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German Pages 204 [205] Year 2017
Martin Ebner · Der Brief an Philemon
EKK Evangelisch-Katholischer Kommentar zum Neuen Testament
Begründet von Eduard Schweizer † und Rudolf Schnackenburg † Herausgegeben von Knut Backhaus, Christine Gerber, Thomas Söding und Samuel Vollenweider in Verbindung mit Reinhard von Bendemann, François Bovon †, Norbert Brox †, Martin Ebner, Jörg Frey, Joachim Gnilka, Erich Gräßer †, Paul Hoffmann, Traugott Holtz †, Martin Karrer, Hans-Josef Klauck, Matthias Konradt, Ulrich Luz, Christoph G. Müller, Karl-Wilhelm Niebuhr, Silvia Pellegrini, Rudolf Pesch †, Jürgen Roloff †, Thomas Schmeller, Wolfgang Schrage, Peter Stuhlmacher, Michael Theobald, Wolfgang Trilling †, Anton Vögtle †, Alfons Weiser, Ulrich Wilckens und Michael Wolter
Band XVIII Martin Ebner Der Brief an Philemon
Patmos Verlag Vandenhoeck & Ruprecht
Martin Ebner
Der Brief an Philemon
1. Auflage 2017
Patmos Verlag Vandenhoeck & Ruprecht
@ 2017 ISBN 978–3–8436–0929–6 (Patmos Verlag) Weitere Angaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.patmos.de Patmos Verlag, ein Unternehmen der Verlagsgruppe Patmos in der Schwabenverlag AG, Senefelderstraße 12, D – 73760 Ostfildern www.patmos.de ISBN 978–3–7887–3108–3 (Vandenhoeck & Ruprecht) Weitere Angaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D – 37073 Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht LLC , Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:// dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelasenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung der Verlage. Umschlaggestaltung: SchwabScantechnik, Göttingen Lektorat: Volker Hampel, Neukirchen-Vluyn DTP: Breklumer Print-Service, Borsbüller Ring 25, 25821 Breklum www.breklumer-print-service.com
Meinen Eltern, denen ich mein Leben und meinen Glauben verdanke
… uno tantum servo comite contentus, cui tamen versa vice dominus serviebat, adeo ut plerumque ei et calciamenta ipse detraheret et ipse detergeret, cibum una caperent, hic tamen saepius ministraret. »… mit nur einem Sklaven als Begleiter war er zufrieden, dem er jedoch – in Umkehrung der Rollen – als Herr Dienste erwies, so sehr, dass meistens er selbst ihm das Schuhwerk auszog und selbst reinigte, sie die Speise gemeinsam zu sich nahmen, er jedoch des Öfteren aufwartete.« (Sulpicius Severus, Vita Martini 2,5)
Vorwort
Wer einen Kommentar schreibt, steht auf den Schultern vieler Menschen. Da ist die lange Reihe von Wissenschaftlern, die ihrerseits zum gleichen Text bereits einen Kommentar vorgelegt haben. Über deren Fleiß und Akribie kommt man oft aus dem Staunen gar nicht mehr heraus, ist aber auch froh, wenn es außer der differenziert ausgewiesenen und scharfsinnig evaluierten Traditionsweitergabe neue Gedanken, neue Beobachtungen, neue Perspektiven oder eine andere Auswertung des gleichen Textbefundes gibt. Diese kreativen Vorstöße haben mich immer angeregt und zu weiterem Nachdenken animiert, selbst wenn sie mir nicht auf Anhieb plausibel schienen. Ich kann nur hoffen, dass es Leserinnen und Lesern meines Kommentars ähnlich geht. Und: Wer einen Kommentar schreibt, ist auf die Hände und Köpfe vieler Helfer angewiesen. Ich danke den Hilfskräften am Bonner Seminar für die Exegese des Neuen Testaments fürs Recherchieren und Schleppen der Bücher, für die Aufnahme der Titel in unsere Literaturdatenbank sowie die Mithilfe beim Korrekturlesen: Frederik Brand, Christoph Sötsch, Ellen Geiser, Henrik Land, Nikolas Beck, Sophia Bommes, Hannah Judith, Myriam Schneider. Ich danke meiner Sekretärin Britta Fernandes für die äußerst gewissenhafte Texteingabe der Tonbänder, die Durchführung der schier endlosen Korrekturen und die Erstellung der Skizzen. Ich danke meiner ehemaligen Assistentin Dr. Hildegard Scherer (jetzt Lehrstuhlvertreterin in Chur), die das Projekt von Anfang an begleitet, die Korrekturen gelesen und mir dezent hilfreiche Hinweise gegeben hat. Und ich danke meinem jetzigen Assistenten Dr. Daniel Lanzinger, der den Stab übernommen und die computertechnische Erstellung des Gesamtdokumentes samt der Erfassung der Literatur durchgeführt hat. Ganz besonderer Dank gilt meinem »Syzygos« Prof. Dr. Matthias Konradt, der nicht nur den gesamten Text kritisch gegengelesen und mir bedenkenswerte Rückfragen gestellt hat, sondern auch auf die Kleinigkeiten ein Auge hatte und konkrete Vorschläge gemacht hat: von alternativen Formulierungsvorschlägen bis hin zur Verbesserung der Interpunktion in den Fußnoten. Dank sage ich Ulrich Luz und Samuel Vollenweider aus dem Herausgeberkreis für ihre konstruktive Unterstützung. Und schließlich gebührt ganz großer Dank Dr. Volker Hampel vom Neukirchener Verlag (jetzt Vandenhoeck & Ruprecht), der mit Liebe zum Detail und endloser
VIII
Vorwort Vorwort
Geduld das Werden des Bandes betreut hat. Nicht vergessen möchte ich all diejenigen, die mir konstruktiv-kritische Gesprächspartner waren, wenn ich ihnen meine Ideen in ersten Sprechversuchen vorgestellt habe. Bonn, 7. Juli 2017
Martin Ebner
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1
Das Briefformular: ein Gliederungsvorschlag . . . . . . . . . . . . . 4
2 2.1 2.2 2.3 2.4
Die Vorgeschichte: der Fall Onesimus . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Onesimus als fugitivus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Onesimus als Gemeinde-Gesandter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Die »Flucht« zum amicus domini . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 Onesimus als leiblicher Bruder Philemons . . . . . . . . . . . . . . . 14
3 3.1 3.2 3.3
Die Kommunikationsstrukturen: der Brief als kommunitätsgestützte Intervention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 »Dual conversation« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Performanzkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Gattungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18
4 Die aktuelle Situation: Ort und Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 4.1 Das Tandem Ephesus – Kolossä . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 4.2 Rom als Schauplatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 5
Die Intention des Briefes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25
Kommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 A
Briefeingang (V. 1–7) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29
1 Briefpräskript (V. 1–3) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 1.1 Die superscriptio (V. 1a–d) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 1.2 Die adscriptio (V. 1e–2e) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 1.3 Die salutatio (V. 3) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 2
Briefproömium (V. 4–7) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56
X
Inhalt Inhalt
B
Briefkorpus (V. 8–19) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68
1
Der Bittsteller und sein Betreff (V. 8–12) . . . . . . . . . . . . . . . . 70
2
Die zurückgestellte Option des Paulus (V. 13f.) . . . . . . . . . . . 80
3
Der göttliche Plan für Onesimus (V. 15f.) . . . . . . . . . . . . . . . 84
Exkurs I: Die gesellschaftliche Konstruktion des Sklaven in der griechisch-römischen Antike . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91
4
Philemons Entscheidung (V. 17–19) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98
C
Briefschluss (V. 20–25) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111
1
Epilog (V. 20–22) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111
2
Postskript (V. 23–25) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123
Auswertung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 1 1.1 1.2 1.3
Rekonstruktion des Plots . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Das favorisierte Modell: Paulus als amicus domini . . . . . . . . . 133 Der klassische Standort Kolossä auf dem Prüfstand der Angaben des Kol . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 Rom als Schauplatz: Daten und Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . 136
Exkurs II: Ein konkretisierendes Denkmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137
2
Die Intention des Briefes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143
3 3.1 3.2 3.3
Wirkungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 Der Kol als narrative »Fortsetzung« des Phlm . . . . . . . . . . . . 148 Personenidentifikationen und die Leitbilder der eigenen Zeit 150 Die Sachproblematik der Sklavenflucht . . . . . . . . . . . . . . . . . 153
4
Bleibende Relevanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171
Abkürzungen und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175
Einleitung
Einleitung
3
Der Philemonbrief (Phlm) ist vom Umfang her der kleinste aller Paulusbriefe, aber was sein theologisches Gewicht angeht sicher nicht der geringste. Denn im Phlm steht zentral der Realitäts- und Alltagsgehalt christlicher Grundüberzeugungen auf dem Spiel. Deshalb geht es in diesem kleinen Schreiben nicht eigentlich um die Sklavenfrage an sich, sondern ein Sklave, der den Glauben an den auferweckten Christus angenommen hat und sich hat taufen lassen, ist die Problemfigur, an der Paulus die Umsetzung der Magna Charta des Christentums erprobt und in einen ganz konkreten Sozialraum hinein zu vermitteln versucht: die gemäß Gal 3,27f. durch die Taufe etablierte Aufhebung des Unterschieds zwischen Sklaven und Freien. Konkret geht es um Philemon, in dessen Haus sich die Ekklesia trifft, und seinen Sklaven Onesimus, der sich von Paulus hat taufen lassen. Insofern bringt Phlm wie kaum ein anderer Brief des Paulus auf den Punkt, worum es im Christentum (das in der Zeit des Paulus noch nicht so genannt wurde) eigentlich geht: um eine im Glauben begründete und durch den Glauben provozierte Veränderung sozialer Beziehungsnetze innerhalb eines gesellschaftspolitisch ganz anders geprägten Raumes. Und Phlm zeigt exemplarisch, wie Paulus als theologischer Diplomat erster Garnitur um die praktische Umsetzung der Konsequenzen »seines Evangeliums« im Haushalt eines reichen Christen sein ganzes Können einsetzt. Der Phlm stellt insofern im Detail die Frage nach dem Ganzen: Verändert sich durch den Glauben an den von Gott auferweckten Gekreuzigten und seine Erhöhung zum Herrn der Welt auch etwas in den Sozialräumen der Glaubenden? Setzt dieser Glaube lediglich theologische Spekulationen frei, oder provoziert er Theologen in den Spuren eines Paulus immer neu, die Konsequenzen für die analog anstehenden Veränderungen in der Alltagswelt aufzuspüren, auszusprechen und ihre ganze Kreativität dafür aufzuwenden, um Überzeugungswege für deren Umsetzung in die Realität zu bahnen? Kurz: Ist Theologie l’art pour l’art – oder setzt der innerste Punkt der christlichen Glaubensüberzeugung, die Erhöhung des Gekreuzigten zum Herrn der Welt, jene Sprengkraft frei, die diesem Glauben erst Hand und Fuß geben kann? Affirmativ gesprochen: Paulus macht uns im Phlm vor, wie »Theologie« funktioniert hat – jedenfalls am Anfang dessen, was sich später »Christentum« nannte. Nähern wir uns dem Brief über die Strukturierung des Textes (1), die Modelle der Rekonstruktion der dem Brief vorausgehenden Ereignisse (2), die Analyse der im Schreiben vorausgesetzten Kommunikationssituation (3), die Frage nach Ort und Zeit seiner Entstehung (4) sowie nach seiner Intention (5).
4
Einleitung
1 Das Briefformular: ein Gliederungsvorschlag Paulus folgt im Phlm prinzipiell dem griechisch-römischen Briefformular.1 Gelegentlich lassen sich Abweichungen feststellen, die aber auch in den anderen authentischen Briefen wiederkehren. Die traditionsgeschichtliche Frage, ob es sich dabei um eine paulinische Eigentümlichkeit handelt oder aber um Übernahme jüdischer Gepflogenheiten im Rahmen der Briefkultur, wird im Kommentarteil jeweils innerhalb der Analyse unter dem Gesichtspunkt »Epistolographie« behandelt. Das Präskript (V. 1–3) weist in der superscriptio Paulus zusammen mit Timotheus als Briefabsender aus, in der adscriptio Philemon, Apphia und Archippus sowie die gesamte Ekklesia im Haus als Adressaten. Die salutatio wird nicht in der üblichen Kurzform χαίρειν, sondern wie bei Paulus auch in seinen anderen Briefen üblich als eigenständiger Satz ausgeführt. Auch der Einsatz des Postskripts (V. 23–25), in dem der Briefeschreiber Grüße ausspricht, ausrichten lässt oder übermittelt, ist klar erkennbar: Paulus realisiert in V. 23f. die Grußübermittlung von bisher im Brief nicht genannten Dritten (Epaphras, Markus, Aristarch, Demas und Lukas) an Philemon. Anstelle des üblichen Schlussgrußes (ἔρρωσο) setzt Paulus, wie auch in allen anderen seiner Briefe, die Charis-Formel (V. 25). Kleinere und größere Randunschärfen gibt es im Blick auf die inneren Rahmenteile des Briefs, Proömium und Epilog2 – und zwar im Blick auf deren Abgrenzung zum Briefkorpus hin. Der Beginn des Proömiums ist klar: Wie in seinen anderen Briefen3 stellt Paulus den Dank an Gott, eines der Elemente aus dem kaiserzeitlichen Motivinventar des Proömiums4 (εὐχαριστῶ τῷ θεῷ), an den Anfang (V. 4). Die Abgrenzung zum Briefkorpus hin ist allerdings umstritten. Für den Mainstream setzt – analog zu 1Kor 1,10 – die sogenannte Request-Formel παρακαλῶ σε mit der anschließenden Nennung des eigentlichen Briefanliegens (περί) in V. 8 das entscheidende 1 Grundlegend: Klauck, Briefliteratur; für die Anwendung speziell auf die Paulusbriefe vgl. Weima, Paul. 2 Die amerikanische Forschung spricht von »body opening« bzw. »body closing« (White, Function) bzw. »initial/final phrases«, so der Pionier der Epistolographie: Exler, Form. Dementsprechend ergibt sich ein dreiteiliger Briefaufbau, wobei das Korpus sich seinerseits aus drei Teilen zusammensetzt, sodass sich auch in diesem Fall fünf Teile unterscheiden lassen, die unmittelbaren Rahmenteile des Briefkorpus jedoch nicht als selbständige Elemente gewertet werden. Nachdem sich – genetisch gesehen – das Proömium aus dem erweiterten Gesundheitswunsch des Präskripts entwickelt hat (vgl. ders., Form 103–111, Koskenniemi, Studien 130–139) und eine eigene Funktion im Briefganzen übernimmt, ist es sinnvoll, es auch als eigenen Teil neben das Präskript zu stellen (Kriterium der Func tional-Letter-Forschung: Porter, Perspective 19f.). Obwohl Bauer, Paulus 47f., ausdrücklich auf diese Genese hinweist, kehrt er wieder zum dreiteiligen Schema zurück. Das tut auch Arzt-Grabner 59, aber inkonsequent; denn er setzt V. 4 vom »Eingangsgruß« (V. 1–3) als eigenständiges Element ab, lagert ihn jedoch aus dem eigentlichen Briefkorpus aus, während er V. 7 bzw. »inhaltlich« V. 5–7 als »Einleitung des Briefkorpus« bezeichnet. 3 Außer 2Kor und Gal. 4 Vgl. unten S. 57f.
Einleitung
5
Signal für den Beginn des Briefkorpus5 – freilich durch διό logisch an das vorausgehende Proömium angebunden, aber gleichzeitig durch diese Partikel am Anfang des neuen Satzes6 davon abgesetzt. Aber es gibt auch andere Optionen: Peter Müller möchte das Korpus bereits mit V. 7 beginnen lassen – und zwar aufgrund der semantisch völlig korrekten Beobachtung, dass zwischen V. 7 und V. 20 Stichwortaufnahmen bestehen: σπλάγχνα, ἀναπαύω sowie die Bruderanrede ἀδελφέ. Der Textblock V. 7–20 bilde deshalb eine »in sich abgeschlossene Einheit«,7 wobei V. 7 und V. 21 den jeweils vorangehenden Abschnitt zusammenfassen würden und ihnen »somit eine Überleitungsfunktion«8 zukomme. Damit bliebe das Proömium auf die V. 4–6 beschränkt, und der Epilog würde mit V. 21 einsetzen. Rhetorische Analysen lassen den Epilog bereits mit V. 17 einsetzen9 – und zwar im Sinn einer peroratio, die gemäß den Vorgaben der Rhetorik in V. 17 das Sachanliegen wiederhole, in V. 18f. das Argument verstärke, in V. 20 Pathos einsetze und sich in V. 21f. der Gunst der Hörer versichere. Eine alternative Zwischenlösung schlägt Weima vor – und zwar aufgrund einer brieftypischen Beobachtung: Die Formulierung ἐγὼ Παῦλος ἔγραψα τῇ ἐμῇ χειρί in V. 19 wird von ihm als Autograph identifiziert,10 was ein Signal für den Briefschluss darstelle, der im Fall des Phlm neben den obligatorischen Schlussgrüßen (V. 23f.) auch typisch paulinische Schlusselemente aufweise: neben der Charis-Formel in V. 25 eine Ermahnung in V. 20, eine Vertrauens-Formel in V. 21 sowie den Verweis auf die apostolische Parusie in V. 22.11 Allerdings muss er selbst zugeben, dass ein Autograph, mit dem der Briefautor mit eigener Hand die letzten Worte unter einen von einem Sekretär geschriebenen Brief setzt, dessen Inhalt damit autorisiert und dem Brief damit zugleich ein »persönliches Gepräge«12 verleiht, gewöhnlich dadurch realisiert wird, dass der Autor den Schlussgruß (ἔρρωσο
5 Grundlegend: White, Formulae, vgl. dessen Anwendung auf Philemon: ders., Analysis 23; sowie generell Bjerkelund, PARAKALÔ, 118–121 (Anwendung auf Philemon), sowie 100f. (Bezug auf den Brief König Salomos an König Hiram [1Kön 5,1–6; 2Chr 2,1– 10] in der Version Jos. ant. 8,51f.). Für die Mainstream-Meinung vgl. nur Fitzmyer 41: »The body clearly begins with V. 8, being introduced by the particle dio, ›so, accordingly‹.« 6 Im Unterschied zur Partikel γάρ, die in V. 7 die Begründung für das Voranstehende liefert, kündigt διό in V. 8 aufgrund des vorangegangenen Inhalts die Konsequenzen an, die daraus gezogen werden. 7 Müller 40. Aufgrund von brieftypischen Erwägungen, dass nämlich die Äußerung der Freude (über einen eingetroffenen Brief ) gelegentlich als Korpuseröffnung fungiere und in Phlm den Hintergrund (V. 7) für die Briefbitte (V. 8) bilde, will White, Analysis 34f., V. 7–14 als »single unit« betrachten, die das Briefkorpus eröffne; später hat er diese Option verworfen und V. 7 als einen Übergangsvers beurteilt, der zum »body opening« führe: ders., Function 48. 8 Müller 40; dann aber müsste V. 7 entweder Abschluss der mit V. 4 beginnenden Einheit sein oder, falls mit der Zusammenfassung ein neuer Abschnitt eingeleitet werden soll, der Epilog mit V. 20 beginnen. 9 Vgl. Church, Structure; differenzierter Gnilka 9, der auf das schlussfolgernde οὖν in V. 17 hinweist sowie auf die einheitliche Prägung der V. 17–22, die durch die Imperative entsteht, die nur hier im Brief zu finden sind, bevor mit V. 23 die Schlussgrüße einsetzen. Kumitz, Brief 188–203, lässt die peroratio mit V. 20 einsetzen, das »Eschatokoll« mit V. 23. 10 Weima, Endings; ders., Prose, 51–58; genauso Stirewalt, Paul 52. 11 Weima, Endings 230–236. 12 Koskenniemi, Studien 168f.
6
Einleitung
o.ä.) selbst schreibt und evtl. weitere kurze Bemerkungen hinzufügt.13 Am Wechsel der Handschrift ist das Autograph leicht zu erkennen.14 Es gibt aber lediglich zwei griechische und einige wenige lateinische Beispiele dafür, dass ein solches Autograph auch in der Formulierung auf »die eigene Hand« verweist (τῇ ἐμῇ χειρί / mea manu)15. In diesem Fall wird der Name jedoch nicht genannt; er steht ja als Absender im Briefpräskript. Der tatsächlich ausgeschriebene Name im Nominativ kombiniert mit einer Form von γράφειν findet sich dagegen formelhaft in Quittungen und Schuldscheinen,16 die Formel τῇ ἐμῇ / ἰδία χειρί kombiniert mit einer Form von γράφειν17 in Privaturkunden18, als Hypographe19, wodurch die Gültigkeit der Urkunde bestätigt werden soll. Dieser Fall liegt – im Unterschied zu 1Kor 16,21 und Gal 6,11 – auch in Phlm 19 vor, wie die unmittelbar folgende Bemerkung zeigt: ἐγὼ ἀποτίσω. Dadurch wird die Formulierung von V. 19 in den Kontext einer Schuldverschreibung gestellt, hat also die Funktion einer Hypographe – und mit einem den Brief abschließenden Autograph nichts zu tun.20
Je nach vorgeordneter Kriterienwahl haben die unterschiedlichen Abgrenzungen ihr eigenes Recht. Nachdem es sich bei Phlm jedoch eindeutig um einen Brief handelt, gebe ich den epistolographischen Kriterien den Vorzug. Der Befund ist folgender: Sowohl Proömium als auch Epilog, also die beiden Briefteile, deren Abgrenzung zum Korpus im Fall des Phlm sehr unterschiedlich ausfällt, zeigen sich weniger starr an feste Formvorgaben gebunden als Prä- und Postskript. Es lässt sich zwar ein Inventar von Motiven feststellen, aber sowohl deren Auswahl als auch Reihenfolge sind offensichtlich frei wählbar, lediglich hinsichtlich der Realisierung der Motive lassen sich eingeschliffene Konventionen bzgl. Semantik und Grammatik erkennen.21 Hinzu kommt jedoch – und das wird meistens übersehen –, dass hinter den voneinander abgrenzbaren Briefteilen bestimmte kommunikative Zielsetzungen stehen, auf die hin die Formelemente sprachlich abgestimmt werden. Dabei nimmt die Formalisierung von außen nach in Weima, Endings 45–50. Vgl. das Foto des Papyrusbriefes BGU I 37 (50 n.Chr.) bei Deissmann, Licht 137 (Abb. 26 und 27). 15 P.Grenf. II 89 (ὁλόγραφον χειρὶ ἐμῇ); Cic. Att. 8,1; 12,32; 13,28; Charit. 8,46. 16 Vgl. Buzón, Briefe 200–208.209–225; oft auch als »illiteracy formula« (vgl. Exler, Form 124–127: für offizielle Dokumente und Kontrakte) realisiert, womit der Schreiber seine Stellvertretung für den schreibunfähigen Briefautor, der ja im Präskript genannt ist, angibt. 17 Allerdings meist ohne Namen. 18 Arzt-Grabner 240–243. 19 Vgl. Wolff, Recht 115f. 20 Das ist in 1Kor 16,21 und Gal 6,11 wie auch in der Nachahmung durch 2Thess 3,17 und Kol 4,18 anders: Hier steht die Bemerkung im Kontext der Schlussgrüße und hat folglich die Funktion eines Autographs. Dass Paulus den unter anderem folgenden Charis-Wunsch nicht nur mit seiner eigenen Hand schreibt, sondern diese Tätigkeit auch formuliert und in 1Kor 16,21 auf sich selbst im Genitiv (!) verweist (τῇ ἐμῇ χειρὶ Παύλου), wird damit zusammenhängen, dass seine Briefe vorgelesen worden sind, die Zuhörer also den Wechsel der Handschrift nicht sehen, sondern eben nur hören konnten. 21 Zu Einzelheiten vgl. jeweils den Punkt »Epistolographie« in den Analysen des Kommentarteils. 13 14
Einleitung
7
nen ab: Präskript und Postskript klären in standardisierten Formeln, wer zu wem spricht. Dabei macht das Präskript Vorgaben für den folgenden Brieftext: Die intendierte Kommunikationssituation wird klargestellt. Das Postskript regelt mit den unterschiedlichen Grußformen die Kommunikationsakte, die sich an die Verlesung des Briefes anschließen: wer wen grüßen will bzw. soll. Während Präskript und Postskript streng formalisiert klären, wer (ab wann) an der Briefkommunikation beteiligt ist, geht es Proömium und Epilog um die Beziehung der Kommunikationspartner zueinander: wie sie zueinander stehen und inwiefern sie ihre Beziehung – in gegenseitiger Abwesenheit – pflegen.22 Dabei schaut das Proömium auf die Zeit zurück, die vor dem Brief liegt, der Epilog auf die Zeit voraus, die nach dem Brief folgt. Das eigentliche Briefkorpus trägt ein bestimmtes Anliegen vor, dem das Proömium bereits emotional den Weg bereitet hat bzw. für das es den intendierten Adressaten wohlgefällig stimmen sollte. Der Epilog unterstützt seinerseits noch einmal das vorgetragene Anliegen emotional dadurch, dass die gute Beziehung zueinander beschworen, die gegenseitige Fürsorge zum Ausdruck gebracht und die Hoffnung ausgesprochen wird, dass der Adressat sich des Briefanliegens ganz sicher annehmen wird. Rhetorisch gesehen sind daher die beiden inneren Rahmenteile des Briefes von der Funktion der captatio benevolentiae geprägt.23 Unter diesen auf die Kommunikationsstruktur hin fokussierten brieftypischen Gesichtspunkten gehört V. 7 noch zum Proömium und V. 20 bereits zum Epilog.24 Keinem der beiden Verse geht es um das eigentliche Sachanliegen des Briefes, den Fall Onesimus, sondern um die Beziehungspflege zwischen Paulus und Philemon, konkret: wie Philemons »Liebe« Paulus in positive Stimmung gebracht hat (V. 7) bzw. den Aufruf, dass Philemon durch sein Verhalten Paulus emotional beruhigen möge (V. 20). Die zu Recht beobachtete Aufnahme der Stichwörter σπλάγχνα und ἀναπαύω, die jeweils die emotionale Reaktion auf eine Aktion Philemons zum Ausdruck bringen, sind gemäß dem für Proömium und Epilog typischen Rück- bzw. Vorausblick entsprechend anders kontextualisiert: In V. 7 sind es die Eingeweide der Gemeinde, die aufgrund der Aktion Philemons zur Ruhe gebracht werden, was wiederum bei Paulus Freude auslöst, in V. 20 wünscht sich Paulus, dass Philemon seine eigenen Eingeweide zur Ruhe kommen lassen wird – indem er auf sein Briefanliegen eingeht. Formal steht bei dieser Abtrennung sowohl am Ende des Proömiums als auch am Anfang des Epilogs jeweils die Diesbezüglich hat White, Light, der zunächst die inneren Rahmenteile des Briefes als Eingangs- bzw. Abschlusselemente des Korpus verstehen wollte, seine Position geändert. Deren Funktion beschreibt er, in ausdrücklicher Absetzung von Exler, Form, jetzt folgendermaßen: »enhancing the correspondents’ relationship« (198); »tend to maintain contact between correspondents« (201). Schnider/Stenger, Studien 44, sprechen von einem Perspektivenwechsel. 23 Für die paulinischen Proömien hält das auch Wolter 251 fest. 24 Dessen Beginn gewöhnlich mit V. 21 angesetzt wird; vgl. aber z.B. auch Kumitz, Brief 123f.188–198. 22
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Bruderanrede. Damit ergibt sich unter epistolographischen Gesichtspunkten insgesamt folgender Aufbau:25 V. 1–3 Präskript V. 4–7 Proömium V. 8–19 Korpus V. 20–22 Epilog V. 23–25 Postskript 2 Die Vorgeschichte: der Fall Onesimus Der Phlm ist ein Element innerhalb einer Interaktionskette; er möchte deren weiteren Verlauf in eine bestimmte Richtung steuern. Für alle, die den Brief ursprünglich gehört haben, waren die Zusammenhänge klar. Sie konnten die knappen Anspielungen mit bestimmten Daten verbinden. Heutige Leser müssen sie aus dem vorliegenden Text mühsam zu rekonstruieren versuchen. Aber ohne diese konkreten Situationsbezüge würde das Schreiben im wahrsten Sinne des Wortes in der Luft hängen. Die entscheidenden Ansatzpunkte für die Rekonstruktion der Vorgeschichte unseres Briefes finden sich im Briefkorpus. Aber dort erzählt Paulus nicht einfach den vorausgegangenen Plot, sondern spielt auf bestimmte Ereignisse der Vorgeschichte an, um sie als Basis für seine Argumentation zu nutzen; aufgrund dessen, was bisher passiert ist, lotet er aus und macht Vorschläge, wie die Sache im Fall des Onesimus am besten weitergehen könnte. Denn um ihn geht es laut Briefbitte in V. 10: »Ich bitte dich in Sachen Onesimus.«26 Setzt man die diversen Mosaiksteine, mit denen die Vorgeschichte eingeblendet wird, in eine zeitliche Reihenfolge, dann ergibt sich: – Onesimus ist Sklave Philemons (V. 16a).27 – Er hat sich / wurde von Philemon getrennt (V. 15a: ἐχωρίσθη). – Im Zusammenhang damit kann es sein, dass er Philemon Unrecht zugefügt hat (ἠδίκησέν σε) bzw. ihm (etwas) schuldet (ὀφείλει) (V. 18a). – Onesimus wurde von Paulus getauft (V. 10b), der sich zu dieser Zeit in Gefangenschaft befindet (V. 1b.9e.10b.13b.23b). – Paulus schickte Onesimus zu Philemon zurück (V. 12a: ἀνέπεμψά σοι), obwohl er eigentlich andere Pläne mit ihm verfolgt hatte (V. 13f.). Es ist interessant, dass sich erstaunliche Konvergenzen ergeben zwischen Analysen, die vor allem aufgrund der Semantik eine Ringkomposition im Phlm feststellen zu können meinen, und der hier vorgelegten Abgrenzung der einzelnen Briefteile, die epistolographisch gesehen eine kommunikative Ringstruktur im Blick auf den Briefaufbau aufweisen. Vgl. vor allem die Analysen neueren Datums von Welch, Chiasmus 225f.; Heil, Structure (A: V. 1–3; B: V. 4–7; C/D/E: V. 8–19; B’: V. 20–22; A’: V. 23–25). Pionier dieser chiastischen Studien war Boys, Tactica I 61–68 (1824); vgl. den Überblick bei Kreitzer 8–13. 26 Zur Auflösung des περί in diesem Sinn vgl. die Kommentierung. 27 Präziser müsste man sagen: Er ist Sklave derjenigen Person, die Paulus im Brief mit »Du« anspricht; vgl. dazu unten S. 11f.14. 25
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Je nach Verständnis und Gewichtung dieser einzelnen Textelemente28 sowie deren Konkretisierung unter Bezug auf weitere Paulustexte oder zeitgenössische Analogien fällt die spezielle Rekonstruktion der Vorgeschichte unterschiedlich aus. In der Sache betrifft das vor allem die »Entfernung« des Onesimus aus dem Haus seines Herrn: Was ist der eigentliche Grund dafür? Welches Ziel verfolgt Onesimus damit? Und es betrifft die präzise Identifizierung des mit dem Vokativ ἀδελφέ (V. 7.20) bzw. mit den Pronomen der zweiten Person (σου/σε) gemeinten Ansprechpartners des Paulus. Drei Grundmodelle werden diskutiert, die ihrerseits wiederum Varianten freigesetzt haben.29 2.1 Onesimus als fugitivus Bis ins 20. Jh. war unangefochten, wovon schon der Kirchenvater Johannes Chrysostomus30 scheinbar ganz selbstverständlich ausgegangen ist: Onesimus war ein δραπέτης/fugitivus,31 also ein Sklave, der durch Flucht dem Sklavenstand entgehen will,32 indem er entweder in einer Großstadt untertaucht,33 sich einer Räuberbande anschließt,34 sich einem Schleuser anvertraut, in einem Tempel oder bei einer Kaiserstatue Asyl sucht35 – oder sich unter falschem Namen in die Armee rekrutieren lässt.36 Um sich vorläufig zu finanzieren, habe Onesimus seinen Herrn bestohlen (V. 18).37 Allerdings bleiben die Vertreter dieses Modells nach wie vor eine befriedigende Antwort auf die Frage schuldig, wie der flüchtige Onesimus ausgerechnet zu Paulus ins Gefängnis kommt.38 Das wird gelegentlich gar nicht verhehlt: »The fact that Onesimus was in prison may suggest that he had been caught, and was waiting to be sent back to his master. How it happened that Onesimus met Paul in prison, we do not know.«39 Die hier schon leicht interpretierend wiedergegeben wurden, vor allem im Blick auf die Identifizierung des Sklavenbesitzers. 29 Übersichten samt Evaluation bieten: Fitzmyer 17–23; Harrill, Slaves 6–14 (»The Stories of Onesimus«); Kreitzer 61–69; Tolmie, Onesimus; Moo 364–369; Pao 343–347. 30 Hom. Phlm 2 (PG 62, 711,11–15). Unterstützt hat seine Auslegung sicher auch die Vulgata-Übersetzung von V. 18: forsitan enim ideo discessit ad horam. 31 So neben φυγάς die juristischen Termini für den Tatbestand der Sklavenflucht. Zu den Rechtstexten vgl. Klingenberg, Servus. 32 Zum Phänomen der Sklavenflucht vgl. Bellen, Studien. Zur stereotypen Zeichnung des fugitivus vgl. Kudlien, Situation. 33 Vgl. Cic. ad Q. fr. 1,2,14. 34 Vgl. Athen. 265D–266E. 35 Vgl. Ach. Tat. 7,13. 36 Vgl. Plin. epist. 10,29f. 37 So erstmals Lightfoot (1875) 378 mit Verweis auf das typische Bild von einem flüchtigen Sklaven, wie es in der Komödie gezeichnet wird: Ter. Phorm. 189–191; speziell zur Sklavenzeichnung bei Plautus vgl. Stewart, Plautus. 38 Die Vorschläge listet auf und kritisiert Rapske, Prisoner 189–195. 39 So Cho, Philemon 107, der dieses Modell, nachdem es im 20. Jh. heftig infrage gestellt und alternative Modelle entwickelt worden sind, erneut vehement verteidigt; zuvor schon Nordling, Onesimus, der zur Unterstützung auf semantische und sachliche Paralle28
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Unabhängig von der Notannahme göttlicher Fügung für das Zusammentreffen von Onesimus und Paulus im gleichen »Gefängnis«40 bleibt zu bedenken: Nach einem flüchtigen Sklaven wird gefahndet. Gewöhnlich organisiert der Besitzer Suchtrupps in privater Initiative oder lässt Steckbriefe verbreiten. Sofern der Sklave wieder gefasst wird, muss er mit drakonischen Strafmaßnahmen rechnen.41 Sie reichen vom Prügeln bis zur Brandmarkung bzw. zur Versetzung in härteste Arbeitsbereiche (Steinbruch, Bergwerk). Die Überstellung eines entflohenen Sklaven ist ein öffentlicher Akt.42 Sofern Onesimus gefasst und in ein Gefängnis gebracht worden ist, sich also in »öffentlicher Hand« befand, hätte Paulus – als Gefangener (!) – niemals die rechtliche Handhabe gehabt, ihn einfach »zurückzuschicken« (V. 12a), noch dazu ohne Sicherungsmaßnahmen.43 Sollte Onesimus jedoch nicht ergriffen worden sein, ist es völlig unverständlich, weshalb ein die Freiheit suchender Sklave statt so schnell wie möglich unterzutauchen zunächst freiwillig Paulus in einem Gefängnis aufsucht.44 Im Kontext intendierter Flucht gedacht, wäre das auch nur dann sinnvoll, wenn das Gefängnis als Asylort gegolten hätte,45 was allerdings völlig unwahrscheinlich ist. Sollte Onesimus dagegen von Gemeindemitgliedern, die ihn aufgegriffen haben, zu Paulus gebracht worden sein,46 dann hätten sie sich des plagiums schuldig gemacht47 – und genauso Paulus, insofern er ernsthaft erwogen haben sollte, Onesimus bei sich zu behalten (V. 13). Wegen dieser Ungereimtheiten, die bei sozialgeschichtlicher Beleuchtung eklatant werden, haben sich im Laufe des 20. Jh. alternative Erklärungsmodelle entwickelt, die dem fugitivus-Status des Onesimus zu entgehen suchen: Er wird zum Gemeinde-Gesandten (2.2), zum »Herumtreiber« bzw. Paulen in einem Sklaven-Steckbrief hinweist, in dem sich χωρίζω auf Sklavenflucht bezieht und erwähnt wird, dass der Flüchtige einen nicht unerheblichen Betrag seines Herrn habe mitgehen lassen (UPZ 121: 156 v.Chr.). Weitere Vertreter: Suhl 21; Stuhlmacher 22–24; Barth/Blanke 141–150. 40 Niemals hätte man einem gefassten fugitivus die gleichen leichten Haftbedingungen zugestanden, wie sie etwa Apg 28,16.23.30 (militaris custodia; vgl. Albandt/Macheiner, Gefangenschaft 327) für Paulus voraussetzt; Onesimus wäre in ein ergastulum (vgl. Sen. ira 3,32,1) gesteckt worden. 41 Vgl. die Auflistung bei Cho, Philemon 104–106. 42 Vgl. Krause, Gefängnisse 150; Arzt-Grabner 105–108; skeptisch im Blick auf die Anwendung römischer Gesetzgebung auf Peregrine ist Llewelyn, Pursuit 42. 43 Vgl. dagegen die Anweisung in einem Privatbrief, den entflohenen Sklaven, falls er gefunden wird, an Händen und Füßen gefesselt an den Besitzer zurückzuschicken (SB VI 9532). 44 Darüber wundern sich die Vertreter dieses Modells selbst; vgl. Stuhlmacher 23. 45 Das wird ernsthaft erwogen – und zwar im Blick auf den Herd des Hauses als Asyl ort (vgl. Goodenough, Paul 181–183, mit Verweis auf Philon virt. 124, der dort Dtn 23,15f. dem aktuellen Recht entsprechend rezipiert und erklärt) und der Vorstellung eines Hausarrests des Paulus: Lohmeyer 171–173; Bruce 196f.; Schenk, Brief 3466–3475; zur Auseinandersetzung vgl. Rapske, Prisoner 192–195). 46 Vgl. auch die differenzierte Kritik an den unterschiedlichen Nuancierungen des fugi tivus-Modells von Rapske, Prisoner 189–195. 47 Straftatbestand bereits in der Kaiserzeit, später als furtum spezifiziert; vgl. Bellen, Studien 116–118; Klingenberg, Servus 12–14 (mit Textbelegen); Buckland, Law 269.
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lus als amicus domini zur Anlaufstelle, um für Onesimus zu intervenieren (2.3) – oder gar zum leiblichen Bruder Philemons, sodass sich sein Sklavenstand völlig verflüchtigt (2.4). 2.2 Onesimus als Gemeinde-Gesandter Die erste Alternative findet einen neuen Grund für die »Trennung« (V. 15) des Onesimus aus dem Haushalt seines Herrn: Er ist kein fugitivus, sondern wurde vielmehr von seinem Herrn zu Paulus ins Gefängnis (als Hausarrest verstanden) geschickt – ähnlich wie Epaphroditus von der Gemeinde in Philippi als deren »Gesandter« (ὑμῶν δὲ ἀπόστολον: Phil 2,25), um ihm, wie es für antike Gefängnisse notwendig war, Nahrung, Kleidung und sonstige Unterstützung zukommen zu lassen. So die Hauptthese von Sara C. Winter (1987),48 die damit die geradezu überfällige Schlussfolgerung aus der Grundidee von John Knox (1935)49 gezogen hat. Der nämlich sah das eigentliche Ziel Philemons nicht darin, den angeblichen fugitivus Onesimus vor schlimmen Strafen zu bewahren,50 sondern um ihn selbst als Gehilfen zu bitten (so die Auflösung von περί in V. 10: 4–6), nämlich für den Dienst der Evangeliumsverkündigung (mit Verweis auf V. 15f.: 7–10). Den gesetzlichen Eigentümer des Onesimus bitte Paulus lediglich um dessen rechtliche Einwilligung (so die Auflösung von ἀναπέμπειν in V. 12: 6) und erwarte letztlich die manumissio des Sklaven (mit Verweis auf V. 21: 6). In Variation zu Winter beleuchtet Scott S. Elliott (2011) den Vorgang der »Sendung« des Onesimus von einer Patronatskonstellation her: Philemon sende Onesimus Paulus als »Geschenk« – und erweise sich dadurch als pa tronus, was Paulus aber elegant ablehne. Die Alternativ-Lesart von Knox ist zusätzlich mit einem »Lykostal-Roman« verbunden: Unter Heranziehung des (für authentisch gehaltenen) Kol nimmt er eine vom Mainstream abweichende Rollenidentifizierung im Blick auf den Ansprechpartner des Paulus im Phlm vor. Er kombiniert Kol 4,17, wo Paulus dem Archippus ausrichten lässt, dass er darauf achten soll, seinen »Dienst« (διακονία) zu erfüllen, den er vom Herrn empfangen habe, mit Phlm 13b, wo Paulus von dem »Dienst« Vor allem mit Verweis auf das Proömium begründet, dessen Anspielungen Winter im Blick auf die »Sendung« des Onesimus zu Paulus konkretisiert (3f.). 49 Knox deutet zwar an, dass der Grund für den Weggang des Onesimus sein könnte, dass er von seinem Eigentümer »with some message or gift for Paul or for one of Paul’s companions in prison« geschickt worden sei (»been sent«), verwirft diese Idee jedoch sofort im Blick auf die zwei Punkte im Brief, die das Verhältnis Onesimus – Philemon in schlechtem Licht erscheinen lassen: Er sei für seinen Eigentümer »nutzlos« gewesen (V. 11) und er habe seinem Eigentümer Schaden hinzugefügt (V. 18), weshalb Knox es für »not unnatural« hält, bei der »runaway«-These zu bleiben, sich jedoch unsicher ist: »… possibly a runaway … which is by no means certain …« (2). Knox’ Bedenken gegen das von ihm angedeutete Gesandten-Modell haben sich in der Literatur durchgesetzt; Winters kluge Schlussfolgerung wird ihm fälschlicherweise untergeschoben, z.B. bei Fitzmyer 17. 50 Das ergibt sich bei ihm aus dem Vergleich mit Plin. epist. 9,21: 2f. 48
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(διακονεῖν) spricht, den ihm Onesimus leisten soll, nämlich die Hilfe bei der Evangeliumsverkündigung – und zwar anstelle des Briefadressaten, den er mit »Du« anspricht (ὃν ἵνα ὑπὲρ σοῦ μοι διακονῇ ἐν τοῖς δεσμοῖς τοῦ εὐαγγελίου). Daraus schließt Knox, dass Archippus der Herr des Sklaven Onesimus sein muss (25f.). Und nicht nur das: Archippus sei auch der Besitzer des Hauses, in dem sich die Ekklesia versammelt, an die sich Paulus im Phlm richtet. Das ergebe sich aus der Formulierung der adscriptio in V. 2: Das Personalpronomen σου beziehe sich auf die unmittelbar zuvor genannte Person – und das ist Archippus (26f.).51 Verortet wird die Hausgemeinde in Kolossä, denn Knox identifiziert den Brief an Phlm mit dem in Kol 4,16 genannten Brief »aus Laodizea«; der folgende V. 17, mit dem Archippus angeblich zum Vollzug von Phlm 13b ermahnt werden soll, zitiere sozusagen daraus. Nachdem dieser Brief der Gemeinde in Kolossä vorgelesen werden soll, sei das auch diejenige Gemeinde, an die das von der Forschung »Philemonbrief« genannte Schreiben gerichtet sei (18–24). In dieser Perspektive kann Knox nun auch gut erklären, warum im Phlm nicht Archippus, der Haus- und Sklavenbesitzer sowie Gastgeber der Ekklesia von Kolossä, als Erster genannt wird, sondern Philemon: Er sei als »Mitarbeiter« des Paulus (vgl. V. 1) die eigentliche Respektsperson der christlichen Gemeinden im Lykostal. Er bekomme als Erster den Brief; denn er solle darüber wachen, dass Archippus seine διακονία, d.h. die Freilassung des Onesimus und sodann seine Freistellung für die Evangeliumsverkündigung auch wirklich in die Tat umsetze. Er habe seinen Sitz, nachdem der Brief »aus Laodizea« kommt, in diesem Zentralort des Lykostales52 (25–34). Wie hypothetisch all diese Annahmen sind, zeigt sich schon daran, dass der Lehrer von Knox, Edgar J. Goodspeed, auf der Suche nach dem Kompilator des Corpus Paulinum (1933) auf der Basis der gleichen Stellen bei analoger Grundkonstellation die entsprechenden Rollen sozusagen seitenverkehrt besetzt hat: Archippus als »minister of the church in Philemon’s house« in Laodizea soll darauf achten, dass Onesimus bei seiner Rückkehr von Philemon human behandelt wird (6f.).53
2.3 Die »Flucht« zum amicus domini Vor allem gestützt auf römische Rechtstexte versteht Peter Lampe (1985) die Andeutungen zur Vorgeschichte des Phlm als Versuch eines Sklaven, einen einflussreichen Vermittler zwischen sich und seinem Herrn zu finden. Deshalb verlässt Onesimus das Haus Philemons. Diese Art von »Trennung« (qui ad amicum domini deprecaturus confugit), die die Rückkehr zum Herrn zum Ziel hat, fällt nicht unter die Rechtskategorie fugitivus.54 Zur Kritik vgl. Greeven, Prüfung; Lohse 262. Zum Lykostal vgl. Huttner, Christianity 1–80. 53 Zu diesem Aspekt der Forschungsgeschichte vgl. Kreitzer 53–60. Weitere Vertreter des Gesandten-Modells von Winter: Wansink, Christ 147–199; Schenk, Brief (Philemon als Sklavenherr); Knox wurde unmittelbar rezipiert von Dibelius 101f. 54 Vgl. Dig. 21,1,43,1 ( Jurist Paulus: 2./3. Jh. n.Chr.); Dig. 21,1,17,5 ( Jurist Vivianus: Zeit Trajans); Dig. 21,1,17,4 ( Jurist Proculus: ca. 20 v.Chr. – 50/70 n.Chr.) – aus dieser Passage wurde oben zitiert. Die Rechtstexte sprechen in diesem Fall von einem erro (»Herumtreiber«), worauf Harrill, Jurists 135; ders., Slaves 7–11, hinweist und zugleich die Berufung auf die Rechtstexte kritisiert, weil es sich um eine rein akademische Diskussion handle, die weit entfernt sei vom Alltagsleben (vgl. aber den empirisch belegten Wider51 52
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Nicht die Flucht ist das Ziel, sondern die Intervention. Mit diesem sogenannten amicus domini-Modell kann Lampe auch die von den Kritikern der fugitivus-These immer wieder vorgebrachten Leerstellen (nirgends wird Onesimus fugitivus genannt; er versucht nicht unterzutauchen, und Paulus bittet Philemon nicht darum, den Sklaven vor Strafen zu verschonen) als Stütze für seine eigene These erklären. Das Vergehen von V. 18 erscheint dann nicht mehr als Kollateralschaden im Zusammenhang mit der Flucht, sondern als der eigentliche Auslöser für die »Trennung«, nämlich sich in einem Konflikt mit dem Herrn einen Fürsprecher zu suchen. Als ganz konkretes Beispiel für diese Praxis kann Lampe auf Plinius d.J. verweisen, der selbst einmal die Rolle des deprecator für den Freigelassenen eines seiner Freunde eingenommen hat (epist. 9,21) – offensichtlich mit Erfolg (epist. 9,24).55 Eine Variation dieses Modells, die von Peter Arzt-Grabner (2004) vertreten wird, kombiniert die differenzierte juristische Beurteilung eines Sklaven, der sich vom Haus seines Herrn entfernt, mit dem Gemeinde-Gesandten-Modell: Möglicherweise sei Philemon von einem Mitglied der Gemeinde zu Paulus ins Gefängnis mitgenommen worden – und »alles Weitere« habe sich »erst daraus ergeben« (141). Die Formulierung ἐχωρίσθη in V. 15, die in dokumentarischen Papyri auch in der aktiven Bedeutung von »sich entfernen« belegt ist,56 will Arzt-Grabner mit der Definition des erro verbinden, wie sie sich gelegentlich in römischen Rechtstexten, vor allem aber in Sklavenkaufverträgen findet (141f.). Deutlich abgesetzt vom fugitivus/δραπέτης handelt es sich beim erro/ῥέμβος um einen, »der sich häufig ohne Grund herumtreibt (frequenter sine causa vagatur) und, nachdem er die Zeit mit Trivialitäten vertan hat, mit Verspätung wieder nach Hause zurückkehrt«.57 Philologische Gründe sprechen allerdings gegen dieses Modell. Sowohl der Aorist von spruch von Arzt-Grabner, Onesimus 125–133). Als »new hypothesis« referiert Harrill, Slaves 14f., den Vorschlag von Arzt-Grabner 66–70, den Phlm, insbesondere das von Paulus gewünschte διακονεῖν des Onesimus in V. 13b, auf dem Hintergrund der zeitgenössischen Lehrlingsverträge zu lesen: Paulus als »Meister« wünsche sich Onesimus als »Lehrling« in der Evangeliumsverkündigung. 55 Erstmals als Parallele zu Phlm vorgeschlagen von Grotius 600; Verweis darauf bei Callahan, Epistle 359. In der Neuzeit sind Vorreiter für dieses Modell Buckland, Law 268, im deutschen Sprachraum Bellen, Studien 18.78, der außerdem auf einen entsprechenden Ratschlag des Ioh. Chrys. adv. Iud. 8,6 (PG 48, 937) verweist sowie auf epist. 142 des Isidor von Pelusium (PG 78, 277) als »Parallele« zum Phlm. Frilingos, Child 91, führt zusätzlich Cass. Dio 54,23,2–4 an, wo es Augustus ist, der gegenüber seinem Freund Pollio für dessen Sklaven eintritt; Harrill, Slaves 203, verweist auf einen Brief aus der Hand eines gewissen Aristainetos (6. Jh. n.Chr.), in dem es zum perfiden Plan der fiktiven Briefschreiberin gehört, dass sich der von ihrer Freundin absichtlich misshandelte Sklave in ihr Haus flüchtet, um Beistand zu erhalten (πρὸς φίλην τῆς κεκτημένης φεύξεται παρ᾿ ἐμέ). Text: Costa, Letters 64–67. 56 Vorher nur vertreten von Dibelius 106; Bieder 41. 57 Dig. 21,1,17,14 ( Jurist Ulpian, der jedoch an anderer Stelle erro und fugitivus gleichsetzt: Dig. 11,4,1,5). Vgl. den analogen Vorstoß von Harrill, Paul 589–593, der mit Verweis auf Cic. fam. 9,3; Att. 11,2f. allerdings die Schuld bei Paulus sehen will, der den Gemeinde-Gesandten Onesimus über Gebühr für sich beansprucht habe.
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ἐχωρίσθη als auch die beiden Zeitverweise in V. 15 (kurzzeitig/ewig) deuten auf ein einmaliges, planvolles Geschehen hin.58
2.4 Onesimus als leiblicher Bruder Philemons Eine ganz eigenständige Variation zur Rollenidentifikation der Protagonisten, die zentral den Status des Onesimus betrifft, legt Allan D. Callahan (1993) vor. Er greift auf eine Grundthese der »antislavery exegetes« zurück, die sie im Kampf gegen die Sklaverei im Amerika des 19. Jh. vorgebracht haben – gestützt auf V. 16: »Onesimus was a natural brother to Philemon – a younger brother, bound to the elder.«59 Damit ist der Brief von jeglichem Sklavengeruch desinfiziert. Norbert Baumert (2001) greift diese Rollenidentifizierung theologisch auf und deutet konsequent alle sozialen Daten symbolisch: Onesimus sei unter seine Leidenschaften »versklavt« (148); in der Begegnung mit Paulus, dessen »Fesseln« für seine »geistliche Gebundenheit« an Christus stünden (140), habe Onesimus, der seinem Bruder Philemon Kummer bereitet habe (ἄχρηστος: 148), eine tiefgreifende Berufung erfahren (155). Die verschiedenen Alternativen, die das lange vorherrschende fugiti vus-Modell kritisieren und zu ersetzen versuchen, sensibilisieren für die Interpretation der eingangs genannten »Textdaten« für die Rekonstruktion der Vorgeschichte, wobei zusätzlich die Frage nach der Rollenidentifikation der im Präskript genannten Personen in ihrem Bezug zu Onesimus hinzugekommen ist. Die Evaluierung der Vorschläge erfolgt nach Analyse und Kommentierung des Textes unten S. 133. 3 Die Kommunikationsstrukturen: der Brief als kommunitätsgestützte Intervention Hinsichtlich der Kommunikationsstrukturen fallen im Phlm zwei Besonderheiten ins Auge: Die superscriptio nennt zwei Namen als Briefabsender, Paulus und Timotheus, aber mit Beginn des Proömiums in V. 4 finden sich nur noch Verben in der ersten Person Singular bzw. entsprechende Personalpronomina bis hin zum dreimalig exponierten ἐγώ (V. 13.19.20). Wir nehmen an, dass Paulus hinter diesem »Ich« steckt. Wo aber ist dann Timotheus geblieben? Lediglich innerhalb des Präskripts schlägt sich die doppelte Absenderschaft nieder, wenn von »unserem Geliebten« (V. 1) bzw. von »unserem Mitsoldaten« (V. 2) die Rede ist. Analog verhält es sich mit der adscriptio: Drei einzelne Namen sowie die Ekklesia werden genannt, aber im Proömium und im Briefkorpus erscheint grammatikalisch lediglich noch die zweite Person Singular in den Verbfor Im Sinn von Arzt-Grabner wäre eher eine Imperfektform zu erwarten; vgl. Theobald, Vorgeschichte 44. 59 Callahan, Epistle 364 (zur Sache vgl. unten S. 152.167–169). 58
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men und Personalpronomina. Der Mainstream der Forschung nimmt an, dass damit Philemon gemeint ist. Eine Mehrzahl von Ansprechpartnern kommt erst wieder am Ende des Epilogs in den Blick, wenn Paulus in V. 22 schreibt, er hoffe, »dass ich durch eure Gebete euch geschenkt werden werde«, sowie im Charis-Wunsch V. 25 (»mit eurem Geist«). Die Grußliste dazwischen (V. 23f.) ist dagegen wieder an eine Einzelperson gerichtet (V. 23: σε; V. 24: μου). Ist der Phlm also doch eher ein Privatbrief, der nur im Rahmen sich auch an die Ekklesia und weitere Einzelpersonen wendet? Beide Probleme lassen sich über die Epistolographie bzw. die antike Brieftheorie erhellen. 3.1 »Dual conversation« Das Präskript eines antiken Briefes klärt in superscriptio und adscriptio die Kommunikationssituation, nennt also die Personen, die über den Brief miteinander in Kontakt treten sollen. Bezogen auf den Phlm würde es also keineswegs der Intention der Absender entsprechen, wenn der Gemeinde nur der Anfangsgruß und der Charis-Wunsch vorgelesen – und Philemon den Rest für sich alleine lesen würde. Das geht auch schon deshalb nicht, weil in V. 22, also mitten im Textfluss, erneut die größere Zuhörerschaft angesprochen wird. Der Brieftext selbst stellt sich also einer »separated lecture« entgegen. Kurz: Die in der adscriptio genannten Adressaten sind als Zuhörerschaft während des gesamten Briefes gedacht, also auch dann, wenn Paulus ab V. 4 Philemon alleine anspricht. Wir können deshalb von einer »dual conversation« sprechen. Im Zentrum findet ein »face to face«-Dialog des Paulus mit Philemon statt, der als »public hearing« inszeniert wird.60 Die Vorstellung von einem Gespräch greift einen entscheidenden Punkt der antiken Brieftheorie auf: Der Brief wird mit einem Dialog verglichen, bei dem man nur einen der beiden Partner reden hört (οἷον τὸ ἕτερον μέρος τοῦ διαλόγου: Demetr. eloc. 223).61 Diese Vorstellung hat sich auf die Phraseologie des Briefes niedergeschlagen.62 Der Brief beginnt – wie eine Begegnung – mit einer Begrüßung und endet mit einer Verabschiedung. Die im Präskript genannten Namen dienen nicht als Hinweise für die postalische Zusendung; denn die standen als Inskription auf der Außenseite des zusammengefalteten oder -gerollten Papyrusblatts. Das Präskript ist vielmehr ein Teil des über den Brief eingefädelten Gesprächs und inszeniert die Begrüßung der Gesprächspartner, allerdings nur von einer Seite aus. Vermittelt wird diese Begrüßung über das Medium des Briefes, der natürlich nicht selbst spricht, sondern vorgelesen wird, sodass der Brief mit Hilfe des Vorlesers die Vorstellung der sich jetzt treffenden Gesprächspartner übernimmt: Absender N.N. (lässt mich, den Brief, mit Hilfe des Vorlesers) dem Adres60 Die englischen Formulierungen stammen von Elliott, Thanks 53, bzw. von Harrill, Slaves 13. 61 Vgl. Klauck, Briefliteratur 149–156. 62 Vgl. insgesamt Koskenniemi, Studien.
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saten N.N. (sagen): Sei gegrüßt (gewöhnlich in indirekter Rede angeschlossen: χαίρειν).63 Nach dieser inszenierten Begrüßung der Gesprächspartner hört man den Briefschreiber selbst sprechen. Gemäß antiker Brieftheorie wird er durch die (hörbaren) Worte des Briefs selbst präsent gesetzt.64 Anders gesagt: Mit den Worten des Briefs »verwandelt sich die körperliche Abwesenheit in geistige Gegenwart«65. Paulus rekurriert mehrmals in seinen Briefen explizit auf diese Vorstellung (1Kor 5,3: ἀπὼν τῷ σώματι / παρὼν δὲ τῷ πνεύματι; 1Thess 2,17; vgl. Kol 2,5). In antiken Kategorien gedacht wirft ein Brieftext nicht die Frage auf, wer das Schreiben verfasst hat, sondern wer im Medium des Brieftextes spricht bzw. bei der Verlesung des Brieftextes anwesend ist. Beides muss auseinandergehalten werden.66 Als (geistig) anwesend gedacht sind diejenigen Personen, die in der superscriptio genannt werden, in unserem Fall also Paulus und Timotheus – genauso wie diejenigen in der adscriptio genannten Personen als intendierte Adressaten körperlich anwesend sein sollen. Als Sprecher des Briefes tritt auf, wer durch die grammatikalischen Strukturen im folgenden Text angezeigt wird. Im Fall des Phlm ist es kein Duo, sondern eine Einzelperson, also Paulus, der sich in der superscriptio an erster Stelle nennt. Anders verhält es sich mit den Schlussgrüßen. Sofern Grüße bisher nicht genannter Personen übermittelt werden, wie es in Phlm 23f. geschieht, sind diese in der fingierten Gesprächssituation keineswegs anwesend gedacht. Sie werden vielmehr vom/von den grammatikalisch angezeigten Sprecher/n des Briefes, dem/denen der Vorlesende seine Stimme leiht, am Ende in das fingierte Gespräch eingebracht, ohne dass sie selbst über das Medium Brief/ Vorleser zu den Adressaten sprechen würden. Also: Paulus ist zusammen mit Timotheus über das Medium Brief bei dessen Verlesung in der Hausgemeinde anwesend. Nach der über das Präskript inszenierten Begrüßung spricht Paulus alleine mit Philemon, aber die gesamte Hausgemeinde hört zu. Das bedeutet: Bei diesem Gespräch, von dem wir nur den Part der einen Seite hören, stehen sich nicht Paulus und Philemon alleine gegenüber, sondern beide werden jeweils sekundiert. Philemon hat Apphia und Archippus sowie die Hausgemeinde hinter sich, Paulus den Timotheus. Und die Schlussgrüße signalisieren, dass die beiden über den Brief anwesenden Dialogpartner Paulus und Timotheus eigentlich noch in eine viel größere Gruppe eingebunden sind. 63 Zu dieser Auflösung des formelhaften Infinitivs mit Hilfe der Ergänzung der Botenformel vgl. Klauck, Briefliteratur 36f. 64 Zu dieser Vorstellung immer noch grundlegend Koskenniemi, Studien 38–42. 65 Klauck, Briefliteratur 153. 66 Wie Gal 1 zeigt, können die in der superscriptio genannten Namen – Paulus nennt »alle Brüder bei mir« – nicht einfach mit den Autoren identisch sein. Das wird auch für 1Thess gelten, wo Paulus in der superscriptio ein Trio nennt. In beiden Fällen wird Paulus selbst der Autor des Briefes gewesen sein (vgl. Hoppe, 1Thess 64–70). Aber das Brief-Gespräch wird jeweils unterschiedlich inszeniert: In Gal tritt Paulus selbst als alleiniger Sprecher auf, in 1Thess dagegen fingiert er einen Trio-Auftritt.
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Anders gesagt: Paulus nutzt die Kommunikationsstrukturen des Briefes, um sein Anliegen, das er Philemon »betreffs« dessen Sklaven Onesimus vortragen möchte, vor ein großes Forum zu bringen. Mit der Verlesung des Briefes vor der intendierten Zuhörerschaft wird der »Fall Onesimus« und vor allem das von Paulus im Brief vorgeschlagene Verfahren öffentlich. Auf den Antrag, den Paulus vor der Ekklesia stellt, muss Philemon auch vor der Ekklesia reagieren.67 Obwohl rein juristisch die Sache ganz in die persönliche Entscheidungsfreiheit Philemons fiele, kann er den Fall nicht mehr unter vier Augen regeln. Und nicht nur das: Mit dem Personenarsenal, das über den Brief ins Spiel kommt, ist auch sachlicher Druck verbunden: »Hinter« Paulus steht nicht nur Timotheus, sondern über die Schlussgrüße werden weitere Figuren in das Verfahren eingebunden. Philemon darf davon ausgehen, dass Paulus die Genannten über den weiteren Verlauf informieren wird. Nicht zu vergessen die Ekklesia hinter seinem eigenen Rücken, deren Reaktion auf das Anliegen des Paulus Philemon nur ahnen kann, vor der er aber seine Entscheidung wird erklären müssen. 3.2 Performanzkritik Alle diese Vorgänge, die während der Briefvorlesung im Auditorium ablaufen, zu analysieren, ist Sache der Performanzkritik, die sich in den vergangenen Jahren als kulturwissenschaftlich akzentuierter Seitenzweig der ursprünglich von der Sprachphilosophie etablierten Sprechakttheorie zu entwickeln begonnen hat. Pionier im Blick auf die Paulusbriefe ist Bernhard Oestreich.68 Performanz der Paulusbriefe versteht er als »mündliche Aufführung von schriftlich abgefassten sprachlichen Äußerungen« (1; kursiv im Original). Vorausgesetzt ist der mündliche Vortrag des Briefes (36), den Paulus gelegentlich explizit anmahnt (1Thess 5,27; vgl. Kol 4,16). Dabei wird das Vorlesen des Briefes nicht nur als akustisches, sondern vor allem als soziales Ereignis verstanden und analysiert (37). Es geht also um die Wirkung des vorgelesenen Textes auf die Zuhörer. Insofern ist diese Art von Performanzkritik eine speziell auf die (Paulus-)Briefe zugeschnittene Rezeptionsästhetik. Untersucht werden die Interaktionen, die zwischen dem Vortragenden bzw. dem geistig anwesenden Briefabsender und den Hörern ablaufen. Besonderes Augenmerk wird auf Briefpassagen gelegt, in denen der Sprecher/ Briefabsender nur einen Teil des Auditoriums oder gar einen Einzelnen an67 Hock, Support 76f., hat auf den Anfang des Liebesromans »Chaireas und Kallirhoe« als Analogie hingewiesen: Auch hier ist es die offiziell einberufene Volksversammlung der Stadt, die den Vater der schönen Kallirhoe zu einem Schritt zwingt, den er – hätte er allein entscheiden können – nie zu gehen bereit gewesen wäre: seine Tochter dem Sohn seines schlimmsten politischen Gegners als Frau zu geben (Charit. 1,1,1–13). 68 Oestreich, Performanzkritik, der speziell den Rekurs auf Kulturanthropologie und Theaterwissenschaft betont (5); für die Analyse jüdischer Briefe vgl. Miller, Performances, der den Fokus auf die interne Strukturierung der Texte legt, wie sie sich aus dem mündlichen Vortrag ergibt; zu den Ausfaltungen des Performanzbegriffes in den unterschied lichen Disziplinen: Wirth (Hg.), Performanz.
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spricht bzw. auf bestimmte Personen (anwesend oder nicht) anspielt, also mit unterschiedlichen Einstellungen des Publikums rechnet – und das auch zum Ausdruck bringt. Zur Evaluierung dieser Interaktionsprozesse werden von Soziologen entwickelte Analysemodelle herangezogen.69 Auf den Phlm bezogen ist bei der Analyse70 darauf zu achten, (1) dass bei den Worten, die von Paulus rein grammatikalisch direkt an Philemon gerichtet werden, auch die Gemeinde anwesend ist, mithört – und darauf reagiert; und (2) inwiefern der Brieftext selbst die anwesenden Personen in die Argumentation mit einbezieht, auch wenn sie nicht direkt angesprochen werden. Es macht nämlich einen Unterschied, ob Paulus vor Philemon allein über Onesimus redet – oder ob er das in Anwesenheit der Gemeinde und des Betroffenen selbst tut. Denn schließlich ist noch eine weitere Person bei der Briefverlesung anwesend, die nur über die Handlungsebene in den Blick kommt: Onesimus. Wir sollten nicht vergessen, dass der Paulusbrief ja in das Haus Philemons transportiert werden muss. Als Überbringer kommt kein anderer als Onesimus infrage.71 Wenn er sichergehen will, dass die von Paulus intendierte Zuhörerschaft auch wirklich anwesend ist, wird er den üblichen Termin der Herrenmahlsfeier als Ankunftszeit ausgewählt haben. 3.3 Gattungsfragen Die eingangs gestellte »alte Streitfrage« nach der Klassifizierung des Phlm als Privatbrief bzw. öffentliches Schreiben72 lässt sich auf Grundlage der vorausgehenden Beobachtungen differenziert beantworten. Aufgrund des Präskripts, der Weichenstellung für die Einordnung eines Briefs,73 kann Phlm eindeutig als öffentliches Schreiben bezeichnet werden. Im Spektrum griechisch-römischer öffentlicher Korrespondenz entspricht er einem Brief »from a ranking officer to the people of his jurisdiction«74. Dafür ist typisch, 69 Oestreich greift vor allem auf Simmel, Soziologie, und dessen Untersuchungen zum Wechsel von einer Zwei-Gruppen-Situation zu einer Drei-Gruppen-Situation zurück (99–122). 70 Im Kommentarteil jeweils unter der Rubrik »Performanz«. 71 Das ist common sense unabhängig vom Rekonstruktionsmodell; vgl. Nordling 6; Knox, Philemon VII; Lampe 207; Elliott, Thanks 52.61; Callahan, Epistle 373; ablehnend jedoch Winter, Letter 7 (liest ἀναπέμπω in V. 12 in rein rechtlicher Bedeutung). 72 Die Meinung von Bornkamm, Paulus 100, der Phlm sei »der einzige Privatbrief, den wir von Paulus besitzen«, wird nur noch selten vertreten: Harris 241; Malina/Pilch 321. Übersicht und Gegenargumente bei Müller 72f.; vgl. auch Kumitz, Brief 92–99. Gute Alternativkriterien zu den Deissmann-Kategorien »echter Brief« bzw. »Epistel« hat Bauer, Paulus 56f., entwickelt: Überlieferung (literarisch oder dokumentarisch) – echter Brief oder literarischer Kunstbrief – Form, Inhalt und Funktion (private, öffentliche und geschäftliche Briefe). 73 Vgl. Stirewalt, Paul 33f., auf dessen Analysen öffentlicher Schreiben hier zurückgegriffen wird; vgl. ders., Studies 11, wo er festhält, dass der griechische Privatbrief erst im 5. Jh. v.Chr. sich aus den öffentlichen Schreiben heraus entwickelt hat und noch bei Thuky dides ἐπιστολή ganz selbstverständlich auf die öffentliche Korrespondenz bezogen ist. 74 Stirewalt, Paul 37, mit den entsprechenden Analysen (27–55; folgendes Zitat: 44). Die Petition von Privatleuten an eine Behörde, für die White, Structure, eine minutiöse
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dass sich der Absender (1) mit Titel und (2) Co-Absendern nennt, die ihm Autorität verschaffen oder mit denen er sich Autorität teilt, sowie (3) eine »address to multiple recipients« angibt, die gemeinsam für das im Brief ausgesprochene Anliegen in Verantwortung genommen werden. Alle diese Kriterien treffen auf das Proömium des Phlm zu.75 Was das Briefkorpus angeht, lassen sich für Phlm jedoch deutliche Differenzen gegenüber den üblichen Strukturen offizieller Briefe beobachten. Anstelle der generell zu beobachtenden Zweiteilung (background information, message)76 finden sich im Phlm eher Elemente des Empfehlungsbriefes (V. 8–10)77 und evtl. des Freundschaftsbriefes (V. 4.22).78 Am ehesten lässt sich das Briefkorpus den »vermittelnden« Briefen zuordnen, einer Unterordnung der Empfehlungsbriefe. Ein Beispiel dafür ist der Brief des Plinius an seinen Freund Sabinianus, in dem er für dessen Freigelassenen um Milde bittet – und derartige Schreiben selbst als reducentes epistulae bezeichnet (9,24).79 Sitz im Leben solcher Briefe wie der Empfehlungsbriefe überhaupt ist das antike Patronatswesen, wobei Briefabsender und Briefadressat sich auf gleicher sozialer Ebene begegnen. Dazu passt, dass Paulus für die Formulierung seiner Bitte ein Verbum verwendet, das zwar in Privatbriefen neben ἐρωτῶ und der Wendung καλῶς ἂν ποιήσαις geläufig ist, in offiziellen Briefen der diplomatischen Korrespondenz sich jedoch nur dann findet, wenn der Absender dem Adressaten gegenüber seine Verbundenheit bzw. seinen Respekt zeigen und ihm möglichst gleichrangig begegnen möchte: παρακαλῶ (V. 9a.10a).80 Auch die Schlussgrüße stehen im Phlm in einer für die Privatbriefe üblichen Form. Amtliche Schreiben schließen mit einem knappen ἔρρωσο bzw. ἔρρωσθε. Allenfalls wird zuvor der Briefüberbringer eingeführt, zur Erläuterung des Briefinhaltes autorisiert und evtl. mit Grüßen an den Adressaten betraut.81 Gattungsbeschreibung geliefert hat, bildet eine eigene Rubrik der öffentlichen Briefe und kommt für Philemon nicht infrage. 75 Bezüglich des Signals der Nennung der Ekklesia bleibt Reinmuth 26 unentschlossen: »Das bedeutet nicht, dass der Philemonbrief als Gemeindebrief aufzufassen ist.« 76 Vgl. Stirewalt, Paul 46–54; speziell zum Briefkorpus einer Petition vgl. Mullins, Petition. 77 Vgl. dazu unten S. 71f. Zur Gattung Empfehlungsbrief vgl. Keyes, Letter; Kim, Form. Neben den vielen privaten Empfehlungsschreiben finden sich auch amtliche: ebd. Nr. 52.53. 78 Dabei ist der Topos des Gedenkens (V. 4), den Wolter neben dem Parusie-Topos (V. 22) geltend macht (236.252.280), auch in anderen Privatbriefen zu finden und im reinen Freundschaftsbrief gerade nicht religiös (im Sinn einer Fürbitte) aufgeladen; außerdem ist die Blüte der Freundschaftsbriefe erst ab dem 2. Jh.; vgl. Koskenniemi, Studien 115– 127.145–148; zur antiken Klassifizierung vgl. Ps.-Demetr. 1. 79 Vgl. Kumitz, Brief 106–111 (»Fürbittenschreiben«; vgl. auch P.Lond. 17), unter Rückgriff auf Stowers, Letter Writing 153–165; Zweck dieser Art von »intercessory letters« ist: »to provide a person with credentials for some activity« (153); vgl. auch Stuhlmacher 24– 26, der auf weitere Briefe christlicher Provenienz verweist. Anders als beim klassischen Empfehlungsbrief kennen sich in diesem Fall Adressat und Empfohlener schon sehr gut. 80 Vgl. Bjerkelund, PARAKALÔ 43–58.59–74. 81 Vgl. Welles, Correspondence Nr. 35; 58; 14 (mit Grußauftrag).
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Insgesamt ergibt sich: Der Phlm ist offensichtlich ein bewusst angelegtes Mischprodukt mit einem amtlichen Rahmen, in den hinein ein Fürbittanliegen gesprochen wird. Über das Präskript seines Briefes stellt Paulus eine öffentlich-amtliche Kommunikationsstruktur her,82 um in diesem Rahmen sein Fürbittanliegen, strukturell in der Form eines Privatbriefes geschrieben, vorzutragen. Anders gesagt: Paulus nutzt die offizielle Zusammenkunft der Ekklesia als »kritische Instanz«83 für einen Sachverhalt, der rechtlich gesehen als Privatangelegenheit allein von Philemon entschieden werden könnte, ohne dass er irgendjemandem Rechenschaft schuldig wäre. Damit wird der Phlm zu einer Publikums- bzw. besser: Ekklesia-gestützten Intervention. 4 Die aktuelle Situation: Ort und Zeit Paulus nennt im Phlm weder den Ort des Gefängnisses, in dem er seinen Brief schreibt, noch den Ort des Hauses, in dem die Gemeinde sich versammelt. Kein Wunder, dass bzgl. der geographischen Konkretionen die Spekulationen auseinanderdriften. Für den Ort des Gefängnisses84 reichen die Vorschläge entsprechend den in der Apg genannten bzw. aus den Paulusbriefen erschlossenen Gefängnisaufenthalten85 von Cäsarea im Osten über Ephesus in Kleinasien bis nach Rom im Westen. Entsprechend unterschiedlich fällt die zeitliche Ansetzung des Briefes aus – je nach vorausgesetzter Paulus-Chronologie:86
Ephesus Cäsarea Rom87
Schreiber 52–55
Fitzmyer 55–57
56–58 Frühjahr 59 bis Anfang 60er Jahre
58–60 61–63
Lüdemann Herbst 48 (51) bis Frühjahr 50 (53) Frühjahr 52 (55) (Angaben fehlen)
Wenn es sich um einen Privatbrief handeln würde und Philemon die Ekklesia in seinem Haus sowie Apphia und Archippus nur grüßen sollte, dann würden sie nicht in der adscriptio, sondern in der Grußliste am Ende erscheinen. 83 Merz, Selbstauslegung 260 Anm. 57. 84 Es sei denn, man unterlegt den δέσμιος/δεσμός-Aussagen in V. 1.10 einen metaphorischen Sinn: Goodenough, Paul 182f.; neuerdings wieder Baumert, Freundesbrief 140f.; Kumitz, Brief, bes. 166f. 85 Philippi (Apg 16,23–40: eine einzige Nacht); Jerusalem (Apg 21,37–23,24); Cäsarea (Apg 23,31–26,32); Rom (Apg 28,16–31); zu den angeblichen Gefangenschaftsnotizen innerhalb der Paulusbriefe, die auf Ephesus deuten, s. u. 86 Hier nach Schreiber, Chronologie 279; nahezu identisch: Roloff, Einführung 90; Schnelle, Einleitung 46; Fitzmyer 9f. (mit Forschungsüberblick); Lüdemann, Paulus 272f. (unterschiedliche Angaben je nach Todesjahr Jesu 27 oder 30 n.Chr.). 87 Für die Überstellung des Paulus nach Rom gibt es einen terminus post quem: den Amtswechsel zwischen Felix und Festus. Allerdings ist dessen zeitliche Fixierung äußerst 82
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Die Wahl des Standorts der Gemeinde ist einerseits am verblüffend ähnlichen Personentableau des Kol ausgerichtet und muss andererseits die im Phlm vorausgesetzten mehrfachen Personenbewegungen zwischen der Hausgemeinde und dem Paulusort88 berücksichtigen. 4.1 Das Tandem Ephesus – Kolossä Der momentane Mainstream der Forschung kombiniert den Gefangenschaftsort Ephesus mit der Hausgemeinde in Kolossä.89 Das hat mit den Personenangaben in Kol bzw. Phlm zu tun: Neben Epaphras in Kol 4,12 (ὁ ἐξ ὑμῶν), der gemäß Phlm 23 mit Paulus im Gefängnis ist, wird auch Onesimus in Kol 4,9 als »der von euch« (ὅς ἐστιν ἐξ ὑμῶν) bezeichnet. Der Name Archippus, im Präskript des Phlm als »Mit-Soldat« des Paulus vorgestellt, wird auch in Kol 4,17 genannt: Ihm sollen die Adressaten ausrichten, dass er auf seine vom Herrn übertragene διακονία achtgibt. Außerdem scheint sich der Wunsch des Paulus, den er in Phlm 13 äußert, dass nämlich Onesimus ihm in der Evangeliumsverkündigung zur Seite stehe, in Kolossä zu erfüllen, wenn er gemäß Kol 4,9 zusammen mit Tychikus von Paulus nach Kolossä geschickt wird. Diese Verbindungen der im Phlm genannten Namen mit der Stadt Kolossä im Kol werden als Indiz dafür genommen, die Hausgemeinde, an die Paulus im Phlm schreibt, genau dort zu lokalisieren. Als entsprechend nächstgelegener Gefängnisort erscheint Ephesus.90 Nicht immer werden die Konsequenzen bedacht, die sich für das Tandem Ephesus – Kolossä ergeben, sobald die gesetzten Daten für die Vorgänge im Phlm konkretisiert werden: (1) Wenn sich Onesimus in das ca. 170 Kilomeumstritten. Gewöhnlich nimmt man 58/59 n.Chr. an (neue Münzprägung in Palästina im 5. Regierungsjahr Neros); terminus ante quem ist der Tod des Festus während seiner Amtszeit, auf 62 n.Chr. terminiert von Stern, Chronology 74–76; vgl. Omerzu, Prozeß 404–406; Labbé, affirmation 313–330.519, datiert jeweils zwei Jahre früher, Penna, Death, den Amtswechsel gar auf das Jahr 55, in das dann auch der Transfer des Paulus nach Rom falle, sein Tod dann 58 n.Chr. (gestützt vor allem auf Hier. vir. ill. 5,5; 7,2). Der Tod des Paulus wird kaum mehr im Zusammenhang mit der Christenverfolgung des Nero 64 n.Chr. gesehen (so aber Ebel, Leben 116f.; Schnelle, Paulus 416; vgl. Horn, Trial 212), sondern im Kontext des Prozesses: Nero habe das von Lk in der Apg verschleierte Todesurteil des Festus bestätigt (so Omerzu, Prozeß 493–495.500f.; Scriba, Korinth 173), sodass man, die zwei Jahre leichter Haft gemäß Apg 28,30 eingerechnet, auf einen entsprechend früheren Zeitpunkt kommt. 88 Der Sklave Onesimus kommt aus dem Ort der Hausgemeinde Philemons zu Paulus (V. 10); er wird von ihm wieder dorthin zurückgeschickt (V. 12); Paulus kündigt seinen eigenen Besuch in der Hausgemeinde an (V. 22). 89 Vielhauer, Geschichte 173f.; Suhl 15; Gnilka 5f.; Lohse, Entstehung 52; Wolter 237–239; Müller 81–84; Wengst 29; Arzt-Grabner 81; Lampe 205; Kumitz, Brief 83; Theobald, Vorgeschichte 34–37; auch Fitzmyer 10f., allerdings mit Vorbehalten (»remains problematic«). 90 Tatsächlich ist die geographische Nähe das Hauptkriterium dafür, die anderen möglichen Gefängnisorte auszuschließen; vgl. nur Wolter 237f.; Wengst 29; Müller 81: »Es geht zunächst um die Frage, in welcher Entfernung vom Haftort des Paulus man sich Philemons Hausgemeinde vorstellen kann.«
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ter entfernte Ephesus auf und davon macht, ist die Kombination mit dem amicus domini-Modell, wie sie in neuerer Literatur gerne vollzogen wird, eigentlich ausgeschlossen: Wie hätte Onesimus auf dieser langen Strecke im Fall einer Ergreifung91 erklären sollen, dass er eigentlich nur einen Mediator aufsuchen will?92 Alle für das amicus domini-Modell bekannten Fälle spielen im innerstädtischen Nahbereich.93 Die Großstadt Ephesus und die berühmte Asylstätte des Artemisions vor Augen, wäre für den Sklaven aus dem Lykostal-Hinterland das fugitivus-Modell viel angemessener. (2) Wie soll Paulus Philemon aus Kolossä, wo er gemäß Kol 1,3–8 selbst nie gewesen ist und die dortigen Gläubigen ihm deshalb auch noch nicht persönlich begegnet sind (vgl. Kol 2,194),95 eigentlich kennengelernt und bekehrt haben (V. 19)? Die von den Ephesus-Kolossä-Tandem-Vertretern gewöhnlich gegebene Antwort vertraut Apg 19,8–10:96 »We can assume that Paul’s lectures in Ephesus were more or less public events and that ›all‹ manner of persons were drawn to Paul from far and wide, including Philemon himself, who was converted by Paul to Jesus Christ …«97 (3) Ungeklärt und deshalb merkwürdig erscheint im Tandem Ephesus – Kolossä das Nebeneinander von Phile91 Zur Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung, zu deren Grundpfeilern der strikte Unterschied zwischen Freien und Sklaven gehörte, war die Verfolgung und Rückstellung entflohener Sklaven samt der entsprechenden Bestrafung ein vordringliches Anliegen der römischen Eliten. Gemäß Fuhrmann, Empire 21–43, war die römische Administration auch in den Provinzen bzgl. entflohener Sklaven darauf bedacht, über gesetzliche Maßnahmen alle Autoritätsebenen zur Kooperation zu zwingen: vom Kaiser über Statthalter, römische sowie lokale Magistrate bis hin zu Hafenaufsehern, Außenposten (milites sta tionarii), privaten Gutsverwaltern und öffentlichen Sklaven (vor allem gestützt auf Dig. 11,4 [Ulpian]). Der Brief eines Privatmannes an einen lokalen Magistraten sollte genügen, um entsprechende Suchtrupps in Bewegung zu setzen, denen es erlaubt war, auch in private Anwesen einzudringen; ansonsten drohte eine ansehnliche finanzielle Strafe. Entsprechende Petitionen sind insbesondere für Ägypten belegt (ebd. 36f.), und analoge Imaginationen haben in die Literatur Eingang gefunden (vgl. Petron. 97f.). Fuhrmann resümiert: »… The determination of many Roman masters to prevent slave flight bordered on the obsessive« (22); vgl. Joshel / Hackworth Petersen, Life 94–96. 92 In dieser Kombination jedoch z.B. Theobald, Vorgeschichte 34–44; Wolter 227–232. Das Problem wird deutlich gesehen von Broer/Weidemann, Einleitung 373; vgl. Llewelyn, Pursuit 42f. 93 Zu den Texten vgl. oben S. 13 mit Anm. 55. Besonders plastisch ist der Sachverhalt an Aristain. 2,15 erkennbar: Die Briefschreiberin plant, sich mit dem Sklaven der Briefpartnerin solange vergnügen zu können, bis ihr eigener Mann bei der Briefpartnerin für den »geflüchteten« Sklaven erfolgreich um Beistand gebeten und dabei, sozusagen im Austausch, ebenfalls der Freundin die Gelegenheit zum amourösen Abenteuer gegeben hat: Die Häuser können also nicht weit voneinander entfernt sein. Die Intervention des Augustus gemäß Cass. Dio 54,23,2–4 spielt im Haus des Pollio. 94 Insofern καὶ ὅσοι analog zu Apg 4,6; Offb 18,17 nicht additiv, sondern komprehensiv (Merkmal der vorgenannten Gruppen) zu verstehen ist; so Wolter, Kol 109. 95 Obwohl Paulus gemäß Phlm 2 mindestens zwei weitere hier mit Namen genannte Personen aus der angeblich in Kolossä zu verortenden Hausgemeinde gut kennen müsste: Apphia und Archippus. 96 Zur redaktionellen Gestaltung vgl. Zmijewski, Apg 686–688. 97 Nordling, Philemon 292–294.303; vgl. Lampe 205. Oder man versucht, den persönlichen Kontakt an sich herunterzuschrauben: »… the influence of Paul on Philemon’s conversion was not so direct …« (Dunn 340).
