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German Pages 1056 Year 2023
Berger (08129) / p. 3 / 19.5.2020
Klaus Berger
Kommentar zum Neuen Testament
Berger (08129) / p. 2 / 19.5.2020
Berger (08129) / p. 1 / 19.5.2020
Berger (08129) / p. 4 / 19.5.2020
4. Auflage, 2020 Copyright © 2011 by Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen. Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Wir haben uns bemüht, alle Rechteinhaber an den aufgeführten Zitaten ausfindig zu machen, verlagsüblich zu nennen und zu honorieren. Sollte uns dies im Einzelfall nicht gelungen sein, bitten wir um Nachricht durch den Rechteinhaber. Umschlagmotiv: grungy paper, © myszka – fotolia.com Satz: SatzWeise, Bad Wünnenberg ISBN 978-3-641-31172-8 www.gtvh.de
Berger (08129) / p. 5 / 19.5.2020
Für Josef Vollberg OCSO Abt des Klosters Mariawald
Berger (08129) / p. 6 / 19.5.2020
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Inhalt
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9
Das Evangelium nach Matthäus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
130
Das Evangelium nach Lukas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
210
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
319
Die Apostelgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
415
Der Brief an die Römer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
495
Der erste Brief an die Korinther . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
566
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
630
Der Brief des Apostels Paulus an die Galater . . . . . . . . . . . . . . . . . .
665
Der Brief an die Epheser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
688
Der Brief an die Philipper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
718
Der Brief an die Kolosser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
736
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
758
Der zweite Brief an die Thessalonicher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
778
Der erste Brief an Timotheus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
790
Der zweite Brief an Timotheus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
809
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
822
Der Brief an Philemon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
827
Der Brief an die Hebräer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
831
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
889
Vorwort
Das Evangelium nach Markus
Das Evangelium nach Johannes
Der zweite Brief an die Korinther
Der erste Brief an die Thessalonicher
Der Brief an Titus
Der Brief des Jakobus
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8
Inhalt
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
907
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
934
Der erste Brief des Johannes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
944
Der zweite Brief des Johannes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
970
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
974
Der Brief des Judas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
977
Die Offenbarung des Johannes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
983
Der erste Brief des Petrus Der zweite Brief des Petrus
Der dritte Brief des Johannes
Häufiger zitierte Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1050
Ergänzungen zur 3. Auflage (Hinweise auf Ergänzungen im Kommentartext) . . . . . . . . . . . . . 1051
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Vorwort
Im Folgenden ist die Grundlage der griechische Text des Neuen Testaments nach Nestle-Aland, 24. Auflage (E. Nestle, K. Aland, B. Aland: Novum Testamentum Graece). Als Übersetzung entstand parallel und wird daher hier überall als Anregung zur Auslegung vorausgesetzt: Das Neue Testament und frühchristliche Schriften, übersetzt und kommentiert von Klaus Berger und Christiane Nord, 6. Aufl., Frankfurt 2005. Dort auf S. 1363-1367 auch ein Verzeichnis der Abkürzungen. Dieses betrifft auch die zitierten alt-und neutestamentlichen Apokryphen. Die hier häufiger zitierte Literatur ist auf einer Liste zusammengestellt S. 1051. Um die Kommentierung nicht durch unnötige Extratouren zu belasten, habe ich auf Folgendes durchgehend und bewusst verzichtet: – auf neue Hypothesen, betreffend die synoptische Frage. Mit den Fachleuten in aller Welt warte ich auf eine neue These, die das 19. Jh. hinter sich lässt. Bis dahin ist »alles offen«. An den relevanten Stellen habe ich daher auf eine kausale Erklärung verzichtet und mich damit begnügt, die Unterschiede in den bestehenden Endfassungen aufzuweisen. – auf Teilungshypothesen und auf Rekonstruktion von »redaktionellen Schichten«. Derartige Versuche erschienen mir immer wieder als Ausweis mangelnder Durchdringung der dann notleidenden Texte. – auf weitläufige Forschungsgeschichte. Zum Ersatz habe ich den jeweiligen Kommentierungen vorangestellt eine chronologische Liste der Kommentare, soweit sie für mich (aus eigener Sammlung) zugänglich waren. Was die Methoden betrifft, so habe ich neben den bekannten historischen (dazu auch die eigene Arbeit zur Formgeschichte »Formen und Gattungen im Neuen Testament«, 2005) besonders die der Kompositionskritik verwendet: Welche theologische Konzeption verrät sich aus der Anordnung der Themen und Stoffe? Religionsgeschichtliche Fragestellungen sind für mich nach wie vor wichtig. Dabei ist das zeitgenössische Judentum als theologischer Hintergrund bzw. Mutterboden aller neutestamentlichen Theologien angenommen. An zweiter Stelle sind außerbiblische Texte der frühen Kirche und der alten christlichen Liturgien für mich von zentraler Bedeutung. Die »Parallelen« haben für mich in der Regel konstruktive Funktion. Denn die biblischen Texte werden dadurch nicht weniger, dass sich außerbiblische Parallelen finden. Schwachstellen der geläufigen Schulexegese wie mangelnde Berücksichtigung des Heiligen Geistes, aber auch der Dimensionen der Leiblichkeit, Leibhaftigkeit und Kirche habe ich mich bemüht zu vermeiden. Wenn ich die Hypothesen und Thesen der liberalen und noch mehr der hegelianisch beeinflussten Exegese in der Regel ablehne, dann ändert das nichts an der Achtung vor dem hohen Maß an Intelligenz und Fleiß, das man hier der Schrift hat angedeihen lassen. Oft nehme ich Anregungen aus dem Reichtum der 1700 Jahre vormoderner Auslegung auf. Der innere Zusammenhang zwischen Halbbildung und Unglaube steht mir dabei warnend vor Augen. Der Kommentar versucht u. a. eine durchgehende Neudatierung der frühchristlichen Schriften. Heidelberg, In assumptione BMV 2011 Klaus Berger
Berger (08129) / p. 10 / 19.5.2020
Berger (08129) / p. 11 / 19.5.2020
Das Evangelium nach Matthäus
Kommentare: Theodor v. Heraclea (350). – Apollinaris v. Laodicea (380). – Joh. Chrysostomus I-II (vor 400). – Theophilus v. Alexandrien (400). – Hieronymus (400). – Theodor v. Mopsuestia (425). – Cyrill v. Alexandrien (440). – Hrabanus Maurus (vor 856). – Paschasius Radbertus XII (vor 856). – Otfried v. Weißenburg (868) – Photius v. Konstantinopel (880). – Sedulius Scottus I-II (9. Jh.). – Komm. der griech. Kirche (ed. J. Reuss 1957 [TU 61]). – Gregorius Abulfarag (1200). – Thomas v. Aquin (1220). – Hugo v. St. Cher (vor 1264). – Nicolaus Lyranus (vor 1349). – Nikolaus v. Dinkelsbühl (vor 1433). – Alphonsus Abulensis (1455). – Dionysius Carthusianus (vor 1471) – Faber Stapulensis (1521). – Philipp Melanchthon (1523). – C. Hagendorf (1525). – W. Musculus Dusanus (1544). – D. Carthusianus (ed. 1545). – F. T. Hassellensis (1547). – A. Marloratus (vor 1562). – D. Chytraeus (1575). – Joh. Ferus
(1577). – L. de Aponte I-II (1641). – A. de Sanseverino (1659). – Joh. Gerhard (1663). – J. Huysinga (1679). – Emanuel de Incarnatione I-IV (1695). – J. de Sylveira (1697). – F. Lucas Brugensis (1712). – C. Wolfius (1741). – Alexander Natalis (1745). – J. J. Wettstein (1752). – C. T. Kuinoel (1823). – C. F. A. Fritzsche (1826). – H. A. W. Meyer (1876). – C. F. Keil (1877). – A.-J. Liagre I-II (1883). – R. Kübel (1889). – H. Holtzmann (1889). – J. Knabenbauer I-II (1892). – F. C. Ceulemans (1900). – Th. Zahn (1903; 4. Aufl. 1922). – J. A. van Steenkiste I-III, Brüssel (1903). – E. Klostermann (1909). – A. Schlatter (1936). – E. Käsemann Ms Vorlesung SS (1957). – J. Schmid (1959). – E. Lohmeyer (1962). – W. Grundmann (1972). – E. Schweizer (1973). – U. Luz I-IV (1985 ff). – H. Frankemölle I-II (1994). – H. Th. Wrege (1991). – U. Luck (1993). – M. Vahrenhorst (2002). – M. Konrad (2015).
EINFÜHRUNG Datierung und Adressatenkreis Der wichtigste Unterschied zum MkEv (und auch zum JohEv) ist, dass die Mission unter Heiden offen zugegeben, ja befohlen wird. Andererseits häufen sich die Signale für eine strikte Trennung von Juden- und Heidenmission. Der Evangelist bringt das Kunststück fertig: Nirgends sonst ist Jesus so streng und eindeutig Messias für Israel, und daher betritt er kein heidnisches Haus und hält das Gesetz vollständig. Gleichzeitig wird die Heidenmission durch ihn begründet – so klar wie sonst höchstens annähernd bei Lukas. Die bleibende Bedeutung dieses Ansatzes besteht darin, dass zwei unterschiedliche Typen von Christentum gleichermaßen durch Jesus selbst legitimiert sind. – Jesus ist also gewissermaßen das noch gelungen, woran Paulus historisch-biographisch gescheitert ist, der wegen seiner Tätigkeit als Völkerapostel dann als abgefallener Jude immer wieder heftig verfolgt und schließlich umgebracht wurde. In seiner theologischen Geografie nimmt das
MtEv die ganze Welt in den Blick. Gegenüber dem MkEv ist die Heidenmission selbstständiger geworden. Sie muss nicht versteckt werden. Denn Jesus ist zu hundert Prozent Jude und die Heidenmission zu hundert Prozent an die heidnischen Adressaten gerichtet. Die Schrift ist und blieb gemeinsame Instanz, aber mehr als Buch der Prophezeiungen. Beschneidung ist kein Thema. Darin sind sich merkwürdigerweise alle vier Evangelien einig. Dennoch empfiehlt Mt 23,3, das zu tun, was die Schriftgelehrten und Pharisäer lehren. Dieser Verzicht auf das Thema Beschneidung setzt auch einen Verzicht auf die Beschneidung von Heiden voraus, die Christen werden. Es muss daher ein grundlegend anderes Milieu vorliegen als in Galatien und in Rom, wo Paulus heftig mit diesem Thema zu kämpfen hat. Das heißt: Die Heidenchristen leben ein Judentum, das dem von Gottesfürchtigen und Sympathisanten ähnelte (vgl. dazu B. Wander: Gottesfürchtige). Ein sol-
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12 ches Judentum der Unbeschnittenen gab es wohl in Antiochien und in Alexandrien. In Röm 4,12b könnte Paulus auch solche Christen meinen (unbeschnitten sein, dennoch wie Abraham leben). Dass das Thema Beschneidung in den Evangelien nicht vorkommt, besagt gewiss nichts darüber, dass hier nicht von Anfang an die stillschweigend vorausgesetzte Trennwand gegenüber dem »echten« Judentum lag. Zeitpunkt der Entstehung des MtEv Nach den antiochenischen Wirren, also nach 48-50. Keine Überschneidung mit dem Judenchristentum. Die säuberliche Trennung im Evangelium setzt auch dieselbe in der kirchlichen Landschaft voraus. Auch der Paulus des Röm partizipiert daran (Röm 4,11-12). Verzicht auf Liberalisierung des Judentums bedeutet nicht dessen Ausschluss vom Glauben an Jesus. Das MtEv dürfte daher zwischen 50 und 60 n. Chr. entstanden sein. Warum nicht später? Noch ist die judenchristliche Kirche stark vertreten. Israel und die Völker der Welt – zur matthäischen Geschichtstheologie Der Evangelist Matthäus liebt die Kontraste. Wohl auch deshalb wurde er schnell zum Lieblings-Evangelisten der Kirche. Auf die Frage nach seinen Lieblingsfarben würde er wohl sagen: Weiß wegen der Seligen – Schwarz wegen der Verurteilten – Rot wegen der Märtyrer, die von den Propheten bis in die Gegenwart des Evangelisten reichen. Theologisch ist Matthäus hart und kompromisslos, ungefügig. Oft und lange war man der Meinung, das gelte auch für endgültige Aussagen über Israel, die er bietet. Zum Beispiel findet sich nur in der Passion der Ruf des ganzen Volkes der Juden: »Sein Blut komme über uns und unsere Kinder.« Und selbst der alte Adolf Schlatter konnte 1910 sagen: »Matthäus erzählt die Geschichte Jesu als den Abschluss der Geschichte Israels … (Israels) Zeit ist vorbei, und wie Jesus, so haben auch seine Boten die Pflicht, ihm den nahenden Untergang anzukündigen. Das Reich erbt Jesu Gemeinde.« – Erst in den letzten 25 Jahren hat sich auch bei den Evangelischen die Einstellung gewandelt. Man entdeckte die Antijudaismen vor allem auch in der Bibelauslegung selbst und betrieb »Theologie des Judentums«.
Das Evangelium nach Matthäus
Seit Jesus gekommen ist, kann man mit Matthäus drei Phasen der Heilsgeschichte unterscheiden: 1. das Wirken des irdischen Jesus, in dem Jesus von seinem Volk durchgehend abgelehnt wurde, 2. das Reich des Menschensohnes zwischen Ostern und Wiederkunft Christi und 3. die Wiederkunft Jesu als Beginn des sichtbaren Reiches Gottes. – In der Zeit des Reiches des Menschensohnes gibt es nun die Mission der Heidenvölker einerseits und eine Fortsetzung der Mission Jesu in Israel nach Ostern andererseits (vor allem nach Mt 10; die Bitte um Erntearbeiter ist ein klares Indiz). Das heißt: Auch in der Gegenwart des Evangelisten ist Israel nicht einfach abgeschrieben und verloren, sondern Mission im Stil Jesu wird fortgesetzt, und zwar bis zu seiner Wiederkunft. In dieser Zeitspanne trifft auch das Strafgericht des Jahres 70 Jerusalem (Zerstörung des Tempels), aber so, dass damit alle Schuld an den Märtyrern der ganzen Heilsgeschichte abgebüßt ist. Das Wort »Sein Blut komme über uns und unsere Kinder« ist damit ein für alle Mal abgegolten. Sodann kann man lernen, dass Matthäus das »Gericht« am Ende in drei unterschiedlichen Szenarien denkt. Einmal kennt der Evangelist die Entrückung der Treuen und Auserwählten, also der Jünger und anderer Christen, zum Menschensohn hin (Mt 24,31), sodann weiß er um das Gericht, das die zwölf Apostel über Israel halten werden (Mt 19,28), und schließlich unterscheidet er wiederum davon das Gericht über die Heidenvölker (Mt 25,31-46). Von den Gerechten heißt es ja, dass sie ahnungslos darüber waren, dass ihnen im Bettler und Kranken der Herr begegnete. Die Jünger aber wissen durch Matthäus darum, also kann sich Mt 25,31-46 nur auf Nicht-Jünger beziehen. Eine Parallele dazu gibt es im jüdischen Testament des Abraham (Übers.: E. Janssen). Dort wird unterschieden ein Gericht durch Abel (vom Martyrium bis zur Wiederkunft), eines durch die zwölf Stämme Israels und eines durch den Gott persönlich. – Bemerkenswert ist die Entsprechung zwischen den zwölf Stämmen und den zwölf Aposteln. Und Abel ist Sohn Adams und damit »Sohn des Menschen«. Nur ist die Verteilung im Testament des Abraham größer, und die Gerichteten sind jeweils alle Menschen, nicht verschiedene Gruppen wie bei Matthäus. Der Satz in Mt 23,39 »… bis ihr mir zurufen
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Kommentar
werdet: Gesegnet, der da kommen soll im Namen des Herrn« ist auf den freudigen Empfang des wiederkommenden Jesus durch Israel zu deuten. Der Ausdruck »der da kommen soll« hat sich zur Zeit des Matthäus (vgl. 11,3) schon so weit verselbstständigt, dass damit unzweifelhaft der Messias gemeint ist (und nicht einer seiner Boten, wie man auch erwägen könnte). Das heißt: Die Geschichte Jesu mit Israel ist weder mit der Kreuzigung noch mit der Zerstörung Jerusalems beendet, sondern die Israelmission in der Gegenwart des Evangelisten mündet (dereinst) in den Willkommensgruß Jesu in Jerusalem. Gerade so erwartet es auch die Alte Kirche (bis hin zu den Moslems). Jesus ist der Hirte Israels also nicht
nur im Erdenwirken, sondern durch seine Boten jetzt und als Messias Israels dann. Fazit: Israel ist weder verdammt, noch hat es einen eigenen Heilsweg, der irgendwo an Jesus vorbeiführte oder ihn überflüssig machte. Gerade das Letztere wird heute von den Israel-Theologen durchgehend vertreten (»doppelter Ausgang der Schrift«). Matthäus haben sie nicht auf ihrer Seite. Doch andererseits ist, wie schon Axel von Dobbeler im Jahre 2000 feststellte, die Mission in Israel strikt von der Mission unter den übrigen Völkern zu trennen und verläuft nach eigenem Stil und – mit der Begrüßung in Jerusalem – auch nach den Bedingungen Israels. Paulus sieht das in Röm 11,26 dann wohl ganz genauso.
KOMMENTAR Zum Aufbau Mt 1-4 Sakrale Geografie Der Evangelist Lukas beginnt seine Berichte über den Täufer (Lk 3,1-2) und über Jesus (Lk 1,5; 2.1f) mit einer Einordnung in die Regierungsbzw. Herrschaftszeiten der staatlichen römischen Autoritäten, genannt Synchronismos. Der Evangelist Matthäus dagegen wählt ein anderes Mittel, das nicht chronologischer, sondern geografischer Art ist. Man könnte es Synoikismos nennen: Wo in der damaligen Welt liegen die Orte des Geschehens? – Und Matthäus antwortet: in der Mitte. Wie stark sein eigenes Interesse an einer solchen Platzierung ist, zeigt die Tatsache, dass er die meisten dieser Orte mit Hilfe von Reflexionszitaten legitimiert bzw. ausschmückt. Liest man die Darstellung in den ersten Kapiteln unter diesem Aspekt, so fällt einem zuerst der Satz Thomas Manns zu Beginn des ersten Teils seiner Josefsromane ein: Tief ist der Brunnen der Vergangenheit. Wie Thomas Mann (und wohl als sein Vorbild), so beginnt bereits Matthäus mit Abraham und Babylon. Schon im Stammbaum Jesu fällt, von den Kommentatoren kaum beobachtet, dreimal ganz auffällig das Stichwort Babylon (1,12.17 [2]). So ist auch die Sichtweise des damaligen Judentums: In Babylon liegt der Ursprung aller Kultur. Daher kommt auch Abraham aus dem Zweistromland. Und die Magier mit ihrer Astronomie in Mt 2,1
haben ihr Fach ganz gewiss bei den Babyloniern erlernt (So würde es ganz sicher Matthäus auf Befragen hin sagen). Wo aber Babylon genannt wird, darf auch der – wie es sich in den Augen der damaligen Geografen darstellt – Gegenpol Ägypten nicht fehlen (Mt 2,13-15.19-23). Das heilige Geschehen, über das der Evangelist berichtet, liegt demnach in der Mitte zwischen Babylon und Ägypten. Jeder Jude würde bestätigen: Diese Mitte ist Jerusalem, seit dem 2. Jh. v. Chr. der Nabel der Welt. Der Evangelist ist so kühn zu sagen: Die Mitte liegt bei Jerusalem, nämlich in Betlehem; denn nach 2,6 ist Betlehem unter den Fürstenstädten Judas »keineswegs die geringste«, also die bedeutendste. Betlehem ist also die Mitte zwischen Babylon und Ägypten. Babylon wurde durch den Stammbaum »legitimiert«, Betlehem durch das Reflexionszitat in Mt 2,6 (Micha 5,1), Ägypten durch das Reflexionszitat in 2,15 (aus Hos 11,1). Als Ort des Schreckens wird Betlehem typologisch als »neues Rama« gedeutet (2,18 aus Jer 31,15 LXX: 38,15). Und die weiteren Orte werden ebenfalls sorgfältig mit Schriftzitaten als Erfüllung von Gottes Wort im Alten Testament gedeutet: Nazaret in 2,23 (mit Ri 13,5), und da Kafarnaum im Gebiet der Stämme Sebulon und Naftali liegt, fand sich auch dafür eine Schriftstelle (4,13-15 aus Jes 9,1f), und so ist es auch mit dem Ort, an dem der Täufer
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14 predigt und tauft, der Wüste (Mt 3,3 aus Jes 40,3). Der Einzug Jesu nach Jerusalem wird mit dem Sion-Zitat aus Jes 62,11 begründet (Mt 21,8 f) und Jesu Wirken im Tempel nach Mt 21,13 durch Jes 56,7. Schließlich wird noch der für die 30 Silberlinge gekaufte Acker theologisch-geografisch legitimiert (Mt 27,9 f aus Sach 11,12f; Jer 18,2f; 19,1 ff; 22,6 ff). Fazit: Die »Orte« Babylon, Betlehem, Ägypten, Betlehem/Rama, Nazaret, Kafarnaum, die Wüste, der Töpferacker sind in ihrer Bedeutung für die Heilsgeschichte durch die Schrift bestens legitimiert. Fast alle diese Stellen stehen in den ersten Kapiteln (1-4) des MtEv. Zwischen diesen Orten werden nun Wege genommen. So wie Abraham (und dann das verbannte Volk) aus Babylon kam, so Jesus aus Ägypten. Palästina war und ist Wanderungsziel. Und eine weitere Wanderungsbewegung ist nicht zu verschweigen: die von Judäa nach Galiläa (2,22f). Gewiss ist es auch das Anliegen des Evangelisten zu zeigen, dass das Christentum noblen Ursprungs, dass also Betlehem nicht ein lächerliches orientalisches Nest im Winkel ist. Kindschaft/Genealogie Das zweite große Thema der matthäischen Anfangskapitel sind Variationen zum Thema Kindschaft. Das betrifft sowohl Jesus selbst als auch andere Kinder aus Betlehem und Umgebung und schließlich auch neue Kinder, die Gott Abraham schenken könnte. Für Jesus selbst wird gezeigt, dass er »Gottes und der Menschen Sohn« ist. Die menschliche Linie beginnt mit Abraham und endet bei Josef. – Der Stammbaum nach Mt umfasst 3 14 Generationen (in der 2. Reihe 15, in der 3. Reihe 13). Die Überschrift zum Stammbaum ist: »Buch des Ursprungs«. Die kunstvoll aufgebauten Listen des Stammbaums zielen auf Josef, den »Mann Marias, aus der geboren wurde Jesus, der Christus genannt wird«. Der Stammbaum beweist die Herkunft des heiligen Josef von David und Abraham. Der naheliegende Einwand, dass Jesus, weil er nicht physisch von Josef abstammt, also auch nicht von David abstammt, zieht nicht, weil die juristische Vaterschaft erweisbar ist und in jedem Fall gilt, die physische dagegen nie sicher ist. Schließlich gilt: Durch die Verbindung zweier Familien gelten auch die bei-
Das Evangelium nach Matthäus
derseitigen Vorfahren als gemeinsame. Die Adoption hatte die gleiche rechtliche Wirkung wie die biblische Abstammung. Weil es sich um den Stammbaum Josefs handelt, hat man schon früh gefragt: Wieso gilt das von Jesus, der doch von Josef gar nicht abstammt? Die syrische Überlieferung gleicht aus: »Josef zeugte …« Textkritisch ist diese Veränderung wertlos, da ein dogmatisches Interesse adoptianistischer Art bei den frühen Syrern erweisbar ist. Aus dem gleichen Grund (weil der Stammbaum auf Josef zuläuft) muss auch die folgende Darstellung in 1,18-25 von Josef handeln. Die Brücke zwischen der menschlichen Herkunft (jedenfalls von Maria) und der Gottessohnschaft liegt darin, dass Maria nach 1,20 vom Heiligen Geist empfangen hat. Diese Entstehung durch Gottes Geist wird in Mt 3,16f öffentlich. In der Szene bei der Taufe Jesu liegt daher das inhaltliche Gegengewicht zum Stammbaum in 1,1-17 (deshalb steht ebenfalls bei Lukas beides zusammen). Und auch das ist ein Weg: vom geheimen, aus der Sicht Josefs eher zu verheimlichenden Geschehen in Marias Schoß bis zur Öffentlichkeit der Proklamation bei der Taufe. Schließlich geht es um die Bedrohung des Kindes im Rahmen der »Gefährdung des Retterkindes« (s. u.) und auch anderer Kinder (Mt 2,16-18). Korrespondenz zwischen Anfang und Schluss des Evangeliums Wie kein anderes Evangelium weist das MtEv intensive, meist auch wörtliche Übereinstimmungen zwischen Anfang und Ende auf. Damit erreicht der Evangelist den Eindruck der Stimmigkeit im gesamten Text. Auch hieran wird sein eigentliches Thema erkennbar: die Begründung der Heidenmission durch den Messias Israels. Der Mord in Betlehem durch Herodes entspricht dem Mord in Jerusalem durch Herodes. Der gesuchte König der Juden (2,2) entspricht dem König der Juden auf dem Kreuzestitel (27,37). Dass Jesus von den Sünden retten wird (1,21), entspricht der Sündenvergebung durch sein Blut (26,28). Der Titel »Gott mit uns« (Immanuel; 1,23) entspricht dem »ich … mit euch« (28,20). Anerkennung durch Fremde: Dass die Magier vor
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Kapitel 1
Jesus niederfielen und ihm huldigten (2,11), entspricht dem Bekenntnis des Hauptmanns: »Dieser war Gottes Sohn« (27,54). Die Versuchung in der Wüste (4,3.6: »Wenn du der Sohn Gottes bist, …« [Imperativ]) entspricht der Versuchung unter dem Kreuz (27,40: »Wenn du der Sohn Gottes bist, …« [Imperativ]). Die Mitte der Welt in Betlehem (Kap. 1-2) entspricht der Sendung an alle Völker von Jerusalem aus (28,19). Der Berg der Versuchung (4,8) entspricht dem Berg der Auferstehungserscheinung (28,16). Die Rolle der fremdstämmigen Frauen im Stammbaum (Kap. 1) entspricht der Sendung an alle Völker (28,19).
Die Weltherrschaft als Versuchung durch Satan (4,8) und die von Gott verliehene Vollmacht Jesu im Himmel und auf Erden (28,18) stehen in dualistischer Entsprechung.
Instrumente theologischer Geschichtsschreibung Immer wieder erscheint ein Engel des Herrn im Traum und gibt Gottes Absichten kund (1,20; 2,12.13.19.22). Bei den zeitgenössischen Heiden sind Träume unangefochtene Offenbarungsmittel, bei Juden dagegen suspekt. Dadurch aber, dass der Evangelist in Träumen den Engel des Herrn auftreten lässt, stabilisiert er dieses Instrument der Offenbarung. Gott lenkt auch auf diese Weise die Geschichte.
Mt 1: Jesu Stammbaum – Josefs Bedenken Der Abschnitt Mt (1,1-11.18-25 ist eng mit den Kindheitsgeschichten bei Lukas vernetzt. Das zeigen folgende gemeinsamen Elemente: Jesu Stammbaum (zwischen Abraham und David weitgehend identisch); Zeit des Königs Herodes; Maria ist die Verlobte Josefs; der Heilige Geist ist »Urheber« Jesu im Leib Marias; dieses wird durch einen Engel bekannt gemacht (bei Mt: Josef nach der Empfängnis; bei Lk: Maria vor der Empfängnis); Maria hat zuvor keinen Verkehr mit Josef gehabt (Mt 1,18; Lk 1,34); der Engel sagt: »Du sollst seinen Namen Jesus nennen« (bei Lk zu Maria, bei Mt zu Josef); Jesus wird in Betlehem geboren; das Kind bekam den Namen Jesus; all dieses Material wird dem Bericht über Johannes den Täufer und die Taufe Jesu im Jordan vorangestellt; nur Lk holt den Stammbaum Jesu (in 3,23-38) nach. – Dabei ist theologisch wichtig: Der Herkunft Josefs von David entspricht die davidische Geburtsstadt Betlehem. Auffallend ist, dass die weiteste Übereinstimmung in dem Satz besteht, wonach das Kind Jesus heißen soll. Und: Der Heilige Geist wirkt Marias Schwangerschaft; dies wird als Engelsbotschaft abgesichert. Bei den im Stammbaum Jesu genannten vier Frauen handelt es sich jeweils um eine illegitime Schwangerschaft oder eine solche, bei der der Vater nicht der regulär dafür gehaltene Mann war. Tamar und Rahab sind Dirnen, die Frau des Uria kommt durch ein Verbrechen an Davids Seite, Rut stammt aus dem feindlichen Volk der Moabi-
ter. Bei Josef hat Gott selbst diese »merkwürdige« Linie aufgegriffen. Was zuvor im Stammbaum menschlich fragwürdiges oder im Dunkel der Geschichte versunkenes Geschehen war, hat Gott hier durch den Heiligen Geist mit eigener Handschrift fortgesetzt und umgewandelt. So gibt es hier die Typologie – dass der übliche biologische Vater fehlt in der Übereinstimmung des Defektes eines normalen Vaters – neben der Antitypologie, die darin besteht, dass bei Jesus diese Rolle kein zweifelhafter Mann ausfüllt, sondern Gottes Geist.
Mt 1,18-24: »Bekehrung Josefs« Man kann diesen Text durchaus die »Bekehrung des heiligen Josef« nennen. Damit aber ist der Text, wie jede biblische Bekehrungsgeschichte, auch an die Leser gerichtet. So ist – ungewöhnlich genug – das ganze Kapitel 1 eine Geburtsgeschichte, erzählt aus der Perspektive des Ziehvaters, der für Schwangerschaft und Geburt nichts kann. Man kann Matthäus nicht vorwerfen, dass er nicht sofort an die einzige Ausnahme gedacht hat, die der Prophet Jesaja (7,14) beschreibt. Offenbar sind Maria und er noch nicht lange verlobt, sodass jeder wissen und sehen kann, dass Josef nicht der Vater sein kann. So möchte er das Verlöbnis ohne großen Medienrummel dis-
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16 kret lösen, d. h. Maria nach Hause schicken, sodass sie allein die Schande der unehelichen Mutter zu tragen hat. Deshalb muss dann erstens Gott seinen Engel zu Josef schicken, ihm eine Offenbarung geben, und zweitens muss eine Schriftstelle herangezogen werden, um das Geschehen plausibel zu machen. Das heißt: Auch Gott hielt hier den Glauben nicht für selbstverständlich, sondern hat ihn durch sein eigenes Handeln und Erklären erst ermöglicht. Zur Menschwerdung Jesu durch den Heiligen Geist ist zu sagen: Die hierzu nächste jüdische Parallele gibt es gerade zur Matthäus-Version: Der Anhang zum slawischen Henochbuch (1. Jh. v. oder n. Chr.; jüdisch) berichtet über die gottgewirkte Entstehung des Kindes Melchisedek im Leib einer zuvor unfruchtbaren Frau, die bei der Geburt stirbt. Der Vater will – wie Josef bei Mt – das Kind nicht anerkennen und erwägt, seine Frau zu entlassen. Von Melchisedek gilt somit: »ohne Vater, ohne Mutter, ohne Stammbaum« (Hebr 7,3). Im Unterschied zu Matthäus fehlen der Engel, der Heilige Geist, das davidische Element, die symbolische Bedeutung und Deutung des Namens (Jesus = Erlöser). Bei Matthäus und Lukas ist die Menschwerdung Jesu durch den Heiligen Geist die höchstmögliche Zuspitzung der Berufung und Heiligung vom Mutterleib an. Hier wird eine prophetische Tradition radikalisiert; nach Lk 1,15 war auch Johannes der Täufer schon vom Mutterleib an wenigstens mit Heiligem Geist erfüllt; Jesus ist gar durch den Heiligen Geist entstanden. Wie seine Auferstehung geistgewirkt war, so ist es auch seine Entstehung. Engel (in den Kindheitsgeschichten) sind nichts Selbstverständliches. Doch zunächst ist das stets etwas Ungeheuerliches, herrlich und schrecklich zugleich. Gottes Menschwerdung ist ein Geheimnis – genauso wie seine Auferstehung. Und niemand ist hier oder dort Zeuge. Aber das, was offenbart werden kann, sagt in beiden Fällen ein Engel. Die spätere Kirche wird sagen: Durch diese geheim gebliebenen Vorgänge konnte Satan hintergangen werden. Ohne dass er es merkte, wurde das entscheidende Heil gewirkt. In diesen Fällen ist daher die Offenbarung durch Engel zugleich eine Art der Geheimhaltung. Wie bei den Osterberichten sind auch bei den
Das Evangelium nach Matthäus
Engelerscheinungen in den Kindheitsgeschichten die Evangelien sozusagen Exklusivberichte des zuvor Geheimen. In jedem Fall also richtet sich die Engelsbotschaft an intime Zeugen des heiligsten Geheimnisses: dass Maria vom Heiligen Geist schwanger wurde und dass die Frauen das Grab leer sahen und eine Engelsbotschaft dort vernahmen. Übrigens geht es beide Male um etwas, das der Heilige Geist am Leib Jesu wirkt. Denn wo immer gefragt wird, wer Ostern eigentlich bewirkte, war es Gottes Heiliger Geist (Ez 37; Offb 11,11; Röm 1,3f; 1 Tim 3,16). Gott hat durch seinen Heiligen Geist die Zone der Leiblichkeit Jesu erreicht. Dieses Eingreifen geschieht an den beiden entscheidenden Eckpunkten des Lebens Jesu, bei seiner Menschwerdung und bei seiner Auferstehung. Aber kann man nicht, wie es viele tun, einfach die Jesaja-Verheißung in Mt 1,23 wiedergeben mit den Worten: »Eine junge Frau wird empfangen und einen Sohn gebären …«? Dann brauche man keine Jungfrau. Und dann ist die ganze Geschichte eine normale Schwangerschaft. – In der Erzählung bei Mt ist die Jesaja-Stelle doch erst das zweite Zeugnis und nicht der Grund, weshalb die ganze Geschichte erfunden wurde. An erster Stelle steht die Botschaft des Engels, und sie hat viele Gemeinsamkeiten mit dem, was wir aus den Kindheitsgeschichten nach Lukas kennen. Doch liest man Jes 7 aufmerksam, dann soll hier ein besonderes Zeichen gegeben werden. Dass aber eine »junge Frau« ein Kind bekommt, ist überhaupt kein besonderes Zeichen, sondern das in aller Welt Übliche. Daher kann das Zeichen, das Gott gibt, jedenfalls nur in etwas Außergewöhnlichem bestehen. Und das hebräische Wort »alma« kann durchaus »Jungfrau« bedeuten. So übersetzt es übrigens die griechische Bibel der Juden, die Septuaginta. In der Erwartung der Griechisch sprechenden Juden war der Immanuel aus Davids Haus daher von einer Jungfrau geboren. Und Jes 7,14 ist auch nicht der »Ursprung« der neutestamentlichen »Konstruktion der Jungfrauengeburt«, sondern wird von Matthäus beiläufig hinzugezogen, um die christliche Tradition, die er mit Lukas teilt, zu kommentieren. Aber man kann nicht sagen, von da aus sei diese Legende entstanden.
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Kapitel 2
Mt 2,1-12: Die Magier Von Mose, Abraham und Jesus erzählt man: Ein Knabe soll geboren werden, der künftig sein Volk retten wird, der also in irgendeinem Sinne »König« sein wird. Durch Fachleute (Astronomen, Astrologen, Weise) erfährt der noch regierende gegenwärtige Herrscher von der Gefahr, die ihm droht. Denn ein Stern verrät den neugeborenen König (wegen Num 24,17). Er ist regelmäßig ein grausamer, gottloser Herrscher. – Da er das neugeborene Kind nicht finden kann, weil es in einer Höhle oder an anderem unerwarteten Ort versteckt ist, lässt er flächendeckend alle Knaben dieses Alters umbringen. Nur der, den er eigentlich fangen will, entgeht ihm, wird in seinem Versteck wunderbar ernährt und danach dennoch König. – Diese Erzählungen könnte man die »Gefährdung des Retterkindes« nennen. (parallel zur »Gefährdung der Ahnfrau«). Die Magier, die dem Kind die Geschenke bringen, sind auch in den Parallelerzählungen über Mose und Abraham stets Nichtjuden. Früher hat man aus diesen bis ins Einzelne gehenden Ähnlichkeiten im Ablauf geschlossen, dass im Ganzen nichts davon wahr sei, da alles biografischer Topos gewesen sei. Dabei hat man übersehen, dass Ähnlichkeiten der Erzählungen nichts über die »Historizität« besagen. Denn Analogie zu einem anderen Fall kann durchaus die historische Wahrscheinlichkeit erhöhen. Es kann auch sein, dass Ähnlichkeiten bestehen, die dann vom Erzähler im Sinne des allgemeinen Ablaufs ergänzt werden. Anders gesagt: Auch wenn nur ein leiser Anlass besteht, dass auch dieses Retterkind verfolgt wurde, kann der Erzähler die anderen Punkte nachreichen. Schließlich gilt: Die Handschrift Gottes bleibt in der Geschichte immer erkennbar. Offenbarung muss keineswegs immer das Neueste kundtun; sowohl das Wort wie das Geschehen können dasselbe Altbewährte in neuer Wiederholung (mit Abweichungen) sein. Quellen für die Motive des Kindermordes und der Magier im Umkreis des Neuen Testaments: pers = Chronik von Zuqnin (Berger/Colpe, Religionsgesch. Textbuch, Nr. 180); mos = Bericht über Mose nach Ex 1,15 ff und paläst. Targum zu Ex 1,15; abr = Abraham-Midraschim nach A. Wünsche, Aus Israels Lehrhallen I, 14.16.18. 35.42; protev = Protevangelium des Jakobus 19;
ignat = Ignatius v. Antiochien, An die Epheser 19: mt = Mt 2. Stern (zeigt neuen Herrscher an; Num 24,17): pers, abr, protev, mt, ignat. Höhle (im Berg, als Geburtsort): pers, abr, protev Gottloser Herrscher: mos, abr, mt. Herrscher hat einen Traum: mos (Targum; Lamm und Waage). In den anderen Quellen steht an dieser Stelle oft eine Notiz über unaufgeklärte astronomische Phänomene. Anbetung des neuen wahren Herrschers: pers, mt Neuer Herrscher ist König der Magier: pers, ignat, mt.
Mt 2,2: Der neugeborene König der Juden Religionsgeschichtlich gesehen haben wir es hier zu tun mit einem Stück aus einer orientalischen, jüdischen und vorkanonischen Tradition. Man könnte diese nennen »Die Offenbarung des Menschengestaltigen im Himmelslicht«. D. h.: Man erwartet die Offenbarung eines himmlischen Erlösers bzw. Befreiers. Diese wird sich nach einigen Texten auf einem Berg ereignen (denn der Berg ist dem Himmel nahe, bzw. ihm ähnlich). Sie kommt aus dem Licht des Himmels (Stern). Dieser Befreier sieht aus wie ein Mensch oder ein himmlisches Kind. Repräsentanten der Menschheit erleben dessen Offenbarung. Belege für diese verbreitete Tradition: Vision in Ez 1,26: »etwas, das einem Throne gleichsah. Auf dem thronähnlichen Gebilde war oben darauf eine Gestalt, die einem Menschen glich.« Ferner: Vision des Menschenähnlichen in Dan 7,13: »Ich schaute in den Nachtgesichten, und siehe, mit den Wolken des Himmels kam einer, der aussah wie ein Mensch (Sohn eines Menschen). Er gelangte bis zu dem Hochbetagten. Ihm verlieh man Herrschaft …« In äth Hen wird der Menschensohn als Richter vorgestellt, der auf seinem Thron sitzend die Völker richten wird. Im Neuen Testament dient diese Tradition dazu, den himmlischen Ursprung Jesu und seine künftige Richterfunktion zu bekräftigen. Dass Jesus überhaupt Menschensohn genannt wird, hängt mit seinem Ursprung und mit seiner erwarteten Funktion zusammen.
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18 Parallel zu Ez und Dan wird diese Tradition unter persischem Einfluss in Kleinasien rezipiert und umgeformt: »Betreffs der Offenbarung des Lichtes jenes verborgenen Sterns … und jeder einzelne von uns sah wunderbare und verschiedene Visionen … Und wir kamen, jeder einzelne von uns, um zum Berg der Siege hinaufzusteigen und um uns zu taufen in der Quelle der Reinigung … Und wir sahen ein Licht in Gestalt einer Säule von unaussprechlichem Licht, das herunterstieg und über den Mysterien stehen blieb …, und über ihm den leuchtenden Stern, von dessen Licht zu sprechen wir nicht imstande waren … und wir stiegen hinauf und fanden die Säule des Lichtes vor der Höhle … und es näherte sich vor unseren Augen … etwas wie die Hand eines kleinen Menschen … und stärkte uns. Und wir nahmen unsere Kronen und legten sie unter seine Füße« (nach G. Widengren, Iranisch-semitische Kulturbegegnung in parthischer Zeit, 1960, 7186, ähnlich im Opus Imperfectum in Matthaeum PG 566,637f, vgl. die alte christliche Tradition von der Geburt Jesu in der Höhle im ProtEvJak und bei Justin; vgl. jetzt die Übersetzung der Chronik von Zuqnin, auf die sich G. Widengren bezieht, bei: B. Landau, Revelation of the Magi, 2010). Da die Offb im Ganzen nach Ez aufgebaut ist, besteht kein Problem, die Vision des Menschengestaltigen nach 1,13-16 und den Berg nach 21,10 im Sinne der dargestellten Tradition von der Erlösung durch den lichtvollen Messias zu verstehen, die sich in dem lichtvollen Geschehen auf dem Berg auswirkt. Da es sich in Ez 1,15 und in Offb 1,13 um einen »Sohn des Menschen« handelt, wird begreiflich, dass das »kleine Menschenkind« nach einigen Variationen des Mythos nichts weiter ist als der sehr wörtlich verstandene »Sohn/Kind eines Menschen«, und zwar ohne Namen. Bei der Verklärung nach Mk 9 kommen diese Elemente aus der Tradition zusammen: Berg, Licht, begrenzte Zahl der Zeugen (die auf den Berg hinaufgehen), die lichtverklärte Gestalt eines Menschen; eigentlich (wenigstens im Vergleich mit Ez 1; Offb 1) ist daher Mk 9 eine Menschensohn-Vision. (Aber vom Gottessohn auf dem Berg ist auch nach Lactantius die Rede.)
Das Evangelium nach Matthäus
Besonderheiten in Mt 2 Nirgends sonst besuchen die Weisen/Astrologen das Kind oder geleitet der Stern diese zum Fundort des Kindes. Nur hier werden dem Kind von den Weisen/Astrologen Gaben dargebracht, nirgends sonst fallen diese ihm anbetend zu Füßen, nirgends sonst wird auch gegen Ende der Erzählung sorgfältig darauf geachtet, dass der Herrscher die Weisen nicht doch noch trifft. Die Magier sind selbstständig handelnde Figuren geworden. In den Parallelberichten geht es zwar auch oft um Astrologie/Astronomie, aber die Astronomen sind für den Herrscher nur die Quelle seiner Kenntnis, sie gehen nicht selbstständig zu dem erwählten Kind, um es zu verehren. Dass sie das Kind anbeten, fehlt in den Parallelen von Abraham und Mose, Jesus wird dadurch als Gottessohn vor ihnen ausgezeichnet. Weil nur bei Matthäus die Astronomen das Kind besuchen, sind auch die Gaben, die sie mitbringen, samt ihrer symbolischen Bedeutung typisch für Matthäus. Während Frühjudentum und Neues Testament skeptisch bis ablehnend gegenüber dem Traum als Mittel der Offenbarung sind, ist er in Mt 2,12; 27,19 positiv bewertet – sicher im Kontext der Hochachtung gegenüber der Heidenmission. – Wie in der Passion Jesu heißt der Widersacher »König Herodes« (hier: Herodes d. Gr., dort: Herodes Antipas); Jesus wird mit dem Tod bedroht und wunderbar errettet. Er ist der »Typus« des leidenden und von der staatlichen Macht verfolgten Gerechten, und zwar am Anfang und am Ende seines Lebens. Das entscheidende Stichwort aber für Matthäus ist die »Anbetung«, die Jesus hier zuerst und dann noch öfter zuteil wird, und zwar nur bei Matthäus. Denn er fasst die Gottessohnschaft Jesu so auf, dass der eine und einzige Gott in Jesus präsent ist wie in einem Tempel und er demgemäß hier anzubeten ist. Das bedeutet auch »Gott mit uns« nach 1,23: Weil Jesus da ist, ist auch Gott bei den Menschen. Denn in ihm und durch ihn wendet sich Gott den Menschen zu, und zwar von Anfang an auch den Heiden. Denn die Magier, die dem Christuskind die Geschenke bringen, sind auch in den Parallelerzählungen über Mose und Abraham stets Nichtjuden. Schließlich: Nur bei Matthäus ist der Fundort des neugeborenen Kindes ein besonderes Thema. Denn um diesen Ort dreht sich die ganze Erzäh-
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Kapitel 2
lung, bevor es hier zur Anbetung kommt. Für den Leser hat Betlehem Jerusalem als Heilsort ersetzen können. Hier wird der Gottessohn gefunden. Damit wird das Thema der Davidsohnschaft aus Kap. 1 wieder aufgegriffen, denn Betlehem ist die Stadt Davids. In Jerusalem sitzt Herodes, und dort werden auch später die Feinde Jesu wohnen. Denn Jerusalem hat nach der Auffassung von Matthäus und Lukas alle Propheten ermordet, und so wird es auch mit Jesus geschehen (Mt 23,37; Lk 13,33). Jerusalem steht daher für das abtrünnig gewordene Volk. Betlehem dagegen bedeutet den Neubeginn des Heils gerade aus der Stadt, die man für die unbedeutendste hält (Mt 2,6). Aber so ist es ja mit Jesus auch: Er ist der Stein, den die Bauleute verworfen haben, der aber zum Eckstein wurde (Mt 21,42). Wider Erwarten wird das scheinbar Geringste zum Größten. Das ist auch ein Stück pharisäischer Weltanschauung, die sich besonders bei Matthäus erhalten hat (Mt 5,19). Am Kleinsten entscheidet sich alles. Matthäus setzt auf das Kleinste, weil er ahnt, dass alles Große sowieso korrumpiert ist, sonst hätte es – zu den Bedingungen dieser Welt – nicht so groß werden können. So steht Betlehem für den Neubeginn aus der Unschuld des Hirtenidylls, genauso wie zeitgenössische Propheten – Johannes der Täufer und andere – einen radikalen Neubeginn aus der Wüste versuchen. Denn die Wüste ist noch reines Land, nicht befleckt von der Korruption der Geschichte. Auch David hat in Betlehem noch keines seiner Vergehen begangen. Von hier aus ist Neubeginn möglich. Das Judentum dieser Zeit sucht daher, so können wir feststellen, für das Programm von Umkehr und Neubeginn Orte, die für den Zauber des Anfangs stehen und von der Korruption der Geschichte frei sind. Deshalb ist Betlehem das, was für den Täufer die Wüste ist. Dass es drei Männer waren, hat man nur aus der Dreizahl der Gaben erschlossen; dass es Könige gewesen seien, erschloss man aus der persischen Kopfbedeckung, die man dem höheren Gegenüber vor die Füße legte (vgl. Offb 4,10). Die Gaben von Gold, Weihrauch und Myrrhe sind seit alters her symbolisch gedeutet worden: Gold steht für das Königtum (Reichtum, Glanz, Macht), Weihrauch für die Gottheit Jesu Christi (vgl. die entsprechende Anbetung des römischen Kaisers) und Myrrhe für das Leiden. Bis
19 heute wird Myrrhen-Tinktur als Mittel zur Reinigung von Wunden gebraucht; die Anwendung selbst ist schmerzhaft. Zur Platzierung der Myrrhe in der Passion Jesu vgl. Mk 15,23; Joh 19,39; das griech. Wort »smyrna« kommt von der Stadt Smyrna (Offb 1,11; 2,8). Zu Gold und Weihrauch vgl. schon Jes 60; dass die drei Männer Könige waren, konnte man auch aus Jes 60 lesen, denn es heißt dort in V. 3: »Völker wallen zu deinem Licht und Könige dort zu deinem strahlenden Lichtglanz.« Hier hat Gott also den Heiden das Zeichen vom Himmel (!) gegeben, das er seinem eigenen Volk verweigert hat (Mk 8,11f). Die drei Gaben sind damit symbolische Vorzeichen und gehören als solche in die Kindheitsgeschichten. Die Gattung der symbolischen Vorzeichen (Prodigien) gehört fest in den Ablauf von Herrscherbiografien. In Jesus ist daher einer erschienen, der Mensch, König und Gott zugleich ist. Wenn dieser vorwegnehmend hier als König der Heidenvölker und als Weiser aller ihrer Weisen (denn Magier galten als gelehrt und weise) dargestellt wird, dann nimmt er etwas in Anspruch, was außer ihm in damaliger Zeit nur einer tat: der Kaiser in Rom. In Mt 2,6 wird das Zitat aus Micha 5 in seiner Bedeutung umgedreht: Während es im hebräischen Text heißt: »Du, Betlehem, bist die geringste …«, macht Matthäus daraus: »Du, Betlehem, bist keineswegs die geringste …« Doch wird der Gesamtsinn dadurch nicht verfälscht. Der Sinn des hebr. Textes ist: Obwohl du die geringste bist … ; der Sinn des griech. Textes: Weil du keineswegs die Geringste bist, … – nämlich: Weil du durch die Herkunft Davids geadelt bist. Zitate dieser Art nennt man Reflexionszitate, weil der Evangelist mit ihnen den Bericht im Lichte der Schrift kommentiert und illustriert. Zitate dieser Art aus dem Alten Testament finden sich vorzüglich, aber nicht ausschließlich, im Evangelium nach Matthäus. Für die Historizität könnte sprechen: a) Über Herodes d. Gr. wird auch sonst nichts Gutes berichtet. – b) Die Beseitigung potenzieller Rivalen durch Kindermord gehört zu den politischen Üblichkeiten gerade des 1. Jh. n. Chr. Gerade für dieses Jahrhundert wird wiederholt davon berichtet (Livius, Sueton, Dio Cassius). – c) Im Unterschied zur älteren Forschung ist davon auszugehen, dass Sondergut einzelner Evangelisten
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20 – darum handelt es sich hier – nicht einfach der »Erfindung« des Redaktors zuzuschreiben sind, sondern in der Regel auf dessen eigener überkommener, spezifischer Tradition beruhen. – d) Auch bei nur einmaliger Bezeugung (also hier in Mt 2) ist bis zum Erweis des Gegenteils davon auszugehen, dass die Evangelisten ihre Leser nicht täuschen, sondern Historisches berichten wollen. Es gibt noch genügend »Platz« im Leben des Herodes, sodass er diese Tat sehr wohl vollbracht haben kann. – Die Historizität dieses Berichts auf Verdacht hin zu bestreiten überfordert jede denkbare Kompetenz von Historikern. Religionsgeschichtlich gesehen tritt neben die »Gefährdung des Retterkinds« noch ein zweiter Strang: Die Verehrung des persischen »Messias« durch die Anhänger der persischen Religion. Diese Tradition umfasst die Verehrung des als
Das Evangelium nach Matthäus
Mensch erschienenen Lichtes in einer Höhle durch Magier (hier haben die Darstellungen der Anbetung Jesu in einer Höhle und die Aussagen der Liturgie über das Licht zum 6.1. ihren Ursprung (vgl. dazu K. Berger/C. Colpe, Religionsgeschichtliches Textbuch zum NT, 1987, 114, Nr. 180). Im bunten religiösen Milieu Antiochiens bestand für den Evangelisten sicher die Möglichkeit, sich über diese Auffassungen zu orientieren. Innerhalb der vier Evangelien gibt es das Wort »König der Juden« nur und erst in den Passionsberichten, so etwa in Mk 15,2 etc. Ausnahme ist nur Mt 2,2. Denn hier geht es – wie bei den symbolischen Gaben – gleichfalls um Prodigien, um Vorzeichen für das kommende Geschick der Hauptperson.
Mt 2,16-23: Kindermord und Rückkehr Von »theologischer Geografie« spricht man, wenn das auf einer Landkarte Verzeichnete Punkt für Punkt und Ort für Ort eine sakrale Bedeutung hat. Der Evangelist Matthäus entfaltet dieses vor allem in den Kapiteln 2-4. Dadurch lesen sich diese Kapitel wie ein frühes Pilgerhandbuch. Jeder dieser heiligen Orte wird als solcher mit einem »Reflexionszitat« begründet. So nennt man Texte aus dem Alten Testament, die ein Evangelist im Lichte ihrer neutestamentlichen Erfüllung liest und die er in diesem Geschehen bestätigt sieht. Er »reflektiert« darin die Erfüllung des neutestamentlichen Geschehens mit Hilfe des Alten Testaments. So begründet und reflektiert der Evangelist Mt den Geburtsort Betlehem in 2,6 durch Micha 5,1. In Mt 2,15 reflektiert er Jesu zeitweiligen Aufenthalt in Ägypten durch Hos 11,1; Num 23,22. In Mt 2,23 reflektiert er die Bedeutung der Heimat Jesu in Nazaret mit einem rätselhaften Zitat, das wohl auf die Nasiräer-Texte in Ri 13,5 oder Num 6 zurückgeht. Und schließlich wird in Mt 4,15 Jesu Auftreten in Kafarnaum und im »Galiläa der Heiden« reflektiert mit Jes 8,23; 9,1. – Auch gegen Ende des Lebens Jesu wird der Evangelist die Topographie der Passionsgeschichte entsprechend mit Schriftzitaten verbinden, so Sion (21,5), den Tempel (21,13) und den Acker des Töpfers für das Judasgrab in
27,9 f. Besonders zu Anfang des Evangeliums werden die heiligen Stätten der Kindheit und des Wirkens Jesu genannt: Betlehem, Ägypten, Nazaret und Kafarnaum. Jede ist eine »Stadt Jesu«. Der Ort am Anfang des Evangeliums entspricht dem Schema der Biografie. Denn nächst Eltern (Abkunft) und Ausbildung müssen die »Wohnsitze« genannt werden, um eine Person zu skizzieren. Die Offenbarung Gottes ist bodenständig. Sie vollzieht sich nicht im luftleeren Raum und irgendwie »rein geistig«, sondern wie schon im Alten Bund (Sinai, Sion etc.) an heiligen Orten. Damit wird ein Stück Schrifterfüllung geleistet und Wallfahrtstheologie praktiziert. Die Nennung der Stämme Sebulon und Naftali in 4,12-14 erinnert daran, dass Matthäus besonderen Wert auf die Zwölfzahl der Stämme legt (19,28). Andererseits sind zwei der angegebenen heiligen Orte heidnisch: Ägypten und Galiläa. So wie der Evangelist auch sonst eine sorgfältige Balance sucht zwischen Jesu Zuwendung zu Juden und Heiden, so nennt er neben zwei typisch jüdischen Orten (Nazaret und Betlehem) zwei heidnische.
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Kapitel 3
Mt 2,19-23: Heimkehr nach Nazaret Der Ortsname Nazaret ist im Alten Testament nicht belegt. Das Zitat in Mt 2,23 kann sich nur auf die Gruppe der Nasiräer beziehen. Das philologische Problem entsteht daraus, dass Nasiräer nicht Nazoräer sind, schon gar nicht aber Nazarener. Nun wird in Mt 4,13 Nazaret mit dem Wort Nazara benannt. Das gibt der Diskussion über Nazaret eine neue Richtung: Nasaraioi ist eine bei frühen östlichen syrischen und griechischen Kirchenlehrern bezeugte Gruppe von Heilern und Exorzisten. Sie könnte vorchristlichen Ursprungs sein. Epiphanius (Haereses 29.7.3) sagt: »Die Nasaräer existierten vor Chris-
21 tus und kannten Christus nicht.« So nennt er sie (19.5) als jüdische Religionspartei neben Sadduzäern, Essenern und anderen (vgl. mehr zu Mk 1,24). Im Aramäischen und Syrischen werden die Christen mit scharfem s (Sade) nasraija geschrieben, die Nasiräer dagegen mit weichem z (Zain; nezira). Auch das spricht gegen die Herleitung von den Nasiräern. Oder sind die Christen von nasar (mit scharfem s) hergeleitet und damit die Bewahrenden, Beobachtenden, also die Observanten? Das JohEv würde das bestätigen (Bewahren der Gebote Jesu, griech.: terein). Auch das o wäre vom Partizip her zu erklären. Und das käme auch der Textgestalt in Mt 2,23 nahe.
Mt 3,1 – 4,12: Taufe und Versuchung Mt 3,13-17: Taufe Jesu Besonderheiten bei Mt: Die Himmelsstimme am Schluss ruft nicht: »Du bist mein Sohn«, sondern sie erklärt den Umstehenden: »Dieser ist mein Sohn, mein Geliebter und Auserwählter.« – Der Leser des Matthäus-Evangeliums weiß schon von der Kindheitsgeschichte her, dass Jesus Sohn Gottes ist. Deshalb kann es bei der Taufe weder um die Adoption (durch »Du bist …« wie bei Mk, wie manche meinen) noch um die Einsetzung (im Sinne des Amtsantritts oder der juristisch verstandenen offiziellen Bestellung) zum Sohn gehen. Vielmehr liegt die Gattung der Proklamation vor: Das, was Jesus schon seit der Empfängnis ist, wird nun öffentlich enthüllt und allen kundgetan. Diesen Akt der Vorstellung kennt man aus dem Herrscherritual (Vorstellung, Präsentation). 3,16 ist eine »Epiphanie« (plötzliches hilfreiches, rettendes Erscheinen eines Gottes oder eben eines Herrschers). Die Taufe Jesu ist eine mystische Erfahrung. – Daher wird auch im judenchristlichen Ebioniten-Evangelium die Taufe Jesu im Rahmen des Erstrahlens eines großen, starken Lichts dargestellt (Übers.: Berger/Nord, 983f). So wie Matthäus uns die Taufe schildert, wird darin ein politischer Anspruch erhoben. Proklamation und Epiphanie meinen einen Gottkaiser (und mehr), eben den, der am Schluss des Evangeliums von sich sagen wird: »Mir ist alle Gewalt
gegeben im Himmel und auf der Erde.« Nach 3,15 will Jesus durch seine Taufe Gottes Forderung nach Gerechtigkeit nachkommen. Im Klartext heißt das: Gottes Gebote erfüllen. So wird Jesus seine Bergpredigt verstehen, zu deren Beginn er davon spricht, dass es ihm um die Erfüllung des Gesetzes geht (5,17). Weil sie Gerechte sind, werden die Christen verfolgt (5,10); ihre Gerechtigkeit muss radikaler, durchdringender sein als die der Pharisäer (5,20). Und wenn Jesus in 21,32 seine gesamte Lehre als »Weg der Gerechtigkeit« zusammenfasst, dann schließt er auch hier Johannes den Täufer ausdrücklich mit ein. So spricht er ja auch in 3,15 davon, dass »wir alle Gerechtigkeit erfüllen« müssen. Im Hintergrund könnte Ez 36,24-27 stehen (Gott gibt Wasser und Geist, »dass ihr meine Forderungen nach Gerechtigkeit erfüllt«. Nach Röm 8,3f wird gerade an der Sendung Jesu auf Erden (und nicht erst bei der Auferstehung) deutlich, dass in ihm Gottes Geist wirkt zur Erfüllung des ganzen Gesetzes. Deshalb ist bei Matthäus auch sonst (28,19) und bei Paulus öfter (z. B. 1 Kor 12,13) der Heilige Geist mit der Taufe verbunden. In Mk 1,9f; Lk 3,21 fehlt der Dialog zwischen Johannes und Jesus aus Mt 3,14 f. Bei Mk und Lk wird stark die Vorbildfunktion Jesu für den Weg jedes Christen betont. Das ist im MtEv und noch stärker im JohEv anders. Bei Mt ist Jesus von Anfang an wahrer Gott und wahrer Mensch. Von diesem Standpunkt aus ist die Taufe durch Johannes
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22 tatsächlich eher problematisch. Nach Mk wird Jesus mit Wasser und Geist getauft, wie es zur Zeit des MkEv Standard war – nach Joh 1 wird Jesus gar nicht getauft; denn im JohEv steht Jesus mehr den Menschen gegenüber, als dass er ihnen auf dem Weg vorangeht. Bei Mt, der Joh hier nahesteht, muss die Taufe des Gottessohnes wirklich gerechtfertigt werden. Sie gehört (vgl. Mt 21,32) zum Weg der Gerechtigkeit dazu, weil jeder Christ aus Wasser und Geist getauft werden muss. Dass es sich aber bei Jesus nur um eine Proklamation handelt (»Dieser ist …«) und nicht um eine Installation (»Du bist …«), das macht gerade hier Sinn. Denn im Unterschied zu den Christen hat Jesus nach Mt den Geist von Mutterleib an. Dennoch ist Jesu Taufe ein Zeichen für alle Christen, auch wenn im Ausnahmefall Jesu der Heilige Geist in der Taufe nicht verliehen, sondern nur publik gemacht wird.
Mt 4,1-11: Versuchung in der Wüste Zur Versuchungsgeschichte im Ganzen: Im Rahmen der Gattungsgeschichte gehen die Versuchungsberichte in den drei ersten Evangelien zurück auf den biografischen Topos der »Anfechtung des Neubekehrten«, wie sie das Judentum aus den Nacherzählungen des Lebens Abrahams, Hiobs und anderer kennt und wie sie z. B. für die Thessalonicher auch Paulus voraussetzt (1 Thess 3). Nun ist Jesus kein Neubekehrter, sodass ein Gattungstransfer vorliegt. Doch seine Taufe wird offenbar als eine Art Berufung verstanden, und die Grenzen zwischen Bekehrung und Berufung sind tatsächlich unscharf. Im MtEv ist die Taufe eine öffentliche Berufung. Der Versuchungsbericht stellt die Echtheit der Berufung und damit auch ihre inhaltliche Struktur fest, indem er dieses Thema dialogisch entfaltet. Dabei ist die tiefgreifende theologische Erfahrung vorausgesetzt, dass Teuflisches und Göttliches sich rein äußerlich sehr ähneln (vgl. zur Theologie der Offb das Phänomen der Nachäffung). Denn der Teuflische ahmt stets Gott nach; deshalb kenne ich, was die Einleitung, den Rahmen, betrifft keinen Versuchungsbericht, der ohne die Gestalt des Teufels auskommt. Eben deshalb ist eine präzise Unterscheidung von Anfang an nötig. Auch im Corpus des Evan-
Das Evangelium nach Matthäus
geliums selbst wird ja der Verdacht geäußert, Jesus stehe in Wirklichkeit auf der Seite des Teufels (Mt 12,24-32). Dass die Versuchung als schriftgelehrter Disput geführt wird, ist einzigartig. Auffällig ist dabei, dass Jesu Antworten alle aus Dtn 6-8 stammen. Das Dtn ist übrigens – nicht zuletzt wegen des Hauptgebotes in 6,4f – das (neben Jes, Ps, Gen und Ex) auffällig häufig zitierte Buch im Neuen Testament. Inhaltlich geht es in der Versuchungsgeschichte um zwei Themen: um die Frage des Nutzens der Berufung für Jesus persönlich und um die Definition von Gottes Reich, letztlich um das Gottesbild. Zur ersten Frage: Wenn Jesus Steine in Brot verwandelt, hat er sich selbst aus der durch die Wüste gegebenen Situation des Hungers befreit. Auch unter dem Kreuz werden die Menschen sagen: Rette dich selbst, Arzt, hilf dir selbst. Und Steine in Brot zu verwandeln, ist göttlich. Man könnte die Speisungsberichte der Evangelien auch so deuten. Doch Jesus nutzt seine Vollmacht nicht zum eigenen Wohlergehen. Genau das würde ihn als teuflisch erweisen. So wäre auch der Sturz von der Tempelzinne ein Schauwunder zu eigenen Gunsten. (Jakobus, dem Herrenbruder, Jesu Verwandtem, wird man das später antun, ohne dass ihn Engel retten). Die Steigerung gegenüber dem Brotwunder läge darin, dass es beim Sturz um Leben und Tod ginge. Auch beim Gang zum Kreuz rettet sich Jesus nicht selbst aus dem Tod. Das muss ein anderer tun. Darauf werden die Leser hier vorbereitet. Die größte Steigerung schließlich ist die Weltherrschaft mit all ihrem Glanz. Interessant ist, dass der Teufel (!) sie zu vergeben hat (vgl. 2 Kor 4,3 f). Auch hier wäre die scheinbare Parallele zu Gottes Reich ganz offenkundig. Daher die Entsprechung von Mt 4,8 zu Mt 28,18. Fazit: Jesus lehnt nicht nur die Ratschläge des Teufels ab, er weist auch ein Dienst- und Anbetungsverhältnis zurück. Soweit die grundsätzliche Uneinigkeit zwischen Jesus und dem Satan. Der Preis für all die angebotene Selbstbedienung wäre ein Verrat an Gott. Aber was wird positiv aus diesem Dialog für Gottes Reich und den Gott Jesu Christi erkennbar? Ist Gott etwa nicht auf Macht erpicht? Sollen Verwandlungswunder (Steine in Brot) und Rettungswunder (Bewahrung vom Sturz in den Tod)
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Kapitel 4
etwa nicht seine Wege sein, die Herzen der Menschen zu bekehren, und zwar für sich zu bekehren? Ist die »Macht und die Herrlichkeit« nicht sein wahres Thema? (Alle diese Elemente spielen in der Kirchenkritik späterer Jahrhunderte stets eine Rolle). Hat Jesus Gott falsch verstanden? Die Brisanz und die Anstößigkeit der Versuchungsberichte liegen genau darin: Gott verzichtet auf das kurzfristig und sichtbar Hilfreiche. Das überlässt er im Zweifelsfalle dem Satan. Zumindest Brot und Rettung aus Abstürzen sind doch wirklich hilfreich! Und wenn einer wie Jesus (freilich unter Verzicht des Bekenntnisses zu Gott) Chef der Weltregierung würde, wäre das nicht gut? Könnte man dann nicht seine Ableugnung des Glaubens an Gott geradezu als Zeichen der Toleranz auch positiv werten? – Die Antworten, die Jesus in diesem Dialog gibt, reichen bis in die Theodizeefrage hinein. Denn alles Sichtbare ist nur ein kleiner Teil der Herrschaft Gottes, ist nur der nebensächliche Vordergrund. Und wie auf der Bühne kann der Vordergrund aus Gründen weitreichender Regierungsstrategie auch leer bleiben oder schnell umdisponiert werden. Daher sind sichtbare Veränderungen – und seien sie auch noch so hilfreich – nicht (zwingende) Beweise für diesen Gott. Die hat er nicht nötig. Mehr Nahrung und mehr wunderbare Rettungen bleiben im Zwielicht des Vordergrunds. Es wird nicht gesagt, das Unsichtbare oder Innerliche sei das Eigentliche. Gemeint ist etwas anderes: Gottes Regiment und Willen sind nicht festzulegen auf das, was »weltlichen« Nutzen bringt, schon gar nicht, wenn der Preis die Ableugnung Gottes ist. Jesus plädiert für drei Prioritäten: die des Hörens auf Gottes Wort, die des Wartens auf Gottes Eingreifen, wann und wie er es will, und die Priorität der Anbetung. Mit diesen drei Prioritäten kämpft Jesus für Gottes Reich. Es enthält die Verheißung, dass es so für den Menschen am besten sei. Alles andere ist Illusion, vergängliches teuflisches Trugbild. Die Gegenfrage: Was will der Teufel in diesem Bericht? Durchaus dasselbe wie in der Versuchung Mt 16,23, wo Jesus ihn erneut scharf zurückweist, als er aus Petrus spricht: Da sieht der Teufel den Sinn messianischer Existenz in einem leidfreien Wohlergehen. Das ist auch das Thema der Versuchungen in 4,3-7 (kein Hunger mehr, keine körperliche Katastrophe mehr). Der Ge-
23 rechte aber muss leiden – das ist die unschöne Schlussfolgerung, die sich aus Mt 4,1-11 und 16,23 nahelegt. Die dritte Versuchung ist nur zu verstehen auf dem Hintergrund des römischen Kaisertums im 1. Jh. n. Chr. Denn die Weltherrschaft liegt bereits in den Händen eines Einzigen, des römischen Kaisers. Und Jesus bestätigt der einzigen und absoluten Großmacht seiner Zeit, ihr Selbstverständnis sei teuflisch. Denn so ist jede Macht, die ohne den Glauben an Gott auskommt. Gottes Macht inklusive Gottes Messias sind nicht einzuplanen in die Machtspiele der Welt. Ähnliche Spannungen bestehen auch zum Rest des Evangeliums, zu den Speisungsgeschichten und zu Jesu Errettung aus dem Tod. Denn Gott will auch ohne Wunder geglaubt werden. Er liefert Wunder nicht auf Anforderung oder auf Befehl, sondern wann und wie er will. Gewiss heißt es: »nicht vom Brot allein«. Jesus will beides geben, Gottes Wort und Brot, der Teufel nur eines. Wenn Jesus beides gibt, dann nur unter Respektierung der Souveränität Gottes, nicht unter dem Diktat des Nützlichen im Rahmen vergänglicher »Werte«. Theologiegeschichtlich ist das, was die Versuchungsgeschichten bieten, zweifach einzuordnen: einmal in die weisheitliche Tradition der Kritik gegen jede Verabsolutierung der »Werte« der Gesellschaft (Reichtum, Militär, »dumme« Gesundheit). Diese Werte sind nur Spielmaterial, nicht das Letzte. Zum anderen ist der Versuchungsbericht bestimmt von demselben pneumatologischen Dualismus, der auch in den Exorzismen zutage tritt. Gottes Reich steht gegen das Reich des Teufels, und Letzteres hat entgegen dem Augenschein jetzt ein Ende. So wird es deutlich aus Mt 12,28; Lk 11,20 und aus dem FreerLogion Mk 16,14: »Da verteidigten die Jünger ihr Verhalten und sagten: ›Unsere Welt ist ohne Gesetz und ohne Glauben. Sie steht unter der Herrschaft Satans. Der Satan verhindert durch böse Dämonen, dass wir Menschen den wahren und wirklichen Gott und seine Kraft erfassen.‹ Sie baten den Messias: ›Lass die Zeit offenbar werden, in der deine Gerechtigkeit herrscht.‹ Und der Messias erwiderte: ›Das Maß der Jahre, in denen Satan herrschen kann, ist schon voll. Doch anderes Schreckliches kommt auf euch zu. Es wird auch die heimsuchen, die gesündigt hatten und
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24 für die ich stellvertretend dem Tod übergeben wurde. Daher sollen sie zum wahren und wirklichen Gott umkehren und nicht mehr sündigen. So können sie die Herrlichkeit des Himmels erlangen, die vom Heiligen Geist gewirkt und unvergänglich ist und bedeutet, dass Menschen mit Menschen und Gott mit den Menschen zusammenleben können.‹« Das »entgegen dem Augenschein« kommt diejenigen, die zu Gott gehören, teuer zu stehen. Oft ist es der Preis des Lebens, der gezahlt wird. Das ist die Konsequenz aus kompromisslosem Monotheismus. Im Versuchungsbericht werden die »metaphysischen« Fronten unmissverständlich klar aufgezeigt. Fasten Fasten ist nie Selbstzweck, es dient nicht dem puren Abnehmen, sondern meint vielmehr ein Stück biblischer Leibhaftigkeit und Ganzheit, es ist die körperliche Seite einer umfassenden Vorbereitung, d. h. immer fastet man vor etwas Wichtigem, und daher ist es auch Teil dessen, was die Bibel »sich heiligen« nennt. Bevor Gott auf dem Sinai mit Mose spricht, befiehlt er dem Volk: »Sie sollen sich heute und morgen heilig halten und ihre Kleider waschen« (Ex 19,10). Und bevor die Gemeinde in Antiochien eine Offenbarung des Heiligen Geistes über die erste Aussendung zur Mission empfängt, betet und fastet sie (Apg 13,2-3). Auch später dient das Fasten immer der Vorbereitung auf die göttliche Epiphanie, die Begegnung mit Gott. So sitzt der jüdische Mystiker zur Vorbereitung auf die Berührung mit dem Himmel 40 Tage auf dem Boden, nimmt jeden Tag 24 Tauchbäder, isst nur Grünes, trinkt nur Wasser, schaut keine Farben und keine Frau an und wiederholt stündlich hebräische Gebetsworte (vgl. dazu: P. Schäfer, Übersetzung der Hekhalot-Literatur II, §§ 299 f, 314). Auch die ganze Lebensweise Johannes des Täufers, der auf Wein und Fleisch verzichtet, ist eine einzige Vorbereitung auf das, was kommt, auf den Tag des Herrn. Und wenn es in einem apokryphen Jesuswort (Agraphon) heißt: »Fastet gegenüber der Welt«, dann ist das Verhalten der Christen in der Welt angesichts der kommenden Welt gemeint. Fasten ist deshalb zur Vorbereitung auf die Begegnung mit Gott geeignet, weil es geradezu im
Das Evangelium nach Matthäus
buchstäblichen Sinn Platz schafft im Menschen für eine andere, neue Erfahrung. Jedes Stück alltäglicher Normalität – und dazu gehört das Essen –, auf das man verzichtet, gibt Raum für andere Wahrnehmungen, macht frei für sie. Das ist nicht eine Abwertung des Leibes, sondern ein Öffnen des Leibes für geistliche, mystische Wahrnehmung. Im Neuen Testament geht es nirgends (!) um einen kategorischen Gegensatz zwischen Leib und Geist, sondern immer um den Gegensatz zwischen irdisch und himmlisch, wertloser Vergänglichkeit und ewigem Leben, das sich dem Heiligen Geist verdankt. Als Jesus für 40 Tage in die Wüste geht, tut er es gewiss nicht aus Neugier auf satanische Erfahrungen. Die teuflische Ekligkeit besteht in der Aufdringlichkeit; denn das, was der Teufel von Jesus möchte, sieht so aus, als sei es eigentlich nur gut für ihn. Er verlangt nichts Absurdes von Jesus, sondern nur, dass er sich etwas Gutes tut; denn nach 40 Tagen Fasten darf man wohl Hunger haben. – Hebr zeigt in 1,4-14, wie eindeutig nach der Schrift der Sohn über die Engel erhaben ist, die nur dienstbare Geister sind. Und universale Vollmacht über die Reiche der Welt kommt Jesus sicher zu; in Mt 28,18 wird er es selbst sagen (»Mir ist gegeben …«). Warum soll er bis zur Auferstehung warten, wenn der Teufel ihn schon jetzt damit ehren will? Dass übrigens der Teufel es ist, der die Reiche der Welt, ihre Beherrschung und ihren Glanz zu vergeben hat, ist eine tiefe, bittere Einsicht, die Jesus aus der Wüste mitbringt. Dass Jesus mit dem Teufel einen schriftgelehrten Disput führt, weist ganz nebenbei dezent darauf hin, wie leicht manipulierbar das Wort der Schrift ist, wenn man die Zitate ohne ihre Mitte, ohne Gott, zu lesen und zu verwenden versucht. Im Kontext des MtEv wird dies so jedem christlichen Schriftgelehrten (13,52) ins Stammbuch geschrieben. – Man beachte: Jesus soll sich, so wäre es dem Teufel recht, einfach normal verhalten, ein ganz klein wenig gesund egoistisch (Brot), auf Prestige bedacht (Tempelzinne) oder opportunistisch (Reiche der Welt). In diesen Normalitäten liegt das Teuflische. Dann wird alles Egomanische immer nur so weitergehen. – Das ist ja übrigens das Aufregende an der Spiritualität der Mönche: dass hier Christen sind, die nicht zuallererst auf ihr eigenes Wohlergehen bedacht sind.
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Zum Teufel: Sein Aussehen ist unwichtig; vermutlich ist er unsichtbar; sein Wesen ist seine Macht, seine Intelligenz und eben die PseudoSchriftbeweise, die er eingibt und die so wunderbar verführerisch wirken. Der Teufel erscheint hier als intelligente, suggestive Macht und damit fast wie eine Person. Zum Verhältnis von 4,6 zu 4,11: Nach 4,6 sollen gemäß Ps 91,11f die Engel Jesus dienen. Doch Jesus lehnt dies ab. Nach 4,11 dienen die Engel Jesus dennoch. Wie verhält sich beides zueinander? Die Anwendung des Psalms würde dann nur abgelehnt, wenn Gott damit versucht werden soll. Es würde also gewissermaßen nachgetragen, inwiefern der Psalm doch gilt, damit der Teufel (und der Leser) nicht nachher sagen können, Jesus sei der in diesem Psalm gegebenen Verhei-
ßung einfach ausgewichen. Die Verheißung gilt ja, aber nicht, wenn man Gott versuchen will. – Zudem ist bedient werden durch Engel eine andere, entgegengesetzte Art von Kontakt mit den unsichtbaren Mächten als versucht werden durch den Teufel. Den erprobten Sklaven wird der Herr nach Lk 12,37 sogar im Himmel selbst bedienen! Vor dem Sündenfall dienten die Engel Adam und Eva. Nun aber, da in Jesus Christus ein Mensch nicht auf die Versuchung des Teufels hereingefallen ist, lebt die Dienstbarkeit der Engel gegenüber dem Menschen wieder auf. Was nach der Erhöhung allgemein gilt, wird hier vorweggenommen. Die Versuchungsgeschichte stellt genau diesen Weg im Kleinen dar. Deshalb bekommt Jesus wiederholt denselben Satz zu hören: »Wenn du der Sohn Gottes bist, (dann tue das und das …)« (Mt 4,3.6; 27,40).
Anfänge der Verkündigung Mt 4,12-25: Kafarnaum – Jüngerberufung – Galiläa Jesus ist nicht nur der Stern für die Heiden (Mt 2), das Licht für die Heiden (Jes 49), sondern eben auch das Licht in der Finsternis für alle, die im Todesschatten sitzen. Das Zitat aus Jes 9 in Mt 4 ist ein klassisches Reflexionszitat, »wie es im Buche steht«. Denn
Jesus berührt auf seinem Weg genau die Gegenden, die das Zitat nennt (Galiläa, Zebulon, Naftali), nur »Nazara«, wie hier Nazaret heißt, kommt im Zitat (und im ganzen Alten Testament) nicht vor. Zu den Berufungen in Mt 4,18-22: vgl. dazu die Berufung des Elisa durch den Propheten Elia nach 1 Kön 19,19-21.
1 Könige 19,19-21
Mt 4,18-22
und er ging weg von dort
Jesus ging am Ufer … entlang
und er findet den Elisa, Sohn des Safat,
und er sieht zwei Brüder, Simon … und Andreas, seinen Bruder
und er pflügte mit Rindern
und sah, wie sie ihre Fischernetze in den See warfen, denn sie waren Fischer
und er ging auf ihn zu und warf seinen Mantel auf ihn,
Da sagte er zu ihnen: Auf, kommt mit mir! Ich will euch zu Menschenfischern machen.
und … Elisa sagte: Ich will Abschied
Und kaum hatte er das gesagt, da ließen sie ihre Netze fallen
nehmen von meinem Vater
(von Jakobus und Johannes: Da ließen sie das Boot
und dir nachfolgen
und ihren Vater Zebedäus zurück = V. 22)
Und er stand auf und ging hinter Elia her und diente und folgten ihm nach. ihm.
Die kurze, dramatische Abfolge ist ganz gleichartig: Der Prophet fndet den künftigen Jünger
bei der Arbeit. Diese Arbeit weist symbolisch auf die künftige Tätigkeit hin (Fischer/Menschen-
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26 fischer; zum Pflügen bei Elisa vgl. Lk 9,62). Der angesprochene Mann folgt sofort nach; von dessen Vater ist die Rede (Mt 4,22, vgl. Mt 8,21f). – Jesus überbietet Elia: Er beruft gleichzeitig jeweils zwei Jünger, und diese dürfen nicht einmal vom Vater Abschied nehmen. In Mt 8,22 wird Jesus hier sogar zur Respektlosigkeit auffordern. Indem Jesus so streng und rigoros beruft, ist er »mehr als Elia« – Matthäus sieht Elia selbst im Täufer auftreten (17,13). Diese intensive Entsprechung zur Berufungsgeschichte Elia/Elisa verdeutlicht uns: Das Vorbild der Jünger Jesu sind die Prophetenjünger des Alten Bundes. Der religiöse und praktische Begriff der Nachfolge ist gleichfalls bei Elia/Elisa schon vorhanden: Elisa geht hinter Elia her. – Nach Sir 48,8 heißen die Jünger des Elia seine »Nachfolger« (diadochoi), eine direkte Bezugnahme auf die philosophischen Schulhäupter der Antike. Und noch einmal wird – indirekt – in unserem Text von Elia geredet. In dem ganzen Abschnitt 4,23-25 werden alle wichtigen Gegenden Palästinas (außer Samarien) als Orte der Wirksamkeit Jesu genannt (Galiläa, Syrien, Zehn Städte [Dekapolis], Jerusalem, Judäa, Ostjordanland). Auch hier finden wir wieder das starke geografische Interesse, wenn auch ohne Schriftbegründungen. Zunächst ist von den Juden und dem Volk die Rede (4,23), dann aber brachte man sichtlich auch Heiden zu Jesus (4,24); denn die in V. 24f genannten Gebiete sind typisch heidnisch. Im Sinne der Elia-Typologie ist, dass Jesus ganz Israel wiederherstellt, und das geschieht hier geistlich und physisch, durch das Evangelium und durch die Heilungen. Wenn Sir 48,10 von Elia sagt: »… wiederherzustellen die Stämme Jakobs«, dann versteht Matthäus das auch im Sinne von Heilungen. Jesus handelt wie Elia, und er überbietet ihn zugleich. Das wird später an den Wundern der Auferweckung der Tochter des Jairus und an denen der Speisungsberichte deutlich werden. »Mehr als Elia« ist nicht die einzige Kategorie, mit der man Jesus erfassen kann. Er ist auch mehr als Salomo, mehr als Jona, mehr als der Tempel. Er ist auch Menschensohn und Gottessohn und Sohn Davids. Die Kategorie »mehr als Elia« leistet etwas Besonderes: An keiner Stelle geht es so deutlich um die Erfüllung der jüdischen Erwartung einer Einzelfigur. Das betrifft
Das Evangelium nach Matthäus
nicht nur die Schrift, sondern auch das zeitgenössische Judentum. Messiasbilder gibt es viele, und im Ganzen ist die Messiaserwartung eher unscharf und lässt einen großen Spielraum. Die Erwartung einer Gestalt nach Art des Elia ist prägnanter. Es gibt auch Texte (vgl. z. B. Sir 48,9-11), nach denen Elia eine messianische Figur ist. – In der Komposition unseres Abschnittes ist bemerkenswert: Jesus ist das »große Licht« (V. 16) nicht für sich alleine. Deshalb beruft er unmittelbar darauf Jünger. Bald wird er zu ihnen sagen, was von ihm gilt: »Ihr seid das Licht der Welt« (Mt 5,14). Mt 4,15f: »… sah ein großes Licht« Reflexionszitate nennt man Bibelzitate, die nicht als Worte Jesu, sondern als Kommentar (Reflexion) des Evangelisten stehen und deren Einleitung stets ähnlich feierlich ist wie: »… damit erfüllt wird, was gesagt wurde durch den Propheten X …« Dieses »Denken in Erfüllungszitaten« setzt ein besonderes Verständnis des prophetischen Wortes voraus. Demnach verhält sich das Wort der Schrift zum neutestamentlichen Geschehen wie eine Ankündigung (Verheißung) zur Umsetzung in reale Geschichte. Anders als bei heutigen Alttestamentlern wird daher das prophetische Wort der Schrift (wozu auch die Psalmen zählen, da David als Prophet gilt) nicht seinerseits als Niederschlag einer konkreten Geschichte gesehen, sondern als pures Wort, als pure Schrift. Und über die Zeit Jesu fällt damit das Urteil, sie sei »Erfüllungszeit«, in der Gott immer wieder sein Wort wahrmacht. Und für das neutestamentliche Geschehen bedeutet das: Es ist nicht zufällig, nicht kontingent, nicht rein irdisch oder politisch, sondern heilige Geschichte. Nimmt man Ausgang und Ziel zusammen, so gilt: Weder ist das alttestamentliche Wort zufälliges Menschenwort noch ist das neutestamentliche Ereignis zufälliges Geschehen, sondern beides ruht fest in Gottes Hand. Die Apostelgeschichte lässt erkennen, dass die heilige Erfüllungszeit nicht auf das Leben Jesu beschränkt ist. Sie gilt seit Jesus. Dabei ist für die neutestamentlichen Autoren offen, wieweit auch die weitere Kirchengeschichte in diesem Sinne als Erfüllung gelten kann. Nach meinem Eindruck wäre es konsequent neutestamentlich gedacht, wenn auch spätere Ereig-
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nisse der Kirchengeschichte im Lichte des Schemas Verheißung/Erfüllung gedacht würden. Lediglich in apokalyptischen Strömungen, aber nicht darüber hinaus, hat man das versucht. Festzuhalten bleibt: Gottes Wirken in der Geschichte hat immer »zwei Beine«, ein altes Wort und ein neues Geschehen. Beides bestätigt sich gegenseitig – wie nach der Regel der mindestens zwei Zeugen (Dtn 19,15). Dabei ist ein Autor wie Matthäus offenbar unbesorgt darüber, dass nur ein Bruchteil der alttestamentlichen Prophetenworte im Neuen Testament umgesetzt wird. Zum Beispiel fällt bei unserem Text auf, dass Mt auf das naheliegende Stück Jes 9,5 nicht eingeht (»Ein Kind wird uns geboren, ein Sohn wird uns geschenkt, auf seinen Schultern ruht Weltherrschaft …«); diese Stelle wird im ganzen Neuen Testament nicht zitiert, wohl aber in der späteren Liturgie als Introitus von Weihnachten. – Offen-
27 bar genügt es, dass– wie in einem Teppichmuster – wiederholt alttestamentliche Stellen sich anbieten, besonders in den Kindheitsgeschichten und in der Passion (also an den klassischen biografischen Topoi Anfang und Ende des Lebens). Das sagt dann offenbar genügend über das Ganze. Während bei Lukas diese Art Schriftbeweis auf die Belehrung durch den Auferstandenen zurückgeführt wird, jedenfalls für Passion und Auferstehung, kann Matthäus diese Arbeit selbstständig durchführen – offenbar versteht er sich als den Schriftgelehrten, der Neues und Altes aus seinem Schatz hervorholt (13,52). Dadurch kann er sein Evangelium besonders empfehlen; denn so ist auf einzigartige Weise immer Altes und Neues Testament präsent, und die Kirche hat es ihm durch extensiven liturgischen Gebrauch gedankt.
Mt 5-7: Bergpredigt Inhaltliche Bedeutung der Komposition der Bergpredigt Mt 5,3-12: Die Seligpreisungen gratulieren dem Menschen, der sich an das hält, was hier verkündet wird. Er steht, so sagen die Seligpreisungen, in einer Geschichte des Heils, die gut endet. Im Blick auf diese Verheißungen wird das Interesse geweckt. Es ist ein segensreicher Zusammenhang, in den der Leser/Hörer hineingestellt ist. In 5,13-16 folgt die direkte, auszeichnende Anrede an die Jünger. Ähnlich wie in den Briefen an derselben Stelle zu Anfang der Heilsstand der angesprochenen Gemeinde lobend erwähnt wird, gilt hier von den Angeredeten, dass sie Salz der Erde und Licht der Welt sind und dass von ihrem Verhalten abhängt, ob die Menschen zu Gott finden. Jesus appelliert an Würde, Adel und Verantwortung der Angesprochenen (rhetorisch: captatio benevolentiae). In 5,17 – 6,34 folgt der zentrale Hauptteil der Rede. Das Thema ist an dem mehrfach genannten Stichwort Gerechtigkeit klar zu erkennen (Mt 5,[6.10.]20; 6,1.33). Zuerst sagt Jesus etwas zum Thema Gesetz und Gerechtigkeit (5,17-48). Denn nicht nur im Judentum, sondern in der gesamten hellenistischen Umwelt sind diese beiden Themen miteinander verwoben (vgl. dazu:
H. Sonntag, Nomos Soter, 2002). Die Basis besteht für Jesus darin, das Gesetz auf jeden Fall, und zwar ganz, zu erfüllen. Aber die pharisäische Auslegung reicht nicht aus im Sinne der von Jesus geforderten Gerechtigkeit, denn der Maßstab ist jetzt Gott selbst (5,48). Die so genannten Antithesen sind in diesem Sinne eine Anpassung des Gesetzesinhalts an den neuen Maßstab. Das zweite Thema unter dem Stichwort Gerechtigkeit ist die »vor den Menschen getane« Gerechtigkeit (6,1-18) mit den Abschnitten Almosen, Beten und Fasten. Hat ein Tun, das schon von Seiten der Menschen her viel Bewunderung einträgt, das einen beliebt und angesehen macht, irgendwelchen Wert vor Gott? Antwort: Nein. – Der Hauptteil der Rede wird abgeschlossen mit Bemerkungen zur spezifischen Gerechtigkeit des Reiches Gottes, d. h. jener Gerechtigkeit, die vom Reich Gottes und für dieses von Gott gefordert wird (6,19-34). In einem Anhang (7,1-12) erläutert Jesus, in welcher Hinsicht er wirklich Gerechtigkeit meint, nämlich als Zusammenkommen dessen, was zusammengehört oder als Prinzip der Entsprechung. Deshalb gehört auch die positive Fassung der Goldenen Regel dazu. In 7,13-27, im Schlussteil, spricht Jesus nicht
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28 mehr über einzelne Normen oder Forderungen, sondern er spricht Warnungen aus und belehrt über die Folgen des geforderten Tuns. Dieser Teil darf in einer biblischen Rede nicht fehlen. Das Bild von der engen Pforte (7,13f) warnt vor Gefahren. Andere Gefahren drohen von falschen Lehrern; um ihnen zu entgehen, gibt es ja die Bergpredigt (7,15-20). Eine spezifische Gefahr für Christen besteht im irrigen Vertrauen auf charismatische Erfolge (7,21-23). Das Gleichnis vom Hausbau lädt die Leser/Hörer zur Entscheidung für den einen oder anderen Weg ein, nicht ohne die Folgen zu nennen (formgeschichtlich: Doppelschluss in Mahnreden). Zentrum: Gesetz und Gerechtigkeit Man hat oft gefragt: Gegen wen richten sich die so genannten Antithesen der Bergpredigt (5,2148)? Gegen Mose? Aber der wird gar nicht genannt. Gegen das Gesetz, also die Torah? Aber 5,43b steht gar nicht in der Torah (Feind hassen). Gegen das Judentum? Aber das Wort Juden fällt gar nicht. Gegen Gesetzlichkeit? Aber in Mt 5,17-19 bekennt sich Jesus so vehement zur vollständigen Erfüllung des Gesetzes bis zum letzten Buchstaben, dass es für viele Theologen peinlich ist und man sich schnell und eifrig bemüht, Jesus diese Verse abzusprechen (nichts ist leichter als das). Eben gerade deshalb, weil die Verse Mt 5,17-19 voranstehen, kann man überhaupt nicht von einer Aufhebung der Torah sprechen. So gilt: Die Erfüllung des geschriebenen Gesetzes ist auf jeden Fall vorausgesetzt. Aber wie kann das sein? Wie kann Jesus unter der Überschrift Torah-Erfüllung dann doch so vieles sagen, was nicht in der Torah steht? Die Lösung liegt (aus meiner Sicht; vgl. »Die Gesetzesauslegung Jesu« I, 1972, 38-55) darin, dass Torah als Institution unveränderbar ist, dass aber ihr Inhalt, und zwar gerade unter der Überschrift »Gerechtigkeit«, je neu zu füllen ist. »Der Inhalt von ›Gesetz‹ ist weitgehend von dem abhängig, was man unter Gerechtigkeit versteht« (39). Daher kann auch »die Weisheit« mit der Erfüllung der Gebote gleichgesetzt werden. Und auch die Zusammenfassung des Gesetzes unter die beiden Hauptgebote der Gottes- und Nächstenliebe ist nur denkbar auf einer Basis, in der Normen sozialen Inhalts eine bestimmende Füllung der »Nächstenliebe« sein können.
Das Evangelium nach Matthäus
Durch diese Variationen im Bereich des Inhalts von »Gesetz« ist es möglich gewesen, den Menschen der jeweiligen Zeit durchaus aktuelle Forderungen unter der Überschrift »Gesetz« vorzulegen. Das Standbein ist die traditionell in der jüdischen Religion verankerte Größe Gesetz, ähnlich wie es für viele Christen »die christliche Lehre« oder »die christlichen Werte« sind (was auch immer das dann im Einzelnen sein mag), das Spielbein aber sind die jeweils im Sinne von Gerechtigkeit aktuellen und notwendigen Einzelforderungen. Nur deshalb kann auch Paulus in Röm 13 und in Gal 5 als Erfüllung des Gesetzes (hier unter der Überschrift Nächstenliebe, was teilweise synonym ist mit Gerechtigkeit) Paränesen anbringen, von denen kaum eine mit dem Wortlaut der Torah übereinstimmt. Das ist nicht Willkür oder paulinische Originalität, sondern das war schlicht üblich. Philo v. Alexandrien macht es ja bei der Auslegung der Dekaloggebote genauso (und in seinem Gefolge später z. B. auch M. Luther, besonders in der Dekalogauslegung des Großen Katechismus). Das beobachtete Phänomen ist ganz allgemein der Grund dafür, dass im apokalyptischen Judentum die Schrift nur selten zitiert wird. Erst bei Philo, selten bei Pseudo-Philo (LAB) und in einigen wenigen Qumrantexten (z. B. 1 QpHab) wird die Schrift zitiert und ausgelegt. Vorrangig ist eine ganz andere Weise, jüdisch zu denken im Rahmen einer lebendigen, durchaus auch gelehrten Tradition. Aber den Schriftgelehrten und die Schriftzitate kann man unmöglich als »das« Judentum erklären. Wer das tut, denkt viel zu exklusiv von der Weise des Schriftumgangs bei den späteren Rabbinen her (die Juristen sehr ähnlich waren und sich an der juristischen Responsen-Literatur orientierten), denkt vom Biblizismus von Mischna, Tosefta und Talmud und vom konservativ-protestantischen Biblizismus her. Das Judentum der Weisheitsliteratur (wo wird in den biblischen Weisheitsbüchern wirklich »die Schrift« zitiert?) und Apokalyptik ist eben nicht im Sinne des 18. und 19. Jh. »bibelfest«. Theologische Grundsätze der Bergpredigt Es ist nützlich, eine Reihe von Vorentscheidungen zu rekonstruieren, die den einzelnen Passagen der Bergpredigt zugrunde liegen dürften: 1. Der Lohn oder Schatz, den die Christen durch
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ihr Leiden und Tun erwerben, ist strikt überweltlich und im Wesentlichen zukünftig. Es gibt einen Ausgleich für Verzicht und Mühen, es gibt eine Gerechtigkeit für alles Leiden. Aber es wird »bis übermorgen« dauern. Denn Gottes Mühlen mahlen genau, aber langsam. Die Vorstellung von Lohn oder Schatz wirkt als Verheißung durchaus anstachelnd und normverschärfend. Aber es wird nur der Lohn zählen, der nicht schon auf Erden im Kreislauf von Nehmen und Geben abgegolten ist. Nur der überschießende Lohn bedeutet Zukunft, nur der nicht-abgegoltene Ruhm kann noch Grund für irgendeine Hoffnung sein. Aber alles dieses geschieht nicht automatisch, sondern es setzt einen gerechten Gott voraus, der nicht vergisst. 2. Alles Tun und Leiden soll Gott ähnlich machen, der vollkommen ist in seiner Geduld (5,45-48) und Barmherzigkeit (Lk 6). Wer so Gott ähnlich ist, kann »sein Kind« genannt werden. 3. Gott ähnlich werden kann man auch, wenn man sich heilig und rein erhält. Ähnlich wie bei den Pharisäern gelten für die Jünger und Jüngerinnen Jesu hier verschärfte Regeln, die von verletzter Reinheit nicht erst im Bereich physischer Berührung sprechen, sondern die die Grenze vorverlagern: schon in den Bereich der Worte oder des Sehens hinein, der früher »frei« war. Denn kein Bereich ist Gott entzogen oder von Gottes durchdringendem Willen auszunehmen. 4. Christliche Ethik grenzt die Christen von anderen Gruppen ab, wie etwa von Heiden oder Pharisäern. Deren Handeln beruht auf innerweltlichem Ausgleich und ist daher »ohne Hoffnung«. Diese Abgrenzung stärkt das Gefühl der Zusammengehörigkeit innerhalb der Angeredeten. Aber die, von denen man sich abgrenzt, sind doch diejenigen, denen sich Jesus besonders zuwendet (Sünder; bei Justin [s. u.] kommen ganz konsequent noch Zöllner und Hurer hinzu). Es handelt sich dabei nicht um zweierlei Moral, sondern um die Unterscheidung zwischen Soteriologie und Ethik, von Außenperspektive und Binnenperspektive. Soteriologie und Außenperspektive hängen zusammen: Den Sündern (etc.) wendet sich Jesus zu, weil sie noch nicht dazugehören. Noch sind sie anders, noch folgen sie anderen Regeln. Aber es gilt, die Außenstehenden zu solchen zu machen, die dazugehören. Und damit sind wir
29 bei der Binnenperspektive. In diesem Sinne entwirft die Bergpredigt die ethische Identität der Christen. Gerade weil sie sich schon von denen draußen unterscheiden, lohnt eine missionarische Überwindung des Unterschieds. Es liegt daher eine charismatisch-offene Erwählungskonzeption vor. Dabei geschieht die Mission nicht durch Forderungen, sondern verläuft nach dem Motto »Kommt und seht!« (als Einladung zum Anschauen). Die rigorosen Forderungen und die Zuwendung zu den anderen sind aus demselben Holz geschnitzt.
5. Die Hoffnung der Christen ist nicht rein zukünftig. Sie hat auch Aspekte der Gegenwärtigkeit, wie insbesondere die Freude (5,12). Dieses charismatische Element der »Freude im Leiden« ist auch sonst typisch christlich (vgl. 2 Kor 6,10; Hebr 10,34; 1 Petr 1,8; 4,13). In den Briefen ist es ein Ausweis der Zugehörigkeit zur himmlischen Heimat. 6. Der Verzicht auf jegliche Vorsorge in der Welt wird (jetzt und dann) ausgeglichen durch eine umso größere, umfassende Vor- und Fürsorge Gottes. Auch hier liegt ein präsentisches Element, das Jesus durch Hinweis auf Gottes Vorsorge in der Natur (Spatzen und Lilien) glaubhaft machen kann. 7. Ungerechtigkeit besteht dort, wo Dinge nicht zusammenpassen (wie Perlen und Säue, wie Christen und Rache), Gerechtigkeit dagegen, wo Dinge genau zueinanderpassen (wie Suchen und Finden, Bitten und Erhörung). Mit diesem Ansatz liefert die Bergpredigt in 7,1-12 einen originellen Beitrag zur Frage nach Gerechtigkeit. 8. Christen haben die Freiheit, sich alles nehmen zu lassen, alles zu geben und nichts dafür als Ausgleich in dieser Welt zu erhoffen. Es ist die Freiheit zu leiden. Sie steht ihnen gut an, weil sie vom Tauschgeschäft (griech.: amoibe) in dieser Welt keinen Mehrwert erwarten. Es ist eine Art von Ungebundenheit und von völligem Desinteresse. 9. Die Versöhnung mit dem Bruder/der Schwester ist weit über die Bergpredigt hinaus ein zentrales Element matthäischer Mahnrede (5,23 f.25f; 6,12.14f; 18,21 f.23-35). Denn davon hängt überhaupt der Kontakt mit Gott ab. Gott kann kein Gebet erhören, wenn sich der Beter nicht mit den Mitmenschen versöhnt hat. Die »Einheit mit Gott« setzt »Einheit unter Menschen« voraus. Gott kann auf diesem Feld nur handeln, wenn er
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30 den Menschen nachahmen kann (zum Prinzip der Nachahmung vgl. oben unter 2.). 10. Innerhalb der beiden letzten Antithesen (5,38-48) und in 7,1 gibt es vier Modelle des christlichen Handelns; in allen soll der Christ vom Opfer (oder von der Vorstellung, er sei Opfer) zum Täter gewandelt werden: In allen demonstriert der Christ eine totale Freiheit gegenüber erwarteten Regelmäßigkeiten des Handelns, ja oft deren Umkehrung. – a) Muster »Segnet, die euch verfluchen«: Umkehrung des Empfangenen, das Opfer wird zum aktiven Heilsvermittler, konzentrisches Denkmodell wegen Orientierung an der priesterlichen Rolle Israels in der Welt (Gen 12,1-3). Segnen, Beten und Fasten sind kultische Aktivitäten. – b) Muster »rechte Wange – linke hinhalten«: Den Verlust freiwillig verdoppeln. Wie bei a) wird auch hier der erst passive Partner zum aktiven. Das Opfer demonstriert wie in a) so auch hier seine Freiheit, da es sich das Gesetz des Handelns nicht aufzwingen lässt, sondern es von innen her aufbricht und ins Gegenteil verkehrt. – c) Muster »Jedem, der fordert, gib«: Statt mit dem erwarteten Nein antwortet der Christ mit grenzenloser Freiheit. Was der Christ aufgibt, bleibt total unabgegolten. Dass er sich alles gefallen lässt, wird in diesem Höchstmaß zur Demonstration seiner Hoffnung. – d) Muster »Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet«: Der Christ soll sich vorstellen, er selbst sei das Opfer seines geplanten Tuns. Und deshalb soll er davon ablassen. Bei Gott gilt die Talio, er darf sie vollziehen. Menschen nicht (5,38f im Kontrast zu 7,1). – e) Muster »Goldene Regel« (positiv; Mt 7,12): Dem anderen tun, was man selber empfangen möchte. Auch hier werden Empfänger und Täter vertauscht. Auch hier richtet sich der Christ nicht einfach nach den gewohnheitsmäßigen Typen der Handlung, sondern lässt sich leiten von der eigenen Sehnsucht oder Hoffnung. Insofern ist er hier wiederum frei. Justinus Martyr, I Apologie 14-16 ordnet das Material, das er mit Mt 5; Lk 6 gemeinsam hat, unter Überschriften nach Topoi der Tugendlehre (z. B. »Über die Klugheit«, »Dass man alle lieben soll«). Die Abweichungen im Material und in der Anordnung sowie die Verbindung mit anderen synoptischen Stoffen zeigen, dass er von Mt und Lk unabhängig ist und wohl eine gemeinsame katechetisch-paränetische Tradition verwendet hat;
Das Evangelium nach Matthäus
z. B. fragt Jesus öfter: »Was tut ihr da Neues?«, oder er sagt: »Auch die Hurer (bzw. Zöllner) tun das!« In 15,1 bietet er eine abweichende Version zu Mt 5,29. Gleiches wie für Justin gilt auch für Röm 12,4 (schon allein aus zeitlichen Gründen); Didache 1,4; 2 Clem 13,4 (»Gott sagt …«) und P Oxy 1224. In Röm 12; 2 Clem und Didache 1 erscheinen die Stoffe nicht als Jesus-Worte.
Jesus hält in Mt 5-7 die erste seiner fünf Reden (vgl. Mt 13; 18; 21f; 24-25). Zur Eigenart der Bergpredigt-Ethik im Allgemeinen: Diese Ethik empfiehlt das Gute nicht um seiner selbst oder um des Nächsten willen. Es ist eine Ethik der Lebensweisheit und Klugheit. Der Einzelne wie die Gemeinde werden aufgebaut, getröstet und unter die Lohnverheißung gestellt. Da an den Lohn im Himmel gedacht wird, geht es schon gar nicht um Pflichten. Vielmehr so: Der Zusammenhang von Tun und Ergehen, an den hier gedacht ist, ist Gottes Weg, ist sein Zusammenhang, beruhend auf seiner Treue. Der himmlische Lohn ist nicht Gegenstand des Berechnens, sondern Ausdruck der Gegenseitigkeit von Gott und Mensch. Der Mensch soll schmerzhaft viel geben und wird dafür alles im Überfluss (griech.: perisseia) empfangen. Wo er nur wenig gibt, empfängt er auch nur begrenzt. Wo er von Herzen und alles gibt, steht darauf himmlische Verheißung. Diese Korrespondenz von Herz und Himmel gilt in anderem Kontext auch in Hebr 9,14.23. Oder anders: Das Herz ist die wahre Wirklichkeit des Menschen, der Himmel die wahre Wirklichkeit der Welt. Diese beiden gehören zusammen. – Das Lohndenken steht nicht für »Berechnung«, sondern für Welt-Sinn und Weltordnung. Die »Zukunft« wird nicht objektivierend oder »an sich« dargestellt, sondern als Art des Vorkommens von Gegenwart und als etwas, das in der Gegenwart erstellt wird. Zu Mt 5,1: Der Berg ist der Ort der Offenbarung wie Mt 4,8; 17,1; 28,16; vgl. aus dem Leben des Mani (CMC) Koenen, Mani-Kodex, 1985, S. 55.
Mt 5,3-13: Seligpreisungen Die Anfangsposition von Seligpreisungen ist in der biblischen Literatur gut belegt (vgl. K. Berger, Formen und Gattungen, 2005, § 62); vgl.
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Kapitel 5
nur Ps 1,1; Lk 6,20-23. Seligpreisungen entwerfen nicht vorrangig ein Menschenbild, sondern einen bestimmte heilvolle Abfolge von Tun und Ergehen. Dabei ist ein präsentischer Aspekt unübersehbar. Die Seligpreisungen bei Mt sind inhaltlich kohärent: Der hier gelobte Mensch ist nicht gewalttätig, er nimmt seine Macht zurück, er ist aktiv friedfertig. Teilweise ist es das Ideal des weisen Herrschers, das hier geboten wird (barmherzig, friedenstiftend. Doch die Verfolgung passt nicht dazu. Der ideale Herrscher wird nicht als Leidender vorgestellt; der These von der Übernahme und »Demokratisierung« von Oberschichtmoral durch das frühe Christentum kann man daher kaum zustimmen.
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Zu Mt 5,3: Jesus meint physische und nervliche Not, er spricht von den durch Übergriffe Verängstigten. Die »Armen im Geist« müsste man wiedergeben als die »armen Menschen, die gequält werden« (Übersetzung: Berger/Nord); seit den Texten von Qumran wissen wir nämlich, dass »arm im Geist« der ist, den man nervlich »fertigmacht«. – Das Evangelium nach Matthäus ergibt bei weiterer Lektüre: Jesus selbst ist sanftmütig (vgl. Mt 5,5 mit 11,29), er selbst ist verfolgt und wehrt sich nicht (Mt 26,53). Und so wie er Sohn Gottes ist, wird dasselbe Wort auch für alle die verwendet werden, die ihm und damit Gott ähnlich sind (Mt 5,9 und 5,45).
oder die Gott einfach liebt. Denn »erwählen« heißt im Hebräischen nichts anderes als »lieben«. Gott steht auf ihrer Seite. Warum das so ist, sagen weder Jesus noch Paulus. Gott ist eben so, er hat einen »Charakter«, ist keine wesenlose Gottheit. Die Begründungen, die Jesus für die Seligpreisungen gibt, sind kühne Verheißungen, aber nicht Begründungen im logischen Sinn. Nach dem Evangelium liegen die Folgen hauptsächlich in der Zukunft. Nach 1 Kor bestehen sie in der Gegenwart. Was die Korinther davon haben? Für Paulus ist es das Höchste und Kostbarste, von Gott erwählt zu sein. Das, was Jesus im Evangelium verheißt, scheint nicht weniger zweifelhaft. Gegenüber Paulus fällt auf: Jesus betont körperlich-ganzheitliche Leiden und entsprechendes Handeln. Bei Paulus geht es um das soziale Ansehen. Paulus spricht aus der Erfahrung heraus, dass in hellenistischen Städten – Paulus ist ganz Stadtmensch – vor allem das soziale Ansehen zählt. Er meint speziell diejenigen, die nichts gelten, die Marginalisierten. Jesus dagegen meint andere Gruppen, solche, die wirklich physisch leiden und in jeder Hinsicht fertiggemacht werden, und andererseits diejenigen, die scheinbar sinnlos handeln, da sie, wie zum Beispiel Sanftmütige und Friedfertige, jeweils in ein Fass ohne Boden zahlen. Bei Paulus geht es um die bittere Erfahrung, dass andere so tun, als gäbe es einen nicht, eben als sei man Luft, ein Nichts.
Man vergleiche Mt 5,3-12 mit 1 Kor 1,26-29: Beide Texte stellen Menschen dar, die nach allgemeinem Urteil arm, minderwertig, nicht angesehen sind. Nach dem Brief sind es die weniger Klugen, die Benachteiligten, die ohne Titel, die Verachteten, die nichts gelten. Nach dem Evangelium sind es die Armen und Gequälten, die Traurigen, Menschen, die sich nicht wehren, die sich wirklich nach Gerechtigkeit sehnen, die unschuldig Verfolgten, Beschimpften und Verleumdeten, und zu ihnen gesellen sich so merkwürdige Menschen wie schlicht und einfach Barmherzige, Friedensstifter und solche »reinen Herzens«. Nach beiden Texten wird daher das auf den Kopf gestellt, was man bürgerliche Werteordnung nennt. Immer, wenn uns solche Menschen begegnen, sagen wir: Er wird es schon selbst verschuldet haben. In der Umwertung, die beide Texten vollziehen, sind solche Menschen dagegen entweder diejenigen, denen wahrhaft die Zukunft gehört (Evangelium)
Wir beobachten an dieser Stelle: Für Paulus wie für Matthäus läuft die Umkehrung der bürgerlichen Werte-Ordnung direkt auf Jesus zu, und zwar zunächst auf den, der durch Leiden und Kreuz erweist, dass er zu Gott gehört. So, wie diese Welt nun einmal ist, kann Zugehörigkeit zu Gott auch kaum anders demonstriert werden, als dass man ihre Werte auf den Kopf stellt – und ihre brutale Macht schlicht erleidet und eben nicht übertrifft. Wir fragen: Sind die Verheißungen der Seligpreisungen also lauter leere Versprechen? Sind die wie Jesus Armen und Verfolgten wirklich glücklich zu preisen? Auffallend ist nämlich: Es heißt nicht »glücklich werden sein …«, sondern »glücklich sind«, ganz zeitlos. Wie das zu verstehen ist, sagt 1 Petr 4,14, der ja in der Anbindung an die Autorität des Petrus dem MtEv besonders nahesteht: »Und wenn ihr jetzt beschimpft werdet, weil ihr Christen seid, dann gilt: Selig seid
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32 ihr, weil der Heilige Geist Gottes jetzt schon auf euch ruht, der Geist der Herrlichkeit.« Wenn also einer leidet und dennoch dabei selig ist, dann ist das nicht perverse Lust, sondern Gottes Geist, der ihn tröstet und trägt, der ihn durchsichtig macht für das, weswegen er leidet. Doch diese Welt der Ungerechtigkeit ist nicht das Letzte, sondern immer nur das Vorletzte. Ihre Tage sind gezählt, ihre Zukunft hat sie schon lange hinter sich. Zu Mt 5,8: Glücklich, die ein reines Herz haben. Denn sie werden Gott sehen (5,8). Die Stelle wird – wie auch die Schau Gottes überhaupt – in der Regel im Sinne vollkommener Erkenntnis (also nach 1 Kor 13,12) oder platonisierend als »visio beatifica« (selig machendes Schauen, im Sinne glücklicher Versenkung in das Betrachten) gedeutet. Das Ärgernis besteht seit Jahrhunderten darin, dass das selige Schauen als das höchste Ziel christlicher Existenz ausgegeben werden kann, ohne dass irgendjemand konkreter sagen kann, welche Attribute dieses höchste Ziel haben soll. Die Frage bleibt offen, ob die ewige Seligkeit wie ein Museumsbesuch ist, bei dem man vor dem einen oder anderen Gemälde betrachtend stehen bleibt. Das Verständnis wird auch dadurch erschwert, dass man den unangemessenen Gegensatz von »aktiv« und »kontemplativ« hier einträgt, wobei viele geneigt sind, unter dem kontemplativen Leben eine Art von Faulheit zu verstehen. Es gibt jedoch biblische Texte, nach denen das, was Jesus in Mt 5,8 meint, wesentlich brisanter ist als ein wohlgefälliges Betrachten. Die biblischen Texte sind daher auf ihre konkreten Voraussetzungen hin zu befragen. So könnte das christliche Ziel etwas attraktiver und interessanter erscheinen. Mt 18,10: »Verachtet kein einziges dieser Kleinen. Ich sage euch nämlich: Ihre Engel sehen in den Himmeln jederzeit das Antlitz meines Vaters in den Himmeln.« Durch den begründenden Satz beschreibt Jesus die wahre Größe und Bedeutung der »Kleinen«. Deren Bedeutung ist begründet in der besonderen Rolle ihrer Engel: Gerade ihre Engel sind im Himmel höchstrangig. Denn Gott direkt ins Angesicht sehen zu können ist ein Privileg einmaliger Vollmacht in höchster Machtposition. Es liegt in der Logik des Satzes Jesu: Die Kleinen hält man für schwach und unbedeutend. Doch dank ihrer Engel sind diese Kleinen
Das Evangelium nach Matthäus
alles andere als gering. Sie haben direkte und gute Beziehungen zu Gott selbst. Denn wer das Angesicht Gottes schauen darf, gehört zu den »Engeln des Angesichts« (s. u. zu Mt 18,10). Die Bedeutung der Kleinen beruht daher auf der Beziehung, die sie zu den Angesichts-Engeln haben. Es geht daher gar nicht um ein mehr oder weniger kontemplatives Dasein dieser höchsten Engel. Sondern dank dieser Beziehungen haben die Kleinsten enge Beziehungen zu Gott, die sie auch, z. B. durch Fürsprache, nutzen werden. Das genau beschreibt Hebr 9,24f: Jesus ist demnach ins himmlische Heiligtum als Hoherpriester erhöht, um »für uns zu erscheinen vor dem Angesicht Gottes«. Das tut er durch Fürsprache, als Anwalt der Menschen. Damit übt er offenbar dieselbe Funktion aus, die die Engel für die Kleinen nach Mt 18 bei Gott wahrnehmen. Auch hier kann von einer seligen Blickverschmelzung nicht die Rede sein. – Wenn mithin Menschen reinen Herzens »Gott schauen« werden, dann haben sie von Gott eine Machtposition erhalten, wie das in Mt 19,28f von den Jüngern gilt, die auf Thronen sitzen werden. Folgende weitere Implikationen sind bemerkenswert: 1) Wer das Antlitz Gottes schauen darf, der wird Lob und Lohn empfangen. Denn wer Gott im Leben dient, darf danach sein Antlitz schauen (4 Esr 7,98). Im eucharistischen Hymnus des Thomas v. Aquin heißt es: ut te revelata cernens facie visu sim beatus tuae gloriae – dass ich selig bin durch den Anblick deiner Herrlichkeit, wenn ich dich unverhüllt schauen darf. 2) In der Sterbestunde wird Gottes Antlitz unverhüllt sein. Denn dann müssen alle Menschen Gottes Antlitz schauen. Gottlose erblicken das Antlitz Gottes, um ihre Strafe zu empfangen (Midrasch Ps 22 § 32[99a]), die Gerechten empfangen ihren Lohn. Denn es wird das aufgedeckt, von dem her sie immer schon gelebt haben. 3) Sie dürfen sich dann aufhalten in der Gegenwart des Heiligen. Die Angst ist aufgehoben. Schon die Schaubrote heißen »Brote des Angesichts«, weil sie an dem Ort der Gegenwart Gottes liegen. An diesem Ort sein heißt: sehr gute Beziehungen zu Gott haben, die man zugunsten anderer als Fürsprecher nutzen darf. 4) Gott zu schauen ist ambivalent. »Das Schauen Gottes ist mit höchster Gefahr verbunden, weil
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der Mensch vor Gottes Heiligkeit vergehen muss … (noch im eucharistischen Hymnus ›Adoro te devote‹ heißt es: quia te contemplans totum deficit), weil Gottes verzehrende Heiligkeit den Menschen vernichtet … Mose darf nur von hinten nachschauen, wenn Gottes Herrlichkeit vorüberzieht.« Während griechische Götter im Prinzip auch für das menschliche Auge sichtbar werden können, offenbart sich der Gott des Alten Testaments nur durch das Wort. Gottes Antlitz sehen bedeutet aber (bildlich verstanden) »eine Kultstätte besuchen.« Die neutestamentlichen Wunderberichte beginnen oft damit, dass Jesus »sieht« (z. B. wie jemand krank ist), und der Ort der Opferung Isaaks heißt »Morija« (der Herr sieht, denn der Herr sieht zu, wen oder was er sich zum Opfer auswählt). Die Unverhülltheit, die auf das »normale Leben« folgt, wirkt sich aus – je nach der Qualität dessen, der Gott begegnet. – Das Alte Testament verdient gerade heute, da man den Leser vor jedem Schrecken bewahren will, aufmerksamen Respekt, auch deshalb, weil es unverblümt darstellt, wie gefährlich es eigentlich ist, Gott direkt zu begegnen. Dass man in der Gegenwart Gottes der Gnade gewiss sein kann, gilt nur nach manchen Texten. Die Gottesbegegnung in der beiderseitigen Unverhülltheit bedeutet auch für den Menschen, dass er durchschaut wird, weil nichts verborgen bleiben kann (wie nach dem Hymnus »Dies irae«: quidquid latet apparebit, nil inultum remanebit – alles Verborgene wird sichtbar, nichts bleibt ungerichtet). 5) Auf eine uralte, hier bestehende Verbindung zwischen Erotik und Theologie weist das Gedicht Catulls: Ille mi par esse deo videtur, ille, si fas est, superare divos, qui sedens adversus identidem te spectat et audit dulce ridentem (»Jener Mensch scheint mir wie Gott oder, wenn es zu sagen erlaubt ist, noch seliger als Götter, der dir gegenübersitzt als Ohren- und Augenzeuge deines süßen Lachens«). Denn natürlich ist Gott schön (Offb 10,9; Ez 2,8; 3,1-3). Fazit: Gott zu schauen ist alles andere als die Abwesenheit von Geschehnissen oder gar reine Stille. Es ist ein dramatisches und alles andere als harmloses Geschehen. Wenn man es so sehen will oder kann: Offenbarwerden ist die Substanz
dessen, was in jedem Ereignis geschieht. »Man wird sehen«, sagt man bis heute für »Abwarten«. Dass es sich um ein dramatisches Geschehen handelt, kann man daran erkennen, dass es um Leben und Tod geht. So aber fassen wir gewöhnliche innerweltliche Ereignisse in aller Regel nicht auf. Diese dualistische Alternative gibt es, weil es Gott gibt. Die Verheißung »denn sie werden Gott schauen« meint aber keine rein kontemplative Existenz in sich gekehrter Menschen, sondern reine Freude, die sich nicht wieder einkriegt (wie eine Feier oder eine durchtanzte Nacht, nach der man müde und irgendwie selig einschlafen kann). Christlich ist daran nicht der Mangel an Aktivität, sondern die Dankbarkeit für so viel Geschenktes. Vielleicht haben wir »Gott schauen« oft zu stark quietistisch (Ruhe, Nicht-Handeln [im Sinne einer falsch aufgefassten Rechtfertigungslehre, der es auf Verzicht des aktiven Handelns ankommt]) verstanden. Es muss nicht unbedingt der still vor sich hin Meditierende sein, sondern durchaus der Hurtige und Mutige. Auch die Engel der Kleinen, die nach Mt 18,10 Gottes Angesicht schauen, sind nicht in Dauer-Meditation versunken, sondern sie engagieren sich für ihre Schützlinge vor Gott. Leben in der Gegenwart Gottes bedeutet nicht Abwesenheit eigener Vital-Impulse, sondern Schutz vor allem Tod. Das bedeutet auch Angstfreiheit im Schutz des Mächtigeren. Das Dramatische besteht darin, dass das Wahrnehmen von Gott und Mensch wechselseitig und ambivalent ist. Der Charakter des Zieles besteht darin, dass aus der Wechselseitigkeit Gemeinschaft und aus der Ambivalenz Angstfreiheit wird.
Mt 5,13-16: Salz der Erde, Licht der Welt Auch wenn es chemisch nicht sein kann – doch in Gedanken wird es uns ausgemalt, wie das wäre, wenn das Unersetzliche seinen Wert verlöre. Beschrieben wird die Erfahrung von Verfall und Ende, wo Anfang sein sollte. Denn gegenüber der Welt ist das Salz das andere und Neue, das sie durchdringen und prägen sollte. Wer eine Gesellschaft prägen will, muss die Alternative selbst darstellen. Der Münzstempel, der weicher ist als das Metall, das er prägen soll, taugt nicht. Doch
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34 andererseits besteht das Salz nicht für sich, sondern nur auf die Welt hin und mit ihr zusammen. Salz an und für sich ist kein Nahrungsmittel, es hat nur Sinn und Bedeutung in Beziehung zu anderen. Als Salz der Welt sind die Jünger für die anderen da, sind auserwählt nur für die anderen. Das Wort vom Salz der Erde spricht daher keineswegs von missionarischem Aktivismus, sondern von der Bewahrung der christlichen Identität, der geschenkten Kraft. In dem Wort vom Licht geht es noch klarer um die missionarische Funktion. Im Judentum hatten nie Menschen die Aufgabe, Salz der Welt zu sein. Hier gibt es ein entsprechendes Wort nur von der Torah, die das Salz, und von der Auslegung der Torah, die der Pfeffer seien, ohne die die Welt nicht bestehen könne. Jesus aber überträgt diese Aufgabe auf Menschen. Jesus hält sich hier ganz an eine goldene Regel antiker Pädagogik: Nur das, was der Lehrer selbst lebt, kann er vermitteln. Besteht nicht ein Widerspruch zwischen Mt 5,16 (Werke sehen) und Mt 6,1.5 (nicht gesehen werden!)? Antwort: In Mt 6 geht es um den Einzelnen und sein Werk, in Mt 5,16 um die Gemeinde. Der Einzelne soll im Verborgenen (fromm) handeln, was die Gemeinde aber gemeinsam zustande bringt, soll und darf leuchten. Keineswegs darf der Einzelne mit seiner Religiosität Ruhm anstreben, sondern das gemeinsame Werk der Jünger sollen die Menschen sehen und aufgrund dieses Werkes zu Gott finden. Nicht der Einzelne soll Ehre erringen, sondern er soll dazu helfen, dass das gemeinsame Werk ansehnlich wird. Dann können die Menschen zu Gott finden. Nach Mt 5,13-16 sind die Jünger gemeinsam als Stadt auf dem Berg und als Licht der Welt angeredet. Nur gemeinsam können sie für Gottes Ehre etwas tun; jeder Einzelne ist auf seinem Weg zum Ruhm viel zu sehr gefährdet. Damit schließt sich auch in der Argumentation hier der Kreis: Alle Christen sind Schüler und Geschwister. Aus ihnen tritt keiner als der Anführer hervor. Vielmehr ist nur einer, eben Jesus, Lehrer und Herr (und eben nicht Bruder).
Mt 5,17-48: Jesus und das Gesetz Dass Jesus das jüdische Gesetz treu erfüllt und nicht zerstört hat, mochte man zu Zeiten nicht
Das Evangelium nach Matthäus
hören und stilisierte Jesus zum jüdischen Religionsrebellen. Doch aus meiner Sicht geht es hier um eine Verschärfung, weil eine bloße Erfüllung der Torah noch nicht ins Himmelreich führt. Es führt nur das ins Himmelreich, was auf Erden noch nicht belohnt wurde oder abgegolten ist. Aber so gilt auch: Wer Gebote verschärft, macht sich unbeliebt. Das ist wie mit der Erhöhung von Steuern. Jesus ist gehorsamer Jude und unterwirft sich dem Gesetz. Denn Veränderung beginnt nicht mit der Abschaffung von Normen oder Riten. Jede Veränderung, auch der frühchristliche Weg von den Juden zu den Heidenchristen, nimmt ihren Anfang in einem neuen Herzen des Menschen und bedeutet zunächst einmal Geduld, Gehorsam und Leiden. Jesus weist den Weg zum Himmel so, dass er sagt: Die Torah, das jüdische Gesetz, gilt auf jeden Fall. Nur über die Erfüllung des Willens Gottes, nicht über die Abschaffung von Statuten, geht der Weg in den Himmel. Auch das Sabbatgebot hat Jesus nicht abgeschafft. Und ein Satz wie Mt 5,17 (»das Gesetz erfüllen«) stammt nicht aus judenchristlichem Rückfall hinter Jesus, sondern Jesus tut den Willen Gottes. Er isst nicht mit Heiden und betritt kein heidnisches Haus. Und wenn er Tote berührt, dann um sie lebendig zu machen; denn von Jesus geht eine Reinheit aus, die alle Unreinheit überwindet. Insofern bleibt auch dort, wo Jesus mit Unreinen zu tun hat, das pharisäische Thema Reinheit erhalten, und zwar so, dass Jesus eine offensive, rein machende Reinheit besitzt und nicht eine defensive, die sich zurückziehen muss wie die Pharisäer es müssen. Aber warum will und muss Jesus die Gerechtheit der Pharisäer noch überbieten? Antwort: Weil es ihm um den Himmel geht, um das Himmelreich. Von Anti-Thesen spricht man deshalb, weil Jesus stets zunächst die alte Version zitiert (»Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt ist …«) und dann mit seiner neuen Auslegung anfängt (»Ich aber sage euch …«). Dabei ist durchaus umstritten, wie hoch der von Jesus mit dem »Ich aber sage euch« angemeldete Anspruch ist. Stellt er sich über Mose? Aber Mose erwähnt er gar nicht. Es wurde immer nur »den Alten gesagt«. Geht es dabei um passivum divinum – hat Gott den Alten gesagt? Ist Jesus der neue Gott? Auch das geht viel zu weit. Das »Ich aber sage euch«
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steht vielmehr häufig in der schriftgelehrten halb-akademischen Diskussion. Die »Alten« sind alle Früheren. Bisweilen geht es auch gar nicht um Schriftzitate. Zu Mt 5,22: Verbot zu zürnen – Schon wer zürnt und seinen Bruder oder seine Schwester Idiot nennt, ist ein Mörder. Jesus verlegt die Schwelle der Gesetzesübertretung vor. Ähnlich reagiert auch bereits die zeitgenössische griechische Philosophie, die in der Frage von Aggressivität und Friedfertigkeit höchst sensibel ist. Das ist heute anders, denn ungehemmtes Ausleben von Aggressivitäten ist der große blinde Fleck in unserer Gesellschaft, auch gerade unter Eheleuten und Verwandten. Fast gilt die Regel: »Wer aggressiv ist, gewinnt.« (Ergänzung siehe S. 1051) Zu Mt 5,27-30: Verbot, mit Blicken auszuziehen – Ein Mann, der eine Frau mit Blicken auszieht, hat die Ehe schon gebrochen. Er hat das eben nicht erst getan, wenn es wirklich zum Ehebruch kommt, sondern schon dann, wenn er eine Frau so tätlich mit Blicken beleidigt. Viele Frauen kennen diese persönlichen, fast physischen Attacken von Männern. Jesus zieht hier das 6. und das 10. Gebot zusammen, das in der griechischen Fassung auch bereits das Begehren verbietet. Auch hier besteht ein enger Bezug zur Verheißung. Denn Jesus hatte doch gerade verkündet: »Selig, die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen« (5,8). Auch hier spricht er über den Zusammenhang zwischen Herz und Auge. Das Auge, das Menschen erblickt und anschaut, ist dazu berufen, Gott zu schauen. Zu Mt 5,31f: Verbot der Ehescheidung – Dieses Wort ist fünfmal bezeugt, so oft wie kaum ein anderes Jesuswort. Aber Jesus meint auch sich selbst als den neuen Bräutigam des endzeitlichen Gottesvolkes. Und wenn die messianisch erneuerte Ehe Gottes mit seinem Volk das Ziel der Geschichte ist, diese fröhliche Hochzeit, dann liegt alles daran, die natürliche Anschauungsbasis für dieses hohe Ziel nicht preiszugeben oder für beliebig zu erklären. Die so genannte Unzuchtsklausel in Mt 5,32; 19,9 1. Ein Einschub des Evangelisten ist völlig unwahrscheinlich, schon wegen der sprachlich ab-
35 weichenden Parallele in Mt 19,9. Wir müssen also damit rechnen, dass Jesus so gesagt hat. 2. Porneia bezeichnet nicht nur Ehebruch oder Prostitution, sondern jede Art von illegitimer Geschlechtsbeziehung, und das schon seit dem 2. Jh. v. Chr. 3. Man kann das auch im NT selbst nachlesen: Im Aposteldekret (Apg 15,20 etc.) wird Porneia verboten im Blick auf Heidentum, gemeint ist in dieser streng judenchristlichen Formulierung die Mischehe mit Heiden. Im Aposteldekret wird sie direkt verboten. 4. Im Falle der Mischehe mit Heiden gestattet aber auch Paulus die Auflösung der Ehe: 1 Kor 7,15 f. Das ist das so genannte privilegium paulinum. An dieser Stelle kommt Paulus recht genau mit Jesus überein. Beide meinen: Eine solche Ehe ist auflösbar (theologischer Grund: Ehe bildet das Verhältnis zwischen Gott und seinem Volk ab!). 5. Nun dürfte Jesus in Mt 5,32 und 19,9 nicht nur an Mischehen mit Heiden denken, sondern auch an andere Fälle von nicht legitimer Ehe, also auch an solche Beziehungen, wie Augustinus eine hatte. Das ist bis heute ein kanonistischer Grundsatz: Es kommt darauf an, ob eine Ehe überhaupt (legal oder legitim) besteht. 6. Ein Ehebruch löst also nicht das Eheband! Zu Mt 5,33-37: Verbot des Eides mit Anrufen Gottes – Jesus hat etwas dagegen, dass seine Jüngerinnen und Jünger schwören, indem sie Gottes Namen anrufen. Er bietet eine Ersatzformel an: »Ja, ja«, und im JohEv leitet Jesus feierliche Sätze entsprechend mit »Amen, Amen« ein, denn »Ja« ist die Übersetzung von »Amen«. Beim »Amen« kann man gewiss sagen, dass Gott in dieser Formel nicht vorkommt. Aber warum verbietet Jesus den Gebrauch? Warum verbietet er, um es schärfer zu sagen, dass wir Gott hineinziehen in juristisch oder moralisch unklare Angelegenheiten? Und was hat das mit den anderen Verboten der Bergpredigt zu tun? Man kann die ersten vier Fälle, die Jesus in der Bergpredigt ab Mt 5,21 behandelt, unter dem gemeinsamen Thema der »Reinheit« betrachten, und dann gewinnen die vier Antithesen einen inneren Zusammenhang. Vor allem aber ergibt sich eine Beziehung zur Gerechtigkeit der Pharisäer, die die Christen ja nach Mt 5,20 überbieten sollen. Denn Rein-
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36 heit, umfassende Reinheit außen und innen, ist das Thema der Pharisäer. So lesen sich dann die Gebotsverschärfungen Jesu unter dem Aspekt der Reinheit: Dass man sich verunreinigt durch Besudelung mit Blut, ist nicht erst beim Mord gegeben. Die Befleckung durch Blutschuld fängt früher an. Jeder Mann, der mit einer verheirateten Frau umgeht, befleckt sich an ihr. Das ist schon beim lüsternen Anblicken gegeben. Und natürlich auch bei der Ehescheidung: Jede Frau, die einem Mann gehört, ist bis zu dessen Tod für jeden anderen Mann unrein. Daher befleckt man sich auch bei der Heirat einer Geschiedenen, und deshalb wird solches auch schon für Priester und Hohepriester nach dem AT verboten. – Und wer den heiligen Gottesnamen in eine unheilige, zumindest zweifelhafte Sache hineinzieht, der befleckt nicht nur diesen Namen, sondern nach dem Bumerang-Prinzip sich selbst. Die Unreinheit fällt auf ihn selbst zurück. – So kann man hier sehen, wie Jesus in allen fünf Fällen pharisäisch denkt und durch seine Formulierung gerade die pharisäischen Standards noch überbietet. Um in den Himmel zu gelangen, muss man auf Erden engelgleich leben. Denn wer mit den Engeln singen will, muss auch rein sein wie sie, umfassend rein. Deshalb steht ein Reinigungssakrament (Taufe) am Anfang. Deshalb geht es immer wieder darum, von Sünde rein zu werden (Beichte/Buße), und in der bei Lukas für das Vaterunser überlieferten Geistbitte heißt es: »Es komme dein Heiliger Geist, und er mache uns rein.« Und wir bitten den Heiligen Geist: »Wasche, was beflecket ist!« – Reinheit ist ein Zeichen für radikale Heiligkeit. Übersetzt heißt das: Gott ganz und gar gehören, aus ganzem Herzen und mit ganzer Kraft. Zu Mt 5,34: Gar nicht schwören – Die Pointe ist: unter keinem Umständen, auch nicht mittelbar (vgl. Mt 23,16-22), Gott oder seinen Namen in zwielichtige menschliche Angelegenheiten hineinzuziehen und dadurch zu entweihen. Das »Ja, ja« ist ein Schwur-Ersatz. Es ist nichts als eine Beteuerungsformel, kein Schöpfungswerk, das dann doch wieder auf Gott hinwiese. – Es fällt auf, dass dieses »Ja, ja« dem johanneischen »Amen, Amen« auch hinsichtlich der Doppelung entspricht. Und in der Tat bestehen hier Querverbindungen. Denn für das zeitgenössische Ju-
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dentum sind Gottes Worte Schwüre; so Philo v. Alexandrien in LegAlleg 3,204: Die Worte Gottes sind Eidschwüre und Gesetze. Wenn Gottes Worte Schwüre sind, dann leistet der Bote Gottes, der die Worte Gottes ausrichtet, mit jedem Ausspruch einen Schwur. Dazu gehört dann auch die Schwur-Einleitung. Was in Mt 5,34 begründet wird, befolgt dann der Evangelist des JohEv (s. o.); dass dabei das »Ja, ja« durch »Amen, Amen« ersetzt wird, entspricht der üblichen Übersetzung von »Amen« durch »Ja« (vgl. Offb 14,13). Zu Mt 5,38-48: Von der Feindesliebe – Bei dem Satz »Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen« steht die zweite Hälfte gar nicht in der Schrift. Man hat sich dafür, wenn auch ohne besonderes Recht, auf die erste Kolumne der so genannten Sektenregel aus Qumran berufen (»Zu lieben die Kinder des Lichts und zu hassen die Söhne der Finsternis«, 1 QS 1). Aber in Mt 5,42 liegt kein ausgebauter »metaphysischer« Dualismus vor. Der Satz »Auge um Auge, Zahn um Zahn« macht ganz besonders klar, worum es der Schriftauslegung in allen Antithesen geht: Die Schriftstelle oder die bisher geltende Ansicht über Gottes Willen war bei dem Kampf um die Verdrängung des Bösen durch das Gute exakt auf halbem Weg stehen geblieben. Hier bei Auge um Auge: Die Rache für das Böse war auf eine genaue Vergeltung (1 : 1) beschränkt worden. Jesus dagegen verbietet die Rache überhaupt. – Oder: »Du sollst deinen Freund lieben und deinen Feind hassen.« Jesus dagegen gebietet das Lieben auch des Feindes. – Oder: Untersagt war nur, falsch zu schwören. Jesus verbietet das Schwören überhaupt. – Oder: Geboten war, um der Rechtssicherheit der geschiedenen Ehefrau willen ihr einen Scheidbrief zu geben. Jesus dagegen verbietet Ehescheidung überhaupt. Jesus kämpft ohne Kompromiss um den reinen und ganzen Gotteswillen. Die Teilung an dieser Stelle (V. 17-37/38-48) war sinnvoll. Denn mit den beiden letzten Antithesen wird der Bereich der Diskussion um Reinheit und Pharisäismus überschritten. Ihr Thema ist der Gewaltverzicht. Auch dieser führt in den Himmel, jedenfalls nach der »Logik« Jesu und der frühen Christen. Denn wer hier, jetzt auf Erden, auf Gewaltausübung verzichtet, bekommt
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das »Guthaben«, die nicht vollzogene Rache, im Himmel als positiven Schatz wie bei einer Kontoführung gutgeschrieben. Jede Antwort per Gewalt, die auf Erden ausblieb, jedes Schenken, für das nichts zurückempfangen wurde, wandelt sich in eine Verheißung um. – Nun ist das ewige Leben kein Rechenexempel, und Gottes himmlisches Regiment ist kein zentraler Bank-Computer. Gott ist keine Verrechnungsstelle. Das Muster für Sätze dieser Weltanschauung ist vielmehr Lk 14,7: Lade nur die ein, die dich nicht ihrerseits einladen können. Denn eure Vergeltung ist groß im Himmel. – In der Durchbrechung des irdischen Kreislaufs von Geben und Nehmen liegt die Chance zur Erneuerung der Welt. Wer auf Erstattung verzichtet, hat den Blick nicht nach hinten gerichtet, sondern radikal nach vorne. Doch alles Ausgleichsdenken wird nochmals überboten durch die Konzeption der Verähnlichung mit Gott. Zu Mt 5,43-48: Gottes Eselsgeduld – Dem Vater ähnlich ist das eigene Kind. So gibt die letzte Antithese zu bedenken, wie man Gottes Kind wird, und das geht auf dem Weg über größtmögliche Ähnlichkeit. Dann aber ist ein Jünger Jesu Gott ähnlich, wenn er sich nach dem Vorbild des geduldigen Gottes richten kann, der jeden Morgen seine Sonne über Gute und Böse aufgehen lässt, der also Geduld mit den Bösen hat, die bis ans Ende der Welt reicht. Im Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen wendet Jesus diese Botschaft über Gottes Geduld auf die Situation der Kirche an (Mt 13). Wer vor der Ernte (d. h. vor dem Gericht) ausreißt, der reißt das ganze Geflecht mit heraus und hält sich nicht an Gottes Vorbild, der eben bis zum Gericht selbst nicht richtet. In Mt 5,48 wird diese Geduld Gottes als seine Vollkommenheit gepriesen. Die Vollkommenheit Gottes besteht in der Zurückhaltung von Zorn und Gericht bis zum letzten Tag. Das MtEv kennt noch ein weiteres Jesuswort über die von den Jüngern gewünschte Vollkommenheit – nach 19,21 sagt Jesus dem reichen Jüngling: »Wenn du vollkommen sein willst, dann geh hin, verkauf deine Habe und gib den Erlös den Armen, und so wirst du einen Schatz im Himmel haben.« In beiden Fällen besteht die Vollkommenheit in einem Verzicht in dieser Welt (Verzicht auf allen Besitz,
Verzicht auf Rache und Vergeltung), und wer so vollkommen ist, der kann warten bis zum Ende der Welt. Gleichzeitig ist er beim Mangel an Reichtum und Vergeltung Inhaber eines Schatzes für das künftige ewige Leben. Denn er gehört zur himmlisch-zukünftigen Welt. Er hat dort »seine Aktien«, dort liegt der Grund seiner Hoffnung. Zum Ausgleichsdenken besteht also kein Gegensatz. Die Bergpredigt ist aus meiner Sicht dazu gedacht, alle Kompromisse je und je zu überprüfen, ob sie die Radikalität des Gotteswillens nicht verraten, an die Jesus gedacht hat. Zu Mt 5,47 (Grüßen) vgl. zur biblischen Theologie des Grußes bei 2 Joh 11. Zu Mt 5,48: Gott ist das Prinzip der Ethik – vgl. Seneca, De Beneficiis IV 26: »Wenn du die Götter nachahmst, dann gib auch den Undankbaren Gutes, denn die Sonne geht auch über den Verbrechern auf, und den Piraten stehen die Meere offen.« Es geht hier um eine Schöpfer-Gerechtigkeit, die eine strikte iustitia distributiva ist (suum cuique). Im Gericht dagegen wird es um die iustitia moralis gehen. – Nach Mt 5,48 ist Gott selbst in seinem Handeln Prinzip der Ethik (nicht irgendwelche sittlichen Prinzipien).
Mt 6,7f: Vom Beten Insbesondere aus V. 8 geht hervor, dass Jesus hier lediglich das Bitten um irdische Bedürfnisse meint. Gemeint sind nicht auch alle anderen Gattungen des Betens wie Lobpreis, Klage, [Litaneien, Stundengebet], Rufe um Erbarmen (anders beurteilt von H. E. G. Paulus) und das Vaterunser selbst. Wie sollte man sonst die Mahnungen des Apostels Paulus zu unablässigem Beten verstehen (vgl. 1 Thess 5,17; Röm 12,12; Eph 5,20) und auch Lk 18,1 (allezeit); 17,7 (Tag und Nacht); Kol 4,2? Die Gemeinde der Erwählten steht beständig vor Gott, und das Gebet ist Heilsteilgabe. Mt 6,7 ist eher eine Begründung dafür, dass die Bitte um das Brot für morgen im Vaterunser so kurz ist. Dieses meint wohl Jesus: Die Heiden bitten um Irdisches, indem sie viele Götter mit vielen Namen anrufen. »Leer« und »vergeblich« sind immer wieder Attribute heidnischen Redens und Tuns. Vielmehr gehören Fürsorge und Vorsorge (providen-
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38 tia) und Monotheismus zusammen. – Der Leidener Cocceius sagt dazu: Das Gebet der Christen ist nicht Grund für die Gabe Gottes, sondern ein Zeichen dafür, dass Gott Gaben bereitet.
Mt 6,9-13: Das Vaterunser Aufbau: Auf die Anrede folgen die drei Er-Bitten (V. 9f), dann folgen die drei Wir-Bitten (V. 1113). Diese Systematik zwingt dazu, die beiden letzten Bitten als doppelteilig aufzufassen (V. 12: Bitte und Selbstempfehlung; V. 13: nicht – sondern). Dem Reich als Zentralbegriff in den Er-Bitten entspricht als Gegensatz der Böse in V. 13b. Das Reich wird verwirklicht in der Befreiung von dem Bösen (vgl. dazu Mt 12,28; Lk 11,20; Apg 26,18; Mk 16,14 (Freer-Logion, s. Berger/Nord, 62010, 682 ff). Schon Didache 8,2f fügt dem eine Doxologie hinzu (»Denn dein ist die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit«); im Koine-Text wird diese Doxologie noch einmal erweitert, und jetzt verschwindet der Kontrast »dein Reich – der Böse«, sondern »dein Reich« wird aufgenommen in der Doxologie: »Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit.« Dadurch wird die Befreiung von dem Bösen überspielt. Die politische Brisanz wird so erhöht (Reich Gottes als Kontrast zum römischen Reich). In den drei Er-Bitten wird dreimal der imperativus maiestaticus verwendet (»Es komme …«). So ist er auch in Gen 1,3.6.14 belegt (»es werde«), so auch als Machtwort in der Wundererzählung Mt 15,28 (»Es geschehe dir …«) und vor allem unmittelbar in der Nähe in Mt 8,3.13. Wer so imperativisch reden kann, verfügt über eine geradezu schöpferische Potenz. Wohl nur Pneumatiker können so reden. Daher leitet die klassische Liturgie das Vaterunser ein mit den Worten audemus dicere (»Wir wagen zu sagen …«). Der Wortlaut des Vaterunsers aber erklärt selbst diese Macht: Wenn die Christen einander vergeben haben (6,12.14f), dann wird jedes ihrer Worte erfüllt. Zu Mt 6,9a: »Vaterunser« – Jüdische Gebete aus der Zeit des Neuen Testaments beginnen nicht selten mit den Worten »Unser Vater« (vgl. auch Sir 23,1.4 »Herr, Vater« und JosAs 12,8.14), und
Das Evangelium nach Matthäus
vom Lobpreis des Namens, vom Offenbarwerden des Reiches, von der Bitte um Sündenvergebung und Befreiung ist oft die Rede. Doch eines kennt kein jüdisches Gebet: Dass man sagt »Unser Vater« und »Dein Reich komme«. »Unser Vater« sagt man zwar, aber nicht in Verbindung mit dem Reich. Denn das ist das Besondere der Botschaft Jesu: Kinder eines Vaters zu sein, der König über ein Reich ist. Königskinder, so wie Jesus Sohn dieses Königs ist. Man hat oft gefragt, wie denn Jesu Botschaft vom Reich Gottes, die man für das Ursprünglichste ansah, zusammenhängen könnte mit dem Glauben an Jesus als Gottes Sohn. Das Vaterunser gibt die Antwort: Die Verbindung von Reich und Kindschaft, von »Unser Vater« und »Dein Reich komme« ist das eigentlich Christliche. Jesus als Gottes Sohn ist der ältere Bruder der Christen. Deshalb ist das Vaterunser ein typisch christliches Gebet. Und das bedeutet übermütige Freiheit. Gegenüber dem König der Welt sind sie nicht Untertanen, sondern Kinder. Untertanen müssten Angst haben, Kinder dürfen um alles bitten. Untertanen konnte man verkaufen, zum Beispiel als Soldaten. Kinder begleitet man mit Sorgen das ganze Leben. Schon Aristoteles hat gesagt, die Anhänglichkeit der Eltern gegenüber den Kindern sei in der Regel stärker als die der Kinder gegenüber den Eltern. Gott Vater nennen: Der Vergleichspunkt ist bei der biblischen Rede von Gott nicht männliche Sexualität, auch nicht ein patriarchalisches System, sondern die Menschen verdanken ihm das Leben und den Unterhalt. Aber gilt das für jede Mutter nicht noch mehr? Mütter gebären Kinder, und das tut Gott nicht. Väter sind unterhaltspflichtig, obwohl sie Kinder nicht gebären. Mütter gebären, Gott aber ist der Schöpfer. Bei den Müttern ist das Natur, bei Gott ganz anders als Natur. Weil er nicht gebiert und dennoch Unterhalt gewährt, ist er eher dem Mann vergleichbar, aber nur in diesem Punkt. Von Gott zu reden bedeutet für die Bibel nicht einfach Verlängerung der Familiengeschichten in den Himmel hinein. Nur der Gott Israels hat keine Göttin an seiner Seite. Denn Sex und Kinderkriegen ist nicht göttlich, sondern kreatürlich. Und zweitens muss für uns klar sein: Wir reden zu Gott und er mit uns, Gott ist wie eine Person. Auch »Person« ist ein Bild, und der Vergleichspunkt ist weder Sichtbarkeit noch Raum oder Zeit, sondern allein die Erreich-
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Kapitel 6
barkeit durch Sprache. Eine Person aber, die Mann und Frau zugleich ist, können wir uns nicht denken. Denn bei Sprache hören wir immer die Stimme mit. Deshalb rede ich aus Überzeugung weiter vom himmlischen Vater und meine es nicht sexistisch. Gleichzeitig weiß ich, dass in der Bibel wie in der Kirche eine Frau immer Repräsentantin der Menschheit war, bis hin zu Maria. Und wir haben gehört, dass ein Vater nur in ganz bestimmter Hinsicht mit Gott zu vergleichen ist. So wie wir früher Rätselfragen aufstellten: Was ist das für eine Person, sie gebiert nicht und ist doch unterhaltspflichtig? Antwort: Das ist ein Mann, und in dieser Hinsicht ist er mit Gott vergleichbar. Zu Mt 6,9b: »Geheiligt werde dein Name« – Lass uns und andere deinen Namen loben, ihn ehren, ihn heilig halten. Denn der Name steht für Gott selbst, und wenn Menschen seinen Namen nennen, ist er gegenwärtig. – Die Verbindung von (Heiligung des) Namen(s) und Königtum Gottes findet sich auch in jüdischen Gebeten (vgl. U. Luz, Mt I,343 A.70), besonders im QaddischGebet: »Groß gemacht und geheiligt werde sein großer Name in der Welt …, Er lasse seine Königsherrschaft herrschen in eurem Leben … Gepriesen sei sein großer Name …« Durch die Bitte um das Kommen in 6,10 gehört das Vaterunser zu den kletischen, d. h. eine Gottheit herbeirufenden, Hymnen (vgl. das Maranatha in 1 Kor 16,22; Didache 10,6; Offb 22,20). »Kommen des Reiches« im Judentum vgl. Targum Micha 4,8 (»Und du Gesalbter Israels … das Königreich soll kommen zu dir, und die frühere Herrschaft soll wiederhergestellt werden«). Zu Mt 6,10a: »Dein Reich komme.« Damit beten Christen nicht um das Ende der Welt. Vielmehr ist das Kommen des Reiches Gottes zu unterscheiden von seinem Offenbarwerden am Ende der Welt. Gottes Königreich kommt jetzt verborgen, kaum sichtbar, doch es bringt schon Früchte hervor. Aber die Konsequenzen für die Täter sieht man noch nicht. Gottes Reich existiert zwischen Verborgenheit und Offenbarwerden. Wenn Gottes Reich jetzt kommt, dann besteht das darin, dass das Samenkorn Fuß fasst, dass Menschen, wie die Juden sagen, das Joch des Reiches Gottes auf sich nehmen, indem sie dreimal
39 täglich das Gebet sprechen »Höre Israel, Gott ist einer …« (Dtn 6,4f). Zu Mt 6,10b: »Dein Wille geschehe« – das meint nicht die Leiden und Entbehrungen, die Gott angeblich zumuten will. Gott nimmt nichts, er gibt alles. Wenn die Evangelien von Gottes Willen sprechen, dann meinen sie stets den Willen, den Menschen tun sollen. Auch in Getsemani, als Jesus bittet »Nicht mein, sondern dein Wille geschehe« (Mt 26,39), ist Gottes Wille nicht das Leiden, sondern dass Jesus ausharrt, dass er sich nicht wehrt und nicht davonläuft. »Wie im Himmel, so auf Erden« – das meint: Im Himmel wird Gottes Wille schon getan, aus dem Himmel hat Gott auch den Teufel, den Ankläger, schon hinausgeworfen, nur auf Erden müssen wir noch von ihm befreit werden. Zu Mt 6,11: »Unser tägliches Brot« – Nur kurz, in einem einzigen kurzen Satz geht es um materiellen Nöte: Brot für morgen gib uns heute. Deshalb Brot für morgen, weil das Korn nachts gemahlen, das Mehl dann geknetet, angesetzt und gebacken werden musste (das griech. epiousios kann sprachlich nur von epienai »herankommen« abgeleitet werden, nicht von epi-ousa oder epiousia »[existenz-]notwendig«), denn dann hätte das i wegfallen müssen; nur bei epienai gehört das i zum Stamm und nicht zur Vorsilbe, kann daher nicht wegfallen!). So will es auch Hieronymus im Nazaräer-Evangelium gelesen haben. He epiousa hemera ist der »morgige Tag«. Vgl. dazu auch zwei Jesus-Agrapha: »Seid nicht besorgt um die Dinge, die für den morgigen Tag zum Lebensunterhalt notwendig sind. Denn wenn der morgige Tag innerhalb der Grenzen eures Lebens besteht, dann kommen eure Nahrungsmittel gemeinsam mit den Grenzen eures Lebens ohne Zweifel.« »Bewahrt keine Speise für den morgigen Tag, denn der morgige Tag wird kommen und mit ihm die Speise, die euch zum Leben notwendig ist.« – Gott wird im Vaterunser daher in der Rolle des antiken Kornverteilers (griech.: sitometres) gesehen (vgl. Spr 30,8). Alle übrigen Bitten des Vaterunsers meinen eher Gottes eigene Sorgen. Nur so kurz beten Christen um irdischen Nöte; denn Gott weiß ja, was sie benötigen (6,32), und die Brotbitte hat eher die Funktion eines Bekenntnisses wie Joh
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40 11,42. Zuerst ist im Vaterunser vom Positiven die Rede: Vom Vater, vom Himmel, vom Lob seines Namens, von seinem Reich und Willen, davon, dass er uns zu essen geben will und kann. Doch dann sind wir stark genug, um das zu nennen, was uns belastet: meine Schuld, die Schuld meines Nächsten, die Versuchung und unsere Schwäche, der Teufel. Sünde und Anfechtung, Gefährdung und Angst dürfen des Vaters Kinder vor Gott, dem himmlischen Vater, beim Namen nennen. Zu Mt 6,12: »Vergib uns unsere Schuld« – Zu Rechenschaftsberichten (»Selbstempfehlungen«) innerhalb des Gebets vgl. Joh 17,4f; Lk 18,12; Ps.-Philo LAB 19,8f (Mose vor seinem Tod: »Ich fürchtete mich und neigte mein Angesicht … Barmherzigkeit«). – Zur Vergebung vor dem Gebet vgl. Sir 27,30 – 28,5: »Vergib das Unrecht deinem Nächsten, dann werden, wenn du sündigst, deine Sünden auch vergeben. Der Mensch hält gegen einen andern fest am Zorn, und da will er Heilung suchen bei dem Herrn? Mit seinesgleichen kennt er kein Erbarmen, und wegen seiner Sünden bittet er? Er ist doch selbst nur Fleisch und hält am Zorne fest, wer wird da seine Sünden sühnen können?« Ferner: Mk 11,25; 1 Tim 2,8; 1 Petr 3,7; Syrische Didaskalie 11: »Verzeih dem Bruder, und wenn du es um des Bruders willen nicht tun magst, so tue es wenigstens um deiner selbst willen, damit du erhört wirst, wenn du betest und ein angenehmes Opfer dem Herrn darbringst.« Hier liegt übrigens die Ursache für die Verheißung paradiesischer, schöpferischer Macht für den, der eins ist mit dem Bruder. Dieses hat große Bedeutung für das Verständnis der Eucharistie (vgl. dazu auch das Gebet Ne respicias: Blicke nicht auf meine Sünden, sondern auf den Glauben deiner Kirche, die du … einen wollest …) im Zusammenhang mit dem Friedensgruß. Zu Mt 6,13: »Lass uns nicht in Versuchung geraten, sondern erlöse uns von dem Bösen« – es geht um den Bösen, nicht um das Böse, vgl. Mt 13,19.38 sowie die meisten griech. Väter, Luther (Großer Katechismus), Reformierte. Auch in Mt 5,37.39 geht es wohl um den Bösen (vgl. 1 Joh 3,8 – im Unterschied zu »aus Gott«). – Nach Gen 22,1 versucht Gott Abraham, d. h. er prüft
Das Evangelium nach Matthäus
seinen Glaubensgehorsam. Das ist ein grausames Geschehen. Abraham ist dadurch überfordert, hält ihm aber mit Mühe stand. So ergeht es auch Jesus in Getsemani. Denn es ist nicht der Teufel, der ihn dort versucht, auch im Vaterunser ist es nicht Gott, der versucht, und ebenso nicht in Jak 1. Daher fragt Jesus in Getsemani nach Gottes Willen. Lukas berichtet, weil diese Angst eine Tortur bedeutet, von dem Engel vom Himmel her, der Jesus stärkt. Ganz im Sinne von Mt 6,13 betet Jesus in menschlicher Angst in der größten Versuchung. Der einzige Weg, darin zu bestehen, ist das Gebet. So ist es auch im Vaterunser. Wenn ein Mensch der Versuchung nicht standhält, entsteht das Böse. Es ist je und je Resultat der Versuchungen. Vom Bösen (Schuld) kann nur Gott befreien. Das Böse steht dem Reich Gottes entgegen.
Mt 6,19-34: Gerechtigkeit des Reiches Gottes Der Abschnitt über die Gerechtigkeit des Reiches Gottes gipfelt in V. 33 (»Sucht zuerst das Gottesreich und seine Gerechtigkeit«). Auf dem Weg dahin spielt die Absage an die Vergötzung des Reichtums die entscheidende Rolle. Dann folgt logisch der Abschnitt über die Freiheit von der Vorsorge (V. 25-34). – Dass Schatz und Lohn der Christen unsichtbar und zukünftig bei Gott sind, ist bereits Voraussetzung der gesamten Bergpredigt von den Seligpreisungen an. Zu Mt 6,19-21: Zur Beständigkeit des himmlischen Schatzes vgl. TestHiob (1. Jh. n. Chr.) 36,3-5: »›Mein Sinn steht nicht mehr nach irdischen Dingen, denn unbeständig ist die Erde und die auf ihr wohnen. Mein Sinn steht nach himmlischen Dingen, denn im Himmel gibt es kein Unruhe.‹ Baldad erwiderte: ›Fürwahr, wir wissen, dass die Erde unbeständig ist, denn sie verändert sich von Zeit zu Zeit. Bald wird sie gut geleitet, bald hat sie sogar Frieden, dann und wann ist sie auch im Krieg. Vom Himmel aber hören wir, dass er beständig ist‹ …« Zu Mt 6,22f: Das Gleichnis vom Auge ruft geradezu nach einer Interpretation, die sich an der Funktion im Kontext orientiert. Denn weder als biologische Belehrung noch als Rede über Gott
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Kapitel 6
ist das Wort sinnvoll und verständlich. Vielmehr handelt das Wort vom menschlichen Aufnahmevermögen, also vom Begreifenkönnen und ist ein meta-kommunikativer Kommentar zur vorangehenden Rede vom Schatz. Damit aber wird das Gleichnis trotz seiner beschreibenden Art ein Appell, über die Evidenz der Wahrheit nicht hinwegzusehen. Ähnlich wie in den Gleichnissen von Dornen und Disteln ist auch hier ein Indikativ als starker Imperativ verstanden: »Habt gute Augen!« – Eine rein moralische Interpretation (»Geradlinigkeit im Gehorsam«) kommt deshalb nicht infrage, weil die Wahl des Bildes (Auge/ Leib) so gar nicht verständlich wird. Zu Mt 6,24-34: Verzicht auf Vorsorge – Wir begegnen hier einem Jesus, der ganz und gar nicht apokalyptisch gestimmt ist. Dieser Jesus hat die Vögel des Himmels beobachtet und die Blumen des Feldes: Dieser Jesus staunt über die durch nichts Böses behelligte Fürsorge Gottes für die Schöpfung. An jeden einzelnen Vogel denkt Gott. Er hat einen Blick für die absolute Schönheit jeder Blume und jedes Grashalms. Noch einmal wird Jesus auf die Spatzen zu sprechen kommen: in Mt 10,29-31. Gerade auch diese »Parallele« in Mt 10 zeigt, dass Jesu Verweis auf die Schöpfung »System« hat: Denn in Mt 6 wie in Mt 10 stellt er einen Schöpfer und himmlischen Vater vor, der höchst aktiv und höchst sorgfältig, geradezu wie ein Tierpfleger oder Gärtner um die Welt außerhalb des Menschen bemüht ist. In dieser Liebe des Schöpfers sieht Jesus nicht nur »den« Menschen restlos geborgen, sondern ganz besonders seine Jünger, und zwar in ihrer Wanderexistenz (Mt 6) wie in ihrer Gefährdung durch das Martyrium (Mt 10). Jesus hat hier Zugang zum himmlischen Vater gefunden über die ganz alltäglichen Spuren des Wirkens Gottes in der Welt außerhalb des Menschen. Denn er sagt ja immer nur dieses: Ihr seid noch viel mehr wert, euch wird er noch viel weniger fallen lassen als jene – wenn er es je könnte oder wollte. Jesus muss hier offensichtlich Menschen trösten, die Angst haben, verzagt und heimatlos sind. Jesus begegnet ihnen mit einem geradezu paradiesischen Vertrauen auf den Vater im Himmel. Am stärksten wird das in 6,33: »Sucht zuerst Gottes Herrschaft und fragt nach dem, was Gott von euch fordert, dann gibt es
41 Kleidung und Nahrung geschenkt dazu!« Jesus erwartet von seinen Jüngern, dass sie alles auf eine Karte setzen, und er verheißt ihnen für dieses Experiment bedingungslosen Schutz. Er macht an solchen Stellen auch die Erfahrung der Hilfe durch Engel – so in der nahrungslosen Wüste. Aus Mt 10,26-33 wird erkennbar, dass das Geborgensein, von dem Jesus spricht, auch den (Märtyrer-)Tod des Jüngers und Zeugen umfasst. Denn Jesus setzt hier das Bewahrtwerden durch den Schöpfer dem leiblichen Töten entgegen. So gewinnt Jesus aus seiner Theologie der ganz besonderen Vorsehung Gottes für die Jünger auch die Überzeugung, im Tod in Gottes Hand geborgen zu sein. Die Verse Mt 10,32f dürften eine Auferstehung zum Gericht voraussetzen. Die Pointe des Abschnitts ist die Aufforderung in 6,33 vom Suchen des Reiches Gottes und seiner Gerechtigkeit. Wir haben das übersetzt: »Sucht zuerst Gottes Herrschaft und fragt nach dem, was Gott von euch fordert.« Denn die Gerechtigkeit des Reiches Gottes ist hier im Kontext des (Nicht-)Sorgens zweifellos auf das bezogen, was die Jünger nun tun sollen, statt sich zu kümmern um Nahrung und Kleidung. Wenn sie vom Sorgen entlastet sind, dann tritt das in den Vordergrund, was die Jünger tun sollen, anstatt zu sorgen. Es gibt auch Stellen, wo die Gerechtigkeit Gottes die Summe dessen ist, was Gott von den Menschen fordert, so Jak 1,20 (wenn ein Mensch zürnt, tut er nicht, was Gottes Gerechtigkeit von ihm fordert). Mit der Freiheit vom Sorgen fordert Jesus den Verzicht auf elementare Lebensregungen. Denn er meint damit nicht nur, dass man sich keine Gedanken machen soll, dass man nicht grübeln soll. Die Sorge, die er ablehnt, ist das konkrete und sehr buchstäbliche Sich-Kümmern. Jesus fordert dazu auf, sich frei zu machen von der Beschäftigung mit dem Erwerb von Nahrung und Kleidung, schließlich soll jede Sicherung des Lebens entfallen. Die Jüngerinnen und Jünger sollen auch vor dem Tod keine Angst haben. Alle Freiheit dient dem Reifen des Herzens, der Freiheit für die Gerechtigkeit, die Gott will. Die Bergpredigt selbst ist die Magna Charta der Gerechtigkeit, die Gott fordert (Mt 6,33), weil sie notwendig ist, um an Gottes Herrschaft und Reich Anteil zu haben. Der Sinn der Bergpredigt und gerade auch der
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42 Taufe nach Röm 6 (Mitgekreuzigtwerden) besteht darin, dieses Lassen zu lernen, bevor wir es vollziehen müssen. Denn das könnte ein Stück Seligkeit schon jetzt bedeuten. Wenn man so loslassen kann, wie Jesus es tut, dann kann man auch die Schöpfung so staunend wahrnehmen, wie er es kann. Dann besteht auch der Tod nur noch darin, dass nichts mehr von Gott trennt. – Die Seligkeit vor dem Tod wird sehr genau in den Seligpreisungen der Bergpredigt beschrieben. Den geforderten Verzicht auf Vorsorge kann man auch als Herausforderung Gottes deuten (was in Mt 4,7 abgelehnt wird). Gott erscheint aber hier als einer, der herausgefordert sein will. So ist das Gottesbild hier: Gott wird ernähren und kleiden, wo man für nichts sorgt; er wird auferwecken, wo man das Leben riskiert; er wird auf dem Meer gehen lassen, wenn man – im Glauben – sich um die Wellen nicht kümmert. Er will, dass man sich in seine Hand fallen lässt, aber es muss schon seine Hand sein. Deshalb ist die Frage, ob das alles so stimmt und wann und ob das wirklich wird, schon der Beginn des petrinischen Zweifelns (Mt 14). Sinn dieses Textes ist es vielmehr, das absolute Geborgensein in einer verspielten, verliebten und übermütigen Beziehung darzustellen. Deshalb ist das hier keine starre Lohnethik, sondern Provokation der Gerechtigkeit Gottes, wobei sich Jesus darauf verlässt, dass der himmlische Vater mitspielt und mitspielen will. Wie bei einer Rutsche, bei der man weiß, dass am Ende zwei hilfreiche Arme einen auffangen. Die »Freiheit von der Vorsorge« hat zunächst, für sich betrachtet, folgende Aspekte: a) Gott sorgt stattdessen (1 Petr 5,7; Mt 6,28) wie ein Vater für seine Kinder (Mt 6,32) – b) Sorge ist nutzlos (rationales Argument): Mt 6,27; Lk 12,25 – c) Sorge steht der Heiligkeit entgegen. Wer sich sorgt, ist geteilt (1 Kor 7,32-34). – Weder im MtEv noch bei Paulus wird die Sorge um Gott spiritualisiert. Sie ist vielmehr eine reale Konkurrenz zu irdischen vorsorgenden Tätigkeiten. – Ähnlich wie unter c) ist auch im MtEv die Freiheit von der Vorsorge kein Selbstzweck, sondern ihr korrespondiert die radikale Ausrichtung des Lebens auf das Reich Gottes. Dabei hat der Verzicht auf irdische Tätigkeit und die Zuwendung allein zum Gottesreich eine Analogie
Das Evangelium nach Matthäus
im frührabbinischen Sich-Mühen um die Torah, das den Schriftgelehrten auszeichnet. Die Speisungsgeschichten (Brotvermehrungen) sind erfahrbare und sichtbare Umsetzungen dieses Programms Jesu. Auch im Weinwunder in Joh 2,1-11 geht es um Aufhebung einer Sorge mit dem Mittel der messianischen Fülle. So ergibt sich im Ansatz folgende Systematik: Freiheit von der Vorsorge bedeutet Loslassen von Arbeit und Beruf, um frei zu sein für das eine, für Gottes Willen. Einerseits wird das beantwortet durch die Wundertradition (Speisungs- und Weinwunder), andererseits aber durch die Verheißung doppelten Gewinns auf Erden (Mk 10,29) oder überhaupt durch die Verheißung, dass derjenige das Leben und sich selbst gewinnt, der diese Größen aufgibt. So besteht eine Querverbindung zu Mk 8,35 und den entsprechenden Leidensaussagen. Schließlich ist die charismatische Dimension nicht zu vergessen: Philo v. Alexandrien erklärt im »Leben des Mose« (I,153 ff), dass Mose deshalb Wunder wirken konnte (Manna, Auszug), weil er auf allen Reichtum verzichtet hatte. Die Freiheit vom Besitz bedeutete für ihn die Herrschaft über die Elemente der Welt. Der Verzicht auf Besitz und entsprechende Vorsorge ist daher nicht primär eine moralische Frage, sondern schafft die Freiheit, nach Gottes Willen zu suchen, und den Raum, der durch Gottes Kraft gefüllt werden kann. Es kommt daher eine Freiheit zustande, die moralische und charismatische Dimensionen hat. Frei sind die Christen als Kinder des Königs. Oder anders: Wer alles lassen kann, der hat die Freiheit, alles zu tun, was durch das eine Erste Gebot gefordert ist, und Gott stellt ihm wunderhaft alles bereit, was er zum Leben braucht. Die scheinbaren Notwendigkeiten werden entmachtet, nämlich die Notwendigkeit, sich um das Lebensnotwendige zu kümmern, und die Notwendigkeiten der Eigengesetzlichkeiten in den Gewohnheiten und Zwängen.
Mt 7,1-12: Ordnung in der Welt – Goldene Regel Zu Mt 7,1: Vom Richten – Schabb 127a: »Wer seinen Nächsten nach der verdienstlichen Seite beurteilt, den beurteilt Gott nach der verdienstlichen Seite.«
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Kapitel 7
Mt 7,1-12 ist ein Traktat über die Ordnung in der Welt aus der Sicht Jesu. Es gibt hier eine ganze Liste von Dingen, bei denen eines zum anderen gehört. Die Pointe ist die Entsprechung von Geben und Nehmen, von Gabe und Bedarf, von Angebot und Schicklichkeit. So gehört Finden zum Suchen. Die Ordnung besteht darin, dass irgendwann jeweils das eine das andere findet, sozusagen jeder Topf seinen Deckel. Dann findet zusammen, was zusammengehört. Doch noch gibt es Dinge, die aufeinanderstoßen und nicht zusammengehören. Wie etwa gesegnetes Brot und unheilige Hunde, Perlen und Schweine, ein Mensch, der doch nur ein Mensch ist und der sich das Gericht anmaßt. Aber Gottes Ordnung wird darin bestehen, dass das jeweils Passende zusammenfindet. – Nach 7,12 wird in diesem Sinne auch die Goldene Regel so gedeutet: Genau das, was man selbst erwartet, soll man anderen tun. Denn für andere etwas tun und Taten empfangen sollten im Gleichmaß stehen, das wäre gerecht. Die Botschaften von 7,1-12 sind eine besondere Entfaltung des Programms Jesu von der Gerechtigkeit. Das Neue Testament kennt nur diese »positive« Fassung der Goldenen Regel: »Alles, was ihr von anderen erwartet, das tut auch ihnen.« Die Goldene Regel ist in der positiven wie in der negativen Fassung (»Alles, was du von anderen nicht erleiden möchtest, das tue auch ihnen nicht an«) eine sehr weit verbreitete Maxime der hellenistischen Popularethik. An kaum einer anderen Stelle wird der internationale und interkulturelle Zusammenhang zwischen der Popularethik und der Ethik Jesu so handgreiflich wie hier. Wir vergleichen zunächst die beiden Fassungen der Goldenen Regel. Negativ: Was du nicht willst, dass man es dir antut, das tu auch keinem anderen an. Positive Fassung: Alles, was ihr wollt, dass man euch tun soll, das tut auch den anderen. – Vergleich: In beiden Formen geht es um Wollen oder Wünschen. In beiden Fällen wird ein Maßstab für Tun oder Lassen gesucht. Der Maßstab dafür wird im Ermessen des angesprochenen Subjekts gefunden, nicht in einer allgemeinen Regel. Im Handeln oder Leiden nach dem Maßstab wird die Zukunft entschieden: was man will oder eben nicht will. Dabei geht es nicht um Empathie (sich hineindenken in die anderen), sondern um Phantasie, die ichbezogen bleibt. Die
positive Fassung setzt voraus, dass der Angesprochene die Beziehung zu anderen affirmativ gestalten will. Daher ist es nicht zufällig, wenn die positive Fassung in Mahnreden an Herrscher vorkommt. In der negativen Fassung geht es um grundsätzlich Verschiedenes, nämlich um Vermeidung des Schmerzes. Sowohl in der positiven wie in der negativen Fassung wird daher ein Eudämonismus diskutiert. In der negativen Fassung geht es nur um das Lassen, nicht um das Tun. Nichts soll »passieren«. In der positiven Fassung geht es dagegen um die Anstrengung des Tuns, das in einer erneuerten Beziehung Gestalt gewinnen soll. Unterlassung ist weniger als positives Tun. Denn die positiven Wünsche sind potenziell unbegrenzt. Bei der negativen Fassung ist die Forderung geringer. Nur etwas zu meiden ist weniger, als eine Beziehung zu gestalten. – Trifft das zu, dann passt zum »Reich Gottes« nur die positive Fassung. Denn im Reich Gottes geht es nicht um Vermeidung, sondern um das, was wird. Das gilt für alle Reiche, nicht nur für das Reich Gottes. Daher herrscht die positive Fassung der Goldenen Regel dort, wo Herrscher angeredet sind. Denn die Weisheit der Könige soll traditionell eine positiv-gestaltende sein – daher die positive Fassung. Erwägungen zur positiven Fassung der Goldenen Regel Die Goldene Regel in positiver Form hat folgende Aspekte: Selbsterkenntnis: Welches sind die wahren eigenen Wünsche? Diese sind abhängig von der Selbsteinschätzung: Wer sich hoch einschätzt, pflegt hohe Wünsche zu haben. Zugleich fragt man: Ist diese Einschätzung realistisch? Phantasie: Wie denkt jemand über den praktischen Weg zur Umsetzung und Erfüllung seiner Wünsche? Was konkret muss getan werden? – Grundsätzlich ist die Goldene Regel – trotz ihrer nüchternen Form – ein Appell an die Phantasie, bezogen auf die Möglichkeiten des Handelns im Miteinander. Entscheidung über den Maßstab für Wünschbares: Oft gehen Wünsche ins Maßlose. Der Maßstab kann letztlich nur im möglichen Tun des anderen, in seinen Ressourcen usw., liegen. Realistisches Abschätzen der Möglichkeiten des Partners: Was könnte denn der andere einem Gutes tun wollen? In welchem Umfang wird mein Handeln jetzt auch begrenzt durch die Möglichkeiten des
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44 anderen? Vergleichendes Abwägen des Umfangs der eigenen Wünsche im Verhältnis zum wahrscheinlichen Willen und Können der anderen. Das heißt: Es geht um ein im Vollzug sich korrigierendes und moderierendes Ins-VerhältnisSetzen und Sich-Einspielen-Lassen der eigenen Wünsche und der Möglichkeiten des anderen. So erlebt derjenige, der nach der Goldenen Regel die »Vorleistung« übernimmt, das ordnende, stille Wirken der »unsichtbaren Hand«, von der die Volkswirte sprechen. Vorleistung: Da man in der Regel nicht das empfängt, was man sich wünscht, läuft die Goldene Regel darauf hinaus, eine Änderung des Verhaltens untereinander im Sinne einer Vorleistung herbeizuführen. Wagnis: Die das System der Interrelation verändernde Tat ist immer ein Wagnis. Denn sie setzt, ohne dass man den anderen fragt, seinen Wunsch im Sinne der genannten grundlegenden Veränderung voraus. Initiative: Zur Änderung des gegenseitigen Gebens und Nehmens (darum geht es!) muss der Angesprochene die Initiative ergreifen. Die Bereitschaft, enttäuscht zu werden und dieses zu tragen: Es kann ja sein, dass die Vorleistung, die man den anderen nach der Goldenen Regel erbringt, von diesem gar nicht wahrgenommen und noch viel weniger positiv beantwortet wird. Dann bleibt das Handeln nach der Goldenen Regel einseitig. Und zunächst ist es das immer. Für Vertrauen muss gegeben sein, dass die anderen das Spiel verstehen, dass sie das Wohl des Mitspielers ähnlich einschätzen wie der, der die Initiative zur Änderung ergreifen soll. Korrektur: Es kann bei dem, was ich dem anderen Gutes tue, nicht um exakt materiell dasselbe gehen, das strikt identisch ist mit dem, was ich will. Denn ganz gewiss sind die Wünsche nicht identisch, sondern individuell verschieden. Es handelt sich daher um ein bestimmtes Maß von Zuwendung (Aufmerksamkeit, aktiver Fürsorge, Liebe, Sorgfalt), das je verschiedene Inhalte haben kann. Dieses Maß ist eher formal verstanden. Positive Utopie: Dieser Fassung der Goldenen Regel liegt der Optimismus zugrunde, dass Menschen im Miteinander einen Ausgleich ihrer Interessen finden, wenn nur jeder nach dieser Regel handelt. Es geht daher um eine iustitia distributiva.
Das Evangelium nach Matthäus
Durch den Zusatz über Gesetz und Propheten (Mt 7,12b) gibt der Evangelist der Goldenen Regel eine außerordentliche Vorrangstellung, wie sie sonst nur den beiden Hauptgeboten zu eigen ist (Mt 22,40). Das sollte man theologisch nicht unterschätzen. Denn der Evangelist unterscheidet zwei Arten von Radikalität, und das kommt ganz gut überein mit seinem einerseits judenchristlich-palästinischen, andererseits heidenchristlichen Publikum. Die erste Art von Radikalität ist zumeist die einzige, die man kennt: Ausgerichtet ist sie an Armut, Wanderaposteln und an der Auffassung vom himmlischen Schatz (überschießender Lohn) nach der Bergpredigt. Die oft beobachtete Maßlosigkeit ist hier in jedem Fall endzeitlich motiviert. – Die andere Art von Radikalität aber richtet sich an sesshafte Gemeinden. Für sie gelten die Radikalität der Goldenen Regel und das Gebot der Nächstenliebe (lieben »wie dich selbst«). Hier geht es nicht um die totale Aufgabe aller Güter, sondern um den Ausgleich der Interessen im Miteinander. Eben diesen Ausgleich meint das »wie dich selbst« im Liebesgebot, und um diesen Ausgleich geht es auch bei der Aufnahme von Wanderaposteln durch bestehende Ortsgemeinden. Hier ist besonders auf die Aussendungsrede in Mt 10 zu verweisen. Die Wanderapostel werden deshalb ohne alles ausgesandt, weil die Ortsgemeinden sie dann entsprechend aufnehmen und ihnen das Nötige zum Leben geben. So hat der Ausgleich das »letzte Wort«.
Mt 7,13-15: Falsche Propheten Die Warnung vor falschen Propheten gehört in den Schlussteil einer Rede. Dass also diese Warnung in Mt 7 hier steht, ist ein Signal dafür, dass die Bergpredigt hier in den Schlussteil übergeht. Zur Warnung vor den falschen Propheten gehört das semantische Feld von Wolf, Schafen, Türe, sich hüten, wachen. Breit belegt in Mt 7,13-15; Joh 10,1-15; Apg 20,29-31; Mk 13,6.22 f.33-37; Didache 16,3-5 ist ein semantisches Feld mit folgenden Elementen:
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Kapitel 7
Tür, Eingang
Mt 7,13; Joh 10,1 f.7; Mk 13,34 Türhüter
Hineingehen
(griech.: eiserchomai) Mt 7,13; Joh 10,1.9; Apg 20,29
Wölfe schonen nicht, bzw. reißen und zerstreuen
Mt 7,15; Joh 10,12; Apg 20,29
andere Lehrer
Mt 7,15.22: Pseudo-Propheten; Joh 10,1.8: Diebe, Räuber, Mietlinge; Mk 13,6: Irrlehrer; 13,22: Pseudochristusse, Pseudopropheten führen in die Irre Apg 20,30: Irrlehrer: Didache 16,3: falsche Propheten; 16,4: Weltverführer
Schafe
(griech.: probata) Mt 7,15; Joh 10,1-4.7.11-16; Didache 16,3
Herde
(griech.: poimne, poimnion) Joh 10,16; Apg 20,28 f
Hirte
(griech.: poimen, Verb: poimainein) Joh 10,2.11 f; Apg 20,28
Rettung/Untergang
(griech.: apoleia, Gegenteil: Leben) Didache 16,5
wachsam sein
(griech.: prosechein, gregorein) Mt 7,15; Apg 20,31; Mk 13,22 (seht zu). 33.37 (seid wachsam); Didache 16,1 (»Seid wachsam für euer Leben«)
Gegenbild: Der gute Lehrer
Mt 7; Joh 10; Mk 13: Jesus; nach Apg 20 Paulus; nach Didache: die zwölf Apostel.
Diese Texte sind literarisch unabhängig voneinander. 1. In Apg 20 und Didache 16 handelt es sich eindeutig um Abschiedsreden, und zwar darin testamentarische Schlussmahnungen. Sie warnen vor dem Abfallen von der wahren Lehre in der Endzeit, das nach dem Abschied des geliebten Lehrers akut wird. 2. Auch Mk 13 ist eine Abschiedsrede (die letzte Rede Jesu). Dazu gehören auch hier die »anderen Lehrer« (Pseudopropheten, Pseudochristusse), das Bild der Tür (Türwärter) und die Appelle zur Wachsamkeit (griech.: agrypnein). 3. Nach Position und Inhalt ist auch Mt 7,13-15 bereits eine solche Abschlussrede. Es folgt nur noch das Doppelgleichnis vom Hausbau. 4. In Joh 10 nennt Jesus nicht Falschlehrer, die nach ihm kommen, sondern solche, die vor ihm da waren. Daher gehört Joh 10 auch nicht zu den Abschiedsreden. In Joh 21 wird Jesus aber wieder von Schafen und Herde sprechen, und zwar in einer »testamentarischen Verfügung« (Joh 21,15-17). Im JohEv ist das einschlägige Material daher aufgespalten zwischen Joh 10 und Joh 21. Gerade in diesem Sinne gehört Joh 21 zum Evangelium genuin dazu. Simon Petrus steht in Kap. 21 an der Stelle, die in Apg 20,28 die von Paulus eingesetzten Episkopen einnehmen.
Mt 7,21-27: Schlusswort der Bergpredigt Der zweigeteilte Abschnitt ist das Schlussstück der Bergpredigt. Im ersten Teil richtet sich Jesus gegen unechte Christen, die nur frommen Schein, aber keine guten Taten aufzuweisen haben. Im zweiten Teil ist das Doppelgleichnis vom Hausbau eine Selbstempfehlung der ganzen Bergpredigt. Sie ist nicht wie Sand, sondern wie Fels. Wer auf dieses Wort baut, der wird das Gericht überstehen. Im ersten Abschnitt (7,21-23) sind drei Dinge interessant. Erstens wird ein besonderes Verhältnis Jesu zu den Christen im Weltgericht vorausgesetzt. Er ist offenbar ihr Anwalt (Patron) oder Ankläger im Gericht, und je nachdem, wie er sich zu den Jüngern stellt, wird das Gericht entscheiden. Er ist hier nicht als Richter vorgestellt, sondern wie der Menschensohn in Mt 10,32f, der sich vor dem himmlischen Gerichtstribunal zu den Jüngern bekennt – oder eben nicht. Eine ähnliche Auffassung ist auch in der frühen Stelle 1 Thess 1,10 vorausgesetzt: Jesus rettet die Seinen vor dem kommenden Gerichtszorn. – Eine derartige Rolle als Protektor im Weltgericht ist sonst von niemandem berichtet, höchstens für den Erzengel Michael ergeben sich Analogien in seltenen jüdischen Texten für die Erzväter. Zum Zweiten ist interessant, dass die »frommen« und nutzlosen Zeichen typisch christliche
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46 Elemente sind oder sein sollen, und das wirft wiederum Licht auf das früheste Christentum. Zum einen ist es der doppelte »Kyrie«-Ruf, der offenbar christliche liturgische Praxis ist. Doppelung bei namentlicher Anrede war üblich, um im riskanten Bereich kultischer Anrufung unmissverständlich den »Richtigen« zu erreichen. »Kyrios« ist der auf Jesus bezogene Gottesname der griechischen Bibel. Der mehrfache Kyrie (-eleison)-Ruf ist später Merkmal aller klassischen christlichen Liturgien. Auch 1 Kor 12,3 setzt diesen Ruf, an Jesus adressiert, voraus. Zum anderen aber ist offenbar die exorzistische Praxis ein ganz wesentliches Merkmal der Christen. Schon durch Mk 3,15 und 6,7 wird das ebenso nahegelegt. Die »vielen« Wunder werden erst danach erwähnt und also von den Vollmachtstaten der Exorzismen unterschieden. »Prophezeien« bedeutet nichts weiter als predigen, und wer »im Namen Jesu« prophezeit, der predigt offenbar ähnlich wie alttestamentliche Propheten, die ihre Predigt begannen mit »So spricht der Herr«, und das genau konnte man wiedergeben als »im Namen des Herrn« predigen. Im Neuen Testament sind genau solche prophetischen Reden im Namen Jesu in den Gemeindebriefen der Offb erhalten. Sie beginnen alle mit »So spricht …«, und dann kommt ein Name Jesu. Der Seher Johannes nennt auch sich selbst Prophet. Die Offb ist daher ein guter zeitgenössischer Beleg für das, was Jesus hier von den Jüngern sagt. Schon Mt 7,20 nennt ausdrücklich falsche Propheten. – Wenn Jesus demgegenüber das Tun des Willens Gottes fordert (7,21), dann ist dieser Vers zugleich Schlüssel zum Verständnis des Willens Gottes in der Vaterunser-Bitte: Gebeten wird nicht um Gottes Schicksalswille, sondern darum, dass Menschen Gottes Willen tun möchten. Drittens ist interessant, dass die charismatischliturgische missionarische Tätigkeit den Ausführenden gar nicht hilft, wenn sie nicht gute Werke tun. Ähnlich wie in Mt 25,31-46 sind sie das einzige Kriterium. Jeder Einzelne wird zum Handeln gemahnt, und es geht nicht um Kriterien zur Beurteilung anderer (U. Luz). Aber irritierend und doch ernst zu nehmen ist, dass auch die charismatische Heilertätigkeit, die nach unserem Verständnis zugunsten anderer erfolgt, nichts zählt, wenn nicht die Werke entsprechend
Das Evangelium nach Matthäus
sind. Gerade mit Seelsorgern geht Jesus daher hier streng ins Gericht. Damit wird hier gegen christliche Propheten das mobilisiert, was im Alten Testament Propheten als die Priorität der Gerechtigkeit gegenüber dem Kultischen betonten. Im Übrigen muss man in die Härte dieses Abschnitts nicht künstlich eine Gnadenlehre einfügen, um die Rechtgläubigkeit Jesu zu retten. Gerade hier, wo es um falschen klerikalen Schein geht, also um das Verheerendste, das zu allen Zeiten der Kirche am meisten geschadet hat, würde jede Rede von Gnade nur zu Missverständnissen führen. Denn hier wie auch sonst lässt die gesamte Bibel keinen Zweifel daran, dass der Einzelne verantwortlich ist für das, was er tut, und dass er auf seinen freien Willen hin ansprechbar bleibt und die Folgen seiner Entscheidung trägt. Alles andere wäre im Sinne der Bibel mangelnde Achtung des Menschen. Das mit diesem Text gestellte Problem artikuliert Bernhard v. Clairvaux so: Abgelehnt werden hier Christen, die die Gnade der Wunder für die eigene Ehre ausnutzen. Wo keine »Wahrheit in der Absicht sei«, schade die Gnade, Wunder wirken zu können. Tröstlich ist an diesem Text, was unausgesprochen vorausgesetzt wird: Der Menschensohn steht in einer unsichtbaren, engen und geheimnisvollen Beziehung zu seinen Jüngern. Es ist, wie wenn er hier auf der Basis des Bundes argumentiert, den er in Mt 26,28 schließen wird. Denn der Menschensohn wird sich – außer wenn man aus diesem Bund ausbricht – ohne Wenn und Aber für die einsetzen, die zu ihm gehören. Diese geheime Solidarität ist darin begründet, dass nach der Menschensohn-Theologie das christliche Gottesvolk (Kirche) wie eine Ellipse zwei Brennpunkte besitzt: Jesus und die Jünger. Beide Brennpunkte stehen in der Beziehung enger Gegenseitigkeit. Was mit Jesus geschieht, das gilt auch für die Jünger. Und wer sich zu ihm bekennt, zu dem wird sich auch Jesus bekennen. Entgegen der Meinung der liberalen Theologie zwischen 1860 und 1970 ist daher Jesus nicht als Einzelfigur und großes Individuum auf der Welt gewesen, sondern hat sich Gegenwart und die Zukunft am Tage des Gerichtes nicht anders vorstellen können denn als verschworene Gemeinschaft mit den Jüngern. Insofern nimmt die apokalyptische Menschensohnchristologie viel von dem vor-
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Kapitel 8
weg, was Paulus und der Epheserbrief später je auf ihre Weise »Leib Christi« nennen sollten. Mit der apokalyptischen Vorstellung vom Menschensohn ist dieses insofern vorbereitet, als nach Daniel 7 der Menschensohn in der Bildhälfte der Vision genau die Rolle einnimmt, die in der Sach-
47 hälfte dann als das »Volk der Heiligen des Höchsten« entschlüsselt wird. Aus dieser visionären Deckungsgleichheit wird später ein Mit- und Füreinander von Menschensohn und dem neuen Gottesvolk des Neuen Testaments.
Mt 8-10: Wunder und Nachfolge Aufbau: Die Abfolge von Wort und Wunder ist aus Mk 4f geläufig (Gleichnisse und Bestätigung durch Zeichen). Dieses Schema wird in Mt 5-10 variiert. In 5-7 bietet das MtEv die Bergpredigt, von 8,1 – 10 Ende dagegen eine Mischung von Wunderberichten mit Notizen und Sprüchen zum Thema »Nachfolge«. Man beachte: In 5-7, also in der gesamten Bergpredigt, kommt das Wort Nachfolge(n) nicht vor, in 8-10 dagegen steht es, auf »Jesus nachfolgen« bezogen, achtmal (mehr als ein Drittel der matthäischen Vorkommen). Die Verknüpfung von 5-7 und 8-10 wird geleistet durch den Topos »Gespräche beim Abstieg vom Berg«. Dieser bisher nicht beobachtete Topos ist relativ wichtig. Der Abstieg vom Berg ist – nach dem zentralen Empfang der Offenbarung auf dem Berg – jeweils der klassische Ort der Jüngerbelehrung. Inhaltlich steht an dieser Stelle jeweils eine »mystagogische Katechese«, d. h. ein Dialog über bisher verborgene Geheimnisse oder eine entsprechende Tat mit Offenbarungsfunktion. In Mk 9,10-13 belehrt Jesus die Jünger beim Abstieg vom Berg der Verklärung über Elia und den Menschensohn, vor allem über deren gemeinsames Leiden (ebenso in Mt 17,10-13). Die Analogie in CH (Corpus Hermeticum) 13 zeigt, dass es sich um eine bisher verborgene Enthüllung eines Geheimnisses handelt. In Corpus Hermeticum 13,1 (2.–4. Jh. n. Chr., Ägypten) sagt Thot zu Hermes: »Da ich dich aber um Hilfe bat bei dem Abstieg vom Berge nach deiner Unterredung mit mir, fragte ich dich nach der Lehre von der Wiedergeburt, um sie zu erfahren. Denn bei allem anderen kenne ich diese nicht. Und du versprachst, mir diese Lehre mitzuteilen, wenn du dich zurückziehen würdest von der Welt. Ich wurde bereit und habe mein Denken stark gemacht von der Verführung der Welt weg.« – Bei Lukas steht an der Stelle von Mk 9,10-13 in Lk 9,37-43a
die Heilung des besessenen Knaben. In Mt 8,1-4 gibt Jesus beim Abstieg vom Berg den Jüngern eine grundlegende praktische Antwort auf das Problem der Reinheit. So geschieht es de facto ja auch in Lk 9,37-43a, denn Lukas stellt die Heilung als Sieg über den unreinen Geist dar. Während also das MkEv den Abstieg mit christologischen Themen besetzt, antworten Mt und Lk direkt mit der Heilung eines Besessenen (in Mk folgt sie erst ab 9,14). – Ex 32,7 ff (Abstieg des Mose, vom Berg Sinai) steht nicht im Hintergrund, auch nicht die Reden Henochs an Kinder und Enkel. Denn der Topos »Gespräch beim Abschied« funktioniert nur dort, wo mehrere ungleichen Ranges auf dem Berg waren.
Bereits in Mt 8,1 fällt das Stichwort »nachfolgen«. Damit ist das Thema der folgenden Berichte gegeben. Denn sehr häufig folgt »nachfolgen« auf einen Wunderbericht oder geht ihm voran. Auch die Alternative für sesshafte Frauen wird angegeben: sozialer Dienst (griech.: diakonein). In Mt 8-10 liegt eine Serie von Berichten vor, in denen das Thema »Wunder und Nachfolge« variiert wird. Dabei werden die Antworten der Beteiligten bzw. Umstehenden an die Adresse Jesu stets kräftiger. 8,1: »Es folgten ihm viele Scharen« – 8,2-4: Heilung des Aussätzigen. 8,5-9: Heilung des Sklaven des Hauptmanns von Kafarnaum – 8,10: »Er sagte zu den [ihm] Nachfolgenden: ›Amen …‹« 8,14f: Heilung vom Fieber – V. 15: »Und sie … bediente ihn.« 8,16-17: Heilungen am Abend – 8,19: »Ich werde dir folgen …«, 8,2: »Folge mir …« 8,23: »Seine Jünger folgten ihm« – 8,24-27 Seebeben von Jesus beruhigt. 9,1-8: Heilung eines Gelähmten – 9,9: »Folge mir. Und er stand auf, folgte ihm.«
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48 9,18-26: Heilung der Blutflüssigen, Auferweckung einer Toten – (9,36 – 10,42: Jüngerschaft). 9,27: »Es folgten Jesus zwei Blinde nach.« – 9,2831: Heilung der beiden Blinden. (Antwort auf die Heilungen in Kap. 9) 9,36 – 10,42: Mahnungen an die Jünger – 10,38: Nachfolge. Sonst in der synoptischen Tradition z. B. in Lk 5,210 (Fischwunder) – 11: (Nachfolge). Antworten an Jesus: 8,6f: »nicht würdig« – 8,27: »Was ist das für einer?« – 8,29: »Sohn Gottes« – 9,3: »Dieser lästert« – 9,8: »Vollmacht«
Nach dem Höhepunkt der Totenauferweckung in Kap. 9 gibt Kap. 10 dann die umfangreichste
Das Evangelium nach Matthäus
Ausweitung des Themas Jüngerschaft. Mit Mt 11,1 ist dann ein deutlicher Abschluss gesetzt. Aus 10,1 wird auch klar, was die Verbindung von Wunder und Nachfolge soll. Jesus will die Vollmacht, die er hat, weitergeben an die Jünger, die er beruft. In diesem Sinne stehen für das MtEv auch die Zwölf (vgl. 11,1) als ›Repräsentanten der Jünger‹. Es ist daher zu erwarten, dass auch in den Einzelheiten das Thema Jüngerschaft eine extrem große Rolle spielen wird. Mt 8f bringt jeweils paarige Heilungsberichte: Mt 8,28-34 (zwei gerasenische Besessene); 9,1826 (zwei Wunder an Frauen durch Berührung); 9,27-31 (zwei Blinde; beide rufen: »Sohn Davids!«); 9,32-34 (Taubstummer und dämonisch Besessener [in Personaleinheit]).
Mt 8: Heilungen, Nachfolge, Sturmstillung In Mt 8 ergibt sich bei den drei Heilungsberichten die Abfolge: Israel (Aussätziger), Heiden (Hauptmann), Jünger (Petri Schwiegermutter). Auf die Jünger bezieht sich auch die Bootsgeschichte (Sturmstillung; Leitwort »nachfolgen« in 8,18-27). Zum grundsätzlichen Gemeinde-Bezug aller Bootsgeschichten vgl. zu Mk 6, 35-41 (in diesem Buch S. 163 f).
Mt 8,1-4: Heilung eines Aussätzigen Ausweislich seiner Anfangsstellung – nach Mt 57 setzt der Evangelist mit 8,1 neu ein – hat dieser Abschnitt für den Evangelisten hervorragende Bedeutung. Auch in den Antithesen I-IV der Bergpredigt (Mt 5, 21-37) waren wir auf die besondere Bedeutung des Themas Reinheit gestoßen. Brisant ist das Thema wegen der programmatischen Überbietung der Gerechtigkeit der Pharisäer, wie Jesus sie anmahnt (Mt 5,20). Hier wird begründet, weshalb alle Regeln der kultischen Annäherung an Gott (»Reinheitsgesetze«) überflüssig sind. Denn Jesus hat die Kraft, im eigenen Namen Reinheit zu erwirken. Wenn die Priester diese bestätigen können, dann bestätigen sie damit abschließend teilweise, dass sie überflüssig geworden sind.
Mt 8,5-13: Heilung eines Sklaven des Hauptmanns von Kafarnaum Kontraste (Basis-Oppositionen): V. 5 furchtbar gequält – V. 13 gesund. Und: V. 11 zu Tisch liegen mit den Erzvätern – V. 12 äußerste Finsternis, Heulen und Zähneknirschen. – In beiden Fällen versetzt der Glaube auf die Seite des Wohlergehens (V. 10.13). Ferner: der gläubige Heide (V. 13) – die nicht gläubigen Juden (V. 10). Juden verspielen so ihre Qualität als Kinder des Reiches (V. 12), Heiden gewinnen sie. – Zweimal gilt ein Verhältnis von Hoheit und Unterworfensein: Der Soldat gegenüber dem Hauptmann, der Hauptmann gegenüber Jesus. Der Sklave wird vorher gequält, die Juden nachher; der Sklave kommt von der Qual zur Gesundheit, die Juden vom Unglauben zur Qual. Bewegung: Jesus fragt, ob er kommen soll (V. 7). Aber er muss gar nicht kommen, es genügt sein Machtwort. Jesus überbietet damit die KlischeeVorstellung vom Wundertäter, der wie ein Hausarzt hört und kommt. – Der Hauptmann bittet nicht, er schildert nur den Zustand seines Sklaven, seine eigene Unwürdigkeit, wie es beim Militär zugeht (Befehl/Gehorsam). Deshalb sagt Jesus in V. 13 nicht »wie du gebeten hast«, sondern »wie du geglaubt hast«. Die militärischen Strukturen ahmt Jesus nicht nach, er gibt eben
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Kapitel 8
keinen Befehl. Der Hauptmann muss nichts tun zur Herstellung der Gesundheit. Er soll nur hingehen und schauen. Der Hauptmann wahrt Abstand, wie er gegenüber strengen Juden angemessen ist. Nur das Wort durchbricht den Abstand. Der Kranke und Gott im Himmel (keine Schilderung des Ablaufs der Heilung selbst) sind ganz in den Hintergrund gerückt. Wichtig ist allein, dass der Hauptmann Jesus begegnet ist. Wie die vorangehende Erzählung (»Ich will …« plus Imperativ Passiv »werde rein«), so ist auch diese Heilung autoritativ gestaltet (»es geschehe dir«, V. 13) mit Hilfe des imperativus maiestaticus (vgl. im Vaterunser Mt 6,9). Der Bericht wird zu einer Darstellung dessen, was Glauben ist: kritische Selbsteinschätzung, Vertrauen auf die bloße Präsenz Jesu und auf sein Wort, eine Ahnung von der Autorität des Herrn. – Jesus fügt sich dem Glauben des Hauptmanns, weil der Hauptmann sich der Hoheit Jesu fügt. Das Wunder kommt nicht aus einem Befehl, sondern ist ein Zurückweichen vor der Macht des Glaubens, der Hand in Hand mit dem puren Wirken Gottes geht. Zur Rolle des Glaubens in Wunderberichten vgl. außer 8,13 auch 9,29. Die synoptische Tradition (incl. Apg) zeigt eine besondere Vorliebe für römische (heidnische) Zenturionen (Anführer einer militärischen Hundertschaft). Der Hauptmann unter dem Kreuz, der Jesus als Sohn Gottes bekennt, steht neben dem Hauptmann, dessen Sklave (Kind) geheilt wird, und der erste Heidenchrist war nach Apg 10 der Hauptmann Kornelius, zuvor »gottesfürchtiger« Sympathisant des Judentums. Die Hauptleute sind daher »Renommier-Heidenchristen«. Ihr Rang und ihr Ansehen haben weithin im ersten christlichen Jahrhundert stabilisierenden Charakter. Die Synoptiker setzen damit auf das römische Militär als den beinahe »Verbündeten vor Ort«. Und Mt 8,9 (par Lk 7,8) wagt es geradezu, christologische Strukturen mit militärischen zu vergleichen, auch wenn Jesus dem dann nicht entspricht. Es ist nicht die römische Zivilverwaltung, auf die die Christen setzen (jüdische Agitatoren versuchen immer wieder, sie dort anzuschwärzen), sondern das römische Militär. Auch in späteren Jahrhunderten kann christlicher Glaube immer wieder mit militärischer Metaphorik Ausdruck finden.
Israel wird nicht »total« verurteilt, vielmehr besteht das Heil in der Gemeinschaft mit den Erzvätern (hier nicht mit dem Menschensohn, anders: Mt 26,29).
Mt 8,16-17: Krankenheilungen V. 17 ist Reflexionszitat aus Jes 53,4. Jesus leidet ja nicht selbst an den Krankheiten, die er trifft; er übernimmt sie nicht selbst, sondern er heilt sie. Insofern nimmt er sie nicht »auf sich«, sondern trägt sie fort. Vom Leiden des Gottesknechtes ist bei Mt nicht die Rede.
Mt 8,20: Jesu Heimatlosigkeit Die Heimatlosigkeit Jesu auf Erden ist – wie seine Ehelosigkeit – ein Mangel, der in seiner Anstößigkeit und Unvereinbarkeit mit bürgerlicher Normalität zum Zeichen für Jesu Herkunft und Hoffnung wird. Jesu Wanderexistenz ist ein Zeichen dafür, dass er seine Heimat nur bei Gott hat (vgl. Hebr 11,13f). Ein wesentliches Element des konkreten Lebensstils wird zum eindrücklichen Teil der Botschaft. Wie nach Joh 3,6.13 kommt Jesus vom Himmel und geht zum Himmel. Deshalb wird hier auch der Ausdruck »Menschensohn« verwendet.
Mt 8,22: Jesu Provokation »Folge mir und lass die Toten sich gegenseitig begraben!« Das Wort ist in konzentrischen Kreisen, auf mehreren Ebenen zu diskutieren. Im innersten Kreis gilt es von der Beerdigungspietät. Diese gehört zu den Praecepta Delphica, also zu den »allgemeinen Tabus und Menschenrechten« (so würde man das heute nennen; vgl. schon Sophokles, Antigone) der Alten Welt. Jesu Wort ist deshalb höchst ärgerlich. Es ist inhuman, und keineswegs taugt es als Grundlage allgemeiner Gesetzgebung. Der nächst größere Kreis ist die familiäre Pietät überhaupt. Dass Jesus sie verletzen will, geht aus dem Verbot hervor, dass Jünger sich von den Eltern im Falle einer Berufung durch Jesus verabschieden. Jesu Verhältnis zur eigenen Familie
Berger (08129) / p. 50 / 19.5.2020
50 ist hier durch negative Erfahrungen (Filz, Tradition, Zwänge) negativ gefärbt. – Der nächst größere Kreis ist dann, dass man als Jünger Jesu generell nicht zurückschauen darf (Lk 9,62). Nur das, was vor dem Jünger liegt, ist überhaupt interessant. – Ein vierter, noch weiterer Kreis besteht darin, die Welt der geistlich Toten hinter sich zu lassen, so wie es in Lk 15,24 vom verlorenen Sohn heißt: »Er war tot und ist wieder lebendig geworden« (vgl. Kol 2,13). – Die geistlich Toten bilden die massa perditionis, von der man sich grundsätzlich trennen soll (so wie in Offb 18,4 von Rom). Diese vier konzentrischen Kreise sind von abnehmender Anstößigkeit. Der anstößige Fall der verweigerten Beerdigung des Vaters wird für Jesus zum spektakulären Anlass, Grundsätzliches zu erklären. – Warum geht Religion hier erkennbar auf Kosten der Familie? Im Falle der Opferung Isaaks wird ein scharfes Ansinnen dieser Art gestellt, aber abgebogen. Aber hier lebt Ähnliches, wenn auch unblutig, wieder auf. Denn der Mensch ist rechtloser Sklave Gottes. Er hat sich Gottes Recht auf Eigentum bedingungslos zu unterwerfen. Selbst in den vorprophetischen Berufungsberichten werden Einwände dieser und ähnlicher Art immer überwunden. Gottes Recht geht grundsätzlich vor Familienrecht. Auch die Berufung mit dem Charisma der Jungfräulichkeit setzt ja z. B. das Gebot, fruchtbar zu sein und sich zu vermehren (Gen 1,28), außer Kraft. D. h.: Der biblischen Religion eignet bisweilen ein scharf antifamiliärer Zug, der hin und wieder neu aufbricht.
Mt 8,29: »Vor der Zeit« »Vor der Zeit«, d. h. vor dem generellen Ende der Satansherrschaft (dazu vgl. Mk 16,14 Freer-Logion). Jesu Wunder sind freilich generell »vor der Zeit« als Zeichen, die ankündigen, was Gott im Ganzen vorhat.
Mt 9,9-13: Berufung und Jesu Tischgenossen Die beiden Abschnitte dieses Stücks – die Berufung des Matthäus und der Streit um Jesu Tischgenossen – hängen durch das Stichwort
Das Evangelium nach Matthäus
»Zöllner« zusammen. – Zöllner gelten in der Gesellschaft des damaligen Palästina als »unglückselige« Kreaturen. Sie waren Steuereintreiber. Einerseits arbeiteten sie als Kollaborateure mit an der Ausplünderung des Landes durch die römische Besatzungsmacht. Insofern waren sie so unbeliebt wie Kollaborateure aller Zeiten. Weil die Römer Heiden waren, standen sie neben den Gottlosen (»Sündern«). Man konnte nicht voraussetzen, dass sie auf jüdische Religion und Lebensweise Rücksicht nahmen, im Gegenteil. Andererseits waren sie selbst Auspresser wie Ausgepresste. Denn die Zollhoheit wurde wie eine Viehweide verpachtet und unterverpachtet, sodass den jeweils Letzten und Untersten in der Kette eine drückende Abgabenlast (in Richtung oben) plagte und der Unterzöllner sich in der Zwangslage sah, Steuern von denen zu fordern und zu liefern, die fast nichts hatten. Daher waren sie zusätzlich unbeliebt und zugleich selbst oft genug durch drückende Verträge geknebelt. – Jesus wendet sich diesen Leuten zu, wie wenn heute ein Pfarrer sich mit oft genug selbst zum Betrug gepressten Mitgliedern von Drückerkolonnen umgäbe. Schon Johannes der Täufer hatte sich besonders an diese Gruppe gewandt, was zumeist übersehen wird, wenn man versucht, das soziale Evangelium Jesu in seinem Umgang mit Zöllnern vom Judentum abzuheben (Lk 3,12f). Die Frage muss also lauten: Warum wenden sich Johannes und Jesus besonders dieser halbkriminellen Gruppe von verachteten »armen Schweinen« zu? Viele sehen darin das Vorbild für sozial-karitative Praxis der Selbstidentifikation der Kirche mit sozialen Randgruppen, Geächteten und verfemten Minderheiten. Aber diese sozialromantische Linie führt nicht weit. Denn die Zöllner (Steuerpächter) werden in einem Atemzug mit »Sündern« bzw. »Gottlosen« genannt. Das heißt: Johannes und Jesus wenden sich dieser Gruppe nicht zu, weil sie besonders übel angesehen war, besonders gequält wurde oder als arm galt. Nein, Mitleid ist nicht das tragende Motiv. Es geht vielmehr um die notorische Ungerechtigkeit, Rücksichtslosigkeit und praktische Gottlosigkeit dieser Gruppe. – Als Beleg für diese Auffassung kann man Barnabasbrief (nach Berger/Nord vielleicht um 60 n. Chr.) 5,9 zitieren: »Jesus offenbarte sich als Sohn Gottes, als er seine Apostel zu künftigen Verkündigern des Evange-
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liums erwählte und sich dafür ausgerechnet Menschen aussuchte, die über die Maßen sündig waren. So wollte er ihnen sagen: Ich bin nicht gekommen, Gerechte zu berufen, sondern Sünder:« D. h. der Schlusssatz unseres Textes wird zitiert, und zugleich wird die Berufungsgeschichte (wohl in einer mit Mt verwandten Fassung – Matthäus gilt als Apostel) so interpretiert: Jesus beruft gerade und mit Absicht die größten Sünder. So war es auch mit Paulus, dem Christenverfolger, später mit Augustinus und vielen anderen. Im Nachhinein kann man dann sagen: Gerade im Umgang mit der Sünde offenbart sich die berufende Gnade als siegreich. Denn den Gottlosesten zum Gerechten machen, das kann nur Gott. Die Berufung des Steuereintreibers Matthäus geschieht daher nicht aus Liebe zu Randgruppen, sondern zeigt die Macht des Rufers Jesus. Er beruft Matthäus ähnlich autoritär und mit vergleichbar unvermitteltem Erfolg wie nach Mk 1,12-16 Jesus Petrus und Andreas, Johannes und Jakobus berief. Nach Mk 1 geben die Jünger auf ein einziges Wort Jesu hin ihren Beruf und ihre Familie auf. Jesu Ruf ist stärker als diese Bindungen. Aber hier in Mt 9 ist Jesu Ruf zudem stärker als der Hang zu notorischer Ungerechtigkeit. Von dieser Art Ungerechtigkeit hatte es bei der Begegnung Jesu mit dem reichen Jüngling geheißen: Nur Gott kann sie verwandeln. Nur er hat diese Macht über das menschliche Herz (Mk 10,27). Nur bei ihm ist kein Ding unmöglich. Daher geht es bei dieser Berufung in Mt 9 um die Macht Gottes angesichts des Gefängnisses der Sünde, um die Befreiung aus tiefster Verstrickung in Geldgier, Quälerei, Menschenschinderei und ungerechter Bereicherung. Am Beruf des Steuerpächters wurde diese Verstrickung für alle sichtbar. Johannes und Jesus haben sich an »Zöllner« gewandt, um deutlich zu machen, was Sünde ist. (Übrigens wendet sich der Täufer unmittelbar
danach auch an die Söldner). Ähnlich sieht es auch ein mittelalterliches Segensgebet: »Du hast Matthäus berufen aus der schändlichen Pflicht der Zöllner zur Ehre des Lehrers des Evangeliums.« Denn der Weg von der Sünde zur Gnade ist auch ein Schritt aus der Ehrlosigkeit. Man hat bei der Auslegung oft Lk 15,6-9 genannt. Historisch gesehen könnten die Verse Mt 9,12f in der Tat voraussetzen, dass Jesus jedenfalls für seine Umkehrpredigt bei den Pharisäern keinen direkten Abnehmerkreis sah. Und auch wenn es heißt: »… mehr als über 99 Gerechte, die der Umkehr nicht bedürfen«, dann muss das nicht rhetorisch oder ironisch gemeint sein, sondern kann durchaus zum Ausdruck bringen, dass Jesus diese Gruppe jedenfalls nicht für notorische Exempel von Sünde und Menschenquälerei hielt. Der Defekt der Gruppe der Pharisäer lag – wohl auch historisch gesehen – dann freilich darin, dass sie Jesu Zuwendung zu den »Gottlosen« nicht begriffen und das Gerechtsein exklusiv und in Differenz zu anderen für sich beanspruchten. Bei ihnen prangert zum Beispiel Lk 18,9-14 den religiösen Dünkel an; aber mit Kriminalität waren sie nicht behaftet. Am Ende ist freilich Jesus ein schließlich doch noch zur Umkehr bereiter Sünder lieber als diese Art von Blindheit (Mt 21,31). – Jesus spricht übrigens über seinen Beruf im Bild des Arztes (Mt 9,12). Damit greift er auf die reiche biblische Tradition von »Gott als Arzt« zurück.
Mt 9,13 (vgl. 12,7): Erbarmen statt Opfer Im Alten Testament will Gott vom Menschen nicht kultische Opfer, sondern Barmherzigkeit. Bei den beiden Mt-Stellen ist es eher so, dass Gott Erbarmen schenkt (vgl. 9,36) und nicht Opfer vom Menschen fordert.
Mt 9,36 – 13,52: Apostel – Die Täuferfrage – Heilung am Sabbat … Aufbau: Der große Abschnitt umfasst etwas mehr als vier zentrale Kapitel des MtEv. Nach meiner These sind dieses vier Predigtvorlagen mit jeweils unterschiedlichem Thema. Denn diese vier Kapitel haben trotz verschiedener Themen ein gemeinsames Strukturelement, einen doppel-
teiligen Ausgang. D. h. der Leser wird darauf aufmerksam gemacht, dass er sich so oder so entscheiden kann (zur formgeschichtlichen Herkunft aus Predigten vgl. K. Berger, Formen und Gattungen, 235.238.277.318). In den ersten drei Predigtvorlagen spielt das Thema Israel eine gro-
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52 ße Rolle. D. h. Mt verdankt sehr viel Material dem Werben Jesu und der frühen Jünger um Israel. So ergibt sich folgende Einteilung: 1. 9,36 – 11,1: Als Hirte Israels sendet Jesus seine Jünger zu Israel. 10,34-42: Doppelteiliger Schluss: Entzweiung und Unwürdigkeit (V. 3440), andererseits in V. 41-42 paradiesisch leichter Heilsgewinn. – Israel ist Adressat: 10,5 f. 2. 11,2-30: Klärung der heilsgeschichtlichen Identität Jesu (11,2-6) und des Täufers (11,715); doch beide werden von Israel abgelehnt (biografische Synkrisis). Doppelter Ausgang: Der negative Ausgang ist 11,20-24 (Gericht), der positive Ausgang 11,25-30 (Jesus als Vorbild; Verheißung der »Ruhe«). Die besondere Schärfe von Mt 11,20-24 erklärt sich aus dieser Schlussposition. 3. 12,1-50: Die charismatische Legitimität Jesu, des Lehrers für Israel. Doppelteiliger Schluss: Multiplikation [des Wirkens] der Dämonen (12,43-45) gegen Multiplikation der Verwandtschaft Jesu (12,46-50). – Im Zentrum von Kap. 12 stehen die jüdischen Themen Tempel, Davidssohnschaft, Jona, Exorzismus (synkretistisches Thema). 4. 13,1-52: Gleichnisse über das Reich Gottes. Doppelteiliger Schluss: Gleichnis vom Fischnetz (13,47-50) mit der Scheidung von Guten und Schlechten (vgl. schon ähnlich die Auslegung des Gleichnisses vom Unkraut (13,36-43).
Mt 9,36 – 10,8: Aussendung der Zwölf In 9,36-38 konkurrieren die Bilder der Herde (Schafe, Hirten) und der Ernte (Ernte, Arbeiter, Herr der Ernte). Der Ausdruck »Schafe, die keinen Hirten haben« und der Wunsch, diesen Defekt in der Führung Israels zu beheben, – beides findet sich schon in Num 27,17. Hier ist es Mose, der Josua zu seinem Nachfolger in der Führung der Gemeinde des Herrn beauftragt. Da Josua in der griechischen Bibel »Jesus« heißt, kann man wohl davon ausgehen, dass an unserer Stelle eine beabsichtigte Typologie vorliegt. Dann läuft der Gedankengang so: Jesus ist der wahre Josua, der die Rolle des Mose in der Endzeit überbietend wahrnimmt. Aber auch für ihn stellt sich das Problem der Nachfolge. Da es sich auch in Num 27 um das gesamte Gottesvolk handelt, ist die
Das Evangelium nach Matthäus
Zahl der zwölf Jünger hier angemessen. Der neue Josua (= »Jesus«) sendet zwölf Jünger zum Zeichen des Anspruchs auf Israel aus. Das Motiv der Herde ohne Hirten in metaphorischer Bedeutung ist weit verbreitet: Num 27,17 (»Die Gemeinde des Herrn soll nicht sein wie eine Schafherde, die keinen Hirten hat«); 1 Kön 22,17 (»Israel ist auf den Bergen zerstreut wie Kleinvieh ohne Hirte«); 2 Chr 18,16 (»… dem Kleinvieh gleich, das keinen Hirten hat«); Jdt 11,19 (Judith zu Holofernes: »Du wirst sie treiben wie Schafe, die keinen Hirten haben«); Ez 34,5 (»Schafe weidet ihr nicht … Da zerstreuten sich meine Schafe, weil ihnen der Hirte fehlte«).
Das, was Mt in 9,36 – 10,8 berichtet, ist so etwas wie ein Grundsatzbericht über den Zwölferkreis und seine Funktion. Darauf weist insbesondere auch der Abschnitt 10,5b-6 (»Geht nicht zu den Heiden und betretet keine samaritanische Stadt. Geht nur zu den verirrten Schafen Israels.«). Denn daran wird erkennbar, dass die namentlich aufgezählten zwölf Jünger wirklich das erneuerte Israel realsymbolisch darstellen. Das Ganze ist bei Mt wesentlich deutlicher auf Israel bezogen als in der Parallele bei Mk (3,16-19). Die Einschränkungen in Mt 10,5b-6 (nur zu Israel) sind problematisch im Blick auf die Sendung zu allen Völkern nach Mt 28,19f und wahrscheinlich so zu erklären: Mt unterscheidet zwei Arten von Mission, und zwar eine an Israel und eine an den Heidenvölkern. Von der an Israel berichtet er hier in 9,36 – 10,8 und auch in der Bemerkung Mt 15,24.– In dieser Mission geht es um Umkehrpredigt im Sinne der klassischen Prophetie sowie um Exorzismen und Heilungen. Dieser Typus ist auch nach Ostern auf die Israelmission beschränkt. In der Mission gegenüber den Heiden, die laut Mt 28,19f erst nach Ostern beginnt, stehen dagegen Wunder und Exorzismen gar nicht im Vordergrund; hier ist vielmehr die Rede von der Lehre im Sinne der Worte Jesu und von der Jüngerschaft aller. – Diese Zweiteilung in Judenmission plus Wunder einerseits und Heidenmission plus Belehrung andererseits findet sich haargenau widergespiegelt auch in der Formulierung in 1 Kor 1,22, wonach die Juden Zeichen, die Griechen aber Weisheit fordern. Was Paulus hier sagt, reflektiert daher zwei unterschiedliche Typen frühchristlicher Mission. Da die Heiden von dem einen Gott noch nichts wussten, waren hier
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schon aus sachlichen Gründen die Lehre und Belehrung vorrangig. Den Juden dagegen kam es auf legitimierende Wunder an, und in den Exorzismen sah man gewiss auch einen Teil des messianischen Krieges, des Krieges nämlich, der zur Unterwerfung der die Menschen im Innern okkupierenden Besatzungsmächte dienen und so die Etablierung des Gottesreiches vorbereiten sollte. Dass beide Typen von Mission von Mt so genau unterschieden werden und auch ihrem Ursprung nach zu verschiedenen Zeitpunkten angesetzt werden, weist darauf hin, dass zu seiner Zeit eine sehr große Notwendigkeit bestand, Judenmission von Heidenmission zu trennen. Theologisch bedeutet dieses Stück: Jesus ist zunächst und zuerst der Messias Israels. Schon aus diesem Grund ist er nicht der »Besitz« der Heidenchristen. Alle Heidenchristen sind – wie die sekundär eingesetzten Zweige des Ölbaums in Röm 11 – erst nachträglich in das Gottesvolk aufgenommen. Heidenchristen haben zu respektieren, dass sich der physische Liebeserweis Gottes gegenüber seinem Volk durch Wunder in der Mission der Heiden nur relativ selten wiederholt. Die physische Herkunft Jesu aus dem Gottesvolk und die physische Erfahrung der Nähe des erlösenden Gottes in den Wundern entsprechen daher einander in gewisser Weise. Vor allem aber gilt, dass Gott seinem Volk die Treue gehalten hat und dass Jesus deswegen als Messias Israels gesandt worden ist. Ein weiterer wichtiger Aspekt: In dem ganzen Text wird hier die Mission unter einem stark endzeitlichen Aspekt gesehen. Denn »Ernte« ist seit den Propheten nahezu exklusiv die für das Endgericht geläufige Metapher; das gilt verstärkt für die Gleichnisse Jesu. Auch die Erntearbeiter sind durch den Vorgang des Endgerichts eigentlich festgelegt (vgl. Mt 13,30). Eine Aussendung der Boten (vgl. Mk 13,27) zur Ernte, wie sie unser Text schildert, gilt sonst für die Endereignisse. Dasselbe kann man, vom Judentum her gesehen, auch von der Zwölfzahl sagen. Ein Blick auf die so genannte Tempelrolle aus Höhle 11 von Qumran zeigt: Die Zwölfzahl ist immer Symbol für die in der Endzeit wiederhergestellte Anzahl der Stämme (neuneinhalb Stämme sind »weggeführt«) – oder sie dokumentiert die Art, wie man unter kultischem Aspekt, sozusagen in ideal gedachter
53 Vollkommenheit, von Israel als dem Zwölfstämmevolk reden konnte. Im Kult gilt immer die ideale Zwölfzahl – ganz unabhängig vom faktischen Bestand. Auch 1 Kor 15,5 spricht noch nach dem Fall des Judas von den zwölf Zeugen der Auferstehung.
Und dass Mission und Bekehrung als ein Akt des Tages des Herrn gesehen werden, gilt für das Neue Testament durchweg (und in der christlichen Missionsgeschichte bis ins 17. Jh., da man die Mission Südamerikas mit dem Tausendjährigen Reich kombinierte). – Im Neuen Testament gehören zu diesem Charakter der Mission auch das Zeichen der Wassertaufe (bezogen auf die Feuertaufe im Gericht), die gerichtsmäßige Scheidung (Krisis) jetzt (vgl. Joh 13,13-16 und Joh 5,22.24), die Auferweckung Toter in der Mission (Joh 5,21), das Schon-vollzogen-Haben des Gerichts in der Glaubensentscheidung, das Auferstandensein in der Taufe, das Ergriffenwerden durch das Licht des Tages des Herrn in der Taufe, das Verherrlichtwerden in der Taufe. Entsprechung von Mission und Endgericht Nach U. Luz (Kommentar II, 82) lautet das theologische Hauptproblem des MtEv: »Wie ist der erbarmende Hirte und der Gerichtsherr/Menschensohn zusammenzudenken?« Diese Frage ist im Sinne matthäischer Systematik so zu beantworten: Für alle vier Evangelien, besonders aber für das MtEv, besteht eine grundlegende Entsprechung, aber auch eine deutliche Unterschiedenheit zwischen Mission und Endgericht. Die Entsprechung besteht in folgenden Punkten: a) Metaphorik der Ernte: Mission ist Ernte (Joh 4,35) – das Endgericht ist Ernte (Joel 3,13). b) Erntearbeiter: Die Jünger, die Jesus aussendet, sind Erntearbeiter in der Mission (Mt 9,38) – die Engel, die der Menschensohn aussendet, sind die Erntearbeiter am Ende (Mt 13,30.39). Die Unterscheidung von Engeln und Missionaren ist insofern wichtig, als die Jünger sich nicht als Gerichtsvollzieher aufführen sollten. c) »Herr der Ernte« ist in beiden Fällen Gott bzw. der Menschensohn. d) Ziel der Ernte ist die Scheidung und Unterscheidung – in der Mission zwischen Berufenen und Nicht-Berufenen, am Ende zwischen den Auserwählten und den Verdammten. e) In der Mission wie im Gericht spricht man
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54 von »krisis« (Joh 5,22.27.29). Die Basis der Scheidung in der Gegenwart ist die Entscheidung der angesprochenen Menschen. f) In beiden Fällen erfolgt die Scheidung quer durch Familien und Freundschaften, unbarmherzig und unmissverständlich. Für die Mission: Mt 10,35f – für das Endgericht: Mt 24,40; Lk 17,34 f. g) In jedem Fall gibt es eine Taufe: die Wassertaufe jetzt – die Feuertaufe dann (Mt 3,11). h) In der Mission gibt es Auferweckung Toter (Joh 5,21) – und am Ende gibt es Auferweckung Toter (Joh 5,28f). i) Das positive Ziel ist in beiden Fällen Sammlung: in der Mission Sammlung zur Gemeinde (Didache 9,4; 10,5) – im Gericht Sammlung der Auserwählten, damit sie mit dem Menschensohn zusammen sind (Mt 24,31). j) In der Mission wird zur Eucharistie gesammelt – im Endgericht zum himmlischen Mahl (Mt 13,30). Zur Verbindung beider Punkte: Mk 14,25; Mt 26,29. k) Es gibt Pseudopropheten jetzt in der Zeit der Mission – und es gibt Pseudochristusse am Ende (vgl. Mk 13,6 und 13,21f). So ist es auch mit der Verfolgung. l) Merkmal der Mission sind die einzelnen Exorzismen – Merkmal des Gerichts ist die Verurteilung und »Entsorgung« Satans. – Deshalb kennt das JohEv übrigens keine Einzel-Exorzismen und nur den definitiven Hinauswurf Satans (Joh 12,31), weil im Ganzen die Zeit der Verkündigung näher an die des Gerichtes herangerückt ist und beides krisis heißt. Daher sagt auch Joh 5,27, dass Jesus jetzt schon der Menschensohn sei. m) Die Zertrennung der Familien in der Gegenwart führt zu einer neuen Familie (Gemeinde, Kirche; vgl. Mk 10,29f). Und auf das Gericht folgt die Hochzeit des Messias mit dem neuen Israel. Die Kirche jetzt (mit den Zwölfen an der Spitze) bildet das neue Israel der Zukunft ab. n) Die Zwölf sollen jetzt mit Zeichen verkünden, nach dem Gericht aber die zwölf Stämme regieren (Mt 19,28; Lk 22,29f). o) Die Mission ist deshalb von Anfang an weltweit, weil auch das Gericht weltweit sein wird. In frühen Heidenpredigten kommt das zum Ausdruck: Apg 17,25.31.
Das Evangelium nach Matthäus
Auswertung: Die obige Übersicht ist deshalb erstellt worden, weil die urchristliche Mission viele Rätsel aufgibt, nicht zuletzt die Konzeption und den Ursprung betreffend. Denn Analogien dazu sind nicht bekannt. Eine Analogie, die wirklich weiterhilft, ist die Eschatologie Jesu, und zwar – das ist das Interessante – in ganz enger Verbindung mit Christologie und Ekklesiologie. Denn der Herr, der die Missionare aussendet (in Handlungseinheit mit dem himmlischen Vater), ist der Menschensohn, der demnächst die Engel aussendet. Der entscheidende Unterschied zwischen jetzt und dann besteht darin, dass der Menschensohn jetzt gekommen ist, zu retten und noch nicht zu richten. Die Mission bildet in allen wichtigen äußeren Punkten das kommende Gericht ab; nur der eine zentrale Unterschied besteht darin, dass vor das Gericht eine Phase der Barmherzigkeit gelegt ist. Und das heißt konkret: eine Phase der Langmut, der Zeit und der Chancen, die Gott den Menschen einräumt, denn Jesus »löscht den glimmenden Docht nicht aus« (Mt 12). Der typisch matthäische »sanfte« Jesus ist aus dieser neu gebauten Eschatologie zu erklären. Ansatzweise, aber nur in einem Element, nämlich in der Wassertaufe, ist das bei Johannes dem Täufer schon angelegt. Dieses eine Element wird bei Jesus entfaltet, neu interpretiert und entscheidend um seine eigene Rolle bereichert. Denn schon bei Johannes d. T. lautet das Konzept: Wassertaufe jetzt ist besser als (unvorbereitete) Feuertaufe dann. Die Phase der Mission ist gewissermaßen als Sicherheitskordon vor die Phase des Gerichts gelegt. Die Strukturanalogien zwischen beiden Phasen haben es in sich: Jesus, der Menschensohn, scheidet auch jetzt, und zwar haarscharf. Doch es geschieht nicht in einem öffentlichen Gericht, sondern gewissermaßen verborgen und im Rahmen der »Dialektik der Zustimmung«. Denn jetzt ist noch corpus permixtum, dann aber ist corpus purum. Die tatkräftige Realisierung der Phase der Rettung vor der Phase des Gerichts ist zweifellos der größte Unterschied zwischen Johannes dem Täufer und Jesus, von der Gemeinsamkeit der rettenden Umkehrtaufe abgesehen. Kirchlich ist daran nicht nur, dass z. B. Sammlung und Mahl auch jetzt schon bestehen; kirch-
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lich ist vor allem, dass die Boten Jesu an der Barmherzigkeit und Langmut ihres Lehrers teilhaben (sollten). Deshalb ist die Szene in Lk 9 so charakteristisch, weil sich hier zwei Arten von Eschatologie ins Gehege kommen. Dank dieses Doppelspiels von verhülltem und offenbarem Menschensohn kann Jesus – im Unterschied zum Täufer, der im Endgericht nichts zu sagen hat – eben auch der entscheidende Anwalt der Seinen im Gericht sein. – Die Kirche aber ist Abbild des künftigen neuen Israel. Die gesamte Gegenwart ist nicht von der Vergangenheit her zu erklären, sondern wesentlich der sanfte, verhüllte Teil der Zukunft. In ihr geschehen die Entscheidung für oder gegen Jesus – aber nicht das Gericht; die Trennung – aber nicht endgültige Spaltung; die Umkehr – aber nicht die Zerstörung. Fazit: Die christliche Mission ist als nach vorne verlagertes, heilvolles Gericht zu verstehen.
Mt 10,10: Ausrüstung der Jünger unterwegs Die Ausrüstung ist bei Mt noch karger als bei Mk. In Mk 6,6-13 waren wenigstens noch Stock, Sandalen und Untergewand erlaubt, in Mt 10,1-14 nur noch ein einziges Gewand (ein großes »Hemd«, direkt auf der Haut getragen). Stattdessen heißt es aber: »Der Arbeiter ist seiner Nahrung wert.« Das bezieht sich nun mit Sicherheit auf die Alimentation durch die Gemeinde (vgl. 1 Kor 9,312). – Der nach dem MtEv ausgesandte Jünger hat demnach nichts außer dem »Hemd« auf dem Leib. Damit macht ihn wohl dem Jesusbild ähnlich. Das ist die strenge Ausrichtung am Original. Gleichzeitig ist zu fragen, ob eine derartige, fast unweltliche Strenge nicht eher zur Abschaffung der Institution »mittellose Apostel« beiträgt. Denn so ist ein Apostel ohne Stock zum Beispiel jedem Kläffer ausgeliefert. Gehört der Evangelist Matthäus bereits zu den Christen, denen schier mittellose Wandermissionare unheimlich sind? Soll seine Negativliste der Ausrüstungsgegenstände eher abschrecken? In der Didache, die dem MtEv nahesteht, sind zwar noch Wandermissionare (»Apostel«) vorausgesetzt, aber sie unterliegen strengen Kontrollen. War das die nächste Stufe? Extrem misstrauisch ist auch schon Offb 2,2.
Mt 10,13: Der Friedensgruß Vgl. zu Lk 10,4 – der Friedensgruß ist hier als dingliche Größe vorgestellt und von dualistischer Qualität. Zur biblischen Theologie des Grußes vgl. zu 2 Joh 11.
Mt 10,22-25: Was die Jünger erwartet Die Jüngersprüche in Mt 10,22-25 haben besondere Ähnlichkeit mit Joh 15,18-26 und Joh 13,13.16. – In beiden Fällen macht Jesus die Jünger aufmerksam auf die Angriffe, denen sie ausgesetzt sein werden. Tenor: Euch wird es nicht besser ergehen als mir. Dabei fallen innerhalb desselben Sachzusammenhangs dieselben Stichworte: vgl. Mt 10,22 (gehasst wegen meines Namens) mit Joh 15,18.21 (hasst … wegen meines Namens); ferner Mt 10,24 (Sklave/Herr) mit Joh 15,20 (Sklave/Herr); ferner Mt 10,20 (Geist) mit Joh 15,26 (Paraklet zeugt); ferner Mt 10,24f (Jünger/Lehrer und Sklave/Herr) mit Joh 13,13 (Lehrer/Herr) und 13,16 (Sklave/Herr); ferner Verfolgung (Joh 15,20) und Verfolgung nebst Flucht (Mt 10,23). Der Befund lässt diesen Schluss zu: Im Kontext der Verfolgung der Jünger gibt es eine mündliche Tradition mit folgenden gemeinsamen Stichworten: gehasst wegen des Namens Jesu, Sklave/Herr, Jünger/Lehrer, Heiliger Geist/Paraklet und »verfolgen«. Das JohEv verwendet diese Tradition zweifach (vgl. Joh 13,16; 15,20). – Bei Mt steht die Geduld im Vordergrund (vgl. Mt 10,22; 24,13; Offb 2,2.3.19; 3,10; 13,10; 14,12), im JohEv die Welt, aus der die Jünger erwählt sind und die die Jünger hasst. Wie bei anderen gemeinsamen Traditionen, so gilt auch hier: Eine profilierte gemeinsame Situation erleichtert die Übernahme gemeinsamer theologischer Mittel zur theologischen Bewältigung. Die lockere Art der Verwandtschaft schließt eine literarische Abhängigkeit in der einen oder der anderen Richtung aus.
Mt 10,26-28: Vom Offenbarwerden Die Worte vom Offenbarwerden des Verborgenen haben unterschiedliche Funktionen, da das
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56 zentrale »Geheimnis« der Evangelien in mehreren Stufen enthüllt wird. Während sich Mk 4,22 und Lk 8,17 darauf beziehen, dass im Gericht alles offenbar wird, meint Mt 10,26-28, dass die Jünger alles sagen sollen, was Jesus ihnen insgeheim anvertraut hat. Das ist in den drei Phasen des Geheimnisses die zweite. Während die erste Phase für Jesus riskant war (er kann sich mangels Zeichen vom Himmel nicht eindeutig als Messias erweisen), ist die zweite für die Jünger riskant (Leiden für das Bekenntnis). Deshalb ist davon dann auch in 10,28 die Rede. Die dritte Phase der Enthüllung des Geheimnisses ist dann das Gericht selbst (vgl. Mk 4,22). Zu Mt 10,27: vgl. zum Thema Geheimnis bei Mk S. 140-142.174-176 Man könnte diesen Vers als Ursprung des Messiasgeheimnisses ansehen, und zwar im Sinne der Anfrage verstanden, ob das Messiasgeheimnis sich nicht ursprünglich erst auf die eschatologische Aufdeckung bezieht (so wie das des Sohnes Gottes nach Weisheit Salomos Kap. 5). Doch er ist nur ein Teil des Konzeptes.
Mt 10,26-33: Mahnung zur Furchtlosigkeit In erläuternder Form lautet dieser Abschnitt so: »Habt keine Angst vor denen, die euch verfolgen! Denn dass ihr im Recht seid und nicht die Verfolger, das wird auf jeden Fall offenbar werden, spätestens bei meiner Wiederkunft. Dann werden auch die niederen Motive der Verfolger sichtbar und zugleich die Wahrheit des Evangeliums. Die Mission, zu der ich euch sende, ist schon ein Teil dieser Offenlegung. Auch in dieser Hinsicht gehört sie in die Endereignisse hinein.« Dass Jesus den Jüngern manches nur vertraulich und leise, »im Finstern« gesagt hat, ist wohl begründet gewesen in der Vermeidung des tödlichen Konflikts mit den Juden. So dürfte auch sonst Jesu »Strategie« zu erklären sein, dass er zentrale Aussagen über sich selbst geheim gehalten wissen wollte. So zeigt das berühmte »Messiasgeheimnis« im MkEv, dass Jesus darauf aus war, den Konflikt mit den Juden möglichst lange hinauszuzögern, um noch wirken zu können. Für die Jünger aber kommt nach Jesu Tod die Zeit der offenen Verkündigung. Sie sollen sich mutig der
Das Evangelium nach Matthäus
Gefahr des Martyriums aussetzen. Daher spricht Jesus in V. 28 von der Angst vor dem Martyrium. Wie bei allen Märtyrern wäre der Triumph der Staatsgewalt nur äußerlich; der Märtyrer ist in Wahrheit der Sieger, nicht nur moralisch, sondern auch wirklich. In der Alten Kirche wird Lactantius (3. Jh.) ein Buch schreiben über den »Tod der Verfolger«, in dem er zeigt, dass schon innergeschichtlich alle Christenverfolger jämmerlich endeten, ganz abgesehen von ihrem ewigen Geschick. V. 28 stellt einen provozierenden Gegensatz auf: »Habt keine Angst vor euren Mördern, habt aber Angst vor Gott.« Das Griechische verwendet nämlich beide Male dasselbe Wort phobeisthai (sich ängstigen, sich fürchten). Daher ist es auch im Deutschen identisch wiederzugeben. Viele Ausleger möchten das vermeiden, indem sie Gott gegenüber von Furcht reden, aber nicht von Angst. »Habt aber Angst vor Gott. Denn er kann euch äußerlich wie innerlich in der Hölle umkommen lassen.« – Jesu Predigt wird hier allerdings eingeleitet und beendet mit der Aufforderung: »Habt keine Angst!« In V. 29-31 wird dies begründet mit einer Aussage über Gottes Zuwendung und umfassende Für- und Vorsorge. Wenn Gott schon für die Spatzen sorgt – die Jünger sind mehr wert als viele Spatzen. Es überwiegt daher der Hinweis auf das Geborgensein in Gott. Aber das hebt die Angst vor Gott nicht auf, sondern ist nur ihre notwendige Kehrseite. Jesus predigt vom Feuer der Gottesliebe und der Begeisterung, aber zugleich kann dieses Feuer den verschlingen, der sich ihm widersetzt. Handelten die Verse 28-31 von Gott, dem Schöpfer, so V. 32-33 von Jesus, dem Menschensohn. Wir beobachten auch hier die gleiche Struktur: Drohung und Verheißung. Beide Versgruppen hängen inhaltlich eng zusammen. Denn der Hörer wird fragen: Worin soll sich das denn äußern, keine Angst vor den potentiellen Mördern zu haben? Antwort: Es äußert sich im Bekenntnis zum Menschensohn oder in der Verleugnung des Menschensohnes. – Und weiter wird der Hörer fragen: Warum ist das so gefährlich, so lebensgefährlich, sich zu Jesus als dem Menschensohn zu bekennen? Zunächst: Es ist historisch erwiesen, dass dieses lebensgefährlich war: Stephanus wird nach seinem Bekenntnis zum Menschensohn gesteinigt (Apg 7,56-58). Jesus selbst wird wegen
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Lästerung dem Martyrium übergeben, und in den angeblich lästerlichen Worten kommt der Menschensohn vor (Mk 14,62 konnte man als Drohung verstehen), und entsprechend redet Jesus auch in seinen Leidensweissagungen immer vom Menschensohn (Mk 9,33 usw.). Entgegen verbreiteter Auslegung war es in Palästina aber offenbar nicht gefährlich, Jesu Predigt vom Reich Gottes zu verkünden. Denn Reich Gottes konnte im jüdischen Sinne als Anerkennung der Herrschaft Gottes in der Befolgung seiner Gebote verstanden werden. Das musste politisch nicht gleich die Römer auf den Plan rufen. Anders dagegen, wenn man im Menschensohn die lebende Führungsfigur des kommenden Reiches (des fünften nach der Zählung von Daniel 7) schon namentlich benennen und bekennen konnte. Erst in Verbindung mit der Person Jesus wird die Zukunftserwartung der Christen politisch gefährlich. Und das gerade deshalb, weil hier nichts »rein geistig« ist, d. h.: Wenn Jesus mit Blut und Leben Opfer der politischen Macht wurde, dann bedeutete gerade diese Leibhaftigkeit des Geschicks auch zwangsläufig leibhaftige Konturen der kommenden Restitution und Rehabilitation des Menschensohnes durch Gott, d. h. auf das leibliche Leiden folgt die leibliche Auferstehung, und zwar im Kontrast zu jeglicher Spiritualisierung. Gerade in seinem Leiden war Jesus auf dem klassischen Weg einer Herrscherkarriere: Der Spruch »per aspera ad astra« (»Durch Mühsale zu den Sternen«) galt in der Antike von Herakles, Romulus und den römischen Kaisern, und später wurde dieses der Wahlspruch der Hohenzollern. Ein solches Bekenntnis hatte keineswegs rein geistige Ambitionen, sondern bedeutete, wie die Schrift des Lactantius »Über die Todesarten der Verfolger« zeigt, zumindest eine Drohung gegenüber den Mördern. Von daher werden auch die Szenen in Apostelgeschichte 7,56-58 und in Mk 14,61-63 begreiflich, denn hier fällt der Titel Menschensohn jeweils in einer »mörderischen« Situation.
Jünger zu ihm steht, wird er zu dem Jünger stehen. Nur das Forum ist jeweils unterschiedlich: die Menschen auf Erden, der Vater im Himmel. Jesus vor den Menschen zu verleugnen bringt vielleicht kurzfristige Vorteile. Diese werden jedoch durch die Nachteile bei weitem aufgewogen, die ein Verleugnetwerden vor Gott im Himmel hat. So legt Jesus hier eine Klugheitsregel vor: die kurze Freude jetzt, die lange Pein dann. Wenn Jesus »vor« dem Vater verleugnet oder bekennt, ist er im Übrigen nicht der Richter, sondern der Patron. Er tut im Himmel das, was in der ältesten Kirche Empfehlungsbriefe leisten. Beides spiegelt Sozialbeziehungen wider, in denen alles »auf Empfehlungen« beruht.
Mt 10,34 (vgl. Lk 12,51): Frieden – Schwert In allen Worten von seinem Gekommensein fasst Jesus seine Botschaft zusammen. Zumeist steht zu Anfang eine Aussage darüber, wozu Jesus nicht gekommen ist. Jesus betont in diesen Worten stets die Differenz zwischen Gegenwart und Vollendung. Das ist auch in den beiden Worten in V. 10,34 der Fall. Die adversative Struktur bezieht sich auf Kontrast und Ärgernis. Denn die Teilung (Lk) oder das Schwert (Mt) sind vorläufige Aktionen. Eigentlich aber erwartet man vom Messias Frieden (generell zu den Worten vom Gekommensein vgl. K. Berger, Formen und Gattungen, 321.386). Gemeinsam sind bei Mt und Lk in diesem Fall: die adversative Struktur, Friede, Erde und drei Füllwörter (dass, nicht, sondern), ferner Synonyma (meinen/glauben, kommen/hingelangen, Schwert/Teilung). Zur Theologie: Das Kommen Jesu (und die Mission der Jünger) nehmen das Endgericht strukturell vorweg. Der Unfriede ist eine Folge der gespaltenen Aufnahme der Botschaft.
Mt 10,37: Familienkritik Mt 10,32f: Eine Klugheitsregel Im Unterschied zur Parallele Lk 12,8f liegt hier kein Wort über den Menschensohn vor. Sondern Jesus verfährt direkt nach der Talio: So wie der
Die Tradition über das Mehr- bzw. Weniger-Lieben oder das Aufgeben bzw. Verlassen von Familienmitgliedern ist weit verbreitet; in den ersten drei Fällen (s. u.) steht sie im Kontext der Annahme des Kreuzes:
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58 Lk 14,26: Vater und Mutter und Frau und Kinder und Brüder und Schwestern, eigenes Leben; Mt 10,37: Vater und Mutter, Sohn und Tochter; ThomasEv 55: Vater und Mutter, Bruder und Schwester; ThomasEv 101: Vater und Mutter; Mk 10,29: Brüder oder Schwestern, oder Vater oder Mutter (oder Frau) oder Kinder; Mt 19,29: Brüder oder Schwestern oder Vater oder Mutter (oder Frau) oder Kinder; Lk 18,29: Frau oder Brüder oder Eltern oder Kinder.
In den ersten vier Fällen geht es um eine Liste, in den drei letzten um fakultatives Aufgeben. Eine Erstattung für das Aufgegeben kennt nur Mk 10,29: Brüder und Schwestern und Mütter und Kinder (in dieser Welt). – In 1 Kor 9,5 wird wenigstens die Erlaubnis für den Apostel erwähnt, eine Frau mitzuführen, die Vulgata hat freilich: mulierem sororem. Nur in Lk 14,26 und ThomasEv 55.101 handelt es sich um eine strikte Bedingung für Jüngerschaft, man soll diese Personen »hassen«, und wer das nicht tut, kann nicht Jesu Jünger sein. In Mt 10,37 heißt es freilich kaum erleichtert: »Wer sie mehr liebt als mich, ist meiner nicht wert.« – Hat diese Familienfeindlichkeit irgendeinen Sinn? Eine kleine Beobachtung hilft weiter: In der Liste der Erstattungen in diesem Äon (Mk 10,30) fehlen neue Väter. Denn es geht da wohl um christliche Gemeindefamilien. Deren neuer Vater ist Gott im Himmel. Offenbar haben irdische Väter insoweit ausgedient. Sie sind so wenig kirchlich, dass ein Ersatz nicht lohnt. Gott als Vater ersetzt voll und ganz die »allmächtigen« Familienhäupter. – Es geht daher wirklich um eine Kritik an der für die Botschaft destruktiven Rolle von Familien inklusive deren Filz und Zwang zum Hergebrachten, um die Zwänge zur Rücksichtnahme, den Druck auf Heiratspläne und auf irgendetwas Neues in der Welt. Das Evangelium kann Jesus nicht als Absegnung verstehen, sondern nur als Revolution. Herkömmliche Familien aber sind die größte Gefahr für das Evangelium, sie sind die Luft, die alles erstickt. – Zum familienfeindlichen Zug des Urchristentums vgl. auch Mt 8,22.
Das Evangelium nach Matthäus
Mt 10,37-42: Sich selbst vergessen – Theonomie Der Text umfasst zwei Abschnitte, außer den Bedingungen der Jüngerschaft auch Verheißungen für jene, die den Jüngern Gutes tun. Von den Jüngern wird sehr viel verlangt, die Verheißungen dagegen gelten schon für geringes Tun. Die Jünger sollen auf Familie verzichten und den Weg des Kreuzes gehen; wenn man dagegen Jünger gastfreundlich aufnimmt oder ihnen auch nur ein Glas Wasser reicht, dann hat man Anteil an ihrem Lohn. Das lässt nur einen Schluss zu: Jünger zu sein ist hart; doch wer ihnen Gutes tut, hat es verhältnismäßig leicht, in den Himmel zu kommen. Das Mittelstück der Argumentation scheint zu fehlen: Was ist mit den Jüngern selbst? Gehen sie auf dem Weg des Verzichts und des Kreuzes nicht geradewegs in die Herrlichkeit ein? Kaum etwas davon verlautet außer: »seine Seele, d. h. sich selbst, finden«. Eine üppigere Verheißung für die Jünger gibt es nicht. Stattdessen richtet sich der Blick »rechts« und »links« neben sie. Links von ihnen steht Jesus Christus, rechts stehen die anderen Menschen. Nur auf sie selbst fällt der Blick nicht. Diese »Lücke« in der Mitte des Textes entspricht jedoch inhaltlich genau dem Vers Mt 10,39: »Wer sich selbst als Ziel betrachtet, der wird sich verfehlen. Wer sich aber aufgibt für mich, der kann sich selbst finden.« Dieser Satz fordert zu dem auf, was Jesus mit seinen Worten selbst praktiziert. Die Empfehlung, nicht auf sich selbst, sondern auf Christus oder die anderen zu blicken, kennt auch Paulus. Nach 2 Kor 5,13 gibt es nur Gott oder die Gemeinde als Orientierungspunkte der apostolischen Existenz, nicht den Apostel selbst. Daher sagt er dann in V. 14: »Was mich treibt, ist die Liebe, die ich von Jesus, dem Messias empfange …« In Mt 10,39 ist Jesu Lebensweisheit formuliert: Nur der kann sich selbst finden, der gründlich lernt, sich selbst zu vergessen. Und das geschieht eben im Gebet, in der Arbeit, wenn sie mit Geist und Begeisterung getan wird, und vor allem in jeder Liebe. Die Selbstfindung im Sinne Jesu ist keine Selbstverwirklichung, die stets darauf bedacht ist, dass genug Spaß für einen selbst übrig bleibt. Nein, sich selbst gewinnt man, indem man von sich selbst absieht und auf Gott (Jesus Chris-
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Kapitel 10
tus) oder den Nächsten blickt. Es ist ganz eindeutig die Frage nach Glück, die Jesus hier angeht. Glücklich wird man, indem man sich selbst vergessen kann. Wenn man ganz bei der Sache ist und nicht neben sich steht. Das geschieht in der Liebe, die ganz beim anderen ist. Es geschieht in der Arbeit, wenn wir die Zeit darüber vergessen. Und beim Gebet, wenn wir uns ganz der Gegenwart Gottes anvertrauen. Das alles bedeutet Befreiung vom kurzsichtigen Egoismus des Ich und den Zwängen, denen es sich selbst ständig aussetzt. Auch die Konzeption der neuzeitlichen Menschenrechte beruht oft auf der irrigen Vorstellung, der Einzelne habe Rechte, die er durchsetzen müsse. Nach Ansicht der Bibel hat Gott ein Recht am Menschen. Isoliert für sich betrachtet kann sich der Mensch daher auch weder erlösen noch befreien. Am meisten hindern ihn seine eigenen festgefügten Vorstellungen und Lebenspläne daran, er selbst zu werden. Er muss sich schon an die Hand nehmen lassen und die Mauern, die er selbst aufgerichtet hat, in der Kraft von oben her überspringen. Jetzt verstehen wir besser, was die Trennung von der Familie und das Schultern des Kreuzes nach 10,37f bedeuten: Sie befreien von kurzsichtigen Festlegungen unserer Lebensziele auf alles das, was man angeblich tun muss. So geht es hier weder um Autonomie (moderne Selbstverwirklichung), noch um Heteronomie (ein Leben lang den Gesetzen und Pflichten der Familie unterworfen zu sein), sondern um Theonomie. Und das heißt: wirklich aus sich herauskommen, weil Gott hilfreich im Rücken steht. Nach V. 40-42 haben alle, die Jesu Jünger aufnehmen oder ihnen zu trinken geben, Anteil am Lohn der Gerechten und am ewigen Leben. Die Jünger Jesu werden daher deutlich von denen unterschieden, die irgendetwas Gutes für sie tun. Hinter diesem Text wird zunächst die unersetzliche Bedeutung der Gastfreundschaft für das früheste Christentum erkennbar. Hier werden die ortsansässigen Sympathisanten und späteren Gemeindeglieder aufgerufen, den wandernden Aposteln Quartier und Kost zu reichen. In einer Zeit, in der es keine Hotels gab, war diese Art Gastfreundschaft elementar für die Ausbreitung des Christentums. – Erstaunlich aber ist die Lohnzusage: Es reicht für den Himmel, wenn man solche Gastfreundschaft übt. Selbst wenn
59 man in Rechnung stellt, dass Jesus sich oftmals sehr »grotesk« äußert, bleibt die Grundaussage bestehen: Wer den Boten Jesu Gutes tut, hat Anteil an deren himmlischem Lohn. Denn »Prophet« war eine Kategorie, unter die man auch Jesu Boten fassen konnte. Grundsätzlich ähnlich ist Mt 25,40.45: Was die Angeredeten einem Bedürftigen getan haben, das haben sie Jesus getan. Jesus ist persönlich von dem tangiert, was man seinen Repräsentanten antut – das antike jüdische Botenrecht gilt also von denen, die Jesus bevollmächtigt. Sein Kern lautet: »Der Bote ist wie der, der ihn gesandt hat.« – Überdies aber sind diese Boten Heilsmittler. Denn was man ihnen getan hat, dafür gilt die Verheißung himmlischen Lohnes. Hier, im Verhältnis zwischen den von Jesus Gesandten und Bevollmächtigten und den ortsansässigen Sympathisanten oder Christen, kann sich das Heil entscheiden. Es muss nicht Jesus persönlich sein, dem man Gutes tut (wie Mk 14,9). Es »genügt«, wenn man seine Boten respektiert. Diese Aussage ist im Zeitalter ökumenischer Diskussion über das Amt brisant. Hier wird die Funktion der von Jesus Bevollmächtigten und Gesandten so hoch angesetzt wie niemals später in der Kirchengeschichte. Denn es heißt ja nicht nur »eurem Bischof sollt ihr gehorchen wie dem Herrn«, sondern dieser Jesustext geht viel weiter: Im Verhältnis zu den Boten Christi könnt ihr das Heil erwerben. Damit ist übrigens nichts gesagt über solche, die den Boten Christi nicht begegnen. Aber sie sind »passive Heilsmittler«: Was man ihnen antut, was sie empfangen, das bewirkt das Heil für die Täter, und zwar weit über das Maß der Talio hinaus. Damit wird die Rolle Jesu Christi nicht überflüssig; denn nach V. 40 gilt: »Wer euch aufnimmt, der nimmt mich auf. Und wer mich aufnimmt, der nimmt den auf, der mich gesandt hat«. So geht es letztlich um die Gegenwart Gottes. Gott selbst ist in Jesus und in den von ihm Ausgesandten präsent. Von moralischer Qualität ist das nicht abhängig, sondern von der Tatsache der Sendung. Denn nach dem JohEv wird das Heil nicht durch Jesu Tod begründet, sondern dadurch, dass er als Person das Leben und der Weg ist. Daher ist unser Text von höchster Bedeutung für die »Kirche«. In der Begegnung mit denen,
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60 die hier Jünger heißen und die gesandt sind, steht ein Heilsweg offen. Sie repräsentieren in ihrer Vollmacht so etwas wie die Gegenwart des Geistes Gottes (triadische Struktur!). Sie äußert sich hier als Unverhältnismäßigkeit: für einen Becher Wasser ein ganzes Himmelreich! Dieses Unverhältnis ist nichts anderes als ein Ausdruck für Gnade und dafür, dass in denen, die Jesus sendet, die Vollmacht überreich und staunenswert üppig ist. Zu Mt 10,37-42: »Wer einem dieser Jünger, die man die Kleinen nennt, auch nur ein Glas Wasser zu trinken gibt, weil er ein Jünger ist, Amen, ich sage euch, der wird bestimmt dafür belohnt werden.«. Gemeint ist ohne Zweifel himmlischer Lohn, und jede Art von Gastfreundschaft hat enorme, unausdenkliche Folgen. Denn wir hörten es im vorangehenden Satz: Wer einen Gerechten aufnimmt, weil er ein Gerechter ist, der wird belohnt werden wie ein Gerechter. Und ein Gerechter wird mit dem Himmelreich belohnt. Etwas anderes kommt nach der Verkündigung Jesu kaum infrage. Wir staunen an dieser Stelle über die phantastische Logik Jesu. Es muss daher kinderleicht sein, in den Himmel zu kommen. Da sehe ich auf der einen Seite Generationen von Asketen oft unter Schmerzen jahrzehntelang treu und mit vielen Opfern widerständig. Und dann kommt Jesus daher und verkündet freudestrahlend, ein Becher Wasser, an die richtige Adresse gegeben, tut es auch. Ein »Aufnehmen« Gerechter, das heißt: Gehör und Quartier ist so viel wert wie ein ganzes Leben Gerechtigkeit. Eine merkwürdige und bizarre Art von »Nicht-Rechnen-Können«? Es ist wohl klar: Jesus meint eine Mentalität, er rechnet nicht, wie wir das aber beim Zuhören tun, einzelne Werke zusammen wie früher auf einem Kassenzettel beim Kaufmann. Er meint nicht Berechnung, sondern gute Werke als Symptome einer Lebensauffassung. – Doch aus Jesu Sprüchen blickt auch eine besondere Art von Humor. Wir finden diesen Humor bei keinem anderen Religionsstifter und in keiner anderen Religion. Man muss nur bedenken, wie ernsthaft und verbissen über die Frage des himmlischen Lohnes in der Reformationszeit und Jahrhunderte danach gestritten wurde. Dann erscheint einem die Leichtigkeit, mit der Jesus darüber redet und die er offensichtlich
Das Evangelium nach Matthäus
auch praktiziert, als wirklich göttlich. Denn hier ist Jesus nicht der verhinderte Prinzipienpauker, sondern der lächelnde, wohl verschmitzt lächelnde Heiland. Er sagt uns, dass das alles ganz leicht sei, woraus Menschen oft einen großen Krampf machen. Er deutet an, dass das Christentum sich an den kleinen und kleinsten Einzelzügen des Alltags zeigt, an der Großzügigkeit. Und auch daran offenbar, dass man ein wenig Zeit hat. Denn ein Mensch, der nach einem Glas Wasser verlangt, braucht dazu ein paar Worte und ein kurzes Gespräch. Oft brauchen die Menschen dieses am nötigsten. Wahr ist aber auch, dass diese Großmut oft durch Betrüger enttäuscht wird. Die das Betteln und die Gespräche nur ausnutzen. Jesus ist dieses Thema gar nicht fremd, und in ganzen Passagen der Bergpredigt (bzw. Feldrede) geht es um das Ausnutzen. Denn wer freiwillig das Doppelte gibt oder doppelt so weit mitgeht, der lässt sich schamlos ausnutzen. Und das macht Sinn, sagt Jesus, sich ausnutzen zu lassen bis aufs Hemd. Denn der Himmel weiß das zu schätzen, Leute, die nicht nur einen Becher Wasser reichen, sondern dann gleich zum Abendessen einladen. Wo Menschen genauso freigiebig werden, wie Gott es ist, und immer wieder nachschenken. Wer sich so auf den Stil Gottes einlässt, und so handelt, dem wird es auch selbst so ergehen. Wer ohne Maß schenkt, dem wird auch ohne Maß wieder geschenkt. Das ist keine Mechanik, sondern ein bestimmtes Niveau. Was ist daran humorvoll? Humorvoll ist daran dieses spielerische Vertauschen der Größen- und Gewichtsunterschiede. Denn wenn einer das, was klein ist, so behandelt, als wäre es ganz groß, was schwer ist als wäre es ganz leicht, dann wird gespannte Erwartung erleichtert. Und es entspannt, wenn Jesus das Bitterernste leicht nehmen kann. Er kann das Bitterernste leicht nehmen, weil er andere Maßstäbe hat, die eine verkehrte Welt darstellen. Wo ein Becher Wasser für den Himmel reicht, ein paar Augenblicke der Gastfreundschaft so viel sind wie das Leben eines Gerechten, da ist etwas grundlegend anders geworden. Denn 2 2 ist nicht mehr gleich vier. Jesus stellt die Maßstäbe auf den Kopf. So wie es früher auf dem Schützenfest »Spiegelkabinette« (Spiegellabyrinthe) gab, in denen alles plötzlich anders aussah, verzerrt, vergrößert, auf dem Kopf ste-
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Kapitel 11
hend. Die Leute lachten, weil sie wussten, dass es doch anders war. Bei Jesus weiß man das nicht so genau. Es ist vielmehr der Reiz, die Größenverhältnisse einmal ganz anders zu sehen. Im Unterschied zu vielen anderen Propheten schildert Jesus keine Katastrophen, wenn er so redet. Die frohe Botschaft wirkt dadurch befreiend, dass sie falsche Anspannung und verkrampftes Hinstarren löst. Wenn man also lachen darf statt einsam zu streben, dann ist man wirklich entlastet. Das gilt wohl auch für Mt 11,25-28: Jesus befreit von den Lasten durch den Humor, den man von ihm lernen kann. – Noch ein weiterer Zug des Humors Jesu findet sich auch hier, die Unverhältnismäßigkeit. So wie wenn im Zirkus ein Clown mit zwei Meter hohen Sohlen zu gehen versucht und jongliert und es hinbekommt und sein Ziel erreicht. So wie ganz hohe Sohlen absolut zu viel sind, um die nächste Ecke zu erreichen, dürfte ein Glas Wasser absolut zu wenig sein, um das Reich Gottes zu erreichen. Das ist jedenfalls die
alltägliche Einschätzung. Diese alltägliche Meinung tendiert dahin, nur Helden und Tugendmonster könnten das Reich Gottes erlangen. Jesus widerspricht dem: Er sagt: Nein, die Kleinen, nicht die Vorzeigeheiligen, sind diejenigen, die typischerweise himmlischen Lohn erlangen, und was sie tun müssen, sind bescheidene Gesten, nicht vor laufenden Kameras vollzogen, sondern im Stillen. Sie sind unscheinbar, aber geschehen zur rechten Zeit. Wenn es trotzdem gelingt, per Übertreibung oder per Untertreibung, dann spricht das dafür, dass der Clown clever war. Gewiss besteht eine Spannung zu Jesu Wort vom schmalen Weg zum Himmelreich und vom breiten Weg in den Untergang. Aber dieses Wort bezieht sich auf die Menge, denen es gelingt oder misslingt. Jesu Worte von der Unverhältnismäßigkeit dagegen beziehen sich auf das Wie. Es ist demnach ganz einfach, in den Himmel zu gelangen, und Jesus sagt, wie das geht.
Mt 11: Klärung der Identität Jesu Zum Aufbau Mt 9-11: Das MkEv weist ähnliche Strukturen auf wie Mt: Kap. 4 Lehre – Kap. 5f: Wunder zur Beglaubigung – Kap. 7: Lehre – Kap. 8: Wunder zur Beglaubigung – Kap. 8-9: Klärung der Identität. – Dem entspricht im MtEv Kap. 5-7: Bergpredigt – Kap. 8: Wunder und Nachfolge – Kap. 10: spezielle Regeln für Nachfolge in der Mission – Kap. 11: Klärung der Identität Jesu. Mt 11 klärt zum Abschluss des großen Abschnitts Mt 5-11 die Identität Jesu, und zwar mit Hilfe eines durchgehenden Vergleichs. So ergibt sich nach Mt 11 dann folgender Kontrast zwischen Jesus und dem Täufer: Jesus: Wunder – Johannes: kein Opportunist; Jesus: Evangelium für die Armen – Johannes: kein »Salonlöwe«; Jesus: in jeder Hinsicht ärgerlich – Johannes: mehr als ein Prophet, der größte Mensch – Jesus: Hochzeit spielen – Johannes: Beerdigung spielen – Jesus: mittanzen – Johannes: mitheulen; Jesus: Essen und Trinken, »Fressen und Saufen«, Kumpel der Gottlosen – Johannes: Trauern, kein Brot und Wein (»Besessen«).
Mt 11,2-10: Johannes der Täufer – Jesus Im Abschnitt Mt 11,2-10 werden die beiden wichtigsten Fragen des beginnenden Christentums dramatisch zugespitzt und sehr unkonventionell beantwortet. Diese beiden Fragen lauten: Wer ist Jesus, ist er der Messias – und wer ist der Täufer? Ungewöhnlich ist die Art der Antwort. Denn vom Petrusbekenntnis in Mt 16,14-16 her sind wir es gewohnt, die »Wer ist … ?«-Fragen mit christologischen Titeln zu beantworten (er ist der »Sohn Gottes«, »der Herr« oder ähnlich). Hier dagegen ist nur von den Werken des Messias Christus die Rede, und es handelt sich um eine Anspielung auf Jes 35,5f (oder Jes 29,18f), auf Texte also, in denen von den endzeitlichen Taten Gottes die Rede ist. Jesus nimmt diese Taten vor Gottes Kommen gewissermaßen vorweg, oder anders gesagt: Wenn er so handelt, dann deshalb, weil Gott selbst durch ihn und in ihm handelt. So wird Jesus durch seine Taten als der legitimiert, der niemand anderen als Gott darstellt. Übrigens hatte man schon in der Aufnahme der Jesaja-Stelle in den Texten von Qumran die Liste der Taten Gottes um das entscheidende
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62 Glied ergänzt, das auch bei Mt 11,5 wieder begegnet, nämlich um die Aussage »er wird die Toten auferwecken«. Entscheidend ist dies deshalb, weil man sich im Judentum darüber einig war, dass alle möglichen anderen Taten theoretisch auch von fragwürdigen Gestalten vollbracht werden könnten, hinter denen der Teufel stünde. Tote erwecken kann nur Gott. Das Problem dieser Antwort besteht darin, dass der Messias traditionell gar kein Wundertäter ist, auch das JohEv bestätigt, dass man keineswegs Wunder von ihm erwartete (Joh 7,31). Mithin ist es recht kühn, wenn sie in Mt 11,2 »Werke des Messias« genannt werden. Entscheidend ist aber in jedem Fall, dass die Frage des Täufers durch das Zitat von Jes 35,5f beantwortet wird: In Jesus wirkt Gott, Jesus ist Gott. Interessant ist, dass die Spitze der Wundertaten etwas ist, was uns gar nicht als wunderbar erscheint: dass den Armen das Evangelium verkündet wird. Offenbar geht es dabei nicht um eine leere Formel. Gerade der Evangelist Lukas, der unseren Abschnitt ja auch bietet (Lk 7,18-27), macht sein ganzes Evangelium in diesem Sinne zur Frohbotschaft für die Armen. In Apg 2-5 zeigt er, wie die frühe Gemeinde dieses umsetzt und wie den Christen »grundsätzlich« alles gemeinsam gehört. Warum ist Jesu Botschaft nicht leer? Ist Jesus nur ein Schönredner? Er hat die Armen weder zum Aufstand aufgerufen, was sie sicher den Römern ans Messer geliefert hätte, noch hat er sie mit Hinweis auf rein Geistiges vertröstet. Er hat sie als Menschen »aufgebaut«, er hat ihnen gesagt, dass sie trotz Schmutz und Hunger, trotz Sorgen und Lumpen von Gott bevorzugt geliebt sind, und er will, dass die Gemeinde daraus die praktischen Konsequenzen zieht. Jesus selbst hat mit diesen Menschen gelacht und geweint, gefeiert und getrauert. Nur die Armen und andere, die alles nur von Gott erwarten können, sind rein. Und sind nicht die jeweils Ärmsten oft gastfreier als andere, weil sie nicht viel zu verlieren haben? Dann aber kommt der rätselhafte Satz: »Selig, wer sich an mir nicht ärgert.« Alle Seligpreisungen sind Abgrenzungen, alle meinen besonders Erwählte. Diese Seligpreisung setzt daher voraus, dass sich viele an Jesus ärgern werden. Wenn jemand bei uns so redete: »Wer an mir keinen Anstoß nimmt, hat Glück gehabt«, dem würden wir
Das Evangelium nach Matthäus
unterstellen, er mache sich ohne Grund maßlos interessant. – In Mt 11,6 ist dieser Satz für alle bestimmt, die weder als Zeitgenossen von Jesus geheilt wurden noch Arme sind. Dieser Satz sagt: Man muss nicht behindert, arm, tot oder unrein sein, um von Jesus das Heil erwarten zu können. Es genügt, kein Ärgernis an ihm zu nehmen. Tatsache ist aber, dass fast alle ihn »ärgerlich« finden, und auch, dass sie versuchen, sich dieses Ärgerliche irgendwie zurechtzulegen. Erstens die Reichen, weil sie Jesus in Verdacht haben, sie müssten abgeben und teilen. Zweitens die Mächtigen, auf jeden Fall alle Staatsdiener. Die ärgern sich über Jesus, weil er die Machtlosen selig preist und nicht sie. Drittens ärgern sich an Jesus alle, denen er nicht geholfen hat, alle, die weiterhin leiden und sterben, die krank sind und wie aussätzig. Viertens ärgern sich über Jesus alle, die mit seinem Wort vom Kreuztragen nicht einverstanden sind. Denn angeblich ist das Kreuz lebensfeindlich. Solche Leute wollen lieber »leben«, wie sie sagen. In Wirklichkeit muss man aber, um sich ganz ehrlich und wirklich nicht über Jesus zu ärgern, schon vorher ein anderer geworden sein. Wer nur Lebensgenuss kennt, die hedonistische Elite, muss das Christentum für lebensfeindlich halten. Anfangen, sich über Jesus nicht zu ärgern, ist etwas Subtiles, und ein wenig Ehrlichkeit ist nötig, um ihm immer wieder Recht zu geben. Nach Mt 18 und Paulus (1 Kor 8,10) ist Ärgernis geben fast das größte Vergehen, das ein Christ dem anderen antun kann, wenn er ihn aus der Gemeinde herausdrängt. Auch der Abschnitt, der hier Johannes dem Täufer gewidmet ist, riskiert Anstößiges: Johannes ist kein Vertreter der Aristokratie. Seine asketische und herrschaftskritische Lebensweise entspricht in besonderer Weise den harten Kanten Jesu. Beide sind auf ihre Weise unerträglich. Das Gleichnis von den spielenden Kindern (Mt 11,16-19) zeigt dies dann noch einmal aus der Sicht der Adressaten. Dazu gehört auch Gottes eigenes Wirken an den Menschen. Die Leiden der Blinden, Tauben, Lahmen und Stummen heilt er. Er beseitigt wilde Tiere dort, wo sie nicht hingehören. Die versklavten Israeliten kauft er frei. Es geht, wohlgemerkt, um Gottes eigene Taten, nicht um die des Messias. Gott wird die Toten auferwecken. Der Mes-
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Kapitel 11
sias wird demnach an Gottes Taten erkannt. Die Macht dazu, wie auch seine Würde kann er nur von Gott selbst haben. Schon in der Interpretation der Stelle Jes 35,5f in den Texten von Qumran fügt man hinzu: »Er wird die Toten auferwecken« (4 Q 521 F1, col. 2: »Himmel und Erde werden seinem Messias gehorchen … Er wird die Gefangenen freilassen, die Blinden sehend machen und die Niedergeworfenen aufrichten. Dann wird er die Kranken heilen und die Toten lebendig machen und den Armen die Frohbotschaft verkünden, Er wird leiten die Heiligen, er wird sie als Hirte führen …«). Damit aber ist die Brücke gegeben zu Mt 11,5, denn nach diesem Text beseitigt Jesus die Gebrechen der Blinden Lahmen, Aussätzigen, Tauben, Toten und Armen. Die besondere Zuspitzung der Reihe wird uns gleich noch beschäftigen. Hier geht es zunächst um die erstaunliche Tatsache, dass der Messias Gottes Taten vollbringt und dass diese laut 11,2 mit den »Werken des Christus« einfach gleichgesetzt werden. Demnach besteht eine ungebrochene Handlungseinheit und TatenGemeinschaft zwischen Gott und Messias. Wenn der Messias handelt, dann wirkt Gott. Der Messias ist daher so etwas wie der rechte Arm Gottes. Das ist genau der Punkt, den Benedikt XVI. in seinem Jesus-Buch herausgestellt hat. Die Handlungseinheit ist die Art, in der neutestamentliche Schriftsteller das zum Ausdruck bringen, was später in der griechischen Kirche die Wesenseinheit genannt werden wird. Der Sendende und der Gesandte sind durch ein gemeinsames Wirken verbunden. Das sagt auch der Evangelist des JohEv mit dem Wort »Ich und der Vater sind eins«. Das ist gewiss noch keine ontologische (Wesens-)Aussage, wohl aber eine über die Einheit des Willens und des Handelns. Und genau aus diesem Grund kann Jesus nach dem MtEv immer wieder die Anbetung in Form der Proskynese entgegennehmen, ohne sie abwehren zu müssen (Mt 2,2.8.11; 8,2; 9,18; 14,33; 15,25; 20,20; 28,9.17). Denn sie gilt dem Vater, der in ihm sichtbar wird, erscheint, handelt. Das, was er weitergeben kann, seine machtvolle Gegenwart, hat der Vater dem Sohn gegeben; in Mt 11,27 wird der Sohn dies ausdrücklich sagen (»Alles ist mir vom Vater übergeben …«). Die »Verkündigung des Evangeliums« an die Armen entspricht Jes 61,1. Dort steht der Satz
63 am Anfang einer Liste, die Jes 35 ähnelt (Heilung der Zerbrochenen, Befreiung der Gefangenen, Loskauf der Gefesselten). Der Kreis der Armen ist nach dem MtEv sicherlich umfassender als der der Blinden und an Organen Behinderten. Außerdem ist es gut, die Predigt des Evangeliums zu betonen; denn sie wird durch die Christen, die das MtEv besitzen, fortgeführt. Es ist eben das Evangelium im Ganzen, das sie verkündigen. Die Seligpreisung am Schluss meint: Das Hauptproblem besteht nicht darin, ob Jesus Wunder tut. Es besteht darin, in welcher Hinsicht man sie ihm zutraut. Steht tatsächlich Gott hinter ihm, oder ist er nur ein Beamter des Teufels, ist er nur einer der Pseudo-Christusse, die durch Wunder die Menschen verführen, um sie zu beherrschen? In Mt 24,23-25 ist diesen Figuren breiter Raum gewidmet. Ist Jesus nur einer von ihnen? Pseudo-Messiasse gibt es viele, durch die jüdischen Schriftsteller des 1. Jh. kennen wir eine ganze Reihe von ihnen. Warum sollte gerade Jesus der wahre Messias sein? Man bedenke: Nur ein einziger kann der wahre sein! Für Johannes den Täufer ist das eine historische Anfechtung genauso wie für die Christen in der späteren Gemeinde des MtEv. Die Lösung, die Jesus hier gibt, geht von seinen Wundern aus. Weil es Gottes Taten sind, ist die Legitimationsfrage geklärt. – Vom Messias erwartet man solche Wunder nicht, schon gar keine Totenerweckung. Aber weil er sie tut, weil er damit die verletzte Menschheit heilt, weil er auch die innerlich und sozial verletzte Menschheit durch sein Evangelium hoffnungsfroh und gesund macht, deshalb gehört er unbedingt auf die Seite Gottes. Dabei möchte ich das »Evangelium für die Armen« im weitesten Sinne als christliche Soziallehre verstanden wissen. Es gibt in den Evangelien keine andere Stelle, an der sie deutlicher und als für das Ganze charakteristisch angesprochen wird. Jede Spiritualisierung der »Armen« ist durch den Wortlaut verboten. Diese Frohbotschaft wird etwas ausführlicher im Magnificat aufgenommen. Das ist deshalb interessant, weil die dort angeführten Gegensatzpaare (die Übermütigen stürzen, die Hungrigen satt machen) in schöner Entsprechung zur Heilung der Gebrechen nach Mt 11 stehen: Der Gott, der den Armen die frohe Botschaft verkündigt, ist derselbe, der die Mächtigen vom Thron stürzt und die
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64 Niedrigen erhöht. Es handelt sich daher um dasselbe Gottesbild von dem Gott, der Gegensätze schafft bzw. ausgleicht. – Zum Schluss wendet sich Jesus in Mt 11 noch einmal dem Täufer zu, und das bestätigt eine sozialkritische Auslegung. Der Täufer gehört ja nicht zu den Fürsten und Luxusliebhabern. Er ist ein Prophet, auf der Seite der Armen im umfassenden Sinne. Zu Mt 11,3 (par Lk 7,20): Der Ausdruck »der Kommende« (»der da kommt«) ist in Mt 11,3 und Lk 7,20 bereits terminus technicus für den Messias, der »kommt«. Auch Joh 4,25 spricht davon, dass der Messias »kommt« (»wenn jener kommt«). Joh 6,14 nennt den Propheten »der in die Welt kommt«; 1 Joh 2,18 sagt, dass der Antichrist »kommt« (ebenso 4,3); 2 Joh 7 bezieht das Bekenntnis auf Jesus Christus: der »gekommen ist im Fleisch«. Analog ist als Wortbildung das samaritanische Ta’eb (der Wiederkehrende) nach Dtn 18,15 (»einen Propheten wie mich«). – Dass Dtn 18,15 im Hintergrund steht, könnte nicht nur der Prophetentitel in Joh 6,14 erweisen, sondern auch die Tatsache, dass neben Dtn 18,15 direkt der Abschnitt 18,19-22 steht, in welchem man leicht die Figur eines Antichristen als geweissagt erkennen kann. Andererseits wird in Mt 23,35; Lk 13,35 der Psalm 118,25f zitiert: »gesegnet, der kommt im Namen des Herrn«, und zwar für den kommenden Messias, der in den Tempel einzieht (vgl. Mk 11,10). Das heißt: Dieser erwartete Messias weist sich am Tempel aus, er definiert sich vom Tempel her. Das ist für Jesus zweifellos bereits nach dem MkEv der Fall, besonders aber nach Lk. Die Tempel-Passagen in den Evangelien erscheinen von daher in neuem Licht, insbesondere der Einzug in den Tempel, die Tempelreinigung und Worte wie Mk 14,58. Schließlich ist in Dan 7,11 die Rede von einem, der wie/als ein Mensch »kommt« – und das könnte der Schlüssel zu 2 Joh 7 sein. Denn dann ist der Menschensohn eben wahrer Mensch. Zu Mt 11,18f: Von der Weisheit (V. 19b) ist im Kontext Mt 8-11 nicht die Rede. Also könnte es sein, dass dieser Vers ein meta-kommunikativer Satz ist: Weisheit würde dann hier verstanden als die verborgene Lösung (daher Weisheit) eines rätselhaften Sachverhalts. Dieser wird in
Das Evangelium nach Matthäus
11,18-19a geschildert: Sowohl der Täufer als auch der Menschensohn werden abgelehnt, obwohl sie ganz gegensätzlich waren. Das kann logisch nicht angehen. Weisheit könnte sich darin erweisen, hier einen Ausweg zu finden. Wer das Paradoxon von 11,18-19a entschlüsselt, könnte zeigen, dass er eine wirksame Weisheit findet. Deutet man eher konventionell, so müsste man sagen: Auf die Werke kommt es an! Was in einem Menschen steckt (seine verborgene, unsichtbare Weisheit), zeigt sich immer an den Resultaten. Und da kann man den beiden so unterschiedlichen Menschen Jesus und Johannes gewiss gleichermaßen zustimmen. Deren Weisheit gilt besonders im Widerstand gegen die Mächtigen (vgl. Lk 21,15; Mk 13,11; Mt 24,20). Es gibt dann auch eine Beziehung der »Werke« der Weisheit zu den Werken in Mt 11,2. Jesu Taten sind Werke von Gottes Weisheit.
Mt 11,20-24: Wehruf über die Städte Vgl. Lk 10,13-15.12 – der Text ist eine Kombination von Schelt- und Drohworten. Die Scheltworte bestehen jeweils aus Weheruf und Begründung. An die Stelle der Fremdvölker-Orakel des Alten Testaments treten hier Städte-Orakel über palästinische Orte des Wirkens Jesu, vergleichbar den Weherufen gegen Jerusalem, Babylon und Tyrus etc. – Ziel der Worte: Selbst Tyros, Sidon und sogar Sodom werden im Endgericht (»Tag des Gerichts«) den Städten Chorazin, Betsaida und Kafarnaum vorgezogen werden. Tyros, Sidon und Sodom sind klassische Orte heidnischer Sünde. Der Grund zur Anklage besteht darin, dass die Menschen in diesen Ortschaften die Machttaten Jesu (seine Wunder) nicht als Anlass zur Umkehr genommen haben. Über Wunder in Kafarnaum hatte z. B. Mt 8,5-17 berichtet, ebenso spielen die Wunder von Mt 9,1-34 in »seiner« Stadt. Kafarnaum nimmt hier die Klimax ein, weil es »seine« (d. h. Jesu) Stadt ist. In Mt 10,14f galt eine vergleichbare Gerichtsankündigung für jede Stadt, die die Mission der Jünger abweist. Dass die »Stadt« ansprechbare Größe ist, nicht der einzelne Mensch in seinem Gewissen, weist hin auf den grundlegenden Charakter der »Städte« im ganzen Mittelmeerraum bis heute.
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Kapitel 11
Nach der späteren Auslegung wird sogar der Antichrist in Chorazin geboren und wächst in Betsaida auf (Ps.-Methodius; Ps.-JohEv [ar] 37,53). Das Ps.JohEv [ar], ed. Galbiati 37,25 (132,10) sagt über den Antichrist: »Hütet euch vor dem Gegner! Denn er wird kommen wie ein Dieb, und man wird ihn nicht bemerken. Wehe Chorazin, wehe Betsaida, wehe wiederum Kafarnaum. Denn auch wenn es zum höchsten Himmel aufsteigt, wird es dennoch zur Unterwelt fallen. Und wisst: Siehe, Babel und Persien werden zerstört werden …«
Das Aufsteigen zum Himmel und der Sturz in die Unterwelt sind hier eine Auslegung von Jes 14,13-15 (dort gegen Nebukadnezar). Theologisch wird hier erkennbar: Das Ziel der Wundertaten Jesu ist die Umkehr. Wird sie trotz allem nicht vollzogen, so gelten die Wunder als Argument gegen ihre Adressaten. Die Wunder sind daher ein zielgerichteter Teil der Verkündigung Jesu. 1 QH 7,26-33: »Ich preise dich, Herr! Denn du hast mich unterwiesen in deiner Wahrheit und in deinen wunderbaren Geheimnissen mir Wissen gegeben.«
Mt 11,25-30: Jesu Adressaten Die Botschaft Jesu richtet sich nicht an die Klugen und Gebildeten, sondern an die Einfachen. Jesu Worte in Mt 11 besagen: Die so genannten Laien sind seine Adressaten. Sie sind neugierig und wissbegierig. Sie sind nicht satt, voller scheinbarer Gewissheit über ihr scheinbares Wissen, sie meinen nicht zu sehen wie die blinden Pharisäer nach Joh 9. Sokrates und Nicolaus Cusanus haben das Notwendige über den Laien (»idiota«) gesagt, und Jesus ist der Dritte im Bunde. Christentum meint nach Mt 11 etwas ganz Einfaches: dass nämlich der Vater nur durch den Sohn zugänglich wird, und zwar durch ihn als Person. So berichtet das ganze Mt-Ev vom Weg Jesu, der »auf Gewalt verzichtet und ein demütiges Herz hat«, vom Weg bis ans Kreuz. Jesu Lehre ist sein Leben. Jesus hat vielleicht geahnt, dass Christen immer wieder Opfer ihrer eigenen Lehre werden würden, gerade was das Thema dieses Textes anbelangt: die Beziehung zwischen Vater und Sohn. Der Text in Mt 11 sagt nun freilich, dass diese
65 Einfachheit nicht darin bestehen kann, Jesus für einen »bloßen Menschen« zu halten. Das Christentum wird nicht dadurch einfacher, dass man Jesu exklusive Würde herabsetzt. Vielmehr sollte man sie anerkennen und dann den Weg des Gewaltverzichts und der Demut anhand des Evangeliums nach Matthäus mitgehen. Insofern enthält unser Text das sehr Besondere Jesu und zugleich allgemein das, was man nachahmen kann. Der Ausdruck »Joch« oder »Bürde« wird sonst vom jüdischen Gesetz gebraucht, aber auch die übrigen Prädikate Jesu nach diesem Text galten sonst im Judentum von der Weisheit und vom Gesetz. Das kann besonders von der »Werbung« Jesu für sich selbst gesagt werden (»Kommt her zu mir …«), die formgerecht die eines orientalischen Wasserverkäufers ist. Das gilt auch für die Verheißung der Erleichterung und des Aufatmens am Schluss. Und das trifft sich genau mit den Offenbarungsansprüchen in diesem Text. So wie Gesetz und Weisheit die Offenbarung des Alten Bundes sind, so ist Jesus die des Neuen Bundes, und zwar in Person. Das Gesetz Christi, das jetzt gilt, ist sein Weg. Wilhelm von Saint-Thierry († 1149), der Freund Bernhards von Clairvaux, beklagt sich in seiner berühmten Meditation XIII über dieses Wort Jesu: »Du hast mich in die Irre geführt, Herr, und ich habe mich in die Irre führen lassen. Du warst stärker als ich und hast mir deinen Willen aufgezwungen. Als ich dich sagen hörte: ›Alle ihr, denen man Lasten und Bürden aufgeladen hat, kommt zu mir, ich will euch aufatmen lassen‹, bin ich zu dir gekommen und habe deinem Wort geglaubt. Aber hast du mich aufatmen lassen? Ich hatte keine Lasten zu tragen, doch nun drücken sie mich schwer, sodass ich unter ihnen fast zusammenbreche. Bürden hatte ich auch nicht auf dem Buckel, doch jetzt werde ich matt und müde unter dem, was ich zu tragen habe. Du hast auch gesagt: »Mein Dienst ist erträglich, und meine Last ist leicht.« Was heißt hier erträglich? Was heißt leicht? Dein Dienst ist so unerträglich, deine Last ist so schwer für mich, dass ich unter ihrem Gewicht zusammenbreche. Ich blickte mich um, doch niemand half mir, ich suchte Beistand, doch niemand kam mir zu Hilfe (Jesaja 63,5)« (Übersetzung: Berger/Nord, 2001).
Mt 11,25 ist Dank für empfangene Weisheit (vgl. Dan 2,20f: »Gepriesen sei Gottes Name …, den
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66 Weisen gibt er Weisheit, den Verständigen Verstand …«). Im Unterschied zu Dan 2,20f gibt Gott nicht den Weisen, sondern den Unweisen Verstand. Aber auch schon die alttestamentliche Weisheit richtet sich an die Toren und die der Weisheit Bedürftigen (Spr 9,4-6: »Wer ungelehrt ist, biege hier ein, und wem die Einsicht fehlt, dem will ich künden …«). Falsches Elitedenken ist hier ebenso wenig zu beanstanden, wie Sozialromantik hier zu unterstellen ist. Eine Verwandtschaft besteht zur paulinischen Weisheitskritik in 1 Kor 1: Die Weisheit der Welt nach Paulus entspricht hier der Weisheit der Weisen. Gottes Weisheit ist aber eine Weisheit der Toren. Sie ist ganz neu und vor den Weisen der Welt verborgen, vgl. Mt 11,25b mit 1 Kor 2,7f (verborgene Weisheit, die keiner der Mächtigen erkannte). Nur schildert Jesus in Mt 11 nicht die katastrophalen Folgen der bisherigen so genannten Weisheit der Weisen; nach Paulus ist das der Mord an Gerechten. Die semantischen Beziehungen sind: Paulus – Weise dieser Welt; Mt – Weise, Verständige; Paulus – Törichte; Mt – Unmündige; Paulus – Weisheit Gottes; Mt – offenbaren. In 11,29f wird Jesus sagen, dass der Inhalt dieser Weisheits-Offenbarung weder Sachwissen noch Weisheitsregeln sind, sondern er selbst als Person. Auch Sir 44-48 kennt das Phänomen, dass Kurzbiografien von Vorbildern Weisheitslehre sein können. In der Weisheit Salomos 7f gilt das besonders von König Salomo, dem Sohn Davids. Da Jesus nun sogar der Sohn Davids der Endzeit ist, steht hier »mehr als Salomo«, nämlich »der« endgültige Sohn Davids. »Offenbarung als Person« ist aber das besondere Thema des JohEv. Insofern gibt es hier eine wichtige Querverbindung (neben vielen anderen zwischen dem MtEv und JohEv). Neben der christologischen Konzentration steht schon in 11,27 (»wem es der Sohn offenbaren will«) die »ekklesiologische Engführung«. Mt 11,25-27 ist Selbstvorstellung Jesu in einem Stil, den manche »johanneisch« nennen, und zwar wegen des absoluten Gebrauchs von »der Vater«/»der Sohn« (Joh 5,20; 8,19.38; 12,49; 1 Kor 15,28). Bei Aussagen dieser Art geht es stets um die Anteilhabe des Sohnes an der Erkenntnis des Vaters (z. B. Mk 13,32), so auch hier. Der Ausdruck »alles … übergeben« (V. 27) ist
Das Evangelium nach Matthäus
daher nicht mit Mt 28,18 zu vergleichen; Jesus meint hier nicht die Verfügungsgewalt über die Welt, sondern das, was er verkündet. Der Gattung nach ist 11,28 ein weisheitlicher Werberuf. Daher kommen die fast wörtlichen Übereinstimmungen mit Weisheitstexten: Sir 24,19-23: »Kommt her zu mir, die ihr nach mir verlangt, und esst euch satt an meinen Früchten … Die mich genießen, hungern noch, und die mich trinken, dürsten noch. Wer auf mich hört, wird nicht zuschanden, und wer mir dient, fällt nicht in Sünde. Dies alles ist das Bundesbuch des Höchsten, das Gesetz, das Mose uns geboten hat …« Sir 51,23-27: »Kehrt bei mir ein, die ihr unwissend seid, und haltet euch in meiner Schule auf! Wie lange noch wollt ihr vielerlei entbehren und eure Seele argen Durst erleiden lassen? Ich öffne meinen Mund und spreche. Erwerbt euch Besitz, es kostet ja kein Geld. Beugt euren Nacken in ihr Joch und eure Seele trage ihre Last. Nahe ist sie denen, die sie suchen, und wer sich ganz ihr hingibt, findet sie. Seht selbst, wie ich nur kurz mich mühte und viel Ruhe für mich fand!«
In Sir wird die Weisheit mit der Torah identifiziert, in Mt 11 setzt sich Jesus selbst im Ich-Stil mit ihr gleich. Diese wechselnde Identifikation entspricht dem Stil der Weisheit, die naturgemäß (international und daher) bunt ist (Eph 3,10) und in vielen Gestalten begegnet. (Die spätere liturgische Gleichsetzung der alttestamentlichen Weisheit mit Maria fällt daher nicht grundsätzlich aus dem Rahmen.) Da die Weisheit viel mit Repräsentation Gottes in der Welt (Kinder der Weisheit: Spr 8,32f; Sir 4,11; Lk 7,35) zu tun hat, ist der biblischen Weisheitstradition auch die Kategorie der Sendung nicht fremd, und zwar in verschiedener Hinsicht: a) Die Weisheit geht von Gott aus (SapSal 7,25.27); b) Die Weisheit sendet (Lk 11,49); c) Jesus repräsentiert die Weisheit (Mt 11,28); d) Jesus ist die Weisheit Gottes (1 Kor 1,24). 11,27: »erkennen« ist nicht im Sinne theoretischen Wissens gemeint, sondern als praktischer Umgang mit jemandem. Es handelt sich daher hier nicht um eine religionsgeschichtliche Feststellung zum Monotheismus. Bei der Wortverbindung »der Sohn«/»der Vater« geht es nicht einfach um »Sohn Gottes«, sondern um ein exklusives Verhältnis. Das ist bei
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»Sohn Gottes« nicht gegeben, denn der Sohn Gottes Jesus Christus ist der Erstgeborene vieler Geschwister. »Der Sohn« dagegen ist ein Alleinstellungsmerkmal. Die Ich-Worte einer Selbstvorstellung (11,27) sind auch sonst Autorisierung bedingter Mahnrede (11,28-30), vgl. Mt 10,34-41.41-42; Offb 21,6-7.8; Mk 1,2 f.3. In V. 28-30 gibt es zwei Brennpunkte: Jesus ist Offenbarung als der Demütige und Sanfte (11,29), und er kann »Ruhe« verheißen, die er selbst gibt und ist. »Ruhe« für die »Mühseligen und Beladenen« ist zweifellos der Sabbat, und insofern nimmt Jesus hier die Rolle des Sabbats ein (J. Ratzinger). Aber die »Ruhe« ist auch weisheitliches Stichwort, und im Übrigen wird der Sabbat je länger desto mehr eben auch (parallel zu anderen, s. o.) als Repräsentation der Weisheit angesehen (z. B. in: Teezaza Sanbat [äth], ed. I. Halévy, tr. W. Leslau). Das Aufgebot an rhetorischen Elementen in diesem Stück ist beachtlich: 11,25 spielt mit dem Spott über die »Weisen«, V. 28 macht es den Le-
sern leicht, sich wiederzufinden: Mühselig und beladen sind alle, Erholung brauchen sie jederzeit. V. 28 ist Einladung und Verheißung, V. 29 Bedingung und Verheißung, V. 30 macht auch die Bedingung leicht. Die Offenheit in V. 28 (»Kommt alle …«) steht in Spannung zur Exklusivität in V. 27b. Beides ist auf je seine Weise reizvoll. Auch dass das Geheimnis eine Person ist, bedeutet in gewissem Sinne eine Überraschung. – Emotionale Wertung ist auch verbunden mit dem Spiel von Auserwähltheit und Abgrenzung (V. 25f), mit der Intimität von Sohn und Vater (V. 27) und der Verheißung (V. 30).
Warum steht 11,25-30 an dieser Stelle des MtEv? Es ist eine abschließende Selbstvorstellung. Speziell ist es der Abschluss der mit 11,2 gestellten Frage nach der Identität Jesu. Während die heutigen Leser eine Selbstvorstellung zu Anfang erwarten (vgl. auch die Proömien der Briefe), steht sie in den Evangelien häufiger am Schluss. Das entspricht einer wesentlichen Eigenart biblischen Zeit-Denkens überhaupt (Enthüllung Gottes am Ende).
Mt 12: Zur Legitimität Jesu Thema in 12,1-50 ist die charismatische Legitimität Jesu, des Lehrers für Israel. Im Zentrum von Kap. 12 stehen die jüdischen Themen Tempel, Davidsohnschaft, Jona, Exorzismus. Sofort springt der umfangreiche prophetische Text aus Jes 42,1-4 in Mt 12,18-21 in die Augen, das längste Zitat im Neuen Testament. Zum Aufbau von Mt 12: Zu Beginn stehen zwei Sabbatberichte, offenbar als Auslegung der »Ruhe« Mt 11,29f (12,1-8.9-14). – Sodann geht es zweimal um »Krisis« (12,15-21: Jes 42,1-4 erfüllt; krisis in 12,18.20 und 12,36-42: Ergehen im Weltgericht, griech.: krisis in 12,36.41f). – Dämonen kommen zweimal (12,28-30.43-45). – Jesus steht höher als die beiden Repräsentanten des Alten Testaments, als der Prophet Jona und der König Salomo (12,38-42). – Die Geschichte läuft auf Scheidung zu (krisis in V. 41 und 42). Davon berichten dann die Gleichnisse in Kap. 13.
Mt 12,1-8.9-21: Zwei Sabbatthemen Die beiden Sabbatperikopen am Anfang von Mt 12 kann man als Auslegung des Stichwortes »Ruhe« in Mt 11,29 auffassen. Denn Ruhe (griech.: anapausis) bezeichnet das Gut des Sabbats. Dann sind diese Texte so aufzufassen: Wenn es schon im Tempel erlaubt war, den Sabbat zu brechen (12,5), um wie viel mehr erst bei Jesus. Daher ist 12,7 auf ihn zu beziehen: Er fordert nicht Opfer, sondern will Erbarmen erweisen (12,1-8). Und: Jesus demonstriert diese Barmherzigkeit am Sabbat. Denn in ihm geht das Schriftwort vom barmherzigen, nicht richtenden Sklaven Gottes in Erfüllung. Die Ruhe von 11,29 wird in den Versen V. 19.20a des Jesaja-Zitats wieder aufgegriffen (12,9-21). Zu Mt 12,1-8: Im Unterschied zu Mk 2,23 wird gesagt, dass die Jünger die Ähren am Sabbat abrissen, weil sie Hunger hatten und deshalb die Ähren aßen. Danach richtet sich auch die Argumentation, die freilich in den Konsequenzen
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68 weit über diesen Zwischenfall hinausgeht: 1. Exemplum: Hunger bricht ein sakrales Essverbot (1 Kön 21,1) – 2. Exemplum: Kultpersonal bricht das Sabbatgebot (Num 28,9). – Zwei Begründungen: (a) In V. 7: Hos 6,6 »Erbarmen (will ich zeigen) und nicht Opfer (verlangen).« Jedenfalls Hugo v. St. Viktor deutet bei Erbarmen auf die Barmherzigkeit Gottes. (b) In V. 8: Der Menschensohn meistert den Sabbat (d. h. er legt die Vorschriften über den Sabbat richtig aus). Warum? (S. u.). Wir sahen bereits: Der christliche Messias erweist sich am Tempel (vgl. zu Mt 11,3). Hier erweist er sich auch am Sabbat, und alle vier Evangelien kennen nicht gerade wenige Sabbatgeschichten. Warum aber ist außer dem Tempel auch der Sabbat der Prüfstein? Neben einem historischen Grund steht ein eschatologischer. Der historische Grund: Der Sabbat ist für Jesus wie für die Jünger die Gelegenheit zur Verkündigung, da zu dieser Zeit und an diesem Ort in der Synagoge die meisten Juden zusammenkommen. In der Umwelt ist der Sabbat der ganze Stolz der Juden, denn er ist Hauptexportartikel. Auch die römische Gesellschaft des 1. Jh. n. Chr. hat den Sabbat gerne angenommen (vgl. Horaz). Der zweite, theologische Grund blieb bisher unbeachtet: Es gibt einen Zusammenhang mit der Eschatologie Jesu. Jesus ist ja nicht Verkündiger des Reiches Gottes und nebenher auch noch Sabbat-Rebell. Das geht vielmehr zusammen. Der Sabbat ist Symbol der messianischen Zeit. Daher erbringt der Messias seine messianischen Zeichen am Sabbat. Die messianische Zeit ist z. B. nach Offb 20,4-6 und Analogien der siebte, d. h. letzte, Abschnitt der Welt-Zeit qua WeltWoche (in der Gott erfüllt, was an Verheißungen noch aussteht). Das siebte Jahrtausend ist der Sabbat der Welt und damit messianische Zeit; jeder Sabbat bildet diese Zeit ab. Was daher am Sabbat geschieht, weist auf den Messias (s. zu Offb 20,4-6). Mehr als der Tempel, nämlich der Herr des Tempels, ist der Menschensohn als Herr des Sabbats. Zwei zentrale Symbole Israels, ein lokales und ein zeitliches (Tempel und Sabbat) werden in Mt 12,1-8 direkt christologisch vereinnahmt. Und weil Jesus heiliger als der Tempel ist [Sedulius Scottus z. St.: Jesus selbst ist der Tempel], deshalb haben seine Jünger auch min-
Das Evangelium nach Matthäus
destens so viele Rechte im Tempel wie das Kultpersonal. Zu Mt 12,9-14: Die Argumentation in 12,11 entspricht der in Lk 14,5 (Sohn/Ochse); 13,15f (Ochse, Esel, Krippe) und in zeitgenössischen jüdischen Texten (CD 11,13f). Es geht dabei nicht um Tierliebe im modernen Sinn, sondern um eine Variante des Themas Besitz (dazu gehören die Nutztiere) und Nächstenliebe. Kritisch ist der Text, weil er eine Position angreift, die den Schutz des Besitzes über die Humanität stellte. Der Sabbat galt nur als Vorwand; Menschen wurde unter Berufung auf das Sabbatgebot Hilfe verweigert, die man den Tieren selbstverständlich zugestand (schon Ex 23,5: Hilfe zur Selbsthilfe des Tieres). – Bei der Heilung in 12,13 gibt Jesus den Befehl, handeln muss der Kranke selbst. Zu diesem Text vgl. Origenes, Komm. zu MtEv aus dem NazarenerEv: »Ich war Maurer, verdiente mit den Händen den Lebensunterhalt; ich bitte dich, Jesus, dass du mir die Gesundheit wiederherstellst, damit ich nicht schändlich um Speisen betteln muss!« Zu Mt 12,15-21: Mit diesem Zitat wird der Streit um die Legitimität Jesu in das Feld der exorzistischen Heilungen geführt (bis 12,45). Stichwort ist Mt 12,18: »Ich werde meinen Geist auf ihn legen.« Denn wenn Jesus den Heiligen Geist hat, kann er die unreinen Geister austreiben. Das Jesaja-Zitat in V. 18-21 weicht stark von der LXX ab und ist in sich so etwas wie die Begründung des Wunder-Geheimnisses, das in 12,16b ausdrücklich genannt wird. Der hier geschilderte Sklave Gottes wirkt im Verborgenen, denn seine Stimme hört man nicht auf der Straße. Er richtet auch nicht, und die Worte Jesu, er sei nicht gekommen zu richten, sondern zu retten, könnten hier ebenfalls ihre Grundlage haben. Die »krisis« von 12,18b ist nicht Gericht/Verurteilung, sondern Inbegriff von Normen, Maßstäben und Regeln. Die in 12,18.21 genannten Heidenvölker treffen sich gut mit der matthäischen Theologie (vgl. Mt 28,18-20). So ergibt sich: Eine Fülle charakteristisch »synoptischer«, ja matthäischer Themen ist aus dem Zitat Jes 42,14 zu begründen: Wunder-Geheimnis, Heiliger Geist auf dem Messias, retten statt richten, Sanftheit Jesu (vgl. Mt 11,29; 5,5). Nicht zuletzt
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ist Jes 42,1 auch die wahrscheinlichste Basis der Taufstimme in Mt 3,17 (»Dieser ist mein geliebter Sohn, an ihm habe ich mein Wohlgefallen«), denn das griech. pais der LXX (Sklave, Kind) kann auch als »Sohn« verstanden werden. Und schließlich: In seinem Volk ist dieser Gottessklave verborgen (V. 19), doch unter Heiden ist er offenbar (V. 18c.21). Ganz nebenbei ist V. 18, wenn man mit »Sohn« übersetzt, was sprachlich möglich ist, die älteste nachweisbare Verbindung von Heiligem Geist und Gottessohnschaft, die im Neuen Testament durchweg gegeben ist (Sohn Gottes wird man, ist Jesus durch den Heiligen Geist). Wie ist das historisch zu beurteilen? Das Zitat findet sich nur im MtEv. Es ist eine Art Zusammenfassung des Evangeliums (Nicolaus Cusanus würde sagen: die complicatio vor der explicatio). Am wahrscheinlichsten ist das Modell der gegenseitigen Inspiration: Die Botschaft Jesu und von Jesus sowie diese Jesaja-Stelle haben sich wohl (von Anfang an) in starkem Maße gegenseitig befruchtet. Dass Matthäus diese Stelle erst »spät« als Reflexionszitat entdeckt und »ganz zufällig« auf Ähnlichkeiten stößt, ist keine gute historische Erklärung. Zu V. 20 sagt Paschasius Radbertus (7. Jh.): »Die dem Tod nahe waren und verfinstert durch die Dunkelheiten der Sünde, sind gerettet worden durch seine Güte und entzündet von der Flamme der Liebe« (659).
Mt 12,22-24: Heilung eines Besessenen Aufgrund der Heilung des durch dämonischen Einfluss doppelt Geschädigten sagen die Leute: »Ist dieser nicht der Sohn Davids?« Die alternative Erklärung geben die Pharisäer: Jesus ist mit Beelzebul im Bunde. Nach SapSal 6 kannte Salomo, Davids Sohn, die »Kräfte der Geister«, und nach dem Testament des Salomo (ed. Peter Busch) hat Salomo Macht über mächtige Dämonen. Da nach den TestXII auch andere Funktionäre der Endzeit die Macht über böse Geister besitzen, gibt es demnach eine eigene Messiaserwartung, nach der der Messias seine Kraft und Macht im Überwinden eben dieser Mächte, auch der himmlischen Mächte und Gewalten, erweist. Jesu exorzistische Tätigkeit ist demnach ein eige-
nes Eingangstor zu seiner Messianität. Doch schon die doppelte Reaktion in 12,23.24 kündet an, dass aufgrund des sachspezifischen Dualismus (Gott oder Teufel) der Bereich der Exorzismen leider uneindeutig bleibt. Das wird bestätigt durch die schwierige Argumentation im Folgenden.
Mt 12,25-32: Disput mit Pharisäern 1. Argument – V. 25f: Ein zweigeteiltes Reich besteht nicht. Der Teufel wäre ganz schön dumm, wenn er sein Reich durch Besessenheit mit Hilfe von Dämonen ausbreitete, es aber gleichzeitig durch Jesus dezimierte. Das wäre absurd, und so dumm ist der Teufel nicht. 2. Argument – V. 27: Es gibt auch eine starke exorzistische Bewegung im Judentum, bei den »Kindern der Pharisäer«, wie Jesus sagt. Deren Problem ist, wie sie im Lichte der exorzistischen Erfolge Jesu das eigene Tun beurteilen sollen. Denn wenn sie sagen: Wir treiben mit dem Teufel aus, dann disqualifizieren sie sich selbst. Wenn sie aber sagen: Jesus treibt mit dem Teufel aus, wir aber mit Gott, warum nehmen sie dann nicht für den gleichen Erfolg die gleiche Ursache an, also Gott auch für Jesus? An die Pharisäer gewandt: Wenn ihr schon bei euren Kindern mit Gottes Kraft rechnet, warum nicht auch bei mir? Johannes Piscator (Herborn, 1606) bemerkt dazu: Jesus »straaft die Phariseer, dass sie von gleichen sachen ein ungleich urteil fellen.« Und: »Treiben sie nicht die teufel aus durch den geist Gottes? Mit ihrem exempel werden sie euch überzeugen, dass ihr mich gelestert habt.« Zu den Voraussetzungen dieser Argumentation gehört 1 Kor 2,15: Der Pneumatiker wird stets die Nicht-Pneumatiker richten, die ihn beurteilen möchten. In diesem Sinne werden die Pharisäer ihre Richter finden. 3. Argument – V. 28-30: Zwischen These (V. 28) und Faustregel (V. 30) argumentiert Jesus mit einem Gleichnis aus dem Bereich der Kriminalität (wie er es auch in Lk 16,2-9; ThomasEv 98 tut). Ein Räuber muss zunächst den Hausherrn fesseln, um dann das Haus oder den Hausrat in Besitz zu nehmen. Jesus sieht sich in der Rolle des Räubers. Das Fesseln des Hausherrn bedeutet: Jesus fesselt den Dämon. Dabei kommt dem
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70 Gleichniserzähler zu Hilfe, dass »binden« auch terminus technicus für das Bannen von Dämonen ist. – Der Skopos des Gleichnisses: Der Exorzismus ist nicht Selbstzweck, sondern dient dem besessenen Menschen, dass er von Gottes Herrschaft erfüllt werde. Dem muss aber eine Befreiung vorausgehen, und diese ist »Gewalt gegen Dämonen« und kein Zuckerschlecken. Zur These in Mt 12,28: Während Jesus sonst von der Nähe des Reiches spricht, ist es bei den Exorzismen schon endgültig angekommen. Denn zum Weltbild des Exorzisten gehört eine strenge Zweiteilung der bestehenden Wirklichkeit in das Reich Gottes einerseits und das Reich Satans andererseits. Einen dritten, neutralen Bereich gibt es nicht. Noch M. Luther hat das richtig gesehen, wenn er sagt, man werde entweder von Gott oder vom Teufel »geritten«. Dabei hat dieser Dualismus heute eher heuristische Funktion. Die Befreiung von der Macht Satans bedeutet Überstellung an die Macht Gottes (Apg 26,18). Vgl. dazu auch das so genannte Freer-Logion bei Mk 16,14: »… Unsere Welt ist ohne Gesetz und ohne Glauben. Sie steht unter der Herrschaft Satans. Der Satan verhindert durch böse Dämonen, dass wir Menschen den wahren und wirklichen Gott und seine Kraft erfassen.« Sie baten den Messias: »Lass die Zeit offenbar werden, in der deine Gerechtigkeit herrscht.« Und der Messias erwiderte: »Das Maß der Jahre, in denen Satan herrschen kann, ist schon voll.« – Dass Jesus durch den Heiligen Geist die Dämonen vertreibt, entspricht der Logik des pneumtologischen Dualismus. Denn Geistern kann nur ein stärkerer Geist etwas anhaben, und Gottes Geist ist immer stärker als jeder Teufel oder Dämon. Und ein Geist kann auch nur durch einen anderen Geist erkannt werden, auch wenn er von der Gegenseite ist. – Zur Faustregel 12,30 vgl. zu Mk 9,40.
Mt 12,31-35: Sünde gegen den Heiligen Geist Zur Sünde gegen den Heiligen Geist vgl. zu Mk 3,28-30 und 14,61-63. Wer behauptet, Jesus sei vom Geist Beelzebuls erfüllt, lästert den Heiligen Geist, der in Wahrheit in ihm wohnt. Diese Sünde fällt dann auf ihn, den Lästerer, wie ein Fluch zurück. Daher ist sie unvergebbar wie ein Fluch.
