Der Brief an Philemon 9783170186750, 9783170417519, 3170186752

Der kleinste Paulusbrief, entstanden um 55 n. Chr., erlaubt am Beispiel der Herr-Sklave-Relation einen Blick auf die ges

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Deckblatt
Titelseite
Impressum
Vorwort
Inhalt
Abkürzungen
Quellenverzeichnis
Abgekürzt zitierte Literatur
Erster Teil Einleitung
1. Vorbemerkungen
2. Bezeugung und Text
3. Übersetzung
4. Form und Aufbau
5. Absender
6. Adressat(en)
7. Anlass und Ziel
8. Orte und Zeiten
9. Situationen und Interessen der beteiligten Personen
a) Philemon
b) Onesimus
c) Paulus
d) Nochmals: Onesimus
e) Nochmals: Philemon
10. Ergebnis
Zweiter Teil Kommentar
1. Das Präskript (V.1–3)
2. Das Proömium (V.4–7)
3. Hauptteil: die Bitte (V.8–20)
a) Erster Argumentationsgang (V.8–14)
b) Zweiter Argumentationsgang (V.15–20)
4. Schluss (V.21–25)
Dritter Teil Über Sklaverei und Freiheit Paulus im Gespräch mit Plinius d.J., Seneca und Epiktet
1. Großmut und Reue: Rückkehr ins Gegebene Die Briefe des jüngeren Plinius an Sabinianus
2. „‚Sklaven sind sie.‘ – Nein, Menschen. “Humaner Umgang mit Sklaven bei Seneca
a) Kritik am gängigen Umgang mit Sklaven
b) Plädoyer für einen anderen Umgang mit Sklaven
c) Relativierung des Sklavenbegriffs
3. „Über mich hat niemand Macht.“ Epiktet und die Freiheit
a) Einführung
b) Die Bestimmung der Freiheit durch Epiktet
c) Was das Freiheitsverständnis Epiktets leistet Oder: Wie viel(e) Freiheit(en) leistet sich Epiktet?
d) Was das Freiheitsverständnis Epiktets kostet Oder: Was zahlt Epiktet für seine Freiheit
e) Epiktets Freiheitsverständnis als Reflex gesellschaftlicher Erfahrung
f) Schluss
4. „Hier gibt es nicht Versklavte und Freie. “Gemeinde als Raum der Freiheit bei Paulus
a) Ein Rückblick auf den Philemonbrief
b) Die Erfahrung des jeweils anderen machen: Gemeinschaft der Gleichen in ungleicher Gesellschaft (1Kor 7,17–24)
c) Die Taufe als Stiftung neuer Einheit (Gal 3,26–28; 1Kor 12,13)
d) Schluss
Stellenregister
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Der Brief an Philemon
 9783170186750, 9783170417519, 3170186752

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Theologischer Kommentar zum Neuen Testament Herausgegeben von Stefan Schreiber Angela Standhartinger Ekkehard W. Stegemann Angelika Strotmann Peter Wick Band 16

Klaus Wengst

Der Brief an Philemon

Verlag W. Kohlhammer

Umschlagbild entnommen aus „Nestle-Aland – Novum Testamentum Graece“, S. 561 27. revidierte Auflage © 1898, 1993 Deutsche Bibelgesellschaft Stuttgart E-Book 2021 der 1. Auflage 2005 (ISBN 978-3-17-018675-0) Alle Rechte vorbehalten © W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart E-Book-Format: pdf: ISBN 978-3-17-041751-9 Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Den Genossinnen und Genossen der Juso-AG Bonn-Poppelsdorf/Venusberg der Jahre 1972–1977

Vorwort

Als diese Kommentarreihe geplant wurde, habe ich nicht entfernt daran gedacht, die Kommentierung des Philemonbriefes zu übernehmen. Nach Abgabe des Manuskripts zum zweiten Band meines Johanneskommentars sah ich die „offenen Stellen“ der Reihe durch. Da der Philemonbrief dazugehörte, erinnerte ich mich daran, dass ich Ende der 70er und Anfang der 80er Jahre immer wieder an Texten des Neuen Testaments gearbeitet hatte, in denen Sklaven erwähnt wurden. Mich interessierte dabei die Frage, wie sich Theologie und Wirklichkeit zueinander verhalten, besonders, wie sich Theologie auf das Leben in der vorgegebenen sozialen Struktur von Herren und Sklaven auswirkte. Ich hatte dafür eine Veröffentlichung geplant und sie auch schon ein gutes Stück vorangetrieben. Dann kam mir jedoch die „Pax Romana“ dazwischen, dann die „Demut“ – und danach wurde für mich ohnehin alles anders durch die Begegnung mit dem Judentum. Meine Vorarbeiten über Sklaven blieben liegen. Ich habe sie nur einmal kurz wieder aufgenommen, als wir in einer „Arbeitsgemeinschaft Graeca“, die es hier in Bochum unter Kollegen verschiedener Fakultäten bis 1993 zehn Jahre lang gab, Epiktets Freiheitstraktat lasen. Für die dann übernommene Kommentierung des Philemonbriefes habe ich meine Vorarbeiten wieder hervorgeholt und ausgewertet. Sie wirken sich in der Schwerpunktsetzung aus. Dieser kurze Paulusbrief erlaubt am Beispiel der Herr-Sklave-Relation einen Blick auf gesellschaftliche Wirklichkeit – und wie Theologie in ihr zum Zuge kommt. Im ersten Teil des Kommentars werden das Beziehungsgeflecht zwischen Paulus, dem Sklaven Onesimus und dessen Herrn Philemon und die sich darin zeigenden Interessen dargestellt. Der zweite Teil, der eigentliche Kommentar, zeichnet auf diesem Hintergrund die paulinische Argumentation nach. Wenn man für den Kommentar über eine so kurze Schrift einen ganzen Band zur Verfügung hat, kann man sich etwas Luxus leisten. Ich tue das im dritten Teil, in dem ich die Frage nach Theologie und gesellschaftlicher Wirklichkeit so aufnehme, dass ich Paulus mit Plinius dem Jüngeren, Seneca und Epiktet ins Gespräch bringe und dabei auch die übrigen Stellen heranziehe, an denen Paulus von Sklaven spricht. Der Rückgriff auf die genannten Vorarbeiten begründet die Widmung, die vielleicht manche Leserin und manchen Leser seltsam anmutet. Die sozialgeschichtliche Fragestellung hat sich für mich aus der politischen Arbeit ergeben, als wir uns in jenen bewegten Jahren auf den „Marsch durch die Institu-

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Vorwort

tionen“ begaben, der dann allerdings anders verlief, als wir uns das damals dachten. Ich war in die SPD eingetreten. In unserem Ortsverein kam es Anfang 1972 zur Gründung einer „Arbeitsgemeinschaft der Jungsozialisten“, deren erster Vorsitzender ich wurde. Wir haben versucht, politische Theorie, vor allem von Karl Marx geleitete ökonomische Kritik, mit konkreter kommunalpolitischer Arbeit zu verbinden. Die Jahre in dieser Arbeitsgemeinschaft gelten mir nach wie vor als ein wichtiger Teil meines Lebens. Elfi Runkel, Susanne Streckmann und Angelika Angerer danke ich herzlich; sie haben als studentische Hilfskräfte vielfältige Hilfe bei der Arbeit an diesem Kommentar geleistet. Besonders die beiden letztgenannten haben in die Verbesserung des Manuskripts viel Arbeit investiert. Ihnen danke ich auch für die Mithilfe beim Korrekturlesen und für das Erstellen des Registers.

Bochum, im Januar 2005

Klaus Wengst

Inhalt

Abkürzungen ............................................................................................. Quellenverzeichnis .................................................................................... Abgekürzt zitierte Literatur .......................................................................

11 11 14

Erster Teil: Einleitung .............................................................................

19

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.

Vorbemerkungen ................................................................................ Bezeugung und Text ........................................................................... Übersetzung ........................................................................................ Form und Aufbau ................................................................................ Absender ............................................................................................. Adressat(en) ........................................................................................ Anlass und Ziel ................................................................................... Orte und Zeiten ................................................................................... Situationen und Interessen der beteiligten Personen .......................... a) Philemon ......................................................................................... b) Onesimus ........................................................................................ c) Paulus ............................................................................................. d) Nochmals: Onesimus ...................................................................... e) Nochmals: Philemon ...................................................................... 10. Ergebnis ..............................................................................................

19 21 24 26 26 27 28 29 30 30 30 39 42 42 44

Zweiter Teil: Kommentar .......................................................................

45

1. Das Präskript (V.1–3) ......................................................................... 2. Das Proömium (V.4–7) ....................................................................... 3. Hauptteil: die Bitte (V.8–20) .............................................................. a) Erster Argumentationsgang (V.8–14) ............................................ b) Zweiter Argumentationsgang (V.15–20) ....................................... 4. Schluss (V.21–25) ...............................................................................

45 52 57 57 64 71

10

Dritter Teil: Über Sklaverei und Freiheit Paulus im Gespräch mit Plinius d.J., Seneca und Epiktet .................. 1. Großmut und Reue: Rückkehr ins Gegebene Die Briefe des jüngeren Plinius an Sabinianus ................................... 2. „‚Sklaven sind sie!‘ – Nein, Menschen!“ Humaner Umgang mit Sklaven bei Seneca ........................................ a) Kritik am gängigen Umgang mit Sklaven ...................................... b) Plädoyer für einen anderen Umgang mit Sklaven .......................... c) Relativierung des Sklavenbegriffs .................................................. 3. „Über mich hat niemand Macht.“ Epiktet und die Freiheit ....................................................................... a) Einführung ...................................................................................... b) Die Bestimmung der Freiheit durch Epiktet .................................. c) Was das Freiheitsverständnis Epiktets leistet Oder: Wie viel(e) Freiheit(en) leistet sich Epiktet? ........................ d) Was das Freiheitsverständnis Epiktets kostet Oder: Was zahlt Epiktet für seine Freiheit? ................................... e) Epiktets Freiheitsverständnis als Reflex gesellschaftlicher Erfahrung ........................................................................................ f) Schluss ............................................................................................ 4. „Hier gibt es nicht Versklavte und Freie“ Gemeinde als Raum der Freiheit bei Paulus ....................................... a) Ein Rückblick auf den Philemonbrief ............................................ b) Die Erfahrung des jeweils Anderen machen: Gemeinschaft der Gleichen in ungleicher Gesellschaft (1Kor 7,17–24) ............................................................................... c) Die Taufe als Stiftung neuer Einheit (Gal 3,26–28; 1Kor 12,13) .. d) Schluss ............................................................................................

Inhalt

75

75 78 79 81 82 85 85 86 90 97 99 101 102 102

104 113 114

Stellenregister ............................................................................................ 117

Abkürzungen Die Abkürzungen richten sich in den folgenden Verzeichnissen und im ganzen Kommentar nach Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Auflage (Band 1, Tübingen 1998) und nach SIEGFRIED M. SCHWERTNER, Theologische Realenzyklopädie. Abkürzungsverzeichnis, Berlin u.a. ²1994. Biblische Namen werden in der Regel wiedergegeben nach: Ökumenisches Verzeichnis der biblischen Eigennamen nach den Loccumer Richtlinien, Stuttgart ²1981. Darüber hinaus wird folgende Abkürzung gebraucht: BDR = F. BLASS / A. DEBRUNNER, Grammatik des neutestamentlichen Griechisch, bearb. v. F. REHKOPF, Göttingen, 17. Aufl. 1990. Quellenverzeichnis a) Bibel Tora Nevi’im K’tuvim, Jerusalem 1989. Biblia Hebraica Stuttgartensia, hg.v. K. ELLIGER u. W. RUDOLF, Stuttgart ³1987. Novum Testamentum Graece (Nestle-Aland), hg.v. BARBARA u. KURT ALAND u. a., Stuttgart, 27. Aufl. 1993. Septuaginta Vol. I u. II, hg.v. ALFRED RAHLFS, 6. Aufl., Stuttgart o.J. b) Außerrabbinisches Judentum Philonis Alexandrini opera quae supersunt Vol. I–VI, ed. LEOPOLD COHN et PAUL WENDLAND, Berlin 1896–1910 (Nachdruck 1962). Philo von Alexandria. Die Werke in deutscher Übersetzung, Bd. I–VI, hg.v. LEOPOLD COHN u.a., Berlin ²1962 (= Breslau 1910–1938); Bd. VII, Berlin 1964. Flavius Josephus: De Bello Judaico. Der jüdische Krieg, Griechisch u. Deutsch, Bd. I–III, hg.v. OTTO MICHEL u. OTTO BAUERNFEIND, Darmstadt 1959–1969. Das Buch der Jubiläen, übers. v. KLAUS BERGER, JSHRZ II, S.273–575, Gütersloh 1981. Himmelfahrt Moses, übers. v. EGON BRANDENBURGER, JSHRZ V, S.57–81, Gütersloh 1976.

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Quellenverzeichnis

c) Rabbinisches Judentum Bar Ilan’s Judaic Library, Version 12, Responsa&Encyclopedia Talmudit, New York o.J. Mischna: schischah sidrej mischnah, hg.v. HANOCH ALBECK, Bd. 1–6, Jerusalem u. Tel Aviv 1952–1958 (Nachdruck 1988). Babylonischer Talmud: talmud bavli, Bd. 1–20, Nachdruck Jerusalem 1981 (Romm, Wilna 1880–1886). Mechilta d’Rabbi Ismael. Mechilta d’Rabbi Jischmael, hg.v. H. S. HOROVITZ u. I. A. RABIN, Jerusalem ²1970 (Erstausgabe Frankfurt am Main 1931).

d) Nichtjüdische antike Texte Aelius Aristides: Die Romrede, hg., übers. und mit Erläuterungen versehen v. RICHARD KLEIN, Darmstadt 1983. Apuleius: Der goldene Esel. Metamorphosen, hg. u. übers. v. EDWARD BRANDT u. WILHELM EHLERS, München ³1980. Aristoteles: Politica, hg.v. W. D. ROSS, Oxford 1957, repr. 1962. Aristoteles: Eudemische Ethik, übers. u. kommentiert v. FRANZ DIRLMEIER, 4. Aufl., Berlin 1984. Augustus: Meine Taten. Res gestae Divi Augusti. Lateinisch – Griechisch – Deutsch, hg.v. EKKEHARD WEBER, München 1970. Columella: Zwölf Bücher über Landwirtschaft. Buch eines Unbekannten über Baumzüchtung, lateinisch-deutsch, Bd. I, hg. u. übers. v. WILL RICHTER, München 1981. Dio Chrysostom, with an English Translation by J. W. COHOON, London, Cambridge/Mass., I 1960, II 1961 (LCL). Epiktet: Dissertationes ab Arriano digestae. Editio minor, ed. HENRICUS SCHENKL, Leipzig 1916. Galen: De Placitis Hippocratis et Platonis, Libri VI–IX, ed., in linguam anglicam vertit, commentatus est PHILLIP DE LACY, Berlin 1980. Griechische Papyri aus Ägypten als Zeugnisse des öffentlichen und privaten Lebens. Griechisch – deutsch, hg.v. J. HENGSTL, MÜNCHEN 1978. Horaz: Sämtliche Werke. Lateinisch und deutsch, I nach KAYSER, NORDENFLYCHT und BURGER hg.v. HANS FÄRBER, II übers. und zusammen mit HANS FÄRBER bearbeitet v. WILHELM SCHÖNE, 9. Aufl., München 1982. Juvenal: Satiren, hg. u. übers. v. JOACHIM ADAMIETZ, München 1993.

Quellenverzeichnis

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Lukian: Hauptwerke, Griechisch und deutsch, hg. u. übers. v. KARL MRAS, München ²1980. Martial: Epigramme, Lateinisch-deutsch, hg. u. übers. v. PAUL BARIÉ u. WINFRIED SCHINDLER, Düsseldorf u. Zürich 1999. Martial: Epigramme, ausgewählt, übers. u. erläutert v. HARRY C. SCHNUR, Stuttgart 1966. Petronius: Satyrica. Schelmengeschichten. Lateinisch – deutsch, hg.v. KONRAD MÜLLER u. WILHELM EHLERS, München ²1978. Plinius der Ältere: Naturkunde. Lateinisch – deutsch, Bücher XXIX/XXX, hg. u. übers. v. RODERICH KÖNIG, München 1991. Plinius der Jüngere: Panegyricus. Lobrede auf den Kaiser Trajan, hg., übers. u. mit Erläuterungen versehen v. WERNER KÜHN, Darmstadt 1985. Plinius der Jüngere: Briefe, Lateinisch – deutsch, hg.v. HELMUT KASTEN, München 1968. Plutarch: Lives, with an English Translation by BERNADOTTE PERRIN, Vol. III, London, Cambridge/Mass. 1968 (LCL). Plutarch: Moralia, with an English Translation by FRANK COLE BABBITT, London, Cambridge/Mass., I 1960, II 1962 (LCL). Römische Grabinschriften, gesammelt und ins Deutsche übertragen v. HIERONYMUS GEIST, betreut v. GERHARD PFOHL, München ²1976. Seneca: De providentia. De constantia sapientis. De ira. Ad Marciam de Consolatione. Über die Vorsehung. Über die Standhaftigkeit des Weisen. Über den Zorn. Trostschrift an Marcia, übers., eingeleitet und mit Anmerkungen versehen v. MANFRED ROSENBACH, Darmstadt 1980. Seneca: De vita beata. De otio. De tranquillitate animi. De brevitate vitae. Ad Polybium de consolatione. Ad Helviam matrem de consolatione. Über das glückliche Leben. Über die Muße. Über die Seelenruhe. Über die Kürze des Lebens. Trostschrift an Polybius. Trostschrift an die Mutter Helvia, übers., eingeleitet und mit Anmerkungen versehen v. MANFRED ROSENBACH, Darmstadt 1983. Seneca: Ad Lucilium epistulae morales I–LXIX. An Lucilius. Briefe über Ethik 1–69, übers., eingeleitet und mit Anmerkungen versehen v. MANFRED ROSENBACH, Darmstadt 1980; LXX–CXXIV, [CXXV]. 70–124, [125], Darmstadt 1984. Seneca: De clementia. De benificiis. Über die Milde. Über die Wohltaten, übers., eingeleitet und mit Anmerkungen versehen v. MANFRED ROSENBACH, Darmstadt 1989. Sueton: Die Kaiserviten. De vita Caesarum. Berühmte Männer. De viris

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Abgekürzt zitierte Literatur

illustribus, Lateinisch-deutsch, hg. u. übers. v. HANS MARTINET, Düsseldorf ²2000. Tacitus: Annalen. Lateinisch und deutsch, hg.v. ERICH HELLER, München 1982. Tacitus: Historiae. Historien. Lateinisch-deutsch, hg.v. JOSEPH BORST unter Mitarbeit von HELMUT HROSS u. HELMUT BORST, München ³1977. Neuer Wettstein. Texte zum Neuen Testament aus Griechentum und Hellenismus, Bd. II. Texte zur Briefliteratur und zur Johannesapokalypse, Teilband 2, hg.v. GEORG STRECKER u. UDO SCHNELLE, Berlin 1996, S.1059–1073. New Documents Illustrating Early Christianity, Vol. 8, ed. S. R. LLEWELYN, Grand Rapids, Michigan 1998.

e) Außerkanonische christliche Texte Die Apostolischen Väter, eingeleitet, hg., übertragen und erläutert v. JOSEPH A. FISCHER, Darmstadt 1956. Tertullian: Adversus Marcionem, Tertulliani Opera I, CCSL I, Turnholti 1954.

Abgekürzt zitierte Literatur a) Kommentare zum Philemonbrief Sie werden mit Verfassernamen und „Komm.“ zitiert. ARZT-GRABNER, PETER, Philemon, Göttingen 2003. BARCLAY, JOHN M. G., Colossians and Philemon, Sheffield 1997, repr. 2001. BARTH, MARKUS / BLANKE, HELMUT, The Letter to Philemon. A New Translation with Notes and Commentary, Grand Rapids, Michigan / Cambridge, U.K., 2000. BINDER, HERMANN, Der Brief des Paulus an Philemon, Berlin 1990. CALVIN, JOHANNES, Auslegung der kleinen paulinischen Briefe, übers. u. bearbeitet v. OTTO WEBER, Neukirchen-Vluyn 1963 (Der Brief an Philemon: S.625–635). DIBELIUS, MARTIN: An die Kolosser, Epheser. An Philemon, 3. Aufl. neu bearb. v. HEINRICH GREEVEN, Tübingen 1953. DUNN, JAMES D. G., The Epistles to the Colossians and to Philemon, Grand Rapids, Michigan, 1996.

Abgekürzt zitierte Literatur

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FITZMYER, JOSEPH A., The Letter to Philemon, The Anchor Bible, Volume 34c, New York 2000. GNILKA, JOACHIM: Der Philemonbrief, Freiburg 1982. HÜBNER, HANS, An Philemon. An die Kolosser. An die Epheser, Tübingen 1997. LAMPE, PETER, Der Brief an Philemon, in: N. WALTER, E. REINMUTH und P. LAMPE, Die Briefe an die Philipper, Thessalonicher und an Philemon, Göttingen 1998, S.203–232. LOHMEYER, ERNST, Die Briefe an die Philipper, an die Kolosser und an Philemon, Göttingen 1964 (= 1953; weitgehend = 1930). LOHSE, EDUARD, Die Briefe an die Kolosser und an Philemon, Göttingen 1968. SUHL, ALFRED, Der Philemonbrief, Zürich 1981. STUHLMACHER, PETER: Der Brief an Philemon, Neukirchen-Vluyn, 2., durchg. u. verb. Aufl. 1981. WETTE, W. M. L. DE, Kurze Erklärung der Briefe an die Colosser, an Philemon, an die Ephesier und Philipper, Leipzig ²1847. WOLTER, MICHAEL, Der Brief an die Kolosser. Der Brief an Philemon, Gütersloh 1993.

b) Kommentare zu anderen Schriften CONZELMANN, HANS: Der erste Brief an die Korinther, Göttingen 1969. SCHRAGE, WOLFGANG, Der erste Brief an die Korinther, Bde. 1–4, Neukirchen-Vluyn 1991, 1995, 1999, 2001.

c) Übrige Literatur Sie wird mit Verfassernamen und einem Wort des Titels zitiert, das in der folgenden Liste hervorgehoben ist. ALAND, KURT/ALAND, BARBARA: Der Text des Neuen Testaments, Stuttgart ²1989. ALFÖLDY, GÉZA, Die Freilassung von Sklaven und die Struktur der Sklaverei in der römischen Kaiserzeit, in: Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der römischen Kaiserzeit, hg.v. HELMUTH SCHNEIDER, Darmstadt 1981, S.336– 371.

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Abgekürzt zitierte Literatur

ARZT, PETER, „… einst unbrauchbar, jetzt aber gut brauchbar“ (Phlm 11). Das Problem der Sklaverei bei Paulus, in: „… so lernen die Völker des Erdkreises Gerechtigkeit“. Ein Arbeitsbuch zu Bibel und Ökonomie, hg.v. KUNO FÜSSEL u. FRANZ SEGBERS, Luzern 1995, S.132–138. BALZ, HORST, Philemonbrief, TRE 26, 1996, S.487–492. BARCLAY, JOHN M. G., Paul, Philemon and the Dilemma of Christian SlaveOwnership, NTS 37, 1991, S.161–186. BARTCHY, S. SCOTT, Undermining Ancient Patriarchy: The Apostle Paul’s Vision of a Society of Siblings, BTB 29, 1999, S.68–78. BELLEN, HEINZ: Studien zur Sklavenflucht im römischen Kaiserreich, Wiesbaden 1971. BIEBERSTEIN, SABINE, Der Brief an Philemon. Brieflektüre unter den kritischen Augen Aphias, in: Kompendium Feministische Bibelauslegung, hg.v. LUISE SCHOTTROFF und MARIE-THERES WACKER, Gütersloh 1998, S.676– 682. BRADLEY, K. R., Slaves and Masters in the Roman Empire. A Study in Social Control, Bruxelles 1984. BROCKMEYER, NORBERT, Antike Sklaverei, Erträge der Forschung 116, Darmstadt 1979. DEISSMANN, ADOLF, Licht vom Osten. Das Neue Testament und die neuentdeckten Texte der hellenistisch-römischen Welt, 4. Aufl., Tübingen 1923. FINLEY, M. I., Die Sklaverei in der Antike. Geschichte und Probleme, München 1981. FRILINGOS, CHRIS, „For my Child, Onesimus“: Paul and Domestic Power in Philemon, JBL 119, 2000, S.91–104. HARRILL, J. ALBERT, Using the Roman Jurists to Interpret Philemon. A Response to Peter Lampe, ZNW 90, 1999, S.135–138. JONES, F. STANLEY, „Freiheit“ in den Briefen des Apostels Paulus. Eine historische, exegetische und religionsgeschichtliche Studie, Göttingen 1987. KRAUS, THOMAS J., Eine vertragsrechtliche Verpflichtung in Phlm 19. Duktus und juristischer Hintergrund, in: Steht nicht geschrieben? Studien zur Bibel und ihrer Wirkungsgeschichte. FS GEORG SCHMUTTERMAYR, hg.v. JOHANNES FRÜHWALD-KÖNIG u.a., Regensburg 2001, S.187–200. KRAUSE, JENS-UWE, Gefängnisse im Römischen Reich, Stuttgart 1996. LAMPE, PETER, Keine „Sklavenflucht“ des Onesimus, ZNW 76, 1985, S.135– 137.

Abgekürzt zitierte Literatur

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LAUB, FRANZ: Die Begegnung des frühen Christentums mit der antiken Sklaverei, Stuttgart 1982. LENHARDT, PIERRE / OSTEN-SACKEN, PETER VON DER, Rabbi Akiva. Texte und Interpretationen zum rabbinischen Judentum und Neuen Testament, Berlin 1987. LEUTZSCH, MARTIN, Apphia, Schwester!, in: Für Gerechtigkeit streiten. Theologie im Alltag einer bedrohten Welt. FS LUISE SCHOTTROFF, hg.v. DOROTHEE SÖLLE, Gütersloh 1994, S.76–82. OLLROG, WOLF-HENNING, Paulus und seine Mitarbeiter. Untersuchungen zu Theorie und Praxis der paulinischen Mission, Neukirchen-Vluyn 1979. RAPSKE, B. M., The Prisoner Paul in the Eyes of Onesimus, NTS 37, 1991, S.187–203. THEISSEN, GERD, Wert und Status des Menschen im Urchristentum, Humanistische Bildung 12, 1988, S.61–93. TRUMMER, PETER, Die Chance der Freiheit. Zur Interpretation des μᾶλλον χρῆσαι in 1Kor 7,21, Bib. 56, S.344–368. URBACH, EFRAIM ELIMELECH, The Laws Regarding Slavery as a Source for Social History of the Period of the Second Temple, the Mishnah and Talmud, New York 1979 (reprint; published Jerusalem 1964). VIELHAUER, PHILIPP: Geschichte der urchristlichen Literatur. Einleitung in das Neue Testament, die Apokryphen und die Apostolischen Väter, Berlin 1975. VOGT, JOSEPH: Sklaverei und Humanität. Studien zur antiken Sklaverei und ihrer Erforschung, Wiesbaden 1965. VOLLENWEIDER, SAMUEL, Freiheit als neue Schöpfung. Eine Untersuchung zur Eleutheria bei Paulus und in seiner Umwelt, Göttingen 1989. WALDSTEIN, WOLFGANG, Operae Libertorum. Untersuchungen zur Dienstpflicht freigelassener Sklaven, Wiesbaden 1986. WEILER, INGOMAR, Die Beendigung des Sklavenstatus im Altertum. Ein Beitrag zur vergleichenden Sozialgeschichte, Stuttgart 2003. WINTER, SARA C., Paul’s Letter to Philemon, NTS 33, 1987, S.1–15. Umfangreiche Literaturangaben finden sich in den Kommentaren von ARZTGRABNER auf S.9–35 und FITZMYER auf S.43–78 sowie weiter bei FITZMYER im Anschluss an die Besprechung jedes Abschnitts.

Erster Teil Einleitung 1. Vorbemerkungen Wie verhalten sich Theologie und gesellschaftliche Wirklichkeit zueinander? Dass Kirche und Gemeinden und die Menschen in ihnen zur gesellschaftlichen Wirklichkeit, in der sie leben, in einem wie immer gearteten Verhältnis stehen, ist keine Frage. Fragen aber sind, ob und wieweit dieses Verhältnis auch ein bewusst wahrgenommenes ist, ob und wieweit es ein auch von der Theologie her gestaltetes sein kann, ob und was Theologie bereits zur Wahrnehmung von Wirklichkeit beizutragen vermag. Diese Fragen stehen im Hintergrund bei der folgenden Kommentierung des kurzen Schreibens, das Paulus an Philemon gerichtet hat. Es erlaubt einen Blick auf einen Ausschnitt damaliger gesellschaftlicher Wirklichkeit: das Verhältnis zwischen Herren und Sklaven in den kleinen und noch ganz jungen Gemeinschaften, die aufgrund der Verkündigung entstanden, dass Jesus, von Gott nach seinem Tod am Kreuz auferweckt, der Messias sei. Wenn es auch heute noch in vielfältiger Form versklavtes Leben von Menschen faktisch gibt, in nicht wenigen Teilen der Welt auch institutionalisierte Kinderarbeit1, so gilt doch die institutionalisierte und somit legalisierte Sklaverei als ein überwundenes Stadium der Vergangenheit; und es dürfte niemanden geben, der sie positiv beurteilen wollte. Zur Zeit des Paulus aber war Sklaverei ein selbstverständliches Faktum. Die antike Wirtschaft beruhte zu einem wesentlichen Teil auf Sklavenarbeit2. Wie unentbehrlich sie aus der Sicht der Besitzenden erschien, zeigt sich etwa außerordentlich deutlich daran, dass Philon von Alexandria Sklaven für „einen ganz und gar und überaus notwendigen Besitz“ 1

2

Zur „neuen Sklaverei“ in der globalisierten Welt vgl. das Buch von KEVIN BALES, Die neue Sklaverei, München 2001, engl. 1999 unter dem Titel: Disposable People. New Slavery in the Global Economy. Doch ist darauf hinzuweisen, dass „Sklave“ in der griechisch-römischen Antike „ein juristischer Begriff (ist). Er stellt fest, daß ein Mensch Eigentum eines andern Menschen oder einer juristischen Person ist“ und sagt über dieses allerdings gewichtige Moment der Unfreiheit hinaus nichts aus über die tatsächliche Stellung und die tatsächlichen Lebensverhältnisse dieses Menschen in der Gesellschaft (HEINZ KREISSIG, Wirtschaft und Gesellschaft im Seleukidenreich. Die Eigentums- und die Abhängigkeitsverhältnisse, Berlin 1978, S.8; vgl. auch BRADLEY, Slaves, S.13–20). Die Spanne reicht von den Sklaven in den Bergwerken, die sich zu Tode arbeiten mussten, bis zu Kaisersklaven, die gleichsam Ministerrang hatten.

20

Erster Teil. Einleitung

hielt; „denn unzählige Dinge im täglichen Leben verlangen die Dienstleistungen von Sklaven“3. Die Perspektive, aus der hier gesprochen wird, liegt auf der Hand. Diese Sklavendienste lagen damals offen zutage: Dass es sie auch in unserer Welt immer noch gibt, ist keine Frage; nur sind sie in der globalisierten Welt für die von ihnen Profitierenden oft genug subtil verborgen. So wenig wie ein anderes Mitglied der auf Jesus bezogenen Gemeinden im ersten Jahrhundert, von denen Äußerungen auf uns gekommen sind, hat Paulus die Sklaverei zu einem ausdrücklichen Thema gemacht und abstrakt über sie gehandelt. Aber da zu diesen Gemeinden schon sehr früh sowohl Herren als auch Sklaven gehörten, war das Problem gestellt, wie sie sich im Leben der Gemeinde zueinander verhielten, ob die gesellschaftliche Rollenverteilung hier zu reproduzieren oder ob ein anderes Verhalten geboten sei. Es konnte nicht ausbleiben, dass Paulus mit diesem Problem – zumindest indirekt – konfrontiert werden würde. Einen konkreten Einzelfall hat das Schreiben an Philemon, der kürzeste erhaltene Paulusbrief, zum Anlass. Diesem Anlass, der Situation des Briefes, soll zunächst im ersten Teil, der Einleitung, nachgegangen werden. Aus dem kurzen Text des Briefes lassen sich die verschiedenen Aspekte der Situation nicht immer eindeutig erschließen. Aufgrund anderer antiker Quellen können Erwägungen angestellt werden, wie es hätte gewesen sein können. Solche Vermutungen sind keine müßigen Spekulationen. Zwar können sie nicht den uns im Philemonbrief überlieferten bestimmten Fall eindeutig erschließen, aber sie sind doch Annäherungsweisen an historische Wirklichkeit, vielleicht auch an uns nicht überlieferte „Fälle“, die es in ähnlicher Weise gegeben haben könnte. Wenn man auf die Erörterung solcher Möglichkeiten verzichtet und weiteres Fragen als bloße Spekulation abtut, verbleibt nur eine blasse Vorstellung der Wirklichkeit, und die paulinischen Ausführungen hängen in der Luft und bleiben abstrakt. Sie gewinnen erst Kontur, wenn man Möglichkeiten erschließt, wie es hätte sein können, aber im bestimmten Fall nicht unbedingt gewesen sein muss4. Die weiter unten vorgenommene hypothetische Erschließung der Situation ist daher kein Selbstzweck mit dem Anspruch, so sei es historisch gewesen, sondern hat eine heuristische Funktion. Ich werde dabei nicht alle denkbaren Möglichkeiten durchspielen, sondern versuchen, die mir am wahrscheinlichsten erscheinende so konkret, wie es geht, im Kontext gesellschaftlicher Wirklichkeit darzustellen. 3 4

Philo spec. II 123. SUHL vermerkt zu Recht: „Der Brief gewinnt sehr unterschiedliche Aussagekraft, je nachdem, mit welchem Hintergrund man mehr oder minder unbewußt rechnet“ (Komm., S.22).

2. Bezeugung und Text

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Nach Darlegungen zum Text und zur Bezeugung des Briefes sowie seiner zusammenhängenden Übersetzung und Überlegungen zu Form und Aufbau soll es also in diesem ersten Teil um seinen „Anlass“ im weitesten Sinn gehen: um Absender und Adressaten, um das zwischen ihnen Verhandelte und um ihre Orte und Zeiten. Das hinter dem Brief stehende Geschehen und das von ihm intendierte Ziel sind entscheidend bestimmt durch ein Dreiecksverhältnis: Paulus als Absender des Briefes, Philemon als Adressat und zwischen ihnen als „Verhandlungsgegenstand“ der Sklave Onesimus. Der Brief lässt vor allem das Beziehungsgeflecht zwischen diesen drei Personen erkennen. Sie haben je ihre eigene Situation und darin ihre Interessen, die nur teilweise konvergieren, teilweise einander zuwiderlaufen. Dabei sind Rechtsverhältnisse berührt, die die Sozialstruktur betreffen. Welches die jeweilige Situation und rechtliche Lage dieser drei Personen am Ausgangspunkt des Geschehens ist, das sie in Beziehung zueinander setzt, welche unterschiedlichen Interessen sie dabei haben und wie sich ihre Situationen und Interessen in der Entwicklung ihrer Beziehungen zueinander verändern, danach wird genau zu fragen sein. Das bildet den Hintergrund, auf dem dann im zweiten Teil die Auslegung gegeben wird, die verstehende und interpretierende Nachzeichnung der Argumentation, die Paulus in seinem Brief verfolgt. Schließlich soll im dritten Teil, einem Anhang, die eingangs gestellte Frage nach Theologie und gesellschaftlicher Wirklichkeit in einem Vergleich mit anderen Wahrnehmungen der Wirklichkeit noch einmal aufgenommen werden. Wenn das Schicksal eines Sklaven im Blick ist, geht es hintergründig oder offen um das Thema der Freiheit. Dazu haben – in anderen Horizonten, als es Paulus getan hat – auch andere Menschen seiner und der folgenden Zeit Gedanken geäußert, in denen man eine große Nähe zu denen des Paulus erkannt hat. Hier ist dann auf Seneca, Plinius den Jüngeren und vor allem auf Epiktet einzugehen. Neben den Gemeinsamkeiten wird aber auch auf die Unterschiede zu achten und danach zu fragen sein, worin sie begründet sind. Bei der Darstellung des Paulus kann es dabei keine Beschränkung auf den Philemonbrief geben, sondern es müssen auch die einschlägigen Äußerungen in 1Kor 7,17–24 herangezogen werden.

2. Bezeugung und Text Der Philemonbrief ist zuerst Mitte des 2. Jahrhunderts durch Markion bezeugt. Zusammen mit neun anderen Paulusbriefen und dem Lukasevangelium gehört er zum Kanon der Kirche Markions. Tertullian schreibt: „Diesem Brief allein

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Erster Teil. Einleitung

hat seine Kürze genützt, dass er der Fälscherhand Markions entging“; aus ihm hat er also keine „jüdischen Zusätze“ herausgestrichen5. Bedenkt man den geringen Umfang, muss der Philemonbrief als recht früh bezeugt gelten. Er findet sich auch im ältesten erhaltenen Kanonverzeichnis des Neuen Testaments, dem um 200 lateinisch geschriebenen und wahrscheinlich auf eine griechische Vorlage zurückgehenden Canon Muratori6. Unter den erhaltenen und bisher gefundenen neutestamentlichen Papyri enthalten nur der aus dem 3. Jahrhundert stammende Papyrus 87 und der erst um 700 geschriebene Papyrus 61 je ein Stück Text aus dem Philemonbrief7. Geboten wird er von den Codices Sinaiticus, Alexandrinus und Ephraemi Syri rescriptus, den großen Bibelhandschriften auf Pergament aus dem 4. und 5. Jahrhundert. Im Codex Vaticanus ist er nicht enthalten, weil dessen neutestamentlicher Text nach Hebr 9,14 abbricht. Zwischen Markion und den genannten Pergamenthandschriften gibt es natürlich noch weitere Bezeugungen des Philemonbriefes. Die angeführten Tatbestände vermögen jedoch die Annahme hinreichend zu begründen, dass dieser Brief von Beginn des neutestamentlichen Kanons an einen festen und unumstrittenen Bestandteil in ihm bildete. Der Textbestand bietet keine großen Schwierigkeiten. „Der griechische Text des Philemonbriefes ist von den Abschreibern durch die Jahrhunderte hindurch in bemerkenswerter Identität überliefert worden. Von den fünfundzwanzig Versen sind achtzehn ohne Varianten“8. Der Text der 27. Auflage des NESTLEALAND ist nicht nur mit dem der 25. Auflage völlig identisch9, sondern auch mit dem des NESTLE bis zurück zu der mir zugänglichen ältesten Auflage, der vierten von 1903. Die Varianten haben meistens kein inhaltliches Gewicht und lassen sich in der Regel mit sehr großer Wahrscheinlichkeit entscheiden. Nur an zwei Stellen ist m.E. eine ausführliche Besprechung nötig, bei V.6 und V.12. Dabei ist in V.6 zugleich das inhaltliche Verständnis schwierig. In V.6 ist die erste Vershälfte einheitlich bezeugt: „Möge deine selbstlose Treue sich auswirken in der Erkenntnis allen/jeden …“ Die Majuskeln Augiensis und Boernerianus sowie wenige weitere griechische Handschriften und die Vulgata Clementina haben dann zusätzlich das Wort „Werk“, sodass ihr Text an dieser Stelle lautet: „… in der Erkenntnis eines 5

6 7 8 9

Adversus Marcionem V 21,1. Vgl. ADOLF VON HARNACK, Marcion. Das Evangelium vom fremden Gott. Neue Studien zu Marcion, Darmstadt 1960 (= Marcion, Leipzig ²1924; Neue Studien, Leipzig 1923), S.127*. Vgl. NTApo I, 6. Aufl. 1990, S.27–29 und dazu S.20–22. Der Papyrus 87 bietet Phlm 13–15.24–25 und der Papyrus 61 Phlm 4–7. Vgl. ALAND/ALAND, Text, S.110.111; NESTLE-ALAND, Novum Testamentum Graece, S.687.689. FITZMYER, Komm., S.7. Der einzige – minimale – Unterschied, der nicht einmal textkritisch markiert ist, besteht in der Auslassung des letzten Alpha im Wort ¢ll£ in V.16 im Wechsel von der 25. zur 26. Auflage.

2. Bezeugung und Text

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jeden guten Werkes …“. Die Variante ist schwach bezeugt; die beiden genannten Handschriften werden der Kategorie III (von insgesamt fünf Kategorien) zugerechnet. Die Ergänzung ist naheliegend. Die zweite Vershälfte des im NESTLE-ALAND abgedruckten Textes wäre wörtlich so zu übersetzen: „… in Erkenntnis alles Guten, des unter uns auf Christus (hin).“ Der Artikel „des“ ist umstritten. Er wird nicht bezeugt vom Papyrus 61 (II), von den Pergamentcodices Alexandrinus (I), Ephraemi (II) und 048 (II), von den Minuskeln 33 (I) und 629 (III) sowie von der altlateinischen Handschrift f und zwei Vulgata-Ausgaben (Stuttgartiensis und Wordsworth/White). Anstelle von „des“ bieten „die“ die Minuskeln 1739 (I) und 1881 (II), die Altlateiner, Einzelhandschriften der Vulgata und der Ambrosiaster. Den Artikel „des“ bezeugen die Pergamentcodices Sinaiticus (I), Claromontanus (II), Augiensis (III), Boernerianus (III), Athous Laurensis (III) und 0278, die große Masse der übrigen griechischen Handschriften sowie die Vulgata Clementina und Hieronymus. Vom Gewicht der Zeugen her käme dem Fehlen des Artikels die Priorität zu. Aber die vorliegenden Varianten lassen sich dann in eine einsichtige Abfolge bringen, wenn der Artikel „des“ als ursprünglicher Text angenommen wird. Er fiel durch Haplographie weg, was in diesem Fall sowohl optisch als auch akustisch verursacht sein kann: Im griechischen Text folgen agathu („Guten) und tu („des) aufeinander. Der so entstandene Text ohne Artikel wurde von anderen Abschreibern als lückenhaft empfunden und durch Einfügung von „die“, auf „Erkenntnis“ bezogen, verbessert: „… in Erkenntnis alles Guten, die es unter uns/euch in Hinsicht auf Christus (Jesus) gibt.“ Statt „unter uns“ bieten „unter euch“ der Papyrus 61 (II), die Pergamentcodices Sinaiticus (I), Augiensis (III), Boernerianus (III), Porfirianus (III) und 0278, die Minuskeln 33 (I), 104 (III), 365 (III), 1505 (III), 1739 (I), 1881 (II) und weitere griechische Handschriften sowie die altlateinischen Handschriften a und b, Vulgata-Ausgaben (Clementina, Wordsworth/White), die syrische und die koptische Überlieferung. „Unter uns“ bezeugen die Pergamentcodices Alexandrinus (I), Epraemi (II), Claromontanus (II), Athous Laurensis (III) und – wie es scheint – 048 (II) samt der Masse der griechischen Handschriften sowie die Vulgata Stuttgartiensis, eine Randlesart der syrischen Charclensis und der Ambrosiaster. Gar nichts haben an dieser Stelle die Minuskel 629 (III) und Einzelhandschriften der Vulgata. Diese Lesart ist zu schwach bezeugt, um ernsthaft als ursprünglich betrachtet werden zu können. Bei den beiden anderen Varianten ist „euch“ gegenüber „uns“ qualitativ besser bezeugt. Beide Worte – hemín (uns) und hymín (euch) – wurden schon zur Zeit der Abfassung des Briefes gleich ausgesprochen (imín). Varianten ergaben sich so gleichsam von selbst. Wahrscheinlich hat Paulus an die Gesamtheit der auf Jesus bezogenen Gemeinschaft gedacht und nicht nur an die Gemeinde am Ort des Adressaten. Daher ist eher „unter uns“ als ursprünglicher Text anzusehen. Am Ende des Verses fügen nach „Christus“ noch „Jesus“ hinzu der zweite Korrektor im Sinaiticus, die Pergamentcodices Claromontanus (II), Augiensis (III), Boernerianus (III), Athous Laurensis (III) und 0278, die Minuskeln 1739 (I), 1881 (II) und die Masse der griechischen Handschriften, die Altlateiner und die Vulgata sowie die syrische Peschitta. Den Text ohne „Jesus“ bieten der Papyrus 61 (II), die Pergamentcodices Sinaiticus (in seiner ursprünglichen Fassung, I), Alexandrinus (I) und Ephraemi (II), die Minuskel 33 (I) und wenige weitere griechische Handschriften sowie die koptische Überlieferung und der Ambrosiaster. Bei der Hinzufügung handelt es sich um eine naheliegende Ergänzung; eine Auslassung wäre weniger wahrscheinlich. Von inhaltlichem Gewicht ist die Ursprünglichkeit des Artikels „des“. Es geht also bei

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Erster Teil. Einleitung

dem ihm Folgenden um eine Näherbestimmung von „allem Guten“: „das unter uns in Hinsicht auf Christus (als solches gilt)“. In V.12 ist nur der Anfang – im Griechischen zwei Worte – nicht umstritten: „Den schicke ich zurück.“ Eine Fortsetzung lautet: „… dir – ihn, das heißt mein Herz.“ Sie wird geboten von den Pergamentcodices Sinaiticus (in der ursprünglichen Fassung; I) und Alexandrinus (I), der Minuskel 33 (I) und wenigen anderen griechischen Handschriften. Augiensis (III) und Boernerianus (III) unterstützen im Prinzip diese Lesart, haben jedoch „du aber“ statt „dir“, sodass sich bei ihnen kein sinnvoller Text ergibt. In der ursprünglichen Fassung des Pergamentcodex Ephraemi wird der Text so fortgesetzt: „… dir; ihn, das heißt mein Herz, nimm auf!“ In einer dritten Variante hat der Text diese Fortsetzung: „… dir (dieses Wort haben von den nachher genannten aber nur der zweite Korrektor im Ephraemi, der Claromontanus [in der ursprünglichen Fassung] und wenige weitere griechische Handschriften); du aber nimm ihn, das heißt mein Herz, auf!“ Sie wird bezeugt vom jeweils zweiten Korrektor im Sinaiticus und Ephraemi, von den Pergamentcodices Claromontanus (II), Athous Laurensis (mit unerheblicher Abweichung; III) und 0278, von den Minuskeln 1739 (I), 1881 (II) und der Masse der griechischen Handschriften sowie von den meisten altlateinischen Handschriften und der Vulgata und von der syrischen Überlieferung. Eine vierte Variante lautet: „… dir (dieses Wort haben von den nachher genannten nicht: wenige griechische Handschriften und das Lemma bei Theodoret); du aber nimm ihn auf, das heißt mein Herz!“ Ihre Zeugen sind der Pergamentcodex 048 (II) und wenige weitere griechische Handschriften, sowie die altlateinische Handschrift g und ein Lemma bei Theodoret. Die an erster Stelle genannte Variante, die den kürzesten Text bietet, wird von nur wenigen, aber sehr guten Handschriften bezeugt. Sie dürfte den ursprünglichen Text darstellen. Es lässt sich erklären, wie aus ihr die übrigen Varianten entstanden sein können. Der Autor der zweiten Variante hat „ihn“ nicht als wiederholtes und nachgestelltes Objekt zu „zurückschicken“ verstanden, sondern als Beginn einer neuen Aussage und das dann vermisste Prädikat aus V.17 ergänzt. Bei der dritten und vierten Variante weist der jeweilige Wechsel im Bieten oder Auslassen von „dir“ auf die richtige Spur. Im schon zur Zeit der Abfassung des Briefes gesprochenen Griechisch haben „dir“ (soi) und „du“ (sý) dieselbe Aussprache (si). Wer es als „du“ verstand, setzte automatisch das anknüpfende dé („aber“) und musste das dann auch hier fehlende Prädikat ergänzen; das geschah an unterschiedlichen Stellen im Satz. Das Vorliegen von „dir“ und „du aber“ ist das Ergebnis der Kombination unterschiedlicher Vorlagen. Vgl. zu diesen Varianten auch ARZT-GRABNER, Komm., S.215f.