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mon als »Mitarbeiter« des Paulus (Phlm 1) – in Kolossä – und Epaphras, der gemäß Kol 1,7 als »Mit-Sklave« sozusagen stellvertretend für Paulus (ὑπὲρ ἡμῶν)98 dort das Evangelium verkündet hat.99 Äußerst auffällig und deshalb sehr schwer zu erklären ist die Tatsache, dass Philemons Hausgemeinde, an die Paulus ja nachweislich einen Brief geschrieben hat, im Brief »an die Heiligen in Kolossä«, wo sie geographisch doch liegen soll, überhaupt nicht erwähnt wird,100 wohl aber die Hausgemeinde der Nympha in Laodizea (Kol 4,15).101 (4) Die größte Schwierigkeit, mit dem das geographische Tandem Ephesus – Kolossä zu kämpfen hat, ist jedoch, dass die Vorstellung von einem längeren Gefängnisaufenthalt des Paulus in Ephesus eine These ist, die Adolf Deissmann aufgrund vager Hinweise aufgestellt hat.102 Die Stellen, die von aufmerksamen Pauluslesern im Nachhinein üblicherweise angeführt werden, sprechen zwar von Todesgefahren (1Kor 15,32; 2Kor 1,8–10) oder heftigem Widerstand (1Kor 16,9),103 nicht aber von einem längeren Gefängnisaufenthalt in Ephesus. Die Apg erzählt zwar einen Aufruhr in Ephesus (Apg 19,23–40), einen Gefängnisaufenthalt dagegen nicht. Marlis Gielen kommt nach geradezu peniblen Analysen zum Urteil: »Es ist also an der Zeit, sich von der Hypothese einer längeren Gefangenschaft des Paulus in Ephesus, in welcher Phil und Phlm verfasst worden sein sollen, endgültig zu verabschieden.«104
So die bessere Bezeugung gegenüber der v.l. ὑπὲρ ὑμῶν, für Ollrog, Paulus 93–108, einer der Bausteine für seine These von den »Gemeinde-Gesandten«; zur Beurteilung vgl. Maisch, Kol 62. 99 Nordling, Philemon 303, möchte die Vorgänge sukzessive anordnen; Koester, Introduction I 135, sieht dagegen in Philemon den eigentlichen Gründer der Gemeinde, nicht in Epaphras. 100 Dass Philemon gerade nicht vor Ort sei (so Dunn, Kol 38: »on business«) bzw. selbst im Gefängnis (ebd. 308) oder gar verstorben (Gnilka 6), erscheint als Verlegenheitsidee; MacDonald, Kol 9, hält das Phänomen für »particularly puzzling«. 101 Vgl. auch den Gruß an die Hausgemeinde von Priska und Aquila in Röm 16,4f. noch vor den Grüßen an alle anderen. Zu diesen Beobachtungen vgl. Balabanski, Philemon 133–135. 102 Deissmann, Licht 201f.; selbstredend ist die folgende Anmerkung: »Der aufmerksame Leser der Paulusbriefe wird leicht Belege für eine ephesinische Gefangenschaft des Paulus finden« (201 Anm. 4). In seinem im gleichen Jahr erschienenen Aufsatz (ders., Gefangenschaft) führt er rein logistische Gründe an. Pragmatisch wollte Deissmann die Diskussion von »dem toten Geleise der Alternative ›Rom oder Cäsarea‹ abschieben« (Licht 201). 103 Bzw. allgemein von Gefängnisaufenthalten, die sich jedoch nicht verorten lassen: Röm 16,7; 2Kor 6,5; 11,23. 104 Gielen, Paulus II 74. Seitdem ist zumindest die Sicherheit des behaupteten Gefängnisaufenthaltes in Ephesus gebrochen. Dagegen bemüht sich Omerzu, Spurensuche, erneut um die Plausibilisierung einer Haft in Ephesus: über den historischen Kern von Apg 19; Lk habe sie seiner narratologischen Dramaturgie wegen verschwiegen. Vgl. dazu die pointierte Infragestellung durch Schnelle, Activity 438 Anm. 19; seinerseits weist er auf die vielfältigen Reiseaktivitäten des Paulus in seiner ephesinischen Zeit hin, die schwerlich Raum lassen für einen längeren Gefängnisaufenthalt (ebd. 438f.). 98
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4.2 Rom als Schauplatz Altkirchlich bis in die Forschung des 20. Jh. wird bevorzugt Rom als Gefängnisort des Paulus für die Abfassung des Phlm angenommen.105 Die Apg weiß von leichten Haftbedingungen und entsprechend von Besuchern bei Paulus zu erzählen (Apg 28,16–31).106 Wird dieser Gefängnisort mit Kolossä als Standort der Gemeinde kombiniert, kommt – auch wenn die Strecke um ein Vielfaches länger geworden ist – das fugitivus-Modell sehr wohl infrage,107 das amicus domini-Modell ist dagegen völlig unmöglich. Schwierig zu erklären ist allerdings die Besuchsankündigung (V. 22). Dafür müsste Paulus seine expliziten Reisepläne nach Spanien über den Haufen geworfen haben.108 Außerdem wäre der Wunsch von V. 22 um die Vorbereitung des Quartiers sehr früh ausgesprochen, wenn eine Reise von Rom aus ansteht.109 In Ephesus darum zu bitten, hätte gereicht.110 Nun aber setzt Phlm als Text – auch in seiner literarischen Beziehung zum Kol – die Stadt Kolossä als Ort der Hausgemeinde Philemons keineswegs zwingend voraus. Die »einer der euren«-Kennzeichnung für Epaphras und Onesimus in Kol 4,9.12 belegt allenfalls, dass beide der dortigen Gemeinde bekannt sind – nicht dagegen, dass die Hausgemeinde Philemons dort lokalisiert wäre.111 Außerdem gehen beide Schreiben von durchaus unterschiedlichen Personenkonstellationen sowohl im Gefängnis des Paulus als auch in Kolossä bzw. am Ort der Hausgemeinde aus.112 Auf die Nichtbeachtung der Hausgemeinde Philemons (sowie der Apphia) im Kol wurde bereits hingewiesen; die unterschiedliche »Beweglichkeit« von Aristarch (gemäß Phlm 24 offensichtlich tätiger Mitarbeiter, gemäß Kol 4,10 dagegen im Gefängnis) sowie die aktuelle Gesandtenrolle des im Phlm noch unbekannten Tychikus gemäß Kol 4,7 bleiben als Differenzen auffällig. Sie erklären sich am besten dadurch, dass Kol als späterer pseudepigraphischer Brief eingestuft wird, der 105 So bereits Johannes Chrysostomus, Hieronymus, Ambrosioaster sowie der markionitische Prolog zu Phlm; Grotius 595; nicht zu vergessen die Angabe ἀπὸ Ῥώμης in den subscriptiones vieler Handschriften, z.B. P/025 L/020 1739; vgl. Metzger, Commentary 589f.; in zeitlicher Reihenfolge aufgelistet bei Callahan, Embassy 71f.; mit Kategorisierung bei Schenk, Brief 3480. Die gleiche Absenderangabe findet sich auch in subscrip tiones zu Kol: A B1 P/025 075 1739; vgl. dazu die Auswertung von Balabanski, Philemon 144: »part of the earliest church tradition«. Unverständlicherweise werden diese subscrip tiones im Apparat von NA28 nicht mehr aufgeführt. 106 Vgl. Rubel, Paulus 102–120. 107 Cicero erzählt an mehreren Stellen davon, dass Sklaven die Flucht aus Rom in ihre Heimat nach Illyrikum, Kilikien oder Athen gelungen ist; vgl. Llewelyn, Pursuit 45f. 108 Gewöhnlich wird als Analogie auf die mehrfach geänderten Reisepläne in der Korintherkorrespondenz verwiesen (vgl. 1Kor 16,5–8 mit 2Kor 1,15f. sowie 12,14;13,1); vgl. das diesbezügliche Referat von Broer/Weidemann, Einleitung 364. 109 Mit zwei (zur See) bzw. vier Wochen (zu Land) Reisezeit ist zu rechnen: Broer/ Weidemann, Einleitung 363. 110 Vgl. Wright 190f.; Gielen, Paulus I 90. 111 Vgl. Balabanski, Philemon 138–141, mit der Vermutung, dass die Kennzeichnung bei Epaphras der Unterscheidung zu Epaphroditus aus Philippi diene. 112 Das arbeitet vorzüglich heraus: Balabanski, Philemon 135–137.
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das Personentableau des Phlm als Mittel zur Glaubwürdigkeitsfiktion einsetzt.113 Damit ist für den Ort der Hausgemeinde Philemons alles offen.114 Inzwischen gibt es mehrere Vorstöße, nicht nur den Ort der Gefangenschaft des Paulus,115 sondern auch die Hausgemeinde Philemons selbst nach Rom/Umgebung zu verlegen.116 In diesem Fall greift nicht nur das amicus domini-Modell bestens, sondern auch die Schwierigkeit eines der Spanienreise im Weg stehenden »Hausbesuchs« löst sich von selbst auf.117 Trotzdem bleiben Fragen, deren Konkretisierung bedacht werden sollte: Wie und wo hat Paulus Philemon kennengelernt und bekehrt, wo er doch als Gefangener nach Rom gekommen ist?118 Hatte Philemon über die dort auch im Umkreis der Stadt bestehenden Hausgemeinden119 eventuell schon Kontakt zu »Brüdern«? Warum lässt er sich aber dann von Paulus taufen? Und: Warum hat Paulus von der »Liebe und dem Glauben« Philemons nur »gehört« (V. 5)? Ist er nicht mehr zu ihm zu Besuch gekommen? Nach dem Stand der Dinge neigen sich die Indizien dem Standort Rom sowohl für das Gefängnis des Paulus als auch für die Hausgemeinde Philemons zu, und zwar kombiniert mit dem amicus domini-Modell. Das wird bei der Analyse des Textes zu prüfen sein. Eventuell ergeben sich weitere Konkretisierungen – insbesondere auf die noch offenen Fragen. 5 Die Intention des Briefes Als Ziel des Briefes wird auf der einen Seite die manumissio/Freilassung des Sklaven Onesimus vertreten,120 oft verbunden mit der Absicht des Paulus, Onesimus bei sich behalten zu können,121 auf der anderen Seite »nur« die Aushandlung eines neuen Status für den getauften Onesimus innerhalb der Ekklesia.122 Über die Vorstellung einer κοινωνία zwischen Paulus und Phile Vgl. Wolter, Kol 27–33; Maisch, Kol 16–21. Das zeigt sich gelegentlich auch bei den Anhängern des Tandems Ephesus – Kolossä. So erwägt z.B. Gnilka 6, ob das Haus Philemons, nachdem er ja im Kol nicht erwähnt werde, »weder in Kolossä noch im Lykostal (Hierapolis, Laodikeia), sondern an einem anderen Ort in der Nähe von Ephesos« zu lokalisieren sei. Beste analytische Problematisierung der geographischen Verortungsversuche bei Broer/Weidemann, Einleitung 376–379. 115 So O’Brien xlix-liv; Schnelle, Einleitung 174; ders., Activity 448f.; Pao 343. Cäsarea, bis ins 20. Jh. Konkurrenzort zu Rom, findet dagegen in neuerer Literatur kaum mehr Vertreter: Dibelius 107; Ellis, Making 266–275; Thornton, Zeuge 212f. 116 So Roloff, Einführung 145; Gielen, Paulus I 82f.; Balabanski, Philemon 141–48. 117 Pointiert herausgestellt von Gielen, Paulus I 91f. 118 Das ist für Müller 81 der Hauptgrund, die Philemon-Hausgemeinde im »eigentlichen paulinischen Missionsgebiet zu lokalisieren«. 119 Etwa in Puteoli (vgl. Apg 28,13f.; zu den Hausgemeinden in Rom vgl. Lampe, Missionswege; ders., Christen). 120 Prominent: Winter, Letter 11f.; vgl. die Auflistung bzw. Evaluierung der Positionen bei Vos, Slave 89f.; Barth/Blanke 412–415. 121 So ebenfalls Winter, Letter 11f. 122 Prominent: Wolter 229–235. 113 114
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mon (V. 17), in die auch Onesimus einbezogen werden soll (παραλάβου αὐτὸν ὡς ἐμέ), spezifiziert Winter als Ziel der manumissio, dass Egalität zwischen
den drei Protagonisten hergestellt werden soll – analog zur römischen socie tas-Konzeption.123 Ulrike Roth (2014) kommt über das Postulat einer dem attischen Recht verpflichteten κοινωνία-Konzeption, wie sie für einen Haushalt in Kleinasien angenommen werden dürfe, zu einer zwischen Paulus und Philemon bestehenden »joint ownership« des Sklaven Onesimus. Der Brief wäre damit »a silent witness […] of the apostel’s active involvement in slavery through personal slave ownership« (120f.). Sensibilisiert für viele offene Fragen beginnen wir die Lektüre des Briefes.
Winter, Letter 11f.
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Kommentar
A Briefeingang (V. 1–7)
1 Briefpräskript (V. 1–3) 1a Paulus, b Gefesselter Christi Jesu, c und Timotheus, d der Bruder, e (dem) Philemon, f unserem Geliebten und Mitarbeiter, 2a und Apphia, b der Schwester, c und Archippus, d unserem Mitsoldaten, e und der Ekklesia in deinem Haus. 3a Gnade euch und Friede von Gott, b unserem Vater, c und (dem) Herrn Jesus Christus. Epistolographie (1): Iudaico more oder Performanzphänomen? Mit Absender- Analyse angabe im Nominativ und Empfängerangabe im Dativ hält sich Paulus in seinem Präskript konsequent an das griechisch-römische Briefformular, nicht aber bei der Realisierung der salutatio. Statt des typischen Infinitivs χαίρειν folgt – und das ist höchst ungewöhnlich und dementsprechend auffällig – ein eigenständiger (Nominal-)Satz.1 Paulus spricht die Adressaten direkt an und wünscht ihnen: »Gnade euch und Friede von Gott unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus.« So lautet der Gruß stereotyp in allen authentischen Paulusbriefen.2 Tertullian hat Paulus eine merkwürdige Anhänglichkeit an den Iudaicus mos attestiert,3 die moderne Forschung spricht von einem »orientalischen Briefformular«.4 Allerdings ist der Befund weit1 Die beiden Substantive χάρις und εἰρήνη können grammatikalisch nicht auf Paulus und Timotheus zurückbezogen werden, sondern bilden das Subjekt eines neuen Satzes. Vgl. Thrall, 2Kor I 94. 2 Vgl. Übersicht bei Doering, Letters 407. Nur in 1Thess fehlen der theologische und der christologische Zusatz. 3 Adv. Marc. 5,5,1: Quid illi cum Iudaico adhuc more, destructori Iudaismi. 4 Klassische Quelle für die Wirkungsgeschichte: Vielhauer, Geschichte 65; Ideengeber: Lohmeyer, Probleme 159–161; übernommen von Wolter 243; Schnider/Stenger, Studien 1f.
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aus differenzierter: Nicht nur sind die Belege für das »orientalische Briefformular« in Briefen jüdischer Provenienz ziemlich spärlich und zeitlich entlegen; im Blick auf den jeweiligen kulturellen Zusammenhang, in dem sie entstanden sind, verlieren sie auch an Beweiskraft. Die wirklich guten Belege finden sich nämlich unter den Papyrusbriefen der jüdischen Militärkolonie in Elephantine aus dem 5. Jh. v.Chr.5 Hier bildet die salutatio tatsächlich ein eigenständiges Satzglied; der oder die Adressaten können direkt angesprochen6 und neben µlv (»Heil«) auch »Leben« oder »Stärke« gewünscht bzw. von JHWH oder anderen Gottheiten erbeten werden. Kulturell betrachtet ist allerdings dieses »orientalische Briefformular« nichts anderes als die Übernahme des persischen Kanzleistils,7 was soweit gehen kann, dass auch in den jüdischen Briefen die formelhafte Rede von »den Göttern« zu finden ist.8 Die wenigen im Blick auf die Paulusbriefe einigermaßen zeitgenössischen hebräischen und aramäischen Briefe aus der Zeit um 70 n.Chr. (Massada) bzw. vom Anfang des 2. Jh. n.Chr. (Bar-Kochba-Aufstand) zeigen stereotyp als salutatio ein schlichtes µwlv.9 Wie dieses µwlv von den Briefschreibern verstanden worden ist und in welchem kulturellen Kontext es steht, können die griechischen Briefe zeigen, die von denselben Fundorten stammen und unter denselben Entstehungsbedingungen geschrieben worden sind: Dort findet sich stereotyp als salutatio χαίρειν.10 Und: Anders als das reichsaramäische Briefformular, das gewöhnlich zuerst den Empfänger nennt (markiert durch die Präposition ∞l bzw. ˛l),11 folgen die jüdischen Briefe aus Massada und der Bar-Kochba-Zeit auch darin dem griechischen Formular: Sie nennen zuerst den Absender (markiert durch ˜m) und danach den Adressaten (markiert durch l, analog dem griechischen Dativ). Der Befund ist klar: Die uns erhaltenen zeitgenössischen jüdischen Briefe vom Ende des 1. und Anfang des 2. Jh. n.Chr. folgen allesamt dem griechischen Briefformular und wählen, sofern sie auf aramäisch oder hebräisch geschrieben sind, den Einwortgruß µlv/µwlv als Äquivalent zu χαίρειν.12 Kurz: Jüdische Briefschreiber klinken sich ein in die Konventionen der jeweiligen Leitkultur. Das gilt für die Elephantine-Briefe (sozusagen aus der Diaspora) genauso wie für die Briefe von Massada bzw. dem Bar-Kochba-Aufstand (aus dem Mutterland).13 Mit dem Siegeszug Alexanders des Großen am Vgl. Doering, Letters 28–44; vgl. Berger, Apostelbrief 191f. Zur historischen Einordnung vgl. Kratz, Israel 186–203. 6 Im Formelschatz findet sich auch die unpersönlich formulierte Alternative; vgl. Doering, Letters 29f. 7 Vgl. Klauck, Briefliteratur 191; Doering, Letters 29f.; minutiöse Analyse: Schwiderski, Handbuch 91–240. 8 Belege: Doering, Letters 30 mit Anm. 8. 9 Textbelege samt Analyse: Schwiderski, Handbuch 241–267; Doering, Letters 54– 83. 10 Schwiderski, Handbuch 315f. 11 Schwiderski, Handbuch 228. 12 So das Urteil von Schwiderski, Handbuch 316–318; Berger, Apostelbrief 197; Doering, Letters 80 (»probable«); 406 (»functional similarity«). 13 Umbrüche sind evtl. bereits im Buch Esr zu erkennen: In ihrer adscriptio folgen die 5
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Ende des 4. Jh. v.Chr. hält das griechische Briefformular zunächst Einzug in die Kanzleisprache des Vorderen Orients, dann auch (ab dem 3. Jh. v.Chr.) in die private Korrespondenz.14 Symptomatisch ist, dass es »keine Hinweise auf eine kontinuierliche aramäische Brieftradition vom 3. Jh. v.Chr. bis in das 1. Jh. n.Chr. gibt«15. Die für diese Zeit dokumentierten jüdischen Briefe sind in Griechisch geschrieben und verwenden das griechische Briefformular.16 Erst im Zug der nationalen Selbstbestimmung werden Briefe auch wieder in aramäischer (Massada) und schließlich in hebräischer Sprache (Bar Kochba) geschrieben, aber im lupenreinen griechischen Briefformular.17 Wenn Paulus in seinen Briefen die salutatio als eigenen Satz absetzt und die Adressaten persönlich anspricht, folgt er ganz sicher nicht dem gängigen Briefformular seiner Zeit, wie es offensichtlich unter Juden auch in Palästina üblich war.18 Der einzig etwa zeitgenössische, von der Paulustradition unabhängige Beleg19 für ein »orientalisches Briefformular« hinsichtlich der salutatio findet sich in 2Bar 78,2, wo der pseudepigraphe Autor nach der Tempelzerstörung (vermutlich zwischen 95 und 120 n.Chr.) Baruch, seinerseits bekannt als Sekretär und Sprachrohr des Propheten Jeremia, an die neuneinhalb Stämme (der assyrischen Exilierung) in einem Brief schreiben lässt: »Erbarmen und Friede sei mit euch!«20 Kann man also doch von einem »orientalischen Briefformular« ausgehen, an das sich Paulus angelehnt habe? Die beiden neuesten Arbeiten zur Sache lösen das Problem leider nicht: (a) Thomas Johann Bauer postuliert weiterhin mit Bezug auf die Bar-Kochba-Briefe ein orientalisches Briefformular mit »direkter Anrede« der Adressaten,21 was morphologisch gesehen eigentlich nicht möglich ist und auch dem Befund der parallel verfassten griechischen Briefe widerspricht.22 (b) Lutz Doering nimmt zwar den Einfluss der Briefe in 4,11.17 dem aramäischen Kanzleistil, diejenigen in 5,7.12 dagegen bereits der griechischen Briefkonvention (mit l); vgl. Doering, Letters 122. 14 Schwiderski, Handbuch 321. 15 Schwiderski, Handbuch 320. 16 Vgl. z.B. CJP 4–6 (aus Palästina); 9 (aus Ägypten). 17 Auch »die begrenzte Wiedereinsetzung des Aramäischen unter den Hasmonäern 142–137 v.Chr. zeigt, daß die ehemalige Verwaltungssprache des Perserreiches jetzt als Ausdrucksmittel der politischen Emanzipation verwendet wurde« (Schwiderski, Handbuch 314). Spätestens ab 37 v.Chr. war das Aramäische als Schriftsprache unhaltbar (ebd. 315 mit Bezug auf Beyer, Texte 16f.). 18 Insofern entsprechen gerade die (fiktiv) von Juden geschriebenen Briefpräskripte mit ihrem eindeutig griechischen Briefformular dem jüdischen Mainstream. 19 Insofern kommen die christlichen Briefe nach Paulus nicht infrage. 20 Das Personalpronomen wird nur in einer Handschrift bezeugt, allerdings der zuverlässigsten: Codex Ambrosianus. 21 Bauer, Paulus 70. Auch wenn Bauer µlv/µwlv als Grußformel versteht, wie man sie auch bei mündlichen Gesprächen verwendet, führt das nicht automatisch zu einer direkten Anrede der Gegrüßten. 22 Vgl. die Kritik dazu bei Doering, Letters 406 Anm. 156. Ein analoger Fall liegt bereits beim ersten Festbrief in 2Makk 1,1–9 vor: Sofern er die griechische Übersetzung eines hebräischen Originals darstellt, würde das dortige εἰρήνην ἀγαθήν, das grammatikalisch ohne Anbindung parallel zur typisch griechischen Grußformel χαίρειν steht, zeigen, dass
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griechischen Briefkonvention auf jüdische Briefe in hellenistisch-römischer Zeit ernst und lehnt es ab, im Blick auf die Bar-Kochba-Briefe von einem »orientalischen Briefformular« zu sprechen. Trotzdem behauptet er, dass Paulus »in regard to the structure and wording of the prescript« jüdischer Epistolographie verpflichtet sei.23 In der Beweisführung bleibt er jedoch auf die Semantik fixiert: Er sieht in der paulinischen salutatio die eigenständige Weiterentwicklung einer Grußformulierung, wie sie auch durch 2Bar 78,2 bezeugt werde und Paulus bekannt gewesen sein könnte. Indiz dafür sei Gal 6,16, wo auch Paulus die gleiche Substantivkombination (ἔλεος καὶ εἰρήνη) in einer Segensformulierung bezeuge. Eine punktuelle Kontinuitätslinie von analog erweiterten Grußformulierungen versucht Doering über die fiktiven Königsbriefe des Danielbuches (Dan 3,31; 6,26) und zwei aramäische Ostraka aus frühhellenistischer Zeit bis hin zu den Elephantinetexten zurückzuverfolgen.24 Abgesehen davon, dass die Belegreihe äußerst dürftig ist,25 werden in diesem Fall sowohl die kulturelle Verflochtenheit der Texte als auch die strukturellen Probleme ausgeklammert: (1) Während die beiden Ostraka sozusagen als die letzten Zeugen des reichsaramäischen Briefformulars gelten,26 zeigen die Königsbriefe in Dan (analog zu den Bar-Kochba-Briefen) sowohl in den griechischen Versionen (3,98THGö; 6,26TH; 4,37cLXX) als auch im Aramäischen für die Adressaten- und Empfängerangabe das griechische Formular,27 formulieren jedoch (anders als die Bar-Kochba-Briefe) für die Grußformel einen eigenen Satz mit persönlicher Anrede der Adressaten.28 Damit stellt sich die Frage: Warum wurde dieses scheinbar typisch jüdische Misch-Präskript, wenn es als »Muster« gelten darf, nicht auch in Massada und in den Bar-Kochba-Briefen aufgegriffen, also in einer Zeit, in der man bewusst jüdisches Eigenprofil zeigen wollte? Gibt es etwa einen verborgenen Strang der jüdischen Epistolographie, der erst bei Paulus wieder zur Geltung gekommen ist? (2) Kann die bei Paulus übliche bzw. die in 2Bar 78,2 bezeugte salutatio wirklich in die traditionsgeschichtliche Linie der Königsbriefe von Dan gestellt werden? Denn außer der direkten Anrede der Adressaten ist die grammatikalische Konstruktion völlig verschieden: Statt eines Substantivs in Kombination mit einem Verb (so Dan) stehen bei Paulus und in 2Bar 78,2 zwei Substantive ohne Verb. Und das ist spezifisch anders als bei den Grußformeln in 1Petr 1,2 (vgl. 2Petr 1,2; Jud 2), wo der Grußformeltext der Königsbriefe aus Dan in exakter Formulierung übernommen wird (εἰρήνη … πληθυνθείη),29 womit – zuhebräisches µwlv gerade nicht als direkte Anrede, sondern als eine der griechischen Grußformel χαίρειν nachempfundene Äquivalenzformel verstanden wurde. 23 Doering, Letters 509 (kursiv im Original). 24 Doering, Letters 410. 25 So schon das Urteil von Berger, Apostelbrief 191, zur Datenlage. 26 Schwiderski, Handbuch 101.120, ordnet sie als spärliche Belege des 3. Jh. v.Chr. für das reichsaramäische Briefformular an. 27 Vgl. Schwiderski, Handbuch 327–239; so auch Doering, Letters 116. 28 Wobei Schwiderski, Handbuch 331f., speziell für Dan 3,37cLXX gewisse Verbindungslinien zum reicharamäischen Briefformular zu erkennen meint und deshalb dieser Version ein höheres Alter zuerkennt als dem masoretischen Text. 29 Allerdings unter Voranstellung des in den Paulusbriefen typischen χάρις. Nachdem auch die bei Paulus übliche Wortstellung übernommen (χάρις ὑμῖν καὶ εἰρήνη), aber nicht durch das stereotype ἀπὸ τοῦ θεοῦ πατρὸς ἡμῶν καὶ κυρίου ᾿Ιησοῦ Χριστοῦ fortgeführt, sondern mit πληθυνθείη ergänzt wird, was außerhalb der biblisch-jüdischen Tradition in Grußformeln nicht belegbar sei, kommt Doering, Letters 448, für 1Petr zu folgendem Urteil: »The saluting apostolic authority of this letter, while sharing some commen ground with Pauline tradition, links up with encyclical letter-writing in the Biblical-Jewish tradition« (kursiv im Original).
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mindest bei bibelbewanderten Hörern – das Flair eines reichsweiten königlichen Rundschreibens assoziiert werden soll.
Nachdem ab der hellenistischen Zeit gerade auch in jüdischer Korrespondenz die griechische Briefkonvention erstaunlich konsequent übernommen und sogar für die im 1. Jh. n.Chr. wieder einsetzende aramäische und hebräischen Brieftradition adaptiert wird, soll hier für die bei Paulus, in 2Bar 78,2 und in den Königsbriefen aus Dan punktuell auftauchende salutatio in Anredeform konsequent innerhalb des Rahmens des griechischen Briefformulars nach einer Erklärung gesucht werden, aber nicht auf traditionsgeschichtlichem Weg, sondern über den Sitz im Leben. Der Brief ist ein materialisierter Bote, der eine bestimmte Nachricht an einen örtlich entfernten Empfänger überbringen soll. Wie jedes Gespräch eröffnet auch der Brief die Kommunikation mit einem Gruß – allerdings von einem Boten mit einer Botenformel ausgerichtet: »Der Absender (lässt) dem Adressaten (ausrichten/λέγει), sich zu freuen / sich gegrüßt zu fühlen (χαίρειν).« Einer der ältesten erhaltenen griechischen Privatbriefe zeigt im Text noch genau diese Kommunikationssituation: »Mnesiergos trägt auf (ἐπέστειλε), denen zu Hause (sc. zu sagen), sich zu freuen (χαίρειν) …«30 In der Briefkonvention ist das Auftragsverb samt verbum legendi weggefallen und eine Ellipse mit bloßem χαίρειν entstanden.31 Dokumentiert wird das grammatikalisch vollständige Formular z.B. durch diverse inschriftlich erhaltene Briefe der diplomatischen Korrespondenz zwischen Rom und den griechischen Städten (Ende Republik / Anfang Prinzipat), wobei dann, völlig logisch, χαίρειν λέγει zwischen Absender- und Adressatenangabe zu stehen kommt.32 Technisch gesprochen: superscriptio und adscriptio übernehmen im Briefformular die Funktion einer Botenformel; der Infinitiv χαίρειν ist das Relikt eines direkten Grußes, den der Brief als Bote im Auftrag des Absenders ausrichten soll. Könnte der Sprecher selbst reden, würde er sagen: χαῖρε (sei gegrüßt!) bzw. χαίρετε (seid gegrüßt!). Tatsächlich gibt es ab dem 1. Jh. n.Chr. vereinzelte Belege, die den direkten Gruß verwenden,33 offensichtlich weil das Bewusstsein für die Funktion von Absender- und Empfängerangabe als Botenformel sehr wohl vorhanden war, aber der Infinitiv χαίρειν wegen der Ellipse von λέγει nicht mehr verstanden wurde.34 Es ist nun äußerst auffällig, dass der Vorspann zur Grußformel in 2Bar Text: Deissmann, Licht 119–121 und SIG3 1259; der Bote kann mit der Präposi tion διά auch namentlich genannt werden (vgl. Arzt-Grabner 122). Ganz analog ist z.B. folgender im Theater inszenierter Botenspruch, mit dem sich der Chor an das Publikum wendet: »Selene … trug uns auf (ἐπέστειλεν) zu sagen (φράσαι) zuerst: χαίρειν den Athenern und ihren Verbündeten …« (Aristoph. Nub. 608f.); vgl. auch Plaut. Men. 1–4. 31 Vgl. Klauck, Briefliteratur 36; Gerhard, Untersuchungen 55. 32 Vgl. Sherk, Documents Nr. 4; 20; 21; 61. 33 Belege bei Exler, Form 35f.67f. 34 Vgl.: Bauer, Paulus 70: (»… da das Wissen um die Ellipse λέγει und damit auch um die syntaktische Struktur des Präskripts verloren ging …«); vgl. Koskenniemi, Studien 164–170; Gerhard, Untersuchungen 33f. 30
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78,2, der allernächsten Parallele zur paulinischen salutatio, weder dem griechischen Briefformular noch der reichsaramäischen Variante, die zuerst den Empfänger und dann den Absender nennt, entspricht, sondern eine pure Bo tenformel bietet:35 »So spricht Baruch, der Sohn des Neria, zu den Brüdern, die gefangen weggeführt worden sind …« Konsequenterweise beginnt der angekündigte »Baruch« auch sofort in direkter Rede zu den Adressaten zu sprechen: »Erbarmen und Friede sei mit euch!« Es ist offensichtlich dieses originäre Bewusstsein, dass der Brief ein materialisierter Bote ist, durch den der Absender selbst zu den Empfängern spricht, wodurch eine direkte Rede sofort mit Beginn der Kommunikation, also der Grußformel, provoziert werden kann. Bereits die narrative Ankündigung des Briefes legt auf dieses Wortereignis wert: »Dies sind die Worte des Briefes, den Baruch, Sohn des Neria, an die neuneinhalb Stämme sandte …« (2Bar 78,1). Man kann im Blick auf die Konkretion noch einen Schritt weiter gehen: Der Brief Baruchs wird laut Narration von einem Adler sozusagen als Postwurfsendung36 zugestellt: »Wirf ihnen diesen Brief hier zu!« (2Bar 77,21). Gemäß der narrativen Fiktion weiß also niemand, woher der Brief kommt und an wen er gerichtet ist. Beides wird durch die Botenformel sichergestellt: Wer auch immer den Brief findet, soll wissen, wem er den Brief vorlesen soll. Und: Unabhängig davon, wer den Brief vorliest, sollen die Adressaten wissen, wer eigentlich zu ihnen spricht, nämlich Baruch, der mit der Grußformel auch sofort zu ihnen zu reden beginnt.
Es ist ein analoges Szenario, das auch den fiktiven Königsbriefen im Danielbuch zugrunde liegt: Angezielt ist ein großes Auditorium, dem der Brief vor Ort durch einen Sprecher verlesen werden muss. Die Könige Nebukadnezzar (Dan 3,31; 3,98TH) bzw. König Darius (Dan 6,26; 6,26TH) wenden sich mit ihrem Brief »an alle Völker, Nationen und Sprachen auf der ganzen Erde«. Gemäß Dan 4,37cLXX handelt es sich sogar um einen Rundbrief. Vor Ort muss der Brief natürlich durch einen Sprecher verlesen werden, in diesem Fall wohl von einem königlichen Boten. Er leiht dem König seine Stimme. Das stellt das Briefformular mit superscriptio und adscriptio klar.37 Und dann beginnt der König selbst, sich mit der salutatio an die Briefadressaten zu wenden: agcy ˜wkmlv (»Euer Heil möge groß werden«) bzw. εἰρήνη ὑμῖν πληθυνθείη (»Friede möge sich euch ausweiten«).Die These lautet also: Wenn der Briefschreiber sich an ein größeres Auditorium wendet, dem der Text – wenn er denn von allen gleichzeitig gehört werden soll – von einer anderen Person vorgelesen werden muss, er aber die eigentlich angezielte direkte Kommunikation mit den Hörern als Gesprächspartnern besonders Dieser Sachverhalt ist m.E. überhaupt noch nicht wahrgenommen und entsprechend ausgewertet worden. So klassifiziert z.B. Karrer, Johannesoffenbarung 69, 2Bar 78,2 als »Mischform« mit Absender- samt Adressenangabe in griechischer Konvention, daran angeschlossen ein vorderorientalischer Friedensgruß. 36 Klauck, Briefliteratur 211. 37 Dan 6,26 bietet Absender- und Empfängerangabe in narrativer Form: »Daraufhin schrieb König Darius an alle Völker …« 35
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deutlich zum Ausdruck bringen will, kann er – sofort nach der Klarstellung der Kommunikationssituation in superscriptio und adscriptio – die salutatio in direkter Rede formulieren. Sie besteht dann in einem eigenständigen Satz; denn damit beginnt der Briefabsender in wörtlicher Rede zum Publikum zu sprechen.38 Es handelt sich also um ein Phänomen der Performanz – und nicht der Traditionsgeschichte. Auf die paulinische Sonderform der Grußformel angewandt bedeutet das: Paulus bedient sich nicht irgendeines bestimmten Briefmusters, sondern aktiviert lediglich die im Brief angelegte originäre Kommunikationssituation: Mit der persönlich, als eigenständigen Satz formulierten Grußformel inszeniert Paulus seine Präsenz vor dem Auditorium, dem der Brief vorgelesen werden soll. Wer auch immer den Brief tatsächlich vorliest: Durch superscrip tio und adscriptio stellt er die intendierten Gesprächspartner gegenseitig vor, mit der salutatio jedoch aktiviert Paulus seine briefliche Parusia, auf die er auch sonst großen Wert legt (vgl. 1Kor 5,3), und beginnt selbst zu sprechen. Genau besehen ist diese direkte Kommunikation mit den Adressaten im Phlm schon in der adscriptio vorbereitet, wenn Paulus – anders als im griechischen Briefformular üblich – bereits hier in die 2. Person springt und von »unserem Geliebten«, »unseren Mitsoldaten« bzw. der Ekklesia »in deinem Haus« spricht. Dass Paulus χάρις und εἰρήνη wünscht, »Baruch« dagegen ἔλεος und εἰρήνη,39 wogegen den Königen Nebukadnezzar und Darius vom jüdischen Autor bzw. Übersetzer ein »Friede sei mit euch in Fülle!« in den Mund gelegt wird, ist eine Frage der Semantik, die von der Funktion der persönlich formulierten salutatio unberührt bleibt. Damit zeigt sich im Rahmen des griechischen Briefformulars nun tatsächlich jüdischer Behauptungswille. Denn alle drei Versionen verbindet folgende strukturelle Gemeinsamkeit: Sie nutzen die Möglichkeit des griechischen Briefformulares, den stilisierten Gruß zu erweitern, greifen dafür aber nicht auf geprägte idiomatische Wendungen zurück (πολλὰ χαίρειν, χαίρειν καὶ ὑγιαίνειν o.ä),40 sondern auf Begriffe, wie sie sich vor allem in jüdischen Segensformeln finden.41 Paulus verstärkt diese Aura, wenn er den transzendenten Ursprung von Gnade und Friede ausdrücklich nennt: »von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Schwiderski, Präsenz, hat diese »Präsenz des Boten im Brief« auch als ausschlaggebenden Faktor speziell für die Elephantine-Briefe und deren Grußformel (eigener Satz, direkte Anrede an die Adressaten) herausgestellt, auch wenn es sich in diesem Fall um Briefe an Einzelne handelt. 39 In der griechischen Vorlage der uns jetzt vorliegenden syrischen Version dürfte, wie eingehende semantische Untersuchungen ergeben haben (vgl. Doering, Letters 411f.), als Äquivalente für »Erbarmen« ἔλεος und für »Frieden« εἰρήνη gestanden haben. Für χάρις in den ntl. Präskripten verwenden die syrischen Versionen jeweils einen anderen Terminus (†ybwt∞) und reservieren rªm, das auch in 2Bar 78,2 steht, für ἔλεος. 40 Vgl. die Aufstellung bei Arzt-Grabner 121. 41 Das wurde von Berger, Apostelbrief, herausgestellt, der allerdings auf der Basis der Semantik der pl Segensformeln zum Konstrukt des »Apostelbriefs« im Sinn einer Offenbarungsrede kommen möchte. 38
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Christus«, ein Zusatz, der gerade in seinem ältesten Brief noch fehlt (1Thess 1,1). Dass im Anklang an biblische Segensformulierungen42 ἔλεος καὶ εἰρήνη als geprägte Formel (vgl. 2Bar 78,2) auch Paulus bekannt gewesen sein dürfte, zeigt Gal 6,16. Wenn Paulus in seiner Eingangsgrußformel jedoch ἔλεος durch χάρις ersetzt – die Kombination von χάρις und εἰρήνη ist biblisch nicht belegt43 –, dann hat er hier erneut ganz bewusst einen eigenständigen Akzent gesetzt.44 Bereits innerhalb der Paulus-Tradition lassen sich Tendenzen zur Rückkehr in die Normalität feststellen: Die beiden Timotheusbriefe ergänzen in der salutatio ἔλεος, und alle drei Pastoralbriefe verzichten auf die direkte Anrede der Adressaten, indem sie das Personalpronomen ὑμῖν weglassen. Epistolographie (2): mehrfache Absender und Adressaten sowie Epitheta für beide Seiten. Für diese weiteren Besonderheiten des Präskripts gibt es durchaus
Analogien in antiken Briefen der hellenistisch-römischen Zeit; sie verweisen allerdings, soziologisch gesehen, in ganz bestimmte Beziehungsfelder. Dass mehrere Absender (in unserem Fall: Paulus und Timotheus) mehreren mit Namen genannten Adressaten (in unserem Fall: Philemon, Apphia und Archippus) schreiben, kommt in der Privatkorrespondenz vor, zwar selten, findet sich aber im Bereich der Familie und unter Freunden;45 in antiken Kategorien gesprochen: wenn die Mitglieder eines οἶκος oder φίλοι miteinander in Beziehung treten. Hier sind dann einerseits die genealogischen Spezifizierungen wie Vater, Mutter, Bruder oder Schwester zu lesen, die auch als respektvolle Anrede verstanden werden können;46 andererseits Epitheta wie φίλτατος, τιμιώτατος, γλυκύτατος oder ἴδιος,47 die besondere Wertschätzung und Nähe zum Ausdruck bringen. Wohlgemerkt: All das findet sich auf der Empfängerseite. Die Absender nennen sich gewöhnlich mit bloßem Namen. Ihre Zuordnung zueinander – meistens handelt es sich um Brüder – muss spiegelbildlich aus den Angaben der adscriptio bzw. aus dem Briefinhalt erschlossen werden. Den Lesern sind die Briefschreiber ja bekannt! Dass Paulus auf der Empfängerseite zusätzlich auch ein Kollektiv nennt, ἐκκλησία, das zumindest von seiner Bezeichnung her für griechische Ohren auf die Polis-Ebene verweist, bringt die diplomatische Korrespondenz ins 42 Prägend und einflussreich dürfte der Priestersegen von Num 6,25–27LXX (ἐλεήσαι σε – εἰρήνην) gewesen sein; vgl. Tob 7,12S (ἔλεος καὶ εἰρήνην); Sir 50,22–24; Jub 22,9; 1 Hen 1,8 (griech.); 1QS 1,3f.; vgl. Berger, Apostelbrief 199. 43 Der Verweis auf 1 Hen 5,7 von Berger, Apostelbrief 197, ist zweifelhaft: Die Lesart χαρά (so zweimal in 5,9) ist vorzuziehen; vgl. Schnider/Stenger, Studien 26. 44 Vgl. unten S. 55f. 45 Belegmaterial: Arzt-Grabner 111–115; kommentierte Beispielbriefe: Scholl/Homann, Briefkultur. 46 Vgl. Buzón, Briefe 6: »Vater« und »Mutter« können als respektvolle Anrede für eine ältere Person stehen, »Bruder« bzw. »Schwester« für die Ehegatten. 47 Vgl. Arzt-Grabner 111; Koskenniemi, Studien 95–104 (für Privatbriefe generell); Exler, Form 29–32.54.62f.
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Spiel.48 Die typische Struktur ist in diesem Fall, dass Einzelne sich an Kollektive wenden. Dabei bilden die Angaben hinsichtlich der Reihenfolge sowie der Nennung von Amtsbezeichnungen und Titeln die Rangfolgen, die politischen Strukturen und die Machtverhältnisse so ab, wie sie sich aus der Sicht des Briefschreibers darstellen und von ihm bewusst stilisiert werden. Wenn König Antiochos III. »an die Generale, Reiterführer, Infanterieoffiziere, Soldaten und die anderen«49 schreibt, so spiegelt sich in der Reihenfolge der genannten Kollektive die militärische Hierarchie. Richtet sich ein offizieller Brief »an die Magistrate, den Rat und den Demos von …«50, dann entspricht das präzise der Organisationsstruktur einer griechischen Polis;51 steht jedoch der Name einer Einzelpersönlichkeit diesen Gremien voran (»an Theophilus, die Magistrate und die Bürgerschaft der Seleukier«),52 dann signalisiert bereits diese Formalität in der adscriptio, dass die städtischen Gremien einem »Supervisor« unterstellt sind. Auf der Absenderseite präsentieren sich die Könige der Diadochen genauso wie die römischen Kaiser mit ihrem Titel, z.B. »König Seleukos« bzw. »Tiberius Claudius Caesar«. Die römischen Kaiser lassen sämtliche Ehrentitel und weiteren Ämter in minutiöser Aufzählung folgen. Hohe Magistrate nennen zusätzlich zu ihrer Amtsbezeichnung (Prätor, Konsul) entweder die Gremien, denen sie verantwortlich sind,53 oder lassen einfach den Genitiv Ῥωμαίων folgen,54 was in diesem Fall nicht nur ethnisch zu verstehen ist, sondern als Hinweis auf das Imperium Romanum, in dessen Amtsvollmacht sie auftreten. Wenn sich auf der Absenderseite zwei Personennamen finden, was in der Korrespondenz mit Städten selten vorkommt, so handelt es sich um einen Mitregenten oder Mitbefehlshaber, der natürlich an zweiter Stelle genannt wird.55 Insgesamt verhält es sich in der diplomatischen Korrespondenz mit Kollektiven genau umgekehrt zur Privatkorrespondenz mit mehreren Absen Zur Klassifikation vgl. Stirewalt, Paul 25–55. Welles, Correspondence Nr. 39; Klauck, Briefliteratur 82. Neuerdings hat Kidson, 1 Timothy, die hellenistischen Königsbriefe zur Analyse von 1Tim herangezogen. 50 So stereotyp in Sherk, Documents Nr. 20; 21; 26; 28; 49; 54; 55; 57; 58; 66; 68. 51 Ebner, Stadt 65–70. 52 Welles, Correspondence Nr. 45: Es handelt sich um einen ehemaligen General, der von König Seleukos IV. als ἐπιστάτης τῆς πόλεως eingesetzt wurde und eine Kontrollfunktion für die städtischen Gremien ausübt. Vgl. Welles, Correspondence 187f. Vergleichbar in der Struktur ist 2Makk 1,10, wo Aristobul gegenüber den »Juden in Ägypten« entsprechend stilisiert wird. 53 Zur Sache: Stirewalt, Paul 40; Adams, Opening 41; als Beispieltexte vgl. Sherk, Documents Nr. 34; 38; 39: Volkstribune und Senat; für die jüdische Seite vgl. 1Makk 12,6, wo sich der Hohepriester Jonathan zusammen mit der Gerusie, den Priestern und dem Volk der Juden nennt. 54 Vgl. Sherk, Documents Nr. 8; 33; 35; 36; 38; 43; 47; 66; vgl. 2Makk 11,34. 55 Vgl. Welles, Correspondence Nr. 9 (König Seleukos und Antiochos); Nr. 35 (König Theodoros und Amynander): In beiden Fällen handelt es sich höchstwahrscheinlich um den Sohn des Königs. Sherk, Documents Nr. 35; 36: In beiden Fällen gibt Cornelius Scipio genau an, wer der an zweiter Stelle genannte Mann namens Poplius Scipio ist: ἀδελφός. Vgl. auch 2Makk 11,34: zwei römische Gesandte. 48 49
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dern bzw. Empfängern: Titel und Ehrenbezeichnungen finden sich praktisch nur auf der Adressatenseite. Damit wird das Machtgefälle gegenüber dem Adressaten demonstriert. Finden sich jedoch, was selten vorkommt, auch auf der Empfängerseite Amtsbezeichnungen, Ehrentitel, schmückende Epitheta oder gar familiäre Kennzeichnungen, so ist das höchst auffällig, hat aber ebenfalls mit der Stilisierung von Machtverhältnissen zu tun. In diesem Fall geht es darum, die Position des Adressaten anzuheben, wenn nicht auf die gleiche Stufe zu bringen. Auch dafür Beispiele: Wenn sich der Hasmonäer Jonathan in seinem Brief an die Spartaner in der superscriptio als Hoherpriester präsentiert sowie die Gremien nennt, in deren Namen er spricht, und dann in der adscriptio zu lesen ist: Σπαρτιάταις τοῖς ἀδελφοῖς (1Makk 12,6), so verwundert es nicht, dass der Brief um die Erneuerung des Bündnisverhältnisses ersucht. Das Präskript signalisiert bereits, dass der Absender den Adressaten auf gleicher, eben »brüderlicher« Ebene begegnen möchte.56 Mit deutlichen Absichten verbunden ist es, wenn sowohl König Demetrios II. als auch der konkurrierende Thronprätendent Alexander Balas, der sich in der superscriptio ebenfalls als »König« vorstellt, den Hasmonäer Jonathan in ihren Briefen gleichermaßen mit dem seuleukidischen Ehrentitel »Bruder«57 grüßen: Sie wollen ihn auf ihre Seite ziehen und seine Unterstützung gewinnen (1Makk 10,18; 11,30). Von einer gewissen Ausbalancierung des Machtverhältnisses könnte man sprechen, wenn Demetrios II. genauso wie Antiochus VII., die selbstverständlich ihren Königstitel in der superscriptio präsentieren, den Hasmonäer Simon in der adscriptio ebenfalls mit Amtsbezeichnung (1Makk 15,2: ἱερεῖ μεγάλῳ καὶ ἐθνάρχῃ) und Ehrentitel (1Makk 13,36: ἀρχιερεῖ καὶ φίλῳ βασιλέων) nennen.58
Gerade wenn diese Königsbriefe aus den Makkabäerbüchern, von hasmonäischen Hofchronisten niedergeschrieben, vermutlich jüdische Wunschträume in die Briefpräskripte projizieren und auf diesem Weg die königliche Anerkennung ihrer eigenen Position suggerieren wollen, zeigt sich daran die hochsensible Gestaltungskapazität von superscriptio und adscriptio. Das ist im innerjüdischen Kommunikationsraum nicht anders. Auch hier findet sich in der Korrespondenz mit Kollektiven beides:59 Einzelne wenden sich an ein Kollektiv. Sie treten mit göttlichem Autoritätsanspruch auf; das ist in den Prophetenbriefen der Fall ( Jer 29; EpJer; 2Bar 78–86).60 Oder sie 56 In einem späteren Brief der Spartaner wird analog dazu den Juden der Brudertitel zuerkannt und ihrem Repräsentanten Simon der Titel »Hoherpriester« (ἱερεῖ μεγάλῳ) (1Makk 14,21). 57 Vgl. 2Makk 11,22 für den Reichskanzler Lysias. 58 Ein Höhepunkt in dieser Reihe dürfte der »Schutzflehbrief« (2Makk 9,18) des qualvoll sterbenden Königs Antiochus IV. sein. Er versieht die Juden nicht nur mit dem Epitheton »tüchtig« (τοῖς χρηστοῖς Ἰουδαίοις) und erkennt ihnen den Bürgerstatus zu (τοῖς πολίταις), sondern stellt die adscriptio auch noch voran, was nur in Briefen an Höhergestellte Usus ist. 59 Diese Zweiteilung entspricht den beiden Typen, die Taatz, Briefe, für die frühjüdischen Briefe ausweist: administrative und prophetische Briefe. 60 Vgl. Taatz, Briefe 46–76. Jer 29 ist als direktes Gotteswort konzipiert; so auch EpJer (ebd. 57f.); der Verf. von 2Bar 78–86 leitet seine Autorität aus den von Gott erhaltenen Offenbarungen ab: 81,4 (ebd. 76).
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beanspruchen den militärischen Oberbefehl, so Bar Kochba,61 der sich auch Premier von Israel nennt bzw. nennen lässt.62 Aber es gibt auch die bewusste Zurücknahme des Machtgefälles, z.B. im (fiktiven) zweiten Festbrief von 2Makk 1,10–2,18, wo der Sprecher Judas auf einen eigenen Titel verzichtet63 und zusätzlich die Gremien und Kollektive nennt, in deren Namen er agiert, sich also analog zu den hohen römischen Beamten in die Gremienstruktur einbindet, wogegen er dem Sprecher der Adressaten, Aristobul, mit Angabe der Amtsbezeichnung (»dem Lehrer des Königs Ptolemäus«)64 und eines ehrenhaften Epithetons (»aus dem Geschlecht der gesalbten Priester«)65 schmeichelt, oder wenn im ersten Festbrief (2Makk 1,1–9) von vornherein nur Brüder-Kollektive miteinander kommunizieren (τοῖς ἀδελφοῖς … οἱ ἀδελφοί).66 Kurz: Im Rahmen der diplomatischen Korrespondenz bringt der Briefschreiber im Blick auf bestehende Strukturen durch den Einsatz von oder den Verzicht auf Amtsbezeichnungen, Titel sowie ehrende Epitheta zum Ausdruck, wie er die Beziehungsstrukturen hinsichtlich Machtgefälle und Wertschätzung sehen möchte. Wenn Paulus sich im Präskript des Phlm an eine »Ekklesia« wendet, dann ist sein Brief prinzipiell der diplomatischen Korrespondenz zuzuordnen.67 Auch dass Paulus sich selbst mit einem »Titel« vorstellt (»Gefangener Jesu Christi«), passt prinzipiell in diese Rubrik. Dass drei einzelne Namen der Ekklesia vorangestellt sind, entspricht gemäß den Usancen der Gestaltung der adscriptio der Stellung, wie sie ein »Supervisor« einnimmt, den der Briefschreiber zur Kontrolle des Kollektivs eingesetzt hat. Wenn Paulus jedoch auf die familiären Ehrentitel »Bruder« bzw. »Schwester« sowie auf das Epitheton »Geliebter«68 aus dem Bereich der Privatbriefe zurückgreift, ebnet er das scheinbare Machtgefälle erheblich ein. Und nicht nur das: Gerade auf dem Hintergrund der »normalen« Kennzeichen der diplomatischen Korrespondenz zeigt sich, dass Paulus die Gestaltungsspielräume bis zum Anschlag nutzt und damit – im Blick auf die Machtdemonstration – pointiert geradezu gegenläufige Akzente setzt.
Vgl. Mur 43; P.Yadin 49; 51; 61. XHev/Se 30; P.Yadin 54. 63 Der ihm historisch natürlich auch nicht zugestanden hätte. 64 Dieses »Amt« kommt Aristobul allenfalls »ehrenhalber« zu; vgl. Goldstein, 2Makk 168. 65 Damit ist die zadokidisch-oniadische Linie gemeint; vgl. Goldstein, 2Makk 168f. 66 Vgl. Apg 15,23. 67 Vgl. oben S. 18f. Gemäß der Klassifizierung von Stirewalt, Paul 33f.37, wären die Paulusbriefe mit einem Brief »from a ranking officer to the people of his jurisdiction« zu vergleichen. Doering, Letters 388, möchte darüber hinaus nach einer sozialen Praxis suchen, in der »Gemeinden« innerhalb ihrer eigenen und nicht in Koexistenz mit der politischen Ordnung agieren. Die innerjüdische Kommunikation zeigt jedoch, dass die Briefregeln analog angewandt werden. 68 In sachlicher Analogie zu φίλτατος (vgl. oben S. 36). 61 62
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Erklärung 1.1 Die superscriptio (V. 1a–d) 1ab Paulus präsentiert sich in der superscriptio mit dem Titel »Gefesselter Christi Jesu«. Wie ungewöhnlich dieser Titel im Rahmen der Präskripte des Corpus Paulinum klingt, zeigen diverse Lesarten: δέσμιος wird durch ἀπόστολος, sozusagen den Standardtitel der paulinischen superscriptiones,69 ersetzt (D*) bzw. damit kombiniert (629) oder durch die Alternative δοῦλος verdrängt, den Titel, den Paulus im Präskript des Römerbriefes neben ἀπόστολος stellt und in Phil 1,1 für sich und Timotheus gemeinsam beansprucht.70 Was steckt hinter δέσμιος? Antike Hörer assoziieren sofort das δεσμωτήριον/Gefängnis, wo den Inhaftierten durch δεσμοί, d.h. Fesseln aller Art (Ketten, Halseisen, Fußfesseln)71 die Bewegungsfreiheit genommen wird. Sie sind in Untersuchungshaft – Strafhaft ist im römischen Recht prinzipiell nicht vorgesehen,72 auch wenn sie de facto vorkommt73 – und warten auf den Prozess bzw. ihre Exekution. Unabhängig davon, wie der Prozess ausgeht, ist gesellschaftliche Diskriminierung die Folge: für den Betroffenen genauso wie für alle, die mit ihm Umgang pflegen (vgl. 2Tim 1,8).74 Deshalb blieben insbesondere ab der Kaiserzeit honestiores, also Angehörige der oberen Stände der Senatoren, Ritter und Dekurionen, vor »Fesseln« weitgehend verschont. Sie wurden allenfalls unter »Hausarrest« (libera custodia) gestellt oder mussten einen Bürgen präsentieren.75 Vom Patrizier Appius Claudius wird bei Livius das Diktum überliefert, das Gefängnis sei »die Heimat der römischen plebs«.76 Und nach Dion von Prusa können sich die Leute nicht vorstellen, »dass ein Bettler, ein Gefangener oder ein Mann ohne Reputation ein König gewesen sein könne« (14,22). Die reale Erfahrung einer solchen Sicherheitsverwahrung kommt im Brief neben V. 1 und der Parallele in V. 9 noch mehrfach zur Sprache:77 Paulus hofft aufgrund der Gebete seiner Adressaten, ihnen wieder »geschenkt zu 69 Röm 1,1; 1Kor 1,1; 2Kor 1,1; Gal 1,1; auch deuteropaulinisch: Eph 1,1; Kol 1,1; 1Tim 1,1; 2Tim 1,1; Tit 1,1; lediglich 1Thess 1,1 (und in Nachahmung 2Thess 1,1) verzichten auf einen Titel. 70 Lediglich Eph 3,1; 4,1; 2Tim 1,8, also innerhalb der deuteropaulinischen Briefe, wird der außergewöhnliche Titel von Phlm 1 aufgegriffen. 71 Vgl. die Schilderung bei Lukian. Tox. 29. 72 Vgl. die programmatische Formulierung: carcer enim ad continendos homines, non ad puniendos haberi debet (Dig. 48,19,8,9). 73 Tac. ann. 3,36; Suet. Tib. 37,3; vgl. Krause, Gefängnisse 86–91; Wansink, Christ 31; Albandt/Macheiner, RAC IX 329–332. 74 Prominentestes Beispiel ist Josephus als Gefangener im Lager des Vespasian: Titus bittet seinen Vater, »mit dem Eisen auch die Schande (ὄνειδος) wegzunehmen« (bell. 4,628), also eine restitutio vorzunehmen, was in der Kaiserzeit nur vom Senat oder vom Kaiser persönlich gewährt werden konnte (vgl. Michel/Bauernfeind II/1, 236); vgl. Wansink, Christ 48f.59f.; Krause, Gefängnisse 66. 75 Vgl. Wansink, Christ 41–43, Krause, Gefängnisse 66–74.180–188. 76 Liv. 3,57,4. 77 Deshalb ist eine metaphorische Auslegung im Sinn einer geistlichen Gebundenheit an Jesus Christus, wie sie pointiert von Baumert 140f., vertreten wird, sehr unwahrscheinlich.
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werden« (χαρισθήσομαι ὑμῖν), d.h. bei ihnen als Gast zu sein, der eine Fremdenunterkunft (ξενίαν) braucht (V. 22); »in den Fesseln« (ἐν τοῖς δεσμοῖς) hat er sein Kind Onesimus »gezeugt« (V. 10); bei ihm im Gefängnis ist Epaphras als sein »Mitkriegsgefangener« (V. 23). Warum Paulus in Untersuchungshaft ist, erfahren wir nicht explizit, nur verschlüsselt über V. 13, wo Paulus in einer zu seinem Titel δέσμιος Χριστοῦ Ἰησοῦ (V. 1.9) parallelen Genitivverbindung von den »Fesseln des Evangeliums« (ἐν τοῖς δεσμοῖς τοῦ εὐαγγελίου) spricht: Die Evangeliumsverkündigung ist also die Ursache78 für die Inhaftierung. Von strafrechtlicher Seite aus kommt als corpus delicti nur Unruhestiftung im Sinn von seditio/Aufruhr infrage.79 Von entsprechenden Gerüchten, die – gemäß dem lukanischen Missionsschema von den eifersüchtigen Juden natürlich fälschlicherweise – über die Botschaft des Paulus verbreitet werden und zu Tumult unter der Bevölkerung führen, erzählt z.B. Apg 17,5–9 hinsichtlich des Aufenthalts in Thessalonich:80 »… Die Leute, die die ganze Welt in Aufruhr gebracht haben, diese sind jetzt auch hier; und Jason hat ihnen Unterkunft gewährt!81 Und diese alle setzen sich in Widerspruch zu den kaiserlichen Verordnungen, wenn sie behaupten, ein anderer sei König, nämlich Jesus« (V. 6f.). Derartige Gerüchte entsprechen im Kern durchaus dem paulinischen Evangelium: Die Auferweckung des »Erstlings der Entschlafenen« ist Signal dafür, dass die apokalyptische Erwartung der universalen Transformation der irdischen Machtverhältnisse bereits in Gang gesetzt worden ist. Der von Gott dafür bevollmächtigte Mandatar ist kein anderer als der auferweckte Gekreuzigte – und zwar als »der Sohn« in Funktion eines βασιλεύς (vgl. 1Kor 15,20–28). Dieses apokalyptischen Konzeptionen und Sprachspielen verhaftete Ur-Evangelium82 der Christenheit kann Paulus für seine Gemeinden im griechisch-römischen Kulturraum in Vorstellungen kleiden, die in direkte Konkurrenz zur imperialen Ordnung des Kaiserreiches treten: Gemäß 1Thess 4,15–17 erwarten Menschen, die wirklich an das Evangelium glauben (vgl. 1Thess 1,5), die Parusie Jesu als des Kyrios vom Himmel her und werden ihm zusammen mit den auferstandenen Verstorbenen in einer Apantesis entgegenziehen, entrückt auf Wolken. Dieses Szenario entspricht einem kaiserlichen Advent,83 womit immer zugleich nicht nur die Demonstration der Machtstellung eines Herrschers verbunden ist, sondern spiegelbildlich dazu auch dessen Aner Vgl. dazu ausführlich: Wansink, Christ 151–157; nach dessen Recherchen wird der Akteur, der die Gefängnisverwahrung veranlasst, nie im Genitiv genannt. 79 Ehebruch, Mord, Raub und Diebstahl, die hauptsächlichen Ursachen für die Untersuchungshaft, scheiden für Paulus wohl aus; vgl. Krause, Gefängnisse 92–135, bes. 97–103. 80 Den implizit anti-imperialen Charakter der Paulusbotschaft, der sich in dieser Äußerung niedergeschlagen hat, stellen auch heraus: Pilhofer, König; Hamm 18–20. 81 Wenn gemäß V. 9 Jason und die anderen freigelassen werden, von ihnen aber eine Bürgschaft genommen wird, entspricht das dem Vorgehen der Behörden gegenüber honestiores, sofern eine Sicherheitsverwahrung drohen würde; vgl. Krause, Gefängnisse 66–74; Wansink, Christ 42f. 82 Vgl. Ebner, Evangelium; Pillar, Resurrection; anders akzentuiert Wolter, Evangelium. 83 Vgl. das Material bei Peterson, Einholung; vgl. auch Heininger, Parusie. 78
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kennung seitens der jeweiligen Stadtbevölkerung. Für den Advent des Kyrios Jesus verlegt Paulus die gewohnte Inszenierung aus der Horizontalen in die Vertikale. Beim bald erwarteten »Tag des Herrn« (so in analoger atl. Terminologie in 1Thess 5,2) wird der bereits mit seiner Auferweckung aus den Toten als universaler Kyrios/König (κύριος/βασιλεύς) eingesetzte Gekreuzigte in seiner vollen Machtstellung öffentlich erscheinen – und nur diejenigen dürfen ihm entgegenziehen, die er »in seine Königsherrschaft (εἰς τὴν ἑαυτοῦ βασιλείαν) und Herrlichkeit berufen hat« (1Thess 2,12) und die ihrerseits, sozusagen in dynamisch-wirksamer Antwort darauf (vgl. 1Thess 1,5), in der Gestaltung und Organisation ihrer Sozialräume sich bereits von der Ordnung dieses anderen, göttlichen Königreiches haben prägen lassen: indem sie gemäß Gal 3,28 die gesellschaftlich etablierten Trennlinien ihrer Wirksamkeit entkräften.84 Ritueller Ausdruck für diesen Eintritt in den Sozialraum des göttlichen Königreiches ist die Taufe auf Christus (Gal 3,27),85 wodurch gemäß Gal 3,26 alle Glaubenden gleichgestellte »Söhne Gottes« (υἱοὶ θεοῦ) und dadurch einander Brüder bzw. Schwestern werden.86 Eine derartige Kernbotschaft muss in römischen Ohren nach Aufruhr (seditio) klingen und kann entsprechende Empörung samt Unruhe auslösen, obwohl seitens der christlichen Botschaft ganz sicher kein direkter Impuls zum Widerstand vorliegt und der »andere König« (zunächst jedenfalls noch) keine sichtbare Gestalt in dieser Welt hat – wenn nicht in der veränderten Sozialstruktur seiner Gemeinden. Deshalb kann Paulus begründet auf den positiven Ausgang seines Prozesses hoffen. Kurz: Mit δέσμιος Χριστοῦ Ἰησοῦ (V. 1a) parallel zu ἐν τοῖς δεσμοῖς τοῦ εὐαγγελίου (V. 13b) bringt Paulus die Ursache für seine »Fesseln« stenographisch zum Ausdruck: das Evangelium von einer tatsächlichen, aber nur im Glauben wahrnehmbaren und umsetzbaren Veränderung der universalen Machtverhältnisse mit einem anderen König, der jetzt schon ein anders geartetes Königreich aufrichtet. Zwei Reiche stehen also in Konkurrenz zueinander. Paulus ist »in Fesseln«, weil die noch bestehende, aber in absehbarer Zeit für die Vernichtung bestimmte Weltordnung des römischen Kaiserreichs auf die Proklamation einer neuen Weltordnung, deren erste Spuren sich in der Veränderung der sozialen Strukturen auf der Hausebene manifestieren, mit den Mitteln reagiert hat, die ihr zur Verfügung stehen: Der Anführer dieser scheinbar konspirativen Gruppen wurde zur weiteren Prüfung der Sachlage »in Fesseln« gelegt. Umgekehrt zeigen die »Fesseln« des Paulus, dass er trotz aller Gegenschläge der Alten Welt konsequent für die Konkretisierung des 84 Zur Evaluation der drei Gegensatzpaare im zeitgeschichtlichen Kontext vgl. Neutel, Ideal. 85 In Gal 3,27f. greift Paulus sehr wahrscheinlich vorliegende Tradition auf, die auf einen baptismalen Ritualkontext verweist und die Paulus flexibel zitieren kann (vgl. 1Kor 12,13); vgl. Mell, Neuschöpfung 392f., der allerdings zusätzlich das Konzept der Gottessohnschaft aus V. 26 für die Tradition veranschlagt. 86 Zur Umsetzung dieses »axiome ecclésiologique« in den paulinischen Briefen vgl. Redalié, Galates.
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Königreichs des Gekreuzigten – noch lange vor dessen öffentlicher Machtdemonstration bei der Parusie – eintritt. Sie beginnt im Haus. Damit ist das heikle Thema des folgenden Briefes im Zentrum getroffen: Es geht um die Verwirklichung der neuen Weltordnung im Blick auf einen Einzelfall – nämlich im Haus Philemons. Auf diesem größeren Hintergrund gelesen entspricht der Titel »Gefesselter Christi Jesu« durchaus auch den Erwartungen des diplomatischen Briefverkehrs – allerdings paradox. Führen hohe römische Beamte die Stufe der Ämterlaufbahn, die sie gerade innehaben, in der superscriptio an, sowie die Gremien, in deren Vollmacht sie handeln und Autorität einfordern, so nennt Paulus seine entehrte Stellung als δέσμιος, die ihm alle Bewegungsfreiheit genommen hat und seine Zukunft unter eine fremde Autorität, eben ein römisches Gericht, stellt. So die Lesart mit den Ohren des römischen Alltagshörers. Für jemanden, der dem Evangelium glaubt, stellt sich Paulus jedoch als Agent des bereits eingesetzten, aber noch nicht sichtbaren neuen Universalherrschers vor, dessen Mandat ihm aber nicht Vollmacht über andere delegiert, sondern ihn ins Gefängnis gebracht hat, weil er – in der Linie des Evangeliums – zum Impulsgeber dafür geworden ist, sich in den kleinsten Sozialräumen des Römischen Reiches freiwillig (vgl. V. 9.14) auf neue, nicht-imperiale Strukturen unter dem »König Christus« einzulassen. »Und Timotheus, der Bruder« lautet die Angabe des Co-Absenders in der 1cd superscriptio. Gemäß dem Usus diplomatischer Briefe fungiert Timotheus in dieser Position des Präskripts als »Mitregent«. Dabei wird, wie in diplomatischen Schreiben üblich, seine (genealogische) Beziehung zum Titelträger mit »der Bruder« genannt.87 Nicht aber werden seine eigenen aktuellen Titel angeführt. Die gleichwertige Partizipation an der Vollmacht des erstgenannten Titelträgers steht im Vordergrund sowie die daraus resultierende gleiche juristische Zuständigkeit im Blick auf die Adressaten. Das Präskript des diplomatischen Briefes klärt das Beziehungsgefälle. Es geht darum, wer in welcher Vollmacht zu wem in welcher Funktion spricht: Timotheus ist für die Adressaten der mit-zuständige Missionar.88 An der Stelle, an der die diplomatischen Schreiben diejenigen Personen nennen, die für die Empfänger juristisch bevollmächtigt sind, nennt der Paulusbrief die (Erst-)Missionare, die sich für eine Gemeinde zuständig fühlen.89 Das Epitheton »der Bruder« entspricht der paulinischen Familienfiktion: Alle Glaubenden sind Geschwister. Das kann erwählungstheologisch be Vgl. Sherk, Documents Nr. 35; 36; vgl. Welles, Correspondence Nr. 9; 35 (hier ist der Sohn-Status offensichtlich bekannt und wird nicht eigens genannt); in 2Makk 11,34 liegt keine genealogische Verbindung vor, die beiden Römer nennen sich in ihrer Funktion als πρεσβῦται. 88 Sehr schön wird dieses Signal in 1Thess 1,1 erkennbar, wo Paulus sowohl Silvanus als auch Timotheus, die mit ihm zusammen die Thessalonicher evangelisiert haben (vgl. 1Thess 1,5), in der superscriptio nennt. 89 Diese gattungstypische Eigenart stützt die Vermutung, dass Timotheus Philemon bekannt ist: so Reinmuth 23 mit Rekurs auf Dunn 311. 87
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gründet werden: Alle Berufenen sind dazu vorherbestimmt, »dem Bild« des Sohnes Gottes »gleichgestaltet« zu werden, »damit er Erstgeborener unter vielen Brüdern sei« (Röm 8,28f.). Rituell wird die Gotteskindschaft der Glaubenden durch die Taufe in Kraft gesetzt (vgl. Gal 3,26f.). Wer in der Gemeinde ist, darf sich »Bruder« nennen (1Kor 5,11). Im Unterschied zur Bezeichnung »Freund«, die im Corpus Johanneum für die Mitglieder allmählich den Vorzug bekommt (vgl. Joh 15,9–17; 3Joh 15), betont die Bruderbezeichnung,90 dass man sich die Mit-Glaubenden nicht frei aussuchen kann, sondern ihre »Geburt« durch die Erwählung und Berufung Gottes sowie die glaubende Antwort darauf bestimmt ist. Durch die Geschwister-Fiktion steht als Ideal der Zusammenhalt der »Familie« im Vordergrund – und ist ein leichtes internes Ranking nur natürlich.91 Durch die Bruder-Fiktion stellen sich Timotheus (wie Paulus) als Mitglieder der Glaubensfamilie vor, die allerdings mit der besonderen Funktion der Evangelisierung der Adressaten betraut und deshalb für die Empfänger zuständig sind.92 1.2 Die adscriptio (V. 1e–2e) 1e–2d In der adscriptio werden – noch vor dem Kollektiv ἐκκλησία in V. 2e – namentlich drei Personen genannt: Philemon, Apphia und Archippus.93 Im Spiegel der diplomatischen Briefe erscheinen sie als vom Absender eingesetzte Supervisoren des Kollektivs. Allerdings ist ein Supervisoren-Trio völlig ungewöhnlich, noch dazu in der vorliegenden Konstellation: In einer streng patriarchalisch geordneten Gesellschaft wird an zweiter Stelle, noch vor dem Mann an dritter Stelle, eine Frau genannt! Dass sowohl der Frau als auch den beiden Männern in der adscriptio diverse Epitheta zuerkannt werden, ist nicht ganz ungewöhnlich, aber gerade deswegen signifikant. Vom Absender ist damit eine Statusnivellierung intendiert, genauer: Die Epitheta sind von Paulus bewusst gewählt und aufschlussreich zugeordnet. Insgesamt wird jegliches Statusgefälle zwischen Absenderduo und Adressatentrio aufgehoben. Sie kommunizieren auf gleicher Ebene. Und: Zusätzlich wird über die Epitheta ein ausgewogenes Beziehungsnetz geknüpft. Die sich auch unter Vereinsmitgliedern vor allem als Anrede in Briefen findet; vgl. Ebner, Stadt 204. 91 Vgl. Aasgaard, Brothers, bes. 306–312. Er stellt zu Recht heraus: Spezifische theologische Begründungen »emerge as secondary and are stated in passing« (309). Auch Röm 14,13–15; 1Kor 8,11 bzw. 1Kor 6,1–11 greifen auf das Familienethos zurück (93–106); es geht aber nicht um die soteriologische bzw. eschatologische Begründung der Geschwisterrolle (so 309), sondern um die Konsequenzen, die sich gemäß dem antiken Ideal daraus ergeben. Trebilco, Self-Designations 21–38, stellt für den Gebrauch der Selbstbezeichnung bei Paulus die Abgrenzung zu den ἄπιστοι nach außen sowie zu den ψευδάδελφοι nach innen heraus. Bartchy, Patriarchy, versteht die Geschwisterfiktion als Antikonzep tion zum patriarchal geführten Haushalt. 92 Aus dem Artikel vor ἀδελφός kann keine »particular position of authority« (Aasgaard, Brothers 297) herausgelesen werden; er verdankt sich der brieftypisch unpersön lichen Formulierung der superscriptio. 93 Namenserklärung s. unten S. 137. 90
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Zum Einzelnen: Apphia wird – geschlechterspezifisch differenziert – mit dem gleichen genealogischen Epitheton bedacht wie Timotheus: ἀδελφή. Wie Timotheus Paulus in der zweiten Position der superscriptio, so wird in der zweiten Position der adscriptio Apphia Philemon zugeordnet. Dadurch wird Apphia im Blick auf Philemon in das gleiche Verhältnis gesetzt wie Timotheus zu Paulus: als gleichgestellte Funktionsträgerin. Zusätzlich erscheinen Paulus/Timotheus und Philemon/Apphia als ein analoges Doppelgespann. Eine weitere Zuordnung zwischen Absendern und Empfängern entsteht durch die beiden Funktionsbezeichnungen, die jeweils durch die Vorsilbe συν- gebildet werden: Philemon wird als συνεργός, Archippus als συστρατιώτης vorgestellt. Damit sind gewöhnlich die gleichgestellten Mitarbeiter im selben Betrieb bzw. die Kampfgefährten in derselben militärischen Einheit gemeint.94 Paulus bezeichnet mit συνεργός selbstredend diejenigen Personen, die zusammen mit ihm (σύν) in der Evangeliumsverkündigung arbeiten (ἐργάζεσθαι).95 Nur singulär greift Paulus dafür auf militärische Metaphorik zurück.96 Von einem »Mitsoldaten« spricht Paulus außer im Blick auf Archippus in Phlm 2d nur noch von Epaphroditus in Phil 2,25.97 Hier stehen συνεργός und συστρατιώτης synonym nebeneinander. Das Entscheidende an den Bildern ist also der durch die Präposition σύν zum Ausdruck gebrachte gemeinsame Einsatz und die gleichberechtigte Gefährtenschaft. Im Präskript des Phlm werden durch diese beiden Epitheta nicht nur Philemon und Archippus in einen gleichrangigen Bezug gesetzt, sondern auch dieses Duo zum Doppelgespann Paulus/Timotheus, und zwar durch das jeweils hinzugefügte ἡμῶν. Die durch die Präposition σύν zum Ausdruck gebrachte gleichrangige Kooperation wird also auch auf das Verhältnis zu den Briefabsendern ausgedehnt. Dafür ist Paulus bereit, die durch das Briefformular vorgegebene unpersönliche Formulierung der adscriptio zu durchbrechen. Es soll also keineswegs der Eindruck entstehen, als würden zwei ähnlich strukturierte, aber voneinander unabhängige Teams miteinander kommunizieren. Vielmehr wird durch das jeweils gesetzte Personalpronomen ἡμῶν das Bewusstsein der gegenseitigen Vernetzung hörbar gemacht: Philemon gemeinsam mit Archippus sind ihrerseits Mitarbeiter des Duos Paulus/Timotheus. 94 Belege bei Arzt-Grabner 158–164; συνεργός in negativer Konnotation im Sinn von »Spießgesellen« im Blick auf Schädiger gebraucht, ist in der Zeit vor Paulus häufiger belegt, in positiver Konnotation dagegen nur spärlich. Aus συστρατιώτης will Williams, Epaphroditus 337f., im militärischen Kontext aufgrund von Polyain. 8,22,23 eine Statusangleichung heraushören; vgl. Bauer/Aland 1586. 95 Vgl. Röm 16,3 (Priska und Aquila); 16,9 (Urbanus); 16,21 (Timotheus); 1Kor 3,9 (Paulus und Apollos); 2Kor 1,24 (Paulus, Silvanus, Timotheus); 8,23 (Titus); Phil 2,25 (Epaphroditus); 4,3 (Euodia, Syntyche, Klemens); 1Thess 3,2 (Timotheus); Phlm 1 (Philemon); 24 (Markus, Aristarchus, Demas, Lukas), insgesamt also 14 namentlich genannte Personen; vgl. Ollrog, Paulus 63–72.90–92. 96 Vgl. 1Kor 9,7; 2Kor 10,3–6 und dazu: Brink, Exhortation. 97 Knox, Philemon 32f., möchte mit Verweis auf einige Papyrusbriefe (unter anderem BGU I 4; III 814) die Assoziation »Helfer in der Not«, vornehmlich in finanziellen Angelegenheiten, heraushören.