Das Evangelium nach Matthäus
Alle Sünden gegen den Heiligen Geist sind nicht nur unvergebbar, sondern haben auch jetzt schon gleich direkt schreckliche leibliche Folgen für den Lästerer (vgl. Apg 5,3.5; 1 Kor 3,16f und 11,30). Entsprechend dem dualistischen Grundansatz der hier diskutierten Pneumatologie nimmt Jesus auf eine ähnlich strukturierte Theorie des menschlichen Wortes Bezug. Zu Mt 12,33-35 (par Lk 6,43-45): Jede Tat eines Menschen ist von dessen vorgängiger Qualität abhängig. Es ist mit ihm wie mit einem guten oder schlechten Baum, mit Weinstock oder Distelstrauch. Jeder kann nur das hervorbringen, was schon zuvor in ihm steckt. Bemerkenswert ist: Hier wird weder appelliert noch auf den guten oder bösen Geist verwiesen, der in einem steckt. Das Verhältnis von Wille und Tun wird überspielt. Die Lösung des Problems, ob ein Mensch gerecht oder ungerecht ist, liegt nicht auf der Ebene von Wollen und Tun, sondern auf der von Sein und Hervorgehen. Denn gerade so, wie man ist, geht die Tat hervor. Wie Früchte der Pflanzen oder wie eben eine Quelle, die nicht für sich bleiben kann, sondern überfließen muss. Damit werden alle Schwierigkeiten der sonst üblichen Motivationen umgangen. Wenn überhaupt ein Appell besteht (und das ist wohl der Fall, da es sich ja nicht um Aussagen über absolute Prädestination handelt), dann ist er so grundsätzlicher Art, dass er durch eine einzelne Tat nicht eingeholt oder nachgeholt werden kann. Es kommt darauf an, zu den Guten oder zu den Bösen überhaupt zu gehören. Mehr nicht. Und das erweist sich dann an dieser Tat. Eine gewisse Affinität zu Joh 3,20f (»Wer Böses tut …, kommt nicht zum Licht …«) ist durchaus zu sehen. Nur ist in Joh 3 (vgl. 6,27-29) die neue Tat auf das Glauben beschränkt. – Der Weg von innen nach außen ist nach dieser Konzeption ein vollständig organischer. Er ist ganz problemlos. Das eigentliche Problem ist ins Grundsätzliche der Zugehörigkeit verlagert (»Gehöre zu den Weinstöcken«, »Gehöre zu den Feigenbäumen«). Dadurch wird der einzelne Akt sehr maßgeblich entlastet, und es kann in der Tat eine Fröhlichkeit und Angstfreiheit entstehen, die der pneumatisch (im Sinne des Paulus) verursachten in nichts nachsteht.
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Kapitel 12
Mt 12,38-42: »Hier ist mehr …« Innerhalb von Mt 12 gibt es einen eigenen theologischen Ansatz, der sich auf Sätze bezieht, die nach dem Schema »X (Altes Testament) …, hier ist mehr als X (nämlich Jesus)« aufgebaut sind. Dazu gehören 12,5f (Tempel … Hier ist Größeres als der Tempel), 12,41 (Jona … Hier ist mehr als Jona); 12,42 (Salomo … Hier ist mehr als Salomo). – Die Aussage: Einerseits ist Jesus »wie« die alttestamentliche Größe (Tempel, Jona, Salomo), andererseits ist er »mehr«, nämlich in jedem Fall die endzeitliche Vollendung. Die Tendenz ist ähnlich wie bei der Verklärung: Jesus ist eine prophetische Gestalt »wie« Mose und Elia, andererseits ist er »mehr als« sie, nämlich der Sohn Gottes. In allen Fällen handelt es sich um eine nur für Juden verständliche und daher innerhalb des Judenchristentums geführte Diskussion. Die Größe und Bedeutung Jesu wird anhand der Überbietung alttestamentlicher Institutionen oder Personen anschaulich erklärt. Jesus erweist sich als Messias am Tempel und im Vergleich zu bekannten Propheten. Auch daran, dass er gerade diese überbietet, wird die Ausrichtung seiner Messianität erkennbar: kultisch und prophetisch. Eine Entsprechung zu Mt 12,40 (drei Tage und drei Nächte) fehlt in Lk 11,30 f. Daher hat man Mt 12,40 stets als den Inbegriff einer redaktionellen Einfügung angesehen. Abgesehen davon, dass das kein Unglück wäre, ist dieser Annahme doch methodisch gebrechlich. Denn aus der LkFassung kann man nur mit Mühe rekonstruieren, inwiefern denn Jona ein Zeichen gewesen sein soll. Ich nehme an: als Umkehrprophet aus dem Heidenland. Denn laut 2 Kön 14,25 (vgl. Jona 1,1) kommt Jona aus Galiläa. In Joh 7,52b heißt es indes: Kein Prophet kommt aus Galiläa (nach Ansicht der Leute). Doch schon Jona war eine Ausnahme. So ist seine Herkunft aus Galiläa ein Vorzeichen für Jesus. Der Einwand von Joh 7,52b war offenbar verbreitet, vielleicht ein Haupteinwand gegen Jesus (ähnlich der Einwand in Joh 1,46: Aus Nazaret kann nichts Gutes kommen). D. h. Joh 7,52 lässt den Hintergrund des synoptischen Jona-Themas noch deutlich erkennen. Gott kann eben doch aus Galiläa einen Propheten berufen, und er hat es schon einmal getan! Das genau ist »Jona als Zeichen«.
71 In Mt 12,39f ist dann weiter entfaltet, warum Jona als Zeichen gelten kann, und dabei wird an die eindrückliche Geschichte des Propheten erinnert, die auch heute noch jedes gebildete Schulkind kennt. Lukas könnte den Vers Mt 12,39 ausgelassen haben, da die Zeitangabe »drei Tage und drei Nächte« mit den Passionsberichten nicht harmoniert. Zudem ist Jesus nach Lk noch am Tag der Kreuzigung mit dem gerechten Schächer im Paradies. Das spricht freilich alles für die Authentizität von Mt 12,39. Und die drei Tage und drei Nächte können im Sinne der 3 ½ Tage der Apokalyptik oder in Anspielung an Hos 6,6 die »begrenzte Unheilszeit« schlechthin sein. Und deswegen ist die Angabe in jedem Falle richtig. Die Logik der Argumentation in 12,41 verläuft so: Die Menschen in Ninive waren sündige Heiden. Aber auf Jona hin haben sie sich bekehrt. Die Leute, mit denen Jesus zu tun hat, hören seine Umkehrpredigt. Aber sie bekehren sich nicht. Und das ist umso schlimmer, als Jesus doch mehr ist als Jona. So stehen die Menschen von Ninive weitaus besser da als die Adressaten Jesu. Denn es zählt nicht die Vorgeschichte, sondern nur das Endstadium. Gerechte aber werden im Endgericht über Ungerechte gestellt (1 Kor 6,2: Die Heiligen werden die Welt richten; Mt 19,28; der Hymnus zu den Laudes im »Commune Apostolorum« feiert die Apostel als senatus altae gloriae), um diese zu richten und zu leiten. Deshalb werden, wie es bis jetzt scheint, die Leute von Ninive die Adressaten Jesu richten. Das Ganze ist ein Appell an Jesu Publikum: Lasst euch doch nicht von den alten Niniviten in den Schatten stellen. Das waren doch »lumpige Heiden«. Vor allem aber: Wenn die Leute von Ninive sich schon angesichts eines Propheten wie Jona bekehrten, um wie viel eher solltet ihr euch angesichts Jesu bekehren! Zu Mt 12,42: Die Königin des Südens (d. h. von Saba) war wie die Leute von Ninive Heidin. Sie kam von weit her (»Enden der Erde«, d. h. von Südarabien!), um die Weisheit Salomos zu hören. Da Jesus aber mehr als Salomo ist, sollten die Menschen, die direkt in seiner Nähe wohnen, sich umso viel mehr für die Weisheit Jesu interessieren (zur Ausgestaltung der Legende der Königin von Saba vgl. die apokryphe Schrift Kebra Nagast (äth) ed. C. Bezold [mit deutscher
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72 Übersetzung]). Die Königin von Saba übertrifft daher die Zeitgenossen an Aufwand und Interesse bei weitem. Zu Mt 12,43-45: Einen Text über den Rückfall kennt nur das MtEv. – Ganz ähnlich wie in dem folgenden Bericht ist das Thema die »Multiplikation«, und zwar hier die des Schreckens, in Mt 12,46-50 aber die der Verwandtschaft Jesu.
Mt 12,46-50: Die wahren Verwandten Jesu Hier legt Jesus ein besonderes Modell von Kirche vor. Züge davon bewahren wir auch heute noch, wenn wir von Brüdern und Schwestern Jesu reden. Hier geht es nicht um Lehrer/Schüler oder Heerführer/Soldaten oder König/Untertanen,
Das Evangelium nach Matthäus
sondern um eine Erweiterung der Familie. Das Judentum kennt diesen Weg, weil auch solche Menschen, die nicht von Abraham abstammen, als Proselyten nachträglich noch Abrahams Kinder werden können, und zwar durch Beschneidung, nach manchen auch durch Nachahmung der sittlich-moralischen Vorzüge. Im Sinne des Apostels Paulus führt dieser Weg dann nicht über die leibliche Verwandtschaft, sondern über den Heiligen Geist (vgl. Gal 4,28f; 5,15). – Paschasius Radbertus (7. Jh.) sagt zu dieser Stelle: »carni spiritum praeferamus«). Der Heilige Geist vertreibt die Dämonen (12,28) und eint die Menschen in neuer Familie (vgl. 12,50). Der Vergleich mit Paulus stimmt auch dann, wenn gilt, dass das Modell 12,46-50 (»Wer den Willen meines Vaters tut …«) auf moralischer Nachahmung und nicht auf dem Wirken des Heiligen Geistes beruht.
Mt 13: Gleichnisse und ihre Bedeutung Aufbau: Der Gleichnis-Stoff der vier Gleichnisse (13,1-52) ist im weitesten Sinne des Wortes pflanzlich orientiert (Saatgut, Unkraut, Senfkorn, Sauerteig). Die Basis der gemeinsamen Pointe ist das Bild des Wachstums. Dann folgt in 13,34f eine im wahrsten Sinne des Wortes reflektierende Zwischenbemerkung, da der Evangelist hier über Sinn und Ziel der Gleichnisrede nachdenkt (wie Mk 4,33f). Dann schließen sich vier weitere Abschnitte an (Deutung: Unkraut, Schatz, Perle, Fischnetz). In diesen vier Stücken steht nicht das Wachstum im Vordergrund, sondern Entscheidung, Loslassen und Scheidung im Gericht. Das heißt: Hier geht es nicht um Organisches wie in den ersten vier Gleichnissen, sondern um Trennung, also um genau das Gegenteil. Damit erscheinen die Bemerkungen in V. 34f als durchaus sinnvolle Zäsur zwischen zwei »Denkstilen«. Gegenüber Wachstum, Frucht, Wachsenlassen und dem Kontrast zwischen kleinem Anfang und großem Ende steht in der zweiten Vierer-Serie die in jeder Phase der Geschichte notwendige Zäsur. Didaktisch ist es sicherlich glücklich, dass die Metaphorik des Wachsens voransteht, die Metaphorik der Zäsur dann folgt. Am Ende hat das MtEv dann noch einmal ein Gleichnis als Kommentar über Gleichnisrede in 13,51f (Altes und Neues aus dem Schatz). Zählt
man 13,10-13 hinzu, dann hat Mt 13 insgesamt drei Abschnitte über den Sinn der Gleichnisreden Jesu: V. 10-13, V. 34f und V. 51f (die Verse 10-13 finden wir auch in Mk 4, mit Abweichungen). Die Funktionen der drei Abschnitte sind sehr unterschiedlich. V. 10-13 besprechen die Rolle der Gleichnisse für Menschen, die draußen stehen und stehen bleiben wollen. V. 34f sehen die Offenbarungsfunktion der Gleichnisse – es geht um tiefste Geheimnisse. V. 51f bedenken die Rolle des Gleichniserzählers: Er ist – erstaunlicherweise – der wahre Schriftgelehrte (vgl. Sir 39,1-11); demnach ist dieser Berufsstand nicht auf Exegese der Bibel beschränkt. Besonderheiten der Gleichnisse in Mt 13 Der Evangelist hat eine andere Parabeltheorie als Markus. Während Mk 4,11 lautet: »Euch ist das Geheimnis des Gottesreiches gegeben …«, heißt es in Mt 13,11: »Euch ist gegeben, die Geheimnisse des Himmelreiches zu erkennen …« D. h. nach Mk ist den Jüngern das verborgene Reich geheimnisvoll und unsichtbar anvertraut. Sie gehören schon dazu, aber das ist ebenso wenig offenkundig wie das Reich Gottes selbst. Die Jünger sind »Inhaber« des Reiches im Zeitalter der Verborgenheit. Bei Mt dagegen ist die Erkenntnis den Jüngern gegeben, und nach 13,35 haben sie
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damit Anteil an der Schöpfungsweisheit Gottes. Auf das Verstehen kommt es auch nach Mt 13,19.23 an. Und als christliche Schriftgelehrte entfalten sie Tradition, die man erkennen kann. Parabeln sind daher Einsichten, die jetzt den Auserwählten offenbart werden. Das Reich ist der faszinierende Höchstwert, für den alles andere darangegeben werden kann (nicht bei Mk!). Die Verse von Schatz und Perle in 13,44-46 sind daher eine Art peroratio (drastische Hervorhebung des Wichtigsten am Ende der Rede). Das Reich Gottes existiert nicht nur in der Spannung von Verborgenheit und Offenbarsein, sondern das, was jetzt noch zusammen ist, wird beim Offenbarwerden des Reiches auseinandergerissen werden. Daher befassen sich einige Gleichnisse mit der Trennung und Scheidung (V. 30.41-43.47-50). Der scheidende Charakter des Reiches ist auch in der Gegenwart schon wichtiger als die Spannung zwischen Verhülltsein und Offenbarsein des Reiches. Die Herrschaft, die Gott ergreift, scheidet die Menschen. Mt lässt gegenüber Markus (unabhängig davon, ob einer für den anderen Vorlage war) das Gleichnis von der selbstwachsenden Saat aus, stattdessen variiert der den Stoff zum Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen. Die Wortparallelen sind zahlreich und bemerkenswert: Mk 4,26: streut die Saat – Mt 13,24: sät das Saatgut; Mk 4,27: und er schlief – Mt 13,25: Als er aber schlief; Mk 4,27: das Saatgut sprosst, Halm, die Frucht – Mt 13,46: es sprosste der Halm und brachte Frucht; Mk 4,27: (verborgenes Geschehen) – Mt 13,29: (verborgenes Geschehen); Mk 4,29: Ernte – Mt 13,30: Ich werde sagen: Die Ernte … Mk Pointe: Sei ein guter Boden für das Saatgut! – Mt 13 Pointe: Trotz unterschiedlicher Qualität dessen, was sprosst, verbietet sich jetzt ein Eingreifen.
Fazit: Trotz teilweise identischen Materials liegen zwei unterschiedliche Gleichnisse vor. Bei Mt findet sich ein ganz neuer Gesichtspunkt, der bei Mk fehlt: Dass es unter dem, was da wächst, dezidiert Böses gibt. Dieser Gedanke tritt zu dem anderen hier typisch matthäischen dazu, wonach einer für die Herrschaft Gottes alles auf-
geben kann. Mt hat daher im Guten wie im Bösen größere Amplituden. Das gilt auch emotional: Der Freude beim Aufgeben aller Dinge steht die Ungeduld wegen des Ertragens des Bösen gegenüber.
Mt 13,1-23: Gleichnis vom Sämann Wie auch die Parallele in Mk 4, 1-20 ist das Gleichnis von den verschiedenen Samenkörnern ein Gleichnis über das Hören und Wirken von Gleichnissen selbst. Solche Gleichnisse gibt es auch bei Rabbinen und in anderen Religionen öfter (vgl. K. Berger, Gleichnisse des Lebens aus den Religionen der Welt, 2002, 245-266). Denn Gleichnisse wirken nicht so einfach wie ein Imperativ oder ein Verbotsschild. Sie bedürfen eines Zusammenspiels von Gleichniserzähler und Empfänger. Weil es also bei Gleichnissen immer auf die Hörer ankommt, fächert Mt 13 nun die unterschiedlichen Qualitäten der verschiedensten Hörer auf und schildert sie analog zu den Eigenschaften des Ackerbodens und zu den verschiedenen Bedrohungen, die darüber hinaus für das Geschick der Samen bestehen. Die Mahnung, die am Ende für den Leser bleibt: Sei ein guter Ackerboden für die Botschaft, die ergeht! – Möglicher Einwand: Ob ich ein guter Ackerboden bin oder Fels oder trockener Weg, das hängt am allerwenigsten von mir ab. Nein, Mk kennt z. B. das Gleichnis von der »selbstwachsenden Saat« (Mk 4,26-29). Neben den Aktivitäten des Sämanns und des Erntenden gilt für die Zwischenzeit, also für das Jetzt, ausschließlich die des Ackerbodens. Denn während der ganzen Zeit kümmert sich der Sämann nicht um seinen Acker. Daher muss der Boden »von sich aus« den Halm und die Frucht hervorbringen. In der Zeit also, in der der Ackermann passiv ist, ist der Ackerboden zur Aktivität provoziert und umgekehrt. In beiden Gleichnissen geht es daher um die zwischenzeitlich wirksame Qualität oder Aktivität des Ackerbodens. Und ähnlich wie bei den Gleichnissen von Disteln, Weinstöcken, guten und schlechten Bäumen, kommt alles darauf an, auf welcher Seite man steht. Das ist nur scheinbar nicht machbar, in Wirklichkeit handelt es sich um eine allem vorausliegende fundamentale Entscheidung. Für diese Entscheidung wirbt Jesus
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74 hier. Ihre Folgen illustriert er an den mannigfachen Früchten. Dabei ist, wie schon in prophetischen Bildern, die Aussaat Zeichen der Verkündigung, die Ernte ist das Gericht. Zwischen Gleichnis und Auslegung steht 13,917: Aussagen, die insgesamt unfreundlich klingen. Die Jünger haben exklusive Erkenntnis, die anderen aber nicht. Und der Grundsatz »Wer hat, dem wird gegeben«, hier bezogen auf die Erkenntnis der Jünger, ist im Wortsinn kapitalistisch, in der Anwendung feindlich gegen NichtJünger. Das Zitat Jes 6,9f meint Verstockung, und zwar in dem Sinn, dass dank der Gleichnisse nun die Außenstehenden gar nichts mehr verstehen. Sie können sich dank der Gleichnisse nicht bekehren, und Gott wird sie nicht heilen. Eben diese Stumpfheit soll durch die Gleichnisse befördert, ja bewirkt werden. Der Schluss, die Seligpreisung der Jünger in 13,16, grenzt diese wiederum von Außenstehenden ab, hier sogar von Propheten und Gerechten des Alten Bundes. Ist also 13,9-17 sekundärer Einschub einer Gemeinde voller Ressentiments, die sich von Außenstehenden abgrenzt und die Jesu Weltoffenheit, die sich gerade in seinen Gleichnissen äußere, verraten hat? Das entspräche einem Jesus-Klischee des 19. Jh. Doch Jesus sieht die Gleichnisse nicht als einladende didaktische Einführung für jedermann an, sondern als Instrument der Scheidung, als Mittel der Absicherung gegen das Begreifenwollen Unbefugter. Unbefugt sind alle diejenigen, die nicht in der verbindlichen Jüngerschaft der Nachfolge mit Jesus verbunden sind. Jüngerschaft bedeutet, wie aus Mt 10,37-39 zu lernen war, Trennung von der Familie und Sich-Einlassen auf den Weg des Kreuzes, d. h. der extremen Erniedrigung und Ehrlosigkeit. Den Hilfsbedürftigen, auch wenn sie Nichtjuden waren, wendet sich Jesus liebevoll zu. Das macht die Menschenfreundlichkeit der Botschaft aus. Aber wegen der unauflösbaren Einheit von Lebensstil und Botschaft konnte Jesus Halbherzige nicht unter seinen Jüngern dulden. Ein »tragischer Fall« ist darunter der reiche Jüngling, den Jesus »mag«, den aber die Liebe zum Reichtum stärker fesselt als die Jüngerschaft. Das heißt: Keine Chance zum Verstehen der Gleichnisse – und damit der Botschaft Jesu überhaupt – haben alle, die nicht radikal mit Jesus
Das Evangelium nach Matthäus
leben. Im Gleichnisgeheimnis der Evangelien liegt damit zum ersten Male eine Theorie der existenziellen Erkenntnis vor: Man versteht nur unter der Bedingung eines Lebensstils.
Mt 13,24-30: Gleichnis vom Unkraut im Acker Keines der übrigen neutestamentlichen Pflanzengleichnisse kennt die Dimension des Bösen schon im Gleichnis selbst und nicht erst in der Auslegung. Sonst ist Fruchtbringen alles. – Bei Mt – und nur bei ihm – steht dem guten Sämann (Jesus, Wortverkündiger; 13,3-23.24) der böse Sämann gegenüber, der Feind, der nach 13,25 Böses sät: Unkraut unter den Weizen. Dieses Gleichnis handelt vom Bösen in der Gemeinde/Kirche. Die Sklaven des Hausherrn (V. 27) erinnern an Johannes und Jakobus, die nach Lk 9 einfach mit Blitz und Donner zuschlagen möchten. Sollte es nicht wenigstens Gott selbst tun? Aber Jesus verwehrt den Jüngern den Befreiungsschlag. Im Gleichnis vom Unkraut verbietet er – durchaus gegen die gärtnerische Logik –, das Unkraut auszureißen. Und in Lk 9,56 sagt er den Jüngern, die direkt durchgreifen wollen: Nein, tut das nicht, der Menschensohn ist nicht gekommen zu richten, sondern das Verlorene zu retten. Widerspricht dieser Sanftmut nicht Mt 16,18 und 18,18, wo Petrus oder die Gemeinde selbst ein Ausschluss- und Einlassrecht haben, und zwar für Gemeinde und Himmelreich? Doch zu unserem Gleichnis besteht keine Spannung. Mt 18,15-23 lässt das ganz deutlich werden. Denn es ist die Aufgabe der Christen, sieben mal siebzigmal zu vergeben, das heißt immer. Nur dann, wenn jemand der Gemeinde förmlich »auf der Nase herumtanzt« und sie damit blamiert und zerstört (Mt 18,15-18), dann ist sie vor ihm zu schützen. Denn gemeindezerstörende Sünden sind unvergebbar (auch bei Paulus: 1 Kor 3,17). Gemeinde/Kirche ist zerbrechlich, und daher ist hier ein Eingreifen notwendig, bevor ein Einzelner alles in einen Scherbenhaufen verwandelt. Ein Widerspruch zu Mt 13,24-30 besteht hier auch deshalb nicht, weil es in Mt 13 erkennbar um allgemeine moralische Bosheit geht, in Mt 18 dagegen um eine spezielle Form der Gemeindezerstörung. Dass auch Paulus sehr deutlich
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Kapitel 13
diesen Unterschied macht, bestätigt vielleicht unsere Deutung des Mt. Die Lösung des Problems von Unmoral in der Gemeinde sieht nun nicht selber wieder moralisch aus. Und ganz am Text vorbei geht die Auskunft, es solle nur die Gemeinde ermahnt werden, selber Weizen und nicht Unkraut zu sein. Das wäre nur moralisch. Aber darum geht es gar nicht. Thema ist hier nicht die zu überwindende eigene Bosheit, sondern das ärgerliche Zusammenleben mit Menschen, die man mit Grund für böse halten kann. Und hier heißt die Lösung auch nicht: Bekehrt sie, versucht, sie zu besseren Menschen zu machen. Jesus sagt vielmehr: Ertragt sie um Gottes Willen. Das Geheimnis der Bosheit, also verdeckt wirkende Bosheit in der Kirche, wird nicht durch Appelle zur Besserung überwunden – weder bei den angesprochenen Jüngern selbst noch bei anderen. Jesus ist hier kein Moralapostel. Moral löst nicht das Problem des Bösen in der Welt. In der Aufforderung Jesu an die Jünger, das Böse einfach zu ertragen und das Gericht dann den Engeln Gottes zu überlassen, predigt Jesus auch nicht billige Vertröstung oder Resignation, sondern er zielt auf ein christologisches Geheimnis. Denn nach dem MtEv ist Jesus der sanftmütig und geduldig Leidende. Er verzichtet darauf, seiner Passion durch Herbeirufen von zwölf Legionen Engeln ein schnelles triumphales Ende zu setzen. Durch Mt 13,24-30 werden die Jünger in dieses christologische Leidensgeheimnis einbezogen. Nach der Lösung des MtEv wird die Welt durch Leiden verändert.
Mt 13,31-33: Gleichnis von Senfkorn und Sauerteig Die Gleichnisse zu »Senfkorn« und »Sauerteig« teilen den Kontrast zwischen Anfang und Ende, näherhin zwischen kleinem, unbedeutendem Anfang und überwältigend großem Ende. Dieser Kontrast ist faszinierend und daher tröstend. Über die Zwischenzeit (Begießen, Düngen, Schutz vor Sonne oder umgekehrt die richtige Temperatur zum Wachsen) wird nichts gesagt, vor allem auch nichts über die Verteilung der Aktivitäten zwischen Gott und Mensch. Die Pointe ist daher in beiden Fällen das Wunder des Kon-
75 trastes. Weil Senfkorn und Sauerteig in Gottes Schöpfung vorkommen, ist es nicht verwegen, Ähnliches für Gottes Reich zu erwarten. Denn Schöpfung und Reich Gottes liegen in derselben Hand. Zu Mt 13,33: In der römischen Kaiserzeit wurde zwischen den Lebezeiten Senecas und Plinius d. Älteren Sauerteig in Rom üblich. Dennoch gibt es in antiken Listen über Brotsorten immer wieder auch Zeugnisse für weniger oder gar nicht gesäuerte Brote. Nach Plinius d. Ä. (Naturgeschichte 18,102) benötigt man für 2 ½ Maß Mehl, d. h. etwa für 22 Liter zwei bis drei Pfund Sauerteig. Zu dessen Herstellung: Entweder ließ man am Tag vor dem Backen etwas Teig zurück und ließ ihn sauer werden, oder man verknetete Hirse- oder feine Weizenkleie mit Most und machte daraus kleine Kuchen, die man vor Gebrauch zusammen mit Speltmehl erwärmte, oder man benutzte auf Kohlen gebackene und dann sauer gewordene Gerstenkuchen (Plinius, a. a. O., 102-104; Geopon II 33,3), oder man verwendete Bierhefe. Wenn man den Sauerteig nicht selbst herstellen konnte, bestand auch die Möglichkeit, sich etwas von der Nachbarin zu leihen, ein Anlass zu nachbarschaftlichem Gespräch. Über die Zeit des Durchsäuerns gibt es im Talmud eine Notiz: Die Frauen von Lydda kneteten ihren Teig, gingen hinauf nach Jerusalem (12 km) und waren schon zurück, ehe ihr Teig sauer wurde (vgl. dazu: K. Berger, Manna, Mehl und Sauerteig, 1993, 53-59). – Negatives Bild ist der Sauerteig in 1 Kor 5,6-8, ebenso in Mt 8,15; 16,5 f. Mt 13,33 und Lk 13,20f ist gemeinsam: Drei Sat Mehl sind etwa vierzig Liter. Das ergäbe (mit Wasser und Sauerteig nach dem Backen) fünfzig Kilo Brot – eine ganz außergewöhnliche Menge. Dieselbe Menge findet sich auch in Gen 18,6, wo Sara für die Gottesboten gleichfalls drei Sat Mehl zu Brot verarbeitet. Diese große Menge kann man getrost »extravagant« nennen. Das hat, wie jede Extravaganz, seinen Grund: Dem Gleichniserzählern liegt, da er ja von der ganzen Welt erzählen will, daran, eine riesige Menge vorzuführen. Beabsichtigt ist auch der ungewöhnliche Ausdruck »sie verbarg« (nämlich den Sauerteig im Mehl). Die Wahl des Wortes »verbergen« für Kneten und Vermengen bezieht sich darauf, dass das Gottesreich in der Gegenwart unsichtbar und verbor-
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76 gen ist. Die Pointe ist daher: Das Reich Gottes ist Ergebnis eines Prozesses, der unsichtbar und unerkannt sich bereits jetzt vollzieht. In ThomasEv 96 liegt die Pointe dagegen im Kontrast zwischen Klein und Groß. Zu Mt 13,34f: Auch der Apostel Paulus sagt in 1 Kor 2,7, dass er Gottes Weisheit verkündet, und zwar »im Geheimnis«, eine Weisheit, »die verborgen war und die Gott vor Äonen (also vor der Welt) bestimmt hat, auf dass wir verherrlicht würden«. An der Stelle der »Gleichnisse«, die »verborgen sind« in Mt 13,34f steht bei Paulus die Weisheit »im Geheimnis«. Nun sind Gleichnisse Geheimnisse, da sie die Wahrheit unter Bildern verhüllt halten, ausgelegt und angewandt werden müssen. Insofern meint Paulus tatsächlich dasselbe wie Mt. Und auch das ist richtig: Die Gleichnisse bei Mt sind »Weisheit« (Gottes). Der Unterschied besteht nur in dem paulinischen Zusatz »auf dass wir verherrlicht würden«. Und dies ist typisch paulinisch, weil die Gemeinde in den Blick kommt als die durch Erstempfang ausgezeichneten Adressaten. Fazit: Verkündigt wird etwas, das »verborgen seit Anbeginn« war, als solches verdeckte Rede/Gleichnis oder Geheimnis, inhaltlich Weisheit Gottes, jetzt erstmalig offen ausgerichtet. – Die Nähe zum so genannten Revelationsschema ist mit Händen zu greifen (vgl. zu Röm 16,25f). Was ist das Ziel der Rede von den Geheimnissen, die verborgen waren seit Anbeginn, jetzt aber erst ans Licht kommen? Warum hat bei Mt Gottes Reich, bei Paulus die »Christologie« diese Rolle? Sind das einfach »ewige Wahrheiten«, so wie zweimal zwei vier ist? Oder sind es grundlegende Wahrheiten über Gott und Mensch? Das wohl schon eher! Und der Rückgriff auf die Zeit bei oder vor der Schöpfung hat gewiss kein chronologisches Interesse, sondern soll besagen: Ohne diese Geheimnisse versteht ihr gar nichts. Hier liegt der Schlüssel zum Verständnis aller Dinge. Diese Geheimnisse sind für das Verständnis der Welt und ihrer Geschichte dasselbe wie die Präambel für das Grundgesetz. Da die Welt durch Gottes Weisheit entstand, nach Gottes Konzept und Entwurf, haben die Gleichnisse Anteil an Gottes Schöpfungsweisheit. Dem entspricht einerseits, dass sie Vorgänge aus der Schöpfung auf ihre hintergründige Wahrheit
Das Evangelium nach Matthäus
hin ansprechen, also deren unsichtbare Bedeutung enthüllen. Andererseits entspricht dem, dass Jesus, der Logos und Schöpfungsmittler, diese Zusammenhänge entdeckt, wobei es nicht wichtig ist, ob dem Evangelisten diese christologische Dimension schon klar war.
Mt 13,44-52: Gleichnis vom Schatz im Acker und vom Fischfang Das Gleichnis vom »Schatz im Acker« schildert uns einen Menschen, der in mehrfacher Hinsicht »schräg« zu nennen ist. Zunächst: Raffiniert und unsinnig ist dieser Mann. Raffiniert ist er und auf durchaus anrüchige Weise clever. Denn er findet einen Schatz, sagt aber dem rechtmäßigen und derzeitigen Eigentümer nichts davon. Vielmehr erwirbt er das Grundstück zu marktüblichen Preisen. Er verschweigt die entscheidende Tatsache, dass er mit dem Grundstück auch den Schatz erwirbt. Es ist dieselbe Raffinesse in Gelddingen, die Jesus oft beschreibt und ihn als Muster weltlicher Klugheit in gewisser Weise fasziniert haben muss. Ähnlich ist es, wenn Jesus vom lebenstüchtigen Verwalter (Lk 16) spricht oder von der Notwendigkeit, mit Vermögen phantasievoll zu arbeiten (Mt 25). Überall geht es um eine ganz gerade Linie: hemmungslos auf seinen Vorteil bedacht zu sein. Jesus bewertet das nicht, sondern sagt nur, dass man diese Art von Klugheit jetzt auf den eigentlich wichtigen Bereich, das Gewinnen des ewigen Lebens bei Gott, übertragen sollte. Intelligente (Wirtschafts-)Kriminalität ist etwas, das Jesus rein formal (!) bewundert, weil es von Phantasie und Engagement zeugt. Und die wünscht sich Jesus für die Frage, wie das Leben angesichts Gottes aussehen könnte. Aber auch ziemlich unsinnig ist der Mann, der uns im Gleichnis vom Schatz im Acker begegnet. Er verkauft buchstäblich alles, was er hat. So praktiziert er das, was wir Goldgräbermentalität nennen: alle Zelte abbrechen, um nur das eine zu gewinnen. Doch im Unterschied zu Goldgräbern weiß er wenigstens schon, wo der Schatz zu finden ist. Hier werden wir also nicht vertröstet auf eine ungewisse Zukunft, nein, dieser Mann hat den Schatz schon entdeckt. Ein entscheidender Zug ist: »voll Freude« ging der Mann hin. Wir können uns das gar nicht vor-
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stellen. Dass man vor Freude alles verkauft, gibt es sonst nur im Zusammenhang mit abgöttischer Liebe. Da finden wir das öfter, wie schon die Bibel in ihren ersten beiden Kapiteln weiß, dass ein Mann Vater und Mutter verlässt wegen einer Frau, um mit ihr zu leben. Zum frühesten Christentum gehört der freudige Befreiungsschlag, der Abschied von Besitz und Familie. Im dann folgenden Gleichnis von der Perle steht an der Stelle der »Freude« aus dem ersten Gleichnis nun das Attribut »schön«. Von der Schilderung des neuen Jerusalem in Offb 21,21 her wissen wir, dass Perlen der Inbegriff von Schönheit waren. Bemerkenswert ist, wie unbefangen Jesus hier die Begeisterung für Schönheit in die Nähe des Glaubens rückt. Wenn eine Perle ganz schön ist, kann man alles dafür geben.
Zu Mt 13,52: Die Rede vom Schatz ist ebenso weisheitlich wie die in Gleichnissen verborgene Rede nach Mt 13,25, und Paulus spricht ja in 1 Kor 2,7 von der Weisheit im Geheimnis. Ein Schatz liegt eben auch nicht offen auf der Straße, sondern sein Wesen ist verborgene Kostbarkeit. Einen christlichen »Lehrer« kann es nach dem MtEv nicht geben (wegen 23,8). Dennoch überrascht der Titel »Schriftgelehrter«, denn um Geschriebenes geht es wohl alle Mal, also um Tradition (das MtEv, Gesetz und Propheten, alle die Sondergut-Überlieferungen, die der Evangelist verarbeitet). Mt stellt sie sich im Prinzip als schriftlich vor. Also auch Q?
Mt 13,53 – 20,34: Der zweite Durchgang durch das Leben Jesu Zum Aufbau von Mt 13,53 – 20,34: Mit dem Gleichniskapitel (13,1-52) endete die erste Gesamtdarstellung des Ursprungs, der Verkündigung und des Wirkens Jesu. Mit dem doppelten Ausgang des Gleichnisses vom Fischnetz in 13,47-50 endet dieser Aufriss. Dass Matthäus mit Gleichnissen schließt, beweist seine Hochschätzung dieser Art der Verkündigung Jesu. Auch schon Mk 4 hatte ja als »die Lehre« Jesu eine besondere Position, wenn auch nicht in Schlussstellung. Mit 13,53 beginnt der Durchgang von vorne. Alle wesentlichen Elemente einer frühchristlichen Biografie finden sich hier noch einmal: Es beginnt mit den Erfahrungen in der Heimatstadt Nazaret (13,53-58). Die Menschen fragen: »Ist er nicht der Sohn Josefs?« und weisen Jesus ab. Als Nächstes ist, wie gewohnt, das Stichwort »Johannes der Täufer« an der Reihe, eingeleitet durch den aus Lukas bekannten Hinweis (Synchronismos), das alles sei geschehen, als Herodes Vierfürst war (14,1). 14,2 schlägt die Brücke zu Jesus: Er soll der auferweckte Täufer sein. Es folgt der Bericht über den Tod des Täufers (14,3-12). Die Tatsache, dass es sich um den zweiten Durchgang handelt, erklärt vor allem, weshalb Matthäus erst hier über den Täufer ausführlicher berichtet. Es folgen dann Berichte über Zeichen und die relativ große Lehr-Rede in Mt 15,1-20 über rein und
unrein. Auch schon im ersten Durchgang war die Frage von rein und unrein für den Evangelisten besonders wichtig (vgl. zu Mt 8,1-4). Auffällig ist die doppelte Überlieferung einer Speisung (14,13-21: Speisung der 5.000; 15,32-39: Speisung der 4.000). Nur in Kap. 14 folgt auf die Speisung die »obligatorische« Bootsgeschichte, die regelmäßig bei den Speisungsberichten steht (anders in Mk 8,13b-21). Dass der Evangelist innerhalb seines relativ kurzen Aufrisses gleich zweimal von Speisung berichtet, hat zweifellos seinen Grund darin, dass er dieses Zeichen für besonders wichtig hält und deshalb nach der alttestamentlichen Regel des mindestens doppelten Zeugnisses verfährt (Dtn 19,15). Man beachte: In allen Speisungsberichten der synoptischen Evangelien lässt Jesus die Jünger das Brot verteilen. Nur in Joh 6,11 ist das anders, da Jesus selbst die Brote verteilt. Das passt ja dann auch zur Brotrede in Joh 6, wonach Jesus die Gabe Gottes selbst ist. – Wo immer aber die Jünger die Brote verteilen, wirkt Jesus bzw. Gott das Wunder durch sie. Dass es sich dabei um ein Bild für Lehrüberlieferung handelt, wird nirgends so deutlich wie in Mt 14,19 (»… gebrochen gab er den Jüngern die Brote, die Jünger aber den Scharen«). Im Übrigen wird das dann in Mt 16,8-11 dargelegt, wo die Anzahl der übrig gebliebenen Körbe nach Jesu Aufforderung symbolisch ausgelegt werden
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78 muss. Und zur Verdeutlichung der symbolischen Auslegung warnt Jesus auch sogleich vor dem »Sauerteig« der Pharisäer, also vor ihrer falschen Lehre.
Zu jedem Bericht über die Anfänge gehört in einem Evangelium etwas über die Jünger. Die wichtigsten Notizen über Jünger haben wir in den beiden Speisungsberichten. Jesus gibt die Brote den Jüngern, und diese geben sie dem Volk (Mt 14,19; 15,36). Andererseits ist der Bericht über den Seewandel besonders ausgestaltet durch Petri Gehen auf dem Wasser und sein Versinken (14,28-31). Auch bei Lukas wird ja Petrus in einer Bootsgeschichte entsprechend hervorgehoben (Lk 5,1-11). Den Höhepunkt der Offenbarung Jesu bildet die Verbindung aus Petrus-Bekenntnis und Verklärung (16,13 – 17,13). Dass es sich um den Höhepunkt handelt, kann man auch an dem erkennen, was danach kommt: Von Mt 17,14 bis 20,34 liefert der Evangelist Worte und Taten Jesu zu speziellen Problemen der Jünger. Das ist ähnlich wie in Mk 9 f. Demnach gehört fest zum Aufriss der Evangelien eine derartige Jüngerbelehrung (d. h. eine Belehrung über die Probleme der Jünger), nämlich Texte, deren »Sitz im Leben« (Lehren und Taten Jesu) Probleme speziell der Jünger sind hinsichtlich ihrer Lebensführung und ihres Verständnisses als Gemeinschaft. Und die so genannten Abschiedsreden des JohEv sind, von hier aus betrachtet, genauso Jüngerbelehrungen wie Mk 9f und Mt 17,14 – 20,34. – Es wird auch erkennbar, dass die Worte zur Installation des Petrus (nebst Stichwort »Kirche«) in Mt 16,16-18 eine Art Überleitung zu den Jünger-Kapiteln sind. Mit Mt 21,1 beginnt dann etwas wirklich Neues, nämlich die Jerusalemer Zeit Jesu zwischen dem Einzug in Jerusalem und der Erscheinung Jesu vor den Frauen in Mt 28. Die abschließende Erscheinung auf dem Berg in Galiläa weist dann wieder weit über Jerusalem hinaus auf Galiläa und Heidenmission, was beides zusammengehört. Fazit: Mt 13-20 bieten einen zweiten Durchgang mit den Themen Heimatstadt, Johannes der Täufer, zentrale Lehre, Bestätigung durch Zeichen, Jünger-Bericht, Bekenntnis und Selbstoffenbarung sowie mit umfangreicher Jüngerbelehrung. Dieser zweite Durchgang ist weitgehend parallel zum ersten. Nur bietet dieser die Selbst-
Das Evangelium nach Matthäus
offenbarung Jesu in Kap. 11 und die zentrale Lehre in Kap. 5-7 und 13. Es spricht allerdings vieles dafür, dass Mt 13 ebenfalls als Jüngerbelehrung gesehen werden kann. Dann stünde es wie Mt 17-20 am Schluss des ersten Teils. Der theologische Gewinn ist, dass nun einzelne Abschnitte besonders instruktiv miteinander vergleichbar sind, da sie im parallelen Aufriss gleiche oder ähnliche Funktion haben. So kann Mt 11,25-30 neben Mt 16-17 (Bekenntnis und Verklärung) rücken. Und, um weiter auszuholen, die Stimme Gottes bei der Verklärung in Mt 17,5 steht neben der Stimme Gottes in Joh 12,28b, beides steht kurz vor dem Beginn der Jüngerbelehrungen.
Mt 14,13-21: Erste Speisungsgeschichte Die Speisungsgeschichten der Evangelien gehen alle auf einen Urtypus zurück, der in 2 Kön 4,42-44 vorliegt. Dem Elisa, Schüler des Elia, bringt jemand »20 Brote von Gerste und dazu noch Jungkorn«. Elisa befiehlt: »Gib es den Leuten zu essen!« Doch sein Diener erwidert: »Wie soll ich das hundert Leuten vorsetzen?« Er aber wiederholt: »Gib es den Leuten zu essen, denn so spricht der Herr: ›Essen wird man und noch übrig lassen‹.– Und dann heißt es: »Er setzte es ihnen vor. Sie aßen und ließen noch übrig, wie der Herr gesagt hatte.« Gemeinsamkeiten: Der Prophet ordnet Verteilung einer ganz geringen Menge von Brot an sehr viele Menschen an. Trotz Einwands gehorcht der Diener oder Schüler des Propheten. Am Schluss bleibt sogar noch etwas übrig. – Alle neutestamentlichen Berichte gehen von einer Steigerung im Verhältnis zwischen den Broten und der Anzahl der Menschen aus. In 2 Kön 4 ist das Verhältnis 20:100, bei Matthäus 5:5000. Aus dem Jungkorn der prophetischen Geschichte werden auf dem Weg über Feigenmarmelade (Septuaginta) und »Beikost« (kann auch Fisch bedeuten; Joh 6,5!) hier bei Mt zwei Fische. Entscheidend ist das Verhältnis von Ähnlichkeit und Überbietung. Oft handelt Jesus ähnlich wie Elia oder Elisa, so bei der Jüngerberufung, bei der Totenerweckung der Tochter des Jairus und bei der Speisung. Dass Jesus überhaupt Jün-
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Kapitel 14
ger hat, verbindet ihn vor allem mit Elia. Daher wird auch öfter diskutiert, ob Johannes der Täufer oder er der wiedergekommene Elia sei. Bei der Verklärung wird erkennbar, dass Jesus von der Art des Elia ist. Aber gerade dort wird Elia (wie auch Mose) überboten: Elia ist nicht der Sohn, sondern Prophet. Jedenfalls steht Jesus in diesen Berichten den Autoritäten des Alten Bundes sehr nahe. Nur von ihnen her ist er zu begreifen. Auch die Zeichen des »Sohnes Gottes« sind nur in der Grammatik prophetischer Sendung zu erfassen, wenn auch immer wieder als Superlativ. Wegen der Entsprechung zu 2 Kön 4 sind nun die Speisungsgeschichten Jesu nicht notwendigerweise unhistorisch. Offenbarung ist nicht immer das Brandneue, sondern wiederholt sich mit Steigerungen. Und Wunder dieser Art sind Konfrontation und Begegnung mit der Macht Gottes selbst. Gewiss enthalten Wundergeschichten in zweiter Linie immer auch symbolische Elemente. Speisung steht für Empfangen des Wortes Gottes, Blindenheilung bedeutet Öffnung der Augen des Herzens für die Wirklichkeit Jesu, Aufrichtung Kranker steht für den Beginn neuen, ewigen Lebens. Aber diese zweite Ebene setzt immer die erste Ebene, das reale Zeichen voraus. In gewisser Hinsicht ist jedes Tun Jesu Zeichenhandlung, Andeutung eines umfassenden, größeren Geschehens. Aber es sind keine leeren Zeichen, weil das biblisch-jüdische Denken keine leeren, leiblosen und rein didaktisch-abstrakten Zeichen kennt; denn es gibt keine Trennung von Leib und Seele, keine legitime Trennung von leibhaftiger Speisung und dem Annehmen des Wortes Gottes im intensiven Hören. Die Entleerung der Realität zugunsten der alleinigen Wirklichkeit des Geistigen ist erst neuzeitlich. Aber wer Wunder nur moralisch und sozialethisch einschätzt, wird auch Kirche nur nach denselben Maßstäben beurteilen können.
Mt 14,22-33: Gang auf dem Meer Petrus versucht, auf dem Meer zu gehen. Liberale Kommentare sehen hier die nachösterliche Gemeinde am Werk. Das bewegte Wasser bedeute den Bereich des Todes und Petrus sei ein Exempel dafür, dass Kleinglaube die Weise des Unglau-
79 bens bei Jüngern ist. Die Mehrheit der Kommentare votiert für eine nachösterliche symbolische Gemeindebildung. »Herr, errette mich!«, das sollte jeder Christ rufen. Aber das Problem der Textentstehung liegt tiefer. Keiner der Berichte, wonach Jesus über das Meer geht (Mk 6,47-50; Mt 14,25f; Joh 6,19-22), ist nach Ostern platziert. Mit einem normalen Leib kann man nicht übers Meer gehen. Es sei denn, einer habe einen besonders starken Glauben (der Kraft ist), oder einen Leib, der vom Heiligen Geist her stammt (wie Jesus). Und es gibt auch bei der Verklärung eine entsprechende Erfahrung mit Jesu Leib auf dem Berg. Kein normaler Leib wird verklärt und leuchtet heller, als ein Walker einen Stoff entfärben kann. Vielleicht ist also das, was wir vom Leib des Auferstandenen nach Ostern wissen, dass er durch Türen gehen und mit einem Mal verschwinden konnte, auch schon vor Ostern ähnlich gegeben. Hat Jesus die Wunder nicht mit seinem Leib gewirkt? Daher genügt es, wenn die Blutflüssige ihn von hinten an seinem Gewand berührt. Offensichtlich handelt es sich bei der Verklärung wie auch bei Jesu Gehen auf dem Meer um das, was man mystische Erfahrung nennen kann. Keine Geschichte berichtet übrigens, dass Jesus dergleichen allein und in der Einsamkeit zuteil geworden sei. Sondern es geht immer um Offenbarungen an die Jünger. Und dieses an Orten wie Meer und Berg, die typische »Offenbarungsorte« sind. Diese Gegenwart Gottes in Jesus, die beim Gehen auf dem Meer hervorbricht, ist der Schlüssel des Geschehens, aber keineswegs Selbstzweck. Unser Bericht erzählt keine Zirkusnummer. Es handelt sich um Epiphanien. Etwas, das Menschen hilfreich umfängt, ist nicht fern, sondern ganz nah, gegenwärtig und schon fast wieder vorübergegangen, physisch spürbar und doch nicht festzuhalten, vielmehr freie, momenthafte hilfreiche Zuwendung Gottes (oder seiner Boten). Die Gegenwart Gottes in Jesus macht ihn zum Adressaten unseres Schreiens: »Herr, rette mich!« Der Bericht gehört zu den so genannten Bootsgeschichten (Mk 4,35-41; 5,18; 6,45-52; 8,19.14-21; Mt 14,22-33; 8,23-27; Lk 5,1-11; 8,2225; Joh 6,16-21; Epistula Apostolorum 6). Wo Jünger im Boot sind, bedeutet das stets eine profilierte Aussage über die Adressaten (Nachfolge, Glaube, Christologie, Sündersein, Zugrunde-
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80 gehen der Gemeinde, Rufe um Rettung, Verkündigung des Evangeliums). Insbesondere der Seesturm ist Zeichen für die Bedrängnisse der Gemeinde. Die häufige Kombination mit Speisungsberichten bedeutet stets Aussagen über den Verkündigungsauftrag Jesu an die Jünger (Speisung) und zugleich über den inneren Zustand der Gemeinde (Jünger im Boot), d. h. es wird die Außenperspektive neben die Innenperspektive gestellt. In Joh 21 werden daher typische Aussagen über die Jüngergemeinde gemacht: Jüngerkatalog, Bootsgeschichte, Erkennen des Auferstandenen als des Kyrios, Mengenwunder mit symbolischer Zahl der Fische, Einsetzung des Petrus zum Hirten. – In Epistula Apostolorum 6 sind verbunden: Sturmwind, Angeln der Steuermünze und Speisung. Ähnlich ist es aber auch in Mt 14,27-31 (Petrus geht auf dem Meer): Es dem Herrn nachzutun in der Kombination mit Kleinglaube, ist ein typisches Jüngerproblem. Thema ist die Bewältigung der Angst, insbesondere der Angst vor dem Tod. Jesus selbst kann die Jünger auffordern, mutig zu sein. Denn er selbst ist die Ruhe, der Sturm geht nur vor ihm her (Ps 104). Da Dämonen keinen Leib haben, könnten sie auf dem Wasser erscheinen, ohne einzusinken. So muss sichergestellt werden, dass es Jesus ist und kein Dämon (V. 26). – Der Kleinglaube des Petrus bezieht sich hier – anders als in Mt 16,22f; 26,69-75 nicht auf das Leiden des Herrn, wohl aber auf ein ähnliches Gebiet, auf seine Leibhaftigkeit. Indem Jesus ihn rettet, zeigt er, dass er kein Dämon ist, sondern der lebendige Gott selbst. Die Errettung des Petrus zeigt die praktische Seite der christologischen Frage: Wie kommen Gott und Mensch in der Person Jesu zusammen?
Mt 15,21-28: Jesus und die Kanaanäerin Der Charme dieses Berichts besteht darin, dass Jesus sich von der heidnischen Frau austricksen lässt. Jesus bekräftigt zunächst, er sei nur zu Israel gesandt. Daher hat er auch nie ein heidnisches Haus betreten, und auch hier ist die Heilung der besessenen Tochter eine Fernheilung. Nur durch das kühne Bild von den Krümeln, die die Hunde aufschnappen, während man kein gesegnetes
Das Evangelium nach Matthäus
Brot an sie verfüttern darf, nur durch dieses Bild kann die Frau Jesus umstimmen. Die pfiffige Argumentation der Frau wertet Jesus als Zeichen ihres Glaubens. Gegen den erkennbaren Willen des Herrn am Herrn selbst festhalten, das ist biblische Frömmigkeit (vgl. Jakobs Kampf mit dem Engel; Röm 15,3b; Lk 18,1-8 [Gebet als Kampf/ Ringen mit Gott]). Zu Mt 15,22b-23a: Schon zur Zeit Jesu deutete man die Feindpsalmen auf Dämonen. So heißt es später in den Exorzismen der Kirche: »Du hast deinen eingeborenen Sohn in diese Welt gesandt, um den brüllenden Löwen zu vernichten. Wende dich eilends uns zu, errette diesen Menschen, den du nach deinem Ebenbild erschaffen hast, aus seinem Unglück, befreie ihn vom Dämon, der sich am Mittag anschleicht. Jage Schrecken ein dem Untier, das deinen Weinberg verwüstet. Gib denen, die an dich glauben, Zuversicht, damit sie mutig gegen den bösen Drachen kämpfen« (Rituale Romanum). Oder so: »Ich beschwöre dich bei dem, der auf dem Rücken des Meeres gehen konnte wie über festes Land, der den Sturm und die Winde bedrohte, dessen Blick die Meeresgründe trockengelegt hat und dessen Drohen die Berge schmelzen lässt: Fürchte dich, fahre aus … Sieh, Gott, der Herrscher kommt. Loderndes Feuer läuft vor ihm her und verzehrt seine Feinde ringsum.«
Mt 16,13-20: Das Petrusbekenntnis Viele Christen wissen nicht mehr, was das bedeutet: »Jesus ist Sohn des lebendigen Gottes«. »Sohn« oder »Kind« bedeutet in der Bibel die größtmögliche Nähe, Verwandtschaft, Ähnlichkeit und die engste Beziehung, die eine Person zur anderen haben kann. Je nach Kontext ist diese allerengste Bindung unterschiedlich gefüllt. So kann nach Lukas 3,38 auch Adam Kind Gottes heißen, und zwar im Unterschied zu den Tieren; nach Lukas 20,36 können es auch die Auferstandenen. Der Inhalt ist daher nicht festgelegt, sondern das Wort bezeichnet je nach Zusammenhang »weitestgehende Ähnlichkeit«. So ist es auch in Mt 16: Im Unterschied zu allen vorher genannten Propheten ist Jesus Gottes Sohn. Genauso ist es bei der Verklärung: In Differenz zu
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Kapitel 16
Mose und Elia ist Jesus »mein geliebter Sohn«. Bei Sohn Gottes geht es immer um Ähnlichkeit und Intimität der Beziehung, nicht um biologische Zeugung. Und wo immer gesagt wird, wie einer Sohn Gottes wird, ist es der Heilige Geist, der ihn dazu macht. So ist es auch bei Jesus. Und wenn dann auch die Christen »Kinder Gottes« heißen, wobei Jesus der erstgeborene Bruder ist, ist es auch hier Gottes schöpferischer Geist, der sie zu Kindern Gottes gemacht hat (zuerst wohl in Jes 42,1-4; vgl. auch oben zu Mt 12,18-21). Aber wer ist Gott, sodass man sagen könnte: Jesus ist ihm ähnlich, ist sein Sohn? Woher kann man wissen, dass dies wahr ist, wenn doch keiner Gott je gesehen hat? Wenn man sagt: Jesus ist X ähnlich, aber wir kennen X nicht wirklich; wer sagt einem, dass man Recht hat? – Im Wortlaut nach Matthäus weiß Jesus offenbar um diese Verlegenheit. Deshalb sagt er zu Petrus, er verdanke sein Bekenntnis nicht Menschen, sondern allein dem Vater im Himmel. Und das heißt: Dass Jesus wie Gott ist, das ist keine logische Schlussfolgerung. Auf das Petrusbekenntnis hin ist hier nun ganz überraschend von der Kirche die Rede und davon, dass die Pforten (d. h. die Macht) des Totenreichs sie nicht überwältigen werden. Was hat das beides miteinander zu tun – das Bekenntnis zum Gottessohn und eine unüberwindliche Kirche? Der Vater hat den Sohn nicht nur für sich selbst erwählt, sondern weil er menschlich mit Menschen zusammenleben will. So kommt es als Ahnung in der Bundesformel des Alten Testaments zum Ausdruck: »Ich will ihr Vater sein, und sie sollen meine Kinder sein; ich will ihr Gott sein, und sie sollen mein Volk sein; ich will unter ihnen wohnen«. Vielleicht hat schon das Judentum den Vers ergänzt (Bar 3,389) – jedenfalls finden wir es in apokryphen jüdischen Schriften: »wohnen in Gestalt eines Menschen«. Weil es nicht nur um Bekehrung geht, sondern um ein Wohnen auf Dauer, um ein Bleiben, deshalb gibt es Kirche. Gerade im MtEv, das ja die Rolle des Zwölferkreises stark betont, wird Kirche so ganz selbstverständlich als erneuertes Israel gedacht. Wenn Petrus die Schlüssel des Himmelreiches (nicht nur der Kirche!) erhält, mit denen er regeln kann, wer dazugehört und wer nicht, dann ist wahrscheinlich und hauptsächlich an die Sündenvergebung gedacht. Sie ist auch anderswo in
81 die Entscheidung der Jünger gestellt (Joh 20,23). – Und dass das Reich des Todes die Kirche nicht besiegen wird, setzt einen Kampf voraus, der wirklich ein Kampf zwischen Tod und Leben ist. Die Kirche ist daher darauf angelegt, dereinst im Reich Gottes aufzugehen (Didache 9). Sie ist der Raum des Lebens, über das der Tod nicht siegen kann, und zwar deshalb, weil sie der Ort des lebendigen Gottes ist, der in seinem Sohn mitten unter den Menschen ist. Zu Mt 16,12-19: Im Unterschied zum MkEv endet der Abschnitt über den Sauerteig nicht mit der vorwurfsvollen Frage: »Versteht ihr noch nicht?«, sondern mit V. 12: »Da verstanden sie …«, und schon vorher hatte Mt keine Verstockungsaussage wie Mk 8,18. Jünger, auf die Jesus seine Kirche bauen will, dürfen nicht unmittelbar vorher als verstockt dargestellt werden. Das Christus-Bekenntnis des Petrus enthält nicht nur die damals allein für Judenchristen verständliche Aussage »Du bist der Christus«, sondern auch das für Heidenchristen verstehbare »… der Sohn des lebendigen Gottes«. Die Diskussion der alternativen Deutungsmöglichkeiten gehören zu einer festen Gattung, die auch in ThomasEv 13 und in den Apokryphen Apostelakten belegt ist (vgl. K. Berger, Formen und Gattungen, 2005, 292). Im Unterschied zu Mk kommt hier die Möglichkeit »Jeremia« hinzu (vgl. dazu: K. Berger, Die Auferstehung, 1976, 256f). Auf das »Du bist …« von V. 16 (persönliches Bekenntnis) folgt die Antwort als »Du bist«-Anrede Jesu an Petrus (Installation). Schon Chr. Kähler hat beobachtet, dass die jeweils einzige Du-bist-Anrede an einen Menschen in derartigen Schriften jeweils der Auszeichnung des Offenbarungsträgers dient. Petrus ist hier Offenbarungsträger wegen des Vaters im Himmel in 16,17. Gleichzeitig aber gründet sich die Funktion des Petrus auf sein Bekenntnis (V. 16), und so ist es auch in Joh 21 (Bekenntnis als Erkenntnis, V. 7). Das Bekenntnis von Mt 16,16 ist die Basis für die Rolle des Apostels in der Kirche und zugleich auch der Maßstab für die Zugehörigkeit dazu, also auch die Basis für das Binden (draußen lassen) und Lösen (hereinlassen). Eine ähnlich enge Verbindung von Bekenntnis und Kirche kennt 1 Joh.
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82 Dass Jesus von »(s)meiner Kirche« spricht, während es sonst im Neuen Testament immer heißt »Kirche Gottes«, hat seine Entsprechung darin, dass Mt 13,41 vom »Königreich des Menschensohnes« spricht, während es sonst immer »Königreich Gottes« heißt. Die Kirche Jesu Christi und das Königreich des Menschensohnes dürften daher deckungsgleich sein. Das bedeutet gleichzeitig, dass die Kirche so, wie sie ist, nicht das Reich Gottes ist, sondern bestenfalls darauf zuwächst (vgl. Didache 9: »Sammle deine Kirche … lass sie gelangen in dein Reich«). Die Deckungsgleichheit von Kirche und Reich des Menschensohnes bedeutet auch, dass sie den übrigen Reichen konkurriert. Daher gibt es keine »Kirche im Sozialismus«, sondern eine ausdrückliche Konkurrenz zu jedem irdischen Reich. Das besagt schon der politische Ausdruck »ekklesia«, auf die Kirche angewandt. In hellenistischer Zeit gehören die Volksversammlungen zum Bestandteil der Monarchien. Die Verheißung nach 16,18 (Hadespforten) schmelzen die exorzistischen Aussagen der synoptischen Evangelien neu um. Der Ausdruck »Pforten« steht für das Ganze; ähnlich hieß noch in der Neuzeit der Palast des Sultans die »Hohe Pforte«. »Binden« ist auch eine Metapher der Exorzismen (Mt 12,29), dem Binden entspricht das griech. anathema in Gal 1. Wer bindet, macht handlungs- und bewegungsunfähig und setzt »matt«. Man bindet oder setzt frei: Menschen oder Mächte, deren (Nicht-)Zugehörigkeit zur Gemeinde problematisch ist oder geändert werden soll. Insofern entspricht das Binden dem Ausschluss aus der Gemeinde nach Mt 18,17b, das Lösen der Lossprechung nach der Sündenvergebung von Mt 26,28b. Der Bereich des Bundes (Gemeinde) reicht so weit wie die Vergebung, die die Gemeinde im Blick auf das letzte Mahl Jesu zuspricht. Dabei ist dieses letzte Mahl zumindest der Gründungsakt des Bundes. Dessen Schwelle ist die Vergebung. Ganz ähnlich formelartig gebildet ist Joh 20,23. Das bestätigt die enge Verwandtschaft zwischen dem JohEv und dem MtEv. Die gleichlautende Formel in Mt 18,18 gibt mehr Klarheit. Denn dort geht es im Kontext eindeutig um Ausschluss aus der Gemeinde. »Binden« heißt dann: nicht hineinlassen; lösen heißt dann: den Zugang öffnen. Die
Das Evangelium nach Matthäus
Gemeinde (Mt 18) bzw. Petrus allein (Mt 16) kann den Zugang zur Gemeinde daher selbstständig regeln. Die Doppelheit von Apostel (Petrus) und Gemeinde, die beide diese Vollmachten haben, findet sich auch in 1 Kor 5 für den Fall des Ausschlusses des Unzuchtssünders aus der Gemeinde. Die Gemeinde im Ganzen (1 Kor 5,4) oder Paulus auch allein (1 Kor 5,3) können dieses definitive Urteil fällen. Warum muss das Urteil definitiv sein? Wird hier nicht menschliches Urteilen unzulässig »überhöht«? Gilt nicht, dass Jesus nicht zum Urteilen, sondern zum Retten gekommen ist? Die merkwürdige Entsprechung zwischen Petrus und Paulus, zwischen der Kirche des Matthäus und Korinth rührt daher, dass die christliche Gemeinde heilig ist und kein Verein wie jeder andere. Bei Vereinen gibt es fließende Grenzen, bei der Gemeinde der Heiligen dagegen nur »heilig« oder »unheilig«. So wie es auch entweder Heiliger Geist oder ein Dämon ist, der einen Menschen erfüllt; ein neutrales Drittes gibt es nicht. Die Gemeinde der Heiligen ist je und je ein Ort der Begegnung mit Gott (vgl. 1 Kor 14,25 und Mt 18,10) und hat darin ein Grundmuster, das der Christologie ähnlich ist (Gott wohnt in oder inmitten von Menschen). Wir haben daher hier nicht über Unbarmherzigkeit zu klagen, sondern entweder ist die Gemeinde der heilige Ort Gottes – oder sie ist ein profaner Verein. Der Vergleich von Mt 16,19 mit Offb 3,7 zeigt, dass sich die Auslegung von Jes 22,22 schon im Hintergrund beider Stellen verselbstständigt hat. Der geheimnisvolle Ausdruck »der schließt und niemand öffnet« und der »öffnet und niemand schließt« gilt in Jes 22,22 schlicht einem Hausverwalter des Königspalastes. Die frühjüdischen Zwischenglieder fehlen. Im Neuen Testament wird dieser Text an beiden Stellen von der Vollmacht über das Himmelshaus verstanden sei es, dass Jesus, sei es dass Petrus sie ausübt. Zur Erklärung von Jes 22: Es handelt sich um eine Geschichte vom judäischen Königshof. Eljakim ben Hilkia wird zum Haus- und Hofmeister eingesetzt. Er tritt damit an die Stelle seines Vorgängers Schebna, von dem noch V. 19 handelt. Die Verse 20-22 sprechen im Zeremonialstil von der Investitur des neuen Haushofmeisters. Das Attribut »mein Sklave« ist häufig den Königen vorbehalten, sagt also Wichtiges über die hohe
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Kapitel 16
Stellung. V. 21 spricht von den neuen Dienstgewändern. Dabei fällt auf, dass die Schärpe (das hebr. Wort stammt aus dem Ägyptischen; die Schärpe wird schräg umgelegt) nie Bestandteil der Kleidung des gewöhnlichen Mannes ist, es handelt sich um ein exklusives Prunkstück. Der kultische Rezitator trägt schon in Ägypten »eine breite Binde schräg über die Brust«, und so ist dieses noch heute Dienstkleidung der Diakone, d. h. die besondere Form, in der die Stola bei Diakonen gelegt ist. Die Schärpe hat einen altorientalischen Ursprung. Nach V. 23 wird der neu Installierte zum sicheren Pflock eingesetzt, was nicht zufällig an das Wort für Petrus erinnert, er sei der Fels, auf den der Herr seine Kirche baut. Was der Pflock für das Zelt, das ist der Fels für das Haus. So wird in Jes 33,20 Jerusalem mit einem Zelt verglichen, »das nicht wandert, dessen Pflöcke in Ewigkeit nicht ausgezogen werden und dessen Stricke nicht reißen«. Die interessanteste Wirkungsgeschichte aber hat Jes 22,22 (»Und ich lege die Schlüssel des Davidshauses auf seine Schulter, und er wird auftun und keiner schließt, und er wird schließen und keiner tut auf«). Im Kontext von Jes 22 handelt diese Anrede von der Schlüsselvollmacht. Das heißt: Der neu Eingesetzte ist zuständig für die Sicherheit des ganzen Palastes wie heute noch ein Wach- und Schließdienst. Dabei geht die Schlüsselgewalt wohl über das wörtliche Verständnis hinaus. Sie »bedeutet Verfügungsgewalt über die Dynastie der Davididen, ihren Besitz und ihre Funktionen überhaupt«. Der Vers wird wörtlich auf Jesus bezogen in Offb 3,7: »Diese Worte sind von dem Heiligen, der wirklich ist wie Gott, der den Schlüssel Davids [zu Himmel und Hölle, zu Leben und Tod] in Händen hat. Wenn er damit aufschließt, so ist es endgültig; wenn er zuschließt, ist es für immer. Ich weiß, wie du gehandelt hast. Daher habe ich für dich eine Tür zum Himmel geöffnet, die niemand mehr schließen kann.« Hier ist freilich die Rolle des Schlüssels Davids schon auf Leben und Tod bezogen. – In den O-Antiphonen der Adventszeit schließlich heißt es in der Vesper am 20. 12.: »O Schlüssel Davids und Szepter des Hauses Israel. Du öffnest, und niemand schließt, du schließt, und niemand öffnet. Komm und führe aus dem Gefängnishaus den Gefesselten heraus, der sitzt in Finsternis und Todesschat-
83 ten.« Hier ist Jesus selbst metaphorisch der Schlüssel Davids. Seine Vollmacht bedeutet die Macht zur Befreiung [des alten Menschen] aus dem Gefängnis. Das Haus ist daher hier nicht der Palast in Jerusalem, sondern es geht um die wunderbare Befreiung aus dem Gefängnis des Todes; die Schlüssel dazu hat in der Tat nur Jesus, der »Erstgeborene aus den Toten« (Offb 1,5). Von wunderbarer Befreiung berichtet z. B. die Apg öfter (Kap. 5,22). – Die Stelle aus Jes 22 war wohl deshalb für christologische Deutung anziehend, weil es sich um die in einem Symbol konzentrierte Macht des ganzen Hauses Davids handelte und weil deren Ausübung definitiven Charakter besaß. So ist es auch bei der Schlüsselgewalt des heiligen Petrus: Seine Akte des Einlassens oder Ausschließens haben definitiven Charakter. Nichts anderes bezeichnet das »wie auf Erden – so im Himmel«. Auch in Mt 16 handelt es sich noch immer um eine Investitur, daher der feierliche Stil. Dass an der Stelle des Pflocks hier der Fels steht, wurde schon bemerkt. So könnte man es kurz fassen: Sage mir, ob du die Gemeinde als heiligen Tempel Gottes ansiehst, dann kann ich dir sagen, was die Schlüssel des Petrus wert sind. Eine aufschlussreiche Verwandtschaft besteht zwischen Mt 16,18; 1 Kor 3,22; Eph 2,20 und Offb 21. Sie lässt erkennen, dass die Anwendung und Eingrenzung einer breiteren, auf Apostel bezogenen Tradition auf Petrus hier singulär ist: 1 Kor 3,9-12: (Haus); Fundament Jesus Christus (gelegt durch den Apostel Paulus), Kirche (ekklesia; 1,2) bzw. Tempel (Gottes) V. 16. »auferbauen«. Eph 2,20f: Fundament Apostel und Propheten; Mitbürger und Hausgenossen, Kirche (ekklesia), Tempel (Haus Gottes), »auferbauen«; Eckstein Jesus Christus. Mt 16,18: Fundament Petrus, Kirche (ekklesia), Christus als Baumeister. Offb 21,14: Zwölf Apostel als Fundamente, himmlisches Jerusalem als zukünftige Stadt. Diese Stadt ist Tempel, daher gibt es in ihr keinen weiteren Tempel (21,22).
Auswertung: Die Kirche ruht auf einem Fundament; (auch das himmlische Jerusalem ist eine derartige Ekklesia). Das Haus, das hier geschildert wird, ist zugleich der Tempel. Das Fundament ist personal gedacht. Regelmäßig sind
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84 hier speziell Apostel genannt – 1 Kor 3,11 bestätigt als Ausnahme eher die Regel. Paulus will die menschlichen Autoritäten ausschalten, daher ist nur hier Jesus Christus allein das Fundament. Mt 16,18 nennt nicht die Zwölf Apostel, sondern singulär nur Petrus. Auch schon in 1 QS 8 wird das hier nachgewiesene Bild bezogen auf die Gemeinde, auch hier das Bild der Fundamente und des Tempels (Allerheiligstes). Im direkten Kontext ist sogar von den 12 Gerechten aus Israel die Rede. Das ganze Modell ist daher im Judentum vorbedacht worden. – Und an einer weiteren Stelle gibt es eine wichtige Gemeinsamkeit zwischen dem MtEv und nichtsynoptischer Tradition: Mt 16,16f entspricht Gal 1,16: Paulus hat sein Selbstverständnis nach den Vorgaben formuliert, die in der Petrustradition fest verankert sind. Es geht um folgende Elemente: Apostel, Offenbarung Gottes, sie betrifft den Sohn Gottes, diese Offenbarung ist unabhängig von Fleisch und Blut, der Gattung nach liegt eine Berufung vor. Petrus wird direkt in Kontext erwähnt (Gal 1,18).
Mt 16,21-27: Erste Leidensankündigung Ganz normale menschliche Verhaltensweisen werden hier genannt: sich gegen Leiden wehren (besonders wenn es den Freund und Meister Jesus betrifft), sein Leben und damit sich selbst zu »retten« und zu verwirklichen suchen, sich immer mehr Ansehen schaffen, bis einem die Welt zu Füßen liegt. Auf der Gegenseite steht das Leiden, das Ertragen von Kreuz und Schande, das Sich-Aufgeben für Jesus. Das, so sagt Jesus, sind Gottes Gedanken. Und sie stehen in striktem Kontrast zu dem oben geschilderten normalen menschlichen Denken. Dergleichen Normalität ist, gerade weil sie so vernünftig ist, teuflisch. Warum soll das normale Streben nach Gesundheit – im Kontrast zu Leiden, nach Ansehen – im Kontrast zur schändlichen Kreuzesstrafe, nach Gewinnen der Herzen von Menschen – im Kontrast zum Fremdsein unter den Menschen – warum soll das alles teuflisch sein? Auch für Jesus ist dieser Weg sichtlich hart; denn nur deshalb wird Petrus so harsch kritisiert, weil er wie einst der Teufel (vgl. Mt 4,1-11) Jesus mit Dingen versucht, die ganz normal und vernünftig sind.
Das Evangelium nach Matthäus
Ist es wirklich teuflisch, den normalen Wertvorstellungen und »gesunden« Lebensinstinkten zu folgen? Fängt das Christentum nicht an dieser Stelle an, verdreht zu werden? Erst wenn wir diese Frage hier in aller Ernsthaftigkeit stellen, können wir überhaupt begreifen, warum das, was Petrus sagt, auch für Jesus eine Versuchung ist. Leiden, Kreuz und Schande sowie Verzicht auf Selbstverwirklichung und Anerkennung sind Anti-Werte. Sie orientieren sich grundsätzlich an einem tiefgreifenden Kontrast und Konflikt zwischen Gott und Welt. Und nur in diesem Rahmen, nicht an und für sich und unter dem Motto betrachtet »als gäbe es Gott nicht«, sind sie AntiWerte. Also sind Leiden, Schande und Kreuz nicht an sich etwas Großartiges, sondern nur dann, wenn es Gott gibt und weil es ihn gibt. Weil die »Welt« in ihrer Verstiegenheit und Gottferne eben die Gerechten leiden lässt und kreuzigt. Denn nicht das Leiden an sich ist heilig, sondern das Leiden derer, die zu Gott gehören. Nicht Verzicht auf Lebensinstinkte an sich ist gut, sondern das gottlose Ausleben der Vitalität, die keinen Himmel über sich kennt. Im Grunde geht es daher in diesen Versen um ganz grundlegende menschliche Verhaltensweisen wie Streben nach Gesundheit, Ansehen und Selbstverwirklichung – und ihr Verhältnis zum Gottesglauben. Jesus sagt: Alles Streben nach diesen vitalen Bedürfnissen ist grundverdächtig. Denn überall will der Mensch sich selbst, sein eigenes Wohlergehen und seine eigene Macht. Für den, der versucht, sich an Gott zu orientieren, sind seit Jesus alle diese Dinge tief problematisch geworden. Aber hier gilt es, ein verbreitetes Missverständnis abzuwehren: Christentum bedeutet nicht Lust am Leiden, Freude am Nein zum Leben. Mt 16,25 sagt es genau: »Wer sich aber aufgibt für mich, der wird sich finden.« Es ist also durchaus Gottes Wunsch und Ziel, dass Menschen sich finden, dass sie das Leben bewahren. Und Lebensfeindlichkeit wäre das Letzte, was dem Gott der Bibel anstünde. Gott will durchaus das Leben, und zwar in Lust und Fülle. Aber Vitalität ist nicht unschuldig, sondern seit Adam und Eva raffgierig, egozentrisch, kurzatmig. Sie hat keine Zeit, sondern will auf kürzestem Wege nur für sich selbst sorgen. Und sie verfehlt ihr Ziel, weil nur für sich selbst niemand glücklich ist. Nach biblischem Denken, und das
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Kapitel 17
ist der Weg Jesu auch, führt nur der Weg zum Ziel, auf dem man nicht kurzfristig zum vordergründigen Ziel gelangen will, sondern der Weg, auf dem man zunächst den Anti-Wert ansteuert: Was vor Gott gilt, kann nur das Gegenteil sein von dem, was hier Ansehen schafft. Und zweitens ist Weltlichkeit nicht nur ein Attribut der anderen, sondern eben auch des eigenen Egoismus. Es geht darum, den Vitalitätstrieb dem Gebot Gottes zu unterstellen. Gottes Gebot aber heißt nicht raffen, sondern schenken und warten. Gottes Weg besteht darin, dass er lange, eine ganze Weltzeit lang, seine Sonne aufgehen lässt auch über seinen Feinden. Der Weg Jesu hat mit Zeit zu tun. Alles, was kurzfristig erstrebt wird, bleibt auch nur kurzfristig bestehen. Alles nur Geraffte zerfällt rasch in den gierigen Armen. Die Sünde besteht immer darin, dass Menschen keine Zeit haben. – Man hat den Weg Jesu den indirekten genannt. Wer leben will, kommt zum Leben durch Kreuz und Tod hindurch. Wer sich finden will, kommt zu sich, indem er ganz und gar nicht
85 an sich denkt. Wer Ruhm erstrebt, wähle den Weg des Dienens. Dieser indirekte Weg hat deshalb etwas mit Gott zu tun, weil es für den »normalen« Menschen, der ohne Gott auskommen will, keineswegs ausgemacht ist, dass Weggeben und das Kreuz wählen wirklich der bessere Weg ist, zu sich selbst zu kommen. Es könnte ja sein, dass alle diese Aufforderungen zum Sich-Verschenken nur formaler Altruismus sind, ohne Verheißung, ohne Hoffnung, einfach nur masochistisch moralischer Triumph. Nur wenn das Ganze an Gott orientiert ist, nur wenn es einen Gott gibt, dem die Zukunft gehört, der am Ende auch die Gerechtigkeit selbst ist, nur dann ist selbstloses Handeln nebst Verzicht auf Macht und Ruhm nicht letztlich doch sinnlos. Deshalb ist Altruismus (Handeln um des anderen willen als prinzipiell gut) in sich selbst betrachtet sinnlos und gefährlich, weil er den Handelnden definitiv zum Verzicht auf sich selbst auffordert.
Mt 17-22: Auf dem Weg in die Passion Mt 17,1-9: Jesu Verklärung Jesus wird von Mose und Elia abgegrenzt. In der Komposition ist der Text die Mitte des Evangeliums. Er ist eine visionäre Bestätigung des PetrusBekenntnisses von Mt 16, und beim Abstieg vom Berg beginnt Jesus seinen Weg in die Passion. Die Verklärung ist daher Höhepunkt und Wende des bisher erzählten Lebens Jesu. Dazu kommt: Außer bei der Taufe spricht nur hier der himmlische Vater selbst mit der Himmelsstimme, nur hier erscheinen alttestamentliche Propheten»Kollegen« Jesu. Der Gattung nach handelt es sich um eine Verbindung von Vision und Audition. Im Laufe der Zeit hat sich ein besonderes Formschema entwickelt, welches folgende Struktur hat: Bild oder bildhafte Offenbarung – Phase, in der das Unverständnis des menschlichen Empfängers dargestellt wird – Erklärung des Bildes durch eine zusätzliche Wortoffenbarung. Die Vierfachgliederung der Szene entspricht der klassischen Abfolge von Vision (17,2f) und Audition (17,5b-6) sowie nachfolgender Belehrung (17,6-9). – Zwischen Vision und Audition steht –
ebenfalls klassisch und typisch – eine kurze Phase, in der deutlich wird, dass die Jünger das in der Vision Offenbarte nicht verstanden haben, und dass somit eine weitere Aufklärung notwendig ist, die dann in 17,5-9 erfolgt. Diese kurze Phase ist die des Missverstehens (17,4). In der Wort-Offenbarung wird dann tunlichst jeder einzelne Zug erklärt. Der theologische Sinn dieser Doppelung von Vision und Audition ist: Der Mensch, dem die Offenbarung zuteil wird, kann sie von sich aus nicht deuten (17,4). Er bedarf einer zweiten Offenbarung, die für ihn die »Auslegung« garantiert und legitimiert. Wenn solches also bei der Verklärung Jesu geschieht, dann bedarf die Worterklärung des Ganzen deutlich der Absicherung, und zwar hier durch die Tatsache, dass Gott selbst mit eigener Stimme spricht. So wird die theologisch-sachliche Einheit der alt- und der neutestamentlichen Offenbarung eindrucksvoll gezeigt. Es ist derselbe und eine Gott, der hier spricht. Der Gott der Propheten ist der Vater Jesu Christi. Das zeigt schon das Arrangement der beiden Texthälften. Ich gehe davon aus, dass die Verklärung eine
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86 mystische Erfahrung Jesu und seiner Jünger im Leben Jesu ist, die den Sohn als den neuen Offenbarer von den Propheten des Alten Bundes unterscheiden soll. Diese Unterscheidung zwischen den Propheten (Plural) und dem Sohn (Singular) gilt auch für Mk 12,2-5.6 (Gleichnis von den bösen Winzern) und für Gal 4,22-31 (Sklaven/ Kind). Ähnlich ist auch Hebr 3,1-5 gearbeitet (Sohn/Sklave). Man kann daher sagen, dass die Unterscheidung von Kindschaft und Sklavenstand bzw. Sohn versus Propheten zu den frühesten Instrumenten der Unterscheidung von alter und neuer Offenbarung gehört. Diese Unterscheidung ist nicht grundsätzlich feindselig, empfiehlt aber doch prinzipiell die neue Offenbarung. Dass diese Deutung angemessen ist, darauf weist besonders die Rede des Petrus von den drei Hütten. In der deutschen Predigtliteratur und dann auch in der Umgangssprache tut man oft so, als sei der Wunsch, Hütten zu bauen, ein Ausdruck des Wohlgefühls, und zwar im Unterschied zur dann beginnenden Passion. Doch die Antwort des Petrus ist unverständig, und zwar denkt er wohl an eine völlige Gleichberechtigung zwischen Jesus, Mose und Elia. »Zelt«, »Hütte« oder »Haus/Wohnung« ist hier nicht für das Privatleben der drei gedacht, sondern wie einst das Zelt des Mose beim Auszug aus Ägypten als Ort des Empfangs der Offenbarung, der dauerhaften und wiederholten Begegnung mit Gott. Von daher allein gewinnen die Aussagen hier Sinn. So ist also mit der Korrektur durch die Himmelsstimme gemeint: Nur der Sohn, nur Jesus Christus, ist ab jetzt als Mittler zwischen Gott und Mensch geeignet. Und wenn die Himmelsstimme sagt: »Ihn sollt ihr hören!«, dann heißt das: Der Prophet wie Mose, den Gott nach Dtn 18,15 schicken wollte und auf den Israel nach Dtn 18,15 hören soll, dieser ist jetzt gekommen (Josua, der wohl mit Dtn 18,15 gemeint war, heißt in der LXX »Jesus«). »Ihn sollt ihr hören« bedeutet auch: Jesus ist der, der alle Offenbarung der Schrift, des Alten Testaments, legitim auslegt. Die Vision wollte eben nicht drei gleichrangige Lehrer etablieren, sondern Jesus so aufwerten, dass er zwar wie ein Prophet ist, aber doch mehr als ein Prophet, nämlich der »geliebte Sohn«. Matthäus hat sich für diese Geschichte interessiert, weil die Gottessohnschaft Jesu, die darin
Das Evangelium nach Matthäus
zum zweiten Mal (nach 3,17) von Gott direkt erklärt wird (Gesetz der zwei Zeugen!) in deutlichem Kontrast steht zum kommenden Todesgeschick Jesu. Denn der Gottessohn ist derjenige, der auferweckt werden wird (Röm 1,3f). Die Verklärung deutet an, dass der Tod letztlich machtlos sein wird. Zum anderen steht der Text der Verklärung in besonderer Spannung zum Bericht über das letzte Mahl Jesu. Damit fällt unser Blick auf den typologischen, auf Schriftauslegung gewachsenen Aspekt der Verklärungsperikope. Denn die Verklärung enthält zahlreiche Elemente aus dem Alten Testament über Gottes Offenbarung und den Bundesschluss am Sinai. Das ist so zu denken: Der Gang Jesu auf den Berg der Verklärung ist der Offenbarung auf dem Sinai nachgebildet, und die Einsetzung des Bundes beim letzten Mahl Jesu steht zur Einsetzung des Bundes nach Ex 24,8 im Verhältnis der Entsprechung. Beides aber gehört zusammen, da es die entscheidenden Elemente der Sinai-Erzählung sind: der Empfang der Gebote bzw. die Auszeichnung der Lehrautorität des Mose und der Bundesschluss mit dem Volk. Dazu gehören weiter: die Ältesten bzw. Jünger als Zeugen, die Besteigung des Berges der Offenbarung, die wichtige Rolle des Mose, die Verklärung des Antlitzes (Jesus wie Mose; Mt 17,2: es strahlte sein Angesicht wie die Sonne), sodann die Stimme Gottes bzw. die Rede vom Offenbarungszelt (17,4!). Und für den Bund wird ein Zeichen aus Blut bzw. roter Flüssigkeit gesetzt und kommentiert mit: »Das ist mein Bundesblut …« (Ex 24 und 33f). Aus alledem folgt theologisch: Jesu Worte sind die »novellierte Gesetzgebung« des Mose, und Jesu Tod am Kreuz (Blut) ist der novellierte Bundesschluss. Der alte Bund und seine Autoritäten sind nicht vergessen, aber überboten. Das Blut von Böcken und Rindern ist ersetzt durch das Blut des Todes Jesu. Dabei wird das Irdische und Vorläufige nie grundsätzlich abgewertet. Es geht nicht um Dualismus, sondern um Steigerung und Vollendung. Die Gottessohnschaft Jesu bedingt schon vor Ostern eine besondere Qualität seines Leibes, die hier und anderswo in besonderen Ereignissen hervortritt. Bei einer ganzen Reihe von Persönlichkeiten des Frühjudentums und des frühen Christentums (z. B. Stephanus) werden »Verklä-
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rungen« berichtet (Abraham, Daniel, Jeremia, dem jüdischen Hohenpriester Chananja Pinchas). Mose ist dabei zum Prototyp des besonders begnadeten Missionars geworden. Jesus ist in Mt 17 sehr extrem nach Art der Propheten gezeichnet, die »wie Mose verklärt wurden«. Die Himmelsstimme sorgt dann für die Überbietung. Und nur bei Jesus ist ausdrücklich der ganze Leib (Gewand) und nicht nur das Gesicht dem Mose ähnlich. – Das, was Gott mitteilen kann, ist nicht abstrakt formuliert (»Wesen«), sondern ist sein verwandelndes, übersinnliches Licht. Die Christologie der Verklärungsgeschichte ist eine Epiphanie-Theologie in Diensten frühester Deutung Jesu in Differenz zu den Propheten. Mk 9,2-9 ist deshalb ein implizit trinitarischer Text, weil alle Verwandlung von Menschen sich nach den Parallelen stets durch den Heiligen Geist ereignet. Kohärenz: So wie Petrus nach Mt 16,16 Jesus als Sohn Gottes bekannt hat, so wird Jesus jetzt durch die Himmelsstimme in einer dramatischen Szene als Sohn Gottes bestätigt. Damit wird Jesu Wort an Petrus als wahr erwiesen, dass der Vater im Himmel und nicht ein Mensch Petrus dieses offenbart hat (Mt 16,17). Denn bei der Verklärung wird Jesus vom Himmel her als Sohn (des Vaters) angeredet. Matthäus verstärkt dabei die dramatischen Elemente: Nur er berichtet in 17,6f, dass die Jünger voll Furcht und Schrecken auf ihr Angesicht fielen und nur durch Jesu Berührung und Machtwort aufstehen konnten. Diese kleine Szene ist typisch für Theophanieberichte. Denn wenn Gott erscheint, ist es die Stunde der Wahrheit – das gilt für die Wahrheit über Jesus und für die Wahrheit über die Jünger. So wird denn hier die menschliche Schwachheit demonstriert, andererseits aber auch, dass die Jünger nicht in tödlicher Angst verharren, sondern sich als Gottes Gesprächspartner aufrichten sollen (17,7b). Sie dürfen und können nach der Berührung vor Gott stehen. Gerade der Evangelist Matthäus wird in der Folge Ernst mit der Botschaft der Verklärung machen, dass Jesus der einzige Lehrer ist, so etwa Mt 23, 8, und seine Worte sollen die Jünger an die Heidenvölker weitergeben (Mt 28,20). Er ist die maßgebliche Autorität für die Auslegung der ge-
87 samten Schrift, und zwar in Person. Auf sein Wort sollen die Jünger hören, auch wenn es darum geht, was Mose und Propheten gemeint haben. So werden die beiden »Sklaven«/Propheten, Mose und Elia, zu Zeugen für Jesus. Der Sohn ist nicht gegen sie, schafft sie nicht ab, aber er ist die Norm der Auslegung. – Auch an der »Inszenierung« auf dem Berg werden Theophanie-Elemente erkennbar, die eine deutliche Parallele zur Offenbarung auf dem Sinai darstellen: Der hohe Berg (Mt 17,1) entspricht Ex 19,2. Der Aufstieg nach sechs Tagen (Mt 17,1) entspricht den drei Tagen Vorbereitung von Ex 19,3. Auch auf dem Sinai spricht Gott (Mt 17,7), und zwar zu Mose (Mt 17,3). Die Wolke ist Zeichen der Gegenwart Gottes (Ex 19,9 zu Mt 17,7). Die Anweisung zur Erfüllung von Gottes Willen Ex 19,5 entspricht Mt 17,5. Die Verklärung Jesu am ganzen Leib (Mt 17,2) überbietet bei weitem die Verklärung des Mose, bei dem nur das Angesicht (die Augen) verklärt waren (Ex 34,29), doch in beiden Berichten ist die Wolke das Zeichen der Gegenwart Gottes (Mt 17,5 und Ex 19,9). – Man kann nun fragen, ob nicht auch der Bundesschluss, der auf die Sinai-Theophanie folgt (Ex 19,5 und besonders Ex 24,8 »Dies ist das Blut des Bundes«) eine Entsprechung in den Evangelien hat. Denn auf die Proklamation der Bundessatzung muss der Bundesschluss folgen. Dieser Bundesschluss erfolgt beim letzten Mahl Jesu im Vorausblick auf das Kreuz, und hier werden die Worte von Ex 24,8 wiederholt und ergänzt, wenn jetzt in Mt 26,28 Jesus sagt: »Dies ist mein Bundesblut, vergossen für viele zum Nachlass der Sünden.« Der Sündennachlass lässt aus dem Bund den Neuen Bund werden (Jer 31,34: »Ich will ihnen ihre Missetat vergeben, und ihrer Sünden will ich nicht mehr gedenken«). So wird in den Evangelien ein großer Bogen geschlagen zwischen Verklärung und Abendmahl. Sie hängen zusammen wie Bundessatzung und Bundesschluss.
Im Unterschied zu Mose überreicht Jesus keine Tafeln, sondern jetzt gelten seine lebendigen Worte – aufgeschrieben im Evangelium. Aber das Evangelium ist ein Lebensbericht, eine Biografie. So ist der Neue Bund viel enger an die Person des Bundesmittlers gebunden, als es der Alte Bund an Mose war. Und deshalb reicht Jesus beim Mahl seinen Leib. – Was bedeutet diese zweifache Typologie? Gott handelt in und durch
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88 Jesus nach dem vertrauten Muster der SinaiTheophanie und des Bundesschlusses. Beide Ereignisse sind der absolute Höhepunkt der Geschichte des Gottesvolkes im Alten Bund. Der Anspruch der Evangelien ist daher keineswegs gering. Denn die Theophanie am Sinai wird noch überboten. Der Bund, der in Jesus geschlossen wird, ist aber dem Alten Bund gegenüber nicht fremd, er ist wie seine Novellierung. Daher vermeidet Matthäus das Wort »neuer« Bund; denn es geht um den einen Bund, der jetzt radikal vertieft wird. Zur Forschung: Man hat überhaupt keinen Sinn für eine mystische christologische Erfahrung vor Ostern, man versteht daher den Bericht nicht und deutet ihn als eine falsch platzierte Ostererzählung. Doch keine Ostererscheinung ist diesem Bericht entfernt ähnlich. Man folgt dabei nur dem Dogma der liberalen Exegese, vor Ostern dürfe es keine christologische Erkenntnis gegeben haben. Die Ostkirche hat dagegen mit der Verklärungsikone zum Ausdruck gebracht, dass hier die Mitte der Evangelien vorliegt.
Es wird der Beitrag künftiger Exegese sein, die mystischen Traditionen der Bibel wiederzuentdecken und sie nicht systematisch beiseite zu schieben. Denn hier geht es nicht um merkwürdige Jüngerphantasien, sondern um den Einbruch der Wirklichkeit Gottes in und an der Person Jesu. Und genau das ist die Mitte der Evangelien.
Mt 17,10-27: Fangfragen an Jesus Der Abschnitt geht über folgende Themen: 1) Johannes der Täufer wird in seinem Leiden zum Typos des Menschensohnes (17,10-13). Elia muss »erst« kommen, vor dem Menschensohn. Aber er muss auch zuerst leiden. Das ist geschehen, und dieser Elia war Johannes der Täufer. Das sagt Matthäus in 17,13 ausdrücklich. – Das Leiden des Elia ist apokalyptischer Topos, vgl. K. Berger, Auferstehung, 47-52. Dieses Martyrium ist hier nicht mit Auferstehung verbunden, wohl aber in Mk 6,14 und Offb 11,11 nach der gewöhnlichen Meinung, dass die beiden Propheten Elia und Henoch sind. 2) Heilung des Mondsüchtigen (17,14-20). Die
Das Evangelium nach Matthäus
Jünger werden darüber belehrt, warum sie diese Heilung nicht vollbringen konnten. 17,20 ist das Zentrum der Belehrung: Die Jünger waren zur Heilung nicht imstande wegen ihres Kleinglauben. Der Unglaube heißt bei Jüngern Kleinglaube (ein typisch matthäisches Wort, vgl. Mt 6,30; 8,26; 14,31; 16,8; 17,20, sonst im NT nur Lk 12,28). Selbst ein ganz geringer Glaube gäbe ihnen die Kraft zu Taten voller Schöpfungsmacht. Aber die Aussagen über die wunderbare Vollmacht ist nicht einfach grotesk, sondern prinzipiell auch kreativ. Und sie ist an interessante Bedingungen geknüpft. Diese Bedingungen sind immer ähnlich. Sie betreffen stets das Einig-Sein, das Einssein. Das betrifft einerseits das Einssein von Mensch und Mensch, andererseits das von Mensch und Gott. Daher sind die Bedingungen, unter denen Worte das bewirken, was sie sagen, folgende: Wenn Menschen sich versöhnen, d. h. Frieden schließen, wenn einer dem anderen vergibt, wenn einer nicht den Zwiespalt des Zweifels zwischen sein Bekenntnis und seine Überzeugung kommen lässt, wenn er also mit sich selbst eins ist, wenn einer an Gott glaubt, d. h. mit Gott eins ist, auch wenn dieser Glaube nur ganz klein ist, nicht größer als ein Senfkorn, wenn einer im Namen Jesu Gott bittet und ganz auf diesen Namen setzt, als unverbrüchlich vertraut auf diesen Namen. Denn alles dieses, Vergeben und Eines-Sinnes-Sein, bedeutet Frieden und Ende aller schrecklichen Spaltung. Mit Wunderkraft ist das deshalb gesegnet, weil jede Einheit, jeder Friede, jegliche Versöhnung Gott selbst abbildet. Wir stoßen damit bei diesen Worten, die zunächst grotesk oder lustig anmuten, auf das Zentrum des neutestamentlichen Gottesbildes. Denn Gott ist nicht nur ein einziger und der eine. Sondern noch mehr: Er will auch alle Kreatur, die lieben, glauben und vergeben kann, in sich einbeziehen. Dadurch wird sie ihm ähnlich. Dadurch erhält sie Anteil an Gottes Schöpfermacht. – Um irgendeine Durchbrechung von Naturgesetzen geht es daher hier nicht, sondern um die volle Souveränität über die Schöpfung. Gewiss, die natürliche Basis ist die Erfahrung, dass Einigkeit stark macht, dass Versöhnung unglaubliche Kräfte hervorbringt. Dass die Menschen alles ertragen können, auch Leid und Tod, wenn sie miteinander und mit Gott versöhnt sind. Aber es geht
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nicht nur um Überstehen. Wunder sind tatsächliche partielle Veränderung. – Mt 14 hat ausweislich des Stichwortes »Kleingläubiger« in 14,31 direkte Beziehung zu dieser Tradition: Jesus tadelt den Kleinglauben des Petrus. Hätte er Glauben und nicht Kleinglauben, dann könnte er über die Wogen des Wassers gehen. Vom Kleinglauben aber gilt das Wort vom Senfkorn: Wäre der Glaube nur so groß wie ein Senfkorn, dann wäre das Wunder möglich. Der Zweifel, der Petrus heimgesucht hat, war der Zwiespalt zwischen Glauben und bekennen in ihm selbst; er war nicht mit sich versöhnt, und mit Jesus bzw. Gott schon gar nicht. 3) 17,22f: Weissagung über das Geschick des Menschensohnes, ergänzend zu 1). 4) 17,24-27 Wunderbare Auffindung einer Steuermünze durch Petrus. Die in Frageform gekleidete Argumentation Jesu in 17,25 geht im Ansatz davon aus, dass Königskinder keine Steuern bezahlen müssen, zumindest keine Tempelsteuer. – Wir wissen aus Lk 23,2, dass das Gerücht herrschte, Jesu Jünger hätten keine Steuern zu zahlen (vgl. Röm 13,7). Das ist hier in Mt 17 eine zwar naheliegende, aber nicht wirklich gezogene Konsequenz. Die Auffindung der Steuermünze ist eine »salomonische Lösung«, die hier glücklicherweise der Himmel gibt. Die Jünger müssen zwar nicht zahlen, aber sie können zahlen. Dass die Christen Steuern zahlen sollten, wird hier so wenig bestritten wie in Mk 12,17.
Mt 18: Mahnrede Kompositionskritik: 18,1-14 wird bestimmt durch das Leitwort »die Kleinen«, näherhin durch Synonymität zwischen Kleine/Kinder und die Opposition klein/groß (1-6.10.14). Durch das Stichwort »Ärgernis« sind V. 7 und 8 verbunden.
In dem ganzen Kapitel geht es um Mahnrede an die Gemeinde. Dem verdankt sich auch die Stichwortverbindung in V. 7 und 8 sowie die textimmanente Synonymität Kleines/Schaf in V. 1012. Der Ausdruck »die Kleinen« ist zur programmatischen Gruppenbezeichnung geworden. Vorbereitet wird das durch Mk 9,42 (diese Kleinen); 10,42 (die Großen – unter euch aber soll es nicht
89 so sein). Fortgeschrieben wird es in der koptisch erhaltenen Petrus Apk von Nag Hammadi. Vgl. NHC VII 3 ApkPetr kopt 79f: »(8,5) Er (sc. Hermas) ist der Erstgeborene der Ungerechtigkeit. (6) Dadurch sollen die ›Kleinen‹ gehindert werden, an das wirkliche Licht zu glauben … (7) … außerhalb des Reiches der Kinder des Lichts. (9,3) Das sind Menschen, die ihre Geschwister unterdrücken … (4) Dabei wissen sie offenbar nicht, dass die, die bei der Unterdrückung der Kleinen ohne Widerspruch zugeschaut haben, dieselbe Strafe erleiden wie diejenigen, die es ihnen angetan haben. (5) Andere von denen außerhalb eurer Gruppe werden sich Bischof nennen lassen oder Diakone, als ob Gott ihnen Vollmacht gegeben hätte. (6) Sie erstreben die ersten Plätze … (8) Dagegen gibt es viele, die viele Lebendige verführen werden … (10) Nur eine begrenzte Zeit lang werden sie über die Kleinen herrschen … Und die Kleinen werden dann herrschen über die, die jetzt über sie herrschen.« – Die Kleinen sind daher nicht die Bischöfe und Diakone, auch nicht Leute wie Hermas, die die Möglichkeit einer zweiten Buße einführen wollen. Aus der anti-pharisäischen Kritik von Mt 23 ist hier die Kritik gegen die Hierarchie geworden. Insofern sind die Rollen aus dem MtEv beibehalten, nur die Träger haben sich geändert. Der Text bezeugt, dass man sich auch in der Mitte des 2. Jh. noch mit den Kleinen identifizieren konnte. In der späteren Kirchengeschichte tun das die fratres minores (Minoriten).
Die Selbstbezeichnung »die Kleinen« vereint daher mehrere Traditionen in sich: a) Keiner der Jünger, auch nicht die Führungsschicht, gehört zu den Großen und Mächtigen. b) Wie in der Menschensohn-Theologie gilt die Abfolge von freiwilliger Niedrigkeit und Hoheit (Wer sich erniedrigt, wird erhöht, vgl. Mt 23,12). c) Diese Abfolge ist eschatologisch zu verstehen (jetzt/ dann). d) Sie gilt aber auch verhüllt in der Gegenwart: Wer den Niedrigen (und im Sinne von Mt 25,31 ff ist zu ergänzen: den Kranken, den Hungernden, den Gefangenen etc.) aufnimmt, ihm etwas Gutes tut, der hat es dem Herrn selbst getan. In allen, die ungerechterweise jetzt leiden, begegnet der verhüllte Herr. e) Jesus hat ein einzigartiges Verhältnis zu Kindern. Weil sie sich abhängig wissen, weil sie staunen und selig vor Freude sein können, sind sie Inbegriff seines Menschenbildes. Das ist auch religionsgeschicht-
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90 lich einmalig. f) Jesus selbst sieht die Demut in Verbindung mit seiner Gewaltlosigkeit als wichtiges Merkmal seines messianischen Königtums an (vgl. Mt 5,5.9 mit 11,29). g) Aufgrund pharisäischer Denkvoraussetzungen gibt stets das Kleine und scheinbar Unwichtige den Ausschlag (z. B. das Senfkorn; die scheinbar kleine Gabe der Witwe; der Becher Wasser als kleinste, aber sehr erfolgreiche Gabe). Die eschatologische Umkehrung ist der besondere Beitrag der Botschaft Jesu zur Apokalyptik. Denn bis dahin ist »groß« ein Attribut dessen, was zu Gott gehört. In der Botschaft Jesu wird schon die Zeit vor der Wende in die Heilszeit eingegliedert. Wir beobachteten das schon anhand der Beziehung zwischen Mission und Weltgericht: Die Krisis, vor die Jesus stellt, ist die zur Rettung. So ist es auch mit dem Kleinsein: Nur wer jetzt klein ist, kann groß sein. Kleinsein ist kein Selbstzweck
Mt 18,6-7: Ärgernisse Wie für Paulus, so ist auch für Mt das Ärgernis das denkbar größte Vergehen: wenn einer durch sein Verhalten einen anderen so abschreckt, dass er nicht mehr dazugehören will. Für eine missionarisch wirkende Gemeinde ist dies genau die entgegengesetzte Zielrichtung. Dabei unterscheidet Jesus hier das Ärgernis, das man anderen gibt (18,6f) von dem, das man selbst für sich wird. Dass Ärgernisse kommen »müssen«, ist nicht der boshafte Wille Gottes, sondern eine Notwendigkeit der Geschichte (zu dieser Art von Notwendigkeit vgl. K. Berger, Wer bestimmt unser Leben?, 2001). In diesem Sinne müssen auch Spaltungen sein (1 Kor 11) und muss der Menschensohn in die Hände der Menschen ausgeliefert werden. Das sind keine Heilsnotwendigkeiten, sondern Krankheitssymptome einer zu Ende gehenden Welt.
Mt 18,10: Angesichts-Engel In den beiden älteren Paralleltexten gibt es Engel nur für die Gruppe, nicht für den Einzelnen: vgl. Hen (äth) 100,5 »Und er wird Wächter von den heiligen Engeln über alle Gerechten und Heiligen setzen. Diese werden sie wie einen Augapfel be-
Das Evangelium nach Matthäus
schützen.« – Das ist Auslegung von Ps 91,11: »Denn seinen Engeln befiehlt er um deinetwillen, dich zu behüten auf all deinen Wegen.« Zur Auslegung von Ps 91 gehört auch das Lied Davids nach LAB 59,4: »(Mich werden meine Brüder nicht schlecht behandeln), weil mich Gott bewacht hat und weil er mich seinen Engeln übergeben wird und seinen Wächtern (Wächterengeln), dass sie mich bewachen.« Hier ist generell von Engeln die Rede, die (Plural!) Menschen behüten und begleiten. Doch das sagt Mt 18,10 gerade nicht! – In Tobit 5,4.22 wird Rafael für Tobit abgestellt. Hier bleibt nur offen, ob jeder Mensch (von Natur aus oder seit der Taufe?) einen Engel hat. Wieder anders hat Petrus nach Apg 12,15 einen Engel als Doppelgänger, denn er sieht aus wie er. – In Mt 18,10 handelt es sich freilich nicht um Begleit-Engel, sondern um Angesichts-Engel, die vor Gott stehen und ihn allein sehen. Eine Brücke zu Mt 18,10 bildet freilich Vita Adae et Evae 33: Als die Engel Adams und Evas zum Beten gegangen sind, nutzt der Teufel die Gelegenheit aus, sie zu verleiten (»Es gab uns Gott der Herr zwei Engel, uns zu bewachen. Es kam die Stunde, da die Engel hinaufstiegen vor das Angesicht Gottes, um anzubeten …«). Aber das zu erklären, ist nun gerade nicht der Sinn von Mt 18,10. Anders in Testamentum Adae 4: Von den Engeln sehen nur Throne, Cherubim und Seraphim Gott, nicht die Schutzengel, die in dieser Hierarchie die untersten sind. Auch das betrifft also nicht Mt 18,10. – Nach Hen (slav) 19,5 schreiben individuelle Engel die Taten vor dem Angesicht des Herrn auf und »verwalten ihr Leben«. Dass diese Engel die Kleinen schützen, steht in Mt 18,10 allerdings auch nicht. Vielleicht geht es nach Mt 18,10 wirklich nur um ein Protokollieren, wenn einer die Kleinen attackiert oder missachtet. Es hilft nicht, mit U. Luz (Kommentar zu 18,10) zu erklären, Mt 18,10 sei »in einem vergangenen Weltbild verwurzelt« und habe das Thema dann sozialethisch entmythisierend entsorgt, indem er erklärt, hier »zeige sich die sachliche Nähe Gottes zu Niedrigen und Verachteten«. Das erklärt nur die »Kleinen«, nicht aber die Engel.
Fazit: Schutzengel gibt es nur als Begleite-Engel. In Mt 18,10 aber sind Angesichts-Engel gemeint. Diese schützen nicht, sondern protokollieren als himmlische Schreiber. Sie zeichnen auch auf, wenn einer die Kleinen missachtet und beleidigt.
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Kapitel 18
Daher soll niemand denken, er bleibe unbemerkt, wenn er »nur« die Kleinen gering achtet. Die Schutzengel-Vorstellung ist daher nicht auf Mt 18,10 zu gründen, sondern auf Ps 91 und Tob 5; für die Individualisierung weist Apg 12,15 den Weg (»himmlischer Doppelgänger«). Zur Komposition: Mt 18 geht an den Stationen des Christwerdens entlang, und zwar anhand der Stichworte Umkehr (V. 3), Gastfreundschaft (V. 5), Ärgernis (V. 6-9). In V. 10-14 bespricht Jesus die Hirtensorge für Gemeindemitglieder, die in die Irre gegangen sind. In V. 15-20 verschärft sich die geschilderte Situation: Wie verfährt man mit einem renitenten Gemeindeglied? In 18,19f wird die geistliche Vollmacht der Gemeinde christologisch begründet. Ab 18,21 wird die Dimension der Vergebung als das entscheidende Merkmal der christlichen Gemeinde dargestellt.
Mt 18,15-20: Vom Zurechtweisen Zur Forschung: Jesus soll diese Worte nicht gesagt haben. Denn es sei von Gemeinde bzw. Kirche die Rede, und daran habe Jesus gar nicht gedacht. Ferner: Der Abschnitt widerspricht dem Gebot von der Vergebung (Mt 18,21f); eines, sagt man, kann nur von Jesus sein. – Ferner sei der Text frühkatholisch, weil hier von einem kasuistisch geregelten juristischen Instanzenzug (erst unter vier Augen, dann mit zwei oder dreien; dann mit der Gemeinde) die Rede sei. Juristische Gedanken dieser Art hätten Jesus völlig fern gelegen. Schließlich ende die Fassung »härter« als die bekannten jüdischen Analogien. Für diese ist nämlich die Vorführung vor die Gemeinde, aber nicht der Ausschluss, die höchste Steigerung der Maßnahmen. Kurzum: Hier werde auf unheilvolle Weise die spätere Praxis der Exkommunikation vorbereitet. Jesu Anliegen der grenzenlosen Liebe werde hier nachhaltig von einer bösartigen, juristisch denkenden Gemeinde verletzt.
Um dem Text gerecht zu werden, muss man zweierlei wissen: erstens dass er – wie schon die sehr nahen jüdischen Analogien aus der Zeit Jesu – der Auslegung des Liebesgebotes (Lev 19,17f) dient, und zweitens, dass hier eine Auslegung
91 der Regel von den zwei bis drei Zeugen (Dtn 19,15) vorliegt; für jeden »Fall« sollen zwei, wenn nicht gar drei Zeugen gehört werden. Zwei Auslegungen werden daher hier im Milieu von schrifttreuen Gruppen praktisch miteinander verknüpft. In Lev 19,17f (Liebesgebot) wird gemahnt, den Bruder nicht zu hassen, sondern »zurechtzuweisen«, und das alles heißt dann: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.« Beim Liebesgebot geht es also – vielen ist das entfallen! – nicht um universales »Umarmen der Menschheit«, sondern sehr konkret um den Umgang mit den Fehlern des Nächsten. Und das ist schon an der Grundstelle so. Vom »Zurechtweisen« ist nun auch in den Mt 18 sehr nahestehenden Texten aus den Höhlen von Qumran die Rede, und zwar so, dass dieses (zunächst unter vier Augen und dann) »vor Zeugen« geschehen soll (Sektenregel 5,25 – 6,1; Damaskusschrift 9,2-4); dann soll als Nächstes der Sünder nach beiden vor die »Vielen« oder generell wohl vor die Gemeinschaft gebracht werden. Das heißt: Die Regel von Dtn 19 über die zwei bis drei Zeugen wird so ausgelegt, dass das Zurechtweisen eben vor Zeugen stattfinden soll. In allen drei Texten (denen aus Qumran und Mt 18) geht es im Ganzen um zwei bis drei Instanzen: unter vier Augen – vor Zeugen – vor der Gemeinde. Damit wird die Forderung nach zwei bis drei Zeugen erfüllt. Resultat: Dass der Nächste erst zurechtgewiesen und nicht sogleich vor die Gemeinde geschleppt wird, das versteht man im zeitgenössischen Judentum als Liebe. Dadurch werden – das ist hier doch die Hoffnung – Hass und Nachtragen vermieden. So wird erkennbar: Matthäus liefert hier nicht den ersten Beleg für menschenfeindliches Kirchenrecht, sondern Jesus schließt sich einer sehr sozialverträglichen Torah-Auslegung des Judentums an. Auch die Zwölfapostellehre (Didache 15,3) liefert einen Beitrag zu dieser Diskussion: »Stellt einander gegenseitig zur Rede, nicht in Hass, sondern in Frieden.« Und wer nicht reagiert, mit dem soll man nicht sprechen und dem soll man nicht zuhören, bis er umkehrt. – Mit dem Schluss dieser Anweisung ist auch die Schluss-Sanktion bei Matthäus gedeutet: Wenn Jesus sagt, einen, der nicht hört, soll man wie einen Zöllner oder
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92 Heiden behandeln, dann meint er wohl: wie einen, der nicht dazu gehört, auf dessen Umkehr man aber gegebenenfalls wartet. Durch die Nennung von »Heiden« oder »Zöllnern« wird der Text in die Umkehrbotschaft Jesu gestellt. Zur Forschung: Was die Herkunft des Textes von Jesus angeht, so ist nicht allein das Stichwort »Gemeinde«, »Versammlung« oder »Kirche« (wie auch immer man das Stichwort ekklesia hier übersetzt) oft ein Grund, per Zirkelschluss (weil Jesus keine Kirche gewollt habe), ihn Jesus abzusprechen. Jesus war wohl nicht so weltfremd, dass ihm die Tatsache entgangen wäre, dass das Judentum seiner Zeit in viele Grüppchen, »Nachbarschaften«, fromme Verein und Kommunitäten gegliedert war, zu denen auch die Essener (wohl in unterschiedlichen Gestalten) und nicht zuletzt seine eigenen Jünger (!) gehörten.
In Mt 18 liegt daher nicht der Anfang unheilvoller Kasuistik vor, sondern Jesus zitiert eine damals aktuelle, sehr gewissenhafte Regel zur Schonung von »Sündern« in Gemeinschaften. Die Schonung wird durch den gestreckten Weg der Instanzen erreicht wie auch dadurch, dass die Sache nicht von vornherein vor der gesamten Gruppe verhandelt wird. Dass es aber einen Ausschluss überhaupt geben kann, weist darauf, dass nach Jesu Meinung nicht nur der Sünder zu schützen ist (vor allem vor dem verletzenden Stolz der Nicht-Sünder), sondern irgendwann auch die Gemeinschaft vor ihm. Viele Ausleger läsen es gerne anders und möchten Jesus lieber zum Anwalt grenzenloser Liebe auch denen gegenüber machen, die anderen auf der Nase herumtanzen oder die Gemeinschaft (durch Missachtung) zerstören. Das leitende Interesse hinter dieser Auslegung ist moderner Individualismus. Der Einzelne darf grenzenlos für sich fordern, und Jesus soll zum Anwalt dieses Egoismus gemacht werden. Nein, es zeugt von Jesu realistischer Einschätzung der Menschen, dass liebevolle Rücksichtnahme auf Einzelne nicht dazu führen darf, dass deren Unbelehrbartkeit und Starrsinn die Gemeinschaft quälen. Die Gemeinschaft ist verletzlicher als der Einzelne. Dem Einzelnen kann Jesus zumuten, dass der 7 70mal vergibt (18,21f), und das ist überhaupt kein Widerspruch; denn der
Das Evangelium nach Matthäus
Einzelne ist belastbarer als eine Gemeinschaft. Die Gemeinde darf sich nicht auf der Nase herumtanzen lassen, weil sie sich dann lächerlich macht, weil sie dann nur der Sünde gehorcht. Erstaunlich zu hören: Jesus kennt demnach durchaus Grenzen der liebevollen Rücksichtnahme. Er ist alles andere als ein Prinzipienreiter – das gilt auch bei Gewaltanwendung: Die Vertreibung der Händler aus dem Tempelvorhof (Mt 21,12-13) zeigt, dass Jesus nicht prinzipiell gegen Gewalt ist. So auch hier: Jesus ist nicht gegen Ausschluss aus der Gemeinde. Es gibt eine Grenze, und die ist gegeben, wo die Gemeinde ihr Gesicht verlöre und verspottet würde. Dann könnte sie nicht mehr missionarisch wirken, sondern wäre nur noch mit sich selbst beschäftigt. Eine Kirche muss um des eigenen Bestandes willen auch Nein sagen können, und zwar zum konkreten Verhalten bestimmter Menschen. Wer segnet, muss auch verfluchen dürfen. Wenn wir hier Jesus und Paulus (Gal 1,8: Verflucht, wer ein anderes Evangelium lehrt …) nicht folgen mögen, dann einmal, weil der Ausschluss aus der Kirche oft aus unwichtigen Gründen erfolgte und daher abgenutzt ist. Zum anderen aber scheut man die Ausgrenzung. Nur eine starke, unverbrauchte Autorität könnte ausgrenzen. In klösterlichen Gemeinschaften ist es freilich recht oft nötig, Bewerber nach einer Probezeit abzuweisen. So fällt auf: In kleineren Gemeinschaften wie unter den Jüngern, an die Jesus hier wohl denkt, und in Kommunitäten ist Ausschluss öfter nötig und möglich. – In einer Volkskirche dagegen sollte man Folgendes bedenken: Auch in Mt 18 ist der Ausschluss nicht Selbstzweck (ebenso wenig wie die Entfernung des Sünders nach 1 Kor 5), sondern dem missionarischen Ziel untergeordnet. Sie dient nämlich dazu, dass die Gemeinde, die missionarisch wirken soll, nicht schon im Vorfeld nur mit eigenen Personalproblemen zu kämpfen hat. Wenn diese Klarheit und missionarische Wirkung durch Ausschluss Einzelner aber eher verhindert wird, dann müssen sie eben auf anderem Wege wiederhergestellt oder erreicht werden. Auch für andere Fälle gilt: Die Kirche wirkt nicht missionarisch durch Ausschluss Einzelner, sondern durch Klarheit und völlige Einhelligkeit des Standpunkts der Bischöfe.
Was in Mt 16,17 dem Apostel Petrus zugesprochen wurde, geht hier zumindest auf das Kollegium der Apostel (18,1: die Jünger) über, das frei-
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Kapitel 18
lich dank der Berufung durch Jesus die Kirche/ Gemeinde repräsentiert. Damit bahnt sich im Gegenüber von Mt 16 und Mt 18 klar neutestamentlich an, was man die ellipsoide Struktur der kirchlichen Verfassung nennen kann (dazu: K. Berger, Die Urchristen, 2008). Denn Petrus gehört auch zu den Jüngern von Mt 18,1. – Analog: Die Einzelentscheidung des Apostels Paulus nach 1 Kor 5,3 und die von ihm erwartete Entscheidung der Gemeinde nach 1 Kor 5,4 f. Zu Mt 18,19 f: Entscheidend ist der Name Jesu nach V. 20. Er ist im frühesten Christentum eine Art Grundsakrament (vgl. dazu K. Berger, Die Urchristen, 2008). Zu Mt 18,15-20: Das Wort vom Binden und Lösen, also die Zusicherung, dass Worte des Bindens oder des Lösens aus seinem Munde unverrückbar, in Himmel und Erde, gültig seien, hatte Petrus von Jesus auch nach Mt 16,19 erhalten. Ähnliches sagt der auferstandene Jesus auch zu den Jüngern in Joh 20,23 (Welchen ihr die Sünden vergebt, denen sollen sie vergeben sein. Welchen ihr sie nicht vergebt, denen sollen sie nicht vergeben sein). Vergleicht man mit Mt 18, so heißt »binden« dort: »nicht in die Gemeinde hineinlassen« und »lösen«: »die Türe zur Gemeinde öffnen«. Das ist wie »Still gestanden!« oder »Rührt euch!« Denn der, dem man zuruft »Rühr dich!«, der darf sich bewegen und kommen. Der, dem man zuruft »Still gestanden!«, der ist wie gebannt an seinem Ort und darf sich nicht bewegen. – Aber wie können schlichte Menschenworte dieser Art Bedeutung in Himmel und Erde, also nicht nur hier und jetzt, sondern auch vor Gott und in Ewigkeit erlangen? Schon oft, besonders in der Reformation, hat man bezweifelt, ob Menschenworte angesichts der Leichtigkeit des Irrens bei Menschen hier nicht doch zu hoch eingeschätzt werden. Und: nachprüfen könne das ja auch niemand. Und wie die Geschichte gezeigt hat, haben viele in der bereitwilligen Zusage Jesu die Möglichkeiten zum Missbrauch gewittert und genutzt. War es dann nicht, um es vorsichtig zu sagen, sehr kühn von Jesus, den Jüngern dieses zu verheißen? Konnte er sich die Möglichkeit zum Missbrauch nicht vorstellen? Und wird der Himmel sich wirklich an die Bann- und Lösungsworte von Päpsten und Konzilien halten?
93 Und was die Wirkmacht dieser Worte betrifft: Wo liegt letzten Endes der Unterschied zu Zauberworten? Interessant ist, dass Jesus hier die Bedingung angibt: »Wenn zwei von euch übereinstimmen auf der Erde über jede Sache, nach der immer sie verlangen wollen, wird es ihnen geschehen von meinem Vater, der im Himmel ist. Denn wo zwei oder drei versammelt sind auf meinen Namen hin, dort bin ich in ihr Mitte.« Die Bedingung der bedingungslosen Erfüllung/ Vollstreckung der Jüngerworte ist offenbar deren Einssein, deren Einigkeit. Das ist genauso wie in Mt 18: Wo die Jünger übereinstimmen und versammelt sind, wirken ihre Worte das, was sie bezeichnen. Das gilt vornehmlich vom Binden und Lösen, aber auch »von jeder Sache, die sie verlangen«. Meine These war und ist daher, dass die Realpräsenz in den konsekrierten Elementen darauf beruht, dass unter der Bedingungen der intensiven und extensiven Kircheneinheit das Wort der Jünger wie ein Schöpfungswort wirkt. In Mt 18,18-20 wird das exemplarisch angewandt. – Unter den geschilderten Bedingungen gewinnt auch Mt 18,21-22 neue Leuchtkraft: Denn in der Vergebungsbereitschaft zeigt sich das Gegenteil von Rache und genau die intensive Form von Liebe, die die Voraussetzung für die absolute Gebetserhörung ist. Im Übrigen gibt Mt 18 eine interessante Auslegung des Gebotes der Nächstenliebe. In Lev 19,18 ist damit nicht einfach humanitäre Liebe gemeint, sondern ein bestimmter Umgang mit den Fehlern des Nächsten: wie dich selbst. Das Frühjudentum nimmt diese Bedeutung der Ausgangsstelle auf: »Man soll zurechtweisen, ein jeder seinen Nächsten, in Wahrheit und Demut und huldvoller Liebe untereinander. Keiner soll zum anderen sprechen in Zorn oder Murren oder Halsstarrigkeit oder im Eifer gottlosen Geistes. Und er soll ihn nicht hassen in seinem unbeschnittenen Herzen; sondern am selben Tag soll er ihn zurecht weisen, aber nicht soll er seinetwegen Schuld auf sich laden. Ferner soll niemand gegen seinen Nächsten eine Sache vor die Vielen bringen, wenn es nicht vorher zu einer Zurechtweisung vor Zeugen gekommen ist.« Vgl. CD 13,9f (über den »Aufseher«): »Und er soll Erbarmen mit ihnen haben wie ein Vater mit seinen Söhnen und alle ihre Verstreuten zurückbringen wie ein Hirt seine Herde. Und er soll all ihre fesselnden Bande lösen, damit
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94 kein Bedrückter und Zerschlagener in seiner Gemeinde sei.« Dieselbe Tradition findet sich auch in der Didache (Zwölf-Apostel-Lehre): »Stellt euch aber einander zur Rede nicht im Zorn, sondern in Frieden, wie ihr es im Evangelium habt. Und jeder, der sich gegen den anderen vergeht, mit dem soll niemand reden, und er soll von euch nichts hören, bis er umkehrt.« Bei den Fällen von Missbrauch des Bindens und Lösens, die wir aus der Kirchengeschichte kennen, war daher genau die Bedingung der Liebe und Vergebung oft erkennbar nicht gegeben, die nach dem oben Ausgeführten Voraussetzung für die Kraft der Vollmacht ist. – Dennoch ist ein »existenzialistisches« Verständnis abzuwehren, als sei der Erfolg der Vergebungszusage von Fall zu Fall abhängig von der Tagestemperatur der Liebe in der Gemeinde. Mt 18,19-20 und auch das Gleichnis vom unbarmherzigen Sklaven versuchen bereits, hier gewisse Maßstäbe einzuführen. Überall dort, wo der Mangel an Vergebungsbereitschaft »schreiend« und auch für Außenstehende erkennbar (gewesen) ist, sind daher Zweifel an der Wirksamkeit des Bindens und Lösens angebracht. Die erstaunliche Wirkung der Vollmacht bezieht sich daher nicht auf die Steigerung menschlicher Potenzen, sondern allein auf die göttliche Wirkmacht des Wunders von Liebe und Einssein. Und es besteht kein Zweifel, dass der vornehmliche Ort dieser Macht die Kirche ist. Wenn Binden und Lösen auch »im Himmel« gelten, dann kann kein Zweifel bestehen, dass es bei Binden und Lösen um den Eingang ins Himmelreich geht. Durch dieses Motiv besteht in Mt 16,18 die Brücke zu den Schlüsseln, die der Herr Petrus anvertraut hat. Bestätigt wird diese Deutung durch Offb 3,7: »Diese Worte sind von dem Heiligen, … der den Schlüssel Davids zu Himmel und Hölle, zu Leben und Tod in Händen hält. Wenn er damit aufschließt, so ist es endgültig; wenn er zuschließt, ist es für immer …« Beschrieben wird hier die Vollmacht Jesu, die er in Mt 16 an Petrus, in Mt 18 an die Jünger gibt. – Dass sowohl Petrus wie die Jünger Träger dieser Vollmacht sind, das entspricht der Verfassungsstruktur der ältesten Kirche, wonach der Einzelne (Bischof, Apostel) und das Gremium (der Ältesten) stets parallel einander zugeordnet sind. – Nach allem, was wir von Paulus und aus der Apostelgeschichte wissen, folgte überdies auf
Das Evangelium nach Matthäus
die apostolische Struktur jeweils die presbyteriale Ordnung. Das würde bedeuten: In Mt16 ist die apostolische Struktur in Petrus verankert – mit allen Besonderheiten, die exklusiv für Petrus gelten. Aber Mt 18 berichtet dann von der Übertragung der gleichen Vollmacht auf das Gremium der Jünger, das müsste auch heißen: auf ein Presbyterium, das in der nachapostolischen Zeit die Gemeinde leitet. Dann würde das MtEv sehr genau den Übergang von der Zeit der Apostel in die nachapostolische Zeit schildern, und zwar dargestellt in der literarischen Form der Wiederholung (vgl. 16,18 und 18,18) mit Analogie.
Mt 18,21-35: Der unbarmherzige Knecht Zur Forschung: Es ist schon erstaunlich, mit welcher Chuzpe sich die meisten Ausleger von Mt 18 der Konsequenz des Gleichnisses entziehen: Sie erklären kurzerhand den Vers 34 (»Zornig übergab ihn der Herr den Strafvollziehern, die ihn so lange peinigen sollten, bis er ihm die ganze Schuld zurückgegeben hätte«) für sekundär. Manche lassen die Erzählung gar schon mit V. 31 oder 33 enden.
Das Anstößige ist aber nun in der Tat, dass der Herr nach V. 27 von Erbarmen ergriffen wird, dass sich aber laut V. 34 dieses Erbarmen in Zorn wandelt. Denn der Sklave hatte, obwohl ihm selbst vergeben worden war, seinem Mitsklaven die Vergebung versagt. Er hatte also das, was er selbst empfangen hatte, nicht weitergegeben. Wer nun mit Vers 34 die Rede von Gottes Zorn auslässt, der stellt das unbarmherzige Tun des Sklaven als folgenlos dar. Er sollte zwar auch seinerseits vergeben, aber er muss nicht, es geschieht ihm nichts, wenn er es nicht tut. So hätte man es gerne. Die Gerichtsaussage von V. 34 ist tatsächlich erbarmungslos. Sollte Gott zunächst so barmherzig, dann aber so grausam sein können? – Durch die Motive von Zorn und Gericht wird hier jedenfalls das hervorgehoben, was Gott überhaupt nicht will und was seiner Absicht ganz entgegensteht. Um das verstehen zu können, muss man zwei Dinge beachten: die Rolle der Vergebung im MtEv und wie wichtig es für Jesus ist, dass sich das Handeln Gottes und seiner Kinder ganz ähnlich ist.
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Kapitel 19
Jesu Kelchwort hat bei der Feier des letzten Mahles nach Matthäus (26,28b) den Zusatz »zur Vergebung der Sünden«. Dafür fehlt dieser Zusatz im MtEv bei der Johannestaufe. Beim Vaterunser wird die Vergebungsbitte nach Abschluss des Gebetes (6,12.14f) besonders kommentiert, und das halbe Kapitel 18 ist ein Traktat über Vergebung. Da Christen Vergebung von Gott empfangen haben, müssen sie sie weitergeben, um Gott ähnlich zu sein. Diese Entsprechung zu Gottes Handeln wird schon in der Bergpredigt betont: Die Jünger sollen die Feinde lieben, wie Gott es tut. Dann sind sie seine Kinder (Mt 5,44 f.48). – Vergebung ist deshalb so wichtig, weil sie Menschen untereinander versöhnt, wie auch Gott dem Menschen Versöhnung anbietet. Und Versöhnung mit Gott und unter Menschen ist das, was Jesus überhaupt anzubieten hat. Wer deren Ausbreitung blockiert – und das kann nur in praktischer Weitergabe bestehen –, der verhindert die Verbreitung der Herrschaft Gottes an der entscheidenden Stelle. Christen sind nicht zu Blockierern der Herrschaft Gottes berufen. Mt 18 schildert, dass und wie Vergebung anfänglich geschenkt wurde, das Vaterunser nebst Kommentar (Mt 6,12.14f) zeigen, wie dann im weiteren Leben das menschliche Vergeben Bedingung für Gottes Vergeben ist. Weil Gott nachhaltig vergeben kann, ist die neue, messianische Zeit angebrochen. Schon von Elia hieß es (Sir 48,10), er komme am Ende wieder, um die Herzen der Kinder mit denen der Eltern zu versöhnen, und um Gottes Zorn zu besänftigen. Jesus gründet beim Kelchwort seine Gemeinde als die Trägerin der Vergebung (26,28). In Mt 18 wird deutlich, was das heißt: Die Gemeinde hat die Vollmacht, gültig über ihre Grenzen zu bestimmen. Die Gemeinde selbst ist in der Welt eine Exklave des Friedens. Weil das Mahl mit Jesus Stiftung des Bundes ist, haben die Jünger als Träger des Bundes die Vollmacht, Versöhnung zuzusprechen (Mt 18,18). Denn nur wer vergeben hat und wem vergeben wurde, der findet mit seinen Gebeten Gehör; deshalb steht Mt 6,12.14f im Vaterunser. Vergebung räumt die Altlasten »aus dem Weg«. Denn Jesus wollte als Messias den Frieden bringen zwischen Gott und Mensch und in der Folge zwischen Mensch und Mensch. Für die Szene des Anweges zum Altar wird das in der Bergpredigt anschaulich geschildert (Mt 5,23-24).
95 Praktisch bedeutet Vergebung übrigens den Verzicht auf Gegenwehr. Damit liegt hier auch der Schlüssel für die Konzeption der Gewaltlosigkeit im MtEv. Denn wer das Zugefügte vergibt, wird es nicht mit Gewalt rächen wollen. Zur Forschung: Wenn Ausleger die Passage über den Zorn Gottes tilgen wollen, dann spricht daraus nur neuzeitlicher Individualismus: Hauptsache Gott vergibt mir. Das ist dann eine Art Lebensversicherung, denn man meint ja zu wissen: Gott ist die Liebe, und der Zorn gehört zum Alten Testament. Das aber ist nichts weiter als eine ideologische Verkitschung des Gottesbildes. Denn nicht meine Versöhnung mit Gott ist die Hauptsache, sondern Gottes Herrschaft und Reich. Und diese werden realisiert, indem man Versöhnung weitergibt.
Beim letzten Mahl hat Jesus im Blick auf seinen Tod die Kirche als Bund (zwischen Gott und Mensch und der Christen untereinander) gestiftet. Dieser Bund schafft so etwas wie einen heilvollen Raum, einen Asylbereich. Wer, bildlich gesprochen, die Waffen am Eingang zu diesem Bereich abgibt, der gehört dazu.
Mt 19,1-12: Ehe – Ehescheidung – Ehelosigkeit Das Gespräch Jesu mit seinen Jüngern über die Ehescheidung verläuft sehr viel strenger als das in Mk 10,1-11. Das hat zwei Gründe: Mt lässt das Gespräch zulaufen auf die Feststellung der Jünger (!), es sei nicht gut zu heiraten, und Jesus bekräftigt diese Feststellung durch Hinweis auf das Charisma der Ehelosigkeit, was bei Mt freilich nicht so strahlend formuliert ist (Eunuchen um des Himmelsreiches willen). Zum anderen reiht Mt die Ehescheidung unter die Gefahren der Verunreinigung ein, die seinem Bild von der Überbietung der Pharisäer durch die Christen besonders entgegen sind. Schon in den Antithesen der Bergpredigt hatte Mt die Wiederheirat nach Scheidung unter die verschärften Reinheitsregeln aufgrund von Mord, Ehebruch und Beschmutzen des heiligen Namens Gottes durch Eid eingereiht. Denn jede Frau, die schon mit einem anderen Mann zu tun gehabt hat, ist unrein für jeden neuen Mann.
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96 Zu Mt 19,9: Die übliche Deutung ist: Ein Ehebruch des Ehepartners löst die Ehe auf, so dass der/die Betrogene frei ist, jemand anderen zu heiraten. Sollte aber der Ehebruch wirklich das Eheband lösen? Wären dann im Falle einer Versöhnung die Ehepartner unverheiratet? Zudem: In keinem anderen Jesuswort kommt eine vergleichbare »Einschränkung« vor, wieso ausgerechnet bei dem radikalen und strengen Matthäus? Also ist »porneia« hier etwas anderes. 1) Ein Einschub des Evangelisten ist völlig unwahrscheinlich, schon wegen der sprachlich abweichenden Parallele in Mt 5,32. Wir müssen also damit rechnen, dass Jesus so gesagt hat. – 2) Porneia bezeichnet nicht nur Ehebruch oder Prostitution, sondern jede Art von illegitimer Geschlechtsbeziehung, und das schon seit dem 2. Jh. v. Chr. – 3) Man kann das auch im NT selbst nachlesen: Im Aposteldekret (Apg 15,20 etc.) wird porneia verboten im Blick auf Heidentum; gemeint ist in dieser streng judenchristlichen Formulierung die Mischehe mit Heiden, die hier direkt verboten wird. – 4) Im Falle der Mischehe mit Heiden gestattet aber auch Paulus die Auflösung der Ehe: 1 Kor 7,15 f. Das ist das so genannte privilegium paulinum. An dieser Stelle kommt Paulus recht genau mit Jesus überein. Beide meinen: Eine solche Ehe ist auflösbar (theologischer Grund: die Ehe bildet das Verhältnis zwischen Gott und seinem Volk ab!). – 5) Nun dürfte Jesus in Mt 5,32 und 19,9 nicht nur an Mischehen mit Heiden denken, sondern auch an andere Fälle von nicht legitimer Ehe, also auch solche Beziehungen, wie z. B. Augustinus eine hatte. Das ist bis heute kanonistischer Grundsatz: Es kommt darauf an, ob eine Ehe überhaupt (legal oder legitim) besteht. Ein Ehebruch löst nicht das Eheband! Mt 19,9 und 5,32 meint daher mit porneia nicht die Verletzung einer bestehenden gültigen Ehe, sondern die Tatsache einer nicht legalen Verbindung selbst (nicht einen konkreten Vorfall!).
Ehelosigkeit Jesus nennt die geistliche Ehelosigkeit ein Geheimnis, das sich alltäglichem Denken widersetzt. Paulus nennt sie in 1 Kor 7,1.7 ein Charisma, eine unverfügbare Gabe, die als Gabe die staunenden Menschen auf den Himmel hinweisen soll. Eunuch sein ist damals wie heute ein Zeichen der Schande, nicht zuletzt deshalb, weil der
Das Evangelium nach Matthäus
Ehelose allen möglichen Verdächtigungen ausgesetzt ist. Das bedeutet Nähe zur Kreuzestheologie. Denn auch das Kreuz auf sich nehmen ist Schande (Mk 8,34), und in 1 Kor 1 finden wir wieder die grundsätzliche Umwertung alles dessen, was Ehre unter Menschen bedeutet. 1 Kor 1 zeigt auch den Sinn dieser freiwilligen Schande: Es ist der einzige Weg zum Frieden. Alles andere bringt Neid und Streit. Daher ist geistliche Ehelosigkeit kein asketischer Selbstzweck und nicht leibfeindlich, sondern entschlossener Ausdruck des Willens zum Frieden. Schon im 1. Jh. n. Chr. gab es Christen, die um der glaubwürdigen Verkündigung willen das Zeichen der Ehelosigkeit Jesu nachahmten. Wie denn gehorsame Nachfolge immer auch im Nachahmen besteht. Die »Lehre der Zwölf Apostel« nennt solche Leute, die das Geheimnis der Kirche auf Erden darstellen, in 11,11: »Es kann sein, dass ein bewährter und echter Prophet mit einer Frau zusammenlebt, die er nicht berührt, und so das Geheimnis der Kirche auf Erden, Christus und seine Braut, das Gottesvolk, in einer Zeichenhandlung darstellt. … Solche Zeichenhandlungen kennt man auch von den alten Propheten.« Das Geheimnis der Kirche auf Erden besteht darin: Sie ist wie eine Braut, die auf die Wiederkunft des Bräutigams wartet. Da lebt also ein Prophet mit einer Frau zusammen, die er nicht berührt. Das bildet deshalb den Zustand der Kirche auf Erden ab, weil die Hochzeit (mit dem wiederkommenden Bräutigam) noch aussteht.
Mt 19,21: Zwei-Stufen-Moral? Die Frage nach der Zwei-Stufen-Moral, die sich mit diesem Vers verbunden hat, kann vielleicht durch den Blick auf Mt 7,12 und die dort beobachtete doppelte Radikalität leichter beurteilt werden. Denn sicher ist: Es geht um zwei verschiedene Lebensformen, die wandernden und die sesshaften Jünger. Die wandernden Jünger leben insbesondere auch nach Mt 5,38-48 und haben alles aufgegeben (Mt 19,21). Sowohl in 5,48 als auch in 19,21 heißen sie »vollkommene«. Denn in ihrer Lebensform sind sie anschauliche Abbilder Gottes. Aber auch nicht mehr. Denn über ihr Heil und ihre Seligkeit ist damit nichts gesagt. Sie sind nicht mehr und nicht weniger als
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Kapitel 20
Musterjünger. Sie sind in sich stimmige Zeichen – wie die Priester im Alten Testament nach Auffassung des Pentateuch (Lev 19,2; Lk 6,36).
Mt 19,28: Der thronende Menschensohn Parallel zum Menschensohn sitzen die zwölf Apostel auf ihren Thronen. Die zu 18,15-18 bemerkte ellipsoide Struktur gilt also auch für die Entsprechung Menschensohn/Zwölfergremium. Doch hier mit dem Unterschied, dass das Feld nicht das gleiche ist: Der Menschensohn ist für die Weltreiche zuständig (wie in Offb 2-3 der thronende Menschensohn von Kap. 1), während die Zwölf nur für Israel Richter, also Könige, sein werden. Keineswegs ist das Richten auf ein Verurteilen einzuschränken. Vielmehr ist auch mit »richten« gemeint: zum Recht verhelfen, die Gerechtigkeit bringen bzw. widerfahren lassen, so wie das nach 4 Esr 13 der Menschensohn tut. In diesem Sinne werden Gerechte nach 1 Kor 6,2 »Engel« richten. In der Parallele in Lk 22,29f liegt der Ton eher auf der Weitergabe dessen, was Jesus vom Vater empfangen hat (wie Offb 3,21). Eine beachtenswerte Analogie liefert vielleicht Testamentum Abrahae A 13: Als richterliche Instanzen werden drei genannt: der Menschensohn, die zwölf Stämme und Gott. Der Text ist nicht als christlich beeinflusst anzusehen, im Gegenteil. Der Menschensohn ist hier noch wirklich der Sohn des Menschen, also Adams, nämlich Abel. Als Märtyrer hat er das postmortale Gericht inne. Die zwölf Stämme sind eben nicht die zwölf Apostel, sondern die Menschen werden bei der zweiten Parusie Gottes von den zwölf Stämmen gerichtet. Israel, das sind hier die Gerechten (wie 1 Kor 6,2). Die dritte Gerichtsinstanz ist Gott. – Mit den drei Instanzen ist die Regel der zwei bis drei Zeugen erfüllt (Dtn 19,15).
Mt 20,1-16: Arbeiter im Weinberg Zur Forschung: Die Mehrheit der Ausleger sieht in dem Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg eine Illustration der Gnadenlehre im Sinne des Leistungsverzichtes. Gott orientiert sich nicht an der Leistung, an den Werken des Menschen, sondern rein aus Gnade schenkt er alles zum Leben.
97 Diese Auslegung ist schon deshalb falsch, weil sie unbesehen »paulinische« Lehre über die Rechtfertigung in das erste Evangelium einträgt. Außerdem haben alle Arbeiter, die entlohnt werden, auch gearbeitet. Der Besitzer des Weinbergs hat das Geld nicht ohne Gegenleistung unters Volk geworfen. Auch an diesem Gleichnis haben Ausleger herumgeschnipselt, und es fiel leicht, Vers 16 (»So werden die Letzten Erste und die Ersten Letzte sein«) zu kappen. Dieser Vers gibt in der Gestalt einer Sentenz eine Art Auswertung des Gleichnisses, mit der man aber große Schwierigkeiten hatte. Denn wenn Erste Letzte sind, ist ja doch eine Rangfolge wiederhergestellt, die der gleiche Lohn gerade beseitigen sollte. – Wir haben deshalb V. 15b-16 so wiedergegeben: »Oder bist du böse, weil ich gut bin? Sei auf der Hut! Denn auf diese Weise können leicht aus den Letzten Erste werden und umgekehrt. Ob einer meine Güte ertragen kann, danach richtet sich in Zukunft, wer Erster und wer Letzter ist. Denn der Lohn ist für alle gleich.« Das heißt: Die Pointe des Gleichnisses liegt in der Frage, worin jetzt – seitdem Jesus vom Reich Gottes predigt – Unterschiede bestehen und worin nicht mehr. Sie bestehen nicht in einer unterschiedlichen Belohnung. Alle werden in gleicher Weise Gott schauen und leuchten wie die Sonne (Mt 13,43). Das ist die Außenperspektive: Alle sind heilig und herrlich. – Aber die Herrschaft Gottes hat auch eine Binnenperspektive. Und die hängt nicht ab von dem, was Gott gibt, sondern von der Reaktion der Menschen. Und da erlebt man erstaunliche und unerfreuliche Dinge. Es gibt nämlich Jünger, die schon länger dabei sind und »altgedient«. Sie sind so etwas wie »Platzhirsche«. Sie wollen nicht, dass die später Hinzugekommenen gleiche Rechte und gleichen Rang haben sollen. Ihnen wird damit die Gleichheit innerhalb des Bereichs der Herrschaft Gottes zum Problem. Sie stolpern über etwas, das ihnen eigentlich gut ansteht, dass sie nämlich schon so lange dabei sind. Es ist offenbar sehr schwer, die Gleichstellung mit den erst kürzlich Aufgenommenen zu ertragen. Auch bei Lukas finden wir ein Gleichnis zu diesem Thema, nämlich das von den beiden ungleichen Söhnen; auch nach Lk 15,11-32 beruft sich der ältere Bruder darauf,
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98 dass er immer treu beim Vater gelebt und gearbeitet habe. Das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg benennt ein Problem, das sowohl innerhalb des Jüngerkreises als auch in der frühen Gemeinde als auch zur Zeit der Abfassung der Evangelien relevant war. Denn Christentum ist eine Bekehrungsreligion, und daher lebt es von neu Hinzugekommenen, die nicht schon immer dabei waren. Bei Jesus könnte es sich um den Protest der Pharisäer gegen Jesu Umgang mit eher zweifelhaften Frommen handeln; wobei vorausgesetzt ist, dass sich Pharisäer mit gewissem Recht als gute Juden betrachten konnten. In der frühen Gemeinde geht es um die Konflikte zwischen Judenchristen und Heidenchristen. Und später eben immer um das Verhältnis der altbewährten Treuen zu denen, die keine eindeutige Tradition und Vergangenheit legitimiert. In jeder Gemeinde haben es »die Neuen« schwer. Für Jesus ist dieses Problem gravierend. Daher redet er nicht nur von »Spannungen«, sondern davon, dass die »Bewährten« ein böses Auge haben, und dass sie damit im Gegensatz zur Güte Gottes stehen. Das Auge aber steht für den ganzen Menschen (Lk 11,34). Wie beim älteren Bruder des verlorenen Sohnes enthält das Gleichnis keine Sanktion, die vom Heil ausschlösse, doch in jedem Falle ernste Mahnungen, die nicht dualistisch auf Heil oder Unheil ausgehen, nach denen in beiden Fällen aber das getadelte Verhalten deutlich in die Nähe des Bösen gerät. Wenn man nur Gottes eigenes Handeln im Auge behält, das keine Unterschiede macht, dann wird man auch selbst aus Neid (oder aus welchem Beweggrund auch immer) ebenfalls zum Unterscheiden zwischen »älteren« und »neueren« Christen gar nicht in der Lage sein. Ähnlich ist es übrigens auch in dieser Hinsicht beim Gleichnis vom verlorenen Sohn: Wer staunen kann über die verzeihende Güte Gottes, über seine Art, die Sünder anzunehmen, der wird kaum zu Ressentiments fähig sein, wie sie der ältere Bruder zeigt. Wie beim Gleichnis vom unbarmherzigen Sklaven (Mt 18,23-35), so ist auch hier die Ähnlichkeit zwischen Gottes Handeln und dem von den Christen erwarteten der Maßstab. In allen drei Gleichnissen (verlorener Sohn, unbarmherziger Sklave, Arbeiter im Weinberg) geht es deutlich um die christliche Binnenperspektive und um
Das Evangelium nach Matthäus
Probleme unter den Jüngern. Diese Beobachtung erlaubt allerdings nicht den Rückschluss, diese Texte seien deswegen zwingend nachösterlich. Richtig ist vielmehr, dass hier eine unter dem Druck von Echtheitsfragen oft verdeckte Weise des Lehrens Jesu zutage tritt: die spezielle Belehrung an den Jüngerkreis im ganzen, also nicht an den einzelnen Jünger, sondern an bestimmte Jüngertypen. Jesus beobachtet sehr scharf die Spannungen im Jüngerkreis und versucht, diese nicht auf einfach moralische Weise zu lösen, sondern spezifisch theologisch, mit dem Blick auf Gottes eigenes Handeln. Hier ist auch auf die sozialethische Implikation dieser Erzählung einzugehen – von einer Pointe in dieser Hinsicht kann ich nicht sprechen. Aber wenn der Besitzer des Weinbergs jedem einen Denar gibt, so ist dieses nach zeitgenössischer Auffassung genau die Summe, die ein Mensch als Minimum zum Lebensunterhalt braucht. Die Wendung »einen Denar für das (tägliche) Brot« ist inschriftlich für einen derartigen Kontext überliefert. Der Herr des Weinbergs sorgt für alle so, dass sie auskommen können. Dieser Zug der Bildebene bedeutet auf der theologischen Sachebene: Gott wird allen gleichen Lohn geben. – Dadurch wird aus dem Gleichnis noch kein Lehrstück christlicher Soziallehre. Denn grundsätzlich ist zwischen Gleichnissen und Beispielerzählungen zu unterscheiden. Beim barmherzigen Samariter liegt Letzteres vor; daher heißt es dort: »Tu desgleichen.« Hier dagegen liegt das Geforderte auf einer anderen Ebene als das Erzählte. Nicht der Denar, sondern die Aufhebung der Unterschiede zwischen Ersten und Letzten bereitet die Pointe vor.
Mt 21,1-11: Einzug in Jerusalem Für das MtEv ist – ganz anders als jedenfalls für Mk – der Einzug Jesu in Jerusalem der Höhepunkt des Evangeliums. Denn von Anfang an betont Mt die königlichen Züge Jesu. Die persischen Magier suchen den neugeborenen König der Juden, dieser hat einen explizit auf David zurückgehenden Stammbaum, als Messias aus Davids Haus wird er in Betlehem geboren, die beiden Blinden nach Mt 12 rufen ihn an mit »Sohn Davids«, weil er als neuer Salomo die Macht der Geister kennt. In dem
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Kapitel 21
Zitat nach 21,5 wird Jesus ausdrücklich »dein König« genannt. In 21,9 wird er begrüßt mit »Hosanna dem Sohn Davids!«, wo Mk nur schreiben kann »Hosanna!«. Die Formulierung in Mk 11,10 »Gesegnet das kommende Reich unseres Vaters David!« klingt angesichts des Befundes bei Mt und Lk (»der kommende König«) doch etwas zu politisch korrekt. Im Zentrum von Mt 21,1-11 steht unübersehbar das Zitat aus Jes 62,11 und Sach 9,9: »Sprecht zur Tochter Sion: Siehe, dein König kommt zu dir. Sanftmütig und reitend auf einem Esel und einem Jungesel, einem Sohn des Lasttiers.« Im Kontext des MtEv ist dies direkte Erfüllung von Mt 5,5 und 11,29. Da Sanftmut erwiesenermaßen zu dieser Zeit eine königliche Tugend ist, sieht Mt 21 in Jesu Einzug in seine Stadt wirklich im Vollsinn des Wortes einen königlichen Rechtsvorgang. Nur bei Mt schließt sich an das Betreten der Stadt sogleich das Eintreten und »Reinigen« des Tempels an. Auch das ist bei Mt ganz konsequent messianisch gedacht. Denn nach PsSal 17 reinigt der Messias Israel. Auch diese Perikope bekommt durch 21,15f einen ganz anderen Schluss. Der Titel »Sohn Davids« fällt erneut. Und dem Kindermund kommt im Zusammenhang von Prodigien-Handlungen ein ganz besonderer Offenbarungscharakter zu (vgl. dazu die Kinderstimme bei der Wahl des heiligen Ambrosius: Ambrosium episcopum!).
Mt 21,28-32: Gleichnis von den ungleichen Söhnen Nach der Botschaft Jesu, wie sie uns Matthäus schildert, liegt alles an den guten Werken der Christen. Wenn sie ausbleiben, nützt das anfängliche Ja-Sagen gar nichts. Es ist also nicht nur der Jakobusbrief, der eindringlich zu Werken auffordert, genauso tut es das erste Evangelium. Für jede Auslegung, die einseitig den Glauben betont, ist dieses ganze Evangelium daher ein Problem, dem man sich in der Regel zu entziehen sucht, indem man es von Paulus her (wie man sich ihn denkt) verstehen möchte. Entsprechend redet Luther hier – obwohl das gar nicht im Text vorkommt – vom Gesetz, das er ablehnt, und von der »Bekehrung«, die er wünscht. Das Problem der Werke umgeht er. Als Pointe des Gleichnisses
99 sieht er an: »Es fahren mehr Christen vom Galgen gen Himmel als vom Kirchhof.« Das heißt: Die Frommen haben es schwerer als die Bösewichter, in den Himmel zu kommen. Das ist hübsch und irreführend, denn am Galgen kann man keine Werke mehr tun. Die Pointe des Gleichnisses von den ungleichen Söhnen ist vielmehr: Ein spätes Ja mit Werken ist tausendmal besser als ein frühes Ja ohne Werke. Die Angeredeten (Pharisäer) haben beides mitangesehen und doch nicht die Konsequenz daraus gezogen. So sind sie viel negativer zu beurteilen als die sonst von ihnen verachteten Zöllner. Ausgerechnet die Dirnen und Steuereinnehmer werden hier als Vorbilder dargestellt. Das ist höchst ärgerlich für jeden frommen Juden. Denn nach der damaligen Einschätzung sind beide, Huren wie Zöllner, auch im wörtlichen Sinne des Wortes »arme Schweine«. Die Steuereinnehmer sind erpressende Erpresste, die Dirnen sind Objekte von Gewalt, Ausbeutung und Willkür. Beides, sagt Jesus, tut man aber nicht ganz unfreiwillig oder zwangsläufig. Man kann diesem Dasein entfliehen. Interessant ist, dass Jesus dieses schon von Johannes dem Täufer und seiner Predigt sagt. Aus Lukas 3,12 wissen wir, dass schon der Täufer sich mit Zöllnern abgegeben hat. Und auch seine strenge Auffassung über Sexualmoral (vgl. Mk 6,18) ließ ihn sich wohl den Dirnen zuwenden. Jesus übernimmt beide Adressatenkreise vom Täufer (dass Jesus sich pauschal »den Dirnen« zugewandt habe, sagt freilich erst Justin). – Wie sehr Jesus den Täufer schätzt, das geht aus zwei Dingen hervor: Er nennt ihn einen, der den »gerechten Weg«, so wie es Gottes Wille ist, verkündete. Und er sieht, dass der ausbleibende Erfolg auch den eigenen Misserfolg deuten hilft. – Einen kämpferischen Jesus zeigt dieses Gleichnis. Denn wer seinen Adressaten sagt: »Zöllner und Dirnen sind gerechter als ihr«, der treibt die rhetorische Attacke bis zum Äußersten. Wie wenn man einem frommen Konvent sagt, dass ein paar Christen aus dem anrüchigsten Milieu, also der »Szene«, dem Hafenviertel, durchaus Gott näher stünden. Jedenfalls wird man die frommen Leute so in Bewegung bringen, wenn auch gewiss zunächst nicht mit freundlichem Resultat. Jesus nimmt daher großen Ärger in Kauf und riskiert den total negativen Ausgang. Er kann einzig darauf setzen, dass nach einer all-
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100 gemeinen Empörung einige später nachdenklich werden. Das ist wenig genug. Zur Kompositionskritik in Mt 21-22 Wir benennen die Abschnitte mit Großbuchstaben – A: Mt 21,23-27 (über Johannes und Jesus und die Vollmachtsfrage) – B: 21,28-32 (Gleichnis von den ungleichen Söhnen) – C: 21,33-46 (Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg) – D: 22,1-14 (Gleichnis vom Hochzeitsmahl). – A bis D sagen etwas über die Ablehnung der Botschaft; A und B sprechen über Jesus und den Täufer, B und C über den Weinberg; B und C lassen die Hörer erkennen, dass sie selbst gemeint sind. In B und D folgt auf die anfängliche Verweigerung eine zweite Aufforderung an »minderwertige« Gruppen (Zöllner, Dirnen, Leute auf der Straße); C und D sprechen über tätliche Übergriffe gegen die Boten. Das Fehlen des hochzeitlichen Gewandes in D kann man mit dem Mangel an Werken in B vergleichen. In A bis D geht es damit ausnahmslos um das Scheitern der Botschaft. Die vier Abschnitte sind daher wie ein Geflecht durch zentrale Gemeinsamkeiten verbunden. Dadurch verstärken sich die Texte gegenseitig. In welcher Situation spricht Jesus so? Insgesamt sind diese Abschnitte Zeugnisse eines letzten, äußersten Appells. Die Menschen verweigern sich der Botschaft, und Jesus versucht, sie zu packen. Er sieht eine konsequente Opposition seit dem Auftreten des Täufers. Sein Mut und seine Attacken sind prophetisch zu nennen. Die Schilderung der unterschiedlichsten Katastrophen soll ein Stachel sein. Vom »lieben Jesus« oder vom galiläischen Frühling ist hier nichts geblieben, sie sind der Bitterkeit gewichen. So bieten diese Texte insgesamt Schreckliches, direkte Ablehnung des Täufers (den Jesus andernorts den »größten Menschen« nennt) und Jesu selbst. Jesus ist den Misserfolg gewöhnt. Nur ein paar Außenseiter aus der Hafenszene sind – außer den Zwölf und ein paar Frauen – sein Gefolge, jedenfalls nicht die religiöse Elite. Man kann fragen, worin die historischen Gründe für diese Verweigerung lagen. Vier Gründe sind zu nennen: Erstens gibt es ein Misstrauen des religiösen Establishments gegen jeden »Neuerer«, der sagt, alles bisherige Tun und Denken sei falsch gewesen und allein auf ihn müsse man hören. Geist-
Das Evangelium nach Matthäus
liche fragen in solchen Situationen: »Wollen Sie denn meine ganze Lebensarbeit in den Dreck ziehen?«. Zweitens kann Jesus sich nicht eindeutig legitimieren. Ein Zeichen vom Himmel, also eine Veränderung an Sonne, Mond oder Sternen, an Wolken oder Wetter, kann er nicht erbringen – stattdessen wirkt er nur zweifelhafte Wunder an Menschen. Zweifelhaft sind diese deshalb, weil nach Meinung der Leute auch ein Zauberer oder Wunderdoktor diese tun könnte. Drittens vertritt Jesus in Wort und Tat die Auffassung, die Reinheit, so wie er sie besitze, sei nicht defensiv zu verstehen (wie die Pharisäer es taten, deren Grundprinzip Absonderung war), sondern offensiv, denn Jesus heilte unreine Kranke, weckte Tote auf und vertrieb unreine Geister (Dämonen). Jesus hatte eine »offensive Reinheit«, die für die Gegner Jesu im Anspruch umso unglaublicher wurde, je mehr sichtbare Erfolge Jesus mit seinen Werken erzielen konnte. Daher dann der Vorwurf der Kooperation mit dem Fürsten der Unreinheit, mit Beelzebub, dem Teufel. – Gerade in unserem Gleichnis bringt Jesus diesen Aspekt der Reinheit – für jeden Juden – provozierend ins Spiel: Steuereinnehmer sind wegen des Umgangs mit heidnischem Geld, das viele unreine Hände berührt hat, typisch unrein, und Dirnen sind es in noch höherem Maße. Wenn Jesus den auf Reinheit geradezu versessenen Pharisäern vorhält, die typisch Unreinen seien Gott näher als sie selbst, dann stellt er das pharisäische Weltbild an der Wurzel infrage. Viertens war Jesu Anspruch – sei es als Messias, sei es als Menschensohn (was man als Jude durchaus im Sinne von Dan 7 als Ankündigung des kommenden Reiches Gottes verstehen konnte) – angesichts der misstrauischen Römer stets ein Politikum, auch wenn Jesus diesen Anspruch jedenfalls für die Gegenwart nicht politisch gemeint hat. Jede Art von Anspruch auf Königtum konnte falsch ausgelegt und damit dem ganzen Volk zum Verhängnis werden. Besonders brisant wurde das nach dem Einzug in Jerusalem, der sich bei Jesus königlich gestaltete. Und genau in dem Kapitel, das so begann, befinden wir uns hier bei Matthäus. Nun, das alles ist vergangene Geschichte. Noch heute ist aber dieses wichtig: Im Misserfolg weist
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Kapitel 21
Jesus auf den Täufer. Er steht nicht allein, sondern sieht sich einer kontinuierlichen Verweigerung gegenüber. Das sollten alle bedenken, die dabei sind, den Mut zu verlieren. Auch Jesus und dem Täufer ist es schon so ergangen. Und auch heute gilt, was übrigens Paulus auch in 1 Kor 1 feststellt: Die Menschen, die zu einer Gemeinde gehören, kann man sich nicht aussuchen. – Für Jesus ist das einzige Kriterium die Nähe zur Herrschaft Gottes, das heißt: das Maß, in dem Gottes Wirklichkeit ernst genommen wird.
Mt 21,33-46: Gleichnis von den Weinbergspächtern An einem Weinberg hängt immer vieles. Kein Stück Land, das Menschen bearbeiten, erfordert so intensive, geradezu zärtliche Zuwendung wie der Weinberg. Vom Vorfrühling bis zur Eisbeerenlese dauert bei uns jedes Jahr die Sorge um den Weinberg. In Jesaja 5, dem »Weinberglied«, sind einige der Aktivitäten geschildert: Das Entfernen der Steine, der Bau der Steinmauer zum Schutz der Hütte für die Wächter, das Graben der Kelter. Noch gar nicht genannt sind der Kampf gegen das Unkraut, das Entfernen von Laub, das Beschneiden (»Reinigen«) der Weinstöcke, die Bekämpfung der Schädlinge, die Abwehr der gierigen Füchse und Vögel, das mühevolle Einsammeln genau jeweils zum rechten Zeitpunkt, die komplizierten Vorgänge des Kelterns. Nichts auf dem Lande erfordert soviel Liebe wie der Weinberg. Daher ist er ein wirkliches Kulturprodukt – und alle Mühen um ihn setzen vor allem eines voraus: dass Frieden herrscht im Land. Im Judentum sind daher der Weinberg und besonders der Weinstock ein Symbol für Frieden. Nach Jes 5 ist der Weinberg Bild für Israel, weil Gott ihm soviel Zuwendung geschenkt hat. Und die Verwüstung des Weinbergs ist ein Bild für die Eroberung Israels durch Feinde. Wenn aber Gott in Konflikt mit seinem Volk gerät, dann wird das immer dargestellt als Krise, die den Weinberg betrifft, sei es Verwüstung oder Entzug der Pacht. Man merkt den Texten noch heute an, wie schwer es jeweils den Besitzer und Pfleger des Weinbergs ankam, das Objekt seiner hingebungsvollen Fürsorge zu bestrafen oder verwüsten zu lassen. Auch jeder Pächter-
101 wechsel ist eine Krise für den Weinberg. In Mt 21 ist der Weinberg noch immer Bild für Gottes Vorliebe, die Pächter sind die pharisäischen Lehrautoritäten. Aber offensichtlich ist der Weinberg hier nicht einfach die Summe aller Juden. Denn wie könnte dieser nach 21,43 »einem anderen Volk« gegeben werden? Der Weinberg ist vielmehr Gottes Herrschaft unter Menschen – dass Gott anerkannt wird, und zwar so, dass Lehrer und Schüler gemeinsam dieses verwirklichen, die einen lehrend, beide Frucht bringend. Gottes Weinberg ist dort, wo Gott in dieser Weise herrscht. Gottes Herrschaft als Lehre und Gehorsam ist der Weinberg, eine Art Friedensraum Gottes in dieser Welt. – Nun wird aber nach Mt 21,43 den Lehrern die Lehrautorität entzogen, Gott errichtet seine Herrschaft anderswo. Israel hat keine Frucht erbracht, war ungehorsam, und zwar kontinuierlich. Deshalb sucht Gott einen neuen Raum, in dem in seinem Sinne Lehre und Tun zusammen fruchtbar sind. Gott vollzieht daher eine translatio imperii, er lässt den Träger seiner Herrschaft wechseln, ein der Antike durchaus geläufiger Gedanke: Lehren und gesegnetes Tun werden anderswo gut verwirklicht, unter anderen Menschen, anderen Lehrern und anderen Schülern verwirklicht Gott nun seine Herrschaft, nämlich dort, wo die Botschaft Früchte trägt.– Angesprochen sind hier hauptsächlich die Lehrer und Lehrautoritäten. Denn ihr Verhalten ist immer für alle anderen das Muster. Das entspricht ganz der Rolle des christlichen Schriftgelehrten nach Mt 13,52 und dem negativen Vorbild der jüdischen Lehrer nach Mt 15,14 (blinde Blindenführer). Nochmals: Der Weinberg steht hier für Gottes Herrschaft, also für ein komplexes Verhältnis von Lehrvollmacht und Segensverheißung. Er steht nicht für das einfach vorfindliche Volk Israel, wie es in Jes 5 gedacht ist. Wenn man diesen Wechsel in der Metaphorik gegenüber Jes 5 nicht versteht, bleibt Mt 21,43 (»… wird einem anderen Volk gegeben«) unverständlich. Der Weinberg ist nicht Israel, sondern Gottes Herrschaft war einst Israel und seiner Führung gegeben, sie wird ihm aber nun genommen. – Der Wechsel der Metaphorik gegenüber Jes 5 wird verständlich, wenn man weiß, dass nach Jesus, wie Matthäus ihn darstellt, Gottes Herrschaft die Größe ist, der all seine Sorge gilt. So fordert ja das Vater-
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102 unser auf, Gottes Sorge zu teilen und um das Kommen des Reiches zu bitten. Das Reich Gottes ist daher bei Matthäus prinzipiell von Israel abgelöst – nicht erst aufgrund des Versagens Israels. Es ist eine Größe, die Israel gegeben und genommen werden konnte, die aber zu keinem Zeitpunkt mit ihm identisch war. Auch die Kirche ist niemals Reich Gottes, auch wenn es ihr im Idealfall verliehen wird, Reich Gottes zu sein. Vielleicht geht es um etwas, das ursprünglich zu Israel dazugehörte, jetzt aber von ihm getrennt ist? Nach erkennbarer matthäischer Theologie kann das nur die Auserwähltheit sein. Hier greift der matthäische Unterschied zwischen Berufensein und Auserwähltsein. Berufen sind die Kinder Abrahams allemale (vgl. Mt 20,16; 22,14). Aber viele sind berufen und nur wenige auserwählt. Die Berufenen sind die Juden insgesamt, aber nur die Auserwählten werden definitiv gerettet (ähnlich Lk 18,7). Man vergleiche auch 1 Kor 7,16: Die (endgültige) Rettung geht entschieden über das Geheiligtsein hinaus, das auch jetzt schon – nach Paulus – für beide Partner einer religionsverschiedenen christlichen Ehe gilt. Das Geheiligtsein von 1 Kor 7,14 entspricht nicht zufällig dem Status Israels vor der endgültigen Rettung, d. h. im Status des Berufenseins. Das heißt: Seit der Ermordung des Sohnes muss man offen sagen, dass die Schere zwischen Berufensein (Geheiligtsein; Israel nach Jes 5) und Erwähltsein definitiv auseinandergeht. Nur die Auserwählten werden auch gerettet. Das heißt: Das »neue« Volk, dem Gott die Auserwähltheit schenkt, wird eines sein, das berufen und gerettet ist. Diese beiden Kategorien sind auseinander zu halten. Nur den Juden, die auch die Früchte bringen, die Gott fordert, wird die Auserwältheit nicht genommen. Diese Früchte sind Umkehr und Gerechtigkeit im Sinne des Evangeliums nach Matthäus. – Die generelle Bedeutung dieses Ansatzes: Die Unterscheidung von Berufung und Auserwählung ist ein Meilenstein auf dem Weg zu einer differenzierten Lösung folgender Probleme: a) Die Eigenheit Israels behält ihren Stellenwert in der Heilsgeschichte. Juden gehören zu den Berufenen, also in den weiteren Kreis. b) Die Rettung wird gelöst von der national-ethnischen Zugehörigkeit zu Israel. Die letztere reicht vielmehr nicht (mehr) aus. c) Glaube, Taufe, gute Werke, Gerechtigkeit im
Das Evangelium nach Matthäus
matthäischen Sinne, alles dieses wird unter »Früchte« zusammengefaßt. Das ist ein einleuchtender Fortschritt. Es geht weder nur um Moral noch allein um ein ungreifbares »Glauben«, sondern um konkrete Forderungen Gottes (vgl. dazu auch Phil 4,6-9). d) Es besteht kein Zweifel daran, dass Gott seinen Garten/Weinberg weiterhin liebt. Nur hat diese Liebe nun eine Pointe erhalten. Wenn Mt 21,33 weiterhin vom Zaun redet, den Gott um seinen Weinberg herum angelegt hat, dann bezieht sich das auf die ausgrenzende Heiligkeit Israels, die auch jetzt besteht, wie auch auf den Schutz dieser Heiligkeit durch die Torah. e) Wenn Paulus sagen kann: »geliebt wegen der Väter« (Röm 11,28), dann ist das Drama dieser Liebe nun um einige wichtige Akte ergänzt (unter anderem dadurch, dass Jesus als Mensch zu Israel gesandt ist). Zwischen Paulus und Matthäus besteht in der Sache, auf die es ankommt, keine ernsthafte Differenz. Die vergangene Heilsgeschichte Israels wird in Christus nicht wertlos, sondern »erfüllt«. f) Beide Etappen, Berufensein wie Auserwähltsein, enthalten religiöse wie moralische Elemente. Die religiösen Elemente (Gottes Handeln) sind in beiden Fällen kräftiger ausgeprägt. Gerufen/Berufen sind alle, auch heidnische Menschen, auch durch den Kontakt mit den Aposteln (Mt 22,11). Ähnlich bei Paulus: Geheiligt ist der heidnische Partner durch sein Verheiratetsein mit einem Christen. D. h. durch die Trennung von Berufung und Rettung/Auserwählung wird auch der alltägliche, mehr oder weniger profane Kontakt zwischen Gliedern des Gottesvolkes und Heiden zu einem Vorzimmer des Heils. Nicht mehr und nicht weniger. Man hat freilich viel gerätselt, wer dieses »andere Volk« sei, ob die Kirche oder ein erst noch zu sammelndes endzeitliches Heilsvolk aus allen Völkern (inklusive einem Rest aus Israel). Neben dem Verständnis des Weinbergs ist dieses also die zweite Schwierigkeit in diesem Text. Sicher ist: Das neue Volk sind andere Menschen, nicht Israel. Und diese Gruppe wird, nicht anders als Israel auch, als Volk beschrieben. Das ist logisch, denn zu einem Königreich gehört immer ein Volk, über das der König herrscht. Nach dem gesamten Duktus dieses Evangeliums kann dieses andere Volk nur die Kirche sein. Nur wenn man leugnet, dass Jesus überhaupt an Kirche gedacht
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Kapitel 22
haben könnte (so Ulrich Luz stellvertretend für die gesamte liberale Exegese), wird man sein Leben lang auf der Suche nach diesem Volk bleiben. Vielmehr so: Nachdem Israel versagt hat, wird der Kirche aus Juden und Heiden das Reich gegeben. Natürlich nur dann und solange, wie diese die Früchte erbringt. Wie früher bei Israel werden jeweils die Vollmacht und Verheißung des Reiches einem Volk gegeben. Aber wie bei Israel, so gilt auch hier: Diese Gabe ist gebunden an vorbildhaftes Lehren und den Gehorsam der Christen. Im Gleichnis vom Hochzeitsmahl wird dieser doppelte Übergang erkennbar: Die Erstberufenen waren nicht würdig, also hat Gott neue Adressaten berufen. Aber wer keine Früchte erbringt, wer noch nicht einmal das angebotene Gewand anzieht, der fällt auch dann noch aus dem Reich Gottes heraus. Daher ist die Kirche ein »gemischtes Volk«, aus dem noch einmal Gute und Böse ausgesondert werden müssen. Das Gleichnis ist daher nicht einseitig antijüdisch auszulegen, sondern wie Röm 11 enthält es dieselbe Bedingung für das Darinbleiben in Gottes Reich, die auch schon für Israel gegolten hat. Nur wer Früchte bringt, gehört auf Dauer zu diesem Reich. Es kommt daher angesichts dieses Textes nicht auf begütigende Worte über die Nähe von Judentum und Christentum an. Sondern es geht um die grundsätzliche Unterscheidung zwischen einer Menschengruppe (Volk Israel, Kirche etc.) und Reich Gottes. Unüberhörbar scharf ist die Bedingung der Zugehörigkeit zum Reich: Nur wer Gottes Herrschaft anerkennt und seinen Willen tut, kann dazu gehören. In diesem Gleichnis geht es daher auch nicht einfach um Gebot, Gehorsam und Lohn nach dem Schema »Wer Gottes Willen tut, kommt in den Himmel«. Das ist zwar sehr wahr, aber in diesem Gleichnis ist dieses verknüpft mit der Tatsache, dass es immer eine Gruppe von Menschen gibt, der Gottes Herrschaft angeboten wird. Das ist alles andere als modernes individualistisches Denken. Nein, zu einer Königsherrschaft gehört nie nur eine Summe von Individuen, sondern immer ein Volk, eine Gemeinschaft, die aussah wie Israel oder aussieht wie »Kirche«. Nie ist der Einzelne für sich Adressat von Gottes Willen und Reich. Wenn es irgendeinen Text gibt, der etwas über die strukturelle Kirchlichkeit im Denken Jesu sagt, dann ist es unter den Gleichnissen dieser
103 Text. Adressaten von Gottes Angebot konnten nur Israel, Kirche oder die Kirche der Vollendung sein. Ein Solipsismus ist für Jesus undenkbar, und zwar deshalb, weil es um Lehren und Lernen, um Vorbild und Weitergabe, um den Bund Gottes in dieser Zeit geht. In Joh 15 ist genau dieses alles christologisch vertieft.
Mt 22,1-14: Das Gleichnis vom Hochzeitsmahl Einen Schlüssel zum Verstehen des Gleichnisses vom Hochzeitsmahl bietet die Heilsweissagung über Sion in Jesaja 62,5: »Wie sich nämlich der junge Mann mit der jungen Frau vermählt, so vermählt sich mit dir dein Erbauer; wie der Bräutigam sich freut über die Braut, so freut sich über dich dein Gott.« In der Anschauung des Alten Testaments, dass Gott, der Herr, der Bräutigam und Ehemann Israels sei, liegt der Ursprung der Bilder über Hochzeit und Bräutigam in der Verkündigung Jesu. Israels Gott ist nicht verheiratet, darin unterscheidet er sich von allen Göttern sonst. Damit wird er grundsätzlich nicht sexuell vorgestellt, und Sex ist nicht göttlich. Seine Partnerin ist keine Göttin, sondern sein Volk. Das ist zweifellos keine sexuelle Beziehung. Wenn Gott Ehemann oder Bräutigam heißt, das Volk aber Frau und Braut, dann ist das eine bildhafte Aussage über einen (Ehe-)Bund zwischen sehr verschiedenen Partnern. Jesus nimmt als Messias Gottes Stelle ein, als Bräutigam Israels. Die jetzt moderne Beachtung der »metaphorischen Christologie« müsste hier zu dem Ergebnis kommen, dass Jesus wirklich Gottes Rolle einnimmt; daher liegt hier eine unvergleichlich »hohe« Anschauung über Jesus vor. Ähnlich vollzieht Jesus auch in den Wundern Gottes eigene Taten, die für die Endzeit erhofft werden. In diesem Gleichnis greift Jesus zielsicher auf die biblische Metaphorik der Ehe zwischen Gott und Volk zurück. Diese Ehe wird er als Messias neu eingehen – so wie auch Jesaja 62,5 eine Verheißung ist. So wird deutlich, warum Jesus überhaupt das Bild des Hochzeitsmahles verwendet. Es hat wichtige theologische und christologische Implikationen. Wie auch die vorangehenden Gleichnisse von den bösen Winzern und den ungleichen Söhnen negativ enden, geht Jesus offenbar davon aus,
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104 dass die geschilderte Katastrophe die Menschen schockiert und deshalb interessiert. Denn schließlich wird ein Hochzeitsgast im wahrsten Sinne des Wortes gefeuert und in ein dunkles Loch – ein Bild für die äußerste Gottferne – geworfen. Jesus appelliert damit an den Katastropheninstinkt seiner Hörerinnen und Hörer. Auch im Blick auf die vorangehenden Gleichnisse könnte das Gleichnis folgende Stadien abbilden: die Zuwendung und Einladung an Israel, Ablehnung und Martyrium der Boten durch Israel, Bestrafung der Stadt Jerusalem, Einladung der Heiden (hier: die Menschen an den Wegkreuzungen), Bestrafung des Menschen, der es nicht für nötig hielt, sich hochzeitlich zu kleiden. (Die alte Forschungsmeinung, das Gewand sei von den Einladenden gestellt worden, trifft allerdings nicht zu.) Wie in Offb 19,8 sind die Werke das hochzeitliche Gewand. Allerdings nützt ein Gewand nichts, wenn keine Hochzeit stattfindet und wenn man nicht eingeladen ist oder nicht hingeht. Das Gleichnis zeigt gescheiterte Einladungen – bei Hochzeiten eigentlich nicht die Regel. Aber Israel ist bis jetzt mehrheitlich gescheitert, und auch den Heidenchristen wird es kaum besser ergehen, wenn sie die Einladung, die ihnen angeboten wird, nicht oder nicht vorbereitet ergreifen. Daher sollen sich die Heidenchristen auf ihre Ersatzrolle für die Erstberufenen nichts einbilden. Gott bleibt weiterhin anspruchsvoll. Aus Mt 22 wird erkennbar, dass die guten Werke von Gott gefordert sind. In der Offenbarung des Johannes liegen die Aspekte etwas weiter auseinander: Im Blut des Lammes werden die Kleider gewaschen – und zugleich sind sie die guten Werke der Christen. Bei Matthäus fällt der Blick stärker auf den Einzelnen in seinem Versagen, beim Seher Johannes steht viel stärker die Gemeinde im Ganzen im Blick. Dennoch gilt auch für Matthäus: Die Feier ist nur als gemeinsame Hochzeitsfeier der Kirche vorstellbar. Das Negative ist (ähnlich wie in Mt 18,15-18) Tat des Einzelnen. Für die Rolle der vorgängigen Werke der potenziellen Christen ist auf Joh 3,19-21 hinzuweisen. Doch stärker als die Katastrophe »am Rande« ist die große Verheißung. Das Reich Gottes wird als großes Fest offenbar, das die Versöhnung von Gott und Mensch endgültig besiegelt. Die Welt-
Das Evangelium nach Matthäus
geschichte endet nicht mit frommen Sprüchen, sondern mit dem Bild einer großen Hochzeitsfeier. Wenn gesagt wird, dass die Berechtigung zur Teilnahme nicht automatisch gilt, sondern sich eigentlich schon vorher bewährt haben muss, dann ist diese Bedingung angesichts des Zustands der Kirche nur allzu berechtigt. Im Mittelalter betete man, alle Berufenen mögen auch zu den Auserwählten gehören. Gott lässt sich in seiner Güte nicht zum Narren halten. Und Gnade und Sakramente sind kein Freibrief für die Fortsetzung eigener Bosheit. Ähnlich wie in Mt 18,21-35 kann man auch hier fragen, warum Gottes Erbarmen und sein strenges Gericht so nahe beieinanderliegen können. Ist es wirklich wahr, dass der hinausgeworfen wird, der keinen Festanzug hat? Ist es wirklich so schlimm? Ziel des Gleichnisses: Wenn die zuerst Angeredeten nicht wollen, wendet sich die Botschaft anderen zu. Aber auch diese müssen die Minimalanforderungen erfüllen. Das hochzeitliche Gewand ist der »Eigenanteil« jedes Berufenen. – Ein derartiges Gleichnis kann zu verschiedenen Phasen der Geschichte Jesu und des Urchristentums aktuell gewesen sein. Wenn Jesus sich zuerst den Pharisäern zuwandte, diese aber »nicht wollten«, dann bezieht sich das Gleichnis auf andere Menschen in Palästina. In der nachösterlichen Zeit: Wenn die angesprochenen Juden nicht wollen, wendet sich die Botschaft auch an Heiden. Und selbst in heidenchristlichem Milieu wird es Erstadressaten geben und andere, an die man zunächst nicht gedacht hat. – Was die Bedeutung des Gewandes betrifft, so halte ich es nicht für möglich, dieses sakramental zu interpretieren, denn Sakramente sind alles andere als eine »Eigenleistung«. Damit rücken zwei tadelnswerte menschliche Verhaltensweisen in den Mittelpunkt: die Botschaft überhaupt ablehnen – oder: mangelnde Voraussetzungen für die Antwort auf die Botschaft haben. Beides wird als riskant dargestellt. Das Erste bewirkt zumindest für den Augenblick Verlust der Prärogative; das Zweite ist schlimmer, da es rigorosen Ausschluss bedeutet. Beide Fälle haben in der Darstellung appellativen Charakter.
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Kapitel 22
Mt 22,15-21: Die Zinsmünze Der damalige Denar, über den hier gesprochen wird, zeigte auf der Vorderseite das Brustbild des Kaisers Tiberius, geschmückt mit einem Lorbeerkranz. Dazu die Inschrift: »Tiberius Caesar, Sohn des göttlichen Augustus, Augustus«. Die Rückseite des Denars zeigte den römischen Oberpriester (pontifex maximus) mit der Mutter des Kaisers. Diese hält in den Händen Zepter und Ölzweig. Durch Letzteren wird sie als Trägerin des himmlischen Friedens (pax) gekennzeichnet. Gegen den ersten Augenschein meint Jesus in 22,21 keine Aufteilung in je 50 % für »Staat« und für »Gott«. Der Satz scheint eine kasuistische Faustregel zu sein. Doch schon der Umstand sollte stutzig machen, dass Jesus hier von Gott spricht, obwohl er danach nicht gefragt wurde. Die Oberfläche des Satzes täuscht. Denn was in der äußeren Form nebeneinanderliegt, gehört inhaltlich auf zwei ganz verschiedene Ebenen. Die Frage nach den Steuern und Jesu Antwort darauf ist vielmehr nur ein Anlass, die Gegner an ihr Verhältnis zu Gott zu erinnern. Das Steuernzahlen wird zum Bild für das Verhältnis zu Gott. So wie man dem Kaiser Steuern zahlt, soll man Gott geben, was Gottes ist – und was ist nicht alles sein Eigentum? Allein die zweite Hälfte des Satzes stellt im Rahmen der Verkündigung Jesu wirklich den aktuellen Imperativ dar. Die Sorge der Gegner um die Steuern ist nur ein Bild oder verdeckt die Sorge, die sie eigentlich haben sollten, Gottes Gebot zu erfüllen. Wenn sie schon das eine tun, wie sehr müssten sie dann das andere ernst nehmen! Der erste Imperativ ist daher bedeutungsmäßig dem zweiten nicht gleichgeordnet. Statt »und gebt« müsste man korrekt übersetzen: »aber gebt vielmehr«. Die beiden Imperative sind daher nicht im Sinne einer Addition der Pflichtbereiche zu verstehen, der Appellcharakter liegt nur auf dem letzten Glied. So allein fügt sich dieses Wort auch in den Zusammenhang der Botschaft Jesu ein. Es handelt sich nicht um eine staatspolitische Belehrung im Sinne eines Kompromisses zwischen Theokratie und Römerreich. In Röm 13,7, wo dieselbe Tradition zitiert wird, nun aber in staatspolitischem Zusammenhang, fehlt bezeichnenderweise ein ausdrücklicher Hinweis auf das zweite Glied in Mt 22,2, auf Gott.
105 Dieselbe den Schluss betonende inhaltliche Struktur wie Mt 22,21 weist auch ThomasEv 100 auf: a) Die Leute zeigten Jesus eine Goldmünze und fragten ihn: »Die Bediensteten des Kaisers fordern von uns Steuern. [Was hältst du davon?]« b) Jesus antwortete: »Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist. c) Gebt Gott, was Gottes ist. d) Und was mein ist, gebt mir [den Gehorsam gegen meine Gebote].« Das ThomasEv entstand im 1. Jh. und ist gegen den älteren Konsens keineswegs gnostisch zu deuten, sondern steht den Evangelien nahe. Das im ThomasEv hinzugefügte Glied bedeutet nicht, dass die Pflichten nun dreigeteilt wären. Vielmehr ist hier das Formgesetz von Mt 22,21 fortgeschrieben: So wie man sagt, dass man dem Kaiser gehorchen soll oder Gott, so gilt nun, dass man allein Jesus gehorchen soll. Auch hier liegt der Appellcharakter allein auf dem letzten Glied. Von einer Konkurrenz zwischen Gott und Jesus kann in ThomasEv 100 übrigens nicht die Rede sein. Vielmehr ist der traditionell jüdische Gehorsam gegen Gott ein Bild für den Gehorsam gegenüber Jesus, in dem er sich offenbart, in dem er anzutreffen ist, in dem sich seine Wirklichkeit im besten Sinne des Wortes zuspitzt.
Auch im Mittelalter hat man klar erkannt, dass es sich hier nicht um eine fifty-fifty-Regel handelt. »Christus, der wahre Lehrer … möge euch so in seinem Dienst verharren lassen, dass ihr unserem Herrn Jesus Christus selbst den Denar der gesetzlichen Gehorsams und des Befehls des Evangeliums abliefert. Und so möge der allmächtige Gott die Inschrift und den Aufdruck seines Abbildes behüten, nämlich euch, eure Herzen, dass jetzt und in Zukunft euch immer seine Majestät verteidige und seine Treue beschütze« (Bischöfl. Segen Nr. 1414). In diesem Text fällt die römische politische Begrifflichkeit auf; so ist von der maiestas und der pietas Gottes die Rede. Gott ist jetzt der wahre Kaiser. Was der römische Kaiser nicht leisten konnte, wird allein von Gott erwartet. In seinem Namen gilt auch der gesetzliche Gehorsam. – In einem anderen bischöflichen Segensgebet heißt es: »Wie ihr das Bild des Kaisers [in Gestalt der Steuermünzen] als Zeichen des Sklavendienstes dem Kaiser gebt, so möget ihr das Bild Gottes [eure Herzen] rein und ohne Flecken zurückgeben in der Freiheit von Gott angenommener Kinder.« An diesem Text fällt der Ge-
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106 gensatz zwischen Sklavendienst und Freiheit auf. Das Gebet macht Ernst damit, dass das irdische Steuerzahlen nur ein Bild ist (»Wie …, so …«). Beachtenswert ist die Beziehung zu Röm 13,7: »Gebt jedem, was ihr ihm schuldig seid und was ihm gebührt: Gebt dem Steuern, dem Steuern gebühren, gebt dem Zoll, dem Zoll gebührt, bringt gegenüber dem Angst auf, dem Angst gebührt, und Ehrfurcht, wem sie gebührt.« Die Struktur ist insofern eng mit Mt 22,21 verwandt, als »geben« (griech.: apodidomi) im Imperativ mit dem Dativ des Adressaten verbunden ist. Dazu noch die Begründung: »was des Kaisers ist«, in Röm 13: »weil es ihm gebührt«. Auch in Röm 13,7 könnte sich eine Zweiteilung andeuten: Steuer und Zoll gebühren der irdischen Obrigkeit. Und älter als Röm 13,7 ist vielleicht 1 Petr 2,17: »Gebt allen die schuldige Ehre, … fürchtet Gott, ehrt den Kaiser.« Nach 1 Petr 2 gilt das Ehren den Menschen, Angst/Furcht dagegen Gott, und das wird wohl auch in Röm 13,7 der Fall sein. – Daher gilt: Röm 13,7 zeigt mutmaßlich dieselbe Betonung des Schlusses wie Mt 22,21, obwohl von Gott nicht ausdrücklich die Rede ist. Man kann daher sagen: In Röm 13,7; 1 Petr 1,17 und Mt 22,21 par Mk 12,17 liegen Sätze vor, die die Pflichten der Christen in der Ordnung gegenüber Gott und menschlichen Instanzen regeln. Die Angeredeten haben rundum Pflichten. Und auch wenn diese gegenüber Gott erheblich von den Pflichten gegenüber Menschen unterschieden sind, so ist die Zuordnung dieser unterschiedlichen Bereiche auffallend, auch auffällig staatstreu. Auch wenn die Pflichten gegenüber Gott weitaus umfassender sind, so werden doch die irdischen Adressaten des pflichtschuldigen Handelns nicht abgewertet. Jesus ist kein Zelot, der Steuerzahlen ablehnt. Mit Paulus und 1 Petr, die die entsprechenden, nah verwandten Regelungen nicht Jesus zuschreiben, teilt Jesus die Auffächerung der Pflichten und eine grundsätzliche Bejahung des Steuerzahlens. Wenigstens für die Tempelsteuer geht das auch aus Mt 17,24-27 hervor. Wer die Pflichten gegenüber allen bürgerlichen Instanzen so wahrt, ist kein gewaltbereiter Revolutionär (gegen R. Eisenman und »Kollegen« in der Qumran-Debatte). Der positive Ertrag: Jesus verkündet die Herrschaft Gottes. Sie ist jetzt verborgen und wird demnächst offenbar. Ihr Kommen vollzieht sich
Das Evangelium nach Matthäus
unter diesen beiden Erscheinungsformen. Die Herrschaft Gottes relativiert zwar jede irdische Herrschaft. Aber da sie eine Herrschaft der Gerechtigkeit ist, bejaht Jesus die allgemeinen sozialen Pflichten. Weil man diesen Satz »Gebt jedem, was ihr ihm schuldig seid und was ihm gebührt« (Röm 13,7) als ein Stück Gottesherrschaft bezeichnen kann, umschließt die Gottesherrschaft auch ein Respektieren der bürgerlichen Pflichten. Sie hebt diese Pflichten nicht auf, sondern fordert sie geradezu, wenn sie denn Ausdruck von Gerechtigkeit im Sinne des Erhalts des Sozialwesens sind. Weil also die Herrschaft Gottes, von der Jesus spricht, diesen wichtigen und wesentlichen moralischen Aspekt besitzt, deshalb ist Steuerzahlen geboten. Wo es aber nicht um die moralische Regelung des Miteinanders geht, sondern um Religion, da muss der Ansatz Jesu jeden religiösen Anspruch der Staatsgewalt auf Anbetung oder auch nur Verehrung ablehnen. Die Herrschaft Gottes umschließt und begrenzt daher menschliche Ordnung. Die mittelalterlichen Gebete (s. o.) haben das noch konsequent begriffen.
Mt 22,34-40: Gottes- und Nächstenliebe Die beiden Liebesgebote, Gottesliebe und Nächstenliebe, sind eine Kombination zweier weit auseinanderliegender Texte des Alten Testaments, von Dtn 6,5 und von Lev 19,18. Verknüpft wurden beide Gebote dank des gemeinsamen Stichwortes »du sollst lieben«. Im hebräischen Text ist Dtn 6,5 erkennbar das Hauptgebot, die Präambel des ganzen Gesetzes. Lev 19,18 dagegen steht das Gebot der »Nächstenliebe« an einer wenig herausgehobenen Stelle. Im direkten Kontext von Lev 19,15-18 bedeutet dieses Gebot nicht die Aufforderung zu allgemeiner Menschenliebe. Vielmehr handelt der Kontext vom Verhalten im Gericht und vom Umgang mit den Verfehlungen des anderen. Daher die Aufforderungen, nicht zu zürnen, nicht nachzutragen, sondern zur Rede zu stellen. Auch das Judentum zur Zeit Jesu nimmt diese Stelle im Sinne dieses begrenzten Themas auf; in diese Tradition gehört auch Mt 18,15-17. – Aber da Jesus hier nun Lev 19,18 in einen anderen Zusammenhang stellt, ändert sich auch die Funktion der »Liebe« an dieser Stelle. Sie wird ge-
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Kapitel 22
nerelle Zusammenfassung aller Pflichten gegenüber den Mitmenschen. Zudem wird durch die griechische Übersetzung »der Nächste« jeder besondere Bezug auf den israelitischen Volksgenossen, der noch im hebräischen Text gegeben war, getilgt. – Zudem hat die Kombination der beiden Liebesgebote andere Vorstufen als die isolierte Auslegung von Lev 19,18. – Diese Vorstufen liegen in der griechischen Popularethik, die seit Jahrhunderten alle Pflichten klar und bündig unterschied in »Frömmigkeit« (oder Heiligkeit) gegenüber den Göttern und »Gerechtigkeit« (oder Menschenfreundlichkeit) gegenüber den Menschen. Dieser »Kanon der zwei Tugenden« (A. Dihle) beherrscht Klassik und hellenistische Literatur, er findet sich noch ohne Bezug zu den beiden Schriftstellen bei dem jüdischen Schriftsteller Flavius Josephus und in Tit 2,12. In manchen Texten des griechisch orientierten Judentums heißt es auch schon »Gott lieben« und »die Menschen lieben«. Die Besonderheit Jesu und des frühen Christentums ist es, diese geläufige Faustregel in Beziehung zur Schrift zu setzen. Nur hier finden wir eine »Unterfütterung« der »Frömmigkeit« durch Dtn 6,5 und der »Menschenfreundlichkeit« durch Lev 19,18. Man kann das etwas unterkühlt »eine schriftgelehrte Leistung« nennen. Doch die Unterfütterung der Popularethik durch die Schrift bedeutet mehr – nicht nur eine Versöhnung griechischer Ethik mit dem biblischen Denken, sondern auch eine kritische Begrenzung: An die Stelle der vielen Götter oder des Göttlichen ist der eine, persönliche Gott getreten – das ist die Kritik am griechischen Element. Und alle jüdischen Gebote der Torah sind zusammengefasst in der Liebe – das bedeutet angesichts dessen, was alles in der Torah steht, eine deutliche Kanalisierung. Besonders alle Sozialgebote werden nun mit einem Mal als das Gebot der Liebe zusammengefasst. Das ist nicht selbstverständlich, sondern bedeutet eine bestimmte Richtungsvorgabe. Man fragt vor allem, wo die auf Reinheit und Kult bezogenen Gebote geblieben sind. Sind sie auch mit im Gebot der Gottesliebe zusammengefasst? In der Fassung bei Markus wird der Kult stark abgewertet (Mk 12,32f). Das fehlt bei Matthäus. Doch das bedeutet nicht, dass Matthäus dem jüdischen Kult positiver gegenüberstehe. Zweimal findet sich in seinem Evangelium der
107 Satz »Barmherzigkeit will ich und nicht Opfer«. Ursprünglich und in Mt 9,12 bedeutet der Satz: Erbarmen will ich schenken und nicht Opfer annehmen. Doch in Mt 12,7 wird die Handhabung von Kultregeln kritisiert. Zur Frage nach der Bedeutung der Liebesgebote ist es wichtig, nach der Bedeutung von »lieben« zu fragen. Denn aufgrund des Deutschen fühlen sich viele zu der Frage veranlasst: Wie kann man Liebe per Gesetz befehlen? Dazu ist zu beachten: Einmal ist der Ausdruck »Gesetz« unangebracht. Es handelt sich durchaus um Gottes Willen, aber er wird nicht im Sinne eines Obrigkeitsstaates formuliert, sondern es geht eher um Weisungen, Wünsche und Segensverheißungen. Die Torah ist kein Gesetz wie die Straßenverkehrsordnung, aber doch verbindlich, ähnlich wie die – heute in Vergessenheit geratenen – fünf »Kirchengebote« oder wie päpstliche Enzykliken, über deren Einhaltung kein Nachtwächter wacht. Zum anderen aber bedeutet Liebe bei den beiden Hauptgeboten nicht »deutsche« Gefühls- und Herzensinnigkeit – diese ist übrigens nicht zu verachten und seit der deutschen Mystik ein wichtiger Teil unserer Kultur. Aber in der Bibel wird »lieben« weitaus nüchterner gedacht, nämlich in jedem Fall im Sinne praktischer Solidarität. Denn Dtn 6,5 ist ja Präambel aller konkreten Einzelweisungen, und Lev 19,18 bezieht sich auf die konkreten Reaktionen auf die Fehler des Mitbürgers. Und wenn es in Dtn 6,5 heißt »aus deinem ganzen Herzen und aus all deiner Kraft«, so konnte das rabbinische Judentum dieses wiedergeben als »mit deinem ganzen (finanziellen) Vermögen«. So geht es nicht um Sentimentalität und es liegt auch nicht das Unding vor, als wolle jemand Liebe befehlen. Eher geht es darum, jedem das zu geben, was man ihm schuldig ist. Damit rücken beide Bereiche, in denen Liebe zu üben ist, in den Bereich der Forderung nach Gerechtigkeit. So kann man zusammenfassen: Die biblischen Liebesgebote fordern nicht emotionales Engagement der Gefühle, sondern praktische Gerechtigkeit, für die ein Miteinanderleben wichtig ist. Bei Paulus findet sich nur die Zusammenfassung der Gebote im Liebesgebot von Lev 19,18 und damit sozusagen nur die zweite Hälfte der Kombination der beiden Hauptgebote nach Mt 22,37-39 und Mk 12,29-31. Paulus kennt nur die Zusammenfassung zum Gebot der Nächsten-
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108 liebe. Das Hauptgebot der Gottesliebe zitiert er gar nicht. Der Grund dafür liegt darin, dass Paulus das geforderte Verhalten gegenüber Gott als »Glauben« bezeichnet und dieses der Nächstenliebe sachlich vorordnet. Denn aus dem Glauben fließt Liebe als dessen Frucht. Aber man kann nicht sagen, dass es hier um zwei gleich wichtige Gebote gehe. Gewiss lassen sich bei Paulus Glaube und Liebe und damit auch Glaube und Werk nicht trennen. Aber der Glaube ist Wurzel oder Quelle der Liebe. Und im Übrigen ist Glaube bei Paulus durch den Glauben an Jesus inhaltlich stark gegenüber der jüdischen Bibel verändert. Das heißt: Paulus konnte nicht mehr unbesehen einfach den Kanon der zwei Tugenden mit der Schrift unterfüttern, wie es in den synoptischen Evangelien geschieht. – Anders im JohEv: Hier wird ohne Schriftunterfütterung das Liebesgebot als »neues« Gebot bezeichnet, denn es hat in der Liebe Gottes und Jesu Christi seinen Ursprung. Hier geht es darum, das Empfangene weiterzugeben. Liebe ist die Konsequenz aus der Zuwendung Gottes zur Welt. Im Übrigen ist innerhalb der Evangelien die Nächstenliebe zu trennen von der Feindesliebe.
Das Evangelium nach Matthäus
Die Feindesliebe (und auch radikaler Besitzverzicht) orientiert sich an Gott selbst, der die Sonne aufgehen lässt über Gute und Böse und der keines Dinges bedarf, da sein Schatz unvergänglich ist. Diese Forderungen richten sich an radikale Jüngerkreise wie die »Väter und Mütter« der mätthäischen Tradition. Das Gebot der Nächstenliebe nach den drei ersten Evangelien hat dagegen eher politische Dimensionen. An zwei Texten wird das deutlich, die beide besonders das Gebot der Nächstenliebe zitieren. In Röm 13 ist die Nächstenliebe die Summe sozialer Verpflichtungen, zu denen Steuer und Zoll genauso gehören wie das Achten der Obrigkeit und das Einhalten der 2. Dekaloghälfte. – In Lk 10, im Gleichnis vom barmherzigen Samariter, wird das Gebot der Nächstenliebe so ausgelegt, dass der Samariter Nächster eines anderen, des ausgeraubten Juden, werden kann. Die Nächstenliebe sprengt den Rahmen des jüdischen Volkes und wird zur Basis einer allgemeineren Ethik der Hilfe in der Not. Politisch ist daran die Aufhebung der nationalen Grenzen – ganz im Sinne des hellenistischen Kosmopolitismus.
Mt 23-28 Jesu Geschick im Lichte der Propheten Mt 23 Die Position von Mt 23 innerhalb des Evangeliums ist ebenso umstritten wie der scharfe antipharisäische Ton. Man hat immer wieder gefragt, weshalb Jesus die Pharisäer und Schriftkundigen so streng verurteilt, ein Urteil, das wohl den historischen Verhältnissen nur selten entspricht. Aber es geht hier nicht um einen Zeitungsbericht, sondern um etwas anderes. Dieses andere tritt schon in Mt 5,20 zutage: Wenn eure Gerechtheit nicht größer ist als die der Pharisäer, werdet ihr in das Himmelreich nicht gelangen. – Es legt sich nahe (eine Anregung von H. Frankemölle aufgreifend), die erste und die letzte Rede Jesu nach Mt, also die Bergpredigt in Mt 5-7 und Mt 23, miteinander zu vergleichen. Ein durchgeführter Vergleich liefert für beide Texte Erstaunliches. (Wir setzen hier beides Stück für Stück gegenüber: Bergpredigt [B] und Weherede [W]).
Wort und Tat, reden und nicht handeln, lehren und auch tun B – Mt 5,19: Wer tut und lehrt; 7,24: Wer meine Worte hört und sie tut … ; Mt 6,1.3: Gerechtigkeit/Almosen; 7,12: Goldene Regel: das sollt ihr den Menschen tun; 7,21: Wer sagt »Herr, Herr«, und nicht den Willen Gottes tut; 7,24.26: Worte hören und tun. W – Mt 23,2: Lehren befolgen, Werke nicht. Das Dilemma der Pharisäer besteht darin, dass sie alles bei Worten belassen und nicht nach den Worten handeln. Seligpreisungen und Weherufe B – Beginn mit 9 Seligpreisungen. W – Gliederung durch Weherufe. Zur Entsprechung von Seligpreisungen und Weherufen vgl. Lk 6,20-26.
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Kapitel 23
Werke B – Mt 5,16: Gute Werke der Gemeinde sehen und dann Gott preisen. W – Mt 23,3: »… nach ihren Werken handelt nicht«; 23,5: »alle ihre Werke tun sie …« Etwas tun, um von Menschen gesehen zu werden B – Mt 6,1: »Gerechtigkeit vor den Menschen tun, um von ihnen gesehen zu werden«; 6,16: »beim Fasten für die Menschen sichtbar sein«. W – Mt 23,5: »Alle ihre Werke aber tun sie, um gesehen zu werden, vor den Menschen«. Schlüssel zum Himmelreich B – Mt 5,20: »nicht eingehen in das Reich Gottes«. W – Mt 23,13: das Reich Gottes verschließen. Schwören B – Mt 5,33-37: Weil jeder, der Gott beim Schwören direkt oder mittelbar nennt, Gottes heiligen Namen in unheilige Dinge hineinzieht, verstößt übliches Schwören gegen die Reinheit und Heiligkeit des Gottesnamens und verunreinigt den Schwörenden. W – Mt 23,16-22: Alles Schwören »bei« etwas ist Schwören bei Gott. Daher kann man zwischen verbindlichem und unverbindlichem Schwören nicht differenzieren. Wer schwört, ist gebunden (gegen Tricks, sich von Eiden frei zu machen). Gerechtigkeit und Gesetzlosigkeit B – Mt 5,20: Eure Gerechtigkeit im Verhältnis zu der der Pharisäer … ; Mt 7,23: Weg mit euch, die ihr Gesetzloses getan habt. W – Mt 23,28: Von außen als Gerechte, innerlich voll Gesetzlosigkeit; 23: Gerechtigkeit (griech.: krisis), Erbarmen, Treue. Verfolgung und Ermordung der Propheten B – Mt 5,11f: Schmähung und Verfolgung, Vergleich mit der Verfolgung der Propheten. W – Mt 23,29-37: Propheten und Gerechte getötet und verfolgt. Bildworte über das, was wirklich wichtig ist B – Mt 7,3: Bild vom Splitter und Balken. W – Mt 23,23f: Mücken aussieben und Kamele verschlucken.
109 Reinheit (das pharisäische Hauptanliegen) B – Mt 5,21-37: Thema ist die Überbietung der pharisäischen Reinheitsvorstellungen bei Mord, Ehebruch, Anstiftung zum Ehebruch und Schwören; Mt 7,6: gesegnetes Brot nicht an unreine Hunde geben. W – Mt 23,26: unreine Gefäße/unreines Inneres; Mt 23,27: Totengebeine und Unreinheit. Gutes oder schlechtes Beispiel für die anderen B – Mt 5,13-17: Stadt auf dem Berg, Licht der Welt. W – Mt 23,24: blinde Blindenführer. Herausragende Position innerhalb der Reden Jesu nach Mt B – Mt 5-7: Erste Rede Jesu. Mt 23-25: Letzte Rede Jesu in der Öffentlichkeit. Fazit: Bergpredigt und Weherede sind so eng miteinander verwandt, dass man davon ausgehen muss: Ihnen liegen gemeinsame mündliche Traditionen zugrunde. Es hat den Anschein, als lägen dieselben Stoffe und Motive in Mt 23 in einer zweiten (oder ersten) Ausfertigung vor. Gegenüber der Bergpredigt fehlt in Mt 23 vor allem die Erläuterung zur Freiheit von der Sorge (Mt 6) und die Traktate über Fasten, Beten und Almosen (Mt 6). Aber die Freiheit von der Sorge in Mt 6 hat ohnehin fast nichts mit den Pharisäern zu tun. Demnach liegt das religiöse Hauptproblem der Pharisäer nicht in falschen Lehren (oder mangelnder christologischer Dogmatik), sondern im Auseinanderfallen von Wort (Rede, Lehre) und Praxis. Der positive Aspekt im Blick auf das MtEv: In der Bindung an Jesus, der nun wirklich Lehrer und Vorbild in einem ist; also in der Nachfolge Jesu wird es leicht, Gottes Willen zu tun (Mt 11,28). Der negative Aspekt im Blick auf die Pharisäer: Wer so handelt wie sie, legt damit den Anfang zum Erkalten der Liebe und Verlust der Ordnung in der Welt. Deshalb ist Mt 23 der Anfang der apokalyptischen Szenerie, die dann in Mt 24 entfaltet wird. So weitet sich die Alternative ins Kosmische aus. Zur Rolle von Mt 24 innerhalb der Endzeiterwartung des MtEv gibt es eine Analogie, und zwar in der Offb: Die Briefe (Kap. 2-3) mahnen zur Umkehr, und ab Kap. 6 wird das Ende für die
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110 geschildert, die nicht umkehren. Der Gipfel des Unglücks wird mit den drei Weherufen in Offb 18,10.16.19 formuliert. Im MtEv entspricht dem: Die Kap. 5-22 sind Umkehrmahnung, ab Kap. 23-25 wird der Fall geschildert, dass Menschen der Predigt Jesu nicht folgen. Den Kontrast zwischen selig und wehe kennt auch die Offb (1,3; 22,7: Selig, die die Worte dieser Offenbarung bewahren) in Kontrast zu den Weherufen besonders in Kap. 18. Die Offenbarung erläutert ihr Programm an der Opposition der beiden Städte (Jerusalem/Rom), das MtEv am Kontrast von versagenden Juden und Heidenvölkern. Die Pharisäerkritik Jesu In Matthäus 23 lesen wir: »Wehe euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Scheinheiligen! Bei Minze, Anis und Kümmel führt ihr den Zehnten an den Tempel ab, doch bei dem, was nach dem Gesetz viel wichtiger ist, bei Gerechtigkeit gegen Mitmenschen, Erbarmen und Treue, seid ihr nicht so penibel …) Ihr seid blinde Blindenführer! Wenn eine Fliege in die Flüssigkeit gefallen ist, die ihr trinken wollt, schüttet ihr alles durchs Sieb, um sie zu herauszunehmen, doch Kamele schluckt ihr herunter. Die Oberfläche von Becher und Schüssel reibt ihr blank, doch innerlich strotzen sie von Habgier und Geilheit.« – Über Jahrhunderte war dieser Text Quelle für ein finsteres Bild vom Judentum. In der Reformation wurden die negativsten Aussagen auch auf die Katholiken bezogen. Besonders im MtEv ist Jesu Polemik gegen die Pharisäer ausgeprägt. Schon das Programm der Bergpredigt zielt darauf, die Pharisäer an Gerechtigkeit zu überbieten. Dann geht es Schlag auf Schlag: blinde Blindenführer, übertünchte Gräber und scheinheilig, Schlangen, Natterngezücht und Gesetzlose werden sie pauschal genannt. Dabei waren – historisch gesehen – die Pharisäer durchaus die »Frommen«, die dem Christentum besonders nahestanden, etwa im Auferstehungsglauben. Dabei nimmt innerhalb des MtEv die Pharisäerkritik zu, bis hin zu Kap. 23,1 ff. Gerade angesichts dieses Kapitels herrscht seit Jahren unter den Auslegern extreme Ratlosigkeit. Da das Kap. 23 besonders peinlich ist, spricht man es Jesus ab und teilt es ressentimentgeladenen Kreisen möglichst später Datierung zu. Aber auch dann bleibt rätselhaft, wie
Das Evangelium nach Matthäus
derartige Polemik zur »Religion der Liebe« passen soll. Die gegen die Pharisäer gerichteten Texte sind weder historische Berichte (die historische Wahrheit sah ganz anders aus) noch Vorlagen oder Zeugnisse für Gerichtsverhandlungen. Meiner Ansicht nach geht es nicht um die Verurteilung einzelner Menschen oder gar einer ganzen Gruppe; kein Pharisäer wird in die Hölle versetzt. Und keine Pharisäerkritik der synoptischen Evangelien tadelt den mangelnden Glauben an Jesus. Jesus tadelt vor allem den Spagat zwischen Wort und Tat, zwischen Schein und Praxis. Und er bedient sich dabei des Instruments der Karikatur, wie wir sie auch von anderen Zeugnissen des Humors Jesu her kennen. Wer die Kritik Jesu an den Pharisäern verstehen will, die alle vier Evangelien durchzieht, darf weder schlechten Gewissens wie die Katze um den heißen Brei schleichen (und versuchen, die Texte so oder so von Jesus wegzurücken), noch darf er sie wie gehabt einfach als Munition für den Antijudaismus verwenden. Man muss vielmehr unter allen Umständen versuchen herauszufinden, wie Jesus selbst, der Verkündiger des Evangeliums, der sein Volk liebte und den Pharisäern nahestand (wie später Paulus), solche Sätze hat sagen können – im Kontext des Evangeliums. Alles andere wäre billige Ausflucht. Ich bin dabei eher beiläufig im Zusammenhang mit der biografischen Frage nach dem Humor Jesu auf die Kategorie der Groteske und die Praxis der Karikatur gestoßen. Könnte es sein, dass wir hier wirklich einen einzigartigen und höchst originellen Zugang zu Jesus selbst haben, neben allem Erwartbaren zu den Themen Liebe und Gericht? Denn der Humor Jesu hat nachhaltige Spuren selbst noch in der deutschen Sprache hinterlassen, zum Beispiel im Wort vom Splitter und vom Balken. Ansatz beim Humor Jesu Das verbindende Stichwort zwischen Mt 23 und den Zeugnissen über Jesu Humor ist das Wort »Kamel«. Nach Mt 23 wirft Jesus den Pharisäern vor, dass sie Mücken aussieben, Kamele aber verschlucken. Nach Mk 10 geht eher ein Kamel durchs Nadelöhr, als dass ein Reicher in den Himmel kommt. Das Bild ist in beiden Fällen grotesk. Kamele waren für Jesus unelegante
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Kapitel 23
Monster, vergleichbar Schwertransportern auf der Straße. Jesus beobachtet die Menschen sehr genau. Er spießt die Schwachstellen auf, vergrößert sie wie mit der Lupe, färbt sie ein wie ein Mediziner einen Bazillus unter dem Mikroskop und zeichnet die Linien des Umrisses nach. Karikaturen verfahren ähnlich. Denn die karikierten Menschen sind keine Monster und leben mitten im Alltag als gewöhnliche Leute. Wenn eine Politikerin als Henne oder ein Politiker als Ziegenbock dargestellt wird, dann ist das gänzlich übertrieben. Alles Positive, das es auch noch gibt, wird verschwiegen. Karikaturen sind ungerecht, und zwar als Gattung. Sie sind nicht einfach nur lustig, denn es geht um Wahrheit. Karikaturen verdeutlichen das für die Entscheidung Notwendige. Man denke etwa an das Bild, das Jesus in Mt 7 gebraucht: Kein Mensch wirft Perlen vor die Säue; diese wären in einem solchen Falle vielmehr eher erbost statt glücklich. Wozu erzählt Jesus derartigen »Unsinn« dann? Um auf die differenzierte Regel hinzuweisen, dass Handlungen sich auch an ihrer Wirkung auf den Adressaten messen lassen müssen, nicht nur am guten Willen des Absenders. – Oder wenn Jesus sagt »Lasst die Toten ihre Toten begraben!«, so ist das ein makabrer Witz, schöner Stoff für eine Karikatur. In diesem Falle. Denn Karikaturen wollen vor allem aufmerksam machen auf unhaltbare oder widersinnige Fälle von Praxis. Bei den Toten, die Tote begraben, sagt er: Lasst die Welt der Pietät und derer, die sie repräsentieren, hinter euch! Karikaturen sind nicht lieb Karikaturen sind eine Form öffentlicher Auseinandersetzung. Um private Wut oder Abneigung geht es überhaupt nicht, auch nicht um einen Ersatz für andernfalls zu führende Prozesse. Karikaturen sind weder lieb noch gerecht. Sie vergrößern die Schwachstellen durch ihre Darstellung; sie sind ein Spiel, bei dem der Adressat die Pointe genau begreifen muss, sonst wird er leicht ungehalten. Jesus riskiert dieses Spiel, er wagt es; denn nur wer wagt, gewinnt. Oft fehlt auch heutigen Zeitgenossen freilich das Verständnis für die Gattung Karikatur. Dann hört man: »Ihre Rezension ist eine Karikatur.« – Es gehört zweifellos zu den Kühnheiten Jesu, die Gattung Karikatur – nicht grafisch, sondern rein
111 sprachlich verstanden – im Raum der Religion zu verwenden; prophetische Vorbilder dafür gibt es genug (Hosea 4,16; 7,8; Amos 6,13; Jes 8,3). Der Karikatur geht es nicht um eine betuliche Art von Nächstenliebe, sondern allein um die schonungslose Wahrheit. Der Maßstab ist nicht die lückenlose Dokumentation, sondern die ohne Karikatur sonst verschwindende und gar nicht gut sichtbare Schwachstelle am Gegenüber, die freilich lebenswichtig werden kann. Ein Karikaturist muss nicht jeden Tag zur Beichte gehen und sich wegen Lieblosigkeit anklagen oder weil er bei dem Karikierten »persönliche Gefühle verletzt« hat. Wenn Karikaturen sein Beruf sind – oder ein wichtiger Teil davon, dann darf er kein Verständnis haben für Menschen, die alles mit der Soße der billigen Nächstenliebe übergießen. Das Judentum und auch das frühe Christentum sind wesentlich Religionen mit unveränderlich prophetischem Kennzeichen. Da geht es nicht um irgendeine Wahrheit, sondern um die Wahrheit dieser Gottesverehrung. Die Wahrheit hat Vorrang. Der Sitz im Leben der Pharisäerkritik Jesu Nach allem, was wir erahnen können, waren die Unterschiede zwischen Jesus und den Pharisäern vergleichsweise gering, jedenfalls im Verhältnis zu Sadduzäern, aufgeklärten hellenistischen Juden und Zeloten. Doch gerade der kleine, insbesondere im Alltag kaum wahrnehmbare Unterschied macht es nötig, unmissverständlich klarzustellen, was Jesus über die Pharisäer hinaus »will«. Denn Jesus ist eine Art Reform-Pharisäer mit stark prophetischem Einschlag. So machen insbesondere die Weherufe in Mt 23 deutlich, was dem fehlt, der den Reform-Weg Jesu nicht mitgehen will. Jesus ist ein besonders »scharfer« Pharisäer, das kündigt Mt 5,20 an, und entsprechend sieht er scharf, und es ist geradezu überlebens-notwendig, die Differenz zu den Pharisäern darzustellen. Insofern ist Mt 23 ein Nachtrag zur Bergpredigt (s. o.), und zwar speziell zu Mt 5,20 (»Wenn eure Gerechtigkeit nicht besser ist als die der Pharisäer …«). Die Unterschiede werden um der Sendung Jesu willen »aufgeblasen« und drastisch dargestellt. Bei der Lektüre soll der Leser sagen: So scharf und klar hatte ich das bisher nicht gesehen. Aber es stimmt, diese Tendenz ist bei den Pharisäern
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112 vorhanden, Jesus hat diese Unterschiede aufgespießt. Dass es am Tun hapert gegenüber den Worten, ist fraglos bei jeder Frömmigkeit, die einen bekenntnishaften Charakter hat, auf die Dauer gesehen, ein großes Manko. Es ist leichter, auf das Wort Taten folgen zu lassen, wenn man in der Nachfolge Jesu steht – auch das lehrt das MtEv. Und deshalb steht Mt 23 auch direkt vor der Schilderung des Niedergangs der Ordnung der ganzen Welt in den Kapiteln über die apokalyptische Endzeit (Mt 24 ff): So wird es der Welt ergehen ohne Jesus, und das heillose Auseinanderklaffen von Wort und Tat bei den Pharisäern ist nur der Anfang. Nur die Nachfolge Jesu könnte es wenden. Wahrheit geht vor farbloser Liebe Die Polemik insbesondere von Mt 23 geschieht um der Wahrheit willen. Diese wird, gerade wegen ihrer Unscheinbarkeit, drastisch ans Licht gehoben. Wo es darauf ankommt zu zeigen, dass der pharisäische Weg in die Irre führt, wäre liebevolles Gewährenlassen das falsche Signal. Wer den Weg der Pharisäer geht, ist persönlich in Gefahr – das genau sagt die Pharisäerpolemik im MtEv. Für Jesus sind die Menschen in Gefahr, deren Lehrer er ist. Da kann er unter keinen Umständen gleichzeitig die Lehre der Pharisäer stützen. Auch für das JohEv, für Paulus und den Hebräerbrief wird es darum gehen zu sagen, weshalb die Sendung Jesu notwendig war und weshalb das Judentum ohne Jesus nicht ausreicht, sondern in der Heillosigkeit verharrt. Wer diesen Aspekt vergisst, macht die Existenz des Gottessohnes überflüssig und fällt hinter ihn zurück ins Judentum. Das war nichts Schlechtes, aber nicht das (vollendete) Heil, nicht die Erfüllung der Propheten. Wenn Jesus in diesem Sinne der Messias der Juden war und ist, kann das Christentum nicht aus falsch verstandener Liebe zu den Juden diese unterscheidende Wahrheit aufgeben. Denn es ist die Wahrheit der ersten Christen, die Judenchristen waren: eine ganz und gar jüdische Wahrheit. Am überzeugendsten haben Märtyrer diese Wahrheit dargestellt. Und Martyrium für die Wahrheit ist eine jüdische Erfindung.
Das Evangelium nach Matthäus
Mt 23,1-12: Scheinheiligkeit An den Gegnern lassen sich immer die Fehler der eigenen Gruppe gut erkennen. Daher beginnt Jesus mit einer Kritik an der Scheinheiligkeit der Pharisäer und Schriftgelehrten, um diese dann direkt auf den eigenen Jüngerkreis zu übertragen. So liegt in unserem Abschnitt eine Jüngeroder eine erste »Kleruskritik« vor. Es besteht kein Grund, dieses erst für nachösterlich zu halten. Vielmehr ist das Christentum von allem Anfang an reformbedürftig, und das gilt nicht zuletzt deshalb, weil Gott Maßstab und Gegenüber ist. Denn »Lehrer«, »Vater« oder »Lehrmeister« lässt sich jeder gerne nennen. Wenn einige dieser Titel in der Kirche dann doch verwendet wurden (Lehrer, Abbas/Abt, Heiliger Vater), dann war das immer riskant. Doch christlich wurden diese Titel im Sinne der Abbildung Jesu Christi oder Gottes verstanden (wie schon die kirchlichen Ämter bei Ignatius v. Antiochien), nicht als Konkurrenz wie in Mt 23. Gegenüber den selbsternannten Lehrern und Vätern leben die christlichen nur von der Bezogenheit auf Gott, den Vater, und auf Jesus Christus her. Verlieren sie diese Ausrichtung auf den einzigen Lehrer und Vater, dann verfallen sie dem Verdikt Jesu nach Mt 23. Christliche Lehrer und Väter sind und geben nur, was sie von dem einzigen Lehrer und Vater her haben. In einem ersten Stück (23,1-4) kritisiert Jesus die Abweichung der Taten von den Worten. Das nennt man übrigens Scheinheiligkeit und nicht Heuchelei. Denn wer heuchelt, gibt vor, etwas zu tun, was er gar nicht ausführt und will (wie Judas mit seinem Freundeskuss). Da ist die Oberfläche ein irreführendes Zeichen; denn eine Handlung wird nur simuliert, äußerlich nachgestellt. »Scheinheilig« dagegen ist eine moralische Bewertung: Etwas wird als heilig dargestellt, was in Wirklichkeit böse ist. Hier geht es nicht um die Identität, den Charakter oder die Sorte der Handlung wie beim Heucheln, sondern um deren Qualität vor Gott, um die moralische Tiefenstruktur. Daher sind die Pharisäer nicht Heuchler, denn sie wollen ja eindeutig das tun, was sie behaupten. Sondern sie sind scheinheilig, weil sie gut zu sein beanspruchen, aber böse sind. – Im Übrigen beansprucht Jesus mit diesem Urteil keine historisch exakte Klassifizierung des gesamten Pharisäertums – er selbst
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Kapitel 24
lässt sich z. B. von Pharisäern einladen und wirbt geradezu um sie, steht ihnen auch sonst in einigen Grundanliegen (Reinheit!) nahe, auch wenn er andere Lösungen findet. Nein, Jesus misst hier mit Gottes Maßstab. Man darf da an Paulus erinnern, der ohne Zögern von sich sagen kann, er sei als Pharisäer nach menschlichen Maßstäben perfekt gewesen, doch eben vor Gott ganz und gar nicht (Phil 3,6). – Aber wie soll der Abstand von Wort und Tat überwunden werden? Der Evangelist Matthäus schreibt eben deshalb sein Evangelium, um zu sagen: Blickt nur auf Jesus und seinen Weg, schließt euch ihm an. Es wäre freilich nicht recht, wenn man das ganze Kapitel Mt 23 nur unter Kleruskritik einordnet. Auch die Pharisäerkritik ist nicht zu beschönigen und hat zur Zeit des Mt einen ernsten kirchenpolitischen Hintergrund. In einem zweiten Abschnitt (23,5-7) offenbart Jesus eine große Scheu vor der Sichtbarkeit, ähnlich in der Bergpredigt (Mt 6,1-18). Frömmigkeit ist kein Mittel der Selbstinszenierung, sondern der Christ soll teilhaben an der Verborgenheit Gottes. Jesus meint den Zusammenhang von Verborgenheit und herrlicher Zukunft. Wer jetzt sein Ansehen genießt, verschenkt seine Zukunft. Doch gewiss wäre es auch derselbe Fehler, nur andersherum, wollte man sich jetzt künstlich unscheinbar machen (Mt 6,16). Zum nicht vorhandenen Gegensatz zu Mt 5,15 vgl. dort. Denn wo alle Geschwister sind und nur einer der Herr ist, liegt das Gewaltmonopol bei dem einen Herrn. Unter Geschwistern ist niemand dazu berechtigt, sich auf dem Weg der Anwendung von Gewalt zum Herrn über einen anderen zu machen. Daher ist der Gewaltverzicht jedenfalls im Grundsatz eine direkte Konsequenz aus dem ersten Gebot. Jede maßlose Gewaltanwendung zu egoistischen Zwecken ist ein direkter Verstoß gegen das erste Gebot. Wir beobachten bei Jesus hier und auch sonst eine merkliche Konzentration auf das erste Gebot. Diese Absicht wird vor allem in seiner Verkündigung der Herrschaft Gottes greifbar, aber eben auch die Haltung gegenüber so verschiedenen Größen wie »persönlicher Ehrgeiz« oder »Gewalt« wird aus diesem Grundansatz begreiflich.
Mt 24-25: Endzeitliches In der Komposition des MtEv nimmt Mt 24f den Ort der synoptischen Apokalypsen ein, denn es steht am Schluss des öffentlichen Wirkens Jesu. In sich selbst ist der Abschnitt Mt 24f wiederum entsprechend gegliedert. Denn eine große und zusammenfassende Schilderung des Weltgerichts steht am Ende (Mt 25,31-46). Zunächst bietet Mt 24 Material, das wir auch bei Mk 13 finden. Die Besonderheiten von Mt 24 halten sich zunächst in Grenzen. Immerhin ist in 24,3 die Rede von »deiner Parusie«, und »Parusie« ist ein Leitbegriff, der sich in 24,27.37.39 (»P. des Menschensohnes«) wiederholen wird. 24,10-12 gibt eine intensiv gemeindebezogene Deutung der kommenden Notzeiten. Denn nach der in 24,9 geschilderten Verfolgung werden »viele Anstoß nehmen«, d. h. sie werden abfallen (vgl. Mt 18,6f), bei den Falschpropheten ist offensichtlich von christlichen Irrlehrern die Rede; denn die »Liebe der vielen«, die erkaltet, gibt es ähnlich in Offb 2,4 (»dass du die Glut der ersten Liebe hast erkalten lassen«); 3,15f (lauwarm). Ab 24,22 beginnt explizit das Thema Zeit, das bis Kap. 25 inklusive tonangebend wird. Von 24,26 bis 25,46 werden folgende Aspekte die Komposition des Mt bestimmen: 1. Alle Texte sind auf ein Ende der Zeit ausgerichtet, auf einen Tag, eine Stunde, in der oder an dem – oft unerwartet oder verspätet – Parusie, Gericht oder Rechenschaft angesagt ist, weil der Herr bzw. der Menschensohn »kommt« bzw. wiederkommt. 2. In der Zwischenzeit bis dahin, also im »Jetzt« der Komposition des Evangeliums, kommt es darauf an, dass die Abhängigen sich bewähren, zum Beispiel dadurch, dass sie das Ende nicht aus dem Auge verlieren, viel Phantasie aufbringen, um den unerklärten Willen ihres Herrn zu tun oder ihre Mitsklaven nicht zu peinigen. 3. Es ist dann oft von dualistischer Scheidung die Rede (Gute gegen Böse; Schafe gegen Ziegen). 5. In der Zwischenzeit kommt es darauf an zu wachen, bereit zu sein, sich durch die Verzögerung nicht irritieren zu lassen. »wachen«: 24,41.43; 25,13; verzögern: 24,48; 25,5. 6. In den Bildern (Gleichnissen) findet sich oft die Gegenüberstellung (Haus-)Herr/Sklave oder Hausherr/Dieb.
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114 Sozialgeschichtlich spiegelt Mt 24f die Situation von radikal Abhängigen, also im Wesentlichen von Sklavinnen und Sklaven. In diesem Bild wird hier das Gottesverhältnis erfasst.
Mt 24,37-44: Wachsamkeit Die gemeinsame Schnittmenge zwischen Röm 13,11-14 und Mt 24,(29).37-44 sind folgende Stichworte: »Nacht« und »Tag«, die »Stunde«, aufstehen vom Schlaf oder wach bleiben. Der »Tag« ist der Tag des Herrn, also die Stunde der Wiederkunft Jesu Christi. Die Nacht steht für die gegenwärtige Welt und Zeit. Für die Bibel Alten und Neuen Testaments (und für die Liturgie der Kirche) beginnt der Tag mit dem Abend. Das ist ganz grundlegend auch für das Verständnis des Daseins und der ganzen Weltgeschichte. Denn die Zeit des Dunkels, des Leidens, der Ängste und Zweifel, der Kälte und des Sterbens geht je voraus. Erst aus diesem Dunkel wird das Licht geboren. Das Morgenrot bekommt einen ganz anderen Stellenwert in der Symbolik der Zeit – auch Texte, wonach Jesus Christus der Morgenstern ist, bis hin zu Gerhart Hauptmanns Stück »Vor Sonnenaufgang«. Jeder Tag wird so zum Abbild des Tages des Herrn. Und es kommt darauf an, an diesem Tag früh dabei zu sein, um das Licht ganz auszuschöpfen und um die eigenen Wege auf das Licht einzustellen. Diese Symbolik von Nacht, Licht und Tag ist für mich auch die entscheidende Antwort auf die Theodizeefrage. Im Zentrum der beiden Texte Mt 24 und Röm 13 steht das Wachen bzw. das Aufstehen vom Schlaf. Beides meint dasselbe: Beide Bilder haben ihren Ursprung im Tempelgottesdienst in Jerusalem, im Gotteslob am Morgen. Denn wer wacht, um den Anbruch des Tages zu erleben, der sehnt sich förmlich danach, mit dem Licht des neuen Tages Gott zu begrüßen und zu loben. Man lese etwa Sir 39,6: »Für den Herrn in der Morgendämmerung zu wachen …, und betet im Angesicht des Allerhöchsten.« Jesus lässt das Wachen zum Bild für die gesamte christliche Existenz werden. Wachen bedeutet bei ihm Sensibilität für Menschen und Dinge. Das Gegenteil ist Schläfrigkeit und Dahindösen, mangelndes Dabeisein und Abschieben der Verantwortung.
Das Evangelium nach Matthäus
Zum anderen deutet Jesus den Morgen des Tages und den Tag überhaupt konsequent auf das »Ende« (der Welt). Jeder Tag bildet im Vorhinein Gottes Kommen, den Tag des Herrn, ab. Für das Judentum gibt es die ausgeprägte Symbolik der vier heiligen Nächte, die alle eins sind: die Nacht, in der das Licht erschaffen wurde, die Nacht, in der Gott mit Abraham den Bund schloss, die Passahnacht und die Nacht der Ankunft des Messias. Immer folgt hier auf das menschliche Dunkel das göttliche Licht. Es fällt auf, dass in Mt 24 wie in Röm 13 fast jedes tröstliche Wort fehlt, auch jede Erinnerung an das geschehene Heil. Es gilt in der Tat: Endzeitpredigt ist »nervend«. Sie setzt einfach voraus, dass wir Hörer des Wortes schläfrig und nicht bereit sind und durch das plötzliche Ende aufgeschreckt werden. Denn auch das Wie des Kommens ist größtenteils unklar. Wenn die Gestirne ihren Dienst versagen, wird es vor allem dunkel (Mt 24,29). Das Zeichen des Menschensohnes, das am Himmel erscheinen wird, ist übrigens nicht das Kreuz (so aber im apokryphen PetrusEv), sondern die lichte Wolke, die als himmlisches Fahrzeug auch nach Apg 1 schon ankündigen wird, dass der Herr ebenso wiederkommt, wie er weggegangen ist, nämlich mit der Wolke. Am zumeist klaren Himmel Palästinas sind Wolken durchaus Besonderheiten. Nun ist Jesu Rede in Mt 24, wenn man sie genau liest, leicht verwirrend, da sie in der Frage der Datierung des Endes zwei gegenläufige Tendenzen enthält: Bis V. 34 inklusive wird gesagt, dass das Ende bald kommt, nach V. 34 noch in dieser Generation. Dann aber heißt es, dass das Kommen des Endes doch eigentlich unberechenbar ist. Nach 24,48 kann einer sogar sagen: »Mein Herr bleibt länger aus.« Diese Widersprüchlichkeit beleuchtet nur zwei Aspekte der Zukunftserwartung: Dass das Ende bald, sehr bald kommt, dient der Absicht, die Menschen überhaupt aus der Lethargie aufzuwecken, die Vorbereitung auf das Ende nicht immer wieder aufzuschieben. Dafür wagt der Sprecher eine relative zeitliche Genauigkeit in der Terminangabe. Dabei meint der Ausdruck »dieses Geschlecht« nicht, wie wir annehmen möchten, eine Dauer von dreißig Jahren oder die Zeit, bis der letzte der jetzigen Zeitgenossen gestorben ist. Vielmehr
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Kapitel 25
meint die Redewendung eher eine moralisch negative Bewertung und enthält damit auch den Bezug zum Gericht, also in dem Sinne: »dieses Pack, das reif ist für das Weltgericht«. Daher stöhnt Jesus auch wiederholt über »dieses Geschlecht«. – Die zweite Aussage aber, dass der Termin für das Gericht unvorhersehbar sei, warnt mit dieser Aussage vor einer berechnenden Hektik, die sich auf das Morgen konzentriert. Nein, zu jeder Zeit kann der Herr kommen. Man weiß überhaupt nicht, wann das sein wird. Fazit: Aufschieben der notwendigen Änderung hilft nicht, auch schafft das Berechnen keine Freiräume, welcher Art auch immer. Vielmehr kommt das Ende jederzeit und nicht irgendwann später. An die Christen ergeht der Ruf, unverzüglich und in steter Anspannung zu handeln. – Man kann fragen: Wie geht Jesus hier mit den Zukunftsängsten der Menschen um? Diese werden in die Gegenwart verschoben. Üblicherweise haben Menschen davor Angst, nicht zu wissen, was kommt. Darüber aber gibt alle Apokalyptik bereitwillig Auskunft. Und die Menschen wissen auch genau, was zu tun ist, um dem Gericht zu entkommen. Die Ungewissheiten über den Ablauf der Endereignisse zu klären, wäre für das Handeln der Menschen wenig hilfreich. Denn das haben sie schon oft gehört. Viel einschneidender dagegen ist die Ungewissheit des Wann. Denn das nötigt zu sofortigem Handeln.
Mt 25,1-13: Von den klugen und dummen Mädchen In unserer Bibelübersetzung (Berger/Nord, Das Neue Testament, 1999) sprechen wir hier nicht von den »törichten Jungfrauen«, sondern von den »klugen und dummen Mädchen«, um nicht ein bisweilen lächerliches Jungfern-Bild festzuschreiben. Übrigens ist sachlich auch nicht von Brautjungfern die Rede; denn es ist der Bräutigam, der dadurch gewinnen will, dass nette junge Damen sein Ehrengeleit bilden. Der Text gehört zu den Skandalgleichnissen. Denn der Bräutigam verfährt mit den jungen Damen unverhältnismäßig hart. Er, der zu spät kommt, hat es sichtlich nicht nötig, sich zu entschuldigen, und nimmt es doch anderen übel, dass ihre Lampen nicht für sein Ausbleiben
115 reichten. Er schickt die eine Hälfte der zur Hochzeit eingeladenen jungen Damen nachts einfach weg. Der Bräutigam behauptet gar, diese Frauen gar nicht zu kennen. Diese unverhältnismäßige Härte im Verhalten des Bräutigams zeigt, wie ernst die Mahnung ist, seine Bereitschaft zum Wachen dadurch zu erweisen, dass man von vornherein genug Öl mitbringt. Dann kann man auch ruhig schlafen, was ja auch die klugen Frauen tun. Warum ist der Bräutigam so unhöflich? Unter den Voraussetzungen der Alltagswelt, in der Jesus lebt, ist dieser Bräutigam ein Flegel. Wegen dieser Unhöflichkeit ist Mt 25,10-12 ein Skandalgleichnis. Ist das Christentum eine Religion der bösen Überraschungen? Jedenfalls für Menschen mit schläfrigem Gemüt. Die mitleidslose Strenge macht deutlich, dass das Gericht streng und radikal ist. Nichts wird geschenkt. Wer nur etwas Öl mitnimmt, hat soviel wie gar nichts. So hieß es schon in verwandten Gleichnissen: Wer hat, dem wird gegeben; wer wenig hat, dem wird auch das Wenige noch genommen. Wegen dieser strengen Seite gehört das Gleichnis zu den Gerichtsgleichnissen. Aber was soll nun das Öl bedeuten? Steht das Öl für die Liebe, weil kurz zuvor, in Mt 24,12, von erkaltender Liebe die Rede ist, also auch von etwas, das langsam zu Ende gehen kann wie Öl? Oder geht es um Geduld (vgl. Mt 24,13)? Oder ist mit dem Öl der Glaube gemeint, der sich ja auch in der Dauerhaftigkeit bewähren muss? Auch im folgenden Gleichnis von den Talenten gibt der Hausherr (Jesus) beim Weggehen keinen konkreten Auftrag. Das Öl der Lampen steht jedenfalls nicht für blinden Aktivismus; denn schlafen dürfen nach diesem Gleichnis beide Gruppen Frauen. Es geht um Reserven, die reichen müssen für das Leben. Ist das Öl, das wir jetzt bunkern sollen, ein Bild für die Gleichnisse Jesu? Das Gleichnis vom Öl wäre dann zuerst ein Gleichnis über Gleichnisse wie beim Schriftgelehrten nach Mt 13, der Altes und Neues hervorholt aus seinem Schatz, wie beim Sämann nach Mk 4. Immer wieder wird in den ostkirchlichen Totenliturgien (H. J. Becker/H. Ühlein, Liturgie im Angesicht des Todes I-II, St. Ottilien 1997) das Bild der 10 Mädchen gebraucht, besonders in Liturgien für Frauen; für Frauen und Männer gibt
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116 es in einzelnen Kirchen wie selbstverständlich getrennte Rituale. So bittet man Gott z. B. nach dem ostsyrisch-chaldäischen Ritus für eine verstorbene Christin: »Mit den klugen Jungfrauen rufe deine Tochter in dein Brautgemach. – Gelobt sei Christus, der Bräutigam in den Höhen und das Licht der Gerechten, bei dessen Ankunft die klugen Jungfrauen jubeln und frohlocken. Alle Frauen in Betanien riefen aus und sprachen: Gelobt sei Christus, der die Toten aus ihren Gräbern heraus zurück zum Leben führt. … Unser Herr erfreue dich im Brautgemach seines Königreiches.« Andererseits sagt man in den Liturgien der Ostkirchen: In dieser Stunde, wenn der Bräutigam kommt, kann nicht einmal ein Engel ihn umstimmen, wenn das Tor verschlossen und der Vorhang im Heiligtum zugezogen ist. In der westsyrisch-antiochenischen Liturgie heißt es: »Alle Verstorbenen werden sich mit brennenden Lampen erheben, um mit dem Bräutigam in das Brautgemach eintreten zu können.«
Mt 25,14-30: Gleichnis von den Talenten Der Herr in diesem Gleichnis belohnt und bestraft nach freier Willkür. Er fordert, was er gar nicht in Auftrag gegeben hat – jedenfalls nicht ausdrücklich. Er kann doch froh sein, dass der dritte Sklave das anvertraute Geld nicht verschleudert hat! Aber nein, er ist nicht froh. Er hätte Zins und Wucher erwartet. Er kann nur den belohnen, der gewinnbringend investiert. Er muss daher hart sein gegenüber dem, der nach seinen kapitalistischen Maßstäben versagt. Schon zu Anfang schätzt er seine Untergebenen richtig ein; dem potentiellen Versager hat er auch weniger anvertraut. Er weiß das Geschäftsrisiko zu begrenzen. Und dann wirft der Herr dem Sklaven auch noch vor, er habe ja gewusst, was für einen Herrn er hat: einen Herrn, dem es nicht auf braves Bewahren, sondern auf Kapitalwachstum um jeden Preis ankommt, auch um den leibhaftigen Preis von Mitarbeitern. – Nichts tröstet angesichts dieses gnadenlosen Gerichtes. Man kann das alles sagen und kann sich über dieses Gottesbild empören. Doch das ist erst die eine Seite. Denn angeredet mit diesem Gleichnis sind doch Menschen. Und der so von Gott spricht, will zugleich etwas über Gottes Gegenüber, die Men-
Das Evangelium nach Matthäus
schen, sagen. Nicht Höchstleistung an sich ist hier das Ziel, sondern es geht um das Zusammenspiel mit diesem Gegenüber. Jesus sagt etwas über Gott und Mensch zugleich: im Sinne eines Spiels mit sehr verteilten Rollen. Worin liegt der Sinn von Gottes radikaler Forderung? Der Herr sagt es selbst von sich: »Ich ernte, wo ich nicht gesät habe« (Mt 25,26b). Genau das Umgekehrte aber soll der Sklave tun. Er soll säen, damit der Herr ernten kann. Der Herr handelt gerade nicht kreativ und produktiv, er sahnt nur ab und fordert. Um solchermaßen er selbst sein zu können, braucht er ein Gegenüber, das ganz anders, das ganz gegenteilig ist. Er ist hier der gnadenlos Fordernde, der Sklave dagegen ist zu reicher Phantasie angehalten. Das findet sich auch anderswo in der Botschaft Jesu. Gott wird dereinst vergelten, dann wird die Rache auf seiner Seite sein – doch alles das, richten und Rache üben, soll der Mensch gerade nicht tun. Und so ist es hier: Phantasie und Produktivität zeigt dieser Herr nicht, nicht er muss überlegen, was er mit seinem Geld macht – das ist vielmehr Sache der Sklaven. Er selbst ist verreist. Gott ist der andere. Hier geht es einmal nicht um Entsprechung zu Gott oder um seine Nachahmung, sondern um die Entgegensetzung. Gott ist dem entgegengesetzt, was er vom Menschen fordert. Welchen Sinn hat es, so von Gott und Mensch zu reden? Nur als der andere reizt Gott uns zum Eigensten. Nicht als der Phantasievolle fordert er Phantasie. Sonst würden die Menschen erdrückt. Gott ist nicht immer nur Vorbild, er kann auch der ganz andere sein. Allerdings geht es nicht um eine Verschiedenheit von Partnern auf gleicher Ebene, sondern als der »Herr« reizt er die Menschen, fordert er sie heraus zur Wahrnehmung ihrer eigenen Aufgabe (bei Texten über die Ähnlichkeit von Gott und Mensch steht dagegen eher der »Vater« im Vordergrund). Die Abwesenheit des Herrn ist die Chance zur Mündigkeit der Menschen. Vielleicht hat alle Rede vom Kommen Gottes und dass er noch nicht da ist, auch diesen Sinn: Dass Menschen noch, in ihrer begrenzten Zeit, das Feld ihrer eigensten Verantwortung wahrnehmen können und müssen. Wobei ganz klar ist: Nur eine Radikalität, die sich auf Gott gründet, kann bleiben. Zwei Merkmale hat das Wirken der Menschen auf eigenem Feld nach diesem Gleichnis. Es ist
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von ekstatischer Radikalität, und es geschieht ohne (formellen) Auftrag. Denn Gott fordert gerade dort, wo er keinen Auftrag gibt, wo kein Gebot hinreicht. Ist er jetzt nicht da, dann müssen die Menschen selbst überlegen und handeln. Die Bergpredigt zeigt exemplarisch Satz für Satz diese weit über alles formell Gebotene hinausgehende Radikalität als Haltung, um Gottes Willen zu ergründen. Der Sklave sollte den Willen seines Herrn kennen und erahnen, was er will. Er soll ihm den Wunsch von den Augen ablesen können. Das ist weitaus mehr, als was in Geboten zu fordern wäre, und vorausgesetzt ist ein sehr viel innigeres Verhältnis zwischen Sklave und Herrn als bei ausdrücklichen Befehlen. Sind wir hier am Nerv des Gleichnisses, der direkt auf Jesus selbst weist? Der Sklave sollte ohne Weisung den Willen seines Herrn erfüllen. Mit dessen Zielen soll er konform sein, gerade wenn er ihm nicht ähnlich ist. Und welches sind Gottes Ziele? Dass sein Wille nicht nur im Himmel, sondern auch auf Erden getan werde. Und dass der Mensch sein Christentum nicht für sich selbst behält, sondern durch sein Tun andere überzeugt und so mit den anvertrauten Gaben wuchert. Ich nenne diese Radikalität ekstatisch, denn Dienst nach Vorschrift genügt hier nicht. Dann wären die Menschen nur solche, die alles ordentlich bewahren. Dass Menschen darüber und über sich selbst hinausgehen müssen, nenne ich ekstatisch. Denn nur wer aus sich herausgeht, wird er selbst. Jesus sagt in diesem Gleichnis: Wenn ihr selig werden wollt, dann lasst euch von dem fordern, der bisweilen dieses »immer noch mehr« von euch will. Denn so könnt ihr euer eigenstes Feld bestellen, eure und nicht seine Aufgabe wahrnehmen. So ist die gnadenlose Strenge des Bankers nichts anderes als die Strenge, mit der Menschen aufgefordert sind, angesichts des geheimnisvollen Gottes selig zu werden, sich selbst nicht zu verlieren. Es geht um Leben und Tod oder um das Himmelreich.
Mt 25,31-46: Das Weltgericht Ein abgebrühter Kerl, ein hartgesottener Sünder hat ein dickes Fell, und ihn kann nichts mehr rühren. Jesus redet zu solchen Leuten und versucht es hier mit der extremsten Form des Imperativs. Er
117 bettelt nicht, sagt nicht, die Jünger sollten doch bitte zu Fremden, Hungernden und Nackten freundlich sein, weil sie alle Menschen sind. Jesus packt die Hartgesottenen von einer überraschenden Seite her. Stellt euch vor, sagt er, ich käme selbst. Würdet ihr da nicht ganz schnell alle Armut beseitigen? Jesus greift ganz in diesem Sinne zu einem letzten, äußerst beunruhigenden Mittel, wenn er sagt: Ich erkläre mich hiermit bedingungslos solidarisch mit jeder gescheiterten Existenz. So ist keiner mehr sicher vor ihm, denn die Menschen haben an jeder Straßenecke Gelegenheit, dem Weltenrichter selbst zu begegnen: Alles, was immer irgendein Mensch einem anderen tut, der in Not ist, das hat er Jesus getan. Gebende wie Empfänger müssen keineswegs unbedingt Christen sein. Wo immer jemand ihm, dem Weltenrichter, Erbarmen schenkt, wird er Erbarmen empfangen. Denn anders als in 25,40 (»meine Brüder«) ist in 25,45 nur noch von den »Geringsten« überhaupt die Rede; das ist ganz anders als in Mt 10,42 (»Jünger«). Der einzige Vorteil, den Jesu Jünger in dieser Situation vor anderen haben, ist dieser: Sie wissen um die Kriterien des Weltgerichts. Nur für sie werden die Maßstäbe des Gerichts nicht überraschend sein. Den Jüngern hat der Richter selbst den Geheimcode des Weltgerichts verraten: Es können die Menschen aller Völker und gleich welchen Bekenntnisses durch den Spruch des Gerichts in den Himmel gelangen, wenn sie Barmherzigkeit üben. Doch zwei Einschränkungen gibt es: Erstens kommen sie nicht ohne Jesus »in den Himmel«, denn niemand anders als er ist der Menschensohn und Richter. Zweitens sagt Jesus nichts über eine Berechtigung fremder Religionen als Heilsweg. Nach biblischem Verständnis gibt es einen Weg zum Heil weder außerhalb von Gott noch (das gilt für die Perspektive der missionierenden Gemeinde) außerhalb von Jesus, vgl. Joh, 14,6. Gottes Absicht ist es, in der Welt durch Barmherzigkeit seine »Gerechtigkeit« durchzusetzen. Jeder, der daran mitarbeitet, ist Gott ähnlich und steht seinem Reich nicht fern. Jesus fordert im Namen der Gerechtigkeit Gottes lediglich dieses: schreiende Not zu beseitigen. Nur wer barmherzig ist wie Gott selbst, kann vor ihm bestehen. Die Sendung Jesu und das ganze Christentum dienen nur diesem einzigen Zweck und werden
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118 nur an ihm gemessen. Gottes Wille ist eine universale Gerechtigkeit im Sinne der Konvivenz, d. h., dass einer dem anderen die Möglichkeit gibt, mit ihm zusammenzuleben, d. h. das Zusammenleben mit ihm auszuhalten. Unmissverständlich spricht dieser prophetische Text auch vom negativen Ausgang. Dabei ist übrigens die Scheidung zwischen Gerechten und Ungerechten nicht eine zwischen Schafen und Böcken, wie immer wieder übersetzt wird: »Böcke« sind nicht der Gegensatz zu »Schafen«, vielmehr wird geschieden zwischen (weißen) Schafen und (in Palästina schwarzen) Ziegen. Die Höllenaussagen halten den Spiegel vors Gesicht. Sie sind Bilder, aber nicht nur das. Sie haben appellativen, dringlich auffordernden Charakter, aber wir dürfen sie nicht auf diese Funktion beschränken. Die Aussagen über die Hölle stellen »paradoxe Interventionen« dar, sie schildern etwas, damit es nicht kommt. Aber sie sind nicht leere Aussagen. Sie sind nicht bloße Drohungen, und die Botschaft Jesu wäre nicht fair, wenn sie nur zum Zweck der Annahme der Botschaft das Inferno an die Wand malte. – Was wäre, wenn es in der jüdisch-christlichen Religion wirklich eine legitime Angst vor Gott gibt, die darin ihren Grund hat, dass Gott vielleicht wirklich auch ängstigend ist? Spiegel wollen diese Aussagen sein: Stell dir vor: Das, was du jetzt mit anderen vorhast, würde dich selbst treffen. Stell dir vor, du wärest Opfer, nicht Täter – würdest du da nicht vom Tun absehen? Stell dir vor, deine Tat würde dich »ganz kalt« einholen. Mit Gott hat das nichts zu tun. Nichts liegt ihm ferner als die Hölle. Freilich: In gewissem Sinne ist er Garant für Gerechtigkeit, dass auf ein Tun eine entsprechende Antwort erfolgt. Aber er ist nur dann dieser Garant, wenn man der von ihm gebotenen Möglichkeit, die Folgen eines unbarmherzigen Tuns barmherzig aufzuheben, selber in seinem Leben mit anderen nicht folgen will und Gottes Angebot, Sünden zu vergeben, ihm »ungelesen« zurückgibt.
Mt 26-27: Der matthäische Abendmahlsbericht und Jesu Leidensweg Alle christlichen Liturgien setzen bei dieser MtFassung an, die als einzige die Vergebung der
Das Evangelium nach Matthäus
Sünden verheißt. – Die syrische Anaphora Timothei Alexandrini (ed. A. Raes, 25) z. B. interpretiert: »Ebenso ist das in diesem Kelch Gemischte das Blut des Neuen Bundes, lebendig machendes Blut, heilsames Blut, himmlisches Blut, Blut, das rettet unsere Seelen und unsere Leiber, Blut des Herrn und Gottes und unseres Erlösers Jesus Christus zur Vergebung der Sünden und zum ewigen Leben Amen.« Einführung in die Passion nach Matthäus Die Matthäuspassion weist gegenüber den anderen Evangelien (inklusive PetrusEv bei Berger/ Nord, 2005, 675 ff) folgende wichtige Besonderheiten auf: Die positive Rolle von Frauen in der Passion wird gestärkt. Die Frau des Pilatus weist auf Jesu Unschuld, die Mutter der Zebedaiden Johannes und Jakobus steht beim Kreuz, und nach Mt 28,9f erscheint Jesus zwei Frauen. – Matthäus verstärkt Elemente aus der biblischen Tradition des leidenden Gerechten (in 27,43: Zitat aus Ps 22,9; in Mt 26,15 und 27,9: 30 Silberstücke aus Sach 11,12f). Die herausfordernden Worte unter dem Kreuz werden so formuliert wie die Versuchung durch den Teufel (vgl. Mt 4,3.6: »Wenn du der Sohn Gottes bist …« mit Mt 27,40 bei entsprechender Formulierung). Indem Jesus die Versuchung übersteht, erweist er seine Legitimität. – Jesus wird wie schon in den vorangehenden Kapiteln dieses Evangeliums dargestellt als sanft und gewaltlos: Nachdem dem Sklaven des Hohenpriesters ein Ohr abgeschlagen wurde, befiehlt er, das Schwert wieder einzustecken, »denn alle, die ein Schwerrt in die Hand nehmen, werden durch das Schwert umkommen« (Mt 26,52). Jesus verzichtet auf Hilfe durch zwölf Legionen Engel. – So wird er zum Beispiel der eigenen Botschaft, sich gegen das Böse zu wehren (vgl. Mt. 5,39-44). Das wird insbesondere dadurch erreicht, dass Jesus als Gerechter dargestellt ist – die Gerechtigkeit gilt ja nach Mt als das vor Gott allein gültige Kriterium. So laufen alle bisher beobachteten Besonderheiten in dieser einen zusammen. Besonders deutlich wird das an dem nur bei Matthäus belegten Satz aus dem Mund des Pilatus: »Unschuldig bin ich an diesem Blut« (27,24) und an dem Eingeständnis des Judas: »Ich habe gesündigt, da ich unschuldiges Blut auslieferte« (27,4). – Nur bei Matthäus findet sich der berühmte Satz: »Sein Blut komme über
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Kapitel 26
uns und unsere Kinder!« (27,25). – Dieser Satz bedeutet: »Wenn er unschuldig ist, soll uns und unsere Kinder dieselbe Strafe treffen wie ihn. Denn dann übernehmen wir mit unserem Leben die Verantwortung für diese Hinrichtung.« Dieser Satz bedeutet im Übrigen keinen Freibrief für jahrhundertelange Judenverfolgung, sondern ist nach Matthäus schon in der Zerstörung Jerusalems im Jahre 70 in Erfüllung gegangen. Denn Jesus sagt in Mt 23,35: »Strafe wird über euch kommen für alles unschuldige Blut, das auf der Erde vergossen worden ist … die Strafe wird über diese Generation kommen!« Die eigentliche Sühne jedenfalls für alle Mordtaten auf Erden ist nicht der Tod Jesu, sondern die Zerstörung Jerusalems im Jahre 70. Matthäus bringt besondere Nachrichten über Judas und sein Geschick. Nur Matthäus kennt die 30 Silberlinge und begründet sie in der Schrift. Und als Judas sieht, wie Jesus den Händen des Pilatus übergeben worden ist, da bricht er zusammen, erkennt seine Schuld und erhängt sich (27,1-5). Offenbar hatte er Jesus nur den jüdischen Autoritäten ausliefern wollen, wohl nicht in den Tod, sondern damit sie sich ihn zur Brust nähmen. Als er aber Jesus in der Gewalt des Pilatus sieht, ist für ihn klar, dass dieses mit dem Tod Jesu enden wird. Nur Mt berichtet, dass Judas sich erhängt und dass von seinem Geld ein Begräbnisplatz für Fremde gekauft wird. Nur bei Matthäus und im apokryphen PetrusEvangelium gibt es die Nachricht, dass Jesu Grab durch Wächter gesichert wird. So werden dann zu Ostern seine Feinde wider Willen zu Zeugen seines Triumphes der Auferstehung. Eine absolute Besonderheit bei Matthäus ist die Notiz, dass beim Tod Jesu die Felsen sich spalteten und verstorbene Gerechte herauskamen, die nach der Auferstehung auch Leuten in der Stadt erschienen (27,52f). Hier handelt es sich offenbar um ein theophanes Prodigium, d. h. der Tod Jesu ist eine derartige kosmische Erschütterung, dass die Erde reagiert wie kurz vor dem Kommen Gottes: Sie gibt die ihr anvertrauten Toten zurück. Ähnliches wird ja auch am Ende der Zeiten bei der allgemeinen Auferstehung geschehen: Wenn Gott kommt und weil Gott kommt, gerät die Erde so in Erschütterung, dass sie nicht bei sich behalten kann, was ihr nicht gehört und was ihr nur anvertraut ist. Das ist so ähnlich wie Frühgebur-
119 ten bei Gewitter. Man kann das nicht mehr halten, was man auf Zeit anvertraut bekommen hat. Die Erde gibt verfrüht das wieder, was sie erst am Ende herausgeben sollte. Die Erschütterung beim Tod des gerechten Jesus hat deshalb theophanen Charakter, weil das größte Verbrechen sofort auch Elemente von Gottes Gericht auf den Plan ruft. Gott wird angesichts solchen Unrechts ganz sicher bald kommen, und ein Vorgeschmack ist diese Totenauferweckung. Das Gericht kündigt sich an. Auch bei uns würden wohl die Zeugen eines Verbrechens äußern: »Der Himmel meldet sich schon«, wenn sie alsbald nach dem Verbrechen einen Donnerschlag vernähmen. Die Auferweckung Toter ist nur Folge der Erschütterung der Erde, die zu den klassischen Symptomen einer Gotteserscheinung gehört. Wir erkennen daraus auch, dass eine allgemeine Auferstehung weniger vom Menschen her zu denken ist als vom Erscheinen Gottes her, nämlich als eine Erschütterung bis in die tiefsten Tiefen des Kosmos. Liest man, von unseren Beobachtungen ausgehend, noch einmal die ganze Passion nach Matthäus, liest man sie sowohl von dem her, was mit Mk gemeinsam ist, als auch von den Abweichungen (»Sondergut«) her, so ergibt sich als theologischer Leitfaden: Matthäus verstärkt durch viele aufgenommene Einzelepisoden am Rand den dramatischen Charakter im Ablauf dieses Justizskandals. Matthäus betont, dass hier die Spitze allen Unrechts auf Erden geschah. Der Mord an diesem Gerechten ist das ungeheuerlichste Verbrechen. Wie alle anderen Evangelisten, so ist auch Matthäus extrem zurückhaltend in einer weitergehenden theologischen Deutung, die über das Thema »Mord am Gerechten« hinausgeht. Diese Zurückhaltung ist auffällig. Sie wird nur wenig gemildert durch das Becherwort beim letzten Mahl Jesu: »Trinkt alle daraus. Denn das ist mein Bundesblut, ausgeschenkt für alle, damit Sünden vergeben werden können.« Man kann auch übersetzen »vergossen für viele« (Mt 26,28), und dann bezieht es sich auf das Kreuz als Stiftung des Bundes. Aber das ist im ganzen Bericht nur eine, wenn auch eine wichtige Stelle. Der Hauptstrom geht jedoch in eine andere Richtung, und das ist nun typisch matthäische Auffassung davon, wie Jesus der »Erlöser« der Welt ist. Jeder Leser des MtEv bemerkt, dass das durchgehende Thema dieses Evangeliums die
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120 Gerechtigkeit ist. Das gilt von der Bergpredigt (Mt 5,20) bis hin zur Schilderung des Weltgerichts in Mt 25,31-46. Wenn nun aber Jesus, der Gerechte schlechthin, in der Welt so schreiend ungerecht behandelt wird, dann ist hier der Kampf zwischen Gerechtigkeit und Unrecht aufs Äußerste zugespitzt. Gerechtsein ist das, was vor Gott Ansehen schafft – die Gerechten werden leuchten wie die Sonne (13,43). Jesus erleidet Unrecht und äußerste Schande. Er wird erniedrigt bis zum Kreuz. Doch dieses Schicksal des Gerechten ist nicht das Letzte und kann es nicht sein. Denn wer gedemütigt wird, der muss erhöht werden (Mt 23,12). Wer demütig, sanftmütig und geduldig leidend ist wie Jesus, der wird verherrlicht werden. Das geschieht nicht nur bei der Auferstehung, sondern vor allem, indem Jesus vollständige Vollmacht über Himmel und Erde erhält (28,18). Wenn der Auferstandene sagen wird: »Mir ist alle Macht gegeben …«, dann ist er eben dadurch der Erlöser der Welt. Denn die auf seinen Namen und auf Vater und Geist Getauften stehen unter seinem mächtigen Schutz. Wer in der Taufe so unter den Namen Gottes gestellt wird, der ist vor Hölle, Tod und Teufel und jeder widrigen Macht bewahrt. Die Taufe ist daher hier das Medikament, das allen Schaden und alles Böse abwehrt, denn alle Jünger sind unter den Schutz des Erhöhten gestellt. Jesus war der bis zum Äußersten Erniedrigte, ungerecht Verurteilte, Schwächste. Eben deshalb wird nach biblischer Logik sein Triumph in der Auferstehung mächtiger Schutz für seine Jünger. Wie kein anderer Evangelist gestaltet Mt seinen Bericht durch Einflechten zahlreicher »sprechender« Einzelepisoden. Diese haben die Rolle, sinnvolle Deutungen des Ganzen in Gestalt von Zeichen und Vorzeichen zu geben. Zu Mt 26,28: Nur bei Mt gibt es zu Blut des Bundes den Zusatz »das für viele ausgegossen wird zum Nachlass von Sünden«. Dem entspricht, dass Mt bei der Taufe des Johannes den Zusatz »zum Nachlass von Sünden« nicht hat. Das aber heißt: Für Mt ist die Taufformel in Mt 28,19 gültig, die von Sündenvergebung durch die Taufe genauso wenig spricht wie Mt 3. Die Vergebung der Sünden dagegen erlangt man durch die – wohl per Abendmahl erwirkte – Zugehörigkeit zum Bund. Die Taufe stellt unter dem Schutz
Das Evangelium nach Matthäus
des dreieinigen Gottes und macht zu seinem Eigentum. Das Abendmahl geht einen Schritt weiter. Allerdings fehlt in Mt 26 ein Wiederholungsbefehl beim Abendmahl. Daher kann es sein, dass – jedenfalls in den Anfangszeiten – nur der Bund in Jesu letztem Mahl begründet wird, noch nicht aber die Mahlfeier der Gemeinde. Die Zugehörigkeit zum Bund macht die Sündenvergebung aus, und sie wird durch Mt 18,18 (vgl. Mt 16,19) geregelt: Wer – auf Gemeindebeschluss – »zum Bund hinzutreten« darf (Ausdruck aus der Damaskusschrift), ist damit frei von Sünden. Offen bleibt, ob das vor oder nach oder mit der Taufe geschieht. Zu Mt 26,52-54: Das mit reichem apokalyptischem Material gefüllte Stück enthält drei Teilaussagen: 1) Jesus lehnt den Waffengebrauch seines Jüngers ab und gibt zur Begründung den weisheitlichen Satz: »Wer das Schwert nimmt, wird durch das Schwert umkommen.« Vgl. dazu Offb 13,10: »Wer andere in Gefangenschaft führt, geht selbst in Gefangenschaft. Wer andere mit dem Schwert hinrichtet, wird selbst dem Schwert zum Opfer fallen.« Das gilt in Offb 13 vom römischen Staat und seinen Repräsentanten, besonders dem Kaisertum. – Der weisheitliche Kernsatz behauptet die Geltung der Talio; sie wird öfter in Texten der Apokalyptik verkündet (vgl. Mt 7,1). Sie gilt sonst für Menschen, die sich gegen Gott versündigen, denn Gott darf nach der Talio verfahren. 2) Jesus könnte um 12 Legionen Engel bitten, lehnt das aber ab. Jesus selbst spricht von der (zukünftigen) Epiphanie des Menschensohnes zum Gericht »mit seinen Engeln« (Mt 13,41; 16,27; 24,31; 25,31). Aber er kann die Situationen unterscheiden; sein jetziges Kommen dient dem Retten, erst das künftige dem Gericht. Gleichwohl ist er schon derselbe Menschensohn, der auch kommen wird. Grundsätzlich steht ihm daher ein Trupp Engel zu. Doch das jetzt zu erbitten, wäre gegen Jesu Auftrag. Diesen bespricht die dritte Teileinheit: 3) Die »Schriften müssen erfüllt werden.« Und diese Schriften sagen immer nur dieses: Vor der Herrlichkeit steht das Leiden. Das erste Kommen des Menschensohnes steht im Zeichen von Demut, Dienen und Leiden. Die Abfolge von Leiden
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Kapitel 27
und Herrlichkeit ist dabei unumkehrbar. Die hier ausgesprochene Notwendigkeit ist eine gesetzmäßige, die aber nicht unmittelbar den Willen Gottes wiedergibt, sondern eine geschichtliche Gesetzmäßigkeit. Der pauschale Schriftverweis bezieht sich nicht auf Einzelstellen, sondern auf eine gefühlte Übereinstimmung aller Propheten in ihrer Geschichtstheologie.
Mt 27,1-10: Jesus wird an Pilatus überstellt, und Judas erhängt sich Nach allen vier Evangelien besteht die entscheidende Wende im Verfahren gegen Jesus darin, dass die jüdischen Autoritäten Jesus an Pilatus übergeben. Erst dadurch war sichergestellt, dass der Beschluss, das Todesurteil, auch würde ausgeführt werden können. Nach dem Sondergut des Mt in 27,3-10 ist diese Übergabe auch der Wendepunkt im Leben des Judas. Denn offenbar erst jetzt, nachdem er Jesus in den Händen des Pilatus sieht, werden ihm die blutigen Konsequenzen seiner Handlung klar. Denn jetzt kann er plötzlich zu der Einsicht gelangen: »Ich habe gesündigt, da ich unschuldiges Blut auslieferte.« Auch Judas versteht, dass Pilatus Jesus töten lassen kann. Wahrscheinlich bekommen wir durch diese Szene Einblick in die Motivation und die ursprünglichen Absichten des Judas: 1) Judas wollte nicht den Tod Jesu. Diesen Effekt seiner Handlung hatte er weder gewollt noch vorhergesehen. – 2) Judas wollte daher Jesus nur in die Hände der jüdischen Honoratioren geben. – 3) Das kann nur von der Absicht begleitet gewesen sein, dass die jüdischen Autoritäten Jesus ins Gewissen reden sollten (viel mehr konnten sie nicht tun). – 4) Judas wollte dadurch ein vernichtendes Eingreifen der Römer verhindern. Nach Jesu Einzug in Jerusalem, bzw. der Unruhe, die damit verknüpft war, bestand die akute Gefahr, dass die Römer gegen diesen Messiasprätendenten eingriffen. – 5) Judas hat daher aus Liebe zu seinem Volk (um ein Eingreifen der Römer zu verhindern) Jesus in die Hände der jüdischen Obrigkeit ausgeliefert. Die Tötung Jesu war damit keineswegs automatisch verbunden. Diese Konsequenz sieht Judas erst jetzt – mit Recht – auf Jesus zukommen. – 6) Damit verblassen alle anderen
121 Deutungen des Todes Jesu, die man erwogen hat (Labilität, Geldgier, enttäuschte Messiaserwartung). Judas stand demnach vor einer sehr ernst zu nehmenden Alternative: Liebe zu seinem Volk oder Treuepflicht gegenüber seinem Lehrer. Mt verbindet den Bericht über Judas mit Notizen über dessen Lebensende und über Geldgeschäfte im Zusammenhang mit der Gefangennahme Jesu. Den unterschiedlichen Berichten (Mt 27,5); Offb 1,15-20 und Papias (Berger/ Nord, Neues Testament, 2005, 1071) liegt auf jeden Fall dieses zugrunde: Judas stirbt zeitlich in größter Nähe zum Tod Jesu einen ungewöhnlichen bzw. unnatürlichen Tod, auch von einem Grundstück ist in allen drei Berichten die Rede. Dass Judas sich (so Mt) erhängt, steht in typologischer Entsprechung zum Kreuzestod Jesu, der dem Aufgehängtwerden gleicht. – Nach Apg 1 fällt Judas vornüber, und seine Eingeweide treten heraus; nach Papias schwillt Judas an und stirbt an einer Art Elephantiasis. Mt 27 und Apg 1 sind verbunden durch Berichte über ein Grundstück unter dem Stichwort »Blut«, die freilich unterschiedlich ausgestaltet werden, Apg 1 und Papias dadurch, dass der Tod mit körperlichen Leiden des Judas zu tun hat. Der Bericht in Mt 27 ist mit Sach 11,12f verwoben: Sacharja sagt zu den abtrünnigen Juden: »›Wenn es euch gefällt, so gebt mir meinen Lohn, wenn nicht, so lasst es bleiben.‹ Da wogen sie mir meinen Lohn vor, 30 Silberlinge. Der Herr aber sprach zu mir: ›Wirf ihn dem Silbergießer hin, diesen herrlichen Preis, den ich ihnen wert bin!‹ Da nahm ich die dreißig Silberlinge und warf sie im Haus des Herrn dem Silbergießer hin.« – In Sach 11 demonstriert das Volk auf sarkastische Weise, was der Prophet ihnen wert ist. In dem Gotteswort bezieht Gott diesen Preis auf sich selbst: Nicht was der Prophet dem Volk wert ist, sondern was er selbst für das Volk bedeutet, kann man an den 30 Silberlingen erkennen. – Auch bei Mt kann man von einer Sprech- und Handlungseinheit zwischen dem himmlischen Vater und Jesus ausgehen. Daher ist auch bei Mt der tiefere, hier aber verhüllte, theologische Sinn: So viel (d. h. so wenig, nämlich diese lächerliche Summe) ist Gott ihnen wert. Bei Mt ist es erst Judas, der die Summe in den Tempel wirft. Im Unterschied zu Sach 11 ist dieses nicht Auftrag Gottes. Vielmehr vollendet Ju-
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122 das durch diese Tat die Zeichenhandlung im Sinne von Sach 11. Die Übereinstimmung der Summe (30 Silberlinge), die für den Wert eines Propheten steht, bringt ihn dazu, nach seiner Einsicht das Geschehen im Sinne der prophetischen Zeichenhandlung zu Ende zu führen. Denn seine Einsicht (»unschuldiges Blut vergossen«) bedeutet für ihn wohl die Erkenntnis, dass es sich auch hier um den Wert Gottes in den Augen seines Volkes handelt. Denn bei diesem Gerechten geht es um Gott. Indem Judas den Vorfall zu einer Zeichenhandlung ausgestaltet, hat er etwas vom Geist Jesu bewahrt, dessen vornehmliche Handlungsart die Zeichenhandlungen sind (neben den Zeichen-Geschichten, den Gleichnissen). In Mt 27,6-8 fügt der Evangelist eine Namensätiologie für die Gemarkung »Blutacker« hinzu. Im Kontext des MtEv ist das ein Stück theologischer Geografie, die sich zuvor mit den Namen Betlehem, Nazaret, Galiläa (Mt 4,15) und Sion verbunden hatte. Mit dem Stichwort »Blut(acker)« wird noch einmal das Eingeständnis des Judas von 27,4 (Blut vergossen) aufgegriffen. Der Begräbnisplatz für Fremde bedeutet potenzierte Unreinheit. Die jüdische »Obrigkeit« wird daher als eine auf peinliche Reinheit bedachte Instanz dargestellt – und das eigentliche Vergehen, der Mord an einem Propheten, bleibt unbemerkt. Damit wird das Thema von Mt 23,27, insbesondere von 27,28-31, wieder aufgegriffen (Kontext: Unreinheit – Prophetenmord der Scheinheiligen). Theologie: Judas wird zum Zeugen der Unschuld Jesu. Er bekennt Jesus als Gerechten. Das entspricht der theologischen Gesamtlinie des Mt. Der Selbstmord des Judas wird zum Zeichen dafür, wie ernst er sein Bekenntnis meint und wie sehr er sich geirrt hat. Denn der Tod aus Verzweiflung wird zum Eingeständnis der eigenen Schuld und indirekt der Unschuld Jesu. – Der alttestamentliche Hintergrund beim Propheten Sacharja bestätigt dramatisch, wie sehr hier das Gottesverhältnis Israels berührt ist. Auch im Unheil erfüllt sich Gottes Wort.
Das Evangelium nach Matthäus
Den Titel »König der Juden« (27,11) kennen die Leser des MtEv seit 2,2. Von Kap. 2 her wissen sie auch, dass dieser Titel die Qualität von politischem Sprengstoff hat. In Mt 27,12.14 wird gegenüber den anderen Evangelisten betont, dass Jesus schweigt und sich nicht verteidigt. Der gebildete Leser wird darin ein Sokrates-Motiv finden. Der Traum der Frau des Pilatus (27,19f) bestätigt als weiteres Zeugnis die »Gerechtigkeit« und Unschuld Jesu. In der positiven Bewertung von Träumen steht Mt im Neuen Testament, aber auch in der Weisheit des Frühjudentums, einzig da. Der Traum der Magier nach Mt 2 gibt diesen den rechten Weg an. Nach Mt 1,20; 2,13.19.22 erhält Josef Handlungsanweisungen im Traum. Alle Stellen finden sich nur bei Mt; in Mt 27,19f und in Mt 2,12 sind Heiden die Adressaten. Auf jeden Fall sind daher die Traum-Offenbarungen nach Mt eine Brücke zur heidnischen Astrologie. Das gilt auch von der Magier-Perikope in Mt 2 im Ganzen. In jedem Fall enthalten die Träume nach Mt Befehle an die Menschen, oft über Ortsveränderungen (wie bei dem Makedonier in Apg 16,9). Zu Mt 27,16f: Barabbas heißt »Sohn des Vaters« und ist somit als Eigenname eine Entsprechung zum theologischen Würdetitel Jesu – zweifellos eine merkwürdige Fügung. Der Evangelist nutzt diese Übereinstimmung aus: Der eine ist ein Terrorist, der andere das Gegenteil. Der Terrorist wird freigelassen, Jesus zum Tode verurteilt. Der Kontrast wird durch den Traum der Frau des Pilatus noch verstärkt, ebenso durch das Händewaschen des Pilatus. Beides bezeugt, dass Jesus gerecht ist. Matthäus zielt daher hier auf die Häufung der »Beweise«. Jesus ist eindeutig der Gerechte, und er leidet ebenso eindeutig zu Unrecht. Zu Mt 27,19: In der antiken Literatur sind es verhältnismäßig oft Träume von Frauen, die im Traum Grausames oder Blutiges sehen, – der Grund, Männer von bestimmten Aktionen abzuraten.
Mt 27,11-61: Jesu Passion bis zur Grablegung Die Unterschiede gegenüber dem Mk-Bericht konzentrieren sich auf wenige Einzelheiten.
Zu Mt 27,24: Zunächst ist hier an das Alte Testament zu denken, und zwar an Ps 24(25),6-12 (»Ich will in Unschuld meine Hände waschen«)
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Kapitel 27
bezogen auf die priesterliche Reinheit beim Opfer im Tempel, auch im Psalm schon moralisch verstanden, aber im Kult als rituelles Händewaschen formalisiert (wie später im christlichen Messopfer). – Anderswo verstanden als demonstrativer Akt der Distanzierung des Händewaschenden vom Täter, der Blut vergossen hat; vgl. dazu Mischna Sota 9,6: »Die Ältesten dieser Stadt waschen ihre Hände mit Wasser an dem Ort, wo dem Kalb das Genick gebrochen wurde. Sie bekannten dabei: Unsere Hände haben dieses Blut nicht vergossen, und unsere Augen haben es nicht gesehen.« (Komm.) »So, wie unsere Hände rein sind, so sind wir rein von dem Mord an diesem Kalb.« Für den griech. Bereich bewirkt das Händewaschen offenbar die Reinigung des Täters (!) von Blutschuld: Scholien zu Sophokles, Ajax: »Es war Sitte bei den Alten, bei einem Mord an Menschen oder anderem Blutvergießen mit Wasser die Hände zu waschen, um von der Befleckung rein zu werden.« Für das Alte Testament vgl. 1 Kön 2,31f: König Salomo befiehlt in Bezug auf einen Mörder: »Stoß ihn nieder und begrabe ihn. Damit entfernst du von mir und meiner Familie das von Joab unschuldig vergossene Blut. Der Herr lasse sein Blut auf sein Haupt kommen! Er stieß ja zwei Männer nieder, die gerechter und besser waren als er, und tötete sie mit dem Schwert …« Das heißt: Wenn der Mörder ermordet wird, kommt das Blut des unschuldig Ermordeten auf das Haupt des Mörders. Damit wird es gerächt. – In Jer 26,16 sagt Jeremia zu seinen Gegnern: »Wenn ihr mich tötet, bringt ihr unschuldiges Blut über euch, über diese Stadt und ihre Bewohner. Denn der Herr hat mich wirklich zu euch gesandt …« Zu Mt 27,25: »Sein Blut [komme] über uns und unsere Kinder!« Die Logik dieses Satzes muss erst rekonstruiert werden: a) Blut steht für Leben; es ist ein Realsymbol (d. h. es ist real und zugleich Symbol für das Ganze). Im Blut ist der Lebensgeist. b) Alles Leben gehört dem lebendigen Gott und darf daher nicht illegal angeeignet werden. c) Daher darf Blut weder gegessen, noch illegal vergossen werden. Was illegal ist, bestimmt die Torah. Zum Beispiel ist Mord (5. Gebot) illegales Blutvergießen und ein massiver Eingriff in Got-
123 tes Recht. Krieg, Notwehr und rechtmäßige Hinrichtung von Verbrechern sind legale Tötungen. d) Illegal ist Tötung eines Unschuldigen. e) Für diesen Fall ist Mt 27,25 die Selbstverfluchung für den nicht ausgesprochenen und nicht gewünschten Fall, dass die Juden Jesus zu Unrecht verurteilen. f) Wenn vergossenes Blut »auf jemanden kommt«, von oben her »über jemanden kommt«, hat es keine Ruhe in der Erde gefunden, sondern klebt am Täter, vor allem an seinen Händen. – Dass »Blut über (auf) jemanden kommt«, ist in der Umwelt des Neuen Testaments in zwei Zusammenhängen geläufig: im Taurobolion und bei der so genannten Bluttaufe. Das Taurobolion ist ein ritueller Akt, in dem der in einer Grube hockende Mensch durch das Blut eines auf Latten über ihm geschlachteten Stieres besudelt und eingehüllt wird und so neues Leben erhält (Prudentius, Peristephanon § 10). Vergleichspunkt mit Mt 27,25: In dem Blutbad mit Fremdblut verbindet sich das eigene Leben mit dem fremden Blut, im heidnischen Ritus zum Leben, in der jüdischen Vorstellung zum Tod. – »Bluttaufe« nennt man den Märtyrertod von Christen, in dem sie mit dem eigenen Blut benetzt werden. Sie schenken ihr Leben und Blut dem Gott, von dem sie es erhalten haben. Vergleichspunkt mit Mt 27,25: Leben oder Tod des Menschen hängen daran, was er mit seinem Blut macht oder geschehen lässt. Die Märtyrer widerstehen bis aufs Blut und lassen keinen anderen Eigentümer ihres Blutes zu als Gott. Ihm allein gehört ihr Leben. Insofern sind sie das Gegenteil von Mördern, die Gott dieses Recht nehmen. g) Die Vorstellung ist dann: Das Blut des Ermordeten kommt auf sie, befleckt sie, haftet an ihnen. Und weil das Blut des illegal Ermordeten (des Gerechten) Gott gehört, wird er es von denen fordern, an denen es haftet. Das heißt: Gott wird den Mördern das Leben nehmen, denn mit deren Blut hat sich das von ihnen vergossene Blut vermischt. Gott fordert rigoros das zurück, was ihm gehört. Und das ist insbesondere das Blut von illegal umgebrachten Menschen, d. h. von Ermordeten. h) Der Ruf der Juden in Mt 27,25 ist daher so zu verstehen: Wenn wir diesen Verbrecher hier zu Unrecht verurteilen, dann mag Gott dessen unschuldiges Blut, das dann ja auf uns lastet,
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124 von uns zurückfordern. Das heißt: Dann mag Gott uns töten, so wie wir ohne Recht getötet haben. i) Es ist also auch vorausgesetzt, dass Gott nach der Talio verfahren kann und wird, wenn es um sein Eigentum geht. j) Nach Mt 23,35(-38) ist alles illegal vergossene Blut (d. h. das von ermordeten Propheten und Gerechten) bei der Zerstörung des Jerusalemer Tempels im Jahre 70 »auf diese Generation« des jüdischen Volkes »gekommen«, d. h. die Blutschuld der ganzen Geschichte – inklusive Verfolgung christlicher Propheten und Jesu – hat sie eingeholt. Damit ist aber die Selbstverfluchung von Mt 27,25 ausgeglichen und ein für alle Mal erfüllt. Wegen des Zueinanders von Mt 23,35 und 27,25 besteht und bestand nicht die geringste biblische Rechtfertigung dafür, dass Christen die Strafe der Ächtung der (biblisch zweifellos gegebenen) Blutschuld an Juden selbst in die Hand nahmen. Mit der Zerstörung Jerusalems im Jahre 70 ist jedes erdenkliche Gottesgericht abgegolten. Zu Mt 27,29: Bei der Verspottung Jesu hat Mt zwei Elemente mehr als alle anderen Evangelisten: Man gibt Jesus ein Rohr in die rechte Hand und verspottet ihn durch die Kniebeuge. Beide Züge ergänzen einander. Vgl. dazu die Verspottung des Carabas nach Philo, Gegen Flaccus, 36-40: »… anstatt eines Zepters gab ihm einer ein kurzes Stück einheimischen Papyrus, das er am Wegrand gesehen und abgerissen hatte … Dann traten andere vor ihn hin, teils als wollten sie ihm huldigen, teils wie um einen Prozess zu führen … ›Marin‹ riefen sie – so wird angeblich bei den Syrern der Herrscher genannt.« Mt vervollständigt daher gegenüber den anderen Evangelisten die Szene der Verspottung – ganz im Sinne des zeitgenössischen Zeremoniells und der verspottenden Nachahmungen. Mantel und Krone gab es auch bei Philo, Gegen Flaccus 37. Zu Mt 27,40: Nur Mt formuliert die »Versuchung« am Kreuz so: »Wenn du der Sohn Gottes bist, (steig herab vom Kreuz).« Die Übereinstimmung mit der Versuchung (Mt 4,3.6) ist nicht zufällig, sie hat vielmehr theologischen Sinn: In allen drei Fällen geht es um das persönliche physische Wohlergehen des Messias. Dazu
Das Evangelium nach Matthäus
aber ist der Messias nicht gekommen. Das unterscheidet ihn von anderen Herrschern. Zu Mt 27,43: Nur bei Mt findet sich: »Er hat auf Gott vertraut! Er errette ihn jetzt, wenn er ihn will.« Denn er sagte: »Gottes Sohn bin ich.« – Vgl. dazu Ps 22,9: »Er baute auf den Herrn; der soll ihn befreien, der soll ihn retten, wenn er ihn liebt!«; Ps 18,20: »… er entriss mich, da er mir wohlgesinnt war.« Das Zitat aus Ps 22,9 ist die Fortsetzung des Zitats aus Ps 22,8 in Mt 27,39: »Wer mich sieht, verzieht den Mund und schüttelt den Kopf.« Mt bietet daher eine intensivere Bezugnahme auf Ps 22 und eine stärkere Durchdringung durch ihn. Das Ende des Psalmzitates »… wenn er ihn will« wird kommentiert mit dem Ausspruch Jesu »Ich bin Gottes Sohn«. Für Mt ist dieses offenbar die zutreffende Deutung von Mt 26,64 (»ob du Christus bist, der Sohn Gottes« … »Du sagst es«). Denn Mt weist diese Deutung nicht zurück. Gleichzeitig deutet er die Gottessohnschaft aus dem Verhältnis des Vaters zum Sohn: »Er will ihn.« Zu Mt 27,51-54: In dem abschließenden Kommentar V. 54 werden »das Erdbeben« und »die Geschehnisse« nebeneinander als Indizien dafür gewertet, dass Jesus »Gottes Sohn« war. D. h.: Beides wird im Sinne theophaner Ereignisse gedeutet. Wenn Gott kommt, reagiert die Erde »aufgeregt«, unnormal und im Gegensatz zu jeder Erwartung. Hier weisen diese Ereignisse darauf hin, dass in Jesus als dem Gottessohn Gott selbst gegenwärtig ist. Der Tod am Kreuz wird kommentiert und in seiner Bedeutung enthüllt, indem die Erde darstellt, um wen es sich bei dem soeben Gestorbenen handelt. Die Theophaniezeichen sind hier nicht Begleitumstände des herrlich-schrecklichen Kommens Gottes, sondern dass Theophaniezeichen geschehen, weist auf die verborgene Wirksamkeit oder »Bezogenheit« Gottes in dem dargestellten Geschehen. Letzteres ist für das Erdbeben aus alttestamentlichen Theophanie-Schilderungen gut bekannt. Für die Auferweckung Toter ist es so zu deuten: Die Erde gibt das ihr Anvertraute vor der Zeit wieder; es ist wie eine Frühgeburt. Der Aspekt der Unordnung ist bei jeder Theophanie gegeben, besonders natürlich, wenn Tote auferweckt werden. So wird es übrigens auch beim endzeitli-
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Kapitel 27
chen und endgültigen Kommen Gottes sein. Erdbeben gehen voraus, und die Toten werden auferweckt werden. Für die Apokalyptik erkennen wir daraus: Mit Erdbeben und anderen Zeichen der Unordnung schildert sie nicht den Verfall der Weltordnung um seiner selbst willen, sondern Erdbeben und auferweckte Tote gehören zur Theophanie am Ende. Die Auferweckung der Toten am Ende kann von daher als Teil der Theophanie-Ereignisse gesehen werden. Aus dieser Perspektive wäre sie kein selbstständiges Geschehen. Vielleicht ist sie tatsächlich in der Auffassung der Menschen zunächst eine Irregularität, bevor sie dann in Richtung Gericht oder gar neue Schöpfung vertieft wird. Auch in frühchristlichen Apostelakten wird das theophane Erdbeben der Auferweckung Toter zugeordnet. Da schlägt einer »das Kind« (den Erlöser): »Und gleichzeitig erzitterten die ganze Stadt in ihren Grundmauern und die Abgründe der Erde. Und es erhob sich im Volk ein Geschrei, welches sagte: Groß ist der christliche Gott. Und gleichzeitig standen die Toten aus dem Grabe auf. Und Jesus sagte zu ihnen: Selig seid ihr, die ihr meinen Ruhm den Ungläubigen gezeigt habt, geht und ruht in euren Gräbern!« (slav Periodoi Petrou, ZNW 1902, 315 ff, Franko). Jedenfalls ist diese Schilderung eine adäquate Deutung von Geschehnissen, wie sie Mt 27 gibt. Denn in der Tat geht es auch in Mt 27 darum, Jesu Ruhm den Ungläubigen zu zeigen. Der Ruf »Groß ist der christliche Gott!« ist korrekte Missionssprache (vgl. »Groß ist die Artemis!« in Apg 19,28.34). Zur zeitgenössischen Deutung von Erdbeben etc. als Theophaniezeichen vgl. die Darstellung der Sinai-Theophanie im »Buch der biblischen Altertümer« (LAB 11,5, um 100 n. Chr.): »Und siehe, die Berge brannten … und die Erde erzitterte und die Hügel wurden verwirrt und die Berge herumgedreht und die Abgründe sprudelten hervor und jeder bewohnbare Ort wurde bewegt … Engel liefen hervor …« Zum Erdbeben vgl. PetrusEv 21: »Einige Juden zogen die Nägel aus den Händen des Herrn und legten ihn auf die Erde. Da bebte die ganze Erde und die Menschen fürchteten sich sehr.« Zu Mt 27,52f: Ein ähnliches Prodigium nennt Lk 19,40: Steine schreien (in den Parallelen oft: und
125 es regnet Blut). Das wird der Fall sein, wenn die Jünger Jesus nicht preisen dürfen – ein schreiendes Unrecht. Die Ordnung der Welt ist dann verkehrt, wie wenn der Gerechte ermordet wird (s. zu Lk 19,40). Es passiert dann das Umgekehrte auf derselben Sachebene (loben/schreien, ermorden/auferstehen). Zu Mt 27,55-56: Die Liste der Frauen, die Zeuginnen des leeren Grabes werden, differiert gegenüber Mk. Maria von Magdala ist gemeinsam. Aber dann folgen bei Mt Maria, die Mutter von Jakobus und Josef, und ferner die Mutter der Zebedaiden (Jakobus und Johannes). Die ersten beiden Frauen werden in Mt 27,61 am Grab wieder genannt und in Mt 28,1 (Gang zum Grab). Die Bewachung des Grabes Jesu und der Betrug des Hohen Rates In dem Sondergut-Bericht Mt 27,62-66 ist Mt dem PetrusEv eng verwandt. Gemeinsam mit Mt: Durch den Bericht über Zeugen, die nicht zur Gemeinde gehören, sondern »neutral« sind, verlässt Mt die gemeinde-interne Perspektive, er liefert vielmehr einen »apologetischen« Bericht, in dem auch die Perspektive Dritter beachtet wird. – Jüdische Honoratioren versammeln sich bei Pilatus und bitten ihn um Sicherung des Grabes. Die Befürchtung, das Gerücht der Auferstehung von Toten könne entstehen, wird erwähnt. Und: Die Jünger könnten Jesus stehlen. Pilatus schickt eine Wachmannschaft zum Grab. Mt berichtet nur von der »Sicherung« des Grabes; das PetrusEv berichtet über den großen Stein, der vor die Grabestür gerollt wurde. Das Grab wird versiegelt. Nach Mt 28,2 und PetrusEv 36f steigt am frühen Ostermorgen mindestens ein (PetrusEv: zwei) Engel vom Himmel, und der Stein vor dem Grab wird wegbewegt. Pilatus bzw. die Hohenpriester und Ältesten (Mt) werden von den Wächtern informiert, und deren Reaktion ist, den Wächtern Schweigen zu gebieten oder sie zur Falschmeldung zu bestechen, der Leichnam Jesu sei gestohlen worden. Nach Mt wird dieses durch finanzielle Bestechung geleistet. Nach dem PetrusEv genügt die Autorität des Pilatus. Mt und das PetrusEv verarbeiten demnach eine gemeinsame Tradition, die unabhängig von der Überlieferung durch Frauen das enthält, was den Wächtern widerfahren ist, auch wenn sie
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126 nach Mt 28,4 »wie Tote« waren und gemäß Mt 28,13 behaupteten, geschlafen zu haben. Nach dem PetrusEv dagegen sind sie wach dabei. – Sinn und Funktion dieser Überlieferung sind: neben das Zeugnis der Frauen ein Zeugnis unabhängiger, ja gegnerischer Zeugen zu stellen. Dabei widerlegt sich das Zeugnis nach Mt in sich selbst, da die Wächter selbst zugeben, geschlafen zu haben (H. Frankemölle: »Aber der Evangelist gibt sich ja informiert über das, was wirklich geschah.« – Im PetrusEv ist die Überlieferung verbunden mit einem sehr alten Zeugnis über den Vorgang der Auferstehung aus dem Grab selbst, wie er sich auch in der »Himmelfahrt des Jesaja« und in Mk 16,3k findet. – Liest man den Bericht Mt 28, so erwartet man in Mt 28,2.3 eine Angabe über die Auferstehung Jesu, wenn man den Text im Lichte des PetrusEv liest. So aber entsteht der Eindruck, Mt habe an eine vorgängige Auferstehung Jesu aus dem versiegelten Grab geglaubt. Die Alte Kirche teilt diese Meinung und vergleicht dies mit der Empfängnis Jesu durch den verschlossenen Mutterschoß Marias. Vgl. PetrusEv 28-33: »Als den Schriftkundigen, Pharisäern und Ältesten zu Ohren kam, dass das ganze Volk wehklagte und sich voll Reue an die Brust schlug, versammelten sie sich und sagten zueinander: »Wenn bei seinem Tod so große Dinge geschehen, dann soll uns das darauf aufmerksam machen, wie gerecht er war.« (29) Die Ältesten bekamen es mit der Angst zu tun, sie gingen zu Pilatus und baten ihn: (30) »Gib uns Soldaten, die sollen sein Grab drei Tage lang bewachen. Denn sonst kommen seine Jünger und stehlen ihn, und dann wird das Volk denken, dass er aus Toten auferstanden ist. Sie werden uns die Hölle heiß machen. (31) Daraufhin gab ihnen Pilatus den Hauptmann Petronius mit einigen Soldaten mit, die zusammen mit den Ältesten und Schriftkundigen zum Grab gingen. (32) Alle, die dort waren, fassten mit an und wälzten mit Hilfe des Hauptmanns und der Soldaten einen großen Stein herbei. Sie setzten ihn vor den Eingang des Grabes (33) und versiegelten ihn mit sieben Siegeln. Dann schlugen sie ein Zelt auf und hielten Wache.« – Funktion dieses Berichtes ist die Benennung gemeinde-externer wie -interner Zweifel und Alternativen zur Botschaft von der Auferstehung. Zugleich schildert der Text unversöhnbare Fronten. – Vgl. zu Mt 27,66: PetrusEv
Das Evangelium nach Matthäus
35: In der folgenden Nacht, als der Sonntag heraufdämmerte, hielten die Soldaten Wache am Grab, immer zwei im Wechsel. Da hörten sie plötzlich eine laute Stimme vom Himmel her. 36 Sie sahen, wie sich der Himmel einen Spaltbreit öffnete und zwei Männer … – Vgl. zu Mt 28,14f: PetrusEv 49: Da befahl Pilatus dem Hauptmann und den Soldaten, nichts weiterzusagen. Durch die Komposition in Mt 28,1.2.5-8 legt Mt den Schluss nahe, die Frauen hätten gesehen, was die Wächter nicht sehen konnten, weil sie wie tot umfielen. Das Zeugnis der Frauen ist wahr, die Wächter dagegen haben – bestochen – Lügen verbreitet. Das Zeugnis der Frauen am leeren Grab wird bestätigt durch ihre Begegnung mit dem Auferstandenen nach Mt 28,9-10. Hier verarbeitet Mt eine Tradition, die er mit Joh 20,14.17 teilt.
Mt 28,9-10: Begegnung mit dem Auferstandenen Die beiden Texte Mt 28,8-10 und Joh 20,17-18 berichten erkennbar dasselbe, doch mit unvereinbaren Widersprüchen. In beiden Texten geht es um den Auferstandenen, der erscheint und Herr (griech.: kyrios) genannt wird. Mt 28 berichtet von zwei Frauen (Maria Magdalena und eine weitere Frau), Joh 20 nur von Maria Magdalena. In beiden Texten spielt das Motiv Proskynese (kniefällige Verehrung) eine zentrale Rolle. Doch was sich Jesus nach Mt 28 gefallen lässt, lehnt er nach Joh 20 ab (vgl. zu Joh 20). In beiden Texten wird dem, der die Erscheinung erlebt, ein Auftrag an die Brüder Jesu (»meine Brüder«) gegeben. Doch in Mt 28,10 ist der Inhalt dieses Auftrags die Mitteilung, dass die Jünger Jesus in Galiläa sehen werden. Nach Joh 20,17 dagegen sollen sie wissen, dass Jesus zum Vater hinaufgeht. Es ist erkennbar dieselbe Tradition, die doch so unterschiedlich entfaltet wird, dass man versucht ist zu sagen: Nur eine kann Recht haben, beide zusammen können nicht wahr sein. Im Stil klassischer Exegese könnte man nun jeden einzelnen Zug analysieren und Argumente für oder gegen seine »Ursprünglichkeit« entwickeln. Doch dieses Unternehmen verbietet sich hier. Denn jede der
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Kapitel 28
beiden Ausgestaltungen ließe sich lückenlos aus der so genannten redaktionellen Absicht des jeweiligen Evangelisten erklären. Denn nach dem MtEv wird Jesus von Anfang an als Sohn Gottes angebetet, und daher kann das auch hier geschehen. Denn weil er Sohn Gottes ist, wohnt Gott in ihm, und den in ihm wohnenden Gott darf man genauso anbeten, wie man nach 1 Kor 14,25 auch vor der Gemeinde anbetend niederfallen darf, um den in ihr anwesenden Gott kniefällig zu verehren. Und das Evangelium nach Johannes andererseits stellt Jesus von Anfang an als den Gesandten dar. Daher ist Jesus auf diesem Weg, bis er wieder beim Vater angelangt ist. Ähnliches gilt auch für die Einbettung dieser Szene in die jeweilige Komposition. Denn bei Matthäus läuft das Evangelium zu auf die Vision vor den elf Jüngern auf dem Berg in Galiläa. Durch den Auftrag an die Jünger wird das in Mt 28,10 vorbereitet. In Joh 20 dagegen wird Maria zur Zeugin (neben vielen anderen Zeugen, die das JohEv systematisch aufzählt) dafür, dass Jesus jetzt seinen Auftrag vollendet. – Ebenso fügt sich die Szene jeweils in die erschließbar unterschiedliche Gemeindestruktur. Nach dem JohEv sind Frauen noch wichtige Zeuginnen des Glaubens, wie etwa die Samaritanerin in Joh 4 und besonders Marta in Joh 11,24-27. So eben auch Maria Magdalena hier. Gleichzeitig ist die Gemeinde ortsfest (Symbolik des »Bleibens«). Bei Matthäus dagegen sind die (männlichen) Jünger wichtiger und in Bewegung (nach Galiläa hin, von Galiläa aus in die ganze Welt), während nach dem JohEv sich alles in Jerusalem ereignet. Es ist daher ganz müßig zu fragen, wer von den beiden Evangelisten jeweils mit seiner Schilderung »im Recht« ist. Die Frage ist nicht zu beantworten. Man kann nur sagen: Jedenfalls verarbeiten beide Evangelisten älteres Material, das ihnen beiden vorgegeben ist; denn die Einzelheiten verbieten nicht nur für dieses Stück, sondern auch im Ganzen die Annahme der Abhängigkeit des einen Evangelisten vom anderen, in welcher Richtung auch immer diese anzunehmen wäre. Darüber, wie alt dieses gemeinsam vorgegebene Material genau ist, kann man nichts sagen. In jedem Fall aber gehören zu diesem älteren Gut mindestens die gemeinsamen Stücke, die aus der obigen Übersicht klar hervorgehen. Daher ist unser Ergebnis: Es ist nicht zu ent-
scheiden, welche Fassung (Mt oder Joh) »wahrer« ist. Und ferner: Trotz großer inhaltlicher Nähe schließen beide Fassungen sich gegenseitig aus (entweder/oder). Das damit gegebene Problem taucht nicht für die jeweiligen Erstempfänger des betreffenden Evangeliums auf. Denn es ist davon auszugehen, dass die Menschen, die das Mt- oder JohEv empfangen haben, dieses jeweils als einziges Evangelium gebrauchten. Mk 16,9 bringt nochmals eine neue Variante der Diskussion, besonders wenn man davon ausgeht, dass es sich hier nicht um eine Kompilation vorhandener Berichte aus den drei anderen Evangelien handelt, sondern um einen selbstständigen und alten Text. Maria Magdalena ist die einzige erste Augenzeugin des Auferstandenen. Der Mk-Text begründet, warum gerade Maria Magdalena die erste war, mit einer singulären Nachricht: Jesus hat sie besonders intensiv »geheilt«, durch Exorzismus. Da auch Auferstehung geistgewirkt ist, wird Maria M. so zur zweifachen (man denke an das Gebot der zwei bzw. drei Zeugnisse) Zeugin desselben christologischen Sachverhalts, nämlich der Geisterfülltheit Jesu.
Mt 28,16-20: Erscheinung und Auftrag Zwei Sätze dieses Textes wecken Fragen: V. 17 endet mit der Aussage »Manche aber zweifelten.« Davon aber, dass die Zweifel beseitigt werden, spricht der Text offensichtlich nicht. Oder ist V. 20 vielleicht die Antwort? V. 20 spricht davon, dass Jesus nicht weggeht, sondern »mit den Jüngern« sein wird bis zum Ende der Welt. Widerspricht das nicht den Texten über Jesu Himmelfahrt, nach denen Jesus sehr wohl weggeht und am Ende der Zeiten erst wiederkommen wird? Aus meiner Sicht lassen sich diese Fragen so beantworten: Der Zweifel, den einige Jünger hegen, hat Ähnlichkeiten mit dem Zweifel des Thomas nach Joh 20. Aufgrund der Parallelberichte können wir vermuten, dass sich die Zweifel auf Jesu Identität beziehen: Ist er es wirklich oder macht nur ein Totengeist ihn nach? In beiden Fällen, im JohEv und im MtEv, wird diese Frage später beantwortet. Nach Joh 20 beantwortet sich die Frage durch Jesu Erscheinen am Sonntag nach Ostern, bei dem es besonders um die Leiblichkeit
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128 Jesu geht, die den Unterschied zum Totengeist ausmacht. Im MtEv wird der Zweifel behoben, wenn man auf das Mit-Sein Jesu mit seinen Jüngern achtet. Denn wenn Gott oder sein Repräsentant und Sohn »mit« jemandem ist, so bedeutet das Schutz und Verleihung von Kraft und Vollmacht. Jesus fordert daher die Jünger auf, seine Legitimität am Wirken der Jünger zu erkennen (vgl. auch Joh 17,21-23). Und das Mit-Sein widerspricht auch nicht der Himmelfahrt. Denn Jesus geht unsichtbar inmitten seiner Jünger (ähnlich wie bei den beiden Emmaus-Jüngern, nur bei Mt ganz unsichtbar) mit ihnen. Aber an dem, was sie tun, wird erkannt, ob Jesus wirklich auferstanden ist und damit auf der Seite Gottes steht. Der Ursprung dieser Aussage liegt in dem biblischen Abschieds- und Segensgruß »Der Herr sei mit euch!«. Hier sagt der Herr selbst, dass er »mit« den Jüngern sein wird – ein Trost in aller Verlassenheit nach der Erhöhung Jesu. Der Ausdruck »taufen auf den Namen« bedeutet eine rituelle Zueignung. Die Wendung »auf den Namen« findet sich sonst im Girowesen und meint den Adressaten einer Überweisung, also den durch das Bankgeschäft Begünstigten. Taufen »auf den Namen« meint Zueignung, und zwar verstanden in diesem Sinn: Wer zu Gott gehört, den wird er in Zukunft beschützen. Einerseits muss sich der Zugeeignete nach den Lebensregeln dessen richten, dem er jetzt gehört (daher ist auch in V. 20 von den Geboten Jesu die Rede), andererseits wird Gott ihn als sein Eigentum verteidigen. Diese Relation von Bewahren der Hausordnung und familiärem Schutz findet sich sonst im Sklavenwesen, und nicht ohne Grund führt Röm 6 im Zusammenhang der Taufe auf den Namen Jesus das Bild vom Sklavenmarkt ein; die Christen sind Sklaven, die vom alten Herrn losgekaufte und dem neuen Herrn jetzt Zugeeignete sind. Aber was bedeutet die Nennung der drei Instanzen in der triadischen Taufformel? Nun gibt es eine frühchristliche Vorgeschichte, nämlich das »Taufen auf Jesus« oder »auf den Namen Jesu« hin, etwa in Röm 6. Die Erweiterung um den Vater erfolgt sicherlich in Mt 28,19f deshalb, weil es hier ausdrücklich um die Menschen aus »allen (Heiden-)Völkern« geht. Die Heiden aber gehören vor der Taufe noch nicht zu Gott. Es genügt daher nicht, wenn sie nur an Jesus übereignet
Das Evangelium nach Matthäus
werden. Ein Anliegen, das der Erstnennung des Vaters in Mt 28 entspricht, zeigt 1 Petr 1,1, wo ausdrücklich die Erwählung durch den Vater in die erste Zeile gerät. Andererseits kennt das frühe Christentum die Taufe auf den Heiligen Geist, und zwar zunächst unabhängig von der Wassertaufe, dann aber bald in Verbindung damit, da ein sichtbares Zeichen Sicherheit gab. Während die reine Wassertaufe ursprünglich von Johannes dem Täufer praktiziert wurde, war die Geisttaufe in der paulinischen Mission üblich. Apg 19,1-6 zeigt anschaulich, wie die Taufe nach der Art des Johannes auch von frühen Christen geübt, dann aber durch die Taufe auf den Namen Jesu ersetzt und schließlich um die Geisttaufe ergänzt wurde, die z. T. dann auch per Handauflegung gespendet wurde. Daher kann man sagen: Die Verbindung Vater – Sohn – Geist bei der Taufe meint eine sachlich in sich konsequente Stufung der Schritte zum Heil. Der Vater erwählt die Heiden, die Zueignung an den Sohn ist das ursprünglich unterscheidend christliche Merkmal bei der Wassertaufe (im Unterschied zur Johannestaufe), und die Taufe auf den Geist war ursprünglich der große Unterschied gegenüber der Taufe des Johannes. Die Taufformel nach Mt 28 fasst daher alle christlichen Besonderheiten zusammen: die Heidenmission, die Zueignung zu Jesus bei der Wassertaufe und die Taufe auf den Heiligen Geist. Ist in Mt 28 die triadische Abfolge der Personen liturgiegeschichtlich erklärbar? In verwandten Formulierungen steht öfter die Erwählungsaussage voran – könnte das ähnlich motiviert sein könnte wie in Mt 28? Das beträfe dann 2 Thess 2,13 (triadische Formel: der Herr liebt uns, Gott hat uns erwählt, der Heilige Geist geheiligt) und 1 Petr 1,2 (Gott Vater als der Erwählende ist zuerst genannt). Oder ist dieser Ausdruck doch einfach tiefer in der Christologie verankert? Zusätzlich erklärt auch das allgemeine Phänomen der triadischen Reihen in kürzeren Texten die sprachliche Gestalt der Taufformel von Mt 28. Man kann Mt 28,19 auch im Sinne von Sendung und abgestufter Repräsentanz verstehen. Dann liegt auf dem ersten und dem letzten Glied besondere Betonung. Der Vater ist der Ursprung.
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Kapitel 28
Er sendet zunächst den Sohn, der ihn repräsentiert. Dieser sendet den Heiligen Geist, der ihn und den Vater repräsentiert. Der Täufling begegnet auf der »untersten«, letzten Ebene dem Heiligen Geist und durch ihn auch dem Sohn und dem Vater. Die Repräsentanz durch den Heiligen Geist wäre dann eine Art Subdelegation. Dann wäre Mt 28,19 besonders in die Nähe von Texten zu rücken, die die Geisttaufe stark betonen (wie 1 Kor 12,13). Das schließt natürlich eine Wassertaufe nicht aus. In der späteren Auslegung werden Sohn und Geist auch als Zeugen des Taufversprechens angesehen. Das Taufversprechen hat seinen Ursprung im Eid, mit dem in Mysterienvereinen die Neuaufgenommenen sich verpflichten, die ethischen Pflichten einzuhalten. Im Pliniusbrief (Plinius d. J. Briefe X 96) wird dieses auch für die frühchristlichen Gemeinden berichtet: Sie schwören schauerliche Eide – nämlich Eide, die Sanktionen für den Fall der Übertretung enthalten. – Bei dem römischen Theosophen und »Christen« Elkesai finden wir die Nachricht, dass bei diesem Treueid der Christen bei der Taufe Zeugen anwesend waren. Elkesai nennt deren sieben. Nach dem Alten Testament (Dtn 15,19) sind aber nur zwei bis drei Zeugen notwendig. Diese zwei oder drei Zeugen, zumindest zwei, konnte
129 man in der Taufformel nach Mt 28,19 genannt finden. So entspricht die Taufe auf der Seite der künftigen Christen recht gut dem, was Jesus den Jüngern als sein Mit-Sein verheißt: Die Taufe ist nicht nur Abschiedsgeschenk Jesu, sondern auch die Brücke zu seiner künftigen Gegenwart im Volk der befreiten Jüngerinnen und Jünger. Auffallend ist, dass bei dem Missionsauftrag in Mt 28 der explizite Hinweis auf Wunder fehlt, etwa im Gegensatz zu Mk 16. Nun kann man allerdings die Verheißung des Mitseins auch als Verheißung der Begleitung durch Wunder auffassen, und zwar analog zu Joh 3,2 (Jesus wirkt Zeichen, also ist Gott mit ihm). – Aber bei Mt gibt es offenbar zwei unterschiedliche Arten von Mission, die eine für Juden, die sich an Zeichen orientiert (Mt 10), die andere für Heiden, über die Mt 28 berichtet. In dieser Mission steht die Belehrung im Vordergrund. So kennt es auch Paulus nach 1 Kor 1: Juden fordern Zeichen, Heiden Belehrung. Paulus und Mt bezeugen daher die gleiche Zweiteilung der Mission. Daher bedeutet das Wort »Völker« in Mt 28,20 die Heidenvölker und nicht Israel. Die Mission in Israel hat andersartigen Charakter, sie wird in den Städten Palästinas nicht zu Ende geführt sein, bis der Menschensohn kommt (Mt 10).
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Das Evangelium nach Markus
Kommentare: Beda Venerabilis (vor 735). – Theophylakt (1080). – Hugo v. St. Cher (vor 1264). – Petrus Iohannes Olivi (vor 1298). – Nikolaus Lyranus (vor 1349). – Dionysius Carthusianus (vor 1471). – Faber Stapulensis (1521). – C. Hegendorf (1525). – Erasmus v. Rotterdam (1535). – J. Calvin (1540). – J. de Sylveira (1697). – J. C. Wolfius (1741). – F. Peikhart (1753). – W. M. L. de Wette (1846). – H. A. W. Meyer (1867). – A.-J. Liagre (1883). – B. Weiss (1887). –
M.-J. Lagrange (1896). – H. J. Holtzmann (1901). – J. Wellhausen (1903). – A. Loisy (1912). – P. Alfaric (1929). – A. Schlatter (1935). – E. Klostermann (1950). – J. Schmid (1958). – J. Schniewind (1960). – E. Lohmeyer (1963). – E. Haenchen (1966). – E. Schweizer (1967). – W. Grundmann (1973). – R. Pesch I-II (1976/77). – J. Gnilka I-II (1978). – W. Schmithals I-II (1979). – J. Ernst (1981). – D. Lührmann (1987).
EINFÜHRUNG Entstehungszeit und Adressaten des MkEv Das MkEv vermeidet jede Äußerung, die schlafende römische Hunde wecken könnte. Der Davidsohn-Titel wird von Jesus selbst abgelehnt (nicht bejaht). Pilatus wird entlastet. Die Wirren und Unruhen der Zeit werden von der Zukunftserwartung der Christen abgetrennt. Jesus war auch kein Gerichts- oder Unheilsprophet, dessen Fluch etwa die künftige Zerstörung des Tempels hätte hervorrufen können. Jesus war deshalb auch nicht der Gräuel der Verwüstung, der zur Entweihung und damit für manche zwangsläufigen Zerstörung des Tempels geführt hätte. Mk 12 versucht eine Einordnung der Christen in verschiedene jüdische Gruppierungen. Das setzt voraus, dass die Adressaten noch unter Juden leben. Das könnte in Palästina, in Antiochien, in Alexandrien oder in Rom der Fall gewesen sein. Nur an diesen Orten gab es genug Juden, gegenüber denen Profilierung oder Auseinandersetzung angebracht waren. Die Zerstörung des Tempels ist vorhersehbar; die mit Jesus gekreuzigten Banditen sind vielleicht Terroristen, so auch Bar-Abbas. Eine »neue« Quelle für die Datierung bietet m. E. eine neue Auswertung des Berichtes des Flavius Josephus über den Unheilspropheten Jesus, eine grobe Verzerrung Jesu. Der Vorwurf von Mk 14,58 scheint daher nicht ganz wirkungslos geblieben zu sein. Die Gegner des MkEv waren Menschen, die der von Josephus wiedergegebenen Meinung anhingen. Mk hatte bereits oder
noch immer mit solchen Menschen zu tun. Offenbar aber scheint ein Ausgleich mit den Römern dem Evangelisten noch als möglich. Der Evangelist hofft, dies durch extreme Anpassung zu erreichen. Sie geht weit über das hinaus, was Mt, Lk oder gar die Offb bieten. Seine Friedenshoffnungen setzt der Evangelist ausgerechnet auf das römische Militär (Mk 15). Sowohl die Passionsgeschichte (Jesus als Vorbild) als auch die Passagen, in denen die Christen aufgefordert werden, das Martyrium nicht zu provozieren (Mk 10,35-45) und nicht von sich aus zu bekennen, allerdings auch nicht abzuleugnen (Mk 8,38) – alles das setzt starke Verfolgung von Christen voraus. Der Evangelist ist nicht in der Lage, besonders kühnen Mut zu fordern. Diese Zurücknahme des Bekennermuts setzt nicht friedliche, sondern höchst gefährliche Zeiten voraus. Eine solche Phase ist aber in den vierziger Jahren unter Herodes Agrippa I (König 41-44 n. Chr.) belegt (vgl. Apg 12). Von daher würde ich das Jahr 45 als spätesten Zeitpunkt der Entstehung ansehen. Diese Annahme ist allerdings durch keine direkten weiteren äußeren Zeugnisse zu verifizieren. Den Zeitpunkt kann man nur erschließen, indem man davon ausgeht, dass das von Mk Berichtete eine gezielte Auswahl aus den Zeugnissen bzw. Zeugenberichten ist, die ihm vorlagen. Alles Berichtete war demnach für die Adressaten von Interesse. Die Adressaten waren mäßig gebildete Juden- und Heidenchristen.