3. Übersetzung 1 Paulus, Gefangener Jesu Christi, und der Bruder Timotheus an den geliebten Philemon, unseren Mitarbeiter, 2 an die Schwester Aphia, an Archippus, unseren Mitstreiter, und an deine Hausgemeinde: 3 Freundlichkeit und Wohlergehen komme euch zu von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus! 4 Ich danke meinem Gott jedesmal, wenn ich deiner bei meinen Gebeten gedenke, 5 weil ich von deiner Liebe und Treue höre, die du

3. Übersetzung

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gegenüber dem Herrn Jesus und zu allen Heiligen hast; 6 möge deine selbstlose Treue sich auswirken in der Erkenntnis alles dessen, was bei uns in Hinsicht auf Christus als gut gilt! 7 Ja, ich bin sehr erfreut und ermuntert worden aufgrund deiner Liebe, weil das Herz der Heiligen durch dich erquickt ist, Bruder. 8 Daher, obwohl ich in Christus sehr freimütig reden und dir gebieten könnte, was deine Pflicht wäre, 9 verlege ich mich um der Liebe willen doch lieber aufs Bitten – und das ich, Paulus: ein alter Mann, jetzt aber auch Gefangener Jesu Christi. 10 Ich bitte dich für mein Kind – den ich in meiner Gefangenschaft gezeugt habe: Onesimus, 11 den dir ehedem Unnützen, jetzt aber dir und mir sehr Nützlichen. 12 Den schicke ich dir zurück – ihn, das heißt: mein Herz. 13 Den hätte ich gerne bei mir behalten, damit er mir an deiner Stelle in der durch das Evangelium veranlassten Gefangenschaft diene, 14 aber ohne dein Einverständnis wollte ich nichts machen, damit du das Gute nicht gleichsam aus Zwang tust, sondern freiwillig. 15 Vielleicht ist er ja deswegen für kurze Zeit entfernt gewesen, damit du ihn für immer zurück bekommst – 16 nicht mehr wie einen Sklaven, sondern mehr als einen Sklaven: sowohl im Alltag als auch im Herrn als einen geliebten Bruder; gar sehr ist er das für mich, um wieviel mehr für dich. 17 Wenn du mich nun zum Genossen haben willst, nimm ihn auf wie mich! 18 Wenn er dich irgend geschädigt hat oder dir etwas schuldet, setze das mir auf die Rechnung! 19 Ich, Paulus, schreibe mit eigener Hand: Ich will es erstatten – um dir nicht zu sagen, dass auch du selbst dich mir schuldest. 20 Ja, mein Bruder, ich möchte deiner froh werden im Herrn. Erquicke mein Herz in Christus! 21 Im Vertrauen auf deinen Gehorsam schreibe ich dir, weil ich weiß, dass du noch mehr als das tun wirst, was ich sage. 22 Zugleich halte mir auch eine Unterkunft bereit; ich hoffe nämlich, durch eure Gebete euch geschenkt zu werden. 23 Es grüßt dich Epaphras, mein Mitgefangener in Jesus Christus, 24 auch Markus, Aristarch, Demas und Lukas, meine Mitarbeiter. 25 Die Freundlichkeit des Herrn Jesus Christus sei mit eurem Geist!

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Erster Teil. Einleitung

4. Form und Aufbau Eine Person hat einen zwingenden Anlass, mit einer anderen in Kommunikation zu treten, kann das aber aufgrund räumlicher Trennung nicht anders als brieflich tun. Diese Situation ist für den Absender des Philemonbriefes gegeben; und so schreibt er. Was er in diesem Fall zu sagen hat, lässt sich auf zwei Papyrusblättern – vielleicht auch auf einem – unterbringen. Seine Schrift entspricht dem üblichen Briefformular. Am Beginn steht das Präskript (V.1–3), das Absender und Adressaten benennt sowie einen Gruß entbietet. Es folgt das Proömium (V.4–7). In ihm dankt der Absender Gott für die Existenz und den guten Stand des Adressaten und versichert diesen seines fürbittenden Gedenkens. Der Hauptteil des Briefes besteht aus einer in zwei Argumentationsgängen vorgetragenen Bitte (V.8–14 und V.15–20). Das Schreiben lässt sich also näherhin als Bittbrief charakterisieren. „Er nähert sich (unter den Paulusbriefen) am meisten dem antiken Privatbrief“10, lässt aber auch ‚offizielle‘ Töne anklingen. Der Schlussteil (V.21–25) enthält eine Vertrauensaussage des Absenders im Blick auf den Adressaten (V.21), die Ankündigung eines erhofften Besuchs (V.22), Grüße aus der Umgebung des Absenders (V.23f.) und den Schlussgruß (V.25).

5. Absender Als Absender ist Paulus angegeben, als Mitabsender Timotheus. Wo der Absender im weiteren Brief von sich spricht, gebraucht er jedoch durchgängig die erste Person Singular. Der an erster Stelle Genannte gibt sich damit als der eigentliche Verfasser des Briefes zu erkennen. Es gibt kein nachvollziehbares Argument dafür, dass dieser Brief nicht von Paulus verfasst worden sei. Er ist in einem sehr warmen Ton geschrieben und lässt die persönlichen Beziehungen des Absenders sowohl zum Adressaten als auch zum „Verhandlungsgegenstand“ deutlich hervortreten. Wäre der Brief eine Fiktion, müsste man für eine hypothetisch zu erschließende andere Zeit als die des Paulus eine analoge Situation postulieren; da liegt es ungleich näher, die im Brief enthaltenen Personalangaben zu akzeptieren. Nach V.19 schreibt Paulus eigenhändig; die Kürze des Briefes erlaubt es ihm. Röm 16,22 weist daraufhin, dass er seine Briefe üblicherweise diktiert 10

VIELHAUER, Urchristliche Literatur, S.173.

6. Adressat(en)

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hat. Das wird vor allem auch an Gal 6,11 deutlich. An dieser Stelle setzt Paulus, nachdem er vorher diktiert hat, zu einem eigenhändig geschriebenen zusammenfassenden Schlussabschnitt an, um dem Schreiben mit diesem persönlichen Einsatz größeren Nachdruck zu verleihen.

6. Adressat(en) Als erster Adressat des Briefes wird „der geliebte Philemon“ genannt, den Paulus als „unseren Mitarbeiter“ charakterisiert (V.1). In V.2 folgen als weitere Adressaten „die Schwester Aphia“ und ein als „unser Mitstreiter“ benannter Archippus. In welchem Verhältnis diese Personen zu Philemon stehen, lässt sich nicht erschließen; es fehlt dafür jeglicher Hinweis11. Am Ende von V.2 steht als Adressat schließlich noch „deine Hausgemeinde“. Der Singular in der Anrede, der sich auch durchgängig im weiteren Brief findet, macht deutlich, dass Philemon der eigentliche Adressat ist12. Dass er eine Hausgemeinde13 hat und für sie verantwortlich ist, kann erklären, dass Paulus ihn als „Mitarbeiter“ bezeichnet. Er hat bei den Mitgliedern seines Haushalts für den Glauben an Jesus Christus geworben und gibt den Gewonnenen in seinem Haus Raum und Form, diesen Glauben zu leben, er erhält diese Gemeinde in ihrer Existenz und fördert sie. Wahrscheinlich gehören zu dieser Gemeinde nicht nur Menschen aus seinem eigenen Haushalt, sondern auch aus anderen Häusern am Ort14. Weiter hat er sich durch karitative Tätigkeit an Jesusgläubigen über seine Hausgemeinde hinaus hervorgetan (V.5.7). Bei der Werbung für den Glauben an Jesus Christus kann er keinen Zwang ausgeübt haben; 11

12

13 14

Sie als Philemons Frau und Sohn anzusehen, mag für manchen naheliegen, ist aber eine völlig willkürliche Annahme. Vgl. LEUTZSCH, Apphia passim. Er beschreibt, wie schnell manche impliziten Gleichsetzungen Aphia die Rolle als unbedeutende Ehefrau Philemons eingebracht haben, und zeigt an ihrer Stellung in der Adresse und ihrer ausschließlichen Kennzeichnung als Schwester, dass sie eine hervorgehobene Stellung in der Gemeinde gehabt haben muss. In neueren Kommentaren zeigt sich eine Neigung, von den beiden altkirchlichen Zuschreibungen, Aphia sei die Ehefrau und Archippus der Sohn Philemons gewesen, die erste zu akzeptieren und die zweite für „reine Spekulation“ zu halten, obwohl unsere Unkenntnis in beiden Fällen gleich ist (vgl. z.B. HÜBNER, Komm., S.28; WOLTER, Komm., S.244). Dem entsprechen mit „An Philemon“ (und gelegentlichen weiteren Angaben) die superscriptio und die subscriptio der neutestamentlichen Handschriften. Diese Zuweisung „als Engführung zu kritisieren“ (so BIEBERSTEIN, Brief, S.682), ist deshalb nicht angebracht. Vgl. Röm 16,5; 1Kor 16,19; Kol 4,15. Zu den christusgläubigen Hausgemeinden vgl. HANSJOSEF KLAUCK, Hausgemeinde und Hauskirche im frühen Christentum, Stuttgart 1981. ARZT-GRABNER beobachtet, „dass die Mitglieder eines Hausverbandes in Papyrusbriefen nie“ mit der hier von Paulus gebrauchten Wendung kat’ oíkon bezeichnet werden; dort finden sich Formulierungen mit en oíko, oder es steht einfach oíkos. Er schließt daraus, dass in Phlm 2 „an eine Gemeinde zu denken“ ist, „die sich im Haus des Philemon traf, der aber nicht nur Angehörige aus dem Hausverband des Philemon angehörten“ (Komm., S.166).

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Erster Teil. Einleitung

denn sein Sklave Onesimus gehört zur Zeit, da er sich von Philemon entfernt, noch nicht zur Hausgemeinde dazu. Die Existenz der Hausgemeinde weist Philemon zugleich als Besitzer eines nach Raum und Personenzahl nicht kleinen Hauses aus. Der „Verhandlungsgegenstand“ des Briefes, der Sklave Onesimus, zeigt, dass er im Besitz mindestens eines Sklaven war. Dass der nicht sein einziger Sklave gewesen sein kann, lässt sich aus der Selbstverständlichkeit erschließen, mit der Paulus von Philemon erwartet, dass er ihm Onesimus als Mitarbeiter überlassen wird (V.14). Auf einen nicht zu gering zu veranschlagenden ökonomischen Standard weist gleichfalls die mit gleicher Selbstverständlichkeit vorgetragene Aufforderung des Paulus hin, ihm eine Unterkunft bereit zu halten (V.22). 7. Anlass und Ziel Der Ausgangspunkt des Geschehens, das schließlich zum Brief des Paulus an Philemon führt, besteht darin, dass sich der Sklave Onesimus von seinem Herrn Philemon „entfernt“ hat (V.15). Dabei kann es sich schlicht um Flucht handeln. Sklavenflucht war in der Antike ein verbreitetes Phänomen15. Es ist aber auch denkbar, dass der Sklave gar nicht die Absicht hatte, auf Dauer zu fliehen, sondern sich aufgrund eines Konfliktes zu einem Dritten begeben hat mit der Bitte zu vermitteln. Das wird beim Besprechen der Situation des Onesimus näher zu erörtern sein. Auf alle Fälle hat sich der Sklave „entfernt“; und aus der Sicht des Besitzers musste das zumindest zunächst als Flucht erscheinen. Nach LOHMEYER bewegt sich der Philemonbrief mit diesem Anlass „um ein geringfügiges Thema“16. Zumindest für den betroffenen Sklaven war es das nicht. Auch ein geflohener Sklave kann Grund gefunden haben, wieder zu seinem Herrn zurückzukehren – und sich dafür der Fürsprache eines Vermittlers zu versichern. Wie auch immer, Onesimus trifft jedenfalls mit Paulus zusammen und wird von ihm für den Glauben an Jesus Christus gewonnen (V.10). Er leistet dem Apostel nützliche Dienste; der findet Gefallen an ihm und möchte ihn gerne als seinen Mitarbeiter behalten (V.13). Doch liegt ihm dafür an der Zustimmung des Philemon (V.14). Deshalb schickt er den Sklaven zu seinem Herrn zurück mit der Bitte, ihn aufzunehmen, als wäre er Paulus (V.12.17), und in der Erwartung, dass er ihm als Mitarbeiter überlassen werde. 15 16

Vgl. BELLEN, Sklavenflucht. LOHMEYER, Komm., S.171.

8. Orte und Zeiten

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8. Orte und Zeiten Philemon lebte wahrscheinlich in Kolossae. Denn in Kol 4,9 wird ein Onesimus, der wohl mit dem Sklaven Onesimus des Philemonbriefes identifiziert werden darf, als „euer Landsmann“ gekennzeichnet; und in Kol 4,17 ist der in Phlm 2 als Mitstreiter genannte Archippus als Bewohner Kolossaes vorausgesetzt. Wenn Paulus in Phlm 19 sagt, dass sich Philemon als ganze Person ihm schuldet, gibt er damit zu verstehen, dass dieser durch ihn zum Glauben an Jesus Christus gekommen ist. Nach Kol 4,7–9 war Paulus nicht selbst in Kolossae; die dortige Gemeinde wurde durch Epaphras gegründet. Dann muss Philemon an einem anderen Ort mit ihm zusammengetroffen sein. Es liegt nahe, als diesen Ort Ephesus anzunehmen, da einerseits Besuche und Geschäftsreisen wohlhabender Bürger Kolossaes in die Provinzhauptstadt Ephesus gut denkbar sind und andererseits Paulus mehrfach in Ephesus war, vor allem einen sehr langen Aufenthalt dort von annähernd drei Jahren hatte, wahrscheinlich 52–55 n.Chr. (vgl. Apg 19)17. Ephesus ist auch der wahrscheinlichste Ort, an dem Paulus den Sklaven Onesimus kennen gelernt haben kann. Er ist zur Zeit der Abfassung des Philemonbriefes in Gefangenschaft (V.1.9f.). Die Apostelgeschichte berichtet von einer Gefangenschaft des Paulus in Cäsarea am Meer und in Rom. Beide Orte sind sehr weit von Kolossae entfernt. Es erscheint nicht als sehr wahrscheinlich, dass sie Zielpunkte für Onesimus hätten sein können – weder falls er geflohen und noch weniger falls er einen Vermittler für eine Intervention bei seinem Herrn suchte. Was die Apostelgeschichte für den langen Aufenthalt des Paulus in Ephesus berichtet, ist außerordentlich wenig. Aus der korinthischen Korrespondenz des Paulus gibt es deutliche Hinweise auf eine Gefangenschaft auch in Ephesus (1Kor 15,32; 2Kor 1,8). Wenn Paulus den Philemonbrief aus Ephesus schreibt, wird auch die Bitte einsichtig, ihm eine Unterkunft bereit zu halten (V.22). Bei der Annahme von Rom als Abfassungsort wäre das nicht nur im Blick auf die große Entfernung erstaunlich. Es passte auch nicht zur Absicht des Paulus, von Rom aus die Mission in Spanien in Angriff zu nehmen (vgl. Röm 15,23f.).

17

„Philemon scheint anläßlich eines Besuches in Ephesus bekehrt worden zu sein – vom Apostel Paulus selber (Phlm 19)“ (LAMPE, Komm., S.205).

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Erster Teil. Einleitung

9. Situationen und Interessen der beteiligten Personen a) Philemon Über Philemon ist schon im Abschnitt „Adressat(en)“ ausgeführt worden, dass er – wahrscheinlich in Kolossae – über ein nicht zu kleines Haus und Sklaven verfügte, einer Hausgemeinde vorstand und sich als Wohltäter an Christusgläubigen über seine Hausgemeinde hinaus hervorgetan hatte, also relativ wohlhabend gewesen sein muss. Aus seinem Haushalt hatte sich nun der Sklave Onesimus „entfernt“. Was immer seine Absicht dabei gewesen sein mag, für Philemon musste das zumindest zunächst als Flucht erscheinen. Welches Interesse er in dieser Situation hat, ist im Brief des Paulus nicht ausdrücklich gesagt, aber doch vorausgesetzt. Philemon wird das in solcher Situation selbstverständliche Interesse aller Sklavenbesitzer gehabt haben: die verlorene Arbeitskraft wieder zurück zu bekommen. Wenn Paulus in V.18.19a so stark betont, für eventuelle Schadensersatzansprüche Philemons selbst aufkommen zu wollen, könnte man das auch als Hinweis darauf lesen, dass es dieser in Vermögensdingen genau nahm. Die „Entfernung“ des Sklaven bewirkt in jedem Fall einen Schaden, nämlich den Arbeitsausfall während der Abwesenheit. Liegt tatsächlich eine Flucht vor, kommt auch bei erfolgter Rückkehr noch eine Wertminderung dazu für den Fall eines möglichen Weiterverkaufs; denn dann muss die Flucht als Mangel (vitiosum) angegeben werden18. Das für Philemon vorauszusetzende Interesse, den – wie er es verstehen musste – entlaufenen Sklaven wieder ins Haus zu bekommen, war vom geltenden Recht ganz und gar abgedeckt; darauf hatte er einen Rechtsanspruch. b) Onesimus Der Sklave Onesimus steht im Mittelpunkt des Briefes an Philemon; um ihn geht es. Sein Name war gebräuchlich für Sklaven19. Er hat die Bedeutung: der Nützliche. Das lässt annehmen, dass er schon als Sklave geboren worden ist. Wahrscheinlich war er im städtischen Haushalt des Philemon beschäftigt und hat nicht auf dessen eventuellem Landgut gearbeitet20. 18

19 20

Vgl. Horaz, Epistulae II 2,2–19. Dort wird der Fall gesetzt, dass ein Sklavenhändler einen Sklaven in den höchsten Tönen anpreist, schließlich aber auch angibt, dass er einmal „ausgeblieben“ sei. Horaz fährt fort: „Was wird geschehn? Du zahlst dein Geld, falls dich das Ausreißen nicht weiter stört; jener steckt seinen Gewinn ein – ich denke, ohne Sorge um Haftung: du hast ja wissentlich den Fehler mitgekauft; der Vorbehalt ist dir eröffnet“ (Übersetzung SCHÖNE). Vgl. die Belege bei ARZT-GRABNER, Komm., S.86f. Der mögliche Fall, sich aufgrund eines Konflikts mit seinem Herrn entfernt zu haben mit dem Ziel der Vermittlung durch einen Dritten, wäre bei einem Landsklaven nicht denkbar. Für den

9. Situationen und Interessen der beteiligten Personen

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Onesimus hatte sich nicht – wie andere im Haus – dem neuen Glauben seines Herrn angeschlossen, gehörte daher nicht zu dessen Hausgemeinde und nahm nicht an deren Versammlungen teil. Er entfernt sich nun nicht nur von seinem Herrn, sondern verlässt auch die Stadt Kolossae. Welcher Art ist diese „Entfernung“? Die heute öfter vertretene Ansicht, der Grund sei ein Konflikt des Sklaven mit seinem Herrn gewesen, weil sich Onesimus etwas habe zuschulden kommen lassen21, und nun wolle der Sklave eine auch von seinem Herrn geschätzte Person aufsuchen und sie bitten, in diesem Konflikt zu vermitteln22, ist denkbar. Aber sie scheint mir von den im Philemonbrief gegebenen Informationen nicht sonderlich stark gestützt zu werden. In diesem Fall müsste Paulus doch in irgendeiner Weise auf den Konflikt eingehen und zu seiner Klärung beitragen. Das tut er nicht. Was er aber außerordentlich betont tut, ist das Bitten darum, den Sklaven gut aufzunehmen. Dazu bestünde in der Tat aller Grund, wenn der Sklave entlaufen wäre; denn dann hätte er bei seiner Rückkehr alles andere als eine gastliche Aufnahme zu erwarten23. Vor allem aber kann ein Sklave, der sich unerlaubt aus dem ihm zugewiesenen Arbeitsbereich entfernt, doch nur dann glaubwürdig versichern, dass er nicht fliehen, sondern einen Vermittler zur Klärung eines Konflikts aufsuchen wollte, wenn diese Aktion lediglich einen kurzen Zeitraum beansprucht, die „Entfernung“ also auch räumlich allenfalls ein paar Straßenzüge ausmacht. Die Entfernung von Kolossä nach Ephesus mit ca. 170 bis 190 Kilometern24 schließt das aus. Die angeführten Texte stadtrömischer Juristen, dass ein sich um Vermittlung

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Fall einer Flucht hätte ein Landsklave eher versucht, auf einem anderen Landgut unterzukommen. Sklaven auf Landgütern waren ungleich schlechter gestellt als solche in städtischen Haushalten. Vgl. die Schilderung bei Columella, Landwirtschaft I,8f. Stadtsklaven konnten zur Strafe ins Arbeitshaus (ergastulum) auf dem Land gesteckt werden; vgl. Juvenal, Satiren VIII 179f. Noch schlimmer erging es den Sklaven in Bergwerken und auch in bestimmten Betrieben. Zu letzterem vgl. die Schilderung eines Mühlenbetriebes bei Apuleius, Metamorphosen IX 12,3f.: „Guter Gott, was gab es da für Kreaturen! Die ganze Haut mit blauen Striemen gezeichnet, den verprügelten Rücken mit ein paar verschlissenen Fetzen mehr betupft als bedeckt, einige nur mit einem winzigen Lendenschurz, – alle jedenfalls so angezogen, daß die Knochen durch die Lumpen zu sehen waren! Die Stirn gezeichnet, der Kopf halbrasiert, die Füße beringt; weiter, von Geisterblässe entstellt, die Lider vom Qualm und Dunst in der Stockfinsternis entzündet bis zur Trübung des Augenlichts; und wie Boxer, die sich zum Kampf mit einer Sandkruste pudern, alle vom Mehlstaub schmutzigweiß!“ (Übersetzung BRANDT/EHLERS). Das wird aus V.18f. geschlossen. Ein solcher Schluss ist aber alles andere als zwingend. Darauf wird gleich einzugehen sein; vgl. auch die Auslegung z.St. LAMPE, „Sklavenflucht“, S.135–137; aufgenommen und unterschiedlich weitergeführt von RAPSKE, Prisoner, passim; WOLTER, Komm., S.229–232. Vgl. weiter LAMPE, Komm., S.206f.; BALZ, Philemonbrief, S.489. Vgl. Näheres dazu u. S. 37. In den Kommentaren stehen unterschiedliche Angaben zur Entfernung zwischen Ephesus und Kolossä. Sie differieren zwischen „ungefähr 168 km“ bei FITZMYER (S.10) und „etwa 193 km“ bei LAMPE (S.205). Ich habe keine Möglichkeit der Nachprüfung. Für die Bewältigung dieser Entfernung zu Fuß in der Antike ist eine knappe bis gute Woche zu veranschlagen.

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Erster Teil. Einleitung

bei einem Freund des Herrn bemühender Sklave nicht als flüchtig gelten solle25, dürften dabei örtlich vor allem die Stadt Rom im Blick haben. Jedenfalls werden diese Juristen an eine Vermittlung im innerstädtischen Bereich und nicht an eine wochenlange Entfernung des Sklaven von seinem Herrn gedacht haben. Eine solche längere Zeit währende eigenmächtige Entfernung eines Sklaven musste aus der Sicht seines Herrn als Flucht gedeutet werden. In den Rechtstexten selbst findet sich der Hinweis, dass „der Unkundige“ jeden Sklaven, der sich auch nur über eine Nacht entfernt, für einen geflohenen hält. Die juristischen Unterscheidungen geben nicht das allgemeine Empfinden wieder26. Daher kann keineswegs gesagt werden: „Onesimus’ Gang zu Paulus ist nichts ‚Erstaunliches‘, sondern wird auch von anderen Sklaven in derselben Situation praktiziert“27. Ein Weg von 190 Kilometern hin und 190 Kilometern zurück dürfte kaum das in Vermittlungsversuchen üblicherweise praktizierte Verfahren gewesen sein28. Es spricht also m.E. wesentlich mehr für die traditionelle Annahme, dass hier der Fall von Sklavenflucht vorliegt29. Dafür muss Onesimus einen Grund gehabt haben. Der Grund für die Flucht des Sklaven Onesimus lässt sich aus dem Philemonbrief leider nicht erschließen. Denkbar sind mehrere Gründe. Es kann ganz schlicht das Verlangen nach Freiheit gewesen sein, das sich aus irgendeinem Anlass in der Flucht manifestierte. „Denn“ – wie Philon von Alexandria formuliert – „für einen Sklaven gibt es kein größeres Gut als Freiheit“ (Philo spec. II § 84). Dion Chrysostomos formuliert: „Am allermeisten verlangen die Menschen danach, frei zu sein, und behaupten, die Freiheit sei das höchste Gut, die Sklaverei jedoch die größte Schande und das größte Unglück“ (14,1). Über den Wunsch von

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Vgl. die Texte bei LAMPE, „Sklavenflucht“, S.135f. Gegen LAMPE wendet HARRILL grundsätzlich ein, dass man aus den in den Digesten überlieferten Rechtssätzen aus dem akademischen Recht nicht auf die konkrete Rechtspraxis und die soziale Situation zurückschließen könne (Using, S.135–138). RICHARD GAMAUF spricht im Blick auf solche Fälle von der „umsichtige(n) Behandlung … durch die Jurisprudenz …, welche Nachteile für die in Anspruch genommene Person (actio servi corrupti) und den dominus (Wertverlust eines fugitivus) gleichermaßen vermeiden wollte“ (Zur Frage ‚Sklaverei und Humanität‘ anhand von Quellen des römischen Rechts, in: Fünfzig Jahre Forschungen zur antiken Sklaverei an der Mainzer Akademie 1950–2000. Miscellanea zum Jubiläum, hg.v. HEINZ BELLEN und HEINZ HEINEN, Stuttgart 2001 [S.51–72], S.67). Darauf weist BARCLAY hin (Komm., S.102). LAMPE, „Sklavenflucht“, S.135. Die von LAMPE auch angeführten Briefe des Plinius an Sabinianus („Sklavenflucht“, S.135, Anm. 4) bieten zwar eine gewisse Analogie (s. dazu u. Teil III, Abschnitt 1), aber gerade nicht in rechtlicher Hinsicht, da es bei dem dortigen Bittsteller um einen Freigelassenen geht, der zu einem guten Teil über seine Zeit selbst verfügen kann. Vgl. auch die ausführliche Kritik an LAMPE in New Documents 8, S.41–43. Gegenüber der auch schon vertretenen Meinung, Onesimus habe sich überhaupt nicht eigenmächtig entfernt, sondern sei von der Gemeinde in Kolossä zur Unterstützung des gefangenen Paulus geschickt worden (WINTER, Letter, S.2–5), weist BARCLAY auf die Verse 11 und 18 und stellt zu Recht fest: „Es ist nahezu unbegreiflich, dass Paulus solche negativen Details im Blick auf seinen Schützling erwähnen würde, wenn sie nicht ein größeres Hindernis im Verhältnis zwischen Philemon und Onesimus wären“ (Paul, S. 164).

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Sklaven nach Freiheit als einem elementaren Bedürfnis vgl. ausführlich WEILER, Beendigung, S.115–145; über Motive zur Flucht handelt er S.147–154. Die Flucht des Onesimus muss nicht unbedingt ein schlechtes Licht auf Philemon als Herrn werfen, auf alle Fälle aber auf das System, das auch unter Herren, die an Jesus Christus glaubten, Grund zur Flucht gab. Wie systemimmanent Sklavenflucht war, geht aus einer Bemerkung Senecas hervor, wenn er in einem Brief seinen Adressaten im Blick auf entlaufene Sklaven so tröstet: „Nichts davon ist ungewohnt, nichts unerwartet: sich durch derartige Vorkommnisse kränken zu lassen ist so lächerlich, wie sich zu beklagen, daß du im Bad gespritzt oder in der Öffentlichkeit belästigt oder mit Kot beschmutzt wirst“ (Epistulae 107,2; Übersetzung ROSENBACH). Zu möglichen Fluchtgründen für Sklaven vgl. New Documents 8, S.36f.

Oft wird erwogen, die Flucht könnte im Zusammenhang mit einer Straftat des Onesimus erfolgt sein, sei es, dass er sich in irgendeiner Weise – etwa durch Unterschlagung – vergangen hatte und sich durch die Flucht der Bestrafung entziehen wollte, sei es, dass er unmittelbar vor der ohnehin geplanten Flucht in die Kasse gegriffen hatte, um seine materielle Versorgung für die erste Zeit seiner Flucht sicherzustellen30. Die Straftat wäre dann entweder Anlass zur Flucht oder ihr Begleitumstand. Anhalt scheint diese Vermutung vor allem an V.18 zu haben: „Wenn er dich irgend geschädigt hat oder dir etwas schuldet …“ Die Formulierung des griechischen Textes lässt es jedoch offen, ob das tatsächlich der Fall gewesen ist. Paulus hat ja ausführlich mit Onesimus gesprochen. Hätte dieser einen Griff in die Kasse getan, müsste Paulus dann nicht anders formulieren, nämlich nicht in einem Bedingungssatz, sondern feststellend? Paulus dürfte deshalb den möglichen Fall der Schädigung bzw. Schuld setzen, weil er an den Tatbestand denkt, den Philemon in der Tat als Schädigung oder Schuld anführen kann, dass es nämlich durch die Flucht des Onesimus zum Arbeitsausfall31 und zur Wertminderung im Falle des Wiederverkaufs gekommen ist. Wenn Philemon das in Anschlag zu bringen beabsichtigt, dann will Paulus dafür einstehen32. Weshalb auch immer Onesimus entlaufen sein mag, seit seiner Flucht befindet er sich jedenfalls in einer permanenten Unrechtssituation. Er muss davon ausgehen, dass sein Herr Anzeige erstattet, dass nach ihm gefahndet wird, dass 30

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Letzteres scheint geradezu üblich gewesen zu sein. So schreibt Epiktet, dass fliehende Sklaven „nur wenig für die ersten Tage heimlich entwenden“ und sich dann durchzuschlagen verstehen (Dissertationes III 26,1). Vgl. auch Horaz, der den fragt, der nie genug Geld haben kann: „Daß du schlaflos liegst in Todesängsten, dich Tag und Nacht graulst vor schändlichen Spitzbuben, vor Brandstiftungen, vor den Sklaven mit ihren Raub- und Fluchtgelüsten, ist das etwa Genuß?“ (Satiren I 1,76–78; Übersetzung SCHÖNE) Enger am lateinischen Text wäre die Aussage über die Sklaven so zu übersetzen: „… vor Sklaven, dass sie dich nicht berauben, wenn sie fliehen“. So z.B. LOHMEYER, Komm., S.190. Gegen ein solches Verständnis spricht auch nicht V.11; denn das einstige „Nichtsnutz“-Sein des Onesimus wird von einer Perspektive her ausgesagt, in der er sich schon für Paulus als „nützlich“ erwiesen hat. Als „Unnützer“ hat er sich für Philemon in jedem Fall durch die Flucht gezeigt.

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es eventuell öffentliche Anschläge gibt mit der Beschreibung seiner Person und der Angabe einer Fangprämie. Aus Ägypten ist ein datierter Steckbrief auf zwei entflohene Sklaven erhalten (156 v.Chr.): „Am 16. Epeiph des 25. Jahres ist ein Sklave des Gesandten Aristogenes, des Sohnes des Chrysippos, aus Alabanda, in Alexandrien entlaufen, dessen Name Hermon ist, auch Neilos genannt, von der Herkunft Syrer aus Bambyke, ca. 18 Jahre alt, von Statur mittelgroß, bartlos, mit festen Waden, einem Grübchen im Kinn, einem Mal links neben der Nase, einer Narbe über dem linken Mundwinkel, auf dem rechten Handgelenk mit zwei nichtgriechischen Buchstaben gezeichnet; mit sich führend 3 Minenstücke in Gold, 10 Perlen, einen eisernen (Hals-)Ring, auf welchem ein Ölfläschchen und Schabeisen (abgebildet sind), und um den Leib ein Unterkleid und einen Schurz. Wer diesen zurückbringt, wird 2 [3 (von zweiter Hand nachträglich erhöht)] Kupfertalente erhalten, wer ihn in einem Heiligtum nachweist 1 [2] Talente, bei einem zahlungskräftigen und belangbaren Mann 3 [5] Talente. Wer will, soll Anzeige bei den Untergebenen des Strategen erstatten. Ferner ist da der mit ihm entlaufene Bion, Sklave des Kallikrates, eines der Archihypereten bei Hofe, von kleiner Statur, breit in den Schultern, mit kräftigen Waden, helläugig, der mit einem Umhang und einem Sklavenmantel, einer Frauenbüchse im Wert von 6 Talenten und 5000 Kupferdrachmen entflohen ist. Wer ihn beibringt, wird ebensoviel erhalten wie für den Obengenannten. Anzeige soll auch seinetwegen bei den Untergebenen des Strategen erstattet werden“ (Griechische Papyri, Nr. 123, S.298–300; Übersetzung HENGSTL). Nach New Documents 8, S.13, entspricht die zuerst angegebene Belohnung von zwei Talenten „nahezu dem Jahresverdienst eines gewöhnlichen Arbeiters“. Vgl. ebd. S.9f. zwei weitere, fragmentarisch erhaltene Steckbriefe. Petronius schildert eine Szene, in der ein Ausrufer mit einem Staatssklaven auf der Suche nach einem entlaufenen Sklaven in einer Herberge auftritt. Er ruft aus: „Ein Knabe ist kurz zuvor im Bad entwichen, ungefähr 16 Jahre alt, ein Krauskopf, verzärtelt, von schöner Gestalt, namens Giton. Wenn jemand willens ist, ihn zurück- oder anzugeben, empfängt er tausend Nummi (= Sesterze).“ Der Herr des entlaufenen Sklaven steht mit dem Belohnungsgeld bereit. Alle Zimmer werden durchsucht (Satyrica 97,1–98,1). Eine Parodie auf die öffentliche Ausrufung einer entlaufenen Sklavin findet sich bei Apuleius, Metamorphosen VI 7,1–8,3.

Die Möglichkeiten, die Sklaven nach ihrer Flucht ergreifen konnten, lassen sich in folgender Weise systematisieren: 1. Sie können sich einer Räuberbande anschließen33. 2. Sie können in der Subkultur einer Großstadt untertauchen und dort eine Existenz zwischen Bettelei und Gelegenheitsarbeit fristen34. 3. Sie 33

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Augustus sagt in seinem Rechenschaftsbericht über den Krieg gegen die Seeräuber, dass er „von den Sklaven, die ihren Herrn entlaufen waren und Waffen wider den Staat ergriffen hatten, etwa dreißigtausend gefangen und ihren Besitzern zur Bestrafung übergeben“ habe (Res gestae V 25; Übersetzung WEBER). Vgl. VOGT, Sklaverei, S.51: „Es gab organisiertes Räuberwesen in der Antike zu allen Zeiten, … immer und überall eine Form des Widerstandes gegen die Plutokratie der Stadtbürger, eine Eruption urmenschlichen Gleichheitsverlangens in einer auf Sklaverei gegründeten Gesellschaft.“ Juvenal beschreibt eine große Garküche, in der sich Jugendliche herumtreiben, die eigentlich fähig wären, das Reich zu verteidigen, „bei Tische liegend mit irgendeinem Mörder, gemischt unter Matrosen, Diebe und entflohene Sklaven, zwischen Henkersknechten und Schreinern von

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können aber auch versuchen, einen neuen Herrn zu finden, bei dem ihnen die Arbeitsbedingungen annehmbarer erscheinen. Doch wer so handelt, ist auch dann noch im Bereich der Illegalität, ebenso der neue Herr, der sich damit des plagium schuldig machte, der Herrschaftsanmaßung über einen ihm nicht rechtens gehörenden Sklaven35. 4. Auf legale Weise können entlaufene Sklaven einen neuen Herrn finden, wenn sie einen Asyltempel als Vermittlungsinstanz in Anspruch nehmen36. 5. Es konnte auch versucht werden, Unterschlupf als Sklave eines anderen Herrn in dessen Landgut zu finden. Aber das wird kaum ein städtischer Sklave getan haben37. 6. Schließlich war es möglich, ins „barbarische“ Ausland zu fliehen, also in Bereiche außerhalb der Grenzen des Imperium Romanum. Doch das werden nur Sklaven versucht haben, die von dort verschleppt waren. Welche dieser Möglichkeiten wählt der Sklave Onesimus? Aus dem Philemonbrief ergibt sich als einziges sicheres Indiz, dass er mit Paulus zusammengetroffen ist. Von daher dürfte also anzunehmen sein, dass Onesimus von Kolossae in die Provinzhauptstadt Ephesus geflohen ist. Was wollte er in Ephesus? Rückschlüsse darauf können wiederum von einem sicheren Faktum ausgehen, das bestimmte Möglichkeiten ausschließt: Paulus ist Gefangener; und im Gefängnis hat er den Sklaven für den Glauben an Jesus Christus gewonnen. Das schließt zunächst die Möglichkeit aus, Onesimus sei festgenommen und in dasselbe Gefängnis eingeliefert worden wie Paulus. In diesem Fall könnte Paulus unmöglich im Blick auf Onesimus schreiben: „Den schicke ich dir zurück“ (V.12) und dessen Rückkehr als eine freiwillige erscheinen lassen. Es wäre ihm auch nicht möglich, zu formulieren: „Den hätte ich gerne bei mir behalten …, aber ohne dein Einverständnis wollte ich nichts machen“ (V.13f.).

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Totenbahren und den schweigenden Trommeln eines rücklings hingestreckten Cybelepriesters. Gleiche Freiheit herrscht dort, gemeinsame Becher gibt es, keiner hat ein eigenes Sofa und niemand einen separaten Tisch“ (Satiren VIII 173–178; Übersetzung ADAMIETZ). Nach FINLEY darf man am Erfolg der „immer brutaleren Bestimmungen über Suche und Ergreifung“ geflohener Sklaven „zweifeln, wenn es darum ging, die Unterwelt in den Städten durchzukämmen“ (Sklaverei, S.135). Vgl. auch den im vorigen Exkurs zitierten Steckbrief, in dem diese Möglichkeit angegeben ist, und dazu New Documents 8, S.15f. Für die Zeit des Tiberius berichtet Tacitus: „Es kam … immer häufiger in den Griechenstädten vor, daß willkürlich und unbeschränkt Asyle errichtet wurden; es füllten sich die Tempel mit dem schlimmsten Sklavengesindel …“ Der Senat beschließt, dass die entsprechenden Gemeinden die Rechtsgrundlagen vorlegen sollten (Annalen III 60,1–2; Übersetzung HELLER). Die Vertreter von Ephesus machen als erste im Senat entsprechende Darlegungen für den Artemistempel (ebd. 61). Hinsichtlich der anerkannten Heiligtümer fasst der Senat Beschlüsse, „in denen unter vielen Respektsbezeugungen doch ein bestimmtes Maß vorgeschrieben wurde“ (ebd. 63,4). Dass Tempel entlaufene Sklaven auch unterschlagen konnten, zeigt der im vorigen Exkurs zitierte Steckbrief. Vgl. dazu die Ausführungen in New Documents 8, S.14f. Vgl. o. Anm. 20.

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Außerdem hätte sich Onesimus als Mitgefangener dem Paulus kaum „nützlich“ erweisen (V.11) und ihm Dienstleistungen erbringen können (V.13). Sodann ist die Möglichkeit ausgeschlossen, dass sich Paulus und Onesimus zufällig getroffen haben. Dass ein entlaufener Sklave ausgerechnet das Gefängnis aufsucht, ohne damit eine für ihn äußerst wichtige Besuchsabsicht zu verbinden, ist nicht gut vorstellbar. Daher muss angenommen werden, dass Onesimus ganz bewusst Paulus im Gefängnis aufgesucht hat. Das aber setzt wiederum voraus, dass er Paulus bereits kannte oder zumindest von ihm als jemanden wusste, der Einfluss auf seinen Herrn hatte. Im ersten Fall könnte er seinen Herrn auf einer Reise nach Ephesus begleitet haben. So würde auch die ihm dann schon vertraute Stadt als Ziel seiner Flucht verständlicher. Im zweiten Fall hat er im Haus Philemons in Kolossae erfahren, dass dessen religiöse Wandlung und die darauf erfolgenden Veränderungen im Haus durch Paulus verursacht worden waren. In jedem Fall aber wird es nicht von vornherein Ziel seiner Flucht gewesen sein, Paulus aufzusuchen. Das setzte einen schwerwiegenden Konflikt im Verhältnis zu Philemon voraus, den er durch Intervention des Paulus beizulegen hoffte. Darauf aber geht dessen Brief nirgends ein; der hat vielmehr, wie die Wendung: „Den schicke ich dir zurück“ (V.12) zeigt, die Flucht selbst zum Anlass. Wenn also Onesimus Paulus bewusst aufsucht, das aber nicht von Anfang an mit seiner Flucht beabsichtigt war, kann die Intention dieses Besuches nur darin bestehen, Paulus als Fürsprecher für eine günstige Aufnahme durch Philemon bei der von Onesimus selbst inzwischen gewollten Rückkehr zu gewinnen. Es ist leicht vorstellbar, dass die Erfahrungen des Lebens auf der Flucht den Sklaven zu diesem Entschluss bewegt haben. Er war in die Großstadt Ephesus gegangen. Dort musste er sich nun selbst durchschlagen: für seinen Unterhalt und für Übernachtungsmöglichkeiten sorgen – sicherlich kein angenehmes Leben38. Dabei musste er immer gewärtigen, entdeckt und dann zu seinem Herrn zurückgebracht zu werden, was in der Regel mit empfindlichen Strafen verbunden war.

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Epiktet schreibt in der Fortsetzung des Anm. 30 gebrachten Zitates: „Eilen sie (die entlaufenen Sklaven) dann (nach der Flucht) nicht zu Land und Wasser dahin, wobei sie von der einen zur anderen Gelegenheit Kniffe finden, sich durchzubringen? Und ist etwa je ein Ausreißer Hungers gestorben?“ (Dissertationes III 26,1f.) Vgl. auch I 9,8: „Und wie (ernähren sich) die Sklaven, wie die Ausreißer? Worauf setzen die ihr Vertrauen, wenn sie ihren Herren weglaufen? Auf Landgüter, Gesinde oder Silbergeschirr? Auf nichts als auf sich selbst! Und doch mangelt es ihnen nicht an Nahrung.“ Allerdings wird man sagen müssen, dass Epiktet hier im Interesse seiner Betonung von Selbstgenügsamkeit „schönt“. In Wirklichkeit werden entlaufene Sklaven oft genug empfindlichen Mangel gespürt haben.

