ez“, sondern „Hes“.¹⁷ Alle biblischen oder sonstigen Abkürzungen, auch in den Zitaten, sind stillschweigend vereinheitlicht. Ferner wird, selbst in Zitaten, die das nicht hatten, stets ein graphischer Unterschied gemacht zwischen HERR (Ersatzwort für JHWH) und „(unser) Herr“ als Christustitel. Der HERR gebot durch Mose (# 18); der „Herr“ gab ein Testament (# 301).
lassen; man müsste sagen: „Kinder Israels“. Die neueren Bibeln, die luthersche eingeschlossen, sagen nunmehr „Israeliten“. Eine Verwechslung Hes-Hos(ea) wäre weniger gravierend als eine Verwechslung Ez-Ex(odus).
Abkürzungsverzeichnis Allgemeine und literarische Abkürzungen Es gilt das Abkürzungsverzeichnis von Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Bd. 8, 2005, S. XVII-LXX, separat veröffentlicht als Abkürzungen Theologie und Religionswissenschaft nach RGG(4), 2005, mit wenigen Ausnahmen (im Folgenden notiert). Zu Abkürzungen jüdischer und römischer Rechtstexte im Besonderen s. o. B 3.3 (jüdisch) und B 3.5 (römisch). Namen kanonischer Bibelbücher (nach dem weiteren Kanon der Vulgata) werden ohne Kursivierung und ohne Punkt genannt, z. B. „1Makk 1,1“; aber „3Makk. 1,1“. Die Abkürzung „1Makk.“ (mit Punkt) steht für „das 1. Makkabäerbuch“. AA af. arg. b. Bar. BIS c. (bei Zitaten aus Thomas v. Aquin, Summa theologica) can. CIC CIIP Clem.Al. d.J. Danby EDRL EG EJ
Akademie-Ausgabe (der Werke Immanuel Kants) Af‘el (Kausativstamm aramäischer Verben) ich argumentiere aufgrund von ben (bän, Sohn des…) Baraita (d. h. überliefert als aus der Zeit der Mischna stammend) Biblical Interpretation Series corpus articuli ¹
canon (des CIC oder bei Konzilsbeschlüssen) Codex Iuris Canonici ² (ohne Zusatz: die letztgültige Fassung von 1983) Corpus Inscriptionum Iudaeae/Palaestinae (s. Lit.-verz., 1.5: Cotton/ Eck) Clemens von Alexandrien das Jahr (nach Christui Geburt), des Jahres usw. s. o. B 3.6.1: Mischna Encyclopedic Dictionary of Roman Law (hg. A. Berger, 1953) Evangelisches Gesangbuch (hg. Evangelische Kirche in Deutschland, 1996 u. ö.) Encyclopaedia Judaica (meint, wo nicht anders angegeben, deren englische Fassung in 1. Aufl., 16 Bde., 1971 – 1972)³
Nur dort und in den mit ad 1 usw. nummerierten Abschnitten steht des Thomas eigene Meinung. So mit RGG und auch mit Creifelds, Rwb. In kanonistischer Literatur hingegen dient CIC für das einstige Corpus Iuris Canonici und CdIC für den (weit kürzeren, hier allein konsultierten) Codex, 1918 erstmals erlassen und 1983 in Überarbeitung erschienen. Wo die 1934 nach dem Buchstaben L abgebrochene deutsche Fassung dieser Enzyklopädie gemeint ist, wird der Titel ausgeschrieben. https://doi.org/10.1515/9783110658347-021
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Abkürzungsverzeichnis
EJ(2) EJIL Ep. EpArist. EvThom. Falk grds. Hes H/L, Documents s Hif. Hitp. HRG i. d. F. v. i. d. R. i. e.S. i.S.v. i.V.m. i.w.S. ILR Itp. JAJ JAJ.S JGRCJ JJP JJP.S JLA JLawRel. JLA.S K/K/L, Privatrecht Lfg. LHW LSJ LKS MJSt m.Änd. m.n.e.
dass., 2. Aufl., 22 Bde., 2007 Early Judaism and Its Literature Epistola Epistola Aristaei ad Philocratem, sog. Aristeasbrief (Ps.-Aristaeus) Thomasevangelium (Text kopt./dt. auch bei Aland, Synopsis 519 – 546) Falk, Introduction (s. Literaturverzeichnis, 3.1.1) grundsätzlich Hesekiel (nicht Ez, wie in RGG) Horsley/Llewelyn, New Documents Illustrating Early Christianity Hif‘il (Kausativstamm hebräischer Verben) Hitpa‘el (Reflexivstamm hebräischer Verben) Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte (s. Literaturverzeichnis, 1.2.4) in der Fassung vom in der Regel im engeren (bzw. im eigentlichen) Sinne im Sinne von in Verbindung mit im weiteren Sinne Israel Law Review Itpa‘el bzw. Itpa‘al (Passivstamm aramäischer Verben) Journal of Ancient Judaism Journal of Ancient Judaism. Supplements Journal of Greco-Roman Christianity and Judaism The Journal of Juristic Papyrology The Journal of Juristic Papyrology, Supplements The Jewish Law Annual The Journal of Law and Religion The Jewish Law Annual. Supplements Kaser/Knütel/Lohsse, Römisches Privatrecht (Lit.-verz. 5.2) Lieferung The Legal History Review Liddell/Scott/Jones, Greek-English Lexicon (Lit.-verz., 1.2.2) Leitsatzkartei Deutsches Recht (beck-online)⁴ Münsteraner Judaistische Studien mit Änderungen (bei rechtlichen Normen, die nach ihrem Erlass geändert wurden) mehr nicht erschienen
Wird zitiert nach Jahr und laufender Nummer.
Abkürzungsverzeichnis
Mur. n. NomM NovTest. NTAK Or. Oxf. Handbook P. Pa. Pi. pr. Rdz. R. r reg. RG RGG(3) RGG(4) S sc. s.c. s.v. s.vv. SPhA STDJ Teils.
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Texte aus dem Wadi Muraba‘at (1951 ff geborgen), hier auch als „P. Mur.“ zitiert⁵ nota (kleiner Gedrucktes in barocken Lehrbüchern) Nomos Mōsaïkos (Lit.-verz., 5.5) Novum Testamentum. An International Quarterly, 1951 ff Neues Testament und antike Kultur (Lit.-verz., 5.2) Oratio (Lit.-verz., 5.2) Papyrus (gefolgt von Siglum und Nr. nach der Duke-Datenbank)⁶ Pa‘el (Intensivstamm aramäischer Verben) Pi‘el (Intensivstamm hebräischer Verben) principium (Null-Abschnitt eines Gesetzestextes der Digesten, vor lex 1) Randzahl (bei juristischen Texten) Rabbi recto (Vorderseite eines Blattes) regierte Rechtsgeschichte. Legal History. Zeitschrift des Max-Planck-Instituts für Rechtsgeschichte Frankfurt (M.) Die Religion in Geschichte und Gegenwart, 3. Aufl., hg. K. GALLING (u. a.), 7 Bde., 1957 – 1965 Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., hg. H. D. BETZ (u. a.), 9 Bde., 1998 – 2005 Sondergut (Synoptikerstelle ohne Parallele bei den anderen Synoptikern) scilicet („versteht sich“, für etwas unausgesprochen Vorausgesetztes) senatus consultum (Beschluss des römischen Senats) sub voce ⁷ sub vocibus Studia Philonica Annual Studies on the Texts of the Desert of Judah Teilsammlung (bei Sammeleditionen; deren Titel stammt idR. von den Herausgebern)
Ein Teil sind keine Papyri. Dort sind in der alphabetischen Übersicht die Papyri aus BGU (Berliner Griechische Urkunden), die aus dem CPR (Corpus Papyrorum Raineri) und diejenigen aus dem Sb (Sammelbuch [Preisigke]) ohne das „P.“ angegeben. – Hingegen bezieht sich P (ohne Punkt, gefolgt nur von einer Nr.) auf die Liste der ntl. Papyri, abgedruckt z. B. im NT Graece von Nestle/Aland im Anhang 1. Diese Abkürzung gilt äquivalent zu Anführungszeichen; letztere bleiben dann reserviert für das anschließend Zitierte. Auch Fettdruck gilt in solchen Kontexten äquivalent zu Anführungszeichen; so bleibt der metasprachliche Gebrauch eines Ausdrucks unterschieden vom Zitieren aus vorhandener Literatur.
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Abkürzungsverzeichnis
ThLL tit. TLG u.d.T. v v.J. x (vor Papyrusnummer) WV ZAJ
Thesaurus Linguae Latinae, 1964 ff titulo „im Titel“, „unter der Überschrift“ Thesaurus Linguae Graecae (1972 begründete Datenbank der University of California) unter dem Titel verso (Rückseite eines Blattes) vom Jahr (nach Christus) Papyrus unbekannter Herkunft Weimarer Verfassung (Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. 8. 1919) Zeitschrift für Antikes Judentum
Sonstige Zeichen (…)
Auslassung gegenüber dem Original. Auch die Auflösung einer Abkürzung wird in runden Klammern gegeben sowie bei Zitaten nichtganzer Sätze die entsprechende Auswechslung von Klein- und Großbuchstabe. […] Zusatz des Zitierenden bzw. des Bearbeiters ]…[ erhalten gebliebener Teil aus einem fragmentierten Schriftstück; die Länge des ringsum Verlorenen ist unbekannt
Zusatz eines versehentlich fehlenden Textteils < kommt/kam aus, ist zitiert aus > geht zu, wurde/wird zu, wird zitiert in * (vor einer Vokabel) postuliertes, nicht belegtes Wort/nicht belegte Wortform.
Abkürzungen für aktuelle deutsche Gesetzestexte und die diesbezügliche Literatur Sie sind so zahlreich, dass ihre Auflösung in einem förmlichen Literaturverzeichnis viele, hier wenig nützliche Seiten füllen würde. Konsultiert wird sie von den Fachleuten über https://www.bing.com/search?q=beck%20online%20datenbank&FORM=AFWFCO&PC=AWFD
oder mit Suchmaschine schlicht über „Beck online“. Eine Angabe wie „MüKoBGB, 8. Aufl. 2019, BGB § 488 Rdz. 1“ meint somit: Klaus Peter BERGER in: Münchener Kommentar zum BGB, Bd. 4: Schuldrecht, besonderer Teil I, 8. Aufl. 2019 [zitiert nach § des BGB und Randzahl. Zugriff über Beck online, mit Datum].
Abkürzungsverzeichnis
Autorensiglen Folgende Mitautor/-innen werden mit Abkürzungen genannt: D. F. F. L. H. K. J.-J. A. J. C. de V. J. M. M. A. M. M. M. P. M. Sch. S. B.-L. U. K. V. S.
Prof. Denis Feissel Pfr. Dr. phil. Dr. theol. Frieder Lötzsch Prof. Dr. jur. Hans Kiefner † Prof. Dr. phil. Jean-Jacques Aubert Prof. Dr. theol. J. Cornelis de Vos Prof. Dr. phil. Dr. theol. Johann Maier † Prof. Dr. jur. Martin Avenarius Prof. Dr. jur. Michael Memmer Prof. Dr. jur. Martin Pennitz Prof. Dr. jur. Martin Schermaier Prof. Dr. jur. Susanne Benöhr-Laqueur Prof. Dr. theol. Ulrich Kellermann Prof. Dr. theol. Volker Stolle
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Literaturverzeichnis Das Folgende ist keine Bibliographie,¹ sondern nur ein Verzeichnis der in diesem Werk am häufigsten zitierten Literatur, thematisch geordnet. Nur hier und ggf. später im Fließtext werden Vornamen ausgeschrieben. Außer wissenschaftlicher Literatur sind, bes. auf juristischer Seite, auch Lehrbücher für Nichtfachleute gelegentlich einbezogen. Zu juristischen Detailauskünften, die inzwischen aus dem Internet bezogen werden, siehe das vorstehende Abkürzungsverzeichnis (Ende). Eine Bibliographie zum jüdischen Recht gab oben B 3. Andere Bibliographien zu bestimmten Themen stehen einigen Beiträgen der folgenden Bände voran und können sich mit dem hier gegebenen Verzeichnis überschneiden. Sonst aber werden Wiederholungen des hier Gesagten vermieden durch bloßes Nennen von Kurztiteln. Ein Gesamtregister aller Autorennamen im Schlussband wird das Auffinden der zitierten Literatur erleichtern. Dort werden die hier und auch in den Folgenbänden in KAPITÄLCHEN genannten Namen in alphabetischer Folge erscheinen. Kursive dient für Buch- und Zeitschriftentitel, im Unterschied zu Reihentiteln (in Klammern genannt). Ausnahmen sind konventioneller Natur, etwa CA (für Confessio Augustana) oder BGB (für Bürgerliches Gesetzbuch). Anführungszeichen dienen zur Kennzeichnung von Aufsatz- oder Kapitelüberschriften. Untertitel für Bücher und Aufsätze wie auch Reihentitel sind nur bei entsprechendem Interesse genannt. Teile von Aufsätzen können nach Zwischenüberschriften wie eigene Aufsätze zitiert werden. Bei mehrfach erschienenen Arbeiten wird nach Möglichkeit die späteste Fassung genannt mit Hinweis auf das Erscheinungsdatum der frühesten. Eine Angabe wie „(1980), 1990 (2000)“ meint also: Erstauflage 1980, überarbeitet 1990, nachgedruckt mit gleicher Seitenzahl 2000. Auflagenzählungen, die unterschiedlichen Prinzipien folgen können (Neubearbeitung oder nur Neudruck?) entfallen, außer wo sie zur Eindeutigkeit nötig sind. Bei Zeitschriften, die mehrfach mit Nr. 1 begonnen haben, entscheidet, sofern die Angabe „NF“ (Neue Folge) nicht eindeutig ist, das Jahr über die Identität des Bandes. Bei Reihentiteln steht der Zusatz .B für „Beihefte“, .S für „Supplements“ (o. ä.). Jahreszahlen werden bei Zeitschriften stets angegeben, bei Lexika nur optional (und in Klammern). Auf Artikel in den großen Nachschlagewerken (RGG, TRE, ThWNT, EStL, HWP u. a.) wird nicht eigens hingewiesen; sie gelten für allgemein zugänglich. Auch Klassiker der Antike und der Neuzeit sind nicht mit Nachweisen einzelner Ausgaben aufgeführt, außer wo es nötig war, auf eine bestimmte Ausgabe Bezug zu nehmen (hier 1.3). Die
Als solche vgl. Antikes und römisches Recht, Mediävistik, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, Regensburger Verbundklassifikation PV (3082), http://titan.bsz-bw.de/bibscout/P/PV/. Eine Auswahl findet sich auch bei Koch, Regelung 252– 305. https://doi.org/10.1515/9783110658347-022
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Literaturverzeichnis
Vorträge Epiktets, von Arrian aufgezeichnet und manchmal auch in dessen Namen zitiert, werden hier als „Epiktet, Diss(ertationes)“ geführt. Die Namen griechischsprachiger Autoren werden vorzugsweise in latinisierter Schreibweise geboten, wie sie auch in den Katalogen öffentlicher Bibliotheken üblich sind. Für Quellentexte sei ergänzend hingewiesen auf die Literaturverzeichnisse bei Siegert, Ev. des Johannes 811– 814 und EHJL 93 – 96.
1 Allgemeines, Bibeltexte, Hilfsmittel In enger Auswahl. Hier nicht Nachgewiesenes ist benutzt in den bei Siegert, EHJL 93 – 101 verzeichneten Ausgaben.
1.1 Bibeltexte, -übersetzungen und -konkordanzen 1.1.1 Gesamtbibeln angegeben sind nur die hier benutzten, für ihre jeweilige Wirkungsgeschichte wichtigsten Ausgaben (auch online einsehbar) (Armenische Bibel): Astowacašunč’ matean hin ew nor ktakaranac’ (Inspirierte Bibliothek [= Bibel] Alten und Neuen Testaments), hg. Y. ZŌHRAPEAN, Venedig 1805 (Delmar, N. Y., 1984) Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift. Die Bibel, Gesamtausgabe, 1980 (Koptische Bibel s. Neues Testament) (Lutherbibel) D(octor) Martin Luther: Die gantze Heilige schrifft Deudsch, Wittenberg 1545. Letzte zu Luthers Lebzeiten erschienene Ausgabe, hg. Hans VOLZ (u. a.), 3 Bde., 1972² (Vetus Latina) Bibliorum sacrorum Latinae versiones antiquae seu Vetus Italica, 3 Bde., hg. Paul SABATIER, 1743 (Vulgata) Bibliorum sacrorum iuxta Vulgatam Clementinam nova editio, ed. A. GRAMATICA, 1959 (u. ö.) (Zürcher Bibel) Die Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments. Zürcher Bibel (1949), 1951; Zürcher Bibel 2007, 4. Aufl. 2013
1.1.2 Altes Testament, Septuaginta Außer den oben in B 3.1 notierten Urtextausgaben und Targumim siehe (Zunz-Übersetzung) Tôrah Nebî’îm Ketûbîm. Die Heilige Schrift hebräisch-deutsch, übers. v. Leopold ZUNZ (1835 u. ö.), 1997
Zitiert wird hieraus in modernisierter Rechtschreibung. Für modernere Fassungen ist zusätzlich das erfasst, was die Calver Bibelkonkordanz (s.u. 1.1.4) verzeichnet.
Literaturverzeichnis
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Zum Psalter im Besonderen: La Vetus Latina Hispana, hg. Teofilo AYUSO MARAZUELA, Bd. 5: El Salterio, Fasz. 2 – 3, 1962³ Septuaginta, id est Vetus Testamentum Graece, hg. Alfred RAHLFS, 2 Bde. (1935 und Nachdrucke, auch in 1 Band) Septuaginta deutsch, hg. Wolfgang KRAUS/Martin KARRER, 2009 (Septuaginta deutsch.E) Martin KARRER/Wolfgang KRAUS (Hg.): Septuaginta deutsch. Erläuterungen und Kommentare, 2 Bde. (durchpaginiert) 2011 SIEGERT, Folker: Zwischen Hebräischer Bibel und Altem Testament. Eine Einführung in die Septuaginta (MJSt 9), 2001; dazu ders.: Register zur „Einführung in die Septuaginta“. Mit einem Kapitel zur Wirkungsgeschichte (MJSt 13), 2003 (mit vorigem durchpaginiert; zit.: Siegert, Septuaginta)
1.1.3 Neues Testament Novum Testamentum Graece, begründet von Eberhard Nestle und Erwin Nestle, hg. B. u. K. Aland, 27. Aufl. 1993 (hat S. 748 – 769 einen Anhang: „Editionum differentiae“); dito, 28. Aufl., hg. H. Strutwolf, 2012 (ohne diesen Anhang) Novum Testamentum Graece et Latine, hg. Eberhard Nestle/Erwin Nestle, 22. Aufl. 1964⁴ Synopsis quattuor evangeliorum, ed. Kurt Aland (1963), 15. Aufl. 1996 (Castellio) Novum Testamentum ex Sebastiani Castellionis interpretatione (1551 u. ö.), Leipzig 1735 (Delitzsch) Sifrê ha-berît ha-ḥadašah (übers. Franz Delitzsch, 12. Aufl.), 1901 (u. ö.) HOFFMANN, Paul/HEIL, Christoph (Hg.): Die Spruchquelle Q. Studienausgabe griechisch und deutsch (2002), 3. Aufl. 2009 (S. 145 – 168: Konkordanz des gr. Wortbestandes) KLOPPENBORG, John S.: Q Parallels. Synopsis, Critical Notes & Concordance, 1988 (Koptische Bibel) The Coptic Version of the New Testament in the Southern Dialect (hg. G. HORNER), 4 Bde., 1920 ROTH, Dieter: The Text of Marcion’s Gospel (NT Tools, Studies and Documents, 49), 2015 [S. 412 – 35: Liste der für Markion bezeugten Verse] (Salkinson/Ginsburg) Ha-berît ha-ḥadašah (übers. J. Salkinson/D. Ginsburg, 1885), 1886 (u. ö.) SIEGERT, Folker/Bergler, Siegfried: Synopse der vorkanonischen Jesusüberlieferungen (SIJD 8/1), 2010
1.1.4 Konkordanzen (anon.) Große Konkordanz zur Lutherbibel, 3. Aufl., Stuttgart: Calwer Verlag 1993 (zit.: Calwer Bibelkonkordanz) HATCH, Edwin/Redpath, Henry A. (Hg.): A Concordance to the Septuagint and the Other Greek Versions of the Old Testament, 3 Bde.,⁵ 1897.1897.1906 (Nachdruck in 2 Bden., 1975; Nachdruck in 1 Bd., 1998 zus. mit folgendem:)
Bietet fünf lat. Fassungen neben der Septuaginta. Sp. 3 gibt das Psalterium Romanum wieder, das bis heute Teil der Vulgata ist; Sp. 5 ist die von Hieronymus nach dem Hebräischen angefertigte Übersetzung (auch in MPL 29, 119a-398b), die aber nicht Teil der Vulgata wurde. Oder Folgeauflagen, hier auch benutzt für die Varianten der Vulgata-Überlieferung. Auch die Konkordanz von Schmoller (1.1.4) weist auf solche hin. In Bd. III, 163 – 196 sind die gr.-hebr. Entsprechungen aus dem damals gerade bekannt gewordenen hebr. Sirach-Text nachgetragen.
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Literaturverzeichnis
MURAOKA, Takamitsu: Hebrew/Aramaic Index to the Septuagint, Keyed to the Hatch-Redpath Concordance, 1998 SCHMOLLER, Alfred: Concordantiae Novi Testamenti Graeci. Handkonkordanz zum Griechischen Neuen Testament (1938), 15. Aufl. 1973 (und Nachdrucke)⁶
1.2 Wörterbücher, Grammatiken, Glossare 1.2.1 Hebräisch und Aramäisch BACHER, Wilhelm: Die exegetische Terminologie der jüdischen Traditionsliteratur, 2 Bde., 1899.1905 (beide: 1965) BEYER, Klaus: „Wörterbuch“, in: ders., Die aram. Texte (2.1) I 499 – 766; II 339 – 528⁷ DALMAN, Gustaf: Grammatik des jüdisch-palästinischen Aramäisch (1905), 1960 – : Aramäisch-neuhebräisches Handwörterbuch zu Targum, Talmud und Midrasch, 2. Aufl. 1922 (1938 u. ö.)⁸ – : Die Worte Jesu, Bd. 1: Einleitung und wichtige Begriffe (1898), 1930 (1965) GESENIUS, Wilhelm: Hebräisches und aramäisches Handwörterbuch über das Alte Testament (1915), 1962 (u. ö.) JASTROW, Marcus: A Dictionary of the Targumim, the Talmud Babli and Yerushalmi, and the Midrashic Literature, 2 Bde., 1903 (1950 u. ö.) SOKOLOFF, Michael: A Dictionary of Jewish Palestinian Aramaic of the Byzantine Period, 1990 (1992); 2. Aufl. 2002 (Addenda: 821 – 847) – : A Dictionary of Judean Aramaic, 2003⁹ SPERBER, Daniel: A Dictionary of Greek and Latin Legal Terms in Rabbinic Literature, 1984
1.2.2 Griechisch BAUER, Walter/ALAND, Kurt/ALAND, Barbara: Griechisch-deutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der frühchristlichen Literatur, 6. Aufl. 1988 (zit.: Bauer/Aland, Wb.) BLASS, Friedrich/Debrunner, Albert: Grammatik des neutestamentlichen Griechisch, bearb. v. Friedrich Rehkopf, 15. Aufl. 1979 (zit: B/D/R, Grammatik) CHAMBERLAIN, Gary Alan: The Greek of the Septuagint. A Supplemental Lexicon, 2011 DODD, C(harles) H(arold): „The religious vocabulary of Hellenistic Judaism“, in: ders.: The Bible and the Greeks, 1935 (1954), 3 – 95 (zit.: Dodd, „Vocabulary“) LAMPE, G(eoffrey) W(illiam) H(ugo): A Patristic Greek Lexicon, 1961 (1972 u. ö.) Liddell, Henry George/Scott, Robert/Jones, Henry Stuart: A Greek-English Lexicon, new ed., 1940 (u. ö.); Revised Supplement, 1996 (beides auch online; zit.: LSJ) MASON, Hugh J.: Greek Terms for Roman Institutions. A Lexicon and Analysis (American Studies in Papyrology, 13), 1974 (19 – 100: gr. Alphabet; 175 – 207: lat. Alphabet)¹⁰ (zit.: Mason, Terms) MOULTON, James Hope/MILLIGAN, George: The Vocabulary of the New Testament Illustrated Trom the Papyri and Other Non-Literary Sources, 1930 (u. ö.) (zit.: Moulton/M., Vocab.)
Bietet jeweils auch die lat. Äquivalente der Vulgata. Mit Transkription und dt. Index, bietet auch die Namen. „Neuhebräisch“ meint hier das Hebräisch der Rabbinen. Die alphabetische Ordnung erfolgt unter Ignorierung von j und w, wo sie Kurzvokale bezeichnen. Fremdwörter werden überhaupt nur nach Konsonanten eingeordnet. Ohne Vokalangaben, nur zu den Inschriften, den judäischen Papyri und zur Fastenrolle. Die dortigen Angaben verweisen zurück auf den griechischen Teil; dort stehen die Belege. Die Abkürzungen sind die von Liddell/Scott/Jones.
Literaturverzeichnis
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PAPE, W(ilhelm): Griechisch-deutsches Handwörterbuch, 3. Aufl., bearb. v. M(ax) Sengebusch, 3 Bde., 2. Ausgabe, 1888. – dito, Bd. 4: Deutsch-griechisches Handwörterbuch, 3. Aufl., 3. Abdruck, 1894 – dito, Bd. 3: Wörterbuch der griechischen Eigennamen, 3. Aufl., neu bearb. v. Gustav Eduard Benseler, 2 Bde. (in 1), 4. Abdruck 1911 PREISIGKE, Friedrich: Wörterbuch der griechischen Papyrusurkunden, 3 Bde., hg. E. Kießling 1924 – 1931 (zit. Preisigke, Wörterbuch I-II nach Alphabet, III nach Seite und Spalte)¹¹ – dito, Bd. 4 [Nachträge, A-Z] bearb. v. E. Kießling, 1944 – dito, Supplement I (1940 – 1966), 1971; II (1967 – 1976), 1991; III (1977 – 1988), 2000 (bearb. W. Rübsam; A. Jördens) SPICQ, Ceslas: Lexique théologique du Nouveau Testament, 1991¹² (engl. 1994) (STEPHANUS) Thesaurus Graecae linguae ab Henrico Stephano [Henri Estienne] constructus (1572), ed. C. B. Hase (1831 – 1865), 1954 THAYER, Joseph Henry (Hg.): Greek-English Lexicon of the New Testament, being Grimm’s Wilke’s Clavis Novi Testamenti, translated, revised and enlarged (1885), 1889 (1963, 1974) (zit. Thayer)¹³
1.2.3 Lateinisch BLAISE, Albert: Dictionnaire latin-français des auteurs chrétiens, 1954 (u. ö.)¹⁴ GEORGES, Karl Ernst: Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch, 2 Bde., 6. Aufl. 1869; 8. Aufl. 1912 (u. ö.) GRADENWITZ, Otto (u. a.): Vocabularium Iurisprudentiae Romanae, 5 Bde. in 7, 1909 – 1939 HEUMANN, Hermann Gottlieb: Handlexikon zu den Quellen des römischen Rechts (1851 u. ö.), 11. Aufl., hg. E. Seckel 1907 (1971) (zit.: Heumann) LEWIS, Charlton T./SHORT, Charles: A Latin Dictionary, 1879 (u. ö., 1958) MAGIE, David: De Romanorum iuris publici sacrique vocabulis solemnibus in graecum sermonem conversis, 1905 (1973) (zit.: Magie, De vocabulis) Thesaurus Linguae Latinae, 1964 ff (noch unvollständig)
1.2.4 Deutsch CREIFELDS, Carl/WEBER, Klaus (u. a.): Rechtswörterbuch, 22. Aufl. 2017 bzw. 23. Aufl. 2019 (zit. Creifelds, Rwb.)¹⁵ (auch online) ERLER, Adalbert/KAUFMANN, Ekkehard (u. a., Hg.): Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, 5 Bde., 1971 – 1998; 2. Aufl., hg. A. CORDES (u. a.), 2008 ff (noch unvollständig) (zit. HRG bzw. HRG2)
Dieser Band ist betitelt: Besondere Wörterliste und umfasst insbes. die Termini der Amtssprache. Hiervon S. 1– 32: „Lateinische Wörter“. Müsste heißen: Lexique supplémentaire; es handelt sich die alphabetisch geordnete Neuausgabe von desselben Autors Notes de lexicographie néo-testamentaire, 3 Bde. (OBO 22/1– 3), 1978 – 1982, eine wichtige Ergänzung zum ThWNT. Es handelt sich um die engl. Bearbeitung von C. L. W. GRIMM: Lexicon Graeco-Latinum in libros Novi Testamenti, 3. Aufl. 1888, die ihrerseits beruht auf der Clavis Novi Testamenti philologica von Ch. G. WILKE. Erfasst den Wortschatz bis zum 8. Jh. – Nachträge: S. 867– 913. Zitierweise: nach Stichworten, unter Auslassung von Klammerbemerkungen und Auslassung bzw. Vereinfachung von Querverweisen.