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Παῦλος
Φιλήμονι
καὶ
Ἀπφίᾳ
τῇ ἀδελφῇ
καὶ
Ἀρχίππῳ
τῷ συστρατιώτῃ ἡμῶν
καὶ
δέσμιος
Τιμόθεος
Χριστοῦ Ἰησοῦ
ὁ ἀδελφὸς
τῷ ἀγαπητῷ καὶ συνεργῷ ἡμῶν
Auch innerhalb des Trios Philemon, Apphia und Archippus kommt es zu einer Gleichstellung: Normalerweise ist an der Reihenfolge der in der adscriptio diplomatischer Briefe genannten Personen bzw. Kollektive deren Rangfolge abzulesen. Das wird von Paulus in doppelter Hinsicht unterminiert: Durch die beiden mit der Präposition σύν gebildeten Funktionsbezeichnungen, die innerpaulinisch auch noch synonym gebraucht werden (Phil 2,25), werden Philemon und Archippus auf die gleiche Stufe gestellt. Spiegelbildlich zum Duo Paulus/Timotheus nimmt auch Apphia gegenüber Philemon strukturell den gleichen Rang ein, der inhaltlich aufgrund des Geschwister-Epithetons nichts anderes besagt, als dass sie Christusgläubige sind. Anders gesagt: Die Begriffe für die Funktionen in der adscriptio signalisieren Kooperation in der Evangeliumsverkündigung auf gleicher Ebene und in Gleichberechtigung. Es gibt weder einen διδάσκαλος noch einen στρατηγός. Der Brudertitel, der jeweils für die gleichberechtigten Partner der »Amtsträger« verwendet wird, stellt alle in die Reihe der Christusgläubigen. Insofern wird in Phlm 1–2 das Bild vom Leib (1Kor 12) für die Strukturen einer ἐκκλησία vor Ort konkretisiert. Das Einzige, was Philemon vor allen anderen auszeichnet, ist das Epitheton ἀγαπητός. Außerneutestamentlich seit Homer für den innerfamiliären Bereich reserviert,98 ist die Vokabel als Briefanrede auch ohne familiären Bezug zeitlich vor Paulus jedoch ganz selten bezeugt.99 Das übliche Epitheton ist φίλτατος. Die Familienfiktion des Paulus dürfte der Grund dafür gewesen sein, weshalb er auf das familiär geprägte ἀγαπητός zurückgreift und es, meistens als Anrede gebraucht,100 im Grunde äquivalent zu »Bruder«101 verwendet102 – als Bezeichnung also für alle Christgläubigen. Als Anrede für alle Vgl. Hom. Il. 6,401 (Hektors einziger Sohn); Od. 2,365; 4,817 (Telemachos). Aristot. pol. 1262b23 definitorisch für die Wertschätzung der Familienmitglieder. Für den jüdischen Bereich vgl. Jos. ant. 15,15; bell. 1,240. 99 Löst aber spätestens ab dem 4. Jh. n.Chr. das bis dahin als Briefanrede gebräuchliche φίλτατος ab; vgl. Arzt-Grabner 156–158. 100 Vgl. Röm 12,19; 1Kor 10,14; 15,58; 2Kor 7,1; 12,19; Phil 2,12; 4,1. 101 Es steht fast ausschließlich zur Bezeichnung der spirituellen Geschwister bzw. seines geistlichen »Kindes« Timotheus: 1Kor 4,14.17; nur in Röm 1,7 (vgl. 1Thess 1,4) wird explizit die Erwählung durch Gott thematisiert. Deshalb steht die These von Wischmeyer, Adjektiv, auf schwachen Beinen: Paulus hätte den sporadisch in jüdischen Schriften bezeugten jüdischen Ehrentitel »Geliebte« (so auch Röm 11,28) auf die Christen übertragen; vgl. den berechtigten Einspruch von Wengst 47f. mit Blick auf Röm 9,24. 102 Wie in Phlm 16 auch kombiniert: 1Kor 15,58; Phil 4,1; vgl. Eph 6,21; Kol 4,7.9. 98
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Christen bei Paulus üblich, ist ἀγαπητός als Epitheton in einem Präskript jedoch einzigartig.103 Der weitere Brieftext wird zeigen, dass mit diesem Epitheton semantisch eine Linie eröffnet wird, die den »Geliebten« Philemon aufgrund seiner bereits gezeigten aktiven Liebe (V. 5–7) erneut in die Pflicht nimmt: speziell gegenüber Onesimus (V. 9f.). Seit den Tagen der Kirchenväter haben die Ausleger versucht, Philemon, Apphia und PersonenArchippus in eine familiär-genealogische Beziehung zu setzen: Apphia als Frau oder identifikation leibliche Schwester Philemons, Archippus als ihren gemeinsamen Sohn (s. unten S. 151). Ausgeschlossen werden kann das nicht. Aber der Briefschreiber Paulus ist an dieser Perspektive überhaupt nicht interessiert. Wie die Epitheta zeigen, kommuniziert Paulus mit dem Trio nicht als Privatpersonen, sondern in ihrer Funktion für die Evangeliumsverkündigung. Für das Briefgespräch wird in der adscriptio speziell diese Perspektive ihrer Persönlichkeit aufgerufen. Es gibt auch kleine sprachliche bzw. strukturelle Indizien, die dagegen sprechen, dass Apphia in den Augen des Paulus Philemons Frau ist: (a) rein philologisch die Formulierung τῇ κατ᾿ οἶκόν σου ἐκκλησίᾳ in V. 2e. Im analogen Fall von Priska und Aquila formuliert Paulus anders: τῇ κατ᾿ οἶκον αὐτῶν ἐκκλησίᾳ (1Kor 16,19; so auch Röm 16,5); (b) strukturell: Wenn durch ἀδελφή die Stellung Apphias als Frau Philemons zum Ausdruck gebracht werden sollte (vgl. 1Kor 9,5), bekäme die offenkundig analoge Konstruktion in der superscriptio (Timotheus als ἀδελφός des Paulus) einen für Paulus unerklärlichen Beigeschmack (vgl. Röm 1,27; 1Kor 6,9; 11,2–16).
Insgesamt ergibt sich: Anstelle der in diplomatischen Briefen durch Beto- Zusammennung bzw. Vorenthaltung von Titeln und Amtsbezeichnungen stilisierten fassung Überordnung der Briefabsender nutzt Paulus die gleichen Mittel, um eine Kommunikation auf gleicher Ebene zum Ausdruck zu bringen. Das gilt auch im Blick auf das Verhältnis der »Supervisoren« zum Kollektiv der ἐκκλησία. An letzter Stelle der adscriptio wird das Kollektiv genannt: καὶ τῇ κατ᾿ οἶκόν 2e σου ἐκκλησίᾳ. Anders als in anderen Briefpräskripten des Paulus ist der Bezugspunkt der ἐκκλησία nicht eine bestimmte Stadt (1Thess 1,1; 1Kor 1,2; 2Kor 1,1) oder eine Provinz (Gal 1,2), sondern ein Haus. Für die Konkretion des damit Gemeinten sind drei Fragen zu klären: (1) Welche Konzepte stehen hinter οἶκος bzw. ἐκκλησία? (2) Wie sind beide Konzepte aufeinander bezogen? Welchen Sinn hat also die Präposition κατά? (3) Wessen οἶκος ist gemeint? Welche Person steckt hinter dem Personalpronomen σου? (1) Welche Konzepte stehen hinter οἶκος bzw. ἐκκλησία? Unter ἐκκλησία versteht man in griechisch-römischer Zeit die zur Beratung und Abstimmung von Anträgen einberufene Versammlung der freien Männer einer Stadt, sofern sie als Bürger eingetragen sind und ein bestimmtes Alter erreicht haben.104 Zugang zur ἐκκλησία haben also keineswegs alle Einwohner einer Neutestamentlich nur noch 3Joh 1 (für Gaius). Gewöhnlich nach Beendigung des Ephebendienstes, also etwa ab dem 20. Lebensjahr; dann werden die betreffenden jungen Männer in die Liste der zur Teilnahme Berechtigten eingetragen. 103 104
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Stadt, sondern nur eine geschlechtsspezifische (nur Männer), standesmäßig (nur Freie) und vom Recht (nur eingetragene Bürger) eingegrenzte Gruppe. Diese politisch agierfähige Gruppe ist gemeint, wenn in diplomatischen Briefen unter den Adressaten nach dem Rat (βουλή), der gewöhnlich die Anträge vorbereitet und einbringt, das »Volk« (δῆμος) genannt wird. Tritt es zusammen, um seine Selbstverwaltungsrechte in Debatten und Abstimmungen wahrzunehmen (vgl. Apg 19,39), spricht man von der ἐκκλησία.105 Dass in den paulinischen Briefen der Begriff ἐκκλησία als Bezeichnung für die Versammlung der Christusgläubigen nicht nur von den paganen Rezipienten so wahrgenommen werden musste, sondern man auch traditionsgeschichtlich gesehen »den profan-griechischen Sprachgebrauch als Ausgangspunkt für die Entwicklung des Begriffes ἐκκλησία« wird ansehen dürfen, wird in der neuesten Forschung immer stärker heraugestellt und plausibilisiert.106 Natürlich weiß Paulus sehr wohl um die Unterschiede zwischen der christlichen und der »normalen« Ekklesia einer Stadt. Deshalb spricht er auch nicht von der Ekklesia der Korinther – das wäre die Bezeichnung der städtischen Bürgerversammlung –, sondern von der Ekklesia Gottes in Korinth (1Kor 1,2; 2Kor 1,1).107 Damit ist die Alternativ-Ekklesia der Christusgläubigen gemeint. Für sie gelten andere Zugangsbedingungen, woraus gleichzeitig eine andere Zusammensetzung resultiert. Berechtigt in der Stadt die Eintragung in die Bürgerliste zur Teilnahme an der Ekklesia,108 so wird bei der christlichen Ekklesia der Zutritt durch eine persönliche Entscheidung erworben, theologisch als Antwort auf den Ruf Gottes verstanden, und durch die Taufe ratifiziert. Und das ist prinzipiell für alle möglich, unabhängig von Stand, Rechtsstatus und Geschlecht. Für alle, die sich taufen lassen, gilt: »Da ist weder Jude noch Grieche, da ist weder Sklave von Freier, da ist nicht Mann und Frau« (Gal 3,28; vgl. 1Kor 12,13). Insofern haben zur Ekklesia Gottes nicht nur freie Bürger, sondern auch Sklaven Zugang, nicht nur freie Männer, sondern auch freie und unfreie Frauen. Sie alle haben in der Ekklesia Gottes freies Rederecht und agieren prinzipiell gleichberechtigt. Nachdem die städtische Ekklesia als autonom agierendes Organ unter der römischen Oberherrschaft stark eingeschränkt ist, reaktiviert Paulus diese demokratische Sozialform für die Christus-Gesellschaft. Ganz nebenbei und deshalb wohl selbstverständlich bezeugen die Paulusbriefe eine entsprechende Praxis, Differenzierte Darstellung mit entsprechenden Belegen bei Ebner, Stadt 65–70. Vgl. nur Schumacher, Entstehung 168–179 (zur Semantik; Zitat: 171); Park, Ek klesia (zur Sache); bahnbrechend: Peterson, Ekklesia. Lange Zeit war prägend: J. Roloff, EWNT I 998–1005, der Verbindungslinien zur Apokalyptik zog (»endzeitliches Aufgebot Gottes«). Der momentane Diskurs spiegelt sich in der Auseinandersetzung zwischen Kooten, Ἐκκλησία (griech.-röm. Horizont der Bürgerversammlung), und Trebilco, Christians (LXX-Hintergrund), auf der einen sowie Horsley (Hg.), Paul 206–214 (anti-imperiale Deutung), auf der anderen Seite. 107 In seinem ältesten Brief versieht Paulus die Normalbezeichnung »der Ekklesia der Thessalonicher« mit dem Zusatz »in Gott, dem Vater …«. 108 Fußend also auf uralten vererbten Rechten: Gewöhnlich müssen beide Elternteile bereits den Bürgerstatus vorweisen können. 105 106
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sozusagen die Bürgerrechte der Getauften: Christusgläubige kommen »als Ekklesia zusammen« (1Kor 11,18.20). Es gibt regelmäßig Vollversammlungen (Röm 16,23; 1Kor 14,23). Frauen steht gleiches Rederecht zu (vgl. 1Kor 11,4f.).109 Es ist von einem Mehrheitsbeschluss und einer Abstimmung die Rede. Im einen Fall geht es darum, dass Paulus akzeptiert, was aufgrund des Votums »von den meisten« (ὑπὸ τῶν πλειόνων) einem Gemeindeglied, das Paulus »betrübt« hat, als Bestrafung (ἐπιτιμία) auferlegt worden ist (vgl. 2Kor 2,5–11).110 Im anderen Fall ist eine Personalentscheidung durch »Handhebung« (χειροτονεῖν) entschieden worden (2Kor 8,19).111 Eine Art Gegenprobe könnte das von der korinthischen Gemeinde angestrebte »Verhör« (ἀνακρίνειν) des Paulus sein, gegen das er sich heftig zur Wehr gesetzt hat (vgl. 1Kor 4,1–5; 2,15f.).112 Auf dem Hintergrund der Usancen der politischen Ekklesia gesehen pocht die Gemeinde damit aber eigentlich nur auf ein ganz selbstverständliches Verfahren: die Rechenschaftspflicht der Beamten.113 Damit zeigt sich das Selbstbewusstsein der korinthischen Gemeinde als Ek klesia: Bei veränderten Zugangsbedingungen greift sie auf die sozialisierten Verfahrensordnungen114 offensichtlich ganz selbstverständlich zurück, was Paulus, insofern es ihn selbst betroffen hat, nicht ganz so recht war. Ganz anders sieht das Konzept aus, das mit οἶκος verbunden ist. Bei diesem Begriff werden präzise architektonische wie soziologische Vorstellungen aufgerufen: Architektonisch denkt man bei οἶκος/domus an eine Stadtvilla. Im Unterschied zu einer Mietskaserne (insula), in der man zumindest in den oberen Stockwerken lediglich seine Habseligkeiten abstellen und nachts schlafen kann, ist ein οἶκος ein repräsentatives Gebäude mit Tor, Empfangshalle (Atrium), einem Speiseraum für Gäste (Triklinium) und eventuell einer Gartenanlage (Peristyl). Selbstverständlich können hier – anders als in der 109 1Kor 14,33c–36 dürfte eine Interpolation sein; sie widerspricht 1Kor 11,5, steht aber in einer inhaltlichen Linie mit 1Tim 2,11f. 110 Vgl. das Urteil von Schmeller, 2Kor I 136: »Die Bestrafung geht nicht auf die gesamte Gemeinde, sondern auf eine Mehrheit in ihr zurück. Dies lässt (bes. in Verbindung mit den Termini ἐπιτιμία und κυρόω) an eine regelrechte Beschlussfassung denken.« 111 In 1Kor 5,1–5 gibt Paulus, wie es auch in der städtischen Ekklesia üblich ist, deutlich sein Votum ab, allerdings per Brief – und überlässt die Entscheidung der christlichen Ekklesia: Wenn die Ekklesia Gottes von Korinth sich versammelt (συναχθέντων ὑμῶν), soll sie das Votum des Paulus, der gemäß antiker Brieftheorie »im Geist« anwesend ist (V. 3: ἀπὼν τῷ σώματι παρὼν δὲ τῷ πνεύματι; wird aufgegriffen in V. 4: καὶ τοῦ ἐμοῦ πνεύματος), in die Beratungen miteinbeziehen. 112 Schrage, 1Kor I 322, spricht davon, dass man Paulus »in Korinth offenbar einer Art Verhör zu unterwerfen und zur Verantwortung zu ziehen sucht«. 113 Vgl. die definitorische Aussage über die antike Demokratie bei Hdt. 3,81,6, wonach Gleichheit vor dem Gesetz, Ämtervergabe durch das Los, Rechenschaftspflicht der Amtsträger und gemeinsame Abstimmung über die Beschlüsse die Charakteristika bilden. 114 Auch wenn der städtischen Ekklesia die autonome Entscheidungsfreiheit genommen war, blieb die prinzipielle Verfahrensordnung in Kraft und wurde analog dazu in den Vereinen praktiziert. Hier hatten selbstverständlich auch Nicht-Bürger, z.T. auch Sklaven, Zugang und wurden auf diesem Weg mit demokratisch-ekklesialen Vorgängen vertraut; vgl. Ebner, Stadt 190–235.
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cella einer Mietskaserne – Speisen vorbereitet oder zumindest aufgewärmt werden, natürlich vom Dienstpersonal.115 Entsprechend anders ist das soziologische Gefüge: In der cella einer Mietskaserne nächtigt eine Kleinfamilie. Die Stadtvilla ist Zentrum eines kleinen Wirtschaftsbetriebes (οἰκονομία) mit einer großen Belegschaft, die definitorisch »aus Sklaven und Freien«116 besteht. Diese menschliche »Belegschaft« wird ebenfalls als οἶκος bezeichnet. Dieses »Haus« als in sich abgeschlossene Wirtschaftseinheit untersteht einem strengen Reglement. Im Gegensatz zur politischen Herrschaft, die von Freien und Gleichen (in der Ekklesia) praktiziert wird, spricht Aristoteles im Blick auf die Herrschaft im Haus (οἰκονομική) von einer μοναρχία: »Jedes Haus nämlich wird von einem Einzigen beherrscht (μοναρχεῖται).«117 Wahrgenommen wird diese Monarchie vom pater familias, dem jeweils ältesten Mann der Eigentümerfamilie.118 Gemäß dem griechischen Ökonomie-Modell fungiert er als Gatte der Frau, als Vater der Kinder und als Herr (δεσπότης) der Sklaven. Nach dem römischen Haus-Modell ist er der einzige Mensch im Haus, der als eigenständige Rechtsperson (sui iuris) agieren kann. Im »Haus« sind alle seiner patria potestas unterstellt. Das betrifft sowohl den finanziellen als auch den juridischen Bereich. Nur der pater familias verfügt über Eigentum und ist zu Geldgeschäften berechtigt. Gleichzeitig ist er autonomer Richter im eigenen Haus. Er bringt Unrechtsfälle vor sein eigenes Gericht, spricht das Urteil und setzt das Strafmaß fest. Seiner Entscheidung obliegt es, wer in den Hausstand aufgenommen bzw. ausgeschlossen wird, ja sogar, welches im Haus neugeborene Kind durch amtliche Meldung119 als Sohn bzw. Tochter mit dem Recht der Erbfolge anerkannt wird – und welches nicht. Und das ist unabhängig davon, wer das Kind gezeugt hat und ob das Kind von der Gattin oder einer Sklavin geboren worden ist. (2) In welchem Bezug stehen gemäß der Formulierung in Phlm 2e τῇ κατ᾿ οἶκόν σου ἐκκλησίᾳ die beiden Größen »Haus« und »Ekklesia« zueinander?
Aristoteles hat das Haus als kleinste Einheit der Stadt definiert.120 Eine Verzahnung ist auf politischer Ebene vorgesehen: Der pater familias, sofern er das Bürgerrecht hat, repräsentiert das Haus, in dem er monarchisch herrscht, in der Ekklesia, in der er nach (antik) demokratischen Spielregeln unter Freien und Gleichen agiert. Im Paulusbrief ist die Zuordnung anders gedacht: Zu Einzelheiten dieses Komposits aus griechischen und römischen Hauselementen vgl. Ebner, Stadt 82–85.166f. 116 Aristot. pol. 1,3 (1253b4); nur diese »Belegschaft« wird von Aristoteles als »vollkommen« (τέλειος) bezeichnet, was gleichzeitig bedeutet: Fehlt einer der beiden Teile, so ist das ein Prestigeverlust. 117 Aristot. pol. 1,7 (1255b16–20) 118 In seine Rechte eingesetzt wird er beim Tod seines Vorgängers, seines Vaters oder Großvaters, sofern er selbst mit einer freien Frau verheiratet ist und bereits Kinder hat; vgl. insgesamt Ebner, Stadt 168–177. 119 Schulz, Registers (vgl. Iuv. 5,164f.; 13,33; 14,5). 120 Pol. 1,3 (1253b2–3). 115
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Das »Haus« wird nicht in der Ekklesia repräsentiert, sondern die (alternative christliche) Ekklesia konstituiert sich »hausweise« (κατ᾿ οἶκον). Was ist damit gemeint? Sicher nicht, dass die Mitglieder des Haushalts – in Papyrusbriefen gewöhnlich als οἱ ἐν οἴκῳ bezeichnet – die christliche Ekklesia bilden. In diesem Fall wäre in der adscriptio zu erwarten: τοῖς ἐν οἴκῳ bzw. τῇ τοῦ οἴκου σου ἐκκλησίᾳ (»der Ekklesia deines Hausstandes«).121 Es geht also gerade nicht um die Identifizierung von Ekklesia mit den (getauften) Personen des Haushalts, sondern um eine bestimmte Zuordnung des Organs der Ekklesia zur Hausebene. Schaut man sich nämlich die Verwendung des Begriffs ἐκκλησία bei Paulus an, so zeigt sich, dass er genau die drei organisatorischen Ebenen unterscheidet, die für das Imperium Romanum in seiner Zeit bestimmend sind: zusätzlich zur klassisch-griechischen Dichotomie von Haus- und Stadtebene auch die Provinzebene,122 die als übergeordnete Verwaltungseinheit von den Römern eingeführt worden ist. Die spezifische Differenzierung in der Formulierung belegt, dass Paulus in analogen Strukturen denkt: Wird ἐκκλησία der Stadtebene zugeordnet, steht der Begriff im Singular. Jede Stadt hat nur eine Ekklesia. Um die von Gott zusammengerufene alternative Christusgläubigen-Ekklesia von der städtischen zu unterscheiden, fügt Paulus in diesen Fällen τοῦ θεοῦ hinzu (1Kor 1,2; 2Kor 1,1; 1Thess 1,1, hier nachgestellt: ἐν θεῷ πατρί …).123 Wird ἐκκλησία jedoch der Provinzebene zugeordnet, dann erscheint der Begriff im Plural. Auch das entspricht den realen Gegebenheiten: In jeder Provinz gibt es mehrere Städte mit je einer Ekklesia. Entsprechend gibt es auch mehrere christliche Alternativ-Ekklesien (vgl. 1Kor 16,1: Galatien; 16,19: Asia; 2Kor 8,1: Makedonien; Gal 1,2: Galatien; 1,22: Judäa). Die dritte Variation, die Kombination von Ekklesia mit der Hausebene, ist in der griechisch-römischen Welt nicht vorgesehen! Denn auf diesen beiden Ebenen gelten unterschiedliche Sozialordnungen: in der Ekklesia eine demokratische Verfassungsnorm, die von Gleichen und Freien wahrgenommen wird; im Haus die Monarchie, die von einem Einzigen über alle im Haus lebenden Personen ausgeübt wird. Mit griechisch-römischem Alltagswissen betrachtet ist die Kombination von Ekklesia und »Haus« verfassungsrechtlich gesehen kontradiktorisch, im Grund ein Oxymoron. Genau darauf aber scheint es Paulus anzukommen. Er hat mit ἡ κατ᾿ οἴκον ἐκκλησία geradezu eine Formel geprägt. Sie findet sich bei ihm noch zwei weitere Male in Grußlisten (Röm 16,5; 1Kor 16,19) und wurde auch deuteropaulinisch übernommen (Kol 4,15): Gemeint ist die Versammlung der Getauften als Alternativ-Ekklesia Gottes. Sie versammelt sich in einem Haus (ἐν οἴκῳ),124 wobei der Besitzer im Genitiv genannt wird, aber nicht als Haus gemäß der üblichen patriarchalen Hausordnung«, sondern eben »hausweise« (κατ᾿ οἶκον) im Sinn von: auf der Plattform und unter Nutzung der zur Verfügung stehenden Logistik eines Hauses – zu Geschäftsordnungsbedingungen einer Ekklesia. 123 124 121 122
Belegmaterial und Begründung bei Arzt-Grabner 165f. Vgl. Röm 15.19.25; 1Kor 16,15; 1Thess 1,7f. Es handelt sich jeweils um die adscriptio in Präskripten. Von Gielen, Interpretation 110–112, mit κατ᾿ οἶκον gleichgesetzt.
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Konkret: Ein pater familias stellt sein Haus für die Versammlungen der Getauften zur Verfügung und sorgt für Verpflegung sowie das entsprechende Ambiente. Eventuell müssen zusätzlich zu den gewöhnlich neun im Triklinium vorgesehenen Liegeplätzen weitere Hocker oder Polster bereitgestellt werden.125 Wer kommt? Die Getauften aus seinem »eigenen Haus«, aber eben auch weitere zur christlichen Bürgerversammlung zugelassene Getaufte aus der näheren Umgebung. Wenn sich die Gruppe als Ekklesia konstituiert, d.h. Herrenmahl feiert, aus den Paulusbriefen vorliest, einem Psalm, einer Lehre, einer Offenbarung oder einer glossolalen Rede samt Übersetzung zuhört (vgl. 1Kor 14,26), ist der Auferweckte Gekreuzigte der κύριος, nicht der pater familias. Idealerweise müsste dieser als Bruder unter Geschwistern agieren, die die Gotteskindschaft durch die Taufe erworben haben – analog zu den Freien und Gleichen, die in der städtischen Ekklesia aufgrund des ererbten Bürgerrechts miteinander entscheiden. Weil aber längst nicht alle Mitglieder seines Haushalts getauft sein müssen – Onesimus z.B. war nachweislich vor seiner Begegnung mit Paulus im Gefängnis nicht getauft – steht der Hausherr und Gastgeber einer Ekklesia im Schnittpunkt zweier Welten mit unterschiedlichen Sozialordnungen: Auf der einen Seite – ἐν οἴκῳ – ist er als pater familias Chef einer Belegschaft (οἱ ἐν οἴκῳ), die ihm in seiner monarchischen Stellung zugeordnet sind und die er nach außen repräsentiert. Auf der anderen Seite – ἐν τῇ κατ᾿ οἶκον ἐκκλησίᾳ – ist er gemäß der durch die Taufe grundgelegten Familienfiktion Bruder all der Geschwister (ἀδελφοί), die sich von Gott haben rufen lassen und in sein Haus gekommen sind, um sich dort als Gottes ἐκκλησία zu konstituieren. Im Unterschied zu seinen sonstigen Einladungen, die gemäß antiker Etikette an ungefähr gleichgestellte Freunde (männlichen Geschlechts) ergehen – man speist inter amicos, und der Gastgeber soll darauf bedacht sein, »dass nur Gäste, die zueinander passen, zusammenkommen und bei Tisch Nachbarn sind«126 – kann er im Fall der Versammlung der christlichen Ekklesia seine Gäste nicht auswählen. Unter den von Gott gerufenen Getauften können eben auch Frauen und Sklaven sein! Generell kann es mehrere solcher sich »hausweise« versammelnden (christlichen) Ekklesien in einer Stadt geben. Genetisch gesehen beginnt die »Infizierung« einer Stadt durch das Evangelium wohl damit, dass ein Hausbesitzer und seine Gattin sowie eventuell weitere Mitglieder des Haushalts für die neue Botschaft gewonnen werden können und ihr Haus auch für andere öffnen, die sich vom Evangelium haben »infizieren« lassen. So erzählt es Paulus für Stefanas und sein »Haus«, das er »Erstling der (Provinz) Achaia« nennt (1Kor 16,15). Sobald weitere Getaufte hinzustoßen und der Platz im Haus zu eng wird, muss nach einem weiteren Gastgeber Ausschau gehalten werden, der ebenfalls bereit ist, sein Haus für die Versammlung der Ekklesia zu öffnen. Nur wenn sich ein Gastgeber findet, der ein derart geräumiges Haus Zum Triklinium und zum Ablauf eines Symposions vgl. Ebner, Stadt 179–184. Hor. epist. 1,5,24–26.
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(mit eventuell mehreren im Peristyl benachbarten Triklinien (vgl. Pompeji) verfügt, kann sich die gesamte Gemeinde versammeln. Das wird in größeren Gemeinden der Ausnahmefall geblieben sein. Wenn Paulus prinzipiell nur von solchen Vollversammlungen augegangen wäre, zu denen immer alle Gläubigen einer Stadt zusammenkommen,127 wäre die Rede von der »ganzen« Ekklesia, für die Gaius in Korinth Gastgeber gewesen ist, tautologisch und nicht erklärbar.128 Die Formulierung dagegen macht Sinn, wenn es der Normalfall war, dass Christen sich »hausweise« versammeln und damit die gewachsenen Strukturen beibehalten werden.129 Auch das ist etwas, was es gemäß der städtischen Ordnung eigentlich nicht gibt: subsidiäre Ekklesien, die nur von Zeit zu Zeit als »ganze« Ekklesia zusammenkommen. Diese Anomalie ist der kleinzelligen urchristlichen Missionspraxis sowie der Logistik antiker Häuser geschuldet. Die Formulierung in Phlm 2e τῇ κατ᾿ οἶκόν σου ἐκκλησίᾳ stellt uns eine solche »hausweise« sich versammelnde Ekklesia vor Augen. Wir könnten auch von einer subsidiären Ekklesia sprechen. Weil Gielen, Interpretation; Merklein/Gielen, 1Kor III 460–464, den verfassungsrechtlichen Hintergrund dieser Differenzierungen in ihre Überlegungen nicht mit einbezieht, schließt sie insbesondere aus dem singularischen Gebrauch des Begriffs Ekklesia in denjenigen Präskripten, die an eine Stadt gerichtet sind, dass die »paulinischen Briefe […] in der Regel alle Getauften einer bestimmten Stadt, die damit die Ortsgemeinde konstituieren, zu Adressaten [haben]. Gesetzt aber den Fall, die Getauften hätten sich normalerweise in Teilversammlungen getroffen, so muss es doch erstaunen, dass Paulus niemals als Briefadresse formuliert ›an alle Gemeinden, die in … sind‹« (1Kor III 461). Im Blick auf die »Gemeinde-im-Haus-Formel« hält Gielen im Gegenüber zum bisherigen Grundkonsens der Forschung fest: Sie »bezeichnet weder die Gesamtgemeinde eines Ortes noch eine Hausgemeinde, die als selbständige Teilgemeinde mit der vollen Bandbreite gemeindlicher und zumal gottesdienstlicher Vollzüge in und neben der Ortskirche existiert. Vielmehr zielt die Formel wohl jeweils auf eine konkrete, durch die Namen der Hausherren und/oder -herrinnen klar identifizierte christliche Hausgemeinschaft bzw. auf alle christlichen Mitglieder dieses Hauswesens« (1Kor III 463f.). Damit hat sie ihre frühere Behauptung (Interpretation 123f.; Einspruch von Wolter, Kol 219) zurückgezogen: mit der »Gemeinde-im-Haus-Formel« sei die jeweilige Ortsgemeinde unter Berücksichtigung der konkreten Gastgeber gemeint – mit der Folge, dass es sich bei der sich gemäß Kol 4,15 im Haus der Nympha versammelnden Ekklesia um die Ortsgemeinde von Hierapolis handle. Mit dem undifferenzierten »ihr« der Verbalformen in der Stellungnahme des Paulus zur Herrenmahlsfeier in Korinth (1Kor 11,17–34) ist als Adressat sicher die gesamte Gemeinde gemeint, an die der Brief gemäß Präskript auch gerichtet ist. Solche gemeinsamen Herrenmahlfeiern sind gemäß Röm 16,23 in Korinth möglich. Daraus kann aber nicht automatisch geschlossen werden, dass es solche gemeindlichen und gottesdienstlichen Vollzüge auf der Hausebene nicht gibt. Das wohl stärkste Argument für eine »subsidiär« agierende Ekklesia auf Hausebene dürfte Phlm selbst sein: Hier wird einer solchen Untereinheit, an die sich Paulus mit der »Gemeinde-im-Haus-Formel« wendet, zugemutet, dass sie selbständig den vorliegenden Fall regelt bzw. die Entscheidung des Haus- und Sklavenbesitzers als »kritische Instanz« (Merz, Selbstauslegung 90) begleitet – ohne die »ganze« Ekklesia fragen zu müssen. Zur neuesten Auswertung des Konzepts der »Hausgemeinde« vgl. Hunter, Church. 128 Röm 16,23; vgl. die parallele Formulierung in 1Kor 14,23. 129 Vgl. so auch die Rekonstruktion bei Wolter 249. 127
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Auch der Gebrauch der Formel in Apg 2,46; 5,42 (ohne Nennung des Hausbesitzers im Genitiv) zeigt über den Kontext, dass institutionelle Ebenen unterschieden werden sollen: κατ᾿ οἶκον steht parallel zu ἐν τῷ ἱερῷ. Im Tempel treffen sich die Gläubigen zum Gebet, zu Hause zum Brotbrechen. Ersteres findet an einem Ort statt; dort treffen sich alle Gläubigen, Letzteres kann an verschiedenen Orten stattfinden; dort treffen sich die Gläubigen gruppenweise. Neben dem »Obergemach« (Apg 1,13), womit ein größeres cenaculum im ersten Stock einer Mietskaserne gemeint sein kann, wird ausdrücklich auf das »Haus der Maria« verwiesen, wo gemäß Apg 12,12 »nicht wenige« (ἱκανοί), aber eben nicht alle, versammelt waren und beteten. Entsprechendes gilt für die Lehrtätigkeit des Paulus: Sie findet gemäß Apg 20,20 sowohl δημοσίᾳ (»in der Öffentlichkeit«) als auch κατ᾿ οἴκους (»auf Hausebene«) statt. Gemäß Apg 8,3 ist die Ekklesia von Damaskus, gegen die Paulus vorzugehen versucht, auf einzelne Häuser verteilt, in die er eindringen muss: τὴν ἐκκλησίαν κατὰ τοὺς οἴκους. Dass Paulus seinerseits nie den Plural für die Hausebene verwendet, hängt wohl ganz einfach damit zusammen, dass er jeweils den Hauseigentümer im Genitiv nennt und somit die Teilekklesia klar identifiziert. Deshalb sollte man nicht übersetzen: »… und an deine Hausgemeinde«,130 sondern: »der Ekklesia, die sich auf subsidiärer Ebene in deinem Haus versammelt«.
(3) Wessen οἶκος ist gemeint? Die Frage ist deswegen entscheidend, weil der Hausbesitzer (οἶκόν σου) auch die jeweils im Singular angesprochene Bezugsperson des restlichen Briefes ist; an ihn ist sowohl der Dank der Briefeucharistie (V. 4–7) als auch die entscheidende Bitte im Briefkorpus (V. 8–20) gerichtet. Prinzipiell kommen dafür alle drei in der adscriptio mit Namen genannten Personen infrage. Seit der Patristik besteht die einhellige Meinung, Philemon sei der Hausbesitzer und damit auch der Herr des Sklaven Onesimus. In der Linie des Epheserkommentars seines Lehrers E.J. Goodspeed (1933) hat J. Knox 1935 die These aufgestellt, Archippus käme diese Rolle zu.131 Der Mainstream der Ausleger hält jedoch weiterhin daran fest, dass mit dem Haus- und Sklavenbesitzer, der im Brief mit »Du« angesprochen wird, Philemon gemeint ist. Dafür gibt es sowohl strukturelle als auch semantisch-inhaltliche Gründe: Philemon wird in der adscriptio als Erster genannt. Auch wenn Paulus über die Verteilung der Epitheta versucht, Gleichrangigkeit herzustellen, wird die erste Position nicht unbegründet sein.132 Außerdem wird das einzige Prädikat, das Philemon vor Apphia und Archippus auszeichnet, ἀγαπητός, sowohl in der Briefeucharistie (ἀγάπη: V. 5a.7a) als auch im Briefkorpus (ἀγάπη: V. 9a) dezidiert aufgegriffen – und in V. 16c mit dem zentralen Anliegen verbunden: Onesimus genau so aufzunehmen, wie Paulus seinerseits dem Angesprochenen entgegentritt, nämlich als ἀγαπητὸς ἀδελφός. Kurz: Philemon ist der pater familias in dem Haus, in dem sich die ἐκκλησία versammelt.
Wengst 45. Vgl. oben S. 12. 132 Vgl. exemplarisch Moo 362. 130 131
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1.3 Die salutatio (V. 3) Mit der persönlichen Formulierung der salutatio in V. 3 nutzt Paulus die dem 3 griechischen Briefformular inhärente Vorstellung des Briefs als Boten, der die Worte des Absenders ausrichtet, sofort für den Gruß in direkter Rede – und nicht erst, wie üblich, mit dem Beginn des Proömiums. Hinsichtlich der Semantik und der Form als Segensspruch stellt er sich klar in die jüdische Traditionslinie. Er greift auf die im Frühjudentum und auch ihm selbst (vgl. Gal 6,16) geläufige Wortkombination ἔλεος καὶ εἰρήνη zurück, wie sie insbesondere in jüdischen Segensformeln verankert ist,133 setzt sie aber (darin 2Bar 78,2 vergleichbar) als salutatio ins Präskript und ersetzt ἔλεος durch χάρις. Mit der griechischen Briefkonvention Vertraute können bei χάρις an das eigentlich genau an dieser Stelle zu erwartende χαίρειν denken.134 Spätestens beim Personalpronomen ὑμῖν jedoch sowie dem weiteren Substantiv εἰρήνη135 werden sie auf anderes, aber ihnen durchaus nicht unvertrautes Terrain geführt: die kaiserliche Propaganda – mit der pax Romana an erster Stelle.136 Und: χάρις ist nicht nur ein Leitbegriff der paulinischen Theologie, sondern auch ein Signalwort des kaiserlichen Patronatssystems. Auf zahllosen Inschriften werden mit diesem Begriff die souveränen Gunsterweise des Kaisers gepriesen, die natürlich durch entsprechende Initialhandlungen veranlasst und gemäß dem Kreislauf der Reziprozität auch erwidert werden müssen.137 Der Terminus ἔλεος dagegen, mit dem gerade in LXX ein souverän-rettendes Eingreifen Gottes begrifflich gefasst wird,138 ist im griechisch-römischen Kulturraum negativ besetzt: als eine einem Weisen unangemessene Pathos-Reaktion auf die Notlage eines Anderen. Nach Seneca ist eine solche misericordia ein Laster des Geistes,139 das sich allzu sehr von der Erbärmlichkeit (misera) außer Fassung bringen lässt. Im Gegensatz zur clementia sieht misericordia nicht den Sachzusammenhang (causa), der dann zu einem vernünftigen Handeln den Anstoß S. oben S. 35. Nach Lietzmann, Röm 22, sei das die Absicht des Paulus gewesen. Vgl. das Referat der Forschungsdebatte bei Doering, Letters 409. 135 Hier dürften auch die im griechischen Briefformular möglichen Ergänzungen durch weitere Infinitive, am gebräuchlichsten καὶ ὑγιαίνειν (vgl. die Übersicht bei Arzt-Grabner 121) nicht mehr weiterhelfen; zu Recht moniert von Breytenbach, Charis 273. 136 Mit εἰρήνη καὶ ἀσφάλεια in 1Thess 5,3 scheint Paulus auf einen entsprechenden römischen Slogan anspielen zu wollen; vgl. Weima, Peace; präzisierende Replik von White, Slogan; ders., Ideology. 137 Vgl. in der Linie von Wetter, Charis, die Untersuchung von Harrison, Language, mit entsprechender Anwendung auf paulinische Texte; vgl. Gundry, Recompense; Engberg-Pedersen, Gift-Giving; umfassend: Barclay, Gift; zum Phänomen der Reziprozität in der römischen Kaiserzeit noch immer grundlegend: Saller, Patronage; speziell zu den Veränderungen zwischen später Republik und früher Kaiserzeit im Blick auf die Applikation bei Lk vgl. Adrian, Mutuum. 138 Konzise Darstellung bei Breytenbach, Charis 253–267, mit der erhellenden Beobachtung, dass Paulus zu diesem Begriff nur dann greift, wenn er auf LXX rekurriert. 139 Seneca spricht von einem Laster des Geistes (misericordia vitium est animorum: clem. 2,6,4). 133 134
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gibt, sondern bleibt vordergründig am erbärmlichen Geschick (fortuna) eines Anderen hängen, statt zu vernünftigen Handlungsoptionen vorzustoßen.140 Im Blick auf seine Adressaten scheint Paulus ganz bewusst auf das jüdisch geprägte ἔλεος verzichtet und zu dem für seine Adressaten positiv besetzten Begriff χάρις gegriffen zu haben;141 er verbindet ihn aber nicht mit dem Kaiser als »Vater des Vaterlandes« bzw. »Herrn der Welt«, sondern mit Gott als »Vater« bzw. Christus als »Kyrios«.142 Damit wird nicht nur die Quelle der Wohltat genannt, sondern auch das Ereignis der Wohltat, aus dem εἰρήνη, ein umfassend gutes Leben in Ruhe und Sicherheit, entspringen kann: die Auferweckung des Gekreuzigten und seine Erhöhung zum Kyrios durch Gott den Vater (vgl. Phil 2,6–11; Röm 10,9; 1Kor 12,3). Dadurch ist der neue Äon bereits in Gang gesetzt und wird für die Glaubenden in der alternativen Ekklesia als dem bereits gegenwärtigen Erfahrungsraum der Königsherrschaft Gottes gestaltbar. Es kommt auf die Mitglieder der Ekklesia an, ob sie das auch tun. Der Brief des Paulus an die Ekklesia, die sich im Haus Philemons versammelt, versucht diesbezüglich im Blick auf einen äußerst heiklen Punkt zu moderieren, nämlich im Blick auf das Verhältnis des Hausherrn zu einem seiner Sklaven. Erst vom Ausgang der Sache her wird sich zeigen, ob der Segenswunsch der salutatio auch im Haus Philemons wirksam geworden ist: dass Gott als Vater der Souverän ist – und nicht der pater familias; dass Christus Jesus der Kyrios ist – und nicht Philemon als δεσπότης seiner Sklaven. 2 Briefproömium (V. 4–7) 4a Ich danke meinem Gott jedes Mal, b wenn ich ein Gedenken an dich mache bei meinen Gebeten, 5a höre ich doch von deiner Liebe und dem Glauben, b den/die du hast zum Herrn Jesus und gegenüber allen Heiligen, 6a auf dass deine Teilhaberschaft am Glauben evident wird in Erkenntnis jedes Guten unter uns auf Christus hin. Vgl. Sen. clem. 2,5,1; 2,6,3f.; Cic. Tusc. 4,56; es kommt auf das vernünftige Handeln an, das das öffentliche Wohl (bonum publicum) im Blick hat. Insofern wird der Weise allen nützen, die es verdienen (omnibus dignis). Und in diesem Sinn ist auch die Aussage zu verstehen: »Nach Götterart wird er die in Not Geratenen gnädig (propitius) anblicken« (clem. 2,6,3). Dieser innere Zusammenhang wird zu wenig berücksichtigt bei Breytenbach, Charis 271f. 141 Während frühjüdische Autoren Gottes Handeln im Sinn der griechisch-römischen Moralphilosophie stilisieren können und z.B. die griechische Version von 1 Hen 1,8 davon spricht, dass Gott mit den Gerechten Frieden macht (Breytenbach, Charis 258), bleibt Paulus inhaltlich dem Tenor der biblischen Schriften treu, nach denen Gott einseitig auch denen Hilfe bringt, die es nicht verdienen: vgl. Röm 5,1–11; 11,35. 142 In 1Kor 8,5f. werden beide Titulaturen explizit den »vielen Göttern und vielen Herren« entgegengesetzt, die es »im Himmel und auf der Erde« gibt. 140
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7a Viel Freude nämlich hatte ich und Trost an deiner Liebe, b weil die Eingeweide der Heiligen zur Ruhe gekommen sind durch dich, c Bruder. 1. Die paulinische Briefeucharistie. In V. 4–7 wird das Grundmuster erkenn- Analyse bar, wie es auch die entsprechenden Passagen in Röm 1,8–12; 1Kor 1,4–9; Phil 1,3–11; 1Thess 1,2–10 zeigen:143 (1) Danksagung des Briefschreibers (εὐχαριστῶ); (2) Gott als Adressat des Dankes (τῷ θεῷ); (3) temporales Adverb (πάντοτε); (4) ein spezifizierender modaler (beim Gebet/προσευχ- gewöhnlich kombiniert mit dem Erinnerungsmotiv/μνεία) oder personaler Bezug, die Adressaten betreffend (entsprechendes Personalpronomen); (5) der Sachgrund für den Dank wird genannt, eventuell eine Bitte angefügt, wobei der Blick aus der Vergangenheit in die Zukunft wechselt. Dabei kommt es zum Einsatz von untergeordneten Nebensätzen bzw. Partizipien, sodass meist eine sehr lange Passage entsteht.144 2. Gattungskritik. Gemäß der zur Zeit des Paulus gängigen Briefkonvention folgt unmittelbar nach dem Briefgruß die formula valetudinis: εἰ ἔρρωσαι εὖ ἂν ἔχοι, καὶ αὐτὸς ὑγίαινον.145 Die Formel ist derart stereotyp, dass sie im Lateinischen sogar mit Großbuchstaben abgekürzt werden kann: S V B E E V (für: si vales, bene est, ego valeo).146 Sie ist Standard in Privatbriefen. Wenn sie auch in offiziellen Briefen auftaucht, drückt sie Wertschätzung aus und signalisiert eine vom Empfänger unabhängige Position des Adressaten.147 Weitere Motive können sich an die formula valetudinis anschließen: (a) das Erinnerungsmotiv; es bekundet, dass man aneinander denkt (μνείαν ποιεῖσθαι) – und zwar unablässig (διὰ παντός);148 (b) ein Gebetsbericht, der ab dem 1. Jh. n.Chr. gewöhnlich in folgender Kombination mit der formula va Zur Abgrenzung vgl. Schnider/Stenger, Studien 44f. Die Strukturbeschreibung von Schubert, Form 10–39, die geradezu pflichtgemäß rezitiert wird (zuletzt bei Bauer, Paulus 83 Anm. 375, und Doering, Letters 416; ausführlich besprochen bei Schnider/Stenger, Studien 46f.), ist zu stark syntaktisch ausgerichtet und muss für die wenigen Texte bei Paulus bereits zwei Typen (!) unterscheiden, wobei ein finaler bzw. kausaler Nebensatz die Weichenstellung bilden sollen. Das Erinnerungsmotiv sowie das Gebetsreferat bleiben dagegen unberücksichtigt, sodass diese Vorlage kaum anschlussfähig ist für die dokumentarische Brieftradition. 145 Koskenniemi, Studien 130–133; Exler, Form 103–107. 146 Vgl. Klauck, Briefliteratur 38. 147 Vgl. Welles, Correspondence Nr. 56; 58; 59; 61 (Korrespondenz zwischen Eumenes II./Attalos II. und Attis, dem Kybelepriester in Pessinus/163–156 v.Chr.: »intimate and allusive«; vgl. ebd. 247); 71; 72 (Anerkennung des freien Status der Stadt Seleukia in Pieria/109 v.Chr.); Sherk, Documents Nr. 23; 26; 28; 54; 58; 60. Vgl. auch 2Makk 9,20 (Antiochus VI. auf dem Sterbebett an die Juden). Die Gruppierung nach Familien-, Empfehlungs-, Geschäfts- und Verwaltungsbriefen bei Buzón, Briefe 9–19.51–53.102– 108.163–166, belegt, dass die formula valetudinis als Gradmesser für die gegenseitige Vertrautheit fungieren kann. 148 Vgl. Arzt-Grabner 129–131; Koskenniemi, Studien 145–148; Buzón, Briefe 19. 143 144
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letudinis auftritt: πρὸ μὲν πάντων εὔχομαι σε ὑγιαίνειν;149 (c) eine Danksagung (χάριν ἔχειν / εὐχαριστεῖν) an die Götter (τοῖς θεοῖς), entweder ebenfalls als Erweiterung der formula valetudinis oder aber als eigenständige Dankformel infolge einer per Brief oder mündlich (ἀκούων)150 überbrachten guten Nachricht.151 Diese Grundmotive des Proömiums können frei kombiniert und bei der Anwendung durch Konkretionen ergänzt werden. Paulus kombiniert in Phlm 4–7 das Erinnerungsmotiv mit dem Gebetsbericht in den standardisierten Formulierungen. Auch bei ihm ist die Danksagung durch eine gute Nachricht motiviert. Formal fällt jedoch auf, dass bei ihm nicht die formula valetudinis, auch nicht in der ab dem 1. Jh. meistens mit dem Gebetsbericht kombinierten Version, an erster Stelle steht (πρὸ μὲν πάντων εὔχομαι …), sondern die Danksagung – gerichtet natürlich an den einen Gott. Inhaltlich ist sie nicht auf das körperliche, sondern auf das spirituelle Wohlergehen der Adressaten bezogen. Der bereits im Präskript bewusst stilisierten Gleichstellung von Adressaten und Empfängern entspricht die Realisierung der Proömium-Motive, die – sofern sie in offiziellen Briefen überhaupt vorkommen – in einem an eine Kommunität gerichteten Brief erneut dieses Signal setzen. Dass in Phlm 4–7 nur noch Philemon direkt angesprochen wird, betrifft nur die Oberfläche des Textes (vgl. 5.). 3. Traditionskritik. Dass Paulus den Dank »an meinen Gott«152 an die erste Position seines Proömiums stellt, wird meistens als Kennzeichen der jüdischen Traditionslinie gewertet, in der Paulus steht. Als Hauptbeleg gilt der zweite Festbrief in 2Makk 1,10–2,18.153 Wie in Phlm 4 steht auch in 2Makk 1,11 die entsprechende Verbform von εὐχαριστεῖν am Beginn des Proömiums, allerdings nicht in Kopfstellung, wie bei Paulus üblich. Außerdem bezieht sich der Dank inhaltlich nicht auf eine gute Nachricht, die das Geschick der Empfänger betrifft, sondern auf die Absender, die ihrerseits ihr Geschick erzählen.154 Als Auslöser für die Kopfstellung des paulinischen εὐχαριστῶ möchte ich deshalb folgende Alternativen in Erwägung ziehen: Vgl. Arzt-Grabner 123–128; Koskenniemi, Studien 134f.; Exler, Form 107–111; Buzón, Briefe 11.103. 150 Vgl. Arzt-Grabner 137–141. 151 Vgl. die entsprechenden Textbeispiele bei Collins, Scepter 159–162; Arzt-Grabner, Paulus 143–149; Reed, Thanksgivings; Buzón, Briefe 10–12.52f.104. Auch der sogenannte erste Apionbrief (BGU II 423,6–8) gehört in diese Reihe. Der Streit zwischen Arzt, Thanksgiving, und Reed, Thanksgivings, betrifft die teilweise verzerrt dargestellte Extremposition, die briefliche Danksagung stelle eine »set phrase« im Sinn einer Quasi-Gattung dar und sei ab dem 3. Jh. v.Chr. durchgängig belegbar, so die Rezeption Arzt-Grabners durch Reed. Vgl. die nüchterne Evaluation durch Pao, Gospel 106–119. 152 Die Formulierung »erinnert an den Gebetsstil der individuellen Dankpsalmen« (Wolter 251): Ps 30,13; 71,22; 118,28. 153 Vgl. Doering, Letters 417–421, der außerdem noch 2Bar 78,3–7 sowie 2Makk 1,2–5 als vergleichbare Proömien ins Spiel bringt, aber eher unter rhetorischer Hinsicht: Themen des Briefes klingen bereits an; vgl. Klauck, Briefliteratur 212. 154 Der Brief gibt vor, aus dem Jahr 164 v.Chr. zu stammen; vermutlich handelt es sich um eine Fälschung aus dem frühen ersten Jahrhundert, vgl. Klauck, Briefliteratur 206. 149
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(1) Paulus ahmt eine jüdische Beracha nach. Entsprechend steht der Ausdruck des Dankes an erster Position, wie im Proömium von 2Kor 1,3–11, das als Beracha/Eulogie (εὐλογητὸς ὁ θεός) realisiert ist.155 (2) Das Verb εὐχαριστεῖν, ein Terminus, der zum technischen Vokabular des Reziprozitätsprozesses gehört,156 korrespondiert dem von Paulus bewusst gewählten Begriff der χάρις in der Grußformel.157 Anders als in den imperialen Reziprozitätsmechanismen kommt die χάρις, die Paulus seiner Gemeinde wünscht, von Gott (als Vater) und Christus (als Herrn). Sie bewirkt – unverdientermaßen (vgl. Röm 5,6–8) – die Entstehung von Keimzellen des bereits angebrochenen neuen Äons mitten im Römischen Reich, Ekklesien genannt. Mit εὐχαριστῶ, unmittelbar angeschlossen an den χάρις-Wunsch, bedankt sich Paulus genau dafür – bei Gott. Im griechisch-römischen Horizont gehört, verstößt er damit gegen Reziprozitätskonventionen: Er hätte sich bei Philemon bedanken müssen. Denn wie die folgenden Verse zeigen, hat er speziell dessen Liebes tat für die Heiligen im Blick. Aber Paulus bedankt sich bei Gott – und nicht beim menschlichen Wohltäter. Wenn er schließlich auch Gott darum bittet, Philemon weitere Möglichkeiten zur Guttat158 erkennen zu lassen (vgl. V. 6), dann »reformiert« er den gesellschaftlich etablierten Gabe-Dank-Kreislauf durch die konsequente Einführung einer transzendenten Ebene und befreit dadurch die Wohltatenempfänger von der ethischen Verpflichtung zu Dankeserweisen gegenüber dem Wohltäter – und von Bittgesuchen ebenfalls. Nach Paulus ist es nicht Spekulation auf Prestige und Dank, wie bei Wohltätern üblich, die Philemon zu seinen Guttaten animiert, sondern Gott selbst – sozusagen in Korrespondenz zu dessen Glauben. Konsequenterweise schickt Paulus deshalb seinen Dank an Gott und bittet ihn, Philemon weiterhin zu motivieren durch »die Erkenntnis jedes Guten« (V. 6).159 Vgl. auch das Eulogie-Proömium bei Eup fr. 2 (Eus. Pr. Ev. 9,34,1) unter Rekurs auf 2Chr 2,11LXX (εὐλογητὸς κύριος ὁ θὲος Ισραηλ); vgl. Doering, Letters 417f. Die Formel findet sich auch im Proömium des 2. Festbriefs 2Makk 1,17; das Verb εὐχαριστεῖν dagegen findet sich in LXX nur in den deuterokanonischen Büchern, mit epistolographischer Funktion lediglich in 2Makk 1,11; vgl. Taatz, Briefe 32f. 156 Vgl. Harrison, Language 26–210; neben »bestow a favor on, oblige« bedeutet das Verb auch »to be thankful, return thanks«; vgl. LSJ 738. Im Blick auf Paulus ist vorsichtig: Collins, Scepter 163. 157 So die Vermutung von du Toit, Paulus 129: »Paul may have felt that his εὐχαριστέω should resonate to the immediately foregoing grace and peace benediction.« 158 In der Reziprozitätssemantik sind τὸ ἀγαθόν bzw. τὰ ἀγαθά technische Begriffe für »Wohltaten«/beneficia; vgl. Plat. Eutyphr. 14E/15A; IG VII/2 2712 (37 n.Chr.); vgl. Harrison, Language 317 (»meritorious action«); vgl. die pseudoplatonische Definition für χάρις: ἀπόδοσις ἀγαθοῦ (413E). 159 Auf diesem Hintergrund wird es sich sehr einfach erklären, weshalb Paulus in 2Kor und Gal auf eine Briefeucharistie verzichtet: In beiden Fällen fehlt hinsichtlich der Gemeindesituation der Grund und Anlass für den reziproken Dank. In 2Kor 1,3–11 weicht Paulus auf eine Briefeulogie aus. Inhaltlich geht es um den Beistand Gottes hinsichtlich seines eigenen Schicksals sowie seiner Tröstung durch Gott; am Ende von V. 11 werden die Korinther aufgefordert, darum zu beten, dass dafür Gott Dank gesagt wird (εὐχαριστηθῇ); vgl. Schmeller, 2Kor I 46. In Gal 1,6–9 realisiert Paulus das Proömium als vituperatio; vgl. Kremendahl, Botschaft 99–106.162–174. 155
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4. Strukturanalyse. Drei Ebenen sind zu unterscheiden: (a) Kommunikationsstrukturen. Das Referat über die Liebe und den Glauben Philemons, das Paulus zu Ohren gekommen ist (V. 5f.: ἀκούων), wird gerahmt von der Mitteilung an Philemon, wie Paulus darauf reagiert hat. In V. 4 berichtet er von seinem Dank an Gott (theologisch), in V. 7 von der Freude und dem Trost, die sich bei ihm eingestellt haben (anthropologisch). (b) Semantisch-rhetorische Strukturen. Umstritten ist die Zuordnung von ἀγάπη und πίστις »zum Herrn Jesus« und »gegenüber allen Heiligen« in V. 5. Ausleger, die beide Begriffe in gleicher Weise beiden genannten Personen(gruppen) zuordnen, postulieren für πίστις die Bedeutung »Treue«, zumindest im Blick auf »alle Heiligen«,160 weil »Glaube« an alle Heiligen doch bedenklich wäre.161 Genauso ungewöhnlich ist aber die Liebe »zum Herrn Jesus«, von der Paulus sonst nicht spricht.162 Jüdisch geprägt ist der Bezug von »Liebe« auf Gott (als Herrn) im Sinn der Loyalität gegenüber seinen Geboten (vgl. Dtn 6,4f.; Jos 22,5).163 Keine dieser Schwierigkeiten stellt sich jedoch ein, sobald man in V. 5 von der Figur des Chiasmus ausgeht:164 Liebe gegenüber allen Heiligen (Außenglieder) und Glaube zum165 Herrn Jesus (Innenglieder): ἀγάπη
πρὸς τὸν κύριον Ἰησοῦν
πίστις
εἰς πάντας τοὺς ἁγίους
Wengst 53; Bruce 208; vgl. Cotrozzi 124. Bauer, Paulus 126, will das καί verstärkend (BDR § 442,8) auffassen: »Liebe und Treue … im Hinblick auf den Herrn Jesus auch zu allen Heiligen«. 161 Vgl. Müller 96. 162 Vgl. Müller 97. 163 Vgl. auch die Formel: »die Gott lieben« (Röm 8,28; 1Kor 2,9; 8,3). 164 So die meisten Ausleger; vgl. Harris 249f.; Lohse 270f.; Wolter 253; Lampe 211; vgl. auch die Auflistung bei Reinmuth 28, der wie Müller 96 auf einen Kompromiss zusteuert. 165 Analoge Formulierung mit πρός auch: 1Thess 1,8; vgl. 2Kor 3,4; 4Makk 15,24; 16, 22. 160
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Im Grunde fordert der Kontext selbst diese spezifische Zuordnung: In V. 7 wird nämlich die Liebe Philemons mit der positiven emotionalen Auswirkung auf die Heiligen verbunden – und von πίστις ist in dieser horizontalen Linie nicht die Rede. In Beziehung gesetzt werden πίστις und ἀγάπη in V. 6. Geht man von der gleichen Zuordnung wie in V. 5 aus, dann entspricht εἰς Χριστόν in V. 6 dem πρὸς τὸν κύριον Ἰησοῦν in V. 5 und ἐν ἡμῖν in V. 6 analog dazu εἰς πάντας τοὺς ἁγίους in V. 5.166 Allerdings wird gemäß dem Raster des Chiasmus in V. 5 das Stichwort »Liebe« durch »Erkenntnis jedes Guten« ersetzt. Auf alttestamentlichem Hintergrund liegt die Verbindung auf der Hand: Liebe zum Nächsten ist als solidarisches Handeln konzipiert (vgl. Lev 19,11–18).167 Erkenntnis (des Gotteswillens)168 und entsprechendes Handeln gehören zusammen.169 Gemeint ist also die Erkenntnis der Möglichkeit bzw. Notwendigkeit solidarischen Handelns »unter uns«.170 Ausgehend von der chiastischen Struktur von V. 5 als Grundraster für die folgenden Verse ergibt sich: Glaube an Christus wird wirksam in der Liebe gegenüber den Heiligen, die sich ihrerseits in konkreten Taten des Guten zeigt.171 (c) Syntax und Logik, Plot und Komposition. Dem Hauptverb εὐχαριστῶ sind alle weiteren Satzglieder sowohl grammatikalisch als auch logisch untergeordnet: V. 4b (ποιούμενος) gibt den Modus des Dankens an (beim Gebetsgedenken), V. 5 (ἀκούων) den materialen Anlass (Referat über Philemons Liebe und Glaube), V. 6 (finales ὅπως) das Ziel des Gebets (Wirksamwerden des Glaubens in der Erkenntnis jedes Guten) und V. 7 die unmittelbare Motivation für das Dankgebet, also die Reaktion auf das Referat von V. 5 – in zwei Stufen: Freude und Trost des Paulus wegen Philemons Liebe (V. 7a: γάρ), weil dadurch die Heiligen emotional erquickt wurden (V. 7b: kausales ὅτι). Versucht man, die Ereignisse des zugrunde liegenden Plots in eine zeitliche Reihenfolge zu bringen, ergibt sich: (1) Philemon zeigt den Heiligen seine Liebe; (2) die Heiligen werden dadurch erquickt; (3) Paulus hört da Im Sinn von Müller 100: »Das Gute hat einen Ort und ein Ziel«, wird hier für eine kommunikative Deutung des ἐν ἡμῖν plädiert. Alternativ dazu werden eine anthropologische (»das Gute, das in uns ist«, womit mit Rekurs auf Römer 12,2; Gal 6,10 der pneumatisch präsente Gotteswille gemeint sein soll: Stuhlmacher 34) sowie eine forensische Deutung (»was unter uns als gut gilt«: Jang, Philemonbrief 28f.; Wolter 255) vorgeschlagen. 167 Vgl. nur Crüsemann, Tora 376f. 168 Kann in LXX mit ἀγαθόν bezeichnet werden: vgl. Ps 33,15LXX; 36,27LXX; allerdings ohne Artikel und meistens im Gegenüber zu κακόν/Schlechtes, manchmal in Verbindung mit Erkennen. 169 Vgl. Bultmann, ThWNT I 697; Lohse 56–58 (Qumran); Müller 99f., der auf eine Gegenposition bei Aristot. eth. Nic. 1095a6 hinweist, wo γνῶσις und πρᾶξις gegenübergestellt werden. 170 Barclay, ΚΟΙΝΩΝΙΑ 154–159, bezieht bei prinzipiell gleicher pragmatischer Zielrichtung (»solidarity in faith«) die »Erkenntnis« auf »every salvific good which is operative in or among the believers in Philemon’s assembly« (kursiv im Original). 171 Insgesamt entspricht das genau dem von Paulus »reformierten« Reziprozitätsprozess (vgl. 3). Vgl. auch Explikation des Textes durch F G vgcl: παντὸς ἔργου ἀγαθοῦ. Nordling 209 übersetzt ἐπίγνωσις zu voreilig mit »realisation«. 166
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von; (4) dadurch stellt sich bei ihm selbst Freude und Trost ein; (5) Paulus dankt Gott für Philemon bei seinen Gebetsgedenken – (6) mit dem Ziel der »Erkenntnis jedes Guten« seitens Philemons. Im Blick auf die Anordnung im Text des Proömiums ergibt sich Folgendes: Text
Plot
V. 4 5
V. 5a 3
V. 5b 1
PDF 4
V. 6 6
V. 7a 4
V. 7b 2
Dass bei der Anordnung der Gebetsbericht am Anfang steht, ist – abgesehen von der ungewöhnlichen Kopfstellung der Danksagung – der Gattung Proömium geschuldet (vgl. 2.). Auffällig jedoch ist, dass ausgerechnet der Endpunkt der Plotreihe, also das gewünschte Ziel des Gebets, die Erkenntnis jedes Guten seitens Philemons, im Zentrum steht (6) und die Konsequenz der bereits in Taten umgesetzten Liebe Philemons (Erquickung der Heiligen: 2) den Abschluss bildet. An dieser Komposition wird die Pragmatik des Proömiums sichtbar: Das Verhalten Philemons, das positive Auswirkungen hatte (V. 7b) und bereits weitererzählt worden ist (V. 5a), wird als Ausgangspunkt genutzt, um einen Impuls für ein analoges Verhalten in der Zukunft zu setzen (V. 6). So erklärt sich vielleicht auch, dass V. 6 grammatikalisch gesehen völlig aus dem Satzgefüge herausfällt (»elliptisch«):172 Nur »nach Ausdrücken der Besorgnis«173 kann ein mit ὅπως eingeleiteter Finalsatz stehen, nicht nach einem Verb des Dankens. V. 6 gibt also den In halt des Gebetes wieder, der gattungstypische Gebetsbericht kombiniert mit dem Erinnerungsmotiv dagegen den Modus. Anders gesagt: Jedes Mal, wenn Paulus bei seinen Gebeten ein Gedenken für Philemon einlegt, gipfelt seine Danksagung über dessen bereitwillige Erquickung der Heiligen darin, dass er Gott darum bittet, ihm auch in Zukunft entsprechende »Erkenntnis des Guten« zu schenken. Kurz: Mit einem scheinbaren grammatikalischen Fehler, geschickt in die Komposition verwoben, gelingt Paulus ein Schachzug. Er verpackt ein paränetisches Anliegen unter den Deckmantel des Dankens. 5. Performanz. Ab V. 4 wird Philemon alleine angesprochen, aber sowohl seine Mit-Moderatoren Apphia und Archippus als auch die Ekklesia, die sich in seinem Haus versammelt, hören zu. Und: Sie geraten durchaus nicht aus dem Blick. An einer Stelle schließt sich Paulus mit ihnen explizit zusammen: ἐν ἡμῖν (V. 6)174 – und zwar im Gegenüber zur Liebes-Aktivität Philemons. Auch bei den entsprechenden Komplimenten, die eigentlich in Das wird allenthalben festgestellt – und darüber gestritten, ob eine Fürbitte vorliegt (Stuhlmacher 33) oder nicht (Wolter 254). Müller 98 bezieht den Satzteil auf das Referat von Philemons Liebe und Glaube und sieht darin »Konsequenz und Bitte zugleich«. 173 BDR § 369. 174 Die von P61 a F G P bezeugte Lesart ἐν ὑμῖν lässt sich gegenüber ἐν ἡμῖν (A C D K L) als Anpassung an die im Kontext vorherrschenden Pronomina der 2. Person besser erklären als umgekehrt, vgl. Metzger, Commentary 657; anders Barclay, ΚΟΙΝΩΝΙΑ 155. 172
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Richtung Philemon gehen, werden die Zuhörer involviert: Denn sie repräsentieren »alle Heilige« (V. 5b); nur sie wissen, was mit »deiner Liebe« (V. 7a) präzise gemeint ist; und sie bekommen einen Spiegel vorgehalten, wenn Paulus referiert, sie seien durch Philemons »Liebe« emotional erquickt worden (V. 7b). Der Dank des Paulus, der narrativ die Vorgeschichte in Erinnerung ruft, provoziert also erneut die dankbare Anerkennung der zuhörenden Gemeinde – und verstärkt dadurch die Erwartungshaltung bezüglich des vorsichtig in V. 6 angedeuteten Ausblicks auf die Zukunft. In Anlehnung an die von Simmel herausgearbeiteten Grundkonstellationen eines Drei-Gruppen-Prozesses175 könnte man sagen: Paulus gestaltet sein Proömium nach dem Motto lauda coram publico et postula, quod vis! Im Spielraum der formula valetudinis, die ab dem 2. Jh. v.Chr. in der Brief- Erklärung konvention als Gebetsbericht formuliert wird,176 schreibt Paulus an der entsprechenden Stelle seines Briefes (paraphrasiert): »Mir geht es gut, weil ich erfahren habe, dass es den Heiligen gut geht, und zwar nachdem du, Philemon, ihnen einen Erweis deiner Liebe gezeigt hast, wie sie dem Glauben an den Herrn Jesus korrespondiert – und deshalb danke ich Gott bei jedem177 meiner Gebete, damit er dir hilft, auch weiterhin zu erkennen, was du Gutes tun kannst.« Betont setzt Paulus, wie in seinen Proömien üblich,178 εὐχαριστῶ τῷ θεῷ μου 4 an den Anfang der langen Satzpassage, die bis V. 6 reicht. Hinsichtlich des konkreten Vollzugs eines solchen Gebetsgedenkens kommt für einen Griechen oder Römer eine rituelle Verehrungsgeste, etwa vor einer Götterstatue, infrage,179 für den Diasporajuden Paulus ist dagegen eher an die Verrichtung der täglichen Gebetszeiten zu denken (vgl. Dan 6,11;180 Apg 10,9.30181). Auf mündlichem Weg (ἀκούων) ist Paulus von der Liebe Philemons gegen- 5 über den Heiligen und seinem Glauben an den Herrn Jesus erzählt worden. Wer ist der Informant? Als erste Option wird gewöhnlich Epaphras genannt.182 Nachdem er sich gemäß V. 23 zusammen mit Paulus im Gefängnis befindet, müsste er jedoch später als Paulus arretiert worden sein, um die 175 Gemäß seinen Grundmodellen bahnt sich eine divide et impera-Formation an; vgl. Simmel, Schriften 114–124. Vgl. die entsprechende Anwendung auf den Philemonbrief bei Oestreich, Performanzkritik 115–118; leider geht Oestreich auf das Proömium nicht ein. 176 Vgl. Koskenniemi, Studien 134–137. 177 Diese Betonung stellt Wolter 251f. heraus. 178 Röm 1,8; 1Kor 1,4; Phil 1,3; 1Thess 1,2; vgl. die Eulogie in 2Kor 1,3. 179 Die προσκύνημα-Formel als mögliche Fortsetzung des Gebetsberichtes (ab 1. Jh. n.Chr.) veranschaulicht das aufs Beste; vgl. Koskenniemi, Studien 139–142. 180 Hier ist ausdrücklich vom dreimaligen Niederfallen auf das Angesicht die Rede. 181 Sechste bzw. neunte Stunde. 182 Mit zweiter Option für Onesimus: Reinmuth 29; Nordling 198f.; Wengst 53; Bruce 208; Onesimus geben den Vorzug: Baumert, Freundesbrief 152; Dunn 317: »One of Paul’s chief informants«.