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Als Strafen für entlaufene Sklaven scheinen zumindest Prügel üblich gewesen zu sein. In der in Anm. 18 zitierten Stelle bei Horaz sagt der Sklavenhändler: „Ein einziges Mal ist der Kerl ausgeblieben und hat sich, wie es so geht, unter der Treppe versteckt aus Angst vor der winkenden Knute“ (Epistulae II 2,14f.; Übersetzung SCHÖNE). Vgl. ebd. I 16,46f.: „‚Ich bin kein Dieb, kein Ausreißer‘, sagt mir der Sklave. ‚Das ist dir auch gelohnt‘; erwidre ich, ‚die Knute brennt dir keine Striemen auf.‘“ Verbreitet war es auch, wieder eingefangene Sklaven zu brandmarken. Nach Galenos war es üblich, entlaufene Sklaven an den Beinen zu brennen, zu ritzen und zu schlagen, diebische an den Händen, gefräßige am Bauch, geschwätzige an der Zunge; „mit einem Wort: man züchtigt jene Körperteile, mit denen sie die schlechten Handlungen ausführen“ (De Hippocratis et Platonis placitis VI [gegen Ende]). Wesentlich schlimmer erging es nach Sueton, Caligula 32,2, einem Sklaven, dem wegen des Diebstahls einer silbernen Platte bei einem öffentlichen Gastmahl die Hände abgehackt und umgehängt wurden: „Dann sollte er zwischen der Gesellschaft der Leute, die gerade speisten, herumgeführt werden, wobei man eine Tafel vorantrug, auf der der Grund für die Strafe zu lesen war“ (Übersetzung MARTINET). Eine mögliche Strafe war auch die Versetzung in harte Arbeit. Das zeigt eine Stelle bei Plutarch: „Als jemand nach langer Zeit seinen entlaufenen Sklaven erblickte und ihn verfolgte, sagte er, als der eiligst seine Zuflucht in einem Mühlenhaus suchte: Wo denn sonst als hier wollte ich dich lieber antreffen!?“ (Moralia 144a) Freiwillige und reumütige Rückkehr konnte die Strafe mildern. Vgl. Petronius, Satyrica 107,4: „Selbst ein böser und unerbittlicher Hausherr hält seine Grausamkeit im Zaum, wenn einmal Reue den entlaufenen Sklaven zurückführt“ (Übersetzung MÜLLER/EHLERS). In der im vorigen Exkurs genannten Parodie bei Apuleius kehrt Psyche zu ihrer Herrin Venus freiwillig zurück: „Als sie sich schon der Tür ihrer Herrin nähert, begegnet ihr eine aus dem Gesinde der Venus, mit Namen Vertrautheit, und ruft gleich, so laut sie kann: ‚Beginnst du liederliche Magd endlich zu begreifen, daß du eine Herrin hast? Oder tust du, unüberlegt wie du dich immer benimmst, als ob du auch das nicht wüßtest, welche Scherereien uns all das Fahnden nach dir gemacht hat? Gut aber, daß du justament in meine Hände gefallen und jetzt genau im Höllenschnapptor hängen geblieben bist, – natürlich mußt du für eine solche Unverschämtheit auf der Stelle büßen.‘ Und frech fuhr sie ihr mit der Hand in die Haare und zerrte sie, ohne dass sie sich überhaupt wehrte. Sobald Venus sie vorgeführt und sich gegenübergestellt sah, erhob sie ein breites Gelächter … Und dann: ‚Wo sind Kümmernis und Traurigkeit, meine Mägde?‘ Als diese herbeigerufen waren, übergab sie ihnen Psyche zur Folterung. Die folgen dem herrschaftlichen Gebot, schlagen die Arme mit Geißeln, peinigen sie mit sonstigen Foltergeräten und führen sie wieder der Herrin vor. … (Schließlich, nach verbalem Spott) fährt sie auf sie los, reißt ihr das Kleid in lauter Fetzen, zerzaust ihr Haar und schlägt heftig zu, daß ihr Hören und Sehen vergeht“ (Metamorphosen VI 8,5–9,1.3; 10,1). Als Gegenbild des gefassten und konzentrierten Menschen beschreibt Epiktet die Angst des entlaufenen Sklaven, entdeckt zu werden. Er richtet im Theater seine Aufmerksamkeit nicht nur auf die Darbietungen, sondern blickt sich zugleich ängstlich um und gerät in Furcht und Schrecken, wenn er nur das Wort „Herr“ vernimmt. Alles, was er tut, tut er mit Furcht und Zittern (Dissertationes I, 29,59.62). An anderer Stelle zeichnet er das Bild des Sklaven, der es nicht erwarten kann, freigelassen zu werden: „Wenn ich freigelassen bin, sagt er, läuft sofort alles gut, achte ich auf niemanden, mit allen rede ich von gleich zu gleich, ich reise, wo ich will, ich komme, woher ich will und wohin ich will. Dann wird er freigelassen – und sogleich weiß er nicht, wo er essen soll, er sucht, wem er schmeicheln,

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bei wem er speisen könne.“ Epiktet erwähnt dann u.a. die Möglichkeit der Prostitution und lässt schließlich den Freigelassenen die Sklaverei herbeisehnen: „Was war denn schlecht für mich? Ein anderer gab mir Kleidung, gab mir Schuhe, gab mir Nahrung, pflegte mich bei Krankheit; wenig habe ich ihm dienen müssen. Jetzt aber, was leide ich Unglücklicher, indem ich mehreren Herren Sklavendienste leiste statt einem?“ (Dissertationes IV 1,33–37) Die Situation des entlaufenen Sklaven war dadurch noch ungleich schwieriger als die des Freigelassenen, dass er ja in der Illegalität leben musste.

Der Wunsch eines entlaufenen Sklaven, in das alte Dienstverhältnis zurückzukehren, wird jedenfalls verständlich, zumal freiwillige Rückkehr Strafmilderung bewirken konnte. Der Sklave durfte sogar auf Straffreiheit hoffen, wenn er die Fürsprache eines einflussreichen Freundes seines Herrn gewann39. So mögen die Schwierigkeiten der Situation des Lebens in der Subkultur von Ephesus auch dem Onesimus den Gedanken an Rückkehr nahegelegt haben; und so wird er überlegt haben, wie er sie für sich möglichst positiv gestalten könne. Da hat er an den religiösen Wandel seines Herrn gedacht und an den, der ihn bewirkte und somit großen Einfluss auf Philemon haben musste. Onesimus kann bereits in Kolossae erfahren haben, dass sich Paulus in Ephesus in Haft befindet. Er kann aber auch gewusst oder in Erfahrung gebracht haben, wo sich die an Jesus Christus Glaubenden in Ephesus versammeln, und dort über den Aufenthaltsort des Paulus informiert worden sein. Jedenfalls sucht er ihn im Gefängnis auf. Dabei braucht es nicht von vornherein seine Absicht gewesen zu sein, unter Umständen den religiösen Wandel seines Herrn für sich selbst nachzuvollziehen. Aber sein Interesse, Paulus als Fürsprecher zu bekommen, musste die Bereitschaft zu einem solchen Schritt fördern. Er ist schließlich vollzogen worden. Dieses Faktum sowie die Bemerkung des Paulus, dass sich Onesimus ihm nützlich erwiesen habe (V.11), als auch sein Wunsch, ihn als Mitarbeiter zu behalten (V.13), setzen voraus, dass es nicht bei einem einmaligen Besuch geblieben ist. Dieser Wunsch des Paulus macht es auch evident, dass es zu einem guten persönlichen Verhältnis zwischen ihm und Onesimus gekommen ist. Das wird noch dadurch unterstrichen, dass er sich in seinem Brief geradezu mit ihm identifiziert (V. 12.17). Bei dem Sklaven Onesimus zeigen sich also im Laufe des Geschehens wechselnde Interessen. Zunächst hat er den Wunsch, seinem Herrn zu entlaufen, den er in die Tat umsetzt. Die Erfahrungen des schwierigen Lebens in der Illegalität, wahrscheinlich in der Subkultur von Ephesus, legen ihm aber die 39

Vgl. BARCLAY, Paul, S.165 Anm. 16: „Wenn Onesimus seine Flucht bereute, dürfte er darum bemüht gewesen sein, einen bei seinem Herrn möglichst beliebten Freund aufzufinden, der als Vermittler agieren konnte.“

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Rückkehr zu seinem Herrn nahe. Um diese Rückkehr für sich möglichst straffrei zu gestalten, wendet er sich an Paulus, um ihn als Fürsprecher zu gewinnen. Doch die Begegnung mit Paulus verändert sein Interesse noch einmal. c) Paulus Paulus befindet sich in Ephesus in Haft40. Sie ist veranlasst durch seine Verkündigung des Evangeliums von Jesus Christus (V.9.13)41. Der Aufenthalt im Gefängnis ist in der Antike in der Regel keine eigene Strafe42, sondern außer der Schuldhaft war vor allem gleichsam eine Untersuchungshaft üblich, eine Inhaftierung, die „als Mittel der Sicherstellung des Strafverfahrens bis zum Urteil in irgendeiner Form“ diente43. Kontakt mit der Außenwelt war nicht nur erlaubt, sondern für die Gefangenen fast überlebensnotwendig. Dadurch konnte ihre Versorgung gewährleistet werden44. „Die inneren Zustände scheinen überall in den Gefängnissen gleich schlecht gewesen zu sein. Dunkelheit, Platzmangel, unzureichende Ernährung u(nd) Fehlen jeglicher hygienischer Vorkehrungen führten zu großer Sterblichkeit … Dazu kamen noch Folterungen u(nd) willkürliche Züchtigungen …, da die Gefangenen ganz in der Macht der Gefängniswärter u(nd) ihrer Gehilfen waren u(nd) diese nur durch Bestechung beeinflussen konnten“45. 40 41

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Vgl. o. den Abschnitt über „Orte und Zeiten“. Die in V.1.9.10.13 gebrauchten Wendungen „Gefangener (désmios) Jesu Christi“ und „Gefangenschaft“ (desmoí) sind nicht metaphorisch zu verstehen; sie bezeichnen eine reale Haft. Der Begriff desmoí begegnet bei Paulus noch viermal im Philipperbrief (1,7.13.14.17) und bezeichnet dort eindeutig eine reale Haft, da Paulus in diesem Kontext über die beiden möglichen Ausgänge seines Prozesses spricht. Auch eine nähere Betrachtung von Phlm 9f. macht es evident, dass Paulus eine reale Haft erfährt. In V.9 heißt es: „… ich, Paulus: ein alter Mann, jetzt aber auch Gefangener Jesu Christi“. Das nach „jetzt aber“ Gesagte kann nur etwas bezeichnen, was er vorher nicht war. Im metaphorischen Sinn wäre er „Gefangener Jesu Christi“ seit seiner Berufung; und da war er noch kein „alter Mann“. Die Metaphorik von Zeugen und Gebären im Blick auf das Hervorbringen von Gemeinde gebraucht Paulus auch sonst (vgl. etwa Gal 4,19), aber nur hier findet sich diese Näherbestimmung. „Eine G(efängnisstrafe) als Strafhaft im heutigen Sinn kennt weder das griech(ische) noch das röm(ische) Recht“ (WALTER EDER, Art. Gefängnisstrafe, in: Der Neue Pauly 4,1998, S.853). Vgl. KRAUSE, Gefängnisse: „Die Gefängnishaft reduzierte sich im Römischen Reich im wesentlichen auf die Untersuchungs- und Exekutionshaft“ (S.64). „Die Strafhaft blieb … immer die Ausnahme“ (S.87), die auf den dann folgenden Seiten besprochen wird. SILKE ALBRANDT/WERNER MACHEINER, Art. Gefangenschaft, in: RAC 9, 1976 (Sp.318–345; B IV u. C I [Sp.339–342] von CARSTEN COLPE), Sp.324. Die „offizielle Gefängniskost“ reichte kaum aus, „den Hunger zu stillen“ (KRAUSE, Gefängnisse, S.279). „Gefangene waren auf die Unterstützung von Verwandten und Freunden angewiesen, wenn sie ein einigermaßen erträgliches Leben führen wollten“ (ebd., S.290). Ob und welche Unterstützung es von außen gab, ließ daher für die einzelnen Gefangenen die Haftumstände beträchtlich variieren (ebd., S.276). RAC 9, Sp.321. Die Angaben des Josephus in Ant 18,203–204 für „einen anschaulichen Einblick in die zu seiner Zeit für möglich gehaltenen Haftbedingungen“ zu halten, wozu dann auch „das

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Was die Betreuung von außen angeht, ist Paulus relativ gut gestellt. Zwar ist Epaphras mit ihm gefangen, der nach Kol 4,12 (vgl. 1,7) aus Kolossae stammt und wahrscheinlich die dortige Gemeinde gegründet hat. Aber eine Reihe weiterer Mitarbeiter sind am Ort in Freiheit, nämlich Timotheus (V.1) sowie Markus, Aristarch46, Demas und Lukas. Dieser relativ große Mitarbeiterstab ist für Ephesus gut denkbar. Während seines relativ langen Aufenthalts in dieser Stadt dürfte Paulus von dort aus mit Hilfe seiner Mitarbeiter systematisch Mission getrieben haben. Die Mitarbeiterschaft wird daher nur in immer wieder wechselnder Zusammensetzung in Ephesus anwesend gewesen sein. Nach Phlm 22 hat Paulus die Hoffnung, aus der Haft wieder frei zu kommen. Während seiner Gefangenschaft wird er nun von dem Sklaven Onesimus aufgesucht und mit dessen Fall konfrontiert. Er muss sehr schnell Zuneigung zu dem entlaufenen Sklaven empfunden haben. Dieser wird von ihm für den Glauben an Jesus Christus gewonnen (V.10) und erweist sich offenbar als sehr anstellig (V.11). So bekommt Paulus den Wunsch, ihn als Mitarbeiter zu behalten (V.13). Dem steht aber die Rechtslage entgegen, dass Onesimus als Sklave einem anderen gehört und sich zudem durch seine Flucht in eine Unrechtssituation gebracht hat. Es wäre Unrecht, einen Sklaven zu behalten. Sich einen entlaufenen Sklaven anzueignen, war unter Strafe gestellt (vgl. dazu BELLEN, Sklavenflucht, S.44f.). „Einen fremden Sklaven für eigene Bedürfnisse einzusetzen, wäre ein Eingriff in die Besitz- und Verfügungsrechte eines anderen. Schon einen Sklaven unnötig aufzuhalten, ist in diesem Sinn als potentieller Übergriff zu werten“ (ARZT-GRABNER, Komm., S.216). Für letzteres verweist ARZTGRABNER auf einen am 12. September 50 n.Chr. geschriebenen Privatbrief, durch einen Sklaven dem Adressaten überbracht, bei dem er eine Besorgung für seinen Herrn zu tätigen hat. In diesem Brief wird der Adressat gemahnt: „Sieh also zu, dass du ihn (den Sklaven) nicht aufhältst; du weißt ja, wie ich ihn zu jeder Stunde brauche“ (ebd.). Für „aufhältst“ steht dasselbe griechische Wort katécho, das Paulus in V.13 gebraucht.

Behielte Paulus den Sklaven einfach bei sich, bliebe nicht nur Onesimus weiter in ständiger Gefahr, als entlaufener Sklave entdeckt zu werden, sondern auch Paulus selbst machte sich als Hehler schuldig47. Das hätte im Falle der Entde-

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tägliche Bad“ gehörte (so WOLTER, Komm., S.244), ist völlig deplatziert. Dort handelt es sich mit Agrippa, einem Enkel des Herodes, um einen Gefangenen des Kaisers Tiberius „im Purpurkleid“, für den hochgestellte Personen des Hofes entsprechende Bestechungen vornehmen. Über die üblichen „Lebensverhältnisse in den Gefängnissen“ vgl. vor allem KRAUSE, Gefängnisse, S.271– 304. In Hinsicht auf die Hygiene stellt ARZT-GRABNER, Komm., S.76, fest: „Die sanitären Verhältnisse in den Gefängnissen waren besorgniserregend, Baden meist ausgeschlossen.“ Nach Apg 19,29 (vgl. 20,4; 27,2) war ein Mazedonier Aristarch aus Thessalonich zur selben Zeit in Ephesus wie Paulus als dessen Mitarbeiter. Apuleius erwähnt „die Gesetze“, „die flüchtige Sklaven anderer wider ihrer Herren Willen aufzunehmen verbieten“ (Metamorphosen VI 4,5; Übersetzung BRANDT/EHLERS).

9. Situationen und Interessen der beteiligten Personen

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ckung des Onesimus sein eigenes schwebendes Verfahren nicht gerade zu seinen Gunsten gefördert. Will er ihn also wirklich als Mitarbeiter bekommen, bleibt ihm gar nichts anderes übrig, als ihn zunächst zu Philemon zurückzuschicken und es diesem so geschickt und dringlich wie möglich nahezulegen, den Sklaven für die Mitarbeit beim Apostel freizulassen. Indem Paulus den entlaufenen Sklaven zu dessen Herrn zurückschickt, respektiert er damit nicht nur die Rechtslage, sondern schätzt zugleich auch die Machtlage ganz nüchtern ein. Der Rückweg des Onesimus zu Philemon birgt zwar „ein Risiko“, insofern „keiner von beiden (Paulus und Onesimus) wusste, wie Philemon, der Herr, auf die Rückkehr des Onesimus reagieren würde oder ob er sich vom Brief des Paulus überzeugen ließe“48, aber eben dieser Rückweg erweist sich als notwendiger Weg, damit Paulus sein Interesse verwirklichen kann, Onesimus als Mitarbeiter zu erhalten. Die Frage ist zumindest erwägenswert, ob sich Paulus bei seinem diesbezüglichen Handeln nicht auch von seiner biblisch-jüdischen Tradition über Sklavenflucht, insbesondere von Dtn 23,16f. beeinflusst zeigt49. BILLERBECK führt einschlägige Auslegungen dieser Stelle an (Bill. III 668–670), zeichnet Systematisierungen nach, die gemäß dem Woher und Wohin der Flucht unterscheiden, und meint schließlich, Paulus „wäre dann bei der Auslieferung des Onesimos derselben Halakha gefolgt, die später Rab Chisda geltend gemacht hat“ (S.670). An der fraglichen Stelle in bGit 45a heißt es: „Dem Rav Chisda entfloh ein Sklave zu den Samaritern. Er ließ ihnen ausrichten, dass sie ihn ihm zurückschicken sollten. Sie ließen ihm ausrichten: ‚Du sollst einen Sklaven nicht an seinen Herrn ausliefern‘ (Dtn 23,16). Er ließ ihnen ausrichten: ‚Und so sollst du tun mit seinem Esel, und so sollst du tun mit seiner Kleidung, und so sollst du tun mit jedem Verlust deines Bruders‘ (nämlich ihn zurückschicken; Dtn 22,3). Sie ließen ihm ausrichten: Aber es steht geschrieben: ‚Du sollst einen Sklaven nicht an seinen Herrn ausliefern‘ (Dtn 23,16). Er ließ ihnen ausrichten: Bezieht sich das nicht auf einen Sklaven, der vom Ausland zum Land (Israel) geflohen ist?“ Sein Sklave aber war vom Ausland (Babylonien) ins Ausland (Samaria) geflohen. Analog verhalte es sich, meint BILLERBECK, bei Onesimus. Er setzt voraus, Paulus schicke Onesimus in die alte Stellung als Sklaven zu Philemon zurück. Für Paulus ist diese Rücksendung aber angesichts der realen Macht- und Rechtssituation lediglich, wie ausgeführt, ein notwendiger Weg, um Onesimus als Mitarbeiter bei sich zu haben. So ist es keineswegs ausgeschlossen, dass bei seinem Vorgehen auch die Aussagen von Dtn 23,16f. eine Rolle gespielt haben: „Du sollst einen Sklaven nicht an seinen Herrn ausliefern, der sich von seinem Herrn zu dir gerettet hat. Bei dir soll er bleiben, in deiner Mitte, am Ort, den er wählt in einem deiner Tore, wo es gut für ihn ist; du sollst ihn nicht bedrücken.“ Die von BILLERBECK angeführten Auslegungen dieser Stelle zeigen zwar die genannten Differenzierungen und auch den Bezug auf den

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FITZMYER, Komm., S.110. FITZMYER, Komm., S.31, meint, Dtn 23,16f. könne das Denken des Paulus hier nicht beeinflusst haben, „weil Onesimus kein Jude war“. Aber wieso sollte Paulus diese Aussagen seiner Bibel nicht auf „uns“ beziehen, „auf die das Ende der Zeiten gekommen ist“ (1Kor 10,11) und für die „in Jesus Christus“ gilt: „Da gibt es keinen Juden und Griechen mehr“ (Gal 3,28)?

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Erster Teil. Einleitung

zum Judentum konvertierten Nichtisraeliten, aber ebenfalls die Möglichkeit des wörtlichen Verständnisses, das zugleich das Woher der Flucht unbestimmt lässt. Philon von Alexandria kommentiert Dtn 23,16f. in folgender Weise: „Die um Schutz flehen auszuliefern, ist nämlich nicht gestattet. Ein um Schutz Flehender ist aber auch der Sklave, der sich – gleichsam wie zu einem Heiligtum – an deinen Herd geflüchtet hat, an dem er Asyl erlangen muss. Am besten sucht er wirkliche Versöhnung ohne jeden Hinterhalt, andernfalls wird er als allerletzte Möglichkeit verkauft. Wohin der Wechsel der Herren ausschlagen wird, ist ja ungewiss. Ein Übel aber, dessen Eintreffen ungewiss ist, ist leichter als das zugestandenermaßen zu erwartende“ (Philo virt. § 124).

d) Nochmals: Onesimus Ausgestattet mit einem Brief des Paulus an Philemon begibt sich Onesimus auf den Rückweg zu seinem Herrn. Für ihn haben sich Situation und Interesse stark verändert. Als Sklave im Haus Philemons hatte er den Wunsch, aus diesem Verhältnis herauszukommen; das dokumentiert seine Flucht. Als entlaufener Sklave wollte er jedoch wieder in geordneten Verhältnissen bei Philemon akzeptiert werden; das dokumentiert sein Gang zu Paulus. Jetzt aber, inzwischen auch zum Glauben an Jesus Christus gekommen, möchte er Mitarbeiter des Paulus werden. Denn dass dieser jemanden zum Mitarbeiter machte ohne dessen eigene Zustimmung, erscheint als ausgeschlossen. Somit besteht eine Interessenidentität zwischen Paulus und Onesimus gegenüber Philemon.

e) Nochmals: Philemon Durch die Rückkehr des Onesimus und den Empfang des von diesem überbrachten Paulusbriefes sieht sich Philemon mit einer neuen Situation konfrontiert, die ihm außerordentlich viel zumutet: Nicht nur, dass er den entlaufenen Sklaven aufnehmen soll wie einen geliebten Bruder (V.16), wie einen hoch geachteten Gast (V.17), dass er damit auch seinen Rechtsanspruch auf Bestrafung des Geflüchteten fallen lassen soll, sondern er soll überhaupt sein Recht auf diesen Sklaven aufgeben und ihn für Paulus freilassen50. Statt dass eine mögliche Freilassung durch die Flucht hinausgezögert würde, soll sie in die50

Was Paulus hier ausführt, „kann bei aller rücksichtsvollen Umschreibung nichts anderes heißen, als daß Philemon dem Onesimos die Freiheit schenken solle; … Es wird gelegentlich bestritten, daß dies der Sinn von 15f. 21 sei. Gewiß: ‚von Freilassung des Onesimus steht in Phlm kein Wort‘ [Zitat KÜMMEL]; aber sie steht deutlich genug zwischen den Zeilen“ (VIELHAUER, Urchristliche Literatur, S.172).

9. Situationen und Interessen der beteiligten Personen

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sem Fall unmittelbar nach der Rückkehr erfolgen und dann auch noch den Freigelassenen völlig dem Einflussbereich seines einstigen Herrn entziehen51! Im Blick auf die Freilassung von Sklaven wird immer wieder auf den Beitrag von ALFÖLDY, Freilassung, verwiesen und dessen These als ein gesichertes Ergebnis betrachtet. Nach ihm „konnte der Sklave mit der Möglichkeit, zumindest nach Vollendung seines 30. Lebensjahres freigelassen zu werden, wohl beinahe wie mit einem Normalfall rechnen“ (S.346). Das wird öfter wiederholt: „Falls also ein Sklave das Alter von 30 bis 40 noch erlebte, so konnte er mit der Freilassung wahrscheinlich beinahe wie mit einem Normalfall rechnen“ (S.354); „… zumindest in den Städten und deren Umgebung wohl beinahe immer erhoffen, dass er freigelassen werde. … die Freilassung … vermutlich fast dem Normalfall gleichkam“ (S.359); „… beinahe eine Selbstverständlichkeit …“ (S.362); „… routinemäßig freigelassen …“ (S.363f.); ähnlich noch zweimal wiederholt in der Zusammenfassung auf S.369. Mir erscheint die Argumentation ALFÖLDYS nicht als überzeugend. Dass die Freilassung ein wichtiges und häufiges Phänomen war, ist nicht zu bestreiten, wohl aber, dass sie fast den Normalfall bildete. ALFÖLDY nimmt das „zumindest für die Städte und deren Umgebung“ an. Dass sich „dieselbe Praxis auch auf den Latifundien immer stärker „durchgesetzt habe (S.358f.), lässt sich aus den Quellen nicht begründen. Für seine Hauptthese führt ALFÖLDY einerseits juristische Texte an, die jedoch vor allem eine stadtrömische Perspektive haben, und zum anderen Grabinschriften. Aber wer würde der Masse der auf Landgütern arbeitenden Sklaven oder etwa auch den Mühlensklaven, wie Apuleius sie in dem o. Anm. 20 zitierten Zitat schildert, eine Grabinschrift setzen? (Das spricht gegen ALFÖLDYS Gegenargumentation auf S.355 mit dem Hinweis, dass die meisten Grabinschriften von den domini und patroni veranlasst wurden.) Aufgrund der Grabinschriften meint er feststellen zu können: „Daß Sklavinnen gerade in diesem Alter (zwischen 15 und 30) sehr häufig freigelassen wurden, lag offenbar daran, daß der dominus seine serva oft heiraten wollte“ (S.351; dazu vgl. INGOMAR WEILER, Eine Sklavin wird frei. Zur Rolle des Geschlechts bei der Freilassung, in: Fünfzig Jahre Forschungen zur antiken Sklaverei an der Mainzer Akademie 1950–2000. Miscellanea zum Jubiläum, hg.v. HEINZ BELLEN und HEINZ HEINEN, Stuttgart 2001 [S.113–132], S.119–125; weiter ausführlich: ANDREAS WACKE, Manumissio matrimonii causa. Die Freilassung zwecks Heirat nach den Ehegesetzen des Augustus, in: Ebd., S.133–158). Das ist gewiss kein Punkt, aus dem auf Massenfreilassungen geschlossen werden kann, wohl aber darauf, dass das Setzen einer Grabinschrift für solche ehemaligen Sklavinnen nahe liegend war. Überzeugend ist ALFÖLDYS Erklärung des Phänomens häufiger Freilassung mit dem wirtschaftlichen Interesse der Herren: Die Aussicht auf Freilassung und anschließenden sozialen Aufstieg motivierte die Sklaven und die dann Freigelassenen zu wirtschaftlich produktivem Handeln, von dem die Herren vorher und als patroni hinterher profitierten (S.360–363). Aber da ein solches Handeln nicht von fast jedem Sklaven erwartet werden kann, ist auch von hierher klar, dass die Freilassung selbst in den Städten nicht der Normalfall war. Wäre sie es gewesen, ließe es sich auch nicht verstehen, dass Sklavenflucht 51

„Das alles ist gewiß in geistvoll herzlicher Weise gesagt, aber doch nicht uneigentlich gemeint, vielmehr ganz bewußt auf die so prekäre rechtliche Situation des Onesimus zugeschnitten. Christenrecht bricht Sklavenordnung, könnte man sagen“ (HARALD HEGERMANN, Die Bedeutung des eschatologischen Friedens in Christus für den Weltfrieden heute nach dem Zeugnis des Neuen Testaments, in: Der Friedensdienst der Christen. Beiträge zu einer Ethik des Friedens, hg.v. WERNER DANIELSMEYER, Gütersloh 1970 [S.17–39], S.34).

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Erster Teil. Einleitung

ein derart verbreitetes Phänomen war. Die Freilassung spielte in den Städten sicher eine wichtige Rolle. Prozentangaben können allerdings nicht einmal annäherungsweise gemacht werden. Dabei ist auch zu bedenken, dass die städtische Bevölkerung im Imperium Romanum gegenüber der ländlichen nur einen kleinen Teil ausmachte. Zu Freilassungen im Imperium Romanum vgl. auch WEILER, Beendigung, S.189–205.

Philemon musste der Gedanke kommen, ob denn Paulus nicht bedacht habe, welche Auswirkungen so etwas auf die anderen Sklaven im Haus hat. Würde so nicht das sträfliche Verhalten einer Flucht auch noch als lohnendes Unternehmen erscheinen? Und wenn Onesimus nur deshalb, weil er zum Glauben an Jesus Christus gekommen ist, nun nicht nur „Bruder im Herrn“, sondern auch „Bruder im Fleisch“ sein soll, gilt das dann nicht auch für alle anderen Sklaven im Haus, die wie Philemon und Onesimus an Jesus Christus glauben? Als Hausherr und Sklavenbesitzer ist Philemon in einer schwierigen Situation, die entschieden gegen das Ansinnen des Paulus spricht. Kann dieser ihn dennoch überzeugen?

10. Ergebnis Aller Wahrscheinlichkeit nach hat Paulus Philemon überzeugt. Dafür spricht schon der schlichte Tatbestand, dass dieses Briefchen an Philemon überhaupt erhalten ist. Wäre Philemon nach seiner Lektüre von Zorn ob dieser Zumutung erfüllt worden oder auch nur von kühl kalkulierender Ablehnung, hätte er es eher zerrissen, es aber nicht verwahrt und gar weiterer Verbreitung zugänglich gemacht52. So wird er den Sklaven Onesimus freigelassen haben, damit er Mitarbeiter des Paulus werde. In dieser Funktion begegnet er im wahrscheinlich deuteropaulinischen Kolosserbrief (4,9)53. Dass er mit dem späteren Bischof Onesimus von Ephesus identisch sei, den Ignatius in seinem Brief an die dortige Gemeinde erwähnt (IgnEph 1,3; 2,1; 6,2), ist eine willkürliche und auch unwahrscheinliche Annahme54.

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„Er hat den Brief jedenfalls nicht in den Papierkorb geworfen“ (so JOACHIM ROHDE im Anhang von BINDER, Komm., S.69). „An dieser wirkungsgeschichtlichen Notiz zu zweifeln, besteht kein Grund. War der Kolosserbrief pseudonym, so konnte er diese Pseudonymität nur dadurch wahren, daß er sich möglichst eng an die historischen Daten der Philemonbrief-Situation anschloß“ (LAMPE, Komm., S.218). Die Annahme, der Sklave Onesimus des Philemonbriefes sei später Bischof von Ephesus geworden, wird in neuerer Zeit erwogen von STUHLMACHER, Komm., S.57; BARTH/BLANKE, Komm., S.141.

Zweiter Teil Kommentar Nachdem in der Einleitung versucht worden ist, die mögliche Situation, aus der heraus Paulus den Brief an Philemon geschrieben hat, so konkret, wie es nur geht, darzulegen, ihre Hintergründe zu erhellen und die Interessenlage der beteiligten Personen zu beschreiben, kann nun in der Auslegung des Briefes das Augenmerk ganz und gar auf die paulinische Argumentation gelegt werden. Worin liegt ihre Überzeugungskraft? Worauf bezieht sich Paulus als gemeinsame Basis? Wie zieht er aus ihr die Linien aus? Was sind die Quellen, aus denen seine Argumente oder auch seine im Hintergrund stehenden Grundüberzeugungen sich speisen?

1. Das Präskript (V.1–3) 1 Paulus, Gefangener Jesu Christi, und der Bruder Timotheus an den geliebten Philemon, unseren Mitarbeiter, 2 an die Schwester Aphia, an Archippus, unseren Mitstreiter, und an deine Hausgemeinde: 3 Freundlichkeit und Wohlergehen komme euch zu von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus! Wie in allen seinen Briefen hält sich Paulus auch hier an das ihm vorgegebene Briefformular und beginnt mit den Angaben von Absender und Adressat sowie dem Entbieten eines Grußes. Wie sonst folgt er der orientalischen Form. Im Unterschied zur griechischen, die alle drei Elemente in einen Satz fasst, enthält sie zwei prädikatlose Sätze, im ersten den Absender im Nominativ und den Adressaten im Dativ und im zweiten den Gruß, der dadurch stärkeres Gewicht erhält. Außer mit seinem Namen bezeichnet sich Paulus zu Beginn als „Gefangener 1 Jesu Christi“. In dem Abschnitt über seine Situation1 ist dargelegt worden, dass eine reale Gefangenschaft vorliegt, die dadurch veranlasst wurde, dass Paulus

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Vgl. Einleitung 9, Abschnitt 9.c).

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Zweiter Teil. Kommentar

Jesus Christus verkündigt hat2. Beides, dass Paulus gefangen und dass er es um Jesu Christi willen ist, wird mit der Wendung „Gefangener Jesu Christi“ vermittelt. Es klingt damit aber noch mehr an. Vordergründig betrachtet, hat die römische Provinzverwaltung Paulus gefangen gesetzt und wird seinen Prozess führen. Aber das eigentliche Subjekt seiner Gefangenschaft ist doch Jesus Christus – gerade als der, dessentwegen Paulus in Gefangenschaft gekommen ist. Die römische Macht hat ihn in der Hand – gewiss; doch gerade darin ist er in der Hand Jesu Christi. So hat er als „Gefangener Jesu Christi“ nicht weniger Autorität denn als „Apostel Jesu Christi“3. In beiden Fällen hat er diese Autorität nicht von sich aus, sondern von dem her, der ihn berufen hat und seinen Weg führt – auch in Gefangenschaft4. Paulus gibt als Absender nicht nur sich selbst an, sondern darüber hinaus den „Bruder Timotheus“. Dieser war sein engster Mitarbeiter, von ihm mehrfach in seinen Briefen erwähnt, in Röm 16,21 ausdrücklich als sein „Mitarbeiter“ bezeichnet (vgl. 1Thess 3,2) und in 1Kor 4,17 sein „geliebtes Kind“ genannt. Die Apostelgeschichte berichtet ebenfalls von Timotheus an einer Reihe von Stellen (Apg 16,1–3; 17,14f.; 18,5; 19,22; 20,4). In 2Kor 1,1 ist er in genau derselben Weise wie hier im Philemonbrief als Mitabsender genannt; in 1Kor 1,1 steht an dieser Stelle Sosthenes. In Phil 1,1 führt Paulus sich und Timotheus zunächst nur mit Namen nebeneinander als Absender an und bezeichnet sich und ihn dann als „Sklaven Jesu Christi“. In Gal 1,1 nennt er als Mitabsender „alle Geschwister bei mir“5. Warum gibt Paulus Mitabsender an? Nicht weniger als im Römerbrief, wo er es nicht tut, ist er der eigentliche und alleinige Verfasser. Im Falle des Philemonbriefes zeigt das nicht nur die durchgängig gebrauchte erste Person Singular, sondern auch der Umstand, dass er ihn eigenhändig schreibt (V.19). Warum aber wird dann ein Mitabsender genannt? Wahrscheinlich will Paulus schon bei der Angabe des Absenders andeuten, dass es sich bei seinem Brief nicht um einen Privatbrief handelt und 2

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In Phil 1,12–17 legt Paulus Wert auf die Feststellung, dass er um des Evangeliums willen gefangen ist. Das sehen andere Christusgläubige an seinem Haftort offenbar anders. Sie möchten wohl das Evangelium politisch entschärfen, um Konflikte mit dem römischen Imperium zu vermeiden. In den als authentisch geltenden Briefen des Paulus findet sich die Bezeichnung „Apostel“ bei der Angabe des Absenders Röm 1,1; 1Kor 1,1; 2Kor 1,1; Gal 1,1; bei den umstrittenen vgl. Eph 1,1; Kol 1,1; 1Tim 1,1; 2Tim 1,1; Tit 1,1. Vielleicht bezeichnet Paulus sich auch deshalb in Phlm 1 nicht als Apostel, weil er später auf die damit gegebene Autorität ausdrücklich verzichtet (V.8f.). Nach LOHMEYER gibt es in den christusgläubigen Gemeinden keine „höhere Würde und Gnade als die, Märtyrer Christi zu sein“. So folgert er: „Vor dem Glanz dieses Namens verblassen alle Attribute, die den Empfängern (des Briefes) gegeben sind“ (Komm., S.175). Damit meint er wohl alle, die in seinem Missionswerk mitarbeiten. Das legt sich jedenfalls von daher nahe, dass bei den Grußbestellungen in Phil 4,21f. „die Geschwister bei mir“ und „alle Heiligen“ als unterschiedene Gruppen aufeinander folgen. Zur Angabe von Mitabsendern vgl. weiter Kol 1,1; 1Thess 1,1; 2Thess 1,1.

1. Das Präskript (V.1–3)

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bei dem in ihm Ausgeführten nicht um seine bloße Privatmeinung, sondern auch andere „‚unterschreiben‘ das, was Paulus … zu sagen hat“6. Wo Paulus einen Mitabsender anführt und ihn anders als sich selbst charakterisiert, bezeichnet er ihn als „Bruder“7, gebraucht also die allgemeinste Bezeichnung für alle in der Gemeinde. Damit scheint schon hier auf, dass dieser Brief in die Dimension der Gemeinde gehört. Sie ist es, die ihn mehr als einen Privatbrief sein lässt. Diese Dimension der Gemeinde wird bei der Adressatenangabe noch deutlicher werden. Der Brief ist an erster Stelle an Philemon adressiert. Wie Paulus der eigentliche Verfasser, ist er der eigentliche Adressat. Der Gruß in V.3 und der Schlussgruß in V.25 sowie die Hoffnungsaussage in V.22b sind zwar in der zweiten Person Plural formuliert, aber alle übrigen Anreden stehen in der zweiten Person Singular – und somit auch diejenigen, die auf die Größe Adressat einwirken und sie zu einem bestimmten Handeln bewegen wollen. D.h. dieses Handeln wird von einer einzelnen Person erwartet, von Philemon. Er wird zunächst als „geliebt“ charakterisiert. Diese Charakterisierung findet sich in den Paulusbriefen relativ oft für Gemeindeglieder. Paulus gebraucht sie als Bezeichnung und als Anrede für alle8, in Verbindung mit der Anrede „Geschwister“9 und – wie hier – bei der namentlichen Nennung einzelner Personen10. ODA WISCHMEYER hat gezeigt, dass Paulus mit dem Gebrauch des Epithetons „geliebt“ in seiner jüdischen Tradition steht: Das Adjektiv AGAPHTOS in den paulinischen Briefen. Eine traditionsgeschichtliche Miszelle, NTS 32, 1986, S.476–480. Nach Anführung einzelner Belege aus dem griechischsprachigen jüdischen Bereich verweist sie – ebenfalls mit Belegen – auf „die breite Bezeugung des Gedankens, daß Gott die Patriarchen, Abraham, Joseph, David, Jerusalem und schließlich das ganze Volk Israel geliebt habe und liebe, ebenso wie er es auch erwählt habe“ (S.477). Der Zusammenhang, dass Gott Israel geliebt und erwählt hat, ist natürlich schon biblisch vorgegeben (vgl. Dtn 7,7f.; 10,15; Hos 11,1). Diese Tradition wird auch rabbinisch fortgeführt. Von Rabbi Akiva heißt es: „Geliebt sind die Israeliten; denn sie werden Kinder des Ortes (= Gottes) genannt. Größere Liebe ist’s, dass ihnen bekannt gemacht wurde, sie würden Kinder des Ortes genannt; denn es ist gesagt: ‚Kinder seid ihr Adonajs, eures Gottes‘ (Dtn 14,1). Geliebt sind die Israeliten; denn es ist ihnen ein kostbares Gefäß gegeben. Größere Liebe ist’s, dass ihnen bekannt gemacht wurde,

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So die schöne Formulierung von SCHRAGE zu dem analogen Fall in 1Kor 1,1 (Komm. 1Kor, Bd. 1, S.101). Möglich ist natürlich auch, was GNILKA vermutet, „daß der Apostel die Angelegenheit mit seinem Mitarbeiter durchgesprochen hat“ (Komm., S.15). Vgl. dazu OLLROG, Paulus, S.183– 187. Außer in Phlm 1 auch in 1Kor 1,1; 2Kor 1,1; vgl. Gal 1,1. Vgl. weiter Kol 1,1. Röm 1,7; 12,19; 1Kor 10,14; 2Kor 7,1; 12,19. 1Kor 15,58; Phil 4,1. Röm 16,5.8f.12.

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Zweiter Teil. Kommentar

ihnen sei ein kostbares Gefäß gegeben, mit dem die Welt erschaffen worden ist; denn es ist gesagt: ‚Ein gutes Geschenk habe ich euch gegeben: meine Tora. Verlasst sie nicht!‘ (Spr 4,2)“ (mAv 3,14). Dass die Israeliten von Gott geliebt sind, manifestiert sich nach Rabbi Schim’on ben Jochaj darin, dass Gott in seiner Gegenwart in jedes der Exile Israels mit exiliert wird (bMeg 29a)11. WISCHMEYER verweist für Paulus zu Recht auf Röm 11,28, wo der Apostel „diese Rede von den Juden als den Geliebten und Erwählten Gottes“ aufnimmt (S.477). Sie meint, daher sagen zu können: „Eben diesen jüdischen Ehrentitel hat Paulus auf die Christen übertragen“ (ebd.), und stellt schließlich fest: „Die Mitglieder der jungen Christengemeinden werden damit als die wahren Träger der Erwählung durch Gott qualifiziert“ (S.479). Hier ist mit Paulus viel vorsichtiger zu formulieren. Abgesehen vom problematischen Gebrauch des Begriffs „Christen“ zeigt gerade die Stelle Röm 11,28f., dass Israel nicht von irgendwelchen „wahren Trägern der Erwählung durch Gott“ abgelöst werden kann. In dem Zusammenhang von Röm 9–11 kommen die Christusgläubigen, nachdem vorher nur von Israel die Rede war, erstmals in 9,24 mit einem doppelten „Auch“ in den Blick: „Als die er auch uns erwählt hat, nicht allein aus den Juden, sondern auch aus den Völkern.“ Von daher sind die Menschen in den christusgläubigen Gemeinden nicht als „die wahren Träger“ von Gottes Liebe und Erwählung anzunehmen, sondern als auch von Gott geliebte und erwählte.

Mit der Bezeichnung Philemons als „geliebt“ schlägt Paulus nicht nur einen Ton warmer Herzlichkeit an, der die Beziehung zwischen ihm und diesem Adressaten bestimmt. Hier schwingt sehr viel mehr mit, dass nämlich Philemon zu denen gehört, die Gott durch Jesus Christus aus der Völkerwelt erwählt und ihnen damit seine Liebe erwiesen hat und weiter erweist. Das ist ein verlässlicher Grund für gute und vertrauensvolle Beziehungen zwischen allen in der Gemeinde. Außer als „geliebt“ kennzeichnet Paulus seinen Adressaten noch als „unseren Mitarbeiter“. Als „Mitarbeiter“ bezeichnet er nicht nur Menschen, die sozusagen zu seinem ‚Stab‘ gehören. Das ist ja bei Philemon mit Sicherheit nicht der Fall; er ist als ortsgebunden vorgestellt. Seine Mitarbeit besteht in der Führung einer Hausgemeinde und karitativer Tätigkeit für die Gemeinde in Kolossae und vielleicht auch darüber hinaus12. Dass er kein unmittelbarer Mitarbeiter des Paulus ist, darauf weist, dass dieser von ihm in der ersten Person Plural als „unserem Mitarbeiter“ spricht und damit zugleich die übrige Adressatenschaft – vielleicht sogar die gesamte christusgläubige Gemeinschaft – mit einbezieht13. 11 12 13

Vgl. weitere Texte dieser Tradition bei KLAUS WENGST, Das Johannesevangelium, Teilbd. 1: Kap. 1–10, Stuttgart ²2004, S.69–72. Vgl. oben Einleitung, Abschnitt 6. Vgl. Röm 16,9, wo Paulus von einem zu grüßenden Urbanus als „unserem Mitarbeiter“ spricht, mit Röm 16,21, wo er von Timotheus als „meinem Mitarbeiter“ grüßt. Allerdings lässt er in Röm 16,3 Priska und Aquila als „meine Mitarbeiter“ grüßen, die auch nicht zu seinem „Stab“ gehörten. Aber zu ihnen hatte er, wie gleich der folgende Vers 4 zeigt, ein besonders enges Verhältnis.

1. Das Präskript (V.1–3)

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In V.2 nennt Paulus weitere Adressaten seines Briefes, an erster Stelle eine 2 Aphia14, die er als „Schwester“ – wie vorher Timotheus als „Bruder“ – mit der zugleich schlichtesten und charakteristischsten Bezeichnung für Gemeindezugehörigkeit bedenkt. Es wurde schon vermerkt, dass über die Beziehung, in der Aphia zu Philemon steht, nichts gesagt werden kann15. Paulus hat nicht den Brauch, Ehefrauen – und Ehemänner – als solche mit anzuführen. Bei dem mehrfach genannten Ehepaar Priska und Aquila verhält es sich so, dass beide sich aktiv an der Missions- und Gemeindearbeit beteiligen16. Aphia muss daher – wer immer sie sonst war – nach und neben Philemon eine wesentliche Rolle in seiner Hausgemeinde – und vielleicht auch darüber hinaus – gespielt haben17. Als zweiten Mitadressaten nennt Paulus einen Archippus. Über ihn lässt sich ebenfalls nicht mehr sagen, als dass er eine bedeutende Person für die Hausgemeinde Philemons und nach Kol 4,17 auch für die Gemeinde in Kolossae insgesamt gewesen sein muss. Paulus charakterisiert ihn als „unseren Mitstreiter“. Diesen aus dem militärischen Bereich übernommenen Begriff gebraucht er noch einmal in Phil 2,25, wo er neben „Mitarbeiter“ zur Kennzeichnung des Epaphroditus steht. Von daher dürfte „Mitstreiter“ eine Variante zu „Mitarbeiter“ sein, womit Paulus in der Adresse schon Philemon bedacht hatte. Nach Kol 4,17 ist Archippus mit einem „Dienst“ (diakonía) betraut. Der Begriff „Mitstreiter“ bringt den Kampfcharakter zum Ausdruck, die Härte der Auseinandersetzung, in die sich die für das Evangelium von Jesus Christus Werbenden vonseiten einer alles andere als freundlich eingestellten Umwelt verwickelt sehen. Nach den beiden mit Namen genannten Personen gibt Paulus als Mitadressaten schließlich noch an: „deine Hausgemeinde“18. Was er in diesem Brief zu sagen hat, geht nicht nur Philemon an und darüber hinaus vielleicht noch zwei einzelne Vertraute, sondern alle Christusgläubigen in seinem Haus. Damit ist der Brief nicht mehr ein bloßer Privatbrief, von einer Einzelperson an eine andere gerichtet. Er wird zwar nicht zu einem offiziellen Gemeindebrief – er ist ja nicht allein und nicht einmal in erster Linie an die Hausgemeinde gerichtet –;

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Dieser Name ist „zufällig in Kolossae belegt“, und zwar in einer Grabinschrift (DIBELIUS, Komm., S.102; die Inschrift als Beilage 6 auf S.111). Vgl. oben Einleitung, Abschnitt 6. Zu ihnen vgl. Röm 16,3f.; 1Kor 16,19; Apg 18,1–3.18f.26; weiter 2Tim 4,19. „Daß Aphia bereits im Praeskript als Adressatin des Briefes genannt wird, läßt darauf schließen, daß sie eine herausgehobene Stellung in der angesprochenen Hausgemeinde eingenommen hat“ (BIEBERSTEIN, Brief, S.677). Zu ihr sei noch einmal auf den 6. Abschnitt der Einleitung verwiesen.