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Literaturverzeichnis
1.2.5 Französisch GUINCHARD, Serge: Termes juridiques, 18. Aufl. 2011
1.3 Klassisch-antike Texte 1.3.1 Literarisches Antike Klassiker sind hier nur angegeben, sofern auf bestimmte Ausgaben Bezug genommen wird. Alle Texte, die mit Judentum zu tun haben, stehen gr. und engl. mit Kommentar auch bei Stern, GLAJJ (s.u. 2.3.2). LAUSBERG, Heinrich: Handbuch der literarischen Rhetorik, 2 Bde. (durchpag.), 1960 (= 1973, dort um S. 959 – 983 vermehrt) Aelian: Historical Miscellany (Varia Historia), ed. and transl. N. G. WILSON (LCL), 1997 Cicero: Atticus-Briefe (Epistulae ad Atticum, lat.-dt.), hg. H. KASTEN (Tusculum), 1959 (1976) (zit: Cicero, Att.)¹⁶ – : De natura deorum. Academica (lat.-engl.), hg. H. RACKHAM (LCL), 1933 (u. ö.) (zit: Cicero, ND bzw. Acad.) – : Gespräche in Tusculum (Tusculanae disputationes, lat.-dt.), hg. O. GIGON (Tusculum), 2. Aufl. 1970 (zit: Cicero, Tusc.) Diodore de Sicile: Biblithèque historique, Bd. 1: Introduction générale, livre I, (gr.-frz.) hg. P. BERTRAC/Y. VERNIÈRE (Budé), 1993 (GELLIUS) The Attic Nights of Aulus Gellius (lat.-engl.), 3 Bde, hg. J. Rolfe (LCL), 1927 (u. ö.) GIANNANTONI, Gebriele (Hg.): Socraticorum reliquiae, 4 Bde., 1983 – 1985¹⁷ PLUTARCH: Große Griechen und Römer (Vitae parallelae, Teils., dt.), übers. Konrat ZIEGLER (1954), 1970 (zit.: Plutarch, Theseus [usw.] Übers. Ziegler, mit Kapitel-Nr.) PLUTARCH, Q.Rom. = Plutarch, Quaestiones Romanae ¹⁸ (= Plutarch, Moralia 263 D-291 C; zit. mit Kapitel-Nr.) PLUTARQUE: Œuvres morales (gr.-frz.), Bd. 2, hg. J. DEFRADAS/J. HANI/R. KLAERR (Budé), 1985 (enthaltend Consolatio ad Apollonium, De tuenda sanitate praecepta, Coniugalia praecepta, Septem Sapientium convivium, De Superstitione, zit: Plutarch, Cons. Ap., San. praec., CP, SSC, De Sup.)
1.3.2 Epigraphik und Papyrologie Online-Datenbank der gr. Inschriften: PHI Greek Inscriptions.html (Packard Humanities Institute). Online-Datenbank aller griechischen Papyrustexte: die Duke Databank of Documentary Papyri (DDbDP), erreichbar über: papyri.info.html, deren Siglen hier
Zit. nach den dort eingeklammerten, traditionellen Briefnummern. Nummernkonkordanz mit den früheren Ausgaben: S. 1209 – 1213; Konkordanz mit einer noch neueren, dort aber nicht übernommenen Nummerierung S. 1214– 1216. Dies ist die umfangreichste Sammlung von Logien (Apophthegmen) aus der gesamten Antike. Der Text (nur gr.), ediert mit Apparat, ist nicht frei orthographischen Fehlern. Anderer Titel: Aetia Romana (gr.: Kephalaiōn katagraphē, Rhōmaïka).
Literaturverzeichnis
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übernommen werden, außer dass die „P. Babatha“, die nur teilweise diese Person betreffen, hier „P. Yadin“ heißen, nach ihrem Hauptherausgeber. Hier etwa Vermisstes s. o. A 4.2.3; Hebräisch-Aramäisches B 3.2.1 und 3.3.2. BOFFO, Laura (Hg., Übers., Komm.): Iscrizioni greche e latine per lo studio della Bibbia, 1994 COTTON, Hannah M./DI SEGNI, Leah (u. a., Hg.): Corpus Inscriptionum Iudaeae/Palaestinae, 4 Bde. (in 6, auch als Datenbank), 2000 – 2018 (zit.: CIIP mit Nr.) DITTENBERGER, Wilhelm (Hg.): Orientis Graeci inscriptiones selectae, 2 Bde., 1903.1905 (1960) (zit.: OGIS) – : Sylloge inscriptionum Graecarum, 4 Bde., 3. Aufl. 1921 – 1924 (1960, 1982) (zit.: Dittenberger, Syll.)¹⁹ FREIS, Helmut (Übers., Komm.): Historische Inschriften zur römischen Kaiserzeit von Augustus bis Konstantin (TzF 49), 1984 FREY, Jean-Baptiste (Hg.): Corpus Inscriptionum Iudaicarum, 2 Bde., 1936.1952; Nachdruck: Lifshitz, B. (Hg.): Corpus of Jewish Inscriptions. Jewish Inscriptions from the third century B.C. to the seventh century A.D., Bd. 1, 1975; Bd. 2, 1962 (zit.: CIJ, mit Bd. und Nr.) HORSLEY, G./LLEWELYN, S. R./KEARSLEY R. A. (Hg., sukzessive): New Documents Illustrating Early Christianity, 10 Bde., 1981 – 2012 (zit.: Horsley u. a., Documents, mit Bd., Nr. des Eintrags und Seitenzahlen). ²⁰ Erschienen sind: Bd. 1, 1981; Bd. 2, 1982; Bd. 3, 1983; Bd. 4, 1987; Bd. 5, 1989; Bd. 6, 1992; Bd. 7, 1994; Bd. 8, 1998; Bd. 9, 2002; Bd. 10, 2012 HUNT, A. S./EDGAR, C. C. (Hg., Übers.): Select Papyri, Bd. 1: Non-Literary Papyri, 1932 (u. ö.); Bd. 2: Public Documents (LCL), 1934 (u. ö.) (Monumentum Ancyranum) Res gestae divi Augusti. Das Monumentum Ancyranum (KlT 29/30), 3. Aufl., hg. H. Volkmann, 1969; Res gestae divi Augusti, hg. J. Scheid, 2007 NALDINI, Mario (Hg.): Il Cristianesimo in Egitto (Studi e testi di papirologia, 3), 1968 OLIVER, James Henry (Hg.): Greek Constitutions of Early Roman Emperors From Inscriptions and Papyri, 1989 TCHERIKOVER, Victor A./Fuks, Alexander (Hg.): Corpus Papyrorum Iudaicarum, Bd. 1 (323 – 30 v. Chr.), 1957; Bd. 2 (30 v.– 117 n. Chr.), 1960; Bd. 3 (ab 117 n. Chr.), 1964 ALONSO, José Luis: „Juristic papyrology and Roman law“, in: Oxf. Handbook (5.2) 56 – 69 ARZT-GRABNER, Peter: „Die Stellung des Judentums in neutestamentlicher Zeit anhand der Politeuma-Papyri und anderer Texte“, in: Herzer, Papyrologie und Exegese (s. u.), 127 – 158 ARZT-GRABNER, Peter/KREINECKER, Christina M. (Hg.): Light From the East. Papyrologische Kommentare zum Neuen Testament, 2010 BAUMGARTEN, Albert I./ESHEL, Hanan (u. a., Hg.): Halakha in Light of Epigraphy ( JAS.S 3), 2011 CHESTER, A.: „Jewish inscriptions and Jewish life“, in: Deines, u. a., Alltagskultur (s. u. 6.4.1), 2011, 383 – 441 CORSTEN, Thomas/ÖHLER, Markus/Verheyden, Joseph (Hg.): Epigraphik und Neues Testament (WUNT 365), 2016 DEISSMANN, Adolf: Licht vom Osten. Das Neue Testament und die neu entdeckten Texte der hellenistisch-römischen Welt (1908), 4. Aufl. 1923 (zit.: Deissmann, LvO) ECK, Werner: „Die Leitung und Verwaltung einer prokuratorischen Provinz“, in: ders, Die Verwaltung des römischen Reiches in der hohen Kaiserzeit, Bd. 1, 1995, 327 – 340 – : „Die Inschriften Iudäas im 1. und frühen 2.Jh. n. Chr. als Zeugnisse der römischen Herrschaft“, in: Labahn/Zangenberg, Zwischen den Reichen (6.1) 29 – 50
Zitate aus früheren Auflagen dieses Werkes (etwa bei Moulton/M., Vocabulary) sind hier stillschweigend auf die Letztauflage umgestellt. Bd. 1– 5 sind von Horsley herausgegeben, Bd. 6 – 10 von Llewelyn, Bd. 1– 7 auch von R. A. KEARSLEY, Bd. 10 auch von J. R. HARRISON. Individuelle Autorschaft einzelner Beiträge wird nur bei wörtlichen Zitaten angegeben.
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1.4 Altkirchliche Texte Die Apostolischen Väter, (gr.-dt) hg. J. FISCHER, 1956 Die Apostolischen Väter. Neubearbeitung der Funkschen Ausgabe, hg. K. BIHLMEYER/W. SCHNEEMELCHER, Bd. 1, 1956 (gr. Text)
Er bespricht v. a. BGU-Papyri (Siglum bei ihm: UBeM). Was sie belegen, ist v. a. römisches Recht, wie es in Ägypten gehandhabt wurde.
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1.5 Koran Der Koran, aus d. Arab. übertr. v. Max HENNING, 1960 (u. ö.) POHLMANN, Karl-Friedrich: Die Entstehung des Korans, 2012
2 Alter Orient, Altes Testament, Hellenismus, Kaiserzeit 2.1 Alter Orient BEYER, Klaus (Hg., Komm.): Die aramäischen Texte vom Toten Meer, 1984; dito, Bd. 2, 2004 (zit.: Beyer, Die aram. Texte I. II) DIHLE, Albrecht: Die Goldene Regel. Eine Einführung in die Geschichte der antiken und frühchristlichen Vulgärethik, 1962 GROSS, Andrew D.: Continuity and Innovation in the Aramaic Legal Tradition (SJS.S 128), 2008 KAISER, Otto (Hg.): Texte aus der Umwelt des Alten Testaments, Bd. I: Rechts- und Wirtschaftsurkunden. Historisch-chronologische Texte, 1982 – 85 ROTH, Martha T.: Law Collections from Mesopotamia and Asia Minor, 1995
2.2 Altes Testament ACHENBACH, Reinhard: „Leges sacrae and the sacralization of the Torah“, in: K. KLEBER/G. NEUMANN/S. PAULUS (Hg.): Grenzüberschreitungen. FS Hans Neumann, 2018, 1 – 16 BEHRENDS, Okko (Hg.): Der biblische Gesetzesbegriff. Auf den Spuren seiner Säkularisierung (AAWG.PH 3/278), 2006 BOECKER, Hans- Jochen: Recht und Gesetz im Alten Testament und im Alten Orient, 1976 BRIN, G.: Studies in Biblical Law. From the Hebrew Bible to the Dead Sea Scrolls ( JSOT.S 176) 1994 BUCHHOLZ, Joachim: Die Ältesten Israels im Deuteronomium, 1988 CRÜSEMANN, Frank: Die Tora. Theologie und Sozialgeschichte des alttestamentlichen Gesetzes, 1992 (u. ö.) GRADWOHL, Roland: Bibelauslegungen aus jüdischen Quellen, 4 Bde., 1986 – 1989 HORST, Friedrich: Gottes Recht im Alten Testament. Gesammelte Studien zum Recht im Alten Testament (ThB 12), 1961 LEVINSON, Bernard M.: „,Du sollst nichts hinzufügen und nichts wegnehmen‘ (Dtn 13,1): Rechtsreform und Hermeneutik in der Hebräischen Bibel“, ZThK 103, 2006, 157 – 183 (zit. Levinson, „Nichts hinzufügen…“
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2.3 Geschichte der Antike 2.3.1 Hellenismus und römische Kaiserzeit BLEICKEN, Jochen: Verfassungs- und Sozialgeschichte des Römischen Kaiserreiches, 2 Bde. (UTB 838.839), 1978 (zit.: Bleicken, VSRK) HADAS, Moses: Hellenistische Kultur. Werden und Wirkung (Hellenistic Culture. Fusion and Diffusion, 1959, dt.), übers. E. Schmalzriedt, 1963 (1975)²² HAENSCH, Rudolf/HEINRICHS, Johannes: Herrschen und Verwalten. Der Alltag der römischen Administration in der Hohen Kaiserzeit (Kölner Histor. Abhandlungen, 46) 2007 HAENSCH, Rudolf (u. a.): Recht haben und Recht bekommen im Imperium Romanum ( JJP.S 24), 2016 HARTER-UIBOPUU, Kaja/Kruse, Thomas (Hg.): Sport und Recht in der Antike (Wiener Kolloquien zur Antiken Rechtsgeschichte, 27), 2014
2.3.2 Jüdische Geschichte (auch Religionsgeschichte) ALBERTZ, Rainer: Religionsgeschichte Israels in alttestamentlicher Zeit, Bd. 2 (GAT 8/2, 1992), 1997 ALON, Gedalyahu: Jews, Judaism and the Classical World. Studies in Jewish History (aus d. Hebr.), 1977 BAMMEL, Ernst: Judaica. Kleine Schriften I (WUNT 37), 1986 – : Judaica et Paulina. Kleine Schriften II (WUNT 91), 1997 BARCLAY, John M. G.: Jews in the Mediterranean Diaspora from Alexander to Trajan, 1996 BARTLETT, John R. (Hg.): Jews in the Hellenistic and Roman Cities, 2002 (2012) DAVIES, W(illiam) D(avid)/FINKELSTEIN, Louis (Hg.): The Cambridge History of Judaism, Bd. 2: The Hellenistic Age, 1988 DE VOS, J. Cornelis/SIEGERT, Folker (Hg.): Interesse am Judentum. Die Franz-Delitzsch-Vorlesungen 1989 – 2008 (MJSt 23), 2008 HENGEL, Martin: Judentum und Hellenismus. Studien zu ihrer Begegnung (…) bis zur Mitte des 2.Jh. v. Chr. (WUNT 10), 1969 (1973, 1988) – : Die Zeloten. Untersuchungen zur jüdischen Freiheitsbewegung in der Zeit von Herodes I. bis 70 n. Chr. (1961, 1976), 3. Aufl., hg. R. Deines/C.-J. Thornton (WUNT 283), 2011
Dieser textgleiche, aber anders paginierte Nachdruck, bebildert, aber mit den Anmerkungen erst am Ende, erschien als Bd. 3 der Reihe Kindlers Kulturgeschichte des Abendlandes.
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2.3.3 Rom und Judäa, Rom und die Juden BALTRUSCH, Ernst: Die Juden und das Römische Reich. Geschichte einer konfliktreichen Beziehung, 2002 (2011) COTTON, Hannah M./Eck, Werner: „Roman officials in Judaea and Arabia and civil jurisdiction“, in: Katzoff/Schaps, Law (3.2.3) 23 – 44
S. Hinweis oben 1.3.1. Stellen aus Stern werden nur da angegeben, wo es sich um seinen Kommentar handelt. Dieses Wort meint hier nicht Alphabetisierung, sondern „Grundwissen“.
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3 Jüdisches Recht Vgl. oben B 3. RAKOVER, Nahum: The Multi-Language Bibliography of Jewish Law, 1990
3.1 Einleitendes und Allgemeines 3.1.1 Einleitungen, Übersichten http://www.juedisches-recht.de/lex_ein_staatsrecht.php ARMGARDT, Matthias: „Die Bedeutung des antiken jüdischen Rechts für das römische Recht und die antike Rechtsgeschichte am Beispiel der rabbinischen Konzeption der griechisch-hellenistischen diathēkē als dijathîqî und der donatio mortis causa“, ZSRG.R 137, 2020, 39 – 69 BAKHOS, Carol/Shayegan, M. Rahim (Hg.): The Talmud in Its Iranian Context (TSAJ 135), 2010 BEN-MENAHEM, Hanina: Judicial Deviation in Talmudic Law. Governed by men, not by rules, 1991 BERGER, Michael S.: Rabbinic Authority, 1998 COHEN, Boaz: „Law and ethics in light of the Jewish tradition“ (1959), in: ders., J&RL (s. u. 4.4) 65 – 121 COHN, Marcus: Wörterbuch des jüdischen Rechts, 1980 (Neudruck der im Jüdischen Lexikon (1927 – 1930) erschienenen Beiträge zum jüdischen Recht; zit.: Cohn, Wörterbuch)
Dieses Buch, das römisch-rechtliche Texte in Übersetzung bietet, ersetzt Juster in der Wiedergabe aller römischen Gesetzestexte, die Juden erwähnen; er beginnt aber erst bei Antoninus Pius.
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3.1.2 Aufsätze und Sammelbände BERNSTEIN, M. J./F. García Martínez/J. Kampen (Hg.): Legal Texts and Legal Issues. FS Joseph M. Baumgarten (STDJ 23), 1997 (zit: Bernstein u. a., Legal Texts) DAUBE, David: Studies in Biblical Law, 1947 (1969) – : „Jewish Law in the Hellenistic World“, in: Jackson, Bernard S. (Hg.): Jewish Law in Legal History and the Modern World ( JLA.S 2), 1980, 45 – 60 – : Ancient Jewish Law. Three Inaugural Lectures, 1981 – : Collected Studies in Roman Law, hg. D. Cohen/D. Simon, 2 Bde., 1991 (2002) (durchpaginiert) GILAT, Y. D.: Studies in the Development of the Halakhah, 2. Aufl. 1994 HEZSER, Catherine (Hg.): Rabbinic Law in its Roman and Near Eastern Context (TSAJ 97), 2003 (HIRSCH, Naphtali) Justizrat Dr. Naphtali Hirsch. Eine Auswahl aus seinen Schriften, hg. v. seinen Kindern (Vorw. unterzeichnet: Joseph u. Rebecka Sänger), 1923 (zit.: N. Hirsch, Schriften) JACKSON, Bernard S.: Essays in Jewish and Comparative Legal History, 1975 (zit.: Jackson, Essays Jewish) – : Essays on Halahkah in the New Testament ( Jewish and Christian Perspectives, 16), 2008 (zit.: Jackson, Essays NT) JACOBS, Louis: „Halacha“, TRE 14, 1985, 384 – 388 KELLERMANN, Ulrich: „Jüdisches Recht“, in: NTAK I 258 – 268 KONRADT, Matthias/STEINERT, Ulrike (Hg.): Einheit und Vielfalt des Judentums in hellenistisch-römischer Zeit, 2002
Die Zeichensetzung beim Zitieren aus diesem Werk wird um der Verständlichkeit willen stillschweigend verbessert.
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3.2 Texte aus vorrabbinischer Zeit Hebräische und aramäische Sprachdenkmäler aus vorchristlicher Zeit (6.–1. Jh. v.Chr.) s.o. B 3.2. – Über die Papyri aus der Wüste Juda s. 1.3.2 (Datenbank der gr. Texte).
3.2.1 Papyri aus der Wüste Juda Hierüber s. o. B 4 CHARLESWORTH, James H./COHEN, Naomi C. (u. a., Hg.): Miscellaneous Texts from the Judean Desert (DJD 38), 2000 [einschlägig: S. 3 – 113 Texte aus Ketef Jericho; 117 – 129 aus Wadi Sdeir; 215 – 225 Reste von gr. Census-Listen aus Iudaea bzw. Arabia] COTTON, Hannah/YARDENI, Ada (Hg.): Aramaic, Hebrew and Greek Documentary Texts From Naḥal Ḥever and Other Sites (DJD 27), 1997 [S. 1 – 282 bieten die P. xHev/Se] – „The Rabbis and the documents“, in: Goodman, Jews (s. o. 2.3.3), 167 – 179 CZAJKOWSKI, Kimberley: Localized Law. The Babatha and Salome Komaise Archives (Oxford Studies in Roman Society and Law), 2017 ESLER, Philip F.: Babatha’s Orchard. The Yadin Papyri and an Ancient Jewish Family Tale Retold, 2017 KOFFMAHN, Elisabeth: Die Doppelurkunden aus der Wüste Juda. Recht und Praxis der jüdischen Papyri des 1. und 2. Jh. n. Chr. samt Übertragung der Texte und deutscher Übersetzung (StTDJ 5), 1968 (P. Mur.) Discoveries in the Judean Desert, Bd. 2: Les Grottes de Murabba‘ât, Teilbd. 1: Textes; Teilbd. 2: Planches, hg. P. BENOIT/J. T. MILIK/R. DE VAUX, 1961, Bd. 1, S. 159 – 168 [Liste der P. Mur. auf S. VIII, mit Nr. 17 beginnend] (P. XHev/Se) Discoveries in the Judean Desert, Bd. 27: Aramaic, Hebrew and Greek documentary texts from Naḥal Ḥever and other sites, hg. H. COTTON and A. YARDENI, 1997 (P. Yadin) Judean Desert Studies, 3 Bde.:²⁷ Bd. 1: The Finds from the Bar Kochba Period in the Cave of Letters, hg. Y. Yadin 1963 [dokumentiert das archäologische Umfeld] Bd. 2: The Documents from the Bar Kokhba Period in the Cave of Letters. Hebrew, Aramaic and Nabatean-Aramaic Papyri. Greek Papyri, hg. N. LEWIS; Aramaic and Nabatean Signatures and Subscriptions, hg. Y. Yadin/J. Greenfield 1989 [Übersicht über den Gesamtbestand: S. 29;²⁸ Texte: S. 35 – 134] (zit.:
Die gr. Texte sind geboten in Bd. 2 außer P.Yadin 52 und 59; diese stehen, als zu den Bar-Kochba-Briefen gehörig, in Bd. 3, S. 352– 366. Ein nicht nummerierter Bd. 4, enthaltend die bei der ersten Archivierung gemachten Fotos des Gesamtfundes, ist mit dem zusätzlichen Titelwort Plates 1963 hergestellt und 2002 veröffentlicht worden – Die P. Yadin 12– 16 und 27 sind erneut ediert mit engl. Übers. bei Chiusi, „Babatha“ 106 – 121. Stammtafel der Familie Babatas: S. 25. – Eine abschließende Liste über die P.Yadin 1– 64 steht in Bd. III, S. XVI f.
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Yadin u. a., Cave of Letters II) Bd. 3: The Documents from the Bar Kokhba Period in the Cave of Letters. Hebrew, Aramaic and Nabatean-Aramaic Papyri, hg. Y. YADIN/J. C. GREENFIELD/A. YARDENI/B. A. LEVINE, 2002 [Liste der hier abgedruckten P. Yadin 1 – 10.42 – 47b: S. 36; Liste der Bar-Kochba-Papyri separat: S. 278]²⁹ (zit.: Yadin u. a., Cave of Letters III) CHIUSI, Tiziana J.: „Babatha vs. the guardians of her son“, in: Katzoff/Schaps, Law (3.2.3) 105 – 132 COTTON, Hannah M.: „The archive of Salome Komaise, daughter of Levi. Another archive from the Cave of Letters“, ZPE 105, 1995, 171 – 208 – : „Introduction to the Archive of Salome Komaise Daughter of Levi“, DJD 27, 1997, 158 – 165 – : „The Law of Succession in the Documents from the Judaean Desert again“, Scripta Classica Israelica 17, 1998, 115 – 123 – : „Die Papyrusdokumente aus der judäischen Wüste und ihr Beitrag zur Erforschung der jüdischen Geschichte des 1. und 2. Jh.s n. Chr.“, ZDPV 115, 1999, 228 – 247 – : „Recht und Wirtschaft. Zur Stellung der jüdischen Frau nach den Papyri aus der judäischen Wüste“, ZNT 6, 2000, 23 – 30 – : „Women and law in the documents from the Judaean Desert“, Studia Hellenistica 37, 2002, 123 – 147 CZAJKOWSKI, Kimberley: The Babatha and Salome Komaise Archives (Oxford Studies in Roman Society and Law), 2017 ESHEL, Hanan: „Another document from the archive of Salome Komaïse daughter of Levi“, Scripta Classica Israelica 21, 2002, 169 – 171 FRIEDMAN, M. A., „Babatha’s Ketubba: Some Preliminary Observations“, IEJ 46, 1996, 55 – 76 GROSS, Andrew D.: Continuity and Innovation in the Aramaic Legal Tradition (SJS.S 128) KATZOFF, Ranon: „P. Yadin 21 and rabbinic law on widows’ rights“, JQR 97, 2007, 545 – 575 – /SCHAPS, David: Law in the Documents of the Judaean Desert ( JSJ.S 96), 2005 LEWIS, Naphtali u. a. (Hg.): „Papyrus Yadin 18. Text, Translation and Notes“, IEJ 37, 1987, 229 – 250 LIEBERMAN, Saul: „The importance of the Bar-Kokhba letters for Jewish history and literature“ (1967), in: ders.: Texts and Studies, 1974, 208 f OUDSHOORN, Jacobine G.: The Relationship Between Roman and Local Law in the Babatha and Salome Komaise Archives. General Analysis and Three Case Studies on Law of Succession, Guardianship and Marriage (STDJ 69), 2007 WASSERSTEIN, A.: „A Marriage Contract from the Province of Arabia Nova. Notes on papyrus Yadin 18“, JQR 80, 1989/90, 93 – 130
3.2.2 Die Fastenrolle (megillat ta‘anît) aus Mischna-Zitaten rekonstruiert und nach den Monaten des jüdischen Kalenders geordnet: NOAM, V. (Hg., Komm.): Megillat Ta‘anit. Versions, Interpretations, History. With a critical edition (alles hebr.), 2003
ältere Ausgaben, Übersetzungen, Kommentare
Die Liste der 64 P. Yadin auf S. XVIf ist irreführend: Die dort angegebenen, identischen Nummern für 5/ 6Hev. sind nicht die (dort ungenannt bleibenden) Nummern der P. xHev/Se. Dafür s. hier B 4.
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BEYER, Die aramäischen Texte vom Toten Meer (s. o.), 354 – 358 (aram., unpunktiert, mit Übers.) DALMAN, G.: Aramäische Dialektproben, 2. Aufl. 1927, 1 – 3 (nur aramäisch, punktiert, mit Anmerkungen), wiederabgedr. bei dems., Grammatik (s. o. 1.2.1) LICHTENSTEIN, H. (Einl., Hg., Komm.): „Die Fastenrolle. Eine Untersuchung zur hellenistisch-jüdischen Geschichte“, HUCA 8/9, 1931/32, 257 – 351 SCHREMER, A.: „The concluding passage of Megillat Taʿanit and the Nullification of its halkahic significance during the Talmudic period“, Zion 65, 2000, 411 – 439 (hebr.)
3.3 Rabbinisches Judentum Textausgaben der Rabbinica und Einleitungsliteratur s.o. B 3.6.
3.3.1 Lexika und Allgemeines BIRNBAUM, Philip: A Book of Jewish Concepts (1964), 1975 BÖHM, Wyny: Begriffe des Judentums, 2014³⁰ COHEN, Boaz: Index, Bd. 7 von: Ginzberg, Louis: The Legends of the Jews, 1938 (bes. 200 – 202: „Halakah reflected in the Agada“, alphabetisch: Acquisition – Women) MÜLLER, K.: „Zur Datierung rabbinischer Aussagen“, in: Neues Testament und Ethik. FS Rudolf Schnackenburg, 1989, 551 – 587 NEUSNER, Jacob: The Rabbinic Traditions about the Pharisees before 70 A.D., Bd. 1: The Masters, Bd. 2: The Houses, Bd. 3: Conclusions (1971), 1999 – : „What use attributions? An open question in the study of rabbinic literature“, in: A. Avery-Peck (Hg.): When Judaism and Christianity Began. FS Anthony J. Saldarini, 2004, 441 – 460 WEBER, Ferdinand: Jüdische Theologie auf Grund des Talmud und verwandter Schriften, hg. F. Delitzsch/P. Schnedermann (1880, 1886),³¹ 1897 (1975) (zitiert: Weber, Theologie)
3.3.2 Monographien und Aufsätze BLOCH, Moses: Die šaʿarê ha-maʿalôt. Über die „Abstufungen“ in der Mischna und dem Talmud, 1908 EILBERG-SCHWARTZ, Howard: The Human Will in Judaism. The Mishnah’s philosophy of intention (BJS 103), 1986
3.4 Jüdisches Recht: Rechtsthemen Literatur zu den in vor- wie nachchristlichen jüdischsen Schriften angesprochenen Themen s. o. B 3.3.2, ferner Maier, Glossar (s.o. B 3, Kopftext) 98 – 106.