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Kapitel 1
KOMMENTAR Mk 1: Ankunft des Meassias und erstes Wirken Zum Aufbau: Mk 1,1-12 steht unter dem Thema »die Ankunft des Messias«. Wie ein Herrscher kommt, wie er in die Welt und in die Öffentlichkeit tritt, wie er als Herrscher erkannt wird, das ist stets die Frage, solange es Herrscher gibt. Daher ist das Thema des Weges wichtig, und das bleibt im ganzen Evangelium so, das mit dem Einzug Jesu in Jerusalem ebenfalls wieder eine Ankunft beschreibt. Von da aus betrachtet ist Jesu gesamte Wander-Existenz eine einzige gestreckte Macht-Ergreifung des Messias in seinem Land; der Höhepunkt muss naturgemäß in Jerusalem liegen. (In gewisser Analogie dazu mussten auch später deutsche Könige/Kaiser bisweilen durch Wanderung von einer Pfalz zur anderen ihr Territorium in Besitz nehmen.) In Mk 1 sind daher die Stichworte: Der Wegbereiter (1,2), derjenige, der nach dem Wegbereiter kommt und worin das Mehr besteht, das seine Ankunft bringt. So wird der Wegbereiter nach eigenen Worten als Sklave gesehen, der dem Sohn den Weg bereitet (1,7); der Status des Sklaven wird durch den Sohn überboten. Und der Sohn ist der Stärkere, weil er der Geistträger ist (1,7-8). Der Heilige Geist ist sein besonderes Erkennungszeichen. Entsprechungen zwischen dem Wegbereiter und dem Herrscher werden nicht verschwiegen: Für beide beginnt der Bericht mit »es wurde, es war, es geschah« (griech.: egeneto; einen vergleichbaren Evangelien-Anfang hatte das Ebioniten-Evangelium [Epiphanius, Haereses 30,13,45]: »Es geschah [griech.: egeneto] in den Tagen des Königs Herodes …«); von beiden wird im Zusammenhang der Taufe berichtet (1,4.5.8 und 1,8.9.10), die am Jordan stattfindet. In Mk 1,8 gibt der Täufer selbst einen pauschalen Vergleich (Synkrisis). Während die Gefolgschaft des Täufers für kurze Zeit ganz Judäa und Jerusalem umfasst (1,5), beruft Jesus nach 1,16-20 für die Dauer seine Jünger.
Auseinandersetzung zeigt. Denn Jesus sieht sich von Anfang an verschiedenen Gegnern gegenüber (Satan, Dämonen, Krankheiten, Pharisäer). In diesem fortgesetzten Kampf erweist sich Jesu Vollmacht. Ein wichtiges verbindendes Motiv ist die Reinheit. Denn gegenüber den Dämonen, die unreine Geister sind, hat Jesus den heiligen, reinen Geist empfangen, und er kann mit dem Heiligen Geist alle unheiligen Geister besiegen. Das Motiv der Reinheit ist zentral auch für die Heilung von Aussatz (Mk 1,40-45) und in der Auseinandersetzung mit den Pharisäern, die ihren Namen ihrer Absonderung (farasch) zur defensiven Erhaltung der Reinheit verdanken. Die höchste Steigerung der Auseinandersetzung um die Legitimität Jesu ist in Kap. 3,28-35 erreicht. Denn hier wird Jesus unterstellt, er übe seine Vollmacht im Dienste Satans aus. Daher endet 3,6 auch mit der Tötungsabsicht. Mit dem Thema Reinheit greift Jesus ein messianisches Motiv aus der Erwartung des Judentums auf. Nach Psalmen Salomonis 17 wird der Messias Israel kultisch reinigen. Jesus vollzieht dieses durch Exorzismen und Heilungen, dann aber bei der Tempel-Reinigung in Jerusalem (Mk 11). Nachdem in den Kapiteln 1-3 die Vollmacht Jesu dargestellt wurde, ist die Grundfrage der Legitimität Jesu sozusagen geklärt. Daraufhin kann in Kapitel 4 die eigentliche Lehre Jesu geboten werden. Diese Lehre besteht in Gleichnissen. Mk 4,34 ist daher wirklich so zu verstehen, dass Jesus nur in Verbindung mit Gleichnissen lehrte. Allerdings gehört das Thema Glauben direkt dazu (4,35-41); denn es kommt ja darauf an, sich diese Lehre im Glauben zueigen zu machen. Die Lehre aber besteht u. a. in der Verkündigung des Reiches Gottes in der Gestalt von Gleichnissen.
Die Fortschreibung des Anfangs in Mk 1-4 In den Kapiteln Mk 1-3 wird Jesu Vollmacht beschrieben. Es wird gesagt, dass diese Vollmacht zwar von Gott ist, sich aber nur in Kampf und
»Dies ist das Evangelium, das Jesus Christus, Gottes Sohn, verkündet hat« (Berger/Nord, Das Neue Testament, 62005, 391 ff). Andere mögliche Übersetzung: »Anfang des Evangeliums über
Mk 1,1-8: Der Täufer Johannes
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132 Jesus Christus«. Unser Vorschlag geht davon aus, das Evangelium berichte vor allem über Jesu eigene Verkündigung. Andere orientieren sich an 1 Kor 15,2-4 und nehmen Tod und Auferstehung als zentrale Daten des so genannten »Kerygmas« (Kernbotschaft), das in den Evangelien nur illustriert und sekundär historisiert (in die Geschichte verlegt) worden sei. Die Konstellation der Handelnden in Mk 1,2f ist: Gott – Bote – Herr. Dabei ist unter »Bote« Johannes der Täufer zu verstehen, unter »Herr« Jesus. Diese Konstellation wird abgelöst in Mk 1,10f durch Vater – Geist – Sohn. Vergleichbar mit diesem Aufriss der handelnden Personen zu Beginn eines Evangeliums ist der Prolog des 4. Evangeliums. Denn dort ist die Konstellation: Vater – Logos – Täufer. Verwandt ist immerhin Hebr 1,1: Gott – Propheten – Sohn. Wie das JohEv beginnt Markus daher sein Evangelium jedenfalls mit einem »Vorspiel im Himmel«. Auch die Eröffnung durch ein Schriftzitat ist zu Beginn eines Evangelien-Aufrisses nicht selten. Lässt man Apg 10,34 ff als Aufriss eines Evangeliums gelten, dann beginnt dieser in 10,36 mit Jesaja 52,7. Ähnlich der Aufriss über die Tätigkeit der beiden Zeugen in Offb 11,4f: Das Schriftzitat in 11,5-6 erläutert die Vollmacht der beiden Zeugen. Die Übereinstimmungen von Mk 1 mit Apg 10,36-43 und Offb 11,4-13 sind weitgehend und erklären sich aus einer Tradition von Evangeliums-Aufrissen: Identifikation (du bist, dieser ist, diese sind), schriftgelehrte Einordnung (zwei Ölbäume und zwei Leuchter; Mk 1,2f), Salbung (Herabkunft des Geistes, Ölbäume), Darstellung der Vollmacht, Strafwunder, Martyrium und Auferweckung, nachfolgende Einsicht. Der gedankliche Übergang von 1,1 zu 1,2 ist stets als Problem empfunden worden. Unser Vorschlag beruht darauf, das Wort »Anfang« als Überschrift für die Verse 2-3 zu sehen: »[Angefangen hat es mit Johannes dem Täufer.] Denn nach dem Propheten Jesaja sagt Gott über ihn zu Jesus: ›Ich sende meinen Boten vor dir her, er wird dein Wegbereiter sein.‹« Das Evangelium beginnt mit einer Anrede Gottes an Jesus. Dieser ist jedenfalls literarisch präexistent gedacht, also vor seinem Kommen bei Gott existierend. Gott spricht zu Jesus über Johannes den Täufer. Zeuge des Gesprächs und sein Protokollant ist Jesaja.
Das Evangelium nach Markus
Ein mittelalterlicher Beter hat den Text zurecht so gelesen: »Herr, du hast vor der Ankunft deines Sohnes Johannes als Herold (Vorläufer) bestimmt …« Sodann: »Und Jesaja selbst sagt über Johannes: ›In der Wüste wird er auftreten und rufen: Baut für den Herrn eine Straße, ebnet ihm seinen Weg!‹« Jesaja selbst sagt das nicht über Johannes, sondern über Gott, der in der Wüste auftreten und dem sein Volk einen Weg bauen soll, oder über einen Engel. – Wo das griechische Alte Testament vom Herrn im Sinne von Gott sprach, kann Markus diesen Gottestitel »der Herr« mühelos auf Jesus übertragen. Es klingt fast nach Joh 1,1f: Jesus ist vor seinem Kommen bei Gott, und in ihm begegnen die Menschen Gott, »dem Herrn« selbst, er ist wesensgemäß Gott. Zugleich ist der Text eine Aussage über Johannes: Er ist »der« Engel bzw. Bote Gottes. Das Alte Testament kennt streckenweise nur einen Engel Gottes, und das hebr. Wort mal’ak bedeutet einfach »Bote«. Johannes der Täufer saugt diese Funktion in sich auf. Er ist »der« Bote Gottes schlechthin, und Jesus ist »der Herr«, Träger des Namens Gottes. Der Text aus Jes 40,3 wird auch in 1 QS 8,13f zitiert: »… ausgesondert aus der Mitte der Behausung der Männer des Frevels, um in die Wüste zu gehen, dort den Weg des Herrn zu bereiten, wie geschrieben steht: In der Wüste bereitet den Weg des Herrn, macht eben in der Steppe eine Bahn unserem Gott. – Das ist das Studium des Gesetzes …« Der Sinn ist erkennbar anders: Nicht Taufe und Sündenvergebung stehen im Mittelpunkt, sondern intensives Studium des Gesetzes, was freilich auch eine »Umkehr« voraussetzt. Mk 1 betont aber die Autoritäten des Täufers und Jesu stärker. Eine Verbindung des Täufers mit »Qumran« ergibt sich wegen desselben Zitates nicht. Vielmehr ist Jesaja in Qumrantexten genauso beliebt wie im Neuen Testament. Beim Täufer ist Askese zuallererst Zeichen der Buße und gleichzeitig eine Hinwendung zur Vergangenheit, in vor-zivilisatorische Zeiten, als man sich in Felle kleidete und noch nicht kompliziert und aufwendig alkoholische Getränke herstellen konnte. Beim Täufer zeigt diese Askese die Wiederherstellung der Heilszeit an, als Israel in der Wüste wanderte (und lebte). Der Lebensstil des
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Kapitel 1
Täufers ist Zeichen für eine neue Heilszeit. Auch das abschreckende Beispiel der »Städte« und ihrer korrupten Zivilisation motiviert zur Askese in der Wüste. Immer wieder erging über die verruchten Städte (Gomorra, Babylon, Rom) beispielhaft das Gericht. – Auch die strenge Sexualethik des Täufers (Mk 6) weist auf sein Programm der tiefgreifenden Umkehr im Kontrast zu hellenistischer Zivilisation. Zu Mk 1,6: Die im Kern jüdische Schrift des »Martyriums des Jesaja« schildert in 1,8-11, dass Jesaja und andere Propheten und viele der Glaubenden, die glaubten, in den Himmel hinaufsteigen zu können, sich auf einen Berg in der Nähe Betlehems setzten, »an einsamem Ort«. »Alle waren mit einem Sack umkleidet, und sie alle waren Propheten, und sie hatten nichts bei sich, sondern sie waren nackt, trauernd mit großer Trauer über die Verirrung Israels. Und sie aßen nichts, außer dass sie Kräuter ausrupften aus den Bergen.« »In den Himmel hinaufsteigen« meint die prophetisch-ekstatische Himmelsreise, wie sie von Henoch und dann von Rabbi Ismael geschildert wird. Jesus erlebt Vergleichbares bei der Verklärung. Die Grundausstattung aber entspricht der des Täufers. Zur Tracht des Täufers vgl. auch 2 Kön 1,8 (Elia: langes Haar und Ledergurt um die Hüften). Zu Mk 1,8 ist zu fragen, wo es denn im MkEv geschieht, dass Jesus mit dem Heiligen Geist tauft. Ausdrücklich geschieht das innerhalb der synoptischen Tradition nur in der Apg, und zwar etwa nach 2,33: Jesus ist zur Rechten Gottes erhöht und nimmt den verheißenen Heiligen Geist vom Vater, und er gießt ihn aus auf die Apostel und die Christen, die sich taufen lassen, zum Beispiel in Apg 10,44. Die Beziehungen zwischen MkEv und Apg sind oft beobachtet worden und sind relativ eng. Hat Markus Apg gekannt – oder umgekehrt? Oder vollzieht Jesus die Taufe mit dem Heiligen Geist, indem er in der Kraft des Heiligen Geistes, der in ihm ruht, unreine Geister austreibt und insofern diese Menschen dem Heiligen Geist unterstellt?
Mk 1,9-11: Die Taufe Jesu Zu Mk 1,11: Die Himmelsstimme orientiert sich wohl mehr an Jes 42,1 als an Ps 2,7. Vorzug dieser Lösung: Der »geliebte« und der »Geist« sind hier gegeben. Nachteil: Im Hebräischen steht »Sklave«, allerdings bietet LXX »pais«, was eben auch Kind oder Sohn bedeuten kann. Vom »heute habe ich dich gezeugt« des Ps 2,7 ist bei der Taufe nicht die Rede, und auch das »geliebt« ist nicht aus Ps 2,7 zu erklären. Die vollständige Fassung des LXX-Zitates Jes 42,1-4 bietet Mt 12,18-21. Mk 1,10.11 bietet die klassische Abfolge von Vision und Audition, ähnlich die Verklärung in Mk 9,3 f.7a.7b. Das Verhältnis von Taufe und Verklärung: Die Taufe erklärt Jesus und den Lesern des MkEv, wer Jesus ist; der Form nach ist der Taufbericht eine Installation (»Du bist …«, vgl. Mt 16,18; Ps 110,4). Die Verklärung richtet sich an die Jünger; denn sie bekommen gesagt, welche Autorität ab jetzt gilt: allein der Sohn. Gattung: Proklamation (»Dieser ist …«). Die Geistverleihung an Jesus nach Mk 1,10f schließt den Ursprung Jesu durch den Heiligen Geist nicht aus, wie oft argumentiert wird. Lukas kennt beides (1,35 und 3,22). Der Heilige Geist ist keine Konserve, die man ein für alle Mal hat oder nicht hat, sondern auch die Christen können ständig um dessen Mehrung beten. Auch hier gilt das messianische Prinzip der Fülle und nicht nur die Ausstattung mit dem Notwendigsten. Wenn es heißt, Gottes Geist sei auf Jesus herabgekommen wie eine Taube, dann bedeutet das: so wie eine Taube fliegt, zielgerichtet und dann auf einer Stelle sitzen bleibt, schnell geradeaus fliegt und dann ruht. Jesus schaut das in einer Vision und sieht damit, wie Gott zu ihm kommt – heute würden wir sagen: wie ein Duschregen, wie ein Feuerstrom in einem Hüttenwerk, wie eine Windhose, die wie eine Säule ist und nur eine Stelle trifft. Gott fällt herab und bleibt ruhen auf Jesus. Denn der Heilige Geist ist niemand anders als Gott selbst. Und indem Jesus das schaut, erblickt er Gottes Bewegung auf ihn selbst hin, in gewissem Sinne das, was er ist, die Weise, in der er Gottes Kind ist. Das Entscheidende ist, dass Gottes Geist auf ihm ruht, und so sagt es auch die Himmelsstimme im apokryphen Taufbericht des Hebräer-Evangeliums: »Du bist mein Ruhe-
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134 ort.« Wo kann Gott, der sprudelndes Leben ist, zur Ruhe kommen? Zeugnisse der frühen Christen aus dem 2. und 3. Jh. nennen Gott Bewegung und Ruhe zugleich. Er ist Bewegung, weil er lebendig ist und sprudelnde Quelle des Lebens. Er ist Ruhe, weil er nicht vergänglich ist, nicht auf dem Weg zum Tod, sondern ewig ist und bleibt, in seiner Treue und in seiner Unverwüstlichkeit. Wenn Gott also, der Ruhe und Bewegung ist, in Jesus zur Ruhe kommt, dann ist Jesus der Ort, an dem er Gestalt gewinnt. Deshalb ist Jesus das einzige Bild von Gott. Aber natürlich kein totes, sondern ein lebendiges Bild, ein lebender Mensch als Gottes Bild. Die »Ruhe« schildert etwa ProtEv des Jakobus 18: Als Jesus geboren wird, steht die ganze Schöpfung still. Wenn Gott in Jesus zur Ruhe kommt, dann kann man Jesus auch mit dem Sabbat vergleichen, so wie ihn das Judentum des 1. Jh. erlebt. Denn am Sabbat ruhte Gott, und wenn es Sabbat wird, blicken die zum Gebet versammelten Juden auf die offen gelassene Tür, denn der Sabbat zieht ein. Wie eine Königin, sagt man im frühen Judentum, voll Hoheit, den Menschen Ruhe von aller Mühsal gebietend. Das heißt: Als Gott durch Jesus Christus in die Welt eintritt, erfährt sie Gottes Gegenwart in seinem Sohn als die Mutter aller Sabbate. Und immer, wenn Jesus am Sabbat heilen wird, gilt der Spruch: »Hier ist mehr als Sabbat«, hier ist Gott selbst zur Ruhe gekommen. Und so, wie man sagen kann, alle Welt inklusive Mensch sei für den Sabbat da, auf ihn hin geschaffen, so kann man das auch von Jesus sagen als dem neuen Menschen und dem Ziel der Schöpfung. Wenn aber Gott in Jesus Christus wohnt, dann ist Jesus wie ein Heiligtum. Deshalb kann er sagen: »Hier ist mehr als der Tempel«, nämlich der lebendige Ort der dynamischen Gegenwart des lebendigen Gottes. Im Übrigen weist die Kombination von Taufe durch Wasser und Geist (vgl. Joh 3,5!) mit der Versuchung auf den Weg jedes Christen. Jesus erfährt im Prinzip dasselbe wie jeder Christ bei der Taufe; in Mt 3,5 heißt das »alle Gerechtigkeit erfüllen«. Nach späteren Kirchenordnungen wird bei der Taufe von Christen Mk 1,10f oft zitiert. Diese Bemerkung bezieht sich auch auf das, was Joh 1 berichtet, dass nämlich Jesus vom Täufer nicht getauft wurde (ähnlich auch Apg 10,37b).
Das Evangelium nach Markus
Die Berichte in Mk 1 über die Johannestaufe und die Taufe Jesu sind einzuordnen in die frühchristliche Geschichte der Taufe. Die Taufe des Johannes besteht aus Sündenbekenntnis, Untertauchen und mutmaßlich folgendem Gebet um Sündenvergebung (jüdisches Vorbild in Sib 4); laut Apg 18 findet sie sich auch noch bei späteren Christen, bei denen die Taufe noch nicht christologisiert wurde. Neben der Johannestaufe steht die reine Geisttaufe (1 Kor 12,12f), die sich wohl mit Verkündigung und Gläubigwerden vollzieht; der Heilige Geist wird hier verstanden als Gabe des neuen Lebens, daher kann man die Geisttaufe auch verstehen als Wiedergeburt (Tit 3) oder Geburt von oben (Joh 3). Wegen des Mangels der Formlosigkeit verbindet man diese Geisttaufe mit der Wassertaufe, gibt dieser aber dadurch einen neuen Inhalt; so geschieht es in Mk 1,9-11 und Joh 3,5. Primär an Jesus orientiert ist dagegen von Anfang an die Wassertaufe »auf den Namen Jesu« oder »auf Jesus«, die sich ihrerseits nun mit der Geisttaufe verbinden konnte (Mt 28,20: der Heilige Geist und der Vater in Ergänzung der Taufe auf den Namen Jesu; Apg 8.18). Eine Variante der Taufe auf den Namen Jesu ist auch die Sündenvergebung bei der Taufe durch Anrufung des Erhöhten (1 Petr 3,22). Die Endgestalt der christlichen Taufe ist daher Resultat eines längeren »ökumenischen« Prozesses. Das Verhältnis zwischen Johannes dem Täufer und Jesus ist im frühen Christentum unterschiedlich vorgestellt: 1. Kriterium der Differenz ist die Taufe: Wassertaufe oder Geisttaufe (Mk 1). – 2. Johannes ist Wegbereiter, Jesus der Kommende, der Herr (Mk 1; ähnlich Joh 1: Johannes zeugt vom Licht, Jesus ist das Licht). – 3. Johannes ist priesterliche Endzeitfigur, Jesus die königliche (Lk). – 4. Johannes ist der Freund des Bräutigams, Jesus ist der Bräutigam (Joh 3,29). – 5. Johannes ist der bedeutendste Mensch, aber jeder aus Gott Geborene ist größer als er (Mt 11,11; Lk 7,28). – 6. Beide sind Boten der Weisheit, Johannes zum Weinen, Jesus zum Mitfreuen (Lk 7; Mt 11). – 7. Johannes ist Stimme, Jesus ist der Logos (Joh 1). – 8. Johannes ist mehr als ein Prophet, Jesus der Messias (Lk 7; Mt 11). – 9. Johannes predigt das Feuergericht, Jesus bringt jetzt schon das Feuer Gottes auf die Erde
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(Lk 12,49). – 10. Anhand der Frage, wer von beiden Elia ist, gilt: Überwiegend in der jüdischen Elia-Erwartung ist die Abfolge Elia/Tag des Herrn. Nicht üblich (eher ungeläufig) ist dagegen die Abfolge Elia/Messias. Deshalb kann das Verhältnis Täufer/Jesus nur im Sinne von Elia/ Menschensohn gelöst werden. Denn der Menschensohn gehört eindeutig zum »Tag des Herrn«.
Mk 1,13: Die Versuchung Jesu in der Wüste Die »Versuchung« hat ihren formgeschichtlichen Ort im Anschluss an die Berufung oder Bekehrung oder die anfängliche zentrale Begegnung mit dem lebendigen Gott. Daher erlebt Jesus genauso eine Versuchung, wie die klassische Bekehrung zu Gott eine nachfolgende Versuchung vorsieht; das gilt etwa von Abraham (das Judentum zählt 22 Versuchungen, nachdem Abraham der erste zu Gott Bekehrte war), es gilt von Hiob nach TestHiob (griech. Schrift des 1. Jh. n. Chr.; Hiobs Leiden werden als versucherische Probe auf seine Bekehrung zum jüdischen Gott hin verstanden), und es gilt auch für die Christen in Thessaloniki (1 Thess 3). Das Auftreten des Teufels hat hier ebenfalls einen relativ festen Ort. Auch dem Jak ist die Motivkombination von Mk 1 geläufig (Glaube, Versuchung, Bewährung; vgl. Jak 1,2 f.12), ebenso 1 Petr 1 (Glaube, Versuchung, Erprobung, Herrlichkeit). Der Satz »und die Engel dienten ihm« wird im Rahmen der Überlieferung der Versuchung Jesu gut verständlich nur im Blick auf die Fassungen bei Mt und Lk. Denn dort zitiert der Teufel in Lk 4,10, nachdem er Jesus aufgefordert hat, sich von der Zinne des Tempels zu stürzen: »Seinen Engeln wird er gebieten für dich, dich zu bewachen« und »auf Händen werden sie dich tragen, damit du nicht anschlägst an einen Stein deinen Fuß« (Ps 91,11f). Jesus antwortet darauf: »Du sollst nicht versuchen den Herrn, deinen Gott.« – Der Leser wird dennoch fragen, welche Bedeutung Ps 91,11f haben könne, nachdem das darin Verheißene nicht geschehen konnte. Das aber, was Ps 91,1f formuliert, kann man als »dienen« gut zusammenfassen. Die Fassung von Mk 1,13 wehrt jedes Missverständnis aus der Fassung bei Mt oder Lk ab. Damit aber setzt Mk eine Überlie-
135 ferung wie die bei Mt oder Lk voraus. Denn Schutz und Fürsorge durch Engel, die bei Mt und Lk abgelehnt werden, werden bei Mk ausdrücklich bejaht. Das aber würde einmal mehr an der Zwei-Quellen-Theorie rütteln. Theologisch sagt Mk 1,13b dann: Gott lässt sich zwar nicht versuchen, aber er erfüllt die Verheißung von Ps 91,1f sicher, aber – abgesehen von der Situation der Versuchung – dann, wenn er es will. Eine andere Deutung zu Mk 1,13: Der Text ist in seiner Knappheit rätselhaft. Der Satz »und er war mit den Tieren« fehlt auch in den sonst ausführlicheren Versuchungsberichten nach Matthäus und Lukas. Dass die Engel Jesus dienten, bedeutet, dass sie ihn mit dem Notwendigen versorgten, mit Wasser und Brot und einem Zelt in der Nacht. Das Dienen der Engel ist nicht als Belohnung am Ende dargestellt, sondern dauert offenbar die vierzig Tage über. Demnach ist jedenfalls bei Markus nichts von einem Fasten Jesu berichtet! Der Text wird daher zu Unrecht immer im Licht der Berichte bei Matthäus und Lukas gelesen, bei denen der Hunger dann auch in der Versuchung ausdrücklich eine Rolle spielt. Denn wer durch Engel ernährt wird, muss nicht fasten und nicht hungern! Es wird auch nicht gesagt, dass die wilden Tiere Jesus dienen. Das lapidare »Er war mit den Tieren« setzt aber offensichtlich voraus, dass sie Jesus nichts angetan haben, denn sonst hätte er die 40 Tage nicht überlebt. – Es ist auch nicht von Engelspeise die Rede, denn Jesus ist in der Wüste nicht im Paradies. Überhaupt fehlen durchweg Anklänge an das Paradies, und die Wüsten in Palästina haben mit dem blühenden Garten, als den die Bibel das Paradies beschreibt, wirklich nichts gemeinsam (außer dass Wohnhäuser fehlen). Daher muss man auch nicht an b. Talmud, Traktat Sanhedrin 59b denken: »Der erste Mensch hat im Garten Eden zu Tische gelegen, und die Engel des Dienstes brieten ihm das Fleisch und seihten ihm den Wein durch.« Es geht daher weder um den zweiten Adam, noch um die Wiederherstellung der Ordnung des Paradieses. Relativ große Ähnlichkeit scheint noch mit diesem Text des 2. Jh. n. Chr. zu bestehen: »Der Teufel wird von euch fliehen, die Tiere werden euch fürchten, der Herr wird dich lieben, Engel werden sich eurer anneh-
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136 men« (Testament des Naphtali 8,4). Doch es fehlen die Versuchung, die Wüste, die 40 Tage, und der Teufel flieht Jesus nicht, sondern macht sich an ihn heran und versucht ihn. Das Motiv, dass Tiere einen Menschen fürchten (wie es sich nach Gen 1f gehört!), gilt von jedem Menschen, der »gerecht« und »heilig« ist (vgl. Franz von Assisi). Der Ertrag der üblichen Suche nach Parallelen im Frühjudentum bleibt daher mager. Eine wirklich enge Entsprechung mit theologischer Tiefe ergibt sich dagegen zu 1 Kön 19,8. Zunächst: Es ist die Rede von Elia, Gottes Propheten. Gerade nach dem Bericht des Evangelisten Markus besteht eine durchgehende Typologie zwischen Elia und Jesus: Jesus beruft die Jünger wie Elia, er erweckt die Tochter des Jairus nach dem »Rezept« des Elia, er wirkt das Speisungswunder mit den Broten wie Elisa, Schüler Elias, er spricht mit Elia bei der Verklärung; man diskutiert, ob er selbst oder ob Johannes der Täufer der wiedergekommene Elia ist. Von daher hat jede weitere Entdeckung von Elia-Typologie einen soliden Rahmen. Nun zu 1 Kön 19: Elia muss sich vor König Ahab fürchten, weil dieser alle Propheten töten lässt. Elia flieht und »begab sich eine Tagesreise weit in die Wüste hinein und setzte sich unter einen Ginsterstrauch. Er wünschte sich den Tod und sprach: Genug ist es jetzt, o Herr! Nimm mein Leben hin … Dann legte er sich nieder und schlief unter einem Ginsterstrauch ein. Da plötzlich berührte ihn ein Engel und sprach zu ihm: Steh auf und iss! – Er sah sich um und bemerkte zu seinem Kopfende einen gerösteten Brotfladen und ein Gefäß mit Wasser. Er aß und trank und legte sich von neuem nieder. Da kam der Engel des Herrn zum zweiten Mal, rührte ihn an und sprach: Steh auf und iss, denn sonst ist der Weg zu weit für dich! So stand er auf, aß und trank und ging in der Kraft dieser Speise 40 Tage und 40 Nächte bis zum Gottesberg Horeb … Ich allein blieb übrig, doch auch mir trachteten sie nach dem Leben« (1 Kön 19,4-10). Die Entsprechungen: Es handelt sich um eine wirkliche Versuchung oder Anfechtung, nämlich durch die Angst vor dem Tod. Jesus hatte dazu Anlass durch das Martyrium Johannes des Täufers. Dass »alle Propheten« getötet werden (1 Kön 19,1), findet sich gerade auch in den syn-
Das Evangelium nach Markus
optischen Evangelien als generelle Aussage wieder. Die Anfechtung dauert 40 Tage und 40 Nächte lang. Der Ausdruck »dienen« bezieht sich im Neuen Testament speziell auf das Bereitstellen von Nahrung. An die Stelle des einen Engels bei Elia treten bei Jesus mehrere Engel. Die wunderbare Bereitstellung von Nahrung kehrt in der Elia/Elisa-Tradition genauso wie bei Jesus dann auch als Speisung einer Volkmenge wieder. Die Deutung der Versuchung auf Angst vor dem Tod ist deshalb plausibel, weil in allen anderen Versuchungen Jesu dasselbe Motiv auftaucht (bei Petri Versuch, ihn am Leiden zu hindern, in Getsemani, am Kreuz). Man darf daher davon ausgehen, dass Jesu erste Versuchung schon durch eben genau dieses Vorwissen Jesu geprägt war. Die Überwindung der Versuchung trägt bei beiden wesentlich dazu bei, dass sie ihren Prophetendienst überhaupt erfüllen können. Beide Propheten sind auf dem Weg zu einem Berg (Horeb – Berg der Verklärung, Golgota), auf dem sich ihnen Gott zeigen wird. In der Tat ist Jesu Predigt nach Markus ein einziger Weg zum Berg der Verklärung und dann nach Golgota. Das Schema des Weges wird noch einmal von Elia her verständlich. In der aramäischen Version der Targume wird die Ähnlichkeit verstärkt: Dort heißt es, Elia kam zu dem Berg, auf dem die Herrlichkeit des Herrn geoffenbart wurde. Genau das geschieht auf dem Berg der Verklärung. Ferner wird das »Element« Engel verstärkt: Von Engelheeren und von der Schechinah ist die Rede. Während in Mk 1,13 der Bericht schließt »und Engel dienten ihm«, endet der Bericht in 1 Kön 19 mit der Berufung des Elisa, und der letzte Satz des Kapitels (V. 21) heißt: Und er folgte Elia nach und diente ihm. Unterschiede: Bei Jesus heißt der Berg nicht Horeb. Der entsprechende Berg ist in der Verkündigung Jesu der Berg der Verklärung, auf dem Elia aber erscheint. Allerdings wird er noch nicht in Mk 1, sondern erst in Mk 9 erwähnt. Bei Jesus muss die Todesangst erst erschlossen werden. Jesus spricht auch nicht mit den Engeln. – Bei Elia gibt es keinen äußeren Versucher (Satan).
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Die folgende typologische Gegenüberstellung kann die Beobachtungen noch vertiefen: Zwei Propheten zu Beginn ihres Weges, der ihnen ein Weg in den Märtyrertod zu sein scheint und bei Jesus dann auch ist. Beide werden am Ende entrückt, nach Apg 1 mit demselben Wort: »Er wurde hinweggenommen.« Für beide Propheten führt der Weg auf den Berg der Herrlichkeit, für Jesus dann sogar wirklich auf den Berg Golgota. Jesus geht daher einen großen Zwischenschritt weiter als Elia: den in den wirklichen Märtyrertod. Beide Propheten werden von Engeln ernährt und gestärkt für ihren Weg. Denn beide Propheten sind in der Wüste Juda. Auch der Gottessohn darf, weil er ganz Mensch ist, Angst haben vor dem Tod, wie jeder Mensch und wie zuvor Elia. Beiden helfen Engel an der äußerlich schwächsten Stelle, bei Hunger und Durst. Das ist ganz elementar. Die Engel halten keine psychologische Ansprache, keinen Diskurs über das Sterben der Propheten. Sie liefern nicht Tiefsinn, sondern das Nächstliegende, so wie das sonst in ähnlicher Anfechtung auch Menschen tun, die einem nahe stehen. Sie sagen: Komm, iss und trink erst einmal. Die Kraft muss man in sich selbst finden. Und bei Gott. Die Sorge um das Elementarste ist hier die rührendste Weise der Fürsorge. Und eine mütterliche. Wie wenn die Mutter sagt: »Nun iss und trink erst einmal. Dann wird schon alles besser werden.« Die Zeit in der Wüste ist für beide die Zeit der Anfechtung. Denn die Wüste war für Israel immer der Ort der Wahrheit über den Menschen und über Gott. Die Wahrheit über den Menschen ist hier: Der Prophet ist überfordert durch seinen Auftrag. Die Wahrheit über Gott: Er hilft, aber nicht in der Hauptsache. Er hilft im Elementarsten: dass das Leben auf dem Weg weitergeht. In der Hauptsache, in der Besiegung der Angst vor dem Tod, kann Gott den Menschen nur gefasst machen, aber nicht – vorläufig nicht – den Tod beseitigen. Die Hauptsache wird erst in einem langen Weg und Prozess geklärt, den Gott und Mensch zusammen durchmachen, das Elementarste jetzt. Gott bleibt verhüllt – er sendet bis auf weiteres nur Engel. Gott bleibt nicht verhüllt: Dass Engel in der
Wüste helfen, ist schon ein Wunder. Dass der Weg auf den Berg der Herrlichkeit führt, zeigt, wohin alle Wege führen können, auf denen sich Gott mit den Menschen einlässt. Mir scheint wichtig, dass wir das Bild des weiten Weges begreifen. Beide Propheten haben auf diesem weiten Weg einen Auftrag. Und das gilt über diese »Propheten« hinaus: Auftrag, Anfechtung, Weiterleben, Berg der Herrlichkeit. Auch bei Jesus, den der Tod am Kreuz erwartet, ist der Berg der Verklärung ein Abbild des Berges der Herrlichkeit, zu dem Gott ihn führen wird. Was die Bibel mit der Zahl der 40 Tage zu sagen hat: 40 Tage ist das Maß des Menschen vor Gott. Genau 7 40 Tage dauert die Schwangerschaft, 40 Tage sind Jesus und Elia in der Wüste, 40 Tage ist Mose auf dem Berg Sinai vor Gott. 40 Jahre zieht das Volk durch die Wüste auf das gelobte Land hin. 40 Tage erscheint der Auferstandene den Jüngern nach Ostern bis zum Abschluss in der Himmelfahrt nach Apg 1. Und 40 Tage dauert jedes Jahr die Fastenzeit, nach 40 Tagen hält man in der katholischen Kirche ein »Seelenamt« für den Verstorbenen, denn 40 Tage ist auch die Zeit der Trauer.
Mk 1,14-20: Jüngerberufung Zu Mk 1,15: Der Gattung nach eine begründete Mahnrede; 1,15a ist eine Proklamation (vgl. Lk 21,8b). Zumeist übersieht man angesichts der frohen Botschaft in V. 15 das, was bereits im ersten Satz (V. 14) steht: »Nachdem Johannes der Täufer ins Gefängnis geworfen wurde …« Gefangennahme und Martyrium des Täufers sind für Jesus offensichtlich das sichtbare Signal, mit der Predigt von der Fülle der Zeit zu beginnen. Lk 16,16 ist daher eine gewisse Parallele zu Mk 1,14f: »Bevor Johannes der Täufer auftrat, gab es nur das Gesetz und die Propheten. Seitdem er aufgetreten ist, wird das Evangelium von Gottes Herrschaft verkündet, und unter diese Herrschaft soll jeder Mensch gebracht werden.« Johannes war für Jesus nicht nur Bote Gottes mit gleicher Botschaft – an erster Stelle fordert auch Jesus nach V. 15 zur Umkehr auf –, sondern auch der größte und wichtigste aller Menschen, den es je gegeben hat (Lk 7,28). Als Herodes Johannes regelrecht ermordet, stehen die Zeichen
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138 für die Welt auf Sturm. Denn dass die Herrschaft Gottes sich offenbaren wird, das wird keine freundliche Ergänzung bestehender Herrschaften sein, sondern dorthin führt ein Weg über die Leiden der Gerechten, Jesus inbegriffen. Diese Abfolge von Leiden und Herrlichkeit mutet Jesus auch den Jüngern zu, die er im Folgenden berufen wird. Die Verbindung von »Herrschaft Gottes« und Evangelium ist seit Jesaja und seiner Wirkungsgeschichte im Judentum nicht ganz neu (vgl. Jes 52,7). Das Neue Testament knüpft an die theologische Bedeutung von besora bei Jesaja an, und zwar im Sinne der Botschaft vom Anbruch der Heilszeit. In stärker traditioneller Sprache sagt Offb 14,6-7 dasselbe: Die Verkündigung des ewigen Evangeliums ist der Aufruf, Gott zu fürchten und zu ehren; vgl. 1 Thess 1,5 (Evangelium) und 1,9 (von den Götzen zu Gott bekehrt). Denn eben darin besteht Gottes Herrschaft, dass die Menschen Gott anerkennen. Und dieses geschieht nicht an einem bestimmten Punkt, sondern es umfasst eine ganze Geschichte, zu der wesentlich die Stationen Umkehr, Leiden und Herrlichkeit gehören. – Für die neutestamentliche Verwendung des Begriffs »Evangelium« (und des Verbs »das Evangelium verkünden«) hat Jes 61,1 besondere Bedeutung. Denn von hier ist die Verbindung von Evangelium und Ausstattung des Verkündigers mit Gottes Geist vorgegeben. Wesentlich von hier aus ist die Verbindung von »Evangelium« in Mk 1,1.14 mit der Verleihung des Heiligen Geistes an Jesus in Mk 1,10 zu begreifen. Und die Geistverleihung ist das Privileg des Sohnes Gottes Jesus gegenüber dem Täufer. Insofern ist Mk 1,1-14 ein Beitrag zu der durch Lk 16,16 aufgeworfenen Frage der Zeitentrennung. Und wenn Jesus sagt, die »Herrschaft Gottes« sei nahe gekommen, dann meint er: Gottes Sehnsucht danach, mit und bei seinem Volk gemeinsam zu wohnen, ist ganz stark. Und wer Jesus hört, seinen geliebten Sohn, der kann schon ihn, Gott selbst, hören. An dem, was Jesus tut, kann man schon erkennen, was Gott demnächst an seinem Volk tun wird: Er wird dessen Arzt sein. Und alle Zeichenhandlungen Jesu weisen in diese Richtung: Der Tempel wird wieder rein sein, die Heidenvölker werden dort anbeten. Ganz Israel
Das Evangelium nach Markus
wird sich bekehren, darauf weist die Jüngeraussendung vor Ostern. Gott ist mit Jesus seinem Volk physisch, persönlich und zeitlich ganz nahe gekommen. Die politischen Konsequenzen sind noch verhüllt und eher gegenteilig (Martyrium). Aber in dem, was Jesus tut, inklusive Stiftung des Neuen Bundes beim letzten Mahl, leuchtet überall das Neue auf. Die Berufung der Jünger in Mk 1,19-20 hat eine direkte Parallele in der Berufung Elisas durch Elia in 1 Kön 19,19-21: »Und Elia ging fort von dort und fand Elisa, den Sohn des Safar, der mit Rindern pflügte. Und er ging auf ihn zu und warf seinen Mantel auf ihn … Und Elisa sagte: Ich will Abschied nehmen von meinem Vater und dir nachfolgen. Und er stand auf und ging hinter Elia her und diente ihm.« Wie bei Markus verändert der berufende »Prophet« seinen Ort, er trifft auf den namentlich genannten künftigen Jünger. Dieser ist gerade mit Arbeit in seinem Beruf beschäftigt. Durch eine Zeichenhandlung oder einfach einen Ruf wird der künftige Jünger angesprochen. Der Jünger folgt dem Propheten nach, wörtlich: Er geht hinter ihm her – inklusive Hilfeleisten und Gehorsam. – Der hauptsächliche Unterschied: Bei Elia bittet der Jünger erst noch, Abschied von seinem Vater nehmen zu dürfen. Dieser Zug hat sich in der Jesus-Überlieferung zwar nicht bei Markus, wohl aber in Lukas 9,5961 erhalten: Ein künftiger Jünger bittet dort: »Erlaube mir erst, wegzugehen und meinen Vater zu begraben«, und in 9,61 bittet ein anderer: »Ich will dir folgen, Herr, erst aber erlaube mir, Abschied zu nehmen von denen in meinem Hause.« In beiden Fällen verweigert Jesus diese Erlaubnis. Lukas sagt daher ausdrücklich, was Markus stillschweigend voraussetzt: Jesus ist strenger als Elia. Er lässt keinen Einwand zu. Josephus gibt diese Berufung in Ant 8,354 wieder: »Als Elia seinen Prophetenmantel über ihn warf, begann Elisa sofort zu weissagen, verließ die Ochsen und folgte Elia nach (griech.: akoluthein) … Er folgte ihm und war Elias Schüler und Diener (griech.: diakonos), solange dieser lebte.« Im Unterschied zu 1 Kön 19 und Mk 1 erlaubt bei Josephus Elia die Verabschiedung von den Eltern. Die Wunderberichte mit Parallelen in der EliaTradition zeigen ganz entsprechend eine Tendenz zur Steigerung der Vollmacht Jesu. In Speisungen
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und Totenerweckungen vollbringt Jesus das Wunder viel leichter und umfassend mächtiger als der Prophet. Und hier, bei der Jünger-Berufung äußert sich die größere Vollmacht als größere Strenge.
Mk 1,21-28: Jesus in Kafarnaum Dass Jesus mit unreinen Geistern spricht und sie austreiben kann, erscheint vielen so genannten »progressiven« Christen nur noch als peinlich. Hat Jesus lediglich vom Glauben an die Dämonen befreien wollen, keineswegs aber von diesen selbst? Untrennbar mit Exorzismen ist eine Auffassung von Wirklichkeit verknüpft, wonach eben nicht der Mensch mit seiner Psyche der Mittelpunkt aller Dinge ist (ein moderner Mythos), sondern wonach er eingebettet in Beziehungen zu Personen und Mächten außerhalb seiner selbst ist. Der Mensch ist daher im Konflikt- oder Katastrophenfall nicht nur mit sich selbst zu versöhnen und in sich selbst zu integrieren. Vielmehr gibt es unsichtbare Wirkfaktoren innerhalb wie außerhalb seiner selbst. So kann er, wenn es um ihm feindliche Mächte geht, von ihnen befreit werden oder Nein zu ihnen sagen. Und eben darin besteht der Vorteil dieser Betrachtungsweise: Man kann von diesen Mächten getrennt werden. Das Fremde »sitzt« in den Betroffenen, aber kann, weil es das Fremde ist, endgültig hinausgeworfen werden – vergleichbar dem Krebs, der im Menschen und von ihm lebt, aber doch da nicht hingehört und beseitigt werden kann. Ferner liegt beim Dämonismus eine Art Dualismus (Zweigeteiltheit der Wirklichkeit) vor, und damit geht es um einen Kampf, um Ja oder Nein, um einen Herrschaftsbereich Gottes und einen solchen des Teufels. Im Aufbau des Evangeliums nach Markus ist Mk 1,21 ff ein eindrückliches Zeugnis für die Vollmacht, die Jesus als Gottes Sohn zukommt. Laut 1,11 hatte ihn der Vater durch eine »Himmelsstimme« ganz persönlich als geliebtes Kind angesprochen. Dieses worthafte Element der Proklamation kommentiert das visionäre Element, das zuvor berichtet worden war, die Herabkunft des Heiligen Geistes auf Jesus. Dem Heiligen Geist Gottes ist nun der
139 unreine Geist entgegengesetzt, dem Jesus nach 1,25 befiehlt, den Kranken zu verlassen. »Unrein« heißt dieser Geist deshalb, weil er eigentlich ein Totengeist ist, und alles Tote ist unrein. Dämonen sind eine besondere Sorte von Totengeistern, nämlich die Geister jener Riesenkinder, die aus der Verbindung von Menschentöchtern und Engeln nach Gen 6 hervorgingen. Der Gegensatz von heiligem und unreinem Geist ist ganz klar »dualistisch« zu nennen. Auffällig ist nun, dass an der Befehlsgewalt Jesu nicht der geringste Zweifel besteht. Als Träger des Heiligen Geistes ist er mühelos den anderen Geistern gewachsen. Und der einzelne Mensch wird als das zwischen unreinem und Heiligem Geist »strittige« Territorium angesehen. Ein mittelalterliches Segensgebet zu diesem Text bringt das gut zum Ausdruck: »Der Gott Emmanuel ist, um uns Menschen sichtbar zu werden, als Wort Fleisch geworden und wollte unter uns wohnen. Er mache euch zu einer würdigen Wohnung für den Heiligen Geist, damit er, der euch als Schöpfer gegenübersteht, auch im Inneren eures Herzens bleibe« (Bischöfl. Segensgebete 694a). Dieses Gebet stellt auch den gesamtbiblischen Zusammenhang her. Denn dass Gott bei den Menschen wohnen will und wird, ist seit alters der Inhalt der so genannten Bundesformel. Jeder Einzelne soll (und alle zusammen sollen) Haus und Tempel Gottes sein. Das erübrigt den Tempel in Jerusalem nicht, macht es aber notwendig, dass er selbst auch rein wird. Und weil der Heilige Geist in Jesus ist, nennt der Dämon ihn »der Heilige Gottes« (1,24). Das entspricht ganz dem Kontext und dem Wirken Jesu, es schlägt auch die Brücke zur Richterzeit, denn »Heiliger Gottes« ist auch der Titel des als Nasiräer lebenden Simson (Ri 13,7; 16,17 nach Handschriften der griech. Bibel). Daher geht der Ausdruck »Nazarener« hier womöglich auf »Nasiräer« zurück. Denn die Nasiräer gelten – zumal für die Zeit ihres Gelübdes – als heilig. Nasiräische Züge sind auch für den Täufer und den »Herrenbruder« Jakobus überliefert. Wenn man Jesus so nannte, weil Nasiräer zu dieser Zeit Inbegriff der Heiligkeit geworden war (Weinverzicht als nasiräisches Merkmal kommt bei Jesus ab Mk 14,25 in Frage, wann auch immer er dieses Wort gesagt hat; aber es gibt immerhin dieses Gelöbnis auf Weinverzicht). – Eine andere Möglichkeit der Herleitung
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140 wäre die von Nasaraioi. Sie stützt sich auf die in Mt 4,13 belegte Ortsbezeichnung Nazara. Die Nazaräer waren eine bei frühen östlichen syrischen und griechischen Kirchenlehrern bezeugte Gruppe von Heilern und Exorzisten. Sie könnte vorchristlichen Ursprungs sein. Denn Epiphanius (Haereses 29.7.3) sagt: »Die Nasaräer existierten vor Christus und kannten Christus nicht.« So nennt er sie (19.5) als jüdische Religionspartei neben Sadduzäern, Essenern und anderen. Das lange zweite a in Nasaraioi konnte offenbar zu o gedehnt werden. In anderen byzantinischen Quellen gibt es daher die Nasorener, exorzistische Magier (griech. palaia). Nach anderen (Theodoret) gibt es judenchristliche Nasoraioi, die Jesus nur für einen gerechten Menschen halten und das Petrusevangelium benutzen (Material in: NovTest 38, 327f). Dass es sich um eine kleine judenchristliche Gruppe handelte, die den älteren Namen und damit auch entsprechende Christologie bewahrten, ist sicher eine ernst zu nehmende Spur. Von besonderer Bedeutung aber ist für mich die Tatsache, dass wiederholt der Prophet Jeremia als Nasaräer bezeichnet wird (ebd.), denn das weist auf eine Buß- und Umkehrbewegung, wie sie oben schon für Mk 1,6 genannt wurde, es weist aber auch auf Mt 16,14 (»Jesus ist Jeremia«). Auch Hieronymus erwähnt ein Jeremia-Apokryphon der Nasaräer. Es kann sich daher um eine jüdische Richtung handeln, die eine hohe natürliche Nähe zum Christentum besessen und auch realisiert hat. Schließlich zum exorzistischen Dialog: Die Frage des Dämon ist im Sinne der Abwehr zu übersetzen: »Was führst du im Schilde gegen mich?« (1,24). Dass der Dämon offenbart, wer Jesus ist (ähnlich auch 3,11: »der Sohn Gottes«) und so zum Zeugen für Jesus wird, ist darin begründet, dass Heiliger Geist und unreine Geister innerhalb derselben Wirklichkeit existieren. Geist wird nur durch Geist erkannt (1 Kor 2,11-15), auch wenn es sich um konträre Geister handelt. Auch in 1 Joh 4,2f ist es jeweils der Geist (aus Gott oder vom Antichrist), der das rechte oder falsche Bekenntnis ablegt. Exorzistische Dialoge sind in der damaligen Umwelt sehr selten und daher ein besonderes Merkmal des Auftretens Jesu und seiner unbedingten Vollmacht.
Das Evangelium nach Markus
Mk 1,29-39: Im Haus des Petrus Zu Mk 1,34: Warum verbietet Jesus den Dämonen, die er austreibt, preiszugeben, wer er ist? Die Szene kennen wir aus 1,24: Der Dämon bekennt Jesus als den »Heiligen Gottes« – Jesus aber bedankt sich nicht für das zutreffende Bekenntnis, sondern befiehlt: »Sei still! Geh da raus!« Ähnlich aber ist auch Mk 3,11f: »Und die bösen Geister fielen, sobald sie seiner ansichtig wurden, vor ihm nieder und schrien: ›Du bist Gottes Sohn!‹ (V. 12). Aber immer wieder fuhr er sie an, sie sollten sein Geheimnis nicht preisgeben.« – Das weist uns auf eines der klassischen Themen markinischer Theologie. Messiasgeheimnis I Genauso wie Mk 1,24 und 3,11f ist also nun Mk 1,34 zu verstehen. Man hat mit diesen Schweigegeboten die abenteuerlichsten Unterstellungen verknüpft. Die bekannteste stammt von William Wrede um 1901: Jesus habe Jüngern, Geheilten und Dämonen Schweigen geboten, weil es das Bekenntnis zu Jesus vor Ostern noch gar nicht gegeben habe. Der Evangelist Markus habe als geschickter Fälscher die in Wahrheit erst nachösterlichen Bekenntnisse in die Jesusüberlieferung so hineingemogelt, dass er behauptete, es habe sie vor Ostern zwar gegeben, doch Jesus habe ihr Verschweigen geboten. So habe man aus der Sicht des Markus am besten vertuschen können, dass es in der historisch glaubwürdigen Jesusüberlieferung ganz lange keinerlei Bekenntnisse gab. Mit dem Satz »Man wusste zwar, aber Jesus hat es zu sagen verboten« habe Markus diesen Mangel ausgeglichen. Markus steht mithin als genialer Fälscher da. Und für ebenso genial hielt man den Entdecker W. Wrede, der offenbar seinen Beruf als Krimi-Autor verfehlt hatte. Wrede nannte das Ganze »Messiasgeheimnis«, und diese Theorie ist bis heute eine der tragenden Säulen der herrschenden Ansicht, alle Bekenntnisse über Jesus seien erst nachösterlich. Wie modern doch Markus war, dass er genau die Wünsche der liberalen Jesusforscher kannte! Denn diese Wünsche waren: Jesus hat nur von Gott und seinem Reich geredet. Alles andere, insbesondere das anstößige Bekenntnis zu Jesus selbst, ist nachösterliche Erfindung der Gemeinde. Der geniale Fälscher Markus habe durch die
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Kapitel 1
anachronistische Konstruktion in seinem Evangelium der Gemeinde ideologisch nachgeholfen. Denn natürlich, so meint man, kann es nicht so gewesen sein, wie es das Evangelium berichte. Aus dem tatsächlichen Nichts machte Markus eine geheime Botschaft. Dagegen ein neuer Vorschlag. Jesus wie auch andere frühe Christen, zum Beispiel der »Herrenbruder« Jakobus sind aus Erfahrung misstrauisch gegen bloße Bekenntnisse, und zwar gegen solche, denen keine Taten folgen. Jesus macht die Erfahrung mit Petrus, der mit Gottes Hilfe das richtige Bekenntnis formuliert, den er aber gleichwohl direkt danach »Satan« nennt (Mk 8,33), weil Petrus die Bewährung im Leiden nicht nur selbst scheut, sondern auch Jesus davon abrät. Ebenso in Mt 7,21f: Jesus warnt vor Leuten, die zwar »Herr, Herr« sagen und sogar Wunder vollbringen, aber Gottes Gebot nicht tun. Das Bekenntnis war nur ein für den Richter, aus dessen Perspektive Jesus in Mt 7 berichtet, leicht durchschaubares Ablenkungsmanöver. Dasselbe gilt auch für Dämonen nach Jak 2: Dafür, dass auf Glaube Werke folgen müssen, führt er als negatives Beispiel die Dämonen an: »Glaubst du einfach nur, dass der eine und einzige Gott existiert? Herzlichen Glückwunsch! Auch die Dämonen glauben das und zittern doch vor Angst« (2,19f). In der Tat: Das Zittern ist angemessen vor der Hoheit Gottes und eine zutreffende Einschätzung dessen, mit dem man es zu tun hat. Doch nur aus Angst zittern die Dämonen, weil sie bekanntlich nur Negatives und keine guten Werke tun. – In diesen Texten scheint mir der Schlüssel für eine Deutung der Schweigegebote bei Jesus nach Markus zu liegen. Beginnen wir mit den Dämonen. Ihr Bekenntnis ist zwar zutreffend, aber nur ein Ablenkungsmanöver. Sie wollen mit dem Bekenntnis schnell und für sie selbst gefahrlos Frieden schließen mit ihrem mächtigen Herrn. Sie haben ihm ja die Ehre zuteil werden lassen, die ihm gebührt, und im Übrigen »bleibt alles beim Alten«. Sie meinen daher offensichtlich, unter der Bedingung des Bekenntnisses vor dem Herrn rundum sicher zu sein. Jak 2,19 nennt das Zittern an der Stelle des Bekenntnisses. Konsequenzen fehlen in beiden Fällen. Jesus will daher das zutreffende Bekenntnis nicht weiter hören und mahnt vielmehr das allein wichtige Tun an: »Geh
141 raus hier!« Genau darum geht es auch nach Mt 7,21f: Ein Bekenntnis, nach dessen Aussprechen dann alles beim Alten bleibt, ist das letzte, das er wollen könnte. Auch die Schweigegebote an die Jünger haben nach der Episode von Mt 16,16.22f (Bekenntnis und Leidensscheu) wohl eine entsprechend ähnliche Funktion. Denn die Jünger haben sich noch nicht im Leiden bewährt. Am Beispiel des Petrus, das erst jetzt an Leuchtkraft gewinnt, kann der Leser im Lauf des Evangeliums verfolgen, wie nötig das Bekenntnis zum Leiden Jesu inklusive eigener Leidensbereitschaft ist. Wie eng beides zusammengehört, zeigt auch die Abfolge von Mk 8,29 (Christus-Bekenntnis) und 8,34 (Wer Jünger sein will, verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich). – Wenn Jesus daher den Jüngern nach Mk 9,9 gebietet, sie dürften erst nach der Auferstehung Jesu das Bekenntnis weitersagen, so hat dieses nach dem Gesagten Sinn: Erst dann wird das Bekenntnis jemand hören wollen, wenn die Jünger in Anfechtung und Leiden oder eben im Versagen demonstriert haben, was ihnen ihr Bekenntnis selbst wert ist. Dass Petrus nach seinem Versagen bereut, wird von hier aus für das Bekenntnis ganz wichtig. Von allen Jüngern wird berichtet, sie seien geflohen (Mk 14,26-31). Nur von Petrus wird gesagt, dass er sich durch Reue besinnt. Das Bekenntnis zum Leiden und noch mehr das Leiden selbst überfordern die Jünger. Wenigstens die spätere reuige Einsicht gibt ihnen die Chance, gleichwohl mit einem Rest an Glaubwürdigkeit das Bekenntnis zu Jesus zu vertreten. Dem Entweichen der Dämonen entspricht daher das Thema Leiden bei den Jüngern. Beides ist notwendige, durch Jesus selbst entweder erzwungene oder nahe gelegte Konsequenz aus dem Bekenntnis zu ihm. Das Bekenntnis »an und für sich« hat keinen eigenen Wert, so wahr es auch sein mag. Hieran wird erkennbar, wie zentral für die christliche Kirche von allem Anfang an die Glaubwürdigkeit ist. Es ist nicht nur die Glaubwürdigkeit im Allgemeinen (gegenüber den zehn Geboten), sondern sehr speziell die Bereitschaft, für Jesus zu leiden. Dass die Frauen nach Mk 16,8 von sich aus die Botschaft nicht weitergeben, hat mit den Schweigegeboten nichts zu tun. Ist es ein Zeichen demütiger Selbsteinschätzung? Oder ist überhaupt das
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142 Verhältnis der Frauen zum Martyrium im 1. Jh. anders? Die erste Märtyrin ist die heilige Thekla, Paulusschülerin. – Weiteres zum Messiasgeheimnis bei Mk 9,9. Zu Mk 1,29-31: Dass Jesus zusammen mit den vier Erstberufenen Petrus, Andreas, Jakobus und Johannes auftritt, ist selten und markiert stets erstrangige Ereignisse. Das betrifft die Berufung, die Heilung der Schwiegermutter des Petrus und die Endzeitweissagung in Mk 13. Mit nur dreien dieser Jünger ist Jesus bei Verklärung und Auferweckung der Tochter des Jairus zusammen, zweifelsfrei gewaltigen Ereignissen. Man kann sagen: Es spannt sich ein Bogen zwischen der Heilung der Schwiegermutter Petri und Mk 13, also der ersten Wunderheilung und der letzten Rede. In beiden Abschnitten geht es in besonderer Weise um die Familien der Jünger, denn in Mk 13 redet Jesus von der Gefährdung der Familien durch Verrat und Verfolgung (Mk 13,12f). Die Heilung der Schwiegermutter Petri am Anfang aber ist ein wichtiges Zeichen für die christlichen Familien: ›Es kann sein, dass ihr die zu verlieren scheint, die sich Jesus anschließen, doch umgekehrt kommen gerade die Heilungsgaben zuallererst euch zugute.‹ Denn Jesus ist nicht familienfeindlich. Großzügig heilend wendet er sich Menschen in dem Bereich zu, den er sonst als den ansieht, auf dem die meisten durch Filz und Gewohnheit an Erneuerung gehindert werden.
Mk 1,40-45: Heilung eines Aussätzigen »Wenn du willst, Herr, kannst du uns rein machen und uns vergeben. Unser Gebet kann wegen unserer Ungerechtheit Vergebung nicht erwirken, doch durch die Fürsprache deiner Heiligen kannst du sie uns schenken.« Dieses mittelalterliche Gebet (Corpus Nr. 5477) nimmt den entscheidenden Satz unseres Textes auf (»Ich will, sei rein!«) und deutet ihn im Sinne der Vergebung der Sünden. Dazu möge Gott die Fürsprache der Heiligen bewegen – menschliches Gebet hilft nichts, denn wir Menschen sind Sünder. Wir fragen: Wie ist, biblisch gesehen, das Verhältnis von Unreinheit und Sünde? Antwort: Grob gesprochen ist »unrein« eine kultisch rituelle Kate-
Das Evangelium nach Markus
gorie. Unrein ist alles, was vom heiligen Bezirk fernzuhalten ist. Unreinheit ist durch Berührung ansteckend. »Sünde« ist dagegen eher das moralische Vergehen, wegen dessen das Gewissen anklagt. Es ist oft ein Vergehen gegen Gerechtigkeit oder Liebe im weitesten Sinne. In diesem Sinne ist jeder an jedem Ort verantwortlich. – Etwa seit dem 2. Jh. v. Chr. neigt man dazu, Unreinheit zur umfassenden Bezeichnung alles dessen zu machen, was Gott nicht will. Dafür spricht auch die räumliche Anschaulichkeit. Die gesamte Moral des Judentums wird priesterlich »unterwandert«. So werden auch Lüge und fehlende Solidarität im Volk ein Vergehen der Unreinheit. Auch die Pharisäer, denen Jesus nahe steht, halten den Unterschied rein/unrein für überaus wichtig. Jesus unterscheidet sich in diesem Punkt nicht von den Pharisäern. Rein und unrein ist für ihn wie heilig und unheilig. Für Jesus liegt alles daran, sich an den Heiligen Geist zu halten und unreine Geister zu überwinden. Und unter allen Umständen kommt es darauf an, dass ein Mensch sich nicht durch das unrein macht, was aus seinem Inneren hervorkommt, nämlich böse Worte und Taten. Die können ihn wirklich verunreinigen. Und wohl deshalb weitet Jesus in der Bergpredigt die Verbote des Mordens und Ehebrechens aus und verbietet das Schwören ganz, weil der Mensch jeder Gefahr der Unreinheit aus dem Weg gehen muss. Zum Beispiel könnte durch das Schwören bei Gott dessen Heiligkeit in unsaubere Geschichten verstrickt werden, und die Folgen müsste der Mensch tragen, denn Verunreinigung von Heiligem rächt sich direkt, schlägt auf den Verunreiniger massiv zurück. – In einem wesentlichen Punkt unterscheidet sich Jesus freilich von den Pharisäern, nämlich in der Frage, wie Unreinheit ursächlich zustande kommt. Nur in dieser Frage stellt Jesus das pharisäische Denken auf den Kopf. Doch die grundlegende Bedeutung von rein und unrein bleibt streng gewahrt. Darin liegt nun der Unterschied: Jesu Reinheit ist nicht defensiv, sondern offensiv. Und die Unreinheit kommt nicht von außen her in den Menschen hinein, sondern sie kommt aus seinem Inneren hervor. Eine nur defensive Reinheit muss stets flüchten vor dem Kontakt mit Unreinem, der anstecken könnte. Sie ist nur durch Ab- und Ausgrenzung zu retten; daher deutet man das Wort »Pharisäer« von fa-
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Kapitel 1
rasch »abgrenzen«. Man muss sehen, dass man sich nicht z. B. an Totem verunreinigt und sollte deshalb vor Leichen fliehen. »Meiden« und »Distanz halten« sind daher die wichtigsten praktischen Regeln für Pharisäer. – Wer dagegen eine offensive Reinheit besitzt, muss nicht fürchten, durch Kontakt unrein zu werden, sondern er selbst macht durch seine Reinheit vorher Unreines nun rein. Seine Reinheit ist offensiv, sieghaft, sie setzt sich gegen Unreines durch. Deshalb kann Jesus Aussätzige rein machen, deshalb kann er den Blutfluss der kranken Frau zum Versiegen bringen (durch Berührung), kann er Tote bei der Hand nehmen und auferwecken, statt vor ihnen zu flüchten. Daher kann er mit dem Heiligen Geist, den er in der Taufe auch sichtbar empfing, die unreinen Geister (Dämonen) siegreich vertreiben. Und da viele Krankheiten nach dem Glauben seiner Zeit auf dämonisches Wirken zurückgehen, kann er sie heilen, denn Dämonen sind (unreine) Totengeister. Auch die Entscheidung gegen das Händewaschen, von der Mk 7 berichtet, haben seine Jünger auf dieser Grundlage gefällt. Denn vor keiner äußerlich begründeten Unreinheit müssen sie Angst haben – nur ganz allein vor der, die darin besteht, dass das Herz böse ist. Doch indem Jesus die Frage nach der Quelle der Reinheit ins Innere, ins Herz verlagert, hat er sie dennoch nicht einfach moralisiert. Jesus ist kein Aufklärer, der die Angst vor magischen Wirkungen durch den Appell ersetzt, einfach anständig zu sein. Denn der Umkehrschluss stimmt nicht: Ein gutes Herz kann noch nicht exorzistisch wirken, Aussatz oder Blutfluss beenden. Vielmehr gibt es das Gute nach den Evangelien nicht als Moral, sondern nur als Gabe des Heiligen Geistes. Und das Böse ist auch nicht einfach Unmoral, sondern ein böses Herz ist besetzt von der teuflischen Gegenmacht. Jesu Auffassung und Praxis von Reinheit ist darin begründet, dass in ihm und durch ihn der Heilige Geist wirkt. Dieses Wirken ist nicht tolerante Humanität, sondern kämpferisches Verbreiten des Herrschaftsgebietes Gottes gegen die Machtsphäre des Satans. Gewiss hat es positive ethische Auswirkungen, wo der Heilige Geist Einzug gehalten hat. Aber das ist nicht alles. Es kommt darauf an, dass die Substanz eine andere geworden ist: Wer ein gutes Herz hat, ist von der Seite Satans auf die Seite Gottes gewechselt.
143 Ich möchte damit warnen vor einem moralistisch verkürztem Jesusbild, bei dem dann folgerichtig für Jesu Macht- und Wundertaten kein Platz mehr ist. Nach unserem Ansatz ergeben sich diese konsequent daraus, dass offensive Reinheit Jesu keine »moralische Leistung« ist, sondern Folge der Anwesenheit Gottes in Jesus Christus. – Ganz ähnlich wird übrigens bei Paulus der traditionelle Konflikt im Menschen zwischen Leib und Geist grundsätzlich ersetzt durch den Konflikt zwischen dem alten Menschen und dem neuen, durch den Heiligen Geist gestifteten Menschen. Auch Paulus wirbt nicht um »das Gute im Menschen«, sondern um das Wirken des Heiligen Geistes Gottes in ihm. Zu Mk 1,44: Warum befiehlt Jesus dem Geheilten Schweigen und statt öffentlichen Verbreitens des Wunders den Gang zu den Priestern? Die Priester sind nach Lev 13,49 und 14,2f die zuständige Instanz zur Beurteilung von Aussatz. Jesus will das offizielle Zeugnis, um jedenfalls für jüdische Leser jeden Zweifel auszuschließen: Die Fachleute haben geurteilt. Mk 3,20 ff wird zeigen, wie nahe bei der Frage von rein und unrein ein grundsätzlicher Zweifel an der Legitimität Jesu liegen kann. Zum anderen ist ihr Urteil auch wichtig, um die sozialen Folgen des Aussatzes, nämlich dauerhafte soziale Diskriminierung, wirksam zu beseitigen. Steht das Verbot von 1,44 in Zusammenhang mit dem Wundergeheimnis? Mit den übrigen Belegen verbindet diesen die Grundeinstellung Jesu: Am leichten, oberflächlichen, schnellen Ruhm liegt Jesus nichts. Bei der Frage des Titels Jesu liegt das Leiden Jesu und der Jünger zwischen Tat und Ruhm. Bei der charismatischen Legitimität Jesu liegt die Bestätigung durch Fachleute dazwischen. Zugespitzt formuliert: In beiden Fällen ist Jesus alles daran gelegen, dass das Zeugnis auf seine Glaubwürdigkeit hin geprüft wird. Diese Glaubwürdigkeit wird weder durch diffizile Argumentationen noch »auf mysteriöse Weise« erlangt, sondern durch ganz handfestes Zeugnis von Menschen: durch Leiden oder Sachkunde. In 1,45 liegt übrigens keine Übertretung des Schweigegebotes durch den Geheilten vor. Das Subjekt des Satzes ist Jesus, so wie er der Sprecher von 1,44 war.
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Mk 2-4: Themen um Jesu Vollmacht Aufbau: In Mk 2,1 – 3,6 wird Jesu Vollmacht dargestellt, und zwar in Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Gegnern. 3,6 endet schon mit dem Tötungsbeschluss. Auch die Berufung der Zwölf in 3,3-19 wird nur deshalb geschildert, weil Jesus mit der Verkündigung auch die Vollmacht, Dämonen auszutreiben, an sie weitergibt. Den Höhepunkt der Auseinandersetzung bildet der Abschnitt 3,20-35. In der Mitte steht der Vorwurf der Kooperation Jesu mit dem Satan, was Jesus als Sünde gegen den Heiligen Geist bezeichnet. Gerahmt wird dieser Abschnitt durch das Thema Verwandtschaft Jesu. Nach 3,20f halten ihn seine Verwandten für verrückt, nach 3,31-35 antwortet Jesus darauf mit der Ausweitung und Neudefinition von Verwandtschaft. Nachdem so die grundsätzliche Diskussion um die Legitimität Jesu geführt worden ist, kann Jesus auf dieser Basis in Kap. 4 seine Lehre darstellen.
Mk 2,1-12: Heilung eines Gichtbrüchigen Natürlich ist das eine genauso schwer wie das andere, nämlich einen Gelähmten zu heilen und Sünden zu vergeben. Denn beides kann nur Gott. Der Unterschied ist indes, dass man den Erfolg der Heilung sehen kann, die Vergebung der Sünden dagegen im Glauben erfassen soll, weil sie unsichtbar bleibt. Das Wunder dient dazu, die Vergebung der Sünden plausibel zu machen. Und Sündenvergebung ist wie eine Heilung eines Gelähmten. Denn die Heilung macht etwas von dem sichtbar, was Sündenvergebung bedeutet: Wiederherstellung der Gesundheit, Aufhebung einer lebenshinderlichen Blockade, Befreiung von etwas, das wie ein Stück Tod am eigenen Leib haftet. – Für den Evangelisten ist vor allem wichtig: Beide Handlungen weisen auf Jesu Vollmacht. Der Ausdruck »Menschensohn«, der hier fällt, ist – neben »Herr« und »Gott« – die inhaltlich ranghöchste Bezeichnung, die Jesus im Neuen Testament zukommt. Denn der Menschensohn ist der Repräsentant Gottes gegenüber allen Völkern; deshalb wird der Menschensohn richterliche Vollmacht haben, und so wird ihm nach Mt 25,31-46 und Joh 5,21.25.27 das Weltgericht
übertragen werden. Davon aber ist bei der Sündenvergebung gerade noch nicht die Rede. Denn bei ihr geht es um Vergebung, die das Gegenteil von Richten ist. Man könnte sagen: Die Vollmacht, Sünden zu vergeben, ist gleichfalls eine richterliche Vollmacht. Denn nur der Richter kann Sünden aufheben oder bestrafen. Für die Zeit seiner irdischen Sendung ist Jesus nicht als verurteilender Richter, sondern als der gesandt, der die Sünden aufhebt und vergibt. Und gerade das entspricht der neutestamentlichen Menschensohn-Konzeption: Der Menschensohn ist jetzt gekommen, zu retten und nicht zu richten. Aber, so sagt Mk 2, die Kompetenz ist dieselbe. Man kann fragen: Warum kann Jesus Richter und Menschensohn sein? Als der makellos Gerechte schlechthin ist Jesus dazu in der Lage. Und daher ist das »Lamm Gottes« im JohannesEvangelium aus demselben Grund derjenige, der die Sünden der Welt aufhebt. Ob Jesus durch seinen stellvertretenden Tod Sünden aller sühnt oder ob er die Sünden durch sein vollmächtiges Wort aufhebt, beides hat seinen einzigen Grund darin, dass Jesus der Gerechte schlechthin ist. Der Mächtige, dem die Menschen in Jesus begegnen, ist nicht gegen sie, sondern für sie. Er ist der Befreier. Nach dem Gesagten sollte man es unbedingt aufgeben, diesen Text weiterhin als Musterbeispiel für sekundäre, literarkritisch nachweisbare Einschübe anzusehen, indem man den Absatz über die Sündenvergebung für ein Resultat der redaktionellen Bearbeitung hält. Man argumentiert: Der Halbsatz »sagte er dem Gelähmten« werde in Vers 5a gesagt und dann beim Wiedereinstieg in die Heilungsgeschichte wiederholt, und zwar, um daran anzuknüpfen. So würden eindeutig die Verse 5b bis 10a als Einschub gedeutet. Erst nach Ostern habe man Jesus zugetraut, Sünden vergeben zu können. In den Evangelien sei das zudem nur selten belegt. Ich verweise dazu nur auf das zum Thema Menschensohn Gesagte (vgl. zu Mk 8,38; 9,12). Zu Mk 2,9: Anders (Armen. Philo, Über Samson, 48): Das Umstürzen von Mauern ist auch für Menschen eine Kleinigkeit gegenüber dem, was allein Gott vermag: eine Seele vom Bösen zum Guten zu wenden.
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Kapitel 2
Zu Mk 2,14: Das MkEv ist von Anfang an ein Evangelium der Jünger. In 1,14-20 werden vier Jünger berufen, nach 2,14 zusätzlich Levi. Als die Schwiegermutter des Petrus geheilt wird, sind die Jünger Zeugen (1,29). Die Erfolgsnotizen steigern sich von 1,28 über 1,33 sowie 1,36f und 1,45 bis hin zu 3,7.9. – Als Arzt wirkt Jesus für die Menschen (2,17). – Die Abgrenzungen und Ausgrenzungen hebt Jesus mit Vorliebe auf (Unreine, Sünder, Sabbat, Fasten), denn Grenzen tun den Menschen immer weh. – Daran wird erkennbar: Jesus gebraucht seine Vollmacht nicht nur für Wunderheilungen, sondern ebenso zur Beseitigung der Sünde (2,5) und zur Integration Außenstehender (Steuereinnehmer [= Zöllner]). So kann Jesus alle Grenzen überwinden. Die Jüngerschaft ihm gegenüber schafft die einzige relevante Grenze (d. h., ob man Jünger ist, oder nicht; Mk 4,10-13).
Mk 2,18-22: Die Fastenfrage So wie das Fasten Ausdruck einer ernsten Zeit der Vorbereitung auf ein Fest oder eine Freudenzeit ist, so ist das Nicht-Fasten, also alles essen und trinken zu dürfen, Zeichen von Fest und Heilszeit. Nicht fasten oder fasten ist daher jeweils Symptom für den Charakter einer ganzen Epoche. Die Nahrungsaufnahme wird zum Indikator der geringeren oder höheren Lebensqualität einer Zeit. Mit dem Fasten und dem Nicht-Fasten charakterisiert Jesus drei unterschiedliche Zeiten, die er im Blick hat. Die Zeit, in der er auf Erden wirksam ist, und die Zeit, in der er wiedergekommen sein wird, sind Phasen der Freude. Die Zwischenzeit, in der er nicht unter den Jüngern sein wird, ist die ernste Zeit der Vorbereitung auf das Fest am Ende. Die ganze Zeit von der Auferstehung oder Himmelfahrt Jesu bis zu seiner endgültigen Wiederkunft ist insgesamt Zeit des Fastens und der Vorbereitung, oder umgekehrt: Wenn in dieser Zeit gefastet wird, dann steht dieses Fasten für die ganze Zeit. Aus diesen wenigen Versen erfahren wir daher etwas über Jesu Auffassung von Geschichte. Natürlich hat man auch hier vermutet, diese Verse seien typisch nachösterlich und sollten den nach Ostern im Zuge eines Rückfalls ins Judentum (zum Beispiel aus Angst) wie-
145 der eingeführten Brauch des Fastens in der Kirche rechtfertigen. Denn man hält es für unmöglich, dass Jesus über die Zeit seines Erdenwirkens hinausgeblickt haben könnte. Dagegen: a. Muss Jesus wirklich so »beschränkt« gewesen sein, dass er im Unterschied zu anderen nicht über den Tellerrand seiner eigenen Zeit hinausgeblickt haben kann? – b. Wäre das nicht geradezu infam, in Abweichung von Jesu eigener Praxis und offenbar gegen seinen Willen, eine gegenteilige Gemeindepraxis einzuführen und dafür auch noch ein Jesuswort zu erfinden? Doppelter Ungehorsam also schon so früh in der Kirche? Der Versuch, Jesu eigene Praxis so auszutricksen und den eigenen – noch dazu beschwerlichen (Fasten ist nicht lustig!) – Weg mit Lüge und Unterstellung zu rechtfertigen? – Im Gegenteil ist die Gliederung der Zeiten von Jesu eigenen Voraussetzungen her höchst sinnvoll, nämlich von einer etwas unmodernen Christologie (besser: Selbstauffassung) her, die Jesus hier formuliert. Er spricht von sich als dem Bräutigam und von den Jüngern als den Freunden des Bräutigams. So erfahren wir sehr viel über Jesus. Er versteht sich als Bräutigam des endzeitlich erneuerten Israel. Ähnlich hatten viele Propheten Gott als den Ehemann des Gottesvolks bezeichnet. Denn der Gott Israels ist nicht verheiratet, seine Partnerin ist das Gottesvolk. Viele Propheten (z. B. Hosea und Jeremia) deuten die Probleme zwischen Israel und Gott als die Schwierigkeiten einer langen Ehegeschichte. Und jetzt, da der Messias Jesus kommt, wird das Ehebündnis zwischen Gott und seinem Volk neu gestiftet, indem der Messias der Bräutigam ist und Gottes erneuertes Volk mit ihm bei Anbruch der messianischen Heilszeit Hochzeit feiern wird. Wir haben direkte Zeugnisse davon im Johannesevangelium (Kap. 3: Jesus der Bräutigam, der Täufer als dessen Freund), bei Paulus (2 Kor 11,2: Paulus als Brautführer, der kommende Christus als Bräutigam: Zum Volk Gottes gehören hier ganz selbstverständlich auch die Heidenchristen) und beim Seher Johannes (Offb 21f: Hochzeit des Lammes mit dem Volk der Zwölf Stämme aus Juden und Heiden). Großes Gewicht liegt hier auf Jesu Wiederkommen. Nach allen Zeugnissen ist erst dann die Hochzeit. Die Basis des Verhältnisses des Messias zu seinem Volk ist die gegen-
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146 seitige Liebe und Treue (einer der Gründe, weshalb Jesu Wort gegen die Ehescheidung das am häufigsten überlieferte Jesus-Wort ist). Der Gerichtsgedanke tritt hier bei der Wiederkunft Jesu ganz zurück. Alles liegt auf der Betonung des großen Freudensfestes, auf das die Geschichte zuläuft – eine heitere, fröhliche Anschauung von Jesus, die wichtige Züge aufgreift. Auch sein Erdenwirken ordnet Jesus in dieses Bild von der kommenden Hochzeit ein: Jesu Ehelosigkeit ist eine Zeichenhandlung, die die besondere Eigenart seiner Enderwartung begründet: Sie besteht in erster Linie in einer Hochzeit. Jesu ganzes Dasein auf Erden bis zur Auferstehung bzw. Himmelfahrt deutet Jesus als das, was man im Judentum »Vorhochzeit« nennt – eine Phase, die wir auch heute noch oft im Leben eines Bräutigams biografisch festmachen können: Wenn er seinen Freunden mitteilt, dass er heiraten will, muss er »eine Runde ausgeben«; dies ist dann gewissermaßen das feierliche Ende der Junggesellenzeit. Im Judentum wird diese Vorhochzeit – in der Tat zumeist in Abwesenheit der Braut – vom Bräutigam mit seinen Freunden gefeiert. Danach ist dann erst einmal wieder Alltag, bis der Tag der Hochzeit anbricht. Vor diesem Hintergrund haben wir den Text in Mk 2 zu verstehen. Jesus begründet hier, warum er so häufig mit Jüngern und anderen feiert, wobei auch der Weingenuss nicht ausbleibt. Nach Lukas 7,34 und Mt 11,19 hat man Jesus deshalb vorgeworfen, er sei »Fresser und Weinsäufer« – »Fresser« deshalb, weil der Wein damals wie heute einer guten Grundlage bedarf, um nicht nachteilig zu wirken. Das Bild von Wein und Schläuchen ist schon deshalb nicht zufällig, weil es bei dem Fasten, das hier verhandelt wird, wohl sicher zumindest wesentlich um die Enthaltsamkeit von Wein geht. Bestätigt wird das übrigens in Mk 14,25 und Mt 26,29, wo Jesus selbst dann kurz vor seinem Lebensende nach dem letzten Mahl dem Wein feierlich entsagt. Denn erst bei Anbruch des Reiches Gottes wird er, so Mt 26,29, den Wein wieder mit den Jüngern gemeinsam trinken – nämlich beim Hochzeitsmahl im offenbar gewordenen, himmlischen Reich. Mk 14,25 ist daher ähnlich wie Mk 2 auch als verhüllte Leidensansage aufzufassen; denn die Zwischenzeit ist jedenfalls keine Zeit der Freude. In Mk 14par
Das Evangelium nach Markus
liegt der Ton auf Jesu eigenem Trinken, hier auf dem der Jünger. Beides gehört zusammen. Die Botschaft dieser Worte ist: Jetzt ist noch nicht die Zeit der Hochzeit, sondern die Zeit der Vorbereitung. Das Feiern, das Jesus als Form seiner Verkündigung praktizierte, gab einen Vorgeschmack auf künftige Freuden. Die Worte vom Wein und den Schläuchen bedeuten dabei ihrer Logik nach ganz schlicht dies: In jeder Zeit geziemt sich das, was zu dieser Zeit gehört. Jetzt passt nicht das, was demnächst angemessen ist. Das wäre, wie wenn man Unpassendes zusammenfügte, nämlich neuen Wein in alte Schläuche oder alten Wein in neue Schläuche oder einen alten Flicken auf ein neues Gewand usw. In all diesen Bildern geht es um Dinge, die nicht zusammengehören. Welchen Anlass gab es für Jesus, die Jünger zu ermahnen, den Charakter der Zeiten in diesem Sinne zu unterscheiden? Offenbar fürchtet Jesus im Voraus, dass die Jünger weiter feiern wollen – also nicht etwa fasten wollen oder müssen (dies im Unterschied zur Annahme der liberalen Exegese). Sehr bald beginnt, so sagt Jesus, eine Zeit, in der ihr nicht feiern könnt und dürft; aber auch diese Zeit gehört dazu, wie eben Leiden der Freude und die Nacht dem Tag vorausgeht. Hier hilft uns Mk 14,25 weiter. Jesus trennt die Zeit des Feierns von der Zeit des Leidens und der schmerzvollen Trennung vom Messias. Auch für Mk 2 gilt: Wer nur feiern will, mag nicht leiden. Insofern sind Weintrinken und Fasten je symptomatisch für eine ganze Zeit: Der hochzeitlichen Freude ist die Zeit des Leidens vorgelagert. Beides ist nicht zu verwechseln; nur wer sich jetzt bewährt, wird auch die Hochzeit mitfeiern dürfen. Zu Mk 2,21f: Der Sinn: Altes alt sein lassen und Neues neu, jedes hat seine Zeit. So gibt es eine Zeit der Freude und eine Zeit des Fastens.
Mk 2,23 – 3,6: Sich hinter Vorschriften verschanzen Zwei Sabbatgeschichten, für deren Auslegung man wissen muss: Der Sabbat ist zur Zeit Jesu Exportartikel Numero eins in heidnische Länder, ein Markenzeichen Israels. Schon ab dem 3. Jh.
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Kapitel 2
v. Chr. hat man den Sabbat systematisch durch »Zusatzbestimmungen« zum 3. Gebot ergänzt und zu schützen versucht. Diese zusätzlichen Erläuterungen haben sich in der Substanz bis jetzt gehalten; nun versucht man, sie systematisch wieder abzubauen und sukzessive den Sonntag (der bei Christen an die Stelle des Sabbats trat) zum normalen Arbeitstag zu machen. – Man muss auch wissen, dass der Sabbat für die Christen der hauptsächliche Missions- und Verkündigungstag war. An diesem Tag gingen die ganz frühen Christen – gute Juden, wie sie waren – in die Synagoge, unterwanderten die Schriftauslegung und wurden von Wundern bestätigt. Deshalb war es wichtig zu wissen, was Jesus am Sabbat erlebt hatte. Lk 4 schildert seine Schriftauslegung, die Apg berichtet von entsprechendem Tun des Paulus und seiner Begleiter, und in Mk 2f wird von Jesus berichtet, wie er jüdische Beschwerden über sein Verhalten am Sabbat, das angeblich destruktiv war, elegant mit Weisheitssprüchen beantwortet. Jesus hat scheinbar den Sabbat verletzt, weil der Mundraub seiner Jünger als Erntearbeit und seine Heilung des Gelähmten als Handarbeit interpretiert wurde. Beide Vorwürfe waren sicherlich Vorwände; der Hintergrund war das emotional ungünstige Klima, das durch die christliche Werbung am Sabbat entstand und das den Synagogen je länger desto mehr ihre Sympathisanten wegschnappte: in der Regel zahlungskräftige Heiden, die bei den Christen gleich Vollmitglieder werden konnten, was im Judentum u. a. wegen der notwendigen Beschneidung nicht leicht geschehen konnte. Das Klima war also zunehmend mehr gereizt. Zur Zeit der Abfassung des MkEv kamen daher die Sabbatgeschichten über Jesus in Mk 2f gerade recht. Der erste Weisheitsspruch Jesu, mit dem er die Einwände wegen Sabbatschändung beantwortet, heißt: »Der Sabbat ist wegen des Menschen da und nicht der Mensch wegen des Sabbats.« Der Satz hat Analogien im Frühjudentum, in denen jeweils das Menschliche höher bewertet wird als die kultische Institution (z. B. Volk – Tempel), so etwa: »Aber nicht wegen des heiligen Ortes hat der Herr das Volk, sondern wegen des Volkes hat er den Ort erwählt« (2 Makk 5,19); Gott hat den Menschen zum Statthalter seiner Werke gemacht, »weil nicht der Mensch um der Welt wil-
147 len, sondern die Welt um seinetwillen gemacht worden ist« (Syrische BaruchApk 14,17f). Aber beim Sabbat konnte man durchaus streiten. Denn in der Schöpfungsgeschichte dient das zuerst Genannte jeweils dem später Genannten, da die Schöpfung hierarchisch aufgebaut ist. Deshalb ist der Mensch, so könnte man folgern, für den Sabbat da; denn der Sabbat wird am 7. Tag erschaffen, der Mensch aber schon am 6. – Aus der heutigen Perspektive des bedrohten Sabbats/Sonntags könnte das durchaus Sinn machen: Der Mensch ist für die Ruhe da, für die Kontemplation, und nicht für das Arbeiten. Doch zur Zeit Jesu war wohl eher die entgegengesetzte Auslegung nötig: Die kultischen Regeln sind kein Selbstzweck, dem der Mensch zu dienen hat, sondern sie helfen dem Menschen auf seinem Weg im Miteinander und zu Gott. Der Mensch ist das Ziel der Schöpfungswerke Gottes und nicht irgendwelche Kultregeln, die nur helfen, aber nicht herrschen sollen. – Im Übrigen ist auch diese Auslegung nicht die Abschaffung von Kult und Liturgie, sie ist nur eine Faustregel für den Konfliktfall. Auch das Gleichnis vom barmherzigen Samariter meint nicht die Institution, sondern typisch Gefährdete (Kultpersonal) und Menschen, die für Überraschungen gut sind. Der Nachsatz Mk 2,28 macht den Menschensohn nicht in dem Sinne zum Herrn über den Sabbat, als könne er ihn aufheben oder verändern. Das Wort »Herr über etwas sein« bedeutet im jüdischen Griechisch: etwas sachgemäß handhaben. Der Satz bedeutet daher: Der Menschensohn darf und kann das Sabbatgebot kundig und sachgemäß auslegen. Mk 3,28 sagt dieses resümierend: So hat der Menschensohn sich als kundigen Ausleger des Sabbats erwiesen. An eine Aufhebung des Sabbats ist weder hier noch sonstwo im Neuen Testament zu denken. Als Repräsentant Gottes wird der Menschensohn nicht dessen heiligste Gebote beseitigen. Allerdings bedeutet der Satz: Im Zweifelsfalle (!) hat menschliche Not Vorrang vor allen noch so frommen Vorschriften. Der zweite weisheitliche Satz lautet in 3,4: »Darf man am Sabbat Gutes tun – oder soll man am Sabbat Schlechtes tun? Darf man jemanden erretten – oder soll man ihn töten?« Also eine antithetisch parallel formulierte, doppelt rhetorische Scheinfrage. Denn natürlich darf und soll man am Sabbat Gutes tun und retten, was zu ret-
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148 ten ist. In der letzteren Frage ist man zur Zeit Jesu jedenfalls darin einig, dass Menschen auf jeden Fall zu retten sind. Auch Tiere in Not wird man schwerlich verenden lassen, darüber gibt es ebenso in den Texten aus Qumran Einzelauslegungen (vgl. Lk 13,15). – Doch ganz so einfach ist der Fall auch hier wieder nicht. Denn die Hand des Gelähmten war schon in den Tagen und Monaten vorher verdorrt, nicht erst am Sabbat. Insofern ist es eben kein akuter Notfall, anders als in den rabbinischen Analogien. Warum musste Jesus das, was er tat, ausgerechnet am Sabbat tun? Das Wunder ist als Zeichenhandlung zu begreifen. Jesus zeigt am Sabbat, dass dieser Tag ein Geschenk des menschenfreundlichen Gottes ist. Damit umfasst er auch Heilungen und Befreiung von Krankheit. Sabbat ist Gnadenzeit, nicht in erster Linie Sperrgitter, Verbotszone, sondern Tag der Barmherzigkeit Gottes. Es hängt daher von der Grundeinschätzung der Torah ab, wie man sie in diesem Einzelfall auslegt. Wird sie als gute Gabe verstanden, dann öffnet sie den Blick für das mannigfach Gute, das Gott schenkt. Wird sie restriktiv verstanden, dann geht es in erster Linie um Gehorsamskontrolle. Doch Jesus schafft hier nicht etwa den Synagogenbesuch am Sabbat ab. Nebenbei liefert dieser Text einen Beitrag zu der Frage, was eigentlich im Sinne der Bibel »gut« sei. Was gut ist, bemisst sich an der Frage, ob man Leben, eine »belebte Seele«, vor Krankheit und Tod rettet. Das Gute hat daher seinen Maßstab am Leben selbst. Deswegen ist Gott für das Judentum auch der lebendige Gott, im Unterschied zu den toten Götzen ringsum. Deshalb ist seine vornehmste Sorge das Leben und ewige Leben der Menschen. Der ganze Sinn der neutestamentlichen Offenbarung besteht darin, Gott ähnlich zu werden. Die kleinliche Anklage gegen Jesus wegen Sabbatverletzung mündet schon hier (3,6) in dem Entschluss, Jesus umzubringen. Man kann fragen, was aus der Sicht des Evangelisten Markus der Grund für diesen Hass ist. Zu 3,5: Verhärtung des Herzens ist mehr als bloße Herzlosigkeit; sie ist mangelnde Sensibilität gegenüber Gottes Willen und Gebot, Blindheit gegenüber dem, was Gott aktuell fordert, weil er ein lebendiger Gott ist.
Das Evangelium nach Markus
Mk 2,23-28: Ährenrupfen am Sabbat? Da der Menschensohn nicht gekommen ist, um zu richten und zu revolutionieren, wird er nicht gerade den Sabbat abschaffen wollen, sondern sich vielmehr ihm unterwerfen wollen (wie das »unter dem Gesetz« in Gal 4 sagt). Der den Sabbat meistert, ist daher einer, der im Sinne von »retten und nicht richten« den Sabbat tatsächlich barmherzig auslegt und ihm dadurch zu seinem eigentlichen Sinn verhilft. So hält er ihn sinnvoll ein, denn das wollte der Schöpfer mit diesem Tag erreichen. Der Sinn des Vergleichs mit David: Bei Jesus wie bei David werden kultische Verbote übertreten. Bei Jesus geht es nicht um den Hunger, sondern um die Bereitung des Weges als Arbeit am Sabbat durch Ausrupfen der Ähren. Das Arbeitsverbot am Sabbat wird übertreten. Motiv: Die Jünger bereiten dem Herrn den Weg. David (mit Gefolge) aß aus Hunger Brote, die nur Priestern erlaubt waren. Das Verzehrverbot für Nicht-Priester wird übertreten. Motiv: Hunger (Mundraub, da an fremdem Eigentum gestillt). Anders als bei David geht es bei Jesus nicht um einen Notfall. Jesus aber ist mehr als David (so auch in Mk 12,25-27), nämlich der Menschensohn; daher darf er umso eher ein Verbot, hier freilich den Sabbat betreffend, auslegen. Doch an Aufhebung ist auch hier nicht gedacht.
Mk 3,1-6: Heilung am Sabbat Zu den Stichworten »ist es erlaubt« in V. 24.26 vgl. die Rede von der Vollmacht in 3,15 (griech.: exestin und exusia). Zur Sache vgl. die Sabbatkonflikte nach Lk 14,3; 13,15.16. Die Geltung des Sabbats wird nicht bestritten; es geht Jesus um das, was geboten und nicht nur erlaubt ist. Schon die partielle Aufhebung der kultisch festgesetzten Zeit des Sabbats (2,18-22; 2,23 – 3,6) ist deshalb so gefährlich für Jesus, weil es sonst der Antichrist ist, der die kultisch festgesetzten Zeiten aufhebt (Dan 7,25f). Jesus wäre dann nicht der Messias, sondern der Anti-Messias. So wird nicht erst am Ende von Kapitel 3 (Beelze-
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Kapitel 3
bul-Vorwurf), sondern bereits an dessen Anfang ein dualistisches Entweder-Oder zumindest vorbereitet.
Mk 3,13-19: Berufung der Zwölf Die Zwölf werden nicht als Verwaltungsgremium berufen, sondern als Teilhaber an der Autorität Jesu, zu verkündigen und Dämonen auszutreiben. Sie sind sowohl die ideale Zahl der Zeugen nach antikem Recht (und teilweise bis heute; daher übrigens auch die vollständige Namensliste), als auch die neuen Ältesten Israels bzw. die neuen zwölf Patriarchen. Sie sind nicht in erster Linie »Nachfolger« Jesu, sondern gerade in der Zwölfzahl Repräsentanten des Menschensohnes in seiner grundlegenden engen Beziehung zu Israel (vgl. Dan 7). Sie stellen vervielfältigt und als geschlossene Gruppe Jesus dar. Umso schlimmer ist es, dass einer diese Geschlossenheit stört (Judas) – die Zwölf sind eben nur Menschen und nicht göttlich (wie der perfekte weiße Dom von Arezzo mit der einen absichtlich schief geformten Säule). – Wie der Menschensohn in Dan 7, so wird auch Jakob/Israel als (Erz-)Engel gedacht, und Israel als der »Mann, der Gott sieht«, entspricht Joh 1,18.
Mk 3,20-35: Hat Jesus Gottes oder des Teufels Geist? Der lange Abschnitt wird durch das Thema (und Stichwort) »Haus« zusammengehalten, zu dem auch die Familie gehört (V. 32-35). Denn die Familie nennt man das Haus. Der Text spiegelt darin eine frühe Zeit, dass sich Jesu Wirken noch ganz im Bereich des Hauses und der Familie vollzieht. Daher ist dieser Lebensbereich hier auch der Bildspender. Gerade in diesem überschaubaren Feld ist aber die Frage nach Pro und Contra besonders scharf und geradezu mitleidslos gestellt. Die Ursache dafür ist, dass Jesu Tätigkeit als Exorzist im Rahmen des dieser Sache eigenen Dualismus verläuft. Denn wenn man böse Geister austreibt, ist das ein Kampfgeschehen in einem Krieg zwischen zwei sich ausschließenden Fronten. Hier gilt immerzu das Entweder-Oder. Und alle Menschen zwischen den Fronten gehö-
149 ren entweder zur einen oder zur anderen Seite, Neutralität gibt es nicht. In unserem Text wird nun das Thema Bekenntnis dualistisch erörtert, und hierher gehört auch »Sünde gegen den Heiligen Geist«. Die Gegner Jesu argumentieren hier konsequent dualistisch. Denn entweder hat Jesus den Heiligen Geist, dann gehört er auf die Seite Gottes, oder er hat den Geist Beelzebuls, des Teufels, dann gehört er zu ihm. Ein Drittes gibt es nicht. – Aber wie können sie sagen, Jesus habe den Geist Beelzebuls? Jesus kann den Dämonen befehlen. Diese Befehlsgewalt könnte er theoretisch als höhergestellter Offizier in Satans Armee haben. Er könnte ein Agent Satans sein, der im Namen und Auftrag seines Herrn Fronten begradigt oder Ähnliches tut. Das würde gut erklären, warum Jesus Befehlsgewalt hat. Andererseits aber kann Jesus auch als Feldherr der Gegenseite, eben Gottes, die Dämonen vertreiben, weil er größere Vollmacht hat. Dann hat er nicht den Geist Beelzebuls, sondern den Geist Gottes in sich. Jesus sagt ganz klar: Wer bezweifelt, dass ich den Heiligen Geist besitze, und – weil es ein Drittes nicht gibt – behauptet, ich hätte den Geist des Teufels, der hat eine unvergebbare Sünde begangen. Warum urteilt Jesus so hart? Wo er doch sonst der Anwalt der Vergebung ist und selbst am Kreuz den Feinden vergibt? Unvergebbar heißt: Etwas ist endgültig zerstört, weil es nicht noch einmal gegeben werden kann. Vergebung ist dort ausgeschlossen, wo das gegenwärtige Heilige so missachtet wurde, dass der Täter mit einem Schiff vergleichbar ist, das mit einem Eisberg kollidiert, an der Flanke ein riesiges Loch hat und sinken muss. Wie gesagt, nicht das Heilige oder der Heilige Geist ist verletzt, aber der Täter hat sich verletzt. Die Sünde gegen den Heiligen Geist ist unvergebbar, weil der Heilige Geist die unüberbietbare Gegenwart Gottes bedeutet. Mehr kann Gott nicht geben, präsenter kann er nicht sein. Wer sich daran versündigt, nimmt unheilbaren Schaden. Weitere Bespiele für dieses Phänomen im frühen Christentum: Ananias und Saphira (Apg 5), die sterben müssen, weil sie den Heiligen Geist belogen haben; der Unzuchtssünder nach 1 Kor 5, der ein Verhältnis mit seiner »Mutter« hatte und deshalb einfach nur dem Teufel übergeben werden kann, damit der ihn physisch zugrunde richte; Menschen, die nach 1 Kor 11 sich gegen
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150 die Gegenwart Jesu Christi im heiligen Abendmahl vergangen haben, die deswegen krank sind oder sterben. Alle haben sich am Heiligen verletzt, keinem ist zu helfen; Menschen, die die Gemeinde spalten, die doch Tempel des Heiligen Geistes ist, nach 1 Kor 3 – Gott wird sie »zerstören«. – Und so ist es auch, wer über den Heiligen Geist Jesu sagt, dass er gar nicht heilig, sondern vom Teufel sei. Auch der verletzt sich und ist nicht zu heilen. Die frühen Christen haben demnach eine besondere Auffassung von der Realpräsenz des Heiligen. Sie ist gefährlich wie die Gegenwart Gottes in der Bundeslade nach den Aussagen des Alten Testaments. In diesem Zusammenhang ist hier von »Lästerung« die Rede, und gemeint ist der Tatbestand der Gotteslästerung durch Worte. Von einer solchen Lästerung wird im MkEv nochmals die Rede sein, und zwar wiederum im Zusammenhang der Gottessohnschaft Jesu. (Darum geht es auch in Kap. 3; denn der Heilige Geist, den Jesus hat, macht ihn zum Gottessohn; vgl. Mk 1,10f). In Mk 14,61 wird Jesus gefragt, ob er der Sohn Gottes sei. Als der das bejaht, handelt er sich nach 14,63 den Vorwurf der Gotteslästerung ein – und das ist der entscheidende Grund für das Todesurteil, das die Juden freilich nicht selbst vollstrecken können. – Im Vergleich zum Vorwurf der Lästerung in Mk 3 gilt daher: Nicht nur das Bestreiten tatsächlich gegebener Gottessohnschaft ist Lästerung (Mk 3), sondern auch das Behaupten, Gottessohn zu sein, wenn es nicht der Fall ist (und davon sind Jesu Gegner überzeugt), ist aus der Sicht der Gegner Jesu Gotteslästerung. Das eine ist unvergebbare Sünde, das andere bedeutet das Todesurteil – beides läuft auf ungefähr dasselbe hinaus. Jesus wird daher exakt der Vorwurf zurückgereicht, den er in Kap. 3 erhoben hatte. Zu Mk 3,23b-26: Die Argumentation über Satans Reich in 3,23b-26 zeigt Entsprechungen zum
Das Evangelium nach Markus
Schluss des Abschnitts über die Einheit der Familie. Meint ihr, fragt Jesus, Satan wäre so dumm und ließe zu, dass sein Reich gespalten ist? Das wäre ja der Fall, wenn ich als sein Offizier die eigenen Truppen vertriebe. Aber auch das Haus, das Jesus vor Augen hat, ist durch Willenseinheit mehr gekennzeichnet als durch bloße familiäre Bande. Das Tun des Willens Gottes schafft die Einheit des Hauses. Und das ist genau das Gegenbild zu Satans Reich. In Mk 3,27 greift Jesus ein Bild aus der Schwerstkriminalität auf. (Jesus macht sich öfter die Faszination des Kriminellen in Gleichnissen zunutze, z. B. auch in Lk 16,1-10). Wer ein Haus ausraubt, muss erst die Besitzer »matt« setzen (fesseln etc.), dann kann er mit der Plünderung beginnen. Für Jesus erläutert dieses Bild seine exorzistische Tätigkeit. Er muss erst die bösen Geister (Dämonen, Teufel) bannen, bevor er die Menschen für Gottes Reich neu in Besitz nimmt. So also ist Jesu Tun zu begreifen: nicht als Teil der Strategie Satans, sondern als Gegenstrategie. Zu Mk 3,31-35: Da die familiären Traditionen oft stark und hinderlich sind, kommt es darauf an, die Grenzen der Sippen zu relativieren. Das geschieht hier durch »Ethik« (den Willen Gottes tun). Doch dadurch entsteht eine neue Familie, das wahre Verwandtsein. Wie in Mk 10,29f, so fehlt auch hier in der neuen Familie der neue Vater. Dessen Rolle nimmt Gott selbst ein. Die neue Gemeinschaft, die Jesus gründet, ist daher eine Familie aus Geschwistern und Müttern, doch ohne neuen irdischen Vater. Diese Rolle bleibt allein für Gott selbst. Kirche, also die Anfänge dieser Institution, beschreibt Jesus hier aus der Perspektive der palästinischen Familienverbände. Je stärker das persönliche Konzept Jesu verblasst (dieses sehe ich an unserer Stelle und in Mk 10,29), umso kräftiger treten die traditionellen Bindungen wieder hervor (vgl. auch zu 6,1-6).
Mk 4: Gleichnisse Jesu Mk 4,1-9: Gleichnis vom Sämann Die Pointe des Gleichnisses kann man gewinnen, indem man ausgeht von der unterschiedlichen
Qualität des Bodens. Diese ermöglicht den »Feinden« der Saat ein je unterschiedliches Wirken. Saat und Sämann, Zeitspanne und Zeit der Ernte sind für alle Samenkörner gleich. Fazit: Auf den
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Kapitel 4
Boden kommt es an! Daraus herzuleiten ist die Aufforderung: Sei ein guter, empfangsbereiter Boden für das Samenkorn der Verkündigung! Inhaltlich steht dem am nächsten das Gleichnis von der »selbst wachsenden Saat«. Denn hier wie dort liegt alles an der Zwischenzeit zwischen Saat und Ernte. Weder kann ich einen durchgehenden »Gemeinschaftsbezug« entdecken noch den »absoluten Vorrang des Indikativs vor dem Imperativ«, oder die »Gleichzeitigkeit von Verlust und Gewinn« als Pointe finden. Von einer »guten Ordnung der Schöpfung« ist schon gar nicht die Rede, da es ja doch eine im Resultat frustrierende unterschiedliche Entwicklung gibt. – Richtig ist, dass dieses Gleichnis die Wortverkündigung selbst bedenkt. Zu Mk 4,10-13: Von bis heute extremer Anstößigkeit ist das Zwischenstück zwischen Gleichnis und Auslegung in 4,10-13. Formgeschichtlich gesehen ist es die Phase des offen eingestandenen Unverständnisses zwischen Bild und Auslegung (vgl. dazu K. Berger, Formen und Gattungen, 2005, § 28), wie sie sich auch bei Visionen und Schriftauslegungen findet. Hier gilt stets gleichermaßen die Abfolge von Bild – Unverständnis – Auslegung. Nun scheint es in 4,10-13 zwei Gruppen von Nicht-Verstehenden zu geben, »die draußen« (V. 11) und die Jünger (V. 13). Sind die Jünger ein Sonderfall derer, die draußen stehen? Denn auch sie haben nicht begriffen, und das sollten und konnten sie auch gar nicht. Denn nach 4,12 haben Gleichnisse die Aufgabe, Außenstehende zu verstocken. Das heißt: Durch Gleichnisse werden diese in ihrem Unverständnis immer dümmer und immer weiter in die Irre geführt. Der Sinn dieser Aussage kann nur sein: Werdet also »Insider«! Das geschieht dadurch, dass man Jesus bei der Auslegung der Gleichnisse weiter zuhört. Die Bildersprache der Gleichnisse polarisiert daher: Entweder man nimmt Anstoß, versteht z. B. Mk 9,2-9 als Stück eines Handbuches zum Gartenbau und fragt, was das mit Jesus zu tun haben soll –, oder man lässt sich durch die Auslegung Jesu weiter in das Gleichnis verstricken. Die Gleichnisse Jesu hätten dann nach Mk 4 einen ekklesiologischen Widerhaken. Sie vertragen es nicht, nur gehört und als gehört quittiert zu werden.
151 Sie verlangen nach Gemeinde als dem Raum fortgesetzter und dauerhafter Belehrung durch Jesus. Weder die Härte der Verstockung noch gar einen ekklesiologischen Widerhaken hat man in der liberalen Forschung Jesus zugetraut und im Handstreich alles Unpassende für sekundäre Gemeindebildung erklärt, also die Verse 10-13.1420.34b (so R. Bultmann und ähnlich H. W. Kuhn). Im Hintergrund steht dabei das liberale Jesusbild des 19. Jh., das einen sanften Jesus ohne Härte wollte, der allgemein verständlich in lieblichen Gleichnissen zu den breiten Massen geredet habe – also schon ein Gegenbild zur Kirche des 19. Jh. Der Aufbau der Gleichnisse in Mk 4 Anfänglich werden das Hören und Verstehen der Gleichnisse selbst zum Thema. Es folgen die vier Bilder von der Leuchte, vom Verborgenen, vom Maß und vom Haben. Den Schluss bilden die Gleichnisse von der selbst wachsenden Saat und vom Senfkorn. Nur die beiden letzten Gleichnisse handeln explizit vom Gottesreich. Dabei ist offenbar wichtig: Das Reich Gottes ist jeweils das Ganze. Man kann nun fragen: Beziehen sich die vier Bilder in der Mitte des Kapitels auf das kommende Offenbarwerden aller Dinge im Gericht? Dann würde die (unausgesprochene, aber sachlich vorauszusetzende) »Ernte« aus Mk 4,8.20 entfaltet. Oder geht es um wachsende Erkenntnis durch die erstrebte kontinuierliche Belehrung durch Jesus? Ist das, was offenbar werden soll, Jesu Gleichnisrede, und das, was vermehrt werden soll, die Erkenntnis der Jünger? Bei einer Deutung von 4,21-25 auf das Gericht wäre der Sinn dieser Bilder: Das Licht wird auf den Scheffel gestellt – so wird es sichtbar, kann nicht verborgen bleiben (V. 21). Alles Verborgene und Geheime kommt ans Licht (V. 22f). Das Gericht wird nach Talio vergelten, und zwar doppelt (V. 24). Das Gericht verfährt unverhältnismäßig radikal, ja geradezu ungerecht. Es zählt nicht die Halbheit, nur der ganze Einsatz des ganzen Menschen. – Zu V. 21: Worte vom Licht und vom Leuchter werden mit unterschiedlicher Zielsetzung gebraucht: In Lk 11,33-36 geht es um den Aufruf, auf Jesus zu hören, also das Aufnahmeorgan für dieses Licht zu besitzen; in Mt
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152 5,15 werden die Jünger mit diesem Bild ermahnt, Vorbilder für andere zu sein; in Lk 8,16 geht es, wie mutmaßlich in Mk 4,21, um eine Gerichtsmahnung. Mit den beiden Schlussgleichnissen (V. 26-32) zusammen enthält Mk 4 daher drei Wachstumsgleichnisse (V. 3-8 auf den Boden bezogen; ähnlich V. 26-29; V. 30-32 bespricht den Kontrast von klein und groß). In den Gleichnissen vom Sämann (Mk 4,1-9.14-20), von der selbst wachsenden Saat (Mk 4,26-29) und vom Senfkorn (Mk 4,30-32) geht es stets um die »Zwischenzeit« zwischen der Verkündigung Jesu und seiner Wiederkunft, ganz ähnlich in den Sklaven-Gleichnissen, die sich vor allem in »Q« finden. Man kann daher davon ausgehen, dass Jesus selbst um diese Zwischenzeit gewusst und ihr seine ganze Sorge geschenkt hat. Von daher plädiere ich dafür, die vier Bilder in der Mitte auf das Gericht, den Endpunkt des Wachstums, zu beziehen.
Mk 4,26-29: Gleichnis von der selbstwachsenden Saat Die folgende Stelle zeigt, dass das in 4,28 Geschilderte allgemeiner Standard biologischen Wissens gewesen ist. Man war also sehr wohl in der Lage, einen differenzierten Wachstumsprozess zu erfassen. Philo, Über die Weltschöpfung 41: »Denn jetzt wächst alles einzeln zu verschiedenen Zeiten, nicht alles insgesamt mit einem Male. Wer weiß nicht, dass das Erste das Säen und Pflanzen ist, das Zweite das Wachsen des Ausgesäten und Gepflanzten? Das eine treibt Wurzeln wie Fundamente nach unten, das andere drängt aufwärts, indem sie (die Pflanzen) in die Höhe streben und Stämme treiben. Dann zeigen sich die Triebe und Knospen der Blätter und ganz zuletzt die Frucht. Und die Frucht wiederum erscheint nicht gleich in ihrer Vollendung, sie unterliegt erst noch mannigfachen Wandlungen hinsichtlich der Quantität in ihrer Größe und hinsichtlich der Qualität in ihrer vielgestaltigen äußeren Erscheinung; denn die Frucht gleicht bei ihrem Entstehen unteilbaren und wegen ihrer Kleinheit kaum sichtbaren Stäubchen, … hierauf wächst sie ganz allmählich infolge der ihr zugeführten feuchten Nahrung …«
Das Evangelium nach Markus
Mk 4,26-34: Durststrecken aushalten Die beiden Gleichnisse »von der selbst wachsenden Saat« und »vom Senfkorn« bilden den Schluss des markinischen Gleichniskapitels. Sie stehen an dieser Stelle, weil sie unter verschiedenem Blickwinkel die Gegenwart der Hörer betrachten. Im ersten Gleichnis geht es um die Verantwortung für das, was in der Zwischenzeit geschieht, im zweiten Gleichnis um die Unanschaulichkeit des Anfangs im Kontrast zum herrlichen Ende. Das erste Gleichnis spornt an, das zweite tröstet die Verzagten und Angefochtenen, wenn sie vergebens nach dem »Erfolg« Ausschau halten. Das Gleichnis von der selbst wachsenden Saat ist in seiner Deutung umstritten, einer der seltenen Fälle, in denen bei Gleichnisauslegung erkennbar die Konfession eine Rolle spielt. Die reformatorische Auslegung läuft so: Durch den Glauben im Menschen beginnt das Himmelreich. Er ist von Gott in den Menschen hineingelegt. Ohne Werke, ohne dass der Mensch etwas dazu tun muss, wächst die Wirklichkeit des Reiches. Am Schluss wird im Gericht offen gelegt, was Gott gewirkt hat. Die Pointe des Gleichnisses ist demnach: Weder durch »Rennen« noch durch Schielen nach dem Erfolg kommt das Heil, sondern von Gottes eigener Saat im Menschen geht alles aus, was nötig ist. Das Wort Gottes bringt seine Frucht von selbst. Und das ist alles reine Gnade. Mein Vorschlag zur Auslegung läuft so: Die Erde wird hier als die aktive Größe angesehen (V. 28). Diese Rolle haben die unterschiedlichen Erdböden auch in Mk 4,4-8. Auch in diesem ersten Gleichnis in Mk 4 hat der Mensch in der Zwischenzeit zwischen Saat und Ernte die entscheidende Rolle: An ihm liegt es, zu welcher Fruchtbarkeit er sich entfaltet. An ihm liegt es, ob die Saat gut »ankommt«, und er ist letztlich für die Früchte verantwortlich. Während in der reformatorischen Auslegung Gott alles tut und der Mensch in der Zwischenzeit nichts, ist es in meiner Deutung umgekehrt: Gott ist in der Zeit des Wachstums und Fruchtbringens »wie abwesend«. Der Vorteil bei dieser Lösung ist: Der »Mensch«, der Sämann, steht an der Stelle Gottes; denn von ihm kommt das Evangelium, und in V. 29 schickt er die Gerichtsboten zum Gericht. Soweit ist die Rolle Gottes für Anfang und Ende des beschrie-
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Kapitel 4
benen Prozesses festgelegt. Gott bringt nicht die Frucht hervor, das ist vielmehr die Aufgabe der Erde. In dieser Zeit aber ist Gott abwesend, er kümmert sich nicht. Das ist ähnlich wie in den Sklaven-Gleichnissen, nach denen der Herr in der Zwischenzeit bis zu seiner Wiederkunft nicht da ist. In der Zwischenzeit ist es z. B. Aufgabe der Phantasie der Sklaven, wie sie die anvertrauten Werte (Talente) nutzen sollen. Wenn am Ende der Herr wiederkommt, verlangt er nur Rechenschaft. Das entspricht dem Bild von der Ernte in unserem Text. Der Prozess des Wachsens und Werdens wird in allen Einzelschritten geschildert, damit die Angesprochenen wissen, dass nichts überstürzt werden muss. Denn für das Wachstum ist den Menschen eine lange Zeit gegönnt. – Ich meine daher, dass wie in den anderen bekannten Gleichnissen von der Abwesenheit des Herrn hier daran appelliert wird, die Zwischenzeit verantwortlich zu nutzen. Dafür ist sie da, sie ist die Zeit der Jünger. Auch das zweite Gleichnis (Mk 4,30-32) war zwischen den Konfessionen umstritten. Man argwöhnte, die Katholiken könnten den herrlichen Baum von V. 32 mit der katholischen Kirche identifizieren und dann in dem ganzen Gleichnis ein triumphalistisches Bild sehen. Es schildere den Prozess der immer herrlicheren Ausbreitung von Mission und Kirche auf Erden. Am Schluss stünde dann die katholische Weltkirche da. Nun sprechen evangelische Christen tendenziell von der Kirche nicht in Herrlichkeits-Prädikaten, sondern heben eher die Schwächen und unattraktiven Schattenseiten hervor. Doch diese Auslegungen stammen aus einer Zeit, in der man Reich Gottes und Kirche noch nicht gehörig zu unterscheiden gelernt hatte. Zwischen beiden besteht kein Gegensatz, denn Kirche ist Reich Gottes im Werden. Aber hier geht es nun einmal um das Reich Gottes. Und das Senfkorn ist deshalb gewählt, weil es von allem Saatgut das Kleinste und Unscheinbarste ist. Im Gleichnis geht es auf jeden Fall um den Kontrast zwischen Klein und Groß. Welche Funktion hat dieser Kontrast? Soll er sagen: Seht, das kann es auch geben, das gibt es auch, da kann man nur staunen? Das Reich ist eine wunderbare Wirklichkeit, die unvorstellbar und phantastisch ist? Dann wäre der Blick auf das Reich gerichtet. – Oder geht es um die Verzagtheit der Menschen: Seid nicht traurig, lasst
153 euch nicht anfechten, die Zukunft wird großartig sein? Richtet den Blick nach vorne, dann geht es euch besser. – Oder geht es wieder um die Zwischenzeit, und es soll gesagt werden: Jetzt ist Zeit des Wachstums? Jetzt geschieht genau das, dass aus dem Kleinsten das Größte wird? Ihr könnt es zwar nicht sehen, aber jetzt ist die Zeit, auf die alles ankommt. Denn wenn etwas erst ganz klein und dann ganz groß ist, muss das Entscheidende in der Zwischenzeit geschehen. Nun wird hier die Zwischenzeit überhaupt nicht bedacht. Deshalb entfällt Lösung drei. Die Gefühle der Menschen bei alledem werden gar nicht angesprochen. Deshalb entfällt Lösung zwei. So bleibt m. E. nur Lösung eins: Das Reich Gottes ist ein Faszinosum. In ihm werden Dinge möglich, die niemand für möglich halten könnte. In ihm werden Erwartungen erfüllt, von denen man nicht hätte träumen können. Das Reich Gottes rückt dann in die Nähe des Schatzes aus anderen Gleichnissen. Und der Größenvergleich Klein–Groß wäre nicht auf die Zahl der Mitglieder zu beziehen, sondern auf die Wirklichkeit von Gottes Herrschaft im Ganzen. Ähnlich hatte schon Johannes Weiß das Reich Gottes der Apokalyptik dargestellt im Kontrast zu dem, was man im 18. und 19. Jh. daraus gemacht hatte. Darf man von einem solchen Wunderreich reden? J. Weiß und W. Bousset hatten da ihre Bedenken und meinten, Jesus durch eine Sozialdemokratisierung der Reichsvorstellung vom Judentum abzusetzen. Heute wird man da anders urteilen: Das Reich Gottes ist mit Gottes Selbstoffenbarung als dem Ende der Geschichte zu Ende. Gott wird so überwältigend und schlechthin unvergleichlich herrlich sein, dass alle Erwartungen, Hoffnungen und Aufrechnungen dagegen klein und spießig aussehen werden. Die Herrlichkeit Gottes wird alles überbieten, was je geträumt werden konnte. Doch Jesus redet nicht in der Sprache Ezechiels davon – als Entwurf kubischer Lichthöfe eines himmlischen Tempels –, sondern in der schlichten Sprache eins Palästinensers, der sich nichts Schöneres vorstellen kann als den kühlen Schatten eines großen Baumes, der verschiedenen Vögeln Raum, Schutz vor der Sonne und angenehme Luft bietet, damit sie ihre Nester bauen können. Etwas ganz Schlichtes, doch für das Überleben und Nicht-Vertrocknen ganz Wichtiges: Schatten und Schutz zugleich.
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154 Eine Besonderheit gegenüber jüdischen Aussagen zum »Reich Gottes«: Das Reich Gottes hat immer eine Geschichte, es ist nie reine Zukunftserwartung, sondern hat in der Gegenwart zumindest immer schon begonnen. Dadurch ist es stets die Vollendung von etwas schon Gegenwärtigem. Es ist in der Gegenwart schon mit einem Widerhaken verankert, und eben dadurch ist es nicht reine Spekulation, sondern zumindest mit dem befreienden Wort der Verkündigung schon in die Welt gesetzt. Das Übrige, was Jesus noch tut, sind Zeichenhandlungen als »Appetithäppchen« auf eine große Hoffnung. Grundsätzlich sind die Christen schon in den Bereich eingetreten, in dem es »nur« noch darum geht, dass das Unsichtbare sichtbar wird (vergleichbar der Schwangerschaft). Zu Mk 4,31f: Dies ist eine »relecture« von Ez 17,22-24. Gemeinsame Züge: die Gattung Wachstumsgleichnis (Pflanzenfabel), Gott als Sämann (Gärtner), eingepflanzt/gesät wird eine vergleichsweise kleine Pflanze (zartes Reis, Senfkorn), in knappen Zügen wird das Wachstum geschildert, das Ergebnis des Wachstums ist ein stattlicher Baum, dieser Baum spendet so viel Schatten, dass »alle« Vögel darin ihre Nester bauen (hier besteht wörtliche Übereinstimmung von Mk 4,32b mit Ez 17,23). Die Pointe ist bei beiden: Gott kann aus ganz Kleinem ganz Großes machen. Nach Ez 17,24 ist gerade das seine Handschrift, denn er vermag auch das Umgekehrte (»Magnificat-Theologie«). Die Differenzen: In Mk 4 ist die Pflanze anders (Senfkorn statt Zedernreis), es fehlt die Bergspitze, es fehlt auch das Motiv der Akklamation durch die anderen Bäume, ebenso ist die ausdrückliche Verankerung im Gottesbild nach Ez 17,24 bei Mk nicht zu finden, obgleich sie der Struktur des Gleichnisses entspricht. Denn das »Senfkorn« ist nach Mk 4,31 ausdrücklich das »kleinste«. In Mk 4 besteht daher der Kontrast, den Ez 17,24 ausdrücklich macht (Gott macht das Kleine groß usw.), in den Kontrast zwischen dem kleinen Senfkorn und dem großen Baum aufgenommen. Nach Ez 17,3.6.22-24 ist das ganze Gleichnis auf den davidischen Messias zu beziehen. Diese Auslegung wird besonders durch das Targum bestätigt, das in Ez 17,22-24 systematisch den
Das Evangelium nach Markus
»Spross aus dem Hause Davids« einführt. – Syrische BaruchApk 36; 39,7 bezeugt, dass die Notiz von der Anerkennung durch andere Bäume in Ez 17,24 im Rahmen einer Gattung zu beurteilen ist, die man nennen könnte: »Allegorien über den Wettstreit der Bäume«. Nach 4 Esra 11,3745 (parallel zu BaruchApk) ist das Ganze transponiert in einen Wettstreit der Tiere. – Für Ez 17 und BaruchApk ist zu beachten: Außer der Zeder und dem Zedernspross hat direkt parallelen Rang der Weinstock. Denn der Weinstock, der in Palästina am Boden kriecht, ist – wie das zarte Reis bzw. das Senfkorn – eine »schwache« Pflanze. Seit Gen 49,11 kann der Sohn Davids aus dem Stamme Juda auch durch den Weinstock dargestellt werden. – Hieronymus (in: Ezech V, z. St.) verweist als Erster zu Ez 17 auf Mk 4,31f und deutet zudem das Aufrichten und Zugrunderichten nach 17,24 auf Lk 2,34. Beachtet man, dass Ez 17 selbst schon in dieser davidischen Tradition steht, so fällt auf, dass Mk 4,30-32 keinen messianischen Zug aufweist. Nach Mk 4,30 ist die Sachebene das Reich Gottes und nicht die Person des Messias. Das könnte dadurch bestätigt werden, dass Jesus nach Mk 12,35-37 den Titel »Davids Sohn« für sich ablehnt (und stattdessen auf den Kyrios-Titel setzt). In der Tat geht es bei der Messianität Jesu nach allen vier Evangelien um etwas anderes als ein davidisches Reich auf Erden. Dennoch gewinnt die alte Frage, in welchem Verhältnis Jesu Messianität zur Botschaft vom Reich Gottes steht, hier als Kontrast zwischen Ez 17 und Mk 4, neue Brisanz. Die ältere liberale Forschung meinte, das Problem nur durch ein Nacheinander lösen zu können: Jesus habe vom Reich Gottes gesprochen, danach kam dann – nach Ostern und aus dem Mund der Kirche – christologische Dogmatik. Doch dieses Modell war dem Euhemerismus (Vergottung von Herrschern als religiöses Modell) und der systematischen Trennung von Jesus und Kirche (die man gern gegeneinander ausspielte) verpflichtet. Überlegungen zur Vorbereitung eines anderen Modells: – Königreich und Messiaskönig liegen im Hebräischen und Griechischen nicht so weit auseinander – und sachlich sowieso nicht. Nur das Deutsche suggeriert mit dem Unterschied »Messias« und »Gottesreich« sehr Verschiedenes.
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Kapitel 4
– Jesus versteht seine Messianität nicht politisch, und das ist einer der Gründe, warum z. B. bei Mk der Anspruch, Sohn Davids zu sein, zurückgedrängt wird. Das ist auch bei Mt und Lk nicht anders. Doch hier wird der Erfüllung der Verheißung breiterer Raum gewidmet. – Der Ausdruck Menschensohn umschreibt die Person Jesu sehr viel passender, und zwar in der Abfolge von Niederlage und Triumph (Leiden und Herrlichkeit), noch dazu, weil hier ein Bezug zum Reich Gottes besteht (über Dan 7). – Ich gehe also nicht davon aus, dass zwischen der Würde Jesu und dem Reich Gottes, das er verkündigt, ein Spalt klafft. Man müsste schon von einem solchen Spalt ausgehen und ihn finden wollen. Dass also in Mk 4 die Rede vom Reich Gottes die Vorlage von Ez 17 umgestaltet, hängt mit der nicht-politischen Auffassung Jesu von seiner Messianität zusammen. Aber welche Rolle spielt er denn dann für das »Reich Gottes«? Es ist an dieser Stelle nach Texten, am besten nach Gleichnissen, über das »Reich Gottes« zu suchen, aus denen eine Funktion Jesu für dieses Reich erkennbar wird. Dann ergibt sich: Jesus ist der Sämann, der Herr der Ernte, der Herr der Sklaven, denen er vor der Abreise Aufträge gibt, und der dann Rechenschaft fordern wird. Er ist der Bräutigam für das neue Gottesvolk. Anders als der Messias nach Ez 17 und verwandten Stücken ist Jesus sehr viel »ko-operativer«, in Zusammenwirken mit anderen eingespannt, nicht der absolute Messiaskönig. Die Probleme der liberalen Forschung ergaben sich daraus, dass sie ein viel zu konservatives, am 19. Jh. orientiertes Bild des wilhelminischen oder napoleonischen Herrschers mit Jesus verband, weil man es ungefragt voraussetzte. Gegenüber dem Bild des absolutistischen Herrschers preußischer oder französischer Art ist der neutestamentliche Messias eben ein ganz ungewöhnlicher Herrscher. In all den Bildern der Gleichnisse ist Jesus zumindest nie ohne Mitarbeiter, im Bild von der Hochzeit sogar nicht ohne die »bessere Hälfte« gezeichnet bzw. denkbar. Nicht zuletzt zeigt sich das daran, dass in der Zwischenzeit bis zur Wiederkunft des Messias seine Sklaven die volle Verantwortung tragen. Wenn man in diesem Sinne das Verhältnis von Ez 17 zu Mk 4 beurteilt, dann wird auch klar, dass und wie Gottes Reich und sein messia-
nischer Verkündiger wirklich ganz eng zusammengehören. In Wirkgemeinschaft mit seinen Jüngern, im Gegenüber zu seiner Braut ist Jesus der »erste Diener des Reiches«, »Vorarbeiter«, »Kompanieführer« (den Titel »Anführer« kennt das Neue Testament für Jesus) in Gottes Reich – was seinen Rang nicht mindert. Es werden Aufgaben verteilt oder delegiert. Das Interesse besteht nicht darin zu zeigen, dass ein absoluter Herrscher da ist. An manchen Zügen evangelischer Kirchengeschichte kann man gut sehen, wie sich Sympathien für absolutistische Herrscher mit mangelndem Sinn für kirchliche Ämter verbunden haben. – Fazit: Der Ausdruck »Reich Gottes« und die damit gemeinte Wirklichkeit lässt Raum für das Gegenüber und Miteinander des Messias Jesus und seiner Jünger bzw. Jüngerinnen. Wenn sich Paulus »Mitarbeiter« nennt (2 Kor 6,1), kommt er der Wirklichkeit ganz nahe. So ergibt sich: Das »Reich Gottes« nach der Verkündigung Jesu ist eine komplexe Wirklichkeit, das gilt in zeitlicher wie in personaler Hinsicht. In zeitlicher Hinsicht, weil Reich Gottes eine Geschichte hat, die jetzt beginnt und nicht mit dem Weltende identisch ist – in personaler Hinsicht, weil es ein Miteinander von Menschensohn/Messias und Jüngern umfasst.
Mk 4,35 – 5,43: Wunderberichte Es wird gleich darzustellen sein, warum dieser Abschnitt in den ersten Durchgang der Themen des Anfangs gehört und insofern zu dem Stoff ab Mk 1,2 (vgl. den folgenden Abschnitt Mk 5-9). Die frühmittelalterliche Kapiteleinteilung ist großenteils irreführend. Erst mit 6,1 ist eine Zäsur gesetzt, die auch heute noch überzeugt. Die drei Wunderberichte in Mk 4,35 – 5,43 dagegen haben die Funktion, die Lehre des Kapitels 4,1-34 zu bekräftigen und zu illustrieren. In allen drei Berichten ist vom Glauben die Rede (4,40; 5,34.36). Der Glaube, den die Wunder wecken, ist zugleich die für die Lehre in Kap. 4 eingeforderte Antwort. Dass sich die Wunder bis hin zur Totenerweckung inhaltlich steigern, ist erkennbar das Ziel der Darstellung. Wer bis dahin immer noch nicht glaubt, sollte es aufgrund der Totenerweckung tun, denn Tote erwecken kann nur
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156 Gott. (Deshalb scheitert auch der spätere Antichrist spätestens bei der Totenerweckung.) Die Wunder machen daher deutlich: Der das lehrt, ist Gott bzw. Gottes Sohn.
Mk 4,35-41: Sturm auf dem Meer In diesem Abschnitt finden wir die erste der insgesamt acht »Bootsgeschichten« aus den vier Evangelien. Diese Geschichten haben viele Gemeinsamkeiten und insgesamt eine verbindende symbolische Bedeutung. – Zunächst sind die Bootsgeschichten zu nennen: 1. Mk 4,1 (par Mt 13,1f): Jesu hält seine Gleichnisrede vom Boot aus, wegen des großen Andrangs der Leute. 2. Mk 4,35-41 (par Lk 8,22-25): Jesus fährt, wie so oft, auf die gegenüberliegende Seite des Sees Gennesaret. Er schläft im Heck des Schiffes. Als ein Sturm aufkommt, wecken ihn die Jünger (»Meister, lässt es dich ganz kalt, wenn wir ertrinken?«). Durch Anschreien besänftigt Jesus den Sturm. Er tadelt, dass den Jüngern der Glaube fehlt. 3. Mk 6,45-52: Jesus erscheint den Jüngern in der Mitte des Sees und bei Gegenwind, sie meinen, es sei ein Gespenst. Jesus sagt: »Habt keine Angst, ich bin es doch, fürchtet euch nicht!« Die Jünger sind außer sich, sie hatten das Zeichen der Brotspeisung noch nicht erkannt, »vielmehr war ihr Herz verhärtet.« 4. Mt 14,22-33: Die Geschichte von der Erscheinung Jesu im Sturm ist bis Mt 14,27 parallel zu Mk (s. o. unter 3.), berichtet aber dann in V. 2831 den Seewandel des Petrus. Als danach der Wind abflaut, huldigen sie Jesus: »Wahrhaftig, Gottes Sohn bist du!« (anders: Mk 6,52: Die Jünger verstehen nicht, denn ihr Herz ist verhärtet). Der Seewandel des Petrus enthält den Ruf »Herr, rette mich!« (V. 30) und den Vorwurf des Kleinglaubens gegenüber Petrus (V. 31; wie Mt 16,8 gegenüber den Jüngern). 5. Mt 8,18.23-27: Die Geschichte ist der unter 2) genannten (Mk 4,35-41) weitgehend parallel. Doch im Unterschied dazu wird betont, dass die Jünger Jesus (ins Boot) nachfolgen; sie rufen »Herr, rette!«; Jesus nennt die Jünger Kleingläubige (wie Petrus in Mt 14). 6. Mk 5,18 (nur Mk): Jesus steigt nach der Hei-
Das Evangelium nach Markus
lung des Geraseners ins Boot, und der bittet ihn, bei ihm sein zu dürfen. Jesus lehnt das ab. 7. Lk 5,1-11 (nur Lk): Jesus beruft nach dem Fischwunder Petrus, aber auch Johannes und Jakobus. Die Situation: Nach 5,3 lehrt Jesus vom Boot aus. Es gibt auch »Gefährten im anderen Boot«, die mithelfen, die Fülle der Fische einzubringen. Petrus bekennt sich angesichts der Fülle als Sünder, aber Jesus beauftragt ihn zum Menschenfischen (traditionelles Bild für Mission). Von der Nachfolge berichtet dann V. 11. 8. Joh 21,1-14 Trotz erfolglosen Fischens in der Nacht werfen die Jünger das Netz auf Jesu Anordnung aus und fangen 153 Fische, doch das Netz reißt nicht. Der Lieblingsjünger erkennt den Herrn, Petrus watet auf ihn zu. Der Herr verteilt Brot und Fisch unter die Jünger. Nach dem Essen bestellt er Petrus zum Hirten seiner Schafe. 9. Joh 6,17-21: Die Jünger sind im Boot auf dem Weg nach Kafarnaum. Ein Sturm kommt auf. Die Jünger sehen Jesus auf dem Meer gehen. Er kommt heran und sagt: Fürchtet euch nicht. Da ist das Boot auch schon an Land. Vorangeht die Brotvermehrung (6,5-14). 10. Mk 8,14-21 (par Mt 16,5b-12): Die Jünger im Boot haben vergessen, Brot mitzunehmen. Jesus warnt vor dem Sauerteig der Pharisäer. Die Jünger ihrerseits aber können die symbolische Zahl der bei den Speisungen übrig gebliebenen Körbe voller Brote nicht verstehen. Bei Mk nennt Jesus die Jünger verstockt, nach Mt 16,8 tadelt er ihren Kleinglauben. Die Gemeinsamkeiten dieser Geschichten 1. Alle Geschichten sind angesiedelt im Alltagsmilieu der Fischer vom See Gennesaret. Sie tragen Lokal- und Berufskolorit. Als der Bereich, in dem der Mensch seine totale Abhängigkeit spürt, in dem er buchstäblich hin- und hergeworfen oder eben vernichtet oder wundersam gerettet wird, ist das Meer der ideale Ort der Epiphanie: des wie auch immer helfenden Eingreifens Gottes mitten im Unheimlichen, wo alle menschlichen Möglichkeiten aufhören. Und daher gestaltet sich Gottes Epiphanie auf dem Meer als Beruhigung (Abwendung der bedrohlichen Mächte), als Fischfang (Segen) oder als Erscheinung einer (Licht-)Gestalt. 2. In jeder Geschichte bilden die Jünger eine ho-
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Kapitel 4
mogene Gruppe; das gilt auch, wenn Petrus oder Petrus und der Lieblingsjünger oder Petrus zusammen mit Johannes und Jakobus genannt sind und die Gesamtheit der Jünger gewissermaßen im Hintergrund verbleibt. 3. Jesus steht der Formation der Jünger in jedem Falle gegenüber. Er ist nicht einer der Fischer, sondern ihr Herr bzw. der Herr. 4. Die Situation der Jünger im Boot bzw. beim Fischfang vom Boot aus weist deutliche symbolische Züge auf. Diese sind erkennbar an doppeldeutiger Wortwahl: Jesus ins Boot nachzufolgen steht für Nachfolgen überhaupt; »Herr, rette uns« hat den gleichen Inhalt wie das hebräische Hosianna und ist dem »Herr, erbarme dich« aller alten christlichen Liturgien eng verwandt; das Boot (Schiff) ist in der römischen Staatsmetaphorik eine alte Metapher für die Körperschaft Staat. Der Vorwurf »Kümmert es dich nicht, wenn wir zugrunde gehen?« ist Ausdruck der üblichen Theodizeefrage. Ein selbstständiger Ansatz zu symbolischer Deutung wird ausdrücklich in Mk 8,14-21 geliefert: Zum Stichwort »Brot« assoziiert Jesus selbst den »Sauerteig der Pharisäer«, und die Zahl der übrig gebliebenen Körbe voller Brot will Jesus offenbar symbolisch verstanden wissen – also mutmaßlich die zwölf Körbe auf den Zwölferkreis und die sieben Körbe auf die in der Diakonie der Witwenversorgung tätigen Hellenisten beziehen. 5. Damit aber erhalten auch andere Züge aus den Bootsgeschichten symbolische Bedeutung: Das – zumal bei Dunkelheit und Sturm – bedrohliche Meer ist seit den Psalmen Bild für die Gefährdung menschlichen Lebens in der Welt. Indem Jesus in Lk 5 aus Fischern Menschenfischer macht, gibt er selbst die Wege symbolischer Deutung an. Die Speisung, die Jesus anordnet, hat offenbar eine enge Beziehung zu Wortverkündigung und/oder Eucharistie (vgl. unten 8.). Die geheimnisvolle Zahl 153 in Joh 21 hat zahlreiche Versuche symbolischer Deutung hervorgerufen. Zumindest beziehen sich alle Mengenwunder beim Fischfang auf die Missionserfolge. 6. Alle Texte bringen daher – weit über nur biografische Erinnerung hinausgehend – die Situation der Jünger in der Welt und speziell in den Nöten der Verfolgung und in der Endzeit zur Sprache.
157 7. Die Jüngerschar erlebt diese Nöte in geschlossener Einheit; das gilt auch, wenn über ihren Repräsentanten (Petrus) streckenweise allein berichtet wird. Dann steht eben Petrus für alle gemeinsam. Man geht daher nicht fehl, wenn man in diesen Geschichten frühe Zeugnisse eines Selbstverständnisses als »Kirche« erblickt, die bis in das Leben Jesu zurückreichen. Das gilt auch für die Frage des Bekenntnisses (typisch Mt 14,33) und des Glaubens, bzw. Kleinglaubens (Mt 14,31). 8. Typisch ist die Verknüpfung von Bootsgeschichte (Epiphanie oder Sturmstillung) mit Speisungsgeschichten Mk 6,35-44.45-52; Mt 14,13-21.22-33; Mk 8,1-10.14-21; Mt 15,32-39; 16,1-12. Diese Verknüpfung ist so stabil, dass selbst das JohEv sie gleichfalls bietet (Joh 6,5-13/ 16-21; die Kombination von Speisung und Bootsgeschichte kennt Joh 21,1-14). Auch hier gilt: Beide Geschichten legitimieren sich gegenseitig. Von daher haben diese Bootsgeschichten eine eindrückliche doppelte Funktion: Sie gehören insgesamt in die Jesus-Überlieferung und zeigen das vielfältige »Interesse« Jesu an der Gemeinschaft der Jünger (Kirche). Und sie lassen die frühe Kirche sich selbst in diesen teilweise dramatischen Ereignissen wiedererkennen. Alle Geschichten gehen gut aus; das Ende ist nie eine wirkliche Katastrophe (Schiffbruch). Das bleibt erst Paulus nach Apg 28 vorbehalten. In der Verbindung von Speisungs- und Bootsgeschichten spiegelt sich die zentrale Bedeutung der Eucharistie für frühe Gemeinden. Im Rahmen der Gattung der Bootsgeschichten liegt in Mk 4,35-41 der besondere Schwerpunkt auf dem Kontrast zwischen dem unbesorgten Schlafen Jesu und der Angst der Jünger. Das Problem wird dann durch Jesu Sturmstillung gelöst. Denn: Das Meer und der Wind, beide gehorchen Jesus (4,41). Das ist nicht unerheblich, denn diese unberechenbaren Mächte gehorchen nur Gott. Und genau deshalb ist Jesu Schlaf auf dem Kissen im Bug des Schiffs eine Zeichenhandlung, die die Rolle Gottes »im Auge des Sturms« angibt: In allem Aufruhr ist Gott die Ruhe selbst. Daher ist der Sabbat als Gottes eigener Tag der Ruhetag, daher verheißt Jesus in Mt 11,28 Ruhe, und daher ist Jesu Rolle im Tanzlied aus den apokryphen Johannesakten so definiert, dass er in der
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158 Mitte der tanzenden Jünger der ruhende Pol ist (vgl. das Tanzlied bei Berger/Nord, Das Neue Testament, 1999, 1350-1354). – Zudem bestehen Analogie und Kontrast zur Figur des Propheten
Das Evangelium nach Markus
Jona, der gleichfalls bei Sturm im Schiff schläft. Jona wird wegen Untätigkeit ins Meer geworfen, Jesus dagegen besänftigt den Sturm, denn er ist mehr als Jona, nämlich Gottes Sohn.
Mk 5-9: Klärung der Identität Jesu durch Worte und Zeichen Theologische Aspekte der Komposition von 5-9 Für die Komposition von Mk 1 – 9,13 gilt ein zweifach angewendetes Schema: Klärung der Identität und Legitimität Jesu – Darbietung der Lehre – Bekräftigung der Lehre durch Zeichen (Wunder), die Glauben wecken. Eine variable Platzierung gilt für das vierte Thema, das Bekenntnis. – Der erste Durchgang anhand dieses Schemas macht die Kapitel 1-5 aus, der zweite die Kapitel 6,1 – 9,13. Im ersten Durchgang folgt der Evangelist diesem Schema in 1-3 (Identität), 4 (Lehre) und 4,35 – 5,43 (Wunder); vom Glauben ist in diesem letzten Abschnitt die Rede (s. o.). Zu den wichtigen und bekannten Materialien dieser Darstellung gehören klassische Themen des Anfangs der Biografie, also das Thema Johannes der Täufer (Übereinstimmung und Abgrenzung Mk 1,2-13) und Heimatstadt (Mk 1,21 ff: Kafarnaum) sowie Berufung der Zwölf (3,1319). Am Schluss spitzt sich die Frage nach der Identität zu (3,28-32). Im Schlussteil ist die Rede vom gewaltsamen Tod Jesu (3,6). Das Thema Bekenntnis ist hier in 3,28-32 platziert. Ab 6,1 nun wiederholt der Evangelist dieses Schema, wiederum mit den typischen Themen des Anfangs. Dazu gehören Klärung der Identität und Legitimität (6,1-56), Lehre (7,1-23) und Bekräftigung der Lehre durch Zeichen (7,24 – 9,13). – Zu den Materialien gehört das Thema Johannes (6,14-29), die Heimatstadt (6,1-6), die zwölf Jünger (6,7-13) und am Schluss die Frage nach der Identität, dieses Mal erheblich ausgeweitet und mit dem Thema Bekenntnis verbunden (8,22 – 9,13). Auch hier gehört die Rede vom gewaltsamen Tod an das Ende (Mk 9,12). Beide Durchgänge sind sichtbar miteinander verknüpft durch die Bemerkung (»Nachdem der Täufer gefangen genommen war …«) in 1,14, welche genau dem in 6,14-29 Dargestellten entspricht. Der Vorteil dieser Hypothese über die zwei pa-
rallelen Durchgänge ist: Sie gewährt Einsicht in die Funktion von Mk 4 (Gleichnisse) und Mk 7 (Reinheit). Diese beiden Abschnitte sind demnach Darstellung der Lehre Jesu und insofern parallel. Zugleich wird auch der Abschnitt über die Rolle des Heiligen Geistes in Mk 3,28-32 aufgewertet, weil es hier sachlich um eine Parallele zum Petrusbekenntnis und zur Verklärung Jesu geht. Schließlich wird erklärbar, warum die Themen Heimatstadt, Zwölferkreis und Johannes der Täufer je zweimal vorkommen. Besonders beim Thema Martyrium des Täufers hat man schon immer gefragt, warum es ausgerechnet in Kap. 6 vorkommt. Die Antwort: Das Thema gehört immer in den Anfang hinein, also auch in die »zweite Auflage« der Darstellung des Anfangs. Theologisch bedeutet das Beobachtete: Die verwandten Passagen interpretieren sich gegenseitig. Das gilt z. B. auch für die Blindenheilung in Mk 8,22-26. Denn sie gehört zu der Klärung der Identität durch Bekenntnis und Verklärung. Eigentlich ist diese Heilung »fehlplatziert«, aber durch die Komposition, d. h. durch die Zuordnung vor Kap. 8 und 9 erlangt die Blindenheilung auch symbolische Bedeutung. – Die Wunderzeichen Jesu haben stets argumentative Funktion. Das heißt: Sie werden nicht um ihrer selbst willen berichtet. Sie stützen Lehre und Bekenntnis und betonen: Gott hat Menschenfreundliches mit den Menschen vor. Ab 9,14 beginnt dann das so genannte Jüngerevangelium, das Probleme der Jüngerschaft behandelt. Die Hauptmasse der Christologie und der Botschaft Jesu wird daher bis 9,13 dargestellt. Es ist schon immer aufgefallen, dass von da ab die Wunderberichte rapide abnehmen.
Mk 5,1-20: Heilung eines Besessenen Die Geschichte der Heilung des besessenen Geraseners gehört zu den vier Wundergeschichten im
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Kapitel 5
Anschluss an Mk 4, die nach der Lehre nun deutlich die Vollmacht Jesu in seinem messianischen Handeln demonstrieren (wie Mt 8 nach Mt 5-7). Die Besonderheit dieser Geschichte: Typisch für den »zweiten Durchgang« der Grundthemen ist hier – wie dann auch in Kapitel 7 – das Thema Heiden. Denn die Umgebung von Gerasa ist rein heidnisch. Vorerst wird das Thema Heiden eher restriktiv behandelt: Der geheilte Gerasener darf sich gegen seinen eigenen Wunsch Jesus nicht anschließen (5,18f). Trotzdem sieht es nach 5,19 so aus, als begründe er durch Weitersagen seiner Heilungsgeschichte eine erste christliche Zelle im heidnischen Land. Im Übrigen aber häufen sich in dieser Geschichte die Zeichen für eine massive Unreinheit, die Jesus hier zu bekämpfen hat: Gerasa ist eine heidnische Stadt, der Besessene lebt zwischen Gräbern, dem klassischen Ort der Unreinheit, die Dämonen sind als Totengeister selbst eben unreine Geister (V. 13), sie heißen auch noch dazu »Legion« (V. 9) und deuten das unheilvolle Wesen heidnischer Unreinheit im Lande an, schließlich fahren sie in eine Schweineherde: ein ebenfalls massiver Hinweis auf Unreinheit. (Ergänzung siehe S. 1051) Dennoch ist Jesus derjenige, der diese geballte Unreinheit besiegen kann, und zwar durch bloße Befehle, wie ein Feldherr also. Dass Jesus zu diesem Sieg fähig ist, muss vor allem judenchristliche Leser beeindrucken, während Heidenchristen einen Großteil dieser Phänomene gar nicht verstehen würden. Das Thema »Sieg über die Unreinheit« wird durch die beiden folgenden Wundergeschichten fortgesetzt: durch die Heilung zweier Frauen, die beide in nicht steigerungsfähigem Maße unrein sind, die blutflüssige Frau und die tote Tochter des Jairus. So ist die Besiegung der Unreinheit das offene gemeinsame Thema der drei Wundergeschichten in Mk 5: der Heilung des Geraseners, der blutflüssigen Frau und der Tochter des Jairus. Für die Judenchristen unter den Lesern ist das ein klares Signal: Wenn Jesus selbst mit diesen geballten Formen von Unreinheit fertig wird, dann erst recht mit jeder heidnischen Unreinheit sonst. Die Massivität der Besessenheit entspricht der Massivität des Blutflusses und des Todes. Dabei ist zu beachten: Was wir heute als »unrein« übersetzen, ist nach jüdischer Vorstellung nicht »schmutzig«, sondern eher »tabuisiert«, und zwar im Sinne des Lebensgefährlichen, der Nähe
159 des Todes. Weder Frauen noch Ausländer noch Andersgläubige sind »unrein«, sondern Unreinheit ist die Gegenposition zu Leben; alles, was das zerbrechliche menschliche Leben durch seine bloße (ansteckende) Anwesenheit bedroht, ist »unrein«. Die Bezeichnung als unrein ist daher ein Stück Kampf gegen den Tod, ein Stück Warnung. Und das jüdische Gesetz wird hier verstanden als eine Art Schutzwall gegenüber lebensbedrohlicher »Infektion«. Daher wird die – traditionell bei den Pharisäern wichtige – Unterscheidung von rein und unrein bei Jesus nicht aufgegeben. Aber sie wird mit neuer Kraft gefüllt, weil Jesus nicht nur defensiv durch Flucht vor dem Unreinen reagiert, sondern offensiv durch dessen Besiegung. In Bezug auf die Gleichnisse von Kap. 4 sagen die Wunderberichte in Kap. 5: Reich Gottes ist nicht (nur) eine vornehme Gesinnung oder Änderung des Bewusstseins, sondern Leben gegen Tod. Denn in allen Fällen schafft Jesus durch sein Wort oder seine leibhafte Präsenz mühelos den Sieg. Wichtig ist die Botschaft, die Jesus dem Geheilten für seine »Zelle« mitgibt: Der Herr hat sich deiner erbarmt (V. 19b). Denn so wird das Geschilderte nicht primär als militärisch-technischer Machterweis eingeordnet, sondern als liebevolle Zuwendung Gottes zu den Menschen. Der Ruf »Kyrie eleison« wird darauf aufbauen. Zur apopompe (Wegschicken, Austreiben) der Dämonen gesellt sich als Folge des Dialogs Jesu mit den Dämonen die epipompe (den ausgetriebenen Dämon auf ein konkretes anderes Ziel hinlenken). Vgl. dazu den griech. Dichter Kallimachos (um 300 v. Chr.): »Am Abend aber überfiel sie die schreckliche Bleichsucht, es kam die Krankheit, die wir fortschicken auf wilde Ziegen (sc. um sie zu heilen), die wir zu Unrecht die heilige nennen« (Berger/Colpe, Textbuch, Göttingen 1987, Nr. 42); oder ein griech. Gebet aus Süditalien (Anrede an einen Dämonen): »Sieh zu, fahre nicht in meinen Diener, sondern flieht und fahrt in die wilden Berge und geht hinauf in den Kopf eines Stieres, dort fresst Fleisch, dort sauft Blut, dort zerstört Augen, dort verfinstert das Haupt, verwirrt, verdreht …« (Berger/Colpe, Nr. 43).
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Mk 6,1-6: Jesus in Nazaret Das Thema »Fremdheit gegenüber dem vertrauten Lebensraum« gehört in den Anfang von Gesamtaufrissen. Denn das Große wird zunächst sichtbar als das Unvertraute im Rahmen des Gewohnten. Das Allergewöhnlichste aber ist die Großfamilie, zu der einer gehört, bzw. das Dorf, in dem er aufwächst. Der bedeutende Mensch weckt durch sein ungewöhnliches Verhalten viele Fragen. Vor dem Hintergrund des Alltags hat sein Tun besonders viele zum Staunen gebracht und es wirkt gleichzeitig anstößig. Beides, Staunen und Anstößigkeit, liegt nahe beieinander. Daher ist hier schon die Ambivalenz gegeben. Entweder kommt die »Macht«, die Jesus zeigt, von Gott – oder sie ist Zeichen seiner Verrücktheit. In beiden Fällen ist »etwas nicht in Ordnung« mit ihm, das irritiert und aufmerksam werden lässt. Und wenn Jesus Wunder wirkt, dann zeitigt das vergleichbare Anfragen, weil auch die Wunder zunächst einmal Durchbrechen des Erwartbaren sind. Das Minimum ist also die »Fremdheit«, und deshalb gehört Jesu fremdartiges, merkwürdiges Auftreten in der Heimatstadt genauso dazu wie Anderssein gegenüber den nächsten Verwandten. Daher begegnet das Motiv der Fremdheit zweimal: einmal in Mk 3,31-35 zum Thema »wahre Verwandtschaft« und in Mk 6,1-6 zum zweiten Mal zum Thema »Prophet und Vaterstadt«. Nach Mk 3,31-35 sprengt Jesus den Rahmen der Verwandtschaft durch die Umdefinition von Verwandtsein überhaupt, und hier geht es um Mutter, Brüder und Schwestern. Und ebenso werden die nächsten Verwandten in 6,3 genannt (Mutter, Brüder und Schwestern). In 3,31-35 wird das Verwandtsein neu bestimmt: Wer den Willen Gottes tut, der ist Bruder, Schwester und Mutter Jesu. Ebenso gehört freilich der Rahmen in 6,1f zum »Anfang«, nämlich der Auftritt in der Synagoge der »Heimatstadt«. Auch dieser Rahmen wird zweimal berichtet, nämlich in Mk 1,21f (»Und sie ziehen nach Kafarnaum hinein. Und gleich am Sabbat ging er in die Synagoge hinein, lehrte. Und sie gerieten außer sich über seine Lehre, denn er lehrte sie wie mit Vollmacht und nicht wie die Schriftgelehrten«). Man vergleiche mit Mk 6,1f: »Und er kommt in seine Vaterstadt … Und da es Sabbat geworden war, fing er an zu lehren in der Synagoge. Und alle Hörenden gerie-
Das Evangelium nach Markus
ten außer sich und fragten: Woher hat er dies? …« Hier wird das beobachtete Phänomen des »zweiten Durchgangs« ganz handgreiflich sichtbar: Die Situation ist dieselbe, aber auch die Reaktion (außer sich geraten). In beiden Fällen gilt das Staunen zunächst der Qualität der Lehre. In Mk 1 wird das dann durch einen Exorzismus bestätigt, in Mk 6 zeichnet sich eine ungute Lösung ab: »Und er staunte wegen ihres Unglaubens« (6,6a). Denn nach V. 2 hatten noch die Menschen in der Synagoge gestaunt, nach V. 3b nehmen sie schon Anstoß, nach V. 5 stößt Jesus offenbar auf eine Mauer des Unglaubens, was in V. 6a mit seinem eigenen Staunen beendet wird. Das treibende Motiv, das die Situation kippen lässt, ist der Hinweis darauf, dass man doch die Verwandten Jesu kenne. Denn die Qualität der Verwandtschaft (bzw. deren unanstößige Normalität) lässt in den Augen der Skeptiker den Schluss zu, dass es mit der Größe Jesu auch nicht so weit her ist, wie es den Anschein hat. Auch auf Lk 4,16.22-24 ist ein kurzer Blick zu werfen. Denn hier gibt es u. a. eine Kombination der gerade besprochenen Motive. Jesus lehrt am Sabbat in der Synagoge der Heimatstadt (Nazaret), die Menschen staunen (4,22), der Spruch von Prophet und Vaterstadt fällt, und am Ende wird Jesus aus Nazaret vertrieben. Wie in Mk 6,3 weisen die Hörer darauf hin, dass sie wissen, Jesus sei Josefs Sohn (V. 22). Benennt man die Motivstücke mit Abkürzungen (V = Hinweis auf bekannte Familienmitglieder Jesu; P = Prophet in seiner Vaterstadt; S = Staunen; H = Auftritt in der Synagoge der Heimatstadt am Sabbat; Z = Hinweise auf betrüblichen Ausgang; N = Neudefinition der Verwandtschaft; W = Thema Wunder), so stellt sich eine synoptische Übersicht so dar: Mk 1,21f: HSW Mk 3,31-35parr: VN Mk 6,1-6; par Mt 13,53-58: H S V P Z Lk 4,16-30: HSVWPZ Die Übersicht zeigt, dass die einzelnen Elemente dieses Themenfeldes wie Bausteine sind, mit denen die Evangelisten nach Ermessen umgehen konnten. Es wird auch erkennbar, wie verflochten die einzelnen Perikopen untereinander sind. Die erkennbar ausführlichste Sammlung liegt in Lk 4 vor; zusätzlich gibt es hier noch das Element der
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Zuwendung zu den Heiden, das zu H in besonders deutlichem Kontrast steht. Hier wird auch der Bibeltext zitiert, den Jesus nach Lk in der Heimatsynagoge vorgelesen hat. Dies zeigt im Übrigen, dass mit der traditionellen Frage nach zusammenhängenden Quellen das synoptische Problem wohl nicht zu lösen ist. Das Prinzip Baukasten scheint angemessener.
Mk 6,6b-13: Aussendung der Zwölf Unvermittelt greift Mk nun im zweiten Durchgang das Thema der Zwölf wieder auf (zuerst: Mk 3,13-19: Liste der Zwölf). Das Thema wird nun zu einem Aussendungsbericht gestaltet. Dabei stimmt mit dem ersten Bericht überein das Wort »herbeirufen« (Mk 3,13; Mk 6,7) und das Thema böse Geister/Exorzismus (Mk 3,15; Mk 6,7.13) sowie das »Senden« (Mk 3,14; Mk 6,7) und das »Verkündigen« (Mk 3,14; Mk 6,12). Auch hier ist die Verflechtung daher sehr eng. – Die Angaben im Aussendungsbericht sind neu gegenüber Mk 3. Sie stehen in enger und oft spannungsreicher Korrespondenz zu Mt 10 und Lk 9,1-6 und 10,1-12. – Auch hier geht es um einen gemeinsamen Satz von Motiven: 0 = verboten; 1 = nur in einfacher Ausführung erlaubt; S = Paar Sandalen; St = Reisestab; B = Brot; G = Geld (Kupfer); H = hemdartiges Obergewand; R = Rucksack (Ranzen); E = Erwerb von Edelmetallen wie Silber und Gold; P = Geldbeutel; U = Untergewand. Mk 6,8-9: Mt 10,9: Lk 9,3: Lk 10,4: Lk 22,35:
1 St; 1 S; 1 H – 0-B; 0-R; 0-G 1 H – 0-E; 0-G; 0-R; 0-S; 0-St 1 H – 0-St; 0-R; 0-B; 0-E – 0-P; 0-R; 0-S – 0-P; 0-R; 0-S. – Ab jetzt: 1 P; 1 R, gegebenenfalls 0-H: Messer erlaubt!
Ein Vergleich mit damals zeitgenössischen Listen über die Ausstattung von Menschen auf religiöser oder philosophischer Wanderschaft ergibt: Musonius Rufus, Von der Kleidung (30-130 n. Chr.): 1 H; 1 U – 0-U; 0-S; Flavius Josephus, Bell II 124-127 über Essener: 1 H; 1 U; 1 S – 0-G – Waffe erlaubt! Plutarch (45-125 n. Chr.), Alexander, über Gymnosophisten: 0-R; 0-B; 0-S
Auswertung: Grundsätzlich stehen die Boten Jesu neben wandernden Kynikern und Essenern. Beide Gruppen verstehen sich wohl auch als religiös motivierte Wanderer (Pilger). Die Listen in den Evangelien sind die umfassendsten. Wo der Rucksack (Ranzen) verboten ist, kann auch Proviant mitgenommen werden. Das ist bei den Boten Jesu durchgehend der Fall. Damit aber richten sich diese Listen nicht nur an potenzielle (auch spätere!) Wandermissionare, sondern vor allem an die Gastfreundschaft von sesshaften Christen bzw. Gemeinden. Aufgrund der Listen wissen sie, womit sie bei der Aufnahme wandernder Christen zu rechnen haben. Interessant ist, dass diese Listen keinerlei Nachleben oder Wirkungsgeschichte haben, die über die Evangelien hinausgehen. Weder in den neutestamentlichen Apokryphen noch bei den Apostolischen Vätern, weder in der Gnosis noch bei den Kirchenvätern findet sich Vergleichbares. D. h.: Der Stand der Wanderasketen ist entweder ausgestorben oder hat keinen weiteren literarischen Niederschlag gefunden. Dieser fehlt auch im JohEv, wo es überhaupt keinen Aussendungsbericht gibt; das verwundert angesichts der zentripetalen Missionsstruktur des JohEv nicht. Gegenüber Mk sind Mt und Lk rigoroser. Immerhin dürfte in Lk 10,22 auch die Verwendung eines Obergewandes erlaubt gewesen sein. Nur der bei Mk erlaubte Stock (gegen wilde Hunde) ist bei Mt untersagt. In Lk 10,4 könnte auch der Transport von Sandalen zum Ersatz gemeint sein, denn (griech.) bastazein meint nicht das Tragen am Körper (M. Wolter). Lk 22 und Flavius Josephus erlauben den Gebrauch von Messern bzw. Waffen. Josephus sagt dazu: wegen der Räuber. Das ist eine plausible Erklärung auch für Lk 22,38 (s. d.). Zusatzregeln, das Grüßen und das Abschiednehmen betreffend: Der Friedensgruß kommt auf den Grüßenden zurück, wenn er keinen Würdigen gefunden hat, an dem er hängen bleiben konnte: Mt 10,13; Lk 10,6. Denn der Gruß ist qualifizierte Rede, und diese hat, wenn sie auf den Unwürdigen trifft, die Funktion des Bumerangs, d. h. sie kehrt zum Aussender zurück. Für die Weisheit der Antike ist das Wort wie eine Brieftaube. Auch diese kehrt bei Nicht-Finden des Ziels zurück (wie bei Noah). Ebenfalls um
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162 eine dinglich-mythische Auffassung handelt es sich beim Grußverbot unterwegs (vgl. ebenso 2 Kön 4,29!): Das ergeht nicht aus praktischen Gründen, weil Grüßen Zeit kostet, sondern eher deshalb, weil das Grüßen Weggeben, Ableiten von Segenskraft ist. Daher darf auch der sterbende Jakob nur einen der Söhne segnen; sonst ist die Segenskraft erschöpft. Wegen dieser dinglichen Auffassung, die zugleich dualistisch ist, kehrt der Segen bei Unwürdigkeit des Empfängers zum Ursprung zurück. Bei gescheiterter Mission sollen die Boten Jesu »den Staub unter den Füßen abschütteln, ihnen (sc. den ungläubig Gebliebenen) zum Zeugnis« (Mk 6,11). Was hier empfohlen wird, ist ein Verfluchungsgestus (wie noch – freilich säkularisiert – in dem deutschen Imperativ: Macht euren Dreck alleine! Vgl. Neh 5,13 [Manteltasche, aber mit Vernichtungswunsch an Gott]; Apg 13,51; 18,6 [Kleider, mit Verfluchungsformel]) und Ausdruck radikaler Trennung. Vergleichbar ist auch, wenn man sich angesichts von Lästerung oder anderer Schreckenstat »die Kleider vom Leib reißt«, weil sie ja durch das Dabeigewesensein infiziert sein könnten (wie früher die Kleider rochen, auch wenn man während einer Zugfahrt nur kurz in einem Raucherabteil gewesen war). Nach Mk 6,10 ist Quartierwechsel untersagt (vgl. Lk 9,4; Mt 10,11); denn das sieht nach Undankbarkeit aus und könnte einen fatalen Wettstreit der Gastgeber entfachen. Wieso dieser Gedanke erst nachösterlich (d. h. möglich nicht als historische Erfahrung, sondern nur als visionäre Begegnung mit dem Auferstandenen) sein soll, verstehe ich nicht. Historischer Ort: Die Jüngeraussendungen und dazugehörige Reden sind keineswegs notwendig Eintragungen aus nachösterlicher Zeit. Sie sind zeitlich begrenzte (daher wird auch ausführlich über ihre Rückkehr berichtet: V. 30f) Zeichenhandlungen Jesu. Denn sie bringen seine Umwandlung des Gerichtsgedankens zum Ausdruck. Stehen sie doch parallel zum Einsammeln der Gerechten durch die Engel des Menschensohnes. Die Aussendung zu zweit (6,7) entspricht dem Prinzip der je zwei Engel (vgl. z. B. Lk 24,4; Apg 1,10).
Das Evangelium nach Markus
Mk 6,14-16: Johannes der Täufer und Jesus Die nach 6,7 ausgesandten Jünger machen offenbar den Namen Jesu bekannt, sodass auch König Herodes von ihm hört. Da Herodes Jesus für den auferweckten Täufer hält, ist hier dem Evangelisten die Möglichkeit gegeben, ein zweites Stück über den Täufer unterzubringen. – Die Meinung des Herodes, die Wunder Jesu seien mit Hilfe der Annahme zu erklären, Jesus sei der vom Tod auferweckte Täufer, ist nicht einfach Blödsinn, sondern ein Stück populärer Religionsgeschichte. Denn gerade so, wie Herodes formuliert, (»Den ich enthaupten ließ, Johannes, dieser wurde auferweckt«), steht es über Jesus in den Judenpredigten der Apostelgeschichte (»Den ihr getötet habt, er wurde auferweckt«, bzw. Gott hat ihn auferweckt). Denn da geht es um Gottes wunderbares Handeln, das die Schuld der Menschen offenkundig werden lässt. Die Auferstehung des Märtyrers wird zur Entlarvung der Mörder. Und der Märtyrer vermag nach seiner Auferweckung mehr als zuvor, so wie Jesus nach Joh 21 und Mk 16,17f; denn die Kräfte des Himmels wirken nun eindeutiger in ihm als zuvor. Im Falle Jesu vollbringen die Jünger Wunder »im Namen Jesu«. Und so ist auch der Komparativ (größere Zeichen als ich) in Joh 14,12 (»denn ich gehe zum Vater«) zu erklären. Vor allem aber erklärt Mk 6,16, dass es die Vorstellung einer innerzeitlichen (nicht eschatologischen) Auferweckung von Märtyrern gab (wie Offb 11,8).
Mk 6,17-29: Die Ermordung Johannes des Täufers Jesus wird später sagen, Johannes sei der bedeutendste Mensch bisher gewesen (Lk 7; Mt 11,11). Das könnte sich darauf stützen, dass Johannes nach Mk 6,18 den König Herodes im Sinne von Gottes Gebot anklagt und damit sein eigenes Leben riskiert. Der Täufer kommt durch das um, wogegen er predigt (zum Weingelage vgl. Mt 11,18: isst nicht und trinkt nicht). Alles, was dem Täufer zutiefst fremd ist, wird bei dem Weingelage offenkundig (Palast; üppige Mahlzeit; luxuriöse Kleidung, Wein; wohl auch der Eid). So wird der Tod des Täufers in Jesu Botschaft einbezogen. Signale für den Leser: Die Ba-
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sisopposition besteht zwischen V. 19 (»und sie [Herodias] konnte nicht«) und dem gelungenen Anschlag gegen Johannes nach V. 28a. – Wörtliche Rede V. 18.22b-25, darin Wiederholung (»Was du auch verlangst, ich werde es dir geben«, V. 22-23b); Schilderung von Affekten: »gefiel« (V. 22), »war tief betrübt« (V. 26), »fürchtete« (V. 20), »war in Verlegenheit« (V. 20), deren Subjekt stets der König ist. Daher ist der Skopos des Berichts nicht das Erwecken von Trauer über den Tod des Täufers, sondern die Selbsterniedrigung eines Königs im Rahmen eines labilen und genusssüchtigen Lebens. Daher stehen nicht der Kerker und der Mord an Johannes im Vordergrund, sondern das verschwenderische Mahl. Die Bestattung des Johannes durch seine Jünger erinnert an die Rolle des Josef von Arimatäa (Mk 15,42.46), obwohl er eben gerade nicht der klassische Jünger ist. Das Martyrium des Täufers ist auch deshalb besonders blutrünstig und grausam erzählt, weil Herodes als gottloser Herrscher schlechthin gezeichnet wird (Ehebrecher, Mörder, labil). Denn – wie Jesus selbst in Mk 9,12f sagen wird – der wiedergekommene Elia (sc. = der Täufer) muss nach apokalyptischer Tradition durch die Hand des gottlosen Herrschers der Endzeit sterben (vgl. zu dieser Tradition Offb 11,4 ff und die EliaApk [kopt]).
Mk 6,32-44: Speisung der Vielen Schafe ohne Hirten haben keinen, der sie zum Futter führt. Sie werden dann matt und wirken orientierungslos. – Die alttestamentliche Vorlage ist 2 Kön 4,42-44, und zwar mit folgenden Motiven, die sich in den Speisungsberichten der Evangelien wiederholen: Der Prophet und sein »Jünger« sehen sich einer großen Masse hungriger Menschen gegenüber. In 2 Kön sind es 100, in Mk 6 5000 Männer (Mk 8: 7000; Joh 6: 5000). Es wird festgestellt, wie viel zum Essen da ist. Nach 2 Kön 4 sind es 20 Gerstenbrotfladen und dazu Jungkorn; in Mk 6 sind es 5 Brote und 2 Fische. Bei Mk ist demnach die Ausgangsbasis drastisch reduziert. Der Prophet befiehlt seinem Jünger, den Leuten zu essen zu geben; nach Mk 6,41 hält sich auch Jesus daran. Er gibt die beiden gesegneten Fische und die Brotfladen den Jün-
163 gern, »dass sie ihnen das vorsetzten«. In 2 Kön formuliert der Prophetenjünger einen Einwand gegen den Befehl des Propheten zum Verteilen: »Wie soll ich das 100 Leuten vorsetzen?« Der Einwand steht nicht in Mk 6, wohl aber in der Parallele in Joh 6,9: »Doch was ist das für so viele?« Auch nach Lk 9,13 sind die Jünger realistisch: »Wir haben nicht mehr als fünf Brote und zwei Fische, es sei denn, wir ziehen hin und kaufen für dieses ganze Volk Speisen.« Auch hier hatte Jesus schon, wie in Joh 6, den Auftrag zum Verteilen gegeben. – Joh 6,9 hält sich damit am engsten an die Vorlage in 2 Kön 4. – In 2 Kön 4,43 kündigt schließlich der Prophet an: Essen wird man und noch übrig lassen. Entsprechend wird in jedem neutestamentlichen Bericht von den körbeweise übrig gebliebenen Brotstücken gesprochen, und hier spätestens hat der Evangelist eine symbolische Seite erkennen können (s. u.). Erstaunlich an dem Bericht in Mk 6 sind drei Punkte: Die Fische kommen nicht aus der Vorlage in 2 Kön 4. Falls sie schriftgelehrten Ursprungs sind, können sie über die Johannes-Fassung erschlossen sein. Denn das Jungkorn (eine Masse von getrockneten Früchten) des Mt wurde in der LXX zur Feigenmarmelade, in Joh 6,5 zur Beikost. Beikost aber kann pflanzlich oder auch tierisch sein (Joh 21,9: Fische). Das griech. Wort in Joh 6 (opsarion) gibt beides her. Wegen der Nähe zum See Gennesaret spricht nichts dagegen, dass die Beikost aus Fischen bestand. Oder anders (wenn man primär literarisch urteilt): Die markinischen Berichte könnten einen Bericht wie den bei Joh erhaltenen voraussetzen. Ferner: Jesus feiert die Speisung wie ein jüdischer Hausherr als eine normale Mahlzeit (nahm …, blickte auf zum Himmel, sprach den Segen und zerteilte die Brotfladen …). Die spätere lateinische Liturgie entnimmt das »et elevatis oculis in caelum ad te deum patrem suum omnipotentem …« (in den Abendmahlsworten) nicht den biblischen Abendmahlsberichten, sondern diesem Speisungsbericht in Mk 6,41; Mt 14,19. – Wenn es aber hier einen symbolischen Gehalt gibt, dann liegt er darin, dass das Wunder unter den Händen der Jünger geschieht. Weist das auf die Lehre der Jünger, die sie in Jesu Auftrag an die Menschen vermitteln? In Mk 8,19-21 weist Jesus die Jünger ausdrücklich auf den symbolischen Gehalt: »Wisst ihr nicht mehr, dass ich
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164 neulich fünf Brote an fünftausend Leute verteilt habe? Na, und wie viele Körbe Brotreste habt ihr davongetragen?« Sie sagten: »Zwölf.« Er fragte weiter: »Und als ich die sieben Brote an die viertausend Leute verteilt habe, wie viele Körbe Brotreste waren es da?« Die Jünger antworteten: »Sieben.« Darauf Jesus: »Habt ihr noch nichts begriffen?« Haben die Zwölf und die Sieben hier einen Bezug zum Gremium der Zwölf und der Sieben? Das Gremium der Sieben hat bekanntlich eindeutig (auch) diakonische Aufgaben. Da andererseits die Zahlen zwölf und sieben jeweils Symbole für »Fülle« sind, wird man zum Sinn dieser Symbole an dieser Stelle nur so viel sagen können: Da die Jünger die Nahrung austeilen, wird jedenfalls ihr Tun bedacht. Die vollständige Vollmacht Jesu geht vollständig auf sie über. Dabei muss offen bleiben, ob es sich eher um Lehre, Diakonie oder Wundervollmacht handelt. Zwölf und sieben bezeichnen jeweils die Gänze. Ohne Minderung, Riss oder Reibungsverlust wird Jesu Auftrag durch die Jünger fortgesetzt und vollzogen. Das in Mk 6,45-52 berichtete Gehen Jesu auf dem Wasser legitimiert die vorangehende Speisung als gottgewirkt. Denn nur Gott kann auf dem Wasser gehen. Da allerdings vorzugsweise Gespenster keinen Leib haben, muss diese Möglichkeit ausgeschlossen werden (6,49). Jesus widerlegt diese mögliche Deutung durch die Rekognitionsformel »Ich bin es« (6,50). Nun hält die Mehrzahl der Forscher das »Ich bin es« an dieser Stelle für eine Theophanieformel, und zwar im Sinne von Ex 3,14 (»Ich bin, der ich bin«). Man übersieht dabei oft, dass an keiner Stelle des Neuen Testaments diese »Formel« so zitiert wird. Diese Möglichkeit, dass es sich um die »allerheiligste Theophanieformel« handelt, scheidet daher entgegen der Meinung der Mehrzahl der Forscher völlig aus. Mit Recht verweisen einige dagegen für die Selbstvorstellung Gottes vor allem auf die JesajaTexte 43,10.13; 41,4; 46,4; 48,12, wo das bloße »Ich bin es.« die Gottheit Gottes bezeuge. Freilich steht – und das ist der Unterschied zu Ex 3,14 – an jeder dieser Stellen das »Ich bin es« in einem zeitlichen Bezug zum Vorher und (oder) Nachher, sodass man übersetzen muss: »Ich bin der gleiche …« oder: »Auch hinfort bin ich es noch«. Im Unterschied zu Ex 3,14 möchte ich
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hier von Selbstvorstellungen zweiten Grades sprechen. Das heißt: Wenn Jesus auf dem Meer den Jüngern sagt »Ich bin es (doch)« (Joh 6,20), so hilft nicht nur die Alltags-Analogie, dass man jemanden an der Stimme erkennt, diese wird im JohEv selbst betont (Joh 10,4; 20,16). Es würde ja auch in Joh 6,20 gar nichts helfen, wenn jemand bloß mit Worten eine Selbstvorstellung Gottes einbrächte. Denn das könnte auch ein Dämon oder Gespenst tun, weil diese von Natur aus Nachahmer-Geister sind. Das, was hier wirklich helfen kann, ist, dass die Jünger Jesu die vertraute Stimme des Meisters wiedererkennen; das nennt man Rekognition.
Mk 6,56: Heilungen Dass die Berührung der Quaste des Gewandes Jesu gesund machen kann, entspricht Mk 5,27f (»Wenn ich auch nur seine Kleider berühre, werde ich gerettet sein«). Die Basis dieser Auffassung ist ein Verständnis von Kleidern, das sich grundlegend von unserem unterscheidet. Das Kleid ist nicht modischer (und damit schnell auswechselbarer) Gebrauchsgegenstand, sondern, wie die Hand, ein nach außen, auf den Kontakt mit den Mitmenschen gerichteter Teil des Selbst. Wie die Haut nimmt das Kleid auf und strahlt aus. Die Metaphysik des Kleides ist die antike Variante der Psychologie der Haut. Schon in der altägyptischen Liebeslyrik heißt es: »Ich möchte sein ein altes Kleid der Geliebten.« Wenn daher nach Mk 9,3 Jesu Kleider glänzend weiß werden, ist dies ein Ausdruck der Offenlegung seiner wahren Identität. Das Geheimnis der Person offenbart sich in den Kleidern. Gerade das Äußerlichste wird zum Zeichen für das Innerste, das »Wesen«. Dabei ist das Kleid eindeutiger als eine Fülle von Worten.
Mk 7,1-23: Thema Reinheit In Mk 7 liegt ein Höhepunkt des MkEv vor, weil es hier – wie in Kap. 4 – um die Darstellung der inhaltlichen Lehre Jesu geht. Dass das Thema Reinheit hier so im Mittelpunkt steht, hat zu tun mit dem Zweck des MkEv im Ganzen: Mit dem
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Kapitel 7
Thema Reinheit wird die »lange Geschichte« von Jesus und den Pharisäern bis hin zur Heidenmission erzählt. Für die Bestimmung des historischen und religions-soziologischen Sitzes des MkEv ist diese Linie zentral bedeutsam. Dass hier die Brücke zur beschneidungsfreien Heidenmission gesucht wird, geht aus den Wundergeschichten hervor, die in Mk 7,24-8,9 erzählt werden. Im Übrigen bleibt Jesus dem Grundsatz von Mk 4,33f treu: Nach 7,17 verkündet er den zentralen Grundsatz seiner Reinheitslehre als »Parabel«. Und wie in Mk 4,12f zu erkennen ist, muss auch diese Parabel den Jüngern »im Hause« erläutert werden. Der Grundsatz der Abfolge von Rätselrede und Erläuterung durch Jesus ist auch in Mk 7 bestimmend geblieben. Den engeren Zusammenhang unter den Perikopen stiftet das Motiv Brot/Essen: 6,38.41; 7,4.28 (Bröckchen); 8,5.18.26. In Mk 7,2-23 und in 10,2-12 liegt dieselbe literarische Form vor, nämlich eine erweiterte Chrie (vgl. Berger, Formen und Gattungen, 2005, § 35). In beiden Fällen legt Jesus das Gesetz aus und belehrt anschließend die Jünger im Haus. Dadurch wird das so genannte Lehrgeheimnis dargestellt. Die Abfolge der Elemente ist gleich: 1. Anlass und Frage (Mk 7,2.5; 10,2) 2. Schriftauslegung mit antijüdischer Kritik (Mk 7,6-10; 10,4-8) 3. Sentenz mit der neuen Lehre Jesu (Mk 7,15; 10,9) 4. Belehrung im Haus, verbunden mit Elementen aus dem Dekalog (Mk 7,17-23; 10,10-12). Formelemente der Chrie: Anlass und Frage; Sentenz. – In Mk 7 ist außerdem erkennbar eine Überschneidung mit (oder Herkunft aus?) der bekannten Form Bildrede (Parabel; so Mk 7,17; vgl. Hss in V. 16) – Tadel des Nicht-Verstehens (7,18: unverständig) – Auslegung (für die Jünger). Das Zelt/Haus ist der Ort der Lehr-Offenbarung (Mk 9,5; Hen [äth] 81,5: »[Engel] setzen mich vor der Haustür nieder: ›Verkündige alles deinem Sohn Methusalem‹«). Im Hintergrund steht die Belehrung der versammelten Familie durch den Vater im Haus, besonders in testamentarischer Rede, in der es um das Vermächtnis geht. – Die liberale Forschung war so naiv, die Belehrungen im Haus als Anzeichen für die Herkunft dieser Stoffe aus Gemeindebildungen anzusehen. Die einzige Frage »Was ist echt?« ließ
165 den Blick auf die Form völlig verkümmern. Heute kann man sagen: Der Rahmen des Hauses gibt an, dass Jesus hier jeweils einen Intensivkursus gibt (vgl. auch Mk 2,15; Lk 5,29). Bei Jesus gibt es stets eine Phase des Lehrens »im Haus«. Reinheit Man kann die Phänomenologie der Reinheit in konzentrischen Kreisen denken (angeregt von C. Losekam): Den innersten Kreis bilden, wenn man an Personen denkt, die Priester, dann die Pharisäer, dann das Gottesvolk, und das ist umringt von Heiden. Oder lokal kann man denken an: Deckel der Bundeslade, Allerheiligstes, Tempel, heilige Stadt, heiliges Land, umgeben von unreinen Ländern. – Man kann aber auch dualistisch denken: Heiliges und Reines auf der einen Seite, Unheiliges und Unreines auf der anderen. Das gilt zumal in der Lehre von den Geistern: Diese sind heilig oder unrein, ein Drittes gibt es nicht. Besonders mit dem Pharisäismus teilt das Christentum das Thema Reinheit. Das reicht von der Seligpreisung derer, die »reinen Herzens« sind, bis hin zu dem Gebet des Priesters oder Diakons vor der Verkündigung des Evangeliums nach der lateinischen Liturgie: »Reinige mein Herz und meine Lippen, allmächtiger Gott. Der du die Lippen des Propheten Jesaja mit glühendem Stein gereinigt hast, mache auch mich rein durch dein großzügiges Erbarmen, damit ich würdig und fähig dein heiliges Evangelium verkünde.« In dem Ritus des Lavabo derselben Liturgie wird die mit Judentum und Islam gemeinsame Sitte gepflegt, vor dem wichtigen und zentralen Gebet die Hände zu waschen. Denn mit reinen Händen soll man vor Gott treten. Und selbstverständlich ist das in keiner der drei Religionen nur ein äußeres Zeichen, sondern ritualisierte Metaphorik. Das heißt: Der alltägliche Vorgang des Waschens bildet die Basis, Reinigung vor Gott ist die daraus gewonnene Metapher, im kultischen Geschehen wird diese zum Ritus. Beda Venerabilis († 856) schlägt daher bei seiner Auslegung von Mk 7 die Brücke zur Taufe. Das Wort »taufen« (griech.: baptiz-) findet sich im griechischen Text von Mk 7,4, doch im Sinne von »Abwaschen«. Beda klagt, dass die Juden sich weigern, abgewaschen zu werden in der Quelle des Erlösers und nur – im Blick auf das
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166 Heil vergeblich – den äußeren Schmutz beseitigen. Und so wie Juden vor dem Brotessen die Hände waschen, sei es in Wahrheit notwendig, sich vor dem Essen des eucharistischen Brotes durch Tränen der Umkehr und Almosen zu reinigen. Auch hier ist noch deutlich der Sinn für kultische Reinheit erhalten geblieben. Mit der Dimension der Reinheit stehen wir mitten in der allgemeinen Religionsgeschichte. Nicht Gott ist rein, er ist heilig. Aber rein müssten, sollten die Menschen sein, die sich der Gegenwart Gottes aussetzen, die heiliges Tun verrichten wollen. Es hat wohl keinen Sinn, das Christentum aus der Religionsgeschichte auszugrenzen. Denn gerade so ergibt sich die Möglichkeit, die Besonderheit des Christlichen für jeden Punkt neu zu bestimmen. Reinheit bedeutet in allen Religionen die Kultfähigkeit des Menschen. Er ist, das ist die gemeinsame Überzeugung vieler Religionen, nicht von sich aus geeignet, die Begegnung mit Gott aushalten zu können. Die Reinheit, um die er sich zuvor bemühen muss, auch wenn sie ihm letztlich immer geschenkt wird, ist auch ein Schutz vor der sengenden Heiligkeit Gottes; denn Gott ist verzehrendes Feuer (Hebr 12,29). Der Mensch, der Gott begegnen will, muss zumindest bereit sein, sich reinigen zu lassen, oder darum bitten. Nach Mk 7 verlegt Jesus den Ursprung von rein und unrein ins Herz. Er sieht den Ursprung der Unreinheit nicht außerhalb des Menschen, etwa in anderen Menschen oder in Dingen, durch deren Berührung Unreinheit ansteckend wirkte. Die Furcht, sich von außen her zu verunreinigen, war für die Pharisäer sehr bestimmend. Das bedeutet freilich nicht, dass man sie nun historisch insgesamt als »scheinheilig« verurteilen müsste. Jesus steht vielmehr in Mk 7 – und zwar gleich mehrfach – in der Linie, die vom Alten Testament her als prophetische Kultkritik zu beurteilen ist. Sie hat folgende Merkmale: 1. Die Propheten, die sich so äußern, verstehen sich als notwendiges Widerlager zum rituellen Kult. Sie achten darauf, dass die Menschen sich nicht mit der kultischen Verehrung Gottes zufriedengeben, sondern sich auch um die Mitmenschen kümmern. 2. Die prophetische Kultkritik plädiert nicht für eine Aufhebung des Tempelbetriebs überhaupt. Sie richtet sich nicht gegen den Tempel, sondern
Das Evangelium nach Markus
setzt sich – parteilich und engagiert – für eine ganzheitliche Gottesverehrung ein, die Kultus und Ethos umfasst. Jesus wird im Übrigen auch sonst häufig nach dem Bild von Propheten gedeutet. Das betrifft auch Wunder (Speisungsberichte, Totenerweckung) und die Verklärung (neben Mose und Elia), doch gerade bei der Verklärung wird er als Sohn auch deutlich von den Propheten unterschieden. 3. Was die kultische Gottesverehrung immer wieder in Zeichen andeutet, soll kein Selbstzweck werden, sondern die ritualisierten Metaphern (z. B. Besprengung mit Wasser) sollen zurückübersetzt werden in das alltägliche Leben (z. B. Gott gefallen, also rein sein, durch Wahrhaftigkeit). Der Kult hilft nicht Gott, sondern dient den Menschen zu grundsätzlicher Orientierung. 4. Die veränderte Position Jesu gegenüber den Pharisäern – unter Beibehaltung des zentralen Themas Reinheit (wie gezeigt) – bedeutet nicht einfach eine Option für Ethik oder gar Rationalismus. Vielmehr kennt Jesus und mit ihm auch Paulus etwas, das man das Prinzip der offensiven Reinheit nennen könnte. Das ist nichts anderes als absolute Vorleistung Gottes bei der Befreiung des Menschen von allen Formen und Folgen der Unreinheit und physischen Gottesferne. Die Reinheit der Pharisäer war demnach nur »defensiv«, das heißt: Pharisäer mussten immer fürchten, durch Kontakt von außen her verunreinigt zu werden. Pharisäer sahen priesterliche Reinheitsvorschriften auch für Laien als verbindlich. Insofern nehmen sie das Wort vom königlichen Priestertum ganz ernst und beziehen es (möglichst) auf das ganze Volk Gottes. Aber in nicht-priesterlicher Umgebung war ihre Reinheit stets gefährdet, was zur Folge hatte, dass Pharisäer sich absonderten (und wahrscheinlich kommt ihr Name von farasch = absondern). 5. Bei Jesus dagegen wird Reinheit nicht durch Freiheit von äußerer Unreinheit definiert, sondern positiv bewirkt, indem er selbst Träger des Heiligen Geistes ist. Als Sohn Gottes trägt er Gottes Geist in sich (deutlich nach Mk 1,10 f), und als »voll des Heiligen Geistes« kann er »unreine Geister« vertreiben. Damit hat bei Jesus der Gegensatz von Rein und Unrein eine exorzistische Seite bekommen. Die unreinen Geister oder Dämonen kann der austreiben, der den
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Heiligen Geist in sich hat. Und durch seine Beauftragung der Jünger zum Exorzismus teilt Jesus ihnen auch den Heiligen Geist mit. Damit sind Jesu Geistbesitz und ebenso seine Reinheit »offensiv« geworden: Er muss nicht fürchten, durch Kontakt mit Unreinem unrein zu werden. Daher wirkt nicht die Unreinheit, die von außen kommt, ansteckend, sondern im Gegenteil: die aus dem Herzen kommende, durch den Heiligen Geist verursachte Reinheit wirkt so – ansteckend heilend. Deshalb kann die Blutflüssige, die als unrein gilt, durch Berührung ansteckend geheilt werden. Jesus muss daher auch keine Angst haben, Tote zu berühren, denn sie werden durch ihn lebendig. Drum werden selbst noch bei Paulus (1 Kor 7,14) nicht getaufte Kinder oder Ehepartner per Ansteckung geheiligt, wenn der eine Ehepartner getauft ist. Auch bei Paulus geschieht das sozusagen automatisch, einfach per Kontakt und Zusammenleben. Diese offensive Reinheit gilt auch dort, wo es im weitesten Sinn um moralisches Verhalten geht, das aus dem Herzen des Menschen hervorgeht. Jesus spricht daher in Mk 7,15 ausdrücklich von Unreinheit. Denn es war im Frühjudentum üblich geworden, den gesamten Bereich der Gebote Gottes im Rahmen des königlichen Priestertums des ganzen Volkes zu beurteilen. Oder anders gesagt: Für den Bereich Gut/Böse gilt derselbe schroffe Dualismus (Zweiteilung) wie für Rein/ Unrein. Und in beiden Fällen kommt es darauf an, kompromisslos radikal auf Gottes Seite zu stehen. – Der Sinn von Rein und Unrein bleibt die dualistische Trennung von Leben und Tod. Ähnlich wie die Gleichnisrede Jesu in Mk 4 durch Wunder bekräftigt wird, so geschieht es auch mit der Lehre Jesu in Mk 7. Ging es bei den Wundern in Mk 4f um die Macht des Gottesreiches, so hier um das Reinmachen des Unreinen. Das betrifft die dämonisch besessene Tochter der Syrophönikerin (7,24-30), den Taubstummen im heidnischen (!) Gebiet der Dekapolis (7,31-27). Dabei steht das Gebrechen der Verbindung von Gehörlosigkeit und Aphasie durchaus in Beziehung zum Heidentum schlechthin. Denn das Gebrechen spiegelt nur, wie die heidnischen Götter sind: Sie haben Ohren und hören nicht, sie haben Mundöffnungen und sprechen nicht. Das Ganze entspricht genau der Schmährede auf heidnische
Götter in Ps 135 (134),16-18: »Sie haben einen Mund und können nicht reden, haben Augen und können nicht sehen. Sie haben Ohren und können nicht hören, auch ist kein Hauch in ihrem Mund. Ihnen gleich sollen werden, die sie verfertigten, jeder, der auf sie vertraut.«
Mk 8,1-9: Die zweite Brotvermehrung Warum aber bietet Mk zwei Speisungsberichte? Wie schon festgestellt, hat der Speisungsbericht in Kap. 6,35-46 auch symbolische Funktion: Er illustriert ein für alle Mal, dass Jesus seine Vollmacht ungemindert an seine Jünger weitergegeben hat. Denselben Sinn hat auch (außer der Demonstration messianischer Fülle) die zweite Erzählung von einer Speisung in Mk 8. Sie bekräftigt damit die Weitergabe der Reinheitslehre von Kap. 7 durch die Jünger (inklusive der Vollmacht zum Exorzismus und zur Heilung von Stummheit und Gehörlosigkeit). Auf diesem Weg wird die Doppelung der Speisungsberichte inklusive angehängter Bootsgeschichte plausibel: Gerade die massive Kombination von Speisung und Boot ist die Verbindung zweier ekklesiologischer Metaphern (Weitergabe der Speisung und Jünger im Boot; zu den Bootsgeschichten vgl. Berger, Der Wundertäter, 2010, 200-205). Die Wiederholung verleiht diesem Textblock den Charakter eines Refrains. 6,32-44 plus 6,45-52 ist wie 8,1-9 plus 8,10-21. Der Abschnitt Mk 6,32-52 steht gegen Ende der vollmächtigen Bestätigungen der Lehre von Kap. 4, der Abschnitt Mk 8,1-21 ist der Abschluss der Lehre von Kap. 7. Erst mit 8,22 beginnt grundlegend Neues. In jedem Fall bedeutet daher die Sequenz »Speisung plus Bootsgeschichte« einen Hinweis auf die Bedeutung der vorangehenden Lehre und ihre unverletzliche Geltung in der Jüngergemeinde. Die Menge der übrig gebliebenen Körbe voller Brot könnte etwas über den Trägerkreis sagen: Sind es im ersten Fall die Zwölf, im zweiten Fall die Hellenisten, also die Gruppe an der Grenze zu den griechisch sprechenden Heiden. Dem entspricht nämlich das behandelte LehrThema: bei den Zwölfen das Reich Gottes, bei den Sieben die Fragen von rein und unrein. Die Anzahl der Körbe gibt auch die Gewichtung der entsprechenden Lehre an. Zur Verbindung von
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168 Zwölferkreis, Predigt (vgl. Gleichnisse vom Wachsen) und Reich Gottes vgl. auch Mt 19,28. In jedem Fall ist die »Speisung plus Bootsgeschichte« in bestimmter Hinsicht ein Ausrufungszeichen hinter der dadurch kommentierten Lehre.
Mk 8,10-21: Zeichenforderung Obwohl Jesus für seine Lehre so kräftige Zeichen bis hin zur Totenerweckung geliefert hat, sind die Pharisäer damit noch nicht zufrieden. Und das – zumindest aus ihrer Sicht – mit gutem Grund: Bei allen Zeichen, die nur auf Erden gewirkt sind, bleibt der Verdacht bestehen, sie seien durch Zauberei gewirkt. Der Beelzebul-Verdacht von Mk 3,26 ist damit nicht wirklich beseitigt. Wenn jemand sich wirklich auf Gott und seine Inspiration beruft, dann müsste er ein Zeichen am Himmel wirken können, denn der Himmel ist Gottes Feld. Bei allem nur Irdischen könnte immer noch Satan seine Hand im Spiel haben. Ein Zeichen vom Himmel wäre demnach Sonnenfinsternis auf Befehl oder Veränderungen an Mond und Sternen. Denn erst das sind Dinge, die kein Mensch kann, weil keines Menschen Macht soweit reicht. Deshalb ist nach neutestamentlicher Anschauung der Teufel vom Himmel gefallen (Lk 10,16; Offb 12), sodass er dort keine Macht mehr hat. Der Leser des Evangeliums wird erfahren, dass bei Jesu Tod ein solches Zeichen am Himmel geschieht – also genau zu spät. In Mk 8 bekommen die Pharisäer nun in einer weiteren Bootsgeschichte die Antwort: Ihre eigene Lehre kann nicht nur kein einziges Zeichen aufweisen, ihre Lehre ist vielmehr ungenießbar wie Sauerteig (hier ist, anders als in Mt 13, Sauerteig in negativer Hinsicht gemeint), und das gilt auch von Herodes und seinem Treiben. Dass hier Herodes genannt wird, zeigt, dass der Sauerteig nicht nur die Lehre sein kann (die hat Herodes nicht), sondern das gesamte öffentliche Wirken (so auch beim Brot). Die Jünger dagegen begreifen nicht die Qualität des ihnen Anvertrauten. Hier wird nochmals deutlich, dass die Rede von Brot seit Kap. 6 auch stets eine metaphorische Bedeutung hat. Die Metaphorik von 8,18 stammt aus Jes 6,9; Verstockung bildet hier die Brücke zwischen
Das Evangelium nach Markus
dem Gehörlosen (Mk 7,32) und dem Blinden (Mk 8,22f). Jünger, die Jesus nicht verstehen, haben daher ein doppeltes Gebrechen (blind und gehörlos) und erfüllen noch dazu die Weissagung des Propheten Jesaja. Dabei ist festzuhalten: Verstockung ist nie der erste Schritt (Gottes) in der Beziehung Gott/Mensch, sondern stets geht menschlicher Ungehorsam voraus. – Nach dem oben zu Ps 134 Beobachteten kann es wohl sein, dass auch in Jes 6,9, zumindest im Verständnis Jesu oder des Evangelisten, der Vergleich mit Götzen im Hintergrund steht.
Mk 8,22 – 9,1: Heilung – Petrusbekenntnis – Leidensankündigung Der Aufbau dieses Abschnitts ist didaktisch klar konzipiert, und zwar so, dass die Leser in einen dramatischen Lernprozess einbezogen werden. In diesem Prozess geht es darum zu begreifen, wer Jesus ist, und dass zu dem Bekenntnis zu ihm in der Erkenntnis und in der Praxis das Leiden dazugehört. Das einleitende Wunder der Blindenheilung bei Betsaida (V. 22-26) hat wiederum für die Komposition (auch!) eine unübersehbar symbolische Funktion. Denn es steht zwischen der Feststellung Jesu von 8,18 (»Augen habt ihr und seht nicht …«) und dem Messiasbekenntnis des Petrus in 8,29 (»Du bist der Christus«). Der Leser musste daher fragen: Wie wird aus den verstockten Jüngern ein Petrus, der das wahre Bekenntnis formulieren kann? Wer hat den Jüngern zwischendurch die Augen geöffnet? Die Antwort gibt die Wundererzählung in 8,22-26. Sie steht allein bei Markus. Aber genau ihre Funktion nimmt bei Mt die Erklärung Jesu ein: »Du bist glücklich zu preisen …, denn dein Bekenntnis verdankst du nicht Menschen aus Fleisch und Blut, sondern meinem Vater im Himmel, der es dir geoffenbart hat« (Mt 16,17). Mt 16,17 formuliert daher als Makarismus (Seligpreisung) in der 2. Person, was bei Mk der symbolische Gehalt des Wunders leistet. Im Übrigen fehlt bei Mt in der Parallele zu Mk 8,14-21 auch die Verstockungsaussage. Hat Mt daher bei seiner Mk-Rezeption das Wunder durch die Seligpreisung ersetzt? Und ist die Seligpreisung auch »positiver«, als es die Abfolge von Kritik an
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Kapitel 8
der Verstockung und ihrer symbolische Heilung je hätte sein können? Die Nennung von Alternativen bei der Identitätsbestimmung ist eine biblische Gattung (vgl. auch ThomasEv 13 und die apokryphen Apostelakten): Zuletzt wird stets der genannt, der das »richtige« Bekenntnis aus der Sicht des jeweiligen Evangelisten liefert, also bei den Synoptikern Petrus, im ThomasEv eben Thomas (vgl. dazu K. Berger, Formen und Gattungen, 2005, 292). Zu Mk 8,30: Das Verbot des Weitersagens (so auch Lk 9,21) rührt daher, dass Jesus das Bekenntnis zu seiner messianischen Würde ohne die Dimension des Leidens nicht nur für falsch, sondern für geradezu satanisch hält. Das wird sogleich in den nächsten Versen (8,31-38) deutlich werden. Das Bekenntnis des Petrus zur Messianität Jesu wird sich insofern als nicht besser erweisen als das Bekenntnis der Dämonen in Mk 1,24, das Jesus aus dem gleichen Grund unterbindet. Denn ein Dämon hat nur die Erkenntnis, kann aber nicht leiden (oder gute Werke tun; s. Jak 2,19f). Mit der bloßen Theorie aber ist niemandem geholfen. Wegen dieser Ähnlichkeit mit den Dämonen wird Petrus Satan genannt werden (8,33b). Und weitersagen dürfen die Jünger erst, wenn sie die Notwendigkeit des Leidens Jesu erkannt haben oder wie Petrus vom Leugnen, einen leidenden Jesus überhaupt zu kennen, unter Tränen umgekehrt sind. Deshalb dürfen die Jünger erst nach Ostern von Jesus als dem Sohn Gottes berichten (Mk 9,9); denn dann, so ist sich Jesus gewiss, werden sie den Weg des Leidens als zum Menschensohn dazugehörig erkannt haben. In den Aussagen über den Menschensohn kann diese Erkenntnis, wie Mk 8,31 formuliert, untergebracht werden, im bloßen Messiasbekenntnis nicht. Denn beim Menschensohn geht es um einen Weg. Zum Drei-Phasen-Modell vgl. oben zu Mk 1.
Mk 8,31-38: Erste Leidensankündigung In dem Abschnitt aus Mk 8,31-38 geht es zunächst um das Verhältnis von Bekenntnis und Leiden. Die Frage ist, ob der, wer sich zu Jesu Würde bekennt, auch dessen Geschick ins Auge fassen und »bewältigen« kann. Petrus kann das
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170 Jünger – Auflösung des Bildes (vgl. dazu K. Berger, Formen und Gattungen, 2005, § 28). Das Menschensohnwort in 8,31 ist für die Jünger das rätselhafte Bildwort, in 8,32f schildert Mk drastisch das Unverständnis des Petrus, und in 8,34-38 geht es um die Erläuterung für die Jünger. Unser Blick auf 9,30-37 wird zeigen, dass auch dort dasselbe Schema vorliegt. Durch die Entdeckung dieser Struktur an dieser Stelle kann Folgendes gewonnen werden: Der Ausdruck Menschensohn inklusive seines Geschicks wird als Rätselrede begriffen. Das ist schon in den Bilderreden des Henochbuches der Fall. Der Menschensohn ist eine bildhafte Rätselgestalt. Sodann wird der scharfe Tadel an Petrus formgeschichtlich verständlich, es gibt eine Möglichkeit, diese Rede Jesu einzuordnen. Man vergleiche nur in ähnlicher Funktion Mk 4,11-13. Schließlich wird die Jüngerparänese in Mk 8,3438 als Auslegung und Applikation des Menschensohnwortes von 8,31 verständlich. Das Gleiche findet sich in 9,30-37. So wird Mk 4,44f bestätigt: Jesus redet und lehrt in Parabeln, und die Menschensohnworte gehören dazu! Schließlich wird auch Mk 9,1-13 verständlich. Der Abschnitt meint die ausnahmsweise Enthüllung des in Mk 8,31 ff erörteten verborgenen Geheimnisses. Auch hier wird der Evangelist mit demselben Strukturschema arbeiten. Man kann auch, da Jesus hier direkt mit dem Satan zu tun hat, den Bericht Mk 8,32f als einen neuerlichen Versuchungsbericht begreifen. Dann könnte man an Mk 1 erinnern: Der Sohn Gottes wird nach der Taufe versucht; aber auch an Getsemani und an die Aufforderungen, die an den gekreuzigten Jesus gerichtet werden (bei Mt ja wie in Mt 4 mit der Formel eingeleitet »Wenn du der Sohn Gottes bist …«; vgl. Mt 4,3 mit Mt 27,40b). – Dabei sind der Erwählte und der Teufel sozusagen ein »mythisches Paar«. Auch in TestHiob begegnet Satan dem neubekehrten Hiob als Versucher, so auch den Thessalonichern nach 1 Thess 3,5. Jesus ist zwar nicht neubekehrt, aber an der Echtheit seiner Erwählung haben die Christen größtes Interesse. Zu Mk 8,34-38: Aus diesen Versen wird erkennbar, dass ein Bekenntnis, das das Leiden des Menschensohnes umfasst (8,31), direkte Konsequenzen für den Leidensweg der Jünger Jesu
Das Evangelium nach Markus
haben muss. Das Wort vom Auf-sich-Nehmen des Kreuzes dürfte keineswegs zwingend erst nach Ostern formuliert sein. Denn was ein Kreuz ist, war den Menschen, zumal denen in Palästina, bekannt. 8,34 fordert schlicht dazu auf, den Weg der Schande zu gehen, denn Kreuz meint die Negation bürgerlicher Ehren und Ehrungen, also: Abkehr vom Sammeln von Reichtum, Macht, Glanz, von Dingen, auf die man stolz sein könnte, von Beziehungen, Auszeichnungen und Würdetiteln. Kreuz heißt: alles das für abwegig halten. Es ist Leiden, aber zugleich Freiheit. Der Weg der Schande ist der Weg des Friedens. Denn alles, weswegen man neidisch sein könnte, ist entfallen. Nachfolgen bedeutet auf jeden Fall: dem vorausgehenden Jesus ähnlich werden. Dies aber heißt: den Weg zum Heil, zur Erlösung und Versöhnung gehen. Diese Nachfolge wird nie einfach im Tod enden. Sie ist, wie z. B. aus Mk 10,17-19 erkennbar wird, der Weg zum ewigen Leben. Wer sich selbst verleugnet (d. h. nicht zuerst immer an sich selbst denkt), kann nicht den Herrn verleugnen, wie Petrus das tun wird. Jesus wird, wenn der Leugner nicht umkehrt, diesen im Gericht verleugnen. Denn verleugnen und sich schämen sind Synonyma. Das verbindende Leitwort in 8,35.36.37 ist »Leben« (griech.: psyche), das Thema der Spruchreihe: Nachfolge Jesu und Bekenntnis zu Jesus sind riskante Parteinahme gegen den Strom. Vergleichbar ist auch von der Sprache her Lk 21,19 (wörtlich: In eurer Geduld werdet ihr euer Leben gewinnen; vgl. 4 Makk 17,11f). Zu Mk 8,35 kann man fragen: Warum ist es wahr, dass der, der aufgibt, findet? Antwort: Es kommt darauf an, warum man aufgibt. Wenn es »wegen Jesus und wegen des Evangeliums« geschieht, dann gilt: Alles wirklich Wichtige im Leben wird vom Himmel geschenkt. Die Unterbrechung unseres Habenwollens ist die Chance, Gottes Freigiebigkeit zu begegnen. An die Stelle des zielstrebigen menschlichen Willens zur Selbstverwirklichung setzt Jesus den Rhythmus von Loslassen und Empfangen. Die Unterbrechung der Vitalinstinkte ist der Weg, das Leben neu und in ganz anderer Hinsicht, als es bisher gelebt wurde, noch einmal geschenkt zu bekom-
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men. Insofern ist die Geschichte von Abraham und Isaak nicht einfach »wegen Grausamkeit« auszurangieren. Die Unterbrechung ist die Chance, dem Heiligen, dem Ursprung alles Lebens zu begegnen. Ursprünglich geht es um einen Topos der Feldherren-Rede: Der Haudegen gewinnt, den Feigling erwischt es (»Die es wagen, beieinander zu bleiben, und im Handgemenge als Vorkämpfer gehen, sterben seltener und retten das Volk hinten«; Tyrtaios, Lyr. Fragm. 8). Schon eine allgemeinere Regel zieht daraus der jüdische Pseudo-Menander 55: »Lass deinen Mut niemals sinken und weiche im Kriege nicht zurück; denn jeder, der im Krieg nicht zurückweicht und sich dem Tod aussetzt, bleibt am Leben, gelangt zu gutem Namen und wird gerühmt.« Bei der Flucht, die Lk 17,33 kommentiert, geht es noch immer buchstäblich um das nackte Leben. An allen anderen neutestamentlichen Stellen steht der Mut zum Loslassen im Vordergrund, auch wenn vom »das Leben hassen« oder »das Leben lieben« gesprochen wird (Mk 8,35; Lk 9,24; Mt 16,25; Lk 14,26; Joh 12,25). In Joh 12 deutet Jesus selbst sein eigenes anstößiges Geschick mit dieser Tradition. In Mk 8,36 geht es um die Frage nach dem Kostbarsten, denn das ist das, wofür man nichts eintauschen würde. Daher handelt dieser Vers von Scheingewinn und echtem Verlust. »Die Welt gewinnen« ist auch missionarischer Terminus. Und jedenfalls ist »die Welt gewinnen« in jeder Hinsicht das Gegenteil von »Kreuz«. Die ganze Welt zu gewinnen ist auch nach Mt 3 und Lk 4 eine der Versuchungen Jesu. Zu Mk 8,38: Jesus ist der verborgene Menschensohn (zur Relation Jesus/Menschensohn vgl. zu Mk 8,38; 9,12). Das Besondere: Die Gottheit Jesu wird hier daran erkennbar, dass die Talio gilt. Für Menschen ist diese Art der Vergeltung verboten. Sie gilt nur für das, was man Gott selbst antut, so z. B. nach 1 Kor 3,17. Im Menschen-
sohn begegnet daher Gott selbst. – »Diese Generation« ist keine Zeitangabe, sondern ein Werturteil. Wer den bösen Menschen nachgibt, der schämt sich Jesu und seiner Worte. Das geschieht zum Beispiel, indem man ihn nicht zitiert. Auffallend: Das Bekennen erwartet Mk 8,38 gar nicht (anders: Mt 10,33; Lk 12,9), sondern nur, dass man sich seiner nicht schämt. Im Unterschied zu Mt; Lk soll der Christ geradezu das Martyrium vermeiden. Er muss nicht aktiv bekennen, nur ableugnen sollte er nicht. – Wenn der Menschensohn sich eines Christen schämt, dann heißt das: Er wird nicht ihr Patron (Anwalt) vor Gericht sein, er lässt die Anklagen kritischer Engel unwidersprochen. Zur Szene vgl. Mt 7,22 f. – Die Engel sind hier das Gerichtsforum, denn die Engel sind notorisch kritisch gegenüber den Menschen. Wenn Jesus Christus sich zu einem Menschen bekennt, so heißt das: Er tut im Himmel das, was Empfehlungsbriefe auf Erden leisten. – Beachte: Mt 10,32f ist kein Menschensohn-Wort. – 8,38 ist mit 9,1 durch das Stichwort des eschatologischen Kommens verbunden. Doch ob das Kommen des Menschensohnes (8,38) zeitgleich mit dem Kommen des Gottesreiches in Macht anzusetzen ist, wird zu diskutieren sein. Ergebnis zu Mk 8: Die Worte Jesu in Mk 8,34-38 sind eine überraschend deutliche »Anwendung« des Geschicks des Menschensohnes von 8,31 auf die Jünger. Auch hier besitzt daher der Ausdruck Menschensohn kirchliche Aspekte. Doch vom Verhältnis der Jünger zueinander ist nicht die Rede. Jesus spricht lediglich von dem, was die Jünger gewinnen, wenn sie das Bekenntnis zu Jesus an die erste Stelle setzen und die Nachfolge Jesu als das Kostbarste ansehen. Im Bekenntnis die Identität gewinnen und die Dinge der Welt loslassen – das ist der Weg zum Leben. Das hat Züge einer Märtyrerethik und eines gemäßigten Dualismus.
Mk 9-12: Verklärung – Heilung – Unterweisung – Jerusalem Mk 9,1-37 ist abschließende Enthüllung über Jesu Identität, bevor in 9,38 das »Jüngerevangelium« beginnt.
Zu Mk 9,1: Der Vers gehört (trotz Stichwortverknüpfung mit Mk 8 durch »kommen«) durchaus zu Kapitel 9, denn die Paränese an die Jünger
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172 von 8,34-38 hat hier aufgehört. 9,1 ist nicht Paränese, sondern Verheißung. Weil man Mk 9,1 für den Termin des Kommens des Reiches mit Macht auf die dann folgende Verklärung bezog, bestand in den ersten 1800 Jahren der Kirchengeschichte nicht die Notwendigkeit, aus der Zeitangabe Jesu hier auf einen grundlegenden Irrtum Jesu im Termin zurückzuschließen. Dass man Mk 9,1 auf die Verklärung bezog, halte ich aus folgenden Gründen für richtig: Obwohl der Ausdruck »Reich Gottes« in der Verklärung nicht vorkommt, kann gelten: Gerade die Verknüpfung von Reich Gottes und Sohn Gottes (9,1 und 9,7) ist typisch und exklusiv christlich. Das gilt für das Vaterunser (»Vater« als Anrede der Kinder »dein Reich komme«); es gilt auch für die Beurteilung des Täufers in Lk 7,28 (»unter denen von einer Frau Geborenen … [sc. im Unterschied zu den aus Gott Geborenen] der Kleinste im Reich Gottes«), sowie für die Erzeugung der Gotteskinder nach Joh 1-3 (Joh 1,13: »die aus Gott geboren sind«; Joh 3,5: »Wer nicht geboren wird aus Wasser und Geist [d. h. aus Gott, von oben her], der kann nicht eingehen in das Reich«). Das heißt: Die Kinder des Reiches sind die Kinder Gottes. Denn der König des himmlischen Königreiches hat nicht Untertanen, sondern Kinder. Wenn daher durch die Stimme Gottes Jesus als Kind Gottes angeredet wird, dann ist das ein Zeichen für die Gegenwart des Gottesreiches. Und weil die verwandelnde Kraft dieses Reiches Jesu Leib verklärt, ist das Reich hier nicht als Wort oder Theorie gegenwärtig, sondern als Macht, die Jesu Leib durchdringt und strahlen macht. Für die verwandelnde Macht des Gottesreiches ist auch 1 Kor 15,50f zu nennen (nicht Fleisch und Blut, sondern Unvergänglichkeit und Verwandlung). Resultat: Genau das, was die Verklärung nach Mk 9 wirklich bedeutet, nämlich das ewige, unvergängliche Leben des Sohnes Gottes, gilt in den Parallelen eben vom Reich Gottes. Zum Geschehen der Verklärung selbst kann man eine Reihe von Analogien nennen, doch keine trifft genau. Es kann geschehen, dass der Säugling in hellem Licht erscheint (Elia; Noah); das ist dann ein Prodigium (Vorzeichen) für die künftige Größe dieses Mannes. Es kann auch sein, dass missionarische Gestalten wie Abraham
Das Evangelium nach Markus
oder Stephanus »verklärt« werden, aber dann bezieht sich das hauptsächlich auf das Strahlen des Gesichtes bzw. der Augen (vgl. ferner der Pinhas, Daniel, Jeremia, der Apostel Philippus, der Hohepriester Hananja), und hier ist dann Mose das sicher bekannteste Vorbild. Aber das betrifft dann vor allem Gesicht und Augen. Philo entmythologisiert das Auftreten Abrahams als Missionar. Am nächsten bei Mk 9 steht Jeremia nach dem koptischen Jeremia-Apokryphon: »Dann sah Abimelech den Propheten Jeremia … leuchten wie die Sonne.« Bei der Verklärung von Säuglingen dagegen bezog sich die Verklärung gerade auch auf die Windeln (vgl. dazu Berger/Colpe, Religionsgesch. Textbuch, Nr. 68-70). Für das Gespräch Jesu mit Mose und Elia ist auf eine weitgehend unbekannte Analogie in einer anonymen Apokalypse aus Achmim (ebd., Nr. 69) zu weisen, in der es vom Visionär heißt: »Er lief nun zu allen Gerechten, welches Abraham ist und Isaak und Jakob und Henoch und Elia und David. Er unterhielt sich mit ihnen wie ein Freund mit einem Freunde, indem sie sich miteinander unterhielten.« Das Motiv der körperlichen Verwandlung fehlt hier nicht, denn es ist von der »Herrlichkeit« die Rede. Aus alledem geht für den Sinn und die Bedeutung der Verklärung Jesu hervor: Der aus Gott Geborene (Sohn Gottes) weist in seiner Jugend oder später zu bestimmten Zeiten verklärte Körperteile auf, besonders das Gesicht und die Kleider. Der Vergleich mit Engeln wird öfter gezogen; die Ähnlichkeit mit »Feuer«, mit der »Sonne« oder besondere Schönheit sind weitere Attribute. Der von Gott erwählte Mensch ist daher ästhetisch ausgezeichnet und weist insofern auf den Himmelsgott. Die Lichtphänomene sind Begleitung der Predigt des Missionars; am deutlichsten ist die Verwandtschaft freilich in der Mose-Tradition, denn die Stimme Gottes auf dem Sinai entspricht in Mk 9,7 wiederum der Stimme Gottes. So wird man aus mehreren Gründen die »Vorlage« für Mk 9 besonders in der Verklärung des Antlitzes des Mose im Zusammenhang der SinaiOffenbarung suchen dürfen. Die frühen Christen haben um beides gewusst, wie 2 Kor 3 zeigt. In der Ausgestaltung von Mk 9 weisen folgende Punkte auf eine große Affinität zu den Sinai-Texten – Mk 9,2: »nach sechs Tagen« wie Ex 24,16 (sechs Tage/am siebten Tag [Vorbereitung des
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Kapitel 9
Aufstiegs]); Mk 9,2: »hoher Berg« wie Ex 24,16 »Berg [Sinai]«; Mk 9,7: »Wolke« wie Ex 24,16 »Wolke« [Zeichen der Gegenwart Gottes]; Mk 9,7: Partner sind Gott-Vater und Jesus, Ex 24,16 Partner sind Gott und Mose, d. h. in beiden Fällen spricht Gott; Mk 9,5 griech. treis skenai, »drei Zelte« entspricht dem Offenbarungszelt in Ex 26.33.39 (s. u.); Mk 9,7: »Hört auf ihn« wie Dtn 18,15 »auf ihn sollt ihr hören« [Jesus ist der Prophet wie Mose]; Mk 9,3: Verklärung Jesu wie Ex 34,29b Antlitz des Mose verklärt; Mk 9: Moses und Elia sind gegenwärtig. Von Mose kann das deshalb gesagt werden, weil »niemand das Grab des Mose kannte, und man daher annahm, dass er entrückt wurde« (Josephus, Ant 4,326). Auf die Sinai-Erzählung folgt der Bericht vom Bundesschluss. Bei Mk steht dieser in 14,23 f. Denn die Deuteworte zum Becher sind Ex 24,8 entlehnt: »Dies ist das Blut meines Bundes, ausgeschüttet für viele« bei Mk entspricht den Worten des Mose: »Das ist das Blut des Bundes, den der Herr mit euch aufgrund dieser Satzungen geschlossen hat« (vgl. zu Mk 14,23f). Im MkEv sind daher die Szene der Offenbarung (Kap. 9) und der Bundesschluss (Kap. 14) auf zwei Kapitel verteilt. Doch das ändert nichts an ihrer Zusammengehörigkeit. Diese zweifach entfaltete Typologie hat theologisch zentrale Bedeutung für das MkEv: Jesus ist der Prophet, von dem Mose nach Dtn 18,15 sagt: »Einen Propheten gleich mir wird der Herr, dein Gott, aus deiner Mitte heraus, aus deinen Stammesbrüdern erstehen lassen; auf ihn sollt ihr hören.« Dass Jesus dieser Prophet ist, darauf weist sein Name Jesus; denn das ist auch die griechische Form des Namens Josua, auf den Dtn 18,15 nach historischem Verstand zuerst zu beziehen ist. Doch Jesus ist mehr als ein Prophet: Das Gespräch Jesu mit den beiden – einer Erscheinung gewürdigten – Propheten Mose und Elia zeigt, dass der »neue Josua« dem Rang nach mindestens ihnen gleich steht. Die Himmelsstimme sagt, dass seine Würde noch größer ist: Er ist der Sohn, nicht nur Sklave wie die beiden Propheten. Deshalb sollen die Jünger auf ihn hören. Denn er steht der Würde nach Gott näher als sie. Um diese Frage geht es auch in der Anfrage des Petrus nach 9,5, die Missverstehen offenbart. Denn drei Zelte zu errichten würde eine Pluralität und Gleichrangigkeit der drei Gestalten vorausset-
173 zen. Petrus denkt, dass man jetzt drei Offenbarungszelte braucht. Das anzunehmen ist jedoch Zeichen des Missverstehens der visionären Szene. Im Aufbau entspricht daher Mk 9,2-8 dem bekannten Schema von Bild-Offenbarung: Offenbarung durch Vision (9,3-4) – Phase von Unwissen und Tadel (9,5-6) – Erklärung durch Audition (9,7). Die Unterscheidung zwischen den Propheten als Sklaven und Jesus als dem Sohn ist eine der grundlegenden Auskünfte des ältesten Christentums über das Verhältnis von alter und neuer Offenbarung, so auch in Mk 12,1-10; Hebr 3 und Gal 4 (hier nicht nur auf die Propheten bezogen, sondern generell auf Juden ohne Christus und auf Christen). Das Alte wird so nicht entwertet, denn das Selbstverständnis als Sklaven entspricht ja dem des Gottesvolkes. Aber Dtn 18,15 wird erfüllt, und die Kindschaft gegenüber Gott löst ja in der Heilszeit durchaus auch nach der Erwartung Israel die vorige Zeit ab (»Ich will ihr Vater sein, und sie sollen meine Kinder sein«). Das Neue ist daher Erfüllung, nicht Beseitigung oder Auflösung des Alten. Jesus ist als Sohn mehr als Mose. Und weil er der »geliebte Sohn« ist, liegt hier (im Unterschied zu dem, was Hebr 12,1821 schildert), eine Theophanie ohne Schrecken vor. Die Botschaft des Neuen Bundes aber ist die Lehre Jesu nach dem MkEv. Auf den Sohn hört man, wenn man das MkEv liest. Was er sagt, ist der Schlüssel für jeglichen Willen Gottes. Dieser Tatbestand ist keineswegs ein Bruch mit Torah oder gar Judentum. Es wird daraus dieselbe Einstellung gegenüber beiden Größen erkennbar, die wir von der Bergpredigt her kennen, die aber auch Paulus in den Mahnreden seiner Briefe zeigt: Die Kategorie Torah bleibt völlig unangetastet. Auch dem Mose lässt man, was des Mose war. Nur der Inhalt der Torah wird unter dem Titel »Gerechtigkeit« je neu gefasst. So ist man gesetzestreu, aber nicht legalistisch oder biblizistisch hinsichtlich des Buchstabens. – Die Forschung hat sich viel zu stark an einer biblizistischen Auslegung von Mischna und Talmud festgemacht. Die Apokalyptik zeigt ein ganz anderes Bild, denn dort wird die Torah in ihren ethischen Bestimmungen fast nirgends zitiert (vgl. die Paränesen des Henochbuches und die Testamente der Patriarchen). Dennoch ist das Gesetz stets Israels Auszeichnung. Unter der Überschrift »Gerechtigkeit«
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174 bildet sich vielmehr im Frühjudentum eine Richtung heraus, die das Gesetz je neu inhaltlich festlegt (vgl. dazu K. Berger, Die Gesetzesauslegung Jesu, 1972, 32-55). Der antijüdische Vorwurf der Starrheit ist daher völlig unangebracht. Beim Vorgang der Verklärung gebraucht Mk ein theologisches Modewort seiner Zeit: Verwandlung (griech.: metamorphosis). Der Maßstab der Verwandlung ist die Herrlichkeit (Lichtglanz) Gottes, von der der Mensch körperlich ergriffen wird. Während im außerjüdischen Hellenismus die Verwandlung von Menschen in Richtung Natur erfolgt (Daphne, Philemon und Baucis), ist in der jüdischen Literatur der Himmelsreisen die Anpassung der menschlichen Leiblichkeit je und je erforderlich, wenn der Mensch in eine neue Sphäre in der Himmelshöhe gelangt ist, bzw. wenn er herabsteigt. Der Leib wird hier als ein Kleid aufgefasst, das je nach Entfernung zu Gott mehr oder weniger herrlich leuchtend ausfällt (vgl. etwa das erweiterte Martyrium des Jesaja). Jesus wird auf dem hohen Berg verwandelt, weil dieser Berg den Himmelsberg abbildet und weil er so mit den Himmelsbewohnern Mose und Elia kommunizieren kann. Das Herabsteigen vom Berg der Offenbarung ist ein Topos der Himmelsreisen; vgl. dazu z. B. Corpus Hermeticum 13,1: »Da ich dich aber um Hilfe bat bei dem Abstieg vom Berge nach meiner Unterredung mit dir, fragte ich dich nach der Lehre von der Wiedergeburt, um sie zu erfahren …«
Zu Mk 9,9-13: Jüngerbelehrung Die Jünger verstehen noch nicht den Unterschied zwischen der in 9,9 angekündigten Auferstehung Jesu und der allgemeinen Totenauferstehung. Vor der allgemeinen Auferstehung muss Elia kommen, weil er überhaupt vor dem Kommen Gottes kommt, um alle Dinge »wiederherzustellen«, d. h. für die Ankunft Gottes vorzubereiten (V. 12), nach Sir 48,10: Israel zu bekehren. Soweit die allgemeine Eschatologie. Aber nun wird der Menschensohn vorher auferstehen, und zwar nach seinem notwendigen Leiden. Aber auch in diesem Sonderfall gibt es eine Elia-Vorläuferschaft. Und wie der Menschensohn leiden muss, so auch Elia; das ist bereits geschehen; die apokalyptische
Das Evangelium nach Markus
Tradition kennt den Tod des Messias durch den Antichrist; nach Mk ist das wohl Herodes. Man kann daher sagen: In der Gegenwart gibt es schon die Kombination Elia plus endgültiger Heilsträger (Menschensohn), und zwar mit drei Besonderheiten: Es ist das Geschick nur zweier Personen (des Täufers und Jesu), nicht allgemeines Weltgeschehen; es ist mit Leiden verbunden (der Täufer und der Menschensohn mussten bzw. müssen leiden), im Falle des Menschensohnes folgt aber dessen individuelle Auferstehung. – Damit gibt es auch hier jene Vor-Eschatologie, die ein besonderes Merkmal der neutestamentlichen Auffassung vom Menschensohn ist. Sie bildet die künftige ab, aber jetzt noch modifiziert durch Leiden, Individualität und die Auferstehung des Menschensohns. Im Sinne des MkEv könnte es gut sein, dass durch diese Vor-Eschatologie die Bedingungen zur Teilnahme an der späteren allgemeinen Auferstehung angegeben sind, nämlich Aushalten von Leiden, Nachfolge, Bekenntnis zum Menschensohn und Zugehörigkeit zu ihm. Dabei wird mit einem erneuten Kommen des Elia wohl nicht gerechnet; er ist ja schon wiedergekommen und durch den gottlosen Herrscher schlechthin ermordet worden. – Durch diesen Ablauf der Ereignisse steht jedenfalls fest: Jesus ist der Menschensohn, dem Elia vorausgeht (der Menschensohn ist wohl der Stärkere, den der Täufer nach Mk 1,7 verkündet). Mit der Auferstehung des Menschensohnes hat nach diesem Abschnitt die Endzeit begonnen. Denn als der Auferstandene kommt er wieder (also vom Himmel her, s. Mk 13,22), als der Auferstandene wird er nach Ostern seine Boten senden. Messiasgeheimnis II (Zu Messiasgeheimnis I s. o. zu Mk 1, S. 140-142) – Mit gutem Grund war Mk 9,9 einst der Ausgangspunkt für die Diskussionen um das Messiasgeheimnis. Wie schon dargestellt, war für W. Wrede Mk 9,9 der Hinweis auf ein – auch für antike Vorstellungen – kriminelles Verhalten des Fälschers Markus. Denn natürlich (!) gab es die Messianität nach Wrede erst als nachösterliche Erfindung der Gemeinde, wer auch immer den Mut zu solcher unnützen Vergottung gehabt haben mochte. Wer dagegen die Treue und die Fähigkeit zum Zuhören und Weitergeben beim
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Evangelisten höher schätzt als seine Raffinesse, wird zu einem anderen Ergebnis gelangen. Ein Gedankenstrang wurde bereits sichtbar: Auf ein Bekenntnis des bloßen Titels Jesu ohne Berücksichtigung seines Leidens und des möglichen eigenen Leidens der Jünger für dieses Bekenntnis legt Markus nicht nur keinen Wert, sondern für ihn wäre so etwas geradezu dämonisch. Am Beispiel des Petrus wird das überdeutlich. Weder »theoretisch« (in seinem Bekenntnis) noch praktisch (als Ableugnung und mangelnder Mut zum Bekennen) kann er sich mit einem leidenden Jesus anfreunden. Das petrinische Drama reicht von Mk 8 bis zum bitterlichen Weinen bei der späten Einsicht und Umkehr. Das Gebot Jesu an die Dämonen, den Mund zu halten, ist daher nicht weniger merkwürdig als die Titulierung Petri als »Satan« in Mk 8. Aber damit ist Mk 9,9 noch nicht erklärt: Warum dürfen die Jünger erst nach der Auferstehung Jesu berichten? Und warum wird Jesus hier Menschensohn genannt (wie auch dann in V. 12), wie es sonst bei den Schweigegeboten nicht der Fall ist? Nun gibt es eine aufschlussreiche Parallele zu Mk 9,9 in dem Jesuswort Mt 10,27f: »Was ich euch im Finstern leise sage, das sagt laut bei Licht. Was ihr drinnen ins Ohr geflüstert bekommt, das verkündet laut von den Dächern aus. Habt keine Angst vor denen, die euch zwar leiblich umbringen, doch euer Innerstes nicht töten können. Habt aber Angst vor Gott.« Der Zeitpunkt, von dem ab die Jünger auf den Dächern verkündigen sollen, ist wohl sicher die Zeit, in der Jesus nicht mehr da ist, und es ist auch die Zeit vor dem Weltende, die Zeit der Mission. Aber noch einmal die Frage: Warum gibt es hier eine Abfolge von vertraulicher und öffentlicher Rede? Die Antwort müsste auch das Thema Bekenntnis und Leiden sowie die Funktion der Verklärung Jesu bei alledem berücksichtigen. – Dann aber sieht es so aus: 1. Nach dem Neuen Testament gilt für die Zeit bis zum Gericht, dass der Menschensohn verhüllt und verborgen ist (vgl. zu Mk 8,38; 9,12) 2. Zur Verhüllung gehört auch immer das Thema der Aufhebung der Verhüllung. Das Judentum hat bis zur Zeit des NT in aller Regel nicht mit dem Problem der verborgenen Identität des Heilsbringers zu kämpfen, weder beim Menschensohn noch beim Messias (Ausn. Justin mit
175 Oracula Leonis). Das ist erst typisch christlich, weil die entscheidende Offenlegung seiner Identität »erst noch kommt«. 3. Die Enthüllung des Verborgenen geschieht sukzessive; dazu gehören Verklärung, nachösterliche Verkündigung und die Evangelien selbst bis hin zur Vision des Stephanus (der Menschensohn zur Rechten Gottes) und zur Enthüllung des Menschensohnes im Gericht. 4. Es bedarf daher einer wichtigen Korrektur der urchristlichen Auffassung von Geschichte: Phase I ist die Zeit Jesu auf Erden. Die Identität Jesu wird nur Wenigen erkennbar, auch in der Verklärung. Phase II ist die Zeit der Verkündigung in der Mission und »von den Dächern«, auch in den Evangelien (daher wird liturgisch die Verlesung des Evangeliums als Epiphanie gefeiert). Phase III ist die Offenbarung des Menschensohnes als die des Sohnes Gottes. Diese Enthüllung bedeutet zugleich auch die Offenlegung der Qualität der Menschen und insofern »das Gericht«. Die Nennung der Auferstehung bei der Verklärung in Phase I ist daher ein gezielter Vorgriff auf Phase II. 5. Die Leidensbereitschaft der Verkündiger (inklusive ihr Bekenntnis zum Leidenden Messias) gehört dazu, weil in ihrem Verkanntwerden und Leidenmüssen die Jünger Anteil haben müssen am Geschick ihres Meisters. Nur so sind sie glaubwürdig. In allen Aussendungsreden wird daher den Jüngern angekündigt, dass sie werden leiden müssen. Diese Ankündigung geschieht nicht nur der Vollständigkeit halber. Das Problem, das Petrus hatte (vgl. zu Mk 8,32f), bezog sich daher schon immer auf das Leiden des Messias wie auf das mögliche Leiden des bekennenden Jüngers. Beides gehört zusammen. Das Problem wiederholt sich in der späteren Gnosis; denn das angepasste Bekenntnis des Gnostikers (Jesus habe nicht selbst gelitten, sondern ein anderer an seiner Stelle) ist ein Weg zur Vermeidung von Martyrium: Wenn Gottes Sohn nicht leidet, braucht auch der gnostische Christ nicht zu leiden. Nach dem Neuen Testament muss der Jünger Jesu die Zeit der notwendigen Verborgenheit achten und »die ganze Epoche aushalten«. 6. Die Äußerung Jesu im JohEv wird verständlich: Die Jünger werden »Größeres« tun (Joh 14,12) als er selbst; denn sie können offener handeln als Jesus, weil sie in ihrer Zeit nicht
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176 halb verborgen operieren müssen. Und weil die Zeit des Menschensohnes auf Erden die Zeit seiner Verborgenheit ist, muss in Mk 9,9 der Menschensohn genannt werden. Die Evangelien sind partielle Enthüllung. Das entscheidende Stichwort in diesem Konzept ist die »sukzessive Enthüllung«. Anders als in der nicht-christlichen jüdischen Apokalyptik geschieht die Enthüllung nicht nur in den geheimen apokalyptischen Büchern, sondern offen als Mission. Bücher müssen nicht leiden, wohl aber Menschen, die vom Menschensohn zeugen, wie es Stephanus tut, der daraufhin gesteinigt wird. Die Grenze der apokalyptischen Offenlegung vor dem Gericht ist dagegen erreicht, wo es im äth Henochbuch heißt, es sei gut, dieses Buch in verschiedenste Sprachen zu übersetzen. Fazit: Das Messiasgeheimnis betrifft nicht isoliert die Identität Jesu, sondern ist verbunden mit einem ganzen Geschichtsbild und auch mit der Leidensbereitschaft der Jünger. Als Konzeption entsteht es bereits aus der schlichten »Verlegenheit« Jesu selbst, seine Identität und seine Rolle nicht klar einsichtig machen zu können, sondern – wie eben alle Eschatologie – sie im Wesentlichen in der Zukunft zu verankern. In der Gegenwart bleiben nur Zeichen; dazu gehören auch die Wunder. Sie sind Zeichen für das, was Gott im Ganzen mit den Menschen vorhat. Zur theologischen Bedeutung dieses Ansatzes im MkEv. Derselbe Ansatz findet sich bei den großen Themen der Markusdeutung: Wunder- und Messiasgeheimnis: Wo immer es erzähltechnisch möglich ist, verbietet Jesus das Weitersagen (zumindest bis zur Auferstehung). Nach außen hin betrachtet steckt die Strategie dahinter, vorzeitige Konflikte mit Außenstehenden (seien es Juden oder Römer) zu vermeiden; dem entspricht nach innen gewandt die Konzeption, dass die Jünger am Weg Jesu erst lernen müssen, dass seine Identität als Menschensohn/ Sohn Gottes für ihn selbst genauso Leiden bedeutet wie für seine Bekenner (z. B. Petrus, vgl. zu Mk 8,33) Gleichnisgeheimnis: Die Gleichnisse sind für Außenstehende eher kontraproduktiv. Das Gleichnisgeheimnis verbindet mit dem Messiasgeheimns: Nur wer die Botschaft tut, wer da-
Das Evangelium nach Markus
für ganz einstehen kann, der begreift (»existenzielles Verstehen«). Drei Lieblingsjünger: Petrus, Johannes und Jakobus (oft auch als vierter: Andreas) sind die Zeugen Jesu engerer Wahl. Die zwölf Männer dagegen sind die Idealzahl von Zeugen. Beide Male wird aus- und abgegrenzt. Wir meinen, das von Jesus gar nicht zu kennen. In keinem der drei Fälle ist die »allgemeine Menschheit« die Adressatin Jesu, und schon gar nicht ist die Botschaft »allgemeinverständlich«. Die Adressaten Jesu sind also eine Elite (im JohEv: die Menschen, die der Vater Jesus gegeben hat). Ein wahlloses Akzeptieren der Botschaft durch alle Hörerinnen und Hörer (also der lediglich Interessierten) wäre dann auch ohne wirklich religiöse Bedeutung (denn Religion ist Überforderung). Mit den »Geheimnissen« und der Auswahl eines engeren Jüngerkreises schafft Jesus genau den Unterschied, der bei uns zwischen Alpenverein älterer Prägung (Dia-Vorträge und Geselligkeit) und Gebirgsjägern im Einsatz besteht.
Mk 9,30-37: Zweite Leidensankündigung – Rangstreit der Jünger – Erläuterung Bereits die Komposition dieses Abschnitts weist auf den Inhalt. Denn sie folgt der Form »Rätselwort – Unverständnis – Erläuterung«. Das Menschensohn-Wort über Leiden und Auferstehung Jesu (9,31) hat die Rolle des unverstandenen Rätselwortes: Nach 9,32-34 haben die Jünger nicht begriffen, was Jesus meint, sie reagieren nur mit Angst, fragen deswegen nicht nach, und überdies leisten sie sich groteskes Fehlverhalten. Sie streiten sich um die Rangfolge. Soweit das Jünger-Unverständnis. Dann aber folgt in 9,35-37 die »Erläuterung«: Das Rätselwort vom Menschensohn weist die Jünger auf das Dienen, und dieses wird ganz praktisch als Gastfreundschaft (»Aufnehmen«) von Mitchristen verstanden. Dasselbe Schema in analoger Abfolge der Elemente kennen wir auch aus der Verklärung und von Gleichnissen, Visionen und deutungsbedürftigen Stellen der Schrift her. Jesus spricht demnach hier eine Parabel aus, und er bestätigt die Feststellung von Mk 4,33f, er rede nur in Parabeln. Das Leiden und die Auferstehung des Men-
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schensohnes Jesus werden in diesem Text direkt für die Jünger umgesetzt und angewendet. Denn dem Leiden entspricht das Dienen und der Verzicht auf Posten, konkret: das Aufnehmen von Kindern und gewöhnlichen Christen. Und dem Glanz der Auferstehung entspricht es, Erster zu sein und Gott in seinem Haus zu Gast zu haben (V. 37). Niedrigkeit, Leiden und selbstloser Dienst stehen daher im Licht der Verheißung. Das ist nicht automatisch der Fall in der Welt. Aber das ist so, weil es Gott gibt, weil er derjenige ist, der die Mächtigen vom Thron stürzt und die Niedrigen erhöht. Und genau das ist das Geheimnis des Menschensohnes, das die Jünger nicht verstehen. Überall beim Ausdruck »Menschensohn« geht es um die Spannung zwischen Niedrigkeit und Hoheit. Einerseits bedeutet »Menschensohn«: ein (gewöhnlicher) Mensch, andererseits ist der Ausdruck seit der apokalyptischen Auslegung von Dan 7,9-13 (besonders in der Henoch-Literatur) die Bezeichnung für Gottes höchsten Repräsentanten in der Welt. Diesen »Wesir« Gottes wird man, so sagen es die Evangelien, verkennen, denn er kommt wie ein gewöhnlicher Mensch daher. Deshalb kann man sich leicht in seiner Identität täuschen, und daher ist übrigens auch die »Sünde gegen den Menschensohn«, das heißt: zu verkennen, dass Jesus der Menschensohn ist, vergebbar. Denn darin kann man sich irren, weil Jesu Identität als Menschensohn in der Rolle der Endereignisse noch nicht sichtbar ist. Zu der verborgenen Identität gehört auch das Leiden. Eine größere Niedrigkeit ist nicht denkbar, als dass der Menschensohn, Gottes Wesir in der Welt, ans Kreuz genagelt wird. Auch Paulus berichtet über diese Fehleinschätzung: Wenn die Mächtigen der Welt Jesus erkannt hätten, dann hätten sie den »Herrn der Herrlichkeit« nicht gekreuzigt (1 Kor 2,8). Für Paulus ist diese falsche Ansicht über Jesus ein Symptom für die Gegensätzlichkeit von Gott und Welt, zwischen dem himmlischen König und den irdischen Potentaten. Dieser Kontrast zwischen Gott und Welt ist auch für das Verstehen der synoptischen Menschensohnworte, besonders auch für unseren Text, von großer Bedeutung. Dabei geht es nicht nur um Irrtum, Selbsttäuschung, verbrecherischen Umgang mit der Macht und Fehleinschätzung Jesu. Vielmehr ist der Weg des Menschensohnes von Niedrigkeit zu Hoheit für
ihn selbst wie für die Jünger der Weg zur Auferstehung und zum Heil. Es ist das Gottesbild des Magnificat, das hier maßgeblich ist. Gott erhöht die Niedrigen. Denn alles, was sich hoch und erhaben dünkt, ist in Gefahr, Konkurrenzansprüche gegenüber der Größe Gottes anzumelden. Auch hier geht es Jesus um das Erste Gebot. Hat Gott es nötig, so eifersüchtig zu sein, so seine »Lakaien« zu honorieren? Der Blick auf die Geschichte von der Kreuzigung Jesu bis Auschwitz, von modernen Diktaturen bis zur Euthanasie zeigt, wie überzeugend dieser Anspruch Gottes darauf ist, allein Gott zu sein. Denn wo immer der Mensch selbst sich zum Herrn des Lebens erklärt und sich selbst vergottet, entsteht namenlose Barbarei. Nicht alle Jünger müssen den Weg über die Kreuzigung gehen. Aber für alle gilt der Weg des Dienens. Aus Mk 10,45 wird dann deutlich werden, dass auch der Menschensohn selbst seinen Weg als Dienen begreift. So macht Mk 10,45 für Mk 9,30-37 deutlich, dass tatsächlich das Leiden des Menschensohnes und das Dienen der Jünger zusammengehören. Zu Mk 9,36f: Kinder sind in ihrer Lage ganz und gar abhängig und müssen alles von den »Großen« erwarten. Nicht das, was Kinder »an sich« sind, ist also wichtig, sondern ihre einseitige Beziehung zu den Erwachsenen. Ihre Abhängigkeit lässt Kinder zum schwächsten Glied in einer durchsetzungsfreudigen Gesellschaft werden. Wer aber Kinder »aufnimmt«, der dient ihnen. Wer glaubt, beugt seinen Rücken nur noch vor Gott und nur noch für die Schwächeren. Diese Worte Jesu bedeuten eine soziale Revolution. Sie macht nicht den Egoismus oder das Prinzip Umverteilung zum Maßstab wie spätere Versuche zu sozialer Neuordnung.
Mk 9,38-50: Jüngergemeinde In einem ersten Abschnitt wird die Außenperspektive der Jüngergemeinde besprochen (9,3841), in einem zweiten die Binnenperspektive (9,42-50). Es sind nicht notwendig erst nachösterliche Gemeindeprobleme, zu denen die Antwort Jesus in den Mund gelegt wird. Gerade wenn man sich vorstellt, dass Jesus so gesprochen
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178 haben kann, wird daran viel über ihn selbst erkennbar. Dabei repräsentieren die beiden Ansätze durchaus unterschiedliche Einschätzungen. Wenn Jesus die Gemeinde von außen betrachtet, ist sie die »streitende« Kirche der unvergleichlich Heiligen. Im Streit bekämpft die Kirche Teufel und Dämonen. Hier gilt: »Wer nicht gegen uns ist, der ist für uns!« (9,40). Denn man kann getrennt kämpfen, muss aber vereint schlagen. Gegen den Satan zählt jede Stimme, auch die von »Christen«, die zu den Aposteln nicht gehören. Mk 9,38f erörtert den ersten Fall von christlicher Praxis außerhalb der apostolischen Kirche. Wenn Jesus sagt: »Hindert sie nicht!«, dann meint er die gemeinsame Außenfront gegen die satanischen Mächte, und eben nicht mehr. Er meint zum Beispiel nicht eine innige Gemeinschaft oder gar Mahlgemeinschaft im Inneren; die Trennung ist vorausgesetzt, und Jesus hebt sie nicht auf. – Anders ist es bei der scheinbar gegenläufigen Stelle, die sich in dem bei Lukas und Matthäus gemeinsamen Gut findet: Nach Mt 12,30 und Lk 11,23 sagt Jesus: »Wer nicht mit mir ist, ist gegen mich, und wer nicht sammelt mit mir, zerstreut!« Hier ist der Kontext die ganz andere Frage, was man von der Vollmacht Jesu hält. Die Antwort heißt hier: Wer die Vollmacht Jesu nicht auf Gott zurückführt, sondern annimmt, dass er mit dem Satan im Bunde steht, der hat eine unvergebbare Sünde begangen. Hier, bei der Frage, ob Jesus von Gott her kommt oder nicht, gibt es nur das Entweder-Oder. Zu Mk 9,38: Der Name Jesu ist quasi-sakramental gebraucht. Er verbindet diverse christliche Gruppen. Einerseits gibt es da die Jünger (»wir«), die schon eine quasi-kirchliche Gemeinschaft mit Grenzen sind. Dagegen gibt es andere, die nicht zur Gemeinschaft der Jünger gehören. Für Jesus ist das Entscheidende die Überwindung der Dämonen. Es gibt demnach (schon vor Ostern) Menschen, die den Namen Jesu für exorzistische, »magische« Zwecke gebrauchen. Das früheste Christentum hatte offensichtlich an diesem Punkt größte Breitenwirkung. Im Bereich der Adressaten des MkEv war es eine primär exorzistische Bewegung. Im Vergleich mit dem gegenläufigen Text in Lk 11,23 und Mt 12,30 gilt: Beide Texte, Mk 9,38 und der Q-Text, geben an, wie auf dem Feld der Exorzismen mit
Das Evangelium nach Markus
Verschiedenheiten in den praktizierenden Gruppen zu verfahren ist, ob es doch noch einen Maßstab der Einheit gibt – oder eben nicht. Wie weit darf also in exorzistischem Milieu (das bekanntermaßen ein synkretistisches ist; vgl. Test Sal, ed. Peter Busch) die Verschiedenheit gehen? Mk 9,38 gibt an, wo trotz Verschiedenheiten ein gemeinsamer Nenner liegen kann. Lk 11,23 und Mt 12,30 zeigen an, wo die Verschiedenheit nicht mehr überbrückbar ist. Nach Mk 9,41 ist die direkte Konsequenz aus der Realpräsenz Gottes in der Gemeinde, dass derjenige, der auch nur auf bescheidenste Art einen Christen bewirtet, ewigen himmlischen Lohn erhält. Denn er hat nicht nicht nur einen Menschen bewirtet, sondern in ihm Gott. Immer wieder hören wir dieses in den Evangelien: »Wer euch hört, der hört Gott; wer euch aufnimmt, der nimmt Gott auf.« Das ist ein Aspekt von »Kirche« bei Jesus. Alle, die Jesu Christi Namen tragen, sind eben dadurch der Ort, an dem in dieser Welt Gott zu finden ist. Paulus wird ganz in diesem Sinne von der Gemeinde als dem Tempel des Heiligen Geistes sprechen. Gott bindet seine Gegenwart an seine heiligen (auserwählten) Jünger, weil sie als Träger des Namens Jesu sein Eigentum sind. Für die Binnenperspektive bedeutet dieser Ansatz: Jedes einzelne Gemeindeglied ist so kostbar, so heilig, dass man das ganze Heil riskiert, wenn man es aufgrund von Wort oder Tat hinausdrängt. Denn das ist der Sinn von »Ärgernis geben«. Auch hier sind Jesus und Paulus (1 Kor 8.10) ganz einig. Das Schlimmste ist, wenn ein Christ dem anderen der Grund zum Austreten aus der Gemeinde wird. Die Verantwortung der Christen für den Glauben des anderen Christen wird daher von Jesus enorm hoch eingeschätzt. Salz ist unersetzbar (vgl. Mt 5,13f). Der Ursprung der Verbindung von »Kleinen« und Ärgernis liegt wohl in der Form, die Sach 13,7 in Mk 14,27 bietet. Parallel zu den Schafen stehen in Sach 13,7 die »Kleinen«. Nach Mk 14,27 werden sie alle straucheln/Ärgernis nehmen. Warum gelten dem Ärgernis die schärfsten Sanktionen? Offenbar gilt: Wer andere hinausdrängt, greift Gott physisch an, und die Heiligen als Ort der Gegenwart Gottes sind um Gottes willen vor Abspaltung zu bewahren. Denn jede Ge-
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meinde bildet ganz real die Einheit Gottes ab. Der Ausdruck »die Kleinen« meint wohl die nicht gerade besonders Angesehenen, also die eher graue Menge. Zu Mk 9,48b-50: »… wo die Würmer unaufhörlich an einem fressen und das Feuer nicht gelöscht wird.« Dieses Feuer ist unvergänglich wie Salz. Jeder kommt damit in Berührung. Wenn er nicht zerfressen wird, wird er bewahrt. Salz macht haltbar. Wenn die haltbarmachende Kraft des Salzes verloren gehen könnte, hätte man kein Salz mehr, um es selbst haltbar zu machen. Frieden ist wie Salz. Habt Salz bei euch, das heißt: Haltet Frieden untereinander« (Berger/Nord). Folgende Entscheidungen lagen diesem Lösungsvorschlag zugrunde: Es gibt eine inhaltliche Kohärenz zu V. 48 (Feuer frisst/Salz frisst). Doch je nach Qualität wird nicht alles vom Salz gefressen, anderes wird auch haltbar gemacht. Darin ist Salz dem göttlichen Feuer und letztlich Gott vergleichbar (ambivalente Wirkung). Sodann war die Frage: Welche Beziehung gibt es zwischen Frieden und Salz (Kohärenz: V. 49f)? Beide sind auf ihre Weise mit Gott vergleichbar. Frieden ist göttlich und bewahrt vor Zerstörung wie Gott.
Mk 10,2-16: Thema Ehe – Jesus und die Kinder Kürzlich beklagte sich jemand darüber, dass der Papst praktizierte Homosexualität als »widernatürlich« bezeichnet habe. Doch Jesus hat bereits die Ehescheidung (mit Neuverheiratung) widernatürlich genannt. Denn Jesus nennt zur Begründung seines Verbots die Grundstruktur der Schöpfung, dass Gott alles Lebendige, und zwar als je einen Mann und je eine Frau (der generische Singular wird persönlich interpretiert) geschaffen hat. Jesus wertet das Gebot über den Scheidungsbrief in Dtn 24 als einen Kompromiss (vgl. Ex 32,19; 34,1: Das 2. Gesetz, d. h. die neu formulierten Texte nach der Zerstörung der Tafeln – daher der Ausdruck »Deuteronomium« [»zweites Gesetz«], war nicht so gut; vgl. Syrische Didaskalie 2,26: Wiederholung des Gesetzes und Herzenshärte). Er selbst geht auf die Ordnung der Schöpfung zurück. – In der »Damaskusschrift« (4,20f) begründet man so zusätzlich
179 das Verbot der Heirat eines zweiten Partners nach Verwitwung. Dass man sich auf Schöpfungsordnung und Naturrecht (z. B. Jub 3 für die Unreinheitsriten nach der Geburt), bezieht, schafft Brücken zur stoischen Philosophie. Die Radikalisierung des Gesetzes auf Gottes Schöpfungswillen bei Jesus trifft sich daher mit dem stoischen Gedanken der vernünftigen Ordnung in der Natur. Beides stärkt sich wechselseitig. Scheidung mit Wiederheirat ist gegen die Natur, weil die Welt paarig männlich/weiblich geordnet ist. Gott selbst ist der Brautführer für Adam und Eva gewesen, so sagt es das Judentum, und das bedeutet: Er ist es immer neu auch für jedes Paar. Deshalb gilt: Was Gott verbunden hat, darf der Mensch nicht trennen. Und deshalb ist Jesu Wort über das Verbot der Ehescheidung (mit Wiederheirat) das am häufigsten (fünfmal) zitierte Jesuswort im Neuen Testament: Jesus sieht in der ehelichen Treue und Liebe ein reales Abbild des Verhältnisses zwischen Messias und Volk. Wenn die Ehe zwischen Menschen zerstört ist, dann kann Ehe kein Realsymbol mehr für das kommende Reich Gottes sein. Ähnlich wie in Mk 9,36f eine Szene mit einem Kind der anschauliche Kommentar zu Jesu Leidensweissagung und Jesu Wort vom Dienen (Mk 9,30-35) ist, so hat auch in Mk 10,13-16 die Szene mit den Kindern einen Kommentar-Charakter zum Abschnitt über die Ehescheidung. Die Kinderszenen sind damit ein bewusst eingesetzter Refrain in der Jüngerbelehrung. Kinder sind stets die radikal Abhängigen, die alles vom anderen erwarten. Es geht hier um diese Grundsituation des totalen Angewiesenseins, ja des Sich-Auslieferns auf Gedeih und Verderb, zugleich auch des reinen Empfangens vom anderen her. So gilt es auch in der Familie und im Verhältnis zu Gott. Der zweimalige Ausdruck »Reich Gottes« (V. 14.15) bestätigt die These, wonach Jesus die eheliche Treue als Vorbild für die Treue Gottes in seiner Zusage des Gottesreiches ansieht. Und wenn Jesus die Kinder berührt und segnet (V. 16), dann tut er das Gleiche wie Gott mit Adam und Eva, denen er den Ehesegen spendet. Im Paradies hieß der Ehesegen Gottes: »Seid fruchtbar und vermehrt euch.« Das Verhältnis zu Gott (Religion) existiert nicht unabhängig von den Größen Volk, Sexuali-
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180 tät, Familie und Ehe: Gerade diese Bereiche sind nun nicht mehr autonom, diese Felder haben »ihre Unschuld verloren«. Gott will hier verbindlich herrschen und bestimmen. Zu behaupten, diese Bereiche seien weiterhin autonom, wie gehabt, wäre pures Heidentum.
Mk 10,17-30: Der reiche Jüngling Drei misslungene Taten Jesu gibt es: das »Unvermögen« Jesu, Wunder zu wirken, weil die Menschen in seiner Heimat ungläubig sagen: »Den kennen wir doch!« (Mk 6,4-6), die Berufung des reichen jungen Mannes nach Mk 10 und die Katastrophe der Berufung des Judas Iskariot. Wenn Jesus scheitert, dann an Vorurteilen, an Geldgier (nach manchen auch im Falle des Judas) oder an schierer Verzweiflung über die politischen Konsequenzen seines Weges (Judas). Zum reichen Jüngling gibt es als Kontrastfigur die arme Witwe in Mk 12, die ihren gesamten Lebensunterhalt in den Opferkasten wirft. Ähnlich gibt es zu Petrus in der Frage der Treue Maria Magdalena als Gegenfigur, was die alte Kirche auch stets bemerkt hat. Der reiche Jüngling ist namenlos geblieben. Trotz offensichtlich gegenseitiger Sympathie ist der junge Mann emotional durch seinen Reichtum stärker gebunden, so stark, dass der Evangelist berichtet, der junge Mann sei traurig gewesen. Das weist auf einen Widerstreit in seinem Herzen, denn er kann nicht beides haben. Aus dem Wort »Niemand kann zwei Herren dienen, niemand kann Gott dienen und dem Mammon« wird erkennbar, dass Jesus das Verhältnis des Menschen zum Reichtum als Sklavendienst betrachtet. Tatsächlich nötigt der Reichtum den Reichen strenge Gesetze auf: Der Reichtum will erhalten und gepflegt werden, Minderung ist gegen sein eigenes Gesetz, das in der Mehrung besteht. Er verlangt Sorge und Fürsorge Tag und Nacht und nötigt einen auch zu Geiz und im Extremfall dazu, über Leichen zu gehen. Der Reichtum ist ein gestrenger Herr. Hier besteht die deutlichste Parallele zum Gottesverhältnis. So exklusiv wie Gott als einziger angebetet werden will und Gehorsam verlangt, ja auch auf Mehrung aus ist, wie im Gleichnis von den anvertrauten Talenten, so exklusiv verfügt sonst nur noch die Liebe oder eben das Geld über Men-
Das Evangelium nach Markus
schen. Die alte Rivalität zwischen dem Gott Israels und dem kanaanäischen Baal bricht hier wieder auf, denn Baal steht für Fruchtbarkeit und Reichtum. Der Gott Israels aber fordert nicht Horten und Sammeln von Gütern, sondern Verteilen und Gerechtigkeit im Miteinander der Menschen. In seinen Gleichnissen verrät Jesus detailgenaue Kenntnis von Finanzen und Finanzgebaren der Menschen, etwa im Gleichnis vom »lebenstüchtigen Verwalter« (Lk 16,1-9) oder im Gleichnis von den anvertrauten Talenten, dass man denken könnte, Jesus habe Insider-Kenntnisse. Jedenfalls weiß er wie kein anderer um die Faszination des Geldes. Jesus sieht auch das Himmelreich im Bild eines Geldschatzes, den der sammelt, der von seinen Gütern abgeben kann. Dahinter steht diese Vorstellung: Wer dem irdischen Kreislauf von Nehmen und Geben folgt, der hat kein Guthaben im Himmel. Denn Jesus sieht die Chance zur Veränderung der Welt zweifellos darin, dass der Kreislauf von Arbeit und Lohn durchbrochen wird. Wer sich für alles bezahlen lässt, der denkt rein diesseitig und kann kein Jünger Jesu sein. Denn Jesus weiß um die Seligkeit des Schenkens und Verschenkens. Und er sagt auch, dass diesem Weg jegliche Zukunft gehört. Die Nachricht über die Reichen im Vergleich zu Kamel und Nadelöhr stimmt eher entmutigend. Gemeint sind nicht die Ausnahme oder das Wunder, dass Reiche trotz Reichtums in den Himmel kommen, sondern dass allein Gott in seiner Macht das Herz der Reichen wandeln, bewegen und verändern kann, damit sie von ihrem erotischen Verhältnis zu Besitz und Zeit-Ausnutzen für eigene Zwecke wegkommen können. – Es geht in diesem Abschnitt um die Liebe zu Gott. Denn es wird eine wichtige Überbietung des jüdischen Gesetzes erkennbar (Dtn 6,4f: »Du sollst Gott lieben aus deinem ganzen Herzen und aus all deiner Kraft …«). Die Erfüllung dieses Liebesgebotes besteht laut Kontext in der Erfüllung aller dann folgenden Einzelgebote. Das Gebot der Gottesliebe gibt so den Rahmen für die gesamte Torah. – Hier bei Jesus dagegen hat der junge Mann alle Gebote schon gehalten, und zwar von klein auf. Was ihm fehlt, ist die Liebe; denn auf die Umarmung Jesu kann er nicht reagieren. Ähnlich Lukas. Er sagt, die Pharisäer, die den Christen nahestanden, seien doch Menschen gewesen, die das »Geld liebten« (Lk 16,14). Der ra-
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Kapitel 10
dikale Besitzverzicht signalisiert nach Lukas und Markus, die hier Jesus wiedergeben, die neue Qualität des Verhältnisses zu Gott, nämlich die größere Liebe (vgl. 4 Esra 13,54: Du hast deine Habe verlassen und warst frei für mich und hast das Gesetz gesucht). Sie ist mehr als Erfüllen der Gebote, sie besteht darin, frei zu werden von allem, was Gott unähnlich sein lässt. Gott ist besitzlos, und er schenkt alles her, so jeden Morgen Tau und die Sonne. Das will sagen: Der Gradmesser der Liebe zu Gott ist nicht mehr nur die Erfüllung der Gebote, sondern wer Gott liebt, kann dem armen Nächsten alles schenken, was er hat. Auch in der Bergpredigt verschärft Jesus das Gesetz: Schon im Herzen wird es übertreten, und wer freiwillig leidet, durchbricht den Kreislauf von Geben und Nehmen. Hier bei Markus wird ähnlich wie bei der Feindesliebe das Sozial-Konstruktive betont. Zu Mk 10,27: Philo v. A. schildert in Spec Leg I 282, dass eine Seele, die von Unzucht befleckt ist, nicht die Welt wieder schön machen kann, sondern allein Gott, bei dem möglich ist, was bei uns unmöglich ist. Zu Mk 10,29f: Die beiden Verse sind recht aufschlussreich für die Stellung der Urchristen zur Familie: Die alte Familie wird aufgegeben, aber eine neue Familienstruktur wird dafür noch in diesem Äon als Ersatz angeboten. Das ist nicht nur eine neue Verwandtschaft (ohne Väter – Vater ist nur der im Himmel), sondern das sind auch neue Häuser und Äcker. Aus meiner Sicht setzt das eine Art neuer gemeinschaftlicher Sesshaftigkeit voraus. Die Christen finden sich zusammen in Gemeinschaften, die entfernt an Kibbuzim oder Kolchosen erinnern. Sie bilden hier familienähnliche Strukturen. Analog zu 10,29 ist TestHiob 4,5-9: Hiob wird alles weggenommen, und da kommt es aufs Aushalten an; es wird ihm dann auf Erden doppelt zurückgegeben, und bei der Auferstehung wird er auferweckt werden. Die drei Phasen sind hier wie dort gegeben. (Die mittlere Phase fehlt in den ansonsten verwandten Texten 4 Esra 13,54-56; Acta Thomae 61; 1. Buch Jeu 2.) – Die Analogie zu TestHiob besteht sicher nicht zufällig, denn diese Schrift kennt eine »kapitalistisch« organisierte Armenpflege. Auf die wichtige Auslegung desselben Themas (Bekeh-
rung und Besitzverzicht) in den Acta Petri et Andreae 5 habe ich in: Die Gesetzesauslegung Jesu, 1974, 439-444, hingewiesen.
Mk 10,32-45: Dritte Leidensankündigung – Die Zebedäussöhne Ist das Martyrium der beste, sicherste, gewissermaßen der todsichere Weg zu himmlischer Herrlichkeit? Wir wissen von Paulus, wie sehr er sich danach sehnt, aus dem Exil des Erdendaseins befreit beim Herrn zu sein. Er ist hin- und hergerissen zwischen der Sehnsucht nach dem Himmel und der Liebe zu seiner Gemeinde in Philippi (Phil 1,21f). Glücklicherweise entscheidet er sich für die Gemeinde. Ähnlich groß ist die Sehnsucht bei Ignatius von Antiochien († um 110). Er bittet sogar die Römer, sich nicht für ihn einzusetzen, damit er nicht am Weg des Martyriums gehindert wird. Und Petrus erklärte sich spontan bereit, mit Jesus zu sterben – etwas vorlaut, wie sich zeigen sollte. Ähnlich ergeht es hier den beiden Söhnen des Zebedäus. Sie bitten Jesus auch sonst bisweilen um Unmögliches – was Anlass wird für Korrekturen an ihrem bisherigen Weltbild. Nach Lukas 9,51-56 wollen sie abweisende samaritanische Dörfer gleich mit Blitz und Donner bestrafen. Jesus weist sie zurück. Vielleicht besteht da auch ein Zusammenhang mit unserem Mk-Abschnitt: Hier wie dort haben es die Jünger sehr eilig. Auch das Sitzen zur Rechten und zur Linken bedeutet in jedem Fall, Anteil am Weltgericht zu haben. Denn auch die Zwölf im Ganzen dürfen dieses ja erwarten (Mt 19,28). Nimmt man diese Stellen zusammen in den Blick, so waren die Zebedaiden unter den Zwölfen die Anwälte des »kurzen Prozesses«, der schnellen, alsbald eintretenden Reaktion des Himmels. So wie sie das Gericht gleich vollziehen wollen, möchten sie auch die Plätze rechts und links direkt per Martyrium erlangen. Sie sind ungeduldig. Vor allem aber erstreben sie etwas für die wichtige eigene Funktion und wollen dafür direkt Sicherheit. Jesus respektiert ihre Bereitschaft zum Märtyrertod. Aber auch Jesus selbst strebt hier nicht direkt auf das Martyrium zu. Seine klaren Schweigegebote, die wir nach geschehenen Wundern finden, sollen den riskanten Kontakt zur jüdischen Obrigkeit nach Kräften
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182 hinauszögern. Jesus zeigt hier einen sinnvolleren Weg als das »Martyrium allein«: demütig dienen. Die Geschichte der westlichen Frömmigkeit und Theologie hatte immer wieder die Neigung, Jesu Tod von seinem Leben zu isolieren. Man blickt auf Karfreitag und übersieht oft, dass Jesu ganzes Leben Dienst des Menschensohnes ist. Der Satz Mk 10,45 sagt deshalb im Sinne des gesamten Abschnitts nicht nur etwas über Jesu Tod, sondern über sein ganzes Leben. Der Dienst Jesu ist ganz umfassend zu nehmen. Viele weisen darauf hin, eine Hingabe des Lebens gebe es nur hinsichtlich des Todes. Doch der griechische Sprachgebrauch ist da anders. In Apg 15 heißt es von Paulus und Barnabas, die zu diesem Zeitpunkt noch leben (!), sie hätten ihr Leben eingesetzt für den Glauben (wörtlich: das Leben gegeben). Und wie man sein Leben einsetzen kann als Lösegeld (eben stellvertretend) für andere, zeigt der Qumrantext aus der so genannten Sektenregel, Kolumne 8, wo es von den zwölf Gerechten heißt: Ihre Gerechtheit macht alle Schuld Israels wett. So ist es bei Jesus nun in der Tat: Er ist der einzige makellos Gerechte. So kann sein Leben – man denke an eine Waage – alle Schuld aufwiegen. Und auch wenn man Mk 10,45 nur auf Jesu Tod bezöge, so könnte er doch nur aus diesem selben Grund Sühne sein, weil Jesus der ganz und gar Gerechte ist. Bezieht man Mk 10,45 nicht nur auf Jesu Tod, sondern auf sein Leben inklusive Sterben, dann wird der Satz im Rahmen des damaligen Judentums verständlicher. Dann praktiziert Jesus eben das, was er den beiden Jüngern hier auch rät: einen lebenslangen Dienst. Der Abschnitt Mk 9,30-37 (s. o.) ist zum Text Mk 10,32-45 grundsätzlich im Aufbau parallel. Gemeinsam ist: ausführliche Leidensankündigung über den Menschensohn, das Thema »groß sein« bzw. »der Erste sein« in Opposition zu »der Letzte« unter den Jüngern, das Stichwort »Diener« bzw. »Dienen«. Dienen ist in beiden Fällen die Weise, in der Jesu Leiden unter den Jüngern eine Entsprechung findet. Der Kontrast sind Rangstreitigkeiten und überhaupt Rangsucht unter den Jüngern. Aber diese Weise der »Anwendung« auf das Jüngerverhalten greift auch über auf die Deutung des Todes Jesu selbst. So hat also Jesus selbst oder spätestens die frühe Gemeinde die Biografie Jesu angewendet, ausgelegt, auf sich bezogen. Niedrigkeit und Hoheit, Schmach
Das Evangelium nach Markus
und Herrlichkeit stehen in dieser Deutung der Passion Jesu im Vordergrund. In doppelter Hinsicht ist daher Dienen nicht selbstquälerische Erniedrigung für die Jünger, sondern sinnvoll: Wer dient, tut der Allgemeinheit etwas Gutes. Und wer dient, ist nach der revolutionären Umkehrung der Rangordnung durch Jesus ab sofort der Erste; denn jedes Dienen ist Übernahme öffentlicher Aufgaben im Dienst der Allgemeinheit. Und die totale Umkehr der Rangordnung ist eine Entsprechung zu paulinischer Kreuzestheologie: Schande tragen verähnlicht mit Jesus. Denn so, wie die Welt ist, kann die Herrlichkeit Gottes nur im radikalen Kontrast zu dem bestehen, was in der Welt als Ehre und Rang gilt. Nicht wer haben will, ist der Mächtigste, sondern wer schenken kann, ist der Reichste. Das kann aber nur dann sinnvoll sein, wenn zuvor feststeht, dass der Menschensohn sicher, so sicher wie auf die Nacht der Tag folgt, der Träger der Hoheit in der Zukunft ist.
Mk 10,46 – 12,44: Der Messias in seiner Stadt und im Tempel Das einleitende Wunder der Blindenheilung hat hier eine ganz ähnliche Funktion wie die Heilung des Blinden in Mk 8,22-26. In Mk 8 bereitete diese Heilung das Petrusbekenntnis vor: Gott selbst hat den Jüngern die Augen geöffnet. – Ganz ähnlich bereitet die Blindenheilung in Mk 10 das Bekenntnis der Menschen vor, die Jesus in Jerusalem empfangen. Dem Verständnis dient vor allem die Entsprechung von »David« (10,48) und David (11,10). Das Bekenntnis in Kap. 11 inklusive Hosanna-Akklamation rückt demnach neben das Bekenntnis in Kap. 8. Beide Bekenntnisse sind vergleichbare Höhepunkte. Zur Gliederung: Einzug in die Stadt (11,1-11) – Einzug in den Tempel (11,12-25) – Streitgespräche in der Stadt (11,27 – 12,34) – Jesus lehrt im Tempel (12,35-44). Das abschließende Kapitel 13 ist durch 13,1-2 (Worte über die Zerstörung des Tempels) mit dem Thema Tempel aus Kap. 11f verbunden. Durch die Komposition wird eine lokale Eingrenzung vorgenommen, die dem Muster konzentrischer Kreise folgt: Stadt – Tempel.
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Kapitel 10
Mk 10,46b-52: Blinder in Jericho In Mk 10,45 (»Der Menschensohn ist dazu da, … zu dienen und sein Leben einzusetzen stellvertretend für alle«) hat Jesus auf seinen lebenslangen Sklavendienst hingewiesen. Dass Jesus sich wirklich als Slaven betrachtet, bestätigt 10,51; denn er fragt den blinden Bettler, als wäre dieser sein Herr: »Was möchtest du, was soll ich für dich tun?« Ähnlich haben zuvor in 10,35 die beiden Zebedäussöhne Jesus unter Druck setzen wollen: »Wir wollen, dass du tust, was wir uns von dir wünschen.« Ihren Wunsch hat Jesus nicht erfüllen können. Denn Plätze im Himmel hat er nicht zu vergeben, aber Blinde sehend zu machen, das ist seine Aufgabe; siehe Jesaja 35,5 (»Dann werden die Augen der Blinden aufgetan«) und Mt 11,5. Denn Jesus bereitet die Menschen vor für den Tag des Kommens Gottes. – Zum folgenden Einzug Jesu in Jerusalem zeigt unser Bericht Verbindungen durch Stichworte, und zwar durch den doppelten Ruf: »Sohn Davids, erbarme dich meiner.« Denn beim Einzug in Jerusalem werden die Menschen rufen: »Gesegnet das Reich unseres Vaters David, das jetzt kommt!« – Wie einst Salomo, Davids Sohn, der Krankheiten heilen und Dämonen beherrschen konnte, wird Jesus Sohn Davids genannt, und er ist so die endzeitliche Entsprechung zu König David. Denn Jesus besiegt alles, was den Menschen bedroht und ihm Angst macht. Mit seinem jüdischen Kolorit ist unser Bericht schon ganz auf den Tempel hingeordnet. Dieser ist noch immer der (wiederaufgebaute) Tempel Salomos, des Sohnes Davids. Der heilende Sohn Davids realisiert sein Anrecht auf die Befugnisse des Hausherrn im Tempel. So ist unser Text in mancher Hinsicht unter den bisherigen Wunderberichten des Markus der Höhepunkt. Nur hier hat der Geheilte einen Namen. Nur hier ist das Wunder mit einer Berufung verquickt; denn der Geheilte folgt Jesus nach (V. 52), und zwar in Kontrast zum geheilten Gerasener in Mk 5,18f, der Jesus nicht nachfolgen darf. Dafür ist Bartimäus durch Name und Ausrufe (»Sohn Davids«, »Rabbuni«) eindeutig als Jude ausgewiesen. Dass er sein Gewand abwirft, um schneller auf Jesus zueilen zu können, erinnert an Petrus nach Joh 21,7b. Die Dramatik wird dadurch gesteigert, dass die Volksmenge ihm zunächst Schweigen gebietet – ähnlich wollten die Jünger
183 nach Mk 10,13 die Kinder von Jesus fernhalten; beides ist vergeblich. Denn wie die Kinder, so ist auch Bartimäus besonders »erwählt«. Zusammen mit Mk 8,22-26 (Heilung des Blinden von Betsaida) bildet diese Blindenheilung die Klammer um die Jüngerbelehrungen in Mk 8-10 vor dem Einzug in Jerusalem. Die Blindenheilungen sind hier wie auch sonst zusätzlich Symbole für das den Jüngern geschenkte Verstehen. Und dass die Blinden Jesus nicht sehen, sondern nur hören, weist über die Geheilten hinaus auf die späteren Christen, die ebenfalls von Jesus nur noch hören. Insofern sind die Evangelien die Bilderbücher des Glaubens. Innerhalb des Berichts besteht eine Spannung zwischen der Aufforderung »Los, auf, er ruft dich!« und dem Erbarmen Jesu. Jesus heilt den künftigen Jünger mit dem Satz: »Zieh hin, dein Glaube hat dir geholfen.« Dieser Satz, der häufiger in Wundergeschichten vorkommt, lohnt ein Nachdenken. Denn nicht Jesus hat den Blinden direkt von außen her – etwa durch Berührung – geheilt, sondern dessen eigener Glaube. Dem entspricht, dass gerade in diesem Bericht auch sonst die Aktivität des Blinden betont wird. Der Satz »Dein Glaube hat dir geholfen« ist aber andererseits so etwas wie ein konstatierendes Machtwort. Denn Jesus sagt dieses Wort, weil er sich erbarmt (V. 48a.49a). Erst die Feststellung setzt das Wunder frei. Jesus stellt etwas fest, das damit (und erst jetzt) zugleich Realität wird. Der Satz »Dein Glaube hat dir geholfen« besagt: Der Blinde glaubt an Gott, der ihm in Jesus nahekommt. Jesus ist der Anlass für diesen Glauben. Er hat ihn geweckt. Es ist nicht der Glaube an einen Menschen, sondern in diesem Menschen Jesus ist der gegenwärtig, der ihn gesandt hat. In dem Blinden wird durch Jesus – durch den Glauben an Gott in der Person Jesu – eine Kraft geweckt, die ihn wieder ganz macht. Jesus nimmt die Blockade weg, die Blindheit bedeutete. Er setzt in dem Blinden die Kräfte zur Selbstheilung frei. Denn offenbar bedeutet die Begegnung mit Gott, dass der Blinde seine körperliche Ordnung wiederfindet. Nach biblischer Anschauung bestehen alle Krankheiten darin, dass der Mensch für eine Zeit (und im Tod endgültig) die Kontrolle über sich selbst, die Selbstbestimmung verliert und wie herrenlos Beute schädlicher Krankheiten und Dämonen wird. So löst sich seine innere
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184 Ordnung, seine Gesundheit auf, er wird führerlos. Wenn er aber Jesus (und in ihm Gott) begegnet, dann findet er ein Führungszentrum wieder. Glaube ist Anteilhabe an der Stabilität Gottes. Im Falle von Krankheit und Gesundung ist dieses eine ordnende Stabilität, aufgrund derer der Mensch »sich wieder einrenkt« in seine innerliche Ordnung, weil er nicht nur nur auf sich fixiert ist und »gelassen« wird. So gilt: Erstens ist Krankheit Unordnung und taumelnde Führungslosigkeit. Zweitens wirkt Glaube in jedem Falle heilend, weil er kein nur subjektives Vertrauen ist, sondern objektive Teilhabe an der lebendig ordnenden Festigkeit Gottes. Die Anrede »Rabbuni« (aram.: »Mein Lehrer/ Herr«) findet sich nur zweimal im Neuen Testament: in Mk 10,51 und in Joh 20.16. Sie ist sachlich deckungsgleich mit der Anrede »Herr!« (griech.: kyrie), wie Mt 8,25 im Vergleich mit Mk 4,38 (»Lehrer!«) zeigt. Im Berliner Papyrus 11710 sagt Natanael: »Rambiu (= Rabbi) Kyrie«. Vergleichbar ist daher auch, wenn Thomas in Joh 20,28 Jesus anredet »Mein Herr«. In jedem Fall handelt es sich um direkte Anrede Jesu durch namentlich bekannte Jünger. Um den Wert dieser aramäischen Anrede »Rabbuni« richtig einzuschätzen, ist zu bedenken, dass Aramäisch für damalige Auffassung die heilige Sprache (auch der Engel) ist. Wer Jesus so anredet, will damit den möglichen schädlichen Einfluss störender böser Mächte fernhalten bzw. ausschließen. Das ist bei einer Auferstehungserscheinung (M. Magdalena, Thomas) ohnehin bitter nötig, damit teuflischer Trug ausgeschlossen ist. Das gilt aber auch für den Blinden, der durch Verwendung der heiligen Sprache den störenden Einfluss von Dämonen auf Blindheit (vgl. Mt 12,22) und besonders auf deren Heilung (Legitimität Jesu!) ausschließen will. Auch die Anrede Jesu im Seesturm (Mk 4,38; Lk 8,24; Mt 8,25) ist nicht einfach eine Ehrung Jesu als des Lehrers, sondern auf dem hier gezeigten Hintergrund am besten zu verstehen, auch wenn die Jünger hier Griechisch reden.
Mk 11,1-6: Das unberittene Fohlen Das unberittene Fohlen (V. 2) entspricht dem »niemand soll für immer von dir essen« (V. 14), denn in beiden Fällen erhebt der Herr exklusiven
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Besitz- und Nutzungsanspruch auf seine eigenen Geschöpfe. – Bei Juden, Griechen und Römern widmet man Gott oder Göttern gern das von menschlichen Zwecken bisher freie, unberührte Gut: Num 19,2; Dtn 21,3 (Kuh, von der die rote Asche kommt, hat kein Joch getragen); 1 Sam 6,7 (so auch die Kühe, die die Lade tragen); Ilias 6,94 (Rinder); Euripides, Phoeniss 644 (Opfertier: wildes Rind); Horaz, Epode 9,22 (unberührte Opferrinder); Ovid, Met 3,11 (Rind); Seneca, Oed 721 (Rinder); Vergil, Georg 4,540. Auffallend: In interkultureller Übereinstimmung gilt das Unberührtsein stets von Rindern. – Hoherpriester im Alten Testament: nur Jungfrau als Ehefrau.
Mk 11,7-11: Einzug in Jerusalem Der Herrscher betritt seine Stadt (analog zu Mk 1: Der Herrscher kommt an, tritt in Erscheinung). Der feierliche Einzug folgt vorgegebenem Schema. Dazu gehören: Man geht dem Herrscher entgegen, es gibt zustimmende Akklamationen (Zurufe; besonders: »Heilbringer«; Entgegengehen plus Zurufe: Plutarch, Leben des Numa 5.7), besonders von Kindern, man steht zu beiden Seiten des Weges Spalier, zur Verlängerung der Arme zum Gruß nimmt man Zweige (vgl. dazu noch aus antiker Anschauung in den Apostolicae Historiae über Andreas: »Exiit ei obviam universa civitas cum ramis olivarum proclamantes laudes atque dicentes: Salus nostra in manu tua est, homo dei.« – Die ganze Stadt ging ihm entgegen mit Ölzweigen. Die Leute riefen Lobsprüche mit den Worten: »Unser Heil ist in deiner Hand, du Mann Gottes.« Der Text, mit dem man den, der kommt, akklamatorisch begrüßt, heißt »epibaterios logos«, z. B. Hen (slav) 14,2, wo die aufgehende Sonne begrüßt wird: »Es kommt der Lichtspender und gibt Licht seiner Kreatur«. Mk 11,9: »Gesegnet …« nennt man eine Eulogie. »Der da kommt« (vgl. Ps 118,25) ist hier schon messianischer Titel, vgl. Mt 11,3; doch auch ein Pseudomessias »kommt« (vgl. Mk 13,6). Rätselhaft ist »das Königreich Davids« (zum Ausdruck vgl. j Ber 3,1: »Die Herrschaft des Hauses David kommt«); Jesus wird hier nicht »Sohn Davids« genannt, weil Jesus nach Mk diesen Titel vermeidet
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Kapitel 11
(12,35-37). Zur Zeit der Abfassung des MkEv ist der Titel politisch zu anstößig. Auch das Richteramt über Israel wird den Zwölfen in Mk 10,3545 nicht zugesprochen (anders: Mt 19,28). Das Ausbreiten der Kleider (V. 8) soll den Weg weich und sanft machen; ähnlich tat man es auch in Kinderzimmern (ThomasEv 22). Zu »Hosanna« (Heil) vgl. Ps 118,25f und in griech. Texten soteria (Heil): Offb 7,10; 12,10.
Mk 11,12-26: Unfruchtbarer Feigenbaum – Tempelreinigung Das Gewebe dieses Textes wird hergestellt durch Worte des Sagens (V. 14: Fluch Jesu; V. 15-18: Haus des Gebets; V. 21: verfluchen; V. 23: Wer zu diesem Berg sagt: … ; Was er sagt, wird ihm gewährt; V. 24: Betet und bittet; V. 25: Wenn ihr betet … – Diese Beobachtung ist bei der Frage nach dem Skopos des Textes nutzbar zu machen. Anhand der Wiederherstellung des Vorhofs des Tempels als Gebetsstätte (»Vorhof der Heiden« ist eine erst christliche Bezeichnung, vgl. die Sache in Joh 2,13-22; Eph 2,14-15) belehrt Jesus allgemein über Vollmachtsworte wie Verfluchen (Mk 11,14) und Beten. Am Ende ist das der Anlass, die Gebetserhörung zu binden an Glauben (auch ein Vollmachtswort wie Mk 11,14 wirkt nur, wenn man daran festhält, also glaubt, dass es so geschieht) und Vergebung. Der Glaube betrifft die Einheit mit sich selbst (dass man auch meint, was man sagt) und mit Gott (Glaube), die Vergebung die Einheit mit dem Mitmenschen. Jesu Verfluchung des Feigenbaums ist Beispiel für Erfüllung eines Vollmachtswortes aus der Kompetenz des Schöpfers. Leider ist es in Kommentaren noch immer durchweg üblich, die Verfluchung des Feigenbaums als symbolische Verfluchung Israels anzusehen, und zwar wegen des Vorwurfs in V. 17 (Räuberhöhle). Doch beim Feigenbaum wird ausdrücklich gesagt: »Denn es war nicht die Zeit für Feigen.« Also hat der Feigenbaum »keine Schuld«, hat nicht versagt. Aber warum wurde er dann verflucht? Er war seinem Schöpfer (dem alles gehört, wie die Bäume und Tiere, auch der Esel, der alle Sünden vergibt und der richtet) begegnet, und der Schöpfer ist keinem gegenüber Rechenschaft schuldig darüber, was er mit seinem Eigentum anstellt. Ebenso
beim Esel nach 11,2 ging es um die merkwürdigen Exklusivrechte des Schöpfers an jeder einzelnen, zufällig ausgesuchten Kreatur. So ist auch beim Feigenbaum nicht moralische Schuld zu suchen, sondern er ist seinem Schöpfer begegnet, dem er gerade »zufällig« nicht als Hoflieferant dienen konnte (daher heißt es auch nicht, dass er keine Frucht mehr tragen soll, sondern dass niemand eine Frucht des Baumes essen soll). Wer aber glaubt und Vergebung übt, hat an dieser Macht des Schöpfers Anteil. Auch nach 1 Makk 13,46-48a werden dem Herrscher beim Einzug in die Stadt Lieder gesungen, und er reinigt Stadt und Tempel vom Götzendienst. Diese Reinigung ist eine alte prophetische Hoffnung bei Sach 14,21: »Und es wird im Hause des Herrn der Heerscharen keine Kaufleute mehr geben an jenem Tag« (von der Heilszeit). Zu Mk 11,15-17: Es ist gut möglich, dass Jesu Aktion im Tempel ein Stück gezielter Reichtumskritik ist. Denn der Tempel ist ein Zeichen dafür, dass Gott alles gehört (so wie der Sabbat unter den Tagen der Woche). Wenn Menschen ausgerechnet hier nehmen und verdienen wollen, wo es darauf ankommt zu schenken, ist das gegen den Sinn, denn der Tempel ist kein Handelshaus.
Mk 11,27-33: Die Vollmachtsfrage Die Frage nach Jesu Vollmacht entsteht bei den Exorzismen, bei der Sündenvergebung und bei der Tempelreinigung. Jesus verweigerte die Antwort bereits in Mk 8,12. Johannes der Täufer kommt bei dieser Frage deshalb ins Spiel, weil er die Macht des Herodes durch Kritik herausgefordert hat; denn je strenger das Wertesystem, umso mehr wird Macht infrage gestellt. Die Johannes d. Täufer und Jesus in gleichem Maße zuteilwerdende Ablehnung ist auch das Thema in Mt 21,28-32 – (Gleichnis von den ungleichen Söhnen: Ihr wolltet nicht [bei Johannes d. T.]; bei Jesus wollen Hurer und Steuereinnehmer, wenn auch erst spät) – und in Mt 11,16-19 (par Lk 7,31-35) (Gleichnis von den spielenden Kindern). Die Gleichnisse laufen auf die Pointe zu: Weder den einen noch den anderen wollt ihr. In Übereinstimmung und Verschiedenheit (Synkrisis) werden Jesus und Johannes d. Täufer auch
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186 besprochen in den biografischen Passagen Lk 1-2 und Lk 7. – Hier (in Mk 11,27 ff) spricht Jesus mit den Honoratioren über Johannes d. Täufer, jedenfalls lenkt er die Anfrage an die eigene Vollmacht auf dieses Thema. Er formuliert eine Alternative: Entweder ist die Vollmacht des Täufers vom Himmel – oder sie ist rein menschlich zu erfassen. Wenn aber nun die Honoratioren antworteten: »Sie ist vom Himmel«, dann müssten sie auf den Täufer hören. Wenn sie aber antworten: »Sie ist rein menschlich zu begreifen«, dann machen sie sich beim Volk unbeliebt, das den Täufer für einen Propheten, also vom Himmel gesandt, hält (V. 32b). Also entscheiden sie sich fürs Schweigen. Daraufhin kann auch Jesus schweigen. Denn sein Dilemma ist, wie zu 8,12 erläutert, dass er zwar von Gott gesandt ist, diese Sendung aber nicht mit einem Zeichen am Himmel beweisen kann. Die Frage nach der Vollmacht Jesu entsteht aufs Neue wegen seines vollmächtigen Auftretens im Tempel (Jesus tritt auf wie der Herr des Tempels). – Die entscheidende Frage nach seiner Würde bzw. Vollmacht beantwortet Jesus auch sonst stets mit Schweigen, bzw. er verweist sie an den Fragenden zurück (Mk 14,61; 15,4). Damit erreicht Jesus Nachdenklichkeit (Wahrheit nicht durch Vorsagen, sondern durch Schweigen). Doch bewirkt Jesu Schweigen im Kontext der Erzählung stets auch eine Art Verstockung bei den Gegnern – und seine eigene Verurteilung. Also ist der Gedanke der Verstockung Jesus doch nicht so fremd (s. zu Mk 4,11-13). Denn mit der Vollmachtsfrage kommt der Widersacher (11,27) in die Lage, sich selbst entlarven zu müssen (11,29-33; 12,12).
Mk 12,1-12: Die Weinbergspächter Die Höhepunkte des Gleichnisses sind, wie stets, wenn dergleichen vorliegt, die Selbstgespräche – des Besitzers (12,6) und der Pächter (12,7). Pointe: Das Unscheinbare, Verachtete wird zur Wende. Rang und Grausamkeit hatten sich gesteigert. Wie auch sonst bei Gleichnissen üblich, sind methodisch zur Ermittlung der Pointe (oder: Botschaft) zwei Schritte angebracht: Zunächst ist nach der obersten Abstraktionsebene zu fragen, auf der die einzelnen Abschnitte (Blöcke) der Gliederung in einem sinnvollen Verhältnis
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zueinander stehen. Sodann ist zu fragen, wieweit die semantische Verzahnung mit dem Kontext des Evangeliums und dem kulturellen Kontext des Judentums dazu nötigt (d. h. die Metaphern im Gleichnis finden sich auch als gebräuchliche Metaphern im Kontext; so ist das Gleichnis durch die Metaphern gleicher Bedeutung mit dem Kontext verzahnt, steht nicht isoliert da), auf eine konkretere Ebene zu gehen. In der Praxis heißt das hier: Die abstrakteste Ebene des Sinns lautet: Irgendwann ist das Maß voll, innerhalb dessen man sich Unrecht leisten kann. Es gibt ein »zu spät«. Unvorhergesehen kommt dann doch das Gericht. – Diese Aussage ergibt sich aus der Komposition von Einleitung (kostbarer Weinberg: 12,1) – Oft wiederholte Sendung von Sklaven (12,2-5) – Sendung des Sohnes, Tötung und Gericht (12,6-9) – Kommentierung durch Schriftzitat (12,10-11) – Reaktion im Rahmen (12,12). Die Geschichte erzählt zumindest den Fall einer lange strapazierten Geduld mit dem schließlichen Höhepunkt: der Sendung und Tötung des Sohnes. »Sohn« wäre nicht notwendig christologischer Hoheitstitel. Die Extravaganz der Erzählung besteht sicher in der unvernünftig langen Zeit der Geduld des Besitzers. Aber einmal hat die Zeit ein Ende, in der man der Meinung sein kann, Unrecht bliebe straffrei. Die Tötung des Sohnes ist hier der Punkt, an dem sich das Schicksal der Winzer entscheidet. Die Metapher »Sohn« ist in den sonstigen Texten des MkEv und des frühen Christentums regelmäßig durch die Rolle Jesu Christi besetzt. Man kann daher ohne Gefahr in Mk 12,1-12 eine Widerspiegelung der Tötung Jesu nach lange voraufgehender Verachtung der Ermahnungen Gottes erkennen. Die Tötung des Sohnes bedeutet dann für die Winzer eine Wende, da jetzt ihr Verhältnis zu Gott endgültig anders geworden ist. Man kann aber noch weiter gehen und das deuteronomistische Geschichtsbild hier wiedererkennen. Dann sind die Sklaven unseres Gleichnisses, die vor dem Sohn geschickt und misshandelt worden sind, die Propheten, denen gegenüber Israel mit Ungehorsam reagiert, und dann steht der Sohn den Sklaven gegenüber wie in anderen alten Texten des frühen Christentums: Hebr 3 und Gal 4. Dann bedeutet die Wegnahme des Weinbergs den Verlust der exklusiven Erwählung. Die Geschichte wird damit dann weitgehend allegorisch
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gedeutet, was heutzutage in der Forschung keine Schande mehr ist. Die angepeilte »semantische Verzahnung« besteht dann hier durch die Metaphern Weinberg, Besitzer des Weinbergs, Sklaven, Sohn, Früchte. – Methodisch gilt: Je geringer die semantische Verzahnung ist, umso abstrakter ist die Pointe zu fassen. Und: Innerhalb des Gleichnisses muss eine metaphorische Kohärenz bestehen, d. h. es muss mit der Deutung ein sinnvoller Handlungsablauf gelesen werden können. Das Schriftzitat in Mk 12,10f wird oft auf die Auferstehung bezogen (der verworfene Stein wird zum Eckstein). Das ist aber nicht notwendig; denn dass der achtlos weggeworfene Stein zum wichtigsten wird, trifft auch zu, wenn der sozusagen routinemäßig misshandelte Sohn unerwartet zum Angelpunkt der ganzen Geschichte zwischen Besitzer und Winzern wird. Auch hier geht es wieder um die Frage der Abstraktion und der semantischen Verzahnung. Doch im Rahmen der Evangelien wird Ps 118,22 nicht auf die Auferstehung Jesu bezogen. Wichtiger ist, dass sie zur Fortsetzung der Handlung nicht taugt; sie ist ja für sich genommen kein Gerichtshandeln, das Menschen etwas nimmt. Entscheidend ist, dass das Schriftwort ein Kommentar auf neuer, anderer Ebene ist (wie etwa das Weisheitswort in Mt 20,16). Es geht doch vielmehr darum, dass das Verhalten zum Eckstein die Wende bringt: Der verworfen wurde, ist zum Prüfstein geworden. Das ist erstaunlich, aber von Auferstehung kann ich nichts sehen. Was heißt es: »Er wird den Weinberg anderen geben«? Aufgrund der Anspielungen auf Jes 5,1f liegt es nahe, den Weinberg mit Israel gleichzusetzen. Aber wie sollte Gott Israel anderen geben? Die Honoratioren besitzen doch nicht das Land! An welche Strafe und für wen in Israel wäre denn im 1. Jh. n. Chr. überhaupt zu denken? Wenn die Winzer für das ganze Volk stehen und handeln, geht es um die Exklusivität der Erwählung; Früchte mussten ja alle bringen. Doch was hätten sich die Winzer eigentlich bei der Tötung des Sohnes noch aneignen sollen (V. 7b)? Resultat: a) Der Weinberg kann nicht Israel sein, denn das ist nicht zu vergeben; b) der Weinberg kann auch nicht das Land (Palästina) sein; c) es geht wohl, wie angedeutet, um die Exklusivität der Erwählung. Sie besteht darin, Gottes Ver-
handlungs- und Geschäftspartner zu sein; d) die Tötung des Sohnes sollte daher in dieser Hinsicht ein Vakuum schaffen.
Mk 12,13-37: Steuerfrage – Auferstehung – Erstes Gebot – Messiasfrage Nicht um christliche Dogmatik geht es in Mk 12, sondern um praktische Abgrenzung von jüdischen Gruppen. Im Konzert der Gruppen wird systematisch die christliche Eigenart dargestellt. Die einzelnen Beiträge aus Mk 12 zusammengenommen ergeben ein christliches Profil. Deshalb gehört auch Mk 12,1-12 dazu, und die ältere Vermutung, hier gehe es um Wegnahme und Übertragung der schriftgelehrten Lehrautorität auf christliche Lehrer, gewinnt von daher noch einmal Wahrscheinlichkeit. Jesus erörtert hier die Frage nach Steuern, nach Auferstehung, nach dem wichtigsten Gebot, nach der Davidssohnschaft, und er warnt vor Eitelkeit und Gier. Mk zeigt ausgerechnet hier eine Tendenz zum Unpolitischen. Schon das Gleichnis Mk 12,1-12 hatte er nicht auf eine mögliche Zerstörung Jerusalems bezogen; die Steuerfrage entscheidet er in Wahrheit zugunsten der unbegrenzten Pflichten gegenüber Gott; die Davidssohnschaft nimmt er aus der Schusslinie. Nur der blinde (!) Bettler darf Jesus »Sohn Davids« nennen (10,49). Daher bleibt auch unklar, wer der Gräuel der Verwüstung in Mk 13,14 ist. – Die Sadduzäerfrage ist religionspolitisch wichtig. Die Christen stehen an der Seite der Pharisäer. Was besagt das alles für die Datierung des MkEv? Christen möchten dem Verdacht antirömischer Hetze entgehen. Sie möchten Martyrien vermeiden und fordern daher auch nicht das offene Bekenntnis (Mk 8,38; 10,35-45), sie ahnden nur Ableugnung. Sie rechnen mit erheblichen Leiden. Im Übrigen bestimmt Mk 12 die Nähe und Distanz des frühen Christentums zu unterschiedlichen jüdischen Gruppierungen (Sadduzäer, Schriftgelehrte, Pharisäer).
Mk 12,13-17: Die Steuerfrage Jesus nennt in seiner Antwort Gott, obwohl er danach nicht gefragt wurde. Durch seine Ant-
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188 wort wird Steuerzahlen und Steuerpflicht zum kleinen Abbild der umfassenden Verpflichtung gegenüber Gott. Die Pointe heißt: »Aber gebt vielmehr …« Denn was ist 50 % von unendlich? Bestätigt wird diese Deutung durch ThomasEv 100 (Zusatz: »und was mein ist, gebt es mir!«). – Die Aufteilung der »bürgerlichen« Pflichten auf unterschiedliche Instanzen findet sich ebenso in Röm 13,7 und 1 Petr 2,17. In allen Beispielen werden die religiösen Pflichten gegenüber Gott grundsätzlich anderen öffentlichen Verpflichtungen des Menschen vergleichbar gemacht. Religion ist daher nicht »Privatsache«, sondern die unvergleichlich intensivste Weise der Verbeugung des Menschen vor Instanzen außerhalb seiner selbst. »Gebt Gott, was Gottes ist, und dem Kaiser, was des Kaisers ist.« Auch hier spiegelt sich der so genannte Kanon der zwei Tugenden (vgl. zu Mk 12,28-34). Gott zu geben, was Gottes ist – das nennt die Bibel in Dtn 6,4f »Gott zu lieben aus ganzem Herzen«. Und dem Kaiser Steuern zu zahlen, das gilt im zeitgenössischen stoischen Pflichtenspiegel als oberste der sozialen Pflichten; die Liebe zum Vaterland zeigt sich darin. Auch Paulus bezieht in Röm 13 ausdrücklich das Gebot des Steuerzahlens auf die Nächstenliebe. So ist der Abschnitt Röm 13,7-10 zu verstehen: »Gebt jedem, was ihr ihm schuldig seid und was ihm gebührt: Steuern und Zoll dem einen, Angst und Ehrfurcht dem anderen. Gegenüber jedem erfüllt eure Pflicht und Schuldigkeit! Nur in der Liebe ist es anders: Hier gibt es keine begrenzte Pflicht, sie ist grenzenlos. Denn wer den anderen liebt, hat das Gesetz erfüllt. Alle Gebote, wie die gegen Ehebruch, Mord, Diebstahl, Gier und so weiter kann man in dem einen Satz zusammenfassen: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst (Lev 19,18). Wer den Nächsten liebt, tut ihm nichts Böses. So ist die Liebe die vollkommene Erfüllung des Gesetzes.« Resultat: Röm 13 ist eine Art Brücke zum Verständnis des Zusammenhangs zwischen den beiden Szenen im Leben Jesu nach Mk 12 und Mt 22, nämlich Steuerfrage und Frage nach dem größten Gebot. Das Hauptgebot der Gottesliebe steht fest, es wird in Mt 22 entweder nach Dtn 6,4f zitiert (Gott lieben aus ganzem Herzen) oder als »Gebt Gott, was Gottes ist«. Das Gebot
Das Evangelium nach Markus
der Nächstenliebe wird entweder nach Lev 19,18 zitiert (Liebe deinen Nächsten wie dich selbst) oder als Aufforderung, Steuern zu zahlen, was nach Röm 13 ein repräsentativer Teil der Nächstenliebe ist; Paulus zitiert in Röm 13 Lev 19,18 ausdrücklich und verallgemeinert: »Keinem etwas schuldig bleiben« und daher: Steuern zahlen, wem Steuern gebühren.
Mk 12,18-27: Auferstehung Jesus grenzt sich und den Auferstehungsglauben der Jünger von den Sadduzäern ab, die traditionell die Auferstehung leugnen, da sie nicht bei Mose und den Propheten belegt sei (dazu Josephus, Ant 18,16f: »Die Lehre der Sadduzäer lässt die Seele mit dem Körper zugrunde gehen und erkennt keine anderen Vorschriften an als das Gesetz«). Jesus steht in diesem Punkt den Pharisäern nahe und muss, um die Auferstehung gegenüber den Sadduzäern behaupten zu können, diese aus dem Pentateuch erweisen. Das gelingt ihm mit Hilfe von Ex 3,2.6. Gott sagt: »Ich bin der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs.« Daraus folgt, dass Tote auferstehen. Warum? Als sich Gott nach Ex 3 Mose vorstellt, sind die drei Erzväter längst tot. Wenn Gott sich trotzdem als ihr Gott vorstellt, dann kann es sich nicht um Tote handeln. Denn die Toten »loben Gott nicht« (Ps 115,17). Nun ist aber vom Tod der drei Erzväter in der Bibel berichtet. Wenn Gott sich aber in Ex 3 als der Gott Lebender vorstellt, dann müssen inzwischen aus Toten Lebendige geworden sein. Diesen Vorgang aber nennt man Auferstehung. Also gibt es – zumindest für die drei Erzväter – eine schon geschehene Auferstehung. Aus dem judenchristlichen Milieu des 2. Jh. n. Chr. haben wir zumindest einen Text, der dieses ohne irgendeine Bezugnahme auf Mk 12 auch behauptet: TestBenj 10,5 (»dann werdet ihr Abraham, Isaak und Jakob als Auferstandene zur Rechten Gottes sehen«). Nach Ps.-Philo, Buch d. bibl. Altertümer, wird Abraham »seine Wohnung über den Höhen aufschlagen« (4,11), »als ich Abraham über das Firmament erhob« (18,5). Auch 4 Makk 7,19 und 16,25 setzen voraus, dass die drei Erzväter »bei Gott leben« und nicht gestorben sind.
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In der (teilweise) apokalyptischen Sammelschrift Kebra Nagast (äth) § 112 heißt es: »Mose redete mit Gott, indem er erkannte und gelehrt wurde den Glauben an die Auferstehung seiner Väter Abraham, Isaak und Jakob.« Nach anderen werden diese Väter zumindest zuerst auferstehen. Im Übrigen zählt der trickreiche juristische Einwand mit der Leviratsehe nicht, da es im »Himmel« keine Ehe geben wird. Das ist deshalb so, weil dort, wo kein Tod ist, auch kein Gebären und daher keine Sexualität sein können. Der Zusammenhang zwischen Sexualität, Gebären und Tod ist für Jesus äußerst eng. Offene Frage: Wenn alle als sie selbst auferstehen, aber wie die Engel sein werden, was wird dann aus den Geschlechtsmerkmalen? Jedenfalls sind sie zum Schmuck da (wie auch das Jiddische diese Organe nennt).
Mk 12,28-34: Das erste Gebot Die Verbindung der beiden Schriftstellen Dtn 6,4f und Lev 19,18 geschieht – nach rabbinischen Methoden geurteilt – anhand des gemeinsamen Stichwortes »lieben«. Gleichzeitig gibt es einen massiven hellenistischen und auch jüdisch-hellenistischen Hintergrund in der traditionellen Verknüpfung von Gerechtigkeit (Menschenliebe, Pflichten gegen die Mitmenschen) und Heiligkeit (Frömmigkeit, Pflichten gegen Gott). Diese Verbindung ist weit verbreitet; man nennt sie den »Kanon der zwei Tugenden« (A. Dihle). Gerade bei Philo v. Alexandrien wird diese Kombination auch als die »Summe« des jüdischen Gesetzes bezeichnet. Sie ersetzt das Gesetz nicht, sondern gibt nur einen Kompass zu seiner Auslegung an. Sie spiegelt sich nach Philo auch in den beiden Dekaloghälften. Liebe heißt: »Nur du!« Das ist die gegenseitige, heilsame Intoleranz der Liebe. Und das gilt für die Ehe wie für »die Religion«, den biblischen Glauben an den einen Gott. Die Einschätzung des Schriftgelehrten (12,32f) orientiert sich an einer relativ breiten biblischen Tradition: 1 Sam 15,22: wertvoller als Opfer ist Gehorsam; – Jes 1,11: hören auf Gottes Wort; – Ps 50,21: Opfer der Gerechtigkeit; – Dan 3,38: zerknirschtes Herz, demütiger Geist; – ferner: Josephus, Ant 6,147: Gottes Wille und Gebote tun; – speziell weisheitliche Tradition: Spr 16,7 LXX:
Gerechtes tun ist Gott genehmer als Opfer; – frühjüdische Tradition: Sibyllinen 2,82: nicht Opfer, sondern Erbarmen; – und auch in Qumrantexten: 1 QS 9,4: mehr als Opfer ist das Opfer der Lippen und vollkommener Wandel. Zu Hos 6,6 und anderen Belegen vgl. K. Berger, Gesetzesauslegung, 1972, 194-201. – So ist die Pointe auch in Mk 12,28-34: Die Lehre Jesu zerstört das Judentum nicht, sondern vollendet seine Erkenntnis.
Mk 12,35-37: Die Messiasfrage Wenn Jesus der Herr ist, kann er nicht Davids Sohn sein. Denn in Ps 110 besingt ihn David ja als seinen Herrn. – Jedenfalls legt gesunder Menschenverstand das nahe. Daher vermeidet der Evangelist Markus in jeder »offiziellen« Rede den Titel »Sohn Davids«. Nur der blinde (!) Bartimäus darf Jesus so anreden. Der Evangelist Mk fürchtet offenbar politische Verwicklungen beim offiziellen Gebrauch dieses Titels. Der Evangelist Mt wird Jesus eine andere Antwort geben lassen.
Mk 12,38-44: Die opferbereite Witwe »Zeugin dafür, wieviel Gutes eine Geldspende vermag, ist jene Frau, die mit den zwei gespendeten kleinen Münzen so reiche Frucht erbrachte, dass sie alle Silbertalente der Könige in den Schatten stellte. Wie reich war doch die Armut der Witwe! Wie herrlich war ihr Glaube, der solches hervorbrachte! Denn siehe, so wenig Geld, in einem Winkel verborgen, hat die Erde erfüllt und ist zum Himmel hinaufgestiegen«, so betet die Kirche des Mittelalters in einer Präfation (Nr. 1414) zu diesem Text. Und Bernhard von Clairvaux sagt im 87. Brief von sich: »Nach dem Beispiel jener Frau des Evangeliums habe ich in meiner Armut alles gegeben, was ich hatte.« So wird die Frau aus Mk 12 zum einem Beispiel für hingebungsvolles Herschenken des Letzten. Sie steht damit in Kontrast zum reichen Jüngling in Mk 10, und diese beiden namenlosen Figuren flankieren antitypisch die Belehrungen in Mk 10-12. Auch der Kontrast zwischen den Schriftgelehrten (12,38-40) und der armen Frau (12,41-44)
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190 ist beabsichtigt. Mit diesen beiden abschreckenden und mahnenden Beispielen endet die öffentliche Wirksamkeit Jesu. Das verbindende Stichwort zwischen den beiden kontrastierenden Beispielen ist »Witwe«. Denn die Schriftgelehrten fressen die Häuser der Witwen auf, die arme Witwe aber spendet ihren gesamten Lebensunterhalt. Gegensätzliche Motive bestimmen daher den Text: Einmal ist es der Gegensatz zwischen Reichen und Armen. Die Reichen haben kostbare Gewänder und nehmen Geld. Die Armen dagegen schenken Geld. Der zweite Kontrast ist der zwischen Schein und Sein. Die reichen Schriftgelehrten verhüllen ihre wirkliche Ungerechtigkeit mit Scheinheiligkeit. Die arme Frau schenkt, wie schon der mittelalterliche Beter der Präfation beobachtete, »im Winkel« ganz Großartiges. Ein weiterer Gegensatz beherrscht den zweiten Teil des Textes: Die Reichen geben nur von dem, was sie übrig hatten, die Witwe dagegen alles, was sie in ihrer Armut noch besitzt. Der Abschnitt über die Schriftgelehrten zeigt zunächst, dass sie wirtschaftlich (Reichtum), religiös (Gebet) und moralisch (lange Gewänder) die Angesehensten sind (erste Plätze). Doch wenn ihr Reichtum auf Ausbeutung beruht und ihre Frömmigkeit auf Schein, dann fallen ihre Vorzüge in sich zusammen. Dass die Witwe im Tempel ihr Scherflein gibt, wirft Licht auf die Bedeutung dieses Ortes für die ersten Anfänge des Christentums: In seiner »Reinigung« des Tempels vertreibt Jesus von dort Händler, wo man nicht raffen, sondern geben soll, so wie es eben die Witwe hier tut. Und nach Apg 6 ist der Tempel der Ort, an dem Witwen (ihren Lebensunterhalt) empfangen. Gerade dort also, wo Witwen betteln und wo man ihnen gibt, schenkt die Witwe von Mk 12 alles hin. Und nach 1 Petr 4,8; Sprüche 10,12 und Jak 5,20 dient das Almosen zur Tilgung der Sünden. Neben den Versöhnungstag und das Sündopfer tritt daher das Almosen als fast institutionelle Sündenvergebung am Tempel. – Die ungewöhnliche Wendung »ihr ganzes Leben« orientiert sich an der Formulierung des Hauptgebots, Gott sei zu lieben »aus ganzem Herzen«. Nach der gesamten Bibel sind die Witwen ge-
Das Evangelium nach Markus
rade deshalb bei Gott angesehen und finden mit ihrem Gebet direkt Gehör, weil sie nichts haben. Gerade aus diesem Grund werden sie von den Gemeinden regelrecht angestellt, um für die anderen zu beten (1 Tim 5,5). Denn Gott nimmt ihnen gegenüber die Rolle des Patrons wahr, für den es Pflicht und Ehre ist, für sie zu sorgen. So gilt das auch gegenüber Waisen und Tagelöhnern. Sie alle haben als Klientel des Königs einen »direkten Draht« zu ihm. Die Witwe in Mk12 macht sich den Bettlern gleich. Es handelt sich dabei um ein kaum beachtetes Element der Lebenspraxis und zugleich der Verkündigung Jesu. Denn auch Jesus kümmert sich nicht um seinen Lebensunterhalt und macht sich so von den Spenden frommer Frauen (Lk 8,1-3) und anderer Leute, die zum Beispiel als Gastgeber walten, abhängig. Man kann fragen: Warum macht sich auch Jesus den Bettlern gleich? Der Bettler stellt in seiner Lebenspraxis dar, was er vor Gott immer und im Ganzen ist. Denn der Bettler ist gänzlich abhängig von dem, was ihm täglich geschenkt werden muss. Dabei ist es nicht so wichtig, wer schenkt. Die Lebenspraxis der leeren Hände stellt genau das konkret dar, was der Mensch vor Gott ist. Die spätere monastische Lebensweise erscheint von hier aus noch einmal in ganz neuem Licht. Denn wer bettelarm lebt, sagt damit, dass er leere Hände hat und jeden Tag alles von Gott erwartet. Wer die Familie aufgibt, sagt, dass er dringend einen neuen, den himmlischen Vater braucht und eine neue Familie in der Gemeinschaft der Heiligen. Wer auf die Ehe verzichtet, gibt zu verstehen, dass der Messias mit seinem Volk eine neue Ehe eingehen wird. Und auch deshalb, weil Gott und Leben so nahe zusammengehen, ist das konkrete, sichtbare Leben der Christen die wichtigste Gestalt der Verkündigung. Daher wird auch Gott so intensiv als Person erfahren wie nie zuvor. Denn er bleibt ja nicht in der weiten Ferne eines deistischen (unpersönlichen, vernunfthaften) Gottes, sondern wird der nahe Gott. Seine unerhörte Nähe hat völlig neuartige Konsequenzen für das Alltäglichste im Leben. Gott ist nicht eine Theorie, sondern im wahrsten Sinne des Wortes einschneidende Wirklichkeit.