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Zweiter Teil. Kommentar

sein primärer Adressat ist und bleibt Philemon19. Aber er bekommt gleichsam einen offiziösen Charakter. Philemon ist als Individuum angesprochen; auf ihn als Person kommt es an, seine individuelle Entscheidung ist gefragt. Aber er ist nicht bloße Privatperson, die machen könnte, was immer sie will. Durch die genannte Mitadressatenschaft, die eine Verlesung des Briefes vor der versammelten Hausgemeinde verlangt, findet er sich – auch in einem sehr elementaren Sinn – in einen ganz bestimmten Rahmen gestellt, den Rahmen der Gemeinde. In ihr muss er seine Entscheidung verantworten. Die Sache, um die es geht, ist von vornherein nicht seine Privatsache20. In V.3 schließt Paulus das Präskript stilgemäß mit dem Gruß ab: „Freund3 lichkeit und Wohlergehen komme euch zu von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus!“ Diese Form findet sich stereotyp in allen als unumstritten paulinisch geltenden Briefen21. Sie ist eine überlegte Erweiterung des schlichten hebräischen Grußes: schalóm aléchem – „Friede sei mit euch!“ Hier ist empfunden, dass schalóm mit „Frieden“ (griechisch: eiréne) nicht hinreichend wiedergegeben ist. So wird ihm ein weiteres Wort vorangestellt: cháris, das seinerseits wiederum ein anderes hebräisches Wort assoziiert: chésed. Beide werden in der Regel mit „Gnade“ übersetzt. Das ist gewiss nicht falsch. Aber das deutsche Wort „Gnade“ ist – anders als griechisch cháris und hebräisch chésed – fast ganz einseitig Gott zugeordnet. Außerdem wird damit der Begriff dem Alltag entnommen, in den er doch hineingehört. Demgegenüber könnte der Versuch der Übersetzung mit „Freundlichkeit“ als zu schwach erscheinen. Aber vielleicht käme es darauf an, Freundlichkeit stark zu machen22. Dass uns im alltäglichen Leben Freundlichkeit begegne, dass es freundlich in 19 20

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Diese Gewichtung, die durch die fast durchgängige Anrede in der 2. pers. sing. gegeben ist, wird durch WINTER nicht beachtet, wenn sie den Brief als Gemeindebrief charakterisiert (Letter, S.1f.). „Die Lektüre des Phlm findet gleichsam unter den Augen der Öffentlichkeit der Gemeinde statt“ (BIEBERSTEIN, Brief, S.676). Das wird von ihr zu Recht mehrfach betont (S.678.679.682), wobei sie zugleich herausstellt, dass „diese Öffentlichkeit als Modell für ein bereits realisiertes neues Miteinander verstanden werden (kann)“ (S.679). Dass Aphia in der Adresse genannt wird, ist bemerkenswert, sollte aber nicht dazu verleiten, von im Brief „erwähnten Frauen“ (S.679.681) im Plural zu sprechen. Dass Aphia ein „kritisches Urteil“ (S.676) und „kritische Augen“ (S.682) hatte, können wir uns vorstellen, aber nicht aus dem Text erschließen. Für solche und weiter reichende Folgerungen (vgl. SABINE BIEBERSTEIN, Disrupting the Normal Reality of Slavery: A Feminist Reading of the Letter to Philemon, JSNT 79, 2000, S.105–116) ist die Textbasis extrem schmal. In genau dieser Form steht der Gruß auch in Gal 1,3, wird dann aber in V.4f. erweitert. Dass auch der erste Brief an die Thessalonicher zu den umstrittenen gezählt werden muss, wird seine Kommentierung in dieser Reihe zeigen. In 1Thess 1,1 fehlt die Angabe, woher „Freundlichkeit und Wohlergehen“ kommen. Das liegt wohl schlicht daran, dass Gott als Vater und Jesus Christus als Herr schon bei der Angabe der Adressaten attributiv erwähnt worden sind. Vgl. zu der Übersetzung von chésed mit „Freundlichkeit“ ausführlich JÜRGEN EBACH, „… und behutsam mitgehen mit deinem Gott“, in: Ders., Theologische Reden 3, Bochum 1995 (S.9–24), S.19–21.

1. Das Präskript (V.1–3)

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ihm zugehe, mag zwar als ein schlichter Wunsch erscheinen, ist aber von elementarer Wichtigkeit. Wie sollten wir sonst von Gottes Gnade etwas spüren und verstehen können? Man sollte nicht zu schnell von einem dann sehr unbestimmt bleibenden „eschatologischen Heil“ reden. Die Übersetzung von eiréne mit Wohlergehen ist natürlich stärker als an diesem griechischen Wort an dem dahinter stehenden hebräischen Wort schalóm orientiert, das primär das Ganzsein bezeichnet. „Gnade und Friede“, „Freundlichkeit und Wohlergehen“, wünscht Paulus seiner Adressatenschaft und spricht sie ihnen zu. Es soll ihnen in jeder Beziehung gut gehen. Als Urheber dessen nennt er an erster Stelle „Gott, unseren Vater“. Dass Gott in diesem Zusammenhang als „Vater“ bezeichnet wird, verwundert nicht. Auch hier steht Paulus wieder in seiner jüdischen Tradition. Mit der Rolle des Vaters ist fürsorgliche Güte für die Seinen verbunden. Im Neuen Testament schlägt sich diese jüdische Tradition besonders eindrücklich in der Bergpredigt nieder. Gegenüber dem Besorgtsein um Essen, Trinken und Kleidung sagt Jesus seiner Zuhörerschaft: „Das alles nämlich erstreben die Völker. Euer himmlischer Vater weiß doch, dass ihr all das braucht“ (Mt 6,31f.). Diese Tradition von Gott als dem treu für sein Volk sorgenden Vater ist biblisch begründet23 und wird auch rabbinisch weitergeführt24. Nach und neben Gott führt Paulus als zweiten Urheber für „Freundlichkeit und Wohlergehen“ „den Herrn Jesus Christus“ an. Die Kennzeichnung Jesu Christi als „des Herrn“ lässt sich in diesem Zusammenhang so verstehen, dass er damit den „Herren“ entgegengesetzt wird – kleinen und großen Potentaten –, die sich als „Wohltäter“ feiern lassen, „Frieden und Sicherheit“ versprechen, von oben herab und willkürlich „Huld“ gewähren. Demgegenüber ist Jesus Christus „der Herr“ als derjenige, der sich selbst zum Diener und Sklaven gemacht hat; aber gerade von daher ergibt sich „Freundlichkeit und Wohlergehen“ (vgl. Phil 2,1–11; Mk 10,42–45). Gott als „unser Vater“ und Jesus Christus als „der Herr“ stehen hier einfach nebeneinander; Paulus nimmt keine Zuordnung vor. Er lässt damit unterschiedliche Bezüge anklingen, die je für sich ihr Recht haben und nicht systematisiert werden müssen25. 23

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Vgl. ANNETTE BÖCKLER, Gott als Vater im Alten Testament. Traditionsgeschichtliche Untersuchungen zur Entstehung und Entwicklung des Gottesbildes, Gütersloh 2000; weiter: ANGELIKA STROTMANN, „Mein Vater bist Du!“ (Sir 51,10) Zur Bedeutung der Vaterschaft Gottes in kanonischen und nichtkanonischen frühjüdischen Schriften, Frankfurt a. M. 1991. Vgl. ELKE TÖNGES, „Unser Vater im Himmel“. Die Bezeichnung Gottes als Vater in der tannaitischen Literatur, Stuttgart 2003. Es ist eine Engführung, wenn WOLFGANG SCHRAGE zu 1Kor 1,3 – gewiss außerordentlich prägnant – formuliert: „Nur derjenige kann Gott zum Vater haben, der Jesus Christus zum Herrn hat.

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Zweiter Teil. Kommentar

2. Das Proömium (V.4–7) 4 Ich danke meinem Gott jedesmal, wenn ich deiner bei meinen Gebeten gedenke, 5 weil ich von deiner Liebe und Treue höre, die du gegenüber dem Herrn Jesus und zu allen Heiligen hast; 6 möge deine selbstlose Treue sich auswirken in der Erkenntnis alles dessen, was bei uns in Hinsicht auf Christus als gut gilt! 7 Ja, ich bin sehr erfreut und ermuntert worden aufgrund deiner Liebe, weil das Herz der Heiligen durch dich erquickt ist, Bruder. Paulus folgt weiter der briefstellerischen Gepflogenheit seiner Zeit und bietet nach dem Präskript nun das Proömium. Er nimmt dabei die Topoi „Gebetsbericht“ und „Erinnerungsmotiv“ aus der griechischen Tradition auf26, hebt aber mit „dem Dank an Gott an dieser exponierten Stelle … seinen Gebetsbericht und sein Erinnerungsmotiv von seiner Umwelt ab“27. Er versichert, dass er im Gebet Gott für die Existenz Philemons dankt (V.4), und nennt als Anlass für diesen Dank dessen Liebe und Treue, sowohl auf Jesus gerichtet als auch auf „alle Heiligen“ (V.5). Das dankbare Gedenken im Gebet zielt darauf, dass Philemon „alles“ erkenne, „was bei uns in Hinsicht auf Christus als gut gilt“ (V.6). Abschließend gibt Paulus seiner großen Freude darüber Ausdruck, was Philemon schon getan hat (V.7). Das soll unterstreichen, dass er das ihm gerade zugedachte Ziel gewiss erreichen wird. 4 Paulus bringt im Gebet seine Gemeinden vor Gott und dabei auch einzelne Personen in den Gemeinden. Wenn er dabei Philemons gedenkt, dankt er Gott: „Ich danke meinem28 Gott jedesmal, wenn ich deiner bei meinen Gebeten gedenke“ (V.4). Im Hintergrund steht hier die jüdische Tradition der Segenssprüche (b’rachót): Alles, was begegnet, wird so zu Gott in Beziehung gesetzt, dass Gott im Blick auf das Begegnende gesegnet wird29. Hinsichtlich positiver Erfahrungen verbindet sich damit ganz von selbst der Dank. Von daher wird es zu erklären sein, dass im jüdischen Griechisch das hebräische Wort für „segnen“ sowohl mit eulogeín (wörtlich: „gut reden“ = segnen; vgl. lateinisch be-

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Gott ist da Vater, wo Jesus Christus Herr ist“ (Der erste Brief an die Korinther [1Kor 1,1–6,11], Teilbd. 1, 1991, 107). Alle, die Jesus Christus zum Herrn haben, haben auch Gott zum Vater; aber nicht alle, die Gott zum Vater haben, sehen auch in Jesus Christus ihren Herrn. Vgl. dazu ARZT-GRABNER, Komm., S.123–135. Ebd. S.134f. Hier rezipiert Paulus Psalmensprache; vgl. Ps 3,8; 5,3; 7,2.4; 22,2. Vgl. LENHARDT/OSTEN-SACKEN, Akiva, S.32–37.

2. Das Proömium (V.4–7)

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nedicere) als auch mit eucharisteín (danken) wiedergegeben wird30. Wenn Paulus an Philemon denkt, wendet er den in Gestalt dieses Menschen empfangenen Segen im Gebet dankbar an Gott zurück31. Anlass dafür ist nach V.5 das, was er über Philemon hört. Dieser ist zwar wahrscheinlich durch ihn zum Glauben an Jesus Christus gekommen. Aber danach scheinen sie sich nicht mehr persönlich begegnet zu sein. Paulus ist darauf angewiesen, was er über Philemon hört. Gerade dieser Brief zeigt, dass Paulus einen relativ großen Mitarbeiterstab hatte. Die Mitarbeiter reisten auch je für sich, überbrachten Nachrichten hin und her und hielten so über die eigenen Besuche des Paulus hinaus die Verbindung zwischen dem Apostel und seinen Gemeinden aufrecht. Unter den im Philemonbrief genannten Mitarbeitern könnte es vor allem der Kolosser Epaphras sein, von dem Paulus Informationen über Philemon erhalten hat, und natürlich hat ihn Onesimus informiert. Was er über Philemon erfahren hat, fasst er in V.5 als „deine Liebe und 5 Treue“ zusammen. Das hier mit „Treue“ wiedergegebene griechische Wort pístis wird üblicherweise mit „Glaube“ übersetzt. Grundsätzlich ist beides möglich. Im anschließenden Relativsatz erfolgt jedoch ein Bezug sowohl auf „den Herrn Jesus“ als auch auf „alle Heiligen“, also die Menschen in den Gemeinden. Von daher liegt die Bedeutung „Treue“ näher. Man kann die Bedeutung „Glaube“ nicht dadurch gewinnen, dass man „die Liebe“ allein auf „alle Heiligen“ und dann „den Glauben“ allein auf „den Herrn Jesus“ bezieht32. Wie der singularische Anschluss im Relativsatz zeigt33, sind „Liebe und Treue“ als eine Einheit verstanden. Sie gilt zuerst Jesus als „dem Herrn“. Philemon, der selbst ein „Herr“ ist, ein Herr über Sklaven, hat seinerseits einen Herrn gefunden, der für ihn nun der Herr schlechthin ist, auf den er hört und an dem er sich orientiert. Auf ihn vertraut er, ihm ist er treu, ihn liebt er. Diese „liebevolle Treue“ zu seinem Herrn manifestiert sich in „vertrauens-

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Vgl. den Wechsel dieser beiden Verben im Neuen Testament, wenn von Jesus erzählt wird, dass er den Segensspruch über dem Brot gesprochen habe. eulogeín steht in Mt 14,19; 26,16; Mk 6,41; 14,22; Lk 9,16, eucharisteín in Mt 15,36; Mk 8,6; Lk 22,19; Joh 6,11; 1Kor 11,24. Einen Unterschied in der Bedeutung gibt es hier nicht. Zu dieser Bewegung des Segnens vgl. MAGDALENE L. FRETTLÖH, Theologie des Segens. Biblische und dogmatische Wahrnehmungen, 3. Aufl., Gütersloh 1999, S.384–403. So z.B. WOLTER, Komm., S.253; LAMPE, Komm., S.211, und viele andere. Der Grund für diese Aufteilung besteht natürlich darin, „weil es schwierig ist zu sagen, was ‚alle Heiligen‘ als Gegenstand des Glaubens bedeuten sollen“ (FITZMYER, Komm., S.96). Aber diese Schwierigkeit lässt sich auch und besser durch die Annahme beheben, dass pístis hier nicht als „Glaube“ verstanden ist. Das lässt sich in der deutschen Übersetzung nicht eindeutig ausdrücken.

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Zweiter Teil. Kommentar

voller und zuverlässiger Liebe“34 gegenüber denen, die wie er denselben Herrn haben und anerkennen. Sie bezeichnet Paulus hier als „alle Heiligen“. Heilig ist, wer und was zu Gott gehört, von ihm mit Beschlag belegt ist. Einige Bemerkungen in den Paulusbriefen belegen, dass schon die christusgläubige jüdische Gruppe in Jerusalem sich als „die Heiligen“ verstand35. Diese Bezeichnung ist von Paulus in aller Selbstverständlichkeit für die von ihm und anderen in den Städten der Mittelmeerwelt gegründeten Gemeinden aufgenommen worden36. Den Grund dafür lässt er jeweils am Beginn des Römer- und ersten Korintherbriefes erkennen, wenn er dort seine Adressatenschaft als „berufene Heilige“ (Röm 1,7; 1Kor 1,2), im Römerbrief zusätzlich als „Geliebte Gottes“, bezeichnet. Gott hat in seiner Liebe durch die Verkündigung von Jesus Christus auch sie berufen, um ihm als „dem lebendigen und wahren Gott zu dienen“ (1Thess 1,9), und sie so zu „Heiligen“ als ihm Geheiligten gemacht37. Damit ist biblisch-jüdische Tradition aufgenommen. Denn als ihm geheiligtes Volk hat Gott Israel erwählt, das seiner Heiligkeit gemäß als Zeuge Gottes leben soll. „Heilig sollt ihr sein. Ja, heilig bin ich, Adonaj, euer Gott“ (Lev 19,2). „Ihr sollt mir ein Königreich von Priestern sein und eine heilige Nation“ (Ex 19,6). Dieser Aspekt der Heiligkeit des Volkes Israel ist im Judentum besonders vom Pharisäismus betont und zu leben versucht worden – nicht als elitäres Sich-Absondern vom Volk, sondern im Sinne der Repräsentanz. Die Bestimmung Israels als einer „heiligen Nation“ in Ex 19,6 wird im Midrasch so ausgelegt: „‚Und eine Nation‘: Sie (die Schrift) hat sie (die Israeliten) ‚Nation‘ genannt. Denn es ist gesagt: ‚Und wer ist wie Dein Volk Israel eine einzige Nation auf Erden usw.?‘ (2Sam 7,23) ‚Heilig‘: Heilige und Geheiligte, Abgesonderte von den Völkern der Welt und ihren Götzenbildern“38. Hier ist noch einmal an 1Thess 1,9 zu erinnern, wo der Zielbestimmung, „dem lebendigen und wahren Gott zu dienen“, die Wendung „von den Götzen zu Gott“ vorangeht. Dass Paulus die Menschen in den christusgläubigen Gemeinden als „Heilige“ bezeichnet, darf nicht im Sinne der Ersetzung verstanden werden, als wären sie nun „die wahren Heiligen“ und gelte diese Bestimmung für Israel nicht mehr39. So denkt Paulus nicht. Das lässt er ganz beiläufig erkennen, 34 35 36 37 38 39

Diese beiden Umschreibungen versuchen, die Einheit von „Liebe und Treue“ in unterschiedlichen Akzentuierungen auszudrücken. Vgl. Röm 15,25f.31; 1Kor 16,1; 2Kor 8,4; 9,1. Vgl. Röm 1,7; 16,2.15; 1Kor 6,1f.; 14,33; 2Kor 1,1; 13,12; weiter Röm 8,27; 12,13. Vgl. o. den Exkurs „Gebrauch des Epithetons ‚geliebt‘“ zu V.2. MekhJ Jitro (BaChodesch) 2 (HOROVITZ/RABIN S. 209). Die Formulierungen bei GNILKA, Komm., S.36, sind zumindest nicht davor geschützt, im Sinne der Substitution verstanden zu werden: „Die Selbstbezeichnung der Christen als Heilige in den paulinischen Gemeinden deutet die neue Existenz an. Sie sind so an die Stelle des alten Gottes-

2. Das Proömium (V.4–7)

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wenn er Röm 11,16 im Bild formuliert: „Wenn die Wurzel heilig ist, sind es auch die Zweige.“ Mit den „Zweigen“ meint er alle Jüdinnen und Juden40. Das dankbare Gedenken im Gebet, zu dem Philemons Verhalten Anlass gibt, 6 hat auch ein Ziel und gewinnt so zugleich den Charakter der Fürbitte. Dieses Ziel formuliert Paulus in V.6: „Möge deine selbstlose Treue sich auswirken in der Erkenntnis alles dessen, was bei uns in Hinsicht auf Christus als gut gilt!“ In dieser Fortführung ist impliziert, dass es nicht einen abgeschlossenen „Stand“ gibt und es also mit einem Rückblick sein Genügen haben könnte. Es kommt vielmehr darauf an, einen Weg zu gehen, dessen Ende noch nicht erreicht ist. Das bringt die Formulierung von V.6a sehr schön zum Ausdruck. Was Paulus gerade über Philemons „Liebe und Treue“ in ihrem auf „alle Heiligen“ gerichteten Aspekt gesagt hat, über seine „vertrauensvolle und zuverlässige Liebe“, nimmt er nun auf in der Wendung „deine selbstlose Treue“. Wörtlich übersetzt lautet sie: „die Gemeinschaft deiner Treue / deines Vertrauens / deines Glaubens“41. Sein Glaube an Christus, sein auf ihn gerichtetes Vertrauen, die ihm erwiesene Treue lässt ihn nicht isoliert für sich und auf sich bezogen sein, sondern versetzt ihn in die Gemeinschaft der Gemeinde, um ihr mit seinen Möglichkeiten in „selbstloser Treue“ zu dienen. Das tut er; und dieses Tun wiederum möge sich nun auswirken in der Erkenntnis alles Guten. Erkenntnis des Guten ist ja bei Philemon gewiss schon vorhanden; sonst könnte Paulus nicht von seiner „selbstlosen Treue“ sprechen, die von solcher Erkenntnis geleitet sein wird. Aber diese „selbstlose Treue“ soll nun ihrerseits wiederum zu weiterer Erkenntnis führen. So kommt es zu einer lebendigen Wechselwirkung zwischen Tun und Erkennen, die nicht abgeschlossen ist, sondern weitergeht. Den Gegenstand der Erkenntnis bestimmt Paulus näher als all das, „was bei uns in Hinsicht auf Christus als gut gilt“. Damit ist nicht gesagt, dass Gutes nur „bei uns“, in der Gemeinschaft der Christusgläubigen, erkannt werden könnte. An anderer Stelle kann Paulus sehr offen und weit formulieren, wenn er in Phil 4,8 ausführt: „Im Übrigen, meine Geschwister: Was immer wahr ist, was

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volkes gerückt, dem das Wort galt: ‚Seid heilig, denn ich, der Herr, euer Gott, bin heilig‘ …“ (Hervorhebungen von mir). Es sollte daher bedacht werden, dass die Rede von der „Gemeinschaft der Heiligen“ im dritten Artikel des christlichen Glaubensbekenntnisses zu Israel in Beziehung setzt, dass die Gemeinschaft aller Heiligen größer ist als die Kirche. Vgl. dazu KLAUS WENGST, Das Verhältnis von Christen zu Juden in trinitarischer Perspektive – ein Versuch, in: „Die Gemeinde als Ort von Theologie“. FS JÜRGEN SEIM, hg.v. KATJA KRIENER u.a., Bonn 2002 (S.173–187), S.184f. Möglichkeiten, diese Wendung zu verstehen, werden durchgespielt von FITZMYER, Komm., S.97. Eine eindeutige Entscheidung scheint mir nicht möglich zu sein. Mein Versuch knüpft an das Verständnis von pístis als „Treue“ in V.5 an.

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Zweiter Teil. Kommentar

ehrenhaft, was gerecht, was rein, was wohlgefällig, was löblich, was es immer an Wohlverhalten gibt und was immer Anerkennung verdient, darauf seid bedacht!“ Aber im Einzelfall kann es dann doch unterschiedliche Einschätzungen „des Guten“ geben; und dann stellt sich die Frage nach den Kriterien. So sagt Paulus hier in Phlm 6, dass sich „bei uns“ das Gute „in Hinsicht auf Christus“ bemisst. Im Blick auf ihn müssen im Entscheidungsfall die Kriterien gewonnen werden42. Wenn Paulus in Phlm 6 – anders als in Phil 4,8 – die Erkenntnis des Guten „bei uns“ betont und ihr das Kriterium an Christus vorgibt, hat er dafür einen Grund. Aus den weiteren Darlegungen wird sich ergeben, dass er schon an dieser Stelle im Blick darauf formuliert, was er mit seinem Brief erreichen will. Denn „was bei uns in Hinsicht auf Christus als gut gilt“, ist keine allgemeine Floskel, sondern wird im Brief für den vorliegenden Fall konkretisiert. Und diese Konkretisierung – das, was er als „gute“ Tat von Philemon fordert und erwartet, – ist nicht das allgemein Übliche, das, was auch andernorts selbstverständlich als gut gilt, sondern etwas sehr Besonderes, das sich als „gut“ nur aus der Hinsicht auf Christus ergibt. 7 Paulus schließt das Proömium nicht mit dieser Zielangabe ab, die leise andeutet, was er mit diesem Brief erreichen will. Noch einmal erwähnt er in V.7 das, was Philemon schon getan hat und gibt seiner Freude darüber Ausdruck: „Ja, ich bin sehr erfreut und ermuntert worden aufgrund deiner Liebe, weil das Herz der Heiligen durch dich erquickt ist, Bruder.“ So ist die Angabe des Ziels in V.6 eingerahmt von Dank und Freude über das bereits Getane. Damit aber wird unterstrichen, dass sich die Erwartung an Philemon, die in der Formulierung von V.6 ausgesprochen und doch zugleich noch in ihr verborgen ist, gewiss erfüllen wird43. Paulus hatte in V.5 – gleichsam in einem Begriff mit zwei Worten – von Philemons „Liebe und Treue“ gesprochen und daraus in V.6 das Wort „Treue“ aufgenommen und in eine andere Verbindung gebracht. Jetzt in V.7 kennzeichnet er Philemons Tätigkeit noch einmal mit dem anderen Wort: „Liebe“. Sie hat sich in karitativem Wirken gegenüber der Gemeinde erwiesen, deren Mitglieder hier wiederum als „die Heiligen“ benannt werden. Dieses karitative Wirken umschreibt Paulus liebevoll als Erquicken des Herzens. Das mit 42

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Auch in Phil 4 belässt es Paulus nicht bei den allgemeinen Angaben, sondern weist im folgenden Vers 9 auf seine Person und das von ihm Vermittelte hin: „Was ihr gelernt, überliefert bekommen, gehört und an mir gesehen habt, das tut!“ „Insgesamt läßt Paulus ein überaus positives Bild von Philemon entstehen. Dessen einzelne Züge sind jedoch so gestaltet, daß sie der weiteren Argumentation dienen können, in der Form, daß Philemon nun diesem positiven Bild auch entsprechen muß“ (BIEBERSTEIN, Brief, S.680).

3. Hauptteil: die Bitte (V.8–20)

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„Herz“ übersetzte griechische Wort splágchna bezeichnet im eigentlichen Sinn die „Eingeweide“, meint diese aber hier als Sitz der Gefühle. Daher ist es im Deutschen am besten mit „Herz“ wiederzugeben. 3. Hauptteil: die Bitte (V.8–20) Nachdem Paulus sich an den üblichen Formalitäten am Beginn eines Briefes orientiert und es dabei verstanden hat, sie zur Vorbereitung seiner Absicht zu nutzen, führt er im Hauptteil diese Absicht aus, die ihn den Brief schreiben lässt. Er formuliert seine Bitte in zwei wohlüberlegten und geschickt aufgebauten Argumentationsgängen. Der erste nennt Gegenstand und Inhalt der Bitte: Paulus möchte Onesimus als seinen Helfer haben (V.8–14), der zweite sichert diese Bitte nach verschiedenen Seiten hin ab (V.15–20). a) Erster Argumentationsgang (V.8–14) 8 Daher, obwohl ich in Christus sehr freimütig reden und dir gebieten könnte, was deine Pflicht wäre, 9 verlege ich mich um der Liebe willen doch lieber aufs Bitten – und das ich, Paulus: ein alter Mann, jetzt aber auch Gefangener Jesu Christi. 10 Ich bitte dich für mein Kind – den ich in meiner Gefangenschaft gezeugt habe: Onesimus, 11 den dir ehedem Unnützen, jetzt aber dir und mir sehr Nützlichen. 12 Den schicke ich dir zurück – ihn, das heißt: mein Herz. 13 Den hätte ich gerne bei mir behalten, damit er mir an deiner Stelle in der durch das Evangelium veranlassten Gefangenschaft diene, 14 aber ohne dein Einverständnis wollte ich nichts machen, damit du das Gute nicht gleichsam aus Zwang tust, sondern freiwillig. Paulus rückt nicht sofort mit seiner Bitte heraus. Vielmehr betont er zunächst seine Autorität, die ihn einfach gebieten lassen könnte (V.8), nimmt sie aber zurück, weil er lieber bitten möchte – und lässt sie doch wieder anklingen (V.9). Den „Gegenstand“ seiner Bitte, Onesimus, nennt er erst mit Namen, nachdem er sich selbst in engste Beziehung zu ihm gesetzt hat (V.10), stellt dann einen positiven Wechsel bei ihm fest (V.11) und identifiziert sich schließlich mit ihm (V12). Erst danach bringt er zum Ausdruck, was er gerne schon getan hätte (V.13), aber ohne Philemons Zustimmung nicht tun will (V.14).

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Zweiter Teil. Kommentar

Dass im Proömium Positives über Philemon gesagt wird, entspricht der guten Form und hat sicher Anhalt an der Wirklichkeit. Für Paulus ist dabei aber wichtig, dass er daran seine Argumentation anknüpfen kann44. Weil Philemons tätige Liebe schon bekannt ist und sich seine Erkenntnis des Guten in Richtung der von Paulus formulierten Zielangabe weiter entwickeln wird, bittet er „daher“ und befiehlt nicht (V.8.9a). „Daher“ muss er nicht befehlen, sondern kann bitten. Schon in dieser Art der Anknüpfung liegt ein Hinweis darauf, dass er dem Philemon nicht freie Wahl zwischen zwei Möglichkeiten belässt45, sondern dass er ihn auf eine ganz bestimmte Entscheidung hinbewegen will. Das unterstreicht seine Wortwahl. Er könnte Philemon gebieten „was deine Pflicht wäre“46. Was er von Philemon will, gilt ihm also als dessen Pflicht. Wenn es aber um Philemons Pflicht geht, sind die Weichen von vornherein gestellt. Dann kann es sich nur noch darum handeln, dass dieser seiner Pflicht auch nachkommt. Paulus könnte in dieser Hinsicht „sehr freimütig reden“. Noch treffender wäre hier möglicherweise die Übersetzung: „Ich hätte gutes Recht47.“ Paulus hätte also gutes Recht, dem Philemon seine Pflicht vorzuhalten48. Er hätte dieses Recht „in Christus“, das heißt innerhalb des Raumes, in dem die Herrschaft Christi anerkannt ist und zum Zuge kommt. Zumindest Paulus ist die titulare Bedeutung von „Christus“ als „Gesalbter“, „Messias“ bewusst. Er beansprucht daher, dass die Ausübung der Pflicht, die er dem Philemon befehlen könnte, Gehorsam gegenüber der Herrschaft Jesu als Mes-

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Nach DUNN weist diese Anknüpfung mit „daher“ daraufhin, dass Paulus mit der Würdigung Philemons in V.7 „bereits den Grund gelegt hat für die zentrale Bitte des Briefes“ (Komm., S.324). Vgl. unten zu V.14. to anhékon „bezeichnet den Kreis der Pflichten, dem jeder unterstellt ist“ (LOHMEYER, Komm., S.183). Nach HEINRICH SCHLIER ist es an dieser Stelle „nicht nur das, was sich geziemt, sondern das, wozu man, obwohl in privater Angelegenheit, so gut wie rechtlich verpflichtet ist“ (ThWNT I, S.361). LOHMEYER stellt die Seltsamkeit der von Paulus getroffenen Wortwahl heraus, wenn er weiter fragt: „Wie kann Paulus gebieten in einer Angelegenheit, die nach antiken Begriffen das persönliche Eigentum des Philemon betrifft?“ (S.184) DIBELIUS bemerkt zu parresía: „… hier nähert sich die Wortbedeutung wie in der Rechtssprache häufig derjenigen von exusía“ (Komm., S.104) – unter Verweis auf einen Beitrag von ERIK PETERSON: Zur Bedeutungsgeschichte von Parrhs…a, in: Reinhold-Seeberg-Festschrift I. Zur Theorie des Christentums, hg.v. WILHELM KOEPP, Leipzig 1929, S.283–297. PETERSON belegt, dass schon in der Bildung des Wortes „ein polemischer Klang zum Ausdruck (kommt), der aus dem politischen Leben stammt. Es ist die politische ‚Redefreiheit‘ der attischen Demokratie, die sich das Recht (die ἐξουσία) nimmt, ‚alles zu sagen‘“ (S.283). Er belegt weiter: „Im Begriff der παρρησία ist für den Griechen immer die ἐξουσία: ‚Das Recht auf etwas‘ enthalten“ (S.285). So ist es gut begründet, wenn er Phlm 8 als neutestamentliches Beispiel dafür anführt, dass parrhesía im Sinne von exusía erscheint (S.292). Demgegenüber erscheint es als seltsam, wenn BARTH/ BLANKE dieses Verständnis zurückweisen, ohne jedoch auf die von PETERSON gebrachten Belege einzugehen (Komm., S.308–310), und dann doch keine wirkliche Alternative bieten: Paulus verzichte hier auf „einen spezifischen Gebrauch der Redefreiheit“ (Komm., S.309). „Es leidet also für Paulus keinen Zweifel, daß es für Philemon nur eine eindeutige Konsequenz zu ziehen gibt“ (SUHL, Komm., S.30).

3. Hauptteil: die Bitte (V.8–20)

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sias ist und dass in der Ausübung dieser Pflicht das messianische Reich konkret Gestalt gewinnt. Auf sein gutes Recht verzichtet Paulus jedoch und will 9 lieber bitten (V.9). Das kann er „um der Liebe willen“, weil Philemons Liebe bereits erquicklich gewirkt hat (V.7). Paulus stellt zunächst betont seine Autorität heraus, nimmt sie aber sofort wieder zurück und verlegt sich aufs Bitten. Kaum jedoch hat er die Absicht, bitten zu wollen, ausgesprochen und bevor er den Inhalt seiner Bitte anführt, unterstreicht er schon wieder seine Autorität in doppelter Weise. Zum einen bezeichnet er sich als presbýtes, als einen älteren oder alten Mann49. Als solchem gebührt ihm Achtung und Respekt50. Zum anderen nimmt er noch einmal auf, womit er sich schon in der Absenderangabe charakterisiert hatte: Er ist „Gefangener Jesu Christi“. Um der Verkündigung des Evangeliums willen ist er im Gefängnis, als von Jesus Christus zu dieser Verkündigung Beauftragter – und ist und bleibt dabei zugleich doch ganz und gar in dessen Hand51. Auch das gibt ihm Autorität52. Erst nach dieser Vorbereitung – nach betonter, zurückgenommener und doch 10 wieder hervorgekehrter Autorität und nachdem klargestellt ist, dass es bei der Bitte des Paulus um nichts anderes als um Philemons Pflicht geht – kommt Paulus endlich zum Gegenstand seiner Bitte: Onesimus (V.10). Allerdings hütet er sich, sofort diesen Namen zu nennen, der bei Philemon Ärger hervorrufen muss. Auch hier bereitet er sorgfältig vor: Ich bitte dich für mein Kind, den53 ich in meiner Gefangenschaft gezeugt habe: Onesimus54.“ Bevor Paulus Onesimus mit Namen nennt, führt er ihn als sein in der Haft gezeugtes Kind

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Zu den Alterstufen in der Antike vgl. Philo opif. § 105. Er zitiert hier die in seiner Zeit gängigen Alterstufen, angeblich nach Hippokrates: paidíon (bis 7 Jahre), pais (bis 14), meirákion (bis 21), neanískos (bis 28), anér (bis 49), presbýtes (bis 56), géron (ab 56). In spec. II 33 bezeichnet er in Auslegung von Lev 27,7 mit dem Begriff presbýtes Männer über 60. Vgl. auch den Artikel „Lebensalter“ in DNP 6, Sp.1207–1212. Dort wird sowohl für Griechenland als auch für Rom und Italien festgestellt, dass man das Alter mit etwa 60 Jahren beginnen ließ (Sp.1208.1211). Vgl. Lev 19,32: „Vor einem grauen Haupt sollst du aufstehen und die Alten ehren …“ (Luther). Wenn Paulus sich gegenüber Philemon als „alten Mann“ bezeichnet, impliziert das, dass dieser jünger war als er; dass Philemon „jung“ war (FITZMYER, Komm., S.86), ist damit allerdings nicht gesagt. Vgl. zu V.1. Vgl. die Autorität, die später Ignatius von Antiochia als zum Tode Verurteilter während seines Transportes nach Rom bei den Gemeinden, die er durchzieht, hat, beansprucht und einzusetzen weiß: Eph 3,1; Magn 1,2; 9,12; Trall 12,2. Diese grammatische Inkongruenz entspricht genau dem griechischen Text. Das von Paulus hier gebrauchte Wort für „Kind“ (téknon) ist neutrisch; daran schließt er aber in einer constructio ad sensum mit maskulinem Relativpronomen an. Der Kasus der Apposition „Onesimus“ ist an den Kasus des eingeschobenen Relativsatzes attrahiert; vgl. BDR § 295.2.

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Zweiter Teil. Kommentar

ein55. Das ist der entscheidende Gesichtspunkt, unter dem der vorliegende Fall zu betrachten ist. Onesimus ist durch Paulus für den Glauben an Jesus Christus und damit zum Vertrauen auf den einen Gott, den Gott Israels, gewonnen worden. Indem Paulus für diesen Vorgang die Metaphorik von Zeugen und Gebären gebraucht56, stellt er zwischen sich und Onesimus die enge Beziehung von Vater und Kind her. Das ist ja die erste Bezeichnung des Gegenstandes seiner Bitte: „mein Kind“. Die Vater-Kind-Beziehung zwischen Paulus und Onesimus wird auch die Beziehung des Herrn Philemon zu seinem Sklaven Onesimus verändern57. Es ist bezeichnend, dass Paulus von Onesimus weder als Philemons Sklaven noch ausdrücklich von dessen Flucht spricht. Nachdem er am Ende von V.10 den Namen „Onesimus“ genannt hat, gibt 11 Paulus in V.11 dem an dieser Stelle zu erwartenden Ärger seines Adressaten Philemon ein wenig Raum. Er macht eine Konzession, die sich allerdings nur auf die Vergangenheit bezieht und deren Formulierung schon anklingen lässt, dass das mit ihr Eingeräumte für die Gegenwart nicht mehr gilt. Er kennzeichnet Onesimus als „den dir ehedem Unnützen“ und spielt dabei mit der Bedeutung des Namens „Onesimus“ („der Nützliche“)58. Wie immer sich Onesimus als Sklave im Haus Philemons verhalten haben mag, als ‚Nichtsnutz‘ hat er sich in jedem Fall durch seine Flucht erwiesen59. Das aber ist für Paulus abgetan. Für die Gegenwart charakterisiert er ihn als „jetzt aber dir und mir sehr Nützlichen“60. Das ist eine in doppelter Hinsicht eigenartige Formulierung. 55

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BARTCHY betont, dass Paulus damit keineswegs seine Autorität über Onesimus andeuten will, sondern gegenüber Philemon seine enge Verbundenheit mit dem Sklaven herausstellt: „Einerseits war Onesimus Philemons Sklave, andererseits aber ist er gerade Sohn des Paulus geworden. Ja, Onesimus ist in Christus auch Bruder des Paulus geworden. Deshalb sollte ihn auch Philemon als seinen Bruder anerkennen“ (Undermining, S.73). Vgl. 1Kor 4,15; Gal 4,19. FRILINGOS stellt heraus, dass Paulus zwar Philemon als Hausherrn ersetzt und durch sein eigenes Vater-Kind-Verhältnis zu Onesimus implizit einen größeren Anspruch auf den Sklaven behauptet als der tatsächliche Sklavenbesitzer. Hinzu kommt, dass dieser mit dem Brief als Bevollmächtigter des Paulus auftritt. Damit ist vor der Öffentlichkeit des Hauses der Wechsel aus der Kontrolle durch Philemon zum Dienst für Paulus de facto schon gegeben (Child, S.101f.). Im Griechischen liegen allerdings bei dem Namen einerseits und den in V.11 gebrauchten Begriffen andererseits unterschiedliche Wortstämme zugrunde. Man könnte die sprachliche Varianz im Deutschen durch folgende Übersetzung von V.11 zum Ausdruck bringen: „der ehedem für dich nicht zu gebrauchen war, jetzt aber für dich und mich sehr wohl zu gebrauchen ist“. Es gibt „keinen deutlicheren Erweis der Unbrauchbarkeit eines Sklaven als dessen Flucht, durch die er sich gänzlich dem Zugriff seines Herrn entzieht, so daß dieser keinerlei Nutzen aus der Arbeit seines Sklaven ziehen kann“ (ARZT, Unbrauchbar, S.135). WOLTER will hier ein „doppeltes Wortspiel“ entdecken. Außer dem „auf der Ebene der Wortbedeutungen“ erkennt er „ein phonetisches“, da sich die beiden Worte wegen des Itazismus gesprochen „wie a-christos bzw. eu-christos“ anhörten (Komm., S.263; vgl. ähnlich SUHL, Komm., S.32; WINTER, Letter, S.4f., und viele andere; nach LOHMEYER geht diese mit dem Namen Christi hergestellte Verbindung bis auf FERDINAND CHRISTIAN BAUR zurück [Komm., S.186 Anm. 3]). So übersetzt WOLTER V.11: „den für dich einst Unbrauchbaren/Unchristlichen, für dich und mich jetzt aber Wohlbrauchbaren/Wohlchristlichen“ (S.258; vgl. auch HÜBNER, Komm., S.35: „nicht

3. Hauptteil: die Bitte (V.8–20)

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Einerseits nämlich könnte und müsste Philemon einwenden, dass es sich doch wohl erst noch zeigen müsse, ob ihm Onesimus nützlich sei; da wäre allenfalls eine vorsichtige Prognose für die Zukunft zu geben, aber keine gewisse Aussage über die Gegenwart zu machen. Und andererseits könnte und müsste er sehr erstaunt darüber sein, was es denn heißen solle, dass er Paulus sehr nützlich sei. Schließlich ist Onesimus sein, des Philemon, Sklave. In diesem Zusammenhang, in dem mit dem fraglichen Nutzen des Onesimus das Eigentumsverhältnis zwischen Philemon und Onesimus angesprochen ist, mischt sich Paulus in das Eigentumsverhältnis ein, indem er seine Person neben Philemon stellt. Erst an dieser Stelle – nachdem er sich zu Onesimus ins Verhältnis des 12 Vaters zum Kind gesetzt und nachdem er Negatives für Onesimus nur hinsichtlich der Vergangenheit gelten ließ und damit implizit für abgetan erklärt hat – kommt Paulus auf den unmittelbar vorliegenden Vorgang zu sprechen, die Rückkehr des Onesimus, und geht dabei noch einen Schritt weiter, indem er sich in V.12 geradezu mit ihm identifiziert: „Den schicke ich dir zurück – ihn, das heißt: mein Herz.“ Mit dem Zurückschicken61 des Onesimus verfolgt Paulus nicht das Ziel, dass der Sklave nun bei seinem Herrn bleibe und sich dort für sein in der Flucht gezeigtes Fehlverhalten rehabilitiere. Das wird sich gleich zeigen. Indem Paulus den Zurückgeschickten als sein „Herz“62 bezeichnet, bringt er mit dieser Art der Identifizierung eine starke emotionale Bindung zum Ausdruck. Hatte er sich eben in V.11, als es um den Nutzen des Sklaven ging, neben den Herrn gestellt, so identifiziert er sich nun mit dem Sklaven –

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christlich, gut christlich“) und meint, es ginge „um des Onesimus Christlichkeit …, nicht um seine Nützlichkeit“, weshalb sich „Spekulationen darüber“ verböten, „in welcher Weise Onesimus seinem Herrn in der Vergangenheit ‚nutzlos‘ gewesen sei“ (S.264). Das ist jedoch nicht nur „weit hergeholt“ (FITZMYER, Komm., S.109; vgl. auch ARZT-GRABNER, Komm., S.207: „weder stichhaltig, noch nötig“), sondern auch sprachlich unmöglich. Die Behauptung, „ein begriffsidentisches Wortspiel“ finde sich bei einigen Apologeten, trifft nicht zu. Dort wird mit chrestós der Begriff christianós („Christ“, „christlich“) in Verbindung gebracht, den es zur Zeit des Paulus noch nicht gab. áchristos und eúchristos würden als „ungesalbt“ und „wohlgesalbt“ verstanden. Aus dem von Paulus hier für „zurückschicken“ gebrauchten Wort anapémpo schließt GNILKA: „Im Papyrus-Griechisch bedeutet es: eine Prozeßsache an den Richter verweisen bzw. einen beklagten Menschen vor die Behörde oder den Richter senden, einen Verhafteten vorführen. In der Rücksendung des Onesimos soll Philemon den Auftrag beschlossen sehen, den Fall des geflohenen Sklaven zu entscheiden. Es handelt sich also nicht um eine bloße Zurücksendung, sondern um eine über einen Schuldiggewordenen zu treffende Entscheidung“ (Komm., S.46). Ich halte diese Deutung für unmöglich. Paulus hat bereits angedeutet, was er von Philemon erwartet, dass der nämlich seine Pflicht tue; und der weitere Brief wird zeigen, dass er Philemon keine Entscheidungsfreiheit lässt. Er spricht auch nicht von einer Schuld des Onesimus. Wo er an einer Stelle diesbezüglich einen möglichen Fall setzt (V.18), räumt er ihn sofort aus. anapémpo meint in 1Clem 65,1 ein schlichtes Zurücksenden. In Lk 23,7.11.15 wird zwar ein Angeklagter verschickt, aber Lukas lässt hier gerade den Richter dessen Unschuld feststellen (23,14f.). Lediglich Apg 25,21 kann in dem von GNILKA genannten Sinn verstanden werden. Es ist hier dasselbe Wort gebraucht wie in V.7; vgl. z.St.

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Zweiter Teil. Kommentar

und stellt so von der anderen Seite her das Eigentumsverhältnis in Frage. Diese Identifizierung verpflichtet Philemon, mit Onesimus nicht anders umzugehen, als er mit Paulus umgehen würde. Damit ist er ihm als Sklave im Grunde schon entwunden. Dass Paulus sich in das Eigentumsverhältnis zwischen Philemon und Onesi13 mus einmischen will, formuliert er anschließend in V.13 zwar indirekt, aber doch deutlich genug: „Den hätte ich gerne bei mir behalten, damit er mir an deiner Stelle in der durch das Evangelium veranlassten Gefangenschaft diene“63. Hier könnten zwei Aspekte im Hintergrund stehen. Einmal wäre es möglich, dass die dem Philemon gegenüber Paulus unterstellte Verpflichtung sich auf das Recht der in den Gemeinden und für sie prophetisch und missionarisch Tätigen bezieht, von den Gemeinden versorgt zu werden. Das galt umso mehr und war umso wichtiger, wenn ein solcher Mensch aufgrund seines Wirkens in Haft geriet. Paulus hatte für seine Person auf das Unterhaltsrecht verzichtet, es aber keineswegs im Grundsatz aufgehoben, sondern es im Gegenteil betont64. So könnte er auch hier diese Verpflichtung der Gemeinde gegenüber ihrem Apostel meinen, wenn er davon spricht, dass Philemon ihm eigentlich dienen müsste. Dieser Pflicht hatten besser gestellte Mitglieder der Gemeinde sicherlich besonders nachzukommen65. Eine andere Möglichkeit hat OLLROG aufgezeigt. Er versteht den Philemonbrief „als Bittschreiben des Paulus um einen Gemeindegesandten“66. An Phil 2,29f. und 1Kor 16,15–18 zeigt er die Existenz von Gemeindegesandten auf, die „aus den paulinischen Gemeinden stammten und eine Zeitlang in Vertretung für ihre Gemeinden in der Missionsarbeit mitarbeiteten“67, und findet in Phlm 13 „sämtliche Komponenten der Gemeindegesandten-Charakteristik“ wieder. So formuliert er: „Nicht als Diener erbittet Paulus Onesimos zurück, sondern als Ersatz und Ausgleich für seinen Herrn!“68 Diese Alternative muss aber keineswegs zutreffen. Immerhin schreibt Paulus, „damit er mir an deiner Stelle in der durch das Evangelium veranlassten Gefangenschaft diene“. In diesem Zusammenhang ist auf die jüdische Praxis zu verweisen, dass ein Gelehrtenschüler lernt, indem er 63 64 65

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CALVIN kommentiert sehr vorsichtig: „Er deutet damit an, daß es ihm nicht unwillkommen wäre, wenn Onesimus wieder (zu ihm) zurückgeschickt würde“ (Komm., S.631). Vgl. vor allem seine Ausführungen in 1Kor 9. Im Falle von Festnahmen, vor allem wenn sie länger dauerten, dürfte allerdings auch er auf Hilfe von außen angewiesen gewesen sein. Vgl. DUNN, Komm., S.331: „‚In der durch das Evangelium veranlassten Gefangenschaft‘ ist ein weiterer nicht sonderlich subtiler Versuch, Philemon daran zu erinnern, dass Paulus den Onesimus nötiger braucht, als Philemon es tut, weil Paulus im Gefängnis in Ketten liegt: Onesimus könnte des Paulus Mangel an Bewegungsfreiheit teilweise ausgleichen.“ OLLROG, Paulus, S.104; im Original hervorgehoben. Ebd. S.108. Die beiden letzten Zitate ebd. S. 102 und 103; vgl. im Ganzen S.95–108.