Populäre Alternative zu Birnbaum; bedient sich aber keiner wissenschaftlich üblichen Transkription des Hebräischen. Unter anderen Titeln. Die hier zitierte Letztbearbeitung unter Mitarb. v. J. J. Kahan ist als „zweite Auflage“ gezählt.
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3.4.1 Grundlagen BÁNDY, Juraj: „,Das‘ Gesetz und die Tora: Vorschlag einer gesamtbiblischen Differenzierung“, in: Siegert, Kirche und Synagoge 97 – 108 JACOB, B[enno]: Auge um Auge. Eine Untersuchung zum Alten und Neuen Testament, 1929 MÜLLER, Karlheinz: „Beobachtungen zum Verhältnis von Tora und Halacha in frühjüdischen Quellen“, in: Broer, Jesus und das jüdische Gesetz (6.2) 105 – 134. OTTO, Eckart: „Rechtshermeneutik in der Hebräischen Bibel. Die innerbiblischen Ursprünge halachischer Bibelauslegung“, ZAR 5, 1999, 75 – 98 PORTER, Stanley/DE ROO, Jacqueline C. R. (Hg.): The Concept of the Covenant During the Second Temple Period ( JSJ.S 71), 2003 SHILO, Sh.: „Equity as a bridge between Jewish and secular law“, Cardozo Law Review 12, 1991, 737 – 751 TROIANI, Lucio: „The politeia of Israel in the Graeco-Roman age“, in: Parente/Sievers, Josephus (s. o. B 3.4.3) 11 – 22 TROPPER, A. D.: „Roman contexts in Jewish texts: on ‘diatagma’ and ‘prostagma’ in rabbinic literature“, JQR 95, 2005, 207 – 27
3.4.2 Sachenrecht: Eigentum und Besitz, Verwaltung und Finanzen; Leihen und Kaufen BLOCH, Moses: Das mosaisch-talmudische Besitzrecht, 1897 COHEN, Boaz: „Ususfructus in Jewish and Roman law“, in: ders., J&RL (4.4) 557 – 577 JACKSON, Bernard: Theft in Early Jewish Law, 1972 NEBE, G. Wilhelm: „Deeds of Sale“, in: Schiffman/VanderKam, Encyclopedia of the Dead Sea Scrolls (s. o. B 3.3.2) I 186 – 189 SCHIFFMAN, Lawrence H.: „Reflections on the deeds of sale from the Judaean Desert in light of Rabbinic literature“, in: Katzoff/Schaps, Law (s. o. 3.2.3), Law 185 – 203
3.4.3 Schuldigkeiten (Obligationen), Forderungen, Schuldrecht AUERBACH, Leopold: Das jüdische Obligationenrecht nach den Quellen und mit besonderer Berücksichtigung des römischen und deutschen Rechts dargestellt, 1870 (1976) GAMORAN, Hillel: Jewish Law in Transition. How Economic Forces Overcame the Prohibition against Lending on Interest, 2008 KLINGENBERG, Eberhard: Das israelitische Zinsverbot in Torah, Mišnah und Talmud (AAWLM.G) 1977 WITTRECK, Fabian: Interaktion religiöser Rechtsordnungen. Rezeptions- und Translationsprozesse dargestellt am Beispiel des Zinsverbots in den orientalischen Kirchenrechtssammlungen (KStT 55), 2009 – : Was vom Wucher übrigbleibt. Zinsverbote im historischen und interkulturellen Vergleich, 2014
3.4.4 Aussage, Zeugnis, Vertrag Zu „Bund“ (berît) s. # 277 BLOCH, Moses: Der Vertrag nach mosaisch-talmudischem Rechte, 1893
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3.4.5 Arbeitsverhältnisse, Lohn und Honorar FARBSTEIN, David: Das Recht der unfreien und der freien Arbeiter nach jüdisch-talmudischem Recht verglichen mit dem antiken, speciell mit dem römischen Recht, 1896³² PRENZEL, Gisela: Über die Pacht im antiken hebräischen Recht (Studia Delitzschiana, 13), 1971 STEMBERGER, Günter: „Verdienst und Lohn, Kernbegriffe rabbinischer Frömmigkeit?“ (1998) in: de Vos/Siegert, Interesse am Judentum (2.3.2) 133 – 153
3.4.6 Botenrecht, Vollmacht, Vertretung Zum Botenrecht vgl. 6.5.6 (Bühner) und # 175 JANOWSKI, Bernd: Stellvertretung. Alttestamentliche Studien zu einem theologischen Grundbegriff (SBS 165), 1997 TASCHL-ERBER, Andrea/FISCHER, Irmtraud (Hg.): Vermittelte Gegenwart (WUNT 367), 2016
3.4.7 Personenrecht; Stellung der Frau; Sklavenrecht Zur Sklaverei im Judentum s. 3.4.5: Farbstein sowie # 73 und # 107 BLOCH, Moses: Die Vormundschaft nach mosaisch-talmudischem Rechte, 1904 GOODMAN, Martin: „Josephus as a Roman citizen“, in: Parente/Sievers, Josephus (s. o. B 3.4.3) 329 – 338 ILAN, Tal: Integrating Jewish Women into Second Temple History (TSAJ 76), 1999 – : Jewish Women in Greco-Roman Palestine. An Inquiry into Image and Status (TSAJ 44), 1995 – : Silencing the Queen. The Literary Histories of Shelamzion and Other Jewish Women, 2006 – : „The Torah of the Jews of Ancient Rome“, Jewish Studies Quarterly 15, 2013, 363 – 395 KÜCHLER, Max: Schweigen, Schmuck und Schleier. Drei neutestamentliche Vorschriften zur Verdrängung der Frauen auf dem Hintergrund einer frauenfeindlichen Exegese des Alten Testaments im antiken Judentum (NTOA 1), 1986 LAPIN, HAYIM: „Maintenance of wives and children in early rabbinic and documentary texts from Roman Palestine“, in: Hezser, Rabbinic Law 177 – 198
S. 71– 96 bietet die hebr. Zitate der vorangegangenen Anmerkungen im Wortlaut nebst einer freien Übersetzung.
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MAYER, Günter: Die jüdische Frau in der hellenistisch-römischen Antike, 1987 MAYER-SCHÄRTEL, Bärbel: Das Frauenbild des Josephus, 1995
3.4.8 Eherecht, Sexualvorschriften BREWER, David Instone: „Deuteronomy 24:1 and the Origin of the Jewish Divorce Certificate“, JJS 49, 1998, 230 – 243 – : Divorce and Remarriage in the Bible. The Social and Literary Context, 2002 BRODY, Robert: „Evidence for Divorce by Jewish Women?“, JJS 50, 1999, 230 – 234 COHEN, Boaz: „Betrothal in Jewish and Roman law“, in: ders., J&RL (4.4) 279 – 347 – : „Dowry in Jewish and Roman Law“ (1955), ebd. 348 – 376 – : „Divorce in Jewish and Roman law“, ebd. 79 – 408 EPSTEIN, Louis M.: Marriage Laws in the Bible and the Talmud (Harvard Semitic Series, 12), 1942 FIXNER, Yoel/Eshel, Hanan, „Tearing Divorce Documents in Light of the Documents from the Judean Desert“, Sidra 22, 2007, 81 – 87 FRIEDMAN, Shamma: „The Jewish bill of divorce – from Masada onwards“, in: Baumgarten u. a., Halakha in Light of Epigraphy (1.3.2) 175 – 183 HOMOLKA, Walter: Das jüdische Eherecht, 2009 JACKSON, Bernard: „‘Holier than thou’? Marriage and divorce in the Scrolls, the New Testament and early Rabbinic sources“, in: ders., Essays NT (3.4.13) 167 – 225 KATZOFF, Ranon: „Greek and Jewish Marriage Formulas“, in: ders. u. a. (Hg.), Classical Studies in Honor of David Sohlberg, 1996, 223 – 234 KELLERMANN, Ulrich: Eheschließungen im frühen Judentum. Untersuchungen zur Rezeption der Leviratstora, zu den Eheschließungsritualen im Tobitbuch und zu den Ehen der Samaritanerin in Johannes 4, 2015 MORGENSTERN, Matthias/BOURDIGNON, Christian/TIETZ, Christiane (Hg.): Männlich und weiblich schuf Er sie. Studien zu Genderkonstruktion und zum Eherecht in den Mittelmeerreligionen, 2011 PIATTELLI, Daniela: „The Marriage Contract and Bill of Divorce in Ancient Hebrew Law“, JLA 4, 1981, 66 – 78 RABELLO, Alfredo M.: „Divorce of Jews in the Roman Empire“, JLA 4, 1981, 79 – 102 (= ders., Jews [oben 2.3.3], ix) SATLOW, Michael L.: Jewish Marriage in Antiquity, 2001 VERED, Noam: „Divorce in Qumran in Light of Early Halakhah“, JJS 56, 2005, 206 – 223
3.4.9 Familie betr. Vereine – hier: Synagogengemeinden – s.u. 6.4.9 BLOCH, Moses: Die Vormundschaft nach mosaisch-talmudischem Rechte, 1904 COLLINS, John J.: „Marriage, Divorce, and Family in Second Temple Period“, in: L. G. PERDUE u. a. (Hg.): Families in Ancient Israel, 1997, 104 – 162 JACKSON, Bernard: „How Jewish is Jewish Family Law?“, JJS 55, 2004, 201 – 229
3.4.10 Erbrecht BAMMEL, Ernst: „Gottes diathēkē (Gal. III.15 – 17) und das jüdische Rechtsdenken“ (1960) in: ders.: Judaica et Paulina 313 – 319 BLOCH, Moses: Das mosaisch-jüdische Erbrecht, 1890
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3.4.11 Öffentliche Ordnung, Regierung und Verwaltung innerjüdisch, Wiedergabe judäischer Verhältnisse im NT eingeschlosssen APPLEBAUM, S(himon): „The Organisation of the Jewish Community in the Diaspora“, in: Safrai/Stern, The Jewish People I (s. o. 2.3.2) 464 – 503 BLOCH, Moses: Das mosaisch-talmudische Polizeirecht, 1879 GOODBLATT, David: The Monarchic Principle. Studies in Jewish Self-Government in Antiquity (TSAJ 38), 1994 JEREMIAS, Joachim: Jerusalem zur Zeit Jesu (1923), 3. Aufl. 1962 (1969) KLIJN, A. F. J.: „Scribes, Pharisees, highpriests, and elders in the New Testament“, NT 3, 1959, 259 – 267 SELAND, Torrey: Establishment Violence in Philo and Luke. A Study of Non-Conformity to the Torah and Jewish Vigilante Reactions (BIS 15), 1995
3.4.12 Steuerrecht, Währungsrecht, Besatzungsrecht, Militärisches DAUBE, David: Collaboration with Tyranny in Rabbinic Law, 1965 STEMBERGER, Günter: „Zehnte und andere Abgaben“ in: ders., Judaica Minora (2.3.2) 363 – 365
3.4.13 Prozessrecht, Gerichtswesen BLOCH, Moses: Die Civilprozeßordnung nach mosaisch-talmudischem Rechte, 1882 COHEN, Boaz: „Arbitration in Jewish and Roman law“, in: ders., J&RL (4.4) 651 – 709 – : „Self-help in Jewish and Roman law“, ebd. 624 – 650 HARRIES, Jill: „Courts and the judicial system“, in Hezser, Handbook (3.1.1) 85 – 101 JACKSON, Bernard: „Testes singulares in early Jewish law and the NT“, in: ders., Essays Jewish 172 – 201 = ders., Essays NT 58 – 87 (3.1.2; nach letzterer Fassung wird hier zitiert) KARLIN, A. J.: „Über die Mitgliederzahl der Gerichtshöfe zur Zeit des zweiten Tempels“, MGWJ 57, 1913, 24 – 31 RABELLO, Alfredo Mordechai: „Civil justice in Palestine from 63 bce to 70 ce“ (1996), in: ders., Jews (2.3.2), Artikel i (= 293 – 306) (italienisch in Iuris vincula [s. u. 5.3], Bd. 6, 505 – 558) – : „Jewish and Roman jurisdiction“ (1996), ebd. Artikel xii (= 141 – 167)
3.4.14 Strafrecht, Polizeigewalt BLOCH, Moses: Das mosaisch-talmudische Strafgerichtsverfahren, 1901 DAUBE, David: „Error and ignorance as excuses in crime“, in: ders., Ancient Jewish Law (3.1.2) 49 – 70 HUNZINGER, Claus-Hunno: Die jüdische Bannpraxis im neutestamentlichen Zeitalter, Diss. Göttingen 1954 OPPENHEIMER, Aharon: „Jewish penal authority in Roman Judaea“, in: Goodman, Jews (2.3.3), 181 – 191
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4 Griechisches und gräko-ägyptisches Recht; Überschneidungen 4.1 Übergreifend; Zusammenspiel und Konkurrenz von Rechten MITTEIS, Ludwig: Reichsrecht und Volksrecht in den östlichen Provinzen des römischen Kaiserreichs, 1891 (1963) RABINOWITZ, Jacob J.: Jewish Law. Its Influence on the Development of Legal Institutions, 1956 REMUS, Harold E.: „Authority, consent, law: nomos, physis, and the striving for a ‘given’“, Studies in Religion/Sciences Religieuses 13, 1984, 5 – 18 Symposion. Akten der Gesellschaft für Griechische und Hellenistische Rechtsgeschichte [erscheint unregelmäßig; wird hier zitiert mit Jahr des Stattfindens (und Druckjahr in Klammer)] WOLFF, Hans Julius: Das Problem der Konkurrenz von Rechtsordnungen in der Antike, SHAW.PH 1979/5
4.2 Griechisches Recht im Orient; gräko-ägyptisches Recht (anonym): L’assistance dans la résolution des conflits (Recueils de la Société Jean Bodin, 63,1 – 2), 1996 ANAGNOSTOU-LANAs, B.: Juge et sentence dans l’Egypte romaine, 1991 FOXHALL, A. D. E. Lewis (Hg.) : Greek Law in Its Political Setting. Justifications not Justice, 1996 GELLER, Markham J./Maehler, H./Lewis, A. D. E. (Hg.): Legal Documents of the Hellenistic World, 1995 MIGLIETTA, Massimo : „Griechisches Recht“, in NTAK I 253 – 257 SEIDEL, Erwin: Rechtsgeschichte Ägyptens als römische Provinz, 1973 STEINWENTER, Artur: Die Streitbeendigung durch Urteil, Schiedsspruch und Vergleich nach griechischem Rechte, 1925 (1971) TAUBENSCHLAG, Raphael: The Law of Greco-Roman Egypt in the Light of the Papyri, 332 B.C.–640 A.D. (1944), 2. Aufl. 1955 – : Opera minora, Bd. 2: Spezieller Teil, 1959 (zit. Taubenschlag, OM II) WOLFF, Hans Julius: „Die Grundlagen des griechischen Vertragsrechts“, ZSRG.R 74, 1957, 26 – 72 – : „Hellenistic private law“, in: Safrai/Stern, The Jewish People (2.3.2), 534 – 560 – : Das Recht der griechischen Papyri Ägyptens in der Zeit der Ptolemäer und des Prinzipats, Bd. 2: Organisation und Kontrolle des privaten Rechtsverkehrs (HAW II/5,2), 1978 (2002) (zit.: H. J. Wolff, Recht) – /RUPPRECHT, Hans-Albert: Das Recht der griechischen Papyri Ägyptens in der Zeit der Ptolemäer und des Prinzipats, Bd. 1: Bedingungen und Triebkräfte der Rechtsentwicklung (HAW II/5,1), 2002 (zit.: Wolff/Rupprecht, Recht)
4.3 Jüdisches Recht in Ägypten HEINEMANN, Isaak: „Jüdisch-hellenistische Gerichtshöfe in Alexandrien?“, MGWJ 74, 1930, 363 – 369 PASSONI DELL’ACQUA, Anna: „Alessandria e la Torah“, Ricerche Storico-Bibliche 16, 2004, 177 – 218
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4.4 Jüdisches, hellenistisches und römisches Recht in Palästina COHEN, Boaz: Jewish and Roman Law. A Comparative Study, 2 Bde. (durchpaginiert; ab 409: Bd. 2), 1966 (Aufsatzsammlung; Nachträge: 755 – 802; zit.: Cohen, J&RL)³³ FALK, Z(wi) W.: „Jewish private law“, in: Safrai/Stern, The Jewish People (2.3.2) I 504 – 534 KIRNER, Guido O.: Strafgewalt und Provinzialherrschaft. Eine Untersuchung zur Strafgewaltspraxis der römischen Statthalter in Judäa (6 – 66 n. Chr.) (Schriften zur Rechtsgeschichte, 109), 2004 LIEBERMAN, Saul: Greek in Jewish Palestine, 1941 (1965, 1994) – : Hellenism in Jewish Palestine, 1950 (1962, 1994) – : „Roman legal institutions in early Rabbinics and in the Acta martyrum“ (1944), in: ders.: Texts and Studies, 1974, 57 – 111 MILLAR, Fergus: „Emperors, kings and subjects. The politics of two-level sovereignty“, Scripta Classica Israelica 15, 1996, 159 – 173
5 Römisches Recht 5.1 Quellen und Textsammlungen (auch übersetzt) 5.1.1 Corpora, Sammlungen WENGER, Leopold: Die Quellen des römischen Rechts, 1953 (2000) (Codex Theodosianus) MOMMSEN, Theodor/MEYER, Paul M.: Codex Theodosianus, vol. I, pars 1: Prolegomena, 5. Auflage, 2002; vol. I, pars 2: Textus, 2005; dito, vol. II: Novellae, 2005 (Corpus Iuris) KRÜGER, Paul/MOMMSEN, Theodor/SCHÖLL, Rudolf/KROLL, Wilhelm (Hg.): Corpus iuris civilis, 3 Bde., 1911.1906.1909 (1954, 1972) (Bd. I: Institutionen; Digesten, Bd. II: Codex Iustinianus, Bd. III: Novellae) Corpus Iuris Civilis. Text und Übersetzung, hg. Rolf Knütel/Berthold Kupisch (u. a.) Bd. 1: Die Institutionen, 1990; Bd. 2 ff: Digesten, hg. Okko Behrends u. a., 1995 ff (bis jetzt 5 Bde. = D. 1 – 34) HUCHTHAUSEN, Liselot/HÄRTEL, Gottfried (Übers., Hg.): Römisches Recht (Bibliothek der Antike, Römische Reihe) (1975), 1989 (1991) LIEBS, Detlef: Lateinische Rechtsregeln und Rechtssprichwörter. Zusammengestellt, übers. u. erl. (1982) 2007 (zit.: Liebs, Rechtsregeln)³⁴ – : Römische Jurisprudenz in Africa. Mit Studien zu den pseudopaulinischen Sentenzen (1993), 2005 OLIVER, James H. (Hg.): Greek Constitutions of Early Roman Emperors from Inscriptions and Papyri, 1989
Im Hinblick auf die zahlreichen Nachträge wird nur diese Fassung zitiert. Zitiert nach den (seit der 3. Aufl. gleichen) Nrn. A 1 ff, B 1 ff usw. Bei Liebs ist stets ist eine dt. Übers. beigegeben.
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OTTO, August: Die Sprichwörter und sprichwörtlichen Redensarten der Römer (1890, 1962), 1988; Nachträge zu A. Otto, Sprichwörter und sprichwörtlichen Redensarten der Römer, hg. R. Häussler, 1968 (zit.: Otto, Sprichwörter) RICCOBONO, Salvatore/BAVIERA, Giovanni/FURLANI, Silvio/ARANGIO-RUIZ, Vincenzo (Hg.): Fontes iuris Romani antejustiniani, Bd. 1: Leges; Bd. 2: Auctores; Bd. 3: Negotia 1940 – 1943 (u. ö., Bd. 2, Nachdr. 1969, mit Anhang: S. 596 – 636) (zit.: FIRA)³⁵ SCHARR, Erwin (Hg., Übers.): Römisches Privatrecht. Lateinisch und deutsch (Bibliothek der alten Welt, Römische Reihe), 1960
5.1.2 Gaius Gai institutionum commentarii quattuor, hg. Johannes (Giovanni) Baviera, in: FIRA II 3 – 200³⁶ Gai institutiones, editio minor, hg. M. David, 1964 Gaius: Institutiones/Institutionen, hg., übers. u. komm. Ulrich Manthe, 2004 (2015)
5.1.3 Sonstige Textausgaben (Collatio: s. o. B 3.4.4; auch in FIRA II 541– 590) (Edikt, Prätorisches) LENEL, Otto (Hg., Komm.): Das edictum perpetuum (1883), 3. Aufl. 1927 (u. ö.); hier zitiert nach der Wiedergabe in FIRA I 335 – 391 (SRR) SELB, Walter/KAUFHOLD, Hubert (Hg., Übers., Komm.): Das Syrisch-Römische Rechtsbuch, 3 Bde. (Österr. Akad. d. Wiss., phil.-hist. Kl., Denkschriften, 295,1 – 3), 2002, Bd. 1: Einleitung [darin 185 – 197 gr.-syr. Glossar; 197 lat.-syr. Glossar; 219 – 258 syr.-dt. Glossar]; Bd. 2: Texte und Übersetzungen; Bd. 3: Kommentar [darin 277 – 282 Systematisches Register (dt.); 283 – 292 dt.-syr. Glossar; 293 – 298 lat. Register; 299 – 302 gr. Register; 317 – 327 dt. Stichwortregister]³⁷ (Sent. Syr.) SELB, Walter (Hg., Übers., Komm.): Sententiae Syriacae. Edition, Übersetzung und Kommentar (Österr. Akad. d. Wiss., phil.-hist. Kl., Sitzungsberichte, 567), 1990 (Zwölf Tafeln) FLACH, Dieter u. a. (Hg., Übers., Komm.): Das Zwölftafelgesetz, 2004
5.2 Darstellungen des römischen Rechts (Einleitung, Geschichte, Systematik) STOLLEIS, Michael (Hg.): Juristen. Ein biographisches Lexikon von der Antike bis zum 20. Jahrhundert (1995), 2001
Für Details aus der neuesten Forschung vgl. Gianfranco PURPURA: Revisione ed integrazione dei Fontes Iuris Romani Anteiustiniani (FIRA), Bd. 1: Leges; Bd. 2: Auctores –Negotia (Università degli Studi di Palermo, Dipartimento Iura, Sezione Storia del Diritto, Annali del Seminario Giuridico, Fontes, 3.1– 2), 2012. Ebd. 201– 204 Separatwiedergabe des lateinischen P. Oxy. 2103; 205 – 257 Fragmente und Bearbeitungen noch aus der Antike. Als Konkordanz mit der Nummerierung der bis dahin benutzten Ausgabe von Bruns und Sachau (1880) s. I 204– 207: L ist die Handschrift, der Bruns und Sachau folgen; mit § ist die aktuelle Ausgabe gemeint.
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DU PLESSIS, Paul/ANDO, Clifford/TUORI, Kaius (Hg.): The Oxford Handbook of Roman Law and Society, 2016 (zit. Oxf. Handbook mit Name des Beitragsautors/der Beitragsautorin, sofern wörtlich zitiert wird)³⁸ GIRARD, René: Manuel élémentaire de droit romain, 5. Aufl. 1911 GRÖSCHLER, Peter: „Ius privatum“, in: NTAK I 226 – 238 (226 – 231: Personenrecht; 232 – 238: Vermögensrecht) KASER, Max: Das römische Privatrecht (HAW 3/3,1 – 2), 2 Bde. (1955.1959), 2. Aufl. 1971; 20. Aufl. 2014; 22. Aufl. 2019 (zit.: Kaser, Privatrecht I bzw. II)³⁹ – : Römische Rechtsgeschichte, 2. Aufl. (1971), 1993 –/KNÜTEL, Rolf/LOHSSE, Sebastian: Römisches Privatrecht. Ein Studienbuch ( Juristische Kurz-Lehrbücher), 21. Aufl. 2017; 22. Aufl. 2021⁴⁰ (zit. K/K/L, Privatrecht) KUNKEL, Wolfgang: Die römischen Juristen. Herkunft und soziale Stellung, 1967 (2001) (zit. Kunkel, Juristen) – : Römische Rechtsgeschichte. Eine Einführung, 14. Aufl., hg. Martin Schermaier, 2005 (zit.: Kunkel/Sch., RRG) MANTHE, Ulrich: Geschichte des römischen Rechts (C. H. Beck Wissen), (2000), 6. Aufl. 2019 MEDER, Stephan: Rechtsgeschichte. Eine Einführung (2002), 2017 SELB, Walter: Antike Rechte im Mittelmeerraum. Rom, Griechenland, Ägypten und der Orient, 1993 SOHM, Rudolf: Institutionen des römischen Rechts (1883), 6. Aufl. 1896⁴¹ WESEL, Uwe: Geschichte des Rechts. Von den Frühformen bis zum Vertrag von Maastricht, 1997 (zit.: Wesel, Geschichte); 4., neu bearb. Aufl. 2014 – : Geschichte des Rechts in Europa: Von den Griechen bis zum Vertrag von Lissabon, 2010 (zit.: Wesel, GRE) WIEACKER, Franz: Römische Rechtsgeschichte, Bd. 1 (1988), 11. Aufl., hg. M. Rainer, 2005; ders./Manthe, Ulrich/Bolten, Marius: Römische Rechtsgeschichte, Bd. 2, 2006 (HAW 10,3,1,1 – 2) (zit.: Wieacker, RRG I bzw. II) ZIMMERMANN, Reinhard: The Law of Obligations. Roman Foundations of the Civilian Tradition, 1990 (1992, 1996) (zit. Zimmermann, Obligations)
5.3 Aufsatzsammlungen, Sammelbände Internet-Zeitschrift: HAFERKAMP, Hans-Peter/MECCARELLI, Massimo/SCHMOECKEL, Mathias/THIER, Andreas: Forum historiae iuris. Erste europäische Internetzeitschrift für Rechtsgeschichte, http://www.forhistiur.de (anonym) Iuris vincula. FS Mario Talamanca, Milano: Jovene, 8 Bde., 2001 AUBERT, Jean-Jacques/SIRKS, Boudewijn (Hg.): Speculum iuris. Roman Law as a Reflection of Social and Economic Life in Antiquity, 2002 COTTON, Hannah M.: „Jewish jurisdiction under Roman rule“, in: Labahn/Zangenberg, Zwischen den Reichen (6.1), 13 – 28 GAUDEMET, J.: „La condition juridique des juifs dans les trois premiers siècles de l’Empire“, Augustinianum 28, 1988, 339 – 359 HERRMANN, Johannes: Kleine Schriften zur Rechtsgeschichte, hg. G. SCHIEMANN (Münchener Beiträge zur Papyrusforschung und antiken Rechtsgeschichte, 83), 1990
Die wichtigsten Artikel werden auch hier, in vorliegendem Literaturverzeichnis, nochmals separat aufgeführt. Diese Darstellung ist die vollständigste von allen. Die zur 22. Auflage hin völlig veränderte Paragraphenzählung gegenüber vorangegangenen Auflagen ließ Doppelnennungen nützlich erscheinen, z. B. K/K/L § 80 → § 5. Letzte noch bei Gültigkeit des römischen Rechts in deutschen Territorien erschienene Auflage. Erschien weiter unter verändertem Titel bis zur 15. Aufl. 1917.