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Liebestat Philemons als Neuigkeit übermittelt haben zu können. Deswegen kommt eher Onesimus infrage. Er hat Paulus im Gefängnis besucht (s. unten V. 10). Verbunden mit einem Kompliment an Philemon kann auf diesem Weg zugleich ein Pluspunkt für Onesimus verbucht werden. Mit den »Heiligen« sind die Christgläubigen gemeint. Während die Selbstbezeichnung »Ekklesia« aus der politischen Sphäre stammt und die aktive Wahrnehmung der Bürgerrechte der Getauften betont, bezieht sich »Heilige« auf den kultischen Bereich. Damit ist alles in dieser Welt gemeint, was Gott gehört bzw. von ihm in Beschlag genommen worden ist; alles, was seinen Machtbereich in dieser Welt repräsentiert und demonstrativ vor Augen stellt. Dazu gehören auch Personen: das Volk Israel insgesamt (Lev 19,2; Dtn 7,6) genauso wie von Gott speziell »geheiligte« Menschen, Einzelpersonen (z.B. Elischa: 2Kön 4,9) oder Kollektive (z.B. die Priester am Tempel183: Ex 29,1.44; Lev 8,30) – oder eben die Getauften, die sich in diese Reihe stellen.184 Dass die Liebe, dem Glauben vorgeordnet, an erster Stelle genannt wird, ist bei Paulus singulär. Ist sie doch – theologisch betrachtet – die eigentlich nachgeordnete Größe, die den Glauben, durch den die christliche Identität begründet und in der Taufe rituell besiegelt wird, im Verhältnis zu den Mitmenschen realisiert und in konkrete Taten umsetzt. Die ungewöhnliche Voranstellung zeigt: Dieser Aspekt ist hier tonangebend (vgl. V. 9.16). Wie dem internen Kommentar zur Sache in V. 7 zu entnehmen ist, sind »die Eingeweide der Heiligen« durch »die Liebe« Philemons »erquickt worden / zur Ruhe gekommen«. Die Ausleger denken vor allem an die Mittel, die Philemon für die Versammlungen der Hausgemeinde bereitgestellt hat, also für den Aufwand beim Herrenmahltreffen.185 Das wird durch die Semantik des Verbs ἀναπαύομαι insofern unterstützt, als die Nuance »von Zeit zu Zeit« Halt bzw. Rast machen mitschwingt, insbesondere im Blick auf das Militär.186 Nun steht dieses Verb in V. 7b im Perfekt. Und das verweist darauf, dass eine bestimmte Handlung in der Vergangenheit im Blick ist, deren Auswirkung bis in die Gegenwart reicht, also eine Aktion Philemons mit positivem Fortsetzungseffekt. Die Vermutung legt sich nahe, dass Philemon sein Haus für eine weitere subsidiäre Hausgemeinde geöffnet hat. Dadurch erweist er »allen Heiligen«, also zumindest der Gesamt-Ekklesia der betref Als Bezeichnung für den Tempel verwendet LXX τὸ ἅγιον, nicht das hellenistisch gebräuchliche τὸ ἱερόν; vgl. Stettler, Heiligung 59. 184 Zu Recht betont Wengst 54, dass der Begriff »nicht im Sinne der Ersetzung verstanden werden« darf; vgl. dagegen Gnilka 36. Grundlegend: Trebilco, Self-Designations 122–163; vgl. Schmidt, Eschaton 337–345; Stettler, Heiligung. 185 Vgl. Rapske, Prisoner 202; dagegen ist die Unterstützung durchreisender Boten (vgl. V. 22), auf die Reinmuth 28; Müller 97, zusätzlich hinweisen, wohl für die Betroffenen, nicht aber unbedingt für alle Gemeindemitglieder eine derartige emotionale Erquickung. 186 Vgl. Xen. Kyr. 7,1,4; App. Mithr. 45; Arr. an. 3,7,6; Barth/Blanke 482 verweisen darauf, dass ἀναπαύω in LXX die Sabbatruhe umschreibt: Lev 25,2; Dtn 5,14 (καταπαύω in Gen 2,2; Ex 20,11). Clarke, Hearts, möchte ausgehend von 1Kor 16,17 folgende Nuancierung bei Paulus heraushören: »a positive Christian action which is highly recommended by the apostle and could cross traditional social barriers« (277). Die Präposition ἀνά bringt bei verba composita gewöhnlich die Assoziation der Wiederholung ein. 183
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fenden Stadt, einen Liebesdienst, weil durch seine Gastfreundschaft Platzmangel behoben und ein angenehmeres Ambiente für die Getauften, die sich jetzt in seinem Haus versammeln, geschaffen werden kann. Ist diese Vermutung richtig, dann besteht der Liebeserweis Philemons, von dem Paulus hört, in dieser Filialgründung – und das vorliegende Schreiben ist der erste Brief an die neue Hausgemeinde. Im finalen ὅπως-Satz nennt Paulus das Ziel seiner Gebete,187 schaut also in 6 die Zukunft. Dabei nimmt er Spezifizierungen vor: sowohl im Blick auf die beiden Leitworte ἀγάπη und πίστις von V. 5 als auch deren Beziehung zueinander (ἐνεργεῖν). (a) Paulus spricht von der κοινωνία188 des Glaubens. Die klassisch gewordene Definition von J. Hainz: »Gemeinschaft (mit jemandem) durch (gemeinsame) Teilhabe (an etwas)«189 kann durch den Gebrauch in dokumentarischen Papyri konkretisiert werden: κοινωνία bezeichnet eine meistens durch einen Vertrag geschlossene Genossenschaft zwischen Menschen. Sie bezieht sich auf ein gemeinsam organisiertes Projekt, eine Lebensgemeinschaft190 bzw. eine geschäftliche Beziehung – mit entsprechenden Verpflichtungen: die eheliche Treue zu halten genauso wie für eventuell aus dem Projekt erwachsene Schulden aufzukommen oder für Versäumnisse einzuspringen.191 Eine solche κοινωνία wird prinzipiell unter standesmäßig Gleichen geschlossen, also ein Heiratsvertrag nicht, wie üblich, zwischen Bräutigam und den Eltern der Braut, sondern direkt zwischen Braut und Bräutigam. Insofern wird die Linie der im Präskript genannten Epitheta συνεργός und συστρατιώτης aufgegriffen. Während Letztere die nach außen gerichtete Aktion im Blick haben, beleuchtet κοινωνία das Innenverhältnis. Paulus wendet diesen aus der Geschäftssprache stammenden Begriff auf das »Projekt Glaube« an.192 Philemon ist eingebunden in eine »Genossenschaft«, deren Projekt, der Glaube an den erhöhten Herrn Jesus und die dadurch entstandenen Glaubensgemeinschaften,193 ihn allerdings auch in die Pflicht Über προσευχαί (V. 5b), das auch den Sinn von »Bitten« hat (vgl. Dan 9,18–20), kann der ὅπως-Satz an einen Ausdruck »der Besorgnis« (vgl. BDR § 369) angebunden werden; vgl. Riesenfeld, Faith 252. 188 Diesen Begriff hat vermutlich Paulus in das frühchristliche Vokabular eingebracht: In LXX findet er sich nur drei Mal (Lev 5,21; 3Makk 4,6; Weish 8,18); von den 19 Einträgen im Neuen Testament stehen 13 in authentischen Paulusbriefen. 189 EWNT II 751. 190 Βίου bzw. γάμου κοινωνία. 191 Vgl. dazu Arzt-Grabner 183–185.226–229; vgl. Ogereau, κοινωνία; ders., Koinonia, der aufgrund umfassender Untersuchungen der dokumentarischen Quellen zu folgendem Fazit kommt: »working partnership« (218) im Blick auf ein bestimmtes Projekt, das meistens im Genitiv genannt wird. 192 Analog zu βίου bzw. γάμου κοινωνία wird auch bei Paulus das Projekt im Genitiv (τῆς πίστεως) genannt. Das Personalpronomen σου bezieht sich auf diese Genitivkonstruktion und sollte deshalb nicht im Sinn der »Teilhabe anderer an ›deinem Glauben‹« gepresst werden; so aber Reinmuth 30; Fitzmyer 97f. 193 Weil in der vorliegenden Wortkombination πίστις im Genitiv das gemeinsame Projekt bezeichnet, kann damit nicht sogleich die Haltung gemeint sein, πίστις also im Sinn von »Treue« verstanden werden, aufgrund derer man für ein solches Projekt vertrauens187
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nimmt. (b) Mit ἐνεργής greift Paulus auf einen Terminus aus der rhetorischen Tradition zurück.194 Quintilian spricht von der Anschaulichkeit (evi dentia), »die auf griechisch ἐνάργεια heißt« (inst. 4,2,63).195 Im Kern geht es darum, etwas, was nicht sichtbar ist, durch ein anderes Medium sichtbar werden zu lassen.196 Im paulinischen Schrifttum betrifft das die Charismen, die Gottes Geist evident machen (1Kor 12,4–7.11), genauso wie die Leidenschaften, die in den Taten der Glieder des Körpers manifest werden (Röm 7,5). Gemäß Gal 5,6 wird Glaube durch Liebe evident (πίστις δι᾿ ἀγάπης ἐνεργουμένη), also im – zum Sklavendienst bereiten – Verhalten gegenüber den anderen, wie Gal 5,13 kommentiert: διὰ τῆς ἀγάπης δουλεύετε ἄλλήλοις. V. 5f. greifen genau diese Konzeption auf. (c) V. 6 jedoch spezifiziert ἀγάπη durch ἐπίγνωσις παντὸς ἀγαθοῦ τοῦ ἐν ἡμῖν. Die Vorstufe zur Tat wird in den Blick genommen. Dabei geht es nicht um die erkenntnistheoretische Spekulation über das Gute schlechthin, wie es griechischer Philosophie entsprechen würde, sondern, biblisch verstanden, um die Erkenntnis des konkret von Gott Gewollten, also ein dem Willen Gottes gemäßes Handeln und zwar im Raum der Gläubigen (ἐν ἡμῖν) – ausgerichtet auf Christus (εἰς Χριστόν), was als Kurzformel für das Glaubensprojekt erscheint. Die konkreten Handlungsfelder sollen wahrgenommen werden, in denen sich Glaube, eine geistige Größe, in aktiver Liebe zeigen kann. Dann wird Glaube sichtbar. Wenn Paulus auffälligerweise von »jedem Guten« (παντὸς ἀγαθοῦ) spricht, das von Philemon erkannt werden möge, bleibt ihm also noch Handlungsspielraum offen, den es jedoch zu entdecken gilt. Der Brief selbst wird eine Nachhilfe zur Erkenntnisgewinnung geben. 7 V. 7 spricht von Emotionen, die sich aufgrund des bereits geschehenen Liebeserweises Philemons eingestellt haben: Freude (und Trost) bei Paulus (V. 7a), Erquickung der Eingeweide, Sitz der Gefühle,197 bei den »Heiligen«, also der Gemeinde im Haus Philemons (V. 7b). Zeitlich geht diese Gefühlsaufhellung der des Paulus voraus, logisch ist sie der Grund dafür. Anders gesagt: Paulus spricht zwar direkt und im gesamten Proömium nur zu Philemon, nennt ihn abschließend sogar zum ersten Mal »Bruder«, bekundet aber gleichzeitig seine Solidarität mit den Gefühlen der jetzt nur noch zuhörenden Gemeinde. Während bei »den Heiligen« ein bis in die Gegenwart andauernder Effekt ausgelöst wurde (Perfekt: ἀναπέπαυται), hat die Nachricht von Philemons Guttat bei Paulus lediglich einen Momentaneffekt erreicht (Aorist: ἔσχον). Paulus bittet ja in seinen Gebeten darum, dass Philemon zur würdig erscheint; so aber Arzt-Grabner 178–180 – trotz der anschließenden Informationen zur κοινωνία. 194 Vgl. Heath, Presences. 195 Vgl. auch die folgenden §§ 64f. sowie 8,3,70f. (manifestus). 196 In der Rhetorik z.B. durch die Schilderung von bestimmten Einzelheiten, in der Kunst durch entsprechende Darstellung usw. 197 Vgl. Köster, ThWNT 7, 548f.555f.
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Erkenntnis weiterer Handlungsfelder kommen möge. Und auch diesbezüglich hat er bereits signalisiert, auf welcher Seite er gefühlsmäßig steht: ἐν ἡμῖν (V. 6). Er positioniert sich auf der Empfängerseite. Im Zentrum seines als Dank stilisierten Gebetsberichtes erzählt Paulus von Zusammender Bitte, die er immer gleichzeitig mit dem Dank an Gott ventiliert: dass fassung und Philemon weitere Erkenntnis von Liebeserweisen für die Glaubenden ge- Ausblick schenkt werden möge (V. 6). In der Diktion bleibt das Proömium äußerst abstrakt in theologischer Begrifflichkeit hängen. Von Liebe und Glaube, von Erkenntnis und vom Guten ist die Rede. Von Auslegern werden die »unverbindlich frommen Floskeln«198 gelegentlich kritisiert. Zutreffend ist das für das geschriebene, nicht für das gehörte Wort. Denn den Anwesenden steht bei der »Liebe zu allen Heiligen« ein ganz konkretes Ereignis vor Augen, dessen emotionalen Eindruck Paulus erneut hochkommen lässt (V. 7b). Es ist also umgekehrt: Eine scheinbare Alltagsbanalität – ein reicher Hausherr gibt sich die Ehre, sein Haus zur Verfügung zu stellen und einmal in der Woche eine größere Anzahl von Gästen zum gemeinsamen Mahl einzuladen – wird mit zentralen theologischen Begrifflichkeiten überblendet: als Glaube, der sich durch Liebe realisiert. Damit ist zugleich der Horizont aufgespannt, vor dem zur Erkenntnis einer analogen Guttat geführt werden soll. Das zukünftige corpus caritatis, das Paulus im Blick hat, ist bereits im Raum anwesend: Onesimus als Überbringer des Briefes. Und ohne dass bisher sein Name gefallen ist, war von ihm schon die Rede: als Informant des Paulus. Er hat ihm von der Guttat Philemons erzählt (V. 5a). Anders gesagt: Der Sklave hat seinen Herrn bei Paulus gelobt. Bereits im Subtext des Proömiums werden damit die Gedanken und die Augen der Zuhörer auf Onesimus gerichtet, der von Paulus als der eigentliche Impulsgeber dafür herausgestellt wird, in seinem Brief von seinem Gebetsgedenken für Philemon vor versammelter Mannschaft zu erzählen. Einen besseren Ausgangspunkt für die explizite Briefbitte im Briefkorpus könnte es nicht geben.
198 Ernst 131 (im Blick auf εἰς Χριστόν); Gnilka 37; Referat bei Müller 100 Anm. 104; angemessener urteilt Reinmuth 29 Anm. 194: »narrative Abbreviatur«.
B Briefkorpus (V. 8–19)
Analyse 1. Gliederung. Für die Gliederung des Briefkorpus werden die verschiedensten Vorschläge gemacht. Weil keine eindeutigen Textmarker vorliegen, fallen die Gliederungen je nach den Kriterien der Ausleger eher großräumig (Orientierung am Argumentationsgang1 bzw. an rhetorischen Gesichtspunkten2) oder eher kleinteilig (Orientierung an den Motiven3 bzw. der Personenkonstellation4) aus, stimmen aber auch innerhalb der einzelnen Klassifizierungen kaum überein. Zudem können die Kriterien kombiniert werden. Teilweise werden die Abgrenzungen durch Beobachtungen zur Syntax (V. 8: διό; V. 17: οὖν; in V. 8–16 fehlen Imperative, sie prägen jedoch V. 17–20)5 bzw. zur Komposition (inclusio in V. 8/14)6 unterstützt. Ich schlage eine Gliederung vor, die eine semantische Auffälligkeit des Briefkorpus zum Ausgangspunkt nimmt, die sich auch im Blick auf den Inhalt als heuristisch erweist: Viermal kommt im Korpus das Verb ἔχειν bzw. ein davon gebildetes Kompositum vor.7 Folgende Gedankenschritte lassen sich damit voneinander abheben: In V. 8b wird mit dem Partizip ἔχων die Wahl des Kommunikationsmodus (Befehl bzw. Bitte) zwischen Paulus und Philemon erwogen und schließlich der Briefbetreff vorgetragen (V. 9a.10a): Es geht um Onesimus, den Paulus im Gefängnis als »Kind« »geboren« hat. Die weiteren drei Vorkommnisse markieren jeweils den Einsatz einer je unterschiedlichen Rollenkonstruktion für Onesimus: (1) In V. 13a wird mit κατέχειν die von Paulus verworfene Option (ἐβουλόμην) thematisiert, Onesimus als Diakonos8 bei sich zu behalten. Diese Rolle hätte Onesimus stellvertretend für Philemon einnehmen sollen (V. 13b); sie betrifft die Vergangenheit und ist unerfüllt geblieben. (2) Mit ἀπέχῃς im Finalsatz von V. 15 wird Dibelius 101 (V. 8–12.13f.15–20); Lohse 275f. und Stuhlmacher 36 (V. 8–12.13– 16.17–20); Moo 399 (V. 8–14.15f.17–20); Wengst 57 (V. 8–14.15–20). 2 Gnilka 8f. (V. 8–16 / argumentatio und V. 17–22 / Epilog). 3 Müller 41 (V. 7–9.10–13.14.15f.17.18f.20); Fitzmyer 103 (V. 8–10.11f.13f.15f.17–20); Aasgaard, Brothers 243 (V. 8f.10–12.13f.15f.17–19.20). 4 Wolter (V. 8f.10–12.13f.15–17[19].20f.); dagegen Pao 380 (V. 8–16.17–20). 5 Vgl. z.B. Pao 380. 6 Vgl. Moo 399. 7 Auch Zmijewski, Beobachtungen 280, hat diese Beobachtung gemacht, sie aber für die Gliederung nicht ausgewertet. Allerdings kommt er, mit anderen Begründungen, zum gleichen Ergebnis – mit dem einen Unterschied, dass er V. 20 noch zum Korpus hinzunimmt. 8 Im Text verbal formuliert. 1
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negativ (V. 15b–16a) und positiv (V. 16b–f ) die Rollenoption für Onesimus umrissen, wie sie aus göttlicher Perspektive beabsichtigt ist (V. 15a) – und zwar im Verhältnis zu dessen Herrn Philemon. Das betrifft die gegenwärtige Situation beim Verlesen des Briefes: Philemon soll Onesimus als »geliebten Bruder« (V. 16c) in Empfang nehmen. Paulus seinerseits hat dieses Beziehungsverhältnis bereits ratifiziert (V. 16d). (3) Im Konditionalsatz von V. 17a nimmt ἔχεις die Geschäftspartnerschaft zwischen Paulus und Philemon in den Blick. Sofern Philemon zu dieser Beziehung steht und sie weiterführen möchte, wird er aufgefordert, Onesimus als Partner hinzuzunehmen – und zwar ὡς ἐμέ – als wäre er Paulus. Damit wird auf die Zukunft ausgegriffen. Will Philemon weiterhin Paulus als κοινωνός haben, muss er Onesimus – PDF 5 (S. 69) wie Paulus – als κοινωνός akzeptieren. Somit ergibt sich für den Aufbau des Briefkorpus: V. 8–12 PAULUS als Bittsteller gegenüber Philemon PDF 5 (S. 69) und der Anlass der Petition: Der Briefbetreff sein im Gefängnis geborenes Kind ONESIMUS V. 8–12 PAULUS als Bittsteller gegenüber Philemon und der Anlass der Petition: sein im Gefängnis geborenes Kind ONESIMUS PDF 6 (S. 69) Rollenkonstruktionen für (den neuen) Onesimus V. 13f.6 (S. 69) Die zurückgestellte Option des PAULUS (ἐβουλόμην κατέχειν): PDF ONESIMUS als Diakonos der Evangeliumsverkündigung – Stellvertreter für PHILEMON Vergangenheit (ἵνα …(ἐβουλόμην ἀπέχῃς): κατέχειν): V. 15f. Der göttliche Plan für ONESIMUS 13f. Die zurückgestellte Option des PAULUS ONESIMUS HILEMON NESIMUS als Adelphos Diakonosfür derPEvangeliumsverkündigung – von PAULUSfür bereits ratifiziert Gegenwart Stellvertreter PHILEMON Vergangenheit V. 17–19 P HILEMON Entscheidung (εἰ … (ἔχεις ) und die ): 15f. Der göttliche sPlan für ONESIMUS ἵνα … ἀπέχῃς Konsequenz: alsPsein Koinonos ONESIMUS O alsNESIMUS Adelphos für HILEMON – Stellvertreter für P AULUS Zukunft von PAULUS bereits ratifiziert Gegenwart V. 17–19 PHILEMONs Entscheidung (εἰ … ἔχεις) und die Konsequenz: NESIMUS als sein Koinonos 2. Semantische Linien9Oals Konkretisierung der Leitworte. Prägende Leit– Stellvertreter für PAULUS Zukunft
worte, die im Proömium positiv aufgeladen wurden, aber – zumindest auf der schriftlichen Ebene – abstrakt geblieben sind, werden im Korpus erneut aufgegriffen und im Blick auf die Beziehung zu Onesimus konkretisiert. In V. 5.7 wurde die »Liebe« Philemons gelobt, die er den Heiligen erwiesen hat. Im Korpus bittet Paulus ihn »wegen der Liebe« (V. 9: διὰ τὴν ἀγάπην) – allerdings betreffs Onesimus! Wurden gemäß V. 7 durch die Liebestat Philemons die σπλάγχνα der Heiligen nachhaltig erquickt, so identifiziert Paulus im Briefkorpus seine eigenen Eingeweide mit der Person des Onesimus (V. 12b): Was mit Onesimus geschieht, betrifft ihn selbst am Nerv der Gefühle. Die versteckte Fürbitte für Philemon im Proömium um Erkenntnis des 9 Die Stichworte werden schematisch zusammengestellt von Gnilka 9.40; Bauer, Paulus 119f.127.
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Guten (V. 6) greift Paulus im Korpus konsequent auf, aber angewandt auf Onesimus: Das Gute – betreffs Onesimus – möchte er weder befehlen (V. 8c) noch ohne Einverständnis Philemons Tatsachen setzen (V. 14). Mit dem Inhalt seiner Bitte an Philemon, Onesimus als ἀδελφὸς ἀγαπητός aufzunehmen (V. 16c), rekurriert Paulus zum einen genau auf dasjenige Epitheton, das im Präskript allein Philemon vorbehalten war (V. 1f ), zum anderen auf die Bruderanrede, die im Präskript für Philemon ausgespart blieb und erst im Zusammenhang mit seiner Guttat an der Gemeinde am Ende des Proömiums zum Einsatz kam (V. 7c). Die Glaubensteilhaberschaft (κοινωνία), von der im Proömium die Rede war (V. 6), wird im Briefkorpus auf die Beziehung Paulus – Philemon fokussiert (V. 17a: κοινωνός) und von dieser Basis aus – sofern sie tatsächlich besteht – die Hinzunahme des Onesimus gefordert (V. 17b). 1 Der Bittsteller und sein Betreff (V. 8–12) 8a Deswegen, b obwohl ich in Christus viel Freimut habe, c dir anzuordnen, was deine Pflicht ist, 9a bitte ich vielmehr der Liebe wegen, b als ein solcher, der ich bin: c als Paulus, d ein alter Mann, e jetzt aber sogar Gefesselter wegen Christus Jesus, 10a bitte ich dich in Bezug auf mein Kind, b den (!) ich in den Fesseln geboren habe, c Onesimus, 11a den einst für dich Unbrauchbaren, b jetzt aber für dich und für mich Wohlbrauchbaren, 12a den ich dir zurückgeschickt habe, b ihn, d.h. meine eigenen Eingeweide. Analyse 1. Syntax. Die ganze Passage V. 8–12 besteht aus einem einzigen Satz.10 Der eigentliche Hauptsatz lautet: διό (V. 8a) … παρακαλῶ σε περὶ τοῦ ἐμοῦ τέκνου (V. 10a). Er wird dadurch zerdehnt, dass das Hauptverb, das bereits in V. 9a zu lesen ist (παρακαλῶ) und dort seinerseits von einer Partizipialkonstruktion in V. 8bc (ἔχων) und von einer Parenthese in V. 9b–e (τοιοῦτος ὤν) flankiert wird, in V. 10a erneut aufgegriffen und erst hier fortgeführt wird. Inhaltlich betreffen die Satzglieder, die dem vollständigen Hauptsatz in V. 10a vorangestellt sind, die Beziehung zwischen Paulus und Philemon, die folgenden (V. 10b–12b) dagegen »das Kind«: Letztere sind syntaktisch betrachtet Relativ10 Moo 400 lässt – um seiner Gliederung willen? – den Satz bis V. 13 reichen und übergeht dabei das neue Hauptverb ἐβουλόμην in V. 13a.
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sätze (ὅν) bzw. mit Artikel oder Personalpronomen gebildete Appositionen (τόν/αὐτόν). Dabei liegt eine constructio ad sensum11 vor: Anstatt das Neutrum von τέκνον aufzugreifen, zeigen alle Pronomina maskuline Formen – natürlich auf den Namen Onesimus bezogen. Seinerseits steht der Name, eigentlich Apposition zu τέκνου in V. 10a, nicht analog dazu im Genitiv, sondern – angeglichen an die Pronomenreihe – ebenfalls im Akkusativ. Auf diese Weise ergibt sich eine Kaskade von Erläuterungen zum »Kind« des Paulus. 8a διό
Paulus – 8bc ἔχων Philemon 9a 7 – Für παρακαλῶ PDF mich, V.H.: 9b–e statt 9c beachten 9b–e τοιοῦτος ὤν
παρακαλῶ σε περὶ τοῦ ἐμοῦ τέκνου
10a 10b ὅν
10c Ὀνήσιμον
11ab τόν Onesimus 12a ὅν
12b αὐτόν
2. Epistolographie. Die Formulierung des Hauptsatzes in V. 8a.10a entspricht einer der typischen Einleitungsformeln für das Briefkorpus, der sogenannten Petitionsformel.12 Dabei wird der Inhalt der Bitte entweder durch einen ἵνα-Satz eingeleitet oder durch die Präposition περί mit einem folgenden Genitiv.13 Sofern Personen gemeint sind, wird nicht »um« diese gebeten,14 sondern »in Bezug« auf sie bzw. »in Sachen«15 der betreffenden Person. Der eigentliche Sachbezug der Bitte folgt.16 Gemäß den Briefkonventionen dürfte dann das paulinische παρακαλῶ σε περί analog zu verstehen sein. Es gibt den Betreff der Bitte an. In V. 8–10 sind diverse Strukturelemente und Motive erkennbar, wie sie für Empfehlungsbriefe typisch sind17: Dazu gehört die Vorstellung des Emp BDR § 296,3. Vgl. White, Formulae 93: Konjunktion – Verb des Bittens – Anrede der Adressaten durch Vokativ (diese Adressatenanrede fehlt bei Paulus) – Inhalt der Bitte. 13 Vgl. White, Analysis 23: περί führt »the content of request« ein. 14 So aber Knox, Philemon 4f.: Paulus würde sozusagen um Onesimus als ein Geschenk für sich bitten. Aufgenommen von Winter, Letter; Baumert, Freundesbrief 141f. Programmatisch hat Arzt-Grabner, Bitten, widersprochen (Forschungsgeschichte und Textbelege, z.B. App. Lib. 136; P.Oxy. 1070). Aus inhaltlichen Gründen (Paulus und Philemon verfügen über Onesimus in »joint ownership«) jedoch erneut postuliert von Roth, Paul 114. 15 Vgl. Köhler, EWNT III 170: »Bezeichnung des Bezuges und der Hinsicht«. 16 Bereits Bjerkelund, PARAKALÔ 120f., hat auf P.Tebt. 408,5f. hingewiesen: παρακαλῶ σε περὶ υἱῶν σου gibt die Personen an, um die es geht; die eigentliche Bitte folgt: μὴ ἐᾶσαι … In der Musterbriefsammlung des Pseudo-Demetrius (Endredaktion 3. Jh. n.Chr.) wird der Betreff speziell beim Empfehlungsbrief mit der Präposition ὑπέρ angegeben: ὃν ὑπὲρ ἄλλου πρὸς ἄλλον γράφομεν (3,16f. Weichert). 17 Zu Form und Motiven des Empfehlungsbriefes vgl. Keyes, Letter; Kim, Form; Buzón, Briefe 46–86. 11 12
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fohlenen durch Namensnennung (vgl. V. 10c). Zu dessen Identifizierung wird beigefügt, dass er den Brief selbst überbringt bzw. vom Briefschreiber geschickt wird. Als ein »mehr oder weniger feste[r] Ausdruck«18 findet sich eine Form von ἀποστέλλω bzw. πέμπω (vgl. dazu ἀνέπεμψα in V. 12a im epistolaren Aorist19). Gewöhnlich folgen Credentials für den Empfohlenen; dabei steht die Beziehung zum Briefschreiber an erster Stelle; es wird auf den Verwandschaftsgrad (μου ἀδελφός;20 vgl. V. 10a), auf Freundschaft oder Geschäftsbekanntschaft hingewiesen. Um seiner Nähe zum Empfohlenen besonderen Ausdruck zu verleihen, kann sich der Briefschreiber sogar mit ihm identifizieren (vgl. V. 12b).21 Grammatikalisch können diese Glaubwürdigkeitsbelege durch betont vorangestellte Artikel oder Pronomina katalog artig aneinandergereiht werden (vgl. V. 10b–12b).22 Nach der eigentlichen Bitte, die entweder mit einer Höflichkeitsformel vorbereitet23 oder ohne Umschweife mit διὸ παρακαλῶ24 eingeleitet wird (vgl. V. 10a), kann eine Rechtfertigung der Petition folgen, etwa der Hinweis, dass der Empfohlene keinerlei Erfahrung hat und deshalb der Unterstützung bedarf oder dass er sich dem Adressaten gegenüber als nützlich erweisen könnte,25 genauso wie er das gegenüber dem Briefschreiber getan hat (vgl. V. 11). 26 Gerade wegen der deutlichen Anklänge an Elemente des Empfehlungsbriefs fällt auf, was in V. 8–12 anders ist: (1) Im Beziehungsdreieck Briefschreiber – Empfohlener – Empfänger ist der Empfohlene normalerweise dem Empfänger unbekannt; deshalb muss er vorgestellt, identifiziert und mit Glaubwürdigkeitsbelegen ausgestattet werden. Onesimus jedoch ist Philemon bestens bekannt! Allerdings nicht als neugeborenes Kind (V. 10a). Paulus stellt also Philemon einen »neuen« Onesimus vor.27 (2) Normalerweise steht an erster Position die Namensnennung des Empfohlenen samt entsprechenden Credentials. Das ist die Basis für die Bitte um dessen freundliche Aufnahme. Paulus stellt in V. 8–12 die Abfolge auf den Kopf und einen anderen Bezug her: Die Bitte, bei Paulus in erster Position, rekurriert (διό) 18 Buzón, Briefe 56, mit Verweis auf die Briefe 3; 9; 12; 20; 39; 51; zu ἀναπέμπω vgl. SB V 8005,6f.; dazu vgl. Kim, Form 60; Arzt-Grabner 61. 19 Vgl. BDR § 334. 20 P.Oxy. II 292,4; weitere Beispiele bei Buzón, Briefe 54–56. 21 Vgl. P.Oslo II 55,9f. (τοῦτον ὑποδεξάμενος ὡς ἂν ἐμέ); P.Oxy. 32,8 (ut eum ante oculos habeas tamquam me); vgl. Bjerkelund, PARAKALÔ 52; Arzt-Grabner 61 Anm. 15; gewöhnlich mit der Bitte um Aufnahme verbunden; vgl. V. 17b. 22 Vgl. zu dieser Beobachtung schon Bjerkelund, PARAKALÔ 121f. (mit Verweis auf P.Oslo II 55: Θέωνα – τὸν – τὸν – τοῦτον). 23 Z.B. durch καλῶς ἂν οὖν ποιήσαις; vgl. Kim, Form 61–77; Buzón, Briefe 59–64. 24 Vgl. P.Oxy. II 292,5: διὸ παρακαλῶ σε; vgl. BGU VIII 1871,6; vgl. Bjerkelund, PARAKALÔ 52; vgl. BGU II 665,2,11; P.Stras. V 334b,5f.; vgl. Arzt-Grabner 201. 25 Vgl. PSI V 520,11 (χρείας παρεσχημένος); BGU VIII 1871,8f. (ἔστιν ὢν ὁ ἄνθρωπος πραγματικός); vgl. Buzón, Briefe 65f. 26 Vgl. P.Oxy. IV 743,34f. (ὑπέρ σου οὕτως ὡς ὑπέρ μου); dazu Arzt-Grabner 60; vgl. auch den Muster-Empfehlungsbrief des Pseudo-Demetrius, der gerade auch den Nutzen für den Briefempfänger besonders herausstellt (3,21–4,4 Weichert). 27 Das wird bestens herausgearbeitet von Wolter 262.
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auf das Proömium, näherhin auf die dort zweimal hervorgehobene »Liebe Philemons«, auf die in V. 9a direkt Bezug genommen wird:28 διὰ τὴν ἀγάπην. Bei Paulus ist also weder seine Beziehung zu Onesimus noch dessen Vertrauenswürdigkeit Basis für die Bitte, sondern umgekehrt die Glaubwürdigkeit Philemons selbst, dessen Glaubensteilhaberschaft in seiner Guttat evident geworden ist (V. 5–7). Der Empfänger selbst hat also durch sein Verhalten den Grund dafür gelegt, dass Paulus ihm Onesimus empfehlen kann. 3. Performanz. Der schriftlich vorliegende Text identifiziert erst mit ὃν ἀνέπεμψά σοι in V. 12a im Kontext weiterer Motive aus dem Empfehlungsbrief Onesimus als Überbringer des paulinischen Schreibens. Im Unterschied zu heutigen Lesern wussten die Hörer der Live-Situation das aber von Anfang an. Insofern mussten alle darauf warten, dass Paulus mit der Petitionsformel in V. 9a, die nach einer Parenthese in V. 10 aufgenommen und weitergeführt wird, endlich zur Sache kommt. Aber ausgerechnet an der Stelle, an der der Name des Onesimus fallen und die Bitte an Philemon ausgesprochen werden müsste, Onesimus (wieder) wohlwollend aufzunehmen, spricht Paulus weder den Namen des Briefüberbringers aus noch geht er auf seine offensichtlich belastete jüngste Vergangenheit ein – als fugitivus bzw. erro (s. oben S. 9–14) –, sondern stellt, in Familien- und Geburtsmetaphorik gehüllt (V. 10ab), einen neuen Menschen vor. Sozusagen »eine neue Schöpfung in Christus« (2Kor 5,17). Er heißt wie der allen bekannte Brief überbringer. Aber er hat eine neue Identität. Und in dieser neuen Identität als Christusgläubiger wird ihm auch eine ins positive Gegenteil umgeschlagene Qualität hinsichtlich seiner sozialen Kooperation bescheinigt (V. 11: ἄχρηστος/εὔχρηστος). Was als Petition (παρακαλῶ) begonnen und die Erwartung geweckt hat, dass sich Paulus bei Philemon für eine gute Behandlung des Onesimus einsetzt, entpuppt sich als Vorstellung und Empfehlung eines neuen Menschen. Der Altbekannte soll mit neuen Augen angesehen werden. Darum bittet Paulus. Außerdem wird Onesimus Repräsentationsfunktion zugeschrieben – und zwar im Blick auf den Briefschreiber höchstpersönlich: Paulus stellt Onesimus als sein Double vor, besser: als die Verkörperung seiner innersten Gefühle (V. 12b: τὰ ἐμὰ σπλάγχνα). Damit wird Paulus in der Situation der Briefverlesung doppelt präsent: durch die Stimme des Vorlesers und die Person des Onesimus. Wie sich Paulus am Ende des Proömiums in V. 7 emotional hinter die Gemeinde gestellt hat, so identifiziert er sich jetzt gefühlsmäßig mit Onesimus (V. 12b). In beiden Fällen ist das Leitwort σπλάγχνα zu hören. Die Gemeinde hat den Vorteil, dass ihre σπλάγχνα bereits »erquickt« worden sind: Als Ekklesia darf sie die Guttat Philemons schon genießen. Im Fall des 28 Für dieses kontextuelle Verständnis (im Gegenüber zu einem prinzipiellen: Lightfoot 335; Wickert, Philemonbrief 236; Lohse 198f.) hat sich O’Brien 289 stark gemacht – und zwar mit Verweis auf den Artikel vor ἀγάπη in V. 9 (»pointing to the love previously referred to«); so auch Wolter 259; Wengst 59; Dunn 326; Dibelius 104.
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Onesimus ist die Rechnung noch offen – und diesbezüglich sind die »Eingeweide« des Paulus selbst betroffen. Auf die Gruppensituation bezogen heißt das: Obwohl Paulus auch in V. 8–12 eigentlich nur mit Philemon spricht, wird über diesen Leitwort-Zusammenhang der σπλάγχνα die Gemeinde zur Solidarität mit Paulus stimuliert: Auch seine »Eingeweide« sollen erquickt werden. Und das bedeutet: Es gilt, sein Briefanliegen bezüglich Onesimus nach Kräften zu unterstützen. 4. Rhetorik. Im Vorbau zum Betreff der Briefbitte in V. 10a entfaltet Paulus eine gewisse rhetorische Rafinesse. Zwei rhetorische Figuren lassen sich feststellen: (1) Dass Paulus in V. 8bc zunächst das Vorgehen präzise beschreibt, das er gar nicht anwenden will (V. 9a), nämlich Philemon einen Befehl zu erteilen, diese Verneinung einer formulierten Absicht wird von antiken Rhetorikern als Antiphrasis bezeichnet und der Ironie zugerechnet.29 Dadurch, dass Paulus explizit formuliert, worauf er eigentlich verzichtet, nennt er den inhaltlichen Gegenhorizont, vor dem er sein eigenes Vorgehen bewertet wissen will. (2) In V. 9e wiederholt Paulus die gleiche Prädikation, die er bereits in der superscriptio für sich hat vernehmen lassen: δέσμιος Χριστοῦ Ἰησοῦ. Gemäß den Regeln der antiken Rhetorik hat eine solche wortgleiche Wiederholung (conduplicatio) »eine über die bloße Informationsfunktion hinausgehende affektisch-vereindringlichende Funktion«30. Erklärung Zwei ganz unterschiedliche Verhaltensweisen gegenüber Philemon stellt 8–9 Paulus vor Augen: den Befehl (ἐπιτάσσειν) und die höfliche Bitte (παρακαλεῖν). Letztere entspricht der Kommunikationsform unter Gleichen.31 Wer demgegenüber befehlen kann, ist in übergeordneter Machtposition: wie ein Herr gegenüber seinen Sklaven (vgl. Lk 14,22) oder ein König gegenüber seinen Untertanen (vgl. Mk 6,27). Die Macht des Befehls, von dem Paulus spricht, hat – wie schon die Wortstellung zeigt – seine Basis »in Christus«, ist fundiert durch den Sinnraum der Glaubenden. Hier ist Christus der κύριος. Paulus fungiert als sein Sprachrohr. Er verwendet dafür gewöhnlich Gesandten-Metaphorik, die sich im Titel ἀπόστολος bzw. in der Aktionsart des πρεσβεύειν (2Kor 5,20) niederschlägt. Paulus selbst befiehlt nie. Der Befehlshaber ist bei Paulus immer Christus (vgl. 1Kor 7,6.25; 2Kor 8,8). Aber Paulus kann in seinem Namen sprechen, sein Wort »als Befehl« weitergeben (vgl. 1Kor 7,10: παραγγέλλω, οὐκ ἐγὼ ἀλλ᾿ ὁ κύριος). Dazu braucht es παρρησία: den Mut, von Gleich zu Gleich auch unangenehme Weisungen, eben alles (πᾶν) zu sagen (ῥήμα), eine Haltung, 29 Vgl. Quint. inst. 9,2,47f. Verweis darauf bei Church, Structure 25f.; aufgegriffen von Gnilka 41 Anm. 6; vgl. Lausberg, Handbuch § 882–885. 30 Lausberg, Handbuch § 612; Verweis darauf bei Wolter 261. 31 Vgl. Bjerkelund, PARAKALÔ 59–74, der diese Kommunikationsstruktur nicht nur in Privatbriefen, sondern auch in Königsbriefen gegenüber freien Städten und umgekehrt sowie zwischen freien Städten untereinander feststellt.
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wie sie ursprünglich für die Gesprächskultur in der städtischen Bürgerversammlung/Ekklesia das Ideal darstellte.32 An den Stellen, an denen Paulus diesen Begriff sonst noch gebraucht, bezeichnet er die Haltung, in der er als Verkündiger/ἀπόστολος (vor dem Forum der Ekklesia) auftritt.33 Der Inhalt des Befehls wird mit τὸ ἀνῆκον angegeben. Das ist ebenfalls ein geprägter Begriff. In dokumentarischen Papyri wird damit (oft im Plural: τὰ ἀνήκοντα) der gesellschaftlich etablierte Verhaltenskodex in sozialen Beziehungen bezeichnet.34 Spezifisch geprägt ist der Begriff in der stoischen Philosophie: »Die καθήκοντα sind definiert als Handlungen nach Regeln (praecepta), die in den Sitten und Institutionen einer Sprach- und Handlungsgemeinschaft in Geltung stehen.«35 Insofern wird der ideale Philosophenschüler wissen wollen, »was das angemessene Verhalten (καθῆκον) gegenüber den Göttern, den Eltern, den Brüdern, dem Vaterland, den Fremden ist« (Epikt. 2,17,31). Im Sinnraum »in Christus« ist mit »dem, was sich (in sozialen Beziehungen) gehört«, an erster Stelle die Umsetzung von Gal 3,28 gemeint. Im Blick auf Philemon in seiner Beziehung zu Onesimus sind die Konsequenzen sehr einfach und könnten mit wenigen Worten angeordnet werden.36 Im Grunde wird hier über den Begriff τὸ ἀνῆκον bereits vorweggenommen, was dann in V. 16 expliziert wird: den Sklaven Onesimus »wie einen Bruder« anzunehmen. Wie παρακαλῶ in V. 9a dem ἐπιτάσσειν in V. 8c entspricht, so διὰ τὴν ἀγάπην in V. 9a dem πολλὴν … παρρησίαν ἔχων in V. 8b. Anders gesagt: Dem für eine Befehlsweitergabe notwendigen Eigenengagement des Paulus entspricht das im Proömium explizierte Engagement Philemons. Seine Aktivität zugunsten der Ekklesia ist die Motivation für die Bitte des Paulus auf Zum philosophischen Gebrauch dieses ursprünglich politisch geprägten Begriffs (Gesprächskultur in der Bürgerversammlung von Freien) vgl. Malherbe, Paul 58f. Zur Bedeutungsgeschichte des Begriffs insgesamt: Peterson, Bedeutungsgeschichte. 33 Vgl. 2Kor 3,12; 7,4; 1Thess 2,2; wenn er als Gefangener nicht mehr öffentlich auftreten und sprechen kann, dann übernimmt sein Körper diese Funktion: Phil 1,20. Gerade weil Paulus »diesen Begriff sonst stets als Attribut gerade seiner apostolischen Existenz« verwendet (Wolter 259), kann er auch in Phlm 8 nicht im Sinn von »Vollmacht« gemeint sein. So aber Dibelius 104 mit Rekurs auf Peterson, Bedeutungsgeschichte; in dieser Linie auch Gnilka 41; Wengst 58; Müller 106. Den dafür eigentlich zuständigen Begriff ἐξουσία verwendet Paulus im Sinn von Handlungsvollmacht und dem daraus folgenden Recht, etwas in Anspruch zu nehmen (vgl. 1Kor 9,4.5.6.12.18). 34 Vgl. Arzt-Grabner 200 (allerdings mit unpassenden Beispielen); vgl. Preisigke/Kießling I 121f.; IV 157. 35 Forschner, Ethik 186f. (mit Bezug auf Cic. off. 1,3,7). Diog. Laert. 7,107f. führt die Einführung des Terminus auf Zenon, den Begründer der Stoa, zurück. Im Hintergrund steht natürlich das rational begründete Verhalten, zu dem der Mensch finden kann, wenn sein eigener Logos in Übereinstimmung mit dem die Welt durchwaltenden Logos handelt. Vgl. auch Horn/Rapp (Hg.), Wörterbuch 236f. 36 Zu Recht stellt Reinmuth 35 heraus, dass Paulus etwas im Sinn haben muss, was Gegenstand einer konkreten Anweisung sein könnte und zugleich »bestimmten Maßstäben« folgt. Nach Wengst 59 beanspruchte Paulus, »dass die Ausübung der Pflicht, die er Philemon befehlen könnte, Gehorsam gegenüber der Herrschaft Jesu als Messias ist und dass in der Ausübung dieser Pflicht das messianische Reich konkret Gestalt gewinnt«. 32
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dem gleichen sozialen Feld. Anders als der Befehl gründet die Bitte sozusagen auf einer Vorleistung, die der Gebetene in einem analogen Fall bereits erbracht hat. Auch die anderen Elemente lassen sich zuordnen: Die Autoritätsbasis für die Bitte ist der Mensch Paulus. Als Paulus (ὡς Παῦλος)37 tritt der Briefschreiber an Philemon heran: nicht als Gesandter Christi, weder als ἀπόστολος noch als πρεσβευτής,38 sondern als πρεσβύτης, als alter Mann.39 Sowohl im jüdischen als auch im hellenistischen Kulturraum wird dem Alter gegenüber Respekt erwartet.40 Dieser Respekt soll mit dem Hinweis auf Paulus als »Gefesselten Christi« (V. 9e)41 noch gesteigert und durch die Wiederholung affektiv verstärkt werden. Derjenige, der Philemon »wegen seiner Liebe«, durch die sein Engagement für den Glauben evident geworden ist, eine Bitte vorträgt, ist einer, dessen Engagement für den Glauben ebenfalls evident geworden ist: Seine Verkündigung ist durch Gefangensetzung von staatlicher Seite aus sanktioniert worden. Die Sache, um die Paulus bittet, ist die gleiche, wie durch τὸ ἀνῆκον in V. 8c angedeutet wird. Expliziert wird sie jedoch nicht durch einen Befehl, sondern durch einen Bittbrief: In der anschließenden Präsentation des Onesimus (V. 10–12) und den folgenden Begründungsschritten (V. 13–19) wird sie plausibilisiert. In der Gesamtstruktur ergeben sich folgende Oppositionen: V. 8ab
ἐν Χριστῷ V. 9
Παῦλος
παρρησίαν ἔχωνPDF ἐπιτάσσειν τὸ ἀνῆκον 8 δὶα τὴν ἀγάπην παρακαλῶ
(Briefkorpus)
Ekklesia
Oikos
37 Selbstbenennungen mit ὡς vor dem Namen sind in dokumentarischen Papyri üblich; vgl. Arzt-Grabner 201. 38 So die Konjektur von Bentley (NA27); vgl. Amling, Konjektur. Birdsall, ΠΡΕΣΒΥΤΗΣ, fordert zu Recht deren Streichung in den Textausgaben. Wie die Gegenüberstellung der V. 8 und 9 zeigt, kann aus inhaltlichen Gründen nicht »Gesandter« gemeint sein. Insofern sind alle Versuche zu hinterfragen, die auf anderen Wegen zu dieser Bedeutung kommen wollen: unterschiedliche Schreibweise (Bruce 212); Doppeldeutigkeit des Begriffs in LXX (Suhl 31; Moule 144; Lohmeyer 185; vgl. das Referat bei Gnilka 40; Müller 108); Kombination mit symbolischer Deutung des Paulusnamens als »kleiner Gesandter« (Baumert, Freundesbrief 137–139.150); Kompromiss (Bentoglio, Ministero). 39 Bei hellenistischen Schriftstellern ist damit entweder bei einer Untergliederung in sieben Lebensstufen die vorletzte (49–56 Jahre) zwischen reifem Mann (ἀνήρ) und Greis (γέρων) gemeint; so gemäß dem Pseudo-Hippokrates-Zitat bei Philon opif. 105; oder bei Untergliederung in vier Lebensalter (à 20 Jahren) deren letzte Stufe; so Dion Chrys. 74,10; Aristox. fr. 35; gemäß Philon spec. 2,33, handelt es sich um diejenigen, die älter als 60 Jahre sind. Vgl. insgesamt Eyben, Einteilung; Müller 54. Auf ein präzises Alter für Paulus kann daraus nicht geschlossen werden. Auf jeden Fall muss er älter sein als Philemon. 40 Vgl. Reinmuth, Alter; vgl. auch die Übersicht bei Müller 51–54. 41 Hock, Support 78f., erwägt einen sozialgeschichtlich fundierten Motivzusammenhang zwischen der Hilfsbedürftigkeit im Alter und der notwendigen Unterstützung durch die Kinder (vgl. V. 10) – parallel zur notwendigen Versorgung Gefangener (vgl. V. 9e) durch die Familie.
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Mit der Gegenüberstellung der beiden unterschiedlichen Kommunikationsmodi (Befehl/Bitte)42 benennt und beschreibt Paulus sehr genau den Horizont, vor dem er seine Entscheidung für die höfliche Bitte gesehen haben möchte: Es handelt sich um einen Verzicht auf die Autorität, die ihm als berufenen Apostel »in Christus« eigentlich zustünde. Insofern führt Paulus konsequent weiter, was er in der superscriptio mit dem Verzicht auf den Apos teltitel angedeutet hat. Konkret auf die Hausgemeindesituation Philemons bezogen, ergibt sich: Paulus stellt in V. 8f. sein Verhalten in den Horizont von Ekklesia und Oikos (vgl. das Hausgemeindemodell im Präskript). Gemäß V. 8bc würde er bei der Gemeindeversammlung im Haus Philemons als Christi Gesandter die Autorität wahrnehmen, wie sie ihm im ekklesialen Bereich zustünde. Denn hier ist Christus κύριος. Als sein Sprachrohr könnte er dem Hausherrn Philemon, der in der ekklesialen Ordnung aber »nur« Bruder ist, kraft seiner Gesandtenrolle befehlen. Darauf verzichtet Paulus. Und das will er gehört wissen. Mit seinem Brief spricht er im ekklesialen Raum, aber er verhält sich, als ob er als Paulus nur Gast im Haus Philemons wäre. Er bittet von Gleich zu Gleich. Durch diesen bewussten Autoritätsverzicht, den Paulus bereits im Prä skript deutlich zum Ausdruck gebracht hat, gibt er Philemon eine Vorlage:43 Sich selbst als Hausherr in seinem eigenen Haus gemäß den ekklesialen Regeln nicht als pater familias, sondern als »Bruder« zu verstehen, der jedem anderen Getauften auf geschwisterlicher Ebene begegnet. Philemon wird in seiner Doppelrolle als pater familias und christgläubiger Bruder im eigenen Haus herausgefordert. Mit der Wiederaufnahme des Hauptverbs von V. 9a wird in V. 10a in brief- 10 typischer Formulierung die vollständige Petition ausgesprochen: παρακαλῶ σε περί. Haben V. 8f. den Modus des Vorgehens begründet (zu bitten anstatt zu befehlen), so formuliert V. 10a mit περί den Betreff der Bitte: »Ich bitte dich um …« Es folgt nun aber nicht, wie Leser und Hörer erwarten, der Name Onesimus, sondern – in Familien- und Geburtsmetaphorik verpackt – die Vorstellung eines Neugeborenen als Christ. Als »Kinder« nämlich kann Paulus die Mitglieder einer von ihm gegründeten Ortsgemeinde bezeichnen (1Kor 4,14f.; 2Kor 6,13; Gal 4,19; 1Thess 2,7.11) oder auch einzelne Individuen, die von ihm zum Glauben geführt worden sind, wie Timotheus (1Kor 4,17; Phil 2,22). Wie das mit dem neutrischen τέκνον nicht kongruente Relativpronomen ὅν in V. 10b zeigt, handelt es sich bei dem »Kind«, das Paulus als Gefesselter zum Glauben geführt hat, um einen Mann. Er heißt: Onesimus. Den kennen zwar alle im Haus Philemons (s. unten S. 79), aber er wird Wolter 260f. spricht von amtlicher bzw. persönlicher Ebene/Autorität. Brookins, Auctoritas, sieht im Hintergrund die römischen Konzeptionen von potestas (institutionell basierte Handlungsvollmacht, also ἐξουσία) und auctoritas (freiwillig zugeschriebene Autorität). 43 Vgl. 1Kor 11,1: Nehmt mich zum Vorbild! 42
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als ein anderer vorgestellt. Paulus hat ihn im Gefängnis als Christ zur Welt gebracht.44 Onesimus ist ein neuer Mensch »in Christus«.45 11 Und auch seine Qualitäten sind in diesem neuen Leben, in der Sinnwelt der Glaubensgemeinschaft, andere als im Haushalt Philemons in seiner Rolle als Sklave. Das wird in V. 11 im Einst-Jetzt-Schema, mit dem Paulus, aber auch andere neutestamentliche Autoren, »den scharfen Kontrast zwischen der vorchristlichen und der christlichen Existenz des Einzelnen«46 zum Ausdruck bringen (vgl. Röm 11,30; Gal 1,23; 4,8f.; Eph 2,11–13; 5,8; Kol 1,21f.; 3,7f.; 1Petr 2,10), gegenübergestellt – und zwar unter Anspielung auf den Namen des Onesimus (»Nützlicher«)47: Der einst für Philemon – als Sklave – »Unbrauchbare« (ἄχρηστος) ist jetzt – als Christ – für Paulus und Philemon »wohlbrauchbar« (εὔχρηστος).48 Was in der Welt der Sklaven mit χρηστός/ brauchbar gemeint ist, liegt auf der Hand: dienstfertig, tauglich für die Arbeiten, die angewiesen werden, ein nützlicher Handlanger. Χρηστός ist deshalb nicht nur »das Standard-Epitheton der Unfreien«49, sondern auch ein besonders beliebter Sklavenname.50 Nomen est omen. Dieser Rolle, so stellt es Paulus für Onesimus in den Raum, hat er »einst« nicht entsprochen. Aber dieses Sklaven-Beurteilungsschema ist für den neuen Onesimus passé. Jetzt (νυνί)51 gilt: Er ist eine »neue Schöpfung in Christus« (vgl. 2Kor 5,17). Und in dieser neuen Sinnwelt, behauptet Paulus, macht Onesimus 44 Das Verb γεννάω kann sowohl für die männliche (»zeugen«) als auch für die weibliche Rolle (»gebären«) gebraucht werden. Paulus nimmt metaphorisch sowohl die väterliche (1Kor 4,14f.) als auch die mütterliche (Gal 4,19) Rolle für sich in Anspruch; in 1Thess 2,7.11 finden sich innerhalb der gleichen Passage beide Rollen nebeneinander. Da im Fall der Bedeutung »zeugen« für Phlm 10 ein Zeitraum von neun Monaten berechnet werden müsste, bis das »Kind« zur Welt kommt, ist hier wohl eher an die Bedeutung »gebären« und damit an die Übernahme der mütterlichen Rolle zu denken. Gerber, Paulus 208f., verweist in Anm. 287 zusätzlich auf eine mögliche »metaphorische Metonymie«: σπλάγχνα als »Mutterleib« könnte dann den speziellen Sinn von »Geborene« annehmen. 45 Analog ist die Vorstellung, dass der Tag der Freilassung eines Sklaven als dessen Geburtstag gefeiert wird; vgl. Ioh. Chrys. De eleemosyna 3 (PG 51, 265); vgl. Bellen, Menschen 17.25. 46 Wolter 263; vgl. Tachau, Einst. 47 Von ὀνίνημι vgl. V. 20a. 48 Wolter 263f.; Wansink, Christ 182; Lohse 200; Court, New Testament 33; sowie neuerdings wieder Roth, Paul 110, vermuten zusätzlich ein phonetisches Wortspiel: Gemäß dem in hellenistischer Zeit einsetzenden Itazismus, also der Gewohnheit, e-Laute als i-Laute auszusprechen, hätte man ἄ-χρηστος bzw. εὔ-χρηστος wie a-christos bzw. eu-christos gehört; damit würde dem einstigen Un-Christen Onesimus der jetzige GutChrist Onesimus gegenübergestellt werden. Wolter verweist auf ein begriffsidentisches Wortspiel bei Iust. Mart. 1 apol. 4,1.5; Athenagoras Suppl. 2,2; Tert. apol. 3,5. Allerdings muss dem ansprechenden Gedanken zu Recht widersprochen werden: Für die Bedeutung »Christ« wäre die Bezeichnung Χριστιανός (vgl. Apg 11,26) zu erwarten; vgl. Reinmuth 42f.; Arzt-Grabner 206f.; ders., Onesimus 135 Anm. 17. 49 Scholl, Bildfeldstelen 177.223; Bäbler, Thrakerinnen 65f.; Wrenhaven, Slave 98f.; Arzt-Grabner 210 zu χρῄξω im Blick auf Sklaven. 50 Vgl. Solin, Sklavennamen, bes. 316 (Statistik). 51 Besonders betonte Form: BDR § 64 Anm. 4.
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seinem Namen alle Ehre – und zwar im Blick auf Paulus und Philemon gleichermaßen. Es geht also nicht nur um seine Bewährung als Christ. Es geht um eine spezielle Tauglichkeit des Onesimus, die auch Philemon, so verspricht Paulus, von Nutzen sein wird. Im ekklesialen Sinnraum im Blick auf Paulus kann nur gemeint sein, dass sich Onesimus als Mitarbeiter qualifiziert hat. Analog gilt dann: Onesimus gäbe auch einen (weiteren) guten Mitarbeiter im Team Philemons ab, neben Apphia und Archippus. In Kombination mit dem Namen einer Person (V. 10c), deren Beziehung 12 zum Briefschreiber ausgewiesen wird (V. 10ab), stellt V. 12a eine typische Formel aus dem Empfehlungsbrief dar. Damit wird ein dem Briefempfänger Unbekannter, den der Briefschreiber mit seinem Brief zu ihm geschickt hat, identifiziert und als glaubwürdig deklariert. Paulus greift in V. 10–12 auf dieses geprägte Muster zurück, adaptiert es aber und stellt dadurch neue Sinnbezüge her: Für die Sendeformel verwendet er das Kompositum ἀναπέμπειν, das die Bedeutung von »wieder schicken« bzw. »zurückschicken« hat.52 Onesimus kehrt also in altbekannte Gefilde zurück. Genau genommen erfährt der Leser erst an dieser Stelle, dass Onesimus zum Haushalt Philemons gehört und von Paulus dorthin zurückgeschickt wird – mit dem Brief des Paulus in der Hand. Onesimus (V. 10c) ist den Adressaten bekannt. Unbekannt an ihm ist seine neue Identität, die er durch die Beziehung zu Paulus gewonnen hat (V. 10ab). Am Ende der katalogartig angeordneten Vorstellungsreihe wird der neue Onesimus mit den »Eingeweiden« des Paulus identifiziert. Diese Metapher ist im Neuen Testament einzigartig; in den wenigen außerneutestamentlichen Belegen sind jeweils die eigenen Kinder gemeint.53 Paulus schließt damit den Kreis zurück zum ersten Element in der Katalogreihe: »Kind« (V. 10a). Jetzt liegt der Akzent nicht auf der spirituellen Genealogie, sondern auf der affektiven Nähe. Onesimus kommt nicht nur mit einer neuen Identität und neuen Qualitäten ins Haus, die ihn für die Rolle eines Mitarbeiters auszeichnen, sondern auch noch als Repräsentant der innersten Gefühle des Paulus. Paulus ist also nicht nur in den Worten des Briefes präsent,54 der vorgelesen wird, sondern er spürt sozusagen auch die Resonanz auf seine Worte, die von den Hörern auf Onesimus als seinen Stellvertreter zurückstrahlt.
Vgl. Plut. Lysander 6,1; Solon 4,3. Man braucht also nicht auf die forensische Spezialbedeutung (vgl. Preisigke/Kießling I 102f.; Lk 23,7.11.15; Apg 25,21) zurückzugreifen im Sinne von »eine Prozesssache an den Richter verweisen« bzw. »einen beklagten Menschen vor die Behörde oder den Richter senden« oder »einen Verhafteten vorführen«; so Gnilka 46; Moule 145; gemäß Knox, Philemon 25–34, fungiert Aristippus als Entscheidungsinstanz. Zu Recht weist Wolter 264 auf den »neutralen« Sinn des Wortes hin, wie er z.B. in 1Clem 65,1; Jos. bell. 1,666 belegt ist. 53 Vgl. Philon Jos. 25; Artem. 1,44 (οἱ παῖδες σπλάγχνα λέγονται); 5,57; vgl. Wolter 265 unter Rückgriff auf Lohmeyer 186 Anm. 5. 54 So die antike Brieftheorie; vgl. Thraede, Grundzüge 27–106. 52
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2 Die zurückgestellte Option des Paulus (V. 13f.) 13a Was mich angeht, wollte ich ihn (eigentlich) bei mir selbst behalten, b damit er an deiner Stelle mir dient in den Fesseln wegen des Evangeliums. 14a Aber ohne dein Einverständnis wollte ich nichts tun, b damit nicht wie im Zwang dein Gutes sei, c sondern freiwillig. 13 Mit betont vorangestelltem ἐγώ nennt Paulus seine ursprüngliche Absicht: Er wollte Onesimus eigentlich55 bei sich behalten (κατέχειν).56 Im Bezug auf Personen nimmt in verschiedenen dokumentarischen Papyrusbriefen das Wort die Bedeutung »aufhalten«57 im Sinn von »nicht weggehen lassen« an.58 Wofür Paulus Onesimus am liebsten eingespannt hätte, sagt er im Finalsatz V. 13b: »damit an deiner Stelle (ὑπὲρ σοῦ) er mir dient (διακονῇ) in den Fesseln wegen des Evangeliums«. Was für eine Art von »Dienst« ist gemeint? Im Blick auf den Gefängnisaufenthalt des Paulus denkt man zunächst an alltägliche Handreichungen wie Essen besorgen, bei Tisch aufwarten und bedienen, eventuell Außengänge erledigen; alles Vorstellungen, wie sie sich z.B. gemäß Lk 17,8; Apg 6,2 oder Joh 12,2 für διακονεῖν einstellen.59 Im sozialen Kontext der Antike hätte diese Art von »Dienst«, den Onesimus stell vertretend (ὑπὲρ σοῦ) leisten soll, für Philemon allerdings eine soziale Degradierung60 zur Folge. Aber diese Bedeutung von διακονεῖν ist bei Paulus gar Vgl. BDR § 359 zum Gebrauch des Indikativs der Nebentempora in Wunschsätzen und der Paraphrasierung von ἐβουλόμην in Phlm 13a: »Wollte eigentlich, tue oder tat es aber nicht«. 56 Gelegentlich wurde eine Analogie zwischen dem mit dem κατοχή-Institut verbundenen Asylrecht an einem Tempel, wofür die Schutzflehenden im Gegenzug bestimmte Dienste zu leisten hatten (vgl. Woeß, Asylwesen), und dem Vorhaben des Paulus in V. 13 hergestellt; vgl. Gnilka 48, der sich auf die Arbeit von Delekat, Katoche, bezieht, der jedoch seinerseits eine Applikation auf V. 13 deutlich abgelehnt hat: »Πρὸς ἐμαυτὸν κατέχειν kann im Zusammenhang des Paulus-Briefs zweifellos nur heißen ›bei mir behalten‹« (7f.); vgl. Lohse 280. Die These wird erneut ausgebaut von Kumitz, Brief 167–169, der damit Paulus dem Dilemma entgehen lassen möchte, dass alle Sklaven frei werden wollen: Analog zu Onesimus müssen sie sich ebenfalls zum Dienst verpflichten! 57 Im Blick auf das »Aufhalten« eines Sklaven ist folgende Konstellation aus einem im Jahr 50 n.Chr. verfassten Privatbrief interessant: Der Briefschreiber bittet den Adressaten darum, den Sklaven, den er wegen eines Botendienstes geschickt hat, »nicht aufzuhalten« (μὴ αὐτὸν κατάσχῃς), weil er ihn selbst dringend braucht (BGU I 37). Offensichtlich steckt die Befürchtung dahinter, der Adressat könnte die Gelegenheit nutzen und den fremden Sklaven für seine eigenen Zwecke einspannen. Vgl. P.Ryl. II 238, wo genau das im Blick auf ein fremdes Maultier gesagt wird: εἰς ἐμὴν ὑπηρεσίαν κατέσχον; zum Kontext vgl. Arzt-Grabner 218. 58 Vgl. Arzt-Grabner 216–218; vgl. auch Gen 24,56LXX. 59 So: Stuhlmacher 40; Lohmeyer 187; Lohse 280f.; Bruce 215; Lampe 218. Wengst 62 denkt daran, dass Paulus sein Unterhaltsrecht von der Gemeinde einfordert. 60 Gerade weil διακονεῖν nicht an einen bestimmten Sozialstatus gebunden ist, sondern sich durch ein Beauftragungsverhältnis definiert, ist entscheidend, wie Letzteres strukturiert ist (vgl. die berechtigte Kritik von Theobald, Eucharistie 18f., an Hentschel, 55
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nicht belegt. Bei Paulus hat die Wortgruppe διάκονος/διακονία/διακονεῖν in den meisten aller Fälle geradezu den technischen Sinn von missionarischer Verkündigungstätigkeit.61 Und das passt ganz genau zur spezifizierenden Ergänzung zu διακονεῖν, wie sie in V. 13b vorliegt: Onesimus soll Paulus nicht einfach »in den Fesseln dienen« (das wäre die persönliche Hilfestellung), sondern »in den Fesseln, die Paulus wegen des Evangeliums trägt« (vgl. V. 1b). Onesimus soll also als Mitarbeiter in der Evangeliumsverkündigung fungieren, die dazu führen kann, dass man in Fesseln gelegt wird, weil man einen anderen König als Herrscher über die Welt verkündet als den römischen Kaiser. Für diesen Dienst möchte Paulus Onesimus einspannen.62 Und in dieser Funktion kann Onesimus Philemon durchaus vertreten. Seinerseits ist Philemon ja bereits als Mitarbeiter tätig (vgl. V. 1f ). Daraus ergibt sich eine bestimmte Konsequenz, eine Differenzierung ist nötig und eine Frage bleibt offen. Die Konsequenz. Onesimus wird bereits bei der nicht in die Tat umgesetzten Wunschvorstellung von V. 13 gleichrangig mit Philemon behandelt.63 Wie Paulus seine Gefühle in Onesimus hineinprojiziert (V. 12b), so kann Onesimus als Stellvertreter für Philemon agieren.64 Das ist allerdings nur im konzeptionellen Raum der »Gemeinde der Heiligen« möglich, wo Philemon nicht mehr Herr des Sklaven, sondern sein Bruder ist (vgl. V. 16c) – und sich Paulus als geistliche Mutter des Onesimus versteht (vgl. V. 10b). Die Differenzierung. Onesimus würde nach der Wunschvorstellung des Paulus in V. 13 zu denjenigen Mitarbeitern gehören, die nicht wie Philemon als Moderatoren einer Hausgemeinde vor Ort fungieren, sondern sich im unmittelbaren Umfeld des Paulus bewegen – wie die vier in der Grußliste von V. 24 Genannten. Insbesondere während seines Gefängnisaufenthaltes sind diese »freien« Mitarbeiter wichtig als Kontaktpersonen zu den Hausgemeinden bzw. als Pioniere der Missionsarbeit. So würde sich auch am leichDiakonia; vgl. dies., Gemeinde 20–26, die sich auf Collins, Diakonia, beruft). Sollte in V. 13b für διακονεῖν an eine materielle Dienstleistung gedacht sein, würde sie eine strukturelle Überordnung des Paulus über Philemon, von dem er diesen Dienst ja eigentlich erwartet, bedeuten. Für einen auf der sozialen Stufenleiter höher Stehenden würde das negativ bewertet (vgl. Suet. Claud. 29). Außerdem würde Paulus dann genau das tun, was er gemäß V. 8 gegenüber Philemon vermeiden wollte: »befehlen«. Selbstredend ist diesbezüglich eine stereotype Floskel aus Weber-Lehrlingsvorträgen: »… damit er (sc. dem Meister) diene (διακονοῦντα) und alle Arbeiten ausführe, die ihm angeordnet werden (ἐπιτασσόμενα)«; vgl. Arzt-Grabner 66–68. 61 Vgl. dazu nur Ollrog, Paulus 73f; vgl. exemplarisch Röm 11,13; 1Kor 3,5; 2Kor 3,3.7; 6,3f. 62 Ollrog, Paulus 102, paraphrasiert folgendermaßen: »damit er mir in der Gefangenschaft, die ich um des Evangeliums willen erfahre, stellvertretend für dich in der Missionsarbeit diene«; genauso: Bellen, Studien 78 Anm. 554. 63 Völlig korrekt formuliert Gnilka 48: »Hatte sich Paulus eben mit dem Schuldiggewordenen identifiziert, so rückt er jetzt den Sklaven an die Stelle seines Herrn« – ohne jedoch die entsprechenden soziologischen Konsequenzen zu ziehen. 64 Zu Recht beobachtet Müller 116: »Die Rolle des Onesimus wird damit im Beziehungsfeld zwischen Paulus, Philemon und der Hausgemeinde auf verschiedene Weise neu akzentuiert.«
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testen das dem διακονεῖν vorangestellte Personalpronomen μοι erklären: Es besagt nicht einen persönlichen Dienst für Paulus, sondern diese augenblicklich besonders nötige Unterstützung während der Zeit, in der Paulus »sein Evangelium«65 nicht vorantreiben kann, weil ihm die Bewegungsfreiheit genommen ist. Die Frage. Offen ist allerdings die Frage, weshalb Paulus scheinbar selbstverständlich davon ausgehen kann, dass sich auch Philemon unter diese freien Mitarbeiter einreihen sollte, sodass Paulus auf einen »Ersatz« Anspruch hat. Die ansprechende These von Ollrog, die Aktion als Anforderung eines »Gemeindegesandten« zu interpretieren,66 scheitert an der Grammatik. Anders als Stefanas, Fortunatus und Achaikus in 1Kor 16,17f. bzw. Epaphroditus in Phil 2,29f. soll Onesimus gemäß V. 13b nicht als Stellvertreter für die Hausgemeinde, sondern speziell als Stellvertreter Philemons (ὑπὲρ σοῦ) fungieren.67 Im Blick auf den bisherigen Brieftext wird man sagen müssen: Warum Paulus von einer Verpflichtung, ja gar von einer Bringschuld Philemons ihm gegenüber ausgeht, die er eigentlich einlösen müsste, das bleibt in V. 13 noch offen. Es handelt sich um eine Leerstelle – und sie wird in V. 13 noch nicht gefüllt, aber später (vgl. V. 19d). 14 V. 14 begründet, warum Paulus seine Option von V. 13 verworfen, präziser: seinen lange gehegten Gedanken68 nicht in die Tat umgesetzt hat:69 Ohne das Einverständnis Philemons sollen keine Fakten geschaffen werden. Die Formulierung ἄνευ/χωρὶς τῆς σῆς γνώμης wird in Vertragstexten bzw. bei juristisch relevanten Vorgängen technisch gebraucht:70 Ohne Einverständ Mehrfach spricht Paulus von »meinem/unserem Evangelium« (Röm 2,16; 16,25; 2Kor 4,3; 1Thess 1,5 – und meint damit nichts anderes als »das Evangelium« (z.B. Röm 1,16; 10,16; 11,28; 1Kor 4,15 u.a.) bzw. das »Evangelium Gottes« (vgl. z.B. Röm 1,1; 15,16; 2Kor 11,7 u.a.) oder das »Evangelium Christi« (vgl. Röm 15,19; 1Kor 9,12; 2Kor 2,12 u.a.); vgl. Wolter, Evangelium 337. 66 Vgl. Ollrog, Paulus 95–107, speziell zu Philemon: 101–106. 67 Während Ollrog, Paulus 103, verräterischerweise noch schreibt: »Er soll damit seinen Herrn vertreten (ὑπὲρ σοῦ)«, wird dieser Hinkefuß in der Rezeption sehr wohl wahrgenommen und entsprechend »verbessert«. Wolter 266f. formuliert: »Der Repräsentationsgedanke wird hier in der Weise formuliert, dass Onesimus als ›Gesandter‹ einer Hausgemeinde … Philemon als deren Leiter vertritt.« Und Müller 116: »Hinter der zweiten Person Singular wird, wie auch sonst in dem Schreiben, die Gemeinde sichtbar.« Diesen Wunschgedanken der Ausleger hat Paulus aber in 1Kor 16,17 und Phil 2,30 geradezu formelhaft ausformuliert: τὸ ὑμέτερον / ὑμῶν ὑστέρημα. Eine ganz andere Perspektive bringt Reinmuth 44 ein. Er sieht in der eingeforderten Stellvertretung den Gedanken der Reziprozität zum Ausdruck kommen, die in der κοινωνία τῆς πίστεως (V. 6) gründet. 68 Im Unterschied zu ἐθέλω (V. 14a) wird βούλομαι (V. 13a) »von der unentschiedenen, nicht in die Tat übergehenden Neigung und vom Wunsche gebraucht« (Passow I 779). Kommt im Imperfekt von ἐβουλόμην die sich lange hinziehende Erwägung eines Wunschgedankens zum Ausdruck (durativ), so bringt der Aorist von ἠθέλησα in V. 14a den Entschluss zur Tat zum Vorschein (ingressiv): Paulus schickt Onesimus zurück (V. 12a). 69 Präzise formuliert Lohmeyer 188 Anm. 1: »Paulus verzichtet nicht auf die Absicht, sondern darauf, sie durch autoritäre Entscheidung zu verwirklichen.« 70 Vgl. das Belegmaterial bei Arzt-Grabner 219–222; Preisigke/Kießling I 301. 65
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nis des Vertragspartners zu handeln, schlägt als juristisch belangbare Verfehlung zu Buch. Umgekehrt: Durch Einholung des Einverständnisses des Adressaten mit einer bestimmten Aktion schützt sich der Briefschreiber vor eventuellen gerichtlichen Folgen. Bewegte sich die neue Rollenplanung für Onesimus in V. 13 auf der Ebene des ekklesialen Raumes, so hängt das Zögern und schließlich die Verwerfung der Durchführung dieser Wunschvorstellung (V. 14) mit der Berücksichtigung der Rechtsverhältnisse im Haus Philemons zusammen.71 Er ist der Herr des Sklaven. Er hat über ihn unumschränkte Verfügungsgewalt. Indem Paulus Onesimus zu Philemon »zurückgeschickt« (V. 12a) und nicht bei sich »festgehalten« hat (V. 13a), stellt er es Philemon frei, wie er sich entscheidet. Das ist das erklärte Ziel der Rücksendungsaktion. Der Finalsatz V. 14b versprachlicht es. Außerdem greift Paulus hier den Begriff des »Guten« aus dem Proömium (V. 6) wieder auf.72 Hat er dort berichtet, dass er für Philemon um die »Erkenntnis jedes Guten unter uns« betet, so wird jetzt im Briefkorpus eine mögliche Guttat konkretisiert. Diese spezielle »Vorlage« muss von Philemon aktiv, in einer freien Entscheidung vollzogen werden. Hätte Paulus Onesimus einfach bei sich behalten, hätte er das auch als etwas »Gutes« deklarieren können, aber es wäre Philemon – passiv – abgerungen worden.73 Mit dem Rückblick auf seine verworfene Absicht in V. 13 hat Paulus allerdings entscheidende Erkenntnishilfe geleistet – und die konkrete Vorlage zum Handeln gegeben. Genau genommen respektiert also Paulus nicht den Anspruch Philemons auf seinen Sklaven Onesimus in dessen Funktion als Herr im Haus, sondern fordert den christlichen Hausherrn Philemon zu einer ethischen Entscheidung heraus. Allerdings: Die Wunschvorstellung von V. 13 beinhaltet nicht die eigentliche Bitte des Briefes.74 Paulus bittet explizit ja gerade nicht darum, Onesimus behalten zu dürfen, sondern entwirft ab V. 15 unter theologischer Perspektive eine neue Rollenkonstellation für Onesimus im Haus Philemons – ganz analog zur Wunschvorstellung als Mitarbeiter des Paulus, stellvertretend für Philemon, in V. 13. Somit bringt der Rückblick auf die verworfene Absicht in V. 13f. die Genese der eigentlichen Briefbitte ab V. 15 zum Vorschein und bereitet sie inhaltlich vor.
So auch Reinmuth 45; Wolter 267. Weil Gnilka 49 für »das Gute« die stoische Konzeption im Hintergrund entdecken will, lehnt er den Zusammenhang ab. Das ist singulär. 73 Vgl. die ähnliche Befürchtung des Plinius, der seinen Freund Sabinianus um milde Behandlung des Freigelassenen bittet, der sich zu ihm geflüchtet hat: »Ich fürchte, es sieht so aus, als bäte ich nicht (non rogare), sondern suchte dich zu nötigen (cogere), wenn ich mit seinen Bitten (precibus) die meinigen verbinde« (epist. 9,21). 74 An diesem Punkt überstrapaziert Ollrog, Paulus 103f., den Text, wenn er V. 13f. die »Bitte des Paulus um die Rücksendung des Onesimos« zum »Kern des Schreibens« macht, die »in den Kommentaren nur beiläufig behandelt« werde. Sie steht ja auch nicht im Text! Vgl. auch die diesbezügliche Kritik von Wolter 266. 71 72
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3 Der göttliche Plan für Onesimus (V. 15f.) 15a Vielleicht nämlich wurde er deshalb kurzzeitig (von dir) entfernt, b damit du seinen Empfang als Ewigen quittierst, 16a nicht mehr als einen Sklaven, b sondern über einen Sklaven hinaus: c als geliebten Bruder, d (das ist er) besonders für mich, e um wie viel mehr aber für dich, f sowohl im Fleisch als auch im Herrn. Analyse In V. 15 werden zwei Punkte kontrovers diskutiert: (1) Ist ἐχωρίσθη im Sinn eines (a) Passivum divinum zu verstehen (»Onesimus wurde von Gott entfernt«)75 oder (b) medial im Sinne von »Onesimus hat sich entfernt«76? Der mediale Sinn des Passivs ist in dokumentarischen Papyri speziell in Bezug auf Personen belegt, echtes Passiv dagegen nur in Verbindung mit Sachwerten.77 (2) Ist das Adjektiv αἰώνιον (a) prädikativ (»ihn als Ewigen empfangen«)78 oder im Sinn eines (b) Adverbs aufzulösen (»ihn auf ewig empfangen«)79? Im einen Fall hat es qualitative, im anderen zeitliche Bedeutung. Beides ist grammatikalisch möglich.80 Weitere Kriterien sind also vonnöten. Rhetorik. Wenn nicht nur die beiden Verben aufeinander bezogen werden, sondern auch πρὸς ὥραν und αἰώνιον, ergibt sich folgender Chiasmus: PDF 9 So Gnilka 50; Stuhlmacher 41; Binder 59f.; Wolter 269; Wengst 65; Kumitz, Brief 173f.; vorsichtig: Müller 119; ein Spiel mit beiden möglichen Bedeutungen schlagen Lohse 202 und Reinmuth 45f. vor. 76 So schon Vulgata: discessit a te. Arzt-Grabner 105 (bezogen auf einen »Herumtreiber«). Intransitiv übersetzen Dibelius 106 (»er ist entschwunden«) und Soden 76 (»er ist entrückt gewesen«). 77 Arzt-Grabner 103–105. Bei Paulus medialer Gebrauch im Blick auf Personen: 1Kor 7,10.11.15. 78 Eher selten: Binder 59f. mit Rekurs auf Suhl, der den Sachverhalt jedoch nur andeutet; Baumert, Freundesbrief 144f. 79 Im Sinn von »lebenslang« mit Rekurs auf die atl. Sklavengesetze: Sasse, ThWNT I 209,20–22; Moule 156; Stuhlmacher 41f. (Paulus fasse »durchaus auch eine dauerhafte Sklavenschaft des Onesimus bei Philemon ins Auge«); Wolter 269. Bei Paulus lässt sich dieser Gebrauch des Adjektivs jedoch sonst nicht finden; es steht als Gottesprädikat (Röm 16,26) oder hat einen eschatologischen Sinn (z.B. Röm 2,7; 2Kor 4,17f.). Das wird von all denjenigen Auslegern berücksichtigt, die αἰώνιον auf die ewige Dauer des neuen Verhältnisses zwischen Philemon und Onesimus beziehen, das durch den beiderseitigen Christusbezug entsteht: Lightfoot 408 (»eternal interchange of friendship … no longer barred by the gates of death«); Gayer, Stellung 243f.; O’Brien 296; Lohse 282 Anm. 3; Gnilka 50; Wengst 66; Müller 119; Barth/Blanke 398–402 (mit Diskussion der Forschungspositionen). Für bewusst doppeldeutig eingesetzt halten die Aussage Fitzmyer 113; Kumitz, Brief 174f. 80 Zum adverbiellen Gebrauch des prädikativen Adjektivs vgl. BDR § 243. 75
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V.
15a
ἐχωρίσθη
πρὸς ὥραν
V.