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Mk 13: Endzeit Aufbau und Zielsetzung: Man kann die These vertreten, das MkEv sei wie die Septuaginta aufgebaut: Mk 1-11 die Erzählung (narratio), Mk 12 die Weisheit, Mk 13 die Prophetie. Mit dem Schluss von Mk 12 ist Mk 13 verbunden durch die Szenerie (vgl. die Stichwortverbindungen) des Tempels (12,41; Mk 13,1-4). Und der Ort »Tempel« ist für den apokalyptischen Inhalt von Mk 13 wichtig. Denn das Gericht Gottes hebt traditionell am Tempel an (vgl. 1 Petr 4). Schon in Mk 11,17 ist das, was am Tempel geschieht, apokalyptisches Realsymbol (vgl. Jes 56,7). Auch der Gräuel der Verwüstung in Mk 13,14 ist ein apokalyptisches Symbolzeichen (vgl. Dan 12,11; 9,37). – In Mk 13,5-23 geht es um die nähere Zukunft, in 13,24-27 um das wirkliche Ende. Merkmale der Apokalyptik bei Mk: Dualistisches Denken (Notzeit vor der Wiederkunft Christi); kosmische Orientierung (13,24: Zusammenbruch der Himmelslichter); Reste politischer Orientierung (13,8f: Kriege, Verfolgung); gläubige Antizipation durch Wissen; nicht Berechnung (13,32), wohl aber Ordnung (»noch nicht …«, »Anfang …«); Leiden und Martyrien als Anweg auf das Kommen des Menschensohnes; Ausweitung und Uminterpretation der Theophaniezeichen. Für die Situation der angesprochenen Gemeinde sind die Hinweise auf das Übergeben (Verraten, Ausliefern) in Mk 13,9.11.12 wichtig, auch wegen der Übereinstimmung mit dem Tun des Judas. Hier tritt gewissermaßen die Kehrseite der in Kap. 12 positiv dargestellten Beziehungen zu anderen Gruppen zutage. Beides weist in die vierziger Jahre des 1. Jh. n. Chr. Die erste Zielsetzung von Mk 13 betrifft zum einen die Naherwartung, zum anderen die Warnung vor falschen Lehrern. Zunächst berichtet Mk in der Form der apokalyptischen Ereignisordnung (griech.: tagma) hinsichtlich der einzelnen Geschehnisse vor dem Ende, und zwar der Reihenfolge nach. Die Tendenz der Darstellung ist dabei: Das alles ist noch nicht das Ende. Das umfasst die Verse 13,3-27. Deren Skopos war es, das Ende immer weiter hinauszuschieben: Öfter hieß es, dass es »noch nicht« (V. 7) das Ende, sondern erst der »Anfang« sei (V. 8) oder was
»erst« (V. 10) noch kommen müsse. Skopos der Reihe war es, die Naherwartung zu dämpfen. Das bedeutete auch: Für politische Unruhen, inklusive Zerstörung der Stadt, sind die Christen und Jesus nicht verantwortlich zu machen. Christliche Zukunftserwartung ist himmlisch (Menschensohn), nicht irdisch-destruktiv (Zerstörung der Stadt). – Das Gleichnis vom Feigenbaum in V. 28f verfolgt eine andere, entgegengesetzte Tendenz als die vorangehende Ordnung der Ereignisse. Jetzt am Ende wird gar in V. 30 erklärt, diese Generation oder »dieses Geschlecht« werde nicht vergehen, bis »das alles geschieht«. Jesus spricht in V. 28f von der Nähe der Ernte, und dass sie vor der Tür steht. Diesen Schluss der Rede nennt man in der Rhetorik peroratio, den Abschnitt, in dem die schlichte Konsequenz und Anwendung aus einer Rede gezogen werden. Statt dass die Naherwartung gedämpft wird, spricht Jesus hier von der mehr oder weniger unmittelbaren Nähe des Endes, und er wird die Endzeitrede mit einem Appell zur Wachsamkeit beschließen. Die zweite Zielsetzung von Mk 13 ist die Aufforderung, wachsam zu sein, sich zu hüten vor falschen Lehrern. Daher stehen auch die Ausblicke auf das Ende jeweils am Schluss der Lehrtätigkeit Jesu, vor dem Beginn der Passionsgeschichten. Das gilt besonders für die drei ersten Evangelien, für die Lehre der Zwölf Apostel (Didache) und auch für 1 Kor 15. Wenn man so will, kann man auch für die Offb sagen, dass die Kapitel 4-22 ein ausgebauter Schlussteil sind, während es vorher um Gemeindeparänese ging. Daher verwendet der Seher Johannes ja auch das Briefformular. Diese Ausblicke stehen nicht nur deshalb am Ende, weil die Gegenwart der Jünger sich zeitlich gleich daran anschließt, sondern vor allem, weil hier, in der peroratio, der wichtigste Punkt der Verkündigung Jesu liegt. Dieser Punkt heißt: Hört auf dieses Evangelium und nicht auf die falschen Lehrer, die anderes verkünden werden. Die drei ersten Evangelien (inklusive Didache) haben im Ganzen diesen Charakter: Den Jüngern wird etwas Schriftliches »in die Hand gegeben«, damit sie sich so vor falschen Lehrern schützen können. In diesen Zusammenhang gehören die
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192 Metaphern von Hirt und Schafen, Tür und Wölfen, wachen und sich hüten (s. zu Joh 10). Das Zeitverständnis von Mk 13 Apokalyptik ist von der Überzeugung geprägt, dass die große Wende bevorsteht. Daher ist wichtig, was »bis dahin« und was »von da ab« geschieht. Dabei gibt es die Träger der Zukunft nach der Wende jetzt schon, wenn auch stets als die Benachteiligten und Leidenden, die unter dem gegenwärtigen System leiden, denen es aber dann im künftigen System umso besser ergehen wird. Dauerhafte und haltbare Apokalyptik hat stets darauf verzichtet, einen genauen Zeitpunkt für die Wende anzugeben. Fast alle mir bekannten Apokalypsen verzichten drauf; nur die christliche Epistula Apostolorum (äth/kopt) im 2. Jh. n. Chr. bestimmt das Weltende auf 180 n. Chr. Doch generell wird das Thema des Wann anders behandelt. In Mk 13 wird das Ende, wie so oft (vgl. 2 Thess 2) aus seelsorgerlichen Gründen hinausgeschoben. Denn müssten die Leute für morgen schon mit dem Weltende rechnen, es gäbe bald heillose Zustände. Geschildert wird ein solcher Fall bei dem Kirchenschriftsteller Hippolyt v. Rom († 235 n. Chr.), der in seinem Daniel-Kommentar 4,19,3 ff von einem Visionär in Pontos berichtet, der sagte: »In einem Jahr wird das Gericht geschehen.« Daraufhin ließen die Christen ihre Ländereien und Äcker öde liegen, verkauften ihren Besitz, die Jungfrauen heirateten nicht, die Männer gingen nicht zur Landarbeit und die ihr Vermögen verkauft hatten, mussten um Brot betteln. Wie stark Mk 13 von der Frage der Zeit bestimmt ist, das lässt sich an den Zeitadverbien und Vergleichbarem gut ablesen, von denen der Text intensiv bestimmt ist und die ihn der Gattung »apokalyptische Ereignisordnung« zuweisen: »Wann?« (V. 4); »noch nicht das Ende« (V. 7); »Anfang der Wehen« (V. 8); »zuerst muss noch …« (V. 10); »wenn …, dann …« (V. 14); »jene Tage« (V. 19); Zeitverkürzung (V. 20); »dann« (V. 21); »in jenen Tagen … nach der Bedrängnis« (V. 24); »dann« (V. 26.27); »schon« (Jahreszeiten) (V. 28); »nahe« (V. 28.29); »bis … diese Generation« (V. 30); »jenen Tag, jene Stunde« (V. 32) »wann« (V. 33.35); »abends oder mitternachts oder beim Hahnenschrei oder frühmorgens« (V. 35); »plötzlich« (V. 36).
Das Evangelium nach Markus
Auswertung: Mk 13 ist nicht die Reaktion auf eine sich verzögernde Parusie; sie ist nicht das Problem. Intention ist vielmehr ein argumentatives Hinausschieben der Parusie, und zwar ohne Verzicht auf den Appellcharakter apokalyptischer Rede. Dass immer wieder das »Noch nicht« betont wird und ebenso die Fülle der Vor-Ereignisse, bedeutet einen Verzicht auf klare Vorzeichen des Endes. Gerade das aber bedingt die Wachsamkeit (V. 33.35.37). Die Plötzlichkeit des Endes wird auch wegen der Distanzierung von jeder politischen Ambition betont. Vorzeichen auf der Erde gibt es nicht. Das Einzige, was bleibt, sind in V. 24f unmittelbar vor dem Kommen des Menschensohnes platzierte Ereignisse am Himmel; der Himmel hat eigene Zeichen. – Die christologischen Hinweise in 13,6.22 lassen erkennen, dass sich das MkEv gerade in seiner Christologie (Menschensohn!) als Beitrag zur Eschatologie versteht. Die in 13,6.22 auftretenden Irrlehrer könnten auch Christen mit einem besonderen Verständnis von Apostolat bzw. Repräsentation des Herrn durch sie selbst sein. Daher gibt es nicht »den« endzeitlichen Widersacher. Seine Rolle spielen möglicherweise christliche Gruppen (vgl. zu V. 21). – Mk 13 bewegt sich auf dem schmalen Grat zwischen Abwehr der Naherwartung aus politischen Gründen und Betonung der Nähe aus appellativen Gründen. Für das Verhältnis von Mk 13 zu anderen frühchristlichen Apokalypsen sind besonders Offb 13 und 2 Thess 2 wichtig. Mit Offb 13 vgl. die Verehrung des Götzen-Kultbildes (Offb 13,15 mit Mk 13,14), die Wunderzeichen als Propaganda (Offb 13,14 mit Mk 13,22); die Irreführung (Offb 13,14 mit Mk 13,22b). – Umso interessanter ist, dass in Offb das Motiv der Zerstörung des Tempels (noch) nicht auftaucht. Zu 2 Thess 2: Das Kultbild im Tempel nach Mk 13,14 entspricht 2 Thess 2,4 (der sich erhebt über jeden so genannten Gott, sich in den Tempel Gottes setzt und sagt, dass er selbst Gott sei). – Widersacher und Wunder (2 Thess 2,9; Mk 13,22); in die Irre führen (2 Thess 2,10f; Mk 13,22); himmlische Christologie als Antwort (1 Thess 2,8; Mk 13,26); Tempelgräuel (Mk 13,24; 2 Thess 2,2.6); Aufschub des Endes als Grundtendenz: zuerst, dann, nach (2 Thess 2,3.6
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Kapitel 13
– Mk 13,8.14b.21; Mk 13,20; 13,24); Aufhalter (die Mission) Mk 13,10; 2 Thess 2,7. Das Sitzen im Tempel (2 Thess 2,2) wird nach Mk 12,35 von Jesus selbst berichtet, denn der Lehrer pflegt zu »sitzen«. Zur Verankerung von Mk 13 im MkEv: Diese Verankerung geschieht durch wiederkehrende Stichworte. Ihr Netz gibt das Gerüst des Textes ab. »Evangelium« (Mk 13,10 mit 1,1 etc.); Gräuel der Verwüstung ist eben nicht Jesus (13,14; 14,58), sondern etwas oder jemand anderes; die Pseudo-Christusse werden Jesus nachahmen; zur Unterscheidung ist das MkEv geschrieben. »Wachsamkeit« 13,33.35 (vgl. 14,38). Aussenden von Boten: 13,27 und 3,13.15; Feigenbaum als Symbol (13,28 mit 11,13.22); Wiederkunft des Menschensohnes (13,22 mit 14,62); Hoher Rat (13,9 mit 14,55; 15,1); vor Autoritäten stehen (13,9 mit 15,2 ff).
Mk 13,1-2: Ist Jesus gemeint? Die Notiz bei Flavius Josephus (Bell 6,300-309) über den Wahnsinnigen namens Jesus könnte eine stark entstellte Nachricht über Jesus von Nazaret sein. Darauf weist Folgendes hin: 1. Der Mensch heißt Jesus. – 2. Er kommt vom Lande, hält sich in der Stadt und am Tempel auf, und seine Botschaft betrifft den Tempel, und zwar dessen Untergang. Er ist das, was man einen Unheilspropheten nennt. Das ist deshalb bedeutsam, weil die Weissagung über die Zerstörung des Tempels (und der Stadt) der Hauptanklagepunkt gegen Jesus sein wird (Mk 14,58f). Eine andere Figur dieser Art ist aus dem 1. Jh. n. Chr. nicht belegt. – 3. Josephus schildert diesen Jesus als Wahnsinnigen (303: daimonioteron; 305: mania). So wird Jesus aber auch in den Evangelien eingeschätzt, und zwar auch von der eigenen Verwandtschaft (Mk 3,21), besonders aber von Juden (Beelzebul-Vorwurf; Joh 8,48). – 4. Er wird festgenommen und misshandelt (vgl. Lk 22,63f). – 5. Er sagt nichts zu seiner eigenen Verteidigung. – 6. Die jüdischen Oberen führen ihm zum römischen Landpfleger. Dort wird er gegeißelt. – 7. Bei der Geißelung fleht oder weint er nicht; er flucht auch keinem von denen, die ihn schlagen (vgl. Ethik der Gewaltlosigkeit
193 in der Bergpredigt). – 8. Er ruft nur: »Weh dir Jerusalem!« Die Weherufe sind bei Jesus eine ausgeprägte Gattung; er richtet sie gegen Städte und gegen die Gruppen seiner Gegner. Er klagt über Jerusalem: Lk 13,34 f; 23,27-31. Besonders aber Mk 13,1-2. Die Klage über Jerusalem ist die Wiederaufnahme von Jer 7,34; 13,27; 16,9. – 9. Als Termin des Auftretens wird ausdrücklich das Laubhüttenfest angegeben (vgl. Joh 7,3). – 10. Der Jesus nach Josephus ist ungebildet (vgl. Joh 7,15), kein Unterricht. – 11. Die Stimme, von der der Verrückte redet, soll seine Rede als Wort Gottes kennzeichnen (vgl. Joh 12,28). – 12. Auch auf die Frage nach seiner Identität antwortet er dem Landpfleger nichts (vgl. Mk 15,4). – 13. Die Frage nach dem Woher des Kommens (305) hat geradezu johanneischen Stil (Joh 2,9; 7,27 usw.). – Unterschiedlich ist hauptsächlich die Datierung: Josephus lässt den Unheilspropheten bis zur Zerstörung Jerusalems sein Wehgeschrei (Fachausdruck, griech.: threnos) äußern. Diese Unschärfen sind leicht vom Stoff her zu erklären: Wer über die Zerstörung Jerusalems prophezeit, kommt selbst dabei um. Wer konnte Interesse an dieser einseitigen Jesusdarstellung haben? Wohl am ehesten jene Kreise, gegen die schon Mk 13 gerichtet ist. Mk will zeigen: Mit dem Untergang Jerusalems haben Jesus und die Christen nichts zu tun. Jesus ist kein Magier und kein Unheilsprophet, dessen magisches Wort das unmittelbar drohende Unheil provoziert hat. Daher trifft Mk 14,58 auf ihn nicht zu. – Im Unterschied zu Mk 14,58 ist Mk 13,1f nicht in der 1. Person gehalten. Josephus dagegen stellt den genannten Jesus durchaus in diesem Sinne dar. Denn der Spruch des Unheilspropheten nach Josephus »Eine Stimme …« ist nach Regeln prophetischer Formen aufgebaut. Josephus schreibt selbst: »Da glaubten die Obersten, was ja auch zutraf, dass den Mann eine übermenschliche Macht treibe …« (303). – In der Nachfolge Jesu kommt es vielmehr darauf an zu leiden und zu dienen sowie den Retter vom Himmel, und niemand anderen, zu erwarten. Zu Mk 13,2 (vgl. 14,58): Beide Stellen bedeuten mehr oder weniger explizit eine Ankündigung der Tempelzerstörung. Man nannte das »Prophezeien gegen den Tempel« (gegen die Stadt, gegen das Volk); und seit Jer 26,20.23 gilt eine solche –
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194 von einem Falschpropheten ausgesagt – als Hinrichtungsgrund. So wird nach der zeitgenössischen Fassung der Prophet Jesaja zersägt, weil er in dieser Hinsicht Falsches und Ungünstiges über die Stadt geweissagt habe (Asc Jes 3,6: »Jesaja und die, die mit ihm sind, weissagen gegen Jerusalem und gegen die Städte Judas, dass sie verwüstet werden sollen … und er hat Jerusalem Sodom genannt … Und der König schickte und ließ Jesaja ergreifen.«). Offenbar ist also auch eine falsche Prophezeiung, ausgesprochen im Namen eines falschen Gottes, nicht ohne Wirkung, sonst müßte man den nicht beseitigen, der sie ausspricht. Die Wirkung ist wohl die eines Fluchs. Zutreffend ist wohl, dass man Stephanus dasselbe vorwirft wie Jesus (Apg 6,14). Nicht zutreffend ist m. E., den angeblichen Ausspruch Jesu nach Mk 14,58 mit seiner Tempelreinigung in Verbindung zu bringen. Denn wer den Tempel reinigt (z. B. von Händlern und Geschäftemachern), der will gerade nicht seinen Untergang, Zu Mk 13,20: Das apokalyptische Motiv der »Verkürzung der Tage« ist weit verbreitet. Denn Gott kann die letzten dreieinhalb Jahrwochen (Dan 9) auf dreieinhalb Jahre, Monate oder Tage verkürzen. Die wichtigsten Stellen sind Hen (äth) 80,2 (Verkürzung bedeutet für die Menschen Verzögerung; denn es dauert ja so scheinbar länger, bis die Saat reift etc.); Ps.-Philo, Buch d. bibl. Altertümer 19,13 (Zeiten von Gott verkürzt, Gestirne beschleunigt; denn Gott eilt, die Toten aufzuwecken). Das Motiv wird daher unterschiedlich eingesetzt. Vorausgesetzt ist wohl die Erfahrung, dass im Alter die Jahre schneller zu vergehen scheinen. Das wird nun auf das Alter der Welt übertragen. Gleichzeitig ist Verkürzung der Zeit Zeichen des Verfalls. Das Ziel der Verkürzung der Zeit zugunsten der Auserwählten könnte hier sein: deren schnelle Erlösung (wie in syr Bar 20; Ps.-Philo, Bibl. Altertümer 19,13: Gott eilt, die Toten aufzuerwecken, damit sie leben können) oder deren Bewahrung vor weiteren Versuchungen. Zu Mk 13,21f: Offenbar besteht auch noch im Adressatenkreis des MkEv (sonst würde Mk dieses nicht berichten) große Unklarheit darüber, ob Jesus verhüllt oder unverhüllt (visionär zu-
Das Evangelium nach Markus
gänglich) wiederkommen wird. Wird es wie beim ersten Mal sein, dass Jesus erst enthüllt, entdeckt werden muss (Joh 1,29-37)? Insbesondere wenn Jesus nur entrückt wurde, kann er als gewöhnlicher Mensch kommen; da er aber erhöht worden ist, kommt er in einer Theophanie vom Himmel. – Die Phänomene von 13,21f lassen erkennen, dass die Gegenseite noch einmal alles aufbietet. Diese Verunklarung macht eine Offenbarung vom Himmel her geradezu notwendig. Der wiederkommende Menschensohn wird selbst das Zeichen vom Himmel sein (Mk 8,11f). – Auch für das Ende steht noch einmal zur Diskussion: Kommt vorher dann noch Elia, ein anderer Prophet oder ein Prophet wie Mose? Die Antwort von Mk 13: Eine »Wiederkehr des Propheten in anderer Gestalt« nach klassischem Schema wird abgelehnt. Nichts kommt vorher, nur der Menschensohn selbst kommt direkt vom Himmel. Man kann das gut mit der johanneischen Christologie vergleichen: Nicht erst am Ende, sondern von Anfang an kommt Jesus »vom Himmel« bzw. »von oben«.
Mk 13,24-32: Zeichen des Endes Dass Sonne, Mond und Sterne kein Licht mehr geben und die Mächte ins Wanken geraten, die das Firmament tragen, bedeutet das Ende alles Vorstellbaren. Denn wenn es ganz dunkel wird und das Firmament nicht mehr droben ist, dann ist jede Möglichkeit der Orientierung vergangen. Der Zusammenbruch der Ordnung ist das Ende von Raum und Zeit und damit das Ende des Vorstellbaren. Mit wenigen Strichen gelingt die Darstellung des vollständigen Ordnungsverlustes. Wo aber das Vorstellbare zu Ende ist, tritt das Unvorstellbare ein: Der Menschensohn, den die Leser des Evangeliums als den gekreuzigten und auferstandenen Messias kennen, kommt auf den Wolken des Himmels. Jetzt ist die Macht (und Herrlichkeit) auf seiner Seite, während die des Kosmos erschüttert wurde. Die dingliche Welt ist vergangen; jetzt geht es nur noch um Personen, um den Menschensohn, seine Engel und die Auserwählten. Die Szene, die Jesus hier schildert, zeichnet er mit den Zügen der großen Menschensohnvision von Dan 7,13. Denn die Realität der Endereignisse ist nicht von dieser Welt, son-
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Kapitel 13
dern wie eine Mega-Vision nach dem Ende alles Vorstellbaren. Obwohl viele Ausleger diese Verse als Szene des Gerichts deuten, ist doch hier vom Gericht keine Rede. Der Menschensohn wird hier überhaupt nicht als der Weltenrichter geschildert (das ist er nach Mt 25,31 ff). Hier lässt er nur seine Auserwählten sammeln. Nur sie sind im Blick (vgl. auch Lk 17,34-37). Ähnlich ist es auch nach der wohl ältesten Parusieschilderung aus der Hand des Apostels Paulus in 1 Thess 4: Die Christen werden alle »mit dem Herrn zusammen« sein. So auch Mk 13: Durch das Einsammeln, das die Engel vornehmen, wird die Gemeinschaft der Glaubenden (»Auserwählten«) mit Jesus wieder hergestellt werden. Mk 13,31 (»… aber meine Worte werden nicht vergehen«) ist eine Bekräftigung der Wahrheit des Gesagten, und zwar gerade des positiven Gehaltes: Entscheidend ist nicht, dass Himmel und Erde vergehen werden (das hatten V. 24f gesagt), sondern dass Jesu Verheißung weit darüber hinaus reicht, nämlich bis hin zur Vollendung der Gemeinschaft mit ihm, dem Menschensohn. Insofern mahnt V. 31, das Ziel nicht aus dem Auge zu verlieren. In V. 32 (nur der Vater kennt die Stunde, auch nicht der Sohn) betont die strikte Verborgenheit des Termins trotz aller Bemerkungen in Mk 13. Weder die Verzögerung noch die Nähe ist zeitlich sicher anzunehmen. Alle Angaben, die aufgrund des vorangehenden Kapitels zu größerer Sicherheit über den Termin verhelfen könnten, entfallen daher als nutzlos. Zum Thema Apokalyptik wird regelmäßig übersehen, dass in allen apokalyptischen Texten des Neuen Testaments am Ende eine Aussage über die erneuerte und sehr innige Gemeinschaft mit Jesus steht, so etwa das Bild der Hochzeit in der Offenbarung des Johannes. Denn dass die Welt nicht ewig währt, dass sie auch im Ganzen vergänglich, weil zeitlich ist, das war zumindest bei einem Teil der Menschen der Zeit Jesu Allgemeingut, bis hin zum Weltbrand. Unklar war aber das Danach. Denn wer konnte schon darüber Genaueres sagen, was nach dem Ende der Welt geschehen werde? Der »Ausgang der Geschichte« ist für Christen gerade nicht »offen«, sondern es wird sein – so hoffen sie – wie damals, als Jesus mit seinen Jüngern zusammen war.
Denn was nützt alles andere, wenn man keine Hoffnung hat? Dass das ewige Leben in Gemeinschaft mit dem bestehen wird, den man aus dem Evangelium so gut kennt, und der so genau die Kriterien der Zugehörigkeit beschrieben hat, das tröstet in allen Ängsten. Zu Mk 13,30: Der Ausdruck »dieses Geschlecht« bzw. »diese Generation« ist mehrdeutig. Sind es die »Zeitgenossen« (im Sinne von: alle, die jetzt leben), oder ist es »dieses Geschlecht« im Sinne von »dieses böse Geschlecht«, »diese Sorte Menschen«? Und für die Naherwartung gilt: Aus der Ferne, von München aus, sind die Alpen bei Föhnwetter zum Greifen nahe. Auch wenn noch ganze Landschaften dazwischenliegen.
Mk 13,33-37: Das Gleichnis vom Türwächter Die Rolle des Türhüters ist der besondere Fall, der aus den Funktionen herausgegriffen wird, die der Hausherr bei seinem Weggang verteilt. An ihm macht Jesus deutlich, was für die Apostel und dann auch für alle Christen gilt, nämlich dass sie wachen sollen, weil der Herr jederzeit kommen kann. Jedenfalls soll es in dem Bild, das hier gebraucht wird, die Nacht sein, in der er kommt. Nun ist das sicherlich genauso bildlich zu nehmen wie das Wachen. Beides passt und gehört zusammen. In der Nacht schläft man üblicherweise. Und die Nacht steht für die ganze Zeit bis hin zum Kommen des Herrn. – Das verwundert nicht, denn die Nacht steht dem »Tag des Herrn« gegenüber. Wenn der Herr kommt, bricht das Licht seines Tages herein. Bis dahin herrscht das Dunkel der gegenwärtigen Weltzeit. In dieser Zeit schlafen die meisten Menschen, und das legt sich nahe; denn trotz Nacht etwas zu erkennen, ist sehr mühsam, zumal damals, zur Zeit Jesu. Die Menschen sind geradezu blind im Dunkeln. Sie wissen nicht, was Wirklichkeit ist und begnügen sich mit dem Kreatürlichen (Schlaf), das umfassender Ausdruck ihrer Schwäche ist. Daher ist der Schlaf auch in der philosophisch geprägten Umwelt Jesu das Bild für das normale Dahindösen der Menschen und ihre Genügsamkeit in Bezug auf Wahrheit. Wer es trotz Nacht auf sich nimmt wach zu bleiben, tut etwas, das den meisten Menschen
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196 als widernatürlich erscheinen muss. Er »simuliert« lange vor Tagesanbruch, mitten in der Nacht, die Situation des Tages. Er nimmt den Tag in gewissem Sinne vorweg. Denn er denkt nur an den Tag. Er will es nicht verpassen, wenn der Herr kommt. Freilich schildert Jesus nicht ausführlich das Kommen des Herrn, sondern der Ton liegt auf der Funktion des Türhüters jetzt. So gibt es wenigstens einen, der auf den Herrn wartet. Wie der Wächter aufs Morgenrot (Ps 130,6) hofft, erwartet er den Herrn. Er kann und will nicht schlafen, bis er endlich da ist. Jesus ist so unfein, so unhöflich, an diese Grundgemeinheit zu erinnern: Menschen müssen wachen, um ihr und anderer Leben willen. Gemein ist das deshalb, weil das Recht auf Schlaf zu den ganz elementaren Grundrechten des Menschen gehört. Auch hier ist das Neue Testament äußerst skeptisch gegenüber den lebensnotwendigen elementaren Vorgängen. – Das Wachen bezieht sich, wie auch sonst die Grundmotive der Sklaven-Gleichnisse, auf die Zwischenzeit bis zum Kommen des Herrn. Mk 13,34-37 ist das einzige wirkliche SklavenGleichnis bei Mk; 12,1-10 ist nur entfernt verwandt. In den typischen Sklaven-Gleichnissen sind folgende Züge konstitutiv: Im Gegenüber von Herr und Sklave(n) ist der Sklave eigenverantwortlich bis zum Kommen des Herrn am Ende. Denn der Herr ist jetzt nicht anwesend, er kommt erst zu einer bestimmten Zeit. Das eigentliche Thema ist stets die Bewährung des Sklaven in der Zwischenzeit; entweder ist ihm etwas anvertraut oder das unerwartete, plötzliche Wiederkommen des Herrn ist entscheidend für den Knecht. In diesen Fällen liegt alles daran, dass die Sklaven »wachen«. Haben sie sich bewährt in dem, was ihnen anvertraut worden ist, oder sind sie nicht in den Schlaf gefallen, wenn der Herr wiederkommt, werden sie belohnt (vgl. auch Himmelfahrt des Jesaja in Jes 4,16: »Und der Herr wird denen dienen, die in der Welt wachsam gewesen sind«). Es geht mehr oder weniger vollständig um vier Phasen: 1. Abreise des Herrn in die Abwesenheit;
Das Evangelium nach Markus
– 2. Übergabe von Aufträgen, Vermögen oder Vollmacht an die Sklaven; – 3. Verhalten der Sklaven in der Zeit der Abwesenheit des Herrn; – 4. Ankunft des Herrn plötzlich oder nach Verzögerung mit Belohnung oder Bestrafung der Sklaven. – Dieses Grundmuster hat folgende theologische Bedeutung: Die Sklaven bilden die Christen ab. Diese stehen wie jene in verbindlichem Dienst. Gegenüber ihrem Herrn sind sie persönlich verpflichtet (anders beim Gesetz als einer eher unpersönlichen Größe). Die Zwischenzeit erfordert Bereitschaft und Wachsein, Geduld im Ertragen der sich dehnenden Zeit, faires Verhalten gegenüber den Mitsklaven. Vollmacht und Aufgaben für die Jünger erfordern ebenso gehorsames wie phantasievolles Verhalten. Gefüllt wird dieses Grundschema u. a. auch mit dem Personal der jungen Frauen, die auf den Bräutigam warten, oder die Unbestimmtheit der Stunde wird mit dem Kommen des »Diebes« verschärft. Die Besonderheit von Mk 13,34-37 liegt in Folgendem: Nach 13,34b hat der Türhüter besonders hervorgehobene Vollmacht. 13,34a schildert den üblichen Vorgang, 13,34b die spezielle Pointe. Das bedeutet: Der Türhüter wird nicht von den anderen abgesondert oder über sie gestellt; die anderen Funktionen der übrigen Sklaven stehen nicht im Blick. Vielmehr schildert V. 34a die übliche Szene, V. 34b die besondere Konkretion, auf die es hier allein ankommt. Daher handelt es sich um das Gleichnis vom Türhüter. Denn der Türhüter ist für alle die zuständig, die zu später oder früher Stunde überhaupt am Haus ankommen. An ihm kann man das erkennen, von ihm kann man das lernen, worauf es hier ankommt: bereit zu sein für die Ankunft des Herrn, gerüstet zu sein für die Begegnung mit ihm. Die Pointe des Gleichnisses heißt daher: Seid wachsam wie Türwächter! Der Türwächter des Gleichnisses steht für alle Christen. Damit wird auch gewarnt vor einer Überraschung, die als unvorhergesehen nicht gut ausgehen kann.
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Kapitel 14
Mk 14: Der Anfang vom Ende Aufbau: Mk 14,1-31 ist im Aufbau Mk 11 sehr ähnlich. In beiden Fällen sendet Jesus je zwei Jünger voraus, die ganz selbstverständlich das finden, was dem Lehrer zusteht: den Esel nebst Füllen zum Einzug in Jerusalem und das Gemach für das letzte Mahl. In beiden Fällen beschreibt Jesus ganz genau, was die Jünger finden werden (zwei Esel, einen Mann mit Wasserkrug) und trägt ihnen ihre Frage genau auf. – Durch diese parallele Gestaltung gewinnt der Leser den Eindruck, dass es sich um konzentrische Kreise handelt, die mit vergleichbar wichtigen Ereignissen verbunden sind, nämlich mit der Inbesitznahme des Tempels bzw. dem Bundesmahl im Saal.
Mk 14,3-9: Salbung Jesu Eine vorweggenommene Totensalbung kennt das Judentum nicht. Wohl aber gibt es in antiken Biografien vor dem Tod der bedeutenden Person stets merkwürdige Ereignisse, die auf sein bevorstehendes, ansonsten unerwartetes Ende hinweisen. Man nennt diese Ereignisse biografische Prodigien, d. h. Vorzeichen. Je bedeutender die beschriebene Person ist und je unerwarteter das Ende, umso wichtiger sind derartige Prodigien. Das Weltbild im Hintergrund setzt voraus, dass nichts zufällig geschieht, dass die einzelnen Bereiche des Weltablaufs aufeinander verweisen und dass man, könnte man die Zeichen richtig deuten, sehr wohl künftige Ereignisse zuvor ahnen könnte. Grundsätzlich verwandt sind die apokalyptischen Vorzeichen, deren Sinn und Unsinn in Mk 13 diskutiert werden. – Die Extravaganz der großen Summe und die Antwort Jesu (Arme allezeit/mich aber nicht) weist darauf, dass die Frau Jesus als Gott ehrt. Daher auch das Amen-Wort in 14,9. Denn entweder ist Jesus ein Zyniker (das Geld hätte man doch gut für Arme ausgeben können) – oder er hat Recht. Im letzteren Falle ist keine Ehrung zu viel, denn sie gilt ja Gott. – Im Übrigen werden alle leiblichen Kontakte mit Jesus in den Evangelien Frauen zugeschrieben. – Dass es sich hier (wie auch in Lk 7,37-50) um Maria Magdalena handeln soll, hat man aus Joh 12,3-8 erschlossen.
Mk 14,12-16.22-26: Das letzte Abendmahl Warum wollte Jesus seinen Leib den Jüngern zu essen geben, warum wollte er, dass sie nicht nur an den Neuen Bund glaubten, sondern diesen durch Trinken aus dem Becher leibhaftig in sich aufnehmen? Wer so fragt, muss aus der Kenntnis der damaligen Zeit (1. Jh. n. Chr.) versuchen zu ergänzen, was die Texte so nicht sagen. Die Verklärung als die Szene auf dem Berg, in der offenbar wird, dass Jesus ab jetzt den Willen Gottes maßgeblich auslegt, entspricht dem anschließenden Bundesschluss in Mk 14,24. Dabei ist die historische Nachfrage wahrscheinlich töricht, ob Jesus sein letztes Mahl als Passahmahl gefeiert habe. Die Ähnlichkeiten sind zu gering. Es fehlt das Lamm, es fehlen die Bitterkräuter, die Nachfragen der Kinder, warum heute das Mahl anders gehalten wird als sonst. Es fehlt auch jede Anspielung auf Mose, den Würgengel, Ägypten und den Auszug. Die Unterschiede sind daher so massiv, dass man wohl von einer wirklichen Ersetzung (in ähnlichem Rahmen!) sprechen muss. Wenn man sich dazu entschließt, Jesu letztes Mahl dennoch als Passahmahl anzusehen, dann könnte es sein, dass Jesus mit der Institution Passahmal genauso verfährt wie mit der Institution Thora. Beide werden als Institutionen ohne Wenn und Aber bejaht. Doch ihr Inhalt wird kreativ, in Entsprechung zur neuen heilsgeschichtlichen Situation und nach Bedarf völlig neu gestaltet. Das Thema Bund ist nicht aus dem Passahmahl, sondern aus Ex 24,8 (Bundesschluss) eingedrungen. Dem »Wein« entspricht in Ex 24,8 die rote Flüssigkeit, auf alle Bundesteilnehmer verteilt. Dabei steht Brot für das Brot des Lebens, der Becher für den Bund, den Jesus seinen Jüngern als Erbe und Vermächtnis hinterlässt. Über das Brot sagt Jesus: »Das bin ich«, und damit fasst er sein ganzes Leben, seine Worte und Taten wie Lichtstrahlen mit einem Brennglas zusammen. Warum ist es sinnvoll, den Leib Christi zu essen? Es ist sicher hilfreich, für die Beantwortung dieser Frage auf Joh 6 zu blicken. Das ist nur für die ein Anachronismus, die mit einer strikten Abfolge der Evangelien der Art rechnen, dass das vierte Evangelium die drei anderen notwen-
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198 dig voraussetzt und gekannt hat. Wenn das nicht der Fall ist, darf man Joh 6 durchaus als Einführung in das Verständnis von Eucharistie begreifen, auch wenn die johanneische Gemeinschaft vielleicht gar keine Eucharistie gefeiert hat. Aber aus Joh 6 wird klar, warum man Jesus überhaupt als Brot feiern darf und warum das Essen dieses Brotes nicht nur Erkenntnis und Aufnehmen seiner Lehre bedeutet, sondern seiner selbst. Das Essen der Weisheit ist auch schon eine biblische Metapher, die in der Eucharistie nur ritualisiert würde. Aber wenn Jesus von seinem Leib redet, meint er gerade die Nicht-Ablösbarkeit seiner Lehre von seiner Person. Es geht um den leiblichen, lebendigen Kontakt mit ihm selbst, der Weisheit und Schöpfungslogos ist, aber in Person. Das ist und bleibt anstößig. Jesus ist nicht der Lehrer der Weisheit, sondern der menschgewordene Gott. Das ist eine andere Dimension, und deshalb sagt er »mein Leib«. – Und indem seine Jünger aus dem Becher trinken, den er gereicht hat, schließt er sie zum Bund zusammen. Dieser Bund wird am Kreuz geschlossen und im Abendmahlsaal vorweg ratifiziert; er wird umgesetzt, indem das Gottesvolk des Neuen Bundes Gottes Willen tut, wie es diesen aus dem Munde Jesu gedeutet erhält. Wenn Jesus den Jüngern hier definitiv seine Rolle als Heiland offenbart, als Brot des Lebens und als Mittler des Bundes, dann geschieht das sicher nicht, ohne dass die Jünger in dieser Schlüsselstunde an diesen Gütern teilhaben. Es wird auch gleich dazu gesagt, was geschieht, wenn man nicht Anteil haben will (Rolle des Judas). Denn Brot und Wein sind für sie gewiss nicht leere Symbole, die nur belehren wollen. Einen solchen Symbolbegriff (»nur symbolisch«) gibt es erst seit dem 16. Jh. – Die Fragestellung umzukehren hilft weiter: Welche Rolle spielt es denn, den Leib einer Person zu essen? Wir kennen das von der Weisheit: Sie zu essen (»die Weisheit mit Löffeln gefressen«) bedeutet größtmögliche Aneignung. Nur wird das, was in der Weisheitsliteratur metaphorisch gemeint ist, im Neuen Testament zum Ritus (»Ritualisierung von Metaphern«).
Das Evangelium nach Markus
Mk 14,26-31: Jesus und Petrus Die hier beschriebene Szene nach dem letzten Mahl und vor Getsemani ist in einer besonderen Gruppe von passionsdidaktischen Texten weiter entfaltet; dazu gehören das Tanzlied aus den Acta Johannis (Berger/Nord, Das Neue Testament, 62005, 1349 ff) und das »Unbekannte Berliner Evangelium« (ebd., 926 ff) sowie das »koptische Fragment Straßburg« (ebd., 673 ff). In allen diesen Texten erklärt Jesus den Jüngern den Sinn seines Leidens. Die Jünger antworten regelmäßig mit »Amen«. Das auch in Mk 14,26 angedeutete Singen des Hymnus spielt eine große Rolle. Vergleichbar ist ebenso die Funktion des häufig unterschätzten Abschnitts 14,26-31. Zum Aufbau: Im Rahmen werden alle angesprochen (14,27), und alle reagieren (14,31b). Zweimal widerspricht Petrus seinem Herrn (V. 27b und 29; 30 und 31). In Joh 13,37f steht das Jesus-Wort am Schluss. – Der Text gehört der Gattung nach zu den Testamenten, wie sie besonders in den Testamenten der Zwölf Patriarchen (TestXII) vorliegen. Dazu gehört die Vorhersage gemeinschaftlichen Versagens (Abfallen), ebenso die Vorhersage der Zerstreuung (sonst: in die Diaspora) und schließlich die Vorhersage der Wiederaufnahme der Beziehung (V. 28). Alle drei Phasen finden sich in den Ausblicken in die Zukunft in den TestXII Nach TestJud 22,1 wird Gott selbst aktiv handeln wie in Mk 14,27. – Der Sprachgebrauch dieser Tradition (z. B. TestLevi 16,5: Zerstreuung, bis er selbst sich wieder um euch kümmert) ist hier in das Zitat von Sach 13,7 eingedrungen. Die Gestalt des Zitats ist nicht durch LXX zu erklären, sondern durch die Gattung der Abfalls- und Wiederannahme-Vorhersagen. – Die Vorhersage in der Abfolge von Abfallen, Zerstreutwerden und Wiederzuwendung ist daher aus der Literatur der Testamente übernommen. Insofern ist die Szene Fortsetzung des Abendmahls, das ja gleichfalls testamentarischen Charakter hat. Für den Inhalt bedeutet das: Die Zwölf stehen hier wirklich für Israel, denn auf dieses bezieht sich das genannte testamentarische Schema stets. Dadurch wird auch die These bestätigt, dass Aussagen über die notwendige Schrifterfüllung stets auf Israels Geschick im Ganzen bezogen sind. – Die Wiederzuwendung
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Kapitel 14
Gottes zu Israel ist auch die Sammlung. – Zu den Texten über Abfallen und Wiederzuwendung: TestXII; TestRub 6; TestSim 5,4; TestLevi 16,1-5; TestJuda 18,1; 22,1; 23,1; TestIss 6,1-4; TestSeb 9,6-9. Im Licht dieses Abschnitts stellt sich die Passion Jesu wie folgt dar: Da Sach 13,7 mit Gott als Subjekt vom Schlagen des Hirten spricht, erscheint die Passion Jesu hier (und nur hier) als Bestrafung Israels durch Gott. Die Flucht der Jünger liegt auf der gleichen Linie. Das heißt: Weil Israel Jesus nicht folgte, wird es durch Entzug des Messias und Zerstreuung seiner Jünger bestraft. (Anders Barn 5,11f: »Wenn sie [d. h. die Juden, die schon die Propheten verfolgt haben,] ihren Hirten schlagen, gehen die Schafe der Herde zugrunde.« D. h.: Die Juden haben die Wunden an Jesu Körper verursacht, deswegen hat Jesus die Leiden ertragen). In Sach 13,7 MT ist vom Strafgericht gegen den Hirten und die Kleinen die Rede (das Targum: Gegen den König und den Prinzen, seinen Gefährten, der ist wie er). Da hier die Rede vom Ärgernis ist, das die Jünger (bei Sach: die Kleinen) nehmen werden, dürfte in Sach 13,7 der Ursprung der Rede vom Ärgernis sein, das man den Kleinen nicht geben darf. Es handelt sich daher um eine Schriftauslegung. – Die Auferstehung Jesu und die Begegnung mit den Jüngern danach erfüllen den klassischen Topos der Wiederzuwendung Gottes zu seinem Volk! Zu Mk 14,31: In der Briefliteratur ist das Mitsterben (mit Jesus) ein wichtiger systematischer Topos (2 Tim 2,11f; Röm 6,3f; 2 Kor 7,3).
Mk 14,32-42: Im Garten Getsemani Aufbau: Die Basisopposition des Abschnitts besteht nach der Einleitung (V. 31-34) zwischen V. 35 (»Er fiel auf den Boden«) und V. 42 (»Richtet euch auf! Gehen wir!«). Zwischen der Demonstration der Schwäche und der Stärke liegt V. 38 mit dem Wendepunkt. Dem Kontrast zwischen Schwäche und Stärke in der Erzählung entspricht der Kontrast zwischen Fleisch und Geist in Mk 14,38. Bestimmend für die Pointe des Textes ist der Kontrast zwischen dem betenden Jesus und den
199 schlafenden Jüngern. Auch die Formulierung des wichtigen Verses 38 weist darauf hin, dass Jesus hier als Vorbild der Jünger in ähnlichen Situationen gezeichnet wird. Die drei schläfrigen Jünger sind ähnliche Kontrastfiguren wie im weiteren Verlauf der Passion Judas und Petrus. Das Negativ-Beispiel der Jünger steht vor der allgemeinen Jüngerbelehrung auch in Mk 8,32 f.34-38 (Petrus und Leiden Jesu); Mk 9,18bf.28-29 (Unfähigkeit zu Exorzismen); 10,13-14a.14b-15 (Jesus und Kinder); 10,17-22.23-31 (reicher Jüngling); 10,35-40.41-45 (Jakobus und Johannes, Dienen); Lk 22,24.25 (Jüngerstreit). Die Szene in Getsemani bildet mit anderen Berichten und Notizen über Jesu Versuchung einen eigenen biografischen Strang in den synoptischen Evangelien. Dem JohEv ist das Thema völlig fremd. Denn die synoptischen Evangelien schildern Jesus als Typus des idealen Christen (inklusive Taufe und Versuchung); im JohEv ist gerade das nicht der Fall, denn Jesus wird weder getauft (nicht in Joh 1,29-34) noch versucht. Im JohEv ist Jesus nicht Vorbild der Jünger, sondern die Gabe Gottes in Person. Zu Mk vgl. besonders 1,13 und 8,33. An beiden Stellen »Satan«, das Verb »versuchen« in Mk 1,13; 14,38. Versuchungen sind typisch für den Neu-Initiierten, besonders also nach der Taufe. Das zugehörige Wortfeld umfasst die Stichworte »Bewährung« (griech.: dokim-), Versuchung, Drangsal, Geduld (griech.: hypomen-), Satan. Für Christen besteht die Versuchung in der Gefahr des Rückfalls in das »alte Leben«. – Das Bestehen jeder Versuchung wird »belohnt« (Offb 2,10; Jak 1,12: Krone des Lebens; Lk 22,29f: Sitzen auf Thronen; 1 Petr 1,6f: Lob und Herrlichkeit; Mk 1,13: Dienst durch Engel, Immunität gegen Bestien). Nach Lk 22,29f kennzeichnen Versuchungen das gesamte Leben Jesu. Die Jünger haben mit Jesus darin ausgeharrt. Lukas geht daher davon aus, dass die Versuchung (Lk 4,1-13) nicht die einzige war. Nach dem Kontext in Lk 22 bestanden die Versuchungen regelmäßig im Missbrauch der eigenen Vollmacht zugunsten eigener Macht-Interessen. – Die Versuchung Jesu nach Mk 14 besteht in der eigenen Leidensscheu. Da Jesus Vorbild der Jünger ist, zeigt er ihnen in Mk 14, dass Versuchungen dieser Art durch Gebet überwunden werden können. Die christologische Pointe besteht darin: Jesus
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200 ist nicht der leidensfreie Held, der über sich selbst verfügt; doch durch den Kontakt mit Gott im Gebet versteht er es, das Leiden zu ertragen. Zur theologischen Bedeutung: Das MkEv zeichnet selbst diesen Bericht dadurch aus, dass die drei besonderen Offenbarungszeugen Petrus, Johannes und Jakobus mit Jesus mitgehen (vgl. Verklärung und Auferweckung der Jairus-Tochter). Doch das entscheidende Geheimnis bekommen die Jünger gar nicht mit, da sie schlafen. Das Ereignis von Getsemani ist damit wie die Auferstehung Jesu selbst den Jüngern unzugänglich. Denn es handelt sich um das Geheimnis der »Bewältigung des Leidens«. Was in Mk 8,32f als Versuchung im Denken der Jünger erscheint, der sie erliegen (»Satan!«), hat Jesus schon in Mk 8 durch eben die Titulierung des Petrus als Satan selbst als Versuchung begriffen. In Mk 8 ist es noch eine Denk-Versuchung, in Mk 14 eine physisch durch Zittern und Todesangst erfahrene. Aus der Versuchung der Jünger ist vollends eine massive Versuchung Jesu geworden. Damit aber wird das Thema von Mk 8,32f wieder aufgenommen. Und auch jetzt versagt Petrus, indem er mit den beiden anderen Jüngern einschläft und damit erneut dem Thema Leiden nicht gewachsen ist, ja dessen Lösung durch den Gebetskampf nicht mitbekommt, was sein Ableugnen in der Passion direkt erklärt. Das dreifache Einschlafen (14,37.40.41) entspricht dem dreifachen Versagen des Petrus in der Passion. Immerhin gibt Jesus in der Aufforderung »Wachet und betet« in 14,38 ja das Resultat seines Kampfes an die Jünger weiter. Eine Beziehung ergibt sich auch zu Mk 13: Denn dort wird angesichts der drohenden Ankunft von Pseudo-Christussen wie hier zum Wachen und Auf-sich-Achten aufgefordert. Sind die Pseudo-Christusse ebenfalls solche, die nicht leiden wollen? Zu Mk 14,36: Die Anrede »Abba, Vater« findet sich nur hier im Munde Jesu (nicht bei Mt und Lk). Es ist unverständlich, weshalb man dann, von dieser Stelle ausgehend, diese Anrede zum exklusiven Merkmal von Jesusworten machte. Die paulinischen Belege (Röm 8,15; Gal 6,4) zeigen, dass diese Gebetsanrede auch und gerade bei Heidenchristen üblich war. Die an allen drei
Das Evangelium nach Markus
Stellen gebotene Form »Abba, Vater« könnte erklären, warum das so ist: Sie entspricht der Anrede in griech. Gebeten »Zeus, Vater« und ist eine Analogiebildung dazu. Der Grund: Die Heidenchristen werden gefragt haben, wie denn der Gott der Christen heiße. Auch die hebr. Bibel kannte einen Namen für Gott. Die Septuaginta wie die Christen heute haben dergleichen nicht nötig; denn wenn die Einzigkeit feststeht, genügt die Anrede mit »Herr, Gott«. So wie die Alternativen andere Götter sind, muss dieser Gott aber einen Namen haben. Die Gebetsanrede »Abbinu« (»Unser Vater …«) ist aus den zahlreichen aramäischen Gebeten in den Targumen bekannt. Dieses ist der Boden, auf dem man Abba als Anrede und Gottesnamen verstehen konnte. Analog zu »Zeus, Vater« hat der Name für kurze Zeit unter Heidenchristen »Karriere gemacht«. Umstritten ist das, was Gott »will«. Wo immer es in den Evangelien um den Willen Gottes geht, handelt es sich um das, was Menschen tun sollen, nicht um das, was sie (von anderen!) erleiden sollen. Wendet man diese Einsicht auf diese Stelle an, so ergibt sich: Nach dem Willen Gottes soll er – soweit wir das aus dem erschließen können, was Jesus nachher tut – nicht weglaufen, sich nicht wehren, vielmehr geduldig ertragen, seiner Sendung treu bleiben. Der Wille Gottes ist demnach aber nicht, dass Dritte Jesus quälen, foltern und kreuzigen. Das alles lässt Gott, ohne einzugreifen, zu. Aber es ist nicht sein Wille, den Jesus erleiden muss. Es geht weniger um »Fügung« in Gottes Willen, als vielmehr um ein Minimum von Aktivität bzw. Nicht-Tun. Formgeschichtlich ist der Passus »Aber nicht, was ich will …« die für Gebete typische Selbst-Erniedrigung des Beters (griech.: tapeinosis). – Größte Nähe: Paralip Jeremiae 1,6 (Bitte Baruchs: »doch ist es dein Wille, so …«). – Andere Möglichkeit: Leiden als Gottes Wille nach 1 Petr 3,17; 4,19. Zum Heiligen Geist (vgl. hier die anschließend folgenden Hinweise zu V. 38) besteht ein Zusammenhang: Past Herm, Mand 11,8 (Wer das göttliche Pneuma hat, ist demütigen Sinnes). Zu Mk 14,38: Die Verbindung »Wachen und Beten« weist in die Nähe der Sklaven-Gleichnisse (Wachen als die Art der Vorbereitung auf das Kommen des Herrn in der Zwischenzeit). Wörtlich vgl. Eph 6,18; Kol 4,2; Lk 21,36; 5 Esra 2,13
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Kapitel 14
(erbittet für euch, dass es nur noch wenige Tage sind [vgl. Mk 13,20b], für euch ist das Reich [Gottes] schon bereitet, seid wachsam!). Die Verbindung von Wachen und Beten stammt aus der jüdischen Praxis, frühmorgens zum Gebet in den Tempel zu gehen; das entsprechende Wort für früh aufstehen/wachen ist griech. orthrizein. – Vgl. Buch des Thomas (kopt): »Wachet und betet, dass ihr nicht im Bereich des Fleisches bleibt, sondern dass ihr der bitteren Fessel des Lebens entkommt, und wenn ihr betet, werdet ihr Ruhe finden.« Mahnungen zu wachen finden sich bei Mk nur in Mk 13,33-37 und hier (14,38), beide Male also in abschließender (testamentarischer) Position. Das ist auch sonst typisch für urchristliche Texte: Apg 20,28.31 (Testament des Paulus an die Epheser); 1 Kor 16,13 (Abschluss des Briefes); 1 Petr 5,8 (Schluss des Briefes); Eph 6,18; Kol 4,2; 1 Thess 5,6.10; Didache 16,1. Auch im MtEv gibt es das Wort »wachen« nur zwischen 24,42 und 26,41 (in 24,42f; 25,13; 26,38.40f). Das heißt theologisch: Wachen, auf sich achten (Apg 20,28; 2 Petr 3,15.17) oder sich hüten stehen in abschließenden Mahnungen und bedenken die Zeitspanne ohne den Lehrer, der spricht. Wenn dieser nicht mehr sorgen kann, müssen die Jünger selbst auf sich achten. Der jeweilige Text begreift sich als ein Stück der Endzeit. Gleichzeitig belegt der Vers für Mk singulär die Anteilhabe an der für die Evangelien seltenen (vgl. aber Joh 3,6; 6,63), für Paulus dagegen typischen (vorpaulinisch wohl sicher in Röm 1,3) theologisch gewichtigen Verbindung von »Fleisch« und »Geist« (griech.: sarx – pneuma). An keiner der Stellen ist die Verbindung anthropologisch zu verstehen. Überall geht es um den Bereich der kreatürlichen Schwäche, Anfälligkeit und Sterblichkeit einerseits und den Bereich der göttlichen Kraft, Vitalität und des ewigen Lebens andererseits. Das Gebet ist hier und anderswo die entscheidende Möglichkeit, gegenüber der kreatürlichen Hinfälligkeit an Gottes Vitalität Anteil zu erhalten (vgl. die Texte über die Verbindung von Gebet und Geist, z. B. Eph 6,18; Judasbrief 20; Lk 3,21f;11,2 [Hss.].13; Röm 8,26-28). Alle genannten Verbindungen (wachen und beten, Fleisch und Geist, Beten und Geist) sind typisch (wenn auch nicht exklusiv) christlich
201 und können gerade wegen der Kombination in Mk 14,28 Wesentliches zur Frage der »Spiritualität Jesu« beitragen. Das Gebet bedeutet persönlichen Kontakt mit der himmlischen Welt. Beten ist immer beides: Bitte um den Geist und geistgewirkt. Wer das weiß, kann leichter beten. Angst und Leiden lassen sich leichter überwinden, wenn Gottes Geist im Spiel ist. – Zu Gebet und Versuchung vgl. auch das Vaterunser mit Mt 6,13; weitere Querverbindungen: Relativ eng sind die Beziehungen von Mk 14 zu 1 Petr 5,6-10: Selbst-Erniedrigung (Mk 14,36b [Gattung]; 1 Petr 5,6); wachen (1 Petr 5,8; Mk 14,38); Teufel/Versuchung/Glaube [= Wortfeld Versuchung] (1 Petr 5,8f; Mk 14,38); Leiden/übergeben werden zur Passion (1 Petr 5,9; Mk 14); stärken (1 Petr 5,10; Mk Verlauf [Lk 22,43 stärken]); Sorge auf den Herrn werfen (sc. im Gebet/Beten; 1 Petr 5,7; Mk 14,38). Schon länger diskutiert wird die Beziehung von Mk 14,32-39 zu Hebr 5,7: Fleisch/Tage des Fleisches (Mk 14,38; Hebr 5,7); Beten/Bittgebete und Flehrufe (Mk 14,32.35.38f; Hebr 5,7); Gott vermag, vermag alles (Mk 14,35f; Hebr 5,7: Gott vermochte ihn zu retten); aus dem Tod (sc. retten) (Mk 14,36; Hebr 5,7); Versuchung (Mk 14,38; Hebr 4,15 im direkten Kontext). Beziehung zwischen Mk 14,38 zu Eph 6,13-16: Geist (Mk 14,38; Eph 6,17f); wacht und betet (Eph 6,18; Mk 14, 38); Stehen/Widerstehen/ Glaube/der Böse (Mk 14,42; Eph 6,13f). Zu Joh 12,23-26 siehe dort. Auswertung: Die engen Beziehungen zu 1 Petr, Eph und Hebr beziehen sich auf das Thema Wachen und Beten im Kontext von Versuchung und Bewährung des Glaubens. Jesu »Versuchung« wird im Kontext dieser allgemeineren typischen Situation gesehen (und umgekehrt). Die Situation ist jeweils ähnlich, die sprachlichen Instrumente, sie zu beschreiben stehen bereit. (Ergänzung siehe S. 1051) Zu Mk 14,58: Angenommen, Mk 14,58 wäre ein echten Jesuswort, dann gälte: Der Ich-Stil rührt aus prophetischer Gerichtsvollmacht in persona dei her. Die erste, negative Hälfte hätte ihre Entsprechung in den in seiner Echtheit unbezweifelten Wort ThomasEv 71. Die zweite, positive Hälfte bezöge sich auf den mit Geisterhand erbauten neuen Tempel. Über solche mächtigen Geister ge-
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202 bot schon Köng Salomo bei der Erbauung seines Tempels. Diese Geister sind jetzt am Boden des Roten Meeres gefesselt und warten auf die Ankunft des Messias, der ihnen gebieten und mit ihrer Hilfe den neuen Tempel errichten kann. Nimmt man beide Hälften metaphorisch, so kann es sein, dass der Prophet eine Unheilszeit und eine nachfolgende Heilszeit verkündigen will. – Der Evangelist Mk musste das Wort auf jeden Fall für beide Hälften als unecht bezeichnen, konnte Mk 13,1f aber als Jesuswort annehmen, weil er jede aktive Einbindung Jesu in irgendein Unheil verhindern wollte. In Mk 13,1f steht dies schon beschrieben. Das darf sein. – Wer fälschlich oder zum Unheil gegen Jerusalem prophezeit, hat den Tod verdient: Jer 26,20-24.
Mk 14,62-65: Der Christus-Titel Der Abschnitt gibt eine deutlich pneumatologisch-prophetische Deutung und Füllung des Christus-Titels. Eine militärische Deutung scheidet völlig aus. Der Christus-Titel ist zu neutestamentlicher Zeit vieldeutig und bezeichnet lediglich eine wichtige Gestalt der Endzeit. In Qumrantexten (z. B. 11QMelch kennt den Gesalbten des Geistes) und auch sonst handelt es sich um eine prophetische Figur. In der Frage Mk 14,62 ist deshalb »Christus« durch »Sohn des Hochgelobten« präzisiert. Sohn Gottes aber ist Jesus im Neuen Testament stets durch den Besitz des Heiligen Geistes. Wegen Jes 61,1f nenne ich das eine prophetische Interpretation des Christus-Titels. Darauf, dass diese auch in Mk 14 vorliegt, weisen zwei Fakten: In 14,65 wird Jesus zum Spott aufgefordert: »Prophezeie« (Berger/Nord: »Du bist doch ein Prophet, sag, wer hat dich geschlagen?«). Prophezeien aber ist Merkmal eines Propheten. Außerdem wird Jesus beschuldigt, Gott gelästert zu haben. Deswegen reißt sich der Hohepriester die Kleider vom Leib (das Zerreißen von Leinengewändern wäre wohl über seine Kräfte gegangen); denn wer einer Lästerung beigewohnt hat, dem »hängt sie in den Kleidern« (wie vormals Zigarettenrauch nach einem Bar-
Das Evangelium nach Markus
besuch). Die Lästerung aber liegt deshalb vor, weil mit dem markinischen Anspruch auf Gottessohnschaft eben der Geistbesitz beansprucht wird. Damit aber geht es um das Phänomen der Sünde wider den Heiligen Geist. Wer den Heiligen Geist jemandem zuspricht, der ihn nicht hat, lästert genauso Gott wie einer, der ihn jemandem abspricht, der ihn hat. Deshalb ist Mk 14,62-65 nur die Retourkutsche zu Mk 3,23-30. Denn wenn es um Inspiration geht, gibt es nichts Drittes, Neutrales, sondern entweder ist jemand vom Heiligen Geist inspiriert oder vom Satan. Eine Falschzuschreibung aber ist tödlich, eben unvergebbare Sünde. Denn dann prallt das falsche Wort, die falsche Zuordnung von dem fälschlich identifizierten Träger ab und trifft nach dem Bumerang-Prinzip den ursprünglichen Sprecher. Lästern aber ist hier, den Heiligen Geist als Teufel zu bezeichnen und umgekehrt. Auf Gotteslästerung aber steht die Todesstrafe. – Wenn also Jesus beansprucht, Gottes Sohn zu sein, aber nach Ansicht seiner Gegner den Geist Gottes gar nicht hat, dann lästert er Gott. Denn der Heilige Geist ist die ultimative Präsenz Gottes (vgl. Apg 5,3). Die Gegner Jesu teilen daher die pneumatologischen Voraussetzungen des Urchristentums. In diesem Sinne ist auch noch ThomasEv 13 zu verstehen (»Wenn ich euch eines der Worte sage, die er mir gesagt hat, werdet ihr Steine nehmen und auf mich werfen, und Feuer wird kommen aus den Steinen und euch verbrennen.« Thomas wird demnach zunächst als Lästerer betrachtet werden und gesteinigt werden. Die wahren Lästerer sind aber die, die ihn steinigen wollen. Daher werden sich ihre Steine gegen sie selbst wenden.); PetrusApk (kopt) NHC f. 3: »Hier wirst du nur gelästert, gepriesen aber, wo man dich kennt.« D. h.: Hier hält man Petrus für einen Nicht-Pneumatiker, im Himmel wird er aber gegenteilig eingestuft. Die sorgfältigen Umschreibungen »Sohn des Hochgelobten« und »zur Rechten der Macht« sollen sicherstellen, worin die Lästerung jedenfalls nicht liegt. Sie liegt auch nicht im üblichen Gebrauch des »Sohnes Gottes« etwa in SapSal 5.
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Kapitel 14
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Die Passionsberichte Gemeinsamkeiten der Passionsberichte in den vier Evangelien Verhaftung (Judas); Ohr des Sklaven des Hohenpriesters; Verhör (Stichwort: Hoherpriester); dreifache Petrus-Verleugnung; Übergabe an Pilatus (Joh: Prätorium). Gemeinsam: »Bist du der König der Juden?«; Verhör durch Pilatus; Pilatus findet keine Schuld; Barabbas-Szene; Geißelung, Dornenkrone, Verspottung als König der Juden (keine Entsprechung zu Mk 15,16-20a; parr bei Lk); Übergabe zur Kreuzigung (griech.: paredoken); Gang zur Kreuzigung (Joh: Jesus trägt den Kreuzesbalken selbst; Synoptiker: Simon v. Kyrene); Kreuzigung; Teilen der Kleider; zwei Banditen; Verspottung des Judenkönigs am Kreuz; Essig zu trinken; Kreuzesinschrift (»Der König der Juden«); letzte Worte Jesu am Kreuz (unterschiedlicher Inhalt: Mk und Mt: »Wozu hast du mich verlassen?«; Lk »Vater, in deine Hände …«; Joh: »Es ist vollbracht«; PetrusEv: »Meine Kraft, o Kraft, du hast mich verlassen«); Tod Jesu; Maria von Magdala als Zeugin; Bitte um Überlassen des Leichnams an Pilatus und Begräbnis durch Josef v. Arimatäa. – Größere Besonderheiten der Markus-Passion gegenüber Mt und Lk gibt es nicht. Das theologische Konzept der Markus-Passion Durch die Voranstellung von Mk 13 (»übergeben« und »vor Königen stehen zum Zeugnis« in V. 9) gehört die Mk-Passion zwar nicht zu den Endereignissen im engeren Sinn, wohl aber zu den apokalyptischen Wirren in deren Vorfeld. Das dominierende Thema des Passionsberichts ist Jesus als der leidende Gerechte. Als solcher wird er versucht, bekennt er sich als Menschensohn und lässt an sich Ps 22 und Ps 69 in Erfüllung gehen. Sowohl durch die Art, in der Jesus die Versuchung in Getsemani und am Kreuz besteht, als auch durch sein Zeugnis vor dem Hohenpriester wird Jesus zum Vorbild der Christen auf ihrem Weg. Das Versagen von Judas, Petrus und allen Jüngern steht im Kontrast dazu. – In beiden Verfahren seines »Prozesses« schweigt Jesus und setzt damit die Thematik der Verhülltheit aus dem Evangelium fort. Der Name »König der Juden« taucht bei Mk erst in der Passion auf, und zwar erst dann, als
Jesus bereits Pilatus ausgeliefert worden ist. Damit wird nach Mk erst ab hier der Fall Jesu auch politisch. – Verspottet wurde Jesus noch als »Prophet« (Mk 14,65). Die beiden großen Verhörszenen führen indes zu demselben Ergebnis. Juden und römische Heiden plädieren für die Todesstrafe. Beide Adressatenkreise des MkEv sind durch ihre Obrigkeit repräsentiert. Weil Jesus der leidende gerechte Messias ist, also ein bedeutsamer Mensch, gibt es auch Prodigien bei seinem Tod (Finsternis, Vorhang des Tempels). Der heidnische Hauptmann unter dem Kreuz formuliert den Epitaphios: »Wahrhaftig, dieser war Gottes Sohn.« Das bedeutet: Mit dem Tod Jesu kündigt sich der Übergang des Evangeliums zu den Heiden an (vgl. auch Mk 12,1-10). Eine mögliche Deutung des Todes Jesu als Sühnetod (für die Sünden Israels oder der Gläubigen) gibt es in der Passion nach Mk nicht. Der einzige Text, der infrage kommen könnte, ist Mk 10,45 (vgl. dazu aber oben zu dieser Stelle). – In Mk 14,27f wird die Passion gedeutet als Bestrafung Israels an seinem Hirten (s. ebd.). Gemeinsamkeiten der Verhörszenen in Mk 14 und 15 Verhör Jesu vor der Obrigkeit (priesterlich: Hoherpriester; staatlich: Pilatus); Frage an Jesus (»er/sie fragte[n] ihn« – »Bist du + Titel [Christus, Sohn Gottes/der König der Juden]?«); bejahende oder nicht verneinende Antwort Jesu (14,62a: »ich bin es«; 15,2c: »du sagst es«); wiederholte, ergebnislose Frage an Jesus (14,61b; 15,4a); Reaktion auf Jesu Antwort (Abstreifen der Kleider, Vorwurf der Lästerung; Anklage durch den Hohenpriester); Misshandlung Jesu (Mk 14,65: Anspucken, Schlagen, Ohrfeigen; Mk 15,15: Übergabe zur Geißelung); Verspottung Jesu je nach Titel (Mk 14,65: »prophezeie«; 15,1620: Königstitel). – Beide Berichte kennen an unterschiedlichen Stellen die Notiz, dass Jesus auf Anklagen hin schweigt, und eine Frage an Jesus, warum er gegenüber den jüdischen Anklagen schweige (14,60: auf das Falschzeugnis wegen Tempelzerstörung hin; 15,4: auf die Anklage des jüdischen Hohenpriesters hin). Fazit: Die beiden Verhörszenen sind erkennbar
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204 parallel gestaltet. Tendenz: Im Unterschied zum jüdischen Hohenpriester wird Pilatus geschont. Das entspricht der allgemeinen Tendenz des MkEv.
Mk 16,1-8: Die Auferstehung Der Gattung nach geht es um eine Verbindung von Ossilegium (Suche nach dem Leichnam im Grab) und Angelophanie (Engelerscheinung). Die Suche nach dem Leichnam bleibt erfolglos. Der Engel verkündet aber den Frauen, dass Jesus nicht dort ist, wo sie ihn suchen, sondern dass er auferstanden und daher »im Himmel« ist. Insofern ist der Kontrast zwischen Himmel und Erde im Gegensatz von Grab und dem Wo des Auferstandenen ausgeprägt. – Eine verwandte Darstelung von Ossilegium und Vision kennt auch das »Testament des Hiob«: Hiob sucht das Grab seiner verstorbenen Kinder auf und wird darüber aufgeklärt, dass seine Kinder als leuchtende Sterne am Himmel stehen. Diese visionär umgesetzte Metapher bedeutet zumindest, dass Hiobs Kinder nun ewig bei Gott leben. Von Auferstehung mag der Text nicht reden. Dass die Seelen (vor allem gerechter Menschen) zu Sternen werden, ist dem hellenistischen und auch dem jüdischen Denken nicht fremd. Der Unterschied zur Auferstehung ist beträchtlich und nicht zuzudecken. Bedeutend an TestHiob sind indes auf jeden Fall die Entdeckung des leeren Grabes und die Erklärung des Verschwundenseins durch Entrückung. In Mk 16 dagegen wird nicht der himmlisch verwandelte Jesus geschaut. Vielmehr ist zwar eine Entrückung Jesu vielleicht vorauszusetzen. Aber betont wird, dass der Tote (Gekreuzigte) lebt. Und statt Entrückung nennt der Engel lediglich, dass der Auferstandene und Lebendige auf dem Weg nach Galiläa sei. Das aber wird als Erfüllung von Jesu eigener Ankündigung verstanden, wie sie in Mk 14,28 nachzulesen ist. Insofern ist die Botschaft »Er ist auferweckt worden« (16,8b) nur ein erster Schwerpunkt der Neuigkeiten. Die Frauen sollen nur den Jüngern bestätigen, dass Jesus (als Auferweckter) das tut, was er ihnen verheißen hat. Letztlich dient die Botschaft des Engels dazu, den Frauen (und späteren Christen) deutlich zu machen, dass derjenige, der in Galiläa erscheinen
Das Evangelium nach Markus
wird, wirklich Jesus selbst ist. Ausweislich der übrigen Evangelien war diese Frage ja das Hauptproblem, bis hin zu den Wundmalen, die Thomas nach Joh 20 zu sehen bekommt. Wenn Jesus es aber selbst gesagt hat, und zwar vorher, dass er in Galiläa erscheinen wird, dann ist ein unumstößliches Argument für die Identität des Erscheinenden mit Jesus gegeben. Das Problem des Textes ist zum einen, dass im fortlaufenden Markustext von einer solchen Erscheinung dann nichts berichtet wird (wohl aber im sekundären Markusschluss (Mk 16, 9-20 und in Mt 28). Zum anderen ist wirklich gravierend, dass die Frauen den Befehl des Engels zum Weitersagen nicht befolgen. Daher erfahren wir von der ganzen Geschichte nur durch den Evangelisten Markus. Und so ist es wohl auch den ersten Lesern und Leserinnen des MkEv ergangen. Um den peinlichen Ungehorsam der Frauen aus Mk 16,1-8 auszugleichen, ist u. a. der so genannte sekundäre Mk-Schluss gebildet und an das Evangelium angehängt worden. Immerhin berichtet dann wenigstens Maria Magdalena ihren Freunden von ihrer Christus-Erscheinung (V. 9). Aber zunächst ist vor allem Mk 16,8 als sicher anzunehmender Schluss des ursprünglichen MkEv anzunehmen. Möglichkeiten der Deutung a) Die Furcht der Frauen rührt aus der Erscheinung des Engels und seiner göttlichen Botschaft, die alle ihre Erwartungen sprengt. Anders als in den üblichen Engelerscheinungen sagt der Engel nämlich nicht »Fürchtet euch nicht!«, sondern lässt sie schlotternd und zitternd stehen. Die Botschaft »erschlägt« die Frauen und macht sie im umfassenden Sinne des Wortes sprachlos. Ihre Angst wäre dann als Begleitphänomen der Offenbarung zu deuten. b) Das Schweigen der Frauen adelt die Leser des Evangeliums. Denn ihnen wird damit die entscheidende Geschichte anvertraut. Jetzt kann diese publik werden. Ähnlich wie beim Revelationsschema sind die ultimativen Träger des Geheimnisses auserwählt. c) Ähnlich wie beim Messias-Geheimnis könnte die Einsicht der Frauen in eine zentrale Wahrheit des Christentums auch hier (wie bei Petrus nach Mk 8,33) Ängste hervorrufen, die aus der Erwartung rühren, dass die Menschen, insbeson-
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Kapitel 16
dere die nicht-christlichen Juden, ihre Botschaft nicht gerade freudig und gerne aufnehmen werden, sondern deren Trägerinnen verspotten und verfolgen. Denn sich zu dieser Tatsache zu bekennen, wäre ein Bekenntnis zur Hoheit und Würde Jesu. Stephanus wird nach Apg 7f deswegen gelyncht werden, weil er Jesus als den Auferstandenen sieht. Und wie Lk 24,11 berichtet, bestand der Botenlohn für die Frauen, die von der Angelophanie am Grab berichteten, selbst bei Aposteln aus Hohn und Spott. Die Frauen nach Mk 16,8b werden wohl Ähnliches erwartet haben, und zwar vielleicht sogar von anderen Christen, nämlich den männlichen Jüngern Jesu selbst. d) Das Schweigen der Frauen ist für den Evangelisten des MkEv eine Art Begründung dafür, weshalb er hier »mit neuen Geschichten kommt«, die zuvor total unbekannt waren. Er schafft aber, wie schon angedeutet, durch diesen Bericht und diese Notiz das fehlende Bindeglied zwischen der Tradition vom leeren Grab und den nachösterlichen Erscheinungen Jesu vor den Jüngern. In Mk 16,9-20 werden diese dann auch prompt geliefert. e) Ich möchte die These vertreten, dass womöglich alle diese vier Pfade zur Deutung von Mk 16,8 nebeneinander bestehen können. f) Zugleich bin ich nach wie vor der schon 1976 vertretenen Meinung, dass die Berichte in Mk 16,9-20 gar nicht so obskur und »sekundär« sind, wie oft behauptet wird. Ich halte es aus traditionsgeschichtlichen Gründen für ausgeschlossen, dass der Verfasser dieser Zusatzberichte sich diese wahrheitswidrig ausgedacht haben könnte und damit dem MkEv und seiner Glaubwürdigkeit einen Bärendienst erwiesen hätte. Denn es geht insgesamt um altes Material aus dem 1. Jh. Zur Theologie von Mk 16,1-8 Menschliche Trauer braucht einen Ort, an dem der Tote oder die Tote irgendwie leibhaftig gegenwärtig ist. Deshalb werden seit der ältesten Steinzeit Menschen begraben. Das Grab ist nicht nur ein Zeichen der Erinnerung, sondern mehr. Hier ist der tote Mensch nicht »verschwunden«. Hier lernen wir dann langsam zu begreifen, was dieser Tod und was der Tod überhaupt ist. Hier ist der Ort, an dem die Liebe immer wieder Brü-
205 cken baut. Deshalb ist es für die Frauen am Grab in Mk 16 die bitterste Enttäuschung, dass der tote Jesus dort gerade nicht (mehr) ist, wo er sein könnte und sein müsste. Die ersten Worte des Engels bedeuten daher eine furchtbare Nachricht: dass Jesus gerade nicht mehr da ist, noch nicht einmal als Leichnam. V. 6 ist daher von einer ungeheuren Spannung erfüllt: der Spannung zwischen dem Gekreuzigtsein Jesu und seinem Auferwecktsein. Denn auferweckt werden nach jüdischer Auffassung makellos Gerechte. Gekreuzigt aber werden, besonders wenn man Dtn 21,23 hinzunimmt, Straffällige, Verbrecher und Verfluchte, nach der Auslegung in den Qumrantexten Verräter. Dass also ein Gekreuzigter auferweckt worden sein soll, ist daher völlig unglaublich. Denn von den Toten auferwecken, das kann nur Gott, und zwar dann, wenn er selbst völlig unvorhersehbar in die Geschichte eingreift. Eine eigene und ganz spezielle, ganz persönliche Aktion Gottes zugunsten eines verfluchten Verbrechers stellt also alles Begreifen auf den Kopf. Ist doch Auferweckung Toter das herrlichste Tun Gottes. Mk 16,1-8 ist aber auch im Ganzen ein Text der enttäuschten Erwartungen, der grundlosen Überraschungen und des nicht Vorausahnbaren. Das gilt für jede einzelne Stufe der Ereignisse: Die Frauen wollen Jesus salben – aber es kommt nicht dazu. Sie überlegen miteinander, wer den Stein, der das Grab verschließt, hinwegrollen soll. Aber der Stein ist längst weggerollt. Das ist umso verwunderlicher, als der Stein eine ganz beträchtliche Größe aufweist. Die Frauen erwarten, in die friedhöfliche Einsamkeit zu kommen, aber sowie sie in das Grab hineingehen, müssen sie bemerken, dass sie nicht allein sind. Sie hatten erwartet, außer ihnen gäbe es nur den toten Jesus. Stattdessen erleben sie einen lebendigen Engel und erfahren zudem, dass auch Jesus nun Anteil hat an dieser Art ewiger Lebendigkeit, die sie dem Engel ansehen können. Die Frauen könnten denken, der Engel habe nun eine besondere persönliche Offenbarung für sie – vielleicht so wie einst bei der Erscheinung Gabriels, durch die Maria zur Muttergottes wurde. Doch nichts Persönliches kommt für sie bei dieser Begegnung heraus. Sie werden nur zu Briefträgerinnen gegenüber den Aposteln. Sie hätten des Weiteren denken können, dass sie den Jüngern die Osterbotschaft
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206 im Wortlaut ausrichten sollten. Aber nichts davon. Sie sollen vielmehr nur ausrichten: »Er geht euch nach Galiläa voraus, und dort werdet ihr ihn sehen, wie er es euch gesagt hat.« Nach Mk 14,28 hatte Jesus den Jüngern tatsächlich Derartiges gesagt. Aber schon in 14,28 ist die Auferstehung nicht die hauptsächliche Neuigkeit, durch sie ist lediglich der Zeitpunkt bestimmt (der terminus a quo), denn der Satz beginnt: »Nach meiner Auferweckung …«. Die Auferweckung ist daher nicht die Hauptbotschaft, sondern nur das Ereignis, nach dem Jesus nach Galiläa vorausgehen wird. Dieses ist der Brennpunkt der künftigen Ereignisse. Und dieses ist auch der sehr erhebliche Grund dafür, weshalb der Evangelist Markus oder ein späterer Evangelist den so genannten sekundären Markusschluss hinzufügte. Aber bevor wir weiter über das angekündigte Sehen Jesu in Galiläa nachdenken, müssen wir unsere Beobachtungen zu Mk 16,1-8 vertiefen. – Dominant ist zweifellos das Thema »Sehen«, und zwar implizit nach V. 2: die Sonne ist schon aufgegangen – das sieht man, V. 4: die Frauen sehen, dass der Stein schon weg ist, V. 5: sie sehen einen jungen Mann in leuchtendem Gewand, V. 7: die Jünger werden Jesus sehen. Sodann hat eine überragende Bedeutung das Thema Ort und Ortsveränderung: V. 1.2 berichten vom Gang zum Grab, nach V. 5 gehen die Frauen in das Grab hinein, nach V. 6 wird den Frauen gesagt: Jesus ist nicht hier, seht den Ort, wohin man ihn gelegt hat. Laut V. 7 geht Jesus nach Galiläa voraus, nach V. 8 entfernen sich die Frauen fluchtartig vom Grab. – Durch diese Orts- und Zielangaben ist der Text von Mk 16 daher voller dramatischer Bewegtheit. In der alten Ostersequenz »Victimae paschali Laudes« des Hermann von Reichenau (10. Jh.) ist noch eine deutliche Spur davon erhalten (Dic nobis Maria, quid vidisti in via?, auch hier das Ende: resurrexit Christus spes mea, praecedet von in Galilaeam). – Entscheidend aber ist, dass Jesus an dem Ort, wohin man ihn gelegt hat, nicht mehr ist. So allein wird die Botschaft »er ist auferweckt worden« konkret. Denn durch den Hinweis: »Seht die Stelle, wohin man ihn gelegt hat« wird die Offenbarung des Engels wie eben durch ein Zeichen legitimiert. Das Verschwundensein des Leichnams ist das Zeichen, das allein die Glaubwürdigkeit der Botschaft be-
Das Evangelium nach Markus
stätigen kann. – Die theologische Pointe der Offenbarung liegt darin, dass nicht gesagt wird, an welchem Ort sich Jesus denn nun jetzt befindet. Dass er von Gott auferweckt wurde, weil allein Gott so etwas kann, hat auch die Konsequenz, dass der Auferstandene nun zu Gott entrückt wurde und dass sein Ort nun in Gott bzw. bei Gott ist. – Damit aber wird der Ausleger auf ein lange völlig unbeachtetes Thema gestoßen: Wo ist Gott, welches ist der Ort Gottes und was bedeutet es, leibhaftig (wie der Auferstandene) bei Gott zu sein? Denn eines ist klar: Weil das Grab leer ist und weil diese Leere als Beweisgrund für sein Auferwecktsein genannt wird, kann Auferstehung hier nur als die Auferweckung des Leibes verstanden worden sein. – Für viele moderne Exegeten liegt hier der Punkt des Anstoßens, ähnlich erging es aber nach Apg 17 schon den Hörern des Apostels Paulus in Athen. Eine »nur geistige« Auferstehung meint man, sich vorstellen zu können, als ob Geist hier einfacher wäre als Leib. In Wirklichkeit kann es für jüdisches Denken Auferstehung oder Entrückung nur leiblich geben – oder eben gar nicht. Aus neutestamentlicher Zeit bestätigt das nicht nur Offb 11,8.11f, sondern auch das leere Grab der Kinder Hiobs nach dem »Testament des Hiob«. Fragt man noch genauer nach, so erhält man die Antwort: Auferweckung meint nicht ein ideelles Überleben, sondern ein sehr leibhaftiges. Die Brücke zur sterblichen Leiblichkeit ist die Verwandlung. Wie aber Verklärte/Verwandelte bei oder in Gott sind, entzieht sich unserer Kenntnis. Daher bricht der Satz des Engels in Mk 16 mit V. 6, also an der spannendsten Stelle, ab. Schließlich geht es in Mk 16,1-8 auch um eine tiefgreifende menschliche Erfahrung. Nach 16,1f kommen die Frauen trauernd zum Grab (implizit). Nach 16,5 geraten sie außer sich vor Staunen beim Anblick des Engels. Nach 16,6 muss ihnen der Engel sagen: Geratet nicht in Staunen. Nach 16,8 sind sie ergriffen von Zittern und Schrecken (Außersichsein). Sie sind in solch panischer Furcht, dass sie nicht nur fliehen, sondern auch vor Angst und Schrecken schweigen. – Von irgendeiner Art Osterfreude ist nicht die Rede. Liest man den Text als Religionsgeschichtler, so ist evident, dass es sich um tiefgreifende Schreckensreaktionen auf eine Theophanie handelt. Klar ist auch, dass diese nicht durch das Aus-
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Kapitel 16
sehen des Engels hervorgerufen wird, sondern vor allem durch das, was nicht mehr da ist: durch den Horror des Verschwindens des Toten. Folgende weiteren Aspekte aus diesem Abschnitt sind vielleicht erhellend: Liste der Frauen Mk 16,1 bietet eine Liste mit drei Namen urchristlicher Frauen, von denen Maria Magdalena und Salome auch sonst weithin bekannt sind. Diese Liste nimmt Mk 15,47 auf (zwei Frauen) und bezieht sich auch auf die Liste Mk 15,40 (drei Frauen als Zeuginnen der Kreuzigung, darunter Maria Magdalena und Salome); lediglich Lk 8,2f bietet aus dem Leben Jesu Vergleichbares. Mithin geben Listen mit Frauennamen Auskunft über die Zeuginnen der zentral wichtigen Ereignisse im Leben Jesu (Tod, Begräbnis, leeres Grab). Vergleicht man diese Listen mit 1 Kor 15,5-8, so wird folgende These möglich: 1. Bei diesen Frauen-Katalogen handelt es sich um Listen mit den Namen frühchristlicher Prophetinnen. Denn Augenzeugenschaft und späteres Auskunftgeben (Bezeugen) sind zentrale Funktionen von Prophetinnen. Wie die Listen in 1 Kor 15 stehen sie für die verlässliche Verankerung der Botschaft der Gemeinden. Tod am Kreuz, Begräbnis und Auferstehung betreffen in den Prophetinnen-Listen in Mk 15f die ganz zentralen Fakten des Lebens Jesu, ähnlich wie die Auferstehungsvisionen nach 1 Kor 15 die Fortsetzung des »Evangeliums« nach 15,3 sind. Wichtig ist dabei die der Entsprechung zwischen den Listen in 1 Kor 15 (Männer) und in den synoptischen Evangelien (Frauen). 2. Diese Prophetinnen unterscheiden sich von den in 1 Kor 15 genannten Männern dadurch, dass sie keine »amtlich«-autoritative Funktion hatten. Sie waren eben nicht »Apostolinnen«. Aber durch ihr Zeuginnen-Amt im MkEv leisten sie den frühen Christen unersetzliche Dienste. 3. Während »Galiläa« (vgl. auch Mt 28,16) der Wirkungsort der in den Berichten wie z. B. in den Listen von 1 Kor 15 genannten Männer ist, könnten diese Frauen weiterhin zentrale Figuren zum Beispiel der Urgemeinde in Jerusalem gewesen sein. Ihr Verständnis von Autorität unterschied sich sicher von dem der Männer, und zwar hinsichtlich der Aufgaben Dienst, Gebet, Prophezeien.
207 4. Es könnte auch sein, dass der Evangelist Markus selbst mit 16,8 abbricht, um jede Gefährdung der allein gültigen Lehre Jesu durch andere männliche Autoritäten auszuschließen. In diesen Zusammenhang gehört dann Mt 23,8 (einer ist euer Lehrer). Auch der Dienst der Frauen bezieht und beschränkt sich schon nach Mk auf die immerhin zentralen Fakten von Tod, Begräbnis und Auferstehung Jesu. Über dieses Bezeugen hinaus haben sie keine weitere erkennbare Funktion, doch ihre Rolle am Anfang wird ihnen sicher lange und weithin große Achtung eingebracht haben. Das Lehren dagegen hat der Evangelist schon für Jesus bzw. für seinen Bericht über Jesus (Evangelium) »reserviert«. 5. Es könnte aber auch sein, dass Galiläa ein Codewort ist für den Gesamtzusammenhang »Heidenmission Richtung Europa«, ähnlich wie Babylon für Rom. Denn der Ausdruck »Galiläa der Heiden« ist längst geläufig (Mt 4,15). 6. Der »sekundäre Markusschluss« dient daher kirchenpolitisch dem Ausgleich mit der Geltung männlicher Kirchenführer in »apostolischer« Tradition. Auferweckung als Geheimnis Glücklicherweise gibt es zu Mk 16,1-8 im Petrusevangelium IX-XIII (Berger/Nord, 675ff) eine Art Gegendarstellung, die die Eigenheiten von Mk 16 deutlich hervortreten lässt. Denn im PetrusEv ist der gesamte Bericht über die Auferstehung Jesu in allen Elementen auf Öffentlichkeit bezogen. »Eine Menge Leute« aus Jerusalem kamen am Sonntagmorgen aus Jerusalem. Sie und vor allem die Wachsoldaten am Grab werden Zeugen des Vorgangs der Auferweckung selbst. Sie sehen Jesus mit zwei Engeln aus dem Grab kommen und zum Himmel hinaufgehen. Die zahlreichen Zeugen gehen noch in der Nacht zu Pilatus, um ihm zu berichten. Sie bitten ihn, er möge dem Hauptmann und den Soldaten befehlen, nichts von dem weiterzusagen, was sie gesehen haben. Im MkEv überwiegt stattdessen der fortgesetzte (d. h. das Messias-, Wunder-, Leidens- und Gleichnisgeheimnis fortschreibende) Ansatz, die Auferweckung Jesu konsequent als Geheimnis zu behandeln. Die einzigen Menschen, die aktiv vorkommen, sind die drei Frauen in der friedhöflichen Einsamkeit des Sonntagmorgens. – Der Vor-
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208 gang der Auferstehung wird nicht geschildert. Der Vorgang der Auferweckung ist damit ins Unsichtbare und Vergangene gerückt. Die Frauen ihrerseits folgen dem Befehl zum Weitersagen ausdrücklich nicht. Durch ihr Schweigen bleibt der Vorgang der Auferweckung bis zur Niederschrift des MkEv geheim. Das heißt: Die Auferweckung Jesus wird keineswegs als weltbewegendes Geschehen inszeniert. Es findet sich noch keine Spur von ihrer späteren Bedeutung als Mitte des Kirchenjahres, ja als Mitte der Zeiten. Ignatius v. Antiochien behält Recht mit seiner Meinung, die großen Ereignisse des Lebens Jesu seien der Gegenseite verborgen geblieben (An die Epheser 19,1). Damit aber entsteht eine Brücke zu den Worten aus der Menschensohntheologie bei Mk, in denen Leiden und Auferweckung des Menschensohnes angekündigt werden. Man beachte: Der »Menschensohn« ist ein apokalyptisches Rätselwesen. Geheim bleibt, auch wenn er spricht, wer er ist, mit wem er identisch ist. Auch Jesus redet deshalb nur in der dritten Person von ihm. Insofern gehört insbesondere der öffentlichkeitsferne Charakter von Mk 16 mitten in die geheimnisvolle Welt von Menschensohn und Äonenwende. Mk bleibt damit seinem Ansatz treu, die Geheimnisse Jesu darzustellen. Der wenig prunkvolle Charakter von Ostern bestätigt das Selbstverständnis der markinischen Christen: Sie sind eine verschworene Gemeinschaft von Geheimnisträgern. Und es gilt: So lange, wie das Christentum es verstand, die eigenen Anfänge als Teile des tiefsten Geheimnisses aller Zeiten darzustellen, so lange konnte es auch noch keine Klagen über nicht eingelöste Versprechen (im Rahmen der Theodizee-Frage) geben. Doch Mk 16 zeigt: Zumindest die Leidensweissagungen Jesu sind genau eingetroffen. Das ist eine enorme Stütze für den Glauben insgesamt. Denn auf dem Weg von der Niederlage zur Bestätigung ist jeder Schritt riskant.
Mk 16,9-20: Erscheinungen des Auferstandenen Der Aufbau der Erscheinungsberichte (eine Frau, zwei Jünger, die elf Jünger) entspricht überraschend dem Aufbau in Mt 28; Lk 24; Joh 20 sowie weiteren altchristlichen Texten (Epistola
Das Evangelium nach Markus
Apostolorum, Syrische Didaskalie, Acta Thaddaei) und im Prinzip auch 1 Kor 15 (1-12-500: Erscheinungen vor Petrus, dann den Zwölfen, dann vor mehr als 500), nur dass dort die Frauen fehlen. Wichtig ist das Prinzip der zahlenmäßigen Ausweitung. Wenn Frauen vorkommen, werden sie zuerst genannt. Ihr Zeugnis wird dann durch die später genannten Zeugen bekräftigt. – Wo den Jüngern die Botschaft nur mitgeteilt wird (auch Mk 16,10.13), kommt eine Manipulation ihrerseits nicht in Betracht. Nach Lk 8,1-3 gilt das Prinzip der doppelten (männlichen wie weiblichen) Zeugenschaft schon für Jesu Erdendasein. Ähnliche Funktion hat auch das Prinzip der Lieblingsjünger (Petrus, Johannes, Jakobus nach den Synoptikern oder der »Lieblingsjünger« nach Joh). Auch Kollektivvisionen haben ihre biblische Vorgeschichte (vgl. K. Berger, Auferstehung, 1976, 164). Die Zwölfzahl von Zeugen findet sich auch in hellenistischen Vertragstexten und lange danach in der Justiz. – Die jeweils letzte Erscheinung ist – jedenfalls für die jeweiligen Adressaten – die entscheidende (das gilt ebenfalls für Thomas nach Joh 20). Das Prinzip der drei Erscheinungen gilt auch für PetrusEv 3545. Oft wird der – ebenso für die Leser wichtig gewordene – Auftrag bis zum Ende aufgehoben und erst dann berichtet. Weitere Möglichkeiten der Deutung a) In Mk1 6,14-20 ist der dreistufige Aufbau in sich durch »erscheinen« und »glauben« gebunden. b) Mk16,9b (sieben Dämonen) bringt Informationen, die wir nur aus dieser Stelle wissen. Dass auch Jesus anfänglich intensive Begegnung mit der Gegenseite hat (Versuchungen), war sicher ein verbindendes Element zwischen Jesus und Maria Magdalena. c) Mk 16,12 »in anderer Gestalt« ist nur hier berichtet und weist in die hellenistische Epiphanietradition. Nach Lk 24 dagegen liegt es nicht an Jesu Gestalt, dass die Jünger ihn nicht erkennen, sondern daran, dass »ihre Augen gehalten waren«, d. h. es lag an ihnen. Eine andere Gestalt annehmen zu können ist Merkmal von Göttern und Himmelswesen. d) Mk 16,14: Jesus erscheint den Jüngern beim Mahl. Das entspricht (wie auch sonst viel Material in diesem Abschnitt) besonders Apg.
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Kapitel 16
e) Mk 16,16 entspricht weitgehend Mt 28,1820, doch wird hier weniger als bei Mt nur an die Menschen gedacht (»in die ganze Welt« – »jeglicher Kreatur«). Der doppelteilige Schluss in Mk 16,16 heißt in der Formgeschichte »Doppelschluss«. Derartige Sätze bilden oft das Ende einer Rede (vgl. K. Berger, Formen und Gattungen, 2005). f) Mk 16,17f nennt einen ganzen Katalog von Wunderzeichen der Jünger. Davon gibt es die »neuen Sprachen« nur hier, ebenso die Unschädlichkeit von Schlangen- und anderen Giften (vgl. die spätere Legende über Johannes den Evangelisten [Giftspinne im Kelch; vgl. zu Apg. 2,811]). Nach Apg 2,8.11 handelt es sich bei den »neuen Sprachen« vielleicht um als fremdartig empfundene Sprachen neu zu gewinnender Christen. g) Mk 16,19 liefert einen eigenständigen Himmelfahrtsbericht. Im Unterschied zu Apg 1 (nur 1,2.11.22) und Lk 24 wird hier das Verb
209 (griech.) analambano (hinaufnehmen) und vor allem die Zielangabe berichtet (zur Rechten Gottes, d. h. auf seinem Thron als der besonders Geehrte). Im Übrigen ist durch den Abschluss mit diesem Himmelfahrtsbericht das ganze Stück als testamentarische (Abschluss-)Rede Jesu gerahmt. Ähnlichkeit besteht zur Einfügung in 16,14 im westlichen Text. Denn die Mission ist Kundgebung und Verwirklichung der durch Jesus und sein Wirken mehrfach belegten Tatsache, dass die Herrschaft Satans nun zu Ende ist. h) Zu 16,20: Die Versicherung von Mitsein und Beistand entspricht Mt 28,20. Fazit: Der so genannte sekundäre Markusschluss enthält viele vertraute Motive aus den Anfängen der christlichen Missionsgeschichte und ist zugleich eine Brücke in die Welt der apokryphen Apostelgeschichten (Acta Apostolorum Apocrypha).
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Das Evangelium nach Lukas
Kommentare: Ambrosius v. Mailand (4. Jh.).– Beda Venerabilis (vor 735). – Albertus Magnus (1200). – Hugo v. St. Cher (vor 1264). – P. J. Olivi (vor 1295, ed. 2010). – Nicolaus Lyranus (vor 1349). – Dionysius Carthusianus (vor 1471). – Faber Stapulensis (1521). – Erasmus v. Rotterdam (1523). – J. Agricola (1525). – Broickwy (1539). – I. Soarez (1578). – A. Marloratus (vor 1550). – D. Stella I-II (1592). – Iohannes Piscator III (1638). – A. de Sanseverino
(1663). – Paulus Tossanus (1665). – J. de Sylveira (1697). – L. Brugensis (1712). – Reynardus toe Laer, I-III (1749). – J. J. Wettstein (1752). – Cornelius Jansen (1791). – A.-J. Liagre (1889). – J. Weiss (1892). – J. Wellhausen (1904). – M.-J. Lagrange (7. Aufl. 1948). – G. Schneider I-II (1984). – F. Bovon I-III (1989-2001). – H. Schürmann I-II (1990/1994). – J. Ernst (1993). – D. L. Bock (I-II) (1994-96). – M. Wolter (2008).
EINFÜHRUNG Datierung Es ist davon auszugehen, dass Evangelium und Apostelgeschichte von demselben Autor, den wir Lukas nennen, verfasst sind. Es ist ferner davon auszugehen, dass das Evangelium zuerst, die Apg danach verfasst wurde. Die Apg endet mit dem Bericht über die Ankunft und Lehrtätigkeit des Apostels Paulus in Rom. Von seinem Martyrium in Rom ist noch nicht die Rede. Da man als Datum seiner Hinrichtung das Jahr 68 n. Chr. als Terminus ad quem betrachtet, muss Lukas beide Werke vor 68 n. Chr. abgeschlossen haben. Da Lukas aber überhaupt von Paulus in Rom berichtet, legt sich das Jahr 66 n. Chr. als terminus ad quem der Entstehung beider Schriften nahe. Dagegen erhebt sich scharfer Widerspruch, besonders von Seiten aller, die bislang für eine Spätdatierung des Lukas votierten. Entscheidend für die Spätdatierung ist das Jahr 70 n. Chr. (Zerstörung des Tempels in Jerusalem). Denn Lukas verarbeite diese Zerstörung Jerusalems bei der Redaktion des Evangeliums z. B. in Kap. 21 (und anderswo). Außerdem sei Lukas extrem staatsfreundlich und habe daher über ein Martyrium des Apostels Paulus einfach nichts berichten wollen. Nun hat man festgestellt, dass die angeblich sekundären Eintragungen aus der Zerstörung Jerusalems nur sehr allgemeine belagerungstechnische Kenntnisse verraten, nicht aber Spezialkenntnisse aus dem Jahre 70. Das generelle Problem, das damit berührt ist, betrifft die so genannten vaticinia ex eventu in
ihrer Bedeutung für die Evangelienforschung. Ein derartiges Vaticinium wäre die fälschende Eintragung späterer Ereignisse in (Berichte über) frühere Aussprüche nach dem Motto »Jesus hat das alles gewusst«, obwohl er es gar nicht habe wissen können. Die Hypothesen über derartige Vaticinia sind seit Beginn des 19. Jh. generelles Arbeitsmaterial der Exegeten. Dazu gehörten z. B. angeblich alle Voraussagen Jesu über seinen bevorstehenden Tod. Doch der schwere Vorwurf der Geschichtsfälschung wäre nur zu rechtfertigen, wenn man wirklich nachweisen könnte, dass Jesus von seinem Tod nichts geahnt hat. Aus vielen realen Lebensverläufen ist auch heute noch das Gegenteil bekannt, und antike Biografien berichten häufig von Vorahnungen oder Prodigien. Angesichts der verbreiteten Tradition vom gewaltsamen Geschick aller Propheten in Jerusalem (vgl. dazu: O. H. Steck, Israel und das gewaltsame Geschick der Propheten, Neukirchen-Vluyn 1967) war es kein Kunststück, sich ein Martyrium Jesu vorzustellen. Gleiches gilt für die Zerstörung Jerusalems. Joh 11,48 berichtet ausdrücklich von verbreiteter Furcht, und die genannte Tradition über die Propheten sieht auch die Zerstörung Jerusalems vor. In Wirklichkeit ist in keinem einzigen Fall die Verfälschung zu einem vaticinium ex eventu erweisbar oder auch nur wahrscheinlich. Dass schließlich Lukas wegen Anbiederung an die Römer das Martyrium des Paulus wahrheitswidrig unterdrückt habe, ist bei einem Autor
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Kapitel 1
nicht recht wahrscheinlich, der in Lk 1,1-4 einen so hohen Anspruch auf Gründlichkeit, Informiertheit und Überlieferungstreue behauptet. Bei seinem solchen Verfahren hätte Lukas sich doch vorstellen müssen, dass Leser in Kenntnis des Martyriums dann sein Buch höhnisch zur Seite legten und für erledigt erklärten. Auch sonst verschweigt Lukas die Leiden der Gerechten keineswegs (vgl. Stephanus) und betont diejenigen Züge am Martyrium Jesu, die realistisch das Leiden betonen. Kurzum: Es gab keinen Grund, Leiden oder Martyrium des Apostels Paulus zu verschweigen. Und generelle Leidensfreiheit hätte Lukas nach allem, was er in Apg berichtet hat, kaum als besonderen Sieg des Christentums ausgeben wollen. – Auf jeden Fall hätten aber die Leser doch unbedingt wissen wollen, was aus dem Apostel Paulus geworden sei. Denn das Lebensende ist für jede Art biografisierender Darstellung unumgänglich wichtig. Auch wenn Lukas mit der Apg die Gründungsgeschichte der
römischen Gemeinde(n) schreiben wollte, wäre doch ein Martyrium nichts Ehrenrühriges. – Dabei bleibt richtig, dass Lukas die Christen vom Vorwurf, sie schürten Aufstände und Unruhe, gerne ausnehmen möchte (Lk 23,2; Apg 24,5). – Die Fülle der Thesen über den angeblichen Frühkatholizismus des Lukas, der eben erst um die Wende zum 2. Jh. denkbar sei, halte ich für ideologisch bedingt und – obwohl immer alles möglich bleibt – für widerlegbar. Fazit: Ich halte es für wahrscheinlich, dass Evangelium und Apostelgeschichte des Lukas vor 68 n. Chr. entstanden sind. Entstehungsort Ich halte Ephesus wie Rom für möglich. – Dass die Bevorzugung von Petrus und Paulus für die spätere Kanonizität der Apg wichtig war, habe ich versucht darzustellen (K. Berger: Die Urchristen, 2008, 390 ff).
KOMMENTAR Lk 1-2: Von Anfang an … Lk 1,1-4: Proömium Lukas versteht sich als antiker Historiker. Er bezieht sich bescheiden auf Vorgänger, auf Augenzeugen, die von Anfang an dabei waren. Er will die Ereignisse der Reihe nach beschreiben, damit der Leser einsieht, alles sei wohlbegründet. – Lukas setzt Akzente: Die Vorgänger haben »versucht« darzustellen; die Ereignisse haben sich »erfüllt«, d. h. sie waren historisch vorbereitet; »überliefert« wurden die Ereignisse oder die Darstellungen; »Augenzeugen« waren bisher ab Jesu Taufe erschlossen worden – Lukas wird weiter in die Vergangenheit zurückgehen. Augenzeugen im umfassenden Sinne von zwölf Zeugen gibt es freilich erst ab 6,12 f. »Der Reihe nach« (V. 3b) bezieht sich auf die zeitliche Anordnung des Stoffes, sodass sich ein logisches Ganzes ergibt – und eine Qualitätsfolge: Augenzeugen – viele Darsteller – Lukas. Lukas nennt die strengsten Kriterien, die in seiner Zeit je für Historiker galten: Quellen sind Augenzeugen seit Anbeginn, freilich nur solche,
die sich durch Dienst an der Botschaft als glaubwürdig erwiesen haben. Ferner will Lukas von Anfang an und der Reihe nach alles darstellen. Der Anspruch des Lukas ist also sehr hoch; die zahlreichen antiken Parallelen zu Sätzen wie Lk 1,1-4 hat man stets als Ausweis der Seriosität gewertet; nur bei Lukas wollte man das für eine lange Zeit nicht tun. Galt er doch als der frühkatholische Verräter am Evangelium. Inzwischen hat sich die Einschätzung leicht gebessert.
Lk 1,5 – 2,52: Kindheitsgeschichte Die Frage, wer jemand ist, wird für die Antike beantwortet durch die Art, in der sich Anfang und Ende seines Lebens gestalten (zum Unterschied: bei uns durch Beruf und Lebenspartner); dem Anfang sind die Vorzeichen zugeordnet, dem Ende die Apotheose (Verherrlichung, Sitz im Himmel). Zu den besonderen biografischen Mitteln, mit denen Lukas gerade die Kindheitsgeschichten ge-
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212 staltet, gehören die Vorzeichen im weitesten Sinne, Vorandeutungen über die künftige Bedeutung Johannes des Täufers und Jesu. Bei Johannes sind zu nennen die übereinstimmende Namensgebung (1,60-63) und das Lösen der Zunge des Zacharias (1,64); Vorzeichen für Jesus sind die Hirten auf dem Felde (für den Davidssohn; 2,4.7-20), Simeon und Hanna im Tempel (2,2240) und nicht zuletzt das Lehren des Zwölfjährigen unter Lehrern im Tempel (2,41-52). In der älteren Forschung hielt man diesen Text für pure Legende und empfand die unübersehbar jüdischen Züge als kitschiges Imitat. Der Täufer und Jesus nach Lk 1-2 In Lk 1-2 (und in wichtigen Stücken bis Lk 7) besteht eine durchgehende Entsprechung zwischen Johannes d. Täufer und Jesus. Bei dieser Entsprechung ist Jesus als der Sohn (Gottes) stets derjenige, der den Täufer überbietet, der nur der größte der Propheten ist. Anderswo im Neuen Testament gibt es ebenfalls eine überbietende Entsprechung von Propheten und Sohn (Mk 9,2-6; 12,1-10; Hebr 3), nur nicht mit Johannes d. Täufer. Die Darstellung des Lukas nennt man »synkrisis«, biografischen Vergleich; sie erinnert an die Technik der Parallelbiografien, die wir wenig später bei Plutarch finden. Die lukanische Darstellung könnte dadurch angeregt sein, dass die zeitgenössische jüdische Messiaserwartung bisweilen von einem königlichen neben einem priesterlichen Messias sprach. In solchen Fällen ist der priesterliche Messias stets ranghöher. Nur bei Lukas ist das umgekehrt. Die vergleichende Gegenüberstellung Johannes/Jesus endet in Lk 7,18-50 (beide sind abgelehnte Propheten). Bereits der täuferische Kindheitsbericht enthält das Motiv der »Gefährdung der Ahnfrau«. Wie in den klassischen biblischen Berichten über große Männer (Isaak; Simson) ist auch bei Johannes d. Täufer (und dann bei Jesus) die Schwangerschaft ungewöhnlich und wunderbar. Zu dem Motiv »Gefährdung der Ahnfrau« gehört: Es erscheint aussichtslos, auf normalem Wege einen Sohn zu bekommen. Gott oder sein Repräsentant erscheinen, und zwar zumeist der Frau. Der Erscheinende kündigt die Geburt an; es kann geschehen, dass er den Namen des Kindes verordnet und eine Prophezeiung über den künftigen Sohn gibt. Die erste Reaktion auf die Bot-
Das Lukasevangelium
schaft ist ein Einwand. Doch daraufhin wird die Ankündigung bestätigt oder ein Zeichen der Vergewisserung angegeben. Von der Geburt des Sohnes wird am Ende berichtet. Das Große, das Gott wirkt, und die künftige Bedeutung des Kindes werden bei beiden Kindern hymnisch gefeiert: für den Täufer im Benedictus (Lk 1,68-79), für Jesus im Magnificat (Lk 1,46-55) und im Nunc Dimittis (Lk 2,28-32). Diese Hymnen hatten und haben eine große Wirkungsgeschichte (z. B. im Stundengebet). Sie haben alttestamentlichen Charakter und stellen Jesus und den Täufer als Erfüllung der Verheißungen an die Väter oder durch die Propheten dar. Der Täufer könnte von Lk als priesterlicher Messias, Jesus dagegen als königlicher Messias vorgestellt sein. Diese Vorstellung bietet jedenfalls 1 QS 9,10f: »… bis dass der Prophet und die Gesalbten Aarons und Israels kommen.« Synchronismus: Johannes 1,5; 3,1f – Jesus 2,1f; Besonderheiten der Eltern: Johannes’ Eltern zu alt – Jesus: Maria ohne Mann; Ankündigung der Geburt per Engel und Zeichen: Johannes 1,5-25 – Jesus 1,26-38; Auftrag zur Namensgebung: Johannes 1,13 – Jesus 1,31; Zeichen: Johannes: Zacharias verstummt 1,18-20 – Jesus: Elisabet ist schwanger 1,36; Heiliger Geist: Johannes ist erfüllt von ihm vom Mutterleibe an 1,15 – Jesus ist entstanden durch ihn im Mutterleib 1,35; Zeichen nach der Geburt: Johannes’ Namensgebung; Zunge des Zacharias 1,62-64 – Jesus: Hirten und Engel 2,8-14; Geburt: Johannes 1,57 – Jesus 2,7; Beschneidung: Johannes 1,57 – Jesus 2,21; Vorzeichen im Tempel: Johannes 1,5-23 – Jesus: 2,25-39.41-52; Hymnus: Johannes: Zacharias’ Benedictus 1,6879 – Jesus: Marias Magnificat 1,46-55; Heiliger Geist: Johannes: erfüllt vom Mutterleib an 1,15 – Jesus: Vom Heiligen Geist geworden 1,35 Johannes: Geist des Elia 1,17 – Jesus: Geist Gottes 1,35; 4,18; Notiz über Heranwachsen: Johannes 1,80 – Jesus 2,40; Verhältnis zu Elia: Johannes Lk 1,17; 9,8 – Jesus 9,19; 9,30;
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Kapitel 1
Askese: Johannes: Nahrung 1,15 – Jesus: Fresser und Weinsäufer 7,34; Schriftzitate zur Kennzeichnung: Johannes Jes 40,3-5 (Lk 3,4-6); Ex 23,20 (Lk 7,27) – Jesus Jes 61 (4,18f); Jünger, Fasten, Beten: Johannes 5,33 – Jesus 5,34 f.11,1ff; (Umkehr-)Predigt am Anfang: Johannes: 3,7-14 – Jesus Lk 4,6; Zöllner: Johannes 3,12; 7,29 – Jesus 7,34; 18,914; 19,1-10; Abgeben Gewänder: Johannes 3,11 – Jesus 6,29b; 9,3; Größe: Johannes, größter Mensch 1,15; 7,28 – Jesus 1,32 (wird groß sein); Ablehnung: Johannes 7,31-35 (Beerdigung) – Jesus 7,31-35 (Hochzeit); Martyrium: Johannes 3,19-20 – Jesus Lk 23; Auferstehung: Johannes 9,7 – Jesus Lk 24; Dualismus (strenges Entweder-Oder): Johannes 3,6-9 – Jesus 16,8-13; Sendung beider durch die »Weisheit«: Lk 7,35; vgl. Lk 11,49; Propheten durch beide überboten: Johannes 7,26 – Jesus 7,16; 9,28-36; 10,24; 11,32; Differenzen: Jesus verkündet das Reich Gottes, Johannes nicht (vgl. Lk 16,16). Jesus wirkt Wunder, Johannes nicht. Jesus verleiht Heiligen Geist (und ist Exorzist), Johannes nicht; das ist auch der Unterschied der Taufen (ohne Heiligen Geist – offen für Salbung mit Heiligem Geist). Jesus ist Messias, Johannes nicht (Lk 7,19f). Der Täufer wird vor Jesus geschickt (Lk 7,27), das ist nicht austauschbar. Jesus ist Sohn Gottes, der Täufer nur mehr als ein Prophet. Der Täufer ist Asket (Lk 7,18), Jesus gilt als »Fresser und Weinsäufer« (Lk 7,19); Begründung: Jesus feiert mit den Jüngern »Vorhochzeit« für seine messianische »Hochzeit« mit Israel. Empfangen vom Heiligen Geist In der protestantischen (und neu-katholischen) Forschung begriff man die Botschaft von der Entstehung Jesu durch den Heiligen Geist als literarisches Imitat hellenistischer Geschichten, wonach verkleidete Götter mit menschlichen Frauen Ehebruch trieben. Ist Jesu Entstehung durch den Heiligen Geist eine Legende und noch dazu heidnisch inspi-
213 riert? Fast alle Exegeten verweisen dabei auf Mythen, nach denen Götter jeweils mit menschlichen Frauen deren Ehemänner betrogen haben, teilweise unter anderer Gestalt. So wurde zum Beispiel Alexander der Große dadurch gezeugt, dass sich Zeus in Gestalt einer Schlange dessen zukünftiger Mutter näherte. Philipp, der rechtmäßige Ehemann, blinzelte durchs Schlüsselloch und wurde zur Strafe auf einem Auge mit Blindheit geschlagen. Doch man darf schon von vornherein fragen: Wie sollten angesichts des stark judenchristlichen Charakters der Kindheitsberichte deren »Erfinder« zunächst und unvermittelt auf Göttergeschichten zurückgegriffen haben? Der Einwand wird verstärkt, wenn man auf den pikanten Charakter hinweist. In allen paganen Geschichten geht es um regelrechte Zeugungen. Doch von einem Ehebruch Gottes mit Maria gegen Josef ist im Neuen Testament nicht die Rede Inzwischen entdeckt man stärker die Differenzen zu diesen Geschichten und versucht eine theologische Einordnung in der Tradition der Prophetenberufungen »vom Mutterleib an«. Wenn Propheten (inklusive Paulus) vom Mutterleib an ausgesondert, geheiligt oder vom Heiligen Geist erfüllt (Johannes der Täufer) waren, dann ist Jesus in diesem Rahmen die höchste Steigerung und mehr als ein Prophet, nämlich der Sohn Gottes. – Die Steigerungslinie lässt sich wie folgt darstellen: Jes 49,1: Der Prophet ist vom Mutterleib an berufen, Gott hat seinen Namen genannt. Jer 1,5: Der Prophet Jeremia ist vom Mutterleib an ausersehen und geheiligt. Gal 1,5: Paulus ist vom Mutterleib an ausgesondert, berufen durch Gnade. Lk 1,15: Johannes der Täufer ist vom Mutterleib an erfüllt vom Heiligen Geist. Lk 1,30: Jesus ist (vom Mutterleib an) durch den Heiligen Geist geworden. Bei Jeremia kommt das Stichwort »heiligen« neu auf. Bei Johannes dem Täufer ist daraus schon geworden »erfüllt vom Heiligen Geist«. Und Jesus ist nicht nur erfüllt vom Heiligen Geist, sondern ganz und gar dadurch entstanden. Damit wird zugleich das Hoheitsprädikat geändert: Jesus überbietet den Status des Propheten, denn er ist Gottes Sohn.
Durch den Aufweis dieser kontinuierlich sich »verschärfenden« Tradition ist es zum ersten Mal
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214 gelungen, die Empfängnis Jesu innerhalb der biblischen Tradition darzustellen und nicht durch pagane »Einflüsse« erklären zu müssen. Mit dem Aufweis dieser Möglichkeit aber ist das Milieu der Berichte in Lk 1-2 eben nicht »spät« und »hellenistisch«, sondern altertümlich und judenchristlich, noch dazu, weil die wichtigsten Elemente mit Mt 1-2 gemeinsam sind, also Ähnliches wie in Q vorliegt. Für Mutter und Sohn bedeutet das: Die Erwählung durch Gott ist radikalisiert und zugespitzt. Erwählung bedeutet hier absolute Heiligkeit, weil es um Gottes Anspruch auf einen Menschen und also dessen Heiligung geht. Dort, wo die Erwählung so aufs Äußerste zugespitzt wird, rückt ein Mensch in unüberbietbare Nähe zu Gott – daher der Titel Sohn Gottes. Er hat als Sohn Anteil an der Lebensfülle Gottes. Das ist inhaltlich die Brücke zur Entstehung durch den Heiligen Geist. Denn wer der Lebensfülle Gottes so nahe ist, wird selber ursprungslose Quelle. Das Geschehen ist daher hier (!) nicht über das Denkmodell »Gott wird Mensch« erreichbar, sondern über die größtmögliche Berührung eines Menschen mit dem Geheimnis Gottes. – Alle Weihnachtsfreude ist in dieser überwältigenden, schier unfasslichen Erfahrung Marias begründet. Oder im Anklang an das Te Deum formuliert: Gott hat es nicht verschmäht, in diesem palästinischen Mädchen als seinem neuen Tempel zu wohnen. Theologisch bedeutet die Enstehung Jesu durch den Heiligen Geist: Der große, unfassbare Gott kommt dem Menschen, diesem Mädchen aus Palästina, so nahe, dass diese Nähe die physische Entstehung eines lebendigen Menschen bedeutet. Auch das, was bei der Auferstehung Jesu geschieht, ist grundsätzlich vergleichbar. Gott kommt dem im Grab liegenden toten Jesus so nahe, dass daraus wunderbares, verwandeltes neues Leben wird. An beiden Stationen, die für den antiken Menschen in buchstäblichem Sinne das A und das O sind, zu Anfang und am Ende des Lebens, tritt Gott als der Spender gerade dieses Lebens mit physischer Wirksamkeit in Erscheinung. Daher kann man sagen, dass die Entstehung Jesu und seine Auferstehung »aus demselben Holz geschnitzt« sind. Weniger salopp ausgedrückt: An diesen beiden Stellen der gesamten Geschichte des Heils ist die Nähe zwischen Gott und Mensch
Das Lukasevangelium
am allergrößten. Dabei wird die Dimension der leibhaftigen Nähe ein Merkmal des Auftretens Jesu und der Geschichte der Kirche bleiben. Bei Jesus zeigt sich das in der Bergpredigt, in der Gottes Gebot uns bis in die letzte Faser der Leiblichkeit hinein bestmmen soll (z. B. nach Mt 5,28, wo es darum geht, eine Frau nicht mit Blicken auszuziehen). In den Wundern neigt sich Gottes Schöpferkraft den Kranken mit leiblicher Konsequenz zu. Wenn Jesus den Zöllner besucht, kann er sagen: Heute ist diesem Haus Heil widerfahren – einfach deshalb, weil Jesus physisch anwesend ist. Und wenn Jesus mit Zöllnern und Gottlosen feiert, dann ist mit seiner physischen Präsenz das Reich Gottes gekommen. Jesus kann leibliche Auferstehung und leibhaftiges ewiges Leben verheißen – etwas anderes ist im Judentum gar nicht denkbar. Immer geht es um die unüberbietbare physische Nähe Gottes zu den Menschen – das gilt dann auch für alle Sakramente. Diese absolute Nähe ist die eigentliche Versöhnung. Sie ist die Erfüllung der Bundesverheißung an Israel: Ich will ihr Gott sein und bei ihnen wohnen. Jesu Entstehung entspricht seiner Auferstehung. Das eine geschieht zu Beginn seines irdischen Lebens, das andere an dessen Ende bzw. zu Beginn seines Erhöhtseins. Beides geschieht durch den Heiligen Geist. Jesus entsteht in Maria, indem Gottes Heiliger Geist in ihr das Wunder des Schwangerseins wirkt. Die Auferstehung geschieht durch den Heiligen Geist; denn wo immer über die Kraft nachgedacht wird, aus der die Auferstehung geschieht, bei Paulus oder anderswo, schon in der Vision in Ez 37 ist es der Geist Gottes, der die toten Gebeine auferweckt. – In beiden Fällen, bei der Entstehung und bei der Auferstehung, hat der Heilige Geist direkt etwas mit dem menschlichen Leib zu tun. Dabei ist der Leib nicht tote Materie, sondern die Summe der Kontaktmöglichkeiten jedes Menschen nach außen hin, also der »Landeplatz« des Heiligen Geistes. Geist und Leib sind damit nicht so weit voneinander entfernt wie bei Plato, der sagen konnte: »Der Leib ist das Grab der Seele.« Hier ist es eher umgekehrt: Der Heilige Geist (der nicht mit menschlichem Geist zu verwechseln ist) ist für die Kinder Gottes und im neuen Äon das Lebensprinzip des menschlichen Leibes. Jesus hat schon als Mensch einen Leib von der Qualität des neuen Äon erhalten; darauf weisen
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Kapitel 1
hin seine Verklärung, sein Gehen auf dem Wasser und Wunder, die er mit der bloßen Hand tut. Hin und wieder bricht die göttliche Qualität der Gotteskindschaft durch seinen Leib durch, wird erkennbar, dass dieser Leib direkt vom Heiligen Geist gewirkt ist. Das geschieht, wie gesagt, nicht immer, sondern je für einen Augenblick. Und im neuen, kommenden Äon der mit der Auferstehung aller Glaubenden beginnen wird, wird der Leib aller Christen durch den Heiligen Geist in die Gottähnlichkeit umgewandelt (1 Kor 15). Insofern ist Jesus Christus wirklich der neue, durch den Heiligen Geist bestimmte und verwandelte Adam.
Lk 1,5-25: Ankündigung der Geburt Johannes des Täufers Laut Lk 1,5 und Mt 2,1 ist Jesus unter Herodes d. Gr. geboren, der von 37-4 v. Chr. regierte. Der Statthalter Quirinius (Mt 2,2) war in wichtigen Funktionen zwischen 12 v. und 16 n. Chr. Jesus dürfte dann spätestens um 4 v. Chr. geboren sein. Die jetzige Zählung geht zurück auf den Mönch Dionysius Exiguus (um 525 n. Chr.). Die »Schätzung« war wohl eine Grundsteuererhebung, für die man persönlich erscheinen musste. Ein Familienbesitz in Betlehem könnte auch mit der Herkunft Josefs und Marias gut in Einklang stehen. Nach 1,15 wird Johannes d. T. als Nasiräer dargestellt, vom Mutterleib an »erfüllt vom Heiligen Geist«. Der Titel Jesu – »Nazoräer« – könnte eine Variante zu Nasiräer sein (verlesen des Jod als Waw). War Jesus in seiner ersten Lebensphase auch Nasiräer? Zum Ende hin war er es jedenfalls: Mk 14,25 enthält ja wiederum ein Entsagungsgelübde. Nach Lk 1,17 wird Johannes »in Geist und Kraft des Elia« auftreten. Das scheint eine gute Interpretation der Annahmen zu sein, Johannes sei Elia gewesen (am deutlichsten Mt 17,13). Die Art, in der dieses Identisch-Sein vorzustellen ist, macht Lk 1,17 verständlich.
Lk 1,26-38: Verkündigung der Geburt Jesu Die Verkündigung an Maria steht mit allen wichtigen Elementen in der Tradition der jüdischen Visionsdarstellungen (dazu K. Berger, Die Auf-
215 erstehung …, 1976, 2. Teil). Diese Texte lassen auf einen »Baumarkt« (besser: Basar) schließen, auf dem man diese Bausteine erwerben konnte, und in jedem neuen Kontext, ja in jeder Religion (Judentum, hellenistischer Synkretismus, magische Papyri, frühes Christentum) wurden diese dann verschieden verwendet (Traditionen, Themen, semantische Felder, Gattungen). Aber vorgebildet ist nicht nur jeweils die Sprache inklusive Redensarten und gebräuchlicher Bilder, sondern auch komplexere Denkformen. Die Formen dienen der Artikulation des Erlebten, und dieses ist von ihnen überhaupt nicht zu trennen. Der Gattung nach handelt es sich in Lk 1,26-38 um einen Visionsbericht (Angelophanie). Typische Elemente sind: »Fürchte dich nicht!« plus Name, und zwar als Anrede dessen, der erscheint. V. 31 wird als Beauftragung begriffen; denn in V. 34 kommt der gattungstypische Einwand, der die Botschaft mit dem Auftrag gefährdet. Dreifach wird der Einwand widerlegt: nach V. 35 durch die Verheißung der Geburt des Sohnes Gottes, nach V. 36 durch den Hinweis auf Elisabet und Johannes und nach V. 37 durch den Hinweis auf die Macht Gottes, die sowieso alles vermag. Mit der schließlichen Einwilligung Marias in V. 38 endet die Vision. Die Tatsache, dass Elemente einer Vision typisch sind, spricht nicht gegen die Historizität des Berichteten, sondern dafür, dass Maria dieses Geschehen als legitime Vision erlebt hat, in der geschehen ist, was eben zu einer Vision dazugehört. – Dass Maria sich als Sklavin Gottes Willen unterordnet (V. 38), wird sie später als Niedrigkeit oder Demut ansehen (1,49). Im Rahmen der Vision ist V. 34 formgeschichtlich als »Einwand« zu bezeichnen (vgl. dazu die vorprophetischen Berufungsberichte z. B. Ex. 3,11; 4,1). – 1,32f sind Verheißung, aber noch nicht eingelöst. Was ist, so kann man fragen, das historische Ereignis? Zunächst einmal gibt es die übereinstimmenden Elemente zwischen Matthäus und Lukas. Diese mindestens (!) sind in diesem Abschnitt (Lk 1) altes Gut. Also: Zur Zeit des Königs Herodes ist Maria die Verlobte Josefs; der Heilige Geist ist Ursprung Jesu im Leib Marias; dieses wird von einem Engel bekannt gemacht. Maria hat zuvor keinen Verkehr mit Josef gehabt. In beiden Evangelien sagt der Engel: »Und du sollst seinen Namen Jesus nennen.«
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216 Was die Szene in Lk 1 betrifft, so kann man sagen: Wenn der Bericht auf Maria selbst zurückgeht, so kann man damit rechnen, dass ihr Zeugnis in dem bekannten lukanisch-johanneischen Traditionssegment (vgl. Joh 19, 26) bekannt war. Das zugrunde liegende historische Ereignis muss man wohl ein mystisch-ekstatisches Widerfahrnis nennen. Das heißt zumindest: Maria hat eine Vision des Engels Gottes, deren Macht so groß ist, dass sie daraufhin schwanger wird. Bei der Wahrnehmung dieses Geschehens spielte wohl Ri 13 eine besondere Rolle, und zwar die Szene mit der Ankündigung der Geburt Simsons; vgl. Ri 13,2-5 (parallel: Ps.-Philo, Bibl. Altertümer 42,1-7: »Und siehe, du wirst empfangen und einen Sohn gebären und seinen Namen Simson nennen. Dieser wird nämlich geheiligt sein«; armen. Philo, Über Samson § 24 [Ankündigung der Geburt Samsons]). Wie auch beim Titel »Erlöser« (in den Richterbüchern) ist Simson eine charismatische Rettergestalt, bei der besonders dann nach frühjüdischer Auffassung der Heilige Geist die entscheidende Rolle spielt. Soll Jesus dadurch weniger als politischer, sondern vielmehr als charismatischer Führer Israels dargestellt werden? Das Verhältnis von Schrift (Altes Testament) und »reinem« historischen Geschehen ist bei Lukas generell nicht zu entwirren, jedenfalls bestimmt nicht auf dem Weg der Subtraktion.
Lk 1,39-45: Maria bei Elisabet Die Begegnung der beiden schwangeren Frauen, Marans und Elisabets, Thema eines Ikonen-Typs, hat die typologische Exegese immer gereizt. Denn diese Begegnung ist voll von »heiligen« Gegensätzen, hat doch Jesus den Täufer später als den größten und bedeutendsten Menschen bezeichnet (Lk 7,28). Die beiden Frauen hier reihen sich ein in die lange Liste typologisch gegenübergestellter Frauen wie Hagar und Sara, Maria und Marta, die Hure Babylon und die Braut des Lammes, Ekklesia und Synagoge. In der zeitgenössischen kynisch-stoischen Philosophie wurden Königtum und Tyrannei als zwei Frauen konfrontiert. Sie sind jeweils anschauliche Prototypen und verkörpern jeweils gegensätzliche Richtungen oder Zeiten. Bei Lukas stellen die beiden
Das Lukasevangelium
Frauen Johannes den Täufer und Jesus in ihrer Ähnlichkeit und Gegensätzlichkeit dar. Denn es begegnen sich die durch Gottes Wundertat Gebärfähige und die vom Heiligen Geist Schwangere, und man wird in Elisabet die letzte Verkörperung des alten, in Maria die erste Verkörperung des neuen Bundes sehen. »Die Jüngere besucht die Ältere, die Jungfrau begrüßt die Ehefrau. Denn je keuscher, desto demütiger … Die Demut der Großen ist die Erhebung der Geringen« (Beda). »Die höherstehende Person (Maria) kommt zur Niedrigeren, um ihr zu helfen; so kam denn auch später der Herr zur Taufe, um die Taufe des Johannes zu heiligen« (Ambrosius). Denn nicht das ehrwürdige Alter zählt, sondern das jüngere Kind ist der »Herr« des älteren, ja noch mehr: Das jüngere Kind ist der »Herr« der älteren Frau. So sind alle Rangverhältnisse auf den Kopf gestellt. Das ist schon Theologie des Magnificat. Nur die Begrüßung berichtet unser Text. Sie wirkt wie ein feierlicher Ritus voll Zärtlichkeit und Ehrerbietung, wie ein ekstatisch-prophetisches Geschehen, und schließlich ist sie ein Vorzeichen, das die künftige Größe des jüngeren Kindes ahnen lässt. Zum Treffen der beiden Frauen bemerkt Luther im Anschluss an Ambrosius, Beda und andere: »Da findet eine Demut die andre. Maria demütigt sich und Elisabet hält sich für unwert, dass sie zu ihr kommen soll. Dabei ist sie fröhlich und hat’s von Herzen gerne so. Da ist gewisslich der Heilige Geist.« Anschaulich schildert Luther Marias Demut: Sie ist »geistlich Gottes Tochter«. Dennoch will sie ihre Muhme besuchen, um ihr zu dienen. Sie »nimmt einer Kindsmagd Wesen an«. »Jetzt, da sie vertraute Braut und Mutter Gottes ist, geht sie übers Gebirg und dient der Muhme. Das soll jedes Weib schamrot machen … Die Kindsmägde sollten sich rühmen, dass Maria auch eine gewesen ist.« Schon Bernhard von Clairvaux nahm (mit Ambrosius u. a.) an, dass Maria drei Monate lang Elisabet »gedient hat« und sieht dieses als Vorabbildung davon, dass auch Jesus sich unter den Täufer demütigt; denn nach Mt 3,15 sagt er bei der Taufe: »Lass es nur zu, denn so sollen wir die Gerechtigkeit erfüllen.« Charismatisch-prophetisch ist diese Begrüßung, denn das Kind hüpft »vor Freude und Jubel«, und letzteres Wort gebraucht die Bibel nur
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von einer Freude, die sich nicht mehr einkriegt. So kommt auch »der Heilige Geist über« Elisabet, als sie Maria begrüßt. Denn der, der dem Herrn begegnet, wird mit Heiligem Geist erfüllt. Maria ist hier Christus-Trägerin wie später die Apostel. Denn auch wenn sie predigen und den Herrn auf diese Weise zu den Menschen bringen, werden diese mit Heiligem Geist erfüllt. So berichtet es die Apostelgeschichte etwa auf die Predigt des Petrus hin (10,44). Denn wer immer dem Herrn begegnet, sei es direkt, sei es in der Verhülltheit in Marias Leib oder im Wort der Apostel, hat Anteil an ihm in der Weise des Empfangens des Heiligen Geistes. Maria ist daher hier die Christus-Trägerin schlechthin. – Zum prophetischen Charakter der Begegnung sagt Luther: »Und an diesen zwei Weibsbildern, Maria und Elisabet, magst du sehen, wie ein trefflich Ding es ist um einen rechten Glauben; denn er verändert den Menschen nicht nur nach seiner Seele, sondern auch nach dem Leibe. Elisabet ist eine andre Frau worden, geht in solcher Freude dahin, dass sie’s nicht ausdrücken kann, und Leib und Zunge werden so fröhlich, dass sie Prophetin wird.« Luther bemerkt auch, dass Elisabet die Erste ist, die Marias Schwangerschaft feststellt: »Maria war noch jung und man konnt’s am Leibe nicht sehen, dass sie schwanger war. Das ist höchste Erkenntnis, dass sie sie als Mutter preist und als eine, die eine Frucht trägt über alle Früchte. Und sie stellt sie über alle Frauen in Ewigkeit. Denn, spricht sie, du trägst einen Sohn, der unser aller Herr ist … Das ist die erste Predigt auf Erden, dass Maria die Mutter des Herrn ist, und kommt von der alten ehrlichen Matrone … ›Herr‹ ist der Name des rechten Gottes.« »Maria ist ihr nun auch nicht mehr das vorige Nichtlein, sondern sie trägt Gottes Sohn, der in einem Augenblick wahrer Mensch und wahrer Gott geworden ist. Wenn der Heilige Geist leuchtet, so wird’s hell in einem Augenblick, gleich wie die Sonne in einem Augenblick die ganze Welt erhellt.« Schließlich ist die Begegnung ein Vorzeichen, denn Johannes hüpft im Leib der Elisabet, nicht Jesus im Leib Marias. Johannes bewegt sich, Jesus nimmt diese Bewegung und Ehrerbietung gewissermaßen an. Solche Art Begegnung zwischen Ungeborenen liest man in der Antike, auch im damaligen Judentum, als Vorzeichen (Prodigium) für die künftige Beziehung zwischen den
beiden Kindern. – Die Präfation Nr. 992 sieht es anders: »Er jubelt im Bauch seiner Mutter, um in ihrem Leib die Herzen der Juden durch die Verkündigung des kommenden Königs zu erschüttern.«
Lk 1,46-55: Magnificat Das Magnificat benennt zentrale Elemente lukanischer Theologie. Jesus ist die Erfüllung der Verheißung an Abraham. Die Erhöhung der Demütigen und Elenden im Unterschied zur Begünstigung der Mächtigen (V. 52) geschieht durch Marias Schwangerschaft. Die Kritik des Reichtums V. 53b ist Merkmal des ganzen Evangeliums. Gebet und Lobpreis sind die Weise, in der Menschen an der Heilsgeschichte teilhaben. »Selig meine Mutter unter denen, die geboren haben, und verherrlicht werden soll unter den Frauen sie, die mich geboren hat«, so jubelt der Prophet Baruch in der nach ihm benannten jüdischen Apokalypse aus dem 1. Jh. n. Chr. (Übers.: Berger, Synopse, 1992, zu 54,10). Wir erkennen daraus: Die »Seligpreisung der Prophetenmutter« ist eine jüdische Redegattung, ähnlich auch Lk 11,27 (Selig der Leib, der dich getragen …). Denn mit dem Propheten lobt man auch dessen Mutter, ähnlich wie man im Deutschen sagen kann: Was musst du für eine wunderbare Mutter haben … – So hat denn auch das Magnificat Marias gleich drei Vorstufen bzw. Entsprechungen in der Geschichte des Gottesvolkes: den Lobgesang der Hanna in 1 Sam 2,1-10 sowie in anderer Fassung im »Buch der biblischen Altertümer« (LAB) Kap. 51,3-6 und das Lied der Anna, der Mutter Marias, nach dem Protevangelium des Jakobus 6,3 (Übers.: Berger/Nord, Das Neue Testament, 62010, 1283). Zusammen mit dem Magnificat sind diese drei Texte von großartiger Schönheit. Sie münden alle ein in die Theologie des Magnificat, deren Grundzüge hier zunächst genannt sein sollen: 1. Die Geburt Jesu bedeutet die Annahme Israels, die Erfüllung der Verheißungen an die Väter. 2. Das Lied entfaltet eine eigene Geschichtstheologie unter dem Thema »Gott und die Mächtigen«. Gott ist der Herr, die Kirche schaut zu, wie er für den Abstieg der Hochmütigen und Überheblichen sorgt und ebenso für den Aufstieg der
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218 Demütigen. Denn das Drama von Abstieg und Aufstieg in der Geschichte hängt ab von inneren, nicht von äußeren Faktoren. Jede gottlose Macht steht auf tönernen Füßen, denn der Hochmut kommt vor dem Fall. Doch genauso gilt auch andererseits: Die Opfer werden nicht auf ewig Opfer sein. 3. Jede Macht schöpft ihre Kraft aus der Demut. Eine Macht erhält sich lebendig, bewahrt sich vor der Erstarrung, wenn sie sich beugt. Das ist auch ein Stück Apokalyptik: Die Verhältnisse kehren sich um, und so werden auch die vorher Machtlosen mächtig. Denn Gott steht für die Würde der Schwachen ein. Von daher ist auch das Thema »Auferstehung der Toten« im oben genannten Lied der Hanna nach LAB zu verstehen. 4. Die Erhöhung der Niedrigen wird zum »Gesetz«, nach dem auch das Geschick Marias und Jesu zu verstehen ist, auch in der Abfolge von Leiden und Herrlichkeit. 5. Das Magnificat ist eine biblische Antwort auf die Theodizee-Frage, auf die Frage also, wie Gott Unrecht und Böses zulassen kann. Die Antwort lautet: Er lässt es nicht für immer zu, sondern er wird die Umkehrung besorgen. Denn wenn er die demütige junge Frau und ihren Sohn erwählt, dann ist das ein Vorzeichen für den Neuen Äon, in dem Gott den Armen das Evangelium verkündet, die Kranken heilt und die Toten auferweckt. Das Ziel ist die Überwindung des Todes.
Lk 1,68-79: Lobgesang des Zacharias Der Lobgesang des Zacharias (Benedictus) ist noch stärker alttestamentlich. Ab V. 76 ist in einer »Geburtsweissagung« das Kind Johannes direkt angesprochen. In den VV. 68-75 geht es wohl um Jesus (Haus Davids!). Nahe verwandt mit V. 69 ist die 15. Benediktion des 18-BittenGebets: »Den Sproß Davids lass eilends aufsprossen, und sein Horn erhebe sich durch deine Hilfe.« Dass Gott seines Bundes gedenken soll (V. 72), findet sich oft in Gebeten des Judentums und schon in Ex 2,24 (im Magnificat vgl. 1,54b-55). Die Kombination von Propheten und Vätern (hier V. 70 und V. 73) ist ein Stück lukanischer Theologie (vgl. Lk 13,28 und Apg 3,25). – Nach 1,77 ist das Heil wesentlich mit Erkenntnis verbunden. Der »Aufgang aus der Höhe«
Das Lukasevangelium
V. 78 ist die Sonne. – Die Botschaft lässt sich an den Wortwiederholungen ablesen: »Heil«, »Erbarmen«, »heimsuchen«, »sein Volk« als Gegenüber Gottes. Die Rettung von den Feinden (V. 74) wird als Sündenvergebung gedeutet (V. 77). Besonderheit: Das Heil wird lokal erfasst und beschrieben (»vor ihm«, »aus der Höhe«, »Weg des Friedens«). V. 75.79b interpretieren die Väterverheißung ethisch; denn wenn sie erfüllt werden, ist das eben nicht das Paradies, sondern ein Dienst ist jetzt möglich.
Lk 2,1-20: Die Geburt Jesu Die Weihnachtsgeschichte beginnt wie 3,1f mit einem Synchronismos, einer Aufzählung der gleichzeitig in der Welt wichtigen Ereignisse. Die Geburt Jesu selbst wird ganz schlicht geschildert. Das ist wie das unspektakuläre Wegrollen des Steins vom Grabeseingang zu Ostern. In beiden Fällen wird das primäre und eigentlich allein wichtige Jesus-Geschehen in seiner Bedeutung mittels einer »parallelen« Szenerie Dritten durch Engel geoffenbart: Zu Ostern wird der weggerollte Stein Frauen durch Engel gedeutet; zu Weihnachten wird die Krippe durch Engel den Hirten gedeutet. Die entscheidende Botschaft wird »sekundär Betroffenen« in einer zweiten Szenerie durch Engel ausgerichtet. Krippe und Stein sind jeweils nur Zeichen, an denen sich die Botschaft festmacht. Die Botschaft selbst ist nur als himmlische begreiflich. So bleibt das nötige Geheimnis für das Primärereignis gewahrt. Frauen und Hirten als Empfänger der Deutung der Engel sind nicht »die Welt«. Das primäre Ereignis bleibt unter diesen Umständen geheim, auf die Intimsphäre beschränkt – jedenfalls den politischen und satanischen Mächten verborgen. Von den politischen redet Paulus in 1 Kor 2,6-8, vom Satan Ignatius, Eph 19. Theologisches Fazit: Kirche und Geheimnis hängen zusammen. Das Geheimnis ist für die Umstehenden, nicht für die Öffentlichkeit, lebt in der Intimsphäre, nicht auf dem Marktplatz. Insofern steht »Christus der Herr« von Lk 2,11 neben dem »Herrn der Herrlichkeit« von 1 Kor 2,8. – Die Meinung, dass der »Heiland« (soter) von 2,11 gar nicht »altes christliches Traditionsgut«
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sein könne, sondern erst »spät« und unter dem Einfluss hellenistischer Epiphanievorstellungen gebildet worden sei, übersieht, wie weit verbreitet der Titel soter im Sinne von »Helfer, Förderer des Gemeinwohls« war und dass schon in der griechischen Bibel (Septuaginta) charismatische Figuren Israels (Richter) so hießen. Da die Evangelien-Überlieferung wohl von Anfang an griechisch war, kann man auch nicht ergrübeln, was die Engel »eigentlich« gesungen hätten. Mindestens ebenso erstaunlich wie das Wunder der Empfängnis Marias, der Menschwerdung Gottes, ist die Schlichtheit, die Normalität, in der sie sich vollzieht. Dazu gehört einmal, dass Maria Jesus geboren und in Windeln gewickelt hat. Und eine Krippe ist eine seichte Grube (zumeist im Lehmboden), in die das Futter der Haustiere geschüttet wurde. Außerdem schreien kleine Kinder. Platz in einem Gästehaus gab es nicht. Zu Lk 2,14: Der Gattung nach ist Lk 2,14 eine Akklamation (vgl. dazu K. Berger, Formen und Gattungen, 2005). »Herrlichkeit« und »Frieden« sind Heilsgüter, die Gott und den Menschen zugesprochen werden, weil sie ihnen rechtmäßig zukommen und von Gott her auch zu erwarten sind. Akklamation bedeutet feierliche Anerkennung und Vergewisserung. Die Besonderheit der Akklamation in Lk 2,14: Sie vereint Himmel und Erde, spricht den Bewohnern dieser Sphären Dinge zu, die komplementär sind, kurzum, von denen zu hören eine Freude ist. Lukas schildert die Geburt des neuen Herrschers in der Welt der Hirten, und zwar als Hirtenidylle. Entsprechend der zeitgenössischen Bukolik ist die Hirtenidylle das Bild der friedenbringenden künftigen Herrscher; denn Frieden und Geborgenheit sind nicht abstrakt zu vermitteln – dazu ist »Idyllik« als Ausdruck menschlicher Sehnsucht notwendig. Dem kommt entgegen, dass auch David vor seiner Königsherrschaft Hirte war (1 Sam 17,12.15). In Ez 34 klagt der Prophet im Wort des Herrn, die so genannten Hirten Israels hätten für die Schafe nicht gesorgt, und ihnen fehle der rechte Hirte: »Siehe, ich selbst will für meine Schafe sorgen und mich ihrer annehmen. Gleichwie ein Hirt sich seiner Herde annimmt am Tag, da manche seiner Schafe versprengt sind, so werde ich mich meiner Schafe annehmen … Ich führe sie
219 heraus aus den Völkern und schare sie aus den Ländern zusammen. Ich bringe sie in ihre Heimat und weide sie auf den Bergen Israels … Ich selbst werde meine Schafe weiden, das Verirrte werde ich suchen, das Versprengte heimführen, das Verletzte verbinden, das Kranke stärken, das Fette und Kräftige behüten …« Bei den Einzelaussagen in der zweiten Hälfte des Zitats denkt man an Jesu Wirken nach Lukas, an die drei Gleichnisse vom Verlorenen in Lk 15 (darunter das Gleichnis vom verlorenen Schaf und vom verlorenen Sohn) und an seine Krankenheilungen. Es ist kein Zufall, dass nach Lukas genau das, was nach Ez 34 Gott selbst zu tun verspricht, nun Jesus verwirklicht. Denn er ist der auf Erden tatsächlich gegenwärtige Gott. Ein Vergleich mit Mt 2 führt uns weiter. Bei Lukas sind es Hirten, die Jesus als Erste durch ihren Besuch und ihr Staunen ehren. In Mt 2 sind es Magier, die nach Betlehem kommen, um den neugeborenen König anzubeten. In beiden Fällen sind diese nicht nur die ersten Fremden, die kommen, sie bilden auch durch ihren Beruf die wahre und künftige Rolle Jesu auf eigenartige Weise ab. Ihr Beruf ist jeweils ein Bild für das, was Jesus ist und tun wird, aber eben nur ein Bild, wenn auch ein sehr reales. Denn gewiss wird Jesus nicht Schafe oder Rinder hüten, und genauso wenig wird er als Vertreter der persischen Religion Astrologe, Zeichendeuter, Anhänger Zarathustras oder Experte in magischen Techniken sein. Der Beruf seiner ersten Besucher ist trotzdem ein Zeichen. Denn Jesus wird zwar kein Hirte, aber Hirte Israels sein, und er wird kein Magier sein, aber alles, was bisher an Religionen in der Welt war, an Weisheit und Kenntnis überbieten. Deshalb fallen die Magier vor ihm nieder (Mt 2), um ihn als ihren Allerobersten zu verehren. Der Proklamation von Lk 2,11 (»Heute ist …«) entspricht die Akklamation von 2,14 (»Ehre sei …«). Dieser »Lobgesang« der Engel gehört zur weiteren Gattung der Doxologien. Erwählt sind die Menschen, die zu dem neuen Gottesvolk aus Juden und Heiden gehören. Sie sind der Kern des kommenden Friedensreiches. Was hat diese Szene mit dem Messiaskind zu tun? Zunächst: Ein Stück des alten jüdischen Traumes, welcher heißt »Im Himmel wie auf Erden« (bekannt aus dem Vaterunser) wird jetzt wahr. Denn wenn Gott und erwählte Menschen
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220 in einem Atemzug begrüßt werden können, dann ist endlich Friede zwischen beiden. Dann sind Gott und Menschen versöhnt, und keine Altlast steht zwischen ihnen. Der Versöhner und Friedensstifter ist das Kind. Denn mit ihm beginnt die neue Zeit, von Vergil in seiner 4. Ekloge erahnt. Der Mittler der Versöhnung ist da. – Sodann: Die Menschen, die ihn erleben dürfen, sind schon deshalb auserwählt. Simeon wird bald sagen, dass er glücklich sei, denn seine Augen haben Gottes Heil geschaut. Er gehört zu der erwählten Generation, die den Messias erleben darf. Alle anderen zuvor waren das nicht. Im Kontrast zu ihnen sind die glücklich, die in dieser Zeit leben dürfen. Um etwas viel Größeres geht es bei Lukas: Um die Wieder-Einheit von Gott und Mensch, um den neuen Adam (vgl. Lk 3,38: Adam, der von Gott »abstammt«), das neue Paradies. – Und schließlich: Überraschend ist hier die bedingungslose Heilszusage: »den Menschen auf Erden, die Gott erwählt hat«. Denn erwählt sind jetzt nicht mehr nur die Erzväter (Lk 1,55), sondern alle, zu denen die Botschaft gelangt. Im Sinne des Evangelisten wird man die Erwählung einerseits nicht auf Israel beschränken, andererseits nicht automatisch, d. h. ohne Rücksicht auf den eigenen Glauben und die eigene Entscheidung, für alle gelten lassen, die geboren werden, sondern weil das Heil unter allen Umständen geschichtlich vermittelt wird, ist Erwählung ein Heilsangebot für alle, die das Wort des Evangeliums hören. Die Botschaft, das Evangelium, ist die universale Zugänglichkeit Gottes selbst.
Lk 2,22-28(32): Vorstellung Jesu im Tempel Dass Jesus als Erstgeborener in den Tempel gebracht und Gott präsentiert wird, wie es Ex 13,2-15 vorschreibt, zeichnet Maria und Josef als
Das Lukasevangelium
gesetzestreue Juden. Denn die Erstgeburt »gehört Gott«, und so mussten Jungen nach 40, Mädchen nach 80 Tagen dem Herrn »vorgestellt« werden. – Die Besonderheit ist das Lied des Simeon (Lk 2,29-32). Kein Text des Neuen Testaments macht schönere Aussagen über Israel. In der Sprache von Jes 40-49 wird Jesus gelobt als Licht für die Heiden und Herrlichkeit für das Volk Israel. Das Nunc dimittis ist das Dankgebet des Todgeweihten. Der Tod ist aufgefasst als das Ende des Sklavendienstes, ist eigentlich der Zeitpunkt der Freilassung. Dass er den Messias noch erlebt hat, lässt ihn ruhig sterben. Denn er gehört schon zur messianischen Generation, und diese Menschen hat man immer glückselig gepriesen. – In dem »Paar« Simeon und Hanna stellt Lukas den Lesern zwei fromme Juden vor, die die Ankunft des Messias erwarteten. Diese beiden prophetischen Gestalten stehen für die messianische Sehnsucht Israels. Maria wird ihr Leiden vorausgesagt (V. 35), dadurch werden die bösen Gedanken vieler Menschen geoffenbart.
Lk 2,41-52: Der Zwölfjährige im Tempel Es gehört zu den Topoi antiker biografischer Literatur, dass man an den Zwölfjährigen verlässliche Anzeichen ihrer zukünftigen Begabung entdecken kann. In einer Kultur, die Zukunft um jeden Preis entschlüsseln möchte (Astrologie, Prodigien, Orakel), ist das, was der Zwölfjährige tut, enorm wichtig (vgl. H. J. de Jonge, Sonship, Wisdom, Infancy: Luke II 41-51a, in: NTS 24 [1978] 317-354; N. Krückemeier, Der zwölfjährige Jesus im Tempel [Lk 2,40-52] und die biografische Literatur der hellenistischen Antike, in: NTS 50 [2004] 307-319).
Lk 3,1-5,11: Zweimal Anfang der Verkündigung Lk 3,1-20 stellt die Verkündigung des Täufers vor: Nach der synchronistischen Zeitangabe (s. zu 2,1-3) folgt die schriftgelehrte Identifikation (der Täufer ist die Gestalt von Jes 40,3-5); dann folgen Zitate aus seiner Verkündigung an die verschiedenen Gruppen, großen Raum nimmt die
Bestimmung des Verhältnisses zu Jesus ein (ist Johannes der Messias? 3,15-17), und 3,18-20 endet mit einer knappen Angabe über das Leben des Täufers bis zum Beginn seiner Inhaftierung. 3,1-20 ist also der Abriss eines Täufer-Evangeliums. Nach 3,11.13.14 ist es bereits wesentlich
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Kapitel 3
auf Besitz bezogen. Aus V. 12 geht hervor, dass sich auch der Täufer bereits den Steuereinnehmern (Zöllnern) zuwendet (vgl. Mt 21,32; Lk 7,29). Mit der Zuwendung schon des Täufers zu Zöllnern und Soldaten will der Evangelist vielleicht zeigen, dass Christen keine Aufrührer sind. Typisch für die Täuferpredigt ist die Abfolge von Gerichtspredigt und Einzelmahnungen. Die Letzteren werden eingeleitet durch die Frage: »Was sollen wir [also] tun?« (V. 10b.12.14), und es folgen Standesparänesen. In Lk 3,16 spricht der Täufer davon, dass nach ihm einer kommt, der »mit Heiligem Geist und Feuer« taufen wird. Lukas selbst konnte das in der Pfingstgeschichte erfüllt sehen (Heiliger Geist wie Feuerzungen, Apg 2,3). Es könnte sein, dass sich in der Vorgeschichte dieses Wortes – in einer nicht unbedingt christologischen reinen Gerichtsaussage – Heiliger Geist auf die Verwandlung der Gerechten und Feuer auf das Verbrennen der Gottlosen bezog. Als verbindendes Zwischenstück folgen dann der Bericht über Jesu Taufe, sein Stammbaum und seine Versuchung in der Wüste. Der Stammbaum endet pointiert damit, dass Adam von Gott abstammt, also irgendwie auch »Sohn Gottes« ist. Jesus, der gerade (Lk 3,22) in der Taufe als Sohn Gottes öffentlich installiert wurde, ist daher ein Gegenbild zu Adam, ein »neuer Adam«. Nur ist Jesus neuer Adam durch Gottes Heiligen Geist. Übrigens betet Jesus hier vor dem Empfang des Geistes, wie sich das auch für die Jünger geziemt (Lk 11,13). Die Versuchung schließt wie bei Mk an die Taufe an und hat das Thema Gottessohnschaft zum Inhalt: Ist Jesus wirklich »ganz echter« Sohn Gottes? Dabei geht es um den Charakter seiner Messianität. Nutzt er sie zum eigenen Vorteil, ist er »durchgefallen«? Jesus antwortet dreimal mit einem Zitat aus dem Deuteronomium. Die zweite Versuchung setzt voraus, dass der Teufel die Reiche der Welt zu vergeben habe und vergeben könne, er sei der wahre Herrscher. Wenn Jesus den Widersacher anbetet, erhält er die Weltherrschaft (vgl. 2 Kor 4,4; 2 Thess 2,4; Offb 13,4.12). Auch als Jesus am Kreuz hängt, wird er versucht, sich selbst zu helfen (Mt 27,40b). – Für das Judentum und das frühe Christentum folgt auf jede Initiation die Versuchung, so etwa dort, wo Abraham und Hiob als Proselyten dargestellt
221 werden. Die Versuchung stellt jeweils den gerade verlassenen Status als den doch wünschenswerteren dar. Dass es der Teufel ist, der versucht, ist seit Hiob bekannt. Sein Argumentieren mit Schriftstellen lässt ihn als personhafte Größe erscheinen, es bescheinigt ihm jedenfalls Logik und Rationalität. Es gehört zur Abgründigkeit des Bösen, dass es Vernunft simuliert. Der nachahmerische Trug gehört zu seinem Wesen. Die eigentliche Parallele zu Lk 3,1-20 ist Lk 4,16-30. Denn wie in 3,1-20 gibt es hier das einleitende, identifizierende Schriftzitat aus Jesaja (61,1f in Lk 4,18f) und dann einen Abriss der Botschaft mit Betonung des Konflikts Israel/Heiden und einer Vorabbildung des Geschicks Jesu in 4,29 f. Man kann es auch so formulieren: Was Israel betrifft, wird Jes 61 erfüllt, und im Übrigen geht das Evangelium zu den Heiden über. – Der Schriftbeweis aus Jes 61 bestätigt die Gottessohnschaft durch eben denselben Heiligen Geist nach 3,22. Dieses Geschehen wird später – wie de facto schon in Jes 61,1 – als »Salbung« durch den Heiligen Geist verstanden: Apg 4,27; 10,38. Jes 61,1f hat deshalb eine Schlüsselrolle für Christologie und Apostelbegriff, weil alle zentralen Begriffe beider »Themen« hier genannt sind: Geist, Salbung (von chrio kommt christos), Verkündigung des Evangeliums, Sendung, Arme, Heilungswunder, zum Beispiel an Blinden; selbst das Freilassen findet eine Entsprechug in Lk 6,37 und in Befreiungsgeschichten wie Apg 5,18-20. Auch 11 Q Melch 18 nennt einen »Gesalbten des Geistes« als endzeitliche Figur und Verkünder des Evangeliums. Durch die Schriftauslegung in Lk 4 ist Jesus der Initiator christlicher Missionspraxis, die dann stets mit christologischer Schriftauslegung beginnen wird (Apg 13,14 f.26 f.44-46; 17,2f; 18,4; 15,21), und zwar speziell jeweils am Sabbat. Beim Täufer wie bei Jesus wird daher zu Anfang das Ganze kurz im Wesentlichen dargestellt. Es fällt auf, dass in Lk 4 die Predigt über das Reich Gottes fehlt (anders: Mk 1,15); an diese Stelle tritt der Geistbesitz Jesu (vgl. auch Lk 4,18). In beiden Aufrissen ist die Frage »Wer ist es?« entscheidend, so in 3,15; 3,22f; 4,22b, vgl. 4,3.9 (Wenn du der Sohn Gottes bist …). In der Täuferpredigt wurde die Kindschaft relativiert – in der Jesusbotschaft wird sie bestätigt. Nach den ersten Taten Jesu folgt in 5,1-11 ein
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222 letztes, gewichtiges Stück aus den Anfängen Jesu: Die Berufung insbesondere des Petrus. Die Zebedaiden werden allerdings auch kurz genannt, aber im Unterschied zur Jüngerberufung in Mk 1,16-20 liegt doch der Ton ganz auf der Person des Petrus; Andreas kommt nicht vor. Das Sündenbekenntnis des Petrus nimmt Jesus gar nicht ernst. Vielmehr wird die Bootsgeschichte – wie auch sonst in den Evangelien üblich – sogleich auch zum Bild für die Gemeinde und ihre Mission: Jesus beauftragt Petrus damit, Menschenfischer zu sein.
Lk 3,1-6: Stimme eines Rufers in der Wüste »Baut für den Herrn eine Straße, ebnet seinen Weg, füllt alle Täler auf, tragt Berge und Hügel ab. Begradigt alle Windungen der Wege und glättet jede holprige Stelle«, so liest sich eine Anweisung zum Bau von Autobahnen. Wer einmal an einer solchen Baustelle vorbeigefahren ist, weiß, wie viel hier geschehen muss, wie lange das Ganze dauern kann und wie sehr oft eine Gegend ihren Charakter dabei verändert. Ganz zu schweigen von den Kosten. Billiger ist das Kommen Gottes offenbar nicht zu haben. Aus dem ehemaligen Ostblock ist bekannt, dass Gebäude an Straßen oft nur äußerlich, der Fassade nach »frisch gestrichen« wurden, wenn Potentaten durchfahren wollten. Doch das Unternehmen Umbau der Welt für das Kommen Gottes ist wohl etwas aufwändiger, denn Gottes Blick ist unbestechlich. Und weil der Menschensohn der Richter ist, kommt natürlich alles darauf an, zu diesem Richter schon vor dem Gericht eine gute Beziehung zu haben.
Lk 3,10-18: Buß- und Mahnrede des Täufers Der Täufer stellt harte Forderungen. Nicht den Zehnten zu geben, sondern 50 % fordert er. Aber er fordert nicht nur, sondern er weist auf den, der kommt, der stärker ist als er. Das gilt auch, wenn der Kommende der Menschensohn ist, der dann jedenfalls in Gottes Macht und als sein Repräsentant kommt.
Das Lukasevangelium
Lk 3,15-16.21-22: Taufe mit Wasser – Taufe in Heiligem Geist und Feuer Johannes der Täufer wird gefragt, ob er der Messias sei. Er verneint und weist auf einen anderen Täufer. Auch der Messias ist also einer, der tauft. Aber mit Heiligem Geist und mit Feuer. Wie kann das sein, dass Juden sich den Messias als Geist- und Feuertäufer denken konnten? – Einer der wenigen Texte mit expliziten Messiaserwartungen zur Zeit Jesu ist der (apokryphe) Psalm Salomos 17,22.30. Hier heißt es in der Tat, der Messias werde Israel reinigen, und zwar von allem Götzendienst, also von allem Heidnischen. Ähnlich ist übrigens auch die Tempelreinigung durch Jesus zu verstehen. Aus dem Bereich des Heiligen entfernt Jesus alles, was nach heidnischem Geld riecht. Aber der Messias nach Lk 3 wird »mit Heiligem Geist und mit Feuer« taufen. Was soll das heißen? Die meisten Ausleger sagen: So war es zu Pfingsten. Wie Feuerflammen kam der Heilige Geist herab. Aber kann man das ein Taufen mit Geist und Feuer nennen? Pfingsten war nur ein Taufen mit Heiligem Geist, der wie Feuerzungen aussah. Bei der Ankündigung von Geist und Feuer handelt es sich wohl um zwei Vorgänge, die Taufe genannt werden. Die eine Taufe ist die mit Heiligem Geist, wenn Jesus mit Gottes Finger die Dämonen austreibt (Lk 11,20; Mt 12,28). Dazu ist Jesus als der Träger des Heiligen Geistes geeignet. Denn weil Jesus mit Heiligem Geist getauft ist, kann er selbst mit Heiligem Geist taufen. Und das geschieht, indem er die unreinen Geister vertreibt. Bis heute enthält die Taufe exorzistische Elemente. Im Sinne dieser Reinigung ist die vielleicht älteste Fassung der Reichsbitte im Vaterunser nach Lukas (11,2; s. u.) zu verstehen: »Dein Heiliger Geist komme über uns und reinige uns.« Die Taufe mit Feuer dagegen ist die von Lk 12,49-51: »Ich bin dazu da, ein Feuer auf Erden zu entzünden. Ach, wäre es doch schon entfacht! (50) Eine Taufe mit dem Wasser des Todes steht mir bevor. Ach, hätte ich sie doch schon hinter mir! (51) Ihr sollt nicht denken, ich sei ein Friedensapostel …« Nun sind Lk 12,49 und 50 parallel gebaut. Die Taufe mit dem Wasser des Todes – das ist Jesu Martyrium am Kreuz. Der Tod am Kreuz lässt sich mit einer Taufe vergleichen, weil er (sehr schmerzliches) Abstreifen alles Sterb-
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Kapitel 3
lichen bedeutet (hier wird das JudasEv ansetzen), ein Scheidevorgang also. So ist auch Lk 12,49 und der dann folgende V. 51 zu verstehen: Die Verkündigung des Evangeliums bedeutet in jeder Hinsicht heilsame Scheidung, Trennung von Spreu und Weizen und deshalb Ähnliches wie Jesu Predigt als Gerichtsvollzug nach Joh 5,21-27. Zurück zu Lk 3,16: Die angekündigte Taufe mit Heiligem Geist ist die Befreiung von bösen Mächten, die angekündigte Taufe mit Feuer ist jede Verkündigung, die Gerichtscharakter hat und die Menschen siebt (vgl. Lk 22,31). Man kann es auch so sagen: Das Feuer, das Jesus auf die Erde werfen will, ist die Gegenwart Gottes. Und diese hat zur Folge, dass Gold von Schlacke geschieden wird. Jesus ist also der vom Täufer verkündigte Messias: Er reinigt Israel, und zwar von unreinen Geistern genauso wie von allem Unreinen am Einzelnen. So bereitet er Gottes Volk vor auf das Kommen Gottes. Die Taufe Jesu nach Lk 3,21f befähigt Jesus, den Teufel bei sich und anderen abzuwehren. Man kann fragen, warum und ob es Jesus nötig hatte, vom Heiligen Geist getauft zu werden, wo er doch nach Lk 1,35f schon durch den Heiligen Geist entstanden war. Nun ist der Heilige Geist nicht etwas, das man ein für alle Male hat oder nicht. Vielmehr kann keiner davon genug bekommen. Und deshalb heißt es im frühen Christentum immer wieder: Betet ohne Unterlass – Löscht den Geist nicht aus! (1 Thess 5,17-19). Immer wieder beten die frühen Christen um den Heiligen Geist. Und deshalb wohl heißt es – übrigens nur bei Lukas –, dass der Himmel sich auftat, »als Jesus betete«. Folgende Fragen kann man hier stellen: Warum lässt Jesus sich überhaupt taufen? Zeitgenössische Exegeten erklären frech, Jesus habe sich taufen lassen, weil er gesündigt habe, weil doch Johannes nach Lk 3,3 zur Vergebung der Sünden taufte. Jesus sei also ein großer und bedeutender Sünder gewesen. Dabei lassen sich diese »Gelehrten« von einer schlicht am Nützlichkeitsprinzip orientierten Frömmigkeit leiten, nach dem Prinzip: Was du nicht zwingend brauchst, kannst du weglassen. Konsequenz: Bete nie das Vaterunser, wenn dir nichts vergeben werden muss. – Die Logik biblischer Frömmigkeit ist dagegen anders. Sie lautet: Niemand kann Gottes Heiligkeit genug loben, deshalb scheue
223 keine Wiederholung der Bezeugung der Demut. Gerade als Gottes Sohn ist Jesus fromm – wie wäre das Gegenteil denkbar? Denn er hat alles, schlechthin alles vom Vater empfangen; gerade so und genau deshalb ist er der Sohn. Deshalb betet er nach Lk 3,21 vor der Taufe. Er hätte es nicht »nötig«; aber dass er mit seinem Vater spricht, ist Zeichen dafür, dass er ihn liebt und mit ihm verbunden ist. Jesus hat es »nicht nötig«, getauft zu werden; aber er hat keinen Grund, irgendeine Begegnung mit seinem himmlischen Vater zu scheuen. Anders als wir denkt er nicht von der Notwendigkeit her, als sei Gottes Handeln an uns letztlich von unserem Mangel bestimmt und verursacht. Biblisch gesehen ist das Umgekehrte wahr: Die Taufe des Johannes ist in ihrem Ursprung eine Begegnung mit dem lebendigen Gott, daher das lebendige Wasser als Bild für Gottes Vitalität und Reinheit (vgl. auch Joh 7,38f und das Bild der Quelle in ThomasEv 13). Eine Einschränkung auf Sündenvergebung ist gar nicht zwingend notwendig – das zeigt gerade Mt 3,1, wo diese Formel fehlt; wer aber Sünden hat, dem werden sie vergeben. Und weiter: Nach der Bibel bekommt jedes Geschehen seinen Sinn vom Ausgang und vom Ende her. So hat Jesu Taufe den Sinn der Erfüllung Jesu mit Heiligem Geist und der öffentlichen Einsetzung als Sohn. Die Verborgenheit der Empfängnis durch den Heiligen Geist wird durch die Einsetzung mit der dazu gehörigen Formel »Du bist …« aufgehoben. Solche »Du bist«-Formeln kennen wir von Ps 110,4 her: »Du bist Priester nach der Ordnung des Melchisedek.« Ähnlich die Adoption der Könige Israels nach Ps 2,7: »Du bist mein Sohn. Heute habe ich dich gezeugt.« Schließlich hat Lukas bei seinem Bericht über Jesu Taufe sicher auch an den typischen Ablauf der christlichen Taufe gedacht. Denn längst ist diese eine Verbindung von Wasser- und Geisttaufe. Das geht aus Apg 8, 15f und 19,2-6 hervor, aber auch schon Joh 3,5 spricht vom Neugeborenwerden aus Wasser und Geist. Wenn es sich um eine Gleichgestaltung mit Jesus handelt, dann hat seine eigene Taufe in der Verbindung von Wassertaufe und Geisttaufe einen guten, für jede christliche Taufe aktuellen Sinn. Im Mittelalter sieht man in der Taufe Jesu, die er zur Beseitigung eigener Schuld nicht brauchte,
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224 eine Analogie zur Erlösung am Kreuz: Weil Jesus, der makellos Gerechte, sich taufen ließ, hat er mit seiner Taufe schon hier die Sünden aller anderen stellvertretend auf sich genommen. Das kultische Gesetz der Kumulation scheut man auch hier nicht: Es macht gar nichts, wenn die Vergebung der Schuld an zwei Ereignissen festgemacht werden kann. Die theologische Bedeutung der Taufe Jesu nach Lukas liegt heute in zwei Punkten: in Jesu Gebet um den Heiligen Geist und in der Bedeutung der öffentlichen Taufe. – Immer wieder betont der Evangelist Lukas die Bedeutung des Betens um den Heiligen Geist, besonders in Kap. 11 des Evangeliums, aber auch dann, wenn Jesus oder die Gemeinde Menschen zur Mission beauftragt (Lk 6; Apg 13). Viel stärker, als es heute im Bewusstsein ist, gilt der Heilige Geist im frühen Christentum als die Kraft, aus der die christliche Gemeinde und jeder Einzelne leben kann. Das Gebet geschieht aus der Kraft des Heiligen Geistes genauso, wie es Bitte um den Heiligen Geist ist. Denn er ist ganz speziell die Art, in der der große Gott inmitten der christlichen Gemeinde wirkt. Sollte nicht die Spendung der Taufe viel stärker ein öffentliches Geschehnis und Bekenntnis sein?
Lk 4,1-13: Versuchungen Jesu in der Wüste Im Unterschied zu Matthäus bietet Lukas eine andere Abfolge der Versuchungen: Brotwunder – Anbetung – Tempelzinne. Die Folge bei Mt war: Brotwunder – Tempelzinne – Anbetung. Bei Mt erreicht die Versuchung ihren Höhepunkt in der Gottesfrage. Sie ist auch sonst Zielpunkt des MtEv, so auch im Taufbefehl (»Im Namen des Vates …«) – besonders für Heidenchristen ist das die wichtigste Frage: Wer ist nun Gott? Antwort: Der Sohn ist Gott, weil und indem er alles dem Vater verdankt. – Bei Lukas steht die Versuchung mit der Tempelzinne am Schluss und wird demnach am stärksten betont. Damit ist die Zielsetzung christologisch: Wird Jesus vor dem Leiden bewahrt werden, weil er Gottessohn ist? Antwort: Nein. Der Vater wird ihm helfen, wann er es will. Der Sohn soll und kann ohne Netz und doppelten Boden alles riskieren. So lesen sich die Versuchungen bei Lukas: Der Sohn verzichtet
Das Lukasevangelium
auf das Brotwunder, das seinen Hunger stillen könnte. Er verzichtet auf Ruhm und Ehre und Anbetung und überlässt sie dem Vater. Er verzichtet schließlich darauf, sich sein Leben retten zu lassen. Denn er geht auf die Passion zu. Man hat immer schon gesehen, dass im 3. Evangelium Jesus als der leidende Märtyrer herausgestellt wird. Das ist schon in der Anordnung der Versuchungen so, und wenige Verse später, in 4,29, werden aufgebrachte Juden den ersten Versuch zum Mord an Jesus unternehmen. Indem Lukas dieses berichtet, ist er übrigens nicht antisemtisch, sondern er berichtet getreulich über die das Leben Jesu bestimmende entscheidende Frage: Ist Jesus mit seinem Anspruch, den Geist Gottes zu haben (Lk 4,18) und Sohn Gottes zu sein, der Gotteslästerer und Falschprophet schlechthin? Oder hat er Recht? Ein Drittes gibt es nun einmal nicht. Nach Lukas sind die Versuchungen Jesu damit nicht beendet. In Lk 22,28 wird er den Jüngern sagen: Ihr habt mit mir durchgehalten in meinen Versuchungen. Da die Jünger zumindest in Lk 3 noch nicht dabei sind, sind Versuchungen hier wohl eine Zusammenfassung dessen, was Jesus schon vor seinem Leiden als Anfechtungen erlebt hat. Das ganze Leben des Messias in Niedrigkeit und Verkanntwerden sind offenbar »die Versuchungen«. Dieses Jesuswort (22,28) findet sich nur bei Lukas und ist aufschlussreich für die Sicht Jesu auf sein eigenes Leben und Wirken. Immer wieder wird er versucht, immer wieder wählt er den Weg der Leiden, das ganze Leben lang. Denn als Gottessohn könnte er es ganz anders haben. Hebr 12,1 formuliert es so: »Als Auserwählter hätte sich Jesus sicher für Freude und Freiheit vom Leid entscheiden können, doch stattdessen ertrug er geduldig das Kreuz« (Berger/Nord). So dann auch Hebr 4,15: »Jeder Versuchung hat er sich ausgesetzt.« Auch Schreien, Weinen und Beten Jesu bezieht der Brief (Hebr 5,7) offensichtlich auf das ganze Leben Jesu, eine Eingrenzung auf Getsemani ist nicht erkennbar. An der Art, in der Jesus den Teufel hier abweist, erkennen wir: Jesus befreit sich so im Vertrauen auf Gottes Wort von allem, was ihm Angst machen könnte. Er verzichtet auf jede Existenzsicherung, die er in Anspruch nehmen könnte. Die Angst um das eigene Leben könnte ihn dazu verführen, eine falsche Geborgenheit bei Gott zu su-
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Kapitel 4
chen. Stattdessen gewinnt er Mut, sich dem Leiden offen zu stellen. Es wird ihm nichts erspart bleiben. Bevor dieser Weg anfängt, versucht Jesus nicht, sich wegzuducken oder dem Weg auszuweichen. Er nimmt in Kauf, was ihm begegnen wird. So genießt er nicht »heute und morgen« privilegierten Schutz, wohl aber erfährt er dann »übermorgen« die Auferstehung. Dieses Gottvertrauen kostet ihn das irdische Leben. Aber es gibt etwas, das mehr und wichtiger ist als dieses.
Lk 4,14-21: Jesus kommt nach Nazaret In Lk 4 soll der Anfang bzw. der Anfang der öffentlichen Verkündigung Jesu dargestellt werden. Dennoch halten viele den Bericht über die »Antrittspredigt Jesu in Nazaret« für eine reine Konstruktion – geleitet von einer Hermeneutik des Misstrauens, für die ich allerdings keinen Grund sehe. Schon der Ausdruck Antrittspredigt ist irreführend, da er das protestantische Modell der Anstellung des künftigen Predigers beim Landesfürsten aufgrund der Antritts-(= Examens-)predigt zugrundelegt. Nein, Jesus musste keine Probepredigt halten, aufgrund derer er dann (vom Rabbinat) angestellt wurde oder nicht, durchfiel oder seine Karriere begann. Die Szene: Nach der Lesung aus der Torah erfolgte die Prophetenlesung. Gegen alle auch nur vorstellbare Möglichkeit der Auslegung bezieht Jesus den Text Jes 61,1 auf sich selbst. Damit ist er für die Leser und Leserinnen des Evangeliums der königlich-prophetische Heilsmittler, ähnlich wie der Qumrantext 11 Q Melch(isedek) 18 von dem spricht, der »der Freudenbote, das ist der mit Geist Gesalbte« ist. Der Gottesdienst der Synagoge am Sabbat war der Ort der öffentlichen Schriftauslegung, und die Apostelgeschichte bezeugt es immer wieder, dass die Apostel sich diesem Brauch angeschlossen haben. Überall begannen sie ihre Mission in der Synagoge am Sabbat und bewiesen auf der Basis der Schrift, dass Jesus der Messias sei. Die Kapitel ab Jes 40 waren und sind für den frühchristlichen Schriftbeweis die wichtigsten des Alten Testaments. Denn der geistbegabte Prophet selbst wie auch die rätselhafte Figur des Gottesknechts, der Heilsuniversalismus und die sehr offene Bildsprache dieser Kapitel boten wichtige Anhaltspunkte dafür. Das gilt übrigens auch
225 schon für die Texte von Qumran; denn hier ist die Liste der wunderbaren Taten Gottes, die auch Jes 61 kennt, (wie dann in Lk 7,22) erweitert um das Glied: »und die Toten wird er auferwecken«. Aus Jes 61,1 wurde die Verbindung von »senden« (Gott als Urheber), »Geist Gottes«, »salben« und »verkündigen des Evangeliums« maßgeblich für die Gestalt der christlichen Missionssprache. Das heißt: Das Wortfeld aus Jes 61,1 hat in ganz intensiver Weise Geschichte gemacht, nicht zuletzt deshalb, weil Jesus als der vom Heiligen Geist Gesalbte als der – in erster Linie prophetisch gedachte – verheißene Messias der Juden aufgefasst werden konnte. Nach Lk 24 mussten die Jünger erst vom Auferstandenen belehrt werden, bis sie selbst die Schrift verstanden – für die Jünger ist das Begreifen der Schrift erst die österliche Gabe (des Geistes). Jesus dagegen versteht die Schrift und legt sie richtig messianisch und auf sich selbst hin aus; denn im Unterschied zu den Jüngern ist er selbst von Anfang an mit dem Heiligen Geist erfüllt. Erst durch die Gabe des Erhöhten können die Jünger dann gleichziehen. Gerade die Apostelgeschichte und dann der Apologet Justin (Dialog mit dem Juden Tryphon) und Clemens von Alexandrien (»Teppiche«) zeigen, wie wichtig der Schriftbeweis für die frühe Gemeinde war. – Wenn irgendwo und in irgendeiner Figur Jes 61 erfüllt wird, d. h. zum Ziel kommt, dann in der Gestalt Jesu. Dass nicht an fundamentalistisches Erbsenzählen, sondern an Geschichtstheologie zu denken ist, offenbaren auch zwei weitere Elemente des Zitates in Lk 4: Aus Jes 61 fehlt der Satz »um zu heilen, die zerbrochenen Herzens sind«, und hinzugefügt ist stattdessen aus Jes 58,6: »um die Zerbrochenen freizulassen«; wörtlich im AT: »Löse jede Fessel der Ungerechtigkeit, löse die Fessel erzwungener Verträge.« Das bezieht sich auf die Freilassung der Schuldsklaven – angesprochen sind damit, wie im 3. Evangelium überhaupt sehr oft, die Reichen. Erfüllt wird das besonders in Lukas 6,37: »Lasst (den Schuldner) frei, und ihr werdet freigelassen werden.« Der lukanische Jesus hat damit die Feindesliebe auf Leihen und Schuldenerlass zugespitzt. Wie in der griechischen Version des Alten Testaments (Septuaginta) liest Jesus in Jes 61,2b »den Blinden Heilung« statt »den Gefangenen Öffnung« des hebräischen Textes. Wichtig ist: Jesus lässt aus Jes
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226 61,1 ff alles weg, was den Text auf Israel und den Berg Sion allein bezogen hätte. Die Trauernden weinen nicht mehr nur um Sion. Lukas befreit den Text damit aus jeder nur partikularen Heilshoffnung. Die »Armen« sind hier alle Menschen in realer Notlage. Aber was heißt »Evangelium für die Armen«? Hier werden Jesus und die frühe Gemeinde sehr konkret anknüpfen: Im Wehe gegen die Reichen, in der Aufforderung, alle Habe zu verkaufen, im Almosengeben (Lazarus-Erzählung!) und in der Praxis der frühen Gemeinde nach Apg 2-5, durch barmherzigen Umgang mit Besitz keinen in der Gemeinde verarmen zu lassen. Die lukanischen Heilungswunder haben stets eine soziale Komponente: auch die Befreiung aus dämonischer Macht ist eine Befreiung von Armen. – Für Lukas verkündet die real existierende Gemeinde durch ihre soziale Praxis direkt das Evangelium Jesu.
Lk 4,21-30: Jesus in seiner Heimatstadt »Der Prophet in seiner Vaterstadt« ist ein ewiges Thema aller prophetischen Gestalten in der Heilsgeschichte und darüber hinaus. Wenn man Lk 4 liest, erstaunt es umso mehr, dass ein Großteil der neueren Exegeten dem platten, verständnislosen Urteil der Bewohner von Nazaret zustimmen kann und inbrünstig erklärt: Ja, er war biologisch Josefs Sohn. Dann hätte Lukas umsonst geschrieben und Jesus auch hier schon umsonst gelitten. Der Text in Lukas 4 macht nur deutlich, dass die Gottessohnschaft Jesu wirklich das erste entscheidende Thema des Lebens und Sterbens Jesu ist. Und nach dem vorangehenden Zitat aus Jes 61,1f bedeutet das konkret: Hat er wirklich den Geist Gottes – oder ist er nur ein falscher Prophet? Aber noch eine zweite Zumutung spricht Jesus hier offen aus: Dass das Heil nicht nur für Israel gemeint ist, sondern dass sich der Gott Israels ebenso den Heiden zuwenden kann. Auch dafür gibt es erstaunlicherweise Vorbilder bei den Propheten des Alten Bundes, und zwar bei Elia und Elisa. Diese beiden Propheten sind auch sonst regelmäßig »Typoi« (heilsgeschichtliche Vorbilder) für Jesus, z. B. bei Jüngerberufung, Totenerweckung und Speisung der Menge. Daher kommen auch immer wieder die Anfragen: Bist du Elia?
Das Lukasevangelium
Jesus muss sie verneinen; denn bei der Verklärung wird erkennbar, dass Elia nur Sklave im Haus Gottes, Jesus aber der Sohn ist. Nach Lk 4 hat die Elia-Typologie auch für Juden unangenehme Seiten: Die Propheten Elia und Elisa haben sich bereits damals den Heiden zugewendet. Das werden die Jünger später auch tun. Es wird Paulus und viele andere das Leben kosten. An den Propheten des Alten Bundes ist daher immer wieder abzulesen, dass sich Gott nicht an menschliche Maßstäbe und Erwartungen binden lässt. So zeigt Lukas 4 mit seiner Propheten-Deutung insgesamt, wie wichtig der Schriftbeweis aus den Propheten für das älteste Christentum war. Denn in ihnen hatte man Musterfälle inspirierter Gottesmänner. Der geheimnisvolle Satz über die wunderbare Rettung Jesu »Doch Jesus schritt mitten durch sie hindurch« hat das Mittelalter angeregt, und so findet er sich auf mancher Glockeninschrift. Denn wie Jesus, von wunderbaren Mächten behütet, mitten durch das Lager seiner Feinde hindurchschreitet, so erwartet man es als Gabe Gottes für jeden Christen. Der Ton der geweihten Glocke, der die Räume der Gewitter und der bösen Geister durchdringt, galt als eine gute, verdeutlichende Auslegung von Luk 4,30. So sind in Luk 4 nicht nur in dem Jesaja-Zitat (Heiliger Geist, Salbung, Sendung, Evangelium, Arme, Wunder, Vergebung), sondern auch in dem nachfolgenden kurzen Bericht alle wichtigen Elemente des Evangeliums beieinander (Gottessohnschaft, Zuwendung zu den Heiden, Mordversuch an Jesus, Errettung aus Lebensgefahr bzw Tod). Dieses Kapitel bietet daher das Evangelium im Kleinen. Ähnlich ist es mit dem Prolog im JohEv (»doch die Welt wies ihn ab«, »und seine eigenen Menschen nahmen ihn nicht an«). Lukas 4 weckt daher im Ganzen die Frage: Warum ergeht es dem Gottessohn nicht besser – und mit ihm den meisten Christen? Die Antwort hier ist: Dass Propheten inklusive Gottessohn leiden müssen, hat immer ähnliche Ursachen: Unkenntnis, also mangelnde Sensibilität und Aufgeschlossenheit dafür, wo Gott wirkt, und Heilsegoismus, also mangelndes Verständnis dafür, dass Gott auch bei anderen wirken darf, wenn er es will, also eine auf das Wir zentrierte Festlegung Gottes. Und dabei kommt das Zweite, wie das Evangelium und die Apostelgeschichte
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Kapitel 5
immer wieder zeigen werden, vom Ersten. Denn überall beginnt Jesus und beginnen die Apostel in Israel und in jüdischen Synagogen. Immer wieder von Neuem wenden sie sich erst danach den Heiden zu, wenn sie bei Juden abgewiesen sind. Gerade diese Zuwendung zu den Heiden aber bringt beispielsweise Paulus den Tod ein. Und sofern man die Tempelreinigung Jesu als die Vorbereitung des Tempels für die betenden Heiden als den Anlass für den Todesbeschluss ansieht, trifft das mittelbar auch für Jesus zu. Die Heilsgeschichte verläuft nach Lukas nach zwei Grundsätzen. Erstens: Weil Israel nicht »will« und die Zuwendung Gottes in Jesus ignoriert, wendet sich das Evangelium den anderen zu. Und zweitens: Israel bestraft dann die Boten Gottes wegen Verrat am eigenen Volk, wegen Abfallens vom Judentum usw. – Den ersten Grundsatz formuliert schon der Täufer: Wenn ihr nicht wollt, kommen andere dran (Lk 3,8). Man kann diesen Grundasatz auch paulinisch fortschreiben; denn Paulus sagt in Röm 9-11 auch nichts anderes als dies, nur positiv gewendet: Der Ungehorsam der meisten Juden jetzt war die positive Voraussetzung für die Zuwendung zu den Heiden. Wie eng verwandt ist doch Paulus auch hier den Grundlagen der Evangelien-Tradition! Nun hatte diese Frage der Zuwendung zu den Heiden für das frühe Christentum elementare Bedeutung. Denn grob gesehen brachte das Christentum vor allem diese beiden Neuerungen: Jesus ist der Sohn Gottes, weil sein Geist der Heilige Geist Gottes ist (Dreifaltigkeit), und die Öffnung des Gottesvolkes für die Heiden. Genau diese bei-
den Punkte sind in Lukas 4 zur Sprache gebracht. Und wir sehen, wie beides miteinander verschränkt ist: Weil Israel das Erste nicht erkennt, macht Gott den zweiten Schritt und wendet sich den Heiden zu. Lk 4 ist daher für das Verhältnis von Judentum und Christentum elementar.
Lk 5,1-11: Überwältigender Fischfang bei Tag Petrus ist überzeugt davon, dass er in Jesus Gott begegnet. Denn bei Tag kann kein Fischer einen reichen Fang machen. Dieser Fischzug aber endet überwältigend. So etwas kann nur der Schöpfer. Dort, wo keines Menschen Hand etwas manipulieren kann, in der Tiefe des Meeres und in der Höhe des Himmels, dort kann nur Gott, der Schöpfer, etwas bewirken. Und wo er wirkt, da ist Überfülle, nicht Mittelmaß. Daher fällt Petrus vor Jesus auf die Knie, was ein Jude nur vor dem Schöpfergott tut. Daher redet er Jesus mit Herr an, welches der Gottesname in der griechischen Bibel ist. Und deshalb wird ihm vor allem in dieser Begegnung klar, wer er selbst ist: ein Mensch in der Gottesferne, in Ungerechtigkeit, in Sünde. In der Begegnung mit der Macht Gottes erkennt Petrus die Wahrheit über sich selbst. Durch die Begegnung mit der Macht Gottes fällt Petrus auf sich selbst zurück in heilsamer Selbsterkenntnis. Er erfährt, dass er nicht groß ist, sondern klein. Dass in diesem geheimnisvollen Gegenüber, in Jesus, ihm der begegnet, der wahrhaft groß ist.
Die Feldrede Jesu Lk 6,20.23-26: Selig die Armen … In der Tat fällt auf: Armut, Hunger und Weinen werden nicht im Geringsten spiritualisiert oder moralisiert. Jesus fragt nicht, warum diese Menschen arm, hungrig und traurig sind. Wichtig ist allein dieses: dass Gott ihr Geschick wendet. Gott wird das tun, wie es in der Offenbarung des Johannes von seiner neuen Schöpfung heißt: »Alle Tränen wird er von ihren Augen abwischen … Denn alles, was früher war, ist vorbei« (21,4). Die durchweg feststellbare Neigung der Bibel, nicht
nach dem Woher von Leid und Elend zu fragen, schlägt hier durch. Die Bibel fragt vielmehr immer danach, was Gott daraus machen wird, wenn es einmal so weit gekommen ist. Auch bei Lazarus und im Magnificat ist es so: »Die Mächtigen hat er vom Thron gestürzt und die Elenden aufgerichtet. Die Hungrigen hat er satt gemacht und die Reichen leer ausgehen lassen.« Und auch bei Lazarus heißt es nicht, dass er besonders fromm oder gerecht war. Die Begründung für diese Logik lässt Lk 6,24 erkennen: »Aber wehe euch, ihr Reichen, ihr habt euren Anteil schon kassiert.« Ähnlich ist
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228 es auch mit den nach außen hin Frommen in der Bergpredigt: »Amen, ich sage euch, sie haben damit ihre Belohnung schon«, nämlich damit, dass die Leute hingucken und sie hier irdischen Ruhm genießen. Damit aber ist deutlich, dass es sich bei den Seligpreisungen und Weherufen nicht um moralische Rede handelt. Denn man kann das nicht machen: hungrig sein oder weinen oder verfolgt werden. Anders als in den Seligpreisungen in Mt 5,1-12 geht es bei Lukas hier nicht um den Lohn für gerechtes Verhalten der Menschen wie Friedenstiften usw. Sondern bei Lukas ist Gottes Gerechtigkeit das Thema. Wie bei Lazarus wird er für Ausgleich sorgen: Der Reiche hatte üppig und in Freuden gelebt, und es entstand die Frage nach der ausgleichenden Gerechtigkeit. Gott wird den Vorwurf, er behandle Menschen ungleich, durch Umkehrung der Verhältnisse ausräumen. Und den scheinbaren Nachteil, dass die Armen zuerst arm sind und erst dann reich, wird er durch die Dauer der Äonen ausgleichen. Auch die Sätze über die Verfolgten in 6,22f, die leiden müssen wie die Propheten, meinen nicht den Lohn für Gerechtsein und Wohlverhalten der Verfolgten, sondern Gott wird ihr Geschick wenden. Man kann in diesen Aussagen über Gottes Gerechtsein und den Ausgleich, den er schaffen wird, eine ausgeweitete und konsequent zu Ende gedachte Märtyrertheologie sehen: Die irdische Lebenszeit des Märtyrers wird drastisch verkürzt, und Gottes Gerechtsein erfordert es geradezu, dass der Märtyrer eine Kompensation erhält. Und so wird es allen ergehen, die in diesem irdischen Leben nichts als Elend sahen. Denn Gott ist gerecht. Daraus entwickelte sich auch die Auffassung vom noch in dieser Weltzeit ausstehenden Tausendjährigen Reich; denn dieses ist die Zeit, in der alles das ganz gerecht abgegolten und ausgeglichen wird, was noch aussteht. Das ist nach Offb 20 die Zeit, in der die Märtyrer eine erste Auferstehung erleben werden. Wenn Gott gerecht ist, wird er diesen Ausgleich schaffen. Wir hätten freilich – das zeigt auch die Auslegungsgeschichte – immer gerne das Moralische hier mit untergebracht. Das betrifft besonders die Reichen, von denen Jesus sagt »Wehe euch, ihr habt euren Anteil schon kassiert.« Wir möchten gern reich und gut sein und meinen, mit Jesu Wort seien nur die bösen Reichen gemeint. Aber
Das Lukasevangelium
davon steht hier nichts. Die Übersetzung Berger/ Nord bringt hier zum Ausdruck, dass es sich um eine Skizze der Wohlstandskirche handeln könnte: »Wehe euch, die ihr jetzt volle Bäuche habt, ihr werdet hungern. Wehe euch, die ihr jetzt schäbig lacht, denn ihr werdet jammern und heulen. Wehe euch, wenn euch die anderen Schmeichelhaftes sagen. Denn genauso haben ihre Voreltern die falschen Propheten behandelt.« Diese Christen sind nicht abgrundtief böse, ihnen geht es nur sehr gut auf der Welt. Dafür werden sie nicht bestraft, Gott schafft nur Ausgleich und lässt auch die anderen einmal drankommen. Wir stehen damit hier vor einer besonderen Auffassung von Theodizee. Man darf wohl davon ausgehen, dass auch für Jesu Meinung in einem »normalen« Leben Freude und Leid sich abwechseln und ein gewisses Gleichmaß herrscht. Hier, in den Seligpreisungen und Weherufen dagegen werden die Extreme in den Blick genommen: die, denen es wirklich so gut geht, dass man sie reich nennen kann, und diejenigen, die einfach arm sind und heulen. Jesus spricht von den Extremen, um für beide – so, wie es schon das Magnificat tut – zu sagen: Ihr beiden Gruppen werdet in besonderer Weise die Führung Gottes zu spüren bekommen. Dabei sind – nur von daher wird dieser Abschnitt im Evangelium eigentlich verständlich – die verfolgten Jünger Jesu der eigentliche Anlass für Jesu Rede. Hier liegt der alleinige Schwerpunkt: »Selig seid ihr, wenn die anderen euch hassen, euch ausstoßen, euch beschimpfen und euren Namen mit Abscheu nennen, weil ihr zu Jesus gehört, dem Menschensohn. Freut euch und jubelt, wenn man euch das antut. Denn im Himmel werdet ihr reich entschädigt. Den Propheten ist es mit den Voreltern dieser Leute genauso ergangen … Wehe euch, wenn euch die anderen Schmeichelhaftes sagen. Denn genauso haben ihre Voreltern die falschen Propheten behandelt« (V. 22-26). Die Propheten sind neben den Erzvätern die edelsten Menschen, die ein Jude nennen kann. Und vom himmlischen Lohn der Propheten, den man sich schön ausgemalt hat, sprechen Mt 10,41 (»der wird belohnt werden wie ein Prophet«) und Offb 11,18 (»doch nun ist dein Gericht gekommen …, zu belohnen deine gehorsamen Propheten«). Sie allein dürfen nach Lk
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Kapitel 6
13,28 mit den Erzvätern an der himmlischen Tafel im vollendeten Reich Gottes sitzen, und zwar alle. – Und andererseits gelten nach dem bekannten Geschichtsbild des Deuteronomisten alle Propheten als verfolgt, denn nach den frühjüdischen Prophetenleben und dem Neuen Testament (z. B. Apg 7,52) haben sie alle den Märtyrertod erlitten. Jesus tröstet seine Jünger, die verfolgt und geschmäht sind. Er weist sie darauf hin, dass sie in keiner schlechten Gesellschaft sind, sie sind wie die Propheten. Er tröstet sie mit dem Gedanken der Umkehr ihres Geschicks und des gerechten Ausgleichs. In diesem Augenblick ist das fast wie eine Defintion des Glaubens an Gott: Ich glaube an den, der das kann und tun wird. Ich glaube an den Gott, der im Magnificat Marias gelobt wird. Er ist der Herr der Geschichte. Er wird die extremen Verhältnisse von Macht und Ohnmacht verkehren. Ja, ich glaube also daran, dass es eine Gerechtigkeit in der Welt gibt, und dass sie ein persönliches Antlitz hat, das Antlitz dieses Gottes. Denn nicht Zufall oder Schicksal bestimmen das Auf und Ab der Geschichte, die tiefen Täler und die großen Höhen. Das wäre letztlich blinder Zufall. Nein, ich glaube an den Gott, der Gerechtigkeit will und der diese Gerechtigkeit durch seinen Sohn Jesus Christus uns kundgetan hat. Und weil er es gesagt hat, ist es nicht irgendeine vage Hoffnung, sondern Auskunft über Gottes Willen, die Hoffnung macht, und die die Erniedrigten auf tiefster Talsohle erreicht.
Lk 6,27-38: Liebt eure Feinde Jesus spricht zu Jüngern, die Verfolgung leiden. So hatten die vorangehenden Seligpreisungen und auch die Weherufe geendet. Daher wird in dem Abschnitt 6,27-36 das Verhalten der Christen nach außen hin, zu ihren Gegnern und Verfolgern hin, zum Thema. Die beiden Hauptabschnitte in diesem Stück beginnen mit dem Stichwort »Liebe«. In V. 27 ist »Liebt eure Feinde« wie eine Überschrift über das Folgende, und in 6,32 beginnt die Argumentation mit dem Satz »Wenn ihr nur die liebt, die euch auch lieben …« Beide Abschnitte (6,27-31 und 6,32-36) enden auch mit einer allgemeineren Sentenz: In 6,31 finden wir die Goldene Regel (Geht so mit den
229 Menschen um, wie ihr selbst behandelt werden möchtet), und in 6,36 wird Gott einfach zum Vorbild erklärt: »Seid barmherzig, so wie euer Vater barmherzig ist.« – Im ganzen ersten Abschnitt (6,27-31) überwiegen die Imperative, im zweiten (6,32-36) wird argumentiert. Vier Argumente sind entscheidend. Das erste lautet: Wer die Feinde nicht liebt, unterscheidet sich nicht von den »Gottlosen« (zumeist mit »Sünder« übersetzt). Stattdessen kommt alles darauf an, Gottes Kind zu sein. Da Jesus verfolgte Jünger anspricht, lag die Frage nahe, ob sich Verfolger und Verfolgte nicht doch irgendwie ähnlich sind. Nein, die Verfolgung setzt einen qualitativen Unterschied voraus. Jünger handeln abweichend, sie sind fremd für ihre Umwelt. Sie unterscheiden sich auf rätselhafte Weise. Gerade die Verfolgung bringt es mit sich, dass eine Nivellierung ausgeschlossen ist. Die Jünger sind die auffälligen Abweichler. Sie sind zunächst einmal anders, und zwar gewaltlos, »hart im Nehmen«, wie man sagt. Die Abgrenzung von anderen ist nicht gegen diese anderen gerichtet. Sie ergibt sich aus der Frage: Wer ist Täter, wer ist Opfer? Die zweite Argumentation fragt immer: Was könnt ihr da noch von Gott erwarten – nämlich dann, wenn ihr auf Erden für alles schon Lohn und Ansehen zurückbekommt? Nur wenn man hier auf Erden nichts zurückerwartet, kann Gott einen reich entschädigen. Jesus sagt: »Macht es anders: Liebt eure Feinde, tut Gutes, ohne eine Gegenleistung zu erhoffen, leiht aus, ohne etwas zurückzuerwarten.« Vorausgesetzt ist bei dieser Logik: Es gibt eine ausgleichende Gerechtigkeit in der Welt. Mein Tun und mein Ergehen sind aufeinander bezogen. Gott garantiert gewissermaßen, dass das eine dem anderen entspricht, und das tut es entweder in dieser sichtbaren Welt oder in der noch unsichtbaren kommenden Welt Gottes. Der Verzicht auf erfolgreichen Machtgebrauch hier auf Erden ist Vorbedingung für den eschatologischen Lohn, den Ausgleich im Himmel. Das dritte Argument: So macht es Gott selbst, werdet ihm ähnlich, dann werdet ihr seine Kinder. Wenn man Gottes Kind ist, darf man bei ihm sein. Schon in Lev 19,2 hieß es: Seid heilig, denn ich, Gott, bin heilig. Das ist eigentlich ein priesterliches Argument. Die Priester sind Gott
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230 ähnlich, denn sie haben mit ihm Umgang. Für die Pharisäer, die priesterliche Ideale auch für Laien durchsetzen wollen, bedeutet diese Ähnlichkeit mit Gott auch die Verheißung künftiger Auferstehung. Bei ihnen hängt priesterliche Reinheit mit Auferstehung und ewigem Leben bei Gott eng zusammen. Schon das Jubiläenbuch (2. Jh. v. Chr) entfaltet den Gesichtspunkt des »königlichen Priestertums und heiligen Volkes Gottes«. Alle Israeliten sind zur Heiligkeit berufen. Im Übrigen setzt diese Abgrenzung nach außen keineswegs voraus, dass eine Binnenhierarchie fehlt oder fehlen könnte. Das ist erst ein reformatorisches Missverständnis, als setze »allgemeines Priestertum« voraus, dass es kein besonderes mehr gibt. In Lk 6,36-38 kommt noch ein neuer, vierter Gesichtspunkt hinzu, der der Talio, d. h. der entsprechenden Vergeltung. So, wie man selbst handelt, wird Gott an einem handeln. Jedes richtende Handeln wird zum Angriff auf den Alleinanspruch Gottes, Richter und Rächer zu sein. Vorausgesetzt ist hier Gottes Monopol im Machtgebrauch. Betrachten wir diese vier »Logiken« im Zusammenhang, so gilt: Jesus argumentiert nicht christologisch, also etwa mit seinem eigenen Auftrag oder Vorbild oder Geschick. Er spricht auch nicht von Gnade, Sündenvergebung oder Berufung, von Wunder oder Herrlichkeit. Jesus spricht davon, was es bedeutet, wenn das Handeln einer verfolgten und drangsalierten Minderheit sich direkt an Gott orientiert. Die Ethik Jesu hier ist zutiefst theologisch. Trotz ihres »weisheitlichen« Aussehens, das ja eher an die Vernunft allgemein zu appellieren scheint, ist es eine Ethik der verfolgten Minderheit. Keine Rede von Immanuel Kants Grundsatz, die Grundlagen des Handelns müssten jeweils zu einer allgemeinen Gesetzgebung auszuarbeiten sein. Nein, hier wird nicht allgemeine Humanität proklamiert, sondern die wichtigste Realität ist Gott, und zu ihm gehört eine Truppe von Menschen, die – nicht um die Welt zu verändern, sondern weil sie um jeden Preis zu Gott gehören will – das Los einer Märtyrer-Elite auf sich nimmt. Sich unterscheiden jetzt und Hoffnung haben für dann, das sind die beiden nicht allgemeinen, sondern sehr besonderen Elemente des Verhaltens der Christen im Hier und Jetzt. Die Unterscheidung
Das Lukasevangelium
in der Gegenwart bedeutet einen auffälligen und totalen Verzicht auf Macht, Druck und Erpressung. Die Christen sind hier in der Welt die »sanften Versager«, die das Spiel der Macht nicht begriffen haben. Die Situation der Minderheit, die so gar nicht zu einer allgemeinen Humanität (etwa im Sinne von »Weltethos«) passt, wird gleich zu Anfang deutlich: »Liebt eure Feinde, tut denen Gutes, die euch hassen. Segnet, die euch verfluchen. Betet für die, die euch misshandeln.« Folgende Situation wird hier vorausgesetzt: Die auserwählte Gemeinde steht in der Mitte. Sie empfängt massiv Feindschaft, Hass, Verfluchung und Misshandlung. Aber sie bricht darunter nicht zusammen. Aus der geheimen Mitte ihrer Existenz, von Gott her, empfängt sie die Kraft, all das Negative und Scheußliche, das sie empfängt, umzuwandeln in das Gegenteil. Sie verwandelt die empfangene Feindschaft in Liebe, die Verfluchung in Segen. Sie hat eine unglaubliche und wunderbare verwandelnde Kraft. Eine Analogie zu Gottes »Verhalten« angesichts der Kreuzigung Jesu drängt sich unmittelbar auf: Gott beantwortet den Hass der Menschen mit Liebe, er reagiert auf Gemeinheit und Mord an seinem Sohn mit umso größerer Feindesliebe, indem er sagt: Jetzt liebe ich euch erst recht. Paulus wird in Röm 5 die Kreuzigung Jesu als den Anlass für Gottes Feindesliebe darstellen. Die Kraft, die empfangenen Hass in verschenkende Liebe verwandelt, ist daher immer Gott selbst. Nur er, betrachtet als die geheime Mitte der Gemeinde der Jünger, kann das, was ihm angetan wird, so vergelten. Vergebung ist göttlich. Für die Theologiegeschichte des frühen Christentums wird an dieser Stelle Wichtiges erkennbar: Schon in der Feldrede bzw. Bergpredigt Jesu wird genau das Denkmodell vorbereitet (und zwar ganz ohne christologischen Zusammenhang), das dann später bei der Kreuzigung auf Jesu und Gottes Tun angewandt wird. Gott wird auf den Mord an seinem Sohn ganz genauso reagieren, wie es hier von den Jüngern gefordert wird. Und hinter beiden Traditionen dasselbe Bild: Gelitten wird nicht um des Leidens willen, sondern das Leiden des Gerechten bzw. der Verfolgten wird zu aktiver Liebe umgewandelt. Gott ist das Segenszentrum der Welt. So verwandelt seine Kraft auch unsere Sterblichkeit in seine Unsterblichkeit. Mit so etwas konnte und wollte
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Kapitel 6
Kant »innerhalb der Grenzen der Vernunft« nicht rechnen. Wenn in 6,29 der Christ aufgefordert wird, zu dem, was man ihm nimmt, noch das Doppelte hinzuzugeben, so ist auch hier nach der Logik zu fragen. Soll die Kette der Gewalt beendet werden, indem der Christ zum Erstaunen des Gewalttäters noch das Doppelte hinzulegt? Nimmt dadurch der Jünger das Gesetz des Handelns an sich? Erstickt er so die in der Welt seit jeher übliche Abfolge von Gewalt und Gegengewalt bereits im Keim? Will er so den Gewalttäter zum Nachdenken bringen? Trifft die Verheißung, die die Didache (Zwölfapostellehre, 1. Jh.) für dieses Verhalten gibt – »… so wirst du keinen Feind haben« – wirklich zu? Oder sind das Ziel Askese und Schmerzunempfindlichkeit seitens des Christen? Oder ist der Wiener Domprediger Franziskus Peikhart SJ im Recht, der 1753 sagt: »… diese Liebe könne aus unserm Feind, und aus der Hand deren, die uns hassen, unser Heyl auswürcken. Und dahero auch nicht uneben Hilarius die Liebe deren Feinden eine Pforten des Himmels genennet …«?
Lk 6,39-45: Gleichnis vom blinden Blindenfüher Zwei Bildbereiche bestimmen unseren Text: Die Themen Sehen und Blindsein sowie das Hervorbringen von innen nach außen. Letzteres gilt für Früchte wie auch besonders für Worte. Beim Thema Sehen geht es um das unverfälschte Wahrnehmen der Wirklichkeit, beim Hervorbringen um deren Veränderung durch jeden einzelnen Menschen. Das unverfälschte Wahrnehmen ist die Voraussetzung für alle Offenbarung. So finden sich auch hier, zumindest angedeutet, Gotteserkenntnis und Selbsterkenntnis; das Mittelalter sagt: Noverim me – noverim te. Wenn ich mich selbst erkenne, kann ich auch dich, Gott erkennen. Die blinden Blindenführer sind nach Mt 15 die Pharisäer. Ihre Blindheit betrifft auch das, was wichtig ist an Gottes Gebot: Gott selbst. Hier in der Lukas-Fassung gilt das aber von jedem Lehrer, nicht nur von den Pharisäern; Lukas hat im Übrigen eine Neigung, die Pharisäer für den besten Teil des Judentums zu halten; vielleicht schont er sie deshalb. In jedem Fall aber gehört der blinde Blindenführer seit Jesus
231 zu den »geflügelten Worten« der Menschheit. Welch riesige Verantwortung liegt auf jedem Lehrer – das wird besonders im Schadensfall erkennbar. Beide Abschnitte eint eine durchaus unbarmherzige Sicht der Welt und des Menschen. Man nennt sie Dualismus (lat. duo, zwei). Die Wirklichkeit ist demnach strikt zweigeteilt. Entweder man ist blind oder man sieht. Entweder der Baum, d. h. der Mensch, ist gesund, oder er ist krank, die Früchte sind faul oder gut, Disteln oder Dornen; der Mensch hängt sich an wertlosen Tand oder an einen kostbaren Schatz. Durch seine groteske Redeweise verstärkt Jesus noch holzschnittartig diese Gegensätze: Das gilt vom Bild der beiden in eine Grube fallenden Blinden genau so wie vom Bild mit Splitter und Balken. Denn wer hat schon einen Balken im Auge? Dieser Dualismus ist eine harte und riskante Redeweise, und zwar bis heute. Niemand lässt sich in Wahrheit gerne so ansprechen – außer von Predigern, die ihm die Hölle heiß machen; aber die müssen dann entsprechend selbst von ihrer harten Botschaft überzeugt sein. Nein, die Rede von Schwarz und Weiß ist nicht populär, da sie polarisiert und nach Fanatismus riecht. Nun wird diese Einschätzung allerdings dieser Redeform keineswegs gerecht, denn sie ist ihrem Ursprung nach überhaupt keine Ausgrenzung von Menschen, auch keine Beurteilung von Menschen. Sie kommt aus der Tradition der Weisheit und hat didaktische, pädagogische Bedeutung. Sie schildert entgegengesetzte Wege, Lebensentwürfe, Handlungstypen. Ähnlich geschieht das auch bei Seligpreisungen und Weherufen. So hat diese Weise zu reden informierenden, nicht aber ausgrenzenden und verurteilenden Charakter. Letztlich geht es um den Kontrast von Torheit und Klugheit, von Tod und Leben, gerade so wie in der Weisheitsliteratur des Alten Testaments. Daher haben diese strengen Aussagen einen provozierenden Charakter, keineswegs sollen sie im Sinne endgültiger Vorherbestimmung gelesen werden; man nennt das dann »Prädestination«. Man könnte sie so lesen und sagen: Ich bin eben ein schlechter Baum, ich bin die Dornen und Disteln. Daher kann aus mir nichts Gutes kommen. Aber eine derartige Vorherbestimmung kann Jesus hier nicht meinen, denn es handelt sich
Berger (08129) / p. 232 / 19.5.2020
232 dem Zusammenhang nach um eine Mahnrede. Daher meint Jesus nicht Aussichtslosigkeit und Endgültigkeit. Vielmehr weist er auf den Zusammenhang von außen und innen, von Sein und Handeln. Aber das geschieht nicht, um die Menschen mutlos zu machen, indem sie sich und andere verurteilen, sondern Jesus redet so, um die Menschen zu einer eindeutigen, radikalen, reinen Position zu bewegen. Jesus hält nichts von der Lauheit, vom unklaren Zwischenzustand. Er fordert zum Entweder/Oder auf, und das kann nur sehr radikal vollzogen werden. Er will auffordern: Sei du ganz Feigenbaum oder Weinstock. Denn deine Früchte können nur Leben fördern oder Leben verhindern. Es hilft nur das eine, alle Zwischentöne sind am Ende wertlos. Einen ähnlich aufreizenden Charakter hat auch ein anderes Jesuswort: »Wer hat, dem wird gegeben, wer aber wenig hat, dem wird auch das Wenige noch genommen werden.« Denn nur das Radikale zählt. Insofern sind die Indikative, in denen Jesus hier redet (»trägt keine faulen Früchte«, »liefern keine Feigen«) sehr starke Imperative. Jesus tritt hier kompromisslos auf, offenbar weil er weiß, dass wir Menschen für die Kompromisse dann schon selbst sorgen werden. Seine Worte haben daher die Funktion von Leuchttürmen. Jede Abweichung bei der Anzeige der Leuchttürme kostet schnell Menschenleben. Daher muss, wer Leuchtturm sein will, klar und rein reden. Davon, von dieser Verkündigung der klaren Normen, ist ausdrücklich die Seelsorge zu unterscheiden. Denn hier geht es dann um Menschen und ihre Be-Urteilung. »Die Sünde hassen, aber den Sünder lieben«, so wird es dann Augustinus klassisch formulieren. Jesus umgeht mit seiner Formulierung offenbar sehr bewusst drei typische Probleme, die sich bei uns alsbald zu melden pflegen. Das eine Problem: Wie wird man denn fruchtbarer Feigenbaum oder Weinstock? Oder anders: Wie komme ich dahin, radikal und eindeutig handeln zu können? Die Antwort Jesu würde sein: Folge mir nach, bedingungslos! Werde frei für diese Radikalität, die selig macht. Tritt ein in die Verbindung mit mir. Sie erklärt alles und löst alles. – Das zweite Problem ist: Wie kann man erkennen, ob die Früchte gut sind und die Worte echt? – Antwort Jesu: Grundsätzlich gilt: Werke sind Zeichen. Sage mir, was du tust und sagst, und ich
Das Lukasevangelium
sage dir, ob du zu mir gehörtst, ob du auf der Seite des Lebens stehst oder auf der des Todes. Aber ist das nicht sehr schwer, Werke eindeutig zu beurteilen? Jesu Antwort: Die Beurteilung der Werke überlasst Gott. Ihr müsst weder die Werke anderer beurteilen, noch auf die eigenen stolz sein. Darum geht es wirklich überhaupt nicht. Interessant ist nur der Wille eures Herzens, eben »wo ihr steht«. – Die dritte Frage: Wie kann man sich denn zum Tun aufraffen? Oft ist ja der Wille vorhanden, nur sind wir Menschen schlaff und müde, mutlos und geben schnell auf. Jesu Antwort: Eben diese Schwelle zwischen Einsicht und Tat, zwischen Wollen und Vollbringen möchte ich suggestiv überspielen. Du wirst so handeln, wie du bist. Du kannst dem folgen, was du bist. Höre auf dein Herz, folge deiner Intuition, die dir dank Gottes Gnade gegeben ist. – So ist, wenn man genauer hinsieht, Jesu harte und unangenehm spaltende Rede in Wirklichkeit in verschiedenen Ebenen ein Appell an das Herz des Menschen, an seine Fähigkeit, Gottes Gnade als Freiraum zum engagierten Handeln zu betrachten, wie es in der Schrift heißt: »Du stellst meine Füße auf einen weiten Raum.« Jesus zeigt im zweiten Abschnitt eine besondere Sensibilität für Worte. Sie stehen direkt neben den Taten als Zeichen für das Innere. Am schärfsten sagt Jesus das in Mt 12,36f: »Am Tag des Gerichtes werdet ihr Rechenschaft ablegen müssen über jedes böse Wort, das ihr sagt. Denn aufgrund seiner Worte wird jemand freigesprochen oder verurteilt.« Hier liegt eine kulturelle Differenz: In unserer Gesellschaft mit dem Hang zur Anonymisierung zählt vor allem das Scheckbuch oder der Geldwert. Die Gesellschaft zur Zeit Jesu ist da grundsätzlich anders; ihr kommt es sehr stark auf das soziale, kommunikative Miteinander an. In Strukturen, die durch enges Zusammenleben, in Familie, Sippe und Dorf bestimmt sind, können Worte sehr viel stärker, als das heute der Fall ist, Kitt oder Sprengsatz sein. Jeder, der in engerer Gemeinschaft mit anderen lebt oder arbeitet, weiß, welche Bedeutung Gerüchte oder böse Rede über andere Leute haben (»Hast du schon gehört, was der und der gesagt hat?«). In der heutigen Gesellschaft ist diese Verantwortung, die früher jeder Einzelne wahrzunehmen hatte, an die Medien übergegangen; Verantwortung spielt sich woanders ab.
Berger (08129) / p. 233 / 19.5.2020
Kapitel 7
Für die paulinische Theologie ist »sich rühmen« wichtig, und aus der Bergpredigt wissen wir, wie Jesus es beurteilt, wenn wir den Nächsten »Du Idiot!« nennen: Es ist wie Mord. Die Gesellschaft zur Zeit Jesu ist nicht anonym, sondern jeder hat einen Namen zu verlieren. Sozial ausgeschlossen zu sein, das widerfährt einem besonders aufgrund böser Gerüchte. Da wir das Gespür für diese Dimension des Handelns weithin verloren haben, kann unser Text uns mahnen, es wiederzugewinnen. Es kann sein, dass wir also erschrecken, wie viel doch unsere Worte anrichten. Und dass die Vernichtung eines Menschen tatsächlich hier beginnt, lange bevor daraus eine Kampagne wird. So stößt uns die andere Wahrnehmungskultur Jesu auf erhebliche Versäumnisse in unserer alltäglichen Wahrnehmung und Sensibilität. Positiv formuliert: Dass Jesus Worte wie Taten einschätzt, sagt etwas über die Empfindlichkeit seines Menschenbildes. Kompositionskritik Lk 7-9 (Fortsetzung der Kompositionskritik [oben] zu Lk 5-6) – Wie schon in Kap. 5-6 erweisen sich auch hier einige Elemente als stabile technische Gestaltungs-Faktoren in der lukanischen Komposition: die inhaltliche Steigerung bei Wunderberichten (gradatio); die Voranstellung apostolischer Autoritäten; die Endposition von Bekenntnissen; die argumentative Funktion von Wunderberichten (Bestätigung); so genannte Schaltertexte, d. h. Textsegmente, die mit Aufnahme eines Stichwortes mit dem Vorangehenden verbinden, aber gleichzeitig ein neues Thema einleiten, so z. B. Lk 6,1-5: Thema essen nach rückwärts und Sabbat nach vorwärts. So wird in Lk 7,36-50 einerseits das Thema Bekenntnis fortgesetzt: V. 49 fragt: »Wer ist dieser, dass er Sünden vergibt?« (vgl. 7,19). Die Sündenvergebung ist hier die höchste Steigerung. Gleichzeitig leitet der Abschnitt über zum Thema »Frauen«, das Kap. 8 bestimmen wird. Denn obwohl Frauen keinen titularen Rang haben, erhalten sie durch die lukanische Komposition eine den berufenen Jüngern vergleichbare Autorität. So wird Kapitel 8 gerahmt durch die Frauen-Berichte in 7,36-50 und 8,1-3 sowie den Spruch über Mutter und Brüder in 8,19-21; das Kapitel wird schießlich durch das Doppelwunder an Frauen in 8,40-56 beendet. In 7,36-8,3 haben
233 die Frauen eine ähnliche Rolle wie Petrus, die Zebedaiden, Levi und die Zwölf in Kap. 5-7. Das Gleichnis-Kapitel 8,4-18 steht innerhalb von Kap. 7-9 für die »Lehre«. Die Lehre wird legitimiert durch Abschnitte, die die Vollmacht Jesu ausweisen, das Wunder als Bootsgeschichte (mit Wiederaufnahme der Wer-ist-Frage in V. 25 (»Wer ist dieser, dass Meer und Wund ihm gehorchen?«; vgl. 7,19.49) und mit den drei Wunderberichten am Schluss (Gerasener, Blutflüssige, Tochter des »Jairus«). Thema Frauen 7,36-50 (Wer-Frage in V. 49); Thema Frauen 8,1-3: Bei diesen Autoritätsträgerinnen wird die Lehre aufgehängt: Gleichnisse 8,4-18; Thema Frauen 8,19-21: Wunder als 2. Standbein, darin: Wer-Frage in 8,25 und Thema Frauen 8,40-56.
Die Kombination von Lehre und Wunder in der Folge ist wie in Mt 5-7.8. Unter den Frauen hat diejenige Namenlose die größte Autorität, die am meisten liebt. Frauen und Gleichnisse Es ist erkennbare kompositionelle Eigenart des Lukas, Lehrstoffe an bestimmte Autoritäten zu binden. So geschieht es mit der Feldrede und den Zwölfen, mit den Gleichnissen und den Frauen, mit der Gebetsparänese bei den Jüngern, die »selige Augenzeugen« sind (10,23f und 10,25 ff). Man darf fragen, wie es dazu gekommen ist. Aus meiner Sicht lässt dieses Rückschlüsse auf die frühchristliche Religionspädagogik zu. Alle Gleichnisse sind im alltäglichen Leben verwurzelt; dieses ist stets der metaphernspendende Bereich. Frauen obliegt auch im hellenistischen Judentum, dem unmittelbaren kulturellen Hintergrund des frühen Christentums bis ca. 250 n. Chr., die religiöse und literarische Bildung der Kinder im Haus. Hier werden die biblischen Geschichten erzählt, und die Gleichnisse sind eine Art biblischer Erzählkunst. Das betrifft besonders die etwas umfänglicheren Gleichnisse. Ich gehe davon aus, dass die Belehrung mit Gleichnissen in verschiedensten Altersstufen eine allgemeine pädagogische Praxis des frühesten Christentums war. Man kann zur Bekräftigung der These auf eine verwandte Gattung hinweisen, von der sich das sicher beweisen lässt: Die Bei-
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234 spielgeschichten (exempla) und entsprechende Sammlungen bilden z. B. bei Plutarch ein wichtiges Gerüst seiner Traktate (und in den folgenden Jahrhunderten, z. T. bis vor 50 Jahren, auch der Predigten).
Lk 7,1-10: Der Hauptmann von Kafarnaum Von Fernheilungen hört man immer wieder. Sie gehören zum Beruf des Heilers dazu. Insofern sind sie nichts Besonderes; denn das homöopathische Prinzip der Unverhältnismäßigkeit, das sich immer wieder sonst bei Wundern zeigt, gilt auch hier. Wer durch ein Wort Tote erweckt, durch eine Berührung langes Siechtum ändert, der kann auch über große Entfernungen hin wirken. Immer wieder ist es das Allerwenigste: Wo man fast keine Energie mehr spürt, wirkt das am meisten, was ein Wunder vollbringt. Thema von Lk 7,1-28 ist immer wieder der Tod (V. 2.12.22). Gemeinsam mit der Parallele bei Mt (8,5-13) ist in Lk 7,1-10 das Leitmotiv Jesus/Heiden/Israel, besonders in Mt 8,11f und Lk 7,9 (siehe auch Lk 13,28f). Schier entmutigend ist die Distanz zwischen Jesus und dem Hauptmann. Der Hauptmann begegnet Jesus gar nicht. Nur über Mittelsmänner hat er Kontakt zu ihm. In dieser räumlichen Distanz spiegelt sich bereits die räumliche und zeitliche Entfernung der künftigen Leser. Dass andere für ihn eintreten bei Jesus, lässt den Hauptmann – ähnlich wie uns – auf Fürbitte füreinander angewiesen sein. Denn der Hauptmann, offenkundig Heide, wagt gar nicht, direkten Kontakt mit Jesus aufzunehmen: Er schickt andere vor (V. 3: jüdische Älteste, V. 6: Freunde). So bekennt er selbst zweifach, »nicht würdig zu sein« (ganz ähnlich wie der Zöllner in Lk 18), während die jüdischen Ältesten Jesus sagen: »Er ist würdig!« Sie begründen das mit finanziellen Zuwendungen, die er Juden gemacht habe (V. 5). Zunächst berichtet ein Erzählstück über den Hauptmann (V. 3-6a: Fremdzeugnis), dann redet er im Ich-Stil (V. 6b-8: Selbstzeugnis), wenn auch nur im Referat. – Der Gattung nach handelt es sich bei Lk deutlicher als bei Mt um eine Petition. Der Kranke wie die Heilung selbst spielen nur am Rande eine Rolle. Zum Schluss dieses judenfreundlichen Stückes stellt Jesus über den Haupt-
Das Lukasevangelium
mann fest: »Nicht einmal in Israel habe ich so großen Glauben gefunden.« So wirkt Jesus eine Fernheilung, ohne das heidnische Haus betreten zu haben. – Der Schluss in allen drei Versionen ist die Feststellung der eingetretenen Heilung (Mt 8,13; Lk 7,10; Joh 4,53). Der heidnische Hauptmann, der fürs Christsein geeignet ist, hat Israel Gutes getan; ähnlich wird auch von dem heidnischen Hauptmann Kornelius in Apg 10,1f berichtet werden. Die Bedingungen, unter denen Heiden christlich werden, sind also nicht antijüdisch. Vielmehr gilt: Wer durch Gebet und Almosen der Synagoge gegenüber freundlich war, ist eigentlich ein geborener Christ. Sein Glaube kann selbst den der Judenchristen übertreffen. – Dieser Glaube äußert sich auf »rührend« militaristische Weise: Der Hauptmann glaubt, dass wie beim Militär auch bei Jesus ein knapper Befehl genügt, auf dass alles Gewünschte eintritt. Allerdings wird Jesus dann noch nicht einmal einen Befehl geben. Vielmehr ist Jesu Aktivität in der ganzen Erzählung fast bei Null. Nach V. 9 staunt er lediglich. Doch nur in dieser Erzählung bewundert Jesus einen Menschen. Es staunen also nicht die Leute über Jesus, sondern Jesus staunt über den Glauben des Hauptmanns. Denn solcher Glaube wirkt eigentlich das Wunder. Gemeinsam mit Joh 4: Die Gleichzeitigkeit ist wichtiger als die räumliche Nähe (»Fernheilung«), Schwerpunkt ist jeweils der Dialog, nicht der Effekt der Heilung (Lk 7,4-8; Mt 8, 6-13a; Joh 4,47-50). Gemeinsam ist allen drei Berichten das Thema »Glauben« angesichts einer möglichen Fernheilung. Zu den Adressaten des Textes: Nichtchristliche Juden dürften kaum entzückt gewesen sein; denn der Text schildert doch, wie Christen die jüdische Sympathisanten-Szene rund um die Synagoge »abernten«. Die Matthäus-Fassung appelliert dringlich (im Sinne der paradoxen Intervention) an Israel; der Bericht deutet an, dass die Juden am mangelnden Glauben zu scheitern drohen. Die Lukas-Fassung plädiert für die Zulassung von Heidenchristen aufgrund von Glauben und bricht so die Perspektive von Judenchristen auf. Mit guter Beobachtungsgabe für Menschen stellt Lukas die rührenden Ambitionen der Leute dar. Die Juden sagen: Er ist würdig, denn er liebt unsere Nation. Und er hat uns die Synagoge ge-
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Kapitel 7
baut. Das Erstaunliche: Jesus akzeptiert dies. Als ob jemand sich durch Geldaufwendungen würdig machen könnte für eine Heilung durch Jesus. Dreimal also, bei den Juden, beim heidnischen Hauptmann mit seinem Militarismus und beim Vertrauen auf die Fernheilung überhaupt, akzeptiert Jesus abergläubische oder allzu naive Vorstellungen, die wir nicht Glauben zu nennen wagten. Glaube ist nach dem Evangelium keine Leistung und auch kein besonders klares Denken, sondern Glaube ist eine Richtung, die wir unsere Not und unsere Verzweiflung nehmen lassen. Eine Richtung unseres Bittens und Hoffens. Ähnlich wie in der anderen Geschichte (Lk 7,36 ff) mit der Edelhure, die sich an Jesus heranmacht und beginnt, ihm ihren Service angedeihen zu lassen – und Jesus akzeptiert das als Liebe und wagt zu sagen: Weil sie viel geliebt hat, wird ihr viel vergeben. Dein Glaube hat dir geholfen. Wir sind oft wie altkluge Kinder und geben uns schon selbst die Antwort. Wir angeln dann nach Glaubensvorstellungen, statt die Antwort ihm zu überlassen. Lassen wir ihn doch die Mauer sein, vor der wir klagen. Wir müssen uns nichts Kluges dazu einfallen lassen – die Klagemauer als Bild für Gott. Noch immer ist unser Glaube dem Glauben ähnlich, der hier in der Geschichte geschildert wird. Wir wissen von Jesus nur von ferne. Nur unsere Nöte sind elementar. Auch uns sagt der Herr: Nur die Richtung muss stimmen, aber die ganz. Wenn wir nur die Ahnung haben, dass durch ihn alles gut wird. Wenn wir, wie indirekt auch immer, nur in Berührung kommen mit ihm. Dann wird er alle unseren naiven, falschen und abergläubischen Hoffnungen annehmen, wie sie sind. So ermuntert er uns zu dem, was wir heimlich ersehnen und ebenso oft buchstäblich nicht zu sagen und zu hoffen wagen. Jeder von uns hat falsche Voraussetzungen. Aber Gott akzeptiert alles, auch die Reste meines Kinderglaubens, die ich nicht in wohlgesetzte Worten fassen kann. Wenn nur die Richtung stimmt. Aber oft ist Christentum zum bloßen Diskussionsthema herabgesunken, weil wir vergessen haben, dass Christentum eine Religion ist, die sich ums Elementare kümmert. Und dazu gehört, ein Auge zu haben für die Zeichen der Hoffnung, für die Strohhalme des Vertrauens, dafür, dass Gott nicht weit weg ist, sondern ganz nah. Unsere
Frömmigkeit wird keine Chance haben, wenn sie nicht leiblich ist. Die Wunder Jesu sind nicht einfach die praktische Seite der Wirksamkeit Jesu im Sinne eines Heilers oder Volksarztes. Diese Wunder sind Zeichenhandlungen Jesu, die über die einzelne Tat hinaus auf das Ganze von Jesu Botschaft und Werk hinweisen. Alle Zeichenhandlungen der Propheten waren Elemente und Fragmente ihres Handelns, sie sind eher medientechnisch (im Sinne des Ausrichtens der Botschaft) als medizinisch zu verstehen. Wie einst die Propheten will auch Jesus mit seinen Zeichenhandlungen etwas über Gottes Absicht, über Heil und Unheil sagen. Es ist Gottes Absicht, das erfahren wir aus Jesu Zeichen, den Menschen im Ganzen zu heilen. Gott ist der Arzt, er wird alle gesund machen, und zwar auf Dauer. Auch die Heiden werden dazugehören, denn von Gott kommt das Heil in Überfülle. Das wird auch die Antwort auf Fragen sein, die sich jetzt stellen. Es betrifft Themen wie die anstößige Erwählung Israels und die Theodizee – wie Gott jetzt noch Leid und Krankheit zulassen kann? Beides sind Themen unseres Textes. Die Antwort heißt: Seit Jesu Auftreten ist die Weltordnung der Zukunft ganz nah gerückt, so wie an einem Morgen mit dickem Nebel die Menschen ahnen, dass es kurz vor Sonnendurchbruch sein muss. Das Neue wird aus den Fragmenten schon gut erahnbar. An der Stelle des Angelds, der Anzahlung des Heiligen Geistes bei Paulus, stehen in den vier Evangelien die Wunder. Sie besagen: Gott will das Ganze und will alle. Werdet nicht ungeduldig, der Anfang ist massiv gesetzt. Euer Glaube aber ist wesentlich Geduld, die Fähigkeit, aus Teilmosaiken das Ganze schon zu denken und zu erahnen.
Lk 7,11-17: Der junge Mann von Nain Tote auferwecken zu können ist das absolute Privileg Gottes, denn das kann nur er. Wo immer ein Rivale Gottes oder Jesu auftritt wie zum Beispiel der Antichrist, an der Totenauferweckung scheitert er. Daher heißt es im Achtzehn-BittenGebet aus dem Judentum zur Zeit Jesu: »Der du lebendig machst die Toten.« Allein Gott oder der von ihm direkt Bevollmächtigte kann so handeln; denn Gott ist der Schöpfer, der aus totem Lehm
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236 den Menschen gemacht hat und der, weil er allein Schöpfer bleibt, das exklusive Recht auf Wiederholung hat. – Die Hochschätzung der Totenauferweckung kann man stets auch an der Komposition der Evangelisten erkennen. Denn im literarischen Arrangement ihrer Berichte, insbesondere der Wunderberichte, nehmen die Berichte über die Auferweckung Toter stets die glanzvolle und extrem bedeutsame Schlussposition als Höhepunkt der Erzählung ein. In Joh 11 steht die Auferweckung des Lazarus am Ende der öffentlichen Wirksamkeit Jesu und als Höhepunkt aller seiner Wunder. In Lk 7 folgt die Auferweckung des Jünglings von Nain der Heilung des Sklaven des Hauptmann von Kafarnaum (7,1-10) und steht insbesondere direkt vor der entscheidenden Zusammenfassung in Lk 7,1823, in der Jesus Johannes dem Täufer ausrichten lässt: »Blinde können sehen, Lahme können gehen, Aussätzige sind rein, Taube können hören, Tote werden auferweckt« (7,22). Mit der Aussage über die Totenauferweckung endet auch die Liste der Wunder in Lk 7,22. Auch in Mk 5 bildet die Auferweckung der Tochter des Jairus, unterbrochen noch durch das »retardierende Element« der Heilung der Blutflüssigen, den Höhepunkt der Wundertaten von Mk 4f (Sturmstillung – Heilung des Besessenen – Heilung der Blutflüssigen – Totenerweckung). Alle Wunder Jesu sind Zeichenhandlungen und bilden daher je einen Hinweis auf das, was Gott mit den Menschen im Ganzen vorhat. Daher sind alle Berichte über die Auferweckung Toter in den Evangelien Hinweise auf Gottes endzeitliche Auferweckung der Toten, und zwar der toten Gerechten. Aber da die von Jesus auferweckten Toten wieder sterben, bleiben diese Taten wirklich nur zeichenhafte Hinweise und bilden nur einen Teil des Ganzen vorher ab. Paulus zeigt in Röm 4, wie er die zeitgenössische Theologie der Auferstehung beherrscht. Denn er kann die Elternschaft Abrahams und Saras, die Isaak hervorbringen können, als Auferstehung deuten – ein vergleichsweise kühnes theologisches Unterfangen! Denn dass Abraham trotz seines hohen Alters wieder zeugen kann und dass Saras Mutterschoß wieder aufwacht, kann er deuten als Schöpfertätigkeit Gottes, der von Isaak, der noch nicht da ist, wie von einem spricht, der schon da ist, indem er zahlreiche
Das Lukasevangelium
Nachkommenschaft verheißt, und der eben die toten Organe Abrahams und Saras wieder lebendig macht. Daher war der Glaube Abrahams mit dem der Christen identisch (!), die an Gott glauben, der Jesus von den Toten auferweckt hat. Und daher können die Christen überhaupt Kinder Abrahams genannt werden, weil ihr Glaube auf diese Weise wie der Glaube Abrahams auf den Gott zielt, der Tote(s) lebendig macht. Die Argumentation des Apostels Paulus zeigt, wie stark damals die Auferstehung im Mittelpunkt des Gottesbildes stand. In seinem Bericht über die Auferweckung des Jünglings von Nain verwendet Lukas eine Reihe von markanten Punkten der Erzählung, die in vergleichbaren Berichten heidnischer und jüdischer Herkunft nicht selten vorkommen: Der Totenerwecker bzw. Wunderarzt trifft auf den Leichenzug, der schon aus der Stadt herausgekommen und auf dem Weg zum Friedhof ist. Es ist sozusagen die letzte Gelegenheit für die rettende Tat. Der Tote ist in besonderer Weise einzigartig und unersetzbar (z. B. ein Bräutigam am Hochzeitstag oder eben der einzige Sohn einer Witwe); der Arzt befiehlt dem Leichenzug Stillstand. Er beugt sich über den Toten und erweckt altes oder neues Leben in ihm. Daraufhin ist die Bestattung natürlich zu einem abrupten Ende gekommen. Im heidnischen Bereich entdeckt der Wunderarzt oft noch verborgenes Leben, im jüdischen Bereich richtet Gottes Bote direkt einen Toten wieder auf. Skopos der Erzählung ist entweder die Ehre des Wunderarztes (z. B. des Apollonius von Tyana) oder seines Gottes. Auferweckung Gottes ist das Unvorstellbare, das mit einem Schlag die dem Menschen und aller lebendigen Kreatur gesetzte Grenze aufhebt und daher ein Anzeichen dafür ist, dass auch die Tyrannei des Todes keine endgültige ist. Der Glaube an Gott gewinnt hier Konturen, die schwindelerregend sind; denn dass tot gleich tot ist, weiß jeder Mensch, und es ist das allersicherste Wissen. Die patristische Auslegung singt an dieser Stelle ein Loblied auf alle Witwen der Schrift: Thecuitis leistete für Absalon Fürbitte in barmherziger Klugheit: »Sie nennt sich Witwe, um ihre Not zu beschreiben, so bewegt sie König David leichter zum Erbarmen.« Die Witwe Judit besiegte Holofernes, die Witwe von Sarepta tat dem Pro-
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Kapitel 7
pheten Elia Gutes, und Lk 2 erwähnt die Witwe Hanna im Tempel, deren Andacht und »Gottseligkeit« gelobt wird. Alle ihre Tränen werde Gott abwischen. Zu den Tränen der Mutter des Jünglings von Nain bemerkt Johannes Chrysostomus (69. Predigt zum JohEv.): »Nicht gering ist die Kraft der Tränen dieser Witwe, sie können den Himmel selbst öffnen.« Sowohl in Ex 22,21f als auch nach 1 Tim 5 ist Gott besonders der Beschützer der Witwen, der deshalb ihr Gebet erhört. Der Schluss, formgeschichtlich der »Chorschluss« des Berichtes, ist eigenartig: »Ein großer Prophet ist unter uns aufgetreten … Gott kümmert sich wirklich um sein Volk.« Bernhard von Clairvaux ergänzt richtig in seiner 5. Adventspredigt: »Kommen wird der große Prophet, der Jerusalem erneuern wird: Er macht alles neu.« Aus meiner Sicht ist nämlich mit dieser zustimmenden Akklamation gemeint: Jesus hat eine Tat vollbracht, wie wir sie vom wiederkommenden Elia erwarten können. Er ist doch der große Prophet, der am Ende der Zeiten kommen soll. Unmittelbar danach, in Lk 7,19 (»Der da kommen soll«) und Lk 7,27 (»Ich sende meinen Boten vor dir her«, vgl. Mal 3,1) ist von Elia oder Johannes dem Täufer die Rede. Die Gestalt des endzeitlichen Propheten dürfte überhaupt auf Mal 3,1.31 zurückgehen und sich daher besonders leicht auf Elia beziehen lassen. Nach 1(3) Kön 17,8-24 aber erweckt Elia den Sohn der Witwe von Sarepta aus den Toten. Elia bittet Gott (V. 21): »Möchte doch der Lebensgeist dieses Knaben wieder in ihn zurückkehren!« Der Herr hörte auf Elias Gebetsruf, und der Lebensgeist kehrte in den Knaben zurück, sodass er wieder auflebte. Elia nahm den Knaben, brachte ihn vom Obergemach in das Haus zurück und übergab ihn seiner Mutter. Elia sagte dabei: »Siehe, dein Sohn lebt.« Ebenso heißt es in Lk 7,15b: »Jesus gab ihn seiner Mutter zurück.« – Abgesehen von der Konstellation Witwe – einziger Sohn – prophetischer Wundertäter überwiegen doch die Differenzen. Nicht zuletzt dieses spricht für den authentischen Charakter des neutestamentlichen Berichts. Hier ist nichts literarisch »abgekupfert«, und selbst wenn die Ähnlichkeiten stärker wären, spräche das nicht gegen die Tatsächlichkeit der Berichte.
Lk 7,36-50: Die Sünderin Frauen, Liebe und Sex sind das Thema ungezählter Tischgespräche der Weltliteratur. So heißt es zum Beispiel im 3. Esrabuch, einer außerkanonischen jüdischen Schrift, über einen Disput beim Gastmahl am Hofe des Perserkönigs Darius über das, was am mächtigsten sei, die Frau sei das Mächtigste. »Arbeitet und quält ihr euch nicht, um alles den Frauen zu geben und zu bringen? Alles bringt der Mensch der Geliebten. Viele sind um der Frauen willen um ihre Sinne gekommen und um ihretwillen Sklaven geworden …« Das berühmteste Tischgespräch der Welt, das Gastmahl mit Sokrates, das Platon schildert, handelt von nichts anderem als von der Liebe, von der Urgewalt der Sehnsucht, die Mann und Frau zusammenbringt. – Dieses Thema wird auch hier bei dem Gastmahl lebendig, das Lukas schildert. Und zwar höchst konkret in Gestalt einer stadtbekannten Edelhure, die zu Jesus kommt. In der Weise, wie sie mit Männern Kontakt aufnimmt, beginnt sie es auch bei Jesus: Die Berührung mit den Haaren, das Küssen und das Eincremen gehören dazu. Die Tränen, die sie vergießt, sind zumindest vieldeutig. Sie sagt nichts dabei. Sie liebt Jesus. Jesus verbietet es nicht, er wertet ihr Tun als Liebe. Er akzeptiert sie so, wie sie ist. Und vor allem so, wie sie liebt. Die Motive dieser Liebe werden nicht aufgeschlüsselt. Sie sind zumindest vieldeutig, ambivalent. Die Frau legt daher auch nicht irgendein Glaubensbekenntnis ab, nicht das leiseste. Jahrhunderte hindurch haben Theologen angesichts dieses Textes über die Spannung gestritten, die in unserer Erzählung besteht. Denn im Gleichnis heißt es: Der liebt am meisten, dem der Herr am meisten erlassen hat (V. 42f). Ein solcher Mensch liebt also offenbar nachher, nachdem ihm vergeben worden ist, weil es eine so große Last war. Doch später heißt es über die Frau: Ihre vielen Sünden werden ihr vergeben, weil sie viel geliebt hat (V. 47). Also war hier offenkundig die Liebe vorher. Man darf das nicht harmonisieren: Liebe als Bedingung und Liebe als Folge der Vergebung. Exegetisch gesehen hilft vielleicht die paulinische Formulierung »aus Glauben zu Glauben« (Röm 1,17). Denn sie bedeutet: Da gibt es einen Glauben zu Anfang, der dann immer mehr wird. Weder den Glauben
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238 noch die Liebe »hat« man einfach oder hat sie nicht. Sondern Glaube und Liebe stehen in einem längeren Prozess darin, in dem sie wachsen und größer werden können, ganz ähnlich wie die Herrschaft Gottes in den Wachstumsgleichnissen von Mk 4 und Mt 13. Es kann sein, dass diese Frau nach Lk 7 einen Anfangsglauben, eine anfängliche Richtung auf Jesus hat, die noch unklar und wie eine richtige Ahnung des Herzens ist. Doch dann – aufgrund der Vergebung der Sünden – wird diese Liebe mit tiefer Dankbarkeit angereichert. Wenn das stimmt, dann haben wir hier jenseits des Streits der Ausleger einen großen und kostbaren Text über die Bedeutung der Sündenvergebung für das geistliche Leben der Christen vor uns. Ahnungsweise nähern wir uns, aber dann offenbart die Sündenvergebung, mit wem man es wirklich zu tun hat. Sie enttarnt den Herrn wie auch uns. Offenbar ist das, was die Exegeten gestört hat (wann liebt die Frau: vorher oder nachher?), gerade als Spannung der Schlüssel zum Verständnis der Erzählung. Soll denn wirklich die dogmatische Frage diskutiert werden, ob man erst lieben oder erst Sünden vergeben bekommen muss? Die Liebe der Frau »vorher« und »nachher« gehören beide in ihr eines Leben. Denn in Lk 7 geht es von Anfang an um die eine und entscheidende Begegnung mit Jesus – und nicht um eine lehrmäßige Begründung der Spielarten von Liebe und Reue. Denn in dieser Begegnung sind die Rollen klar verteilt: Liebe und Dankbarkeit in dieser einen, letztlich unteilbaren Begegnung auf Seiten der Frau von Anfang an – und Akzeptieren und Heil schenken bei Jesus von Anfang bis zum Ende. Nichts spricht dafür, dass die Tränen, die die Frau vergießt, Zeichen der Liebesreue sind. Denn von Reue steht da nichts. Vielmehr passen Streicheln, Küssen, Salben und Kontakt mit den Haaren recht gut zu einem nicht ganz koscheren Lie-
Das Lukasevangelium
beserweis. Ein paar Tränchen könnten durchaus in diesen Rahmen passen; erinnern wir uns nur an die allzeit paraten Tränen bekannter Schauspielerinnen. Doch genau wissen wir es eben nicht, und das machte die Theologen unruhig. Doch im Zentrum steht, alles überragend und in sich verschlingend, die Vergebung durch Jesus. In der Person Jesu ist alles Heil präsent. Es kommt nur darauf an, ihm zu begegnen. Und wenn man nur nicht gegen ihn ist, so akzeptiert er die Rolle, in der man ihm begegnet. Jesus ist in seiner Person das Heil, und wer darauf reagieren kann – wie auch immer das geschieht – und nicht stumpf und tot ist, dem wird es auch geschenkt. Die Gnade liegt darin, dass Menschen Gemeinschaft haben dürfen mit Jesus. Die Liebe zu Jesus mag anfänglich viele Motive haben, wenn sie nur ihn meint und bei ihm endet, wird sie aufgenommen und verwandelt. Kann man Jesus dafür lieben, dass er Sünden vergibt? »Gott ist einsam geworden – es gibt keine Sünder mehr«, hat ein Kollege neulich formuliert. Denn auf tausend Wegen redet man sich die Sünde aus, statt sie vergeben zu lassen. Wohl deshalb mag man die Leiden des Gemarterten nicht sehen, weil man nicht gerne vorgeführt bekommt, was Schuld dem Gottessohn angetan hat. Doch nach dem Neuen Testament geht Wahrheit vor Liebe. Und weil das so ist, steht im Zentrum unseres Textes, in dem so viel von Liebe die Rede ist, der Herr, der Sünden vergibt. Später hat man die Frau von Lk 7 mit der Frau namens Maria, der Schwester Martas und des Lazarus, identifiziert, die Jesus nach Joh 12,3 salbte, und weil sie nun schon Maria hieß, hat man sie mit Maria Magdalena gleichgesetzt; denn von der salbenden Frau in Mk 14,8 heißt es, dass sie Jesu Totensalbung vorweggenommen habe. Was lag näher, als das mit der Nennung von Maria Magdalena in Mk 16,1 und Joh 20,1 zu verbinden? Doch die Frau von Lk 7 bleibt ohne Namen.
Lk 8: Macht des Wortes Lk 8,1-3: Jesu Jüngerinnen Im Unterschied zu Rabbinen (aber ähnlich wie griechische Philosophen seiner Zeit) hat Jesus auch Jüngerinnen (= Verbindung mit Lk 7,36 ff).
Wie Jünger werden sie katalogartig aufgelistet. Dass sie vermögend sind, entspricht dem Interesse der Damen der Oberschicht aller Zeiten (hier besonders: Johanna, die Mann und den Hof ver-
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Kapitel 9
lässt) für Judentum und Christentum. Dass sie »dienen«, ist nicht untypisch. Das ganze Kapitel Lk 8 steht unter dem Thema »Wort« – 8,1: Verkündigung; 8,4-21: Lehren – Hören – Tun; V. 9-18: Wie man hören soll (V. 18: So seht nun darauf, wie ihr zuhört); V. 19-21: Hören und Tun; 8,22-56: Machtworte Jesu (V. 24.25.29.32 f.54), Anordnung nach dem Prinzip der Steigerung: Natur, Dämonen, Kranke, Tote. Die anstößige Aussage über die Verwandten Jesu (Mk 3,20f) hat Lukas genauso ausgelassen wie die Beelzebul-Perikope (Mk 3,22-30). Sonst hält er sich an Mk 4-5. Lk 8,4-15: Jesus erzählt das Gleichnis von den Samenkörnern und erklärt es (Vgl. Mk 4,1-20) lukanisch: Betonung des Samens; Gott gibt ihn, der
Teufel nimmt ihn. – Die apokalyptische Drangsal und Verfolgung ersetzt Lukas durch »Versuchung«, und das ist ganz frühchristliches, auch paulinisches (1 Thess 3) theologisches Schema. In V. 15 geht es um die griechische Ineinssetzung von »schön« und »gut«. Lukas differenziert die Fruchtfülle nicht, er kennt nur hundertfältige Frucht. Die Knappheit entspricht bisweilen der Fassung in ThomasEv 9. – Die volle Verstockungstheorie nach Jes 6,9 ff bringt Lk erst in Apg 28. Bei der Rettung im Sturm sagt Jesus in 8,25 nicht wie bei Mk »Habt ihr noch keinen Glauben?«, sondern fragt: »Wo ist euer Glaube (sc. geblieben)?« (vgl. 18,8: Glaube finden) – und das ist im Urteil positiver als Mk. Der geheilte Besessene in Gerasa muss in sein Haus zurück (8,39), während andere Jünger ihre Familie verlassen müssen.
Lk 9,1 – 10,24: Jesus und seine Jünger Zwischen der Aussendung der Zwölf (9,1-6) und der Aussendung der Siebzig (10,1-12) werden Grundlinien des Verhältnisses zwischen Jesus und seinen Jüngern dargestellt. Christologische Basis: Weil Jesus Sohn Gottes ist, kann er senden und tadeln. Er ist als der »Messias Gottes« der Herr der Jünger, die in seinem Auftrag und unter seiner kritischen Autorität wirken. Dieses äußert sich besonders in der Speisung der Fünftausend (9,10-17), die mit der Aufforderung Jesu an die Jünger beginnt: »Gebt ihr ihnen zu essen!« Von sich aus können die Jünger das gar nicht, nur durch ihn. – Von seinen Jüngern erwartet Jesus Leidensnachfolge und mutiges Bekenntnis (9,23-26). Häufiger Jüngertadel: Immer wieder müssen die Jünger allerdings getadelt werden: Petrus versteht die Verklärung nicht (9,33); das Jüngerversagen beim fallsüchtigen Knaben (9,40) wird in 9,41 getadelt. Die Ankündigung des Leidens begreifen die Jünger nicht (9,45), fragen aber auch nicht nach. Sie versagen beim Rangstreit (V. 46) und wehren sich zu Unrecht gegen den fremden Exorzisten (V. 49f). Angesichts der ungastlichen Samaritaner versagen die Jünger Jakobus und Johannes grotesk (9,54): Sie wollen, dass Blitze die
Ungastlichen verbrennen, weswegen sie wohl Donnersöhne hießen (s. Mk 6). Ein anderer muss über die Heimatlosigkeit des Menschensohnes aufgeklärt werden (V. 57f); wieder ein anderer will zuerst zu Hause alles ordnen und Abschied nehmen (V. 61f), bevor er Jesus folgen kann, was Jesus jedoch ablehnt; dabei ist das Wort von der Hand am Pflug (V. 62) eine Anwendung der Berufungsgeschichte des Elisa nach 1 Kön 19,19-21. Die Aussendung der 72 Jünger (10,1-16) ist – parallel zur Aussendung der Zwölf zu den zwölf Stämmen Israels – eine Zeichenhandlung, die sich an die 72 Heidenvölker wendet, die es nach der griechischen Bibel gibt (Dtn 32). Der Aufbau der »Aussendung« entspricht 9,1-6: Die (extrem sparsame) Ausstattung wird gestattet; dann das Wirken, die Aufnahme in Häusern, die Reaktion bei Ablehung, die Rückkehr.
Lk 9,1-36: Die Zwölf – Brotwunder – Bekenntnis – Verklärung Jesu Das Kap. 9 hat einen klassischen Aufbau: Es beginnt mit einer massiven Darstellung der Autorität der Zwölf; sie werden jetzt sogar ausgesandt und kehren zurück (9,1-12). Dann folgt ein mas-
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240 sives Wunder (9,10-17: Brotvermehrung bei den Fünftausend), und darauf folgen die zentralen Bekenntnis-Berichte 9,18-22 inklusive Nachfolge-Sprüche und als Höhepunkt die Verklärung in 9,28-36. Der Aufbau dieses wichtigen Kapitels lässt deutlich werden, warum es mit der Einsetzung der Zwölf nicht genug war. Aus Gründen der Komposition wird von der Einsetzung getrennt ihre Aussendung berichtet. Das Wunder in der Mitte hat vermittelnde Funktion; denn es geschieht ja unter den Händen der Jünger, die das Brot verteilen. Ein Bericht zu Johannes dem Täufer ist in 9,7-9 eingeschoben, um die Zeit zwischen Aussendung und Rückkehr der zwölf Jünger gewissermaßen als fiktiven Zwischenraum zu füllen. So hat also Kap. 9 folgenden Aufbau: Autorität der Jünger – Wunder untermalt ihre und Jesu Autorität (Schalter-Funktion) – Bekenntnis und Erweis des Bekenntnisses in der Verklärung (Wer ist er?).
Lk 9,18-24: Petrusbekenntnis – Leidensweissagung Die Besonderheiten des lukanischen Berichtes gegenüber Mk und Mt sind erstens: Nach 9,18 fragt Jesus die Jünger, während er allein betet. Lukas hebt Jesus als den großen Beter hervor; dass er betet, ist zentraler Erweis seiner Sendung durch Gott; wie im JohEv betet Jesus stets alleinAls Jesus im Jordan betet (Lk 3,21), öffnet sich der Himmel, und Jesus wird durch Geist und Himmelstimme sichtbar als der Sohn Gottes eingesetzt; hiermit ist das Petrusbekenntnis an Bedeutung vergleichbar, auch jetzt ist Jesus der Beter. Sicher haben wir hier auch eine (spätere) Gemeinde im Hintergrund, die vor den entscheidenden Beauftragungen jeweils den Heiligen Geist anrief (vgl. Apg 13,1-3: Beten und Fasten). Denn Beten erweist den Kontakt mit der himmlischen Welt. Gemeint ist offenbar hauptsächlich das Gebet um den Heiligen Geist, der die Geschichte des Heils vorantreibt. – Und weil Jesus der große Beter ist, können die Jünger von ihm beten lernen (Lk 11). In zwei Punkten kann die Gemeinde Jesus ähnlich sein: im Beten und im Leiden. In der Zukunft tritt die Herrlichkeit hinzu. Durch das Beten – und dies »Tag um Tag« –
Das Lukasevangelium
steht Jesus als absolutes, heiliges Vorbild der Gemeinde vor Augen. Zweitens: Petrus weist Jesus nach der Leidensankündigung (V. 22) nicht zurecht, entsprechend fehlt der harte Tadel gegen Petrus. Lukas schont Petrus auch sonst; angesichts seiner Bedeutung in der Apostelgeschichte wird er ihn ungern »Satan« nennen, vielmehr soll er seine Brüder stärken. Drittens: Im Wort vom Kreuztragen bringt nur Lukas in 9,23 die Form »… und trage sein Kreuz Tag um Tag und folge mir« (gemeint ist die Nachfolge im Alltag). Durch die direkte Abfolge von Christusbekenntnis (9,20) und Leidensweissagung (9,22) wird die Formulierung Jesu nach Lk 24,26 vorbereitet (»Musste nicht der Christus dieses leiden und so hineingehen in seine Herrlichkeit?«). Es sind die Stichworte »Christus« und »leiden«, die durch Lk 9 vorausgeliefert werden. Dabei ist das Wort »Christus« für Heidenchristen ebenso unverständlich wie das Wort »Messias«, dessen griechische Übersetzung es ist. Denn Griechen verstanden das Wort nur als »der Eingecremte«. Der Evangelist Lukas mutet seinen heidenchristlichen Lesern daher ein gutes Stück Judengriechisch zu und verzichtet darauf, das Wort »Christus« mit riskanten und politisch missverständlichen Titeln zu übersetzen. Den Königstitel für Jesus kann er seinen Hörern nicht zumuten. Denn die Nachricht Lk 23,2b: »Er nennt sich Christus, den König« weist er genauso als Falschmeldung ab wie die angebliche Aufforderung Jesu, keine Steuern zu zahlen (ebd.). Ohnehin kann man nach neueren Untersuchungen in Galiläa damit rechnen, dass Jesus selbst (auch) Griechisch gesprochen hat, sodass der Christus-Titel in ganz besonderer Weise auch auf Jesus selbst zurückgeht. Dass nun der Menschensohn (Lk 9,22) bzw. der Christus (Lk 24,26) leiden »muss«, dürfte kaum Ausdruck eines Zwangs sein, dem Gott sich unterworfen weiß. Freilich gibt es die recht verbreitete Auffassung, der Vater habe seinen Sohn »schlachten« bzw. »opfern« müssen, weil nur so die Menschen hätten erlöst werden können. Die Frage ist, ob man Gott nicht kleiner macht, wenn man ihn solchen Sachzwängen unterworfen sieht. Bezieht sich das »muss« wirklich darauf, dass Gott nicht anderes konnte und also minutiös zuvor geplant hat? Man verweist dafür immer
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Kapitel 9
auf den Schriftbeweis, nach dem Gott alles so vorhergesagt und -geplant habe. Doch meint dieser Schriftbeweis keine Wahrsagerei, und was die Stellen wirklich sagen, bezieht sich, wenn es um den Leidenden geht, zumeist auf den Typus des leidenden Gerechten. Ja, Jesus ist der leidende Gerechte schlechthin. Wenn diese Stellen auf einen Menschen überhaupt angewandt werden konnten, dann auf ihn. Aber dass, wie es schon das Alte Testament (Psalmen und Jes 53 besonders) aus bitterer Erfahrung sagt, der »Gerechte viel leiden muss«, das ist nicht je und je Gottes persönlicher Wunsch, weil er nicht anders (als grausam sein) kann, sondern Menschen sind so, dass sie Gerechte nicht ertragen können und in ihnen immer wieder Gott selbst treffen wollen, dass sie insbesondere den Sohn Gottes aus der Welt schaffen wollen, weil sie ihn nicht ertragen können. Hier geht es nicht um Gottes Herzenswünsche, sondern um düstere Gesetzmäßigkeiten dieser Welt. Dazu gehören auch Maximen wie »Ohne Fleiß kein Preis« oder »Durch Widrigkeiten zu den Sternen«. – Die Gegenprobe: In keinem der Sätze, nach denen der Menschensohn leiden muss, ist von Sündenvergebung oder Erlösung die Rede. Es geht also gar nicht um die Bedingungen oder den Plan der Erlösung, wenn vom »muss« der Passion Jesu die Rede ist, sondern um das, was dem Repräsentanten Gottes, dem Menschensohn, in der Welt, wie sie nun einmal ist, voraussichtlich und notwendig passieren muss. Sein Geschick ist eher Ausdruck des Kontrastes zwischen Gott und Welt als der Versöhnung. Diese steht aus der Sicht frühchristlicher Märtyrer noch für einige Zeit aus, wenn sie überhaupt je denkbar sein sollte. Fazit: In keiner der Leidensweissagungen der Evangelien ist vom Sühnetod Jesu zur Vergebung der Sünden die Rede. Wir sind geneigt zu fragen: Wozu ist Jesus denn dann gestorben? Wir fragen so, weil wir in dieser Hinsicht zu einem eigenartigen Zweckdenken erzogen worden sind. Dieses Zweckdenken geht immer wieder davon aus, dass der Vater mit dem Sohn irgendetwas »machen wollte«. Als ob Gott die Menschen im Allgemeinen und seinen Sohn Jesus Christus im Besonderen zu Zwecken benutzt. Nebenbei bemerkt, gehen wir dabei nicht wirklich von einem dreieinigen Gott aus, sondern betrachten den
241 Sohn als Sklaven des Vaters, ja als dessen Folterobjekt – mit unabsehbaren Folgen für das Gottes- und Menschenbild. Vielmehr scheint mir eine andere Blickrichtung angemessen: Es gibt tragische Regelmäßigkeiten der Geschichte, die nicht dem Willen Gottes entsprechen, sondern dem Zustand des egozentrischen Menschen; das Wort »tragisch« verwende ich dabei, weil von einem derartigen »Müssen« bei den griechischen Tragikern (wie Sophokles) und dem ihnen verwandten Herodot die Rede ist. Denn nicht hinter allem Unpersönlichem und allem Sachzwang steht sogleich Gott. Irgendwie ist das naiver, scheinbar frommer Jargon geworden. Auch nicht hinter allem, was wir Schicksal nennen, steht sogleich und in Wahrheit Gott, sondern allzu oft die Begrenztheit der Ressourcen dieser Schöpfung. Sonst wird alles Negative, das uns in der Geschichte zwischen Gott und Mensch begegnet, allzu schnell zur Belastung Gottes. Viel angemessener ist es festzustellen: Die Römer haben Jesus ermordet. Gott brauchte diesen Mord nicht. Er brauchte auch nicht den Verrat des Judas. Weder Judas noch die Römer waren willkommene Instrumente in Gottes Hand, weil die Welt nur durch Jesu Tod am Kreuz hätte erlöst werden können. Sondern – nachdem Judas und die Römer aktiv und schuldig geworden sind, hat Gott diesen Mord und diesen Hass beantwortet durch seine freie Vergebung, durch freie Wiederholung der Vergebungsbotschaft Jesu angesichts des Kreuzes. Gott hat den Hass der Menschen gegen seinen Sohn und gegen sich selbst beantwortet durch umso größere Feindesliebe. Er hat, so vernimmt es einhellig die gesamte früheste Christenheit, angesichts des Kreuzes gesagt: »Nun vergebe ich euch erst recht. Nun habe ich einen neuen, dramatischen Anlass gefunden zu sagen, wie sehr ich euch liebe. Das Kreuz sei fortan Zeichen des erneuerten Bundes mit euch. So ernst meine ich meine Bereitschaft zur Sündenvergebung.« Die Alternative wäre: Wir müssten Judas und Pilatus dankbar sein, dass sie durch ihr Tun die Erlösung der Welt vermittelt haben, die sonst nicht möglich gewesen wäre. Doch weder sie noch Jesus selbst waren nur Instrumente in Gottes Hand, sondern sie sind in Freiheit schuldig geworden, daher gilt ihnen das »Wehe …« Jesu (vgl. die Weherufe in Lk 10). Wie die Psalmen des Alten Testaments, wie die
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242 Johannestaufe zur Vergebung der Sünden und Jesu Sündenvergebung vor seinem Tod bezeugen, hat Gott immer vergeben, wann er wollte. Man kann nicht sagen, er habe Vergebung der Sünden exklusiv an Jesu Tod gebunden. Nein, Gott hat sich nicht die Folterqualen Jesu ausgedacht. Sein Heilswille war die Menschwerdung des Wortes, sein Ziel war die Vergottung des Menschen durch die Vermenschlichung (Menschwerdung) Gottes inklusive Teilhabe am Tod. Die Kontingenz ist dabei nicht aufzurechnen gegen Gottes Ziel. Vermittelnd zwischen beidem ist immer nur der jüdische Grundsatz: Wenn es schon so weit gekommen ist (wie es der Lauf der irdischen Geschichte war), dann ist theologisch entscheidend, was Gott je und je daraus macht. Denn er allein antwortet auch auf Schuld mit seinem Heilswillen.
Lk 9,28b-36: Verklärung Jesu Übrigens ist der Vorschlag des Petrus »Hier lasst uns Hütten bauen« kein Ausdruck von Wohlbefinden und Leidensscheu. Petrus meint nicht, man solle auf dem Berg bleiben, weil es dort so angenehm ist und man sich einigeln kann. Das Missverständnis des Petrus ist deutlich anderer Art. Denn er schlägt ja nicht vor, »Hütten zu bauen« im Sinne einer bleibenden Niederlassung im Schlaraffenland. Vielmehr spricht er von »drei Hütten«, die gebaut werden sollen, und zwar je eine für Jesus, für Mose und für Elia – also für die Jünger keine? Nein, die drei Hütten sind im Sinne der auch heute noch im Judentum lebendigen Institution des »Lehrhauses« zu begreifen. Vor allem in der Lehrpraxis Jesu liegen dafür frühe Zeugnisse vor: Jesus belehrt die Jünger in seinem Haus, so z. B. in Mk 10,10-12, wo Jesus »im Haus« auf Bitten der Jünger Zusätzliches lehrt. – Wenn nun Petrus vorschlägt, dass auf dem Berg der Verklärung drei Häuser für die drei Lehrer erbaut werden sollen, dann heißt das: Die drei Lehrer sollen gleichrangige »Kollegen« sein. Jeder hat sein Lehrhaus, die drei Kollegen sind gleich. Doch genau dieses Ansinnen wird vom Evangelisten als Irrtum bezeichnet. Denn Petrus habe dieses gefragt, »ohne zu wissen, was er fragte«, d. h. ohne die Bedeutung seiner Frage abschätzen zu können. So ist es öfter der Fall: Zwischen einer Vision (hier: der verklärte Jesus mit Mose und
Das Lukasevangelium
Elia) und einer diese erläuternden Audition (hier: die Himmelsstimme erklärt verbindlich das Geschaute) steht eine Notiz über das NichtVerstehen des Geschauten. Diese Notiz macht dann die folgende Audition sachlich notwendig. Wenn die Zeugen der Vision schon von sich aus alles richtig verstünden, wäre die Erklärung des Geoffenbarten vom Himmel her gar nicht notwendig. Aber was ist der Sinn der Vision der drei Gestalten? Der Sinn ist – im Gegensatz zur Schlussfolgerung des Petrus, die auf Gleichberechtigung der drei Gestalten zielt, die Hervorhebung des Sohnes. Die drei Gestalten sind nämlich gerade nicht gleichberechtigte Lehrer »des Göttlichen«, sondern nur der eine ist der »auserwählte« Sohn: Jesus. Und nur von ihm sagt die Himmelsstimme, man solle auf ihn hören. Jesus hat das Auslegungsmonopol über die Schrift und über Gottes Willen überhaupt. Die beiden anderen, also Mose und Elia, sind nicht Sohn, sondern Sklaven Gottes. Wo immer Gestalten genannt werden, die zu Gott gehören, die aber nicht Sohn sind, sind es (Haus-)Sklaven. Das frühe Christentum kennt diesen Kontrast auch sonst: Erst sendet Gott Sklaven, zum Schluss den Sohn (Mk 12,1-10; Gal 4; Hebr 3). Möglicherweise hat es eine Phase der Diskussion zwischen Judentum und frühem Christentum gegeben, in der man vorschlug, Jesus doch neben Mose und Elia gleichermaßen zu ehren und zu hören. Das wäre also ein religionsgeschichtlicher Kompromiss gewesen. Die Christen haben ihn abgelehnt: Eine Drittelparität für Jesus neben Mose und Elia kam für sie nicht in Frage. Damit aber wird die Verklärungsgeschichte auf überraschende Weise aktuell. Denn von einer Gleichberechtigung von Propheten und Jesus hinsichtlich ihrer Qualität als eine Offenbarung Gottes (und was sollte denn sonst zählen?) ist der Text nun wirklich meilenweit entfernt. Dabei beachte man: Zweifellos meint der Text eine innere und äußere Harmonie der einen (!) Offenbarung. Aber die Frage ist, welches der Maßstab dieser Harmonie ist, wo sie ihre Eindeutigkeit gewinnt und was ihr Leitmotiv ist. Lukas gibt als Einziger der Synoptiker auch einen inhaltlichen Schwerpunkt des Gesprächs der drei erscheinenden Figuren an: Jesu Lebensende in Jerusalem ist dieses Thema. Damit ist die Pointe bei Lukas
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Kapitel 9
zweigipflig geworden: Erstens ist Jesus der Sohn, und die anderen sind nur Haussklaven. Damit hat er formal die absolute Legitimität. Und zweitens sagt der Sohn allein, was in der ganzen Offenbarung Gottes über das Lebensende dieses Sohnes in Jerusalem steht. Das ist gewissermaßen der Inhalt an Fakten, der zur Sohneswürde inhaltlich hinzukommt. Ein näherer Blick auf das LkEv zeigt, dass dieser Schwerpunkt der Verklärungserzählung theologisch notwendig und sinnvoll ist. Es gehört eben beides zusammen: der Sohn und sein Geschick. Denn in Jerusalem zu sterben, das war und wäre auch ein leider ganz gewöhnliches Prophetengeschick. Jesus wird es in Lk 13,33 sagen: Jeder Prophet muss in Jerusalem sterben, und zwar, wie man im Sinne der jüdischen Prophetentradition ergänzen muss, gewaltsam. Als bloßer Märtyrer in Jerusalem könnte Jesus daher wohl ein Prophet sein, mindestens das, aber eben auch nicht mehr als das. In Apg 7,52 wird Stephanus den Juden vorhalten, dass ihre Väter alle Propheten verfolgt und getötet haben. Und wenn Stephanus dann direkt in der Folge gleichfalls (in Jerusalem!) umkommt, reiht er sich indirekt in die Liste der Propheten ein. Aber Jesus ist mehr als ein Prophet, er ist »der Sohn«, das genau stellt die Verklärung von vornherein sicher. Und damit überragt er Mose und Elia, die bekanntesten unter den Propheten – aber auch Johannes den Täufer, den Jesus für den größten Menschen überhaupt (und damit auch für den größten Propheten) hält (Lk 7,28). Nun gilt übrigens auch für Johannes den Täufer, dass er mehr ist als ein Prophet; auch er ist nicht der Sohn. Johannes ist der Bote, den Gott vor Jesu Angesicht sendet (Lk 7,27), und der Jesus den Weg bereitet. Aber stimmt es denn, dass Mose und Elia, also Mose und alle Propheten, wie es auch heißen kann, darin übereinstimmen, dass der Gottessohn leiden muss? Nun, dass sie es sagen, will doch gerade die Verklärung sicherstellen. Jesus wie Lukas konnten sehen, dass die bloße Schrift über das Leiden des Gottessohnes nicht besonders viel sagt. Lukas wird in der Apg auf Ps 2,1f verweisen: Gegen den, der als Sohn angeredet wird, rotten sich die Völker und ihre Könige zusammen (Apg 4,25), und der, den die hebräische Bibel den leidenden Gottes-Sklaven nennt, kann man mit der griechischen Version des Alten Tes-
243 taments als den leidenden Gottes-Sohn bezeichnen; denn das im Griechischen verwendete Wort pais kann man als Sklave oder als Sohn übersetzen. Damit hat das griechische Alte Testament ein paar wichtige Hinweise auf das Leiden der Gott sehr nahestehenden Menschen gewonnen, und Lukas beeilt sich, dieses gleich zu Beginn der Apg zu sagen (8,32f). Im Übrigen gibt es genug Texte über den leidenden Gerechten in den Psalmen. Aber dass dieses gerade der Sohn Gottes ist, davon redet das Alte Testament wenig. Die entscheidende Stelle liegt in der Weisheit Salomos (Weish 2); doch Lukas erwähnt sie nicht, und Salomo konnte man nur mit Mühe unter die Propheten rechnen. Aber es geht bei der Verklärung doch auch gar nicht um die Schrift, sondern Mose und Elia werden als lebendige (!) Zeugen der Offenbarung Gottes angeführt. Die Verklärung ist daher als eine wirklich weiterführende über das Alte Testament hinausgehende neue Offenbarung verstanden: Über all das, was die Schrift andeutet, hinaus offenbart hier Gott-Vater selbst, dass es der Sohn sei, der leiden müsse. Noch einmal: Dass Gerechte leiden müssen, sagen viele Psalmen (Ps 22; 69 etc.); dass Propheten leiden müssen, weiß man im Judentum. Aber dass der Sohn leiden muss, ist direkte, neue Offenbarung Gottes. Und dass die Gottesstimme dieses vor Jesus, Mose und Elia verkündigt, macht diese Drei hier zu Offenbarungszeugen der einen und einzigen kohärenten Offenbarung Gottes. Zu einem Zeugnis, das gültig ist, braucht es zwei oder drei Zeugen (Dtn 19,15). Damit wird vor allem eines sichtbar: Die Verklärung ist gerade in der Lukas-Version etwas unerhört Neues, wirklich neue Offenbarung Gottes. Wer sich an sie nicht hält, kommt nicht weiter in seinem Verständnis Jesu, kann also auch nicht Christ werden. Oder anders formuliert: Das Neue Testament ist nicht nur Auslegung des Alten, sondern wirklicher Zuwachs an Offenbnarung. Und deshalb erscheinen hier – gerade im Sinne der Einheit der Offenbarung – auch die vom Alten Testament her bekannten Zeugen. Es ist, wie wenn der Vater im Himmel sagt: Achtung! Alle herhören, die ihr Zeugen meiner Offenbarung seid! Hier habe ich etwas zu sagen, das die ganze Offenbarung betrifft und wirklich neu ist. Von daher ist es auch sinnvoll, dass Jesus dann
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244 in Lk 24 als Auferstandener (!) zweifach auf diesen Offenbarungs-Zusatz zurückkommt, und zwar sowohl bei der Belehrung der Emmaus-Jünger in Lk 24,25-27, als auch in Lk 24,44-46. Hier nennt er den »Christus«, den Gesalbten, als Bezugspunkt, nimmt also Ps 2 als Ausgang, der den Sohn wie den Gesalbten nennt. Aber als der Auferstandene ist er ganz sicher Sohn Gottes, und deshalb kann er diesen Beweis jetzt »auf die eigene Person hin« führen: Wer auferstanden ist, ist Kind Gottes (Lk 20,36). Anders gesagt: Im Lichte der Fakten, und zwar sowohl der Verklärung als auch der Auferweckung, kann Jesus wirklich erweisen, dass alle Offenbarung kulminiert im leidenden und auferstandenen Sohn. Da staunen auch Mose und Elia!
Lk 9,51-62: Ungastliche Samariterstadt – Jüngerweisungen Der Weg von Galiläa nach Jerusalem führte durch das samaritanische Land – für dessen Einwohner eine willkommene Gelegenheit, Juden gegenüber ihre Feindseligkeit auszudrücken, die – aus der Wegrichtung zu schließen – nach Jerusalem zogen. Samarien war daher Transitland. Die Feindschaft gegenüber Juden ist, wie manche Feindschaft des Nahen Ostens, nur als irrational zu bezeichnen und nur unter Berücksichtigung größtmöglicher Nähe der beiden Religionen und Volksgruppen zu erklären. Waren die Samaritaner, deren Volk jetzt höchst existenzbedroht ist, nur der Rest von Juden, die nicht ins Exil nach Babylonien (Irak) gegangen waren? Erklärt sich auch der Garizim als alter Ersatz für Jerusalem aus Kriegszeiten? – Vor diesem Hintergrund berichtet unser Text zwei Szenen unter demselben Thema, wie sie unterschiedlicher nicht sein können. Szene I: Johannes und Jakobus wollen Feuer vom Himmel herabrufen, weil Samariter diesen Juden keine Gastfreundschaft gewähren. Jesus weist die Jünger zurecht und betont, nach der ausführlicheren Textgestalt (wie sie sich in manchen Textausgaben im textkritischen Apparat zu Lk 9,55 findet), seine Aufgabe sei es zu retten, nicht aber zu richten. Szene II: Um ihm nachzufolgen, gestattet Jesus seinen Jüngern weder Pietät noch Bequemlich-
Das Lukasevangelium
keit noch gar Abschiednehmen. In seiner Nachfolge gilt nur mehr eines: Verkündigung des Gottesreiches, das in ihm beginnt. In Szene I erscheint Jesus sanft gegen Außenstehende, in Szene II dagegen rigoros hart gegen eigene Jünger. In Szene I mahnt er die Jünger zu Geduld, in Szene II ist er ganz ungeduldig und hat es ganz eilig. Szene I wirbt für eine Optik des Ertragens und Aushaltens in langer Zeit (vgl. Lk 9,56); Szene II ist für den kurzen Prozess nach dem Motto: radikal Abschied nehmen! Hinter beiden Texten stehen für damalige jüdische Leser klar erkennbar Elia-Traditionen des Alten Testaments. Denn Elia konnte Feuer vom Himmel herabrufen. Gemeint sind vernichtende Blitze. Für Elia ist das bezeugt in 1 Kön 18,31 und 2 Kön 1,10 (»Bin ich ein Mann Gottes, so falle Feuer vom Himmel und verzehre dich …«). Aufgenommen wird dieser Zug in die endzeitliche Elia-Erwartung nach Offb 11,5. Hier heißt es von den beiden Zeugen (wohl die wiederkehrenden Henoch und Elia!): »Wenn ihnen jemand Unrecht tut, dann rufen sie Feuer vom Himmel, das ihre Feinde verbrennt.« Wichtig ist, dass es sich hier um zwei Propheten handelt, ähnlich wie Johannes und Jakobus zwei sind (daher einander bestätigende Zeugen). Der Name »Donnersöhne«, den die beiden Jünger tragen (Mk 3,17), steht zweifellos mit dieser Elia-Typologie in Zusammenhang. Denn Blitz und Donner gehören zusammen, und beide gelten in der Zeit Jesu als Zeichen vom Himmel (da man sie nicht »machen« kann) und insofern als Ausdruck des direkten Eingreifens Gottes (Theophanie). Übrigens verzichtet Jesus für sich selbst ausdrücklich auf ein solches Zeichen vom Himmel (Mk 8,11f). Eine Spannung zwischen Jesus und den beiden Zebedaiden gibt es ebenso wie in unserem Text auch in Mk 10,35-45, wo die beiden Zebedäussöhne wiederum auf schnellem Weg zu himmlischen Ehren kommen wollen, gerade so, wie sie nach Lk 9 mit dem samaritanischen Dorf kurzen Prozess machen wollen. Die beiden Jünger stehen für eine wohl unter den Jüngern sehr früh diskutierte Alternative zu dem, was wir als Auffassung Jesu aus den Evangelien hören. Denn sie (und wohl auch andere) sind für eine ungebrochene Abfolge von gegenwärtiger Vollmacht der Jünger und ihrer Rolle am Ende bzw. im Gottesreich. Für die Zwölf ins-
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Kapitel 9
gesamt hat sich dieser Ansatz noch erhalten in Mt 19,28 (»… auf zwölf Thronen sitzen und die zwölf Stämme Israels richten«). Offenbar hat der Jüngerkreis Aussagen über die Zwölf toleriert, die sie den beiden Donnersöhnen nicht zugestehen wollten. Jedenfalls aber ist der Ansatz Jesu gegenüber diesen Hau-ruck-Theologen, dass Leiden und Erniedrigung zwischen jetzt und dem Ende liegen (vgl. zu den beiden widerstreitenden Ansätzen K. Berger, Theologiegeschichte, 21995, §§ 71.458). Auch den Protest des Petrus gegen das Leiden musste Jesus erst überwinden. Das Wort vom Menschensohn, der nicht weiß, wo er in der nächsten Nacht ruhen kann (9,58), gehört in die neutestamentliche Menschensohntheologie, weil es einen unglaublichen, zum Protest geradezu stimulierenden Gegensatz enthält: Füchse und Vögel wissen, wo sie hingehören. Doch der höchste Repräsentant Gottes in der Welt, der überhaupt vorstellbar ist, hat kein Quartier, sondern wandert ruhelos durch Palästina. Nach dem Kontext (9,53!) ist das deshalb so, weil die Menschen Jesus das Quartier verweigern. Im Übrigen wird dieser Gegensatz zwischen der Würde des Menschensohnes und seinem faktischen Ergehen auf Erden dann auch die Worte vom ausgelieferten und leidenden Menschensohn bestimmen. Und der Leser weiß: Dieser schreiende Gegensatz zwischen Würde und Ergehen auf Erden kann nicht gut enden, sondern nur als Konfrontation im Gericht. Denn im Menschensohn behandeln wir Gott in der Welt wie den letzten Dreck. Das Wort »Lass die Toten sich gegenseitig begraben!« ist von beispielloser Radikalität. Denn es bedeutet die Missachtung der grundlegenden Pflicht zur Pietät, die Toten zu begraben. Für die Griechen gehört dieses Gebot zu den »delphischen Grundgeboten«, dem Minimum allgemeiner Humanität (Zeige Fremden den Weg, begrabe die Toten, herrsche über deine Frau …), für die Juden zum 4. Gebot. Dass Tote sich gegenseitig begraben, ist physisch unmöglich und treibt daher zusätzlich Schindluder mit der Logik. Es will sagen, den gesamten Bereich der Toten hinter sich zu lassen, also den Bereich, in dem man sterben kann und zu sterben pflegt. Das Wort setzt eine radikale Option für das Leben und für Lebendige voraus. Das ist ähnlich in Worten im Munde Jesu wie dem apokryphen Wort (Berger/
245 Nord, 62010: Praecepta Delphica, 987: »Ich bin gekommen, die Werke des Weiblichen zu zerstören«). Werke oder Produkte der Frauen sind ja alle sterblichen Menschen. Das Wort formuliert einen scharfen Dualismus: eine eindeutige Scheidung von schwarz und weiß, von vorher und nachher. Dabei setzt es einen Akt voraus, durch den die Angesprochenen zu Lebendigen geworden sind. Dieser Akt kann nur die Taufe oder Bekehrung sein. Und das Wort »lebendig« (der hier vorausgesetzte Gegensatz zu den »Toten«) kann sich nur auf das umfassend zugesagte »ewige Leben« beziehen. Obwohl die Angeredeten biologisch sterben werden, sind sie doch jenseits der Welt der Toten. Die gemeinte radikale Trennung legt nahe, hier zunächst und vor allem von einem symbolischen Imperativ zu sprechen. So nennt man Imperative, die weit über den konkreten Einzelfall hinaus eine grundsätzliche Bedeutung für Dasein und Status der Angeredeten haben. So geht es bei diesem Imperativ um die grundsätzliche Aussage: Ihr Lebendigen habt mit dem Bereich der Toten nichts, aber auch gar nichts mehr zu schaffen. Die Tennung bestimmt euer Dasein nachhaltig und kompromisslos. Der Imperativ ist daher nicht nur eine Aufkündigung aller Pietät (das auch), er macht sich überdies den Skandaleffekt der Aufforderung zunutze, um die Aufmerksamkeit aller zu finden: Seht zu, so radikal ist euer neuer Status. Wir erkennen an diesem Satz, dass Jesus Sinn für aggressive, pointierte Rhetorik hatte. Die Radikalität des neuen Lebens wird am Extremfall der Absage hinsichtlich der pietätvollen Zuwendung zu den Toten illustriert. Die Toten, die ihre Toten begraben sollen, sind wohl zuerst und vornehmlich die Ägypter. Mit ihrem ausgeprägten Totenkult und »falschen Göttern« gelten sie selbst als tot und zugleich als der Inbegriff des Heidentums. Juden und Ägypter halten einander für unrein. In Szene II (9,57-62) steht die Elia-Erzählung von der Berufung des Elisa im Hintergrund. Ausdrücklich heißt es im Alten Testament, dass Elia dem Elisa gestattet hat, sich nach der Jüngerberufung von seinen Eltern zu verabschieden (1 Kön 19,20; Hieronymus und Luther: Geh hin und komm wieder). Dass Jesus hier diese Ermäßigung widerruft, hat »System«: Jesus ist mehr als ein Prophet, die Verklärungsgeschichte (Mk 9) sagt auf ihre Weise, dass er der »Sohn« ist. Wenn Gott
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246 in ihm den Menschen qualitativ nähergekommen ist, dann dürfen, ja müssen auch seine Anforderungen höher sein. Zu Lk 9,60: »Lass die Toten begraben ihre Toten!« (vgl. zu Mt 8,22) – dieser Satz hat keine wirkliche Parallele, er ist vielmehr recht typisch für die groteske Ausdrucksweise und damit für den Humor Jesu, die wir von »Kamel und Nadelöhr« und »Splitter und Balken« sowie »Perlen vor die Säue« her kennen. Am Beispiel der Vernachlässigung der familiären und dörflichen (!) Pietät illustriert Jesus die Notwendigkeit radikaler Trennung von dem bisherigen Lebensmilieu.
Lk 10,1-12.17-20: Jesu Jünger Jesus sendet die Jünger aus mit null Ausrüstung, in jeder Hinsicht wie Schafe unter Wölfe. Und was das Positive angeht, so stattet er sie aus mit allerlei Anweisungen, die jeder Aufgeklärte als magisch bezeichnen müsste, als da sind: Erstens darf man unterwegs keinen grüßen. Denn es könnte ein Stück charismatischer Kraft durch das Grüßen verloren gehen (zur biblischen Theologie des Grußes vgl. zu 2 Joh 11). Die Leser wissen das von wundertätigen Propheten aus dem Alten Testament her. Denn der Gruß ist ein Segenswunsch, und der bedeutet Verlust an einmaliger Segnungskraft. Zweitens wird der Friedensgruß, der jedem Haus auszurichten ist, zurückkehren zu den Jüngern, wenn der Hausbewohner ihn nicht verdient hat. Der Friedensgruß prallt vom Empfänger ab und kehrt zum Grüßenden zurück (nach dem Bumerang-Prinzip). Auch hier ist der Friedensgruß als eine Art Substanz vorgestellt, die man behält, wenn der Adressat unwürdig war. – Zu 10,4: »Grüßt niemanden unterwegs!« vgl. 2 Kön 4,29: »Wenn du jemandem begegnest, so grüße ihn nicht, und wenn dich jemand grüßt, so antworte nicht!« (Elisa an Gechasi). Der Satz gehört in dieselbe Kategorie wie der zurückkehrende Friedensgruß, sollte er auf Menschen treffen, die seiner nicht wert sind (Mt 10,13; Lk 10,6). Die Denkvoraussetzungen: 1. Das Wort ist wie ein selbstständiges, dingliches Wesen. Es fliegt wie eine Brieftaube, es kann zurückkehren wie ein Bumerang. Einmal
Das Lukasevangelium
ausgesprochen, wird es nicht nur gehört, sondern hat eine selbstständige Wirkung. Denn es ist nicht nur ein Hauch, sondern als Abgesandter des Sprechers unterliegt es den Regeln des orientalischen Botenrechts. Auch das JohEv kennt die Affinität des Wortes (Gottes) zur Sendungschristologie. Schon bei den Propheten weiß man um das Wort, das nicht leer zurückkehrt. 2. Weil das Wort Kraft oder Bote ist, ergeht es auf Kosten des Senders. Es kostet ihn Kraft, ein Stück seines charismatischen Potenzials. Weil der Wundertäter seine Kraft »beieinanderhalten« muss, soll er unterwegs niemanden grüßen. Deshalb darf auch der Sterbende nur einmal segnen. Sein Segen ist die ganze Kraft (vgl. Isaak mit Jakob und Esau: Gen 25,27 ff). 3. Im Rahmen des neutestamentlichen pneumatologischen Dualismus wird diese Vorstellung übernommen und verstärkt. Daher ist das Wort des Charismatikers (je nachdem, wer ihn inspiriert, Gott oder Teufel), Segenswort oder Fluchwort. Auch der Adressat des Wortes ist gut oder böse. Ist er böse und wird dennoch gesegnet oder gut und dennoch verflucht, so kehrt der Segen (zum Guten) zurück, oder der Fluch wirkt am Sendenden selbst. Das heißt: Wenn der Segen zurückkommt, segnet er ihn; wenn der Fluch zurückkommt, zerstört er ihn. Wer Böse segnet oder Guten flucht, wird Opfer des fehlgeleiteten Wortes. 4. Diese Regeln gelten besonders für gutes, göttliches oder böses, teuflisches Pneuma. Der Friedensgruß wird als Segensgruß verstanden. Diese Regeln gelten auch für Bekenntnisse. Wer über Jesus sagt, er stehe im Bunde mit Beelzebul, der lästert sein Pneuma, und seine Lästerung wird, da sie auf Jesus nicht passt, zu ihm zurückkehren und ihn selbst zerstören. Und ebenso meint der Hohepriester nach Mk 14,61f, Jesus habe Gott gelästert und sei daher des Todes schuldig, weil er sich selbst ein Pneuma fälschlich zuschreibe, das er gar nicht habe (denn er habe nicht Gottes, sondern des Teufels Geist; wer aber diese beiden verwechselt, beleidigt Gott so krass, wie es stärker nicht geht). In jedem Fall ist eine falsche Aussage über die Qualität des Geistbesitzes Jesu tödlich, weil sie »direkt auf Starkstrom stößt«. Drittens soll man »alles essen, was einem vorgesetzt wird« – man bedenke: Jesus spricht zu
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Kapitel 10
jüdischen Jüngern. Um die Frage, ob sie koscheres Essen oder geschächtetes Fleisch vorgesetzt bekomen, sollen sie sich nicht kümmern. Der Grund kann nur sein: Sie besitzen genügend offensive Reinheit in sich, die Unreines rein macht. Die Pharisäer kannten nur eine defensive Reinheit, die stets bedroht war und um deretwillen man sich von allem Heidnischen, Unreinen und Unkoscheren fernhalten musste. Jesus dagegen besitzt eine offensive Reinheit, die böse Geister vertreibt und Tote lebendig macht. Im Fall der Jünger macht sie alles rein. Viertens sollen die Jünger »die Kranken heilen«. Schön gesagt, aber wie sollen sie das schaffen? Offenbar gibt Jesus ihnen die Heilungskraft, und sie ist ähnlich substanziell vorgestellt wie das Grüßen und ist eine Art Segnen. Fünftens sollen sie dort, wo sie nicht aufgenommen werden, den Staub von ihren Füßen schütteln – offenbar als Verfluchungsgestus. Daher übersetzen Berger/Nord: »… ruft beim Weggehen auf den Gassen: Selbst der Staub, den wir aus eurer Stadt noch an unseren Füßen tragen, schütteln wir ab und lassen ihn euch da, weil wir nichts mit euch gemeinsam haben wollen.« Sechstens wird den Jüngern verheißen, Dämonen seien ihnen untertan, wenn sie im Namen Jesu ausgetrieben würden. Schließlich begründet Jesus diese exorzistische Tätigkeit damit, dass er sagt: »Ich hatte eine Vision: Satan fiel wie ein Blitz vom Himmel. [Denn im Himmel ist er schon besiegt, umso mehr müssen er und die Dämonen auf Erden noch bekämpft werden.] Und ich habe euch die Gabe gegeben, dass ihr ohne Schaden wie über Schlangen und Skorpione gehen könnt, [ich meine:] Dass ihr gefeit seid gegen jeden Anschlag des Feindes, sodass er euch nichts Böses antun kann.« Der Vorgang ist also ähnlich wie in Offb 12,9: Dort wird der Satan vom Himmel auf die Erde gestürzt (weil Michael ihn besiegt hat), und nun treibt er auf Erden sein böses Wesen und verfolgt die Frau und ihre Kinder (die Kirche). Es scheint sich daher um eine Art Grundgeschehen zu handeln, von dem wir in der üblichen Erlösungslehre nichts hören. Denn hier werden sowohl die entscheidende Wende zum Guten (der Sturz Satans), als auch die leider gegenwärtig noch andauernde Anfeindung der Jünger (als Gefährung oder Verfolgung) mit einem Federstrich erklärt. Dem
247 Teufel ergeht es wie einer Wespe, die ihren entscheidenden Schlag schon mit der Fliegenklatsche oben am Fenster erhalten hat und sich dort nicht mehr halten kann. Aber unten auf der Fensterbank krabbelt das Untier noch und ist extrem stechwütig. Der entscheidende Akt ist daher der Sturz Satans. Doch weder in Lk 10 noch in Apg 12 ist Jesus der Verursacher des im Prinzip erfreulichen Geschehens. Jesus sagt mit Recht: Der exorzistische Kampf auf Erden betrifft nur den Teufel und sein Heer in ihren letzten Zuckungen. Viel wichtiger aber sei das, was im himmlischen Szenario geschieht. Auch nach Apg 3,5 ist entscheidend, dass man in den himmlischen Registern als Bürger verzeichnet ist, im Buch des Lebens (3,5). Denn dann gehört man zu den Versiegelten nach Offb 7,3. – Alles in allem finden wir hier eine Mischung aus »magischen« (so würden viele das nennen), exorzistischen und im strengen Sinne apokalyptischen Elementen. Dieser Text sagt sehr viel auch über Jesus selbst, über seinen asketischen, mittellosen Lebensstil, über seine Auffassung von Exorzismus, denn Exorzismus ist ja nach den Evangelien eine Art Grundsakrament Jesu. Schließlich ist für Jesus der Schatz im Himmel, der Name im Himmel oder jedenfalls das ganze himmlische Szenario (Engel) die wichtigere Hälfte der Wirklichkeit. Theologische Bedeutung 1. Die Mittellosigkeit und völlige Freiheit von Besitz und Ausrüstung ist die Voraussetzung für charismatische Potenz. Nur wer von allem frei ist, kann frei werden für die Kraft des Himmels. 2. Die Auffassung von einem (begrenzten) Quantum an charismatischer Substanz ist nicht primitiv, schon das Alte Testament (Jakobssegen) weiß, dass charismatische Kraft begrenzt ist; denn sie ist nur verliehen, und Menschen sind nicht Gott. Der Unterschied zwischen Gott und Mensch beruht gerade darin, dass Gott in Fülle und alle segnen kann, wir Menschen nur begrenzt. 3. Auch Exorzismen sind eine Frage charismatischer Macht und Kraft. Entscheidend ist nicht, wie Dämonen aussehen und wie viele sie sind, sondern wer überhaupt Wirklichkeit verändern kann, denn das ist das Kriterium für Wahrheit auf diesem Feld: Wer im Ganzen und auf Dauer
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248 heilt, der hat Recht. Wer immer die Dämonen sind, es ist auch modernen Menschen klar, dass es geistige Mächte wie Süchte, Ideologien, Verranntheiten und Fixierungen gibt, angesichts derer wir viele Menschen als unzugänglich, abgedichtet und völlig verschlossen wahrnehmen. Weil Geist als flüssig vorgestellt wird (infunde amorem cordibus: »eingegossene Tugenden«), kann man sagen, dass der inspirative böse Geist, wenn er sich dem Menschen annähert, zur Fusion neigt. Und wer kriegt fusionierte Flüssigkeiten wieder auseinander? – Das Neue Testament sagt, dass solche Zustände nicht endgültig sein müssen, sondern dass Menschen vor allem durch Gebet daraus und davon befreit werden können. So kann nicht die Wiedereinführung eines Dämonenglaubens das Ziel sein, sondern die Befreiung von Sünde, Tod und Teufel. Wie auch immer man diese Mächte nennt, entscheidend ist, dass der Name Jesu und das Gebet zu Gott davon befreien kann. 4. Der Satanssturz nach Lk 10,16 und Offb 12 ist eine visionäre und bildliche Verdeutlichung dessen, dass tatsächlich mit dem Kommen Jesu eine grundlegend neue Zeit angebrochen ist. Wir erfahren hier, dass es ein Eckdatum dieser grundsätzlich neuen Zeit gibt: Die Macht des Bösen ist in ihre Endphase eingetreten, der Ankläger hat im Himmel keinen Ort mehr; auch Paulus bestätigt das übrigens in Röm 8,33.38;
Das Lukasevangelium
auch dort weist er sehr ernst auf die Zeit der Verfolgung hin, die sich daraus auf Erden ergibt (V. 36).
Lk 10,17-24: Verhüllter Sieg Der ganze Abschnitt ab Lk 5,1 endet sozusagen mit einem dreifachen Halleluja in 10,17-24. Denn erstens schildert Jesus seine Vision des Satanssturzes, zweitens bricht er in jubelnden Lobpreis über Gottes Offenbarung an die Nichtweisen aus, und drittens preist er seine Jünger als selige Augenzeugen. Der Satanssturz entspricht Offb 12,7-15. Satan stürzt, weil er sich im Himmel nicht mehr halten kann, weil die Tage seines Wirkens gezählt sind, und gleichzeitig bedeutet dies wütende Attacken auf Erden; das wird in Lk 10,19.20a ebenso vorausgesetzt, wie es in Offb 12,13 dann als Verfolgung geschildert wird. Der Sturz Satans wird nicht von Jesus bewirkt; aber er ist – wenn auch nach Lk 10,18 nur visionär – doch ein imposantes Zeichen vom Himmel, dass das Ende unwiderruflich begonnen hat. Die Jünger sind im Himmel eingeschrieben: dort, von wo Satan vertrieben wurde. Der Bewegung aus dem Himmel heraus folgt auf Seiten der Jünger ihr Weg in den Himmel hinein. Auch Paulus hat diese Tradition in Umrissen gekannt: Röm 8,33-39.
Lk 10,25 – 17,10: Mahnreden Die Komposition des Lukas erinnert an den typischen Aufbau der Briefe: Auf den Erweis der Kraft (Lk 5,1 – 10,24), also den dogmatischen Teil, folgt die Mahnrede (wie etwa Röm 12-15), hier in Lk 10-17. Ein Symptom dafür ist, dass Lukas sachgemäß mit den beiden Hauptgeboten beginnt und das Gleichnis vom barmherzigen Samariter als »Anwendungsbestimmung« folgen lässt, denn es erläutert den Begriff des Nächsten. Der Nächste »ist man nicht«, sondern zum Nächsten wird einem der, dem man hilft. Daher wird hier nicht ein Status juristisch definiert, sondern eine Bewegung beschrieben. Juristisch gesehen wäre für das Hebräische der Nächste nur der jüdische Volksgenosse. Doch das Wort »Nächster« wird
hier wie in der Septuaginta im Sinne von Freund genommen und daher »beweglich«.
Lk 10,25-37: Der barmherzige Samariter Wenn Lukas »Pharisäer« sagt, meint er präzise dieses: Die Pharisäer sind für ihn ein Bild (!) für falsche menschliche Abgrenzung und Selbstbezogenheit: Die Pharisäer sind erstens geizig und wollen nicht abgeben (Lk 16,14); sie sind zweitens Menschen, die sich einbilden, allein erwählt zu sein, und zwar im Gegensatz zu anderen (Lk 18,11); sie sind drittens die »Reinen«, die sich der Illusion hingeben, allein die Kriterien wahrer Reinheit zu besitzen (Lk 11,41f). Es ist
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Kapitel 10
immer das Gleiche: Der Fehler liegt stets darin, etwas allein für sich haben zu wollen. Dem entspricht als Kontrast die positive Seite des Evangeliums: Es ist universal. Auch I. Kant kennt durchaus eine Universalität, nämlich die der Vernunft. Aber weil seine Philosophie keine Kirche kennt, bleibt es die Vernunft des Einzelnen. Ihm fehlt nicht nur die Motivation (Glückseligkeit, ewiges Leben), sondern auch die Gestalt (universale Kirche als Raum der Umsetzung universaler Vernunft). Aufklärung ist wirklich Säkularisierung christlicher Botschaft. Ohne Himmelreich und Kirche gedacht, sind die christlichen Ideale schön und rein, aber sie sind zu abstrakt, machen die Rechnung ohne den Wirt. – Der Blick auf Lk 10 zeigt: Wer Gott in der universalen und zugleich konkreten (auf jeden einzelnen Menschen in seiner Not) gerichteten Liebe nachahmt, hat an genau derselben Kraft Anteil, die auch ihm selbst Auferstehung und ewiges Leben bescheren wird. Das ist die unbändige, überreiche Schenkensfreude Gottes. Jesus sagt: Wenn ihr den Einzelnen in seiner Not liebt, könnt ihr sicher sein, dass genau dies Anteil an der Kraft ist, die auch euch selbst in eurer bittersten Todesnot erreicht und umfängt. Wer liebt, darf die Gewissheit der Seligkeit jetzt schon haben. Denn sie ist nichts anderes, als Gottes Zuwendung keine Grenzen zu setzen. Mit Blick auf Lk 10 ist nachzutragen, dass für Jesus und seine Zeitgenossen die Universalität der Liebe alles andere als selbstverständlich ist. In dem kleinen Land Palästina, dem Heiligen Land, hat Hass Tradition. Nicht flache Moral, sondern die Überwindung dieser Hassgrenzen ist das Thema von Lk 10. Jesus revolutioniert dafür den Begriff des Nächsten. Im Gebot Gottes nach Lev 19,18 heißt es: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.« Nach der Torah ist der Nächste der Volksgenosse und kein Ausländer oder NichtIsraelit. Auch in der griechischen Übersetzung des Alten Testaments, die Lukas voraussetzt (und nach der Jesus sich wohl gerichtet hat, da er offensichtlich Griechisch gesprochen hat), ist der Nächste immerhin noch der Nachbar oder der Freund. Auch hier ist zunächst keine wirkliche Universalität im Blick. Die schafft erst Jesus, indem er die Frage auf den Kopf stellt. Er liefert nämlich nicht subtile Unterscheidungen, wer denn der Nächste genau sei, sondern macht aus
dem Objekt (den Nächsten lieben) ein Subjekt (zum Nächsten werden). Anders gesagt: Er fragt nicht, wen ich lieben muss und wen nicht, wo es eine Grenze gibt und wie weit sie reicht. Er weiß offenbar, dass diese Grenzen das Umstrittenste und Heikelste sind, das es seit jeher unter Menschen gibt. Wer ist mein Freund? Wem darf ich etwas zugutetun? Zählt XY zu meinen Freunden oder nicht? Jesus kehrt das alles um und liefert ein revolutionäres Denkmodell. Er sagt: Es liegt in der Macht eines jeden, für den anderen zum Nächsten zu werden. Es gibt keine traditionellen Grenzen. Es liegt vielmehr allein an der Wachsamkeit, Umsichtigkeit, Sensibilität, am Herzen jedes Einzelnen, ob zwischen einem anderen Menschen und ihm eine positive Beziehung entsteht, die den Namen Freundschaft verdient. Es gibt eine Geburtsstunde dieser Art von Gemeinschaft, und die ist die Not des anderen. Wer auch immer sich der Not eines anderen Menschen zuwendet, der erfüllt den Willen Gottes und steht auf dem Weg zum Leben. Insofern ist Lk 10 der Schilderung des Weltgerichts in Mt 25,31-46 recht nahe. Denn in beiden Texten geht es unterschiedslos um alle Menschen und zugleich nur um ein einziges Kriterium der Gerechtigkeit, nämlich ob ich dem helfen will, der in Not ist. Keine traditionelle Verbindung und Grenzziehung zählt, sondern alles steht jederzeit neu zur Disposition, und zwar als Folge dessen, dass es nur ein einziges Kriterium gibt: die Liebe Gottes nachzuahmen.
Lk 10,38-42: Maria und Marta An dem Bericht über Marta und Maria lässt sich die Komposition des Evangelisten gut beobachten. Denn der Bericht folgt direkt auf die Beispielerzählung vom barmherzigen Samariter. Diese Erzählung endete mit der Aufforderung zum Handeln: Geh hin und mach es genauso! Dadurch, dass Lukas diesen Bericht direkt anschließt, werden mögliche Konsequenzen aus dem vorangehenden Text abgebogen. So lässt die Komposition den Schluss zu, dass der Evangelist hier ausgleichen wollte. Das Tun des Samariters kann man nämlich im weiteren Sinne als Diakonie bezeichnen, genau das, was Marta hier fortwährend tut. Und hatte die Auskunft der
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250 Beispielerzählung gelautet: Allein das Tun schafft die Zugehörigkeit zum Gottesvolk und entspricht Gottes Willen, um das ewige Leben zu erlangen, so lautet die Auskunft hier: Aber das Zuhören und Glauben sind das Wichtigste. Es ist auch das, was bleibt. Widerspricht sich beides nicht? Wenn man davon ausgeht, dass Lukas die Komposition bewusst und in der Absicht vornahm, dass beide Texte sich ergänzen, dann müssen wir jetzt hinschauen, um zu erfahren, wie sie sich ergänzen. Das Tun entscheidet, denn das Tun ist das Ziel. Alles Reden vom Heil wäre sinnlos, stünden als Ziel nicht Gerechtigkeit und gerechtes Tun im Vordergrund. Ewiges Leben gibt es nur als Konvivenz, als Miteinanderleben. Aber um dieses Ziel zu erreichen, gibt es eine exklusiv notwendige Bedingung: Zuhören und zum Glauben kommen. M. Luther sagt treffend zu diesem in der Mystik des Mittelalters viel behandelten Text: Die Ohren sind die wichtigsten Organe des Christen, noch vor den Händen. Durch Hören kommt man zum Glauben. Die Werke, die Marta tut, werden immer unvollkommen bleiben. Den Glauben dagegen empfangen wir aus dem Hören als Geschenk. Alle mittelalterlichen Ausleger sind mit Luther darin eins, dass Maria und Marta letztlich als zwei sich ergänzende Aspekte eines jeden Christen zu gelten haben. Es könnte sich hier um eine Szene im Leben Jesu handeln. Doch spätestens bei der Darstellung durch Lukas kommen zwei Aspekte hinzu: Einmal ist es das Schema der beiden typischen gegensätzlichen Frauen, das wir in der gesamten Antike so oft finden (Weisheit und Torheit, Maria und Elisabet, Kirche und Synagoge, Hure Babylon und Jungfrau Neues Jerusalem). Es hat seit der griechischen Klassik pädagogischen Charakter: Seit Herakles am Scheideweg zwischen zwei Frauen wählen soll – einer sittsamen klugen und einer ausgelassen haltlosen –, wird das Schema der zwei Frauen ein Bild für mögliche Lebenswege. So auch hier. Zweitens wird mit der Rolle der Maria, die Jesus zu Füßen sitzt, besonders die Einmaligkeit Jesu und der Belehrung durch ihn nach dem LkEv dargestellt. Der Leser kann in Maria jeden wiederfinden, der sich an Jesu Worten und damit an dem orientiert, was das LkEv bewahrt hat. In der Gestalt der Maria kämpft daher der Evangelist Lukas auch für sein eigenes Evan-
Das Lukasevangelium
gelium und darum, doch in allem Aktionismus bitte auf die Stimme Jesu zu hören, die Lukas unersetzlich und unwiderruflich festgehalten hat. Und wenn Jesus sagt, dass ihr, Maria, niemand ihren Teil nehmen kann, dann meint er damit auch alles das, was als Schatz der frühen Christenheit im Evangelium des Lukas festgehalten worden ist. Und spätestens Lukas muss ganz klar dafür kämpfen, dass gegenüber aller diakonischen Aktivität sein Evangelium die Grundlage bildet, weil es mit Jesus verbindet. Im Mittelalter neigt man dazu, in Maria die vita contemplativa (konkret: klösterliches Leben und geistlichen Stand), in Marta die vita activa (den weltlichen Beruf) zu sehen. So sagt der heilige Bernhard über Maria: »Selig sind die Augen, die sehen, was du siehst, und die Ohren, die hören dürfen, was du hörst (Mt 13,16f). Ja, selig bist du, weil du den Herzschlag des göttlichen Flüsterns in dem Schweigen vernimmst, in dem der Mensch den Herrn am besten erwartet. Sei einfach, nicht nur ohne Hintergedanken und ohne Verstellung, sondern auch ohne vielfältige Beschäftigungen, damit das Wort dessen bei dir sei, dessen Stimme süß und dessen Gesicht lieblich ist« (Hld 2,14). – Dabei betont man immer wieder, dass Jesus den Dienst der Marta nicht getadelt, gestraft oder verworfen habe, dass er lediglich Maria gelobt habe. So ist man sich einig: Der weltliche Stand ist nicht zu tadeln, der geistliche Stand aber mehr zu loben. Wer heute diese Auslegungen liest, wird sich ungläubig die Augen reiben. – Zum Trost heißt es, jeder Christ habe in seinem Beruf die Werkzeuge, mit denen er den Himmel gewinnen könne, wenn er nur »eifrig und emsig« sei. Bernhard von Clairvaux fasst die Auslegungen zusammen: »Man kann nicht beides gleichzeitig in angemessener Weise tun: sich um äußere Angelegenheiten kümmern und frei sein für die innere Sehnsucht nach Weisheit … Deshalb sitzt Maria und bleibt unbeweglich. Sie möchte die schweigende Ruhe nicht unterbrechen, um die selige Freude der Betrachtung nicht zu verlieren, vor allem, da sie den Herrn selbst im Inneren sprechen hört: Macht euch frei (vacate) und erkennt, dass ich Gott bin« (Ps 45,11). Kardinal Bellarmin, der zunächst als Ordensmann (SJ), dann als Kardinal »weltlich« lebte, hat zu den beiden Wegen gesagt: Da ich noch ein Ordensmann war, wusste
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Kapitel 11
ich nicht, was Traurigkeit ist, jetzt, da ich Kardinal bin, weiß ich nicht, was Fröhlichkeit ist. Nun ist die Auslegung auf beide Typen von Lebensweisen hin nicht die einzig mögliche. Es wurde oben schon deutlich, dass ich Sympathien habe für eine Auslegung in dem Sinn, dass jede christliche Praxis einer geistlich-biblischen Fundierung auf dem am Wort Jesu bedarf, und zwar gleichgülltig, ob es sich um ein Leben im Kloster oder in der Welt handelt. Beides gibt genug Gelegenheit, in Aktivitäten zu ersticken; beides bedarf der unersetzlichen Besinnung und Bekehrung durch das Wort der Schrift. Bei modernen Seelsorgern (»Weltgeistlichen«) stelle ich oft fest, dass sie noch viel hektischer leben als andere in ihren Berufen. Vielleicht war das im Mittelalter auch schon so, und man hat deshalb den Geistlichen das Vorbild der Maria besonders ans Herz gelegt. Man nennt das, was fehlt, heute oft »Spiritualität« und sucht es im Neubuddhismus oder – gerade von Seiten lutherischer Pastoren (!) – in Exerzitien nach Ignatius. Bezüglich des Neubuddhismus und aller seiner Spielarten bin ich der Meinung, dass er mit biblischem Denken nicht vereinbar ist und daher auch kein wirklicher Weg zu Jesus sein kann. Denn »wenn die Richtung des Zuges falsch ist, dann ist jede Station falsch« (F. J. Strauß). Die Richtung zielt im Buddhismus nicht auf einen persönlichen Gott. Ich denke, dass eine wirklich biblische Spiritualität nötig, möglich und erlernbar ist, und zwar in Grundzügen so: Am Anfang lernt man über
251 einen Text staunen; man wundert sich über das, was anders ist, als man es erwartet hat. Dann wird gefragt, wie ein Text gewoben ist, welche wiederkehrenden und entgegengesetzten Muster (Wörter) er bietet, welches seine Architektonik ist (die Abteilungen, die tragenden argumentativen Mauern, die Fenster, die das Licht hereinlassen). Man soll auch nach den Grundmauern fragen: Was setzt der Sprecher des Textes alles voraus, womit arbeitet er? – Dann kann man sagen, was man am leichtesten versteht, wo der Zugang einfach ist, und was schwierig ist. Beim Schwierigen sollte man lange aushalten und andere fragen. Gerade hier ist das geschwisterliche Gespräch oft ganz faszinierend fruchtbar. Dann fragt man, was der Text über Gott sagt, welches Bild von Gott gerade dieser Text entwirft oder voraussetzt. Dann forscht man nach den typisch menschlichen Reaktionen, in denen man sich wiedererkennen kann (oder auch nicht). Es dürfen auch Zweifel und Unklarheiten bleiben. Dann sucht man, an welcher Stelle ein Text verändernd auf mich und meine Umgebung einwirken kann, und versucht, dies mit eigenen Worten zu sagen (das ist überhaupt ein wichtiges Ziel). Schließlich sammelt man ähnliche Texte und stellt einen Blumenstrauß verwandter Texte zusammen. Sehr aufschlussreich kann auch die Zusammenstellung mit anderen Bibel- und Gebetstexten in der jeweiligen Liturgie sein. Am Ende versucht man, das, was einen bewegt, als Gebet zu formulieren.