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KUNKEL, Wolfgang: Kleine Schriften zum römischen Strafverfahren und zur römischen Verfassungsgeschichte, 1974 (zit.: Kunkel, Kleine Schriften) LEVY, Ernst: Gesammelte Schriften, hg. Wolfgang Kunkel/Max Kaser, 2 Bde., 1963 (zit.: Levy, Gesammelte Schriften) NÖRR, Dieter: Historiae Iuris Antiqui. Gesammelte Schriften, 3 Bde., 2001.2003.2010 (durchpag.) (zit.: Nörr, Ges. Schriften mit der dortigen, mit * gekennzeichneten Neupaginierung)⁴² RABELLO, Alfredo Mordechai: „L’observance des fêtes juives dans l’Empire romain“, ANRW II 21/2, 1984, 1288 – 1312 SCHILLER, A. Arthur (u. a.): Studies in Roman Law. FS. A. Arthur Schiller, Roger S. Bagnall, William V. Harris (Columbia Studies in the Classical Tradition, 13), 1986
5.4 Einzelne Bereiche 5.4.1 Rechtsbegründung, allgemeine Begriffe BECKER, Christoph: „Systembildung in Europas Kodifikationen“, in Armgardt/Repgen, Naturrecht (s. u. 7.2.2), 17 – 59 HIRZEL, Rudolf: Agraphos nomos (ASGW.PH 20,1 bzw. 47,1), 1900 – : Themis, Dike und Verwandtes, 1907 KASER, Max: Ius gentium (Forsch. z. Röm. Recht, 40), 1993 NÖRR, Dieter: Rechtskritik in der römischen Antike (Bayer. Akad. d. Wiss., Abh. 77), 1974 ZIMMERMANN, Reinhard: „Römisches Recht und Römische Kirche“, ZSRG.K 105, 2019, 159 – 179
5.4.2 Sachenrecht: Eigentum und Besitz, Verwaltung und Finanzen; Leihen und Kaufen DU PLESSIS, Paul J.: Letting and Hiring in Roman Legal Thought, 2012 KLOPPENBORG, John: „Financing Meals“, in: Corsten u. a., Epigraphik (1.3.2) 135 – 153 SALLER, Richard P.: Patriarchy, Property and Death in the Roman Family, 1994 (1997)
5.4.3 Schuldigkeiten (Obligationen), Forderungen, Schuldrecht ZIMMERMANN, Obligations s. 5.4.3 ARMGARDT, Matthias: Antikes Lösungsrecht. Eine Untersuchung zum jüdischen, griechisch-hellenistischen und römischen Recht, jur. Habil. Köln 2005 BRAUKMANN, Michael: Pignus. Das Pfandrecht unter dem Einfluß der vorklassischen und klassischen Tradition der römischen Rechtswissenschaft (Quellen u. Forsch. z. Recht und s. Gesch., 14), 2008 HÄGERSTRÖM, Axel: Der römische Obligationsbegriff im Lichte der allgemeinen römischen Rechtsanschauung, 2 Bde. (Acta Societatis Literarum Humaniorum Regiae Upsaliensis, 23; 35), 1927.1941⁴³ RUPPRECHT, Hans-Albert: Studien zur Quittung im Recht der graeco-ägyptischen Papyri, 1971
Zu dem dort 125*-174* wiederabgedruckten ZSRG.R-Aufsatz s.u. 6.4.1 unter Nörr, „Die Evangelien“. Unvollendet; benutzt nach der unter folgender Rubrik genannten Zusammenfassung.
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5.4.4 Aussage, Zeugnis, Vertrag CANZIK, Hubert: „Fides, Pistis und Imperium“, in: ders.: Römische Religion im Kontext (Ges. Aufs., Bd. 1), 2008, 178 – 197 – : „Der Kaiser-Eid“ (2003), ebd. 246 – 260 HÄGERSTRÖM, Axel: Recht, Pflicht und bindende Kraft des Vertrages nach römischer und naturrechtlicher Anschauung (1934), hg. K. Olivecrona (Acta Societatis Literarum Humaniorum Regiae Upsaliensis, 44,3), 1965 (zit.: Hägerström, Recht)
5.4.5 Arbeitsverhältnis, Lohn und Honorar DORMEYER, Detlev/Siegert, Folker/DE VOS, J. Cornelis (Hg.): Arbeit in der Antike, in Judentum und Christentum (MJSt 20), 2006 HERRMANN-OTTO, Elisabeth: Unfreie Arbeits- und Lebensverhältnisse von der Antike bis in die Gegenwart. Eine Einführung (Untersuchungen zur Sozial-, Rechts- und Kulturgeschichte 1), 2005
5.4.6 Botenrecht, Vollmacht, Vertretung AUBERT, Jean-Jacques: Business managers. A Social and Economic Study of Institores (CSCT 21), 1993 WENGER, Leopold: Die Stellvertretung im Rechte der Papyri, 1906 (1966)
5.4.7 Personenrecht; Stellung der Frau BEHRENDS, Okko: „Die Person im Recht. Zu den philosophischen und religiösen Quellen eines antiken und modernen Fundamentalbegriffs“, in: SEELMANN, Kurt (Hg.): Menschenrechte, 2017, 187 – 221 CANTARELLA, Eva: „Women and patriarchy in Roman law“, in: Oxf. Handbook (5.2) 419 – 431 EVANS GRUBBS, Judith (Hg., Übers.): Women and the Law in the Roman Empire. A Sourcebook on Marriage, Divorce and Widowhood, 2002 HURLET, Frédéric: „Les erreurs de statut et l’idée de liberté dans l’espace judiciaire romain impérial jusqu’au IIIe siècle“, in Haensch u. a., Recht haben 523 – 560 MACGILLIVRAY, Erlend D.: „Re-evaluating patronage and reciprocity in Antiquity and New Testament Studies“, JGRCJ 6, 2009, 37 – 81 MOURITSEN, Henrik: The Freedman in the Roman World, 2011 SHERWIN-WHITE, Adrian N.: The Roman Citizenship (1939), 1973 (1996)
Sklavenrecht Bibliographie neuerer Literatur zur Sklaverei: Oxf. Handbook 397 – 401. Vgl. ebd. Cantarella, „Women“, bes. 420 – 430. RAINER, J. Michael u. a. (Hg.): Corpus der römischen Rechtsquellen zur antiken Sklaverei, 11 Bde. (in Teilbänden), 1999 – 2017 WIEDEMANN, Thomas: Greek and Roman Slavery, 1981 (1994) [Quellensammlung, engl.] AVENARIUS, Martin: Erbrecht, aktive Stellung, Personeneigenschaft und Ansätze zur Anerkennung von Rechten, in: Rainer u. a., Corpus (s. o.), Bd. 4/3, 2017
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5.4.8 Eherecht, Sexualvorschriften EVANS GRUBBS, Judith: Women and the Law in the Roman Empire. A Sourcebook on Marriage, Divorce and Widowhood, 2002 CANTARELLA, Eva: Selon la nature, l’usage et la loi. La bisexualité dans le monde antique (Secondo natura, 1988), 1991 MCGINN, Thomas A. J.: Prostitution, Sexuality, and the Law in Ancient Rome, 1998
5.4.9 Familie vs. freie Vereinigungen ASCOUGH, Richard S. /HARLAND, Philip A./KLOPPENBORG, John S. (Hg.): Associations in the Greco-Roman World. A Source Book, 2012 KLOPPENBORG, John S./ASCOUGH, Richard S. (Hg., Übers., Komm.): Greco-Roman Associations. Texts, Translations, and Commentary, Bd. 1: Attica, Central Greece, Macedonia, Thrace (BZNW 181), 2011; Ph. HARLAND (Hg., Übers., Komm.): dito, Bd. 2: North Coast and the Black Sea, Asia Minor (BZNW 204), 2014 DAUBE, David: „Societas as consensual contract“ (1938), in: ders., Collected Studies (3.1.2) I 37 – 59 MEISSEL, Franz-Stefan: Societas. Struktur und Typenvielfalt des römischen Gesellschaftsvertrages, 2004 SIRKS, Boudewijn: „Die Vereine in der kaiserlichen Gesetzgebung“, in: GUTSFELD/KOCH, Vereine (6.4.9), 41 – 60
5.4.10 Erbrecht, Testamente BABUSIAUX, Ulrike: Wege zur Rechtsgeschichte. Römisches Erbrecht, 2015 ZIMMERMANN, Reinhard: „Testamentsformen: ,Willkür‘ oder Ausdruck einer Rechtskultur?“, RabelsZ 76, 2012, 471 – 508
5.4.11 Kirchliche Ordnung, Regierung und Verwaltung, Polizeigewalt AUSSER MASON, Terms (1.2.2), 101 – 171 („Discussion of selected terms“) siehe: ECK, Werner: „The emperor, the law and imperial administration“, in: Oxf. Handbook (5.2) 98 – 110 KRAUSE, Jens-Uwe: Gefängnisse im Römischen Reich, 1996 KRAUTER, Stefan: Bürgerrecht und Kultteilnahme. Politische und kultische Rechte und Pflichten in griechischen Poleis, Rom und antikem Judentum (BZNW 127), 2004 KUNKEL, Wolfgang: Staatsordnung und Staatspraxis der Römischen Republik, Abschn. (= Bd.) 2: Die Magistratur, hg. H. Galsterer (HAW 10/3,2), 1995 (zit.: Kunkel, Magistratur)
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5.4.12 Steuerrecht, Währungsrecht, Besatzungsrecht, Militärisches DE BLOIS, Lukas/CASCIO, Elio Lio (Hg.): The Impact of the Roman Army (200 BC-AD 476). Economic, Social, Political, Religious and Cultural Aspects, 2007 FERGUSON, Neill: Der Aufstieg des Geldes (The Ascent of Money, dt.), 2009
5.4.13 Prozessrecht, Gerichtswesen BLEICKEN, Jochen: Senatsgericht und Kaisergericht. Eine Studie zur Entwicklung des Proessrechtes im frühen Prinzipat (AAWG.PH 53), 1962 KASER, Max: Das römische Zivilprozeßrecht (HAW 3/4), 2. Aufl., bearb. v. Karl Hackl, 1996 (zit.: Kaser/Hackl, Zivilprozeßrecht) MANTHE, Ulrich/V. UNGERN-STERNBERG, Jürgen (Hg.): Große Prozesse der römischen Antike, 1997 MOMMSEN, Theodor: „Ägyptischer Erbschaftsprozess aus dem Jahre 124 n. Chr.“, ZSRG.R 12, 1892, 284 – 296 (zit.: Mommsen, ZSRG 1892) NÖRR, Dieter: „The xenokritai in Babatha’s archive“ (1995) in ders., Ges. Aufs. III 2109*-2119* – : „Prozessuales aus dem Babatha-Archiv“ (1998), ebd. 2173*-2197* WITTRECK, Fabian: Die Verwaltung der Dritten Gewalt ( Jus Publicum, 143), 2006
5.4.14 Strafrecht und Strafprozess BAUMANN, Richard A.: Crime and Punishment in Ancient Rome, 1996 BEINTKER, Michael: „Schuld und Strafe im Strafrecht“, in: W. HÄRLE/R. PREUL: Ethik und Recht, 2002, 41 – 66 HAGEMANN, Matthias: Iniuria. Von den XII-Tafeln bis zur justinianischen Kodifikation, 1998 HARRIES, Jill: Law and Crime in the Roman World, 2007 KUNKEL, Wolfgang: „Prinzipien des römischen Strafverfahrens“, in: ders., Kleine Schriften (s. o. 5.3) 1 – 32 – : „Quaestio I“, PRE 24 (1963), 720 – 786 = ders., Kleine Schriften (5.3) 33 – 116 (zitiert nach letzterer Paginierung) MIGLIETTA, Massimo: „Strafrecht“, in: NTAK I 239 – 246 MOMMSEN, Theodor: Römisches Strafrecht, 1899 (1955); dazu J. MALITZ: Stellenregister, 1982 ROBINSON, O(livia) F.: The Criminal Law of Ancient Rome, 1995 ROLLINGER, Robert/LANG, Martin/BARTA, Heinz (Hg.): Strafe und Strafrecht in den antiken Welten (Philippika, 51), 2012 SANTALUCIA, Bernardo: Verbrechen und ihre Verfolgung im antiken Rom (ital. 1989), 1997 (zit.: Santalucia) SCHILLING, Andreas: „Nemo prudens punit quia peccatum est sed ne peccetur – Strafen und Strafzwecke im römischen Strafrecht“, ZAR 21, 2015, 159 – 175.
5.5 Byzantinisches BURGMANN, L./TROIANOS, S. (Hg.): „Nomos Mosaikos“, in: D. SIMON (Hg.): Fontes minores III, 1979, 126 – 167 (gr.Text: 138 – 167; hier zitiert: NomM)
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669
6 Neues Testament Urtextausgaben und Übersetzungen s.o. 1.3.1– 3
6.1 Hilfsmittel, Literatur zu Einleitungsfragen, Historisches, Sammelbände Wörterbücher und Konkordanzen s. o. 1.2.2 ARZT-GRABNER, Peter: „Gott als verlässlicher Käufer. Einige papyrologische Anmerkungen und bibeltheologische Schlussfolgerungen zum Gottesbild der Paulusbriefe“, NTS 57, 2011, 392 – 414 BÖCHER, Otto/HAACKER, Klaus (Hg.): Verborum veritas. FS Gustav Stählin, 1970 (zit. Böcher/H., FS Stählin) BORNKAMM, Günter: Das Endes des Gesetzes. Paulusstudien (1952), 2. Aufl. 1958 (u. ö.) – : Studien zum Neuen Testament, 1985 BREYTENBACH, Cilliers (Hg.): Paul’s Greco-Roman Context (BETL 277), 2015 BULTMANN, Rudolf: Geschichte der synoptischen Tradition (1921), 1957 (u. ö.) – : Theologie des Neuen Testaments (1949), 6. Aufl. 1968 (u. ö.) – : Geschichte und Eschatologie, 1958 (u. ö.) (zit: Bultmann, GE) – : Exegetica. Aufsätze zur Erforschung des Neuen Testaments, hg. E. Dinkler, 1967 CORSTEN, Thomas/ÖHLER, Markus/VERHEYDEN, Joseph (Hg.): Epigraphik und Neues Testament (WUNT 365), 2016 CULLMANN, Oscar/BENOIT, Pierre (Hg.): Aux sources de la tradition chrétienne. FS. Maurice Goguel, 1950 DALMAN, Gustaf: Die Worte Jesu, Bd. 1: Einleitung und wichtige Begriffe (1898), 1930 (1965) – : Arbeit und Sitte in Palästina, 7 Bde., 1928 – 1942 (1964); Bd. 8 (Fragment, mit Gesamtregister) 2001 DINKLER, Erich: Signum Crucis. Aufsätze zum Neuen Testament und zur Christlichen Archäologie, 1967 FORNBERG, Tord/HELLHOLM, David (Hg.): Texts and Contexts. FS Lars Hartmann, 1995 FÖRSTER, Niclas/DE VOS, J. Cornelis (Hg.): Juden und Christen unter römischer Herrschaft. Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung in den ersten beiden Jahrhunderten n. Chr. (SIJD 10), 2015 FRIEDRICH, Johannes/PÖHLMANN, Wolfgang/STUHLMACHER, Peter (Hg.): Rechtfertigung. FS Ernst Käsemann, 1976 (zit.: Friedrich u. a., Rechtfertigung) HENGSTL, Joachim: „Zum Erfahrungsprofil des Apostels Paulus aus rechtshistorischer Sicht“, in: Arzt-Grabner/Kreinecker, Light from the East (s. o. 1.3.2), 71 – 89 – „Zum Sprachgebrauch des Neuen Testaments aus rechtspapyrologischer Sicht“, in: P. SCHUBERT (Hg.): Actes du 26e congrès international de papyrologie, 2012, 331 – 338 HOGAN, Larry P.: Healing in the Second Tempel (sic) Period (NTOA 21), 1992 KÄSEMANN, Ernst: Exegetische Versuche und Besinnungen, 2 Bde., 1960.1964 (1965) (zit.: Käsemann, EVB) KOCH, Dietrich-Alex: Geschichte des Urchristentums (2013), 2014 KNÜTEL, Rolf: „,Der Schatz im Acker‘ und ,Die bösen Weingärtner‘. Bibelgleichnisse im Lichte zeitgenössischer Rechtsanschauungen“, JuS 26, 1986, 950a-957b (zit.: Knütel, „Bibelgleichnisse“) LABAHN, Michael/ZANGENBERG, Jürgen: Zwischen den Reichen: Neues Testament und Römische Herrschaft (TANZ 36), 2002 LEHMANNN, Arno (Hg.): Gottes ist der Orient. Festschrift für Otto Eißfeldt zu seinem 70. Geburtstag am 1. Sept. 1957, 1959 (zit.: Lehmann, FS Eißfeldt) MALINA, Bruce J.: The Social World of Jesus and the Gospels, 1996 MEYER, Eduard: Ursprung und Anfänge des Christentums, Bd. I/1: Die Evangelien (1921 u. ö.), 1924; Bd. I/2: Die Entwicklung des Judentums und Jesus von Nazaret, 1921; Bd. II/1: Die Apostelgeschichte und die Anfänge des Christentums, 1923;
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Bd. II/2: Die Ausbreitung des Christentums und die Anfänge der katholischen Kirche, 1923; Nachdruck aller vier Bände (manchmal gezählt als 1 – 4) u.d.T. Urgeschichte des Christentums, 1962 u. ö., 2000 (hier zitiert: Meyer, Evangelien usw.) MIMOUNI, Simon Claude: Le Judéo-Christianisme ancien. Essais historiques (Patrimoines), 1998 (auch engl., 2011) (NTAK) ERLEMANN, Kurt/NOETHLICHS, Karl Leo/SCHERBERICH, Klaus/ZANGENBERG, Jürgen:. (Hg.), Neues Testament und Antike Kultur, Bd. 1: Prolegomena – Quellen – Geschichte, 2004; Bd. 2: Familie, Gesellschaft, Wirtschaft, 2005; Bd. 3: Weltauffassung, Kultur, Ethos, 2005; Bd. 4: Karten, Abbildungen, Register, 2006; Bd. 5: Texte und Urkunden, 2008 ROSENMÜLLER, Johann Georg: Scholia in Novum Testamentum, 5 Bände, 5. Aufl., 1803 – 1808 (Bd. 1: 6. Aufl. 1815) SCHOEPS, Hans Joachim: Theologie und Geschichte des Judenchristentums, 1949 (zit. Schoeps, Judenchristentum) SCHWEIZER, Eduard: Neotestamentica. Deutsche und englische Aufsätze, 1963 SANDERS, Ed P. (u. a., Hg.): Jewish and Christian Self-Definition (3 Bde.), Bd. 2, 1981 SIEGERT, Folker/WITTKOWSKY, Vadim: Von der Zwei- zur Vier-Quellen-Hypothese. Vorschlag für ein vollständiges Stemma der Evangelientraditionen (Bibelstudien, 15), 2015 (zit. Siegert/Wittkowsky, Vier-Quellen-Hypothese; vgl. nächstes) – : „Von der Zwei- zur Vier-Quellen-Hypothese. Vorschlag für ein vollständigen Stemma der Evangelienüberlieferungen“, in: Ch. HEIL/G. HARB/D. SMITH (Hg.): Built on Rock or Sand? (BTS 34), 517 – 548 (zit. Siegert/Wittkowsky, „Vier-Quellen-Hypothese“; dort S. 539 das Diagramm der Abhängigkeitsverhältnisse) TOMSON, Peter/LAMBERS-PETRY, Doris (Hg.): The Image of the Judaeo-Christians in Ancient Jewish and Christian Literature (WUNT 158), 2003 WALTER, Nikolaus: Praeparatio Evangelica. Studien zur Umwelt, Exegese und Hermeneutik des Neuen Testaments, hg. W. Kraus/F. Wilk (WUNT 98), 1997 WITTKOWSKY, Vadim: Den Heiden ist dies Heil Gottes gesandt. Studien zur literarischen Konstruierung des „Heidenchristentums“ im historischen Kontext des Judenchristentums (MJSt 21), 2012 YOSHIKO REED, Annette: Jewish Christianity and the History of Judaism. Collected essays (TSAJ 171), 2018
6.2 Der historische Jesus; Jesus und die Tora; Paulus und die Tora Zum Prozess Jesu s. Literaturangaben in # 159. Zum jüdisch-christlichen Verhältnis s.u. 6.5. BAMMEL, Ernst/MOULE, C. F. D. (Hg.): Jesus and the Politics of His Day, 1984 (1985, 2011)⁴⁴ BERGER, Klaus: Die Gesetzesauslegung Jesu. Ihr historischer Hintergrund im Judentum und im Alten Testament, Bd. 1: Markus und Parallelen (WMANT 40), 1972 BERGLER, Siegfried: Judas – einer der nachösterlichen Zwölf, 2 Bde. (WMANT 168,1 – 2, durchpaginiert) 2022 BROER, Ingo (Hg.): Jesus und das jüdische Gesetz, 1992 BULTMANN, Rudolf: Jesus (1926), 1970 (u. ö.) CHILTON, Bruce/EVANS, Craig A. (Hg.): Jesus in Context. Temple, Purity, and Restoration (AGAJU 39), 1997 (zit.: Chilton/Evans, Jesus) DAUBE, David: The New Testament and Rabbinic Judaism ( Jordan Lectures 1952), 1965 – : Das Alte Testament im Neuen – aus jüdischer Sicht (engl. 1982) (Xenia. Konstanzer Althistor. Vorträge u. Forsch., 10), 1984 (zit.: Daube, Das AT)
Hier benutzt in dem an vielen Stellen korrigierten Handexemplar Ernst Bammels (Signatur im Institutum Judaicum Delitzschianum: Ee 82.30 B 199).
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DAUTZENBERG, Gerhard: „Jesus und die Tora“, in: E. ZENGER (Hg.): Die Tora als Kanon für Juden und Christen, 1996, 345 – 378 DAVIES, William David/SANDERS, Ed P.: „Jesus from the Jewish Point of View“, in: Horbury, The Cambridge History of Judaism III (2.3.2), 618 – 677 DE VOS, Cornelis J.: Rezeption und Wirkung des Dekalogs in jüdischen und christlichen Schriften bis 200 n. Chr. (AJEC 95), 2016 (zit. de Vos, Dekalog) FREY, Jörg/POPKES, Enno Edzard (Hg.): Jesus, Paulus und die Texte von Qumran (WUNT II/390), 2015 HENGEL, Martin: „Jesus und die Tora“, Theologische Beiträge 9, 1978, 152 – 172 JEREMIAS, Joachim: Die Gleichnisse Jesu, 7. Aufl. 1965 (u. ö.) – : Abba. Studien zur neutestamentlichen Theologie und Zeitgeschichte, 1966 KLAWANS, Jonathan: Purity, Sacrifice, and the Temple. Symbolism and Supersessionism in the Study of Ancient Judaism, 2006 KUHN, Heinz-Wolfgang: „Überlegungen zu Jesus im Licht der Qumrangemeinde und Bemerkungen zum Projekt ,Qumran und Paulus‘“, in: Frey/Popkes, Jesus (6.2), 417 – 471 LOADER, William R. G.: Jesus’ Attitude Towards the Law (WUNT II/97), 1997 MENKEN, M./MOYISE, S. (Hg.): Deuteronomy in the New Testament, 2007 (2008)⁴⁵ MIMOUNI, Simon C.: „Jésus de Nazareth: personnage prophétique ou messianique?“, in: G. DORIVAL/D. PRALON: Nier les dieux, nier Dieu, 2002, 225 – 252 PILHOFER, Peter: „Der andere König und sein Reich (Apg 17,7)“ in: ders. (Hg.): Neues aus der Welt der frühen Christen (BWANT 195), 2011, 127 – 136 SÄNGER, Dieter/KONRADT, Matthias (Hg.): Das Gesetz im frühen Judentum und im Neuen Testament. FS Christoph Burchard (NTOA 57), 2006 SIEGERT, Folker: Das Leben Jesu. Eine Biographie aufgrund der vorkanonischen Überlieferungen (SIJD 8/2), 2010 STAUFFER, Ethelbert: „Neue Wege der Jesusforschung“, in: Lehmann, Eißfeldt-Festschrift (s. o. 6.1), 160 – 186 THEISSEN, Gerd: Soziologie der Jesusbewegung, 1977 (u. ö.) VOGEL, Manuel: Das Heil des Bundes. Bundestheologie im Frühjudentum und im frühen Christentum (TANZ 18), 1996 Vouga, François: Jésus et la Loi selon la tradition synoptique (Le monde de la Bible), 1988
6.3 Literatur zu einzelnen Schriften des NT Die gängigen Kommentarreihen (HNT, NTD, KEK, HerderK usw.) werden nur mit Kurztiteln zitiert; HNT steht für die Erstauflage des HNT. Die Bände der Reihe Papyrologische Kommentare zum Neuen Testament s. vor # 285, 307, 315 und 327 Handbuch zum Neuen Testament, hg. Hans LIETZMANN u. a., Bd. 2 – 4, 1907 – 1926 (zit. HNT) (STRACK, Hermann L.)/BILLERBECK, Paul: Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch, 4 Bde. (in 5), 1926 – 1928 (alleiniger Verfasser: Paul Billerbeck); Bd. 5 – 6 (in 1): Rabbinischer Index. Register (Hg. J. Jeremias), 1956.1961 (u. ö.) (zit.: Bill.)
Logienquelle Q (Textausgaben s. o. 1.3.3) BAMMEL, Ernst: „Das Ende von Q“, in: Böcher/H., FS Stählin (s. 6.1) 39 – 50 HEIL, Christoph: Das Spruchevangelium Q und der historische Jesus (SBA 58), 2014
Gegliedert nach NT-Schriften; Stellenindex 189 f; nach Dtn-Stellen: 191.
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Markusevangelium DORMEYER, Detlev: Das Markusevangelium als Idealbiographie von Jesus Christus, dem Nazarener (SBB 43), 1999 MAZZA, Roberta: „The Papyrological Commentary of the Gospel of Mark. Themes, issues and some results of a work in progress“, in: Herzer, Papyrologie (1.3.2) 173 – 193
lukanisches Doppelwerk Apg. s.u. BORMANN, Lukas: „Die Verrechtlichung der frühesten christlichen Überlieferungen im lukanischen Schrifttum“, in: ders./K. DEL TREDICI/A. STANDHARTINGER (Hg.): Religious Propaganda and Missionary Competition in the New Testament World. FS Dieter Georgi (NT.S 74), 1994, 283 – 311 DAUBE, David: „Neglected nuances of exposition in Luke-Acts“, in: ANRW II 25/6 (1988), 2329 – 2356 MIKAT, Paul: „Lukanische Christusverkündigung und Kaiserkult. Zum Problem der christlichen Loyalität gegenüber dem Staat“ (1971), in: ders., RRS (s. u. 8.2) 809 – 828 TOMSON, Peter J.: „Luke-Acts: Apology of Christianity before Jews and Romans“, in: Schwartz/ders., Interbellum (s. o. 2.3.2) 442 – 454 WITTKOWSKY, Vadim: Komposition und synoptische Vorlagen des lukanischen Doppelwerkes, 2019
Lukasevangelium BORMANN, Lukas: Recht, Gerechtigkeit und Religion im Lukasevangelium (StUNT 24), 2001 FÖRSTER, Niclas: Das gemeinschaftliche Gebet in der Sicht des Lukas (Biblical Tools and Studies, 4), 2007 (zit.: Förster, Gebet) KLINGHARDT, Matthias: Gesetz und Volk Gottes. Das lukanische Verständnis des Gesetzes (WUNT II/32), 1988 – : Das älteste Evangelium und die Entstehung der kanonischen Evangelien, Bd. 1: Untersuchung; Bd. 2: Rekonstruktion, Übersetzung, Varianten (TANZ 60/1.2, durchpaginiert), 2015 (zit.: Klinghardt, Evangelium)⁴⁶
Matthäusevangelium ABEL, Ernest L.: „Who wrote Matthew?“, NTS 17, 1971, 138 – 152 GARLEFF, Gunnar: Judenchristliche Identität in Matthäusevangelium, Didache und Jakobusbrief, 2004 GORMAN, Frank H., Jr.: „When Law becomes Gospel: Matthew’ transformed Torah“, Listening 24, 1989, 227 – 240 OTTENHEIJM, Eric: „Matthew and Yavne: Religious autority in the making?“, in: Schwartz/Tomson, Interbellum (s. o. 2.3.2) 378 – 400
Dt. Text eines Proto-Lk: 1169 – 1208. Eine 2.Aufl. erschien 2020.