3. Hauptteil: die Bitte (V.8–20)

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mit seinem Lehrer zusammenlebt und ihm dient, bevor er selbst zum Lehrer wird69. Indem Paulus einräumt, dass Onesimus anstelle von Philemon dessen Verpflichtung einlösen kann, erkennt er zwar das Rechtsverhältnis zwischen dem Herrn und seinem Sklaven implizit an. Aber wenn Onesimus in diesen Dienst gelangt, ist das Verhältnis von Herr und Sklave zwischen Philemon und Onesimus faktisch aufgelöst. Was Paulus wollte – nämlich den Onesimus als Mitarbeiter bei sich zu haben –, darauf verzichtet er zunächst, indem er Onesimus zu Philemon zurückschickt. Darauf muss er zunächst verzichten, will er nicht den Onesimus in der Unrechtssituation eines flüchtigen Sklaven und sich selbst in der Unrechtssituation eines Hehlers erhalten70. Will er Onesimus wirklich als Mitarbeiter für sich gewinnen, muss er ihn den Rückweg über Philemon nehmen lassen. So schickt er ihn zurück, um ihn – wie V.14 deutlich macht – mit Philemons 14 Zustimmung zu erlangen: „Aber ohne dein Einverständnis wollte ich nichts machen, damit du das Gute nicht gleichsam aus Zwang tust, sondern freiwillig.“ „Das Gute“ – beziehungsreich ist hier auf die „Erkenntnis alles dessen, was bei uns … als gut gilt“ (V.6), angespielt –, das als Tat Philemons erwartet wird, kann nichts anderes sein als das, was Paulus „gerne hätte“ (V.13)71 und was er zuvor als Philemons „Pflicht“ bezeichnet hatte (V.8). Er überlässt diesem keine Freiheit der Wahl72. Er drängt ihn vielmehr allein dazu, ihm den Onesimus zu überlassen. Genau das soll Philemon allerdings aus eigenem Antrieb tun. Zugleich ist es aber völlig zutreffend, dass Paulus mit seinem Vorgehen „in der Tat seine Verletzlichkeit und vollständige Abhängigkeit vom guten Willen Philemons bekennt. In einer Kirche, die in einer Gesellschaft existiert, die 69 70 71

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Vgl. LENHARDT/OSTEN-SACKEN, Akiva, S.88–95. Vgl. Einleitung, Abschnitt 9.c). Paulus „verzichtet also nicht auf die Absicht, sondern darauf, sie durch autoritative Entscheidung zu verwirklichen“ (LOHMEYER, Komm., S.188 Anm. 1). Das ist gegen LOHSE, Komm., S.280 Anm. 8, festzuhalten. Anders LOHSE: Paulus „stellt vielmehr Philemon anheim, wie er entscheiden wird, nur bindet er ihn an das Gebot der Liebe, in der er zu handeln hat“ (Komm., S.263). Ähnlich 281: Paulus wolle „unter keinen Umständen der Entscheidung vorgreifen, die nur Philemon als der rechtmäßige Herr des Sklaven fällen kann“. Nach STUHLMACHER hat Philemon die Möglichkeiten, „Onesimus weiterhin als Sklaven zu beschäftigen“ oder ihn „für den Dienst beim Apostel freizustellen und u.U. sogar ganz freizulassen. Paulus deutet seine diesbezüglichen Wünsche zwar an, bedrängt Philemon aber nicht einseitig, sondern überläßt ihm die Freiheit der eigenen Wahl und Entscheidung“ (Komm., S.42f.). Die erste Möglichkeit ist im Brieftext nicht einmal in Spuren angedeutet. Die aufgezeigten Textzusammenhänge schließen die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten m.E. aus. Das Verhältnis von V.13 zu 14 wird von WINTER treffend so beschrieben: „Das Gewicht der paulinischen Intention fällt auf V.13; V.14 gibt seinem Wunsch Ausdruck, dass sein Plan im Konsens mit dem Briefempfänger ausgeführt werde“ (Letter, S.9).

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Zweiter Teil. Kommentar

keine Gleichberechtigung kennt, besteht für die Mächtigeren eine besondere Verantwortung, gegenüber anderen im Geist der Güte zu handeln, statt auf ihren Rechten zu bestehen“73.

b) Zweiter Argumentationsgang (V.15–20) 15 Vielleicht ist er ja deswegen für kurze Zeit entfernt gewesen, damit du ihn für immer zurück bekommst – 16 nicht mehr wie einen Sklaven, sondern mehr als einen Sklaven: sowohl im Alltag als auch im Herrn als einen geliebten Bruder; gar sehr ist er das für mich, um wie viel mehr für dich. 17 Wenn du mich nun zum Genossen haben willst, nimm ihn auf wie mich! 18 Wenn er dich irgend geschädigt hat oder dir etwas schuldet, setze das mir auf die Rechnung! 19 Ich, Paulus, schreibe mit eigener Hand: Ich will es erstatten – um dir nicht zu sagen, dass auch du selbst dich mir schuldest. 20 Ja, mein Bruder, ich möchte deiner froh werden im Herrn. Erquicke mein Herz in Christus! Im ersten Argumentationsgang hat Paulus mit großer Vorsicht und Umsicht, aber doch auch in aller Klarheit ausgesprochen, was er will. Was er jetzt im zweiten Argumentationsgang verhandelt, dient ausschließlich der Absicherung dessen, dass Philemon seinem Wunsch entsprechen möge74. Hatte er vorher die Flucht des Onesimus nur implizit angesprochen, so geht er jetzt ausdrücklich auf sie ein, aber doch in höchst eigenartiger Weise, indem er das für Philemon so ärgerliche Faktum in einem äußerst positiven Licht erscheinen lässt (V.15f.). Die nochmalige Identifizierung des Paulus mit Onesimus (V.17) führt ihn dazu, für eventuelle Regressforderungen Philemons gegenüber Onesimus selbst einzustehen (V.18f.). So fordert er seinen Adressaten am Schluss nachdrücklich auf, in der durch das Schreiben nahe gelegten Weise zu handeln (V.20). 15 Schon die Art der Formulierung, in der Paulus in V.15 das Thema der Flucht des Onesimus anspricht, ist bezeichnend: „Vielleicht ist er ja deswegen für 73 74

DUNN, Komm., S.333. Das ist gegen diejenigen zu betonen, nach denen „in V.17 der eigentliche Kern des ganzen Briefs liegt“ (so ARZT-GRABNER, Komm., S.58). „Dass darin auch formal – deutlich zu erkennen am Imperativ – das Zentrum des ganzen Briefs liegt, wurde bisher fast immer übersehen“ (ebd.). Was Paulus mit diesem Bittbrief will, hat er seinem Adressaten auch ohne Imperativ schon deutlich zu verstehen gegeben.

3. Hauptteil: die Bitte (V.8–20)

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kurze Zeit entfernt gewesen.“ Der griechische Text ist hier nicht ganz eindeutig. Das versucht die Übersetzung nachzuvollziehen. Das im Passiv stehende Verb (echorísthe) kann die Bedeutung haben: „Er hat sich entfernt“, „ist fortgegangen“. In diesem Fall wäre immerhin auffällig, dass Paulus das Faktum der Flucht nicht klar benennt, sondern eine verharmlosende Umschreibung wählt. Die von ihm gebrauchte Formulierung kann aber auch so übersetzt werden: „Er ist getrennt worden“75, wobei dann sinngemäß zu ergänzen wäre: „von dir“. In diesem Fall wäre in dem Passiv Gott logisches Subjekt und Paulus ließe die Flucht des Onesimus geradezu als göttliche Fügung erscheinen76. Dass er in dieser Richtung verstanden werden will, darauf weist das vorsichtig tastende „Vielleicht“77 am Anfang des Verses hin. Von ihm her schwingt diese Dimension göttlicher Fügung auch bei der ersten Verstehensmöglichkeit mit78. Bezeichnend ist auch die Zeitangabe, die Paulus hinsichtlich der Entfernung bzw. Trennung macht: „für kurze Zeit“, wörtlich: „für eine Stunde“79. Diese Zeitangabe trifft zwar im Blick auf die dann vorgenommene Gegenüberstellung mit „auf immer“ oder „ewig“ zu. Aber tatsächlich war die Zeit der Abwesenheit des Sklaven Onesimus vom Haus Philemons so kurz nicht, geschweige denn „ein Stündchen“ oder gar „einen Augenblick“. Sie umfasste den Weg von Kolossä nach Ephesus und zurück, den wahrscheinlichen Aufenthalt des Onesimus in der Subkultur von Ephesus, bis er den Wunsch nach Rückkehr empfand, und die auch nicht sehr kurz zu veranschlagende Zeit seines Kontaktes mit Paulus80. Man wird sich also einige Wochen vorzustellen haben. 75 76

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Eine passive Bedeutung ist beim Gebrauch dieses Verbs in Apg 18,2 impliziert. Aus dem Textbefund, dass Paulus weder das Verhältnis zwischen Philemon und Onesimus als ein Besitzverhältnis benennt noch ausdrücklich von seiner Flucht spricht, wird gelegentlich geschlossen, Onesimus sei weder entlaufen noch überhaupt Sklave Philemons gewesen; vgl. z.B. ALLAN D. CALLAHAN, Paul’s Epistle to Philemon: Toward an Alternative Argumentum, HThR 86, 1993, S.357–376. Demgegenüber scheinen mir die im ganzen Brief gegebenen Hinweise eindeutig dafür zu sprechen, dass beides zutrifft. So setzt Paulus z.B. in V.16 vor das von CALLAHAN betonte „wie einen Sklaven“ (S.362) das von ihm zwar mitzitierte, aber nicht beachtete „nicht mehr“. Vgl. auch ARZT-GRABNER, Komm., S.84f., der im Blick auf die im Zusammenhang miteinander stehenden Formulierungen „wie einen Sklaven“ und „mehr als einen Sklaven“ bemerkt, dass „beides nur in Bezug auf einen Sklaven im eigentlichen Sinn verständlich“ ist. Der genannte Textbefund ist für die Art und Weise aufschlussreich, wie Paulus diese Wirklichkeit wahrnimmt und beschreibt. Dieses Wort „führt einen vorsichtig hinzugefügten Gedanken ein“ (FITZMYER, Komm., S.112). Schon CALVIN, Komm., S.632, weist als biblische Analogie auf Gen 45,5 hin, wo Josef zu seinen Brüdern sagt, nachdem er sich ihnen zu erkennen gegeben hat: „Nun aber grämt euch nicht und kränkt euch nicht darüber, daß ihr mich hierher verkauft habt; denn zur Lebenserhaltung hat mich Gott vor euch hergesandt“ (Übersetzung TORCZYNER). Vgl. im Deutschen die umgangssprachliche Wendung „auf ein Stündchen“. Beim Gebrauch derselben Wendung durch Paulus in Gal 2,5 meint die „Stunde“ nur einen „Augenblick“. Im Blick auf die „kurze Zeit“ bemerkt DE WETTE: „… wobei man sehr wohl an eine geraume Zeit denken kann, ja muss, weil die Bekehrung und die Entstehung einer Freundschaft zwischen P(aulus) und O(nesimus) eine solche fordert“ (Komm., S.83).

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Zweiter Teil. Kommentar

Angesichts der Ewigkeit schrumpfen sie natürlich auf „eine kurze Zeit“, auf „ein Stündchen“ zusammen. Paulus macht damit die keineswegs kurze Zeit der Flucht des Onesimus ziemlich gewichts- und bedeutungslos81. Sie hat für sich selbst kein Gewicht und keine Bedeutung angesichts dessen, worin sie sich auswirkte. Onesimus ist „für kurze Zeit entfernt gewesen, damit du ihn für immer zurück bekommst“. Diese Formulierung ist hintergründiger, als sie auf den ersten Blick erscheinen mag. In ihr ist schon angelegt, dass Philemon den Onesimus nicht in der alten Relation von Herr und Sklave zurück erhalten wird. Dass er ihn zurückbekommt, gilt hier ja als positive Funktion dessen, dass Onesimus zeitweilig „entfernt“ gewesen ist. Wenn aber ein entlaufener Sklave – auf welchem Wege auch immer – zu seinem Herrn in das alte Verhältnis zurückkehrt oder zurück gebracht wird, kann die Flucht schlechterdings nicht als etwas Positives angesehen werden, sondern kann nur als Störung eben dieses Verhältnisses gelten. Paulus muss also ein anderes als das Verhältnis von Herr und Sklave im Blick haben. Darauf weist auch die Wendung „auf immer“. Unter menschlichen Gesichtspunkten und nach geltendem Recht war ja Onesimus längst schon Sklave „auf immer“. Im hellenistisch-römischen Recht gab es keine Terminierung für den Status als Sklave82. Wenn Philemon den Onesimus „auf immer“ zurück erhält, dann wird hier menschliche Zeit auf Gottes Ewigkeit hin transzendiert. Dass Paulus aber für diese die Relation von Herr und Sklave festschreiben wolle, ist ausgeschlossen. 16 Und so sagt er in V.16 auch in aller wünschenswerten Klarheit, dass Philemon den Onesimus zurück erhält „nicht mehr wie einen Sklaven, sondern mehr als einen Sklaven83, sowohl im Alltag als auch im Herrn als einen ge81

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Aus dieser Zeitangabe, die eine Funktion in der Argumentation des Paulus hat, lässt sich kein Rückschluss auf die Intention des Onesimus vornehmen, er habe nicht fliehen, sondern sich nur ein wenig herumtreiben wollen (gegen ARZT-GRABNER, Komm., S.105). Anders verhält es sich im biblischen Recht, wo – was Israeliten betrifft – eigentlich nur der Sklave auf Zeit (sechs Jahre) vorgesehen ist; will aber der in Sklaverei geratene Mensch in ihr verbleiben, ist ein Verfahren vorgesehen, wodurch er oder sie Sklave oder Sklavin „auf immer“ wird (Ex 21,1–6; Dtn 15,12–18). Diese Stellen zum Verständnis von Phlm 15 anzuführen (so STUHLMACHER, Komm., S.42), macht aufgrund der völlig anderen Rechtslage keinen Sinn. Dass Paulus „durchaus auch eine dauernde Sklavenschaft des Onesimus bei Philemon ins Auge“ fasse (ebd.), erscheint mir nicht nur von dieser Stelle her als ausgeschlossen. Ebenso ist es nach den aufgezeigten Zusammenhängen verfehlt, das Wort für „zurückbekommen“ (apécho) als technischen Ausdruck der Geschäftssprache zu verstehen, insofern Philemon „mit dem zurückkehrenden Onesimus auch den ihm gehörigen Vermögenswert zurück“ erhalte (STUHLMACHER, Komm., S.41). Diese Fortsetzung, die der Aussage von V.15 in V.16 gegeben wird, macht es m.E. ganz unwahrscheinlich, dass das im Finalsatz von V.15 gebrauchte Verb apécho hier für „den spezifischen Ausdruck“ steht, „mit dem der Empfang von Waren oder Geld quittiert wird“ (ARZT-GRABNER, Komm., S.223), sodass man sagen könnte: „Philemon wird nach der Aussage des Paulus bald im-

3. Hauptteil: die Bitte (V.8–20)

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liebten Bruder; gar sehr ist er das für mich, um wie viel mehr für dich“. Philemon erhält Onesimus zurück, aber eben gerade nicht mehr „wie einen Sklaven“, sondern als Bruder84. Die Relation vom Herrn zum Sklaven wird hier überführt in die von Bruder zu Bruder. „Paulus war nicht darauf aus, seine beiden Freunde in ihrem gegenwärtigen sozialen Status zu bestätigen; darauf wollte er sie keineswegs festnageln. Onesimus – ein Sklave? ‚Nicht mehr!‘“85 Er betont, dass Onesimus für ihn, Paulus, Bruder ist. Die vorher in V.10 herausgestellte Relation von Vater und Sohn gilt also nicht als absolut. Diese Relation beschreibt sozusagen das Ursprungsgeschehen für seine Zugehörigkeit zur Gemeinde; durch die Christusverkündigung des Paulus ist er zum Vertrauen auf den einen Gott gekommen. Aber nun ist er Glied am Leib Christi nicht anders, als es Paulus auch ist. Das aber heißt, dass diese Relation vom Vater zum Sohn ganz von selbst zu der von Bruder zu Bruder tendiert. Dass die Relation Herr-Sklave im Volk Israel eigentlich unangemessen und nur notvollen Umständen geschuldet ist, in denen dennoch die Relation von Bruder zu Bruder dominant bleiben soll, zeigt sich im biblischen Sklavenrecht; vgl. Lev 25,39; Dtn 15,12. Dem entspricht es, dass das Sklavesein grundsätzlich zeitlich limitiert ist (Ex 21,2; Dtn 15,12–15; vgl. Lev 25,39–43). Entfristet kann es nur auf Wunsch des Versklavten werden (Ex 21,5f.; Dtn 15,16f.). In der rabbinischen Auslegung wird jedoch selbst dieses Sklavesein „für immer“ begrenzt; es endet im Jobeljahr oder beim Tod des Herrn (mQid 1,2; vgl. MekhJ Mischpatim [Nesikin] 2 [HOROVITZ/RABIN S.253f.]). Zudem versieht diese Auslegung die biblischen Bestimmungen für dauernde Sklavenschaft mit weiteren Einschränkungen, die die Sklavenschaft unpraktikabel machen (vgl. die Texte bei Bill. IV.2, S.706f.).

In V.19 wird Paulus anklingen lassen, dass er zu Philemon in derselben Relation des Vaters zum Sohn steht wie zu Onesimus86. Darin dürft seine hier in V.16 vorgenommene Schlussfolgerung begründet sein: Wenn Onesimus schon Bruder für ihn ist, dann umso mehr für Philemon87. Die Gleichstellung, die

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stande sein, den Erhalt seines Sklaven zu quittieren“ (ebd. S.224). Nach V.16 erhält er ihn ja gerade nicht „wie einen Sklaven“ zurück, sondern als „geliebten Bruder“. Die Herausforderung, die in dieser „Unterminierung traditioneller patriarchaler Beziehungen“ besteht, wird von BARTCHY betont: „Tatsächliche Patriarchen werden jetzt schlicht als ‚Brüder‘ angesehen, sogar als Brüder ihrer leiblichen Söhne und ihrer Sklaven“ (Undermining, S.70). BARTH/BLANKE, Komm., S.411. In Aufnahme der Beobachtung von Lightfoot, dass in V.16 ukéti und nicht mekéti steht, formulieren sie: „Höchstwahrscheinlich ist die Wahl des scheinbar unpassenden ouketi ein Signal: Paulus wollte von Fakten reden, nicht von einer bloßen Möglichkeit, einem frommen Wunsch oder einer zaghaften Erwartung“ (S.416). FRILINGOS betont, dass Paulus damit Philemon und Onesimus auf eine Ebene stellt und dass er, indem er gegenüber beiden die Vaterrolle einnimmt, enormen Druck auf die bisher von den beiden anderen im Haus eingenommenen sozialen Rollen ausübt (Child, S.102f.). Anders etwa GNILKA, der die Aussage, dass die Geschwisterschaft des Onesimus noch mehr für Philemon gelte, so begründet: „Denn Onesimos gehört zu seinem Haus, zu seiner Familie“ (Komm., S.52). Dazu gehört er jedoch als Sklave.

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Zweiter Teil. Kommentar

Paulus hier zwischen Philemon und Onesimus vollzieht, zeigt sich auch daran, dass er letzteren an dieser Stelle als „geliebten Bruder“ benennt. Er charakterisiert ihn so mit derselben Bezeichnung, mit der er in der Adresse in V.1 Philemon bedacht hatte. Die Geschwisterschaft zwischen Onesimus und Philemon gilt „im Herrn“, also dort, wo Jesus das Sagen hat, wo auf ihn als Herrn gehört, wo befolgt wird, was er sagt88: im Bereich der Gemeinde. Aber dieser Herr wird von Paulus – und nicht nur von ihm – als der „eine Herr“ bekannt, der die Herrschaft der „vielen Herren“ bestreitet (1Kor 8,5f.), der in seiner Gemeinde und durch sie nach der von Gott geschaffenen Welt greift, um sie ihm wieder ganz zuzuführen (1Kor 15,28). Von daher ist es so überraschend vielleicht nicht, dass Paulus vor der Wendung „im Herrn“ ganz parallel die andere anführt: „im Fleisch“, was hier so viel wie „im Alltag“ bedeuten muss. Er weist somit der zu lebenden Geschwisterschaft zwischen Philemon und Onesimus als Ort nicht nur den Bereich der Gemeinde zu, sondern auch den weltlichen Alltag. Was aber impliziert das für die Relation von Herr und Sklave? Kann sie noch aufrechterhalten werden, wenn im Alltag Geschwisterlichkeit gilt? 17 Nimmt Philemon die nun mit Onesimus gegebene Geschwisterschaft ernst, muss er ihn genauso aufnehmen, wie er Paulus aufnehmen würde. Dazu fordert ihn dieser in V.17 ausdrücklich auf: „Nimm ihn auf wie mich!“ Dieser Aufforderung stellt er noch eine bezeichnende Bedingung voran: „wenn du mich zum Genossen haben willst“. „Genossenschaft“ (koinonía) „ist die Form der zwischenmenschlichen Beziehung von freien Menschen sowohl in der Polis wie im Oikos“89, also in der Stadt und im Haus. Die Geschwisterschaft, in die Onesimus hineingekommen ist, führt ihn in den Augen des Paulus weiter zur Genossenschaft. Damit wird auch von hier aus sein Sklavesein in Frage gestellt90. 18 Aus der Identifizierung mit Onesimus folgt auf der anderen Seite für Paulus,

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In diesem Kontext, in dem zwischen Paulus, Philemon und Onesimus die Bruderschaft betont wird, erscheint es als signifikant, dass fünfmal von Jesus – und nur von ihm – als „Herrn“ geredet wird. Darauf weist DETLEV DORMEYER hin: Flucht, Bekehrung und Rückkehr des Sklaven Onesimos. Interaktionale Auslegung des Philemonbriefes, Der Evangelische Erzieher 35, 1983 (S.214–228), S.220. Vgl. LAUB, Begegnung, S.71. Besonders aufschlussreich ist unter den von ihm angeführten Stellen Arist.e.e. 1241b (VII 9), wonach zwischen Herr und Sklave keine koinonía bestehen kann, da der Sklave keine eigene Wesenheit sei, sondern nur in Abhängigkeit vom Herrn existiere. ARZT versteht den Begriff „Genosse“ an dieser Stelle in der auch belegten Bedeutung „Teilhaber“, „Geschäftspartner“ (Unbrauchbar, S.136f.). Philemon werde zugemutet, den entlaufenen Sklaven „als Geschäftspartner vom Format eines Paulus einzustellen“ (S.137; vgl. S.137f.). Er übergeht dabei allerdings den in V.13f. ausgesprochenen Wunsch des Paulus, Onesimus als Mitarbeiter für sich zu haben.

3. Hauptteil: die Bitte (V.8–20)

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dass er für eventuelle Ansprüche Philemons gegenüber Onesimus auf Schadensersatz einsteht. So schreibt er in V.18: „Wenn er dich irgend geschädigt hat oder dir etwas schuldet, setze das mir auf die Rechnung!“ Im ersten Teil ist dargelegt worden, dass diese Formulierung nicht unbedingt die Annahme nahe legt, Onesimus habe Philemon irgendeinen Vermögenswert beschädigt oder zerstört oder ihn bestohlen. Sehr wohl aber könnte Philemon die nicht geringe Fehlzeit, den Arbeitsausfall während der Zeit der Flucht, in Anschlag bringen. Sollte er das tun, will Paulus dafür einstehen. Er beteuert sogar in V.19a: „Ich, 19 Paulus, schreibe mit eigener Hand: Ich will es erstatten.“ Im Hintergrund steht hier der Rechtsbrauch, dass durch eine eigenhändige Niederschrift als Urkunde mit Angabe des Namens eine Verbindlichkeit eingegangen wird91. Er gibt sich damit rechtlich verbindlich als Schuldner zu erkennen92. „Es ist selten, daß der Apostel im Kontext eines Briefes ‚ich, Paulus‘ sagt, und nur dort zu beobachten, wo er seine ganze Persönlichkeit ins Spiel bringen will, sei es, daß er um die Treue der Gemeinde bangt, sei es, daß er sie zu sehen wünscht (2Kor 10,1; Gal 5,2; 1Thess 2,18). Hier versichert er damit, daß eben er, nicht Onesimos, den Schadenersatz leisten wird“93.Wiederum erkennt er die bestehenden Rechtsverhältnisse implizit an. Er tut es jedoch nur, um sie sofort von anderer Warte aus wieder in die Schwebe zu bringen, indem er in V.19b schreibt: „um dir nicht zu sagen, dass auch du selbst dich mir schuldest“. Paulus sagt zwar, nicht davon reden zu wollen. Aber indem er so formuliert, redet er ja doch davon – sehr entgegenkommend in der Form, aber klar und eindeutig in der Sache. Wenn er sagt, dass Philemon sich ihm schulde94, dürfte das kaum anders zu verstehen sein, als dass dieser durch seine Christusverkündigung zum Glauben gekommen ist, der ihn neue Schöpfung in der Gemeinschaft der Gemeinde werden ließ95. Wenn sich so Philemon als ganze Person Paulus ver-

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Daraus muss nicht geschlossen werden, Paulus habe nur diesen Briefabschnitt selbst geschrieben. ARZT-GRABNER hält es aufgrund der von ihm angeführten Papyrusdokumente für „sehr wahrscheinlich“, „dass Paulus den ganzen Brief selbst geschrieben hat“ (Komm., S.242). Das hat vor allem KRAUS gezeigt. Seine Studie will erweisen, „dass in Phlm 19 eine klar juristische Diskussion zu finden ist, die ihre Herkunft aus dem rechtlichen Alltag nimmt und die vom Autor bewusst und zielgerichtet in eben dieser Form verwendet wird“ (Verpflichtung, S.189). Im Blick auf die Wendung „Ich schreibe mit eigener Hand“ vgl. S.191–194. Das in V.19a gebrauchte Verb „bezeichnet im Sinne von ‚abzahlen‘, ‚eine (Geld)Schuld begleichen‘ oder ‚eine Buße bezahlen‘ einen alltäglichen Vorgang im damaligen Geschäftsleben, ist als juristischer terminus technicus verbreitet“ (S.195). Vgl. schon DEISSMANN, Licht, S.281. GNILKA, Komm., S. 85. Gegenüber dem Simplex opheílo in V.18 gebraucht Paulus hier das bedeutungsgleiche Kompositum prosopheílo. Nach KRAUS „scheint aber der grundsätzlich stärker rechtliche Sinn des Compositums durchaus bewusst gewählt zu sein“ (Verpflichtung, S.196). „Finanzrechtlich hat Paulus sich zum Schuldner Philemons gemacht, ‚in Christus‘ hingegen ist er dessen Gläubiger“ (WOLTER, Komm., S.276).

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Zweiter Teil. Kommentar

dankt, wie könnte er da eine mögliche Rechtsposition einnehmen und auf ihr beharren? Wie könnte er da von Paulus, der sich mit Onesimus identifiziert, Regress fordern? Natürlich könnte er es. Aber dann müsste er die von Paulus aufgestellten Relationen zur Seite schieben; innerhalb ihrer ist es schlicht unmöglich96. Nachdem so der Punkt eines möglichen Anspruchs auf Schadensersatz aus20 geräumt ist, spricht Paulus am Ende des zweiten Argumentationsganges in V.20 eine Erwartung aus, verbunden mit einer Aufforderung an Philemon. Er wünscht sich: „Ja, mein Bruder, ich möchte deiner froh werden im Herrn.“ Die grammatische Form des hier gebrauchten Verbs drückt einen „erfüllbaren Wunsch“ aus, „der in diesem Kontext fast ein Imperativ ist“97. Für dieses Verb gilt weiter, „dass es im Erwartungshorizont der Eltern gegenüber ihren Kindern vorkommt“98. Eltern möchten ihrer Kinder froh werden; sie werden es, wenn diese die in sie gesetzten Hoffnungen erfüllen. Dieser Horizont ergibt sich vom Schluss des Verses 19 her, wo Paulus im Blick auf sich und Philemon die Relation von Vater und Sohn einspielte. Dennoch spricht er ihn jetzt nicht als sein Kind an, sondern als seinen Bruder. Darin zeigt sich einmal wieder, dass diese Relation von Vater und Sohn zu der von Bruder zu Bruder tendiert. Zum anderen und zugleich wird damit daran erinnert, dass in diese Geschwisterschaft auch Onesimus hineingehört, der in V.16 dem Philemon als Bruder vor Augen gehalten worden war. Wenn Paulus sich Philemons „im Herrn“ freuen möchte, gibt er mit dieser Wendung den Bereich an, in dem ihrer aller Geschwisterschaft gründet und sich in erster Linie vollzieht: die Gemeinde, in der Jesus seine Herrschaft schon ausübt99. Paulus kann sich Philemons freuen, wenn dieser tut, wozu er in V.20b aufgefordert wird: „Erquicke mein Herz in Christus!“ Bereits in V.7 hatte Paulus festgestellt, dass durch Philemon „das Herz der Heiligen erquickt ist“. Er soll nichts anderes tun, als er gegenüber „den Heiligen“ schon getan hat und weiter tut. Wie sollte er es dann nicht auch und gerade gegenüber Paulus tun?! In der Formulierung „mein Herz“ schwingt aber noch eine weitere Dimension mit. 96

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KRAUS behauptet, V.19b nehme V.19a „nichts an Aussagekraft“. „Die Formel in 19a steht absolut und ist von allen anderen, früheren Schuldbeziehungen unübertroffen“ (Verpflichtung, S.199). Diese Logik ist mir nicht nachvollziehbar. So sehr V.19a mit seinem vorangehenden Kontext verbunden ist, so wenig steht er „losgelöst“ (absolut) vom folgenden. Unbestreitbar folgt V.19b auf V.19a. – Vgl. dagegen etwa LAMPE, Komm., S.225: Wenn Philemon die Schuldverschreibung des Paulus realisierte, wäre „deutlich, daß er sich damit lächerlich gemacht hätte: So etwas tut man nicht gegenüber jemandem, dem man seine christliche Existenz verdankt.“ FITZMYER, Komm., S.119. GNILKA, Komm., S.86; dort auch Belege. Vgl. zu V.16.

4. Schluss (V.21–25)

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Denn als „mein Herz“ hatte Paulus in V.12 Onesimus bezeichnet. Das aber heißt: Philemon erquickt Paulus, wenn er Onesimus erquickt, wenn er den entlaufenen Sklaven so aufnimmt, wie er Paulus aufnehmen würde (V.17), wenn er dem in V.13f. angedeuteten Wunsch entspricht. Paulus schließt seine Aufforderung mit der Wendung „in Christus“ ab. Wie mit der Wendung „im Herrn“ ist damit der Jesus unterstellte Bereich der Gemeinde bezeichnet. Aber es werden jeweils andere Akzente gesetzt. Die Wendung „im Herrn“ betont, dass Jesus in diesem Bereich das Sagen hat, dass er dort seine Herrschaft ausübt. Bei der Wendung „in Christus“ dürfte der titulare Sinn von „Christus“ als „Gesalbter“, „Messias“ mitklingen: Wo Herren und Sklaven zu Geschwistern werden, da gewinnt der Messias Raum, da scheint die messianische Zeit schon auf. Mit dieser letzten Aufforderung im Hauptteil seines Briefes hat Paulus noch einmal knapp zusammengefasst, was er von Philemon will. Für sich genommen klingt seine Aufforderung sehr allgemein. Philemon hat sie jedoch im Kontext des ganzen bisherigen Briefes gelesen; er wird wissen, was er tun soll. 4. Schluss (V.21–25) 21 Im Vertrauen auf deinen Gehorsam schreibe ich dir, weil ich weiß, dass du noch mehr als das tun wirst, was ich sage. 22 Zugleich halte mir auch eine Unterkunft bereit; ich hoffe nämlich, durch eure Gebete euch geschenkt zu werden. 23 Es grüßt dich Epaphras, mein Mitgefangener in Jesus Christus, 24 auch Markus, Aristarch, Demas und Lukas, meine Mitarbeiter. 25 Die Freundlichkeit des Herrn Jesus Christus sei mit eurem Geist! In diesem abschließenden Abschnitt macht Paulus zunächst eine Vertrauensaussage im Blick auf Philemon; er ist sich gewiss, dass dieser seinen Erwartungen entsprechen wird (V.21). Sodann kündigt er seinen Besuch an für den erhofften Fall, dass er freikommt (V.22), bestellt Grüße von Mitarbeitern in seiner Umgebung (V.23f.) und entbietet schließlich den Schlussgruß (V.25). Paulus ist sich gewiss, dass Philemon auf ihn hören wird: „Im Vertrauen auf 21 deinen Gehorsam schreibe ich dir.“ Wenn er von „Gehorsam“ spricht, scheint jetzt wieder seine apostolische Autorität durch100. Dem Gehorsam entspricht 100

Der Ausdruck „Gehorsam“ wirkt nur dann „befremdlich“ (so STUHLMACHER, Komm., S.52), wenn man meint, dass Paulus dem Philemon unterschiedliche Möglichkeiten zur Wahl lasse.

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Zweiter Teil. Kommentar

die „Pflicht“ (V.8). Diese Pflicht, die er gebieten könnte, hatte er als seine Bitte formuliert. Er ist sich ihrer Erfüllung gewiss, „weil ich weiß, dass du noch mehr als das tun wirst, was ich sage“. Falls Philemon nicht von selbst darauf gekommen wäre, mehr als das zu tun, was Paulus ausdrücklich sagt, ist diese Formulierung natürlich ein hilfreicher Wink dafür, genau so zu handeln. Ausdrücklich hat Paulus gesagt, dass Philemon den Onesimus wie ihn selbst aufnehmen soll und dass er ihn gern bei sich hätte. Das „Mehr“, das Paulus nicht sagt, aber erwartet, kann dann nur sein, dass ihm Onesimus nicht als Sklave Philemons überlassen wird, sondern dass er als ein freier Mensch zu ihm kommt und so auch hinsichtlich seiner Person kein Zwang, sondern Freiwilligkeit gegeben ist (V.14). 22 Paulus ist im Gefängnis. So kann er nicht einfach seinen Besuch ankündigen: „Zugleich halte mir auch eine Unterkunft bereit; ich hoffe nämlich, durch eure Gebete euch geschenkt zu werden.“ Hinsichtlich des Bereitens der Unterkunft spricht er allein Philemon an; hinsichtlich des fürbittenden Betens und seines Besuches hat er die ganze Hausgemeinde im Blick. Wenn er freikommt und am Leben bleibt, ist das ein Geschenk für die Gemeinde101 – ein Geschenk Gottes. Einen möglichen Freispruch möchte er nicht einem blinden Schicksal zuschreiben, nicht einer Laune des Statthalters und auch nicht seinem Geschick, sich zu verteidigen, sondern den Gebeten der Gemeinde und damit Gott. Bei den Grußbestellungen wechselt Paulus in V.23 sogleich wieder zur 2. 23 Person Singular102: „Es grüßt dich Epaphras, mein Mitgefangener in Jesus Christus.“ Nach Kol 4,12 kommt Epaphras aus Kolossä; nach Kol 1,7; 4,13 hat er wohl als Mitarbeiter des Paulus die Christusbotschaft ins Lykostal gebracht und dort die Gemeinden in Kolossä, Laodizea und Hierapolis gegründet. Zur Zeit der Abfassung des Philemonbriefes befindet er sich mit Paulus in derselben Gefangenschaft. Er ist sein „Mitgefangener in Jesus Christus“. Damit ist einmal gesagt, dass auch seine Gefangenschaft durch die Christusverkündigung verursacht wurde. Zweitens wird mit dieser Wendung festgehalten, dass selbst die Gefangenschaft sie nicht Jesus aus der Hand reißt. Und drittens wird daran dessen besondere messianische Signatur deutlich, insofern er ein leidender und gekreuzigter Messias ist. In der noch bestehenden alten Welt partizipieren seine Sendboten an seinem Leidensschicksal, das doch nicht das letzte Wort ist (vgl. 1Kor 4,9–13). 101 102

Vgl. Phil 1,24–26. „Es fällt auf, daß Paulus in V.23 die Grüße seiner Mitarbeiter nicht der Gemeinde, sondern dem Hauptadressaten Philemon entbietet“ (BINDER, Komm., S.67).

4. Schluss (V.21–25)

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In V.24 nennt Paulus weitere Mitarbeiter, die Grüße ausrichten lassen: „auch 24 Markus, Aristarch, Demas und Lukas“. In Kol 4,10 wird ein Markus „Vetter des Barnabas“ genannt. Ob er von daher mit Johannes Markus (Apg 12,12.25; 15,37.39) identisch ist, lässt sich nicht entscheiden103. Aristarch ist nach Kol 4,10 Mitgefangener des Paulus. Möglicherweise handelt es sich bei ihm um Aristarch, den Makedonier aus Thessalonich (Apg 19,29; 20,4; 27,2). Ein Demas wird in Kol 4,14 genannt104, ebenfalls ein Lukas, der als „der Arzt“ charakterisiert wird105. Die hier „Grüßenden vergrößern noch die bereits durch V.2 geschaffene Öffentlichkeit … Philemon muß davon ausgehen“, dass sie über den vorliegenden „Fall … unterrichtet sind“106. In V. 25 schließt Paulus seinen Brief mit einem kurzen Gruß ab, der die 25 ganze Hausgemeinde anredet: „Die Freundlichkeit des Herrn Jesus Christus sei mit eurem Geist!“ Er enthält in verkürzter Form, was schon der Gruß am Ende des Präskripts107 gesagt hatte. Besonders ist, dass es statt einfach „mit euch“ heißt: „mit eurem Geist“108, dass sich also der Zuspruch auf die intellektuelle Kraft bezieht, die etwas erkennen und verstehen kann und imstande ist zu urteilen. Diese Zuspitzung erscheint am Schluss dieses Briefes als wohlüberlegt: Wenn der Geist der Hausgemeinde109 Philemons von der Freundlichkeit Jesu Christi erfasst und bestimmt ist, wird Philemon dem folgen, was ihm Paulus in diesem Brief nahe gelegt hat.

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Die Nennungen eines „Markus“ an den späten Stellen 2Tim 4,11; 1Petr 5,13 helfen für eine Identifizierung auch nicht weiter. Nach 2Tim 4,10 hat ein Demas den als Paulus vorgestellten Verfasser aus Liebe zu dieser Welt verlassen. Nach 2Tim 4,11 ist „allein Lukas“ bei Paulus. LAMPE, Komm., S.230. Vgl. zu V.3. So auch Gal 6,18; Phil 4,23. „Der Zuspruch wendet sich an den gleichsam versammelten Geist der Gemeinde, die zum Anhören des Briefes zusammengekommen ist“ (GNILKA, Komm., S.94).

Dritter Teil Über Sklaverei und Freiheit Paulus im Gespräch mit Plinius d.J., Seneca und Epiktet

Die Besonderheit der paulinischen Argumentation im Philemonbrief, die im zweiten Teil nachzuzeichnen versucht worden ist, tritt umso deutlicher hervor, wenn sie mit analogen Stellungnahmen ins Gespräch gebracht wird. Über Sklaverei und Freiheit haben Seneca und – vor allem – Epiktet nachgedacht. Seneca bietet eindrückliche Ausführungen über einen humanen Umgang mit Sklaven. Bei Plinius d.J. findet sich zumindest die Erörterung eines Falles, der zu dem des Sklaven Onesimus gewisse Analogien aufweist. Die Äußerungen dieser Personen mit Paulus ins Gespräch zu bringen, ist besonders unter dem Gesichtspunkt interessant, wie sich Philosophie bzw. Theologie und Wirklichkeit zueinander verhalten. Was leitet die jeweils gemachten konkreten Ausführungen? Von woher sind sie bestimmt? Worauf zielen sie? Da Paulus außer im Philemonbrief, wo ihm die Sklaventhematik von der Situation her vorgegeben war, auf sie vor allem in 1Kor 7 in einem ganz anderen Zusammenhang von sich aus zu sprechen kommt (V.17–24, besonders V.21–23), wird auch diese Stelle in die Erörterung einzubeziehen sein.

1. Großmut und Reue: Rückkehr ins Gegebene Die Briefe des jüngeren Plinius an Sabinianus Unter den Briefen des dem römischen Senatorenstand zugehörigen jüngeren Plinius (geboren 61/62 n.Chr., gestorben vor 117) finden sich zwei an einen Sabinianus, der Grund hat, einem seiner Freigelassenen zu zürnen. In seinen Briefen nun verwendet sich Plinius für diesen Freigelassenen bei seinem Patron. Hier geht es zwar weder um das Verhältnis von Herr und Sklave noch um Sklavenflucht, aber der Fall ist dennoch vergleichbar. Nach der Freilassung bestanden zwischen dem ehemaligen Sklaven und seinem ehemaligen Herrn weiterhin enge Bindungen. Sie standen jetzt im Verhältnis von Patron und Klient zueinander. Das schloss für den Freigelassenen auf alle Fälle Ehrerbietung und Gehorsam gegenüber dem Patron ein, vor allem aber Dienstleistun-

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Dritter Teil. Über Sklaverei und Freiheit

gen und unter Umständen auch pekuniäre Verpflichtungen. Er unterstand weiterhin dessen Obergewalt. Auf der anderen Seite gab es eine Beistandsverpflichtung des Patrons gegenüber seinem Klienten. In dem in den Briefen des Plinius an Sabinianus angesprochenen Fall war dieses Verhältnis durch das Verhalten des Klienten gestört. Der ist sich seiner Schuld bewusst und möchte das Verhältnis wieder in Ordnung bringen. Dazu wendet er sich an Plinius als einen einflussreichen Freund seines Patrons und bittet um Fürsprache1. Daraufhin schreibt Plinius an Sabinianus: „C. Plinius grüßt seinen Sabinianus Dein Freigelassener, dem Du, wie Du mir sagtest, böse bist, war bei mir, warf sich mir zu Füßen, als wärest Du es, und wich nicht von der Stelle. Lange weinte er, bettelte lange, schwieg auch lange, kurz, ich gewann den Eindruck, daß er bereut. Ich glaube, er hat sich wirklich gebessert, weil er fühlt, daß er sich vergangen hat. Du bist wütend, ich weiß, und mit Recht, auch das weiß ich; aber gerade dann verdient Nachsicht besonderes Lob, wenn man wohlbegründeten Anlaß zum Zorn hat. Du hast den Mann liebgehabt und wirst ihn hoffentlich wieder liebhaben; einstweilen genügt es, daß Du Dich erweichen läßt. Du darfst ihm wieder zürnen, wenn er’s nicht anders verdient, und da mit noch besserem Recht, wenn Du Dich jetzt erweichen läßt. Halte seiner Jugend, seinen Tränen, Deiner Nachgiebigkeit etwas zugute! Quäle ihn nicht und damit auch Dich, denn Du quälst Dich, wenn Du, ein so sanftmütiger Mann, zornig bist! Ich fürchte, es sieht so aus, als bäte ich nicht, sondern suchte Dich zu nötigen, wenn ich mit seinen Bitten die meinigen verbinde; trotzdem tue ich es, und um so dringender und nachdrücklicher, je schärfer und strenger ich ihn mir vorgenommen habe, indem ich ihm unmißverständlich drohte, mich hinfort niemals wieder für ihn zu verwenden. Das galt für ihn, den ich einschüchtern mußte; nicht so für Dich. Vielleicht werde ich ja noch einmal wieder für ihn bitten, ihm noch einmal wieder Verzeihung erwirken, liegt nur der Fall so, daß ich mit gutem Gewissen bitten, Du nachgeben kannst. Leb wohl!“2 1 2

Einen ausführlichen Vergleich der beiden Pliniusbriefe mit dem Philemonbrief des Paulus bietet BARCLAY, Komm., S.104–110. Briefe IX 21; Übersetzung KASTEN S.525.

1. Großmut und Reue: Rückkehr ins Gegebene

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Im zweiten Brief dankt Plinius dem Sabinianus, dass er seiner Fürsprache entsprochen habe, und fährt dann fort: „Zugleich bitte ich Dich für die Zukunft, Dich bei Verfehlungen Deiner Leute versöhnlich zu zeigen, auch wenn kein Fürsprecher zur Stelle ist“3. Bevor ich frage, worauf Plinius beim Freigelassenen hinweist und woran er bei Sabinianus appelliert, sei ein auffälliger Unterschied in der Benennung des „Gegenstandes“ bei Plinius und Paulus festgehalten. Bei Plinius hat der Freigelassene keinen Namen; er begegnet nur in der Benennung seines Status. Bei Paulus dagegen wird Onesimus an keiner Stelle mit seinem Status als Sklave bezeichnet. Wo das Wort „Sklave“ auf ihn bezogen begegnet, wird dieser Status für ihn verneint: Philemon erhält ihn zurück „nicht mehr wie einen Sklaven, sondern mehr als einen Sklaven“ (V.16)4. Das weist schon darauf hin, dass es bei Plinius um die Reintegration in die gegebene Wirklichkeit geht, während Paulus gegebene Wirklichkeit zu verändern sucht. Im Blick auf den Freigelassenen erzählt Plinius breit von dessen Reue und hebt seine wahrscheinliche Besserung hervor. Darüber verliert Paulus in dem weitaus schlimmeren Fall von Sklavenflucht kein einziges Wort5. Für Plinius bildet das Rechtsverhältnis zwischen Patron und Klient den entscheidenden Bezugsrahmen seiner Fürsprache. Die Reue des Freigelassenen zeigt ihm, dass dieser willens ist, sich diesem Rahmen wieder ganz und gar zu fügen. Deshalb hebt er sie hervor. Paulus nimmt sehr wohl wahr, dass Philemon und Onesimus in der Relation von Herr und Sklave zueinander stehen. Aber diese Relation bildet für ihn nicht den Bezugsrahmen seiner Argumentation. Er, Philemon und Onesimus sind miteinander „im Herrn“ verbunden; und dieser Bezugsrahmen verwandelt die Relation von Herr und Sklave in die von Bruder und Bruder. Deshalb braucht sich Paulus nicht auf die Reue des Onesimus zu beziehen, und er kann es auch nicht; denn ein solcher Bezug hätte nur Sinn, wenn Onesimus in das Sklavenverhältnis zurückkehren sollte, in das er „im Alltag und im Herrn“ (V.16) nicht mehr hineingehört. Plinius appelliert an die Nachsicht und Versöhnlichkeit des Sabinianus, die er trotz seines berechtigten Zornes walten lassen möge. Wiederum findet sich

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Ebd. IX 24; S.531. Das wird sehr klar von LOHMEYER herausgestellt: Die von Paulus gebrauchten Worte „vermeiden selbst die Strenge des Wortes ‚Sklave“ und dulden nur noch den Vergleich, als sei er auch rechtlich nicht mehr was er war; sie machen vollends deutlich, daß das Ziel der Bitte nicht die Rückkehr in den früheren Sklavenstand ist“ (Komm., S.189). Wenn STUHLMACHER vom „reumütigen Sklaven Onesimus“ spricht (Komm., S.24), ist das ohne jeden Anhalt am Text.