Lk 11-12: Gebetsparänese Christliche Gebetsparänese: Beten kann man lehren und lernen (V. 1) – es ist daher nicht zuerst subjektiv oder privat, allerdings auch keine Technik des Bewusstseins. Themen und Inhalte kann man lernen, aber auch Argumente gegen die Einwände, das Gebet sei Gott sowieso egal, oder: Gott erhöre es fast nie.
Lk 11,1-13: Das Vaterunser Jesus ermahnt zum Vertrauen auf die Erhörung des Gebets. Er ermuntert dazu, Gott unverschämt zu bedrängen. Denn Gott will gebraucht werden.
Der Typ des Beters, den Jesus meint, besitzt das, was die Antike griech. parrhesia nannte: »Freimütigkeit zu reden, alles vorzubringen, was man auf dem Herzen hat«, also eine Mischung aus Mut und Demut, aus Gott- und Selbstvertrauen. Beides hängt zusammen. Jesus sagt im Gleichnis vom mitternachts bittenden Freund, dass zum Gebet Selbstvertrauen gehört: Begegnet Gott im Gebet wie ein Freund dem anderen, wie ein Kind (das auch tendenziell leicht erpresserisch sein darf) seinen Eltern. Dass Jesus in der Tat einen bestimmten Typ und Lebensstil meint, der bei Gott zu Hause ist – dass er moralisch perfekt sei, wird gerade nicht gesagt –, erkennt man da-
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252 ran, dass Jesus hier zweimal vom »Heiligen Geist« redet. Die erste Stelle (Lk 11,2: der älteste und vom üblichen Text stark abweichende Textgestalt steht bei Markion und etlichen Altlateinern, vgl. W. Ott, Gebet und Heil, München 1965) der Eucharistie, nach der der Heilige Geist auf Brot und Wein zu kommen gebeten wird. – Die zweite Stelle steht in V. 13: Wie sollte Gott denen ihre Bitte versagen, die ihn um den Heiligen Geist bitten? Diese doppelte Bitte um den Heiligen Geist ist nicht zufällig mit dem Thema Gebet überhaupt verbunden. Denn der Heilige Geist ist ja nicht nur das Erbetene, sondern auch die Kraft, aus der heraus wir überhaupt wirksam bitten. Nach Röm 8,26f bringt der Heilige Geist die Bitten vor Gott. Und was er tut, wird der Vater sicher erhören, denn er hat den Menschen doch selbst den Anwalt zur Seite gestellt. Beten ist der Erhörung sicher, wenn Menschen um den Heiligen Geist bitten. Denn er gibt die Kraft zum Beten und ist der Anwalt der Erhörung. Er gibt Tag für Tag neu die Gnade, Gottes Kinder zu sein. In seiner Kraft kann man um das Rechte bitten. Und man darf um alles bitten, was der Vitalität und Fröhlichkeit des Heiligen Geistes entspricht. Wer um den Heiligen Geist bittet, der bittet ganz sicher erfolgreich darum, eines Sinnes mit Gott zu sein. Jesus sagt hier: Betet nur um eines: »Komm, Heiliger Geist.« Um die Beter zu ermuntern, zitiert die Präfation der mozarabischen Liturgie vom 6. Sonntag nach Erscheinung eine Reihe von Beispielen: »Würdig und gerecht ist es, immer zu dir zu beten und um deine Hilfe zu bitten, denn du hast dich von Anfang an dem Flehen deiner Diener gütig und milde gezeigt. Denen, die dich angerufen, hast du Wohltaten gespendet, für sie Wundertaten vollbracht, hast Verzeihung nicht verweigert, Wohlwollen geschenkt und Fürsorge erwiesen. … Josua hat zu Gott flehend die Feinde bezwungen und die Sonne nicht untergehen lassen. In Jesu Namen aber betete er, damit er als das wahre Licht leuchte und beim Anbruch der Finsterns komme, um noch heller zu strahlen. … David aber kleidete die Gabe des Gebetes in die herrlich erklingenden Psalmengesänge. Salomon streckte seine Hände im Gebet aus wie am Kreuz hängend und weihte so den Tempel des Herrn. … Elia aber schloss und öffnete die Schleusen des Himmels
Das Lukasevangelium
mit dem Gebet seines Mundes. Elisa beugte sich über die erstarrten Glieder und erweckte durch Gebet einen Toten. Jona, vom Meer und vom Walfisch verschlungen, hörte nicht auf zu beten, und den im Bauche des Walfisches betenden Propheten konnte weder des Meeres Ungeheuer noch ein Sturmeswüten bezwingen. Die betenden drei Jünglinge spürten nicht die Glut der Flammen, und durch ihr Loblied besiegten sie das prasselnde Feuer. Daniel in der Löwengrube schloss die gierigen, gefräßigen Rachen der wilden Tiere. Unser Herr Jesus Christus, getreu in seinen Worten und herrlich in allen seinen Taten, hat selbst eines Tages seine Jünger das vorbildliche Gebet gelehrt, das den ganzen Inhalt der Heilslehre enthält. Zu beten sollen wir nie aufhören, befahl er seinen Aposteln. Er hat versprochen zu geben, was auch immer die Gläubigen in vertrauensvollem Gebet erflehen. Vor seinem Leiden hat er nicht nur im Gebete seine Apostel dem Vater empfohlen, sondern im Leiden selbst für seine Feinde gebetet. Jetzt, zur Rechten des Vaters erhöht, herrscht er in Ewigkeit und tritt beständig betend für uns ein …«
Zu Lk 11,2-4: Dem lukanischen Vaterunser fehlt in der Anrede »im Himmel«, sodann die Bitte »Dein Wille geschehe, wie …« und auch die Schlussbitte »vielmehr befreie uns von dem Bösen«. Die Brotbitte geht auf das »tägliche Brot« (vgl. Lk 9: täglich). Damit hat der Text bei Lk ein deutliches Gefälle: vom Blick auf die Hoheit und Heiligkeit Gottes bis hin zur Versuchlichkeit des Menschen. – Die Bitte um das Kommen des Reiches ist in wichtigen alten Handschriften ersetzt durch die Bitte: »Dein Heiliger Geist komme auf uns und reinige uns« (Gegor v. Nyssa, Marcion, Minuskel 162). Das entspricht Lk 11,13 und zahlreichen ähnlichen Texten bei Lk (3,21; Apg 8,15; 4,31; cf 1,14). Immer wieder betet auch Jesus um den Heiligen Geist. Dass dieses Gebet erhört wird, erweist ihn als legitimen Gottessohn. Die Abfolge von Geistbitte und Brotbitte ist wohl der Ursprung der Epiklese in der Messe, wenn man die Brotbitte eucharistisch deutet. – Der Gesamtduktus des Gebets bei Lk ist von dem matthäischen Vaterunser unterschieden. Bei Lukas geht der Blick von der Heiligkeit Gottes auf die menschliche Not und Armut. Bei Mt steht der Kontrast zwischen Gottes Reich und dem Bösen im Zentrum.
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Kapitel 11
Lk 11,5-13: Beharrliches Gebet In V. 5-13 verteidigt Jesus das Beten gegen das Argument der Nicht-Erhörung. V. 5 und V. 11 beginnen mit der Einleitung »Wer (wen) unter euch …«, einer typischen Einleitung für ein Beispiel, das Absurdes nennt. 11,5-8 ist bis in die formelhaften Satzanfänge hinein parallel zu Lk 18,1-8 (besonders: ungünstige Voraussetzungen; vorläufiger Misserfolg; eher abweisende Eigenschaften des Gebetenen; Erhörung aufgrund hartnäckiger Motivation). Die Unverschämtheit des Betens wird hier und dort empfohlen (vgl. auch Past Herm, Vis 3,7,5 und Sim 5,4,2). Zu Lk 11,9: Im Judentum wird dem Gottesfreund zugesichert, jedes Gebet werde erhört (z. B. Abraham). Im frühen Christentum steht an dessen Stelle das Kind Gottes; und insofern schließt sich jetzt der Kreis: Kind Gottes wird man stets durch den Heiligen Geist. Wer daher um den Geist bittet, bittet stets um die Grundvoraussetzung zur Gebetserhörung. In V. 13 endet die Argumentation mit einem Schluss a minore ad maius. – Im Übrigen wird nicht gesagt, man erhalte genau das Erbetene. Zu Lk 11,13: Der Satz 11,13 (vgl. Mt 12,30) »Wer nicht mit mir ist …« ist die strengere Fassung gegenüber der weiteren in Mk 9,40 und Lk 9,50b. Die weitere Fassung folgt dem Grundatz »Getrennt marschieren, aber vereint schlagen«. Die strengere Fassung steht auch in Mt 12 (V. 24.27 f.30) im Kontext der »Sünde gegen den Heiligen Geist«; denn angesichts der Frage, ob Jesus mit Beelzebul zu tun hat (Lk 11,15), gibt es nur ja oder nein. Zu Lk 11,20: Zum »zu euch« in Lk 11,20 vgl. dieselbe Wendung in Lk 10,9; 24,49; Apg 1,8. – Vgl. Assumptio Mosis 10,1: »Et tunc (ap)parebit regnum illus in omni creatura illius et tunc diabolus finem habebit et tristitia cum eo abducatur. – Dann wird Gottes Reich erscheinen in aller Schöpfung, der Teufel hat dann ein Ende, und die Traurigkeit/Trübsal verschwindet mit ihm.« – Wichtig ist die Zuordnung von Teufel und Trübsal, da dem Heiligen Geist und dem Reich Gottes die Freude entspricht.
253 Zu Lk 11,27-28: »Was musst du für eine großartige Mutter haben (oder: gehabt haben)!«, so pflegte man im Altertum zu sagen, wenn man jemanden loben wollte. Bei dem römischen Dichtrer Petronius hörte sich das so an: »O glücklich … deine Mutter, die dich, so wie du bist, geboren hat. Recht so! Wohlgestalt ist mit Verständigkeit eine seltene Mischung eingegangen. Ich will dein Lob mit Versen formulieren« (vor 66 n. Chr.). – In einer jüdischen Apokalypse des 1. Jahrh. n. Chr. heißt es: »Selig meine Mutter unter denen, die geboren haben, und verherrlicht werden soll unter den Frauen, sie, die mich geboren hat.« – So sagt der Prophet Baruch von sich. Eine Frau, die ihren Sohn lebendig zurückerhält, wird »unter den Frauen gelobt werden« (4 Esra, 1. Jh. n. Chr.). Und schließlich heißt es in einem rabbinischen Text über die Mutter des Messias (!): »Heil der Stunde, da der Messias geboren wurde! Heil dem Leibe, aus dem er hervorging! Heil dem Geschlecht, das ihn sieht! Heil dem Auge, das ihn sehen durfte!« (Pesiqta; 3. Jh. n. Chr.). Der Grundgedanke ist in jedem Fall derselbe: Ein bedeutender Mensch kann nur von einer bedeutenden Mutter abstammen. Im Licht dieser Texte verstehen wir auch die Begrüßung Marias durch Elisabet nach Lk 1: »Du bist gebenedeit unter den Frauen, und (denn) gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus.« Soweit herrscht auch Einigkeit über die Deutung des Textes. Die Kontroverse beginnt mit der Frage, ob Jesus sein Publikum, das sich soeben ähnlich geäußert hatte wie Elisabet, mit dem folgenden Satz zurechtweisen und korrigieren will. Will Jesus sagen: »Nein! Selig sind vielmehr, die Gottes Wort hören und befolgen!«? Will Jesus jede Seligpreisung seiner Mutter unterbinden und damit auch für sich selbst jedes Lob verhindern? Oder soll man übersetzen: »Ja, selig sind die, die Gottes Wort hören und halten.« Dann heißt es also »Ja« statt »Nein«, und Maria wird einbezogen in den weiteren Kreis derer, die wahrhaft seligzupreisen sind. Der einzelne Christ, die einzelne Christin kann genauso wie Maria seliggepriesen werden, wenn er oder sie – wie Maria es getan hat – Gottes Wort hört und hält. Da der Text im LkEv steht, darf man ohne jedes Zögern sagen: Maria hat auf Gottes Wort gehört und danach gelebt. Wir hatten bereits
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254 bei der oben zitierten rabbinischen Parallele aus Pesiqta eine Ausweitung beobachten können: Nicht nur die Mutter des Messias wird glücklich gepriesen, sondern außer ihr eben alle, die ihn sehen und erleben dürfen. Bei dieser Ausweitung ist Jesus (nach Lukas) anspruchsvoller: Es kommt nicht nur darauf an, ihn zu sehen und zu erleben, sondern zu tun, was er will.
Lk 11,14-28: Geistgebet – Wahrer Glaube – Lobpreis und Appell Das Gebet um den Heiligen Geist ist in der Komposition dem Abschnitt über Exorzismus vorangestellt (11,14-27). Denn wer den Heiligen Geist hat, kann die unreinen Geister vertreiben. So ist auch Mk 1 aufgebaut (Taufe mit dem Heiligen Geist – Exorzismen, Reinigung vom Aussatz). Nach Lk 11,20 steht das Reich Gottes dem Reich Satans gegenüber. Dass nur hier das Reich wirklich angekommen ist, rührt von dem strengen Dualismus der Rede vom Heiligen Geist und sei-
Das Lukasevangelium
nen Gegenmächten her; dessen Präsenz ist stets ultimativ (umso schlimmer der Rückfall: 11,2426). So wie nach 2 Kor 3,4 – 4,6 der Gott dieser Welt besiegt wird durch den Bund des Geistes, wird nach Mt 12,28 und Lk 11,20 das Reich Satans durch den Heiligen Geist besiegt. – Das Gleichnis vom Stärkeren (11,21-23) meint Jesus selbst, der hier durchaus als Kämpfer vorgestellt ist. Lk 11 endet (ähnlich wie Lk 10) mit drei Abschnitten, die eine Mischung von Lobpreis und Appell darstellen. Stets wird Jesus indirekt gelobt (Seligpreisung der Prophetenmutter in 11,27), »Mehr als Jona« (11,29-32), »Das Licht steht doch auf dem Leuchter, damit man es sieht« (so ist es mit mir). Das Licht des Heils verbreitet seinen Schein, es bleibt nicht verborgen wie zuvor; der Satz bezieht sich hier weder auf die Werke der Christen, noch auf ihre offene Predigt, noch auf das Gericht, sondern auf die erhellende Gegenwart Jesu selbst. Und: »Es liegt an der Funktionstüchtigkeit eurer Wahrnehmung, ob ihr jetzt mit Licht erfüllt werdet oder nicht« (das Auge steht für das Ohr).
Lk 11,37 – 14,6: Drei Gerichtsreden: Jüdische Autoritäten – Jünger – Israel Der große Abschnitt des LkEv zwischen Kap. 11 und 14 enthält drei Gerichtsreden: I. Lk 11,37 – 12,3: Gerichtsrede gegen Pharisäer und Gesetzeslehrer II. Lk 12,4 – 13,9: Mahnrede an die Jünger III. Lk 13,10 – 14,6: Mahnrede an Israel
I. Lk 11,37 – 12,3: Gerichtsrede gegen Pharisäer und Gesetzeslehrer Die Logik von Lk 11,39-41: Jesus spielt mit dem Wort »Inneres«; auf der gegenständlichen Ebene meint es den Inhalt von Becher und Schale. Wer ihn verschenkt, hält diese Gefäße rein. Übertragen gebraucht: Wer schenkt, wird selbst von innen rein, er muss keine äußere Unreinheit mehr fürchten. Denn er besitzt die vom Inneren ausgehende offensive Reinheit (Mk 7,15). Schon nach Tob 12,9 (Ptov 15,27a LXX) »reinigt« Almosen von Sünden, ähnlich 1 Petr 4,8. Nach Röm 14,20 und Tit 1,15 kommt alles auf den Menschen an, die Dinge selbst sind rein.
Aus den anti-pharisäischen Weherufen ragt das Stück V. 47-51 hervor. Es gehört zur Tradition des »deuteronomistischen Geschichtsbildes« von der Ermordung aller Propheten und der Bestrafung Jerusalems dafür. Lukas bringt diese Tradition öfter (11,47-48.49-51 parallel zu Mt 23,29-31.34-36; und 13,34f wie Mt 23,37-39; in Lk 19,14.27 im Gleichnis wie ähnlich Mt 22,6.7 im Gleichnis; vgl. auch Apg 7,52). Die Besonderheit hier: »Die Weisheit spricht: Siehe, ich sende …« Im (apokr.) Buch der »Weisheit Salomos« Kap. 18 ff ist die Weisheit (Gottes) die Akteurin der Heilsgeschichte. Das bedeutet: Schöpfung und Geschichte werden von derselben Rationalität gesteuert, nicht von Zufall, Schicksal oder Teufel. Nichts »läuft aus dem Ruder«. Lk 12,3 (alles Verborgene wird offenbar im Sinne der Gerichtsdrohung) ist die Brücke zum Neueinsatz in 12,4: »Ich sage aber euch, meinen Freunden …«, wo dasselbe Motiv eine Aufforderung zum Bekenntnis wird.
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Kapitel 12
II. Lk 12,4 – 13,9: Mahnrede an die Jünger Die Jünger sollen in doppelter Hinsicht frei sein, frei von der Angst vor Gerichten (denn der Heilige Geist wird sie inspirieren; 12,11-12) und frei von der Sorge um Besitz (12,13-34). In Lk 12,5 geht es um die notwendige Angst vor Gott; die Bibel differenziert nicht zwischen »fürchten« und »Angst haben«. – Zum biblischen Motiv des Nicht-Sorgens vgl. Ps 55,23; 1 Petr 5,7; Phil 4,6; Past Herm, Vis 3,11,3; 4,2,4; Mand 5,2,3; Ign Polyk 7,1. – Ps 55 ist wohl die Ausgangsstelle, in Phil 4,6 und Mt 6 (vgl. V. 9 mit 25 ff) und Past Herm, Mand 5 hat sich die Tradition mit Gebet verbunden. In anderen Fällen, so auch in Lk 12, ist die positive Seite des Nicht-Sorgens das Suchen von Gottes Reich (wie Mt 6,33), die rechte Furcht vor Gott (Lk 12,5) oder »reich zu sein vor Gott« (Lk 12,21). In dem Disput vom Teilen des Erbes (Lk 12,13f) geht es vielleicht ursprünglich um Jesu Ablehnung, Richter zu sein (in Gerechte und Ungerechte zu teilen, vgl. Lk 9; ThomasEv 72), Lukas verwendet Jesu Ablehnung hier gegen Habgier. Das Gleichnis vom reichen Kornbauern (12,16 ff) hat eine Parallele im ThomasEv 63, die einfacher gebaut ist (ohne Gottesrede und Schlusssatz) und deshalb bei manchen als ursprünglicher gilt. – Die Wendung »Ruh aus, trink, feiere« (12,19b) ahmt den Stil zeitgenössischer Grabinschriften nach. Das Selbstgespräch ist hier wie auch sonst die »Kehre« in Gleichnissen. Vielmehr sollen die Jünger bereit sein zum »Wachen«. Da Wachen eschatologisch ausgerichtet ist, folgen logischerweise Worte über das Ende der Zeit (12,35-13,9).
Lk 12,13-21: Schätze auf Erden – Schätze im Himmel »Trink und spiel und komm!« riefen die Toten per Grabinschriften zur Zeit Jesu höchst eindrücklich den Passanten auf dem Friedhof zu (»bibe, lude, veni!«). Fast wörtlich übereinstimmend sagt hier der reiche Bauer zu sich selbst: »Genieße die freie Zeit, iss und trink und stürze dich in die Freuden des Lebens!« So ist diese Selbstaufforderung im bittersten Sinne des Wortes mitten aus dem Leben gegriffen. Denn mit-
255 ten im Leben kann sich der Tod auftun. Die Folgerung für Jesus ist gerade nicht der schrankenlose Hedonismus, sondern die Gegenüberstellung von »Aufhäufen von Schätzen für sich selbst« und »Schatz im Himmel« (»vor Gott nicht mit leeren Händen dastehen«). – Jesus sagt hier nicht, was das ist, vor Gott reich zu sein. Aus anderen Stellen der Verkündigung Jesu wissen wir, dass dieser himmlische Schatz nicht nur in dem Geld besteht, das Menschen hier den Armen schenken, sondern auf allem guten Handeln beruht, das hier auf Erden keinen Ausgleich gefunden hat. Es geht also – bildlich gesprochen – um die Orientierung des Handelns am Übermorgen, nicht nur am Morgen. Doch die Perspektive vom himmlischen Schatz, die Jesus eröffnet, reicht in dieser Engführung nicht aus. Denn Christen sind gefragt, welche Vision oder Perspektive sie für die Frage »Besitz/Reichtum« anbieten können. Das reicht von spontaner Nachbarschaftshilfe über christliche Soziallehre bis zu christlichen Gruppen mit Gütergemeinschaft. Selbstgespräche wie das des Reichen im Gleichnis vom reichen Bauern sind überall bei Lukas in Gleichnissen der entscheidende Punkt in der menschlichen Dramatik. So etwa auch im Gleichnis vom verlorenen Sohn, wo der Sohn im Selbstgespräch beschließt, zum Vater zurückzukehren. Ferner hat Lukas den Grundsatz: »Gott sorgt für das Morgen – heute ist die Aktion des Menschen gefordert.« In diesem Gleichnis zeigt sich, dass es verhängnisvoll ist, einfach das Gegenteil davon zu tun: Der Mensch versucht, von sich aus für das Morgen und das Übermorgen im Voraus zu planen, statt heute das Entscheidende zu tun, nämlich reich vor Gott zu werden. Die langfristige Planung auf der Seite des Menschen steht dann in geradezu barockem Kontrast zur Plötzlichkeit des Abbruchs. Umgekehrt sollte es sein: den langfristigen Segen Gott überlassen, in der Gegenwart dagegen unvermittelt handeln. – Man kann auch für die Anschauungen des Evangelisten Lukas sagen: Die Grenzen des Menschen sind ihm näher gerückt, in seinem Handeln ist er unter Druck geraten. Wenn Jesus demonstrativ den Vater sorgen lässt, ist diese Lebensweise der Erweis dafür, dass er sich als Sohn Gottes betrachtet. Nur ein Vater sorgt so für sein Kind. Wer sich so verhält, kann
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256 nur einer sein, der sich als Sohn Gottes betrachtet; eine andere Basis für sein Handeln kommt gar nicht in Frage. Dies ist unter anderem die Voraussetzung seines Lebensstils.
Lk 12,35-48: Wachsamkeit – Sklaven-Gleichnisse In Lk 12,35-48 finden wir eine Sammlung von Motiven aus Sklaven-Gleichnissen (»GleichnisDiskurs«). Thema ist Bewährung und Bereitschaft in der Zwischenzeit bis zum Ende. Die Ausrichtung auf das Ziel bedeutet stets Zuwendung zur Gegenwart. Bewährung und die Ungewissheit des Kommens sind verschränkt. Auch im Neuen Testament gilt das Bild weiter, wonach Menschen Sklaven/Knechte vor Gott sind. Das Bild der Gotteskinder ist noch nicht überall zur Geltung gekommen. Im Gegenteil: Dieser Text führt tief hinein in die antike Sklavenhalter-Szene. So hören wir vom Schichtdienst zur Zeit der Nachtwachen; vom Auspeitschen, das Sklaven erdulden müssen; vom Obersklaven, der für die anderen sorgen muss, der sie aber zuweilen schlägt und schindet, während er selbst frisst und säuft. Wir hören von der Bedrohung des großen Hauses durch Diebe, und andererseits davon, dass der Herr den Obersklaven zum Ökonom macht und ihm die gesamte Hausverwaltung überträgt. Offenbar haben die Sklaven gezittert, wenn es hieß: Der Hausherr kommt! Und schließlich gilt: »Wem der Herr viel anvertraut, von dem verlangt er um so mehr.« Denn alles liegt daran, dass ein Sklave zuverlässig und umsichtig ist. Ein bestimmter Aspekt des Christseins wird nach wie vor durch die SklavenGleichnisse beleuchtet. Spätestens der Evangelist Lukas hat hier eine Reihe von Sklavengleichnissen zu einem dichten Teppich verwoben, weshalb man hier von einem Gleichnis-Diskurs spricht. Das Thema der Sklaven-Gleichnisse ist zumeist die Zwischenzeit, in der der Hausherr verreist ist und die Sklaven selbst direkt verantwortlich sind, bis der Herr wiederkommt. Insofern zeugen alle diese Gleichnisse von der Überzeugung Jesu, dass er »gehen« muss, aber wiederkommen wird. Ähnlich ist es ja auch mit dem Bild des Bräutigams, der mit seinen Jüngern schon Vorhochzeit feiert, danach aber, bis er zur eigentlichen Hochzeit zu-
Das Lukasevangelium
rückkommt, eben nicht da ist. In dieser Zwischenzeit bis zum zweiten Kommen des Herrn müssen die Sklaven sich schlicht bewähren. Diese Bewährung hat auf der Bildebene folgende Schwerpunkte: Erstens wird von den Sklaven erwartet, dass sie allzeit bereit sind, also jederzeit mit dem Kommen des Herrn rechnen. Zweitens ermahnt Jesus zu einem freundlichen Verhalten gegenüber den Mitsklaven. Diese Mahnung geht besonders an Petrus, der hier schon in der Rolle des Ökonoms (Hausverwalters) steht und entsprechende Macht hat, auch seine Mitsklaven zu misshandeln. Unser Gleichnisdiskurs hat keine lieblichen Züge. Die Autorität des Herrn ist ebenso unbezweifelt wie die Verbindlichkeiten des Sklavendienstes. Von Strafe, gar vom Zweiteilen, ist die Rede. Es ist ganz klar: Christen sind Gott gegenüber verantwortlich und werden zur Rechenschaft gezogen. Und das nicht, weil dieser Gott rachsüchtig ist, sondern weil das alles wahr ist, was der Gleichnisdiskurs schildert. Durch die Abgrenzung der Perikope (ab Lk 12,32!) wird der Text einseitig auf Besitzverzicht und Schatz im Himmel hin interpretiert. Aber im Blick steht doch das gesamte Besitz- und Verfügungsrecht des Herrn an seinen Sklaven. So sagt es das Hauptgebot: »lieben aus deinem ganzen Herzen«. Wie unangenehm das Kommen des Herrn sein kann, zeigt V. 39, wo das Kommen des Herrn ungeniert mit dem des Einbrechers verglichen wird. Ein Einbrecher ist nicht lieb, sondern jeder Einbruch ist eine ärgerliche Angelegenheit. Jesus hat keine Scheu zu sagen: Wenn ich komme, dann wie der Dieb in der Nacht; 1 Thess 5,2 (Der Tag des Herrn kommt wie der Dieb in der Nacht) nimmt darauf ebenso Bezug wie Offb 3,3 (Wenn du nicht wachst, komme ich wie der Dieb). Bereitsein ist alles. Und schon früh hat man den »Dieb« verbunden mit der Aufforderung zu wachen. Zumeist wird das Wachen als »Wachen und Beten« gedeutet; denn früh am Morgen stand man in Jerusalem auf, um im Tempel zu beten und den Herrn zu »wecken«. So etwa Sir 39,6 (»für den Herrn in der Morgendämmerung zu wachen … und betet im Angesicht des Allerhöchsten«). Doch vor allem handelt es sich um ein charakteristisch christliches Bildfeld. »Selig sind die Sklaven, die der Herr wachend antrifft, wenn er kommt. Amen, ich sage euch, er
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Kapitel 12
wird so begeistert von euch sein, dass er euch zu Tisch bittet, sich selbst die Kellnerschürze umbindet und euch bedient.« Diese Begeisterung Gottes ist etwas Unerhörtes, und keine Religion der Welt bietet so eine Aussage über einen Gott, schon gar nicht über den Gott des Himmels und der Erde. Denn dieser Gott hat ein Herz, das begeistert sein will. Dass Gott sich so weit erniedrigt, besagt auch, dass er es gar nicht nötig hat, auf seine Würde peinlich bedacht zu sein, sondern dass er vor lauter Freude die Größenverhältnisse umkehren kann.
Lk 12,49-53: Feuer – Taufe Mit zwei Ich-Worten über sein Gekommensein (vgl. dazu K. Berger, Formen und Gattungen, 2005, 321) leitet Jesus eine Zeitansage über das ein, was ab jetzt unter den Menschen geschehen wird. Sie werden gespalten und gegeneinander sein. Das sind dann wahrhaft apokalyptische Zustände. Und auch die Taufe, mit der Jesus getauft werden muss, meint wohl eher seinen Tod als Erfreulicheres. Das heißt: Die Ich-Worte haben keinen friedlichen oder gar beruhigenden Inhalt. Feuer bringt Jesus, und sein Auftreten ist zusammen zu fassen als »Taufe«, der er sich zu unterziehen hat. Hier gilt jedenfalls ein merkwürdiges und sehr fremdes Jesusbild, das das dem von der Liebe und Menschenfreundlichkeit entgegengesetzt zu sein scheint. Feuer ist ein Bild für Gottes Gegenwart. Daher sagt Jesus in einem Agraphon (Berger/Nord, Das Neue Testament, 1127, Agraphon Nr. 80): »Wer mir nahe ist, der ist dem Feuer nahe. Und wer fern von mir ist, der ist fern von Gottes Heil.« Man trägt diese Gegenwart Gottes entweder bei sich im Herzen, oder sie wird einen als Gerichtsfeuer von außen her verbrennen. Das »Feuer im Herzen« ist ein Bild für den Heiligen Geist – spätestens seit Apg 2. Feuer ist ein Bild für Gottes Gegenwart, weil Gott, genau wie das Feuer, nur sich selbst kennt und einen unbegrenzten Ausdehnungswillen (Ansteckungswillen) besitzt. Davon spricht Jesus auch hier: Er ist nicht zufrieden, bis er die ganze Welt in Brand gesteckt hat. Von radikaler Struktur ist auch die Taufe. Sie umhüllt den Täufling von allen Seiten, und zu einer
257 richtigen Taufe gehört darum, dass ein Mensch ganz ein- und untergetaucht ist. Damit aber ist er von allem getrennt, was über und neben ihm war. Nach Lk 3,16 stellt schon Johannes der Täufer die Wassertaufe, die er spendet, und die künftige Feuertaufe im Gericht einander gegenüber. Die Wassertaufe imprägniert wohl gegen die Feuertaufe. Wie Feuer, so reinigt auch die Taufe von allem, was fremd war und nicht zu ihrer radikalen Reinheit passt. So wie das Taufwasser alles wegspült, was nicht dazu gehört, so brennt die Feuertaufe alles aus. Taufe ist im Urchristentum ein geläufiges Bild für den Tod, so nach Mk 10,38f (die Zebedaiden werden mit der Taufe getauft werden, mit der Jesus auch getauft wird). In Röm 6 ist die Taufe der Christen ein Bild für das Mitsterben mit Jesus Christus. Für beide Elemente schildert Jesus den innersten Drang zur Verbreitung oder Vollendung dieser Reinigung. Jesus drängt sehnsüchtig zur Vollendung. Er hat keine Zeit, Gott ist ungeduldig mit der Vollendung. Und entgegen der Messiaserwartung des Judentums ist er nicht sogleich der Friedensbringer. Wie Taufe und Feuer, so ist auch der Streit, der die Häuser spaltet, eine Sache radikaler Entschiedenheit. Das Evangelium bringt Streit, nicht Frieden. Denn zunächst schafft es Fronten von Ja und Nein, weil die Menschen Farbe bekennen müssen. Aus den Evangelien lernen wir, dass dieses der Kontrast zwischen Bekennen und Verleugnen sein wird. – Verwandt ist das Bild in Joh 5,21-27, wonach die Verkündigung Jesu krisis ist, also notwendige Scheidung. Auffällig ist hier, dass das Reich Gottes unerwähnt bleibt. Wegen der inhaltlichen Nähe zu Johannes dem Täufer könnte das Wort auch aus den Anfängen des Auftretens Jesu stammen. Fazit: Dieser Text entwirft ein Gottesbild, das man als direkt konfrontativ und sehr ernst bezeichnen muss. Keine Verharmlosung ist hier angebracht. Stellen wie diese könnten die Ideologisierung von Sätzen wie »Gott ist die Liebe« verhindern. Zum Verständnis komplexer Jesusworte Gerade relativ schwierige und komplexe Jesusworte sollte man grundsätzlich so auslegen und
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258 verstehen, als wären sie überhaupt das Einzige, was von Jesus überliefert ist. Erst dann wird das je eigene Profil solcher Aussagen wirklich greifbar. Als Erstes fällt ein für die Jesusbotschaft auch sonst typisches Element auf: Die Person Jesu ist von der Botschaft nicht trennbar, und das gilt auch hier von Jesu Tod. Natürlich gibt es schon bei Jesus selbst noch ganz andere Deutungen seines Todes, zum Beispiel die Hereinnahme in das Dienen und in den entsprechenden Einsatz des Lebens nach Mk 10,45. Vom Dienen ist hier nicht die Rede. Vielmehr ist die Botschaft dieser Versgruppe: Mit Jesu Person selbst hat schon die große Scheidung begonnen, die Gott am Ende vollzieht. In Jesu Person ist das Feuer des Gerichts schon da, in seinem Tod die vom Gericht erwartete Reinigung von allem nur Irdischen und Vergänglichen (zugunsten des vom Heiligen Geist Gewirkten, müsste man ergänzen), und insbesondere in der Zerstückelung der Familie ist das Gericht nähergekommen. Er ist nicht nur Fackelträger des Feuerbrandes Gottes, in seiner Person erlebt er auch leibhaftig und schmerzlich, was es heißt, dass alles verschwinden muss, was von Gott trennt. Besonders ist auch: Das kommende Ende der Welt ist von Jesu Wirken gar nicht mehr abgesetzt und getrennt. Es ist ab jetzt ein kontinuierliches Geschehen, in das auch Jesu Tod inbegriffen ist. Und: Weder Jünger noch Gebet noch »Reich Gottes« gibt es hier, weder Sakrament noch Heiligen Geist, weder Kirche noch Wunder. Alles vollzieht sich mit und an Jesus, denn mit ihm hat die große Umsetzung begonnen. Von der Deutung seines Todes als Taufe her kann man, wie schon angedeutet, sehr wohl im Umkehrschluß die christliche Taufe nach Röm 6, also die als Todesgeschick betrachtete heilige Taufe, als Teilhabe am Tod Jesu betrachten, und zwar so: Durch seinen eigenen Tod am Kreuz hat Jesus den alten, maroden Sündenleib hinter sich gelassen und einen neuen, den Auferstehungsleib, erhalten. Auch die Christen erleben bei ihrer Taufe Ähnliches: Sie trennen sich vom Sündenleib, sterben mit Christus und bekommen zumindest einen neuen »innerlichen Menschen«, der Angeld des Geistes und künftiger Leibhaftigkeit ist. Es kann daher gut sein, dass Paulus von dem Jesuswort in Lk 12,50 zu seiner Taufauffassung in Röm 6 gelangt ist. Denn die Christen erleben in
Das Lukasevangelium
der Taufe einen symbolischen, aber doch zugleich auch realen Tod.
Lk 13,1-9: Ruf zur Umkehr – Gleichnis vom Feigenbaum Gericht wird immer wieder sein, im Verlauf der Geschichte und an deren Ende. Aber nur der Prophet und der Dichter dürfen Ereignisse als Gericht identifizieren. Wollte Gott den Terroranschlag vom 11. September 2001 als Strafe verstanden wissen? Jedes große oder kleine Ereignis kann zum Hinweis und Zeichen für Gottes Anrede werden. Und wie auch sonst bei Leid und Katastrophen ist dann alles eine Frage der Sprache. Nach Lk 13, einem der härtesten Texte der Bibel, haben alle ganz gewöhnlichen Sünder den Tod verdient. Die Folgen des menschlichen Tuns insgesamt haben den Menschen längst das Todesurteil eingetragen; denn fortgesetzt zerstören sie Leben. Die verdiente Todesstrafe trifft sie nicht deshalb, weil Gott sich das so ausgedacht hätte, sondern weil es gerecht ist. Der Glaube an Gerechtigkeit aber ist für unsere Tradition (Juden, Christen, Moslems) schlechthin maßgeblich für das Verständnis von Wirklichkeit. Für die 4 Milliarden Menschen, die sich auf Abraham berufen, ist Gerechtigkeit der Rahmen des Sinns, wenn es überhaupt einen gibt. Jesus sagt nach Lk 13: Wer durch eine Katastrophe umkommt, hat es schlicht verdient, aber eben nicht mehr als andere. Dann aber werden Katastrophen »neben uns« zu Warnsignalen. Den Umgekommenen nützen sie nichts mehr, aber den anderen. »Macht Frieden mit der Wahrheit, schaut nur her, dann seht ihr, was ihr zweifellos verdient habt.« Ja, es ist geradezu ein Zeichen der Liebe Gottes, uns vorher zu warnen. Für den noch nicht betroffenen Betrachter gibt die Katastrophe einen warnenden Hinweis. Noch ist keine Chance vertan. Wir wissen aus dem übrigen Neuen Testament, dass Gott eine doppelte Strategie kennt: Zärtliche Liebe und den Hinweis auf die Folgen normalen Sünderseins. Das letztere geschieht hier. Denn wir werden ja doch auch sonst die Ahnung nicht los, dass irgendwo sich etwas Dunkles ansammelt, dass Unheimliches auf uns wartet. Und in der Tat: Der Tod, die Scheol, das Schattenreich ist das Normale, das uns er-
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wartet, früher oder später. Mit seinem Evangelium bietet Jesus – auch religionsgeschichtlich gesehen – die absolute Ausnahme an: Gott will uns als seine Kinder bei sich haben im ewigen Leben. Das hatte keiner voher so gesagt. Es ist die Ausnahme. Sie ist nur für den gedacht, der auch hier schon den Mut hat, Ausnahme zu sein, Ausnahme mitten im Zeitgeist. Die herrschende Volksmeinung ist, es führe ein breiter Weg zum Himmel, weil wir Menschen so brav und Gott so lieb sei. Das ist nicht das Evangelium. Das Normale ist (auch im ganzen Alten Testament), dass wir wie ganz normale Sünder in unseren Sünden sterben und dass der Tod uns zur Gänze einholt. Das Bild der Sintflut ist daher wenige Kapitel weiter in der Verkündigung Jesu ein anderer Aspekt seiner Predigt vom Gericht. – Ich finde es befreiend, dass einmal so klar von den ganz üblichen Konsequenzen unseres Tuns die Rede ist wie hier in Lk 13. Zu Lk 13,6-9: Ähnlich wie unten in Lk 13,31-33 spielt hier bereits das eschatologisch-apokalyptische Schema der drei Tage plus x eine wichtige Rolle. Drei Tage (hier: Jahre) stehen für die Zeit der Geduld Gottes vor dem Ende. Dann wird es zu spät sein. Das Strukturschema der »langen Zeit« (natürlich: des Leidens) in Verbindung mit der ganz kurzen Zeit (der Rettung, natürlich durch Jesus) spielt auch im folgenden Absatz 13,10-17 eine wichtige Rolle. Achtzehn Jahre stehen gegen einen (halben) Tag.
13,10-17: Befreiung am Sabbat a) Juden binden auch am Sabbt das Tier von der Futterkrippe los und führen es zum Trinken. So bindet Jesus die achtzehn Jahre »Gebundene« und befreit sie von ihren inneren Fesseln. b) Der Teufel hat die Frau mit Krankheit gequält. Wer ihre Heilung verbieten will, ist schlimmer als der Teufel. c) Die Tiere waren nur Ochs oder Esel, hier dagegen steht eine Tochter Abrahams in der Mitte des Geschehens. Ähnlich wird die Zuwendung Jesu zu dem Steuereintreiber Zachäus in Lk 19,9 damit begründet, dass dieser Kind Abrahams ist. d) Abraham gilt bei den Zeitgnossen als König und damit als frei (vgl. Joh 8,33-37), es ist daher sinnvoll, Abrahams Tochter endlich von ihren Fesseln zu befreien. Zudem ist der Sabbat der Tag der Befreiung (von Sklavenarbeit), und die Begründung des Sabbatgebots in Deut 5,15 erinnert ausdrücklich an die Befreiung aus Ägypten. e) Das unausgesprochene Zentralwort von Lk 13,10-17 ist daher »Freiheit«. So ergibt sich hier eine wichtige Verbindung zwischen Lukas und Paulus, der in Gal 5,1 von Freiheit und im Zusammenhang in Gal 4,10 vom jüdischen Kalendergesetz spricht.Trotz unterschiedlicher Feinstruktur schenkt für beide Jesus den Kindern Abrahams die Freiheit, die ihnen zusteht. Auch bei Philo v. A. gehört Freiheit bzw. Befreiung in das Wortfeld von »Sabbat«.
Lk 13,18-21: Gleichnisse von Senfkorn und Sauerteig (par Mk 4,30-32; Mt 13,31f) III. Lk 13,10 – 14,6: Mahnrede an Israel In diesem Abschnitt gibt es eine dichte Folge jüdischer Stichwörter (Sabbat, Erzväter, Propheten, Jerusalem, Herodes, Pharisäer, Schriftgelehrte, Abraham und Lazarus) sowie beiden Gleichnisse vom Senfkorn und vom Sauerteig. Dabei sind 13,28.33.34 durch das Stichwort »Prophet« besonders eng miteinander verbunden. Der ganze Abschnitt beginnt mit einem Sabbatwunder (13,10-17); ähnlich begann der Jünger-Abschnitt Lk 5-10 in 5,1-11 mit einem Wunder. Der jetzige Abschnitt endet wiederum mit einem Sabbatwunder 14,1-6.
Es handelt sich um zwei an Vorgängen aus der Natur orientierte Wachstumsgleichnisse; entsprechend steht bei Lukas vorher das Gleichnis über den Feigenbaum, dem eine letzte Frist eingeräumt wird. Gleichnis vom Senfkorn Es ist üblich geworden, die Senfstaude, die auf die eine oder die andere Weise als Nahrungsquelle oder Nistplatz den Vögeln etwas bieten kann, mit dem Motiv vom »Weltenbaum« aus der Apokalyptik zu vergleichen, ja darauf zurückzuführen; das ist hier kritisch zu prüfen. Dan 4,7-19 (Nachtgesicht): »Ich schaute und
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260 sah mitten auf der Erde einen Baum von gewaltiger Höhe. Der Baum wuchs und wurde stark, seine Höhe erreichte den Himmel, bis an das Ende der ganzen Erde war er zu sehen. Sein Laub war schön und reich seine Frucht, Nahrung bot er für alle. Unter ihm fanden Schatten die Tiere des Feldes, in seinen Zweigen wohnten die Vögel des Himmels. Alles nährte sich von ihm. – Ein Wächter vom Himmel befiehlt, den Baum zu fällen, jedoch den Wurzelstock im Boden zurückzulassen …« Ez 17,22-24: Aus dem Wipfel der Zeder nimmt Gott ein Reis und pflanzt es auf einen hohen Berg auf Israels Bergeshöhe. Es wird zu einer prächtigen Zeder. »Darunter sollen allerlei Vögel nisten. Alles Gefiederte wird im Schatten seiner Zweige Wohnung finden. Dann werden alle Bäume des Feldes erkennen, dass ich der Herr bin. Ich erniedrige den hohen Baum, ich lasse den grünen Baum vertrocknen, ich lasse den vertrockneten Baum sprießen …« Ez 31,2-6: »Assur war wie ein Zedernbaum auf dem Libanon … Darum überragte ihr Wuchs alle anderen Bäume des Feldes, ihre Zweige wurden gar viele … In ihren Zweigen nisteten allerlei Vögel des Himmels, unter ihren Ästen gebar allerlei Wild des Feldes. In ihrem Schatten wohnten zahlreiche Völker. Zedern im Gottesgarten reichten nicht an sie heran.« Ez 31,13: »Auf ihrem gefällten Stamm nisteten alle Vögel des Himmels. Auf ihren Ästen hielt sich alles Wild des Feldes auf.« 1 QH 16,4-12: »Dank an Gott, der den Verf. an einen Quellort von Bächen gesetzt hat, eine Pflanzung von Wacholder und Ulme mit Buchsbaum, Lebensbäume am Mysteriums-Quellbrunnen … Aber es erheben sich über ihn alle Lebensbäume …« 2 Bar 36,1-10 (= Syrische BaruchApk): Nächtliche Vision; der »Wald des Bösen« wird überschwemmt, nur eine Zeder bleibt übrig. »Du gelangtest zur Macht über das, was dir nicht gehörte; auch hast du dich dessen, was dir gehörte, niemals erbarmt … Jetzt aber ist deine Stunde gekommen. So geh nun auch du, Zeder, hinter dem Wald her und werde mit ihm zu Sand …« Fazit: Zur Großreich-Ideologie gehört es, sich das größte Reich als Nadelholzbaum auf dem Gebirge vorzustellen. Die Größe und Bedeutung des
Das Lukasevangelium
Baumes wird an seiner Bedeutung für die Vögel erkennbar. Regelmäßig ist aber auch vom Fällen des Baumes die Rede. Denn es handelt sich nicht gerade um eine Vision des idealen kommenden Reiches. Daher kann man lediglich sagen: Es gibt eine verbreitete Baum/Wald-Allegorie. Die Funktion in jüdischen Texten ist eher im Rahmen der Kritik anzusetzen. Eine positive Bedeutung hat z. B. lediglich der Weinstock nach Syrische BaruchApk 36,1-4. Der Weinstock ist aber eine eher bescheidene Pflanze. Dann sagt man, in der Parabel Jesu vom Senfkorn erschienen also »Träume von imperialer Größe in komischem Licht« (Zimmermann, Kompendium, 334). Im Blick auf das Gleichnis vom Senfkorn kann ich nur mit ganz erheblichen Einschränkungen die Weltenbaum-Theorie übernehmen. Die Senfkorn-Parabel der Synoptiker besitzt weiter eine Parallele in ThomasEv 20: »Die Jünger baten Jesus: Sag uns, womit man die Herrschaft Gottes vergleichen kann. – Jesus sagte zu ihnen: Sie ist wie ein Senfkorn. Es ist der kleinste von allen Samen überhaupt. Wenn es aber in einen Acker gelegt wird, treibt es einen großen Sproß hervor, der den Vögeln des Himmels Schutz bietet«. Das ThomasEv identifiziert das Reich direkt mit dem Senfkorn. – Damit ist das Reich Gottes ontologisch festgelegt auf die kleinste Pflanze. Bei Lukas ist das anders: Mit dem Reich Gottes ist es wie mit einem Senfkorn … So kommt hier die ganze Entwicklungsgeschichte in den Blick, und zwar mit allen Phasen. Der Abschnitt über die Vögel ist bei Lukas so zu verstehen, dass die Vögel des Himmels in den Zweigen Nester bauen, während nach ThomasEv 20 die entfaltete Staude den Vögeln des Himmels Schutz bietet, zum Beispiel durch den Schatten, in dem die Vögel von ihren Feinden nicht gesehen werden und zugleich auch ihre Nester bauen (auf der Erde, aber nicht in den Ästen). Für die Auslegung bestimmend ist der Kontrast zwischen Klein und Groß. Doch kann ich – anders als viele Ausleger – mit dem Baum nicht sogleich die Völker der Welt verbinden. Ausgerechnet in einer Senfstaude kann ich auch nicht den biblischen Weltenbaum erblicken. Die Pointe liegt auch nicht darin, dass »aus dem Kleinsten das Größte« wird, denn so groß ist eine Senfstaude nun auch wieder nicht. Vielmehr ist es mit dem Reich Gottes wie mit etwas sehr Klei-
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Kapitel 13
nem, das dann doch beachtlich groß wird. Superlative gibt es weder am Anfang noch am Ende. Thema und Pointe ist vielmehr die Eigendynamik des Wachsens. Ein Senfkorn wächst eben bis hin zu einer Größe, die auch anderen Lebewesen nützt, und ein Sauerteig findet seine Grenze erst, wenn alles durchsäuert ist. Beide wachsen, weil sie das sind, was sie sind. Selbstverständlich gehört sehr dynamisches Wachsen dazu. Interessant ist, dass über die Mitwirkung des Menschen nicht so berichtet wird, als müsse hier darauf aufmerksam gemacht werden. Endlastig sind beide Vorgänge (herrliche Staude/ganz durchsäuerter Teig). Gleichnis vom Sauerteig M. Wolter (z.St.) will eine besondere Betonung darin sehen, dass am Schluss der ganze Teig zum Sauerteig geworden ist (er wurde durchsäuert; vgl. 1 Kor 15,6; Gal 5,9) (vgl. dazu K. Berger, Manna, Mehl und Sauerteig. Korn und Brot im Alltag der frühen Christen, Stuttgart 1996). – Manche Ausleger setzen den Sauerteig mit Liebe gleich. ThomasEv 96: (1) Jesus [spricht]: »Das Königreich des Vaters gleicht [einer] Frau. (2) Sie nahm ein wenig Sauerteig. [Sie] verbarg ihn im Mehl (und) und machte daraus große Brote. (3) Wer Ohren hat, soll hören«. Die Pointe liegt hier in dem Kontrast zwischen dem wenigen Sauerteig und den großen Broten. Im Reich Gottes gelangt man mit wenigen Mitteln zu großem Erfolg. Gegen die Annahme einer Beziehung zwischen den seit Anfang der Welt »verborgenen« Dingen und dem im Teig verborgenen Sauerteig in Mt 13,33.35 kann man einwenden: Weder wird gesagt, dass Gott den Sauerteig verborgen hat noch macht die Ent-Bergung des Sauerteigs Sinn, noch wird im Gleichnis vom Anfang der Schöpfung gesprochen. Vorausgesetzt ist wohl eher, dass das Verbergen (Hineinkneten) des Sauerteigs mit der Verkündigung (Jesu) geschieht. Auch zu sagen »Gott knetet nicht« schafft falsche Alternativen, vielmehr ist von Gott überhaupt nicht die Rede, es geht nur um die Qualität des Reiches. Aus der Tatsache, dass Gott nicht vorkommt, ist kein »gott-loser« Charakter des Gleichnisses zu folgern. Und schon gar nicht kann man daraus Schlüsse ziehen, dass von Wasser und von Einzelheiten des Knetvorgangs nichts gesagt wird. Es
261 ist auch nicht so, dass der Abschluss des Säuerungsprozesses »unabsehbar« ist. Dann hätte doch niemand ihn überhaupt einleiten wollen. Die verschiedenen, offensichtlich zumindest unzureichenden Deutungsversuche lassen nur erkennen, dass es nach wie vor ungeklärt ist, wie man zu belastbaren Hypothesen über die Auffindung von Pointen in Gleichnissen kommen kann. So ist zum Beispiel auch nicht vorauszusetzen, dass Gott zwar den Anfang des Prozesses setzt, aber dann die weitere Entwicklung nicht forciert. Da vermischt sich dann wieder die Auslegung von der »selbstwachsenden Saat« mit diesem Gleichnis (alle Argumente gegen K.-H. Ostmeyer, in: R. Zimmermann, Kompendium, 185-191). Die Pointe kann sich nur am Schluß orientieren: »bis alles durchsäuert ist«. Das heißt: Der geschilderte Vorgang hat seinen Sinn darin, dass er wirklich umfassend ist und genau dieses anspruchsvolle Ziel hat. Deshalb betrifft die Mission die ganze Welt, und damit entsteht hier eine gewisse Konkurrenz zum Bild vom »Weltenbaum« im Gleichnis vom Senfkorn. Zu Lk 13,22-30: Die enge Pforte – Die Ersten und die Letzten Mit dem Gottesreich verhält es sich anders, als es zunächst den Augenschein hat. Das galt schon für das unserem Text direkt vorangehende Doppelgleichnis von Senfkorn und Sauerteig [m61]. Um den Kontrast von Anfang und Ende geht es auch weiterhin: Viele suchen hineinzukommen durch die enge Pforte, doch nur wenigen wird es gelingen (V. 23f). Wider Erwarten werden die vielen, die sich abmühen, nicht hineinkommen. Nach V. 23-30 wird auch Israel (Jerusalem), in dem Jesus auftrat, nicht hineinkommen. Jesus hat auf den Gassen Israels gelehrt – doch die Ersterwählten und Erstbedachten werden sehen, dass sie ganz am Ende stehen werden. Die Heiden dagegen, an die sich Jesus gar nicht zuerst wandte, die als die Letzten und als Sünder galten, sie werden mit den Erzvätern und Propheten beim himmlischen Gastmahl sitzen. Der Tonfall dieses Textes ist auf den ersten und zweiten Blick nicht freundlich. Er lautet zusammengefasst: Ihr werdet euch wundern, ihr in eurer falschen Heilssicherheit. – Natürlich ist dieses keine antijüdische Predigt, sondern die Juden in den Gassen Jerusalems sind hier das abschre-
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262 ckende Beispiel für die späteren heidenchristlichen Leser wie für uns. Wir erinnern uns an Paulus, Röm 11,20-22: Da stellt er dar, wie die nicht an Jesus glaubenden, ungehorsamen Juden aus dem Ölbaum herausgeschnitten werden, d. h. ihr Heil im Augenblick verloren haben. Gleichzeitig ermahnt er auch die Heidenchristen, nicht in Ungehorsam und Hybris zu verfallen, denn dann könne es ihnen ebenso ergehen. Die Szene ist daher auch für die Frage der Glaubwürdigkeit des Evangelisten Lukas interessant: Lukas bewahrt im Blick auf seine mittlerweile überwiegend heidenchristlichen Leser ein älteres Stück aus der Auseinandersetzung Jesu mit seinem Volk. Denn er weiß, durch das Alter und die neue Situation haben die Worte Jesu ihre Bedeutung gegen menschliche Hybris nicht verloren. Sie können auch Heidenchristen eine Menge sagen, gerade weil wir auf das Geschick der nicht glaubenden Juden als negatives Beispiel zurückblicken können. Andererseits aber sagt Jesus hier auch etwas über die Legitimität der Heidenmission nach Ostern; und er kehrt die Erwartung der Juden insofern um, als die Heidenmission äußerlich zunächst (!) etwas anders aussah, als sie hier formuliert wird. Jesus redet in der Sprache von Jes 49,12 (… kommen von Norden und Westen) und Jes 59,19 (im Westen, im Osten [m63]) und beschreibt so das, was man bei den Propheten die »endzeitliche Völkerwallfahrt« nennt. Natürlich »kommen« die Heiden am Ende in das Reich zum endzeitlichen Gastmahl. Aber vorher müssen die Apostel, die Boten Jesu, zu ihnen gehen. Das Kommen, von dem Jesus im Anschluss an die Propheten spricht, ist daher erst der zweite Akt. Zu Lk 13,22-24: vgl. Komm. zu Mt 7,13-14 Zu Lk 13,25-29: vgl. Komm. zu Mt 7,25-29 Zu Lk 13,31-33: Sowohl in 13,32 als auch in 13,33 wird das eschatologisch-apokalyptische Schema der drei Tage diskutiert. Nach 13,32 dauert das Wirken Jesu drei Tage (= Zeitabschnitte), nach 13,33 ist dieses die Dauer seines Weges zur Vollendung nach Jerusalem. In beiden Fällen steht das Konzept der letzten halben Woche aus dem Danielbuch (vgl. Dan 9,27) im Hintergrund. Nach Ablauf der letzten halben Woche (dreieinhalb, bzw. drei Tage) kommt das Ende, zumeist
Das Lukasevangelium
als herrliches Ende. Die Auffassung von einer dreitägigen Verkündigungszeit bedeutet daher: Die eine Hälfte der letzten Woche ist ausgefüllt durch die Predigt des endzeitlichen Boten Gottes. Vorher dagegen währt die Zeit von Leiden, Verfolgung, Totsein oder Zerstörung und Niedergang eben eine »halbe Woche«. Vgl. dazu Joh 2,19f: Das Rätselwort der Tempelzerstörung gibt den Blick frei auf eine fundamentale Veränderung im Geschick Jesu und zugleich Israels bzw. des Tempels. (Zu dieser Tradition vgl. Joachim Jeremias: Die Drei-Tage-Worte der Evangelien, in: FS KG Kuhn, 1972, 221-229.) Besonders mit der Figur des wiederkommenden Elias haben sich diese Auffassungen verbunden: Er wirkt in der ersten Hälfte der letzten Woche, das ist drei Tage vor dem Ende. Aus dieser Tradition sind auch Teile in die Menschensohn-Theologie eingegangen (vgl. Mk 8,31). Naturgemäß spielt diese Tradition auch in der Märtyrer-Theologie eine Rolle, so etwa ActAndreae et Matthiae: Der drei Tage lang geschundene (nicht: getötete) Andreas wird dann wieder »aufgerichtet«.
Lk 14,1.7-14: Gastmahl – Gastgeber Thema des Gleichnisses ist die Demut, besser gesagt: Jesus wendet allgemeine Anstands- und Klugheitsregeln, wie sie sich in der Umwelt des Neuen Testaments gerade für Gastmähler finden, auf die Jünger an. Die Pointe ist 14,11: »Jeder, der sich nach oben drängt, wird sich unten wiederfinden. Und jeder, der sich unten einstuft, wird nach oben kommen.« Demut ist heutzutage eine ganz schwierige Tugend. Das gilt besonders für Lebensentscheidungen; denn wer demütig ist, gerät in Gefahr, auf die Entfaltung seiner Anlagen und seiner Persönlichkeit verzichten zu müssen. Das gilt zum Beispiel für meinen eigenen Beruf: Kann einer, der wirklich demütig ist, Professor werden wollen? Kann es wirklich der Wille Gottes sein, dass man nach akademischen Ehren strebt? Mancher Kirchenobere wird das dem vorhalten, der diesen »notgedrungen« ehrenvollen Weg geht. Wäre es nicht oft der Weg der Demut, wie ein Konrad von Parzham (Heiliger des 19. Jh. mit großem sozialen Einfluss) nur einfach Klosterpförtner zu sein? Wie kann ich
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»uneitel« herausfinden, was Gott wirklich von mir will? In einer Zeit, in der alles darauf ankommt, die Persönlichkeit zu entfalten und sich selbst zu verwirklichen, hat die Demut einen schweren Stand. Bernhard von Clairvaux stellt seinen Überlegungen zur Demut den Gedanken aus Ps 118,75 (Vulgata) voran: »In deiner Wahrheit hast du mich erniedrigt« (humiliasti me). Denn es ist die Wahrheit, auf die wir zuerst stoßen, wenn dann Demut erforderlich ist. Der Demut verwandt sind: Geduld, Gutmütigkeit und Bescheidenheit. Vor allem aber führt – wie ich meine, ganz im Sinne der Demut – eines weiter: eine strenge Sachbezogenheit, und das heißt: Wenn wir etwas mit Interesse und großer Hingabe tun, herrscht weder persönliche Eitelkeit noch der Wunsch, anderen zu schaden. Bei einer Prüfung habe ich es kürzlich erlebt, da wurden zu einem Text der Bibel nur widerstreitende Meinungen von Kollegen zitiert. Ich habe eingewandt: »Mich interessieren hier nicht Meinungen mit Namen, auch nicht mein Name, sondern nur, wie Sie mit dem Text umgehen können und ob Sie ihm standhalten mit Ihren Argumenten.« Wenn einer etwas erforscht, sollte es ihm nüchtern und mit ansteckender Begeisterung um die Sache gehen, nicht um das eigene Profil. Die Begeisterung um die Sache merken dann auch die Lehrlinge, Schüler oder Studenten bei ihrem Lehrer. Oft ist dieses nach Jahrzehnten das Einzige, was sie behalten. Demut und strenge Sachbezogenheit hängen zusammen, und zu ihnen gesellt sich im günstigsten Fall ansteckende Begeisterung. Heute ist freilich auch noch ein anderes Element der biblischen Demutsvorstellung schwierig, und zwar die stets mit Demut verbundene Verheißung: »… der wird erhöht werden.« Wir unterstellen dann oft, dass da jemand doch nach Ehre strebt, wenigstens im Blick auf später. Aber so hätten wir den Sinn dieser Verheißungen noch gar nicht verstanden und würden sie falsch deuten, nämlich im Sinne eines Mechanismus. Denn es kann gar nicht um ein noch so subtiles Schielen nach Lohn gehen, dann wäre das Ganze doch albern. Hier gilt der Satz: Alle Aussagen über den Himmel (theologisch: die Eschatologie) haben immer zwei Beine, eines in der Gegenwart und eines in der Zukunft. Damit meine ich dieses: De-
263 mut kann man wohl nur wirklich verstehen und praktizieren, wenn man sich ganz intensiv ausrichtet an der faszinierenden und tröstlichen Gegenwart Gottes, sei sie im Herzen, wenn wir beten, sei sie im Tabernakel, wenn wir anbeten. Zur Erläuterung: Wir alle wissen wohl, dass es Situationen gibt, in denen Demut leichtfällt, denn niemand hält Stolz und Ehrgefühl für das Thema Numero eins. Demut fällt uns leicht, wenn wir verliebt oder so versonnen sind, dass wir gar nicht merken, wie es um unseren Ehrgeiz bestellt ist. Und diese beiden Situationen haben etwas mit der heilsamen und tröstlichen Gegenwart des Himmels zu tun. Fangen wir bei dem Versonnensein an. Ich verstehe darunter den Zustand, in dem ein Theologe von Berufs wegen eigentlich immer zu sein hat: dass er von etwas ergriffen ist, über das er nachdenkt; dass er nicht lassen kann, stets daran zu denken. So sagt es Ps 1: »Glücklich …, wer Lust an Gottes Weisung hat und seine Torah lesend vor sich hinspricht Tag und Nacht.« So geht es mir, wenn ich Glück habe, mit der Bibel; so geht es meinen Mitbrüdern im Kloster mit dem Gebet; so wissen wir es vom Jesusgebet der Ostkirche. Und es ist wahr: Ein solcher Zustand ist eine Form von realer Gegenwart des Himmels. Das meinen wohl die Verfasser des Epheser- und des Kolosserbriefes, wenn sie sagen: Seit der Taufe ist euer Lebensweg »im Himmel« zusammen mit Christus. Ihr seid Bürger des Himmels, alles denkt und beurteilt ihr von daher. Und deshalb ist euch auch Ehrgeiz und Ruhmsucht fremd; denn sie sind wie alle Machtkämpfe ganz irdisch und beziehen sich auf ganz Vergängliches. Keineswegs geht es hier um Exaltiertsein, sondern: Als Himmelsbürger auf Erden zu sein bedeutet, einen ganz nüchternen Abstand zum Jahrmarkt der Eitelkeiten zu haben. Das Versonnensein, wie ich es verstehe, ist nichts weiter als eine nüchterne Konzentration auf das allein Wesentliche. Das hängt deshalb mit Demut zusammen, weil bei jeder Art von Begeisterung und immer dann, wenn man von etwas erfüllt ist, der Ehrgeiz meilenweit entfernt ist. Wie dankbar bin ich, wenn ich Zeit habe, in einer Art kontemplativer Existenz über wichtige Themen nachzudenken. Und auch genau das nennt man verliebt sein: Tag und Nacht nicht loskommen von dem Gedanken an die geliebte Person. – Diese beiden Weisen, sich gefangennehmen zu lassen
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264 von Nachdenklichkeit oder Verliebtsein, sind sichere Mittel, sich vor dem zerfressenden Ehrgeiz und dem stets enttäuschten Prestigestreben zu schützen. Und deshalb hängen sie mit dem zusammen, was man traditionell »Demut« nennt. Demut ist eine Art, erfüllt zu sein vom Himmel oder von der Liebe, die einen den irdischen Gesetzen des Machtkampfes völlig entfremdet, sodass man keinen Sinn mehr dafür hat. Wer wirklich von etwas erfüllt ist, kann demütig sein, weil es nicht die erste Aufgabe ist, auf Prestige oder Profil zu achten, sondern tiefer hineinzugelangen in das, um das man Tag und Nacht kreist, enger, um untrennbar damit verbunden zu sein. Die Kirchenväter fügen diesem Kapitel vor allem eine christologische Dimension hinzu und verweisen auf Phil 2,6-9: »Deshalb hat Jesus auf sein Vorrecht verzichtet und hat Sklavengestalt angenommen. Er wurde wie wir Menschen, führte genauso ein Leben wie wir, (3) wurde elend wie wir und gehorchte Gottes Auftrag bis zum Tod am Kreuz. (9) Deswegen hat Gott ihn in den höchsten Rang erhöht.« Das Wort »wurde elend« wird zumeist mit »demütig übersetzt«, aber »elend« ist die Grundbedeutung des Wortes. Der Demütige scheut nicht das Elend. Bernhard von Clairvaux bemerkt dazu: »Nachdem er durch die Natur seiner Gottheit nicht mehr wachsen konnte, weil über Gott nichts ist, hat er durch sein Herabsteigen in die Welt eine Art und Weise gefunden, in der Demut zu wachsen.« Und in der folgenden Bemerkung kommentiert er auch gleich die Ansiedlung seiner Klöster in Tälern: »Wie das Wasser in den tiefen Tälern zusammenfließt, von den hohen Bergen aber herunterschießt, so sammeln sich die Gnaden Gottes in den Tälern demütiger Herzen; aber sie entfernen sich von den Bergen, den hochmütigen Geistern« (Sermo 27: Über das Wort Gottes).
Lk 14,25-33: Nachfolge Jesu Der Text ist in seinen Zumutungen der bei weitem unangenehmste aus den drei ersten Evangelien. Da geht es um Familienhass, Selbsthass, die Schande des Kreuzes und schließlich darum, alles aufzugeben, was man hat. Das Mittelstück bilden zwei Gleichnisse, die fatal an Illusionen betreffs der Wiedervereinigung Deutschlands er-
Das Lukasevangelium
innern können: Man hat sich nicht vorher klargemacht, was das kosten könnte, und daher sind jetzt Bauruinen stehen geblieben, jedenfalls sehen es viele so. Bevor wir weiter über das Ärgernis des Textes nachdenken, sind einige naheliegende Missverständnisse aufzuklären. »Hassen« bedeutet hier nicht emotionale Bosheit oder Heimtücke, sondern meint Distanz: sich innerlich und äußerlich trennen von jemandem. Selbsthass ist das Gegenteil von Selbstverliebtheit oder der Neigung, sich selbst stets ins rechte Licht zu setzen. Das Element der Bosheit, das wir mit »Hassen« verbinden, fehlt in beiden Fällen. Jesus fordert nicht zur Bosheit auf, sondern will zur Freiheit rufen: zur Freiheit vom Filz der Familie, indem immer alles nur so weitergeht, und zur Freiheit von der Ichverliebtheit, die immer nur wieder Blindheit hervorbringt. Der Satz mit dem Kreuz bedeutet: »Wer mein Jünger sein will, der soll den Querbalken für sein Kreuz schultern und hinter mir hergehen« (der senkrechte Balken stand jeweils schon am Ort der Kreuzigung). Kreuz bedeutet die schändlichste Hinrichtung. Wer hinter Jesus hergeht, möchte sein Ansehen teilen, nämlich der Letzte zu sein, angespuckt von allen, jedermann spuckt vor ihm aus. Nicht nur Reichtum und Wissen, Adel und Schönheit werden hier skeptisch beurteilt, sondern schlicht alles, was uns etwas wert ist. Man darf fragen: Ist eine derartige Missachtung der Güter der Schöpfung nicht zutiefst unkatholisch? – Antwort: Wenn es doch nur um Schöpfung ginge! Aber es geht um Macht, Missbrauch, Vergötzung und Instrumentalisierung zur Ungerechtigkeit. Es könnte der Irrtum entstehen, das Christentum von Lk 14 sei ausgesprochen freudlos und leibfeindlich. Doch gegen den Leib und die Freude wird nichts gesagt. Vielmehr habe ich selber die Erfahrung machen dürfen, dass die »franziskanische« Freiheit gegenüber allen Dingen ein Höchstmaß von Fröhlichkeit hervorbringt. Wenn man nichts mehr verlieren kann, weil man sich von allem getrennt hat, dann wird man endlich so frei, dass man sich über alles freuen kann, über jeden Sonnenstrahl und über jedes Bier, das man mittrinken darf. Diese Freiheit gilt auch gegenüber den Bindungen an die Familie und sich selbst. Jesus fordert, hier grundsätzlich sou-
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verän zu werden, sich nicht aufzureiben in Bindungs-, Loyalitäts- und Parteienkonflikten, wo doch alles darauf ankommt, ganz für den einen da zu sein. Was ist negativ an der Familie? Sie stellt Ansprüche und neigt zur Vereinnahmung. Negativ ist das alles aber nur, wenn es zu einer Tendenz geworden ist, die von der ungeteilten Hingabe an Gott fernhält, d. h.: wenn sich die Familie als vereinnahmende Macht zwischen den Einzelnen und das schiebt, was Gott von ihm erwartet; wo Omas und Opas, Onkel und Tanten alles bestimmen und festlegen wollen, auf dass alles beim Alten bleibt. Jesus hat mit einer in der Welt einzigartigen Sicherheit die Tyrannei der Groß- und Kleinfamilie gegeißelt, wenn sie dann und wann so in Erscheinung trat. Die Familie bestimmte den Beruf des Jungen – Jesus hätte Zimmermann werden müssen. Die Familie bestimmte Braut und Bräutigam füreinander – Jesu Ehelosigkeit war eine Schande, der des Kreuzes ähnlich. Die Familie beurteilte, was normal war und was nicht – Jesu Familie hält ihn für verrückt. Die Familie hat tausend Erwartungen. Mancher junge Mensch zwischen 18 und 20 wird diese Erwartungen kennen. Jesus ist, wie ihn die Evangelien darstellen, durchaus ein Mann für junge Leute. Er teilt ihre Sehnsucht nach Befreiung von dem Immer-nurso-weiter. Nun plädiert Jesus allerdings nicht für Autonomie und Selbstbestimmung. Die Unabhängigkeit von der Familie, die er meint, ist die Freiheit gegenüber verstaubten Ängsten und überholten Satzungen. Und was das Verhältnis zu sich selbst betrifft: Wie oft setzt man sich selbst in den Zwang seiner eigenen Lebensentwürfe! Treue zu sich selbst ist gut, aber bisweilen wird sie zur Sucht der Selbstbestätigung. Jesus fordert auf, dieses »sich selbst« zu hassen, weil ein solches Ich nur die Selbstbestätigung sucht, und weil diese oft zur Unbeweglichkeit und damit zur Blindheit führt. Jesus weiß, dass eigene Grundsätze lächerlich werden, wenn sie offensichtlich für das die Ohren verstopfen, was Gott jetzt von einem will. An dieser Stelle muss die Differenz zum Buddhismus klar benannt werden. Dem Buddhismus geht es nur um Befreitsein an sich, um das Sich-Einstellen auf die große Leere. Wie wenn man seine Wohnung ganz ausräumt, alles wegtut, dann aber auch sein Haus, die Sonne und
265 sich selbst. Im Christentum ist das anders. Jesus kann nur deshalb so viel und so radikal fordern, weil er auf der positiven Seite etwas zu bieten hat, nämlich Geborgensein im dreifaltigen Gott und Bindung an ihn. So werden Hassen, Abschied, Trennung nicht zum Selbstzweck, sondern zu einem notwendigen Tor, jenseits dessen man die Welt anders zu sehen lernt. Die moderne Pädagogik lehrt uns Ähnliches: dass ein junger Mensch durch harte Trennungen (Abnabelungen) hindurch muss, um er selbst zu werden; dass er lernen muss, Nein zu sagen, um seine eigenen Grenzen zu erkennen und über sich selbst lachen zu können. Das alles sind schmerzliche Prozesse. Zweitausend Jahre vor moderner Entwicklungspsychologie hat Jesus diese Notwendigkeiten wahrgenommen. Aber während der moderne Mensch, nachdem er durch das Tor der Abnabelungen hindurchgegangen ist, allzu oft allein im Regen steht, mutterseelenallein, gibt Jesus dieser Freiheit eine Perspektive, und die heißt: von innen her bejahte, neue Verbindlichkeit. Kein künstliches Konstrukt oder ein zerbrechlicher Eltern-Ersatz, sondern die keineswegs anonyme Großfamilie der Kirche. Bei der Frage, was konkret die Alternative zu sklavischer, unproduktiver und letztlich tödlicher Fesselung an die Familie und an sich selbst ist, komme ich als in der Wolle gefärbter Katholik ganz selbstverständlich auf Gebet und Liturgie. Beide sind für mich »Häuser des Seins«, Räume, in denen ich mich bewegen und wohnen kann, jeweils eine Heimat, von der ich weiß, dass sie nicht nur überall auf der Erde geboten wird, sondern dass sie weit hineinreicht in den Himmel. Die Alternative zur kleinstbürgerlichen Verklemmtheit der Familien- und Selbstankettung ist die Herrlichkeit der neuen Stadt, die beim Seher Johannes dann »himmlisches Jerusalem« heißt. Die Mitte dieses neuen Lebensraumes ist gewiss die Eucharistie, Gottes Gegenwart in Brot und Wein auf der Patene und im goldenen Messkelch. Das ist alles andere als Dogmatismus auf Kosten anderer, das ist kostbare Heimat. Und deshalb sollten Menschen, die immer wieder Anläufe machen, diese Heimat zu zerstören, wissen, was sie tun. Sie nehmen vielen Menschen den einzigen Ort, an dem sie nicht allein sind, sondern geborgen in Gottes Gegenwart. Sie zerstören das, woran man sich gebunden hat, gerade wenn man
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266 durch das Tor der Abnabelungen hindurchgegangen ist. Wir sahen: Jesu Forderungen zur Aufgabe von Familie, Selbst und Besitz sind offenbar ebenso notwendig wie heilsam, ja extrem gesund. Doch nach dieser Befreiung beginnt das Leben erst eigentlich spannend zu werden. Viele sind nicht weise geworden und unterwerfen sich noch viel sklavischer dem Partner, der Partei, der Seilschaft, dem Besitz oder den Karrierewünschen. Was Kirche betrifft: Wie gut, dass wir nicht alle Formen der Bindung je neu erfinden müssen, dass wir uns auf »Gebets«-Straßen und auf Wallfahrtswegen bewegen können, die schon seit Jahrunderten begangen werden. Neulich sagte der Abt von Metten beim Rundgang zu mir: »Wir sind seit zwölfhundert Jahren hier.« Wie lebt man in solchen Räumen der Sprache, der Tageszeiten, der Verbeugungen und Lieder, der Riten
Das Lukasevangelium
von Profess bis Grablegung? Hier verdichtete sich für mich das, was Kirche im Allgemeinen ist: Ein Raum voll von unglaublicher Schönheit, ein Raum, in dem gelacht und geweint, gebetet und gejubelt wird, in dem das Schweigen seinen Ort hat wie auch die Lehre. So sieht der Raum aus, den wir wählen können, wenn wir durch das Tor der Abnabelungen hindurchgegangen sind. Die Kirche ist eine Welt der Zeichen, die alle auf den einen dreieinigen Gott hinweisen, den keiner erfassen kann, und der doch über die Maßen herrlich ist. Herr, unser Gott, du forderst uns auf zum lebensnotwendigen Schritt, erwachsen zu werden – gegenüber Familie, Besitz und uns selbst. Bewahre uns das Kind im Manne oder in der Frau, indem du uns die Freiheit zu großer Liebe und herzlicher Dankbarkeit gibst, damit in allem allein du verherrlicht wirst, Vater, Sohn und Geist.
Lk 15-16: Gleichnisse vom Finden des Verlorenen und von der klugen Sorge um das Heil Lk 15: Drei Gleichnisse vom Verlorenen Textaufbau: Die drei Gleichnise sind durch einen gemeinsamen Rahmen verbunden: Pharisäer nehmen Anstoß am Umgang Jesu: Er hält Mahlzeiten mit Zöllnern und Sündern. Jesus antwortet mit drei Gleichnissen, in denen er die Menschen, denen er sich zuwendet (Zolleinnehmer und Religionslose), mit dem Verlorenen vergleicht, das unter großem Jubel wiedergefunden wird. – Die Gleichnisse haben folgende Gemeinsamkeiten: 1. das Wortpaar verloren – gefunden, 2. das Thema »Mitfreude«, 3. die Vernachlässigung des offensichtlich Wertvolleren gegenüber dem Verlorenen, 4. die Einladung derer, die sich mitfreuen sollen, zu einem Fest, 5. die »Überreaktion« (Extravaganz, s. u.) dessen, der gefunden hat. Die wörtliche Rede des verlorenen Sohnes markiert – wie auch sonst Selbstgespräche in Gleichnissen (vgl. Lk 12,19; 16,3f; 18,4f) – den Wendepunkt im dritten Gleichnis. – Dem jüngeren Sohn gegenüber handelt der Vater; der ältere bekommt etwas gesagt. Historischer Hintergrund: Für Lk 15 lässt sich beispielhaft durchspielen, dass dieser Text in ver-
schiedenen Phasen des frühen Christentums je eine eigene Bedeutung gehabt haben könnte und deshalb überliefert wurde: 1. Im Rahmen seiner Selbstverkündigung kann Jesus sich und sein Publikum mit den drei Texten verteidigt haben gegenüber seinen pharisäischen Gegnern. Insofern könnte das Gleichnis in die Begegnung Jesu mit der pharisäischen Bewegung gehören. – 2. Direkt nach Ostern konnte es sich um eine Apologetik zugunsten derer handeln, die nicht von Anfang an dabei waren und die den treuen Jüngern aus der Zeit vor Ostern als fragwürdige Neulinge erschienen sein könnten. Zu Beginn der frühen Heidenmission stehen die Zöllner und Sünder, mit denen Jesus sich abgab, für die Heiden, denen sich die Mission zuwendet (dass Judenchristen solche pharisäischen Ängste hatten, ist auch Apg 15,5 bekannt). – 3. Später muss die missionarische Zuwendung zu den Menschen verteidigt werden, die noch nicht von Anfang an als Altgediente dabei sind. – 4. In den späteren Jahrhunderten werden die Texte immer wieder Begründung der Zuwendung zu »unfeinen« Gruppen in den großen Städten und auf dem Land. Die Texte haben daher immer ihre Funktion besessen, wenn das Christentum sich neuen
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Gruppen zuwandte. In dem älteren Bruder des verlorenen Sohnes konnten sich immer die Pharisäer oder die Alteingesessenen und die von Anfang an Christen waren, wiedererkennen. Sie pflegten stets, sich gegen die – aus ihrer Sicht – mangelnde moralische Qualität der Neu- oder Wiederhinzugekommenen zu wenden. Theologische Aussage: Neben die Freude über die Bekehrung des vorher Verlorenen tritt besonders die Mitfreude, und im Gleichnis vom verlorenen Sohn wird dieses Element so stark, dass es zu einem zweiten Gipfel führt. Jesus zeichnet das Bild des Vaters (und seine eigene Position) in der Rolle des Hirten, der Hausbesitzerin und des Vaters des verlorenen Sohnes. Die unbegründete Bevorzugung des jüngeren und labileren der beiden Brüder durch den Vater ist ein verbreitetes novellistisches Motiv (es gibt Dutzende von Parallelen zu dieser Erzählung); von einer Freude Gottes oder des Himmels über die Bekehrung eines Sünders ist jedoch sonst nicht die Rede. Das Verhalten des Vaters, dem heimkommenden Sohn entgegenzulaufen und ihn ohne Bedingungen in dessen alte Rolle wieder einzusetzen, ist ganz ungewöhnlich. Es ist das Bild von einem Gott, der geradezu aus dem Häuschen ist, wenn ein Mensch sich ihm zuwendet und sich wiederfinden lässt. Dass dieser Übergang mit dem vom Tod zum Leben verglichen wird (15,24), ist jüdisch-hellenistische Bekehrungssprache (Joseph und Aseneth 8,9: »Du rufst … vom Tod zum Leben«) und die Vorgabe für das Einbringen von Tod und Auferstehung Jesu in das sakramentale Verständnis der Taufe (Eph 2,1.5a; Kol 2,11.13a und Röm 6). Die Frage war – auch in den novellistischen Parallelen – stets: Wieweit ist der Vater angesichts der offensichtlichen Ungleichbehandlung der Söhne »gerecht«? Das Gleichnis soll rhetorischemotional provozieren. Der Ton liegt nicht auf der Tatsache, dass der Vater vergibt, auch nicht auf seiner Liebe (vom Inneren oder Herzen spricht der Text nicht), sondern auf dem Effekt des Wiederfindens (Fest). Die Freude darüber und ihre Begründung stehen im Zentrum. Denn auch der »zweite Teil« des Gleichnisses, der dem älteren Bruder gewidmet ist, kommt zu demselben Ergebnis wie der erste: Teil zwei ist zunächst als Einwand gegen die Freude und das Fest des
Wiederfindens zu verstehen; dieser Einwand wird aber zurückgewiesen und mit einer Einladung zum Fest beantwortet. Im Übrigen wird das Gerechtsein der Pharisäer in keinem der drei Gleichnisse angezweifelt, und man muss damit rechnen, dass Jesus sie auch nicht für der Umkehr bedürftig hielt. Ihr Fehler liegt in etwas anderem, das erst durch Jesu Auftritt gegeben ist: Sie können die Zuwendung Jesu zu anderen, also zu wirklichen Sündern, nicht ertragen. Sie lassen keinen anderen in den Status des Gerechten hinein, sie legen Gott Handschellen an. Die Brücke zwischen dem Gleichnis vom verlorenen Sohn und dem vom »lebenstüchtigen Verwalter« (Lk 16,1-9) ist offensichtlich dieses: Menschen handeln, wenn ihnen das Wasser bis zum Hals steht, um des eigenen Vorteils willen. Dass der verlorene Sohn heimkehrt, ist keine Heldentat, sondern durchaus egoistisches Vorteilsstreben: ›Bei den Sklaven meines Vaters geht es mir besser als unter den Säuen.‹ Der Sohn und der Verwalter sind beide in auswegloser Situation, und sie tun einen egoistischen und lebenserhaltenden Schritt. In beiden Gleichnissen orientiert sich das neue Verhalten (von jüngerem Sohn bzw. Verwalter) an der möglichen Reaktion Dritter, also der des »Vaters« oder des »dankbaren Schuldners«. Sohn und Verwalter haben das Vertrauen, dass es »klappen« wird mit der Reaktion auf ihr Tun und sind insofern mutig. Sie sind nicht nur Sünder und Unglückliche, sondern auch Umkehrende, Mutige, die Vertrauen wagen. Ihr Vertrauen richtet sich auf elementare menschliche Reaktionen wie Mitleid, Vaterliebe oder Dankbarkeit. Nichts davon ist einklagbar, nichts verdient. Es geht um einen Rest von Grundvertrauen in menschliche Aktionen und Reaktionen.
Lk 15,4-7: Gleichnis vom verlorenen Schaf Das Gleichnis existiert in noch zwei weiteren Fassungen: Mt 18,12-14; ThomasEv 107. – Zum Vergleich: Nur ThomasEv 107 ist ein Gleichnis über das Reich Gottes, die Fassungen bei Lk und Mt dagegen handeln von verlorenen bzw. verirrten Menschen. In Lk 15,4-7 rechtfertigt sich Jesus dafür, dass er überhaupt nach verlorenen Schafen (Sündern) sucht. Die Pointe ist die Ein-
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268 ladung zur Mitfreude, wenn das Schaf gefunden wird. In Mt 18,12-14 geht es dagegen um ein verirrtes Schaf. Dreimal steht bei Mt »sich verirren« dem »verloren gehen – finden« bei Lk gegenüber. Im Kontext des MtEv geht es um das Verhalten zu Mitchristen, die eine Zeitlang in die Irre gegangen sind (innergemeindliches Problem!) und wieder zur Gemeinde gebracht werden müssen. Diese gehören zu den »Kleinen«. Alles liegt daran, keines von ihnen verloren gehen zu lassen. In ThomasEv 107 ist das eine verlorene Schaf das größte. Um dessentwillen verlässt der Hirte die anderen (für eine Zeit), denn um des größten Schafen willen kann er alle anderen vergessen. Verwandt sind Gleichnisse über Perle und Schatz im Acker, um derentwillen der Akteur gleichfalls alles verlässt. Der Gehorsam des älteren Bruders gegenüber den Geboten (V. 29) des Vaters wird nicht in Frage gestellt; über die Gerechtigkeit des Gerechten gibt es kein negatives Urteil. Was ihm abgeht, ist die Mitfreude. Es geht also nicht um die Frage, ob der Gott der Gerechtigkeit Sünder annehmen darf (A. Jülicher).
Lk 15,2.11-32: Gleichnis vom verlorenen Sohn In allen drei Gleichnissen vom Verlorenen und (Wieder-)Gefundenen in Lk 15 steht am Schluss die gemeinsame Freude und ein Fest aller Beteiligten. Der Hirte ruft seine Freunde, die Frau ihre Nachbarinnen, der Vater ruft die ganze Familie zusammen, denn das Wiederfinden ist die Stunde der Mitfreude. Das Drama mit dem älteren Bruder hat diesen Hintergrund: Er sollte sich mitfreuen und mitfeiern; aber sein Ärger, sein Widerstand müssen ihm erst ausgeredet werden. – Gemeinsam ist allen drei Gleichnissen auch das Thema Extravaganz: ein unerwartetes, abweichendes, leicht »schräges« Handeln. Denn wegen eines wiedergefundenen 1-Cent-Stücks ein Fest zu veranstalten, ist abseitig. Extravangant ist auf jeden Fall auch der Vater des verlorenen Sohnes. Denn welcher Vater eines missratenen Sohnes wird seinem Kind überglücklich entgegenlaufen, wenn es heimfindet? Üblich wäre wohl in unseren Breiten eher die Reaktion: »Der soll mal kommen und dann etwas zu hören kriegen!« Da wür-
Das Lukasevangelium
den wir dem älteren Bruder spontan Recht geben, der auf das Fest zu Ehren des Heimgekehrten verzichten kann. Und doch wird der »anständige« Bruder zum Schluss der Therapiefall. Die Extravaganz, die auch aus anderen Gleichnissen Jesu bekannt ist, führt über das Gewöhnliche hinaus und weckt das Interesse der Hörer. Denn die Extravaganzen sind hier das Neue und Christliche im Gottesbild. Gott ist unvorstellbar barmherzig; das sprengt einfach alles Erwartbare. Nun ist das Gleichnis vom »verlorenen Sohn« im 19. Jh. und danach erheblich stapaziert worden, und diesem zweifelhaften Ruf verdankt es auch heute noch seinen überragenden Bekanntheitsgrad. Es gilt oft als »das« Gleichnis Jesu, und nichts ist verräterischer für die Naivität der neuesten Jesusforschung, als dass sie dieses Gleichnis unter allen Umständen für echt hält, obwohl es nur einmal bezeugt ist. Der Grund: Im 19. Jh. freute man sich, endlich einen Text gefunden zu haben, der alle Erwartungen und Absichten liberaler Theologie erfüllte: keine Gerichtsaussage, eine Versöhnung zwischen Gott und Mensch ohne den Kreuzestod Jesu, keine Christologie, keine Beichte und Absolution. Es war dies der »Gott der reinen Liebe« und die »vollkommene Liebesreue« auf Seiten des Verlorenen. Keine Kirche vermittelt hier. Das suchende Individuum findet zu seinem Herrgott. – Dieses wahrhaft wilhelminische Christentum wird durch unseren Text freilich nicht gedeckt. Denn erstens wird der verlorene Ssohn nicht von Liebesreue ergriffen. Was ihn nach Hause treibt, ist schlicht sein Opportunismus. Er sagt sich ja selbst völlig nüchtern: Zu Hause habe ich es besser als in der Fremde, also will ich umkehren. Seine Bekehrung zum Nützlichen unterscheidet ihn gar nicht vom folgenden Gleichnis über den lebenstüchtigen Verwalter, dessen Klugheit Jesus lobt, weil er eben für die Zeit nach dem Rausschmiss Vorsorge trifft. Zweitens handelt das Gleichnis eben nicht vom Individuum und seinem Gott, sondern von der Mitfreude, und deshalb gehört der ältere Bruder dazu. Das Gleichnis handelt daher von der Kirche und dürfte daher nach streng liberalen Kriterien noch nicht einmal versuchsweise für echt gelten (nun sind freilich alle diese Kriterien höchst subjektiv und
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Kapitel 15
unzuverlässig). Kirche ist das Thema, weil der brave ältere Bruder eben diejenigen repräsentiert, die lange und treu dabei gewesen sind, ohne sich spektakuläre Allüren wie der verlorene Sohn geleistet zu haben. Wenn dann zur treuen Kerngemeinde neu »Bekehrte« hinzukommen, dann werden die schon lange Treuen misstrauisch betrachtet. Diese Probleme gab es in der Geschichte des frühen Christentums auf mehreren Ebenen, und deshalb hat dieses Gleichnis immer Aktualität besessen. Zu Lebzeiten Jesu ging es um den Konflikt zwischen den Pharisäern (die nicht verloren waren, sondern treu) und dem »Gesindel«, das durch Jesus neu bekehrt worden war. Nach Ostern lautete das Problem: Wie ist das Verhältnis zwischen der ersten Jünger-Generation und den später Neugetauften zu regeln? Und dann ging es – wohl zur Zeit der Abfassung des LkEv – um die Frage nach dem Verhältnis von Juden- und Heidenchristen. Denn wo immer das Evangelium vom Konflikt zwischen Pharisäern und Sündern spricht, bildet es darin den späteren Konflikt zwischen Judenchristen und Heidenchristen ab. Auch heute noch ist es oft eine treue Kerngemeinde, die eine Öffnung in Richtung anders Aufgewachsener erschweren kann. Auch im Verhältnis zwischen »liberaleren« Ortsgemeinden und (konservativeren) neu hinzugekommenen Spätaussiedlern (oder Konvertiten) kann sich Ähnliches zeigen. – Strukturell gehört dieses Problem zum Christentum, wenn es seinen Charakter als Bekehrungsreligion aufrechterhält. Dann wird es immer Konflikte zwischen Menschen geben, die alteingesessen sind, und solchen, die neu hinzukamen. Wie beantwortet nun Jesus dieses Strukturproblem? Entgegen der individualistischen Deutung der liberalen Theologie gibt Jesus eine tendenziell eucharistische Antwort: Feiert ein Fest um jeden Einzelnen, den ihr hinzugewonnen habt! Gewiss ist Eucharistie mehr als ein Freudenfest. Aber sie ist auch das; denn jeder, der wirklich hinzugekommen ist, sich von ganzem Herzen bekehrt hat, darf nun mitfeiern. Nichts von eucharistischer Gastfreundschaft vernehmen wir hier, sondern von Verlorenen und Wiedergefundenen spricht das Gleichnis. Das gemeinsame Freudenfest lenkt die Gefühle nach vorne und lässt sie nicht länger rückwärtsgerichtet sein.
269 Gott also »ist ganz aus dem Häuschen«, wenn ein Verlorener den Weg gefunden hat. Wie die Frau, die die Nachbarinnen einlädt, wenn sie das Cent-Stück gefunden hat. Diese Züge im Gottesbild sind ganz unerhört und bei Jesus sehr neuartig. In keiner Religion finde ich einen Gott, der außer sich ist vor Freude über einen Menschen (!), der zu ihm findet. – Später in der Kabbala wird man ähnlich sagen: Gott tanzte an dem Tag, an dem du geboren wurdest. – Wir glauben an einen Gott, der sich über die Umkehr jedes Einzelnen nicht mehr einkriegt vor Freude. Und der dann nichts weiter will und erwartet, als dass wir uns überschwänglich mitfreuen. Dieser Text wirft ein Schlaglicht auf Jesu »Charakter« und darauf, wie er den himmlischen Vater vor allem aufgefasst wissen will: Ein Gott, der riesengroße Sehnsucht danach hat, dass wir zu ihm finden. Ein Gott, der nichts Schöneres kennt, als wenn der Weg des Einzelnen auf die Zielgerade in Richtung himmlischer Vater einmündet. Ein Gott, der sich so unendlich freuen kann. Allein schon seine Freude kann einen rühren, anstecken und bewegen. Ich erinnere mich bei dieser Bibelstelle an einen alten Lehrer, und manchen meiner Leserinnen und Leser wird es ähnlich gehen, einen alten Zeichenlehrer, der aufgrund seines Faches nicht ernstgenommen wurde und der das in seiner künstlerischen Sensibilität besonders intensiv bemerkte. Aber wie sehr konnte dieser Lehrer sich freuen, wenn der Schüler auf den richtigen Weg kam und auf seine Art bald ein Bild würde zustandebringen können! Die Freude des Lehrers steckte dann auch den Schüler an und begeisterte ihn. – Aber auch von uns gilt: Wie lange haben wir uns danach gesehnt, einen Gott zu finden, der weder nur allmächtig noch gar ohnmächtig ist, sondern der etwas ganz anderes kann und will, anbietet und heraussprudelt: Freude über jeden, der die rechte Richtung einschlägt. Deshalb darf man sagen: Gott hat wohl überhaupt beschlossen, uns zu erlösen, weil er »süchtig nach Freude« ist, nach dieser Begeisterung über einen, der den Weg in die Gemeinschaft derer findet, die Gemeinschaft der Freude heißen sollte. Einen ähnlichen Zug kennen wir aus dem Gleichnis vom treuen Knecht (Sklaven), den der Herr bei seinem Kommen wachend findet. Der Herr wird sich dann nämlich so freuen, dass
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270 Jesus sagen kann: Selig sind die Sklaven, die der Herr wachend antrifft, wenn er kommt. Amen, ich sage euch, er wird so begeistert von euch sein, dass er euch zu Tisch bittet, sich selbst die Kellnerschürze umbindet und euch bedient (Lk 12). – Auch dieser Herr ist extravagant, ist leicht schräg. Denn wo hat man so etwas schon gehört, dass ein Herr seine Sklaven bedient? Das ist »verkehrte Welt«, nur zu erklären aus Gottes Begeisterung, die ihn alle Regeln der Vornehmheit vergessen lassen. Man kann den Gott, der sich so freuen und sich zum Kellnerdienst hinreißen lässt, für (nerven-)schwach halten und verachten. Aber wer das tut, vergisst, dass es Gott ist, von dem dieses gesagt wird, der zuallererst der unfassbar Große und Mächtige ist. Und wenn dieser Gott sich so vor Freude über uns vergessen kann, dann rührt es mein Herz.
Lk 15,1-32: Drei Gleichnisse von Verlorenem und das Phänomen Kirche Die drei Gleichnisse in diesem Kapitel haben drei Gemeinsamkeiten: 1. den Gegensatz von Verlieren und Finden, 2. die Aufforderung zur Mitfreude an die Nachbarn, Freunde oder den älteren Bruder und 3. den Aspekt der Extravaganz, d. h. in jedem der drei Gleichnisse ist die immens große Freude der Hauptperson (Schäfer, Hausbesitzerin, Vater) unverhältnismäßig und für die Leser überraschend. Nach der Regel der Dreizahl ist das letzte Gleichnis der Höhepunkt. Hier steht das Brüderpaar im Mittelpunkt, also Familie und nicht nur Nachbarn oder Freunde. Auch der Umfang des Textes und die Begründung der Freude sind hier am stärksten. – Diese drei Texte über die Freude sind ein Spiegel der Verkündigung Jesu, der will, dass die Menschen sich von Gott finden lassen sollen. In der liberalen Bibelauslegung des 19. Jh. war insbesondere das Gleichnis vom verlorenen Sohn höchst beliebt; denn es erschien als Beleg des dogmenfreien Christentums Jesu, und aus genau diesem Grund (der oft nicht mitgedacht wird) halten es auch Exegeten, die sonst nahezu alle Jesusworte der Evangelien als »sekundär« ablehnen, auch heute noch für echt. Denn hier gibt es
Das Lukasevangelium
Sündenvergebung ohne Kreuz, Sakrament oder eine die Absolution erteilende Kirche. Nichts steht zwischen Gott (dem Vater) und dem reuigen Sünder. Es genügen die bußfertige Umkehr und das Erbarmen des Vaters. Zumeist wird die Umkehr des Sohnes dann auch noch als Liebesreue dargestellt – für den kritischen Leser ist die Reue des Sohnes zwar gewiss echt, aber sie ist deutlich opportunistisch geprägt. Denn der Sohn sagt doch auch selbst, dass er es zu Hause sicher besser haben würde als bei der Schweinemast. Was den angeblich unkirchlichen Charakter angeht, so weist das Element der Mitfreude in allen drei Texten in eine ganz andere Richtung. Ginge es nur um die »dogmenfreie« Aufnahme des Sünders, dann könnte das Gleichnis vom verlorenen Sohn mit der Notiz über die Umarmung des Vaters zu Ende sein. Die Szene mit dem älteren Bruder wäre überflüssig. In allen drei Gleichnissen liegt die Pointe darin, dass man sich mitfreuen soll und darf, wenn Gott das Verlorene wiedergefunden hat. Das Letztere ist die Voraussetzung, aber nicht die Pointe. Die Mitfreude aber ist etwas genuin Kirchliches; denn sie ist die dankbare Reaktion einer Gemeinschaft, sei es der Freunde, der Nachbarn oder der Familie. Dazu will Jesus motivieren. Die Logik ist daher: Wenn die Engel im Himmel und der Vater (im Himmel) sich so über das Wiederfinden freuen können, dann habt ihr allen Grund, euch mitzufreuen. Denn mit der Umkehr eines Sünders ist es so, als würde ein Toter lebendig (15,24). Dass diese Deutung zutreffend ist, zeigt auch der Rahmen in Lk 15,1-3: Jesus will gegenüber den Pharisäern seinen Umgang mit »Sündern«, d. h. mit Ungläubigen rechtfertigen und gleichzeitig ihr Verhalten ändern. Denn die Kritik an den Pharisäern lautet nicht, dass sie heidnisch leben, sondern dass sie die Annahme der Sünder durch Jesus nicht verstehen. Sie sollen daher zur Mitfreude bewegt werden. Anlässe, »ältere Brüder« zur Mitfreude zu ermahnen, gab es immer in der Geschichte der Kirche. Immer aber sind es solche, die schon länger dabei sind, die sich gegenüber den »Neuen« wehren. So hatten die drei Gleichnisse Jesu nach Lk 15 ihre Aktualität auch in der nachösterrlichen Gemeinde, in der es bald um das Problem ging, ob man Heidenchristen, also ehemalige »Sünder«, in die Kirche aufnehmen solle. Dagegen haben sich die Alteingesesse-
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Kapitel 15
nen, also die Judenchristen gewehrt. Und auch später gibt es in Gemeinden und Konventen immer ähnliche Situationen: Die Treuen sind schon lange da, die Neuen sollen sich nach den Wünschen der Älteren richten. Ihre Aktualität haben diese Texte schon immer gehabt, und deshalb kann man sich auch die drei lukanischen Gleichnisse im Gegenüber zu den jeweils wechselnden Situationen vorstellen. Im LkEv sind es die »murrenden« Pharisäer, die Jesus die bislang geübte Gemeinschaft aufkündigen. »Bislang geübt« – es spricht einiges dafür, dass Jesus die Pharisäer nicht nur rhetorisch, sondern auch tatsächlich für solche hielt, die »keiner Umkehr(predigt) bedurften«. Erst im Laufe der Zeit wird ihr besonders gelagertes Problem erkennbar. Es besteht in der Ablehnung jeder Gemeinschaft mit Sündern, auch wenn es bekehrte Sünder sind. In Lk 18 wird dieses Problem im Gleichnis vom Pharisäer und Zöllner besonders deutlich. Als Messias aber will Jesus alle Abrahamskinder in Israel erreichen. Wenn die Pharisäer die durch Jesus »sanierte« neue Gemeinschaft aller verweigern, dann scheitert Jesu Absicht nicht zuletzt an ihnen. Heute könnte dieses Problem im Neid und in Überlegenheitsgefühlen gegenüber den jungen Kirchen in den Missionsländern der Dritten Welt liegen. Wir wissen, dass das Christentum in Afrika und Südasien die dort am stärksten wachsende Religion ist. Ein Drittel aller Jesuiten besteht schon aus Indern. Neue Übersetzungen des Christentums in die Kultur und Sprache Angehöriger fremder Religionen und Situationen sind nötig. Jede Übersetzung ist ein Kompromiss zwischen zwei Parteien: Die eine fordert eine stärkere Inkulturation, die andere eine kräftigere Bewahrung des Mitgebrachten. Jesus ist jedenfalls gegen jede Abkapselung, gegen jede Behelligung von Umkehrbereiten wegen ihrer Vergangenheit. Nur in der Sünde bzw. in Götzendienst und Heidentum kennt er keinen Kompromiss. Denn Jesus fordert hier nicht irgendeine Toleranz, sondern die Anerkennung des Einzigen, was zählt: der Umkehrbereitschaft. Kulturelle Differenzen werden dadurch zusammengeschmolzen. Entgegen der individualistischen Auffassung unseres Gleichnisses durch die liberale Theologie gibt Jesus als Lösung des Problems zwischen Alteingesessenen (Platzhirschen) und Neuhin-
271 zugekommenen eine geradezu »eucharistische« Perspektive an. Er sagt: »Wenn ihr in der Lage wart, euch mitzufreuen, dann kommt zum Ausdruck dessen zu einem Mahl zusammen.« Auch hier setzt das gemeinsame Mahl die Zustimmung zur Bekehrung der Sünder sachlich voraus. Es besiegelt sie, es ersetzt sie aber nicht. Jesus sagt: »Feiert ein Fest um jeden Einzelnen, den ihr wiedergefunden (Kinder Abrahams!) oder neu hinzugewonnen (frühere Nicht-Jünger) habt. Denn Gott ist einer, der sich unbändig freuen kann.« Angesichts des Verhaltens des Vaters zum älteren Bruder des Verlorenen kann der Verdacht entstehen, Gott liebe den Verlorenen mehr als den Gerechten. Denn der ältere Bruder sagt mit Recht: ›Niemals hast du ein Böckchen für mich geschlachtet!‹ Ist das Leben des Sünders interessanter? Der französische Dichter André Gide lässt in seiner Novelle »Der verlorene Sohn« den jüngeren Bruder wieder losziehen in die Fremde und das Haus des Vaters erneut aufgeben, nicht zuletzt deshalb, weil es so schön war, Vergebung zu erfahren. Im Leben des verlorenen Sohnes ist einfach »mehr los«. Doch natürlich verfehlt Gide die Pointe des Textes. Denn ein Abenteurerleben mag ja interessanter sein als das eines treuen und braven Menschen. Doch Jesus geht es weder um Lebensentwürfe, noch um Charakter-Alternativen, noch um die existenzialistische, letztlich rein ästhetische Psychologie des »dramatischen Lebens« – daher fragt er auch nicht, wie viele Frauen der verlorene Sohn zugrunde gerichtet hat. Weder der eine noch der andere Bruder wird als Vorbild geschildert, übrigens auch nicht der Vater. Dem Erzähler geht es in diesem Fall nur um die Randfiguren, die Zuschauer und deren Reaktion, damit sie nicht Zuschauer bleiben. Gottes Vergebungswille und -bereitschaft werden vorausgesetzt. Der Erzähler fragt: Wenn Gott so ist, wie er ist und wie es je und je von ihm gelten wird – was folgt daraus für euer Verhalten? Die Belehrung, die Jesus gibt, ist nicht einfach selbstverständlich. Sie ist vielmehr neu und lautet: Gott lässt sich die Bekämpfung der Sünde sehr viel kosten. Er liebt alle Menschen in gleicher Weise. Aber mit Recht entsteht der Eindruck, dass Gott dem Kampf gegen die Sünde mehr Mühe widmet als den Gerechten. Deswegen ist übrigens auch der Menschensohn gekommen, ist Jesus gesandt worden, – im Bild gesagt: nicht für die Gesun-
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272 den, sondern für die Kranken. Das hat nichts mit persönlicher Vorliebe zu tun. Aber die Sünde ist für Gott die absolut größere Herausforderung. Denn hier werden seine Fähigkeiten als Arzt ganz gefordert.
Lk 15,17-19: Selbstgespräch Zur grundsätzlichen Funktion der Selbstgespräche als Wendepunkt in lukanischen Gleichnissen vgl. Lk 15,17-19; 18,4f; 16,3-4; 12,17 f. – Mit dem verlorenen Sohn spricht der Vater nicht, er handelt.
Lk 16,1-13: Gleichnis vom lebenstüchtigen Verwalter »Gleichnis vom ungerechten Verwalter« heißt dieser Text zumeist; in der Übersetzung von Berger/Nord haben wir ihn »Gleichnis vom lebenstüchtigen Verwalter« genannt. Denn dieser Mensch, der hier zur Absicherung seiner Zukunft Urkundenfälschung, Bestechung und Unterschlagung in Tateinheit verübt, wird von Jesus gelobt. Viele können das gar nicht fassen: Menschen, die gewöhnt sind, dass nach dem Evangelium die Guten, Braven belohnt und die Bösen bestraft werden. Beim »lebenstüchtigen Verwalter« dagegen liegt ein Gleichnis vor, das seine Pointe nur an einer Stelle hat; so kommt es gerade nicht darauf an, das Handeln des Verwalters zu kopieren, sondern den einen springenden Punkt zu sehen, auf den hin sich alles umso mehr konzentriert. Dieser springende Punkt ist die einfallsreiche Vorsorge für die Zukunft, und sie äußert sich durch richtige Geldanlage. Gewitzt, wie er war, ahnte er, dass es schlecht um ihn in der Firma stand, und so brachte er noch vor der Entlassung seine Schäfchen ins Trockene. Er machte Termine mit den Schuldnern seines Unternehmens. Diejenigen, die seinem Arbeitgeber noch etwas schuldig waren, lässt er zu sich kommen. Er bietet ihnen an, geringere Schulden auf die Schuldscheine zu schreiben, damit sie auch noch etwas davon haben, bevor er gehen muss. Großzügig verteilt er das Geld seines Arbeitgebers. Die Firma wird dabei erheblich geschädigt. Seine Vergehen werden noch größer: Betrug, Urkunden-
Das Lukasevangelium
fälschung, Bestechung. Dadurch erhofft sich dieser Geschäftsführer aber für die Zeit, in der er stellenlos sein wird, gute neue Geschäftsfreunde. – Das ist ein Skandal. Und zu allem Überfluss wird der Verwalter für sein vorausschauendes, zukunftssicherndes Handeln auch noch gelobt. Dieser Spitzbube wird gerühmt für sein Verhalten. Dem kriminellen Verwalter steht das Wasser bis zum Hals. Und er tut in seiner Lage und von seinem Standpunkt aus betrachtet das Richtige. Denn entlassen wird er ohnehin. So schafft er sich rechtzeitig Beziehungen für übermorgen. Der lebenstüchtige Verwalter weiß, wie man Freunde gewinnt, nämlich durch Geldgeschenke. Jesus kennt sich also aus in der Welt. Er weiß, wie Menschen sich gerade in den kriminellen Energien anderer wiedererkennen können. Gemeint ist die Reihe der Skandalgleichnisse, in denen jeweils ein von den Normen stark abweichendes, deutlich negativ beurteiltes Verhalten der Hauptperson erzählt wird. Zu diesen Gleichnissen gehört das von den anvertrauten Geldbeträgen (Talente, Pfunde), wo der Herr von sich sagt, er hebe ab, wo er nichts eingezahlt, und ernte, wo er nicht gesät habe; dazu gehört das Gleichnis vom Bräutigam sowie den fünf klugen und den fünf dummen Mädchen, die der Bräutigam ungerechtfertigt im Dunkeln stehen lässt. Dazu gehört das Gleichnis vom Attentäter (ThomasEv 98), der den entscheidenden, mörderischen Stoß mit dem Messer zuvor übt; denn man soll sich ja prüfen, ob man dem gewachsen ist, was man vorhat. Zu den Skandalgleichnissen gehört eigentlich auch das vom verlorenen Sohn. Denn gegenüber dem älteren Bruder ist das, was der Vater hier tut, wirklich ungerecht, hat er doch für ihn noch nie ein Böckchen geschlachtet. In allen diesen Gleichnissen lässt das Berichtete aufmerken; denn es weicht stark ab von Höflichkeit, Anstand, legalem oder legitimem Verhalten. Man spricht deshalb von »Extravaganz«, weil die Hauptperson sich außerhalb (extra) des allgemein Geltenden bewegt (vagari). Wenn die Hauptperson sich so ungewöhnlich verhält, sollen damit auf Seiten der Adressaten stets ungewöhnliche Energien wachgerufen werden. So will Jesus mit dem Gleichnis vom Bräutigam und mit dem von den anvertrauten Geldbeträgen dazu auffordern, sich auf diesen Herrn ein-
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zustellen, und anspruchsvoll ist dieser Herr auch als der Bräutigam. Wenn der Herr so ist, dann kann man Christentum »nicht aus der Portokasse bezahlen«. Dieser Herr fordert außergewöhnliche Hingabe. Auch beim lebenstüchtigen Verwalter sind Situation und darin gefordertes Verhalten extrem. Denn der Hinauswurf eines korrupten Verwalters ist Teil eines Skandals, und seine Versuche, seine wirtschaftliche Existenz zu retten, gleichen den Manövern eines Ertrinkenden, sich vor dem Tod zu retten. Bewundernswert ist, dass er nicht in Panik ausbricht, sondern strategisch vorgeht. Wie viele Menschen – das ist der Vergleichspunkt – reagieren angesichts des Todes mit Panik oder durch Verdrängen! Einzig sinnvoll wäre auch hier ein kluges Verhalten. Auch anhand eines lebenstüchtigen Verwalters kann Jesus über die ars moriendi belehren. Jesus erscheint hier als der rechte Anlageberater. Gelobt wird der Verwalter wegen seiner Klugheit. Worin besteht sie? Kann ein Verbrecher klug sein? Ja: Der Verwalter hat in einer Situation, in der ihm das Wasser bis zum Halse stand, das Menschenmögliche getan, um seine eigene Zukunft zu sichern. Er hat vorausschauend gehandelt. Zu Lk 16,8-14: Der Text weist streng dualistische Züge auf. Den »Söhnen dieser Welt« stehen die »Söhne des Lichts« gegenüber (V. 8); dem Mammon steht Gott gegenüber (V. 11), d. h. dem einen Herrn steht alternativ der andere gegenüber; dem »ungerechten Mammon« steht der »wahre Besitz« gegenüber, dem fremden Mammon »euer Besitz«. Der »Liebe« zu dem einen Herrn steht der »Hass« gegenüber dem anderen entgegen. Die »Geldgier« (der Pharisäer) V. 14 bringt in Opposition gegen Jesus; der Dualismus ist hier auf das Finanzielle/Materielle bezogen. Der Abschnitt V. 9-15 wird durch Stichworte aus dem Wortfeld Besitz/Reichtum zusammengehalten: V. 9.11.13 (Mammon), V. 14 (geldgierig); vgl. V. 19-31: unterschiedliches Lebensgeschick für den Armen (Lazarus) und den Reichen (Prasser). Daher gilt für Lk 16: Gerechtigkeit realisiert sich im Verhältnis zum Besitz. Jesus sagt nur, und das ist der Differenzpunkt: Die Kinder der Welt, zu denen der Verwalter als typischer Fall gehört, denken an das Übermorgen in ihrem vergänglichen Leben, und sie stiften
zweifelhafte Freundschaften. Die Kinder des Lichts aber, und das seid ihr, stiften mit ihrem Geld Freundschaften, die bis in den Himmel reichen. Den Vers 16,9 haben wir daher so übersetzt: »Seid klug, kauft euch mit dem Geld aus der ungerechten Welt Freunde, die euch dann in die ewigen Häuser im Himmel aufnehmen, wenn hier alles vorbei ist.« Jesus weiß daher, dass ohne Freunde niemand in den Himmel kommt. Er meint: ›Mit eurem Geld könnt ihr Beziehungen stiften, damit Gemeinschaft der Heiligen entsteht.‹ Die Jünger haben bei der Berufung ihre alte Familie aufgegeben, und die neue Familie nennt Jesus hier »Freunde«, und zwar so, dass diese Gemeinschaft Himmel und Erde umfasst. Deswegen sagt er: ›Schafft euch Freunde.‹ Wir dürfen das getrost auf die Kirche beziehen. Sie ist eine Gemeinschaft, die Lebende und Tote umfasst, Gemeinschaft der Heiligen. Wir sind darauf angewiesen, dass sie am Ende besteht – ein vergessener Artikel ihres Glaubensbekenntnisses. Und als einen Bund von Freunden stelle ich mir Kirche lieber vor als in Stockwerken: oberes Stockwerk Amtskirche, unteres Stockwerk Rest. Anstößig ist diese Rede Jesu dennoch. Denn hier geht es um Geld und seine Bedeutung für das Heil. Geld und das Umgehen damit gehören zu den Tabus des Christentums. Geld hat man, aber man spricht nicht davon. Jesus durchbricht dieses Tabu. Gänzlich ungeniert fordert er uns auf, mit dem Geld etwas zu machen, und zwar nichts Geringeres als dies: Gemeinschaft der Heiligen zu bauen. Unmittelbar im Anschluss appelliert Jesus an den Ehrgeiz des Menschen, im Beruf aufzusteigen, er nennt das Bewährungsaufstieg. Denn was ist das anderes, wenn er sagt: Wer sich im Kleinen bewährt hat, der bewährt sich auch im Großen, dem wird man daher auch Großes anvertrauen. Das heißt doch: Wer seine Abteilung gut geführt hat, der kann auch Filialleiter werden. Auch das ist natürlich nur ein Bild.
Lk 16,13-18: Über Moral und Gesetz Der Abschnitt wird eingerahmt durch 16,9-14 und 16,19-31. Die Erfüllung des Gesetzes realisiert sich in der Zeit der Verkündigung des Gottesreiches im Verhalten zum Besitz. Das ist
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274 durchaus eine dem Reich Gottes angemessene Verschärfung des Gesetzes (wie das Verbot der Ehescheidung auch). So hebt die Verkündigung des Reiches das Gesetz nicht auf; sie zeigt aber den Weg zum ewigen Leben, der als Besitzverzicht oder Erbarmen eine Verschärfung des Gesetzes ist. Das Gesetz allein verhalf nicht zum ewigen Leben, sodass Lk mit Paulus in Apg 13,38 sagen kann: Das Gesetz des Mose führt nicht zur Rechtfertigung. Vielmehr werden Juden, die ihr Gesetz von Jugend an bewahrt haben, als qualifizierte Anwärter auf das Christentum angesehen, und das gilt selbst für »Gottesfürchtige«. – Die Einhaltung der jüdischern Regeln für die Fremdlinge in Israel (Aposteldekret) hat ekklesiologische, nicht soteriologische Funktion, d. h. sie dient der Einheit der Kirche; diese Regeln reichen nicht zum Erwerb des Heils. 16,13 ist eine Art protreptischer Einleitung (Zwei-Wege-Schema) zu diesem Abschnitt. Der Reichtum spielt deshalb hier eine so große Rolle, weil das Gemeinte und Geforderte am Besitz konkret wird. Auch die folgende Lazarus-Erzählung (16,19 ff) passt dazu. Und es gibt gerade bei diesem Thema eine klare Abgrenzung gegenüber den Pharisäern (V. 14: geldgierig). Die LazarusErzählung wird zeigen: Von nichts ist das Ergehen nach dem Tod so abhängig wie vom BesitzAusgleich (s. Seligpreisungen und Weherufe in Lk 6,22 ff). Das Thema »Pharisäer« wird auch noch in 18,9-14 wichtig werden, und daher ist es gut, dieses auch für 16,16f im Auge zu behalten. Die Regel von 16,18 wird allgemein als Konkretisierung von 16,17 angesehen. Das ist aber nicht der Fall. Denn das in V. 18 Verlangte steht nicht in der Torah. Wenn schon, dann müsste hier ein erweiterter Torah-Begriff angenommen werden. Oder es geht einfach um ein Beispiel pharisäischer Auslegung des Willens Gottes. Denn Pharisäer machen das, was im Alten Testament für Priester gilt, auch für Laien im Alltag verbindlich. Um einen solchen Fall handelt es sich hier. Denn im Alten Testament gilt für Priester und Hohepriester das Verbot, eine Geschiedene zu heiraten (Lev 21,7; Sir 7,26: keine Verstoßene heiraten; 21,14f: Hoherpriester keine Witwe). Aus diesem Grunde beschränkt sich die Auswahl aus den Ehegeboten Jesu in Lk 16,18 auch auf das Wiederheiraten Geschiedener. Die Scheidung selbst wird nicht verboten! Ähnlich fasst
Das Lukasevangelium
auch der Pharisäer Paulus die Überlieferung zum Thema Ehescheidung zusammen (1 Kor 7,10). Jesus sagt daher nach Lk: Es gilt nicht nur die Torah, sie gilt sogar in pharisäischer Auslegung. Doch der Schwachpunkt der Pharisäer ist einmal (Lk 16) ihr Verhältnis zum Besitz, zum anderen (Lk 15 und 18) ihr elitärer Dünkel gegenüber anderen, wodurch Gottes Ziel, Einheit des Gottesvolkes, verhindert wird. Könnten die Pharisäer diese beiden Punkte ändern, dann wären sie ideale Christen.
Lk 16,19-31: Der reiche Mann und der arme Lazarus Die Geschichte vom reichen Mann und armen Lazarus hat Jesus möglicherweise nicht neu erfunden, vielmehr liegt eine recht genaue Parallele vor im etwa zur selben Zeit entstandenen ägyptischen so genannten Setme(Setna)-Roman, einer in demotischer Sprache gehaltenen Erzählung auf der Rückseite eines Papyrus von 46/47 n. Chr. mit Einkaufsrechungen auf der Vorderseite. Es gibt auch eine Fassung im Talmud (paläst. Sanhedrin) sowie sechs weitere rabbinische Fassungen. Bei diesem Roman geht es um das unterschiedliche Geschick für einen Armen und einen Reichen im Jenseits. Der Reiche übersteht das Gericht mit der Waage der Taten nicht (in der christlichen Kunst wird der Erzengel Michael diese Waage in der Hand halten, um die Werke der Menschen zu wiegen). Die Pointe der ägyptischen Erzählung lautet: »Wer auf Erden gut ist, zu dem ist man auch im Totenreich gut, und wer auf Erden böse ist, zu dem ist man auch dort böse …« Sowohl in der ägyptischen wie auch in der rabbinischen Fassung spielt die Art des Begräbnisses auf Erden eine wichtige Rolle, denn daran ist die auf Erden herrschende Ungerechtigkeit überhaupt abzulesen. Die Kenntnis des ägyptischen Ursprungs hat sich auch im Mittelalter bewahrt, da der Reiche auch »Amonofis« genannt wird, sodass eine ägyptische Fassung vorauszusetzen ist, in der es sich um einen Pharao handelte. Vielleicht setzen Jesus bzw. Lukas eine Fassung voraus, in der beide Figuren schon im Diesseits miteinander zu tun hatten. Nur bei Lukas findet sich das in 16,27-31 Berichtete: Obwohl Lukas über das Jenseits berich-
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Kapitel 16
tet, liegt bei ihm doch der Ton darauf, dass man auch ohne einen solchen Bericht durch das Gesetz weiß, was jetzt zu tun ist. Dem entspricht, dass bei ihm die Quelle des Berichtes weder Höllenreise noch Traum ist, sondern die Autorität Jesu selbst. Die Pointe der Erzählung bleibt auch in der jesuanischen Fassung die ausgleichende Gerechtigkeit Gottes. Im Unterschied zur ägyptischen Fassung wird nicht gesagt, dass Lazarus gerecht, der Reiche aber ungerecht sei. Denn dass der Reiche den Lazarus an seiner Haustür hat liegen sehen, wird nicht gesagt. Ist dann ihr unterschiedliches Ergehen im »Jenseits« lediglich der ausgleichenden Gerechtigkeit zu verdanken, unabhängig von der Moral? In der Tat lässt schon die lukanische Form der Seligpreisungen in der Feldrede eine solche Position des Lukas vermuten (Selig ihr Armen, … die ihr jetzt hungert, …, die ihr jetzt weint: Lk 6,20f), und auch Lk 14,12 (Gegeneinladungen vermeiden, denn sonst ist die Bilanz lediglich ausgeglichen). So heißt es auch im Magnificat Marias (Lk 1,53): »Die Hungrigen hat er satt gemacht und die Reichen leer ausgehen lassen.« Wenn Arme eo ipso ins Paradies kommen, gelangen Reiche genauso automatisch in die Hölle. Allerdings weist auch Jesu Wort vom Kamel und vom Nadelöhr genau in diese Richtung: Jesus spricht hier nicht als Dogmatiker, der unabänderliche Gesetze über Gottes Handeln verkündigt, sondern er redet im »appellativen Indikativ«, also zu dem Zweck, seine Hörer zur Umkehr zu bewegen. »Appellativer Indikativ« meint eine Aussage, die provozieren und zum Nachdenken bringen soll, die Zumutungen an den Hörer heranträgt mit dem Ziel, wenigstens etwas zu verändern. – Ähnliches gilt auch für einen anderen Fall. Zu behaupten, das Gebet der Jünger im Namen Jesu werde erhört, ist eine kühne Zumutung. Aber nur wer sich darauf einlassen kann, hat wirklich Teil an Jesu Geist. – Wir halten fest: dass Arme in den Himmel, Reiche in die Hölle kommen, meint nicht einen Automatismus, ist aber auch keine »übertriebene« Aussage. Es ist auch kein Gesetz, nach dem Gott sich richten wird oder muss, sondern eine Verheißung für die Armen und eine Provokation für die Reichen. »Lasst euch darauf ein«, sagt Jesus; denn er will, dass die gegenwärtige Welt gerechter wird. Die zweite Frage betrifft den ersten Schluss der
275 Erzählung: »Mose und die Propheten genügen«, und zwar was den Umgang mit dem Reichtum betrifft, etwa Verzicht zugunsten von Almosen. Warum bringt Lukas dann noch die Erzählung von Lazarus? Wird sie nachträglich für überflüssig erklärt? Antwort: Die biblische Erzählkunst hat keine Angst davor, dass sich Aussagen gegenseitig bestätigen. Im Gegenteil, so unterschiedliche Dinge wie der Bericht aus dem Jenseits und die »Schrift« bekräftigen sich gegenseitig. Ähnlich rechnet ja auch der Bericht über das leere Grab in Joh 20 mit beiden Instanzen, dem Befund des leeren Grabes und der Schrift (Joh 20,8f); jedes Zeugnis für sich einzeln genommen, würde schon genügen. Und im Übrigen erfahren die Leser des Evangeliums ja beides, den Bericht aus Hölle und Himmel und den Hinweis auf die Schrift. Jedenfalls also die Leser und Hörer des Evangeliums sind privilegiert durch den doppelten Beweis. Zum zweiten Schluss: Selbst wenn einer von den Toten auferstünde, würden sich die reichen Kinder Abrahams nicht bekehren lassen. Das Griechische verwendet hier den gleichen Begriff, wie er auch in Ostertexten vorkommt (vgl. »aus Toten auferstehen« hier mit Lk 24,46). Geht es daher um eine sekundäre, nachösterliche Hinzufügung der Gemeinde, die pessimistisch auf den frühchristlichen Missionserfolg vorausblickt? Doch so negativ ist der Missionserfolg unter Juden nach Ostern gar nicht (vgl. z. B. Apg 2,41.47 usw.). Vor allem hat die Auferstehung Jesu eine ganz andere Funktion, als dass Jesus aus dem Jenseits wiederkäme, um über die Bestrafung in der Hölle und die Belohnung im Himmel zu berichten. Gewiss finden wir in manchen apokryphen Evangelien des 2. und 3. Jh., dass Jesus über Himmel und Hölle berichtet, aber im Kanon des Neuen Testaments und damit in den älteren Texten finden wir das gar nicht. Die Auferstehung Jesu dient nicht dem Bericht über eine Himmels- und Höllenreise, sondern ist Sieg und Erhöhung usw. Wenn also irgendeine Stelle die bei fast allen Kommentaren gemeinsame These von sekundärer nachösterlicher Ergänzung nicht trägt, sondern genau das Gegenteil anzunehmen nahelegt, dann diese Stelle Lk 16,31. In der Welt Palästinas konnte man nur reich werden, wenn man sich mit Heiden in Handel und Wandel einließ und sich nicht in beiden Be-
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276 reichen als Außenseiter aufführte – wie es das Judentum eigentlich zwingend nahelegte und forderte. Nur wenn man auf den kulturellen und finanziellen Anschluss an die maßgeblichen Kreise verzichtete und arm blieb, konnte man auch fromm sein. Das galt für Juden wie für frühe Christen. So kommt es, dass das hebräische Wort anaw sowohl »arm« wie auch »fromm« heißen kann. Die Anawim sind eben immer beides zugleich. Entsprechend finden wir Jesus nicht in den großen Städten (von Jerusalem abgesehen), sondern unter der eher verarmten Landbevölkerung. Lazarus in Lk 16 und Joh 11 Trotz der verschiedenen Gattungen ist es reizvoll, den Lazarus von Lk 16 mit dem von Joh 11 zu vergleichen. Joh 11 berichtet von einer Totenerweckung (nach Art einer Wundererzählung), Lk 16 ist ein fiktiver Unterweltsbericht mit Verwandtschaft zu Gleichnissen (Beginn mit »Es gab einen Menschen, der reich war …« 16,19; griech.: anthropos tis), daher keineswegs als historischer Bericht zu lesen. Denn »Es war ein Mensch« ist ein klassisch-lukanischer Gleichbnisbeginn. Der Lazarus von Lk 16 ist der Liebling Gottes, der von Joh 11 ist der Freund Jesu. Beide LazarusGestalten sind krank, beide sterben. Der Lazarus von Lk 16 erfährt den Ausgleich von irdischem Elend und Paradies als Umkehrung seines Geschicks, der von Joh 11 die Umkehrung vom Tod zum Leben. Der von Lk 16 hat Brüder, der von Joh 11 hat zwei Schwestern. Für den Lazarus von Lk 16 gilt: Selbst wenn er auferweckt würde, wäre von seinen Zeitgenossen keine Änderung zu erwarten. Für den Lazarus von Joh 11 gilt: Selbst nachdem er von den Toten auferweckt ist, glauben die jüdischen Mitmenschen nicht, wollen ihn sogar töten. Lk 16 schont die jüdischen Zeitgenossen (vgl. die Apg-Reden, die ihnen Unkenntnis bescheinigen); in Joh 11 dagegen gilt die unveränderte, ja sich versteifende Ablehnung. Vor allem gilt: Die gemeinsamen Elemente Lazarus, Tod, Glaube/ Unglaube, Auferweckung sind unterschiedlich gestaltet. Zu Lk 16,22: Abrahams Schoß – Die Wendung »zu den Vätern versammelt werden« (Gen 15,15; 47,3) meint ursprünglich das Grabgelege. Doch
Das Lukasevangelium
diese Vorstellung wird im ntl. Zeitalter mythologisiert; schon in 4 Makk 18,23 wird der Märtyrer vom »Chor« der gerechten Väter empfangen. »Schoß Abrahams« meint den bevorzugten Sitzplatz beim Mahl im Himmelreich (vgl. Lk 13,28; PesiqR 43 180b: »Brüder im Schoß Abrahams«). Zur Komposition von Lk 17-21 Der Abschnitt bietet in 17,20-37 eine Apokalypse und endet in 21,6-36 mit einem Stück gleicher Gattung. Die Funktion beider Abschnitte ist sehr verschieden. Die Pointe von 17,20-27 zeigt sich in 18,1-8: Wenn das Ende so schnell und völlig unerwartet kommt, dann ist man ihm zeitlich und räumlich völlig ausgeliefert. Dann hilft nur inständiges und beständiges Gebet. Davon handelt 18,1-8. Dann kann man vor dem Menschensohn bestehen. So wird der Menschensohn bei seinem Kommen Glauben finden (18,8b). – Dass das Gebet demütig sein soll und nicht wie das der Pharisäer, sagt Jesus im Gleichnis vom Pharisäer und vom Zöllner (18,9-14). Ein nicht demütiges Gebet erreicht glatt das Gegenteil des Beabsichtigten. Auch das Verhalten des Kindes nach 18,1517 gehört zu der erforderlichen schlichten Demut. Zu dem Thema Beten gesellt sich nun nach klassischer jüdischer Erlösungslehre der Besitzverzicht/das Almosen. Zur Kombination vgl. Apg 10,2: Der heidnische Hauptmann Kornelius betet, wann es Zeit ist, und gibt Almosen für das Volk Israel. So ist beides in Lk 18 miteinander verknüpft (vgl. 18,22-27). Dann aber nimmt das Lehren Jesu in Kap. 1821 eine Wendung, die »typisch« lukanisch ist, die aber trotz aller »Redaktionsgeschichte« noch nicht das Licht des Interesss gefunden hat: Das Thema Jerusalem und daher auch Jesu Weg nach Jerusalem in Kap. 19-21 sind ganz eng mit dem apokalyptischen Thema Gericht und Ende der Welt verknüpft. Das lassen folgende Passagen erkennen: Lk 18,31: »Wir gehen jetzt nach Jerusalem hinauf. Alles, was die Propheten über den Menschensohn geschrieben haben, wird in Erfüllung gehen.« Lk 18,38: Jesus, Sohn Davids Lk 19,9: Zachäus Abrahams Kind Lk 19,11: Jesus ist nicht mehr weit von Jerusa-
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Kapitel 17
lem, »und die Leute glaubten, dass Gottes Herrschaft sehr bald anbrechen würde.« Dieser Glaube ist für die Erwartungen, die sich mit Jesus verbanden (oder nach Ansicht der Evangelisten verbunden haben könnten) für Jesu Auftreten und Geschick in Jerusalem entscheidend. Das heißt: Wenn der künftige Heilsträger (Messias) der Stadt Jerusalem räumlich nahe kommt, dann steht auch die messianische Zeit nahe bevor. Diese Korrespondenz von räumlicher und zeitlicher Nähe (s. auch M. Wolter z.St.) ist sehr wichtig. Daher ist eben schon der Einzug des Messias in Jerusalem das entscheidende Datum. – Zum Verbum »erscheinen« in 19,11 ist es nicht besonders sinnvoll, auf das Erscheinen des Gottesreiches z. B. in Sib 3,97f oder AssMos 10,1 hinzuweisen. Denn an keiner dieser beiden Stellen ist vom Messias die Rede. Anders wäre es, wenn man Jesus selbst für den unsterblichen König hielte, mit dessen Kommen – als dem Kommen Gottes – sein Reich begonnen hätte. Vielleicht ist diese Deutung nicht erst späteres Dogma, sondern die Meinung etlicher von Anfang an? Lukas reflektiert jedenfalls eine Enderwartung, nach der das Auftreten des Messias in der heiligen Stadt das entscheidende Signal für den Anbruch der Endzeit darstellt. Zutreffend ist der Verweis auf Lk 1,33: Dieses Königtum soll Jesus jetzt nach Ansicht der Leute realisieren. Die weiteren Texte des Evangelisten zeigen, dass es teils an den Jerusalemern selbst lag, dass daraus nichts wurde (Kap. 19), teils an den Römern (Kap. 21). Doch Jerusalem behält seine entscheidende Rolle (s. Apg bis hin zu 22,18), wenn auch in verwandelter Weise. Jesus erzählt ein Gleichnis vom anvertrauten Geld. – Der es anvertraut hat, wird als König zurückkommen (vgl. 19,38). Lk 19,27: Die unfolgsame Stadt wird vor den Augen des Königs geschlachtet. – Jesus setzt seine Reise in Richtung Jerusalem fort. Lk 19,29-40: Einzug in Jerusalem auf dem Eselsfüllen. Begrüßung in 19,38: »Gelobt sei der König, der kommt im Namen des Herrn.« Lk 19,40: Steine werden schreien (Anspielung auf Zerstörung Jerusalems). Lk 19,41-44: Jesus weint über Jerusalem. Lk 21,5.6.7-11.10-24.25-33: Zerstörung Jerusalems und Ende der Welt. Lk 24,21: »Der einzige Jerusalemer … Wir aber
277 hatten gehofft, er sei der kommende Retter Israels.« Fazit: Verknüpft miteinander sind die Themen Messias, Israels Erlösung (Jerusalem, Abraham, David), Ende der Welt. Denn bei der Annäherung an Jerusalem erneuert sich bei den Jüngern die Endzeit-Hoffnung. Diese Verbindung ist nach den anderen frühchristlichen Autoren nicht gegeben. D. h. den Schlüssel für die Kombination und Komposition scheinbar sehr heterogener Elemente in Lk 17-21 liefert die lukanische Eschatologie über die Anbindung des Messianismus an Jerusalem (und umgekehrt). Der Abschnitt trägt viele Einzeldaten zum Thema »Jesus ist der Messias Israels« zusammen. Im Zentrum steht nicht die künftige Herrlichkeit Jerusalems oder Israels, sondern die Trauer über die bevorstehende Zerstörung der Stadt.
Lk 17,1-19: Rede an die Jünger – Zehn Aussätzige Die Jünger in 17,1 werden spezifiziert als die Kleinen aus 17,2. Die Ärgernisse in 17,1 bestehen im Nicht-Vergeben nach 17,3. Die »Kleinen« in 17,2 haben den mangelhaften (17,5) bzw. kleinen Glauben von 17,6. Stichwortverbindung »Glauben« in 17,5 f. Dem »kein Dank« in 17,9 ist das »Danken« von 17,16 entgegengesetzt. D. h. die Jünger dürfen keinen Dank erwarten, doch Jesus/Gott muss man danken. Zu Lk 17,1-4: Das »notwendige Ärgernis« (vgl. Mk 14,21; Barn 4,9 »Das Ärgernis der Endzeit«) besteht darin, dem, der umkehrt, keine Vergebung zu schenken. »Ärgernis« meint diese Lieblosigkeit. Das Stichwort »umkehren« ist aus dem Bericht über Lazarus 16,30 gegeben, und daran knüpft hier die Rede vom Umkehren 17,3b.4 und vom »Glauben« in 17,5f an. Synonym sind hier »Glaube« und »umkehren«. Diese Stichwortverknüpfung lässt den Schluss zu, dass in dem Stück 17,1-2 die »Kleinen« solche sind, die noch klein und schwach im Glauben sind (wie die Kleingläubigen bei Mt und der Glaubensschwache bei Paulus in Röm 4,19). Die Stücke sind insgesamt paarig angeordnet. Jemanden durch Ärgernisgeben zum Abfall vom Glauben bringen (17,1-2) ist das Gegenteil da-
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Das Lukasevangelium
von, dass man jemanden, der sich dem Mitchristen wieder zuwendet, annimmt und ihm vergibt (17,3-4). Beides ist radikal formuliert: Zum Abfallen bringen ist das Schlimmste, es wird erbarmungslos bestraft. Vergebung dagegen soll genauso radikal sein, grenzenlos.
Beim Reich Gottes geht es um die Mutlosigkeit angesichts der äußeren Erfolge in der Mission; beim Wort stellt sich die Mutlosigkeit schnell ein, wenn man auf die eigene Leistung blickt. Denn was jetzt in Geltung steht, ist in Wahrheit schon verbraucht.
Zu Lk 17,3a: »Achtet auf euch selbst«, parallel zu Lk 21,34; Didache 16,1: »seid wachsam für euer Leben«; Lk 12,15: »seid auf der Hut vor …«, »seht zu, dass …« Eine allgemeine Warnung im Rahmen eines besonderen, bisher nicht beachteten ethischen Grundkonzepts: Menschen werden aufgefordert, auf sich zu achten, indem sie auf das achten, was ihr Leben gefährdet oder einschränkt (z. B. Lk 21,34; 12,15; 2 Joh 8). Es bestehen nennenswerte Querverbindungen zur Aufforderung Jesu, »wachsam« zu sein (Verknüpfung z. B. Lk 21, 34.36 [synonym]; Didache 16). Besonders häufig sind derartige Warnungen im Zusammenhang mit der Abwehr von Irrlehrern (Mt 7,15; 16,6; Apg 20,28f) und PseudoAutoritäten (Apg 5,35.38). Oft am Schluss, z. B. in der Syrischen Didaskalie (ed. Nau): »Achtet nun, meine Kinder, dass nicht die Versuchung über euch komme.« Auch die Versuchungsbitte am Schluss des Vaterunsers ist in diesem Sinn zu verstehen.
Zu Lk 17,5-19: Der erste Zweiteiler meint das Verhältnis von Glaube und Gehorsam. Dem, der glaubt, gehorchen alle Dinge (17,5-6). Denn er hat durch das Einssein im Glauben mit Gott Anteil an dessen Schöpfermacht. Umgekehrt besteht das Verhältnis der Christen (Sklaven) zu ihrem Herrn in bedingungslosem Gehorsam gegenüber seinem Auftrag (17,7-10). Das Gleichnis über die Sklaven (V. 7-10) bildet so mit dem über den dankbaren Samaritaner (17,11-19) zusammen ein neues Paar: Die Christen dürfen für das, was sie tun, keinen Dank erwarten. Sondern der Einzige, der Dank erwarten kann, ist der Herr. So fällt das Stichwort »Glauben« in V. 5 und in V. 19. Das lässt den Schluss zu, dass es sich auch beim Sklavengleichnis um den Glauben handelt, der als Gehorsam realisiert wird.
Zu Lk 17,5-6: Vergleich der Senfkorn-Gleichnisse in Lk 17,5-6 (Mt 17,20) und Mt 13,31 (Lk 13,18f): Das Senfkorn ist das kleinste (die geringste Kraft in den Jüngern; wenige, die die Verkündigung annehmen). Das Wachstum des Kleinsten vollzieht sich durch Gottes verborgenes Wirken in der Zeit oder durch ein schlichtes Machtwort mit Wunderkraft. Eine Frage der Kraft: Die geheim wirkende Kraft der Zukunft, die Kraft des Wortes beim Glaubenden. Das Senfkorn wird riesengroß (als Reich Gottes über alle Völker; als Schöpferkraft Gottes). Der Effekt des Wachstums: Universales Heil bzw. (Staunen über) die unglaubliche Tat. Sicht der Heilsgeschichte: Das Reich ist jetzt zwar gering, wird aber bedeutend sein. Und: Es genügt, nur ein wenig Anteil zu haben an der neuen Wirklichkeit. Menschen verzweifeln leicht an der Kümmerlichkeit des Geringen, und das zeigt sich als Mutlosigkeit. Gottes Verheißung hat etwas in sich von der Wirklichkeit des Unglaublichen.
In 17,5f und 17,7-10 geht es beide Male um Kontraste – 17,5f: kleiner Glaube, große Folgen; 17,710: große Mühe, kein Dank. Und: Nicht der Sklave nimmt nach der Arbeit das Mahl ein, sondern der Herr. Das Geringfügige und Kleine ist in diesen beiden Abschnitten über den Glauben und die unnützen Sklaven das gemeinsame Thema. Jesus hat diese Vorliebe für das Kleine und Unscheinbare mit den Pharisäern gemeinsam. So kommt es ihm – wie den Pharisäern – auch darauf an, dass das kleinste Jota (Jod ist der kleinste Buchstabe des hebräischen Alphabets) im Gesetz erfüllt wird. Bleiben wir zunächst beim Glauben, der nur so groß sein muss wie ein Senfkorn. Aber seit wann misst man den Glauben nach Quantität? Auf das Vertrauen kommt es in diesem Jesuswort gar nicht an. Vielmehr ist der Glaube hier gedacht als eine Wundermacht. Wer daran Anteil hat, der kann »zum nächsten Maulbeerbaum sagen: Zieh deine Wurzeln aus
Lk 17,5-10: Glauben – aber wie?
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Kapitel 17
der Erde und verpflanze dich ins Meer.« Das will doch sagen: Wer auch nur ein wenig Glauben hat, der verfügt über riesige Macht und Kraft, wie sie sonst nur der Schöpfer hat. Denn beim Schöpfer ist es auch so: Auf sein Wort hin geschieht etwas (Gen 1). Sein Wort ist voller Macht. Und genau an dieser Schöpfermacht hat der Anteil, der glaubt. Warum ist das so? Was ist das für ein Glaube, der so etwas verleiht? »Dein Glaube hat dich gesund gemacht!« – Paulus spricht über den Glauben als charismatische Kraft: »und dem einen ist Glauben gegeben« (1 Kor 12,9). Hier geht es erkennbar nicht um den allgemeinen Christenglauben, sondern um eine Wundermacht, wie die vergleichbaren Charismen im Kontext zeigen. Neben dem für alle Christen verbindlichen Vertrauens- und Bekenntnisglauben kennt das Neue Testament demnach auch den Glauben als Anteilhabe an der Schöpfermacht Gottes. Diese kann nur darin beruhen, dass hier der Glaube den Menschen Gott ähnlich macht. Hier kommt diese Ähnlichkeit dadurch zustande, dass der, der glaubt, eines Sinnes ist mit Gott. Wer aber mit ihm einig ist, der hat Anteil an der Kraft des einen und einzigen Gottes. Denn wenn man mit Gott eins ist, dann muss seine Einheit und Einzigkeit, in der alle Macht konzentriert ist, auch ansteckend wirken. – Die Gegenprobe liefern die Worte vom Einssein mit dem Bruder, dem ähnliche Wunderkraft zugesprochen wird. So sagt es z. B. ThomasEv 48: Wenn zwei Frieden machen in einem Hause, dann können sie sagen …, und es wird geschehen. Glaube als Vertrauen und Bekenntnis (Glaube I) gilt für jeden, Glaube als Charisma (Glaube II) hat nach 1 Kor 12 nicht jeder. Glaube I steht an der Schwelle zum Christsein, Glaube II ist eine besondere missionarische Kraft. Glaube I ist auch eine persönliche Beziehung und fordert persönliches Bekennen, Glaube II ist charismatische Kraft. Mit Glaube I kann ich leben und sterben, mit Glaube II ist ein Stück Schöpfermacht Gottes gegenwärtig. Glaube I habe ich mit Maria gemeinsam, Glaube II mit dem Schöpfergott. Glaube I äußert sich in Überzeugungen und Worten, Glaube II in Zeichen des Mutes und der Energie. Um beides kann man beten, aber in verschiedenen Situationen: um Glaube I an der Schwelle zum Christentum, auch in persönlichen Zweifeln
und Anfechtungen; um Glaube II, wenn das Zeugnis meine menschlichen Kräfte offensichtlich überfordert. Denn mit Glaube I bin ich als Mensch glaubwürdig, mit Glaube II als »Repräsentant« des Herrgotts. Wenden wir uns nun den Sklaven zu, die am Ende sagen: »Wir sind doch nur Sklaven, taugen zu allem und zu gar nichts und haben nur getan, was wir tun sollten.« Dieser Abschnitt 17,7-10 (der Sklave erwartet keinen Dank) steht in Kontrast zu dem folgenden in 17,11-19: Wer heilt, nämlich Gott, darf sehr wohl Dank erwarten. – Genauso gehörten Ärgernisgeben (17,1-4) und Mehrung des Glaubens (17,5-6) konträr zusammen; denn Menschen zerstören durch Ärgernisgeben Glauben, Jesus aber macht ihn stark.
Lk 17,7-10: Sklavengleichnis Das Gleichnis erzählt in drei Phasen. In Phase 1 (Feld und Weide) wird der normale Arbeitstag eines Sklaven geschildert. Phase 2 überbietet Phase 1: Die Erwartung, der Sklave könne nun essen und trinken, wird durchbrochen. Nicht er, sondern der Herr hält Mahlzeit und will auch noch vom Sklaven bedient werden. Phase 3 lässt dann den Sklaven zu seinem Recht kommen. Aber es ist ein Recht ohne Dank. An der Stelle, die sonst in den Sklavengleichnissen der Termin der Rechenschaft einnimmt, steht hier das Urteil der Sklaven: Wir sind ziemlich nutzlos und haben nur die Pflicht getan. Das heißt: Auch wenn der Sklave schon den ganzen Tag über gearbeitet hat, auch in der Ruhezeit gilt zunächst einmal und vor allem und grundsätzlich der Wunsch des Herrn. Sodann darf der Leser fragen: Warum sollte dieser Herr eigentlich nicht danke sagen? Nein, es ist ein unverschämter Herr: Er schaut nur auf die eigenen Bedürfnisse, und dann sagt er noch nicht einmal danke. Vom Sklaven wird vielmehr ein demütiges Eingeständnis gefordert; nicht sie kommen zu ihrem Recht, sondern stets nur der Herr. Sklaven haben keine Menschenrechte, Rechte hat immer nur der Herr. Damit rückt dieser Herr neben den Herrn in Mt 25 und Lk 19, der ähnlich rabiat nur an die eigenen Bedürfnisse denkt. Das »Tun dessen, was aufgetragen ist« (dreimal), entspricht dem »gehorchen« in 17,6. Befehl und Gehorsam
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280 ist eine Grundstruktur des Reiches Gottes. – Stichwortverbindung im vorhergehenden Stück: »gehorchen« in Lk 17,6 und 17,9f: »was (euch) angeordnet ist«.
Lk 17,11-19: Heilung der zehn Aussätzigen Aussätzige sind vom Gottesvolk ausgeschlossen, so in der erweiternden Auslegungen von Dtn 23,2-4 in der Tempelrolle aus Qumran. Wenn der Messias hier ansetzt und Aussätzige rein macht, dann heilt er nicht nur jeden Einzelnen persönlich, sondern er »repariert« auch Gottes Volk, indem er ihm die wieder eingliedert, die nicht mehr dazugehören durften. Gerade darin erweist er sich als Messias; denn auch Elia, der eine messianische Aufgabe »vor dem Tag des Herrn« hatte, sollte das »Volk bereiten« (Sir 48,10). – Diese Re-Integration betrifft einen Samariter, ein Glied jener Volksgruppe, deren Zugehörigkeit zu Israel zweifelhaft war. Der Abschnitt Lk 17,11-19 weist deutlich Ähnlichkeiten zu Lk 5,12-14 und Mk 1,40-45 auf; nach letzterem Text vermag Jesus zu reinigen, weil er den heiligen, rein machenden Geist Gottes in sich trägt (vgl. Kontext ab Mk 1,11). Dieser Aspekt tritt in 17,11-19 zurück; beiden Texten gemeinsam ist die Aufforderung, zu den Priestern zu gehen, da diese die wiedererlangte kultische Reinheit offiziell feststellen können. Die soziale Eingliederung erfolgt erst mit diesem Urteil. Zu Lk 17,16 ff: Die Ausnahme ist der dankbare Geheilte auch, weil er Samariter ist. Auch in der Beispielerzählung vom barmherzigen Samariter, (Lk 10,30-37), war dieser die Ausnahme. Wenn Samariter auf diese Weise die löbliche Ausnahme sind, dann wirft das nach dem Wortlaut des Textes zunächst schlechtes Licht auf die »verkündigungsresistenten« Juden, von denen der Text auch berichtet. Welche historische Situation könnte im Hintergrund des Interesses an Lk 17,11 ff stehen? Möglichkeit I: Im Rahmen der Verkündigung an Juden werden Samariter als Beispiel genannt, um die jüdischen Adressaten zu reizen und anzustacheln (»Von denen lasst ihr euch etwas vormachen!«). Schon in der Predigt Johannes d. Täufers galt der Grundsatz: »Wenn ihr nicht
Das Lukasevangelium
wollt, dann kommen andere dran!« (Lk 3,8 par). Dieser Ansatz wird nun hier konkretisiert, ähnlich wie in Mt 21,31 in Bezug auf Zöllner und Dirnen. Möglichkeit II: Im Rahmen früher Mission unter Samaritern (vgl. Joh 4; Apg 8) werden positive Beispiele unter ihnen genannt: a) um diese selbst zu ermutigen, doch von den (jüdischen!) Verkündigern das Evangelium anzunehmen; b) um Gegenrede in älteren judenchristlichen Gemeinden zu beantworten und zu beenden. Wie wir noch aus Joh 4 ersehen können, war Samaritanermission durchaus lange strittig (4,2225). Auch bei der Zuwendung zu unbeschnittenen Heiden in der Mission werden ähnlich positive Ausnahmen genannt, um das Ganze zu legitimieren (z. B. Kornelius in Apg 10). Möglichkeit III: Der dankbare Samariter zeigt generell, dass sich die christliche Botschaft keineswegs ohne Erfolg, sondern mit sichtlichem Segen denen zuwendet, die in ihrer Umwelt nicht angesehen und verachtet sind. An dem besonders anstößigen Fall, dass einer erstens aussätzig und zweitens Samariter war, wird dieses demonstriert. Der Schlusskommentar »Geh nur, dein Glaube hat dich gesund gemacht!« lässt fragen: Aber was war dann mit den anderen, die nicht mit Dank zurückkamen? Glaubten die nicht? – Offenbar soll der Glaube des Samariters besonders als legitim anerkannt werden. Das Verhältnis von Juden und Samaritern hat sich gegenüber der jüdischen Selbsteinschätzung umgekehrt. Typologische Meditation Vorbemerkung: In der Alten Kirche bis hin zur frühen Romanik ist es üblich, Altes und Neues Testament nebeneinanderzulegen und so Einzeltexte wechselseitig zu erhellen. Da diese Art der Auslegung jedenfalls in dem hier genannten Zeitraum nicht auf Kosten des Alten Testaments geht, halte ich sie für auch heute zukunftsweisend, da sie jedem Text sein Profil lässt und das Alte Testament nicht gewaltsam christianisiert. Zu Lk 17,11-19 vergleiche ich 2 Kön 5,1-15; Naaman, den Heerrführer des Königs von Syrien, nenne ich »den Syrer«. Elisa: Prophet und Mann Gottes dort. – Jesus: Prophet und Mann Gottes, Messias und Sohn Gottes hier.
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Kapitel 17
Aussatz im Alten Testament – Aussatz im Neuen Testament: zweimal unendliche Schmerzen und sozialer Tod. Das Schlimmste. Der Syrer: ein mächtiger Heerführer mit Aussatz – welch ein unseliger Kontrast. – Bei Jesus: ein verachteter Samariter, und dann auch noch Aussatz – welch ein Unglück. Der Syrer hat einen langen Anweg zum Propheten, die Aussätzigen schreien dem Messias nur von ferne ihre Bitte zu. Zweimal Abstand, weite, schier unüberwindliche Entfernung. In jedem Wunder geht es um den langen Anweg. Elisa heilt nicht durch Berührung, sondern gibt durch einen Boten Befehl. – Jesus heilt nicht mit der Hand, sondern gibt nur Befehl. Zweimal Distanz zur schrecklichen Seuche. Umso wunderbarer das Wunder: zwei Fernheilungen. Elisa heilt den Syrer, Jesus heilt zehn Menschen, aber nur der Samariter ist gerettet. Zweimal das Heil für Ausländer. Der Syrer bekennt: Es gibt keinen Gott auf der ganzen Erde außer in Israel. – Der Samariter gibt Gott die Ehre, fällt Jesus zu Füßen. Er betet den Gott an, der in Jesus Christus gegenwärtig ist. Zweimal Bekehrung und Bekenntnis. Der Syrer muss sich nur baden und wird rein. – Jesus muss nur sagen: Geht hin, zeigt euch. Zweimal die unglaubliche Leichtigkeit des Heilens. Der Syrer kehrt zurück zum Mann Gottes, um zu bekennen. – Der Samariter kehrt zurück zu Jesus, um niederzufallen und zu danken. Durch Elisa erfährt Israels König, dass es noch einen Propheten in Israel gibt. – Jesus ist Prophet und König in einem, hier geht es um das Ganze. Der Syrer bekennt, und viele Nicht-Geheilte kommen mit ihm. – Der Samariter kommt allein, und viele Mit-Geheilte kommen nicht. Bei Elisa gibt es Gottes Wohltat für den Heiden. – Bei Jesus Rettung für den Samariter, dem Gottesvolk eng verwandt. Bei Elisa muss der Syrer gehorchen und sich baden. – Bei Jesus müssen die Aussätzigen gehorchen und hingehen. Der Syrer badet im Jordan. – Bei Jesus genügt das Hingehen zu den Priestern. Siebenmal baden: ein sichtbares Zeichen. So will es der Prophet. – Bei Jesus geschieht die Heilung unsichtbar, einfach im Gehen, niemand weiß wie. Nur, weil er es will. Der Syrer muss nur gehorchen. – Auch die
281 zehn Aussätzigen müssen gehorchen, aber Jesus nennt erst die dankbare Rückkehr Glauben. Die Heilung des Syrers bemerkt sein Gefolge. – Die Heilung Jesu müssen Priester feststellen. Jesus unterwirft sich dem Tempel. Der im Jordan gebadete Syrer hatte Fleisch wie ein kleines Kind. So sind die Getauften wie kleine Kinder, neugeboren, und das Taufbecken heißt oft Jordan. Beim Syrer ist der Jordan die Adresse. – Bei Jesu der Tempel. Er hat mehr vor; seine Geschichte mit dem Tempel endet erst am Kreuz. Bei Elisa kommt der Syrer freiwillig zurück. – Bei Jesus kommt der Samariter freiwillig und als Einzelner zurück. Jetzt gibt es nur noch jeden einzeln. Elisa weilt in Samaria. – Jesus heilt für Samaria. Heilung durch das Wort des Propheten. – Heilung durch das Wort des Messias: Gottes Schöpfungswort ist gegenwärtig, nicht nur für Israel. Elisa: Gott, sein Bote, sein Wort und Rettung vor dem Schlimmsten. – Jesus: Gott, sein Sohn, sein Wort und Rettung vor dem Schlimmsten. Elisa hilft dem Heerführer. – Jesus hilft dem Verachteten. Bei Elisa gilt: Wenn der Prophet es sagt, ist Heilung einfach. Sein Wort ist Gottes Wort. – Bei Jesus gilt: Sein heilendes Wort ist Gelegenheit, einzusteigen in den rettenden Glauben. Bei Elisa ist das Ziel: Es gibt noch Propheten, hier ist einer! – Bei Jesus ist das Ziel: Vor ihm kann man niederfallen und anbeten. Hier ist Gott. Zu Lk 17,20f: Der Ort des Reiches ist nicht die Innerlichkeit (anders ThomasEv 3: inwendig in euch), sondern gemeint ist die latente Möglichkeit des Aufbrechens. Bestätigt wird diese These durch die nachfolgende Illustration der Plötzlichkeit. Zu Lk 17,21: Berger/Nord haben so übersetzt: »Unsichtbar ist Gottes Herrschaft bereits unter euch, sie kann hervorbrechen und dann sichtbar werden.« Damit ist sie ein verborgenes Geheimnis, wie auch das künftige Leiden des Menschensohnes vor den Jüngern verborgen ist (18,34). Lukas kennt damit wieder ein wirkliches ReichGottes-Geheimnis; vgl. ThomasEv 3 (»Das Reich Gottes ist in euch und außerhalb von euch«);113
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282 (»Das Reich des Vaters ist ausgebreitet über die Erde, und die Menschen sehen es nicht«).
Lk 17,21-37: Ankunft des Gottesreiches Der Verborgenheit des Menschensohnes in den Evangelien und jetzt entspricht auch die Verborgenheit des Gottesreiches. Daher leidet das Reich Gottes Gewalt wie auch der Menschensohn. Die Sprachform des Gleichnisses ist dieser Verborgenheit angemessen. Menschensohn und Gottesreich gehören eng zusammen, auch in ihrem Ergehen. Diese Verborgenheit des Menschensohnes ist bekannt als Topos der Elia-Literatur, gilt aber darüber hinaus. Das Gericht wird plötzlich kommen. Die Tage Noahs, die Tage Lots gingen für deren Zeitgenossen unerkannt dahin. Genauso wird es auch mit den Tagen des Menschensohnes sein. Der Ausdruck »danach verlangen, einen der Tage des Menschensohnes sehen zu können« ist nicht parallel zu den »Tagen des Messias« im Rabbinischen. Sondern: Die Zeitgenossen hätten gerne einen der Tage des Menschensohnes als solchen erkannt. Aber das wird nicht möglich sein, denn wie bei Lot und Noah kommt das Gericht plötzlich. Es geht nicht um das Erleben wie bei den Tagen des Messias, sondern es geht um das eventuell heilsame, weil rechtzeitig warnende Erkennen. Der Abschnitt ist ein Appell, auf die Plötzlichkeit und die unangenehme Überraschung gefasst zu sein, dass mitten in der Alltäglichkeit das Ende aufbricht. Daher geht es um den Gegensatz von Verlaufszeit und Katastrophe, von Gemeinschaft und radikaler Trennung. Insofern gehört das Stück zu den Zeichen-Abweisungen in der synoptischen Tradition. Aufbau: V. 22-25: Abweisung von Vorzeichen – V. 26-30: Katastrophe inmitten der Alltäglichkeit – V. 31-33: Anweisungen für den Tag X – V. 34-36: Die Scheidung und Trennung wird radikal und plötzlich sein – V. 37: absolute Gewissheit des Gerichts. Zu Lk 17,22: Die Unmöglichkeit der zeitlichen Identifikation entspricht der Unmöglichkeit der Identifikation der Person des Christus; vgl. Ps.Hippolyt, De consummatione mundi 9: Viele
Das Lukasevangelium
Menschen werden laufen von Osten nach Westen und vom Norden bis zum Meer und fragen: Wo kann man sagen: »Christus ist hier«, und wo: »Christus ist dort«? – Schließlich könnte es auch sein, dass der Menschensohn hier im Sinne des Menschen verstanden ist, wie man es auch für andere Stellen erwogen hat, vgl. 5 Esra 16,28: cupiet enim homo hominem videre, vel vocem eius audire. Zu Lk 17,22: »Ihr werdet sehen wollen, aber nicht sehen«: Die erfolglose Suche, das ergebnislose Verlangen wird in immer neuen Varianten als Merkmal des Niedergangs vor dem Ende beschrieben, so in Ps 37,10 (der Sünder); Ez 22,30 (den Gerechten); Klgl 1,19 (Nahrung); 4 Q 105 1,12 (suchen und nicht finden, keine Hoffnung); Jub 23,24 (rufen und beten, aber keiner gerettet); Lk 13,24 (suchen hineinzukommen, aber nicht können); Offb 9,6 (den Tod suchen, aber nicht finden); lat. BaruchApk (Wort der Weisheit); Ps.-Hippolyt, Antichrist 9 (eine Adresse suchen, aber nicht finden); äth Sibylle Schleifer 3,24d (suchen, wem Almosen zu geben, aber nicht finden); griech. Tiburtina 201f (einen Menschen suchen, aber nicht finden); Daniel-Diegese 6,6 (Spur Ismaels).
Zu Lk 17,22.24: Eine messianische Generation im Sinne von PsSal 17,44 (»Selig, der in jenen Tagen leben wird, um das Heil Israels zu sehen«) und von Lk 17,22b wird es nicht geben, damit auch kein kollektives Heil für das Volk Israel, kein organisches Ende der Heilszeit, sondern die Spaltung, von der ab V. 26 berichtet wird. Die Ursache der Trennung ist das, was in der jetzigen Generation gegenüber der Botschaft geschieht. Das Reich Gottes ist eine unsichtbare Wirklichkeit, die jederzeit aufbrechen kann. Das Ende ist wie Zerreißen der bestehenden Wirklichkeit, besonders der Sozialbeziehungen. Der unberechenbaren Plötzlichkeit des Endes entspricht die Sicherheit des Verderbens derer, die nicht auserwählt sein werden. Gott ist gefährlich. Er fordert die Vorwegnahme der dann erfolgenden Scheidung jetzt. Er fordert, dass man sich durch ständiges Gebet vorbereitet (Lk 18,9). Dem plötzlichen Ende ist der Mensch gewachsen, wenn er in seinem Glauben (Treue) Kontinuität entgegensetzt (18,8b).
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Kapitel 17
Zum Verhältnis der beiden Apokalypsen in Lk 17 und Lk 21: Nach Lk 17 bleibt der Menschensohn »im Himmel«, nach Lk 21,27f kommt er auf die Erde. – Nach Lk 17,34f holen Engel ab; nach Lk 21 ist der Menschensohn ohne Engel. – Lk 18,18: Aufforderung zum Gebet am Schluss; Lk 21,36: Wachen und Beten. – Lk 17,21: Falsch ist »Siehe hier oder dort«; Lk 21,8: Falsch ist »Der Zeitpunkt ist gekommen«. Zu Lk 7,25: Das einzige Vorzeichen vor der Ankunft des Menschensohnes ist sein Leiden. Diese Verbindung – unter Auslassen der Auferstehung Jesu – ist nicht ungeläufig, vgl. Mk 9,12f (Leiden/Auferstehung der Toten); Apg 3,18-20; Mk 14,25; vgl. Apg 14,22. Zu Lk 17,26: Ähnliche Funktion hat die Sintflut in 2 Petr 3. – Speziell in der Henoch-Tradition wird die Sintflut zum Typos des kommenden Weltgerichts. Das hat folgende Gründe: 1. Die Sintflut ist universales Strafgericht wegen der Bosheit der Menschen. So ist es auch mit dem kommenden Feuergericht. – 2. Es gibt die exklusive Minderheit der Geretteten (Noah und Familie); dem entsprechen die gerechten Juden jetzt. – 3. Henoch (Großvater Noahs), der in den Himmel entrückt wird, belehrt über die Bedingungen des Gerechtseins. Seine auf der Himmelsreise zu Gottes Thron erfahrene Weisheit ist gegenüber aller weltlichen Weisheit die Anti-Weisheit. Mit ihrer Hilfe kann man im Gericht überleben und als Rest gerettet werden. Auch die Verbindung von Noah und Lot (Lk 17,26-31) ist aus dieser Tradition geläufig. Noah ist der »gerettete Rest« in Gen 18 f. – Vgl. Jud 5-7; Jub 20,5 (»Gericht über die Giganten und Gericht Sodoms«); Sir 16,7 f. Zu Lk 17,28f – (Beispiel Lot): In Gen 19,13-23 ist für Lk 17 Folgendes relevant. V. 16: Engel nehmen Lot bei der Hand; V. 17: »Rette dein Leben, blicke nicht hinter dich … rette dich ins Gebirge«, vgl. »Leben retten« in 17,33; V. 22 (L. will sich nach Zoar retten): »Beeile dich nun, damit du dort gerettet wirst«. – Lk 17,31: »Wende dich nicht nach hinten zurück« (Blicke nicht zurück) entspricht genau Gen 19,17; vgl. »zurücklassen« in Lk 17,35 mit demselben Verb in Gen 19,17 – nach Lk 21,21 wird dann ausdrücklich geraten
283 zur Flucht in die Berge (Gen 19,17); Engel werden dazu abholen (Gen 19,16). Das Gericht ist so schnell und so schrecklich, dass man sagen kann: Nur die werden gerettet, die ihr Leben auf der Flucht riskieren. Man muss sein Leben aufs Spiel setzen, d. h. das Risiko der Flucht auf sich nehmen, um das Leben überhaupt zu retten. Diese Einsicht gewinnt man durch die Bilder und Ratschläge, aber diese Einsicht hat selbst bildlichen, illustrativen Charakter. Das gilt alles in dem Sinne, dass man sagen kann: So wird die Situation sein, wie wenn zum Beispiel das gälte … Die Zurückgelassenen sind das Aas, auf das sich die Geier stürzen. Die gesamte Beschreibung der Situation ab 17,31 hat stark bildlichen Charakter. Parallel sind die Bildfolgen Dach, Feld, Lots Weib und Bett, Mahlen, Feld. Mit diesen Mitteln werden die Merkmale der Situation bekannt gegeben: Plötzlichkeit, Unmöglichkeit der Rettung, jähes Zerbrechen aller Gemeinsamkeit. – Die hier betonte Plötzlichkeit steht in deutlichem Kontrast zu den Wachstumsgleichnissen, in denen Zeit gelassen wird. Zu Lk 17,29-37: Tag des MenschensohnsV. 29-35 sind eine Auslegung der Lot-Tradition aus Gen 19,12-22. – 19,15: Lot (Lk 17,29); 19,16: Engel führen hinaus (Lk 17,35: Engel als Subjekt!); 19,17: »Rette dein Leben, ins Gebirge rette dich! … Blick nicht nach hinten … mitgenommen werden« (Lk 17,33: Leben retten; 31: Soll sich nicht nach hinten wenden; Lk 21,21: Flucht auf die Berge; Lk 17,35: übrig gelasssen werden); Gen 19,22: »Eile nun, dass du dort gerettet wirst« (Lk 17,33: Leben retten). Vorausgesetzt ist daher diese Situation: Engel kommen und retten die Gerechten, führen sie hinaus ins Gebirge, denn die Städte werden vom Feuer verbrannt – vgl. die Drohworte über Kafarnaum und Betsaida. Zum Herabsteigen vom Haus in Lk 17,31 und 21,21: kopt Jeremia-Apokryphon, p. 295 von der Gefangennahme Isaraels: »Die auf den Dächern durften nicht herabkommen, die auf dem Feld durften nicht zur Stadt kommen, sondern sie legten Fesseln an jeden, so wie sie sie fanden.« Vgl. auch das Apokryphon: »So wie ich euch finde, urteile ich über euch.« – Zum Blitz: Sib 6,18. Zur Trennung der Menschen in Lk 17,34f vgl. ThomasEv 61: »Zwei werden ruhen auf einem
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284 Bett, der eine wird sterben, der andere wird leben.« Die Trennung am Ende ist das Gegenbild zur jetzt in der Mission notwendigen Trennung. Lk 17,33 ist ein symbolischer Imperativ. Der Spruch kommt aus der Rhetorik der Feldherren: Wer feige ist, verliert; nur wer wagt, der gewinnt. Das heißt: Man muss sein Leben aufs Spiel setzen, muss das Risiko der Flucht auf sich nehmen, um das Leben zu retten. Hier jedoch ist der Satz weder wörtlich auf die Schlacht zu beziehen noch auf die Flucht. Der Satz besagt nur: Jede Aktivität wird in dieser Situation ihren natürlichen Sinn verlieren. Alles, was sonst erfolgreich wäre, schlägt eher ins Gegenteil aus. In Lk 17,37 sind die Zurückgelassenen diejenigen, auf die sich die Geier stürzen werden. – Die Plötzlichkeit des Gerichts ist Zeichen von dessen Kraft und Überlegenheit. Zu Lk 17,37 vgl. Hiob 39,30b LXX (Wo Sterbende sind, finden sie sich [sc. die Adler] schnell ein). Zu Lk 17,31-33: Am Gerichtstag gilt nur die Flucht nach vorn, alles auf eine Karte zu setzen. Der sicherste Weg zu entkommen sind die Engel (wie bei Lot und Lk 21; Mk 13,27). Dabei fällt auf, dass in Differenz zu Mk 13 hier nicht mehr von einem Abgeholt-Werden durch Engel die Rede ist, nur noch von der Flucht. Andererseits ist der sicherste Weg das Gebet. In Lk 18,1-8 und 21,36 wird es jeweils nach der Apokalypse zum Thema gemacht. Die Not, in der nur noch die Flucht hilft, ist in Lk 17 das Bild für die äußerste Bedrängnis. Die Komposition des LkEv mit 18,1-8.9-14 (Thema: beide Male Gebet) legt die Frage nahe, wie wörtlich die »Landschaftssschilderung« in 17,26-31 ist. Denn in Lk 18 ist das Mittel ja nicht die Flucht, sondern nur noch das Gebet.
Lk 18,1-14: Gleichnisse vom ungerechten Richter und vom Pharisäer und Zöllner 18,1-14 enthält zwei paarig angelegte Gleichnisse. In beiden bekommt der Recht, von dem man es nicht erwartet: Die Witwe setzt sich bei dem ungerechten Richter durch; er schafft ihr Recht. Und nach 18,14 geht der Steuereinnehmer (Zöllner), ein notorischer Sünder, »gerechtfertigt« nach Hause. – Beide Gleichnisse handeln zudem
Das Lukasevangelium
von einem Beten, das die Regeln verletzt. Die Witwe bereitet Mühe, indem sie Tag und Nacht betet; der Pharisäer betet mit Selbstempfehlung, das Gebet des Zöllners wird erhört. Das Gebet der Witwe hat noch mit der apokalyptischen Passage im Kapitel vorher zu tun. Denn am Schluss (18,8) steht die rhetorische Frage, ob der Menschensohn, wenn er kommt, eine derartige vertrauensvolle Hingabe finden wird. Dass der Menschensohn kommt, verbindet mit 17,20 ff. Zu Lk 18,2-8: Diese Verse sind zu vergleichen mit Lk 11,5b-8: je ein Bittender und ein Gebetener; Bitte unter ungünstigen Voraussetzungen; vorläufiger Misserfolg der Bitte; wörtlich übereinstimmend: »Wenn schon … nicht …, aber … wegen …« in 18,4f und 11,8! – Zum Gebet als Ringen mit Gott: Röm 15,30; Kol 4,12; Lk 11,8; Philo, De Jona 30 (beten … nicht ringen wir mit dem Willen anderer, denn die hängen alle vom Willen des Königs ab). Zu Lk 18,7: Verzug: Hen (äth) 47,1-2. Das Gleichnis vom Pharisäer und Zöllner (18,914) ist mit dem Abschnitt über die Kinder verbunden durch die Maxime »Jeder, der sich erhöht, wird erniedrigt werden« und umgekehrt (18,14). Denn die Kinder sind »niedrig« im Sinne des Lukas: Sie müssen sich alles schenken lassen. »Ich danke dir, dass ich nicht als Heide geschaffen bin«, lautet ein Gebet der Mischna. Auch in den neutestamentlichen Briefen wird für den Heilsstand gedankt, freilich nicht auf Kosten anderer. Den Pharisäern wird bei Lukas immer wieder vorgeworfen: Ausgrenzung anderer, sich sträuben gegen die christliche Aufhebung der Grenzen. Gerechtfertigt wird nur der, der sich als Sünder bekennt. Besonderheiten bei Lk: In 18,20 fehlt gegenüber Mk 10,19 »du sollst nicht berauben«. Das Elterngebot ist wie bei Mk nachgestellt und damit in seiner Wichtigkeit betont. Der Imperativ Jesu »verkaufe alles, was du hast« ist radikaler als bei Mk – die radikalste Aufforderung zum Besitzverzicht überhaupt; in Apg 2-5 bereits gemildert. Auf das Bild von Kamel und Nadelöhr hin fragen die Jünger: Und wer kann dann noch gerettet werden? Bei der Antwort Jesu: »Was bei den
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Kapitel 18
Menschen als unmöglich erscheint, ist bei Gott möglich« ist gewiß nicht an eine Ermäßigung gedacht in dem Sinne, dass auch fromme Superreiche gerettet werden können. Davon, dass Menschen jemanden retten könnten oder darüber befinden müssten, ist auch nichts gesagt; der Ton liegt allein auf dem zweiten Satz: Gott allein kann retten. Menschliche Maßstäbe oder Vorstellungen gelten da nicht. Die Tatsache, dass allein Gott bestimmt, wer gerettet wird, ermuntert dazu, auf allen erdenklichen Wegen Gott zu gefallen. Zu Lk 18,4-5 – Vergleich mit Lk 11,8f: 1. Einleitung des Nebensatzes mit »Wenn schon …« (griech. ei kai). – 2. Verneinte Aussage über Verhalten des Handlungsführers zu Menschen und Gott. – 3. Einleitung des Hauptsatzes mit »Aber wegen …« (griech.: dia ge) mit Akkusativ, geschildert wird das Verhalten des Kontrahenten, das dem unter 2. genannten Tun entgegenläuft. – 4. Im Futur gehaltene Aussage über das, was nun der Handlungsführer seinem Mitmenschen Gutes tun wird. Umkehrung des unter 2. geplanten Handelns. Strukturelle Entsprechungen: je ein Bittender und ein Gebetener; die Bitte wird unter ungünstigen Voraussetzungen gestellt (Mitternacht; gottloser Richter gegenüber der Witwe); vorläufiger Misserfolg der Bitte; Erhörung nicht aufgrund der Eigenschaften dessen, an den die Bitte gerichtet ist, sondern aufgrund von selbstsüchtigen Motiven: Der Böse wird durch den Aufdringlichen (Lk 18,3-7) besiegt. Hier ist dann der Schluss a minore ad maius angebracht: Wenn so schon der Böse bezwungen wird, um wieviel mehr erst Gott. – Zur Unverschämtheit im Beten vgl. Past Herm, Vis 3,3,1-2 (wörtl.
285 Übereinstimmungen mit Lk 18: Mühen bereiten, unverschämt). Das Gebet erscheint hier jedenfalls als Ringen mit Gott, so auch Röm 15,30 und Kol 4,2 (stets kämpfen); Philo v. Alexandrien, De Iona 30 (zu Gott, dem Herrn des Universums beten): »Nicht ringen wir mit dem Willen anderer, denn die hängen alle vom Willen des Königs ab.« Das Gebet erscheint hier als Schrei derer, die es nicht mehr aushalten können; Gott antwortet nicht »schnell«. Aber wer schreit, gewinnt sich selbst, auch seine Glaubwürdigkeit. Wer schreit, wird von anderen Menschen gehört. Schreien ist eine andere Form des Erreichens von Grenzen, ist auch ein Schrei über verletzte Ordnung. Das Schreien Jesu nach Hebr 5 steht für sein ganzes Leben. Die Nicht-Erhörung von Gebeten ist kein Problem. Entscheidend ist, dass es die höchste Instanz war, an die man sich gewandt hat. Dann kann man Nicht-Änderbares leichter ertragen. Zu »bald«, »in Kürze«: Hen (äth) 47 (»… wegen des Bluts der Gerechten und wegen des Gebets der Gerechten, dass es vor dem Herrn der Geister nicht vergeblich sein möge, das Gericht für sie vollzogen und der Verzug desselben für sie nicht ewig dauere …, dass das Gebet der Gerechten erhört und das Blut der Gerechten vor dem Herrn der Geister gerächt wird«). Zu Lk 18,6-7: Witwe und Richter stehen sich gegenüber wie Auserwählte und Gott. Zu Lk 18,8: Der rhetorischen Frage »Wird der Menschensohn Glaube finden?« entspricht Lk 21,36 »stehen vor dem Menschensohn« und der rhetorischen Frage Offb 6,17: »Wer wird (be)stehen können?« sowie Joel 2,11.
Lk 18,9-14: Pharisäer und Zöllner Vergleich mit Lk 15,11-32 – gemeinsam sind: 1. Eingeständnis des Sünderseins (»ich habe gesündigt« – »Augen nicht zum Himmel … Sei mir Sünder gnädig«). – 2. Erbarmen Gottes bzw. des Vaters bewirkt die Rechtfertigung des Sünders (»er erbarmte sich« – »gnädig mir Sünder«. – 3. Der »Untadelige« unterstellt dem normalen Sünder sexuelles Vergehen (15,8 »mit Dirnen«;
18,11 »Ehebrecher«). – 4. Der »Korrekte« hat kein Gebot überschritten, hat Moral- und Kultgebote eingehalten bzw. dankt sogar dafür (18,11). – 5. Jedoch wird die Integrität der Pharisäer nicht angezweifelt. Sie sind nur »Prototypen«. – 6. In beiden Fällen versucht der »Korrekte«, sich abzusetzen; 15,30: »Dieser dein Sohn …« (despektier-
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286 lich); 18,11: »nicht … wie die übrigen Menschen«.
Jesus reagiert auf die religiöse Spaltung in seinem Volk. Er macht die Pharisäer dafür verantwortlich. Er sieht das Potenzial für seine Botschaft bei den Unbekehrten, die der Bekehrung noch fähig sein könnten. Die moralisch-kultische Perfektion der Pharisäer dagegen sieht er – abgesehen von ihrer verheerenden sozialen Wirkung – als Barriere für eine tiefgreifende Gotteserfahrung. Die Perfektion wird nicht bestritten, doch die Lebensbeweise Gottes sind anderswo zu suchen. Ein Dilemma: Befolgt man den Willen Gottes, dann erfährt man ihn nicht mehr; man sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht. Nur wenn Pharisäer einsehen, dass sie durch ihren Dünkel Gottes Volk spalten, wenn sie auch sich selbst zumindest in diesem Punkt als Sünder anerkennen können, dann wären sie vor dem Verdacht, nicht demütig zu sein, befreit. Die verglichenen Texte in Lk 15 und 18 sind daher Texte über Selbsterkenntnis und Demut vor Gott. Demut ist eine vor- und postmoralische Tugend. Das Gleichnis vom Pharisäer und Zöllner ist mit dem Abschnitt über die Kinder (18,15 ff) verbunden durch die Maxime »Jeder, der sich erhöht, wird erniedrigt werden« und umgekehrt (18,14). Denn die Kinder sind »niedrig« im Sinne des Lukas: Sie müssen sich alles schenken lassen. Zu Lk 18,11 – pBerakhot 4,7: »Ich danke dir, Herr, mein Gott und Gott meiner Väter, dass du mir mein Teil gegeben hast bei denen, die im Lehrhaus und in den Synagogen sitzen, und dass du mir mein Teil nicht in den Theatern und in den Zirkussen gegeben hast« (vgl. Berakh 28b). Auch in neutestamentlichen Briefen wird mit »ich danke dir« oft die Beschreibung des Heilsstandes eingeleitet. – Die Anerkennung des Sünderseins bewahrt wichtiges Gut aus der Täuferbewegung. Der Täufer hatte sich ja auch den Zöllnern zugewandt (Lk 3). Dadurch wird der Weg für das Hinzukommen der Heiden geebnet. – Die Pharisäerr stehen für spätere und andere
Das Lukasevangelium
Menschen, die die christliche Entgrenzung für lästig halten und geistliche Erbauung daraus ziehen, andere auszugrenzen. Zu Lk 18,14: Sich erniedrigen/erhöht werden: Zugrunde liegt das Schema von Tat und Folge. Die beiden gegensätzlichen Status werden zumeist so vorgestellt, dass man die Niedrigkeit wählen soll, um erhöht zu werden. Populäre jüdische Weisheit ist: Wer sich unterwirft, wird angesehen sein. Oder Lk 14,11: Wer sich beim Mahl einen niedrigen Platz sucht, kann sich nur verbessern. Insbesondere wenn Gott das Gegenüber ist, gilt die Option für die Niedrigkeit als zuverlässig für die Zukunft (Lk 18,14; Jak 4,10). Der Äonendualismus kann hier weisheitliches Denken verstärken, d. h. wer sich in diesem Äon erniedrigt, wird im kommenden Äon erhöht werden (Mt 18,4). Bei Paulus kann angesichts Gottes der Status der Niedrigkeit beim Apostel liegen, der der Hoheit bei der Gemeinde (2 Kor 11,7).
Lk 18,15-30: Jesus und die Kinder – Der reiche Jüngling Diese beiden Stücke sind durch die synonymen Wendungen »in das Reich Gottes eingehen« und »ewiges Leben« miteinander verbunden. – Dass Kinder in ihrem Verhalten Bilder sind für das Annehmen von Gottes Reich, hängt sicher damit zusammen, dass für Kinder Zuwendung und Geschenk, nicht Gelderwerb, Kauf oder Konto wichtig sind. Zu Lk 18,15-17: Das »wie die Kinder« bleibt hier wie auch sonst inhaltlich offen. Wahrscheinlich wird es durch den Kontext weitgehend bestimmt. Der Kontext (Gleichnis vom Pharisäer und Zöllner) wendet sich gegen elitären Dünkel. Meint Jesus, dass der bei Kindern noch fehlt? Werden damit hier Kinder als die vorbildlichen Beter dargestellt? Das dürfte auf jeden Fall richtig sein.
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Kapitel 19
Lk 18,31 – 21,4: Ankunft in Jerusalem Zu 18,31-34: Dritte Leidensankündigung Gemäß 18,31-34 erfüllt sich das prophetische Geschichtsbild in der Abfolge von Unheil und Heil am Menschensohn. Auf ihn konzentriert sich das, was alle Propheten von Israels Geschick sagen. Wie ein Brennglas die Strahlen des Lichts sammelt, so ist hier die kollektive Geschichte Israels zwischen Strafe und Verheißung individuell im Geschick des Menschensohns gebündelt. Nach dieser Perikope zeigt jede weitere dann typische Stichworte zum Thema der typisch israelitischen Heilserwartung: Der Blinde schreit »Sohn Davids!« – zu Zachäus kehrt Jesus ein, weil dieser Sohn Abrahams ist – im Gleichnis vom anvertrauten Geld geht es um den König und seine Stadt; der König kommt gekrönt zurück und vollzieht sein Gericht – Jesus zieht in Jerusalem ein und wird gelobt als der »König, der kommt im Namen des Herrn«. Und Jesus antwortet den Pharisäern: »Wenn meine Jünger schweigen müssen, werden die Steine (bei der Zerstörung Jerusalems vor Schmerz umso lauter) schreien.« Auf die Zerstörung Jerusalems bezieht sich dann der folgende Abschnitt 19,41-44: Jesus weint über die Stadt. Und weil Stadt und Tempel unlösbar zusammengehören, bildet 19,45-48 mit der Verjagung der Händler aus dem Tempel einen vorläufigen Abschluss. In der lukanischen Version will Jesus auf diese Weise lediglich den Charakter des Tempels als Gebetshaus (wieder-)herstellen (Jes 56,7). Indem er selbst im Tempel lehrt, stellt er für den Tempel genau das heraus, was zeitgenössisch von jeder Synagoge galt: Lehr- und Gebetshaus zu sein. – Die Versammlung der IsraelElemente hat daher hier zwei Aspekte, den königlich-messianischen (Jesus ist der Messias) und den katastrophalen (Gericht über Tempel und Stadt). Jesus versucht alles, um das Gericht abzuwenden: Predigt unter Tränen und Vertreibung der Besitzgier aus dem Tempel. Durch das »versöhnliche Ende« V. 47f wird für den Leser die Kontinuität stärker betont als der Abbruch. – Die lukanische Komposition ist daher sorgfältig um einen Ausgleich zwischen Bekenntnis zu Jesus und zu Israel, zwischen Drohung und Verheißung, zwischen Klage und Kontinuität bemüht.
Gegenüber den meisten anderen Leidensweissagungen hat dieser Abschnitt drei Besonderheiten: Erstens soll alles in Erfüllung gehen, was »die Propheten« über den »Menschensohn« geschrieben haben. Er ist also »die« Gestalt des leidenden Gerechten, in dem sich Israels Geschick konzentriert. Heute würde man vom »leidenden Gottesknecht« sprechen. Vom Menschensohn ist hier in Anspielung an Dan 7 die Rede. Denn nach Dan 7,23-25 ist er, der an der Stelle Israels steht, dreieinhalb Zeiten lang den Völkern ausgeliefert und wird dann mit der Herrschaft belohnt. Dass diese Deutung hier zutrifft, geht daraus hervor, dass es in Lk 18,32 heißt, der Menschensohn »werde den Heidenvölkern« ausgeliefert. Der »dritte Tag« steht hier an der Stelle der apokalyptischen dreieinhalb Zeiten nach Dan 9,27. Lk 21,24 wird dann von den »Zeiten der Heiden« sprechen, die dann »erfüllt« würden, so wie in Lk 18,31 »alles von den Propheten Geschriebene« jetzt erfüllt wird. Das bedeutet: Nach Lukas ist das Geschick Jesu eine Vorabbildung des Geschicks Israels. Nach apokalyptischem Verständnis geht es nicht um eine didaktische Voraus-Abbildung, sondern um eine (stellvertretende) Übernahme des Geschicks mit der Folge des Abbüßens der Schuld.Drittens wird in 18,34 dieses Geschehen als ein vor den Augen und Herzen der Jünger verborgenes Geheimnis dargestellt. Bei Lukas findet sich mithin eine eigene Form des christologischen Geheimnisses, nämlich das Leidensgeheimnis Jesu. Aus Lk 24,24-27 geht dann hervor, dass dieses Geheimnis »in der Schrift« steht und dass erst der Auferstandene darüber aufklären kann. Für Lukas ist also ein exegetisches Problem, was in Mk 8,33 an der mangelnden Leidenseinsicht und -bereitschaft des Petrus scheitert.
Lk 19,1-10: Der Zöllner Zachäus Der Abschnitt hat folgende besonderen Merkmale: a) Die Bekehrung zu Jesus hat die Konsequenz einschneidender finanzieller Opfer. Es wird nicht nur Vermögen weggegeben (wie beim reichen Jüngling oder der Witwe nach Mk 12, sondern der Steuerpächter leistet auch qualifizierte Wiedergutmachung. b) Jesus begründet seine Zu-
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288 wendung zu diesem Menschen mit dessen Abrahamskindschaft. Die Letztere ersetzt die Bekehrung nicht, liefert aber im Sinne des Lukas die ideale Voraussetzung. Denn Gottes Verheißung an Abraham wird erfüllt, indem Gott durch Jesus Abraham wortwörtlich »heimsucht« (vgl. Lk 1,55-73; – Lk 1,68.78; 7,16). Gerade an den letzten Kindern Abrahams macht Jesus die Erfüllung der Verheißung wahr. Denn Jesus ist zunächst der Retter Israels. Das ist die Grundvoraussetzung für alle Weitere. Wenn sich Jesus ausdrücklich weigert, auch nur ein einziges heidnisches Haus zu betreten, wird der Besuch in den Häusern der Kinder Abrahams um so wichtiger. Was die Komposition des LkEv betrifft: In 18,31-19,34 bereitet Jesus sein Wirken in Jerusalem vor. In 19,35-21,38 wird sein Wirken inJerusalem geschildert; es endet mit einer Apokalypse, in deren Zentrum die Zerstörung Jerusalems steht (21,20-24). Verankerung im Kontext: Lk 18,38 (Sohn Davids, erbarme dich) ist dem »Sohn Abrahams« in 19,9 zugeordnet; laut 19,11 ist Jesus »nahe bei Jerusalem« – Jericho ist weniger als 20 Kilometer von Jerusalem entfernt. Jesus ist als der Hirte ganz Israels dargestellt und nimmt insofern Gottes eigene Rolle wahr (Ex 34,16: »Das Verirrte werde ich suchen, das Zersprengte zurückholen und das Gebrochene verbinden, das Schwache werde ich stärken«). Direkt danach zieht Jesus als König in Jerusalem ein (19,28-40). – So gilt: Jesus wird hier mit unterschiedlichsten Mitteln als der Heiland Israels dargestellt. Für Lk ist diese theologische Rolle Jesu die Basis für alles andere. »Zöllner« sind Steuereintreiber, private Unternehmer im staatlichen Auftrag; oft sagt man den Steuereinnehmern Willkür und Habsucht nach. – Wie bei der Erzählung vom reichen Jüngling sind tragende Elemente: Bekehrung, Besitzverzicht, Almosen. Mit seiner in 19,9 verkündeten Absicht begründet Jesus eine Praxis, die nach Apg dann bestimmend für das frühe Christentum wird. Derjenige, der einen anderen bekehrt und/oder getauft hat, wird anschließend in dessen Haus eingeladen und bewirtet: Apg 10,23.48 (Petrus bei Kornelius), 16,15 (Lydia), 16,33f (Gefängniswärter), vgl. ferner 3 Joh 8. Auch bei der Bewir-
Das Lukasevangelium
tung der Engel durch Abraham nach Gen 18 wird in den Midraschim Ähnliches vorausgesetzt. – Die in Apg geschilderte Praxis dauert z. T. bis heute an. In Lk 19,1-10 praktiziert Jesus erstmalig das, was vor allem nach Apg üblich wird: Wenn jemand bekehrt oder getauft ist, kehrt der Verkündiger anschließend bei ihm zu Hause ein (bis heute erhalten als Bewirtung des Geistlichen nach einer Taufe). In 19,14.27 hat Lukas (ähnlich wie Mt 22,6.7) in das Gleichnis Elemente des deuteronomistischen Propheten- bzw.Geschichtsbildes eingefügt (vgl. zu Lk 11,47-51).
Lk 19,11-27: Gleichnis von den zehn Pfunden Die Mehrsträngigkeit dieser Erzählung ist für viele Anlass zu literarkritischen Operationen. Doch das ist nicht berechtigt. Der Sinn der Mehrsträngigkeit ist vielmehr eine umfassende Darstellung der Variationen des Gerichts. Zur möglichen theologischen Bedeutung des Gleichnisses urteilt M. Wolter: »Ich weiß es nicht, und Lukas hat es wohl auch nicht gewusst« (M. Wolter, 2008, 623) [Ich finde das theologisch zu abstinent!] – Dagegen könnte man diese wie folgt bestimmen: 1. Beachte die semantische Verzahnung in 19,21 (Angst haben – Gottesfurcht). – 2. Die Attribute des Herrn (Gottes) in 19,21 zielen darauf, dass die menschlichen Partner zu entschiedener Eigeninitiative aufgerufen sind: Gott handelt hier gerade nicht kreativ und produktiv, das soll der Mensch tun. Denn dieser Herr verfolgt allein seine Zwecke; allein sie sind zu fördern. Sein Anspruch erstreckt sich auch auf Phantasie und Hoffnungsfähigkeit seiner Sklaven. Das Gleichnis wirbt für das »heiße Herz« und bedingungslose Jüngerschaft. – 3. Jesus ist der Richter, weil er der Maßstab für diese Liebe ist. – 4. Sowohl bei den Bürgen der Stadt als auch bei den »anvertrauten Pfunden« ist das Thema die Bewährung/der Gehorsam, die in der Zwischenzeit zu leisten sind. Demnach geht es hier nicht um die Zerstörung Jerusalems (im Jahre 70 n. Chr.), noch um die künftige Zerstörung der Stadt. – 5. Die anvertrauten Schätze stehen dafür, dass es gilt, das Wort des Evangeliums so einzusetzen und anzu-
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Kapitel 19
bringen, dass es Frucht bringt; das Wort für Zinsen (griech.: tokos) ist dasselbe Wort, das auch Nachkommenschaft bezeichnet. Die Sachebene ist daher in dieser Hinsicht Jesu Wort und Botschaft. – 6. Die Schilderung der unterschiedlichen Entlohnung hat nicht dogmatischen Charakter (Verdienst gegen Gnade o. Ä.), sondern ist appellativ zu verstehen (du hast doch große Gaben, reiche Gnade, du bist doch berufen, und große Gaben verpflichten). Zu Lk 19,15: Historischer Hintergrund ist, ohne dass man es genau festmachen könnte oder müsste: die »Einsetzung von Vasallenherrschern durch die Hegemonialmacht«; Metaphernspendender Bereich in der Lk-Fassung: verschiedene soziale Schichten (König, Sklaven, Bürger). Zu Lk 19,13-26: Voraussetzungen im Depositenrecht: Die Früchte stehen nur dem Eigentümer, nicht dem Verwalter zu. Der erste und zweite Sklave gehen Risiken ein, obwohl sie nach ihrem Erfolg keinen Vorteil zu erwarten haben. Die Belohnung, die sie erwartet, ist Statusverbesserung, nicht ein größeres Depositum. – Zum Phänomen des Bewährungsaufstiegs vgl. schon 1 Sam 8,12 (Verwalter über 1000 und über 50 Sklaven). Zur theologischen und sozialgeschichtlichen Bedeutung von 19,26 vgl. K. Berger, Die Liebe bleibt. Weisheit im neuen Testament.
Gemeinsame Struktur mit allen Herr-/SklaveGleichnissen: Gegenüber von Herr und Sklaven; Eigenverantwortlichkeit der Sklaven bis zum Ende; der Herr ist in der »Gegenwart« nicht anwesend, aber er kommt zu einer bestimmten Zeit zurück. – In einem Teil der Sklaven-Gleichnisse hat der Herr für die Zwischenzeit etwas anvertraut, und zwar materielle Güter (Lk 19: Minen; Mt 25: Talente) oder Vollmacht (Lk 12,41-48; Mt 24,45-51). Er fordert bei der Wiederkunft Rechenschaft über den Einsatz des Anvertrauten. – In einer anderen Gruppe von SklavenGleichnissen ist das Problem das unerwartete Wiederkommen, also der Zeitpunkt der Wiederkunft (Problem der Wachsamkeit). Wegen der Unbarmherzigkeit der Abrechnung sind diese Gleichnisse vor allem appellativ zu verstehen und dürfen nicht in moralischer Bedenkenträgerei dogmatisch ausgewalzt werden. Gott ist an-
spruchsvoll, mit ihm haben wir es zu tun. Gottes rabiate Ansprüche sind wie brennendes, verzehrendes Feuer. – Sklaven-Gleichnisse bei Lukas: Lk 12; 16,1-8; 17,7-10; 19,13-22; 20,10 f. Zu Lk 19,11: Nach Lk 19,11 sind viele Menschen der irrigen Meinung, mit Jesu Gang nach Jerusalem würde sehr bald Gottes Reich sichtbar in Erscheinung treten, vgl. ebenso Lk 24,21 und Apg 1,6. Doch solche Naherwartung ist ein Irrtum, vgl. 21,8b. Dennoch wird Gott sehr bald seinen Auserwählten Recht schaffen (Lk 18,7f). Mit Jesu Erhöhung beginnt freilich erst die Zeit seiner Königsherrschaft (Lk 23,42), die wir auch aus Mt (13,41) und von Paulus (1 Kor 15) kennen. Zu Lk 19,20: Zum Verbergen des Geldes vgl. Hen (slav) 51,2: »Verbergt nicht euer Silber in der Erde.«
Lk 19,28-40: Einzug in Jerusalem Die hauptsächlichen Differenzen zu Mk (11,111) bestehen in 19,38-40. Das betrifft einmal die Akklamation in 19,38, zum anderen die schreienden Steine in 19,40. Die Akklamation wird häufig der in 2,14 entgegengesetzt und als deren Korrektur oder Zurücknahme bezeichnet: In 19,38 werde – anders als in 2,14 – der »Blick dorthin gelenkt, wo Jesus als König inthronisiert wird«, nämlich im Himmel. Doch sind die formgeschichtlichen Regeln der Akklamationen zu beachten. In 2,14 handelt es sich demnach bei »Himmel« und »Erde« wirklich um zwei sich ergänzende (komplementäre) Hälften einer Akklamation. Die Dinge, die genannt werden (Herrlichkeit und Frieden) sind wirklich Heilsgüter. Die Akklamation spricht sie – mit heilvoller Anteilhabe auf Seiten des Sprechers – Gott und den Menschen zu. Bei Gott ist und bei ihm ist verwirklicht »Herrlichkeit«, und bei den Menschen, in ihrer Mitte greifbar ist jetzt das Heilsgut des Friedens. – In Lk 19,38 (»Im Himmel Friede und Herrlichkeit in der Höhe«) geht es überhaupt nicht um die Negation eines Heilsgutes auf Erden. Der Satz selbst ist ein chiastisch aufgebauter Parallelismus. Und wenn diese Akklamation dankbar gen Himmel geschickt wird, dann bedeutet das eine Kommentierung des Geschehens
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290 auf Erden. Für den königlichen Einzug Jesu in Jerusalem kann man Gott nur danken. Ähnliche Akklamationen kennt auch die Offb, und zwar ebenfalls als Kommentierung irdischer Geschehnisse, so z. B. in 19,1f; 12,10 usw. In keinem Falle wird dadurch ein irdisches Geschehen abgewertet, sondern im Gegenteil. Es erscheint als ein Ereignis, für das der Himmel zu loben ist. So, wie wenn man sagt: »Gott sei Dank« und die glückliche Ankunft z. B. eines Schiffes meint. Dass Jesus nach Jerusalem als König einzieht, das ist neu gegenüber Mk und Mt und nicht zuletzt eine Wirkung der himmlischen Heilsgüter Frieden und Herrlichkeit. Mit der Inthronisation Jesu im Himmel und nicht auf Erden hat das nichts zu tun. Die Akklamation in 19,38 hat zwei Hälften, sodass der Parallelismus eine Synonymität hervorruft. Beim Schreien der Steine genügt es nicht darauf hinzuweisen, dass dieses in einigen Texten eine unheilvolle Bedeutung hat (vgl. 4 Esr 5,5: sanguis stillabit … lapis dabit vocem suam; Vita Prophetarum Iona 10,8: Der Stein schreit, das Ende ist nahe; Sib 3,804: Blutregen und Schreien der Steine: Alles kommt zum Ende, Gott besteigt seinen Thron); man muss fragen, warum das so ist. Wir befinden uns hier im Rahmen der Gattung »Prodigium«. Als paralleles Prodigium wird öfter genannt: Es regnet Blut. Steine sind normalerweise total stumm, und Blut gibt es auf Erden bei Menschen, aber nicht vom Himmel. Wenn es Blut regnet und wenn Steine schreien, so ist das »verkehrte Welt«, dann ist die Ordnung aller Welt auf den Kopf gestellt – dann »wundert einen nichts mehr«. Wir haben einen zweiten Fall eines ähnlichen Prodigiums der Umkehrung, und zwar wenn (wie in Mt 27,52) Tote auferstehen und herumlaufen.
Das Lukasevangelium
Wenn so etwas passiert, ist die Ordnung der Welt aus den Fugen; dann ist das Hinweis auf schreiendes Unrecht. Angewandt auf Lk 19,40 bedeutet dieser Vers also: Wer den Jüngern Jesu das Loben verbietet, handelt schlechthin pervers. Das Loben hier zu unterdrücken, ist schieres Unrecht.
Lk 19,45-48: Tempelreinigung Es kann sein, dass die Verjagung der Händler aus dem Tempel in Lk 19,45-48 eine gezielte Reichtumskritik ist. Der Tempel ist ja ein Zeichen dafür, dass alles Gott gehört. Hier schenkt und opfert man Gott oder lässt sich seine Gnade schenken. Raffgier von Händlern passt nicht dazu. Anders in Mk, dort fehlt der Bezug auf die Heiden. – In der Praxis geht Jesus mit dem Tempel um wie mit einer Synagoge: Sie ist ein Ort des Lehrens und des Betens, dazu noch des Almosengebens, wie Synagogen in der ganzen Alten Welt. Jesus selbst betet nicht im Tempel. Der Tempel ist zwar nicht christlich, aber er stützt von außen her die Legitimität des Christentums, so etwa Simeon und Hanna. Und was am Tempel geschieht, ist symptomatisch für ganz Israel (Lk 21,5f). In seiner negativen Fassung bezieht sich Jesu Wort gegen den Tempel auf Strafe für Ungehorsam (Apg 6,14). Stephanus interpretiert wohl Jesu Wort gegen den Tempel im Sinne jüdischhellenistischer aufgeklärter Kultkritik (Apg 7,48-52). Der Tempel ist ein Ort der Gesetzeserfüllung (Lk 2,22-25).Der Tempel ist auch der Ort der Ablösung vom Judentum (Apg 22,17-21). Fazit: Die Kontinuität zum Judentum besteht mehr durch Schrift und Gesetz als durch den Tempel.
Lk 20,1 – 21,4: Jesus lehrt im Tempel Wenn Jesus nach Lk im Tempel lehrt, dann ist das etwas anderes, als wenn er es bei Mk tut, obgleich der Text weitgehend parallel ist. Für Lk bestätigt dieses Tun Jesus als Lehrer Israels und der Gemeinde, denn der Tempel ist das reale Symbol der Kontinuität zwischen Juden und Heidenkirche. Daher bedeutet auch die Davidssohn-Perikope hier etwas anderes.
Zu Lk 20,1-8: s. Komm. zu Mk 11,27-33. Zu 20,9-19: s. Komm. zu Mk 12,1-12. Redaktion: In Lk 20,17 fehlt das Zitat aus Ps 117,23 (LXX; MT: 118,23) (»vom Herrn geschah dies …«). Fraglich ist, ob die zweite Zitathälfte von Anfang an dazu gehörte. Insbesondere ist
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Kapitel 20
fraglich, ob der positive Gehalt sich zwingend auf die Auferstehung Jesu bezieht. Das wunderbare Geschehen ist doch viel eher, dass die Folge der Verwerfung des Sohnes die Wende im Geschick der Winzer bedeutet. Das war gäzlich unerwartet. – Dass in Lk zunächst nur zwei Sklaven geschickt werden und dann schon der Sohn, könnte auf eine Nicht-allegorische Bedeutung der Lk-Fassung hinweisen. Zutat: 20,18: »Wer auf den Stein fällt, der wird sich alle Knochen brechen. Und auf wen er fällt, der wird zermalmt werden. Vgl. dazu Columella, Rust 1,1,20 »Wer weitentfernte, um nicht gleich zu sagen: überseeische Ländereien erwirbt, der tritt sein Vermögen sozusagen an seine Erben und, was bedenklicher ist, bei Lebzeiten an seine Sklaven ab. Denn diese werden dadurch, dass die Eigentümer so weit entfernt leben, verdorben, und wenn sie es sind, dann liegt ihnen nach all dem, was sie sich haben zuschulden kommen lassen, in Erwartung der Nachfolger weit mehr an der Ausplünderung als an der Pflege des Gutes« (zit. nach M. Wolter, Komm., 646). Zu Lk 20,18 und 20,17: Im Gleichnis von den bösen Winzern fügt Lukas den V. 20,18 hinzu. Nachdem der verworfene Stein zum Eckstein wurde (V. 17), sagt Lukas: »Jeder, der auf den Stein fällt, wird sich alle Knochen brechen. Und auf wen der Stein fällt, der wird zermalmt.« Im Kontext ist dieser Vers die negative Ergänzung zum staunenswerten Geschehen in V. 17. Jede Begegnung mit dem einst verworfenen Stein wird tödlich werden. Ähnlich ist die Begegnung mit dem gepeinigten Gerechten (Sap Sal 2) nach dessen Eingehen in die Herrlichkeit (Sap Sal 5): Der einst Geschmähte wird jetzt zum Richter. Der Vorgang von 20,17 (»… ist zum Eckstein geworden«) ist hier die Erhöhung bzw. die Einsetzung zum Richter. Entsprechend die Talio: Wer den Stein verwirft, wird auf ihn geworfen, bzw. der Stein fällt auf ihn. »Stein« ist hier wohl ursprünglich Metapher für Gott (wie oft im AT). Wer auf Christus, den Richter, trifft und ihn verwirft, erleidet eine schmerzliche Begegnung mit Gott. Das Bild von Jesus als dem zermalmenden Stein ist die härteste und unfreundlichste Drohung in Blick auf Jesus, die das Neue Testament kennt. Wenn einer gegen ihn ist, gibt es kein Entrinnen (vgl. Mt 21,44). Der Text ist zusammen mit Lk
23,30 zu lesen. Denn das, was dort gewünscht wird (dass Berge auf einen fallen), ist hier das Schlimmste. Wie schlimm muss dann erst das sein, wogegen Lk 23,30 das kleinere Übel ist. Vgl. dazu den Midrasch Esther rabba 7,10 zu Esth 3,6: »In dieser Welt gleicht Israel den Felsen … Die anderen Völker hingegen gleichen Scherben … Fällt der Stein auf den Topf, wehe dem Topf! Fällt der Topf auf den Stein, wehe dem Topf! So oder so: Wehe dem Topf! Wenn es also einer wagt, sie anzugreifen, wird er seine Strafe durch ihre Hand empfangen.«
Zu Lk 20,19: vgl. Komm. zu Mt 21,44. Zu Lk 20,20-26: Zutat ist die Notiz über das Schweigen in 20,26. Zu Lk 20,24: »Was den Denar mit der in V. 22 gestellten Frasge verbindet, ist darum nicht das Steuerproblem, sondern die Person des von den Fragestellern als Empfänger der Steuer ins Spiel gebrachte Caesar.« (M. Wolter, Komm., 653). Die Fassung des ThomasEv (»… und das Meine gebt mir«) ist daher an der Ursprungsbedeutung orientiert. Zu 20,27-40: Jesus bezweifelt massiv, dass die »kommende Welt« nur die Fortsetzung der bestehenden ist. Vielmehr geht er von einer grundsätzlichen Veränderung der irdischen Verhältnisse aus. Beachte: Lk 20,35f kennt nur die Auferstehung der Gerechten (nicht aller!). Zu LK 20,34f: Im Blick auf Offb 12,4 könnte man die Deutung vertreten, dass es sich hier um einen zarten Ansatz auf die generelle Ehelosigkeit aller Christen mit Zukunftserwartung handelt: Die auferstehen werden, kann man jetzt schon an ihrer Ehelosigkeit erkennen. Sie sind jetzt schon Kinder der Auferstehung, weil sie auferstehen werden. Zu Lk 20,41-44: s. Komm. zu Mk 12,35-37a. Zu V. 44 (Antinomie Sohn Davids oder Herr Davids) vgl. wohl richtig: M. Wolter, Komm., 662: »Der einzige, durch den diese Antinomie aufgehoben werden kann, ist natürlich Jesus, denn einzig und allein auf ihn trifft das scheinbar
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292 Widersprüchliche zu, weil er sowohl Davids »Sohn« als auch »Herr« ist.
Lk 20,41-44: Der Davidssohn Das Stück endet: »David selbst nennt ihn also Herr. Wie kann er da sein Sohn sein?« – Lukas kann dieses nicht skeptisch meinen, sondern – weil Jesus bei ihm völlig fraglos Davids Sohn ist – er meint dies: Was für Pharisäer ein Rätsel ist, kann das Evangelium des Lukas aufklären, und zwar als ein Geheimnis: Jesus ist Herr als Sohn Gottes, und er ist Sohn Davids als Mensch, weil er in der Familie Josefs geboren wurde. Nur scheinbar handelt es sich um einen Widerspruch.
Lk 20,45-47: Warnung vor den Schriftgelehrten Formgeschichtlich gesehen geht es im Abschluss von Lk 20 um die Abwehr falscher Lehrer am Ende einer längeren Rede; insofern stehen auch 20,41-44 (Pharisäer) und 20,45-47 (Schriftgelehrte) passend beieinander. – Andererseits stehen nach dem Prinzip der Paarigkeit die habgie-
Das Lukasevangelium
rigen Schriftgelehrten, die sich die Häuser der Witwen unter den Nagel reißen (V. 47), der armen Witwe (21,1-4) gegenüber, die »ihr ganzes Leben« spendet. Als »Lebensmeisterin« steht daher die arme Witwe mit ihrem vorbildlichen Tun den scheinheiligen jüdischen Autoritäten gegenüber. Der gesamte Text Lk 20,1 – 21,4 zielt auf die große Endzeitrede Jesu (21,5 ff) hin: Jesu Lehre erscheint als Bollwerk gegenüber Irrlehrern, deren Auftreten ein besonderes Merkmal der Endzeit ist. Von daher ist Lk 20,27-40 gegen die sadduzäische Irrlehre und 20,20-26 gegen die zelotische Irrlehre gerichtet. Das Stück über den Davidssohn (20,41-44) richtet sich gegen eine Position, die sich den Sohn Davids ohne sein Kyrios-Sein vorstellen möchte; aber beides zusammen verteidigt Lukas. Lk 21 und Lk 17f – Vergleich: Einleitung als Frage nach dem Wann der Parusie (17,20; 21,7); Warnung vor Betrügern (17,21.23; 21,8); Leiden vor dem Endgericht (17,25; 21,12-19); Ablehnung einer zeitlichen Fixierung des Endes (17,20-24; 21,9); Schluss: Mahnrede – Gebet – Bestehen vor dem Menschensohn (18,1.8; 21,36ab).
Lk 21,5-38: Die kommende Zeit und die Mahnung zu wachen Hier gibt es ein typisches Schema: Eine abschließende Rede oder der Abschluss einer Rede haben zwei thematische Schwerpunkte: 1. die zukünftigen Bedrohungen und Gefahren und 2. die Notwendigkeit, angesichts ihrer zu wachen. Das dritte dazugehörige Thema, das der rechten oder falschen Lehre, hat Lukas in 20,1 – 21,4, besonders in Bezug auf Irrlehrer (20,31-47), behandelt. Noch stärker als in Mk 13 wird betont, dass das Ende der Zeiten noch nicht da ist. In Mk 13 sagen sogar die Irrlehrer: »Das Ende ist da!« (V. 8); das ist wie in 2 Thess 2,2 (»dass der Tag des Herrn schon vor der Tür steht«). Wer so redet, würde einen Anspruch auf Gefolgschaft erheben wie Jesus nach Mk 1,15-20 oder Lk 10,9-12.
Lk 21,5-19: Irreführung und Verfolgung Jesus liefert zum Ende seiner Wirksamkeit eine apokalyptische Ereignisordnung (»Tagma«) mit verschiedenen Stationen. Derartige Ausblicke stehen jeweils am Ende frühchristlicher Schriften, so etwa am Ende der Predigt Jesu in den drei ersten Evangelien, am Schluss von 1 Kor (Kap. 15), am Ende der so genannten Zwölfapostellehre (Didache; Kap. 16) und, wenn man so will, als ausgeweitetes Ende auch nach den sieben Gemeindebriefen (Offb 2-3) in Offb 4-22. Die Abschlussposition dieser Texte hat nicht nur chronologische Gründe (»Was danach kommt …«), vielmehr steht in antiken Lehrschriften auch jeweils das am Ende, was für die Leser das Wichtigste ist. Daher werden diese Texte oft mit der Mahnung zu besonderer Wachsamkeit versehen, so auch hier in Lk 21,34f und 36.
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Kapitel 21
Dass die Ereignisse nach Stationen »geordnet« vorgeführt werden, hat folgenden Sinn: Die geschilderten Ereignisse sind alle nicht erfreulich. Wer aber weiß, dass danach jeweils anderes kommt, der wird nicht auf das eine Ereignis starren, an dem er gerade leiden muss, sondern wird sich trösten: Die Geschichte geht weiter, und sie wird an ihrem Ende darin bestehen, dass Gott sich den Menschen zuwendet. Die Stationen »vorher« sind alle begrenzt und endlich. Insofern stehen sie in Kontrast zur Zeit des ewigen Lebens, die danach anbricht, in der nicht Begrenztheit, sondern Grenzenlosigkeit zählt. Auch die Offb bietet in besonders kunstvoller Weise eine Gliederung der Endgeschichte (sieben Siegel, drei Wehe, sieben Posaunen usw.). Die Untergliederung in Stationen soll ferner zeigen: Auch wenn diese Ereignisse nicht alle von Gott kommen oder von ihm direkt gewollt sind – Gott ist dennoch der Herr der Geschichte, indem er die Schrecknisse zumindest ordnet. Er setzt ihnen je und je ein Ende und zeigt ihre Grenzen auf. Man kann nicht sagen, dass die Schrecknisse, die geschildert werden, auf Gott zurückzuführen sind. Es gibt da eine ganze Reihe von Subjekten in der Welt (Teufel, Dämonen, böse Menschen), die Qualen und Zerstörung, Irrtum und Trug hervorrufen. Wenn nach 21,9 gesagt wird, das »muss erst geschehen«, so ist dieses kein Muss des göttlichen Willens. Denn der Wille Gottes besteht darin, dass seine Gebote verpflichtend sind und befolgt werden sollen. Neben dem Naturgesetz und dem Willen Gottes kennt das ganze Neue Testament auch eine dritte Art von Notwendigkeit oder Nötigkeit, die man »Weltgesetz« nennen könnte. Seit der griechischen Tragödie, dann bei den theologischen griechischen Geschichtsschreibern (Herodot) wird dieses mit dem Wörtchen »es muss geschehen« beschrieben, also zum Beispiel dass ein Gerechter leiden muss, dass die Welt vor dem definitiven Kommen Gottes ins Schlingern kommt und in Unordnung verfallen muss (Apokalyptik), dass vor der Herrlichkeit das Leiden stehen muss (z. B. Lk 24,26). Das alles sind Dinge, die in einem gewissen Ordnungsrahmen und nach gewissen Sachzwängen geschehen, ohne dass es sich dabei um den Willen des Schöpfers handelt – weil die Welt so ist, muss es so zugehen. Gerade wer zu Gott gehört, muss sich zuvor und solange er in der Welt ist
293 diesen Gesetzen der Welt fügen, ob er will oder nicht. Diese Gesetze der Welt haben öfter das Thema Bewährung durch Geduld, also: Schmerz vor Ruhm, Verfolgung als Test auf Glaubwürdigkeit, Leidensweg vor glanzvoller Krönung, Mühsal vor Ehre. So machen diese »Weltgesetze« auch zum Teil verständlich, warum es Jesus (und den frühchristlichen Märtyrern) nicht anders ergehen konnte, als es geschah. Nicht weil Gott es so wollte und brauchte, nicht weil Gott Jesus quälen musste, sondern weil die Ungerechten stets den Gerechten verfolgen, und weil diese Welt stets eine harte Prüfung für jeden Gerechten ist. Für die frühen Christen erschließt sich auf diesem Wege manches und wird plausibel. In Lk 21,6 beginnt die Schilderung Jesu mit der Ankündigung der Tempelzerstörung. Die Leser des Evangeliums wissen seit 13,34f (»Jerusalem …, du tötest die Propheten …«), dass sie als Strafe für den umfassenden Prophetenmord Israels gedacht ist. Die anschließende Frage der Jünger (»Wann wird dieses geschehen … ?«) und besonders die Frage nach den Vorzeichen reihen dieses Ereignis in die Endgeschehnisse ein. Für die Deutung von 21,12 darf man allerdings fragen: Wann ist das, »vor allen diesen Geschehnissen«? Ist das auch vor der Zerstörung Jerusalems? Ich meine, ja. – Die nachfolgende tatsächliche Historie gibt jedenfalls einer Verfolgung auch vor der Zerstörung Jerusalems ihren Ort; gemeint sein kann dann nur die Verfolgung unter Herodes in den 40er Jahren (Martyrium des Zebedaiden Jakobus; Petrus gefangen). Die Abfolge scheint daher so gedacht zu sein: Verfolgung (V. 12-19) – Vorzeichen des Endes: Kriege und Unruhen (V. 9) – Krieg aller gegen alle, Erdbeben, Hunger und Pest, Zeichen vom Himmel (V. 10f) – Zerstörung Jerusalems (V. 6). – Der Anschluss in V. 20 ist dann folgerichtig, denn V. 20 setzt wieder mit Jerusalem ein. – An dieser Abfolge wird auch erkennbar, dass bis zur Zerstörung der Stadt eine ganze Menge geschehen wird. Ein vaticinium ex eventu, d. h. eine nach dem Jahr 70 Jesus erst in den Mund gelegte Weissagung, hätte wohl anders ausgesehen. Vielmehr waren Jesu Weissagungen für die Glaubwürdigkeit seiner Botschaft sehr wichtig, und wir haben keinen Grund, hier überall mit Betrug zu rechnen. Übrigens hat V. 8 mit der Ankündigung der Pseudo-Christusse keine eigenständige Rolle als
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294 Abschnitt im Ereignisverlauf. Jesus will nur warnen vor falschen Lehrern, die mit dem Anspruch auftreten zu wissen: »Der Augenblick (des Endes; griech.: kairos) ist nahegekommen.« In 2 Thess 2,2 wendet sich Paulus gegen Leute, die mit Berufung auf ihn Ähnliches sagen: »Der Tag des Herrn steht unmittelbar bevor.« Ähnliches wie das, was Lukas hier über die falschen Christusse berichtet, hatte nach Mk 1,14 Jesus selbst gesagt: »Der Augenblick (kairos) ist erfüllt, und nahegekommen ist das Reich Gottes.« Weder Lk noch Mt haben an der entsprechenden Stelle diesen Satz. War er für ihre Leser zu leicht missverständlich? Immerhin lohnt es, näher hinzuschauen: Nach Mk 1,14 sagt Jesus nicht, der Augenblick des Endes sei »erfüllt«, sondern es ist der Zeitpunkt für die endzeitliche Umkehr. Und schließlich ist das »Reich Gottes« nach Mk nicht das Ende der Welt. Denn das Reich Gottes kommt nahe, indem man sich zu Gott bekehrt und bekennt; es ist wie ein Samenkorn, wie der Sauerteig, der erst beginnt, den Teig zu durchsäuern. Immerhin ist interessant, wie die Irrlehrer nach Lk 21,8 den Jesus von Mk 1,14 verfälscht wiedergeben. Nicht ohne Grund heißt es von ihnen, sie behaupteten, Jesus zu sein. Sie reden ein wenig so wie er. Nur wer genau hinsieht, bemerkt den Unterschied. Aus der Anordnung wird klar erkennbar, worauf Jesus in der lukanischen Version seiner Rede vom Ende die Betonung legt: auf die anstehende Verfolgung der Christen. Sie ist ja das, was als Nächstes auf die Jünger zukommt. Der wichtigste Satz ist wohl V. 15: Jesus versichert denen, die ihren Glauben vor Gericht verteidigen und bekennen müssen, er selbst werde sie inspirieren, und zwar mit »Weisheit«, wie er sagt. Dieses Wort ist deshalb gewählt, weil Weisheit das ist, was die Mächtigen brauchen und ihnen leider so oft fehlt. »Durch mich regieren die Könige«, sagt die Weisheit von sich in Spr 8,15, ein Satz, der auch auf der alten deutschen Kaiserkrone steht. Für die Zeit des Neuen Testaments ist besonders an 1 Kor 2,6-9 zu erinnern: Hätten die Mächtigen Weisheit besessen, dann hätten sie Jesus nicht gekreuzigt. Dass die Angeklagten vor ihren Richtern die Weisheit bezeugen, die den Richtern fehlt, ist die Ironie der Aussage Jesu. – Wenn Jesus nach V. 17 sagt: Alle werden euch hassen, dann knüpft er an eine dauerhafte jüdische Er-
Das Lukasevangelium
fahrung an, wie Paulus sie in 1 Thess 2,15 formuliert (»allen Menschen verfeindet«). Nur gibt Jesus den Zusatz »wegen meines Namens« = »wegen mir«. Die jüdische und die christliche Erfahrung verbindet auch die heilige Edith Stein mit Jesus und den Jüngern. Zufällig liegt in meinem griechischen Neuen Testament ein Bildchen von Edith Stein, auf der Rückseite beginnt das Gebet: »Gott, unserer Väter, du hast die heilige Märtyrin Teresia Benedicta – Edith Stein – zur Erkenntnis deines gekreuzigten Sohnes geführt und in seine Nachfolge bis in den Tod berufen …« Blut und Martyrium, Leiden und die Schande des Kreuzes – genau das sind die Kostbarkeiten christlichen Glaubens. Auch ihretwegen ist die katholische Kirche die Kirche der großen Heiligen. Denn hauptsächlich bei ihren Gliedern kommt es immer wieder zum Konflikt um Leben und Tod. Die Verheißung Jesu für das ultimative Zeugnis der Märtyrer vor ihren irdischen Richtern in der letzten Stunde ist tausendfach auf ergreifende, überaus bewegende Weise Wirklichkeit geworden. Eben deshalb war das Blut der Märtyrer der Same für neue Christen. Weil das so ist, kann man zu der Ansicht gelangen, Kirche sei in Zeiten der Verfolgung stets die durch Glaubwürdigkeit gesegnete. Niemals ist sie kräftiger, als wenn sie mit dem Rücken zur Wand steht. Kein Wunder: Jesus selbst steht dann ganz nahe bei ihr. Zu Lk 21,8: Die falschen Messiasse werden sagen: »Ich bin es (sc. der Messias, der Kommende)« und: »Der Zeitpunkt ist nahegekommen«. Diese Verbindung von Selbstvorstellung/Identitätsaussage und eschatologischer Botschaft ist ein festes formgeschichtliches Schema (vgl. Mk 1,9-11: Identität); 1,15 (Reich Gottes ist nahegekommen) und Apg 1,12-20 (Selbstvorstellung und Identität); 2,1-3 (Mahnrede apokalyptischen Inhalts). – Die Mahnung »Geht nicht hinter ihnen her« orientiert sich am Bild der Nachfolge.
Lk 21,12-38: Die Zeit ist nahe Seit H. Conzelmann, Mitte der Zeit (3. Aufl. 1964) ging man davon aus, dass Lk 21 den apokalyptischen Stoff »historisiere«, und darin erblickte man dann insgesamt die redaktionelle Tendenz des Lukas. Schon M. Wolter (Kommen-
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Kapitel 21
tar zu 21,7) hat darauf hingewiesen, dass es sich in Mk 13,4 und auch hier um getrennte Ereignisse handelt; Lk übernehme nur die erste, auf die Zerstörung des Tempels gerichtete Frage. Die Gliederung von 21,12-38 ist wie folgt: V. 58: Chrie (Warnung vor Pseudo-Messiassen); V. 12-19: Verfolgung; V. 10: allgemeine apokalyptische Nöte; V. 20-24: Zerstörung Jerusalems bis zur Erfüllung der letzten halben Jahrwoche Daniels; V. 25-28: Kommen des Menschensohnes; V. 29-31: Beantwortung der Zeichenfrage aus V. 7b; V. 32f: Bekräftigung des Gesagten; V. 34-36: peroratio: Was man im Tun beherzigen soll. Die tatsächlichen redaktionellen Tendenzen von Lk 21 können dagegen Conzelmanns Behauptungen gut widerlegen. Sie bestehen in Folgendem: a) Massive Einordnung in die traditionelle Apokalyptik anhand traditioneller Formeln wie »Tage der Rächung, in denen alles Geschriebene erfüllt wird« und »Zeiten der Heidenvölker« in V. 24. Die Zeiten der Heidenvölker gehen zurück auf Dan 7,25 und sind die bekannte »letzte halbe Woche« der 3 ½ Tage bzw. Zeiten nach dem Wochenschema Daniels (s. o.). Sie finden sich ausdrücklich in Verbindung mit Heiden in Offb 11,2 (42 Monate!) und 11,9 usw. Die letzte halbe Woche ist die traditionelle Unheilszeit vor dem Ende; 3 ½ ist als Tage, Monate oder Jahre denkbar. Die »Erfüllung alles Geschriebenen« bezieht sich darauf, dass alle Gerichtsankündigungen und Verheißungen in diesem Äon erfüllt werden müssen. Dann erst kann der neue Äon beginnen. b) Emotionale Expressivität in Form appellativer Rede in 19,41-44 und 21,12-38. Erkennbar »redaktionell« werden immer wieder Regungen der menschlichen Emotionalität hervorgehoben. Nirgends so stark wie hier ist Apokalyptik als seelsorgerliche Frage der Ängste und Hoffnungen der Menschen dargestellt worden. Vgl. in 19,41 (Jesus) »begann, über die Stadt zu weinen …« – 21,9: »Wenn ihr aber von Kriegen hört, erschreckt nicht …« – In 21,12-14 wird die Ankündigung der Verfolgung nachgeschoben, um sie in den Rahmen der Schrecknisse von V. 10 hineinzustellen. So ist das Angsterregende »ver-
packt«. – 21,14: »Legt es darum in eure Herzen, dass ihr nicht … vorbereitet« (d. h. prägt es euren Herzen ein), vgl. die Herzen in V. 34. – V. 23 »Wehe den Schwangeren und Stillenden …« – V. 25: »Es wird auf der Erde beklemmende Angst vor Ratlosigkeit geben.« – V. 26: »Die Menschen werden vor Angst kaum noch Luft holen können, weil sie zittern vor dem, was auf die Erde zukommt.« – V. 28: »Wenn dies alles beginnt, dann richtet euch auf und erhebt euer Haupt. Denn eure Erlösung ist ganz nahe …« – V. 34: »Hütet euch davor, dass eure Herzen beschwert werden durch Fressen, Saufen und die Sorgen des Alltags …« Ganz unabhängig von der Frage, was davon auf Jesus zurückgeht und was nicht (die Frage ist unentscheidbar), zeigt Lukas, dass er von pädagogisch und psychologisch geschickter Menschenführung etwas versteht. (Ergänzung siehe S. 1052)
Lk 21,25-28.34-36: Zeichen am Himmel – Wachsamkeit und Gebet Seit dem 6. Jh. v. Chr. kennt die Welt eine Abfolge von Großreichen, die bis heute nicht zum Ende gekommen ist. Auf die Babylonier und Assyrer folgten die Meder und Perser, dann Alexander der Große. Sein Erbe ging im römischen Großreich auf, es folgten die Habsburger, darauf die Kolonialreiche der Holländer und Engländer, darauf die USA. Immer geht es um das eine große Reich, dessen Monarch die ganze Welt bestimmt oder bestimmen möchte. Diese Reiche sind sich auch darin ähnlich, dass sich der Widerstand der kleineren gegen sie regt. Frühzeitig entsteht die Hoffnung darauf, dass ein neues Reich vom Osten, von der Sonne her, den letzten dieser irdischen Machtstaaten ablösen werde, dann also ein Reich der Gerechtigkeit und des Friedens komme. Diese Bewegung ist international und existiert schon 200 Jahre vor Jesu Geburt. Man nennt sie politische Apokalyptik. In jüdischer Ausprägung liegt sie in Dan 7 vor. Von dorther kommt auch der Ausdruck »Menschensohn«, den Lk 21,27 verwendet. Dieser neue, von Gott her kommende Herrscher, heißt Menschensohn, also eigentlich einfach »Mensch«, weil alle bisherigen irdischen Reiche als tierisch (d. h. grausam und
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296 beutegierig) dargestellt werden. Für das Neue Testament ist dieser Mensch Jesus Christus. Seit 2000 Jahren erheben Christen den Anspruch, er und niemand anders sei der kommende Herrscher der Welt. Seit der Auferstehung Jesu wissen sie, dass dieses nur in einer von grundauf verwandelten Welt sein kann und wird. Diese Verwandlung hat bereits unsichtbar begonnen. Das, was beim Abendmahl geschieht, dass Gott in Materie in Erscheinung tritt, ist ein Vorzeichen dessen, was dann global geschehen wird. Jesus redet vom Reich Gottes, das klein wie ein Senfkorn schon begonnen hat zu wachsen. Der schönste Satz in Lk 21,28 lautet: »Wenn dies alles beginnt, dann richtet euch auf und erhebt euer Haupt. Denn eure Erlösung ist ganz nahe.« Denn das Haupt zu erheben ist ein unscheinbarer Gestus der Hoffnung, der jeden Einzelnen betrifft. »Erhobenen Hauptes« nämlich dürfen wir der Zukunft entgegensehen. Nicht geduckt und vor uns hinstarrend. Im Zeitalter des Klagens und der dadurch auch mitverursachten Wirtschaftskrise ist das Erheben des Hauptes genau das, was nötig ist. Freilich ein Erheben des Hauptes, das auf eine grundsätzliche Kur der Welt ausgerichtet ist. Doch niemand soll sagen, es ginge uns nur um das Jenseits. Die Bereitschaft, Kinder in die Welt zu setzen und zu erziehen ist beispielsweise etwas, das direkt mit unserem Glauben zu tun hat und eben gerade auch schon für die Welt von morgen hier in unserem Land bedeutsam ist. Die schönsten Wiedergaben von Lk 21,28 finde ich in zwei mittelalterlichen Gebeten: »Nahe gekommen ist unsere Erlösung, das, was die Völker seit alters erwartet haben, ist gekommen; die verheißende Auferstehung der Toten ist nahe; was die Seligen erwartet haben, zeigt sich als Wetterleuchten« (Gothicum). Und: »Gewinnt Kraft, ihr ermüdeten Hände, stärkt euch, ihr Verzagten, seid fröhlich und habt keine Angst, erhebt eure Hände zu Gott und lasst eure Herzen aufwachen; denn seht, unsere Erlösung ist nah« (Missale von Toledo). Jesus schließt diesen Teil seiner Rede mit dem Satz: »Himmel und Erde werden vergehen, meine Worte aber nicht« (V. 33). Dieser Satz ist leider bei der Textverkürzung im katholischen Messbuch ausgefallen. Aber er ist doch das Wichtigste im ganzen Text. Mir wurde neulich ein altspa-
Das Lukasevangelium
nischer Bibelständer geschenkt, die Säule, auf der das Buch ruht, ist wie ein Gefäß aus durchbrochenem Schnitzwerk. Es erinnert an Tabernakel ältester Art. In der Tat: Gottes Wort ist verhüllt und doch offen unter uns gegenwärtig wie in einem Tabernakel. Zeichen von Gottes Treue. Der ruhende Pol unseres Lebens. Bei der »Anwendung« in V. 34-36 fällt auf: Der Gerichtstag ist keine freundliche Äußerung Gottes. In der Übersetzung Berger/Nord heißt V. 34b.35: »Sonst überrascht euch der Gerichtstag so plötzlich wie eine Falle, die zuschnappt, denn er kommt über alle Erdenbewohner auf einmal.« Wir haben uns daran gewöhnt, das Neue Testament in dem Satz zusammenzufassen: »Gott ist die Liebe.« Von daher relativieren wir jede Gerichtsaussage. Doch wir verstehen die Aussagen über den Gerichtstag nur dann recht, wenn wir sie nicht als Mangel an Gottes Liebe deuten. Nicht Gott hat zu wenig Liebe, und das Gericht ist nicht ein Problem in Gottes »Charakter«. Denn dass wir dem Gericht entgegensehen, ist uns schon seit unserer Kindheit vertraut, ist ein bleibendes Merkmal unserer Existenz. Wenn Jesus hier von der Falle spricht, die zuschnappt, meint er unsere Befindlichkeit vor Gott, nicht erst und nicht nur ferne Zukunft. Denn vor Gott können wir nie und nimmer bestehen, es sei denn wir nehmen Zuflucht zum Schutzmantel seiner Liebe. Die Gerichtsaussagen klären uns auf über die wahren Größen- und Machtverhältnisse. Sie liefern eben nicht eine sterile, letzten Endes apersonale Gottesdefinition, sondern sagen, dass wir in einem dramatischen Geschehen mitten darin sind: ob wir den Schutz, den Gott angesichts seiner eigenen Hoheit und Herrlichkeit anbietet, in Anspruch nehmen wollen oder eben nicht. Denn dass außerhalb dieses Schutzraumes nur Tod das Ende aller Dinge ist, das ist jeden Tag nur allzu offenkundig und muss nicht bewiesen werden. Das Evangelium fragt uns, ob wir wirklich Lust haben, uns der zerfressenden Wirklichkeit des Todes schutzlos auszuliefern. In diesem Sinne meinte mein alter Freund Otto Michel, Tübinger Neutestamentler und Experte in der jüdischen Mystik, wie sein Freund Gershom Scholem oftmals, der Satz Hebr 12,24 »Gott ist verzehrendes Feuer« sei für ihn einer der wichtigsten der ganzen Bibel. Die zweite Besonderheit unseres Textes: »Gönnt
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euch keinen Schlaf, sondern betet beharrlich, damit ihr dem kommenden Unheil entrinnen könnt.« Hierzulande gilt Beten noch immer als unmännlich. Nach Jesu Worten dagegen ist Beten schwere, harte Arbeit. Sie kostet Schlaf und zehrt damit an der so genannten Gesundheit. Jesus denkt offensichtlich nicht an Stoßgebete und kurze Tischgebete. Der Ausdruck »Beten und Arbeiten« meint daher durchaus Verwandtes. Christsein gibt es nicht zum Nulltarif. Die Zeit, die wir zum Beten nicht verwenden, hat in der Christenheit der Gegenwart sträfliche Ausmaße gewonnen. Zumeist »haben wir keine Zeit«. Dabei fällt der Erfahrungssatz der Leiter christlicher Kommunitäten auf, dass die eucharistische Anbetung jede Gemeinschaft auf Dauer zusammenhält. Das Gebet hat zwei Aspekte: Einmal sprechen wir uns hinein in den Raum der Anwesenheit Gottes. So etwa beim Gebet der Psalmen, bei Litaneien, beim Rosenkranz. Die Texte, die wir rezitieren, sind dabei wie kleine Boote auf dem Amazonas, die uns in die Wirklichkeit Gottes hineintragen. Manchmal müssen wir gegen den Strom steuern, dann macht Beten wirklich Mühe. – Zum anderen ist Beten Aushalten der verborgenen Wirklichkeit und Gegenwart Gottes. Wir warten dann schweigend darauf, dass Gott sich durch irgendeine Regung als lebendig erweisen möge. So ist es in Apg 13,1-3 geschildert. Die Gemeinde fastet und betet intensiv, um an irgendeinem Zeichen zu erkennen, wen sie aussenden soll, um dann nachher Paulus und Barnabas zu schicken. So hat auch Edith Stein vor dem Allerheiligsten gekniet, um sich dem Grund und Geheimnis allen Seins auszusetzen. Ihre durchaus forscherliche Neugier nach dem verborgenen Grund des Seins zwang sie förmlich auf die Knie. Warum brauchen wir das Gebet? Um den Kontakt mit dem nicht zu verlieren, der uns Halt und immer wieder Hoffnung gibt. Nicht zuletzt auch, um im Ganzen klarer zu sehen. Denn vor Gott lernen wir exemplarisch, die wahren Größenverhältnisse wahrzunehmen.
Lk 21,28: Wenn das alles geschieht … »Wenn dies alles beginnt, dann richtet euch auf und erhebt euer Haupt. Denn eure Erlösung ist
297 ganz nahe« (Lk 21,28). Kurz vorher hatte Jesus gesagt: »Die Menschen werden vor Angst kaum noch Luft holen können, weil sie zittern vor dem, was auf die Erde zukommt« (V. 26; Übers.: Berger/Nord, 495). – Apokalyptische Ängste beherrschen die Menschen unserer Zeit; da besteht gar kein Unterschied zu der Zeit Jesu, in der jedermann in Palästina sich vor einem verheerenden neuen Zugriff der römischen Weltmacht fürchtete. Wie verhält sich zu einer solchen Zeitstimmung die überraschende Aufforderung »Erhebt euer Haupt, denn eure Erlösung ist ganz nahe«? Wer das Haupt erheben darf, der richtet sich auf, der gewinnt seine Würde wieder entgegen aller Angst. Erheben des Hauptes ist ein ganz schlichter, elementarer Gestus, ganz ähnlich dem zuvor als entgegengesetzt Geschilderten, dass man kaum noch Luft holen kann vor Angst. Es ist eine Grundüberzeugung biblischen Denkens, dass dort, wo Not und Angst, Dunkel und Hoffnungslosigkeit am stärksten sind, auch das rettende Eingreifen Gottes spürbar nahe ist. Wie in der Erzählung von dem Mann, der sich im finsteren Dickicht verirrte, dann noch einen anderen Menschen traf und ihn nach dem Ausweg fragte. Dieser gab zur Antwort: Wie man hier herauskommt, weiß ich nicht. Aber ich weiß, wie man noch tiefer hineinkommt, und dann wollen wir gemeinsam suchen. Tiefer hineinkommen steht für die Annäherung an die Finsternis. Wo sie wahrgenommen und schonungslos in ihrer Mächtigkeit und Verlorenheit akzeptiert wird, da kann man dann anfangen, gemeinsam den Ausweg zu suchen. Wie nahe dann mitten in der Finsternis das rettende Geheimnis ist, sagt eine jüdische Schrift aus der Zeit Jesu: »Die Jugend der Welt ist vorübergegangen, und die Kraft der Schöpfung ist schon erschöpft und das Kommen der Zeiten; ein klein wenig, und es ist vorübergegangen. Und nahegekommen ist der Krug dem Brunnen und das Schiff dem Hafen, die Karawane der Stadt und das Leben dem Ende.« Dass das nahe Ziel verheißen wird, wird vor allem in Bildern mit dem Element Wasser formuliert. Christen feiern Advent, weil in der dunkelsten Zeit das Heil greifbar nahekommt. Die Bibel versteht »Nähe« keineswegs nur in zeitlicher Hinsicht, als könne man über das nahe Weltende spekulieren. Sie versteht diese Nähe gewisserma-
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298 ßen multi-dimensional, nämlich als Nähe auf ganz verschiedenen Ebenen und in verschiedenem Kontext. Da geht es einerseits um die persönliche Nähe: Um die gnadenvolle freundliche Zuwendung Gottes – dass das Geheimnis der Welt nicht gegen uns, sondern für uns ist. Ebenso geht es um die leibhaftige Nähe: Jesus wirkt mit seinen Wundern Taten Gottes, der den Menschen auf diese Weise wie ein Arzt physisch nahekommt. Oder es geht um die dialogische Nähe: dass man offen und vertrauensvoll Gott alles sagen darf, was man auf dem Herzen hat, ja mit ihm »ringen« darf. Es geht um die räumliche Nähe, etwa dann, wenn Jesus zu Zachäus, den er in seinem Haus besucht, sagen kann: Heute ist das Heil zu diesem Haus gekommen. Gott, das Geheimnis der Welt, ist den Menschen unglaublich nahe »aufs Fell gerückt«. Was bedeutet das für eine christliche Geschichtstheologie? Dass Gott dem Menschen auf so vielfältige Weise nahegekommen ist, macht ihn zum Garanten der Würde des Menschen. Die Kraft, wieder sein Haupt erheben zu können, mutig und stolz, frei und selbstbewusst zu sein, diese Kraft muss der Mensch sich nicht künstlich einreden, sie kommt auch nicht aus den Tiefen des eigenen Ego. Zu diesem geheimnisvollen Gott ruft schon der Psalmist mit den Worten: »Von vorne und von hinten umgibst du mich« (Ps 139,5). Zu Lk 21,22 (»alles, was geschrieben steht«): vgl. 4 Q Dib Ham 3,11-15: »das Böse am Ende der Tage«. Im Unterschied zu Mk 13 gibt es keine Schritte auf das Ende hin (»noch nicht das Ende« oder »Anfang …« etc.), sondern vor dem Kommen des Menschensohnes ist alle Geschichte gleich. Die Angaben zur Zerstörung Jerusalems sind ergänzt durch V. 24: »Die Heiden werden über Jerusalem hintrampeln, bis die Zeit der Heimsuchung durch die Heiden vorbei ist.« In der Daniel-Apokalyptik (Dan 7,25) ist diese Zeit die letzte halbe Woche der Weltgeschichte, 3 ½ Zeiten, d. h. Tage oder Wochen oder Jahre. Auch diese Angabe zögert das Ende hinaus. Früher nahm man an, Lk 21,20-24 sei ein vaticinium ex eventu, da es gegenüber Mk 13 historische Züge aus der Belagerung Jerusalems im Jahre 70 n. Chr. eingetragen habe. So sei von der
Das Lukasevangelium
circumvallatio in 21,20 die Rede – Jerusalem sei tatsächlich eingezingelt worden. Doch das ist kein Argument, weil die Umzingelung spätestens seit 1 Chr ein übliches Mittel der Eroberung einer Stadt ist. Die Bitte Mk 13,18 fehle (»Betet, dass es nicht im Winter geschieht«), weil die Erstürmung Jerusalems tatsächlich im Winter geschehen sei. Auch die Gefangenschaft (Exilierung) unter den Völkern entspreche der Geschichte. Doch auch dieses gehörte zum Erwartbaren (vgl. das Schema Sünde-Exil-Rückkehr). Die Argumente für eine sekundäre Historisierung reichen daher nicht. Und vaticinia ex eventu herzustellen galt als Betrug. Für Lukas liegt daher die Bedeutung der Zerstörung Jerusalems darin, dass dies der Anfang der Zeiten der Heiden sei. Wenn dann der Menschensohn kommt (21,27), so gehört auch diese Wende ja zu den Elementen der Daniel-Apokalyptik nach Dan 7. »Wenn alles dies geschieht«, dann soll das Offenbarwerden des Reiches Gottes nahe sein. Aber zwischen jetzt und dann liegen alle die geschilderten Ereignisse. – Der Ausdruck »dieses Geschlecht« ist qualitativ aufzufassen und nicht quantitativ, also »diese Sorte Menschen«; denn eine Zeit gewinnt ihren Charakter durch die Qualität der bösen oder guten Menschen, die in ihr leben; das griech. Wort für »Generation, Geschlecht« bringt dieses kaum zum Ausdruck; vgl. aber Jesu Redewendung »o, du ungläubiges Geschlecht«. Zu Lk 21,32f: Das Amen-Wort an dieser Stelle ist keine eigenständige apokalyptische Aussage, sondern eine Bekräftigung der Gültigkeit der Rede durch den Sprecher selbst. – Daher verbieten sich auch tiefsinnige Spekulationen darüber, was »dieses Geschlecht« zeitlich bedeutet. Hier wie an anderen Fällen ist es eine Qualitätsaussage über die Menschen des alten Äons (sündig, sterblich, gefährdet), ähnlich wie »Fleisch« (griech.: sarx) bei Paulus. Zu Lk 21,34-36: Die peroratio nennt alles, was dem hellenistischen Autor Lukas wichtig ist: Er warnt vor Maßlosigkeit im zivilisatorischen Konsum; das Bestehen vor dem Menschensohn entspricht 18,8. – Der Schluss der Endzeitrede ist in 21,34-36 lukanisches Sondergut. Die Wendungen »Achtet auf euch« (V. 34a) und »seid wach-
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sam« (V. 36a) sind synonym (vgl. ähnlich Didache 16,1: Achtet auf euer Leben). V. 34f ist nur negativ formuliert (Warnung vor Gefahr), V. 36 positiv: Die Jünger sollen wachen, um beten zu können, um allen Gefahren zu entfliehen und vor dem Menschensohn, dem Richter, bestehen zu können. Ähnlich der Schluss in Lk 18,8b: Die Frage ist, »ob der Menschensohn, wenn er auf
299 die Erde kommt, wirklich solche Beharrlichkeit (solchen Glauben) vorfinden wird«. Das Bild des Wachens wird gebraucht, weil es um den Anbruch des »Tages« des Herrn geht (griech.: orthrizein – »früh morgens in den Tempel gehen, um zu beten«); seine Wiederkunft ist ungewiss; bis dahin ist die Zeit der Bewährung.
Lk 22,7-38: Das letzte Mahl Jesu Kompositionskritik Nach 22,1-13 liegt bei der Vorbereitung des Passahmahles auf Seiten Jesu das »wunderbare Vorherwissen des Propheten« vor (dazu: K. Berger, Der Wundertäter, 2010, 44-47). Dass Jesus die Einzelheiten, auf die die Jünger in der Stadt treffen werden, weiß und das Geschehen vorhersieht, bestätigt seine Souveränität als Prophet. – Die Zusammengehörigkeit von Petrus und Johannes im Rahmen der Urgemeinde hat Lukas deutlich in Erinnerung behalten (vgl. Apg 3,1-11; 4,13.19; 8,14-17). In 22,14-34 bespricht Jesus die theologische Bedeutung dieses letzten Mahls. In 22,15 beeindruckt das Wortspiel pascha/pathein. Nach 22,16 ist dieses Jesu letztes Mahl, bevor er im »Reich Gottes« dann wieder zum Mahl sitzen wird. – Die jüdischen Belege für diese Erwartung sind nicht zahlreich. Vgl. aber Lk 13,28f; Offb 21,13; 14,15; 22,16. – Von einem Passahfest im Reich Gottes spricht Jer 38,8 LXX: »Siehe, ich bringe sie von Norden, und ich werde sie sammeln vom Ende der Erde am Passahfest (Phasek). Und du wirst eine große Menge gebären und sie werden hierher zurückkehren.« Als Beginn des Mahls (22,17) ist Wein im Rahmen des Erwartbaren (Plutarch, Symposiaka, Athenaios, Deipnosophisten). Jesu künftiger Verzicht auf Wein nach 22,18 mag man als sein eigentliches Nasiräatsgelübde deuten. Dann wäre sein Titel Nasiräer/Nazoräer von daher verallgemeinert worden. Den in 22,19-22 folgenden Mahlbericht hat man öfter als eine Verbindung der Berichte nach Paulus (1 Kor 11) und Mk 14 angesehen. – Der Judasverrat ist überall mit dem letzten Mal verbunden. Das gilt selbst und erstaunlicherweise auch für Joh 6, obwohl dort nur vom Brot und
nicht vom letzten Mahl die Rede ist (Joh 6,70f). Die Gründe für diese feste Verknüpfung von Mahl und Judas-Thematik sind a) speziell in der Passionstradition über Jesus gegeben: Das letzte Mahl war die letzte Gelegenheit, dass Jesus und Judas sich sahen. b) Gilt der Verrat durch den Mahlgenossen als besonders schlimm, denn den Freund an die Behörden auszuliefern ist auch weiterhin das Ärgste (vgl. Mk 13,9.11.12). c) Jesus schenkt sich den Jüngern (Abendmahl), Judas verkauft Jesus. Beider Tun ist total gegenläufig. Schein (engste Mahlgemeinschaft) und Sein (Verrat) treffen hart aufeinander. Fazit: Nach allen zeitgenössischen Vorstellungen ist der Verrat des Freundes das genaue Gegenteil davon, sein Leben für ihn zu geben. Eben dieses trägt der Judasverrat zum Verständnis des Abendmahls und der Deuteworte bei: Der Leib, der gegeben wird, ist das Leben Jesu, das er zugunsten seiner Freunde gibt. Insofern ist Jesu Zeichenhandlung der Gabe von Brot und Wein nicht (nur) symbolisch, sondern hyper-real, denn alle Lichtstrahlen des Lebens Jesu sind wie durch ein Brennglas in diesem einen Punkt gebündelt. Die Abfolge von Wein – Brot – Wein hat folgende Besonderheiten: 1. Alle trinken aus einem Becher, es hat nicht jeder sein eigenes Trinkgefäß. 2. Entsprechend essen alle von dem einen Brot. Auf die Ansage des Judasverrats hin folgt der Bericht über den Rangstreit der Jünger (22,2427). Der Rangstreit ist wohl für Lukas die Art, in der sich der Judasverrat aktualisiert. Das geschieht immer dann, wenn einer meint, der Größte zu sein.
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300 Zur Gattung Testamentarische Rede Folgende Elemente kommen aus dem Arsenal testamentarischer Reden (vgl. K. Berger, Formen und Gattungen, 2005, 134-139): Ankündigung des nahen Todes (indirekt in V. 15.16.18), Ermahnung der Zurückbleibenden zu Liebe und Eintracht (V. 24-27; V. 32b); für das Thema Gewalt bleibt nur eine Zeichenhandlung ohne praktische Bedeutung (V. 35-38); Weissagung künftigen Abfallens (indirekt V. 32.34); Fürbitte für die Zurückbleibenden (V. 32, vgl. Joh 17); förmlicher testamentarischer Akt mit Fachterminologie (V. 20, auch mit dem Thema »Gedenken«, V. 29-30). Hervorhebung: Der Tod hat auch sein Gutes (»für euch vergossen« V. 20 [? s. u.]). Auch das »Geben« bei Brot und Wein bezieht sich auf eine »Gabe letzter Hand«. – Auf den Justizskandal des Mordes an Jesus nimmt 22,37b Bezug (Zitat über den leidenden Gerechten aus Jes 53). – Eine Art Einsetzung des Nachfolgers ist hier bestenfalls V. 32b. – Völlig fehlt jede Art von Abschiedstrauer bei Jesus. – Ein Rechenschaftsbericht Jesu findet sich höchstens spurenweise V. 28. Andererseits ist in keiner anderen bekannten testamentarischen Rede vom eschatologischen Wiedersehen die Rede. – Nirgendwo sonst wird die empfohlene Liebe als Dienen interpretiert. Nirgendwo sonst in dieser Gattung findet sich eine Eschatologie des himmlischen Gastmahls. Diese gehört allerdings hier mit dem Thema Dienen zusammen. In 22,31 ist eine himmlische Audienzszene vorausgesetzt, wie sie in Hiob 1 vorliegt. Der Teufel verlangt, die Jünger (inklusive Petrus) testen zu dürfen. Offen bleibt, ob Lukas in dem eigentlichen Abendmahlsbericht mit den Deuteworten Jesu Tod als Sühnetod bezeichnet. Aus V 22a (gemäß dem, was bestimmt ist), kann man das jedenfalls nicht herleiten. Allerdings bezieht sich »der neue Bund durch mein Blut« in V. 20 wohl darauf, dass die Sündenvergebung im »Neuen Bund« nach Jer 31,31-33 durch Jesu Blut zustande kommt. Ob das »ausgegossen« sich auf das Blut bezieht, halte ich für unwahrscheinlich. »Ausgegossen«, d. h. eingeschenkt ist der Becher. Vom Sühnetod ist dennoch nur insofern die Rede, als durch das Bundesblut das Volk wieder Eigentum Gottes wird (die Vorstellung explizit bei Lukas in Apg
Das Lukasevangelium
20,28b). – Interessant ist, dass in Mk 10,38-45 eine mit Lk 22 vergleichbare und traditionsgeschichtlich verwandte Szene vorliegt: Mit Lk 22,24-27 ist vergleichbar Mk 10,42f, mit dem Abschnitt über das Dienen in Lk 22,26f das Stück Mk 10,43b-45, mit der Sühneaussage in Lk 22,20b der Text Mk 10,45c (vgl. dazu K. Berger, Einführung in die Formgeschichte [UTB 1444], 1987, 217-240). Lk hat den ausführlichsten Abendmahlsbericht; seine exklusiven Übereinstimmungen mit Paulus (1 Kor 11) betreffen den »neuen« Bund und den Wiederholungsbefehl (»Dies tut … zur Erinnerung an mich«). Ganz ähnlich wie bei der Passion (s. zu Lk 23) werden die moralischen Konsequenzen, die sich aus diesem Zeichen für alle Christen ergeben, hervorgehoben. Indem Lukas das letzte Mahl als den Inbegriff des Dienens schildert, kommt er in die Nähe von Joh 13 (Fußwaschung als zeichenhaftes Vorbild). Das Dienen setzt er in Kontrast zum Rangstreit unter den Jüngern. Lk 22,15 und 22,16 bilden eine Einheit: Die Sehnsucht Jesu nach dem Ostermahl und das »letzte Mal« verbinden sich nun. Textkritisch ist umstritten, ob der Kurz- oder der Langbericht über das Mahl der ursprünglichere ist: 1. Der Kurzbericht lässt die Verse 19b-20 aus (Brotwort: »der für euch gegeben wird«; Wiederholungsauftrag an die Jünger; Becherwort: »Dieser Becher ist der Neue Bund … für euch vergossen«). – 2. Der Langbericht hat demgegenüber – und das ist das Verwirrende – ein doppeltes Becherwort: Becherwort I mit Ausblick auf das Reich Gottes – dann: Brotwort – dann: Becherwort II über den Neuen Bund durch Jesu Blut). – 3. Der Kurzbericht hat nur Becherwort I mit Ausblick auf das Reich Gottes und das Brotwort; vom Neuen Bund (durch Blut) und vom Wiederholungsbefehl kennt er nichts. – 4. Immerhin fehlt V. 19b in D (westl. Text) und Itala; V. 20 fehlt in einer wichtigen syrischen Textgruppe (Curetonianus). Die Kurzfassung wirkt »archaischer«. – 5. Andererseits hat der Syrer wohl V. 20 ausgelassen, weil er die Doppelung zu Becherwort I bemerkte. Der textgeschichtliche Befund ist so überwältigend, dass ich empfehle, sich an der Langfassung auszurichten. Das doppelte Becherwort hat man
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wie folgt zu erklären versucht, und stets ist dann Becherwort I erklärungsbedürftig: a) Im heidnisch griechischen Symposion steht ein Becherwort voran; weitere Bechersprüche sind möglich. Vgl. 1 Kor 10,15 (Becher steht voran). Inhaltlich konnte sich dieses Wort an einem Stück der Überlieferung vom letzten Mahl Jesu festmachen, das einen eschatologischen Ausblick bietet: Mk 14,25, wenn auch hier ohne eigenen »Becher«. – b) Speziell das jüdische Passahmahl kennt zwei Becher. – c) Die jüdische Mahlzeit kennt einen »Vor-Becher« im »Vor-Mahl«. – Entweder man rechnet mit stärkerem griechischen Einfluss (a), oder man wertet das jüdische Ritual höher (b, c). Nun weist das letzte Mahl Jesu in keinem der frühchristlichen Texte irgendwelche Elemente des Passahmahles auf. Und im Blick auf die Nähe des LkEv zum JohEv ist sogar zu fragen, ob es diesen Charakter überhaupt je hatte. Gerade im Blick auf Paulus, der Lukas hier gleichfalls nahesteht, halte ich die Möglichkeit a) daher für gegeben. Sie bot auch Gelegenheit, den Stoff von Mk 14,25 (eschatologischen Ausblick) einzubringen. Lukas schildert das letzte Mahl Jesu als Testament (im Sinne der jüdischen Gattung der »Testamente«): Er kündigt seinen nahen Tod an (V. 16.18.20 [Blut]); er hinterlässt ein Erbe (V. 17.29). Er selbst trinkt nicht, die Jünger teilen unter sich. Er ordnet sein Gedenken an (V. 19b). Er fasst sein Leben zusammen (V. 19: Ich bin für euch wie Brot; V. 27b.28). Er sagt künftiges Fehlverhalten der Jünger voraus (V. 21 f.23 f.26f) und stellt Geduld und Dienen dagegen (V. 26-28). In V. 26-28 geht es um sein ausdrückliches testamentarisches Vermächtnis, in V. 31-34 um den bestellten Nachfolger, in V. 35-38 um den Ausblick auf die bevorstehende Notzeit, in V. 29-30 auf die Endzeit. – Im Laufe von Lk 22 nimmt die Rede vom bevorstehenden Tod ab, die von Zukunft und Endzeit verstärkt sich. Wie für Tischgespräche üblich, gibt es viele Aussagen über Essen und Trinken. Der Ausblick vom irdischen auf das himmlische Mahl (22,16) hat dagegen seine Parallelen eher in Märtyrerberichten (M. Mariani et Iacobi 11,6: morgen mit uns im Himmel speisen; Acta Carpi 42: bald das himmlische Mahl einnehmen).
301 Schließlich ist Lk 22 vor allem der Versuch – ähnlich wie es in Mk 10,45 geschah, jetzt aber direkt vor dem Tod –, den Gemeinden eine ethische Umsetzung des Sterbens Jesu anzubieten: Das Brotwort V. 19 wird »angewandt« im Dasein für andere (V. 24-27: »Diakonie«; zum Zusammenhang zwischen Diakonie und Brot vgl. Apg 6 und den Ausdruck »bei Tische dienen«). Das Deutewort über den Bund beim Kelch wird ausgelegt in V. 28-30 (»ich vermache euch« [griech. diatithemi] steht nahe bei Bund, Vermächtnis, griech. diatheke). Zwischen »ich« und »ihr« geht die Rede häufig hin und her; ganz oft findet sich »mit mir«, »mit euch«, »mit dir«, »für euch«, »mit ihm«, »unter euch«, »in eurer Mitte« in V. 14-33. Zusammen mit Mk 10,35-45 und Joh 13 stellt Lk 22,24-30 (s. auch Mt 19,28) eine besondere Deutung des Todes Jesu dar: einander dienen, wie Jesus es tat; Geduld, Dienen sind Hoheit oder verdienen künftige Hoheit oder himmlischen Lohn. Thema ist auch schon früh der Zwölferkreis sowie der Grundsatz »groß ist, wer dient« (nähere Entfaltung bei K. Berger, Einführung in die Formgeschichte [UTB 1444], 1987, 231). So geht es um diese Überlieferung: Jesu Handeln gegenüber seinen Jüngern ist Vorbild, es ist (wie) Dienen beim Mahl; vgl. dazu die Synonyma Dienen und Sklavesein. Jesu Handeln steht in Beziehung und in Kontrast zum Großsein unter Jüngern (griech.: megas oder meizon). Das Motiv gehört zeitlich in die Endphase des Lebens Jesu. Wer so handelt, erlangt himmlischen Lohn. Nach Lk 22,28 wird Jesu ganzes Erdenwirken als Folge von Versuchungen gedeutet. Gemeint ist wohl eher in dieser »Theologie der Versuchungen« die ständig naheliegende Möglichkeit zur messianischen Machtergreifung oder zum Arrangement mit den Mächtigen (vgl. dazu auch Mt 16,1; 9,3; 22,18.35; Mk 8,11; 10,2; Lk 11,16; Joh 6,6, vgl. auch Mt 6,13; 26,41; Mk 14,38; Lk 8,13; 11,4; 22,40.46). Zu Lk 22,15: Papst Benedikt XVI. war so mutig, mit der exegetischen Fiktion aufzuräumen, es habe sich bei Jesu letztem Mahl wirklich um ein Passahmahl gehandelt. Davon kann keine Rede sein. Es ist nicht vorstellbar, dass die Römer am ersten Tag des Passah eine öffentliche Hinrichtung vollzogen hätten – wie wenn man einen
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302 Massenmörder am ersten Weihnachtstag exekutiert hätte. – Beim letzten Mahl Jesu fehlt zudem in allen Berichten auch das kleinste Merkmal der Besonderheiten des Passahmahles, speziell das Lamm. Jesus hat vielmehr, wie Benedikt betont, das Passahmahl auf seine Weise vorweg genommen. Diese Deutung markiert dann hoffentlich auch das Ende der seit 50 Jahren herrschenden katholischen Diktion vom Paschamysterium Jesu. – Wenn Paulus in 1 Kor 15,7 auf Christus als Passahlamm zu sprechen kommt, dann nur unter dem einen Gesichtspunkt der Entfernung alles Unreinen aus Haus bzw. Gemeinde. Insbesondere hat weder bei Paulus noch bei den Juden das Passahlamm eine sühnende Funktion. Zum Verständnis aller neutestamentlichen Abendmahlstraditionen ist aus meiner Sicht folgendes zu erwägen: Nach einer sehr früh schon nachweisbaren Überzeugung der ältesten Christen, die vor-paulinisch und vor-johanneisch ist, ist Jesus Repräsentant der Weisheit (Gottes) (vgl. Mt 11,25-30; Lk 7,35; 11,49; vgl. Lk 2,40 etc.) bzw. die Weisheit Gottes selbst (1 Kor 1,24; Joh 1). Diese Weisheit sagt von sich in Spr 9,5: »Kommt her und genießt von meinem Brot und trinkt vom Wein, den ich gemischt habe.« Insoweit hängt Weisheit nach manchen Überzeugungen grundsätzlich mit Essen und Trinken zusammen. Auf der Stufe des JohEv wird Jesus selbst als Person die Gabe Gottes schlechthin (und umgekehrt). So ist er die Auferstehung, das Leben, das Brot und das Wasser des Lebens, er ist Wahrheit und Weg, das Schöpfungswort Gottes. Deshalb kommt es nach Joh 6 nun darauf an, weil Jesus das Brot des Lebens ist, das wahre Manna, Jesus, mit Fleisch und Blut zu essen. Es geht dann nicht mehr um die Bewirtung durch die Weisheit wie in Spr 9, sondern um das Essen der Weisheit selbst. Wenn Jesus in sich selbst alle gute Gabe Gottes für die Menschen ist, dann kommt es nach Joh 6 darauf an, Jesus selbst zu essen. So ist das Brot, das er den Jüngern gibt, sein Leib als das ewige Leben. Ähnlich wird auch der Trank, den er reicht, nämlich sein Blut, mit ihm persönlich in Verbindung gebracht. Das geschieht durch Platzierung des Mahles mit der Zeichenhandlung unmittelbar vor dem Tod Jesu bei den Synoptikern und bei Paulus (1 Kor 11).
Das Lukasevangelium
Die Abendmahlstradition des Apostels Paulus und aller Evangelien hat diesen Zipfel johanneischer Theologie bewahrt und entfaltet. Im Ritus des Abendmahles, in dieser Zeichenhandlung, hat Jesus diese Metaphorik ritualisiert. Das heißt: Die Frage, wer Jesus sei, wird zunächst und grundsätzlich mit Metaphern beantwortet, mustergültig im JohEv (z. B. Jesus als Manna, als Hirte, als Licht). Schon auf dieser Stufe geht es nicht um das, was Jesus gibt (z. B. wahre Erkenntnis), sondern um das, was er ist. Denn das, was er ist, kann von dem nicht abgelöst werden, was er gibt. Er gibt sich selbst (bis heute der Grundgedanke des Abendmahls). Beim letzten Mahl nun tut Jesus das; er sagt es nicht nur. Er gibt sich den Jüngern als ein Stück Brot und sagt dazu: Das bin ich. Damit vollzieht er als Tat in einer »Spitzenhandlung« das, was er in Joh 6 gesagt hatte. Diese Zeichenhandlung des Gebens von Brot und Wein hat die Kirche seither als Sakrament bewahrt. Was das JohEv in Kap. 6 nicht bietet, ist die Verbindung zwischen Wein/Blut und Tod Jesu. Nun ist die Rede vom Fleisch und Blut Jesu in Joh 6 an den Tod Jesu nicht gebunden. Auch wenn Jesus sagt »das ich geben werde …« ist das nicht der Fall. Ich halte es daher prinzipiell für möglich, dass Jesus – wie es in Joh 6 geschieht – davon gesprochen hat, dass er in Brot und Wein gegessen und getrunken werden will. Jesus selbst hätte diese Auffassung dann beim letzen Mahl auf seinen bevorstehenden Tod bezogen und daher das Blut auf die sühnende Sündenvergebung.
Lk 22,24-30: Rangstreit unter den Jüngern Hier liegt eine mit Joh 13,1-17 und Mk 10,35-45 gemeinsame Tradition vor. Das Thema hoch/ niedrig wird weiter durchgespielt. Denn mit Jesus in Versuchungen auszuhalten, ist die Voraussetzung für eine künftige Ehrenposition der Jünger. Diese Diskussion um hoch und niedrig wird mit der Tradition vom letzten Mahl Jesu verbunden, weil es beim Mahl um Tischdienst geht (diakonein). Jesus sagt von sich, er sei als der Dienende (V. 27) mitten unter den Jüngern Situation: Letztes Mahl (Lk 22,1.24; Joh 13,1. – Keine Mahlszene in Mk 10). – Jesus ist Sklave (sc.
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Kapitel 22
seiner Jünger; Mk 10,44; Joh 13,16). – Jesus leistet einen Dienst bzw. wäscht den Jüngern die Füße (griech.: diakonein in Mk 10,45; Lk 22,26f; Joh 13,14). – Jesus stellt sich als Vorbild dar (Mk 10,45; Lk 22,27; Joh 13,15). – Die Frage ist: Wer ist groß (griech.: megas in Mk 10,43; Lk 22,24.26; Joh 13: größer). – Beteiligt sind zwölf Jünger (Mk 10,35.41: zwei plus zehn; Lk 22,14: zwölf Apostel; Joh 13,16: apostolos). – Verheißung bzw. Sitzen auf Thronen (abgelehnt: Mk 10,37-40; zugesagt: Lk 22,30; »Selig, wenn ihr dieses tut«: Joh 13,17). – Ausblick: Leben als Lösegeld/Martyrium der Jünger? (Mk 10,38-40).
Die gemeinsame Tradition ist mit bestimmten Stichworten zu umschreiben: Jesu Handeln gegenüber seinen Jüngern ist Vorbild, es ist (wie) Dienen beim Mahl; hier spielen die Synonyma Dienen/Sklavesein eine Rolle. Jesu Handeln antwortet auf die Frage der Jünger, wer unter welchen Bedingungen »groß« ist. Dieses Motiv gehört in die Endphase des Lebens Jesu. Die Verbindung mit der Zwölfertradition ist recht deutlich (vgl. dazu auch Mt 19,28!). Denn wenn die Zwölf genannt sind, werden sie auf Thronen sitzen. Für Mk sind die Jünger nicht Vorbild, sondern – wie öfter – eher fehlbar. Der Ertrag für die Ermahnung der Jünger ist daher unterschiedlich; Joh 13 meint: einander dienen, wie Jesus es tat; der Lohn ist Seligkeit. Nach Lk 22 geht es um Dienen (nach Jesu Vorbild) und Geduld (mit Jesus), Lohn ist eschatologisches Mitherrschen. Nach Mk 10 gilt die Paradoxie von Dienen und Hoheit wie bei Jesus. Die apostolische Autorität wird hier nicht von der Vergangenheit her verstanden, sondern von der Zukunft her. Alle, die jetzt dienen, zum Beispiel und besonders die Zwölf, definieren ihre Autorität von der künftigen eschatologischen Herrlichkeit her. Die Begründung ihrer Autorität liegt nicht primär in der Vergangenheit (Übertragung der Vollmacht des irdischen Jesus).
Lk 22,35-38.49-51: »Schwertszene« Den Abschluss der Mahlgespräche bildet das Wort Jesu über die zwei Schwerter (22,35-38). Grundlegend ist der Gegensatz zwischen der früheren Situation (vorösterliche Aussendung der Jünger ohne Schutz) und der späteren (»Aber
303 jetzt …«). Im Unterschied zu früher sind jetzt Ausrüstungsgegenstände gestattet, sogar zwei längere Messer. Begründung: Jes 53,19 »Er wurde unter die Frevler gezählt« geht in Jesus in Erfüllung. Aber wieso ist das eine Begründung für die Änderungen bei der Ausrüstung, näherhin für Kompromisse im Fall der Notwehr? Dazu, gewiss nicht zu mehr, wären zwei längere Messer geeignet. – Deutungsvorschläge: a) Die Zeit kompletter Schutzlosigkeit, an deren Ende der Tod des gerechten Jesus steht, ist vollendet. Damit ist die Zeit abgeschlossen, in der Jesus und seine Jünger die total Gewaltlosen und Gerechten waren. Auch sonst kennt Lukas das Schema abnehmender Radikalität, so etwa in der Frage des Besitzes (»alles« – Urgemeinde – »Geben ist seliger als Nehmen«) oder in der Frage der körperlichen Wirkung des Heiligen Geistes. Die Zeit Jesu ist die Brautzeit, die Idealzeit. In ihr sagt und lebt Jesus mit den Jüngern, wie es sein kann. Diese Idealzeit bleibt dadurch Anfrage an jede spätere Zeit, ob ihre Kompromisse radikal genug sind. – b) »Er wurde unter die Gesetzlosen gerechnet« – so ist die Welt: Sie hält Unbewaffnete für Räuber und Geduldige für Verbrecher. Wer wie ein Schaf aussieht, wird für einen Wolf gehalten. Indem Jesus den Jüngern rät, wie normale Wanderer aufzutreten, nimmt er sie aus dieser radikalen Alternative heraus. Die Verbürgerlichung der Jünger dient nicht nur buchstäblich ihrem Wohlergehen und ihrem Schutz, kurz: ihrer Lebenssicherheit, sondern auch der friedvolleren Einschätzung durch andere. Die beiden Szenen zum Stichwort »Schwert« sind eng miteinander verwandt. – 1. Einleitung, V. 36: Verkaufen … Schwert kaufen. V. 49: »Sollen wir mit dem Schwert zuschlagen?« – 2. Der Fall wird auf Jesus bezogen, V. 37: Schrifterfüllung, Jesus wird unter die Gesetzlosen gerechnet. V. 49.50: Jesus antwortet nicht auf die Frage von V. 49. – 3. Schwerter in den Händen der Jünger, V. 38: Die Jünger haben zwei Schwerter gekauft. V. 50: Ein Jünger schlägt dem Sklaven des Hohenpriesters das rechte Ohr ab. – 4. Jesus gibt ein Haltesignal, V. 38: »Es ist genug.« V. 51: »Lasst ab!« – Heilung des Verletzten durch Jesus. Zur Einordnung von Gespräch und Vorgang folgende Überlegungen: 1. Mit einem Schwert kann
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304 man durchaus jemanden töten (Sprachgebrauch der LXX). Die Schwertgewalt aber liegt bei der römischen Obrigkeit (vgl. Röm 13,4). – 2. Wer daher als Privatperson ein Schwert kauft, könnte etwas vorbereiten, das nicht gut ist. Das gilt auch nach Mt 26,52 und Offb 13,10: Wer das Schwert verwendet, wird dadurch selbst umkommen. – 3. Weil sich unter den Jüngern Jesu derartige Waffen befinden, die sogar benutzt werden, konnte Jesus als »gesetzlos«, d. h. als kriminell gelten. Jes 53,12 geht daher wirklich in Erfüllung. – 4. Mit den Ohren soll man auf das Gesetz hören; der Gesetzlose wendet das Ohr ab, sodass er das Gesetz (griech.: nomos) nicht hört (Spr 28,9 LXX). Da andererseits gilt: Womit jemand gesündigt hat, damit wird er bestraft (Weish 11,16), könnte der Sklave des Hohenpriesters, der ein Ohr verliert, symbolisch als der wahre Gesetzlose dargestellt werden. – 5. Es ist offensichtlich schwer, für beide Szenen zwischen Zeichenhandlung und militantem Geschehen zu unterscheiden. Gerade deshalb scheint es mir unabweislich, mit einem aus der Sicht der Evangelisten, besonders des Lukas, deutungsbedürftigen historischen Vorfall zu rechnen. – Liegen hier möglicherweise Reste eines kämpferischen Messianismus vor? Man wird das zwar bei keiner Lösung total ausschließen können, aber die Gesamtgestalt der Verkündigung Jesu weist in andere Richtung. Andererseits: War der Besitz von potenziell gefährlichen Waffen tatsächlich ein Grund, Jesus für kriminell zu halten? Festigte das den Verdacht, Jesus wolle als König doch eine Art Messiasprätendent sein?
Das Lukasevangelium
Als interessant erscheint, dass Jesus die Frage der Jünger nach 22,49.50 nicht sofort verneint. Folgende Reihenfolge der Ereignisse erscheint mir am plausibelsten: Jesus weiß, dass die paradiesischen Zeiten zu Ende gehen; anderswo heißt es: Der Bräutigam geht jetzt weg, mit dem Feiern hat es jetzt ein Ende, Fasten ist wieder angesagt. Er ordnet an, Schwerter zu kaufen. Das ist als Zeichenhandlung gemeint. Der Verkündiger der Bergpredigt kündet jetzt die Apokalypse an, denn der Kampf aller gegen alle naht (vgl. 21,10.12-16). Gegner wie Jünger verstehen dieses Zeichen falsch; die Jünger sehen es als Erlaubnis zu Gewalt, die Gegner als Zeichen für kriminelle Pläne. Und Jesus hatte in der Tat nicht verboten, die Waffen zu gebrauchen. Durch die Ermahnung, seine Gebote einzuhalten, beschränkt Jesus nachträglich die Aktion auf das, was sie auch in Wirklichkeit nach seiner Absicht war: eine bloße Zeichenhandlung. Der Blick auf den magischen Endkampf nach 1 QM und 4 QM (Kriegsrolle) kann deutlich machen, dass gerade Vorstellungen von Gewalt und Krieg besonders (für uns reichlich fremdartig) theologisch »bearbeitet« werden. Die anfangs von Jesus beabsichtigte Zeichenhandlung kann sehr wohl von diesem Milieu her gedacht werden. An reale Kämpfe ist jedenfalls nicht gedacht. In der Phase apokalyptischer Unordnung ist die Grenzziehung zwischen menschlicher und unsichtbarer Gewalt aufgehoben. Jesus steht daher Eph 6,12 (Kampf gegen die Mächte der Finsternis) weitaus näher als der nächstbesten römischen Garnison.
Lk 22,39 – 23,56: Passion Lk 23: Die Besonderheiten der Lk-Passion Historisch und im Sondergut weist Lk 23 folgende wichtige Besonderheiten auf: Vor allem bei Lukas werden Jesus und frühe Christen von Außenstehenden als Unruhestifter angesehen (Lk 23,2; Apg 19,40; 24,5; vgl. Theudas nach Apg 5,36; Simon nach 8,9; der Ägypter nach 21,38). Nur nach Lk stärkt ein Engel Jesus in seinem Leiden in Getsemani (Lk 22,43f): Jesus wird nicht
vor dem Leiden bewahrt, sondern persönlich gestärkt, bevor die Angst kommt. Die weinenden Frauen (Lk 23,27f) sind in Zusammenhang mit anderen Frauen nach Lk zu sehen, die emotional in diese oder jene Richtung das alltägliche Maß überschreiten: die Frau, die Maria preist (Lk 11,27-32); Elisabet, die Maria preist (Lk 1,42); Maria, die Gott jubelnd wegen Jesus preist (Lk 1,48.54). In jedem dieser Fälle wird eine Ausweitung auf das ganze Volk vollzogen. Dabei ist Lk 23,27f ein Gegenbild zu Lk
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Kapitel 23
1,48.54: Gottes Heilshandeln an seinem Volk bleibt im Falle des Ungehorsams aus. In Lk 23,44f sind die Zeichen auf der Erde mit denen im Himmel verbunden (wie in Joel 3,3f nach Apg 2,19). Lukas stellt es so dar, dass Jesus als politisch unverdächtig stirbt. Die politische Agitation nach Lk 23,2.5 war nur untergeschoben. Nach 23,25 beugt sich Pilatus dem Druck der jüdischen Ankläger. Nur Lukas berichtet über zwei Schächer, die neben Jesus gekreuzigt werden. Lukas differenziert nach Gruppen, die Jesus verspotten: Synhedristen, Soldaten, ungerechter Schächer – und durch den Kreuzestitel. In Lk 23,48 ist die Reaktion auf die Kreuzigung Jesu bei den Zuschauenden Buße und Umkehr (vgl. Sach 12,10 und Lk 18,13: Reue des Zöllners): Aufgrund der erwiesenen Gerechtheit Jesu kehren Juden um. Damit wird das Schema der Missionsreden an Juden nach Apg vorbereitet. Theologisch gesehen bietet die Lukaspassion folgendes Bild vom Leiden Jesu: Jesus ist vor allem der Gerechte, vgl. Lk 23,47: »Er war gerecht« als Reaktion auf das Sterben (statt »Sohn Gottes« bei Mk); 22,37 (Kontrast: die Verbrecher) – so auch 23,39.41.48; 23,31 (grünes Holz: Gerechte) – Befund des Pilatus: 23,4.14.22. Auch bei Paulus ist diese Qualität Jesu die Voraussetzung für seine Heilsbedeutung. – Gerechtsein ist die letzte und tiefste Wurzel für alles andere, das Jesus bedeutet. Und bei Lukas ist das Eingeständnis des Sünderseins angesichts dessen ebenso wichtig wie bei Paulus (vgl. Lk 15,18; 18,13; 23,41). Auch bei Lukas ist das letzte Wort aus dem Munde Jesu, das er am Kreuz sagt, wie die Summe seines Lebens: »Vater, in deine Hände lege ich mein Leben« (Lk 23,46). Dieser Text aus Ps 30,6 entspricht dem jüdischen Abendgebet (vgl. Berakhot 5a; Tanchuma B zu Ps 31,6). Auch Stephanus wird ähnlich beten: »Herr Jesus, nimm mein Leben an« (Apg 7,59). Der Märtyrer Zacharias, der Vater des Täufers, schreibt über sein Martyrium an Herodes: »Du nimm mein Blut, meine Seele (griech.: pneuma) aber wird mein Herr aufnehmen, denn du vergießest unschuldiges Blut« (ProtEv Jacobi 23,3). Zu Stephanus vgl. Apg 7,56 mit Lk 22,69 (Sitzen zur Rechten); Apg 7,53 mit
305 Lk 23,46 (Sterbegebet aus Ps 31,8); Apg 7,60 mit Lk 23,34 (Bitte um Vergebung). Jesus ist gezeichnet als der geduldige Märtyrer, der als Vorbild für alle späteren christlichen Märtyrer in ihrem unschuldigen Leiden, besonders für Stephanus, geschildert wird. Jesus betet für seine Feinde (23,34), Stephanus nach Apg 7,60. Ähnlich dann Jakobus, der Herrenbruder, nach Eusebius, Kirchengeschichte 2,23,16f: »Verzeihe ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.« Dem entspricht, dass nur nach Lk Jesus das abgeschlagene Ohr des Sklaven des Hohenpriesters heilt (22,51). Als geduldiger Märtyrer lässt Jesus eine ganze Serie von Misshandlungen über sich ergehen. Die Misshandlungen in Lk 22,63-65 werden als Einschüchterungsversuche dargestellt – ein Topos der Märtyrerliteratur, der die Leser zu furchtlosem Bekenntnis des Glaubens mahnen soll. Denn darauf folgt das Bekenntnis Jesu zu seiner Gottessohnschaft. Die Aufforderung von Lk 9,23, hinter Jesus herzugehen und sein Kreuz auf sich zu nehmen, realisiert bei Lukas Simon von Kyrene, der nach Lk 23,26 das Kreuz Jesu hinter Jesus her (so nur Lk) trägt. Einen stellvertretenden Sühnetod kennt demnach das LkEv nicht; lediglich nach Apg 20,28 erwirbt Gott durch sein eigenes Blut sein Volk. In Lk 22,19 (»für euch gegeben«, »für euch vergossen«) bezieht sich beides auf das gesamte Leben Jesu (inklusive Tod!) als Dienst – ähnlich wie in Mk 10,45 und Joh 13 sowie wie im Kontext direkt von Lk 22,26 f. Jesus stirbt als frommer Jude, indem er das jüdische Abendgebet (»In deine Hände, Herr, lege ich mein Leben«) zu seinem Sterbegebet macht (Analogie von Tod und Schlaf), wie dann viele christliche Märtyrer nach ihm. Die Passion Jesu ist sein Weg in die Herrlichkeit (24,26) – ähnlich für die Christen in Apg 14,22. – Wie in anderen Texten über Leiden und Herrlichkeit, so steht auch hier das Militärische im Hintergrund: Nur der Soldat, der gelitten hat, gelangt zum Ruhm. Auch später ist der Märtyrer der miles gloriosus. Zur Verbindung »Leiden des Christus« vgl. auch 1 Petr und Apg 3,18; 17,3; 26,23 sowie bei Paulus in Röm 8,17 und Phil 3,10. Deshalb ist öfter von der Notwendigkeit des Leidens die Rede, weil es »nach Lage der Dinge«, nach dem »Gesetz der Wirklichkeit« Vorbedingung zur Herrlichkeit ist.
Berger (08129) / p. 306 / 19.5.2020
306 Ab Lk 24,26 findet sich der absolut gebrauchte Christus-Titel im lukanischen Werk nur noch im Zusammenhang mit »Schriftbeweis«. Als der Leidende ist Jesus der Christus (24,46; Apg 2,31; 3,18; 4,26; 8,5; 9,22; 17,3; 18,5; 26, 23). Schließlich ist – von den Missionspredigten an die Juden in der Apg her gesehen – die Passion der dunkle Hintergrund (auf Seiten der Juden: Unwissenheit), vor dem sich Gottes Auferweckung Jesu vollzieht. Nach Lk 17,25 ist diese Phase nicht einfach vergangen. Auch die Gegenwart liegt noch zwischen Leiden und Wiederkunft des Menschensohnes. Das physische Leiden Jesu wird ebenso betont wie seine Geduld. Damit wird die Deutung des Leidens Jesu als des leidenden Gerechten gegenüber den anderen Evangelisten noch verstärkt. Jesu Wort an den gerechten Schächer (»Heute wirst du mit mir im Paradies sein«) ist ein wichtiges Zeugnis für die außerhalb von Paulus bezeugte christliche Anschauung vom Zwischenzustand: Der Leichnam wird in der Erde begraben. Bis zur Auferstehung ist der Gerechte im Paradies (»Zwischenzustand«), für Jesus dauert diese Zeit zwei Tage, für den Schächer dauert sie immer noch an. Die Existenz im Paradies ist nicht leiblos (vgl. 2 Kor 5,3f), aber eben auch noch nicht die der Auferstandenen. »Wirklich, dieser Mensch war gerecht!« (Lk 23,47). Dieses Wort des Hauptmanns unter dem Kreuz ist die theologische Mitte des LkEv – kein Hoheitstitel, sondern dieses schlichte Attribut »gerecht«. Denn Gerechtsein ist die letzte und tiefste Wurzel für alles andere, was Jesus bedeutet. Vor allem ist diese Eigenschaft historisch erfassbar und erwiesen. Für Jesus gilt damit der Maßstab eines jüdischen Zadiq (»des vollkommen Gerechten«). Kein himmlischer Glanz, sondern nur dieses eine, sehr Einfache: Der Prozess Jesu ist damit entschieden. Alle Dramatik von Verrat, Golgota, Tod, Auferstehen und Wiederkommen als Richter ist inbegriffen in der Aussage, dass er gerecht war. So als ginge es noch wie in Gen 18 um die eine Frage, ob es in der Stadt auch nur einen Gerechten gäbe; dann könnte alles verschont werden um seinetwillen. Als sei die Weltgeschichte eine Art Sieb, das geschüttelt wird, und dessen Schütteln nur den einen Sinn hat, den einen Gerechten herauszufinden. Das Wort »gerecht« ist auch ein
Das Lukasevangelium
öffentlich-rechtlicher, politischer Begriff, auch ein sozialer Schlüsselbegriff; denn die Gerechtheit des Gerechten könnte das Zentrum oder die Stütze eines Gemeinwesens sein. Daher rührt die »soziologische« Bedeutung der Zadiqim im Judentum und der Heiligen im Christentum. Denn Gerechtsein ist mit Händen zu greifender Sinn. Nach Lukas ist Jesus nicht Muster heroischer Unerschütterlichkeit, nicht triumphierender, sondern leidender, gepeinigter Gerechter. Für die lukanische Passion sind im Übrigen folgende Merkmale bezeichnend: Jesus wird als Märtyrer dargestellt. Er wird als Geduldiger geschildert, der eine ganze Serie von Misshandlungen über sich ergehen lässt. Die Misshandlungen in Lk 22,63-65 werden als Einschüchterungsversuche dargestellt – ein Topos der Märtyrerliteratur, der die Leser zu furchtlosem Bekenntnis des Glaubens mahnen soll. Denn darauf folgt das Bekenntnis Jesu zu seiner Gottessohnschaft. An die Aufgabe der Jünger, Jesus nachzufolgen, erinnert in Lk 23,26 die lukanische Besonderheit, dass Simon von Kyrene das Kreuz hinter Jesus herträgt. Dem entspricht Lk 9,23, wonach der Jünger täglich das Kreuz auf sich nehmen und so Jesus nachfolgen soll. Simon von Kyrene ist daher als der buchstäblich ideale Jünger dargestellt, der mit dem Kreuz Jesus nachfolgt. Übrigens wurde nicht das komplette Kreuz zur Hinrichtung getragen, sondern nur der Querbalken. Der Pfosten, an dem der Querbalken befestigt wurde, war schon vorher durch die hinrichtenden Behörden in den Boden eingelassen worden. Als Märtyrer sucht Jesus, Gegner und Unbeteiligte durch sein Verhalten zu gewinnen, durch Heilung des abgeschlagenen Ohres (22,51) und durch Vergebung am Kreuz; denn der Märtyrer bittet für seine Henker, und der gerechte Schächer wird gar sein Los teilen (23,43). Als Märtyrer stirbt er mit dem Ausdruck der Gottergebenheit (23,46), dem Psalm 31,6 (»Vater, in deine Hände lege ich mein Leben«), den jeder Jude und jeder Mönch, jede Nonne vom Abendgebet her kennt. Die Menge aber schlägt sich an die Brust, erschüttert vom unschuldigen Märtyrerleiden (23,48). Jesu Unschuld, seine Gerechtigkeit werden wiederholt festgstellt (23,41.48). Und Gott tröstet den Märtyrer in schweren Erprobun-
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Kapitel 23
gen auf wunderbare Weise (durch den Engel: 22,43f). Jesu Bitte für seine Feinde (»Vergib …«) wird der Erzmärtyrer Stephanus wiederholen (Apg 7,60: »Rechne nicht an …«), und ebenso die Märtyrer von Lyon. Die Begründung Jesu für seine Fürbitte »denn sie wissen nicht, was sie tun« kehrt wieder in der Missionspredigt der Apostel: Juden waren bei der Hinrichtung Jesu und Heiden waren in ihrem Götzendienst »unwissend«, und deshalb sind sie nicht zu verwerfen, sondern es ist ihnen (eben in der Predigt, die sie gerade hören) noch einmal eine volle Chance zur Umkehr gegeben. Der gerechte Schächer, der seine Sünden bekennt, wird als Beispiel dafür genannt, dass es für eine Bekehrung nie zu spät ist. Gerade die Bitte des zur Umkehr bereiten Schächers wird im Mittelalter gerne aufgegriffen. In seinem Hymnus »Hier bet’ ich auf den Knien, verborgner Gott, dich an«, sagt Thomas v. Aquin und wiederholt damit die Bitte des Schächers: »So erbitte ich, was der reuige Räuber erbeten hat.« In die Richtung der späteren Martyrien weisen auch die gegen Jesus nur bei Lukas erhobenen Vorwürfe, er hetze das Volk zu Unruhe auf (Lk 23,2); denn derselbe Vorwurf wird dann auch in Apg 19,40 gegen Paulus im Blick auf Ephesus erhoben (»Aufstand«). Und dass Jesus die Kaisersteuer abgelehnt habe (Lk 23,2), werden Christen wohl öfter zu hören bekommen haben; dies war ein naheliegender Wunschtraum und ein billiger Vorwurf. Auch Paulus muss in Röm 13,7 gegen dieses Vorurteil ankämpfen. Dass Lukas diesen Vorwurf bewahrt hat, ist ein zusätzliches Argument dafür, dass seine Leser in Rom saßen, denn dort war man naturgemäß für Steuerausfälle besonders hellhörig. Jedenfalls soll Jesus nicht allein durch seinen – angeblichen – Königsanspruch kompromittiert werden, sondern zusätzlich durch die eindeutig antrirömische Ablehnung von Steuern. Lukas greift beides auf, um es als falsch zu entlarven. In die gleiche Richtung weist, dass Lukas die Verspottung Jesu durch die römischen Soldaten übergeht; denn das wäre zusätzlicher Anreiz gewesen, in Rom zwischen Christen und Römern Feindschaft zu säen. Deshalb führt Lk auch Pilatus als Zeuge der Unschuld Jesu an. So wird zudem späteren römischen Behörden der Weg abgeschnitten, etwa Christen in Rom wegen
Komplizenschaft mit Jesus (als Unruhestifter, Steuerverweigerer) zu verdächtigen. Jesu Passion wird ferner gedeutet als das besondere Werk Satans, der ja die Macht in dieser Welt verteilt (Lk 4,5f), so Lk 22,3 (Teufel im Herz des Judas) und 22,53 (Stunde der Macht der Finsternis). Entsprechend versöhnen sich auch die Machthaber auf der Gegenseite (Lk 23,6-12, vgl. Apg 4,25-30). Die Juden teilt Lukas ein in »das Volk« und »die Frauen«. Letzteren widmet er die dramatische Szene mit den »Töchtern Jerusalems« (Lk 23,2732). Die Aufforderung Jesu, nicht über ihn, sondern über die eigenen Kinder zu trauern, könnte durch die rätselhafte Weissagung in Sach 12,1014 veranlasst sein, in der von Trauer – besonders der Frauen – die Rede ist. Der einleitende Satz lautet: »Sie werden auf den hinblicken, den man durchbohrte.« In Jer 9,19 heißt die Aufforderung an die Frauen: »Lehrt eure Töchter die Klage, und eine lehre die andere das Leichenlied.« Dazu fordert Jesus hier geradezu auf. Klage über Tote ist in Palästina bis heute eine öffentliche Sache der Frauen. – Das Bild vom grünen und vom dürren Holz soll zeigen: Wenn schon Jesus, der Unschuldige, solches leiden muss, wie sehr wird das Leiden dann erst die Schuldigen treffen. Das Schwertwort in Lk 22,37f besitzt eine besondere Logik in der gleichen Richtung (Jesus ist unschuldig!). Die Jünger sollen sich mit einem langen Messer bewaffnen, »denn an mir muss die Schriftstelle in Erfüllung gehen: Er wurde wie ein Verbrecher behandelt.« Wenn also der Unschuldige und Gerechte, der waffen- und gewaltlose Jesus schon wie ein Verbrecher behandelt wird, was wird man dann erst den Jüngern antun? – Nirgendwo so stark wie in der Passion nach Lukas werden daher viele Ansätze zur direkten »Anwendung« und Nachahmung im Leben eines Christenmenschen gegeben.
Lk 22,31-34: Petrus wird Jesus verleugnen Also hat Jesus sich entweder geirrt, oder er kann nicht beten, oder sein Gebet ist nicht erhört worden. Denn unmittelbar nachdem er Petrus zugesichert hat, er werde für ihn beten, dass sein Glaube nicht erlischt – unmittelbar danach sagt er ihm ins Gesicht, dass er leugnen wird, ihn
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308 überhaupt zu kennen. Nennt man das vielleicht Glauben, wenn man sagt wie Petrus: Ich kenne diesen Menschen nicht? Die exegetischen Kollegen erklären: Lukas habe zum Thema Petrus sinnlos zusammengestellt, was nicht zusammengehört. Doch das Argument mit der Dummheit der Evangelisten ist buchstäblich immer das Letzte. Wahrscheinlich liegt etwas anderes vor, mit dem wir gar nicht rechnen: Petrus hat geleugnet, Jesus zu kennen, aber als der Hahn krähte, konnte er bitterlich weinen. Offenbar ist genau dies der nicht erlöschende Glaube des Petrus, dass er fähig ist zum Weinen, zur Umkehr. Deshalb sagt ein tausend Jahre altes Gebet: Herr, du hast deine Kirche gegründet auf die Tränen des Petrus und auf die Briefe des Paulus. Wie kostbar sind die Tränen des Petrus. Anders als Mk berichtet Lk über die drei PetrusVerleugnungen geschlossen (V. 56-62). – Rahmen: Jesus wird in das Haus des Hohenpriesters gebracht, und Jesus blickt Petrus an. Dazu Albertus Magnus, Komm. 334: oculo miserationis cor eius convertit.
Lk 22,39-46: Getsemani Lukas gestaltet die Getsemani-Szene zu einem Stück Gebetsparänese. So wird der Abschnitt gerahmt durch gleichartige Aufforderungen in 22,40 und 22,46 (nicht in Versuchung hineinzukommen). Jesus ist das Vorbild für ein derartiges Gebet: a) in der Vater-Anrede, b) im doppelten Hinweis auf den Willen Gottes (V. 42: »Wenn du willst … dein Wille geschehe«), und c) Jesus wird auch exemplarisch getröstet (V. 43: Engel erscheint und kräftigt). – V. 44 Schweiß wie Blut als Gegenbild zur Verwandlung beim Gebet auf dem Berg in 9,29. Zu Lk 22,43 (Engel kräftigt): Vgl. 1 Kön 12,5f (Engel zu Elia: Iss und trink); 4 Esra 12,5f (ich bin schwach, keine Kraft; stärke mich und zeige mir die Deutung); TestJakob (äth) 2 (Fürchte dich nicht, ich bin der Engel, der dich kräftigt); Hippolyt, Daniel 3,7,5 (Daniel wurde vom Heiligen Geist gekräftigt); 2,21,1-2 (Heiliger Geist als Kraft für Märtyrer); Apostolicae Historiae (Fabricius 482) (Der Engel des Herrn wurde er-
Das Lukasevangelium
blickt, wie er vom Himmel herabstieg und den heiligen Apostel im Stadion kräftigte); Petrus Apk (arab) II Mingana 378 (Petrus wurde durch die Gnade Gottes gekräftigt). – Von Jesus: 2 Tim 4,17: Der Herr stand mir zur Seite und kräftigte mich. Nach diesen Texten bewirkt die Erscheinung oder Wirksamkeit eines Engels oder des Heiligen Geistes eine Kräftigung des schwachen Menschen, der in einer Notsituation ist. Es besteht kein Zweifel daran, dass eine »transzendente« Macht direkt physische Stärkung bewirken kann. Verbreitet ist das Motiv in Märtyrergeschichten.
Lk 22,47-53: Gefangennahme Jesu Die Szene wird durch starke Kontraste bestimmt. Die Kontraste stellen das unvermittelte Unrecht der Gegenseite heraus. Gerade die Art der Ergreifung Jesu zeigt es massiv. V. 48: Kuss contra den Menschensohn ausliefern V. 49-51: Schwert contra Heilung des Ohres V. 52f: Die Hände nicht gegen Jesus ausstrecken contra wie einen Räuber behandeln V. 53: Täglich war Jesus im Tempel contra jetzt aber wird er gewaltsam gefangen V. 53:Tempel contra Macht der Finsternis
Lk 22,54-65: Verleugnung durch Petrus Zu Lk 22,66-77: Der Abschnitt Lk 22,66-77 ist dem in Mk 11,29-33 verwandt. In beiden Fällen wird eine scheiternde Kommunikation geschildert. In beiden Fällen scheitert die Kommunikation an einem ausweglosen Dilemma auf der Seite der Kontrahenten Jesu. Sie sind im eigenen Netz gefangen, und zwar bis zur Bewegungslosigkeit, d. h. so, dass sie verstummen müssen. (Mk 11,28): »Jesus entgegnete ihnen: Beantwortet mir nur eine einzige Frage, dann will ich auf eure Bitte eingehen. War die Taufe des Johannes von Gott oder von Menschen? Da gingen sie miteinander zu Rate (31) Wenn wir sagen: von Gott, dann wird er sagen: Warum habt ihr dann dem Johannes nicht geglaubt? Aber sollen wir sagen: von Menschen? Sie hatten Angst vor dem Volk, denn alle hielten Johannes für einen Propheten. So antworteten sie Jesus: Wir wissen es nicht.«
Berger (08129) / p. 309 / 19.5.2020
Kapitel 23
Der ersten Antwort entspricht Lk 22,67f: »Wenn ich euch das sage, werdet ihr es doch nicht glauben. Wenn ich euch Gegenfragen stelle, werdet ihr nicht antworten.« In Mk 11 stellen die Kontrahenten Jesu selbst ihre Bewegungsunfähigkeit fest, in Lk 22,67f ist es Jesus, der das feststellt. In diesem Abschnitt (22,63-71) werden vier christologische Titel diskutiert: Prophet: Wenn die Menschen Jesus nicht ganz falsch verstanden haben, dann geht es dabei um ein prophetisches Vorzeichen seiner Messianität. (Es wären auch andere Vorzeichen denkbar, z. B. das politisch-militärische oder das rein zukünftige.) Der Prophet ist hier einer, er das sehen kann, was Menschen verborgen ist. Messias: Im Rahmen zeitgenössischer Eschatologie kann Messias verschieden gefüllt sein, z. B. als der Geistgesalbte oder als priesterlicher Messias neben dem königlichen. Auch hier geht es um die Frage, ob Jesus der Messias ist, nicht ob er einer sein wird. Sohn Gottes: Jesus bejaht und verweist auf die Kontrahenten selbst, die mit ihrer Frage diesen Titel ins Spiel brachten. Menschensohn: Hier ähnlich verstanden wie der Menschenähnliche in Dan 7, der an Gottes Thron steht. Menschensohn bedeutet hier die unverhüllte Repräsentation der Macht und Herrlichkeit Gottes durch seinen Generalbeauftragten. Die vier Titel insgesamt beschreiben daher hier Hoheit und himmlische Würde Jesu. Dass Jesus zur Rechten der Macht sitzen wird, setzt »Macht« als Umschreibung des Gottesnamens voraus (ähnlich in PetrusEv V[19]). Dass Jesus »von jetzt an« an der Rechten Gottes steht, bezeichnet seine Herrlichkeit nach der Erhöhung. So sagt es auch schon Mk 14,64, und zumindest ein Stehen des Menschensohnes rechts von Gott setzt die Stephanusvision voraus (Apg 7,55). Das heißt: Ab jetzt, d. h. von der Erhöhung zu Ostern an, ist die Menschensohnwürde Jesu visionär erfassbar, und zwar nicht nur für Stephanus nach Apg 7, sondern nach Mk 14,64; Lk 22,62 auch für die Kontrahenten Jesu. Die kritische Situation »vor Gericht« ist wohl der angemessene »Sitz im Leben« für eine derartige Vision. Jesus verweist damit, selbst vor Gericht stehend, auf das, was zumindest auch seine Jünger in vergleichbaren Situationen sehen werden.
309 Die Passion nach Lk ist durch Worte über Jerusalem gerahmt: 19,39-46 (schuldiges Volk); 23,28-31 (weinendes Volk). Zu Lk 23,6-16: Viele Einzelheiten und ursächlichen Zusammenhänge bleiben in diesem Abschnitt unklar. Von einiger Bedeutung scheinen mir aber folgende Punkte zu sein: 1. Für die wirklich Mächtigen seiner Zeit (Pilatus und Herodes) war und blieb Jesus trotz der Anstrengungen seiner Gegner ein »kleiner Fisch«, eine galiläische Provinz-Erscheinung. Vor allem jüdische Kreise sahen das ganz anders (vgl. 23,5). Die Machthaber konnten sich dagegen einen lässigen und halbwegs uninteressierten Umgang mit Jesus leisten. In diesem Zusammenhang ist auch die Notiz zu verstehen, Herodes habe Jesus verächtlich behandelt, ihn verspottet und ihm ein (weißes) Prunkgewand anziehen lassen. Wer dafür Zeit hatte, gab damit zu erkennen, für wie harmlos er Jesus hielt. 2. Das neugierige Interesse des Herodes, womöglich ein Wunder von Jesus zu erleben, bleibt politisch wie religiös völlig an der Oberfläche. Es ist nur ein wenig Sensationsgeilheit, was hier als Beweggrund angegeben wird. Das Thema spielt denn auch im Folgenden keine Rolle mehr. 3. Man kann wohl annehmen, dass Herodes und Pilatus deshalb Freunde wurden, weil sie in der Einschätzung der »Lappalie Jesus von Nazaret« übereinstimmten. – Die frühere Feindschaft wird ähnlich an der Oberfläche gelagerte Gründe gehabt haben wie die daraus jetzt entstandene Freundschaft. 4. Für den Fall Jesus interessieren sich beide Machthaber nur deshalb und lediglich am Rande, weil Jesus Galiläer ist. So haben die beiden Männer ein gemeinsames Thema von – und das ist wichtig – nicht allzu großer Tragweite. Die verspottende Kostümierung Jesu ist dabei eine scherzhafte Einlage. Wer sich so etwas ausdenkt, unterstreicht damit nur das grundlegende Einverständnis. Ähnliche Funktion hatte später die gemeinsame Jagd anlässlich von Staatsbesuchen. 5. Auch hinsichtlich der jüdischen Gegner Jesu bleibt unerwähnt, was sie ihm vorwarfen; hier kommt nur das Wie zur Sprache (M. Wolter, Komm., 743). 6. Ähnlichkeiten gibt es mit dem Verfahren gegen Paulus nach der Apg.
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310 Zu Lk 23,27-32: Den Frauen, die um ihn weinen, hält Jesus eine apokalyptische Umkehrpredigt. Ausgangsstelle ist Hos 10,8: »Vernichtet wird Israels Sünde …, dann wird man zu den Bergen rufen: Bedeckt uns! Und zu den Hügeln: Fallt auf uns nieder!« Man vergleiche Lk 23,30: »Dann werden die Menschen in ihrer Bedrängnis den Bergen zurufen: Stürzt auf uns nieder! Und den Hügeln: Deckt uns zu!« Man kann hier vom Gemeingut apokalyptischer Schultradition sprechen. Dabei ist die Intention je nach Kontext durchaus unterschiedlich: 1. Menschen wollen von Bergen und Hügeln bedeckt werden, um für die bzw. den Richter unsichtbar zu bleiben. 2. Von Bergen begraben zu werden erscheint noch als angenehm im Vergleich zur erwarteten Gerichtsstrafe. 3. Es kann sich einfach um den Wunsch handeln, vorzeitig zu sterben, um das Gericht nicht mehr erleben zu müssen. Die Berge und Hügel escheinen als Suizid-Helfer. Offb 6,16: »Fallt auf uns!, fordern sie die Berge und Felsen auf, verbergt uns vor dem, der auf dem Thron sitzt und dem Lamm! Denn der große Tag ist da, an dem er Zorn losbricht. Wer wird ihm standhalten können?« – Die Berge und Hügel sollen vor dem Zorn Gottes beschützen. Das heißt: Die »Bestrafung« durch sie wird ausdrücklich der Bestrafung durch Gott vorgezogen. – Ähnlich im aram. Ephraem-Fragment:« Kommt, Berge, und bedeckt die Sünder!« Anders äth Schenute Apk 3,1 »Wegen der Wucht des Unheils und der Heimsuchung, die über alle Sünder hereinbrechen wird, sodass sie zu den Bergen sagen werden: Fallet auf uns! und zu den Hügeln: Bedeckt uns! Wohlan, Himmel, stürze zusammen über uns und bedecke uns. Wohlan, Meer, laß uns untergehen, und verbirg uns vor der furchtbaren Majestät Gottes, denn der Grimm seiner Macht hat sich erhoben, zermalmen wird er die Erde.« Im Kontext von Lk 23,30 zitiert Jesus diese Schultradition, um die Schrecklichkeit des kommenden Gerichts anhand der Ängste auszuweisen, die die Menschen dann ausstehen werden. Fazit: Lieber jetzt weinen und umkehren als in Zukunft Wahnsinnsängste ausstehen. Die Juden teilt Lukas ein in »das Volk« und »die Frauen«. Den letzteren widmet er die dramatische Szene mit den »Töchtern Jerusalems« (Lk
Das Lukasevangelium
23,27-32). Die Aufforderung Jesu, nicht über ihn, sondern über die eigenen Kinder zu trauern, könnte durch die rätselhafte Weissagung in Sacharja 12,10-14 veranlasst sein, in der von Trauer, besonders der Frauen, die Rede ist. Der einleitende Satz ist: »Sie werden auf den hinblicken, den man durchbohrte«. In Jer 9,19 heißt die Aufforderung an die Frauen: »Lehrt eure Töchter die Klage, und eine lehre die andere das Leichenlied«. Dazu fordert Jesus hier geradezu auf. Klage über Tote ist in Palästina bis heute eine öffentliche Sache der Frauen. Das Bild vom grünen und vom dürren Holz soll zeigen: Wenn schon Jesus, der Unschuldige, solches leiden muss – wie sehr wird das Leiden dann erst die Schuldigen treffen. Zu Lk 23,33: Dass Jesus von zwei anderen Missetätern »eingerahmt« ist, ist wie eine Persiflage auf das Botenschema, wonach Gottes Bote (oder Gott selbst) von zwei Engeln je rechts und links begleitet wird. Zu Lk 23,34-43: Nach 23,42 geht Jesus mehr oder weniger unmittelbar nach seinem Tod in sein »Reich« ein. Dieses Reich ist wohl das von Offb 20,4, in dem Jesus tausend Jahre regieren wird. Paulus setzt wohl Ähnliches in 1 Kor 15,24f voraus. Das heißt: Jesus tritt seine Herrschaft nach seinem Tod an; diese besteht in dem Prozeß der Ausschaltung bzw. Überwindung der Mächte und Gewalten, am Ende des Todes. Auch in Mt 13,41 ist ein »Reich des Christus/Menschensohnes« vorausgesetzt. Nach Lk 23,43 ist Jesus »im Paradies«. Bis in die frühe Neuzeit hinein ist es üblich, den Ort des Zwischenzustandes (zwischen individuellem Tod und allgemeiner Auferstehung) mit alttestamentlichen Metaphern zu beschreiben (Schoß Abrahams, himmlischer Tempel; verheißenes Land und daher »Ruheort« requies oder »Licht«). Denn die altttestamentliche Landverheißung geht hier und so in Erfüllung. Dienen doch die tausend Jahre am Ende dazu, dass Gott vor dem Ende der bestehenden Welt einlöst, was er verheißen hat. Dazu gehört nach Offb 20 auch das Geschick der Märtyrer, denn diese sind ja zu kurz gekommen. Das heißt: Das Tausendjährige Reich ist das Paradies von Lk 23,43. In ihm schafft Gott Ausgleich für alles Nicht-Abgegoltene und
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Kapitel 24
Erfüllung für alles Versprochene und noch nicht Erfüllte. Denn seit Ostern regiert Christus in seinem Reich. Jesus beschwört diese Erfüllung auch für den gerechten Schächer. Daher ist Lk 23,34 als Amen-Wort formuliert. Die kurze Szene des Dialogs mit dem gerechten Schächer hat die Frömmigkeit des Mittelalters stark und immer wieder beeinflusst (Qui Mariam absolvisti et latronem axaudisti, mihi quoque spem dedisti [aus der Sequenz Dies irae] … atque confitens peto quod petivit latro poenitens [aus dem Gebet Adoro te devote des heiligen Thomas v. Aquin]). Zu Lk 23,46: Die Summe des Lebens Jesu ist auch bei Lukas das letzte Wort aus dem Munde Jesu, das er am Kreuz sagt: »Vater, in deine Hände lege ich mein Leben« (Lk 23,46). Dieser Text aus Ps 30,6 (LXX) entspricht dem jüdischen Abendgebet (vgl. Berakhot 5a; Tanchuma B zu Ps 31,6). Auch Stephanus wird ähnlich beten: »Herr Jesus, nimm mein Leben an« (Apg 7,59). Der Märtyrer Zacharias, der Vater des Täufers, schreibt über sein Martyrium an Herodes: »Du nimm mein Blut, meine Seele (griech.: pneuma) aber wird mein Herr aufnehmen, denn du vergießt unschuldiges Blut« (ProtEv Jacobi 23,3; zu Stephanus vgl. Apg 7,56 mit Lk 22,69 (Sitzen zur Rechten); Apg 7,53 mit Lk 23,46 (Sterbegebet aus Ps 31,8); Apg 7,60 mit Lk 23,34 (Bitte um Vergebung).