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Corpus Paulinum BIENERT, David C./JESKA, Joachim/WITULSKI, Thomas (Hg.): Paulus und die antike Welt, FS Dietrich-Alex Koch (FRLANT 222), 2008 DE VOS, Craig Steven: Church and Community in Conflict. The Relationships of the Thessalonian, Corinthian, and the Philippian Churches with Their Wider Civic Communites (SBL.DS 168), 1999 (zit.: C. S. de Vos, Conflict) HALL, Jerome: „Paul, the lawyer, on law“, JLawRel. 3, 1985, 331 – 379 HENGEL, Martin/HECKEL, Ulrich: Paulus und das antike Judentum (WUNT 58), 1991 LANG, Friedrich: „Gesetz und Bund bei Paulus“, in: Friedrich u. a., Rechtfertigung (6.1) 305 – 320 MELL, Ulrich: „Paulus: scheiternder Gescheiter. Ein historischer und literarischer Entwurf“, in: Sänger, 2Kor. (6.2) 199 – 223 MOMMSEN, Theodor: „Die Rechtsverhältnisse des Apostels Paulus“, ZNW 2, 1901, 81 – 97 (zit. Mommsen, „Paulus“) RENGSTORF, Karl Heinrich: Das Paulusbild in der neueren deutschen Forschung (WdF 24), 1964 THEISSEN, Gerd: Der Anwalt des Paulus, 2017 (zit.: Theißen, Paulus) TOMSON, Peter: Paul and the Jewish Law. Halakha in the Letters of the Apotle to the Gentiles (CRINT 3/1), 1990
Hier auch auf S. 1, 3, 5 usw. der gr. wie lat. Text des Codex Bezae; 256 – 371 genaue Angaben zu Varianten aus den alten Übersetzungen; 373 – 453 Text armenischer Catenen in lat. Übersetzung. Ergänzungen und Berichtigungen aus der Sicht des professionellen Historikers bietet Sherwin-White, RSRL.
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Römerbrief DOMBOIS, Hans: „Juristische Bemerkungen zur Rechtfertigungslehre“, NZSTh 8, 1966, 169 – 183 (zit.: Dombois, „Rechtfertigungslehre“) FRIEDRICH, Johannes/PÖHLMANN, Wolfgang/STUHLMACHER, Peter: „Zur historischen Situation und Intention von Röm 13,1 – 7“, ZThK 73, 1976, 131 – 166 (zit. Friedrich u. a., „Röm 13“) SIEGERT, Folker: Argumentation bei Paulus, gezeigt an Röm 9 – 11 (WUNT 34), 1985 STUHLMACHER, Peter: Gerechtigkeit Gottes bei Paulus (FRLANT 87), (1965) 1966 – : Das paulinische Evangelium, I. Vorgeschichte (m.n.e.) (FRLANT 95), 1968
1. Korintherbrief ARZT-GRABNER, Peter (Komm.): 1. Korintherbrief (PKNT 1), 2006 DINKLER, Erich: „Zum Problem der Ethik bei Paulus. Rechtsnahme und Rechtsverzicht (1Kor 6,1 – 11)“ (1952), in: ders., Signum crucis (s. o. 6.1), 204 – 240 (zit: Dinkler, „1Kor 6“)
2. Korintherbrief ARZT-GRABNER, Peter (Komm.): 2. Korintherbrief (PKNT, 2), 2014 KUHN, Heinz-Wolfgang: „Zum 2. Korintherbrief: Drei wichtige Parallelen zur Qumrangemeinde (Gemeinde Gottes, neuer Bund und Neuschöpfung)“, ZNW 110, 2019, 42 – 83 SÄNGER, Dieter (Hg.): Der zweite Korintherbrief. Literarische Gestalt – historische Situation – theologische Argumentation, FS Dietrich-Alex Koch (FRLANT 250), 2012 (zit.: Sänger, 2Kor.)
Galaterbrief BETZ, Hans Dieter (Komm.): Der Galaterbrief (Hermeneia; aus d. Amerik.), 1988 WALTER, Nikolaus: „Paulus und die Gegner des Christusevangeliums in Galatien“ in: ders., Praeparatio Evangelica (6.1) 273 – 280
Philipperbrief BORMANN, Lukas: Philippi. Stadt und Christengemeinde zur Zeit des Paulus (NT.S 78), 1995 FREY, Jörg/SCHLIESSER, Benjamin (Hg.): Der Philipperbrief des Paulus in der hellenistisch-römischen Welt (WUNT 335), 2019 PILHOFER, Peter: Philippi, Bd. 1: Die erste christliche Gemeinde Europas (WUNT 87), 1995; Bd. 2: Katalog der Inschriften von Philippi (WUNT 119), (2000), 2009 (Bd. 3 in Vorbereitung) PILHOFER, Philipp: Das frühe Christentum im kilikisch-isaurischen Bergland (TU 184), 2018
Pastoralbriefe (zum Phlm. s. # 330) ARZT-GRABNER, Peter: „Formen ethischer Weisungen in den dokumentarischen Papyri unter besonderer Ausrichtung auf 1Tim und Tit“, in: Deines u. a., Alltagskultur (6.4.1) 301 – 318 BARTSCH, Hans Werner: Die Anfänge christlicher Rechtsbildungen (ThF 34), 1965 HERZER, Jens: „Die Pastoralbriefe im Licht der dokumentarischen Papyri des hellenistischen Judentums“, in: Deines, Alltagskultur (6.4.1) 319 – 346
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Jakobusbrief JACKSON-MCCABE, Matt A.: Logos and Law in the Letter of James. The Law of Nature, the Law of Moses, and the Law of Freedom (NTS 100), 2001 LUDWIG, Martina: Wort als Gesetz. Eine Untersuchung zum Verständnis von „Wort“ und „Gesetz“ in israeltisch-frühjüdischen und neutestamentlichen Schriften. Gleichzeitig ein Beitrag z. Theol. d. Jakobusbriefes (EHS.T 502), 1994
Apokalypse WALTER, Nikolaus: „Nikolaos, Proselyt aus Antiochien, und die Nikolaiten in Ephesus und Pergamon“, ZNW 93, 2002, 200 – 226 WITULSKI, Thomas: Die Johannesoffenbarung und Kaiser Hadrian (FRLANT 221), 2007 – : Kaiserkult in Kleinasien. Die Entwicklung der kultisch-religiösen Kaiserverehrung (NTOA 63), 2007
6.4 Rechtsfragen des Neuen Testaments (thematisch) 6.4.1 Allgemeines BOCKMUEHL, Markus: Jewish Law in Gentile Churches. Halakhah and the Beginning of Christian Public Ethics, 2000 (2003) (zit.: Bockmuehl, Law) BORMANN, Lukas: Recht, Gerechtigkeit und Religion im Lukasevangelium (StUNT 24), 2001 DEINES, Roland/HERZER, Jens/NIEBUHR, Karl-Wilhelm (Hg.): Neues Testament und hellenistisch-jüdische Alltagskultur. Wechselseitige Wahrnehmungen (WUNT 274), 2011 (zit.: Deines u. a., Alltagskultur) DERRETT, J. Duncan M.: Law in the New Testament, 1970 (zit.: Derrett, Law) – : Studies in the New Testament, Bd. 1: Glimpses of the Legal and Social Presuppositions of the Authors, 1977; Bd. 2: Midrash in Action, 1978 (zit.: Derrett, Studies I.II) EGER, Otto: Rechtgeschichtliches zum Neuen Testament, 1919 KERTELGE, Karl (Hg.): Das Gesetz im Neuen Testament (QD 108), 1986 KOCH, Stefan: Rechtliche Regelung von Konflikten im frühen Christentum (WUNT II/147), 2004 (zit.: Koch, Regelung) MAYER-MALY, Theo: Rechtsgeschichtliche Bibelkunde, 2003 (zit.: Mayer-Maly, Bibelkunde) NÖRR, Dieter: „Die Evangelien des Neuen Testaments und die sogenannte hellenistische Rechtskoine“, ZSRG.R 78, 1961, 92 – 141 = ders.: Ges. Schriften 125*-174* (s. o. 5.3; zit.: Nörr, „Die Evangelien“, nach der auch in Ges. Schriften sichtbaren ZSRG-Paginierung). SÄNGER, Dieter: „Tora für die Völker – Weisungen der Liebe. Zur Rezeption des Dekalogs im frühen Judentum und Neuen Testament“, in: H. Graf REVENTLOW (Hg.): Weisheit, Ethos und Gebot. Weisheits- und Dekalogtraditionen in der Bibel und im frühen Judentum (BThSt 43), 2001, 97 – 146 STEINWENTER, Artur: „Bibel und Rechtsgeschichte“, JJP 15, 1965, 1 – 19 SHERWIN-WHITE, Adrian N.: Roman Society and Roman Law in the New Testament, 1963 (zit.: Sherwin-White, RSRL)
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6.4.2 Sachenrecht: Eigentum und Besitz, Verwaltung und Finanzen; Leihen und Kaufen BARCLAY, John M. G.: „Money and Meetings: Group formation among diaspora Jews and early Christians“, in: Gutsfeld/Koch, Vereine (s. u. 6.4.9), 113 – 127 HENGEL, Martin: Eigentum und Reichtum in der frühen Kirche, 1973
6.4.3 Schuldigkeiten (Obligationen), Forderungen, Schuldrecht Zur Schuld im Strafrecht s. 5.4.14 (Beintker) CRÜSEMANN, Frank/SCHOTTROFF, Willi (Hg.): Schuld und Schulden. Biblische Traditionen in gegenwärtigen Konflikten (KT 121), 1993
6.4.4 Aussage, Zeugnis, Vertrag BEHRENDS, Okko: „Treu und Glauben. Zu den christlichen Grundlagen der Willenstheorie im heutigen Vertragsrecht“, in: VL/D, Christentum (7.2.3) II 957 – 1006 KREUSCH, Irina Maria: Der Eid zwischen Schwurverbot Jesu und kirchlichem Recht. Verehrung oder Mißbrauch des göttlichen Namens (KStT 49), 2005
6.4.5 Arbeitsverhältnis, Lohn und Honorar DORMEYER, Detlev/SIEGERT, Folker/DE VOS, Cornelis J. (Hg.): Arbeit in der Antike, in Judentum und Christentum (MJSt 20), 2006 HENGEL, Martin: „Die Arbeit im frühen Christentum“ (1986), in: ders., Studien zum Urchristentum. Kleine Schriften VI (WUNT 234), 2008, 424 – 466
6.4.6 Botenrecht, Vollmacht, Vertretung BAMMEL, Ernst: Jesu Nachfolger. Nachfolgeüberlieferungen in der Zeit des frühen Christentums, 1988 (zit.: Bammel, Nachfolger) BÜHNER, Jan-Adolf: Der Gesandte und sein Weg im 4. Evangelium (WUNT II/2), 1977 FREY, Jörg: „Apostelbegriff, Apostelamt und Apostolizität“, in: Th. SCHNEIDER/G. WENZ (Hg.): Das kirchliche Amt in apostolischer Nachfolge, Bd. 1, 2004, 91 – 188 HENGEL, Martin: Nachfolge und Charisma (BZNW 34), 1968 LOHMEYER, Monika: Der Apostelbegriff im Neuen Testament. Eine Untersuchung auf dem Hintergrund der synoptischen Aussendungsreden (SBB 29), 1995 RÖHSER, Günter: Stellvertretung im Neuen Testament (SBS 195), 2002
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6.4.7 Personenrecht; Stellung der Frau zu Frauen im Urchristentum s.o. C 3. Lit. zur Sklaverei im NT: # 330 EISEN, Ute E.: Amtsträgerinnen im frühen Christentum. Epigraphische und literarische Studien (FKDG 61), 1996 FISCHER, Irmtraud/HEIL, Christoph (Hg.): Geschlechterverhältnisse und Macht. Lebensformen in der Zeit des frühen Christentums, 2010 GUTTENBERGER ORTWEIN, Gudrun: Status und Statusverzicht im Neuen Testament und seiner Umwelt (NTOA 39), 1999 HASLER, Victor: Die befreite Frau bei Paulus. Perspektiven und Bilanz, 1993, Zürich (Theologische Studien 139) JENSEN, Anne: Gottes selbstwußte Töchter. Frauenemanzipation im frühen Christentum? 1992 KÄHLER, Else: Die Frau in den paulinischen Briefen. Unter besonderer Berücksichtigung des Begriffes der Unterordnung, 1960, KEENER, Craig S.: Paul, Women & Wives. Marriage and Women’s Ministry in the Letters of Paul, 1992 MORGENSTERN, Matthias/TIETZ, Christian /BOURDIGNON, Christiane (Hg.): Männlich und weiblich schuf Er sie. Studien zu Genderkonstruktion und zum Eherecht in den Mittelmeerreligionen
6.4.8 Eherecht, Sexualvorschriften BALTENSWEILER, Heinrich: Die Ehe im Neuen Testament. Exegetische Untersuchung über Ehe, Ehelosigkeit und Ehescheidung, 1967 BAUMERT, Norbert: Ehelosigkeit und Ehe im Herrn. Eine Neuinterpretation von 1 Kor 7, 2. Aufl. 1986 (Forschung zur Bibel, 47) DELLING, Gerhard: „Ehebruch“, RAC 4, 1959, 666 – 677 DEMING, Will: Paul on Marriage and Celibacy. The Hellenistic Background of 1 Corinthians 7 (MSSNTS 83), 1995 EPSTEIN, L. M.: Sex Laws and Customs in Judaism, 1948 GROßHANS, Hans-Peter/SINN, Simone: „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Protestantische Transformationen im christlichen Verständnis der Geschlechterdifferenz“, in: Morgenstern, Männlich und weiblich (3.4.8), 293 – 316 INSTONE-BREWER, David: Divorce and Remarriage in the Bible. The Social and Literary Context, 2002 ISAKSSON, Abel: Marriage and Ministry in the New Temple. A Study with Special Reference to Mt 19,3 – 12 and 1Cor 11,3 – 16 (Acta Seminarii Neotestamentici Upsaliensis, 24), 1965 WEBER, Ines: „Die Bibel als Norm! Eheschließung und Geschlechterverhältnis im frühen Mittelalter zwischen biblischer Tradition und weltlichem Recht“, in: Fischer/Heil, Geschlechterverhältnisse (6.4.7), 257 – 304
6.4.9 Familie vs. freie Vereinigungen (jüdisch und christlich) ASCOUGH, Richard S.: „Voluntary Associations and the Formation of Pauline Churches“, in: Gutsfeld/Koch, Vereine (s. nachstehend) 149 – 183 FITZPATRICK-MCKINLEY, Anne: „Synagogue communities in the Graeco-Roman cities“, in: Bartlett, Jews (s. o. 2.3.2) 55 – 87 GUTSFELD, Andreas/KOCH, Dietrich-Alex (Hg.): Vereine, Synagogen und Gemeinden im kaiserzeitlichen Kleinasien (Stud. u. Texte zu Antike u. Chr., 25), 2006 LANDMESSER, Christof: „Individualität und Sozialität“, in: F.-O. SCHARBAU (Hg.): Wohlfahrt und langes Leben (VLAR 5), 2008, 45 – 67 LEONHARD, Clemens/ECKHARDT, Benedikt: Juden, Christen und Vereine im Römischen Reich (RVV 75), 2018
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6.4.11 Kirchliche Ordnung; das Amt und die Ämter CLARKE, Andrew: Secular and Christian Leadership in Corinth. A Socio-Historical and Exegetical Study of 1 Corinthians 1 – 6 (AGAJU 18), 1993 FISCHER, Irmtraud/HEIL, Christoph: „Geistbegabung als Beauftragung für Ämter und Funktionen“, JBTh 24, 2009, 53 – 92 GOPPELT, Leonhard: „Kirchenleitung in der palästinischen Urkirche und bei Paulus“, in: F. W. Kantzenbach/G. Müller (Hg.): Reformatio und Confessio. FS Wilhelm Maurer, 1965, 1 – 8 KARRER, Martin/KRAUS, Wolfgang/MERK, Otto (Hg.): Kirche und Volk Gottes. FS Jürgen Roloff, 2000 SIEGERT, Folker: „Prophetie und Diakonie. Über das ,Amt‘ im Neuen Testament, verglichen mit heutiger kirchlicher Praxis“, ThBeitr. 22, 1991, 174 – 194 SCHMELLER, Thomas/EBNER, Martin/HOPPE, Rudolf (Hg.): Neutestamentliche Ämtermodelle im Kontext (QD 239), 2010 SOMMERLATH, Ernst: „Das Amt und die Ämter“, in: Viva vox evangelii. FS Hans Meiser 1951, 292 – 307 WAGNER, Jochen: Die Anfänge des Amtes in der Kirche. Presbyter und Episkopen in der frühchristlichen Literatur (TANZ 53), 2011
6.4.12 Abgabenrecht (römisch), Spendenwesen (christlich) FÖRSTER, Niclas: Jesus und die Steuerfrage. Die Zinsgroschenperikope auf dem religiösen und politischen Hintergrund ihrer Zeit (WUNT 294), 2012 (zit.: Förster, Steuerfrage) HERRENBRÜCK, Fritz: Jesus und die Zöllner (WUNT II/41), 1990 (zit.: Herrenbrück, Zöllner) KIM, Byung-Mo: Die Paulinische Kollekte (TANZ 38), 2002 KOCH, Dietrich-Alex: „Kollektenbericht, ,Wir‘-Bericht und Itinerar“, NTS 45, 1999, 367 – 390 #
6.4.13 Prozessrecht, Gerichtswesen DASSMANN, Ernst: „Ohne Ansehen der Person“, in: D. SCHWAB/B. GIESEN (u. a., Hg.): Staat, Kirche, Wissenschaft. FS Paul Mikat, 1989, 475 – 491 MANDAS, Anna Maria: Il processo contro Paolo di Tarso. Una lettura giuridica gegli Atti degli Apostoli (21.27 – 28.31) (Quaestiones, 4), 2017
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7 Nachantik-europäisches Recht 7.1 Überblicksdarstellungen KÖBLER, Gerhard: Lexikon der europäischen Rechtsgeschichte, 1997 HATTENHAUER, Hans: Europäische Rechtsgeschichte, 1992 (4., durchges. u. erw. Aufl. 2004) LIEBS, Detlef: Das Recht der Römer und das Christentum, 2015 (zit.: Liebs, RRC) MÁTHÉ, Gábor (Hg.): Die Entwicklung der Verfassung und des Rechts in Ungarn (aus d. Ungar.), 2017 (zit. ohne Nennung des jeweiligen Einzelautors) OESTMANN, Peter: Wege zur Rechtsgeschichte: Gerichtsbarkeit und Verfahren, 2015 (zit. Oestmann, Gerichtsbarkeit) SCHLOSSER, Hans: Neuere europäische Rechtsgeschichte (Grundrisse des Rechts), 3. Aufl., 2017 (zit. Schlosser, NERG, mit Kapitel- und Randzahl: 1 § 1 usw.) SELLERT, Wolfgang/Rüping, Hinrich: Studien- und Quellenbuch zur Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 2 Bde., 1989.1993 STROHM, Christoph (Hg.): Reformation und Recht. Zur Kontroverse um die Kulturwirkungen der Reformation, 2017
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Zitiert nach den dort gebrauchten Abkürzungen: C. = code civil, Pr. = code de procédure civile, Co. = code de commerce, I. = code d’instruction criminelle, P. = code pénal. Voraus geht die Charte constitutionelle v.J. 1814 (S. I-VI). In dieser Ausgabe ist, dem Erscheinungsdatum gemäß, redaktionell roi eingesetzt, wo vorher état stand. Im Text von 1744 sind Konjekturen des Kommentators Jean de Barbeyrac enthalten, auch kenntlich gemacht und begründet. – Wo es nötig schien, werden Seite und Anfangszeile nach dem Neudruck von 1998 mitgenannt. Nicht im Nachdruck von 1967.
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7.2.2 Sekundärliteratur hierzu. Neuere Rechtsgeschichte ADOMEIT, Klaus: Rechts- und Staatsphilosophie, Band 2: Rechtsdenker der Neuzeit (1995), 2. Aufl. 2002 (zit.: Adomeit, Rechtsdenker) ARMGARDT, Matthias/Repgen, Tilman (Hg.): Naturrecht in Antike und früher Neuzeit (FS Klaus Luig), 2014 ARMGARDT, Matthias: „Naturrecht im Alten Testament, Neuen Testament und im Talmud“, in: Armgardt/Repgen, Naturrecht 1 – 15 BALDUS, Christian: „Ius gentium und ius naturale“, in: NTAK 1, 221 – 226 BACHMANN, Hanns-Martin: Die naturrechtliche Staatslehre Christian Wolffs (Schriften z. Verfassungsgeschichte, 27), 1977 BLOCH, Ernst: Naturrecht und menschliche Würde (Gesamtausgabe, Bd. 6), 1961 DÖRING, Detlef: Beiträge zur Biographie Samuel von Pufendorfs und zu seiner Entwicklung als Historiker und theologischer Schriftsteller, 1992 – : Samuel Pufendorf in der Welt des 17. Jahrhunderts. Untersuchungen zur Biographie Pufendorfs und zu seinem Wirken als Politiker und Theologe, 2012
Mit Kapitelzahl sowie Seitenzahl des engl. Neudrucks in Klammern. Neue dt. Übers. (hier nicht benutzt): Über die Pflicht des Menschen und Bürgers nach dem Gesetz der Natur, übers. K. Luig (Bibl. d. deutschen Staatsdenkens, 1), 1994. Diese Ausgabe hat außer den (wenigen) Kapitelzahlen auch eine Zählung in Abschnitten. Bibelstellenindex: S. XIII–XVIII. Text ohne diese Nachschlagehilfen auch in Spinoza: Opera. Werke, Bd. 1, hg. G. Gawlick/F. Niewöhner, 1979 (1989). Text ohne kritische Anmerkungen, aber mit dt. Übers. auch in Spinoza: Opera. Werke, Bd. 2, hg. B. Blumenstock, 1967 (1989 1– 83). Hat die seither gültige, chronologische Nummerierung; die Nummern der Erstausgabe 1677 werden in Klammern gegeben. Das bei Becker, „Systembildung“ 40 Anm. 94 zitierte Titelblatt hat ein verdrucktes Datum. – Übersicht über den Inhalt der Bde. 2– 7 dort S. 41.
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8 Theologie und Recht, Kirchenrecht 8.1 Bekenntnisschriften und Offizielles 8.1.1 Originaltexte (Barmer Erklärung) Die Barmer Theologische Erklärung. Einführung und Dokumentation, hg. A. Burgsmüller/R. Weth, 1983 (Bekenntnisschriften) Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, hg. v. Deutschen Evangelischen Kirchenausschuss (1930), 3. verb. Aufl. 1956 (u. ö., zuletzt 2010; zit: BSLK);⁵⁹ dito, vollständige Neuedition von I. Dingel, 2014 Bekenntnisschriften und Kirchenordnungen der nach Gottes Wort reformierten Kirche, hg. W. NIESEL (1945,⁶⁰ 1947), 1950 (zit.: Niesel, mit Seite und Zeile) DENZINGER, Heinrich/SCHÖNMETZER, Adolf (u. a., Hg.): Enchiridion symbolorum definitionum et declarationum de rebus fidei et morum, 36. Aufl. 1967 (bzw.)⁶¹ 45. Aufl. 2017 (zit.: D/S, Enchiridion)
Populär, für Nichtjuristen. Nach Seiten- und Abschnittszahlen dieser Ausgabe, in der Neuausgabe wiederholt, wird hier zitiert. Orthographisch modernisierte Ausg. der dt. Fassung: H. G. Pöhlmann (Hg.): Unser Glaube. Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche (1986, 1987) 1991 (2000). Das Vorwort ist datiert 1938. Die Nummern ab der 32. Aufl. sind gleich bis auf Nuancen, ebenso die Textabgrenzungen; mitverglichen wurde die den neueren Auflagen beigegebene dt. Übersetzung.
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8.1.2 Lateinischsprachige Theologie (BAIER, Wilhelm) Jo(hannis) Guilelmi Baieri Compendium theologiae positivae ( Jena 1694), 1864 CALVIN(US), Johannes ( Jean): Institutio Christianae religionis (1559), Genf 1569 (mit Registern von Augustin Marlorat) – : Ioannis Calvini in Novum Testamentum commentarii, ed. A. Tholuck, 5 Bde., 1831 – 33 (zit.: Calvin z.St.) (Erasmus) Desiderii Erasmi Roterodami Colloquia familiaria [1533] et Encomium moriae. Editio stereotypa, 2 Bde., Leipzig: Holtze (o. J., 19, Jh.); Erasmus von Rotterdam: Colloquia familiaria. Vertraute Gespräche, hg. u. übers. W. WELZIG (Erasmus von Rotterdam, Ausgewählte Schriften, Bd. 6), 1967 (Teilausgabe nach der vorigen, mit Übersetzung) (HACKSPAN, Dietrich) Theodorici Hackspanii (…) Miscellaneorum sacrorum libri duo, Altdorf 1660 (zit.: Hackspan, Miscell.) – : Theodorici Hackspanii (…) Notarum philologico-theologicarum in varia et difficilia Scripturae loca, 3 Bde., Altdorf 1664 (Bd. 1 – 2: AT; Bd. 3: Evangelien; zit.: Hackspan, Notae) (MOSHEIM, Lorenz): Joh(annis) Laur(entii) a Mosheim Elementa theologiae dogmaticae in tabulas synopticas redacta, hg. C. C. Sturm, Nürnberg 1766 (Nachdruck on demand: www.kessinger.net) PISCATOR (FISCHER), Johannes: Commentarii in omnes libros Novi Testamenti (1602 – 1604), Herborn 1658
Dies ist, im Gegensatz zu fast allen anderen, eine Urtextausgabe, eine Weimarana in Auswahl. Die WAPaginierung steht am Rand. Die WA selbst ist online über Suchmaschinen aufrufbar unter „Luther Weimarer Ausgabe online“.
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8.2 Monographien, Sammelbände, Aufsätze ANDERSON, Norman: A Lawyer Among the Theologians, 1973 ASMUSSEN, Hans: Warum noch lutherische Kirche? Ein Gespräch mit dem Augsburger Bekenntnis, 1949 (1969) BARTH, Karl: Die christliche Lehre nach dem Heidelberger Katechismus, 1949 BERGGRAV, Eivind: Der Staat und der Mensch, 1946, Teil III, Anhang: „Religion und Recht“. Vortrag, gehalten in der Juristenvereinigung zu Oslo am 5. Februar 1941, 349 – 364 – : „ʻWenn der Kutscher trunken ist.ʼ Luther über die Pflicht zum Ungehorsam gegenüber der Obrigkeit“ (1941), ebd. 365 – 387 BEUTEL, Albrecht/WIGGERMANN, Uta: Martin Luther. Reformatorische Hauptschriften des Jahres 120 (Studienreihe Luther, 12), 2017 BÖCKENFÖRDE, Ernst-Wolfgang: Kirche und christlicher Glaube in den Herausforderungen der Zeit. Beiträge zur politisch-theologischen Verfassungsgeschichte (2002), 2007 BOHATEC, Josef: Calvin und das Recht, 1934 CAMPI, Emilio/OPITZ, Peter/SCHMID, Konrat (Hg.): Johannes Calvin und die kulturelle Prägekraft des Protestantismus, 2012 DELLING, Gerhard: Studien zum Neuen Testament und zum hellenistischen Judentum. Ges. Aufs. 1950 – 1968, hg. F. Hahn/T. Holtz/N. Walter, 1970 – : „Perspektiven der Erforschung des hellenistischen Judentums“ (1974), in: ders.: Studien zum Frühjudentum. Ges. Aufs. 1971 – 1987, 160 – 200 DOMBOIS, H./WILKEN, E. (Hg.): Macht und Recht. Beiträge zur lutherischen Staatslehre der Gegenwart, 1956 ECKERT, Jörn/HATTENHAUER, Hans: Bibel und Recht. Rechtshistorisches Kolloquium (Rechtshistorische Reihe, 121), 1994 ELERT, Werner: Der Kampf um das Christentum seit Schleiermacher und Hegel, 1921 (2005) – : Morphologie des Luthertums, Bd. 1, 1931 (1952); Bd. 2, 1932 (1953) (beide 1958.1965) – : Der christliche Glaube. Grundlinien der lutherischen Dogmatik (1940, 1941), hg. E. Kinder 1956 (1988) – : Das christliche Ethos. Grundlinien der lutherischen Ethik, (1949), hg. E. Kinder 1961 – : Zwischen Gnade und Ungnade. Abwandlungen des Themas Gesetz und Evangelium, 1948 – : „Gesetz und Evangelium“ (ebd. 132 – 169), zit. nach: Keller-H., Ein Lehrer (s. übernächstes) 51 – 75 – : Abendmahl und Kirchengemeinschaft in der Alten Kirche hauptsächlich des Ostens 1954 (2007) (zit.: Elert, Kirchengemeinschaft) (ELERT, Werner) Ein Lehrer der Kirche. Kirchlich-theologische Aufsätze und Vorträge von Werner Elert, hg. Max Keller-Hüschemenger, 1967 (zit.: Keller-H., Ein Lehrer) (Gedenkschrift W. Elert) Friedrich HÜBNER u. a. (Hg.): Beiträge zur historischen und systematischen Theologie. Gedenkschrift für Werner Elert, 1955 ELLUL, Jacques: Die theologische Begründung des Rechts (Le fondement théologique du droit, dt.), 1948 EVDOKIMOV, Paul: L’Orthodoxie (1959), 1965 FOX, Robin Lane: The Unauthorized Version. Truth and Fiction in the Bible, 1992⁶³ GROßHANS, Hans-Peter: „Sola Scriptura. Kirchenreform aus der Treue zum Evangelium“, in: P. KLASVOGT/B. NEUMANN (Hg.): Reform oder Reformation? Kirchen in der Pflicht, 2014, 118 – 144 GRUNDMANN, Siegfried (Hg.): Für Kirche und Recht. FS Johannes Heckel, 1959
Auch dt. erschienen: Im Anfang war das Wort. Legende und Wahrheit in der Bibel, 1995 (nachgedruckt unter dem irreführenden Titel: Die Geheimnisse der Bibel richtig entschlüsselt, 2001).