15b
αἰώνιον
ἀπέχῃς
Passivische (1a) und aktive Verbformen stehen sich gegenüber bzw. eine Aktion des Onesimus (1b) und eine Aktion Philemons. Die Wendung πρὸς ὥραν bezeichnet eine kurze Zeitspanne.81 Dem würde ein zeitliches Verständnis für αἰώνιον entsprechen (2b). Dafür gibt es Analogien sowohl in dokumentarischen Papyri82 als auch in LXX, z.B. Ijob 34,17 oder auch Ijob 40,28, wo der adjektivische Gebrauch adverbielle Bedeutung annimmt, inhaltlich bezogen auf das »Nehmen« eines Sklaven – im zeitlichen Sinn von »auf ewig«: λήμψῃ δὲ αὐτὸν δοῦλον αἰώνιον. In den atl. Sklavengesetzen wird diese Bedeutung mit εἰς τὸν αἰῶνα zum Ausdruck gebracht – als Übersetzung von µl[l. Inhaltlich geht es darum, dass ein hebräischer Sklave, der nach sechs Jahren ausdrücklich nicht als Freier entlassen werden will, durch den Ohrstechritus »auf immer« Sklave seines Eigentümers bleibt (Ex 21,6; Dtn 15,17) bzw. ein ausländischer Sklave als dauerhaftes Eigentum vererbt werden kann (Lev 25,46). Sinn im Kontext. Trägt man diese Bedeutung in V. 15f. ein, ergibt sich: Philemon erhält Onesimus zeitlich auf immer zurück, aber nicht mehr als Sklaven, sondern als Bruder. V. 16 erläutert also αὐτόν aus V. 15b. Damit kommt es jedoch zu einem Widerspruch zu V. 13f. bzw. V. 21. Denn Paulus hat seinen Wunsch, Onesimus als Mitarbeiter in der Mission einzusetzen, zwar zurück- bzw. der freien Entscheidung Philemons anheimgestellt, aber wie V. 21 zeigen wird, keineswegs aufgegeben. Würde er mit einem zeitlich verstandenen αἰώνιον (2b) Philemon nicht ein falsches Versprechen geben? Oder: Sofern ein passivisches Verständnis von ἐχωρίσθη (1a) zutrifft, sogar gegen den göttlichen Willen von Philemon weiterhin ein Surplus erwarten?83 Das muss nicht so sein, denn es gibt noch eine andere traditionsgeschicht liche Folie für das Wortpaar πρὸς ὥραν/αἰώνιον. Michael Wolter hat auf vergleichbare Wendungen hingewiesen, die die Funktion haben, »negative Erfahrungen in positive Akzeptanz zu überführen«.84 Verlust oder Leiden währen »nur« einen Augenblick und bedeuten eigentlich »nichts« an Vgl. 2Kor 7,8; Gal 2,5; für Belege in den dokumentarischen Papyri vgl. Arzt-Grabner 105. 82 Arzt-Grabner 222f. 83 O’Brien 296 stellt sich dem Problem, spielt es aber mit Gayer, Stellung 243f., dadurch herunter, dass er die zeitliche Permanenz nur auf den Bruderstatus, nicht auf die physische Anwesenheit bei Philemon bezieht. Ob dabei aber die Bedeutung von ἀπέχει in V. 15b (vgl. Kommentar) wirklich eingeholt werden kann? 84 Wolter 269. 81
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gesichts einer verheißenen eschatologischen Gabe. Dabei beziehen sich αἰώνιος bzw. ein entsprechendes Äquivalent immer auf ein in der zukünftigen Welt erwartetes Gut (»Herrlichkeit; »ewiges Leben«) – in dem Sinn, dass es von Gott verbürgt ist, ohne dass sich daran je etwas ändern kann. Rein semantisch handelt es sich um Zeitbestimmungen, inhaltlich jedoch bringen αἰώνιος/Äquivalente das entscheidende eschatologische Qualitätsmerkmal zum Ausdruck. Der jüngste der makkabäischen Brüder, der als Letzter hingerichtet wird, schleudert in 2Makk 7,36 König Antiochus entgegen: »Unsere Brüder sind nach kurzem Leiden (βραχὺν πόνον) mit der göttlichen Zusicherung ewigen Lebens (αἐνάου ζωῆς) gestorben.«85 Paulus stellt in 2Kor 4,16–18 »das schnell vorübergehende (παραυτίκα) Leichte unserer Bedrängnis« und das »überreiche, ewige (αἰώνιον) Gewicht von Herrlichkeit« in einen Kausalzusammenhang und verlegt die Erfahrung der Qualität eschatologischer Zukunft in die Gegenwart: Der gläubige Mensch wird von Gott Tat für Tag erneuert (ἀνακαινοῦται), sodass er durch den göttlichen Geist (2Kor 5,5) schon in dieser Welt zu einer »neuen Schöpfung« (2Kor 5,17) werden kann; in 2Kor 4,16 »innerer Mensch« genannt, der den Bedingungen dieser Welt ausgesetzt bleibt, aber bereits verändert wird, wenn er auf das eschatologische Ziel ausgerichtet bleibt.86 Trägt man diesen traditionsgeschichtlichen Hintergrund an V. 15 heran, bleibt der Chiasmus erhalten, aber er bekommt einen apokalyptischen Sinn, appliziert auf die Geschichte des Onesimus. Die Entfernung des »alten« Onesimus war zwar für Philemon ein schmerzlicher Verlust, der aber eigentlich nichts bedeutet im Vergleich zum bevorstehenden Gewinn. Ein »neuer Onesimus« kann von ihm in Empfang genommen werden: der von Paulus getaufte und mit göttlichem Geist ausgestattete Onesimus, an dem die Qualitäten eschatologischer Zukunft bereits wirksam sind, in V. 15b durch »Ewiger« zum Ausdruck gebracht. In diesem Fall erläutert V. 16, was das prädikative αἰώνιον (2a) konkret für Philemon in seiner Beziehung zum »ewigen« Onesimus bedeutet. Logik. Das mit ἐχωρίσθη verbundene Geschehen hat ein ganz bestimmtes Ziel (διὰ τοῦτο … ἵνα): die Aktion Philemons von V. 15b (ἀπέχῃς). Nimmt man für ἐχωρίσθη mediales Verständnis (1b) an, wäre Onesimus der Auslöser dafür. Sofern jedoch der apokalyptische Hintergrund eingetragen wird bzw. dessen paulinische Transformation, kann nur Gott der Akteur hinter ἐχωρίσθη sein (1a). Er hat den Sklaven Onesimus seinem Herrn weggenommen – die passivische Form passt zum Sklaven als Sachwert (res) in der Antike87 –, um Philemon »diese Sache« verwandelt, in eschatologischer Qualität, zum Empfang zu präsentieren. Insofern stehen sich im Chiasmus von V. 15 Vgl. 2Bar 48,50: »Wie ihr in dieser kurzen Zeit in dieser Welt, in der ihr lebt und die vorübergeht, viel Mühen ertragen habt, so werdet ihr in jener Welt, die ohne Ende ist, das große Licht empfangen.« 86 Vgl. Schmeller, 2Kor I 261–281. Vgl. auch 1Petr 1,4–6; 5,10. 87 So jedenfalls gemäß dem Mainstream; vgl. Herrmann-Otto, Sklaverei 16–34. 85
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in ἐχωρίσθη/ἀπέχῃς göttliche Aktion und menschliche Reaktion auf der einen Seite sowie in πρὸς ὥραν / αἰώνιον die Kennzeichen dieser vergänglichen Zeit und der neuen Schöpfung gegenüber. Mit aller Vorsicht bringt Paulus die Deutung88 der Abwesenheit des Onesi- Erklärung mus aus göttlicher Perspektive zur Sprache: »Vielleicht« (τάχα)89 ist es so, 15 dass hinter dem Verschwinden des Onesimus eigentlich eine andere Hand aktiv gewesen ist: Gott, wie Paulus in verhüllendem Passiv andeutet. Er hat Onesimus vom Haushalt Philemons »entfernt«. Eine derartige göttliche Aktion vorausgesetzt, muss sie auch ein bestimmtes (διὰ τοῦτο) Ziel (ἵνα) haben: Philemon bekommt seinen ehemaligen Sklaven als einen »Ewigen« präsentiert, also von Gott verwandelt. Was Paulus im Blick auf die Taufe des Onesimus in V. 10 in Familienmetaphorik zum Ausdruck gebracht hat (mein Kind/gebären),90 wird jetzt in ein apokalyptisches Sprachmuster getaucht: Wie die Leiden dieser Zeit nichts bedeuten im Vergleich zur zukünftigen Herrlichkeit bei Gott, so ist der Verlust, den Philemon wegen der Abwesenheit seines Sklaven hat hinnehmen müssen, nichts im Vergleich zu dem, was er – jetzt schon – dafür erhält: einen mit den Merkmalen der zukünftigen Welt, eben Gottes Schöpfergeist, ausgestatteten »ewigen« Onesimus.91 Sogar die Art der Reaktion auf diese Präsentation ist von Gott schon festgelegt. Paulus setzt einen Terminus aus der Geschäftssprache ein: ἀπέχειν, ein Verbum, das auf Quittungen technisch gebraucht wird, um den Empfang von Waren oder Geld zu bestätigen.92 Man sollte also nicht übersetzen: »… damit du ihn zurückerhältst«, sondern: »… damit du den Empfang (des Onesimus) als Ewigen quittierst«. Philemon soll also das neue Prädikat (»Ewiger«) der »Ware« – nach außen hin bleibt Onesimus ein Sklave – bestätigen und damit den Plan Gottes ratifizieren.93 So auch Wolter 270; Müller 119; Gnilka 50; Wengst 65; Reinmuth 45 spricht von einer »Interpretationshilfe«. 89 Diese Bedeutung ist in den zeitgenössischen dokumentarischen Papyri belegt: Arzt-Grabner 222. 90 Den Rückbezug zu V. 10 stellt auch Giuliano, momento, heraus. 91 Daraus darf aber nicht geschlossen werden, dass Onesimus selbst sich bereits im vollendeten Heilszustand befindet. Die Präsentation ist pragmatisch im Blick auf Philemon zu lesen – und sachlich begründet: Mit der Taufe, der rituellen Darstellung des eschatologischen Eingriffs Gottes, geschieht keine individuelle Veränderung, sondern eine soziale: Der Glaubende wird durch die Taufe in den Leib Christi eingegliedert (vgl. 1Kor 12,12f.). Also müssen sich auch die anderen Glieder des Leibes dazu verhalten. Das wird im Phlm speziell von Philemon eingefordert. Insofern schlägt auch für ihn jetzt die eschatologische Stunde (vgl. 2Kor 2,14–16); soziologisch steht seine Beziehung zu Paulus auf dem Spiel. 92 Vgl. Arzt-Grabner 223f.; vgl. Phil 4,18 für den Erhalt der Geldspende; vgl. die weiteren technischen Ausdrücke aus der Welt der Alltagsgeschäfte innerhalb des Phlm: V. 18b.19b. Eindeutige Belege, in denen sich ἀπέχειν auf den »Empfang« von Menschen bezieht, finden sich allerdings nicht. 93 Zu Recht moniert Wengst 66 Anm. 83, die Konsequenzen, die Arzt-Grabner 224 aus dem technischen Gebrauch von ἀπέχειν in V. 15b zieht: »Philemon wird nach der Aussage des Paulus bald imstande sein, den Erhalt seines Sklaven (sic !) zu quittieren!« 88
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Im Kontext des Briefes fungiert V. 15 als weitere und tiefere Begründung dafür, weshalb Paulus seinen Plan, Onesimus als Mitarbeiter bei sich zu behalten, nicht durchgeführt, sondern Philemon zu dessen freier Entscheidung zurückgeschickt hat (V. 13f.). Paulus vermutet, dass das Zusammentreffen mit Onesimus im Gefängnis nur ein Umweg war, den Gott deswegen inszeniert hat, um Philemons Reaktion herauszufordern – im Blick auf den göttlichen Eingriff an Onesimus. 16 V. 16 besteht aus einer langen Folge von Appositionen, die alle erklären sollen, welche Konsequenzen die angezielte »Quittierung« des göttlichen »Warenpakets« Onesimus für Philemon hat. Grammatikalisch führen sie den ἵνα-Satz von V. 15b weiter. Auffällig ist, dass die Verneinung zu Beginn all dieser Erläuterungen nicht μηκέτι lautet, wie es die Grammatik für einen Finalsatz fordert,94 sondern οὐκέτι. Das scheint Absicht zu sein. Denn »das subjektive μή verneint die Verwirklichung eines Gedankens«, »das objektive οὐ« dagegen »verneint die Realität«.95 Anders gesagt: Die theologische Deutung wird in V. 15 ganz vorsichtig eingeleitet, aber hinsichtlich ihrer Konsequenzen für das Verhältnis von Philemon zu Onesimus werden Fakten gesetzt. Die erste Erläuterung des »Ewigen«, dessen Empfang Philemon quittieren soll, ist eindeutig und klar: »nicht mehr als96 Sklaven«. In Kontraposition dazu gestellt (ἀλλά) ist auffälligerweise nicht diejenige semantische Opposition, die jeder zeitgenössische Hörer erwartet, weil sie in der antiken Gesellschaftsstruktur ganz selbstverständlich verankert ist, nämlich: ἐλεύθερος/»Freier«, und auch nicht die juristische Vorstufe dazu: ἀπελεύθερος/»Freigelassener«, ein Begriff, der Paulus in diesem Kontext offensichtlich ganz geläufig ist (vgl. 1Kor 7,22). Die göttliche Zukunftsvision für Onesimus sieht nach Paulus anders aus. Sie geht »über einen Sklaven« und dessen »normale« Aufstiegschancen, eben seine Freilasung und damit seine juristische Freiheit, hinaus: ὑπὲρ δοῦλον (V. 16b). Was damit gemeint ist, erläutert das angeschlossene ἀδελφὸς ἀγαπητός in V. 16c. Wir befinden uns also im ekklesialen Raum. Onesimus ist ab sofort »Bruder in Christus« und »Geliebter« wie alle Christgläubigen. Insofern ist Onesimus nicht die im Römischen Reich vorgegebene soziale Aufstiegsleiter hochgeklettert (ὑπέρ), sondern wird als Getaufter im Sozialraum des neuen Äon auf die gleiche Ebene mit allen anderen Christgläubigen gestellt. Im Kontext des Phlm gelesen bekommen die beiden Prädikate jedoch noch einen spezifischen Klang. Denn Paulus hat sie sehr gezielt vergeben: Im Blick auf sein Verhältnis zu Philemon im Präskript (V. 1f: ἀγαπητός) und im Proömium (V. 7c: ἀδελφός; vgl. V. 20a). In V. 16c werden beide Prädikate kombiniert – nun aber als Kennzeichnung des Verhältnisses von Philemon zu Vgl. BDR § 369. Vgl. BDR § 426. 96 Vgl. die analoge Formulierung in V. 9c: ὡς Παῦλος. 94 95
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Onesimus. Anders gesagt: Das Verhältnis von Paulus zu Philemon dient als Folie für das angezielte Verhältnis von Philemon zu Onesimus. Als weitere Analogien stehen das Verhältnis von Philemon zu Apphia bzw. das von Paulus zu Timotheus im Raum. Beide, Apphia wie Timotheus, sind Mitarbeiter in der Missionsarbeit. Für beide setzt Paulus im Präskript betont die Bruderbzw. Schwesterprädikation (V. 1d; 2b). Mit »geliebter Bruder« wird Onesimus also speziell in der Rolle als Mitarbeiter im Missionsteam präsentiert. Was durch das semantische Netz des Phlm in der Kombination von ἀδελφός und ἀγαπητός angedeutet wird, führen die beiden folgenden Erläuterungen explizit aus: »(Das ist er) besonders für mich, wie viel mehr aber für dich«. Im Blick auf Paulus ist die Aussage selbstredend. Inwiefern jedoch gelten soll, dass dieses brüderliche Mitarbeiterverhältnis in noch höherem Maß für Philemon gelten soll, wird auf den ersten Blick nicht ersichtlich. Man meint gewöhnlich, Paulus spiele auf die lange »Bekanntschaft« zwischen Philemon und Onesimus an. Aber das war ja eine Herr-Sklave-Beziehung, für Philemon vermutlich mit unguten Assoziationen verbunden, zumindest was »das Getrenntwerden« betrifft. Erneut scheint hier eine Leerstelle vorzuliegen, die (für den Leser) erst später gefüllt wird, nämlich wiederum in V. 19d: Philemon »schuldet« sich Paulus, weil er von ihm zum Glauben geführt worden ist. Paulus ist also nicht nur »die Mutter« des Onesimus (V. 10b), sondern auch »der Vater« Philemons.97 Insofern sind Philemon und Onesimus geistliche Brüder. Erst in dieser Perspektive greift die Steigerung von V. 16e: Wenn sich Paulus als »Vater« Philemons zum »Bruder« des Onesimus (V. 16d) und damit auch Philemons erklärt, also auf seine vorgeordnete geistliche Stellung verzichtet, wie viel mehr müsste das dann auch für Philemon gegenüber Onesimus gelten: als Bruder den Bruder anzuerkennen! Die letzte Ergänzung in V. 16f setzt dem Ganzen die Krone auf. Unmissverständlich gibt sie den Anwendungsbereich der bisherigen Erläuterungen an. Die Stellung des Onesimus als »geliebter Bruder« – auch und besonders für Philemon – gilt »im Fleisch und im Herrn«, also in der Alltagswelt des Hauses genauso wie in der Glaubenswelt der Ekklesia. In beiden Bereichen soll Onesimus »geliebter Bruder« sein. Was das für den ekklesialen Raum bedeutet, ist klar: Teilnahme am Herrenmahl samt Bruderkuss. Aber die neue Stellung hat auch Konsequenzen für die Alltagswelt des Hauses. Und das hat für Paulus Vorrang. An erster Stelle, vor dem spirituellen Bereich »im Herrn«, nennt er den in der Alltagswelt des Hauses unmittelbar greifbaren Bereich »im Fleisch«. Auch in diesem Bereich soll Philemon mit Onesimus als Bruder umgehen. Zu denken wäre also an eine flache Hierarchie wie gegenüber einem leiblichen Bruder; auf jeden Fall ist die Herrschaftsstellung des pater familias gegenüber seinem Sklaven außer Kraft gesetzt. Und dabei ist Onesimus rechtlich Sklave geblieben.98 Wie die ungewöhnliche Oppo Das stellt im Anschluss an Frilingos, Child 102f., Wengst 67 zu Recht heraus, ohne jedoch auf die vorliegende Argumentationsstruktur einzugehen. 98 Vgl. die anschaulichen Überlegungen dazu von Lampe 220. 97
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sition δοῦλος – ὑπὲρ δοῦλον in V. 16ab zeigt, denkt Paulus gerade nicht an eine rechtliche Freilassung.99 In diesem Fall würde Onesimus nämlich von einem Sklave-Herr-Verhältnis in ein Klient-Patron-Verhältnis wechseln und weiterhin seinem Herrn Philemon zu körperlichen und ideellen Leistungen verpflichtet sein100 – vom Problem des Lösepreises einmal ganz abgesehen. Der Sklave müsste ihn durch Ansparen eines entsprechenden peculium101 selbst aufbringen: über »Trinkgelder« für besonders gefällige Dienstleistungen bzw., falls der Herr es erlaubt, durch das Betreiben eigener kleiner Geschäfte. Nein, Paulus skizziert in V. 16 eine Rolle »über einen Sklaven hinaus«. Es geht nicht um einen Aufstieg innerhalb der Hierarchie des Hauses, sondern um einen Überstieg in den ekklesialen Raum innerhalb des Hauses von Philemon. Und dabei ist die Rolle, die Onesimus im ekklesialen Raum einnimmt (»geliebter Bruder«), bestimmend für die Rolle, die er auch im Alltagsraum des Hauses einnehmen soll. Ekklesiastrukturen sollen sich also in das Haus hinein ausbreiten. In ein Schema gebracht stehen sich in V. 16 als Erläuterungen zum »Ewigen« die Rolle des Sklaven und die zunächst rätselhaft umschriebene Rolle »über eine Sklaven hinaus« gegenüber. Alle folgenden Erläuterungen dienen dazu, das Unaussprechbare, das Paulus mit ὑπὲρ δοῦλον zu formulieren versucht hat, in greifbare Umrisse zu bringen. Dabei werden die Bereichsklassifikationen »im Fleisch« sowie »im Herrn« beide der göttlichen Rollenkonstruktion für Onesimus zugeordnet. Darin besteht die konzeptionelle Spitze: δοῦλος
ὑπὲρ δοῦλον ἀδελφὸς ἀγαπητός μάλιστα ἐμοί πόσῳ δὲ μᾶλλον σοί καὶ ἐν σαρκί καὶ ἐν κυρίῳ
Diese neue Rollenkonzeption für Onesimus bleibt bei Paulus kein subjektiver Gedanke, sondern ist für ihn Realität. Dafür steht der scheinbare grammatikalische Fehler des fehlenden Konjunktivs in V. 16. Und auch das ist keine bloß sprachliche Fiktion. Denn in der Beziehung Paulus – Onesimus ist die skizzierte Rollenkonstellation tatsächlich bereits Wirklichkeit. Und wir werden sehen, dass an der Realisierung des gleichen Verhältnisses zu Onesimus auch der Fortbestand der Beziehung Philemons zu Paulus hängt. Wenn Philemon im ekklesialen Raum bleiben will, »muss« er umsetzen, was Paulus ab V. 16 in der Indikativform, sozusagen im Realis, formuliert hat – als Konsequenz des »Paket des lieben Gottes«102. Vgl. dazu Herrmann-Otto, Sklaverei 190–202. Vgl. Waldstein, Operae; Zelnick-Abramovitz, Concept. 101 Vermögen, das der pater familias einem Sklaven zur eigenständigen Bewirtschaftung überlassen konnte, wobei das Eigentumsrecht immer beim Herrn blieb. 102 Vgl. die entsprechende Kurzgeschichte von B. Brecht. 99
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Exkurs I: Die gesellschaftliche Konstruktion des Sklaven in der griechisch-römischen Antike Sklaven sind ein selbstverständliches soziales Faktum im Alltag der griechisch-römischen Antike.103 Etwa ein Drittel der Bevölkerung in den Städten des Römischen Reiches dürften Sklaven gewesen sein. Auch wenn sich das Ziel, das man mit den Sklaven verfolgt, in der griechischen und der römischen Kultur leicht unterschiedlich bestimmen lässt und der konkrete Umgang mit Sklaven von Haushalt zu Haushalt differiert haben mag,104 die Rahmenbedingungen sind hier wie dort gleich: Ob als Kriegsgefangener oder durch Raub Verschleppter in die Sklaverei verkauft oder als Kind einer Sklavin im Haus geboren (verna):105 Der/die Betroffene ist Privateigentum seines/ihres Herrn, der volle Verfügungsgewalt über sein Besitzstück (ἀνδράποδον) hat. Retrospektiv wird die soziale Identität, soweit sie durch Herkunftsfamilie und -land bestimmt ist, annulliert, und prospektiv gibt es keinen Anspruch darauf, eine derartige Identität durch eine selbstbestimmte soziale Vernetzung aufzubauen, weil die Trennung von eventuellen Sexualpartnern genauso wie von leiblichen Kindern, die automatisch Eigentum des jeweiligen Herrn sind, durch Verkauf an einen anderen Herrn jederzeit möglich ist (»sozialer Tod«).106 Das Phänomen der Sklaverei, über das wir so gut wie keine Eigenzeugnisse besitzen,107 ist uns nur über den Diskurs zugänglich, der innerhalb der gesellschaftlichen Elite durchaus kontrovers geführt worden ist. Fiktiv kommen manchmal sogar Sklaven selbst zu Wort, wie etwa der Schweinehirt Eumaios, der in der Odyssee über seine Spezies festhält, dass am Tage der Versklavung (κατὰ δούλιον ἦμαρ) Zeus dem Menschen die Hälfte seiner Tüchtigkeit (ἥμισυ γὰρ τ᾿ ἀρετῆς) raube (Od. 17,322f.). Anders gesagt: Der Sklave ist ein »halber Mensch«.108 Das korreliert mit der alltäglichen Erfahrung, wonach sich z.B. der Schadensersatz für Delikte an Menschen um 50 % reduziert, sofern es sich um Sklaven handelt.109 Im Dis Gemäß Theopomp (4. Jh. v.Chr.), zitiert bei Athen. 6,264C, waren die Chier die Ersten, die Kaufsklaverei praktizierten. Dass ein Volk auf Sklaverei verzichtet oder sie gar verbietet, wird als Merkwürdigkeit registriert: Diod. 2,39,5; Athen. 6,265BC; vgl. Andreau/Descat, Slave 7–10. 104 In Griechenland wird die politische Bürgerschaft exklusiv gedacht, sodass die Sklaven zu den marginalisierten Außengruppen gehören – wie etwa die Metöken; römische Bürgerschaft dagegen ist inklusiv gedacht, in die hinein die Sklaven assimiliert werden sollen; vgl. Garnsey, Ideas 6f.; zu Beispielen besonderer Nahverbindung in den Haushalten vgl. Herrmann-Otto, Grundfragen 24–26. 105 Zu den historischen Ursachen der Anfänge der Sklaverei vgl. Zeuske, Handbuch 131f. 106 So schon bei römischen Juristen: Dig. 50,17,204 (Ulpian): servitutem mortaliti fere comparamus; aufgegriffen von Patterson, Slavery; Glancy, Slavery 1. 107 Erfahrungen Betroffener zu rekonstruieren versucht Flaig, Untermenschen 32–37. 108 Vgl. den gleichnamigen Aufsatz von Bellen, Menschen. 109 So schon im Gesetz von Gortyn/Kreta von 450 v.Chr.; weitere Beispiele bei Bellen, Menschen 13f. 103
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kurs über die Sklaverei wird dieses gesellschaftliche Defizit reflektiert – und legitimiert bzw. infrage gestellt. Dazu werden anthropologische oder soziologische Kategorien herangezogen, um das Phänomen »Sklave« zu definieren und von seinen eigentlichen Ursachen her zu erklären. So nüchtern die Deutungen sein mögen, sie setzen immer auch ein Enaktierungspotential110 frei. Ob dieser pragmatische Impuls auch gesellschaftliche Relevanz hat, hängt davon ab, welche Konsequenzen sich für den Adressaten aus der vorgeschlagenen Deutungsoption ergeben. Homer beschreibt die Sklaverei als abrupten, durch göttlichen Eingriff bewirkten Gewaltakt an einem Menschen, eben als Raub der Hälfte seiner ἀρετή, dem Identitätsmerkmal der aristokratischen Gesellschaft. Er wird damit an der empfindlichsten Stelle des gesellschaftlichen Wertesystems getroffen. Das ist insofern ganz konkret gedacht, als Eumaios wie viele andere Sklaven in der homerischen Zeit selbst aus dieser Gesellschaftsschicht stammen, aber durch Menschenraub bzw. durch Verkauf ihre soziale Stellung verloren haben.111 Wenn nun der zum Sklaven gewordene Eumaios sein Missgeschick als von Zeus verhängt interpretiert, können sich die adeligen Zuhörer beruhigt zurücklehnen und am – nun theologisch sogar aus dem Mund eines Betroffenen sanktionierten – Status quo der versklavten Standesgleichen festhalten. Dabei wissen sie genau, dass sie selbst für diese so ziale Ungleichheit verantwortlich sind – zumindest durch den Ankauf angebotener »Königskinder«. Es spricht für den Empiriker Platon, dass er konträre Perspektiven auf Sklaven festhält, allerdings nicht ohne Wertung: Sklaven selbst erzählen über ihresgleichen, sie seien tugendhafte Menschen, die sich ihren Herren gegenüber oft als besser erwiesen als deren eigene Brüder und Söhne. Die anderen jedoch, die »Verstand (νοῦς) besitzen«, trauen dieser Sorte von Menschen nicht – und dazu gehöre auch Homer, wofür Platon die Eumaios-Verse mit einer bezeichnenden Veränderung zitiert: Zeus raube am Tag der Versklavung nicht die Hälfte der ἀρετή, sondern die Hälfte des νοῦς (leg. 776B–777A). Damit benennt Platon das Defizit eines Sklaven mit einer dem Adelsethos analogen anthropologischen Kategorie aus dem philosophischen System. Allerdings gelingt es ihm nicht, die empirisch wohl korrekt beobachteten Erfahrungen mit Sklaven reflektiv einzuholen. In seinen »Gesetzen« rät er zu einem Umgangsstil, der die eigene soziale Stellung nicht ausnutzt, aber im Modus der Kommunikation den Unterschied zwischem dem Freien und dem Sklaven, der auch als »Haustier-Mensch« (τὸ θρέμμα ἄνθρωπος) bzw. als »Besitzstück« (κτῆμα) bezeichnet wird, klar erkennen lässt: nicht einfach zurechtweisen, sondern bestrafen; befehlen, nicht scherzen; mit einem Wort: Terminus aus der rekonstruktiven Sozialforschung; vgl. Bohnsack, Sozialforschung 138. 111 Vgl. Hom. Od. 15,380–492 (Eumaios); 1,427–435; 2,345–380 (Eurykleia); sozialgeschichtlicher Hintergrund dürfte sein, dass nicht alle Nachkommen adliger Häuser mit einem entsprechenden Erbe versorgt werden konnten; vgl. Herrmann-Otto, Grundfragen 17; McKeown, Odysseus. 110
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herrschen.112 In seiner Staatstheorie fallen die Sklaven völlig aus dem System. Hat doch nach Platon die Natur in einem jeden Menschen einen der drei Seelenteile besonders ausgeprägt – die Menschen sind also »von Natur aus verschieden« (διαφέρων τὴν φύσιν)113 – und damit den entsprechenden Einsatz in die Klasse der Herrscher, der Krieger bzw. der Händler vorprogrammiert.114 Für die Sklaven bleibt in dieser philosophischen Systematik kein Platz – und das wird auch nicht weiter reflektiert,115 sodass Platon, obwohl er die positiven Qualitäten von Sklaven wahrnimmt, letztlich die negative Meinung über sie zementiert, wenn er den »herrscherlichen« Umgangsstil sogar als Chance zum Training für die eigene Gerechtigkeit empfiehlt.116 Die Aporien Platons werden von Aristoteles gelöst – mit seinem berüchtigten Diktum vom φύσει δοῦλος, der dem φύσει ἐλεύθερος gegenübersteht.117 Damit greift er eine landläufige Meinung auf118 und bringt sie auf den Begriff: Es ist die Natur, die Sklavenmenschen kreiert. Aber seine Konzeption ist weitaus differenzierter, als sie in der weiteren Wirkungsgeschichte rezipiert worden ist. In seiner Staatstheorie – die konkrete Polis vor Augen – geht Aristoteles von Gegenpolen aus, die aufeinander angewiesen sind. Dabei entsprechen anthropologische Konstituenten soziologischen Größen: Seele/Leib, männlich/weiblich, herrschend/beherrscht – und Herr/Sklave.119 Dennoch ist der Sklave von seiner anthropologischen Beschaffenheit her gemäß Aristoteles nicht einfach nur σῶμα.120 Er ist – im Unterschied zum Tier – auch mit Vernunft ausgestattet, aber defizitär: Er kann sich nicht selbst organisieren – das ist ein Charakteristikum des Herren/Herrschens –, sondern nur korrekt auf Anweisungen reagieren und diese dann selbständig durchführen.121 Auch wenn Aristoteles für diese Sklavenmenschen generell Barbaren im Blick hat,122 ist sein Ausgangspunkt dennoch die Empirie: Er stellt unterschiedliche Erscheinungsformen von Körpern fest sowie unter Leg. 777B–778A. Rep. 370B. 114 Rep. 581B/E. 115 Vgl. Flaig, Untermenschen 44f. 116 Leg. 777D. Überall, wo Platon in seinen »Gesetzen« von den im Athen seiner Zeit bestehenden abweicht, zeigt sich bei ihm in der Tendenz größere Härte gegenüber den Sklaven und stärkere Betonung des Abstands zu den Freien; vgl. Morrow, Plato 194–198. 117 Pol. 1255a 1–3. Dabei greift Aristoteles kongenial auf Platon zurück; vgl. Schütrumpf, Slaves. 118 Von Herodot narrativ entfaltet (4,1–4: Skythische Sklavenkinder, die niemals freie Herren hatten, reagieren auf Peitschen wie Sklaven), von Heraklit aphoristisch (fr. B 53): »Der Krieg ist der Vater aller Dinge, die einen erweist er als Götter, die andern als Menschen, die einen macht er zu Sklaven, die andern zu Freien.« 119 Vgl. pol. 1252a 24–1252B 1; 1254b 34–36; eth. Nic. 8,13 (1161a 30–1161b 10); eth. Eud. 7,9 (1241b 17–23); zur Alltagsrezeption vgl. Artem. 4,30. 120 Vgl. aber die Alltagssemantik in Rechnungen, z.B. P.Mich. 5,323–325; Offb 18,13; vgl. Glancy, Slavery 10f.; zur Alltagserfahrung vgl. die Peitschenfolter zur Wahrheitsfindung bei Sklaven anstelle der Eidesleistung bei Freien in Athen: Bei Sklaven ist nur der Körper zur Wahrheit fähig; vgl. Flaig, Untermenschen 38–42. 121 Vgl. pol. 1254b 15–25. 122 Pol. 1252b 5–9. 112 113
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schiedliche Kompetenzen in der eigenständigen Organisationsfähigkeit und des politischen Handelns, was er aber von der Natur aus vorgegeben sieht.123 Außerdem unterscheidet er von diesen naturgemäßen Sklaven solche, die κατὰ νόμον, also durch das Kriegsrecht als Besiegte in die erzwungenermaßen beherrschte Stellung gebracht worden sind.124 Wenn Aristoteles jedoch festhält, ein vollständiger Haushalt bestünde aus Sklaven und Freien,125 dann geht sein Enaktierungsvorschlag eindeutig in die Richtung der Stabilisierung der bestehenden Herrschaftsverhältnisse – und zwar geradezu als Identitätstraining speziell für den pater familias.126 In seinen Ausführungen setzt sich Aristoteles mit der Gegenthese auseinander, die zu seiner Zeit besonders von den Sophisten vertreten wird. Programmgemäß verzichten sie auf anthropologische Kategorien zur Differenzierung zwischen Sklaven und Freien, führen stattdessen geschichtliche Kontingenz sowie interessegeleitete gesetzliche Bestimmungen ins Feld und setzen in diesem Sinn νόμος (von Menschen gesetzte Konvention) und φύσις (ursprünglicher Zustand) in Kontrast. Aristoteles referiert, dass »den anderen das Herrsein (δεσποτίζειν) gegen die Natur (παρὰ φύσιν) erscheine; aufgrund des Gesetzes (νόμῳ) nämlich sei der eine ein Sklave, der andere aber ein Freier; aufgrund der Natur (φύσει) aber gebe es keinen Unterschied; daher sei es auch nicht gerecht, denn es sei gewaltsam.«127 Die Äußerungen stehen vermutlich im Zusammenhang mit realpolitischen Ereignissen des 5./4. Jh. v.Chr. in Griechenland. Zum einen sollte angesichts der immer härter ausgefochtenen kriegerischen Auseinandersetzungen vor der Versklavung von Griechen durch Griechen gewarnt, zum anderen die Befreiung der messenischen Heloten aus der Hand der Spartaner durch die Thebaner (370/369 v.Chr.) und die dadurch ermöglichte Konstituierung eines freien Staatswesens, in dem auch ehemalige Heloten als Gleiche integriert waren, legitimiert werden.128 Sachlich geht die Stoa vom gleichen Paradigma aus: Kein Mensch ist von Natur aus ein Sklave,129 benutzt jedoch die geprägte anthropologische Dichotomie, um – sozusagen kontrafaktisch – Sklaverei moralisch zu definieren.130 Das stoische Paradox »nur der Weise ist frei«131 lässt sich dann Pol. 1254b 27–31; vgl. Papadis, Problem 345–350; anders als Platon (rep. 777D) stellt Aristoteles den Erziehungsauftrag heraus (pol. 1260b 5–7). 124 Pol. 1255a 5–7. 125 Pol. 1253b 4. 126 Vgl. auch Flaig, Untermenschen 42–47; sowie die Textsammlung bei Garnsey, Ideas 107–127. 127 Pol. 1253b 20–23. Vgl. Antiph. fr. 44 B 2,10–14 DK; Alkidamas: Aristot. rhet. 1373b 17–18. Vgl. Philemon fab. inc. fr. 39 Meineke. 128 Die Gegenposition hat der Athener Isokrates vertreten (or. 6,23.29f.32f.); vgl. Welwei, Ius naturale 85f.; Garnsey, Ideas 75f.; Cartledge, Helots; Hunt, Slaves 40; Herrmann-Otto, Grundfragen 27f.44. 129 Vgl. SVF III 352; vgl. Hunt, Slaves 45. 130 Dio von Prusa präsentiert diese Definition als die eigentlich ursprüngliche (ἐξ ἀρχῆς) (or. 15,19). 131 SVF III 589–603. 123
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folgendermaßen erklären: Unabhängig davon, ob der Körper (corpus) gemäß der jeweiligen Gesellschaftsordnung als Sklave einem Herrn unterstellt ist, entscheidet allein der Geist (mens) mit dem Sitz des freien Willens darüber, ob er sich zum Sklaven der Leidenschaften macht oder nach sittlicher Vollkommenheit (virtus) strebt und sich dadurch als freier Mensch erweist. Seneca hat die theoretischen Überlegungen auf die Spitze getrieben132 und entsprechende praktische Konsequenzen formuliert. Er behauptet für die mens, sie sei sui iuris133 – und nimmt damit einen Terminus auf, der im römischen Recht eine juristische Person mit eigenständiger Verfügungsvollmacht bezeichnet, was normalerweise dem pater familias vorbehalten ist. Als soziale Konsequenz für den Umgang mit Sklaven im Haus ergibt sich für ihn deshalb: »Lebe mit deinem Sklaven milde, umgänglich auch, gewähre ihm Zugang zum Gespräch, zur Beratung (consilium), zur Mahlzeit (convictum)!«134 Kurz: Gleichstellung durch Gleichbehandlung; Zulassung zum Symposion, ein alter Freilassungsritus135 – ohne förmliche Freilassung, weil für Seneca das Kriterium der Auswahl nicht die dem sozialen Stand entsprechende Funktion eines Menschen ist (ministerium), sondern der Gebrauch seines freien Willens (mores).136 Die gesellschaftlich etablierte Sklaverei ist damit nicht abgeschafft, nicht einmal infrage gestellt, aber marginalisiert und unter höhlt.137 Allerdings steht es ganz im Verfügungsbereich des Sklavenherrn, ob er sich dieser stoischen Deutungsoption und ihren praktischen Konsequenzen anschließt. Jedoch ist sein Selbstanspruch, Philosoph und ein wirklich freier Mensch zu sein, genau davon abhängig – jedenfalls aus dem Blickwinkel stoisch geprägter Zeitgenossen. Das gesellschaftliche Enaktierungs potential bleibt also auf enge Zirkel beschränkt. Die stoische Variante der Naturrechtslehre hat offensichtlich auch auf die römischen Rechtsgelehrten großen Eindruck gemacht.138 Auf jeden Fall sind deutliche Spuren davon in den (uns erhaltenen) Überlegungen der kaiserzeitlichen Juristen zu finden. Denn sie setzen sich nicht nur kasuistisch mit der faktischen Sklaverei auseinander,139 sondern entwickeln eine eigenständige Theorie mit Kategorien, die insofern als soziologisch bezeichnet werden können, als sie nicht von der anthropologischen Grundstruktur des Einzelnen, sondern von dessen Beziehungsnetz ausgehen – und zwar auf unterschiedlichen Ebenen. Die Rechtsgelehrten unterscheiden drei Rechtssphären, durch die in sich abgestufte Wirklichkeitsbereiche bestimmt werden, wobei der jeweils umfassendere Bereich dem spezielleren sachlich Vgl. Waldstein, Menschsein 36–46. Benef. 3, 20,1. 134 Epist. 47,13. 135 Bellen, Menschen 18f. 136 Vgl. epist. 47,15. 137 Vgl. Herrmann-Otto, Grundfragen 49. 138 Als Zwischenglied schon für das 2. Jh. v.Chr. wird der Name Antipatros von Tarsos genannt; vgl. Behrends, Prinzipat 68–79; Welwei, Ius naturale 89f.; zur Diskussion vgl. Waldstein, Cicero. Antipatros-Zitate z.B. bei Cic. off. 3,51–57.91. 139 Vgl. Herrmann-Otto, Grundfragen 50–58. 132 133
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vorgeordnet ist.140 Dieses Prinzip gilt jedoch – was die soziale Wirklichkeit angeht – ausgerechnet für den Sklaven nicht:141 Gemäß dem ius naturale, der übergreifend verbindlichen Norm,142 steht der Sklave nämlich mit allen anderen Menschen auf der gleichen Stufe: quod ad ius naturale attinet, om nes homines aequales sunt.143 Gemäß dem ius gentium, dem Völkerrecht, sind Sklaven in der freien Verfügungsgewalt ihrer Herren stehendes Sachgut,144 nach dem ius civile jedoch gelten sie als ein Nichts (pro nullis habentur).145 Und es ist Letzteres, das den römischen Alltag bestimmt. Gemäß der Magna Charta des römischen Personenstandsrechts gilt: »Die oberste Einteilung im Personenrecht geht dahin, dass alle Menschen entweder Freie oder Sklaven sind.«146 Die römischen Rechtsgelehrten haben also in das theoretische Fundament ihres Rechtsgebäudes eine Kontraststimme als Kritik eingebaut, die jedoch – entgegen der eigenen Systematik – keine Auswirkung auf die soziale Wirklichkeit des Alltags hat.147 Es bleibt also bei einem inhärenten Stachel ohne Stoßkraft. In Phlm 16 versucht Paulus die Stellung eines Sklaven neu zu bestimmen, sofern er getauft ist. Im Haushalt Philemons soll Onesimus fortan als dessen »Bruder« gelten – »und zwar sowohl im Fleisch als auch im Herrn«. Als Pendant zu ἐν κυρίῳ kann ἐν σαρκί nicht anthropologisch gemeint sein, sondern nur einen Wirklichkeitsbereich ansprechen, der analog zu ἐν κυρίῳ zu bestimmen ist, sich aber sachlich davon unterscheidet. Mit ἐν κυρίῳ ist der durch den Glauben an die Auferweckung des Gekreuzigten gekennzeichnete Wirklichkeitsbereich gemeint, mit dem die Neue Welt bereits begonnen hat und der mitten in der Alten Welt im Raum der Ekklesien, als die sich die Glaubenden versammeln, soziale Wirklichkeit geworden ist. Insofern ist ἐν κυρίῳ gleichbedeutend mit ἐν ἐκκλησίᾳ, ἐν σαρκί dann entsprechend mit So jedenfalls nach Ulpian: Dig. 1,1,1,4, im Blick auf die Vorordnung des ius naturale vor dem ius gentium. 141 Das wird z.B. vom Juristen Florentinus (Ende 2. Jh.) sehr klar wahrgenommen: »Die Sklaverei ist eine Einrichtung des Völkerrechts, durch die jemand entgegen dem Naturzustand (contra naturam) der Herrschaft eines anderen unterliegt« (Dig. 1,5,4,1). 142 Vgl. die Definition von Ulpian: »Naturrecht ist das, was die Natur alle Lebewesen lehrt. Denn jenes Recht nicht ist nur dem Menschengeschlecht zu eigen, sondern allen Lebewesen zu Wasser und zu Land.« (Dig. 1,1,3); vgl. Cic. leg. 2,4,8. 143 Dig. 50,17,32 (Ulpian). 144 Vgl. Gai. inst. 1,52 (als Usus bei den Völkern abgelesen). 145 Dig. 50,17,32 (Ulpian); Wieling, Corpus Nr. 134. Sklave werden bedeutet rechtlich so viel wie Sterben: servitutem mortaliti fere comparamus (dig. 50,17,209 [Ulpian]); vgl. Wieling Nr. 135; vgl. auch Nr. 110; 274. Hier wäre erneut zu differenzieren: Im Zivilrecht ist der Sklave eine res mancipii, im Strafrecht kann er zur Verantwortung gezogen werden, gemäß Sakralrecht gilt er sogar als Rechtssubjekt; vgl. Wieling 1–30. 146 Dig. 1,5,3 (Gaius); Wieling Nr. 28. 147 In einem Standardwerk zum römischen Sklavengesetz taucht das Stichwort ius na turale konsequenterweise weder im Register noch im Inhaltsverzeichnis auf und wird lediglich in der Einführung mit einem Satz erwähnt: Buckland, Law 1. Nach Gardner, Slavery 436, zielen die humanitären Töne der Rechtsgelehrten »at encouraging servile acquiescence.« 140
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ἐν οἴκῳ,148 womit im Phlm ganz konkret der Haushalt Philemons gemeint
ist, innerhalb dessen die römische Sozialordnung gilt. Insofern stehen auch Paulus zwei Rechtssphären vor Augen: Im Haushalt Philemons gilt die po testas des pater familias, in der Ekklesia dagegen das Gesetz des »Herrn« Christus (Phlm 3), der gemäß 1Kor 15,20–28 in der Zwischenzeit zwischen Auferweckung und Endgericht als König herrscht (βασιλεύειν). Zu seinem Königsgesetz gehört das Liebesgebot als Erfüllung der Tora (Gal 5,14; 6,2) genauso wie die prinzipielle Nivellierung aller gesellschaftlichen Dichotomien, deren Außerkraftsetzung mit der Taufe als dem Ritus des Eintritts in die königlich-christliche Rechtssphäre verfügt ist (Gal 3,27f.). Mit dem Eintritt in diese nur im Glauben erfassbare Rechtssphäre tritt anstelle der in der römischen Welt üblichen Standes-, Geschlechts- und ethnischen Kategorien eine Familienfiktion, die jeden und jede zum ἀδελφός bzw. zur ἀδελφή macht. Wenn Paulus in Phlm 16 nun diesen neuen »Stand« des getauften Sklaven Onesimus für Philemon zum göttlich vorgesehenen Ziel macht und kommentierend hinzufügt καὶ ἐν σαρκὶ καὶ ἐν κυρίῳ, dann ist es für Paulus (mit gläubigen Augen betrachtet) wie bei den römischen Juristen die globale Rechtssphäre (ἐν κυρίῳ), mit menschlich ungläubigen Augen betrachtet (jedoch anders als bei den römischen Juristen) die lokal untergeordnete Rechtssphäre, die der jeweils anderen vorgeordnet ist. Konkret: Die Rechtsordnung der Ekklesia ist auch für die Rechtsordnung im Haus bestimmend. Das bleibt bei Paulus – anders als bei den römischen Rechtsgelehrten – jedoch nicht bei einer theoretischen Überlegung, sondern wird an eine eindringlich formulierte Bitte an Philemon geknüpft, verbunden mit einer Mustervorgabe für das konkrete Verhalten: Die Beziehung (κοινωνός), die Philemon mit Paulus pflegt, soll er auch auf Onesimus übertragen.149 Im Unterschied zur philosophischen Tradition stützt sich Paulus für die Neubestimmung der Stellung des getauften Sklaven nicht auf anthropologische,150 sondern auf soziologische Kategorien – und trifft mit dem erwünschten Bruderstatus genau ins Zentrum der eigenen Identitätsbestimmung der Christusgläubigen.151 Wer sich dem verweigert, gehört eigentlich auch selbst nicht dazu. Unter den Kirchenvätern des 4. Jh., die angesichts der sogenannten Klosterflucht der Sklaven152 das Problem der Stellung gläubiger Sklaven in der christlichen Gesellschaft grundsätzlich reflektieren und diesbezüglich um Phlm 15f. nicht herumkommen, ist es Hieronymus, der in seiner Kommen Petersen, Paul 89–199, nennt die beiden Bereiche in seinem Modell »church« bzw. »world«, bei Wolter 256–258 aufgegriffen durch »religiöse« bzw. »häusliche Sinnwelt«. 149 Ob damit zugleich eine Sanktionsandrohung implizit verknüpft ist, die dann konkrete soziale Auswirkungen für Philemon hätte, nämlich den Abbruch der Beziehung zu Paulus und damit automatisch den Ausschluss aus der Ekklesia, ist dem Text nicht explizit zu entnehmen. 150 Das göttliche Pneuma ersetzt nicht den menschlichen Verstand, sondern treibt ihn als externes Medium zum Tun des göttlichen Gesetzes an – und ist deshalb an den Taten ablesbar. 151 Analog zur Eumaios-Aussage bei Homer. 152 Vgl. unten S. 153–156. 148
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tierung ausdrücklich von einem doppelten Gesetz spricht, an das der Sklave gebunden sei: »Daraus erkennen wir, dass ein Sklave, der an Christus glaubt, durch ein doppeltes Gesetz an seinen Herrn gebunden ist, damit er mit ihm sowohl durch die Notwendigkeit des Fleisches verbunden sei für die Zeit, als auch für die Ewigkeit durch den Geist.«153 Mit den Begriffen der römischen Juristen gesprochen überlappen sich gemäß Hieronymus römische und christliche Rechtssphäre in dieser irdischen Zeit, wobei das Gesetz Christi in Ewigkeit bestehen bleibt, aber nur, um die Bindung des Sklaven an seinen irdischen Herrn über diese Zeit hinaus festzuschreiben! Damit übernimmt Hieronymus im Blick auf die Bestimmung der Stellung des Sklaven die – systemimmanent widersprüchliche – faktische Überordnung des römischen Zivilrechts über jede andere Rechtssphäre, klinkt sich damit problemlos in das bestehende römische Rechtssystem ein154 und degradiert Gal 3,28155 genauso wie die christliche Geschwisterfunktion – von humanitären Paränesen abgesehen – zu einem Stachel im Fleisch, der nicht wehtut, weder in dieser noch in der kommenden Zeit. [Exkurs Ende] 4 Philemons Entscheidung (V. 17–19) 17a Wenn du nun mich als Geschäftsteilhaber hast, b nimm ihn hinzu wie mich. 18a Wenn er dir aber irgendeinen Schaden zugefügt hat oder (dir etwas) schuldet, b das stelle mir in Rechnung 19a – Ich, Paulus, habe mit meiner eigenen Hand geschrieben: b Ich werde Schadensersatz leisten –, c damit ich nicht sage: dir, d weil du dich sogar selbst mir schuldest. Analyse 1. Grammatikalische Strukturen und Rhetorik. Die Passage V. 17–19 beginnt in V. 17 und in V. 18 mit zwei parallel aufgebauten Sätzen: Dem Konditionalsatz (εἰ) folgt jeweils ein Imperativ im Hauptsatz. In V. 19ab schließen sich zwei weitere jeweils mit ἐγώ eingeleitete Hauptsätze an: eine den zeitgenössischen Formalitäten entsprechende vertragsrechtliche finanzielle Schulderklärung (s. Auslegung). Schwierig einzuordnen ist allerdings, was 153 Hier. comm. in Phlm. (CCSL 77C 98,455–457 Bucchi). Natürlich ist es der Haustafeltext Eph 6,5f. (κατὰ σάρκα κυρίους – ὡς τῷ Χριστῷ), durch dessen Brille Phlm 16 gelesen wird; vgl. Hier. comm. in Eph. 3 (PL 26, 541): dominus spiritualis – dominus carna lis. Vgl. Klein, Hieronymus 402–404. In der Sache vergleichbar, allerdings näher an Eph 6,5f. formuliert hat Basil. reg. mor. 75 (PG 31, 856f.); vgl. Grieser, Bewegungen 398f.; zur Nähe zum aristotelischen φύσει δοῦλος vgl. Klein, Haltung 51–53. 154 Zur Begründung der Sklaverei in dieser Welt auf biblischer Basis vgl. Grieser, Sklaverei. 155 Gemäß Theodor von Mopsuestia kommt Gal 3,28 ohnehin erst eschatologisch zur Geltung; vgl. unten S. 159 Anm. 134.
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dann folgt: ein mit ἵνα eingeleiteter Nebensatz (V. 19c), dem wiederum ein ὅτι-Nebensatz untergeordnet ist (V. 19d). Von den meisten Kommentatoren wird V. 19c (ἵνα μὴ λέγω σοι) als rheto-
rische Figur gewertet: als praeteritio.156 Paulus stelle sich so, als wolle er etwas nicht sagen, was er dann aber doch ausspricht und was, wegen dieser Vorbemerkung, umso größeren Nachdruck erhalte: »dass ich dir nicht sage …« Der folgende ὅτι-Satz gebe dann den Sachverhalt an, den Paulus eigentlich gar nicht aussprechen wolle: »dass du dich sogar selbst mir schuldest«. Gerade weil Paulus, wie er durch die rhetorische Figur der praeteritio signalisiere, darüber gar nicht sprechen möchte, entstehe erst recht eine peinliche Erinnerung daran, dass Philemon ihm mit seinem ganzen Leben verschuldet sei. Die Schuldverpflichtung dagegen, die Paulus für Onesimus als Schadensersatz Philemon gegenüber eingeht (V. 18.19ab), ließe sich im Vergleich dazu vernachlässigen. Nun gibt es für V. 19cd eine verblüffende Analogie in 2Kor 9,4. Mit einer identischen Formulierung (ἵνα μὴ λέγω + Personalpronomen) wird hier aber nicht eine praeteritio angezeigt, sondern eine correctio.157 Die Aussage, dass »wir unsererseits uns schämen müssen« (καταισχυνθῶμεν ἡμεῖς), korrigiert Paulus dadurch, dass er die Floskel ἵνα μὴ λέγω anfügt und das Personalpronomen ὑμεῖς/»ihr« folgen lässt. Das verbum dicendi führt – wie in diesem Fall aus dem Kasus leicht zu ersehen ist – das Personalpronomen nicht als Objekt, sondern dient als Signal dafür, die Bezugsperson des vorangegange nen Verbums zu korrigieren. In der Interpunktion könnte man das dadurch zum Ausdruck bringen, dass man vor ὑμεῖς einen Doppelpunkt setzt. Nicht Paulus (ἡμεῖς) muss sich schämen, sondern eigentlich die Korinther (ὑμεῖς)! Eine analoge Auflösung legt sich auch für V. 19cd nahe.158 Dabei nehmen die beiden Versteile V. 19cd die vorangehenden Versteile V. 18ab chiastisch auf: εἰ δέ τι ἠδίκησέν σε ἢ ὀφείλει τοῦτο ἐμοὶ ἐλλόγα
vertragsrechtliche Schulderklärung
ἵνα μὴ λέγω σοι [ ἐλλόγα] ὅτι καὶ σεαυτόν μοι προσοφείλεις PDF 10
18a 18b 19ab 19c 19d
Entsprechen sich in den inneren Gliedern die Personalpronomina ἐμοί/σοι, so werden die äußeren Glieder durch die semantische inclusio von ὀφείλει 156 Lohse 284; Stuhlmacher 50; Barth/Blanke 483; Reinmuth 50; jeweils mit Bezug auf BDR § 395,3; vgl. Lausberg, Handbuch § 884–886; im Sinn einer praeteritio übersetzt von: Lampe 215; Wengst 64; Müller 103. 157 Merkwürdigerweise wird von fast allen Auslegern gerade diese Stelle als Paradebeispiel für eine praeteritio herangezogen. 158 So entscheiden sich z.B. auch Gnilka 85f.; Wolter 276; Kumitz, Brief 185. Ausdrücklich abgelehnt von Stuhlmacher 50 Anm. 124. Den gesamten V. 19 als »juristischen Einschub« herauszunehmen (Müller 130f.), verschiebt das Problem nur.
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bzw. προσοφείλεις, jeweils in Endstellung, deutlich aufeinander bezogen. Für die vorgeschlagene Lesart lässt sich das folgendermaßen auswerten: ἵνα μὴ λέγω korrigiert den Personalbezug des vorangehenden Verbums. Infrage kommt nur ἐλλόγα in V. 18b (innere Glieder). Philemon soll nicht Paulus (ἐμοί/mir) den Schaden auf die Rechnung setzen, sondern σοι/dir, also sich selbst. Analog zu V. 18a thematisiert V. 19d die Art der Schuld (äußere Glieder). In diesem Fall ist ὅτι kausal aufzulösen: »weil du …«159 Während es bei Onesimus nur um einen finanziellen Schaden geht (s. die Auslegung), schuldet Philemon sich Paulus »sogar selbst«,160 also sein Leben! Und diese Riesenschuld soll sich Philemon auf die eigene Rechnung setzen. Während die Auflösung von V. 19c als praeteritio lediglich eine pointierte Erinnerung an diese Riesenschuld zum Ausdruck bringt, lässt Paulus, fasst man ἵνα μὴ λέγω als correctio auf, ein zweites Schuldenkonto eröffnen,161 was für Philemon, sollte er auf Schadensersatz bestehen, ziemlich beschämend sein muss: Der Gegenwert des Lebens wird den evtl. nötigen Schadensersatz für Onesimus bei weitem übersteigen! Weil diese Version eine klare Analogie im innerpaulinischen Schrifttum hat und zudem den Gedankengang noch schärfer pointiert, wird sie hier bevorzugt. Im klassischen Schrifttum dient die rhetorische Figur der correctio dazu, »schockierende Äußerungen (Worte wie Gedankeninhalte) abzudämpfen«.162 Paulus setzt sie in 2Kor 9,4 genauso wie in V. 19cd anders ein: Er provoziert damit. 2. Performanz. Unabhängig davon, ob Paulus in V. 19c eine praeteritio oder eine correctio intendiert hat, entscheidet der (jeweilige) Vorleser, der den in scriptio continua ohne Akzente und Interpunktion geschriebenen Text vorträgt, durch seine Betonung und Pausensetzung, welche Version den Zuhörern zu Ohren kommt.163 Liest er nämlich das Personalpronomen σοι enklitisch an λέγω angeschlossen – also so, wie es in unseren Ausgaben abgedruckt ist –, dann hört man die praeteritio (entsprechende deutsche Übersetzung: »damit ich dir nicht sage«). Lässt er dagegen nach λέγω eine Pause und liest σοι betont – im Druck müsste dann ein Doppelpunkt nach λέγω stehen und σοί einen Akzent tragen –, dann hört man deutlich die correctio (entsprechende deutsche Übersetzung: »damit ich nicht sage: dir«). Vgl. BDR § 456,1.2. Καί ist pointierend auf σεαυτόν bezogen (vgl. BDR § 442,6a). Das wird meistens nicht korrekt wiedergegeben mit »… dass auch du dich selbst mir schuldest …«; vgl. Lampe, Wengst, Reinmuth, Müller. 161 Vgl. Gnilka 86: »Paulus macht eine gegenseitige Schuldverpflichtung auf.« 162 Lausberg, Handbuch § 786 (im Unterschied zur semantischen correctio: § 785); wird unter dem griechischen Terminus Epidiorthose leicht missverständlich rezipiert bei BDR § 495,4 Anm. 12: »die (steigernde) Korrektur des Gesagten«. 163 Vgl. Oestreich, Performanzkritik 66f.; die Bedeutung von Lesepausen für die Erfassung des Textsinns hebt Iren. 3,7,1 hervor. Die Schwierigkeit, ohne Interpunktion den Sinn des Textes erfassen zu können, stellt auch Aristot. rhet. 3,5,6 (1407b11–18) heraus. 159 160
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3. Logik. Mit erheblichen Folgen für die Rekonstruktion der Vorgeschichte unseres Briefes werden, auch wieder in neuesten Kommentaren, die Angaben von V. 18a (ἠδίκησέν σε ἢ ὀφείλει) als Fakten gelesen. Dunn schreibt: »It is clear that Onesimus wronged his master in some way« (302). Etwas vorsichtiger, aber im Ergebnis identisch, formuliert Fitzmyer: »Pauls states the matter hypothetically, but he realizes it to be true absolutely« (117). Es mangelt nicht an konkreten Vorschlägen: Onesimus habe »einen Griff in die Kasse seines Herrn« getan. »In diesem Falle dürfte Onesimus mit der Verwaltung der Geldgeschäfte beauftragt gewesen sein, was keineswegs ungewöhnlich war.«164 Durch das entwendete Geld habe sich Onesimus ein finanzielles Polster für die Flucht verschafft165 bzw. sich durch Flucht der Bestrafung entziehen wollen.166 Auf jeden Fall käme der durch die Abwesenheit des Onesimus verursachte Arbeitsausfall als finanzieller Schaden für Philemon infrage.167 In bewusstem Kontrast zu dieser forschungsgeschichtlichen Linie fasst C.J. Martin die Aussagen in V. 18a als rein rhetorischen Schachzug auf.168 Paulus benutze in V. 18 Termini aus der Geschäftssprache (ὀφείλω, ἐλλογέω), um – wie es für eine peroratio, wozu Martin die V. 17–22 rechnet, von der Rhetorik empfohlen wird – die Gefühle der Hörer anzusprechen. Paulus will zeigen, dass er sich für Onesimus einsetzt wie ein Vater für sein Kind. Die im εἰ-Satz geäußerten Handlungen hätten deshalb rein hypothetischen Charakter und lieferten nur die Basis dafür, mit seiner in Aussicht gestellten Rettungsaktion die Gefühle seines Hauptadressaten Philemon zu erregen. Vermutlich ist Martin über das Ziel hinausgeschossen. Eine philologisch angemessene Rezeption des Konditionalsatzes V. 18a, die von ihm zu Recht angemahnt wird,169 wäre genug. Gemäß griechischer Grammatik gilt: »εἰ mit Indikativ aller Tempora bezeichnet lediglich die Annahme und stellt eine logische Schlussfolgerung dar.«170 Entscheidend ist die Anmerkung: »… eine persönliche Ansicht über Wirklichkeit oder Verwirklichung [wird] nicht angedeutet …«171 Paulus wählt also eine Sprachform, die das Urteil über die Gülzow, Christentum 31. An Diebstahl denken schon altkirchliche Ausleger, z.B. Theodoret und Theophylakt (vgl. Gnilka 84); unter den neuzeitlichen Auslegern vgl. Lightfoot 341; Dibelius 106; Stuhlmacher 49; Dunn 302f.338f.; Fitzmyer 117; Müller 127. Kumitz, Brief 182, denkt daran, dass Onesimus das peculium, das immer Eigentum des Herrn bleibt, an sich genommen habe; vgl. auch die differenzierte Auflistung bei Cotrozzi 146f. 165 Vgl. Epikt. diss. 3,26,1; Hor. sat. 1,1,76–78. 166 Vgl. Gnilka 84. 167 Vgl. Gülzow, Christentum 31; Lohse 284; Stuhlmacher 49; Wengst 69; Dunn 30, der mit Hinweis auf Dig. 47,2,61 (der Sklave ist Eigentum seines Herrn) auch diese Variante als »robbery« wertet. 168 Martin, Function. Seinerseits listet er markante Beispiele aus der Forschungsgeschichte auf: 330–332. 169 Martin, Function 332–334. 170 BDR § 371,1. 171 BDR § 371,1 Anm. 1; vgl. Kraus, Verpflichtung 198f.: »Bedingungsgefüge, das jeweils das Verhältnis zur Wirklichkeit offen läßt.« 164
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in V. 18a genannten Sachverhalte dem Adressaten überlässt, in erster Linie Philemon.172 Paulus spricht die heikle Sache nur an. Insofern liegt die rhetorische Figur der anticipatio vor,173 die mögliche Einwände der Hörer vorwegnimmt und sie im Vorfeld zu entkräften sucht. In unserem Fall geschieht das dadurch, dass Paulus sich selbst bereiterklärt, für den eventuellen Schaden aufzukommen. Formuliert wird das jedoch im Imperativ: »Das stelle mir in Rechnung!« Aber dieser Imperativ ist »der Gültigkeit einer Bedingung unterstellt«.174 Diese zu prüfen, ist Sache Philemons. Was für den zweiten Konditionalsatz unserer Passage in V. 18a gilt, sollte auch für den ersten in V. 17a gelten, für dessen εἰ jedoch gelegentlich »fast kausale[r] Charakter« veranschlagt wird.175 Die parallele Struktur aber legt Gleichbehandlung nahe: Auch in diesem Fall muss Philemon selbst entscheiden – und dann die entsprechenden Konsequenzen ziehen. Wenn er Paulus als Geschäftsteilhaber hat, dann muss er auch dem Imperativ in V. 17b Folge leisten.176 Anders liegt der Fall in V. 19d: Hier wird die Schuld Philemons tatsächlich als Faktum festgestellt – ohne Entscheidungsfreiheit. Und das gilt unabhängig davon, ob man V. 19c als praeteritio mit folgendem ὅτι, das »Tatsachen, hauptsächlich der Vergangenheit«177 zur Sprache bringt, oder als correctio mit folgendem kausalen ὅτι auffasst. Erklärung Nachdem Paulus seine ursprüngliche Absicht, wie er am liebsten mit Onesimus verfahren wäre, offengelegt und Philemon mitgeteilt hat, dass er aus Respekt vor dessen freier Entscheidungsmöglichkeit diesbezüglich keine Fakten schaffen wollte (V. 13f.), und nach den Erwägungen darüber, welche göttliche Handlungsabsicht sich hinter der »Trennung« des Onesimus von Philemon verbergen könnte (V. 15f.), kommt Paulus nun zum Handlungsvorschlag für Philemon – also zu seiner konkreten Bitte, die er bereits in V. 9f. angekündigt hat, im Griechischen gekennzeichnet durch die Partikel οὖν.178 Trotz der Beteuerung in V. 8f., auf Befehle verzichten zu wollen, finden sich sowohl in V. 17b (προσλαβοῦ) als auch in V. 18b (ἐλλόγα) nun doch Imperative, die ersten im Brief. Allerdings sind beide abgefedert durch vorangestellte Konditionalsätze. Es handelt sich sozusagen um Imperative sub conditione. 172 So auch Wolter 276; vorsichtig formuliert auch Reinmuth 49: »Es wird die Möglichkeit einkalkuliert …« Lampe 224f. versucht die Perspektiven der Betroffenen durchzuspielen und hält für Paulus fest, dass er »distanziert offenläßt, wie er selber über das Verhältnis des bedingenden Satzes zur Wirklichkeit denkt«. Dunn 338 dagegen fasst das εἰ des Konditionalsatzes im Sinn von »whatever« auf; Fitzmyer 117 versucht es mit der Überlegung, ob Onesimus vielleicht das Gefühl hat, fälschlicherweise beschuldigt worden zu sein. 173 So schon Church, Structure 29f.; vgl. Martin, Function 329f. Vgl. Rhet. Alex. 36; vgl. Lausberg, Handbuch § 855. 174 Reinmuth 49. 175 Vgl. Wolter 273; Barth/Blanke 473. 176 Mit Entschiedenheit vertreten von Lampe 224. 177 BDR § 388,2b. 178 Vgl. BDR § 451,1: »… führt zum Hauptthema zurück«; vgl. 1Kor 8,4; 11,20.
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Philemon muss selbst entscheiden, ob die paulinischen Handlungsanweisungen für ihn infrage kommen. Ob er Paulus zum Geschäftspartner (κοινωνός) hat und weiterhin haben 17 möchte, ist die erste Entscheidung, die Philemon treffen muss. Aus V. 6a im Proömium ist klar: Es handelt sich um eine »Geschäftspartnerschaft im Glauben«. Aber deren Strukturen sollen analog zu einer Geschäftspartnerschaft im alltäglichen Wirtschaftsleben gedacht werden: gleichrangige Partner, die ein gemeinsames Unternehmen betreiben, in Schwierigkeiten füreinander einstehen und notfalls für die Verluste bzw. Schulden des Partners aufkommen.179 Wenn Philemon das unterschreibt und wenn er will, dass dieses Verhältnis zu Paulus so weiterhin bestehen bleibt, dann muss er den zweiten Schritt tun: προσλαβοῦ αὐτὸν ὡς ἐμέ. Mit dieser idiomatischen Wendung ebenfalls aus der Geschäftssprache (προσλαμβάνειν τὸν δεῖνα κοινωνόν)180 fordert Paulus Philemon auf, Onesimus als weiteren Geschäftspartner hinzuzunehmen, natürlich zu den gleichen Konditionen. Das wird auch explizit ausgesprochen: ὡς ἐμέ. Onesimus soll also Philemon gegenüber als Stellvertreter des Paulus fungieren. Das ist im Brief längst vorbereitet: In V. 12b hat sich Paulus mit Onesimus identifiziert und ihn sozusagen als sein Double vorgestellt, mit dem er emotional verwachsen ist (τὰ ἐμὰ σπλάγχνα). Auf der Ebene des Gesellschaftsvertrags gedacht ist Voraussetzung für die Aufforderung zur »Hinzunahme« des Onesimus »wie« Paulus, dass Paulus seinerseits diese Hinzunahme bereits vollzogen hat, sodass sie durch Philemon, will er zur »Genossenschaft« dazugehören, nur noch ratifiziert werden muss. Auch das ist im Brief bereits ausgesprochen: Paulus hat Onesimus nicht nur in die Glaubenskoinonia der Christen, sondern sogar – jedenfalls projektiv – im spezifischen Sinn als Mitarbeiter im Verkündigungsdienst hinzugenommen – analog zu Philemon, den Onesimus deshalb auch gut hätte vertreten können (V. 13b). Außerdem wird mit Vgl. Arzt-Grabner 226–228 sowie 182–185, mit empirischem Material aus dokumentarischen Papyri; vgl. Lk 5,10; Winter, Letter 11f., verweist auf die römische Rechtsform der societas, deren Zweck es war, Gewinne zu erwirtschaften und sie dann gleichmäßig zu verteilen – genauso wie die Verluste; zumindest als Paradigma stehe das vor Augen; Datenmaterial bei Sampley, Partnership 11–20; zur Koinonia-Konzeption vgl. auch V. 6. 180 Vgl. P.Amh. II 100,4: προσελάβετο τὸν Κορνήλιον κοινωνόν; vgl. Preisigke/Kießling II 407; Moulton/Milligan 549f. Kritisch ist Arzt-Grabner 229 zu rezipieren: Die Übersetzung »aufnehmen« verwässert den Sachverhalt und führt mit den Beispielen für ὑποδέχομαι (aber ohne die Kombination mit κοινωνός) zur Gastfreundschaft, wie sie in Empfehlungsbriefen erbeten wird. Aber das greift für V. 17 zu kurz. Gleiches gilt für Cotter, Welcome, bes. 204–206, die V. 17 übersetzt: »Welcome him as you would welcome me.« Aufgrund dieser Übersetzung sieht sie im Brief folgendes Testverfahren vorliegen: An der Art der Gastfreundschaft, die Philemon Paulus gewähren wird (vgl. V. 22), wird man erkennen können, ob er V. 17 tatsächlich befolgt, also Onesimus in gleicher Weise wie Paulus Empfang gewährt hat. Nimmt man jedoch die idiomatische Wendung von der Hinzunahme eines Geschäftspartners ernst, dann geht es in V. 17 nicht nur um einen einmaligen Empfang, sondern um das Dauerverhältnis des Philemon zu Onesimus. 179
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ὡς ἐμέ in V. 17b das οὐκέτι ὡς δοῦλον von V. 16a nach der ersten »Auflösung« in V. 16c (ἀδελφὸς ἀγαπητός) erneut positiv entschlüsselt: Onesimus soll wie Paulus behandelt werden! Sowohl durch die κοινωνός-Metaphorik als auch durch die Gleichstellung mit Paulus (ὡς ἐμέ) wird in Alltagssprache und Alltagsrealitäten übersetzt, was in V. 16 noch in ekklesialer Glaubenssprache ausgedrückt worden ist: Onesimus als »geliebter Bruder … sowohl im Fleisch als auch im Herrn«. Gemäß V. 17 ist es das Ziel der Intervention des Paulus, dass der Sklave Onesimus als Christ im Haus Philemons genauso behandelt wird wie Paulus. Paulus ist sozusagen das Modell für die neue Rolle des Onesimus. Dabei ist bemerkenswert und wird meistens übersehen, dass Paulus hinsichtlich seiner eigenen sozialen Stellung als Handwerker (vgl. 1Kor 4,12; 1Thess 2,9; Apg 18,3) Philemon als Hausbesitzer, der von seinen Gütern leben kann und deshalb nicht arbeiten muss, also definitionsgemäß zu den Reichen gehört,181 weit unterlegen ist.182 Es ist fraglich, ob Paulus – unter normalen Bedingungen – für die Symposien-Abendgesellschaften im Haus Philemons je infrage gekommen wäre. Vermutlich hätte er sich als Klient Philemons ab und zu mit einem unteren Liegenplatz begnügen müssen.183 Aber als »Bruder in Christus«, noch dazu als angesehener Apostel, kommt Paulus natürlich ein Ehrenplatz zu. Das ist nun das Modell auch für Onesimus. Als »normaler« Sklave hätte er höchstens auftragen, bedienen und den Raum säubern dürfen. Selbst wenn er einen Vertrauensposten begleitet haben sollte, wäre ihm niemals ein Platz auf den Liegen des Trikliniums zugekommen. In der Rolle als »Geschäftspartner wie Paulus« jedoch verändert sich das alles mit einem Schlag. Onesimus bleibt rechtlich Sklave – so wie Paulus de facto Handwerker ohne festen Wohnsitz bleibt. Aber als Mitglied der ἐκκλησία kommt ihm ab sofort ein neuer Status im Haus Philemons zu: Er nimmt an der Abendgesellschaft des Herrenmahls teil, gleichberechtigt mit allen anderen Teilnehmern, den »Schwestern und Brüdern in Christus«, in Stellvertretung des Paulus sogar als Ehrengast. Aber auch außerhalb dieser ekklesialen Feier (ἐν κυρίῳ) soll er behandelt werden wie Paulus, wenn dieser im Haus logiert (vgl. V. 22). Das betrifft den Bereich ἐν σαρκί, den Alltag. Im Extremfall wird von Philemon erwartet, dass er auch Onesimus eine Gastunterkunft gewährt und ihm, wie er es vermutlich mit Paulus getan hat, auch bei Abendgesellschaften mit anderen Gästen, also den amici des Hauses, einen Ehrenplatz zukommen lässt. Erneut wird deutlich: Es geht Paulus also nicht um die rechtliche Freilassung des Sklaven,184 die nach antiken Regeln dem Freigelassenen streng Vgl. Ebner, Stadt 82–85.91–94. Vgl. die ungeschminkten Statements von Cic. off. 1,150; Philon det. 33f.; Plut. Pericles 1,4–2,1. 183 Vgl. Ebner, Stadt 182–184. 184 Das stellt völlig zu Recht Cotter, Welcome 206, heraus: »Scholarly questions as to whether Pauls is asking for Onesimus’ manumission miss the point.« Das Gleiche gilt für die Überlegungen von Arzt-Grabner 230–234, Philemon solle Onesimus mit einer ver181 182
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geordnete Verpflichtungen auferlegt und ihn weiterhin in untergeordneter Stellung an das Haus seines ehemaligen Herrn, der dann sein patronus wird, bindet.185 Es geht bei der Rollenkonzeption für Onesimus, wie sie Paulus vorschwebt, vielmehr um einen neuen Umgang mit Onesimus: Rechtlich bleibt er ein Sklave. Aber behandelt wird er, als wäre er ein dem Hausherrn gleichgestellter Freier, ja Ehrengast wie Paulus. So wird »geliebter Bruder … sowohl im Fleisch als auch im Herrn« von Paulus in die Alltagsrealität übersetzt. Das ist eine Zumutung für Philemon. Sie schlägt allen gesellschaftlichen Konventionen ins Gesicht. Die zweite Entscheidung, die Philemon zu treffen hat, betrifft sein Verhält- 18 nis zu Onesimus, konkret: ob er Schadensersatz einklagen will. Das Verb ἀδικέω steht für juristisch belangbare Sachverhalte.186 Das Unrecht, das ein Sklave begangen hat, ist seinem Herrn gegenüber vor Gericht einklagbar.187 Der Herr haftet in jedem Fall für seinen Sklaven, der ja nach römischem Recht sein Eigentum ist. Ein Hinweis darauf, welcher Art das »Unrecht« des Onesimus sein soll, könnte in ὀφείλω vorliegen.188 Das Verb bezeichnet prinzipiell Geldschulden, die aber unterschiedlich verursacht sein können. Es kann sich um ein Darlehen oder um fällige Steuern handeln, aber auch um den finanziellen Ersatz von Schäden, die angerichtet, oder um Leistungen, die nicht erbracht worden sind (vgl. P.Giss. 27,9).189 Zum Unrecht wird diese Schuld, wenn sie nicht oder zumindest nicht rechtzeitig zurückgezahlt wird. Für die Annahme eines Diebstahls, jenes Delikt, das – entsprechend einem antiken Topos vom entlaufenen Sklaven190 – fast unisono Onesimus angelastet wird, kommt ὀφείλω auf keinen Fall infrage.191 Dafür müsste κλέπτω stehen. Am ehesten ist für ὀφείλω an die nicht erbrachte Arbeitsleistung des Onesimus zu denken, also an den Arbeitsausfall während seines »Besuches« bei Paulus im Gefängnis. Sollte Philemon auf dieses »Unrecht« des Onesimus bestehen, bietet sich Paulus an, seinerseits für den entstandenen Schaden aufzukommen – wiederum mit einer Wendung aus der Geschäftsantwortungsvollen Aufgabe im Haus betrauen, obwohl er das als Sklave, der in den Augen Philemons einst unbrauchbar war und sein Vertrauen verloren hat, gar nicht verdient. Das wäre jedoch weiterhin im römischen Sklaven-Aufstiegsmodell gedacht. Paulus lässt das konsequent hinter sich. 185 Vgl. Kommentar zu V. 16. 186 Vgl. Preisigke/Kießling I 23; IV 43; Arzt-Grabner 234f. 187 Vgl. Arzt-Grabner 235f. mit Verweis auf die kasuistischen Regeln von P.Lille I 29. 188 In Aufzählungen kommt die Partikel ἤ »dem kopulativen Sinn nahe«; vgl. 1Kor 11,26 mit V. 27; vgl. BDR § 446,1b. 189 Vgl. neben Arzt-Grabner 237f. vor allem Preisigke/Kießling II 218f. 190 Vgl. Kudlien, Situation 236, mit Verweis auf Teles fr. 2 (6,11f. Hense); Fuhrmann, Empire 30, mit Verweis auf Epikt. diss. 3,26, 1–2; Cic. fam. 13,77,3: Ciceros Sklave Dionysius hat bei seiner Flucht wertvolle Teile seiner Bibliothek mitgehen lassen. Nordling, Gospel, dagegen spiritualisiert den Sachverhalt. 191 Binder 62 ist einer der wenigen Kommentatoren, die sich dem Mainstream entgegenstellen.
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sprache: »Das stelle mir in Rechnung!«192 Damit jedoch vertauscht Paulus die Rollen: Er verhält sich wie der Herr des Sklaven, der für den verursachten Fremdschaden Verantwortung auf sich nimmt.193 Anders gewendet: Sollte Philemon Schadenersatz anmelden, würde er bereits Paulus als Herrn des Onesimus anerkennen. Im Kontext gelesen, löst Paulus in dieser konkreten Situation ein, was er in V. 17 von Philemon anzuerkennen generell beansprucht hat: »Nimm ihn hinzu wie mich!« Diese Stellvertretung übernimmt Paulus jetzt seinerseits aktiv für Onesimus.194 Rhetorisch gesehen fungiert V. 18 als anticipatio: Ein möglicher gegnerischer Einwand wird von vornherein abwehrend vorweggenommen.195 Nach der Zumutung von V. 17, Onesimus als gleichwertigen »Geschäftspartner« zu akzeptieren, nimmt Paulus in V. 18 Philemon sozusagen sein »Aber« aus dem Mund: εἰ δέ … Bevor es zu einem neuen Verhältnis zwischen den beiden kommt, muss reiner Tisch gemacht werden! Paulus greift diese allzu menschliche Überlegung in V. 18a auf. Und mit seinem Angebot in V. 18b steht dem nichts mehr im Weg. Gelegentlich wird die Frage aufgeworfen, ob Paulus mit seinem finanziellen Angebot nicht den Mund zu voll nimmt, hat er doch als armer Schlucker im Gefängnis vermutlich keinen einzigen Penny in der Tasche.196 Dabei darf nicht übersehen werden, dass Paulus mehrfach mit Stolz betont, er verdiene seinen Unterhalt durch seiner eigenen Hände Arbeit,197 und deshalb durchaus über finanzielle Rücklagen verfügen kann. Umgekehrt lässt sich jedoch aus V. 18 schließen, dass Onesimus keine Rücklagen hat,198 die er sich als »nützlicher« Sklave im Rahmen des peculium hätte ansparen können. Indirekt weist also V. 18 Onesimus – gemessen am Sklavensystem der römischen Zeit – als schlechten und »unnützen« Sklaven aus. 19ab In einer Parenthese fügt Paulus seinem Schadensersatzangebot an Philemon (V. 18) eine förmliche Schuldverschreibung bei. Von den Strukturelementen, wie sie für die zahlreich auf Papyrus erhaltenen Schuldbriefe typisch sind,199 Ganz so ungewöhnlich, wie es bei Arzt-Grabner 240 klingt, ist die Aufforderung, sich selbst etwas in Rechnung stellen zu lassen, nicht: vgl. P.Ryl. II 243,11; vgl. Moulton/ Milligan 204; Preisigke/Kießling I 471. Statt des in dokumentarischen Papyri üblichen ἐλλογέω findet sich bei Paulus ἐλλογάω. Zur Vermischung der Flexionstypen in der Koine vgl. BDR § 90. 193 Das stellt heraus: Arzt-Grabner 236f. 194 Das Paradigma der Genossenschaft greift hier nicht, weil κοινωνοί sich einen entstandenen Schaden teilen. Aber ob die Dreierbund-κοινωνία Paulus/Onesimus/Philemon tatsächlich zustandekommt, ist ja noch ungewiss. Theologisch gesehen praktiziert Paulus hier, was er in Gal 6,2 von allen Christen als Erfüllung des Gesetzes erwartet: »Einer trage des anderen Last!« 195 Darauf weist Martin, Function 329f., hin; vgl. Lausberg, Handbuch § 855. 196 Entsprechende Kommentatorenzitate bei Müller 130; vgl. Gnilka 84: »keinen Penny in der Welt«; Dunn 339: »little independent means«. 197 Vgl. 1Kor 4,12; 9,12; 1Thess 2,9. 198 Hinweis bei Reinmuth 50. 199 Vgl. Buzón, Briefe 217–222: Präskript – Schuldanerkennung – Rückgabeverpflich192
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werden in V. 18 die Nennung der Schuld und in V. 19b die formelhafte Verpflichtung zur Rückzahlung aufgegriffen (gewöhnlich mit einer Form von ἀποδίδωμι realisiert). Formalrechtlich zählen derartige Schuldschreiben, in denen der Aussteller ein »in der 1. Person des Futurs gehaltenes Leistungsoder Garantieversprechen« abgibt, zu den privatrechtlichen Vereinbarungen (χειρόγραφον/»Handschein«; vgl. Kol 2,14).200 Gelegentlich kann eine Hypographe angefügt sein: die ausdrückliche Namensnennung samt Beteuerung der Eigenhändigkeit der Ausfertigung201 – gewöhnlich mit der Formel τῇ ἐμῇ/ἰδίᾳ χειρί samt einer Form von γράφω verbalisiert (vgl. V. 19a).202 Die Betonung der eigenhändigen Ausfertigung setzt diesen Urkundentyp formal von Schreiben ab, die an Behörden gerichtet sind, und stellt für den Adressaten, der den Brief bei sich aufhebt, zugleich sicher, dass es sich um keine Fälschung handelt.203 Anstelle einer Form von ἀποδίδωμι greift Paulus für die Rückzahlungsversicherung jedoch zum Verbum ἀποτίνω204, einem Hapaxlegomenon im Neuen Testament. Als geprägter Terminus begegnet es vor allem in Verträgen und bezeichnet das Bußgeld, das der jeweilige Vertragspartner zusätzlich bezahlen soll, sofern er den vereinbarten Verpflichtungen nicht nachkommt, bzw. den mit einem Strafgeld verbundenen Schadensersatz.205 Diverse Lehrlingsverträge halten fest, dass für etwaigen Arbeitsausfall Schadensersatz samt einem bestimmten Bußgeld bezahlt werden muss. Gleiches gilt für den Meister, sollte er seiner Verpflichtung nicht nachkommen. Als Terminus tung – Sanktionsklausel. Immer noch grundlegend: Deissmann, Licht 281f. (mit Abbildung von BGU II 664; vgl. Kraus, Verpflichtung 190–194; Luttenberger, Schuldschein 83–85. 200 Vgl. Wolff, Recht 106–114 (Zitat: 107). 201 Damit hat sich die Diskussion darüber erledigt, ob Paulus erst ab hier zur Feder greift (so Bahr, Subscriptions; Bruce 220; Fitzmyer 118) oder den gesamten Brief eigenhändig geschrieben hat (so Gnilka 87). Wie die dokumentarischen Papyri zeigen, wird der Wechsel von Sekretär zum eigentlichen Briefverfasser nicht durch eine bestimmte Formulierung angezeigt, sondern wird aus dem Schriftbild selbst evident; bedient sich der Verfasser eines Sekretärs, schreibt er gewöhnlich den Schlussgruß ἔρρωσο mit eigener Hand; vgl. Arzt-Grabner 242. Davon zu unterscheiden ist die sogenannte »illiteracy clause«, in der sich der Schreiber des Briefes als Stellvertreter eines Analphabeten am Ende eines Cheirographon mit Namen nennt; vgl. Buzón, Briefe 220. 202 Beispiele bei Arzt-Grabner 240–243. Schnider/Stenger, Studien 136–145, weisen auf der Basis jüdischer und hellenistischer Textbeispiele nach, dass die moderne Funktion der Unterschrift als dokumentierte Willenserklärung in der Antike nicht bekannt ist, sondern durch eine kürzere oder längere Erklärung des Vertragsinhalts wahrgenommen wird – wie in V. 19ab. 203 Gemäß römischem Recht handelt es sich in V. 19ab um eine »private Interzession« (an die Stelle des eigentlichen Schuldners tritt ein anderer); so Deissmann, Licht 281f., mit Rekurs auf Eger, Rechtsgeschichtliches 43–45. 204 Was D* wieder gegen das gebräuchlichere ἀποδίδωμι austauscht; vgl. Kraus, Verpflichtung 190. 205 Vgl. P.Gen. I 21,14: »Wenn er nicht zurückzahlt (ἀποδῶι), wie es schriftlich vereinbart ist, soll er sofort das Anderthalbfache als Bußgeld zahlen (ἀποτεισάτω)«; vgl. Moulton/ Milligan 71: »repayment by way of punishment or fine«; vgl. P.Tebt. 383,40: τισάτω τά τε βλάβη καὶ δαπανήσαντα διπλᾶ; vgl. Preisigke/Kießling I 198; vgl. Arzt-Grabner 244.