Lk 23,42f: Zwischen Tod und Auferstehung Zusammen mit Lk 16,19-31 liefern die Verse Lk 23,42f Informationen über den »Zwischenzustand« zwischen Tod und Auferstehung des
Gerechten. Für den verstorbenen Schächer und für Lazarus (nach Lk 16) dauert der Zwischenzustand von der Todesstunde bis zur dereinstigen Auferstehung. In der Zwischenzeit lagern die Knochen in der Erde. Für Jesus dauert diese Zwischenzeit nur maximal drei Tage, eben von Karfreitag bis »Ostern«. Jesus verwest daher auch in der Erde, aber nur zwei Tage lang. An den beiden Lukas-Stellen und in der Alten Kirche werden mit Vorzug alttestamentliche Bilder verwendet, um das Ergehen der Gerechten zu beschreiben (Paradies, Schoß Abrahams, Tempel, himmlischer Altar). Besonders bei Märtyrern ist man sich sicher, dass sie noch »heute« einen glücklichen Zwischenzustand erreichen werden: Passio Scilitan 15 (hodie martyres in caelis sumus); Mart Mariani et Iac (cras enim nobiscum et ipsi caenabitis); Acta Pilati B 10 (Heute, ich sage dir die Wahrheit, habe ich dich im Paradies); Narratio Ioseph 3,4 (Mit mir im Paradiese die Söhne des Reiches); makkab. Märtyrer (Eine Stimme kam herunter vom Himmel: O Hannah, du und deine sieben Söhne sollen Einwohner des Paradieses werden). In der mittelalterlichen Frömmigkeit haben die beiden Verse 23,42f stark gewirkt, vgl. etwa: Qui latronem exaudisti, mihi quoque spem dedisti (im Dies irae dies illa) und peto quod petivit latro poenitens (im Adoro te devote des Thomas v. Aquin). Zu Lk 23,34.46: Neu bei Lukas: »Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.« Das Nicht-Wissen gilt auch in der frühen Bekehrungspredigt stets als Argument, zur Umkehr zu bewegen. – Neu bei Lukas auch in 23,46 das Zitat aus Ps 31,6: »Vater, in deine Hände lege ich mein Leben.« Der Psalm ist Abendgebet im Judentum und in der Kirche. Vgl. auch Weish 3,1: »Die Seelen der Gerechten sind in Gottes Hand.«
Lk 24: Die Berichte über den auferstandenen Jesus Lk 24,1-11: Frauen am Grab Jesu Häufig erwecken Osterpredigten einen quälerischen Eindruck, als stünde nun jeder vor der – schier unlösbaren – Frage, ob er Jesus nun auferstanden sein lassen soll oder nicht. Dieser Eindruck entsteht, wenn Ostern als die Hauptschwierigkeit des Glaubens dargestellt wird. Die
Mehrzahl der Osterberichte lässt aber gerade davon nichts erkennen. Freilich müssen sie darstellen, dass es kein Totengeist war, der erschien, sondern Jesus selbst. Und drei der vier Evangelien legen auf eine Mehrfachbezeugung der Auferstehung Jesu großen Wert. Im Vordergrund steht aber nie die dogmatisch-doktrinäre Frage, sondern stets wird Ostern als eine überwältigende
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312 Erfahrung geschildert. Daher sollte jede »Umsetzung« der Osterbotschaft für Menschen unserer Zeit von Ostern als einer ansteckenden Freude, von einer Begegnung mit dem lebendigen Jesus ausgehen. Denn Ostern ist nicht eine paradoxe Behauptung gegen alle Wirklichkeit, sondern eine Erfahrung des in Jesus lebendigen und siegreichen Gottes. Ostern ist als ansteckende Erfahrung weiterzugeben. Allerdings sind die Ostertexte nicht einfach »Bilder der Hoffnung« für Beliebiges (Frühling, Frieden, Liebe). Vielmehr beziehen sie sich auf die konkrete Leiblichkeit Jesu. Dabei hat man allerdings zu stark an die Wiederherstellung des alten Leibes gedacht und oft aus bester Absicht seine Umwandlung unterschlagen. Denn der Leib des Auferstandenen ist von Vergänglichkeit und Tod wie auch von aller räumlichen Einschränkung durch Grenzen befreit. Damit ist er freilich nicht weniger leiblich als Jesus vor Ostern. Doch durch die Gottesbegegnung am Ostermorgen wird der Leib Jesu verwandelt und endgültig verklärt. Wenn man Auferstehung vom Leib löst, wird sie letztlich zum bloßen Gedankenkonstrukt im Sinne von »die Sache Jesu geht weiter«. Das Judentum, das die Kategorien zur Erfassung bereitgestellt hat, kennt beim Menschen keine Trennung von Leib und Seele. Auferstehung ist leibhaftig (mit einem verwandelten Leib) zu denken oder eben gar nicht. Denn der Mensch ist unteilbar; der Leib ist der »Ort«, an dem Ohnmacht, Leidensdruck und Ausgeliefertsein erfahren werden, und so sind auch Seligkeit und Herrlichkeit nur leibhaftig zu »denken« und zu erhoffen. Das schöne Bild vom Aufatmen in Lk 21,28 zielt auf diese Ganzheit. Oft hat man in diesem Zusammenhang so getan, als seien die Berichte über das leere Grab »sekundär« gegenüber den knappen Formeln bei Paulus (»Der Herr erschien dem X«). Denn die Evangelien seien später als die Briefe geschrieben, und da es Engel sowieso nicht geben könne, seien die Berichte vom leeren Grab reine Legende. Dazu ist zu sagen: Die Evangelien sind zwar später niedergeschrieben als der 1. Korintherbrief, aber das besagt nichts über das Alter der verarbeiteten Überlieferungen. Ferner erwähnt Paulus das leere Grab zwar nicht, er setzt es aber sachlich voraus. Denn wenn er von Auferstehung spricht, wie in 1 Kor 15, nennt er sie Verwandelt-
Das Lukasevangelium
werden oder Aufgehobensein eines in der Erde gestorbenen Samenkorns in der neuen Pflanze. Das Bild des Verschlingens bedeutet nichts anderes, als dass in dem neuen Auferstehungsleib alle Spuren des alten aufgehoben sind, und zwar im doppelten Sinne des Wortes »aufgehoben«, als umgewandelt und restlos beseitigt. Wo Paulus dagegen vom Zwischenzustand der Christen zwischen ihrem Tod und der Auferstehung der Toten spricht, geht er von einem neuen Leib aus (»himmlisches Haus«), spricht aber nicht von Auferstehung, denn die alten Knochen ruhen ja noch in der Erde. Der alte Leib in der Erde wartet noch auf die Auferstehung, in der dann die alten Knochen hineinverwandelt werden in den schon bestehenden himmlischen Leib. Erst in der Auferstehung wird der neue Leib sichtbar und wird dann auch die ganze Erde von der Sklaverei des Todes befreit. Bis dahin sind die Christen noch nicht auferstanden. Nur von Jesus kann Paulus als von »auferstanden« sprechen. Er ist der Prototyp. Und nur bei ihm ist daher auch das leere Grab vorausgesetzt. Die verstorbenen Christen sind leibhaftig beim Herrn, aber für uns noch nicht sichtbar und noch nicht auferstanden. Fazit: Bei der Auferstehung Jesu Christi ist die Verwandlung des alten Leibes denknotwendig, daher auch seine Absorbierung und daher das leere Grab. Die Frage nach der Leiblichkeit ist daher bei Paulus wie in den Evangelien eindeutig beantwortet. Und sie ist eben alles andere als belanglos. Denn stets sind Wohl und Wehe unserer Existenz, Seligkeit oder Verdammnis bestimmt durch das, was mit dem Leib und an ihm geschieht. Lukas hat Ostern auch und ganz wesentlich als Legitimation Jesu angesichts seiner Mörder gesehen. Das geht aus der Apostelgeschichte hervor. Denn in den Predigten der Apostel gegenüber Juden (nicht in den reinen Heidenpredigten) findet sich immer wieder diese Struktur: »Ihr habt ihn aufgehängt. Gott aber hat ihn auferweckt …« Das heißt: Gottes Handeln ist dem der Mörder Jesu strikt entgegengesetzt. Er widerlegt dieses mörderische menschliche Tun durch sein göttliches Handeln. Auferstehung Jesu wird damit zur Legitimation des schimpflich Verurteilten und qualvoll Hingerichteten, Legitimation durch Gott. Gott setzt ihn ins Recht. 1 Tim 3,16 kann in diesem Sinne von der Rechtfertigung Jesu spre-
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Kapitel 24
chen (»gerechtfertigt durch den Heiligen Geist«, denn der Geist ist der Auferweckende). – Dass der, der Jesus nachfolgt, auch an seinem Geschick Anteil haben wird, kommt in den Evangelien nur indirekt zum Ausdruck. Die Ostkirche hingegen betont schon bei der Auferstehung Jesu selbst, dass er den Tod überwunden hat. Der Satz »Was sucht ihr den Lebendigen bei den Toten?« in Lk 24,5 kann die Brücke zu dieser Auffassung sein. Die Meinung der Ostkirche lautet: Jesus ist in das Reich der Toten hinabgestiegen. Er war wirklich tot und bei den Toten. Aber er war der Einzige, der den Tod nicht verdient hatte, denn er war vollkommen gerecht. Der Herr des Todes (z. T. als Teufel vorgestellt) hat nicht gemerkt, dass Jesus in sein Reich eingedrungen ist. Jesus war daher ein »Schläfer« ganz im wörtlichen und zugleich modernen Sinn der terroristischen Fachsprache. Er hat sich in das gegnerische System unerkannt »eingeschlichen«. Dort schläft er eine Zeitlang (nämlich zweieinhalb Tage), dann wacht er auf. Zum Schrecken des Herrschers des Todes kann er nun das Reich des Todes von innen her sprengen. Nur von außen her kann man das nicht: Die Riegel, mit denen die Totenwelt verschlossen ist, lassen sich nur von innen her öffnen. Jesus bricht diese Riegel von innen her auf und zerstört damit das gegnerische System. Der Herrscher der Totenwelt ist damit besiegt, die Welt der Toten ist geöffnet. Das bedeutet: Fortan ist der Tod nicht mehr allmächtig. Seine Herrschaft dauert nur ganz kurz. Seit Jesu Tod kommen die toten Christen (jedenfalls und zumindest sie) direkt zu Jesus. Er steht mit weit geöffneten Armen da, um jeden Christen in die Arme zu schließen. Er sagt: ›Ich habe auf dich gewartet, und nun kann uns nichts mehr trennen.‹ Jesus war demnach der Letzte, der sich der Herrschaft des Todes wirklich in jenem alten Sinne unterworfen hat, dass er in das »Reich ohne Wiederkehr« einging. Aber da er nicht hineingehörte, konnte er wie sonst ein terroristischer Schläfer aufwachen und dieses von innen her auflösen. Die Ostkirche feiert damit zu Ostern die völlig gewandelte Rolle des Todes seit Tod und Auferstehung Jesu. Jesus war in diesem Sinne auch der letzte, der klagen konnte: »Mein Gott, wozu hast du mich verlassen?« Für alle Christen ist seither der Tod nicht Gottverlassenheit, sondern der Übergang, die Pforte zur vollen
313 Gemeinschaft mit dem auferstandenen und erhöhten Herrn. Dehalb kann Paulus in Phil 1,23 sagen, er sehne sich so sehr danach, beim Herrn zu sein. – Weil die Ostkirche diesen Weg fand, ist sie im Ganzen eine österliche Kirche geworden. Sie kann Ostern verbinden mit dem eindeutigen Sieg über den Tod. Es wird Zeit, sich diese Theologie der Hoffnung auch im Westen anzueignen. Die Osterpräfation sagt das bereits: »Durch seinen Tod hat er den Tod besiegt.« Ignatius von Antiochien hat den Gedanken des unerkannten Eindringens Jesu in das Totenreich formuliert: »Geheimgehalten wurde vor dem Teufel, dem Herrscher dieser Welt, dass Maria Jungfrau blieb, dass sie Jesus gebar, dass unser Herr starb. Diese drei Geheimnisse schreien umso lauter, als sie in der Stille von Gott selbst gewirkt wurden (An die Epheser 19,1).« Lukas hat alle Erscheinungen des Auferstandenen nach Jerusalem verlegt (vgl. Mk 16,7; anders: Lk 24,6). Auch Emmaus ist fest mit Jerusalem verbunden. Die Mission beginnt in Jerusalem (Lk 24,47 = Apg 1,8). Entsprechend wird später (in der Apg) in Jerusalem jede missionarische Entwicklung registriert. Gemeinsam mit dem JohEv zeigt das LkEv folgenden Aufbau in den Berichten über den Auferstandenen: a) Maria Magdalena (und andere Frauen) am leeren Grab; Erkenntnis bzw. Echo unbefriedigend; – b) Petrus (und Lieblingsjünger) am leeren Grab; – c) Der Auferstandene erscheint zuerst verhüllt, und zwar entweder Maria Magdalena oder den beiden Emmausjüngern; – d) Der Auferstandene erscheint den zwölf (elf) Jüngern bei verschlossener Tür. – Diese starken Gemeinsamkeiten ergänzen andere verwandte Züge in beiden Evangelien wie z. B. die Lazarus-Überlieferung. Besonders wichtig für Lukas ist, dass der Auferstandene zweifach als Schriftausleger auftritt. Dass eine Autorität (Homer, Prophet, Lehrer, Sibylle, Evangelist) nach ihrem Tod erscheint und ihre Schrift bzw. die Schrift, die von ihr handelt, auslegt, ist auch ein Topos der interkulturellen Visionsliteratur. – Die erste Belehrung Jesu vor den Emmausjüngern konzentriert sich auf seine Rolle für Israel (V. 21-27), die zweite vor versammeltem Jüngerkreis (V. 44-47) auf die Heidenvölker. Der Auferstandene selbst begründet – in
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314 der Autorität Gottes, von dem die Schriften stammen (V. 27) – schriftgemäß die beiden Phasen der urchristlichen Geschichte. Der Ort Emmaus ist womöglich das von Josephus (in: Bell 7,217) erwähnte Ammaus, später Kolonie (Colonia) genannt; nach B Sukka 4,5 holt man zum Laubhüttenfest dort Zweige von Bachweiden. – Klopas ist als Onkel Jesu bekannt (Eusebius: Kirchengeschichte 3,11). – Dass Jesus als Prophet eingestuft wird, ist richtig (vgl. Lk 7,16; Dtn 18,15.18), aber zu wenig. – Dass das »Herz brannte«, weist auf Feuer als Zeichen des Heiligen Geistes. Der Geist, der in Jesus wirkt, hat auch die Schrift verfasst. Dass Jesus nach Lk 24,41f etwas essen kann, ist keineswegs ein unwichtiger oder apologetischer oder »geschmackloser« legendarischer Zug, sondern Jesus erweist damit etwas elementar Wichtiges: dass er kein Totengeist und damit ein verführerischer Nachahmergeist ist, sondern er selbst. Denn Geister und Engel können nicht essen. Lk 24,50-52 endet mit einem »ersten Himmelfahrtsbericht« (vgl. mit Apg 1,9-11). Der Ausdruck ist irreführend. Denn erhöht ist Jesus seit der Auferstehung. In diesem Stück geht es um einen Abschluss einer Erscheinung, freilich mit besonderer Tendenz. Jeder Erscheinungsschluss enthüllt etwas über die Identität dessen, der so erschienen war: so Lk 24,32, dass es der lebendige Jesus war; in Lk 24,50-53, dass Jesus priesterliche Züge hat; in Apg 1,11, dass er der wiederkommende Richter ist. So signalisieren die Auferstehungsberichte bei Lk starke Kontinuitätssymbole (Jerusalem) und begründen die Säulen der frühen Kirchengeschichte: Schriftauslegung, Begleitung der je zwei Boten durch den unsichtbaren Herrn in ihrer Mitte, Verkündigung an die Heiden, Verheißung des Heiligen Geistes.
Lk 24 und Apg 1,10: Szenische Gestaltung Das Grundmuster dieser Erscheinungsberichte entstammt dem antiken Herrscher-Zeremoniell: Die Hauptfigur (der König, der Kaiser, der auferweckte Märtyrer) erscheint inmitten von zwei Figuren geringeren Ranges (z. B. Senatoren,
Das Lukasevangelium
Nachfolger, Engel). Zur Szene gehören daher drei Figuren, der Ranghöchste in der Mitte. Das Schema der Autoritätsfigur inmitten von zwei Schülern gilt daher für Verklärung, (visionär gestalteten) Abschied, besonders wenn dieser der Einsetzung von Schülern als »Nachfolger« gilt, auch für Himmelfahrt oder Abholung bei Aufstieg zum Himmel, für Aussendung von Jüngern. Das Schema des Einen in der Mitte von zweien ist daher ein »Bildprogramm«, das jeweils für höchst bedeutende Szenen eingesetzt wird. Bekannt ist das Schema u. a. aus der Verklärung Mk 9 parr, wonach Jesus mit Mose und Elia erscheint; die Kunst hat Jesus stets in der Mitte der beiden platziert. Das Schema gilt auch von der Szene des Abschieds, z. B. in Joh 21 (Jesus inmitten von Lieblingsjünger und Petrus) oder in den Acta Pauli (P. Hamb 66.70: Paulus erscheint inmitten von Titus und Lukas; syr Thomasakten § 169: Sifor und Vasan). – Noch heute gilt das Schema der zwei, die den Dritten in ihre Mitte nehmen, von jedem feierlichen Einzug, insbesondere am vorläufigen Ziel. – Bei der Auferstehung Jesu gehört dieses Schema dorthin, wo der Vorgang der Auferstehung Jesu geschildert wird: Nach Mk 16,3k und PetrusEv 36-40 geht Jesus inmitten zweier Engel zum Himmel. Diese Engel haben Jesus feierlich abgeholt. Beim Himmelfahrtsbericht nach Apg 1,9-11 liegt eine Variante dieses Schemas vor. Für die Auslegung von Lk 24,4 bedeutet das: Die beiden Engel verweisen auf den, der in ihrer Mitte fehlt, auf den auferstandenen Jesus. Nach Apg 1 sind es ebenfalls zwei Engel, aus deren Mitte Jesus zum Himmel aufgenommen wird. Schon bei der Verklärung (9,4-11) redet Lukas deshalb zunächst nur von zwei Männern und gibt damit den Lesern das Signal in Richtung Theophanie. In der Emmaus-Erzählung sind es die beiden Jünger, in deren Mitte Jesus geht, und damit wird abgebildet, was auch die Aussendungsberichte angeben: Jesus schickt die Jünger jeweils zu zweit vor sich her; nach Lk 24 wird er als der in ihrer Mitte Mitwandernde vorgestellt. Hier gilt: Wo zwei im Namen Jesu ausgesandt werden, ist er mitten unter ihnen. In der BaruchApk (äth) diktiert der Geist Gottes die Vision des Baruch den beiden Priestern Absalom und Abimelech; nach 1Q 22 macht Mose die Schüler Eleazar und Josua in einer Szene
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Kapitel 24
»auf dem Berg« zu seinen Nachfolgern (vgl. Josephus, Ant 4,323-326). In einer postmortalen Situation kann dann auch der Geist des Verstorbenen, der Heilige Geist, an seiner Stelle stehen (wie oben in dem Zitat aus der BaruchApk [äth]).
Lk 24,17-27.32.44-46: Schrifterklärung durch den Auferstandenen Nach Lukas muss der Auferstandene den Jüngern erklären, dass und wie die Schrift das Leiden und die Auferstehung verstehen lässt. Konnte Jesus das nicht vorher erklären? Auch das JohEv hat die Erinnerung an nachösterliche Erkenntnis bzw. Schrifterkenntnis wachgehalten. Für diesen Punkt gibt es reichlich religionsgeschichtliche Analogien. Der Vergleichspunkt ist stets: Um einen Text zu verstehen, bedarf es der postmortalen Belehrung durch einen bedeutenden Lehrer, Dichter oder Propheten, der erscheint und den Text erklärt. Oft, wenn auch nicht immer, ist die erscheinende Person auch der Urheber des Textes. Die über den Text belehrende Figur kommt zur Belehrung aus dem Status der Entrückung oder aus dem Reich der Toten. Dass diese Figur lebt und sprechen kann, wird überhaupt nicht als Problem empfunden; entscheidend ist vielmehr, wer der Urheber der authentischen Textauslegung war. So erscheint Homer, um über die Ilias zu belehren; Mose erklärt das Alte Testament, der Prophet Jesaja seine Prophetien, Elia erklärt das Alte Testament, Jesus tut Entsprechendes nach Lukas, indem er sein Geschick erläutert. Auch berühmte Rabbinen können erscheinen. Homer nach Plutarch: Vita Alexandri Magni 26 (Homer erscheint Alexander, um eine Stelle aus der Ilias bezüglich des Pharao zu aktualisieren); Mose nach Philo: De Somn I 166 ff; Mose nach Abbas Antonius: Apoft. Patr 26; Jesus nach Ambrosius: Ps 118; Elia nach bKetub 106a; Jesaja nach Hippolyt, Antichr 30 u. ö.; R. Saadja nach pers DanielApk II, p. 428 (Zitate teilweise bei Berger, Auferstehung, 575f).
Die Verklärung nach Mk 9,4-11, in der Mose und Elia erscheinen, hat – da zumindest nach Lk die Passion und die Auferstehung Jesu das Gesprächsthema sind, da aber auch nach Mk zwei
Schriftstellen erhellend inszeniert werden (Jes 42,1: Dieser ist mein lieber Sohn; Dtn 18,15: »auf ihn sollt ihr hören) – sicher einen ähnlichen Charakter. Auch bei Philo von Alexandrien ist Schriftauslegung ein charismatisch-ekstatischer Vorgang. Die Schriftauslegung ist für ihn geradezu der Ort der Gottesbegegnung schlechthin für Nachgeborene wie ihn. Selbstverständlich hat die visionäre Belehrung durch eine epiphane Lehrautorität eine legitimierende Funktion für die Auslegung. Aber nicht nur das. Weiß der Entrückte einfach mehr über die Weltgeschichte und ihren Zusammenhang? Aber warum sind diese Erscheinungen fast ausnahmslos auf TextDeutungen bezogen? Welche Anschauungen von Text und Deutung herrschen hier? Warum gibt es den Schlüssel für rätselhafte Texte primär im Jenseits? Berühmte Texte enthalten mehr als den Literalsinn. Wenn man tiefer einsteigen will, braucht man Lehrer, die den Zugang zu tieferen Schichten des Textes haben. Bei Philo ist es der allegorische Sinn, anderswo der typologische, der unter der Oberfläche des Literalsinns verborgen ist und deshalb eines Lehrers bedarf, der selbst mit dieser unsichtbaren Wirklichkeit zu tun hat. Es ist die Wirklichkeit des Himmels, des verborgenen Schriftsinns und des Herzens. Der Hebräerbrief geht mit der Schrift so um, wenn er sie auf die verborgene Realität des himmlischen Heiligtums bezieht. Fazit: Die Belehrung über den tieferen, verborgenen Schriftsinn vollzieht eine Person, die selbst aus der verborgenen, unsichtbaren Wirklichkeit kommt. Zur Auffassung von der Schrift: Die Schrift ist sichtbarer, aber doch eigentlich unverstehbarer Teil des Offenbarungsvorgangs. Der die Schrift deuten kann, ist dem angelus interpres aus Träumen sowie Himmels- und Unterweltsreisen vergleichbar. Die Deutung und Erklärung der Einzelzüge (»Dies ist …«) ist beiden gemeinsam.
Lk 24,32: Das brennende Herz Vom »brennende Herz« ist in den biblischen Parallelen zumeist dann die Rede, wenn jemand da-
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316 rauf brennt, etwas zu sagen, es aber nicht tut oder kann oder darf, sodass ein Schweige- oder jedenfalls Leidensdruck entsteht, wie bei einer übervoll aufgestauten Talsperre kurz vor dem Dammbruch. Öfter ist es auch das empörte, über Unrecht klagende Herz, das brennt. Es geht dann um das Aussprechen von Unrecht. Deutet man von da aus die Lk-Stelle, so brennt das Herz der Jünger im Protest gegen das Jesus angetane Unrecht, aus der Sehnsucht nach Gerechtigkeit. Modern gesagt: Es ist die Theodizee-Frage angesichts des Geschicks Jesu. Vgl. dazu: Jer 20,9 (»Sagte ich aber: Ich will nicht mehr denken an ihn und nicht mehr reden in seinem Namen, so ward es in meinem Innern wie brennendes Feuer, verschlossen in meinem Gebein«, sc. denn dann wäre dies Unrecht); Ps 39,3f (mit dem Vorsatz, in Anwesenheit des Frevlers zu schweigen): »Doch da bäumte mein Schmerz sich auf. Das Herz in meinem Innern glühte. Bei meinem Grübeln entbrannte ein Feuer. Da musste meine Zunge reden«); TestXIINaft 7,4 (»Ich brannte in meinem Inneren, ihm [sc. Josef] anzuzeigen, dass er verkauft worden war, aber ich fürchtete meine Brüder«); PGM 7,472 (»Es brennt meine Seele und mein Herz«, sc. von sexueller Gier, d. h. vom Wunsch, mit der Frau Gemeinschaft zu haben); Ps 73,21 (LXX): »Mein Herz brannte«, von einem, der Unrecht erleidet, H. J. Kraus: »… von der Qual des Nachsinnens über die unergründlichen Geheimnisse der Verborgenheit Gottes«).
Lk 24,46-53: Auferstehung und Himmelfahrt – Jesus segnet Auf der Liste der Feste, von denen man meint, sie sollten abgeschafft werden, steht Himmelfahrt ganz oben. Ich bin überhaupt nicht dieser Meinung und finde es sehr bedauerlich, aber typisch, dass die »akademische« Theologie das Fest systematisch ausgehöhlt hat. Ich gebe gerne zu, dass die barocken Himmelfahrts-Inszenierungen etwas naiv sind, in denen eine Christusfigur mit Seilwinden in Richtung Kirchendecke gezogen wird, sodass man gegen Ende nur noch die Füße sieht. Theologisch ist Himmelfahrt von drei Fragen behaftet: Himmelfahrt Jesu gilt als besonders ab-
Das Lukasevangelium
hängig vom antiken Weltbild, nach dem der Wohnort Gottes kurz über den Sternen liegt, und die Vorstellung eines Hinaufgehens riecht daher stark nach naiver Legende. – Sodann fragt man, wie das Verhältnis von Auferstehung Jesu zu seiner Himmelfahrt zu denken sei. Ist Jesus nicht mit der Auferstehung bei Gott? Wo soll er dann die vierzig Tage auf Erden nach der Auferstehung gewohnt haben? Wo geschlafen? Denn offenkundig ist die Art, in der Jesus mit den Jüngern zusammen ist, visionär (Lk 24; Apg 1). Geschehen nicht alle Visionen aus der himmlischen Verborgenheit heraus? Ist der Vorschlag noch haltbar, die Himmelfahrt sei eben die Erhöhung und das Hinaufgehen Jesu zur Rechten Gottes? Aber hält sich Jesus dann nach der Auferstehung auf Erden irgendwo versteckt? – Und schließlich die Frage, wie es denn erklärbar ist, dass die beiden Berichte über die Himmelfahrt in Lk 24 und in Apg 1 so total verschieden sind. Wie kann es sein, dass derselbe Autor dasselbe Ereignis so darstellt, dass praktisch kein Wort gemeinsam ist? Noch dazu ist die Himmelfahrt nach Lk 24 am Ende des Ostersonntags, die Himmelfahrt nach Apg 1 vierzig Tage später. Wenn man im Sinne der Erhöhung Jesu deutet, muss man beide Berichte auf dasselbe Ereignis beziehen. Die beiden Berichte meinen aber verschiedene Ereignisse zu verschiedener Zeit, und daher sind sie auch unterschiedlich gestaltet: bezogen jeweils auf den Schluss einer Erscheinung. In Lk 24 geht es um den Schluss der Erscheinung vor den elf Jüngern am Ostersonntag, und in Apg 1 um den Schluss der Erscheinung nach vierzig Tagen. Und es geht dabei nicht um die Erhöhung Jesu oder dass Jesus erst nach vierzig Tagen zur Rechten Gottes säße. Sondern es handelt sich in beiden Fällen jeweils um den Schluss einer Ostererscheinung. Der Herr erscheint den Jüngern in dieser Erscheinung jeweils »vom Himmel her« und nicht aus irgendeinem irdischen Versteck. – Sollte diese These zutreffen, so täte sie im Übrigen dem Fest Himmelfahrt keinen Abbruch, im Gegenteil. Es würde zweierlei deutlich: Die in Apg 1 berichtete Szene zum Abschluss der Erscheinung schließt die letzte Erscheinung vor den elf Jüngern ab. Das nächste Mal werden die Jünger Jesus sehen, wenn er wiederkommt. So sagen es auch die Engel. Und es wird klar: Der Herr
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Kapitel 24
erschien vierzig Tage lang (immer wieder) vom Himmel her. Das aber, was in Lk 24 berichtet wird, ist ein erster Erscheinungs-Schluss, und zwar am Ostertag. Er bildet mit eigener Akzentsetzung ein Stück von dem ab, was dann in Apg 1 beim letzten Abschluss berichtet wird. Formgeschichte fragt hier: Was bedeutet die sorgfältige Darstellung gerade des Schlusses einer Erscheinung? Nicht nur bei Lukas, sondern auch in der jüdischen religiösen Literatur dieser Zeit liegt auf der Darstellung des Abschlusses einer Erscheinung (z. B. eines Engels) großes Gewicht. Denn nicht nur die Anfangsphase einer Erscheinung klärt, wer der Erscheinende ist (ob Engel oder böser Geist, ob er einen Namen hat oder nicht), sondern gerade auch die Schlussphase. Ein Engel zum Beispiel kann zum Abschluss der Erscheinung in einer Feuerwolke dorthin hinaufsteigen, von wo er gekommen ist. – Wir kennen das bei Lukas vom Bericht der Erscheinung Jesu in Emmaus her: Jesus wird am Brotbrechen erkannt und ist dann plötzlich verschwunden (24,31). Kein gewöhnlicher Mensch kann plötzlich verschwinden. Spurlos verschwinden kann nur jemand, der an die Begrenzungen von Raum und Zeit nicht gebunden ist. – In Apg 1 geht es um die Erkenntnis: Dieser, der jetzt erschienen ist, wird der zukünftige Richter sein. Er ist daher der Menschensohn, der mit seinen Engeln zum Gericht kommen wird. Die Art, in der Jesus verschwindet, hier eben in einer Wolke, gibt den Jüngern dank der Deutung der Engel einen wichtigen Aufschluss über die Art, in der er wiederkommen wird. Auch die Wortwahl in Apg 1 stützt diese Aussage: Jesus wird »aufgenommen« (1,11) wie der Prophet Elia, dessen Wiederkommen in der Endzeit man gleichfalls erwartete. Nur ist Jesus mehr als Elia: der Richter selbst. Jedenfalls geht es in Apg 1 um die prophetische Linie der Deutung Jesu (und ihre Verstärkung). So ist nun also zu fragen, welche besondere Erkenntnis über Jesus Christus den Jüngern der Schluss der Erscheinung nach Lk 24 vermittelt. Während in Apg 1 Jesus als der prophetische Messias und der wiederkommende Richter erkannt wird, ist er in Lk 24 als der priesterliche Messias vorgestellt. Denn das Segnen ist vornehmlich priesterliche Aufgabe. Darüber hinaus aber kann man hier deutlich sehen, dass der Segen den Abschluss bildet. Das kennen wir aus der
317 Liturgie, in der der Segen am Ende steht. Jede theologische Auslegung muss also hier ansetzen: Was bedeutet es, dass Jesus von seinen Jüngern am Schluss des Evangeliums scheidet als der Segnende? Was bedeutet der Segen Jesu im Rahmen seiner Verkündigung? Offenbar ist Lukas sehr viel daran gelegen, Jesus speziell so darzustellen. Zum einen: Segen ist immer die andere Seite von Lobpreis. Denn im Hebräischen, Griechischen und Lateinischen gebraucht man für Gott »preisen« und für den Segen von Gott her dasselbe Wort. So ist es auch am Schluss des LkEv: Jesus segnet, und die Jünger lobpreisen Gott im Tempel (dasselbe griech. Wort eulogein in V. 51 und V. 53!). Die theologische Bedeutung dieser »Zweiseitigkeit« ist gar nicht hoch genug einzuschätzen. Segnen und Lobpreisen sind sozusagen die Umgangsformen zwischen Gott und Mensch. Die Sprache ist noch »paradiesisch«. Diese beiden Formen zu reden sind sozusagen ein letzter Rest des Paradieses, in ihrer Lauterkeit und unfehlbaren Wirksamkeit. Hier bewirkt Sprache noch, was sie bezeichnet – über die Jahrtausende bewahrt. Denn wo immer jemand segnet, darf man auch glauben, gesegnet zu sein. – Und zum anderen: Der Segen betrifft stets irdisch-zeitliche menschliche Güter, er umfasst nicht die Ewigkeit. Er umfasst Felder und Früchte, Tiere und Wohnungen und Nachkommenschaft (»gesegneten Leibes«) – alles zum Nutzen des Menschen. Er umfasst auch Studium und Kultur, aber er ersetzt nicht die Sakramente oder die Predigt. Der Segen ist speziell für die Zeit des Menschen auf Erden gedacht, wenn er auch hier stets umfassend gilt. Wenn Jesus die Jünger also segnet, dann segnet er sie für die Zwischenzeit, bis zu seiner Wiederkunft. Insofern ergänzen sich die beiden Erscheinungsschlüsse in Lk 24 und in Apg 1: Der Segen reicht bis zur Wiederkunft Christi. Ab dann kommt der Menschensohn zum Gericht. Und noch eines ist nicht zu vergessen: Der Segen steht für die Summe der irdischen messianischen Güter. Dazu rechnete man immer schon Korn, Wein, Öl und Kinder in Fülle. Insofern ist Jesu Segen für die elf Jünger auch Jesu göttliche Segensgabe an Israel, wie sie in Lk 24,21 und Lk 1,32f diskutiert wurde. Ab der Wiederkunft Jesu nach Apg 1 gilt dagegen das, was mit Pfingsten begann: die internationale Zuwendung Gottes zu
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318 allen Völkern. Der Segen ist das Vermächtnis Jesu für die elf Jünger. Es ist nicht das Vermächtnis eines Sterbenden oder gar Toten, sondern das eines Lebendigen. Mit jedem Gottesdienst, den Christen mit dem Empfang des Segens beschließen, wird die Kraft des Segens Jesu für die wiederholt, die dann entlassen oder ausgeschickt werden. Wie bei Jesus und den Jüngern ist der Segen die Trennlinie zwischen dem Heiligen und dem Profanen. Er soll in die Welt hinein wirken. So wie es schon nach Gen 12 zu Abraham gesagt wird: In dir sollen gesegnet sein alle Völker der Erde.
Lk 24,49; Apg 1,4f: Auferstehung und Geist Zur Tradition vom entrückten Propheten gehören diese Elemente: Bei seinem Lebensende wird der Prophet (lebend) zum Himmel entrückt; seine Schüler oder Kinder (weiblich) sind
Das Lukasevangelium
Zeugen; kurz darauf fällt über sie der Geist des Entrückten, sie können in den Sprachen der Engel (Hierarchien) reden. Sie vervielfältigen auf diese Weise das Wirken des Entrückten. Zu dieser Tradition gehören: Elia/Elisa; Hiob/ seine Töchter; Jesus/die Zwölf und die Frauen; Baruch/Absalom und Abimelech (äth BaruchApk Leslau). Zu vergleichen ist auch Mose/70 Älteste (Num 11,17.25), obwohl Mose dort weder stirbt noch lebend entrückt wird. Der Sinn dieser Tradition ist, dort Kontinuität und Tradition zu schaffen, wo sie am wenigsten machbar ist. Gott selbst ist es, der auf die Schüler/Nachfolger seinen Geist, und zwar in Fülle, herabkommen lässt. So sorgt er für Fortsetzung. Der Heilige Geist bedeutet jeweils Teilhabe an der Sendung des entrückten Propheten. Denn – so ist die Vorstellung – er kann jetzt sein himmlisches charismatisches Erbe mit vollen Händen austeilen. In Num 11 geschieht das schon vor dem Lebensende.
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Das Evangelium nach Johannes
Kommentare: Johannes Chrysostomos (vor 400). – Gregor d. Große (vor 604). – Rupert von Deutz (vor 1135). – Thomas v. Aquin (1250). – Hugo von St. Cher (vor 1264). – Nikolaus Lyranus (vor 1349). – Dionysius Carthesianus (vor 1471). – W. Musculus (1553). – J. Calvin (vor 1564). – A. Marloratus (vor 1562). – Rollocus Scotus (1599). – Ae. Hunnius (1608). – J. Piscator (1638). – J. Schlichting (1656).– A. de Sanseverino (1664). – J. de Sylveira (1697). – F. A. Lampe I-III (1741/1743). – J. C. Wolf (1741). –
J. J. Wettstein (1752). – H. Olshausen (1834). – F. Lücke I-II (1840). – E. Luthardt I-II (1853). – W. M. L. de Wette (1863). – A.-J. Liagre (1894). – B. Weiss (9. Aufl., 1902). – H. J. Holtzmann (3. Aufl., 1908). – Th. Zahn (1912). – S. Schulz (4. Aufl., 1983). – R. Schnackenburg I-IV (1965-1984). – R. Bultmann (21. Aufl., 1986). – U. Schnelle (1998). – U. Wilckens (1998). – K. Wengst (I: 2000; II: 2001). – H. Thyen (2005).
EINFÜHRUNG Einleitungsfragen Das JohEv kennt keine Gleichnisse, sondern gehäuft Metaphern, besonders solche nach der Form »ich bin + Metapher«. Entsprechend redet das JohEv höchst selten vom Reich Gottes. Beide Phänomene, die Ich-bin-Worte und das Fehlen der Rede vom Reich Gottes, hängen zusammen: Die Rede vom Reich Gottes ist nach dem JohEv systematisch ergänzt durch Aussagen über die Person Jesu. Die Rettung geschieht im JohEv jedenfalls durch Jesu Wort, das Sünden vergibt bzw. durch Fürbitte Sünden hinwegträgt. Das Wort »Paraklet« kann auch als Pneuma bezeichnet werden. Jesus hat und schenkt Pneuma, der Paraklet ist Pneuma. – Die Rettung geschieht nicht durch die Passion. Im Verhältnis zu den Synoptikern gilt die ökumenische Komplementarität, d. h.: Was bei den Synoptikern nur am Rande steht, wird im JohEv entfaltet und umgekehrt. Beispiel: Reich Gottes steht bei den Synoptikern oft, im JohEv nur zweimal. Oder: Im JohEv gibt es nur einen Lieblingsjünger (mutmaßlich Andreas), bei den Synoptikern vier (mit Johannes am Rande). Oder: Das JohEv kennt keine Gleichnisse, dafür aber christologische Metaphern, die bei den Synoptikern fehlen. – Diese unbestreitbaren Beziehungen und Wechselverhältnisse können verschiedenartig erklärt werden, als bewusste Abgrenzung des einen oder des anderen oder aber als Folge verschiedener Überlieferungen.
Religionsgeschichtlicher Hintergrund Seit den Funden von Qumran ist man mit guten Gründen davon abgekommen, das vierte Evangelium für besonders »griechisch« oder »gnostisch« zu halten. Nein, es ist judenchristlich und erörtert das für Juden einzig wichtige Problem, nämlich das Verhältnis zwischen Jesus und Gott und ob Jesu Aussagen über sich selbst Gotteslästerung sind. Das ist für mich ein wichtiger Grund für die Frühdatierung (vor 70 n. Chr.; s. K. Berger, Im Anfang war Johannes, 1997). Ein weiterer wichtiger Grund ist auch, dass das zentrale Bekenntnis der Gemeinde »Du bist Christus, der Sohn Gottes, der in die Welt gekommen ist«) aus dem Munde einer Frau, der Marta, kommt (Joh 11,27). Petrus hat zwar unbestritten das Hirtenamt (Joh 21,15-23), aber das hindert nicht daran, dass Marta das Spitzenbekenntnis formuliert hat. Geschichte der Gemeinden im Corpus Iohanneum Ein Zugang über die Annahme der historischen und theologiegeschichtlichen Priorität der johanneischen Briefe in der Reihenfolge 2 Joh, 3 Joh, 1 Joh und JohEv erwies sich als sinnvoll (vgl. die Kommentare hier zu 1-3 Joh). Im JohEv ist die zunehmend wichtige christologische Basis maximal entfaltet (vgl. zu Joh 13,34). – Im Übrigen lässt sich die Gemeindegeschichte auch anhand der Diskussion über das »neue« bzw. »alte« Gebot in 1/2 Joh und im JohEv verfolgen.
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320 Auf der Ebene von 2 und 3 Joh gruppieren sich die Probleme innerhalb der joh. Gemeinden noch rund um die Gastfreundschaft. 2 Joh 10: nicht ins Haus nehmen; 3 Joh 6 aufnehmen und weitergeleiten. Diotrephes dagegen verweigert die Einheit; er nimmt nicht ins Haus auf. – Das kirchenpolitische Problem der johanneischen Gemeinden ist das der Einheit unterschiedlicher Gruppen, die unterschiedlicher Herkunft sind. Das jüdische Gesetz ist offenbar nicht die selbstverständliche Grundlage (vgl. den Streit um altes/neues Gebot). Die gemeinsame Situation von 2 und 3 Joh ist: Der Älteste schreibt und mahnt zur Liebe. Das richtet sich an die Gemeinde und an Gaius. Was das »neue Gebot« betrifft: Nach 2 Joh 4-6 ist die Aufforderung, einander zu lieben, kein neues Gebot. Der Verfasser will nicht mit Neuem überfordern, er beruhigt die Adressaten. Denn ein neues Gebot einzuführen, ist damals soviel, wie heute neue Steuern zu verlangen. Auch die Apostel wollen es vermeiden (Apg 15,28). In 1 Joh 2,7 ist das Gebot der gegenseitigen Liebe sowohl alt als auch neu. Die dualistische Situation (Licht/Finsternis) gibt dem alten Gebot eine neue Grundlage, insofern ist es ein neues Gebot. Nach Joh 13,34 gibt Jesus ausdrücklich ein neues Gebot, denn er begründet die gegenseitige Liebe im Verhältnis zwischen Gott Vater und Gott Sohn. Denn im JohEv erst ist die Bedeutung der Christologie ganz durchgedrungen. So erweist sich in der gegenseitigen Liebe direkt die christologische Rechtgläubigkeit. Entscheidend für 1 Joh als Bindeglied zwischen 2 und 3 Joh und dem JohEv ist der Zusammenhang zwischen Christologie und praktizierter Liebe. Wer bekennt, dass Christus im Fleisch, d. h. als Mensch, gekommen ist, der ist auch zur Liebe fähig. Warum ist das so? Der »im Fleisch« gekommene Christus ist keine Melchisedeck-Figur, kein Engel. Er hat für die Menschen leiden können, weil er aus den Menschen ist. Dadurch hat er die zu Erlösenden als ihr gemeinsamer Erlöser geeint. Liebe ist nur die Umsetzung dieser gemeinsamen Grundlage und der gemeinsamen Rettung. Ein Mensch für Menschen – das konstituiert Einheit (Hebr hat dieselben Voraussetzungen, zieht aber daraus nicht in diesem Maße den Appell zur Gemeinschaft).
Das Evangelium nach Johannes
In 1 Joh haben die Gegner als Gruppe aus der Gemeinde schon klare Umrisse. Sie werden »Antichristen« genannt. Das JohEv baut aus diesem Grund die Christologie aus, und deshalb entsteht ein Evangelium. Nur für das JohEv können wir damit einen ganz konkreten Anlass für die Entstehung des Evangeliums rekonstruieren. Das Verhältnis zu Paulus Zwischen Paulus und dem Corpus Johanneum bestehen alte und tiefgreifende Verwandtschaften. Sie sind gleichermaßen vorpaulinisch und vorjohanneisch in gemeinsamer zugrundeliegender Tradition begründet. Sie betreffen folgende Gebiete: Logos-Christologie (1 Kor und Joh 1); Gesandtentheologie (Gott sandte seinen Sohn, damit er erlöse); das Prinzip der zwei Anwälte (Christus und Heiliger Geist); »Kinder Gottes«, »Gesetz des Christus«, »in Christus«, den Gegensatz von Gesetz und Gnade, die rangmäßige und zeitliche Priorität des Judentums, den bereits geschehenen Empfang des Lebens. Verhältnis zu den Synoptikern Ökumenische Komplementarität zwischen beiden Seiten, d. h. dem JohEv (und 1 Joh) einerseits und den Synoptikern andererseits, d. h.: Das auf der einen Seite schwach ausgeprägte Element ist auf der anderen Seite umso stärker und umgekehrt. Das gilt für Reich Gottes und Christologie: Reich Gottes bei Joh nur in 3,3.5, bei den Synoptikern oft. Umgekehrt geht es mit christologischen Spitzenaussagen. – Es gilt für die drei Lieblingsjünger bei den Synoptikern (Petrus, Johannes, Jakobus) und den einen Lieblingsjünger im JohEv (Andreas). – Öfter ist noch die gemeinsame Grundlage zu erkennen, die beiden Seiten lange vorausliegen muss, so beim Thema Lazarus (Lk 16; Joh 11): lebt/stirbt, kommt wieder, Juden ändern sich nicht. Oder beim Thema Bekenntnis des Petrus plus Teufel: Nach dem Petrus-Bekenntnis ist in Mk 8 Petrus selbst der Teufel, nach Joh 6 offenbar Judas. – Man sollte sich daher grundsätzlich von der Idee des 19. Jh. frei machen, literarische Abhängigkeit (Benutzung) sei das einzig denkbare Verhältnis zwischen einander ähnlichen Texten. Ich werte das JohEv als einen zu den Synoptikern parallelen Versuch der biografischen Darstellung Jesu.
Berger (08129) / p. 321 / 19.5.2020
Das Evangelium nach Johannes
Das JohEv hat ein anderes Verständnis von der Authentizität der Worte Jesu. Im JohEv ist der Maßstab der Echtheit nicht die Tatsache, »dass« Jesus etwas gesagt hat, sondern dass das Gesagte zu Gott passt und also Selbstauslegung Gottes sein kann. Denn Jesus ist Gottes Wort in Person. Daher ist jegliche Authentizität der Historizität der Worte »vorgelagert«. Sie liegt in der Echtheit der Person. Diese äußert sich in der Konsequenz und Stringenz ihrer Taten und Worte und im Geschick von Sendung und Erhöhung. Daher kennt das JohEv nur ein Thema, die Christologie. Datierung des JohEv Dazu einige Beobachtungen anhand des JohEv selbst: Die Zerstörung Jerusalems wird nicht berichtet. Wäre sie schon geschehen, dann wäre Joh 2 geschmacklos und die Befürchtung in Joh 11 anachronistisch. – Die Tempelreinigung steht am Anfang und ist als Tempelreform dargestellt (noch nicht als Hinweis auf das Hinzukommen der Heiden). – Eine Heidenmission ist noch nicht in Sicht, die Samaritanermission muss noch verteidigt werden. Der Begriff »Evangelium« fehlt noch. – Weder Vaterunser noch die Feier des Abendmahles (Eucharistie) haben sich in der johanneischen Gemeinde bis zur Entstehung des JohEv durchgesetzt. – Es besteht eine erhebliche Nähe zur paulinischen Theologie, die auf gemeinsamen alten Traditionen beruhen dürfte. – Joh 12,42 spricht für eine Situation vor Abfassung der Birkat-ha-Minim. Das JohEv weiß nichts von der Notwendigkeit, entfaltete Kirchenstrukturen mit Hilfe der JesusÜberlieferung zu stützen. Es gibt sie womöglich noch nicht. Stattdessen ist die Ablösung vom Judentum noch im Gang. Eine Problematisierung von Gesetz oder Beschneidung hat es noch nicht gegeben. Maria Magdalena ist noch allein am Grab (die Regel von den zwei bis drei Zeugen ist nicht zur Anwendung gekommen); Mt 28,10 berichtet dagegen von zwei Frauen. Es ist nicht vorstellbar, dass Joh eine davon unterschlagen hätte. Das JohEv hat einen chronologisch wohl zutreffenden Passionsbericht (weil es nicht gut vorstellbar ist, dass die Römer die Juden dadurch
321 provoziert haben könnten, dass sie am ersten Tag des Passah drei Verbrecher öffentlich kreuzigten). Aus methodischen Gründen ist grundsätzlich von Benutzungshypothesen (z. B. »Joh« habe alle Evangelien und auch Paulus gekannt und ausgewertet, wie sie die älterer Tübinger Schule im 19. Jahrhundert vertrat, oder Joh habe nur einen der Synoptiker oder aber alle drei gekannt und benutzt) abzusehen, d. h. ich halte es nur dann, wenn es gar nicht anders geht, für angemessen, für das JohEv (und auch sonst) die Benutzung anderer schriftlich vorliegender Evangelien zu postulieren. Ich wiederhole: wenn es gar nicht anders geht. Im 19. Jh. war es die nahezu einzige exegetische Methode, nach schriftlichen Vorlagen zu fragen. Wer sich heute aber immer noch nur darauf beschränkt, hat von der Summe der neueren Methoden nichts mitbekommen. Zu diesen neueren Methoden gehört auch die Erforschung von Traditionen und näherhin die Erforschung der Enstehungsbedingungen mündlicher Überlieferung (vgl. Berger, Sind die Berichte des Neuen Testaments wahr?, 2002). Das sah man im 19. Jh. grundsätzlich anders, und die Exegeten haben sich z. T. noch immer nicht von diesem Modell gelöst. Das JohEv muss nicht zu den fertigen synoptischen Evangelien in ein Benutzungsverhältnis gesetzt werden. Ich setze die Entstehung des JohEv daher unabhängig von der Entstehung der Synoptiker um das Jahr 68/69 n. Chr. an. Es bildet einen eigenen Anfang der Produktion und Formgeschichte von Evangelien. Noch immer geistert weltweit in der Beurteilung des JohEv aber die Auffassung der älteren Tübinger Schule durch die Scheibstuben der Exegeten. Demnach war nach dem Schema der Dialektik in den judenchristlichen Synoptikern die These, in Paulus die heidenchristliche Antithese und im JohEv die frühkatholische Synthese gegeben. Heute wird man dieses dialektische Schema nur dann freudig begrüßen, wenn man mit dem Fleischwolf durch die frühchristliche Theologiegeschichte eilt und meint, die einzelnen unabhängigen Quellen zu einem Brei zusammenmengen zu können.
Berger (08129) / p. 322 / 19.5.2020
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Das Evangelium nach Johannes
KOMMENTAR Joh 1-3 Joh 1,1-14: Weisheit und Logos Es lässt sich eine eigene Geschichte darstellen, die die »Weisheit« als eine selbstständige Größe durchlaufen hat. Die grenzenlose Fülle der Weisheitssprüche hat man schon sehr früh unter dem Stichwort »Weisheit« zusammengefasst – die erste Großgattung der Weltgeschichte. Diese »Weisheit« ist die Summe aller Weisheitssprüche und -Bücher. Sie wird mythologisiert, d. h. man erzählt Geschichten über ihren Ursprung und ihr Verschwinden. Sie wird regelmäßig hypostasiert (personifiziert), d. h. sie hat Gegner und ein eigenes Schicksal, sie hat vor allem eine Art »Charakter«. – M. Leuenberger hat kürzlich (ZAW 120 [2008] 366-386) einen Abriss der Geschichte dieser Geschichten geliefert: In Hiob 28 wird die Weisheit kosmologisiert und, da gesagt wird, sie sei nur Gott zugänglich, auch theologisiert. In Spr 8,2231 wird sie protologisiert (auf den Anfang aller Dinge bezogen) und explizit personifiziert. In Sir 24 wird sie als Gestalterin der Heilsgeschichte betrachtet und mit Israels Gesetz identifiziert, daher auch nationalisiert. In Hen (äth) 42 wird sie uranisiert, d. h. der Himmel ist ihr Wohnsitz, nachdem sie sich von der Erde zurückgezogen hat. Hier wird zum ersten Mal der Mythos von der Flucht der Weisheit, von ihrem Sich-Verbergen vor den Menschenkindern dargestellt. Die Folge: Nur Auserwählten ist die Weisheit zugänglich, die – wie Henoch – sie im Himmel gesehen haben. – Im Anschluss an Sir 24; Spr 8 und Bar 3,31(!) wird die Weisheit in Joh 1 als durch den Menschen Jesus zugänglich dargestellt (sie wird anthropologisiert und ist inkarniert).
Die so genannte »Bibel in gerechter Sprache« (2006) übersetzt zu Beginn des Prologs des JohEv »Weisheit« und nicht »Wort«, offensichtlich aus feministischer Tendenz, denn bei Weisheit denkt man an »Frau Weisheit« oder an die Weisheit als Gottes Tochter. Und in der Tat liegen die religionsgeschichtlichen Vorstufen zum Prolog in der Weisheitstheologie. So heißt es von der Weisheit in Weish 9,9: »Bei dir ist die Weisheit, die deine Werke kennt und dabei war, als du die
Welt erschufst, und weiß, was wohlgefällig ist in deinen Augen und was recht ist nach deinen Geboten. Sende sie aus …« Und in Spr 8,22 sagt die Weisheit von sich selbst: »Mich schuf der Herr als Erstling seines Wirkens, vor seinen Werken in der grauen Urzeit. In fernster Zeit bin ich gebildet worden, im Anfang vor dem Anbeginn der Erde … ich stand als Beraterin an seiner Seite (griech.: Werkmeisterin).« In diesen (Selbst-)Aussagen über die Weisheit erkennen wir leicht »Parallelen« zu Joh 1. Aber warum hat der Verfasser hier dann nicht einfach »Weisheit« geschrieben? Warum hat er stattdessen »Logos« (Wort) gesetzt? Zwei erhebliche Gründe lassen sich ausmachen: Im griechischsprachigen Milieu der Adressaten des JohEv verstand man das Wort »Logos« besser; denn es bezeichnete (u. a. auch bei dem jüdischen Philosophen Philo v. Alexandrien) die Weltvernunft der stoischen Lehre. Diese Weltvernunft konnte man gut mit der »Sophia« (Weisheit) vergleichen, hier ergaben sich große inhaltliche Schnittmengen, vor allem was Naturgesetze und »Weltenplan« betrifft. Der zweite Grund aber ist, dass Jesus, der Mensch (!) gewordene Logos, männlich ist. Da die Sophia »Gottes Tochter« ist, konnte man nicht den Sohn Gottes »Sophia« nennen. – Indem die oben zitierte Bibelübersetzung diese beiden Denkschritte missachtet, zieht sie sich auf die lediglich jüdisch-weisheitliche Tradition zurück. Sie macht so die Entscheidung des Evangelisten, die sich eben sehr wohl nachvollziehen lässt, rückgängig und missachtet aus erkennbar ideologischen Gründen seine Entscheidung als Autor. Wie aber soll man sich vorstellen, dass in Jesus die Weltvernunft (Logos) Mensch wird? Nach stoischer Auffassung hat jeder Mensch in seiner Vernunft Anteil an der Weltvernunft. Doch darum geht es nicht in Joh 1. Denn anders als in der Stoa ist die Weltvernunft nicht »das Göttliche«, sondern der Logos von Joh 1 ist Schöpfungsmittler des personalen Gottes. Dass er es ist, meinten die Zeitgenossen Jesu an seinen Wundern zu sehen. Nach Joh sind diese allesamt und in steigendem Maße Schöpfungswunder. Wer sie gewirkt
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Kapitel 1
hat, musste die Kompetenz des Schöpfers haben. Also zeigte sich, so war die Schlussfolgerung der Gemeinde, in Jesus der Schöpfergott selbst. Und im Unterschied zur Stoa haben die frühen Christen gesagt: Exklusiv und für immer ist der Weltenlogos hier präsent, unüberbietbar hier. Durch Joh 1,14 (Menschwerdung des Wortes) und 3,16 (»Also hat Gott die Welt geliebt …«) wird nämlich erkennbar, dass der Vater mit der Sendung des Sohnes die Welt nicht nur erschaffen, sondern auch überdies geliebt hat. Damit aber kommt zur Vernunft, die die Welt regelt und bestimmt, etwas Neues hinzu: einander zu lieben im Dienen bis hin zur Lebenshingabe. Mit der Zeichenhandlung beim letzten Mahl, der Fußwaschung, sagt Jesus, wie er sich das praktisch vorstellt. Die Liebe, die er meint, ist mehr als Gliederung und Einteilung der Schöpfung, sie macht Freunde unzertrennlich. Erst die Spielregel der Liebe kann dem Menschen und seinem Tun Sinn und ein neues Gesetz geben. Insofern ist die Ergänzung der Schöpfungsordnung (Logos) durch Liebe für den Menschen überlebensnotwendig. – Die Erlösung stellt sich der 4. Evangelist so vor: Weil Jesus das lebendige Schöpfungswort ist, spricht er den Menschen den lebendig machenden Geist zu. So macht er sie rein (Joh 15,2) von allen Sünden (Joh 20) und startet mit ihnen eine neue Schöpfung. Denn wie Adam durch den Geist des Schöpfers Lebensodem erhielt, so wird der neue Mensch durch den Heiligen Geist von Sünden befreit und so gewissermaßen zur »neuen Schöpfung«. Weder durch den Sühnetod Jesu am Kreuz noch durch die Auferstehung wird nach dem JohEv die Welt erlöst, sondern durch das neuschaffende Wort des Schöpfungsmittlers. Auch Jesu Gebet, mit dem er seinen hohepriesterlichen Dienst zugunsten aller leistet (Joh 17), wird sicher erhört. Insofern ist Jesus mit seinem Schöpferwort tätig bei den Machtworten der Wunder, bei der Selbstoffenbarung in den Ich-bin-Worten und bei der Anhauchung durch den Heiligen Geist. Er selbst ist die Gabe Gottes an die Menschen, weil das Schöpferwort in seiner Person erschienen ist. Daher ist bei ihm die Botschaft nicht zu trennen von der Person. Daher ist die Botschaft Jesu stets Selbstauslegung der Person. Wenn Jesus die Jünger anspricht, werden sie neu geschaffen. Das also, was die frühere Forschung bei den Gleichnis-
323 sen Jesu irrtümlich annahm, dass sie authentische Selbstdurchsetzung des Gottesreiches im Vollzug der Predigt seien, gilt zwar nicht von den Gleichnissen, wohl aber ähnlich von den Worten Jesu bei Johannes. Insofern sind für Joh die Worte Jesu dann und deshalb »authentisch«, wenn sie die Überbringung des göttlichen Lebens bei den Menschen bezeichnen und bewirken. Sie haben daher sakramentalen Charakter. Es ist auch nicht der »Erhöhte«, der so spricht, sondern immer der menschgewordene Logos. Die Echtheit der Jesusworte – im Sinne des JohEv nicht im Sinne der ipsissima vox! – bemisst sich auch nicht vorrangig daran, ob Jesus das so irgendwann wirklich gesagt hat, sondern daran, dass die Menschen, die dadurch erreicht werden, aufatmen und das Haupt erheben können. Echt ist das, was zum Glauben an Jesus passt und demnach wahr ist (nicht anders verfuhr man de facto auch im 20. Jahrh. in den vielfältigen Diskussionen um die Echtheit von Jesusworten!). Im Übrigen wird die historische Echtheit durch die Gemeinde mehrfach bestätigt (z. B. Joh 21,24f, oder auch Joh 19,35). Jesus ist als lebendiger Mensch in besonderer Weise lebendiges Wort des lebendigen Gottes, und es ist daher dem Charakter dieses Gottes besonders angemessen, im Gegensatz zu all den Götzen nicht tot zu sein, sondern Leben zu wirken und zu garantieren. Naturgesetz und Christentum Dem »Naturgesetz« entspricht der Logos Gottes, das »Wort«. Das Schöpfungswort steht für die Schöpfungs-Vernunft. Denn die Grundstruktur aller Dinge und Vorgänge in der Natur ist Geist. Schon die Philosophen der Stoa sprachen in diesem Sinne von der Vernunft in allen Dingen. Auf dem Grund aller Dinge herrscht nicht die geistlose Schwerfälligkeit dumpfer Materie, sondern die Naturgesetze sind von eiserner Logik und von logischer Konsequenz und höchst rationaler Folgerichtigkeit. Daher sind sie verlässlich und für den Verstand erfassbar. Die Entsprechung von Wirkung und Ursache besitzt dieselbe Folgerichtigkeit wie die Folge der Gezeiten. Deshalb ist die Natur auch in Zahlen erfassbar und messbar. – Besonders staunenswert ist, dass schon in einem lebendigen Organismus, aber auch in der Natur im Ganzen, alle Vorgänge aufeinander
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324 hingeordnet und wie ein Räderwerk aufeinander abgestimmt sind. Daher hat man gesagt: Eher kann durch die Explosion einer Druckerei ein Lexikon entstehen, als dass der komplexe Organismus der Welt von selbst oder durch Zufall entstanden sein könnte. Juden etwa ab 200 v. Chr. pflegten zu sagen: Es besteht eine besondere Beziehung zwischen der Torah, dem Gesetz Gottes am Sinai, und den Gesetzen der Natur. Denn die Gestirne und Pflanzen, die Tiere und alle Erscheinungen des Wetters haben bei der Schöpfung ihr Gesetz erhalten und bewahren es gehorsam. Allein der Mensch ist ein Problemfall. Er hat zusätzlich eine Hilfestellung im Gesetz am Sinai bekommen, und dieses ergänzt das Schöpfungsgesetz auf seine Weise. Aber erst indem der Logos, die Weltvernunft, in Jesus erschienen ist, kann der Mensch wirklich zu Frieden und Ordnung gelangen. Denn in und durch Jesus gibt der Schöpfer dem Menschen direkt Anteil an seinem eigensten Leben, das lebendige Ordnung ist. Diese Umsetzung der Ordnung des Lebens nennt das JohEv »Liebe«. Denn auch in der Liebe wird – wie in der Schöpfung und in jedem Organismus – ein komplexes, differenziertes Miteinander geregelt. Jesus verwendet dafür zum Beispiel das Bild des Weinstocks. Er sagt: So wie ein Weinstock aus Teilen und im Ganzen »funktioniert«, so kann sich in der Verbindung mit Jesus Christus auch endlich das mitmenschliche Miteinander friedlich regeln. Frieden und Liebe sind daher die Weise, in der der Mensch sich in die bestehende Schöpfungsordnung einfügen kann, statt sie und sich zu zerstören. Weil der Mensch durch Jesus an Gott Anteil hat, hat er authentisch an der Kraft Anteil, die auch die Welt zusammenhält und regelt. Man kann daher sagen: Was für die Natur und alle Dinge in ihr das Naturgesetz ist, das ist für den Menschen die Möglichkeit, in der Kraft Jesu Frieden zu halten. Daher redet das JohEv vom neuen Gebot der Liebe. Es ist deshalb neu, weil diese direkte Anteilhabe an Gottes Leben erst durch Jesus gegeben ist. Jedenfalls gibt er selbst die Kraft, dieses Schöpfungsziel zu erreichen. Der Schlüssel der Aussage von Joh 1 lautet daher: Die geschwisterliche Liebe in der Schar derer, die Jesus nachfolgen, ist die Vollendung der Schöpfung. Denn Erschaffen heißt ordnen, zuordnen, in ein komplexes Ganzes hineinstellen.
Das Evangelium nach Johannes
– Noch einmal: Indem der Logos in Jesus Christus erscheint, wendet sich Gott auf eine ganz neue Weise der Welt zu, die weit über die Schöpfung hinausgeht. So kann man die Wundertaten Jesu darauf zurückführen, dass hier der Schöpfer selbst am Werk ist. Aber das ist jeweils erst der Anfang, so etwas wie ein Startzeichen. Die jeweils auf das Wunder hin folgenden Dialoge und Monologe (z. B. in Joh 5, 6, 9 und 11) deuten auf das hin, für das die Wunder selbst Zeichen sind: auf die Gabe von Leben, Licht und die Überwindung des Todes. Das Ziel liegt noch darüber hinaus: in einer engen und unzertrennlichen Lebensgemeinschaft mit Gott. Diese wird »Einssein« oder »Liebe« genannt. Schon in Joh 3,16f wird dieses programmatisch erklärt. Der Logos zielt auf Liebe. Die Weltvernunft, die Schöpfungsvernunft waren nur die erste Weise, in der Gott sich der Welt zugewandt hat. Doch das war nicht genug. Hinter dem Schöpfungslogos wird – sozusagen als die treibende Kraft überhaupt – Gottes Liebe erkennbar. Das Verhältnis zwischen Logos und Jesus Paulus gebraucht das Bild von Tonkrug und Schatz (vgl. 2 Kor 4,7). Er, Paulus, ist der Tonkrug, sein Wort und die apostolische Vollmacht aber sind der Schatz, der in dem Tonkrug geborgen ist. Das Bild der Inspiration trifft daher im Ganzen zu, d. h. Jesu Worte und Taten sind ganz und gar Gottes Gabe und Eingebung. Im Prinzip findet sich dieselbe Auffassung schon bei den alttest. Propheten (»So spricht der Herr …«). – In Jesus erscheint Gottes Wort in einem Menschen exklusiv und total. Exklusivität bedeutet: Die Intoleranz des einen Gottes (1. Gebot) wird auf Jesus übertragen. Von keinem Propheten wird gesagt, in ihm sei das Wort »Fleisch geworden«, d. h. es sei in diesem Menschen (aus Fleisch und Blut) erschienen. Dass man Joh 1,14 so verstehen muss, zeigt ähnlicher Sprachgebrauch bei Justins Auslegung von Ex 3: Gott ist »Feuer geworden« heißt: Er ist im Feuer erschienen. Es geht um keine Mutation, sondern um eine dauerhafte Epiphanie. – Aber kann man sagen: Wenn Jesus weint, weint der Logos?
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Joh 1,1-3: Gott und Gottes Wort Die üblichen deutschen Übersetzungen dieser Verse sind schlicht unverständlich: »Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Dieses war im Anfang bei Gott.« Das ist im Lateinischen der Vulgata genau so (hier mit deus und verbum). Das Griechische dagegen unterscheidet zwischen ho theos und theos. Dabei ist ho theos der eine und einzige Gott, sozusagen Gott Vater. Dagegen heißt theos »ein Gott« oder »göttlich« (von einem bestimmten ausgesagt). Wir haben es deshalb übersetzt mit »von Gottes Art«. Diese Umschreibung trifft am besten auf Gottes Sohn zu. Er ist nicht der »Vater«. Aber er ist doch göttlichen Wesens, göttlicher Natur, wie man später sagen wird. Das JohEv wird sagen: Er ist Gottes Sohn. Und wenn einer dem Vater ähnlich ist »in derselben Art«, dann der Sohn. Man sagt ja auch im Deutschen, wenn der Sohn überraschend unähnlich ist, er sei »aus der Art geschlagen«. Deshalb haben wir (Berger/Nord) hier übersetzt: »1. Zuerst war das Wort da, Gott nahe und von Gottes Art. 2. Es war am Anfang bei Gott. 3. Alle Dinge sind durch das Wort entstanden. Ohne das Wort konnte nichts werden.« Joh 1,1-18: Gliederung Der Abschnitt ist in drei Blöcke zu teilen. Der Beginn ist jeweils christologisch, das Weitere stark gegensätzlich strukturiert. Block I: V. 1-8 Gegensatz göttlicher Logos (V. 1-5) und menschlicher Täufer (V. 6-8), zwischen »war« (Logos) und »wurde« (Täufer). Jeweils der zweite Satz beginnt mit »dieser« (V. 2 und V. 7). Jesus ist das Licht, Johannes gibt nur Zeugnis vom Licht. Schlüsselwort in Block I ist daher »Licht«. Ziel: Glaube. Block II: V. 9-13 Gegensatz Jesus – Welt (Kosmos). Ziel: Glaube. Mit Block I verbindet das Stichwort »Licht« in V. 9. Block III: V. 14-18 Gegensatz Jesus – Mose,s. Ziel: Erhabenheit Jesu über Mose,s, wie in Block I bei der Erhabenheit Jesu über den Täufer. Schlüsselbegriff hier: Doxa. Die an Jesus sichtbar gewordene Doxa ist erhaben über die des Mose,s (vgl. 2 Kor 3,4-18). Wegen dieser Erhabenheit gilt jetzt Gnade, nicht nur Gesetz. Das Erscheinen Je-
su im Fleisch (V. 14) ist nur Voraussetzung für das heilvolle Sehen der Doxa. Demnach handelt es sich in Joh 1 nicht um einen geradlinigen zeitlichen Aufbau, der auf V. 14 zuliefe, sondern um drei parallele Blöcke über Hoheit und Wirkung Jesu im Kontrast zu anderen Autoritäten. Auch mit späteren redaktionellen Einschüben in den Prolog muss nun nicht mehr gerechnet werden.
Zu Joh 1,8: Die Lichtmystik verbindet die Religionen (besonders: Judentum, Christentum, Islam und die buddhistische Mystik). Im Benedictus singt Zacharias: »Denn unser Gott hat mit uns Erbarmen. Wenn er zu uns kommt, wird es sein, wie wenn die Sonne aufgeht. Er wird leuchten für uns, die wir in des Todes tiefem Schatten sitzen, und er lenkt uns auf den Weg des Friedens« (Lk 1,78f). Joh 1,9 und Apg 17,28 – ein Vergleich An beiden Stellen wird je unterschiedlich zeitgenössische Philosophie, näherhin stoische Kosmologie und Anthropologie, rezipiert. In Joh 1,9 liegt eine Aussage über den stoischen Logos als Weltvernunft zugrunde. Denn dank der Teilhabe am Logos wird jeder Mensch mit dem Licht der Vernunft erfüllt. Das »jeder Mensch« lässt sich nur erklären, wenn man eine universale philosophische Aussage zugrunde legt. Die Deutung von R. Bultmann/H. Thyen, jeden auf »wenn überhaupt einen« zu deuten, ist inhaltlich kaum möglich; es gäbe ja sprachliche Mittel, einen solchen Sinn zu formulieren; »jeden Menschen« heißt einfach: jeden Menschen, den es gibt. Das »der in die Welt kommt« ist entweder allgemein oder auch christologisch zu verstehen, und in letzterem Fall heißt es: Das, was wir vom Logos kennen, tut der in die Welt gekommene Logos nun erst recht. Denn die Welt war ja auch bisher nie ohne ihn! D. h.: Wenn er nun im Sinne von 1,14 Mensch geworden und in die Welt gekommen ist, vollendet er diese allgemeine Funktion: Sie kommt jetzt vollends zur Vernunft. Der Evangelist hätte also eine philosophische Vorlage christologisch getoppt. – In Apg 17,28 heißt es: »Denn wir leben, bewegen uns und sind in ihm« (Arat, Phainomena 5). Wie in Joh 1,9 der Evangelist, so knüpft hier Paulus an eine vor-christliche, von Philosophen ausgesprochene Erfahrung an. Er legt dar,
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326 worin sie ihren Ursprung hat. Er enthüllt den unbekannten Gott, der das namenlose und göttliche Fluidum war, in dem sich die Menschen schon immer bewegten. Während im JohEv für die judenchristlichen Hörer ein menschgewordener Logos denkbar war, ist es in Apg 17 die Auferstehung (Verbindung von Logos und Fleisch) nicht, da es sich bei den Hörern um griechische Philosophen handelt.
Joh 1,15-18: Johannes d. Täufer – Mose – Jesus Diese Stelle ist ein Kommentar zu dem vorangehenden Wort 1,14. In welcher Hinsicht das dort Berichtete geschehen ist, sagt 1,15-18. Im Verhältnis zu zwei Gestalten der Heilsgeschichte wird argumentiert, Johannes dem Täufer und Mose. Bezüglich des Täufers geht es einfach um den Gegensatz von Gott und Mensch. Jesus ist nach dem Täufer gekommen oder sogar – als sein Jünger – hinter ihm hergegangen. Das Griechische erlaubt hier die Annahme eines Wortspiels: 1,15 kann übersetzt werden »der nach mir kommt« oder auch als »der hinter mir hergeht«, und zwar im Sinne eines Fachausdrucks für Jüngerschaft. Entscheidend ist: Jesus war vor Johannes da. Das ist ein für den Leser verständlicher Hinweis auf Jesu Präexistenz (ähnlich Joh 8,58: »Ehe Abraham wurde, bin ich«). Denn der in Jesus erschienene Logos »ist« vor aller Welt. Wenn Jesus spricht, dann als der in die Welt gesandte Logos Gottes. Das ist insofern ärgerlich, als die Hörer Jesu diese Aussage nur verstehen, wenn sie um die Beziehung zwischen Jesus und Logos wissen, also um die Eigenart des Gesandtseins Jesu. Jedenfalls geht es in Joh 1,16 um den Kontrast zwischen einem sterblichen Menschen (Johannes) und dem in Jesus aufleuchtenden, ewigen Logos Gottes (Präexistenz). Daher die zeitliche Relation »vorher«. Im Vergleich zu Mose geht es um etwas anderes, nämlich um zwei Mittler für Gottes Offenbarungen. Das Stichwort »durch« gilt für Mose wie für Jesus. Durch Mose wurde die Torah gegeben, durch Jesus wurden Gnade und Wahrheit zuteil. Wahrheit ist im JohEv immer die Wirklichkeit Gottes selbst, seine Realpräsenz unter Menschen. Ähnlich umfassend ist auch »Gnade«
Das Evangelium nach Johannes
verstanden als Gottes Heil für die Menschen im umfassenden Sinn. Zum Vergleich eignet sich bestens Didache 10,6: »Es komme (die) Gnade, und es vergehe diese Welt.« Gnade ist hier der Inhalt der Zuwendung Gottes, nicht nur der formale Weg (im Sinne von: Geschenk, nicht Leistung), auf dem sie zuteil wird. Zwei Schritte der Offenbarung Gottes werden gegenübergestellt: Gesetz und Gnade. Um die Rechtfertigungslehre paulinisch-lutherischer Prägung – als ginge es beim Gesetz um die Werke des Gesetzes, bei Gnade um »allein durch Glauben, ohne Werke« – geht es hier sicher nicht. Denn das Tun und Wirken des Menschen stehen in Joh 1,17 überhaupt nicht zur Diskussion. Es geht ausschließlich um zwei Schritte Gottes in der Heilsgeschichte. Er hat das Gesetz gegeben, und durch Jesus wurde von ihm her Gnade zuteil. Weder von Werken noch vom Glauben ist die Rede, weder von Leistung noch vom Verzicht darauf. Der Skopos ist exklusiv offenbarungstheologischer Art. Gesetz und Gnade sind auch nicht notwendig im Sinne einer Opposition aufzufassen, wie das etwa in Röm 6,14f der Fall ist: »Ihr seid nicht unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade.« Paulus meinte damit: Ihr werdet nicht mehr verurteilt durch die kritische Instanz des Gesetzes, sondern euer Verhältnis zu Gott ist ungetrübt, Gott hat – wegen Jesus – Freude an euch. – Anders das JohEv: Hier ist das Gesetz Zeuge für Jesus oder für eine Lebensordnung, die erst durch exegetischen Missbrauch oder durch Nichtbeachtung seitens der nicht-christlichen Juden pervertiert wird. Bezüglich des Heils ist das Gesetz weder negativ noch positiv gewertet. Als Zeugnis für Jesus ist es ganz deutlich ein erster Schritt der Offenbarung Gottes. Im Übrigen ist es eine von Gott gesetzte Ordnung, die die Juden leider nicht immer beachten (Joh 7,19.51). Jedenfalls erlaubt das Gesetz Erkenntnis darüber, was Wahrheit ist und wie alles richtig sein sollte. Das Gesetz ist also eine an die Erkenntnis gerichtete Gabe. Man kann darin erkennen, wer Jesus ist und was Gottes Wille ist. Eine Kritik des Gesetzes unterbleibt daher, und darin liegt auch einer der Hinweise darauf, dass wir bei den Adressaten des JohEv mit Judenchristen rechnen müssen. »Gnade« steht also nicht im Gegensatz zum Gesetz, sondern bezeichnet eine neue Phase und Qualität der Zuwendung Gottes zu den Menschen. Wäh-
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rend das Gesetz »gegeben« wurde wie ein Gegenstand, sind Gnade und göttliche Wirklichkeit durch Jesus »geworden«, sind geschehen, haben sich ereignet. In der Variation des Verbs zeigt der Evangelist, dass jetzt das Leben Jesu selbst die Gabe ist. Jesus ist die Weise, in der Gottes Gnade und Wirklichkeit unter uns gegenwärtig geworden sind. Die neuerdings formulierte und ausführlicher begründete These, das JohEv stehe auf der Mitte des Wegs zwischen der Briefliteratur und den Evangelien, könnte durch Joh 1,15-18 bestätigt werden. Denn einerseits entdecken wir hier den typischen Vergleich zwischen Johannes dem Täufer und Jesus, wie er sich nur in den Evangelien findet. Andererseits aber bemerken wir eine bekannte Opposition, nämlich Gesetz und Gnade, für die wir Analogien nicht in den Evangelien haben, sondern nur bei Paulus. Dabei ist ganz deutlich, dass es sich in Joh 1,17 nicht um eine nachpaulinische Aufnahme des paulinischen Gegensatzpaares handelt, sondern eher um eine ursprünglich vorpaulinische Begriffsbildung, die dann bei Paulus und im JohEv unabhängig entfaltet wird. Nach Paulus (Röm 6,14f) sind die Christen nicht mehr »unter« dem Gesetz, sondern »unter« der Gnade. Damit geht es jedenfalls um eine Art von Herrschaft. Sie ist im Falle des Gesetzes kritisch gegenüber dem Menschen, im Falle der Gnade nicht kritisch, sondern bejahend, annehmend, liebend. Insofern bedeutet Gnade bei Paulus, dass die Menschen das Gericht überstanden haben (Röm 8,1; Joh 5,). In Joh 1,17 geht es dagegen nicht um Herrschaft, sondern um zwei Arten der Zuwendung Gottes zu den Menschen. Auf die Phase, in der Gott mit dem Gesetz Erkenntnis über seinen Willen geschenkt hat, folgt die Phase, in der er mit Jesus sein Leben und seine Liebe persönlich unter den Menschen hat gegenwärtig werden lassen. In ähnliche Richtung weist das Wort »Fülle« nach Joh 1,16. Das Wort meint Gott unter dem Aspekt, dass er überreichlich gibt. Gott ist die Fülle, alles außerhalb ist die Leere. Alles, was von Gott ausgeht, Schöpfung wie Offenbarung, besteht darin, dass Gott aus seiner Fülle in die Leere gibt. Auch dieser Ausdruck »Fülle« ist in den Evangelien nicht belegt, sondern nur in der Briefliteratur, in ähnlicher Bedeutung in Kol:
Nach Kol 1,19 wollte »die ganze Fülle« in Jesus wohnen. Das sind Vorstellungen ähnlich denen von Joh 1,14 und 1,16: Joh 1,14
Kol 1,19
Das Wort ist erschienen In ihm (sc. in Jesus) in Jesus als Mensch. wollte wohnen 1,16 Die Fülle Gottes haben wir durch ihn empfangen.
Gott in seiner ganzen Fülle.
Gemeinsam ist beiden Stellen: »In« Jesus wohnt bzw. erscheint Gott als Fülle bzw. in seiner Fülle als derjenige, der gibt und geben kann. Gnade wird geschenkt, gegeben, und »Fülle« bezeichnet Stil und Modus. An der Stelle der »Gnade« von Joh 1,17 steht in Kol die Versöhnung durch Jesu Blut (Kol 1,20). Wir halten fest: Das JohEv weist an dieser Stelle (1,16f) Gemeinsamkeiten mit Paulus und Kol auf. Historisch ist das so zu erklären, dass der Verfasser an der frühen Verkündigung Anteil hat, wie sie dann auch bei Paulus und seinen nächsten Schülern sich niedergeschlagen hat. Dabei ist die eigene Redaktion des Evangelisten gut zu greifen. Zu Joh 1,18: Der Evangelist setzt mit 1,18 noch einmal neu ein, um die Bedeutung Jesu im Kontrast zu Mose zu benennen. Denn Mose hat Gott nicht gesehen; nach Ex 33,18 bittet Mose: »Lass mich deine Herrlichkeit sehen!«, aber nach Ex 33,20 erhält er zur Antwort: »Mein Angesicht kannst du nicht sehen, denn kein Mensch wird leben, der mich sieht.« Entsprechend stellt Sir 43,31 die rhetorische, mit Nein zu beantwortende Frage: »Wer sah ihn (Gott) und kann (davon) erzählen?« Die griechische Fassung hat hier für »erzählen« griech.: ekdiegesetai. Dasselbe Verb verwendet Joh 1,18: Jesus hat davon erzählt (griech.: exegesato). Das heißt: Was schon in der Schrift für Mose und nach Sir für jeden Menschen (Sir 43,31: »Wer hat ihn gesehen und kann davon berichten?«) verneint wird, kann für Jesus indirekt, in der sich ergebenden Konsequenz aber direkt, bejaht werden: Er war zumindest in Gottes Schoß und kann davon erzählen. »Im Schoß« jemandes zu sein ist ein Bild für die enge Verbundenheit. Das Bild ist von der Sitzordnung beim Gastmahl her genommen. Weil man zu
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328 Tische liegt, ist »im Schoß« des Mahlvorsitzenden derjenige, der direkt neben ihm sitzt. Nach dem JohEv selbst ist es in der Situation der Abschiedsreden der Lieblingsjünger, wie ich meine: Andreas (vgl. Joh 12,22f), der »im Schoße« Jesu ist und daher manches »mitbekommt«, das anderen entgeht, die weiter weg sitzen. Vgl. das Jesus-Agraphon aus 2 Clem 4,5: »Wenn ihr in meinem Schoße mit mir versammelt seid und nicht meine Gebote tut, dann werde ich euch hinauswerfen und sagen: Geht von mir, ich kenne euch nicht, woher ihr seid …« Wegen dieser einzigartigen Beziehung zu Gott wird Jesus »einziggeborener Gott« genannt. Das bedeutet: »Der Einzigerzeugte, der göttlichen Wesens ist«, also der einzige Sohn. Man beachte: Es heißt nicht, er sei »der Gott«, sondern das artikellose »Gott« heißt: von Gottes Art. Das war auch über den Logos nach Joh 1,2 gesagt worden (»Und von Gottes Art war das Wort«). Diese Aussage ist für Juden keineswegs besonders erschreckend, denn bei Philo v. Alxandrien heißt es über Mose (Leben Mosis 1,158): »Genoss er nicht die erhabenere Gemeinschaft mit dem Vater und Schöpfer des Alls und wurde er nicht der gleichen Benennung gewürdigt? Er wurde ja des ganzen Volkes Gott und König genannt, und es heißt von ihm, dass er in das Gewölk, wo die Gottheit weilte, eingetreten sei …, wo er das für eine sterbliche Natur Unsichtbare wahrnahm …« In der Schrift »Über die Nachstellungen …« 161 legt Philo die Stelle aus »Ich gebe dich als Gott dem Pharao« (Ex 7,1), und sagt: »Der Weise ist Gott des Toren.« Nach der Schrift »Über die Träume« 1,230 nennt Gott den ältesten Logos »Gott«, und nach »Über die Freiheit des Tüchtigen« 43 sagt er: »Kühner aber gelangte der Gesetzgeber der Juden zu einer noch extremeren Formulierung …: Er wagte zu sagen, derjenige, welcher von göttlicher Liebe besessen sei und nur das Seiende verehre, sei kein Mensch mehr, sondern ein Gott; ein Gott der Menschen freilich, nicht der Teile der Natur …« Dort, wo der jüdische Monotheismus über jeden Zweifel erhaben ist, kann also ein besonderer Mensch »Gott«, d. h. von Gottes Art, nicht aber »der Gott« (im Sinne des johanneischen: der Vater) genannt werden. Nicht der Titel ist bei Jesus das Originelle, sondern dass er alle diese Namen auf sich ziehen konnte.
Das Evangelium nach Johannes
Auch in Joh 1,18 wird Mose verdeckt Jesus gegenübergestellt. Alle Analogien weisen nach Alexandrien. Auch alexandrinische Aussagen über den Logos spielen wohl eine Rolle, denn auch der Logos wird der älteste Sohn Gottes genannt. Jesus ist mehr als Mose und als Johannes der Täufer. Bei einem modernen Philosophen finde ich folgende Sätze über das JohEv: »Der einzige Inhalt des Evangeliums ist nicht eine Lehre, sondern das Ereignis, dass Gott in Jesus präsent war. Das ist ein Ereignis – gelehrt wird überhaupt nichts. Dass also hier ein Mensch ist, in dem Gott so präsent ist, der für die göttliche Präsenz so durchlässig ist, dass er in seinem Leben diese Präsenz überzeugend darlegt – das ist wahrscheinlich auch das Geheimnis des Erfolges von Jesus und der Wirkung auf seine Freunde, die Apostel usw. gewesen, die von der göttlichen Präsenz im täglichen Leben, in der Aktion, im Handeln, so beeindruckt waren … Es ist keine Lehre von irgendetwas, sondern der Eindruck, den ein Mensch macht, der vollständig durchlässig ist für die göttliche Präsenz in seiner Existenz. Das ist ein Ereignis, das in dieser Art neu ist« (E. Voegelin, Evangelium und Kultur, München 1997, 70-72).
Joh 1,19-28: Stimme in der Wüste Zu Joh 1,23 – 1 QS 8,13: »Sie sollen ausgesondert werden aus der Mitte der Behausung der Männer des Frevels, um in die Wüste zu gehen, dort den Weg des Herrn zu bereiten, wie geschrieben steht: ›In der Wüste bereitet den Weg des Herrn, macht eben in der Steppe eine Bahn unserem Gott‹« (8,13f). Dasselbe Zitat aus Jes 40,3 bezieht der Täufer in Joh 1,23 auf sich. Er sagt über sich: »Ich bin die Stimme dessen, der in der Wüste ruft: ›Ebnet den Weg für den Herrn!‹« Johannes setzt das wörtlich um; denn der Ort, an dem er tauft, ist Wüste, die an den Jordan grenzt. Aber Johannes ist eine Einzelfigur (mit Schülern). Und er versteht die Wegbereitung ganz offensichtlich nicht als Studium der Torah. Denn unmittelbar im Anschluss heißt es in 1 QS: »Das ist das Studium des Gesetzes.« Dann ist von der Reinigung der »Werke von allem Frevel« die Rede. Bei Johannes dem Täufer ist beides aufgehoben in seiner Bußpredigt und in der
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Umkehrtaufe. Beim Täufer ist die Erneuerung verknüpft mit der Ankündigung des nahen Zorngerichtes Gottes. Eine Messiaserwartung ist in der »Sektenregel« belegt (1 QS 9,9-11: drei Figuren, ein Prophet und je ein Messias Aarons und Israels). Johannes der Täufer verkündet den, der nach ihm kommt, und dabei gehen Messiaserwartung (Menschensohn) und Erwartung des Kommens Gottes ineinander über. Dabei ist klar, dass der Täufer sich den, der nach ihm kommt, nicht so vorstellt, wie man sich bis vor kurzem jüdische Messiaserwartung dachte, dass nämlich der Messias ein kriegerischer Davidssohn sei, der die Besatzung mit militärischen Mitteln vertreiben werde, so aber nur PsSal 17. Nach den Texten aus Qumran ist ein Messias eher ganz generell ein positiver Funktionsträger der Endzeit; es kann daher auch mehrere messianische Figuren geben (s. o.). Diese sind inhaltlich nicht auf Krieg festgelegt, haben aber alle mit der Erneuerung Israels zu tun; vgl. auch den »Messias des heiligen Geistes« nach Qumran-Texten. Auch ein Davidssohn, der nur Krieg gegen die Dämonen führt (wie Jesus es tut) und nicht gegen die Römer, ist im Rahmen des Judentums denkbar. Denn der historische Sohn Davids namens Salomo ist vor allem Exorzist. Teilweise kommt es auch zu einer Verschmelzung von Elia und Messias, wie sie unser Text andeutet: Elia wird nach Mal 3,31 und allgemeiner jüdischer Erwartung wiederkommen und das Volk untereinander versöhnen und zur Umkehr rufen, damit der »Tag des Herrn« kommen kann. Sowohl Johannes der Täufer als auch Jesus haben Züge der jüdischen Elia-Erwartung auf sich gezogen, und immer wieder wird in allen Evangelien diskutiert, ob der Täufer oder Jesus Elia sind. Einige Wunder Jesu sind Wunderberichten sehr ähnlich, wie sie von Elia und Elisa erzählt wurden. Doch Jesus ist mehr als Elia, nämlich der Sohn Gottes. Zu den Endzeitfiguren gehört auch »der Prophet«, von dem Joh 1,25 spricht (vgl. 4,19). Er entstammt Dtn 18,15; dort ist freilich Josua gemeint. Aber schon früh wird die Stelle auf »den« Propheten der Endzeit bezogen, besonders in Samaria. – Johannes der Täufer besitzt als Einzelfigur mit Umkehr- und Endzeitbotschaft grundsätzlich »messianischen Zuschnitt«. Die Frage, ob er der wiedergekommene Elia sei, ist daher berechtigt. Nach Joh 1,21 ver-
329 neint er diese Frage. Der Evangelist Matthäus mutmaßt (17,10-13), der Täufer sei doch Elia gewesen; Mt kennt Joh 1 nicht. Der Täufer bezeichnet sich als »Stimme dessen, der in der Wüste ruft …« Er ist daher keiner der bekannten Funktionsträger, sondern nur »Stimme«. Das ist ähnlich wie bei Jesus, der nach dem JohEv »das Wort« (nämlich Gottes) ist, und zwar in Person. In beiden Fällen sind die Botschaft und ihre Ausrichtung über alles andere gesetzt. Alles andere, auch menschliche Eigentümlichkeiten, verschwinden hinter der allein wichtigen Botschaft. Im Täufer und durch Jesus gelangt Gottes Wort jeweils direkt, ohne Beimischung, an die Menschen. Diese Selbstlosigkeit des Täufers, dass er nichts zu sein beansprucht außer Stimme, ist nicht moralisch zu missdeuten (im Sinne von Bescheidenheit) oder als Ausdruck des Verzichts auf eigene Gerechtigkeit, sie ist vielmehr die zentrale Legitimation des Täufers. Gerade weil er nur Stimme ist, muss man ihn hören. Menschliche Zutaten würden ihn belanglos machen. So tauft er auch nicht »auf seinen eigenen Namen«, sondern nur im Blick auf den, der nach ihm kommt. Seine Taufe bereitet das Volk vor. Ein derartiges Nacheinander von Endzeitprophet und Sohn Gottes gibt es freilich in keiner früheren oder späteren Fassung der jüdischen Messiaserwartung. Der Sohn Gottes sprengt die Messiaserwartung, vor allem weil er so umfassend charismatische Vollmacht zum Wunderwirken besitzt. Das »musste« der Messias gar nicht in diesem Maße besitzen; Joh 7,31 denkt direkt darüber nach. In Jesus als dem Sohn Gottes erreicht die jüdische Messiaserwartung eine Höhe, die sie auch mit dem zeitgenössischen außerjüdischen Programm vom Gottkaisertum »zusammenfließen« lässt. Dass der Herrscher zugleich Gott oder Spross der Götter sei, macht gerade ab dem 1. Jh. n. Chr. das römische Kaisertum zu einer »Konkurrenz« zum christlichen Gedanken der Gotteskindschaft Jesu. Das Judentum entwickelt die Vorstellung, dass Gott wie ein Mensch unter Menschen wohnt.
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Joh 1,19-34: Johannes der Täufer – Rufer und Täufer Die Überschrift (»Dies ist …«, V. 19) kennzeichnet den Abschnitt als Zeugenbericht. Dieser ist klar aufgebaut: V. 19-27 berichten die Selbsteinschätzung des Täufers, V. 28-34 sein Zeugnis für Jesus. Beides zusammen ist ein biografischer Vergleich (Synkrisis) zwischen beiden Personen, wie wir ihn aus Plutarchs »Vitae parallelae« kennen. Der Vergleich von »ich«/»er« findet sich schon in Mk 1,7f und dann in Joh 3,28-30 über den Täufer und sein Verhältnis zu Jesus. Innerhalb des Stückes ragen die titularen Diskussionen und Identifikationen hervor. Vor allem fällt der Blick des Lesers auf das Schriftzitat »Stimme des Rufers in der Wüste …« in V. 23 und auf den Titel »Sohn Gottes« in V. 34. Einen Titel beansprucht der Täufer nicht für sich; aber die Selbst-Identifikation per Schriftzitat wird in Joh 7,38 auch von Jesus vorgenommen (»Wie die Schrift sagt …«). Mit der Schrift wird auch in Apg 13,47 (aus Jes 49,6) eine Selbst-Identifikation bekundet. – Wie Johannes sich in der Wüste predigen sieht, so vergleicht sich Jesus mit der Quelle, die die Schrift ansagt. Der Kontrast zwischen den beiden Bildern, Wüste und Quelle, ist wohl sehr gut geeignet, die unterschiedliche Wirkung beider Gestalten zu illustrieren. Nach Joh 1,25 traut der Täufer sowohl dem Christus als auch dem Elia als auch dem Propheten ein Taufen zu, d. h.: Im Umkreis des JohEv ist man der Meinung, alle diese Personen würden taufen. Und Johannes d. T. zählt sich zwar nicht zu diesen, tauft aber gleichfalls, und so tut es auch Jesus Christus (Joh 3,22; 4,2). Wir stoßen hier auf eine weitgehende Gleichsetzung von jüdisch-christlicher Religion mit Taufe. Wenn alle die genannten Personen taufen (werden), dann ist die Taufe ein Grundsakrament oder »Universalheilmittel«. Das lässt den Rückschluss auf folgende Konzeption zu: Die Taufe ist das Mittel, Menschen hinter sich zu bringen. Und da alle genannten Personen im strikten Sinne des Wortes »vor-letzte« Gestalten der Heilsgeschichte sind, gilt: Ihre Taufe wird die Menschen auf Gottes Kommen angemessen vorbereiten. In der Tauftätigkeit des Johannes wie im Taufen Jesu wird dieses Programm modifiziert und in Wahrheit umgekrempelt. Zunächst aber
Das Evangelium nach Johannes
gilt: Der Täufer versteht sein Taufen als Vorbereitung des Kommens des Herrn (V. 23). Doch richtet sich im Falle des Johannes auch seine Qualität als Vorläufer nach dem, dessen Kommen er vorbereitet. Johannes versteht sich als »Stimme«, und er bereitet das »Wort« vor, das in Jesu menschlicher Natur erschienen ist. Wenn man das in V. 25 geschilderte Programm auf den Täufer überträgt, dann ist er wie Elia, der Prophet, oder wie Christus derjenige, der Gottes eigenes Kommen vorbereitet; Jesus ist Gott. Daher auch der Kyrios-Name in V. 23. In Jesus meint er Gott, und daher trägt Jesus auch den denkbar höchsten Titel »Gottes Sohn«. Die Titel Christos, Elia und Prophet haben ihre Funktion im Rahmen des traditionellen eschatologischen bzw. apokalyptischen Ereignisablaufs. Nach ihrem Taufen kommt Gott zum Gericht. Anders beim Taufen des Täufers. In der Gestalt Christi kommt Gott auf die Welt, und die Toten können jetzt lebendig werden. Und weiter: Der Täufer verkündigt, dass Jesus mit Heiligem Geist taufen werde. Andererseits offenbart er ihn als das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegträgt. Wie verhält sich beides zueinander? Aus Joh 20 ist klar zu erkennen, wie der Evangelist beides meint: Die einzige Stelle, nach der Jesus wirklich mit Heiligem Geist tauft, ist 20,22, wo Jesus die Jünger anhaucht und ihnen den Heiligen Geist mitteilt. Dazu spricht er von Sündenvergebung. Und auch aus Joh 15,3 wissen wir, dass durch Jesu Wort, seine pneumatische Offenbarung, Heiliger Geist zum Zweck der Reinigung mitgeteilt wird, d. h.: Die Sünden-Wegnahme bzw. -Vergebung geschieht durch den Heiligen Geist, den Jesus mit seinem schöpferischen, neu schaffenden Wort mitteilt. Jesus delegiert den Heiligen Geist, dessen Träger er selbst ist, nach 20,22f an die Jünger, die daraufhin Sünden werden vergeben können. Das bedeutet im Blick auf die Auslegung: Das Wegtragen der Sünde bezieht sich nicht auf den Kreuzestod, sondern auf die Neuschaffung durch den Heiligen Geist. Denn auch das »Lamm Gottes« ist nicht das geschlachtete Lamm oder das Sündopfer-Lamm, sondern zunächst ein Symbol für nichts anderes als Gerechtigkeit. Nach meiner Auffassung ist die Sündenvergebung exklusiv an Jesus gebunden; der Johannestaufe wird diese Wirkung nicht zugesprochen. Die Sündenver-
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gebung ist an die Gottessohnschaft Jesu und den Heiligen Geist gebunden. Das ist auch der Sinn der Vision des Täufers in 1,33: Johannes, der Umkehr gepredigt hat, wird durch die Vision über den belehrt, der die Vollmacht hat, Sünden zu vergeben: Dieser ist Träger des Heiligen Geistes und damit Sohn Gottes. Wie überall im Neuen Testament, so wird auch hier die Gottessohnschaft ursächlich mit dem Heiligen Geist verknüpft. In Jesus ist dieser Heilige Geist direkt präsent, daher und insofern ist Gott in ihm gegenwärtig. Und Jesus gibt den Heiligen Geist als Vollmacht weiter. Nach der Auffassung von Joh 3,5 ist diese Geisttaufe mit der Wassertaufe verknüpft. Der Sinn ist: Die Wassertaufe ist Zeichen der Umkehr und der damit ersehnten und erflehten Reinigung. Diese wird durch die Anhauchung mit Heiligem Geist verwirklicht. Die alten Taufliturgien bewahren konsequent diese Anhauchung. Auch wenn in der Osternacht das Taufwasser geweiht wird, haucht der Zelebrant über das Wasser (»Es steige herab in diese reiche Quelle die Kraft des Heiligen Geistes«).
Joh 1,29.36: Das Lamm Gottes Nach Zoologie und Farbenlehre der internationalen Apokalyptik werden – vor allem in Visionen – Herrscher oder Völker durch Tiere dargestellt. – Das Lamm ist das friedfertige und besonders wehrlose Tier. Als seine Farbe gilt im antiken Verständnis (weil es keine »modernen« Arten bzw. Schattierungen von Weiß gibt) das makellose Weiß. Weiß ist zugleich die Farbe des Imperators und die Farbe des Friedens, und die weiße Fahne ist international Zeichen des äußersten Friedenswunsches. Das Lamm ist im buchstäblichen Sinn fleckenlos und daher Symbol des Schalom schlechthin, der Verbindung von Unschuld, Gerechtsein und Friedfertigkeit. Es kann in diesem Sinne auch für unschuldige Herrschaft stehen. Dass Jesus hier »Lamm Gottes« genannt wird, ist ohne Parallele und hat dennoch seine Analogien in der Sprache der Tierapokalypsen, in denen das Mit- und Gegeneinander geschichtlicher Faktoren als Krieg der Tiere dargestellt wird. Der mit »Lamm Gottes« nächstverwandte Ausdruck findet sich gleichfalls im JohEv (6,69); da nennt Pe-
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332 Zum Ausdruck »Sünde wegnehmen« vgl. 1 Joh 3,5 und auch den babylonischen Bußpsalm nach H. Gressmann: Altorientalische Texte …, 1926, 262, Z. 57: »Die Missetat, die ich begangen, möge der Wind wegtragen.« Aus späterer Zeit s. die kleinasiatische Beichtinschrift von 235/36 n. Chr.: Ein Theodoroa hat die Ehe gebrochen, und es heißt von ihm: »Er nimmt die erste Verfehlung (griech.: hamartia) hinweg mit einem Schaf, einem Rebhuhn und einem Maulwurf.« Der Sünder selbst stiftet demnach Opfertiere, er opfert sie nicht selbst. Auch in den Parallelen geht es stets um Tiere. In der Beichtinschrift wird de facto auch ein Parakletos genannt (vgl. Epigraphica Anatolica 12 [1988] 155-166). Die Terminologie ist daher im Ganzen bekannt. Nur – was überdeckt sie? Jesus wird zwar Lamm genannt, doch allen Beteiligten ist klar, dass es sich nicht um ein Tieropfer handelt. Und ein Tieropfer wird nicht ohne weiteres durch ein Menschenopfer ersetzt, schon gar nicht für Juden(christen). – Wenn wir davon ausgehen, dass im JohEv das Gebet nach Joh 17 diese Funktion erfüllt, dann gilt, dass auch das Gebet eine kultische Gabe an Gott ist und dem Opfer parallel steht. Der Tod Jesu ist Beginn der Erhöhung und in jeder Hinsicht Zeichen der Glaubwürdigkeit, aber damit noch lange nicht als Opfer verstanden.
Joh 1,35-42: Die ersten Jünger Jesu Darauf läuft dieser Abschnitt hinaus: Jesus ist der Gerechte schlechthin, und als dieser Gerechte der Ort, an dem Gott zu finden ist. Und: Jünger werden gewonnen, indem einer auf das Zeugnis des anderen hin zu Jesus kommt. Zweimal weist Johannes der Täufer als »der« Zeuge auf Jesus als das Lamm Gottes hin. Als der Gerechte ist Jesus heilig und rein, wie es sonst der Tempel ist. Daher werden nach Joh 4,22-24 die Tempel Jerusalems und des Berges Garizim (Samariter) gemeinsam ersetzt durch Jesus als den neuen Ort, an dem man Gott anbetet in Geist und Wahrheit – denn diese sind bei ihm zu finden. In diesem Sinne sind bereits die theologischen Ortsangaben in Joh 1,38f zu verstehen, die sich um das Verb »bleiben« im Sinne von »wohnen« gruppieren. (»Wo wohnst du« – »Kommt und seht« – »Sie kamen nun und sahen,
Das Evangelium nach Johannes
wo er wohnte« – »Und sie bleiben bei ihm …«). Denn dort, wo Jesus wohnt, ist der heiligste Ort der Gegenwart Gottes, weil Jesus heilig ist. Und dort kann man bleiben, weil dieser Ort von der übrigen Welt abgegrenzt ist durch die Schranke unvergänglichen Lebens. Alle so genannte »theologische Geografie« des JohEv, auch das Bleiben im Weinstock, auch die himmlischen Wohnungen, die Jesus bereitet, weisen auf eine grundlegende Entsprechung zwischen Jesus und dem Tempel: Wo er ist, dort ist Gott. Und daher gibt es hier dauerhaftes Bleiben – die Alternative wäre weggehen (Joh 6,67) und vergehen. Das JohEv betont in diesem Sinne die Stabilität Gottes, die Verheißung ewigen Lebens ist. Auch dieses ist Gottes heilige Gegenwart: In jüdischen und frühchristlichen Theophanien (Erscheinungen) erscheint Gott oder sein Repräsentant inmitten zweier Boten. Dort ist sein Ort. So ist es mit den je zwei Engeln und dem geheimnisvollen Platz in ihrer Mitte – bei der Verklärung, am leeren Grab und bei der Himmelfahrt nach Lukas und bei der Auferstehung Jesu nach dem PetrusEv. In der Mitte der zwei Boten ist der Herr – wie bei den Emmausjüngern. Nach unserem Text wechseln zwei Schüler Johannes des Täufers, in deren Mitte gewissermaßen er als Gottes Bote zu denken ist, zu Jesus. Der »Vorläufer« des Messias wird so ersetzt duch den Messias selbst. Mitten zwischen Andreas und Petrus steht jetzt der Herr selbst. Als das klassische Jüngerpaar repräsentieren sie den, der sie sendet. Sie sind wie die beiden Leuchter, in deren Mitte die geheimnisvolle, hoheitliche Gestalt erkennbar ist. Andreas ist der Erstberufene, und er sagt es Petrus weiter, wen er gefunden hat, den Messias. Ähnlich wird später im JohEv Andreas als Erster zur Stelle sein, wenn es darum geht, dass das Urteil des Petrus auf festen Beinen steht, d. h. durch einen zweiten Zeugen (außer Petrus selbst) bestätigt ist. Dieser Zeuge heißt später der Lieblingsjünger (zur Begründung vgl.: K. Berger, Im Anfang war Johannes, 22003, 96-106); so wird in Joh 21,7 Petrus durch die Einsicht des Lieblingsjüngers aufgeklärt: »Es ist der Herr!«. Und nach Joh 13,21-26 ist der Lieblingsjünger Zeuge dafür, dass Jesus mit dem Verräter nicht Petrus meint, nach Joh 21,15 ff dann Zeuge dafür, dass Petrus zum Hirten bestellt ist, nach Joh 20,2-8 dafür, dass das Grab, das Petrus nach ihm sieht,
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wirklich leer ist. Sehr oft also geht die Erkenntnis des Lieblingsjüngers der Rolle des Petrus direkt voraus. Was lag daher näher, als anzunehmen, dass der Lieblingsjünger des JohEv Andreas geheißen hat? Zur Nachgeschichte: Das würde der Balance zwischen Ost- und Westrom bis heute entsprechen. Nur diese beiden Jünger werden wie ihr Herr gekreuzigt. In der alten Andreas-Präfation heißt es daher: »Der dem heiligen Andreas bei der Berufung am Anfang den Glauben und in seinem Martyrium den Sieg geschenkt hat. Weil Andreas beides empfing, war er treu in der Verkündigung und standhaft im Leiden … Er erkannte die Geheimnisse des Lammes, und daher wurde er am Kreuz aufgehängt.« – Die Alte Kirche meint freilich seit Ende des 2. Jh., der Lieblingsjünger sei der Zebedaide Johannes gewesen. Das JohEv selbst gibt seinen Namen nicht preis.
Anders als bei Markus beruft Jesus seine ersten Jünger nicht dadurch, dass er sie von der Arbeit an den Fischernetzen direkt wegbeordert. In diesem Evangelium ist das anders: Neue Jünger werden nach Joh 1 jeweils berufen durch das Zeugnis eines anderen. So werden Andreas und Petrus berufen durch das Zeugnis Johannes des Täufers, so wird Petrus berufen durch das Zeugnis des Andreas und in den nachfolgenden Versen Natanael durch Philippus und durch das Zeugnis des Mose. Nur den Philippus hat der Herr selbst gefunden. So begegnet ein künftiger Jünger in der Regel zuerst den Zeugen und dann Jesus selbst. Von daher wird auch der Inhalt des Wortes »Zeugnis geben« bestimmt: Bekenntnis ablegen. Dieses Zeugnis der Menschen über Jesus bewegt sich hier noch im Rahmen des Judentums, und darin realistisch: Jesus wird der »Rabbi« genannt (V. 38.49), der »Messias« (V. 41), der »König Israels« (V. 49), und von ihm »zeugen« auch Mose und die Propheten. All dieses menschliche Zeugnis wird überboten durch das, was die Jünger bei Jesus selbst sehen und erfahren. Das Wort »sehen« hat hier eine zusammenfassende und unersetzliche Bedeutung. »Kommt und seht«, sagt Jesus schon zu Anfang, und am Schluss des Abschnittes in 1,51 wird Jesus ihnen ein Sehen verheißen, das alles bisherige, irdisch orientiere Sehen und Zeugnis übersteigt, denn der Himmel selbst wird offen stehen. Das Zeugnis der Menschen wird überboten durch eine
Vision des offenen Himmels. Und gegenüber der Selbst-Erschließung der himmlischen Wirklichkeit verblassen alle israelitischen Maßstäbe und Erwartungen. Das Sehen meint daher nicht in erster Linie Information, sondern es bedeutet, sich als authentischer Zeuge auf eine Erfahrung einzulassen und am Ende sogar damit zu rechnen, dass sich Gottes Herrlichkeit selbst erschließt. Daher besteht ein enger Zusammenhang zwischen Sehen und Glauben in diesem Evangelium, und an der Bewertung dieses Sehens hängt seine ganze Theologie. Denn das Sehen der authentischen Zeugen ist keineswegs abgewertet, sondern unersetzliches Sehen der Herrlichkeit Gottes, wie sie besonders in den Wundern aufstrahlt. Kontakte allein zu anderen Jüngern reichen allerdings nicht zum Christsein. Entscheidend ist, dass einer den anderen zu Jesus führt. So kann auch die Gemeinde nicht darauf beschränkt bleiben, dass man »Leute kennt«. Sondern einer müsste den anderen auf Jesus Christus hinweisen und zu ihm hinführen. Das JohEv schildert mit dieser Weise des Gewinnens von Jüngern Aktivitäten in der frühen Mission, wie sie besonders Frauen praktizierten im Rahmen der nachbarschaftlichen Kontakte.
Joh 1,51: Die neue Himmelsleiter Das Bild der Engel, die hinauf- und wieder herabsteigen, kommt aus der Jakobserzählung (Gen 28). Der Ort, auf den sie herabkommen, ist der Platz des Heiligtums. Unmittelbar danach wird sich Jesus in Joh 2,19-21 (vgl. Kap. 4) als den neuen Tempel und den Ort der Gottesgegenwart darstellen. Joh 1,51 ist daher eine erste Antwort auf die für das ganze JohEv typische Frage nach dem Ort Gottes. In diesem Sinne wird das Bild auch in altkirchlichen Apokryphen verstanden. Vgl. etwa syr Schatzhöhle: »Als die Magier drei Tage bei ihm waren, sahen sie, wie die himmlischen Mächte beim Messias auf- und niederstiegen und hörten Gesänge der Engel … (24) Weil er aber wie ein Mensch war und die Engel vom Himmel zu ihm herniederstiegen, so ist er in Wahrheit der Herr der Engel und der Menschen … (25) Dieser ist in Wahrheit Gott; denn uns sind auf Erden schon so oft Könige, Helden und Heldensöhne geboren
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334 worden, aber noch nie hat man gehört, dass die Engel zu ihnen herniedergestiegen wären.« – Dieser Text deutet die Bewegung der Engel im Sinne der Anbetung. Man kann auch ganz in diesem Sinne vorschlagen, wegen der Zweidimensionalität des Himmels das Hinauf- und das Hinabsteigen als Umgeben, Umringen zu verstehen, wie wenn Gott oder der Menschensohn umringt von seinen Engeln kommt. – In zahlreichen Texten haben die Engel die Funktion von Boten, die die himmlischen Geheimnisse ausrichten, so Jubiläen 32,21.26: »Ein Engel stieg herab vom Himmel … und er zeigte ihm alles, was auf den Tafeln geschrieben war … und er stieg auf von ihm«; Paralipomena Ieremiae 4,11; Ascensio Iesaiae G 2,29.43; von der Weisheit in Baruch 3,29: »Wer stieg hinauf … und führte sie herab … ?«, im Sin-
Das Evangelium nach Johannes
ne der Entrückung in Mk 16,3k (»Engel stiegen herab … stiegen mit ihm hinauf«), in diesem Sinne hoffen Propheten, in den Himmel hinaufzusteigen (Asc Jes 2,9). In der kopt EliaApk 43f (Pietersma/Comstock) heißt es von Gott (!): »Er wird König sein mit den Heiligen und dabei werden sie (so Rosenstiehl) hinaufsteigen und hinabsteigen, während sie allezeit mit den Engeln sind und mit dem Messias.« Das heißt wohl: Die Heiligen umgeben ihn.
Aufgrund der Parallelen ist daher zu entscheiden: Wenn eine Vielzahl von Gerechten oder Engeln hinauf- und herabsteigt (in dieser Reihenfolge), dann ist verehrungsvolles Umgeben gegenüber der höheren Person (Menschensohn oder Gott) gemeint.
Joh 2–11: Buch der Zeichen Joh 2,1-11: Hochzeit zu Kana In der alten Liturgie ist das Festgeheimnis des 6. Januar dreigeteilt: Anbetung der Magier, Weinwunder zu Kana und Taufe Jesu – ausgerichtet im Sinne der antiken Biografien am jeweils ersten öffentlichen Sichtbar- bzw. Wirksamwerden Jesu nach den unterschiedlichen Evangelien. Denn an diesem Punkt setzten großenteils die Biografien überhaupt erst ein. Entsprechend reich ist gerade für das Weinwunder in Kana der Schatz der Auslegungen. In einer Präfation heißt es, dass der, der den trockenen Leib der Sara feucht gemacht habe (liquorem siccis), hier nun der Feuchtigkeit des Wassers Geschmack (saporem liquidis) zugesetzt habe. Beide Wunder seien gleich groß. Und man sagt: Als Hochzeitsgast war Jesus Mensch – doch Gott war er als der, der Wasser in Wein gewandelt hat. Auch der Exeget kann in diesem Bericht mehrere Bedeutungsebenen unterschieden. Als das erste Wunder Jesu ist dieses »Zeichen« besonders zum Erkennen dessen geeignet, wer Jesus ist. Denn Wein in Hülle und Fülle, das ist ein Element der Erwartung des messianischen Segenszeitalters – neben Brot und Öl (sowie Nachwuchs!) in Fülle. Wenn man so redet, erwartet man eine durchaus irdisch ausgerichtete Messiaszeit. Jüdische Apokalypsen des 1. und 2. Jh.
n. Chr. reden so, wenig später dann auch christliche apokalyptische Texte, die einen nicht mit Jesus identischen, säkularen Endkaiser erwarten. Im JohEv wehrt dieser Bericht in 2,1-11 jedenfalls einer Spiritualisierung: Jesus ist wirklich umfassend der Messias, und zwar auch für das menschliche Glück. Die ersten beiden Wunder des JohEv sollen dieses wohl einschärfen, und daher sind sie ohne weiterführende und christologisch vertiefende Dialoge und Monologe. – Dass das Zeichen hier der Wein ist, steht in Zusammenhang mit Gen 49,11, wo in den Segnungen des Patriarchen Jakob dem Hause Juda, aus dem der Messias kommt, der Wein als Attribut zugewiesen wird. Auch später ist Wein Zeichen des Messias, weil sein sorgsamer Anbau Friedenszeiten voraussetzt, und weil Wein ein Luxus gegenüber dem lediglich notwendigen Wasser ist. Sodann unterscheiden dieses Zeichen und die Teilnahme an der Hochzeit Jesus vom Täufer. Denn der Täufer hat niemals in seinem Leben einen Tropfen Alkohol zu sich genommen, vielmehr die Umkehr gepredigt (Lk 1,15). Jesus dagegen wird nachgesagt, ohne dass er selbst es bestreitet, er sei ein Fresser und Weinsäufer. (Lk 7,34; Mt 11,19), und er predigt, indem er mit allen möglichen Menschen isst und (Wein) trinkt. Diese Feiern versteht er als Vorhochzeit des messianischen Bräutigams. Denn er, der Bräutigam,
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ist schon da, und mit den Teilnehmern an seinen Mahlzeiten feiert er bereits jetzt das künftige Fest ein wenig im voraus. Insofern weist diese durch das Zeichen Wein besonders ausgezeichnete Hochzeit tatsächlich auf die Hochzeit Jesu mit der Messiasbraut, dem erneuerten und erweiterten Israel. Die nicht wenigen religionsgeschichtlichen Analogien über die Verwandlung von Wasser in Wein bezeugen nur einen nicht ganz erstaunlichen Wunschtraum von Menschen (Texte bei Berger/ Colpe, Textbuch, 1987, Nr. 254-258). Sie beziehen sich jedoch nicht auf einzelne Wundertäter, sondern meinen lokale Paradoxa. Niemals ist eine Hochzeit der Rahmen; diese »Gelegenheit« einer Hochzeit aber ist für das Messiasbild der vier Evangelien exklusiv typisch. So ist das Milieu hier eher jüdisch als hellenistisch.
Joh 2,11 hat man als Argument für die Existenz einer so genannten Zeichen-Quelle betrachtet. Der Evangelist habe auf eine komplette Sammlung von Wundertaten Jesu zurückgegriffen. Diese seien sogar durch Zählungsangaben noch erkennbar, auch ihr Schluss sei erhalten. Zu nennen seien Joh 2,11 (erstes Wunder); 4,54 (zweites Wunder; dazwischen sei jetzt störend 2,23 eingeschoben); 21,14 (drittes Wunder); Schluss in 20,30f (Kap. 21 sei als Anhang ohnehin sekundär). In dieser Sammlung habe ein naiv-magischer hellenistischer Wunderglaube geherrscht. Der Evangelist habe diese Quelle eingebaut, sie aber mit kritischen Kommentaren versehen (4,48; 2,24; 20,29). So sei die Wunderkonzeption dieser Quelle korrigiert worden. Ich werte diese These als ein systematisch-theologisch bedingtes Konstrukt, das in keinem Punkt haltbar ist. In Joh 2,24 werden nicht Wunder oder Wunderglaube kritisiert. Vielmehr ist Jesu Weg des Erkennens ein anderer als der der (anderen) Menschen: Jesus durchschaut die Herzen (Kardiognosie) wie Gott und die Propheten. Die anderen Menschen sind auf glaubendes Vertrauen angewiesen. In diesem Sinne geschehen Wunder, damit Glaube geweckt werden kann, und Unglaube ist dann unentschuldbar (vgl. Joh 9). Der Zusammenhang von Sehen und Glauben wird vielmehr überall im JohEv positiv bewertet. Aber es gibt für das Glauben-Können auch andere Quellen als die des Sehens von Augenzeugen, z. B. die Schrift (Joh 20,9) oder das JohEv (Joh 20,29 über Joh
20,24 ff). Das JohEv liefert Zeugenberichte (Joh 20), und auch die Schrift zeugt von Jesus (Joh 5,39). D. h. aber auch: Joh 20,29 tadelt weder den Wunderglauben noch gar die Wunder selbst. Thomas wird nicht getadelt (sonst müsste auch Jesus getadelt werden, da er auf den Wunsch des Thomas eingegangen ist); der Zusammenhang von Sehen und Glauben wird bejaht. Wer nicht sieht aber auf das Zeugnis des Thomas hin glaubt, also der Leser des Evangeliums, ist selig (vgl. Offb 1,3).
Jesu Zeichen weisen also auf seine Herrlichkeit und sind damit im Sinne des Evangelisten nicht zu kritisieren, sondern integraler Teil seiner Sendung.
Joh 2,13-25: Tempelreinigung Nach Joh 2,13-22 gibt Jesus der Tempelreinigung einen besonderen Sinn: Schon nach Sach 14,21 wird der Tempel der Endzeit dadurch ausgezeichnet sein, dass von ihm gilt: »Und es wird im Haus des Herrn der Heerscharen keine Kaufleute mehr geben an jenem Tag.« Nach Joh 2,17 erinnern sich die Jünger an Ps 69,10: »Der Eifer für dein Haus wird mich verzehren.« Das ist deshalb eine Vorandeutung des Todes Jesu, weil dabeistehende Juden sofort nach Jesu Legitimation und Vollmacht fragen. Jesus beantwortet die Frage nicht direkt, sondern mit einem zweiten Tempelwort, wonach er selbst der neue Tempel ist. Die Legitimation wird in seiner Auferstehung liegen. Aber dass Jesus »vom Tempel seines Leibes« reden kann, nehmen ihm die dabeistehenden jüdischen Hörer nicht ab. Den menschlichen Leib als Tempel zu bezeichnen, ist unter Juden in Alexandrien (Philo) und unter Gebildeten in Rom (Seneca) üblich. In Joh 2 dagegen herrscht darüber eher Unverständnis. – Das Verzehrtwerden für den alten Tempel und die Errichtung des neuen Tempels weisen auf Tod und Auferstehung Jesu. Um das Erbauen eines »nicht von Händen gemachten« Tempels geht es auch in 1 Kor 3: Schon im Frühjudentum entsteht die Auffassung, dass Menschen, die sich im Namen Gottes versammeln, ein Ort für Gottes Gegenwart und damit ein Tempel sind. Ausgeprägt ist das bereits für die heilige Versammlung von zwölf Männern (»Israel«) und drei Priestern, die die Sekten-
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336 schrift von Qumran im Blick hat. Diese Versammlung heißt das »Allerheiligste« des Tempels. Dass die Auffassung sich auch in den Hymnen von Qumran findet, könnte darauf weisen, dass sie ihren Ursprung im Hymnen-Singen hat. Wo Menschen sind, die dem Herrn huldigen (und sich mit ihrem Jubel mit den Engeln verbünden), dort ist Tempel Gottes. Heilig sein aber heißt anders sein, heißt abgegrenzt sein von der Masse Mensch und Gott gehören, von ihm daher auch beschützt und bewahrt werden. Nun kennt besonders auch das Neue Testament eine grundsätzliche Opposition gegen Tempel und alles, was damit zusammenhängt, und in vielfältiger Variation begegnen diese Argumente auch heute. Ich erinnere an Stephanus und seine große Rede nach Apg 7,49 f. Wo aber ist Gott, wo wohnt er wirklich? Jesus sagt nach Joh 2: Ich bin der wahre Tempel. Der Maßstab für Heiligkeit und Gottes heilige Gegenwart ist mein Geschick, mein Sterben und Auferstehen. – Bis in die mittelalterliche Symbolik der Kathedralen wird dieser Anspruch Jesu wirksam. Auch die Kathedrale aus Stein stellt nur ihn dar, hilft, den Weg zu ihm zu finden.
Joh 3,1-13: Jesus und Nikodemus Für den Leser ist dieser Abschnitt eine wichtige Zäsur. Denn nachdem Zeugnisse für Jesus genannt worden sind und in 2,1-11 ein erstes Wunder berichtet wurde, macht Jesus im Dialog mit Nikodemus unmissverständlich klar, dass es bei einer bloßen Sympathie für Jesus nicht bleiben kann. Auf die bewundernden Worte in 3,2 reagiert Jesus schroff mit einem Amen-Wort, das auf die Bewunderung gar nicht eingeht, sondern in seiner negativen Form eine Aus- und Abgrenzung vornimmt. Alle Bewunderung wird dir nicht helfen, Nikodemus, wenn du nicht grundlegend dein Sein verändern lässt. Das kann nur durch eine Geburt von oben her geschehen. Nachdem Nikodemus das erste Wort in typisch johanneischer Weise unmetaphorisch im Sinn alltäglichen Geschehens missverstanden hat, wird ein zweites Amen-Wort deutlicher: Jesus meint die Taufe, die im Unterschied zur Taufe des Johannes d. T. eine Taufe aus Wasser und Geist ist. Das sichtbare Zeichen des Eintauchens
Das Evangelium nach Johannes
oder Untertauchens in Wasser wird aus der Johannestaufe übernommen. Der Wasser-Ritus wird wohl verstanden als Reinigung zur Vorbereitung auf das Gebet um Vergebung der Sünden. So ist es auch bei der Waschung nach Sibyllinen IV. Das Gebet um Vergebung der Sünden wird erhört in der Sendung des Geistes, und das geschieht durch Anhauchung seitens des Taufspenders. Demnach vollzieht sich die christliche Initiation nach Joh 3,5 wie folgt: Verkündigung weckt Glauben/Umkehr – Wassertaufe als Reinigung zum Gebet – Gebet um Sündenvergebung – Erhörung des Gebets durch Anhauchung, welche als Mitteilung des Heiligen Geistes verstanden wird und im Sinne von Joh 20,22 als Vergebung der Sünden. – Das Gebet zwischen Taufe und Vergebung ist noch in Lk 3,21b erhalten (Jesus betet vor Empfang des Heiligen Geistes; er natürlich nicht zur Vergebung der Sünden). Die Anhauchung ist bis heute Teil des byzant. und des röm.-kath. Taufritus. Die in 3,5 genannten Taufen gehen in der Kombination zusätzlich auf Ez 36,25-26 zurück. Hier spricht der Prophet davon, dass Gott seinen Geist wie (frisches) Wasser in die Herzen der Menschen legen werde. Was in Ez 36 in Metaphern gesagt ist, wird in Joh 3 ritualisiert. Sakramente sind ritualisierte Metaphern.
Joh 3,6-8 ist Kommentar zu 3,5. Zum Stichwort Geist argumentiert Jesus hier mit dem Dualismus von »Fleisch« und »Geist«, der die Kompromisslosigkeit von 3,3 unterstreicht. 3,8 spricht nicht vom Heiligen Geist, sondern vom Wind. Besonders eine »freigeistige« Auslegung bemüht immer wieder Joh 3,8, um ein dogmenloses Christentum zu verteidigen. Der Heilige Geist und das, was er bewirke, seien form- und konturenlos, daher sei »Toleranz« die angemessene Deutung. Doch die Wendung »So ist jeder …« ist ein Signal für den Gleichnischarakter von 3,8. Das Stichwort »Wind« (griech.: pneuma) ist lediglich StichwortVerknüpfung zu V. 5-6. – Der Wind ist in seinem Woher und Wohin geheimnisvoll und unerforschlich. So ist es auch mit dem Getauften, von oben neu Geborenen. Gegenstand des Vergleichens ist daher nicht der Heilige Geist, sondern der Getaufte. So sagt es V. 8b ausdrücklich. Der neu Geborene ist deshalb ein Geheimnis, weil er keine irdische Herkunft (»Heimat«) und kein ir-
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Kapitel 3
disches Ziel (»Himmel«) hat. Er kommt vom Himmel und geht zum Himmel. Insofern bereitet V. 8 genau V. 13 vor: Von dem neu Geborenen gilt nämlich dasselbe wie vom Menschensohn. – Nicht zu übersehen ist die Formulierung »jeder, der …« in 3,8b. Das erinnert an das universalistische »Jeder, der glaubt …« in Röm 10,11 usw.
Zu Joh 3,11f: Die hier gebrauchte 1. Person Plural dürfte sich auf Jesus und den Täufer beziehen. Begründung in 3,31-32b: »Der von der Erde« ist der Täufer (er ist von einer Frau geboren: Lk 7,35), »der vom Himmel« ist der Gottessohn, der von Gott stammt. Nach 3,32 nimmt sein Zeugnis keiner an. – Ähnlich in 3,11: »unser« Zeugnis, d. h. das des Täufers »von der Erde« und das Jesu »vom Himmel«, nimmt keiner an. Bestätigt wird diese Deutung durch Lk 7,3135. Beide, der Täufer und Jesus, werden gleichermaßen abgelehnt, und zwar trotz des konträren Charakters der Botschaft. In Joh 3,11f ist das der Unterschied zwischen Irdischem und Himmlischem, in Lk 7 der zwischen Trauer und Freude. – Fazit: In 3,11 f.31-32b sowie Lk 7,31-35 wird darüber Klage geführt, dass weder irdische noch himmlische Rede, weder das Zeugnis Jesu noch das des Täufers angenommen werden. Dabei setzt 3,12 voraus, dass auch Jesus einst oder zeitweilig von Irdischem gesprochen hat. Daraus könnte man folgern, dass er mit dem Täufer zusammen von Irdischem gesprochen hat und erst später, vielleicht im Zuge einer Ablösung vom Täufer, von der Notwendigkeit einer neuen Geburt von oben her. Das ist gut vorstellbar. – (Vgl. eine historische Rekonstruktion zu Joh 3,32). Fazit zu Joh 3,1-13: Der Glaubende und Getaufte kommt vom Himmel her und geht zum Himmel hin, denn er ist neu von oben geboren. Ebenso ist der Menschensohn vom Himmel gesandt und geht wieder zum Himmel. Damit ist zugleich sein Geschick erklärt (er musste erhöht werden) und seine Herkunft legitimiert (er kommt vom Himmel, d. h. er ist vom Himmel gesandt).
Joh 3,3: Das doppelte Amen Das doppelte Amen zu Beginn aller joh. AmenWorte ist typisch für das JohEv (und für Jesus-
Worte späterer gnostischer Texte). Es sieht aus wie der Vollzug des in Mt 5,37 von Jesus gebotenen Schwur-Ersatzes durch »Ja, ja«. Denn »Amen« heißt »Ja«, wie zahlreiche Belege bezeugen. Im MtEv selbst dagegen sagt Jesus zu Beginn der Amen-Worte nur das einfache Amen. Joh lässt demnach Jesus »an Mt 5,37 vorbei« sprechen. Oder hat Mt den Zusammenhang von Amen-Einleitung und Schwur nicht bemerkt? Da die griechische Fassung in Mt 5,37 kaum älter sein dürfte als das aramäische Amen, Amen, sondern vielmehr jünger, bewahrt das JohEv eine ältere Praxis, deren jüngeren Widerschein die Bergpredigt bietet. Der historische Zusammenhang dürfte so aussehen: Jesus hat wichtige Worte mit einem Schwur eingeleitet (Bekräftigung, Selbst-Legitimation wie in Apokalypsen oft: »Ich schwöre euch …« Schwur gilt geradezu als Merkmal der Gottesrede [Henoch-Überl.; Philo v. A.]). Schwören bei Gott hat Jesus aber durchgehend vermieden, und zwar um die Heiligkeit des Gottesnamens zu schützen (auch ein pharisäisches Anliegen). Deshalb gebraucht er für die eigenen Schwur-Worte eine Schwur-Ersatzformel. Diese lautet »Amen, Amen«, oder, für griechische Leser verständlicher, »Ja, ja« (Mt 5,37). Das »Amen, Amen« wird ursprünglich nicht übersetzt, weil Schwüre – soweit möglich – in heiliger Sprache zu formulieren sind. – Das MtEv kann kein Vorbild für das JohEv sein, da es weder »Amen, Amen« in 5,37 bietet, noch die Amen-Worte Jesu mit doppeltem »Amen« oder doppeltem »Ja« formuliert. – Semitische Worte werden für den Bedarf der Leser öfter ins Griechische übersetzt, so das »Amen« mit »Ja« in Offb 14,13 oder das Maranatha mit »Komm, Herr« in Offb 22,20. – Resultat: Es gibt daher eine gemeinsame Tradition hinter Mt 5,37 und den »Amen, Amen«-Worten des JohEv. Wäre Joh von Mt abhängig, hätte er »Ja,ja« statt »Amen, Amen« gesetzt.
Joh 3,4: Missverständnisse nach dem JohEv Die Außenstehenden unter den Lesern können sich im Text wiederfinden in den Kontrahenten Jesu, die ihn missverstehen. Das verläuft getreu der Regel, dass Metaphern nach Absprache verstanden werden. Wer nicht »insider« ist, versteht
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338 nichts. Der gläubige Leser, der sehr wohl versteht, kann nur über ihn lachen. Nach Joh 3,4 kann man eben nicht nochmals geboren werden; nach 4,12 wird Jesus unterstellt, er maße sich an, mehr zu können als Jakob der Brunnengräber; nach 4,15 soll Jesus angeblich Wasser versprechen, nach dem man nie wieder Durst hat; nach 6,15 wollen die Adressaten des Speisungswunders Jesus zum König machen, sie verstehen die Speisung als Bewerbung Jesu um das Königsamt. Nach Joh 6,52 kann ein Mensch nicht sein Fleisch zu essen und sein Blut zu trinken geben. Vor allem darf er das nicht, das wäre Kannibalismus (noch heute verstehen selbst gehobene Medien Eucharistie als Kannibalismus). Nach Joh 9,41 wissen die Pharisäer nicht, dass es geistige Blindheit gibt; nach Joh 13,8-10 verwechselt Petrus äußere und geistliche Reinheit.
Die Kirche erscheint als Metapherngemeinschaft. Wer nicht versteht, gilt als verstockt: Was nach Mk 4,11f bei den Gleichnissen Jesu geschieht, passiert im JohEv bei den missverstandenen Metaphern Jesu: Verstockung (Joh 9,39; 12,40). Deshalb wird an beiden Stellen Jes 6,9f zitiert. Es bestätigt sich die Regel, dass an der Stelle der Gleichnisse der Synoptiker im JohEv die Metaphern stehen. Zu Joh 3,12: Philo v. Alexandrien, De Providentia II 47: »Der Mensch will die obere Natur betrachten, obwohl er kaum fähig ist, Formen und Eigenschaften auf der Erde zu betrachten.« Philo meint dieses kosmologisch, Joh aber theologisch.
Joh 3,13: Von oben nach unten und nach oben Der Menschwerdung des Logos (1,14) entspricht sachlich das Herabsteigen des Menschensohnes (parallel ist auch das »Geben« in 3,16). Dem entspricht auch, dass die Christen von oben geboren werden (3,3), was der Taufe aus »Wasser und Geist« inhaltlich parallel ist. Durch die so gedeutete Taufe nehmen die Christen denselben Weg wie der Menschensohn, und zwar von oben nach unten und von unten nach oben. Zur Popularität dieses Denkschemas im Vorderen Orient um die Zeit der Entstehung des Christentums vergleiche man das Perlenlied der Thomasakten. Zu Joh 3,13 vgl. die syrische Anaphora Dioscori
Das Evangelium nach Johannes
Alexandrini I (ed. A. Raes 299): »Licht vom Licht und Gott von Gott, der du deinen heiligen Himmel herabgeneigt hast, und der du zur Erde aus Liebe zu den Menschen herabgestiegen bist zum Heil des Universums, …« (vgl. Ps 143,5: Herr, neige deinen Himmel und steige hernieder …). – Zur möglichen historischen Einordnung von Joh 3,13 vgl. unten zu Joh 6,60-65.
Joh 3,14-18: Schlange – Menschensohn – Sendung Die Auslegung des Berichts über die eherne Schlange (Num 21,6-9) nennt man typologisch. Nach dem Grundsatz, dass Ähnliches durch Ähnliches geheilt wird, wird das Volk umgekehrt für seinen götzendienerischen Ungehorsam durch Giftschlangen bestraft. Die Heilung von den giftigen Bissen kann nur dadurch geschehen, dass die Israeliten sich einer ehernen Schlange »unterwerfen«, d. h. zu einem Gussbild in der Hoffnung auf Rettung aufblicken müssen. Die Fassung der LXX ist die Voraussetzung für Joh 3,14. Denn die Stange, an der das Gussbild angebracht ist, heißt (griech.) semeion, vgl. Joh 3,14f und nach der LXX geht es um Leben und Tod (griech.: thanatountes – zesetai). Die Pointe: Wer zur Schlange aufblickt, wird gerettet. In Joh 3,14, bei Philo, in Barn, bei Justin und in der Mischna wird der alttestamentliche Bericht allegorisch/typologisch ausgelegt. Nach Philo (Leg Alleg 2,78-82) steht die Schlange, die Mose fertigt, für die Besonnenheit, und diese hilft gegenüber der ungezügelten Lust, die die Menschen gebissen hat. – Nach Agric 95-99 geht es um den Kontrast zwischen Selbstbeherrschung und Lust. Philo gibt daher eine anthropologisch-moralische Auslegung. – Nach Barn 12,5 deutet die an der Stange aufgehängte Schlange auf den Gekreuzigten. Wer voll des Glaubens auf die Schlange blickt, die am Holz hängt, der blickt auf den leidenden Jesus. Denn diese Schlange kann alle Toten lebendig machen. Vom äußeren Zeichen der an einer Stange aufgehängten Schlange geht auch Justin (Dial 112) aus: Das Zeichen ist auf das Bild des gekreuzigten Jesus zu beziehen. So wird das verfluchte Volk gerettet. – In der Mischna (Rosch-ha-schana 3,8b) wird allegorisch auf den Glauben hin ausgelegt.
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Nein, nicht die Schlange tötet oder macht lebendig, sondern die »Einsicht« gegenüber dem Himmel oder wenn das Herz Gott dient, das allein heilt. Die Beziehung zu Joh 3,14 ist bei dieser Mischna-Stelle besonders deutlich.
Demgegenüber geht es in Joh 3,14 nicht um den Gekreuzigten. Vielmehr wird das Aufblicken zur Schlange, das heilt, mit dem Glauben verglichen. Eine bildliche Beziehung zwischen Schlange und Jesus besteht nicht. Sie betrifft auch weder das Aufgehängtsein noch die biblische Schlangensymbolik im Allgemeinen. Die Beziehungen zum Äskulap-Stab harren noch der Erforschung. Joh 3,16 gehört zur Gruppe der so genannten Sendungsformeln. Diese sind im Corpus Iohanneum sowie bei Paulus belegt und sind eine frühe (katechetische) Zusammenfassung des Evangeliums. Sie enthalten folgende Elemente: »Gott« ist Subjekt des Hauptsatzes, der »Sohn« ist Objekt; Gott handelt, indem er den Sohn »sendet« (oder Synonyma: hier »geben«); es folgt ein Nebensatz, der durch »damit« eingeleitet ist und als Ziel die Rettung/Erlösung/Befreiung durch Gott angibt. Diese Sätze sind ein frühes Zeugnis gemeinsamer theologischer Ansätze im Umkreis des Corpus Iohanneum und bei Paulus. Sie sind vorpaulinisch (vgl. 1 Joh 4,9; Gal 4,4f; Röm 8,3; vgl: K. Berger, Formen und Gattungen, 2005, § 103). Die Rede von der »Sendung« weist in das jüdische Milieu des theologischen Botenbegriffs.
Joh 3,18-21: Stufen des Glaubens Das ganze Kapitel Joh 3 schildert den Weg des Christwerdens von seinem Ende her, also von der Vollendung (»Sehen« des Reiches) her rückwärts. Es zäumt das Pferd vom Schwanze auf. So werden nacheinander folgende Stufen des Weges geschildert: Grundorientierung an Gott, dem Licht, in entsprechenden guten Werken (3,19-21). Bei der Bekehrung oder Verweigerung wird deutlich, wer man bisher geworden ist (3,20). Glaubende Annahme Jesu (3,14-18). Taufe aus Wasser und Geist als Geborenwerden von oben her nach dem Vorbild des Weges des Menschensohnes (3,4-13). Sehen/Erfahren des Reiches Gottes als Verheißung (3,3).
So wird nun in 3,18-21 missionarische Erfahrung wiedergegeben. Es gibt »animae naturaliter christianae«: Menschen, die sich schon vor der Begegnung mit dem Christentum achtsam verhalten haben. Dass darin auch schon Gott wirksam war, wird Jesus in Joh 6,44 (das Ziehen Gottes des Vaters) und 8,47 sagen. Es gibt auch eine selbst verschuldete Unfähigkeit zu glauben, und dann gilt: »Wer sich verstockt, dessen Verstockung vollendet Gott.« – In 3,18-21 sind wir nun bei den weiteren biografischen Voraussetzungen angelangt.
Joh 3,22-36: Jesus und Johannes Joh 3,29f ist eine der wenigen, aber wichtigen Belege in vielen älteren Dokumenten des frühesten Christentums, die von Jesus als dem Bräutigam des neuen, messianischen Gottesvolkes reden (vgl. Mk 2,19f; 2 Kor 11,2; Offb 22,17; Eph 5). Der Täufer begründet sein Urteil hier so: Alle kommen zu Jesus (3,26). Deshalb ist Jesus der Bräutigam und nicht er, Johannes. So betrachtet sich der Täufer nur als Freund des Bräutigams, also ähnlich wie die Jünger nach Mk 2,17 f. Er ist daher auch nicht der Christus, sondern der Bräutigam ist der Christus. Diese Konstellation beim Kommen des Messias ist neuartig. Für die Bezeichnung des Messias als Bräutigam gibt es nur einen einzigen, späten rabbinischen Beleg, und mit einem Propheten, der »vor« dem Messias gesandt ist, rechnet ebenfalls keine jüdische Quelle. Alledings sind, wie die Qumrantexte zeigen, die jüdischen Erwartungen in diesem Punkt nicht festgelegt und daher sehr dehnbar. Mit dem Auftreten eines Propheten im Zusammenhang des Messias kann man durchaus rechnen. Die Verbindung des einen Propheten mit dem Messias ist daher für das Judentum keineswegs unerhört, sondern bewegt sich im Spektrum der Möglichkeiten. Weil es Johannes den Täufer und Jesus gab, konnte man hier die jüdischen Erwartungen so transformieren, dass sie beiden Gestalten ihren Platz gaben. Das war im Prinzip unproblematisch, weil es keine feste Messiasdogmatik gab. Das Bild von Abnehmen und Zunehmen in Joh 3,30 ist so aufzufassen, wie Berger/Nord übersetzen: »Je heller die Sonne leuchtet, umso
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340 mehr verblasst der Mond. So ist es mit ihm und mir.« Joh 3,31-36 ruft Verlegenheit hervor und wird deshalb häufig umgestellt. Das ist ganz überflüssig. Es handelt sich vielmehr um ein Zeugnis des Täufers über Jesus, also um eine Fortsetzung von 3,28-30. Der Täufer hebt den Sohn hervor als den, der von oben kommt (vgl. 3,13), und daher ist er »über allen«. Der Täufer hat dies gesehen und bezeugt (nämlich in 1,32-34, besonders 1,34). Doch sein Zeugnis wird nicht akzeptiert (wie schon nach 3,11). – Jesus, den Gott gesandt hat, redet Worte aus dem Heiligen Geist (wie 6,63). Merkmal des Heiligen Geistes ist stets die Fülle (V. 34b: unbegrenzt). Der Heilige Geist macht Jesus zum Sohn (Verbindung von 3,34f). Wer die Annahme des Heiligen Geistes verweigert, den trifft Gottes Zorn, denn er hat sich den Weg zum Leben versperrt (V. 36b). Offen ist zunächst, wer in 3,31b gemeint ist: Der Täufer selbst – oder die Adressaten der Botschaft, denen es nicht gegeben ist, Heiligen Geist zu empfangen (3,27). Auch 3,12 spricht von den irdischen Dingen, so wie jetzt 3,31 von der Rede dessen spricht, der von der Erde stammt. Da es hier um Rede geht und nicht nur um Empfangen, sehe ich hier ein bescheidenes Selbstzeugnis des Täufers. Er ist »von der Erde«, der Sohn ist »vom Himmel«. Der Unterschied zwischen dem Täufer und Jesus ist daher der von Erde und Himmel. Wobei die Erde nichts Schlechtes ist, denn Gott liebt ja die Welt, und durch den Logos ist sie geworden. Der Gattung nach handelt es sich um eine Chrie: Angabe von Anlass, Situation und Fragestellung in V. (22-)26, Antwort mit einer Sentenz, wie in Chrien üblich, in V. 27 (vgl. 19,11). Dann folgt eine Erweiterung der Antwort im Sti-
Das Evangelium nach Johannes
le der Synkrisis zwischen »ich« und »er«. Eine Synkrisis dieser Art – zum Zweck der Glorifizierung des »er« liegt auch vor in Mk 1,7f (ebenfalls im Munde des Täufers, der sich mit dem nach ihm kommenden Menschensohn vergleicht). Zur Gattung vgl. auch 1 Kor 3,10. Zu Joh 3,25: Die Anspielung auf diesen Zwischenfall, eine verbale Auseinandersetzung zwischen dem Täufer und einem jüdischen Volksgenossen, ist wohl ein zwingendes Indiz für historische Berichterstattung. Es kann sich nur um die Bedeutung der Johannestaufe handeln. Es könnte darum gegangen sein, ob die Johannestaufe notwendig sei, und zwar vielleicht in dem Sinne: »Wir Juden sind durch die üblichen Waschungen schon rein, wir benötigen keine erneuerte Reinigung. Was sollte sie bringen?« – Zwar wird im JohEv von der Taufe des Johannes nicht gesagt, sie sei Sünden vergebend. Aber sie wird als Zeichen der Umkehr (das war sie jedenfalls) deutlich über tägliche Waschungen hinausgegangen sein. – Anlass zu dieser Hypothese zu 3,25 ist die Diskussion in Joh 15,3 und 13,10b. Auch dort handelt es sich um einen Disput über die Reinigung. Die Jünger sind schon rein – wie bedürfen sie einer neuen Reinigung, der Waschung durch Jesus? Diese Fragen hier spielen »eine Etage höher« als die zwischen dem Täufer und dem Frager in 3,25. In Joh 3 geht es um levitische Reinigung/Umkehrtaufe, in Joh 15 und 13 um das Verhältnis von Wortverkündigung und Annahme des Dienstes Jesu. Die Bedeutung beider Taufen für die Leser wird durch den kritischen Dialog an beiden Stellen besonders betont. Das frühe Christentum ist eben noch immer eine Taufreligion.
Joh 4-6: Grundkonflikte Joh 4,5-42: Wenn jemand Durst hat Die Dämonen der arabischen Wüste lassen keinen Zweifel daran, was für das Land das Wichtigste ist. Sie erschrecken und tyrannisieren deshalb die Menschen, weil sie selbst wahnsinnig sind vor Durst. Sie können, weil sie Dämonen sind und keinen Leib haben, nicht trinken. In der Wüste Durst haben und nicht trinken kön-
nen, das ist wirklich ein Grund zum Wahnsinn. Wasser ist das Wichtigste. Und deshalb sagen auch die Christen in den arabischen Ländern, Jesus sei am Kreuz verdurstet. Jesus selbst nennt sich Ursprung des Wassers zum Leben auch in Joh 7,37-39: »›Wenn jemand Durst hat, soll er zu mir kommen und trinken. Wenn einer an mich glaubt, dann gilt, was die Schrift über mich sagt: Ströme lebendigen Was-
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Kapitel 4
sers werden aus meinem Leib fließen.‹ Damit meinte Jesus den Geist, den die empfangen sollten, die an ihn glaubten. Denn der Heilige Geist war noch nicht bei den Menschen, weil Jesus noch nicht in die Herrlichkeit eingegangen war.« Zudem identifiziert hier Jesus selbst den Heiligen Geist mit dem Wasser, das von ihm kommt. – Wie das ähnlich verwendete Bild des Brotes ist Wasser eine Grund-Metapher des Neuen Testaments für das Leben, das von Jesus kommt. Der Heilige Geist und mit ihm Jesus (d. h. Jesus oder der Geist) sind nicht nur laut Ausweis dieser Metaphern fundamentale Bedingung von Leben – die Einfachheit und Grundsätzlichkeit, in der Wasser und Brot gebraucht werden, erlaubt zudem eine exklusiv christologische Verwendung des Bildes. Das heißt: Jeder sieht ein, dass Wasser und Brot ganz schlicht Basis des Lebens sind. Genauso schlicht und exklusiv ist Jesus auf einer anderen Ebene die Grundlage des ewigen Lebens. Dabei beruht der Vorteil des Wasser-Bildes darauf, dass Wasser nicht machbar ist, der Mensch kann es nicht produzieren. Zudem kommt es zumeist »von oben«, was den Ursprung als Gabe Gottes verdeutlicht. Weil man Wasser (zur damaligen Zeit und noch für viele Jahrhunderte) aus nichts anderem machen oder fabrizieren kann, ist es Gabe schlechthin. Wenn es nicht vom Himmel, aus der Quelle, aus Fluss oder Teich kommt, ist der Mensch »am Ende«. So groß ist seine Abhängigkeit von dieser Grundversorgung mit Wasser. Weil Wasser schon im natürlichen Bereich die Gnadengabe schlechthin ist, eignet es sich gut als Bild zur Beschreibung der Abhängigkeit von Gott. Trinkbares Wasser ist immer »lebendiges Wasser«; d. h. stehendes Wasser ist – zumal im Orient – als Bild für Leben ungeeignet. Es kommt darauf an, dass Wasser sprudelnd oder fließend ist und darin den lebendigen Gott abbildet, von dem es herkommt. »Lebendiges Wasser« ist ein Ausdruck, den schon die alten Sprachen kennen und der wiederum deutlich macht, inwiefern Wasser ein Bild für Leben sein kann. Ein weiterer Vorteil der Wasser-Metaphorik besteht auch darin, dass Wassertrinken nicht Selbstzweck ist, sondern dem Hervorbringen von Worten, Werken oder ganz allgemein von Früchten dient. Es ist also wirklich Lebensmittel, und sein Genuss hat bei Pflanzen, Tieren und
341 Menschen Wirkungen, die man sehen kann. – Der Kontrast zwischen Wasser und Wein lässt nochmals den grundsätzlichen Charakter des Wassers für das Leben erkennen. Wein ist zum Feiern da und ein Luxusgut. Wasser ist gewissermaßen das andere Ende der Skala, auf der Wein das Luxuriöseste darstellt. Als Flüssigkeiten sind beide deshalb interessant, weil sie das Lebewesen, das sie aufnimmt, bis in die letzte Faser durchdringen. Genauso wird immer das Verhältnis zwischen Gott und Mensch dargestellt. So ist Leben, und so wirkt auch der Heilige Geist. Als sie Jesus begegnet, ist die samaritanische Frau noch eine Außenstehende, und daher wird sie leicht Opfer des so genannten johanneischen Missverständnisses – ähnlich wie im Kapitel zuvor Nikodemus, der meinte, von oben geboren zu werden hätte die Rückkehr in den Mutterleib zur Voraussetzung. Die Samariterin versteht »Wasser« wörtlich und meint, Jesus wolle ein Wunderwasser anbieten und hielte sich selbst für mächtiger als Vater Jakob. Derartige Texte (vgl. auch die Brot- und Fleisch-Metaphorik in Joh 6) sollen die Leser des Evangeliums in die christliche Bildersprache einführen. Zugleich weiß der Leser wohl zumindest bei Geburt und Wasser, dass es sich nicht um wortwörtlich verstandene Dinge des Alltags handeln kann. Über den »dummen« Außenstehenden kann er nur lächeln und sich etwas darüber erhaben fühlen. Das Grundkonzept dieser Metaphorik ist biblisch; alles spricht dafür, dass sie in der Weisheitsiteratur und dann im hellenistischen Judentum Alexandriens, und zwar speziell als Methode »symbolischer« Schriftauslegung, besonders kultiviert worden ist. Dort ist z. B. die Weisheit als Person vorgestellt, und ihre Früchte, d. h. sie selbst, kann man essen. Die Weisheit ruft dazu auf, von dem Wasser, das sie anbietet, zu trinken (Sir 51,24 [Durst]; Spr 18,4; Sir 24,25-31). Neu ist im JohEv die nicht-moralisierende, sondern streng christologische und sakramentale Auslegung. Das JohEv zeigt, dass dieses Bild-Verständnis grundlegend für den Ritus aller Sakramente wurde, wozu auch gehört, dass die Fußwaschung nach Joh 13 in manchen Strömungen der Ostkirche beinahe zum Sakrament geworden wäre. Weil Gott die Schöpfung liebt (Joh 3,16), ist die Schöpfung in ihren Werken nie ganz fremd gegenüber Gott, auch wenn alles bestenfalls nur
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Das Evangelium nach Johannes
undeutlicher Spiegel ist. Der Evangelist des JohEv weiß, dass man Kirche mit solchen verbindlichen Bildern baut.
Speise, die sich die Jünger bei Jesus holen. Jesus ist das Wasser, er ist die Speise. Er ist Gottes Gabe, und zwar in Person; in seinen Worten ist er das nur abgeleitet.
Steigerung Im Laufe des Berichts werden die christologischen Aussagen immer höher und umfassender. Diese graduelle Steigerung zeichnet den Weg nach, den jeder Einzelne bis zu seinem vollen Bekenntnis zu Jesus geht oder gehen könnte. Nach 4,12 fragt die Frau zunächst lediglich: »Bist du größer als unser Vater Jakob?« In 4,19 fällt schon ein erster Titel: »Du bist ein Prophet.« Nach 4,25 sagt die Frau etwas über ihre messianischen Hoffnungen: »Ich weiß, dass der Messias kommt, der Christus genannt wird.« Noch sind diese Titel nicht auf Jesus bezogen; doch der Leser weiß, dass dies der Fall ist. Nach 4,30 fragt sie Jesus: »Ist er nicht der Christus?« Schließlich bezeugen in 4,43 ihre Hörer: »Wir selber haben es gehört und wissen es, dass dieser wahrhaft der Erlöser der Welt ist.« Dieses ist der umfassendste Titel, und er ist Juden wie Heiden gut verständlich. Jesus hat der Frau auf den Kopf zusagt, wie ihr Privatleben war. Woher weiß Jesus das alles? Die Antwort ist für die Samariterin und die Leser: weil Gott in ihm ist. Denn nur Gott kennt das Herz der Menschen und damit auch ihr Privatleben, weil er die Menschen gemacht hat. – In 1 Kor 14,25 finden wir ganz entsprechend den Fall, dass nun die Gemeinde im Ganzen dem hinzutretenden Heiden auf den Kopf zusagt, was er je getan hat. Dieser Heide fällt daraufhin auf die Knie und bekennt: »Wahrhaftig, Gott wohnt in eurer Mitte.« Das heißt: Die Gabe der Herzenserkenntnis bedeutet direkte Anwesenheit Gottes in und unter Menschen. Was von Jesus Christus gilt, kann auch von der Gemeinde gesagt werden. Gott ist gegenwärtig als der, der die Herzen offenlegt und dem nichts verborgen ist. Diese kritische Seite Gottes wird ergänzt dadurch, dass Jesus Gottes umfassende Funktion des Retters und Heilands übernimmt. Beides gehört hinein in den umfassenden Vorgang von Bekehrung und Gläubigwerden, in das Offenlegen und die befreiende Rettung.
Wir vergleichen Joh 4 mit der Geschichte der Brautwerbung Isaaks in Gen 24,1-27, zwei Geschichten am Brunnen. Dazu lassen wir uns auf die typologische Exegese der Kirchenväter und der romanischen Kunst ein. Die Szene ist gleich: Es wird Abend, die fremde Frau (aus dem Dorf) ist zum Brunnen gegangen, um Wasser zu holen. Sie kennt den Mann nicht, der ihr dort begegnet. Der bittet sie um Wasser, denn die Frau hat ein Schöpfgefäß. Sie soll helfen. So macht dieses die Szene aus: Wasser, ein Brunnen, ein Mann und eine Frau. Die fremde Frau wird in beiden Fällen hineingeflochten in die Geschichte des Heils aus Abrahams Samen. Die Samariterin in Joh 4 spricht von Vater Jakob, Rebekka wird nach Gen 24 dessen Mutter werden. Rebekka sorgt dafür, dass Israel weiter besteht; die Samariterin ist Zeugin dafür, dass das Heil aus Israel kommt. Rebekka wird Ahnfrau Israels, die Samariterin vermittelt durch Weitersagen auch Nichtjuden das Heil. Rebekka sorgt mit für alle Tiere, die Samariterin wird Brücke zum Glauben für andere Menschen. Bei Rebekka wird eine Ehe gestiftet, in Joh 4 werden Ehegeschichten entlarvt und womöglich zu einem guten Ende gebracht. Rebekka bringt Wasser als Gabe zum Leben, in Joh 4 wird Jesus, der Bittende, wider Erwarten selbst zur Gabe. Rebekka ist nahe der Wurzel des Stammbaums, die Samariterin dagegen ist das Ende aller Bindung des Heils an physische Herkunft. Die eine gibt irdisches Wasser zu leben, die andere empfängt das Wasser des ewigen Lebens. Die eine erhält Abrahams leiblichen Sohn zum Mann, die andere findet nach einer quälenden Vielzahl von Männern Jesus, den Mann Gottes. Rebekka wird Stammmutter Israels, die Samariterin erfährt: Das Heil kommt aus Israel. Rebekka wird Stammmutter, weil sie Hilfe zuwendet; die Samariterin wird ewig leben, weil sie Jesu Hilfe annimmt. Rebekka verhüllt sich dem Fremden, um seine Frau zu werden. Jesus enthüllt das Herz der Samariterin, sodass sie an ihn glaubt. Rebekka wird Stammmutter Israels, die Samariterin wird geistliche Stammmutter der samaritanischen Christen. Rebekka gibt die Erwählung weiter. Gott braucht Menschen, vermittelnde Frauen. Zu allen
Wasser des Lebens So wie in 4,14 das Wasser Symbol des Lebens ohne Ende ist, gilt dasselbe nach 6,27 von der
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Kapitel 5
Zeiten der Kirche war die grundlegende Mission im Rahmen der Nachbarschaftshilfe Sache der Frauen. Rebekka ist freundlich zu Menschen und Tieren, die Samariterin bekennt freundlich den Heiland der Menschen. Rebekka gibt die Erwählung weiter, mit der Samariterin ist jede besondere Erwählung aufgehoben. Rebekka wird glücklich in irdischer Hochzeit, die andere bleibt in vielen Hochzeiten unerfüllt und erfährt erst Ruhe im Glauben. Rebekka gebiert Kinder für Abrahams Sohn, die Samariterin gewinnt Gläubige durch ihr Bekenntnis. Rebekka steht für alles, was Menschen erstreben, die Samariterin wird von Juden und anderen verachtet, doch wird sie Zeugin des Heilands. Die eine bedenkt auch den Durst der matten Kamele, die andere verkündet vom Lebenswasser den Bürgern der Stadt. Die eine wird Ahnfrau Israels, die andere verkündet den Retter der Welt. Die eine verbindet sich im Zelt mit Isaak, die andere glaubt an den, in dem Gott zeltet in der Welt (Joh 1,14).
Joh 4,43-54: Zeichen und Wunder – Glaube Der Kernbestand dieses Textes wurde von R. Bultmann und Gefolgsleuten der »ZeichenQuelle« zugeordnet. Denn V. 54 enthalte ja eine Zählnotiz; daher hätten 2,1-11 mit der Zählnotiz in 2,11 und 4,43-54 (ohne V. 48) direkt beieinandergestanden. Doch in 4,46.54 heißt es ausdrücklich, dieses sei das zweite Zeichen in Galiläa gewesen. Das ist auch jetzt noch richtig, und Zeichen in Jerusalem, die zwischendurch berichtet werden, »stören« da gar nicht. Sodann hat man gesagt, 4,48 sei nachträglich vom Evangelisten eingefügte Wunderkritik. Die Zeichenquelle habe dergleichen nicht gekannt. Doch 4,48 muss keineswegs zwingend im Sinne der Wunderkritik gedeutet werden: Jesus stellt nüchtern etwas fest; man mag den Vers als Klage über die menschliche Schwäche deuten – aber Jesus respektiert sie. Er weist es nicht zurück, sondern er vollbringt das Wunder. Durch 4,48 sind dann diejenigen, die nicht auf das Wunder hin glauben, unentschuldbar. Jesus hat das Wunder gewirkt, also können, ja müssen sie nun glauben. – Auch in 2,24 geht es nicht um Wunderkritik (s. dazu). In welchem Verhältnis stehen die konkurrieren-
den Notizen in V. 50 (»der Mensch glaubte dem Wort«) und V. 53 (»und er glaubte und sein ganzes Haus«) zueinander? V. 50 handelt vom Glauben auf ein Wort hin, V. 53 vom Glauben auf ein Wunder hin. Das sind nicht zwei verschiedene Glaubensbegriffe, aber zwei verschiedene Situationen. V. 50 meint ein Glauben ohne Sehen, V. 53 das Glauben der Augenzeugen. Der Glaube auf Jesu Wort hin ist die erste Stufe, und sie ist unersetzlich. Aber der Glaube auf die Tat hin ist dann die konsequente Vollendung. Denn wenn der Hauptmann schon auf Jesu Wort hin geglaubt hat, wie sehr solltet ihr dann erst auf Jesu Tat hin glauben. Durch seinen vorlaufenden Glauben ermöglicht der Hauptmann die Tat; durch seinen auf die Tat folgenden Glauben ermuntert er die Adressaten des Evangeliums, nach seinem Vorbild zu glauben. So ist der Glaube des Hauptmanns nach V. 50 vorlaufend, aber nicht vorläufig. Er hat dem Wort Jesu geglaubt; die hörende Gemeinde glaubt, angesteckt durch seinen Glauben, nach Jesu Tat. Der Glaube von V. 50 ist daher nicht kleiner, sondern er ereignet sich in einer anderen Stunde. Die Augenzeugen glauben auf die Präsenz Jesu hin (V. 50), die Späteren glauben auf die vollendete ganze Geschichte hin. Der Hauptmann und Augenzeuge hatte zwar Jesus, aber doch nur sein Wort; die Späteren, die Hörer des Evangeliums, haben zwar Jesus nicht, wohl aber die Erzählung vom vollbrachten Wunder. Die in der Erzählung berichtete Distanz (Fernheilung!) wird für die Hörer des Evangeliums zum Bild für ihre Lage. Der Hauptmann glaubte ohne Argument, die späteren Hörer aber mit Argument, nämlich nach dem Hören des Berichts. Joh 5: Umstellungshypothese Vielfach wird in der neueren Forschung eine Umstellung des gesamten Kapitels 5 vorgenommen. Die neue Reihenfolge sieht dann so aus: 4,43-54; 6 (wegen 6,1.17); 7,1-14; 5; 7,15-24 (die Gründe habe ich in »Im Anfang war Johannes«, 27, gesammelt). Dagegen spricht: Themen wieder aufzunehmen ist im JohEv nicht unüblich. Daher kann auch (ohne Nötigung zur Umstellung) das Thema des Gelähmten von 5,10 in 7,15-24 wieder aufgenommen werden. Die Wiederaufnahme dient einem didaktischen Ziel: Das schon einmal Behandelte wird kurz wieder aufgegriffen, damit es sich dem
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344 Leser einprägen kann. – Joh 6,1 setzt nicht notwendig voraus, dass Jesus diese Fahrt von Galiläa aus macht. Auch aus Jerusalemer Perspektive (Kap. 5) gesehen oder von Jerusalem aus ist das möglich und kann man sagen: Er zog nach jenseits des Sees … (6,1); um so sagen zu können, muss Jesus nicht in Galiläa sein. Denn das Ufer, zu dem Jesus sich hinbegibt, liegt, auch von Jerusalem aus gesehen, auf der anderen Seite. Nach Kap. 6 ist Jesus noch nicht in Galiläa umhergezogen, das tut er nach 7,1 nun ausdrücklich. Fazit: Die jetzige Reihenfolge der Kapitel kann bestehen bleiben. Enge Beziehungen zwischen Joh 5 und Joh 7, die es gibt und keineswegs geleugnet werden, dienen der Kohärenz des Evangeliums und der Weiterführung des Lesers.
Joh 5,1-30: Heilung am Sabbat – Ablehnung durch die Juden Fünf Dialoge gliedern das Kapitel: Jesus/Kranker; Geheilter/Juden; Jesus/Geheilter; Geheilter/Juden und Jesus/Juden. Beherrschende Stichworte sind: das Wortfeld »gesund« (5,7.9.14; gesund machen: 5,11.15; geheilt werden: 5,10.13). Ab 5,9 kommt das Thema Sabbat neu hinzu (V. 9b.10.16). Die meisten handelnden Personen bleiben ohne Namen; der einzige Name, der genannt wird, ist der Name Jesus in V. 14 f. Sowohl »der Mensch« (5,5.7.9.12.15) als auch »die Juden« (5,1.10.15) bleiben stereotyp anonym. Man fragt öfter, weshalb der Evangelist mehrfach pauschal von »den« Juden redet. Hier wird es klar, warum: Sie stehen als anonyme, graue Masse dem einzigen Namen gegenüber, auf den es ankommt. Die Wundererzählungen im JohEv sind durchgehend imperativisch ausgerichtet (2,7f; 4,50; 5,8; 6,10.12; 9,7; 11,39). Zu 5,5 »es war aber einer« vgl. Joh 11,1 (Lazarus) (griech. in beiden Fällen: een de tis). Es stehen sich gegenüber: die Krankheit und die Folgen – die Sünde und die Folgen. Die Krankheit hebt Jesus durch den Imperativ in V. 8 auf; die Sünde will er beseitigen durch seinen Imperativ in V. 14. – Die Heilung der Krankheit verbieten die anwesenden Juden (V. 10), bei der Beseitigung der Sünde ist der Widerstand bis zum Tötungswillen gewachsen (V. 16.18). Mit Krankheit und Sünde werden daher zwei Ebenen
Das Evangelium nach Johannes
markiert. Die Ebene der Sünde hat stärkeres Gewicht als die der Krankheit. Dem Kranken gegenüber formuliert Jesus einen Imperativ, gegenüber den Juden erklärt er nur etwas für unerlaubt. Die Grundoppositionen sind einerseits Liegen, Schwäche, Sünde und Tod, auf der anderen Seite Aufstehen und Auferstehung. Oder auch: Die Konkurrenz zwischen dem Kranken und denen, die das Wasser erreichen und geheilt werden, hebt Jesus auf. Oder: Zum Vorangehenden (4,43-54) besteht der Kontrast zwischen Galiläa und Jerusalem (Ablehnung durch die dortigen Juden). Die Heilungsgeschichte: Entdeckung des Einzelnen in einer hoffnungslosen Masse von Menschen. Der anschließende Konflikt um den Sabbat: Die Reaktion auf die Heilung sind aus Neid geborene Verbote der »herrschenden« Clique. Applikationshilfen im Text: 5,3 »verschiedene Krankheiten«, 5,8 »Ich habe keinen Menschen« (menschliche Verlassenheit), 5,14f Überwindung der Sünde. Diese besondere Pointe des Textes verhindert es geradezu, dass die Leser nur über Heilung sprechen. Erst das Thema »Sünde« weist auf Jesu Eigenart hin. Erst von daher ist er kein namenloser Wundertäter mehr. – Man kann das ganze Kapitel unter dem Stichwort »Lähmungen (und Aufstehen)« verstehen.
Joh 5,9b-20: Sabbatkonflikte Sabbatkonflikte gehören nicht nur bei Jesus, sondern auch in der frühen Mission unter Juden und deren Sympathisanten zur Missionspraxis (Beginn der Mission am Sabbat in der Synagoge: Mk 1,21 ff; 3,1 ff; Lk 13,10 ff; 14,1-6. Die Logik der Argumentation Jesu: Gott wirkt auch am Sabbat; er schafft, wie man sieht, Nahrung für alles Lebendige. Wenn Jesus daher am Sabbat ganz elementar Leben rettet, steht er auf der richtigen Seite. Wichtige Analogien im Judentum: Nach Philo v. Alexandrien (in: Vita Mosis I 90f) hat Gott den Mose die Wunder vorher gelehrt. Nach Targum Jon. lehrt Gott den Messias die Wunder, die er wirken soll. Das ist besonders im Blick auf das JohEv wichtig, weil hier ja über die Wunder des Messias reflektiert wird (7,31). – Nach Plotin (in:
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Kapitel 5
Enneaden II 92) ahmt der Nous (analog: Logos) den Vater nach. Die Konfliktperson in Joh 5 ist nicht Jesus, sondern der Geheilte. Im Konflikt mit den Juden spielt das Wunder (qua Wiederherstellung der Gesundheit) keine Rolle. Zu Joh 5,19-20: Der Vater/der Sohn – Diese Konstellation ist nicht nur typisch für das JohEv, sie findet sich auch anderswo (Mk 13; Mt 11). Der »Inhalt« dieser Beziehung ist die geheimnisvolle, nicht jedermann einsehbare Beziehung Vater/ Sohn, deren Wesen exklusive Erkenntnis ist. Schon die Formulierung »der Vater/der Sohn« selbst ist hermetisch; der Leser muss wissen, wer damit gemeint ist. Erst in Jesu Worten über »den Vater/den Sohn« wird dem Leser überhaupt Kenntnis von dieser Beziehung zuteil. Sie ist im Übrigen gleichnishaft (vgl. im Gleichnis vom verlorenen Sohn: Lk 15,21.22.29).
Joh 5,21-30: Der ins Leben ruft Der Schluss des Kapitels ist keineswegs zufällig oder aus Verlegenheit hier »angehängt«. Wie auf Befehl des Sohnes aus dem Liegen ein Gehen wird, so werden auf sein Wort hin Tote lebendig, und die im Grabe Liegenden können auferstehen. Es ist dasselbe mächtige, Leben rettende und Leben schaffende Wort des Schöpfungsmittlers. Hier literarkritisch zu ordnen ist unsinnig, gerade auch in V. 21-30. Begründung: Die Themenfolge von Totenerweckung jetzt (V. 25) und Auferstehung dann (V. 29) ist nicht Resultat einer kirchlichen Redaktion, sondern in der frühchristlichen Verkündigung eine Einheit. Das gilt besonders auch für die Parallele in Röm 6,4-13. Denn die, die glauben und getauft werden, sterben mit Christus und werden mit ihm mitbeerdigt. Sie sind nach der Taufe lebendig für Gott (Joh 6,11.13) und werden auch an der Auferstehung Jesu teilhaben (6,5) und mit ihm leben (6,8). – Nach Kol 2,12f und Eph 2,5 sind die Christen mit Christus mitbegraben, und ihre Taufe bedeutet, dass sie mit ihm auferstanden sind. Das heißt: Zum Thema Bekehrung gehört das Sterben, und die Auferstehung im christlichen Leben sowie die künftige Auferstehung hängen eng zusammen. Sowohl nach Joh 5
(V. 29) als auch nach Röm 6 (V. 12 f.23) kann die zeitliche Zukunft auch eine negative Überraschung bieten. – Aber Röm 6 wie Joh 5 sehen die Taufe des Christen als einen so massiven Einschnitt an, dass sie die Abfolge von Tod und Leben herstellt. Die Differenz zwischen vor der Taufe und nach der Taufe ist jedenfalls größer als die zwischen schon in der Taufe ereigneter und am Ende sichtbarer Auferstehung. So werden die Ängste der Menschen anders verteilt: Das entscheidende Datum des Lebens liegt bei den Getauften schon hinter ihnen, der biologische Tod ist nicht das Problem. Das neue Leben, das in Christus sein Zentrum hat, steht im Vordergrund; an dieses neue Leben können sich die Christen grundsätzlich gewöhnen.
Joh 5,31-47: Zeugen und Zeugnisse Das Stichwort »Gericht« von 5,30 greift Jesus nun mit dem Stichwort »Zeugnis/Zeugenaussage« wieder auf. Beiden Themen begegnet er mit derselben Argumentation: Sein Gericht ist gerecht, weil er dem Willen seines Vaters folgt, der ihn gesandt hat. Und die Frage nach dem gültigen Zeugnis ist beantwortet, weil er sagen kann, der Vater, der ihn gesandt habe, dieser habe Zeugnis für ihn abgelegt. In beiden Fällen wird demnach die strittige Frage nach Jesu Vollmacht letztlich damit gelöst, dass der Vater ihn gesandt hat. Denn wenn einer wie Jesus nicht von sich aus redet, sondern gesandt ist, dann ist der verantwortlich, der ihn gesandt hat. Jesus sagt: Seht doch, ich bin nicht einer, der im eigenen Namen auftritt und nur sein Ego reden läßt. – Allerdings käme noch das Zeugnis Johannes des Täufers in Betracht. Aber Johannes war nur ein Mensch, und auf das Zeugnis von Menschen ist Jesus nicht angewiesen, obwohl das Zeugnis des Johannes glaubwürdig war (vgl. Joh 1,32-34 mit dem Schluss »ich bezeuge, dass er Sohn Gottes ist«). In 5,36 kommt Jesus auf die Beauftragung durch den himmlischen Vater zurück. Dass die Juden Jesus nicht akzeptieren, weist u. a. darauf hin, dass sie keine Ahnung von Gott haben (5,37). – Nun gibt es da aber noch die Schrift. Sie ist das Alleinstellungsmerkmal des Judentums. Jesus gesteht seinen jüdischen Gegnern zu, dass sie die Schrift erforschen. Doch er be-
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346 hauptet kühn und ohne Wenn und Aber, die Schrift tue auch nichts anderes als Zeugnis für ihn, für Jesus, abzulegen. Dabei wird der Glaube der Juden gar nicht bestritten, in der Schrift stecke das ewige Leben. Jesus fasst in 5,41 seine Argumentation zusammen: Ob es sich nun um Johannes den Täufer handelt oder um in der Schrift lesende Juden – in keinem Fall ist Jesus auf das Zeugnis von Menschen angewiesen. Jesus bleibt vielmehr dabei: »Ich bin im Namen meines Vaters gekommen.« Und voll bitterer Ironie hält Jesus den Juden vor: »Andere Leute, die in ihrem eigenen Namen kommen, nehmt ihr gerne an« (5,43b). Das erinnert deutlich an das, was Paulus den Korinthern in 2 Kor sagt: »Ihr ertragt es ja bereitwillig, wenn einer daherkommt und einen anderen Jesus verkündigt …« (11,4). Der ganze Abschnitt 2 Kor 10,12-18 erscheint als wirkliche Parallele zu Joh 5: (10,12) Ich möchte mich nicht unbedingt mit gewissen Leuten, die sich selbst für so großartig halten, auf eine Stufe stellen oder messen. Sie setzen sich selbst als Maßstab und sind dann stolz auf ihre Vollkommenheit, wenn sie – o Wunder! – mit diesem Maßstab genau übereinstimmen! / (13) Ich will dagegen nicht mein eigener Maßstab sein, sondern an dem Maßstab gemessen werden, den Gott für mich gesetzt hat. Dieser Maßstab bestand und besteht darin, Korinth zu missionieren. / (14) Ich möchte meine Selbstzufriedenheit nicht so überanstrengen wie die
Das Evangelium nach Johannes
Leute, die gar nicht bis Korinth gelangt sind. Ich bin als Beauftragter des Evangeliums Jesu Christi zu euch gekommen. / (15) Darum will ich mich auch nicht maßlos selbst rühmen und mit fremden Federn schmücken. Ich hoffe aber, dass ich, sobald ihr im Glauben fester geworden seid, unter euch nach dem Maßstab, der für mich selbst gilt, immer mehr an Ansehen gewinne. / (16) Auch dann will ich mich nicht nach dem Maßstab anderer rühmen, sondern weit über Korinth hinaus das Evangelium verkünden. / (17) Wer von sich redet, soll sich nicht selbst, sondern Gott und Gottes Handeln zur Grundlage wählen. / (18) Denn wer nur sich selbst rühmt, kann nicht überzeugen. Gott selbst muss ihn empfehlen. – Der Vergleich ergibt: a) In beiden Texten insistiert der Sprecher (Paulus, Jesus) darauf, dass die Gegner rein menschliche oder von Menschen gemachte Maßstäbe zugrundelegen, während sie selbst sich allein an Gottes Auftrag und Handeln orientieren. b) Sowohl Jesus als auch Paulus sagen letztlich nichts anderes als dieses: Ich bin eben von Gott (selbst) gesandt, und das legitimiert mich. Dabei ist der Unterschied Gott/Mensch entscheidend. c) Beide Texte illustrieren daher mustergültig das urchristliche Bild des Gesandten/Apostels Gottes. Die Christologie ist hier das Vorbild für die Auffassung des Apostels von sich selbst und umgekehrt.
Joh 6,1-71: Lebensbrot Joh 6,1-15: Speisung der Fünftausend Das Verhältnis zur »Vorlage« in 2 Kön 4,42-44 ist wie folgt: An der Stelle des Elisa (»der Gottesmann«) steht in Joh 6 Jesus. Dem namenlosen Mann aus Baal-Schalischa entsprechen die zwölf Jünger Jesu; doch sie verteilen die Speise nicht. Den zwanzig frischen Gerstenbroten entsprechen in Joh 6 die fünf Brote, dem »Jungkorn« entsprechen die zwei Fische als Beikost. Im Zentrum beider Berichte steht der Befehl des Wundertäters (»Gib es den Leuten zu essen«) oder seine Tat (verteilen). In beiden Fällen gibt es einen Einwand wegen der großen Menge der zu Sättigenden. Während es sich in 2 Kön um hundert Men-
schen handelt, sind es bei Joh fünftausend. In beiden Berichten ist davon die Rede, dass die Menge satt wurde und dass sogar noch etwas übrig blieb. Das Zahlenverhältnis zwischen Broten und Gesättigten ist im Alten Testament 20 : 100, im Neuen Testament 5 : 5000. Die Zahl der Helfer steht im Verhältnis 1 : 12 zueinander. Daraus ergibt sich: Die Wunderkraft Jesu ist der Elisas weit überlegen. Jesus ist »mehr« als Elisa. Dass die Menschen Jesus als Propheten bezeichnen, ist angesichts der Parallele in 2 Kön 4 nur zu gut verständlich. Freilich erwartete man nicht das Wiederkommen des Elisa, sondern das seines Lehrers Elia. Aber wie es öfter bei Personen ist, deren »Antitypus« (im Sinne der Ent-
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Kapitel 6
sprechung) man für die Endzeit erwartet – auch hier wird der Wiederkommende nach der »Vorlage« des direkten irdischen Nachfolgers gezeichnet. Wir kennen das von Mose und Josua (griech.: Jesus; Ankündigung in Dtn 18,15), von David und Salomo (Jesus als »Sohn Davids« hat Macht über die Geister wie einst Salomo) und eben hier von Elia und Elisa, ansonsten auch von Adam und Seth bezüglich des neuen, zweiten Adam (Weisheit und Gerechtigkeit). Der für das Ende der Zeit erwartete »Wiedergänger« trägt jeweils auch Züge des direkten irdischen Nachfolgers. Denn die prophetische Vollmacht wird als eine Art Paket angesehen, das unvermindert vom Meister auf den Schüler übergeht. Dass Jesus aufgrund des Stichworts »Prophet« (V. 14) meint, die Menge wolle ihn zum König machen, hängt mit dem frühjüdischen Mosebild zusammen. Mose, der ja ausdrücklich einen »Propheten« verheißt (Dtn 18,15), wie er selbst einer ist, wird im Judentum der Zeit Jesu, etwa bei Philo v. Alexandrien (20 v. – 40 n. Chr.) ganz problemlos als »König« bezeichnet, da er das Volk aus Ägypten herausführt. Jesus lehnt eine derartige Rolle als »prophetischer König« ab, denn sein Reich ist nicht von dieser Welt. Dass die Erwartung eines Propheten wie Mose für Joh 6 eine Rolle spielt, lässt sich vor allem durch die zahlreichen Anspielungen auf das Mannawunder erweisen (ab V. 31). Auch wenn also die Vorlage der Erzählung aus dem Elia/Elisa-Zyklus kommt, verbindet Jesus doch in der Folge seine Tat stärker mit Mose. Freilich hat man bezüglich der prophetischen Gaben keinen trennenden Unterschied zwischen Mose und Elia gesehen, wie auch die Verklärungsgeschichte zeigt. Es gibt ein gutes Argument dafür, dass die johanneische Fassung der Speisung die älteste in den Evangelien ist. Das griechische Wort für die beiden Fische ist hier opsarion; das bedeutet freilich nicht speziell »Fisch«, sondern »Beikost«. Wir übersetzen mit Fisch, weil in der Umgebung Jesu Fisch die übliche Beikost zum Brot war. In anderer Umgebung war das anders: Das Targum (aramäische Bibelübersetzung) übersetzt in 2 Kön 4 »Grütze«, die griechische Bibel (Septuaginta, um 200 v. Chr.) »Feigenmarmelade« (»eine Masse von getrockneten Früchten, besonders Feigen, die in eine längliche Form zusammen-
347 gedrückt war, eine Art Marmelade«). In der hebräischen Vorlage stand »Jungkorn«. Das neutrale »Beikost« in Joh 6 war in jedem Falle richtig, da es um die Funktion als Beikost, nicht um den stark wechselnden Inhalt dieser Beikost ging. Die Formulierung im JohEv vermittelt daher auf jeden Fall mit der Vorlage. Alle anderen Berichte der Evangelien nennen »Fische« und machen damit eine Verbindung mit der Prophetengeschichte schwieriger. In der johanneischen Version ist diese Verbindung erhalten. In der heutigen Auslegung des Textes überwiegt die moralische: Die Jünger hätten bereitwillig von ihrem Proviant abgegeben (»teilen lernen«). Unter allen Umständen ist zunächst und zuerst der Literalsinn gegen jede Verflüchtigung zu bewahren, und zwar auch deshalb, weil hier nicht von himmlischen Backöfen die Rede ist, an denen Engel die Brote gebacken hätten. Die Speisungsberichte sind leibhaftig zu nehmen, denn sie verstehen sich als eine schockierende, überwältigende Begegnung mit Gott. Jedes moralische Hinbiegen (Was wird dann mit den zwölf Körben mit Resten?) oder legendarische Verflüchtigen (die Geschichte lehre »eigentlich« nur, dass Jesus die Güte Gottes predige) verkürzt die Geschichte und verkleinert das Grundlegende. Wenn es um die Begegnung mit Gott geht, haben Ausleger nichts zurechtzulegen, um die Geschichte irgendwie zu erklären und für den Verstand fassbarer zu machen. Wer diese Geschichten aufs Erträgliche hin verkleinert, treibt ihnen den Bezug auf Gott aus. In den Speisungsgeschichten begegnet uns der unfassbare große Gott. Es bleibt nur das Staunen. Gewiss hat dann dieser Bericht auch eine symbolische Bedeutung. Menschen zu speisen wird immer wieder damit verglichen, dass man sie belehrt. Und die Zwölfzahl der Körbe weist wohl sicher auf die zwölf Jünger als die Lehrer, die Jesu Worte weitergeben; in Mk 8,19-21 macht Jesus die Jünger ausdrücklich auf diese Symbolik aufmerksam. Diesem Bericht entspricht, dass in Joh 6 (nur hier!) die Jünger lediglich die Reste einsammeln. Beim Verteilen ist Jesus allein. Daher wird dann die Speisung zum christologischen Symbol: Jesus ist wie das Manna vom Himmel herabgestiegen, und Jesus an- und aufnehmen ist Leben, das den Tod überwindet. Das eine
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348 ist so real wie das andere. Das sichtbare Essen ist (wie bei der Eucharistie) ein Teil des Ganzen, die sichtbare Spitze eines Eisbergs. Wer das Sichtbare abwertet und für »nichtig« erklärt, ist ein Jünger von Neuplatonikern, nicht von Jesus. Nach dem JohEv ist stets das Woher der Vollmacht und Sendung Jesu mit dem Wohin und dem Ziel des Weges Jesu und seiner Jünger verbunden. Das Sichtbare, das man jetzt sehen kann, ist immer nur ein Bruchstück zwischen Ursprung und Ziel. Zu Joh 6,14: Zum »Prophet, der da kommt« vgl. zu Mt 11,3. Der synoptische Ausdruck »der da kommt« hat eine johanneische (!) Vorgeschichte (s. zu Mt 11,3 in diesem Kommentar).
Joh 6,24-71: Vergleich der Abendmahlsberichte 1 Kor 11, Mk 14, Mt 26 und Lk 22 mit Joh 6 Es fehlen in Joh 6 folgende wichtige Elemente aus den Texten, die über Jesu letztes Mahl berichten: Es wird da nicht der Verlauf eines gemeinsamen Mahles Jesu mit den Jüngern geschildert. Es fehlt die Rede vom Bund und vom Becher, vom Vergießen des Blutes und vom Wein (oder Weinstock), von der Vergebung der Sünden ist nicht die Rede. Auch »für viele« geschieht nach Joh 6 nichts; der Sühnegedanke fehlt komplett. Es gibt keinen Befehl zu essen und auch kein Entsagungsgelübde Jesu nebst eschatologischem Ausblick. Weder ist von der Feier zum Gedächtnis (zur Erinnerung) die Rede noch von der Danksagung. Umgekehrt ist vom »Kauen« in den Abendmahlsberichten nicht die Rede. Vielmehr steht in Joh 6 etliches anstelle von Aussagen aus den Abendmahlsberichten. Anstelle der Deutung von Brot und Wein durch Deuteworte geht es in Joh 6 um eine Deutung der Person Jesu. Statt vom Leib (soma; Deuteworte) ist von »Fleisch und Blut« die Rede. Gemeinsam sind nur wenige Worte: Blut, geben, »für« und trinken. Beim »für« ist zu unterscheiden zwischen dem personal gedachten »für euch« und dem auf den Zweck der Gabe bezogenen »für das Leben der Welt« im JohEv. Fazit: In Joh 6 liegt kein Abendmahlsbericht vor, sondern ein metaphorischer Vergleich der Person Jesu mit Brot. Der Skopos von Joh 6 ist
Das Evangelium nach Johannes
die Nicht-Ablösbarkeit der Botschaft von der Person Jesu.
Joh 6,24-35: Die Brotrede Jesu »Alles Gute kommt von oben«, sagt man bei uns und meint damit zumeist den Regen. Im JohEv gilt dieser Satz, wie vieles andere, doppelsinnig und auf mehreren Sinnebenen. Manna hatte es unter Mose förmlich geregnet. »Brot vom Himmel« hatte Gott gegeben. Doch für den johanneischen Jesus liegt das alles noch im Bereich des Irdischen. Das wahre Brot vom Himmel ist Jesus. Schon Joh 3,13 sagt: »Allein der Menschensohn steigt in den Himmel hinauf, wie er zuvor vom Himmel herabgestiegen ist.« Denn der Menschensohn ist von Gott gesandt, so wie man sagt, dass Engel als Gesandte Gottes vom Himmel herabsteigen. Zu Joh 3,13 tritt nun in Kap. 6 hinzu: Jesus ist nicht nur vom Himmel herabgestiegen, sondern er ist außerdem »die« Gabe Gottes; er ist das Grundnahrungsmittel: Brot zum Leben. Immer wieder schlagen die mittelalterlichen Auslegungen die Brücke zu dem Satz aus Dtn 8,3: »Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von jedem Wort, das aus Gottes Mund kommt.« Das JohEv vertritt hier kein Entweder-Oder. Die vorangehende Speisung der Massen wird in der Brotrede Jesu vertieft und nicht kritisiert. Sattwerden schließt die christologischen Tiefendimension der Gabe des Brotes nicht aus. Joh 6 handelt von Jesus, seiner Sendung und seiner Person, nicht von der Eucharistie. Joh 6 könnte als eine grundsätzliche Einführung in eucharistisches Denken gesehen werden. Hier geht es nicht zuerst um eine Erklärung des Sakraments, sondern Joh 6 spricht über Jesus, und nirgends besser als von hieraus wird auch ein Verständnis des Sakraments möglich. Bei der Eucharistie werden die hier erklärten Metaphern nur noch ritualisiert. Jesus selbst in Person ist die Gabe des Lebens von Gott, also Anteilgabe an Gottes eigenem Leben für die, die auf ihn blicken und ihn intensiv aufnehmen und »essen« (übertragen und wörtlich-leibhaftig). – Was ist das: göttliches Leben jetzt? Nach Joh 4,34 sagt Jesus: »Ich esse den Willen Gottes, der mich geschickt hat, und erfülle seinen Auftrag« (Berger/Nord). Das klingt zu-
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Kapitel 6
nächst widersinnig, denn der religiös eher unmusikalische Leser/Hörer wird vielleicht so denken: erst essen und gestärkt werden, dann handeln (oder auch nicht). Dies bedeutet allerdings eine unheilvolle Trennung von Gnade und Werk. Ezechiel und der Seher Johannes essen die Buchrolle und einverleiben sich Gottes Wort – diese Radikalität lässt die Grenze zwischen Gnade und Handeln verschwinden. Beides ist Gabe, ist alles, was zum Heil nötig ist, – radikal stellen muss man sich der Gegenwart Gottes in Jesus. »Leben« ist für das JohEv von Anfang an worthaft bestimmt, und zwar im tiefsten Sinn: Vom Schöpfungswort heißt es schon in Joh 1,4, dass Leben in ihm war: Wie durch das Wort eine lebendige Schöpfung entstand, werden die Glaubenden auch – weil das Wort in Jesus Mensch geworden ist – durch sein Wort, durch seinen Anruf und Zuspruch neu geschaffen. Weil in Jesus Christus das Wort nicht leer ist, kann er auch mit seinem Wort wahre Wunder wirken.
Joh 6,41-51: Alle wird Gott belehren Im Zentrum dieses Textes steht das Zitat aus Jesaja: »Alle wird Gott belehren« (54,13). Dabei liegt der Ton vor allem auf Gott, auf seinem endzeitlichen Handeln. In Jer 31,34 heißt es, dass am Ende keiner mehr den anderen belehren muss. Denn alle sind von Gott belehrt. Der Ton liegt auf »alle«: Keiner wird sich der Botschaft entziehen können, wenn Gott es nicht will. Schließlich will Jesus auch »belehren«. Deshalb ist er das Wort, der Mittler. Immerhin ist dieses Zitat ja Antwort Jesu auf den Unglauben der Menschen in Nazaret: Sie sagen: »Er ist doch Josefs Sohn – wie kann er sagen: ›Ich bin vom Himmel herabgestiegen‹ ?« Jesus antwortet darauf mit dem Satz, Gott werde alle belehren. Wieso ist das eine passende Antwort? Weil der Glaube nicht eine menschliche Leistung ist, um die sich der Mensch sorgen muss. Ist damit eine Prädestination gemeint, auch in dem Sinne, als seien die Nicht-Glaubenden lebenslang entschuldigt? Gemeint ist weder Prädestination noch die Heiligsprechung der Glaubensverweigerer, vielmehr setzt sich aus der Sicht des Evangelisten der ins Unrecht, der das vielfach abgesicherte Glaubenszeugnis des JohEv (besonders die Zeichen) missachtet.
Zu Joh 6,51: Dass Jesus selbstlos Gott gehorsam ist, dass er sein Leben buchstäblich verschenkt, um die Gegenwart Gottes an die Menschen weiterzugeben, die in ihm ist, das genau überzeugt und weist auf Gott.
Joh 6,51-58: Jesus, Brot des Lebens Besonders für diesen Abschnitt der Brotrede gibt es zwei wohl gleichermaßen legitime Auslegungen. Die eine bezieht das ganze Stück auf Jesu Person: Er ist in seiner Person die Heilsgabe Gottes, und wer glaubt, der nimmt ihn ganz und gar auf, verleibt sich ihn ein. Die zweite Deutung geht davon aus, dass es sich hier um die Realpräsenz Jesu in den Gestalten von Brot und Wein beim Herrenmahl handelt – eine sakramentale Deutung. – Die zweite Auslegung schließt die erste nicht aus, sondern vielmehr ein. Hier werden das Essen und Trinken nicht bildlich, sondern überdies auch wörtlich-buchstäblich verstanden. – Gemeinsam ist beiden Auslegungen das strikte Ärgernis, dass Jesus in Person die Heilsgabe Gottes ist. Jesus provoziert die Hörer: Beim Brot spricht er vom Kauen (»nagen«), beim Blut vom Trinken, eine Wortwahl, die man entweder klug metaphorisch bzw. sakramental verstehen kann oder aber die Juden verletzten muss; denn Blutgenuss ist ein Gräuel und gehört zu den ganz elementaren Verboten der jüdischen Religion. Ausschließen möchte ich die Betrachtung des ganzen Abschnitts als eine sekundäre Hinzufügung eines späteren Redaktors. In diesem Sinne hatte die Bultmann-Schule den Abschnitt gesehen und die sakramentale Deutung als eine spätere Verdrehung der ursprünglichen Absicht Jesu gedeutet. Ich möchte das mit folgender Begründung ausschließen: Die Verse 6,32-46 und 47-58 sind parallel gebaut (Amen-Wort, »Leben«, »Glauben«, Manna, »Ich-bin«-Wort, Protest der Juden, Exodus-Zitat, »Vater«, »Senden«, »Brot vom Himmel«). Nur geht es in dem ersten Abschnitt um das Wie des Zugangs zum Himmelsbrot, im zweiten Abschnitt um die Art der Teilhabe an ihm. Beides ergänzt sich, der zweite Abschnitt führt weiter. Die Schwierigkeit bei der sakramentalen, eucharistischen Deutung liegt darin, dass Jesus bei
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350 seinem letzten Mahl nach Joh 13 den Jüngern nicht Brot und Wein als sein Fleisch und Blut austeilt. Überdies spricht Joh 6 nicht vom Wein und vom Bund. Daher wird man gut daran tun, zunächst die Deutung auf Jesu Person zu sehen, und erst danach über die sakramentale Zuspitzung nachzudenken. Im JohEv sind die Außenstehenden, die NichtGlaubenden, immer zugleich auch diejenigen, die Jesu Bildersprache nicht verstehen. Ähnlich geraten gemäß den drei ersten Evangelien nach den Gleichnisserzählungen alle, die »draußen« sind, nur tiefer in den Irrtum. Allein der Jünger Jesu, der sich überdies von Jesus die Deutung geben lässt, kann Jesu Gleichnisse verstehen. Die Bilder oder Gleichnisse sind eine Art Insiderwissen. In der Alten Kirche nannte man dies später »Geheimnisse der Arkandisziplin«. Und immer sind die Bilder nicht nur Verständnisbarriere, sondern zugleich auch geradezu Instrument der Scheidung und Aussonderung. Schon Nikodemus verstand nicht, was »von oben geboren werden« heißt, als er (Joh 3,4) feststellte, er sei doch schon geboren; sollte er noch einmal zurück in den Mutterschoß? Und die Samariterin (Joh 4,11) versteht das Wasser nicht, von dem Jesus spricht. Sie meint, es gehe um Trinkwasser. Jesus spricht vom Lebenswasser, eben seiner Botschaft. Immer meinen die Bilder im JohEv im weiteren oder engeren Sinne Jesu Person; »von oben geboren werden« bedeutet: In der Taufe wird der Glaubende Jesus ähnlich, der vom Himmel gesandt ist (vgl. Joh 3,5.13). Besonders extrem sind die Folgen des Missverständnises in Joh 6. Denn hier muss das Missverständnis zu der Auffassung führen, Jesus fordere zu dem auf, was die Torah verbietet (Menschenfleisch und Blut zu essen). Der Außenstehende bleibt nicht nur ratlos, sondern überdies muss er Jesus kriminalisieren. Die Missverstehenden »draußen« werden hier zur Gefahr für Leib und Leben Jesu. Welchen Sinn hat die hier schonungslose Provokation Jesu? Wenn Jesus auffordert, ihn zu essen, dann meint er das auf jeden Fall so: Wer glaubt, nimmt ihn selbst ganz in sich auf. Jesus ist nicht vom Vater als der Vermittler des Heils gesandt, so, als wäre das Heil eine dritte Größe, die sich von Jesus lösen ließe, die Jesus nur gebracht hätte, um sich dann zu verabschieden. Er
Das Evangelium nach Johannes
selbst ist »mit Haut und Haaren«, leibhaftig und ganz, Gottes Heil für die Welt. Wenn es aber nun darauf ankommt, an diesem Heil teilzuhaben, dann genügt es nicht, Jesu Worte zu hören, sondern dann muss man ihn selbst, das eine Wort Gottes, Gott selbst, der in ihm als einem Menschen erschienen ist, in sich aufnehmen. Das Neue Testament kennt nur eine Metapher für diese radikale oder totale Weise der Einverleibung eines leiblichen Gegenübers: das Verschlingen oder Essen. Und wenn man es recht bedenkt, ist das ganz konsequent: Wenn Jesus wirklich das Heil ist, wenn Gott in ihm unabtrennbar (!) leiblich wohnt und präsent ist, dann kommt es um des Himmels willen darauf an, an diesem Jesus zu »kleben« oder, weil er selbst leibhaftig Gott ist, mit ihm leibhaftig eins zu werden. Nur dann ist einer Kind Gottes wie er, nur dann hat er das ewige Leben wie Gott. Dieser Vorgang des Essens, Verzehrens und Verschlingens wird ähnlich schon für die Weisheit angenommen und hat sich auch so im Deutschen erhalten (»die Weisheit mit Löffeln essen«). Im Judentum sagt die Weisheit: »Kommt, esst von meinen Früchten«: Sie ist der personifizierte Weinstock – ganz ähnlich wie Jesus nach Joh 15 der »wahre Weinstock« ist. In jedem Fall meint das Bild des Essens: Das Heil ist unablösbar von der Person Jesu. Denn in ihm stoßen Menschen auf Gott selbst. Daher spricht das JohEv immer wieder nur von der Beziehung zwischen Vater und Sohn, zwischen Gott als Urgrund und dem Wort, das Gott ist. Menschen brauchen nichts und niemanden außer Jesus allein. In ihm haben sie den unteilbar einen Gott leibhaftig und ganz. Diese Wahrheit ist auf jeden Fall eine fundamentale Voraussetzung zum Verständnis der eucharistischen Gegenwart Jesu in Brot und Wein. Denn auch falls Jesus in Joh 6 nicht an das Sakrament denken sollte, sondern wie sonst bei den Bildern des JohEv nur an sich selbst, dann gälte doch dieses: Dieses Evangelium kennt keine Botschaft außer eben dieser, dass in Jesus Gott präsent ist. Fürs Erste ist das schon ärgerlich genug, und es bedeutet, dass Menschen unter keinen Umständen an Jesus vorbeikommen. An der realen, leibhaftigen Gegenwart Gottes in Jesus kann nach dem gesamten JohEv kein Zweifel sein. Das, was Jesus von sich sagt, gilt ge-
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Kapitel 6
nauso dann, wenn dieses Essen und Trinken ritualisiert wird. Denn eben das geschieht in der Eucharistiefeier: Jesus, die Gabe Gottes, Gott von Gott, wird radikal und leiblich uns in die Hand gegeben, in den Mund gelegt. Aus mehreren Gründen ist dies zweifelsfrei kein Kannibalismus. Erstens ist das, woran Menschen Anteil bekommen beim Mahl, Gott (denn Menschen sind sie schon). Zweitens ist Jesus, Gott von Gott, im Sakrament verborgen leiblich präsent und eben nicht als durchblutetes Fleisch. Schon vor Ostern hatte der Leib Jesu, wie an Verklärung und Seewandel erkennbar, besondere göttliche Qualitäten. Kannibalismus war allerdings auch die Assoziation der Jünger nach Joh 6,60. Und umgekehrt war auch die Erinnerung an Joh 6 entscheidend für die mediale Aufarbeitung rezenter Fälle von Kannibalismus (»Die Christen kennen das ja …«). In Wahrheit liegt in Joh 6,60 ein typisch johanneisches Mißverständnis vor. Die Jünger begreifen Jesu Rede unmetaphorisch und physikalisch-fundamentalistisch und ziehen daraus die Konsequenz, diese Botschaft sei absurd. Die anstößige Konkretheit der Worte Jesu bezieht sich indes nicht auf Blut und Fleisch, sondern auf die ärgerliche Bedeutung, die eine konkrete Person für den Glauben gewinnen kann, wo es dann nicht um allgemeine Begriffe geht. Das spätere Dauerproblem zwischen historischer Einmaligkeit und allgemeiner Wahrheit kündigt sich hier bereits an und wird mit Hinweis auf die Person Jesu gelöst.
Joh 6,60-71: Jüngerkrise Nur das JohEv kennt und berichtet hier ein Detail aus dem Leben Jesu, von dem man sonst nichts weiß: die Jüngerkrise von Kafarnaum. »Darauf trennten sich viele Jünger von Jesus und zogen nicht weiter mit ihm.« Ich halte es für nicht vorstellbar, dass der Evangelist eine solche Krise erfunden hat, denn er belastet damit den Erfolg Jesu und eine große Zahl von Jüngern. Werbetechnisch ist die Erwähnung einer solchen »Abwahl« ein Desaster. Denn wer ein »Produkt« anpreisen will, wird nicht berichten, dass viele dieses »Produkt« ablehnen. Es muss also eine Notwendigkeit bestanden haben, diese Krise zu erwähnen. Jesu Worte »Wer mein Fleisch kaut
351 und mein Blut schlürft« (6,54) – die griechischen Verben sind hier von krasser Deutlichkeit –, sind eben nicht nur für Torahfromme anstößig, sie offenbaren auch ein für »normale« Menschen unerträgliches Maß an Selbstbewusstsein. Gehen wir davon aus, dass es sich um eine historische Krise handelte. Dann könnte man sich das Zueinander einzelner Texte aus dem JohEv wie folgt vorstellen: In einer anfänglichen Phase treten Johannes der Täufer und Jesus getrennt, aber mit gemeinsamer Zielsetzung auf. Sie predigen den zum Gericht kommenden Menschensohn (Joh 1,27). Beide haben Jünger. Daher praktizieren sie auch beide die Taufe bzw. lassen sie (wegen des Andrangs) durch ihre Jünger vollziehen (Joh 3,22; 4,2). Die Taufe zeigt keine Differenzen zwischen beiden. Jesus und der Täufer haben viele gemeinsame Gegner. Von daher ist der Plural in Joh 3,11 zu verstehen: »Amen, Amen, ich sage dir: Was wir (sc. der Täufer und ich) wissen, das verkünden wir, und wir bezeugen, was wir gesehen haben. Und trotzdem wollt ihr unser Zeugnis nicht hören.« Diese gemeinsam erfahrene Ablehnung wird auch in den synoptischen Evangelien öfter thematisiert, etwa in Mt 11,16-19. Dann aber löst Jesus sich vom Täufer, indem er zunächst die Taufe selbst als Geburt vom Himmel her versteht. Genauso aber begreift und verkündigt er sich selbst als den vom Himmel her Gesandten. In dieser Entsprechung von Joh 3,5 und 3,12f liegen die Soll-Bruchstellen gegenüber dem Täufer. Bei der Bedeutung der Taufe für Johannes war es klar, dass hier auch die Differenz beginnen musste. Dabei ist bei »Bruch« und »Differenz« nicht an Streit oder Hass zu denken, sondern an die notwendige Unterscheidbarkeit. In Joh 3,12: »Wenn ihr schon nicht glaubt, was ich euch über Irdisches sage, wieviel weniger werdet ihr dann glauben, was ich euch über den Himmel sage«, wird in diesem Sinne der Gegensatz der Menschen, der schon dem Täufer und Jesus gemeinsam gegenüber bestand, noch einmal verschärft, wenn es um die Besonderheit Jesu geht. Die christologischen Aussagen der Brotrede in Joh 6 als direkte Konsequenz aus Joh 3,13 (Herabkommen und Hinaufsteigen des Menschensohnes) lassen verstehen: Jesus ist das vom Himmel herabgekommene Leben Gottes selbst. Er selbst, nicht erst sein Wort, er in Person, und
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352 nicht das, was er über Gott sagt, er selbst in leibhaftiger Ganzheit, und nicht sein Evangelium, er selbst als Ereignis, und nicht eine daraus abstrahierte ewige Wahrheit ist »die« Offenbarung Gottes. Mit dieser Position überschreitet Jesus offenbar die Schmerzgrenze bei den Jüngern. Daher bekommen wir jetzt zu hören: Viele seiner Jünger sagten: »Seine Worte sind zu hart, kein Mensch kann sie ertragen.« Als Jesus bemerkte, dass seine eigenen Jünger an seinen Worten Anstoß nahmen, sagte er: »Findet ihr das anstößig? Ihr werdet es erleben, dass der Menschensohn dorthin hinaufgeht, wo er vorher war.« Und er fügte hinzu: »Deswegen habe ich euch gesagt: Nur der, dem der Vater die Gabe dazu verleiht, kann zu mir kommen.« Darauf trennten sich viele der Jünger von Jesus und zogen nicht weiter mit ihm. Zu den Zwölfen sagte Jesus: »Vielleicht wollt auch ihr gehen?« (Joh 6,60-67). Besonders mit 6,62b wird die Alternative positiv angegeben, vor die Jesus jetzt seine Jünger stellt. Heiliger Geist und ewiges Leben ist das, was Jesus vermittelt, was ihn »ausmacht«, was man braucht, um ihn zu verstehen. Doch die Jünger möchten offenbar lieber an der Differenz zwischen Person und Sache festhalten. Wir fragen: Was bedeutet die Aufhebung dieser Differenz theologiegeschichtlich? Was würde es bedeuten, wenn die Aufhebung dieser Differenz von Fleisch und Geist für die eigene Person auf Jesus selbst zurückgeht? Antwort: Es bedeutet einen großen Schritt in Richtung des Glaubens an den dreieinigen Gott. Wer Jesus begegnet, trifft auf Gott. In ihm ist der Schöpfergott auf Erden gegenwärtig. Die Verfluchung des Feigenbaumes (der Feigenbaum ist seinem Schöpfer begegnet), die Requirierung des bisher nicht benutzten Esels (der Schöpfer hat das erste Recht an ihm) und Jesu Verhalten bei der Salbung mit teurem Salböl (Arme habt ihr immer, mich aber nicht) – derartige skandalöse Geschichten werden dann verständlich, wenn in Jesus Gott selbst präsent ist. Dann ist er in der Tat Träger des Schöpfungswortes Gottes. Das JohEv teilt demnach dieses äußerste Ärgernis mit einigen Texten der Synoptiker. Mit dieser Bemerkung soll der Eindruck vermieden werden, es handele sich bei den Aussagen über die Gottheit Jesu um »spätere Einfälle« des zumeist gegen Ende des 1. Jh. datierten Evangeliums. Ich selbst datiere das vierte
Das Evangelium nach Johannes
Evangelium früh, vor 70 n. Chr. (siehe oben: »Datierung des JohEv«), und im Übrigen ist das Schema einer allmählich immer stärker werdenden Vergottung Jesu ein Stereotyp des 19. Jh. In Wahrheit finden wir in Texten, die Paulus schon zitiert und voraussetzt, weitgehende Aussagen über die Rolle Jesu als Schöpfungsmittler, gerade so wie im JohEv (z. B. 1 Kor 8,5 f). Was aber meint Jesus in 6,63 (Berger/Nord: Nach der Erhöhung Jesu wird klar sein: »Lebendig macht doch nur der Heilige Geist. Fleisch und Blut nützen nichts. Heiligen Geist und ewiges Leben, das schenken meine Worte«)? Jesus spricht wohl über die Voraussetzungen für das rechte Verstehen seiner Worte. »Fleisch und Blut« stehen hier für ein nur kreatürliches Begreifenwollen. Richtig verstehen wird nur der Jesu Worte, der sich von demselben Heiligen Geist leiten lässt, aus dem heraus Jesus diese Worte spricht. Dann kommen alle Worte Jesu zu ihrem Ziel: Leben weiterzugeben, das von Gott kommt. Jesus deutet hier an, dass die Jünger erst nach Ostern seine Worte richtig verstehen werden (ähnlich: Joh 2,22). Die Erhöhung Jesu ist deshalb der Schlüssel für das rechte Verstehen seiner Worte, weil Jesus »in den Himmel« geht und damit die irdischen Dimensionen und auch das irdische (»materialistische«, »rationalistische«, »äußerliche«) Verstehen hinter sich lässt. Übrigens gibt es auch bei Paulus eine ähnliche Bemerkung, in der gleichfalls das Wort »Fleisch« vorkommt, und zwar in 2 Kor 5,16 (»Von jetzt ab hat sich unsere Beurteilung von Menschen grundlegend geändert. Der Maßstab ist nicht mehr das, was äußerlich Eindruck macht [›Fleisch‹]. Auch Jesus, den Messias, habe ich vielleicht einmal so beurteilt, aber das ist Vergangenheit«). Das heißt: Verstehen kann nur der, der dem zu Verstehenden ähnlich ist, d. h. der selbst den Heiligen Geist geschenkt bekommen hat. Bestätigt wird diese Deutung durch Joh 6,65: »Nur der, dem der Vater die Gabe dazu verleiht, kann zu mir kommen.« Das Vorherwissen Jesu nach 6,64 erweist ihn als Propheten mit der Gabe der Herzenserkenntnis, einer Gabe, die eigentlich nur dem Schöpfer, dann aber auch den von ihm Gesandten zukommt; vgl. schon Joh 4,18 f.
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Kapitel 7
Joh 6,68-70: Das Petrusbekenntnis Das Petrusbekenntnis nach Joh 6 ist eigenartig geformt: Petrus »lobt« den Herrn, weil er Worte ewigen Lebens hat. Dann formuliert er das Bekenntnis der zwölf Jünger: »Du bist der Heilige Gottes.« Jesus begegnet der Formulierung mit dem Einwand: Ich habe euch erwählt, aber einer ist ein Teufel. Zwischen dem »Heiligen Gottes« und der »Erwählung« besteht eine enge Beziehung, die aus den Briefen bekannt ist (z. B. Kol 3,12: Auserwählte, Heilige und Geliebte): Die von Gott Erwählten sind die Heiligen. Jesus ist von gleicher Art wie die Jünger. Er hat seine Erwähltheit an sie weitergegeben. War es »nötig«, hier den Teufel gleich mit zu nennen? Wofür steht Judas hier – außer für sich selbst? Im Sinne des Dualismus steht der Satan den Heiligen und Erwählten kontrastiv gegenüber. Aber wo liegt die Pointe des Stücks? Die direkte Abfolge von Petrusbekenntnis und Satan qua einem der Jünger steht auch in Mk 8,29.33. Das kann kein Zufall sein. In Joh 6 ist Judas der Satan (das stellt sich freilich erst in Kap. 13 heraus, und bis dahin ist alles offen; auch Petrus käme in Frage, daher wohl 13,24-26 der Lieblingsjünger als Zeuge 13,23), in Mk 8 hingegen eindeutig Petrus. Der Kontrast zwischen dem Heiligen und dem Satan in Joh 6 erscheint als logischer Kontrast. Auf jeden Fall gilt die grundsätzliche Mitteilung »Petrus-Bekenntnis plus ein Jünger aus dem Zwölferkreis, der Sa-
353 tan ist«; diese ist zweifach verarbeitet worden, von Mk und von Joh. Dass man keineswegs entscheiden kann, welche Fassung ursprünglicher ist, das ist typisch für die Überlieferungssituation des JohEv gegenüber den Synoptikern. Nun ist es freilich dem Teufel auch selbst so wie Judas ergangen. Aus dem Kreis der heiligen Engel wurde er verstoßen und zum Teufel (vgl. JSHRZ 2.5: Leben Adams und Evas. § 13-15). Auch er ist der Schwarze inmitten eines Kreises von Heiligen und Lichtvollen. Diese Rolle gibt er nun weiter und »erwählt« sich aus dem Kreis der heiligen Apostel einen, auf den er die Hand legt. Nicht nur Jesus gibt seine Heiligkeit und Erwählung weiter, auch der Teufel gibt seine Unglücksrolle weiter. Mit diesem Denkschema könnte Joh hier den Judasverrat deuten. Das wäre dann spiegelbildlich. Man könnte noch einen Schritt weiter gehen und festellen: Auch nach dem »Leben Adams und Evas« geht es um ein Bekenntnis, das der Teufel hier allerdings verweigert: Adam als Bild Gottes. Daher gilt folgende Gleichung: Konvent der Engel; Satan – Adam nicht anerkannt – Sturz, er wird zum Teufel. – Im Zwölferkreis: Konvent der Zwölf – Judas (Petrus): Jesus nicht anerkannt (Petrus: als leidender Menschensohn; Judas: als Messias) – Sturz (Tadel, buchstäblicher Sturz des Judas). Fazit: Aus dem Kreis der Lichtvollen »kippt« der eine. Der Teufel gibt sein eigenes Geschick nur weiter. Er ist in der Tat der »Nachahmer«-Geist. Das Konzept ist dualistisch (Heilige/Satan).
Joh 7: Diskussion um die Messianität Jesu Joh 7 enthält eine fast exklusiv für Juden verständliche Diskussion um die Messianität Jesu. – Das Kapitel enthält Argumente dafür, dass Gott ihn gesandt hat. – Joh liefert Argumente dafür, dass Jesus der traditionellen Messiaserwartung zumindest nicht widerspricht, z. B. bei den Wundern. Sie sprechen nicht gegen ihn (7,31b). – Die Gegner Jesu aber leiden unter Selbstwidersprüchen: Sie beziehen sich auf Gebote, die sie selbst nicht einhalten usw. – Unterbrochen werden die Abschnitte durch Versuche, Jesus durch Steinigung umzubringen. – In 7,37-39 wird Jesus mit der Weisheit identi-
fiziert, also mit der genuinen Qualifikation der Könige. – Historischer Hintergrund wird sichtbar in 7,37-43 (innergemeindliche Querelen) und in V. 45-52 (Diskussionen im Sympathisantenkreis, vgl. Nikodemus!). Die in V. 49 formulierte Behauptung über das dumme Volk zeigt, auch wenn nur Bruchteile wahr sein sollten, Wichtiges über die wissenssoziologische Position der Christen. Ziel: In Joh 7 wird die strittige Legitimation Jesu verteidigt:
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354 1. Jesus ist von Gott gesandt, weil er nicht den eigenen Willen tut, sondern den Willen Gottes. a) Er hält sich, was die Offenbarung seiner selbst betrifft, an die von Gott festgesetzte Stunde (7,1-10). b) Seine wunderbaren Fähigkeiten können nicht von ihm selbst kommen (7,15-17). c) Nicht er gibt sich die Ehre, sondern Gott gibt sie ihm (7,18f). 2. Einwände gegen die jüdische Strategie: a) Die Juden übertreten den Sabbat wegen Beschneidung. b) Die Torah selbst sagt, dass ein Verdächtigter erst anzuhören ist und dass er wissen muss, was er tut. Also ist das Volk nicht zu verfluchen (7,49-51). 3. Einwände gegen Jesu Herkunft und Ziel werden diskutiert: a) Niemand weiß, woher er kommt (7,25-30). b) Wohin will er gehen? (7,33-36) (nach traditioneller Einschätzung müsste er nach Jerusalem gehen). c) Er kommt aus Galiläa. Er müsste aber aus Betlehem kommen (7,40-44). d) Er kommt aus Galiläa. Doch kein Prophet kommt aus Galiläa (7,52).
Joh 7,1-13: Offenbarung der Messianität Jesu Das JohEv setzt eine eigenartige Messias-Dogmatik voraus. Demnach ist der Messias zunächst verborgen, und daher ist er darauf angewiesen, dass er selbst sich oder ein anderer ihn offenbar macht. Nach Joh 1,28 ist der Ort zunächst der Jordan, wo Johannes der Täufer ihn, den auch er zunächst nicht kannte (1,30c), offenbar macht »für Israel« (1,31), indem er seine Vision wiedergibt. Doch der klassische und erwartete Ort, an dem der Messias sich selbst offenbar macht, ist Jerusalem. Dort soll er nach Meinung der Jünger sich selbst, und zwar nun »der Welt«, offenbaren. Dafür aber kommt es auf den Zeitpunkt an. Denn nicht nur der Ort ist von Gott gewählt, sondern auch die Zeit. Das zeigt etwa Mk 16,3k, wonach die Jünger in ihrer Bitte das Gegenteil von dem behaupten, was Jesus in Joh 7,8b verneint hatte (»Offenbare deine Gerechtheit jetzt. Erfüllt
Das Evangelium nach Johannes
ist das Maß der Jahre der Herrschaft Satans«). Nach Joh 7,8b ist die Zeit Jesu damals gerade noch nicht »erfüllt« (griech. peplerotai wie in Mk 16,3k). Erst nachdem die Jünger nach Jerusalem abgereist sind, geht Jesus dann allein dorthin. Der Ablauf ist daher wie in Joh 2. Jesus offenbart (!) seine Herrlichkeit den Jüngern nicht auf Bitten Marias, sondern wann und wie er bzw. der himmlische Vater es will. Auch in Joh 2,4 argumentiert Jesus mit der »Stunde«, die noch nicht gekommen ist. An diesem Drängeln der Menschen (in Joh 2 Maria, in Joh 7 die Jünger) wird nur erkennbar, dass sie nicht Gott sind bzw. den Willen Gottes nicht kennen. In beiden Fällen tut Jesus allerdings das Erbetene kurz danach von sich aus. Es geht gewissermaßen ums Prinzip. Doch auch bei dieser Selbst-Offenbarung (besonders deutlich dann in 7,37f) bleibt zunächst alles verborgen, auf der Seite Jesu (7,10 »gewissermaßen im Verborgenen«) wie auf Seiten des Publikums (7,13: Keiner redet offen über ihn). Dieses »Spiel« um Verhülltheit und Offenbarmachen ist die johanneische Variante der synoptischen Konzeption des Messias-Geheimnisses. Zumindest bei Joh richtet sie sich auch an die Leser des Evangeliums, denn auch das »Ende« der Zeiten heißt nach Joh 5,28 »die Stunde«, und die Christen dürfen sicher sein, dass auch hier Gott allein das Wann bestimmt. Aus dem Evangelium erfahren sie auch: Diese Stunde kommt bestimmt. – Dass Jesus sich noch nicht ganz geoffenbart hat, darauf weist das gespaltene Echo nach 7,12. – Wer hier von der johanneischen Variante des Messiasgeheimnisses spricht, sollte bedenken: Durch die Tatsache, dass Jesus die Enthüllung des Geheimnisses so offenkundig nicht abhängig vom Willen der Menschen macht, wie gesehen, legt er sie ganz in Gottes Hand – und legitimiert so seinen Anspruch. Die Brüder Jesu (7,5.3.10) sind wohl nicht männliche Verwandte, sondern eine besondere Jüngergruppe in Differenz zu den »Schülern« nach 7,3. Die Brüder üben hier besonderen Druck aus und sind von den Jüngern durch dauerhafte Kritik unterschieden. Vgl. dazu auch 2,12 (Brüder und Jünger werden unterschieden); 20,17 (Beziehung zur Vater-Anrede). Hinweis auf eine besondere Gruppe ist 1 Kor 9,5 (neben den Apostel sind die Brüder des Herrn eine besondere Gruppe von
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Kapitel 7
Missionaren). Ursprung in Ps 22,23 (Brüder plus griech.: ekklesia)?
Joh 7,14-18: Jesus sucht nicht die eigene Ehre Was heißt das: Jesus sucht nicht die eigene Ehre, sondern die Ehre Gottes? Darin erweist er sich als wirklich nur und immerhin von Gott gesandt. Wie sähe der Jesus aus, der die eigene Ehre suchte? – Er würde sich zum König machen lassen wollen (Joh 6,15). Er würde den Bitten der Menschen um Selbstoffenbarung nachgeben. Er würde also überhaupt tun, was die Menschen wollen. Das ist ein johanneischer Grundsatz: Der, dessen Willen man tut, wird einen ehren. Das ist hier auch die Brücke zur folgenden Argumentation in 7,19-24. Zu Joh 7,15: Wer nicht zur Schule gegangen und dennoch klug ist, kann nur von Gott inspiriert sein, vgl. Apg 4,13 und auch Mt 13,54 (voller Weisheit und Sohn des Zimmermanns). Die Qualität eines Gesandten liegt ausschließlich in dem, was er empfängt und weitergibt.
Joh 7,19-24: Wer einen Dämon hat Jesus tut den Willen Gottes, d. h.: Er sucht Gottes Ehre (7,18). Die von ihm angesprochenen Juden tun den Willen Gottes nicht, denn sie beschneiden am Sabbat und übertreten damit das Gesetz des Mose (7,23). Vor allem aber wollen sie Jesus töten (7,19) und richten sich damit gegen das fünfte Dekaloggebot. Die angesprochenen Juden bestreiten dieses lebhaft und geben die Beschuldigung als Vorwurf an Jesus zurück. Wer so zu Unrecht beschuldigt, hat einen Dämon. Der spätere, gebildete Leser konnte darin eine Anspielung auf Sokrates und sein Daimonion erblicken, der wegen seines »Dämon« ermordet wurde. Die ursprüngliche johanneische Bedeutung folgt dagegen einer anderen Logik: Der Dämon ist ein Lügengeist; daher heißt der Ober-Dämon, der Teufel, auch »der Lügner schlechthin« (Joh 8,44). Der Lügengeist verwirrt die Menschen, er pervertiert ihre Gedanken, was sich darin äußert, dass er sich selbst für Gott hält und will, dass die Menschen seinen Willen tun, näm-
lich morden (während Gott das Leben schenkt). Denn dieses ist die Logik von Joh 7,19f: Der Mörder ist der Todesstrafe verfallen. Wenn Jesus Juden zu Unrecht des Mordens beschuldigte, hätte er deshalb einen Dämon, weil er widerrechtlich den Tod der angeblichen Mörder wollte. Nur die Leser wissen: Die anwesenden Juden wollen Jesus wirklich zu Unrecht töten, also morden, und haben daher selbst die Todesstrafe verdient. Und auch das gilt: Wer einen Dämon hat, dem ist nur durch Tötung beizukommen. So sind die Anschuldigungen also strikt wechselseitig. – Das im Text dann folgende Beispiel mit Sabbat und Beschneidung ist nur Kommentar und Illustration. – Der Ausdruck »keiner tut das Gesetz« bedeutet: Wenn auch nur ein Gebot des Gesetzes regelmäßig verletzt wird, gilt die ganze Torah als übertreten (vgl. zu Gal 3,10).
Joh 7,25-30: Verborgenheit des Messias Dass man nicht wissen wird, woher der Messias kommt, ist nur die Kehrseite dessen, dass er in einer besonderen Aktion offenbart werden muss (s. oben zu 7,1-13). Denn in einer Gesellschaft ohne elektronische Dateien ist die Frage »Woher des Weges?« grundsätzlich wichtig. Wüsste man beim Messias von vornherein, wer er ist, so müsste nicht nur die besondere Offenbarmachung entfallen, vielmehr würde auch der ausgewählte Zeitpunkt (die »Stunde«) für dieses Unternehmen unwichtig. Wir stoßen daher hier nochmals auf eine besondere jüdische (!) Konzeption von der vorgängigen irdischen Verborgenheit des Messias. Wie konnte es im Judentum zu dieser Konzeption kommen? – Auch Mt 2 (die Magier) und der Midrasch zu Klgl (der Händler für Kinderwäsche geht nach Betlehem und fragt) setzen voraus, dass der Messias gesucht werden muss und nicht jedermann als Messias offenbar ist. Die freudige Feststellung in Joh 1,41 »Wir haben den Messias gefunden« erinnert nicht nur an das Glück der Magier in Mt 2, im Hintergrund steht dieselbe Auffassung vom Messias. Er ist schon da, und er ist verborgen. Man muss ihn suchen, und man kann ihn finden. So heißt es in der judenchristlichen »Leiter Jakobs« (ed. N. Bonwetsch) Kap. 7 vom Messias: »Und alsdann (nach einer
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356 Reihe von Vorzeichen) kommt der Erwartete, dessen Pfade von niemand werden bemerkt werden.« Die spätere rabbinische Auffassung, der Messias sei schon gekommen und leide als Aussätziger vor den Toren Roms, setzt ebenfalls voraus, dass das entscheidende Handeln Gottes unerkannt geschah. – Dass der Messias gesucht werden muss, bzw. dass jemand ihn offenbar machen wird, ist auch die passende Antwort auf die oft gestellte Frage nach dem Sinn der »verborgenen Jahre Jesu«, eine Zeit, die für alle Evangelisten selbstverständlich zu sein scheint. Die Alternativen, die sich bei der Suche auftun, schildert Mk 8,28f par (inklusive ThomasEv 12) drastisch. Stets wird vorausgesetzt: Der von Gott Gesandte ist geheimnisvoll verborgen. Das gilt nicht nur für den Messias, sondern auch für wiederkehrende Propheten, besonders für Elia, für Engel – daher auch die »andere Gestalt« in Mk 16,12 bei Jesus. Philo hat das (in Conf Ling 146) als Privileg von Engeln und wiederkehrenden Propheten erklärt. In Ant 42,10 heißt es nach einer Engel-Erscheinung: »Ich habe nach seinem Namen gefragt, weil ich nicht wusste, dass es ein Diener Gottes war.« – Eine besondere Rolle spielen die Angaben in Justin, Dial. Der verborgene Messias wird von Elia entdeckt, und erst von da an hat er Wunderkraft. Er »versteht auch nicht sich selbst, hat keine Wunderkraft, bis Elia ihn salbt und allen bekannt macht« (Justin, Dial 8,4). Nach der judenchristlichen Messiaspassage der Oracula Leonis ist der Messias zuvor unbekannt und verachtet, ein Zeichen vom Himmel und die Salbung mit übernatürlichem Licht machen ihn dann offenbar. Der von Gott gesandte bzw. bestellte Messias ist »unbekannt« (Justin, ebd.) bzw. »verkannt« (Hippolyt, Daniel 4,37,3) oder sogar verachtet. Auch die Tage des Menschensohnes wird man suchen wollen, zumindest einen einzigen davon (Lk 17,22); im Rahmen der verborgenen Sendung des Messias wird es sich um die Frage handeln: Ist er schon da? Wenn ja, dann ist »heute« schon einer der Tage des Menschensohnes. Der Formulierung nach gehört auch Joh 7,11 hierher: Die Juden ahnen, dass der Messias schon da ist und suchen ihn. – Der »Geliebte« (oft Name für den Messias, z. B. AbrahamApk) muss nach der messianischen Auslegung des Hohenliedes gesucht werden (Hld 3,1.2; 5,6). Das Problem ist nicht nur christlich. Besonders zu
Das Evangelium nach Johannes
erwähnen ist das Targum Jonathan zu Sacharja. Nach 6,12 ist der Messias dafür bestimmt, »offenbart und gesalbt« zu werden. Immer wieder spricht das Targum von der »Offenbarung« des Messias (3,8; 4,7; 6,12), vgl. Tagum Jonathan zu Jer 30,21. – Bekannt ist der rabbinische Spruch: Drei Dinge kommen unversehens: ein Skorpion, ein Fund und der Messias. Das heißt: Sie sind schon da, werden aber unversehens offenbar. Wo liegen die Ursprünge? Zu einem Teil spiegelt sich darin das soziologische Problem der NichtAkzeptanz des Weisen (vgl. Sokrates), in Israel auch auf die Propheten angewandt. Zum anderen geht es um ein auch modernes Problem biblischer Botschaft: Der Glaube geht auf Unsichtbares, Nicht-Evidentes, im Alltag Übersehenes. Die Nicht-Evidenz brachte das Problem der geistlichen Unterscheidung (der Geister). Anhand des Problems der Falschpropheten und der Falschapostel wurde darüber länger diskutiert. Von falschen Messiassen berichtet Josephus, Mk 13,22 spielt darauf an. – Einen besonderen Grund nennt noch Targum Jonathan Micha 4,8: Der Messias Israels wurde »verborgen vor den Sünden der Versammlung Sions«. D. h.: Weil Israel gesündigt hatte, blieb ihm der Messias verborgen. Die Umkehrung berichtet Apg 3,19: Wenn Israel sich bekehrt, kommt der Messias schnell wieder.
Das Offenbarwerden des Messias In Joh 7 bestimmen Verben des Enthüllens und des Verbergens das Thema (V. 4.10.13). Die Anhänger Jesu haben Gründe, die Botschaft geheim zu halten, nämlich die Furcht vor den Juden (V. 13). Joh 7,3 f.13 führt damit auf ein seltsamerweise nie explizit behandeltes Thema: Wie nämlich der Messias als Messias (d. h. endzeitlicher Bevollmächtigter Gottes) erkannt werden kann. Eine Reihe von neutestamentlichen Texten beschäftigt sich mit dieser Frage; sie sind aber nie unter diesem Aspekt zusammengesehen worden. Grundsätzlich bieten sich zwei Möglichkeiten: Entweder kommt der Messias sichtbar vom Himmel mit seinen Engeln in der Art einer Theophanie – oder er lebt zunächst verborgen unter den Menschen, bevor er als Messias erkannt wird. Hinsichtlich der zweiten Ankunft Christi votiert jedenfalls Lk 17,21-24 entschieden für das erste Modell: So wie ein Blitz allen sichtbar ist, wird auch der Menschensohn am Himmel erscheinen.
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Kapitel 7
In Lk 17,23 und ebenso in Mk 13,21f wird vehement festgestellt: Nein, so wie beim ersten Kommen wird es beim zweiten Kommen nicht sein. Beim ersten Kommen war man demnach in der Tat auf eine womöglich frustrierende Suche angewiesen, auch auf Festlegungen, die sich danach als Irrtümer herausstellten. Die Jünger können und müssen für die Zukunft auf solches Suchen verzichten. Denn der Messias kommt dann mit den Wolken des Himmels (Apg 1,11). Das zweite Modell dagegen hat folgende Züge: Der Messias ist zunächst und lange Zeit unbekannt, er ist verborgen und wie ohne Gestalt. Doch irgendwann kommt die Zeit, da wird er durch einen Dritten »offenbar gemacht«, sei es durch Gott Vater im Himmel oder durch Elia oder Johannes den Täufer. Er kann sich auch selbst offenbaren. Jedenfalls geschieht diese Selbst-Offenbarung zu einem bestimmten, von Gott festgesetzten Zeitpunkt. Ab dann ist Gottes Messias nicht mehr verborgen. Diese Offenbarung geschieht dann nur teilweise und vor privilegierten Zeugen. Sie ist keine Theophanie, sondern bestenfalls eine Epiphanie. Die frühchristlichen Schriften nennen für die (Selbst-)Offenbarung des irdischen Messias durchaus verschiedene Zeitpunkte. Nach Joh 1,31-34 macht der Täufer Jesus offenbar, indem er über die Vision berichtet, mit der Gott durch Herabkunft des Geistes auf Jesus ihn vorgestellt hat. Nach Joh 2,11 hat Jesus sich bei der Hochzeit von Kana geoffenbart. Nach Lk 3,21f; Mt 3,13-17 geschieht dieses bei der Taufe Jesu und bei der Verklärung. Nach Joh 7 soll Jesus sich der Welt beim Laubhüttenfest in Jerusalem offenbaren. Nach Justin (Dial 53,2) offenbart sich Jesus bei seinem Einzug nach Jerusalem. Besonders interessant ist Mt 2 in dieser Hinsicht: Für König Herodes ist und bleibt Jesus verborgen, so auch nach 1 Kor 2,3 für die Herrscher und Mächtigen, die ihn in Verkennung dessen, wer er ist, kreuzigen. Nach Mt 2 wird Jesus nur für Spezialisten, für heidnische Astronomen, überhaupt erkennbar. Nach Ignatius von Antiochien (Epheserbrief 19) bleiben Jesu Empfängnis, Geburt und Tod auch und gerade dem Teufel verborgen. Nach den synoptischen Evangelien gilt bis zur Auferstehung Jesu das Messiasgeheimnis. Alle diese Ansätze über das irdische Offenbarwerden bzw. Nicht-Offenbarwerden haben ge-
357 meinsam: Der Messias bleibt in seiner Identität lange und für sehr viele verborgen. Das so genannte Messiasgeheimnis der Synoptiker ist nur eine Variante dieses Ansatzes. Grundsätzlich verwandt ist das so genannte Revelationsschema, wonach das Evangelium ein lange, ja seit Anbeginn gehütetes Geheimnis ist, das erst jetzt offenbar wurde, nämlich die Gottessohnschaft Jesu als Evangelium für die Heiden. Je nach Ausprägung wird entweder die Auserwähltheit der Adressaten hervorgehoben oder aber die Tatsache des Zeitpunktes jetzt. Oder es wird die Verborgenheit seit Anbeginn der Welt betont oder als Alternative nur die Verborgenheit im Leben des Messias bis zum geschehenen Zeitpunkt der Offenbarung. Oder es geht um die Frage: Wer ist der Messias, woran wird er erkennbar? Dann stehen nicht die Adressaten im Vordergrund, sondern die faktische Verhülltheit des Messias. Das Schema ist daher: Der Messias ist lange verhüllt (seit Anbeginn der Welt oder seit Beginn seines Lebens); erst spät (in »dieser Generation«, dem »Apostel« [so bei Paulus] oder in der Mitte oder gegen Ende seines Lebens) wird er enthüllt oder offenbart sich selbst. Der Herkunft nach ist es ein apokalyptisches Denkschema, schon in Hen (äth) 61,7 belegt (von den Auserwählten und dem Menschensohn). Aber was besagt es inhaltlich? Es schützt die Bindung zwischen dem Heilsmittler (Messias, Menschensohn, Gottessohn) und seinen Anhängern bzw. Jüngern. Es stellt sie als exklusiv dar. Gleichzeitig sind die Außenstehenden nicht nur als die Unwissenden im Blick, sondern auch als die Verfolger und Mörder. Das ist an 1 Kor 2 gut erkennbar, es gilt aber auch für Joh 7. In dieser Ausprägung handelt es sich daher um ein dualistisches Schema, das auch die Feindschaft zwischen zwei Gruppen erklärt, im Grunde ist es daher ein martyrologisches Schema. In der Aufklärung aller Unwissenheit bei den Wenigen liegt auch ein elitäres und weisheitliches Element vor. Das dualistische Schema gilt in Joh 7 am schärfsten in 7,12: »führt die Welt in die Irre« – das tut der Antichrist nach Didache 16,1 (»Weltverwirrer«). Im Übrigen finden sich alle Fragen der Enthüllung innerhalb der Biografie auch in den Antichrist-Traditionen wieder: Sowohl die Anatomie des Antichrist als auch im weiteren
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358 Sinn die »fünfzehn Zeichen« gelten als Hilfen zur Entzifferung des Verborgenen. Der Messias ist also der Verhüllte, überhaupt nicht von vornherein Erkannte und Erkennbare, vielmehr, wenn nichts Besonderes geschieht, der Verkannte. Gerade darin zeigen sich seine Erwähltheit und seine »Zukunftsträchtigkeit«. Dieses ewige Schicksal der kulturellen Elite wird im Vorderen Orient zum Angelpunkt apokalyptischen Denkens. Wieviel mehr gilt es damit auch von Jesus!
Das Evangelium nach Johannes
die Endereignisse geordnet (Gattung: Tagma, Ereignisablauf). Auffällig ist, dass bei der Frage nach dem Wann öfter im Vordergrund steht, was mit einem Objekt geschieht bzw. was es erleidet. Bei dem Was geht es eher um Gottes Willen, nach dem der Mensch etwas tun soll. Die Vaterunserbitte Mt 6,10b wird allzu oft im Sinne des LeidenMüssens missverstanden. Die Vorlage für dieses Denken ist nicht theologisch, sondern schlicht der Bauernkalender. Denn nach der bäuerlichen Zeitordnung hat im Laufe des Jahres alles seine Zeit (Aussaat, Ernte, Nachwuchs bei Tieren).
Joh 7,30-36: »Die Stunde« Jesu Der Tod Jesu wird von zwei Seiten her bedacht: Die jüdischen Autoritäten wollen Jesus steinigen, und Jesus spricht vom Hingehen zu Gott, was die Menschen nicht verstehen. Das Thema dieses Abschnitts ist auch »die Stunde« Jesu. Diese Stunde ist nicht gegeben, wenn andere über Jesus bestimmen wollen (2,4; 7,30 vgl. Lk 22,53). Denn wenn jemand in eigener Regie handelt, bestimmt er den Zeitpunkt seines Handelns selbst (Lk 22,53); auch der »Aufhalter« nach 2 Thess 3 hat seine Zeit (»schon«). Nach Mt 8,29 werfen gar die Dämonen Jesus vor, er quäle sie, ehe es Zeit ist. Jedes Ding hat daher im wörtlichen Sinne »seine Zeit« (Koh 3,1). Wo aber Gottes Gesandter im Spiel ist, da wird sein Tun und Ergehen vom Zeitplan Gottes bestimmt. Zumeist ist nach dem JohEv die Stunde Jesu »noch nicht« gekommen, also die Stunde, die der Vater bestimmt hat. Oft wird den Menschen vorgehalten, die Tiere kennten ihre Stunde, der Mensch aber die seine nicht. Er weiß nicht, was er tun soll. Er hört nicht auf den Rhythmus seines Lebens. Jesus aber weiß das genau. Er ist daran als der Gerechte erkennbar. Er kennt den Willen des Vaters genau. Interessant ist, dass es dabei ganz wesentlich um das Wann geht. Alles hat seine Zeit Im Hintergrund steht daher ein Denken, wonach alle Kreaturen ihre Zeit haben (nach Jer 8,7 der Storch; nach Lk 21,24 die Heiden; nach Ez 30,3 der Tag des Herrn; nach Mk 1,15 das Gottesreich). Der Wille des Schöpfers bezieht sich nicht nur auf das Was (die Aufgabe, die jemand hat; die Gebote), sondern auch auf das Wann. Daher sind auch
Joh 7,37-39: »Wer an mich glaubt …« Wasser und Quelle – eine besondere Bedeutung hat die Tempelquelle in Jerusalem (Ez 47,1-12; Sach 14,8; Joel 4,18). Drei Bilder bietet der Text: 1. Jesus lädt zu sich ein und bietet dem Durstigen Trinken an (vgl. Spr 8,1-21; 9,4f und die Gattung des Werberufs). 2. Aus dem Leib des Glaubenden fließen Ströme lebendigen Wassers – hier wird das Bild von der Weisheit als lebendigem Wasser vorausgesetzt (vgl. Spr 18,4). 3. Wie Wasser sind Geistempfang und Geistweitergabe nach Ostern (vgl. Spr 1,23: »Siehe, ich will über euch strömen lassen meinen Geist und euch meine Worte kundtun«). Die meisten Analogien sprechen von der einladenden Weisheit oder vom Weisen als Quelle, kaum davon, dass der Weise selbst seine Weisheit einer Quelle verdankt. So ist es aber hier: Der Glaubende ist sozusagen ein Überlaufbecken. Jesus ist die Urquelle; immerhin wird der Glaubende hier mit der Tempelquelle verglichen. Das gilt aber erst nach Ostern. Dann verdanken die Jünger noch immer Jesus alles, was sie reden. Der Heilige Geist ist das Lebenswasser, das von Jesus ausgeht. Ziel des Abschnitts ist die exklusive Bindung alles Glaubens (aller Verbindung mit Gott) und aller nachösterlichen Geistphänomene an Jesus. Der Heilige Geist ist nicht konkurrierende, sondern unterzuordnende Offenbarung.
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Kapitel 7
Joh 7,40-44: Woher kommt der Messias? Im Zentrum steht der Einwand: Jesus kommt aus Galiläa, er müsste aber aus Betlehem kommen. Folgende Möglichkeiten der Bedeutung bestehen: 1. Die Leute kennen nur die halbe Wahrheit. Jesus kommt aus Galiläa, ist aber doch in Betlehem geboren. Der Evangelist (und seine Leser) weiß das und kann so den Einwand entkräften, denn es ist beides wahr. 2. Es ist völlig belanglos, wo Jesus herkommt. Er kommt vom Himmel, und niemand kennt deshalb seine Herkunft (3,9 usw.). Weder Galiläa noch Betlehem sind daher wirklich wichtig. Es ist freilich die Frage, ob 3,9 eine irdische Heimat ausschließt. 3. Die Herkunft aus Betlehem ist ein Einwand aus der Tradition messianischer Erwartungen, dem Matthäus und Lukas durch ihre Berichte gewachsen sind. Hat der Verfasser des JohEv diese christliche Überlieferung noch nicht gekannt? Hat er nur gewusst, dass dieser Punkt umstritten war? 4. Galiläa ist richtig, Betlehem ist nicht belegbar. Aber wäre der Evangelist dieser Meinung, dann müsste er sich fragen lassen: Warum belastest du deine Darstellung mit dieser ungeklärten Frage, wo dir doch an der Einheit der Christen so viel liegt? – Oder erwähnt der Evangelist Betlehem, um keine der beiden Parteien (die Verteidiger Betlehems; die Verteidiger Galiläas) bloßzustellen und beide Lösungen nebeneinanderstehen zu lassen? (ähnlich wie Mk 12 die Titel Kyrios und Davidssohn). 5. Der Evangelist möchte die in der Gemeinde herrschende Ansicht (»Galiläa«) durch die bessere (»Betlehem«) vertiefen. Er versucht, vorsichtig eine Öffnung für die Lösung »Betlehem« zu finden, da er die Herkunft des Heils von den Juden immer wieder betont (4,23). Er gewöhnt seine Leserschaft daran und mutet ihnen selbst zu, dass sie eine Lösung, vielleicht im Sinne von 1. zu finden. Durch das hier zur Sprache gebrachte Dilemma wird auch V. 52 vorbereitet. Üblicherweise löst der Evangelist derartige Probleme, indem er sie spiritualisiert durch Verweise auf die himmlische Dimension (7,27 ff). Aber im Falle Betlehem geht nur das Entweder-Oder, wenn man nicht beides kombiniert. Daher muss
man wohl sagen: Der Evangelist kann es sich nur dann erlauben, Einwände wie den mit Betlehem zu zitieren, wenn er es besser weiß, d. h. wenn er in der Hinterhand Informationen hat, die den Konflikt »aufheben« und die den Einwand dennoch verständlich machen. Aus diesem Grund ist Lösung 1. vorzuziehen. Effekt: Wie bei anderen Zwistigkeiten und Missverständnissen wissen sich die Leser des Evangeliums als die besser Informierten erhaben über Missverständnis und Dissens. Genau über diesen Triumph des InsiderLesers über die »dummen« Außenstehenden und Uninformierten berichtet das Evangelium öfter. Evangelist und Leser wissen es »besser«. Zu Joh 7,40-52: In diesem Abschnitt geht es geschlossen um Einwände gegen die Herkunft des Messias.
Joh 7,45-52: Galiläa – Nazaret M. Luther übersetzt: »Richtet unser Gesetz auch einen Menschen, ehe man ihn verhört hat und erkannt, was er tut?« Berger/Nord übersetzen: »Unser Gesetz verurteilt keinen, der das Gesetz nicht kennt (d. h. nichts vom Gesetz gehört hat) und nicht weiß, was er tut.« – Gegen die Übersetzung Luthers spricht: Erstes Subjekt ist »das Gesetz«. Im Nebensatz muss Luther ein zweites Subjekt einführen (»man«). Bei Luther fehlt die Kohärenz zu V. 49. Denn dieser Vers spricht ja von jemandem, der vom Gesetz nichts gehört hat und nicht weiß, was er tut. Das ist »der Mensch« des Vordersatzes und der Vertreter des gesetzesunkundigen Volkes.
Der Abschnitt klingt wie ein Stück der Passionsgeschichte, weil nicht ein Jesuswort in der Mitte steht, sondern Menschenverachtung und Borniertheit jüdischer Kreise (Hohepriester und Pharisäer). Das wird in zwei Episoden geschildert: 1. 7,45-49: Die jüdischen Autoritäten urteilen über das Volk. Tendenz: Nur Ignoranten glauben an Jesus. – 2. 7,50 ff: Nikodemus versucht, den jüdischen Autoritäten aus dem Gesetz zu zeigen, dass sie ihr Urteil von V. 49 nicht fällen durften. Tendenz seiner Rede: Wenn man nichts Genaues weiß, darf man nicht verurteilen. Antwort der Pharisäer: Aus Galiläa kommt kein Prophet; diese Ausflucht der jüdischen Autoritäten auf ein anderes Gebiet hat juristische
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360 Tradition: Wenn man mit einem Thema in die Enge getrieben wurde, springt man auf ein anderes. Dieser Sprung gilt aber bereits als unübersehbares Indiz der Schwäche. Zu Joh 7,52b: »Kein Prophet aus Galiläa«. Aus Galiläa kommt aber Jona (2 Kön 14,25; Jon 1,1). Jona ist die Ausnahme. Und das Zeichen des Jona in der synoptischen Tradition ist eben diese Tatsache! Offenbar hat das Argument Joh 7,52b im Leben Jesu doch einiges Gewicht gehabt, sodass sich hier eine archaische Verbindung zwischen JohEv und Synoptikern (Mt 16,4; Lk 11,29b) ergibt. Nur im JohEv wird der Hintergrund für das Jona-Wort noch erkennbar. Auch in diesem Fall verhalten sich Synoptiker und JohEv komplementär. Das JohEv berichtet die Aporie und hätte keineswegs eine schon vorhandene Antwort übergangen. Ich sehr darin einen erneuten Hinweis auf andere und z. T. durchaus frühere Traditionen, die das JohEv vearbeitet. – Der Einwand erinnert an den ähnlichen in Joh 1,46: »Aus Nazaret kann nichts Gutes kommen.«
Joh 7,53 – 8,11: Jesus und die Ehebrecherin Der Abschnitt gehört nicht zum ursprünglichen Text des JohEv, sondern entstammt einem anderen Evangelium, das nicht erhalten ist. Dieses Urteil beruht, wohlgemerkt, auf der Evidenz der Textgeschichte, es ist nicht eine literarkritische Hypothese. Vielmehr hat, wie man an den Kodizes verfolgen kann, dieser Abschnitt eine wechselnde Verankerung auch in den bekannten Evangelien erlebt. Das mag mit seinem Inhalt zusammenhängen, in dem manche, wie H. v. Campenhausen, ein Stück Anarchie erblickten. Denn wenn Jesus eine Ehebrecherin nicht verurteilt hat – wer sollte dann noch irgendjemanden verurteilen? Die Strafbarkeit des Ehebruchs ist erst in neueren Strafgesetzbüchern verschwunden (jedenfalls seit 1871). Weil man Jesus zu geltendem Recht nicht in Gegensatz stellen wollte, wurde dieser Text regelrecht weggedrückt und selten gepredigt. – Seine jetzige Verankerung verdankt der Text dem Satz in Joh 8,15 des regulären Evangeliums: »Ihr (sc. die Pharisäer) sprecht ein Urteil nach Menschenart, ich aber spreche über niemanden ein Urteil.« In unserem Text entspricht
Das Evangelium nach Johannes
dem 8,11: »Auch ich verurteile dich nicht.« Diese Stichwortverbindung führte dazu, dass der Text gerade an dieser Stelle in das JohEv eingefügt wurde. – Nun darf man die rettende Tat Jesu allerdings nicht übertreiben. Die Ausleger möchten Jesus als Lebensretter darstellen, denn er habe der Frau das Leben gerettet. Nun wissen wir aus zeitgenössischen jüdischen Quellen, dass die Strafe der Steinigung keineswegs regelmäßig zum Tod führte. Paulus berichtet in 2 Kor 11,25 davon, er selbst sei einmal gesteinigt worden – was offensichtlich nicht zum Tod führte. Die Steinigung bei Ehebruch war wohl in erster Linie ein Gestus der Verfluchung: In Sir 23,24-26 heißt es über eine ertappte Ehebrecherin: »Sie wird der Volksversammlung vorgeführt, und Strafe wird auf ihre Kinder kommen. Die Kinder werden keine Wurzeln treiben und ihre Zweige keine Früchte bringen. Zum Fluch nur hinterlässt sie ihr Gedenken, und ihre Schmach wird niemals ausgetilgt.« Der Sir-Text besagt: 1. Von einer Tötung der Frau ist keine Rede, das Schlimme ist nur das Vorgeführtwerden. 2. Die Strafe lastet hauptsächlich auf den Kindern. 3. Die Strafe wird im Ganzen als Fluch und Schande dargestellt, sie liegt nicht im medizinisch erheblichen Bereich. – Auch in 1 Kor 5 soll der »Unzuchtssünder« verflucht (nicht getötet!) werden. In Joh 8,6 rettet Jesus nicht das Leben der Frau, und handelt nicht einfach aus »Liebe«, sondern wegen der Gefahr des Bumerang: Der Fluch trifft den zuerst, der selbst Dreck am Stecken hat. Die Tora schreibt Verfluchung vor. Daraus kann leicht Selbstzerstörung werden. Darauf macht Jesus de facto zugunsten der Frau, aber eben auch der Angeredeten aufmerksam. Es geht aber nicht um »Gesetz gegen Liebe«, sondern um Vorsicht beim Richten (wie in Mt 7,7) und Schwören (Mt 7,2). Und man kann nicht Jesus umso leuchtender machen, je dunkler man das Gesetz zeichnet. – Vgl. überdies Joh 3,17. So auch die schon zitierte Stelle Joh 8,15: »Ich richte niemanden.« In Joh 12,47 sagt Jesus sogar: »Und wenn jemand meine Worte hört und sie doch nicht bewahrt, so werde nicht ich sein Richter sein. Denn ich bin nicht gekommen, um die Welt zu richten, sondern um sie zu retten.« Ähnlich heißt es in vielen Handschriften zu Lk 9,56: »Denn der Menschensohn ist nicht gekommen, Menschen zu vernichten, sondern zu ret-
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Kapitel 8
ten.« Wir besitzen somit aus dem lukanisch-johanneischen Bereich viele gleichartige Belege für die Auffassung Jesu von seiner Sendung. Demnach ist die Phase des Gerichts eben jetzt noch nicht angebrochen, sondern jetzt besteht Zeit und Gelegenheit zur Umkehr. Jesus unterscheidet deutlich zwischen der Zeit zur Rettung und der Zeit des Gerichts. Allerdings sagt Jesus zu der Ehebrecherin am Schluss: »Nun geh und sündige nie wieder!« (8,11). Dieser Satz wird von all den Auslegern übersehen, die hier auf Anarchie plädieren (vgl. H. v. Campenhausen: Zur Perikope der Ehebrecherin, in: Urchristliches und Altkirchliches, 1979, 187-196). Denn im Zusammenhang der gesamten Botschaft Jesu ist die Nicht-Verurteilung kein Freibrief zur Sittenlosigkeit, sondern ein Ruf in die Umkehr. Auch hier finden sich die Analogien im lukanisch-johanneischen Bereich: Zur Sünderin in Lk 7 sagt Jesus: »Deine Sünden sind dir vergeben« (V. 48). Er nennt durchaus Sünde, was diese Bezeichnung verdient hat. In Joh 5 sagt er zu dem Geheilten, der zuvor gelähmt war: »Höre auf zu sündigen, damit es dir nicht noch schlimmer ergeht« (V. 14). Wie in Joh 8,11 liegt die Aufforderung zur Umkehr am Ende des Berichts, und daher liegt das volle Gewicht der Pointe jeweils auf diesem Satz. Es ist sehr aufschlussreich, dass die entsprechende Aufforderung in Joh 5 am Ende eines Heilungsberichtes steht. Theologisch bedeutet das: In Lk 7, Joh 5 wie in Joh 8 ist die Begegnung mit Jesus für den schwachen Menschen immer eine heilvolle Unterbrechung seines Lebensweges bisher. Jesus vergibt die Sünden (Lk 7), verhindert die Bestrafung (Joh 8) oder eröffnet einfach einen grundlegenden Neuanfang (Joh 5). Nach Joh 8 und Joh 5 ist dieser Neuanfgang daran gebunden, dass der Mensch nicht mehr sündigt. Das heißt doch: dass er nicht in alte Gewohnheiten zurückfällt. Dabei ist die Begegnung mit Jesus jeweils alles andere als das Erteilen und Hören einer Moralpredigt. In Joh 5 ist es das Wunder, in Lk 7 das bewegende Akzeptieren des Tuns der Sünderin als Liebe, in Joh 8 geradezu die Beschämung der Moralisten. Joh 8 sagt auch, weshalb niemand das Recht zu Moralpredigten hat: weil keiner glaubwürdig und ohne Sünde ist. Das, was Menschen als Voraussetzung des Urteilens über andere benutzen,
361 das Treppchen erhabener und besserer Moral, ist nicht nur brüchig, sondern purer Schein. Deshalb ist seit dieser Episode von Joh 8 die Waffe der Moralpredigt seitens des vorgeblich Besseren verwehrt. Allein eines kann helfen: der radikale Neuanfang im Rahmen eines Wunders oder als Sündenvergebung durch Gott selbst. Dass Menschen nicht mehr sündigen, wird nicht durch Moralpredigt erreicht, sondern nur durch einen Einbruch Gottes in diese Welt, also durch die vormoralische Dimension des Heiligen. Von diesen Beobachtungen zu Joh 5 und Lk 7 her kann man auch die Rolle Jesu in Joh 8 verstehen. Die Aufforderung »Derjenige von euch, der ohne Sünde ist, soll als erster den Stein auf sie werfen!« kann Jesus deshalb an die Umstehenden richten, weil er selbst der Gerechte und Heilige ist. Denn keiner wagt ihm zu antworten: »Du bist ja selbst auch Sünder! Und manche besonders gefährlichen Sünden müssen eben besonders hart bestraft werden!« Vielmehr weichen angesichts seiner unkritisierbaren eigenen Heiligkeit alle zurück. Es lässt sich sehr eindrucksvoll als Rollenspiel darstellen, dass der Höhepunkt dieses Berichtes darin besteht, dass sich alle potenziellen Richter, einer nach dem anderen, schweigend zurückziehen. Ähnlich wird auch Paulus im Römerbrief argumentieren: Weil wir alle Sünder sind (und weil wir Christen von Gott gerecht gesprochen sind), hat kein Mensch ein Recht, andere zu verurteilen. Dieser Satz ist geradezu das Thema des Römerbriefes, denn er verbindet den dogmatischen Teil mit dem praktischen: Keiner verurteile ein anderes Gemeindeglied. Nur der hier in Klammern gesetzte Nebensatz (»und weil wir Christen …«) geht über Joh 8 hinaus. Was aber hat Jesus nach 8,6 auf den Boden geschrieben? Nach allem, was wir ahnen können: Sünden oder Gebote. Schon Minuskel 264 ergänzt: »schrieb die Sünden eines jeden Einzelnen von ihnen auf die Erde«, und so wird auch V. 8 ergänzt. Zum Hintergrund im AT: Jer 17,1 »die Sünde Judas ist geschrieben mit eisernen Griffeln«, vgl. Jes 8,1: »Nimm dir eine große Tafel und schreib darauf mit deutlicher Schrift: Raubebald, Eilebeute«. – Auch der Kreuzes-Titulus gibt ja die Sündenschuld des Delinquenten an. Die »Konfrontation« des fehlbaren Menschen mit der Schrift des Gebotes vollzieht sich daher im Lesen. Die Schriftlichkeit ver-
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362 leiht den Geboten wie der Schuld den Charakter unausweichlicher Objektivität.
Joh 8,12-20: Die Verständigungsbasis In diesem Abschnitt sagt Jesus seinem unwilligen Publikum, warum die Verständigung so schwierig, ja aussichtslos ist. Er beginnt, indem er seinen Anspruch darstellt, der zugleich Verheißung ist. Der Anspruch: Er ist das Licht für die Welt. Er ist wie die Sonne; er garantiert jede Erkenntnis, die wichtig ist. Wo er ist, wo man auf ihn hört, dort bestehen keine Unklarheit, keine Finsternis. Finsternis aber sind das Böse, die Verstrickung, das Lebensfeindliche, die Aussichts- und Hoffnungslosigkeit. – Das hört sich alles ganz gut an. Doch Jesu Publikum lässt sich nicht darauf ein. Denn quälend ist die Frage nach dem Woher und nach dem Wohin. Die Antwort auf beide Fragen ist im Sinne des Evangelisten »der Himmel«. Das hatte schon Kap. 3 geklärt: Wer nach oben geht, der ist auch von oben gekommen. Das ist natürlich keine schlichte Ortsfrage, sondern die Frage nach der Legitimität des Ursprungs und des Ziels. So fragt man auch heute: Wes Geistes Kind ist jemand – und was will er eigentlich? Das ist Ursprung und Ziel. In seiner Antwort zeigt Jesus durchaus Verständnis für dieses Problem, hält es aber für bereits beantwortet. Denn nach Dtn 19,15 gilt der Grundsatz der zwei oder drei Zeugen, auf deren Zeugnis jede Feststellung zu erhärten ist (8,17). Die Antwort Jesu in 8,18: »Ich bin der eine Zeuge, und der Vater, der mich gesandt hat, ist der andere Zeuge für mich.« Und nun entlarven die ungläubigen Hörer Jesu ihren mangelhaften Glauben an Gott. Denn sie fragen: »Wo ist denn dein Vater?« Auch hier meinen sie nicht den Ort, sondern die Existenz. Sie können Jesu Vater nicht sehen, also glauben sie nicht an ihn. Denn wer nichts von Gott versteht, kann auch Jesus nicht akzeptieren. Jesus sagt: Man kann nur beides zusammen begreifen, den Vater und den Sohn. Denn es gibt oft genug Leute, die nur das eine verstehen und akzeptieren wollen. Wer sagt »Gott ja, Jesus nein!«, der hat nichts verstanden von dem, was Jesus sagt; denn das alles weist auf Gott, ist sein Wort. Woher will man denn sonst etwas von Gott wissen außer durch Jesus? Und
Das Evangelium nach Johannes
wer sagt »Gott nein, Jesus ja!«, der vergisst, dass kein Mensch lange auf einem Bein stehen kann. Denn Jesus hat seine Botschaft nicht selbst ausgedacht, sondern legt nur aus, was er beim Vater gehört hat. Ohne das Gegenüber zu Gott macht das alles keinen Sinn, bleibt es ein Humanismus ohne Begründung. Die Rede Jesu vom doppelten Zeugnis meint genau dieses: Es kann nur beides zusammen gelten und überhaupt verständlich sein. In Joh 8 werden daher die Probleme des Deismus und des atheistischen Humanismus anvisiert. Die Wahrheit im Sinne von Joh 8 ist: Es gibt nur das Paket, Vater und Sohn zusammen. Man beachte: Theologie ist in Joh 8 zur Topografie geworden. Alles »Wo? Woher? Wohin?« bezieht sich stets auf die Wirklichkeit Gottes und ihre Relevanz. Der Deismus beantwortet diese Frage mit Hinweis auf die Abseitigkeit (Gott ist ganz weit weg); der atheistische Humanismus antwortet mit der Nicht-Existenz: Gott ist nirgends, Jesus und andere haben ihn sich ausgedacht. Der Evangelist würde auf Letzteres antworten: Von nichts kommt nichts. Jesus ohne Gott begreifen zu wollen bedeutet, ihm bei jeder Frage den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Zu Joh 8,12 (Ich-bin-Wort): vgl. Komm zu Joh 8,58.
Joh 8,21-29: Fragen auf Leben und Tod Durch wenige neue Stichworte führt der Evangelist das Thema weiter. Die neuen Stichworte sind hier »Sünde« (und: in seinen Sünden sterben) und »stammen aus« (griech.: einai ek). Auch in Kap. 7 handelte der Verfasser, indem er das Gewohnte durch einige neue Stichworte fortsetzte (Lehre, offenkundig und Freimut, trinken und Flüsse). Gegenüber 8,12-20 macht das Thema Leben und Tod die Diskussion verwickelter. Denn wenn sich auf Seiten der Hörer nichts bewegt, werden sie »in ihren Sünden sterben«. Hier herrscht dann die Kontinuität des Todes. Wie sehr die ungläubigen Hörer Jesus missverstehen, offenbart ihre Vermutung, Jesus wolle sich selbst töten. Dabei sind sie es doch, die in ihren Sünden sterben werden und sich selbst sozusagen umbringen.
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Kapitel 8
Im Übrigen wird anerkannt, dass sie Jesus suchen werden (8,21). Aber jegliche physische oder geistliche Suche würde nur dann zum Ziel führen, wenn sie (durch die Taufe) ihre eigene Qualität zu verändern bereit wären. Denn nur wenn man durch die Taufe von oben geboren ist, kann man da oben hingelangen, wo Jesus ist, kann man sich also durch Veränderung des »Seins« Jesus annähern. So können sich die Menschen nicht aus der Herrschaft der Sünde selbst befreien. Jeder Unglaube bedeutet, auf dem Weg des Todes zu bleiben. »Aus (von) dieser Welt« zu sein (8,23) besagt wohl dasselbe, wie wenn nach 1 Kor 1 die Gegner des Kreuzes auf Reichtum, Macht und Ehre setzen (auch Paulus spricht dann gleich in 2,6 von den Herrschern »dieser Welt«). Demnach geht es bei der Bekehrung nicht nur um eine Abkehr von Einzelsünden oder um ein Bereuen von Taten, sondern um eine Änderung der WerteOrdnung, und dies geht den Vergehen des Einzelnen voraus. 8,25 ist so zu übersetzen: »Was ich zu Anfang sagte, sage ich auch jetzt zu euch«, d. h.: »Davon spreche ich doch schon die ganze Zeit.« Diese heikle und gescheiterte Kommunikation kann sich erst ändern, wenn Jesus erhöht ist (8,28). Denn dann werden sie erkennen, dass Jesus nur das lehrte, was ihn der Vater gelehrt hat. –Warum wird das so sein, warum gerade aufgrund der Erhöhung? Weil nur Gott erhöhen kann und weil niemand erhöht wird, der nicht von Gott gesandt ist (3,13).
Joh 8,30-59: Wahrheit – Freiheit – Abraham Der Text erschließt sich, wenn man sich anhand zentraler Begriffe und Personen vorantastet und besonders darauf achtet, welche Gegensatzbegriffe (Oppositionen) entwickelt werden. Diese sind: Wahrheit, Freiheit mit der Opposition Sklaven, dieses mit der Opposition Sohn, dazu assoziiert Vater. Drei mögliche Väter werden erörtert: Abraham, Gott und der Teufel. Zum Teufel wird Morden assoziiert. Zu Gott gehört auf Jesus hören (Opposition: Samariter sein; einen Dämonen haben), Jesus ehren, sein Wort halten. Aus Letzterem folgt: Den Tod nicht sehen. Dazu wird das Stichwort Abraham wieder auf-
363 genommen. Dazu die Fragen: Will Jesus größer und älter als Abraham sein? Lästert er Gott? Die Themen im Einzelnen: Wahrheit ist im JohEv nicht von Aristoteles her zu verstehen. Das Wort meint nicht die Richtigkeit einer Aussage, sondern die Stabilität und Ausstrahlungskraft eines Seins. D. h.: Wahrheit ist nicht erkenntnistheoretisch die adaequatio mentis ad rem, die Übereinstimmung von Begriff/Vorstellung und Sache, sondern die stabile Lebensdauer. Der Gegensatz ist nicht der Irrtum, sondern die Vergänglichkeit und der Tod. – Gewiss gilt auch erkenntnistheoretisch, dass Wahrheit das ist, was bleibt, und auch der johanneische Wahrheitsbegriff hat kognitive Elemente (die Wahrheit kann und muss erkannt werden). Aber Joh 8,32 »die Wahrheit wird euch befreien« heißt eben nicht: Durch Aufklärung über die wirklichen Ursachen, Hintergründe, Umstände und Verhältnisse werdet ihr von Irrtum und Zweifel befreit. Sondern Joh 8,32 besagt: Wer auf Gott baut, hat Anteil an seiner Unvergänglichkeit, also an dem, was immer bleibt, und damit kann er Tod und Vergänglichkeit überwinden. Gott ist deshalb die Wahrheit, weil er der Inbegriff dessen ist, was bleibt. Von hier aus erschließt sich die ganze Bedeutung des »Bleibens« (griech.: menein) im JohEv, und bis hin zu Joh 8,58 (»Ehe Abraham geworden ist, bin ich«) wird Joh 8 von diesem Thema beherrscht. – Ein letzter Hinweis: Wenn Jesus nach Joh 14,6 sagt: »Ich bin die Wahrheit«, dann kann er nicht die »Übereinstimmung von Begriff und Sache« meinen; die Wahrheit ist hier nicht begrifflich, sondern persönlich. Daher kann Jesus auf die Pilatusfrage »Was ist Wahrheit?« mit einer persönlichen Angabe antworten. Pilatus hätte besser fragen sollen: »Wer ist Wahrheit?« Gleiches gilt für den johanneischen Ausdruck »aus der Wahrheit sein«. Schon in den Qumran-Texten gibt es den Ausdruck »die Wahrheit tun.« (1 QS 8,1f); »Gott ist Wahrheit« meldet 1 QH 4,40. Freiheit gilt im JohEv gegenüber der Sünde. Böses gab es auch schon vorher, Sünde dagegen ist für das JohEv sehr aktuell die gesamte Mentalität des Sich-Verweigerns gegenüber der Botschaft, im Ganzen aber ein kompaktes Drama aus Nicht-Hören-Wollen, Blindheit, Verstockung, Morden und eigenem Tod: eine schiefe Ebene, auf der man leicht in den Tod rutschen
Berger (08129) / p. 364 / 19.5.2020
364 kann. Sünde ist, ganz wie bei Paulus, Handlangerin des Todes. Mit dem Thema Freiheit verbunden sind die Stichworte Sklave, Sohn und Bleiben. Im Bild: Der Sohn bleibt im Haus, der Sklave kann jederzeit verkauft werden. Wenn Christen wie Kinder bleiben, heißt das auch: Sie werden nicht von der alles beherrschenden Vergänglichkeit dahingerafft. Bleiben heißt im JohEv aber nicht einfach am Leben bleiben, sondern: Bewahren der Gebote (»Bleiben in …«), Treue (also das stabile Element aus dem Wort »glauben«), Leben im Blick auf eine Konstante und Orientierung an ihr. Bleiben ist genau das Gegenteil von dem, was der Evangelist gerade von christlich gewordenen Juden erlebt: Sie fallen zurück und verbünden sich dadurch mit denen, die den Anstoß zu Jesu Tötung gaben. Ähnlich wird Hebr 6 argumentieren: Christus noch einmal kreuzigen. Was hat das alles mit Abraham zu tun? Alle einschlägigen Aspekte des jüdischen Abrahambildes kann man bei Philo (De Abrahamo; und ders.: De Migratione Abrahami) nachlesen. Abraham ist König und daher frei, und so sind es auch alle seine Kinder. In diesem Sinne ist Joh 8,33 zu verstehen. Gleichzeitig ist den Griechen seit Jahrhunderten der metaphorisch moralische Gebrauch von Versklavung gut vertraut (V. 34). 8,38 folgert aus dem christologischen Grundsatz das Gegenteil für die Gegner Jesu. Auch sie haben bei ihrem Vater gelernt, was sie nun ausführen. Das Wort »Vater« meint Jesus metaphorisch; seine jüdischen Hörer verstehen das nicht, sondern meinen ihren leiblichen (Ur-)Vater. Letztlich sei Gott ihr Vater. Jesus bescheinigt ihnen, der Vater des Teufels sei ihr Vater. Was ist der Sinn dieser Diskussion um Vaterschaft in 8,37-44? Ganz ähnlich wie in Mk 3, so ist auch hier der letzte Ursprung eines Tuns entscheidend (in Mk 3: Gott oder Beelzebul; in Joh 8: Gott oder der Vater des Teufels). Auch in 8,48 zeigt sich dieses Interesse (hat Jesus einen Dämon?). Die Vaterschaft klärt das undurchschaubare, alltägliche Grau zugunsten eines klaren Schwarz-Weiß. Diese Einordnung klärt die Konsequenzen für Täter und Opfer, sie beschreibt den Zwiespalt zwischen Jesus und seinen Gegnern mit letzter Konsequenz. Dass es da keinen Frieden geben kann, wird erkennbar, und der Mord an Jesus ist die Folge.
Das Evangelium nach Johannes
Joh 8,37-47: Diskussion um die wahre Vaterschaft Eine große Schwierigkeit für die Ausleger ist der Ausdruck »Vater des Teufels« (»sein Vater«) in 8,44. Es hat wohl keinen Zweck, den Ausdruck wegzuinterpretieren. Einer dieser Versuche findet sich schon bei M. Luther, der übersetzt: »Er ist ein Lügner und ihr Vater« (sc. Vater der Lüge). Dagegen: Im Kontext geht es nicht um Vaterschaft von Tugenden oder Lastern, sondern um Väter von Menschen(gruppen). Zur Klärung ist an einige – unstrittige – johanneische Grundsätze zu erinnern: 1. Alle Phänomene sind von ihrem Ursprung her zu erklären (»Sein aus …«), also nicht, wie heute eher üblich, von ihrem Innenleben her (»Werke als Zeichen [sc. für Identität]«). – 2. Das Verhältnis zu diesem Ursprung wird in familiären Metaphern umschrieben (Vaterschaft, Kindschaft, Sohn). – 3. Die Herleitung aus einem Ursprung ist stets dualistisch gedacht. Dabei ist der Dualismus hier Erbe von Johannes dem Täufer und Merkmal einer missionarischen Minderheit. – 4. Die Werke, die jemand tut, gelten als Beweis für die Eigenart des jeweiligen Vaters, sie sind Nachahmung von dessen Tun. Der Sohn sieht oder hört, was der Vater tut oder sagt, und kopiert es. – 5. Der Dualismus ordnet sich um Leben und Tod, d. h.: Extremes Erkennungsmerkmal ist der Mord an Unschuldigen oder Leben geben durch Bereitstellung der Nahrung (Wasser, Brot, Atem) oder durch Auferweckung. – 6. Der jeweilige Ursprung bedeutet für den, der von dort kommt, auch die Möglichkeit zu verstehen. Zureichend verstehen kann einer jeweils nur die eigene Seite. Die Rede vom Vater des Teufels in Joh 8,44 könnte auch helfen, offene Fragen der Christologie zu erklären. Es könnte sein, dass es – dualistisch, wie das JohEv gebaut ist – auf der Gegenseite eine spiegelbildliche Anti-Hierarchie gibt, die nach ähnlichen Regeln »funktioniert« wie die göttliche Seite. Zur Verdeutlichung des Lösungsvorschlags nehmen wir auch die Genealogie/Hierarchie der Gegenseite aus Offb 12f und aus der Daniel-Diegese (ed. in K. Berger, Studia Postbiblica 27, 1976) zu Hilfe. Nach Joh 8,44 besteht doppelte Vaterschaft: Die Mörder Jesu sind Kinder ihres Vaters, des
Berger (08129) / p. 365 / 19.5.2020
Kapitel 8
Teufels, der Menschenmörder von Anbeginn ist. Und der Teufel selbst hat einen Vater. Das Schema ist daher dreigliedrig. Das komplette mythologische Schema umfasst drei Stadien: Ursprung bzw. Vater – Sohn bzw. Inkarnation, Repräsentant – viele Menschen, die verführt werden. Von der üblichen Teufelsvorstellung abweichend, ist jeweils das zweite Glied, eben der Repräsentant (Sohn) des Bösen in der Welt. Es irritiert nicht wenig, dass das »komplette mythologische Schema« zur Erklärung von Joh 8,44 erst in den Acta Thomae und den Acta Philippi, also mindestens 150 Jahre später, belegt zu sein scheint (s. u.). Historisch ist die entscheidende Frage, ob dieses Schema – insbesondere auf der positiven Seite, d. h. in der christologischen spiegelbildlichen Entsprechung – zumindest ansatzweise im Neuen Testament belegt ist. Interessant ist dabei, dass das Schema schon in Joh 1,14, dann aber (relativ spät) in der Daniel-Diegese (dieser Teil der Daniel-Diegese ist frühestens in das 4. Jh. zu datieren) zu inkarnatorischen Vorstellungen geführt hat. Mir scheint es nicht möglich zu sein, die späteren Aussagen mit dem JohEv in Verbindung zu bringen. Eine Verbindung mit dem Mord an Jesus ist nirgends zu erkennen. Maßgeblich für das ganze Schema ist die spiegelbildliche Entsprechung der beiden Hierarchien. Um darauf zu kommen, brauchte man nicht erst das JohEv. Niemand würde ja auch darauf verfallen, 2 Kor 4,4 sei wegen der Nähe zu Acta Thomae 32 (s. u.) erst im 3.-4. Jh. entstanden. Umstritten war immer, wer der »Menschenmörder von Anbeginn« in Joh 8,44 ist. Der einzige Mord, der für den Anfang berichtet wird, ist der von Kain. Ist er der »inkarnierte« Teufel? In Acta Philippi 119 ist die Paradiesschlange der inkarnierte Teufel (»Menschenmörderin«). Das entspricht der Schlange nach Acta Thomae 32 (Ich bin der Sohn eines Schädigers). In 1 Joh 3 wird Kain ausdrücklich genannt. Er spielt hier eine besondere Rolle, denn er vollzieht das Werk des Teufels genauso treu, wie Jesus das Werk des Vaters auf der Gegenseite vollzieht. Belege: Acta Thomae 32: Der auf dem Thron sitzt und über das Geschaffene, das unter dem Himmel ist, Macht hat, … der die Weltkugel umgürtet, des-
365 sen Schwanz in seinem Munde ist …, der Kain entzündet hat – sein Sohn: Drache, Schlange, der Apostel Thomas kämpft gegen ihn – inspiriert: Kain, Judas.– Bei der Schilderung des Vaters ist wichtig die Verwandtschaft mit 2 Kor 4,4; der Teufel als oberster Machtträger in der Welt auch in Mt 4,8. Acta Thomae 76: Vater des Dämons, hat den Dämon gesandt. – Dämon: vollbringt Taten seines Vaters an den Gefäßen, die der Vater ausgesucht hat – Freude an Morden und Ehebrüchen – führt Menschen zu ewiger Verdammnis. Acta Philippi 110: Vater: der Böse, der Tod – Mutter: die Verwesung und das Verderben des Leibes – Sohn: die Schlange, verwirrt – Menschen mit Unglauben: Irrtum. – Bei der Darstellung des Vaters ist wichtig die Kategorie der Sendung (aus dem JohEv); sie fehlt in Joh 8, ist aber christologisch gegeben. Joh 8,44: Vater des Teufels – Teufel oder Kain – böser Geist in den Mördern Jesu, Kindern des Teufels. Joh 1: Gott Vater – Logos, erscheint als Mensch im Sohn (1,14) – die Glaubenden sind Kinder durch den Geist Gottes. 1 Joh 3,10-12: Der/das Böse – Sichtbarwerden des Bösen in Kain – (Gegenteil: Kinder Gottes [»aus Gott geboren« nach 3,9]) – versus Kinder des Teufels. Offb 12f: Schlange, Teufel – 1. Tier (Nero) – 2. Tier (Statthalter) und alle Anbeter des Kaisers. Daniel-Dieg XI (Mythos von der Geburt des Antichrist): Teufel (14,14; »Abgrund« nach 11,1) – Antichrist (Mensch per Schwangerschaft einer Jungfrau) – Inspirierte (Wahnsinn) Jünger des Teufels.
Entscheidend ist jeweils die zweite Stufe: Gott (auf der positiven Seite) oder der Erzböse (in der negativen Hierarchie) erscheint, wird fassbar in einem Mittler. Dieser ist entweder ein zweiter Geist (wie im JohEv der Teufel) oder eine Inkarnation des Erzprinzips. – In der jeweils dritten Stufe breiten sich dann der böse Geist/die Dämonen auf viele Menschen aus. Auch in der Daniel-Diegese ist die Inspiration noch konstitutiv. Die dritte Stufe ist daher nicht das Problem, hier ist der Begriff des Kindes durchgehend. Der Repräsentant auf der zweiten Stufe ist eine Art älterer Bruder, direkter Repräsentant des Ur-
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366 sprungs, Vermittler gegenüber den vielen Kindern. Fazit: Der Teufel hat einen Vater, so wie Jesus einen Vater hat. In dieser spiegelbildlichen Entsprechung ist der Teufel der Kontrahent Jesu. Das Prinzip Inspiration ist für das ganze Schema konstitutiv, besonders für die 3. Stufe.
Joh 8,51-59: Bevor Abraham entstand … Mit den bereits aus diesem Kapitel geläufigen Mitteln des unmetaphorischen Missverstehens und der Autorität Abrahams greifen die Gegner das Versprechen Jesu an, ewiges Leben zu bringen und die Vorfreude der Väter zu erfüllen. Der Gipfel ist in 8,58 erreicht: »Bevor Abraham entstand, existiere ich schon.« Dabei geht es nicht um die Aufhebung der Zeit in einem philosophischen Begriff von Ewigkeit, der nur platonischen Ursprungs sein könnte (gleichzeitiges Erschaffen von Materie und Zeit). Das JohEv interessiert sich nicht für die Aufhebung der Zeit wegen Wegfall der Materie, sondern dafür, dass Jesus Christus noch derselbe ist, dass er ewiges Leben hat und ausstrahlt. Denn in ihm wirkt das lebendige Schöpfungswort Gottes. 8,58 ist eine deutliche Aussage darüber, dass Jesus konzentriertes, höchst vitales göttliches Leben besitzt. Insofern ist der Satz die Begründung von 8,35b und die klarste Darstellung von Freiheit. Denn ewiges Leben gilt vor und nach der Zone des sterblichen Lebens auf Erden. Was die Theologen Präexistenz nennen, ist daher die genaue Entsprechung zur »Post-Existenz«, und für die erwählten Glaubenden hat das z. B. Eph 1,4 erfasst. Regelmäßig findet man bei der Auslegung etwa von Joh 18,8 die Auskunft, jedes »… dass ich es bin« im Munde Jesu sei eine Theophanie-Formel. Aus meiner Sicht hatte schon R. Bultmann Recht mit der Feststellung, es gehe um Rekognitionsformeln, d. h. um das Wiedererkennen Jesu. Wenn Jesus auf dem Meer den Jüngern sagt »Ich bin es (doch)« (Joh 6,20), so hilft nicht nur die Alltags-Analogie, dass man jemanden an der Stimme erkennt, diese Alltagserfahrung wird im JohEv selbst betont (Joh 10,4; 20,16). Rekognition liegt auch z. B.vor im Agraphon Nr. 52 (Berger/Nord, 62010, Agraphon 52): »Ich bin der,
Das Evangelium nach Johannes
über den Mose prophezeit hat, indem er sagte: Einen Propheten wird der Herr unser Gott für euch aufstellen.« Ganz anders verhält es sich mit den Jesaja-Texten 43,10.13; 41,4; 46,4; 48,12, wo das bloße »ich bin es« in der Tat die Gottheit Gottes bezeugt. Doch an jeder dieser Stellen steht das »ich bin es« in einem zeitlichen Bezug zum Vorher und (oder) Nachher, sodass man übersetzen muss: »Ich bin der Gleiche …«, oder: »auch hinfort bin ich es noch«. Das aber ist bei keinem der Jesus-Worte der Fall, die »… dass ich es bin« enthalten. Unter dem Aspekt der genannten Jesaja-Texte kämen allerdings andere Jesusworte in Betracht: »Ehe Abraham ward, bin ich (schon)« (Joh 8,58), oder Gottes Stimme gemäß Joh 12, 28: »Ich habe verherrlicht und werde verherrlichen«, oder Jesus nach Offb 1,17: »Ich bin der Erste und der Letzte und der Lebendige«). Die letztgenannte Stelle entspricht in ganz besonderer Weise Joh 8,58. Schon gar nicht unter »Theophanieformel« zu subsumieren sind die metaphorischen Ich-binPrädikationen wie »Ich bin das Licht der Welt« (Joh 8,12) etc. Hier geht es sachlich um eine schlichte Selbstvorstellung und überhaupt nicht um die »tautologisch« oder wie auch immer zu benennende Formel von Ex 3,16: »Ich bin, der ich bin« (griech.: ego eimi ho ego eimi). Diese Theophanieformel wird vielmehr an keiner einzigen Stelle des Neuen Testaments oder anderer frühchristlicher Schriften zitiert. Die metaphorischen Ich-bin Prädikationen sind vielmehr Selbstvorstellungen, wie wir sie auch aus dem Mund von Engeln kennen (vgl. Lk 1,19 »Ich bin Gabriel …«), oder aus der Umwelt des Neuen Testaments von vielen Göttern (z. B. Isis). Literatur: H. Thyen, Ich bin das Licht der Welt. Das Ich- und Ich-Bin-Sagen Jesu im Johannesevangelium, in: JAC 35 (1992) 19-46. Die Stileigentümlichkeit, dass auf die johanneischen Ichbin-Sätze oft »soteriologische« Nachsätze folgen (wie »Wer mir nachfolgt …«), wird 38, Anm. 100, m. E. regelrecht ausgeschlachtet, um den einmaligen Charakter der johanneischen Theophanie-Bezeugungen zu »retten«. Es handelt sich um eine stilistische Eigenart. Sie hat ihre Analogien und ihre Vorgeschichte in den Verbindungen von Ich-Aussage und Mahnrede; vgl. K. Berger, Formen und Gattungen, § 69.
Berger (08129) / p. 367 / 19.5.2020
Kapitel 9
Joh 9,1-41: Der Blindgeborene Joh 9 steht in der Spannung zwischen zwei Jesaja-Texten: Einerseits erfüllt Jesus die Prophetien, nach denen der Bote Gottes die Blinden sehend macht (Jes 35,5) – andererseits tritt er auf, um diejenigen, die meinen, schon gut genug zu sehen, mit Blindheit zu strafen, damit sie immer weiter umherirren (Jes 6,9f). Wunder und Verstockung werden in eins gesehen wie zwei entgegengesetzte Aktionen, freilich auf verschiedenen Ebenen der einen Wirklichkeit. Was für die einen das rettende Wunder ist, genau das wird für die anderen der Anlass der Verstockung. Das Wunder, die Heilung eines Blinden, akzeptieren die Juden; aber die geistige Erleuchtung, nämlich Jesus als das Licht anzuerkennen und zu bekennen, diese religiöse Erleuchtung weisen sie ab. Die theologische Auslegung von Joh 9 sieht die Heilung dessen, der von Geburt an (!) blind war, als Erweis der Schöpfermacht Jesu an; denn der Blinde musste ja nicht von einer Krankheit geheilt, sondern sozusagen neu geschaffen werden. Joh 9 besagt: Jesus hat die Blinden sehend gemacht und Sehende, vermeintlich klar Sehende, blind gemacht. Er hat den physischen Mangel beseitigt, aber die hochmütige Saturiertheit seiner Gegner bestraft. Die körperliche Heilung war gewissermaßen leicht, denn die physische Bedürftigkeit macht auch geistlich offen. Danach wendet sich Jesus nicht gegen Reiche und Gesunde, sondern gegen die mangelnde Aufnahmefähigkeit derer, die meinen, schon alles zu wissen. Wer auf diese Weise blind ist, dem kann der Herr nicht helfen. Er verstockt ihn, führt ihn erst recht hinein in seine Finsternis. Wer Jesus nicht wahrnehmen kann, der fällt schon im Auftreten Jesu dem Gericht zum Opfer. Der Adressat der Erzählung in Joh 9 ist daher am Ende nicht der Blindgeborene, sondern Adressaten sind die religiös Eingebildeten. – Jesus erklärt: Die physische Blindheit hat mit Sünde nichts zu tun. Physische Defekte sind nur in Ausnahmefällen Folge der Sünde, hier jedoch gar nicht. Geistige Blindheit, nämlich Jesus nicht sehen und haben zu wollen, das ist die größte Sünde; alles Versagen der Vergangenheit zählt nicht, wenn Menschen das ausschlagen, was ihre Zukunft bedeuten könnte. So lässt sich Joh 9 in diesem Satz zusammenfassen:
367 Besser physisch blind und ohne Sünde, als sehen und nicht an Jesus glauben. In 9,39 fasst Jesus seine Mission schonungslos zusammen: Zum Gericht bin ich in die Welt gekommen, damit die Blinden sehen können und die (vermeintlich) Sehenden immer noch blinder werden. Derartige Verstockungsaussagen im Anschluss an Jesaja 6,9 kennen die Evangelien auch sonst (Mk 4,12; 8,18). Ist dieser Schluss inhuman und daher Jesus abzusprechen? Doch derartige harte Züge haben immer extremen Appellcharakter. Kein begütigender Kommentar folgt an dieser Stelle, wie den Verblendeten vielleicht doch noch geholfen werden kann. Auch an anderen Stellen der Evangelien werden Pharisäer »blinde Blindenführer« (Mt 15,14) genannt – besonders peinlich, da sie die religiöse (Laien-)Elite sein wollen. Das Wunder der Blindenheilung ist verbunden mit dem Vorwurf geistig-religiöser Blindheit. In welchem Verhältnis stehen also hier Blindheit und metaphorische Blindheit? Exegetisch betrifft das Wunderberichte und Symbolik. Nicht gerade selten haben Wunder in den Evangelien auch eine symbolische Bedeutung. Zum Beispiel steht in Mk 8 die Heilung des Blinden (V. 22-26) zwischen dem Tadel Jesu gegen die Jünger, sie seien verstockt, sie hätten Augen und sähen nicht (V. 18), und dem Petrusbekenntnis in Mk 8,29. Das heißt, auf der symbolischen Ebene gesprochen: Jesus heilt die Blindheit der Jünger, sodass Petrus dann das zutreffende Bekenntnis formulieren kann. Die in Mk 8,22-26 berichtete Wunderheilung bereitet daher das Bekenntnis vor; und entsprechend kann Jesus ion Mt 16,17 formulieren: »Nicht Fleisch und Blut haben dir das geoffenbart …, sondern …«, d. h. diese Erkenntnis wurde geschenkt, indem den Jüngern die Augen geöffnet wurden. – Ähnlich geht der Brotrede in Joh 6 (»Ich bin das Brot des Lebens …«) eine wunderbare Speisung mit Brot, ein Mengenwunder, voraus. Und die Auferweckung des Lazarus in Joh 11 ist der Anlass zu der viel weiter als dieses Wunder reichenden Aussage Jesu: »Ich bin die Auferstehung und das Leben« (11,25).
Diese Beobachtungen haben immer wieder die Ausleger dazu verführt, die Wunderberichte für lediglich symbolisch zu halten. Dabei wird dem Neuen Testament ein rein rationalistisches Symbolverständnis untergeschoben, das sich auch in
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368 Anschauungen über das Abendmahl findet, wo dann Symbole leere Zeichen mit lediglich didaktischem Wert sind. Wahr im Sinne der Bibel ist hingegen etwas ganz anderes: Die Wunder, die Jesus gewirkt hat, sind nicht »nur« symbolisch, sondern sie sind wie die Spitze eines Eisbergs und weisen als leibliche Äußerungen auf eine größere Ganzheit. In der leiblichen Heilung oder Speisung wird etwas sichtbar von dem, was viel umfassender ist und weit in den Bereich des Unsichtbaren hineinreicht. Die Leiblichkeit des Wunders ist ein unabdingbarer Vorposten. Und jedes Zeichen hat Anteil an der Wirklichkeit, die es abbildet. Diese Wirklichkeit aber ist unteilbar: Wer bei der Begegnung mit Gott leiblich geheilt wird, ist in Wahrheit umfassend geheilt, auch leiblich. Das Wichtigere ist unsichtbar, aber ganz organisch verbunden mit dem Sichtbaren, so wie die Spitze des Eisbergs mit dem an der Oberfläche unsichtbaren größeren Rest. Die Wunder sind nicht literarische Fiktionen, sondern realsymbolisch, d. h. real und auf das größere Ganze weisend. So sind auch die Sakramente nicht leere Zeichen, sondern Waschung und Sättigung sind Teile der erneuerten, umfassenden Gesundheit des Menschen. Exemplarisch sei ein in Braunschweig entstandener Text des 13. Jh. zitiert: »Gott, der jeden Menschen erleuchtet, der in die Welt kommt (Joh 1,9), möge die ererbte Blindheit in euch mit seiner rechten Hand abwaschen und eure inneren Augen öffnen, damit ihr, wenn die Finsternisse der Sünden vertrieben sind, umso deutlicher die Sonne der Gerechtigkeit strahlen seht. Und der im Blindgeborenen sein Bild wiederherstellen wollte (d. h. die Augen gelten besonders als Bild Gottes!), möge das wiederherstellen, was durch euch in euch gegen die Ähnlichkeit mit ihm verfälscht wurde, und er möge es neu formen nach dem Maßstab seiner Herrlichkeit. Denn ihr seid aus Finsternissen berufen in das wunderbare Licht des ewigen Glanzes. So sollt ihr die Verletzungen meiden, die ihr euch selbst zufügt durch Ungerechtigkeit« (eigene Übers.).
Die Sozialgeschichte der Blindheit in der antiken Welt ist schlechthin verheerend. Wer blind ist, der ist für sein Leben gestraft. Nicht genug mit totaler Erwerbsunfähigkeit und Isolation – entsprechend ihren schlimmen Folgen wurde Blindheit zumeist als Strafe für moralische Delikte
Das Evangelium nach Johannes
beim Blinden oder seinen Eltern angesehen. Jesus kann zumindest mit diesem Vorurteil aufräumen (9,3). In Joh 9 tritt der Aspekt der Neuschöpfung hervor. Denn der Betroffene ist ja seit seiner Geburt blind, und so müssen seine Augen noch einmal geschaffen werden. Daher formt Jesus Lehm, wie Gott bei der Erschaffung Adams (Gen 2,7), um ihn dem Blinden auf die Augen zu streichen (Joh 9,13: »Er hat mir feuchte Erde auf die Augen gestrichen«). Auch andere Wunderberichte des JohEv zeigen immer wieder den Einfluss der Schöpfungsberichte. Auch bei der Auferweckung des Lazarus wird Jesus zeigen, dass der Schöpfungslogos mit seiner Vollmacht in ihm wohnt. Darauf beruht ebenfalls die Sündenvergebung, die Jesus vermittelt; auch hier wiederholt sich ein Einzelzug aus der Schöpfungsgeschichte, d. h. das Anhauchen nach Gen 2,7b: Nach Joh 20 bläst Jesus die Jünger an und überträgt ihnen die Vollmacht zur Sündenvergebung. Schon das Alte Testament kennt die metaphorische Blindheit. Sie liegt, wie Jes 6,9f sagt, vor, wenn man sieht und doch nicht sieht. Das Sehen dient dann nicht zur Wahrnehmung der Wahrheit, sondern nur des oberflächlich Vorhandenen. Weil es in der Bibel immer um die Wahrheit geht, die Bestand hat, ist dieser Vorwurf der Blindheit nicht auf falsche Theorien bezogen, sondern stets verbunden mit der Kritik an falschem Handeln. Falsches Handeln entsteht, wenn Menschen sich auf Falsches gründen, wenn sie die Garantie für ihren Erfolg und ihr Glück in einer trügerischen Realität suchen. Aber was ist das für ein Sehen, von dem Jesus nach Johannes spricht, das zum Glauben führen kann? Und wie unterscheidet es sich von dem Sehen, das doch nicht sieht? Es gibt eine Vernunft mit Scheuklappen, und es gibt eine Vernunft, die so weit ist, dass sie die eigenen Grenzen sieht und offen ist für den Glauben, wenn »der Vernunft ihre ganze Weite eröffnet« wird. Eine Vernunft ist »weit«, die nicht aus ideologischen Gründen Frageverbote aufstellt, die z. B. nicht davon ausgeht, die Regelmäßigkeiten im Naturgeschehen hätten stets gesetzlichen Charakter. Auf das JohEv angewandt: Ein Sehen ist weit und wirklich offen, das nicht Wunder ausschließt, das nicht prinzipiell Verheißungen ablehnt, weil sie »falsch« sein könnten.
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Kapitel 9
Die Pharisäer nach Joh 9 sind blind, weil sie über Jesus urteilen, trotz des von ihm gewirkten Wunders wisse man nicht, »woher er komme« (Joh 9,29). Im JohEv haben die Wunder eine wichtige Funktion im Zusammenhang von Sehen und Glauben. Die Zeitgenossen und Augenzeugen Jesu können leicht den Weg vom Sehen zum Glauben gehen. Für alle Späteren ist es schwerer, zum Glauben zu kommen. Deshalb ist das JohEv aufgeschrieben, damit die Späteren sich wenigstens auf das schriftliche »Protokoll« der Augenzeugen stützen können. Daher ist Joh 20,29 kein kritischer Satz gegen den Wunderglauben, der das Glauben ohne Wunder bevorzugt, sondern so zu übersetzen: »Du hast jetzt geglaubt, weil du mich gesehen hast. Selig, wer in Zukunft [auf dein Zeugnis hin] glauben wird, ohne mich gesehen zu haben.« So ist auch Joh 4,48-53 zu verstehen: »Nur wenn ihr Zeichen und Wunder seht, glaubt ihr‹, sagte Jesus zu ihm … Jesus erwiderte: ›Geh nach Hause, dein Sohn lebt.‹ Der Mann glaubte, was Jesus ihm sagte, und machte sich auf. … (53) Da erinnerte sich der Vater, dass Jesus ihm genau um diese Zeit gesagt hatte: ›Dein Sohn lebt.‹ Und er und seine ganze Familie kamen zum Glauben.« – Die Zeichen sind nicht zu tadeln, sondern notwendige und hinreichende Beglaubigungs-Zeichen für Jesus, deren Existenz den Unglauben unentschuldbar macht. Damit teilt das JohEv einen wichtigen Zug mit den synoptischen Evangelien: Das erste Kommen Jesu hat weitgehend (nur) eine Zeichenfunktion gegenüber dem, was kommt. Dem gelten seine Wunder wie aber auch andere Handlungen (Vertreibung der Händler im Tempel, Fußwaschung, Botenaussendung, Einzug in Jerusalem). Die Zeichen sind nur ein Teil des Ganzen, aber immerhin ein Teil. Sie wollen werben und auf einen Weg weisen, den zu gehen einem niemand abnehmen kann. Was ist Sünde? Auf knappem Raum enthält Joh 9 eine komprimierte und nuancierte Sünden-Dogmatik. Der Leser muss sich dabei frei machen von der im Abendland seit einem Jahrtausend üblichen Vorstellung der Tat- und Einzelsünde (womöglich orientiert an der Abfolge der Dekaloggebote!). Ganz ähnlich wie in Gal 2,15f ist Sünde nach Joh 9 eine grundsätzliche Verkehrtheit. In Gal 2
369 spricht Paulus von den »Sündern aus den Heiden«, und dem stellt er den Glauben an Jesus Christus gegenüber. Ganz ähnlich ist es in Joh 9: Das Erzübel namens Sünde konzentriert sich auf den Unglauben gegenüber Jesus. Das ist kein platonisches Verständnis von Blindheit, als würde dem physischen Blindsein ein geistiges gegenübergestellt. Denn erstens hängt physische Blindheit nicht mit Sünde zusammen, die Blindheit der Pharisäer aber wohl. Und zweitens liegt kein anthropologischer Schnitt zwischen Geist und Leib vor, sondern eben ein theologischer, der zugleich ein »historischer« ist (um das Wort Heilsgeschichte nicht zu gebrauchen). Denn so akut ist die Frage der Blindheit/Sünde erst seit Jesu Auftreten. Joh geht aus von der Frage: Wer ist Sünder? Sind es die Eltern des Blinden? Antwort: Nein, denn physische Defekte haben ihren Sinn nicht in den Ursachen, sondern im Ziel. Sie sollen, wenn sie geheilt werden, die Herrlichkeit Jesu und Gottes erweisen. Hat der Blinde selbst gesündigt? Nein, denn er wurde blind geboren. Ist Jesus der Sünder, weil er am Sabbat geheilt hat? Nein, er hat nur ein Schöpfungswerk getan. Sind die Pharisäer die Sünder? Ja, denn sie meinen zu sehen und sehen doch nicht. Hier ist das Sehen christologisch-metaphorisch aufgefasst. Die Krone der Argumentation ist die Verstockungsaussage: Jesus macht die physisch Blinden sehend; die religiös zu sehen meinen, macht er blind, indem er sie sich verhärten lässt in ihrem Unglauben. Oder es heißt: »Ihre Sünde bleibt«, d. h., sie wird nicht weggenommen, sie war schon immer da. Das erinnert nicht zufällig an die Kennzeichnung derselben Gruppe als »blinde Blindenführer« (Mt 15,14). Wer ist Jesus? Ganz ähnlich wie Joh 4 liefert auch Joh 9 eine sich inhaltlich steigernde Abfolge christologischer Titel – 9,17: Prophet; 9,22: Christus; 9,3537: Menschensohn (Geheimnis); 9,38: »Herr«, plus Proskynese, plus Aussage über den kommenden Richter. In Joh 4 waren es: »mehr als Jakob«, »Prophet«, »Christus«, »Erlöser der Welt«. Der Leser findet seinen eigenen Glaubensweg darin wieder. Nach dem Konzept des Evangelisten verläuft dieser erkennbar als »Steigerung« (in der Rhetorik gradatio genannt).
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370
Joh 10,1-18: Der Gute Hirt – Bild, Unverständnis, Erklärung Formgeschichtlich ist zu bemerken, dass in 10,6 eine Notiz über das Nicht-Verstehen bildhafter Rede (V. 1-5) vorliegt, die nach den Regeln der Gattung dann eine Erklärung des Bildes zur Folge haben muss (V. 7-18). Zur Form der Rätselrede plus Erklärung vgl. K. Berger, Formen und Gattungen, 2005, 118 f. Diese Form bestätigt, dass es sich um einen einheitlichen Text handelt, nicht um ein buntes Gemisch. Folgen wir dem Text mit dieser impliziten Behauptung, dann fällt als Erstes auf, dass in der bildhaften Rede Jesus nirgends »ich« oder gar »ich bin« (plus Metapher) sagt, dass man aber andererseits die Erklärung in V. 7-18 nach den Ich-bin-Worten gut gliedern kann (V. 7.9.11.14): zweimal »Ich bin die Tür«, zweimal »Ich bin der gute Hirte«. Aus meiner Sicht ist es, wie bereits ausgeführt, eine unnötige Hypothese, hinter jeder »Ich bin«-Aussage Jesu im JohEv die Formel der Selbstoffenbarung Gottes nach Ex 3,14 (»Ich bin, der ich bin«) zu sehen, denn diese Formel wird nirgends im JohEv zitiert. Ich habe keinen Zweifel, dass im JohEv im Ganzen der Anspruch Jesu besteht, in ihm begegne direkt Gott. Darüber kann der Streit nicht gehen. Aber in dem bloßen »Ich bin« kann ich deshalb keine Selbstoffenbarung Gottes sehen, weil sich jeder Unbekannte oder zu wenig Bekannte auch in der Antike mit »Ich bin …« vorstellt. Wenn der Engel sagt »Ich bin Gabriel …« (Lk 1,19), dann ist das eben nicht Gott, sondern nur sein Bote. Und ob die Ich-bin-Worte einen göttlichen Anspruch anmelden, hängt vom näheren Inhalt ab und nicht von der Form »Ich bin …«. Wenn Jesus sagt »Ehe Abraham ward, bin ich« (Joh 8,58), dann weist der Kontrast zwischen »wurde« und »sein« auf Gott. Aber dann liegt es am Inhalt der kontrastierenden Verben und nicht am »Ich bin …« Joh 10 hat mehrere Funktionen: Hinführung zum Gedanken der Lebenshingabe Jesu Im Rahmen der didaktischen Einführung des Lesers in die Geheimnisse des Glaubens steht Joh 10 vor dem Thema »Auferweckung« in Kap. 11 und führt den Leser in das Geheimnis des Todes Jesu ein. Da der Tod des Messias für das frühe Chris-
Das Evangelium nach Johannes
tentum ein stetes Ärgernis ist, geschieht diese Hinführung vorsichtig und sorgsam, Schritt für Schritt. 1. 10,1-6 nennt die Voraussetzung, die enge Verbindung Jesu mit den Jüngern (er ruft den Namen, sie kennen seine Stimme (vgl. DanielApk [syr] 1,11-14: »Er wird rufen die Erstgeborenen seiner Herde, und seine Stimme werden sie nicht erkennen … er wird ihnen verkündigen, und auf seine Stimme werden sie nicht hören. Die aber, die seine Stimme erkennen werden, werden mit ihm sein, und von ihm werden sie sich nicht trennen«). 2. 10,7-9 bereitet die Heilsaussagen der Verse 10.11.15 vor: Wer die Tür namens Jesus benutzt, wird »gerettet« (vgl. NHC VI »Die ursprüngliche Lehre«: »(Die Seele) eilt in ihren Hof, während ihr Hirte an der Türe steht …«; Acta Johannis 109: »Wir preisen einen Eingang zur Tür«, d. h. dich als Tür, durch die wir hineingehen können. 3. Laut Joh 10,10 verheißt Jesus gar Leben in Fülle. Noch ist nicht davon die Rede, dass das nur möglich ist, indem Jesus sein eigenes Leben gibt. 4. Erst in 10,11-13 ist vom Einsetzen des Lebens die Rede. Diese Bereitschaft Jesu wird begründet in einem intensiven Verhältnis des Kennens (wie es zwischen dem himmlischen Vater und Jesus ist). Zunächst spricht Jesus in der dritten Person, und da geht es nur um die Bereitschaft: »Alle griechisch-hellenistischen Parallelen, die das Verbum tithemi verwenden, drücken nicht die tatsächlich vollzogene Hingabe des Lebens aus, sondern meinen nur das in Kauf zu nehmende Risiko, … sein Leben aufs Spiel zu setzen … Auf der gleichen Linie bewegt sich das alttestamentliche ›sein Leben in die Hand eines anderen legen‹ …« (C. Maurer, ThWNT VIII, 155). – Vgl. ähnlich für die Bereitschaft, nicht für das tatsächliche Martyrium: Apg 15,26; 1 Petr 4,19; 1 Joh 3,16ab; SedrachApk 1,5 (sein Leben riskieren für die Freunde). 5. Schon in 10,10b wechselte Jesus vorübergehend zum »Ich«, aber noch ist nicht von der Bereitschaft (!) zur Lebenshingabe die Rede, davon spricht erst 10,15b. 6. Nach 10,16 zielt Jesu Tun auf die Einheit der Herde. Durch Jesu Einsetzen seines Lebens wird er der einheitsstiftende Punkt. Da ich die johanneische Tradition von der Priori-
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Kapitel 10
tät der Briefe her (2 Joh – 1 Joh – JohEv) her lese, finde ich die Antwort auf die Eigenart der bestehenden Spaltung in den Briefen. Ich frage: Wo sind die Gegner aus 2 Joh später geblieben (auch in 3 Joh gibt es ja sichtbare Spaltung der Gemeinde)? In 1 Joh 2,19 werden sie ausführlich beschrieben; 2 Joh spricht vom Antichrist, 1 Joh von Antichristen (2,18). Gerade die Art der Bescheibung in 1 Joh 2,19 weist auf Joh 10,16. Jesus hat noch andere Schafe, die nicht in Kircheneinheit mit den Lesern des JohEv stehen. Aber die künftige Einheit ist Jesu Herzensanliegen, und es wird ein Hirt und eine Herde sein. Gerade dann also, wenn man die Geschichte der johanneischen Gemeinden von 2 Joh her über 1 Joh und schließlich im JohEv mündend betrachtet, wird Charakter und Eigenart der zur Zeit des JohEv bestehenden Spaltung deutlich.
7. In 10,17f wird Jesu Sterben für die Jünger eingebaut in sein Verhältnis zum Vater: Der Vater liebt Jesus und gibt Jesus daher volle Souveränität im Geben und Wieder-Nehmen des Lebens. Und schließlich sagt 10,18: Jesus gibt zwar freiwillig, aber dieses ist ein Gebot des Vaters. Dass Jesus sich von seinen Konkurrenten oder Gegnern absetzt (den Dieben, Räubern und Mietlingen), soll insgesamt das Vertrauensverhältnis zwischen Jesus und Jüngern hervorheben. Joh 10 spricht von Jesu Bereitschaft, sein Leben aufs Spiel zu setzen. In Joh 10 empfiehlt sich Jesus als definitiver Lehrer seiner Jünger Argumente dafür, dass Jesus der rechte Hirte ist: Vertrautheit mit der Herde, Einsatz des Lebens für die Schafe, keine Flucht angesichts des Wolfs, Kenntnis der Weideplätze. – Auch das Gegenbild zu dieser Vertrautheit wird entworfen: Die Steinigung (V. 31-33.39). In Joh 10,7-15 sowie Mt 7,13-15 und Apg 20,28-31 liegt ein gemeinsames Bildfeld (Wortfeld) mit den Elementen Tür, hineingehen, Hirt, Schafe, Wölfe, Irrlehrer, Achtsamkeit und Leben vor. Dieses Bildfeld steht jeweils im Dienste der Verteidigung der einzigartigen Autorität des Lehrers gegenüber konkurrierenden Instanzen. Da das Wortfeld teilweise auch in Mk 13,22.33-37 und Didache 16 vorliegt, ist als ursprünglicher Sitz dieser Gattung die Abschiedsrede auszumachen: So ist es auch in Apg 20 der Fall.
371 Vgl. die Belege: Pforte/Tür (Mt 7,13; Joh 10,7.9; Mk 13,34b Torwächter, vgl. 13,29b). – »Hineingehen« (Mt 7,13; Joh 10,9; Apg 20,29). – Wölfe (Mt 7,15; Joh 10,12; Apg 20,29; Didache 16,3). – Konkurrenz: Ps.-Propheten (Mt 7,15.22; Didache 16,3), Diebe, Räuber, Mietlinge (Joh 10,1.8. 12.13), Irrlehrer (Apg 20,30). – Schafe/Herde (Mt 7,15; Joh 10,1-16; Apg 20,28 f; Didache 16,3). – Achtsamkeit/Wachsamkeit (Mt 7,15; Apg 20,28.31; Mk 13,23.33-34b.35.37; Didache 16,1). – Untergang/Leben oder Rettung/Leben (Mt 7,14; Joh 10,10; Didache 16,5).
Vor dem Abschied mahnt der scheidende Lehrer, wachsam zu sein und nicht auf die kommenden Irrlehrer und Falschpropheten hereinzufallen. Die Wölfe im Schafspelz sind hier »zu Hause«. Das JohEv weist eine Besonderheit auf: In Joh 10 liegt noch keine Abschiedsrede vor, wohl aber in Joh 21. Hier werden dann ganz entsprechend die Motive von Schaf und Hirte wieder aufgegriffen. In Joh 10 geht es vorrangig um Jesu Tod und die falschen Lehrer, in Joh 21 um den rechten Nachfolger, Petrus. Entsprechend reden beide Kapitel komplementär von »meinen« (sc. Jesu) Schafen (Joh 10,14; 21,16.17). Überkreuzung der Bilder Zwei Bilder überkreuzen sich hier: Jesus als der Hirte und Jesus als die Tür, das Gatter zu den Schafen. Die Tatsache der Überkreuzung selbst ist typisch für das, was das JohEv anstelle der Gleichnisse der Synoptiker bietet, nämlich keine im Zusammenhang logischen »Geschichten«, sondern kommentierte Bilder, z. B. aus der Welt der Schafzucht. Ein Bildfeld wird in einzelnen Punkten für die Botschaft Jesu von sich selbst aufgeschlüsselt. Das ist, literarisch gesehen, ähnlich wie ein Midrasch, Kommentierung vorgegebener Einzeldaten. Dass Jesus als das Gatter zu den Schafen gedeutet wird, widerspricht also nicht seiner Bedeutung als Hirte und ist schon gar nicht Anlass zu literarkritischen Operationen. Beide Aspekte aus der Welt der Schafzucht ergänzen sich, beide haben den Hörern der Botschaft etwas zu sagen. Das Bild des Hirten bezieht sich in 10,1f erkennbar auf den himmlischen Vater (vgl. dazu Ps 23). Fast unmerklich geht das Bild auf Jesus über. Jesus ist wirklich ganz und gar Repräsentant Gottes.
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372 Das Bild des Hirten steht in der Tradition der jüdischen Messiaserwartung, ganz speziell der davidischen (Ez 34,2-31). Denn David war einst Hirte bei Betlehem. Und überall im Orient ist der Hirte Bild für den Herrscher, und zwar für einen idealen Herrscher, der sorgsam und pflegerisch mit seiner Herde umgeht. Auch die drei ersten Evangelien wenden das Bild des Hirten wiederholt auf Jesus an (Gleichnis vom verlorenen Schaf; Israel als Herde ohne Hirte). Dabei hat das Bild des Hirten den Vorteil, nicht direkt politisch gefährlich zu sein. Ganz anders als beim Titel »König« und auch etwas anders als bei »Messias« sind damit keine genau umschreibbaren Ansprüche formuliert; es geht bei diesen Titeln nicht um Ansprüche, sondern um das Dienen. Denn ein Hirte, der etwas taugt, ist ganz für seinen Hirtenberuf da; er ist ganz »sachbezogen«, und für ihn selbst reicht der Beruf kaum zum Überleben; das war auch in neutestamentlicher Zeit nicht anders. Erst in jüngster Zeit hat man neben der an Titeln ausgerichteten Christologie, die sich z. B. an »Sohn Gottes« oder »Herr« orientiert, die in Metaphern formulierten Aussagen über Jesus systematisch wiederentdeckt. Der Vorzug dieser Redeweise, der bis in die Gegenwart reicht, ist eindeutig: Bei den Metaphern (wie Hirte) muss nicht erst komplizierte Übersetzungsarbeit geleistet werden. Selbst in einer wenig dörflichen Welt versteht noch immer jeder, was ein Hirte oder ein Lehrer, ein Weinstock oder eine Wurzel ist. Die Anwendung ist unkompliziert, weil die Hörer sofort auch die Funktion begreifen, das, »was sie davon haben«. Und so wird ja im JohEv Jesus dargestellt als die Gabe des Himmels zum Leben. Das Bild des Gatters weist auf die im ganzen Neuen Testament verbreiteten Worte Jesu vom Hineingehen. Da ist vom Hineingehen in das Reich oder in das ewige Leben die Rede. Immer ist das Hineingehen an Einlass-Bedingungen geknüpft. Denn der Weg zum Himmel ist nicht breit, sondern schmal, und die Pforte ist eng. Anders als in den Evangelien sonst, werden nicht bestimmte Bedingungen des Tuns genannt, wie etwa Verzicht auf Reichtum (oder Gerechtigkeit; werden wie Kinder), sondern ganz im Sinne des JohEv ist Jesus die Türe selbst, nämlich die Gabe Gottes in Person.