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Wird hier zitiert nach den zahlreichen, durchnummerierten Fußnoten. Typographischer Nachtrag: Im Anmerkungsteil dieses Buches gehören zu den S. 13 ff die S. 379, zu 35 ff: 380; zu 44 ff: 382; zu 61 ff: 383; zu 69 ff: 384; zu 79 f: 385; zu 89 ff: 387; zu 103 ff: 391; zu 114 ff: 392; zu 125 ff: 393; zu 134 ff: 394; zu 168 ff: 399; zu 179 ff: 401; zu 202 ff: 402; zu 211 ff: 403; zu 217 ff: 404; zu 233 ff: 406; zu 252 ff: 408; zu 265 ff: 410; 279 ff: 412; zu 293 ff: 413, zu 301 ff: 414; zu 313 ff: 416; zu 336 ff: 419; zu 358 ff: 423. Es handelt sich um Aufsätze und Lexikonartikel der Jahre 1957– 1974. Nachweis der vorausgehenden Veröffentlichungen, die 1962– 1984 entstanden, in Bd. 2, S. 1009 – 1013.
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8.4 Kirchen- und Staatskirchenrecht Codex Iuris Canonici. Codex des kanonischen Rechtes, lat.-dt. (2. Aufl. 1983),⁶⁸ 2001 (2009) Lexikon für Kirchen- und Staatskirchenrecht, 3 Bde., 2000 – 2004 (zit. LexikonKStKR) ANKE, Hans Ulrich/DE WALL, Heinrich/HEINIG, Hans Michael: Handbuch des evangelischen Kirchenrechts, 2016 DE WALL, Heinrich/MUCKEL, Stefan: Kirchenrecht. Ein Lehrbuch ( Juristische Kurzlehrbücher), 5. Aufl. 2017 GRAULICH, Markus/WEIMANN, Ralph (Hg.): Ewige Ordnung in sich verändernder Gesellschaft? Das göttliche Recht im theologischen Diskurs (QD 287), 2018 GRETHLEIN, Christian: Evangelisches Kirchenrecht. Eine Einführung, 2015 HAERING, Stephan/REES, Wilhelm/SCHMITZ, Heribert: Handbuch des katholischen Kirchenrechts, 3. Aufl., 2015 HEINIG, Hans Michael/MUNSONIUS, Hendrik: 100 Begriffe aus dem Staatskirchenrecht (2012), 2015
Dies ist die von Papst Johannes Paul II. autorisierte und seither gültige Fassung. Zitate in deutscher Sprache, sofern mit „Internet“ gekennzeichnet, kommen aus der im Internet veröffentlichten dt. Fassung.
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Aktuelle deutsche Gesetzestexte sowie die darauf bezügliche juristische Literatur, worauf v. a. in der Rubrik „Heutige Regelung(en)“ hingewiesen wird, sind hier, vom Grundgesetz und vom BGB abgesehen, nicht in ihrer Buchform verarbeitet, sondern in der elektronischen. Hierzu s. Abkürzungsverzeichnis, Ende.
Liste der behandelten Perikopen Zu den Epochenzuweisungen A, B und C s. o. 5.1.
Band II Die Logienquelle (A) #1 #2 #3 #4 #5 #6 #7 #8 #9 # 10 # 11 # 12 # 13 # 14 # 15 # 16 # 17 # 18 # 19 # 20
Q 3,8 Das Verdienst/die Unschuld Abrahams Q 4,4.6.8.12 „Es steht geschrieben“ Q 6,22 f.27 – 30.32 – 36 „Liebt eure Feinde!“ Das Liebesgebot Q 6,31 Die Goldene Regel. Der Respekt Q 6,37 – 42 „Richtet nicht!“ Q 6,46 „Was nennt ihr mich ‘Herr’?“ Q 7,31 – 35 Provokationen Jesu: Unmündige als Vorbild Q 9,57 f Jesus hat kein Eigentum. Eigentum und Besitz Q 9,59 – 62 „Lass die Toten ihre Toten begraben“ Q 10,7 „Der Arbeiter ist seinen Lohn wert“ Q 10,16 „Ich sende euch“: Botendienst Q 10,11 „Schüttelt den Staub von euren Füßen!“ Q 11,42 – 44 Pharisäerschelte Q 11,51 Mord im Tempel Q 12,8 f Bekennen und Verleugnen Q 12,49.51 „Feuer zu legen, bin ich gekommen“ Q 16,10 – 15 „Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon“ Q 16,16 f „Das Gesetz und die Propheten (…) bis Johannes“. Die Rechtsbegrü ndung Jesu Q 16,18 Scheidung ist Ehebruch Q 22,28 – 30 „ihr werdet zu Gericht sitzen…“
Das Markusevangelium (A) # 30 # 31 # 32 # 33 # 34 # 35 # 36 # 37 # 38 # 39 # 40 # 41
Mk 1,1 „Evangelium“ Mk 1,4 f.15 „Tut Buße!“ Das Reich Gottes Mk 1,11 „Dies ist mein geliebter Sohn“: Adoption Mk 1,22a „Er lehrte sie wie einer, der Vollmacht hat…“ Mk 1,22b „…und nicht wie die Schreiber“ Mk 1,29 das Haus des Petrus und Andreas; das „Haus“ im sozialen Sinn Mk 1,38 Landstädte Mk 1,40 – 45 Heilung eines Aussätzigen Mk 2,5 „Als Jesus ihren Glauben sah…“ Mk 2,14 – 17 Berufung eines Zöllners; das Zöllnerproblem Mk 2,23 – 28 Ährenraufen am Sabbat Mk 3,1 – 5 Eine Heilung als „Lebensrettung“
https://doi.org/10.1515/9783110658347-023
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# 42 # 43 # 44 # 45 # 46 # 47 # 48 # 49 # 50 # 51 # 52 # 53 # 54 # 55 # 56 # 57 # 58 # 59 # 60 # 61 # 62 # 63 # 64 # 65 # 66 # 67 # 68 # 69 # 70 # 71 # 72 # 73 # 74 # 75 # 76 # 77 # 78 # 79 # 80 # 81 # 82
Liste der behandelten Perikopen
Mk 3,6 Die Herodianer (Königssklaven?); Phil 4,22 Kaisersklaven Mk 3,13 – 19 Die Zwölf: Vertretung, Bevollmächtigung Mk 3,27 (Q 12,29) „…seinen Hausrat ausrauben“: Raub und Diebstahl Mk 3,28 – 30 Die Sünde wider den Heiligen Geist, Blasphemie Mk 3,31 – 35 Jesu wahre Familie; der Wille Gottes Mk 5,26 „Sie hatte viel erlitten von vielen Ärzten“ Mk 6,17a Gefangensetzung Johannes des Täufers Mk 6,17b-18 Vorwurf des Inzests Mk 6,19 – 29 Die Hinrichtung Johannes des Täufers Mk 7,1 – 8 Die „Überlieferungen der Älteren“ Mk 7,9 – 13 Jesu Ablehnung des Qorban Mk 7,10 – 12 Das Elterngebot im Neuen Testament Mk 7,15 – 23 Innere vs. äußere (Un‐)Reinheit Mk 8,29 „Du bist der Gesalbte“: der Messiastitel Mk 8,34 „…der nehme sein Kreuz auf sich“: Das Kreuzeszeichen Mk 9,33 – 35 der Rangstreit der Jünger Mk 9,38 – 40 Die Formel „Im Namen…“ Mk 10,2 – 12 Begründung der Ehe; Ablehnung des Scheidebriefs Mk 10,18 – 22 Der Dekalog im Neuen Testament: Die Zweite Tafel Mk 10,45 „ein Lösegeld für viele“: der Sklavenfreikauf Mk 11,2 – 6 Losbinden eines Lasttiers Mk 11,7 – 10 Jesu messianischer Einzug in Jerusalem Mk 11,15 – 17 Der Konflikt am Tempel Mk 11,27 – 33 „Hohepriester, Schreiber, Älteste“ Mk 12,1 – 12 Die böswilligen Weingärtner Mk 12,13 – 17 Der Denar für den Kaiser Mk 12,18 – 27 Die Leviratsehe Mk 12,28 – 34 Das Doppelgebot der Liebe; Dekalog, 1. Tafel Mk 12,40 – 44 Das Scherflein der Witwe Mk 14,10 f.19 – 21 Der „Verrat“ des Judas; der „Judaslohn“; Mittäterschaft Mk 14,46 f Die Verhaftung Jesu; der Schwerthieb Mk 14,47b Der Sklave des Hohenpriesters Mk 14,48 „Wie zu einem Banditen…“: die Todesstrafe wegen Aufruhr Mk 14,55; 15,3 Die Anklage gegen Jesus Mk 14,56 – 59 „Viele legten falsches Zeugnis ab“ Mk 15,16 – 20 Be- und Entkleidung Jesu Mk 15,21 Der Tragedienst des Simon v. Kyrene Mk 15,24 Das Verteilen der Kleider Jesu Mk 15,26 Die „Schuld“ Jesu Mk 15,40 f; 16,1 „Maria Magdalena, Maria, Mutter des Jakobus… und Salome“: Zeuginnen? Mk 15,42 – 45 Der Dienst des Joseph von Arimathaea. Jesu Grab
Band III Sondergut des Lukasevangeliums (B) # 90
Lk 1,5 „Herodes, König Judäas“
Liste der behandelten Perikopen
# 91 # 92 # 93 # 94 # 95 # 96 # 97 # 98 # 99 # 100 # 101 # 102 # 103 # 104 # 105 # 106 # 107 # 108 # 109 # 110 # 111 # 112 # 113 # 114 # 115 # 116
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Lk 2,1a Kaiser Augustus Lk 2,1b-5 Der Census; Judäa als Teil einer römischen Provinz Lk 3,1 – 4 „Im fünfzehnten Jahr“: Datumsangaben Lk 3,10 – 14 Standespredigt Johannes des Täufers Lk 4,16 – 20 die Synagoge Lk 5,10 „Jakobus und Johannes, welche Simons Genossen waren“ Lk 7,5 „Er liebt unser Volk“: das Staatsvolk; ein Gottesfürchtiger Lk 7,41 – 43 Das Gleichnis von den beiden Schuldnern Lk 10,29 – 37 Der barmherzige Samariter Lk 11,45 f Die Rechtskundigen (hier Gegenstand einer Beleidigung) Lk 12,13 – 21 Die verweigerte Erbteilung Lk 12,42 – 48 Der getreue Verwalter Lk 14,7 – 11 „Freund, rück höher!“ Sitzordnung Lk 14,18 f Kauf und Erwerb Lk 15,11 – 32 Der verschwenderische und der sparsame Sohn Lk 16,1 – 10 Der raffinierte Verwalter Lk 17,7 – 10 Die unnützen Sklaven Lk 18,2 – 5 Der Richter und die Witwe Lk 19,8 Zachäus gibt unrecht Gewonnenes zurück Lk 19,11 – 27 Die anvertrauten Silbertalente; „macht Geschäfte“: der Zins Lk 20,20 „Sie entsandten Späher“ (Denunzianten) Lk 21,24 „Sie werden als Gefangene weggeführt werden“ Lk 22,5 „sie vereinbarten“ (Vulg. pacti sunt): der Vertrag Lk 22,29 „Ich vemache euch ein Königreich“ (Legat) Lk 23,6 – 11 „Ob der Angeklagte Galiläer sei“: Antipas als Landesherr Lk 23,51 Joseph v. Arimathaea „hatte nicht zugestimmt…“
Sondergut des Matthäusevangeliums (B-C) # 120 # 121 # 122 # 123 # 124 # 125 # 126 # 127 # 128 # 129 # 130 # 131 # 132 # 133 # 134 # 135 # 136 # 137 # 138
Mt 1,1 – 17 Die Genealogie Jesu Mt 1,18 f Joseph möchte seine Verlobte heimlich verlassen Mt 2,16 – 18 Der Kindermord des Herodes Mt 5,5 (Vulg. 5,4) „Sie werden das Land ererben“. Jüdisches Erbrecht Mt 5,9 „Selig sind die Friedensstifter“: Friedensrichter, Vermittler Mt 5,17 – 48 „Ich aber sage euch…“: Jesus als neuer Mose; die bessere Gerechtigkeit Mt 5,21 – 24 „Geh erst, versöhne dich…“: der außergerichtliche Vergleich Mt 5,25 f Der Gang vor Gericht (Zivilprozess); judäische Gerichtshierarchie; Vollstreckung, Schuldhaft Mt 5,28 „Wer eine Frau ansieht, sie zu begehren…“ Mt 5,32 Unzucht als Scheidungsgrund Mt 5,33 – 36 „Ihr sollt nicht schwören“; die Pflicht zur Wahrhaftigkeit Mt 5,38 „Auge um Auge, Zahn um Zahn“: die Talion Mt 5,45 Gottes Sonne „über Gerechte und Ungerechte“ Mt 6,1 – 4 „Übt eure Gerechtigkeit nicht vor den Menschen“ Mt 6,12 „Erlass uns unsere Verpflichtungen“: die Obligation Mt 13,44 Der Schatz im Acker Mt 16,18 „Du bist Petrus…“: die Gründung der Kirche Mt 16,19 „Ich werde dir die Schlüssel… geben“ Mt 17,24 – 27 Die Tempelsteuer
692
# 139 # 140 # 141 # 142 # 143 # 144 # 145 # 146 # 147 # 148 # 149 # 150
Liste der behandelten Perikopen
Mt 18,15 – 18 Die matthäische Gemeinderegel; Kirchenzucht Mt 18,23 – 34 Der hartherzige Funktionär: Schuldeneintreibung bis zur Schuldknechtschaft Mt 19,12 „Eunuchen… für das Himmelreich“ Mt 20,1 – 16 Die Arbeiter der 11. Stunde (Tagelöhnerei) Mt 22,11 f „ohne Hochzeitskleid“: Kleiderordnung Mt 23,15 „einen Proselyten zu machen“ Mt 24,45 – 51 Der gute und der böse Knecht Mt 25,31 – 46 Das Weltgericht Mt 27,3 – 5 Das Suicid des Judas Mt 27,6 – 10 Die Verwendung der dreißig Silberdenare Mt 27,25 „Sein Blut (komme) über uns und über unsere Kinder!“ Mt 28,18 – 20 Die kirchliche Taufe
Martin Pennitz # 159 Der Prozess Jesu. Rechtshistorische Untersuchung anhand der kanonischen Evangelien
Band IV Nichtsynoptisches vorjohanneisches Traditionsgut ( Joh A) # 160 # 161 # 162 # 162 # 164 # 165
Joh 4,4 – 9.16 – 19 Jesus und die samaritanische Frau Joh 4,46 – 54 Die Heilung des Sohnes des „Königlichen“/des Sklaven des Centurio Joh 11,1 – 3 Maria, Martha und Lazarus Joh 11,47 – 53: „Es versammelten die Hohenpriester und Pharisäer ein Synhedrium“ Joh 18,3.12 Die Kohorte (am Jerusalemer Tempel) Mk 15,16b Joh 18,28.33; 19,13 Das Praetorium; die Gerichtstribüne
Der Erstentwurf des Johannes ( Joh B) # 170 # 171 # 172 # 173 # 174 # 175 # 176 # 177 # 178 # 179 # 180 # 181
Joh 5,31 – 36 Jesu Zeugnis von sich selbst Joh 7,49 „Diese Masse hier…“ (der ‘am ha-’aräç) Joh 8,2 – 11 Jesus und die Ehebrecherin Joh 8,33 „Wir sind nie jemandes Sklave gewesen“: Freiheit Joh 9,21 „Er (der Blinde) ist volljährig“ Joh 13,16 „Nicht ist der Abgesandte größer, als der ihn sandte“ Joh 14,16 – 26 Der „Anwalt“ (Verteidiger) Joh 15,14 f „Ihr seid meine Freunde“ Joh 18,31b „Uns ist nicht erlaubt, jemanden zu töten“ Joh 19,12 „…dann bist du kein Freund des Kaisers“ Joh 19,19 f „auf Hebräisch, Griechisch und Römisch“: der titulus crucis Joh 19,25 – 27 Jesu letzter Wille
Liste der behandelten Perikopen
Die Zusätze des Johannesevangeliums ( Joh C) # 190 Joh 8,41 „Wir sind nicht aus Unzucht geboren“: uneheliche Kinder # 191 Joh 19,35 „Der dies gesehen hat, bezeugt es“ # 192 Joh 21,15 – 23 Rangstreit zwischen Petrus und Lieblingsjünger
Die Apostelgeschichte (B) # 200 # 201 # 202 # 203 # 204 # 205 # 206 # 207 # 208 # 209 # 210 # 211 # 212 # 213 # 214 # 215 # 216 # 217 # 218 # 219 # 220 # 221 # 222 # 223 # 224 # 225 # 226 # 227 # 228 # 229 # 230 # 231 # 232 # 233 # 234 # 235 # 236 # 237
Apg 1,6 „Stellst du Israel sein Königreich wieder her?“ Die erhoffte Theokratie Apg 1,15 – 26 Nachwahl des Matthias; „Klerus“ Apg 2,44 – 46 „Sie hatten alles gemeinsam“: der sog. Urkommunismus Apg 4,15 – 21 Redeverbot für die Apostel Apg 5,1 – 11 Hananias und Sapphira Apg 5,29 „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“ Apg 6,1 – 6 Einrichtung des Diakonats: Ordination; Handauflegung Apg 6,8 – 8,2 Der Prozess des Stephanus; seine Steinigung Apg 9,1 f Der Sonderauftrag des Paulus Apg 11,19 – 25 Juden in Antiochien: Bürger? Apg 11,26 der Name „Christen“ Apg 12,3 – 19 Gefangenenbefreiung Apg 12,20 – 22 „das Volk“ (von Caesarea a. M.) Apg 13,6 – 12 „Ein Magier und Pseudoprophet“ Apg 13,9 „Saulus, der auch Paulus heißt“: Namen Apg 14,23 Das Presbyteramt Apg 15,1 – 35 „Es beschlossen die Apostel…“: das Aposteldekret Apg 16,3 Beschneidung des Timotheus (vs. Gal 2,3 Nichtbeschneidung des Titus) Apg 16,12.19 f.35 – 40 Philippi als „Kolonie“. Das Funktionieren der kommunalen Instanzen Apg 16,16 – 24 Austreibung eines Wahrsagegeistes; Schadensklage Apg 16,21 „Sitten, die wir als Römer nicht übernehmen dürfen“ Apg 16,19 – 23.35 – 39 Gewaltanwendung vor Gericht; Rehabilitation Apg 17,5 – 9 Erregung öffentlichen Ärgernisses; Kaution Apg 17,18 – 22 Paulus auf dem Areopag Apg 17,23 – 34 „Dem unbekannten Gott“ Apg 17,26 „Er hat die vorgeschriebenen Zeiten und Grenzen festgesetzt“ Apg 18,12 – 17 Paulus vor Gallio Apg 19,9 „in der Schule des Tyrannus“ Apg 19,19 Bücherverbrennung Apg 19,23 – 40 Der Aufruhr der Silberschmiede Apg 20,7 – 12 Der Sturz vom Fenster Apg 21,20 – 26 Umwidmung einer Kollekte? Auslösung eines Gelübdes Apg 21,27 – 40 Mobbing gegen Paulus am Tempel: „versuchte“ Tempelentweihung Apg 21,39 „Bürger einer nicht unbedeutenden Stadt Kilikiens“ Apg 22,24 – 30 Das Verhör des Paulus; sein römisches Bürgerrecht Apg 24,1 – 4 Tertullus: „…in deiner Billigkeit“ Apg 24,24 „Drusilla…, die eine Jüdin war“ Apg 25,13 König Agrippa II.
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694
Liste der behandelten Perikopen
# 238 Apg 27,19 – 29 „…warfen sie die Ladung ab“ # 239 Apg 27,42 „…die Gefangenen zu töten“ # 240 Apg 28,16 – 31 Paulus unter Bewachung in Rom
Hans Kiefner # 249 Der Prozess des Paulus
Band V Hebräerbrief, Römerbrief Der Hebräerbrief (A) # 250 # 251 # 252 # 253 # 254 # 255
Hebr 1,6 Christus „der Erstgeborene“ Hebr 4,14 „Lasst uns festhalten am Bekenntnis“ Hebr 7,18 „Aufhebung einer früheren Verfügung“ Hebr 7,22 Jesus „Bürge einer besseren Verfügung“ Hebr 8,6 (u. ö.) der „Mittler“ Hebr 11,23 „der Erlass des Königs“
Der Römerbrief des Paulus (A) # 260 # 261 # 262 # 263 # 264 # 265 # 266 # 267 # 268 # 269 # 270 # 271 # 272 # 273 # 274 # 275 # 276 # 277 # 278 # 279 # 280 # 281
Röm 1,1 „Paulus, Apostel…“ Röm 1,2 „das er vorher verheißen hat“: das Versprechen Röm 1,17 „Offenbart wird die Gerechtigkeit Gottes in ihm“: die Begnadigung Röm 1,18 – 23 Der natürliche Mensch; die natürliche Gotteserkenntnis Röm 1,24 – 27 Verwerfung der Homosexualität Röm 2,11 „Bei Gott ist kein Ansehen der Person“ Röm 2,14 – 16 Beurteilung/Verurteilung mit und ohne Tora: das Naturrecht Röm 2,15 Das „im Herzen geschriebene Gesetz“: das Gewissen Röm 3,25 f Christus als „Sühnemittel“: Sühne, Amnestie Röm 4,3 – 8: „es wurde ihm angerechnet zur Gerechtigkeit“: die Anrechnung (Imputation) Röm 5,6 – 8 „Kaum stirbt jemand für einen Gerechten“: Stellvertretung Röm 5,12 – 14 „Wie durch einen Menschen die Sünde in die Welt kam…“ Röm 6,3 – 7,6 Taufe „in den Tod“ Christi Röm 7,7 – 11 „Die Sünde würde ich nicht kennen…“: Kenntnis des Gebots als Reiz zur Übertretung Röm 7,14 – 23 Heteronomie; der „gefallene“ Adam. Probleme des Willens Röm 8,3 f Die Unerfüllbarkeit der Tora; dikaiōma „Rechtsforderung, -bestimmung“ Röm 8,26 – 34 „…der für uns eintritt“: Fürsprache Röm 9,4 „Ihrer sind die Bundesschlüsse“ Röm 10,3 f „das Ziel/Ende des Gesetzes“ Röm 12,17 – 19 „Mein (Gottes) ist die Vergeltung“ (das Gottesgericht) Röm 13,1 – 6 Obrigkeit(en) von Gott geordnet: Souveränität vs. Theokratie Röm 13,4 „Nicht umsonst trägt sie das Schwert“
Liste der behandelten Perikopen
# 282 Röm 13,7 „Ehre, wem Ehre gebührt“ # 283 Röm 15,8 „Christus wurde Diener“: das Amt in der Kirche # 284 Röm 16,7 „Grüßt Junia, herausragend unter den Aposteln!“
Band VI Die übrigen Episteln und die Apokalypse # 285 # 286 # 287 # 288 # 289 # 290 # 291 # 292 # 293 # 294 # 295 # 296 # 297 # 298 # 299 # 300 # 301 # 302 # 303 # 304 # 305 # 306 # 307 # 308 # 309 # 310 # 311 # 312 # 313 # 314 # 315 # 316 # 317 # 318 # 319 # 320 # 321 # 322 # 323 # 324 # 325 # 326
1Kor 5,3 – 5 Ausschluss aus der Gemeinde, Exkommunikation 1Kor 5,9 – 13; 6,9 – 19 „Habt keinen Umgang mit Unzüchtigen“ 1Kor 6,1 – 8 Eigengerichtsbarkeit der christlichen Gemeinde; Beginn des Kirchenrechts 1Kor 6,20 „Ihr wurdet um einen (hohen) Preis erkauft“: Menschenwürde 1Kor 7,1 – 11.25 – 35 Die Ehe unter Christen 1Kor 7,12 – 16 Die religionsverschiedene Ehe 1Kor 7,17 – 24 „Jeder bleibe in der Berufung…“ 1Kor 7,36 – 38 „Jemandes Jungfrau“ 1Kor 7,39 f „frei ist sie, zu heiraten“: die zweite Ehe 1Kor 9,3 – 14 Das Recht, „aus dem Evangelium zu leben“: die Unterhaltspflicht der Gemeinden 1Kor 9,7 Soldatsein (Metapher für Apostolat) 1Kor 9,9 „Kümmert Gott sich um die Rinder?“: Tierschutz 1Kor 10,16 – 22 „die Gemeinschaft des Blutes Christi“: die Teilhabe; der Verein 1Kor 10,23 – 33 „…aber nicht alles nützt“ 1Kor 11,3 – 16 „Haupt des Weibes ist der Mann“ 1Kor 11,24: „Das ist mein Leib“: die Körperschaft 1Kor 11,25 Die neue diathēkē (Bund? Testament?) 1Kor 11,27 – 33 „Wer aber unwürdig isst…“ 1Kor 12,12 – 31 Leib und Glieder: Organmetaphorik als Rechtsbegründung 1Kor 14,33b-37 „Die Frauen sollen in den Kirchen schweigen“ 1Kor 14,40 „Alles soll mit Ordnung geschehen“ (Gottesdienstordnung) 1Kor 15,7 Jakobus, der Bruder Jesu, und die drei „Säulen“ (Gal 1,9) 2Kor 1,22 „das Pfand des Geistes“ 2Kor 3,6 „Der Buchstabe tötet…“ 2Kor 5,18 – 20 „Botschafter an Christi statt: Lasst euch versöhnen…“ 2Kor 8,13 f „…damit Ausgleich geschehe“ 2Kor 9,12: leitourgia „öffentlicher Dienst“ 2Kor 11,24 f: „Vierzig Schläge weniger einen“ 2Kor 12,16: „mit List habe ich euch gekriegt“ 2Kor 13,1 „Auf zweier oder dreier Zeugen Aussage…“ Gal 1,8 f „…der sei im Bann“: Bann und Synagogenausschluss Gal 2,1 – 10 „Sie reichten uns die Hände, damit wir…“: Verabredung per Handschlag Gal 2,11 – 21 Der Konflikt in Antiochien Gal 3,10 – 14 „Sie sind unter dem Fluch“ (sc. der Tora); Lösung des Fluchs Gal 3,15 – 20 „ein in Geltung gesetztes Testament“ Gal 3,24 f „unter dem Kinderführer“ Gal 3,28 „hier ist nicht Mann noch Frau“ Gal 4,1 – 7 „Solange der Erbe unmündig ist, steht er unter Vormundschaft“ Gal 4,21 – 31 Abrahams Haupt- und Nebenerbe. Die Erbeinsetzung Gal 5,3 „Wer sich beschneiden lässt, ist verpflichtet, die ganze Tora zu halten“ Gal 6,17 „Ich trage die Stigmata Jesu an meinem Körper“ Phil 1,1 „mit Bischöfen und Diakonen“: das gestufte Amt
695
696
# 327 # 328 # 329 # 330 # 331
Liste der behandelten Perikopen
Phil 3,20 Unsere (Polis‐)Zugehörigkeit ist im Himmel 1Thess 1,1 „An die ekklēsia der Thessalonicher“ 1Thess 2,10 „…wie integer und gerecht und tadellos ich mich verhalten habe“ Phm: Sklaverei im Christentum; Rücksendung eines Sklaven an seinen Eigentümer Phm 18 f „Rechne es mir an“: Haftung bei Sachschaden
Deuteropaulinen: Kol, Eph (B), 2Thess, 1.2Tim, Tit (C) # 340 # 341 # 342 # 343 # 344 # 345 # 346 # 347 # 348 # 349 # 350 # 351 # 352
Eph 2,11 – 22 Die politeia Israels. Keine Trennwand mehr zwischen Juden und Heiden Kol 2,14 Der perforierte Schuldschein Kol 4,18 „der Gruß von meiner, des Paulus, Hand“ 1Tim 1,2 „Meinem leiblichen Sohn“: Nachfolge im Rechtssinn 1Tim 1,9 „Dem Gerechten gilt kein Gesetz“ 1Tim 2,2 f „Für die Könige…“ 1Tim 2,15 „sie wird gerettet durch Kindergebären“ 1Tim 3,2 „eines Weibes Mann“ 1Tim 5,3 – 16 „Ehre die Witwen“ 1Tim 6,20 „Bewahre das Anvertraute!“ 2Tim 3,10 „Du bist meinem Lebenswandel gefolgt“: christliche Halacha? Tit 1,12 „Alle Kreter sind Lügner“ Tit 3,10: „Einen häretischen Menschen lehne ab!“: Häresie vs. Schisma
Der 1. Petrusbrief (B) # 360 1Petr 1,1 Die Christen als „Beisassen“ # 361 1Petr 2,4 – 10 Das Priestertum bei den Christen # 362 1Petr 2,11 – 16 Das Einvernehmen Kirche-Staat
Pseudepigraphe Briefe der Brüder Jesu ( Jak, Jud) (B/C) # 363 Jak 1,25 „das vollkommene Gesetz der Freiheit“ # 364 Jak 2,6 – 13 „Die Reichen ziehen euch vor Gericht“
Die echten („Kleinen“) Johannesbriefe: 2.3Joh (B) # 370 2.3 Joh „Der Senior an die erwählte Herrin“
Liste der behandelten Perikopen
Der pseudepigraphe 1. Johannesbrief (C) # 380 1Joh 3,4 „Jeder, der sündigt, begeht einen Gesetzesbruch“ # 381 1Joh 4,18 „Die Furcht hat Strafe in sich“
Die Johannesapokalypse (C) # 390 # 391 # 392 # 393 # 394 # 395
Apk 1,9 „Ich, Johannes… auf Patmos“ Apk 1,10 „am Tag des Herrn“ Apk 2,18 „Antipas, mein treuer Zeuge“ Apk 5,1 ff „ein Buch mit sieben Siegeln“ Apk 20,12 „Bü cher wurden geöffnet“ Apk 22,18 f „Wenn jemand (von diesen Worten) etwas wegnimmt…“
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Liste der Rechtsthemen soweit in diesem Kommentar behandelt oder berührt. Mehrfachnennungen einzelner Perikopen, im Ganzen oder teilweise, sind möglich. Metaphorische Verwendung von Rechtsausdrücken ist miterfasst.