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steht jeweils ἀποτίνω.206 Paulus verpflichtet sich in seiner Schuldverschreibung V. 19ab also dazu, nicht nur für den Arbeitsausfall des Onesimus aufzukommen, sondern Philemon zusätzlich auch noch ein Bußgeld zu erstatten. 19cd Mit V. 19cd führt Paulus den Hauptsatz von V. 18 fort und korrigiert dessen Aussage: »… das stelle mir in Rechnung … damit ich nicht sage: (das stelle) dir (in Rechnung)!« Philemon soll sich selbst eine Rechnung schreiben! Der Rechnungsposten betrifft aber nicht das Bußgeld für Onesimus (V. 18). In V. 19d wird expliziert: »weil du dich sogar selbst mir schuldest«. Gemeint sein kann nur die Bekehrung des Philemon durch Paulus. Dadurch wurde Philemon zu einer »neuen Schöpfung in Christus«.207 Er hat damit ein neues Leben begonnen. Analog war im Brief bereits von der »Geburt« des Onesimus die Rede (V. 10).208 Dass dadurch ein Schuldverhältnis entsteht, das durch materielle Gaben ausgeglichen werden kann,209 dieser Gedanke findet sich bei Paulus auch im Blick auf die Kollekte. Die von Paulus zum Christusglauben bekehrten Heiden sind Schuldner (ὀφειλέται) der Muttergemeinde in Jerusalem: Für die geistlichen Güter, die sie durch die Glaubensweitergabe bekommen haben, »schulden sie (ὀφείλουσιν), ihnen auch mit fleischlichen (Gütern) zu dienen« (Röm 15,26f.). Ganz nahe bei der im Brief vorliegenden Gedankenverbindung von Lebenszeugung bzw. Geburt und Schuld steht die klassisch-antike Vorstellung, dass Kinder Schuldner ihrer Eltern sind – zur Sprache gebracht z.B. von Platon: »Denn göttliches Recht verlangt, dass man als Schuldner (ὀφείλοντα) die ersten und größten Schulden (ὀφειλήματα) als die ältesten und ehrwürdigsten aller Verpflichtungen abträgt (ἀποτίνειν) und dass man alles, was man erworben hat und besitzt, als Eigentum derer betrachtet, die uns erzeugt (τῶν γεννησάντων) und aufgezogen haben, damit man dies mit allen Kräften in ihren Dienst stellt, angefangen beim Vermögen, dann die Güter des Leibes und drittens die der Seele, und ihnen dadurch wie ein Darlehen (δανείσματα) die Fürsorge und die Schmerzen zurückzahlt (ἀποτίνοντα), die sie unter großen Mühen uns vor Alters in der Jugend vorgestreckt haben (δανεισθείσας), und sie ihnen in ih Zu den Texten vgl. Arzt-Grabner 68f. D* fügt verdeutlichend hinzu: ἐν κυρίῳ. 208 Weil hier, anders als bei Onesimus in V. 10, der Vatergedanke von Paulus nicht ausgesprochen wird, denkt Dunn 340 eher an eine indirekte, durch Paulus lediglich vermittelte Bekehrung, etwa durch eine Predigt, einen Brief oder einen anderen Missionar; vgl. auch Kumitz, Brief 65f.186, der meint, Paulus erhebe hier einen Anspruch, der auf jeden Heidenchristen seines Missionsbezirkes zutreffe. 209 Wenn man den präzisen Sinn von προσοφείλεις (zusätzlich schulden; vgl. Preisigke/ Kießling II 410; Moulton/Milligan 550) in V. 19d, das in einer inclusio ὀφείλει von V. 18a aufgreift, inhaltlich zu füllen versucht, wäre daran zu denken, dass Philemon nicht nur seine eigene christliche Existenz Paulus schuldet, sondern auch noch die des Onesimus, der ja als Sklave (immer noch) sein Eigentum ist! Gerade weil Paulus nicht einfach das verbum simplex aufgreift und die Adressaten den Unterschied hören, wird man nach dem Mehrwert des verbum compositum fragen müssen. Diesen Sachverhalt übersieht Arzt-Grabner 245f., obwohl er als entsprechendes Textbeispiel P.Oxy. III 1118,5f. (τὰ ὀφειλόμενα – καὶ τοὺς προσοφειλομένους τόκους) bietet. 206 207
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rem Alter zurückerstattet (ἀποδιδόντα), wo sie als Greise so sehr darauf angewiesen sind« (leg. 717B/C).210 Thomas R. Blanton211 dagegen möchte in V. 19 das Konzept der Reziprozität finden – mit der Konsequenz, dass Paulus hier gegen etablierte Regeln, wie sie in Senecas De beneficiis zu lesen sind, verstoße: »… he draws attention to a gift given, and approaches benefaction as an accountant, asserting that Philemon ›owes‹ him« (404). So etwas zu tun ist nach Seneca (benef. 1,2,3) schimpflich: »Niemand schreibt seine Wohltaten in das Schuldverzeichnis, noch fordert er als habsüchtiger Eintreiber auf Stunde und Tag zur Zahlung auf.« Allerdings ist es fraglich, ob das Reziprozitätskonzept in V. 19d wirklich vorliegt. Mancherlei spricht dagegen: (1) Die Semantik im Kontext V. 18f. ist durch das Schulden-Rückzahlungs-Konzept aus der Geschäftswelt geprägt. Auch das Reziprozitätskonzept kann sich der Schulden-Rückzahlungs-Semantik bedienen, allerdings ist sie dann metaphorisch gemeint und steht im Kontext eines ständigen Kreislaufs von Geben und Nehmen. Konkret: Jede abgetragene (Dankes-) Schuld verursacht beim Gegenüber erneute »Schuld«, die wieder zum Geben, also zum »Zurückzahlen«, verpflichtet. Insofern wechseln die Rollen ständig: Der »Gläubiger« wird selbst zum »Schuldner«, sobald der »Schuldner« dem »Gläubiger« seine »Schuld« zurückgezahlt hat. Das ist beim ökonomischen Schuldenkonzept gerade nicht der Fall! Die Rollen von »Gläubiger« und »Schuldner« sind eindeutig festgelegt. »Schuld« wird nur ein einziges Mal zurückgezahlt. Genau dieses ökonomische Schuldenkonzept liegt auch der metaphorischen Verwendung für die »Schuld« der Kinder gegenüber ihren Eltern zugrunde (vgl. die zitierte Platon-Stelle), dem gemein-antiken Hintergrund auch für die Rede von der »Elternschaft« des Paulus gegenüber Philemon (V. 10.19d). Im Isisbuch der Metamorphosen des Apuleius (met. 11), das Blanton als Vergleichstext heranzieht (411), ist das anders: Hier wird die »Lebensschuld« (totum debere, quod vives: 11,6,5) des Lucius gegenüber der Göttin tatsächlich im Kontext von Reziprozitätssemantik und -logik versprachlicht (beneficium: 11,6,5; 12,1; 13,6; 18,1; de caelo patrocinium: 11,16,4). Durch seine eigene Unachtsamkeit wurde Lucius in einen Esel verwandelt. Auf sein Gebet hin schenkt ihm die Göttin Isis wieder die menschliche Gestalt. Als Zeichen seiner Dankbarkeit (gratias agere: 11,14,2) ist er der Göttin, wie sie es von ihm als Gegengabe für ihr rettendes Eingreifen gefordert hat, zu lebenslangem Dienst verpflichtet. Im Gegenzug dafür verspricht ihm die Göttin ein Leben voll Glück und Ruhm unter ihrer »Obhut« (tutela) und wird ihm selbst in der Unterwelt noch leuchten (11,6f.). In Phlm 18f. ist dagegen weder die Semantik noch die Logik der Reziprozität zu finden. Schließlich: Auch der in V. 19d vorausgesetzte Vorgang wäre für den Reziprozitätsprozess ungewöhnlich. Eventuell durch Bitten eines Klienten in spe erbeten, stehen am Anfang der Reziprozitätskette üblicherweise die materiellen Gaben eines Patrons. Sie werden dann mit den gewöhnlich immateriellen »Rückgaben« des Klienten erwidert, durch Ehrerweis oder Dienstbarkeit. Das wiederum verpflichtet den Patron zu erneuten materiellen Geschenken für seinen Klienten. In diesem typischen Reziprozitätskreislauf hineinprojiziert würde Paulus in V. 19d Philemon an seine immaterielle Gabe der Bekehrung als Anfangspunkt des Reziprozitätskreislaufs erinnern und sich damit – im gängigen Rollensystem gedacht – auch noch zum Klienten gegenüber dem Patron Philemon machen! Hinweis auf diese Stelle bei Lightfoot 344, aber selten aufgegriffen, z.B. bei Barth/ Blanke 485. 211 Blanton, Account-book. 210
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Zusammen- Hat Paulus in V. 10–12 den neuen Onesimus im Blick auf dessen Berufung fassung und als sein Kind präsentiert, so belastet er in V. 19cd Philemon mit der ErinneRückblick rung an den gleichen Sachverhalt. Im Kontext von finanzieller Aufrechnung wird Philemon zum Großschuldner des Paulus (καὶ σεαυτόν), während Onesimus Philemon eine Kleinigkeit schuldet (τι ἠδίκησεν σε ἢ ὀφείλει). Dabei liegt es in der Entscheidung Philemons, ob er überhaupt eine Schuld des Onesimus feststellen will. Sollte Philemon zu diesem Schritt entschlossen sein, wird er von Paulus sofort an seine eigene Großschuld erinnert. Funktion dieser Schulderinnerung ist also, Philemon von einer Schuldabrechnung gegenüber Onesimus abzuhalten. Und noch etwas: Ausgangslage des Briefes ist ja, dass der von Philemon »getrennte« und von Paulus zurückgeschickte Onesimus in einer äußerst ungünstigen Position vor Philemon steht. Durch den raffinierten Schachzug der Schulderinnerung gegenüber Philemon gelingt es Paulus, aus dem Gönner Philemon (V. 5) einen Großschuldner zu kreieren, sodass vor den Augen der Gemeinde, die dem Brief lauscht, jetzt zwei »Schuldner« stehen. Der eine schuldet sein ganzes Leben, der andere eventuell den Schaden von einigen Tagen oder Wochen Arbeitsausfall. Während die Großschuld Philemons als tatsächliche festgestellt wird, liegt es in der Hand dieses Großschuldners, ob er dem Kleinschuldner Onesimus seine Schuld tatsächlich verrechnen will – und damit seinen Großgläubiger Paulus zum Einlösen von dessen stellvertretender Kleinschuldverpflichtung für Onesimus zwingt. Vermutlich würden – wie in der Parabel vom Großschuldner in Mt 18,23–34 – die »Mitknechte«, sprich: die christlichen Geschwister im Haus Philemons empört reagieren. Kurz: Die Verhältnisse haben sich umgekehrt.
C Briefschluss (V. 20–25)
1 Epilog (V. 20–22) 20a Ja, Bruder, b ich meinerseits möchte Freude an dir haben im Herrn: c Lass meine Eingeweide zur Ruhe kommen in Christus! 21a Im Vertrauen auf deinen Gehorsam habe ich dir geschrieben, b weil ich weiß, dass du mehr tun wirst, als ich sage. 22a Gleichzeitig aber auch bereite mir eine Gastunterkunft, b denn ich hoffe, c dass ich durch eure Gebete euch geschenkt werden werde. 1. Semantische Vernetzung. Im Epilog werden auffällig viele Motive des Analyse Proömiums aufgegriffen. Inhaltlich handelt es sich – wie es für diese inneren Rahmenteile des Briefkorpus typisch ist – um kommunikative Aspekte der gegenseitigen Beziehungspflege. Kompositorisch sind die semantischen Elemente geradezu spiegelbildlich angeordnet: Die Bruder-Anrede, die das Proömium in V. 7c abschließt, markiert auch in V. 20a einen Einschnitt im Brief – jetzt als Auftakt zum Epilog. Das erste Wort des Proömiums in V. 4a, εὐχαριστῶ, wird durch χαρισθήσομαι in V. 22c als Abschlusswort des Epilogs – unmittelbar vor den Schlussgrüßen – erneut aufgegriffen. Beide Verben rekurrieren auf den gleichen Wortstamm (χάρις)1 und sind in der Profangräzität beide dem Reziprozitätskonzept zugeordnet. Während Paulus für die Mensch-Mensch-Beziehung das Familien- (V. 1f.7.10.16), κοινωνία- (V. 6.17) und Schuldner-Gläubiger-Konzept (V. 18f.) heranzieht, setzt er für das Gott-Mensch-Verhältnis das Reziprozitätskonzept ein.2 Auch diesbezüglich stehen Proömium und Epilog in Korrelation: In V. 4 sagt Paulus Gott Dank (εὐχαριστῶ) für die χάρις (V. 3), die Gott durch die Entstehung und das Wachstum der christlichen Gemeinden als Ausdruck der irdischen Verwirklichung des neuen Äon gewährt hat. In V. 22bc spricht Paulus seine Hoffnung aus, dass die göttliche χάρις erneut wirksam wird und er selbst der Gemeinde (von Gott) geschenkt wird (χαρισθήσομαι)3: als Antwort auf die Hinweis darauf bei Müller 134. Auch diese klare Trennung spricht gegen den Versuch von Blanton, Account-book, in die V. 18f. das Reziprozitätskonzept einzutragen. 3 Es handelt sich um ein Passivum divinum. 1 2
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Gebete der Gemeindemitglieder, die seine Freilassung erflehen. Auch im Proömium spielt das Gebet eine Rolle. Hier ist Paulus der Beter, der Gott nicht nur Dank abstattet, sondern auch darum bittet, dass Philemon »in der Erkenntnis jedes Guten« als Ausdruck seiner Glaubensgemeinschaft voranschreitet (V. 6). Konkret ist damit das eigentliche Anliegen des Briefes gemeint: Philemon möge den »neuen« Onesimus als Bruder aufnehmen (V. 16). Sollte das Gebet des Paulus erhört werden und sich Philemon angesichts der Konditionalsätze von V. 17f. entsprechend entscheiden – also Onesimus als weiteren Glaubensgenossenschafter wie Paulus akzeptieren und auf einen Schuldenausgleich verzichten, sozusagen in Aufrechnung seiner eigenen Lebensschuld für diese Glaubensgenossenschaft (V. 19bc) –, dann werden die Eingeweide, also die innersten Gefühle des Paulus, zur Ruhe kommen (V. 20c); genauso wie die Eingeweide der Heiligen dadurch »zur Ruhe gekommen sind«, dass Philemon ihnen einen Ort für die Realisierung ihres Ekklesia-Status in seinem eigenen Haus verschafft hat (V. 7b). Vers
Proömium
4a
4b
7b
7c
εὐχαριστῶ
ἐπὶ τῶν προσευχῶν μου
τὰ σπλάγχνα τῶν ἁγίων ἀναπέπαυται
ἀδελφέ
PDF 11
Epilog
Vers
χαρισθήσομαι
διὰ τῶν προσευχῶν ὑμῶν
ἀνάπαυσόν μου τὰ σπλάγχνα
ἀδελφέ
22c
22c
20c
20a
Inhaltlich lassen sich zwei Regelkreise erkennen. Der eine wurde von Gott initiiert, der andere von der Gemeinde. Beide Regelkreise sind im letzten Glied noch offen. Regelkreis I: Die Gnade Gottes (χάρις) schenkt durch Philemon einer Gruppe von Gläubigen einen neuen Versammlungsort als Ekklesia. Dadurch kommen die Eingeweide der Heiligen zur Ruhe. Paulus stattet Gott dafür Dank ab – und bittet ihn zugleich um die Akzeptanz des (neuen) Onesimus durch Philemon in dieser Hausgemeinde. Sollte diese Bitte von Gott gewährt werden, steht auf theologischer Ebene erneut der entsprechende Dank des Paulus an. Auf anthropologischer Ebene würden nun seine eigenen Eingeweide zur Ruhe gebracht. Regelkreis II: Die Gemeinde betet um die Freilassung des Paulus. Sollte auch in diesem Fall die χάρις Gottes im Sinn der Gebete wirksam werden und Paulus die Gemeinde besuchen sowie im Haus des Philemon logieren können (V. 22a), so stehen in diesem Fall Dankgebete vonseiten der Gemeinde an. Erstaunlich ist, dass die anthropologische Ebene der Erquickung der Gefühle immer nur im Blick auf das Wohl der Gemeindeglieder ausgesagt wird: in V. 7b im Blick auf die Etablierung einer neuen Hausgemeinde, in V. 20c im Blick auf die Aufnahme des Onesimus als Bruder in diese Hausgemeinde – nicht dagegen im Blick auf die Freilassung des Paulus selbst, obwohl doch die Gemeinde genau darum bittet (V. 22c). Für die Gefühlswelt des Paulus ist offensichtlich allein entscheidend, dass die Ekklesia Gottes sich ausbreitet, nicht seine eigene Freiheit; denn auch im Gefängnis ist seine Missions-
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aktivität ungebremst. Die Fesseln, die er wegen Christus trägt, nehmen ihm die persönliche Freizügigkeit, nicht aber die Möglichkeit, für die Ausbreitung des Evangeliums kreativ zu sein (V. 10). 2. Epistolographie. Spiegelbildlich zum Proömium schaut der Epilog auf den Anlass des Briefes zurück und versucht gleichzeitig, eine Brücke für die zukünftige Kommunikation zu bauen.4 White kristallisiert vier Motive her aus. Hinsichtlich Auswahl, konkreter Realisierung sowie Reihenfolge lässt sich – bei gleichzeitig konstantem Floskelvorrat – große Flexibilität feststellen.5 Anders als die sich anschließenden floskelhaften Schlussgrüße im Postskript zeigen die Motive des Epilogs Flexibilität in der Formulierung, weisen jedoch konstante semantische und grammatikalische Elemente auf, an denen sie sich klar erkennen lassen. Weder lässt sich eine vorgegebene Reihenfolge feststellen, noch müssen alle Motive gleichzeitig zur Anwendung kommen. Im Blick auf den Paulusbrief ist es deshalb wichtig zu beobachten, welche Motive sich bei ihm identifizieren lassen, in welcher Form und Funktion er sie realisiert sowie welche Auswahl er trifft und wie er die realisierten Motive kombiniert. (a) Deutlich erkennbar ist in V. 21 das Motiv der Reflexion auf den Schreibakt. Damit wird abschließend die eigentliche Motivation für das Briefanliegen formuliert (»motivation for writing formula«)6. Typisch ist das Verb γράφω, das gewöhnlich im epistolaren Aorist erscheint, sowie ein durch ἵνα bzw. ὅπως angeschlossener Nebensatz mit dem Verbum εἰδέναι, also z.B. ἔγραψα οὖν σοι, ἵνα εἰδῇς.7 Der Briefautor will sein Schreiben als Medium dafür verstanden wissen, dem Empfänger etwas Wichtiges zu »eröffnen« (»damit du Bescheid weißt«).8 Gerade wegen dieser stereotypen »Disclosure«-Funktion ist die konkrete Umsetzung bei Paulus in V. 21 interessant: Paulus schreibt nicht, um dem Adressaten ein bestimmtes Wissen zu vermitteln, sondern »im Vertrauen auf dessen Gehorsam«. Auch dafür greift er auf eine Floskel zurück, die sich – oft mit πέπεισμαι bzw. πέποιθα formuliert und ebenfalls ans Briefende gesetzt9 – auch in hellenistischen Briefen findet. So die Definition nach White, Function 42, für den von ihm »body-closing« genannten inneren Rahmenteil am Abschluss des Briefes. 5 Vgl. die Aufstellung bei White, Function 42–51. 6 White, Function 45. 7 Vgl. die Beispiele bei White, Function 45f., sowie bei Buzón, Briefe 21.110.168 (sehr selten in familiären Briefen, sehr häufig dagegen in Verwaltungs- und Geschäftsbriefen); auch ein angeschlossenes Objekt findet sich sehr selten, z.B. in P.Tebt. 747,16f.: τὴν σαυτοῦ ἀμέλειαν. Die Kurzform dagegen findet sich auch in offiziellen Schreiben: Sherk, Documents Nr. 1; 57. 8 White, Function, ordnet das Motiv zu Recht den »disclosure formulae« zu, unterscheidet aber drei Typen (11–15). Wenn Gnilka 9.82f. im Blick auf V. 21 wiederholt von der »disclosure-Formel« spricht, trifft er das Spezifikum dieser Version speziell am Briefende (»motivation for writing formula«) gerade nicht. 9 Olson, Expressions; für Paulus vgl. Röm 15,14; ebenfalls kombiniert mit der Reflexion auf den Schreibakt, wenn auch nicht am Briefende: 2Kor 2,3; vgl. auch Gal 5,10. 4
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(b) Vorab-Danksagung. Der für das Motiv der Reflexion auf den Schreib akt typische Terminus εἰδέναι findet auch bei Paulus durchaus Verwendung, aber anders: Paulus bezieht in V. 21b das »Wissen« auf seine eigene Person;10 inhaltlich expliziert er, was er mit der Vertrauensformel in der ersten Vershälfte gemeint hat: »weil ich weiß (εἰδώς), dass du mehr tun wirst, als ich sage«. Das ist nun insofern aufschlussreich, als sich unter den typischen Motiven, die im Epilog Anwendung finden können, eines befindet, das – wie V. 21b – das Tun des Adressaten im Blick hat, von White »expression urging responsibility« genannt.11 Bei näherem Hinsehen jedoch handelt es sich um eine höfliche Unterstützung des Briefanliegens, die gewöhnlich mit folgenden sprachlichen Elementen zum Ausdruck gebracht wird: Der Partizipialkonstruktion τοῦτο δὲ ποιήσας folgt als Hauptverb eine Form von χαρίζομαι oder εὐχαριστέω. Der Briefschreiber versichert dem Adressaten, dass er sich ihm gegenüber zu Dank verpflichtet fühlt (ἔσῃ μοι κεχαρισμένος bzw. εὐχαριστήσεις μοι), wenn er das Briefanliegen in die Tat umsetzt. Bei dieser Floskel, die geradezu stereotyp gelegentlich in Familien-, besonders häufig aber in Empfehlungs- und Geschäftsbriefen auftaucht,12 handelt es sich also um »eine Art im voraus ausgesprochene[r] Danksagung«.13 Von der Funktion her will die Formel den Adressaten motivieren, der Briefbitte nachzukommen. Wie die Terminologie aus dem Wortfeld χάρις zeigt, wird damit der Reziprozitätskreislauf thematisiert: Der Absender lässt den Adressaten wissen, dass er seine Bitte in diesem Horizont verstanden haben will und stellt in der geläufigen Terminologie eine entsprechende Gegengefälligkeit in Aussicht. Man könnte pointiert übersetzen: Wenn du das tust, fühle ich mich dir gegenüber zu einem Gefallen verpflichtet bzw. bin ich dir einen Gefallen schuldig.14 (c) Bitte um Wunschzettel. Auch das dritte Motiv, das White im Epilog verortet, aktiviert das Reziprozitätsprinzip; es geht um die konkrete Angabe eines möglichen Gefallens. White nennt das Motiv »courtesy request for a letter«.15 In der Rezeption durch die deutsche Forschung würde dieses Element gewöhnlich dem Parusia-Motiv zugerechnet,16 das Koskenniemi als eines der Hauptmotive für die briefliche Kommunikation geltend gemacht hat.17 Der Brief soll die räumliche Trennung zwischen den Briefpartnern überwinden helfen und fungiert als Medium für die symbolische Präsenz 10 Buzón, Briefe 110, und Arzt-Grabner 252 (im Blick auf die Begründung der Bitte um einen Brief, s. [c]), führen vereinzelte Beispiele für eine analoge Invertierung auf; vgl. σὺ οῦν γράφον μοι … ὅπως ἂν εἰδῶ (P.Cair.Zen. III 59393). 11 White, Function 46–48. 12 Vgl. Buzón, Briefe 20f.66f.110f. 13 Buzón, Briefe 66. 14 So Müller, Schluß 57 (für 2P.Mert. 62r, 9f.). 15 White, Function 48. 16 So z.B. Gnilka 89, der aber als Beispiel angibt: »Und nun teile mir mit, was du von mir Notwendiges haben möchtest« (P.Oxy. 1216,17f.). 17 Aber im Zusammenhang mit der Bitte um einen Brief merkwürdigerweise nicht nennt: Koskenniemi, Studien 67–73.
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des abwesenden Briefschreibers.18 Allerdings: Wenn speziell diese Intention mit der Bitte um einen Rückbrief verbunden ist, dann wird sie auch deutlich ausgesprochen, z.B. ἵνα εἰδῶμεν, ἐν οἷς εἶ.19 Das ist jedoch für die Zeit vor dem 2. Jh. n.Chr. nur in vereinzelten Fällen im familär-freundschaftlichen Bereich anzutreffen.20 Häufiger findet sie sich erst ab dem 2. Jh. n.Chr.21 Diese diachrone Entwicklung scheint auch der Grund dafür zu sein, weshalb Koskenniemi das Parusia-Motiv nicht generell mit der Bitte um einen Brief verbindet. Die Beispiele jedoch, die White anführt und die für den Zeitraum vor dem 2. Jh. n.Chr. typisch sind, weisen in eine ganz andere Richtung. Die Aufforderung an den Adressaten, einen Antwortbrief zu schreiben (γράφε μοι bzw. ἐπίστελλε), gibt den Grund dafür präzise an: Der Adressat soll in seinem Brief ganz konkret zum Ausdruck bringen, was er braucht oder was er vom Briefschreiber zu bekommen wünscht: περὶ ὧν θέλεις bzw. ἐὰν χρείαν ἔχῃς o.ä. Buzón listet in seiner Analyse stereotyp formulierte Beispiele aus familiären Briefen, Geschäfts- und besonders aus den Empfehlungsbriefen auf.22 In diesem Zusammenhang spricht er sogar von einem »Belohnungsangebot«.23 Im Rückbezug auf die »Vorab-Danksagung« könnte man sagen: Die darin geäußerte Selbstverpflichtung des Briefschreibers, in Reaktion auf die Erfüllung seines Anliegens in einen Reziprozitätsprozess mit dem Adressaten einzusteigen, wird in der »Bitte um einen Wunschzettel« konkretisiert. Das allgemeine Reziprozitätsangebot wird auf den Weg gebracht: Im erbetenen Antwortbrief soll der Adressat seine Wünsche ganz konkret äußern.24 Mit dem Zusatz μὴ ὄκνει (»zögere nicht«) werden insbesondere in Geschäftsbriefen letzte Hemmschwellen diesbezüglich abgebaut.25 Im Blick auf Paulus ist nun auffällig: Er spricht die Umsetzung der Briefbitte durch Philemon in V. 21b deutlich an: »Ich weiß, dass du mehr tun wirst, als ich sage.« Damit berührt er den geläufigen Epilog-Motivvorrat, konkret die vorauseilende Dankverpflichtung im Fall der Erfüllung der Briefbitte. Aber: Paulus vermeidet streng den damit üblicherweise verbundenen Reziprozitätsmechanismus.26 Weder erklärt er sich Philemon gegenüber Koskenniemi, Studien 38–42, mit Bezug auf antike Brieftheoretiker. P.Petr. II 11 1,7f. (Witkowski Nr. 3). 20 Außer dem genannten Beispiel führt Koskenniemi, Studien 69, nur noch zwei weitere an: P.Lips. 104,13–17 (Witkowski Nr. 63); P.Grenf. II 36,14f. (Witkowski Nr. 64). Müller, Schluß 67, verweist auf einige Passagen aus den Atticusbriefen Ciceros (VII 10; 11,5; 12,6). 21 Koskenniemi, Studien 70. 22 Buzón, Briefe 21f.68.111f. 23 Buzón, Briefe 68. 24 In P.Cair.Zen. 3,59405 wird im Anschluss an die Formel der Reziprozitätszusammenhang sogar ausdrücklich reflektiert. »Wie wir dich belästigen, so dürfen auch wir dir keinen Vorwand vorgaukeln …« 25 Vgl. die Beispiele bei Buzón, Briefe 112. Hierher gehörten auch die Texte, die Arzt-Grabner 252 als Parallelen zum Wissens-Motiv anführt: »… schreibe mir, denn du weißt, dass ich gerne alles für dich tue« (P.Mich. VIII 483,6; vgl. P.Corn. 49,10–12). 26 Auch White, Function 162f., weist in seiner Auswertung auf die Auslassung der »re 18 19
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zu Dank verpflichtet, falls er auf seine Bitte eingeht, noch fordert er dazu auf, bestimmte Wünsche zu äußern. Das liegt ganz auf der Linie des von Paulus offensichtlich bewusst veränderten Reziprozitätskonzepts, das bei ihm auf die Beziehung zwischen Gott und Mensch beschränkt bleibt. Paulus stattet Gott Dank ab für das, was Philemon für die Gemeinde tut – aber niemals Philemon selbst. (d) Das Letzte der vier brieftypischen Motive des Epilogs, die Besuchsan kündigung,27 findet sich bei Paulus in V. 22.28 Im Sinne der Parusia-Thematik kündigt er damit an, die briefliche Parusie demnächst wieder durch eine persönliche ersetzen zu können.29 Insofern liegt Paulus hier ganz in der Linie der üblichen Brieftypik. Allerdings bekommt das Besuchsankündigungsmotiv durch seine Platzierung unmittelbar nach der eigenwilligen Realisierung der Vorab-Danksagung in V. 21b, das den Reziprozitätskreislauf assoziieren lässt, aber ihn nicht anspricht, eine besondere Zuspitzung: Anstelle des gesellschaftlich üblichen Angebots, im Gegenzug dafür, dass Philemon »noch mehr tun wird« als Paulus ihm sagt, nun seinerseits ihm eine Gefälligkeit anzubieten, beansprucht Paulus sofort eine weitere Leistung aufseiten Philemons:30 ξενία für seinen nächsten Besuch.31 Und: Die längst erwartete Reziprozitätsthematik taucht nun endlich auch im paulinischen Epilog auf. Auch hier ist von einem Reziprozitäts-Gegengeschenk die Rede, aber das gewährt – wie zu erwarten – Gott (χαρισθήσομαι) als Antwort auf die Gebete der Gemeinde. Im besten Fall ist Philemon als Reziprozitätskreislauf-Empfänger in diese Gruppe integriert, und zwar als Co-Bittsteller (Gebete) und als Co-Empfänger (Parusia des Paulus). Was den Dank im Reziprozitätskreislauf angeht, wird jegliche Mensch-Mensch-Beziehung vermieden. Eine Einzelperson kommt schon gar nicht infrage.32 3. Performanz. In V. 22c, völlig unvermittelt, sozusagen mitten im Satz, wird plötzlich wieder das zuhörende Auditorium angesprochen: »Dass ich durch eure (ὑμῶν) Gebete euch (ὑμῖν) geschenkt werden werde«. Das hat (1) seinen guten Grund und zeigt (2) zugleich eine Veränderung in der Kommunikationsstruktur gegenüber dem Proömium an, wo die Gemeinde zwar sponsibility phrase« hin. Aber er bringt den Reziprozitätsmechanismus nicht ins Spiel. Er sieht eher einen Ersatz dieses Motivs durch das Vertrauensmotiv. 27 White, Function 49–51. 28 Während die Besuchsankündigung in Paulusbriefen geradezu ein Standardmotiv bildet (Röm 15,22–24.28f.; 1Kor 16,5–7; 2Kor 13,1; Phil 2,24; vgl. Gal 4,20; 1Thess 3,6), ist es in der profanen Brieftradition eher selten zu finden; vgl. White, Function 163. 29 So auch Wolter 280. 30 Hat man das übliche Muster im Ohr, dann könnte in der Partikel ἅμα, mit der V. 22 eingeleitet wird, genau diese Durchbrechung des Erwartungshorizontes mitschwingen: Paulus verzichtet auf das Angebot einer Gegenleistung und fordert »zugleich« Philemon zu einer weiteren Leistung auf. 31 In dieser Perspektive erst wird es auffällig, dass Paulus ja nicht eigentlich seinen Besuch ankündigt, sondern um eine Fremdenunterkunft bittet, sofern er zu Besuch kommt. 32 Insofern ist der abrupte Wechsel von der direkten Anrede Philemona ab V. 4 zum »ihr« der Gemeinde am Ende von V. 22 auch konzeptionell bedingt.
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nicht direkt angesprochen wurde, aber über die Erwähnung der »Guttat« Philemons und deren emotionale Auswirkung für »die Eingeweide der Heiligen« (V. 7b) präsent war. (1) Im Briefkorpus sowie zu Beginn des Epilogs spricht Paulus mit Philemon als Sklavenbesitzer (V. 20f.) bzw. als Hausbesitzer (V. 22a). Die damit verbundenen Rechte werden für Philemon – als auch Christgläubigem und Bruder – nicht bestritten. Was das Briefkorpus (auf der sachlichen Ebene) und der Epilog (auf der emotionalen Ebene) versuchen, ist die Hinführung zu einem anderen Umgang mit diesen Rechten – eben als Bruder (V. 16.20a) bzw. als Christgläubiger innerhalb des ekklesialen Sinnbereichs, was durch die jeweilige Endstellung von »im Herrn« bzw. »in Christus« in V. 20 besonders betont wird. Dadurch dass Paulus im Epilog sehr wohl die Gemeinde direkt ansprechen kann, aber in Sachen Haus- und Sklavenbesitz sich ausdrücklich an Philemon allein wendet, macht Paulus vor dem Auditorium der Hausgemeinde klar, dass bezüglich dieser Eigentumsrechte Philemon als pater fa milias nichts diktiert werden kann. Nach wie vor bleibt Philemon in diesen Bereichen alleiniger Ansprechpartner. Und er allein muss entscheiden. Die Christgläubigen genauso wie Paulus sind Gäste im Haus Philemons. Aber als Bruder »im Herrn« bzw. »in Christus« kann Paulus, obwohl auf der sozialen Stufenleiter nicht gleichrangig, Philemon wie ein leiblicher Bruder – auf sozial gleicher Ebene – um einen Gefallen bitten.33 Dabei setzen sowohl Proömium als auch Epilog einen deutlichen Vorbehalt gegen den damit eigent lich aufgerufenen Reziprozitätsmechanismus. Trotz seiner deutlichen Briefbitte, mit der sich Paulus an Philemon wendet und damit eigentlich ein Klient-Patron-Verhältnis praktiziert, fühlt er sich Philemon gegenüber keineswegs zu Dank verpflichtet. Denn im ekklesialen Sinnbereich gibt es immer eine dritte Instanz, die sowohl als eigentlicher Impulsgeber für gute Gaben als auch als eigentlicher Empfänger des Dankes dafür fungiert: Gott bzw. Christus. Paulus spricht sozusagen seine Bitte stellvertretend aus und muss dann den geschuldeten Dank auch niemand anderem als Gott abstatten (vgl. V. 4a). Philemon handelt entsprechend aus Glaubensgehorsam (V. 21a), nicht aus Gehorsam gegenüber Paulus. Kurz: In der kommunikativen Struktur des Epilogs werden die »alten« Kompetenzen und Rechte des pater familias in die neue Reziprozitätsstruktur des ekklesialen Raumes hineinprojiziert:
»im Herrn« / »in Christus«
PDF 12
(ἔγραψα)
Paulus »Bruder« Philemon
Das wird auch das Modell für die Gemeinde sein.
33
(ὑπακοή)
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(2) Im Proömium stellt Paulus Philemon der Gemeinde gegenüber. Er handelt an den »Heiligen«. Sofern sich auch Philemon an den Gebeten für die Freilassung des Paulus beteiligt, ist in V. 22c des Epilogs dieses Gegenüber aufgelöst. Mit dem doppelt gesetzten Personalpronomen (ὑμῶν/ὑμῖν) ist in V. 22 die Hausgemeinde inklusive Philemon gemeint. Hausbesitzer und Gäste bilden eine Einheit. Die offene Frage ist nur, ob von den Adressaten jetzt auch Onesimus dazugerechnet wird, er also in das »ihr« integriert ist. Anders gesagt: ob auch Sklavenbesitzer und Sklave in der Gebetsgemeinschaft der Hausgemeinde auf einer Stufe stehen. Wenn Onesimus, über dessen Status im Raum der Ekklesia im Briefkorpus verhandelt wird, auch in Philemons Ohren beim »ihr« in V. 22c bereits eingeschlossen ist, dann erhofft Paulus für sich, was im Proömium »die Heiligen« erfahren haben: dass auch seine Eingeweide zur Ruhe kommen (V. 20c); und dann erfährt er im direkten Gegenüber, was ihm gemäß Proömium nur über die Wohltat an der Gemeinde vermittelt geschah: Freude und Trost an Philemons Liebe, was im Epilog analog dazu mit σου ὀναίμην aufgegriffen wird (s. Auslegung). Der Grund dafür: Paulus identifiziert sich emotional mit Onesimus. Wie Philemon sich gegenüber Onesimus verhält, das spürt Paulus in seinen eigenen Eingeweiden (V. 12b.20c). Und außerdem: Wenn Onesimus beim »ihr« in V. 22c nicht mitgedacht wird, kann Paulus der Gemeinde, zu der für ihn Onesimus natürlich dazugehört, gar nicht »geschenkt werden«. Erklärung 20 Nachdem Paulus zu Beginn der Passage V. 17–19 die Entscheidung über die weitere Glaubensgenossenschaft mit Paulus Philemon in die Hände gelegt hat, und zwar in Abhängigkeit von seiner Einstellung zum neuen Onesimus, macht Paulus zu Beginn des Epilogs in V. 20 auf dreifache Weise klar, dass seinerseits das Verhältnis zu Philemon ungebrochen ist. (1) Durch die Bruder-Anrede greift Paulus das Prädikat von V. 7c auf. Dort steht es im Zusammenhang mit der bereits erwiesenen Guttat Philemons für die Gläubigen. In V. 20a kann es – im Blick auf die noch ausstehende Guttat bezüglich Onesimus – dementsprechend als Vorschussvertrauen gehört werden. (2) Mit ὀναίμην greift Paulus eine gängige Redeweise auf, die soviel bedeutet wie: »Möge mir Freude an … zuteil werden«.34 Das wiederum steht in Parallele zu der Freude und dem Trost, den Paulus an der »Liebe«, eben seiner Gastfreundschaft gegenüber den Gläubigen, empfunden hat. Im Blick auf Onesimus wird Paulus das jetzt zum »erfüllbaren Wunsch«.35 Diese auf der Beziehungsebene ausgesprochene Hoffnung wird durch das einleitende ναί noch einmal nachdrücklich unterstrichen.36 (3) Nach dem ökonomischen Kalkül der V. 18f., also den Fragen um Schuld und Rückzahlung, zeigt die parallele Endstellung von ἐν κυρίῳ sowie ἐν Χριστῷ in V. 20 an: Paulus geht es gerade nicht um eine materiell-finanzielle Rückzahlung der Lebensschuld Philemons, sondern um Vgl. Passow III 481f. So die Zielrichtung des Optativ; vgl. BDR § 384. 36 Vgl. BDR § 441,2. 34 35
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deren »Vergütung« im ekklesialen Raum. Worin sie besteht und was Philemon tun muss, um Paulus erneut Freude zu bereiten, expliziert V. 20c. Insofern hat der Imperativ ἀνάπαυσον keinen eigentlichen Befehlscharakter, sondern ist eine konkretisierende Anleitung dafür, wie der Optativ ὀναίμην erfüllt werden kann: Freude wird Paulus an Philemon haben, wenn seine unruhigen, aufgewühlten Gefühle (σπλάγχνα) zur Ruhe kommen. Über die im bisherigen Brief geprägte Semantik lässt sich das noch konkretisieren: Die »Eingeweide« des Paulus stehen für Onesimus, mit dem er sich gefühlsmäßig identifiziert (V. 12b). Das Verb ἀναπαύειν bezieht sich in V. 7b konkret auf die Etablierung der Ekklesia in Philemons Haus. Trägt man diese Assoziationen in V. 20c ein, ergibt sich als Handlungsanleitung für Philemon kurz und knapp: Nimm Onesimus in die Gemeinde in deinem Haus auf ! Nicht ausgeschlossen werden kann, dass bei der Verlesung des Briefes der Klang des Verbums ὀναίμην den Namen Onesimus assoziieren lässt.37 Immerhin hat Paulus bereits in V. 11 diesen Namen auf seine Bedeutung hin abgelauscht,38 und zwar aus unterschiedlichen Perspektiven: Für den Sklavenhalter Philemon erwies sich der »Nützliche« als unbrauchbar (ἄχρηστος), im ekklesialen Raum jedoch, d.h. als Verkündiger der Evangeliumsbotschaft, erscheint Onesimus bestens brauchbar (εὔχρηστος). Auch V. 20 nimmt diese ekklesiale Perspektive ein. Hört man in ὀναίμην den Namen Onesimus, könnte man paraphrasieren: Sei mir doch ein »Onesimus« im Herrn, sodass ich auf ekklesialer Ebene an dir Freude haben kann!39 In diesem Fall ergibt sich im Blick auf den gesamten Brief folgende ideale tria-cordia-Situation: Gemäß V. 12 identifiziert Paulus seine Gefühle mit Onesimus; entsprechend fungiert Onesimus gemäß V. 17b als Paulus-Stellvertreter gegenüber Philemon. Gemäß V. 13b hat Paulus den Wunsch gehegt, Onesimus als Stellvertreter Philemons bei sich zu behalten; umgekehrt möchte Paulus, dass Philemon ihm zu einem wahren Onesimus wird, an dem er seine Freude haben kann (V. 20b).
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So vor allem in der angelsächsischen Forschung, allen voran Lightfoot 344; vgl. Dunn 341; Bruce 221; Barth/Blanke 486; aber auch in der deutschen Forschung: Lohmeyer 191; Binder 64; Arzt-Grabner 246f.; abgelehnt dagegen von Lohse 285; Gnilka 87; Müller 132; Zweifel melden an: Fitzmyer 119; Reinmuth 51. 38 Das genau ist der Punkt, von dem BDR § 488,1b mit Anm. 4 eine mögliche Namensassoziation abhängig macht. Als Beleg für eine generelle Ablehnung derselben wird dieser Verweis deshalb von den entsprechenden Kommentatoren zu Unrecht zitiert. 39 Gemeint ist natürlich: durch die Aufnahme des Onesimus in die Hausgemeinde, kaum dagegen: »Paulus wünscht sich, dass ihm Philemon als Sklave im Herrn diene«; so aber Arzt-Grabner 247, in Fortsetzung der Linie von V. 19, Philemon, »der ihm eben nicht einfach Geld schuldet, sondern sich selbst … sollte eigentlich sein Sklave sein« (ebd. 246). 37
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An dieser Dreier-Konstellation ist auffällig: Die Beziehung Paulus – Philemon wird sozusagen über Onesimus »umgeleitet«. Onesimus wird von Paulus zum Mittelsmann stilisiert – und damit zu der Figur, an der sich sein Verhältnis zu Philemon neu definieren wird.
Ein Letztes: Der in der Profangräzität formelhafte Wunsch ὀναίμην, der hier in V. 20 das einzige Mal im gesamten NT vorkommt, wird oft aus dem Erwartungshorizont der Eltern gegenüber ihren Kindern geäußert.40 So gehört greift V. 20 auf emotionaler Ebene auf, was Paulus in V. 19d mit Hilfe der Schuldmetaphorik zum Ausdruck gebracht hat: seine geistliche Elternschaft gegenüber Philemon.41 21 Mit der brieftypischen Formel ἔγραψα kann am Ende des Briefes rückschauend die Motivation für das Schreiben angegeben werden. Paulus tut das in V. 21 – in zwei unterschiedlichen Perspektiven: im Blick auf den Gottesbezug des Philemon (Glaubensgehorsam: V. 21a) und im Blick auf den zwischenmenschlichen Bezug (»weil ich weiß, dass du mehr tust, als ich sage«: V. 21b). »Gehorsam« (ὑπακοή) ist die Haltung, die von einem Sklaven gegenüber seinem Herrn gefordert ist. Der Sklave hat keine andere Wahl und kann sich auch seinen Herrn nicht auswählen, es sei denn, ein Freier verkauft sich in die Sklaverei. Genau das setzt die paulinische Sentenz in Röm 6,16 voraus.42 Und in diesem Sinn sind Christusgläubige »Sklaven«. Sie haben sich freiwillig Gott bzw. seinem Mandatar Christus als ihrem Herrn unterstellt und damit gleichzeitig der durch die Auferweckung des Gekreuzigten von Gott etablierten neuen Weltordnung, der sie als dem Königsgesetz der neuen Welt Gehorsam zu leisten haben. Für diese neue Weltordnung gilt, was Gal 3,27f. auf den Punkt bringt: die Aufhebung der religiös wie gesellschaftlich zementierten Grenzlinien zwischen Juden und Griechen, Freien und Sklaven, Männern und Frauen, die sich in entsprechenden sozialen Ungleichbehandlungen niederschlagen. Paulus versteht sich als von Gott autorisierter Vermittler, der durch seine mündliche wie schriftliche Verkündigungsarbeit zu diesem Glaubensgehorsam führen will. Insofern bringt V. 21 im Anschluss an die Erklärung von V. 6 bzw. V. 8f. präzise die Funktion des Schreibens auf den Punkt: Weder befiehlt Paulus ein bestimmtes Verhalten, noch hofft Vgl. Aristoph. Thesm. 469; Lukian. philops. 27; der einzige Beleg in der LXX: Sir 30,2 (ὁ παιδεύων τὸν υἱὸν αὐτοῦ ὀνήσεται ἐπὶ αὐτῷ); dagegen hat der Schreibfehler ὠνάσθης (für ὠνομάσθης) in Tob 3,8 (B* A†) mit ὀνίνημι nichts zu tun (gegen Kraus, Verpflichtung 196). 41 Die Wendung in V. 20 involviert genau das, was Dunn 340 in V. 19d vermisst, die »Vaterschaft« des Paulus, weshalb er nur von einer durch Paulus vermittelten Bekehrung Philemons sprechen will. Zur Bruder-Anrede am Beginn des Verses besteht insofern kein Widerspruch, als die metaphorische Elternschaft einen bestimmten Punkt in der Vergangenheit im Blick hat, eben die Bekehrung, das (egalitäre) Bruderverhältnis dagegen die Dauerbeziehung der Gläubigen kennzeichnet. 42 Vgl. Dion Chrys. 15,23; Petron. 57,4; 1Clem 55,2; Haacker, Röm 150. 40
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er einfach darauf, dass Philemon intuitiv das Richtige tut. »Im Vertrauen auf den (prinzipiell vorhandenen) Glaubensgehorsam« Philemons versucht Paulus vielmehr, diese intrinsische Ausrichtung, von der er sich absolut überzeugt zeigt (πέποιθα), zu befördern und auf einen ganz bestimmten Punkt hin zu konkretisieren (vgl. V. 6): eben seinen Umgang mit dem gläubig gewordenen Sklaven. Paulus tut das, indem er im Briefkorpus unterschiedliche Perspektiven auf diese neue Situation wirft. Ein gewisser Druck auf Philemon entsteht dadurch, dass Paulus ihm gemäß V. 17 seine Glaubensgenossenschaft aufkündigen würde, falls er Onesimus nicht als »Bruder« (V. 16) anerkennt bzw. als gleichwertigen κοινωνός wie einen zweiten Paulus hinzunimmt. Aber das ist nur logisch: Denn falls sich Philemon dem Wertesystem der neuen Welt verweigert, wäre er eo ipso ohnehin nicht mehr »Sklave Gottes«, gehörte also gar nicht mehr zur Ek klesia Gottes. Insofern könnte Paulus auch nicht mehr sein Glaubensgenosse sein. Philemon hätte das Band selbst zerschnitten. Paulus kann deshalb nur Überzeugungsarbeit leisten und Philemon dazu motivieren, seinen Glaubensgehorsam auch im Blick auf Onesimus zu aktivieren.43 Auf der horizontalen Ebene bescheinigt Paulus Philemon in V. 21b, er habe den Brief geschrieben, weil er von vornherein wusste, dass Philemon sogar noch mehr tun werde als das, worum er ihn eigentlich bittet. Formal stellt Paulus hier eine Höflichkeitsfloskel auf den Kopf (vgl. oben S. 114–116). Gewöhnlich direkt an die Aufforderung angeschlossen, der Adressat möge im Gegenzug zur Briefbitte des Autors ebenfalls einen Wunsch äußern, lautet sie: »Wir werden es nämlich gerne / aus freundschaftlichen Gefühlen heraus tun«44, in einer etwas längeren Form: »Weil du weißt, dass ich es/alles gerne / ohne Zögern machen werde«.45 Paulus invertiert diese Formel. Anstatt Hemmschwellen abzubauen, damit der Briefpartner sich traut, seinerseits eine Briefbitte auszusprechen, erhöht Paulus die Erwartungshaltung gegenüber der Erfüllung seiner eigenen Briefbitte. Kommunikativ gesehen setzen diese Vorschusslorbeeren Philemon unter erhöhten Handlungsdruck. Was hat Paulus inhaltlich im Blick? V. 21 differenziert zwischen der vertikalen (V. 21a: Glaubensgehorsam) und der horizontalen Ebene (V. 21b: »was ich sage«). Also kann mit Letzterem kaum das gemeint sein, was Paulus in V. 15f. fiktiv aus göttlicher Perspektive formuliert hat, sondern nur das, was seine eigene Sichtweise angeht, nämlich Onesimus als gleichwertigen Diese Interpretation versucht, die Vermittlerrolle des Paulus im Blick auf den Glaubensgehorsam ernst zu nehmen (vgl. Röm 1,5; 15,18; 2Kor 10,5f.), ohne zu sagen, dass Paulus Gehorsam »gegenüber seinem Anliegen verlangt« (Wolter 278f.; vgl. Suhl 275), also »die angemessene Reaktion auf eine autoritative Anordnung des Apostels« (Wolter 278) verlangt und damit letztlich doch genau das tut, was er in V. 8c weit von sich gewiesen hat: »anzuordnen dir, was deine Pflicht ist«. 44 ποιήσομεν γὰρ φιλικῶς/προθύμως; vgl. Buzón, Briefe 111f. 45 Vgl. die Beispiele bei Arzt-Grabner 252, etwa P.Mich. VIII 483,6: ἰδῶς ὅτι [ἡδέ]ως πάντ[α σοι] ποιῶ. 43
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Geschäftspartner »hinzuzunehmen« (V. 17).46 Das »Mehr«47 muss sich dann auf das beziehen, was Paulus ebenfalls ausgesprochen hat, aber ohne die freie Zustimmung Philemons nicht durchsetzen wollte (V. 13f.), nämlich seine Wunschvorstellung, ihm Onesimus als Mitarbeiter zu überlassen. Damit bekommt dieser Briefabschnitt, dessen Option ja von Paulus zunächst zurückgestellt wurde, über das schmeichelhafte Lob von V. 21b eine ganz pragmatische Funktion. Von juristischer Freilassung ist dagegen nirgends die Rede.48 22 Das brieftypische Motiv der Besuchsankündigung, das seinen Platz kurz vor den Schlussgrüßen hat, realisiert Paulus in V. 22, wo er Philemon zur Vorbereitung einer ξενία auffordert. In den dokumentarischen Papyri wird dieser Begriff einerseits sehr allgemein für »Gastfreundschaft« verwendet, andererseits enger gefasst im Sinn von »Verköstigung, Verpflegung« oder von »Unterkunft« (vgl. Apg 28,23; Sir [B] 29,27)49. Letzteres bedarf besonderer Vorbereitung: Ein Zimmer muss ausgesucht bzw. frei gemacht und eine Liege mit Polstern und Decken ausgestattet werden. Schließlich umfasst ξενία das gesamte Gastritual: vom Empfang des Gastes vor dem Eingang des Hauses über das Angebot eines Bades, die Ausstaffierung mit frischen Kleidern, die Verköstigung und Unterkunft während des Aufenthaltes bis hin zur Ausstattung für die Weiterreise (vgl. 1Kor 16,6).50 Natürlich wird dies alles nur dann fällig, wenn Paulus tatsächlich aus der Haft entlassen wird. Paulus hofft darauf (V. 22b), dass Gott diese Wende herbeiführt – und zwar aufgrund der Gebete der Gemeinde im Haus Philemons (V. 22c). In dieser Hoffnung spiegelt sich die Reziprozitätserfahrung, die Paulus im Glauben gemacht hat und von deren Fortsetzung in der Zukunft er ganz sicher ausgeht: Gemäß V. 4 bedankt er sich (εὐχαριστῶ) in seinen Gebeten für den bereits geschehenen Gnadenerweis (χάρις: V. 3) Gottes, durch den die Liebestat Philemons initiiert worden ist (V. 5). Jetzt in V. 22 wird der Regelkreis sozusagen durch die Gemeinde angestoßen: Paulus hofft, dass ihre Bittgebete einen Gnadenerweis Gottes erflehen können – und er dann der Gemeinde wieder geschenkt wird: durch Gott (χαρισθήσομαι)51. Zweierlei ist auffällig: (1) Die Vorbereitungen, die Philemon treffen soll, stehen sub conditione des Gotteswillens. Trotzdem erfolgt die Aufforderung dazu absolut. (2) Nur im Phlm thematisiert Paulus im Rahmen seiner Besuchsankündigung die Vorbereitung dafür.52 Sonst spricht er lediglich von So auch die meisten Kommentatoren, z.B. Reinmuth 48; spezifiziert als Gemeindegesandter: Ollrog, Paulus 103.106; so auch Wolter 279. 47 Gnilka 88 möchte einen unmittelbaren semantischen Rückbezug zu V. 16b (ὑπὲρ δοῦλον) sehen. Das aber ist zu schematisch gedacht. 48 Das aber wird erwogen von Stuhlmacher 52–54; Wright 189; Wengst 72; Wendland, Function 105; Oestreich, Performanzkritik 117. 49 Das sind die einzigen Vorkommen des Stichworts in der griechischen Bibel. 50 Vgl. Arterbury, Angels 182–186; Hiltbrunner, Gastfreundschaft 34–60. 51 Passivum divinum; betont herausgestellt von Haykin, Praying 333. 52 Präzise gesprochen liegt in V. 22 keine Besuchsankündigung vor, sondern die Aufforderung zur Vorbereitung einer Logis. 46
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seinem Kommen (ἔρχεσθαι).53 So ist es auch in den Papyrusbriefen üblich.54 Sofern hier überhaupt von Vorbereitungen (ἑτοιμάζειν) die Rede ist, sind es der Gastgeber bzw. die für die Logis Verantwortlichen, die stolz davon berichten – oder eine entsprechende Vorbereitung wird seitens des Briefschreibers höflichst erbeten (καλῶς ποιήσεις).55 Nichts davon bei Paulus. Diese auffällige Leerstelle hinsichtlich Höflichkeit und Dank Philemon gegenüber steht in starkem Kontrast zur mehrfachen Thematisierung des Reziprozitätskreislaufs zwischen Gott und den Gläubigen, von dessen Funktionieren Paulus nicht nur scheinbar ganz selbstverständlich ausgeht, sondern den in Gang zu halten Paulus durch entsprechende Dankbezeugungen auch ohne Bedenken bereit ist. Dieser Kontrast könnte Absicht sein. Denn im normalen gesellschaftlichen Leben sind Reziprozitätsmechanismen zwischenmenschlich verankert – und werden beim Bittbrief des Paulus in aller Wahrscheinlichkeit auch assoziiert. Sofern Philemon die geradezu unerhörte Bitte des Paulus, Onesimus als »Bruder« aufzunehmen, erfüllen sollte, zöge das unendliche Dankesschuld nach sich. Bei Paulus kein Wort davon. Es ist sogar so, dass Paulus die in der Brieftypik dafür üblichen Floskeln aufgreift (s. oben S. 114–116), sie aber so ummünzt, dass sie jegliches Anzeichen von Dankbarkeitserweisen verlieren – und umgekehrt den Erwartungsdruck auf Philemon erhöhen, ja sogar im Rahmen der Besuchsankündigung noch eine zusätzliche Forderung in den Raum stellen. Paulus denkt nicht nur im Rahmen der Neuen Welt und ihrer neuen Weltordnung, sondern handelt auch entsprechend. Mit dem pointierten Verzicht auf jeglichen Dankerweis gegenüber dem Gönner Philemon durchbricht er ein gesellschaftliches Muster, das wie kein anderes den antiken Alltag bestimmt. Damit praktiziert Paulus selbst gegenüber Philemon, was es heißt: einander Bruder zu sein, sowohl im Fleisch als auch im Herrn (vgl. V. 16). 2 Postskript (V. 23–25) 23a Es grüßt dich Epaphras, b mein Mitkriegsgefangener in Christus Jesus, 24a Markus, b Aristarchus, c Demas, d Lukas, e meine Mitarbeiter. 25a Die Gnade des Herrn Jesus Christus (sei) mit eurem Geist.
Vgl. Röm 15,22; 1Kor 16,5; 2Kor 13,1; Phil 2,24. Vgl. die Beispiele bei White, Function 50f. 55 Vgl. Arzt-Grabner 253–256 mit den entsprechend kommentierten Belegen. 53 54
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Analyse 1. Epistolographie. Etwa ab der Regierungszeit von Kaiser Augustus werden die mit ἀσπάσασθαι gebildeten Grußformeln am Ende des Briefes extensiv genutzt,56 und zwar in folgenden Varianten: Der Briefschreiber grüßt den Empfänger, lässt andere durch ihn grüßen oder übermittelt Grüße an Dritte.57 Paulus bewegt sich also ganz in der Formelsprache seiner Zeit: In V. 23f. übermittelt er Grüße von im Brief bisher nicht genannten Personen an Philemon. Den typischen Abschlusswunsch dagegen, der in keinem Brief fehlen darf und der stereotyp mit der Floskel ἔρρωσο/ἔρρωσθε (vgl. aber Apg 15,29) formuliert wird,58 sucht man bei Paulus vergebens.59 An dessen Stelle findet sich in allen Paulusbriefen ganz am Ende der Chariswunsch – wie in V. 25. Nachdem er in späteren christlichen Briefen keine Nachahmung gefunden hat,60 scheint es sich um eine paulinische Eigenart zu handeln.61 Im Grunde adaptiert Paulus das griechisch-römische Formempfinden auf seinen eigenen Briefstil. In dokumentarischen Papyrusbriefen lässt sich nämlich das Bestreben beobachten, die stark formalisierte Anfangs- und Schlusspassage des Briefes einander anzunähern, sodass Inklusionen entstehen:62 Solange es üblich war, nach der salutatio eine separate formula valetudinis initialis anzufügen (3.–2. Jh. v.Chr.), findet sich, wenn auch nicht regelmäßig, spiegelbildlich dazu am Ende des Briefes eine vollständig ausformulierte formula vale tudinis finalis,63 unmittelbar gefolgt vom formelhaften ἔρρωσο, das in dieser Kombination den Klang einer »Valediktion«64 annimmt. Sobald es sich ab Mitte des 2. Jh. v.Chr. jedoch einbürgert, den Eingangsgruß χαίρειν einfach um einen weiteren Infinitiv, die Gesundheit betreffend, zu erweitern (καὶ Vgl. White, Analysis 19; Weima, Endings 39, möchte im Unterschied zur salutatio am Briefanfang von »secondary greetings« sprechen. Das lateinische Äquivalent lautet salutem dicere; vgl. Cic. fam. 14,3 (salutem dic); 14,7 (vobis s[alutem] d[icunt]). 57 Zur Differenzierung zwischen direkten Grüßen (1. Person: ἀσπάζομαι; vgl. Röm 16,22), Grußaufträgen an Dritte über den Adressaten (2. Person: ἄσπασαι; ἀσπάσασθε; vgl. Röm 16,3; 2Tim 4,19) und Grußübermittlungen von Dritten an den Adressaten (3. Person: ἀσπάζεται; vgl. Röm 16,21) vgl. Mullins, Greeting 418; Weima, Endings 40–45; ders., Sincerely 325–330; Koskenniemi, Studien 148–151; Klauck, Briefliteratur 39f. 58 Vgl. Buzón, Briefe 25f.70.114.174; nicht ganz so eindeutig fällt die Evaluation bei Exler, Form 69–77, aus. 59 Die Floskel findet sich auch in den griechischen Briefen der Bar-Kochba-Zeit, eine äquivalente Formulierung in den aramäischen und hebräischen Briefen; vgl. Doering, Letters 74f. 60 Während die pseudepigraphischen Paulusbriefe ihn in einer Kurzform (»die Gnade sei mit euch«) aufgreifen, fehlt er in den katholischen Briefen; vgl. aber Hebr 13,25 und Offb 22,21. 61 So Gnilka 94; anders urteilt Zeller, Charis 133. 62 Müller, Schluß 60, spricht davon, »daß eine ringförmige Anlage beziehungsweise Geschlossenheit solcher Briefe intendiert scheint« (vgl. ebd. 63). 63 Der Hauptunterschied besteht darin, dass bei der Floskel am Ende des Briefes die Referenz auf den Gesundheitszustand des Absenders fehlt. Buzón, Briefe, listet entsprechende Beispiele auf: häufig in familiären, Empfehlungs- und Geschäftsbriefen (9f.23f.51–53.70.102–108.112f.), in Verwaltungsbriefen nur in Ausnahmefällen (163– 166.171f.). 64 Vgl. Koskenniemi, Studien 151. 56
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ἐρρῶσθαι/ὑγιαίνειν),65 also auf eine eigenständige formula valetudinis initialis
zu verzichten, schlägt sich auch das wiederum auf den Briefschluss nieder: Auch hier verschwindet die separate formula valetudinis finalis. Stattdessen wird auch der Abschiedsgruß leicht erweitert, nämlich zu ἐρρῶσθαί σε εὐχομαι, wobei man in ἐρρῶσθαι vermutlich stärker die wörtliche Bedeutung des »Wohlergehens« heraushört.66 Mit seinem Chariswunsch als Schlussgruß erreicht Paulus eine strukturell vergleichbare Inklusion in seinen Briefen.67 Denn damit greift auch er Form und Begrifflichkeit der salutatio auf, wie er sie in Abweichung vom üblichen Schema in seinen Briefen verwendet: In beiden Fällen handelt es sich um einen prädikatslosen Satz, der mit χάρις als Subjekt beginnt. Außer in 1Kor und Phlm findet sich in allen anderen Paulusbriefen vor dem abschließenden Chariswunsch noch ein Eirenewunsch,68 sodass beide Begriffe der salutatio in chiastisch verschränkter Reihenfolge auch im Briefschluss erscheinen, wobei sie auf Gott bzw. den Herrn Jesus als Urheber so
rekurrieren, dass der Eirenewunsch die beiden Innenglieder, der Charis
wunsch die beiden Außenglieder der salutatio aufgreift:
salutatio
im Präskript salutatio
im Präskript χάρις χάρις εἰρήνη εἰρήνη θεός
θεός Ἰησοῦς κύριος
Schlusswünsche
im Postskript Schlusswünsche
im Postskript
Eirenewunsch Eirenewunsch
Chariswunsch Chariswunsch
PDF 14 κύριος Ἰησοῦς Der formale Gestaltungswille, wie er sich im antiken Briefformular gerade auch der dokumentarischen Papyri durchgängig zeigt, gibt bezüglich der göttlichen Rollenverteilung vermutlich einen größeren Ausschlag als theologische Überlegungen. 2. Semantische und kommunikative Inklusionen. Zwischen Präskript und Postskript fallen des Weiteren semantische sowie kommunikative Inklusionen auf: (1) Das Epitheton συναιχμάλωτος für Epaphras wird nicht nur
Vgl. die Beispiele bei Arzt-Grabner 116–121. Zur Entwicklung der Formel vgl. Weima, Endings 34–39; Exler, Form 116, schreibt: »There is a close connection between this final phrase and the ἐρρῶσθαι wish. Many texts, quoted to support the former, will be found with the latter also. Both phrases make their first appearance about the same time; and when the combined ἐρρῶσθαί wish ceases to be used, the ἐπιμέλου final phrase also disappears, that is, during the first hundred years of the Christian era.« 67 So auch Weima, Endings 87. 68 Röm 15,33; 16,20; 2Kor 13,11; Phil 4,9; 1Thess 5,23; vgl. Gal 6,16. 65 66
#17
(C/2)
#17
(C/2)
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mit der gleichen Präposition spezifiziert wie das Epitheton συστρατιώτης für Archippus in V. 2d, sondern stammt ebenfalls aus der Welt des Militärs,69 einem Bildspendebereich, den Paulus auch sonst für das christliche Leben bzw. für den Verkündigungsdienst einsetzen kann (vgl. 1Thess 5,8; 2Kor 6,7). Assoziiert man bei »Mitsoldat« den gemeinsamen aktiven Einsatz, so beim »zusammen mit dem Speer Gefangengenommenen«70 eine gemeinsame Kriegsgefangenschaft. Inhaltlich steht dieses Epitheton also in der Linie von δέσμιος,71 dem Epitheton, mit dem sich Paulus in der superscriptio vorgestellt hat. Beide Epitheta werden durch den Christusbezug (V. 1b: Genitiv; V. 23a: ἐν) näher spezifiziert. Wegen dieser inhaltlichen und kompositorischen Par allelität ist es wahrscheinlich, dass Epaphras zusammen mit Paulus im Gefängnis ist72 – ebenfalls wegen der Verkündigung des Evangeliums. (2) Wenn Paulus die vier weiteren in der Grußliste genannten Personen als »meine Mitarbeiter« vorstellt, dann greift er die Qualifikation auf, die er im Präskript V. 1f Philemon – und nur ihm – zuerkannt hat. (3) Entbieten im Präskript Paulus zusammen mit seinem Bruder Timotheus Philemon als »unserem Mitarbeiter« ihre Grüße, so sind es am Ende des Briefes andere Mitarbeiter des Paulus, die diesem Philemon – und speziell ihm – Grüße entbieten. (4) Werden im Präskript zunächst Philemon, Apphia und Archippus als Einzelpersonen angesprochen, bevor die Ekklesia als Mitadressat genannt wird, so sind es im Postskript ebenfalls zunächst Einzelpersonen, die dem »Mitarbeiter« Philemon ihren Gruß ausrichten lassen (V. 23f.), bevor Paulus seinen Chariswunsch in der Funktion eines Schlussgrußes an die ganze Gemeinde richtet (V. 25).73 3. Performanz. Es ist auffällig, dass Paulus in der Grußliste erneut Philemon alleine anspricht. Hat er sich doch unmittelbar zuvor in V. 22c erstmals nach V. 3 wieder direkt an die Ekklesia gewandt, und er beschließt seinen Brief mit dem Chariswunsch in V. 25 auch in dieser Adressatenausrichtung.
Und nicht des Agon, wie Pfitzner, Paul 125f.161, fälschlicherweise behauptet; aufgenommen von Gnilka 92. 70 Von αἰχμή/Speer und ἁλίσκομαι/gefangennehmen; vgl. Lampe 231; Passow I 67. Ansonsten verwendet Paulus dieses Epitheton nur noch für Andronikos und Junia in Röm 16,7. 71 Diese für die Situierung des Briefes entscheidende Nuance geht verloren, wenn man, wie Ewald 24.284, hier die unnötige Konjektur σύναιχμος/Speergenosse im Sinn von σύμμαχος/Kampfgenosse vornimmt. 72 So auch: Ollrog, Paulus 44; Wolter 281; Müller 135; Reinmuth 53; Stuhlmacher 55; Lampe 231; vorsichtig ist Dunn 347f.; eine symbolische Interpretation im Sinn eines Gefangenen, der vor dem Triumphwagen Christi einhergeht (vgl. 2Kor 2,14), bevorzugt Fitzmyer 124. Weil der Christusbezug für Epaphras anders als bei Paulus mit ἐν Χριστῷ Ιησοῦ formuliert ist, möchte Eisentraut 118 eine freiwillige Gefangenschaft annehmen; Gnilka 92 schließt daraus, dass Epaphras überhaupt nicht eingekerkert ist. 73 Auf die »paronomastische[n] Klammern« zwischen Präskript und Briefschluss macht, mit z.T. anderen Schwerpunkten, auch Lampe 232 aufmerksam, aufgegriffen bei Reinmuth 56. 69
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Insofern wird Philemon in V. 23f. erneut in den Fokus der Aufmerksamkeit unter den Zuhörern gerückt.74 Es ist ein besonderer Aspekt, unter dem Philemon in der Grußliste V. 23f. beleuchtet wird: anders als im Briefkorpus nicht als pater familias und Sklavenbesitzer des Onesimus und anders als im Präskript nicht als Kopf des Moderatorenteams der Gemeinde in seinem Haus, sondern: eingeordnet in den Kreis »meiner Mitarbeiter«. Anders gesagt: Das Spotlight auf Philemon schaltet ihn gleich. Paulus weist ihm einen Platz unter seinen Mitarbeitern zu. Und es ist diese ekklesial bestimmte Bezugsgröße, die zu erhalten Paulus Philemon durch seinen Brief herausfordert. Unter dieser Perspektive soll die Gemeinde »in seinem Haus« auf ihn schauen. Als »Mitarbeiter« am Evangelium sollte er selbst umsetzen, was er anderen predigt. Eventuell wird durch die gezielte Grußausrichtung speziell an Philemon auch vorsichtig angedeutet, dass die Grüßenden über den »Fall« Philemon – Onesimus Bescheid wissen. Paulus muss sie über seinen Brief informiert haben, genauer: über das Problem, das darin mit Philemon verhandelt wird; sonst würden sie nicht Grüße speziell an ihn bestellen lassen, sondern einfach die Gemeinde grüßen. So jedenfalls ist es in allen authentischen Paulusbriefen der Fall, wenn von Einzelnen Grüße ausgerichtet werden, obwohl individuelle Gläubige mit Namen bekannt sind.75 Auch das setzt Philemon in seiner ekklesialen Stellung unter Druck. Freilich könnte man einwenden: Die Grüße werden speziell an Philemon ausgerichtet, weil die Gemeinde im Haus diese Mitarbeiter des Paulus nicht kennt. In diesem Fall hätte Paulus sie jedoch vorstellen können, wie es z.B. die parallele Grußliste in Kol 4,10–14 tut. Nein, der doppelt abrupte Adressatenwechsel von V. 22 nach V. 23 und von V. 24 nach V. 25 soll performatives Gewicht bekommen. 4. Die Grußliste in Kol 4,10–14. Bis auf einen Namen stimmt die Grußliste in Kol 4,10–14 mit der in V. 23f. überein. Durch eine Konjektur könnte auch dieses Manko bereinigt werden: Setzt man nach Χριστῷ ein Komma (bzw. hält eine Lesepause) und ergänzt beim Dativ Ἰησοῦ ein Schlusssigma, dann erhält man genau den in der Grußliste V. 23f. fehlenden Namen Ἰησοῦς.76 PDF 15
Das Ansprechen Einzelner innerhalb einer größeren Adressatengruppe ist Signal für eine besondere Absicht beim Verlesen eines Briefes: vgl. Oestreich, Performanzkritik 99–122. 75 So etwa in der Grußliste des Röm, wo Paulus zwar Grußaufträge an Einzelne bestellt (16,3–15), die Grußübermittlungen Einzelner jedoch immer an die ganze Gemeinde (ὑμᾶς) gerichtet sind (16,21–23; vgl. 1Kor 16,19). 76 Vgl. Amling, Konjektur 261f.; übernommen z.B. von Lohse 288. 74
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Phlm 23–25
Grußliste Phlm 23f. Epaphras
(Jesus)
Markus
Aristarch
Markus Jesus
Grußliste Kol 4,10–14
Aristarch
Demas
Lukas
Epaphras Lukas Demas
Der Hauptunterschied zwischen beiden Listen betrifft die Kommentierung
der Namen, wie sie nur in Kol geboten wird: Hier finden sich biografische Details ( Jesus trägt den Beinamen Justus; Markus ist der Neffe des Barnabas, Lukas von Beruf Arzt; Aristarch, Markus und Jesus sind Judenchristen) und Einzelheiten zu deren missionarischer Tätigkeit (Aristarch ist Mitgefangener des Paulus; Aristarch, Markus und Jesus sind die einzigen Judenchristen, die sich als Mitarbeiter am Reich Gottes beteiligen; Markus soll gastfreundlich aufgenommen werden, wenn er in die Gemeinde kommt; Epaphras bleibt seiner Heimatgemeinde stets im Gebet treu verbunden). Wollte man die Grußliste des Kol für die historische Situation des Phlm auswerten, müsste der Kolosserbrief die Adressaten vor dem Philemonbrief erreicht haben.77 Nur dann macht die Vorstellung der Namensträger Sinn. Und dann würde sich Paulus in einer ähnlichen Situation befinden wie bei der Abfassung des Phlm, und dann wären die Adressaten des Phlm in der Gemeinde von Kolossä zu verorten.78 Es bleiben aber gravierende sachliche Unterschiede, die es weder ratsam erscheinen lassen, die Grußliste des Phlm als Abbreviatur der Grußliste des Kol zu lesen, noch die Grußliste des Phlm als alleinige Vorlage für diejenige des Kol zu postulieren: In V. 23 ist Epaphras »Mitkriegsgefangener« des Paulus; in Kol 4,10 wird diese Rolle dem Aristarch zugeschrieben. Epaphras dagegen bekommt in Kol 4,12 das Epitheton δοῦλος Χριστοῦ, einen Titel, der in den Selbstvorstellungen des Paulus verankert ist (vgl. Röm 1,1; Phil 1,1; Gal 1,10). Dieser Titel und die weiteren Charakterisierungen des Epaphras in Kol 4,12f. entsprechen ganz der Intention des Kol, Epaphras als idealen Paulusnachahmer zu stilisieren.79 Alle anderen Zusatzinformationen der Grußliste des Kol liegen dagegen auf der Linie anderer Mitarbeiternotizen späterer neutestamentlicher Schrif Vgl. Barth/Blanke 496. Murphy-O’Connor, Greeters, will in den Namen der beiden Grußlisten eine Delegation aus Kolossä erkennen, die mit Epaphras verhaftet worden sei, als sie Paulus in Ephesus von der Häresie in Kolossä berichten wollten. 78 Letzteres entspricht dem Mainstream der Forschung, wobei der Rückbezug auf die identischen Personen eine wesentliche Rolle spielt; vgl. das Referat bei Schnelle, Einleitung 176; Broer/Weidemann, Einleitung 378f. 79 Vgl. dazu bestens Wolter, Kol 218. 77
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ten, in denen die Beziehungen zwischen Mitarbeitern thematisiert werden (Markus/Barnabas z.B. in Apg 15,37–39), aber auch das Abdriften einzelner Missionare (z.B. Demas: 2Tim 4,10) oder die geringe Zahl der Treuen, z.B. 2Tim 4,11: »Lukas alleine (μόμος) ist bei mir.« Die Grußliste in Kol 4,10–14 sollte also nicht für die historische Situation Philemons ausgewertet werden. Einerseits legitimiert sie bestimmte Personen als ideale Paulusmitarbeiter, andererseits spiegelt sie – wie andere Mitarbeiternotizen – herbe Erfahrungen der nachpaulinischen Missionsgeschichte, die über die in den Paulusbriefen bezeugten Mitarbeiternamen ins Leben des Paulus zurückprojiziert werden. In V. 23f. übermittelt Paulus Grüße seiner Mitarbeiter speziell an Philemon, Erklärung der seinerseits im Präskript als »Mitarbeiter« angesprochen worden ist (V. 23–24 1f ). An erster Stelle steht Epaphras,80 den Paulus unter Verwendung einer Kriegsmetapher – wie schon bei Archippus, dem »Mitsoldaten« (V. 2d) – als »mein Mitkriegsgefangener in Christus Jesus« vorstellt. Analog zu seiner eigenen Vorstellung als »Gefesselter Christi Jesu« (V. 1b) ist das wohl ein Hinweis darauf, dass Epaphras mit Paulus zusammen im Gefängnis »gefesselt« ist und nicht frei agieren kann – natürlich aus den gleichen Gründen wie Paulus: wegen der Evangeliumsverkündigung. Angeschlossen sind vier Namen,81 die hinsichtlich einer plastischen Schilderung ihrer Biographie sowie ihrer missionarischen Tätigkeit eine enorme Wirkungsgeschichte zeigen, die bereits innerhalb des Neuen Testaments beginnt. Von Paulus werden sie lediglich als »meine Mitarbeiter« präsentiert.82 Darauf kommt es ihm an: Philemon, der mit der Grußliste erneut als Einzelperson ins Rampenlicht rückt, wird von Paulus – als »Mitarbeiter« (V. 1f ) – diesem Kreis zugeordnet. Aus der Perspektive des Paulus ist Philemon weder selbständig agierender Kopf eines Hausgemeinde-Moderatorenteams oder gar Chef einer Hausgemeinde mit den Allüren eines pater familias, sondern eingereiht in den Kreis derer, die das Evangelium verkündigen. Nicht nur Onesimus, auch Philemon hat – als Christgläubiger – eine neue Identität, an die er (über Paulus) durch die Grüße seiner »Kollegen« erinnert wird. Diese pointiert herausgestellte Zuordnung soll von der Gemeinde wahrgenommen werden. Nimmt man hinzu, dass die grüßenden Kollegen über den »Fall Onesimus« Bescheid wissen müssen, wenn sie sich speziell an Philemon und nicht allgemein an die Hausgemeinde wenden, so können die zuhörenden Gläubigen in den Grüßen der Außenstehenden, die Paulus bewusst sich selbst zuordnet (»meine Mitarbeiter«) und Philemon gleichstellt Kurzform von Epaphroditus; der Genannte hat aber mit dem Mitarbeiter dieses Namens in Phil 2,25; 4,18 (dazu: Williams, Epaphroditus) nichts zu tun. Vgl. Trainor, Epaphras, bes. 25–54. 81 Zur Wirkungsgeschichte der Namen vgl. Eisentraut 113–130. 82 Durch das vorangestellte Prädikat im Singular (ἀσπάζεται) kommt es zu einer grammatikalischen Unstimmigkeit, die sich jedoch in dokumentarischen Briefen, insbesondere bei Grußlisten, häufiger finden lässt: vgl. Arzt-Grabner 260f. 80
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(V. 1f: »unser« Mitarbeiter), zugleich eine hohe Erwartungshaltung an ihren Gastgeber heraushören. 25 Der abschließende Gnadenwunsch greift in der Funktion eines Schlussgrußes bewusst Elemente des Eingangsgrußes auf, also der salutatio in V. 3 – mit einer kleinen Veränderung: Anstatt die Empfänger der Gnade einfach im Dativ zu nennen (ὑμῖν), wünscht Paulus in V. 25, dass die Gnade Gottes μετὰ τοῦ πνεύματος ὑμῶν sei.83 Der Wunsch des »Mit-Seins« Gottes bzw. seiner Heilsgüter ist situativ in Abschiedssituationen verankert.84 Mit πνεῦμα ist hier der göttliche Geist gemeint, also der schöpferische Geist Gottes, der Jesus aus den Toten erweckt, ihn zu seinem Mandatar erhöht (vgl. Röm 1,3f.) und dadurch das Signal für die neue Schöpfung gesetzt hat.85 Durch den gleichen Geist wirkt Gott in denjenigen Menschen, die zusammen mit anderen als Ekklesia Gottes schon im alten Äon die Weltordnung dieser neuen Schöpfung praktizieren.86 Durch den Gnadenwunsch wird also die Gemeinde im Haus Philemons in ihrer Bestimmung als eschatologische Vorbotin der neuen Schöpfung aktiviert, deren Auswirkungen man an einer veränderten Gesellschaftsordnung innerhalb dieser Gruppe erkennen kann. Der getaufte Sklave Onesimus im Haushalt Philemons ist also ein Testfall für die Alltagstauglichkeit der paulinischen Theologie. Und dann? Gemäß antiker Briefkonvention hat der Überbringer offizieller Briefe im Anschluss an deren Verlesung Rede und Antwort zu stehen, Fragen im Sinn des Briefschreibers zu beantworten und Unklares zu kommentieren.87 Im Unterschied zu normalen Fürbittbriefen soll Phlm entsprechend seinem offiziellen Rahmen nicht einem einzelnen Adressaten übergeben, sondern vor der gesamten Ekklesia verlesen werden. Insofern schlägt nach der Briefverlesung im Haus des Philemon dem Onesimus die Stunde. Jetzt ist er dran – und Philemon genauso. Die Erklärungen des einen88 wie die Reaktionen des anderen geschehen vor der versammelten Gemeinde. Und dabei dürfte der So auch Phil 4,23; Gal 6,18. Berger, Apostelbrief 205f., sieht im Abschiedsgruß eine außerbriefliche Vorgeschichte: die Zusage des Mit-Seins Gottes bzw. bestimmter Heilsgüter in Abschiedssituationen (μεθ᾿ ὑμῶν); vgl. 1Makk 16,3; Mt 28,20. Zeller, Charis 133f., weist auf Apg 14,26; 15,40 und 20,32 hin: Bei der Abreise werden Missionare bzw. Gemeinden der Gnade Gottes anvertraut. 85 Vgl. Scherer, Argumente 236f. 86 Von den meisten Kommentatoren wird πνεῦμα anthropologisch bestimmt; vgl. Gnilka 94; Stuhlmacher 56; Fitzmyer 125; Wengst 73 (»intellektuelle Kraft«). In diesem Fall jedoch müsste der Plural stehen! Eine pointiert theologische Verortung dagegen nimmt Reinmuth 55f. vor. 87 Vgl. Oestreich, Performanzkritik 13f., mit Hinweis auf Thuk. 7,10; Suet. Aug. 49,3; Apg 15,30–32. White, Light 216, verweist auf P.Col. III 6,14–16; speziell im Blick auf die Überbringer der paulinischen Briefe vgl. Johnson, Letters; vgl. insgesamt Stirewalt, Paul 7f. 88 Insofern kommt es jetzt genau zu dem Gespräch mit dem Sklaven, das Gerber, Onesimus 105, im Brief des Paulus, der ihm »keine Stimme« gibt, vermisst. 83 84
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Brief als Katalysator zugunsten des Onesimus gewirkt haben. Denn wer den Worten des Paulus auch nur einigermaßen gefolgt ist, sieht in Onesimus Paulus selbst vor der Gemeinde stehen und spürt, wie es Paulus an die Eingeweide geht, wenn Philemon sich entscheidet: ob er den Empfang des Onesimus als »Ewigen« quittiert oder nicht.