Das Evangelium nach Johannes
Joh 10,7.9: »Ich bin die Tür« Das Bild der »Tür« wird im Übrigen auch unabhängig von der Welt der Schafzucht auf Jesus angewandt, wenn Jesus nach verschiedenen Apokryphen sagt »Ich bin die Tür« (Acta Johannis 95: »Ich bin die Tür für dich, wenn du bei mir anklopfst«; Ignatius, Phd 9,1: Er ist die Tür zum Vater; Eusebius h.e. 2,23,12: »Wer ist die Tür, die Jesus meint?«). Auch in Hebr 10,20, wo Jesus der Eingang zum himmlischen Heiligtum ist, wird er so dargestellt. Alle diese eng verwandten Bilder bezeichnen Jesus als den exklusiven Mittler. Im JohEv kommt die Aussage »Ich bin der Weg« (14,6) dem Bild am nächsten. Jesus ist die einzige Tür, und dieses markiert eine biblische »Intoleranz«, die sich nicht gegen andere Menschen richtet, sondern die verläßliche Konsequenz eines strengen und sorgfältigen Arztes ist. Neben das Bild des Hirten tritt daher das Bild des Arztes – auch eine der Metaphern, die Jesus auf sich anwendet (Mk 2,17). Oft wird die Frage diskutiert, wer die von Jesus hier attackierten falschen Hirten und Mietlinge sind. Das vorangehende Stück (9,39-41) legt nahe, darin Pharisäer zu vermuten. Aber sind diese erst nach dem Jahre 70 n. Chr. zu jüdischen Autoritäten im engeren Sinne geworden? Darf man dieses als ein Argument für die Spätdatierung des Evangeliums ansehen? Dann wäre die ganze Polemik hier »sekundär«. – Ich bin auch der Meinung, dass hier Pharisäer im Blick stehen könnten, kann aber die Polemik des JohEv gut neben die im Allgemeinen für »alt« gehaltenen antipharisäischen Weheworte bei Mt und Lk stellen und erkenne in ihnen den leidenschaftlich geführten Streit Jesu selbst gegen die ihm durchaus verwandte Richtung der Pharisäer. Gerade deshalb, weil Jesus mit Pharisäern so viel gemeinsam hat (Reinheit; priesterliche Ideale auch für Laien, Durchdringung des Alltags von Gottes Gebot), ist der Streit mit ihnen umso erbitterter. Das ist kein Zeichen der Spätzeit, sondern ein Merkmal der Jesusbewegung von Anfang an: Jesus isst mit den »Sündern« und unterscheidet sich von den Pharisäern durch eine offensive Reinheit, die rein macht und nicht nur defensiv ist. Pharisäer sind daher die direkten Streit-Partner Jesu. Dass Paulus die frühen Christen verfolgt, hängt sicher damit zusammen, dass dieser Streit bis in die Zeit
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Kapitel 10
nach Ostern hineinragt. Das JohEv ist ein Zeuge des eben noch virulenten Streits mit den Pharisäern. Im Bild des Hirten wird die Zuwendung Jesu zu denen beschrieben, die ihm folgen. Er kennt jeden einzelnen Namen. Bei diesem Hirten ist keiner namenlos. Seine Hirtensorge ist die Basis der Freiheit, das Angebot einer geistlichen Heimat. Doch dieser Hirt ist auch streng. Daher finde ich in der Doppelung der beiden Bildbereiche hier ein austariertes Gleichgewicht zwischen dem Geheimnis der liebevollen Zuwendung (der Hirt) und der Strenge. Joh 10,1-10 lehrt, dass beides zusammengehört: Man kann keine geistliche Heimat anbieten, wenn alles unverbindlich bleibt. Und die Polemik gegen andere Lehrer oder Richtungen nützt nichts, wenn sie nicht ihre Entsprechung hat in dem Geheimnis der liebevollen Hingabe des Hirten.
Dass jemand sich, so wie Jesus das nach 10,18 tun will, sein Leben selbst wieder nimmt, das er in Gottes Hand gelegt hat (Lk 23,46; 1 Petr 2,23b), ist ein völlig singulärer Vorgang und eine unerhörte Redeweise. Daher spricht Jesus hier auch von einer besonderen exusia (Vollmacht), die nur ihm als dem Sohn zukommt. So etwas kann und darf nur Gott. Ebenso ist auch der sonstige Sprachgebrauch von Exusia in den Evangelien ausgerichtet. Stets beschreibt er die maximale Ähnlichkeit mit Gottes eigenster Vollmacht und seinem Recht. Auch sonst ist im JohEv die Passion Jesu Aktion: 13,27b; 10,17 f. – Man beachte: Die auch bei uns übliche Rede von Kreuz und Auferstehung Jesu wird hier ersetzt durch »Leben zur Verfügung stellen« – »Leben wieder in die eigene Verfügung nehmen«.
Joh 10,27-30: Hirt und Herde Joh 10,15: Jesus und der Vater Der Maßstab für das eigene Tun Jesu und seine einzige Norm ist sein Gottesverhältnis. Die Beziehung zum Vater ist sein einziges Buch, nach dem er lernt und lehrt. Man beachte: Ein gelebtes Verhältnis wird so, wie es ist, zur Norm erklärt.
Joh 10,16: Besessen? Die Schafe aus dem anderen Stall sind unter den Voraussetzungen des Lesers des JohEv die samaritanischen Christen nach Kap. 4. Von Heidenmission war bisher nicht die Rede. So wird Jesus auch gleich anschließend als besessen bezeichnet (10,20), denn die Samariter sind nach dem Urteil der Juden alle besessen (Joh 8,48).
Joh 10,18: Leben zur Verfügung stellen Der Ausdruck »Leben (an sich) nehmen« bezieht sich in der Bibel darauf, sich das Leben Dritter anzueignen; dabei wird Leben als Verfügungsmasse verstanden. Auch der deutsche Ausdruck »sich das Leben nehmen« spricht noch davon. Beachtenswert 4 Makk 6,29: »Nimm mein Leben (psychen) als Lösegeld (antipsychon) für sie.« –
Der ganze Psalm 23 mit dem Bild vom Hirten ist ein guter Kommentar zu diesem Abschnitt. Anders gesagt: Dieser Abschnitt atmet den Geist der Psalmenfrömmigkeit Jesu. Denn wenn Jesus wiederholt sagt: »Sie werden niemals verloren gehen«, »Aus meiner Hand kann sie niemand rauben«, »Keiner kann sie aus der Hand meines Vaters rauben«, dann meint das den unzertrennlichen Zusammenhalt zwischen Hirt und Herde. Verloren gehen und geraubt werden beziehen sich letztlich auf den Tod. So sagt es auch Paulus in Röm 8,35-39. Der gemeinsame Nenner von Ps 23, Joh 10,27-30 und Röm 8 ist die Unzertrennlichkeit, die zwischen den Glaubenden und ihrem Hirten besteht. Psalm 23 wie Röm 8 lassen erkennen, dass das Feld der Anwendung vor allem die Rede vom Tod ist. Bei den Bildern der Bibel gibt es immer nur sehr wenige Vergleichspunkte, und das ist hier nicht die (angebliche) Dummheit und Unselbstständigkeit der Schafe (Herdentrieb), sondern das ist in Ps 23 und in Joh 10 die enge Vertrautheit der Schafe mit dem Hirten, die im damaligen Palästina eine Art Lebensgemeinschaft bedeutete. Kann also der Tod von Jesus trennen? Ps 23 redet nun allerdings nicht von der Rettung aus dem Tod überhaupt, sondern von der Bewahrung vor dem Tod in Lebensgefahr. Der alttestamentliche Beter von Ps 23 möchte aus Lebens-
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374 gefahr gerettet werden und erst im hohen Alter, satt an Tagen, sterben müssen. Ganz anders ist die Situation in Röm 8 und Joh 10: Während es sich für den alttestamentlichen Beter von Ps 23 nur um den Aufschub des Todes handeln konnte, freilich unter dem Ideal »lange zu leben auf Erden«, bietet Jesus in seiner Gemeinschaft das ewige Leben an. So sagt es V. 28: »Ich gebe ihnen ewiges Leben, und sie werden niemals verloren gehen.« Das gilt auch für Röm 8. Durch die Auferstehung Jesu ist der Tod prinzipiell entmachtet. Im JohEv gilt das Prinzip der Nicht-Unterbrechung. Ewiges Leben zu haben heißt: zu keinem Zeitpunkt, auch im persönlichen Tod nicht, vom Leben Gottes getrennt zu sein. Paulus reflektiert über diesen Zwischenzustand (zwischen dem Tod des Einzelnen und allgemeiner Auferstehung) ausführlich in 2 Kor 5, aber wegen Joh 4,14 (Quelle, die weiterfließt ins ewige Leben) ist Ähnliches auch für das JohEv vorauszusetzen. Daher ist die Frage, was mit den Christen nach dem Tod sein wird, im Sinne dieses Evangeliums so zu beantworten: Wenn ein Christ stirbt, bleibt er in ununterbrochener Lebensgemeinschaft mit Jesus. Er muss daher auch vor der Talsohle des Todesschattens keine Angst haben. Die Begründung für diese Zuversicht liegt im letzten Satz unseres Abschnitts: »Ich und der Vater sind eins.« Der Ausdruck »Ich und der Vater sind eins« bedeutet nicht nur eine statische IstAussage oder eine genealogische Herkunft. Denn es geht ja um etwas, das die Gläubigen nachahmen können, also eine ebenso geschenkte wie gewollte, aus Gottes unsichtbarem Leben entspringende wie in Taten sichtbare, eine zeichenhafte und dynamische Darstellung und glaubwürdige Verkündigung der Einheit Gottes. Gott behält seine Einheit und Einzigkeit, die im 1. Gebot und im Schema Israel (Dtn 6,4f) begründet ist, nicht für sich, unsichtbar hinter den Wolken verborgen, sondern er offenbart sie. Einheit Gottes bedeutet daher wie auch in der Gemeinde Einheit des Verschiedenen. Es geht nicht darum, Differenzen und Divergenzen einfach zu akzeptieren und gleichberechtigt nebeneinanderstehen zu lassen. Ziel aller johanneischen Aussagen ist die wirkliche und vollendete Einheit eines realen Zusammenlebens. So wie in einer Familie nicht der eine um 12 Uhr, der andere um 18 Uhr die Hauptmahlzeit einnimmt, sondern alle
Das Evangelium nach Johannes
wirklich miteinander leben. – Für den Evangelisten – wie für Jesus – ist dieses ganz klar: Der Sohn ist nicht der Vater und umgekehrt, und auch die Gemeinde besteht aus verschiedenen Personen. Aber das, was sichtbar wird, eben ihr Werk, auch ihre Liturgie (das Wort enthält den griechischen Wortstamm ergon, also ist Liturgie ein öffentliches Werk), muss überzeugend Einssein darstellen. An dieser Überzeugung durch offenkundige Liebe hängt für das JohEv der ganze Missionserfolg des Christentums. Das ist der unübertreffliche Beitrag des Christentums zur Frage des Monotheismus: Einer und eins zu sein bleibt nicht Attribut Gottes, sondern Gott teilt sein eines und einziges Leben inklusive Lebensregeln den Menschen mit. Denn er ist nicht geizig, sondern teilt sich selbst mit bis zur Selbstvergessenheit. Unser Text zeigt, dass die Vorbedingung dazu die Einheit des Hirten mit dem Vater ist. Die Christen werden in diese Einheit mit hineingenommen.
Joh 10,29-41: Sohn Gottes – Konflikt Der Abschnitt enthält eine Menge provozierender Aussagen wie V. 30 (»Ich und der Vater sind eins«) und V. 38 (»Der Vater ist in mir, und ich bin im Vater«), vor allem aber das Selbstzitat in 10,36: »Ich bin Sohn Gottes«. Wegen dieser Aussagen trifft Jesus der Vorwurf: »Du bist nur ein Mensch und machst dich selbst zu Gott« (V. 33). – Die Antwort auf diese Provokationen bleibt nicht aus: Jesus lästert Gott (V. 33.36), er macht sich zu Gott (V. 33), und deswegen soll er gesteinigt werden (V. 31.32.39), welches die für Lästerung übliche Strafe ist. Doch der Weg Jesu bzw. des Evangelisten angesichts dieser tödlichen Konfrontation ist, deutlich zu machen, dass eine Verletzung des biblischen Glaubens an den einen und einzigen Gott des 1. Dekaloggebotes nicht vorliegt. Die Reaktion ist daher eine Apologie, die wie jede Apologetik Frieden stiften will. Das apologetische Hauptargument liegt in 10,34: In Ps 82,6 sagt Gott zu seinen Adressaten: »Götter seid ihr, nämlich Söhne des Höchsten alle. Doch ihr werdet wie Menschen sterben …« Redet Gott überwundene andere Götter an, meint er Engel, speziell Melchisedek, die Richter Israels oder die Israeliten allgemein? Auf die
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Kapitel 11
Richter war man gekommen, weil Ps 82,4 zu gerechtem Gericht aufforderte. Doch alles spricht für diese Lösung: Mit »Götter« werden nach zeitgenössischer Auffassung (!) die Israeliten angeredet, die ewiges, göttliches leben haben könnten bzw. hätten haben können, wenn sie nicht abgefallen wären. Die rabbinischen Kommentare zu Ps 82,6 kommen Joh 10 am nächsten, und so auch die mittelalterliche christliche Exegese. In der Mekhilta R. Ismael, Bahodesch IX: »Unter dieser Bedingung, dass er Todesengel keine Macht über sie haben sollte, standen die Israeliten am Fuße des Berges Sinai. Denn es war ja gesagt: Ich sagte: Ihr seid Götter. Aber ihr habt euer Versprechen gebrochen. Darum sollt ihr sterben wie die Menschen.« Gemeint sind demnach nicht Engel oder Götter, sondern die Israeliten. Und die im Text von Ps 82 verwunderliche Abfolge »Götter seid ihr …, aber wie Menschen werdet ihr sterben« wird durch die Übertretung der Gebote, nach anderen durch die Anbetung des Goldenen Kalbes, erklärt. Damit aber ist genau der Sachzusammenhang von Joh 10 gegeben (V. 28). Denn Gottes Sohn und Gotteskindschaft sind nicht Titel um ihrer selbst willen, sondern sie dienen nur dem einen: Wie kann Gott sein Leben, das ewige Leben, wei-
tergeben? – Die mittelalterliche Exegese betont: Wenn die Israeliten gewollt hätten, dann hätten sie wie Gott und Götter unsterblich sein können. Aber sie wollten nicht. Die übrigen Provokationen lösen sich durch den Kontext des JohEv: Das »Ich und der Vater sind eins« (10,30) wird erklärt durch 17,22: Auch die Jünger sind »eines« wie »wir eines sind«. Damit sind die Jünger nicht identisch miteinander, sondern sind einig. Und die reziproke Immanenz (x in y und y in x) von Joh 10,38 bedeutet enge Lebensgemeinschaft, wie die lokalen Aussagen im JohEv überhaupt etwas zum Wie und nicht zum statischen Wo im Sinne eines Adressbuches sagen. Und Jesus macht sich nicht zu Gott, sondern der Vater heiligt und sendet ihn. Immer wieder verstehen die Hörer Jesu die Kategorie der Sendung nicht. Denn der Gesandte ist nicht identisch mit dem Sendenden, sondern handelt in Stellvertretung. Jesu Handeln ist ein wichtiges Zeugnis für ihn, denn es waren gute Taten Gottes, die Jesus gewirkt hat. Fazit: Jesus hat Gott nicht gelästert. Wer das behauptet, versteht nichts von Gottes Handeln und Gottes Güte am Menschen.
Joh 11 – 14: Der Lebensbringer auf dem Weg in den Tod Joh 11,1-54: Auferweckung des Lazarus Gliederung 11,1f: Exposition; 11,3-6: Jesus verhindert das Sterben nicht. Das Sterben des L. dient der Verherrlichung Gottes; 7-16: Dem Totenerwecker droht der Tod. Seine Jünger verstehen ihn nicht; 7 f: Der Totenerwecker wird getötet (und wird so Leben schaffen); 11-16: Die Jünger begreifen nicht, dass Jesus der Auferwecker ist. Sie denken nur an das Sterben, nicht an die Auferweckung; 17-27: Allgemeine Anwendung: Dialog Jesus – Marta. Die jüdische Erwartung künftiger Auferstehung; 28-37: Verzögerung, die Zahl der Betroffenen und auch der Zeugen wird erhöht. Darstellungsmittel: wiederholter Vorwurf (V. 21b.32b.37), Weinen (V. 31.33 (2).35), Trösten V. 31, Erschütterung Jesu (V. 33.38), Lieben (V. 3.5.36); 28-32: Maria; 33-
37: Maria mit Juden; 38-42: Jesus am Grab. Letzte Verzögerungen: Hindernis (Stein muss weg); Einwand (und dessen Zurückweisung); Gebet Jesu; 43-44: Kurzer Befehl Jesu. Die Binden demonstrieren: Lazarus war wirklich tot; 45-54: Doppelreaktion (Juden/Pharisäer); Prophetie des Kaifas. So wird vom Ende her nochmals die ganze Erzählung in das Licht prophetischer Symbolik gerückt. Lukas 16,19-31 bietet eine entfernte Parallelerzählung zur Lazarus-Perikope in Joh 11: Im Kontrast zur ägyptischen Vorlage (vgl. Berger/ Colpe, Textbuch, 1987, Nr. 237) gibt es bei Lukas eindeutig jüdisches Milieu (Abraham; sie haben Gesetz und Propheten). – Aufbau ist parallel: L. lebt/L. ist tot/Rückkehr von den Toten/keine Änderung in der Haltung der Juden Bei Lk: Dialog mit Abraham. Bitte um Sendung des L. (V. 24.27). Abraham: Sie Haben Mose und
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376 Propheten; auch wenn einer aus Toten aufersteht, werden sie nicht umdenken. – Joh 11: Jesu Freund Lazarus mit zwei Schwestern/krank/tot/»Auferstehung aus Toten«; 11,23: Dein Bruder wird auferstehen. Wesentlich ist in Lk 16 wie in Joh 11 der »Knick« in der Erzählung. Er besteht darin, dass das Wunder der Auferstehung von Toten bei den Zeitgenossen des Lazarus keinen Eindruck macht. Bei Lukas ist L. Typos Jesu. Anders bei Johannes: Jesus erweckt L., Jesus selbst ist die Auferstehung. Besonders erstaunlich ist die Verwendung einer einzigartigen Gattung durch Lukas. Gemeinsame Pointe Lk/Joh: Auch die spektakuläre und die Erkenntnis wesentlich erweiternde Rückkehr eines Toten aus dem Bereich des Todes kann die Menschen (Juden) nicht zur Umkehr bewegen. Diese Auskunft ist zwar in beiden Fällen pessimistisch, doch es bleibt die Resthoffnung, die Leser/Hörer möchten der Geschichte in ihrer Endgestalt doch ein paar wahre Tatsachen entnehmen. Diese sind: Nach dem Tod geht es weiter, und es gibt einen Ausgleich im Reich der Toten. Deshalb sollte man sich beizeiten darum kümmern. – Die Art der Erkenntnis, die durch Lukas vermittelt wird, gibt es schon in der ägyptischen Vorlage (Wem es auf Erden zu gut ging, zum Beispiel auf Kosten anderer, der hat seinen Teil schon erhalten, sodass für das Totenreich nichts Gutes bleibt). Auch visionäre Unterweltsfahrten konnten ähnliche Einsichten vermitteln. Die betreffenden Personen kehren dann von der Reise in die Unterwelt zurück und hinterlassen das, was sie erlebt haben, vor ihrem dann bald erfolgenden Tod als »Testament«. Man vergleiche das jüdische griech TestAbr, die AnastasiaApk, ed. Homburg, 1903, die griech Petrus Apk (bei Berger/Nord, 1163; ed. M. R. James, 1931), die lat PaulusApk (ed. Th. Silverstein, 1935) bis hin zur Navigatio S. Brandani und Dantes Inferno. Aber in allen diesen Testamenten macht der Erzähler selbst die Reise, über die er dann berichtet. Bei Lk erzählt Jesus lediglich davon. – In Joh 11 dient das gemeinsame Material (Lazarus geht es schlecht; er stirbt, seine Auferweckung beeindruckt nicht) nicht zur Schilderung der jenseitigen Strafen oder Belohnungen, sondern es illustriert die Wunderkraft Jesu, der in der Tat das Undenkbare vermag: dass Tote wieder lebendig werden. Was in Lk 16 lediglich als Hypothese erscheint, ist hier tatsächlich geworden. Be-
Das Evangelium nach Johannes
lehrt wird nicht über das Jenseits, sondern allein über Jesus.
Schon im 19. Jh. spielte die Auferweckung des Lazarus in der Wunderdiskussion eine wichtige Rolle, besonders im Streit des konservativ-rationalistischen Ernst Wilhelm Hengstenberg (18021896, seit 1828 in Berlin) mit der Tübinger Schule F. C. Baurs. Die Auferweckung des Lazarus nach Joh 11,3844 ist ein besonders ärgerliches Wunder, bei dem gewissermaßen alle Anstößigkeiten gesammelt zu sein scheinen: Es handelt sich um eine Totenerweckung, also nicht um etwas, das psychosomatisch zu erklären wäre. – Lazarus ist schon vier Tage tot. – Der auferweckende Jesus kann ihn nicht berühren, da Lazarus schon begraben ist. – Jesus ruft Lazarus, und der hört (!), es geschieht so, wie Joh 5,28 es beschreibt: Ein Toter im Grab hört die Stimme Jesu. – Jesus hat Lazarus erst sterben lassen, um so ein »Zeichen zu setzen«. Neuere Deutungsversuche: Hat es Lazarus gar nicht gegeben? Bei dieser Annahme erübrigt sich eine Diskussion des Wunders in Joh 11 auf eleganteste Weise. Der Skopos des Textes sei es vielmehr, dass man »sein Leben umstellen« müsse. Andere bemühen sich, Joh 11 als fiktionale Literatur (also als reine Dichtung) auszumachen, so etwa, indem man feststellt, Indizien für fiktionale Literatur seien hier die ausführlichen Gespräche und Angaben über Gemütserregungen, die zeitlichen Ebenen seien verschoben, und immer wieder sei eine Ausrichtung auf die Leser erkennbar, so in der Terminologie und in der Aufnahme von Argumenten. Oder man sagt: Die Totenerweckung selbst sei »eigentlich überflüssig«, man müsse vielmehr »mit der Möglichkeit rechnen, dass es sich bloß um eine außergewöhnliche Krankenheilung handelte, die erst in der nachösterlichen deutenden Predigt als Totenerweckung erzählt wurde«. Alles in allem sei nicht stringent zu beweisen, dass L. nicht von den Toten auferweckt worden sei, eine Unsicherheit, die kein Theologe bestreitet. Und um die Leser weiter zu beruhigen, wird erklärt, dass für den Evangelisten die Frage nach der Faktizität nicht im Vordergrund des Interesses stand. Zwar sei nicht auszuschließen, dass Jesu Tat an Lazarus sogar von Anfang an als Auferweckung erzählt wurde … Allerdings muss der heutige Forscher die Frage stellen, in welchem Sinn die Ersterzähler oder gar die Zeugen dabei »tot«
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Kapitel 12
und »auferweckt« aufgefasst haben. Die Angabe »er riecht schon« wie auch Jesu Wort »Lazarus ist gestorben« gehörten kaum zur ursprünglichen Fassung dieser Überlieferung. Dabei ist die Erklärung, »tot« und »auferweckt« seien hier wohl anders, nämlich eher symbolisch zu verstehen, in meinen Augen die erstaunlichste Zumutung.
Nun hilft es in der Tat nicht, die einzelnen Züge von Joh 11 als tatsächlich geschehen zu erweisen. Beides, das allmähliche Abtragen der Geschichte wie auch ein apologetisches Rettungsmanöver, wären doch nur in der Primitivität verwandt und würden der Geschichte nicht gerecht. Das Missverständnis besteht darin, dass alle Signale übersehen werden, wonach diese Erzählung selbst als eine Zumutung aufgefasst wird. Der Evangelist selbst nimmt der Geschichte keinen Zug ihrer Ärgerlichkeit – also eine schier »unmögliche« Geschichte. Es scheitern alle Versuche, das Unfassliche durch Schleichwege zu ermäßigen. Hier ist nichts zu ermäßigen, und das gilt auch für die Speisungsgeschichten (»Brotvermehrungen«). Bei Wundern von der Art der in Joh 11 berichteten Totenerweckung wird die Abfolge von Ursache und Wirkung aufgehoben. Das Ärgernis hat daher einen »Namen«. – Es entspricht durchaus dieser Richtung des Berichts, wenn Jesus von sich sagt, er sei »die Auferstehung« selbst, in Person. Denn wenn Menschen allein durch Gott auferstehen, dann ist in Jesus nicht mehr und nicht weniger als dieser Gott anzutreffen. So weisen auch alle übrigen biblischen Namen Jesu (Metaphern) im JohEv in dieselbe Richtung, denn Leben und Weg, Wahrheit und Brot ist gleichfalls Gott. In Joh 11 ist die Auferweckung des Lazarus selbst nur ein Vorzeichen. Denn Lazarus wird wie alle Menschen am Ende seines jetzt neu geschenkten Lebens doch sterben müssen. Nicht der Heilige Geist, sondern Jesus als der Mensch, in dem die Jünger dem Schöpfungwort Gottes leibhaftig begegnen, überwindet in seiner Person den Tod. Jesus »ist« die Auferstehung, weil diese Gabe Gottes an die Menschen nicht unabhängig von ihm existiert. Das heißt: Auferstehung ist nicht eine Station unter anderen in einem apokalyptischen Zeitplan, sondern die Gabe des ewigen Lebens, die leibhaftig an Jesus gebunden ist. Dies folgt daraus, dass in ihm das Schöpfungswort
gegenwärtig ist. Denn nur dieses Wort kann Tote lebendig machen (wie bei Lazarus geschehen) und überhaupt den Tod überwinden, wie es die weitergehende Verheißung von Joh 11 ist. Denn Gottes »alte« wie »neue« Schöpfung ist an ihn gebunden – paulinisch formuliert. In der Theologie des JohEv hört sich das anders an: Gott liebt seine Schöpfung so sehr, dass er ihr Anteil geben will am Kostbarsten, das er hat: an seinem eigenen unzerstörbaren Leben. Dieser Weg führt exklusiv über Jesus Christus.
Joh 11,27: Das Bekenntnis der Marta Das zentrale Bekenntnis der Gemeinde (»Du bist Christus, der Sohn Gottes, der in die Welt gekommen ist«) findet sich im Munde einer Frau, der Marta, (11,27). Petrus hat zwar unbestritten das Hirtenamt (Joh 21,15-23), aber das hinderte nicht daran, dass Marta das Spitzenbekenntnis formuliert hat (zu Petrus vgl. aber auch 6,69). Nach den Evangelien geschehen alle Totenerweckungen für oder an Frauen, und regelmäßig sind Frauen in nächster Nähe, wenn es um Jesu Leib geht. Unbeschadet des Petrusamtes haben Frauen diese wichtigen Erfahrungen gemacht.
Joh 12,1-11: Salbung in Betanien Der Abschnitt erweist sich als eine Andeutung der Trauer Israels über seinen ermordeten Messias. Nach der johanneischen Zeitangabe wird in 12,1-11 ein Sabbatmahl geschildert; eine Woche später wird Jesus begraben (wiederum am Abend). – Die Ausleger übersehen regelmäßig die ungeheure Provokation, die in 12,8 liegt: Arme gibt es immer, Jesus aber nur jetzt noch. Denn mit dreihundert Denaren konnte ein gewöhnlicher Mensch fast ein Jahr lang leben. Die Provokation liegt in dem unglaublich hohen Wert des Salböls. Das Argument des Judas in 12,5 ist daher durchaus vernünftig. Nicht richtig ist die häufig geäußerte Vermutung, es handele sich beim Tun der Frau um eine Fußwaschung. Vor dem Essen, und nicht während der Mahlzeit, wusch man Füße und Hände. Das Waschen der Füße übernahmen dabei in der Tat zumeist Frauen (1 Sam 25,41; 1 Tim
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Das Evangelium nach Johannes
Es spricht einiges dafür, dass eine Situation wie Hld 1,12 der Schilderung in Joh 12 zugrunde liegt: 1. Es ist eine Frau, die Jesus salbt. – 2. Jesus ist der König (Joh 18,37). – 3. Er ist beim Mahl, das Mahl ist für ihn bereitet (12,2). – 4. Es handelt sich um Nardenöl (12,3). – 5. Sie spendet ihren Duft, erfüllt das ganze Haus (12,3b). – 6. Das Hld wird im Frühjudentum bis inklusive Entstehung des Midrasch zum Hohenlied auf das Verhältnis Israels zu seinem Gott gedeutet. Israel sieht sich in der Rolle der Braut, und es sieht Gott in der Rolle des Bräutigams. Die Alte Kirche setzt zunächst diese Linie fort (Hippolyt v. Rom in seinem Kommentar zum Hohenlied). – 7. Ähnlich wie in Lk 7,45.47b geht es hier um nichts anderes als um reichlich maßlose (bräutliche) Liebe. – 8. Die älteren Kommentare bis 1680 gehen noch davon aus, dass es sich um eine Andeutung einer königlichen Salbung handelte, zum Zeichen der Unterwürfigkeit und Demut an den Füßen erwiesen.
Tun eine Zeichenhandlung für die Liebe des Gottesvolkes zu seinem Messias. Alle erotischen Züge dieser leibhaftigen Zuwendung zu Jesus können nur verstanden werden unter dem gemeinsamen Nenner »bräutlicher Liebe«. So jedenfalls kann alles das erklärt werden, was über die vorgezogene Einbalsamierung als Voraussetzung zum Begräbnis hinausragt. An den Tod Jesu lässt aber vor allem unausweichlich 12,7 denken: »Lass sie nur! Sie wollte mich damit nur für das kommende Begräbnis einbalsamieren.« Bei der Einbalsamierung Jesu nach Joh 19,39f wird denn Maria auch nicht mehr dabei sein. Sie hat alles jetzt, beim Mahl, gegeben. Es ist sicherlich richtig, diese zeichenhafte (!) bräutliche Liebe neben das Glaubensbekenntnis Martas, der Schwester Marias, in 11,27 zu stellen. Aber in welcher Beziehung stehen hier die symbolische bräutliche Liebe und der Tod des Messias zueinander? Vorab: Alle Menschen, die Jesus je leiblich berühren, sind Frauen. Aber warum ist diese bräutliche, zeichenhafte Liebe so auf den Tod bezogen? Man könnte zurückfragen: Auf was denn sonst? In Marias Tun ist eine Spur der sonst fast verwischten Tradition zu erkennen, dass Israel um seinen ermordeten Messias/Bräutigam trauert – so maßlos im Geben, wie es nur eine Braut vermag. Trauer vollzieht sich hier wie auch sonst in einem gebotenen »guten Werk« an dem künftig Toten, eben seiner Einbalsamierung. In Sach 12,10 konnte man so etwas sehen: »Doch über Davids Haus und die Einwohner Jerusalems werde ich den Geist der Erbarmung und des Flehens ausgießen. Sie werden auf den hinblicken, den sie durchbohrt haben, und Totenklage um ihn halten, wie man klagt um den Einzigen, und bitter um ihn trauern, wie man trauert um den Erstgeborenen.« Diese rätselhafte Stelle wird in Joh 19,37 auf das Leiden Jesu hin ausgelegt (ferner: bei Justin, dort allerdings nur auf die zweite Parusie, und bei Tertullian); in Offb 1,7 sind es die Heiden, die – abweichend vom Originaltext – über Jesus trauern.
Entscheidend ist, dass Jesus sich in seiner Verkündigung an dieses Bild des Hohenliedes anschließt: Er ist der neue (messianische) Bräutigam Israels. Israel ist seine Braut, und bei der Wiederkunft Jesu wird Hochzeit sein (vgl. zu Joh 3,29). Hier vor allem ist Joh 12 einzuordnen: Maria, die Schwester Martas, liefert mit ihrem höchst liebevollen
Unter den Johannes-Kommentaren ist nur ein einziger in der Lage, Ähnliches zu beobachten, und zwar ein ostkirchlicher: Moses bar Kepha (Bischof von Mossul) sagt zu Joh 12,3a: »Diese Maria aber, die Schwester des Lazarus, ist heilig und durch ihren Wandel besonders erhaben. Deutlich ist das daher, weil sie, als Christus bei ihnen war, ständig
5,10; vgl. auch den röm. Dichter Ennius zu Tarquinius: Tarquinii corpus bona foemina lavit et unxit), aber eben mit klarem Wasser, vor dem Mahl, und ohne ihre Haare zum Abtrocknen zu benutzen. So übersehen die Ausleger seit alters die unverkennbar erotischen Züge dieser Erzählung. Das betrifft einerseits die Kostbarkeit des Öls (Geschenke von diesem Wert macht man nur dem/ der Geliebten), sodann das Abtrocknen mit den Haaren; die Haare duften dann entsprechend, der so Gesalbte und die salbende Frau sind von einer gemeinsamen Duftwolke umgeben, die Anziehungskraft ist gegenseitig. Schließlich gehört dazu die Notiz in V. 3: »Das Haus wurde erfüllt vom Duft des Öls.« Das geht nun – wie schon das unverhohlen erotische Abtrocknen mit den Haaren – über jeden Ritus der Einbalsamierung entschieden hinaus. Es entspricht vielmehr Hohelied 1,12: (Die Braut:) »Solange der König weilt bei seiner Tafelrunde, spendet meine Narde ihren Duft.«
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zu seinen Füßen saß, das, was er sprach, hörte und ihn wie Gott verehrte und anbetete, während Marta mit diesen leiblichen Dingen beschäftigt war, sodass er ihres Vorzugs wegen sagte: Maria hat das gute Teil erwählt. – Diese aber brachte nun aufgrund ihrer großen Liebe zu Christus, und da sie von den Geheimnissen der Grablegung stark bewegt wurde, eine Dose kostbarer Nardensalbe herbei, goss sie über das Haupt des Lebens und trocknete seine Füße mit ihrem Haar, ohne sich vor jemandem zu schämen. Auch trat sie nicht an ihn heran wie an einen Menschen, sondern wie in Bezug auf Gott tat sie dies. Und sie hatte auch nicht die gleiche Meinung über ihn wie die meisten anderen, sondern sie hielt ihn für den wahrhaftigen Herrn und Gott, der er auch war. Indem sie aber Salbe herbeibrachte, ließ sie wegen des Ansehens, das er bei ihr genoss, Kostbareres bei den Händlern nicht zurück.« Die Notiz, dass sich Maria nicht schämte, weist auf den erotischen Charakter ihres Tuns; die Bemerkung, dass sie Jesus wie Gott verehrte, erklärt die Maßlosigkeit der Zuwendung.
Joh 12,12-19: Einzug in Jerusalem Dass Jesus hier auf einem Eselchen in die Stadt hineinreitet, ist nur für Romantiker erhebend. Das Eselchen ist wie heute ein Billig-Taxi. Die mittelalterlichen Präfationen sprechen deshalb am Palmsonntag davon, Jesus sei mansuetus mansueti animalis terga insidens eingezogen, er sei hier rex in humilitate. – Nur die Ölzweige, die die Leute nahmen, um Jesus zu begrüßen, deutet man noch auf den messianischen Frieden und die messianische Würde. Die Präfationen erinnern an den Ölzweig Noahs als Zeichen des Endes der Flut, und sie erinnern an die Salbung der Könige und Propheten.
Aber es sieht eher so aus, als sei das Ganze ein Missverständnis. Es ist schon richtig, Jesus kommt nach Jerusalem hinein, aber eben mit einem Billig-Taxi. Und dann folgt ein Missverständnis von der typisch johanneischen Art – übrigens auch schon nach Kap. 6 bei der wunderbaren Speisung; denn so einen König hätte man gern, der möglichst täglich für Nahrung aller sorgt, und das in Fülle. Aber Jesus flieht daraufhin. Er will nicht König sein, so wie die Menschen das verstehen.
379 Ein irdischer Herrscher hält Einzug in seiner Stadt. Es könnte auch noch schlimmer sein. Dann hätten ein paar Witzbolde gerufen: König Israels. Um ihn lächerlich zu machen. So wie später bei der Dornenkrönung: »Sei gegrüßt, König der Juden«, werden sie dann rufen. Zumindest ein Missverständnis liegt hier sicher vor: Jesus will kein irdischer König mit Allüren und rotem Teppich sein. Im JohEv gibt es gespieltes Missverstehen und Ironie immer wieder. Aber nicht Jesus ist der Naive, sondern die dummen Menschen fallen auf den Klamauk herein, den sie selbst gegen Jesu Willen inszenieren. Denn wenn er sich zum Königtum bekennt, dann ist das ganz anders (18,37) Wenn wir das richtig verstehen, besteht Jesu Königtum darin, dass er in dieser Welt Zeugnis gibt, also Beweise liefert für die Wirklichkeit Gottes, für seine Wahrheit. Sehr konkret formuliert wird genau dieses Bezeugen der Wirklichkeit Gottes in unserem Text; denn es heißt: Die vielen Zeugen, die dabei gewesen waren, als Jesus Lazarus aus dem Grabe herausrief und von den Toten auferweckte, hatten überall von diesem Wunder berichtet, und weil die Leute in Jerusalem auch davon gehört hatten, liefen sie Jesus entgegen. – Der Kommentar der Pharisäer dazu brandmarkt Jesus übrigens als Antichrist: »Die Welt läuft hinter ihm her« (12,19). Dieser König kommt als einer, der in seiner Schöpfermacht Tote auferweckt. Dadurch ist er in der Tat König. Denn König ist dasselbe wie frei sein. Wer vom Tod befreien kann, der ist wahrhaft frei und wahrhaft Repräsentant Gottes. Die mittelalterlichen Präfationen sprechen deshalb am Palmsonntag davon, Jesus sei quasi triumphator de mortis principe hier eingezogen: als Triumphator über den Fürsten des Todes. Das ist also die Botschaft dieses Textes: Er ist König, weil er frei ist. Diese Freiheit ist die von Sünde, Tod und Teufel. Jesus ist ein König, aber nicht einer wie die Mächtigen, die vom Leben zum Tod befördern, sondern vom Tod zum Leben. Er ist ein König, der nicht anderen die Freiheit nimmt, sondern der die letzte und eigentliche Freiheit schenkt, die vom Tod in allen seinen Gestalten. Er ist der König, der die Menschen nicht ausbeutet, sondern reich macht.
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Joh 12,20-33: Verherrlicht und gehorsam Nach dem JohEv ist dieses der Höhepunkt des öffentlichen Wirkens Jesu. Hier wird in eins gesehen, was Markus getrennt berichtet: die Verklärung Jesu (Mk 9) und sein Ringen mit Gott in Getsemani (Mk 14). Nur hier sagt Gottvater mit seinen eigenen Worten etwas über Jesus: »Ich habe verherrlicht und werde verherrlichen.« – Und dieses sind die Themen dieses Abschnitts: Der Tod Jesu ist wie Sterben des Weizenkorns, die universale Mission nach Jesu Tod, also das Problem der nichtjüdischen Griechen (»alle an mich ziehen«) kommt in den Blick, ebenso die Verherrlichung Jesu. Und durch Jesu Tod wird der Teufel besiegt. – Zwei Gedanken sind in den Versen 2426 miteinander verschränkt: Nach V. 24 hat das Geschick Jesu in jeder Hinsicht vorbildlichen (prototypischen) Charakter: Wer Jesus nachfolgt, kann im Weg Jesu den eigenen Weg vorgezeichnet finden. Was in V. 25 als allgemeingültiges Gesetz formuliert ist, hat den Grund seiner Wahrheit im Geschick Jesu. Zum anderen aber gilt der Gegensatz vom Alleinbleiben und viel Frucht bringen. Dabei ist die exklusive Bedingung »Nur dann, wenn das Samenkorn … stirbt«, also die Notwendigkeit zu sterben, das typisch Christliche, weil an Jesu Geschick Gebundene. Und so argumentiert Jesus hier: Weil er seinen Weg treu und voll Liebe zu den Jüngern bis zum Ende geht, weil er in der Erfüllung des Gebotes des Vaters der einzige Gerechte ist und geblieben ist, weil er schließlich vom Vater durch Auferstehung und Erhöhung verherrlicht und also mit ihm eins ist, aus allen diesen Gründen können sich viele Menschen zu ihm bekehren. Nach Johannes erbringt der Tod Jesu also deshalb zahlreiche Jünger, weil Jesus mit dem Ende seines Weges konsequent und gehorsam seinen Auftrag erfüllt, bis hin zum »Es ist vollbracht« am Kreuz. Als »Lohn« für seinen Gehorsam, ja in seinem Gehorsam, wird er aufs Neue verherrlicht. So ist die Beziehung zwischen dem »einen« und den »vielen« hier zu deuten. Nirgends sonst im Neuen Testament wird – abgesehen von Phil 2,9-11 – die missionarische Bedeutung des Todes Jesu so intensiv bedacht wie hier. Vor allem die gehorsame Erfüllung der Sendung lässt die enge Verwandtschaft mit Phil 2,8 erkennen (»gehor-
Das Evangelium nach Johannes
sam bis zum Tod …, deswegen hat Gott ihn erhöht …«). Von der Sündenvergebung durch Jesu Tod zu sprechen, das bleibt freilich anderen Texten vorbehalten. Nach dem Bild vom Weizenkorn ist der Tod Jesu die Voraussetzung für ein neues, unerhörtes Geschehen. Dieses Bild hat Johannes im Neuen Testament exklusiv mit Paulus (1 Kor 15,42-44) gemeinsam, ein wichtiges Indiz für die frühe Verwandtschaft beider. Doch in Joh 12 ist das Sterben des Korns die Voraussetzung dafür, dass sich die Frucht vervielfältigt, also für zahlreiche Jünger Jesu (auch aus den griechischen Heiden). Bei Paulus gilt ein anderer Aspekt, nämlich die Verwandlung in eine neue Gestalt.
Joh 12,31: Deutung des Todes Jesu Der Fürst dieser Welt ist der Teufel. Das JohEv kennt keine exorzistische Tätigkeit Jesu, statt dessen fasst es alles Tun Jesu zusammen in einem einzigen großen Exorzismus. Der Herrscher der Welt wird hinausgeworfen, so wie nach den drei ersten Evangelien Jesus die Dämonen hinauswirft. Hier liegt demnach eine »satanologische Deutung« des Todes Jesu vor. Das kennen auch andere Texte des frühen Christentums, Hebr 2,14 und Ignatius, An die Trallianer 4,2 (»Geduld … durch sie wird der Teufel, der Fürst dieser Welt, besiegt«); nach Römer 8,3 besiegt Jesus stattdessen die »Sündenmacht«, in 1 Joh 5,4f wird »die Welt« besiegt. Der Zusammenhang dieser Aussagen ist stets ähnlich: Jesus ist wie die anderen Menschen und ist doch eine Ausnahme. Er ist Mensch wie wir, doch unterscheidet er sich durch seine Sündlosigkeit und seinen Gehorsam. In Joh 12,25 wird als Bedingung für Jesus und seine Nachfolger in diesem Sinn gesagt, er habe sein »Leben in der Welt gehasst«, d. h. nicht als höchsten Wert angesehen, sondern sich leicht von ihm trennen können. Bei Ignatius entspricht dem die »sanfte Geduld«. Stets wird der Teufel besiegt, weil Jesus Mensch war wie wir, aber eben als einziger die absolute Herrschaft des Teufels durchbrochen hat. Auch die späteren apokryphen Evangelien über den Abstieg Jesu in die Hölle werden ähnlich argumentieren: Unter all den Toten war er die Ausnahme; gewissermaßen aus Versehen hat ihn der Herr des Totenreiches (Tod, Hades, Teufel)
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hineingelassen und musste erleben, wie dieser Einzige, der eben dort nicht wirklich hingehörte, das Totenreich von innen her sprengte. An den neutestamentlichen Stellen wird noch nicht das Totenreich, sondern nurmehr die Menschenwelt auf diese Weise erlöst. In diesem Sieg und für diesen Sieg wird Jesus vom Vater verherrlicht. Weil Jesus alles, was er ist, vom Vater hat, das Gottsein, das Gesandtsein und die Vollmacht, deshalb krönt der Vater ihn mit Herrlichkeit (12,28), indem Jesus Wunder wirkt (z. B. Joh 2,11; Joh 11,4), aber eben auch, indem er ihm den Sieg über den Teufel verleiht (Joh 12,31) und schließlich, indem er ihm wieder die himmlische Herrlichkeit verleiht, die Jesus von Anfang an hatte (Joh 17,4f). Indem der Vater Jesus so mit Herrlichkeit krönt, ehrt er im Grunde sich selbst, macht er seine Herrlichkeit unter den Menschen und für die Menschen sichtbar oder greifbar. Nach Joh 17,22 werden die Jünger die Herrlichkeit Gottes sehen lassen, indem sie untereinander eins sind. Auch so wird das, was zunächst auf Jesus beschränkt war, vervielfältigt. Denn wann immer Gott jemanden mit Herrlichkeit krönt, gilt dies Dritten, die dadurch den Weg zu Gott finden. Weil er Jesus mit Herrlichkeit krönt, finden die Jünger zu Jesus. Wenn er der Gemeinde seine Herrlichkeit schenkt, finden die anderen Menschen zum Glauben. Jesus und die Jünger sind wie konzentrische Kreise um den Vater. Auch der Beistand (Paraklet) verherrlicht in seinem Wirken unter den Jüngern Jesus gegenüber der Welt (Joh 16,14). Und jedes Einssein mit Gottes Willen bedeutet zugleich Anteilhabe an seiner göttlichen Herrlichkeit. So ist dieser Abschnitt eine einzige Deutung des Todes Jesu. Sehr anders als in der Auslegung des Todes Jesu durch die Sühneaussagen des Neuen Testaments geht es dabei weder um Blut noch um Sünde noch um Jesu Opfer. Jesu Tod ist hier ganz eng mit dem Dienst Jesu überhaupt verbunden und die äußerste Konsequenz daraus. Jesu Leben ist konsequenter Kampf gegen den, der die Welt beherrscht. Das Ende des Feindes Gottes ist immer dann besiegelt, wenn auch nur ein einziger Punkt seiner tendenziell totalen Herrschaft entfällt. Weil Jesus nur sichtbar, nicht aber in Wirklichkeit am Kreuz besiegt wird, zerbricht von diesem einen Punkt her die Macht des Teufels.
12,25 sollte man übersetzen: »Wer nicht an seinem irdischen Leben klebt«. Die Gelassenheit gegenüber dem, was für die meisten Menschen als das absolut Höchste und Unverzichtbare gilt, ist hier der Schlüssel.
Joh 12,26-36: Jesus und der Vater Der Text berichtet über den Höhepunkt des öffentlichen Wirkens Jesu. Mit Kap. 13 werden die Abschiedsreden beginnen. Der Evangelist hat in Joh 12 kompakt in einer Szene zusammengestellt, was in Mk 9 (Verklärung) und Mk 14 (Getsemani) in zwei unterschiedlichen Szenen dargestellt ist. Übereinstimmungen: In Mk 9 wie in Joh 12 nimmt der himmlische Vater Jesu mit eigenen Worten Stellung zu Jesus. Die Situation ist gleichartig, denn ab Mk 9 beginnt Jesu Weg zum Leiden nach Jerusalem, und ab Joh 13 beginnt Jesu Abschiednehmen; Mk 14 (Getsemani) ist die letzte Station vor dem Beginn der Passion. – Gottes Stimme vom Himmel wird von Zeugen gehört, in Mk 9 von den drei Jüngern, in Joh 12 vom Volk. Wesentlich bei dieser Proklamation ist die an Jesus sichtbare Herrlichkeit. Nach Mk 9 ist Jesus verklärt, nach Joh 12 erklärt der Vater: Ich habe verherrlicht und werde verherrlichen. »Herrlichkeit« hat immer auch den Aspekt himmlischen Glanzes. – Joh 12,29 schildert das Missverstehen des Volkes (hat es gedonnert?), Mk 9,5f und ebenso Mk 14,40 (sie wussten nicht, was sie antworten sollten) das der Jünger. Denn in beiden Fällen handelt es sich um deutungsbedürftige Offenbarungen (Mk 9,3f: Vision; Joh 12,28b: Stimme). – Die Notwendigkeit des Sterbens Jesu bespricht Joh 12,24a (Weizenkorn); 12,25 (Leben lieben und verlieren), und eben derselbe Spruch vom Leben, das man lieben oder verlieren kann, steht auch in Mk 8,35 im direkten Kontext. – Mk 9 und Mk 14 sind überdies verknüpft durch das Prinzip der drei Jünger als Offenbarungszeugen. Die Jünger sind der Offenbarung nicht gewachsen (Mk 9,5f; 14,40.43). Auch die positiven Elemente (Sohn in Mk 9,7 und Gebet um den Heiligen Geist in Mk 14,41) stehen in Beziehung zueinander. In allen drei Texten geht es sehr entschieden um das Verhältnis zwischen Vater und Sohn (Ver-
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382 klärung: »Dieser ist mein geliebter Sohn« Mk 9,9; Getsemani: »Abba, Vater, wenn es möglich ist …« Mk14,38; »Vater, verherrliche deinen Namen« in Joh 12,28). Joh 12,27 »Ich bin voller Angst. Was soll ich beten? Soll ich sagen: Vater rette mich aus dieser schweren Stunde? Nein, ich bin doch aus einem anderen Grund bis zu dieser Stunde gelangt. Ich will also beten: Vater, zeige deine Herrlichkeit« – dies hat seine Entsprechung in Mk 14,35f: … betete zu Gott, ihm, wenn es möglich sei, die Stunde des Leidens zu ersparen. »Abba, Vater, du kannst doch alles. Mach, dass ich diesen Leidensbecher nicht austrinken muss. Doch nicht was ich will, sondern was du willst, soll geschehen.« Beide Texte bringen ein Gebet Jesu zu seinem himmlischen Vater im Wortlaut. Das Gebet hat die »Stunde« (sc. des Leidens) zum Thema. Das Gebet ist in beiden Fällen doppelteilig. Im ersten Teil betet Jesus um Bewahrung vor dem Leiden, oder er überlegt jedenfalls eine solche Bitte. Im zweiten Teil nimmt er diese Bitte zurück. So ringt er förmlich mit sich selbst im Gebet.
Sowohl in Mk 9 wie in Joh 12 ist die himmlische Stimme Gottes ein erstrangiges Zeugnis für Jesus. Vor allem dadurch, aber auch durch die Verbindung mit dem Thema Leiden, rücken die Szenen an hervorragende Positionen in den Evangelien. Im JohEv ist der Abschnitt eine gebündelte Antwort auf die Frage nach dem Sinn von Jesu Leiden. Ziel der Aussage ist: Sowohl das bisherige Tun Jesu (Wunder) ist Erweis von Gottes Herrlichkeit (2,11; 11,4.40), als auch das Leiden Jesu, das jetzt beginnt. Denn es wird zur Erhöhung des Menschensohnes führen (12,34). In welchem Verhältnis steht dazu der in 12,31 verkündete Sieg über den »Herrscher dieser Welt«? Der Herrscher dieser Welt ist der Teufel (vgl. Lk 3,6; 2 Kor 4,3). Er wird sichtbar dadurch besiegt, dass nicht mehr alle ihm nachlaufen (vgl. den Vorwurf in 12,19; Offb 13,3; Didache 16,1), sondern dass Jesus alle an sich ziehen kann (Joh 12,32), und das ist die »viele Frucht« von 12,24. Joh 12,31 ist der einzige Exorzismus, den das JohEv berichtet. Das Vokabular (Herrscher; hinausgeworfen werden) ist aus dem siegreichen Umgang mit unsichtbaren Mächten bekannt. Die Bedingung dafür, dass Jesus diese Vollmacht ausüben kann, sind zweifellos die Treue und der
Das Evangelium nach Johannes
Gehorsam in seiner Sendung. Jesus hat bis zum Ende Gottes Auftrag nicht verraten. Daher kann er auch ungebrochen die Macht des göttlichen Lebens gegenüber allem Tödlichen darstellen. Das ist zugleich die Macht des Lichtes gegenüber aller Finsternis. Gott hat es eilig mit seinem Angebot (12,35: nur noch kurze Zeit). Das macht das Angebot dringlich und kostbar.
Joh 12,36b-50: Das Resümee Zu Joh 12,37-43: Der erste Abschnitt dieses Resümees ist negativ. Die Schriftzitate werden in gleicher Funktion auch anderswo im frühen Christentum gebracht (Jes 53,1 in Röm 10,16 und Jes 6,9f in Mk 4,12 par). Nur stehen an der Stelle der Zeichen (Wunder) bei Joh in den synoptischen Evangelien die Gleichnisse Jesu. Biblische Verstockung geschieht immer auf anfängliches menschliches Nicht-Hören-Wollen hin. – Zu Jesaja ist nicht nur Jes 6,1 zu nennen (nach dem Targum sah Jesaja Gottes Schechinah), sondern auch Jes 52,13: »Mein Sklave/Kind wird es verstehen und wird erhöht und verherrlicht werden.« Kein Kommentator erwähnt die Ascensio Jesaiae, die in ihrer christlichen Redaktion, die gewiss später ist als das JohEv (2. Jh.), ausführliche Visionen über das Kommen Christi bietet. So hat man Joh 12,41 im 2. Jh. verstehen können! Das Stichwort »Herrschende« V. 42 nimmt 12,31 interpretierend auf. Joh 12,44-50 ist ein positiver, homiletisch gehaltener Abschluss. In Jesus begegnen die Menschen dem in ihm präsenten Gott. Gewiss ist das nicht nur juristisch (Schaliach-Institut), auch nicht substanztheologisch (was auch immer man darin zu attackieren beliebt), aber auch nicht rein existenziell (Beziehungstheologie) zu deuten. In Jesus treffen die Menschen auf einen dynamischen Gott, der aus sich heraus- und über sich hinausgeht. Meister Eckhart wird diesen Gott mit überfließendem Grießbrei vergleichen (das ist nicht geschmacklos; die Bibel gebraucht öfter die Metaphorik des Fließens, wo sie an Anteilgabe denkt, z. B. beim Heiligen Geist). Paulus würde es perisseia, überströmende Fülle, das JohEv und verwandte Autoren würden es pleroma nennen. Ziel ist, dass Gott alles mit
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sich erfüllt, alles in allen Dingen wird (1 Kor 15,39). – Die knappe Rede enthält eine Fülle von verheißenen Gütern: Licht, Rettung, ewiges Leben, kein Gericht, keine Finsternis. 12,48bf hat eine schöne Analogie in Dtn 18,18f (von dem Propheten wie Mose, vgl. dazu oben zu Joh 4): »Meine Worte will ich in seinen Mund legen, und er soll ihnen alles sagen, was ich ihm auftrage. Und wer nicht auf seine Worte hört, den will ich auf dieser Grundlage richten.« Auch anderswo ist die Torah Richterin: Dtn 1,6f etc., darin in der Tat den Worten Jesu vergleichbar.
treffen, haben auch Augenzeugen solcher Vorgänge so große Bedeutung im JohEv. Es geht um die sozialpsychologisch relevanten Mechanismen der Anerkennung in sozialen Gemeinschaftsgebilden. Subjektiv »hat man nichts davon«, es geht »nur« und allerdings um den Stellenwert im Miteinander. Wenn Gott seine Herrlichkeit offenbart, kann man ihn loben und ihm die Ehre geben, d. h. ihn verherrlichen (Joh 12,11; 11,40).
Joh 13,1-15: Die Fußwaschung Zu Joh 12,36: »Kinder des Lichts« – ein um die Zeit Jesu oft gebrauchtes Bild, besonders in den Qumran-Texten, etwa 1 QS 1,9; 2,16; 3,24f; 1 Thess 5,5; Eph 5,8; Ignatius Phd 2,1. – In der Anrede stärkt es wegen des abgrenzenden dualistischen Effekts die Identität der Angeredeten. Zu Joh 12,28: »verherrlichen« – dieses Wort hat im JohEv eine besondere Bedeutung, die sehr viel mit »Ansehen«, »verdienter Ehrenstellung« und mit Mission zu tun hat; denn an Gott zu glauben beginnen heißt, ihm die Ehre geben; auch wer die Gebote erfüllt, verherrlicht Gott. Keiner kann sich selbst verherrlichen, allerdings kann Gott gebeten werden, seinen »Namen« zu verherrlichen (Joh 12,28). Immer ist es ein Dritter, der jemandem vor anderen Ansehen verschafft, ihn zu Ansehen bringt. Jesus bringt mit seiner Verkündigung Gott zu Ansehen, der himmlische Vater bringt Jesus zu Ansehen, indem er ihm die Wunder schenkt und ihn in den Himmel aufnimmt (17,5). Jesus wird durch die Jünger verherrlicht, wenn sie seinen Willen tun (Joh 17,10). Immer geht es um den Rang im Gefüge des sozialen Miteinanders. Wenn Gott jemanden verherrlicht, stattet er ihn so aus, dass Menschen ihn loben können und um seinetwillen zu Gott finden. Auch der Paraklet verherrlicht Jesus in seinem auf Jesu Worte bezogenen Wirken vor und an den Jüngern (16,4). Da das griech. Wort doxa eigentlich Lichtglanz bedeutet, handelt es sich bei »Verherrlichen« oder »Herrlichkeit« um eine metaphorisch formulierte ästhetisch-epiphanietheologische Umschreibung für soziale Vorgänge des Verschaffens von Anerkennung. Da diese Vorgänge oft ein komplexes und differenziertes Gefüge be-
Kein Mann, der etwas Selbstachtung besitzt, wäscht einem anderen Mann die Füße. Das ist Sache der Frauen (Lk 7,44), zumal der Witwen (1 Tim 5,10) oder der Sklaven. Denn beim Füßewaschen ordnet man sich auch sichtbar dem anderen unter. Man beseitigt den letzten, untersten, von der Straße herrührenden Dreck. Jesus durchbricht mit seiner Handlung daher die Konvention der männlichen Ehre – eine Zeichenhandlung. Das heißt: Am Ende fasst Jesus alles, was er gesagt und getan hat, in dieser einen, sozusagen sprechenden Handlung zusammen. Damit steht die Fußwaschung hier genau an der Stelle, an der in den anderen Evangelien und bei Paulus das Abendmahl steht. Einer der Gründe dafür, dass Jesus von Mahl und Deuteworten nichts berichtet, ist sicherlich, dass das, was Jesus in der Fußwaschung vormacht, von den Jüngern untereinander nachzumachen ist. Ausdrücklich sagt Jesus das in Joh 13,15 f. Bei den eucharistischen Elementen wäre genau dieses aber nicht möglich. Die Fußwaschung dagegen können die Jünger weitergeben. Jesus ist hier nachahmbar. Daher wird hier auch – im Unterschied zu allen Abendmahlstexten inklusive Joh 6 – die Liebe als der zentrale Beweggrund Jesu genannt. Ein zweiter Grund, hier von der Fußwaschung zu sprechen, ist für den Evangelisten das Thema Reinheit. Sie kommt durch Wasser zustande, und dieser sehr elementare Vorgang ist für den Evangelisten ein Leitmotiv. In Joh 13 wird dieses Motiv auf den ersten Blick verwirrend gehandhabt. Erste Szene: Petrus weigert sich, dass Jesus ihm die Füße wäscht. Das entspricht übrigens der Ablehnung von Jesu Leiden nach Mk 8,32. – Zweite
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384 Szene: Jesus sagt, Anteilhabe an ihm sei an die Waschung durch ihn gebunden. Petrus will daraufhin nicht nur an den Füßen gewaschen werden. Denn er möchte Anteil an Jesus haben, so weit das immer möglich ist. – Dritte Szene: Nach Jesu Wort ist nur das Waschen der Füße notwendig. Dann aber kommt die überraschende Wendung in Jesu Wort: »Ihr seid (schon) rein.« Fragt man beim Evangelisten nach, wodurch das geschehen sein soll, so erhält man die Antwort: »Ihr seid schon rein durch das Wort, das ich zu euch gesprochen habe« (Joh 15,3). Wie soll man sich das vorstellen, und warum will Jesus den Jüngern dennoch beim letzten Mahl zusätzlich die Füße waschen? Das Wort Jesu macht rein, weil es die Schöpferkraft Gottes für die neue Schöpfung ist. Das wissen die Leser dieses Evangeliums seit dem Prolog. Und in einer der letzten Szenen, die der Evangelist berichtet, in Joh 20, hat die Anhauchung durch Jesus die Konsequenz und Folge, dass die Jünger Sünden vergeben können. Sünden vergeben ist aber nach Johannes eine Art Neuschöpfung, wie die Leser aus der Geschichte von dem Blindgeborenen (Joh 9) wissen (vgl. das von oben Geborenwerden als Neubeginn in Joh 3,5). – So schließt sich der Kreis: Jesus trägt in sich Gottes Schöpfungswort. Dieses behält seine alles erneuernde Kraft. Wenn Jesus sein Wort an Menschen richtet, werden diese durch die Kraft seines Wortes erneuert, d. h. frei von Sünden und rein. Der katholische Messritus hat diese Anschauung sehr schön bewahrt. Denn nach der Verkündigung des Evangeliums heißt es: »Durch die verkündigten Worte des Evangeliums mögen unsere Sünden beseitigt werden.« Das genau entspricht dem johanneischen Verständnis des Wortes Gottes, das Jesus ausrichtet. Es macht neu und rein. Aber warum muss Jesus den Jüngern trotz allem noch die Füße waschen? Warum haben sie keinen Anteil an ihm, wenn sie sich das nicht tun lassen? Das Problem ist nicht das Annehmen der Reinheit. Denn rein sein will Petrus unter allen Umständen. Aber Joh 13 führt über alles, was bisher zum Thema Schöpfungswort, Erneuerung und Reinheit gesagt wurde, einen entscheidenden Schritt hinaus. Und dieser Schritt heißt: Jesu Selbsterniedrigung in der Fußwaschung. Darum geht es: dass Jesus die ersehnte Reinigung in der Konsequenz nur als selbstlosen Dienst vermittelt, den die Jünger auch noch nachahmen sollen.
Das Evangelium nach Johannes
Anders gesagt: Nach Mk 8,32 weist Petrus Jesu Leiden zurück und handelt sich dadurch den Titel »Satan« ein. Was bei Markus »Leiden des Menschensohnes« heißt, ist bei Johannes die Selbsterniedrigung zu demütigem Dienst. Petrus lehnt beides (für Jesus!) ab, weil beides letztlich seiner Ansicht von Gottes Herrlichkeit widerspricht. Überdies wird in Joh 13 explizit gefordert, solches demütige Tun weiterzugeben, was in Mk 8,34 implizit gesagt ist: dass der Jünger den Menschensohn auch auf dem Weg des Leidens nachfolgen soll. Joh 13 setzt stattdessen lieber auf das demütige Einander-Dienen. Allerdings wird in Joh 21,18 dann auch vom Martyrium des Petrus die Rede sein. – Wir halten fest: Joh 13 verlangt von den Jüngern mehr, als dass sie sich nur durch Jesu Wort reinigen lassen. Es verlangt, dass sie sich der demütigen Unterwerfung Jesu unterwerfen. Dass sie einen Meister ertragen, der den Weg der bürgerlichen Schande wählt – und insofern steht Fußwaschen durchaus für Kreuzigung. Denn das »Wie« der Reinigung durch Jesu Wort hat es in sich, die Konsequenz eben dieser Mittlertätigkeit Jesu. So vermittelt Joh 13 den Jüngern eine neue, weiterführende Erkenntnis: Jesu Weg ist in der letzten Konsequenz (vgl. 13,1: »… bis zum Ende liebte er sie«, will heißen: bis in die letzte Konsequenz) der Weg eines sich demütigenden Sklaven. Von dieser Seite her lernen die Jünger, das Kreuz Jesu zu begreifen. Aber es bleibt eben nicht isoliert stehen als Jesu Sonderschicksal, sondern wird einbezogen in das Leben der Jünger. Dadurch pflanzen sich die Anstößigkeit und das Ärgernis, das Jesu Füßewaschen schon an sich darstellt, fort in dem inneren Kampf jedes einzelnen Jüngers und jeder Jüngerin gegen den eigenen falschen Stolz und um die eigene Demut.
Joh 13,16: Meister/Schüler … Vgl. zu Apostel/Aussender und Sklave/Herr die parallel gebauten Mt 10,24 Schüler/Lehrer und Sklave/Herr sowie Joh 15,20 Sklave/Herr und mich/euch. – In allen Fällen wird diskutiert, dass es die Jünger nicht besser haben werden als Jesus, ihr Meister. In Joh 15,20 ist der Hass das Thema, in Mt 10,24 Schmäh- und Lästerrede, in Joh 13,16 der Dienst in Niedrigkeit (wie Füße-
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Kapitel 13
waschen). Leiden und Niedrigkeit sind das verbindende Thema. Sklave/Herr kommt an allen Stellen vor. Dieser Grundsatz wird an allen Stellen angewandt. Mt und Joh sehen das Verhältnis zwischen Jesus und den Jüngern streng in der Relation Herr/Sklave. In die Evangelien nach Mk und Lk würde ein solcher Satz kaum passen.
Joh 13,16-30: Die Judas-Frage Das »Amen, Amen« ist hier wie auch sonst im JohEv ein Szenen-Markierer. Der ganze lange Abschnitt ist exklusiv der Judas-Frage gewidmet. Simon Petrus hat laut V. 23 das größte Interesse daran, dass die Frage nach dem, der ausliefert, schnell und eindeutig geklärt wird. Wir hatten bereits bemerkt: Die direkte Abfolge von Petrusbekenntnis und Satan qua einem der Jünger steht in Mk 8,29.33. Das kann kein Zufall sein. In Joh 6,70f ist Judas der Satan. Erweisbar stellt sich das freilich erst in Kap. 13 heraus, und bis dahin ist alles offen; denn 6,71 war ja Kommentar des Evangelisten, auch Petrus käme in Frage. Weil die Frage für Petrus lebenswichtig ist, tritt wohl in 13,23-26 der Lieblingsjünger als Zeuge auf. (In Mk 8 hingegen war eindeutig Petrus der Satan.) Der Lieblingsjünger tritt nach dem JohEv immer dann auf, wenn die Autorität des Petrus gestützt oder von allem Zweifelhaften befreit werden muss. Evident ist das besonders in Joh 20f: Der Lieblingsjünger garantiert, dass Petrus das leere Grab nicht manipuliert hat, und er ist Zeuge seiner Einsetzung als Hirte in Kap. 21. Denn er hat bestätigt, dass der Erschienene Jesus war (21,7: »Es ist der Herr«), und er hat auch die persönliche Prophezeiung in 21,18-22 vernommen. Er hat gesehen, dass Jesus wirklich tot war (Joh 19,34f). Dadurch erst konnte Petrus zum glaubwürdigen Zeugen der Auferstehung werden. Unter dem Kreuz (19,26) wird eben diese Rolle vorbereitet. Denn Jesus hat nur im Todesfall Anlass, seine Mutter dem Lieblingsjünger anzuvertrauen, damit er wie ein Sohn für sie sorgt. Dennoch ist damit die Frage nicht wirklich geklärt, warum der Evangelist es nicht bei Joh 6,70f belässt, sondern in 13,16-30 auf Judas sehr ausführlich zurückkommt und in 18,2-5 zum Thema Judas zurückkehrt. Warum z. B. der Schriftbeweis in 13,18 und dann noch einmal die
385 Vorhersage im Amen-Wort V. 21b? Antwort: Judas wird im JohEv konsequent als Gegenfigur zu Jesus entwickelt. Argumente: 1. Judas wird in Joh 17,12 »Sohn des Verderbens« genannt; das ist Gegentitel zu »Sohn Gottes« und »Retter«. In 2 Thess 2,3 ist »Sohn des Verderbens« Titel des endzeitlichen Widersachers (Antichrist). – 2. Judas ist »der Teufel« (Joh 6,70), bzw. der Teufel ist in ihn gefahren (Joh 13,27). Denn wo gemordet wird, ist der Teufel am Werk (Joh 8,44). Die teuflische Inspiration ist das Gegenbild zur Präsenz des göttlichen Logos in Jesus. Der Teufel bringt Mord, Jesus ist das Brot des Lebens. – 3. Die Nacht ist Symbol und Begleiterin des Judas (Joh 13,30), bei Jesus sind es dagegen der Tag (Joh 11,9f) und das Licht (Joh 12,35). – 4. Judas ist »Dieb«, der nimmt, wo er kann (Joh 12,6); auch nach Joh 10,1.8.10 sind die Gegen-Autoritäten zu Jesus, die falschen Hirten, »Diebe«. – 5. Nach Joh 13,29 vermuten die Jünger, Judas als Kassenwart solle das Notwendige zum Passahfest besorgen. Jesus gibt das Brot des Lebens (Joh 6). – 6. Was man Jesus (an)tut, das ist Gott (an)getan (13,20); bei Judas geht es daher letztlich um den Kampf Gott/Teufel (13,27). – 7. Wiederholt wird die anhängliche Beziehung des Judas zum Geld dargestellt (Kassenwart). Bei Jesus ist es ganz das Gegenteil; freilich wissen wir das eher aus den anderen Evangelien als von Joh. Das heißt: Der Evangelist hat diese Züge hier nicht von sich aus entwickelt, sondern es handelt sich um ältere Überlieferung. Aber Judas ist auch in dieser Hinsicht das klare Gegenbild zu Jesus. – 8. Juda war einer der zwölf Patriarchen, die im Zwölferkreis Jesu »wiederhergestellt« werden. Judas, die gräzisierte Form von Juda, wird penetrant »einer der Zwölf« genannt. Wegen dieser Beziehung des Judas zu Israel wird auch im Zusammenhang der Ansage des Übergebens die Erwählung so deutlich betont (Joh 6,70). Das Stammesgebiet Judas umfasst Judäa. In dessen Mitte liegt Jerusalem. Typisch für das JohEv ist die Spannung zwischen Galiläa und Jerusalem. Galiläa nimmt Jesus positiv auf, Jerusalem in Juda bringt ihn zu Tode. Judas steht daher für den Teil der Juden, die gegen Jesus sind. Deshalb heißt es in 18,35: »dein Volk« hat ihn mir übergeben (vgl. Apg 3,13). »Übergeben« (an die Heiden) ist Sünde (Joh 19,11). Vor allem Judas hat deshalb die »größere Sünde« (sc. als Pilatus). So, wie der
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386 Menschensohn in bestimmter Hinsicht Israel darstellt, erfüllt Judas für Juda und Israel diese Funktion. – 9. Übergeben (in die Hände der Heiden bzw. an juristische Instanzen) gilt im frühen Christentum generell als denkbar größtes Vergehen gegen die familäre Gemeinde (Mk 13,12; vgl. Ps 105[106],41). Daher die Verwendung von Ps 41,10 in Joh 13,18. Vgl. für den Zusammenhang mit dem Menschensohn schon Dan 7,25.
Trifft das zu, dann ist ein Aspekt der späteren Wirkungsgeschichte (»Judas« für »Juden«) im JohEv grundgelegt. Allerdings gilt: Judas steht für die Mentalität von Juden in Jerusalem angesichts des historischen Auftretens Jesu, und zwar in der Deutung, aus der Sicht und in der Bewertung des JohEv. Ein Motiv für generellen Antisemitismus gibt Judas auch hier nicht her. Zu Joh 13,18-20: In den Judas-Texten fällt auf, wie das Vorherwissen Jesu betont wird (z. B. Joh 6,64.70f). Das hat wohl weniger apologetische Gründe (als müsse Jesus dafür verteidigt werden, dass er eine Fehlauswahl getroffen hat), sondern ist wie Mk 14,21.41 zu verstehen: Der Menschensohn »muss« ausgeliefert werden, weil er der Menschensohn ist. Denn in der Welt muss der Gerechte leiden, und das gerechte Volk muss in die Hände des Widersachers ausgeliefert werden (Dan 7,25). – Die Unterbrechung durch einen für einen unbestimmten Personenkreis formulierten Satz in 13,20 entspricht genau der Unterbrechung in 15,20.
Joh 13,31-35: Beginn der Abschiedsreden Die so genannten Abschiedsreden Jesu nach dem JohEv (Kap. 13-17) haben konsolatorische (tröstende) und testamentarische (die Hinterbliebenen zur Einigkeit ermahnende) Elemente. Beides ist im Sinne der damals zeitgenössischen Gattungen erwartbar. Wenn getröstet wird, dann wird zumeist gesagt, dass der Tod auch sein Gutes hat (im JohEv: z. B. Sendung des Beistands). In testamentarischen Reden aber ist es gerade im Judentum üblich, die zurückbleibenden Kinder und Enkel zur Einigkeit zu ermahnen. Denn was könnte sich der scheidende Vater (bzw. die Mutter) mehr erhoffen als Einigkeit unter den Kindern? – Unser Text ist deutlich testamentarisch:
Das Evangelium nach Johannes
V. 31-32 kündet mit »und das wird bald sein« die Verherrlichung an, und zwar im Sinne der Ehrung zum Lebensende. Nach dem JohEv ist das Auferstehung und Erhöhung. V. 33 kündet das Lebensende an: Jesus geht dorthin, von wo er gekommen ist. V. 34-35 gibt testamentarische Mahnungen im engeren Sinn. Nur wenn Jesus zum Himmel hinaufgeht, in die Verborgenheit und Heiligkeit Gottes, aus der er kommt, kann man verstehen, warum sein Gebot ein neues Gebot ist. Denn sonst wird jeder Bibelkundige einwenden, dass doch das Gebot der Nächstenliebe schon im Alten Testament steht, in Lev 19,18 (»Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!«). Jesu Gebot ist neu, weil es – ähnlich wie auch das Neugeborenwerden nach Joh 3,3.5 (vgl. Joh 1,12) – auf der Grundlage der Offenbarung Gottes vom Himmel her an die Menschen ruht. Der Unterschied von irdisch und himmlisch ist wesentlich für das JohEv und seine Bildersprache. Alles Irdische und damit zugleich Alte nützt gar nichts. Es zählt nur das in Jesus Christus neu eröffnete, offenbarte und geschenkte Leben. Dessen Maßstab ist Gottes Leben selbst. Und was das Verhältnis zu den anderen Menschen betrifft, so ist jetzt der neue Maßstab das Verhältnis des Vaters zum Sohn. Wir sahen bereits zu Joh 10, 27-30: Das Verhältnis des Vaters zum Sohn ist Einssein, und es beruht auf Liebe und Sendung. Genauso ist das Verhältnis zwischen Jesus und den Jüngern. Und einig zu sein und einander zu Christus zu führen (Apostolat der Laien nennt man das heute), gilt für Christen untereinander. Jesu Gebot für seine Jünger ist daher nur im Rahmen der Offenbarung Gottes in Jesus Christus zu sehen und deshalb neu, weil diese Offenbarung mit der Menschwerdung des Logos selbst neu ist. Nie zuvor ist Gott den Menschen so nahe gekommen. Nie zuvor war es möglich und nötig, die Einheit zwischen Vater und Sohn auch unter den Menschen darzustellen. Das JohEv scheint kirchlich orientiert zu sein. Es meint mit Einheit und Liebe keineswegs nur eine Mentalität der Toleranz oder der Übereinstimmung in Grundwerten. Vielmehr gilt: Der Radikalität der Bergpredigt nach Mt entspricht die Forderung nach Einssein beim johanneischen Christus. Sie ist radikal und in gewissem Sinne überfordernd wie die Bergpredigt. Für beide gilt dieselbe Leitvorstellung: »Seid vollkommen, wie
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euer himmlischer Vater vollkommen ist« (Mt 5,48). Im JohEv ist das nur christologisch »ausgeweitet«.
Joh 13,36-38: Dialog mit Petrus Nicht nur Judas ist eine Gegenfigur zu Jesus, auch Petrus. Das gilt generell für einen Teil der Evangelien-Tradition, besonders aber für Joh 13,36-38. Der Herr setzt sein Leben für die Jünger generell und für Petrus ein – Petrus aber wird ihn verleugnen und sein Versprechen brechen.
Joh 14,1-12: Der Erste von vielen Geschwistern Im Hintergrund steht wohl die Frage: Warum musste Jesus sterben, warum ist er weggegangen? Antwort: Er ist Quartiermeister bei Gott. Angesichts der religiösen Umwelt des Urchristentums, insbesondere des Judentums gilt: Dieses ist eine hochbrisante neue Auskunft. Gerade die Texte aus Qumran zeigen, dass es mit den Hoffnungen des Judentums auf das ewige Leben nicht weit her war. Das Normale wäre immer noch ein Schattendasein in der Scheol gewesen. Bestenfalls rechnete man – abgesehen von der »Weisheit Salomos« – mit einigen, die ausnahmsweise den entgegengesetzten Weg, nämlich zu Gott hin, gehen durften. Jesu Worte sind hier revolutionär, wenn er sagt: Wenn ich zum Vater gehe, dann ist einer von uns Menschen dort angekommen, unwiderruflich, anders als bei Henoch und Elia, die noch einmal auf die Erde kommen werden, um »richtig« zu sterben. Nein, dieses ist etwas anderes. Hier ist der Traum, den später die jüdische Mystik über den Menschen träumen wird, der bis zu Gott gelangen durfte, schon vorweg erfüllt. Und nicht nur das. Jesus ist nicht allein bei Gott angelangt, sondern als der Erste von vielen Geschwistern. Die an Jesus glauben, die ihn buchstäblich essen, sollen und können ihm alle ähnlich werden. Denn er ist Wasser und Brot, Licht und Weinstock zugleich. Wer ihn in sich aufnimmt, wird denselben Weg gehen, ja den Weg gehen, der Jesus selbst ist. Dieser Text lässt somit einen ganz neuen Blick auf die Rolle Jesu als Erlöser zu. Wir sind ge-
387 wöhnt, zu diesem Stichwort nur an das Kreuz zu denken. Das JohEv weitet den Blick. Angesichts der Bedeutung von »bleiben« im JohEv, ist 14,2 (»viele Bleiben« [= Wohnungen], d. h. eben nicht nur eine für Jesus; mone griech. »Wohnung, Bleibe« kommt von dem Verbum menein – »bleiben«) eine zentrale Heilsaussage. Denn »bleiben« heißt im JohEv immer: den rabiaten Reißzähnen des Todes entgehen. Bleiben ist Sieg über den Tod. Das JohEv fragt nicht »Was bleibt?«, sondern »Wer bleibt?«. Der Weg Jesu zu Gott bringt die unüberbietbare Gewissheit, dass der Himmel aufgeschlossen wurde. Diese Auskunft lässt das Ärgernis des Kreuzes vergessen. Jesu Weg zu Gott ist wie die Erstbesteigung eines hohen Berges. Ist sie einmal geglückt, dann können sich andere auf diese erfolgreiche Route begeben. Jesu Geschick wird »demokratisiert«, so wie er auch nach Paulus der Erstgeborene unter vielen Geschwistern ist. Die entscheidende Heilstat Jesu kommt erst in der Zukunft zur Geltung; denn er hat den Ort freigemacht, an dem Menschen ewig leben können. Die Erlösung ist ganz gegeben, wenn Jesus und die Christen gemeinsam beim Vater sind, ähnlich wie auch nach Mk 13,27 das Entscheidende darin bestehen wird, dass Jesus seine Jünger bei sich versammeln lässt, und wie es nach 1 Thess 4,17 heißt, dass die Christen »mit dem Herrn zusammen sein werden«. Zu Joh 14,12: Nach Joh 14,12 sagt Jesus: »Wer an mich glaubt, wird die Werke, die ich tue, auch selbst tun, ja, er wird größere Werke tun, denn ich gehe zum Vater.« Bis ins 17. Jh. hinein (Tossani, 1665) deutet man die größeren Werke im Sinne von mehr Wundern; man weist auf Mk 16,17. Nach Jesu Erhöhung sei zudem nicht nur ein kleines Land (Palästina), sondern die ganze Welt wunderbar bekehrt worden. Die Wunder seien z. T. größer, weil der Schatten des Apostels für die Heilung genüge oder eben sein Schweißtuch. Die neueren Autoren bemühen sich zu zeigen, dass die Jünger nicht aus eigener Kraft Größeres tun konnten, sondern weil Jesus jetzt beim Vater für sie eintrete, daher jedes Gebet erhört werde und Jesus so durch sie wirke. Immerhin weisen ältere Autoren wie Tossani auf die Sprachenwunder hin, die es vor Ostern nicht gab. Das führt auf eine m. E. wichtige Spur. Denn die offensichtliche Ausweitung des Potentials an
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388 Wunderbarem gibt es in der Tradition, nach der nach dem Tod des Lehrers/Vaters die Kinder dessen Geist erben, und zwar vielfältig und kräftig (nach Tossani gilt das für Hiob und seine drei Töchter, die nach seiner Aufnahme in den Himmel in Zungen reden); es gilt genauso von Elisa, der Elias Geist erbt, und es gilt von Jesus, dessen Geist zu Pfingsten auf die Jünger kommt. Mit diesen Geistphänomenen geschieht Neues, Himmlisches, Weiterführendes.
Joh 14,15-21: Der verheißene Paraklet – Das verheißene Jesus-Sehen Grundlegend für das frühe Christentum ist die Institution des Patrons oder Paten. Das ist ein Mächtigerer, der für einen Schwächeren eintritt und ihm hilft. So ist Jesus, zur Rechten Gottes, unser Patron vor Gott. So sind die Heiligen Schutzpatrone und die Paten helfen ihren Schützlingen. Im besten Sinne des Wortes ist die christliche Religion ein Geflecht von Schutzpatronen und Schützlingen. (Leider hat diese archaischen sozialen Regeln dann die Mafia auch in ihre innere Struktur übernommen und so pervertiert.) Jesus spricht in Joh 14 über einen solchen Patron, über den »Beistand«. Berger/Nord haben mit »Fürsprecher« übersetzt, Luther fälschlich mit »Tröster«. Gemeint ist der »Paraklet«, der Heilige Geist, von dem Jesus sagt, der Vater werde ihn auf Bitten des Sohnes hin senden. »Paraklet« bedeutet hier Patron, Anwalt, einer, der spricht, wo man es selbst nicht oder nicht zureichend vermag. Anders als bei Paulus geht es im JohEv nicht um den, der außer Jesus bei Gott für uns spricht. Im JohEv ist die Perspektive anders: Den Heiligen Geist benötigen die Christen in ihrem Zeugnis gegenüber der Welt. Denn sie stehen wie in einem Prozess, in dem es auf jedes Wort ankommt. So wird der Heilige Geist die Jünger Jesu an dessen Worte erinnern, er wird ihnen das richtige Verständnis dieser Worte geben und den Christen vor den Gegnern zu ihrem Recht verhelfen, wird »die Welt« dagegen ihres Unrechts »überführen«. Er ist wie ein Advokat (Verteidiger) vor Gericht oder ein Fürsprecher vor allen Instanzen, die Angst machen. In anderen Evangelien spricht Jesus vom Heiligen Geist, der
Das Evangelium nach Johannes
den Jüngern vor Gericht eingeben wird, was sie sagen sollen. Geist der Wahrheit heißt der Paraklet hier, weil Wahrheit ein Wort für Gottes stabile Wirklichkeit ist. So kann man übersetzen: »den wahren und wirklichen Geist Gottes«. Denn nichts ist wirklicher als Gott. Eine alte Präfation nennt den Heiligen Geist hier »Engel der Wahrheit« (Corpus Praefationum 518). »Ganz stark mache er seine Heiligen, die gerüstet sind mit dem Geist der Wahrheit, und er vertreibe ihnen die Angst vor der Wut der Verfolger« (Corpus Praefationum 1235). Im JohEv ist der Heilige Geist auf das Worthafte beschränkt. Bei Paulus stärkt er die Christen zum Handeln, übermittelt die Charismen und hat verwandelnde Kraft für die Leiblichkeit, etwa bei der Auferstehung. Das alles fehlt im JohEv. Weil in diesem Evangelium Jesus das Wort Gottes ist, kann auch der Heilige Geist nur Jesu Sein und Wirken bis in die Gegenwart hinein verlängern, und zwar vor allem im verbalen Geschehen. Er lehrt, erinnert, lässt verstehen und überführt. Zu Joh 14.19: »Jesus sehen«: »Die Welt sieht Jesus nicht mehr, ihr aber seht mich, denn ich lebe.« Damit sind keine besonderen Visionen gemeint, sondern das geheimnisvolle Miteinander von Jesus und Jüngern. Paulus denkt das ähnlich, wenn er sagt: »Wir sehen offen seine Herrlichkeit und werden in sie hinein verwandelt« (2 Kor 3,18). Dieses Sehen bedeutet, mit den Augen des Herzens zu sehen, einen Sinn zu haben für das, was andere nicht sehen. Auch wenn man vom (lat.) dulce sapere spricht, geht es um verwandelte Sinnlichkeit. Auch 14,21, wo Jesus sagt, die Liebe zwischen Mensch und Gott sei unteilbar, endet wie V. 19 mit einer Verheißung des Sehens: »und ich werde mich ihm zeigen«. – Gewiss sind die Ostervisionen einmalig. Aber für jeden Einzelnen, der glaubt und die Gebote bewahrt und so seine Liebe zum Glauben zeigt, gibt es etwas, das ihnen irgendwie ähnlich ist. Und wenn Jesus hier sagt »Ich werde mich ihm zeigen«, dann lebt die Ausdrucksweise von der Sprache der Visionen her. Im Unterschied zu den Ostervisionen geht es nicht um Offenbarungen und auch nicht um ein mystisches körperliches Sehen. – Und dann ist zweitens von der Liebe die Rede, und zwar in den beiden rahmenden Sätzen dieses Abschnittes (Joh 14,15 und
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21). Hier wird nicht gefühlsmäßige Liebe »befohlen«, sondern zu Taten aufgefordert. Das gilt im Alten Bund gerade so vom Vater: »Du sollst Gott lieben …« heißt in Dtn 6,4f nichts anderes, als seine Gebote halten.
Joh 14,23-29: Jesu Wort – Heiliger Geist – Frieden Dieser Abschnitt – Antwort auf eine Jüngerfrage (14,22) – ist dreiteilig. In V. 23-25 sagt Jesus Abschließendes über sein Wort und damit über sich selbst. In V. 26 spricht Jesus über den Heiligen Geist, den Fürsprecher, den der Vater in seinem Namen senden wird. In V. 27 spricht Jesus vom Frieden – ein Satz, der seiner Formulierung nach das Ende einer Rede sein könnte. Zu Joh 14,23-25: Wenn einer Jesu Worte bewahrt und ihn liebt, dann wird der Vater ihn lieben, und Jesus und der Vater werden »zu ihm gehen und bei ihm wohnen«. Das JohEv kennt eine besondere Theologie des »Wohnens«. Gleich zu Anfang fragen die Jünger Jesus: »Wo wohnst du?« (Joh 1,38), und am Ende wird Jesus wiederkommen, um den Jüngern »Wohnungen« zu bereiten. Mitten im Evangelium wird die Frage, wo Gott wohnt – auf dem Garizim oder im Tempel von Jerusalem –, von Jesus beantwortet: dort, wo man Gott »im Heiligen Geist und als den wahren, wirklichen Gott« anbetet, also bei Jesus allein. Gottes Ort als Geheimnis ist Thema frührabbinischer Theologie, und so heißt Gott »maqom« (Ort). Nach dem JohEv ist Gott dort, wo Jesus ist, und umgekehrt. Die Mystiker des Mittelalters greifen das Thema der Rabbinen auf und beantworten es mit Joh 14,23: Das Herz des Christen ist der neue Ort Gottes in der Zwischenzeit. Gottes Thronwagen ist wieder beweglich geworden, so, wie man ihn vor Zeiten gedacht und in der jüdischen Mystik beschrieben hat. Die Rede vom Lieben und Bewahren in V. 24 liefert auch noch einen Kommentar zur Frage Jesu an Petrus in Joh 21,15-17. Denn wenn Petrus Jesus liebt bzw. lieb hat, dann bedeutet das im Licht von Joh 14,23 auch, dass er Jesu Wort »bewahrt«, und zwar im Doppelsinn des Wortes von treuer Beachtung des Wortlauts und von dessen praktischer Befolgung.
389 Wenn Petrus Jesus liebt, dann zeichnet ihn dieses auch als treuen Überlieferungsträger aus. Damit wäre die Stelle Joh 21,15-17 auch eine johanneische Entsprechung zum Felsenwort in Mt 16,18. Denn im Sinne von Joh 21,15-17 ist Petrus dadurch der Fels, dass er Jesu Worte getreu bewahrt und (wie dann V. 26 erklären wird) unter dem Beistand des Heiligen Geistes unverfälscht überliefert und auslegt. Zu Joh 14,26: Jesus spricht über den Beistand, den Gott senden wird, und macht wiederum sein Wort zum Thema, von dem er im ersten Teil gesprochen hat. Denn der Beistand wird alles erklären und die Jünger an alles erinnern, was Jesus gesagt hat. Gerade auch in nicht-christlichen Offenbarungsberichten dieser Zeit wird im Rahmen einer göttlichen Offenbarung jeweils auch eine göttliche Kraft verheißen, die das Vergessen verhindern und die Übereinstimmung des später Berichteten mit dem jetzt Vernommenen und Geschauten gewährleisten soll. Denn alle Offenbarung nützt nichts, wenn sie nicht genau wiedergegeben wird. Dafür braucht der Mensch in seiner Schwäche göttlichen Beistand. Auf diese Weise wird in den Abschiedsreden zweifellos das Evangelium selbst, so wie es da ist, legitimiert. Als getreues Zeugnis verdankt es seine Existenz und Glaubwürdigkeit dem Heiligen Geist. Während es sonst auch der Heilige Geist oder Jesus selbst ist, der den Jüngern die passenden Worte eingibt, wenn sie vor Gericht stehen, sind hier diese Worte (14,26) ausdrücklich mit dem Evangelium identifiziert, gerade so wie in Mt 28,20 Jesus das Evangelium meint, wenn er sagt: »Lehrt sie alles halten, was ich euch aufgetragen habe« – denn eben das Evangelium ist »alles, was Jesus gesagt hat«; in 21,24 dagegen bekräftigt die Gemeinde das Zeugnis des Evangeliums durch die eigene Approbation. Die Evangelien nach Matthäus wie nach Johannes verstehen sich daher als jeweilige Summe aller wichtigen Jesusworte. Aber hier in Joh 14,26 haben wir zum ersten Mal die Auffassung von der Inspiriertheit der Evangelien im Ganzen. Dabei garantiert der Heilige Geist nicht nur die Treue der Überlieferung, sondern auch die rechte Auslegung. Dass damit ein Freibrief zur Erfindung großenteils völlig neuer Jesusworte nach Ostern gegeben sei, ist gerade nicht gesagt. Viel-
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390 mehr garantiert der Heilige Geist hier die Treue der Überlieferung nach dem rabbinischen Ideal, angesichts dessen man von vorbildlichen Rabbinenschülern annehmen konnte, ihr Gedächtnis sei »wie eine gekalkte Zisterne«, d. h.: Es lasse keinen Tropfen von dem Wasser durch, das man in diese Zisterne hineingefüllt hat. Zu Joh 14,27: Der Friedensgruß Jesu unterscheidet sich von allen übrigen sonst bekannten, etwa dem gewöhnlichen liturgischen »Der Friede (des Herrn) sei mit euch«. Jesus sagt: »Ich gebe euch Frieden, meinen Frieden, das ist anders, als wenn die Welt Frieden gibt. Euer Herz soll nicht wankend werden und nicht verzagen.« Aber was ist das, ein Friede nicht von dieser Welt? Er passt zu dem Reich, das nicht von dieser Welt ist (Joh 18,36). – In seiner 13. Predigt zitiert Bernhard von Clairvaux zu dieser Stelle Eph 2,14: Du bist ja unser Friede, du hast aus beiden eins gemacht, und Lk 2,14: Friede den Menschen, die Gott erwählt. So ist das gemeinsame Thema der drei Abschnitte 14,23-27: Bewahren der Offenbarung des Wortes Gottes in Jesus. Dieses bedeutet: Jesus lieben und das Wort hüten und tun. Das geschieht unter Beistand des Heiligen Geistes, der für Treue und rechtes Verstehen sorgt. Und genau das bedeutet Frieden: Stabilität der Herzen und Abwesenheit von Verwirrung, Unruhe und quälenden Zweifeln.
Joh 14,15-16.23b-26: Paraklet – Beistand Das JohEv spricht sowohl vom Heiligen Geist als auch vom Beistand (Paraklet, Fürsprecher, Tröster) und meint mit beiden dieselbe Größe, doch unter verschiedenem Aspekt. Denn der Beistand wird exklusiv nach Ostern speziell vom Vater gesandt (im Namen Jesu), und er ist ein gewisser Ersatz für Jesus; daher nennt Jesus ihn den »anderen« Beistand (neben sich selbst). Dieser hat seine Rolle als Beistand im Prozess der Jünger gegen die Welt. Die Mission wird als ein öffentliches Prozessverfahren dargestellt, in dem die Welt dessen »überführt« wird, dass Unglaube Unrecht ist. Der Prozessbeistand der Christen ist der vom Vater gesandte Beistand. Die Größe, die der Evangelist dagegen (heili-
Das Evangelium nach Johannes
gen) Geist nennt (z. B. 6,63), ist weniger personhaft. Sie bezeichnet die vitale Qualität des göttlichen Lebens, daher wird der Christ neu, vom Himmel her, geboren »aus Wasser und Geist«, daher »nützt das Schwache, Vergängliche« (»Fleisch«) nichts, sondern nur »der Geist«, nämlich die Worte Jesu in ihrer sakramentalen Qualität. Die Formel »nicht Fleisch, sondern Geist« hilft unter anderem, die Bilder vom Essen und Trinken des Fleisches und Blutes Jesu nach Joh 6 zu verstehen. Nicht wenn man die Bilder auf Irdisches, Sichtbares bezieht, sind sie richtig verstanden, sondern allein wenn man sie auf Gottes unsichtbare, kraftvolle Wirklichkeit bezieht und im Sinne der Gabe des wahren und unvergänglichen Lebens versteht. An diesem Leben teilzuhaben bedeutet, neugeboren bzw. neugeschaffen zu werden. Deshalb wiederholt Jesus im Sinne der Neuschöpfung des Menschen die Anhauchung Adams durch Gott, doch nun mit Heiligem Geist (Joh 20,22). Und dieser Geist bedeutet Sündenvergebung, weil der alte Mensch hiermit ganz und gar vergangen ist. Daher weist das Getauftwerden aus Gottes Geist (Joh 3,5) in dieselbe Richtung wie die Sündenvergebung nach Joh 20: In beiden Fällen teilt der Christ das neue, kräftige, dem Tod gegenüber resistente Leben Gottes. Man kann den johanneischen Gegensatz von Fleisch und Geist mit dem paulinischen von Psyche und Geist, irdisch und himmlisch nach 1 Kor 15,44b-49 gleichsetzen: Der erste Adam war schwach und aus Erde, der zweite aber ist aus lebendigmachendem Heiligen Geist (1 Kor 15,4548). Die Christen sind bei Paulus als mit dem Heiligen Geist Getaufte die »neue Schöpfung«. In Joh 20 steht die Sündenvergebung an der Stelle, an der Paulus von der neuen Schöpfung spricht; die Sündenvergebung führt Paulus im Unterschied zu Johannes auf die Stellvertretung Jesu in seinem Tod zurück. So ist der Heilige Geist im JohEv Gottes Kraft zur Neuschöpfung des Menschen (neue Geburt und Sündenvergebung). Er steht für das neue, qualitativ unvergängliche und unzerstörbare Leben aus Gottes Bereich, der sich nun auch auf der Erde ausdehnt. Dagegen ist der »Beistand« ganz verbal ausgerichtet, eher personhaft wie ein Anwalt bzw. Verteidiger im Gericht, der seiner Partei die richtigen Stichworte liefert (ähnlich auch in Mk 13,11; Mt 10,19f). Indem er den Gliedern der Kir-
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che vor dem Tribunal der Weltgeschichte die rechten Jesusworte und ihre Auslegung eingibt, verhält er sich wie ein guter Anwalt, der seiner Partei »vorsagt«, was sie sagen soll. Er wird die Jünger »alles« lehren, d. h. sie an alle Jesusworte erinnern und für die richtige Deutung sorgen; er ist also Lehrer der Kirche. Und gegenüber dem Gegner »Welt« beweist er, dass es Sünde, Gerechtigkeit und Gericht gibt (Joh 16,8-11). Sünde besteht darin, dass die Menschen nicht an Jesus glauben, Gerechtigkeit darin, dass der Gekreuzigte längst von Gott ins rechte Licht gesetzt worden ist, denn er wurde auferweckt und erhöht. Und das Gericht wurde dadurch vollzogen, dass schon seit Joh 12,31 der Herrscher dieser Welt, Satan, abgesetzt worden ist, und zwar weil Jesus als Einziger, und weil er konsequent gehorsam gewesen ist. In diesem Sinne, weil also Jesus der treue Bote Gottes ist, führt der Beistand »in alle Wahrheit ein« und wird als zweiter Bote, der vom Vater kommt, Jesus mit dem verherrlichen, was er bei Gott gehört hat. Mit Paulus gemeinsam hat das JohEv allerdings die Doppelung des Anwaltes für die Christen, wie sie bei Paulus in Röm 8,26.34 belegt ist. Die Menschen haben demnach zwei Anwälte bei Gott dem Vater, Jesus und den Heiligen Geist. Der eine Anwalt ist bei Gott, während der andere auf der Erde bei den Menschen ist. Für das JohEv gilt: Wenn Jesus bei Gott erhöht ist, wird der Beistand zu den Menschen gesandt. Bei Paulus hören wir: Seitdem Jesus zur Rechten Gottes erhöht ist und als unser Anwalt und Fürsprecher für uns beim Vater eintritt, ist der Heilige Geist auf Erden bei den Menschen, er ist in ihre Herzen ausgegossen und trägt ihre Gebete vor Gott. Während bei Paulus die Rolle beider Anwälte fürsprechend und fürbittend ist, und zwar gemäß der im Alten Testament vorgeschriebenen Zweizahl der Rechtszeugen (Dtn 19,15), ist im JohEv die Rolle der beiden Anwälte unterschiedlich. Jesus vertritt die Glaubenden vor dem Gericht Gottes, der Heilige Geist dagegen wirkt für die Christen im Forum der Weltgeschichte. Sein Gegenüber ist nicht Gott, sondern es sind die ungläubigen Menschen, die die Botschaft hören und von der Wahrheit überzeugt werden sollen. Es ist historisch nicht auszumachen, welche der beiden Konzeptionen von den zwei Anwälten die ursprünglichere ist, die johanneische oder die
391 paulinische. Immerhin kann die johanneische direkt auf Jesus zurückgehen. Beide, Johannes wie Paulus, bestätigen aber die Ansicht der Kirchenväter (seit Irenäus von Lyon), Sohn und Geist seien die beiden Hände des Vaters. Erstaunlich ist, dass die Liturgie des Westens die beiden unterschiedlichen Anwaltsfunktionen des Geistes völlig vergessen hat. Sie betont die Wirkung des Heiligen Geistes in der Taufe, in der Epiklese seine Rolle für die Eucharistie (in Fortschreibung der Kombination von Geist- und Brotbitte nach den älteren Versionen von Lk 11,2: »Es komme dein Heiliger Geist über uns und reinige uns«). Die westliche Liturgie hebt mit Paulus (1 Kor 12) die Gaben des Geistes hervor, besonders die der Einsicht und des Verstehens, und betont wiederum mit Paulus die Rolle des Heiligen Geistes für die Heiligung der Christen (1 Thess 4,3.7f: Heiligung der Christen als Ziel Gottes, der durch seinen Heiligen Geist wirkt). Die Engführung der Rolle des Heiligen Geistes auf die Heiligung der Kirche und das Außerachtlassen der missionarischen Dimension wurde wesentlich mitbedingt durch die Übersetzung von »Paraklet« mit »Tröster« (consolator), im Griechischen schon seit Eusebius. Doch nur in Hiob 16,2 hat das hebräische menachem diese Bedeutung; von dieser Stelle aus ist vielleicht die Deutung als Tröster populär geworden. Die älteren lateinischen Übersetzer hatten noch advocatus. Doch »eine vertiefte Auffassung muss auch den Gerichtscharakter der apostolischen Predigt gegenüber der ungläubigen Welt einbeziehen« (R. Schnackenburg). Zu Joh 14,30: Der eigentliche Fremdkörper in diesem Abschnitt ist der »Herrscher dieser Welt« in 14,30. Es ist der Teufel, der Jesu Tod will und bewirkt. Jesus wird ihn besiegen (12,31; Kol 2,14). Nach Joh 12,31 und auch nach Phil 2,6 (vgl. Röm 5,19) wird das geschehen durch Jesu Gehorsam. Denn inmitten der Welt der seit Adam ungehorsamen Menschen gibt es den einen, der gehorsam ist, und der damit den »Bann bricht«. Der Tod Jesu ist in dieser Hinsicht nicht oder nicht zuerst ein Sühnetod, sondern er verändert ganz im Sinne der Predigt Jesu vom Reich Gottes die Herrschaftsstrukturen in der Welt. Auf jeden Fall ist diese Perspektive weltweit.
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Das Evangelium nach Johannes
Joh 15-17: Einheit in Christus Joh 15,1-8: Weinstock und Reben Jesus ist auf geheimnisvolle Weise mit der Gesamtheit derer identisch, die ihm nachfolgen. In dem hier verwendeten Bild ist er nicht das Haupt des Leibes (wie in Kol und Eph), also kein besonderes Organ den Jüngern gegenüber, sondern alle Jünger zusammen machen ihn aus. Wir kennen das von 1 Kor 12, wo Paulus sagt, die Gemeinde im Ganzen sei der Leib Jesu Christi, d. h.: er selbst. So ist es auch bei der Berufung des Apostels, wie Lukas sie in der Apg schildert: »Saul, warum verfolgst du mich?«, sagt Jesus. Er fragt nicht: »Warum verfolgst du meine Glieder, meine Anhänger?« Nein, er selbst ist sie alle. Diese Denkform erinnert auch an die Herkunft des Ausdrucks »Menschensohn«. Denn in Dan 7 ist der Menschensohn bildhaft das ganze Volk der Heiligen des Höchsten. Er repräsentiert es nicht nur, sondern er ist dieses Volk in Person. Das bedeutet im Klartext eine unvorstellbar enge Beziehung der Gesamtheit der Jünger zur Person Jesu. So wie die vielen Körner das eine Brot ausmachen und die vielen Zweige den Weinstock, so sind alle Jünger zusammen sein Leib. So wie Jesus nach Joh 2,19 Ort und Tempel Gottes ist, sind auch sie es. Daher kann es – wiederum bei Paulus – heißen: »In eurer Mitte ist Gott« (1 Kor 14,25). Und weil Jesus als Einzelner Gott und Mensch ist, ist auch die Gesamtheit der Jünger Gegenstand des Credos (»Ich glaube an die eine heilige … Kirche«). Alle diese Formulierungen (ich, Weinstock, Leib, Menschensohn) legen von ihrem Gehalt her zwingend nahe, dass es nur eine einzige Kirche Jesu geben kann. Es ist theologisch ganz ausgeschlossen, von einer Pluralität von Kirchen zu reden. Der Glaube an Jesus, den einen Mittler, hat hier selbstverständliche Konsequenzen für die Kirche. Schon das Alte Testament nennt den Davididen (den König aus Davids Sippe) »Weinstock«, und im Frühjudentum wird dann auch der Messias Weinstock genannt, der im Unterschied zu anderen, mächtigeren Pflanzen als Inbegriff des Friedens gilt. Denn der Weinstock ist nicht mächtig, sondern zart, und er erfordert, damit er überhaupt werden kann, viel Zuwendung und daher
Friedenszeiten. Daneben und hauptsächlich ist der Weinstock immer ein Bild für Israel. In Joh 15 fällt beides in eins, die messianische und die auf Israel bezogene Bedeutung. Ein erster Gedankengang Jesu (15,1f) bespricht das Verhältnis des Vaters zum Weinstock. Der Vater wirkt an denjenigen, die schon zu Jesus gehören (»in mir«) auf zwei mögliche Weisen: Er schneidet weg (d. h. er entfernt aus dem Weinstock), oder er reinigt, d. h. er stutzt zurecht, damit sich die Fruchtbarkeit erhöht. Das Letztere wird man wohl so zu verstehen haben: Gott erzieht durch Leiden. Das Erstere kann nur so geschehen, dass Gott eine Trennung von der Gemeinde zulässt oder sogar bewirkt; zu denken ist an Vorgänge wie 1 Kor 5,5.7 (auch hier in 5,7 mit dem Bild der Reinigung durch Absonderung). – Diese beiden extrem verlustreichen Vorgänge werden an den Anfang gestellt. Alles weitere wirkt »leichter«. 15,3 sieht die Sache anders; das Bild wird vom Christwerden her eingeführt: Beim Christwerden hat Jesus durch sein Wort die Reinigung vollzogen. Sich dem Wort Jesu öffnen und sich ihm anschließen, ist daher ein Prozess der Säuberung von Überschüssigem. Auch Paulus spricht in Röm 6 von der Taufe in dem Sinne, dass sie Abschied und Absterben ist, Ablegen der Verfilzung mit der Sünde. Paulus und dem johanneischen Jesus ist daher gemeinsam, die Taufe als durchaus schmerzhaftes Sich-Trennen von etwas Todgeweihtem, Sinnlosem anzusehen. Dass Jesus dieses hier mit dem winzertechnischen Fachausdruck »reinigen« bezeichnet, hilft uns auch zu verstehen, warum Paulus das Reinigungsbad der Taufe das Absterben des Sündenfleisches nennt: Verzicht auf frühere Bindungen, Freiwerden von allem, was hindert, Frucht zu bringen. Die Taufe der Christen ist Schöpfung durch das Wort, weil sie darin besteht, dass der Täufling vom Himmel her neu geboren, neu geschaffen wird. 15,4: Danach aber kommt es auf das Bleiben an. Das griechische Wort für »Glauben« (pistis) enthält auch (wie das hebräische aman) das Element der Bewährung in Treue; daher kann Bleiben im JohEv auch für die treue Erprobung des Glaubens stehen. Jesus spricht hier davon, dass die Jünger »in ihm« bleiben, mit ihm verbunden
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Kapitel 15
bleiben sollen. Nur dann können diese Zweige Trauben tragen, die hier »Früchte« heißen und nichts anderes sind als die sichtbaren Werke der Liebe. Auch Paulus spricht an solchen Stellen vom Darinbleiben in Christus; er kann es aber auch anders formulieren: als Kraft des Heiligen Geistes, die uns dazu befähigt zu handeln. Im JohEv ist der Heilige Geist dagegen als Paraklet auf andere Dinge bezogen (Beistand im Prozess gegen die Welt). Das JohEv sieht die Kraftquelle der Christen exklusiv in einer lebendigen Beziehung zu Jesus. Kann man rekonstruieren, wie Jesus sich das gedacht hat? Zum einen geht es sicher darum, Jesus als Vorbild vor Augen zu haben. So wie Jesus es bei der Fußwaschung sagt (13,14). Er ist das Vorbild der Freundesliebe. Aber es geht sicher noch um mehr, um eine innerliche, gnadenhafte Verbundenheit, die sich nicht darin erschöpft, dass man Jesus als Beispiel nimmt. Denn Jesus ist die Gabe des Lebens an die Menschen, er ist das Brot, von dem die Christen essen, das frische Wasser, von dem sie trinken. Und hier in Joh 15 heißt dies: Er ist der Saft, der im Weinstock die Zweige am Leben erhält und die Trauben hervorbringt. Wir fragen: Wie kann das sein, Jesus als Brot, Wasser, Lebenssaft? Welche Szene, welchen konkreten Lebensvorgang hat der im Auge, der so redet? Zunächst: Der Mensch Jesus ist das Gefäß für dieses göttliche Leben. Gottes Wort, Vollmacht, Tat und Leben sind in Jesus zugänglich wie ein Schatz in einem Tongefäß. Und dann: Im Glauben auf ihn schauen heißt, an ihm teilhaben. Das ist ähnlich wie bei der Berufungsvision des Paulus. Wenn Paulus den Herrn sieht, ist er nicht Subjekt und der Herr Objekt, sondern der Herr ist Subjekt und gibt Paulus Anteil an sich selbst, sodass Paulus fortan als Apostel dient. Das ist eben weit mehr als ein theoretisches Sehen, sondern ähnlich wie »Gott schauen«, das Anteilhabe an seinem Leben bedeutet (Mt 5,8). Ganz ähnlich ist es mit dem Glauben oder Bleiben im JohEv: Wer auf Jesus blickt, bleibt nicht derselbe, er wird ergriffen und verwandelt. Wer sich dem Anspruch und der realen Gegenwart Jesu aussetzt, wird hineingezogen in den göttlichen Schatz des unzerstörbaren Lebens. Das ist nicht kurzes Hinblicken in einem Augenblick, sondern verweilendes Anschauen, die Augen des Herrn
393 auf sich ruhen lassen. Oder: Seine Seele in die Sonne halten und von der Sonne sich wärmen und mit Licht erfüllen lassen. Wegen dieses verweilenden Anschauens, man kann es auch Betrachten nennen, ist der Christ des JohEv notwendig kontemplativ, d. h.: nicht unruhig oder neugierig die Blicke vom einen zum anderen Helden oder Star gleiten lassen, sondern immer wieder auf Gestalt und Antlitz Jesu blicken. 15,6 kehrt dann zur Schärfe des Anfangs (15,1f) zurück: »Die verdorrten Reben werden gesammelt und ins Feuer geworfen« (15,6b). Auch in diesem Evangelium spricht Jesus unbefangen vom Feuer. Jeder Gärtner und Winzer weiß es: Bei Pflanzen geht es immer um Leben und Tod. Was keinen Lebenssaft mehr erhält, ist sehr schnell tot. Jesus meint sein Angebot ernst, und der Zustand der Welt ist genau danach. Weil der Tod immer zum Greifen nahe ist, hetzt Jesus uns geradezu in das Leben hinein. Und er hat es eilig damit. Denn aus der Sicht der Bibel ist unsere Welt eine Notfallstation, in der es nur um eines geht, um Leben oder Tod. Und Jesus ist der Arzt, der wie jeder gute Arzt bedingungslos um das Leben kämpft. Im Sinne des JohEv wird man sagen müssen: Nichts verschleiert diese Grundsituation so, wie das zeitgenössische Reden von Toleranz und der angeblichen Gleichwertigkeit aller Religionen. Denn in einer Notfallstation ist eben nichts egal. Und die Krankheit zum Tode kann ich nicht mit Pfefferminztee behandeln.
Joh 15,9-17: Die Liebe ist durch Jesus vermittelt Über die Jüngergemeinde führt der Weg zu Jesus. Die Weise, wie es bei den Jüngern zugeht, ist die Visitenkarte für ihren Herrn Jesus und für Gott. Und deshalb gilt im JohEv: »Wie der Vater mich …, so … ich euch.« Das betrifft die Liebe, die Sendung und die Gabe der Herrlichkeit (Verherrlichung). Der Weg zu Gott führt exklusiv über Jesus und Jüngergemeinde. Und das bedeutet eine Verheißung von Leben und Licht. Gott wohnt nicht direkt an der Straße, er mutet den Menschen nicht einfach zu, an ihn, den Unsichtbaren, zu glauben, sondern durch die beiden vermittelnden Instanzen kann man sehen, wie er ist. Er lockt durch die
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394 geschwisterliche Gemeinschaft der Jünger und durch sein Abbild Jesus. Beide sind im Sinne der Werbung zu verstehen. Die Weitergabe »Wie der Vater mich, so ich euch« gilt in besonderer Weise von der Freude. Jesus spricht hier von seiner Freude und der Freude der Jünger, die »vollkommen«, ohne Grenze und Trübung ist. Diese Freude ist in den Evangelien immer die Spur der Anwesenheit Gottes. Sie entspricht dem, was in jedem Garten Sonne und Regen, die Vielfalt und die Farben, das Wachsen und der Segen auf den Früchten sind. So wie wir von einer »lachenden Flur« reden. Nirgendwo im Neuen Testament wird die Freude definiert. Sachlich am nächsten stehen die Bilder in Offenbarung 21,3 f. Für die griechischen Leser des JohEv gut verständlich, spricht Jesus hier von Freundschaft und Freundesliebe. Für den Philosophen Aristoteles ist Freundschaft die Basis aller Sozialformen, und für die ganze Antike ist das Sterben des Freundes für den Freund der höchste Erweis der Freundesliebe. Daher greift Jesus in Joh 15,13 einen sehr bekannten Grundsatz auf. Auch Jesu Jünger dürften diesen Satz gut verstanden haben. Joh 13,15 ist freilich noch umfassender formuliert. Der Ausdruck »sein Leben einsetzen« bedeutet nicht nur, das Leben im Martyrium zu riskieren, sondern auch und vor allem: Jesus hat sein ganzes Leben als Dienst an den Jüngern verstanden, er hat es ihnen geweiht und geschenkt. Und er hat sie »bis zum Ende geliebt« (Joh 13,1). Das heißt: Er wollte nichts anderes sein als Gabe des Lebens für die Jünger, er persönlich. Das konnte er sein als »Gefäß« für Gottes Wort, Vollmacht und Herrlichkeit. Dabei ist klar erkennbar: Für Paulus geht es bei der Liebe nach Röm 5,8-10 um den Gegensatz zwischen Freund und Feind, für Joh 15,14f um den zwischen Sklave und Freund. Für beide Autoren ist aber die radikale Gabe des Lebens durch den Freund der Maßstab, an dem das Evangelium gemessen wird. Nach Mt 28,10 spricht Jesus mit einem Mal nicht mehr von den Jüngern, sondern von den Brüdern, denen die Osterbotschaft auszurichten sei. Und in Joh 20,17 nennt der Auferstandene Gott »meinen Vater und euren Vater«. Das hatte er nie zuvor getan. Den drei Stellen liegt die Erinnerung zugrunde, dass Jesus in der Abschluss-
Das Evangelium nach Johannes
phase seines Lebens ein innigeres Verhältnis zu seinen Jüngern gewonnen hat als je zuvor.
Joh 15,18-26: Das Jüngerschicksal Es gibt keine längere Rede Jesu zur Verfolgung der Jünger. Der johanneische Dualismus ist eine Folge der Verfolgung, die Jesus und seine Jünger erleiden müssen. Die stärksten Gegensätze werden aufgeboten: Hassen und Lieben, Gott und Welt, Auserwählung und Sünde. Denn Jesus weiß: Nur in starken Gegensätzen können die Jünger wiedererkennen, was sie erleiden. Auf der einen Seite stehen »verfolgen, »grundlos hassen«, »Sünde« und »das Eigene lieben«. Auf der Gegenseite stehen »auserwählen«, »wegen meines Namens«, »das Wort bewahren«. Ausgeprägt ist die doppelte »Realpräsenz«, von der wir schon beobachtet hatten, dass sie über den juristischen Begriff der Sendung hinausgeht: Wer Jesus etwas antut, hat es dem Vater angetan. Und zugleich gilt: Wer den Jüngern etwas antut, hat es Jesus angetan. Das heißt nichts Geringeres als dies: Das christologische Geheimnis (Gott ist in Jesus präsent) ist auch ein ekklesiologisches Geheimnis (Jesus ist in den Jüngern präsent), und eben deshalb kann Jesus Paulus vor Damaskus fragen: »Warum verfolgst du mich?« Wo Paulus doch »nur« Jünger verfolgt hatte. Nein, wenn die Jünger ohne Grund verfolgt und gehasst werden, aber auch wenn man ihr Gebot hält, ist Jesus selbst persönlich betroffen. Das sagt nichts über die moralische Qualität der Jünger, aber alles über die Kraft der Auserwählung, die Gottes Auserwählen ist. Bemerkenswert ist auch: An dem zitierten Satz »Der Sklave steht nicht über seinem Herrn« (13,20) kann man erkennen, dass die Beziehung der Jünger zu Jesus auch hier noch wie die von Sklaven zu ihrem Herrn ist. Das erinnert sofort an die Sklavengleichnisse der Synoptiker, besonders der Logienquelle. Und das heißt: Die Jünger sind nicht gegenüber ihrem Herrn emanzipiert. Am Ende steht das Paraklet-Wort in 15,26. In der geschilderten dualistischen Auseinandersetzung ist es der einzige Lichtblick. Der »Beistand« wird über Jesus Zeugnis ablegen. D. h. durch ihn erfahren die Jünger zuverlässig alles über Jesus. Das Wort »Beistand« signalisiert: Es geht um
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Kapitel 15
einen Prozess der Jünger gegen die Welt, und der Gegenstand dieses Prozesses ist nichts anderes als die Wahrheit. Der Beistand hilft den Jüngern, ihr
395 Jesusbild authentisch zu bewahren. Die Präsenz Jesu in den Jüngern verwirklicht sich in der Gabe des Geistes.
Joh 15–16: Der Paraklet Joh 15,26-27: Der Paraklet I (Er inspiriert zum Zeugnis) Der johanneische Paraklet ist nicht der Tröster, sondern der Beistand. Diese bildliche Bezeichnung ist durchaus »technisch« zu verstehen, und zwar im Sinne eines Prozessbeistands. Nach dem JohEv führt Gott, führt Jesus mit den Jüngern einen Prozess gegen die nichtgläubige Welt. In diesem Prozess soll die Welt überführt werden, und zwar am Ende dessen, dass es Sünde, Gerechtigkeit und Gericht gibt (Joh 16,8). In diesem Prozess liefert der Beistand, so wird der Pfingstgeist hier genannt, der Seite Jesu die nötigen verbalen Prozessunterlagen. Deshalb legt er Zeugnis ab über Jesus, d. h.: Er ist für das gesamte Jesuszeugnis der Gemeinde zuständig. Er garantiert, dass es »wasserdicht« ist, was die Gemeinde über Jesus vorbringt (15,26f). So wird er der Gemeinde »die Augen öffnen über die ganze Wahrheit Gottes«, und wie Jesus wird er das vom Vater hören (16,12). Er wird also Jesus verherrlichen: Er wird Jesus den ihm gebührenden Rang und Platz verschaffen. Denn er wird Jesu Worte »im Sinne seiner Botschaft erklären« (16,14b). Wörtlich: »Er wird von dem Meinen nehmen und es euch verkündigen.« Nach diesen Aussagen setzt der Pfingstgeist Jesu Botschaft fort, vermittelt sie im Ganzen, kommentiert sie im Sinne Jesu und rundet sie ab. Anders als bei Paulus wird der Pfingstgeist daher ausschließlich und gänzlich im Sinne der Ausrichtung der Botschaft, des Wortes, verstanden. Denn Jesus ist ja nach dem JohEv Träger des Schöpfungswortes, und seine Wunder wirkt er durch dieses Wort. So ist der Pfingstgeist ganz im Sinne der Wortverkündigung gesehen. Bei Paulus dagegen ist der Heilige Geist vor allem die Kraft der Auferstehung, der den Christen besonders die Charismen schenkt und dessen Früchte in der Liebe gipfeln, die zugleich Erfüllung des Gesetzes ist. Dieser Aspekt der Kraft zum neuen Leben, den der Heilige Geist bei Pau-
lus hat, tritt im JohEv zurück. In beiden Fällen entspricht der Heilige Geist der Christologie. So, wie man Jesus verstehen konnte, ist auch jeweils der Pfingstgeist zu begreifen. Das bedeutet: Der Pfingstgeist inspiriert nach dem JohEv die Jüngergemeinde zum Zeugnis für Gott und Jesus Christus. Er ist genau der, den Jesus meint, wenn er nach Mk 13,11 sagt: »Wenn man euch ausliefert und vorführt, dann macht euch nicht im Voraus Sorgen darüber, was ihr sagen sollt. Sondern sagt das, was euch Gott im rechten Augenblick eingibt. Denn nicht ihr redet, sondern der Heilige Geist.« In Lk 21,15 sagt Jesus stattdessen für dieselbe Situation: »Denn ich gebe euch Worte und Weisheit ein …« Aber beide Stellen, Mk 13 und Lk 21, beziehen sich, wie die johanneischen Paraklet-Worte insgesamt, auf die Situation, in der Christen vor heidnischen Gerichten stehen und sich rechtfertigen müssen. In dieser »Stunde der Wahrheit« werden ihre Worte inspiriert sein. Diese Erfahrung hat die Kirche später oft gemacht. Um des christlichen Glaubens willen vor heidnische Gerichte gestellt, waren Christen ganz überraschend zu großem Mut und staunenswertem Zeugnis befähigt. Auch Jesus hatte sich vor Pilatus erstmalig mit bestätigenden Worten zu seiner Gottessohnschaft bekannt (Mk 14,61-63). Die Situation vor Gericht ist daher der ursprüngliche »Sitz im Leben« des Bekenntnisses. – Es fällt auf, dass in den traditionellen liturgischen Texten der westlichen Kirche, die den Heiligen Geist nennen, dieser Aspekt des Zeugnisses und das Missionarische fast ganz ausgeblendet sind. Nach dem JohEv verdankt die Gemeinde dieses Evangelium selbst der Wirksamkeit des Beistandes. Er erinnert die Gemeinde an eben das Zeugnis, das hier niedergelegt ist. Wiederholt bekräftigt die Gemeinde selbst dieses Zeugnis (1,14; 19,35; 21,24).
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Joh 16,12-15: Der Paraklet II (Er sorgt für das rechte Verstehen) Jesus spricht in seiner Abschiedsrede über den Beistand und Fürsprecher, den der Vater senden wird. Und er schildert ihn ganz mit Elementen, die wir von der Christologie des JohEv her kennen, näherhin: aus seiner Sendungschristologie. Denn dass einer das sagt, »was er nicht von sich aus hat, sondern was er gehört hat« (16,13b), gilt nicht nur vom Beistand, sondern auch von Jesus selbst nach Joh 5,19 (»Von sich selbst aus kann der Sohn nichts tun, sondern nur das, was er den Vater hat tun sehen«). Das Hören ist in Joh 5 nur durch das Sehen ersetzt. Vgl. dazu auch Joh 12,49: »Ich habe nichts aus mir selbst geredet, sondern der Vater, der mich gesandt hat, gab mir ein Gebot, was ich sagen und was ich reden soll.« Und wir finden dieselbe Formel »nicht von sich (mir) selbst aus« auch bei Paulus, wenn er beschreiben will, dass er nur gesandt ist und nichts Eigenes verkündet (Gal 1,1: »Paulus, Apostel, nicht von Menschen her noch durch Menschen …«; 1,12: »Denn ich habe es nicht von einem Menschen her übernommen«). – Es handelt sich um Aussagen über die Legitimität einer Sendung, die Selbstvorstellungen des Gesandten. Auch in Joh16,14 finden wir eine vertraute Aussage (»Jener wird mich verherrlichen; denn er nimmt von dem, was mir gehört«). So hatte auch Jesus über sein Tun gegenüber dem Vater geredet: Er ehrt und verherrlicht den Vater, indem er von dem nimmt, was dem Vater gehört. Wir würden heute sagen: indem er den Vater zitiert; und tatsächlich heißt in der älteren Latinität »jemanden loben« soviel wie »ihn zitieren«. Jesus spricht so über sich und den Vater in Joh 17,4 (»Ich habe dich verherrlicht auf der Erde«) und über Petrus in Joh 21,19 (»mit welcher Todesart er Gott verherrlichen werde«). Gott verherrlichen heißt daher: je nach Situation ihm die Ehre geben oder erkämpfen, die ihm zukommt. Wenn also der kommende Beistand Jesus »verherrlicht«, indem er ihn zitiert, dann ist das deshalb »in Ordnung«, weil der Beistand von Gott gesandt ist wie Jesus auch. Und deshalb sagt Jesus in V. 15: »Alles, was der Vater hat, gehört auch mir.« Der Beistand spricht von dem, was er bei Gott gehört hat, und das ist nichts anderes als das, was auch Jesus verkündet und getan hat. Denn Jesus ist vom Va-
Das Evangelium nach Johannes
ter gesandt wie auch der Beistand. Durch die gemeinsame Verankerung in Gott, durch die gemeinsame Herkunft und Sendung von ihm her legitimieren und interpretieren sich Jesus und der Beistand gegenseitig. Viel zu wenig realisieren wir, dass es nach dem Neuen Testament zwei grundlegende Zweiergruppen gibt: Johannes den Täufer und Jesus einerseits sowie Jesus und den Beistand andererseits. Zum eigenen Schaden konzentrieren wir uns in jedem der beiden Fälle auf Jesus, statt überhaupt darauf zu achten, dass es sich immer um Größen handelt, die einander anerkennen und bestätigen. Wir haben dagegen Jesus zum einsamen Helden gemacht und damit wirklich aus der heilsgeschichtlichen und kirchlichen Verankerung gelöst. Das Neue Testament denkt an diese Zweiergrupen nicht im Sinne der Konkurrenz, sondern hier gilt die Regel von den beiden Rechtsinstanzen nach Dtn 19,15. Auf mindestens zwei Zeugen ist eine Sache zu bauen. Diese Regel ist für die Sichtweise der Evangelien insgesamt grundlegend. – Die neuere Theologie hat demgegenüber einen anderen Weg beschritten. Sie hat dem zweifach angewendeten Prinzip der zwei Zeugen misstraut und stattdessen die Frage nach der »ipsissima vox« Jesu gestellt, also innerhalb der Jesusüberlieferung zwischen echt und unecht scheiden wollen, und zwar nach insgesamt eher fragwürdigen Kriterien. Die Sicherheitsfaktoren, die die biblische Überlieferung selbst handhabte, vorgesehen und »eingebaut« hat, wollte man ersetzen, indem man eine neue, absolute Sicherheit gewinnen wollte mit der Frage, was Jesus denn nun wirklich gesagt habe. Im Neuen Testament gilt dagegen das Prinzip der sich gegenseitig bestätigenden Zeugen. Das JohEv selbst ist nach seinem Selbstverständnis als Resultat dieser Doppelbezeugung aufzufassen. Darüber hinaus werden auch Mose und besonders der Lieblingsjünger als Zeugen aufgeboten. Aber der »Beistand« schenkt eine besondere Art von Gewissheit, nämlich dass die Worte des Evangeliums richtige Interpretation Jesu sind. Im Unterschied zur modernen Exegese versucht die Gemeinde des JohEv nicht, dadurch Gewissheit zu gewinnen, dass man an Jesusworten herumschnipselt, sondern dadurch, dass man auf den verheißenen Beistand baut. Aber hat sich nicht auf den Heiligen Geist
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Kapitel 16
schon mancher berufen, und zwar für seine Fehlauslegung? Kann nicht trotz verheißenem »Beistand« Irrtum beim Verstehen der Jesusworte in Kirche und Gemeinde auftreten? Ist die ganze Rede von dem die Interpretation legitimierenden Beistand (= Heiligem Geist) vielleicht eher eine besonders geschickte Fiktion der Gemeinde? Nach dem JohEv ist die Basis für die behauptete Harmonie-Erfahrung unter allen Zeugen eine persönliche und den Lebensstil betreffende Erfahrung von Kontinuität, d. h.: Die johanneische Gemeinde erfährt ihre Gegenwart als eine von Gott geführte und mit Erkenntnis gesegnete Fortsetzung der Gemeinschaft der Jünger Jesu. Sie lebt offensichtlich harmonisch und in der Art, in der Jesus mit seinen Jüngern gelebt hat – vielleicht als kleine Gemeinschaft, in der Verlass auf den anderen war. Die von außen bedroht war und sich auch aus diesem Grund in direkter lebensmäßiger Kontinuität mit Jesu Jüngerkreis wusste. Dabei fällt auf, dass das JohEv nichts über den Reichtumsverzicht Jesu und seiner Jünger berichtet, d. h.: Dieses Element gehörte nicht zu dem, was für diese Gemeinschaft wichtig war. Ein sicherer Hinweis auf die harmonische Grundstruktur dieser Gemeinschaft ist das Fehlen von Paränese (allgemeine Mahnungen) und von ethischen Einzelproblemen. »Lieben« bedeutet hier wie auch sonst in der Bibel praktische Solidarität, Zusammenhalten im Alltag. Das JohEv ist aus diesem Grund ein kirchliches, weil offensichtlich die vollzogene Gemeinsamkeit des Lebens Voraussetzung für weitere Erfahrungen von Bestätigung ist. Denn wenn der Beistand wirklich die »Ersatzperson« für Jesus ist, dann ist er wie Jesus auch allen gemeinsam gegeben oder gar nicht. Das Problem von Fehldeutungen ist dem JohEv im Übrigen bekannt. Aber auch dieses Problem betrifft jeweils Gruppen, also entweder die Außenstehenden, d. h. die nicht-christlichen Juden, oder die Gruppe von Jüngern, denen Jesus sagt: »Wollt auch ihr gehen?« (Joh 6,67). Doch die Frage, ob ein Einzelner mit seinem Zeugnis gegen die ganze Jüngergemeinde anstehen kann, existiert nicht. Ein Beweis für die Richtigkeit dieser Annahme ist dass der Heilige Geist, wie ihn der Evangelist nennt, jedem einzelnen bei der Taufe gegeben ist (Joh 3,5). Anders ist es mit dem Parakleten: Er ist allen gemeinsam gegeben. Das ist trotz aller Unterschie-
397 de ähnlich wie mit dem Heiligen Geist bei Paulus: Auch er ist nur der Gemeinde im Ganzen gegeben und dem einzelnen Christen nur insoweit, als er an der Gemeinde Anteil hat.
Joh 16,16-23a: Sehen, Nichtsehen, Wiedersehen Gott lässt uns Jesus sehen, dann nicht sehen, dann doch wieder sehen. Ein solches Spiel veranstaltet Gott mit uns. Wir sehen Jesus, Gott entzieht ihn uns, wir sehen ihn wieder. Der Sinn dieses Spiels ist nicht nur Freude. Aber beim Wiedersehen dann eben doch. Wie auch immer diese Worte zu verstehen sind, in Joh 20,20 heißt es jedenfalls von den Jüngern, die den Auferstandenen sehen: Da freuten sich die Jünger, als sie den Herrn sahen. Sehen, Nichtsehen, Wiedersehen? Was meint Jesus damit, warum sagt er nicht klarer, was sein wird? Ist es das Wiedersehen, wenn der Auferstandene erscheint; ist es das Wiedersehen, wenn er endgültig kommt? Rupert von Deutz aus dem schönen, heute verschwundenen Kloster in Köln-Deutz, meinte: Dass die Jünger Jesus zu Lebzeiten sahen, meinte das erste Sehen, und sie sahen ihn in seiner menschlichen Natur, nach Ostern aber in seiner bereits verwandelten Natur. Das zweite Sehen wird also anders sein, verwandelt, aber wie, das könne niemand sagen. Der monotone Gleichklang »dann werdet ihr mich wieder sehen« sei absichtlich so immer wieder gleich, damit die Hörer und Leserinnen über die darin verborgene Ungleichheit der Zustände sich keine Illusionen machten. Die Monotonie sei vom Leser zu »knacken«. Das Mittelalter kann nurmehr schon mit der 2. Phase einsetzen: »Eine kurze Zeit der Pilgerschaft seht ihr ihn nicht, und eine kurze Zeit betrachtet ihr in Stille den Heiligen Geist (in quiete spiritum contemplantes)«, das ist offenbar die monastische Gegenwart der Angeredeten im Kloster, und dann schließt das Gebet mit »schließlich werdet ihr körperlich aufgenommen ins Licht der Ewigkeit, erhoben in den dritten Himmel, voll von Jubel«. Dieser Gebetstext legt unser Kapitel sehr mutig radikal auf die Gegenwart hin aus: statt Visionen des bald Wiedergekommenen die Betrachtung des Heiligen Geistes und die Aufnahme der Jünger in den Himmel.
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398 Damit wird sogleich das Stichwort Freude aufgenommen, das aus dem folgenden Gleichnis (16,21) kommt. Es betrifft die unterschiedlichen Zeiten der schwangeren Frau. Denn es gibt eine Zeit der Mühsal und der Wehen besonders am Ende der Schwangerschaft, und dann kommt das so genannte freudige Ereignis, in dem der Jubel keine Grenzen kennt. Das Bild für die Endzeit ist dem Judentum dieser Zeit geläufig. Wenn es Menschen mit der Erlösung zu lange dauert, rät der Engel nach dem 4. Buche Esra: »Geh und frag die Schwangere, ob ihr Mutterschoß, wenn sie ihre neun Monate erfüllt hat, noch das Kind in sich zurückhalten kann.« Hier geht es um die Zeit, die nicht überschritten werden kann, in Joh 16 um den Gegensatz von Schmerz und Freude. Ähnlich auch bei Paulus nach Röm 8: »Noch stöhnt die ganze Schöpfung, alle Kreaturen gemeinsam, in Wehen, (23) auch wir Christen … Wir stöhnen umso mehr, weil unser Leib noch nicht vom Tod erlöst ist und wir uns doch so sehr danach sehnen, durch und durch Kinder Gottes zu sein.« Für Paulus weist das Stöhnen in der Gegenwart darauf, dass die Hoffnung sicher erfüllt wird. Stöhnen ist für ihn Evidenz, dass Gutes bevorsteht. Für das JohEv ist die Zeit des Nicht-Sehens von Karfreitag bis Ostern auch ein Urbild der Zeit zwischen Ostern und der Wiederkunft Jesu. Denn was Jesus hier über die Bedrängnis sagt, der die Jünger in der Welt ausgesetzt sein werden, bezieht sich sicher nicht nur auf die anderthalb Tage zwischen Karfreitag und Ostersonntag. Diese Zeit ist nur ein Urbild für die lange Wartezeit bis zur Wiederkunft Jesu. Jesus sagt hier Christen jeder Generation neu, dass diese Zeit nicht rosig sein wird. »Ihr werdet weinen und wehklagen, die Welt aber wird sich freuen. Ihr werdet traurig sein, doch eure Trauer wird sich in Freude verwandeln.« – So gilt generell: lieber mit den Trauernden weinen als mit den Wölfen heulen.
Joh 16,23b-33: Zeit vorher – Neue Zeit Einerseits gehört dieser Abschnitt zum Thema De bono mortis (dass Jesu Hingang zum Vater gut ist für die Jünger), greift also einen Aspekt der Tröstungsliteratur auf. Andererseits geht es
Das Evangelium nach Johannes
um das Thema der Gebetserhörung. Sowohl im Frühjudentum (Testament des Abraham A 8: »Amen, ich sage euch: Alles, um was ihr mich bittet, werde ich euch geben«), als auch in der Verkündigung Jesu (Mt 7,7f; Lk 11,9f) richtet sich diese Zusicherung an den besonderen Freund Gottes, wie eben Abraham einer war und die Jünger es sind. Jesu Hingang zum Vater ist gut, weil sie jetzt nicht mehr auf Jesus als Fürbitter angewiesen sind, sondern den Vater direkt bitten können. Und jetzt, in der Stunde des Beistands, verstehen sie Jesu Worte, ohne dass Jesus Erläuterungen geben muss. Es hat sich also etwas im Gottesverhältnis der Jünger geändert. Freilich können sie nicht einfach auf Jesus verzichten, denn sie bitten Gott in seinem Namen, und der Beistand erinnert nur an Jesu Worte und führt in seine Lehre ein. Nicht zuletzt aber ist die Zeit nach Ostern eine Zeit des Sieges. Unter »Zeit vorher« verstehe ich im Folgenden die irdische Lebenszeit Jesu, unter »Neue Zeit« die Zeit ab Ostern (Erhöhung Jesu) inklusive »Pfingsten«, d. h. Geistverleihung. Zeit vorher: Die Jünger stellen Jesus Fragen. Neue Zeit: Die Jünger brauchen keine Fragen mehr zu stellen; Jesus weiß vorher, was sie fragen könnten (wie 16,19). Zeit vorher: Fürbitte Jesu (wie Joh 17). Neue Zeit: Die Jünger bitten Gott selbst in Jesu Namen. Das hat sein Weggang ermöglicht. Jesus ist jetzt ihr Anwalt nicht mehr auf Erden, sondern zur Rechten Gottes (Röm 8,34). Zeit vorher: Jesus hat in Rätselrede bzw. in Gleichnissen gesprochen (wie auch in Mk 4,34a). Er musste ihnen dann alles erläutern (wie in Mk 4,34b). »Rätselrede« oder »Gleichnisrede« bedeutet nur: Die Offenbarungsrede ist nicht aus sich heraus verständlich, sie besteht aus zwei Teilen, der Rede und der Erläuterung (wie Mk am Muster der Gleichnisse zeigt). Neue Zeit: Jetzt, in der Zeit des Beistands (des Heiligen Geistes) redet Jesus offen zu ihnen. Er liefert die Erläuterung gleich mit. Zeit vorher: Die Jünger glauben noch nicht wirklich, ihre Gemeinschaft wird aufgelöst (16,31). Sie meinen zu glauben und denken, die neue Zeit wäre schon da. Neue Zeit: Sieg und Frieden mit Jesus.
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Kapitel 17
Nach der von mir angenommenen theologischen Datierung gehen die Johannesbriefe voran (2., 3., 1.), es folgt das JohEv, dann die Offb. Nach 1 Joh haben die Glaubenden die Welt besiegt, nach dem JohEv Jesus Christus, nach der Offb das geschlachtete Lamm, aber auch jeder einzelne Christ kann die »Überwindersprüche« auf sich beziehen. Es ergibt sich daher im Laufe der Zeit eine Konzentration auf die Christologie. »Sieg« meint nicht nur die moralische Integrität (erfolgreiche
399 Abwehr der Versuchung, seine Seele zu verkaufen), sondern auch die Bewahrung der Identität und damit die Verheißung ewigen Lebens bzw. der Auferstehung. – 1 Joh und die Briefe der Offb haben noch das ältere Stadium bewahrt, in dem der Appell an jeden einzelnen Christen erging, Sieger zu bleiben. Im Laufe der Zeit (auch schon in 1 Kor 15,54 f.57) überwiegt dann die christologische Konzentration. Dazu gehört auch Joh 16,33.
Joh 17: Jesus betet für die Jünger Joh 17,1-11a: Hohepriesterliches Gebet Dem Leser erscheint dieser Text wie ein heiliges Drama zwischen mehreren Figuren oder Figurengruppen. Diese sind Gott, Jesus, die Jünger Jesu, die »Welt«. Zwischen diesen gibt es ein »Spiel« mit einfachen Handlungen: Verherrlichen, senden, geben (mit dem Objekt: Menschen), nehmen, erkennen, glauben. – Auch in Joh 17 geht es um den grundlegenden dramatischen Lebensprozess der Kirche. Das dramatische Geschehen verläuft in zwei Richtungen: Einmal von Gott über den Mittler zu den Menschen hin. Auf diesem Weg wird das ewige Leben vermittelt. Gott hat den Mittler zu den Menschen gesandt, damit dieses überhaupt möglich wird. Der Mittler gibt weiter, die Menschen empfangen. In 17,2 ist das Wörtchen »alles« auffällig. Jesus gibt alles, nämlich das ganze Leben – siehe Joh 13,1 (»bis zum Ende liebte er sie«). Er selbst ist die Gabe, gibt sein Leben ganz; aber nicht erst im Tod, sondern in der ganzen Zeit seiner Gesandtschaft. Der erste Schritt bestand darin, dass der Vater dem Sohn die Vollmacht gegeben hat. Und zum anderen gibt es den Weg zurück zu Gott, der wieder über den Mittler verläuft: Die Menschen erkennen den Mittler an, ja, er ist von Gott gesandt, sie glauben durch Jesus an Gott. Jetzt haben sie erkannt und anerkannt. Am Ende steht das Glauben von V. 8. Darauf folgt die Fürbitte. Geschildert wird in Joh17 zunächst eine Bewegung vom Vater zum Sohn, dann eine vom Sohn zu den Christen, und schließlich bleibt auch für die Christen eine Menge zu tun, vor allem, dass sie die Worte annehmen und bewahren, schließlich, dass sie glauben.
»Herrlichkeit« bedeutet im 4. Evangelium nicht nur und nicht zuerst den göttlichen Lichtglanz, sondern ist auch eine Dimension der positiven Beziehung zwischen Personen, bezogen auf Achtung und Ansehen, auf Anerkennung und Lobpreis. Was das im Einzelfall konkret ist, hängt von den Umständen ab. Dabei beruht »Anerkennung verschaffen« häufig auf Gegenseitigkeit. So verherrlicht einer den anderen, indem er ihm Ansehen bei Dritten verschafft (und das ist dann allerdings schlicht ein Akt der Gerechtigkeit). Auf diese Weise verherrlicht Jesus den Vater, indem er sein gehorsamer Bote bei den Menschen ist. So verherrlicht der Vater den Sohn, indem er ihm die Wunder(vollmacht) gibt und ihn wieder offen in seine Würde als Gottessohn und Schöpfungsmittler einsetzt. So wird Jesu Weg ans Kreuz zu seiner Verherrlichung, weil er dem Vater gehorsam bleibt und genau in dem Sinne in seiner Standhaftigkeit siegt, wie es von den Märtyrern in den Überwindersprüchen der Offenbarung des Johannes heißt: »Dem, der siegt, werde ich geben …« So ist der Gehorsame und Standhafte der strahlende Sieger und damit der Verherrlichte. – An Jesu Wunderwirken und an seinem Weg ans Kreuz wird erkennbar: Jesus hat seine Herrlichkeit auf Erden weder ab- noch aufgegeben. Er verherrlicht Gott (z. B. durch das Tun der Wunder) und wird verherrlicht (durch Gott als Lohn für seine Treue). Erhöhung und Verherrlichung können sich daher beide gleichmäßig auf den Weg Jesu zum Kreuz beziehen, aber Verherrlichung hat einen viel weiteren Umfang. Im Kontrast zur biographischen Situation Jesu nach Joh 17 ist Herrlichkeit und Verherrlichen das eigentliche Thema dieses Abschnitts. »Herr-
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400 lichkeit« ist eine ästhetische (Glanz, Strahlen, Schönheit) und soziale (Ansehen voreinander, Nehmen/Geben des Ansehens, das einem gerechterweise zukommt) Kategorie. »Verherrrlichen« heißt im Rollenspiel des Miteinanders, dem Gegenüber zu geben, was ihm zukommt. Im Verhältnis zu Gott bedeutet es z. B. die Einhaltung des Ersten Gebotes. Obwohl Jesus das Gebet am Ende seines Wirkens und daher kurz vor seinem Tod spricht, wird der Tod mit keinem Wort erwähnt. Es geht immer nur um Herrlichkeit. Das biographische Gerüst ist dabei die Sendung und Bevollmächtigung des Sohnes; das Ziel ist, wie bei jeder Mission, der Glaube der Adressaten. Wenn nun Joh 17,1-11 die Geschichte der Herrlichkeit Gottes entfaltet, dann werden verschiedene Stationen genannt: Vor seiner Sendung in die Welt hat der Erstgeborene Sohn Gottes »bei Gott« eine Herrlichkeit, das heißt: Er hat hier noch göttliche Gestalt. Auf Erden hat er diese gegen eine Sklavengestalt eingetauscht (vgl Phil 2,6.7). Jesus hat auf Erden Gott verherrlicht und die Menschen eben dazu angestiftet, dieses zu tun, nämlich allein ihn zu ehren und anzubeten. Jesus bittet nun, der Vater möge ihn verherrlichen (ähnlich Kapitel 12). Das heißt: Im Kontrast zu der Schande, die sich Menschen gegen Jesus ausgedacht haben, soll der Vater ihm Recht verschaffen wie dem bedrohten Gerechten der Psalmen seit eh und je. Das heißt: Der Aufriss von Phil 2,6-1 bestimmt noch immer maßgeblich das JohEv. Damit erweist sich Phil 2 als zugleich vorpaulinisch wie vorjohanneisch. Die Anteilhabe an Gottes Herrlichkeit bedeutet die größtmögliche Anteilhabe des Menschen an Gott. Dabei ist Herrlichkeit etwas anderes als Gnade und Wohlgefallen. Herrlichkeit ist im JohEv auch mit »Legitimität« verbunden. Der Vater verleiht dem Sohn am Ende seines Weges die von der »Welt« angezweifelte Legitimität, und der Sohn erweist den legitimen Anspruch Gottes auf Anbetung durch seine Wunder. In diesen wird regelmäßig Gottes Herrlichkeit sichtbar, wie ausdrücklich beim ersten und beim letzten Wunder (2,11; 11,4) vermerkt wird. Dabei steht immer wieder das »Geben« des Vaters am Anfang: Nach 17,32 hat er dem Sohn alle Vollmacht gegeben, nach 17,6 hat er Jesus die Menschen »aus der Welt« gegeben, die an
Das Evangelium nach Johannes
ihn glauben. Entsprechend haben die Menschen erkannt, dass alles von Gott stammt. – Jesus wird durch die Gemeinde verherrlicht, denn sie bezeugt durch ihre Existenz als Gemeinde die Legitimität seines Auftrages. Am Ende steht das Fürbittgebet Jesu in 17,9 f. Wir dürfen uns wundern: Jesus betet nicht für die Welt. Sondern er appelliert nach Art der Psalmenbeter an Gottes Interesse an seinem Eigentum: »Kümmere dich um meine Jünger, ich habe sie doch zu deinem Eigentum gemacht, da wird doch dein eigenster Besitz berührt, da musst du reagieren, Herr.« Das erinnert an die argumentative Logik von Ps 74(73),1: »Warum, Herr …, lodert dein Zorn gegen die Schafe deiner Weide? Gedenke deiner Gemeinde, die du von alters her erworben, die du erkauft hast als Stamm dir zu eigen …« Wegen dieser Fürbitte heißt der Text »hohepriesterliches Gebet«. Doch vom Opfer und vom Tempel ist hier gerade nicht die Rede; allenfalls ist die Bezeichnung von Hebr 7,25;9,24 her zu verstehen, also vom Neuen und nicht vom Alten Testament her. Nicht nur Gesandter, sondern auch Fürsprecher Man hat Joh 17 das »hohepriesterliche Gebet« Jesu genannt, weil in der Tat hier eine wichtige Station seines Erlösungswerkes sichtbar wird. In diesem Sinne ist der »Paraklet« ähnlich dem nachösterlichen »Beistand«; daher kann auch Joh 14,16 von einem »anderen« Parakleten sprechen, den Gott senden werde. Jesus ist nicht nur von Gott zu den Menschen gesandt, sondern er tritt auch für sie bei Gott ein. Aber wie der Beter oft zunächst sich selbst empfehlen muss (selbst im Vaterunser, vgl. Mt 6,12b), so legt Jesus hier einen Rechenschaftsbericht über seine Sendung ab. Denn Rechenschaftsbericht und Fürbitte gehören zusammen. Nur als der Gesandte Gottes, der die Jüngergemeinde gegründet hat, als der in diesem Sinne Verantwortliche, ist Jesus auch Fürbitter für seine Jünger beim Vater. Dienst und Fürbitte sind aufeinander bezogen wie bei Mose und bei den Engeln Gottes im Frühjudentum. Auch der Heilige Geist ist als der zu den Menschen Gesandte dann Fürsprecher dieser Menschen bei Gott (Röm 8,26-29). Auch in der nachfolgenden Fürbitte kehren Elemente des Rechenschaftsberichtes wieder (17,14.19). Nur weil Jesus gehorsam sei-
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Kapitel 17
nen Dienst getan hat, kann er auch mit seinem Gebet bei Gott etwas erreichen. Denn in V. 9-10 betet Jesus für seine Jünger und ausdrücklich nicht »für die Welt« (17,9). Denn das Heil wird nicht wie mit der Gießkanne verteilt. Jesus unterscheidet hier ganz klar zwischen »für euch«, das sind die Christen, und »allen«, das sind die Nicht-Christen. Die Scheidung kommt ganz klar durch das Evangelium zustande, dem die einen glauben und die anderen nicht. Das beherrschende Stichwort ist am Anfang von Joh 17 »verherrlichen«, »Herrlichkeit«. Keine Spur von Wehleidigkeit oder gar Kitsch kommt hier auf. Heiter und ernst zugleich steht Jesus hier als der einzige Mittler vor unseren Augen.
Joh 17,11-19: Heiligung und Widerstand, Stellvertretung Leitworte sind »die Welt« und »heiligen«, also ein Gegensatzpaar. Denn Welt steht nicht für das Gegenüber von Gottes Liebe (Joh 3,16), sondern im Sinne der ungehorsamen und gegen Jesus und die Jünger gerichteten Menschen. »Heilig« oder »heiligen« bedeutet Gottes Eigentum oder zu Gottes Eigentum machen. So etwas aber ist gegenüber der Welt fremd, es provoziert ihre Feindschaft und ihren Hass. Denn es bedeutet ja nicht Hinnehmen, sondern ein aktives Beschlagnahmen von Gottes Eigentum. Auf derselben Linie liegt auch, dass Jesus wie ein Hirte Gottes Eigentum in der Welt zu bewahren sucht und darauf geachtet hat, dass kein Eigentum Gottes (kein Schäfchen seiner Herde) verloren geht. Das Ziel dieses Bewahrens ist aber nicht das Entfernen aus der Welt, sondern die Abwehr des Bösen, insbesondere des Nicht-Einigseins. Jesus ist »Hirte« über Gottes Eigentum in der Welt und achtet darauf, dass alle eins sind und keiner verloren geht. Das »Welt«-Verständnis der johanneischen Abschiedsreden provoziert daher eine bestimmte Auffassung von Kirche, obwohl das Wort hier nicht fällt. Es erinnert stark an Augustinus, der gleichfalls die Grenzen der Kirche durch Lieben und Hassen bestimmt (Kirche ist die Gemeinschaft derer, die dasselbe lieben). Daher ein zweiter Gedanke: Die Welt liebt nur ihresgleichen, also hasst sie die Jünger. Das Gebo-
tene könnte daher die Weltflucht sein. Das lehnt Jesus ab. Er plädiert für Bewahrung in der Welt, und in diesem Sinne versteht er seine Fürbitte beim Vater. Er sieht die Gemeinde der Jünger in gleicher Rolle wie sich selbst: Er ist vom Vater gesandt, er sendet sie in die Welt. Er gibt seine Aufgabe nur weiter. Das Ganze ist der Prozess, in dem Gott in die Welt eindringt, um sie mit sich selbst zu erfüllen. Nachdem Jesus beim Vater ist, stehen die Christen an der Frontlinie. Widerstand und Stellvertretung sind daher die Kategorien unserer Sprache, mit denen wir dieses Gebet Jesu deuten können. Widerstand heißt: Die Christen sollen einig sein und sich vor dem Bösen bewahren lassen, sie sollen den Druck der »Welt« aushalten, nicht aufgeben oder fliehen. Stellvertretung heißt: Jesus »heiligt sich für sie«, d. h. er lässt den Vater seine Hand auf sich legen. Er will Gott gehören und dadurch für die Jünger einstehen, dadurch sorgen, dass sie nicht allein stehen. So sind die Christen durch ihn heilig. Auch in dieser Hinsicht hat Jesus seine Rolle für die Kirche nicht verloren. »Heilige« ist auch bei Paulus die gewöhnliche Bezeichnung für Christen in einer (jeweils anderen) Gemeinde. Für apokalyptisches Denken waren die Träger der Zukunft, die Anwärter auf das kommende Reich, die Fremden unter den Sündern. Für das JohEv stehen in dieser Rolle ganz einfach die Christen, die sich auf Jesu Fürsprache und Mittlerrolle verlassen. Ihre Lage in der Welt ist nicht beneidenswert. Jesus versucht gerade in diesem Abschnitt, ihnen einzuprägen, dass sie genau an der Stelle stehen, die er selbst eingenommen hat.
Joh 17,20-26: Einigkeit als Erweis der Herrlichkeit Mit Recht nennt man Joh 17 das »hohepriesterliche Gebet« Jesu, so schon Luther: »Begreifft das schöne Gebet Christi, welches er, als der himmlische Hohepriester, für seine Kirche gethan.« Im Schlussabschnitt weitet Jesus den Adressatenkreis aus, behält aber die Kirche im Auge: »Ich bitte dich nicht allein für diese Jünger hier, sondern auch für alle, die durch der Jünger Wort an mich glauben.« Und dann spricht Jesus über die Glaubwürdigkeit der Kirche. Wenn die Jünger sich einig sind, kann die Welt an Jesus
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402 glauben. Die Einigkeit unter Jüngern aber ist etwas, das nur Gott geben kann, ist selbst etwas »Göttliches«, und deshalb heißt dieses Einssein »Herrlichkeit«. Herrlichkeit meint den (sichtbaren!) Lichtglanz Gottes. Aus der jüdisch-alttestamentlichen Tradition sind hier folgende Aspekte bewahrt – erstens: Gott kann seine Herrlichkeit mitteilen, andere verherrlichen. So hat der Sohn nach 17,22 die Herrlichkeit, die seit Anbeginn sein eigen ist (17,24), an die Jünger weitergegeben. – Zweitens: Es handelt sich um etwas potenziell Sichtbares, jedenfalls für den Visionär. Für den Betrachter der Gemeinde wird Gottes Herrlichkeit an der Gemeinde sichtbar, wenn sie sich einig ist. Nach dem JohEv muss die Sichtbarkeit nicht unbedingt ein Lichtglanz sein. Es kann auch etwas Staunenswertes sein, das sicher auf Gott verweist. In diesem Sinne konnten bereits die Verwandlung von Wasser in Wein bei der Hochzeit von Kana und die Auferweckung des Lazarus nach Joh 11 als Erweis der göttlichen Macht und Herrlichkeit Jesu angesehen werden. Auch das Verb »verherrlichen« ist hier einzuordnen: Nach dem JohEv meint es, dass Jesus die Ehre wiederbekommt, die er seit Anbeginn besaß (vgl. Joh 17,24 mit Joh 17,5). Denn Gott legitimiert Jesus vor aller Augen. – Drittens: Gottes Herrlichkeit ist etwas Positives, das seine Macht und Schöpferkraft zeigt, das nur von ihm kommen kann. – Viertens: Traditionell ist Herrlichkeit mit Tempel und Kult verbunden (vgl. Röm 9,4: Israel gehört der Gottesdienst und die Herrlichkeit). Im JohEv
Das Evangelium nach Johannes
ist dieses ausgeweitet. Der Ort der Gegenwart Gottes ist jetzt Jesus. Gottes Realpräsenz ist vom steinernen Tempel gelöst und jetzt mit Personen verknüpft (Jesus, Jünger). Ist der verklärte Mose das Vorbild? Die Verklärung des Mose im Offenbarungszelt spielte im Judentum eine große Rolle. Einigkeit ist etwas schlechthin Wunderbares, das entnehmen wir dem Gebet Jesu. Sie ist der Wunschtraum der Menschheitsgeschichte. Die Tatsache, dass bereits alle neutestamentlichen Briefe (mit Ausnahme des Epheserbriefs) Uneinigkeit unter Christen bezeugen, zeigt, dass dieser Traum auch schon im frühen Christentum Sehnsucht geblieben ist. Der Evangelist würde wohl sagen: Gerade dazu habe ich das Evangelium geschrieben, dass ihr euch immer wieder neu an Jesus orientiert, der Mitte, die euch verbindet. Nur von ihm her könnt ihr eins werden. – Nach dem Gebet Jesu ist die Einheit unter den Jüngern etwas Sichtbares und Erfahrbares. Denn die Einheit soll doch werben für den einen und einzigen Gott. Wie könnte etwas werben, das selbst nicht erfahrbar ist, sondern im Gegenteil, das allem Augenschein nach als zerstrittene Gemeinde sichtbar wird? Gerade Joh 17 sagt, dass Einheit wirklich Gottes Herrlichkeit ist und deshalb nicht planbar und machbar. Dass sie Geschenk ist, wo sie überzeugend gelingt, sodass die Menschen Gott danken können. Das JohEv zeigt: Einheit ist nur zu gewinnen mit einer Autorität, die glaubwürdig allein auf Gott weist.
Joh 18-21: Passion und Auferstehung Joh 18,2 – 19,42: Passion – Kreuzigung – Grablegung Zu Joh 18,10: Nur das JohEv weiß, dass es Petrus war, der dem Sklaven das Ohr abgeschnitten hat. Das Unverständnis gegenüber Jesu Leiden, das Petrus in Mk 8,32 zeigt, äußert sich hier aggressiv. Ein solches Unverständnis zeigt der Evangelist nur hier. – Es ist nicht gut vorstellbar, dass Johannes entgegen einer älteren Tradition hier den Namen des Gemeindeleiters Petrus nur eingefügt hätte. Diese Stelle belastet Petrus wie keine andere, auch unabhängig davon, dass das
JohEv eine Ethik des Gewaltverzichts nicht kennt. Das Umgekehrte ist viel wahrscheinlicher: dass die jüngere Überlieferung den Namen des Petrus hier getilgt und die christliche Gemeinde damit von einer großen Peinlichkeit befreit hat. Ich halte die Angabe des JohEv daher für historisch exakt. Der Name »Malchus«, ebenfalls nur hier, weist in den syrischen Raum. – Dass im JohEv bei der Gefangennahme Jesu sowohl die Jüngerflucht als auch der Judaskuss fehlen, weist ebenfalls auf abweichende Überlieferung hin. Denn durch absichtliches Weglassen würden die Jünger geschont –
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Kapitel 18
also eine zur Nennung des Petrus gegenläufige Tendenz.
Joh 18,36: Königtum Jesu Aber in welchem geheimnisvollen Sinne versteht sich Jesus doch als König? Nach Joh 18,36 sagt Jesus: »Mein Königreich ist kein irdisches Reich. Wäre es das, so hätten meine Gefolgsleute für mich gekämpft, um zu verhindern, dass ich den jüdischen Führern ausgeliefert werde. Doch mein Königreich ist nicht irdisch.« Da fragte ihn Pilatus: »Also bist du doch ein König?« Jesus antwortete: »Das hast du gesagt. Ich selbst sage über mich: Ich bin dazu auf der Welt, um Zeugnis abzulegen für die wahre Wirklichkeit. Jeder, der aus der Wirklichkeit Gottes kommt, hört auf mein Wort.« Daraufhin fragte Pilatus: »Was ist denn die wahre Wirklichkeit?« – In dieser Übersetzung bleibt zwar offen, ob Jesus den Königstitel überhaupt für sich annimmt. Denn Pilatus gebraucht dieses Wort. Aber trotzdem muss Jesu Antwort irgendeinen Sinn haben. Wir fragen also: Auch wenn Jesus den Königstitel nicht übernimmt, was hat das Zeugnisgeben für die Wahrheit dann doch mit einem Königtum zu tun? Warum gibt er auf die Frage nach dem Königtum gerade diese seltsam verschlüsselte Antwort? – Das Wort Zeugnis ist für das JohEv ganz zentral. Zeugnis ist jeder Hinweis auf das christologische Geheimnis, dass also in Jesus Gottes Wort Mensch geworden ist. Zeugnis ist jeder Fingerzeig: Achtung, hier ist Gott! Hier begegnet ihr Gott! – Insofern fasst Jesus hier seine ganze Botschaft zusammen: Er legt Zeugnis ab. Und die Wahrheit ist nichts anderes, als dass hier, in diesem Menschen, Gottes Wort unüberbietbar gegenwärtig ist. Deshalb sagt Jesus an anderer Stelle: Ich bin die Wahrheit. Denn wo er ist, da ist Gott als Mensch gegenwärtig. – Nichts anderes ist die ganze Botschaft des JohEv. Es ist im Ganzen die Antwort auf die Frage: Wo ist Gott? Insofern geht es um die einzige Wahrheit, die interessant ist. Denn wenn man ahnen kann, wo Gott ist, dann kann man sich dazu »positionieren«, in eine Stellung in größerer Nähe oder Ferne begeben. Aber warum ist das eine Antwort auf die Frage nach dem Königtum? Ein König ist für die Anti-
403 ke zur Zeit des Neuen Testaments jemand, der die wahre Macht hat, und jemand, der frei ist. Im günstigsten Fall ist ein solcher König unbegrenzt mächtig, auch mächtiger als der Tod, und er ist unbegrenzt frei, auch frei vom Tod. Im günstigsten Fall trifft man auf den wahren König aller Menschen in aller Welt, wenn seine Herrschaft ewig ist und den Tod besiegen kann. Im günstigsten Falle ist also Gott der König, denn er ist von der Definition her derjenige, der ewig lebt und ewiges Leben schenken kann. Indem Jesus durch sein Reden und Tun diesen Gott in seiner eigenen Person bezeugt, verkündet er den, der die wahre Freiheit und das ewige Leben hat. Schon in Joh 8 hatte Jesus von der Wahrheit gesprochen, die frei macht. Auch dort geht es bei dem Wort »Wahrheit« nicht um Kenntnisse und Aufklärung, erst Recht nicht um Erhellung eines vergangenen politischen Systems. Auch in Joh 8,33 ff kämpft Jesus gegen ein plattes politisches Missverständnis von »Freiheit«, »Sklaverei« und »Wahrheit«. Die Wahrheit, die aus der Sklaverei der Sünde befreit, ist Gott, der die Sünden vergeben kann. Fazit: Jesus ist ein König. Aber nicht einer, der andere erschlägt, sondern einer, der frei und mächtig ist. Von dieser Freiheit und Macht spricht er, wenn er von Gottes Gegenwart in seiner Person spricht. Das nennt man »Zeugnis geben«. Die königliche Freiheit ist die von Sünde, Tod und Teufel. Es ist die einzige königliche Freiheit, auf die es ankommt. Und von der Versklavung gegenüber Sucht und Sünde haben schon die griechischen Philosophen seit Plato gesprochen. Dann aber heißt es, die Kreuzesinschrift sei auf Latein, Griechisch und Hebräisch verfasst worden. Alle Ausleger seit Augustinus beziehen diese drei Sprachen auf die ganze damals bekannte Welt. Sie deuten die drei Sprachen auf das universale Königtum des Gottessohnes, dessen Reich eben alle Sprachen und die ganze Welt umfasse. Der schwäbische Reformator Joh. Brenz macht Pilatus gar mit dieser Aussage zum »Propheten«; denn er habe mit dieser Inschrift die Heidenmission angekündigt, ohne es zu wollen. Der als König der Juden verhöhnt wird, ist in Wahrheit König über alle Völker; der, dem man am Kreuz das Leben nimmt, gibt das unzerstörbare Leben Gottes in Fülle; der König der Dornen
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404 ist der wahre König der Herrlichkeit; der von Jammer und Leid gezeichnet ist, ist in seinem Leben und Leiden ein einziges Zeichen für die Wirklichkeit Gottes. Der den Tod erleidet, hat die Macht, den Tod zu besiegen. Der Ausgestoßene wird alle Völker an sich ziehen. Der Träger der letzten Schande, der nackt gekreuzigt und von Hunden angegriffen wird, ist der Tempel für Gottes Schöpfungswort. Der Gott gehorsam ist bis zum letzten Atemzug, wird gekreuzigt zwischen Banditen.
Joh 18,37f: Wahrheit im JohEv Im Sinne des JohEv stellt Pilatus die falsche Frage. Er hätte nicht fragen sollen: »Was ist Wahrheit?«, sondern: »Wer ist die Wahrheit?« Denn im JohEv ist die Wahrheit Person. Kurz zuvor hatte nämlich Jesus gesagt: »Ich bin die Wahrheit« (Joh 14,6). Das ist nicht einfach zu verstehen, wenn man von unserem heutigen Begriff von Wahrheit ausgeht. Bei dem, was die Bibel unter »Wahrheit« versteht, müssen wir kräftig umlernen. Denn in der gesamten Bibel ist Wahrheit nicht etwas, mit dem man einfach Recht hat, sondern Wahrheit ist sehr viel mehr: Sie ist die Kraft, die einem hilft, zurechtzukommen, und zwar mit Leben und Tod. Wahrheit ist das, was bleibt, indem es den Tod überwindet. Das schließt ein, dass das »stimmt«, was man glaubt; aber es ist mehr, nämlich das, was immer sein wird, was am Ende siegreich über alles Vergängliche triumphiert. Dessen liebevolle Zuwendung und Stellvertretung diesen Sieg vermittwelt. – Wahrheit ist keine Sache, sondern Gott selbst ist die Wahrheit. Wer darauf gründet, der hat Anteil an der Kraft, die gegen den Tod gefeit ist. Kein kurzfristiger Nachweis ist hier tauglich. Ob etwas im Sinne der Bibel »trägt«, entscheidet sich vielmehr daran, wer buchstäblich »zuletzt lacht«. Deshalb eignet man sich Wahrheit nach der Bibel nur so an, indem man Jesus nachfolgt. Im Bann der griechischen Philosophie haben wir uns längst daran gewöhnt, unter Wahrheit die Übereinstimung von Aussage und Sachverhalt zu verstehen. Die Kriterien dieser Richtigkeit sind Erweisbarkeit und Nachprüfbarkeit. Doch die Bibel kennt einen anderen, für sie selbst
Das Evangelium nach Johannes
wichtigeren Begriff von Wahrheit. Dabei geht es um folgende Aspekte: Schon die Psalmen sprechen von Gottes Gerechtigkeit und Wahrheit. In diesem Sinne sagt Jesus: »Die Wahrheit wird euch befreien«, nämlich von der Sünde (Joh 8,33). Wahrheit ist hier etwas, das von Gott ausstrahlt. Entscheidend ist nicht die kausale Erweisbarkeit, sondern die rettende Wirkung. Ein weiterer Aspekt: Laut dem JohEv (und ähnlich kennen wir es von den Texten aus Qumran) sagt Jesus, dass man die Wahrheit tun soll (Joh 3,21). Eine gedankliche Richtigkeit kann man nicht tun. Die Wahrheit tun heißt vielmehr: auf Gottes Verlässlichkeit aufbauen und selbst verlässlich handeln, Leben weitergeben und nicht zerstören. Und auch wenn Jesus sagt: »Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben«, meint er ganz sicher nicht die Richtigkeit einer Meinung, sondern die Verlässlichkeit, die von ihm selbst ausgeht. In allen diesen Texten geht es um die Wahrheit also nicht im Sinne der Richtigkeit des Erkannten (Kontrast zum Falschen), und der Rede über Erkanntes (Kontrast zur Lüge), sondern um die Wahrheit Gottes im Sinne seiner über den Tod erhabenen Macht. Denn er ist nicht vergänglich, sodass er wie ein Schatten dahinginge. Er ist nicht trügerischer Schein, sodass er wie eine Halluzination zerflattern müsste. Wenn das stimmt, dann unterscheidet sich auch die Art der Anteilhabe an dieser Wahrheit von einer richtigen Erkenntnis. Denn nur wer sich auf Jesus persönlich einlässt, sich zu ihm bekennt, der hat Teil an dieser Wahrheit Gottes. Damit aber geht es nicht um Erkenntnistheorie (wie bei Falschheit oder Irrtum) oder Moral (wie bei Lüge), sondern um Macht, Potenz und Dynamik. Letztlich werden die Jünger Mitregenten. Wenn Wahrheit auf diese Weise Person ist, geschieht die Aneignung der Wahrheit nicht, indem man sich im Buchladen einen Text kauft und ihn dann zur Kenntnis nimmt oder wohlwollend über ihn denkt. Wenn diese Wahrheit Person ist, dann geschieht ihre Aneignung in der Weise, dass Jünger sich mit ihrer ganzen Person zu dieser Person verhalten. Das Kriterium für die Echtheit von Wunderheilungen und Exorzismen gilt auch für die Frage nach Wahrheit allgemein: Was im Ganzen und auf Dauer hilft, ist wahr. Und dabei bezieht
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Kapitel 19
sich das »auf Dauer« bis hinein in die unvorstellbare Dauer des ewigen Lebens. Die Wahrheit Gottes trägt über den Tod hinaus. – Zur kirchlichen Lehre und zum Bekenntnis verhält sich diese Wahrheit wie folgt: In den Aussagen des Bekenntnisses erkennt die Kirche ihre Lebensbeziehung zu Jesus wieder. Hier wird das mitteilbar und vom Verstand angeeignet, was selbst umfassender ist. Es bedarf der Fixierung als Lehre, damit man selber immer wieder Klarheit gewinnen kann, nicht zuletzt auch um den besonderen Gehalt und Anspruch dieser »Freundschaft« vor sich selbst und vor anderen deutlich zu machen. Wenn Jesus nun »von der Wahrheit« Zeugnis gibt, dann meldet er den Anspruch und die Macht Gottes an. Dann verkündet er mit Wort und Tat, was Gott für die Welt bedeutet. Sein Reich wird den Tod überwinden. Insofern ergänzt sich diese Aussage mit Mt 16,18, wo von der Kirche gesagt ist, dass der Tod (die »Pforten des Hades«) sie nicht überwinden wird. Jesus ist in diesem Sinne ein König, denn Könige sind in der Antike zur Zeit des Neuen Testaments diejenigen, die allein frei sind im Unterschied zu allen anderen. Von dieser Freiheit durch die Wahrheit hatte schon Joh 8,32 gesprochen (»Die Wahrheit wird euch befreien«). Dieser König repräsentiert und vermittelt daher die Freiheit von Sünde, Tod und Teufel. Sein Reich ist genau dieser freie Raum, in dem wir Menschen frei geworden sind von dem, was sie wirklich bedroht. Zu Joh 19,5: »Ecce homo« nach Berger/Nord so übersetzt: »Da, schaut ihn euch an, den Menschen!« Manche vermuten eine Aufnahme von Joh 1,29: »Ecce agnus Dei«. Zu Joh 19,7: Warum man Gott lästert, wenn man sich selbst zum Sohn Gottes erklärt, wird durch Lev 24,16 keineswegs erklärt (»Wer den Namen des Herrn lästert, soll des Todes sterben; die ganze Gemeinde steinige ihn!«). Denn der Titel Sohn Gottes ist im Alten Testament geläufig, und nach Weish 2,13 (»Er rühmt sich, Gotteserkenntnis zu besitzen, und bezeichnet sich selbst als Sohn Gottes«) erklärt der zu Unrecht leidende Gerechte selbst, er sei Sohn Gottes. Bei den Synoptikern ist dieses ein Problem der Legitimität des Geistbesitzes. Auch Mt 27,42f »König
von Israel … Gottes Sohn« erklärt die Lästerung nicht. Zu Joh 19,11: Hier ist nicht generell die Legitimität der Staatsmacht gemeint wie in Röm 13,22, sondern die Entscheidungsmöglichkeit in diesem Fall.
Joh 19,19: Die Kreuzesinschrift »Jesus der Nazoräer, König der Juden« war die Kreuzesinschrift, geschrieben auf »Hebräisch, Griechisch und Lateinisch«. Jedes Wort ist Stück eines theologischen Programms. Denn Nazoräer meint nicht einfach den Mann aus Nazaret, sondern wohl am ehesten den Charismatiker, den Beter, Heiler und Wundermann, so wie die Alte Kirche dann von den Nasaräern spricht. Diese Bezeichnung hat sich wohl genau zur neutestamentlichen Zeit aus der des Nasiräers (heiligmäßiger Asket) herausentwickelt und verselbstständigt, wie der Fall des »Herrenbruders« Jakobus zeigt (siehe dazu in meinem Buch: Tradition und Offenbarung, 2006, 503 ff). »König der Juden« ist von Pilatus, der sich ausdrücklich als Autor dieser Worte bekennt, ganz und gar ironisch gemeint. Das Wort findet sich – außer im »Vorzeichen«-Bericht Mt 2 – im Neuen Testament nur in den Passionsgeschichten. Das bedeutet: Jesus selbst hat sich nicht so genannt. Der Titel wird ihm unterstellt. Auf die Frage des Pilatus, ob er denn ein König sei, antwortet Jesus mit Ja. Aber er ist eben nicht König der Juden, sondern König in einem ganz anderen Sinn, aus einer ganz anderen Welt. Nicht nur Pilatus, auch Jesus versteht den Titel »König« daher ironisch. Denn ein König mit Macht und Waffen kann ja nicht gemeint sein. Auch die Frage »Was ist Wahrheit?« versteht Pilatus wohl nur noch ironisch, denn er will sich doch nicht im Ernst von Jesus über die Wahrheit belehren lassen, die dieser selbst ist. Pilatus möchte durch seine Inschrift zeigen: Wie der Herr, so’s Gescherr. So verachtenswert sind die Juden, dass sie solch einen Jammerlappen als König verdient haben. Denn ein König repräsentiert sein Volk. Wenn ein machtloser, für den Verbrechertod vorgesehener Mensch König sein soll, dann sind in diesem Fall alle Vor-
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406 stellungen von einem König auf den Kopf gestellt. Und wenn der König jeweils das Glanzvollste ist, das ein Volk zu bieten hat, dann sagt dieser König der Juden Entsprechendes über sein zugehöriges Volk. Insofern bleibt Pilatus bei der Wahrheit. Nicht Jesus hat gesagt, er sei der König der Juden. Vielmehr hat Pilatus gesagt: Jesus ist der König der Juden (19,21). Zu Joh 19,30: »Es ist zu Ende«, die Sendung ist erfüllt, zu Ende gebracht.
Joh 19,34: Blut und Wasser Natürlich geht es noch nicht um Abwehr von Doketismus (Scheinleib-Hypothese). Aber wenn der Mensch im Inneren wesentlich aus Blut und Wasser besteht (4 Makk 9,20: »Die aufgehäuften glühenden Kohlen verlöschten durch das viele herabtröpfelnde Blutwasser«; griech.: ichoron stalagmoi; ichor ist der wässrige Teil des Blutes, Blutwasser, Serum), dann sind Blut und Wasser, die aus dem Herzen kommen, Zeichen des Todes. Das ist schlicht deshalb wichtig, weil nur, wer tot war, auch auferstehen kann. Eine Deutung auf Taufe und Eucharistie ist abzulehnen, weil das eucharistische Brot fehlt. Bereits in Joh 6 war im Übrigen ein kannibalistisches Verständnis ausgeschlossen worden. Wie sollte es der Evangelist hier erneuern? Im johanneischen Schrifttum sind Blut und Wasser auch an anderen Stellen wichtig: 1 Joh 5,6-8: »Jesus Christus wird wirksam in Wasser und Blut … Der Heilige Geist gibt Zeugnis von der wahren Bedeutung der Botschaft. So gibt es drei Zeugen: Geist, Wasser und Blut. Und diese drei stimmen überein.« Der »Geist« ist jedenfalls der Beistand, der nach Ostern in alle Wahrheit einführt und dadurch neben Jesus zum neuen, weiteren Zeugen wird (Joh 16,13; vgl. auch 1 Joh 4,13). Wasser und Blut verstehe ich hier nicht sakramental, sondern im Sinne dessen, was den Menschen physisch ausmacht, so wie es am Kreuz zum Ausdruck kommt. In der johanneischen Literatur und im Umfeld heißt das öfter so: dass der Messias als Mensch gekommen ist, als Fleisch (griech.: sarx), z. B. 1 Joh 4,2. Das Fleisch ist vom Blut nicht zu trennen, und dieses ist der Substanz nach Wasser (Serum) und Blutplasma (festere Bestandteile). –
Das Evangelium nach Johannes
Der medizinische Einwand, das Blut löse sich erst sehr viel später nach dem Tod auf, trifft nicht, weil man stets das sieht, was man erwartet.
Das johanneische Schrifttum vertritt demnach eine besondere Variante antiker Medizin: Das Fleisch des Menschen besteht aus Wasser (Serum) und Blut (feste Bestandteile). (Ähnlich merkwürdig ist die Trennung in der deutschen Redensart »ein Mensch von Fleisch und Blut«; denn zwischen Fleisch und Blut ist keine Trennung möglich. Und was ist mit den Knochen?) Im Tod löst sich diese Mischung. – Der theologische Topos »Fleisch des Messias« ist für das frühe Christentum von enormer Bedeutung (vgl. K. Berger, Theologiegeschichte, 1995, §§ 115120).
Joh 20,1-9: Auferstehung – Zeugen und Zeugnisse Gerade weil der Osterglaube so kühn ist und oft nur den Gewissheitsgrad von Poesie zu haben scheint, legt das JohEv größten Wert auf eine exakte Sicherung der aufweisbaren Zeugnisse: Daher wartet der Lieblingsjünger am Grab, bis Petrus ihn eingeholt hat; so konnte er nichts manipulieren, und zwei Zeugen (nach Dtn 19,15 die Mindestzahl) bestätigen dann das leere Grab. Über das Grab hinaus wird als weitere ZeugnisInstanz die Schrift genannt, von der aber Petrus und der Lieblingsjünger ausdrücklich nichts wussten. Damit ist eine weitere unabhängige Quelle gewonnen. Dass Maria Magdalena zunächst allein am leeren Grab ist, stellt ihr Zeugnis neben das von Petrus und dem Lieblingsjünger; dass sie später (ab 20,11) zu gewandelter Ansicht kommt, gewinnt durch ihre anfängliche Ratlosigkeit an Überzeugungskraft. – Regelrechte Beweisstücke sind die Tücher, wiederum zweifach: Das Gesichtstuch und das Leichentuch liegen getrennt. – Man kann daher sagen, der Evangelist habe außer drei voneinander unabhängigen Zeugen als weiteres Beweismittel die Schrift und zwei Leichentücher anführen können. Im Laufe von Kap. 20 kommt noch hinzu der Kreis der elf Jünger sowie der Apostel Thomas. – Immerhin wurde der Auferstandene selbst von Maria Magdalena, von den elf Jüngern und von Thomas gesehen. Diese Fülle von Zeugen und Zeugnissen
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Kapitel 20
ersetzt aus der Sicht des Evangelisten das Manko, dass niemand den Vorgang der Auferstehung selbst gesehen hat.
Joh 20,10-18: Erste Erscheinung Maria Magdalena ist die erste Person, der der Auferstandene persönlich erscheint, und zwar nach dem JohEv ihr allein (anders: Mt 28). Anders als bei Mk fragen die Engel im leeren Grab lediglich (offensichtlich tadelnd): »Frau, was weinst du?« Aber mehr sagen sie nicht. Auf die Klage der Maria Magdalena: »Man hat meinen Herrn weggenommen!«, schweigen sie. Der Auferstandene, den sie dann erblickt und noch nicht erkennt (ähnlich 21,4), wiederholt die Frage der Engel: »Frau, was weinst du?« Erschien ihr Jesus in anderer Gestalt (so aber Mk 16,12 von den beiden Emmausjüngern)? Oder waren die Augen der Maria Magdalena »gehalten«? An der Stimme und an der Vertraulichkeit erkennt sie Jesus. Dass sie ihn mit Rabbuni anredet, entspricht der Anrede Rabbi in Joh 11,8; 9,2; 3,26; 3,2. Die Endung mit der 1. Person (-ni) signalisiert die besondere Vertrautheit. Aber überall geht es um die JüngerAnrede. Dass Maria Magdalena mit Namen genannt wird, entspricht den Jünger-Berufungen in Joh 1. Was »Rühr mich nicht an!« bedeutet, das zeigt der Vergleich mit Mt 28,9: »Umfasse nicht meine Füße, bete mich nicht an!« Denn Jesus ist noch nicht in seine Herrlichkeit zurückgekehrt und daher noch im Status des Boten, der jedenfalls hier nicht angebetet werden darf. Jesus ist laut 20,17b noch auf dem Weg zum Vater (und will durch Anbetung nicht aufgehalten werden). Jesus verhält sich daher ähnlich wie der Engel nach Offb 22,6 f. Der Vergleich mit Mt 28 ergibt keine Möglichkeit, diesen oder jenen Bericht für primär oder sekundär zu halten. Beide Berichte sind ihrem jeweiligen Evangelium konsequent eingepasst (Joh 20 mit der Sendung; Mt 28 mit der Anbetung). Maria Magdalena wird mit ihrer Nachricht zu anderen geschickt, deren eigene Vision durch den folgenden Bericht bestätigt werden wird. Dass diese hier »Brüder« genannt werden, ist im Blick auf Joh 7,3.5.10 gewiss nicht revolutionär. Ebenso hat man das »zu meinem Vater und zu
407 eurem Vater« in 20,17 überinterpretiert, als könne Jesus erst jetzt so reden (vgl. auch 17,9-11.21.) Mit den Brüdern könnte auch eine andere Gruppe als die in 20,19 genannte Schar der Schüler gemeint sein, eben die Herrenbrüder (vgl. zu 7,3 etc.). Man hat sich oft Gedanken gemacht über das Verhältnis dieser Aussage zur Himmelfahrt, insbesondere zum lukanischen Bericht in Apg 1,911. Dazu hat man erklärt, die lukanische Auffassung von einer Himmelfahrt erst nach 40 Tagen sei mit der Meinung von Joh 20 unvereinbar. Das ist freilich nicht der Fall. Denn in Apg 1 handelt es sich gar nicht um den Vorgang der Erhöhung Jesu, sondern um den besonderen Abschluss einer späteren Folge von Erscheinungen, bei denen Jesus stets »vom Himmel her« erscheint und sich nicht irgendwo versteckt (vgl. dazu jetzt: J.-M. Bohnet, Himmelfahrt, 2009). In Apg 1,11 liegt keine Himmelfahrt vor, sondern ein lehrreich ausgestalteteter Erscheinungschluss. – Zur Vorstellung von Joh 20,17 vgl. aber Offb 11,12. Die beiden Auferweckten gehen in einem von der Auferweckung sachlich getrennten Vorgang triumphal zum Himmel hinauf. Der Triumph wird bei Jesus nicht geschildert, wohl aber ein Stück des Vorgangs des Hinaufsteigens. Nach Offb 11,12 werden die beiden Auferweckten auch bei diesem Aufstieg gesehen: »und es sahen sie ihre Feinde«. Nur sind es nach Joh 20,17 nicht die Feinde, die sehen, sondern wie in allen Berichten der Evangelien nur die Freunde (Mt 28 nennt auch Feinde, aber nicht an dieser Stelle); anders das PetrusEv. – Es ist also daran zu denken, dass der Auferstandene im Anschluss an die Auferstehung in den Himmel hinaufgeht. Dass er der Erde (wie lange noch?) nahe bleibt und erscheinen kann, kennen wir ähnlich z. B. auch aus dem Martyrium Pauli, auch wenn es sich dort nicht um Auferweckung, sondern »nur« um das Hinaufgehen der »Seele« zum Himmel handelt.
Die besondere Pointe dieses Berichtes liegt in Folgendem: 1. Maria Magdalena hat »den Herrn gesehen« (vgl. 1 Kor 9,1), und zwar zuerst, vor Petrus. Wichtig ist dabei: Sie ist eine von allen anderen unabhängige erste Zeugin. Damit ist im JohEv nicht nur das entscheidende Bekenntnis (Marta in 11,27), sondern auch die erste Vision des Auferstandenen von einer Frau berichtet. Dass dieses bewahrt wurde, weist auf jeden Fall
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408 in die Frühzeit. – 2. Die Weigerung Jesu, sich jetzt schon anbeten zu lassen, ist ein Merkmal seiner eigenen Legitimität. Der Teufel wäre da nicht so zimperlich (vgl. Lk 3; Mt 3). Zu Joh 20,17: Der Satz, den man zumeist im Deutschen mit »Rühr mich nicht an!« (V. 17a) übersetzt, ist offenbar nicht Ausdruck einer wie immer gearteten plötzlich auftretenden Allergie Jesu gegen Maria Magdalena; vielmehr geht es nach meiner Deutung um die Abwehr der Proskynese, und zwar aus folgendem Grund: Jesus wird im ganzen JohEv als der vom Vater Gesandte dargestellt, der vom Vater gekommen ist und wieder zum Vater zurückgeht. Erst wenn er an das Ziel seines Rückwegs gelangt ist, ist die Zeit seiner Sendung zu Ende. Deshalb spricht Jesus hier davon, dass er zu diesem Zeitpunkt noch nicht zum Vater hinaufgestiegen ist. Also dauert die Zeit seiner Sendung noch an. Für diese aber gilt, dass der Gesandte sich unter keinen Umständen mit dem Aussendenden verwechseln lassen darf, mag seine Botschaft auch noch so herrlich sein. Durchgespielt wird das im Neuen Testament mustergültig in Offb 22,8-9, und als Topos hat R. Bauckham dieses für die gesamte Apokalyptik ermittelt (vgl. dessen Artikel: The worship of Jesus in apocalyptic Christianity, in: Bauckham (1980), NTSt 27, 322-341). Auch Lk 4,7 und Mt 4,9 (Anbetung) sind ähnlich zu verstehen. Ließe sich Jesus dazu verleiten, den Teufel anzubeten, dann hätte er Gott und seinen Auftrag verraten. Wenn Jesus dagegen nach Ende seiner Mission »wieder« neben dem Vater im Himmel sitzt, kann er getrost mitverherrlicht (also auch: mitangebetet) werden.
Joh 20,19-23: Geistempfang Überall, wo im Neuen Testament vom Heiligen Geist gesprochen wird, legt sich eine Typologie, eine bildhafte Entsprechung zum Alten Testament nahe. Beim Pfingstbericht der Apg denken die Ausleger seit alters an den Turmbau zu Babel; für die Abfolge von Himmelfahrt und Geistempfang darf man an Elia und Elisa denken; denn Elias Geist wurde dem als Erbe zuteil, der bei seiner Himmelfahrt Zeuge war (2 Kön 2,10). Für Mt 28 mit dem Auftrag der Geisttaufe dachte
Das Evangelium nach Johannes
man an Mose und die 70 Ältesten, die als seine »Nachfolger« Anteil an seinem Geist erhielten (Num 11). Und in Joh 20 liegt nun gar eine doppelte Typologie vor. Einerseits bläst Jesus die Jünger an und sagt: »Empfangt den Heiligen Geist …« (vgl. die Entsprechung von Joh 3,3 »Geist von oben« und Joh 20,22 »Geist zur Sündenvergebung«). So hatte auch Gott den Adam bei der Schöpfung angeblasen (Gen 2,7), um ihm von seinem Lebensodem mitzuteilen. Und hier wird nun durch den die Sünden vergebenden Geist im wahrsten Sinne neue Schöpfung gewirkt. – Die zweite Typologie ruht auf Ez 36,25f: Gott sendet in Zukunft seinen Geist wie Wasser in die Herzen, und dadurch werden sie rein: »Ich sprenge über euch reines Wasser, damit ihr gereinigt werdet. Von all euren Unreinheiten und von all euren Götzen will ich euch reinigen. Ich gebe euch ein neues Herz und lege neuen Geist in eure Brust … Meinen Geist lege ich in eure Brust und bewirke, dass ihr nach meinen Satzungen wandelt.« Hier reinigt der Heilige Geist von aller Schuld, und eben das ist ja der Inhalt der Vollmacht, die Jesus hier den Jüngern gibt. Sie selbst sind schon rein durch das Schöpfungswort, das Jesus an sie gerichtet hat (Joh 15,3). Nun bekommen sie die Vollmacht, dieses im Sinne der Vergebung als wirkmächtiges Wort weiterzugeben. Es geht daher nicht oder nicht nur um den Auftrag, die Lehre weiterzusagen. Das Entscheidende ist die Vergebung der Sünden. Das ist mehr als Lehre. Durch das Anhauchen erwirkt dieses vollmächtige Wort der Jünger die neue Schöpfung des Menschen. Insofern kommt nun das »Wort« von Joh 1,1f zum Ziel. Durch dieses Wort ist alles geworden, die ganze Welt. Dieses Wort ist zunächst in Jesus (Joh 1,14). In der Vollmacht, die er nun den Jüngern weitergibt, haben auch sie Anteil an Schöpfungsmacht. Sie zielt jetzt auf die grundlegende Erneuerung der Menschen. Und genau auf diese Weise beseitigt das Lamm Gottes die Sünde der Welt (Joh 1,29). Die Auslegung betont beim »Lamm Gottes« mehr die Rolle des Todes Jesu. Aber das neu machende Schöpfungswort sollte man in den Vordergrund stellen. Im Übrigen ist die Vollmacht, die Jesus als sein Vermächtnis gibt, nicht freischwebend, sondern gebunden an die Gemeinschaft der Jünger. Ähnlich wird ja auch in Mt 26,28 die Sündenvergebung an den
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Kapitel 20
Bund geknüpft, dessen Träger die Jünger sind – nur dort ausdrücklich an den Tod Jesu gebunden (Blut!). Dass Jesus durch verschlossene Türen zu den Jüngern kommt (V. 19), ist ein Merkmal seines auferstandenen Leibes. Einerseits ist er an den Wundmalen als der individuelle Leib Jesu erkennbar, andererseits zeigt der Eintritt durch die verschlossene Tür: Jesus ist an keine trennende Grenze mehr gebunden. Der Geist ist hier mit Sündenvergebung verbunden (20,22f), weil er wie eine reinigende Flüssigkeit aufgefaßt wird. Denn er ist wie Wasser oder wie Öl. – Neuschöpfung oder Vollendung der Schöpfung durch Vergebung der Sünden bedeutet: Der Auferstandene, der lebt, beseitigt das, was die alte Schöpfung in den Tod führt. Die »Sünde« ist in negativer Hinsicht vor allem mangelnde Anerkennung Gottes, Gottferne. Denn so wie das von Joh 6,63 (Heiliger Geist!) gesagt worden ist, gilt es: Sünde und Gottferne werden durch Jesus überwunden – Gottes Gabe an die Welt. Zu Joh 20,23: Hier gibt es eine wichtige Übereinstimmung mit Mt 16,19 und 18,18 »auf Erden … auch im Himmel« bezüglich des Zugangs zur Gemeinde bzw. zum Himmelreich. Denn Zulassung bzw. Aussperrung und Sündenvergebung sind zwei Seiten derselben Sache. Dafür wird den Jüngern an beiden Stellen absolute Gültigkeit ihres Entscheidungs-Wortes zugesprochen. Ihr Urteil hat damit Anteil an den Worten Jesu nach Mk 13,30 f.
Joh 20,19-31: Thomas Wie der Zweifel des Thomas (20,25b) lautet auch der Zweifel der neuzeitlichen Exegese seit H. S. Reimarus. Sein Vorwurf an die österlichen Jünger lautet: Manipulation, Wunschdenken, Priesterbetrug zugunsten der eigenen Karriere und Christentum als eine erledigte Ideologie. Ähnlich spielt die Jesusforschung seit 200 Jahren den vermeintlich »wirklichen« Jesus gegen das aus, was die Kirche daraus gemacht hat, und zwar angeblich irreführend. Thomas will es von Jesus selbst wissen und glaubt den Jüngern, der »nachösterlichen Gemeinde« und Kirche, kein Wort. Dass es
409 sich in der Tat schon in Joh 20 um ein ähnliches Problem handelt, zeigt der abschließende Kommentar Jesu in 20,29, den wir so übersetzt haben: »Du hast jetzt geglaubt, weil du mich gesehen hast. Selig, wer in Zukunft glauben wird, ohne mich gesehen zu haben« (vgl. Kommentar zu Joh 4,48). In Zukunft glauben – nämlich auf dein Zeugnis und das der anderen Jünger hin. Es geht daher bei der Erscheinung des Herrn vor Thomas nebenbei auch um die grundlegende Frage der Glaubwürdigkit des Zeugnisses der Jünger. Im JohEv ist das wichtig, weil es immer wieder von Zeugen und vom Zeugnis spricht. Der Glaube beruht auf dem Zeugnis, und wenn es nicht wahr, sondern manipuliert ist, dann ist alles Schwindel. In der Thomas-Erscheinung legitimiert nicht der Herr sich selbst, sondern er bekräftigt das Zeugnis der Jünger über ihre Ostererfahrung (20,1923). – Das Fazit der Thomasbegegnung ist daher: Man kann in der Tat auf das Zeugnis der Augenzeugen hin glauben. Thomas selbst ist auch einer von ihnen. Die positive Erfahrung des Thomas ist die des Schreckens angesichts des heiligen Gottes. Er kommt gar nicht dazu, sein »versucherisches« Anliegen, nämlich überall seine Hand hineinzulegen, wahrzumachen. Die geschilderte Erfahrung mit dem Auferstandenen wird für ihn zu einer schockierenden Begegnung mit Gott selbst. Weder Argumente noch Therapie noch liebevolles Hinführen oder Streicheln der Seele sind der Weg der Aufhebung der Zweifel, sondern überwältigende Erfahrung der Gegenwart des persönlichen Gottes in Jesus selbst. Die Wundmale des Verklärten weisen auf die persönliche Einmaligkeit Jesu in seinem Geschick. Kein namenloser Engel, kein Gespenst ist das, sondern unausweichlich Jesus von Nazaret selbst, der Christus. Derselbe, der auch im Evangelium bisher schon immer gesagt hatte: Es führt kein Weg zum Vater außer durch mich; ich persönlich bin der Weg zum Vater, nicht meine Lehre ist es. Die Innenseite der Thomas-Erfahrung hat erkennbar mehr mit Herrlichkeit und Liebe zu tun als mit juristischen Argumenten. Um die Herrlichkeit geht es beim Erschrecken. Thomas merkt: Ich habe es mit Gottes eigener Offenbarung zu tun – und eben nicht mit trickreichen Konstruktionen der Jünger oder der Kirche. Alle diese Zweifel versinken ins Bodenlose, wenn die heilige
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410 Gegenwart Gottes in Jesus durchbricht und den Jünger unmittelbar überwältigt. Der Schrecken des Thomas ist – für die Jünger – die nachgeholte Voraussetzung für die rechte Einordnung der Osterereignisse: Hier habt ihr es mit dem lebendigen, persönlichen Gott zu tun. Und für die Leser des Evangeliums werden durch diesen Bericht die wahren Konturen des Geschehenen erkennbar. Nach Art antiker Texte steht das stärkste Argument am Schluss, man nennt es die peroratio (drastische Zusammenfassung des Wesentlichen). Vergesst nicht: Wir haben es hier mit Gott und seiner Realpräsenz unter Menschen zu tun. Es ist der Gott, über den man erschrecken muss und wird, wenn man der Botschaft Manipulation unterstellt. Der aber Anlass zur Freude ist, wenn man Lebensgeist und Sündenvergebung annimmt. Eigentlich und in Wahrheit versucht Thomas Gott, was man nicht tun darf! Schon Lk 4,12 zitiert Jesus gegenüber dem Teufel (!) Dtn 16,16: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht versuchen!« – Aber Gott lässt sich – aus Liebe, warum denn sonst? – auf das gotteslästerliche Versuchen ein, kennt menschliche Zweifel und weiß, dass Menschen die Wahrheit von Jesus selbst wissen möchten. Er ist sich nicht zu schade, den Zweifeln des Thomas entgegenzukommen. Ähnlich kennen wir es aus Joh 4,48: »Wenn ihr nicht Zeichen und Wunder seht, glaubt ihr nicht!« So schwach und hilfsbedürftig ist der Glaube von Menschen. Auch nach Joh 4 lässt sich Jesus daher in der gleichen Barmherzigkeit auf die Menschen ein, aus der heraus er auch dem lästerlichen Ansinnen des Thomas nachgibt. Gerade weil Jesus (nach beiden Texten) so bereitwillig und über das Maß barmherzig dem schwachen Glauben der Menschen entgegenkommt, ist nun, da das Wunder geschehen und Thomas seinen Wunsch erfüllt sieht, der Glaube unausweichlich, Unglaube ist nicht mehr entschuldbar. Die abschließende Erscheinung vor den zwölf (elf) Jüngern hat im JohEv einige exklusive Besonderheiten (20,24-29). Nur hier teilt der Auferstandene schon am Ostertag den Heiligen Geist mit und verbindet dieses mit Sendung und mit der Vollmacht, Sünden zu vergeben. Und nur hier erscheint er noch einmal extra dem Thomas. Damit steht Thomas an der Schwelle zu der Zeit,
Das Evangelium nach Johannes
in der die Ostererscheinungen aufhören. Denn einerseits gehört er noch zur Gruppe der Zwölf, und der Herr erscheint ihm wirklich noch einmal. Andererseits steht er stellvertretend für alle diejenigen, die wie er selbst zu Ostern nicht dabei waren. Deshalb sollte man in 20,29 nicht übersetzen »Selig sind, die nicht sahen und doch glauben« – gewissermaßen als deutlichen Tadel an Thomas, sondern umgekehrt: »Selig, wer [auf dein Zeugnis hin] in Zukunft glauben wird, ohne mich noch einmal gesehen zu haben.« Denn Thomas soll nicht als Versager dargestellt werden, sondern als Zeuge. Sein Kleinglaube wird nicht getadelt, sondern dass er auf Erfahrungsbeweisen pocht, macht ihn in seinem Mut und seiner Ehrlichkeit zu einer wichtigen Stütze des Glaubens all derer, die sich nach dem Erweis der wirklichen Auferstehung Jesu sehnen. Viele Auslegungen hatten für Thomas dagegen nur Kritik und Spott übrig. Man sprach von Wundersucht und dinglich orientiertem Mirakelglauben, ganz ähnlich wie zu Joh 4, 48, wo Jesus sagt: »Wenn ihr nicht Zeichen und Wunder seht, dann glaubt ihr nicht!« Auch darin meinte man – wie in Joh 20,29 – eine Kritik am Sehen und am Wunder überhaupt erblicken zu können. Das Erstaunliche ist aber doch dann, dass in beiden Fällen, in Joh 4 wie in Joh 20, der Herr dem Bedürfnis der Menschen nachgibt. Er wirkt das Wunder, und die Menschen sehen und glauben – genauso bei Thomas. Der Herr lässt sich auf seine Zweifel ein und erscheint ihm tatsächlich, damit er glauben kann. Denn schließlich sind die Evangelien doch eben deshalb geschrieben worden, weil sie Zeugnisse von Augenzeugen enthalten, aufgrund derer nicht zu glauben dann unentschuldbar ist. Wie bei Thomas: Wer jetzt nicht glaubt, der hat nicht nur Gott nicht verstanden, sondern auch die Zeugen mißachtet. Die Thomasgeschichte sagt daher Wichtiges über den Sinn der Evangelien insgesamt. Eben damit Glaube kein Werk wird, kein Salto mortale aus dem Stand für religiöse Hochleistungssportler, eben dazu benötigen die späteren Christen der Stützung durch die frühen Zeugen. Dennoch ist die Erfahrung des Thomas kein Beweis; denn auf dem Feld visionärer Erfahrungen gilt eben nicht die Allgemeingültigkeit von Regeln und Gesetzen, sondern das Einzigartige, Einmalige und Besondere. Deshalb eignet sich
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Kapitel 21
dieser Bericht nicht zum Schmieden von Beweisen im Sinne älterer Apologetik. Der Auferstandene kann Thomas zumuten, wirklich seine Hände in die Wunden zu legen. Was Thomas übrigens dann doch nicht tut, vielmehr schreckt er beim bloßen Ansinnen vor der Tat zurück und ruft: »Mein Herr und mein Gott!« Ein dogmatisches Bekenntnis zur Gottheit Jesu Christi? Nun muss man sagen, dass das JohEv ohnehin voll ist von Zeugnissen dafür ist, dass in Jesus Gott begegnet. Daran kann gar kein Zweifel sein, und dazu hätte es dieses zusätzlichen Beweises nicht bedurft. Die Frage, ob die Jünger es bei Jesus mit Gott zu tun haben, ist also eigentlich nicht das Problem des Thomas. Sein Problem war sein Unglaube (20,25), und zwar hatte dieser ganz offensichtlich etwas mit der Leiblichkeit des Auferstandenen zu tun. Daher formuliert er sein Ansinnen in Joh 20,25 so besonders im Sinne der »Kontrolle« der Wunden. Das müsste man nicht tun wollen, wenn man Probleme mit der Gottheit Jesu hätte. Nein, wir kennen diese Frage auch aus dem LkEv von Osterberichten her: Nach Lk 24,37 glauben die Jünger zunächst, Jesus sei ein Geist, ein Gespenst, das so aussieht wie Jesus, aber nicht Jesus selbst ist. Dazu muss man wissen, dass es nach der Auffassung des damaligen Judentums »Nachahmer-Geister« gibt, die – ohne dass sie der Betreffende sind – doch so aussehen wie er selbst. Bei näherer Kontrolle lösen sie sich dann in nichts auf, zerfließen als Phantasiegebilde in der Luft. Die Gegenprobe liefert bei Lukas das Essen (24,42f), denn Gespenster können nicht essen und trinken. In Joh 20 sind es die Wunden Jesu, die realidentisch mit den Jesus am Kreuz zugefügten sein sollen. Denn ein Gespenst ist nicht verwundbar. Man muss schon wirklich zulangen dürfen, um die Echtheit festzustellen. Auch der verklärte Leib Jesu ist offensichtlich nicht wie der von Gespenstern, sondern sein realer Leib, nur verwandelt (im Sinne der Auf-
411 hebung der Grenzen). Daher kann Jesus essen und berührt werden. – Der Ausruf »Mein Herr und mein Gott!« ist daher so aufzufassen, wie dieser Ausruf in den Psalmen verstanden wird: nicht als Feststellungsurteil einer dogmatischen Kommission über die Natur Jesu, sondern als Anrufung des Namens des Herrn. Wer aber den Namen Gottes anruft, der ist geschützt vor teuflischem Trug. Das ist so, wie wenn Menschen sich nach späteren Texten bekreuzigen. Das geschieht, wenn Menschen in der »richtigen Gesellschaft« stehen und sich dessen ausdrücklich vergewissern wollen. Indem Thomas den Namen des Herrn anruft, bestätigt er für sich und für uns, dass er keinem teuflischen Trugbild aufgesessen ist. Wir erinnern uns: Auch bei den Wundern Jesu, besonders bei den Exorzismen, war nicht deren Tatsächlichkeit das Problem, sondern die Frage, ob sie auf teuflischen Trug zurückgehen: Hat Jesus Dämonen ausgetrieben, weil er mit Beelzebul im Bunde stand (Mk 3,22-28)? So ist auch die Frage, die Thomas bewegt, nicht, ob so etwas wie Auferstehung möglich ist, sondern ob der Erscheinende wirklich Jesus ist. Mit der viel späteren Häresie des Doketismus (weil Jesus Gott ist, hatte er nur einen Scheinleib) hat das nichts zu tun. Nun scheint die Frage des Thomas heute weitab zu liegen. Ob Gott oder Teufel – das scheint uns weniger bedeutsam. Wir legen deshalb in die Fragen des Thomas unsere Probleme hinein, ob es so etwas wie Auferstehung überhaupt geben könne. Das ist insofern nicht falsch, weil mit der Erscheinung Jesu vor Thomas ja auch diese Frage sich von selbst beantwortet. Doch was den Ursprungssinn des Textes angeht: Für den, der etwas tiefer blickt, ist auch heute nicht die Frage, ob es religiöse Phänomene gibt – davon gibt es »jede Menge« –, sondern die Wahrheitsfrage entscheidend.
Joh 21: Ein Nachtragskapitel? Nahezu alle neueren Exegeten stimmen darin überein, dass Joh 21 nicht vom Evangelisten stammt und also irgendwann später von einem Redaktor angehängt worden ist.
Die Argumente: Der ursprüngliche »Schluss« sei 20,30f (inklusive abschließender Zielangabe »Dies ist geschrieben …«). In Joh 21,24f sei dann ein neuer, zweiter Schluss hinzugefügt. Dort melde sich die Gemeinde (1. Person Plural)
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412 und spreche über den Verfasser. In 21,14a sei eine Zählnotiz erhalten wie in 4,54. Zudem sei das Ganze stark kirchlich orientiert (Symbolik der 153 Fische und Einsetzung Petri). Die Folgen für die Theologie des JohEv wären gravierend: Die Einsetzung des Petrus zum Hirten wäre der Theologie dieses Evangeliums fremd. Gegeneinwände: Die o. g. Hypothese ist der klassische Fall eines Missbrauchs der Literarkritik zu Zwecken der Quellenscheidung. Denn so gewiss mit Joh 21,1 Neues beginnt, ebenso gewiss ist die Annahme einer neuen Quelle stets das letzte Mittel, und diese Annahme ist aus formgeschichtlichen Gründen hier nicht zu rechtfertigen: 1. Jeder halbwegs geschickte Redaktor hätte den »störenden« ersten Schluss abschneiden können. 2. Die Bestellung eines Nachfolgers gehört in verwandten biografischen Texten auch sonst in ein extra abgesetztes Schlusskapitel, bisweilen auch in eine Vision nach dem Tod. Der Neueinsatz mit 21,1 hat daher formgeschichtliche Gründe: Die Einsetzung des Nachfolgers ist vom Lebensbericht abgehoben als ein eigenständiger juristischer Akt. Vgl. die in K. Berger, Im Anfang war Johannes (1. Aufl. 1993, 23) genannten Texte aus 1 Q 22 und Josephus, Ant 4,323-326 (Mose setzt Eleazar und Josua zu Nachfolgern ein), ferner aus der BaruchApk (äth) die Einsetzung von Absalom und Abimelech, aus den Paulusakten die visionäre Bestellung von Titus und Lukas zu Nachfolgern des Paulus und aus den Thomasakten die entsprechende Einsetzung von Sifar und Vasan durch Thomas. – In jedem Fall werden »Schüler« durch diesen abschließenden Akt (bei Mose: auf dem Berg) als Nachfolger legitimiert. In jedem Fall geschieht das durch einen besonderen Akt am Schluss, in den apokryphen Apostelakten nach dem Eingehen des Apostels in den Zwischenzustand. Wichtige Henoch-Apokalypsen nennen die Traditionsträger vor der endgültigen Entrückung. Auch für das, was durch diesen Schlussakt jeweils erreicht wird, kennt schon das Judentum einen Fachausdruck: Diadoche (»Nachfolge«, so Sir 48,8b). In der äth BaruchApk lautet der Schlusskommentar: »Wenn ich, Baruch, euch alles erzählte, was ich sah und hörte, würden all die Bücher es nicht fassen. Der Geist Gottes diktierte
Das Evangelium nach Johannes
es Absalom und Abimelech, den Priestern Jerusalems« (vgl. Joh 21,23!). – Die Stellung von Joh 21 ist daher nicht quellenkritisch, sondern zureichend bereits formgeschichtlich zu lösen. Wenn Quellenkritik das »letzte Mittel« ist, dann ist sie in Joh 21 überflüssig.
3. Der Lieblingsjünger hat genau jene Funktion auch hier, die er seit Kap. 13 wahrnimmt: Er bestätigt, dass es mit allem, was das Zeugnis und die Rolle des Petrus betrifft, seine Richtigkeit hat. So sieht er nach Joh 20 als erster das Grab leer, geht aber nicht hinein. Dadurch wird für den Augenblick, als Petrus am Grab anlangt, zweierlei sichergestellt: Einer außer Petrus hat das Grab leer gesehen, und er war nicht darin, um etwas zu manipulieren. – Ähnlich ist es in Joh 21: Der Lieblingsjünger erkennt als erster Jesus als den Herrn (21,7), sodass ein unabhängiger Zeuge einen Irrtum in der Person aktiv ausschließt. Dann läuft Petrus dem Herrn entgegen, dann wird er eingesetzt. Viele Ausleger haben das Verhältnis zwischen Petrus und dem Lieblingsjünger im Sinne professoraler Männerfeindschaft gedeutet, beide Figuren seien durch finstere Konkurrenz miteinander verbunden. Das Gegenteil ist wahr: Wo immer Petrus und der Lieblingsjünger gemeinsam vorkommen, bestätigt der Lieblingsjünger als unabhängiger Zeuge, dass es mit dem Zeugnis (und der Beauftragung) des Petrus seine Richtigkeit hat. Er ist der stützende Zeuge. Dadurch, dass der Lieblingsjünger den Sachverhalt feststellt (das Grab ist leer, der Erscheinende ist der Herr), ist die nachfolgende Erfahrung des Petrus abgesichert. 4. Auch die Vorhersage des Kreuzestodes an Petrus wird im Kontrast zur Aussage über das Geschick des Lieblingsjüngers entfaltet. Das Gürten und »Führen, wohin du nicht willst«, das Petrus nicht selbst vornehmen wird, sondern das ein anderer ihm »antut«, meint in beiden Teilen der Aussage das Los des Sklaven. Denn Petrus wird den Sklaventod sterben – die Kreuzigung. 5. Das Wunder des reichen Fischfangs und die Bestellung als Hirte gehören inhaltlich zusammen. Das Wunder liefert eine zusätzliche Legitimation des Herrn, der Petrus einsetzt. Es ist der Schöpfergott selbst, der dieses tut. Das Wunder besitzt außer der wörtlichen auch eine symbolische Dimension, denn Fische fangen ist schon im Judentum ein Bild für missionarisches Wir-
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Kapitel 21
ken. Dabei besteht zwischen Fischen und Schafen ein gewisser Kontrast; die Leser haben es aber zu keiner Zeit der Auslegungsgeschichte versäumt, die zweite Metapher (Hirt/Schafe) als Bestätigung der ersten (Fischer/Fische) aufzufassen. Dabei zielt das Wunder des reichen Fischfangs auf die überwältigende Menge, das Bild von den Schafen dagegen eher auf die fürsorgliche Rolle des Hirten. 6. Ein enger inhaltlicher Bezug besteht zu Joh 10 (Hirtenrede). Denn überall sonst, wo von Hirten und Schafen im Neuen Testament bildlich gesprochen wird, bezieht es sich auf die Hirten, die später kommen. Nur in Joh 10 werden die Hirten genannt, die vorher da waren. Dieser (im Vergleich mit den übrigen Stellen) »fehlende« Zug aber wird nun in Joh 21 nachgeholt. In Joh 10 waren die anderen Hirten in Wahrheit nur Mietlinge, hier dagegen geht es um den legitimen Hirten, der auf Jesus folgt. Der Herr fragt dreimal, weil ihm die Liebe des Petrus extrem wichtig ist. Sie ist die Voraussetzung für die Beauftragung. Es ist schon eigenartig: Obwohl der Hirte für die Schafe da ist – alles entscheidet sich doch daran, ob er den Herrn liebt. Die Erzählung scheint voller Anspielungen an Bekanntes zu sein. Sie erinnert an den Fischfang nach Lukas 5,1-11, denn dort ist die Situation ähnlich: Eine Geschichte am See, die Jünger sollen ihre Netze auswerfen. Nach einem Einwand fangen sie sehr viel. Petrus steht im Mittelpunkt. Alle Seegeschichten, auch diese, spiegeln zugleich die Situation der Gemeinde wider. Die späteren Gemeinden haben sich in dem jeweils kleinen Jüngerkreis oft wiedererkannt. Johannes 21 erinnert auch an die Emmausgeschichte: Jesus ist zunächst unerkannt, beim gemeinsamen Mahl wird er erkannt. Ferner erinnert Johannes 21 an das Essen des Fisches nach Lukas 24,43 f. Nachdem die Augen der Jünger zunächst »gehalten« sind, erkennt in der Mitte der Erzählung der Lieblingsjünger Jesus, den »Herrn«. Dann stürzt sich Petrus ins Wasser, dem Herrn entgegen, ähnlich wie in Matthäus 14,26-32. Unterschied zu anderen Bootsgeschichten: Hier ist kein Sturm. Doch das sichere Ufer, auf dem Jesus zu finden ist, nehmen die mittelalterlichen
413 Ausleger für die Auferstehung in ihrer Solidität, im Kontrast zum bewegten Wasser der Welt (sie verbinden mit Joh 6,21). Eine geheimnisvolle Erzählung: Sieben Jünger, davon zwei namentlich genannt. Deutet die Zahl »alle« Jünger an? Petrus umgürtet das Hemd und rafft es auf diese Weise, um besser schwimmen zu können. Am Ufer hat Jesus – ungeachtet des Fischfangs der Jünger – schon ein Mahl bereitet. Er hat wunderbar bereitet, wonach er die Jünger (21,5) gefragt hatte. Die Jünger trauen sich nicht, ihn zu fragen (V. 12), obwohl sie alle wissen, wer es ist. Das ist schüchterne Distanz, ähnlich wie es bei Maria Magdalena in Johannes 20,17 von Jesus selbst nahegelegt wird: Sie darf Jesus nicht kniefällig verehren; hier getrauen sich die Jünger nicht zu fragen. Es ist keine selbstverständliche Erscheinung, sondern es ist eben »der Herr«; Jesus trägt hier den Gottesnamen der griechischen Bibel. Und dieser Herr lebt, an den Zeichen der Fülle kann man ihn erkennen. Niemand soll fragen, ob die Jünger so viele Fische (153) zum Frühstück (!) »brauchten«. Nein, für den Hunger nicht. Paulus redet von der Überfülle in 2 Kor 8,7; bei den Speisungsberichten mit den körbeweise übrigen Stücken ist es genauso wie bei der Hochzeit von Kana: Nur die Fülle zählt. Die Zahl der 153 Fische bleibt rätselhaft. Man kann davon ausgehen, dass diese Zahl wie die 666 in Offb 13,18 symbolisch ist. Darauf weist etwa im Leben des Pythagoras (von Jamblichus), dass der weise Lehrer bei einem reichen Fischfang zuvor die genaue Zahl angeben kann; vielleicht geht es auch hier um eine pythagoreische Zahl. Der Kirchenvater Hieronymus dagegen gibt in seinem Kommentar zu Ezechiel an, 153 sei die Gesamtzahl der Fischarten; weitere Belege fehlen. Ich möchte einen anderen Vorschlag machen: Nach dem apokryphen Hebräerevangelium (Synopse Aland, 153) ist die Zahl der Wunder Jesu 53. »Einhundert« aber ist die Zahl der Fülle (hundert Schafe, hundertfache Frucht und so weiter). 153 bedeutet daher 53 plus 100: die absolute Fülle. Um eine Addition geht es ja auch bei den 99 Schafen plus 1 Schaf. Dass schon für den Evangelisten die Fische hier symbolisch seien für die Kirche, ist freilich ebenso unbeweisbar wie die Deutung des nachfolgenden Mahles auf das Herrenmahl hin.
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414 Zu Joh 21,24: Im Zusammenhang mit dem Abschied des Lehrers werden in der Regel die wichtigen Zeugen am Schluss der betreffenden Schrift genannt. Diese Funktion hat hier 21,24a,
Das Evangelium nach Johannes
in Apg 1,8.13-14 die Ernennung zu Zeugen und die Liste der Zwölf; in Lk 24,48a ernennt Jesus am Rande des Evangeliums die Jünger zu Zeugen.
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Die Apostelgeschichte
Kommentare: Joh. Chrysostomus (380). – Hugo v. St. Cher (vor 1264). – Nicolaus Lyranus (vor 1349). – Dionysius Carthusianus (vor 1471). – H. Bullinger (1548). – Erasmus v. Rotterdam (1530). – J. Brentius (1551). – A. Marloratus (vor 1562). – D. Arcularis (1606). – G. Sanctius (1616). – L. de Dieu (1624). – G. Sanchez (1616). – C. a Lapide (1648). – A. de Sanseverino (1665). – Ph. Limborch (1711). – C. Silveducensis (1769). – L. Frommondus (1654). – I. da Sylveira (1701). – Cassiodorius (1723). – J. C. Wolf (1741). – J. E. I. Walchius (1746). – G. D. Kypke
(1755). – M. Wouters (1763). – I. Weitenauer (1765). – H. Plevier I-IV (1773). – C. T. Kuinoel (1818, 1827). – J. T. Beelen I-II, (1850/51). – H. H. Wendt (1880). – C. F. Nösgen (1882). – E. Preuschen (1912). – A. Schlatter (1922). – O. Bauernfeind (1939). – A. Wikenhauser (1961). – H. Conzelmann 2. Aufl. (1972). – G. Stählin (1975). – E. Haenchen 7. Aufl. (1977). – G. Schneider I-II, (1980). – J. Roloff (1981). – A. Weiser I-II, (1981, 1985). – W. Schmithals (1982). – G. Schille 2. Aufl. (1984). – K. Haacker u. a. (1984). – R. Pesch I-II, (1986).
EINFÜHRUNG Zur Theologie der Apostelgeschichte Die Apg ist ein großartiges Dokument einer Theologie, die nicht ausgrenzt, sondern bei aller nötigen Klarheit andere Positionen nach Kräften einbezieht und eine kosmopolitisch-missionarische Kirchenpolitik betreibt. Dabei geht es nicht um diverse Weltanschauungen, sondern stets um konkrete Gruppen, die in der Mission im Blick stehen. So vermittelt Apg zwischen pharisäischem Judentum und gesetzesfreier Heidenmission, zwischen Christentum und kynisch-stoischer Philosophie, zwischen petrinischer und paulinischer Mission, zwischen Jerusalemer und antiochenischem Christentum, zwischen Heiligem Geist und menschlicher missionarischer Planung, zwischen Altem Testament und christlicher Erfüllung, zwischen christologischem Wunderglauben und Gebet sowie heidnischer Magie. Der Verf. der Apg hinterlässt den Auslegern die Aufgabe, auszugleichen zwischen seiner Darstellung und der des Galaterbriefes. Die treibende Kraft in aller Mission ist der Heilige Geist. Daher kann man die Apg ein Dokument früher Theologie des Heiligen Geistes nennen. Der Heilige Geist ist es auch, der die Erfüllung der Schrift vorantreibt. Insofern haben die drei Zeiten, von denen Joachim von Fiore sprach, durchaus eine Grundlage in der heilsgeschichtlichen Sicht des Lukas: Reich des Vaters (AT), Reich des Sohnes (NT), Reich des Heiligen Geis-
tes (Kirchengeschichte, wenn auch nicht auf Abt Joachim und seine Floriazenser festgelegt). Zur Diskussion um die Verfasserschaft des Evangeliums und der Apg Ausgangspunkt für die Diskussion bildete und bildet Apg 1,1: »Lieber Theophilus, mein erster Bericht handelt von Jesu Anfängen und umfasste all sein Wirken und Lehren, bis er in den Himmel aufgenommen wurde, nachdem er zuvor seinen auserwählten Aposteln durch den Heiligen Geist den Auftrag zur Verkündigung gegeben hatte.« Das erstgenannte Werk galt als das Evangelium, und es galt als ausgemacht, dass Apg dem folgte. – Allerdings endet das Evangelium nicht präzis mit der Himmelfahrt. Diese wird vielmehr doppelt berichtet, einmal – wenn man will – am Schluss des LkEv, ein andermal mit Apg 1 Gründe für verschiedene Autoren: – Im Unterschied zum LkEv lässt Apg keine Eschatologie mehr erkennen. In Apg 2 geht sie nicht über Joel 3 hinaus; – die Menschensohn-Chistologie spielt in Apg keine Rolle mehr; – das ethische Interesse ist in Apg sehr gering, und zwar unterdurchschnittlich. Wichtige exklusive Gemeinsamkeiten Das Thema Besitz und Besitzverzicht ist für beide Verfasser von grundlegender Bedeutung. In
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Die Apostelgeschichte
Apg wird in der Urgemeinde realisiert, was Jesus mit seinen Jüngern in anderer Situation vorgelebt hatte. Der Bericht über die Urgemeinde ist insofern eine Anleitung zur »Umsetzung«. Gemeinsam ist eine vorwiegend moralische Interpretation der Erzväter Israels (Abraham). Beiden Autoren ist eine hervorragende Rolle der Frauen im Urchristentum sowie des Heiligen Geistes gemeinsam. Beiden Autoren ist eine organische Kontinuität Israel/Kirche gemeinsam, die in der Rolle des Tempels in Jerusalem ihren Ausdruck findet. Beide haben demnach ein hervorragendes Interesse an dem, was z. B. O. Cullmann und ältere Kirchenhistoriker unter »Heilsgeschichte« verstanden. Fazit: Die Gründe dafür, Evangelium und Apg auf zwei Autoren zu verteilen, reichen nicht aus. – Zur Datierung vgl. zu Apg 28 (S. 488) Gattung Apg ist ein Erfüllungsprotokoll prophetischer Weissagungen, besonders von Jesaja (vgl. Apg 1,8 [Jes 49,6] bis 28,26-28). Darin versteht sie sich selbst als Entfaltung der österlichen, durch Jesus selbst vermittelten Schrifterkenntnis (vgl. Lk 24,27.46).
Etwa ab Kap. 9 ist die Apg eine Art »Parallelbiografie« der Apostel Petrus und Paulus (wie später z. B. auch die »Akten des Petrus und Paulus« und viele weitere Doppelbiografien). Zahlreiche Züge werden aus dem Evangelium aufgegriffen, am bekanntesten sind die Entsprechungen zwischen dem Sterben des Stephanus und dem Sterben Jesu (s. zu Apg 7). Auch die Wundererzählungen bieten formale und inhaltliche Parallelen. Der Schriftauslegung Jesu in der Synagoge zu Beginn seines Wirkens (Lk 4) entsprechen ähnliche Akte der Apostel in jeder Synagoge, die sie neu betreten. – Unterschiedlich ist vor allem die Platzierung der Aussicht auf die Endzeit (Apokalypse). Entsprechende Passagen finden sich am Anfang in Kap. 2 bei der Auslegung von Joel 3 auf die letzten Zeiten. Die Apg endet mit der Darstellung vom Prozess des Paulus (ähnlich die Evangelien mit dem Prozess Jesu), spart jedoch sein Martyrium aus. – Aus dem letztgenannten Grund spricht sehr vieles dafür, dass dieses Werk vor 68 n. Chr., dem Datum des Martyriums des heiligen Paulus unter Nero, verfasst worden ist.
KOMMENTAR Buch der Visionen: Apg 1-12 Die Darstellung der urchristlichen Geschichte ist vor allem in den Kap. 1-12 (aber streckenweise auch später) durch Berichte über Visionen, himmlische (ekstatische) Gaben und Befehle sowie Entrückungen geprägt. Daher kann man insbesondere den Abschnitt Kap. 1 – 13,2 »Buch der Visionen« nennen. Das Material: 1,2-11: visionär-realistisches Zusammensein mit dem Auferstandenen bis zu seiner Entrückung (Himmelfahrt) 2,1-13: Pfingstvision und -Ekstase 2,17-19(21): Gottes ekstatische Gaben in den letzten Tagen 2,33: Der Erhöhte gießt den Geist aus 5,18-21: Gefängnisvision und Befreiung des Petrus 7,54-59: Stephanus-Vision 8,26: Himmlischer Befehl des Engels an Philippus
8,39f: Entrückung des Philippus 9,3-9: Berufungsvision des Paulus und Folgen 9,10-19: Vision des Ananias in Damaskus 10,1-7: Kornelius-Vision 10,10-16: Petrus-Vision (Tuch mit Tieren) 10,19-21: Geist zu Petrus 10,22: Bericht über die Kornelius-Vision 10,30-33: Bericht des Kornelius 10,44-48: Der Heilige Geist fällt auf die Zuhörer 11,5-17: Bericht des Petrus über seine Vision 12,5-10: Gefängnisvision und Befreiung des Petrus 13,1-2: Der Heilige Geist gibt unmittelbar Auftrag zur Mission durch Barnabas und Paulus (vgl. ferner Apg 22.26: Wiederholung Paulus-Vision; Apg 22,17 ff: Paulus-Vision im Tempel in Jerusalem; Apg 16,9: himmlischer Befehl durch die Erscheinung des Makedoniers).
Diese Häufung himmlischer Phänomene, insbesondere von Visionen, ist – was in der For-
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Die Apostelgeschichte
schung unbemerkt blieb – völlig singulär, auch unter den frühchristlichen Schriften. Durch diese Ereignisse vor allem steuert der Himmel die früheste Kirchengeschichte. Insofern sind diese Phänomene ein »Ersatz« für die leibhaftige Gegenwart Jesu auf Erden. Dass diese Phänomene besonders an den riskanten »Übergängen« auftreten, erwartet auch der heutige Leser von vornherein. Denn in den stets krisenhaften Übergängen mußte oft das noch nie zuvor Gedachte zum ersten Male erwogen werden. Man könnte die in diesen Kapiteln dargestellte Geschichte darum auch die »Geschichte der revolutionären Übergänge« der Botschaft Jesu bzw. der Geschichte seiner Kirche nennen. In Apg 1 ist es der Übergang von der irdischen Gegenwart Jesu zu seiner himmlischen; in Apg 2 ist es die neuartige(!) Anteilhabe der Jünger an Jesu Heiligem Geist; in Apg 7 ist es der Übergang von der reinen Judenmission zur Zuwendung zu Nicht-Juden; denn auf das Martyrium des Stephanus hin wenden sich die Verkündiger zuerst den Nicht-Juden zu. Das Martyrium des Stephanus hat daher genau jene Funktion, die später in Apg jeder Hinauswurf der Jünger aus der Synagoge hat: ihre immer wieder von neuem begonnene Hinwendung zu den Heiden nach Ablehnung durch Juden. Die Visionsberichte häufen sich in Apg 9-11 und werden dort sogar (per Nacherzählung; die Paulusvision später in Kap. 22 und 26 durch Neu-Erzählung) wiederholt eingeprägt. Hier geht es um Berufung von Aposteln zur Völkermission. Die Häufung von Visionsberichten in Apg 9-11 ist damit untrügliches Indiz für das theologische Gewicht, das der Autor diesem Übergang beimisst. Insofern ist Apg auch das Buch der Rechtfertigung der Völkermission. Auch dieses kann man von keiner anderen frühchristlichen Schrift sagen. Insofern ist das früher übliche Schimpfen auf den Verrat, den Lukas mit Apg begangen habe, durchaus heuchlerisch. – Ganz typisch steht eine Vision auch für den Übergang der Mission nach Europa: Der Makedonier in 16,9 ist eine Art Engel, der himmlischen Befehl gibt. Aber was haben die (ja auch schon vor Apg 911) zahlreichen Visionsberichte mit dem dargestellten Grundanliegen der Apg zu tun? Wir sahen bereits: Der Himmel lenkt so die Geschichte
417 über die schwierigen Klippen des Übergangs. Aber man kann – auch unter Einbeziehung des LkEv – noch mehr sagen: Im Evangelium gibt es Visionsberichte (abgesehen von Empfängnis und Auferstehung) nicht in vergleichbarer Dichte. Jesus selbst verkündet das Evangelium in Palästina: bodenständig und als Messias der Juden. Und umgekehrt: Erst dort, wo das Evangelium universal wird, wo der Übergang von Israel zur »ganzen Welt« vollzogen ist, erst dort gibt es Visionen und Ekstasen in Fülle, eben in Apg 1-12. Die Visionen werden zum Symptom und Instrument der Zuwendung des Evangeliums zur »ganzen Welt«. Ähnlich dürfen im Frühjudentum die Väter kurz vor ihrem Tod in einer Vision noch die ganze Welt schauen. Die Vision ist eine Art »Rundreise«, und dieser Vision ist die »ganze Welt« zugeordnet. Wo es universal wird, ist »der Himmel« zuständig. Die Leser der Apg wissen das schon seit der Stephanusrede: Gott passt in kein irdisches Haus, also in keinen steinernen Tempel; die ganze Erde ist nur der Schemel für seine Füße; die ganze Welt reicht nicht aus, sein Tempel zu sein. Ganz entsprechend dem antiken Weltbild sind die Grenzen der Erde der Saum des Himmels. Aus diesem Grund sind auch die in der Apg so beliebten Gefängnisvisionen (Apg 5,18-21; 12,510; 16,26f) symbolisch und symptomatisch für das Programm. Die im Gefängnis Gefesselten werden befreit, und diese Befreiung steht für jede Überwindung trennender, die Menschen fesselnder Grenzen. So wie das JohEv vom »Licht der Welt« redet, ist auch nach der Apg, wenn es um die universale Botschaft geht, Jesus das »Licht« (in den Paulus-Visionen) oder sind die Jünger das Licht der Welt (Apg 13,47). Die Apg ist somit etwa zur Hälfte ein »Buch der Visionen«, weil die Visionen den irdischen Rahmen Palästinas sprengen und den Weg der universalen Mission in der »Welt« vorbereiten. Ihr Thema ist Gottes Handeln an der ganzen Welt. Jeder Spaltbreit Himmel ist ein Stück Universalität. In dieses Bild ordnet sich der Apostel Paulus ein, der den irdischen Jesus nicht kennt, aber vom Himmel her als Missionar für die Völker berufen wird. Der einzigartige visionäre Charakter der Apg hängt daher direkt zusammen mit dem ebenso einzigartigen Programm der Durchbrechung der Grenze des Judentums hin zum Heil aller Völker. Das eine bildet das andere ab.
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Die Apostelgeschichte
Apg 1: Zwischen Ostern und Himmelfahrt Das Werk beginnt mit einem programmatischen Visionsbericht; darin ist es Offb 1 und auch Mk 1 ähnlich. Diese Vision erstreckt sich über 40 Tage; 40 ist die heilige Zahl der Dauer der Begegnung zwischen Gott und Mensch in der Bibel. Die literarische und theologische Grundintention des Kapitels ist die »Qualitätssicherung der Zeugen«. Der Verfasser weiß offenbar, wie heikel die »Fortsetzung« des Evangeliums durch ein zweites Werk ist. So muss er den Übergang sichern. Das geschieht durch folgende fünf Elemente: 1. Wiederaufnahme der Lehre Jesu: Laut 1,3b lehrt Jesus nach Ostern nichts anderes als vor Ostern, nämlich das Reich Gottes. 2. Bestätigung der nachösterlichen Vision durch die Entrückung Jesu mit Kommentar der Engel am Schluss der 40 Tage. – Die Ostererscheinungen nach Lk 24 sind die das Evangelium abschließende Legitimation der gesamten Botschaft und des gesamten Erdenwirkens Jesu inklusive seines Sterbens. Diese Vorgänge zeigen, wer Jesus war und ist: der lebendige Sohn Gottes. Immer zeigt sich am Ende, im Neuen Testament bei der abschließenden Vision, wer jemand ist. – Die 40 Tage der Belehrung und Sendung nach Ostern, von denen Apg 1 berichtet, werden ihrerseits durch die letzte Erscheinung und Entrückung am Schluss der 40 Tage legitimiert. Alles, was die Jünger bezeugen werden, und das Verständnis, das ihnen nach Ostern eröffnet wurde, auch die dann folgende Sendung des Heiligen Geistes, werden legitimiert und über jeden Zweifel gestellt durch den grundlegend biblischen Charakter der letzten visionären Begegnung mit Jesus und durch die Botschaft der Engel. Denn dass Jesus wiederkommen wird, steht am Ende dieser Zwischenzeit, die mit Himmelfahrt beginnt. So liefert Apg 1,1-15 vor allem die zentrale Legitimation für alles folgende: Denn der Geist, den die Jünger empfangen, ist der Geist des Erhöhten, und sie werden nicht umsonst warten. Denn die christliche Hoffnung beruht auf der Offenbarung von Engeln. Und jede Verknüpfung erhöht die Plausibilität des Ganzen, denn von einer monotheistischen Religion erwartet man eine Geschichtstheologie. Dass Lukas sie bietet, war Ärgernis im Zeitalter
des Existenzialismus. Lukas sei nämlich von der Zeit Jesu als der Mitte der Zeit ausgegangen. Die Zeit sei nach Lukas so verlaufen: Altes Testament, Zeit Jesu, Zeit der Kirche. Diese Dreigliederung sei Verrat am Evangelium. Die Rede von der »Mitte der Zeit« wurde so zum Schimpfwort für theologisch Unmögliches, für eine Verweltlichung Gottes. So ist Apg 1 die Verknüpfung von Ostern, Pfingsten und Wiederkunft. 3. Der Heilige Geist muss erst abgewartet werden. Das heißt: Die Verkündigung im apostolischen Zeitalter geschieht weder auf menschliche Initiative hin, noch hat sie menschliche Inhalte. Es ist der Auferstandene (vgl. Lk 21,15f), der durch den Heiligen Geist (vgl. Apg 6,10; Mk 13,11) seinen Jüngern und den Frauen eingeben wird, was sie sagen sollen. Daher dürfen sie vor Pfingsten keinen Schritt über Jerusalem hinaus tun (1,4b). 4. Die Vervollständigung des Zwölferkreises: Dabei geht es nicht um die Symbolik der zwölf Stämme, sondern erkennbar um die juristisch wünschenswerte Idealzahl der Zeugen, die in manchen Gegenden Europas und des Mittelmeerraumes bis heute die Zwölf ist. Zwölf Zeugen geben ein höchstmögliches Maß an Gewissheit (vgl. Lk 1,1-4 »genau« und die Bedeutung der Zeugen besonders im JohEv und in 1 Joh. Daher ist in 1,21 wieder vom »Zeugen« die Rede). 5. Sorgfältiger Nachweis durch Schriftbeweis. Sowohl das Geschick des Judas als auch die Übernahme seines Apostolats durch Matthias werden explizit aus der Schrift begründet. Dadurch wird beides verstehbar bzw. legitimiert. Zur Sorgfalt schriftgelehrter Art: Es wird geschildert, wie schrecklich es endet, wenn ein Zeuge statt zum Bekenner zum Verräter wird; nur bei Lukas erscheint Judas als der Verräter. Und der Bericht schildert, dass die Hinzuwahl eines Ersatz-Zeugen ein Vorgang von heilsgeschichtlicher Dimension ist, der deshalb feierlich und juristisch exakt vollzogen wird und in der Schrift begründet sein muss. – Auch die Schrift ist Produkt des Heiligen Geistes: 1,16. Daher ist dieser der Mittler zwischen den Zeiten.
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Kapitel 1
Verhältnis Apg 1/Lk 24 Das Verhältnis dieses Berichtes zu Lk 24 ist umstritten. Ich rechne damit, dass es sich in Apg 1 nicht um eine Parallele zu Lk 24 handelt, sondern um einen eigenständigen Bericht über eine andere Vision, die nun wirklich die Abschlussvision ist. Ausgestaltete Abschlüsse von Visionen haben jeweils eine eigene theologische Aussage. Sie betrifft das Wesen dessen, der erschienen ist. In Apg 1,11 wird von den Engeln verkündet: Jesus ist der Menschensohn, der auf den Wolken des Himmels (wie in Dan 7) kommen wird, um die Welt zu richten. Zu Apg 1,3: Dass die Aussage »Jesus redete über das Reich Gottes« mit den Jüngern reichlich knapp ist, hatte zur Folge, dass spätere »Wiedergaben« der Abschlussvision zwischen Ostern und Himmelfahrt die Reden Jesu vor seiner Himmelfahrt reichlich entfalten. Die »Epistula Apostolorum« ist eines der frühesten Zeugnisse einer ganzen Serie von Entfaltungen dieses Ansatzes. Zu Apg 1,5.8: Die Ankündigung des Heiligen Geistes hat von Anfang an eine theologische Bedeutung darin, dass der Heilige Geist alle Grenzen aufhebt, nicht nur die zwischen Gott und Mensch, sondern auch die zwischen den Völkern. Wenn, wie zu Mk 1 gezeigt, jetzt in der Endzeit Gottes Geist von Gott und Jesus ausgeht und in die Menschen auf Erden gesandt wird, und zwar »massenhaft«, dann entspricht dem in Apg auch eine Fülle von Gegnern, nämlich von Menschen (Obrigkeiten) und Dämonen bzw. unreinen Geistern. – In 1,5 wird die Wassertaufe durch Johannes der Geisttaufe zu Pfingsten gegenübergestellt. Damit schafft das Stichwort »Taufen« einen typologischen Rückbezug zur Vergangenheit. Vorlage ist das Täuferwort Lk 3,16; den Zusatz »und mit Feuer« bezieht jedenfalls Lukas auf die Erscheinungsweise des Heiligen Geistes nach Apg 2,3 (»wie von Feuer«). Zu Apg 1,8: Durch die Beauftragung zu Zeugen in 1,8 wird der ganze Bericht zur Zeugenbestellung, wie es auch in Lk 24 war. Der Ausdruck »bis an die Grenzen der Erde« in 1,8 bedeutet: bis an den westlichen Rand des Mittelmeeres. Mit »Judäa«, »Samaria« und »bis an die Grenzen« werden die Schritte der Mission angegeben, die man in
419 Apg verfolgen kann. Wie schon im Lk-Evangelium, so ist auch hier die geografische Orientierung nicht zu unterschätzen (vgl. zu Lk 14). Zu Apg 1,9-11: Zwei Männer deuten das Geschehen auch sonst bei Lukas (Lk 24,4; 9,30). Der Tadel in V. 11 ist stilgerecht: Das menschliche Fehlverhalten begründet die Notwendigkeit der Offenbarung. Die Wolke, mit der Jesus hinaufgenommen wird, entspricht den Wolken bei der Wiederkunft (vgl. Lk 21,27 parr). Die Wolke ist Mittel der Fortbewegung im Himmel seit Dan 7,13 (Menschensohn!) und daher Zeichen der Theophanie (s. unten: Entrückung oder Erhöhung?). Zu Apg 1,13f: Die Zeugenliste an dieser Stelle überrascht. In 2 Kön 2,9 hatte Elisa gebeten, ihm möchten vom Heiligen Geist Elias zwei Erbteile zufallen. Elia hatte darauf geantwortet: »Du hast Schweres erbeten. Wenn du siehst, wie ich von dir entrückt werde, wird es dir zuteil, andernfalls aber nicht.« Das heißt: Die Zeugenschaft bei der Entrückung ist unerlässliche Bedingung für den Empfang des Geistes des Entrückten. Wenn sie nicht gegeben ist, dann ist gar nicht sichergestellt, ob der »Nachfolger« wirklich mit dem Geist des Entrückten erfüllt ist. Im Judentum kennen wir Ähnliches von der Entrückung Hiobs, des Gerechten. Seine Töchter fangen an, nachdem sie Hiob haben hinauffahren sehen, in den Sprachen der Engel zu reden, d. h. sie verkünden geistliche Lieder – vielleicht in hebräischer Sprache, wie wir das von den neuen, nicht lange vor der Zeit Jesu gedichteten Psalmen aus Qumran her kennen. – Die Liste in Apg 1 ist daher im Sinne der Elia-Tradition das Bindeglied zwischen Himmelfahrt und Pfingsten. Von daher erklärt sich auch, weshalb der Schluss der 40-tägigen Erscheinung Jesu in der »Himmelfahrt« so deutlich mit den sprachlichen Mitteln gezeichnet ist, mit denen man Entrückungen darstellte. Zu Apg 1,14.24: Das Gebet geht um den Heiligen Geist (vgl. Lk 11,13), und vor jeder »Amtseinsetzung« (Beauftragung) beten die Jünger und Jüngerinnen nach Lukas (vgl. 6,6; 13,3). Die Pastoralbriefe und die Alte Kirche werden das fortsetzen.
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420 Zu Apg 1,24: Gott ist wie ein kluger »Herzenskenner«, denn er hat die Menschen erschaffen, und wie ein kluger Uhrmacher weiß er, was in ihnen steckt. Er wird sie deshalb auch richten. Daher ist, weil Gott der Herzenskenner ist, Umkehr nötig, sonst kann ein Mensch (von Gott) auch schon vor der Zeit entlarvt werden (wie 1 Kor 14,24f und Joh 4,17-19). Propheten haben diese Gabe der Herzenskenntnis von Gott (mit seinem Geist) erhalten (vgl. Joh 4,18f). Jesus weiß als Prophet (vgl. Joh 4,17-19) auch sonst, was in seinen Jüngern vorgeht. – In 1 Kor 14,25 hat die Gemeinde im Ganzen diese Gabe, nach Apg 13,9f auch Paulus. In Gebeten bei der Amtseinsetzung wird die Alte Kirche stets so beten. Die Besonderheit von Apg 1 ist das Los als Gottesorakel. Dabei ist offenbar nichts als magisch verdächtig. Entrückung oder Erhöhung? Man kann die Entrückung Jesu in Apg 1,9-11 aus meiner Sicht nicht »Erhöhung« nennen. Denn Erhöhung gehört mit Auferstehung zusammen, weil Jesus als Auferweckter zur Rechten Gottes sitzt. Von dort her erscheint er. Die Himmelfahrt in Lk 24 und in Apg 1 ist nicht Abschluss des Vorgangs der Auferstehung, sondern die Himmelfahrt nach Apg 1 ist nur Schluss der Erscheinung von Apg 1. Der Auferstandene und Erschienene kehrt am Schluss dieser Erscheinung in die himmlische Verborgenheit zurück. Diese Rückkehr wird mit dem Material von Entrückungsberichten geschildert, wie wir sie zum Beispiel von Elias kennen. Apg 1 unterscheidet sich daher in der Konzeption von Auferstehung grundsätzlich von Offb 11,11-12. Dort ist das Hinaufsteigen tatsächlich nur Teil des Auferweckungsgeschehens im Ganzen. – Die besonderen Erscheinungsabschlüsse geben häufig grundlegende Auskunft über die Identität dessen, der erschienen war, hier in 1,11 (andere Fälle: K. Berger, Auferstehung, 1976, 475-478). Insbesondere im JohEv wird das klar, ähnlich auch aus Offb 11,11f: Nach Joh 20,17 sagt Jesus zu Maria Magdalena, noch sei er nicht zum Himmel hinaufgestiegen. In den weiteren Berichten in Joh 20 fehlt diese Notiz. Dieses Hinaufsteigen ist die eigentliche Erhöhung. Deren Ziel ist Jesu Sitzen zur Rechten Gottes. Den Schlüssel für das Verhältnis von Auferstehung und Erhöhung liefert Offb 11: Die Auf-
Die Apostelgeschichte
erstehung von den Toten und das Hinaufsteigen sind zwei Stationen eines gegliederten Gesamtvorgangs. Das bedeutet für Lukas und Apg: Alle Oster-Erscheinungen und auch die späteren Visionen in der Apg geschehen vom Himmel her. Jesus muss sich in den Zwischenzeiten nicht irgendwo auf Erden verstecken, sondern er tritt aus seiner himmlischen Unsichtbarkeit als der Erhöhte hervor. Der grundlegende Vorgang des »Zum Himmel Hinaufsteigens« ist in engem sachlichen Zusammenhang mit der Auferstehung erfolgt. Wie die Auferstehung selbst ist der Vorgang der Erhöhung in den kanonischen Evangelien nicht berichtet; anders im PetrusEv und in der Ascensio Jesaiae sowie in Mk 16,3k. Daher kann m. E. gelten: Die »Himmelfahrt« Jesu wird wie eine Entrückung geschildert. Bei Lukas ist sie die letzte spezifische Ostererscheinung. 40 Tage Die Zahl der 40 Tage oder auch Jahre gehört zu den ältesten Requisiten unserer Religion. Vierzig Tage ist immer wieder die Zeit der gründlichen Begegnung zwischen Gott und Mensch. Bei der Sintflut regnet es 40 Tage und 40 Nächte. An vielen anderen Stellen ist 40 Tage oder 40 Jahre die Zeit, Schuld zu tragen, die Zeit, bis Schuld abgebüßt ist, nicht automatisch, sondern weil der Mensch diese Zeit braucht vor Gott. Daher kommt die 40-tägige Fastenzeit vor Ostern. Doch andererseits: Mose ist 40 Tage und Nächte bei Gott auf dem Sinai, um das Gesetz zu empfangen. Das ist wohl eher das Vorbild für die Zeit zwischen Ostern und Himmelfahrt. Denn Jesus trägt in dieser Zeit den Jüngern auf, was sie tun sollen. So haben wir bei Ostern beides: 40 Tage Bußzeit vorher und 40 Tage Zeit der Herrlichkeit nachher. 40 ist immer die entscheidende Zeit der Begegnung des Menschen mit der Transzendenz, also den üblicherweise unsichtbaren Personen der Mystik (Gott, Engel, Teufel). Im Alten Testament ist eine Frau nach der Geburt eines Kindes 40 Tage lang auf jeden Fall tabu. Wir haben diese Zahl der 40 Tage daher noch einmal im Kirchenjahr zwischen Weihnachten und Mariä Lichtmess am 2. Februar. »Tabu« heißt übrigens nicht »unrein« im Sinne von schmutzig, sondern: unter Gottes besonderem Schutz und dem Zugang des Mannes entzogen, d. h. nicht schon wieder erneut schwanger, sondern 40 Tage
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Kapitel 2
Ruhe. Dauert nicht auch die Schwangerschaft an die 40 Wochen? So wie die Frau, die entbunden hat, mindestens 40 Tage unberührbar ist, so sagt auch Jesus zu Maria Magdalena in der Zeit zwischen Ostern und Himmelfahrt: »Rühr mich nicht an«. Es ist eine heilige Zeit, Epiphaniezeit. Jesus hat 40 Tage in der Wüste mit dem Teufel gekämpft. Warum musste Jesus in den Himmel auffahren, wo er doch schon auferstanden war? – An seinem Weggang erkennt man den Menschen. Und nicht nur ihn, auch den Engel und den Boten Gottes, Christus. Wie er entschwindet, darin zeigt er sich: Beispiel Emmaus. Kein normaler Mensch isst erst zu Abend mit anderen und ist dann plötzlich spurlos weg. Es sei denn, er hätte einen besonderen Leib. Jesus zeigt im Weggehen, wer er ist; das gilt von der Auferstehung wie von der Himmelfahrt. Beide werden zum Zeichen für den Wert, für die Tiefe und Bedeutung der ganzen Erlebnisse vorher. Durch die Auferstehung Jesu wird alles legitimiert, was er auf Erden getan und gesagt hat. Durch die Himmelfahrt alles, was er in den 40 Tagen den Jüngern aufgetragen und wozu er sie berufen hat. Beides ist wie ein Ausrufungszeichen. Die Auferstehung ist das Ausrufungszeichen hinter dem Auftreten Jesu. Die Himmelfahrt ist das Ausrufungszeichen hinter der Be-
421 auftragung der Jünger zum Zeugendienst bis an die Grenzen der Erde. Die Himmelfahrt sagt auf ihre Weise, wer Jesus ist: der kommende Richter. Denn um dieses Amt auszuüben, wird er auf der Wolke wiederkommen. Was haben Richteramt und Beauftragung der Jünger zum Zeugendienst miteinander zu tun? Wenn Jesus wiederkommt, schließt sich der Kreis. Erst dann. Das Zeugnis der Jünger endet nicht in der Beliebigkeit unserer Auslegung, sondern mit dem Gericht, zu dem Jesus nach Apg 1,11 wiederkommen wird. Versöhnung ist zugleich Scheidung. An der Himmelfahrt kann man das erkennen: Es gibt eine Zeit des Zeugnisses und eine Zeit der Wiederkunft des bezeugten Herrn. Deshalb ist der Dienst der Jünger bis an die Grenzen der Erde nicht beliebig, Himmelfahrt legitimiert die Botschaft der Kirche als den Maßstab, nach dem das Gericht vollzogen wird. In der arabischen Jesusüberlieferung, die im Ganzen noch keiner ins Deutsche übertragen hat, gibt es ein interessantes Jesuswort. Die Apostel fragten Jesus: Warum kannst du übers Wasser gehen, wir aber nicht? Jesus antwortete ihnen: Welches Ansehen genießen bei euch Denar und Drachme? Die Jünger antworteten: ein sehr hohes Ansehen. Jesus entgegnete: Für mich sind sie Dreck.
Apg 2: Pfingsten und die erste Gemeinde Apg 2,1-11: Pfingsttag Nur Lukas, der Verfasser der Apg, kennt einen Bericht darüber, dass am 50. Tag nach Ostern der Heilige Geist auf die Jünger und auf die Personen kommt, die in Apg 1 als Zeugen der Himmelfahrt genannt werden, darunter ist auch Maria, die Mutter Jesu. Zur Voraussetung des Pfingstereignisses vgl. die Zeugenliste im Komm. zu Apg 1,13 f. Die Gabe des Heiligen Geistes wird in der Petrusrede gegen den Wortlaut von Joel 3 auf die »letzten Tage« bezogen. Denn das Einswerden der Völker unter dem einen Gott in dem interkulturell-identischen, lobpreisenden Bekenntnis ist ein
Geschehen der Endzeit. So haben es die Propheten Israels gesagt. Das Zitat aus Joel 3,1-5 erfüllt in Apg 2,17-21 eine wichtige Funktion: – Es ersetzt für diese Schrift die sonst übliche Apokalypse (vgl. Mk 13 parr). Allerdings steht hier die Apokalypse am Anfang. – Gegen den Wortlaut in der LXX ist in V. 17 hinzugefügt: »in den letzten Tagen«. Damit wird Joel 3 eine Endzeit-Weissagung. Das gilt besonders für die Veränderungen an den Gestirnen in 2,20 (Sonne, Mond, Tag des Herrn). – In 2,18 wird für die Sklaven und Sklavinnen Gottes hinzugefügt: »Und sie werden prophezeien.« Das prophetische Reden steht in Verbindung mit dem Anrufen des Namens des
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422 Herrn in 2,21. Aber die Wirkungen des Heiligen Geistes beschränken sich bei Lukas auf diese verbalen Funktionen. Es sei noch bemerkt, dass Lk 2,1-11 nicht das einzige Ereignis seiner Art in der Apg ist. Vielmehr gibt es noch drei weitere, sehr ähnliche Berichte, die von der Mitteilung des Heiligen Geistes sprechen: 2,38-42 (an Juden), 8,14-20 (an Samariter) und 10,45-11,1.16f (an Heiden). Überall wird Petrus als der entscheidende Apostel genannt, überall der Heilige Geist, der eine »Gabe« ist, die »empfangen« wird, die ausgegossen wird. Überall geht es um die Annahme des Wortes und darum, dass Menschen sich taufen lassen. Lukas verbindet daher die systematische Erfüllung der Verheißung von 1,8 (Juden, Samariter, Heiden) immer wieder mit Petrus und dem Heiligen Geist. Theologisch gilt: Grundsätzlich schafft der Heilige Geist Einheit, wo Trennung war. Das gilt für das Verhältnis von Gott und Mensch wie für das Verhältnis der Völker untereinander.
Apg 2,1-13: Der Part des Heiligen Geistes Wie ein völlig fremdartiger, erratischer Block muss der Pfingstbericht auch schon dem Evangelisten Lukas in die Hände gekommen sein, Schilderung eines Einbruchs der Wirklichkeit Gottes in die Welt, in seiner Bizarrheit durchaus mit Ostern vergleichbar. Der Blick auf die Religionsgeschichte, auf entfernte Analogien in den Texten der Zeit Jesu, lässt erkennen: So etwas hat es noch nicht gegeben, und man konnte es auch nicht erfinden. Gewiss, die Liste der Völkerschaften (V. 9-11), aus denen Juden nach Jerusalem gekommen waren, verrät geografische Kenntnis mit System. Denn wie in einem Kreisbogen werden die Völker um das Zentrum Jerusalem gruppiert. – Aber die Doppelheit von Sprachenwunder (2,1-4) und Hörwunder (2,5-13) sucht ihresgleichen. Freilich sollte nan beides nicht künstlich auseinanderreißen, denn auch Paulus ordnet in 1 Kor 14 das Phänomen der Zungenrede (V. 2.5f) der Interpretation und dem Verstehen des so Geredeten (V. 13-19) zu. Die Kombination ist daher nicht künstlich oder willkürlich, sondern betrifft etwas, das für das frühe Christentum zusammengehörte. Nur ist hier in
Die Apostelgeschichte
Apg 2 neu, dass das Verstehen der Zungenrede nicht nur in einer menschlichen Verkehrssprache geschieht (in Griechisch), sondern in mehreren. Denn in 1 Kor 14 wie in Apg 2 ist dadurch, dass Zungenrede in menschliche Verkehrssprache übersetzt wird, der Zungeredner zum Lehrer geworden. Seine Fähigkeit, in der Sprache der Engel zu reden, gilt nicht nur für ihn selbst als Zeichen der Erwähltheit, sondern der Erwählte soll mit seiner Botschaft für die anderen von Nutzen sein. Wie soll man sich das also vorstellen? Die Apostel reden in einer Sprache, die man als himmlisch erkennt, auch deshalb, weil sie mit Lichtzeichen vom Himmel her verbunden ist (Feuerflammen). Diese Sprache wird dem Aramäischen oder Hebräischen ähnlich gewesen sein, denn dieses ist die Sprache des Himmels – entscheidende Teile unserer Liturgie sind bis heute hebräisch (Amen, Hosianna, Halleluja, Zebaoth). Die »Sprachen der Engel« sind, da die Antike Sprachen nicht von Texten abstrahieren kann, Texte nicht menschlichen, sondern inspirierten Ursprungs, die als Spur ihrer himmlischen Herkunft nicht etwa eine Summierung von unverständlichen Grunz- oder Babylauten sind oder die man als unübersetzbares Gequäke bezeichnen müsste. Die Tatsache, dass man diese Texte übersetzen kann, weist darauf hin, dass es wirklich Texte sind. So berichtet das jüdische »Testament des Hiob« (1. Jh. n. Chr.), das eine der wenigen Analogien bietet, die Hymnen in den Sprachen der Engel seien auf Säulen eingemeißelt. Dann gehörte also auch eine angemessene Schrift dazu. Und wenn in den apokryphen Apostelakten die Apostel beten, reden sie regelmäßig in einer Sprache, die wohl Hebräisch oder Aramäisch sein soll. Dann war das Reden in anderen Sprachen wohl nicht Blabla, sondern in der heiligen Sprache gehalten. – Das Phänomen kennen wir vor allem auch aus Korinth, und Paulus legt durchaus Wert darauf, dass er so reden kann. Er selbst nennt diese Fähigkeit »Charisma«, etwas, das jeden, der es erlebt, auf den Himmel als Ursprung weist. So weit das Sprachwunder. Zusätzlich geschieht das Hörwunder: Jeder der Zuhörer kann die Himmelssprache der Apostel mühelos in der eigenen Sprache verstehen, d. h. die Himmelssprache klingt wie in der eigenen Sprache gesprochen. Für ein modernes Kon-
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Kapitel 2
ferenzdolmetschen bedarf es dazu einer Fülle von Dolmetscherinnen hinter der Glaskabinenwand, mit denen die Konferenzteilnehmer per Kopfhörer verbunden sind. – Es handelt sich daher um ein Verstehenswunder. Genau dieses ist historisch analogielos und so etwas wie die heilsame Umkehrung der babylonischen Sprachverwirrung. In Babylon fiel das eine, gemeinsame Verständigungsmittel auseinander, sodass keiner mehr den anderen verstehen konnte. Hier ist das Ergebnis von Babylon vorausgesetzt, und die eine Sprache wird wiedergefunden: die Sprache der Engel und des Zungenredens der Apostel. Ob der Berichterstatter von Apg 2 freilich an Babylon gedacht hat, ist nicht erweisbar; es handelt sich um eine Deutung der Alten Kirche, auch Lukas hat sie wohl noch nicht gekannt, denn es verlautet kein Wort, das auch nur in die Richtung des biblischen Textes über Babylon weisen würde. Wenn man fragt, warum Lukas dieses Ereignis, das in Jerusalem vielleicht am Rande des jüdischen Pfingstfestes (einer Art Erntedankfest) gestanden hat, so ausführlich berichtet und kommentiert hat, dann könnte der theologishe Sinn des Geschehens für ihn dieser gewesen sein: Der Heilige Geist garantiert, dass die vielen Übersetzungen und Inkulturationen der christlichen Botschaft alle bei der Wahrheit bleiben. Denn das ist das Problem, das bei jeder Bibelübersetzung entsteht (und hier am Anfang der apostolischen Verkündigung): Wer garantiert eigentlich dafür, dass die Übersetzung »wahr« bleibt? Denn Übersetzen besteht nicht darin, dass man nach Lexikon die Wörter übersetzt und sich dann einbildet, den Sinn »äquivalent« getroffen zu haben. Wer garantiert, dass der Übersetzer selbst richtig versteht? Dass sein sprachliches Mittel wenigstens halbwegs geeignet ist? Dass seine Adressaten ihn richtig verstehen können? Denn eines ist klar: Jede Übersetzung bleibt unscharf, aus sprachlichen, wie aus kulturellen Gründen, und oft schon haben Übersetzungen die Botschaft verfälscht. Doch Beweise und strikte Nachweise dafür, dass eine Übersetzung genau richtig ist, kann es nicht geben. Wenn es aber um die keineswegs unwichtige Wahrheit des Evangeliums geht, dann dürfen die jungen Missionsgemeinden und alle späteren fremdkulturellen Adressaten des Evangeliums auf das Wirken des Heiligen Geistes vertrauen. Weil es im Christentum um eine Öffnung des
423 Himmels für eine menschliche Kommunikation mit Gott und den Engeln geht (das äußert sich in der Zungenrede in der Sprache der Engel; laut Präfation singt die Gemeinde das »Heilig, heilig, heilig« »mit einer Stimme« mit den Engeln), ist letztlich der himmlische Charakter des Evangeliums sein über-einzelsprachliches Entstehungsmerkmal (vgl. den Engel mit dem »ewigen Evangelium« nach Offb 14,6). Der himmlischen Sprache gegenüber sind alle Einzelsprachen gleich fremd. Und nur der Himmel selbst kann garantieren, dass sie alle bei der Wahrheit bleiben, dass nichts Wesentliches verfälscht wird. Diese Einsicht ist zweifellos die grandiose kirchlich-theologische Konsequenz aus dem Pfingstgeschehen. Wir begreifen nun, dass dieses hier von allem Anfang an, seit dem 50. Tag nach Ostern, die Legitimationsgrundlage der Kirche aus vielen Völkern in vielen Sprachen und Kulturen ist. Und dass die Einheit in dieser Vielheit nicht auf bloßen Missverständnissen beruht; das kann überhaupt nur der Heilige Geist Gottes selbst garantieren. Da es sich aber gewiss nicht um eine Mechanik handelt, sondern um ein fortdauerndes Wechselspiel zwischen Annäherung und Entfernung (etwa wenn eine bestimmte Form der Übersetzung oder Inkulturation veraltet oder sich wirklich erkennbar zu weit vom Tolerablen entfernt, muss man um diesen Geist der Einheit immer wieder neu bitten). In den traditionellen Hymnen zum Heiligen Geist kommt das am ehesten zum Ausdruck in den Bitten »veni, lumen cordium« (Komm, der Herzen Licht) und »rege, quod est devium« (Lenke, was vom Weg abgeht). Oder wenn pax (Friede) und concordia (Eintracht) als seine Gaben erbeten werden – der Beitrag des Heiligen Geistes zum Völkerfrieden. Im Mittelpunkt steht der Pfingstbericht. Die entscheidende Frage vorab: Was trägt der Heilige Geist zum Heil bei? Im Unterschied zu Paulus ist der Heilige Geist nicht die Kraft, die die Gebote (letztlich in Liebe) erfüllen lässt, oder die Macht der Auferstehung oder der neuen Schöpfung. Bei Lukas entfallen alle diese Aspekte. Statt dessen gilt: Dabeisein ist alles. Der Schlüssel liegt in 2,21: »Jeder, der den Namen des Herrn anruft, wird gerettet werden.« »Anrufen« (2,21; Joel 3,5) aber ist nach Lukas alles, was in Worten an Gottes Adresse gerichtet wird (Jubel, Lobpreis, Gebet). Die Kraft
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424 und den Status dazu aber erlangt man nach Lukas offensichtlich erstens dadurch, dass Gott einen Menschen »hinzuruft« (2,39; Joel 3,5), und so entsteht schon gegenüber Joel 3,5 ein Wortspiel: Gott ruft hinzu, der Mensch ruft Gott an. – Und zweitens durch den Heiligen Geist. Er gibt und ist die Kraft zum Beten und auch das wichtigste erbetene Gut. Beten in der Kraft des Heiligen Geistes kann aber niemand, der den Geist nicht hat, es sei denn, der Heilige Geist kommt über ihn. Dann werden diese anderen, seien es Juden, seien es »Gottesfürchtige«, Samaritaner oder Heiden, in den Kreis der bevollmächtigten Anrufer des Namens des Herrn aufgenommen (es genügt auch nicht, Jude zu sein). Der Weg des Heils ist daher folgender: Gott ruft einen Menschen – Empfang des Geistes als Kraft zu erfolgreichem Beten – Gebet etc. als Anrufen des Namens des Herrn – (Almosen) – Rettung. Diese Auffassung hat ihren besonderen Grund in einer spezifischen christlichen Sicht von Sprache. Auch das Phänomen des »Redens in anderen Sprachen« (Zungenreden) könnte von hier aus erhellt werden: Es umfasst folgende Elemente: a) Die Sprache, die Gott erreicht, muss von Gott selbst eingegeben sein. Insofern besteht hier eine Entsprechung von Sprache und Sein. Denn auch jeder Status, mit (oder: in) dem man sich vor Gott sehen lassen kann, muss von Gott selbst verliehen sein (wie das hochzeitliches Gewand in Mt 22). b) Es gibt Sprachen der Menschen und der Engel. Jede Gruppe umfasst verschiedene Einzelsprachen. Der Heilige Geist aber verfügt über sie alle. Er ist der »Herr der Sprachen«. Daher kann er auch mühelos von der einen in die andere übersetzen (Röm 8,28: Bild vom Dolmetscher). c) Der Inhalt ist nicht von der Form der Sprache zu trennen: Man ist noch nicht so weit, dass man eine eine abstraktiv gefasste Grammatik bestimmten Einzeltexten gegenüberstellt. Sprache gibt es nicht als System von Regeln, nur in Gestalt konkreter Texte. Inhaltlich geht es in unseren Kontexten immer um den Lobpreis Gottes. Grundsätzlich kann er in verschiedenen Sprachen Gott angeboten werden. d) Zu trennen ist streng zwischen dem Verstehen und Übersetzenkönnen (in die Zielsprache) einer Sprache einerseits und der aktiven Beherr-
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schung einer Sprache. In Apg 2,4 geht es um das aktive Beherrschen fremder (Menschen- und Engels-[?]) Sprachen auf Seiten der Apostel, weiterer Jünger und Frauen. In 2,5-13 besteht das Wunder im Verstehen-Können. – Auch nach Paulus 1 Kor 14 ist beides getrennt: Die einen können in fremden Sprachen reden, die anderen können es übersetzen. e) Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass reden in anderen Sprachen ein sinnloses Äußern von Ur-, Stöhn- oder Grunzlauten wäre. Was übersetzt werden kann, muss auch sinnvoll sein. Nach den jüdischen Analogien sind die Texte in den Sprachen der Engel sogar auf Stelen aufgeschrieben. – Ein formloses Äußern von Lauten widerspräche auch ganz dem starken Formempfinden aller uns bekannten Liturgien. f) Die Gebetssprache der frühen Christen bis Ende des 3. Jh. ist Aramäisch. Wegen Gen 1 gilt sie als die Sprache der Schöpfung. Paulus betet genauso in dieser Sprache wie Petrus (Acta Pauli; Acta Petri). Das ist von allem Anfang an so gewesen (vgl. im Neuen Testament: Abba, Amen, Halleluja, Maranatha und Hosianna). Als Sprache der Schöpfung ist sie, gleich ob nur fragmentarisch oder durchgehend als Gebetssprache verwendet, Gabe des Heiligen Geistes (ausdrücklich: Gal 4; Röm 8). g) So sind zwar alle Sprachen untereinander gleich. Die Botschaft kann in allen formuliert werden. Zudem ist die Botschaft primär Lobpreis Gottes – ein nicht unwichtiger Nebenaspekt der Pfingstgeschichte. Der Heilige Geist garantiert die inhaltliche Konvergenz aller. – Diesem Ansatz läuft ein anderer teilweise entgegen, wonach das Aramäische die Gott gemäße Sprache ist. Die Apg lässt davon nichts erkennen, wohl aber Paulus etc. – h) Jede Sprache, in der ich Gott loben kann, dokumentiert die Internationalität der Botschaft. Denn dass die Völker eins werden durch ein »konvertibles« Bekenntnis, eint sie unter dem einen Gott. Insofern schafft übersetzte Sprache Fakten. Das gilt nun nicht nur für das Griechische wie beim »Septuaginta-Wunder«, sondern eben für alle Sprachen und Kulturen. Der Apg kommt es darauf an, dass der Heilige Geist, sofern er aktive Sprechkompetenz verleiht, die gemeinsame Basis für alle Christen ist. Um
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Christ zu sein, kommt noch die Wassertaufe hinzu – jedenfalls für Lukas. Die Gabe des Heiligen Geistes wird in der Petrusrede gegen den Wortlaut von Joel 3 auf die »letzten Tage« bezogen. Denn das Einswerden der Völker unter dem einen Gott in dem interkulturell-identischen lobpreisenden Bekenntnis ist ein Geschehen der Endzeit. So haben es die Propheten Israels gesagt. Zu Apg 2,9-11: Die Völkerschaften sind im Kreisbogen um Jerusalem herum angeordnet. Jerusalem erscheint daher als die »Mitte der Welt«.
Apg 2,17-40: Zur Eigenart der Schriftbeweise Die Zitate werden wegen einzelner Stichworte aufgegriffen; bisweilen sind die Stichworte auch von Lukas eingefügt oder nach frühchristlichem
425 Sprachgebrauch ergänzt. In V. 17 wird »in den letzten Tagen« hinzugefügt. »Ich will ausgießen von meinem Geist« ist das entscheidende Stichwort für den ganzen Abschnitt. In V. 18c wird Prophezeien durch Wiederholung verstärkt. »Prophezeien« ist im Judentum dieser Zeit (auch in Qumran) jede nicht rein private religiöse Rede. – Auffällig ist in V. 19 die Ankündigung der »Wunder« von oben, und zwar neben den »Zeichen« auf der Erde unten: ein lukanischer Beitrag zum Thema, dass Jesus Zeichen vom Himmel her verweigert hat (Lk 11,16.29). Was zu Pfingsten geschah, holt die Erfüllung der an Jesus gerichteten Bitte nach. Das Pfingstwunder ist ein Zeichen von oben! – Zunächst wird das Pfingstereignis als schriftgemäß dargestellt (2,14b-21). Daran fügt Petrus in seiner Rede eine Erörterung über Tod, Erhöhung und Geistausgießung an (2,2228).
Apg 2-5: Missionspredigten an die Juden Apg 2,22-34: Petrusrede, 1. Teil Die Rede des Apostels Petrus ist so konzipiert, dass auf ein Stück Jesus-Überlieferung (V. 2224.32-33) jeweils ein Schriftbeweis folgt. Dieser enthält jeweils zentral die »deductio ad absurdum«, d. h. der Leser wird davon überzeugt, dass die Gegenmeinung zu der hier aufgestellten absurd ist. Obwohl in der Schriftstelle von David die Rede ist, kann David aus logischen und sachlichen Gründen nicht gemeint sein. Gemeint ist dann vielmehr der endzeitliche Davidide: Jesus Christus. Das gilt für 2,29 wie für 2,34. Dieser souveräne Umgang mit der Davidstradition verrät doch einiges darüber, dass Lukas als sehr gebildeter Judenchrist zu sehen ist. Apg 2,24 gebraucht das schöne und im Neuen Testament einmalige Bild von Wehen und Geburt bei der Schwangerschaft: Gott hat mit der Auferweckung Jesu »die Wehen des Todes gelöst. Denn unmöglich konnte Jesus vom Tod weiter festgehalten werden«. – Der Mutterschoß hält das Kind fest. Gerät er in echte Wehen, so kann er das Kind bald nicht mehr halten. Dann kommt die Geburt. So war es bei Jesus. Er hat
den Mutterschoß des Todes in Wehen versetzt, sodass der Tod ihn nicht mehr halten konnte. – Das Bild der Wehen kennt ähnlich auch Paulus in Röm 8; dort ist freilich die Exitenz von Stöhnen und Schmerzen in der Endzeit der Vergleichspunkt. – Verwandt ist die Auffassung, dass die Erde das anvertraute Gut bei der Auferstehung zurückgibt. In der Apokalyptik sagt man daher: Nur eine festgesetzte Zeit lang kann der Mutterschoß das Anvertraute halten. Bei den Rabbinen ist der Vergleich von Auferstehung Toter und Geburt üblich; ja, man folgert die Auferstehung daraus, sodass man sagt: Der Mutterschoß empfängt mit Freuden und gebiert mit Schmerzen. Beim Tod ist es umgekehrt: Das Grab empfängt mit Schmerzen und gebiert mit Freuden (bei der Auferstehung). Apg 2 ist wertvoll durch den »Schriftbeweis« für die Auferstehung. Auch an anderer Stelle (1 Kor 15,3) wird im frühen Christentum behauptet, Jesu Auferstehung sei gemäß der Schrift. Einzelbeweise sind außer in Apg 21 nicht erhalten. Lukas hilft damit aus einer gewissen Verlegenheit. Die Apologeten des 2. Jh. n. Chr. werden dann versuchen, diese Anfänge zu ergänzen. Joh 20,9 deutet an, dass hier eine gewisse
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426 »Konkurrenz« zwischen Schriftbeweis und Augenzeugenschaft bestand. 1 Kor 15,3-7 versucht schon einen Ausgleich. War der pauschale Schriftverweis älter? Das Gewicht liegt auf dem Schriftbeweis für die Auferstehung. Dieser verläuft, wie folgt: – Alle Psalmen gelten als von David verfasst (hier: Ps 16; 132,11; 89,4f; Ps 110,1). – Wo der Psalmist von sich in der 1. Person redet, sich aber aus sachlichem Grund nicht selbst meinen kann, da gilt dieses von seinem verheißenen Sohn – so in der Aussage, er werde »das Totenreich nicht erblicken«. Denn David ist ja gestorben, und sein Grab lässt sich besichtigen. Also kann er im Psalm nicht von sich persönlich sprechen. – Entscheidend ist die zweifache Möglichkeit, den Ausdruck »das Totenreich nicht erblicken« auszulegen: Entweder bezieht man den Ausdruck auf den Schutz vor dem Tod, indem man sagt »Gott bewahre vor dem Tod« und damit Schutz und lebenslängliche Gewissheit ausdrückt (nicht aber wirkliche Überwindung des Todes), oder man bezieht den Satz auf die Bewahrung im Tod, so wie es Jesus ergangen ist, der den Tod zwar erlebt hat, aber nicht im Totenreich geblieben ist. – Man beachte: Der Wortlaut von Ps 16 spricht weder von David, noch von seinem Sohn, noch von Auferstehung. Es heißt lediglich: »Du (Gott) wirst deinen Heiligen nicht Zerstörung/ Verwesung schauen lassen«, d. h. ihn vor dem Tod bewahren – aber natürlich nicht generell. Der Schriftbeweis aus Ps 16 wird in Apg 13,34.36 wiederholt, dort ebenfalls mit dem Argument, David sei ja tot. Statt Ps 110 wird dort Ps 2,7 zitiert (die auch sonst im NT nicht weit voneinander zu stehen pflegen). – Der dann in Apg 2,30 zitierte Ps 132,11 spricht von David und einem seiner Nachkommen. Gott habe ihm geschworen, er werde auf seinem (Davids) Thron sitzen. Man beachte: In Ps 132,11 ist nicht von Auferstehung die Rede, noch speziell von Jesus, sondern von einem Nachkommen, der aus Davids Lenden entstammt. – Dieser Psalm wird aber nun auf »den« Sohn Davids namens Jesus bezogen. Der Thron, auf dem er sitzen wird, ist nach V. 30 entweder
Die Apostelgeschichte
Davids oder Gottes Thron; der Grammatik nach ist beides möglich, in V. 31.34f ist daraus eindeutig Gottes Thron geworden. Denn mit der Auferstehung sitzt Jesus auf Gottes Thron. Andererseits stand nach Lk 1,32f noch aus, dass Jesus auf dem Thron Davids sitzen werde. Ist das jetzt erfüllt? – Der Schriftbeweis ab V. 25 ist ebenso ganz an Psalmen orientiert und auf die Person Jesu als den davidischen »Messias« bezogen. – In Ps 110,1 gilt »mein Herr« von Jesus. »Der Herr« ist Gott Vater. Überall im Neuen Testament wird diese Stelle »Es sprach der Herr (Gott) zu meinem Herrn (Jesus) …« auf das Verhältnis zwischen Gott Vater und Jesus ausgelegt. Dabei ist »der Herr« (Kyrios) hier der Gottesname der griechischen Bibel. Die Aufforderung, sich zur Rechten zu setzen, sehen die frühen Christen in der Erhöhung Jesu erfüllt. Der Ausdruck, Jesu sitze »zur Rechten Gottes«, kommt möglicherweise selbst schon aus Ps 110. – Die Wege des Lebens und die Fröhlichkeit von 2,28 gibt Jesus vom Thron aus weiter, wenn er den Heiligen Geist ausgießt (2,33). – Gleichzeitig wird so Ps 110,1 erfüllt: Denn mit der Auferstehung und Erhöhung sitzt Jesus zur Rechten Gottes auf seinem Thron. Auch die Besiegung der Feinde nach Ps 110,1 (= Apg 2,35) wird durch die Geistausgießung erfüllbar, denn mit dem Heiligen Geist können die Dämonen und bösen Mächte bezwungen werden (z. B. Lk 11,20). – Man beachte: Im Wortlaut von Ps 110 ist weder von Auferstehung, noch von Erhöhung, noch von Geistausgießung die Rede. Bei den Feinden ist für Ps 110 im ursprünglichen Wortlaut an übliche irdische Widersacher zu denken. – Nach Ps 110 im ursprünglichen Wortlaut ist die Aktivität des Herrn des Psalmbeters darauf beschränkt, sich zu setzen und zuzuschauen, wie »der Herr« ihm die Feinde zu Füßen legt. Nach der Auslegung in Apg 2 dagegen kommt entscheidend hinzu das Ausgießen des verheißenen Heiligen Geistes. Der Erhöhte (ein neues Thema sowohl für Ps 110 wie für Ps 16 oder Ps 132) nimmt ihn vom Vater und gibt ihn weiter an die Christen. – Die Verbindung mit dem aktuellen Anlass der Geistausgießung schafft Petrus durch V. 33:
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Kapitel 3
Der Erhöhte sitzt zur Rechten Gottes, empfängt vom Vater den Geist und gießt ihn aus. Am Ende greift Petrus Joel 3 wieder auf, und zwar zitiert er in Apg 2,39 das Stück aus Joel 3,5, das er in Apg 2,21 noch nicht zitiert hat. Dadurch entsteht das Wortspiel »Anrufen des Namens Gottes durch Menschen – Gott ruft Menschen herbei«. – Durch die Komposition der Schriftzitate erreicht Petrus folgende Aussage: Die Gabe des Geistes durch den Erhöhten ist die eigentlich messianische Gabe des Davidssohnes. Denn als der Erhöhte zur Rechten gießt er den Geist aus, und dieser dient der Überwindung der Feinde (Ps 110,1). Daraufhin kehren die Menschen um, lassen sich taufen und werden so gerettet (Stichwort »retten« in V. 21.40.47). Gerettet werden sie letztlich aus dem Herrschaftsbereich Satans (Apg 26,18). – Tod und Auferstehung Jesu haben hier keine direkte Heilsbedeutung, sondern dienen der Erhöhung, diese dient aber dann, wie gezeigt, der Geistverleihung. – Theologisch zielt das Ganze auf die Geistverleihung an die Menschen als Resultat der gesamten Osterereignisse. Diese Sicht ist auch dem JohEv nicht fremd, man vergleiche die Geistmitteilung durch den Auferstandenen bei seiner Erscheinung in Joh 20,22. Unterschied zu Apg 2: Der Auferstandene teilt den Geist nicht vom Himmel her mit, sondern bei einer Erscheinung auf Erden, und dieser Heilige Geist dient bei Johannes wesentlich der Sündenvergebung. Paulus setzt diesen Zusammenhang zumindest indirekt voraus, am deutlichsten in Röm 8,11a. Bei anderen Theologen der Urchristenheit habe ich diese Zuordnung von Auferstehung und Heiligem Geist für die Menschen nicht gefunden.
Zur Form: Der Schriftbeweis läuft nach den Regeln des Midrasch pescher: Psalm 16 wird zunächst zitiert, dann werden einzelne Sätze herausgegriffen und mit Kommentar versehen.
Apg 2,36-43: Schluss der Rede des Petrus und erste Reaktion Was nach der Rede des Petrus folgt, wird in 2,41f kurz angegeben, dann aber in 2,43-47 noch einmal ausführlicher entfaltet. Der Neueinsatz des Petrus in V. 38b »Kehrt um …« kennzeichnet das Ganze als Umkehrpredigt (Missionsrede). Recht häufig setzen diese im Schlussteil ein mit »Kehrt also um …«, so auch 3,19; 8,22 und Mk 1,15; Offb 2,16; 3,3.19. – Wie öfter in den Missionsreden an Juden findet sich hier die Opposition »ihr habt getan (sc. Jesus misshandelt)/Gott aber hat ihn auferweckt« (so hier V. 23 und 24 und V. 36a und 36b). Dadurch wird gesagt: Das Handeln Gottes widerlegt das Handeln der Juden und überführt sie als Täter.
Apg 2,43-47: Gemeindeleben In V. 43f steht der Besitzverzicht direkt neben Zeichen und Wundern und gilt offenbar mit und neben ihnen als Weg der Überzeugung. Die »Gemeinschaft« von V. 42 wird bei der Wiederholung in V. 44f präziser umschrieben, und besonders der Nachsatz in V. 45 ist interessant: Je nach der Größe des Notfalls wird Eigentum einzelner Christen versilbert. Das heißt: Es besteht kein »Kommunismus« auf der Basis, dass alle alles verkauft hätten. – Die Schilderung des Erdenwirkens Jesu in 2,43 entspricht deutlich Hebr 2,4.
Apg 3-4: Das Wirken der Apostel in Jerusalem Apg 3: Heilung – Ruf zur Umkehr – Schriftbeweis Petrus und Johannes heilen und predigen im Namen Jesu. Die Abfolge in Apg 3 ist Heilung – Umkehrmahnung – Schriftbeweis. – Im Unterschied zu Apg 2 begründet der Schriftbeweis
nicht Jesu Schicksal (Auferweckung), sondern vor allem seine prophetische Sendung (wie Mose und Elia) jetzt und dann. Außer Kap. 7 lässt sich kein anderes Kapitel der Apg so intensiv auf das Judentum ein. Es ist daher nicht völlig abwegig, an eine Herkunft dieser Nachrichten aus Jerusalem zu denken. Den Rah-
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428 men für die Geschichtsauffassung bilden Sendung und künftige Wiederkehr des Propheten Elia, und zwar im Rahmen der Worte aller Propheten. Die Nähe zum Judentum betrifft insbesondere folgende Punkte: a) Jesus wird Nazoräer genannt (3,6); auf die charismatisch-heilende Kraft einer Person wird dieser Ausdruck auch in späteren judenchristlichen Quellen bezogen. b) Das Betteln um Almosen am Eingang von Synagoge oder Tempel ist weit verbreitet; Heiden erweisen sich so als Sympathisanten. c) Die neunte Stunde (12 Uhr mittags) als Gebetszeit steht neben der dritten und sechsten Stunde. d) Abraham, Mose und die Propheten werden als Autoritäten genannt. Verheißungen an sie oder von ihnen werden jetzt erfüllt. Das betrifft auch die Leiden des Messias. – Originell ist die Deutung des an Abraham in Gen 12,1-3 verheißenen Völker-Segens: Gott schenkt ihn, wenn jeder in der Bekehrung von seinen Fehlern ablässt. e) Unwissenheit als Motiv der Bekehrungspredigt ist dem hellenistischen Judentum vertraut, um den Zustand der Heiden vor der Bekehrung darzustellen. f) Erst bei Jesu zweitem Kommen (Parusie) werden die messianischen Erwartungen erfüllt. Voraussetzung ist eine Bekehrung in der Endzeit (Elia-Motiv vgl. Mal 3,23f[31] LXX). Eben davon soll diese Predigt einen Teil bewirken. Die Bekehrung aufgrund der Predigt ist selbst ein Mittel, auf dass die letzten Zeiten eher kommen. g) Bis dahin ist Jesus wie Elia entrückt und wird im Himmel aufgehoben. Dann wird Jesus kommen und alles verwirklichen (apo-kathistemi: von Elia in Mal 3,31). h) Die angeredeten Juden heißen Kinder der Propheten und Erben des Bundes. Gott ist der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs. Die Elia-Typologie teilt Apg 3 besonders mit Mk 1-9. – Petrus und Johannes agieren gemeinsam auch in Apg 8. Die Worte der Apostel leben inhaltlich von Gegensätzen: Gott Vater ist Subjekt, Jesus ist Objekt (Gott sendet ihn, verherrlicht ihn); Gott heilt den Gelähmten, weckt Jesus auf. Gott widerlegt durch Jesu Auferweckung das unrechte Handeln der Juden (sie liefern ihn aus, lehnen ihn ab, zie-
Die Apostelgeschichte
hen die Freilassung des Barabbas der seinen vor). – Die stark adversative Struktur soll die jüdischen Zuhörer »ins Unrecht setzen« und die Aufforderungen zur Umkehr vorbereiten. Wegen der parallelen Nennung von Mose und Elia kann ich mir vorstellen, dass dieser Text aus einem Judenchristentum kommt – ähnlich dem, das über Jesu Verklärung zu berichten wusste. Zu 3,18 »alle Propheten«: Gemeint ist nicht eine Summe von Einzelstellen, sondern in diesen Formeln über »alle Propheten« oder »alle Schriften« liegen erste Versuche einer gesamtbiblischen Theologie vor, hier bezogen auf das Leiden der Gerechten (vgl. zu parallelen Formeln K. Berger, Wer bestimmt unser Leben?, 2001).
Apg 4,1-22: Die Apostel vor dem Hohen Rat Die Vollständigkeit, mit der Lukas die jüdischen Instanzen hier (V. 1.5f) aufzählt, ist überraschend (Priester, Tempelhauptmann, Sadduzäer, Älteste, Schriftkundige, Hohepriester Annas, Kaifas, Johannes Alexander, weitere Familienmitglieder der Hohenpriester). Die Vorwürfe und Argumente gegen die Apostel lauten: a) Verkündigung im Namen Jesu b) Verkündigung der Auferstehung Jesu von den Toten (V. 2.10) Die Rede des Petrus von Auferstehung Jesu hat drei argumentative Funktionen: 1. Sie irritiert die Sadduzäer und andere konservative Kreise (Priester). – 2. Sie wird als zentraler Erweis der Legitimität Jesu betrachtet; dass man sie auch bestreiten oder bezweifeln könnte, wird gar nicht erwogen. Sie erscheint als christologisches Hauptargument. – 3. In 4,10 heißt es: »Ihr habt ihn gekreuzigt, doch Gott hat ihn aus Toten auferweckt.« Gott hat so mit seinem eigenen Handeln, das nur er zustande bringt, das Handeln der angeredeten jüdischen Obrigkeit widerlegt. Nicht bestritten wird, dass die Jünger ein Wunder gewirkt haben (Heilung des Gelähmten). Doch wie einst bei Jesus ist die Herkunft der Vollmacht umstritten. Bei Jesus ging es um die Frage der Herkunft der Vollmacht, sie vom Teufel kommt; hier ist es arg, wenn die Vollmacht auf Jesus zurückgeführt wird. Die gegen die Apostel angewandten Mittel sind
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grob (Inhaftierung). Die jüdischen Instanzen sehen keine weitere Notwendigkeit der Begründung außer den Namen Jesu. Schon den Namen selbst an dieser Stelle zu nennen, ist das Verbrechen. Die stark juristische Orientierung, die Lukas hier zeigt, ist im Übrigen auffallend, auch im Verhältnis zu anderen Kapiteln der Apg. Auf dieses juristische Interesse weisen: a) die Liste der Beteiligten auf der Gegenseite (V. 1.5f) – b) die wörtlichen Reden in V. 7.8-12.16-17.19f – c) die präzise Schilderung der juristischen Maßnahmen V. 3.7.18.21 – d) Dass das Gebet der Jünger im Wortlaut mitgeteilt wird, soll auch für nichtchristliche Leser die Absicht der Christen offen und durchschaubar machen – e) Auch das Handeln im Namen Jesu wird hier eben nicht nur charismatisch verstanden, sondern auch nach seiner juristischen Seite. Wer im Namen eines anderen handelt, tut das stellvertretend mit Wirkung für oder gegen ihn. Jesus wird auch hier – wiederum im Zusammenhang mit einem Wunder – der Nazoräer genannt (vgl. 3,6 mit 4,10). Auch hier besteht keine Notwendigkeit, Nazaret zu ehren, noch dazu, weil das philologisch sehr schwierig wäre. Ein Grund mehr, auch hier für die Bedeutung »Wundertäter, Heiler« zu plädieren.
Auffällig ist, wie sehr betont wird, der Heilige Geist wirke als unsichtbare, aber hörbare Kraft auf Seiten der Jünger (V. 8.[25].32). Er bewirkt die Worte, und zwar sowohl bei dem prophetischen David als auch bei Petrus (V. 8) und bei allen anderen Aposteln (V. 32). Während die Wunderkraft auf den Namen Jesu zurückgeführt wird, ergeht das Wort in der Kraft des Heiligen Geistes. Wie das Letztere konkret zu verstehen ist, wird in 4,30 gesagt: »Strecke deine Hand aus, dass Heilungen, Zeichen und Wunder geschehen, wenn die Apostel den Namen deines heiligen Sohnes Jesus anrufen.« Es geht daher nicht nur um einen Auftrag, sondern um konkrete Anrufung vor dem Wunder. Die Anrufung hatte wohl folgende Gestalt: »Gott, im Namen deines heiligen Sohnes Jesus rufe ich dich an, heile diesen deinen Sklaven XY …« Dass Jesus »heiliger Sohn« genannt wird, legt sich durch Mk 1 nahe (Sohn in V. 11; heiliger in V. 25). Hier im Kontext entspricht es vor allem 4,27 (gegen deinen heiligen Sohn). Daher auch (griech.:) pais in 4,30.
Darin liegt die Pointe dieses Gebetes: Der, gegen den die Völker und Könige anstürmen, gerade der ist Gottes heiliger Sohn, und genau in dessen Namen sollen alle heilsamen Zeichen und Wunder geschehen. Das Gebet bittet nicht um Vernichtung der Feinde, sondern um Mut zur Verkündigung der Botschaft und um Heilungen, Zeichen und Wunder. Darin liegt die Rettung aus der Gefahr. An dieser Front führt der bedrohte Gottessohn seinen Krieg. Denn hier hilft er den Menschen. Die Heilungen, Zeichen und Wunder weisen nach vorn. Se dienen nicht der Rache.
So gibt es hier zwei voneinander unabhängige »Quellen«: Heiliger Geist und Name Jesu. – Theologisch sind zwei Dinge darüber hinaus von Bedeutung: 1. In 4,19 wird der grundlegende Konflikt zur Sprache gebracht (»Urteilt selbst, ob es vor Gott gerecht sein kann, euch zu gehorchen und Gott nicht zu gehorchen«); vgl. dazu 5,29. – Damit aber tritt ein klarer Dualismus zutage. Die Jünger gehorchen Gott und handeln im Namen Jesu. Wer sie zu hindern versucht, steht auf der Gegenseite. 2. Durchweg spielen die Wunder die zentrale Rolle in der Verkündigung. Das Christentum tritt als Heilungsreligion in Erscheinung. Was des Weiteren »Heil« bedeuten soll (4,12), erschließt sich von den Wundern her. Das gilt sogar auch für das zentrale Gebet in 4,24-30. Denn auch hier heißt der Schlusssatz: »Strecke deine Hand aus, dass Heilungen, Zeichen und Wunder geschehen, wenn die Apostel den Namen deines heiligen Sohnes Jesus anrufen.«
Apg 4,23-30: Dankgebet Weil der Beter nach lukanischer Auffassung vom Heiligen Geist erfüllt ist, kann er sowohl erkennen, dass David die Worte des Psalms 2 ebenfalls im Heiligen Geist formuliert hat, und er besitzt auch die Kompetenz, die Erfüllung dieses Psalms in Jesus Christus festzustellen, und zwar »heute«. In Ps 2,1 werden genannt »Heiden, Völker, Könige der Erde, Fürsten«, und der christliche Beter sieht diese erfüllt in Herodes, Pontius Pilatus und den Stämmen Israels. Das Gebet hat ein Erdbeben zur Folge, denn es ist ja inspiriert und hat daher Wirkungen theo-
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430 phaner Art. Gerade weil Gott als Schöpfer angesprochen ist (V. 24), reagiert er auch als Schöpfer.
Apg 4,31-36: Säulen der Urgemeinde Wie im vorangehenden Stück, so ist auch hier die Auferstehung Jesu der wichtigste Gegenstand der Verkündigung (V. 33). – Die übrigen Charakteristika der Urgemeinde orientieren sich an der Auffassung von Freundschaft nach Aristoteles
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(Nikomachische Ethik). Dass die Apostel alles als gemeinsamen Besitz betrachteten, bedeutete nicht einen grundsätzlichen Kommunismus; vielmehr wurden Verkäufe von Fall zu Fall vorgenommen, damit keiner Not leiden musste. Der Bargeld-Erlös wurde den Aposteln übergeben. Diese partielle Geldwirtschaft blieb erhalten, als später die (römischen) Bischöfe mit dem Bargeld Depositenkassen errichteten. Unmittelbar anschließend wird ein Missbrauchs-Fall berichtet (5,1-11).
Apg 5: Gefahren für die Urgemeinde Apg 5,1-11: Ananias und Saphira Kernsätze sind die Anklagen 5,3b »Du hast den Heiligen Geist belogen!« und 5,4 »Du hast nicht Menschen belogen, sondern Gott!« – Wenn einer den Apostel belügt (nur einen Teil des Erlöses abliefert, aber sagt, es sei der ganze Erlös), so fällt er aus diesem Grunde tot um. Das Gleiche geschieht bei seiner Frau. – Die Präsenz des Heiligen Geistes in den Aposteln macht diese zu einer Art Bundeslade, einer heiligen, tödlichen Gegenwart Gottes. Vgl. Num 17,25: »Die Israeliten aber sprachen zu Mose: Wahrlich, wir kommen um! Verloren sind wir, alle sind wir verloren! Wer der Wohnstätte des Herrn sich nur nähert, muss sterben!« – 1 Sam 4,3.7: »Wir wollen uns aus Silo die Bundeslade des Herrn herbeischaffen. Er komme in unsere Mitte … Gott ist in das Lager gekommen! Wehe uns! Solches ist zuvor noch nie geschehen.«
Vom Heiligen Geist gilt diese Gegenwart inklusive prekärer Folgen deshalb, weil im Heiligen Geist Gott die äußerste, unüberbietbare Nähe zu den Menschen wagt. Aus demselben Grunde sterben auch Menschen, die die Gemeinde, den Tempel des Heiligen Geistes, spalten (1 Kor 11,30), im Falle der Gemeinde von Korinth durch Diskriminierung von Mitgliedern (11,19-22). Denn Spaltung bedeutet geradezu einen physischen Angriff auf die Starkstromleitung, der ähnliche Folgen zu haben pflegt. Auch nach 1 Kor 3,16f reagiert Gott nach der Talio gegenüber dem, der die Gemeinde zerstört: Er wird ihn zerstören. Die Apg teilt daher mit 1 Kor die Auffassung,
dass ein Vergehen gegen das, was heilig ist, tödliche Konsequenzen haben kann. Dass hier religionsgeschichtlich sehr alte Anschauungen wieder aufgegriffen und erneuert werden, hängt zweifellos zusammen mit der neuen, gewagten Lokalisierung des Allerheiligsten: Es ist jedenfalls in der Gemeinde zu suchen, in der Begegnung der Christen untereinander, besonders mit den Aposteln. In beiden Fällen wird Gott durch den Heiligen Geist im »Inneren« der Gemeinde präsent, nicht nur im Inneren der einzelnen Christen. – Diese wahrhaft revolutionäre Neuerung steht heute kaum noch im Bewusstsein. Ohne sie lassen sich freilich Jahrhunderte der Kirchengeschichte nicht verstehen. Die Gegenwart des Heiligsten schlechthin ist durch den Heiligen Geist an die Gemeinde und/oder an das apostolische Amt gebunden. Was ebenfalls verloren ging: Die Präsenz des Heiligsten hat – jedenfalls im negativen Fall – physische Konsequenzen. Das Neue Testament kennt freilich auch den positiven Fall, und das heißt dann Einigsein, Wunderkraft und Freude. Davon berichtet die Apg sogleich im Anschluss.
Apg 5,12-16: Wirkkraft der Gemeinde Auch hier gilt, was oben zu Apg 4 bemerkt wurde: Die Wirksamkeit der Gemeinde nach außen ist wesentlich durch Heilungswunder zu beschreiben. In 5,12b wird freilich die Bedingung für diese Wirksamkeit genannt: Alle waren einträchtig. Die Bemerkung in V. 13b über die Berührungs-
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ängste ist die Folge des in 5,1-11 Berichteten. Doch die Wunderkraft ist Folge des Einigseins und der Präsenz des Heiligen Geistes. Denn wenn Menschen untereinander und mit Gott einig sind, verfügen sie über Schöpferkräfte.
Apg 5,17-23: Gefangennahme und Befreiung der Apostel Schon in der Apg, aber dann auch in sehr vielen späteren Apostelgeschichten wird das Gefängnis zu einem wichtigen Ort christlicher Glaubenserfahrung. Christliche Missionare gefangen zu setzen, ist oft die erste ernsthafte Maßnahme der Obrigkeit, weil damit vor allem die öffentliche Ordnung wiederhergestellt ist. Vor allem nach späteren Akten werden die Gefangenen dann im Gefängnis besucht (Mt 26,35.39), es finden regelrechte Gottesdienste statt (Apg 16,25; ActAndr 2). Die Dunkelheit des Gefängnisses wird zum Kontrast für Licht und Lichtvisionen; es bildet sich die Gattung der Gefängnisvision. Ein besonderes Thema ist die wunderbare Befreiung der Missionare aus dem Gefängnis. Dazu sind in der Regel nur Engel oder eben der Herr selbst imstande. »Der Engel des Herrn« ist Gottes Repräsentant in der »großen« Heilsgeschichte. Durch ihn handelt Gott an den großen Wegekreuzungen der Geschichte Israels. Umso verwunderlicher, dass die frühe christliche Gemeinde, dieser kleine Haufen der Anhänger des kürzlich Gekreuzigten, ihre eigene Geschichte als große Heilsgeschichte erfährt, in der Gottes Engel wunderbare Befreiungen bewirkt. Das heißt: Die Jüngerschar, die sich selbst und ihre Geschichte so wahrnimmt, hat einen großen und schier überwältigenden Eindruck von Gottes Wirken in ihrer eigenen Gegenwart. Dabei begreift sie ganz speziell jede wunderbare Befreiung aus dem Gefängnis ohne Zweifel wohl wie das Geschehen des Auszugs aus Ägypten. Der Engel des Herrn handelt und redet. Er handelt: Er öffnet und führt hinaus. Er redet und befiehlt zwei Dinge: Geht, stellt euch auf und redet. Sein Tun schafft die Voraussetzung, seine Worte mahnen die Jünger zum Zeugnisgeben. Die Nacht ist auch immer die Zeit der Wende. So wird hier der Engel erfahren. Wie beim Auszug aus Ägypten in der Passah-Nacht: Der Gottesengel ging vor dem
431 Wanderzug Israels einher (Ex 14,19). Auch nach Ex 23,20 sendet Gott seinen Engel vor Israel her. Die Befreiung der Apostel aus dem Dunkel des Gefängnisses wird zum ebenso typischen wie umfassenden Bild dessen, was der Gemeinde überhaupt widerfahren ist. Diese Deutung ist auch für das Geschehen des Auszugs aus Jerusalem in Israel immer wieder vollzogen worden. Bis hin ins alexandrinische Judentum zur Zeit der Apostel hat man die Befreiung aus Ägypten gedeutet als Befreiung aus Irrtum und Triebhaftigkeit, aus Tyrannei jeder Art. Im Lichte dieser Auslegung begreift sich das Judentum als Befreiungsreligion.
Schon beim Thema Vision, erst recht beim Thema Befreiung aus der Gefangenschaft, wird das Gefängnis zum Symbol der Unerlöstheit und dann (gegebenenfalls) der Befreiung daraus (Acta Pauli et Theclae »Mein Helfer im Gefängnis«) durch das Aufscheinen des Lichtes Jesus Christus. Das Gefängnis mit Kälte, Isolation und Unbequemlichkeit wird zum Bild für die Welt und ist keineswegs die bergende Höhle. Allein schon die kanonische Apg kennt drei derartige Berichte: 5,19 f.23 (Befreiung durch den Engel des Herrn); 12,7-10 (Engel des Herrn, strahlendes Licht); 16,26f (aufgrund des Gesangs der Apostel Erdbeben mit der Folge, dass alle Türen aufspringen); Erdbeben als Reaktion auf christlichen Gottesdienst (Gebet) auch in 4,31. Von den späteren Texten vgl. besonders Acta Thomae 153: »Der Apostel aber redete mit dem Herrn: Nunmehr ist es für dich, Jesus, Zeit zur Eile. Denn siehe, die Kinder der Finsternis (setzen uns in) ihre Finsternis. So beleuchte nun du uns (durch das Licht deiner Natur). – Und plötzlich war das ganze Gefängnis hell wie der Tag. Während aber alle, die im Gefängnis waren, in tiefem Schlafe lagen, waren allein die an den Herrn Glaubenden wach … Glaube an Jesus, und du wirst die Türen geöffnet finden … Dieser Jüngling legte seine Hand auf mich und richtete mich auf …« Laut Kap. 107 wird das berühmte Perlenlied im Gefängnis gesungen. Ähnlich in Acta Andreae (8: Vision, in der der Herr Befreiung ankündigt), vgl. Acta Matthiae und Acta Philippi.
Ab Kap. 4 steigert sich der Ungehorsam der Apostel gegenüber der jüdischen Obrigkeit: Nach 4,18 ergeht das Verbot zu predigen; doch schon in 4,19 erklären Petrus und Johannes, es sei nicht recht, Menschen zu gehorchen, Gott
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432 aber nicht. Allerdings halten sich die Apostel noch insofern an das Verbot, als sie nur heilen (5,14-16). In 5,20 befiehlt der Engel, der die Apostel befreit hat, ausdrücklich die Predigt. Das tun die Jünger dann im Tempel (5,21). In 5,21 werden die Apostel wegen der Übertretung des Predigtverbots verhört, die Hohenpriester erwähnen in 5,28 dieses Verbot. Die Vorwürfe steigern sich: »Ihr erfüllt ganz Jerusalem mit eurer Lehre.« Darauf antwortet Petrus: »Im Zweifelsfalle müssen wir Gott gehorchen, nicht den Menschen.« Die Formulierung ist schärfer als in 4,19: Dort sollen die Kontrahenten noch selbst beurteilen, was gerechter ist. Hier in 5,29 heißt es schlicht: Man »muss« Gott gehorchen, nicht den Menschen. Dieser Satz hat eine unvergleichliche Wirkungsgeschichte gehabt. Apg 5,29 steht in sokratischer Tradition. Der Satz ist weisheitlich, da er eine klare Antithese von Gott und Menschen formuliert. Wenn es aber um diese Alternative geht, ist es einfach dumm, den Menschen mehr zu gehorchen als Gott. Denn weil Gott der Mächtigere ist, gelten sein Wille bzw. sein Wort auch verbindlicher. Hinzu kommt: Die nächste Entsprechung zu dieser Stelle ist ein Ausspruch des Sokrates im Rahmen seines Prozesses, wie Plato ihn berichtet. Sokrates sagt zu seinen Richtern: »Vielleicht überlegt ihr euch, mich freizulassen unter der Bedingung, dass ich nicht weiter Philosophie betreibe. Aber dann müsste ich euch sagen: Ich verehre euch, ihr Männer von Athen, und liebe (euch), aber gehorchen werde ich mehr dem Gott als euch. Und solange ich atme und dazu imstande bin, werde ich nicht aufhören, Philosophie zu treiben.« – In einem der späteren »Sokratesbriefe« wird er sagen: »Zu dieser Aufgabe hat mich Gott bestimmt. Und es hat sich für mich ergeben, dass ich ziemlich verhasst deswegen bin. Aber er gestattet mir nicht aufzugeben – jener, dem man mehr gehorchen muss.« – Der Philosoph Diogenes wird von sich sagen, er sei »frei unter Vater Zeus und fürchte keinen der mächtigen Herren«. – Apg 5,29 wird dann unter anderem in christlichen Märtyrerakten zitiert. So sagt der heilige Acacius seinem Widersacher: »Du dienst einem Menschen, ich vielmehr muss dem mächtigen Gott dienen« (Martyrium 3,5). Dionysius d. Gr., Bischof von Alexandrien († 265 n. Chr.) berichtet: »Der Statthalter des Kaisers Decius befahl uns, vom Christentum zu lassen, und
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er meinte, dass, wenn ich davon abfiele, die anderen mir folgen würden. Ich gab eine Antwort, die nicht ungebührlich war und mit dem Satz sich berührte: ›Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.‹ Ich bekannte offen und frei, dass ich den einen Gott verehre und sonst keinen, und dass ich von ihm nicht lassen und nie aufhören werde, Christ zu sein.« – Über den allerersten »Sitz im Leben« des Satzes sagt die Passage bei Josephus (Ant 4,5) etwas: Der Prophet Bileam berichtet über seine Inspiration. Er möchte den Menschen einen Gefallen tun und ihnen Angenehmes prophezeien. Doch er kann es nicht: »Gott redet durch uns, was er will, ohne dass wir etwas davon wissen … Gott war stärker als ihr, denen ich einen Gefallen tun wollte.« Wer dagegen verkündet, was er will, widersetzt sich Gott. Auch bei Sokrates geht es ja um die Inspiration durch sein Daimonion. Der »Sitz im Leben« des Satzes Apg 5,29 ist daher der Gehorsam des Inspirierten gegenüber der Botschaft Gottes, die er selbst empfängt. Er ist es, der zuallererst Gott mehr gehorchen muss als den Menschen. Denn er kommt durch seine Botschaft sofort in Schwierigkeiten mit den Menschen. Es geht daher um die Treue des Sehers oder Propheten gegenüber der eigenen Botschaft. Er weicht der Autorität Gottes. Diese Übermacht, der er nachgibt, ist die des inspirierenden Gottes. Ihr konkurrieren die Angst des Propheten selbst und der Druck von Seiten der Adressaten der Botschaft. – Aus alledem wird klar, dass sowohl das Sokrates-Wort als auch Apg 5,29 immer wieder die Situation des klassischen Märtyrers erhellen konnte. Ob nun die Fassung Apg 5,29 von der Sokrates-Stelle abhängig ist, lässt sich nicht erweisen. Da das Milieu vergleichbar ist, kann man auch an eine parallele Entstehung denken. Unter Milieu verstehe ich hier eine vollständig unsensible Dominanz staatlicher Religionskontrolle, die das Entstehen von Martyrien geradezu provozierte, wie nicht zuletzt die Acta Martyrum paganorum (nicht-christliche Märtyrerakten) bestätigen. – In ganz ähnlichem Sinne wird die Stelle auch später in unterschiedlichen Zusammenhängen ausgelegt. Der klassische Ort ist neben dem Martyrium auch der weitere Konflikt zwischen Kirche und Staat; dazu gab nicht nur das Mittelalter gehörig Anlass, auch gegenüber den Anmaßungen neuzeitlicher Staaten wurde Apg 5,29 häufig ins Feld geführt. Aber der Satz gilt auch innerhalb
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der Kirche, wenn Argumente für Nichtbefolgung der Weisung der Oberen benötigt werden. Er gilt auch innerfamiliär, wenn Kinder den Eltern aus religiösen Gründen ungehorsam sind. Der protestantische Ethiker R. Rothe (1870) wendet den Satz auch auf die Selbsterziehung an. H. Thielicke erblickt darin die Freiheit gegenüber dem »man«. Sachlich bedeutet Apg 5,29 eine Begrenzung des Anspruchs von Autoritäten, der sonst besteht. Der Gotteswille wird gegenüber solchen Instanzen geltend gemacht, deren Anspruch angesichts Gottes verblasst. So handelt es sich um eine alternative Form des Ersten Gebotes. Gottes Lehre wird den menschlichen Wünschen entgegengestellt. Vorausgesetzt ist das, was man bis vor kurzem als Ordnung verstand: Dass der höhere Rang gebietet und der niedere gehorcht. Dabei wird das Urteil über das, was Recht oder Unrecht ist, der jeweiligen Obrigkeit nun aus der Hand genommen und dem zugemutet, der Widerstand leistet. Die historische Relevanz von Apg 5,29 besteht in seiner großen Bedeutung für das moderne Verständnis von Religionsfreiheit und von »zivilem Ungehorsam«. Die Bibelstelle eröffnet und stützt immer wieder Machtspiele zugunsten der Freiheit. Das Wort Gottes ist dann Anwalt angesichts einer Übermacht.
Interessant ist die Begründung in 5,30: Gott hat Jesus von den Toten auferweckt. Die Auferstehung hat die Machtverhältnisse ein für alle Male geklärt. Das gilt besonders gegenüber den jüdischen Honoratioren, denen – historisch unkorrekt – in der Apg durchgehend alle Verantwortung am Tod Jesu zugesprochen wird. Erreicht wird so dieselbe Konstellation wie schon in Kap. 4: Jüdische Autoritäten waren für den Tod Jesu verantwortlich, und sie sind es jetzt für die Verfolgung der Apostel. Die knappe Predigt für die Juden in 5,30-32 ist von großer Klarheit: Gottes Handeln widerlegt das Handeln der beteiligten Juden. Aber die Erhöhung Jesu schafft die Voraussetzung für die Umkehr der Angesprochenen. Die Apostel nebst Heiligem Geist (also zwei Instanzen, vgl. Dtn 19,15) bezeugen das Geschehen. – Die Erweckung bzw. Erhöhung ist auch nach 1 Kor 15,17 die Voraussetzung für die Vergebung der Sünden. Denn der Erhöhte zur Rechten Gottes ist der Fürsprecher und Anwalt aller derer, die ihn durch ihre Umkehr zu diesem Dienst beauftra-
gen. Weil der am Kreuz »Erhöhte« für seine Feinde bittet (Lk 23,34), ist die Bitte des Erhöhten für seine (ehemaligen) Feinde nur eine Fortsetzung dieser Bitte. Die nächste Stufe im Spiel von Verbot und Übertretung ist dann in 5,40 erreicht: Die Apostel werden verprügelt, und auf diese Weise verleihen die Autoritäten ihrem Wunsch Nachdruck. Die Reaktion in 5,41f ist hart und klar: Auf der Seite der Apostel ist Freude, und sie verkündigen den ganzen Tag lang! Zum Motiv der Freude hier vgl. die Seligpreisung Mt 5,11 f.
Apg 5,34-39: Rede des Gamaliel In seiner Quintessenz entspricht der Rat des Gamaliel Mischna Abot IV 11: »Jede Vereinigung, die im Namen Gottes (stattfindet), wird schließlich bestehen; (die aber) nicht im Namen Gottes, wird schließlich nicht bestehen.« H. Conzelmann urteilt mit Recht: »Was Gamaliel vorschlägt, ist das apologetische Programm des Lk« (Kommentar zu 5,34 ff, in: Die Apostelgeschichte, 21972). Gamaliels Rede ist nach dem Dreier-Schema aufgebaut: Nach zwei historischen Beispielen (Theudas und Judas der Galiläer) wären die Christen der dritte Fall. In beiden Beispielen hat sich die zu Lebzeiten des Helden gebildete Gruppe nach dessen Tod schnell aufgelöst. Dass Gamaliel diese beiden Beispiele nennt, die ein gleiches Schicksal haben, soll (auch im Sinne des Lukas) die Zuhörer beruhigen. Bisher haben sich derartige Gruppen demnach alsbald aufgelöst. Zu Apg 5,39 »Kämpfer gegen Gott«: In allen Fällen ist das, was als »Kampf gegen Gott« bezeichnet wird, ein aussichtsloses Unternehmen aus menschlicher Hybris. Die Mehrzahl der Belege (alle bis auf Epiktet) nennt Menschen »Kämpfer gegen Gott«, die die Anbeter bzw. Verehrer des anderen Gottes bekämpfen und an der Ausübung des Kultes hindern wollen. So besonders 2 Makk 7,19 (Antiochus IV. kämpft gegen den wahren Gott, indem er Märtyrer schafft). – Tatian Oratio adv Graecos 13,3 (Ablehnung der Verehrer des wahren Gottes). – Josephus, Ant 14, 310 (Schandtaten gegen Mitmenschen und Frevel gegen die Götter). – Apg 23,9 (einige Handschriften). (Wenn aber ein Geist oder ein
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434 Engel mit Paulus geredet hat, dann wollen wir nichts gegen ihn unternehmen, d. h. nicht gegen Gott kämpfen). – Philostratos, Vita Apollonii 4,44 (Apollonius gibt eine weise Antwort, die inspiriert und übervernünftig zu sein scheint. Sein Gegenüber will nicht widersprechen, denn er will sich hüten, gegen Gott zu kämpfen); auch hier geht es um den Repräsentanten Gottes (Apollonius). – Epiktet 3,24,21 (Wer das Unmögliche versucht, kämpft gegen Gott mit sei-
Die Apostelgeschichte
nen einzigen Waffen, seinen Urteilen); 24 (unmöglich: Weltregiment parallel zu Zeus); 4,1,101 (Warum soll ich gegen Gott kämpfen und das wollen, was man nicht wollen kann?) Indem Gamaliel mit der Möglichkeit rechnet, die jüdischen Honoratioren könnten in der Bekämpfung der Christen »Kämpfer gegen Gott« werden, gesteht er die Möglichkeit ein, dass die christliche Religion ihren Ursprung bei dem einen und einzigen Gott hat.