1 Allgemeines a) Begriffe von Recht und Gerechtigkeit #
Stelle im NT
Inhaltsangabe, Stichwort
in
Mt ,b
in in
Apg , Mt , Kor , f
in in
Lk , – Mt , Thess ,
Thess ,
in in in in
Mt , – Mt , Röm , Apg , – Röm , Röm ,. Apg , Q , f
in in
Röm , Jak , Mk , Mk , Röm , Q , Lk , – Mt , Mk ,. Röm , – Röm , – Q , – Röm , –
„Das Wichtigere in der Tora: Rechtlichkeit (krisis), Milde, Verlässlichkeit“. Die Gotteseigenschaften und der Begriff des Rechts. dikaion estin = „es ist recht“; vgl. Lk ,; Phil ,; Eph ,; Petr , u. ö. to dikaion = „der angemessene Betrag“; Kol , (dort auch Synonym: isotēs) „damit Ausgleich geschehe“: isotēs/aequa(bi)litas, kommutative Gerechtigkeit (sozialer Ausgleich, Motivation zum Spenden); Kol , (Standespredigt Johannes des Täufers): distributive Gerechtigkeit „Gerechtigkeit“ im ethischen Sinn dikēn apotinein = „Strafe zahlen“; vgl. dikēn hypechein Jud und # : „Buße“ „…wie integer und gerecht und tadellos… ich mich verhalten habe“: die bürgerlichen Ehrenrechte „Gerechtigkeit“ i.S.d. AT (Personeigenschaft) und der Bergpredigt dikaiosynē („Gerechtigkeit“) i.S.v. „Almosen“ „die eigene Gerechtigkeit geltend machen“ „…in deiner Billigkeit“ (epieikeia); vgl. Phil , to epieikes (sc. der Christen) dikaiōma Forderung/Anspruch/Erfüllung eines Anspruchs erga nomou („Leistungen nach Gesetz“): die Art der Tora-Erfüllung dikē (hier:) das Gottesgericht „Das Gesetz und die Propheten…“: die Tora (ho nomos/lex). Die Rechtsbegründung Jesu „Ziel/Ende des Gesetzes ist Christus“ „Einer ist der Gesetzgeber und Richter“ Das „Gebot Gottes“ (entolē/praeceptum) „wer den Willen Gottes tut…“; vgl. Mt , usw. „Offenbart wird die Gerechtigkeit Gottes…“: Offenbarung und Recht Die Goldene Regel Der barmherzige Samariter: die Pflicht zur Hilfeleistung „Erlass uns unsere Verpflichtungen“: die Obligation das Delikt (delictum) und das Verbrechen (crimen) Der natürliche Mensch; natürliche Gotteserkenntnis Beurteilung/Verurteilung mit und ohne Tora: das Naturrecht (An‐)Rechtsverzicht aus Großzügigkeit; das Gebot der Nächstenliebe „Mein (Gottes) ist die Vergeltung“; ekdikēsis „Rechtsvollzug“
https://doi.org/10.1515/9783110658347-024
700
Liste der Rechtsthemen
Fortsetzung #
Stelle im NT
Inhaltsangabe, Stichwort
Mt , Kor , –
in
Tim ,
„Auge um Auge, Zahn um Zahn“: Vergeltung i.S.v. Talion „…aber nicht alles nützt“: der gemeinsame Nutzen (to sympheron), das öffentiche Wohl; ,; ,; Joh , – die Rechtsfiktion
b) Gesetz (auch: Tora als positives Gesetz), Gebot, Sitte #
Stelle im NT
Inhaltsangabe, Stichwort
Q , f
in
Tim , Mk , – Mk , – Gal , Q , Mt , – Joh ,b Apg , Röm , f
in in in in in
Mk , Joh , Hebr , Kor , f Apg , Lk , f
in vor
Q ,... Mk , – Kor , Apg ,
Lk , f Apg , –
Tim , Kor ,
Apk , f
„Das Gesetz und die Propheten (…) bis zu Johannes (dem Täufer)“: die Tora „dem Gerechten gilt kein Gesetz“ Der Dekalog (. Tafel) im Christentum Das Doppelgebot der Liebe (hier auch Dekalog, . Tafel) Ein Tora-Gebot verpflichtet zu allen keine Aufhebung der Tora „Ich aber sage euch“: die „bessere Gerechtigkeit“ der Bergpredigt „Uns ist nicht erlaubt, jemanden zu töten“: das ius gladii Jüdische Sitten sind Römern verboten „die Rechtsforderung (dikaiōma) Gottes“ (Röm ,) und die Unmöglichkeit einer gänzlichen Erfüllung „er (Mose) schrieb euch dieses Gebot“ (entolē, Vulg. praeceptum) Das neue Gebot diatagma („Erlass“) des Königs diatassesthai „anordnen“: Befehl, Dienstanweisung u. dgl. edoxe/placuit (ein Gremium) „hielt für gut“: Anordnung, Erlass, Dekret Die Verkündung (Veröffentlichung) eines Erlasses, eines Gesetzes (Promulgation) „Es steht geschrieben“: das Dokument, der Kodex Die „Überlieferungen der Älteren“ (Autoritätenkonflikt; vgl. # ) „meine Meinung“ vs. „Gottes Geist“ „erzogen nach der Genauigkeit des väterlichen Gesetzes“: die juristische Ausbildung „einer der Rechtskundigen“ (nomikoi; Lk ,; ,; ,; ,) Das Aposteldekret: zur Torabindung des Christentums (sog. tertius usus Legis) gr. agōgē „Lebenswandel“, Äquivalent zu hebr. halakah „Der Buchstabe tötet…“: Buchstabe und Geist in Gesetzgebung und Gesetzeshermeneutik „Wenn jemand (von diesen Worten) etwas wegnimmt…“ (sog. Textsicherungsformel)
Liste der Rechtsthemen
701
c) Wille und Verantwortung, Schuld und Zurechnung (hingegen „Schuld“ i.S.v. „Schuldigkeit, Obligation“: Rubrik 3b; Gerichtswesen: Rubriken 13 und 14) #
Stelle im NT
Inhaltsangabe, Stichwort
Röm , – Mt ,
in in
Apg , Jak , Lk ,
in in
Joh , – Joh ,
Mk ,
Röm , –
in
Mt , Röm , –
in in
Mt , Mk , f. – Röm , – Mk , Röm , Joh ,
in in ebd. in
Joh , Mk , Mt , Kor , – Röm ,a Röm ,b Apg , Röm , Hebr ,
Probleme des Willens (Röm , f. f); Heteronomie des Menschen „Wer eine Frau ansieht, sie zu begehren…“: Absicht/Tat/Folgen; Gesinnungsjustiz? Der Tatversuch; Apg ,; , – ; , „das vollkommene Gesetz der Freiheit“ (die Tora) „Gib Rechenschaft!“ Die Rechnungslegung, allgemein: die Verantwortung Gewissenhaftigkeit vs. Fahrlässigkeit der Berufsausübung „Diese Masse hier“: die beschränkte Verantwortung der Unkundigen; Lk , f Die „Schuld“ Jesu: Verursachen, Verschulden, Verantwortenmüssen (aitia = causa/culpa/reatus) „Wie durch einen Menschen die Sünde in die Welt kam“: Erbsünde? – Joh , „Wer hat gesündigt…? „ „Wenn dein Bruder eine Sünde begeht…“ (zwischenmenschlich) „Die Sünde würde ich nicht kennen außer durch das Gesetz“: Kenntnis des Gebots als Reiz zur Übertretung; der Anreiz (die indirekte Verursachung) zum Verstoß „…über uns und unsere Kinder“: Sippenhaft? Der „Verrat“ des Judas „Zurechnen“ eines Verdienstes/einer Verfehlung Mangelnde Zurechnungsfähigkeit eines Besessenen; Joh , f Das „im Herzen geschriebene Gesetz“: das Gewissen „Jeder, der sündigt, begeht auch Gesetzesbruch“ (torabezogen?) vs. Röm , „Alles, was nicht aus Glauben kommt, ist Sünde“ (gewissensbezogen) „Jede Ungerechtigkeit ist auch Sünde“: adikia/iniquitas, iniustitia, iniuria „Deine Sünden sind dir vergeben“ „Geh erst, versöhne dich…“: der außergerichtliche Vergleich „Lasst euch versöhnen…“ (nichtkultisch, katallassesthai) Christus als „Sühnemittel“: Sühne (kultisch, hilaskesthai) parhesis/remissio Straferlass, Amnestie ein Menschenleben als Sühne „die Gerechtigkeit Gottes“ als Begnadigung Aufhebung eines früheren Gebotes
2 Sachenrecht: Eigentum und Besitz #
Stelle im NT
Inhaltsangabe, Stichwort
Q , f
Jesus hat kein Eigentum. Eigentum vs. Besitz. Die „Sache“. Fristen des Eigentumsübergangs; das Ersitzen
702
Liste der Rechtsthemen
Fortsetzung #
Stelle im NT
Inhaltsangabe, Stichwort
in in
Lk , f Lk , f Mk , Q , Apg , Mk , Q ,. Apg , – Mt , Q , – Lk , – Kor ,
Kauf, Erwerb, Inbesitznahme gr. ousia „Eigentum, Vermögen“ (Umwandlung in Besitz: # ) das Haus (im engen Sinn: die Immobilie) des Petrus und Andreas „Was nennt ihr mich ‘Herr’?“ Der kyrios-Titel. Auch: Servituten „Er hat die vorgeschriebenen Zeiten und Grenzen festgesetzt“ Einbruch und Raub des Hausrats; der Dieb; „Q“ ,; Mk , usw. „Feuer zu legen, bin ich gekommen“ (Brandstiftung) Austreibung eines Wahrsagegeistes: Schadensersatz? Der Schatz im Acker (Fundsachenrecht) Bereicherung, Luxus, Verschwendung Das Gleichnis vom reichen Kornbauern „Kümmert Gott sich um die Rinder?“ Tiere als Sachen. Tierschutz?
3 Schuldigkeiten (Obligationen) und Forderungen (Schuldrecht) a) Kaufen, Mieten, Leihen #
Stelle im NT
Inhaltsangabe, Stichwort
in in in in in in
Mt , Lk , f Mt , Mk , – Q , – Apg , Q , Apg , – Apg ,
Der Markt; der Marktaufseher Kaufs vs. Tausch (Exkurs: Wechsel; Hypothek) der gerechte Preis Losbinden (Ausleihe) eines Lasttiers (Transportmittels) Verleihen als Aushilfe mit etwas Rückerstattbarem (res fungibilis) Paulus in einer Mietwohnung (misthōma/conductum) Arbeitsverhältnis als Mietvertrag „Dein Geld gehe mit dir zugrunde!“ (Versuch der Bestechung; Simonie) Erregung öffentlichen Ärgernisses; Kaution
b) Sachschuld, Haftung, Pfand, Bürgschaft; Schuldknechtschaft vs. Lösung/Freikauf #
Stelle im NT
Inhaltsangabe, Stichwort
Mt ,
Mt , f
Mt , – Mk ,
„Erlass uns unsere Verpflichtungen“: opheilēma/debitum (Obligation = Leistungs- oder Sachschuld, auch Schulden) Ein Zivilprozess: Zwangsmittel der Vollstreckung; der Gerichtsvollzieher (Lk ,); Schuldhaft Der hartherzige Machthaber und seine Schuldner; Schuldknechtschaft „ein Lösegeld für viele“; Gal ,; Petr ,; Lk ,; ,; Hebr ,; der „Heiland“ (Löser): Lk ,; Joh ,
Liste der Rechtsthemen
703
Fortsetzung #
Stelle im NT
Inhaltsangabe, Stichwort
in in
Kor , Phil , Mt , Kol , Apk , Röm , – , Kor , Hebr , Phm f Apg , – Tim ,
„Ihr wurdet um einen (hohen) Preis erkauft“ Freigelassene (vs. Sklaven; römisch) Die Pflicht zur Dankbarkeit (hier: bei Schuldenerlass) Perforierung eines Schuldscheins (Annullierung der Schuld) „Bücher wurden geöffnet“: Schuldenregister/Strafregister Taufe „in den Tod“ Christi: Aufhören aller Obligationen mit dem Tod „das Pfand des Geistes“; vgl. ,; Eph , Jesus „Bürge“ (hier: eines Testaments) Haftung bei Sachschaden „…warfen sie die Ladung ab“: Haftung bei Seewurf; die Versicherung „Bewahre das Anvertraute!“ (Depositum)
c) Schenkung, Nutzung, Zins #
Stelle im NT
Inhaltsangabe, Stichwort
Apg , – Apg , –
in in
Kor , Lk , Lk , –
Lk , –
Lk , –
in
Mt ,
„Sie hatten alles gemeinsam“ (Gemeineigentum) Hananias und Sapphira (Schenkung mit/ohne Vorbehalt; Mitwisserschaft der Ehefrau) Schenkung von Todes wegen (jüdische Alternative zum Testament) Der barmherzige Samariter: Vorform eines Pflegevertrags Der Geldverleiher (daneistēs) und die beiden Schuldner; das Darlehen; Mt , Die anvertrauten Silbertalente (ein Kapital): „Macht Geschäfte!“ tokos/ usura „Zins“ (Mt , – ) Der raffinierte Verwalter (verdeckte Zinsnahme, fiktive Quittung?); V. : Die Treue im Kleinsten Die Kirche als Stiftung
4 Aussage, Zeugnis, Vertrag (zum Kaufvertrag s. Rubrik 3a, zum Arbeitsvertrag Rubrik 5), Abstimmung #
Stelle im NT
Inhaltsangabe, Stichwort
in
Q , f Hebr , Mt , – Mt , Lk , Mk , Gal , –
Bekennen und Verleugnen „Lasst uns festhalten am Bekenntnis“ (homologia/confessio) „Ihr sollt nicht schwören“: Schwur vs. Eid die Pflicht zur Wahrhaftigkeit; Lüge und Mentalreservation „sie vereinbarten“ (Vulg. pacti sunt): die Verabredung, der Vertrag entolē: der Auftrag (die Bestellung) „Sie gaben uns die Hand“: Verabredung per Handschlag
704
Liste der Rechtsthemen
Fortsetzung #
Stelle im NT
Inhaltsangabe, Stichwort
in in
Röm , Mk , Röm , Mk , f. – Kor , Mk , – Joh , – Mk , f; ,
in in
Kor , – Joh , Joh , Joh , f Tit , Kol ,
in
Lk , – Apk , ff Apk , Apk , f
Kol ,
Kor , Apg ,
in in
Apg ,.. Lk , Apg , Apg , –
„das er vorher verheißen hat“: das Versprechen; Lk ,; Röm , etc. Verlässlichkeit und guter Glaube: bona fides „Alles, was nicht aus Glauben kommt, ist Sünde“ Der „Verrat“ des Judas; der „Judaslohn“; Sittenwidrigkeit „Auf zweier oder dreier Zeugen Aussage…“ „Viele legten falsches Zeugnis ab“ Jesu „Zeugnis“ von sich selbst „Maria Magdalena, Maria, Mutter des Jakobus… und Salome“: Zeuginnen? (lt. Traditionsformel) Augenzeugen nachösterlicher Christophanien vorgetäuschte (literarisch imitierte) Augenzeugenschaft vorgetäuschte Autorschaft; Joh , „auf Hebräisch, Griechisch und Römisch“: mehrere Amtssprachen? „Alle Kreter sind Lügner.“ Regeln der Rechtshermeneutik ein Schuldschein (cheirographon); Urkundenrecht; Archive; Annullieren durch Perforierung; Quittung fiktive Quittung? Urkundenfälschung? „ein Buch mit sieben Siegeln“; die Siebenzeugenurkunde „Bücher wurden geöffnet“: Schuldenregister/Strafregister „Wenn jemand (von diesen Worten) etwas wegnimmt…“: Ewigkeitsklausel „Der Gruß von meiner, des Paulus, Hand“ (= Thess ,): Unterschrift (hier Imitation); Fälschung; Pseudepigraphie; Joh ,; , „Mit List habe ich euch gekriegt“: Aufhebungsregeln (exceptiones) Wahl (zu einem Amt) durch Handzeichen (cheirotonein), Abstimmung; Kor , edoxe/placuit: Beschlussfassung Joseph v. Arimathaea „hatte nicht zugestimmt“ Losentscheid Sog. „Apostelkonzil“: Verhandlung, Beschlussfassung, Beschlussmitteilung
5 Arbeitsverträge; Lohn und Honorar (zur Sklaverei s. Rubrik 7e) #
Stelle im NT
Inhaltsangabe, Stichwort
Q ,
in in
Joh ,. – Q , Q , Mt , – Mk , – Mt , –
„Der Arbeiter ist seinen Lohn wert“; Thess , – . Der Arbeitsvertrag Hirte und Lohndiener „Euer Lohn ist groß im Himmel“ (Belohnung); Q , Das Verdienst/die Unschuld Abrahams Die Arbeiter der elften Stunde (Tagelöhnerei) Die böswilligen Weingärtner (Pachtvertrag) Der gute und der böse Knecht: Treuhänder? (≠ )
Liste der Rechtsthemen
705
Fortsetzung #
Stelle im NT
Inhaltsangabe, Stichwort
in in
Lk , Petr , Kor , –
der Wehrsold Bileam „nahm Lohn (Honorar) für Unrechtes“ „…aus dem Evangelium zu leben“: Unterhaltspflicht der Gemeinden
6 Botenrecht, Vertretung, Vollmacht #
Stelle im NT
Inhaltsangabe, Stichwort
Mk ,a Mk , –
in in in in
Q , Mk , – Mk , – Mt , Lk , – Lk , – Mt , – Mk , Joh , Röm , Kor , – Gal , – Gal , Röm , – Hebr , u. ö. Röm , – Mt ,
Jesus als Lehrer „wie einer, der Vollmacht hat“; Joh ,; die „Gewalt“ „Du bist der Messias!“ Salbung als Amtseinsetzung; die drei Ämter Christi „Wer euch hört, der hört mich“; der Herold, das Botenrecht Die Zwölf: Beauftragung (Mandat), Vertretung, übertragene Vollmacht Die Formel „im Namen“ Ein Treuhänder als Geschäftsführer (epitropos i.S.v. procurator); Lk , Der getreue Verwalter (oikonomos, „Wirtschafter“; Kor , f; ,) Der raffinierte Verwalter (verdeckte Zinsnahme; fiktive Quittung?) Der hartherzige Funktionär (hier: doulos/servus) „…welche er auch Apostel nannte“: Apostel (Plur.) als Leitungsgruppe „Nicht ist der Abgesandte größer, als der ihn sandte“ (Apostolat jüdisch) „Paulus, Apostel…“ (nachösterlicher Apostolat, christlich, individuell) „Botschafter an Christi statt“: das Lehramt „Solange der Erbe unmündig ist…“: Vormundschaft prothesmia „Frist“ (für Ablauf einer Vormundschaft) „der für uns eintritt“: Fürsprache, Vermittlung (hier: einer Petition) der „Mittler“; Gal , Einsatz der Person, sterben für jemanden: Stellvertretung (Substitution) „Ich werde dir die Schlüssel… geben“; vgl. Joh , –
7 Personenrecht; Freiheit vs. Unfreiheit, Sklaverei a) Namensgebung, Identität, Unversehrtheit; Grade der Selbstständigkeit und Freiheit (Personen als Pfand und Freikauf s. Rubrik 3b) #
Stelle im NT
Inhaltsangabe, Stichwort
in
Mk , Röm , Apg , Mt , –
prosōpon „Person“ „Bei Gott ist kein Ansehen der Person“: Gleichheit vor Gericht (≠ ) „Saulus, der auch Paulus heißt“ (Namensgebung) Die Abstammung Jesu (Genealogie); Lk , –
706
Liste der Rechtsthemen
Fortsetzung #
Stelle im NT
Inhaltsangabe, Stichwort
in
Mk , – Joh ,. Gal , f Gal , – Q , – Mk ,. Joh , Joh , Jak , Mk , Röm , Mk , Kor , – Mk , Apg , – Mt , Q , Kor , Mt , –
Heilung als „Eine-Seele-Retten“ (Lebensrettung) „Er (der Blinde) ist volljährig“: Rechtsfähigkeit bei Behinderung „Unter dem Kinderführer“ (Begleitpersonal Jugendlicher) „Solange der Erbe unmündig ist…“: Vormundschaft Unmündige als Vorbild; Mt , f Jesus wird aller Rechte „entkleidet“ (Entmündigung) „Wir sind nie jemandes Sklaven gewesen“: persönliche Freiheit „Wir sind nicht aus Unzucht geboren“: uneheliche Kinder „das vollkommene Gesetz der Freiheit“ (die Tora) „ein Lösegeld für viele“: der Freikauf „Paulus, Apostel…“: ein Klientelverhältnis zu Christus? „…der nehme sein Kreuz auf sich“: Das Kreuzeszeichen „Jeder bleibe in der Berufung…“: Berufung und Beruf Der Arztberuf Sturz vom Fenster: Haftung bei Personenschaden? Die Rechtsstellung von Eunuchen; der Zölibat Ein Fall von Mord; Mord vs. Totschlag „wie einer Fehlgeburt“: Rechte des Ungeborenen Das Suicid des Judas
b) Ehre und Ansehen (vgl. Rubrik 14 c; spezifisch-Judäisches nachstehend unter c) #
Stelle im NT
Inhaltsangabe, Stichwort
in in
Röm , Apg , – Apg , Thess , Mk , – () Mt , f Lk , – Mk ,a Mk , –
in
Lk ,
Apg ,
Mk , – Joh , – Kor , – Kor , – Joh , Röm ,
„Ehre, wem Ehre gebührt“ Wiederherstellung des guten Rufes (Rehabilitation), Ehrenerklärung „Männer von gutem Leumund“: Ansehen, der gute Ruf „wie tadellos ich mich verhalten habe“: das Führungszeugnis Be- und Entkleidung Jesu: Ehrlosigkeit „ohne Hochzeitskleid“: Kleiderordnung „Freund, rück höher“: Sitzordnung Jesus als Lehrer „wie einer, der Vollmacht hat“ „Hohepriester, Schreiber, Älteste“: die judäische Hierarchie; die gesellschaftliche Schichtung Quirinius als hēgemōn/praeses (provinciae): die römische Militärhierarchie Paulus „ein Römer“; die drei Schichten der römischen Gesellschaft: senatorischer Adel, Ritteradel, Bürgertum Der Rangstreit der Jünger; vgl. , – Rangstreit zwischen Petrus und Lieblingsjünger Die „naturgegebene“ Ungleichheit der Menschen ≠ Die Ungleichheit der Geschlechter ≠ „Diese Masse hier“ (der Tora-Unkundigen) „Bei Gott ist kein Ansehen der Person“ (Neutralität des Richters)
Liste der Rechtsthemen
707
Fortsetzung #
Stelle im NT
Inhaltsangabe, Stichwort
in in
Q , – Q , – Lk , Lk , Mk , – Kor ,
in
Q , – Kor , – ; , –
Provokationen Jesu: Unmündige als Vorbild (Pharisäerschelte) Jesus und die Pharisäer Die Beleidigung; Joh , Rufmord; Mt , Beleidigung (Ohrfeige) einer Amtsperson Die Sünde wider den Heiligen Geist: Gotteslästerung „Ihr wurdet um einen hohen Preis erkauft“: Menschenwürde als wiederhergestellte Gottesebenbildlichkeit Das Gebot der Feindesliebe ehrlose Berufe; Prostitution
c) Bürger und Beisassen (judäisch; über Polis-Bürgerrecht und römisches Bürgerrecht s. Rubrik 11 c–d; politische Institutionen in Judäa: Rubrik 11 b) #
Stelle im NT
Inhaltsangabe, Stichwort
Eph , –
Petr , Joh , – . –
Die politeia (Verfassung) Israels – inzwischen keine (?) Trennwand mehr zwischen Juden und Heiden in der Kirche. Judenchristentum auf der Grenze. Die Berechtigung von Judenmission Die Christen als „Beisassen“ Die Samaritanische Frau: die Trennung des Judentums von den Samaritanern. Der Umgang mit Ausländern
d) Die Stellung der Frau (über Witwen s. Rubrik 7 f ) #
Stelle im NT
Inhaltsangabe, Stichwort
Kor , –
in
Kor , – Kor ,b- Tim , Joh , Gal , Mk , f; ,
Röm ,
„Haupt des Weibes ist der Mann“; vgl. Petr , f „das schwächere Gefäß“: Diskriminierung der Frau „jemandes Jungfrau“: Aufsichtspflicht des Vaters „Die Frauen sollen in den Kirchen schweigen“ „sie wird gerettet durch Kindergebären“ Maria, Martha: die Geschäftsfähigkeit von Frauen „hier ist nicht Mann noch Frau“: Gleichstellung der Frau „Maria Magdalena, Maria, Mutter des Jakobus… und Salome“: Zeuginnen? „Grüßt Junia…, herausragend unter den Aposteln!“
708
Liste der Rechtsthemen
e) Die Stellung der Sklaven #
Stelle im NT
Inhaltsangabe, Stichwort
in in in
Mt , Joh , Mk , – Mk ,b Lk , – Lk , Mk , Phil , Gal , Phm
das „Verkauftwerden“: Sklaven (douloi) im Judentum; Schuldsklaverei „Wir sind nie jemandes Sklaven gewesen“ Tempelsklaven im Judentum Der Sklave des Hohenpriesters: Sklaven paganer Herkunft im Judentum Die „unnützen“ Sklaven (griechisch-römisch) Kriegsgefangene als Sklaven „Herodianer“: Königssklaven (jüdisch und römisch) „Die aus des Kaisers Hause“ Stigmata (des Sklaven) Sklaven im Christentum? Christen als Sklaven?