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Dritter Teil. Über Sklaverei und Freiheit

nichts dergleichen bei Paulus6. Auch hier ist bei Plinius klar, dass er von der gegebenen Relation zwischen Patron und Klient her denkt. Der Freigelassene hat sie verletzt und deshalb den Zorn des Sabinianus verdient. Durch dessen Großmut kann er wieder in die alte Beziehung aufgenommen werden. Er wird dadurch seinem Patron nur umso mehr verpflichtet sein. Paulus dagegen löst Onesimus aus der Herr-Sklave-Relation heraus; er stellt ihn aber auch nicht in die neue Verpflichtung des Freigelassenen gegenüber seinem ehemaligen Herrn. Er argumentiert von dem neu gegebenen Faktum her, dass Onesimus jetzt Jesus Christus und daher zur Gemeinde gehört. Dieses Faktum setzt ihn zu Philemon in die Relation von Bruder und Bruder. Diese neue Relation, die – als Paulus den Brief schreibt und Philemon ihn empfängt – schon gegeben ist, muss Philemon sozusagen nur noch ratifizieren. Sie hängt nicht von seiner Großmut ab. Deshalb braucht Paulus nicht an sie zu appellieren; und er darf es auch nicht. Ein solcher Appell könnte nur verdunkeln, was „im Herrn“ schon gilt. Hier wird an einem Einzelfall deutlich, was es heißt, wenn Paulus an anderer Stelle schreibt: „So kennen wir von jetzt an niemanden mehr nach dem Vorfindlichen… Wenn daher jemand in Christus ist, so ist da ein neues Geschöpf; das Alte ist vergangen, siehe, es ist Neues geworden“ (2Kor 5,16a.17).

2. „‚Sklaven sind sie.‘ – Nein, Menschen.“ Humaner Umgang mit Sklaven bei Seneca Seneca wurde um den Beginn unserer Zeitrechnung herum in Corduba in der Provinz Baetica geboren. Aus einer alten Ritterfamilie stammend, gelang es ihm in Rom, in höchste Ränge aufzusteigen. Als Erzieher des jungen Nero und späterer Berater des Kaisers erlangte er größten Einfluss und war einer der reichsten Männer seiner Zeit. Er starb 65 n.Chr. auf Befehl Neros durch Selbstmord. Über Sklaven äußert sich Seneca7 besonders ausführlich und eindringlich im 47. seiner „Briefe über Ethik“8. Hier wird in vielen Aspekten die Lebenswirk6

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„So … kehrt zu Philemon – im Gegensatz zu dem Freigelassenen des Sabinianus … – kein auf Versöhnlichkeit angewiesener Abhängiger zurück …, sondern ein aufgrund der gegenseitigen Agape der Glaubenden personal Gleichgestellter, selbst wenn sich an seinem Rechtsstatus als Sklave (zunächst) nichts änderte“ (BALZ, Philemonbrief, S.489). Über Senecas Äußerungen zu Sklaven vgl. VOGT, Sklaverei, S.90–92. Er betont, dass „Seneca als einziger römischer Schriftsteller mit ausführlichen, grundsätzlichen Darlegungen über das Verhältnis zwischen Herren und Sklaven hervorgetreten (ist)“ (S.90). In De benificiis (Über die Wohltaten) III 17,1–29,1 erörtert Seneca die Frage, ob Sklaven Wohltaten erweisen können, und bejaht sie.

2. „‚Sklaven sind sie.‘ – Nein, Menschen.“

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lichkeit von Sklaven in städtischen Haushalten deutlich. Der Einblick in sie soll noch von anderen Texten her verdeutlicht werden. Vor allem aber lässt Seneca seine von stoischer Philosophie geprägte Einstellung zu Sklaven als Menschen erkennen.

a) Kritik am gängigen Umgang mit Sklaven Seneca beobachtet scharf die Situation von Sklaven in den Häusern vermögender Herren. Er beschreibt den Sklaven auferlegte Verpflichtungen, wie sie wohl häufig vorkamen, wie er sie aber selbst nicht gutheißen kann. Er führt den Herrn an, der sich „bei der Mahlzeit mit einer Schar stehender Sklaven umgibt“ (2)1, denen das Sprechen streng untersagt ist. „Mit der Rute unterdrückt man jedes Murmeln, und nicht einmal unbeabsichtigte Zwischenfälle sind von Schlägen ausgenommen, Husten, Niesen, Schluckauf: mit schwerer Strafe, ward von irgendeinem Wort unterbrochen das Schweigen, sühnt man es; die ganze Nacht stehen sie nüchtern und stumm da“ (3). Mit Sklaven gemeinsam zu essen, scheint dem vornehmen Herrn völlig abartig zu sein: „Nichts niedriger als das, nichts schimpflicher!“ (13) Die Sklaven sind auf den Geschmack ihres Herrn geradezu abgerichtet und auf bestimmte Verrichtungen spezialisiert: „Einer zerlegt kostbares Geflügel; durch Brust und Keulen mit sicheren Schnitten führend die kundige Hand, schneidet er Portionen zurecht, der Unglückliche, der allein dazu lebt, Geflügel elegant zu zerlegen2… Ein 1 2

Die Zahlen in Klammern geben die Abschnitte im 47. Brief an. Vgl. Juvenal, Satiren V 120–124, der spottet: „Schau dir inzwischen den Trancheur an, wie er tanzt und mit fliegendem Messer gestikuliert, bis er die Regeln seines Lehrmeisters sämtlich ausgeführt hat; und wahrhaftig macht es keinen geringen Unterschied aus, mit welcher Gebärde Hasen und mit welcher ein Huhn zerlegt werden“ (Übersetzung ADAMIETZ). Vgl. weiter XI 136– 141. Gegenüber dieser Spezialisierung ist es nach Aristides gerade Kennzeichen eines „armen Haushalts“, dass „dieselben Leute die Speisen zubereiten, das Haus hüten und das Bett zurechtmachen“ (Romrede 71). – Zu einem Zitat des älteren Plinius, das die Inanspruchnahme spezialisierter Sklavenfachkräfte kritisch in den Blick nimmt (Naturkunde XXIX, viii 19), bemerkt VOGT: „In der mannigfaltigen antiken Kulturkritik ist es ein erstaunlicher Fall, daß hier als ein Ergebnis der Sklaverei die Selbstentfremdung des Menschen erkannt wird – ein frühes Vorspiel der Entdeckung desselben Prozesses im System der mechanischen Sklaven in der modernen Industriegesellschaft“ (Sklaverei, S.80). Allerdings sollte doch wohl zunächst betont werden, dass es die Sklaven sind, die ihrer selbst entfremdet werden und die Entsprechung bilden. Doch wird man sehen müssen, dass solches Spezialistentum – innerhalb der gegebenen Bedingungen – für die Betroffenen auch Vorteile hatte. Bei Apuleius wird von zwei Sklavenbrüdern erzählt, einem Konditor und einem Koch, die „nach den üppigen Mahlzeiten, bei denen es sehr fein zuging, eine Menge Reste in ihre Unterkunft zu bringen (pflegten): der eine, was von Ferkeln, Fasanen, Fischen und aller Art Fleischgerichten massenhaft übriggeblieben war, der andere Brote, Zuckerplätzchen, Krapfen, Hörnchen, Schnecken und mehr solcher leckerer Schleckereien“ (Metamorphosen X 13,6; Übersetzung BRANDT/EHLERS).

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Dritter Teil. Über Sklaverei und Freiheit

anderer, der Mundschenk, nach Weiberart gekleidet, ringt mit seinem Alter. Nicht kann er entfliehen dem Knabenalter; er wird zurückgeholt, bereits in wehrdienstfähiger Verfassung, von glatter Haut, da die Körperhaare abgeschabt und völlig ausgerissen sind, wacht er die ganze Nacht, die er zwischen der Trunkenheit des Herrn und dessen Geschlechtslust teilt, oder ist im Schlafzimmer Mann, auf dem Gastmahl Knabe3. Ein andrer, dem die Beurteilung der Gäste übertragen ist, steht da, unglücklich, und beobachtet, wen Schmeichelei und Unmäßigkeit entweder des Schlundes oder der Zunge empfiehlt für den kommenden Tag. Füge hinzu die Einkäufer, die über genaue Kenntnis des Gaumens ihres Herrn verfügen, die wissen, welcher Speise Geschmack ihn anregt, welcher Anblick ihn erfreut, durch welche Neuigkeit er bei Übelkeit wieder auf die Beine gebracht werden kann, was er vollends gerade bei Übersättigung ablehnt, worauf er an diesem Tag Appetit hat“ (6–8)4. Seneca sagte vorher schon, „daß wir sie nicht einmal wie Menschen behandeln, sondern als Lasttiere mißbrauchen, daß – wenn wir uns zu Tische gelegt haben – einer den Speichel wegwischt, ein anderer die Hinterlassenschaft der Trunkenen, unter das Sofa gebückt, aufliest“ (5)5. Dass es auch Grausamkeiten gab, deutet Seneca hier und in § 11 nur dezent an6.

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Vgl. Petronius, Satyrica 74,8: „Als ein nicht unhübscher Bursche unter den neuen Dienern eingetreten war, fiel Trimalchio über ihn her und begann ihn ausgiebig zu küssen“ (Übersetzung MÜLLER/EHLERS). Vgl. auch Seneca, De brevitate vitae XII 5: „Gastmähler – bei Gott – dieser Leute möchte ich nicht zählen zur Freizeit, da ich sehe, wie besorgt sie das Silber anordnen, wie sorgfältig sie ihrer Lustknaben Tunika gürten, wie gespannt sie sind, ob der Eber dem Koch geraten ist, mit welcher Geschwindigkeit auf ein Zeichen hin die rasierten Lustknaben zum Aufwarten auseinanderlaufen, mit welcher Raffinesse zerlegt wird Geflügel zu Stücken, die nicht das Maß überschreiten, wie beflissen unglückliche kleine Sklaven der Trunkenen Ausgespienes wegwischen: damit gieren sie nach dem Ruf der feinen Lebensart und Kennerschaft“ (Übersetzung ROSENBACH). Als niedrigster Dienst galt es wohl, das Nachtgeschirr zu halten (vgl. Epiktet, Diss. I 2,8–11). Als Sklaven von hoher Qualität werden bei Plutarch, Crassus 2 aufgezählt: „Vorleser, Schreiber, Münzenschläger, Hausverwalter, Tafeldecker“. Es gab auch auf Bildungsgut und Wissenschaft spezialisierte Sklaven im Haus eingebildeter Reicher (vgl. Seneca, Briefe über Ethik 27,6f.). Nach Plinius, Briefe VII 24,4 hielt sich eine vornehme Frau Pantomimen. Die Spannweite der Sklavenbehandlung gibt Juvenal an, wenn er im Blick auf einen fiktiven Vater fragt, der seinen Sohn in dieser Hinsicht lehren soll: „Lehrt Rutilus einen milden Sinn und ein gerechtes Verhalten gegenüber geringen Verfehlungen und meint er, die Seelen und Körper der Sklaven bestünden aus demselben Stoff wie unsere und aus den gleichen Elementen, oder erzieht er zur Grausamkeit, da er sich erfreut am schneidenden Knallen der Schläge und keine Sirene für vergleichbar hält mit Knutenhieben, … und dann jeweils glücklich, wenn jemand vom herbeigeholten Folterer gebrandmarkt wird mit glühendem Eisen wegen zweier Handtücher? Was rät einem Sohn, wer Freude hat am Klirren der Kette, wen herrlich erregen Brandmale, Arbeitshäuser, der Kerker?“ (Satiren XIV 18–24; Übersetzung ADAMIETZ).

2. „‚Sklaven sind sie.‘ – Nein, Menschen.“

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b) Plädoyer für einen anderen Umgang mit Sklaven Seneca selbst empfiehlt eine andere Art des Umgangs mit Sklaven und hat sie gewiss auch praktiziert. Er kennzeichnet diese Art gleich zu Anfang seines Schreibens mit dem Wort familiariter, das wohl am treffendsten mit „hausgenossenschaftlich“ zu übersetzen ist. Es meint den freundschaftlich-vertrauten Umgang mit den zum selben Haus Gehörigen7. Entsprechend wird dieser Umgang an anderer Stelle als clementer und comiter bezeichnet: „mild und besonnen“ (13). Dazu gehören das Gespräch und die Beratung mit den Sklaven. So hält es Seneca auch nicht für entehrend, mit Sklaven gemeinsam zu speisen (2.13). Als Ideal steht ihm das – freilich verklärte – altrömische Haus vor Augen, in dem die Herren von Gehässigkeit und die Sklaven von Kränkung frei gewesen seien und in dem an den Saturnalien die Sklaven sogar Ämter ausübten (14). Natürlich speist Seneca nicht mit allen Sklaven (15). Kriterium der Auswahl ist ihm aber nicht die höhere oder niedrigere Art der Beschäftigung, sondern der Charakter (mores). „Ein jeder gibt sich selbst den Charakter, die Dienstleistungen weist ihm der Zufall zu“ (15). Dass allerdings der Charakter auch durch das mitbestimmt wird, was einer zu tun gezwungen ist, kommt nur andeutungsweise am Rande in den Blick: „Manche mögen mit dir speisen, weil sie es wert sind, manche, auf daß sie es seien. Wenn nämlich aufgrund ihres schmutzigen Umganges etwas Sklavenhaftes an ihnen ist, wird es das Zusammensein mit gebildeten Menschen vertreiben“ (15)8. Die Mahnungen zu einem humanen Umgang mit Sklaven kann Seneca auch mit Nützlichkeitserwägungen verbinden9. Er führt das Beispiel eines Freigelassenen an, der am Kaiserhof zu Ehren und Einfluss kam und dessen ehemaliger Herr als Bittsteller von ihm abgewiesen wurde, weil der ihn einst schlecht behandelt und als unbrauchbar verkauft hatte (9)10. Er weist weiter 7 8 9

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Vgl. auch Plinius, Briefe V 19,2: Er möchte seinen Leuten mit „nachsichtiger Güte“ (indulgentia) begegnen, wobei ihm der römische Begriff pater familias vorschwebt. Vgl. auch VIII 16,1–4. Zu Senecas aufgeklärter Humanität gegenüber Sklaven vgl. auch LAMPE, Komm., S.220f. Das ist noch deutlicher bei Columella in seinen Anweisungen, wie mit Sklaven auf einem Landgut umzugehen ist; vgl. dazu BRADLEY, Slaves, S.21f. Er stellt fest: „Schlicht und einfach: Scheinbar großzügige Behandlung war daher in Wirklichkeit vom ökonomischen Motiv diktiert, das Landgut profitabel zu machen“ (S.22). Besondere Karrieren einstiger Sklaven werden öfters erwähnt. Martial nennt einen Freigelassenen, der es zum Ritter und zu großem Reichtum gebracht hat (Epigramme V 13). Nach Tacitus hatte Pallas, ein Freigelassener des Claudius, großen Einfluss und war außerordentlich reich (Annalen XII 53,2f.). Petronius karikiert eine solche Gestalt in seinem Trimalchio. Er lässt ihn an einer Stelle sagen: „Auch ich bin ja so dran gewesen wie ihr es seid (als einstiger Sklave), aber mit meiner Tüchtigkeit habe ich es bis hierher gebracht. Das Oberstübchen ist es, was den Menschen ausmacht, alles Übrige sind Kinkerlitzchens. ‚Gut eingekauft, gut abgesetzt‘: da kann euch einer sagen, was er will. Ich floriere zum Platzen“ (Satyrica 75,8f.). Im Fortgang erzählt er dann

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Dritter Teil. Über Sklaverei und Freiheit

daraufhin, dass jene Sklaven, „die nicht nur in Gegenwart der Herren, sondern mit ihnen selbst Gespräche hatten, deren Mund nicht zugenäht wurde, bereit waren, für den Herrn den Nacken darzubieten, drohende Gefahr auf ihr Haupt abzuleiten: Auf den Gastmählern sprachen sie, aber auf der Folter schwiegen sie“ (4)11. Daran wird deutlich, dass Seneca natürlich nicht an eine Änderung gesellschaftlicher Strukturen denkt; wohl aber geht es ihm um eine andere Art des Miteinander-Umgehens innerhalb der bestehenden Strukturen. Aus der Sicht des Herren bezeichnet er es als die „Summe“ seiner Lehre: „So lebe mit einem Menschen von niedrigerem Rang, wie du willst, daß einer von höherem Rang mit dir lebe“ (11). Das ist eine Art „Goldene Regel“ für die Stände-Gesellschaft. Aus der Sicht des Sklaven gesehen formuliert er den Satz: „Sie sollen dich lieber ehren als fürchten“ (17). Ehren statt fürchten – darin kommt beides prägnant zum Ausdruck: sowohl die uneingeschränkte Anerkennung bestehender Strukturen als auch ihre Humanisierung. So mahnt Seneca: „Am richtigsten also handelst du, meine ich, daß du von deinen Sklaven nicht gefürchtet werden willst, daß du nur mit Worten strafst; mit Schlägen ermuntert man das zur Sprache nicht fähige Vieh“ (19)12.

c) Relativierung des Sklavenbegriffs Dass der Sklave eben nicht ein Stück Vieh, sondern dass er ein Mensch ist, das ist für Seneca der entscheidende Punkt. Entgegen denen, die einfach verächt-

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seine Karriere und bemerkt am Schluss: „Wenn du einen Groschen hast, bist du einen Groschen wert; hast du was, giltst du was“ (75,10–77,6; Übersetzung MÜLLER/EHLERS). Epiktet bemerkt im Blick auf einen solchen Aufsteiger: „Ich für mein Teil wünschte mir, nicht zu leben, wenn ich von Felicios Gunst leben und seine Hoheitsmiene und seinen Sklavenstolz ausstehen sollte. Denn ich weiß, was ein Sklave ist, der seiner Meinung nach sein Glück gemacht hat und davon ganz aufgeblasen ist“ (Diss. IV 1,150). Aufstieg aus dem Sklavenstand zu hohen Ehren war auch möglich durch Heirat. Davon zeugen z.B. die römischen Grabinschriften Nr. 121 und 122 bei GEIST/PFOHL. Beispiele dafür bringt Seneca in De benificiis III 23–27. Vgl. dazu mit weiteren Belegen VOGT, Sklaverei, S.86–89. Vgl. auch Plinius d.J., Panegyricus 42, wo deutlich wird, wie Domitian Aussagen von Sklaven gegen ihre Herren bei „Majestätsverbrechen“ gebrauchte. In De clementia III xvi 1 appelliert Seneca im Blick auf das Verhalten gegenüber Sklaven an „das Empfinden für Recht und Billigkeit“ (aequi bonique natura). Einige Sätze weiter formuliert er: „Obwohl gegenüber einem Sklaven alles erlaubt ist, gibt es auch Dinge, die bei einem Menschen erlaubt sein zu lassen das gemeinsame Recht der Lebewesen verbietet“ (2; Übersetzung ROSENBACH). Allerdings geht aus De ira III xxxii 2 hervor, dass Seneca gegen „ein paar Peitschenhiebe“ nichts einzuwenden hatte. Dass Schläge gegen Sklaven im Alltag das Selbstverständliche waren, ergibt sich etwa aus der Bemerkung Plutarchs, dass Kinder „durch Ermahnen und Bereden“ zu erziehen seien, „nicht aber – beim Zeus! – durch Schläge und Misshandlungen. Das scheint doch wohl eher für Sklaven zu passen als für Freie“ (Moralia 8f).

2. „‚Sklaven sind sie.‘ – Nein, Menschen.“

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lich sagen: „Sklaven sind sie“13, betont er, dass sie Menschen und Hausgenossen, ja sogar Freunde sind, wenn auch niedrigeren Standes (1). Der Sklave sei „aus demselben Samen entstanden, erfreut sich desselben Himmels, atmet gleich, lebt gleich, stirbt gleich“ (10)14. Diese grundsätzliche menschliche Gleichheit verlangt nach einer Relativierung der bestehenden gesellschaftlichen Ungleichheit. Sie erfolgt bei Seneca einmal so, dass er von einem möglichen Freisein des Sklaven und einem möglichen Sklavesein des Freien spricht. In der Fortsetzung des eben gebrachten Zitates heißt es: „So kannst du ihn als freigelassen ansehen wie er dich als Sklaven“ (10). Seneca zählt auf, worin Freie Sklaven sein können: „Einer ist Sklave seiner Sinnlichkeit, ein anderer seiner Habsucht, ein anderer seines Ehrgeizes, alle der Hoffnung, alle der Furcht. Vorweisen werde ich einen ehemaligen Konsul, eines alten Weibes Sklaven, vorweisen einen Reichen, Sklave einer jungen Sklavin, zeigen werde ich hochvornehme junge Männer als Sklaven von Schauspielern. Keine Sklaverei ist schimpflicher als die aus eigenem Willen“ (17)15. Und er bezeichnet denjenigen als elender, der andere zu seinem Vergnügen abrichtet, als diejenigen, die dazu gezwungen werden (6). Der Sklave hingegen kann innerlich frei sein: liber animo (17)16. Die Begriffe Sklave und Freier, die die gesellschaftliche Rechtsstellung von Personen bezeichnen, werden hier in deren Inneres verlagert, wo die jeweils gegenteilige Erfahrung möglich erscheint. Das ist die eine von Seneca vorgenommene Relativierung. Zum anderen sieht er alle gleichermaßen der Gewalt des Schicksals unterstellt. Wenn man also von „Sklaven“ redet, muss man deshalb von „Mitsklaven“ sprechen (1); und das Schicksal kann dazu führen, dass ein Freier auch real zum Sklaven wird. Seneca kennt Beispiele: „Bei der Niederlage des Varus hat viele Männer von glänzender Geburt, den Rang des Senators als Ergebnis des Kriegsdienstes erwartend, das Schicksal zu Boden getreten, den einen von ihnen zum Hirten, den anderen zum Hüter einer Hütte gemacht“ (10)17. An 13 14

15 16

17

Vgl. Trimalchio bei Petronius, Satyrica 34,5: „Stinktiere von Sklaven“ (Übersetzung MÜLLER/ EHLERS). Dass kann allerdings auch Trimalchio sagen – trotz selbstverständlicher Misshandlungen: „Auch Sklaven sind Menschen und haben ganz gleiche Milchen getrunken, nur daß eine böse Fee sie geduckt hat“ (Petronius, Satyrica 71,1; Übersetzung MÜLLER/EHLERS). Dieses Motiv wird uns ausführlich bei Epiktet wieder begegnen. Was Seneca hier meint, ist ausgeführt in der Rede des standhaften Weisen (De constantia sapientis VI 3–7; vgl. weiter Briefe 31,11; 51,9). Auch dieses typisch stoische Motiv wird von Epiktet breit ausgeführt. VOGT merkt dazu an: „So wurde das Phänomen der Sklaverei zu einer Sache der individuellen Ethik“ (Sklaverei, S.21). Seneca führt hier Fälle an, in denen es Römer getroffen hat. Viel häufiger war es natürlich umgekehrt, dass Römer andere versklavten, was vor allem mit Kriegsgefangenen geschah. Vgl. HANS VOLKMANN, Die Massenversklavungen der Einwohner eroberter Städte in der hellenistisch-römischen Zeit, Stuttgart ²1990 (von GERHARD HORSMANN).

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Dritter Teil. Über Sklaverei und Freiheit

anderer Stelle fragt er: „Du weißt nicht, in welchem Alter Hecuba Sklavin geworden ist, in welchem Kroisos, in welchem des Dareios Mutter, in welchem Platon, in welchem Diogenes?“18 (12) Seneca kann also den Gedanken der Gleichheit der Menschen in ungleicher Gesellschaft durchhalten, ohne gesellschaftliche Veränderungen zu intendieren, weil er einmal die Position, in der jemand sich vorfindet, als vom Schicksal verursacht begreift, das auch Positionen verändern kann, und weil er zum anderen Freiheit und Sklaverei ins Innere der Person verlegt und so eine Ebene gefunden zu haben meint, auf der äußere Sklaverei und äußere Freiheit keine Rolle zu spielen scheinen. Daraus ergibt sich für ihn die ethische Forderung an die Herren, mit ihren Sklaven human umzugehen. Mit all dem steht er in der Tradition stoischer Philosophie19. Deren Einfluss auf die Sklavengesetzgebung im ersten Jahrhundert darf nicht gering eingeschätzt20, aber es sollte doch auch gesehen werden, was FINLEY betont: „Die ‚humanitas‘ eines Seneca und Plinius diente ebenso wie die gelegentliche kaiserliche Gesetzgebung, die das eine oder andere brutale Vorgehen gegen Sklaven milderte und so ohne Frage einzelnen Sklaven in ihrem persönlichen Bereich half (sofern diese Gesetze überhaupt durchsetzbar waren und durchgesetzt wurden), einem einzigen Ziel: die Einrichtung der Sklaverei als solche zu stärken, nicht sie zu schwächen“21. Eine humane Behandlung der Sklaven zahlte sich nicht zuletzt für die Herren aus. Im Blick auf die Kirchengeschichte haben Christinnen und Christen keinen 18

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Nach De ira III xxix 1 verdient Mitleid, „wenn ein Kriegsgefangener, in die Sklaverei plötzlich hinabgedrückt, Reste der Freiheit festhält und nicht an schmutzige und anstrengende Arbeiten hurtig herangeht, wenn er, von Muße träge, mit Pferd und Wagen des Herrn nicht Schritt halten kann, wenn ihn bei täglichen Nachtwachen, weil er ermüdet, der Schlaf überwältigt, wenn er die Landarbeit ablehnt oder nicht stramm sie angeht, aus dem Müßiggang des Sklavenlebens in der Stadt versetzt zu harter Arbeit!“ (Übersetzung ROSENBACH) Zum „Menschsein von Sklaven“ in der Antike vgl. den so betitelten Aufsatz von WOLFGANG WALDSTEIN in: Fünzig Jahre Forschungen zur antiken Sklaverei an der Mainzer Akademie 1950– 2000. Miscellanea zum Jubiläum, hg.v. HEINZ BELLEN und HEINZ HEINEN, Stuttgart 2001, S.31– 49. BROCKMEYER referiert: „Die Gesetzgebung der Kaiser habe vielfach auf eine immer stärkere Humanisierung der Sklavenhaltung hintendiert“ (Sklaverei, S.182) und bringt dafür Beispiele (S.182f.). Als eins davon sei angeführt Sueton, Claudius 25,2: „Als gewisse Leute Sklaven, die krank und dem Ende nahe waren, auf der Insel des Äskulap aussetzten, weil es ihnen zuwider ging, diesen zu helfen, setzte er (Kaiser Claudius) fest, daß alle, die man aussetze, freie Leute seien und nicht wieder unter die Gewalt ihres Herrn kämen, sollten sie wieder zu Kräften kommen; sollte aber einer es vorziehen, einen Sklaven zu töten als ihn auszusetzen, werde der wie ein Mörder belangt.“ Wie selbstverständlich dennoch Herren von Sklaven auch Herren über Leben und Tod waren, zeigt eine kleine Geschichte bei Apuleius, Metamorphosen VIII 22,2–7. Danach lässt ein Herr einen Sklaven, der durch Fehlverhalten lediglich indirekt Schaden angerichtet hatte, mit Honig bestrichen an einen Baumstamm binden und von dort lebenden Ameisen langsam auffressen. FINLEY, Sklaverei, S.146f.

3. „Über mich hat niemand Macht.“

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Anlass, sich über Seneca zu erheben. Seine spezifische Anwendung der „Goldenen Regel“ auf das Verhalten der Herren gegenüber ihren Sklaven, sie nämlich so zu behandeln, wie man selbst von einem Höherstehenden behandelt werden möchte, ist im Rahmen des Bestehenden eine sehr humane Maxime, die in der Kirche, als sie selbst Sklavenhalterin war oder Sklavenhalter in ihren Reihen hatte, oft genug verletzt worden ist. Im Vergleich mit Paulus ist aber noch etwas anderes zu sagen. Der entscheidende Unterschied scheint mir darin zu liegen, dass Paulus nicht nur verinnerlicht, sondern mit der Gemeinde einen Raum äußerlich realer Erfahrung angibt, in dem sich Herren und Sklaven als Gleiche begegnen30. Darauf wird noch ausführlich zurück zu kommen sein. Doch zuvor sei auf Epiktet eingegangen, der bei Seneca schon begegnende Aspekte in äußerst eindrücklicher Weise entfaltet.

3. „Über mich hat niemand Macht.“ Epiktet und die Freiheit a) Einführung Bei keinem Philosophen der Antike steht der Begriff „Freiheit“ so sehr im Mittelpunkt des Denkens wie bei Epiktet. In einer Gesellschaft, in der Sklavenarbeit eine nicht hinterfragte wirtschaftliche Voraussetzung bildete, stand das Gegenbild zur Freiheit in den unübersehbaren Scharen von Sklaven unmittelbar und leibhaftig vor Augen. Sie bildeten die geradezu selbstverständliche negative Folie des Redens von Freiheit. Epiktet wusste, wovon er sprach, wenn er die Freiheit thematisierte. Um 55 n.Chr. im phrygischen Hierapolis geboren, war er selbst Sklave gewesen. Sein Herr, der Freigelassene Epaphroditus, erkannte seine geistige Begabung und ließ ihn die Vorlesungen des stoischen Philosophen Musonius Rufus hören. Nach seiner Freilassung eröffnete Epiktet eine Philosophenschule in Rom. Mit allen anderen dortigen Philosophen traf ihn im Jahre 89 die von Kaiser Domitian verfügte Ausweisung aus der Hauptstadt. Als seinen Verbannungsort wählte er Nikopolis in Westgrie30

Die Bedeutung der gemeindlichen Dimension wird auch von THEISSEN im Vergleich mit Seneca betont: „Seneca bietet seinen Sklaven innerhalb des Hauses familiäre Gemeinschaft an, die christlichen Gemeinden bieten eine soziale Integration auch außerhalb des Hauses. Die Anerkennung ihrer Gleichwertigkeit wird in der Gemeindeethik, nicht nur in der Hausethik verankert. Dadurch wird die Verpflichtung zum menschlichen Umgang mit Sklaven unabhängig von der moralischen Qualität der jeweiligen Herren. Wenn christliche Sklaven in ihren Häusern in Schwierigkeiten geraten, können sie in der Gemeinde Unterstützung finden“ (Wert, S.66f.).

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Dritter Teil. Über Sklaverei und Freiheit

chenland und lehrte dort als Stoiker vor offenbar zahlreicher Hörerschaft bis zu seinem Tod um 135 n.Chr. Seine Lehrvorträge wurden von seinem Schüler Arrian aufgezeichnet und in acht Büchern gesammelt, von denen die ersten vier erhalten sind. Epiktet selbst fasste seine Lehre in einem „Handbüchlein“ zusammen. Epiktet ist also ein Mensch, der am eigenen Leib Sklaverei und Befreiung und dann wieder Verbannung erfahren hat – kein Wunder, dass er das Nachdenken über die Freiheit in die Mitte rückt. Wie denkt er über Freiheit nach? Wie wird er dabei von seinen Erfahrungen bestimmt? Wie frei ist der Freigelassene Epiktet? Wozu sieht er sich durch seine Freiheit ermächtigt und wozu nicht? Was leistet und was kostet sein Freiheitsverständnis? Welche Freiheit, welche Freiheiten leistet sich Epiktet, welche nicht? Beim Versuch, diese Fragen zu beantworten, begegnet uns ein Intellektueller, dessen Stärken und Schwächen wir vielleicht wieder erkennen werden. Wie Epiktet ein Philosoph der Freiheit, so ist Paulus, dessen letzte Lebensjahre in die Kindheit Epiktets hineinragen, ein Theologe der Freiheit genannt worden. Sich unter der Frage nach Freiheit mit Epiktet zu beschäftigen, könnte daher auch eine hilfreiche Vorbereitung für die Untersuchung des paulinischen Freiheitsverständnisses sein. Wo gibt es gemeinsame Gesichtspunkte? Wo liegen die Unterschiede? Vielleicht lässt sich das jeweils Besondere gerade im vergleichenden Gegenüber profilieren.

b) Die Bestimmung der Freiheit durch Epiktet Epiktet nimmt auf, was landläufig unter Freiheit verstanden wird. So fragt er rhetorisch: „Ist Freiheit etwas anderes als das Vermögen, so zu leben, wie wir wollen?“31 Danach strebt doch jeder Mensch: „wohlbehalten und glücklich zu sein, alles zu tun, was er will, nicht gehindert, nicht gezwungen zu werden“32. Deshalb kann als „Freier“ definiert werden, „dem alles nach seinem Willen geschieht und den niemand hindern kann“33; und „Freiheit“ heißt: „sein eigener Herr und unabhängig“ zu sein (autexúsion kai autónomon)34. Am ausführlichsten gibt Epiktet die übliche Bestimmung von Freiheit am Beginn seines großen Traktats über diesen Begriff wieder, wobei er aber schon seine später 31 32 33 34

Diss. II 1,23. Diss. IV 1,46. Diss. I 12,9. Diss. IV 1,56.

3. „Über mich hat niemand Macht.“

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ausgearbeiteten Präzisierungen vorbereitet: „Frei ist, wer lebt, wie er will, wen niemand nötigen, hindern oder zwingen kann, dessen Streben nichts im Wege steht, der erreicht, wonach er verlangt, der nicht in das hineingerät, was er vermeiden will“35. Das unausgesprochene Gegenbild dieser verbreiteten Vorstellung von Freiheit ist der Sklave, der nicht tun und lassen kann, was er will, sondern tun muss, was sein Herr ihm befiehlt, und nicht tun darf, was sein Herr ihm verbietet. Dieses Gegenbild der Freiheit kommt ausdrücklich in den Blick in der Definition der Freiheit durch die „Demokraten“, wie Aristoteles sie referiert. Als zweites von ihnen angegebenes Kennzeichen der Freiheit nennt er „zu leben, wie einer will; denn das, behaupten sie, sei der Freiheit eigentümlich, wenn anders es den Sklaven ausmache, zu leben, wie er nicht will“36. Doch liegt hier nur ein definitorischer Gegensatz vor. Zugleich besteht ja ein innerer Zusammenhang, insofern die erzwungene Arbeit der Sklaven die materiellen Voraussetzungen für die Freiheit der Bürger schafft. „Das Reich der Notwendigkeit“ und „das Reich der Freiheit“ haben hier jeweils unterschiedliche Bewohner. Nach MARX, dem diese Terminologie entnommen ist, „(beginnt) das Reich der Freiheit … in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört; es liegt also der Natur der Sache nach jenseits der Sphäre der eigentlichen materiellen Produktion“. Marx hat die Vision eines gemeinschaftlichen Lebens der Menschen in beiden Reichen. Im Gebiet der materiellen Produktion kann die Freiheit „nur darin bestehn, daß der vergesellschaftete Mensch, die assoziierten Produzenten, diesen ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln, unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen, statt von ihm als von einer blinden Macht beherrscht zu werden; ihn mit dem geringsten Kraftaufwand und unter den ihrer menschlichen Natur würdigsten und adäquatesten Bedingungen vollziehn. Aber es bleibt dies immer ein Reich der Notwendigkeit. Jenseits desselben beginnt die menschliche Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt, das wahre Reich der Freiheit, das aber nur auf jenem Reich der Notwendigkeit als seiner Basis aufblühn kann. Die Verkürzung des Arbeitstags ist die Grundbedingung“37. Epiktet lebte in einer Zeit, in der Sklavenarbeit als selbstverständlich galt. Er hat keine gesellschaftlichen Veränderungen im Blick. Ihm aber, dem ehemaligen Sklaven, war der Sklave kein Untermensch, keine Ware (andrápodon), 35 36 37

Diss. IV 1,1. Aristoteles, Politik VI 2 (1317b). KARL MARX, Das Kapital III, in: Karl Marx – Friedrich Engels. Werke, Bd. 25, Berlin 1979, S.828.

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Dritter Teil. Über Sklaverei und Freiheit

kein „lebendes Werkzeug“ oder „ein belebtes Stück Besitz“38, sondern ein „mit Vernunft begabtes Lebewesen“ (zóon logikón) wie jeder andere Mensch auch. Jeder Mensch will frei sein; und wenn Epiktet von Freiheit spricht, will er grundsätzlich niemanden ausschließen. Wenn er aber einen Freiheitsbegriff aufnimmt, der am Gegenbild des Sklaven orientiert ist, dann muss er ihn neu fassen. Wo ist dann „das Reich der Freiheit“, in dem auch der Sklave zuhause sein kann, in dem er Bürger gleichen Rechtes ist? Epiktet selbst fragt: „Was ist es nun, das den Menschen unbehindert und zum eigenen Herrn macht?“39 Reichtum, Ämter und Herrschaft müssen ausscheiden, weil der Mensch in diesen Bereichen immer fremden Einwirkungsmöglichkeiten ausgesetzt ist, die er nicht selbst in der Hand hat. Also muss danach gesucht werden, „was allein in unserer Macht steht“. „Kann dich etwa einer veranlassen, der Lüge zuzustimmen?“ „Kann dich einer zwingen, danach zu trachten, was du nicht willst?“ „Kann dich einer zwingen zu begehren, was du nicht willst?“ „Oder dir etwas vorzunehmen oder zu unternehmen oder überhaupt die anfallenden Vorstellungen zu gebrauchen?“ Alle diese Fragen sind zu verneinen. Natürlich kann versucht werden, auch auf diesem Felde Zwang auszuüben durch die Androhung von Todesstrafe oder Gefangenschaft. Aber die Freiheit des Freien wird sich dann in Verachtung von Tod und Gefängnis erweisen. Im Entscheiden und Begehren liegt also die Freiheit40 – es darf nur nichts begehrt werden, worauf andere Einfluss nehmen können. Die Kunst des Lebens besteht darin zu lernen, was allein in meiner Macht steht und was nicht, und mich innerlich jetzt schon von all dem zu distanzieren, was mir andere nehmen können, damit ich es beim tatsächlichen Eintreten dieses Falles freudig fahren lassen kann. Darin gilt es sich von früh bis spät zu üben, angefangen bei den kleinen Dingen, den Gegenständen des täglichen Gebrauchs wie Geschirr und Kleidung über den Besitz bis zum eigenen Körper und den Verwandten41. „Blick dich nach allen Seiten um und wirf es von dir weg! Reinige deine Ansichten, damit dir nichts anhängt, damit dir nichts angewachsen ist, was nicht dein ist, damit dich nichts schmerzt, wenn es dir entrissen wird … Das ist die wahre Freiheit“42. Dafür sind Sokrates43 und vor allem Diogenes44 leuchtende Beispiele. Dagegen ist nichts als ein Sklave, wer das, was 38 39 40 41 42 43 44

So Aristoteles, Politik I 4 (1253b). Diss. IV 1,62. Die folgenden Zitate sind dem Abschnitt IV 1,62–75 entnommen. Vgl. auch Diss. III 22,40–44. Diss. IV 1,111. Diss. IV 1,112f. Diss. IV 1,159–169. Diss. III 24,64–77; IV 1,114–117.152–158.

3. „Über mich hat niemand Macht.“

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doch ganz sein Eigenes sein könnte, sein Begehren und Vermeiden, sein Streben und Wollen, den äußeren Dingen unterwirft45. „Nicht durch Erfüllung des Begehrten wird die Freiheit herbeigeschafft, sondern durch Fortschaffen der Begierde“46. Das ist der archimedische Punkt, auf den sich Epiktet bei der Suche nach dem „Reich der Freiheit“ zurückzieht. Wenn die Freiheit darin besteht, das tun zu können, was ich will, dann muss ich nur das wollen, worüber ich allein verfügen kann, dann darf ich nichts von dem wollen, was der Einflussmöglichkeit von anderem und anderen unterliegt. Es ist, wie WOLFGANG SCHRAGE in Aufnahme einer Formulierung von HERBERT BRAUN treffend schreibt, „ein Nichtengagiertsein in den Dingen, die nicht in der Verfügungsgewalt des Menschen stehen“47. Dieser Rückzug von allem Äußeren, dieser Ausbau einer inneren Bastion ist der Kern der Philosophie Epiktets. „Im Begehren und Vermeiden unbehindert das Leben führen. Was aber heißt das? Weder etwas zu verfehlen, wenn man es begehrt, noch in etwas hineinzugeraten, wenn man es vermeiden will“48. Im Blick ist der vereinzelte Mensch, der sein eigener Herr sein will, sich aber allenthalben von anderer Macht und anderen Mächten eingegrenzt findet, der jedoch in der Einstellung zu dem, was ihm begegnet, den Punkt entdeckt, wo er ganz er selbst ist, wo ihn nichts und niemand beeinträchtigen kann. An diesem Punkt wahrer Freiheit hängt für Epiktet alles. Diese Freiheit zu verfehlen, heißt das Leben verfehlen49. „Sagt mir doch, ihr Menschen, wollt ihr als Sünder (d.h. als die Freiheit Verfehlende) leben?“ 50 Die Freiheit zu verfehlen, das ist der Inbegriff der Sünde. Umgekehrt bewahrt, wer die Vorstellungen recht gebraucht, „keine Kleinigkeit, sondern Ehrfurcht, Treue, Wohlbehaltenheit, Gleichmut, seelische Heiterkeit, Furchtlosigkeit, Gelassenheit, mit einem Wort: Freiheit“51. In solchen Zusammenstellungen begegnet der Begriff Freiheit bei Epiktet immer wieder, wobei besonders der Gleichmut (apátheia), die Gelassenheit (ataraxía) und die seelische Heiterkeit (alypía) hervortreten52. Der in dieser Weise Freie ist der Mensch, wie er sein soll, der 45 46 47

48 49 50 51 52

Diss. II 2,12f. Diss. IV 1,175. WOLFGANG SCHRAGE, Die Stellung zur Welt bei Paulus, Epiktet und in der Apokalyptik. Ein Beitrag zu 1Kor 7,29–31, ZThK 61, 1964 (S.125–154), S.133; jetzt auch in: Ders., Kreuzestheologie und Ethik. Gesammelte Studien, Göttingen 2004 (S.59–86), S.66. Diss. III 12,4. Diss. IV 1,1. Diss. II 1,23. Diss. IV 3,7. Diss. II 1,21.24; III 5,7; 15,12; 22,48; IV 6,8.16; vgl. weiter II 23,42; III 22,84; Fragment 4.

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Dritter Teil. Über Sklaverei und Freiheit

seinem Wesen als Mensch entspricht. Epiktet kann zwar von seinem Körper sagen, dass er ihn wie einen Stein betrachtet, wenn ein anderer über ihn verfügt53. Aber der wahrhaft Freie ist kein Mensch mit steinernem Herzen, keine teilnahmslose Monade. „Ich darf nicht gleichmütig (apathés) sein wie eine Bildsäule, sondern muss die natürlichen und auferlegten Verhältnisse beachten als Frommer, als Sohn, als Bruder, als Vater, als Bürger“54.

c) Was das Freiheitsverständnis Epiktets leistet Oder: Wie viel(e) Freiheit(en) leistet sich Epiktet? Das Freiheitsverständnis Epiktets hat noch andere Implikationen als die oben im Zitat genannten; auch sie sind „keine Kleinigkeit“. Obwohl er selbst durch Bildung sozialen Aufstieg erfahren hat, wird er – anders als Lukian55 – nicht zum programmatischen Verfechter auf Bildung gegründeter Karrieren. Sein Verständnis von Freiheit macht ihn vielmehr immun gegen das Karrieredenken seiner Zeit. Es ermöglicht ihm, die Wirklichkeit wach und kritisch wahrzunehmen, den Dünkel der Mächtigen zu entlarven, ihre Macht zu relativieren und ihnen respektlos entgegenzutreten bis hin zu Verweigerung und Widerstand. Epiktet scheut sich nicht, von dem, der mehrmals Konsul war, der also nächst dem Kaiser die höchste Stellung in Rom erlangt hat, zu behaupten, „in Hinsicht darauf, worin er auch selbst ein Sklave ist“, unterscheide er sich „in nichts von den dreimal Verkauften“56. Wiederholt fordert er dazu auf, den Konsul, dem zwölf Liktoren mit Rutenbündeln Respekt verschaffen, ohne jeden Respekt einen Sklaven zu nennen, wenn er Fremdes über sich Macht gewinnen lässt, wenn er nicht die richtigen Ansichten hat. Er wird jeden über sich zum Herrn haben, „der Macht hat über das von ihm Gewollte und es ihm verschaffen oder wegnehmen kann“57. 53 54 55 56

57

Diss. IV 1,72. Diss. III 2,4. Vgl. Lukian, Der Traum oder Lukians Lebensgang; dazu KLAUS WENGST, Demut – Solidarität der Gedemütigten, München 1987, S.21–23. Diss. IV 1,6f. Im Folgenden weist Epiktet die Berufung auf freie Vorfahren zurück. Sie können in derselben Weise unfrei gewesen sein. Wenn sie jedoch edel, furchtlos und enthaltsam waren, so doch nicht der, der sich auf sie beruft. Er ist Sklave, wenn anders es den Sklaven ausmacht, etwas unfreiwillig, gezwungen und stöhnend zu tun. Einen Herrn gesteht er mit dem Kaiser auf alle Fälle zu. Aber er hat auch noch andere, z.B. ein Sklavenmädchen, das er liebt (8–23). Vgl. auch III 22,27: „Die zwei- oder dreimal Konsul waren, müssten glücklich sein. Aber sie sind es nicht.“ Diss. IV 1,57–59. Dasselbe Urteil fällt Epiktet über die Könige und ihre Günstlinge: „Weder die so genannten Könige leben, wie sie wollen, noch die Freunde der Könige“ (IV 1,51).