Auswertung und Ausblick
1 Rekonstruktion des Plots Aufgrund der Textanalysen in der Kommentierung kann die Rekonstruktion der Vorgeschichte des Briefes präzisiert werden. 1.1 Das favorisierte Modell: Paulus als amicus domini Bei der Auslegung hat sich das amicus domini-Modell als am meisten textgemäß bewährt. Legte man das fugitivus-Modell zugrunde, bliebe – außer den Vorbehalten aus sozialgeschichtlicher und juristischer Perspektive (vgl. oben S. 9–11) – vor allem verwunderlich, dass Paulus Philemon nicht in erster Linie darum bittet, von drastischen Bestrafungen abzusehen, sondern dass er die neue Position des Onesimus gegenüber seinem »Herrn« Philemon aushandelt und die von ihm angestrebte Bruder-Gleichstellung an den Weiterbestand seiner Beziehung zu Philemon knüpft. Das alles trifft nicht die Probleme eines zu seinem Herrn zurückkehrenden fugitivus.1 Das Gemeinde-Gesandten-Modell (vgl. oben S. 11f.) verharmlost die Ausgangslage: Ein von der Gemeinde in Gang gesetzter Versorgungsdienst für Paulus kann kaum mit ἐχωρίσθη in V. 15a in Einklang gebracht werden, nicht als passivum divinum und schon gar nicht als mediales passivum (»hat sich getrennt«). Auf der Seite des Paulus ist es wohl denkbar, dass er sich für eine der Taufe angemessene Position des Sklaven in der Ekklesia Philemons einsetzt; aber warum geht er dann in diesem Zusammenhang darauf ein, dass Onesimus einst für seinen Herrn unbrauchbar gewesen sei (V. 11a)2 und außerdem eventuell eine Rechnung mit ihm offenstehe (V. 18a)? Woher soll Paulus das überhaupt wissen, wenn es der Sklave ihm nicht erzählt und ihn um entsprechende Vermittlung gebeten hat – womit wir auch in diesem Fall erneut beim favorisierten Vermittlungs-Modell angelangt sind.3 Vgl. auch die differenzierte Kritik an den unterschiedlichen Nuancierungen des fugi tivus-Modells von Rapske, Prisoner 189–195. 2 In der Variante des Patronats-Modells von Elliott, Thanks, gedacht, hätte Philemon Paulus ein aus seiner Sicht »unbrauchbares« Geschenk gemacht. 3 Vgl. die analoge »Wendung« zur Erklärung es zufälligen Zusammentreffens zwischen Paulus und Onesimus im Rahmen des fugitivus-Modells bei Moo 369 unter Verweis auf Moule 20: »Perhaps the best solution is to assume that Onesimus had begun to have doubts about his decision to run away from his master. Having heard of Paul 1
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Auswertung und Ausblick
Daraus ergeben sich Konsequenzen für die Verortung von Hausgemeinde und Gefängnis: Die Entfernung zwischen beiden Standpunkten darf nicht allzu weit sein.4 Wie sollte ein Sklave, falls er gefasst oder man auf ihn aufmerksam wird, was im fugitivus-Modell vorausgesetzt werden muss, deutlich machen, dass er nicht auf der Flucht, sondern vielmehr auf der Suche nach einem Vermittler unterwegs ist?5 Damit kommen sowohl das Tandem Ephesus – Kolossä) als auch der Hausgemeinde-Standpunkt Kolossä bei Paulus-Haft in Rom nicht infrage. Dagegen erscheinen Rom und Umgebung als »Tatorte« sowohl für die Hausgemeinde als auch das Gefängnis am wahrscheinlichsten – analog zum Fall des Mediators Plinius (epist. 9,21.24). 1.2 Der klassische Standort Kolossä auf dem Prüfstand der Angaben des Kol Wegen des verblüffend gleichen Personentableaus ist der Bezug des Kol auf Phlm Grundkonsens der Forschung. Wird Kol als pseudepigraphische Schrift eingestuft, wird die Kenntnis des Phlm für die Gestaltung des Brief rahmens vorausgesetzt.6 Dass Kol ausgerechnet Phlm zum Prätext gewählt hat, hängt für M. Theobald, einem der Vertreter der Tandem-Ephesus-Kolossä-Verortung, vor allem damit zusammen, »dass schon die Hausgemeinde des Phlm, an die Paulus geschrieben hat, in Kolossä beheimatet war«.7 Aus der Kennzeichnung des Onesimus in Kol 4,9 als ὅς ἐστιν ἐξ ὑμῶν wird gewöhnlich nicht nur ein lokaler Haftpunkt des Sklaven in Kolossä, sondern auch der Hausgemeinde Philemons herausgelesen.8 J. Knox, der die Vorlage für das Gesandten-Modell geliefert hat (vgl. oben S. 11f.), setzt schließlich die dem Archippus in Kol 4,17 ans Herz gelegte διακονία inhaltlich mit dem Wunsch des Paulus in Phlm 13b gleich und folgert daraus: Archippus ist sowohl Sklavenhalter als auch Gastgeber der Ekklesia, die wegen der unmittelbar zuvor erfolgten Erwähnung des Briefs »aus Laodizea« in Kol 4,16 genau dort zu suchen sei. Mögen die Leser des Kol Onesimus aufgrund von Kol 4,9 mit Kolossä in Verbindung bringen, keinesfalls jedoch werden sie sich (1) die Hausgemeinde Philemons (bzw. Archippus’) in Kolossä bzw. Laodizea vorstellen – oder gar (2) Archippus als Herrn des Onesimus. Denn: (1) Philemon, Apphia und die Ekklesia, an die sich der Phlm richtet, sind die einzigen Elemente des Phlm–Personentableaus, die im Kol fehlen. Ausgerechnet.9 Und das, or met him on some occasion, he seeks out Paul to enlist his help in intervening with Philemon.« 4 Als Prinzip aufgestellt von Broer/Weidemann, Einleitung 376. 5 Vgl. Broer/Weidemann, Einleitung 373.376; vgl. oben S. 21f. 6 Vgl. nur Theobald, Kolosserbrief 435; Überblick bei Schnelle, Einleitung 366. 7 Theobald, Kolosserbrief 436. 8 Vgl. das Referat bei Broer/Weidemann, Einleitung 378. 9 Das sehen alle Kommentatoren; der Sachverhalt jedoch wird heruntergespielt; vgl. z.B. Schweizer, Kol 179: »Außer Philemon und Apphia, an die der Philemonbrief gerichtet ist, erscheinen sämtliche dort genannten Namen auch hier …«; vgl. ebd. 27: »Daß Philemon
Auswertung und Ausblick
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obwohl Nympha mit ihrer Hausgemeinde (wohl in Laodizea) eigens mit einem Gruß bedacht wird – und zwar als Untersegment der dortigen Gesamtgemeinde (Kol 4,15).10 Sollte, wie J. Knox und Vertreter des Gemeinde-Gesandten-Modells vermuten, nicht Philemon, sondern Archippus der Sklavenhalter und Gastgeber der Phlm-Hausgemeinde sein – mit Sitz in Laodizea, wird die Nichterwähnung dieser Hausgemeinde im Kol noch auffälliger. Also: In der Fiktion des Kol gibt es sehr wohl »Heilige« bzw. »Brüder« in Kolossä und Laodizea; in Laodizea gibt es sogar eine eigens hervorgehobene Hausgemeinde – aber eine Hausgemeinde Philemons bzw. Archippus kommt dort nicht in Sicht. Gerade wenn Phlm für die Leser des Kol als bekannt vorausgesetzt wird – und darauf hebt die pseudepigraphische Konzeption des Kol ja ab –, sticht es ins Auge, dass zwar sowohl von Onesimus als auch von Archippus die Rede ist und eine unmittelbare Kommunikation beider mit der Gemeinde angekündigt (4,9) bzw. vorausgesetzt wird (4,17), aber die Hausgemeinde, die ihre Namen unweigerlich assoziieren müsste, keine Erwähnung findet. Insofern fällt diese Leerstelle besonders auf. Kurz: Entweder gibt es die Hausgemeinde, an die sich der Phlm richtet, für den Kol nicht mehr – dann hätte sie sich sehr schnell aufgelöst (das gilt sowohl für die Annahme der Authentizität des Kol als auch für die Paulus-Fiktion des pseudonymen Schreibens) –, oder es hat sie in Kolossä (bzw. in Laodizea) nie gegeben. Auch der These, (2) Archippus sei Sklavenhalter und Gastgeber der Phlm-Hausgemeinde, macht ausgerechnet der Text des Kol einen Strich durch die Rechnung, sofern man die διακονία des Archippus (Kol 4,17) vom Briefkontext und der im Vorlauf eingespielten Semantik her entschlüsselt. Das Wortfeld διακονεῖν ist eindeutig geprägt: Es betrifft die Evangeliumsverkündigung – paradigmatisch ausgesagt für Paulus (1,23.25), stellvertretend in Kolossä durchgeführt von Epaphras (1,7) und aktuell per Brief angekündigt für Tychikus (4,7). Kaum kann für Archippus in 4,17 etwas anderes gemeint sein. Und genau diese Bedeutung hat der vorliegende Kommentar auch für διακονεῖν in Phlm 13 vertreten: Paulus wünscht sich Onesimus als Mitarbeiter in der Verkündigung. Die Textkombinationen zwischen Kol 4,17 und Phlm 13, die J. Knox für die Hausherrenrolle des Archippus in Anspruch nimmt, lassen sich also weder für Kol noch für Phlm halten, was im Umkehrschluss bedeutet: Auch über die Vorstellungswelt des Kol steht der Hausherrenrolle Philemons nichts im Weg. Gemäß Kol 4,17 ist Archippus – die Kenntnis des Phlm vorausgesetzt – aus dessen Hausgemeinde herauslösbar und kann als Wandermissionar eingesetzt werden.11 und Apphia im Kolosserbrief nicht genannt werden, ist selbstverständlich, falls sie in Laodizea lebten. Daß dagegen Grüße an diese Gemeinde aufgetragen werden, macht keinerlei Schwierigkeiten, falls der Kolosserbrief einige Wochen später geschrieben wurde.« 10 Insofern kann man nicht sagen, dass der Eingangsgruß an »die Heiligen in Kolossä« in Kol 1,2 die im Phlm genannte Hausgemeinde bereits »abdecke«. 11 Vgl. Balabanski, Philemon 137f.146.
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Auswertung und Ausblick
Wird die Sprach- und Vorstellungswelt des Kol ernst genommen, dann flankiert dieser Text weder die Knox’sche These von Archippus als Hausherrn und Sklavenhalter noch die Behauptung der Verortung der Hausgemeinde Philemons in Kolossä. Ganz im Gegenteil: Für die Hausgemeinde Philemons ist gemäß der Vorstellungswelt des Kol in Kolossä kein Platz. 1.3 Rom als Schauplatz: Daten und Thesen Mit Rom als Ort für die Gefangenschaft des Paulus sowie die Hausgemeinde Philemons in Kombination mit dem amicus domini-Modell erledigen sich viele Schwierigkeiten, die für eine Verortung der Hausgemeinde in Kolossä (sei es im Tandem mit Ephesus oder Rom) mit sich bringen:12 Der Weg des Sklaven Onesimus zu Philemon ist nicht zu weit und bleibt in dessen möglichem Aktionsraum unauffällig. Sofern es für Paulus zu einem Freispruch kommt, kann er sowohl den im Phlm 22 angekündigten Besuch als auch seinen Reiseplan nach Spanien (Röm 15,23f.) einhalten.13 Allerdings bleiben die eingangs gestellten offenen Fragen (s. oben S. 25) zu beantworten, vor allem: Wie ist Paulus, der als Gefangener nach Rom gebracht wurde, mit Philemon in Kontakt gekommen? Zunächst die Daten des Phlm, wie sie sich aus der Kommentierung ergeben haben: (1) V. 19 deutet an, dass Paulus Philemon getauft hat; wo und bei welcher Gelegenheit wird nicht gesagt. (2) Paulus hat auch Onesimus getauft – und zwar im Gefängnis (V. 10b). (3) Dass Philemon sein Haus für die Versammlung der Ekklesia bereitgestellt hat (V. 4–7), davon erfährt Paulus mündlich (V. 5a: ἀκούων), höchstwahrscheinlich von Onesimus – auf keinen Fall von Philemon selbst. Im Rückschluss bedeutet das: Philemon hat Paulus im Gefängnis nicht besucht.14 Nehmen wir hinzu, dass die Andeutungen, die Kol im Blick auf die geographische Verortung von Onesimus (4,9) und Archippus (4,17) macht, auch bei der Annahme eines pseudepigraphischen Schreibens im Rahmen des Corpus Paulinum zumindest von den Rezipienten als nicht völlig unmöglich erachtet werden können,15 dann steht folgende Vorstellung im Raum: Onesimus kommt aus Kolossä und kehrt dorthin als Missionar zurück.16 Das bedeutet aber: Auch Philemon, der Herr des Skla Vgl. auch Gielen, Paulus I 91f. Was den Abfassungsort für Phil angeht, wird neuerdings ebenfalls Rom vehement in Erwägung gezogen: Betz, Paulus, bes. 13–16.29. Die Andeutungen über Haftsituation bzw. Aussicht auf Freispruch im Phil und Phlm werden für deren Verortung allerdings unterschiedlich ausgewertet: Nach Schnelle, Einleitung 159–163.174, sind beide Briefe in Rom verfasst, nach Broer/Weidemann, Einleitung 377, Phil in Ephesus, was nicht gegen eine Abfassung des Phlm in Rom spreche. 14 Dabei ist zu bedenken: Paulus war wegen des politischen Delikts der seditio in Rom in Haft, weshalb etwaige Besucher selbst schnell in Verdacht geraten konnten; vgl. Omerzu, Schweigen 155. 15 Diese wichtige Beobachtung machen Broer/Weidemann, Einleitung 378f.; zu den Stellen in unterschiedlicher traditionsgeschichtlicher Perspektive: Wolter, Kol 215.222; Schweizer, Kol 27; Wolter 238f. 16 Die weite Reise für Onesimus (und Tychikus sowie Archippus), die bei einer Situie12 13
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ven Onesimus, kommt von dort – was noch nichts über den Ort seiner Hausgemeinde aussagt.17 Zu dieser Hausgemeinde gehört gemäß Phlm 2b auch Archippus, für den Kol 4,17 voraussetzt, dass er den (fiktiven) Adressaten in Kolossä bekannt ist – und dann vermutlich ebenfalls aus dieser Gegend stammt.18 Diesem über den Kol suggerierten lokalen Haftpunkt der Protagonisten des Phlm entspricht, dass der außergewöhnliche Name Apphia (nicht zu verwechseln mit dem lateinischen Frauennamen Appia)19 gehäuft und singulär auf Inschriften im kleinasiatischen Raum auftaucht: in Lydien, Lykien und Phrygien, hier sogar auf einem Grabstein direkt in Kolossä (CIG III 4380 k3).20 Der Name Philemon21 ist zumindest über Ovids Erzählung von dem gastfreundlichen Ehepaar Philemon und Baucis in Phrygien (met. 8,620–724) ebenfalls mit dieser Gegend verknüpft.22 Wie lassen sich diese Daten, die einerseits die Protagonisten des Phlm mit Phrygien, speziell mit Kolossä in Verbindung bringen, andererseits für den Verfassungsort des Briefes und dann auch für die Hausgemeinde Rom nahelegen, wobei Letztere in der Grußliste des Röm23 noch nicht auftaucht, also weder die Hausgemeinde noch Philemon, Apphia und Archippus als Getaufte in Rom bekannt sind, zusammenbringen? Anders gefragt: Wie hat Paulus Philemon kennengelernt, wo hat er ihn getauft usw.?24 Exkurs II: Ein konkretisierendes Denkmodell Die folgenden Überlegungen verstehen sich als eine Denkmöglichkeit, die so konkret wie möglich ausgeführt wird. Wo und wie hat Paulus Philemon kennengelernt? Die These lautet: auf dem Schiff – auf seiner letzten Reise nach Rom. Gemäß Apg ist sie entlang der Route verlaufen, wie sie für Schiffe aus dem rung der Gefangenschaft des Paulus sowie der Hausgemeinde Philemons in Rom impliziert ist, stellt aus der Sicht der Paulus-Schüler kein Problem dar; vgl. nur die Reisen nach Rom bzw. von Rom aus in 2Tim 1,16–18; 4,9–13.21. 17 Das wird pointiert von Gielen, Paulus I 91, herausgestellt. 18 Broer/Weidemann, Einleitung 378 halten fest: »Insofern setzt der Kolosserbrief jedenfalls eine verbreitete Tradition voraus, dass die in Phlm 2 genannten Archippus und Onesimus nach Kolossä gehören.« 19 Diese Fehleinschätzung geht auf Grotius 595 zurück; von Lightfoot 372f. als »a mistake« bezeichnet; vgl. BDR § 42,3. 20 Auflistung der Inschriften bei Arzt-Grabner 82f. Zum Grabstein vgl. Dibelius 111. 21 Zur Verbreitung des Namens im gesamten Römischen Reich vgl. Arzt-Grabner 78– 81; NDIEC III 91. 22 Zur Traditionsgeschichte vgl. Griffin, Philemon. 23 Bezüglich der Integrität des Röm vgl. nur Wolter, Röm I 23–27. 24 In Auswertung der Sekundärliteratur erscheint Grieser/Priesching, Gnadenethos 236 Anm. 19, als Hauptgrund, der gegen Rom als Ort auch der Hausgemeinde spricht, dass diese Region nicht zum Missionsfeld des Paulus gehört und es deshalb nur schwer erklärbar sei, wie Philemon dort durch Paulus zum Glauben gekommen sein kann.
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Osten, aus Alexandria kommend, nach Italien üblich war: über Tyrus/Sidon, Myra, Rhodos/Knidos, das südliche Kreta sowie die Inselwelt westlich der Peloponnes über Syrakus und Puteoli nach Rom.25 Plinius d.Ä. hält Bestzeiten von gut einer Woche für diese Strecke fest (nat. 19,3f.) – und zwar von Rom aus. In umgekehrter Richtung, gegen die vorherrschenden Nordwinde, konnte die Fahrt doppelt so lange und noch länger dauern,26 insbesondere wenn ungünstige Winde zu Kursänderungen und unerwünschten Zwischenstopps zwangen. In diesem Fall konnte es allein bis zum außerplanmäßig angesteuerten Hafen von Athen 70 Tage dauern.27 Ist bei der Romreise des Paulus zumindest der Sachverhalt des Schiffbruchs28 (nicht dessen narrative Ausgestaltung)29 als historisch ernst zu nehmen (gemäß Apg 27,9 fiel diese Reise in die für die Schifffahrt bereits ungünstige Zeit des beginnenden Herbstes), dann dürfte die Dauer von gut über drei Monaten30 nicht zu hoch veranschlagt sein. Genauso lange jedenfalls dauerte – wegen Winterstürmen (χειμασθῆναι) – die Übermittlung der Todesnachricht des Caligula von Rom nach Antiochien.31 Migration Wie kam Philemon auf das gleiche Schiff nach Rom wie Paulus? Als Auswanderer – genauso wie Apphia und Archippus. Zumindest Philemon muss die Personen seines »Hauses« bei sich gehabt haben, darunter seinen Sklaven Onesimus – und viel Geld für den Neuanfang in Rom.32 Über Apphia und Archippus wissen wir nichts Weiteres. In dieser historischen Rekonstruktion ist allerdings gut vorstellbar, dass Apphia tatsächlich die Frau Philemons gewesen ist,33 Archippus vielleicht ein Freund des Hauses, der sich ihnen angeschlossen hat.34 Vgl. die entsprechenden Angaben in Apg 27,1–28,15; vgl. Warnecke, Romfahrt 75– 80 (mit antiken Belegen). 26 Vgl. Casson, Reisen 177. 27 So das bezüglich der Zeitangaben unverfängliche antike Zeugnis von Luk. nav. 7–9. Vgl. auch die Berechnungen von Schnelle, Einleitung 163; Broer/Weidemann, Einleitung 363f.; Alonso-Núñez, Art. Schiffahrt, DNP 11, 160–165, hier: 165; vgl. auch Reck, Kommunikation 86f., der von Bestzeiten ausgeht. 28 Vgl. den Schiffbruch des Josephus bei seiner etwa zeitgleichen Romreise (vita 13–16); vgl. Lichtenberger, Josephus 251–253. 29 Vgl. aber Reiser, Caesarea. 30 Vgl. die minutiöse Auflistung und Berechnung von Scriba, Korinth 167. 31 Vgl. Jos. bell. 2,203; ant. 18,305. 32 Eine derartige Umsiedlung von Kolossä nach Rom wird auch von Gielen, Paulus I 91f., erwogen, was Wolter, Philemonbrief 179 Anm. 24, als »überaus unwahrscheinliche Hypothese« bezeichnet. 33 Vgl. Müller, Ehepaare 43–46. 34 Nachdem der präzise Zeitpunkt der Überstellung des Paulus nach Rom nicht mit letzter Sicherheit auszumachen ist (zwischen 57/59 und 62 n.Chr.; vgl. oben S. 20), könnte das Erdbeben von Laodizea (gemäß Tac. ann. 14,27 noch vor Ende 60 n.Chr.), das auch Kolossä in Mitleidenschaft gezogen hat (vgl. Eus. chron. [GCS 47, 183,21f. Helm]), Auslöser für die Migration gewesen sein. Zur neuesten Evaluation von Zerstörung und Wiederaufbau von Kolossä vgl. Cadwallader, Axiom. 25
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Rom hat aus allen Teilen der Welt Migranten angezogen.35 Sich evtl. sogar mehrmals im Leben eine neue Existenz aufzubauen, mit dem versilberten Hausrat und evtl. den notwendigsten Werkzeugen auf dem Schiff unterwegs – dafür stehen Priska und Aquila (aus Pontus) christlicherseits als Paradigmen.36 Vermutlich als Immigrant(en) nach Rom gekommen, betreiben sie, nach der sogenannten Judenvertreibung aus Rom 49 n.Chr., ihr Zeltmachergeschäft in Korinth weiter, nehmen Paulus bei sich auf (Apg 18,1–3), sind seine Logismeister in Ephesus, wo sie erneut eine Hausgemeinde bei sich versammeln (1Kor 16,8.19), und kehren schließlich wieder nach Rom zurück (Röm 16,4). Derartige Bewegungen ganzer »Häuser« waren offensichtlich kein Problem, vor allem, wenn es Vernetzungen gab, die vor Ort den Einstieg erleichterten. Ein Beispiel dafür ist Junia Theodora, als »Römerin« wohnhaft in Korinth, mit ursprünglicher Herkunft aus Lykien. In mehreren Ehreninschriften wird ihr nicht nur für ihre politische Einflussnahme für ihre Landsleute in ihrer Heimat gedankt, sondern vor allem auch dafür, dass sie »Exilierte aus unseren Reihen aufs Großzügigste aufnahm« und reisenden Lykiern gegenüber ihre προστασία gezeigt, also die »Außenvertretung« gegenüber den römischen Autoritäten übernommen hat – darin stark an die Funktion der Phoebe in Kenchreä erinnernd (Röm 16,1f.).37 Die Migration eines gesamten Haushalts von der Insel Lesbos nach Kampanien wird durch die sogenannte Bacchen-Inschrift von Torre Nova (IGUR 160 / ca. 150 n.Chr.) bezeugt. In diesem Fall ist es so, dass die Hausherrin namens Agripinilla den heimatlichen Bacchus-Hauskult in Rom weiterführt, um dadurch eine bleibende Innenvernetzung ihres personenmäßig riesigen Oikos38 in der fremden Umgebung kultisch zu fördern und vor fremden Einflüssen zu schützen.39 Anders als Agripinilla sind Philemon, Apphia und Archippus nicht auf ihre heimatliche religiöse Prägung fixiert, sondern zeigen in der Situation des Aufbruchs auch Offenheit für eine neue religiöse Ausrichtung. Zeit genug war dazu auf dem Schiff, die Begegnungsmöglichkeit mit Paulus sicher nicht schlechter als in einem städtischen Gefängnis.40 Allerdings wurde(n) der (oder die) Sklaven in diesen Konversionsprozess nicht mit einbezogen. Vgl. nur den Spott von Iuv. 3,57–80; Lucan. 7,405; Mart. spect. 3; epigr. 7,30. Nach Lampe, Christen 138–141, sind 14 der 26 in der Grußliste des Röm genannten Personen östlicher Herkunft. 36 Vgl. Müller, Ehepaare 17–36. 37 Zur Auswertung der Inschriften für Junia Theodora (SEG XVIII Nr. 143) vgl. Klauck, Junia. 38 80 Prozent der insgesamt 402 auf der Inschrift genannten Namen sind griechischen Ursprungs, was in Italien auf den Status von Sklaven bzw. Freigelassenen hinweist, die zum Haushalt gehören. 39 Vgl. Ebner, Stadt 199f. 40 Für (normale) Passagiere gab es auf einem Handelsschiff weder Kabinen noch Serv ice. Man kaufte sich eine Deckpassage; vgl. Casson, Reisen 178; Weeber, Art. Reisen, DNP 10, 856–866, hier: 859. Auch wenn Paulus mit anderen Gefangenen von einem Centurio beaufsichtigt wurde (Apg 27,1), ließen sich Kontakte zu anderen Passagieren nicht vermeiden. 35
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Exkurs II
Zugestiegen können Philemon, Apphia und Archippus in Myra sein, dem Umsteigehafen auf (große Getreide-)Schiffe von Alexandria nach Rom (vgl. Lukian. nav. 1; Apg 27,5f.).41 Von Laodizea aus ist der Hafen von Myra über römische Straßen gut erreichbar.42 In Rom In Rom angekommen, wurde Paulus ins Gefängnis gebracht (Apg 28,16). Falls die Schilderung der Apg historische Möglichkeiten einfängt, sind für die auf dem Schiff neu Bekehrten ab der Ankunft in Puteoli Kontakt- und Vernetzungsmöglichkeiten mit den christlichen Brüdern in Italien möglich gewesen (vgl. Apg 28,14f.). Die Wege von Paulus und Philemon (sowie Apphia und Archippus) jedoch trennen sich; Paulus hört nichts mehr von Philemon, bis dessen Sklave Onesimus43 zu ihm ins Gefängnis kommt und ihm davon berichtet, dass Philemon sein (neues) Haus in Rom für eine Hausgemeinde geöffnet hat (vgl. Phil 4–7), in der auch Apphia und Archippus eine vorrangige Rolle spielen (vgl. Phlm 2). Wie die Epitheta συνεργός bzw. συστρατιώτης im Präskript zeigen, geht Paulus davon aus, dass Philemon und Archippus selbst missionarisch tätig sind. Doch: Den Kontakt zu Paulus hat Philemon nicht gesucht, auf jeden Fall nicht gepflegt; sonst hätte Paulus dessen Fürsorge für die Gemeinde nicht von anderer Seite »zu Ohren« kommen müssen. Und so erklärt es sich dann auch, weshalb sich Paulus Onesimus stellvertretend für Philemon an seiner Seite wünscht (Phlm 13b). Paulus hatte also erwartet, dass Philemon sich seiner Missionskoordination unterstellt, zumindest aber für das Geschenk der christlichen »Geburt« seinem »Erzeuger« Paulus (vgl. Phlm 10) sich zu Dank verpflichtet zeigt, den er ganz praktisch durch Mithilfe in der Missionsarbeit44 hätte zurückzahlen können (vgl. Phlm 19d). Diese Leerstelle, so die zurückgestellte Planung des Paulus (Phlm 13), sollte zunächst Onesimus ausfüllen.
Anders als im fugitivus-Modell, für das ein erheblicher göttlicher Führungsaufwand nötig ist, um den entflohenen Sklaven Philemons, der von Paulus getauft worden ist, von den Behörden just in jenes Gefängnis bringen zu lassen, in dem sich auch Paulus befindet – dazu noch zu gleichen Haftbedingungen, sodass sie sich wirklich begegnen können (auf diese Schwierigkeit macht Rapske, Prisoner 191, aufmerksam), nutzen bei der vorgeschlagenen These Philemon, Apphia, Archippus und Paulus lediglich die Chance des gleichen Schiffs. 42 Vgl. die Straßenkarte Kleinasiens bzw. Lykiens in: DNP 12/2, 1154; 7, 561f.; vgl. Schmid, Zeit 141. Von Ephesus aus, der entfernungsmäßigen Alternative, wäre die Route über den Isthmos von Korinth verlaufen, wobei die Schiffe über eine Rollenschleifbahn (Diolkos) gezogen werden mussten, was nur für kleinere Schiffe möglich war und sich sicher auf die Kosten niederschlug; vgl. DNP 5, 1148f. 43 Der Paulus von der Reise her kennt, alle Vorgänge mitbekommen hat – und weiß, dass Philemon auf Paulus hört. Schluep-Meier 180 verweist auf die »Brüder« in Rom, die Onesimus kennen kann (vgl. Apg 28,14f.), die ihm den Weg zum Gefängnis weisen. 44 Diese Qualifikation Philemon zuzutrauen ist deshalb nicht verwunderlich, weil das Gleiche für Onesimus gilt; und er war kaum länger bei Paulus als das Trio auf dem Schiff. 41
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Vernetzungsappell In dieser Gemengelage einer neuen Hausgemeinde mit einem von Paulus getauften Hausherrn, der sich aber seit seiner Ankunft in Rom von Paulus fernhält, bekommt das nachgestellte »meine Mitarbeiter« in der speziell an Philemon gerichteten Grußliste Phlm 23f. noch einmal besonderes Gewicht: Der von Paulus wegen seiner offensichtlich erfolgreichen Missionstätigkeit in Rom im Präskript als »Mitarbeiter« titulierte Philemon sollte sich an den namentlich genannten »Mitarbeitern« der Grußliste ein Vorbild nehmen und auch die soziale Komponente seiner Funktion, nämlich die Vernetzung mit Paulus, ernst nehmen. Timotheus als Mitabsender Eine gewisse Schwierigkeit bei der Rom-These macht die Angabe des Timotheus als Mitabsender im Präskript des Phlm.45 Denn Paulus nennt als Mitabsender seiner Briefe offensichtlich nur Personen, die (1) tatsächlich in seiner Nähe sind (so wird Timotheus im Präskript des 1Kor nicht genannt, weil er schon unterwegs nach Korinth ist: Seine Ankunft wird in 1Kor 16,10f. avisiert; er wird also später erwartet als der Brief ankommt; bei Paulus ist er aber auch nicht mehr, denn er fehlt in der Grußliste)46 und (2) den Adressaten bekannt sind (im Röm erscheint Timotheus in der Grußliste und wird zusammen mit anderen dort genannten Namen kurz vorgestellt: 16,21). Er ist also den Adressaten nicht bekannt. Deshalb wird er auch nicht als Mitabsender genannt, obwohl er bei der Abfassung des Briefes in Korinth47 – laut Grußliste – in Paulus’ Nähe war. Nachdem nun Timotheus im Phlm 1 als Mitabsender genannt wird, müsste er (1) bei der Abfassung des Briefes in der Nähe des Paulus und (2) den Adressaten bekannt sein. Beides ist möglich, sofern Timotheus Paulus auf seiner letzten Reise begleitet hat und die These von der Bekehrung des Phlm-Trios auf dem Schiff zutrifft. Leider erfahren wir von Paulus selbst über das »Ende« des Timotheus kein Wort. Was bei Paulus offen bleibt, füllen spätere Schriften auf: In Apg 20,4 wird Timotheus in der Liste der namentlich und mit Herkunftsstadt genannten Begleiter des Paulus auf seiner Reise nach Jerusalem aufgeführt – und dann nicht mehr erwähnt. Bei der Abfahrt in Cäsarea nach Rom findet sich im Wir-Bericht lediglich Aristarch als Begleiter (27,2). Gemäß 1Tim 1,3 hat Paulus Timotheus jedoch bereits in Ephesus zurückgelassen und vorübergehend mit der Sorge um die dortigen Gemeinden betraut (1Tim 3,14f.). Letzteres ist dem Eigeninteresse der Pastoralbriefe geschuldet, die Timotheus und Titus – analog zu den römischen Statthaltern – über eine ganze Provinz als Verwalter einsetzen lassen.48 Für Timotheus wird jedoch 45 Bei Broer/Weidemann, Einleitung 377, ist dieser Punkt genau besehen der einzige, der gegen die Rom-These spricht. 46 Vgl. Schrage, 1Kor I 36; Schmeller, 2Kor I 38. 47 Vgl. Wolter, Röm I 28f.: am Wendepunkt zwischen der Einsammlung der Kollekte und dem Start der Jerusalemreise (vgl. Röm 15,25f. und Apg 20,1–2.3–21,17). 48 Die Analogie zu den mandata principis wurde von Wolter, Pastoralbriefe, eindringlich
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Exkurs II
weiterhin der persönliche Besuchskontakt zu Paulus während dessen Gefangenschaft in Rom49 vorausgesetzt (vgl. 2Tim 4,9.13). In kritisch-historischer Auswertung erscheint – im Vergleich mit den Angaben in Apg 19,21f.; 20,4 und Röm 16,21, wo die Anwesenheit des Timotheus beim Abfassen des Röm in Korinth in der Grußliste vorausgesetzt wird – (1) der frühe und dauerhafte Verbleib des Timotheus in Ephesus als Brieffiktion des 1Tim, die durch weitere Angaben auffällig untermauert werden soll, z.B. die rückblickenden Informationen über die Weiterreise des Paulus nach Korinth und Milet, bei der gemäß der Brieffiktion »Timotheus« ja nicht dabei war.50 (2) In Apg 20,4 liegt eine alte Liste von Gemeindevertretern für die Überbringung der Kollekte nach Jerusalem vor. Durch den narrativen Kontext hat Lukas deren ursprüngliche Intention unkenntlich gemacht, weil er die Kollekte verschweigen will, und die Liste auf die Idealzahl von sieben Personen erweitert. Im streng parallelen Aufbau schießt der Name Timotheus über. Außerdem wird er im Anschluss an Gaius ebenfalls Derbe zugeordnet, obwohl Timotheus gemäß Apg 16,1f. aus Lystra stammt.51 Kurz: In der von Lukas verarbeiteten Liste von Gemeinderepräsentanten für die Überbringung der Kollekte nach Jerusalem stand der Name Timotheus nicht; d.h. im Umkehrschluss: Er musste nicht wie die Genannten in deren Funktion als Gemeindevertreter in die Ausgangsstadt zurückkehren, sondern konnte mit Paulus nach Rom reisen, um ihn dann – nach erfolgreichem Prozessverlauf – nach Spanien zu begleiten. Das jedoch bleibt eine Möglichkeit, mehr nicht.52 Noch umstrittener ist schließlich die Notiz in Hebr 13,23, wo der Autor einen gemeinsamen Besuch mit Timotheus ankündigt, von dem es heißt, er sei ἀπολελυμένος. Bei einer Lokalisierung der Adressaten in Rom würde Timotheus in den 80er bzw. 90er Jahren dort als bekannt vorausgesetzt. Sollte das Partizip Perfekt nicht einfach medial verstanden werden in der Bedeutung von »abreisen, weggehen« (vgl. Apg 15,30; 28,25), sondern passivisch im Sinne von »aus einer Gefangenschaft freigelassen werden« (vgl. Mk 15,6; Apg 3,13), wäre als nächstes zu fragen, wo – in der fiktiven Vorstellung des Briefes – der Haftort zu denken ist …53 herausgestellt: Timotheus ist von Ephesus aus für die Provinz Asia zuständig (1Tim 1,3; 3,14f.), Titus für die Provinz Kreta (Tit 1,5; 3,12). 49 Vgl. 2Tim 1,8.17 (»Als er [sc. Onesiphorus] sich in Rom einfand, hat er eifrig nach mir gesucht – und gefunden«); 2,9; vgl. 4,6, wo bereits der Tod des Paulus avisiert wird; vgl. Weiser, 2Tim 48. 50 Vgl. auch 2Tim 4,13 mit der Bitte, Paulus den Mantel, den er in Troas zurückgelassen habe, sowie die Bücher mit nach Rom zu bringen; Grüße an Priska und Aquila (4,19), die vorübergehend in Ephesus lebten (vgl. Apg 18,19.24–26; 1Kor 16,19; schließlich 2Tim 1,18 mit Hinweis auf die Verhältnisse in Ephesus, die Timotheus bestens bekannt seien; vgl. Roloff, 1Tim 26f.; Weiser, 2Tim 48f.). 51 Zur Analyse vgl. nur Ollrog, Paulus 54–58; übernommen von Weiser, Apg II 558f.; Zmijewski, Apg 719. Roloff, Apg 295, denkt an eine entsprechende Kürzung. 52 Gemäß Ollrog, Paulus 23, ist das die eigentliche Intention des Timotheus: »Vermutlich wollte er auch mit Paulus nach Rom und Spanien reisen …«; vgl. auch Thornton, Zeuge 213. 53 Zur Diskussion vgl. Weiser, 2Tim 46f.; Gräßer, Hebr I 22–25; III 411–413, sowie Weiß, Hebr 76–78.763; sie alle halten die Angabe in Hebr 13,23 für fiktiv; neuerdings
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Die Unsicherheiten bei der Quellenrekonstruktion sind deutlich geworden. Letztlich kommt es darauf an, ob die Angaben der authentischen Paulusbriefe – so dürr sie sind – den Ausschlag geben oder nicht. Gemäß Phlm 1 war Timotheus bei der Abfassung des Briefes in der Nähe des Paulus – und auch den Adressaten bekannt.54 Andere Angaben des Paulus sprechen zumindest nicht dagegen, dass Timotheus mit ihm in Rom gewesen ist. [Exkurs Ende] Unberührt von der konkreten Rekonstruktion der Vorgeschichte sowie der geographischen Verortungen bleibt die Intention des Briefes. 2 Die Intention des Briefes Intention des Briefes ist nicht, die Freilassung des Sklaven Onesimus im rechtlichen Sinn zu erwirken, sondern die Veränderung seiner Stellung im Haus Philemons. Wie sich Paulus diese neue Stellung »über einen Sklaven hinaus« (V. 16b) vorstellt, bringt er in Metaphern zum Ausdruck: »Bruder« und »Geschäftsgenosse« – Beschreibungen, mit denen Paulus auch sein eigenes Verhältnis zu Philemon zur Sprache bringt (V. 1c.7b.17a.20a). Das ist das Ziel auch für Onesimus – und vom Erreichen dieses Ziels macht Paulus den Fortbestand seiner eigenen Beziehung zu Philemon abhängig (V. 17). Es geht also um nichts weniger als die Umsetzung von Gal 3,27f. für den getauften Sklaven Onesimus. Neue Schöpfung im sozialen Raum der Alten Welt Dabei konzipiert Paulus den angezielten Status des Onesimus sofort im Gesellschaftssystem der neuen Schöpfung, die proleptisch in den Ekklesien Gestalt annimmt, konkretisiert ihn aber im sozialen Rahmen der Alten Welt. »Freilassung« des Sklaven wäre in den Strukturen Roms gedacht. Erreichen kann dieses Ziel ein »tüchtiger« Sklave (vgl. V. 11), wenn er über sein peculium und in Adaption der Geschäftsmethoden seines Herrn allmählich die nötigen finanziellen Mittel zum eigenen »Freikauf« anspart55 und dann als libertus/ pointiert herausgearbeitet von Rothschild, Hebrews. Von Faktualität dagegen, also einer tatsächlichen Besuchsankündigung des Autors, der sich keineswegs als »Paulus« stilisieren will, gemeinsam mit dem noch lebenden Timotheus, gehen Ollrog, Paulus 23f. Anm. 87, und Backhaus, Hebr 490–492 (bei Spätdatierung: 32–36), aus; Karrer, Hebr II 382, schließlich lässt die Entscheidung offen. 54 Sofern die Abfassung des Phil ebenfalls nach Rom verlegt wird (s. oben S. 136 Anm. 13), bietet sich hier eine Gegenkontrolle an: Timotheus wird wie im Phlm als Mitabsender genannt; sein Besuch in Philippi wird Phil 2,19.23 angekündigt. Er ist also bei Paulus in Rom – und den Philippern bekannt. 55 Diese Praxis samt ihrer Intention wurde »entdeckt« durch Alföldy, Freilassung; weiterführende Untersuchungen: Cha, Function; Knoch, Sklavenfürsorge 176–183; Hezser, Slavery 304–317; Grotkamp, Missbrauch; Roth, Peculium; Heinemeyer, Freikauf; Binsfeld, Sklaverei; der Band zur »Geschäftsfähigkeit« von Sklaven in der Reihe »Corpus der römischen Rechtsquellen zur antiken Sklaverei« (CRRS IV/5) ist angekündigt.
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Auswertung und Ausblick
libertinus zeitlebens seinem ehemaligen Herrn, der jetzt sein patronus wird, zu munera verpflichtet bleibt, während erst seine Kinder als wirkliche ingenui/ Freigeborene gelten. Dieser auf eine schrittweise Integration in die römische Gesellschaft angelegte Aufstieg56 würde Onesimus – bis dato für seinen Herrn »unbrauchbar« (V. 11a) – im Modell der Freilassung schlichtweg geschenkt. Aber darum geht es Paulus nicht. Er denkt nicht in diesem Anpassungssystem an die Alte Welt. Onesimus ist vielmehr mit einem Schlag »wohlbrauchbar« geworden, und zwar sowohl für seinen Herrn Philemon als auch für Paulus (V. 11b). Mit der Taufe hat Onesimus sozusagen das System gewechselt und ist Teil der neuen Schöpfung (V. 15b: αἰώνιος) geworden. Und es liegt an Paulus, Philemon und allen anderen, diesen Systemwechsel auch in der Realisierung ihrer Beziehung zu Onesimus zu vollziehen.57 Paulus behauptet, er habe das bereits getan (V. 16d). Konzipiert wird diese angezielte Beziehungsrealisierung jedoch im sozialen Rahmen der Alten Welt: im Haus. Sowohl von den römischen Rechtstheoretikern als auch von den Philosophen und Diplomaten wird reflektiert, dass die Konkretisierung des Sklavendaseins im Rahmen des Hauses geschieht – unter der Befehlsgewalt des pater familias.58 Rechtstheoretiker ziehen eine auffällige Parallele zwischen Kindern und Sklaven, die beide in gleicher Weise unter der potestas des dominus stehen.59 Plinius d.J. hält fest, das »Haus« bedeute für die Sklaven ihre res publica (epist. 8,16,2), was so viel bedeutet wie: Die Sozialbeziehungen eines Sklaven werden auf der Hausebene geregelt. Im Blick auf die von Sklaven im Rahmen des Hauses tatsächlich ausgeübten Funktionen meint Seneca, das Haus sei ein Staat im Kleinen (domum pusillam rem publicam esse: epist. 47,14). Insofern hat Paulus einen klaren Blick für die gesellschaftliche Realität: Die für die antike Welt utopisch anmutende Außerkraftsetzung des Standesunterschieds zwischen Sklaven und Freien konkretisiert Paulus für den Sklavenherrn Philemon im Rahmen seines Hauses, wo allein der nötige Gestaltungsspielraum dafür gegeben ist.60 Die Übertragung z.T. wichtiger Aufgaben an »tüchtige« Vgl. die prägnante Darstellung bei Vittinghoff (Hg.), Sozialgeschichte 185f.: »Wenn es gelang, den Sklaven am Ertrag seiner Arbeit zu beteiligen, indem man ihm im Dienste des Herrn zur eigenen Bewirtschaftung ein Stück Land, vielleicht mit Vieh und Arbeitsgerät, überließ oder einer relativ kleinen Gruppe im Vergleich zur Gesamtzahl der Sklaven eine Werkstatt oder einen Verkaufsladen einrichtete oder sie in Handels- oder Geldgeschäfte einsteigen ließ, dann wirkte dies wie eine Prämie für vertrauenswürdige und tüchtige Sklaven, spornte andere an und appellierte an sie, sich ähnlich wie diese privilegierten Sklaven zu verhalten.« Vgl. schon Varro rust. 1,17,5. 57 Vos, Slave, stellt eindringlich heraus, dass die strukturelle Maßnahme der manumissio im gesellschaftlichen Kontext der römischen Antike an der Beziehungsgestaltung zwischen Philemon und Onesimus eigentlich nichts geändert hätte. 58 Vgl. die grundlegenden Ausführungen von Vittinghoff (Hg.), Sozialgeschichte 172– 174.182–187. Er schreibt: »Sklaverei und Freilassung waren vorrangig ein familiales Phänomen« (173). 59 Dig. 14,1,1,21: in potestate […] accipimus vel filios vel filias vel servos vel servas (Ulpian). 60 Vgl. Hunter, Church 222f.: »Christian household could be a critical context for the transformation of human relationships under the impact of gospel values.« 56
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Sklaven und damit eine entsprechende Statuserhöhung im Herrschaftssystem des Hauses, die auch nach außen sichtbar war, wurde ohnehin generell praktiziert.61 Allerdings reizt Paulus diesen Spielraum bis an die alleräußerste Grenze aus, wenn er Brüderlichkeit zwischen Philemon und dem – im römischen System gedacht: »unbrauchbaren« – Sklaven Onesimus als Ziel setzt, also prinzipielle soziale Gleichstellung mit einem leichten internen Ranking.62 Damit unterläuft er die Strukturen der römischen Gesellschaft, ohne dass es für Onesimus zu einer öffentlich-rechtlichen Veränderung oder gar zu einer Revolution kommt. Denn (1) zu dieser neuen Stellung hat sich Onesimus nicht selbst hochgearbeitet, in Assimilation an römische Gesellschaftsideale, sondern ein anderer hat ihn erhöht – einfach dadurch, dass Onesimus in die Glaubenswelt der neuen Schöpfung »umgestiegen« ist, zu der Philemon ja auch selbst gehören will. (2) Die angezielte Bruderbeziehung gilt für Paulus, wie er in der Klimax von V. 16 betont, nicht nur ἐν κυρίῳ, also in der Glaubenswelt der Ekklesia, konkretisiert in den wenigen Stunden der Herrenmahlsfeier, wo dann auch er auf der Liege Platz nehmen darf und nicht mehr bedienen muss, sondern auch ἐν σαρκί, also in der ganz normalen Alltagswelt des Hauses, auch außerhalb der heiligen Stunden. Das bedeutet: Die Position, die Onesimus im Rahmen des Herrenmahls als Bruder auch des Hausherrn einnimmt, bleibt für ihn auch davor und danach und an allen anderen Tagen erhalten. Es ist also nicht so, dass – wie etwa beim Fest der Saturnalien – der normale Alltag von einem kurzen Zwischenspiel unterbrochen wird, bei dem es zu einem Rollentausch kommt und die Sklaven sich als Herren »aufführen«,63 sondern: Die Bruderrolle für den Sklaven, die zunächst in der Feier des Herrenmahles praktiziert wird, soll den Alltag prinzipiell bestimmen. Onesimus ist nach wie vor rechtlich »Sklave«, aber als Getaufter auch im Beziehungsgeflecht des Haushalts dem Hausherrn wie ein Bruder. Wenn man sich vergegenwärtigt, dass das Haus in der Antike als kleinstes Strukturelement der Gesellschaft gedacht und als solches auch ernst genommen wird, sodass sich im Haus entscheidet, wie Gesellschaft aussieht,64 ist mit dem Ansinnen des Paulus eine subversive Veränderung der Gesellschaft angestoßen.65
Vgl. Alföldy, Sklaverei 19f.; Arzt-Grabner 231–234 (mit Beispielen). Vgl. die Kommentierung zu V. 1cd oben S. 44. 63 Vgl. Sen. epist. 47,14; Caduff, Saturnalien. 64 Ebner, Stadt 173. Gerade weil das antike Haus eine Schnittstelle zwischen öffentlicher und privater Sphäre darstellt (ebd. 166), haben Veränderungen in der Sozialstruktur des Hauses öffentliche Relevanz; vgl. Jeal 206 (kursiv im Original): »The social inversion within the ekklēsia […] would inevitably be noticed in the larger public community.« 65 Die Utopie einer herrschaftsfreien Gesellschaft, wie sie Offb 21,9–22,5 für die Stadt ebene zu formulieren versucht (die »Sklaven«, die Gott verehren, herrschen gleichzeitig als Könige, ohne dass es von ihnen Beherrschte gibt; vgl. Ebner, Stadt 58–65), hat Ovid in der Erzählung von Philemon und Baucis für die Hausebene durchgespielt: tota domus duo sunt, idem parentque iubentque (met. 8,636). 61 62
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Auswertung und Ausblick
Analogie Innerhalb der römisch-kaiserzeitlichen Welt gibt es, soweit ich sehe, lediglich bei Seneca einen ähnlichen Vorstoß, und zwar aufgrund der naturrechtlichen Überlegungen der Stoa.66 Auch Seneca rät zu einer sozialen Gleichbehandlung der Sklaven innerhalb des Hauses (epist. 47,13: »Lebe mit deinem Sklaven milde, umgänglich auch, gewähre ihm Zugang zum Gespräch, zur Beratung, zur Mahlzeit!«), allerdings nur dann, wenn »moralische« Kriterien erfüllt werden (mores), die für den (rechtlich) Freien und den (rechtlich gesehen) Sklaven gleichermaßen gelten: ob er »frei ist in der Seele« (liber animo), d.h. die stoische Vernunftethik praktiziert (epist. 47,15–18).67 Bei Paulus ist die Entscheidung für den Glauben an die Auferweckung des Gekreuzigten und seine Einsetzung zum Herrn der Welt das ausschlaggebende Kriterium, das allerdings auch bei ihm in Alltagspraxis umgesetzt werden muss, wobei er für den Glaubenden geradezu von einer impulsiven Steuerung durch den göttlichen Geist, die Gestaltungskraft der Neuen Welt, ausgeht (vgl. Gal 5,13–6,5). Rekonfiguration der Rolle des Onesimus Dass Philemon den Wunsch des Paulus, Onesimus zu seinem Missionsgehilfen zu bekommen, erfüllt, stellt für Paulus ein Surplus (V. 21b) dar, dem jedoch als Umschaltstelle die Rekonfiguration der Rolle des Onesimus im Haus Philemons vorausgehen muss. Erst wenn Onesimus dort die Bruderstellung erfahren hat und insofern die Neue Welt auch ins Haus Philemons wirklich »eingezogen« ist, wenn also Philemon Gal 3,27f. sichtbar vor seiner Hausgemeinde in der Alltagswelt ratifiziert hat, ist Onesimus wirklich ἐν σαρκί Glied des »Leibes Christi« geworden. Von dieser internen Basis aus kann er, von allen anderen Gliedern gleichermaßen akzeptiert und anerkannt, dann auch nach außen zusammen mit Paulus das Evangelium verkündigen. Zu Recht könnte man fragen: Wenn es tatsächlich so weit kommt, welchen Rechtsstatus hat Onesimus dann? Ist er ein »ausgeliehener« Sklave, wird er Paulus »geschenkt«, oder teilen sich die Geschäftsgenossen Philemon und Paulus den Sklaven?68 Oder wird Onesimus doch freigelassen? Darauf gibt es nur eine Antwort: Für Paulus spielen diese Fragen aus der Perspektive der Alten Welt keine Rolle mehr. Er denkt und handelt im Machtbereich der Neuen Welt. Onesimus hat den Bruderstatus in Christus. Als κοινωνός auch Philemons (V. 17) ist Onesimus kein Besitzstück mehr, sondern gleichberechtigter Partner. Paulus und Philemon müssen sich lediglich über dessen konkreten Einsatz einigen (vgl. V. 13f.21). Außenstehende, sofern sie nicht wissen, dass Onesimus rechtlich ein Sklave ist, werden seinen Stand danach bemessen, wie er im Umfeld seines Hauses (bei Philemon) bzw. von seinem Geschäftspartner (Paulus) behandelt wird.69 68 69 66 67
Vgl. Exkurs I oben S. 91–98. Vgl. Ebner, Stadt 276–279. So Roth, Paul. Im Alltag war ein Sklave, sofern er nicht gerade seinem Herrn zu Diensten war, von
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In 1Kor 7,22f. buchstabiert Paulus den Sachverhalt mit Hilfe von Kategorien der Alten Welt durch. Der Tod Christi hat die Valenz des Freikaufs, allerdings mit unterschiedlicher Wirkung für Sklaven und Freie: Sklaven werden zu Freigelassenen, jedoch nicht ihres ursprünglichen Hausherrn, sondern Christi. Freie dagegen macht dieser Freikauf – im Rechtssystem Roms völlig unmöglich – zu Sklaven Christi. Das ist bewusst und ernsthaft formuliert. Die Organisationslogik des Römischen Reiches und des römischen Rechtes gilt in der neuen Schöpfung nicht mehr bzw. wird auf den Kopf gestellt. Man kann die Begrifflichkeiten nur noch dazu benutzen, um – ganz auf der Linie von Gal 3,27f. – den grundlegenden Unterschied semantisch zum Vorschein zu bringen. Durch den Glauben an den – im Tod Jesu – von Gott bewirkten heilsgeschichtlichen Eingriff in den Lauf der Welt, wird ein Systemwechsel bewirkt: Alle, unabhängig davon, ob sie in der (noch immer existenten) Alten Welt Sklaven oder Freie sind, stehen in einem untergeordneten Beziehungsverhältnis zu Christus als dem neuen Herrn der Welt. Für alle, die diesen Glauben angenommen haben und damit im Wirklichkeitsbereich der neuen Welt leben, egal ob sie im römischen Rechtssystem nach wie vor als Freie oder als Sklaven gelten, ist das die Basis dafür, keinem Menschen mehr Sklave zu werden (μὴ γίνεσθε δοῦλοι ἀνθρώπων), wie 1Kor 7,23 paränetisch formuliert.70
Subversiv und attraktiv Natürlich kann die Empirie dieses Systemwechsels nur in christlichen Häusern eingeholt werden. Außerhalb dieser Inseln der neuen Schöpfung bleibt die neue Statusdefinition des Paulus eine Geistes- bzw. Bewusstseinshaltung, die jedoch, wenn sie internalisiert ist, dazu führt, kein »tüchtiger« Sklave mehr werden zu wollen,71 d.h. sich von den Anreizen der römischen Ständegesellschaft auf einen stufenweisen Aufstieg nicht mehr anlocken zu lassen, sondern alle Energie auf die Mitgestaltung des durch die neue Schöpfung eröffneten Freiraums zu konzentrieren, also innerhalb einer Ekklesia.72 Sind, so könnte man weiter fragen, dieser subversiven Veränderung der Gesellschaft nicht starke Grenzen gesetzt, nachdem sie nur im Binnenraum der zahlenmäßig kleinen Gemeinden stattfindet? Und sind damit nicht alle benachteiligt, die keine Christen sind? Zu Letzterem: Ja, das ist so, und soll es auch sein. Denn – zu Paulus’ Zeiten, d.h. im Bewusstsein seiner Gemeineinem Freien prinzipiell nicht zu unterscheiden. »Das einzige Kleidungsstück, das Sklaven nie tragen durften, war die Toga, das exklusive ›Ehrenkleid‹ römischer Vollbürger – das aber die meisten aus Gründen der Bequemlichkeit ohnehin selten anlegten«, so Weeber, Alltag 326. 70 In diesem Sinn wird hier 1Kor 7,22f. als Kommentar zum heiß umstrittenen μᾶλλον χρῆσαι in V. 21 verstanden; in dieser Linie auch Zeller, 1Kor 252–257 (mit Diskussion); so auch Jacoby, Karriere. Tsalampouni, Philemon 120, dagegen plädiert für bewusste Ambiguität des Paulus. 71 Was sich ganz mit der Intention von Lk 19,12–27 deckt; vgl. Ebner, Widerstand 26–31. 72 Das wird auch der Grund sein, weshalb gläubig gewordene Sklaven sich außerhalb des Hauses, zu dem sie gehören, einer bestehenden Hausgemeinde anschließen oder gar eine eigene Hausgemeinde bilden, wie Lampe, Missionswege, an der Grußliste des Röm zu zeigen versucht. Erst in der Apg findet sich die römischem Denken entsprechende Vorstellung, dass der Hauskult vom pater familias bestimmt wird, auch als Ideal für die Gewinnung christlicher Häuser; vgl. Öhler, Haus.
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den – ist es absolut von Vorteil, getaufter Christ zu sein. Nicht nur deshalb, weil man sehr große Chancen hat, dem endzeitlichen Vernichtungsgericht zu entgehen, sondern weil es mitten in dieser Welt einen sozialen Wandel gibt, aber eben nur innerhalb der christlichen Häuser, die eine neue Gesellschaftsordnung experimentell umzusetzen versuchen. Deshalb ist es von ausgesprochenem Vorteil, sich einer solchen Ekklesia anzuschließen.73 Und gemäß 1Kor 11,17–22 waren es gerade die »kleinen« Gläubigen, die sich bei Paulus beschwert haben, wenn die erhofften ekklesialen Gesellschaftsstrukturen beim gemeinsamen Herrenmahl nicht erfahrbar wurden. Zu Ersterem: Für Paulus sind die kleinen Gemeinden die wirklich neuen Zentren der Welt. Offensichtlich hat er ganz bewusst die politisch-organisatorischen Knotenpunkte des Römischen Reiches, Provinzhauptstädte und Kolonien, für die Verkündigung seiner Christusbotschaft angesteuert: Philippi, Thessalonich, Korinth, Ephesus.74 Durchaus in Analogie zur Administration des Römischen Reiches soll von diesen Zentren aus die restliche Welt für einen anderen Herrn »erobert« und unter seine Königsherrschaft gestellt werden, aber nicht durch Waffen bzw. Tributzahlung, sondern durch die Verkündigung der Christusbotschaft, an deren Annahme bzw. Verweigerung sich entscheidet, ob man jetzt schon zum neuen Äon gehören wird und dann bereits in der Gegenwart proleptisch an der zukünftigen Gesellschaftsordnung partizipieren darf (vgl. 2Kor 2,14–16). 2000 Jahre später darf man sehr wohl die Frage stellen, warum dieser Optimismus verblasst ist. Die Wirkungsgeschichte kann schlaglichtartig Antworten andeuten. 3 Wirkungsgeschichte Die Wirkungsgeschichte des Phlm beginnt im Neuen Testament: im Briefschluss des Kol. 3.1 Der Kol als narrative »Fortsetzung« des Phlm Kol 4,7–9 liest sich wie die Erfüllung des Surplus-Wunsches aus Phlm 13.21b – allerdings nicht ganz deckungsgleich. (1) Onesimus ist in der Missionsarbeit tätig, aber nicht gemeinsam mit Paulus (Phlm 13b: μοι διακονῇ), sondern zusammen mit Tychikus. Der wird wie ein zweiter Paulus stilisiert: »Treuer Diener« und »Mitsklave« (Kol 4,7) sind die gleichen Epitheta, die auch Epaphras zugeschrieben werden (Kol 1,7), der seinerseits wiederum als Stellvertreter des Paulus (ὑπὲρ ἡμων)75 in Kolossä gewirkt hat (Kol 1,7). Der Verkündigungsauftrag an Tychikus (Kol 4,8) entspricht genau dem, was »Paulus« in seinem Brief Vgl. Hammer, Bürgeridentität. So schon Ollrog, Paulus 55 (mit weiteren Verweisen). 75 So die textkritisch besser bezeugte Variante; vgl. Wolter, Kol 56. 73 74
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an die Kolosser dadurch erreichen will, dass er den Adressaten von seinem »Kampf« wissen lässt: Tröstung ihrer Herzen (vgl. Kol 2,1f.).76 Wenn Onesimus »nur« als »treuer und geliebter Bruder« vorgestellt wird, ist das keine Degradierung, sondern entspricht in der Zuordnung zu Tychikus der Rolle, wie sie Timotheus in Briefpräskripten im Duo mit Paulus einnimmt (vgl. 1Kor 1; Phlm 1cd): Paulus und Timotheus stellen sich als gemeinsame Briefabsender vor; Tychikus und Onesimus sollen – im Auftrag und ganz auf der inhaltlichen Linie des Kol-Paulus (2,1f.) – vor Ort gemeinsam77 zur Gemeinde sprechen. Kurz: Die paulinische Verkündigung hat ein neues Gesicht bekommen. Das zeigt sich (2) auch inhaltlich: Bei der Duo-Mission des Tychikus und Onesimus geht es nicht mehr um Erstevangelisierung (vgl. Röm 15,19f.), sondern um Stabilisierung der Gemeinde à la Kol-Paulus. Dieser »Paulus« hat auch nicht mehr vor, selbst in die Gemeinde zu kommen bzw. sich über sie berichten zu lassen,78 sondern es wird über ihn erzählt79 – und zwar denen, die ihn persönlich nicht kennen und nie kennenlernen werden (vgl. Kol 2,1). (3) Speziell ist der Sachpunkt der Stellung des getauften Sklaven berührt: Gemäß Phlm ist Onesimus für Paulus ein »geliebter Bruder« (V. 16) bzw. im Blick auf den Verkündigungsauftrag ein »Geschäftsgenosse« (V. 17) – und darin ist seine Stellung der Philemons völlig gleich. »Herr« ist Christus (V. 3). Der Kol zitiert zwar Gal 3,28 in erweitert-aktualisierender Form (Kol 3,11), führt aber in der Haustafel Kol 3,18–4,1 sozusagen die entsprechende Ausführungsbestimmung an, deren Schwerpunkt die Sklavenparänese betrifft. Entscheidend im Vergleich zu Phlm ist: Sklaven, auch wenn sie in der Taufe »mit Christus begraben und auferweckt worden sind« (Kol 2,12; 3,1), bleiben in der Konzeption des Kol auch im christlichen Haus nichts anderes als Sklaven – im Gegenüber zu ihrem (irdischen) Herrn. Anders als im Phlm fungiert das Haus nicht mehr als bloße Plattform für die Ekklesia (κατ᾿ οἶκον … ἐκκλησία: V. 3), in der strukturell Gal 3,27f. maßgeblich ist, sondern es gilt – wie an der Haustafel zu sehen ist – die traditionelle Hausordnung als Basisgefüge für die Ekklesia,80 auch wenn in Analogie zur griechischen Ökonomik die Relationen gegenüber der scharfen römisch-patriarchalen Ordnung abgemildert sind.81 Die für Sklaven wie Herren hervorgehobene, letztgültig entscheidende Bezie Kol 2,1f. (»Paulus«): »Ich will euch wissen lassen, welchen Kampf ich habe für euch und die in Laodizea und alle, die mein Angesicht nicht leibhaftig gesehen haben, damit ihre Herzen getröstet werden …«; 4,8: »… damit ihr erkennt, wie es um uns steht, und er (sc. Tychikus) eure Herzen tröstet …«. 77 Der Plural γνωρίσουσιν in 4,9 greift korrigierend in einer inclusio das in 4,7 auf Tychikus allein bezogene γνωρίσει auf. 78 So 1Kor 16,11; Phil 2,19; 1Thess 3,5; in Kol 1,8 nur für Epaphras im Blick auf die Vergangenheit angesprochen, nicht aber im Blick auf das Gesandten-Duo Tychikus – Onesimus für die Zukunft. 79 Wenn Kol 4,7.9 betont, dass »alles« erzählt werden soll über Paulus bzw. die Verhältnisse bei ihm, könnten damit auch Nachrichten über Philemon und Apphia sowie deren Hausgemeinde gemeint sein. 80 Barth/Blanke 127 sehen dagegen in der Haustafel »a perfect foreplay, summary, or postlude of what Paul has to say about Onesimus and to Philemon«. 81 Vgl. Ebner, Stadt 168–179. 76
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hung zum »Herrn Christus« ist auf das Endgericht bezogen und modelliert von daher das »sarkische« Verhältnis beiderseits allenfalls als geistlicher Impuls. Scharf formuliert: Ein Sklave ist »Bruder« in Christus (vgl. Kol 1,2) bzw. ἐν πνεύματι, bleibt aber abhängiges Eigentum seines Herrn ἐν σαρκί. In diesem Horizont gelesen können zeitgenössische Rezipienten des Kol sich vorstellen, dass Onesimus als Begleiter des Tychikus von seinem ehemaligen (irdischen) Herrn Philemon freigelassen worden ist.82 Dem Paulus überlassen (wie Phlm 13 erwünscht) könnte er den eigentlich Philemon gegenüber erforderlichen munera entkommen bzw. sie Paulus gegenüber ableisten, der dann – in der Vorstellungswelt des Kol – als sein patronus zu denken wäre. Nehmen wir die Grußliste Kol 4,10–14 mit ihren zusätzlichen Notizen gegenüber Phlm 23f. hinzu, ergibt sich: Das aus Phlm bekannte Personentableau wird in Kol aufgegriffen, um den Inhalt des Briefes in personalisierter Form als Fortsetzung der paulinischen Verkündigung (im Duo Tychikus – Onesimus) unter veränderten Bedingungen (Notizen der Grußliste) zu präsentieren. Auch die weitere Wirkungsgeschichte zeigt dieses Interesse an den Personen (3.2). Auf der Sachebene (3.3) geht es im Kern um die »Ausführungsbestimmungen« zu Gal 3,27f. für Sklaven. Inwieweit dabei die Linie des Phlm eingehalten wird bzw. er überhaupt in den Blick kommt, wird zu sehen sein. 3.2 Personenidentifikationen und die Leitbilder der eigenen Zeit In den unterschiedlichen Epochen der Kirchengeschichte zeigt sich je unterschiedliches Interesse an je anderen Personen(konstellationen) des Phlm in je unterschiedlicher Perspektive – und darin spiegelt sich gewöhnlich das eigene Werteraster bzw. ein Hauptproblem der eigenen Zeit. Onesimus als Bischof »im Fleisch« Als konkretisierende Fortschreibung der in Kol 4,7–9 angedeuteten Karriere des Onesimus kann die Notiz in IgnEph 1,3 gelesen werden, wonach Onesimus zum Bischof von Ephesus avanciert ist.83 Nachdem der Bischof für die Ignatianen die zentrale Figur für die Einheit der Kirche darstellt, wird Onesimus damit ein besonderes Qualitätssiegel zuerkannt – freilich ganz im Horizont bereits entwickelter kirchlicher Strukturen. Trotzdem ist eine gewisse Gebrochenheit zu bemerken: Auf der einen Seite vertritt One82 So auch Ryan 179. Wäre Onesimus »entliehen«, müsste er Sklave des Tychikus sein; das lässt der Text schlecht zu. 83 In IgnEph 2,2 wird ein grammatikalisch gleich konstruiertes Wortspiel im Blick auf den Namen Onesimus wie im Phlm 20 verwendet; das kann als Indiz dafür gewertet werden, dass Phlm dem Verfasser bekannt war (vgl. Knox, Philemon 51–55; Bruce 221; vorsichtig: Stuhlmacher 18f.; Reinmuth 60; heftige Kritik von Martens, Ignatius); zumindest die Rezipienten können diese Verbindungslinie ziehen. Ich gehe von Pseudepigraphie aus; zur Diskussion des Problems vgl. Löhr, Briefe 107.