f ) Armenrecht, Prekariat vs. Aufwertung der Witwen #
Stelle im NT
Inhaltsangabe, Stichwort
in in in
Mk , – Mt , Lk , – Jak , Q , Mt , –
in
Gal ,
Tim , –
„die Häuser der Witwen verzehren“; das Scherflein der Witwe Kein Erbrecht für Witwen Der Richter und die Witwe: Prozessverschleppung Das Prekariat der Waisen die „Armen“ (freiwillig eingeschränkt durch Toraobservanz) „Übt eure Gerechtigkeit (= Almosen) nicht vor den Menschen“: Almosen (Sozialleistung) als „Gerechtigkeit (dikaiosynē)“ (Spendenaufrufe) finanzielle Ressourcen privater Vereinigungen; die Kollekte für die „Armen“ in Jerusalem; Röm , – ; Kor ; Kor Schutz der Witwen in Judentum, der Witwenstand im Urchristentum
8 Eherecht, Sexualvorschriften #
Stelle im NT
Inhaltsangabe, Stichwort
Mt , f Mk , –
Q , Joh , – Mt , Kor , – ; , – Mk ,b- Mk , – Gal , – Apg , Apg ,
Verlobung als vertragliche Verpflichtung zur Ehe; Lk , Begründung der Ehe; die Ketubba; Ehe (jüdisch, römisch) vs. Konkubinat. Ablehnung des Scheidebriefs Scheidung ist (oder wird) Ehebruch Todesstrafe für Ehebruch Unzucht (hier: als Scheidungsgrund) Heiligkeit des Leibes vs. Prostitution (gewerbliche Unzucht)
in
Vorwurf des Inzests; Kor , Die Leviratsehe (Schwagerehe) Abrahams Haupt- und Nebenfrau: die Mehrehe „Drusilla, die eine Jüdin war“: ethnische Ehebeschränkungen Berenike, ihre Schwester, und Titus: (fast) eine Karriere in Rom
Liste der Rechtsthemen
709
Fortsetzung #
Stelle im NT
Inhaltsangabe, Stichwort
Die Ehe unter Christen
Kor , – . – Kor , –
Kor , – Kor , f Tim , Röm , –
„Wenn ein Bruder eine Frau hat, die nicht gläubig ist…“: keine religiöse Ehebeschränkung „Jemandes Jungfrau“: Aufsichtspflicht des Vaters; Zölibat „frei ist sie, zu heiraten“: Das Recht der Frau zur zweiten Ehe „eines Weibes Mann“: kirchliche Ehebeschränkung Verwerfung der Homosexualität; Kor , – ; Tim ,
9 Familie vs. freie Vereinigungen, Vereine a) Elternrecht; das „Haus“ #
Stelle im NT
Inhaltsangabe, Stichwort
in
Mk , Gal ,
Mk , –
in
Lk , – Gal , f Mt , – Mk , Mk , Mk ,
das Haus (im weiten Sinn: die Familie) des Petrus und Andreas „Die Hausgenossen (oikeioi) des Glaubens“: die Gemeinde als neue Familie Pflichten der Kinder gegüber den Eltern; der Generationenvertrag i.w.S.; Kor , Ein Hausangestellter (oiketēs) wird zur Rechenschaft gezogen „unter dem Kinderführer“ Kindermord des Herodes (betr. eigene Erben) „Sie verließen ihren Vater“; vgl. ebd. , f; Q , Sklaven und Freigelassene nach römischem Recht; Phil , „Du bist mein geliebter Sohn“ (quasi-Adoption); vgl. Röm , „Wir sind Kinder Gottes“
b) Ausweitungen des Familienrechts #
Stelle im NT
Inhaltsangabe, Stichwort
in
Mk , – Kor , Tim , Tim ,
Jesu wahre Familie; Ausscheiden aus der Herkunftsfamilie Jakobus, der Bruder Jesu, und die drei „Säulen“; Gal , Die Kirche (bzw. Gemeinde) als „Haus“ (Hausordnung) „meinem leiblichen Sohn“: Rechtsfiktion; Nachfolge im Amt; Apostolizität
710
Liste der Rechtsthemen
c) Gesellschaften, Körperschaften (zu den Synagogen s. Rubrik 15 g) #
Stelle im NT
Inhaltsangabe, Stichwort
Mk ,a Joh , Joh , –
Apg , Lk ,
in
Gal ,
Kor , –
Thess , Mt , Apg , – Q ,
„Er lehrte sie wie einer, der Vollmacht hat…“ „Ihr seid meine Freunde“ Maria, Martha und Lazarus: Wohngemeinschaft? Die Lebensgemeinschaft Einsetzung von Presbytern „Jakobus und Johannes, welche Simons Genossen waren“: die Sozietät, das Miteigentum Kollekten im Urchristentum: der finanzielle Zusammenhalt; Kor ; Kor „die Gemeinschaft des Blutes Christi“: Teilhabe vs. Verein; die Körperschaft „An die Kirche der Thessalonicher“: ekklēsia = Einzelgemeinde „Du bist Petrus…“. Kirche (ekklēsia) im umfassenden Sinn Volksversammlung (ekklēsia) im kommunalen Sinn (hier illegal) „Schüttelt den Staub von euren Füßen!“ Ausscheiden aus einem Sozialverband, Vollzugsgeste; Mk ,
10 Erbrecht, Testamente #
Stelle im NT
Inhaltsangabe, Stichwort
Q , Hebr ,
in
Röm , Mt , Lk , f Lk , – Gal , – Röm , Kor ,
in
Gal , – Gal , – Hebr , Joh , – Lk ,
Die Abrahamskindschaft; das „Verdienst“ Abrahams Christus „der Erstgeborene“; Lk ,; Röm , (≠ der Einziggeborene Joh ,) die „Miterben Christi“ (Vulg. ,) „Sie werden das Land ererben“: mosaisches Erbrecht Die verweigerte Erbteilung Der verschwenderische und der sparsame Sohn; ≠ Mt , – „Solange der Erbe unmündig ist…“ „Ihnen gehören die Bundesschlüsse“: Noah-, Abraham- und Sinai-Bund Die neue diathēkē: Schenkung von Todes wegen (di’atêqê, jüdisch) vs. Testament mit Freiheit zur Erbeinsetzung (griechisch-römisch) Abrahams Haupt- und Nebenerbe: die Erbeinsetzung „ein vorher in Geltung gesetztes Testament“ (griechisch-römisch) Die „bessere (letztwillige) Verfügung“ Jesu letzter Wille; Bestellung eines Vormunds? „Ich vermache euch ein Königreich“
Liste der Rechtsthemen
711
11 Öffentliche Ordnung, Regierung und Verwaltung a) im Römischen Reich ( Judäisches vgl. Rubrik 7 c; zum Gerichtswesen vgl. Rubrik 13 und 14; zum kirchlichen „Amt“ Rubrik 16 a); Bürgerpflichten und -rechte #
Stelle im NT
Inhaltsangabe, Stichwort
Röm , –
Lk ,a Hebr ,
Mk , – . Joh , Lk ,b- Lk , Lk , Joh ,
in in in
Apg , Joh , ff Apg , Apg , Tim , f Mk , Apg , Apg ,
Kor ,
Apk ,
Obrigkeit(en) von Gott geordnet: der Staat; die maiestas populi Romani; die Souveränität; der Gesellschaftsvertrag (im politischen Sinne) Kaiser Augustus diatagma („Erlass“) des Königs (hier: des Pharao); dogma „Erlass“ des Kaisers „Evangelium“ (kaiserliche Proklamation) „…dann bist du kein Freund des Kaisers“ Der Census in Judäa; Judäa als (Teil einer) Provinz „Herodes, König in Judäa“ „Er liebt unser Volk“: Die Judäer als Staatsvolk „Wir sind nie jemandes Sklaven gewesen“: Die Judäer als Untertane Roms Das Zusammenwirken der römischen Behörden mit dem Synhedrium Die samaritanische Frau: Nationen im Römischen Reich König Agrippa I. von Judäa König Agrippa II. „Für die Könige…“: die ständisch geordnete Weltgesellschaft „Das Reich (die Königsherrschaft) Gottes ist nahe“ Die erhoffte Theokratie „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“ (Widerstand gegen eine parangelia = amtliche Vermahnung) „Liturgie“ im städtischen Sinne (munus publicum, hier auf die Christenheit unter sich übertragen) (sakral: Rubrik e) „Ich, Johannes… auf Patmos“ (Exil)
b) in Jerusalem und im Lande Israel (Sakralrechtliches s. Rubrik 15) #
Stelle im NT
Inhaltsangabe, Stichwort
in in
Mk , – Mk , Mk , – Mk ,b Lk , Lk , Lk , –
Mk , –
Jerusalem als Stadt sui generis „Landstädte“ (kōmopoleis): keine jüdischen poleis außer Jerusalem „Hohepriester (Plur.), Schreiber, Älteste“; die judäische Hierarchie „…und nicht wie die Schreiber“ Joseph v. Arimathaea „hatte nicht zugestimmt“; boulē „Rat“ Die judäischen Behörden; Lk ; ,; , „…ob der Angeklagte ein Galiläer sei“: Herodes Antipas als Landesherr Jesu. Das forum originis; vgl. Apg , Jesu messianischer Einzug in Jerusalem
712
Liste der Rechtsthemen
Fortsetzung #
Stelle im NT
Inhaltsangabe, Stichwort
Apg , – Mt , – Apg , f
Auftritts- und Redeverbot Verwendung der Silberdenare; „Blutgeld“ Der Sonderauftrag des Paulus; Apg ,; ,.; ,..
c) in hellenistischen Städten bzw. römischen Provinzstädten #
Stelle im NT
Inhaltsangabe, Stichwort
in
Apg , – Apg , Apg , – Apg , – Apg , Apg , – Apg , Apg , – Apg ,. f. – Apg , – Apg ,
Juden in Antiochien: welches waren ihre Bürgerrechte? Paulus als Bürger einer Polis (Tarsus); die Polis-Verfassung „das Volk“ (ho dēmos) von Caesarea am Meer; ein Schauprozess Ephesus: Der Aufruhr der Silberschmiede; illegale Volksversammlung Ausweisung des Paulus; Apg , Athen: Paulus auf dem Areopag Athen: „in der Schule des Tyrannus“ (halböffentlich) Thessalonich: Behörden einer griechischen Polis Philippi als „Kolonie“; kommunale Instanzen nach (provinz‐)römischem Modell Korinth: Paulus vor Gallio. Der Provinzchef als oberster Richter Jerusalem: Ingewahrsamnahme des Paulus
d) in Rom #
Stelle im NT
Inhaltsangabe, Stichwort
in
Röm , – Apg , Apg , –
Der Staat; die Souveränität Das römische Bürgerrecht (politeia) des Paulus; Apg , Paulus unter Bewachung in Rom (verlängerte Untersuchungshaft)
e) übertragen #
Stelle im NT
Inhaltsangabe, Stichwort
Phil ,
„Unsere Staatszugehörigkeit (politeuma) ist im Himmel“: mehrfache Staatszugehörigkeit
Liste der Rechtsthemen
713
12 Steuerrecht, Währungsrecht, Besatzungsrecht, Militärisches #
Stelle im NT
Inhaltsangabe, Stichwort
in
Lk ,b- Mk , – Röm , Mk , – Mk , –
Lk , Mk , Mk , Lk , Joh ,.
in in
Kor , Lk , Q , f. – Joh , – Mt , –
Der Census in Judäa Die Kopfsteuer Steuern vs. Zölle Berufung eines Zöllners; das Zöllnerproblem; Lk , – ; , – Vertreibung der Wechsler aus dem Tempel: Münzwesen, Geldwechsel; Banken Zachäus gibt zu Unrecht Gewonnenes zurück Hand- und Spanndienste (Besatzungsrecht); Mt , Das Verteilen der Kleider Jesu „Sie werden als Kriegsgefangene weggeführt werden“ Die „Kohorte“ (römische Garnison am Tempel); Mk ,b; Apg ,. Soldatsein (Metapher für Apostolat) der Wehrsold Der Hauptmann von Kapharnaum (hier als Römer, ≠ folgendes) Der „Königliche“ (Alternative zu vorigem) Die Tempelsteuer; auch: der Fiscus Judaicus
13 Polizeigewalt, Ordnungsmaßnahmen Nach gemeinantiker Überzeugung hatten Könige, Fürsten (oder wer sonst die Staatsmacht verkörperte) gegenüber ihren Untertanen das Recht zu spontanen Strafen (Röm 13,4 f ); sie bedurften dazu keiner Gerichte. Dementsprechend ist der weite Bereich der Ordnungsmaßnahmen hier vor den Diensten der Justiz i. e.S. zu nennen. #
Stelle im NT
Inhaltsangabe, Stichwort
Röm , f
Mk , f
in in in in
Mk ,a – Apg , – Apg , Apg , – Mk , – Mt , – Mt , Lk , Apg , –
„Nicht umsonst trägt sie das Schwert“ (Gewaltmonopol; Pflicht und Recht zur Strafe) Verhaftung Jesu; der Schwerthieb: Notwehr? – Widerstand gegen die Staatsgewalt; Körperverletzung Gefängnis für Johannes den Täufer Gefängnis als Vollzug von Strafrecht? Untersuchungshaft für Paulus und Silas; Freilassung „…die Gefangenen zu töten“ (Ausbruchsgefahr) Gefangenenbefreiung Die Hinrichtung Johannes des Täufers, Apg ,: des Zebedaiden Jakobus Der Kindermord des Herodes Polizeigewalt: der Handlanger/Büttel (hypēretēs); Mk , usw. „Hier sind zwei Schwerter“ (spätere Zwei-Schwerter-Lehre) Obrigkeitliche Strafmaßnahmen in Judäa; hier: Redeverbot
714
Liste der Rechtsthemen
Fortsetzung #
Stelle im NT
Inhaltsangabe, Stichwort
Apg , –
in in
Mk , Apg , f Apg , –
Erregung öffentlichen Ärgernisses; Züchtigung durch den Magistrat; Vorbereitung eines Strafprozesses Die Freilassung des Barabbas der Sonderauftrag des Paulus gegenüber den Juden in Damaskus Paulus vor Gallio: kein Einschreiten von Amts wegen
14 Gerichtswesen, Prozessrecht (vgl. Rubriken 4 und 7d zum Zeugenrecht) a) Allgemeines #
Stelle im NT
Inhaltsangabe, Stichwort
Mt , f Joh , – Joh ,; ,
in in
Mk , Lk , f Q , – Q ,. Apg ,
Apg , – Mt ,
in in
Kor , Mk , – Mt , – Apg , Mt , Mt , –
Der Gerichtshof (bêt dîn); die judäische Gerichtshierarchie Das Synhedrium Das Praetorium als Gerichtsgebäude; die Rolle des (Pro‐)Praetors in den Provinzen; bēma „Gerichtstribüne“ „Landstädte“: deren boulē, ein Gerichtshof? „einer der Rechtskundigen“ Das Gebot, nicht zu richten (sc. in eigener Sache) „Ihr werdet zu Gericht sitzen…“ Das Recht des Beklagten auf Gegenüberstellung mit dem Kläger/Ankläger Gewaltanwendung vor Gericht „Selig sind die Friedenstifter“: Schiedsrichter, Mediation; der Kompromiss „Auf zweier oder dreier Zeugen Aussage…“: Zeugenrecht Falsche Zeugen „Ihr sollt nicht schwören“: Schwur vs. Eid (als Teil eines Prozesses) Der Beweis das Urteil (krima/iudicium) Das Weltgericht (vgl. Röm , – u. a.); Urteilsbegründung
b) Der Zivilprozess #
Stelle im NT
Inhaltsangabe, Stichwort
Lk , –
in
Jak , – Mt , Mt ,
Der säumige Richter und die Witwe: der Zivilprozess; die Klage; das Richteramt „Die Reichen ziehen euch vor Gericht…“: kritērion „Gerichtshof“; Kor , „Geh erst, versöhne dich…“: der außergerichtliche Vergleich Folter zur Durchsetzung einer Forderung
Liste der Rechtsthemen
715
Fortsetzung #
Stelle im NT
Inhaltsangabe, Stichwort
Mt , f
in
Kor ,
Die möglichen Folgen einer Verurteilung, insbes. Beugehaft für Schuldner Prozesskosten
c) Der Strafprozess #
Stelle im NT
Inhaltsangabe, Stichwort
in in vor in
Mk ,. Mk , Lk , Mt , Apg ,. f. – Mk , Apg , Apg , – Joh , – Mk ,
vor in in
Petr , Joh , Thess , Mt , Lk , f Mk ,
in
Röm , Mk Apg – Apg , – ,
in vor
Joh , f Apg , f Lk , –
Delikt (delictum) und Verbrechen (crimen). Das Kognitionsverfahren Vorbereitung der Anklage gegen Jesus „Sie entsandten Späher“: Denunzianten enochos „straffällig“; das Problem der Affekthandlungen Strafanzeige gegen Paulus; Funktionieren der kommunalen Instanzen (in Philippi) Die Schuld (aitia/causa); diverse Schuldbegriffe Das Gehör vor Gericht (hier: Ausredenlassen des Angeklagten) Tertullus (Rhetor als Anwalt des Klägers) Der Verteidiger (Anwalt des Angeklagten), der Rechtshelfer Folter als Mittel der Befragung im Strafprozess? Geißelung vs. Prügelstrafe die Verteidigung Die Strafe (kolasis/poena), erzieherisch und rechtlich dikēn apotinein = „Strafe zahlen“; vgl. dikēn hypechein Jud „Auge um Auge, Zahn um Zahn“: die Talion Strafe und Unrechtsbewusstsein; das Maß der Strafe „Wie zu einem Banditen“: die Todesstrafe wegen Aufruhr (stasis/ seditio) Die Todesstrafe nach römischem Recht Kognitionsverfahren gegen Jesus Kognitionsverfahren gegen Paulus Der Prozess gegen Stephanus; , f Steinigung (mosaische Todesstrafe) Jesus und die Ehebrecherin (dito) Fast-Lynchen des Paulus Das Problem der Kollektivstrafe
d) Die Strafbarkeit von Magie und Aberglaube #
Stelle im NT
Inhaltsangabe, Stichwort
in
Apg , – Apg , – Apg , Apg ,.
Barjesus, der Pseudoprophet/Elymas, der Magier Austreibung eines Wahrsagegeistes (Dämons) Bücherverbrennung in Ephesus (Zusammenhang mit Magie?) der Vorwurf: Aberglaube (Vulg. superstitio)
716
Liste der Rechtsthemen
15 Sakralrecht, Religionsrecht ohne rein Kultisches wie die Opfervorschriften des Jerusalemer Tempels in Lk 2,21– 23
a) Religion allgemein #
Stelle im NT
Inhaltsangabe, Stichwort
in
Mk , – Mk , – Hebr , Apg , Apg , Q , – Mk , –
Der Dekalog, . Tafel: Pflicht der Gottesverehrung staatlicher Schutz der Religionsausübung „dass Gott ist…“: die etiamsi-daremus-Formel „Man muss Gott mehr gehorchen…“: Religionsfreiheit kultische Mindestpflichten eines Römers „Lass die Toten ihre Toten begraben“: die Pflicht zur Beisetzung Der Dienst des Joseph von Arimathaea. Jesu Grab
b) Die Zugehörigkeit zur israelitischen Kultgemeinschaft #
Stelle im NT
Inhaltsangabe, Stichwort
in
Apg , Gal , Mt , Lk , Eph , – Gal , f Apg ,
Beschneidung des Timotheus (vs. Gal ,: nicht bei Titus) Ein Tora-Gebot verpflichtet zu allen Proselyten „er liebt unser Volk…“: Der Centurio als Gottesfürchtiger keine Trennwand (?) zwischen Juden und Heiden in der Kirche „…der sei im Bann“: der kleine und der große Bann Apostasie vom Judentum
c) Segen und Fluch; Sühne; „heiliger“ Zorn; Zorn Gottes Ein Segen, rechtlich unproblematisch, wird hier nicht behandelt, außer in solchen Fällen, wo er zugleich eine letztwillige Verfügung ist (Rubrik 10). Zum Fluch (der gesellschaftlich relevant sein kann und folgenreich) hier nur wenige Stellen. #
Stelle im NT
Inhaltsangabe, Stichwort
in in in
Mk , – Röm , Apg , – Röm , Gal , – Mt , Gal , f Apg , f
Die Sünde wider den Heiligen Geist: Blasphemie das Gottesgericht (vs. Gottesurteil); Apg , Die Ausrottungsstrafe (karet); der Ausschluss als Verfluchung; Kor , Der Zorn Gottes „Sie sind unter dem Fluch“ (sc. der Tora); Lösung des Fluchs „Sein Blut (komme) über uns“: Selbstverfluchung „…der sei im Bann“, auch: Selbstverfluchung; Kor , – Fast-Lynchen des Paulus
Liste der Rechtsthemen
717
Fortsetzung #
Stelle im NT
Inhaltsangabe, Stichwort
Apg , –
in
Röm , Apg ,
Austreibung eines Wahrsagegeistes (Exorzismus, Personenschaden, Schadensersatz?) Christus als „Sühnemittel“ „Dem unbekannten Gott“ (Relikt einer Athener Entsühnungsmaßnahme)
d) Kalender, Feste, Feiertage #
Stelle im NT
Inhaltsangabe, Stichwort
Lk , – Mk , – Mk , – Apk ,
„Im fünfzehnten Jahr“ (Datumsangabe; die Kalenderkonventionen) Ährenraufen am Sabbat. Bemerkung zu Sabbat- und Jobeljahr Heilung am Sabbat; Joh , ff „Am Tag des Herrn“ (Begründung des Sonntags)
e) Reinheitsfragen solche des Tempels s. nächste Rubrik; Unreinheit durch Dämonen vgl. Rubrik 14d); Ritualgesetze #
Stelle im NT
Inhaltsangabe, Stichwort
in in in
Mk , – Joh , Apg – Mk , – Kor , –
Innere vs. Äußere (Un‐)Reinheit Nichtbetreten des Praetoriums aus Reinheitsgründen Cornelius und die Reinheitsfragen im Christentum Heilung eines Aussätzigen Heiligkeit des Leibes vs. Prostitution
f ) Priestertum (aaronitisch); der Tempel und seine Vorrechte #
Stelle im NT
Inhaltsangabe, Stichwort
Mk , – Mk , –
in
Mk ,
in
Mk , – Hebr , u. ö. Apg , –
Mk , –
Der Tempel als öffentliche Institution. Judäa als Tempelstaat „Hohepriester, Schreiber, Älteste“: die Tempelhierarchie (auch: Leviten) die Rolle des aaronitischen Priesters (ausführlicher: Lk , – ; „Liturgie“ im sakralen Sinne Lk ,; Hebr ,; ,) „Du bist der Gesalbte!“ Salbung als Amtseinsetzung. Die () Ämter Melchisedek (ein nichtaaronitisches Priestertum) Auslösung eines Gelübdes durch ein Opfer. Umwidmung einer Kollekte? Ablehnung des Qorban (eines Missbrauchs der kultischen Tora)
718
Liste der Rechtsthemen
Fortsetzung #
Stelle im NT
Inhaltsangabe, Stichwort
in
Mk , – Mt , – Q , Mt , – Joh ,.
in
Apg , – Q , Mt , Röm ,
Das Scherflein der Witwe (für den Tempel) Die Tempelsteuer (dort mitbehandelt: der fiscus Iudaicus) „Ihr verzehntet den Kümmel“: der . und . Zehnte Verwendung der dreißig Silberdenare; „Blutgeld“ Die „Kohorte“ (römische Garnison am Tempel; Mk ,b; Apg ,.) Mobbing gegen Paulus am Tempel: „versuchte“ Tempelentweihung Mord im Tempel: Verletzung des Tempelasyls? Blinde und Lahme im Tempel verboten? Christus als Sühnemittel, wörtl. „Sühnealtar“ (metaphorisch)
g) Synagogen, ihre Ämter, ihre Disziplin #
Stelle im NT
Inhaltsangabe, Stichwort
Lk , –
Kor , f Gal , f
in
Joh ,; ,; , Kor , f
Die Synagoge im NT; Synagogenämter (bes.: Synagogenälteste ≠ „Älteste des Volks“ in Jerusalem ≠ Presbyter in chr. Gemeinden) Synagogenstrafen „…der sei verflucht“: der Bann (anathema, ḥeräm); Röm ,; zu unterscheiden von: Synagogenausschluss (kleiner Bann, niddûj)
Die Synagogenstrafe der Schläge (Prügelstrafe)
16 Die Kirchengemeinden: Ämter, Disziplin, Anfänge des Kirchenrechts a) Die Gemeinde; Amt und Ämter #
Stelle im NT
Inhaltsangabe, Stichwort
in in
Mt , Petr , – Kor , –
in
Thess , Mt , Mk , Röm , Apg , – Apg , Apg , –
Die Urgemeinde als ekklēsia Das Priestertum bei den Christen; die Kirche als Gottes peculium „Mir kommt es nicht darauf an…“: Absolutheit des paulinischen Apostolats „An die Kirche (ekklēsia) der Thessalonicher“ (Einzelgemeinde, Diaspora) „Du bist Petrus…“: die Kirche (ekklēsia) im umfassenden Sinn Die drei Ämter (Würden) Christi Das Amt (der Dienst, diakonia) in der Kirche (generell) Einrichtung des Diakonats; V. : Ordination unter Handauflegung Das Presbyteramt in der Kirche; das Handzeichen bei der Wahl Nachwahl des Matthias: „Klerus“
Liste der Rechtsthemen
719
Fortsetzung #
Stelle im NT
Inhaltsangabe, Stichwort
in in
Phil , Kor , Kor , Gal , – Mk , – Kor , Kor , Kor , – Apg , Eph , – Mt , – Röm , – ,
„mit Bischöfen und Diakonen“: das gestufte (ordinierte) Amt Verkündigung des Evangeliums als Beruf (nachmals: das Pfarramt) leitourgia „öffentlicher Dienst“ (des Paulus) Der Konflikt in Antiochien (Ritualfragen) Die Zwölf (nach Ostern): Führungsgremium im Urchristentum? Jakobus, der Bruder Jesu: „Kalifat“ des Jakobus; Gal ,; Apg , etc. Das Abendmahl; hier auch zu diathēkē „Bund“ bzw. „Testament“ „die Gemeinschaft des Blutes Christi“: die communio sanctorum der Name „Christen“ Merkmale der Kirche; ihre Einheit in Verschiedenheit Taufe als Beginn der Kirchenmitgliedschaft Die Taufe als Tod de iure
b) Kirchenordnung und kirchliche Disziplin (zum Bann vgl. Rubrik 15b) #
Stelle im NT
Inhaltsangabe, Stichwort
in
Mk , – Joh , – Mk , f. Mt , Mt , –
Kor , – ; , – Kor , –
Kor , –
Kor , –
Jak , – Apg , – Apg , Kor , –
in
Kor ,b- Kor ,
in
Joh , Kor , –
Tit , Apk ,
Der Rangstreit der Jünger Rangstreit zwischen Petrus und Lieblingsjünger Buße theologisch vs. juristisch Buße (rituell und kirchenrechtlich) Die Gemeinderegel: Verwarnung, Kirchenzucht; Lk , f; Kor , – „Habt keinen Umgang mit Unzüchtigen“: das Problem „unehrlicher“ Tätigkeiten bzw. Berufe „Wer aber unwürdig isst…“: Verhaltensregeln rings um das Abendmahl „Wie kann einer wagen, sein Recht zu suchen vor den Ungerechten?“ (Eigengerichtsbarkeit der Gemeinde; Beginn des Kirchenrechts) „Alles soll geordnet geschehen“: Beginn von Gottesdienstordnungen „Die Reichen ziehen euch vor Gericht… „ Das Aposteldekret (zu Reinheitsfragen) Einsetzung von Presbytern (Finanzverwaltung in der Gemeinde) „…aus dem Evangelium zu leben“: Unterhaltspflicht der Gemeinden für die Missionare „Die Frauen sollen in den Kirchen schweigen“ schisma (Spaltungen, Richtungen) in der Gemeinde; Kor ,; ,; , Apostasie vom Christentum Ausschluss aus der Christengemeinde/aus der Kirche (Exkommunikation); Mt , „einen häretischen Menschen … lehne ab!“: Häresie vs. Schisma „Antipas, mein treuer Zeuge“: Märtyrer
720
Liste der Rechtsthemen
c) Beginnendes Staatskirchenrecht #
Stelle im NT
Inhaltsangabe, Stichwort
Q , – Petr , – Mt ,
res religiosae (Gräber) vs. res sacrae und res sanctae Das Einvernehmen zwischen Kirche und Staat; ius circa sacra/in sacra Die staatskirchenrechtliche Relevanz der Taufe.