3. „Über mich hat niemand Macht.“

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Bissig ist Epiktets Kritik an den Reichen. Mit Spott beschreibt er ihr verhätscheltes Leben58, ihre Angst, wenn sie ein finsterer Blick des Kaisers trifft59. Genüsslich breitet er aus, wie sie vor kaiserlichen Freigelassenen und Sklaven scharwenzeln und ihnen die Hände küssen60, wie sie Greisinnen und Greisen den Hof machen, sie im Krankheitsfall aufopferungsvoll pflegen und dabei – in der Hoffnung auf schnelle Erbschaft – den Arzt fragen, ob sie denn nicht bald stürben. Nicht in der gleichen Weise wie von den Konsuln redet Epiktet vom Kaiser. Er erwähnt ihn nicht häufig direkt, aber der Kaiser ist doch gemeint, wenn er von dem spricht, der vom Senator zum Ritter degradieren kann, vom Ritter zum einfachen Bürger und der schließlich zu töten vermag61. In seiner Angst verbreitenden Willkür ist er immer wieder im Blick. Die Aufgeblasenheit der Macht in ihrer höchsten Spitze wird von Epiktet eindrucksvoll gegeißelt in seinem Traktat über das Verhalten gegenüber Tyrannen. Der Tyrann sagt: „Ich bin der Mächtigste von allen.“ Aber im Blick auf die wahre Freiheit hat er nichts zu bieten und ist selbst nicht davor gefeit, sie zu verfehlen62. Er sagt: „Alle sorgen für mich“63. Epiktet antwortet: „Auch ich sorge für meinen Teller, wasche ihn und trockne ihn ab, und für die Ölflasche schlage ich den Nagel ein. Was also? Sind diese Dinge größer als ich? Nein, sondern ich habe Nutzen davon“64. Unausgesprochen bleibt die Frage nach dem Nutzen des Kaisers. Epiktet treibt den Spott noch weiter: „Sorge ich nicht auch für den Esel? Wasche ich nicht seine Füße? Reinige ich ihn nicht? Weißt du nicht, dass jeder Mensch für sich selbst sorgt, für dich aber sorgt man so wie für den Esel?“65 Daraufhin flüchtet sich die Macht zu ihrem scheinbar stärksten „Argument“: „Aber ich kann dir den Kopf abschlagen lassen.“ Doch auch hier bleibt Epiktet die Antwort nicht schuldig: „Recht so! Ich vergaß, dass man für dich sorgen muss, wie für Fieber und Cholera, und dass man dir einen Altar errichten muss, wie es in Rom einen Altar des Fiebers gibt“66. Die Erwähnung Roms zeigt, dass Epiktet nicht irgendwelche erdachten Tyrannen meint oder solche der Vergangenheit, sondern den Kaiser. Das wird im selben Traktat auch daran 58 59 60 61 62 63 64 65 66

Diss. III 26,21f. Diss. IV 1,145. Diss. IV 1,145–150. Vgl. auch III 22,27: „Blickt auf Krösus, blickt auf die jetzigen Reichen, wie von Jammergeschrei voll ihr Leben ist!“ Diss. I 24,12f. Diss. I 19,2. Epiktet gebraucht hier und im Folgenden das Wort therapéuo. Dabei schwingen außer „sorgen für“ auch die Bedeutungen „bedienen“, „verehren“, „den Hof machen“ mit. Diss. I 19,4. Diss. I 19,4f. Diss. I 19,6.

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Dritter Teil. Über Sklaverei und Freiheit

deutlich, wenn er ausdrücklich von den Kammerdienern des Kaisers spricht, denen ebenfalls dienerische Verehrung zuteil wird: „Wie verständig wird doch plötzlich ein Mensch, wenn ihn der Kaiser über das Nachtgeschirr setzt! Wie schnell sagen wir dann: Felicius hat verständig mit mir geredet“67. Wenn die Freiheit darin besteht, nur das zu wollen, was in der eigenen Verfügungsmacht steht, sich von allem Äußeren aber innerlich zu distanzieren, kann Epiktet den Dünkel bloßlegen, der sich auf Besitz, Vorfahren, Ämter und Aussehen gründet68. „Ich bin besser als du; denn mein Vater war Konsul.“ „Ich war Volkstribun, du aber nicht.“ Für Epiktet liegt das auf derselben Ebene, als wenn einer sagen würde: „Ich kann mächtig ausschlagen.“ Aber das wäre Stolz „auf das Werk eines Esels“69. Das eine wie das andere haben mit dem Menschsein des Menschen nichts zu tun. Von derselben Basis aus kritisiert Epiktet das Karrieredenken und die Ämterjagd. Er skizziert eine ideale Karriere vom Sklaven zum Freigelassenen, über die militärische Laufbahn schließlich bis zum Senator und „Freund des Kaisers“70, eine Karriere, wie es sie in einem einzigen Leben nicht gab und geben konnte, wie sie aber doch in Einzelfällen in der Folge von zwei oder drei Generationen möglich war71. Auf jeder neu erreichten Stufe zeigt er, wie die erhoffte Freiheit nicht erreicht wird, schon gar nicht auf der letzten und höchsten, wie immer neue Formen der Sklaverei auftreten. Ironisch fragt er den „Freund des Kaisers“, wann er besser geschlafen und gegessen habe, jetzt oder früher. „Wenn er nicht eingeladen worden ist, schmerzt es ihn, wenn er eingeladen worden ist, speist er wie ein Sklave bei seinem Herrn, zwischendurch ständig auf der Hut, dass er nichts Dummes sage oder tue. Und was meinst du, fürchtet er? Dass er etwa ausgepeitscht werde wie ein Sklave? Woher sollte es ihm so gut gehen? Sondern wie es sich für einen so bedeutenden Mann, einen Freund des Kaisers, gehört, fürchtet er, den Kopf zu verlieren“72. 67 68 69

70 71

72

Diss. I 19,17. Diss. III 14,11–14; Fragment 18. Diss. III 14,11.14. An beiden in der vorigen Anmerkung angegebenen Stellen bringt Epiktet den hypothetischen Vergleich mit Pferden, die Vorrang aufgrund eines schnelleren Vaters oder von mehr Futter und schönerem Schmuck behaupten würden. Diss. IV 1,33–40.45–50. Eine bemerkenswerte Karriere innerhalb des Sklavenstatus erwähnt Epiktet Diss. I 19,19–22: Sein Herr Epaphroditus hatte einen Schuster wegen Unbrauchbarkeit verkauft. Durch Zufall wird dieser Sklave von einem kaiserlichen Freigelassenen oder Sklaven erworben und zum „Schuster des Kaisers“ gemacht. „Du hättest sehen sollen, wie Epaphroditus ihn ehrte!“ Diss. IV 1,48. Auf einer weniger hohen Stufe zeigt Epiktet die Nichtsnutzigkeit des Aufstiegs in Diss. I 19,26–29: Es geht um das augustalische Priesteramt, das jemand bekommen kann. Epiktet rät ihm: „Mensch, lass die Sache sein! Du wirst viel für nichts investieren.“ Für dieses Nichts – der bei Vertragsabschlüssen hinzugesetzte und damit bleibende Name und ein goldener Kranz – macht er ironische Gegenvorschläge.

3. „Über mich hat niemand Macht.“

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Epiktet stellt nicht nur die Eitelkeit einer Karriere heraus, sondern geißelt vor allem die Mittel, mit denen sie bewerkstelligt wird: „Umsonst geschieht nichts… Willst du Konsul werden, musst du schlaflose Nächte verbringen, Klinken putzen73, Hände küssen, vor fremden Türen die Beine in den Bauch stehen74, viel schwätzen und vieles eines Freien Unwürdige tun, vielen Geschenke schicken, einigen tägliche Gastgaben. Und was kommt dabei heraus? Zwölf Rutenbündel, drei- oder viermal auf dem Richterstuhl sitzen, Spiele geben und Speisekörbchen verteilen“75. Wer für ein lumpiges Mittagessen sich vor einem anderen bückt und ihm gegen seine Überzeugung schmeichelt, ist ein kleiner Sklave; große Sklaven sind jedoch, die es für eine Statthalterschaft oder ein Konsulat tun76. Hat Epiktet so die Unfreiheit der höchsten Repräsentanten der Gesellschaft dargelegt, kann er in einem Teilbereich überlieferte Privilegien der Freien in Frage stellen. Die traditionelle Sicht und Praxis, dass es nur den Freien erlaubt ist, sich zu bilden, kehrt er in die These um, „dass allein die Gebildeten frei sind“77. Von daher kann er die aufwerten, die in der bestehenden Rangordnung wenig bis nichts gelten. Nicht der ist frei, der demjenigen, über den er Macht hat, sagen kann: „Ich werde dir zeigen, dass ich der Herr bin“; frei ist vielmehr, wer darauf zu antworten vermag: „Wieso du? Mich hat Zeus freigelassen. Oder meinst du, er werde es zulassen, dass der eigene Sohn versklavt wird? Meines Leichnams Herr bist du; nimm ihn!“78 Kind des Zeus ist jeder Mensch, auch wenn sich nicht jeder dessen bewusst ist, dass er damit zur Freiheit bestimmt ist. Dem Herrn, der meint, es nicht mit Sklaven aushalten zu können, die ihn nicht zufriedenstellend bedienen, hält Epiktet entgegen, ihn selbst als Sklaven anredend: „Du Sklave, du hältst es nicht aus mit deinem Bruder, der Zeus zum Vater hat, als Sohn aus demselben Samen und derselben Abstammung von oben hervorgegangen, sondern weil du auf einen solchen höheren Platz gestellt worden bist, wirfst du dich gleich zum Tyrannen gegen ihn auf? Wirst du dich nicht erinnern, was du bist und über wen du herrschst? Dass sie Verwandte, dass sie Brüder von Natur, dass sie des Zeus Abkömmlinge sind?“79 Auf die trotzige Bemerkung des Herrn, er habe schließlich die Sklaven gekauft, nicht 73 74 75 76 77 78 79

Wörtlich: herumlaufen. Wörtlich: verfaulen, vermodern. Diss. IV 10,20f.; vgl. III 7,31. Diss. IV 1,55. Diss. II 1,22.25. Diss. I 19,9f. Diss. I 13,3f.

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Dritter Teil. Über Sklaverei und Freiheit

sie ihn, erwidert Epiktet: „Siehst du, worauf du blickst? Auf die Erde, auf den Abgrund, auf diese elenden Gesetze von Toten, auf die der Götter aber blickst du nicht?“80 Nach göttlichem Recht gibt es keine Sklaven und Herren, sondern nur Geschwister, alle zu gleicher Freiheit fähig. Nach göttlichem Recht kann und darf kein Mensch versklavt werden; er kann sich nur selbst zum Sklaven machen, wenn er die Freiheit verfehlt. Von diesem Ansatz her kann man implizite Kritik am Institut der Sklaverei erkennen, wenn Epiktet ausführt, dass der Esel geschaffen worden sei, damit wir einen Rücken zum Tragen hätten. Weil wir aber auch einen umhergehenden Rücken brauchten, hat Zeus den Esel, damit er gehen kann, mit der Fähigkeit zum Gebrauch der Vorstellungen ausgestattet, mit mehr aber nicht. „Wenn er (der Esel) aber dazu auch noch die Verständigkeit im Gebrauch der Vorstellungen bekommen hätte, wäre es folgerichtig, dass er uns nicht mehr unterworfen wäre und diese Dienste leistete, sondern er wäre uns völlig gleich“81. Der Sklave wäre demnach als ein gegen die Natur zum „umhergehenden Rücken“, zum Esel degradierter Mensch zu beschreiben. Alle Menschen sind jedoch mit Vernunft begabt geschaffen worden, mit der Einsicht im Gebrauch der Vorstellungen ausgestattet. Daher sind sie alle gleich, und kein Mensch darf einen anderen Menschen zu seinem Sklaven machen82. Dass es in der Welt faktisch anders zugeht, kann den wahrhaft Freien aber nicht im Innersten erschüttern. Was ihm auch geschieht und angetan wird, er bewahrt Freimut, ja Respektlosigkeit gegenüber den Mächtigen. Er kann sagen: „Über mich hat niemand Macht. Ich bin von Gott befreit, ich kenne seine Gebote; keiner kann mich versklaven. Ich habe einen Befreier, wie er sein muss, ich habe Richter, wie sie sein müssen“83. Ob er zum Kaiser geht oder zu einem beliebigen anderen Menschen, er bleibt immer gleichmütig84. Hat er sich von Tod und Leben, von Schmerz und Vergnügen als seinen Gebietern befreit, kann er auch angesichts des Kaisers fragen: „Welchen Herrn habe ich noch?“85 Die scharfen Schwerter der Leibwache schrecken ihn nicht mehr; so muss er nicht als Sklave umhergehen86. „Wer also hat noch Macht über mich? 80 81 82

83 84 85 86

Diss. I 13,5f. Diss. II 8,7f. Dass sich in der faktisch vorhandenen Sklaverei Epiktet gegen das Schlagen und Fesseln von Sklaven wendet, sei anmerkungsweise notiert. Er begründet es damit, „dass der Mensch kein wildes Tier ist, sondern ein friedliches Lebewesen“ (Diss. IV 1,120). „Die Natur des Menschen ist friedlich, einander liebend und zuverlässig“ (ebd. 126). Diss. IV 7,16f. Diss. IV 4,9. Diss. I 29,63. Diss. IV 7,25f.

3. „Über mich hat niemand Macht.“

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Philipp oder Alexander, Perdikkas oder der Großkönig? Wie sollten sie? Denn wer von einem Menschen überwältigt werden soll, muss viel früher von den Dingen überwältigt worden sein. Über wen also weder die Lust obsiegt, noch Schmerz, noch Ruhm, noch Reichtum, und wer, wenn es ihm gut erscheint, einem das ganze Körperchen hinspucken und sich davonmachen kann, wessen Sklave ist der noch, wem noch untertan?“87 Man muss nur nicht fürchten, was der Kaiser anordnen, und nicht begehren, was er schenken kann, um sagen zu können: „Was bewundere ich ihn noch? Was staune ich ihn noch an? Was fürchte ich die Leibwache? Was freue ich mich, wenn er freundlich mit mir redet und mich empfängt, und erzähle es anderen, wie er mit mir geredet hat? Ist er denn etwa Sokrates? Ist er denn etwa Diogenes?“88 Vielmehr gilt: „Ich ängstige mich nicht darum, was der Kaiser über mich denkt. Ich schmeichle deswegen niemandem“89. Darauf kann getrost verzichten, wer die richtigen Ansichten über das hat, was in unserer Macht steht und was nicht. „Denn sie allein sind es, die frei und unbehindert machen, die den Gedemütigten den Kopf erheben, die geraden Blickes den Reichen, den Tyrannen ins Gesicht sehen lassen“90. Aufrechter Gang ist angesagt. Es gilt, den Kopf zu erheben „wie ein von der Sklaverei Befreiter“91, „wie ein Freier und zum Himmel aufzublicken als ein Freund Gottes ohne Furcht vor dem, was sich ereignen kann“92. Diese Sicht erlaubt Epiktet eine einigermaßen unverstellte Wahrnehmung der politischen Wirklichkeit. Er ist kein Apologet der Pax Romana. Der Gewaltcharakter römischer Herrschaft gerade an ihrer Spitze wird von ihm häufig herausgestellt. Die Reihe „Tod, Verbannung, Enteignung, Gefängnis, Entehrung“ mit dem Kaiser als willkürlichem Verursacher begegnet in Varianten immer wieder93. Kein Wunder, dass man, wie Epiktet feststellt, „nicht aufhört, auf den Kaiser zu schimpfen“. Das aber wird dem Kaiser durch Spitzel hinterbracht94. „Was tut er also? Er weiß, dass er, ließe er alle ihn Beschimpfenden

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88 89 90 91 92

93 94

Diss. III 24,70f. Nach IV 1,60 „sind notwendig die Dinge unsere Herren, die Macht über uns haben“, nämlich insofern wir sie lieben und fürchten. „Deswegen verehren wir sie auch wie Götter.“ Diss. IV 7,28f. Diss. III 9,18. Diss. III 26,34f. Diss. II 16,41. Diss. II 17,29. Der Kyniker als Inbegriff des wahrhaft Freien kann sogar sagen: „Wie begegne ich denen, die ihr fürchtet und bewundert? Nicht wie Sklaven? Wer meint, bei meinem Anblick nicht seinen König und Gebieter zu sehen?“ (III 22,49; vgl. 95) Die im Text genannte Folge steht Diss. IV 1,60; vgl. weiter I 1,22–24; 4,24; 30,2; II 1,35.38; 6,20.22; 19,17f.; III 22,21f.; 24,113; IV 1,127.172. Diss. IV 13,5 beschreibt Epiktet, wie das Spitzelwesen in Rom funktionierte: „Ein Soldat in Zivil setzt sich zu dir und fängt an, schlecht über den Kaiser zu reden. Weil du das für ein Unterpfand

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Dritter Teil. Über Sklaverei und Freiheit

(mit dem Tode) bestrafen, keine mehr hätte, über die er herrschte“95. An anderer Stelle vermerkt Epiktet, als was für Leute Prokonsuln in die Provinz kommen: als Diebe und Ehebrecher, scharf auf Lustknaben und begierig nach der Jagd96. Vom „großen Frieden“ spricht er so, „dass der Kaiser ihn uns zu gewähren scheint“97. Unter den dann aufgezählten Friedensgaben erscheint auch die Möglichkeit ungehinderten Reisens. Aber sie wird längst nicht so vollmundig herausgestellt wie etwa von Aelius Aristides. Es gibt zwar keine „großen Räuberbanden“ mehr, aber eben doch welche; und so zieht es der besonnene Reisende bei gefährlichen Wegen vor, auf die Reisegesellschaft eines Gesandten, Quästors oder Prokonsuls und damit auf militärischen Schutz zu warten98. Am Beispiel des Sokrates zeigt Epiktet, dass es einen Punkt gibt, an dem der Freie ausdrücklich Widerstand leistet. Als der von den dreißig Tyrannen geschickt wurde, um den proskribierten Leon tot oder lebendig zu bringen, weigerte er sich sofort, auch wenn ihm das die Todesstrafe einbringen sollte99. Epiktet nimmt dieses Beispiel noch einmal auf. Wenn ihm der Kaiser einen analogen Befehl erteilte, würde er sagen: „Suche dir einen anderen! Ich spiele da nicht mehr mit.“ Auf den Einwand, dass ihn das den Kopf kostete, antwortet er: „Bleibt denn seiner immer sitzen – und eurer, die ihr gehorcht?“100 Es geht Epiktet dabei nicht um die Rettung irgendeines Leon, sondern um die Bewahrung der eigenen Freiheit, der eigenen Integrität. Der Punkt, an dem zu widerstehen ist, wird von ihm genau bestimmt. Er untersagt es geradezu, den Mächtigen darin Widerstand zu leisten, „worin sie Macht haben“, „worin sie uns besiegen können“101. Was den eigenen Körper betrifft, den Besitz, die Kinder, Eltern und Geschwister, das alles ist widerstandslos fahren zu lassen, wenn es genommen wird. „Allein die Ansichten werden ausgenommen, von denen auch Zeus wollte, dass sie jedem besonders zu eigen sind“102. Bin ich selbst in dem betroffen, wo ich allein Macht habe, in dem, was ich für richtig und falsch halte, soll ich zum Handlanger des Unrechts gemacht werden, da

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der Verlässlichkeit von ihm nimmst, dass er mit der Schmähung begonnen hat, sagst danach auch du selbst, was du denkst – und dann wirst du gefesselt abgeführt.“ Diss. III 4,7f. Diss. III 3,12f. Diss. III 13,9. Diss. IV 1,91. Diss. IV 1,160. Diss. IV 7,30f. Diss. I 29,9; IV 7,34. Diss. IV 7,35.

3. „Über mich hat niemand Macht.“

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hat keine Feigheit Platz, da gilt es um meiner eigenen Integrität willen Widerstand zu leisten bis zum Letzten.

d) Was das Freiheitsverständnis Epiktets kostet Oder: Was zahlt Epiktet für seine Freiheit Epiktet gelingt der Ausbau einer uneinnehmbaren inneren Bastion unter Aufgabe sämtlicher äußerer Vorposten. Das tatsächliche Geschehen ist den sich faktisch durchsetzenden Mächten preisgegeben. Der Philosoph, der vor Gericht geschleppt und ins Gefängnis geworfen wird und der deshalb den Spott der Leute hören muss, seine Studien hätten ihm nichts genützt, antwortet darauf: „Ich habe studiert, damit ich einsehe: Alles, was (mir) ungewollt widerfährt, geht mich nichts an“103. Deshalb „muss man seinen Willen dem Geschehensablauf anpassen, sodass weder etwas geschieht, wenn wir es nicht wollen, noch etwas nicht geschieht, wenn wir es wollen“104. Dieselbe Freiheit, die den aufrechten Gang erlaubt, verlangt die unbedingte Anpassung an das Gegebene. Wer den Kopf wie ein von Sklaverei Befreiter aufrichten und zu Gott emporblicken soll, tut es mit den Worten: „Gebrauche mich fortan, zu was immer du willst! Ich stimme mit dir überein; ich bin dein. Ich entziehe mich keiner Sache, die dir gut scheint. Wohin du willst, führe mich! Welches Gewand du (für mich) willst, lege es mir an! Willst du, dass ich ein Amt übernehme oder Privatmann bin, bleibe oder verbannt werde, dürftig oder reich bin? Ich werde dich für all das gegenüber den Menschen verteidigen“105. Diese Sicht hat zwei gefährliche Tendenzen, dass nämlich tatsächlich ausgeübte Gewalt verschleiert und vergleichgültigt wird und dass das Faktische eine göttliche Legitimierung erhält. Sie hat einen Hang zum Fatalismus. Beides zeigt sich, wenn Epiktet die inneren Tyrannen gegen den äußeren ausspielt. Es gelte, die Festung in uns zu schleifen und die Tyrannen in uns zu verjagen, die wir in wechselnden Gestalten täglich über uns haben: „das Körperchen fahren lassen, seine Teile, seine Kräfte, den Besitz, den Ruf, Ämter, Ehren, Kinder, Geschwister, Freunde, all das für fremd halten. Und wenn von hier die Tyrannen verjagt worden sind, was umzingle ich dann noch um meinetwillen die (äußere) Festung? Was tut sie mir denn, wenn sie stehen bleibt? Was verjage ich noch die Leibwache? Wo spüre ich sie denn noch? Gegen 103 104 105

Diss. I 29,22–24. Diss. II 14,7. Diss. II 16,42.

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Dritter Teil. Über Sklaverei und Freiheit

andere hat sie ihre Stöcke, Speere und Schwerter“106. So wird tatsächlich ausgeübte Gewalt von dem vergleichgültigt, der sich auf seine innere Freiheit zurückzieht, der in diesem Bereich in seinem Wollen nicht behindert und nicht gezwungen werden kann. Und er kann diese Freiheit nur bewahren, wenn er das ihm faktisch Widerfahrende zugleich selbst will und es mit dem Willen Gottes identifiziert. „Ich habe mein Bestreben mit Gott verbunden: Jener will, dass ich Fieber habe; auch ich will es. Er will, dass ich etwas erstrebe; auch ich will es. Er will, dass ich mich entschließe; auch ich will es. Er will, dass ich etwas erlange; auch ich will es. Er will es nicht; ich will es nicht. Also will ich sterben, also will ich gefoltert werden. Wer kann mich noch hindern oder zwingen gegen meine Überzeugung? Nicht mehr als den Zeus!“107 Sich Gott anschließen heißt, das zu wollen, was er will – und das ist in den äußeren Dingen das faktisch Begegnende. Gott ist der Geber; „aber der gegeben hat, nimmt (auch wieder) weg“108. Erträglich gemacht wird das durch die Behauptung einer umfassenden Harmonie: „Er hat dem Kreislauf des Ganzen den Besitz und die Gerätschaft untergeordnet, das Haus, die Kinder, die Frau“109. „Der Verwaltung des Zeus“ muss man „sich anpassen, ihr gehorchen, an ihr Gefallen haben, niemanden tadeln, niemanden beschuldigen“110. Die Freiheit als das Größte und Wichtigste stellt sich ein, wenn gelernt wird, „jedes so zu wollen, wie es geschieht. Wie aber geschieht es? Wie es der Anordner angeordnet hat“111. Das also ist der Preis, den Epiktet für seine Freiheit zahlt, dass er sich willentlich dem faktischen Geschehensablauf ergibt und ihn theologisch überhöht.

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Diss. IV 1,86–88. Diss. IV 1,89f.; vgl. 99. Diss. IV 1,101. Diss. IV 1,100. Diss. II 23,42; vgl. III 5,9f.16. Diss. I 12,15. Im folgenden Paragraphen 16 wird dann wieder eine umfassende Harmonie beschworen. Vgl. auch IV 7,20: „Immer will ich lieber das, was (tatsächlich) geschieht. Denn ich halte das für besser, was Gott will, als was ich will.“ Ähnlich auch I 1,17: „Man muss das, was in unserer Macht steht, auf beste Weise pflegen, das Übrige aber gebrauchen, wie es sich ergibt. Wie ergibt es sich? Wie Gott will.“ Entsprechend findet sich an mehreren Stellen als Devise der Vers des Kleanthes: „Führe mich, o Zeus, und du, Schicksal!“ (II 23,42; III 22,96; IV 1,131; 4,34.) Nach VOLLENWEIDER „entdeckt Epiktet die wahre Freiheit als Einfügung in Gottes Weltordnung“ (Freiheit, S.30).

3. „Über mich hat niemand Macht.“

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e) Epiktets Freiheitsverständnis als Reflex gesellschaftlicher Erfahrung Ich hatte zu Beginn darauf hingewiesen, dass Epiktet sozialen Aufstieg erfahren hat vom Sklaven zum freien Philosophen mit eigenem Schulbetrieb. Ich hatte betont, dass er dadurch nicht zum Propagandisten des Imperium Romanum geworden ist, zum Förderer von Aufstiegsmentalität. Davor wird ihn nicht zuletzt die Erfahrung der Gewaltförmigkeit seiner Gesellschaft bewahrt haben, die er in elementarer Leibhaftigkeit sowohl als Sklave als auch durch die Verbannung aus Rom gemacht hat. Zugleich aber dürfte der bei ihm anzutreffende Rückzug ins Innere Reaktion auf diese erfahrene Gewalt sein. Wie die alltäglich ausgeübte und institutionell abgesicherte Gewalt diesen Rückzug nahe legt, zeigt sich an einem kleinen Vergleich. Der von Epiktet immer wieder betonte Punkt, dass man um der Freiheit willen nichts begehren darf, was fremder Macht unterliegt – und das gilt ja auch hinsichtlich des eigenen Körpers und seiner Gesundheit –, wird an einer Stelle so erläutert: „Den ganzen Körper musst du so haben wie ein gesatteltes Eselchen, (das du ja ebenfalls nur hast,) solange es möglich ist, solange es dir gegeben ist. Wenn aber eine Requirierung kommt und ein Soldat es ergreift, lass es! Widersetze dich nicht, und murre nicht! Andernfalls bekommst du Schläge und verlierst nichtsdestoweniger das Eselchen“112. Die äußere Gewalt wird als so stark und scheinbar alles umfassend erfahren, dass Freiheit nur noch im Innenbereich gesucht werden kann. Andererseits wird Epiktet nicht zum grundsätzlichen Kritiker seiner Gesellschaft. Erwies er sich in vielen Einzeldingen als kritischer Beobachter der Wirklichkeit, so musste doch festgestellt werden, dass er dem tatsächlichen Geschehensablauf eine theologische Legitimation gab. Sollte das nicht zuletzt damit zusammenhängen, dass er mit seiner Philosophenschule in den oberen Teil der Gesellschaft eingebunden war? Er bedurfte des Geldes reicher Schüler113. Das eigene ökonomische Interesse wird von ihm gerade am Schluss seines Traktates über die Freiheit deutlich genug angesprochen. Den, der seine Mühe auf die Karriere verwendet, fordert er auf, sich umzuorientieren: „Durchwache Nächte, um eine freimachende Ansicht zu erwerben! Statt für einen reichen Greis sorge für einen Philosophen! Vor seinen Türen lasse dich 112

113

Diss. IV 1,79. In analoger Situation gibt der matthäische Jesus in Mt 5,41 eine andere Anweisung; vgl. dazu KLAUS WENGST, Vom kreativen Rechtsverzicht. Die Auslegung des Rechts auf Schadenersatz in Mt 5,38–42, in: „Dieses Volk schuf ich mir, dass es meinen Ruhm verkünde.“ FS DIETER VETTER, hg.v. FRANK MATHEUS, Duisburg 1992, S.35–46, hier besonders S.42f. Dass Epiktets Schüler sich vor allem aus den höchsten Ständen rekrutierten, zeigt sich an deren angesprochenen Lebenssituationen immer wieder; vgl. nur Diss. IV 1,132–143.173; 7,19–23.

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Dritter Teil. Über Sklaverei und Freiheit

sehen! Es wird dir keinen Schimpf bereiten, wenn du dort gesehen wirst. Du wirst nicht leer und ohne Gewinn weggehen, wenn du herausgehst, wie man’s muss. Wenn aber nicht, versuche es wenigstens! Der Versuch bringt keine Schande“114 – und jedenfalls dem Philosophen sein Einkommen. Die Haltung, die sich aus all dem ergibt, ist die des Zuschauers. Dieses Stichwort fällt ausdrücklich in einem Abschnitt, in dem Epiktet das Leben als von Gott veranstaltetes Fest beschreibt115. Der Mensch ist in die Welt gekommen, um „seine (Gottes) Verwaltung zu betrachten und kurze Zeit am Festzug teilzunehmen und das Fest mitzufeiern“. Daher soll er sich den Festzug und das Festvergnügen dankbar ansehen. Gott „braucht keinen mürrischen Zuschauer. Er wünscht solche, die mitfeiern, die mittanzen, damit sie umso lauter Beifall klatschen, die Götter anrufen und das Festvergnügen preisen.“ Der Zuschauer hat die Freiheit, sich alles anzusehen, das eine oder andere im Programm vorgesehene Vergnügen mitzumachen und zu akklamieren. So kann er die Freiheit genießen. Aber wirklich beteiligt ist er nicht; organisiert wird die Veranstaltung von anderen. Der Mensch als Zuschauer, der nicht wirklich beteiligt ist, wird das Gegebene hinnehmen müssen. „Alles, was ihm begegnen kann, wird er ruhig und gelassen erwarten, was schon eingetreten ist, (ebenso) ertragen“116. Das gilt in gleicher Weise für Armut, Ämter, Verbannung und Tod. „Willst du Armut? Gib her! Und du wirst sehen, was es für die Armut heißt, wenn sie einen guten Schauspieler findet“117. Neben dem Zuschauer ist der Schauspieler eine weitere charakteristische Metapher für die von Epiktet intendierte Lebenshaltung. „Jede vom Daimonion auferlegte Rolle“ muss „gut gespielt werden“118. Man muss nehmen, was kommt. Epiktet stellt den Vergleich mit einem Gastmahl an, wo es auch nicht am Platze wäre, den Gastgeber um etwas anderes zu bitten, als was er vorgesetzt hat119. Dabei rät er allerdings keineswegs, ein Kostverächter zu sein. „Fällt dir, während er (der Kaiser) auswirft, zufällig eine getrocknete Feige in den Schoß, nimm sie auf und iss sie! Denn insoweit ist auch eine getrocknete Feige zu schätzen.“ Doch soll man sich nicht darum balgen. Die „Feigen“, um die es hier geht, sind Prokonsulat, Geld, Prätur, 114 115 116 117

118 119

Diss. IV 1,176f. Diss. IV 1,103–108. Diss. IV 7,12. Für „ruhig und gelassen“ steht im griechischen Text praós. Ebd. 13; die weiteren genannten Fälle werden in § 14f. besprochen. Wenn Epiktet von „Armut“ spricht, meint er allerdings nicht Bettelarmut – er gebraucht den Begriff penía, nicht ptocheía –, sondern lediglich, gemessen an den wirklich Reichen, bescheidene Lebensverhältnisse. Das zeigt sich sehr deutlich z.B. in IV 6,2–4. Fragment 11; vgl. IV 7,30f., wo vom Mitmachen im „Kinderspiel“ gesprochen wird. Fragment 17.

3. „Über mich hat niemand Macht.“

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Konsulat120. Solche „Feigen“ sind Epiktet selbst nicht in den Schoß gefallen. Aber er ist andererseits auch kein Kyniker, dessen Loblied er singt121, sondern er ist ein Philosoph, der sich – ohne ein Krösus zu sein – durchaus auch um seinen Besitz kümmert und um seinen Körper122. Der kritische Betrachter Epiktet ist zugleich ein Zuschauer und Festbesucher, der zu genießen versteht. Das Üben, das er hinsichtlich des Fahrenlassens von Körper und Besitz empfiehlt, ist bloß mentales Training, um im Falle eines durch äußere Gewalt eintretenden Verlustes seelisch bestehen zu können.

f) Schluss Epiktet bietet keinen Gegenentwurf zu dem, was sich faktisch etabliert hat. Er hat keine Vision von einer anderen Gesellschaft; und er will auch ausdrücklich nicht die Gesellschaft verändern, sondern die Ansichten. „Man muss nicht die Armut verjagen, sondern die (falsche) Ansicht über sie; und so werden wir gut fahren“123. Daher kann die Freiheit in einer Gesellschaft voll von institutioneller Gewalt ihren Ort nur im Innern des Menschen haben, bei seinen Ansichten. Der freie Mensch, der die rechten Ansichten hat, bleibt an seinem gesellschaftlichen Ort; und es gibt auch keine gelebte Gemeinschaft der Freien, die der Gesellschaft als sie herausfordernde Gegenwelt gegenüberstünde. Der Freie ist Einzelkämpfer an seinem Ort, in der vorgegebenen Rolle. Doch sei noch einmal daran erinnert – was mir am eindrücklichsten erscheint –, dass dieser Freie immerhin zur Verweigerung mörderischer Befehle fähig ist, sich nicht auf einen Befehlsnotstand beruft und nicht nur die herausfordert, die solche Befehle geben, sondern auch diejenigen, die ihnen gehorchen wollen.

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Diss. IV 7,23f. Diss. III 22. Diss. I 2,37; vgl. III 22,86–88. Diss. III 17,9. Ähnlich heißt es an anderer Stelle: „Ich bin arm. Aber ich habe die richtige Ansicht über die Armut. Was kümmert es mich also, wenn man mich wegen meiner Armut bedauert? Ich habe kein Amt, andere haben Ämter. Aber ich habe über das Innehaben eines Amtes und das Nicht-Innehaben die Meinung angenommen, die man angenommen haben muss“ (IV 6,22).

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Dritter Teil. Über Sklaverei und Freiheit

4. „Hier gibt es nicht Versklavte und Freie.“ Gemeinde als Raum der Freiheit bei Paulus Nachdem Seneca und vor allem Epiktet ausführlich zu Wort gekommen sind, soll nun noch einmal auf Paulus eingegangen werden. Unter der Frage nach dem Verhältnis von Theologie und Wirklichkeit wird der Philemonbrief wieder aufgenommen. Es sind dann aber auch die übrigen Stellen in den Blick zu nehmen, an denen sich Paulus über Sklaven äußert. Gegenüber Seneca und Epiktet, deren Denken über Freiheit auf das Individuum fokussiert ist, wird bei Paulus die Gemeinde als eine entscheidende Dimension deutlich werden.

a) Ein Rückblick auf den Philemonbrief Als Paulus den Brief an Philemon schreibt, ist ihm eine Situation vorgegeben, die von verschiedenen Faktoren und Interessen bestimmt ist: Der Sklave Onesimus ist geflohen und hat sich damit in die Illegalität begeben. Es ist als selbstverständliches Interesse seines Herrn Philemon vorauszusetzen, dass er seinen Sklaven wiederhaben will. Onesimus ist durch Paulus Glied der Gemeinde Jesu Christi geworden. Beide wollen, dass Onesimus Mitarbeiter des Paulus wird. Dieser geht nun nicht so vor, dass er theologische Sätze formuliert und von ihnen her eine andere Wirklichkeit als die vorliegende postuliert. Theologie wird von ihm vielmehr so eingesetzt, dass er das die vorgegebene Situation schon mitkonstituierende Moment dominant sein lässt, dass nämlich Onesimus zur Gemeinde hinzugekommen ist. Wirklichkeit wird hier in der Weise theologisch ernst genommen, dass die von Gott gesetzte neue Realität, die Zugehörigkeit des Onesimus zur Gemeinde, die Perspektive für die Wahrnehmung der Situation vorgibt. Dieser theologische Realismus124 lässt die Situation auch in ihren übrigen Aspekten scharf erkennen und genau berücksichtigen, stellt sie aber keinen Augenblick für sich allein dar; das wäre abstrakt und gerade nicht realistisch. Die von Gott gesetzte neue Realität belässt in ihrer Tendenz auch die übrige Wirklichkeit nicht so, wie sie ist, sondern ist

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Vgl. HÜBNER, Komm., S.37: „Was wirklich gilt, weil es wirklich ist, das ist das Sein in Christus, das eigentliche Sein, demgegenüber alles andere verblaßt. … Alle von Menschen gesetzte Realität ist letztlich nur schattenhafte Wirklichkeit, aber die von Gott gewirkte Realität ist das, wogegen keiner anrennen kann.“

4. „Hier gibt es nicht Versklavte und Freie.“

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auf ihre Veränderung aus125. Das wird an zwei Punkten schon an der Art und Weise deutlich, wie Paulus die Situation beschreibt. Dass Onesimus geflüchtet ist und sich so ins Unrecht gesetzt hat, wird von Paulus selbstverständlich gesehen und in Anschlag gebracht. Das zeigt sich daran, dass er Onesimus zurückschickt (V.12) und dass er auf eventuelle Ansprüche Philemons auf Schadensersatz eingeht (V.18.19a)126. Aber dass Onesimus in der Zeit seiner Flucht zum Christusglauben gekommen ist, lässt diese in einem völlig anderen Licht erscheinen. So wird sie mit keinem Wort als zu missbilligendes Fehlverhalten thematisiert, sondern im Gegenteil außerordentlich positiv dargestellt (V.15). Dass zwischen Philemon und Onesimus das Besitzverhältnis zwischen einem Herrn und seinem Sklaven besteht, wird ebenfalls selbstverständlich vorausgesetzt. Auch das dokumentiert sich in der Rücksendung des Onesimus. Gesprochen wird aber von diesem Besitzverhältnis nur noch als von einem inzwischen überwundenen Stadium der Vergangenheit: Philemon erhält den Onesimus „nicht mehr wie einen Sklaven“ zurück, sondern „als einen geliebten Bruder“ (V.16). Hier ist der Vergleich mit den beiden Pliniusbriefen an Sabinianus aufschlussreich. Plinius spricht nämlich beide Male gleich zu Beginn von „deinem Freigelassenen“. Das bestehende Rechtsverhältnis wird so sofort klar ausgesprochen; um seine Stabilisierung geht es ja auch. Paulus respektiert zwar das Rechtsverhältnis von Herr und Sklave zwischen Philemon und Onesimus. Aber er spricht es nicht aus, weil es von Gott her schon transformiert ist, weil Onesimus und Philemon in die Relation von Bruder und Bruder versetzt sind. Diese Geschwisterschaft „im Herrn“ sprengt die HerrSklave-Relation – auch „im Alltag“ (V.16). Paulus zeigt nicht auf, wieso er beides – „im Alltag“ und „im Herrn“ – nebeneinander stellen kann. Es ist für ihn offenbar selbstverständlich, dass die diesem Herrn unterstellte Geschwisterschaft alle Bereiche des Zusammenlebens betrifft127. Er spricht hier unter Bezug auf den konkreten Fall des Sklaven Onesimus, den er selbst als Mitarbeiter will. Doch seine Argumentation geht über diesen Einzelfall 125

126 127

Demgegenüber stellt CALVIN bei der Besprechung von V.20 recht unvermittelt fest: „Der Glaube an das Evangelium stürzt die Ordnung der Gesellschaft nicht um. Die Herren sollen ihr Anrecht und ihre Herrschaft gegenüber den Sklaven nicht verlieren“ (Komm., S.634). Es ist daher nicht zutreffend, wenn gesagt wird, dass „die gesellschaftlich-rechtliche Seite der Sklaverei mit keinem Wort zur Sprache“ komme (so LAUB, Begegnung, S.68). Vgl. GNILKA, Komm., S.73: „Auch für Herren und Sklaven gibt es den neugewonnenen Raum der Gleichwertigkeit. Es ist der Leib Christi, die Kirche, in dem die bestehenden Unterschiede nicht mehr zum Nachteil des benachteiligten Partners ausgespielt werden dürfen … Zwar werden die politischen Verhältnisse nicht umgestoßen. Aber die neue Schöpfung muß auch für den Sklaven einen Ort in der Welt haben, wo er sich als gleichwertig und befreit erfährt. Dies ist die Gemeinde und das in ihr gelebte Verhältnis der Christen untereinander.“

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Dritter Teil. Über Sklaverei und Freiheit

hinaus und bedeutet tendenziell eine Aufhebung der Herr-Sklave-Relation überhaupt128. Dass der von Paulus intendierte und unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen mögliche kleine Schritt der Veränderung dann auch tatsächlich erfolgt ist, kann aus Kol 4,9 erschlossen werden. Dort wird Onesimus als „verlässlicher und geliebter Bruder“ bezeichnet. Ob nun der Kolosserbrief von Paulus oder – wahrscheinlicher – von einem Paulusschüler verfasst worden ist, in jedem Fall ist Onesimus hier als Mitarbeiter des Paulus vorausgesetzt, und zwar nicht erst seit kurzem: Sonst könnte er nicht als „verlässlich“ charakterisiert werden. Philemon hat also der an ihn herangetragenen dringlichen Bitte entsprochen und seinen Sklaven Onesimus für die Mitarbeit bei Paulus freigelassen. Dafür spricht zudem, wie im ersten Teil in Abschnitt 10 erwähnt, der Umstand, dass dieses kurze Schreiben überhaupt erhalten ist. Der Philemonbrief betrifft einen Einzelfall, auch wenn er weiter reichende Aussagen enthält – einen Einzelfall zudem, an dem Paulus selbst ein massives Eigeninteresse hat. An anderen Stellen macht Paulus Aussagen von mehr grundsätzlicher Art. Auf sie soll deshalb in diesem Zusammenhang eingegangen werden.

b) Die Erfahrung des jeweils anderen machen: Gemeinschaft der Gleichen in ungleicher Gesellschaft (1Kor 7,17–24) In dem Abschnitt 1Kor 7,17–24 handelt Paulus außer über Beschnittene und Unbeschnittene auch über Freie und Sklaven. Beide Bereiche bilden im Kontext des Kapitels keine eigenständigen Themen, sondern finden sich innerhalb eines Exkurses, der einen anderen Zusammenhang erläutern soll. So sei zunächst ein Blick auf diesen Zusammenhang geworfen, weil er den Rahmen für die paulinische Behandlung der Sklavenfrage an dieser Stelle abgibt. Paulus lässt nach Ratschlägen an Verheiratete Ehelosigkeit als bessere Möglichkeit erscheinen, macht sie aber nicht verbindlich (7,1–6). Es folgt der Rat an Unverheiratete und Witwen, in ihrem Zustand zu verbleiben. Aber dieser Rat gilt nicht als zwingendes Gesetz. Die andere Möglichkeit, zu heiraten bzw. wieder 128

Vgl. LAUB, Begegnung, S.69. Nach ihm leitet Paulus „seine Argumente zugunsten des entlaufenen Onesimus ausschließlich aus der Tatsache ab, daß er diesen inzwischen für den Christusglauben gewinnen konnte (V.10). Aus der so veränderten Situation zieht Paulus für das herkömmliche Verhältnis Herr-Sklave in einer Weise Konsequenzen, daß die auf Ungleichheit basierende Institution der Sklaverei – so unangetastet sie als solche auch bleibt – im Grunde genommen unterlaufen wird.“

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zu heiraten, wird eingeräumt (V.8f.). Als verbindlich führt Paulus das Scheidungsverbot Jesu an (V.10f.), gibt dabei aber gleich eine Anweisung für den Fall dennoch vorkommender Scheidung (V.11). Im Blick auf Ehen von Christusgläubigen mit anderen macht er die Fortsetzung der Ehe vom Willen des jeweiligen anderen abhängig (V.12–16). Die Intention dieser Mahnungen ist also, am Ort der einmal eingegangenen Ehe zu bleiben. An dieser Stelle führt Paulus als Erläuterung seine Anordnungen in zwei anderen Bereichen an, weil auch sie den Tenor haben, da zu bleiben, wo man sich vorfindet (V.17–24). Dieser Tenor wird anschließend in V.27 sehr deutlich wieder aufgenommen, bezogen auf Ehe und Ehelosigkeit: „Bist du an eine Frau gebunden, suche nicht die Trennung; bist du von einer Frau getrennt, suche keine Frau!“ Das steht hier innerhalb des Rates an die Jungfräulichen, doch so zu bleiben (V.25– 28). Abweichendes Verhalten gilt jedoch keineswegs als Sünde (V.28). Auch bei den weiteren Mahnungen ist deutlich, dass es für Paulus die bessere Möglichkeit ist, unverheiratet zu sein, ohne dass er die andere Möglichkeit ausschließt. Er unterscheidet hier zwischen „Meinung“ und „Gebot“. Nur an einer Stelle heißt es: „… gebiete ich, nicht ich, sondern der Herr“ (V.10). Sonst redet Paulus nach seiner Meinung, wofür er jedoch abschließend den Anspruch erhebt: „Ich glaube aber, doch auch den Geist Gottes zu haben“ (V.40). Gemäß seinen Anordnungen will er es in allen Gemeinden gehalten wissen (V.17). Er versucht also, seine Einsicht, die er für vom Geist Gottes geleitet hält, überall durchzusetzen. Aber er räumt doch die andere Möglichkeit immer wieder ein. Es handelt sich also bei dem in diesem Kapitel Gesagten um „Soll-Bestimmungen“, nicht um unbedingt bindendes Gesetz. Innerhalb eines solchen Kontextes von „Soll-Bestimmungen“ steht der erläuternde Exkurs, in dem Paulus auch auf Sklaven und Freie zu sprechen kommt. Ich gebe eine Übersetzung in Sinnzeilen, die zugleich seine Struktur deutlich macht129: 17 Doch jeder, wie es ihm der Herr zugeteilt hat, jeder, wie Gott ihn berufen hat, so soll er das Leben führen. Und so ordne ich es in allen Gemeinden an. 18 Ist jemand beschnitten berufen worden, so soll er die Vorhaut nicht überziehen. Ist jemand mit Vorhaut berufen, so soll er sich nicht beschneiden lassen. 19 Die Beschneidung ist nichts und die Vorhaut ist nichts, sondern das Halten der Gebote Gottes. 20 Jeder in der Stellung, in der er berufen worden ist: Darin soll er bleiben.