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simus in Personalunion die gesamte Gemeinde vor Ignatius (»Da ich nun eure große Schar im Namen Gottes empfangen habe in [der Person des] Onesimus«), andererseits wird diese Repräsentationsfunktion des Bischofs, die ihn in Analogie zum pater familias der römischen Welt stellt,84 durch die Beifügung von ἐν σαρκί relativiert. Denn damit wird diese Position den Maßstäben der normalen Welt zugeordnet – im Unterschied zur »Liebesbeziehung«, die für die Glaubenswelt typisch ist: »den ihr […] im Sinne Jesu Christi (κατὰ Ἰησοῦν Χριστοῦν) lieben (ἀγαπᾶν) und dem ihr ähnlich sein sollt«. Sachlich wird hier das paulinische Tandem καὶ ἐν σαρκὶ καὶ ἐν κυρίῳ (Phlm 16) entkoppelt und korrigierend auf die patriarchalisch bestimmte Kirchenordnung projiziert. Männliche Bischöfe und Apphia als Ehefrau Die Theologen des 4. Jh. kommen ohne diese Differenzierungen aus.85 Die Apostolischen Konstitutionen (Ende 4. Jh.) können in ihrer Zeit bestehende Bischofssitze ganz präzise Archippus (Laodizea), Philemon (Kolossä) und Onesimus (Beröa) – teils mithilfe von Kol 4,7–9.16f. – zuordnen;86 präziser gesprochen: paritätisch auf die männlichen Protagonisten des Phlm verteilen. In diesem Horizont ist es dann eigentlich selbstverständlich, dass Apphia zur Frau Philemons wird87 und Archippus, sofern er noch nicht als Bischof installiert ist, zu deren gemeinsamem Sohn.88 Damit werden durch die Brille der Pastoralbriefe die konventionellen Oikos-Strukturen in die Hausgemeinde Philemons eingelesen, also genau das, was Paulus mit bewusst gewählten Formulierungen eigentlich vermeiden wollte. Gemäß Phlm 1–3 (nach der hier vorgelegten Kommentierung) versammeln sich die Getauften als Ek klesia in einem Haus als Treffpunkt, wobei die eigens mit Namen genannten Moderatoren dieser Versammlung von Paulus gerade nicht in ihren genealogischen Beziehungen, sondern in ihrer Funktion für die Ekklesia vorgestellt werden. Die Kirchenväter jedoch »finden« in Phlm 1–3 ganz selbstverständlich, was sie für die Norm halten: einen verheirateten Amtsträger. Wer das infrage stellt und sich deshalb von Gottesdiensten fernhält, die von verheirateten Priestern geleitet werden, wird mit Exkommunikation bedroht (s. 3.3). Verkörperung des Rechtfertigungsgeschehens Gemäß seiner Vorrede zum Phlm, die der Reformator Martin Luther 1522 auf der Wartburg geschrieben hat, verkörpert und konkretisiert das Eintre Vgl. Ebner, Stadt 168–170. Ioh. Chrys. hom. in Phlm. 1 (PG 62, 705): Archippus gehört zum Klerus; Hier. comm. in Phlm. (CCSL 77C 85,119 Bucchi): Archippus ist Bischof von Kolossä. 86 ConstAp 7,46,12f. (SC 336, 111 Metzger); im Rückgriff auf Phlm wird Onesimus als »der des Philemon« gekennzeichnet. 87 In dieser Linie von Luther zusätzlich mit einer Allegorisierung versehen in seinem Zwei-Worte-Kommentar zu Apphia: uxor Ecclesia (WA 27, 71). 88 Ioh. Chrys. hom. in Phlm. 1 (PG 62, 704): Apphia ist σύμβιος Philemons; Theod. Mop. comm. in Phlm. (II 269,1f. Swete); ebd. (II 270,2 Swete): Archippus ist beider Sohn. 84 85
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ten des Paulus für Onesimus vor Philemon das Rechtfertigungsgeschehen: »Eben wie vns Christus gethan hat gegen Gott dem Vater, Also thut auch S. Paulus fur Onesimo gegen Philemon. Denn Christus hat sich auch seines Rechten geeussert, vnd mit liebe vnd demut den Vater vberwunden, das er seinen zorn, vnd Recht hat muessen legen, vnd vns zu gnaden nemen, vmb Christus willen, der also ernstlich vns vertrit, vnd sich vnser so hertzlich annimpt, Denn wir sind alle seine Onesimi, so wirs gleuben.«89 Onesimus als leiblicher Bruder Philemons Im Amerika des 19. Jh. wird ein heftiger Kampf um die Aberkennung des Sklavenstandes für Onesimus geführt. Die in die Auslegung des Phlm eingebrachte Behauptung, δοῦλος sei nicht mit »slave«, sondern mit »servant« im Sinn eines freiwilligen, entlohnten Dienstverhältnisses zu übersetzen, das Onesimus gegenüber Philemon eingegangen sei,90 stößt – philologisch völlig zu Recht – auf heftigen Protest.91 Doch legen die Unruhestifter nach und bestimmen Onesimus als leiblichen Bruder Philemons: in einem close reading-Verfahren lasse sich aus V. 16 erkennen, dass Philemon im Unterschied zu Paulus für Onesimus nicht nur »Bruder« in einem spirituellen Sinn, sondern auch »im Fleisch« sei.92 Auch in diesem Fall lässt der Protest nicht lange auf sich warten: was 1700 Jahre selbstverständlicher Konsens gewesen sei, müsse nun »in this age of theological illumination«, so Longstreet, plötzlich begründet und gerechtfertigt werden; derartige Leute »turn the whole epistle into nonsense«.93 Der Impetus für diese – zu Recht umstrittene – kreative Exegese und trotzige Philologie wird schnell aus der Nebenbemerkung eines ihrer Vertreter ersichtlich: »It is clear that the epistle can, under any circumstances, be adduced in favor of slavery only so far as it is certain that Onesimus had been a slave.«94 Der Diskurs dreht sich um die Abschaffung der Sklaverei. Die Abolitionisten entziehen den hartnäckigen Befürwortern der Sklaverei, die sich dafür auf Phlm stützen (s. oben S. 167f.), die Basis ihrer Argumentation und gehen in diesem Sinn – lange bevor das Verfahren reflektiert vorliegt – dekonstruktivistisch vor. Zitiert nach WA DB 7, 293; vgl. Grieser/Priesching, Gnadenethos 256. Mit Rekurs auf Luthers Vorrede, aber inhaltlich anders ausgerichtet, sieht Wolter, Philemonbrief 178, im Phlm aufgrund der Strukturanalogien »so etwas wie die ethische oder soziale Außenseite der paulinischen Rechtfertigunglehre«. 90 So der Quäker Josef Eveleigh (erstmals publiziert am 18.12.1837); vgl. Kreitzer 84; ausgebaut von Barnes, Inquiry 321f.; Bourne, Argument 83f. Ausdrücklich wird auf die King James Version of the Bible verwiesen, die weder das griechische δοῦλος noch das hebräische db[ mit »slave« übersetze. 91 Reverend N.L. Rice (dokumentiert in: Blanchard/Rice, Debate 344); Wilson, Relation 5f. 92 So Fee, Manual 109; vgl. Bourne, Argument 83, der auf »some« verweist, die diese Position vertreten. Vgl. auch Callahan, Embassy 10f. 93 Longstreet, Letters 15.21. 94 Barnes, Inquiry 321; vgl. auch den Hinweis von Longstreet, Letters 15, auf »the views and feelings of moral or political reformers«. 89
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3.3 Die Sachproblematik der Sklavenflucht Zwei historische Brennpunkte Das Problem, das Phlm behandelt, wird in der Christentumsgeschichte zwei weitere Male historisch prekäre Wirklichkeit: die Sklavenflucht – allerdings im großen Stil. Beide Male kommt es innerhalb des christlichen Lagers zu heftigen Auseinandersetzungen: einmal im Zusammenhang mit der sogenannten Klosterflucht in der Alten Kirche ab dem 4. Jh., das zweite Mal im Kontext des Abolitionismusstreits im Amerika des 19. Jh. Fokussiert auf diese beiden historischen Brennpunkte soll danach gefragt werden, welche Rolle Phlm in den jeweiligen Diskursen gespielt hat,95 was eine besondere Brisanz dadurch erhält, dass in diesen Fällen »Auslegung« und das Schicksal von Menschen in unmittelbarer Interdependenz stehen. Die Synode von Gangra und Eustathius Die Synode von Gangra (ca. 342/3)96 mit Bischöfen aus nahezu ganz Kleinasien97 stellte in Kanon 3 jeden unter das Anathema, »der einen Sklaven unter Vorschützung religiöser Gründe (προφάσει θεοσεβείας) lehren sollte, seinen Herrn geringzuschätzen (καταφρονεῖν) und sich aus seinem Dienst zurückzuziehen (ἀναχωρεῖν) und nicht mit Wohlwollen (μετ᾿ εὐνοίας) und jeglicher Ehrerbietung (πάσης τιμῆς) seinem Herrn ganz und gar zu Diensten zu sein (ἐξυπηρετεῖσθαι)«.98 Der Sache nach geht es um religiös motivierte Sklavenflucht,99 oft einfach »Klosterflucht« genannt:100 Sklaven werden von streng asketisch lebenden mönchischen Gemeinschaften aufgenommen, ohne die explizite Einwilligung ihrer Herren, geschweige denn nach erfolgter offizieller Freilassung. Diese unrechtmäßige Flucht aus dem Eigentumsrecht der Sklavenherren, die uns in den erhaltenen Dokumenten nur partiell greifbar geblieben ist, hat sich offensichtlich weiträumig zu einem derart lang anhaltenden Dauerproblem entwickelt, dass Papst Gelasius noch im Jahr 494 von einer generalis querela sprechen konnte.101 Kurz: Die Klosterflucht war nur schwer unter Kontrolle zu bringen. Über die eigentlichen Protagonisten dieser besonderen Art der Sklavenbefreiung können wir uns jedoch nur über die erhaltenen kirchenamtlichen Dokumente sowie die Schriften der zeitgenössischen Theologen ein Bild machen, die direkt bzw. indirekt darauf reagieren. Sie selbst haben nichts Überblicke über die wichtigsten Zeugnisse der Wirkungsgeschichte in chronologischer Reihenfolge bieten: Eisentraut VII–XII; Stuhlmacher 58–66; Binder 69–71 (verfasst von J. Rohde); Reinmuth 58–63; Barth/Blanke 200–214; Grieser/Priesching, Gnadenethos (bis Barockscholastik); eine Zusammenstellung wichtiger Zitate speziell der Kirchenväter zu Philemon bei Gorday 309–318. 96 Zur Erhärtung und Plausibilisierung der Frühdatierung vgl. Weisser, Maritus 89–94. 97 Vgl. Weisser, Maritus 94–96. 98 Gangra can. 3 (CSP 90 Joannou). 99 Immer noch grundlegend: Bellen, Studien 78–92. 100 Vgl. z.B. Hasse-Ungeheuer, Gnade. 101 Gelas. epist. 14,14 (I 370f. Thiel). 95
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Schriftliches hinterlassen, sodass wir bezüglich der Rekonstruktion ihrer Praxis, ihrer authentischen Motivationen und Begründungsmuster auf die Methode des Spiegellesens angewiesen sind. Im einführenden Synodalbrief der Akten von Gangra erfahren wir, wen die Bischöfe damals im Visier hatten: Eustathius, den späteren Bischof von Sebaste/Paphlagonien (ab 357), und seine Anhänger.102 Die Forschung hat die Bewegung um Eustathius gewöhnlich als einen von Teilen des Mönchtums ausgehenden sozialrevolutionären Impuls eingestuft, dessen Kennzeichen generelle Ablehnung der Institution Sklaverei sowie die Aufforderung der Sklaven zur Flucht gewesen seien. Der Sachverhalt jedoch stellt sich differenzierter dar, sobald man die spezifische Wortwahl der Texte ernst nimmt. Im zitierten Kanon 3 wird mit ἀναχωρεῖν ein inzwischen christlich geprägter Terminus aufgegriffen, der den »Rückzug« in eine asketisch lebende Mönchsgemeinschaft zum Ausdruck bringt.103 Bei der von der Synode verworfenen Lehre geht es also keineswegs um die Aufforderung zur allgemeinen Sklavenflucht bei genereller Ablehnung der Sklaverei, sondern um das Angebot der Aufnahme von Sklaven in eine Mönchsgemeinschaft, sofern sie bereit sind, deren religiös begründeten gruppenspezifischen Lebensstil zu übernehmen (»Vorwand der Frömmigkeit«). Im Zentrum steht das Ideal der Jungfräulichkeit, kombiniert mit strengster Nahrungsaskese, vermutlich als Ausdruck des engelgleichen paradiesischen Lebens gedacht. Dieser Lebensstil wird als das wahre Christentum präsentiert (»Lehre«), das sich in Parallelstrukturen zur und im Abstand von der Großkirche zu organisieren beginnt: mit eigenen Versammlungen – Gottesdienste, die verheiratete Presbyter leiten, werden ausdrücklich abgelehnt104 – und einer Spendenrequirierung, die großkirchliche Kontrollen geschickt zu umgehen versteht.105 Im begleitenden Synodalbrief hören wir zusätzlich von einer »befremdlichen Kleidung« (τοῦ ξένου ἀμφιάσματος), aufgrund derer die Sklaven ihre Herren, von denen sie sich zurückgezogen haben, verachten (καταφρόνησις).106 Der Eintritt in den Sozialraum der streng asketisch lebenden Gruppe scheint also mit einem Kleiderwechsel verbunden gewesen zu sein, der die Mitglieder nicht nur von der Außenwelt absondern, sondern zugleich egalitäre Strukturen innerhalb der Gruppe zum Ausdruck bringen sollte, was seine Bestätigung darin findet, dass alle Gruppenmitglieder diese 102 Gangra ep. synod. (CSP 85,18–86,7 Joannou); vgl. Driscoll, Eustazio. Vermutlich war es Aerius, der die Impulse des Eustathius radikalisiert hat; vgl. Grieser, Bewegungen 383–386. Weisser, Maritus 140–145, stellt zudem die Bandbreite unter den Eustathianern heraus. Weitere Bewegungen mit regional unterschiedlichen Facetten, die in diesem Zusammenhang immer wieder genannt werden, sind: Circumcellionen (Eigenbezeichnung: Agonistiker) in Nordafrika; Messalianer in Syrien / ostkleinasiatischer Raum; Bagauden in Gallien/Aremorica; zur Darstellung und Bewertung vgl. Bellen, Studien 83f.146; Klein, Kirche 266; Grieser, Bewegungen 388–390; Hasse-Ungeheuer, Gnade 156 mit Anm. 74. 103 Vgl. Churruca, Anathème 270f. 104 Gangra ep. synod. (CSP 88,4–8 Joannou); can. 4 (CSP 91 Joannou). 105 Vgl. Weisser, Maritus 94–139. 106 Gangra ep. synod. (CSP 87,7–10 Joannou).
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sich von der Konvention unterscheidende »befremdliche« Kleidung tragen, und zwar Männer wie Frauen:107 das pallium, einen groben Mantel, das typische Kennzeichen der Philosophen.108 In der Außenperspektive wird das als »Protestkleidung« gegen die großkirchliche Hierarchie wahrgenommen,109 speziell auf die Sklavenherren bezogen als deren »Verachtung«. Diese Art der Abwerbungspraxis wird von der Synode unter die Strafe der Exkommunikation gestellt. Dass Sklaven ihre Besitzer unter keinen Umständen verlassen dürfen, sofern diese nicht zuvor ihre Einwilligung gegeben und sie freigelassen haben (was zwar nicht explizit gesagt, aber angezielt wird),110 begründen die Bischöfe mit wortwörtlichem Rückgriff auf neutestamentliche Haustafeln (Eph 6,7: μετ᾿ εὐνοίας; 1Tim 6,1: πάσης τιμῆς). Der Phlm bleibt unerwähnt. Es gehört zur negativen Wirkungsgeschichte des Phlm, dass die Synode von Gangra zwar Schriftgemäßheit (und Orientierung an der apostolischen Tradition) zum Kriterium christlichen Handelns erhebt,111 aber beim Problem der Sklavenflucht nicht auf denjenigen Brief des NT rekurriert, der genau dieses Problem behandelt. Anders gesagt: Schriftgemäßheit wird prinzipiell beansprucht, aber in einer interessegeleiteten Selektion umgesetzt. Dabei werden Texte ausgewählt, die genau genommen für das Verhalten innerhalb des patriarchalen Hausgefüges Anweisungen geben, also sachlich weder das eigenmächtige Quittieren des Sklavendienstes noch die Sklavenflucht thematisieren. Dass Eustathius und seine Anhänger in der Forschung gewöhnlich als sozialrevolutionäre Proto-Abolitionisten herausgestellt werden, dürfte auf die durchschlagende Wirkung der Erstrezipienten der Beschlüsse von Gangra zurückgehen: Der Kirchenhistoriker Sokrates (380–440) spricht davon, dass Eustathius die Sklaven unter dem Vorwand der Frömmigkeit zum Abfall von ihrem Herrn bewegt habe (ἀφίστα)112. Damit geht der Akzent der Einbindung der Sklaven in eine neue Gemeinschaft, wie ihn der Synodaltext dokumentiert (ἀναχωρεῖν), verloren, und Eustathius erscheint als Fluchtpro Vgl. Gangra ep. synod. (CSP 87,1–3 Joannou); can. 12f. (CSP 94 Joannou). Darin dem historischen Paulus ganz nahe, der mit γυμνιτεύομεν in 1Kor 4,11 ebenfalls das Tragen eines groben Mantels (ohne weiches Untergewand) als Zeichen seiner Bedürfnislosigkeit im Blick hat. Im Hintergrund steht jeweils die gleiche philosophische Tradition: der Kynismus; vgl. Ebner, Leidenslisten 38–42. 109 Vgl. W.-D. Hauschildt, Art. Eustathius, TRE 10 (1982) 547–550: Eustathius soll demonstrativ dieses auffallende Asketengewand auch als Presbyter und Bischof getragen haben (549); gemäß Soz. 3,14,36 (GCS NF 4, 124 Bidez/Hansen) soll er sich jedoch nach der Synode von Gangra wie alle anderen Presbyter gekleidet haben; vgl. Grieser, Bewegungen 384 mit Anm. 13; Weisser, Maritus 127f.138. 110 Vgl. die präzisierende kirchliche Gesetzgebung: Konzil von Chalzedon (451: Einwilligung der Herren); Papst Zenon (484: förmliche Freilassung); vgl. Bellen, Studien 86–88. 111 So im Epilog des Textes: Gangra epil. (CSP 99,16–20 Joannou). 112 Socr. 2,43,3 (GCS NF 1, 180 Hansen). Noch stärker betont die in PG 67, 353 wiedergegebene Lesart ἀπέσπα die von außen initiierte Trennung vom jeweiligen Herrn; vgl. Grieser, Bewegungen 385f. Vööbus, History 379 Anm. 39, verweist zusätzlich auf die syrische Version, die καταφρονεῖν mit zwei Verben wiedergibt, die das Schüren des Hasses der Sklaven gegen ihre Herren zum Ausdruck bringen. 107 108
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vokateur, der zum Slavenaufstand aufgerufen hat. Sofern diese Darstellungen nicht auf fehlenden bzw. Fehlinformationen beruhen, sondern der Vorwurf zur allgemeinen Fluchtaufforderung bewusst formuliert ist, sollte die asketische Bewegung, die christliches Leben ohne Standesschwellen auch für Sklaven ermöglicht hat, gebrandmarkt und sofort mit dem negativen Stempel des Umsturzes versehen werden. Sokrates ist nicht der Einzige, der sich dieses rhetorischen Schachzugs bedient. Er findet sich auch bei den Kirchenvätern seiner Zeit. Es sind erst die großen Theologen des 4. Jh., die den Text des Phlm aus der Versenkung holen und ihm eine umfassende Kommentierung widmen: Johannes Chrysostomus (349–407) und Theodor von Mopsuestia (350–428) genauso wie Hieronymus (347–419/20).113 Sie alle müssen sich dafür rechtfertigen, dass sie einem Schreiben, das z.T. als »überflüssig« (περιττόν),114 z.T. sogar als unpaulinisch eingestuft wird,115 damit eine derartige Bedeutung zuschreiben. Johannes Chrysostomus Wie bei einem Kommentar üblich stellt Chrysostomus auch seinen Homilien zu Phlm ein/e ὑπόθεσις/argumentum voraus,116 das gattungsgemäß Einleitungsfragen behandelt und den hermeneutischen Zugriff offenlegt, aus dem sich dann die Relevanz der Schrift, eben ihr aktueller »Nutzen« ergibt.117 Aus den drei Gesichtspunkten, die Chrysostomus hier anführt, sowie ihrer Gewichtung wird schnell klar, welches Hauptanliegen ihn umtreibt – die Klosterflucht118 – und aus welcher Perspektive er mit dem Text des Phlm auf dieses Problem schaut: Paulus gilt ihm als ausgesprochenes exemplum 113 Es handelt sich um den ersten Kommentierungsboom zum Phlm. Hieronymus greift evtl. auf einen nicht erhaltenen Kommentar des Origenes zurück; vgl. Decock, Reception 273; Friedl, Dissertation 290–293. Für die Zeit der Patristik außerdem folgende Kommentare auf Griechisch: Severian von Gabala (ca. 400; ein einziges Fragment zu Phlm 1 erhalten; vgl. Staab [Hg.], Pauluskommentare 345); Theodoret von Cyrrus (5. Jh.); Oecumenius (Ende 6. Jh.; Scholien zu Paulusbriefkommentaren, vor allem des Johannes Chrysostomus; ein Zeugnis zu Phlm 24; vgl. Staab [Hg.], Pauluskommentare 462); Johannes von Damaskus (7./8. Jh.); sowie auf Lateinisch: Ambrosiaster (4. Jh.); Pelagius (4./5. Jh.); Johannes der Diakon (6. Jh.); Cassiodor (5./6. Jh.); vgl. Fitzmyer 53f. 114 Vgl. das Referat bei Ioh. Chrys. hom. in Phlm. (PG 62, 702); Hier. comm. in Phlm. (CCSL 77C 78,28–30 Bucchi): nihil habere quod aedificare nos possit […] dum commendan di tantum scribatur officio, non docendi. 115 Vgl. Hier. comm. in Phlm. (CCSL 77C 78,27 Bucchi): uolunt […] epistulam non esse Pauli. Speziell im Einflussbereich von Ephraem d. Syrer (306–373) könnte die Kanonizität des Phlm bestritten worden sein; vgl. Dahl, Particularity 168; vgl. die verräterische Formulierung bei Theod. Mops. comm. in Phlm. (II 266,1–3 Swete): ut ista epistola in ecclesia legeretur sicut et ceterae. 116 PG 62, 701–704. 117 Zu den Kriterien der utilitas bzw. des delectare in der antiken Schriftauslegung vgl. Decock, Reception 273–277. 118 Es geht nicht um die »Abschaffung der Sklaverei«, wie Grieser/Priesching, Gnadenethos 250, zu Recht betonen, allerdings gleichzeitig den Konnex mit dem radikalen Mönchtum in Frage stellen. Unterschiedliche Richtungen innerhalb des frühen Mönchtums arbeitet Grieser, Mönchtum, auf der normativen Basis der Regeln heraus.
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dafür, (1) dass auch für solche Kleinigkeiten wie einen entflohenen Sklaven, der zudem ein Räuber und Dieb ist, größter pastoraler Eifer gezeigt werden sollte; (2) dass man nicht an der ethischen Formung des Sklavenvolks (δουλικὸν γένος) – und erst recht nicht der frei Geborenen – verzweifeln sollte, wo es doch auch einem Paulus gelungen sei, selbst einen Onesimus auf den rechten Weg zu bringen; und (3) – darauf liegt auch vom Textumfang das Hauptgewicht – »dass es sich nicht ziemt, die Sklaven ihren Herren abspenstig zu machen (ἀποσπᾶν).« Denn auch Paulus habe Onesimus nicht gegen den Willen seines Herrn bei sich behalten (οὐκ ἠθέλησε κατασχεῖν παρὰ γνώμην τοῦ δεσπότου; vgl. Phlm 13f.), obwohl er es sich hätte erlauben können (θαρρῶν; vgl. Phlm 8).119 Für die Seite der Sklaven gelte demnach, dass sie im Sklavenstand (δουλεία) zu bleiben (μένειν) und die Herrschaft (δεσποτεία) anzuerkennen hätten. Das untermauert Chrysostomus mit seiner Paraphrase des μᾶλλον χρῆσαι aus 1Kor 7,21: »Verharre im Sklavenstand (τῇ δουλείᾳ παράμενε)!«120 Außerdem bedenkt Chrysostomus die Außenwirkung. Dafür zitiert er 1Tim 6,1 und wendet den Text folgendermaßen an: Wenn die Sklaven ihre Herren nicht jeglicher Ehre für wert halten, könnte es zu jener Blasphemie des Wortes Gottes kommen, von der 1Tim 6,1 spricht und die Chrysostomus präzise darin sieht, dass Heiden dann sagen könnten: »Zum Umsturz (ἀνατροπή) aller Dinge ist das Christentum ins Leben getreten; die Herren werden ihrer Haussklaven beraubt – und es ist (überhaupt) eine gewalttätige Angelegenheit (βίας τὸ πρᾶγμα).«121 Was defensiv als Rechtfertigung für die Auslegung des Briefes deklariert wird, ist im Grunde eine offensive Stellungnahme gegen die Klosterflucht. Das pragmatische Anliegen, das die Synode von Gangra mit Haustafelzitaten als schriftgemäße Richtschnur herauszustellen versucht hat, wird von Chrysostomus aus dem Phlm herausgelesen – unter Zuhilfenahme anderer Paulusbriefstellen sowie deren spezifischer Paraphrasierung. Auch Chrysostomus malt im Blick auf die Klosterflucht das Schreckgespenst des staatlichen Umsturzes an die Wand und nutzt es, um – den Schriftverweis auf 1Tim 6,1 im Rücken – den herrschaftlich strukturierten Haushalt-Innenraum zu stabilisieren. Das sind die hermeneutischen Vorzeichen, unter dem dann in den folgenden drei Homilien der Textdurchgang erfolgt. Entscheidend ist die Kommentierung von Phlm 15f. Das Verb ἐχωρίσθη bestimmt Chrysostomus als passivum divinum und schließt eine eigenständige Entscheidung des Onesimus (ἐχώρισεν ἑαυτόν) bei seinem »Rückzug« (ἀναχωρῆσαι) dezidiert aus.122 Damit ist – für Onesimus als Modell, auf das man sich berufen könnte – der Gedanke an Fluchtabsicht bzw. an die Einwilligung in eine Abwerbung von außen vom Tisch. Die gefährlichen Worte von der sozialen Rekonfiguration des Onesimus weiß Chrysostomus in eine verlockende Motivation für die Sklavenherren umzugestalten: »… damit du ihn für immer (διαπαντός) 121 122 119 120
PG 62, 703,25–29. PG 62, 704,11f. PG 62, 704,21–23. PG 62, 711,6–19.
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hast, nicht mehr einen Sklaven, sondern einen Wertvolleren als einen Sklaven. Obwohl er Sklave bleibt (δοῦλον γὰρ μένοντα), wirst du einen haben, der (noch) wohlwollender ist als ein Bruder (εὐνοϊκώτερον ἕξεις ἀδελφοῦ). Deshalb hast du sowohl im Blick auf die Zeit als auch die Qualität einen Gewinn erzielt. Im Übrigen wird er sich nicht mehr davonmachen.«123 Unter diesen generellen Vorzeichen kann Chrysostomus dann auch die Realisierung der Bruderrolle seitens der Sklavenherren erklären: als Bitte, nicht an ihren Sklaven zu verzweifeln und ihnen auch nicht (allzu) sehr zuzusetzen, sondern im Fall von Verfehlungen Vergebungsbereitschaft zu lernen. Insgesamt gelingt es Chrysostomus, sowohl den Gedanken der Brüderlichkeit, die bei ihm gemäß hellenistischer Vorstellung eigentlich ἰσοτιμία zur Konsequenz haben müsste,124 als auch die generelle Bedeutung von Gal 3,28, auf die er bei der Kommentierung der salutatio des Phlm zu sprechen kommt,125 derart zu entschärfen, dass davon kaum mehr als ein paränetischer Impuls an die Sklavenherren im Sinne der Haustafelethik übrig bleibt. In seiner Auslegung der Schlussgrüße des Phlm rückt er den Erziehungsauftrag der Herren geradezu in die Nähe göttlicher Gnade, sofern sie umstürzlerische Aktivitäten ihrer Sklaven (κἂν τὰ ἄνω κάτω ἐργάσωνται) durch besonders harte Bestrafung zu unterbinden verstehen.126 Kurz: Angesichts der offensichtlich bleibenden Herausforderung durch die Klosterflucht versucht Chrysostomus den schwierigen Spagat zwischen prinzipieller, durch das Christusereignis bewirkter Aufhebung der Unterschiede zwischen Sklaven und Herren und der betonten Stabilisierung der Herrschaftsverhältnisse im Haus – bei einem scheinbar harmlosen Textdurchgang durch den Phlm. Theodor von Mopsuestia Auch Theodor von Mopsuestia, der Jugendfreund des Johannes Chrysostomus, kommentiert den Phlm mit dem Problem der Klosterflucht vor Augen. Das wird auch bei ihm aus dem vorangestellten argumentum deutlich. Seine PG 62, 711,22–26. Zu Einzelheiten der Textauslegung vgl. Wet, Honour Discourse, hier: 325–327. 125 PG 62, 705,14–32. Es bedarf allerdings der Paraphrase, um diese Passage verstehen zu können. Chrysostomus hält zunächst fest, dass auch Paulus auf die bestehenden sozialen Unterschiede Rücksicht genommen habe, interpretiert aber in einem zweiten Schritt dieses Gentleman-Verhalten als Konsequenz eines Theologumenons: (1) Paulus grüße die gesamte Ekklesia (inklusive Sklaven), nenne aber nur Philemon, den Sklavenherren, mit Namen, um Neid seitens der Sklaven und Ärger seitens des Herren zu vermeiden. (2) Der tiefere Grund dafür sei jedoch folgender: In der Ekklesia gelten ethische Kategorien zur Bestimmung von Herren (!) und Sklaven. Die guten Taten bzw. Sünden unterscheiden sie voneinander. Nun gibt es, so wird man ergänzen müssen, beide Gruppen in beiden sozial definierten Lagern. Und deshalb dürfen Sklavenherren nicht enttäuscht sein, wenn Paulus auch die Sklaven kumulativ in seine salutatio integriert. Denn – und hier zitiert Chrysostomus fast wörtlich aus Gal 3,28: »In Christus Jesus nämlich ist nicht Sklave, nicht Freier«. Auffällig – und völlig der Aussageabsicht geschuldet – ist der Wechsel in der Terminologie. Gal 3,28 bezieht sich mit dem Paar Freier/Sklave auf gesamtgesellschaftliche Strukturen, Chrysostomus mit dem Paar Sklavenherren/Sklaven speziell auf den patriarchalisch geführten Haushalt. 126 PG 62, 718,11–23. 123 124
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Rechtfertigung für die nutzbringende Lektüre dieses Briefes besteht darin, dass er in Paulus ein Handlungsmodell für das pastorale Management in persönlichen Angelegenheiten erkennt.127 Er sei ein exemplum für humi litas.128 Anstatt zu befehlen und seine apostolische Autorität auszuspielen, trete er an Philemon, der doch sein Schüler (!) sei, inständig bittend heran.129 Damit entspreche Paulus seiner eigenen Maxime von 2Kor 1,24 (»Wir sind nicht Herren Eures Glaubens …«).130 Ganz anders plurimi vero nostris temporibus: Sie spielen sich nach Theodor als Herren über die Anderen auf, indem sie den Inhalt von Gal 3,28, nämlich die Aufhebung der Unterschiede (discretio) »zwischen Sklaven und Herren, Reichen und Armen, denen, die unter Leuten mit Regiment stehen, und denen, die andern gegenüber dieses Regiment ausführen«, mit großer Autorität befehlen – und so meinen, dass das gesamte gegenwärtige Leben durcheinanderzubringen sei (omnia praesentis vitae confundi): des (christlichen) Glaubens131 wegen.132 Ganz im Gegensatz dazu habe es Paulus für das Beste gehalten, »dass jeder Einzelne in seinem Stand bleibt, die ungestörte Ausübung des Glaubens vorausgesetzt« (vgl. 1Kor 7,17.20).133 Damit wird über den Modus der Vermittlung von Gal 3,28 dessen Inhalt neutralisiert134 und die (klar erkennbare) Gegnerfront als »Aufrührerpack« desavouiert. Als theologischen Nachschlag gibt Theodor zu bedenken, dass die soziale Differenzierung gottgewollt sei und niemand aufgrund seines Standes – wenn nur der Wille dafür da sei – an der Frömmigkeits-/Glaubensausübung gehindert werde. Jeder solle deshalb in seinem Stand bleiben und den Oberen gehorchen, wie Theodor mit Verweis auf Röm 13 zu belegen versucht.135 Was die Freilassung der Sklaven angeht, stellt Theodor heraus, dass Paulus Philemon gerade nicht befohlen habe, seinen Sklaven als Freien zu entlassen, sondern ihn vielmehr mit großer Eindringlichkeit um Nachsicht für Onesimus gebeten habe, was im Gegensatz zu vielen Zeitgenossen stehe, die mit strenger Befehlsgewalt von den Sklavenherren forderten: »Man muss einen Sklaven, der sich uns im Glauben verbunden hat und freiwillig auf die (wahre) Religionsausübung (pietas) zurennt, von der Sklaverei befrei II 261,6–16 Swete. Fast alle griechischen Originale sind verloren; zu Einleitungsfragen und Analyse des Schreibens vgl. Fitzgerald, Theodore. 129 II 266,1–10 Swete. 130 II 262,5f. Swete. 131 So wohl der Sinn von pietas; vgl. Fitzgerald, Theodore 348 Anm. 74. 132 II 262,17–24 Swete. 133 II 262,25f. Swete. 134 An anderer Stelle interpretiert Theodor Gal 3,28 als eschatologische Verheißung, aber auch in diesem Fall mit einem anti-asketischen Akzent: Erst im Eschaton werde es weder Heiraten noch Verheiraten geben (so die Aufnahme des Gegensatzes männlich/ weiblich mithilfe von Mt 22,30) … und alle Unterschiede aufgehoben sein (so die Aufnahme von Freier/Sklave): Comm. in Gal. (I 57,25–30 Swete). 135 Im Text bleibt unklar, welche Anordnung von Gott und welche von Paulus kommt: II 262,26–263,10 Swete. 127 128
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en.«136 Nicht das Geringste davon sei im Phlm zu lesen. Das würde von vielen Zeitgenossen (damit dürften die Asketen gemeint sein) übersehen, die sich nur selbst groß herausstellen wollen, indem sie Anderen (damit dürften die Sklavenherren gemeint sein) schwere Lasten befehlen, wie Theodor unter Anwendung von Mt 23,4f. meint sagen zu müssen.137 Dass Paulus mit Phlm 16f. immensen Druck auf Philemon ausübt, wenn er den Fortbestand ihrer eigenen Glaubensbeziehung an die Bedingung knüpft, Onesimus als Bruder und Geschäftspartner anzunehmen, blendet Theodor aus.138 Dafür will er Phlm 13f. als Einlösung seiner Paraphrase von 1Tim 6,1f. verstanden wissen, wonach Paulus den Sklaven mit großer Eindringlichkeit vorschreibe, ihren Herren mit aller Sorgfalt Gehorsam zu erweisen, ob sie nun gläubige oder ungläubige Herren haben.139 Mit dieser kombinierten Schriftbegründung liegt Theodor sachlich ganz auf der Linie der neuesten kirchlichen Gesetzgebung, wie sie in den Apostolischen Canones bzw. den Apostolischen Konstitutionen (Ende 4. Jh.) gesammelt zu fassen ist. Gegenüber der Synode von Gangra wird dort präzisierend – und jetzt mit Rückgriff auf den Phlm – geradezu überdeutlich festgehalten: (1) Sklaven dürfen nicht ohne Einwilligung (γνώμη) ihrer Herren ordiniert werden; alles andere sei Umsturz der Hausordnung (οἴκων ἀνατροπή). (2) Nur würdige Kandidaten, wie Onesimus, kommen infrage, (3) sofern das Einverständnis des Herrn vorliegt, die förmliche Freilassung sowie die »Entsendung aus dem Haus«, womit vermutlich die Entpflichtung von den üblichen munera gemeint ist.140 Das kappadokische Dreigestirn Dass die Aufnahme von Sklaven in eine asketisch-mönchische Gemeinschaft ohne Einwilligung des ehemaligen Sklavenherrn, geschweige denn unter Voraussetzung der Freilassung, keineswegs als Impuls zu einem sozialrevolutionären Umsturz gedacht war, sondern der theologische Streit in der Sache vielmehr darum ging, inwiefern Ursprungstreue mit dem Anspruch, wahre Kirche zu leben, in gegenwärtige Praxis umgesetzt werden kann, lässt sich gut am sogenannten kappadokischen Dreigestirn beobachten: an den Brüdern Basilius von Caesarea (330–379) und Gregor von Nyssa (335–394), ihrem gemeinsamen Freund Gregor von Nazianz (329–390) sowie ihrer äl136 II 264,11f. Swete. In der Formulierung könnte ein Unterschied zwischen förmlicher Freilassung durch den Herrn (dimittere liberum: ebd. 5f.) und dem Status der Freiheit in einer asketischen Gemeinschaft ohne förmliche Freilassung (liberari de servitio) angedeutet sein. 137 II 264,12–14 Swete. 138 In der Einzelauslegung von Phlm 15–17 spricht er noch pointierter als Chrysostomus von der gesteigerten Loyalität des Sklaven zu seinem Herrn (fratrem carissimum hoc est fratrem valde amantem te […] ut non solum debitum tibi obsequium ut servus cum omni fide persolvat, sed et sicut frater valde amori tuo iunctus omnia pro te pati de cetero sit paratus), wobei in carne sich auf diese neu gewonnene Disposition beziehe und socius auf die Gemeinschaft in den Glaubensgütern (II 280,18–283,4 Swete). 139 II 263,19–264,2 Swete. 140 ConstAp 8,47,82 (SC 336, 306 Metzger) = CanAp 81 (II 264 Anm. 10 Swete); vgl. Fitzgerald, Theodore 351f.
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testen Schwester Makrina (330–379). Denn sie alle standen mit Eustathius, einem der namentlich bekannten ersten Impulsgeber für die sogenannte Klosterflucht, in enger Beziehung – und ließen sich von ihm inspirieren.141 In der vermutlich leicht idealisierenden Lebensbeschreibung seiner Schwester Makrina schildert Gregor deren gemeinsames Leben zusammen mit ihrer Mutter und deren Sklavinnen auf dem Landgut in Annisi (ab 352) als Verwirklichung von Gal 3,28, speziell was das Kontrastpaar Freier/Sklave angeht. Das hatte eine grundlegende Umstellung im Lebensstil der mütterlicherseits senatorischen Großgrundbesitzerfamilie zur Konsequenz – und dafür war vor allem Überzeugungsarbeit seitens der Tochter gegenüber der Mutter Emmelia vonnöten: auf die Allüren der feinen Dame zu verzichten und diejenigen, die ihr früher zu Diensten waren, »aus Sklavinnen und Handlangerinnen zu Schwestern und an Ehre Gleichstehenden (ἀδελφὰς καὶ ὁμοτίμους) zu machen«.142 Auffällig bleibt, dass nirgends von einer Freilassung der Sklavinnen die Rede ist,143 sodass man vom tatsächlichen Versuch einer Statusnivellierung innerhalb eines patrizischen Haushalts sprechen kann. Das hat unmittelbare Auswirkungen auf den Alltag und wird von Gregor auch terminologisch reflektiert: »Brüderlichkeit« steht parallel zu »Gleichheit an Ehre« (ὁμότιμον). Anders als bei Johannes Chrysostomus konkretisiert sich bei Makrina diese Begrifflichkeit darin, dass sie Versorgungsarbeit übernimmt, die normalerweise Sklaven erledigen müssen,144 ihr Bruder Naukratios mit eigenen Händen Bedürftige unterstützt145 und dass die Mutter als Hausherrin »gemeinsame Teilhabe hat (συμμετέχειν) – und zwar in völlig gleicher Weise (κατὰ τὸ ἴσον) – an einem einzigen Tisch und ein (und dem gleichen) Bett sowie an allen Dingen, die das tägliche Leben betreffen«. Der abschließende Kommentar hält fest: »Jeglicher Unterschied an Rang (κατὰ τὴν ἀξίαν) war in ihrem Leben aufgehoben.«146 Gerade wenn wir mit bewussten Zuspitzungen und Überzeichnungen rechnen müssen, zeigt sich an diesen Genrebildern, wie man sich im 4. Jh. eine authentische Umsetzung von Gal 3,28 vorgestellt hat und dass es um dieses Ideal ging, zu dessen Verwirklichung Eustathius im Sinne des wahren Christentums motivieren wollte. Während Makrina innerhalb des Haushalts ihrer Mutter den entscheidenden Impuls zu strukturellen Veränderungen hinsichtlich der Stellung der Sklavinnen zu geben verstand, hat ihr Bruder Basilius einen Vorstoß gewagt, der im Kontext der Auseinandersetzung um die sogenannte Klosterflucht das öffentlich-kirchliche Leben anging und der als ein einzigarti Zur kritischen Auswertung der Quellen und Einbindung in den historischen Kontext vgl. Klein, Haltung; Grieser, Bewegungen 396–400; Frank (Hg.), Basilius 7–75; Frazee, Asceticism; Hasse-Ungeheuer, Basilius 28. 142 Greg. Nyss. vit. Macr. 7 (SC 178, 164 Maraval). 143 Darauf weist Grieser, Bewegungen 397f., mehrfach hin und möchte diese Leerstelle mit einer vermuteten Freilassung auffüllen. 144 Greg. Nyss. vit. Macr. 5 (SC 178, 154–160 Maraval). 145 Greg. Nyss. vit. Macr. 8 (SC 178, 168 Maraval). 146 Greg. Nyss. vit. Macr. 11 (SC 178, 176 Maraval). 141
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ges Novum bezeichnet werden darf.147 Obwohl Basilius – durchaus in Absetzung von seinem früheren Mentor Eustathius – kirchlich verfasstes und asketisch-mönchisches Christentum zusammenzuhalten versucht hat; obwohl für ihn Sklaverei kein grundsätzliches Problem darstellte und er selbst Sklaven hatte, auch auf dem Landgut von Annisi, und obwohl er in seinen Regulae Morales aus dieser Zeit an der strikten Unterordnung der Sklaven unter ihre Herren »zur Ehre Gottes« festhält,148 auch wenn er sich insgesamt um einen versöhnlicheren Umgang bemüht,149 hat er in seinen später verfassten »längeren Regeln« zwar zunächst den Grundsatz wiederholt, dass man flüchtige Sklaven zu ihren Herren zurückschicken muss, dann aber eine Ausnahme formuliert, auf die sich die von ihm regulierten Mönchsgruppen ab sofort berufen konnten: »Wenn der Herr aber schlecht ist, Gesetzwidriges befiehlt und so den Sklaven zur Übertretung des Gebotes unseres wahren Herrn Jesus Christus zwingt, dann muß man sich dafür einsetzen, daß der Name Gottes durch den Sklaven nicht gelästert werde, wenn er etwas tun sollte, was Gott nicht gefällt. Dabei soll man sich auf diese Art einsetzen: den Sklaven auf das Ertragen der schlechten Behandlung vorbereiten, damit er Gott mehr gehorcht als den Menschen, wie geschrieben steht (Apg 5,29), oder ihn aufnehmen und dann die Angriffe, die seinetwegen erfolgen, selbst ertragen, um Gott zu gefallen.«150 Dass diese Alternativlösung auf den letzten Satz aufgespart und vielfach abgesichert wird, hat seinen guten Grund: Basilius durchbricht damit die geschlossene Front der großkirchlichen Positionierung. Dieser Alleingang151 ist jedoch klug vorbereitet. Die Behandlung der Problemfrage »Von den Sklaven« setzt nämlich mit der klassischen Lösung ein und begründet sie mit dem paulinischen Modell aus dem Phlm: Sklaven, die sich in eine Mönchsgemeinschaft flüchten, soll man zu ihren Herren zurückschicken – wie das auch der selige Paulus getan habe (vgl. Phlm 10–12). Im Hintergrund steht für Basilius doppelseitige paulinische (!) Überzeugungsarbeit – für den Sklaven: im Sinn von 1Tim 6,1 das Joch der Sklaverei gottgefällig zu tragen; für den Herrn: im Sinn von Mt 6,14 Vergebungsbereitschaft zu zeigen, womit nach Basilius auch die Brüderlichkeit eingeholt wird, die Paulus in den eigens zitierten Versen Phlm 15f. von Philemon fordert. Die erst dann folgende Alternativlösung wird – durch und durch schriftbezogen, wenn auch nicht unbedingt schriftkonform – mit vielen Klauseln abgefedert: (1) Auf keinen Fall soll der Name Gottes gelästert werden; aber geradezu in Umkehrung von 1Tim 6,1 nicht dadurch, dass der Sklave seinem Herrn nicht die gebührende Ehre erweist, sondern dadurch, dass er von seinem Herrn zu einem Bellen, Studien 83. Basil. reg. mor. 75 (PG 31, 856). 149 Klein, Haltung 84–96. 150 Basil. reg. fus. tract. 11 (PG 31, 948); Übers. Frank (Hg.), Basilius 127. 151 Genauso einsam steht sein stoischem Gedankengut verpflichtetes (vgl. oben S. 94f.) prinzipielles Plädoyer für den »von Natur aus« freien Sklaven (eccl. hom. 4) in der altkirchlichen Landschaft da; vgl. Klein, Kirche 267f. 147 148
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gottwidrigen Verhalten gezwungen wird. (2) Im Beratungsgespräch soll die Paränese von 1Petr 2,18–20 zur Anwendung kommen: für die gerechte Sache eine schlechte Behandlung ertragen – und so Apg 5,29 erfüllen.152 Aber dann wird (3) als alternatives Handlungsangebot der Sache nach die gleiche Sklavenparänese für die Verantwortlichen der Mönchsgemeinde in Anschlag gebracht: Sie sollen den Sklaven aufnehmen (natürlich auch ohne Einwilligung seines Besitzers) und sich selbst auf Anfeindungen und Schwierigkeiten gefasst machen.153 Auch wenn diese Lösung im Ergebnis mit der Praxis des Eustathius bzw. seiner Anhänger übereinstimmt, sind die Bedingungen anders: Nicht allein der Wunsch des Kandidaten zählt, sich einer asketischen Gemeinschaft anschließen zu wollen, um dann in der »wahren Kirche« zu sein, sondern allein die Vermeidung von Sünde seitens des Sklaven ist argumantativ ausschlaggebend.154 Theologie und Politik Im Zentrum der skizzierten Auseinandersetzung steht die Streitfrage, ob für die Aufnahme eines Sklaven in eine mönchische Gemeinschaft bzw. dessen Ordination die Einwilligung seines Herrn und die förmliche Freilassung Voraussetzung ist oder nicht. Dabei ist es verwunderlich, dass ausgerechnet im 4. Jh. plötzlich mit ausführlichen Schriftbelegen begründet werden musste, was (1) ohnehin reichsrömischer Gesetzgebung entsprach, nach der unter den Strafbestand des plagium fiel, das Eigentumsrecht des Sklavenherrn in irgendeiner Weise anzutasten,155 und (2) bis dahin selbst von den ersten Anachoreten so gehandhabt wurde: keine Annahme eines Sklaven als Taufbewerber ohne Einwilligung seines Herrn (TradAp 15), keine Ordination eines Sklaven ohne vorherige Freilassung (Papst Stephan I., 254–257) sowie keine Aufnahme eines noch abhängigen Sklaven ins Kloster (Pachomius).156 Katalysator für die plötzliche Bewegung in der Sache dürfte die konstantinische Wende zu Beginn des 4. Jh. gewesen sein: Christentum wird ab da immer mehr zur Normalität, sodass Mönchsgruppen die von ihnen praktizierte Askese verstärkt als das eigentliche Erkennungsmerkmal des Christlichen herausstellen157 – und das in bewusster Absetzung von typisch großkirchli Vermutlich als Präzisierung für »wegen des Gewissens Gott gegenüber« in 1Petr 2,19. 153 Zur Einbindung in das Leben und Denken des Basilius vgl. Klein, Haltung 97–102. Auch Hieronymus verlangt vom Sklaven, dass er seinem Herrn den Gehorsam verweigert, sofern dieser etwas befiehlt, was gegen die Schrift verstößt (comm. in Eph. 3 [PL 26, 542]; comm. in Tit. [CCSL 77C 49,278–282; 59,28–35 Bucchi]), zieht jedoch keine Konsequenzen im Blick auf die Klosterflucht. Dagegen behauptet er in einem Streitfall um ordinierte Sklaven, Onesimus sei zum Diakon ordiniert worden, während er noch ein Sklave war (epist. 82,6 [CSEL 55, 113 Hilberg]; vgl. Fitzgerald, Theodore 353) – wohl unter Rückgriff auf das διακονεῖν in Phlm 13b. 154 Wodurch der soziale Sklave dann der spirituellen Sklaverei verfallen würde (vgl. oben S. 94f.). 155 Vgl. Bellen, Studien 44–64. 156 Zu Einzelnachweisen vgl. Bellen, Studien 81f. 157 In der Reflexion als Renaissance des Urchristentums gedacht: vgl. z.B. Basil. epist. 152
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chen Strukturen, deren Missachtung bereits die Synode von Gangra unter das Anathema fallen ließ. Besonders auffällig dürfte das in einigen Gruppen praktizierte Gleichheitsideal à la Gal 3,28 gewesen sein, weil es nach außen durch das Asketengewand (pallium) dokumentiert worden ist, das Männer wie Frauen in gleicher Weise getragen haben. In diesem Kontext ist auch die Aufnahme von Sklaven zu sehen, die dann ebenfalls dieses Gewand als Zeichen ihres neuen, gleichwertigen Standes anlegen – und das ohne Einwilligung ihres Herrn und ohne förmliche Freilassung. In diesem Kontext erscheint der höchst kunstvoll ziselierte Schriftgebrauch der großkirchlichen Theologen, mit dem die Praxis der Asketen im Widerspruch zur Schrift erscheinen soll, als Werkzeug für die Beförderung der eigenen politischen Option – und die immer wiederkehrende Typisierung der Klosterflucht als »Umsturz« in ihrer Außenwirkung als Bekenntnis der eigenen Staatstreue. Genauso dürften persönliche Interessen eine Rolle gespielt haben: die Wahrung des eigenen Status quo. Denn die Vertreter der Großkirche waren selbst Sklavenherren – genauso wie die Adressaten ihrer Predigten.158 Und in diesem Horizont ist es sehr auffällig, dass Kaiser Konstantin in seinen Sklavengesetzen die administrative Prozedur der Freilassung parallel zu kaiserlichen Beamten auch kirchlichen Amtsträgern anvertraut (manumissio in ecclesia) und sogar noch vereinfacht hat, falls diese selbst betroffen waren,159 aber dieses Instrument kaum genutzt worden zu sein scheint. 160 Ringen um die »richtige« Phlm-Lektüre Was speziell den Bezug auf Phlm angeht, geben sich die Autoren bestrebt, im Ringen um Schriftgemäßheit als Autoritätsargument das paulinische Modell so nahe wie möglich »einzuholen« – und zeigen gerade in ihren Pointierungen ihre blinden Flecken. Umgekehrt erhält die Option des Paulus im Spiegel der Kontroverse noch einmal schärfere Konturen. Die großkirchlichen Theologen beziehen sich durchgängig auf die Tatsache der Rücksendung des Onesimus zu seinem Herrn in Phlm 12–15. Unterbelichtet bleiben die V. 16f. Die Sklavenherren werden zu größerer Milde ermahnt und von noch größerer Loyalität der Sklaven ist die Rede, wo doch Paulus Philemon die Annahme des Onesimus als Bruder ans Herz legt. Dabei musste den Theologen die Bedeutung dieser Aussage völlig klar sein, wenn sie diesbezüglich die hellenistische Vorstellung der ἰσοτιμία ins Spiel bringen. Hinsichtlich der argumentativen Stoßrichtung wird Phlm also nur zur Ablehnung der staatlich nicht gedeckten Aufnahme von Skla28,1 (1, 66 Courtonne); vgl. Frank (Hg.), Basilius 10f.22f.; Maraval, Mönchtum 817– 819.829f. 158 Vgl. den Überblick bei Wet, Honour Discourse 318–320. 159 Cod. Theod. 4,7,1; 2,8,1 (Sonntags-Freilassung); 2,25,1 (Humanisierung); vgl. Wallraff, Sonnenkönig 109; Klein, Kirche 265. 160 Vgl. Klein, Haltung 101f. Das steht in einer langen Tradition: vgl. IgnPol 4,3 (Ablehnung des Freikaufs auf Gemeindekosten).
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ven in die Mönchsgemeinschaften aufgegriffen; anders gesagt: zur Ablehnung des alternativen Gleichstellungsvorstoßes asketischer Gruppen. Die Mönchs asketen wiederum blenden in ihrer Praxis gerade die von Paulus praktizierte Rücksendung des flüchtigen Onesimus aus und führen durch die Aufnahme von Sklaven ohne Einwilligung ihrer Herren erzwungenermaßen genau das durch, was Paulus in Phlm 16f. von Philemon schärfstens einfordert: ohne dass von einer förmlichen Freilassung die Rede ist, eine Statusveränderung im Sinn der Gleichstellung als Bruder zu praktizieren – in einem durch den Glauben an Christus eröffneten und gemäß Gal 3,28 alternativ gestalteten Sozialraum. An die Stelle der Taufe als Zugangstor tritt bei den Mönchsgruppen die Übernahme ihrer asketischen Praxis, womit es im 4. Jh. diese Gruppen sind, die sich ihrerseits zur wahren Ekklesia stilisieren. Im »Hauskloster« der Makrina wird sozusagen freiwillig und ohne den Vorfall einer Sklavenflucht verwirklicht, was Paulus von Philemon in dessen Haus erwartet hat.161 Die mit aller Vorsicht abgestützte Alternativlösung des Basilius, Sklaven in Mönchsgemeinschaften ohne formelle Freilassung aufzunehmen, sofern ihr Herr sie zu Gesetzwidrigem zwingt, stellt sich als so etwas wie ein »regulierter« Eusthatius dar: Mit seinem harten Kriterium setzt Basilius den gängigen Vorwurf, Sklaven würden sich »unter dem Vorwand der Frömmigkeit« in ein Kloster flüchten, außer Kraft, ignoriert damit aber gleichzeitig auch das Vorbild des Paulus von Phlm 10–12, das er eigens zitiert. Man könnte allerdings sagen: Basilius denkt den negativen Ausgang des Phlm weiter. Falls nämlich die Moderation des amicus domini – in diesem Fall von den Verantwortlichen der Mönchsgemeinschaften wahrgenommen – scheitern sollte, der Sklavenherr sich also weder versöhnungsbereit noch gütiger zeigen sollte, dann darf die jeweilige Moderatorenstelle schützend eingreifen, was gleichzeitig heißt: Das absolute Eigentumsrecht des Sklavenherrn wird gebrochen.162 Bemerkenswert ist nun: (1) Dass Sklaven beim Eintritt in eine Mönchsgemeinschaft den Stand wechseln und zu Freigelassenen werden, ist für Nachdem Makrina im Haus ihrer Mutter (der Vater war bereits gestorben) diese Veränderung provoziert hat, der Haushalt also völlig normal patriarchalisch strukturiert war, obwohl die Familie schon mindestens eine ganze Generation vorher christlich geworden war und Makrinas Großvater als Märtyrer in der diokletianischen Verfolgung umgekommen ist, könnte auch hier die konstantinische Wende den Auslöser gegeben haben: jetzt endlich den Freiraum zu nutzen, um die christliche Lebensordnung in vollem Maße zu praktizieren. 162 Der Unterschied zwischen diesem confugere ad ecclesiam zum Beschwerderecht für Sklaven (confugere ad statuam), wie es sich in der frühen Prinzipatszeit etabliert hat, liegt darin, dass der Sklave nicht weiterverkauft wird (ex auctoritate principis), also durch die Vermittlung eines Magistraten auf legitimem Weg in das Eigentumsrecht eines neuen Herren übergeht. Es dürfte deshalb kein Zufall sein, dass die Kaiser Arcadius und Honorius im Jahr 398 per Gesetz verordnen, dass Sklaven, die sich in kirchlichen Schutz geflüchtet haben, ihren Herren ausgeliefert werden müssen; vgl. Bellen, Studien 64–78. Dabei ist es eine offene Frage, was mit den entlaufenen Sklaven innerhalb der Klöster wirklich geschehen ist; zum Problem vgl. ders., Studien 90 mit Anm. 635; Hasse-Ungeheuer, Gnade 156. 161
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die herrschenden Schichten solange kein Problem, wie der jeweilige Herr darüber entscheiden kann und die dafür vorgesehenen Prozeduren beachtet werden. Suspekt wird die Sache jedoch, wenn das Eigentumsrecht des Sklavenherrn angegriffen wird und innerhalb der neuen Bezugsgruppe das gesellschaftlich verankerte Standessystem gemäß Gal 3,28 aufgelöst wird, sodass die Sklaven nicht Freigelassene, sondern »Brüder« werden.163 (2) Solange diese gesellschaftliche Umstrukturierung die Einzelentscheidung eines Haushalts bleibt und nur die eigenen Sklaven betrifft, kann dieser Vorstoß sogar als christliches Ideal stilisiert werden (Vita der Makrina). Anders sieht die Sache jedoch aus, wenn das Phänomen um sich greift und Sklaven aus fremden Haushalten anlockt (wie bei Eusthatius). Paulus liegt mit seinem Phlm genau dazwischen: Er schickt den Sklaven zurück. Damit hält er sich genau an die staatliche Gesetzgebung und respektiert das Eigentumsrecht des Sklavenhalters, dessen Einwilligung (γνώμη) für ihn entscheidend ist (Phlm 12–14).164 Außerdem interveniert Paulus für einen Einzelfall in einem bestimmten Haushalt (Phlm 15–18). Allerdings greift er mit seiner Bruderempfehlung (als konkreter Umsetzung von Gal 3,28) in diesen fremden Haushalt ein: Mit Metaphern aus der Geschäftssprache (κοινωνός) bzw. der Familienfiktion (ἀδελφός) überschreitet er die systemischen Vorgaben für die Rolle eines Sklaven innerhalb eines Haushalts (ὑπὲρ δοῦλον). Und: Er bezieht über den Adressatenkreis der Ekklesia Personen außerhalb des betroffenen Haushalts als Beobachtungsinstanz in seine neue Rollenkonstruktion mit ein. Aus der Problematik des 4. Jh. gesehen bewegt sich der Text des historischen Paulus damit genau zwischen den Fronten. Je nach Betonung bzw. Ausblendung von Textteilen können sich deshalb großkirchliche Theologen genauso auf ihn berufen wie Radikalasketen. Dabei haben die großkirchlichen Theologen und die kirchenamtlichen Verlautbarungen einen deutlichen Vorteil: Denn bereits innerhalb des Corpus Paulinum wird die Forderung der »Brüderlichkeit« von Phlm 16f. durch 1Tim 6,1 »geklärt«: »Die (Sklaven), die gläubige Herren haben, sollen (sie) nicht verachten, weil sie Brüder sind, sondern umso mehr165 als Sklaven dienen.« Genau so hat die Großkirche »Paulus« gelesen.166 Und wohl deshalb wird gerade 1Tim 6,1 von Anfang an 163 Bellen, Studien 85, spricht von einer Position, »die die Stabilität der gesellschaftlichen Schichtung bedrohte«. 164 Merkwürdigerweise wird im antiken Diskurs nicht problematisiert, dass Paulus sich zwar prinzipiell an die staatliche Gesetzgebung hält, aber damit gleichzeitig gegen seine eigene religiöse Tradition verstößt, nämlich gegen das Toragebot in Dtn 23,16f., wonach man einen entflohenen Sklaven nicht zu seinem Herrn zurückschicken soll. Aber vermutlich wurde dieses Gebot in der aktuellen Halacha bereits kongruent zur römischen Gesetzgebung präzisiert; vgl. Philo, virt. 124, der Dtn 23,16f. im Sinn des amicus domini-Verfahrens kongruent zur Rechtslage im ptolemäischen Ägypten erläutert; vgl. dazu nur: Reinmuth 12–15. 165 Hier könnte das μᾶλλον χρῆσαι von 1Kor 7,21 aufgegriffen sein. 166 In einer analogen historischen Situation, nämlich im Kampf gegen radikale Reformer und unter dem Eindruck des Bauernkriegs (1525), der durch deren Predigten maßgeblich befördert wurde, liest auch Luther in seiner Vorlesung von 1527 – anders als noch 1522 (vgl. oben S. 151f.) – Phlm als Dokument zur Stabilisierung der bestehenden
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und regelmäßig zitiert.167 Jedoch: Paulus und seine Erstrezipienten standen als kleine Minderheit im Römischen Reich. Trotz dieser prekären Position wagten sie sich (unterschiedlich, aber ziemlich) weit vor. Die konstantinische Wende hat die Christen zur politikfähigen Gruppe gemacht, auf deren Unterstützung kaiserlicherseits nicht mehr zu verzichten war.168 Ein forscher Kaiser Und gerade deshalb ist es äußerst aufschlussreich, dass es ausgerechnet ein Kaiser war, der mit explizierter Berufung auf Gal 3,28 die Sklavenflucht in ein Kloster, um Mönch bzw. Nonne zu werden, ausdrücklich legitimiert hat: Kaiser Justinian in der 5. Novelle zu seinem CIC im Jahr 535. Es handelt sich »hierbei um eine vollkommene Neuerung, die es weder in Mönchsregeln, auf Konzilien, bei Päpsten noch von Kaisern gab, da prinzipiell das klösterliche Leben durch seinen Nutzen über die gesellschaftliche Ordnung gestellt wird, solange der Sklave wahrer Gesinnung ist«.169 Wohl auf Drängen der Sklavenbesitzer musste Justinian seinen forschen Schritt teilweise zurückziehen. In Novelle 123 aus dem Jahr 546 legte er eine Kompromisslösung vor, die das Eigentumsrecht der Sklavenherren stärker berücksichtigt: Während des Noviziats muss der Abt aktiv nach dem Stand des Anwärters forschen; handelt es sich um einen entflohenen Sklaven, muss er seinem Herrn zurückgegeben werden. Ist jedoch die Frist von drei Jahren verstrichen, bleibt es bei Novelle 5. Im Westen des Reiches zeigten diese Bestimmungen Justinians keinerlei Wirkung. Hier galt nach wie vor, was Papst Gelasius 494 in völliger Übereinstimmung mit dem Erlass Kaiser Zenons aus dem Jahr 484 kirchlicherseits unter Sanktionsandrohung verfügt hatte: keine Aufnahme ins Kloster oder in den Klerikerstand ohne Vorweisung der förmlichen Freilassungsurkunde. Im Osten war es dann Kaiser Leo VI. (886–912), der die gesellschaftliche Ordnung wieder herstellte, nicht ohne darauf hinzuweisen, dass Justinians Novelle geradezu einen Motivationsschub zur »Klosterflucht« ausgelöst habe. Justinians Novelle wurde aufgehoben und bestimmt: Sklaven dürfen jederzeit von ihren Herren aus dem Kloster zurückgefordert werden. 170 Abolitionismus-Diskurs in Amerika Die reale Sklavenflucht wird erst wieder zum theologischen Diskursgegenstand im Rahmen des politischen Kampfes um die Abschaffung der Institution Sklaverei (»Abolitionismus«) im Amerika des 19. Jh. Der anOrdnung: Paulus respektiere das Eigentumsrecht Philemons; in Onesimus dagegen sieht Luther einen Menschen, der die christliche Freiheit »fleischlich« (in sensum carnis) verstanden habe und deshalb seinem Herrn den Dienst verweigere (WA 25, 69–78, hier: 70); vgl. Leppin, Affirmation 146–149. 167 Allerdings ohne dass der Terminus »Bruder« fällt. 168 Konstantin war sich der Geltungsmacht der Christen sehr wohl bewusst und hat ihre Unterstützung für seinen Aufstieg genutzt. Vgl. Bleicken, Constantin 1992. 169 Hasse-Ungeheuer, Gnade 154; Text der Novelle ebd. 152 Anm. 60. 170 Zu Einzelheiten vgl. Hasse-Ungeheuer, Gnade 150–155; Bellen, Studien 88–92.
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ders strukturierte Sozialraum, in den Sklaven sich durchzuschlagen versuchen, um dort die gesetzlich verbürgte Freiheit zu finden, sind in diesem Fall diejenigen Nordstaaten Amerikas, die die Sklaverei bereits per Gesetz abgeschafft hatten (zwischen 1789 und 1830 alle nördlich von Maryland), eine Herausforderung, die in den Südstaaten zu einer entsprechend heftigen Verteidigung der Sklaverei geführt hat. Die Theologen, die sich einmischen, fungieren größtenteils als Pastoren der unterschiedlichen christlichen Denominationen.171 Der Haupttext, über den sie die Deutungshoheit behalten bzw. gewinnen wollen, ist Phlm.172 Die Befürworter der Sklaverei berufen sich auf Phlm als »Pauline Mandate«.173 Sie präsentieren Philemon als Modell eines christlichen Sklavenhalters,174 begründen mit dem Verhalten des Paulus nicht nur die christliche Verpflichtung, entflohene Sklaven zu ihren Herren zurückzusenden,175 sondern unterstützen mit Phlm auch aktiv The Fugitive Slave Law (1850), das unter Strafandrohung fordert, dass entflohene Sklaven selbst dann ihren Herren zurückzustellen sind, wenn sie in Staaten gefasst wurden, in denen die Sklaverei bereits abgeschafft worden ist.176 Kurz: Phlm 11–15 (die Rücksendung des Onesimus zu Philemon, der ihn damit »auf ewig« zurückerhält) wird betont in den Vordergrund gestellt, Phlm 16 (Aufnahme als Bruder) dagegen ausgeblendet oder im Sinn eines humaneren Umgangs mit dem Sklaven gelesen.177 Im Gegensatz dazu stellen die Verfechter des Abolitionismus – wie nicht anders zu erwarten – die Bruderaussage von Phlm 16 in den Mittelpunkt ihrer Argumentation. Einerseits wird aufgrund exegetischer und sozialgeschichtlicher Beobachtungen die 1700 Jahre lang unangefochtene Tatsache bestritten, dass Onesimus überhaupt Sklave im wörtlichen Sinn gewesen sei, sondern vielmehr mit Phlm 16 dessen leibliche Bruderschaft behauptet178 und damit der Phlm-gestützten pro-slavery-Position der Boden unter den Füßen Konkrete Beispiele werden von Kreitzer 70–106 vorgestellt. Vgl. Harrill, Use. 173 So mit dem Schlagwort von Morrison, Defense 19. 174 Vgl. Longstreet, Letters. 175 Vgl. Wilson, Relation 14: »He (sc. Paul) did not hesitate to urge Onesimus to go at once to his master, confess at his feet the grevious fault he had committed, and beg to be received once more among the number of his slaves.« 176 Vgl. die Rede von Daniel Webster »The Constitution and the Union« vom 07.03.1850 vor dem US-Senat (dazu Kreitzer 92) sowie die unterstützende Abhandlung von Moses Stuart (1780–1852) vom Andover Theological Seminary: Stuart, Conscience; vgl. auch Callahan, Embassy 10f. Besonders aufschlussreich ist der (indirekte) Rekurs auf die Schadensersatzverpflichtung Phlm 18 im Brief des Engländers Edward Lingard vom 18.09.1837, in dem er mit großem Missfallen auf die biographischen Aufzeichnungen des erfolgreich nach England geflohenen (ehemaligen) Sklaven Moses Roper reagiert, die ihrerseits in den 1840er und 1850er Jahren Bestseller geworden sind. Mit Verweis auf Onesimus als biblischem Modell meint er: »I think the money raised by the sale of his book should, first of all, be applied to the purchase of his freedom and paying compensation« (als Anlage veröffentlicht in Roper, Narrative 54). 177 Vgl. Parry, Paul 28: »a spirit of sound philanthropy«. 178 Vgl. oben S. 152. 171 172
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weggezogen, was einem der Vertreter dieser Richtung, George Bourne, den Häresievorwurf und die Verurteilung durch den presbyterianischen Rat von Virginia eingebracht hat.179 Andererseits wird mit Bezug auf Phlm 16 die Erwartung des Paulus an den Sklavenhalter Philemon herausgestellt, den an ihn zurückgeschickten Sklaven wie einen (christlichen) Bruder zu behandeln, was für die Südstaaten-Sklavenhalter eine analoge Forderung zur Konsequenz hätte, sofern sie sich als Christen bezeichnen wollten.180 Äußerst aufschlussreich ist es, welche Visionen mit einer wörtlichen Befolgung von Phlm 16 verknüpft werden: »The principles laid down in this epistle of Philemon, therefore, would lead to the universal abolition of slavery. If all those who are now slaves were to become Christians, and their masters were to treat them ›not as slaves, but as brethren beloved,‹ the period would not be far distant when slavery would cease.«181 Neu am Abolitionismus-Diskurs ist, dass erstmals auch die Betroffenen selbst zu Wort kommen, sei es, dass ihre Reaktionen auf Predigten, die mit Phlm den Fortbestand der Sklaverei zu unterstützen scheinen, von den Predigern selbst wahrgenommen worden sind,182 sei es, dass entlaufene Sklaven im Rücksendungsmodell des Phlm die Bruder-Gleichstellungsaussage von V. 16 als das eigentliche Ziel des paulinischen Anliegens erkennen, wie z.B. Anthony Burns, der aus Virginia nach Boston geflohen ist und nach vielen Missgeschicken und Umwegen endlich dort als freier Mann leben konnte. Als er beantragte, seine eingetragene Mitgliedschaft in der Baptistengemeinde von Union, Virginia, auf seine aktuelle Gemeinde zu transferieren, wurde sein Antrag nicht nur abgelehnt, sondern er selbst auch exkommuniziert. Die Begründung: Burns »had absconded from the service of his master, and refused to return voluntarily – thereby disobeying both the laws of God and man.«183 Burns weist seinerseits diese Begründung mit Verweis auf andere Bibelstellen zurück und bezichtigt die Verantwortlichen in Virginia des unchristlichen Handelns: »The advice you volunteered to send me, along with this sentence of excommunication, exhorts me, when I shall come to preach like Paul, to send every runaway home to his master, as he did Onesimus to Philemon. Yes, indeed I would, if you would let me. I should love to send them back as he did, ›NOT NOW AS A SERVANT, but above a servant: – A BROTHER – a brother beloved – both in the flesh and in the Lord;‹ both a brother-man, and a brother-Christian. Such a relation would be delight Vgl. Kreitzer 100. Vgl. Foster, Brotherhood 48f.; McKeen, Argument 28, und Cheever, God 144. 181 Barnes, Inquiry 330. Ganz ähnlich McKeen, Argument 28f.: »Let their fugitive slaves firmly believe that they will be received and treated as Onesimus was, not as slaves, but as brethren; with all the cordiality which a truly Christian man would show towards the chief of apostles; and there will be no need of the hunters with their dogs and deadly weapons, to seize them and force them back.« 182 So vom presbyterianischen Missionar Charles Colcock Jones (1804–1863); vgl. Kreitzer 81. 183 Vgl. Kreitzer 82. 179 180
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ful – to be put on a level, in position, with Paul himself. ›If thou count me, therefore a partner, receive him as myself.‹ I would to God that every fugitive had the privilege of returning to such a condition – to the embrace of such a Christianity – ›not now as a servant, but above a servant,‹ – a ›partner,‹ – even as Paul himself was to Philemon!«184 Postkoloniale Hermeneutik Was sich im Abolitionismusstreit angebahnt hat, nämlich auf diejenigen zu hören, die normalerweise keine Deutungshoheit in Anspruch nehmen können, ist erklärtes Programm der sogenannten postkolonialen Hermeneutik (»reading from the margins«) – verbunden mit dem Anliegen, in biblischen »Auslegungen« verdeckte Stabilisierungsmechanismen und Machterhaltungsprozesse offenzulegen,185 genauso wie die eigene Perspektive bei der Analyse.186 Auswertung Im Rückblick auf die exemplarisch vorgestellte Wirkungsgeschichte soll festgehalten werden: (1) Wohl selten hatte die Auslegung eines neutestamentlichen Textes so unmittelbaren Einfluss auf das Geschick von Menschen wie im Fall des Phlm. (2) Dabei sind die Ausblendung bzw. Gewichtung von Textteilen des Phlm sowie die Einblendung bestimmter anderer (Bibel)Texte die einfachen, aber hermeneutisch entscheidenden und äußerst wirksamen Instrumente der angezielten Sinnkonstruktion, ein Verfahren, das professionelle wissenschaftliche Exegese und eher intuitive Alltagsexegese auf das Engste verbindet.187 (3) Vermutlich sind es die vom Sachanliegen des Textes selbst Betroffenen, die das Befreiende an der Umsetzung des »Evangeliums« in den christlichen Texten am besten erspüren können. (4) Wird im 4. Jh. in Kleinasien um die Gestaltung des christlich geprägten Sozialraums gestritten und Phlm als Schriftmodell zur Erhaltung des Status quo gemäß kaiserlicher Gesetzgebung herangezogen, so sind es im Amerika des 19. Jh. auf der Basis staatlicher Gesetzgebung unterschiedlich strukturierte Sozialräume, um deren Anerkennung bzw. Ablehnung mit entsprechender Auslegung des Phlm gestritten wird. Der Zitat aus Stevens, Burns 280–282. Der Ex-Sklave Frederick Douglas (1818–1895) ist sogar zu einem der wichtigsten Abolitionisten geworden; vgl. Kreitzer 89f. Damit erfüllt sich in der Geschichte, was Gerber, Onesimus 105, bereits vom Phlm erwartet hätte, dass nämlich der betroffene Sklave mit eigener Stime gehört wird. 185 Zu Paulus vgl. den Sammelband von Stanley (Hg.), Apostle; speziell zu Phlm Seesengood, Call 200–204; Johnson/Noel/Williams (Hg.), Onesimus; Punt, Interpretation 159–174. 186 Vgl. Williams, Slave 14: »I am making an open choice to read from this perspective, recognizing at all ›readings‹ are ideological. For too long, privileged theological readings of the Bible have masked the ideological interests well-hidden behind its critical methods of interpretation.« 187 Vgl. die auf empirisches Datenmaterial gestützte Untersuchung von Schramm, Alltagsexegesen. 184
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pragmatische Horizont von Exegese wie Theologie ist im Fall des Phlm – das wird an den Brennpunkten seiner Wirkungsgeschichte deutlich – immer der christliche Alltag. 4 Bleibende Relevanz Be-wahrheitung des christlichen Glaubens Die bleibende Relevanz des Phlm liegt nicht in der Sklavenfrage an sich. Das theologische Problem, das Phlm aufwirft, betrifft einen hermeneutisch viel grundsätzlicheren Punkt: Es geht um die Be-wahrheitung des christlichen Glaubens. Anders gesagt: Ist die Rede von den Gläubigen als »Brüdern« (und »Schwestern«), von Jesus Christus als eigentlichem »Herrn« dieser Welt, von den Getauften als einer »neuen Schöpfung« in Christus bzw. von einer »Geburt« in der Taufe bloßer rhetorischer Schmuck liturgischer Sprache – oder werden die Metaphern durch das Verhalten und die Kommunikationsstrukturen unter den Gläubigen be-wahrheitet? Kurz: Wird der christliche Glaube wegen seiner Auswirkungen auf den Alltag der christlichen Gemeinden als »Verlockung« in dieser Welt erlebt, die nach Paulus »im Vergehen« ist – besonders für die sozial schlechter Gestellten? Nutzen Christgläubige die Gestaltungsmöglichkeiten, die ihnen als Anwärtern der Neuen Welt, ausgestattet mit dem »Urstoff« der neuen Schöpfung, dem Gottesgeist, bereits in dieser Alten Welt gegeben sind? Noch einmal anders gesagt: Hat die Wirklichkeitskonstruktion des christlichen Glaubens Auswirkungen auf den sozialen Alltag? Paulus hat im Phlm alle Phantasie und Energie eingesetzt, um den christlichen Glaubenstraum für einen getauften Sklaven Wirklichkeit werden zu lassen. Pastorale Umsetzung der Verkündigung Gal 3,27f. als Magna Charta des paulinischen Christentums erscheint in Phlm nicht als Zitat, sondern in der pastoralen Umsetzung – hineinbuchstabiert in eine konkrete Hausgemeinde. Für Paulus gehört es offensichtlich zur Aufgabe des Verkündigers, dass er sich auch um die Umsetzung des theologisch Geglaubten und Versprochenen kümmert – und alle konzeptionelle wie sprachliche Kreativität aufwendet, um dafür konkrete Wege ausfindig zu machen und zu bahnen. Mögliche Gestaltungsspielräume nutzen Paulus erweist sich im Phlm als Kenner der sozialen Verhältnisse seiner Zeit und schätzt vorhandene Veränderungsmöglichkeiten realistisch ein. Bezüglich der neuen Rollenkonstruktion für den getauften Sklaven (der rechtlich Sklave bleibt) setzt er genau dort an, wo innerhalb der Alten Welt tatsächlich Freiräume offen sind: innerhalb des Gefüges des antiken Haushalts, konkret: in der neuen Beziehungsgestaltung des Hausherrn und Sklavenhalters zu seinem getauften Sklaven. Was Paulus dem Hausherrn als Verhal-
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tenswunsch ans Herz legt, ist nichts anderes als der Versuch, innerhalb der gesellschaftlich vorgegebenen Strukturen – wie pagane Analogien zeigen – durchaus realistische Veränderungsspielräume optimal und maximal zu nutzen, um die Neue Welt im Haushalt Philemons sichtbar und erfahrbar werden zu lassen. Gesellschaftlich etablierte Unterdrückungsmechanismen durchkreuzen Paulus schreibt im Phlm kein Pamphlet gegen die Sklaverei. Aber er zeigt sich sensibel für gesellschaftlich verankerte Unterdrückungsmechanismen, für versteckte, subkutan eingeforderte gesellschaftliche Verhaltensregeln, die Abhängigkeitsverhältnisse zur Folge haben (können). Für die Zeit des Paulus ist das der Reziprozitätsregelkreis, der so etwas wie den sozialen Kitt in der antiken Gesellschaft darstellt. Wie im Phlm insbesondere der Umgang mit den konventionellen Brieffloskeln zeigt, durchbricht Paulus die Dankbarkeitsverpflichtung der sozial jeweils schwächeren Seite, indem er Gott als dritten Partner in den Regelkreis einführt. Damit wird der Genuss der Wohltaten im Haus Philemons für die Gemeinde, die sich dort versammelt, für Paulus und auch für den Sklaven Onesimus, der in diese Glaubensgemeinschaft aufgenommen werden soll, sozusagen »freigeschaltet«. Wohlgemerkt: Paulus will den Reziprozitätsregelkreis nicht außer Kraft setzen, sondern er schreibt ihn theologisch so kongenial weiter, dass in seinen Formulierungen und erst recht in der Durchführung seiner Konzeption der christliche Glaube zum Vorschein kommt: Gott als realer Partner im Reziprozitätssystem. Anders gesagt: Im Idealfall zeigt sich der Glaube der Bessergestellten darin, dass sie auf Dankerweise der von ihnen Begünstigten verzichten, weil gemäß paulinischer Konzeption Gott selbst es ist, der sie rekompensiert. Und: Weder der Sklave noch Paulus oder die Gemeinde brauchen ein schlechtes Gewissen zu bekommen oder haben Nachteile zu befürchten, wenn sie ihrem Wohltäter nicht den üblichen Dank abstatten, weil sie wirklich daran glauben, dass Gott für sie einspringt. Theologie des »Vielleicht« In einem einzigen Punkt wird Paulus im Phlm theologisch spekulativ: wenn er nämlich die »Trennung« zwischen Philemon und Onesimus – wie dieser Kommentar zu begründen versucht – als göttlichen Eingriff deutet, um daraus sozialethischen Konsequenzen zu ziehen (V. 15f.). Dabei ist es erstaunlich, dass Paulus die theologische Deutung im Modus des »Vielleicht« vorträgt, die Konsequenzen daraus jedoch selbst bereits vollzogen hat und das Gleiche auch von Philemon erwartet. Die theologische Deutung bezieht sich auf ein kontingentes Ereignis der unmittelbaren Gegenwart und steht – ganz in der Linie von Gal 3,27f. – im Dienst der Umgestaltung von gesellschaftlich fixierten Rollenmustern für die Getauften. Die geglaubte Geschichtsmächtigkeit Gottes wird für Paulus in den entsprechend veränderten Beziehungsgeflechten von Menschen evident – oder desavouiert.
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Alltagstauglichkeit von Theologie Im Phlm verzichtet Paulus auf seinen Aposteltitel und den damit verbundenen Autoritätsanspruch. Stattdessen setzt er auf Argumentation und letztlich die »Macht« der Gemeinde. Gerade wenn Phlm (neben Phil) zu den letzten Briefen des Paulus aus Rom gehört, ist das im Blick auf den »alten« Paulus besonders aufschlussreich. Genauso auffällig ist der äußerst sparsame Einsatz theologischer Begründungsmuster und der gänzliche Verzicht auf deren lehrmäßige Entfaltung. Im Vordergrund stehen die sozialethischen Konsequenzen, die sich aus dem Christusereignis ergeben. Sie werden geschickt eingefädelt, durch die eindringliche Bildersprache emotional enorm verstärkt und auf der kommunikativen Ebene durch die Einbindung der Gemeinde sowie der weiteren Mitarbeiter der Paulus mit leichtem Druck versehen. Ohne Ausbuchstabierung für den Alltag – und vor allem ohne geschickte lebenspraktische Beförderung – bleibt auch logisch stringenteste Theologie leeres Geschwätz. Der Phlm ist ein beredtes Gegenbeispiel, das zu allen Zeiten seine Nachahmer sucht. Verba docent, exampla trahunt.
Abkürzungen und Literatur
Abkürzungen Die Abkürzungen für Zeitschriften, Serien und Lexika richten sich nach S.M. Schwertner, IATG3 – Internationales Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete. Zeitschriften, Serien, Lexika, Quellenwerke mit bibliographischen Angaben, Berlin 32014. Die Abkürzungen für biblische, frühjüdische und frühchristliche Schriften richten sich nach dem Verzeichnis von »Religion in Geschichte und Gegenwart«, 4. Aufl. (RGG4). Nach der RGG richten sich auch die Werkangaben für Josephus und Philon. Die Verweise auf die übrigen antiken Autoren folgen, soweit aufgelistet, den Abkürzungen von »Der Neue Pauly« (DNP). Die Verweise auf Inschriften richten sich nach dem »Supplementum Epigraphicum Graecum« (SEG), diejenigen auf Papyri nach dem »Duke Papyrus Archive«. In den genannten Standardwerken nicht vorhandene Abkürzungen werden analog ergänzt. Kommentare zum Phlm werden ohne Kurztitel, Kommentare zu anderen biblischen Büchern mit der üblichen Buchabkürzung zitiert. Die Schreibung biblischer Eigennamen richtet sich nach dem »Ökumenischen Verzeichnis der biblischen Eigennamen nach den Loccumer Richtlinien«, 21981. Weitere Abkürzungen BDR Blass, F. / Debrunner, A. / Rehkopf, F. (Hg.), Grammatik des neutestament lichen Griechisch, Göttingen 182001. LSJ Liddell, H.G. / Scott, R. / Jones, H.S., A Greek-English Lexicon, Oxford 9 1996. Kommentare zum Phlm Ambrosiastri qui dicitur commentarius in epistulas Paulinas, hg. von H.J. Vogels (CSEL 81/3), Wien 1969. Arzt-Grabner, P., Philemon (PKNT 1), Göttingen 2003. Barth, M. / Blanke, H., The Letter to Philemon. A New Translation with Notes and Commentary (ECCo), Grand Rapids (MI) 2000. Bieder, W., Der Philemonbrief (Die Prophezei), Zürich 1944. Binder, H., Der Brief des Paulus an Philemon (ThHK XI/2), Berlin 1990. Bruce, F.F., The Epistles to the Colossians, to Philemon, and to the Ephesians (NICNT), Grand Rapids (MI) 1984. Cassiodor (Ps.-Primasius), Ad Philemonem Epistola Divi Pauli, in: PL 68, Paris 1866, 683–686.
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Abkürzungen und Literatur
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