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Ich versuche an dieser Stelle nicht, eine geschlechtergerechte Übersetzung zu bieten. Das würde die Erkennbarkeit der Struktur des Textes mindern, an der mir in diesem Zusammenhang liegt.

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Dritter Teil. Über Sklaverei und Freiheit

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Bist du als Sklave berufen worden, lass es dich nicht kümmern! Falls du aber doch frei werden kannst, mache umso mehr daraus! 22 Denn der im Herrn berufene Sklave ist Freigelassener des Herrn; Gleichermaßen ist der als Freier Berufene ein Sklave Christi. 23 Ihr seid bar erkauft worden; Werdet nicht Sklaven von Menschen! 24 Jeder soll, worin er berufen worden ist, Geschwister, darin soll er bleiben vor Gott.

Der Hauptgedanke dieses Stückes wird am Anfang, in der Mitte und am Schluss in ähnlichen Wendungen wiederholt. Die bestimmenden Stichworte sind: „jeder“, „berufen (werden)“, „bleiben“ bzw. „so das Leben führen“. Diese allgemeine Mahnung des Rahmens, in der Bestimmtheit zu bleiben, in der jemand bei der Berufung betroffen worden ist, wird dazwischen in zwei Beispielen ausgeführt, dem ethnisch-religiösen Gegensatz von Beschnittenen und Unbeschnittenen und dem sozialen Gegensatz von Sklaven und Freien. Beide Beispiele sind parallel aufgebaut. Zunächst steht eine direkte Mahnung an den Beschnittenen und Unbeschnittenen bzw. an den Sklaven und den, der frei werden kann, die die allgemeine Mahnung des Rahmens für den bestimmten Einzelfall konkretisiert. Es folgt eine den jeweiligen Gegensatz relativierende Begründung. Worin jemand „berufen worden ist“, „wie es der Herr zugeteilt hat“, bezieht sich danach auf die Berufungssituation in Hinsicht auf ethnisch-religiöse Zugehörigkeit und auf die soziale Stellung, nach dem Kontext in 1Kor 7 auch auf den Personenstand. Darin „soll“ man bleiben. Ist diese Mahnung theologisch zwingend? Ist nicht – zumindest für unsere Einsicht – die Herr-Sklave-Relation Struktur gewordene Sünde? Vielleicht wird diese Einsicht von Paulus nur deshalb nicht formuliert, weil Veränderung gesellschaftlicher Strukturen keine Möglichkeit seiner Zeit war. Dass er aber Bereiche möglicher und notwendiger Aufhebung der HerrSklave-Relation kennt und so eine klare Tendenz anzeigt, ist schon angeklungen und wird noch darzulegen sein. Die verschiedenen Befindlichkeiten dürften außerdem auch verschieden gelagert sein; und so könnte die sie übergreifende allgemeine „Sollbestimmung“ im konkreten Fall nicht mehr sein als die Erwägung einer Zweckmäßigkeit.

Die Forderung, zu „bleiben“ bzw. „so das Leben zu führen“, wird zunächst so konkretisiert, dass der Beschnittene sich die Vorhaut nicht wieder überziehen, der Unbeschnittene sich nicht beschneiden lassen soll (V.18). Wer als Jude christusgläubig geworden ist, bleibt selbstverständlich Jude; und ein christusgläubig gewordener Nichtjude soll nicht Jude werden. Die Relativierung dieses Gegensatzes, die zugleich die jeweilige Mahnung zum Bleiben begründet, erfolgt hier mit der Aussage, dass es weder auf Beschneidung noch Unbeschnit-

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tensein ankomme, sondern auf – und jetzt steht nicht: den Glauben an Jesus Christus, vielmehr: – das Halten der Gebote Gottes. Damit aber wird implizit dem Beschnittensein ein sachliches Prae zugebilligt. Denn es ist ja gerade die Beschneidung, die auf die Gebote Gottes verpflichtet; und es ist das Volk der Beschneidung, Israel, das die Gebote Gottes bekommen hat und kennt. Wenn es sich aber zeigt, dass auf der einen Seite Beschnittene Gottes Weisung übertreten, während auf der anderen Seite Unbeschnittene „die Rechtsforderungen der Tora“ einhalten (Röm 2,25–29), erweist das die Zweitrangigkeit von Beschneidung und Unbeschnittensein. In christusgläubigen Gemeinden soll ein Jude ein Jude bleiben und ein Nichtjude ein Nichtjude, wenn sie nur beide tun, wozu die Beschneidung verpflichtet, nämlich Gottes Gebote zu halten. Hier stellen sich allerdings weitere Probleme. Die Beschneidung verpflichtet Israel auf die ganze Tora mit allen ihren Bestimmungen. Wenn Menschen aus den Völkern Nichtjuden bleiben, geschieht das gerade dadurch, dass sie für Israel spezifische Bestimmungen der Tora nicht für sich übernehmen. Worin bestehen dann „die Rechtsforderungen der Tora“, die auch für sie verbindlich sind? Es stellt sich also die Frage nach einer „Tora für die Völker“. Das „Aposteldekret“ in Apg 15,20.29 und der Bericht des Paulus in Gal 2,11–14 zeigen, dass es in den christusgläubigen Gemeinden des 1. Jahrhunderts darüber heftige Auseinandersetzungen und unterschiedliche Optionen gegeben haben muss. Vgl. dazu die Hinweise bei KLAUS WENGST, Jesus zwischen Juden und Christen, Stuttgart ²2004, S.115–119.

Als einen weiteren Bereich, der die Maxime exemplifizieren soll, da zu bleiben, wo man vom Ruf Gottes angetroffen worden ist, nennt Paulus den sozialen, dargestellt am Gegensatz zwischen dem Sklaven und dem Freien. Die Struktur des Exkurses lässt die jeweils gegensätzlichen Beispiele Beschnittener und Unbeschnittener sowie Sklave und Freier ganz analog erscheinen. In der Weise der Formulierung im Einzelnen zeigt Paulus jedoch ein starkes Empfinden dafür, dass der soziale Gegensatz von anderer Art ist als der ethnisch-religiöse. Sprach er vorher in der dritten Person, so tut er es jetzt in direkter Anrede. Nach dem Schema von V.18a müsste außerdem V.21a so lauten: „Bist du als Sklave berufen worden, erstrebe nicht die Freiheit!“ Genau das aber sagt Paulus nicht, sondern er formuliert im Nachsatz: „… lass es dich nicht kümmern!“ Darin ist impliziert, dass es durchaus Grund gäbe, über das Sklavenlos bekümmert zu sein. Deshalb dürfte Paulus hier die Form persönlicher Anrede gewählt haben. Dass er nicht dem Zwang der Analogie gehorcht – also nicht das Erstreben des Gegenteils verbietet, wie dem Beschnittenen das Überziehen –, bedeutet schon eine Vorentscheidung für das Verständnis von V.21b. Vom bloßen Wortlaut her kann der Nachsatz in ganz gegensätzlicher Weise verstanden werden. Der gesetzte Fall möglicher Freilassung kann entweder fortgesetzt

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Dritter Teil. Über Sklaverei und Freiheit

werden: „Mache umso mehr daraus!“ oder: „Bleibe umso lieber Sklave!“130 Die gemachte Beobachtung, dass Paulus V.21a nicht analog zu V.18a formuliert, spricht für die erste Möglichkeit. Sie wird noch viel stärker von daher gestützt, dass V.21b noch weiter von der Analogie V.18b entfernt ist. Nach dieser Analogie müsste es heißen: „Bist du als Freier berufen worden, erstrebe nicht die Sklaverei!“ Das wäre eine Mahnung, die Paulus offenbar schlechterdings nicht aussprechen könnte. Ein Beschnittener konnte Gründe haben, die Beschneidung rückgängig zu machen131; ein Unbeschnittener konnte Gründe haben, sich beschneiden zu lassen. Und beide konnten das für einen erstrebenswerten Wechsel zum Besseren halten. Wer sich aber freiwillig in die Sklaverei verkaufte, gehorchte der nackten Not, für den war das die letzte eigene Handlungsmöglichkeit, die allenfalls die vage Hoffnung auf spätere Freilassung ließ132. Wenn Paulus anders formuliert, zeigt das wieder, dass er das Sklavendasein für alles andere als einen erstrebenswerten Zustand hält. Sollte er dann einem Sklaven, der die Möglichkeit hat, frei zu werden, deren Wahrnehmung verbieten? Dass er daran nicht im Entferntesten dachte, dafür spricht auch die schlichte Erwägung, dass Sklaven, die ein Herr freilassen wollte, oft gar nicht die Wahl hatten, Sklaven zu bleiben oder frei zu werden133. Die Freilassung war ja primär keineswegs ein Akt der Humanität, son-

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Die paulinische Formulierung besteht nur aus zwei Worten: mállon chrésai; wörtlich übersetzt: „Gebrauche mehr!“ Vgl. Jub 15,34; 1Makk 1,15; AssMos 8,3; Flav.Jos.Ant. 12,241. Vgl. Horaz, Epistulae I 10,39–41: „… wer aus Angst vor knappem Lose sich der Freiheit begibt, die kostbarer ist als alles Gold: zur Strafe wird er einen Gebieter im Nacken tragen und leibeigen sein immerdar, weil er nie sich bescheiden lernt“ (Übersetzung SCHÖNE). Bei Petronius erklärt ein Mitfreigelassener des Trimalchio, dass er sich bewusst in Sklaverei verkauft habe, um durch spätere Freilassung römischer Bürger zu werden (Satyrica 57,4). Für die Freilassung hat er nicht nur 1000 Denare zahlen (57,6), sondern 40 Jahre (57,9) hart und geschickt arbeiten müssen: „… ich kriegte Boden unter die Füße. Das ist richtige Herkulesarbeit…“ (57,11). So gab es Freilassungen durch testamentarische Verfügungen; vgl. z.B. Plinius d.J., Briefe IV 10; Lukian, Totengespräche 9,4. Am Ende seines Gastmahls kündigt Trimalchio an, seine Sklaven in seinem Testament freizulassen (Petronius, Satyrica 71,1). Wenn „reiche Herren … Massen von Sklaven“ testamentarisch freiließen, konnte das auch den Zweck haben, „um die Erben von den überflüssigen Essern zu befreien“ (RICHARD HEINZE, Die augusteische Kultur, hg.v. ALFRED KÖRTE , 4. Aufl., Darmstadt 1983, S.32). Freilassungen konnten auch aus einer Gönnerlaune des Herrn erfolgen; vgl. Plinius d.J., Briefe, VII 16,4; 32,1. Bei Petronius, Satyrica 54,5, schenkt Trimalchio einem Sklaven, der beim Gastmahl auf seinen Arm gestürzt war, die Freiheit, statt ihn zu bestrafen, „damit niemand sagen könnte, ein Held wie er sei von einem Sklaven verwundet worden“ (Übersetzung MÜLLER/EHLERS). Was wäre wohl mit diesem Sklaven geschehen, wenn er gesagt hätte, er wolle lieber Sklave bleiben? Natürlich konnte die Freilassung auch bewusst erstrebt werden wie das in der vorigen Anmerkung gebrachte Beispiel zeigt. Nach Griechische Papyri (hg.v. HENGSTL) Nr. 124 hat ein Sklave für seine Freilassung die stattliche Summe von 2 Talenten und 610 Drachmen aufgebracht. Solche Sklaven durften auf eigene Rechnung arbeiten. Ihr Eigeninteresse, frei zu werden, kam durch den Freikaufpreis dann auch den sie Besitzenden zugute. Außerdem gewannen diese an Ehre durch die Erhöhung der Zahl ihrer Klienten.

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dern lag auch im eigenen Interesse des Herrn. Als Klient blieb der Freigelassene an ihn gebunden und hatte Pflichten ihm gegenüber zu erfüllen134. Paulus konnte dem Sklaven von V.21a in V.21b nicht den Freien gegenüberstellen, wollte er kein Zyniker sein. Deshalb spricht er den Sklaven an, der frei werden kann, und mahnt ihn, aus dieser neuen Situation – die er ja nicht selbst herbeiführt, sondern in die er verfügt wird – umso mehr zu machen. Deshalb „umso mehr“, weil sie ihm mehr Möglichkeiten eigenen Handelns gibt. Gegen ein solches Verständnis spricht nicht der zum „Bleiben“ auffordernde Kontext135. Es war deutlich geworden, dass es sich dabei um eine „Sollbestimmung“ handelt. Wenn schon der Wunsch zur Heirat die „Sollbestimmung“, unverheiratet zu bleiben, aufheben kann (1Kor 7,28.36–40), wie sollte Paulus dann Sklaven dazu aufrufen, gegen einen möglichen Freilassungsakt ihrer Herren Widerstand zu leisten?136 Warum ein zur Gemeinde gehörender Sklave über sein Los nicht bekümmert sein soll, und was es heißt, dass der Freigelassene aus seiner Situation umso mehr machen soll, führt Paulus anschließend in V.22 aus, wobei er zugleich den Gegensatz zwischen Sklaven und Freien relativiert. Waren in V.19 Beschneidung und Unbeschnittensein durch die Aussage relativiert worden, dass es auf beides nicht ankomme, sondern auf das Halten der Gebote Gottes, so erfolgt jetzt eine christologisch vermittelte Relativierung des Sklaveseins und des Freiseins vom jeweiligen Gegenbegriff her. „Der im Herrn berufene

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Die Herren hatten „Rechtsansprüche an ihre Freigelassenen“ (iura libertorum); so Tacitus, Historien II 92,3 (Übersetzung BORST). Vgl. dazu ausführlich WOLFGANG WALDSTEIN, Operae Libertorum, der aufgrund seiner Untersuchungen meint, „von einer ‚Ausbeutung‘ der liberti kann wohl in den allermeisten Fällen nicht die Rede sein“ (S.381); vgl. weiter WEILER, Beendigung, S.197–200. BARCLAY stellt fest: „Herren konnten es sicherstellen, dass sie bedeutende Vorteile von ihren früheren Sklaven behielten, während sie von der Verantwortung für deren Unterhalt frei waren“ (Paul, S.169). Unter Tiberius forderte der Senat die rechtliche Möglichkeit, dass unbotmäßige Freigelassene wieder in den Sklavenstand zurückversetzt würden. Die Berater des Kaisers waren unterschiedlicher Meinung. Die Rechtslage wurde nicht geändert, aber die Freigelassenen sollten sozusagen am kurzen Zügel gehalten werden (vgl. Tacitus, Annalen XIII 26,1–27,3). Kaiser Claudius jedoch erklärte Freigelassene, über die sich ihre Patrone beklagten, wieder zu Sklaven (Sueton, Claudius 25,1). Klienten bei der morgendlichen Begrüßung und im Gefolge ihrer Herren bei vielen Gelegenheiten waren Ausdruck von deren Macht (vgl. Tacitus, Annalen XIV 56,3; Plinius d.J., Briefe II 6,1–5; Juvenal, Satiren VII 141–143; Martial, Epigramme III 36,3–6; 46). Zu den Aufgaben konnte es auch gehören, Geschäfte im Auftrag des Patrons durchzuführen (vgl. Plinius d.J., Briefe VII 11). Juvenal geißelt das Missverhältnis zwischen den Leistungen von Patron und Klient: Satiren V 12–19. Martial begründet sein Fernbleiben von Rom mit der Aussage: „Dieses Klientenbetriebs Mummenschanz kotzte ihn an“ (Epigramme III 4,6; Übersetzung SCHNUR). Zum Verständnis von V.21b vgl. auch VOLLENWEIDER, Freiheit, S.234–236. Von ihm her plädiert etwa GNILKA, Komm., S.74, für die Interpretation, dass „der Sklave lieber in seinem Stand verbleiben als die Freiheit suchen“ solle. Vgl. auch LAUB, Begegnung, S.64f. Zum Verständnis von 1Kor 7,21b vgl. Schrage, Komm. 1Kor, S.139f.

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Dritter Teil. Über Sklaverei und Freiheit

Sklave ist Freigelassener des Herrn137. Gleichermaßen ist der als Freier Berufene ein Sklave Christi.“ Im Blick auf die Formulierung ist zunächst auffällig, dass Paulus in V.22a zweimal von Jesus als „Herrn“ spricht und ihn in V.22b als „Christus“ bezeichnet. Der Sklave ist durch seinen weltlichen Herrn bestimmt. In diese Herr-Sklave-Relation dringt hier ein anderer Herr ein und sprengt sie auf. In dem Bereich, den Jesus als Herr bestimmt, in den die Berufung versetzt – und das ist nicht nur der Bereich der Geltung vor Gott, vor dem es kein Ansehen der Person gibt, sondern ebenso die Gemeinde –, ist der Sklave nicht mehr länger Sklave. Hier kann und darf er nicht bei seinem Status als Sklave behaftet werden; hier kann und darf er nur noch als Freier angesprochen werden, den Jesus als sein Herr frei gemacht hat, sodass er als sein Freigelassener anzusehen ist138. Dagegen ist „der als Freier Berufene ein Sklave Christi“. Die Berufung lässt auch seinen Status nicht unverändert. In dem Bereich, in den er durch die Berufung gelangt, hat sein Status als Freier nichts zu bedeuten; er macht sogar einen Statuswechsel ins Gegenteil durch. Durch die Berufung beansprucht Christus dessen Freiheit für sich und macht ihn so zu seinem Sklaven. Wer als Freier berufen wird, bleibt ein in der Welt Freier. Aber seine Möglichkeiten, die er als Freier hat, sind von Christus beschlagnahmt und werden so ausgerichtet auf eine Gemeinschaft von Menschen, in der es die Entgegensetzung von Freien und Sklaven nicht mehr gibt. Die Aufhebung dieses Gegensatzes ist eine Signatur der messianischen Zeit. Deshalb dürfte Paulus an dieser Stelle von Jesus als „Christus“, als „dem Gesalbten“, „dem Messias“, sprechen. Die Berufung eröffnet so einen Raum, in dem der Freie und der Sklave die Erfahrung des jeweils anderen machen: Der Sklave erfährt Befreiung und der Freie Knechtschaft139. Die Berufung stellt in den Raum der Gemeinde, in dem sich der zum Freigelassenen des Herrn gewordene Sklave und der zum Sklaven Christi gewordene Freie als Gleiche begegnen.

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Zur Formulierung vgl. JONES, „Freiheit“, S.34–36. Der Ton liegt auf der Freiheit des Sklaven, wobei vom „juristischen Hintergrund“ her „ein Moment des Verpflichtetseins mitschwingt. Vor dem Hintergrund dieses juristischen Materials gewinnt die Exegese eine historisch begründete Stütze, daß sich Paulus den kÚrioj („Herrn“) hier als den Befreier und, noch spezifischer, als den Freikäufer, gegenüber dem die Freigelassenen zu Dank verpflichtet sind, vorstellt“ (S.36). Dieser ekklesiologische Aspekt und damit ein Bereich realer Erfahrung ist völlig verdeckt bei CONZELMANN: „Wenn er im Herrn ist, diesem gehört, ist er eschatologisch, von der Sünde, frei“ (Komm. 1Kor, S.153). Vgl. TRUMMER, Chance, S.352: „Der Sklave darf sich bereits als Freigelassener des Herrn verstehen, für den Freien hingegen bedeutet Gottes Ruf nicht die Bestätigung seiner Eigenmächtigkeit, sondern die Verpflichtung für den Dienst des Christus.“

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Rechtliche Gleichheit von Freien und Sklaven gab es im pharisäisch-rabbinischen Judentum bei den Rechtsvorschriften betreffs Körperverletzung. Das stellt URBACH heraus (Laws, S.38f.). Er erkennt in dieser Haltung ein unmittelbares Resultat der Toravorschrift, „die dem Herrn, der seinem Sklaven einen Zahn oder ein Auge ausschlägt, damit bestraft, dass sie ihn zwingt, den Sklaven zur Entschädigung freizulassen (Ex 21,26–27). Die Rabbinen weiteten den Geltungsbereich dieser Vorschrift aus, um alle Körperglieder einzuschließen, die nicht wiederkehren können“ (S.38). „Diese absolute Gleichheit von Sklave und Freiem in allen Dingen, die den rechtlichen Schutz ihres Lebens betreffen, hat keine Parallele im griechischen oder römischen Recht“ (S.39f.). In diesem Zusammenhang betont URBACH auch: „Weder die pharisäische noch die sadduzäische Halacha kannten die Geißelstrafe für den Sklaven“ (S.38). Das ist umso bemerkenswerter, als es nach FINLEY „eine grundsätzliche Besonderheit durch weite Bereiche der Antike hindurch war …, daß körperliche Züchtigung, ob öffentlich oder privat, nur gegenüber Sklaven angewendet wurde“ (Sklaverei, S.111). Er führt dazu aus: „Wenn ein Sklave ein beseelter Besitz ist, nicht eigentlich eine Person, und dennoch biologisch unzweifelhaft ein menschliches Wesen, muß man institutionalisierte Verfahren erwarten, die ihn als Menschen herabsetzen und seine menschliche Eigenschaft verdrängen, so daß man ihn von Menschen, die kein Besitz sind, unterscheiden kann. Körperliche Züchtigung und Folter stellen eines dieser Verfahren dar“ (S.114).

Nachdem Paulus in V.21 zunächst den Sklaven direkt angesprochen hatte, dann den Sklaven in der Situation der Freilassung, nachdem er sich in V.22 nacheinander auf den Sklaven und den Freien bezogen hatte, können die direkten Anreden im Plural in V.23 nur beide, den Sklaven und den Freien, meinen: „Ihr seid bar erkauft worden.“ Die sich vom vorangehenden Kontext her ergebende Adressierung der Aussage an Sklaven und Freie ist ein Argument dafür, dass Paulus hier nicht die Praxis des sakralen Sklavenloskaufs im Blick hat. Diese These hatte vor allem DEISSMANN vertreten: Licht, S.271–275. Sie ist vor allem von FRANZ BÖMER gründlich widerlegt worden: Untersuchungen über die Religion der Sklaven in Griechenland und Rom II. Die sogenannte sakrale Freilassung in Griechenland und die (doàloi) ƒero…, Wiesbaden 1960, S.133–139. Die These DEISSMANNS und die weitere Diskussion werden kritisch referiert von JONES, „Freiheit“, S.30–33, wobei auch Aspekte der Argumentation BÖMERS hinterfragt werden.

Sozusagen auf dem Markt der Welt ist sowohl der Sklave als auch der Freie von einem anderen gekauft worden. Von beiden wird diese Aussage sehr unterschiedlich gehört. Für den Sklaven ist es eine jederzeit mögliche Erfahrung, verkauft und gekauft zu werden, die er auch schon am eigenen Leibe gemacht oder bei seinesgleichen erlebt hat140. Wird er nun von Jesus als dem Herrn 140

Neue „Ware“ wurde vor allem aus Kriegszügen rekrutiert. Sklavenhändler befanden sich im Tross eines Heerzuges. Nach der Eroberung Jerusalems heißt es bei Josephus über die Gefangenen, die nicht getötet worden waren: Die schönsten Jünglinge wurden für den Triumphzug aufgespart, die über Siebzehnjährigen nach Ägypten in die Bergwerke geschickt oder – zum größeren

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Dritter Teil. Über Sklaverei und Freiheit

gekauft, der nicht den anderen Herren gleicht, ist seine Sklavenschaft aufgebrochen, gehört er nicht mehr seinem bisherigen Herrn – jedenfalls nicht in dem Bereich, in dem sich die Herrschaft seines neuen Herrn manifestiert, im Bereich der Gemeinde. Von diesem Herrn gekauft zu werden, bedeutet für ihn Befreiung. Dagegen ist für den Freien die Aussage, gekauft worden zu sein, im Grunde eine Provokation. Sie besagt, dass er nicht mehr sich selbst gehört und somit kein Freier mehr ist, weil er einem anderen zu Eigen geworden ist. Das Bild vom Kauf zeigt, dass jeder von der Berufung in seiner besonderen Situation betroffen wird. Aber diese Situation bleibt nicht geschlossen, sondern wird geöffnet zum jeweiligen Gegenteil hin – im Dienst einer neuen Gemeinschaft. Dieselbe doppelte Bewegung, die Paulus in den zwei Sätzen von V.22 beschrieben hatte, wird damit hier in einem einzigen Satz zum Ausdruck gebracht. Die Gemeinde, in der Jesus der Herr ist, für die Christus den Sklaven und den Freien „kauft“141, ist der Ort, der die Freien zur Dienstbarkeit verpflichtet und an dem Versklavte Erfahrungen von Befreiung machen. Auf die Aussage, bar erkauft worden zu sein, lässt Paulus in V.23b die Mahnung folgen: „Werdet nicht Sklaven von Menschen!“ Wie die vorangehende Aussage muss auch diese Mahnung an beide, den Sklaven und den Freien, gerichtet sein. Diese Annahme wird von daher bestärkt, dass „Menschensklaven“ Gegensatzbildung sowohl zu „Sklave Christi“ als auch zu „Freigelassener des Herrn“ (V.22) ist. Der Freie, der doch durch die Berufung zum Sklaven Christi geworden ist, wird gerade dann zum Menschensklaven, wenn er es nicht annimmt, Sklave Christi zu sein, wenn er sein eigener Herr bleiben will und seine Bindung an Christus und somit seine Dienstbarkeit in der Gemeinde

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Teil – an verschiedene Provinzen für Gladiatoren- und Tierkämpfe verschenkt, die unter Siebzehnjährigen verkauft (Jüdischer Krieg VI 417f.). Dion Chrysostomos hat in 14,18 die Möglichkeit im Blick, dass ein Sklave „nicht nur einmal, sondern, wenn es sich bei ihm gerade so ergibt, häufig verkauft worden ist“. Für Sklavenmärkte seien zwei Zitate gebracht. Plinius d.J. schreibt in Briefe I 21,2: „… ich bin überzeugt, die Sklaven, die Du für mich nach Deinem Gutdünken gekauft hast, sehen gut aus. Jetzt fragt sich nur, ob es auch biedere Kerle sind, worüber man sich auf dem Sklavenmarkt besser mit dem Ohr als mit dem Auge ein Urteil bildet“ (Übersetzung KASTEN). Seneca spricht von „den Männern, die am Castortempel ihr Geschäft machen mit Kauf und Verkauf minderer Sklaven, deren Buden mit übelster Sklaven Gesindel vollgestopft sind“ (De constantia XIII 4; Übersetzung ROSENBACH). Zum „Kauf und Verkauf von Sklavinnen und Sklaven“ vgl. auch die Texte und Ausführungen bei ARZT-GRABNER, Komm., S.89–96. – Bemerkenswert ist, wie in mSot 3,8 die Vorschrift von Ex 22,2b, dass ein nicht zur Erstattung fähiger Dieb verkauft werden soll, geschlechtsspezifisch differenziert wird: „Der Mann soll wegen seines Diebstahls verkauft werden, nicht aber darf die Frau wegen ihres Diebstahls verkauft werden.“ Sie soll damit nicht sexueller Verfügbarkeit ausgeliefert werden. Zu den rabbinischen Auslegungen, die eine dauernde Versklavung ausschließen, vgl. im zweiten Teil den Exkurs am Ende der Kommentierung von V.18. Bei dem hier gebrauchten Bild darf nicht gefragt werden, von wem gekauft und an wen bezahlt wird. Es geht nur um den Besitzwechsel, insofern die „Gekauften“ jetzt zu Christus und seiner Gemeinde gehören.

4. „Hier gibt es nicht Versklavte und Freie.“

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nicht anerkennt. Auf der anderen Seite will der Sklave, der sich in der Gemeinde noch als Sklave verhält, nicht wahrhaben, dass er schon Freigelassener Jesu als des Herrn schlechthin ist. Paulus kann nur deshalb so reden, weil er die Gemeinde als einen Ort vor Augen hat, an dem das Festgelegtsein auf den jeweiligen sozialen Status aufgebrochen ist. Die Gemeinde ist ein Stück völlig anders strukturierter Gegengesellschaft, in der die für die Gesellschaft konstitutive Entgegensetzung von Freien und Sklaven aufgehoben ist, in der Gottes Geist weht und in der deshalb Freiheit ist. Das wird in dem abschließenden V.24 noch einmal deutlich. Paulus belässt es hier nicht bei der variierenden Wiederholung der Mahnung, die den Rahmen des ganzen Stückes bildet. Vielmehr fügt er dieser Mahnung, in dem Status zu bleiben, in dem jemand bei der Berufung angetroffen worden ist, die Worte hinzu: „vor Gott“. Angesichts der vorangehenden Ausführungen wäre eine einfache Wiederholung unmöglich. Mit der Hinzufügung „vor Gott“ trägt Paulus der vorher dargestellten doppelten Bewegung Rechnung. „Vor Gott“ in seinem Status zu bleiben, heißt gerade nicht, in jeder Beziehung auf ihn festgelegt zu sein. Paulus nimmt den unterschiedlichen Status des Sklaven und des Freien sehr scharf wahr. Aber er sieht, dass der jeweilige Status „vor Gott“ in Bewegung gerät auf sein Gegenteil hin und so seine Eigenmächtigkeit verliert. Diese Bewegung bedeutet keine einfache Umkehrung, sondern Strukturveränderung auf Gleichheit hin. Die Perspektive „vor Gott“ eröffnet den Raum der Gemeinde, in dem es weder Sklaven noch Freie gibt. So ist nicht nur der und die einzelne Christusgläubige, sondern die Gemeinde als ganze „neue Schöpfung“142.

c) Die Taufe als Stiftung neuer Einheit (Gal 3,26–28; 1Kor 12,13) An zwei weiteren Stellen in seinen Briefen hat Paulus die Gemeinde als den Ort im Blick, an dem neben anderen Unterschieden auch der soziale Gegensatz zwischen Sklaven und Freien aufgehoben ist. In Gal 3,26–28 schreibt er: „Denn ihr seid alle durch den Glauben Kinder Gottes in Jesus Christus. Denn alle, die ihr auf Christus getauft worden seid, habt Christus angezogen. Hier gelten keine Unterschiede mehr: nicht zwischen jüdischen und griechischen 142

Dieser konkrete Erfahrungsbereich der Gemeinde wird von JONES nicht beachtet, wenn er Paulus „in den Bahnen dieser hellenistischen Tradition über innere Freiheit, die auch Sklaven besitzen konnten“, stehen sieht und den Unterschied „lediglich im jeweils anderen Stifter der von ihnen (Paulus und den hellenistischen Philosophen) propagierten Freiheit“ erblickt („Freiheit“, S.37).

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Dritter Teil. Über Sklaverei und Freiheit

Menschen, nicht zwischen versklavten und freien, nicht zwischen männlich und weiblich. Denn ihr alle seid in Jesus Christus eine Einheit.“ Und in 1Kor 12,13 heißt es: „Denn in einem Geist sind wir auch alle in einen Leib hineingetauft worden, ob jüdische oder griechische Menschen, ob versklavte oder freie, und wir sind alle mit einem Geist getränkt worden.“ War Paulus in 1Kor 7 von der Berufung ausgegangen, so bezieht er sich an diesen beiden Stellen auf die Taufe, der sich alle Berufenen unterziehen werden. Sie lässt Strukturen, die trennen, nicht unangetastet, sondern hebt sie auf und stiftet eine neue Einheit. Da die Taufe zugleich die Aufnahme in die Gemeinde bedeutet, mit ihr die Berufenen in den einen Leib, die Gemeinde, hineingetauft werden, ist es hier deutlich, dass mit der Ortsbestimmung „in Jesus Christus“ die Gemeinde als der Bereich bezeichnet wird, dem Jesus Christus Gestalt gibt („Ihr habt Christus angezogen“ – Gal 3,27) bzw. der von dem einen Geist bestimmt ist (1Kor 12,13), der Gottes und Christi Geist ist (vgl. Röm 8,9; Gal 4,6). In diesem Bereich gibt es nur „Kinder Gottes“ (Gal 3,26), die untereinander Geschwister sind. Deshalb kann Paulus wiederholt „wir alle“ (1Kor 12,13 zweimal) und in der Anrede „ihr alle“ (Gal 3,26.28) sagen. Innerhalb dieser Klammer bedeutet das Freisein keinen Vorrang und das Sklavesein keine Unterprivilegierung. Es gibt weiter Freie und Versklavte. Aber in der Gemeinde haben die Freien nicht deshalb etwas zu sagen, weil sie frei sind, und haben die Sklavinnen und Sklaven nicht als Sklavinnen und Sklaven zu gehorchen, sondern alle werden gerade dadurch zu gleichen Geschwistern, dass die Freien Bindung und die Versklavten Befreiung erfahren.

d) Schluss Blicken wir auf die Ausführungen des Paulus über Versklavte und Freie zurück, so ist festzustellen, dass ihn die Perspektive „vor Gott“, bei dem es kein Ansehen der Person gibt, nicht dazu verleitet, die harte soziale Realität schwärmerisch zu überspringen. Er nimmt sie sehr scharf wahr und tut das, was ihm möglich ist. Im konkreten Fall des Sklaven Onesimus argumentiert er unter genauer Berücksichtigung der vorgegebenen Situation so, dass er diesen Sklaven als seinen Mitarbeiter frei bekommt. An den anderen Stellen bringt er die schon bestehende Erfahrung und Praxis der Gemeinde auf den Begriff und gibt ihr so Orientierung, auch weiterhin neue Schöpfung als geschwisterschaftliche Gemeinschaft im Gegenüber zu einer in Gegensätze auseinander fallenden Welt zu sein. Dabei wird deutlich, dass es bei vorgegebener Ungleichheit

4. „Hier gibt es nicht Versklavte und Freie.“

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zur Gleichheit von Versklavten und Freien in der Gemeinde nur kommen kann, wenn auch hier beide ungleiche Erfahrungen machen – allerdings die des jeweils anderen. Im Unterschied zu Epiktet, der auf die Freiheit des einzelnen Individuums abhebt, ist Freiheit nach Paulus geteilte Freiheit, wobei das Teilen unter den Bedingungen einer ungleichen Gesellschaft den besonderen Akzent hat, dass den Versklavten Befreiung zuteil wird und den Freien Versklavung. Epiktet hat das Seine im Blick, die unbedingt zu wahrende Integrität des Einzelnen – und ich betone noch einmal, dass das „keine Kleinigkeit“ ist, über die schnell hinwegzugehen wäre. Paulus hat darüber hinaus aber eine neue Sozialität im Blick, nicht als bloße Vision, sondern die Gemeinde als einen Ort realer Erfahrung. Daher kann er dazu auffordern, nicht das Seine zu suchen, sondern das der anderen (Phil 2,4). Darin wird sich Gemeinde als Raum der Freiheit bewähren.

Stellenregister I. Altes Testament

II. Neues Testament

Genesis 45,5 65

Matthäus 5,41 99 6,31f. 51 14,19 53 15,36 53 26,16 53

Exodus 19,6 54 21,1–6 66 21,2 67 21,5f. 67 21,26–27 111 22,2 112 Levitikus 19,2 54 19,32 59 25,39–43 67 25,39 67 27,7 59 Deuteronomium 7,7f. 47 10,15 47 14,1 47 15,12–18 66 15,12–15 67 15,12 67 15,16f. 67 22,3 41 23,16f. 41, 42 23,16 41 2 Samuel 7,23 54 1 Makkabäer 1,15 108 Psalmen 3,8 52 5,3 52 7,2 52 7,4 52 22,2 52 Sprüche 4,2 48 Jesus Sirach 51,10 51 Hosea 11,1 47

Markus 6,41 53 8,6 53 10,42–45 51 14,22 53 Lukas 9,16 53 22,19 53 23,7 61 23,11 61 23,14f. 61 23,15 61 Johannes 6,11 53 Apostelgeschichte 12,12 73 12,25 73 15,20 107 15,29 107 15,37 73 15,39 73 16,1–3 46 17,14f. 46 18,1–3 49 18,2 65 18,5 46 18,18f. 49 18,26 49 19 29 19,22 46 19,29 40, 73 20,4 40, 46, 73 25,21 61 27,2 40, 73 Römer 1,1 46 1,7 47, 54 2,25–29 107 8,9 114 8,27 54 9–11 48 9,24 48 11,16 55

11,28f. 48 11,28 48 12,13 54 12,19 47 15,23f. 29 15,25f. 54 15,31 54 16,2 54 16,3f. 49 16,3 48 16,4 48 16,5 27, 47 16,8f. 47 16,9 48 16,12 47 16,15 54 16,21 46, 48 16,22 26 1 Korinther 1,1 46, 47 1,2 54 1,3 51 4,9–13 72 4,15 60 4,17 46 6,1f. 54 7 75, 106, 114 7,1–6 104 7,8f. 105 7,10f. 105 7,11 105 7,12–16 105 7,17–24 21, 75, 104, 105 7,17 105 7,18 106, 107, 108 7,19 109 7,21–23 75 7,21 107, 108, 109, 111 7,22 109, 110, 111, 112 7,23 111, 112 7,24 113 7,27 105 7,25–28 105 7,28 105, 109 7,36–40 109 7,40 105 8,5f. 68 9 62 10,11 41 10,14 47 11,24 53 12,13 113, 114 14,33 54 15,28 68 15,32 29

118 Stellenregister 15,58 47 16,1 54 16,15–18 62 16,19 27, 49 2 Korinther 1,1 46, 47, 54 1,8 29 5,16f. 78 7,1 47 8,4 54 9,1 54 10,1 69 12,19 47 13,12 54 Galater 1,1 46, 47 1,3 50 1,4f. 50 2,5 65 2,11–14 107 3,26–28 113 3,26 114 3,27 114 3,28 41, 114 4,6 114 4,19 39, 60 5,2 69 6,11 27 6,18 73 Epheser 1,1 46 Philipper 1,1 46 1,7 39 1,12–17 46 1,13 39 1,14 39 1,17 39 1,24–26 72 2,1–11 51 2,4 115 2,25 49 2,29f. 62 4 56 4,1 47 4,8 55, 56 4,9 56 4,21f. 46 4,23 73 Kolosser 1,1 46, 47 1,7 40, 72 4,7–9 29 4,9 29, 44, 104 4,10 73

4,12 4,13 4,14 4,15 4,17

40, 72 72 73 27 29, 49

1 Thessalonicher 1,1 46, 50 1,9 54 2,18 69 3,2 46 2 Thessalonicher 1,1 46 1 Timotheus 1,1 46 2 Timotheus 1,1 46 4,10 73 4,11 73 4,19 49 Titus 1,1 46 Philemon 1–3 26 1 27, 29, 39, 40, 47, 59, 68 2 27, 29, 73 3 47, 73 4–7 22, 26 4 52 5 27, 52, 53, 55, 56 6 22, 52, 56, 63 7 27, 52, 58, 59, 61, 70 8–14 26 8f. 46 8 57, 63, 72 9f. 29, 39 9 39, 57, 58 10 28, 39, 40, 57, 67, 104 11 32, 33, 36, 38, 40, 57, 61 12 22, 24, 28, 35, 36, 38, 57, 71, 103 13–15 22 13f. 35, 68, 71 13 28, 36, 38, 39, 40, 57, 63 14 28, 57, 58, 72 15–20 26 15f. 42, 64 15 28, 66, 103 16 22, 42, 65, 70, 77, 103 17 24, 28, 38, 42, 64, 71 18f. 31, 64 18 30, 32, 33, 61, 103, 112 19 26, 29, 30, 46, 67, 70, 103 20 64, 103

21–25 26 21 26, 42, 71 22 26, 28, 29, 40, 47, 71 23f. 26, 71 24f. 22 25 26, 47, 71 1 Petrus 5,13 73 Hebräer 9,14 22

III. Außerkanonische und außerrabbinische Schriften 1. Außerkanonische Schriften neben dem Alten Testament Assumptio Mosis 8,3 108 Jubiläenbuch 15,34 108

2. Außerkanonische Schriften neben dem Neuen Testament 1 Clemens 65,1 61 Ignatius Epheser 1,3 44 2,1 44 3,1 59 6,2 44 Magnesier 1,2 59 9,12 59 Trallianer 12,2 59

IV. Zwischentestamentliches und nachtestamentliches Judentum 1. Philo De opificio mundi §105 59

Stellenregister 119 De specialibus legibus II 33 59 II 84 32 II 123 20 De virtutibus §124 42 2. Josephus Antiquitates Judaicae 12,241 108 18,203–204 39 De bello Judaico VI 417f. 111f. 3. Rabbinica Mischna Sota 3,8 112 Qidduschin 1,2 67 Avot 3,14 48 Babylonischer Talmud Gittin 45a 41 Megilla 29a 48 Mechilta d’ R. Jischmael Jitro (BaChodesch) 2 54 Mischpatim (Nesikin) 2 67

V. Alte Kirche Tertullian Adversus Marcionem V 21,1 22

VI. Nichtjüdische und nichtchristliche antike Autoren Apuleius Metamorphosen VI 4,5 40 VI 7,1–8,3 34 VI 8,5–9,1 37 VI 9,3 37 VI 10,1 37 VIII 22,2–7 84 IX 12,3f. 31, 43 X 13,6 79 Aristides Romrede 71 79 Aristoteles Eudem. Ethik VII 9 (1241b) 68

Politik I 4 (1253b) 88 VI 2 (1317b) 87 Augustus Res gestae V 25 34 Columella Landwirtschaft I,8f. 31 Dio Chrysostomus 14,1 32 14,18 112 Epiktet Dissertationes I 1,22–24 95 I 1,17 98 I 2,8–11 80 I 2,37 101 I 4,24 95 I 9,8 36 I 12,9 86 I 12,15 98 I 12,16 98 I 13,3f. 93 I 13,5f. 94 I 19,2 91 I 19,4f. 91 I 19,4 91 I 19,6 91 I 19,9f. 93 I 19,17 92 I 19,19–22 92 I 19,26–29 92 I 24,12f. 91 I 29,9 96 I 29,22–24 97 I 29,59 37 I 29,62 37 I 29,63 94 I 30,2 95 II 1,21 89 II 1,22 93 II 1,23 86, 89 II 1,24 89 II 1,25 93 II 1,35 95 II 1,38 95 II 2,12f. 89 II 6,20 95 II 6,22 95 II 8,7f. 94 II 14,7 97 II 16,41 95 II 16,42 97 II 17,29 95 II 19,17f. 95 II 23,42 89, 98

III 2,4 90 III 3,12f. 96 III 4,7f. 96 III 5,7 89 III 5,9f. 98 III 5,16 98 III 7,31 93 III 9,18 95 III 12,4 89 III 13,9 96 III 14,11–14 92 III 14,11 92 III 14,14 92 III 15,12 89 III 17,9 101 III 22 101 III 22,21f. 95 III 22,27 90, 91 III 22,40–44 88 III 22,48 89 III 22,49 95 III 22,84 89 III 22,86–88 101 III 22,95 95 III 22,96 98 III 24,64–77 88 III 24,70f. 95 III 24,113 95 III 26,1f. 36 III 26,1 33 III 26,21f. 91 III 26,34f. 95 IV 1,1 87, 89 IV 1,6f. 90 IV 1,8–23 90 IV 1,33–40 92 IV 1,33–37 38 IV 1,45–50 92 IV 1,46 86 IV 1,48 92 IV 1,51 90 IV 1,55 93 IV 1,56 86 IV 1,57–59 90 IV 1,60 95 IV 1,62–75 88 IV 1,62–88 88 IV 1,72 90 IV 1,79 99 IV 1,86–88 98 IV 1,89f. 98 IV 1,91 96 IV 1,99 98 IV 1,100 98 IV 1,101 98 IV 1,103–108 100 IV 1,111 88 IV 1,112f. 88 IV 1,114–117 88

120 Stellenregister IV 1,120 94 IV 1,126 94 IV 1,127 95 IV 1,131 98 IV 1,132–143 99 IV 1,145–150 91 IV 1,145 91 IV 1,150 82 IV 1,152–158 88 IV 1,159–169 88 IV 1,160 96 IV 1,172 95 IV 1,173 99 IV 1,175 89 IV 1,176f. 100 IV 3,7 89 IV 4,9 94 IV 4,34 98 IV 6,2–4 100 IV 6,8 89 IV 6,16 89 IV 6,22 101 IV 7,12 100 IV 7,13 100 IV 7,14f. 100 IV 7,16f. 94 IV 7,19–23 99 IV 7,20 98 IV 7,23f. 101 IV 7,25f. 94 IV 7,28f. 95 IV 7,30f. 96, 100 IV 7,34 96 IV 7,35 96 IV 10,20f. 93 IV 13,5 95 Fragment 4 89 Fragment 11 100 Fragment 17 100 Fragment 18 92 Galenus De placitis VI 37 Horaz Epistulae I 10,39–41 108 I 16,46f. 37 II 2,2–19 30 II 2,14f. 37 Satiren I 1,76–78 33 Juvenal Satiren V 12–19 109 V 120–124 79

VII 141–143 109 VIII 173–178 34f. VIII 179f. 31 XI 136–141 79 XIV 18–24 80 Lucian Totengespräche 9,4 108 Martial Epigramme III 4,6 109 III 36,3–6 109 III 36,46 109 V 13 81 Petronius Satyrica 34,5 83 54,5 108 57,4 108 57,6 108 57,9 108 57,11 108 71,1 83, 108 74,8 80 75,8f. 81 75,10–77,6 82 97,1–98,1 34 107,4 37 Plinius d.Ä. Naturkunde XXIX, viii 19 79 Plinius d.J. Briefe I 21,2 112 II 6,1–5 109 IV 10 108 V 19,2 81 VII 11 109 VII 16,4 108 VII 24,4 80 VII 32,1 108 VIII 16,1–4 81 IX 21 76 IX 24 77 Panegyricus 42 82 Plutarch Moralia 8f 82 144a 37 Seneca Epistulae morales 27,6f. 80

31,11 83 47,1 83 47,2 79, 81 47,3 79 47,4 82 47,5 80 47,6–8 80 47,6 83 47,9 81 47,10 83 47,11 80, 82 47,12 84 47,13 79, 81 47,14 81 47,15 81 47,17 82, 83 47,19 82 51,9 83 107,2 33 De benificiis III 17,1–29,1 78 III 23–27 82 De brevitate vitae XII 5 80 De clementia III xvi 1 82 De constantia sapientis VI 3–7 83 XIII 4 112 De ira III xxxii 2 82 III xxix 1 84 Sueton Caligula 32,2 37 Claudius 25,1 109 25,2 84 Tacitus Annalen III 60,1–2 35 III 61 35 III 63,4 35 XII 53,2f. 81 XIII 26,1–27,3 109 XIV 56,3 109 Historien II 92,3 109