Apg 6–7: Die so genannten »Hellenisten« Apg 6: Das Gremium der Sieben Der historische Anlass für das Murren in der Gemeinde ist von Lukas sicher zuverlässig überliefert: Die Witwen der Griechisch sprechenden Judenchristen werden nicht versorgt. Die Ursache war nicht Unbarmherzigkeit, sondern die Tatsache, dass sich diese Frauen nicht am Tempel aufhielten. Denn der Tempel war der Ort der Witwenversorgung, wie wir vom Fall der Hanna her wissen. Denn die Gebete der Witwen erhört Gott, und zwar direkt am Ort des Gebetes. – Die Gruppe der Hellenisten hielt nichts vom Tempel und hielt sich mit Sicherheit fern von ihm. Das wissen wir aus der Rede des Stephanus. Während der Zwölferkreis sich zum Beten zu den jüdischen Tageszeiten im Tempel traf, war dieses aus innerer Überzeugung für die Hellenisten nicht möglich. Die Gemeinde hilft sich, indem sie ein eigenes Gremium für die Versorgung dieser Witwen aufstellt. Das ist an sich unspektakulär, aber Lukas berichtet feierlich davon. Also steckt mehr dahinter als nur eine Absprache. Darauf weist vor allem die namentliche, kommentierte Liste, die wir sonst von den Zwölf oder der Gemeindeführung in Antiochien her kennen. Dafür spricht auch die Installation durch Gebet und Handauflegung. Im gewöhnlichen Sprachgebrauch ist Apg 6 die »Einsetzung der sieben Diakone«. Davon kann nicht die Rede sein. Das Wort »Diakon« (wie wir es heute verstehen) fällt gar nicht. Und im Übrigen kennt Apg 6 eine doppelte Diakonie, nämlich eine Diakonie des Gebets und der Verkündigung, also des Wortes Gottes, und eine Diakonie an den Tischen (Versorgung der Witwen). Beides
heißt Diakonie. Bevor wir uns diese beiden Dienste näher ansehen und mit Alternativen vergleichen, ist zu fragen, was Lukas mit seinem Bericht in Apg 6 erreichen will. Vergleichbare Ausführungen finden sich im Neuen Testament stets zum Stichwort »Charismen«. Doch im Unterschied zu Apg 6 sind diese nie durch die Zwölf oder durch Handauflegung vermittelt. Sollen also die Mitglieder des Siebener-Gremiums in Apg 6 den Zwölfen untergeordnet werden? Gewiss, Lukas betont die Priorität des Gebets und der Wortverkündigung und macht sie am Zwölferkreis fest. Und der Zwölferkreis legt den Sieben die Hände auf – und nicht umgekehrt. Doch aus folgenden Gründen scheint mir Lukas eher die Bedeutung des Siebener-Gremiums zu betonen: Alle sind schon zuvor vom Heiligen Geist erfüllt. Alle leiten ihre Autorität immerhin von den Zwölfen her, die Jesus selbst eingesetzt hat. Wenn man fragt, was die Zwölf eigentlich durch die Handauflegung vermitteln, so wird die Antwort sein: die Legitimität der Bestellung und Beauftragung. Hier berufen sich nicht irgendwelche Geistträger auf ein ihnen angeblich verliehenes Charisma, sondern die Träger der Diakonie sind rite bestellt. Das Zahlenverhältnis 12:7 steht in besonderer Beziehung zu dem aus dem LkEv bekannten Schema 12:70. Da die Sieben nicht Diakone sind (der Ausdruck fällt nicht), sind sie vielleicht der korrekten Rangbezeichnung nach Älteste? Denn auch sonst folgen auf Apostel Älteste. Jesus selbst spielt mit dem Zahlenverhältnis (Mk 8,19-21: »Wisst ihr nicht mehr, dass ich neulich fünf Brote an fünftausend Leute verteilt habe. Na, und wie viele Körbe Brotreste habt ihr davongetragen?« Sie sagten:
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»Zwölf.« Er fragte weiter: »Und als ich die sieben Brote an die viertausend Leute verteilt habe, wie viele Körbe Brotreste waren es da?« Die Jünger antworteten: »Sieben.« Darauf Jesus: »Habt ihr noch nichts begriffen?«). Dies legt überdies nahe, in den Sieben mehr zu sehen als Armenpfleger für hellenistische Judenchristen. – Die Konstellation 12:7 findet sich außer in Apg 6 nur noch in Mk 8. Verbunden sind beide Stellen dadurch, dass es um Verteilen von Brot geht. In den übrigen Speisungsberichten ist dies stets Aufgabe der Zwölf. Sie verteilen, nicht Jesus (außer in Joh 6). Ist daher ihr eigenstes Tun abgebildet, Lehre Jesu weiterzugeben, zu verteilen wie Brot des Lebens? Geht es um einen der oft beschworenen Verwandtschaftspunkte zwischen Mk und Apg?
Stephanus wird dreifach hervorgehoben: durch die Bemerkung, er sei besonders durch Weisheit und Heiligen Geist ausgezeichnet, durch seine lange Rede und durch sein Martyrium, das durch eine Vision des Menschensohnes provoziert und geadelt wird. Damit ist das Siebener-Gremium der Hellenisten ein wichtiges Bindeglied zwischen Jerusalem und der Griechisch sprechenden Christenheit. In der gesamten Theologie des Lukas, so wie sie uns vorliegt, kommt es stets auf die entscheidenden Bindeglieder an. Vor allem aber: Die Wortgruppe »Dienst, Dienen, Diener« bezeichnet im 1. Jh. n. Chr. ein sozialpolitisches und damit auch kirchengeschichtlich hoch bedeutsames Programm. Das Wortfeld ist zuvor ohne genaue inhaltliche Festlegung für allerlei Aufgaben verwendet worden, ist aber im 1. Jh. n. Chr. eine Art programmatisches Schlagwort geworden, das Juden und Christen gerne aufgreifen, um damit soziale Engpässe und Nöte zu beantworten. Daher finden wir es auch in den Evangelien häufig. Jesus selbst ist der dienende Menschensohn, und in der Mitte seiner Jünger ist er der Diener. »Diakonie« ist im 1. Jh. n. Chr. ein programmatisches »Modewort«, und das Christentum nimmt es programmatisch in Anspruch. Inhaltlich bedeutet es: Eine Gemeinschaft nimmt ihre sozialen Probleme vor Ort durch dazu Bestellte Ehrenamtliche wahr. Der Diakonos ist weiterhin derjenige, der für eine (begrenzte) Öffentlichkeit in sozialer Hinsicht die Kohlen aus dem Feuer holt. Die historische Situation lässt sich im Ganzen
435 wohl so beurteilen: Das frühe Christentum greift das Wort »dienen« freudig auf, und zwar schon in seinen ältesten Schriften (vier Evangelien, Paulus, 1 Petr). Dass dieses geschieht, weist auf die hohe soziale Sensibilität der ersten Christen hin. Man versteht Dienen als Dienst an den sozial Schwachen. Im älteren Judentum (auch im älteren Griechisch sprechenden) kennt man das Wort noch nicht. Im Neuen Testament ist es demnach ein Signal für den Übergang in die Griechisch sprechende Welt. Das hellenistisch-jüdische »Testament des Hiob« ist ein beredtes Zeugnis für die jüdisch-hellenistische organisierte Armenpflege unter dem Stichwort »Diakonie« und »Tische« im 1. Jh. n. Chr. Dieses Phänomen ist wohl auch der Hintergrund für die Tatsache, dass nach dem MkEv genau das Prinzip der Diakonie zum Maßstab der Ämterverteilung in der Gemeinde gemacht wird: Wer der Erste sein will, soll der Diener aller sein (Mk 10,43-45). Nach dem MkEv ist genau das der Wille Jesu, was Apg 6 berichtet. Lukas schließt sich dieser zeitgemäßen sozialen Richtung an, indem er die Diakonie hoch verortet, nämlich in unmittelbarer Nähe zu den Zwölf. Damit trifft er auch die Interessen heidenchristlicher Gemeinden, für die das Praktische von großer Bedeutung war. Er adelt alle diese Bestrebungen, wo auch immer sie gepflegt wurden, durch seinen Bericht in Apg 6. Wie die übrigen neutestamentlichen Autoren weiß Lukas die soziale Aktivität ganz nahe bei der Geistbegabung bzw. bei den Charismen zu verorten. Das ist religions- und sozialgeschichtlich von höchstem Interesse: Gerade dort, wo vom Himmlischen besonders intensiv die Rede ist, wird das Irdische in Gestalt menschlicher Not zum Thema. Heiliger Geist, Charismen, Geistesgaben und Gnade sind die Erfahrungen, mit denen die sozialen Aktivitäten verbunden werden. Wir fragen: Was ist das für eine Theologie, wo doch Mystik und Diakonie weit auseinanderzuliegen scheinen? Ein Vergleich mit 1 Petr 4 und 1 Kor 12 wird uns weiterführen. Nach Apg 6 ist der Heilige Geist Voraussetzung für alle Dienste (für die Zwölf aufgrund von Apg 2, für die Sieben wegen Apg 6,2). Die Dienste teilen sich in Dienst an den Tischen (für die Sieben) und Dienst am Wort Gottes (vom Gebet zur Verkündigung; für die
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436 Zwölf). Das heißt: Alles ist Diakonie im Rahmen gemeinsamer Erfülltheit durch Heiligen Geist. Nach 1 Kor 12 liegt allen Einzelcharismen voraus die Gabe des Heiligen Geistes und der Ausdruck »Diakonie«. Beides entspricht Apg 6. Neu ist in 1 Kor 12 der Ausdruck »Charisma«, der auch für alles gilt. Unter den Einzelcharismen werden zuerst solche des Wortes genannt (Wort der Weisheit; Wort der Erkenntnis). Auch das entspricht Apg 6. Für beide Texte sind demnach Dienste am Wort die erstrangigen und wichtigsten. Auffällig ist, dass soziale Dienste im engeren Sinne (wie etwa Dienst an den Tischen) in 1 Kor 12 fehlen. Gab es in Korinth keine von der Gemeinde ausgehende Armenfürsorge? Sollen deshalb die Armen zu Hause essen (1 Kor 11)? In 1 Petr 4,10 gehen allen Einzelcharismen voran Gebet und Liebe. Sie heißen »Gnade«, »Gnadengabe« (Charisma, vgl. 1 Kor 12), und bei ihnen allen geht es um das »Dienen« (diakonein). Das Dienen ist demnach der gemeinsame Nenner in Apg 6, 1 Kor 12 und 1 Petr 4. Und wiederum ist auch in 1 Petr 4 der Dienst am Wort Gottes zuerst genannt, dann folgt ein unspezifiziertes »Dienen« aus der »Kraft«, was wiederum an das »wirkungsvolle Handeln Gottes« (energein) in 1 Kor 12 erinnert. Fazit: Alle drei Texte sprechen von Diensten, meinen damit Dienste im Rahmen der Gemeinde und betrachten als wichtigsten Dienst den am Wort. Dabei ist Apg 6 am instruktivsten, denn hier ist das Gebet als Ursprung der Wortverkündigung genannt. Alle Texte setzen zudem voraus, dass es in einer Gemeinde eine Vielzahl rivalisierender Begabungen gibt. Paulus und Apg 6 führen diese Dienste auf den Heiligen Geist zurück. Was bedeutet in diesem Konzert Apg 6 historisch? Lukas verbindet die »Hellenisten« mit der besonderen Situation der Urgemeinde. Nur er betont bei »Dienen« die besondere Zuwendung zu den Armen (Witwen), steht aber darin in Übereinstimmung mit dem hellenistischen Judentum (TestHiob). Nur Lukas verankert diese Tätigkeit bei den Zwölf und in der Handauflegung. Das bedeutet, wie wir gesehen haben, Aufwertung. Die urchristliche Mystik (Stichwort: Heiliger Geist, Charisma) ist demnach nichts Privates, Mysteriöses oder Weltabgewandtes, sondern sie
Die Apostelgeschichte
äußert sich nach diesen Texten wesentlich sozial. Sie ist Ausdruck der Kraft Gottes, die alle Grenzen des Individuums sprengt. Insofern ist sie der Zielrichtung nach extro- und nicht introvertiert. – Wichtig erscheint mir auch die Beobachtung, dass die Verkündigung aus dem Gebet kommt.
Apg 7: Wichtige redaktionelle Aspekte der Stephanusrede Verbindungslinie zum Kontext ist die Tempelkritik der Hellenisten (inklusive des Stephanus), die aus den theologischen Spannungen auch soziale machte. Man konnte den Witwen der Hellenisten sagen: Den Tempel wollt ihr nicht, aber davon leben wohl!? Das frühchristliche Konzept der Diakonie ließ einen Ausweg finden. Die Tempelkritik der Hellenisten ist nicht einmalig, sondern durchaus typisch auch für aufgeklärte hellenistische Juden (Texte bei Berger/ Colpe, Religionsgeschichtliches Textbuch, 1987). Doch diese Leute konnten sich – im Rahmen produktiven Missverstehens – auf Jesu Tempelwort berufen. Hatte Jesus nicht, wie auch immer seine Ankündigung genau lautete – von der Beseitigung des bestehenden und der Errichtung eines neuen, geistigen (?) Tempels gesprochen? Nach allem, was wir ahnen können, war dieser neue Tempel – jedenfalls aus der Sicht des Paulus – die Gemeinde selbst. Ein Stück revolutionärer jesuanischer Theologie steht darin: das Heiligtum inmitten von Menschen. – Die Beseitigung des bestehenden Tempels hatte Jesus freilich als Gericht verstanden, sei es infolge des eigenen Fluchwortes oder durch Fremdvölker (Römer). – Seit hellenistischer Zeit ist dieses Paradigma wohlbekannt: Bei einer Opposition gegen steinerne Tempel und sichtbaren Kult tendiert jede Religion zu einem universalistischen Moralismus. So ergibt sich für Apg 7 im Ganzen eine eigenartige Theologie: In 7,51 wendet sich Stephanus mit einer Publikumsbeschimpfung an seine Hörer. Er greift dabei zurück auf die Tradition vom Ungehorsam Israels gegen alle Propheten und der an ihnen verübten Verfolgung. Er deutet die Ablehnung der Propheten als Widerstand gegen den Heiligen Geist und bringt hier den Widerstand gegen die Botschaft der Propheten vom Kommen des Gerechten ein. D. h. der Wider-
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Kapitel 7
stand Israels gegen Gott äußert sich auf zwei klassische Weisen: als falsche Gottesverehrung im Tempel und in der Nicht-Anerkennung der messianischen Stellen bei den Propheten. Beides versteht Stephanus als Widerstand gegen den Heiligen Geist. Wohl nur vom christlichen Standpunkt aus ist es möglich, beides wenigstens in die Nähe zueinander zu bringen: wenn der Heilige Geist den christlichen Gottesdienst begründet, und wenn derselbe Heilige Geist Jesus zum Messias macht und überdies alles das ermöglicht, was messianisch in der Zeit der Gemeinde ist. Israels Vergehen waren schon immer eher kultischer Art. Entweder hat es die falschen Mächte angebetet oder Gott ein steinernes Haus gebaut. Das Gegenteil von beidem wäre: den einen wahren Gott anzubeten, der der universale Gott ist, und zwar nicht in steinernen Tempeln, vielmehr – in diese Richtung kann die Antwort nur gehen – im wahren Hören auf die Propheten, die über den Messias geweissagt haben. Und dort, wo er ist, da ist auch das wahre Heiligtum, das Gott gemäß ist. Die Vision wird in 7,56 die Antwort darauf geben: Der wahre Gottesdienst wird als Anbetung des Gottes geschehen, dessen Anbeter die Klientel des Gerechten, also des Messias, ist. Das alles wird eher angedeutet, die Summe aus den Posten muss der Leser ziehen. Aber der weiß ja, dass das Neue sich in einer Gemeinde realisiert, in der den Freunden »alles gemeinsam ist«. Sehr bemerkenswert ist der strenge Ausgangspunkt beim wahren Kult, so als fielen hier, nicht in differenzierter Moralkasuistik, die allerwichtigsten Entscheidungen. Das priesterliche Interesse hat sich der Evangelist seit Lk 1 bewahren können.
Apg 7,2-19: Rede des Stephanus I Entsprechend seiner Ausrichtung an herausragenden Exempla gestaltet Lukas hier auch die Väterzeit (Abraham bis Jakob) entlang den großen Namen. Dass Stephanus die Heilsgeschichte mit der Gottesvision vor Abraham beginnen lässt, korrespondiert der Tatsache, dass auch Stephanus durch eine Vision ausgezeichnet ist. Alle Rede von Land und Erbbesitz zielt nur auf die Rede von dem Ort, an dem Gott richtig verehrt wird, an dem man ihm dient (7,7 Tempel in Jerusalem). – Gegen die Beschneidung werden nach 7,8 kei-
nerlei Einwände erhoben. Stephanus redet ja zu hellenistischen Judenchristen. – Indem von Josef, dem Sohn Jakobs, nach 7,10a gesagt wird, Gott habe ihn aus allen Drangsalen errettet, spielt Stephanus auf Ps 34,20 an und stilisiert Josef als den leidenden Gerechten. – Der Bericht über Josef und seine Rettung, über Ägypten ist ungewöhnlich lang; von 7,9-36 hat das Thema Ägypten eine große Bedeutung. Spielt dabei die Herkunft des Stephanus (Diasporajude) eine Rolle, zumal Lukas für diese Zeit eher Bekanntes referiert? Nach V. 39 wandte sich das Herz des Volkes nach Ägypten – eine ungewöhnliche Rede. Zu Apg 7,4: »in dem ihr jetzt wohnt«, Stephanus also nicht, er ist Diasporajude. Zu Apg 7,15b-16: Gegen die übliche Tradition (Jub 46,9f; Josephus, Ant 2,199f) werden die Väter nicht in Hebron, sondern in Sichem begraben. Nach Jos 24,32 nahm man wohl an, dass mit Josef auch seine Brüder dort begraben worden seien.
Apg 7,20-41: Rede des Stephanus II Mose wird besonders gelobt (nach 7,20 war er wohlgefällig vor Gott, nach 7,22 wurde er in aller Weisheit der Ägypter erzogen und war mächtig im Reden und Handeln (vgl. Lk 24,19 von Jesus). In Differenz zu anderen jüdisch-hellenistischen Schriften ist Mose hier nicht der Lehrmeister der Ägypter, sondern er lernt auch von ihnen). Kaum übersehbar ist die angedeutete typologische Entsprechung zu Jesus: Nach 7,25 verstanden die Menschen nicht, dass Gott durch ihn Rettung bringen wollte (von Jesus vgl. Lk 18,34). Nach 7,35 gilt von ihm: »Diesen Mose, den sie abgewiesen hatten, … ihn sandte Gott mit Hilfe eines Führers und Engels.« Auch die Judenpredigten in Apg 2-5 sind oft gebaut nach dem Schema »Diesen (vgl. 2,32), den die Juden missachtet (etc.) hatten, ihn hat Gott auferweckt …« Die Aktivität von Juden wird durch Gottes rettendes Tun an der Retterfigur widerlegt. Die Israeliten wenden sich wiederholt gegen Mose (vgl. V. 27a.39). Zu Apg 7,37: Mose hat auch den eschatologischen Propheten angekündigt: Dtn 18,15; 1 QS 9,11; 4Q test 5-8.
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438 Zu Apg 7,38: Mose empfing »Worte des Lebens« (Dtn 32,47; Hebr 4,12; 1 Petr 1,23), doch die Väter wandten sich dem Herzen nach Ägypten zu. Auf dem Berg Sinai hat mit Mose ein Engel geredet, vgl. Jub 2,1: »Und es redete der Engel des Angesichts zu Mose mit dem Wort des Herrn«, ferner: LAB 11,5; Jub 1,27 ff; TestDan 6,2; Josephus, Ant 15,136. Das bedeutet keine Abwertung der Torah. Zu Apg 7,40-42: Hier gibt es etliche Besonderheiten: Aaron wird zum Adressaten der Klage (wie LAB 12,3) der Israeliten, auch wenn die Verfertigung des Goldenen Kalbes ihm nicht angelastet wird. Die Strafe für die Anbetung des Goldenen Kalbes wird wiederum als kultische Strafe geschildert: Gott hat Israel preisgegeben an den Dienst des Himmelsheeres (vgl. dazu genau Röm 1,23-28: hat ausgeliefert), d. h. an Engel. Nach 7,43 kommt noch der Moloch-Dienst hinzu. In Aufnahme von Amos 5,25-27 LXX wird statt Damaskus hier Babylon (und damit das Exil) als Strafort in den Blick genommen. Zu Apg 7,47-50: Nun wendet sich Stephanus wieder ganz der Frage nach dem rechten Kult(ort) zu: Das Zelt des Zeugnisses (7,44) war noch nach Gottes Anweisung nach himmlischem Vorbild gemacht (vgl. Ex 25,40). (Daneben wurde freilich auch ein zweites Zelt mitgeführt: V. 43a.) David fand noch Gnade und konnte bitten, Gott eine Wohnstätte bauen zu dürfen. Aber richtig negativ wird dann erst Salomo eingeschätzt: Bis dahin hatte Israel seit Moses das Offenbarungszelt. »Salomo aber baute ihm (sc. Gott) ein Haus.« Dagegen wird nun Jes 66,1f ins Feld geführt, obwohl die Stelle nichts Abträgliches gegen den Tempel enthält. Aber das Argument ist: Wer von Händen Gemachtes verehrt, der vergisst den Schöpfer darüber, der alles gemacht hat. Zu den Argumenten vgl. Strabo, Geographica XVI § 35.37: Gegen rituellen Kult und die Fiktionen der Heiden, Götter seien wie Menschen oder wie Tiere: »Denn dieses allein sei Gott, das uns alle umfängt und Erde und Meer, das wir Himmel und Welt und die Natur aller Dinge nennen …« (Berger/Colpe, Textbuch, Nr. 342). – Zu 7,41: Werk der Hände vgl. LAB 22,5f (»ihre Sinne wurden verführt hinter einem Heiligtum her, das von Händen gemacht ist«). – Zu 7,48f: »Dass man
Die Apostelgeschichte
weder Tempel machen dürfe noch Götterbilder. Denn nichts Verfertigtes sei der Götter würdig …, nichts hat große Würde und ist heilig, was Werk von Häuserbauern und Handwerkern ist« (Zenon v. Kition, 3. Jh. v. Chr., Berger/Colpe, Nr. 341).
Apg 7,54-60: Steinigung des Stephanus Literatur: R. Pesch: Die Vision des Stephanus. Apg 7,55-56 im Rahmen der Apostelgeschichte (SB 12), Stuttgart 1966. – K. Berger, Die Auferstehung des Propheten, 1976, 222 f.
Auf die folgende Vision hin wird Stephanus gesteinigt, und zwar zweifellos deshalb, weil man die Aussage 7,56 als Gotteslästerung deutete: »Siehe, ich sehe den Himmel offen und den Menschensohn zur Rechten Gottes stehen.« Zuvor gibt Lukas wieder: Er sah die Herrlichkeit Gottes und Jesus stehend an der rechten Seite Gottes. Es ist zumindest umstritten, ob Stephanus wirklich behauptet, »Gott zu sehen«; denn Gott kann kein Mensch sehen (Joh 1,18). Und Gottes Herrlichkeit zu sehen oder den Menschensohn zur Rechten davon, das ist nicht damit identisch. – Grundstelle ist Jes 6,5: »Wehe mir, denn den König, den Herrn der Herrscharen, haben meine Augen gesehen.« AscJes 3,8f »Jesaja selbst hatte gesagt: Ich habe mehr gesehen als Mose, der Prophet. (9) Aber Mose hat gesagt: Kein Mensch kann Gott sehen und am Leben bleiben.« Und Jesaja hatte gesagt: »Ich habe Gott gesehen, und siehe, ich lebe.« – Vgl. dazu Origenes, In Jesaiam Homil 1,5: »Man sagt also, Jesaja sei vom Volk verfolgt worden als einer, der das Gesetz beiseite schiebt und Dinge außerhalb der Schrift verkündet. Deswegen haben sie ihn verfolgt und verureilt.« – Nach den zeitgenössischen Prophetenlegenden werden Propheten ermordet, wenn sie wie Jesaja reden, der schon so gesagt habe: »Ich habe Gott gesehen und den Sohn Gottes« (ParJer 9,20). Jeremia, bei dem das aktualisiert wird, redet nach dem Kontext über den Sohn Gottes, der in die Welt kommt (9,19). So konnte man – im Rahmen visionärer Prophetentradition – den Propheten leicht vorwerfen, dass sie »mehr als Mose« gesehen haben wollten. Jeremia wird daraufhin gesteinigt, Jesaja zersägt.
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Kapitel 8
Der Menschensohn steht bei Gott. Die Szene ist geläufig: Ankläger oder Verteidiger (Anwalt) stehen bei Gott, Gott selbst als der Gerichtsvorsitzende »sitzt«. Die Regel gilt: Überall dort, wo nicht ausdrücklich vom Sitzen Jesu zur Rechten Gottes die Rede ist (z. B. aufgrund von Ps 110,1f), ist davon auszugehen, dass der Menschensohn vor Gott steht, und zwar als Anwalt derer, die zu ihm gehören (Mt 10,32) – oder als der, der sie zurückweist (Mt 7,23; Mt 10,33). – Dass der Menschensohn dagegen speziell zum Vollzug des Weltgerichts aufgestanden sei, ist nicht ersichtlich. Auch Mk 14,62 mit Parallelen bietet eine Art Vision in der für den Prozess entscheidenden Situation. Nach Mk 14,62 sagt Jesus: »Ihr werdet sehen, wie der Menschensohn zur Rechten der Macht sitzt …«, nach Mt 26,64 sagt Jesus: »Ab jetzt werdet ihr sehen …«, während er nach Lk 22,69 sagt: »Von jetzt an aber wird der Menschensohn zur Rechten der Macht Gottes sitzen.« – Nach Mk 14,64 war diese Äußerung zumindest entscheidender Bestandteil der Lästerung Jesu, ebenso Mt 26,65. – Worin aber besteht die Lästerung? Was hat sie mit der Vision zu tun? – Im Unterschied zu Stephanus behauptet Jesus nicht selbst, eine Vision zu haben. Er kündet es nur seinen Gegnern an. Gehören also diese Jesusworte nur indirekt hierher? Sagen sie eher etwas über die künftige Würde Jesu als des Menschensohnes? Sind sie darin gotteslästerlich, dass er selbst, der Menschensohn, dies sagt? Ich halte es für möglich, dass Jesus hier selbst die Gestalt der Gattung
439 transformiert, welche Gestalt in Apg 7,56 dann ursprünglicher bewahrt worden wäre.
Zur möglichen Deutung: Wer sich auf eine solche Vision beruft wie Stephanus und die jüdischen Propheten, überführt sich, wenn man ihm auch sonst nicht glaubt, damit selbst als Pseudoprophet. Denn er sucht einen visionär-charismatischen Legitimitätserweis. Ähnlich gebraucht ja Paulus den Hinweis auf seine Berufungsvision als Ausweis seiner Legitimität. Speziell für die Propheten und Menschen mit derartigem Anspruch sind seit dem Alten Testament Visionen (neben Wundern und sich erfüllenden Weissagungen) ein Mittel der Legitimation. Alle Genannten, die aufgrund ihrer Vision hingerichtet werden, haben sich auf dem Höhepunkt ihrer Rede auf diesen Erweis von Legitimität berufen. Dass das speziell für Stephanus zutrifft, hatte er in 7,52 gezeigt, wonach seine Gegner stets gegen die Propheten und den in ihnen wirkenden Heiligen Geist verstoßen haben. Strephanus wird also als Pseudoprophet gesteinigt. Er hat Gott gelästert, weil er göttlich(-visionär)e Inspiration behauptet hat, wo in Wirklichkeit die Gegenmacht wirkte. Nicht was der Pseudoprophet im Einzelnen gesehen hat, ist wichtig, sondern dass er sich überhaupt auf eine Vision beruft. Wenn freilich der in der Vision Geschaute ausgerechnet noch Jesus ist (das ist aber auch bei der Originalfassung von 7,56 im Munde des Stephanus nicht unbedingt der Fall, wohl aber in der Wiedergabe des Lukas), der aus der Sicht der Gegner gleichfalls ein Pseudoprophet war, dann sind die »letzten Dinge ärger als die ersten«.
Apg 8-9: Mission unter Gegnern Apg 8,1-4: Verfolgung und Diaspora »Diaspora«, Zerstreuung, ist wie üblich das Resultat jeder großen Katastrophe, die über Israel gekommen ist. Das gilt von der Zerstörung Jerusalems und dem folgenden Exil in der babylonischen Diaspora; es gilt von der Kreuzigung Jesu und der dann folgenden Zerstreuung der Jünger, und es gilt ebenso vom Martyrium des Stephanus und der folgenden Zerstreuung der Jünger in Judäa und Samaria (8,1). Das große Ereignis der Zerstörung oder Ermordung ist im-
mer nur Auftakt einer weitergehenden Zerstörung der dazu gehörigen Gemeinschaft. Eine genaue Ursache der großen Verfolgung (8,1) wird – wie schon bei Stephanus – nicht genannt. Es ist davon auszugehen, dass Pseudoprophetie der Vorwurf ist. Dass dieser Vorwurf es gewesen ist, dafür sprechen folgende Gründe: Stephanus selbst wirft in seiner Rede den Hörern vor, sie widersetzten sich dem Heiligen Geist (7,51f); die Vorwürfe galten demnach wohl wechselseitig. Dass die Vision des Stephanus zum Vorwurf der Lästerung (Strafe: Steinigung) hingedeutet
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440 wird, reiht Stephanus in ein zeitgenössisches Prophetenbild ein. Die Vorwürfe von 6,14 (Tempelzerstörung, Änderung des Gesetzes) beziehen sich entweder auf die traditionellen prophetischen Orakel gegen die Stadt (vgl. zu Mk 14,58 und besonders Jer 26,20 [Uria]), die dann regelmäßig zum Martyrium der als Pseudopropheten Betrachteten führten, oder auf die Änderung der Gesetze nach Dan 7,25, dort zwar durch Antiochos IV. vorgenommen, doch längst zum Merkmal des antimessianischen apokalyptischen Widersachers geworden. Auch Paulus deutet nach 1 Thess 2,15f aus meiner Sicht sein früheres Tun als ungerechte Propheten-Verfolgung. In diesem Punkt also hat sich Paulus bei seinem Christwerden besonnen. Er verbleibt im dualistischen Schema des Pneumatismus (zum pneumatologischen Dualismus bei Paulus vgl. 2 Kor 6,6; 11,4; 1 Tim 4,1; 2 Tim 1,7.14; Eph 2,2.18); aber in Jesus und seinen Jüngern nimmt er den Heiligen Geist wahr und nicht den Geist der Gegenseite. So kann er das übernehmen, was Stephanus in Apg 7,51f sagt. Anders gesagt: Verfolgung der Christen und Bekehrung zu Jesus spielen für Paulus auf derselben theologischen Bühne, unter denselben Voraussetzungen wie für Stephanus in Apg 7,51 f. Innerhalb fest gesteckter theologischer Positionen wechselt Paulus »nur« und allerdings die Richtung. Das Folgende bestätigt diese Sicht: Mission unter dem Vorzeichen des Heiligen Geistes Die Stephanusrede ist das Tor zu Apg 8-9. Das gilt sowohl für die zentrale Rolle des Heiligen Geistes nach Stephanus (7,51f) als auch für die Rolle des Saulus/Paulus, der vom Verfolger zum Verkündiger wird. Die missionarische Ausbreitung des Christentums nach Apg 8 ist nur von der in 7,51f angedeuteten Rolle des Heiligen Geistes, der die Propheten und Gerechten erfüllt, und im Rahmen eines besonderen prophetischen Christentums zu verstehen. Die Christologie tritt hier deutlich zurück; von christologischen Defiziten zu sprechen, steht dem Historiker hier nicht zu, denn das wäre ein anachronistisches Urteilen. – Das Christentum, das sich hier ergibt, zeigt folgende Konturen: Der Heilige Geist ist an die Herkunft von Jesus durch die Verkündigung der Apostel (vgl. z. B. 10,44-48) streng gebunden.
Die Apostelgeschichte
Wenn jemand den Heiligen Geist empfangen will, was er zur Komplettierung seiner Taufe braucht, dann ist er auf einen Besuch der Apostel (z. B. Apg 8,14-17) vor Ort angewiesen.
Daher ist Jerusalem, der Sitz der Apostel, unabdingbar die Mitte der Christenheit. Nach Apg 8,14 werden Petrus und Johannes von den Aposteln in Jerusalem nach Samaria geschickt, um den dortigen Getauften den Heiligen Geist mitzuteilen. Frage: Ging das nur so? Ist der Heilige Geist nur von den Aposteln zu vermitteln? Nach Apg 8,1b sind die Christen, mit Ausnahme der Apostel, aus Jerusalem vertrieben. Man kann sich das wohl nur so erklären, dass die Apostel aus dezidiert theologischen Gründen in Jerusalem bleiben und dafür bereit sind, Verfolgungen und Anfeindungen auszuhalten. Denn wenn ihnen verheißen ist, dass sie die zwölf Stämme richten werden (Mt 19,28), dann kann das nur von Jerusalem aus geschehen. Außerdem mag es aus ihrer Sicht so gewesen ein: Die Anwesenheit der Zwölf Apostel in Jerusalem garantiert die Verbindung von Altem und Neuem Bund. Ihr Ausharren wird aufgefasst wie die Wachsamkeit der Sklaven in den entsprechenden Gleichnissen.
Der Heilige Geist treibt die Mission geradezu physisch voran. Er äußert sich in überlegener Wunderkraft und sogar im »pneumatischen Transport«. Von Philippus heißt es, dass er große Wunder tat und unreine Geister austrieb (Apg 8,6f). Der Heilige Geist ermöglicht ein christologisches Schriftverständnis, d. h. im Rahmen dieser Theologie des Heiligen Geistes gibt es eine sehr enge Zuordnung von Schrift und Christologie. Begründet wird diese Zuordnung schon in Lk 24. Die Gabe des Auferstandenen an die Jünger ist das christologische Verständnis der Schrift des Alten Testaments. Daher wird die entscheidende christliche Belehrung, die zur Taufe führt, bei Philippus und dem äthiopischen Kämmerer durch Schriftbeweis vollzogen. Diese Szene ist wie eine typische Offenbarung aufgebaut: Auf die unverständige Wahrnehmung des Bildes (Gleichnis, Vision, Schrift) folgt das Eingeständnis des Nicht-Verstehens, und daraufhin wird der anfängliche Text erläutert. Diese Erläuterung wird selbst als eine Art Offenbarung dargestellt. So bewegt sich auch Philippus gegenüber dem Äthiopier im klassischen Schema von Bild – Unverständnis – Erläuterung des Bildes.
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Kapitel 8
Schon das Zitat aus Jes 53,7f in Apg 8,32f hilft – aus späterer Sicht –, die Grenzen des Verfahrens zu erkennen: Aus Jes 53,7f lässt sich nur erweisen, dass Jesus ein leidender Gerechter (vielleicht: der leidende Gerechte schlechthin) ist, nichts über Sühnung von Sünden etc. Offenbar hat man nicht jede einzelne Stelle des ganzen Alten Testaments irgendwie auf Jesus bezogen, sondern sich eine Auswahl genehmigt. Man zog die Stellen heran, die von leidenden oder zumindest unverstandenen Gerechten sprechen (Josef, Mose, Psalmen, Jesaja), ferner solche, die von ihrer späteren »Herrlichkeit« bzw. von der Überwindung des Todes reden (Psalmen Davids; Jona). Doch im Ganzen konnten diese Auslegungen nicht ausreichen (trotz Barn, Justin und den Stromateis des Clemens v. A.), und diese Einsicht ist eine der wesentlichen Voraussetzungen für die Etablierung des Neuen Testaments neben dem Alten.
Apg 8,9-13: Simon der Magier Simon Magus ist – und das ist der religionsgeschichtlich bis auf weiteres selbstverständliche Weg – als selbstständiges Phänomen und nicht in seiner gnostischen Version zu erklären. Die Titel »groß« und »Kraft Gottes« weisen auf den Bereich der jüdischen Vorstellungen von der Repräsentanz Gottes. »Kraft Gottes« heißt Jesus auch nach 1 Kor 1,24, im Übrigen vergleiche man die »Kräfte Gottes« besonders nach Corpus Hermeticum »Groß« heißen entweder Mose (magnus nuntius) oder im heidnischen Bereich die »große Artemis« oder die »große Mutter« (magna mater). Diese Titel sind Reflex der charismatisch-wundertätigen Auftritte Simons. Insofern ist er eine »Konkurrenz« zu Jesus, ähnlich wie Apollonius v. Tyana. Anhand der Begegnung Simon/Philippus wird nun etwas geschildert, was fortan zum Repertoire von Apostelakten gehört, nämlich der charismatische Wettstreit. In diesem Wettstreit trifft der legitime christliche Apostel oder Bote jeweils auf einen Vertreter der Gegenseite, also auf einen nicht-christlichen Wundertäter, der Wunder tut wie der Apostel. In Mk 13,22 und 2 Thess 2,9f werden derartige Charismatiker ausdrücklich zuvor erwähnt. Ihr Auftreten gehört zur »Szene«. Die apokryphen Apostelakten werden immer wieder an der Figur des Simon Magus die je ak-
441 tuelle Frage der missionarischen Konkurrenz darstellen. Insbesondere der Titel magus wird als Gegensatz zum apostolus Inbegriff des nicht-akzeptierten Charismatikers. Dass Simon M. den Heiligen Geist mit Geld erwerben will, können heutige Menschen, vor allem unter dem Einfluss des mittelalterlichen Simonie-Begriffs, kaum verstehen. Es gilt jedoch, das, was Lukas hier berichtet, auf dem Hintergrund der Bedingungen des 1. Jh. n. Chr. zu verstehen. Dann allerdings rückt das Ansinnen des Simon möglicherweise der üblichen Praxis frühchristlicher Geldaufwendungen näher, als vielen lieb ist. Versteht man Simon von Anfang an nicht als Exoten, sondern als einen mehr oder weniger gewöhnlichen frühchristlichen Verkündiger, so erscheint Folgendes als möglich: Aus der Praxis jüdischer Sympathisantenkreise, die um die Synagogen gruppiert waren, ist das Mittel der finanziellen Zuwendung bekannt, mit deren Hilfe eine gewisse Anerkennung und Geltung der Sympathisanten erreicht werden (»Almosen für Israel«). – Frühe Christen übernehmen dieses Modell mutatis mutandis. Für Paulus ist es von elementarer Bedeutung; denn seine heidenchristlichen Gemeinden möchte er auf diesem Wege – der Erbringung einer Kollekte – mit Jerusalem so verbinden, dass sie als Christen anerkannt werden. Dabei wird das Verhältnis jüdische Muttergemeinde/nichtjüdische Sympathisanten auf der Basis materieller Hilfeleistung auf heidenchristliche Gemeinden paulinischen Typs übertragen. Paulus kämpft für dieses Modell, da andernfalls seine Gemeinden »in der Luft hängen« würden. Das kann er als judenchristlicher Theologe nicht akzeptieren. Laut Auskunft der Apg ist dieses Vorhaben des Apostels jedoch gescheitert (s. zu 21,23-26). Von einer weiteren Kollekte berichtet Apg 11,29 f. Diese wird offenbar akzeptiert. An die Ältesten der Gemeinde von Jerusalem wird die Kollekte durch Barnabas und Saulus gesandt. Denkt man sich das finanzielle Angebot, das Simon M. den Aposteln macht, innerhalb dieses Rahmens, so könnte man das Ansinnen Simons wie folgt rekonstruieren: Simon kämpft um die Anerkennung seiner Mission durch die Apostel in Jerusalem. Das bedeutet Anerkennung der Legitimät seiner Taufpraxis. Nach Jerusalemer Verständnis ist eine legitime Taufe nur möglich,
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442 wenn von den Aposteln her der Heilige Geist durch Handauflegung mitgeteilt wird. Simon versucht, mit Hilfe des Mittels der Kollekte im wahrsten Sinne des Wortes Sympathie zu erwerben. – Das Unmögliche seines Tuns besteht nicht darin, durch Geldzuwendung »dazuzugehören« und als legitim anerkannt zu werden – das wollten Heidenchristen nach Paulus genauso. Das Ärgernis ist nicht das Geld. Das Ärgernis besteht darin, dass er meint, die Apostel könnten ihn zum gleichrangigen Spender des Heiligen Geistes erklären. Das aber scheitert an der Begrenzung der Zahl der Apostel. Die legitime Linie (auch die der Geistspendung) geht weiter von den Aposteln auf Kollegien von Ältesten, nicht auf weitere Einzelfiguren, wie die Apostel es waren. Simon M. kann es daher Paulus nicht nachtun. Die Zahl der Apostel ist begrenzt, unter anderem auch deshalb, weil als Apostel nur Judenchristen akzeptiert werden, während der Hintergrund Simons eher samaritanisch-synkretistisch zu sein scheint. Unterstellt wird daher hier, dass Simon nicht Betrüger und Simonist war, sondern zumindest bis auf weiteres gutwillig und gutgläubig. Diese Sicht neutestamentlicher Gegner ist dabei in der Forschung alles andere als üblich. Freilich zeigt die spätere Gnostisierung Simons eher, dass er nicht unbedeutend war und deshalb eine durch Jahrhunderte währende Wirkungsgeschichte gehabt hat. Dass er am Apostelbegriff gescheitert ist, das könnte man für ihn selbst und vor allem für seine Anhänger als »tragisch« bezeichnen. Das Bild der Kirche, die Lukas entwirft, ist daher unter allen Umständen apostolisch. Die Ge-
Die Apostelgeschichte
schichte Simons lehrt, dass eine schlichte Erweiterung dieses Kreises nicht mehr möglich ist, auch nicht, wenn gut gemeint eine Geldspende/ Kollekte angeboten wird. – Was heißt hier »apostolisch«? Die Zwölf (mit dem nachgewählten Matthias) sowie Paulus und Barnabas kann Lukas ohne Schwierigkeiten Apostel nennen. Sie entsprechen entweder dem Kriterium von Apg 1,22 oder sind per authentischer Vision des Herrn zu Aposteln berufen worden (wie Paulus nach Apg 9.22.26); für Barnabas liegt keine Begründung vor, doch seine judenchristliche Herkunft bleibt unumstritten. Da Paulus und Barnabas im Unterschied zu Simon M. in Jerusalem vorgestellt und akzeptiert werden, wird erkennbar: Die Apostolizität der Kirche ist auch darin begründet, dass die Apostel nach 8,1 in Jerusalem leben (und leiden; s. zu 8,1). Zu Apg 8,39: Vgl. Josephus (Ant 8,124), wonach die Versenkung in Gebet und Hymnus auf dem Weg den frommen Wanderer so weit im Griff halten konnte, dass er von dem Weg nichts mehr wahrnahm (plausibel, besonders wenn man an die römischen schnurgeraden Straßen und den üblichen ständigen, grellen Sonnenschein denkt). Es ist daher anzunehmen, dass sich für Philippus auf seiner Reise die verblassende Wahrnehmung des realen Weges mit der mystischen Erfahrung des Heiligen Geistes so kreuzten, dass die Empfindungen von Anstrengung und Zeit abnahmen und nur noch Raum ließen für die Wirklichkeit der geistlichen Erfahrung (vgl. dazu weiter TRE 12, 179,44180,25: »Ortsveränderung durch den Geist«).
Apg 9: Berufung des Apostels Paulus Apg 9,3-9: Bekehrungsvision des Paulus Was Paulus hier erlebt, ist der Gattung nach eine »Bekehrungsvision«. Derartige Texte sind im Frühjudentum beliebt, da berühmte Proselyten durch Gottes Selbst-Offenbarung und SelbstVorstellung zum Ziel ihres Suchens kamen. Formelle Merkmale der Gattung sind: Ein Licht (bzw. Feuer) wird geschaut, eine Stimme ertönt. Mit dieser Stimme spricht Gott im Ich-Stil. Er bezeichnet sich als den Gesuchten. Der zu bekeh-
rende Mensch antwortet mit »Hier bin ich«. Diese Kombination von Licht, Stimme, Ich-Rede des Erscheinenden und »Hier bin ich« des Menschen ist Merkmal der paulinischen Berufung/Bekehrung nach dem dreifachen Visionsbericht in Apg 9; 22; 26, d. h. der Bekehrungsvorgang wird durch Elemente der Erscheinungstradition zum Offenbarungsereignis stilisiert. Zunächst sind zwei jüdisch-hellenistische Beispiele zu nennen.
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Apokalypse Abrahams 7,8: »Möge Gott sich selbst uns offenbaren! – 8,1: Und es geschah …, dass die Stimme des Starken in einer Feuerflut vom Himmel fiel und sprach: Abraham! Abraham! Und ich sprach: Hier bin ich. – (8,2): Und er sprach: Du suchst den Gott der Götter und den Schöpfer im Geiste deines Herzens. Ich bin es … – (9,1): Da ertönte eine Stimme, die zweimal zu mir sprach: Abraham! Abraham! Und ich erwiderte: Hier bin ich. Und sie sprach: Ich bin es, fürchte dich nicht. Denn ich bin vor allen Äonen ein starker Gott, der im Anfang das Licht des Äons schuf. Und ich bin es, der dich schützt …« Zur Erläuterung: Licht ist für die Menschen der Antike nicht anders denn als Feuer vorstellbar. – Abraham ist der erste Jude und wird entsprechend als der Prototyp der Proselyten dargestellt. – Die AbrahamApk entstand vielleicht kurz nach 70 n. Chr. (Übers.: Philonenko-Sayar und Philonenko).
Testament des Hiob 3,1: »Und eines Nachts, als ich mich niedergelegt hatte, drang zu mir eine laute Stimme in einem überaus hellen Licht und rief: Jobab, Jobab! – (3,2) Und ich sprach: Hier bin ich. Und sie sprach: Steh auf, ich will dir kundtun, wer der ist, den du erkennen willst …« Zur Erläuterung: In dieser Schrift (1. Jh. v. Chr bis 2. Jh. n. Chr) wird Hiob als Proselyt dargestellt. Hier erlebt er die entscheidende Selbstoffenbarung Gottes. Die Leiden Hiobs sind nach dieser Schrift die Leiden des Neubekehrten zum Judentum.
Aber liegt in der Paulus-Vision nach Apg 9; 22; 26 wirklich Ähnliches vor? Paulus wird hier ja nicht zum Gott Israels bekehrt, wohl aber zu Jesus. Geht man vom Vorliegen derselben Gattung aus, so wird deutlich: Jesus erscheint hier als der Herr (Kyrios), und damit als direkter Repräsentant Gottes. Und verändert gegenüber der Gattung ist auf jeden Fall: Statt des Suchens geht es bei Paulus um das Verfolgen, wobei das griechische Wort diokein freilich die Grundbedeutung des Nachjagens hat. Spielt der Erzähler also mit der zwischen Suchen und Verfolgen schwankenden Bedeutung? Deutet er das Verfolgen des Paulus als Suchen? Hinzuweisen ist für den ganzen Abschnitt auch auf Weisheit (SapSal) 18,1: »Deinen Frommen jedoch strahlte hellstes Licht (griech.: phos). Jene
443 hörten ihre Stimme (griech.: phone), ohne ihre Gestalt zu sehen, und priesen sie glücklich, da ihnen kein Leid geschehen … Denn jene waren es wert, des Lichtes beraubt und in Finsternis verwahrt zu werden …, deine Söhne, durch die das unvergängliche Licht (griech.: phos) des Gesetzes der Welt gegeben werden sollte.« – Nach dem Kontext geht es um die Gabe des Gesetzes an Israel. Die nur die Stimme hörten, ohne die Gestalt zu sehen, sind die »anderen«. Das (visionäre) Licht der Sinai-Erscheinung wird als Licht des Gesetzes weitergegeben. Die Erscheinung wird durch paradosis abgelöst, aber auch diese ist noch als Licht bezeichnet. Vgl. auch ActAndreae et Matthiae 3: »Ein Licht strahlt auf, aus dem Licht geht eine Stimme hervor: Matthias, Geliebter, schau auf! Und sogleich schaute er auf, und wiederum erging eine Stimme, die sagte: Matthias, gewinne Kraft und fürchte dich nicht, denn ich verlasse dich nicht, denn ich werde dich retten von aller Gefahr …«
Wie auch immer: Die Requisiten der Paulus-Vision gehören auf jeden Fall in den weiteren Rahmen der jüdischen und der diese fortsetzenden frühchristlichen Visionsliteratur, und ferner werden einzelne Elemente in der Paulusvision durchaus um- und neuinterpretiert. Schließlich aber gibt es zu keinem Visionstyp, den wir kennen, stärkere Berührungspunkte als zwischen den Paulus-Visionen und den Bekehrungsvisionen. Und wenn Jesus in der Paulus-Vision an der Stelle des sich selbst offenbarenden Gottes steht, dann ist für diese Christen klar, dass sie es bei Jesus mit eben diesem Gott zu tun haben. Elemente aus der allgemeinen Visionstradition, speziell des hellenistischen Judentums und des frühen Christentums: (Bibliografischer Hinweis: In meinem Buch »Die Auferstehung …«, 1976, habe ich die gesamte Tradition der jüdischen und christlichen Visionsliteratur dargestellt, und zwar nach Einzel-Elementen geordnet. Um das Material nicht noch einmal abzudrucken, verweise ich auf die 2. Buchhälfte (II) und die Nummer der betr. Fußnote, die das Belegmaterial enthält.) – Doppelung der Anrede in der Funktion eines unmissverständlichen zweiten Zeugnisses soll sicherstellen, dass gerade dieser Mensch gemeint ist (vgl. Auferstehung II, 31).
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444 Wer bist du, Herr? Klärung der Identität des Erscheinenden, auch auf Reisen durch Himmel und Hades (vgl. Auferstehung II, 47). – Wer bist du …, ich bin … (vgl. Auferstehung II, 51 und 52). – Die Frage »Wer bist du?« gilt gleichzeitig als Entschuldigung für vorangehende Unwissenheit (vgl. Auferstehung II, 385). – Ausgestaltet ist die so genannte Identifikationsphase der Paulusvision vor Damaskus in äth Petrus-Akten, 483: Paulus fragt: »Lord, who art thou, reveal thyself unto me« – Then our Lord said to him: »Saul, Saul, why persecutest thou me, and why shewest thou thyself to be Mine enemy?« … – (Paulus) »Who art thou, O Lord, so that I may believe in thee.« – (Jesus) »Jesus Christ, the Son of the Living God, who is called the Nazarene. He it is, whom thou persecutest.« And straightway Paul believed in our Lord, and turned away from the work he was doing. – Hinfallen auf die Erde bzw. Aufforderung zum Aufstehen bzw. Kräftigung des Visionärs (vgl. Auferstehung II, 299). – Umbenennung des Menschen, an den die Vision adressiert ist (vgl. Auferstehung II, 378.397f). – Lukas praktiziert die Umbenennung nicht in der Vision, vielmehr erst später de facto im Bericht: Bis Apg 13,9 wird Paulus noch »Saul« genannt, erst dort heißt es »Saul, der auch Paulus ist«. – Eine visionäre Umbenennung des Paulus gibt es erst in der arab PetrusApk II, Mingana, 381 (Saul wird in Paulus umbenannt) – vgl. Auferstehung II, 397.403. – Warum-Frage an den Adressaten als Tadel (vgl. Auferstehung II, 384). – Zu »Ich bin es, den du verfolgst« vgl. auch Epistula Apostolorum 10 (21): »Ich bin es, den ihr sucht« (vgl. Auferstehung II, 383).
Zur speziellen Verbindung von »Licht« und »Stimme« Licht und Erleuchtung sind längst Fachtermini der Bekehrung zum Judentum (und dann zum Christentum) geworden. Das Licht der Erleuchtung folgt auf die Zeit der Unkenntnis und Finsternis. So funktioniert das Jesaja-Zitat in Apg 13,47 (Licht für die Völker), und 2 Kor 3,18 – 4,6 bestätigt die gänzliche missionarische Vereinnahmung der Rede vom Licht. – Ein spezieller Ursprung der Rede vom Licht liegt für den Kon-
Die Apostelgeschichte
text der Bekehrung sicher in Ex 3 vor (Gott offenbart sich im brennenden Dornbusch). Dazu: K. Berger, Auferstehung II, 508, und Artapanos zu Ex 3: »Das Wort leuchtete auf«, (21) »Feuer und göttliche Stimme« Denis, 191,1f; zu Ex 3 auch Philo (Vita Mosis I, 66): »Licht, heller als Feuer, Schweigen, zuerst deutlicher als eine Stimme«. Auf Ex 3,2-5.6 fußt auch LAB 28,8f (Flamme, die nicht brennt … und siehe, eine Stimme, die sagte …), ebenso Justin (Dial 127,4): Das Wort ist Feuer geworden, d. h. im Feuer erschienen. Es sei nicht verschwiegen, dass nach der Deutung Justins im brennenden Dornbusch Gottes Erzengel und Logos erscheint; damit liefert Justin mindestens eine Analogie zu Apg 9. Rätselhaft in der Schrift Plutarchs De sera numinis vindicta: Der Visionär Aridaios sieht ein Licht und hört eine Stimme aus dem Licht, er erfährt eine Namensumbenennung (in Thespesios). Dieses Stück steht in der hellenistischen Literatur »auf jeden Fall einzig da« (A. D. Nock, Art. »Bekehrung«, in: RAC II, 111). Die Verbindung von Licht und Stimme gibt es auch bei der Schilderung der Taufe Jesu nach EbionitenEv, Frgm 2 nach Epiphanius, Haer 30,13 (»Eine Stimme ertönte …, da erstrahlte der Ort in hellem Licht«). Da es sich um die Taufe (als Vorbild der Taufe von Christen) handelt, ist eine Herkunft aus der Tradition der Bekehrungsvision plausibel.
Resultat: Das gesamte religionsgeschichtliche Material zu »Licht« und »Stimme«, besonders in Visionsberichten weist auf die Verwendung zur Schilderung von Bekehrungen. Ein Ursprung in Ex 3,2-6 ist gut möglich, denn dort handelt es sich um die grundlegende Selbstoffenbarung Gottes. Wenn nach Apg 9 etc. nun Jesus Christus deren »Inhalt«, also der Erscheinende, ist, bedeutet das: In ihm wird Gott erfahren.
Blindheit des Paulus (Apg 8 f.17) Diskutabel ist außer Philo (Opif Mundi 71: »… und glaubt, bis zum Großkönig selbst vorzudringen. Wenn er nun begierig ist zu schauen, ergießen sich über ihn stromweise reine und ungetrübte Strahlen vollen Lichtes, sodass durch ihren Glanz das geistige Auge geblendet wird«) vor allem die Isaak-Tradition, nach der Isaak bei
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Kapitel 9
seinem Gebundensein auf dem Altar den Thron Gottes schaute und deswegen erblindete. – Vgl. Gen 27,1 (Tg Jerushalmi 1): »… als ihn sein Vater gebunden hatte, schaute er den Thron der Herrlichkeit, und von da an begannen seine Augen trübe zu werden« (Auslegung von Gen 27,1 über Isaaks Augen!). – Tg Jerushalmi zu Ex 12,42: »die Himmel kamen herab und senkten sich, und Isaak sah ihre Vollkommenheit. Und es verdunkelten sich seine Augen wegen ihrer Höhe.« – Tg Jerushalmi II zu Lev 22,27: »Himmel kamen herab und senkten sich, und es schaute Isaak ihre Vollkommenheiten, und es erblindeten seine Augen.« – TestIsaak 4,10f: »Die Großen, die sich bei ihm versammelten, befragten ihn: Was ist das für eine Weisheit, die bei dir verblieb seit jener Zeit, wo du das Angesicht verlorst? Wie ist es denn, dass du jetzt siehst? … Gott heilte mich, als er sah, dass ich der Todespforte näher käme.« – Wie Paulus, so wird auch Isaak von seiner Blindheit geheilt. – Vgl. auch Pirqe R. Eliezer 32 73b (Isaak blind, weil er bei der Opferung durch Abraham die Schecinah schaute); Dt r 11 § 3. »Vorausgesetzt wird grundsätzlich, dass derjenige, der die schekinah schaut, d. h. Gott selbst, entweder stirbt oder zum mindesten blind wird. Hier ist auch die enge Verbindung von Herrlichkeit und Licht zu Hause, und zwar von einem Licht, das nicht schaubar ist« (O. Michel, Der Brief an die Hebräer, 1971). – In Tg Jerushalmi 1 und bei Philo ist ausdrücklich von einer Thronvision die Rede (Entsprechung von Bekehrungs- und Thronvision).
Apg 9,8b-25: Paulus und Ananias – Erste Missionstätigkeit Wie in Apg 10f (Cornelius und Petrus), so gibt es auch hier zwei einander bestätigende Visionen (die des Paulus: Apg 9,6.12; die des Ananias: Apg 9,10-16). Die Visionen werden daher wie einander bestätigende Zeugnisse aufgefasst, die nach der Zeugenregel (Dtn 19,15) »funktionieren«. Wie schon früher in Apg, so zeigt sich auch hier ein stark am Heiligen Geist und an Visionen orientiertes Christentum. Auch die Ananias-Vision ist mit den Elementen klassischer jüdischer und christlicher Visionen gebaut (zum Anruf mit Namen vgl.: K. Berger, Auferstehung II, 31; zu »Hier
445 bin ich« vgl. ebd., 19; zum Einwand in Apg 9,13f vgl. ebd., 168). In Damaskus gibt es »vorpaulinische« Judenchristen ohne Anbindung an Jerusalem (9,19: Jünger). Ich habe versucht (vgl. K. Berger, Theologiegeschichte, 2. Aufl., § 141), aus den Angaben in Apg 9 und den Gemeinsamkeiten von Paulus und Johannes die Umrisse frühester damaszenischer christlicher Theologie zu rekonstruieren. Wie Christen nach Damaskus gelangt sind, wird nicht gesagt; sie sind noch unter den Synagogenbesuchern zu finden (ansonsten in ihren Häusern). Der Judenchrist Ananias kann wie die Zwölf in Jerusalem den Heiligen Geist vermitteln. Lukas sagt nicht, dass Ananias von Jerusalem abhängig wäre. Er ist eine Art Prophet, der visionär begabt ist, tauft und den Heiligen Geist verleiht. Die auf die Vision folgende Blindheit des Paulus rührt daher, dass er in der Vision ein Licht gesehen hat (9,3), und ihm ergeht es wie einem, der in die Sonne geblickt hat und dann zuerst nichts sieht. Ähnlich kennt das Judentum eine visionär begründete Blindheit Isaaks (vgl. Auferstehung II, 388). Nach 9,17 empfängt Paulus von Ananias den Heiligen Geist, nach 9,18 die Taufe. (Verbindung von Taufe und Geistempfang wie in Joh 3,5; das »Licht« ist zentral in der johanneischen und paulinischen Theologie, in Letzterer vor allem, wo es um Mission geht: 2 Kor 3,18 – 4,4). Dass Paulus nichts isst, könnte ein Vorläufer des späteren Fastens vor der Taufe sein (im AT wird nach Visionen oft etwas gegessen, und zwar wohl als Zeichen der Rückkehr ins normale Leben, Geister essen nicht). Auch Paulus betreibt hier offenbar Mission unter Juden, noch nicht unter Heiden. – Nach Apg 9,2 tragen die damaszenischen Christen die Selbstbezeichnung »der Weg«. Aus dem JohEv ist die christologische Brisanz dieses Wortes bekannt (Joh 14,4-6). Dass Paulus auf dem »Weg« nach Damaskus bekehrt wird (9,17.27), könnte eine Reminiszenz daran sein. Resultat: Apg 9 belegt eine erste Missionstätigkeit des Apostels Paulus unter Juden. Hinweise auf Antiochien fehlen noch genauso wie solche auf die Jerusalemer Gemeinde.
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Apg 10-11: Anfänge der Heidenmission In diesen beiden Kapiteln wird die wohl entscheidendste Wende in der Geschichte des Urchristentums dargestellt und mit den Mitteln frühchristlicher Geschichtsschreibung theologisch plausibel gemacht und legitimiert. Denn es geht schlicht darum, dass Petrus, der nach dem Apostelkonzil für die »Beschneidung« zuständig ist, hier recht aufwändig zum Missionar der NichtUnterscheidung berufen wird. Nicht-Unterscheidung heißt: Petrus soll und darf nach dieser speziellen Berufung keinen Unterschied mehr zwischen reinen und unreinen Speisen vollziehen. Diese Unterscheidung betrifft das Fleisch von reinen und unreinen Tieren. Um das Essen von Blut geht es also nicht; das bleibt verboten. – Unmittelbar zuvor hatte der Leser der Apg eine weitere schwierige Passage in der Geschichte des Urchristentums überstanden: die Berufung des Apostels Paulus nach Kapitel 9. Sowohl die Berufung des Paulus als auch die Aufhebung von rein und unrein für Petrus wird mit ähnlichen Mitteln »wasserdicht« gemacht, nämlich mit der jeweils ausdrücklichen und fast wörtlichen Wiederholung des Berichts. Über Paulus wird dreifach berichtet, in den Kapiteln 9; 22; 26, über Kornelius und Petrus je doppelt in den Kapiteln 10-11. Dreifache Berichterstattung, d. h. zweifache Wiederholung, ist ein bekannter Schutz gegen satanisches Wirken; wir kennen das von dem dreifachen »Liebst du mich?« in Joh 21; der Satansverdacht lastete ja seit Mk 8,33 auf der Figur des Petrus. Und Paulus hatte die Gemeinde verfolgt, da war es gut und recht, seine Bekehrung zu Jesus und die Berufung zum Apostel dreifach zu erzählen. Der praktische Wert der Offenbarung an Petrus besteht in der Ermöglichung gemeinsamen Essens, außer bei Blutgenuss. Der Form nach handelt es sich bei der PetrusVision nach Apg 10f um ein visionäres Zeichengeschehen. Da außer dem »Iss« und dem programmatischen Satz »Was Gott für rein erklärt hat, darfst du nicht für unrein erklären!« nichts weiter erklärt wird, bleibt das Ganze rätselhaft, weswegen es dann auch ausdrücklich heißt, dass Petrus darüber rätselte, was die Vision bedeuten sollte (10,17). Denn üblicherweise sind im biblischen Traditionsraum derartige zeichenhafte
Die Apostelgeschichte
Offenbarungen auf einen erklärenden Kommentar angewiesen (vgl. K. Berger, Formen und Gattungen, 2005, 340-342). Auch das, was der Heilige Geist nach 10,19 sagt, erklärt die Vision nicht. Anders ist es dann mit Petri eigenen Worten in 10,28.29 und dem pfingstähnlichen Geschehen in 10,44-48. Das Kommen des Heiligen Geistes legitimiert hier wie auch sonst in der paulinischen Mission. Die Erläuterung der rätselhaften Vision gibt daher die Geschichte selbst, in der der Heilige Geist die Öffnung der Kirche zugleich bewirkt und darstellt, indem er nach 10,44-48 ohne Vorbedingung zu den Heiden kommt.
Apg 10,1-7: Die Vision des Hauptmanns Kornelius Auch diese Vision ist gestaltet mit Hilfe der bereits zu 9,3-9 erwähnten allgemeinen Requisiten der jüdisch-christlichen Visionstraditionen. Dazu hier: »Was ist?« (vgl. Auferstehung II, 19: Bereitschaft zur Erfüllung eines Wunsches oder Beginn der Belehrung, potentiell auf Bitte oder Imperativ bezogen; keine Beziehung zu »Wer bist du?«); der Einwand 10,14 (vgl. Auferstehung II, 71, 168) steht bei gewichtigen, neuartigen Aufträgen und führt zur Wiederholung des Imperativs.
Die Evangelien und die Apg zeigen eine deutliche Vorliebe für römische (heidnische) Hauptmänner (in der Fernheilung Lk 7, par Mt 8, par Joh 4; unter dem Kreuz nach Mk 15). Der Hauptmann Kornelius wird nach dem »Kanon der zwei Tugenden« positiv gezeichnet: Er war fromm, bzw. gottesfürchtig und gab Almosen »dem Volk«, d. h. Israel. Damit entsprach er den Tugenden gegenüber Gott (Frömmigkeit) und den Menschen (Gerechtigkeit bzw. Almosen). Nach 10,2c hielt er die jüdischen Gebetszeiten ein (»betete stets zu Gott«). Damit ist er ein »Gottesfürchtiger« (vgl. dazu B. Wander: Gottesfürchtige und Sympathisanten. Studien zum heidnischen Umfeld von Diasporasynagogen, 1998, 186f), also ein dem jüdischen Volk hochwillkommener Sympathisant. Für Lukas wird er der erste bekehrte Heide, und in diesem Bericht entspricht Lukas durchaus der Praxis, wie sie sich im Idealfall bot. Die »neunte Stunde«, in der Kornelius die Vision erfährt, ist jüdische Gebetszeit
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(3., 6. und 9. Stunde sowie morgens und abends). Es ist daher vorauszusetzen, dass Kornelius betet und dabei die Vision erfährt; ähnlich Petrus dann in 10,9. Zur Mitteilung in 10,4, dass die Gebete »angekommen« sind vgl. entsprechende Auskünfte von Engeln in Jub 41,24-25: »Und wir sagten ihm im Traum, dass ihm vergeben sei. Denn er hatte sehr gefleht und geklagt … Und es wurde ihm Vergebung«; JosAs 15,2-5: »Siehe, ich habe gehört all die Worte deines Bekenntnisses und deines Gebets. Siehe, ich habe gesehen auch die Selbsterniedrigung und Trübsal der sieben Tage deines Mangels. Siehe, aus deinen Tränen und dieser Asche Kot ist viel geworden vor deinem Angesicht … Siehe, es ward geschrieben dein Name in dem Buch der Lebenden im Himmel …«; Mart Matthaei 28: »Der Herr hat deine Umkehr angenommen«; verwandt: Dan 4,34 LXX. Der Visionär ist insofern besonders begnadet, weil er erfährt, was den Menschen sonst verborgen zu bleiben pflegt. Der Visionsbericht verfolgt nur das Ziel, Kornelius und Petrus zusammenzuführen.
Apg 10,9-20: Vision des Petrus Wie Kornelius um die 6. Stunde (10,3), so betet Petrus einen Tag später (!) zeitgleich um die 6. Stunde (10,9). Wie auch bei der Bekehrung des Paulus (Kap. 9) arbeitet der Himmel mit zwei aufeinander bezogenen Visionen. Petrus schaut in dem Tuch alle Vierfüßler und Kriechtiere der Erde und alle Vögel des Himmels, und er wird aufgefordert: »Schlachte und iss.« Der gesamte Vorgang ist auch für den, der aus der Visionsliteratur einiges gewöhnt ist, ohne Vergleich. Tiere gehören zwar zum apokalyptischen Arsenal der Visionen, aber dort haben sie symbolische Bedeutung für Menschen und Völker. Hier dagegen geht es um wirklich alle Tiere. Das Tuch ist eine Art Arche Noah. Nicht zufällig sind hier freilich Bezüge zur Schöpfungsgeschichte: Der Mensch kann und soll über alle Tiere herrschen (Gen 1,28b: »Herrscht über des Meeres Fische, die Vögel des Himmels und über alles Getier, das sich auf Erden regt«), und in 10,15 heißt es: »Was Gott rein erschaffen hat, sollst du nicht mit Unreinheit behaften.«
447 Dieser Satz weist in eine nicht ganz unbekannte Tradition; in 1 Tim 4,4 heißt es: »Denn alles, was Gott geschaffen hat, ist auch gut, und auf nichts, für das man danken kann, muss man verzichten.« – Ähnlich ist auch die Logik in Mk 10,4: Was Gott verbunden hat (sc. in der Schöpfungsgeschichte, wie z. B. nach Gen 2,24), soll der Mensch nicht trennen. In allen diesen Fällen ist Gottes Schöpfungshandeln der Maßstab. Es bejaht alle Geschöpfe (weil Gott sah, dass es gut war); es kennt weder Trennung in Rein und Unrein noch Trennung von Mann und Frau (durch Scheidung), noch Unterscheidung in »gefährlich« oder »ungefährlich«. Gottes Schöpfung liegt daher vor der rituellen Unterscheidung. Auf diese Ordnung der Schöpfung geht auch Apg 10,15 zurück. Was bedeutet dieser Ansatz theologiegeschichtlich innerhalb des Judentums? Z. B. schon im Jubiläenbuch (2. Jh. v. Chr.) kann man die Tendenz verfolgen, gesetzliche Observanzen in der Schöpfungsgeschichte zu begründen. Zweifellos hat dabei das stoische Naturrecht eingewirkt. Weil der jüdische Gott – und nur er – zugleich Gesetzgeber (Sinai) und Schöpfer (Gen 1f) ist, kann man seinen Willen auch schon an der Schöpfung ablesen. Je stärker in der Umwelt der Bibel das positive Recht durch das Naturrecht relativiert wird, umso stärker zeigt sich diese Tendenz auch innerhalb des Judentums. Der Maßstab ist daher immer mehr die Schöpfungsordnung selbst; gut ablesbar ist diese theologische Ausrichtung des Judentums an Philo v. Alexandrien (De Opificio Mundi). Das frühe Christentum schließt sich hier Argumenten an, die es längst gibt, und es verstärkt sie, vor allem am Beginn der Heidenmission. Die Relativierung jüdischer Einzelgesetze angesichts der Schöpfungsordnung wird schon von Jesus in Mk 10,1-9 vollständig vollzogen. Das frühe Heidenchristentum setzt hier gedanklich nur etwas fort, was in der zeitgenössischen Diskussion um Naturrecht und positives Recht längst zugunsten des Naturrechts entschieden war. Oder anders: Die jüdische Verbindung von Schöpfer und Naturrecht war unschlagbar und richtete sich gegen partikulare »Erleichterungen« der Torah (so jedenfalls sieht Jesus das in Mk 10,5). Zwei jüdische Texte sind hier zu diskutieren: 1. Sanh 59b: »Nichts Unreines kommt vom Him-
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448 mel herab.« Kontext: Adam aß im Paradies Fleisch, das vom Himmel kam. D. h.: Die Trennung in Rein und Unrein ist nur bei irdischem Fleisch notwendig und geboten. Sie haftet der ursprünglichen Schöpfung nicht an; und wenn man der Meinung ist, die erneuerte Schöpfung steige vom Himmel herab (vgl. Offb 21,2), dann wird es eine Schöpfung ohne Unreines sein. Während Sanh 59b von der Vergangenheit spricht, redet Midr Ps 146 nur von der Zukunft. – 2. Midrasch Ps 146,4: »Alle Tiere, die in dieser Welt für unrein erklärt sind, wird Gott in der Zukunft für rein erklären.« D. h.: Die erneuerte Schöpfung wird geheilt werden, weil die in der alten Schöpfung notwendige Trennung in Rein und Unrein dann nicht mehr nötig ist. Die Schöpfung kehrt in den Zustand ursprünglicher Einheit zurück. – Kontext im Midrasch: »Gott gibt Brot den Hungrigen.« Bis zur Zeit der Noachiden hat er – so wie jetzt noch das grüne Kraut für alle da ist – auch die wilden und zahmen Tiere allen gegeben. Aber warum dann die Verbote? »Um zu sehen, wer seine Worte annimmt und wer sie nicht annimmt. Einst wird er alles, was er verboten, gestatten« (Midrasch Tehillim, zu Ps 146,4).
Vier ist in der gesamten Zahlensymbolik des Vorderen Orients die Zahl der sichtbaren Welt. Daher deuten die vier Zipfel des Tuchs (Apg 10,11) in der Tat auf den »kosmischen Charakter« des Geschehens. Im Zusammenhang von Apg 10 geht es nicht um reine und unreine Menschen (gegen Conzelmann), sondern um die Speisen, die Menschen dann rein oder unrein machen. Der Sinn der Vision ist: »Iss, ohne dich um Rein oder Unrein zu kümmern!« (mit Conzelmann). Damit aber geht es um die Frage, wieweit christliche Mission überhaupt unter Menschen möglich ist, die – wie die Heiden es tun – zwischen Rein und Unrein nicht unterscheiden. Die Frage wird exemplarisch an der Frage des Essens von reinen und unreinen Tieren geklärt. Zu Apg 10,15; 11,9: »Was Gott für rein erklärt hat …«: Vgl. die ähnliche Struktur in Mk 10,9 (»Was Gott verbunden hat, soll der Mensch nicht trennen«.) In beiden Fällen bilden Gott und Mensch die Opposition, und zwei konträre Handlungen werden so gegenübergestellt, dass die eine (vom Menschen geplante) hinfort aus-
Die Apostelgeschichte
geschlossen ist. In beiden Fällen betrifft das elementare Regelungen des täglichen Lebens. In beiden Fällen bildet der klare Satz mit seinen Oppositionen das entscheidende Argument. Denn ein Kampf Mensch gegen Gott ist nicht ratsam. In beiden Fällen werden jüdische Regeln aufgehoben. In einmaliger Schärfe werden sie ohne weiteres für menschliche Erfindungen erklärt (vgl. Mk 7,7).
Apg 10,36-43: Ein fünftes Evangelium im NT In Apg 10,36-43 liegt uns sehr wahrscheinlich der Abriss eines sonst nicht bekannten Evangeliums vor. Es sind besonders die Anfänge, die in fünffacher Anzahl sehr ähnlich belegt sind (bei Mk, Lk, Joh; EbionitenEv und eben in Apg 10). Typisch für diese Anfänge sind: Der Täufer, die Geistbegabung Jesu, »Galiläa« und die Berufung von Jüngern als Offenbarungszeugen. Das Evangelium, auf das Apg 10 Bezug nimmt, müsste dem vierten Evangelium verwandt gewesen sein. Denn wie im JohEv wird Jesus vom Geist erfüllt, aber nicht von Johannes dem Täufer getauft. Daher übersetzen Berger/Nord: »nach der Verkündigung der Taufe durch Johannes«. Im Unterschied zu anderen Evangelien-Anfängen wird – wie bei Joh – Kafarnaum nicht genannt; ein Versuchungsbericht fehlt wie im JohEv. Wie Joh 1,1-14 spricht auch Apg 10,36 vom »Wort« (Logos), hier freilich als »Wort des Friedens« aufgefasst, das Gott zu Israel »gesandt« hat (wieder johanneische Terminologie). »Gott war mit ihm« in V. 38 bezeichnet wie in Joh 3,2b Jesus als Wundertäter. Wie in 1 Joh 2,27 ist in Apg 10 von der Geistsalbung die Rede. Ziel der Sendung ist »Frieden« wie in Joh 14,27. Der Teufel, nicht die Dämonen, ist der Gegner (vgl. Joh 8 und 12,31 mit Apg 10,38). – Das Ganze wird zudem als Zeugenbericht aufgefasst (»Wir« in Apg 10,39: »Wir sind Zeugen von allem …«; vgl. Joh 21,24; 19,35). Beziehung zu anderen Evangelien-Anfängen: Das »dieser ist« in Apg 10,36b entspricht Mt 3,17, die schriftgelehrte Einordnung Jesu (mit Jes 52) ist analog zu Mk 1,11; darauf wird jeweils die Vollmacht dargestellt. – Resultat: Apg 10,3643 spiegelt im Entwurf ein Evangelium johanneischen Typs, ohne doch von Joh abhängig zu sein.
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Kapitel 9
In der Einleitung wird in V. 34 der Satz, dass Gott kein Ansehen der Person kennt, wie in Röm 2,11 zur Begründung der Heidenmission verwendet. Dass »Gottesfurcht« und »Gerechtigkeit« ausreichen, um vor Gott angenehm zu machen, ist dem übrigen Neuen Testament fremd. Der Glaube fehlt. Typische Elemente der Predigt für die Heiden sind u. a.: der hellenistische »Kanon der zwei Tugenden« (Gottesfurcht und Gerechtigkeit) am Beginn und der Hinweis auf Jesus als den kommenden Richter am Ende. Eine Gerichtserwartung herrscht zu dieser Zeit auch im außerbiblischen Bereich (Stoa). Der kurze Bericht V. 36-38 legt das Schwergewicht auf die Ausstattung Jesu mit Charisma und Wunderkraft, von Enderwartung in der Predigt Jesu ist keine Rede. Wichtig ist dem Verfasser auch die Zeit nach Ostern (V. 40-42). Dass die Zeugen »vorher bestimmt« seien, sagt Lukas sonst nicht. Das gemeinsame Essen und Trinken mit dem Auferstandenen wird in Apg 1 nur angedeutet. Hier hat es die Rolle, die Wahrheit der Auferstehung zu erweisen, denn ein (Toten-)Geist kann nicht essen oder trinken. Die Vergebung der Sünden nebst Hinweis auf die Schrift erinnert an Lk 24,46 f. Das Faszinierende hier wäre: Innerhalb des Neuen Testamentes selbst (nicht erst außerhalb, wo wir die Reste von 68 weiteren Evangelienschriften besitzen) gibt es neben den vier Evangelien in Langform einen Kurztext, der ein fünftes, eigenes Zeugnis ist und eigene Akzente setzt. So ist in 10,34-38a Gott das Subjekt. Er sendet das Wort, er verkündet den Frieden, er ist der Herr aller. Er beginnt sein Handeln nach der Taufe, die Johannes verkündet, er salbte Jesus von Nazaret mit Heiligem Geist und mit Kraft. Davon, dass Johannes der Täufer Jesus getauft hätte, steht hier nichts (übrigens auch nicht im JohEv). Dafür wird aber umso mehr betont, dass Gott (Vater) Jesus gesalbt hat – ein Ausdruck, den kein anderes Evangelium bietet, der aber Jesu Titel »Gesalbter« (Christos) gut erklären kann. Dass auf Jesus der Heilige Geist herabkam, stimmt mit allen Evangelien überein. »Kraft« findet sich aber nur hier. – Dass Jesus von Johannes nicht getauft wird, kann man verschieden erklären. Man hat vorgeschlagen, Späteren sei die Taufe durch Johannes eben doch peinlich gewesen, was in Mt 3 anklingen könnte, und deswegen
449 hätte man den Bericht darüber fallen lassen. Ich halte es nicht für wahrscheinlich, dass man Fakten so unterdrückt hat. Eine andere Möglichkeit wäre doch ganz schlicht die Annahme, dass hier unterschiedliche Berichte vorliegen, die nicht harmonisiert wurden, was auf deren Glaubwürdigkeit schließen lässt. Dann aber sollte man sich auf das konzentrieren, was allen Berichten gemeinsam ist und worauf man nicht verzichten konnte: dass Jesus zu Beginn seines öffentlichen Auftretens für die Umstehenden wahrnehmbar den Heiligen Geist empfangen hat. – Die naheliegende Gegenfrage, ob Jesus nicht schon von der Empfängnis im Mutterleib an mit Heiligem Geist erfüllt gewesen sei, also einen zusätzlichen Geistempfang gar nicht nötig hatte, erübrigt sich. Denn in der Bibel des Neuen Testaments geht es nie um die Frage, was Gott oder Jesus nötig hatte. Stattdessen steht die Überfülle im Vordergrund. Auch die Christen, die den Heiligen Geist seit der Taufe schon »haben«, sollen und können immer darum beten. Denn davon kann der Mensch gar nicht genug bekommen. Apg 10 lenkt daher unseren Blick auf die Bedeutung des Geistempfangs Jesu. Dieser ist zweifellos vor allem für die Adressaten der Evangelien ein wichtiges Zeichen der Legitimation. Dieses Evangelium hat einen gewichtigen zweiteiligen Prolog (V. 34-36). Der erste Teil des Prologs spricht von Gott, der nicht auf die Herkunft der Menschen blickt, sondern nur ein einziges Kriterium kennt, das Tun der Gerechtigkeit. Vielleicht ist dieses ein umgewandeltes Stück Täuferpredigt. Denn in den bekannten Evangelien, besonders bei Mt und Lk, weist der Täufer auf Gottes kommendes Gericht hin. Er entwertet die Abstammung von Abraham ganz radikal, und insofern kennt Gott kein Ansehen der Person (Mt 3,9 und Lk 3,8). Wo der Täufer von den Früchten der Umkehr spricht (Lk 3,8 und Mt 3,8), nennt dieser Prolog das »Tun der Gerechtigkeit«, und das meint: soziales, solidarisches Handeln. Der Ausdruck »in jedem Volk« spiegelt nicht zuletzt die Theologie des lukanischen Doppelwerkes. Dass in allen Völkern allein die Gerechtigkeit zählt, und zwar als barmherzige Zuwendung zum Nächsten, meint so auch das eindrucksvolle Schlusskapitel der Redewirksamkeit Jesu in Mt 25,31-46. – Der zweite Teil des Prologs
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450 besagt, dass Gott sein Wort gesandt hat. Wer denkt da nicht an die Logos-Christologie des johanneischen Prologs und an die ebenso im JohEv geläufige Rede von der Sendung Jesu durch Gott? Hier sind überdies zwei Dinge bedeutsam: Die Sendung Jesu (gemeint ist offensichtlich die Sendung vor Ostern) wendet sich an Israel (während im ersten Teil des Prologs von »jedem Volk« die Rede war), und sein Inhalt ist »Frieden«/Heil«, ähnlich grundsätzlich in Lk 1,79: »unsere Schritte zu lenken auf den Weg des Friedens« oder Lk 3,6: und alle Menschen werden das Heil Gottes sehen«. – Auf den Prolog folgt die titulare Überschrift über das ganze Wirken Jesu: »Dieser ist der Herr aller.« Ähnlich wird mit einer »Dieser ist …«-Einleitung in den drei ersten Evangelien Jesus als der Sohn Gottes proklamiert – Mk tut dies erst bei der Verklärung, Mt schon bei der Taufe. Dass Jesus von vornherein als der Herr aller (Menschen) dargestellt wird, ist hier singulär, es sieht fast aus wie eine Umsetzung von Phil 2,11 (»… dass jede Zunge bekenne: Jesus ist der Herr«). Zur Erinnerung: Die Überschrift des MkEv heißt: »Evangelium Jesu Christi«. Im dann Folgenden wird Jesu Wirken auf zwei Bereiche beschränkt: der Anfang in Galiläa, dann aber ganz Judäa. Der Beginn für Jesu Auftreten wird »nach der Verkündigung (!) der Johannestaufe« angesetzt. Dass Jesus von Johannes getauft wurde, wird hier gerade nicht gesagt (auch nicht im JohEv!). Stattdessen beginnt der Bericht über Jesus so: »Gott hat Jesus von Nazaret mit Heiligem Geist und mit Kraft gesalbt.« Diese Formulierung ist auf jeden Fall erstaunlich, denn von einer Salbung Jesu mit Heiligem Geist ist in den bekannten Evangelien nicht die Rede. Diese sagen, dass der Heilige Geist herabkommt auf Jesus (und zwar wie eine Taube, die nach der Bewegung ruht) oder auf ihn »fiel« (Justin). Wer den Vorgang, dass der Heilige Geist über Jesus kommt, Salbung nennt, meint damit etwas ganz Bestimmtes: den offiziellen Akt der Einsetzung. Denn gesalbt werden Könige oder Propheten. Im Hintergrund steht mit Sicherheit Jes 61,1 f. Der kurze Abschnitt Jes 61,1f ist neben Ps 2 und 110 der wohl wichtigste alttestamentliche Text des Urchristentums: »Der Geist des Herrn liegt auf mir. Deswegen hat er mich gesalbt. Er hat mich gesandt, Armen das Evangelium zu verkünden, zu heilen …, Vergebung zu verkünden
Die Apostelgeschichte
und den Blinden das Sehen zu geben …« Am Anfang des LkEv liest Jesus in der Synagoge von Nazaret diesen Text vor, legt ihn aus und bezieht ihn auf sich (Lk 4,17-19). Aber gerade auch dort, wo der Jesaja-Text nicht ausdrücklich zitiert wird, hat jedes Wort für sich und haben insbesondere die Wörter in Kombination (als »semantische Felder«) Geschichte gemacht: Dazu gehört die Verbindung von Evangelium und Sendung (Apostelbegriff!), die grundlegende Rolle des Heiligen Geistes für Sendung und Verkündigung, die Armen als Adressaten des Evangeliums besonders in der Theologie des Lukas, die enge Verbindung von Verkündigung und Wundertaten, die Rolle der Sündenvergebung neben beidem. – Man kann sagen: Hier liegt ein starkes Bindeglied zwischen den vier Evangelien und Paulus vor. – Auch in den Texten aus den Höhlen von Qumran wird Jes 61 zitiert, besonders in dem Melchisedek-Text aus Höhle XI, Kolumne 2: »Und der Gesandte (Bote), er ist der Gesalbte des Geistes, über den Daniel gesagt hat … Und er verkündigt die frohe Botschaft, um Trauernde zu trösten …« Aus diesem Text und speziell aus dem Ausdruck »Gesalbter des Geistes« ersehen wir: Der Gesalbte kann, wie auch sonst im Judentum, sehr wohl eine prophetische Gestalt sein. Es ist daher keineswegs notwendig, im Sinn einer Salbung von Königen ausschließlich an eine politisch-militärische Funktion zu denken. Im Gegenteil: Im Zusammenhang des zitierten Textes aus Höhle XI ist der Gesalbte eine prophetische Figur mit einer exklusiv an das Wort gebundenen Botschaft. Dass Jesus zusätzlich aus dem Geschlecht Davids kommt, wissen Paulus, Lukas und Matthäus, aber es tut seiner prophetischen Salbung keinen Abbruch. Jesus ist der Sohn Davids, aber inhaltlich definiert sich seine Messianität als Sendung durch Heiligen Geist zur Verkündigung des Evangeliums mit Macht. Er vertreibt nicht die Römer, und das muss ein Messias nach jüdischem Verständnis zu damaliger Zeit auch gar nicht unbedingt tun. Schon Jes 61,1f selbst meint – an wen auch immer Jesaja dabei gedacht hatte (sich selbst, einen Propheten, das Volk Gottes, einen Rest daraus) – jedenfalls nicht einen politischen Gewalthaber, sondern eine prophetische Figur im weitesten Sinne des Wortes. In jedem Falle bedeuteten die Ankündigung oder gar Identifizierung einer solchen Figur ein starkes
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Kapitel 9
Hoffnungssignal. Das geht auch aus 11 Q Melch hervor, wo im Kontext Jes 52,7 zitiert wird: »Wie lieblich sind die Füße dessen, der den Frieden verkündet, des Boten, der das Heil verkündet …« Im Neuen Testament ist die Verbindung von Geist, Sendung, Evangelium und Vollmacht für Jesus, den Sohn Gottes, genauso wichtig wie in der Begründung des Apostolats des Paulus. Diese erfolgt – bildlich gesprochen – eine Stufe »tiefer«, nicht mehr für den Gottessohn, aber für dessen Apostel. Gerade weil der Apostel ähnlich legitimiert ist wie Jesus – und in totaler Abhängigkeit von ihm –, deshalb kann der Apostel auch glaubhaft Jesus Christus darstellen. Wegen der Grundlegung in Jes 61 konnten Judenchristen beides verstehen, die Aussagen über Jesus, den Gottessohn aus dem Heiligen Geist, und die über den Apostel. In der urchristlichen Theologie kommt dieses Bild aus Jes 61,1 (»Der Geist des Herrn ist auf mir, denn er hat mich gesalbt …«; vgl. Lk 4,18) häufig vor; dieser Text wird deshalb so häufig verwendet, da er die Elemente Geist, Salbung, Sendung und Evangelium umfasst – also eine auf Jesaja gegründete Christologie. In dieser Hinsicht ist daher unser Abriss den Anfängen der Evangelien nach Joh und besonders nach Lk 4 verwandt. Daher gilt: Jesus hat den Heiligen Geist als Zeichen der Gottessohnschaft und Sendung zum Evangelium empfangen. Er wurde sozusagen damit »gesalbt«. Die Gemeinsamkeit aller Christen, die nach älterem Ritus getauft werden, mit Jesus Christus besteht darin, dass sie wie er mit dem Heiligen Geist gesalbt werden, was die Salbung bei der Taufe unübersehbar sicherstellt. Es gibt gerade in den alten Liturgien eindrückliche Gebete, die den Zusammenhang zwischen der »Geisttaufe Jesu« und der Taufe der Christen zum Ausdruck bringen: »… damit du allen, die mit dir gesalbt werden, die Annahme an Kindes statt durch den Heiligen Geist vermittelst« (Chrisamweihe). Immer wieder ist in den Gebeten zur Weihe der Öle auch vom Öl der Freude die Rede. Denn Öl ist ein Zeichen von Festlichkeit und bescheidenem Luxus. So wird ein Zusammenhang erkennbar, der verschiedene Ereignisse auf eine Linie bringt: Mariä Verkündigung mit der Ankündigung der Entstehung Jesu durch den Heiligen Geist, die Herabkunft des Heiligen Geistes auf Jesus zu Be-
ginn seiner Wirksamkeit, Pfingsten, als der Heilige Geist auf Maria und alle Jünger kommt, und schließlich die Berufung und Sendung des heiligen Paulus. Der Heilige Geist ist dabei die Weise, in der Gott in der Welt und außerhalb seiner selbst wirksam wird. So spannt sich ein weiter Bogen von Mariä Verkündigung bis Pfingsten. Nachdem Johannes die Taufe verkündet hatte, hat Gott Jesus mit Heiligem Geist und mit Kraft gesalbt. Wohltäter sein und heilen, nicht aber die Verkündigung oder das Lehren (!) sind nach unserem Text Merkmale des »historischen« Jesus. Der Heilige Geist, mit dem Jesus getauft wird, ist der entscheidende Unterschied gegenüber Johannes dem Täufer. Wenn Jesus nach unserem Text damit »gesalbt« wird, dann bedeutet das eben nicht seine Entstehung als Gottes Sohn, sondern (zusätzlich) seine öffentliche Installation. In dem Ausdruck »Salbung mit Heiligem Geist« wird das Bild vorausgesetzt, der Heilige Geist sei flüssiges Salböl. Der Liturgiegeschichte, die wie häufig so auch hier eine Umsetzung der biblischen Bilder in einem sichtbaren Ritus vollzieht, ist das Salböl als Chrisam (von chrisma, »Salbung«) geläufig. Jesu Auftreten ist von Anfang an trinitarisch bestimmt. Der Heilige Geist wird auch später immer als die einheitsstiftende Person in der Dreifaltigkeit angesehen. Der Heilige Geist salbt Jesus zum Messias – wie gerade die Qumrantexte von der Erwartung eines Gesalbten des (Heiligen) Geistes sprechen. Von Gottes Geist ist aber auch schon in Jes 42,1 die Rede: »Ich legte auf ihn meinen Geist«, sagt Gott über den Sklaven Gottes.
Apg 10,44-48: Ein zweites Pfingsten Das, was sich auf die Worte des Petrus hin ereignet, hat man mit gewissem Recht ein »erneutes Pfingsten« genannt, so wie es insgesamt in Apg (mit 2,38-41 und 8,14-20) dann ein dreifaches neues Pfingsten gibt. Auch in 10,44-48; 11,1 gibt es dazu das gemeinsame semantische Feld: Petrus (hier 10,44.45.47), Geist (hier 10,44f), der Geist ist eine Gabe (hier 10,45), er wird empfangen (hier 10,47), er wird ausgegossen (hier 10,45); die Menschen nehmen dabei das Wort (Gottes) an (hier 11,1), die Menschen lassen sich taufen (hier 10,47f).
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452 Dieses semantische Feld findet sich nur in Apg. Sein dreifaches Vorkommen entspricht der Dreigliederung der Mission in Juden, Samariter und Heiden nach Apg 1,8. Nur in diesen Texten wird der Geist als »Gabe« bezeichnet. Gleichzeitig ist damit »Gabe« (griech.: dorea) bei Lukas auf den Heiligen Geist festgelegt. Die stereotype Verbindung mit der Taufe bringt zum Ausdruck, dass die Taufe sicher mit Geistbegabung verbunden ist – jedenfalls in ihrer vollständigen »lukanischen« Form. Das wird wichtig in 11,16 f. Auch das Annehmen des Wortes ist nicht denkbar ohne die damit verbundene Taufe. Das semantische Feld bedeutet daher eine Eingrenzung der Multifunktionalität des Bedeutungskerns wie zugleich auch Auffüllung durch historisch konkreten, anschaulichen Gehalt. – Einzelne Teilverbindungen sind auch vor und außer Lukas traditionell, so die Verbindung von Pneuma (Geist) und »empfangen« (Röm 8,15; Gal 3,2; Joh 20,22 usw.), die Verbindung von Pneuma und »ausgießen« (schon Joel 3,1; vgl. auch Röm 5,5). Nur selten und in abweichender Gestalt ist dagegen die Verbindung von Pneuma und Gabe belegt (Hebr 6,4; Barn 1,2; Mart Polyk 20,2). Hier könnte daher eine relativ eigenständige Bildung des Lukas vorliegen; Basis ist die häufige Verbindung von Pneuma und Gnade; Gnade wird oft als »Gabe« verstanden. Das Wort »annehmen« (sc. des Worts) ist ebenfalls eine frühchristliche Verbindung mit jüdischer Vorgeschichte. Die Verbindung von Geist und Taufe ist typisch frühchristlich. – Deutlich ist, dass das lukanische semantische Feld zwar eine redaktionelle Komposition des Lukas (oder seiner Quelle) ist, in seiner eigentümlichen Kohärenz aber durch eine ganze Reihe kleinerer Felder (eben gezeigt; diese sind regelmäßig zweigliedrig) vorbereitet ist und nicht ohne diese vorgängigen Konventionen denkbar und erklärbar wäre.
Zur Verbindung von Geist und Wassertaufe: Ohne Zweifel steht am Anfang des christlichen Taufens unter anderen Formen auch die reine Geisttaufe, vgl. schon 1 Kor 12,13 im Vergleich mit 1 Kor 1,14 (zwischen den Stellen besteht kein Widerspruch, weil zwar alle mit Geist [1 Kor 12,3], nur sehr wenige aber mit Wasser [1 Kor 1,13-15] getauft sind). Das Wort »taufen« wird dafür verwendet, weil der Geist teilweise (wenn nicht als Feuer oder Wind, so dann) als flüssig
Die Apostelgeschichte
vorgestellt wurde, z. B. als Öl (Geistsalbung), oder eben im Anschluss an Ez 36,25f als reines Wasser, ohne dass bei der Geistbegabung Öl oder Wasser zunächst eine sichtbare Rolle spielten. Der Heilige Geist wird deshalb als flüssig vorgestellt, weil der Getaufte ganz von ihm eingehüllt wird, wie wenn er in ein Bad hineingetaucht würde. Später, noch in den Zeugnissen des Neuen Testaments, geht man dazu über, diese Geistverleihung auch dann tatsächlich als Eintauchen in Wasser oder als Salbung mit Öl liturgisch zu vollziehen (Ritualisierung von Metaphern), und zwar wegen der damit verbundenen Eindeutigkeit. Erst wenn die Geisttaufe in dieser Weise sichtbar wird, ist sie biografisch fixierbar und muss nicht bei Zweifel wiederholt werden. Die Ritualisierung ist daher mit der Einmaligkeit eng verbunden. Metaphorische Vergleichspunkte zwischen Geisttaufe und Wassertaufe: 1. Es geht um Veränderung, und zwar von außen her. – 2. Sie betrifft den Menschen ganz und gar, wie ein Untertauchen, es bleibt nichts unerfasst, daher der Vergleich mit der Flüssigkeit, die überall hindringt. – 3. Die Veränderung bedeutet Reinigung und Kräftigung (wie bei einem Bad). – 4. Wie bei einem Bad üblich, wird danach von neuem Anziehen bzw. neuem Kleid gesprochen. – 5. Das setzt auch voraus: In der Taufe wird der Mensch nackt und schutzlos, in seinen bisherigen Mängeln und Schmutzstellen erkennbar.
Der Himmel reagiert direkt und unmittelbar, und das liefert der nun wirklich begonnenen beschneidungsfreien Heidenmission des Petrus die direkte Legitimation. Der Heilige Geist wird hier nicht zusammen mit der Wassertaufe, sondern vorher geschenkt. Da er das Entscheidende ist, kann dann die Wassertaufe sozusagen leicht nachgeliefert werden. Der Heilige Geist ist unter allen Gaben des Himmels deshalb die heiligste, weil er, lukanisch gesprochen, ein »Stück von Gott« ist, das bei den Menschen bleibt, nicht eine vorübergehende Vision. Diese Präsenz Gotts ermöglicht es den Menschen, immer neu um den Heiligen Geist zu bitten (Permanenz und Steigerung sind daher keine Gegensätze).
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Kapitel 11
Apg 11,19-30: Gemeinde in Antiochien Auffällig: Nur Barnabas wird gelobt, kein anderer Verkündiger wird auch nur mit Namen genannt. Das ist offenbar so, weil Barnabas stets Verbindungsmann zur Gemeine in Jerusalem war. – Auffällig ist auch: Das Evangelium besteht in der Verkündigung des »Herrn Jesus« (V. 20), und so auch in V. 21 (glaubend umkehren »zum Herrn«). Dass die Griechen zum wahren Gott, dem Vater und Schöpfer, und seinem Sohn (und zum Heiligen Geist) hätten bekehrt werden müssen oder bekehrt wurden, steht nicht da. Stattdessen geht es allein um den »Herrn Jesus Christus«. So wird auch die Rolle des Barnabas fassbarer: Er ist der Garant dafür, dass die Verkündigung des »Herrn Jesus Christus« im Rahmen des jüdischen Monotheismus bleibt und nicht unter der Hand zu einem der hellenistischen Kyrios-Kulte wird. Vgl. zu diesen z. B. Pindar, Isthm 5,35: »Zeus, der Kyrios aller (Dinge)«, oder von Osiris: »Als der Herr aller Dinge hat er das Licht der Welt erblickt« (Plutarch, Is et Os 355e); Hekataios sagt vom Gott Moses, er sei »Kyrios von allem« (FGH 264 Frgm 6), vom römischen Kaiser bei Epiktet 4,1,2 »der Caesar, der Kyrios aller Dinge«. – Auch dass das ganze Unternehmen dieser geglückten Mission »die Gnade Gottes« heißt, ist hellenistisch gedacht. Vgl. etwa die Rolle der Isis als »Gnadengeberin« im Rahmen des Kyria-Isis-Kultes. Man hat sich bei dem Stichwort »Gnade« bisweilen viel zu stark vom biblischen und rechtfertigungstheologischen (»Gnade finden vor Gott«) Hintergrund allein leiten lassen. Zur hellenistischen Bedeutung von Gnade vgl. schon den Artikel charis etc. in ThWb IX 363-366.377-405, bes. 365f (H. Conzelmann). Fazit: Spätestens in diesem Abschnitt ist Lukas die Einführung/Darstellung eines lupenrein nichtjüdisch-hellenistischen Christentums endgültig gelungen. Die Kontinuität zum Ursprung wird nur (noch) durch Namen von Personen garantiert: durch den Namen Jesu Christi und durch den Namen Barnabas. Die Orientierung der Apg an wichtigen Personen hat daher System: Sie ist das Vertrauen erweckende Gerüst, auf dem Lukas zu einem vollständig hellenisierten Evangelium gelangt.
Zu Apg 11,27-30: Wie auch die spätere Kollekte des Paulus, so stellt auch die hier erwähnte die Verbundenheit mit der judenchristlichen Muttergemeinde in Jerusalem her. Dadurch, dass Paulus und Barnabas die Überbringer sind (nach dem Prinzip der Zweizahl urchristlicher Gesandter), bekommt die Überbringung einen offiziellen Charakter. – Dass Propheten von Jerusalem nach Antiochien »herabkommen«, zeigt einmal, dass Jerusalem »oben« liegend vorgestellt wird, zum anderen, dass nach der Flucht der Hellenisten (11,19) nun weitere Christen aus Jerusalem weichen. Denn um eine bloße Freude an der Verkündigung in Antiochien dürfte es sich bei einer ganzen Schar von Propheten kaum gehandelt haben. Vielmehr ist daran zu erinnern, dass nach dem Selbstverständnis des Märtyrers Stephanus er selbst enge Beziehung zu Propheten hat (Apg 7,51-52) und dass auch Paulus nach 1 Thess 2,14f die frühen Christen unter Propheten einordnet. Dabei war Agabus zumindest zeitweilig ein apokalyptischer Unheilsprophet; vgl. Jesu entsprechende Prophetie nach Mk 13,8. Seine Prophetie bestätigte sich – für sein Prophetenamt ein ungeheurer Glücksfall; so schafft er es namentlich ins Neue Testament. Obwohl Agabus gar nichts speziell von Jerusalem gesagt hatte, sondern über die ganze Welt, sieht doch die Gemeinde in Antiochien eine willkommene Gelegenheit, mit materiellen Zeichen an Jerusalem zu denken und sich der kirchlichen Verbundenheit zu versichern. Paulus wird diesen Weg später gleichfalls mit der Kollekte seiner eigenen Gemeinden – wenn auch glückloser – zu beschreiten versuchen. Er macht nur etwas nach, was laut Kap. 11,27-30 schon einmal funktioniert hat. Im Hintergrund steht die Institution des »Almosens für Israel«. In 12,25 wird ausdrücklich erwähnt, dass Barnabas und Paulus ihr »Hilfswerk« (diakonia) in Jerusalem beenden konnten. Denselben griechischen Ausdruck wird später Paulus für seine Kollekte verwenden.
Apg 12,1-19: Gefängnisvision Der Bericht über die Befreiung des Petrus orientiert sich an der in Apg und in anderen (apokryphen) Apostelakten beliebten Gattung der Ge-
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454 fängnisvision: Apg 5,17-26; 16,23-30; Mt 28,2-4 (vgl. dazu O. Weinreich: Gebet und Wunder II. Türöffnung im Wunder-, Prodigien- und Zauberglauben der Antike, des Judentums und Christentums, in: Genethliakon W. Schmid [Tüb Beitr Altertumsw 5 (1929)] 200-452, bes. 298309.337-341). Dass Gott seinen Engel zur nächtlichen Befreiung schickt, ist Stil großer Heilsgeschichte (Exodus), und die erzählende Gemeinde hat offenbar keine Scheu, sich hier einzureihen. Zu Apg 12,15b: Die Bemerkung in 12,15b »Es ist sein Engel« ist ein unschätzbarer Beitrag zum vulgären Engelglauben zur Zeit Jesu. – Vorausgesetzt ist: 1. Jeder Mensch hat einen Engel (Ab wann? Erst ab der Taufe?). – 2. Dieser ist offenbar ein himmlisch/irdischer Doppelgänger. – 3. Denn er sieht aus wie dieser Mensch, hat auch wohl seine Stimme, (kann aber nicht essen oder trinken und hat keinen irdischen Leib; daher ist er auch nicht verletzbar). – 4. Dieser Doppelgänger tritt durchaus im Lebenskontext des Originals auf und sorgt für Verwirrung. – Der Ausdruck »Schutzengel« ist hier ungenau. Vgl. ähnlich, aber anders Past Herm, Vis 5,1,2-5: »Der Hirte setzte sich sogleich neben mich und stellte sich vor: »Ich bin vom Heiligsten der Engel (Michael? Christus?) ausgesandt worden, um dich für den Rest deines Lebens zu begleiten.« Ich dachte, er sei der Teufel, der mich versuchen wollte, und fragte ihn: »Wer bist du? Ich weiß nämlich, wer mein Schutzengel ist.« Er erwiderte: »Erkennst du mich nicht?« »Nein«, sagte ich. »Ich«, sagte er, »bin der Hirte, der für dich als Engel bestellt ist.« Noch während er redete, änderte sich seine Gestalt, und ich erkannte ihn wieder. Er war tatsächlich der Engel, der für mich bestellt worden war …« Hier heißt es jeweils: »… dem ich übergeben wurde.« Im Hintergrund steht die Auffassung, dass bei der Taufe für jeden Täufling ein Engel bestellt wird. – In Apg 12,15b ist der Engel gerade nicht derjenige, der Petrus begleitet, sondern der sich »selbstständig gemacht« hat (vielleicht tut er das im Todesfall?). Und in Past Herm, Vis 5, sieht der Erscheinende nicht so aus wie Hermas, sondern er ist der »Hirte«, weiß gekleidet in Ziegenfell etc. Auch in Tob 5,22 und Mt 18 ist eine Ähnlichkeit des Engels mit dem zu Begleitenden bzw. Anbefohlenen nirgends behaup-
Die Apostelgeschichte
tet. Das ist aber in Apg 12,15 zwingend vorausgesetzt.
Artapanus, Frgm 23f: Über den Pharao und Mose Als er (sc. Pharao) das (sc. Gott gebiete Mose, dass er die Juden freigeben solle) erfahren hatte, habe er ihn (Mose) in den Kerker einsperren lassen. Aber in der darauffolgenden Nacht hätten sich alle Türen des Gefängnisses von selbst geöffnet, und von den Wächtern seien einige (vor Schreck) gestorben, andere vom Schlaf ganz benommen gewesen, und ihre Waffen seien zerbrochen. (24) So sei Moses heraus- und zum Königspalast gekommen. Da er die Türen offenstehen fand, sei er (ungehindert) eingetreten, weil auch dort die Wächter schlaftrunken waren … (F 3 bei Alexander Polyhistor, nach Eusebius, Praep Ev IX 27,1-37). Zu Apg 12,21-23: Ein Vergleich dieses Textes mit Josephus, Ant 19,343 ff ist aufschlussreich; in den wesentlichen Aussagen bestätigen sich beide gegenseitig. Gemeinsam: Tod des Herodes Agrippa I. in 44 n. Chr., Todesort: Caesarea. – Anlass (Apg): Akklamation des Volkes: »Gottes Stimme und nicht eines Menschen«; nach Josephus nannten sie ihn Gott und riefen: »Sei uns gnädig«, »mehr als ein Mensch«; A. weist diese Lästerungen nicht zurück. – Todesursache (Apg): »von Würmern zerfressen«, Todesursache (Josephus): Leibschmerzen. – Weitere Angaben bei Josephus, die in Apg fehlen: Bedeutung des Gewandes des Herodes (es ist aus Silber und strahlt blendend bei Sonnenschein). »Ich bin euer Gott und muss jetzt das Leben lassen …« – Gemeinsames Grundmotiv: Bestrafung der Hybris, und in Apg zusätzlich: Tod des Verfolgers.
Die Affinitäten zur Jesus-Passion sind auffallend und viel umfangreicher, als man bisher gedacht hatte: 12,3: einigen Juden »gefiel die Hinrichtung des Jakobus«, vgl. Mk 15,13-15. 12,3: Der Zeitpunkt Passah stimmt mit dem Zeitpunkt des Geschickes Jesu überein. 12,4: Herodes lässt Petrus ergreifen, vgl. Mk 14,41. 12,4: Herodes hat die Absicht, Petrus dem Volk vorzuführen, vgl. Mk 15,9. 12,6: Soldaten und Wächter bewachen (starke Rolle gesicherter Wachen), vgl. Mt 27,62-66.
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Kapitel 12
12,7: So wird die Auferweckung Jesu im PetrusEv 36-40 vorgestellt worden sein: Der Engel tritt in die Grabkammer Jesu ein und weckt ihn auf, darauf fallen die Totenbinden von Jesus ab. 12,9: Petrus glaubt, ein Gesicht zu sehen (und nicht die Realität); so meinen auch die Jünger, der auferweckte Jesus sei ein Gespenst (pneuma), vgl. Lk 24,37. 12,12: Die übrigen sind versammelt und beten, vgl. Lk 24,33. 12,13-16: Das Thema Petrus und die (eine) Magd wird wiederaufgegriffen; vgl. Mk 14,53-72 par. 12,13-16: Die Botschaft von der Befreiung wird von einer Frau gemeldet (Joh 20,11-18). Diese findet kein Gehör, ihre Botschaft wird als Unsinn abgetan (vgl. die Rolle der Maria Magdalena und der beiden anderen Frauen in Lk 24,11). 12,13-16: Erst das Gremium wird dann von der Wahrheit der Befreiungsbotschaft überzeugt, vgl. Joh 20,19-23; Lk 24,36-49. 12,15-16: Der anfängliche Unglaube ist das »Vehikel«, durch das dann alle zum Glauben kommen. Vgl. auch Joh 20,24f (Unglaube des Thomas). Das geschieht zweimal: Petrus kann seine eigene Rettung nicht glauben (12,9), die Gemeinde kann die Rettung des Petrus nicht glauben (12,15). 12,15: Die Meinung: »Es ist ein Engel« (sc. des Petrus) stimmt, religionsgeschichtlich gesehen, überein mit dem ersten Eindruck der Jünger, Jesus sei ein »Geist« (Lk 24,37), nämlich der Totengeist Jesu. 12,17: Der Auftrag des Befreiten/Geretteten »Meldet das dem Jakobus und den Brüdern« stimmt auffallend überein mit dem Auftrag des Auferstandenen nach Joh 20,17: »Geh aber zu meinen Brüdern und sage ihnen …« In beiden Fällen liegt in diesem Auftrag zum Weitersagen das wichtigste Anliegen des Geretteten/Auferstandenen.
Theologisch bedeutet dieser Abschnitt dreierlei: 1. Nach 12,5.12 betet die versammelte Gemeinde für ihren inhaftierten Apostel. Für die Adressaten der Apg ist dieses als Anweisung zu verstehen, wie man sich grundsätzlich in solchen Fällen verhalten soll. Das Gebet wird ja auch erhört. – 2. Die Affinitäten zur Jesus-Passion sind ein besonderer Beitrag zum Thema der Ähnlichkeit im Geschick zwischen dem Herrn und seinem Apostel. Von Paulus persönlich wissen wir darüber aus 2 Kor 1,8.10; 4,9-11: Seine eigene Befreiung aus Todesgefahr erfährt der Apostel als Teil
455 des Geschicks Jesu. Ebenso ergeht es Petrus nach Apg 12. Der Kern des paulinischen ApostolatsVerständnisses ist daher auch Lukas geläufig. Besonders auffällig ist dabei: Alle übrigen Brüder und Schwestern unterstützen den Gefährdeten durch ihr Gebet (2 Kor 1,11a wie Apg 12,12). – 3. Die Vergleichspunkte lassen erkennen, dass zwischen Auferstehung und Befreiungswunder große Nähe besteht. Daher sind die Parallelen zu Mt besonders gewichtig. Dabei stellt sich mit dem Eindringen der Tradition vom Befreiungswunder selbst in die frühjüdische Mose-Überlieferung verschärft die Frage nach der Historizität für Apg 12. – Man könnte sagen: Der Bericht Apg 12 ist »gestrickt« aus Anspielungen an die Passion Jesu einerseits und den Topoi der Befreiungswunder-Tradition andererseits. Was übrig bleibt, ist dann sehr wenig, sodass man das Ganze leicht als pure Fiktion darstellen könnte. Doch es empfiehlt sich, etwas sorgfältiger hinzusehen. Denn es gibt Elemente, deren Historizität man schlecht bestreiten kann, und es gibt andere Elemente, in denen deutlich wird, wie sehr der erwartbare Ablauf die Wahrnehmung und daher auch den Bericht bestimmt (Topoi). Beginnen wir mit dem Ersteren: Es lässt sich schlecht leugnen, im Gegenteil, es ist sogar wahrscheinlich, dass Petrus gefangen gesetzt wurde. Auch dass Petrus zum Erstaunen der Gemeinde aus dem Gefängnis frei kam und sich dann entfernte, ist als Schluss der Episode gut vorstellbar. Die Gemeinde kennt die Umstände der Freilassung nicht, sie hat aber in der Zeit der Gefangensetzung gebetet. Gut möglich ist auch, dass Petrus selbst den Hergang seiner Befreiung nur im Halbschlaf mitgekriegt hat und daher im Nachhinein für einen Traum hält. Aber was ist mit dem Engel und dem Aufspringen der Türen? Bereits zu Apg 8,39 wurde eine konkurrierende Aussage aus Josephus (Ant 8,124) genannt, nach der die Versenkung in Gebet und Hymnus auf dem Weg den frommen Wanderer so weit im Griff halten konnte, dass er von dem Weg nichts mehr wahrnahm (plausibel, besonders wenn man an die römischen schnurgeraden Straßen und den üblichen tageslangen grellen Sonnenschein denkt). Es ist daher anzunehmen, dass sich für Philippus auf seiner Reise die verblassende Wahrnehmung des realen Weges mit der mystischen Erfahrung des Heiligen
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456 Geistes so kreuzten, dass die Empfindungen von Anstrengung und Zeit nachließen und nur noch Raum ließen für die Wirklichkeit der geistlichen Erfahrung (dabei gehe ich davon aus, dass die geistliche Erfahrung eine eigene Wirklichkeit ist und nicht Gedanken- oder Gefühlskonstrukt). Ich gehe dabei davon aus, dass die Alltagsrealität
Die Apostelgeschichte
und der Engel nicht in Konkurrenz um die Wahrheit miteinander stehen, sondern dass für den Apostel in diesem Vorgang die Wahrnehmung des Engels alles andere überwogen hat. Für den Visionär wird angesichts der Dominanz einer Wahrnehmung (Engel) alles andere an den Rand abgedrängt.
Apg 13-15: Paulinische Mission Apg 13,1-3: Bestellung von Barnabas und Saulus Wie darf man sich die Verlautbarung des Heiligen Geistes vorstellen, der sagt: »Sondert mir Barnabas und Paulus aus für das Werk, für das ich sie berufen habe«? Zum Vergleich: Nach Apg 20,28 hat der Heilige Geist die Angeredeten zu »Aufsehern« eingesetzt, und nach 1 Tim 4,14 wird Timotheus angeredet: »Sei bestrebt, die besondere missionarische Gabe weiterzuentwickeln, die dir verliehen wurde, als damals in der Gemeinde eine Prophetie auf dich hin gesprochen wurde und der Kreis der Ältesten dir die Hände auflegte.« Im Griechischen heißt es nur: »die durch Prophetie« dir verliehen wurde. Auch in Apg 13,1-3 geht es um Namen, um eine Personal-Entscheidung. Aufgrund verschiedener Entsprechungen in der Offb ist die Szene so vorzustellen: Ein Prophet erhebt sich in der Versammlung und sagt den den in 13,3 überlieferten Satz. Dieser Satz ist in der ersten Person Singular formuliert und damit ein Satz Gottes bzw. des erhöhten Christus. Auch die alttestamentlichen Propheten reden ja im Ich-Stil in der Person Gottes. Es ist aber wahrscheinlich, dass der Prophet nach Apg 13,2 zur Einleitung gesagt hat: »So spricht der Herr …« So ist es auch in Offb 2,1 etc. (»So spricht der, der [+ Bild]«), vgl. dann jeweils 2,7 (»… was der Geist den Gemeinden sagt«), d. h.: Das Wort des Erhöhten nach 2,1 kommt als Wort des Geistes nach 2,7 in der Gemeinde an. Der Seher Johannes bezeichnet sich selbst als Propheten (22,6 f.9), er ist also in den Gemeindebriefen (schriftliches!) Sprachrohr des erhöhten Herrn. Vor allem aber nennt 19,10 den Geist der Prophetie das Zeugnis (die verbindliche Weisung), das Jesus, der erhöhte Herr, der Gemeinde gibt. Auch in 14,13 (»spricht der Geist«) und in 22,17
sind Propheten als diejenigen vorzustellen, die Worte des Erhöhten formulieren. Dabei geht ihr Wort von Gottes Thron bzw. vom erhöhten Christus aus (Offb 19,5; 21,3). Mit dem Aussterben des prophetischen Dienstes verschwinden aus den urchristlichen Versammlungen auch derartige Äußerungen. Ein Rest zeigt sich noch in Didache 10,7, wonach Propheten nicht an die allgemeinen eucharistischen Gebetstexte gebunden sind, sondern frei formulieren dürfen. Denn ihre Worte kommen, weil der erhöhte Herr »dahinter steht«, sicher im Himmel an. Dass nach Apg 13,1-3; 20,28; 1 Tim 4,14 die Rolle des Geistes insgesamt auf Personalentscheidungen eingegrenzt wird, kann man ebenfalls als Reduktion ansehen. Derartige Entscheidungen waren stets zweifelhaft, wie das Losverfahren im Fall der Wahl des Matthias zeigt. – In der Legende über die Wahl des Ambrosius zum Bischof von Mailand zeigt sich ein Rest dieser Tradition: Die ratlosen Wähler meinen, ein Kind (!) zu hören, das ruft: »Ambrosium episcopum!«, und wählen den noch nicht getauften Ambrosius zum Bischof. Dass hier ausgerechnet ein Kind Erbe des Prophetendienstes geworden ist, zeigt im Nachhinein, weshalb die prophetische Funktion ausgestorben ist: Wegen mangelnder Reinheit in der Glaubwürdigkeit, wegen der Vermischung mit »erwachsenen« Interessen. Nur noch ein unmündiges Kind konnte noch Worte des Heiligen Geistes glaubwürdig transportieren.
Apg 13,4-12: Elymas der Magier in Salamis Wie in Apg 8,5 ff bei Philippus und Simon Magus, so ist auch hier eine Missionskonkurrenz geschildert, zwischen Paulus und Barjesus Elymas, der Magier genannt wird. Gemeinsam ist außer
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Kapitel 13
der Konkurrenz vor allem die Abqualifikation der gegnerischen Mission als »Magie« und ferner die Überwindung des Gegners durch mächtigere Wunder. Schließlich aber ist – wie bei Simon Magus nach Apg 8 – hier nicht plumpe heidnische Magie im Spiel, sondern offenbar ein judenchristlicher Gegner: Sein Name ist Elymas (von den meisten als Gottesattribut gedeutet; ähnlich wie die Dynamis bei Simon), seine theologische Bezeichnug ist »Bar-Jesus«, »Jesus-Anhänger« (auch Simon Magus ist getauft). Es geht also nicht um zwei Eigennamen aus zwei Quellen, sondern einen Jesusanhänger, der Paulus, Barnabas und Johannes als Konkurrenz ansieht, und der zu einer ökumenischen Zusammenarbeit nicht bereit oder in der Lage ist. Daher ist hier an Mk 9 zu erinnern, an den fremden Exorzisten, bei dem Jesus zur Großzügigkeit mahnt. Nun geht es in Apg 13 nicht um Exorzismus; dennoch können wir davon ausgehen, dass der Jesusanhänger Elymas seine Wunder »im Namen Jesu« vollbringt. Was ihm das negative Attribut Magier einbringt, ist wohl eher die den Glauben, den Paulus und seine Begleiter wecken, zerstörende Aktivität des Elymas. Zur Erinnerung: Magie ist jede nicht legitime Form von Gottesdienst, sei sie auch äußerlich ähnlich. Letzteres gilt auch hier, besonders hinsichtlich Wunder und Sakrament. – Den Sieg der »Wahrheit« über die Magie schildert eindrücklich Ignatius (Eph 19,3): »Das (sc. Jesu Ankunft) war das Ende aller Magie. Alle Fesseln der Bosheit wurden gesprengt. Wer nichts über Gott wusste, wurde belehrt. Das alte Reich des Bösen wurde zerstört.« Blindheit als Folge eines Strafwunders ist die Kehrseite der Blindheit als Folge der Bekehrungsvision nach Apg 9. In beiden Fällen hat die Begegnung mit Gott die Folge, dass der Mensch sich (mit den Augen) für eine Weile auf der Erde nicht mehr zurechtfinden kann. In jedem Fall – ob jemand der erhellenden Klarheit oder der abweisenden Heiligkeit Gottes begegnet – äußert sich das menschliche Unvermögen, Gott zu fassen, am Zustand seiner Augen – sie sind geblendet. Ein Aspekt, der heute völlig vergessen ist.
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Apg 13,16.22-26: Paulus predigt in der Synagoge von Antiochien I Innerhalb der Apg ist dieses die vorerst letzte an Juden gerichtete Predigt des Apostels Paulus. Wie zu erwarten und wie einst bei Jesu erster Predigt in seiner Heimatstadt Nazaret (Lk 4), handelt es sich um eine Schriftauslegung in der Synagoge am Sabbat. Wenn die Apostel sich an Juden wenden, geschieht es immer auf diese Weise. Und es wird stets hervorgehoben, dass Gottes neues Handeln an Jesus Christus in Verbindung mit seinem früheren Wirken in der Heilsgeschichte steht. In Apg 13 geschieht das dann ab 13,32f (»Und wir verkünden euch die Erfüllung der Verheißung, die unsern Vätern gegeben wurde, als Evangelium. Denn diese Verheißung hat Gott eingelöst für unsere Kinder, indem er Jesus sandte, von dem es heißt …«). Für Juden ist es wichtig, dass in Jesus Christus die Schrift erfüllt wurde. In 13,21-31 gibt Paulus den jüdischen Hörern eine knappe Übersicht über die Geschichte Gottes mit seinem Volk. Diese umfasst den großen Bogen von David über Johannes den Täufer, die Kreuzigung Jesu bis hin zur Auferweckung. Die Leser und Leserinnen der Apg hatten schon einmal einen Abriss der Heilsgeschichte vernommen, und zwar in Kap. 7 aus dem Mund des Stephanus kurz vor seiner Hinrichtung. Dort hatten die Erwählung der Erzväter und die Mosezeit im Zentrum gestanden. Als Ergänzung dazu behandelt nun Apg 13 gewissermaßen die Fortsetzung dazu. Das heißt: Lukas vermeidet Doppelungen und stellt die beiden Reden als komplementär dar. So erhalten die Leser der Apg nicht nur Informationen über die Zeit der Apostel, sondern gewissermaßen nebenbei auch die wichtigsten Nachrichten aus der Zeit des Alten Testaments. Zu Apg 13,17-25: Nach dem Leitprinzip »Volk«, »Völker« und ihre Leitfiguren wird die Geschichte Israels von den Erzvätern bis David im Schnelldurchgang gestreift. Eindruck beim Leser: Die Vorgeschichte des Evangeliums in Israel hat eine Fülle ehrwürdiger Väter, Propheten und Könige hervorgebracht (die »Väter«, die »Richter«, Samuel, Saul, David, Johannes den Täufer). Von V. 26-41 folgt dann der schriftgelehrte Teil der Rede (s. u.).
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458 Zu Apg 13,24f und zum lukanischen Täuferbild: Johannes der Täufer bildet hier und auch sonst für Lukas die Brücke zwischen Altem und Neuem Testament. Denn der Täufer sagt, dass er selbst nicht der Messias sei (»Ich bin nicht der, für den ihr mich haltet …«), dass aber nach ihm ein ganz Großer kommt, »dessen SandalenRiemen er zu öffnen nicht würdig ist«. Johannes kann den, der kommt und den er kommen sieht, nicht genau benennen. Die Forschung hat daher gefragt: Meint er nun Jesus von Nazaret, dessen Vorläufer er ist, meint er das Kommen des Menschensohnes zum Gericht (das wäre dann auch Jesus, unverhüllt), oder meint er gar Gottes (des Vaters) Kommen zum Gericht? Wie wir wissen, ist es müßig, hier zu differenzieren, so wie das bei großen Gestalten ist, die man aus der Ferne sieht. Ob ein Dom einen oder drei Türme hat, kann man oft aus der Ferne nicht sehen. Jedenfalls preist Johannes der Täufer dessen Heiligkeit. Die eigene Unwürdigkeit ist deren Widerschein im Kontrast. So wird der Täufer bei Lukas vor allem zum Vorbild für alle Apostel und heiligen Frauen. Selbstlos und demütig wie er sollen sie den in Jesus gekommenen Gott anbeten. Da Lukas sich als Historiker begreift, ist für ihn die Kontinuität in der Heilsgeschichte überaus wichtig. Denn allein die Kontinuität gibt uns die Mittel, Geschichte als einen konsequenten Weg zu begreifen. Genauso wichtig wie die Erfüllung der Prophetien sind für Lukas dabei große Gestalten, an denen man Gottes Liebe zu den Menschen ablesen kann; so heißt es in unserem Abschnitt: »Ich habe gefunden, dass David … ein Mann nach meinem Herzen ist, der alles tun wird, was ich will« (13,22b). Das gilt umso mehr von Johannes dem Täufer. Seine theologische Bedeutung im Rahmen des lukanischen Doppelwerkes lässt sich wie folgt beschreiben: Der Täufer wird in den Kindheitsgeschichten stets »parallel« zu Jesus beschrieben; dabei hat – historisch gesehen – der Täufer die Rolle der priesterlichen endzeitlichen Figur, Jesus die einer königlichen (Messias, Sohn Davids). Viele jüdische Texte kennen in der »messianischen« Enderwartung sowohl eine priesterliche wie auch eine königliche Figur. Dabei wird in der Zeit Jesu fast regelmäßig der priesterliche Messias höher bewertet. Bei Lukas ist das umgekehrt. Alles Hohe und Große wird vom Täufer nur deshalb berichtet, weil Jesus
Die Apostelgeschichte
als der Sohn Gottes noch unvergleichlich höher und größer ist. Denn Johannes war nur Prophet, wenn auch der wichtigste, doch Jesus ist »der Sohn«; Johannes konnte von seiner Mutter Elisabet nur durch ein besonderes Wunder empfangen werden: Ihr Alter und das des Zacharias spielten keine Rolle. Jesus aber ist ohne Mann und durch Gottes Geist geworden. Johannes der Täufer war der größte Prophet und der wichtigste Mensch bisher überhaupt (Lk 7,28); doch die Kinder Gottes, deren ältester Bruder der wunderbar durch den Heiligen Geist gewordene und von Maria geborene Jesus ist, sind »nicht von der Frau geboren«, sondern durch Gottes Geist gezeugt. Bei der Geburt Johannes des Täufers erfindet Zacharias den Lobgesang »Benedictus«, noch vor der Geburt Jesu Maria das »Magnificat«. Johannes der Täufer hält Predigten auch für die Randgruppen Israels (Soldaten und Steuereinnehmer), Jesus aber wendet sich zu den Religionslosen, Armen und Pharisäern. Johannes der Täufer ist vom Mutterschoß an voll des Heiligen Geistes (Lk 1,15), Jesus aber ist durch den Heiligen Geist entstanden. Johannes der Täufer vollbringt kein Wunder, Jesus heilt Kranke und erweckt Tote auf. Darauf kann Jesus hinweisen, als der Täufer, schon im Gefängnis, die kritische Frage an Jesus stellen lässt, ob er denn der Messias, der »kommende Prophet«, (nach Dtn 18,15.18) sei. Beide, Johannes und Jesus, wurden vom jüdischen Volk abgelehnt, und zwar obwohl sie ganz unterschiedlich waren: Johannes forderte auf, mit ihm zu weinen (»Beerdigung zu spielen«); Jesus forderte auf, mit ihm zu tanzen (»Hochzeit zu spielen«). Beides kann man nicht zugleich ablehnen, und doch taten es die Juden. Insofern, so argumentiert Jesus (Lk 7,31-35), sind sie von jeder Logik verlassen. Johannes erleidet wegen seiner mutigen Predigt den Märtyrertod und wird begraben. Auch Jesus erleidet den Tod wie einer der Propheten, aber er ist mehr als ein Prophet. Deshalb wird er im Unterschied zu Johannes von den Toten auferweckt; was Johannes betrifft, gibt es darüber nur diffuse Meinungen. – Johannes hat das Gesetz verkündet und war ein Prophet, Jesus hat das Evangelium verkündet, und zwar in der Kraft des Heiligen Geistes und als Sohn Gottes. Johannes der Täufer ist auf Israel beschränkt, Jesus ist der Heiland der Welt. Die Taufe des Johannes war
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Kapitel 13
eine Umkehrtaufe, im Anschluss an die man »mit reinen Händen« um Vergebung der Sünden bitten konnte. Die Taufe auf den Namen Jesu ist jedoch – auch wegen der immer wieder betonten Verbindung mit dem Herabkommen des Heiligen Geistes – eine Übereignung an den dreieinigen Gott. Bei Lukas wird das Taufwasser auch Zeichen des Blutes Jesu, mit dem Gott sich sein Eigentumsvolk aus allen Völkern erwirbt (Apg 20,28).
Apg 13,26-41: Paulus predigt in der Synagoge von Antiochien II Gleich dreimal (V. 27: Sprüche der Propheten … durch ihr Urteil erfüllt; V. 29: alles vollendet, was über ihn geschrieben steht; V. 32 Gott hat die Verheißung erfüllt) nennt Paulus hier die Kategorie der Erfüllung, als er nun entlang dem Verlauf der Heilsgeschichte auf Jesus zu sprechen kommt. Bislang hatte er – bei der Rekapitulation der Geschichte Israels – die Schrift nicht zitiert. Das ändert sich nun grundlegend im Jesus-Teil der Rede. Ja, in V. 27 wird Verurteilung und Hinrichtung Jesu auf die mangelnde Erkenntnis der Schrift zurückgeführt. Das ist ein im Neuen Testament singulärer und neuer Ansatz. Man könnte ihn begründen mit den Reflexionszitaten im MtEv, aber das MtEv selbst zieht aus der eventuellen Unkenntnis oder Ignorierung der Reflexionszitate nicht die Konsequenz, eben deswegen sei Jesus umgebracht worden. Auch Paulus (als Autor) selbst führt den Tod Jesu auf Unkenntnis zurück, aber es ist nicht die Unkenntnis der Schrift, sondern der Weisheit Gottes, die er den Mächtigen vorwirft, die Jesus getötet haben (1 Kor 2). Apg 13,27 meint: Einige Juden sind, ohne dass sie es wussten oder von der Schrift her Einsicht gewonnen hatten, zu Vollstreckern dessen geworden, was die Schrift über den leidenden Gerechten vorhergesagt hat. So haben sie nach 13,29 »alles vollendet, was über ihn geschrieben steht«. Obwohl jeder Jude an jedem Sabbat die Schrift hört, haben diese Juden nicht gemerkt, dass sie an manchen Stellen mit ihrem eigenen Tun gemeint waren. So sind sie sehenden und doch nicht sehenden Auges auf ihr eigenes Vergehen zugelaufen. In V. 33f wird Ps 2,7 zitiert: »Mein Sohn bist
459 du, ich habe dich heute gezeugt.« Diese Stelle wird so ausgelegt: Gott habe Jesus »aufgestellt«. Die meisten Exegeten deuten auf Auferstehung. Doch (griech.) anhistemi und (hebr.) qum bedeuten nicht nur spezifisch »von den Toten auferwecken«, sondern zunächst einmal »aufstellen«, von Propheten also »senden«. In diesem Sinne reden auch 1 Clem 36,4 und Diognetbrief 11 von Jesu Sendung. Und auch Ps 2,7 wird auf die Taufe (und nicht auf die Auferstehung!) bezogen in EbionitenEv 2 (mit Jes 42,1) und Justin, Dial 88 (103). Es ist also keineswegs notwendig, Ps 2,7 auf die Auferstehung/Erhöhung Jesu zu beziehen (das geschieht wohl nur in Hebr 1,2.5) oder das Verb anhistemi exklusiv auf die Auferstehung. – Nachdem Paulus so das Kommen des Sohnes Gottes überhaupt aus der Schrift begründet hat, kann er sich in V. 34-37 exklusiv dem Thema »Auferstehung aus Toten« zuwenden. Einen Hinweis darauf, dass es sich hier nicht um Sendung, sondern um Auferstehung aus Toten handelt, gibt Paulus in 13,34: »Dass er ihn aus Toten auferweckte …« (griech.: anestesen), nicht nur »dass er ihn aufstellte« (V. 33). Durch den Zusatz »aus Toten« ist das zweite Aufstellen gegenüber dem ersten unterschieden. Der Beweis erfolgt mit zwei Schriftstellen, und zwar mit Jes 55,3 (»Ich werde euch geben das Heilige und Unvergängliche, das ich David versprochen habe«) und mit Ps 16,10: »Du lässt deinen Heiligen keine Verwesung schauen«. Und: David aber entschlief und verweste. Aus dieser Kombination von Angaben folgen diese logischen Schritte: 1. Jes 55,3 und Ps 16,10 sind durch das Stichwort Heiliges/Heiliger verbunden. Das Heilige kommt dem Heiligen zu. Also handeln sie von demselben. 2. Jes 55 musste zitiert werden, weil hier und nur hier der Name David vorkommt. Erst durch die Stichwortverbindung mit Ps 16,10 ist sichergestellt, dass das Heilige David zukam. 3. Wenn David aber verstorben, bei seinen Vätern begraben und verwest ist, dann steht die Erfüllung dieser Verheißung noch aus. 4. Jesus als der endzeitliche »Sohn Davids« ist der neue David, auf den sich die David-Stellen beziehen können, die auf den historischen David der Vergangenheit nicht zutrafen. 5. Also ist Jesus davor bewahrt worden, Verwesung zu sehen. Das heißt aber: Er ist auferstanden.
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460 In 13,38 wird mit dem Auferstandenen ohne Umschweife und ohne weitere Erklärung die Sündenvergebung verbunden (vgl. 1 Kor 15,17: »Wenn Christus nicht auferstanden ist, seid ihr noch in euren Sünden«). Denn der Auferstandene sitzt als Anwalt der Menschen zur Rechten Gottes und tritt für sie ein. 13,38bf stellt die Vergebung durch Mose, die nur manches betraf, der Vergebung durch Jesus gegenüber, die alles betrifft. Wie H. Conzelmann zutreffend bemerkt, ist der Ausdruck »Vergebung der Sünden« unpaulinisch, und dadurch wird hier auch der Ausdruck »Rechtfertigen« gegenüber Paulus in seiner Bedeutung verschoben. Es erhält den Sinn von Freisprechen, während das Wort bei Paulus ein »kommunitärer« Begriff ist, der ein neu gestiftetes Gemeinschaftsverhältnis beschreibt. – Hebr 9,13f fasst den Unterschied zwischen den mosaischen Gesetzen und der neuen Kultordnung so auf, dass durch Mose nur die äußerlichen Befleckungen getilgt werden, durch den Hohenpriester Jesus dagegen das Gewissen gereinigt wird. Meint Hebr das mit der unterschiedlichen Rechtfertigung? Doch Hebr urteilt schärfer: Durch den Ritus des Mose können Sünden überhaupt nicht vergeben werden (10,4). Auch wenn der Unterschied zwischen Apg 13 und Hebr vielleicht nur sehr gering ist – in beiden Fällen steht das Gesetz unter dem Aspekt der Sündenvergebung zur Diskussion. Es geht nicht um die Sozialgesetze, nicht um das Tun, nicht um die Werke des Gesetzes, daher auch nicht um die Frage, wieweit das Gesetz jetzt erfüllt wird. Die Befreiung von Schuld durch das mosaische Gesetz ist das einzige Thema. Paulus selbst sieht das in seinen eigenen Briefen sehr viel umfassender. Dank seiner Auffassung vom Heiligen Geist kann er auch die Frage nach der Erfüllung des Gesetzes im Rahmen neuer Schöpfung stellen. Davon verlautet in Apg 13 nichts. Die Predigt des Paulus in Apg 13 hat daher dieses Argumentationsziel: Jesus ist auferstanden. Durch seine Fürbitte bei Gott werden wir dadurch und danach von Sünden befreit. Dies war der mosaischen Ordnung nur teilweise oder gar nicht gelungen. Wirkliche Befreiung von der Sünde gibt es nur durch Jesus. Die peroratio der Predigt in 13,40f: Es ist schon in Hab 1,5 geweissagt, dass Gott etwas tun wird, das man nicht oder nur schwer glauben kann;
Die Apostelgeschichte
daher könne man es leicht verachten, nicht vestehen, ablehnen; doch dann werde man an Gottes Tun scheitern und zugrunde gehen. Diese Stelle wird im frühen Christentum nur hier zitiert. Sie steht inhaltlich dem nahe, was Paulus in Röm 9,33 den Fallstrick nennt, den Gott auf dem Sionsberg gelegt hat. Paulus ist hier eine Nuance schärfer: Gott wird so Unglaubliches tun, dass das Scheitern der Menschen geradezu erwartbar ist. Nach Röm 9 ist das die Sendung Jesu als des Sohnes Gottes für alle Völker, nach Apg 13 ist es die Auferstehung Jesu zur Vergebung der Sünden. Weitere auffällige Elemente in Apg 13 – Die Predigt der Apostel beginnt am Sabbat in der Synagoge und enthält dem gemäß einen hohen Anteil an Schriftauslegung (13,14 f.4245). Das ist bekanntes lukanisches Schema (und Widerspiegelung frühchristlicher Praxis). – Paulus, Barnabas und Johannes entsprechen der Regel von den zwei bis drei notwendigen Zeugen nach Dtn 19,15. – Die Predigt des Apostels Paulus wird in 13,15 (griech.) paraklesis, »Zuspruch«, genannt, jedenfalls eine hilfreiche Rede, deren Ziel die Erbauung ist. – Die große Bedeutung Johannes d. Täufers in der Predigt des Apostels knüpft daran an, dass der Täufer im Judentum zur Zeit des Paulus/ der Abfassung der Apg noch sehr lebendig in Erinnerung ist. Sonst würden sich Christen nicht so bemühen, ihn als Sprungbrett zum Glauben an Jesus zu nennen und zu zitieren. – In 13,43 werden »Christentum« oder »christlicher Glaube« pauschal als »Gnade Gottes« bezeichnet. »Bei der Gnade Gottes bleiben« heißt daher: beim christlichen Glauben verharren. »Gnade Gottes« ist zur Bezeichnung des Ganzen geworden (das ist heute anders). Wie konnte das geschehen? Auf Paulus beschränkt ist dieser Sprachgebrauch jedenfalls nicht. Auch in Joh 1,17 ist »Gnade und Wahrheit« (wie in Apg 13 im Unterschied zum Gesetz des Mose, vgl. Joh 1,16) der Inbegriff dessen, was Jesus neu gebracht hat. Noch kräftiger ist der Ruf in der Didache ausgeprägt: »Diese Welt möge vergehen, es komme die Gnade.« »Gnade« ist demnach der Inbegriff für gute Gabe,
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Kapitel 13
Geschenk, Heilszeit. Untrennbar ist »Gnade« mit der Person Jesu Christi verbunden. Auch das Judentum hat mit dem Begriff »Gnade« schon die kommende Heilszeit assoziiert. Im 1. Jh. n. Chr. ist der Begriff vor allem monarchisch bestimmt. Gnade ist das, was ein guter König schenkt. Wenn man den anstößigen und politisch mißverständlichen Begriff »Reich Gottes« vermeiden will, bietet sich »Gnade« (sc. des wahren Königs im Himmel) geradezu an. – Überblicke über die Heilsgeschichte wie in Apg 13,17 ff sind in dieser Zeit im Judentum populär und haben sich deshalb oft in Psalmen erhalten (z. B. Ps 78[77]). Als »Taten Gottes« sind die Stationen der Geschichte durchaus ein Proprium Israels. Paulus zeigt in Apg 13, wie man in diese Listen der Taten Gottes durchaus – als deren Fortsetzung – die Sendung Jesu einordnen konnte. Keine andere Religion hätte das in dieser Weise ermöglicht.
Apg 13,42-52: Einblicke in frühchristliche Missionspraxis Das Stück gibt besondere Einblicke in die frühchristliche Missionspraxis. »Licht der Heiden« (V. 47) nach Jes 49,6 (LXX) ist den Lesern des LkEv aus dem Nunc Dimittis in Lk 2,32 bekannt (Jesus als Licht der Heiden). In Jes bezieht sich der Ausdruck auf Israel oder den »Gottesknecht«, von Mission ist da nicht die Rede, schon gar nicht als Zuwendung zu den Heiden. In Apg 13 dagegen wird die Stelle auf die Apostel bezogen, die zu den Heiden gehen und sie durch Missionspredigten gewinnen. »Licht« ist ein aufklärerischer Begriff, und der Ausdruck meint eine generelle Hilfe zum Verstehen der Wirklichkeit. Die in 13,46 grundsätzlich formulierte Regel ist zwar lukanische Theologie und urchristliche Praxis. Sie entspricht im Kern bereits der Botschaft Johannes d. Täufers (Lk 3,8b: Wenn ihr nicht wollt, kommen andere dran); doch bei Johannes geht es eher um eine Drohung (so dann auch in Lk 13,28; Mt 8,11). Theologisch »gerechtfertigt« ist der Wechsel von der exklusiven Judenmission zur erlaubten Heidenmission damit noch nicht. Er ist jedenfalls neuartig, und daher kann man sich nur darüber wundern. Aus der Ge-
461 schichte Israels ist derartiges nicht erkennbar. Wenn Gottes Werben abgewiesen wurde, hat er wiederholt geworben. Zu Apg 13,45: Eifersucht und Lästern einiger Juden: Das Lästern bezieht sich wahrscheinlich auf die Ablehnung der Gottessohnschaft Jesu (wie Mk 3), die Eifersucht auf den großen Zulauf, den die Synagoge wegen des Auftretens der Apostel erlebt. Zu Apg 13,48: »Die bestimmt waren zum ewigen Leben« meint nicht: Nur diejenigen konnten zustimmen und haben Ja gesagt, die schon zuvor und sowieso zum ewigen Leben prädestiniert waren. Sondern: Indem sie glaubten, entschieden sie sich für das ewige Leben. In diesem Sinne meint es auch die Parallele in CD 3,20: »Diejenigen, die sich daran halten (an Gottes Geheimnisse), sind (wegen dieses Gehorsams) für das ewige Leben (bestimmt), und ihnen gehört alle Herrlichkeit des Menschen (Adams), wie Gott es ihnen durch den Propheten Ezechiel zugesagt hat.« Eine definitive Heilszuwendung zu den Heiden als Strafe für die Abwendung Israels war nicht denkbar. Zu Apg 13,51: Wie in Lk 9,5 und 10,11 ist »den Staub von den Füßen zu schütteln« ein Akt der Verfluchung (»Macht euren Dreck alleine«), da er das Aufgeben der Lebensgemeinschaft signalisiert. Im Hintergrund steht die jüdische Erfahrung: Der Staub eines unreinen Landes ist besonders unrein (noch heute ist z. B. Erdstaub in Ländern des Nahen Ostens die Summe der Infektionsmöglichkeiten). So im rabbinischen Schrifttum: Ausländische Erde verunreinigt durch Berühren und Tragen. Der Gestus des Staubabschüttelns von den Füßen ist im Sinne der Lukas-Stellen im rabbinischen Schrifttum nicht belegt. In Jes 52,2 geht es nicht um fremden Staub an den Füßen, nachdem man in unreinem Land war; sondern das Abschütteln des Staubs ist ein Zeichen der Erneuerung. Zu Apg 13,52: »Voll Freude und Heiligem Geist« – die Wortverbindung von »Heiligem Geist« und Freude ist typisch paulinisch und dort sehr eng: 1 Thess 1,6 (mit Freude, die vom Heiligen Geist kommt); Gal 5,22 (Frucht des Heiligen
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462 Geistes: Liebe, Freude …); Röm 14,7 (Gerechtigkeit, Friede, Freude im Heiligen Geist). Es ist klar erkennbar, dass der Heilige Geist jeweils die Ursache der Freude ist. Das bedeutet: Freude ist eine besondere Gabe von Gott; sie ist die Art, in der sich Heiliger Geist vor allem in dem Verhalten und in der Befindlichkeit der Menschen auswirkt, ähnlich wie Gebefreudigkeit nach der dt. Sprache. An rein innerliche Seelenregungen ist sicher nicht gedacht.
Apg 14: Paulus und Barnabas in Ikonium, Lystra und Derbe Zu Apg 14,3: »Zeichen und Wunder« weist auf die Mose-Tradition wie 14,12. Zu Apg 14,4: Nur hier werden Paulus und Barnabas »Apostel« genannt. Ich gehe davon aus, dass sie diesen Titel als antiochenische Gemeindeapostel tragen, denn sie sind ja feierlich ausgesandt. Zwischen dem Aposteltitel und dem in 14,12 berichteten Missverständnis gibt es Querverbindungen. Denn der von Gott Gesandte (sei es Engel, Prophet oder Apostel) muss immer wieder die Proskynese (Anbetung) zurückweisen; denn weil er nur gesandt ist, muss er jene Verwechslung mit dem, der ihn sendet, ausschließen (vgl. Offb 22,8f). Zu Apg 14,12: »Sie bezeichneten Barnabas als Zeus und Paulus als Hermes, weil er der Wortführer war.« Diese irrige Meinung der Menschen in Lystra ist synkretistisch, und zwar zugleich jüdisch und kleinasiatisch. Zeus und Hermes werden – laut Inschriften – dort verehrt. Aber sie treten nicht zusammen auf; d. h. die »Szene« von Apg 14,11f gibt es nicht. – Dagegen gibt es diese Szene sehr wohl in Ex 4,16 und 7,1. Nach Ex 4,16 sagt Gott zu Mose über Aaron: »Er soll dann an deiner Stelle zum Volk sprechen: Er soll dein Mund sein, und du sollst für ihn an Gottes Stelle stehen.« Nach Ex 7,1 sagt Gott zu Mose: »Siehe, ich habe dich zum Gott für Pharao bestellt, dein Bruder Aaron soll dein Prophet sein.« Aaron soll zu Pharao sprechen. – Schon Philo v. Alexandrien schlägt die Brücke zur griechischen Religion, indem Aaron zum Übersetzer (griech.: hermeneus) und Propheten erklärt wird (Det Pot
Die Apostelgeschichte
39), ebenso in Praem Pon 55: »Prophet meint Übersetzer der Worte Gottes« (griech.: hermeneus). Das Targum Neofiti zu Ex 7,1 erklärt: »Aaron soll dein Dolmetscher sein.« Mose ist für Pharao zum Gott bestellt. D. h. die Szene, dass Gott (Zeus) und sein Dolmetscher (hermeneus wie Hermes) gemeinsam vor Menschen auftreten, ist für Juden gut bekannt. Natürlich geht es in Ex 4 und 7 nicht um Vergottung des Mose, sondern um die Rollenverteilung zwischen Mose und Aaron; der eine ist Ursprung, der andere Übersetzer. (Artapanus 12 kann auch Mose einen Hermes nennen, weil er die heiligen Buchstaben deuten kann.) – Dass in Apg 14,3 ausdrücklich von den Zeichen und Wundern die Rede ist, die Paulus und Barnabas wirken, entspricht den in Ex 7 genannten Wundern. Im Sinne der alttestamentlichen Tradition haben die Menschen in Lystra daher richtig verstanden, dass Paulus und Barnabas etwas mit Gott zu tun haben, und sie deuten das Verhältnis beider im Sinne des Ex als das von Gott und seinem prophetischen Dolmetscher. Sie verstehen nur nicht, dass es sich nicht um Inkarnation, sondern lediglich um Inspiration handelt. – Auch in Apg 28,6 (sie sagten, er sei Gott) wiederholt sich, die Person des Apostels Paulus allein betreffend, das Missverständnis. Zu Apg 14,14: Das Zerreißen der Kleider ist ähnlich zu verstehen wie in 13,51 das Abschütteln des Staubes von den Füßen: Es geht jedenfalls nicht um eine Vernichtung der Kleider durch Zerstückelung; damalige Kleidungsstücke sind handgewebt und nur mit Pferdestärken zu zerreißen. Vielmehr ist es so: Wer Zeuge einer Lästerung wird, steht wie in einem Zimmer, in dem geraucht wird, sodass nachher die Kleider nach Rauch stinken. Wer mit der Lästerung absolut nichts (mehr) zu tun haben will, reißt sich deshalb die Kleider vom Leib. Denn Kleider sind die Art, in der der Mensch an etwas Anteil hat. Sie sind nicht rein äußerlich, sondern ein Stück seiner selbst. Daher reißt auch der Hohepriester nach Mk 14,63 sich die Kleider vom Leib (Lästerung nach 14,62.64a), um jeden Kontakt seiner Person im Ganzen (ganzheitlich gesehen, was Kleider eben einschließt!) zur Lästerung zu beenden.
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Kapitel 15
Zu Apg 14,15-17: Wichtiges Beispiel einer typischen jüdisch-christlichen Monotheismus-Predigt mit folgenden Elementen: a) Die Götzen sind »nichtig« (»albern«); das Wort »nichtig« ist ein Fachausdruck der Götzenpolemik. – b) gewünscht ist »Umkehr«. – c) Adressat der Umkehr ist der »lebendige Gott«. Denn dieser Gott ist schon deshalb kein lebloser (toter) Götze, weil er nicht in Statuen oder Figuren (Götzenbildern) »ist«. – d) Dieser Gott hat alles geschaffen (Himmel, Erde, Meer samt Inhalt). – e) Dieser Gott hat alle Völker ihre Wege gehen lassen – er hat den vielfältigen Kulturen und ihrer Geschichte langmütig zugeschaut (vgl. Gen 10,32b; allerdings fehlt hier der Turmbau zu Babel). Nach Jub 9,15 ist vorauszusetzen, dass Gott die Vergehen und Verbrechen der Völker von da an bis zum Gericht ertragen wird, d. h. es geht nicht um positiv zu wertende Entfaltung der Kulturen, sondern um Gottes Langmut (vgl. Röm 2,4). – f) Er gibt sich durch Zeichen zu erkennen: Er gibt Regen und fruchtbare Zeiten, Nahrung und Fröhlichkeit. Im Unterschied zu e) also lässt er nicht nur geschehen, sondern gibt Zeichen seiner bleibenden Fürsorge für die Schöpfung. Zu Apg 14,22: Dass erst die Drangsale und dann das Reich, erst die Leiden und dann das ewige Leben kommen, ist die auf einen Nenner gebrachte Grundregel des apokalyptischen Geschichtsdenkens. Man kann es auch ein Weltgesetz nennen. Das ist nicht speziell Gottes Wille, das griech. dei formuliert hier ein Geschichtsgesetz (ähnlich wie »Ohne Fleiß kein Preis«). Zu Apg 14,23 »Älteste«: Zu postulieren, diese Institution sei »unpaulinisch« (Conzelmann), speist sich aus dunklen Quellen (Ältestenverfassung sei »jüdisch«, »nomistisch«, »frühkatholisch«). Warum sollen aus dubiosen Gründen alle Nachrichten über Älteste, die Paulus einge-
463 setzt habe, spätere Erfindung sein (Tit 1,5; Apg 20,17 ff)? Statt ideologische Verdächtigungen am Leben zu erhalten, könnte man einfach damit rechnen, dass Paulus sich an das ungeschriebene Gesetz hält, auf den Einzelnen ein Gremium folgen zu lassen bzw. dem Einzelnen (Apostel) jeweils ein Gremium gegenüberzustellen (vgl. K. Berger, Die Urchristen, 2008). Paulus hatte gute Gründe, das nachzuahmen, was uns für Jerusalem zuverlässig berichtet wird: dass die Gemeinde geleitet wird durch einen engeren Kreis von Aposteln und einen weiteren Kreis von Ältesten (vgl. Apg 15,2.4.6). Die Abfolge Beten, Fasten, Handauflegung zeigt, dass man liturgische Verbindlichkeiten an verschiedensten Orten befolgt (wie in Antiochien nach 13,3). Welche theologische Bedeutung hat eigentlich das Fasten? Wer darüber spricht, muss sowohl über Jesu 40-tägiges Fasten (in der Wüste nach Mt 4,2 und Lk 4,2) berichten wie über Didache 1,3 »Fastet für eure Verfolger«, aber auch über Mt 6,1618, wo Fasten neben Beten und Almosen steht. Sowohl Mt 6 wir Didache 1 legen den Schluss nahe: Fasten ist nicht nur Begleitmusik in Exerzitien oder Vorbereitung für Beten, sondern eine ganz eigenständige, für sich mit religiöser Bedeutung versehene (Nicht-)Aktivität. Auch weil es später in einem Jesus-Agraphon heißt: Fastet gegenüber der Welt (Agraphon 14 nach Berger/Nord), ist deutlich: Fasten ist alles »Lassen«, »Leer werden« zugunsten des Wartens auf Erhellung oder Gnade Gottes. Wie Beten ist Fasten daher kein egozentrisches, sondern ein auf Gottes Antwort wartendes, dialogisches Tun. Jede Verwechslung mit dem in heutigen Bunten Blättern angeregten Diätfasten zur Entschlackung und Verschlankung ist von daher ausgeschlossen. Es ist vielmehr so, wie wenn man die Segel aufzieht und auf Wind wartet, wie wenn man im Hochsommer die Kleider auszieht und auf Regen wartet.
Apg 15–16: Apostelkonvent Apg 15,7-11: Petrus spricht zu den Aposteln – Konvent in Jerusalem
Testament nicht findet, die auch mit Paulus nur wenige Berührungspunkte hat.
Die Petruspredigt vertritt eine eigenartige und eigenständige Theologie, die sich sonst im Neuen
Die Grundgedanken: Gott hat seine Wahl getroffen (V. 7 »ausgewählt«), er hat sich für die be-
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464 schneidungsfreie Heidenmission entschieden. Wer anderes will, widersetzt sich Gottes Willen, er fordert Gott heraus, obwohl dieser doch seinen Willen bekannt gemacht hat (V. 10 »versucht«). Dass Gott so will und so gehandelt hat, kann man an der Geistverleihung an die Heiden sehen (10,44f). Diese ist Gottes »gutes Zeugnis«, das er für die Heidenchristen ablegt (V. 8: »bezeugt«). Der zentrale Gedanke: Gott konnte das bedenkenlos tun, denn er kennt die Herzen der Menschen. Das war in 1,24 (Gebet) der entscheidende Punkt bei der Wahl des Matthias an die Stelle des Judas. Zugegeben: Er allein kennt das Innere der Menschen. Denn er ist der Schöpfer und weiß als Einziger, wie seine Geschöpfe »von innen aussehen«. Deshalb wird allein er auch die Menschen richten können. Hin und wieder gibt er einem Propheten Anteil an dieser Herzenserkenntnis (Joh 4,18f). Aber weil Gott die Menschen bis ins Letzte kennt, kann allein er auch die Geschicke der Kirche führen, wenn man sie in seine Hand legt. So geht es in der Mission um die Herzen der Heidenchristen. Das Wort Herz findet sich dann nochmals in 15,9: Gott weiß, dass die Herzen der Heidenchristen rein sind. Sie sind rein durch den Glauben. (Diese Verbindung von Herz, Reinheit und Glauben findet sich dann ganz ähnlich in Past Herm, Mand 9,7: »Reinige dein Herz vom Zweifel und zieh den Glauben an wie ein Kleid, denn er ist kräftig.«) Reinheit ist für die pharisäischen Hörer, die Petrus gewinnen will (vgl. 15,5), das entscheidende Stichwort. Ob Jesus, wenn er die seligpreist, die reinen Herzens sind, ebenso einfach die Glaubenden meint (Mt 5,8)? Wenn aber die Herzen rein sind, dann ist alles rein. Dann besteht die grundsätzliche Trennung zwischen dem heiligen Gott und den unreinen Menschen nicht mehr. – In einem eigenartigen Licht erscheinen hier nun Beschneidung und die Gebote der Torah. Dass sie eng zusammenhängen, dass das eine aus dem anderen folgt, sagt auch Paulus in Gal 5,3. Petrus fügt hier sehr pointiert hinzu: Das Gesetz, die Torah kann sowieso niemand erfüllen. Das hat doch Ähnlichkeit mit Gal 3,10: Verflucht ist, wer nicht alles erfüllt, was in der Torah steht, was man aber nach 5,3 tun muss, wenn man sich beschneiden lässt. Und wenn Paulus sagt, durch Werke des Geset-
Die Apostelgeschichte
zes könne niemand gerechtfertigt werden (Röm 3,20; Gal 2,16), dann könnte sich das ja unter anderem auch auf die faktische Unmöglichkeit der Totalerfüllung beziehen. Die Gegenposition sieht in dieser Predigt so aus: Durch die Gnade Gottes wird der Mensch gerettet (V. 11), und dies steht der anfangs von den christlich gewordenen Pharisäern formulierten Meinung gegenüber (15,1), dass man nicht gerettet werden kann, wenn man sich nicht beschneiden lässt. Die Beschneidung wird jedenfalls durch die Gnade ersetzt (bei Paulus anders: durch den Heiligen Geist; findet er sich auch in Apg 15,8, aber doch mehr als Zeugnis Gottes, nicht als substanzielle Kraft in den Christen, aus der heraus sie dann handeln), und es wurde bereits darauf hingewiesen, dass Gnade ein königlicher Akt Gottes ist, was die Rede vom Reich Gottes ersetzt. Offen bleibt bei Petrus die Frage, wo nach der Rettung durch Gnade das Gesetz bleibt. Blickt man auf Apg 13,38f, so geht es tatsächlich nur um den Anfang: Rettung ist synonym mit Rechtfertigung, und beides geschieht zu Anfang, und somit muss man sich zu Anfang nicht beschneiden lassen. Paulus würde hier erheblich weiter gehen und sagen: Der Heilige Geist erfüllt uns mit Liebe, sie ist seine Frucht, und sie ist die Erfüllung des nicht aufgelösten Gesetzes. Aber, wie gesagt, für Petrus (nach Apg 15) geht es nur um den Eintritt und nicht schon um das Ganze. Im Übrigen hat man bemerkt, dass es zu Gnade hier nicht den Gegensatzbegriff Werke (des Gesetzes) gibt. Der Gegensatz ist tatsächlich Beschneidung. Das zeigt noch einmal die Anfangslastigkeit der ganzen Rede. Wenn Petrus sagt, das Gesetz könne sowieso niemand erfüllen, dann meint er damit: Die Vollkommenheit, die für Rettung oder Rechtfertigung ausreichte, kann schon wegen der vielen Gebote im Gesetz keiner erreichen. Wenn die griechische Antike – anders als Petrus in positivem Sinn – »Gesetz« mit Rettung (Heil, soteria) zusammenbringt, meint sie übrigens nicht die lückenlose Erfüllung, sondern das Gesetz als gute Einrichtung, als gute Gabe, die das Chaos verhindert (vgl. dazu H. Sonntag, Nomos Soter, 1998). Die antiken Autoren meinen das gute Gesetz als gute Gabe der Herrscher, nicht den vollkommenen Befolger aller Gesetze. Man kann
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Kapitel 15
vielmehr fragen: Wie kommen Petrus nach Apg 15,10b und auch Gal 3,10 auf die merkwürdige Totalerfüllung des Gesetzes? Antwort: Um gegenüber Glaube und Gnade jeden anderen Heilsweg auszuschließen, ganz gleich, ob jemand ihn beschreiten wollte oder nicht. Die Intention der Petrusrede ist auch erkennbar an den Gleichheitsformeln in 15,8-11 (Heiligen Geist – ihnen wie auch uns; kein Unterschied zwischen ihnen und uns; wir wie auch sie durch Gnade gerettet). Nach 15,12 sind der Hauptgrund der Verbreitung des Evangeliums unter den Heiden die »Zeichen und Wunder«; das ist laut 1 Kor 1,22 die jüdische Sichtweise, und hier reden ja Judenchristen.
Apg 15,14-21: Die Rede des Jakobus Die Rede des Herrenbruders Jakobus setzt die Rede des Petrus so fort, wie wir es von Apg 13,1731.32-41 her kennen: Der zweite Teil einer Rede ist in der Regel an der Schrift orientiert und argumentiert damit. Was Paulus nach Apg 13, 2631.32-41 allein tut, ist hier zwischen Petrus und Jakobus aufgeteilt. Die Intention der Jakobusrede ist der schriftgelehrte Nachweis, dass es nach Gottes Willen Judenchristen und Heidenchristen geben soll. Judenchristen sind die Basis der Kirche, und daher gilt Amos 9,11 (= Apg 15,16) von ihnen. Die Heidenchristen sind mit Amos 9,12 (= V. 17) gemeint. Die Judenchristen sind die wieder aufgerichtete Hütte Davids. Sie sind die Voraussetzung für das Entstehen der Heidenchristen (15,17a: »auf dass«, griech.: hopoos). Zu ihrem Nebeneinander vgl. auch im Nunc Dimittis Lk 2,32 (»Licht zur Erleuchtung der Heiden« – »Herrlichkeit deines Volkes Israel«). In den dann in 15,19-35 folgenden Ausführungen werden die Bedingungen für die Zusammengehörigkeit dieser beiden »Hälften« des Gottesvolkes genannt; das Scharnier ist das Aposteldekret (s. u. S. 461 f) Das lange Schriftzitat des Jakobus besteht am Anfang und Ende aus Amos 9,11 und 9,12. Im Wort »ich will rückgängig machen« von Apg 15,16a kann Jer 12,15 (Ich will umkehren lassen) eingewirkt haben. Der Schlusskommentar 15,18 ist wohl in Anlehnung an Jes 45,21 gebildet (da-
465 mit sie erkennen, was er hat hören lassen von Anbeginn). Die Frage, was die verfallene Hütte Davids ist, die Gott wiederaufbaut, ist umstritten. Die meisten deuten das Wort »ich will aufrichten« sogleich auf die Auferstehung Jesu und erinnern daran, dass nach 13,34-36 Gott die Verheißungen an David mit der Auferstehug Jesu erfüllt hat. In 4 Q flor 1,12f wird Amos 9,11 zitiert, und im direkten (fragmentarischen) Zusammenhang ist auch vom Spross Davids die Rede. Allerdings wird Amos 9,11 auch in CD 7,16 zitiert, und dort wird so kommentiert: »Die Bücher des Gesetzes, sie sind die Hütte des Königs«, der König sei die Gemeinde. – Ich bin mit W. Michaelis (Art. skene, ThW 8) der Meinung, die Aufrichtung der Hütte Davids sei »die Entstehung der christlichen Gemeinde«, was an Judenchristen erfüllt sei; Amos 9,12 sei dann an den Heidenchristen erfüllt. Durch die »sodass«-Verbindung wird die judenchristliche Gemeinde als Voraussetzung der heidenchristlichen geschildert. Ähnlich Sanseverino: Quod in synagogis ceciderat, surgat in ecclesiis). Dieser Vorschlag wird gestützt durch das Prophetentargum: »Ich will wieder aufrichten das Reich des Hauses David …« Trifft unsere Deutung zu, so liegt eine durchaus originelle Deutung des (endzeitlichen) Reiches Davids auf die Kirche vor. Das kann dann helfen, Lk 1,32f als erfüllt zu verstehen (Jesus wird auf dem Thron seines Vaters David sitzen). Ich kann die »Hütte Davids« (sein Zelt im Heerlager) nicht auf eine Person beziehen. Zu Apg 15,18: Der Vers hat in seiner Schlussposition Kommentarcharakter. Jakobus sagt: Gott handelt nicht zufällig, er hat all dieses schon längst kundgetan. Im direkten Kontext entsprechen dem 15,7 (erwählt von alten Tagen her) und 15,21 (seit den alten Generationen). Hier soll jeder Eindruck des nur Zufälligen getilgt werden. Ebenso Apg 3,21 ist verwandt (Gott hat geredet durch den Mund der Propheten vor Zeiten), weil es auch jetzt um Schrifterfüllung geht. Schließlich ist besonders auf 1 Petr 1,20 zu verweisen (vorher erkannt seit Grundlegung der Welt), damit auf das Revelationsschema. Dieses besagt immer, dass das Geheimnis bis jetzt verborgen war. Apg 15,18 dagegen sagt, Gott habe es seit alters bekannt gemacht oder gewusst.
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466 1 Petr 1,20 bildet insofern eine Verständnisbrücke, als hier das Erkennen schon vor der Entstehung der Welt angesetzt wird (Jesus ist vorher von Gott »erkannt« und doch erst jetzt geoffenbart; hier kommt also beides zusammen, ohne dass ein Widerspruch entsteht). Alte und wichtige Textzeugen wie P 74 und der Koine-Text sprechen von Gottes Werk oder Werken, die er schon längst bekannt gegeben habe. Apg 15,18 ist vor allem formgeschichtlich als Ende des Zitats zu erklären, weniger von Jes 45,21 her. Der Satz kommentiert das Zitat als uralte Vorankündigung/Prophetie Gottes (und ist daher in ganz ähnlicher Funktion wie sonst das Revelationsschema aufzufassen). Im Kontext der Apg erfolgte diese Bekanntmachung seitens Gottes durch die Propheten (Apg 3,21). Auch Röm 16,26 nimmt auf die prophetischen Schriften Bezug, denn das Geheimnis ist (nun) allen Völkern kundgetan. Auch in Röm 16,25f liegen die bekannten Vokabeln vor (Geheimnis, ewige Zeiten, geoffenbart, prophetische Schriften, bekannt machen). Im Verhältnis dazu fehlen in Apg 15,18 noch immer »Geheimnis« und die Differenz zwischen »offenbaren« und »bekannt machen«.
Zu 15,6-18 – Vergleich mit der Syrischen Didaskalie Bevor wir den Vergleich Apg 15/Syrische Didaskalie vollziehen, ist die Bedeutung der Rede von der Aufrichtung der verfallenen Hütte Davids im Licht der Texte von Qumran zu besprechen. Zitiert wird Amos 9,11 mit Jer 12,15 (»Ich will umkehren«): »Danach will ich umkehren und wiederaufbauen das zusammengefallene Zelt Davids, und seine Ruinen will ich wiederaufbauen und aufrichten, damit die übrigen Menschen den Herrn suchen und auch alle Völker, über die mein Name ausgerufen ist, sagt der Herr, der alles dieses bekannt gemacht hat seit Ewigkeit.« Zur Rolle des Zitats in den Texten von Qumran: CD 7,15 »Die Bücher des Gesetzes, sie sind die Hütte des Königs, wie er gesagt hat: Und ich will aufrichten die zerfallene Hütte Davids. Der König, das ist die Gemeinde und Kijjun der Bilder, das sind die Bücher der Propheten …, der Erforscher des Gesetzes.« 4 Q flor: »… Spross Davids, der mit dem Erfor-
Die Apostelgeschichte
scher des Gesetzes auftreten wird … in Sion am Ende der Tage, wie geschrieben steht: Und ich will die zerfallene Hütte Davids wieder aufrichten. Das ist die zerfallene Hütte Davids, die stehen wird, um Israel zu retten«. Beobachtungen: Amos 9 bezieht sich auf eine politische Renaissance Israels. In den Texten von Qumran, in Apg 15 und in der Syrischen Didaskalie (s. u.) wird der Text auf die Geltung bzw. Anerkennung des Gesetzes bezogen. – In Qumran wird zur Hütte Davids aus Amos 9 ausdrücklich der messianische Spross Davids assoziiert. Das gilt angesichts der Bedeutung der Davidverheißung bei Lukas auch von Jesus: Die Verheißung, die David gegeben wurde, hat sich in ihm erfüllt. Das wird die Heiden dazu veranlassen, den Herrn zu suchen. Das Gesetz wird in Apg 15 auf das Aposteldekret bezogen, das eben das wiedergibt, was für die Fremden bei Israel (die Heidenchristen) gelten soll. In der Syrischen Didaskalie wird das Gesetz umfassender verstanden (s. u.). Drei Punkte aus der Vorgeschichte von Amos 9 sind daher in Apg 15 wichtig: Das Gesetz, der Davidsohn, die Heiden. Ein Vergleich von Apg 15 mit der Syrischen Didaskalie (2./3. Jh, Kapitel 24-26) ist aufschlussreich zur Feststellung des Profils der beiden Texte. Die Syrische Didaskalie ist eine systematische Zusammenstellung, Auswahl, Kommentierung und Ergänzung aller einschlägigen Texte aus Apg 10-15 (und anderer Quellen). Das gemeinsame Thema ist die Geltung des jüdischen Gesetzes für Christen. – Dazu beachte man: Die Syrische Didaskalie ist eine Art Kirchenordnung. Die Kapitel 24-26 sind wie folgt aufgebaut: 1. Anbetung des trinitarischen Gottes 2. Grundsätzliche Bindung an die Heilige Schrift 3. Glauben an die Auferstehung der Toten und Erlaubnis zu heiraten (Mt 19,4-5) 4. Beschneidung nur des Herzens – Gegenposition: Beschneidung, Gesetz des Moses, Beachtung der Reinheitsregeln für Speisen 5. Rede des Petrus: a) Durch die Erwählung des Petrus will Gott die Heiden das Evangelium hören und gläubig werden lassen; b) Petrus schildert seine Vision des Gefäßes nach Apg 10f, verknüpft mit Dtn 32,43: »Freut euch, ihr Heidenvölker, mit dem auserwählten Volk«; c) Heiliger
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Kapitel 15
Geist, Reinheit der Herzen, Rettung durch die Gnade Jesu Christi (zit. Mt 11,28-30). 6. Rede des Jakobus: a) Gott wird sich ein Volk aus den Völkern erwählen; b) Gott will das Zelt Davids wieder aufrichten (Amos 9,11); c) Regeln für alle Christen: Sie sollen sich der Übeltaten enthalten, der Götzenverehrung und -opfer, des Erstickten und des Blutes; (in dem folgenden Aposteldekret, das durch Judas und Silas überbracht wird, tritt hinzu: Enthaltung von »Hurerei«). 7. Kapitel 25: Irrlehrer-Weissagung 8. Theorie der Wiederholung des Gesetzes nach Anfertigung des Goldenen Kalbs. Christen müssen alles dieses nicht beachten, was Reinigungen, Besprengungen, Waschungen und Unterscheidung der Speisen betrifft. Für sie gelten nur die Zehn Gebote, die Satzungen, die Jesus in Mt 5,17 meinte (was das genau ist, wird nicht gesagt). Die »Wiederholung des Gesetzes« wird aufgelöst. In Apg 10f werden nur unreine Speisen vom Verbot befreit. Der Heilige Geist ist den Glaubenden geschenkt, das Herz ist durch Glauben rein. »Das Gesetz konnten weder die Väter noch wir tragen.« Auswertung In der Syrischen Didaskalie ist das Material systematisch gebündelt. Als Verpflichtungen für Christen bleiben übrig: Dekalog, Verzicht auf Götzenopferfleisch, Unzucht, Blut und Essen von Ersticktem. Im Übrigen gilt eine nicht näher beschriebene Summe von Torahgeboten. Dass die Syrischen Didaskalie ausdrücklich Heiraten erlaubt und den Glauben an die Auferstehung der Toten einschärft, zeigt, dass hier noch Auseinandersetzungen mit dem Judentum lebendig sind. Denn zu heiraten verbieten Judenchristen nach 1 Tim 4,3, und Auferstehung abzulehnen ist ein Merkmal nicht-pharisäischer Orthodoxie. In Apg entsteht gegenüber der Syrischen Didaskalie der Eindruck, das historische Material sei zerdehnt geboten (zuerst Petrus mit reinen/unreinen Speisen). Nach der Syrischen Didaskalie gilt das Aposteldekret für Christen ohne Begrenzung. Die Theorie von der Wiederholung des Gesetzes kennen die Evangelien nicht, auch nicht Apg. Dennoch ist sie für Mk 10,1-11 im Prinzip und in Umrissen vorauszusetzen (vgl. K. Berger, Gesetzesauslegung, 1974, zu Mk 10).
Durch die Gliederung der Apg in 10f wird die Rolle des Petrus (ähnlich der des Paulus nach Kapitel 9) betont. In der Syrischen Didaskalie dagegen erscheint der gesamte Komplex als die Lehre der Zwölf Apostel. Es ist nicht grundsätzlich ausgemacht, wer hier die Priorität in der Darstellung hat; theoretisch ist denkbar, dass Syrischen Didaskalie den älteren (vor-lukanischen) Zustand des Materials bietet und Lukas nach Petrus und den Paulus-Nachrichten, die er hatte, sortiert hast. Auf hohes Alter der Überlieferung der Syrischen Didaskalie weist auch, dass z. B. für des MkEv gleichfalls die Dekaloggebote (und außer den beiden Hauptgeboten nur sie) positiv in Geltung stehen. – Paulus kommt in der Syrischen Diadaskalie in diesem Kontext nicht vor, das paulinisch klingende Argument, man habe das Gesetz nicht tragen können, erinnert von weitem an Röm 8,3.
Apg 15,19-21: Das Aposteldekret Das mit 15,17 verbindende Stichwort ist »Heidenvölker« (V. 9). Jakobus will den Heiden, die sich zu Gott bekehren, keine Hindernisse in den Weg legen. Das so genannte Aposteldekret umfasst Speisegebote (keine Götzenopfer, kein Blut, nur geschächtetes Fleisch) und das Verbot der Unzucht (d. h. Mischehe mit Heiden). Das Kriterium, nach dem diese Gebote ausgewählt wurden, hat M. Klinghardt ermittelt: Es sind diejenigen der auch für Fremdlinge geltenden Bestimmungen, die im Alten Testament mit der Ausrottungsformel versehen sind (in: Gesetz und Volk Gottes, 1985). Die Hinzufügung der Goldenen Regel im westlichen Text macht aus dem Aposteldekret ein Minimalkompendium der Ethik überhaupt. Doch das war schwerlich der Sinn dieser Liste. Die Einhaltung dieser Gebote durch Heidenchristen soll das Zusammenleben mit Judenchristen auf minimaler Basis ermöglichen. Schon in 1 Kor (s. dort), aber auch in Offb und weithin in der Alten Kirche wurden diese Vorschriften auch dort bewahrt, wo man nicht mit Judenchristen zusammenlebte. Es ist dennoch erstaunlich, dass von den sonstigen, aus dem Judentum übernommenen Regeln (Dekalog, Liebesgebot) keine Rede ist. Hier werden demnach lediglich rituelle Interessen be-
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468 dient, offensichtlich im Sinne der Pharisäer, die nach 15,5 Christen geworden waren. Die christianisierten Pharisäer in Jerusalem sind demnach die wahren Hauptadressaten des Aposteldekrets. Zu ihrer Beruhigung ist es verfasst und abgeschickt. Erstaunlich ist auch, dass das Aposteldekret die eigentlich positive Nachricht, nämlich die Aufhebung der Beschneidungspflicht für männliche Nachkommen, nicht enthält. Diese Tatsache zeigt nochmals, dass die wahren Adressaten in Jerusalem wohnen und dass das Kriterium wirklich die Torah ist, sofern sie Juden neben Nichtjuden wohnend annimmt. Im Übrigen ist der Ausdruck der älteren Forschung, es sei in Jerusalem »gesetzesfreie« Heidenmission erlaubt worden, irreführend. Denn das Aposteldekret geht ja gerade davon aus, dass die davon betroffenen Heidenchristen wirklich unter das Gesetz fallen. Sie kommen wirklich als eigene Gruppe darin vor! Im strengen Sinne Gesetzesfreie sind aber auch die heidenchristlichen Gemeinden des Paulus nicht; denn für sie gilt immerhin noch das Liebesgebot als Summe und Erfüllung des Gesetzes, wie Paulus ausdrücklich sagt (Gal 5,14). Niemand konnte das Gesetz als Ausdruck des Willens Gottes je abschaffen. Vergleich Apg 7 (Stephanus) und Apg 15 (Petrus und Jakobus) Der Leser der Apg wird durch diese beiden Kapitel mit Bedacht vorbereitet auf einen Abschied von der jüdischen Institution des Tempels (Apg 7) und des Ritualgesetzes (Apg 15, mit Vorlauf in Apg 10f). Daher lassen sich beide Kapitel gut vergleichen: Konfliktparteien: Apg 7: Stephanus gegen Diasporajuden; Apg 15: Apostel gegen getaufte Pharisäer. Objekt des Streits: Apg 7: Tempel in Jerusalem; Apg 15: Ritual-, Speise-, Reinheitsgesetz. Argumente aus der Schrift: Apg 7: Gott ist größer als der Tempel; Apg 15: Gesetz war unerfüllbar, Gott hat Juden- und Heidenchristen vorhergesehen. Positive Lösung: Apg 7: Gott wohnt überall; Apg 15: Rettung durch Gnade. Gegensatz zur Fixierung: Apg 7: auf den jüdischen Tempel; Apg 15: auf die Summe der jüdischen Torah-Observanz.
Die Apostelgeschichte
Kompromiss-Züge: Apg 5 und 7: Urgemeinde betet im Tempel; Apg 15: Aposteldekret als Minimalbestimmungen.
Historizität In Zeiten des generellen Misstrauens gegenüber Lukas und des ungebrochenen Vertrauens auf die Darstellung in Gal 1f fiel es sehr leicht zu sagen, das Aposteldekret sei nicht auf dem Apostelkonvent verordnet worden, und zwar wegen Gal 2,6c (»mir wurde nichts zusätzlich auferlegt …«). Vielmehr sei das Dekret erst nach dem antiochenischen Zwischenfall für gemischte Gemeinden (aus Judenchristen und Heidenchristen) erfunden und dann von Lukas fälschlich schon dem Konvent in Jerusalem zugeschrieben worden. – Inzwischen darf man Lukas bzw. der Apg mehr vertrauen und ist kritischer gegenüber Paulus geworden. Das ergibt eine Möglichkeit, beide Berichte nicht für unvereinbar zu halten: Gal 2,6c ist wahr; Paulus meint sich persönlich, seine eigene Heidenmission. Dass er der Gemeinde in Antiochien das Aposteldekret überbringen soll, das für diese Gemeinde (nebst Syrien und Kilikien) gilt, ist dadurch überhaupt nicht ausgeschlossen. – Ferner: Der antiochenische Zwischenfall setzt das Aposteldekret voraus. Denn seine Geltung ist die Grundlage dafür, dass Petrus von den Jerusalemern zur Ordnung gerufen werden konnte; denn für seine Gemeinden galt unter allen Umständen das Aposteldekret. In Antiochien hatte er sich aber mit Heidenchristen paulinischen Typs ohne irgendwelche rituellen Bedingungen zusammengetan. Das war ein Verstoß gegen die Vereinbarungen des Apostelkonvents. Freilich hatte der Apostelkonvent für den Fall des Zusammentreffens und des gemeinsamen Feierns von Christen petrinischen Typs und Heidenchristen paulinischen Typs keine Regelung getroffen. Das war der Punkt, der nicht geklärt war: Welche Regeln gelten für den Fall, dass Heidenchristen, die keine rituelle Einschränkung kennen, mit Christen des petrinischen Typs (für die jüdische Maßstäbe gelten, und sei es für Fremde im Sinne des Aposteldekrets) gemeinsam Herrenmahl feiern? Da das Herrenmahl das Sakrament der Gemeinschaft und der Einheit der Christen ist, lag es nahe, das, was zusammengehört, auch einfach ohne weitere Bedingungen zusammenkommen zu lassen. Das konnte nicht
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Kapitel 15
im Sinne der Judenchristen, besonders derer in Jerusalem, sein. Der Schlüssel zum Verständnis ist dabei, wie man sich die petrinische Mission zu denken hat. Nach Gal 2,8 ist Petrus für »die Beschneidung« abgestellt, andererseits aber hat er nach Apg 10f sowie 1 Kor 1,12 Heidenmission betrieben. Es heißt nicht einfach »für die Juden«, sondern »für die Beschneidung« setzt eine Reihe von jüdischen Regeln voraus, auch für Heidenchristen. Das könnten genau die Bestimmungen des Aposteldekrets sein. Noch 1 Kor lässt die Diskussion darüber erkennen (vgl. zu 1 Kor 5-10). Unter »petrinischem Typ« verstehe ich daher eine Mission, in der das Aposteldekret gilt, und zwar für Judenchristen sowieso (zusammen mit dem Rest der Torah), und besonders für Heidenchristen. So handhaben es manche Ostkirchen bis heute. – Die Geltung des Aposteldekrets ist im Übrigen kein Widerspruch zur Aufhebung der Speisegesetze nach Apg 10. Das Auswahlkriterium ist ein anderes: Nach Apg 10 wird die Differenz zwischen reinen und unreinen Tieren (und Speisen) der Art nach beseitigt. Im Aposteldekret geht es dagegen um die Regeln, die für die Fremden galten, die mit Israeliten zusammenwohnten (und die ein Ausrottungsgebot enthielten). – Zum Verständnis von »Beschneidung« in Gal 2,7 vgl. zu den Gegnern im Gal (s. o.: Einleitungsfragen).
Der antiochenische Streit endete dann damit, dass Paulus mit seinem Typ Heidenmission sich dauerhaft von Antiochien trennte; dort galt seit Apg 15 das Aposteldekret. Petrus musste die Mahlgemeinschaft mit den »paulinischen« Heidenchristen aufgeben. Nach Apg 15 werden weder die Zwölf noch Petrus in der Apg weiter erwähnt. Der Blick fällt ganz auf Paulus und seine Mitarbeiter. Schon früher hat man bemerkt, dass Lukas seine Leser behutsam auf die für sie aktuelle Art von Christentum vorbereitet. So ist auch die Hierarchie nach Apg 15 durch Apostel und Älteste bestimmt. Bis Apg 15 führen immer wieder alle Wege nach Jerusalem (vgl. dazu E. Haenchen, Die Apostelgeschichte, 71977, passim) Für die bescheidenen urchristlichen Verhältnisse sind die Apostel in Jerusalem daher durchaus eine beherrschende Zentralmacht. Diese Beobachtung widerlegt alle Vermutungen, es habe am Anfang ein paradiesischer Lie-
beskommunismus o. Ä. geherrscht. Vielmehr gilt: Von Anfang an gibt es eine nachhaltig wirksame »apostolische Zentralstadt«, um nicht zu sagen »römische Verhältnisse«.
Apg 15,22-35: Aussendung nach Antiochien Recht umständlich und mit nochmaliger Zitierung des Dekrets wird das Dokument von Jerusalem nach Antiochien geschickt. Alle Mehrfach-Zitierungen sind für Lukas stets Signale einzigartiger Bedeutung eines Vorgangs in der Kirchengeschichte: Die Paulus-Vision vor Damaskus, die Petrus-Vision mit dem Tuch, das Aposteldekret. Die feierliche Aussendung von vier Personen (Judas Barsabbas und Silas/Silvanus sowie Paulus und Barnabas) soll Eindruck machen bei den Antiochenern und ist ein Ausweis des autoritativen Selbstbewusstseins der Jerusalemer. Barnabas und Paulus werden in 15,26 hervorgehoben als Menschen, die »sich gegeben haben für den Namen unseres Herrn Jesus Christus« – ein Beleg dafür, dass sein Leben/seine Seele »geben« nicht sterben bedeutet, sondern Einsatz des Lebens (wichtig für Mk 10,45 etc.). Die Formel »es erschien dem Heiligen Geist gut und uns« geht – ähnlich wie die Benennung von Amtsträgern etc. durch den Heiligen Geist (s. zu Apg 13,2) – von einer intensiven und aktiven Präsenz des Geistes Gottes in der versammelten Gemeinde aus. Diese übt der Geist durch Propheten aus; das sind hier Judas und Silas, denn von ihnen wird in 15,27b und in 15,31.32 auffällig intensiv über Wortverkündigung berichtet (in V. 31f mit »zureden«, griech.: parakalein bzw. paraklesis). Ausdrücklich werden Judas und Silas in 15,32 »Propheten« genannt. Wir sehen in ihnen also urchristliche Propheten »in Aktion«. Gegenüber ihren lebendigen Wort tritt das schriftliche Dokument an Bedeutung zurück. Es »gilt das gesprochene Wort«. Betrachten wir nochmals den Gesamtvorgang: Die Gemeinde von Jerusalem sendet zwei Apostel und zwei Propheten. Das Schreiben beginnt mit dem Satz »Dem Heiligen Geist und uns schien es gut …«; damit nimmt es an erster Stelle auf prophetische Offenbarung Bezug. Die beiden Propheten tragen den Inhalt des Schreibens münd-
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470 lich in Antiochien vor: »durch das Wort verkündeten sie (Judas und Silas) dasselbe«. Dieses Vorgehen konnte von den Antiochenern mühelos akzeptiert werden (s. zu Apg 13,2). Daraus wird umrisshaft eine gewisse Aufgabenteilung zwischen Aposteln und Propheten erkennbar: Die Apostel sind für die Mission, die Propheten für die internen Entscheidungen zuständig. Beide zusammen sind aber die höchsten Repräsentanten der Gemeinde, die Apostel an erster Stelle.
Die Apostelgeschichte
Interessant ist, dass mit dem Ende des 1. Jh. weder das eine noch das andere Amt überlebt. Zukunft hatte das Gegenüber von Bischof und Presbyterium. Propheten sterben aus mit den Anfängen der neutestamentlichen Kanonbildung; seitdem ist auch das Christentum, durch christliche Schriften Schriftreligion. Apostel finden Presbyterien als Nachfolger (mit Einzelbischöfen an der Spitze).
Apg 15-21: Weitere paulinische Mission Apg 15,36-41: Paulus und Silas – Barnabas und Johannes Markus Paulus und Barnabas hatten bisher zusammengewirkt; nun trennen sie sich. Barnabas zieht mit seinem Vetter Johannes Markus (Kol 4,10) zusammen nach Zypern, Paulus wird zusammen mit Silas/Silvanus in Antiochien verabschiedet und zur Mission ausgesandt. – Zwischen Paulus und Barnabas gibt es zwei Konflikte: Nach Gal 2,13 steht Barnabas beim antiochenischen Zwischenfall auf der Seite des Petrus. Und Paulus weigert sich nach Apg 13,38, Johannes Markus auf die Missionsreise mitzunehmen. Darüber kommt es zum Streit mit Barnabas. Mutmaßlich betrachtete Paulus Johannes Markus als den eigentlichen Scharfmacher. Hielt Johannes Markus das Aposteldekret, nachdem es nun in Antiochien eingeführt und angenommen war, auch für alle von Antiochien ausgehende Mission für verbindlich? – Nach Gal 2,6 hatte man ja Paulus persönlich nichts auferlegt. Das Aposteldekret richtete sich aber an Antiochien. Und da konnte nun leicht ein Problem entstehen: Galt in einer von Antiochien ausgehenden Mission die »Freiheit« des Apostels Paulus oder das Antiochien auferlegte Dekret? Einen Machtkampf zwischen Paulus und Johannes Markus anzunehmen, wäre sicher zu modern gedacht. Dennoch war es eine wichtige Frage, die in diesem persönlichen Streit letztlich zugunsten des Apostels Paulus entschieden wurde: ob die neuen heidenchristlichen Gemeinden sich nach antiochenischem Recht (Geltung des Aposteldekrets) verhalten müssten oder nicht. Noch einmal stand daher in diesem Streit das paulinische Evangelium – vor allem im Blick
auf seine universalkirchliche Bedeutung – in Gefahr. Der Bericht ist nicht ohne Genugtuung darüber verfasst, dass Paulus von der Gemeinde in Antiochien zur Mission nach seinen Regeln feierlich ausgesandt wurde (zusammen mit dem Propheten Silas). Hätten Barnabas und Johannes Markus in diesem Streit gesiegt, dürften wir bis heute keine Blutwurst essen und eben nur geschächtete Tiere. Andererseits käme die Anbindung an das Judentum viel stärker zum Bewusstsein. Von Barnabas und Johannes Markus wird die Apg nie wieder berichten. Sollte der Barnabasbrief auf den Apostel Barnabas zurückgehen, so wären die Differenzen allerdings mit Händen zu greifen; im Verhältnis zu Röm ist Barn sehr viel kritischer gegenüber dem Judentum; er rechnet auch nicht mit einer endzeitlichen Versöhnung.
Apg 16,1-5: Paulus in Derbe und Lystra Die Verse scheinen dem vorangehenden Abschnitt (unserer Deutung) direkt zu widersprechen – Paulus vollzieht hier Anliegen der Gegenpartei: Er beschneidet Timotheus und verkündet das Aposteldekret dort, wo eine Promulgation gar nicht vorgesehen war. Denn Derbe und Lystra liegen nicht in Kilikien, sondern in Lykaonien. (Insbesondere eine Beschneidung des Timotheus wird von der Tübinger protestantischen Schule, aber auch von neueren Exegeten wie E. Haenchen, heftig bestritten.) Ich meine jedoch, dass an beiden Nachrichten überhaupt nicht zu zweifeln ist: In beiden Fällen schont Paulus das jüdische Selbstverständnis. Nach den Nachrichten
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am Ende von Kap. 15 handelt es sich in 16,1-5 um eine Abwehr von Missverständnissen, die gerade nach unserer Deutung entstehen könnten, und die diese eigentlich bestätigen. Denn Paulus lässt keinen Zweifel daran, dass für die reine Heidenmission, wie er sie betreibt und sofern er sie betreiben kann, weder Beschneidung noch Aposteldekret gelten. Aber in Lykaonien sind eben die Verhältnisse anders, und Paulus trifft hier auf zahlreiche Juden (V. 3: »mit Rücksicht auf die Juden, die in jenen Ortschaften wohnten«). Timotheus ist Sohn einer Jüdin und muss daher nach jüdischem Recht beschnitten werden. Seine Unbeschnittenheit war eine Ordnungswidrigkeit, die Paulus »heilt«, damit klare Verhältnisse bestehen. Das Aposteldekret macht Paulus den hier gewonnenen Heiden- und Judenchristen bekannt, weil er für die Judenchristen den tödlichen Verdacht beseitigen will, sie seien abtrünnige Juden. Paulus hat demnach aus dem antiochenischen Zwischenfall gelernt und vermeidet den Fehler, seine Art von Mission den Gemeinden aufzuzwingen, die aus Heiden- und Judenchristen bestehen. Im Übrigen war die Lage in Antiochien ja etwas anders: Dort trafen genuin heidenchristliche Gemeinden paulinischen Typs auf Judenchristen petrinischen Typs. Paulus konnte und wollte seinen Heidenchristen nicht nachträglich etwas aufzwingen, von dem er vorher nichts verkündet hatte. Um die Nachträglichkeit geht es ja auch in Galatien; die galatischen Gegner wollten, nachdem Heiden getauft sind, noch zusätzlich die Beschneidung einführen. In Derbe und Lystra dagegen wurde von Anfang an mit gemischten Gemeinden gerechnet, und Paulus beharrte für diesen Fall nicht auf den Verzicht des Aposteldekrets. Die Beschneidung des Timotheus ist nicht mit den galatischen Gegnern zu vergleichen, die eben deshalb die Beschneidung fordern, weil sie – mit Verweis auf Jesus, die Apostel und Paulus – der Meinung sind, die Beschneidung sei zum Heil nötig. Damit kann man aber nicht sagen, Paulus habe Timotheus aus rein taktischen Erwägungen beschnitten. Bei der großen Liebe des Apostels zu seinem Volk geschieht hier nichts aus rein taktischem Kalkül. Vielmehr kann sich Paulus – und wer könnte das besser als er? – in die Argumentation und Gefühlslage der dort wohnenden Juden buchstäblich hineinversetzen. Dass er nichts
gegen das Beschnittensein christlicher Juden hat, sagt er ausdrücklich in Röm 4,11f (Beschneidung als Siegel – Abraham als Vater der Beschneidung). Die Beschneidung darf nur nicht nachträglich als quasi-heilsnotwendig zur Taufe hinzutreten. Fazit: Durch seine beiden Maßnahmen vermeidet Paulus Streit und Unruhe, wie sie in Antiochien entstanden waren. Beide Maßnahmen sind Ersatzvornahmen, die eigentlich Petrus hätte tun können und sollen, wäre er erreichbar gewesen – übrigens ein Hinweis darauf, dass Paulus aus Antiochien nicht nur gelernt hat, sondern mit Petrus auch wieder eins war oder hätte sein können. Was hier manchen (vor allem protestantischen) Auslegern als reine Taktik (oder sogar als Verrat) erscheinen mag und vor allem deshalb als unhistorische lukanische Erfindung aus der Vita Pauli getilgt wird, ist in Wirklichkeit – nach meiner Ansicht – ein Zeugnis dafür, dass Paulus ganz selbstverständlich und souverän und im Sinne des Apostelkonvents nach Gal 2,8 neben seiner Heidenmission eine anders ausgerichtete Mission unter dem Vorzeichen der Beschneidung kennt und sie – wenn die Abgrenzung klar ist – kollegial und im Dienst der Einheit der Kirche sogar fördern kann. Denn nichts wäre verheerender gewesen, als die neu gewonnenen Judenchristen »ans Messer zu liefern«, und zwar wegen Abfallens vom Judentum. Das hatte Paulus grundsätzlich verstanden. Apg 16,1-6 soll daher nach 15,36-41 deutlich machen: Paulus verkündigt sein Evangelium rein (und das hat personelle Konsequenzen), aber nicht rücksichtslos gegenüber Judenchristen. Sie sind für ihn (vgl. auch die Kollekte nach Jerusalem) der Kern der christlichen Kirche. An deren Erhalt und Bewahrung vor Schaden ist er höchstpersönlich und elementar interessiert. Die Forschung des 19. und 20. Jh. hat solche Überlegungen weit abgewiesen und aus dem »gesetzesfreien Evangelium« ein Prinzip gemacht.
Apg 16,6-10: Vision des Paulus, nach Mazedonien zu gehen Hier haben wir es wieder mit dem Heiligen Geist zu tun, der seinen Willen kundtut (V. 6f). Wir
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472 haben bereits zu 13,2 und 15,28 gesehen, dass es sich dabei um Prophetenworte handelt. Hier spricht alles dafür, dass der Prophet Silas sich geäußert hat; den Namen erwähnt Lukas nicht, der ist auch sonst stets unwichtig, wenn Propheten reden! Sie verschwinden ganz hinter der Botschaft, und das macht einen Teil ihrer Glaubwürdigkeit aus. Paulus dagegen kann mit einer Vision aufwarten, das ist offenbar die mehr für Apostel passende Art von Offenbarungen. Diese Vision (16,10) entspricht freilich keinem jüdischen oder christlichen Visionsstil, denn dort erscheinen Entrückte oder Himmelswesen. Entscheidend ist der Ruf: »Hilf uns!« Dass ein (großer) Mann in einer Vision erscheint, gibt es auch bei Herodot (7. Buch, § 12). Nichts spricht für ein Traumgesicht. Die Adressaten des Stücks konnten vermutlich mit Engeln in Visionen nicht viel anfangen.
Die Apostelgeschichte
gekommen, uns zu vernichten« und Mk 3,11 »Du bist der Sohn Gottes«. Der Identifikation (mit Titel) folgt, wie in Mk 1,24, eine Angabe des heilvollen Zwecks. – Das Besondere ist hier: Nicht der Mensch, der eine Erscheinung hat, identifiziert den Geist, der ihm erscheint (»Wer bist du? Ich bin …«; vgl. dazu K. Berger, Auferstehung. 1976, 439-447), sondern umgekehrt identifiziert der Geist »aggressiv« den menschlichen Widersacher. Aber beides beruht darauf, dass der menschliche Partner ebenfalls Träger eines Geistes ist. – Wie in Exorzismen üblich folgt der Befehl zum Ausfahren, hier wörtlich übereinstimmend mit Lk 8,29 (»gebot ihm, auszufahren«). Wie in Mk 9,38 angegeben, erfolgt der Befehl »im Namen Jesu«. – Fazit: Nach der Darstellung des Lukas hat die Sklavin etwas ganz Ähnliches wie die Dämonen, mit denen Jesus zu tun hat. Neu ist nur die Notiz über die Ausbeutung der Magd. Diese Notiz entspricht dem bekannten finanziellen Interesse des Lukas.
Apg 16,11-15: Bekehrung der Lydia in Philippi Eine typische Bekehrungsgeschichte. Eine Synagoge gibt es in Philippi nicht, aber die christliche Mission beginnt dort, wo man am Sabbat Juden vermuten konnte: an einem Fluss, denn zum Beten musste man die Hände reinigen. Weil 75 % aller Proselyten Frauen waren, passte Lydia gut ins Bild. – Die Einladung an die Taufenden ins Haus des/der Getauften findet sich schon in Lk 19,9 (noch ohne Taufe), dann aber in Apg 10,23; 16,31b.32.34 und bis heute. – Der Bericht über den »Gottesfürchtigen« Kornelius, den Petrus bekehrt, hat hier seine Entsprechung in der »Gottesfürchtigen« Lydia, die Paulus bekehrt. Auch sie hat sich an die jüdischen Gebetstraditionen gehalten.
Apg 16,16-19: Wahrsagegeist einer Sklavin Der Bericht über den Wahrsagegeist in der Sklavin entspricht den Exorzismen, die wir aus den synoptischen Evangelien kennen. Dazu gehört vor allem die anfängliche Identifikation in 16,17b: »Diese Menschen sind Sklaven des Höchsten Gottes, die euch den Weg des Heils verkünden.« Vgl. dazu besonders Mk 1,24: »Ich weiß, wer du bist, der Heilige Gottes …, du bist
Apg 16,20-32: Befreiung aus dem Gefängnis Die Magd wird vom bösen Geist befreit – und die christlichen Missionare aus dem Gefängnis. Daher stehen zu Beginn von Apg 16 zwei Befreiungsberichte nebeneinander. Befreiungen aus dem Kerker wurden bislang für Petrus und Begleiter berichtet (Apg 5,17-23; 12,4-11). Hier wird das für Paulus und Begleiter nachgeholt. Wie bei Petrus nach Apg 12, so sind auch hier zur gleichen Zeit die Brüder in einem christlichen Haus versammelt (16,40). Der Gefängniswärter fragt nach dem Befreiungswunder sogleich, was er tun muss, um gerettet zu werden. Dieses ist eine stereotype Anfrage im gesamten Bereich frühchristlicher Mission: Mk 10,17: Der reiche Jüngling fragt, was er tun muss, um das ewige Leben zu erlangen; Lk 3,10.12: Die Massen und die Steuereinnehmer fragen den Täufer: »Was sollen wir tun?«; nach Clem Hom 10,4 hat der Prophet gesagt, was man denken und tun muss; im Agraphon 104 (Berger/ Nord) fragt der junge Mann: »Was muss ich Gutes tun, um zu leben?« (Origenes, In Mt XV 14); in TestSal C 13,10 bittet Salomo: »Herr, offenbare mir, was ich tun muss«; in den kopt »Taten Petri«, Schenke, 9f, werfen sich die Hörer der Predigt zu
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Kapitel 17
Boden und sagen: »Was du willst, das wollen wir tun«; in Daniel-Diegese 14,8 fragen die Menschen Henoch, Elia und Johannes: »Was sollen wir tun, ihr Heiligen?« – Fazit: Die Frage »Was sollen wir tun?« ist eine typische Reaktion der Adressaten auf die Bekehrungspredigt. Die Predigt hat in den Menschen die Passivität und Lethargie zerstört und den Wunsch entfacht, selber aktiv zu werden.
Ebenso typisch ist die Antwort: »Glaube, und du wirst gerettet werden.« Die Kombination von Glauben und gerettet werden findet sich 8 im lukanischen Schrifttum (Lk 7,50; 8,12.48.50; 17,19; 18,42; Apg 14,9; 16,31), 2 bei Paulus (Röm 10,9; Eph 2,8), 2 im Jak (5,15; in 2,14 bestritten); 2 bei Mk (9,22; 16,16 [= Dt.-Mk]).
Apg 17,1-4: Paulus und Silas in Thessaloniki Paulus beweist in Thessaloniki aus der Schrift: (a) dass Jesus leiden musste, (b) dass er von den Toten auferstehen musste, und (c) dass er der Messias ist. – Die drei Themen sind auf drei Sabbate verteilt, und das Ganze sieht schon wie ein rudimentärer Lehrplan aus. – Nach allem, was wir aus dem Neuen Testament erkennen können, dürfte Paulus zu a) Texte über das Leiden des Gerechten wie Ps 22 und Jes 53 verwendet haben, zu b) Texte wie in Apg 3,34-36 (Psalmen und Propheten), zu c) zum Beispiel Ps 2 (vgl. Apg 4,25-28). Das Verb dei (griech.) »es ist nötig, dass etwas geschieht« kommt von den griechischen Tragikern, von Herodot, aus der Traumdeutung und der griechisch-jüdischen Apokalyptik. Es geht häufig um positive oder negative Ereignisse der Endzeit. Dass etwas »geschehen muss« bezieht sich dabei nicht auf den aktiven Willen Gottes, sondern in der Regel auf den Ausgleich innerhalb des bestehenden Äons: Die Verheißungen müssen erfüllt werden; wer gelitten hat, muss rehabilitiert werden; das Gute hat seinen Preis, alles muss am Ende offenbar werden (vgl. dazu K. Berger, Wer bestimmt unser Leben?, 2002, 68-100). Es handelt sich daher um eine Art von immanenter Weltgerechtigkeit, für die Gott freilich der Garant ist. Entscheidend ist der Ausgleich: Diese Welt ist im Ganzen sinnvoll geordnet, und das erfordert am Ende ein Gleichge-
wicht. So ist z. B. das Tausendjährige Reich nach Offb 20,1-6 der notwendige Ausgleich für alle, die um Jesu Christi willen das Martyrium erlitten haben und diesen Teil ihres Lebens erstattet bekommen müssen, wenn es denn in der Welt überhaupt sinnvoll und gerecht zugeht. Von einem »Heilsplan« Gottes ist in Apg 17,1-4 nicht die Rede, da z. B. beim Leiden jede Angabe »für uns« oder »zur Vergebung der Sünden« fehlt. Es geht um das Geschick der Person.
Apg 17,5-15: Verhör vor der Obrigkeit Das Vorgehen einiger Juden gegen Christen in Thessaloniki entspricht dem, was in der Apg häufiger berichten wird. Von einigen Juden werden Christen bei der Obrigkeit angezeigt, die dann gegen sie vorgeht (V. 6f). Das Argument mit dem Königtum Jesu Christi steht schon in Lk 23,2. Dort ist Pilatus der Adressat. Insofern erleiden die Christen dasselbe wie Jesus (vgl. dazu W. Stegemann, Zwischen Synagoge und Obrigkeit, 1991).
Apg 17,16-34: Zur Logik der Areopagrede des Paulus a) Paulus beginnt mit einer captatio benevolentiae: Die Athener sind religiös. b) Sowohl Griechen als auch Römer waren stets auf der Suche nach einem Gott, den sie übersehen hatten oder den sie zu wenig oder falsch verehrten. Insbesondere die römischen Sibyllen haben die Funktion gehabt, offiziell auf derartige kultische Defekte aufmerksam zu machen. Paulus übernimmt hier die Funktion einer Sibylle auch deshalb, weil er massiv das kommende Gericht ins Spiel bringt. Das taten auch die Sibyllen, um ihre Mahnungen dringlich zu machen. Die uns erhaltenen jüdisch-christlichen Sibyllen weisen auch immer wieder auf die beiden Punkte Schöpfung und Gericht hin. Eine Heilsgeschichte dazwischen entfällt nahezu. Paulus ahmt daher hier die Sibyllen kunstgerecht nach. c) Aus der Sicht der Griechen und Römer ist also der »unbekannte Gott« eine Gottheit, die zu wenig beachtet wurde (und die sich deshalb durch Unglück rächt). In der Deutung des Apos-
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474 tels Paulus ist dieses der eine und einzige Gott, es kann nur dieser sein. d) Aber dieser bislang »unbekannte« Gott ist gar kein fremder, ferner Gott, sondern er ist in Wirklichkeit schon immer ganz nah, ganz selbstverständlich. Mit diesem Argument tilgt Paulus den möglichen Einwand, dieser Gott sei eben unbekannt, neu, orientalisch oder exotisch. Nein, als Schöpfer ist er den Menschen schon immer nahe, ja sie sind und bewegen sich »in ihm« (für den echten Paulus wäre das hier eine sehr weitgehende Aussage, denn »in Christus« zu sein ist Merkmal nur der Christen). Die Aussage »Wir sind von seiner Art« (V. 28) hat daher eine Doppelfunktion: Sie setzt den biblischen Glauben vom Götzendienst ab (tote Götter) und ermäßigt den Fremdheitsfaktor. e) Paulus betont die universale Wirksamkeit Gottes: Er hat das ganze Menschengeschlecht aus einem Menschen (Adam) gemacht; dieser Monogenismus bedeutet gleichzeitig universale Verwandtschaft aller Menschen. Sie sind so nicht nur mit Gott, sondern auch untereinander eine Familie. Nach V. 30 bietet Gott »überall« in der Welt die Möglichkeit umzukehren. Nach V. 31 wird er die »ganze Welt« (griech.: oikumene) richten, hat aber allen den Glauben an Jesus leicht gemacht. f) Gott war in diesem Sinne als der Schöpfer nahe, aber er war verborgen. Das hat sich geändert, denn Gott enthüllt sich jetzt. Er hat es getan, indem er einen Menschen von den Toten auferweckt hat, der der künftige Richter sein wird. Dann wird er die ganze Welt richten. Die einzig angemessene Frage der Hörer wäre nun: Was sollen wir also tun? Aber dazu kommt es leider nicht mehr. Denn dass Jesus als künftiger Richter durch seine Auferstehung qualifiziert sei, können sie nicht einsehen, und damit glauben sie weder an diesen Gott, noch rechnen sie mit dem künftigen Gericht. Es liegt also alles an der Auferstehung Jesu (darin ist Paulus auf jeden Fall richtig verstanden). g) Lukas liefert hier – wie er meint – ein Stück paulinischer Heidenpredigt. Denn die Geschichte Israels fällt aus, aus der Jesusüberlieferung ist nur seine Auferstehung erwähnt. Seine Wiederkunft ist zentral, aber eben noch ausstehend. Die beiden Themen Schöpfung und Gericht waren dem Publikum der Sibyllen nicht unbe-
Die Apostelgeschichte
kannt. Verwandt ist übrigens 1 Thess 1,9f: Die Bekehrung zum richtigen Gott und die Wiederkunft Jesu Christi, des Auferstandenen, zum Gericht stehen im Zentrum. h) Im näheren Kontext gibt es Berührungspunkte zur Heidenpredigt in 14,15-17: Götzen gegen lebendiger Gott, der der Schöpfer ist. Den »eigenen Wegen« der Heidenvölker (nach 14,16) entsprechen die in 17,26 genannten Dinge. – Die Argumente gegen die von Händen gemachten Tempel kennt der Leser schon seit der Stephanus-Rede in 7,48. Hier erweist sich, dass diese Rede nicht nur gegen den sichtbaren steinernen Tempel in Jerusalem gerichtet ist, sondern auch in der Heidenmission Bedeutung hat. Zu Apg 17,18: Auch gegen Sokrates wurde der Vorwurf erhoben, dass er (nicht an die Götter glaubt, an die die Stadt glaubt, sondern) neue göttliche Wesen (griech.: daimonia) einführt (Xenophon: Memorabilien, 1,1,1). Die athenischen Hörer des Paulus meinen offenbar, Paulus verkünde außer Jesus auch Anastasis als neue Göttin. So zeichnet sich hier schon ab, dass Paulus an der anastasis scheitern wird. Zu Apg 17,23.30: Die vieldiskutierte Altarinschrift könnte Verschiedenes bedeuten: a) Es heißt »dem unbekannten Gott«. So interpretiert Paulus die Inschrift in seinem Sinne: Der wahre Gott wird zwar verehrt, aber er ist noch unbekannt. Denn die Athener sind religiös, aber trotzdem auf die paulinische Mission angewiesen. b) Es heißt »einem unbekannten Gott«. Nämlich einem, dessen Namen man zwar noch nicht kennt, dessen Verehrung aber lebensrettend sein kann. Denn oft ergibt sich Unglück für die ganze Stadt daraus, dass man einen wichtigen Gott beim Kult übersehen hat. Das rächt sich dann. Daher sollte man vorsichtshalber einen Gott mehr verehren, damit man sich keine Vorwürfe wegen mangelhafter Verehrung zu machen hat. – Das war das Prinzip der Sibyllen und der sibyllinischen Bücher. Die hellenistischen Juden haben diese Gattung gerne übernommen, weil sie erklären wollten: Der Gott, der noch fehlt, ist der jüdische. Paulus meint daher, dass die Inschrift nach Apg 17,23 ein gutes Argument für jüdisch-christliche Mission ist.
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c) Da man den jüdischen Gottesnamen nicht aussprechen oder ausschreiben wollte, ist JHWH gemeint, wird aber nicht genannt. Es könnte der unbekannte Gott auch im Sinne apophatischer Theologie, der ebenso wahre wie verborgene Gott, sein. d) Der unbekannte Gott ist das verborgene Geheimnis im Sinne des Revelationsschemas (vgl. dazu K. Berger, Formen und Gattungen, 2005, 327). Dieser Gott wird jetzt durch die Apostel verkündigt. e) Es kann auch sein, dass Lukas sich an die Angaben hellenistischer Reiseschriftsteller erinnert, in Athen und anderswo fände man Altäre für unbekannte Götter; das wären dann Götter, die »man« nicht kennt und die insofern diesen Schriftstellern subjektiv unbekannt sind. f) Hieronymus, Commentarius in Titum 1,2 berichtet, die athenische Inschrift habe nicht so gelautet, wie Paulus berichtet, sondern so: »Den Göttern Asiens, Europas und Afrikas, die unbekannte und fremde Götter sind«. Apg 17,28: Ein Brückenschlag zur Philosophie? »Gott ist jedem einzelnen von uns sehr nahe. Denn wir leben, bewegen uns und sind in ihm. Einige von euren Dichtern haben es so gesagt: Wir sind von derselben Art wie Gott.« Auch wenn sich dann im Folgenden herausstellen wird, dass die Philosophen in Athen mit »Auferstehung« (sc. des Leibes) nichts anfangen können (17,32), so versucht Paulus hier doch unwidersprochen einen Brückenschlag. Nachvollziehen läßt sich das z. B. an den religionsphilosophischen Immanenz-Aussagen (»in Gott«) und ihren Entsprechungen in Apg 17. Zu den entsprechenden christlichen Aussagen bestehen jedenfalls Beziehungen. In meinem Aufsatz über christologische Hoheitstitel (NTSt 17, 1970/71, 391-425) habe ich versucht, »in Christus«/»im Herrn« traditionsgeschichtlich zu begründen. Dabei ergab sich, dass diese »Formeln« auf der Ebene des Neuen Testaments zweierlei bedeuten: origo virtutis und principium assimilationis. Von demjenigen, »in« dem ein Christ ist, bezieht er die Kraft zum Leben und Handeln, und gleichzeitig ist der, »in dem« er ist, eine Art causa finalis (Zielursache), denn es kommt darauf an, dem ähnlich zu werden (oder gemacht zu werden), »in« dem man ist. So ergibt
475 sich, dass beide Linien weder mystisch noch mechanisch sind, sondern womöglich im Rahmen des antiken Bild-Denkens (Verähnlichung) am besten erfasst werden. Dieses ist auch wohl die Ebene, auf der sich das oben zitierte Stück aus Ps.-Epimenides mit den frühchristlichen Aussagen trifft. Denn der Schlusssatz »Wir sind von derselben Art wie Gott« trifft sich doch, wenn man will, mit der Bild-Aussage von Gen 1,26f: Weil der Mensch Gottes Bild ist, kann er ihm auch ähnlicher werden. Bernhard von Clairvaux wird dann unterscheiden zwischen bleibender imago und zu erstrebender similitudo. Kurzum: Aufgrund des zitierten Ps.Epimenides kommt Paulus nach Apg 17 an Aussagen wie »in Christus« oder »im Herrn« heran. Der Unterschied liegt darin, dass nach Ps.-Epimenides die Immanenz in Gott naturgegeben ist. Nach Paulus und Lukas ist sie dagegen nur christologisch vermittelt denkbar. – Noch klarer wird die Konvergenz beider Linien, wenn man sie in ihre je eigene Vorgeschichte zurückverfolgt. Die Vorgeschichte des neutestamentlichen »in Gott«/»in Christus« liegt im biblischen und jüdischen »in Gott« (d. h. in Gottes Kraft) und »im Gesetz«, d. h. in Übereinstimmung mit den Normen des Gesetzes. Bei Ps.Epimenides ist der unmittelbare Hintergrund die stoische Auffassung von der panentheistischen Immanenz aller Dinge im Logos, der sich im Kosmos und seiner Ordnung realisiert. Im Judentum hätte diese Konzeption ihre nächste Entsprechung in der Auffassung vom vernünftigen Weltgesetz, das sich in der Torah niederschlug. Die Konversion zum Judentum bedeutet dabei, dass man sich auch aktiv und kreativ, zielgrichtet und -bewusst, an der Weltordnung beteiligt. Fazit: Paulus liegt mit seinen Ausführungen in Apg 17,24-28 auf der Linie stoischer Kosmologie und jüdisch-hellenistischer Schöpfungs- und Torah-Auffassung. Auch das frühe Christentum hatte an dieser »Vorbereitung« Anteil. »Auferstehung« passt hier nicht, weil das Ganze, das hier vorgestellt wird, an Schöpfung und Geetz, nicht aber an Auferstehung und neuem Äon orientiert ist. Zu Apg 17,29: »Gespinst der Phantasie«: Das Wort enthymesis (griech.) steht in der LXX für die Erfindung(en) des Götzendienstes, für Phan-
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476 tasiegebilde also. Es handelt sich daher um einen einschlägigen Fachausdruck. Zu Apg 17,31: Das griech. Wort pistis, Gaube, kann hier auch Beweis heißen. Die Auferstehung Jesu ist Glaubensgrund, d. h. Beweis dafür, dass er als Richter wiederkommen wird. Diese Rolle der Auferstehung (wie 1 Thess 1,10b) weist auf jeden Fall in die Frühzeit. Zu Apg 17,32: Die Auferstehung ist für die Hörer deshalb unfassbar, weil sie im Sinne antiker Anschauungen von einer Trennung von Leib und Seele im Tod ausgehen und eine Wiedervereinigung beider für undenkbar halten. Doch bei der Auferstehung geht es einerseits um Verwandlung, andererseits um das ganzheitliche jüdische Menschenbild, das keine Trennung von Leib und Seele kennt, die vor Gott Bestand hätte. Mit dem Stichwort »Verwandlung« (sc. des ganzen Menschen, griech.: metamorphosis, alloiosis) hätte Paulus vielleicht mehr Chancen gehabt, denn es geht ja nicht um pure Wiederbelebung. Paulus scheitert daher mit seinem Evangelium hier nicht am Glauben an den einen Gott, sondern daran, dass er Auferstehung auch anthropologisch für Menschen nicht vermitteln kann, die an einer relativ strengen Trennung von Leib und Seele festhalten. Diese ist bis heute in Europa weit verbreitet (pseudo-neoplatonisch). In Apg 17 beginnt die Nicht-Vermittelbarkeit schon bei der Auferstehung Jesu, d. h. die Hörer können sich wohl überhaupt ein Einwirken Gottes auf die bestehende Schöpfung nicht vorstellen. Auch solcher Deismus ist weit verbreitet. Hier beruht er wohl auf der Distanz zwischen dem geistigen (d. h. als Geist vorgestellten) Gott und der Materie. Diese Distanz kennt das Judentum nicht, da Gott mit überlegener Macht/Kraft regiert.
Apg 18,1-6: Paulus kommt nach Korinth Aquila und Priszilla waren wohl im Jahre 49 n. Chr. aufgrund des Claudius-Ediktes aus Rom ausgewiesen worden und wohnten nun in Korinth. Aquila war demnach schon vor 49 n. Chr. (Juden-)Christ in Rom gewesen. Wie in anderen Städten (z. B. in Thessaloniki, Apg 17,3), so be-
Die Apostelgeschichte
ginnt Paulus auch hier in der Synagoge und versucht, anhand der Schrift zu beweisen, Jesus sei der Messias. In den erhaltenen Paulusbriefen finden wir für einen solchen Erweis kaum Anhaltspunkte; die Briefe haben indes auch eine andere Funktion, sie richten sich an bestehende Gemeinden. In den Synagogen geht es dagegen um die Grundpredigt, und die leistet Paulus eben anhand der Schrift. (Ergänzung siehe S. 1052) Zu Apg 18,6: »Euer Blut komme über euer Haupt«. Die innere Logik dieses grotesken Bildes ist folgende: »Blut kommt über das Haupt« (weil Blutschuld auf das Haupt gekommen ist, z. B. per Wunsch oder per Selbstverfluchung) bedeutet: Blutschuld, die Gott sicher rächen wird, haftet an dem, über dessen Haupt sie gekommen ist. Ähnlich ist das mit den feurigen Kohlen – auch sie werden auf dem Haupt gesammelt, und zwar auf dem, der als der Ungerechte dasteht. »Blut« heißt hier: Blutschuld, näherhin: Verantwortung für ein vor der Zeit bzw. für ein gewaltsam beendetes Leben.Wenn man sagt: Sein Blut komme über unser Haupt (Mt 27,25), dann meint man damit: Wenn sein Blut tatsächlich unschuldig vergossen werden sollte, (was wir nicht glauben), erklären wir uns bereit, die Strafe zu tragen, die der Mörder tragen muss. D. h. wir haften dann mit dem eigenen Blut, dem eigenen Leben. – Wenn also »das Blut von x über mein Haupt kommt«, bzw. kommen soll, dann erkläre ich mich bereit, alle Verantwortung für das verlorene Leben des anderen und die Folgen zu übernehmen. Wenn mein eigenes Blut über mein Haupt kommt, übernehme ich alle Verantwortung für mein durch mein Handeln verwirktes Leben. Bin ich schuldig, so übernehme ich selbst allein alle Verantwortung. Gott kann dann mein Blut von mir fordern. Entscheidend ist immer der »fromme« Wunsch, der eine Art Verwünschung ist. In Apg 18,6 wird daher den Angeredeten gewünscht, es möge ihnen die persönliche Haftung für das, was sie anrichten, nicht erspart bleiben.
Apg 18,7-10: Jesus-Vision des Paulus Das »Fürchte dich nicht!« zu Beginn von Visionen ist nach der klassischen jüdisch-christlichen
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Kapitel 18
Tradition etwas anders zu verstehen als hier. Denn üblicherweise beruhigt es den, der die Erscheinung hat, in seiner Angst vor dem Erscheinenden. Denn der Erscheinende tritt nicht wie ein gewöhnlicher Mensch auf. So sagt Jesus beim Gehen auf dem Meer: »Fürchtet euch nicht, ich bin es.« Hier dagegen ist das »Fürchte dich nicht!« schon der Anfang zur Mahnrede: Hab keine Angst, hab vielmehr Mut bei der Verkündigung. Jesus gibt zwei Begründungen: Erstens verheißt er Paulus sein Mitsein (wie oft in Visionen, vgl. Mt 28,20; vgl. dazu K. Berger, Die Auferstehung, 550.510.513), und zweitens sagt er, keiner werde Paulus etwas zuleide tun, »denn ich habe viel Volk in dieser Stadt«. Das Mit-Sein ist oft im Sinne des Schutzes verstanden. Die Redewendung »ich habe viel Volk« dagegen ist singulär. Sie kann sich nur auf Menschen beziehen, die schon zu Jesus gehören, obwohl sie noch keine Christen sind, und dass sie zu ihm gehören, wird sich dann herausstellen, wenn sie mit der Botschaft in Berührung kommen. Mit diesem Modell der verborgenen vorlaufenden Jüngerschaft argumentieren auch Texte wie Eph 1,4f, der von der Erwählung der Gläubigen vor aller Zeit rechnet, die vorher bestimmt sind zur Kindschaft, oder Joh 3,21, wonach diejenigen, die die »Wahrheit tun«, zum Licht kommen, damit deutlich wird, dass ihre Taten in Gott getan sind. Jesus spricht in Apg 18,10 wohl deshalb von seinem »Volk«, weil diese vorlaufende Jüngerschaft weniger den Einzelnen betrifft als vielmehr das ganze Volk der Kirche. Vielleicht bildet die Rede von der Erwählung Israels vor aller Zeit (s. zu Eph 1,4) hier den Hintergrund des Verstehens. Jesus spricht von seinem Volk, wo man im Judentum von Gottes Volk zu reden pflegte. Innerhalb von Apg ist Apg 20,28 verwandt: Die Kirche (»Volksversammlung«) ist das Eigentumsvolk Gottes. Die alttestamentliche Vorlage in Ps 74,2 spricht von Gottes eigener Gemeinde.
Apg 18,17-22: Kenchreä, Ephesus, Cäsarea Nach 18,18 lässt sich Paulus in Kenchreä »das Haupt scheren, wie er es einmal gelobt hatte« und pilgert zu Fuß (vgl. 17,22) nach Jerusalem (V. 22: »hinauf«). Hängt vielleicht beides zusammen? Lukas berichtet scheinbar nebenbei von
477 einem Gelübde und, wie ich annehme, von dessen Erfüllung in Jerusalem, was Paulus doch als praktizierenden Juden ausweist. Schon längst hat man diskutiert, ob es sich hier um ein Nasiräatsgelübde handeln könnte (wie in Apg 21,23f). Das Scheren der Haare steht am Ende des Nasiräats. Dass es sich bei der Aktion in Kenchreä um das Ende eines Nasiräats handelt, wird durch den Text nicht ausgeschlossen. Das Ende des Nasiräats findet ferner laut Num 6,13 ff in wesentlichen Teilen in Jerusalem (Tempel!) statt. Von daher gewinnt die Notiz vom Besuch in Jerusalem (in V. 22 erschlossen!) Sinn. Davon aber, dass auch der Beginn des Nasiräats in Jerusalem anzusetzen sei, steht in Num 6,1-21 gar nichts. Ich kann daher keinen Grund dafür sehen, dass Paulus nicht ein vollständiges und ordnungsgemäßes Nasiräat hat vollziehen können. Das lief dann so ab: Eine unbestimmte Zeit lang hat Paulus nach einem Gelübde auf Wein und Haareschneiden verzichtet. In Kenchreä lässt er die inzwischen gewachsenen Haare schneiden. Er zieht weiter nach Jerusalem, um dort das Nasiräat rite zu beenden (mit Opfern etc.). Dass Exegeten meinen, ein Nasiräat des Apostels Paulus widerspreche total seiner Gnadenlehre (so E. Haenchen), sagt nur etwas über die ideologische Voreingenommenheit der Ausleger. Das gilt in diesem Falle besonders der sichtbaren Darstellung von Religion. Dass Nasiräat rund um die Urgemeinde praktiziert wurde, sollte man ebenfalls nicht übersehen (vgl. K. Berger, in: Tradition und Offenbarung, 2006, 409-434). Ein Widerspruch zu irgendeiner paulinischen Lehre ergibt sich auch nicht, da das Nasiräat weder dem Heilserwerb dient, noch nach dem primitiven Schema do ut des funktioniert (wie E. Haenchen argwöhnt), sondern ganz schlicht Dank und Bekenntnis gegenüber Gott sichtbar ausdrückt – so wie eben eine Wallfahrt bei Altgläubigen es tun kann. Zu Lob und Dank aber hatte Paulus hier angesichts der geglückten Gemeinde-Gründung in Korinth Anlass (18,1-16). Aber hat Paulus in dem hier praktizierten Sinn weiter als Jude gelebt? Galt er nicht als abgefallener Jude, da er mit Heiden Tischgemeinschaft hielt? Hier werden wir umlernen müssen, wenn 1 Kor 9,20a gilt. Paulus hat eben nicht wie ein liberaler Pastor in Dortmund gelebt, sondern zumindest, wenn es
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478 um ihn selbst ging, als frommer Jude. Deshalb besteht auch kein Zweifel daran, dass er die jüdischen Tagzeitengebete einhielt und das dann auch für Heidenchristen sogar zu übersetzen versuchte (1 Thess 5,17).
Apg 18,23 – 19,7: Apollos Über Apollos stehen in Apg 18,23 – 19,7 folgende Nachrichten: 1. Apollos ist Judenchrist wie alle Apostel und alle neutestamentlichen Schriftsteller. 2. Er ist laut 18,24 ein »gebildeter Alexandriner«, »sehr bewandert in der Schriftausleghung«. Das kann nur bedeuten: Er praktiziert die gelehrte alexandrinische Weise der Schriftauslegung. Zeugnisse für diese sind Philo v. Alexandrien, Hebr und Barn. Merkmale dieser Auslegung: Weder der historische, noch der buchstäbliche Schriftsinn ist zu erforschen, sondern der Text der Schrift (Altes Testament) wird allegorisch und typologisch ausgelegt, d. h., das was dasteht, wird auf die unsichtbare Wirklichkeit der Seele oder des Himmels bezogen. Im Falle der typologischen Auslegung: Ein früheres Ereignis ist Bildvorlage für ein späteres (Opferung Isaaks/ Tod Jesu Christi). 3. Laut 18,28 kann Apollos aus der Schrift nachweisen, dass Jesus der Messias ist. Dieser Erweis richtet sich an Juden, nicht an Heiden. 4. Laut 18,25 ist Apollos ein charismatischer, erfolgreicher Verkündiger. 5. Er verwendet seine Art der Schriftauslegung vor allem dazu, über Jesus zu verkündigen. Hebr und Barn sind gute Beispiele derartiger alexandrinisch beeinflusster Christologie. 6. Bei Priscilla und Aquila erhält Apollos laut 18,28 »Nachhilfeunterricht«, und zwar offenbar in einem eher paulinischen Christentum. Das Christentum des Apollos ist zuvor vor allem wegen seiner Tauf-Lehre als nicht paulinisch zu bezeichnen; wieweit Priscilla und Aquila »reinen« Paulus verkündet haben, bleibt ebenso offen wie die Frage, was Apollos davon angenommen hat. 7. Apollos kennt eine Taufe »wie Johannes der Täufer«, also eine Taufe, die lediglich Umkehrtaufe ist, nicht im Namen Jesu geschieht und nicht mit dem Empfang des Heiligen Geistes verknüpft ist. Das bedeutet: Seine Art von Christen-
Die Apostelgeschichte
tum ist sehr eigenständig. Es ist weder an den Zwölfen noch an den Aposteln orientiert. Mit der »regulären« Art von Taufe dürften auch das Abendmahl und andere Sakramente fehlen. Das Christentum des Apollos war (vgl. 19,2) nicht trinitarisch, d. h. weil ein Heiliger Geist nicht vorkam, konnte es auch keine Taufe durch den Heiligen Geist geben. 8. Wie ist das überhaupt vorstellbar? Schließlich kennt auch das Judentum dieser Zeit sehr wohl den »heiligen Geist Gottes«; das gilt für die Targume und auch für Philo v. Alexandrien (vgl. H. Leisegang, Pneuma Hagion, 1921). Einen Hinweis gibt uns Barn 1,5; 5,4; 6,9; 13,7: Zwar kennt Barn auch den Heiligen Geist, aber Schrifterkenntnis heißt »Gnosis«. Und bei Apollos ist – jedenfalls vor der Unterrichtung durch Priscilla uns Aquila – mutmaßlich an die Stelle des Heiligen Geistes hier die alexandrinische Rede von der »Erkenntnis« (griech.: gnosis) getreten, d. h.: Das, was man andernorts Heiligen Geist nennt, heißt im alexandrinischen Christentum Gnosis. Sie ist speziell Schrifterkenntnis – gerade diese wird bei anderen Theologen auf den Heiligen Geist zurückgeführt, d. h.: Die alexandrinische Schrift-Gnosis ist eine partielle Konkurrenz zur Rede vom Heiligen Geist. Bei Apollos trat offenbar die Bezeichnung Heiliger Geist für die Schrifterkenntnis ganz zurück, und zwar mutmaßlich zugunsten einer Rede von Schriftgnosis. 9. So stellt sich die Lehre des Apollos als kompaktes, in sich konsequentes System dar: Das, was andere Heiligen Geist nennen (Lukas sagt über Apollos, er sei glühend im Heiligen Geist gewesen), ist auf die allegorisch-typologische Schriftauslegung reduziert und wird Gnosis genannt. Die Taufe geht auf die Anfänge unter Johannes d. Täufer zurück und hat noch nicht Anteil an der Ausweitung der Bedeutung des Heiligen Geistes besonders durch Paulus. Die Schrifterkenntnis bedeutet und vermittelt den »Glauben« an Jesus. Einen hohen Stellenwert hat daher der die Schrifterkenntnis vermittelnde Lehrer (daher gibt es dann auch Streit in Korinth, vgl. 2 Kor). Indem nun (nach Apg 19,5f) die Geisttaufe nachgeholt wird, mündet die Sonderform des Christentums nach Apollos in den allgemeinen Strom der apostolischen Christenheit. Ein relativ
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sakramentsarmer Typus von Christentum findet damit sein Ende. Die alexandrinische Schriftauslegung ist durch Apollos als Ersten in die Kirche eingeflossen und ist bis heute (und gerade heute – nach der Wahrnehmung einer gewissen Verarmung durch die rein philologische Exegese – wieder verstärkt) ein Bestandteil der Lehre. Wenn es zutrifft, dass 2 Kor eine durchgehende Auseinandersetzung mit Apollos ist, fällt von 8. her besonderes Licht auf 2 Kor 3: Mit Hilfe der exegetischen Methoden des Apollos illustriert Paulus gerade die Bedeutung des Heiligen Geistes, er operiert also an der systematischen Schwachstelle des Apollos mit dessen eigenen Waffen. In Apg 19,1-7 geht es daher – entgegen älterer Meinung – nicht um »Johannesjünger«, sondern um Christen (!), die sakramentstheologisch über die Taufe des Johannes nicht hinausgekommen sind. Man kann diese Taufe so sehen: Sie ist äußeres Zeichen der Umkehr und als Reinigung Vorbereitung zum Gebet um Sündenvergebung, d. h.: Man muss der Johannestaufe »zur Vergebung der Sünden« nicht den vollen Gehalt des katholischen Sakramentsverständnisses von Augustinus bis Hugo v. St. Viktor unterstellen. Das ist ganz anders bei der Taufe auf den Namen Jesu und bei der mit Geistempfang gekoppelten Taufe »aus Wasser und Geist«. Denn hier befinden wir uns wirklich auf der Schiene sakramentalen Denkens. Das Christentum des Apollos war demnach auf seine besondere Weise jüdisch geprägt. Denn die christologische Schriftauslegung konnte besonders leicht an die an jedem Sabbat übliche Schriftauslegung in der Synagoge anknüpfen. Wahrscheinlich war die alexandrinische Methode von Allegorie und Typologie neuartig und, wenn sie systematisch durchgeführt wurde, der traditionellen midraschartigen Sabbatexegese überlegen. Die Umkehrtaufe nach der Art des Johannes war für Juden verständlich, wurde aber vielleicht – wie in Sib 4 – auch in einem eigenen Typ von Heidenmission verwendet. Denn »gnosis« ist grenzüberschreitend. Hier liegt offensichtlich eine eigenständige Begründung der Heidenmission vor, die später für das alexandrinische Christentum wichtig und maßgeblich wurde. Auch können die Antithesen der Gnosis nach 1 Tim 6,12 durchaus solche zwischen Altem und
Neuem Bund sein, wie sie z. B. ähnlich zwischen Juden und Christen in Barn zur Anwendung kommen (3,1f/3-6).
Apg 19,12: Schweißtücher und andere Tücher Kriterium für den medizinischen Erfolg ist, dass ein Tuch mit der Haut des Apostels in Berührung gekommen ist. Auch wenn die Hand berührt oder aufgelegt wird, besteht direkter Hautkontakt; denn in oder auf der Haut liegt die Seele. Daher sind auch die Kleider so wichtig und haben unvergleichliche Symbolkraft. »Christus anziehen« bedeutet daher: ihn als Kleid der Seele tragen. Schon bei Jesus ist der Zipfel des Gewandes für die Heilung der Blutflüssigen wichtig (Mk 5,28-34). Exegeten, die sich an dieser Stelle fortschrittlich dünken, verstehen weder etwas von extrem hoffnungsloser physischer Not, noch von der Beziehung zwischen Seele und Kleid bzw. Stoff. Hier wird auch erkennbar, warum man z. B. die Grabtücher Jesu sicher aufbewahrt hat. Denn weil es keinen Gegensatz gibt zwischen Materie und Geist, haben die Ausdünstungen des Körpers etwas mit Seele zu tun.
Apg 19,13-17: Exorzismus durch Paulus Der Abschnitt verrät intensive Kenntnis der jüdischen und christlichen Praxis der Exorzismen: 1. Exorzismus ist ein Befehl, keine Bitte. 2. Der Befehl wird auf eine Autorität hin befolgt. Entweder ist der Befehlende selbst diese Autorität (z. B. Jesus; König Salomo; in unserem Text auch Paulus), oder der Exorzist nennt eine Autorität, in deren Namen er handelt. 3. Der Exorzismus gelingt nur, wenn die anwesende oder genannte Autorität dem Dämonen bekannt ist. D. h., der Dämon ist nicht nur stark autoritätsabhängig, sondern er kann sich auch nur nach Autoritäten richten, die »einen Namen haben«; wie bei einem Vortragsredner, den man einlädt, geht es um dessen Bekanntheitsgrad. So sind Dämonen nun einmal. Dämonen sind daher exakt auf dem Niveau des allgemeinen emotionalen Status einer Gesellschaft. Denn genau das, was den Patienten beeindruckt (etwa: ein sachlich fundierter Befehl, die kräftigen Meta-
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480 phern der an den Psalmen orientierten exorzistischen Gebete), wirkt auch auf den Dämon. 4. Jeder Exorzismus ist ein reiner Machtkampf. Wenn der Dämon wittert, dass der Exorzist bzw. die von ihm genannte Autorität ihm nicht überlegen, sondern relativ schwach ist, geht er zu einer physischen Attacke über (und mit ihm der Besessene). Der erfolglose Exorzist wird dann Opfer einer Prügelei. Für jeden Exorzisten stellt sich daher die unter Umständen lebensentscheidende Frage, ob er Sieger sein kann oder physisch malträtierter Verlierer. Über dieses Entweder-Oder, das genau dem pneumatologischen Dualismus entspricht, sollte sich der Exorzist im Vorhinein im Klaren sein. 5. Weil Exorzismen Machtfragen sind, ist Jesus gerade als Exorzist »Messias«, nämlich der von Gott gesandte Mächtige, der die Menschen von der Besatzungsmacht der Dämonen bzw. des Teufels befreit. 6. Zum Zusammenhang zwischen Hohempriester und Exorzismus (die jüdischen Exorzisten sind nach 19,13f Söhne eines Hohenpriesters Skeuas); vgl. TestXIILevi 18. Die exorzistische Vollmacht dient der Reinheit, und insofern hat sie priesterliche Züge. Zur Zeit Jesu fehlte (bis auf ihn selbst) die königlich-messianische Wahrnehmung der Reinheitsfrage. Da es keinen König gab, musste man zu den Priestern gehen; vgl. Mk 1,40-45 nach dem Exorzismus-Bericht 1,32-39.
Apg 19,18-40: Streitigkeiten in Ephesus Der Abschnitt 19,11-40 berichtet (auch für die Welt des Lukas) innerlich Zusammengehöriges: Heilungen durch Tücher, Exorzismus und magische Literatur, als Krönung Götzenfiguren. Heilungen durch Tücher sind legitim und erfolgreich, wenn Paulus sie berührt hatte. Exorzismen sind legitim und erfolgreich, wenn der Name Jesu oder des Paulus genannt wird. Magische Papyri sind zu verbrennen, weil sie die korrespondierende (Heilungs-)Praxis der Gegenseite sind. Die erste mir bekannte Bücherverbrennung (mehr oder weniger lange Papyrusrollen) der Geschichte wird im Rahmen des pneumatologischen Dualismus von gläubig Gewordenen selbst vollzogen; die ältere Tradition ist die der Götzenverbrennung, die schon Abraham nach der frühjü-
Die Apostelgeschichte
dischen Legende an den Holzgötzen seines Vaters Terach vollzog, was übrigens den Herkunftsort »Ur« im Sinne von Feuer deutete. (»Verbrenne, was du angebetet hast« wird man später im gleichen Sinne zu dem Germanen Chlodwig sagen, als er Christ wird). Erhaltene magische Papyri sind zu lesen bei K. Preisendanz: Die griechischen Zauberpapyri I und II (1928; 1931) [Papyri Graecae Magicae]. Zu Apg 19,24-40: Der zuerst von Stephanus ausgesprochene Grundsatz, dass nur das Gottes würdig ist, was nicht von Menschenhand gemacht ist (Apg 7,48), wird hier zum wiederholten Male »verwendet« (vgl. auch Apg 17,24), nun auf Kosten der heidnischen Götzenfiguren (19,26). Zu Apg 19,28: »Die Artemis von Ephesus ist die Größte« (wörtlich: »Groß ist die A. von E.«) ist eine Werbeparole mit vielen Analogien in der Antike. Wir erfahren auch, dass das Standbild der Artemis vom Himmel gefallen sein soll (19,35) und gerichtswürdige Delikte nur Tempelraub und Lästerung der Artemis sind. Gaius und Aristarch, Reisegefährten des Apostels Paulus aus Mazedonien, werden von der aufgebrachten Menge ins Amphitheater mitgeschleppt; Paulus hält sich zurück. Die beiden werden freigelassen, nachdem der Stadtdirektor eine beruhigende Rede gehalten und auf die Unschuld der beiden hingewiesen hat. Der Jude Alexander will die Juden der Stadt verteidigen, wird aber niedergeschrien. Das Ziel des Schriftstellers Lukas bei diesem Bericht ist: Eine nüchterne städtische Obrigkeit kann feststellen, dass die Christen nicht Aufruhr veranstalten, hier nicht und auch sonst nicht (vgl. Lk 23,2). Eine solche Obrigkeit setzt sich sogar für Christen ein. Schuld am Aufruhr sind auch nicht die Juden von Ephesus. Es ist nur die Angst ums Geschäft und um den Ruf der Wallfahrt nach Ephesus, die die heidnischen Massen hysterisch werden ließ. Lukas benutzt daher den »Fall Ephesus« zu apologetischen Zwecken. Lukas macht damit auf die nicht unwichtigen finanziellen Folgen der christlichen Mission aufmerksam. Christliche Mission hat, je kräftiger sie wirken konnte, etlichen Menschen wirtschaftlichen Schaden zugefügt. Zunächst hat sie den jü-
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dischen Synagogen die spendefreudigen (vgl. Apg 10,2; Lk 7,5) »Gottesfürchtigen«, also heidnischen Sympathisanten, abspenstig gemacht – jedenfalls auf die Dauer, wenn Christen eigenständige Gemeinden wurden, was sicher nicht überall von Anfang an der Fall war. Ferner hat die paulinische Mission den jüdischen Schlachtern geschadet, da die paulinisch »Starken« jedenfalls keine Angst vor Götzenopferfleisch hatten. – Sodann hat die Mission den heidnischen Devotionalienhändlern geschadet, wo immer es sie gab (Apg 19,25). Davon war mittelbar der gesamte Kunstbetrieb betroffen – denn welche Kunst war nicht religiös begründet? Schließlich wurde der »Buchhandel« geschädigt, da die einträglichen magischen Papyri (die umso besser halfen, je teurer sie waren) nicht mehr verkauft werden konnten. Schließlich litten die gerade in Kleinasien (z. B. Epidauros) beliebten Heilkurorte, in denen man vom Gott Asklepios oder von seinen Priestern geheilt werden konnte. Je stärker sich das Christentum ausbreitete, umso intensiver griff man auf die eigenen »Medikamente« zurück, die Apg 19 bereits schildert: Reliquien, Exorzismen, insbesondere den Namen Jesu. Um den heidnischen Kult an seiner praktisch relevantesten Seite zu treffen, musste man ihm die aktiv nach heidnischer Art praktizierte, medizinische Versorgung systematisch entziehen und durch ein christliches Modell ersetzen. Daher ist Apg 19 für die damaligen Christen keineswegs nebensächlich, sondern betrifft einen zentralen Punkt, der zunächst für die Gegenseite vorteilhaft ist. (Ergänzung siehe S. 1052)
Apg 20,17-35: Paulus mit den Ältesten von Ephesus in Milet Der Apostel Paulus versammelt die Ältesten von Ephesus bei sich, um ihnen eine testamentarische Rede zu halten. Die Konstellation ist daher: der eine Apostel im Gegenüber zum Gremium der Ältesten. Damit wird eine für das Christentum zu allen Zeiten typische »Verfassung« abgebildet: Der eine Höherrangige steht dem Gremium vor und gegenüber. Ich kann hier keine frühkatholische Verfälschung der Apg sehen, zumal die »Ältesten« keineswegs für Torah-Observanz stehen.
481 Zur Gattung: Apg 20,18-35 ist ein Testament (vgl. dazu K. Berger, Formen und Gattungen, 2005), und zwar mit folgenden Elementen: Rechenschaftsbericht, Mahnung I (der Lehrer warnt vor den Irrlehrern, die nach ihm kommen werden), Mahnung II an die Zurückbleibenden (betreffend den Umgang mit Besitz) mit peroratio am Schluss (20,35). Züge, in denen Paulus sich selbst zu loben scheint, sind nicht als Eigenlob misszuverstehen. Sie sind Rechenschaftsbericht, wie er in der Gattung der Testamente häufig vorkommt, z. B. in den TestXII. Der Ursprung ist nicht die SelbstEtablierung als Vorbild, sondern die Rechenschaft vor dem unmittelbar zu erwartenden, transzendenten Richter (vgl. 2 Kor 5,11). Angesichts des Richters muss man sagen, was man (nicht) getan hat, und zwar im Ich-Stil. Ursprung ist die ägyptische Auffassung des Totengerichts. Der jüngst Verstorbene berichtet im Totengericht in der ersten Person Singular von sich und seinen Taten (vgl. J. Assmann/A. Kucharek, Ägyptische Religion. Totenliteratur, 2008, 458-463, 475 u. ö.). Zu Apg 20,21: »Umkehr zu Gott« ist ein Motiv aus der Predigt der Propheten, besonders Johannes des Täufers und Jesu. »Glauben an den Herrn Jesus Christus« ist das neue Element, für Juden und Heiden gleichermaßen gefordert. Die Verbindung von »Umkehr« und »Glauben« ist typisch für Apg. Zu Apg 20,23: Der Heilige Geist äußert sich durch Propheten und deren Rat. Dass der Heilige Geist sich vor allem durch Weisungen zum Ortswechsel (»Geh zur Stadt X«) äußert, ist ein erkennbar prophetisches Element in der lukanischen Missionstheologie. Lukas gibt es teils als Vision wieder, teils ausdrücklich als prophetische Tradition (Lk 13,33), teils mit apokalyptischem »es muss geschehen« (griech.: dei). Denn Gottes Wille äußert sich in geografischen Zielvorgaben. Dabei zeigt sich in den früheren Situationen eine sehr starke Konzentration auf Jerusalem (Lk 9,51.53; 13,33 und wohl auch Lk 2,49). Umso interessanter, dass Jerusalem dann durch andere Ortsangaben »ersetzt« wird. Durch die Erwähnung der Leiden in Apg 20,23 ergibt sich auch eine Querverbindung zu den Leidens-
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482 weissagungen. Denn auch deren Ziel ist ja stets Jerusalem! Zu Apg 20,24: Das Vollenden des Laufes ist paulinisch nach 2 Tim 2. Zur Entsprechung von »Gnade« und »Reich« in Apg vgl. oben zu 20,24 f (Gnade und Reich). Durch die Substituierung wird hier der Zusammenhang erkennbar: Gnade ist königliche Huld und weniger politisch als »Reich«. Zu Apg 20,26: »Unschuldig am Blut aller« meint: Paulus versucht, alle zu retten; vgl. Susanna Theodotion V. 46: Daniel erklärt sich als »unschuldig am Blut dieser Frau« – das ist keine Selbst-Rechtfertigung, als ob ein Verdacht bestünde, sondern eine Absichtserklärung, die auf Rettung des (der) Angeklagten zielt. Zu Apg 20,28-31: Hier wird ein Wortfeld angesprochen, das in Testamente von Lehrern gehört. Sie verteidigen die eigene Lehre gegenüber der Finsternis und dem Irrtum, die nach ihnen kommen werden. – In Joh 10,7-15; Mt 7,13-15 und Apg 20,28-31 liegt ein gemeinsames Bildfeld (Wortfeld) mit den Elementen (Tür) hineingehen, Hirt, Schafe, Wölfe, Irrlehrer, Achtsamkeit und Leben vor. Dieses Bildfeld steht jeweils im Dienste der Verteidigung der einzigartigen Autorität des Lehrers gegenüber konkurrierenden Instanzen. Da das Wortfeld teilweise auch in Mk 13,22.33-37 und Didache 16 vorliegt, ist als ursprünglicher Sitz dieser Gattung die Abschiedsrede auszumachen: So ist es auch in Apg 20 der Fall. Vgl. die Belege: »hineingehen« (Mt 7,13; Joh 10,9; Apg 20,29). – Wölfe (Mt 7,15; Joh 10,12; Apg 20,29; Didache 16,3). – Konkurrenz: Ps.-Propheten (Mt 7,15.22; Didache 16,3), Diebe, Räuber, Mietlinge (Joh 10,1.8.12.13), Irrlehrer (Apg 20,30). – Schafe/Herde (Mt 7,15; Joh 10,1-16; Apg 20,28 f; Didache 16,3). – Achtsamkeit/Wachsamkeit (Mt 7,15; Apg 20,28.31; Mk 13,23.3334b.35.37; Didache 16,1).
Vor dem Abschied mahnt der scheidende Lehrer, wachsam zu sein und nicht auf die kommenden Irrlehrer und Falschpropheten hereinzufallen. Die Wölfe im Schafspelz sind hier »zuhause«. E. Haenchen macht darauf aufmerksam: Apg 20,17 ff »ist die einzige an den Klerus gerichtete
Die Apostelgeschichte
Rede in der Apg, und als solche entspricht sie auf ihre Weise dem ›Bischofsspiegel‹ in 1 Tim 3,1 ff und Tit 1,7 ff« (in: Die Apostelgeschichte, 71977, 529f). Zu Apg 20,28: »Erworben mit eigenem Blut«: Das Blut aller lebenden Wesen gehört Gott. Wer mit dem Blut eines Lebewesens gezeichnet ist, gehört daher Gott. Wenn es ein anderes Lebewesen ist, dessen Blut man an sich trägt, fordert Gott dieses und damit auch das Blut des Trägers. Nur wenn Gott selbst sein eigenes Blut »spendet«, um Menschen damit zu bezeichnen, muss er es nicht zurückfordern, es ist ja nicht das Blut anderer. Der Akt der Rechtfertigung (durch Gottes eigenes Blut) ist daher spiegelbildlich dem Akt der Vernichtung (wegen Fremdblut) entgegengesetzt. Das Blut Jesu Christi ist das Blut Gottes. Das ist hier vorausgesetzt; Jesus steht auf der Seite Gottes, nicht der Kreatur. Auch sonst wird das Besprengen mit Christi Blut (sichtbar als Taufe!) in gleicher Funktion gesehen (vgl. 1 Petr 1,2). In Hebr 12,24 wird übrigens Jesu Blut (mit dem die Gemeinde besprengt ist) nicht als Gottes Blut angesehen, sondern als das des gerechtesten Menschen, und daher hat es hier die Funktion, nach dem Rächer zu rufen! Zu Apg 20,30: »aus der Mitte«: vgl. 1 Joh 2,19 (die Irrlehrer kommen aus der Gemeinde selbst). Zu Apg 20,35: »Selig, wer gibt, und nicht, wer nimmt.« Verwandte Sprüche kennt die internationale Weisheitsliteratur; die Spuren weisen nach Persien: Thukydides II 97,4 (beim Perserkönig sei es die Regel, »lieber zu geben als zu nehmen«); König Artaxerxes (nach Plutarch, Moral 173 D): Es ist dem König eher angemessen, hinzuzufügen als wegzunehmen; Nachwirkung in der Präfation des Requiem: Den Glaubenden wird das Leben verwandelt, nicht genommen. – Dann allgemein (Aelian, Var hist 13,13): Es ist besser, reich zu machen, als reich zu sein; Epikur (Plutarch, Mor 778C): Es ist besser und angenehmer, Gutes zu tun, als Gutes zu empfangen; Seneca (Ep 81,17): Es irrt, wer lieber eine Wohltat nimmt, als sie gibt.
Merkmal all dieser Sätze: Statt des »nicht/sondern« ein »eher (lieber, besser) … als«. Was ist der Sinn dieses Komparativs? Soll auf die Emp-
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fänger, die Nehmenden, Rücksicht genommen werden? Sollen sie vor Beschädigung geschützt werden, indem ihnen nicht das Glücklichsein ganz abgesprochen wird? Oder geht es doch um ein verkapptes »nicht/sondern«? Mir scheint das Letztere der Fall zu sein: Jeder, der gibt und schenkt, braucht einen Adressaten. Zu dem diskutierten Vorgang gehören immer zwei. Die Sen-
483 tenz antwortet daher auf eine Frage nach dem Stil »Welcher von beiden … ?« Das ist oft der weisheitliche Stil von Beispielen in Chrien, z. B. Lk 22,27: »Wer ist größer, der zu Tische liegt oder der dient … ?« Formal geht es daher um (die Antwort auf) eine Entscheidungsfrage zwischen zwei Möglichkeiten. Eine sozialpsychologische Rücksichtnahme liegt hier völlig fern.
Apg 21-23: Paulus auf dem Weg nach Jerusalem Apg 21,1-14: Von Milet nach Jerusalem – Thema weibliche Prophetie
charismatische Kraft aus den Gürteln, die sie umlegen.
Nach 21,4 sagen die Jünger des Paulus »durch den Geist«, er solle nicht nach Jerusalem gehen. Zu dieser Art prophetischer Anweisung zur Ortsveränderung vgl. oben zu Apg 19,21, ferner Apg 22,18 (aus Jerusalem); Apg 23,11 (nach Rom); Apg 27,23 (zum Kaiser); Clem Hom 14,7 (aus Rom); Acta Petri c. Sim 5 (Ich muss hinauf, Rom zu erobern); Acta Thomae 29 (nach Osten); äth Petrusakten (nach Jerusalem, nach Antiochien); vgl. K. Berger, Auferstehung, 2005, 173.176f). – In Apg 21,10-14 wird das Thema mit dem Propheten Agabus fortgesetzt. So wie er redet, haben wir uns grundsätzlich frühchristliche Prophetensprüche vorzustellen. Der Beginn »So redet der Heilige Geist: …« entspricht der Einleitung in die Prophetenworte des Alten Testaments (»So spricht der Herr: …«); vgl. ähnlich Offb 14,13 (»Ja [= Amen], sagt der Geist: …«) und die Anfangsworte der sieben Gemeindebriefe in Offb 2-3 (»Dieses sagt der …«) sowie deren jeweiliger Schluss (»Was der Geist der Gemeinde sagt …«); die Offb ist ein prophetisches Buch. Wie in 21,4 geht es auch in der Weissagung des Agabus und in der Diskussion darüber (21,11 ff) um einen Ort, nämlich Jerusalem. Die Weissagung ist mit einer prophetischen Zeichenhandlung verknüpft. Der Gürtel des Paulus ist wie in Joh 21,18 (»wird dich gürten und führen …«) zum Symbol des Schicksals des Boten geworden. Gleichzeitig hat der Gürtel des von Gott Gesandten eine besondere Funktion, da er den göttlichen Auftrag bildlich darstellt und z. T. magische Funktion hat. Denn die Töchter Hiobs empfangen nach Test Hiob ihre
Zu Apg 21,4: Entgegen der Meinung vieler Forscher besteht kein Widerspruch zwischen 21,4 (nicht hinaufgehen) und 21,11 (Geschick in Jerusalem). 21,4 ist kein (sinnloser) Einschub; Offenbarungen, irgendwohin nicht zu gehen, gibt es auch sonst (z. B. Mt 2,12). Im Übrigen ist nach 21,4 der Zeitpunkt noch nicht gekommen; Paulus muss sich erst nach Ptolemaïs und Cäsarea begeben. Jede Prophetie hat ihren Kairos. In Tyrus ist dieser noch nicht gekommen. Zu Apg 21,5: Die Jünger knien am Strand nieder, weil sie von den Juden(christen) den Ritus der Waschung vor dem Gebet übernommen haben; vgl. Apg 16,13 (Beten am Fluss). Zu Apg 21,8f: Zum Evangelisten Philippus vgl. A. v. Dobbeler: Der Evangelist Philippus in der Geschichte des Urchristentums (2001). – Es muss sich nicht unbedingt um leibliche Töchter handeln, die Töchter können auch Schülerinnen gewesen sein (»Sohn« und »Tochter« sind in der weisheitlichen Tradition die Lernenden; bis heute spricht man von den »Söhnen des heiligen Benedikt«). Eine Analogie zu den Töchtern Hiobs nach der apokryphen jüdischen Schrift »Testament des Hiob« (1. Jh. v. bis 1. Jh. n. Chr) drängt sich auf; denn auch die Töchter Hiobs sind Charismatikerinnen (Sprachen der Engelhierarchien. Diese Phänomene stellen sich ein als Erbe Hiobs an seine Töchter nach seiner Aufnahme in den Himmel). Damit stoßen wir insgesamt auf die »weibliche Prophetie«, die im Neuen Testament eine deutliche, wenn auch umstrittene Rolle spielt: Nach 1 Kor 11,5-16 rechnet Paulus mit
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484 prophezeienden Frauen; in Offb 2,20-23 (auch die Jezebel genannte Prophetin hat »Töchter«) werden aber regelrechte »Prophetinnen« verboten (was voraussetzt, dass es sie gab). Noch bei Cyprian (Brief 275) gibt es Prophetinnen, auch wenn Cyprian sie ungnädig behandelt. Das Frühjudentum widmet den alttestamentlichen »Prophetinnen« besondere Aufmerksamkeit (Miriam, Debora); vgl. etwa LAB (neu verfasste längere, auch testamentarische Reden). – Wenn im Brief des Polykrates v. Ephesus an Papst Victor I. die Töchter des Philippus unter den »Sternen Asiens« eine besondere Rolle einnehmen, zeigt das, dass sie wohl nicht wirkungslos gewesen sind (s. o.: A. v. Dobbeler). Fazit: 1. Die große Bedeutung des Themas »weibliche Prophetie« im frühen Christentum lässt erkennen, dass an dieser Stelle die Aufhebung der Geschlechterdifferenz geglückt ist (Gal 3,28); die ausgleichenden Bemerkungen in 1 Kor 11 werden von daher gut verständlich. Dass Maria, Jesu Mutter, das Magnificat singt (Lk 1,48 ff), kennzeichnet auch sie ohne weiteres als Prophetin. – 2. Es lohnt sich, in der Kirchengeschichte nach weiteren Vertreterinnen dieser Spezies zu suchen (Montanistinnen; Brigitta v. Schweden, Hildegard v. Bingen). – 3. Ein Vergleich der Hioblegende mit Philippus (und seinen Töchtern) sowie Montanus (Prisca, Maximilla) erlaubt die Beobachtung, dass Prophetinnen jeweils die Erbinnen oder Töchter eines männlichen »Schulhauptes« sind. Gibt es das bei Jesus auch? Immerhin kennt das 2. Jh. n. Chr. ein »Evangelium der Maria (Magdalena)«, und dort wie auch anderswo erscheint Maria Magdalena als Offenbarungsempfängerin (in Rivalität mit Petrus).
Apg 21,11-13: Auftritt des Propheten Agabus »… ausliefern in die Hände der Heiden« ist Entsprechung zum Geschick Jesu; vgl. Mk 14,41 (Sünder). – Der Prophet Agabus offenbart ein prophetisches Wort nach klassischem biblischem Schema mit Imperativ, Einwand und Aneignung des Imperativs (plus Einverständnis): 21,11: Zeichenhandlung plus Ankündigung (Prophetie).
Die Apostelgeschichte
21,12: Einwand (Bitte um Vermeidung). 21,13: Wiederholung des Imperativs durch den Adressaten (Paulus), Einwilligung. Vgl. ähnlich in der Verkündigung an Maria: Lk 1,30f: Prophezeiung durch den Engel, 1,34: Einwand Marias; 1,35: Wiederholung der Prophezeiung; 1,38: Einwilligung Marias (»Mir geschehe nach deinem Wort«, vgl. dazu hier Apg 21,14: »Des Herrn Wille geschehe!« – Ähnlich in den apokryphen Apostelakten Apostolicae Historiae, De S. Andrea 3: Der Engel beauftragt Andreas, nach Myrmidon zu eilen und Myrmidon zu befreien. Andreas antwortet mit dem Einwand: Herr, ich weiß nicht, wohin ich gehen soll. Dann wird der Imperativ wiederholt: »Geh und du wirst ein Schiff finden, das besteige, denn ich werde dich auf deinem Weg führen.«
Zu Apg 21,14: »Der Wille des Herrn geschehe!« – Wie im Vaterunser (Mt 6; Lk 11) geht es auch hier nicht um ein passives Erdulden, sondern entscheidend ist die mutige Bereitschaft des Paulus. Diese, und nicht das Leiden, ist Gottes Wille.
Apg 21,15-26: Paulus bei Jakobus in Jerusalem Zu Apg 21,21: Vorwürfe gegen Paulus. Diese sind wohl unrichtig: Die Beschneidung von Judenchristen bekommt erst dann überhaupt einen richtigen Sinn (als Siegel), wenn man an Christus glaubt. – Der Vorwurf, die jüdischen Sitten zu destruieren, findet sich auch in Apg 6,14. Paulus hat die Torah nicht abgeschafft (Röm 7,12.14). Lediglich für die Heidenchristen entfallen alle Wege der rituellen Annäherung an Gott (Erstellung der Reinheit), weil diese durch Taufe (Heiligen Geist) schon bewirkt wurde. Zu den Vorgängen um den Nasiräat in Apg 21,23-26 Nach dem Vorbild Johannes d. Täufers und des Herrenbruders Jakobus (und Jesu?) und wie der Apostel Paulus (nach Apg 18,18-22) haben hier gleich vier Mitglieder der Jerusalemer Gemeinde Nasiräatsgelübde abgelegt. Man darf fragen, warum das so relativ häufig im Urchristentum geschieht. Antwort: Der Nasiräat ist zur Zeit Jesu eine bei Laien sehr beliebte Frömmigkeitsform,
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Kapitel 21
und zwar als Zeit der ganzheitlichen Zuwendung zu Gott (Heiligung), insbesondere auch als Bußritus (vgl. K. Berger, in: Tradition und Offenbarung, 2006, 503-513). Wegen der erstrebten Reinheit steht der Ritus auch dem Pharisäismus nahe (besonderer Mischna-Traktat Nasir). In Apg 21 ist der Ablauf wie folgt zu denken: Vier relativ arme christliche Nasiräer haben nach 30 plus x Tagen die Übung des Nasiräat beendet und müssen nur noch »ausgeweiht« werden (durch Opfer im Tempel). Die Mitglieder der Urgemeinde geben Paulus den Rat, das Geld seiner Kollekte für die Opfer zur Ausweihung auszugeben. Um daran teilnehmen zu können, bedarf er (insbesondere da er aus der Diaspora kommt) einer Zeit von sieben Tagen der levitischen Reinigung. Paulus übernimmt hier nicht selbst den Nasiräat, sondern tritt für sieben Tage in den Nasiräat der vier Christen ein, und zwar als Sponsor. Nach der Vereinbarung der Ausweihung mit den Nasiräern und dem Tempelpersonal wird Paulus am 3. und 7. Tag mit Entsühnungswasser besprengt. Am 7. Tag dieser Zeit kann die Ausweihung der Nasiräer stattfinden. Paulus trägt die Kosten, und das gilt als frommes Werk.
Apg 21,27-40: Gefangennahme des Paulus Paulus wird aus folgenden Gründen gefangen genommen: a) Er richte sich gegen »das Volk«. – b) Er richte sich gegen das Gesetz (vgl. zu 6,14). – c) er richte sich gegen den Tempel (vgl. zu 6,14). – d) Er habe Nicht-Juden in den Tempel geführt und dadurch die heilige Stätte entweiht. Davon hat a) seinen Anlass in der Zuwendung des Apostels zu den Heiden, und zwar ohne Beschneidung. – b) hat seinen Anlass darin, dass Paulus für die Heidenchristen die Ritualgesetze für nicht verbindlich erklärt; dass er selbst sie befolgt, hatte gerade der Abschnitt 21,23-26 gezeigt. – c) ist lediglich darin begründet, dass Paulus in der Gruppe steht, der auch Stephanus angehörte (vgl. Apg 7,48-50). – d) ist unbegründet, weil Paulus zwar mit dem Heiden Trophimos in der Stadt gesehen wurde, ihn aber laut Lukas nicht mit in den Tempel genommen hat. – Überdies kann Paulus (in 21,38) nachweisen, dass er nicht der gesuchte ägyptische Terrorist (»der Ägypter«) ist. In dessen Gefolgschaft ste-
485 hen die Sikarier (»Dolchmänner«, von lat. sica »Dolch«), die im Gedränge mit Dolchen andere ermordeten. Der »ägyptische Pseudoprophet« (oder »der Ägypter«), er ist hier wohl gemeint, zog von der Wüste her mit einer großen Menge auf den Ölberg, um Jerusalem einzunehmen (Josephus, Ant 20,169-172). Aufgrund des entstandenen Tumultes kann der Gedanke entstehen, Paulus sei dieser Ägypter. Wie schon in Kap. 19, so arbeitet Lukas auch hier mit der ausführlichen Darstellung eines Tumultes. – Denn ganz offensichtlich wird der Vorwurf der Unruhestiftung immer wieder gegen Christen erhoben, nach Lk 23,2 bereits gegen Jesus. So auch Apg 17,6 (aufwiegeln). – Die Tumulte werden stets mit folgenden Zügen geschildert: Stichwort »Aufruhr« (Apg 19,40); Paulus oder seine Mitarbeiter werden ergriffen und verschleppt (19,29.37; 21,30); sie sind die eigentlichen Opfer der Aufgebrachten (19,29; 21,30); negative Rolle von Juden aus der Provinz Asia (19,33f; 21,27); Paulus trägt Züge des Antichrist (Zerstörung der religiösen und politischen Ordnung: 19,27; 21,26); Anklage wegen Zersetzung des Kultes gegen Paulus (19,26f; 21,28); die Leute strömen zusammen, werden zusammengerufen (19,25.29.32; 21,30); Leute schreien durcheinander (19,32; 21,34); das Volk ruft nach Beseitigung der Missetäter, Anfänge von Lynchjustiz (19,28.34: beide Male mit dem Schlachtruf »Groß ist die Diana von Ephesus«); 21,36: »Hinweg mit ihm«, ähnlich 22,22; Opfer sind unschuldig (19,37; 21,38f); Verschonung des Paulus vor dem Äußersten (19,30f; 21,33-35); öffentliche Ordnungsmächte wie Stadtschreiber oder Militärs greifen ein und schaffen Ruhe (19,35; 21,33; 22,24.27), auch Soldaten (21,32); eine Person beruhigt die Menge (19,35-40; 21,32-34), und zwar mit einer Rede. In Apg 22 hält Paulus diese entscheidende Rede. Hinweis auf ordentliches Gericht auch in 19,38 f.
Beobachtungen: Lukas hat großes Vertrauen in Ordnung und Ordnungsmächte. Aufruhr ist das Schlimmste. Aber wenn heilige oder gelehrte oder einflussreiche Männer auftauchen, haben diese die Masse leicht im Griff. Auch Militär schafft immer Ordnung. Andererseits ist die Masse ohne diese Führungskräfte chaotisch hinund hergerissen. Die größte Gefahrenquelle ist ein ungeordnetes Volk. Die Christen sind an dieser Unruhe niemals schuld. Oft besteht ein star-
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486 ker Kontrast zwischen der lauten Unruhe unter den Massen und der Stille und Sachlichkeit der Atmosphäre bei den Militärs (22,22.27). Der wahre ruhende Pol ist Paulus selbst, dessen Rede auch die umfangreichste ist (vgl. 22,1-21 im Kontrast zu 19,35-40). Lukas setzt hier folgende zeitgeschichtlichen Kenntnisse voraus: Es gab zumindest zwei Typen von Aufstandsbewegungen: Typ A ist unbewaffnet, nicht gewaltbereit, sondern wundersüchtig, sie sind Irrgeister (griech.: planoi); Josephus, Bell 2,258-260: Man erwartet den Messias auf dem Ölberg oder in der Wüste und zieht hinaus, um das Einstürzen der Mauern Jerusalems von außen her zu erleben. Geführt werden die Massen von Schwindlern (»Goeten«). In der Wüste erwartet man Zeichen der Freiheit (wohl »Wunder der Befreiung«; Josephus, Bell 2,259). Auch die Wiederkunft Jesu Christi haben wohl manche nach dieser Art erwartet; die synoptischen Apokalypsen korrigieren hier (Mk 13; Mt 24; Lk 21). Josephus nennt diese Menschen »Schwarmgeister und Betrüger, die unter dem Vorwand göttlicher Eingebung Unruhe und Aufruhr hervorriefen und die Menge durch ihr Wort in dämonische Begeisterung versetzten. Schließlich führten sie das Volk in die Wüste hinaus …« Der römische Procurator Marcus Antonius Felix hält sie für nicht harmlos, sondern lässt sie töten. Typ B sind nationalistische Extremisten; das sind vor allem die Sikarier (Dolchmänner), die ihre Opfer in versammelter Menge suchen und sie heimtückisch zu ermorden pflegen. Über die Sikarier: Josephus, Bell 2,254-256. Nachweisbar ab ca. 52 n. Chr. in der Dienstzeit des Prokurators Felix.
Die Apostelgeschichte
Die faktischen historischen Ereignisse sind wie folgt verlaufen: 1. Aufständische nach Typus B werden von einem »Ägypter« (Apg 21,38) nach Ägypten in die Wüste geführt. Josephus berichtet davon in Bell 2,254-65 (258-260). Zeit: unter dem Statthalter Felix ab 52 n. Chr. Der Römerfreund und ehemalige Hohepriester Jonathan wird dabei von Aufständischen umgebracht (Josephus, Bell 2,256). Nach Josephus hält der Statthalter Felix ihn für einen Aufständischen nach Typ B. Felix sei nur dem Angriff auf Jerusalem, der vom Ölberg aus erfolgen sollte, zuvorgekommen. Die Menschen wurden getötet, der Anführer verschwand. Nur deshalb könnte man auf die Idee kommen, Paulus sei eben dieser Anführer, der eben nun wieder aufgetaucht sei. – Nach Th. v. Zahn ist der »Goet« von Josephus, Ant 20,188 der Ägypter. Mit dem »Ägypter« verbindet Lukas 4000 Betrogene (Apg 21,38), Josephus dagegen 30.000. Laut Josephus ziehen sie zum Ölberg, wollen aber Jerusalem mit Gewalt einnehmen. Ähnliches ereignet sich auch unter Fadus 44-46 (vgl. Josephus, Ant 20,97f) und Theudas Apg 5,6. 2. Aufständische vom Typ A folgen den Goeten in die Wüste. Felix lässt solche niederhauen (Josephus, Ant 20,170). Indem der römische Kommandant eine Identität des Apostels Paulus mit dem »Ägypter« bestreitet, ist Paulus gleich zu Beginn der Ausführungen von höchster Stelle her entlastet. Damit passt zusammen, dass sich Paulus als Jude, und eben nicht als Ägypter, bezeichnet (Apg 21,39).
Apg 22–24: Paulus’ Anklagen und Verteidigung Apg 22: Verteidungsrede des Paulus Laut Apg 21,28 wird Paulus bei seiner Verhaftung vorgeworfen, er habe den jüdischen Tempel entweiht, weil er einen Nichtjuden in den Tempel geführt hat (21,28). Diese Anklage kann nicht bestätigt werden. Sie wird vielmehr durch das in Apg 22 Berichtete auf den Kopf gestellt: Ausgerechnet vom Jerusalemer Tempel aus erhält
Paulus die Beauftragung zur Mission unter den Heidenvölkern. Denn in Kapitel 9 war lediglich die Bekehrung zum Glauben an Jesus das Thema gewesen. Einerseits ist das ein weiterer Beleg für die Anbindung des gesamten Christentums an Jerusalem und den Tempel (Jerusalem-Zentriertheit), andererseits ist der Tempel, das heiligste Zentrum Israels, selbst die Brücke zu den Heiden. Und damit vollzieht sich Ähnliches wie bei der
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Kapitel 22
»offensiven Heiligkeit« Jesu. Nicht Jesus verunreinigt sich durch Berührung mit dem Unreinen, sondern Jesus macht das Unreine rein und gesund, ob es Aussätzige, Heiden, Blutflüssige oder Tote sind. Die von ihm ausstrahlende Reinheit wandelt alles Unreine der Qualität nach um. – So ist es nun auch bei der Begründung der Heidenmission: Nicht unreine Heiden verunreinigen den Tempel, sondern der Tempel wird zum Ursprung des umfassenden Heils für alle Heiden. Allerdings bewirkt das nicht der Tempel so, wie er dasteht, wohl aber Gottes Handeln im Tempel, nämlich die Beauftragung des Apostels Paulus zur Mission unter den Völkern. In seiner Verteidigungsrede in Apg 22 greift Paulus zurück auf drei Elemente, die autobiographischer Art sind: familiäre Herkunft, Erziehung, Bildung (22,3). Für Fragen der Gattungsgeschichte ist diese Stelle höchst aufschlussreich. Denn sie zeigt, dass die Autobiografie formgeschichtliche Wurzeln in der Verteidigungsrede vor Gericht hat. Man bedenke, dass im 1. Jh. n. Chr. die Autobiografie eine relativ junge Gattung ist, deren Wurzeln großenteils im Dunkeln liegen. Zu Apg 22,6-10: »Ich bin Jesus, der Nasiräer, den du verfolgst«: Diese Selbstvorstellung des Erscheinenden genügt hier zur Bekehrung des Paulus. Der Herr fragt noch nicht einmal kritisch (»Warum verfolgst du mich?«). Eine Deutung über den Inhalt ergibt sich aus 22,14: Gott hat Paulus »den Gerechten« sehen lassen. So ergibt sich die Möglichkeit, die Schilderung der Vision in Kapitel 22 nach Weish 5 zu deuten. Weish 2 hatte von der Verfolgung des Gerechten bzw. des Sohnes Gottes durch seine Verfolger gesprochen. Ab 5,1 wird die Wende bzw. Umkehrung geschildert: »Dann wird der Gerechte in großer Zuversicht dastehen vor dem Angesicht derer, die ihn bedrängten und seine Bemühungen ablehnten. Wenn sie ihn sehen, werden sie von schrecklicher Furcht erschüttert werden und sich entsetzen über seine unerwartete Errettung … Wie ist er nun zu den Gottessöhnen gerechnet …, (6) der Gerechtigkeit Licht hat uns nicht geleuchtet …« Ähnlichkeiten: Dem früheren Gegner des Sohnes Gottes wird dessen wahrer Rang durch ein Sehen zugänglich. Denn nun hat der Zeuge das »Licht der Gerechtigkeit«: In
487 der Vision sieht Paulus Jesus als Licht. Furcht und Erschütterung äußern sich bei Paulus, als er zu Boden stürzt. Daher gilt: Die Schilderung der Paulusvision verdankt entscheidende Züge der Wesensoffenbarung des Sohnes Gottes angesichts des einstigen Verfolgers in Weisheit 5. – Jesus ist bei Lukas »der Gerechte« in Lk 23,47; Apg 3,14; 7,52; 22,14. Die Unterschiede zu Apg 9 1. Im Rahmen seiner Apologie berichtet Paulus hier selbst im Stil des Lebenslaufes von Geburt an (wie heute noch vor Gericht üblich). Dabei betont Paulus seine Rolle als Christenverfolger (22,4 f.19-20). 2. Paulus betont in Apg 22 seine Gesetzestreue, auch die des Ananias (22,3b.12). In 22,14 spricht er vom »Gott unserer Väter«. Die Vision, in der ihm die Sendung zu den Heidenvölkern angekündigt wird, hat er im Tempel (22,17-21), d. h.: Die Abkehr von der Mission der Juden und die Hinkehr zur Mission der Heiden geschieht durch Gott selbst. Sie beruht nicht auf menschlicher Willkür. 3. Abweichungen in der Vision selbst: Nach 22,6 geschieht sie zur Mittagsstunde (d. h.: Die Helligkeit des Mittags wird durch die Helligkeit des Lichts in der Vision noch übertroffen. Deshalb werden in den späteren Ikonen Sonne und Mond jeweils schwarz dargestellt, denn im Vergleich zur visionären Helligkeit sind sie dunkel). – In 22,8 nennt Jesus sich »Nazoräer«; 22,10 sagt: »nach Damaskus« (9,6 nur: »in die Stadt«); 22,11 fügt hinzu: »vor dem Glanz des Lichts«; über 9,17 hinaus ist in Apg 22 vom Zeugnis die Rede. – Aus Kap. 9 fehlen: V. 9 (drei Tage blind und fastend); stattdessen hat 22,13: »zu derselben Stunde«; aus 9,10-15 fehlen die beiden sich ergänzenden Visionen (von denen Paulus nichts weiß); aus 9,17 fehlt »erfüllt mit Heiligem Geist«. 4. Nach der Vision bringt 22,14f Nachrichten über Vorherbestimmtsein des Paulus, Schauen des Gerechten, Zeuge sein. Das alles fehlt in Kap. 9. 5. Vor allem wird in 22,17-21 die Tempelvision des Apostels Paulus hinugefügt. Visionen im Tempel werden öfter berichtet (Lk 1,8 ff; Barthol Ev 2,15), denn Gottes Thron steht im Tempel (TestLevi 5,1). – Formgeschichtlich handelt es
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488 sich um eine typische visionäre Beauftragung mit den klassischen Elementen: Imperativ, Einwand und Wiederholung des Imperativs. – Gut vergleichbar ist Epistula Apostolorum 30 (44): Geht und predigt; Einwand: Herr, wer wird uns glauben, auf uns hören, wie können wir Wunder tun? Wiederholung des Imperativs: Geht, predigt, lehrt, Mit-Sein, Geist und Kraft. 6. Zur Logik des Einwands: Nach der Ankündigung Jesu, man werde das Zeugnis des Apostels Paulus nicht annehmen, antwortet Paulus, es sei doch bekannt, dass er Christen verfolgt habe. – Wie ist der Einwand zu verstehen? Entweder sagt Paulus: Als Verfolger der Christen bin ich doch bekannt und berüchtigt, da werden sie mir schon zuhören. Oder er sagt: Der Wandel vom Verfolger zum Zeugen macht das Zeugnis glaubwürdiger. Denn es ist doch derselbe, der beides authentisch getan bzw. erlebt hat. – Die zweite Möglichkeit liegt näher. 7. Nach 22,17-21 wird dem Apostel Gottes weiterer Plan mitgeteilt; dergleichen findet sich auch bei Josephus in visionären Anweisungen. Dabei wird die Vorstellung der Vorsehung Gottes (griech.: pronoia) angewandt (vgl. dazu K. Berger, Auferstehung, 1976, 480, Anm. 169). Die Mitteilung des Plans ist aber zweitrangig gegenüber dem angekündigten Sendungsauftrag. 8. Erst in Kap. 26 wird Paulus richtig ausgesandt, in Kap. 22 wird ihm nur Gottes Absicht zur Sendung mitgeteilt. So werden die Leser schrittweise an die Heidenmission herangeführt. Dabei hat Kap. 22 wegen der Tempelvision eine herausragende Stellung; der Tempel hat im lukanischen Geschichtswerk zentrale Bedeutung, auch für die Verknüpfung von Zeit Jesu und Zeit der Kirche. Die Jünger gehen auch nach Pfingsten zum Beten in den Tempel (Apg 3,1), und mit einer Tempelvision beginnt das LkEv (1,5 ff). Wie die Cornelius-Vision dreimal geboten wird, so auch die Berufung des Apostels Paulus. Insoweit sind Petrus und Paulus »gleichberechtigte« Heidenmissionare.
Apg 23: Paulus vor dem Hohen Rat Zu Apg 23,6f und zur Bedeutung der Hoffnung auf Auferstehung in der Apg:
Die Apostelgeschichte
Die Texte: 23,6: »Wegen der Hoffnung auf die von Gott an unsere Väter ergangene Verheißung und der Auferstehung der Toten stehe ich vor Gericht«; 24,25: »Ich habe die Hoffnung auf Gott, wie auch diese selbst sie hegen, dass es Auferstehung geben wird von Gerechten und Ungerechten«; 26,6f: »wegen der Hoffnung auf die von Gott an unsere Väter ergangene Verheißung«; 28,20: »um der Hoffnung Israels willen trage ich diese Ketten«.
Es war stets klar, dass Paulus hier die pharisäische Karte ausspielt. Denn tatsächlich teilen die frühen Christen den Auferstehungsglauben mit den Pharisäern. Da die Sadduzäer den Glauben an die Auferstehung nicht teilen (er ist im Pentateuch nicht zu belegen), kann Paulus so versuchen, die jüdischen Gegner zu spalten. Aus diesem Grund erwähnt Paulus auch unter dem Thema »Auferstehung« speziell die strittige Auferstehung Jesu nicht. Dennoch gibt es bereits zu den oben zitierten Texten und zum Thema wichtige Fragen: Wie kommen die Pharisäer zum Auferstehungsglauben? Und: Wie kommt es dazu, dass die Väterverheißung als Verheißung der Auferstehung verstanden wird? Wie auch Apg 23,8 zeigt, gibt es einen Zusammenhang zwischen Auferstehung und Engeln. Die Engel feiern die himmlische Liturgie, und die Hymnen sind für die Menschen die Weise, daran Anteil zu nehmen. Das wird immer wieder aus den Hymnen in den Qumrantexten erkennbar. Wer Liturgie feiern will, muss kultisch rein sein. Die Gesetzesauslegung und -praxis der Pharisäer hat vor allem das Ziel, defensiv jede Unreinheit zu vermeiden. Das Fernziel dieser Reinheitsreligion ist die Teilnahme am himmlischen Kult. Die Auferstehung macht engelgleich und ist der endgültige Weg in die himmlische Liturgie. Dass die Väterverheißungen, die sich im Alten Testament auf das »gelobte Land« beziehen, auf die Auferstehung umgedeutet wurden, bezeugt die Apg. Entscheidend ist hier der Begriff des »Erbteils« bzw. »Erbes«. Wenn vom »Erbteil unter den Geheiligten« gesprochen wird, deutet das auf eine »himmlische« Umdeutung der ursprünglich sehr irdischen Landverheißung; kleros, Los, bedeutet in der griech. Bibel ein Stück Land, entsprechend dann auch »Erbteil« griech.: kleronomia. So ergeht es auch dem Ausruck »Ruhe« (katapausis), etwa in Hebr 3 f. Schließlich wird die
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Kapitel 24
Väterverheißung als »Licht« gedeutet, so im Offertorium der Alten Messe (in lucem, quam olim Abrahae promisisti et semini eius). Parallel ist die Entwicklung der Rede von der »himmlischen Heimat« (Vaterland) und vom »himmlischem Jerusalem« an der Stelle des »neuen Jerusalem«. Wie kommt es zu dieser Annäherung des »Landes« an den »Himmel«? Ist die Ursache die stärkere Transzendentalisierung des Gottesbildes? (d. h.: Rückt Gott weiter weg von der Erde?). Bestätigt wird diese These in 26,7: »Und nun stehe ich vor Gericht, weil ich auf die Erfüllung der Verheißung … hoffe, genauso sehnlich wie unser ganzes zwölfstämmiges Volk, das, um diese Erfüllung zu erleben, Tag und Nacht Gottesdienst hält.« Die Rede vom Volk der zwölf Stämme ist (ausweislich der Textfunde aus Höhle 11 in Qumran) in dieser Zeit spezifisch kultisch. Denn im Kult gilt die (wenn auch im Augenblick noch ferne) Perfektion. Israel ist nur als Volk der zwölf Stämme »perfekt«; daher gibt es ja auch zwölf Apostel, obwohl seit langer Zeit nur wenige Stämme im Lande wohnen. – Die eigentliche Begründung für das Erreichen der Auferstehung ist, dass »Tag und Nacht« Gottesdienst gehalten wird. Das eben tun die Engel, die deshalb die »Nicht-Schlafenden« (Wachenden, daher: Wächterengel) genannt werden. Das syrisch erhaltene Testament des Adam (PatrOr 1,1) zeigt, wie Tag und Nacht im Schema der 24 Stunden zu jeder Stunde mit dem Dienst einer anderen Engelgruppe gefüllt werden. Und eben dies will der Tempeldienst nachahmen. Darin beruht die Hoffnung auf Auferstehung, und deshalb kann Paulus um dieses Zieles willen sagen: »Betet ohne Unterlass« (1 Thess 5,17). Zu Apg 23,8: »… weder Auferstehung noch Engel noch Geist«: »Geist« könnte hier auch der böse Geist sein bzw. der Totengeist; vgl. Lk 24,37 (meinten, einen Geist zu sehen); auch in Past Herm 10,1,2 ist pneuma nur negativ; ähnlich schon LAB 53,3 (spiritus pessimus); 60,1 (sanctus … pessimus). Oft sind »Dämonen« und »Geister« austauschbar. – Auferstehung, Engel und Geist stehen hier beieinander, weil speziell nach Lukas die Auferstandenen den Engeln gleichen (Lk 20,36: »den Engeln gleich … Kinder Gottes und der Auferstehung«). Denn die Auferstandenen werden – aufgrund der Verwandlung ihres Lei-
bes – in die Gemeinschaft der Engel vor Gottes Thron (»Familie Gottes«) erhoben. Zu Apg 23,9: »Geist oder Engel«, vgl. zu 23,8. Zu Apg 23,11: Auch hier (wie 27,23f) wird der Weg der Mission vom Himmel her angeordnet. Vgl. ganz ähnlich Josephus, Vita 208f (muss gegen Römer kämpfen); Clem Hom 14,7 (aus Rom); auch in den apokryphen Apostelakten bestimmen die Erscheinungen vom Himmel her den Weg der Apostel (Berger, Auferstehung II, Anm. 176).
Apg 24: Anklage gegen Paulus vor dem Statthalter Felix – Verteidigung Die Verteidigungsrede, die Paulus hier liefert, ist ganz offensichtlich auch dazu gedacht, judenchristlichen Lesern der Apg das Verständnis des Christentums zu erleichtern. Man kann hier wohl von einem judenchristlichen Katechismus sprechen: Dabei fällt auf, eine wie große Rolle das künftige Gericht hier spielt. Das ist allerdings auch in Predigten an Heiden der Fall, wie sie die Apg bietet (vgl. 17,31), auch Hebr 6,2 lässt solches klar erkennen. Man kann daher sagen, dass für Predigten an Juden wie an Heiden der eschatologische Aspekt aus der Verkündigung Jesu zu der festen Verbindung von Ethik und Gericht geworden ist. Gerade in dieser Verbindung hält sich auch das Anliegen Johannes des Täufers bis in Missionspredigten des frühen Mittelalters hinein. Eine zweite Beobachtung an diesem Text könnte für das Verständnis der paulinischen Dreiheit von Glaube, Hoffnung, Liebe wichtig sein. Denn zu Beginn seiner Apologie spricht Paulus ausdrücklich von Glaube, dann von Hoffnung, dann von »Almosen für Israel«, was eine gute Wiedergabe des Liebesgebotes ist. Daher kann gelten: Die paulinische Dreiheit von Glaube, Hoffnung, Liebe erklärt sich aus der judenchristlichen Missionspredigt, wie sie in die Apologie von Apg 24 eingegangen ist. Denn rein formale Überlegungen (vgl. Berger, Formen und Gattungen, 2005) erklären nur die Schlussposition der Liebe als der letzten Konsequenz des Glaubens. Die Hoffnung in der Mitte war bisher unerklärt. Sie hat ihren
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490 Ursprung in der Abfolge von Glaube und Gericht nach der hier vorliegenden Missionspredigt (vgl. Hebr 11,6). Schließlich erklärt die Abfolge von Apg 24,15/ 16 die Logik von 2 Kor 4 f. Denn an der genannten Apg-Stelle spricht Paulus zuerst von der Auferstehung der Gerechten und Ungerechten (zum Gericht), dann aber schildert er sein Bestreben, im Gewissen vor Gott und den Menschen unanstößig zu sein. In 2 Kor 4 hatte Paulus seine Eschatologie entwickelt, darauf aber spricht er dann davon, dass alle vor dem Richterstuhl Jesu Christi »offenbar werden« müssen. Auch hier fällt der Ausdruck »Gewissen«. Paulus bekräftigt hier die Reinheit seines Gewissens, indem er darstellt, welche Art von Gericht er erwartet. Er legt den Korinthern daraufhin den Schluss nahe: Wer ein so strenges Gericht erwartet und das bezeugt, der kann unmöglich ein Betrüger sein. Schon länger hat die Forschung beobachtet, dass Paulus in 2 Kor 4f eine Apologie liefert, in Apg 24 steht er in Entsprechung dazu vor dem römischen Statthalter. Die Parallelen sprechen für die Paulustreue der Apg. Aufbau der Apologie des Apostels Paulus nach Apg 24: 1. Jüdischer Gott, kein anderer (vgl. Formulierung des Ersten Gebotes) 2. Gesetz und Propheten. Die Bejahung von 1. und 2. zusammen heißt »Glauben« 3. Hoffnung (Gericht; dazu Auferstehung der Gerechten und Ungerechten, vgl. Hebr 6,2 »Auferstehung der Toten und ewiges Gericht«). Auch nach 28,20 ist Paulus wegen der Hoffnung Israels gefangen. 4. Paulus ist bemüht um ein gutes Gewissen. 5. Almosen für das Volk (vgl. Apg 10,2; Interpretation von Nächstenliebe im Sinne von Lev 19,18, vgl. K. Berger, Almosen für Israel. Zum historischen Kontext der paulinischen Kollekte, in: Tradition und Offenbarung, 2006, 207-232) 6. Nasiräat (Heiligung, Opfer). – Paulus sieht seine Teilhabe am Nasiräat als Beleg für seine Treue zum Judentum. »Nazoräer« und nicht »Christianer« war der erste gemeinsame Name der Christen (vgl. Apg 24,5; zum jüdischen Ursprung und Inhalt dieses Namens vgl. K. Berger, Jesus als Nazoräer/Nasiräer, in: Tradition und Offenbarung, 2006, 503-514.) 7. Glaube an die Auferstehung der Toten.
Die Apostelgeschichte
Zu Apg 24,5: Paulus als Unruhestifter; vgl. dazu der Paulus konstant angehängte Vorwurf der Unruhestiftung nach Apg 24,5. (Zum Ausdruck »Sekte der Nazoräer« vgl. K. Berger, Tradition und Offenbarung, 2006, 507, Anm. 16; 508, Anm. 18; 512, Anm. 35). Besonders der Ausdruck »Nazoräer« als Kollektivbezeichnung macht es unmöglich, Nazoräer auf die Herkunft aus Nazaret zu beziehen. Denn die Christen kommen ja nun keineswegs alle oder auch nur zum Teil aus Nazaret. In den ersten christlichen Jahrhunderten sind nazoraioi oftmals die Reinen, besonders Simson. Zu Apg 24,15.21: Auferstehung von Gerechten und Ungerechten: Für die Erwartung einer künftigen Auferstehung gibt es zwei Ausprägungen mit zwei sehr verschiedenen Ursachen. Die erste Erwartung ist die Auferstehung aller zum Gericht über Gerechte und Ungerechte; sie betrifft alle Menschen, und ihre Wurzel ist die Erwartung einer generellen Schlussabrechnung für alle Menschen. Diese Erwartung ist auch in Joh 5,29 belegt. Eine zweite Art von Auferstehung wird nur die Gerechten betreffen. Diese werden dann in die Unverweslichkeit/Unsterblichkeit verwandelt werden. Davon spricht Paulus in 1 Kor 15. – Wenn Paulus in 24,21 versichert »Der Auferstehung der Toten wegen stehe ich heute vor eurem Gericht«, so meint er möglicherweise beides. Denn in 2 Kor 5,10 spricht er davon, dass »alle« (sc. Menschen) je nach moralischer Qualität zu unterschiedlicher Folge vor dem Richterstuhl Jesu Christi erscheinen müssen. Ist die »Auferstehung«, die Paulus in 1 Kor 15 bespricht, die Einleitung der neuen Schöpfung zu Beginn des neuen Äons, während der Richterstuhl Jesu Christi sich mehr auf das Ende des alten Äons bezieht? Zu Apg 24,17: Hier wird verstehbar, welchen Weg die paulinische Kollekte genommen hat. Sie war »Almosen für Israel«. Zu Apg 24,21: Paulus sieht sich wegen des Glaubens an die Auferstehung vor Gericht stehen. Das ist nicht ungeschickt, denn zum einen kann Paulus so die jüdischen Gegner aufspalten, denn Pharisäer und Sadduzäer unterscheiden sich in diesem Punkte weit voneinander. Geteilte Geg-
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Kapitel 25
ner sind halbierte Gegner. Zum anderen gelingt es Paulus, die Themen der Auferstehung Jesu und der allgemeinen Auferstehung aller Menschen zum Gericht unter »einen Hut« zu bringen. Und schließlich greift Paulus aus der allgemeinen Missionspredigt des hellenistischen Judentums das Thema des eschatologischen Gerichts auf. Lukas als der Verf. der Apg hat so auch Paulus richtig verstanden, vgl. 1 Kor 15,1720. Auffällig ist, dass von dem, was wir als paulinische Spezifika betrachten (Heidenmission, Verzicht auf Beschneidung und Ritualgesetz, Charismen, Sakramente mit christologischer Fundierung) nicht die Rede ist. Zu Apg 24,25: »Gerechtigkeit«, »Enthaltsamkeit«, »kommendes Gericht«: Die Liste bewahrt mit dem Gericht das oben besprochene Element frühchristlicher Verkündigung seit Johannes dem Täufer. – Die Enthaltsamkeit neben der Gerechtigkeit ist so zu erklären: »Gerechtigkeit« meint die Pflichten gegenüber den Mitmenschen, das Wort hat daher einen speziell sozialen Inhalt. »Enthaltsamkeit« meint die Pflichten gegen sich selbst. Das eine ergänzt das andere; erst beides zusammen umfasst alle Pflichten des Menschen auf Erden. Ähnlich auch der AristeasBrief 278: »Enthaltsamkeit befiehlt er und Gerechtigkeit besonders zu ehren. Gott aber steht an erster Stelle«.
Apg 25: Zuspitzungen im Geschick des Paulus Tendenzen der Darstellung in Kap. 25: Paulus weiß sich unschuldig gegenüber den Juden (25,8.10f), aber Juden beschuldigen ihn fortwährend (25,2.7.15), ohne Beweise zu haben. Sie wollen ihn beseitigen (25,3.11). Paulus will nicht nach Jerusalem überstellt werden, weil dort allein Juden und nicht die als verhältnismäßig unparteiisch dargestellten Römer über ihn befinden werden. Daher beruft sich Paulus auf den Kaiser (25,10-12.26). Der Tod des Paulus wird ins Auge gefasst (25,11.24), vgl. 26,31. Zu Apg 25,8: Paulus wehrt sich gegen den Verdacht, er habe sich vergangen gegen Gesetz der Juden, Tempel und Kaiser. – Anders in 21,27-40: Paulus wurde da aus folgenden Gründen gefan-
gen genommen: a) Er richte sich gegen »das Volk«, b) Er richte sich gegen das Gesetz (vgl. zu 6,14), c) er richte sich gegen den Tempel (vgl. zu 6,14), d) Er habe Nicht-Juden in den Tempel geführt und dadurch die heilige Stätte entweiht. In 25,8 ist das Vergehen gegen den Kaiser hinzugekommen. Es besteht offenbar im »Aufstand«. Damit sind Paulus und Jesus auch auf dieser Ebene zusammengekommen. Zu Apg 25,12: Man unterscheidet zwei Arten der Appellation; die provocatio: Der Spruch des Volkes soll entscheiden, nicht Beamte. Die appellatio ist gerichtet an den Magistrat oder den Volkstribun und bedeutet eine Aufforderung zur Interzession, zum Eingriff in das Verfahren.
Apg 26: Verteidigung des Paulus vor König Agrippa Die Apologie des Apostels Paulus ist wieder autobiografisch aufgebaut; zum Ursprung der Autobiografie in der Apologie vgl. zu Kap. 22. – Die Abweichungen im Unterschied zu 22 werden im Folgenden notiert: 26,4-5 (= 22,3); in 26 fehlt Gamaliel, dafür das Stichwort »Pharisäer«; 26,911 (= 22,4-5); neu in 26,9 »gegen den Namen Jesu«; 26,10 Verfolgung in Jerusalem [nach Kap. 22 ist Jerusalem nur Strafort], Zustimmung zur Hinrichtung; neu: in Kap. 26 werden die verfolgten Christen »Heilige« genannt, die paulinische Bezeichnung für Christen aus anderen Gemeinden); 26,13 (= 22,6); 26,14 (= 22,7); neu ist in 26 »in hebräischer Sprache«, das ist für Paulus die Sprache des Himmels; neu auch der Zusatz: »Gegen mich anzugehen ist so sinnlos, wie wenn ein Ochse sich gegen das Joch aufbäumt«). Zu Apg 26,4-22: Für Lukas ist dieses die letzte Gelegenheit, bei der Paulus seinen Werdegang und seine Grundeinsichten darstellt. In 26,4 erwähnt Paulus wieder, dass er für die Hoffnung Israels Apostel geworden ist; nach 26,7 dient das Zwölfstämmevolk inbrünstig Tag und Nacht Gott, um diese Hoffnung zu erlangen. Obwohl nach der eigenen jüdischen Geschichtsauffassung etliche Stämme in der Verbannung leben, ist in kultischen Zusammenhängen weiterhin von den zwölf Stämmen die Rede. Das ist beson-
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492 ders auffällig in der in Qumran gefundenen »Tempelrolle«. Hier wird regelmäßig von den zwölf Stämmen gesprochen, als wäre nichts geschehen. Nach 26,7 dient der Gottesdienst wesentlich der Erfüllung von Gottes Verheißungen gegenüber seinem Volk. Daher nehmen auch die lukanischen Hymnen regelmäßig auf diese Verheißungen Bezug (Lk 1,54f; 1,70f; wohl auch 2,30). Apg 26 entwirft im Folgenden eine Theologie der Mission, die auch unabhängig von der Person des Apostels Paulus gültig ist. Diese Theologie wird beherrscht von den jesajanischen Gegensätzen Finsternis/Licht und den eher neutestamentlichen Gegensätzen Herrschaft Gottes/Herrschaft Satans. Der Missionar ist in diesem Fall der Befreier. Zu Apg 26,14: Hier tadelt der erscheinende Jesus nicht nur die Verfolgung der zu Jesus dazugehörigen (insofern mit ihm identischen) Christen, sondern kommentiert auch: »Gegen mich anzugehen ist sinnlos, wie wenn ein Ochse sich gegen das Joch aufbäumt«. Vielleicht Anspielung an Euripides, Bakchen, 794: »Sinnlos, wenn ein Sterblicher gegen Gott sich aufbäumt wie gegen einen Stachel«. Zu Apg 26,16: Übersetzungsvorschlag: »… und von allem, was der Inhalt meiner Erscheinungen vor dir sein wird«. – Zu beachten ist die strikte Parallelität von »du sahst mich« und »ich werde dir erscheinen«; ferner, dass Sätze wie Apg 22,15 »Zeuge der Dinge, die du gesehen hast«, im Kontext zu beobachten sind. Die merkwürdige Konstruktion an dieser Stelle ist dadurch erklärbar, dass die Pluralität der Dinge, deren Zeuge Paulus ist (so auch Lk 24,48), sogleich auf den einzigen Inhalt dieser Offenbarung, auf Jesus, reduziert wird. Das ausgefallene Relativum ebnet den Weg zu einer Beschränkung der Offenbarung auf Jesus. Ebenso ist es in Offb 1,19. Die Nennung von Vergangenheit und Zukunft auch in Apg 26,16 kann gut zurückgehen auf die übliche Formel »was war und was sein wird«. In der Erstvision wird das ganze Offenbarungsgut mitgeteilt, auch nach Ez 2-3 und Hen (äth) 1,2. Zu Apg 26,17-18: In mehreren Gedankengängen wird die Berufung des Paulus dargestellt:
Die Apostelgeschichte
1. »Ich habe dich erwählt aus Juden und Heiden«. Dass Paulus auch »aus den Heiden« erwählt ist, ist neu. Gemeint ist: aus der ganzen Menschheit. 2. »Ich sende dich zu den Heiden«. – So direkt wird nirgends im Neuen Testament jemand zu den Heiden geschickt. 3. »Du sollst den Heiden die Augen öffnen«, d. h. der vorherige Zustand wird als Blindheit bewertet. 4. »… damit sie umkehren von der Finsternis zum Licht«: So wird die Bekehrung zu dem einen Gott Israels seit Jes beschrieben; vgl. auch Philo v. Alexandrien, De Abrahamo; Acta Philippi 115: »Christus, Sonne der Gerechtigkeit, erleuchte dich.« 5. »… aus der Herrschaft Satans hin zu Gott«: Der Herrschaft Satans ist nach den Synoptikern das Reich Gottes entgegengesetzt (vgl. Lk 11,20). 6. »So werden (durch Gott) ihre Sünden vergeben«: Der Zusammenhang von Umkehr und Sündenvergebung findet sich schon bei Johannes d. Täufer. Dieser Vorgang ist nicht an die formelle Zusage der Vergebung der Sünden (Absolution) gebunden. Das ändert sich erst mit Jesus. 7. »Und weil sie (die Heiden) an mich glauben, erhalten sie einen Platz unter allen von Gott erwählten Heiligen.« – In den traditionellen Gebeten und Segnungen aus der Bekehrungsliteratur spielt immer der Ort eine Rolle, den die neu Bekehrten nun erhalten. Das ist auch die Weise, in der sie an der Landverheißung für die Erwählten Anteil erhalten (vgl. Josef und Aseneth 8,11; Acta Philippi 30) Die Verse 26,13 und 26,18 sind durch das Stichwort »Licht« verbunden (zu »Licht und Stimme« s. o. zu Apg 9,3-7). Das ist jüdisch-hellenistische Bekehrungsterminologie; vgl. K. Berger, Auferstehung, 541, Anm. 328). Nach Weish Sal 18,1-4 wird das (visionäre) Licht der Sinai-Erscheinung als Licht des Gesetzes weitergegeben. Die Erscheinung wird durch paradosis abgelöst, aber auch diese ist noch als Licht bezeichnet. So ist es auch in Apg 26,13-18: Paulus selbst wird durch Licht und Stimme berufen, seine Funktion gegenüber den Völkern ist aber analog. Er muss ihre Augen öffnen (vgl. dazu Lk 24,31), und er soll sie von der Finsternis zum Licht bekehren. Auch hier ist das Licht, zu dem der
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Kapitel 27
Apostel bekehren soll, nicht wesentlich unterschieden von dem Licht, das er selbst sah – nur wird es in der Mission nicht in Erscheinungen auftreten, sondern als Lehre. Das Licht, das Jesus ist, steht daher in Apg 26 genau an der Stelle, die das Gesetz in Weish 18 einnimmt (vgl. zum Gesetz in Past Herm, Sim 8,3,2; zum »Sehen« der Stimme vgl. K. Berger, Auferstehung. 552).
Apg 27: Auf dem Weg nach Rom In Kap. 26-28 fallen als literarische Absichten des Lukas auf: Er legt großen Wert auf die Namen von Personen, auch wenn es Randfiguren sind; er macht genaue geografische Angaben (besonders von Inseln, so in Apg 27,1b.2b.16); er kennt sogar den Namen des Wirbelsturms in 27,14; er bemüht sich um genaue Zahlen (Apg 27,27.28.37: 27,6). – Durch alle diese Angaben verstärkt er den Zeugnischarakter des Berichts. Es sieht so aus, als hätte jemand derartige Daten auf einem Notizblatt mitgeschrieben. Zu Apg 27,23f: Oft hat man gefragt: Hat Paulus hier Abendmahl gefeiert? Aber ohne Wein? Oder war es der erste Fall der Feier sub una (Elemente des Mahls nur in einer Gestalt)? Doch nicht überall dort, wo ein Judenchrist nach jüdischer Art mit dem Dankgebet beginnt und dann Brot (ver)teilt, geht es um Abendmahl, auch nicht bei Paulus. In Apg 27,21.33-36 wird man auf eine eigenartige Logik aufmerksam: (21) Niemand mochte mehr etwas essen. … (33) Vor Tagesanbruch ermahnte Paulus alle auf dem Schiff, etwas zu essen. Er sagte: »Schon vierzehn Tage habt ihr nichts im Magen, da ihr nichts zu euch genommen habt. (34) Ich sage euch, ihr müsst jetzt etwas essen. Dann könnt ihr überleben. Denn keinem wird ein Haar gekrümmt werden.« (35) Nach diesen Worten nahm Paulus Brot, sprach laut ein Dankgebet, teilte das Brot aus und begann zu essen. (36) Da fassten alle wieder Mut und aßen auch.
Warum haben die Menschen 14 Tage lang gefastet? Warum fassen alle wieder Mut, nachdem Paulus gegessen hat? Warum wird ausdrücklich das Tischgebet hervorgehoben? – Die Exegeten
493 sehen hier immer die Frage der Eucharistie diskutiert (das tut erst der westliche Text; nach der Hauptüberlieferung wäre Paulus dann der Erste, der alleine »zelebriert«). Darum geht es gar nicht (z. B.: Wo bleibt der Becher mit Wein?). – Kein Kommentator hat die Frage gestellt, warum alle wieder Mut fassen, wenn Paulus ihnen etwas vorisst. Tatsächlich stoßen wir hier auf eine sehr beachtenswerte Anschauung, das Essen und das Tischgebet betreffend. Grundsätzlich gilt: Essen ist gefährlich, weil Dämonen gerne diesen Weg in das Innere des Menschen benutzen. Beweis: Paulus warnt vor der Teilhabe am »Tisch der Dämonen«, und in 1 Kor 11 kann man sich bei offener Zerstrittenheit deshalb das Gericht durch Essen und Trinken zuziehen, man kann krank werden und früher sterben, weil essen gefährlich ist, wenn es nicht unter dem Schutz Gottes steht, der es heiligt. Dem dient üblicherweise das Tischgebet; es vertreibt die Dämonen. Aber wenn dann nach dem Gebet der Streit erst recht anfängt, dann holt man sich »den Teufel in den Leib«. In einer Welt, die durch dualistische Vorstellungen geprägt ist, nimmt man durch Essen die Dämonen oder den Herrn auf. Erst durch die Gegenwelt der dualistischen Motive wird das In-sich Hineinnehmen des Herrn in der Eucharistie plastisch begreiflich und etwas verständlicher. Das »in den Mund hinein« (abgelehnt in Mk 7,15.18-20), behält doch einen gewissen Wahrheitsgehalt. Umgekehrt: Wenn Menschen in Not und Angst sind – wie etwa die Schiffsgenossen des Apostels Paulus nach Apg 27 – dann fasten sie lieber, als dass sie sich der Gefahr aussetzen, noch zusätzlich Böses und damit Schädliches in sich hineinzulassen. So erklärt sich das Fasten der frühesten Kirche vor Aussendung bzw. Auswahl von Jüngern; so erklärt sich das spätere Fasten der Kirche vor hohen Festen wie Weihnachten und Ostern, das Fasten vor den Weihen u. a. m.: Stets geht es darum, mit dem Essen alles Schädliche und jede Gefährdung der Heiligkeit zu vermeiden. Aus diesem Grund hatten die gefährdeten Menschen auf dem Schiff das Essen verweigert. Als Paulus – dank Tischgebet ungefährdet – etwas essen kann, ohne dass Schlimmes passiert, fassen sie alle wieder Mut und essen gleichfalls. Durch das offensichtlich erfolgreiche Gebet des Paulus fühlen sie sich alle geschützt.
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Apg 28: Paulus in Rom Zu Apg 28,23.31: Der lukanische Sprachgebrauch in Summarien der Apg legt im Ganzen folgende Zweiteilung der Verkündigung nahe: Teil I (Umkehr, Gott der Väter, Gottes Reich), Teil II (aus Mose und den Propheten: christologischer Schriftbeweis, Glaube an Jesus Christus). Belege: 28,23: Reich Gottes; Jesus vom Gesetz des Mose und den Propheten her. 28,31: »verkündend das Reich Gottes und Zeugnis gebend über das, was den Herrn Jesus Christus betrifft«. – 8,12: »über das Reich Gottes und den Namen Jesu Christi«. – 20,21: Umkehr zu Gott, Glaube an den Herrn Jesus Christus. – 24,14: »… diene dem Gott der Väter, glaube alles, was in Gesetz und Propheten geschrieben steht«. 25,19: (jüdische Religion – Jesus als Auferstandener). – 26,20: Umkehr, sich zu Gott hinwenden und entsprechend handeln. – 26,22b: Propheten und Mose: Leiden und Auferstehung. – Umgekehrte Reihenfolge in 14,22 (»beim Glauben zu bleiben … einzugehen in das Reich Gottes«). – Oft besteht die Verbindung mit »bezeugen« (griech.: diamartyromai).
Der lukanische Sprachgebrauch könnte auch das Ziel der synoptischen Rede vom Reich Gottes erläutern: Die Verkündigung hat zwei Standbeine. In den Reflexionszitaten betont besonders das MtEv die christologische Seite. Angesichts der Bedeutung von Schlussabschnitten in der Antike ist nach der Funktion von Apg 28,26-31 zu fragen. Es gibt zwei Möglichkeiten: a) Vor allem an der Gestalt des Apostels Paulus wird ab Apg 9 der Weg des Evangeliums von Israel zu den Heiden dargestellt. Diese Bewegung findet hier ihren Abschluss. So sagt es der Kontrast von V. 26f mit V. 28: Israel hat sich gesperrt, den Heidenvölkern wurde nun das Heil gesandt. »Sie werden hören.« – b) Im Sinne der peroratio in antiker Rede handelt es sich um einen dramatischen Schluss-Appell. Dieser zeigt suggestiv die beiden Wege auf, die sich für das
Die Apostelgeschichte
Evangelium nahelegen. Schließlich sind Juden angeredet. Und nicht zu ihnen, sondern zu ihren Vätern (! Hinweis: R. Böhm) hat der Heilige Geist Jes 6,9f gesagt. Die Anfrage an die Juden, die diese Rede hören, könnte daher sein: Wollt ihr es so haben wie eure Väter? Und: Seht, was die Heiden tun! Paulus würde dann mit zwei Stacheln hantieren. Aus formgeschichtlichen Gründen und wegen der appellativen Merkmale neutestamentlicher Rede würde ich Möglichkeit b) bevorzugen. Die Gegenkontrolle bestätigt diese These. In Apg 7,51 sagt Stephanus am Schluss seiner Rede: »Dickfellig und unsensibel seid ihr, und immer wieder fallt ihr dem Heiligen Geist in den Arm, das gilt von euren Vätern wie von euch.« – Die Vorwürfe in Apg 28 sind ganz entsprechend: »Ihr werdet hinhören und nichts verstehen … Denn das Herz dieses Volkes ist verstockt.« Doch nach 28,25 hat dieses der Heilige Geist den Vätern gesagt. – Im Unterschied zu Kapitel 7 fehlt in Kapitel 28 die Doppelheit der Angeredeten (die Väter wie auch ihr). Auch wiederholt Paulus das abschließende Verdikt nicht. Damit gewinnen die negativen Aussagen in 28,26.27 eine andere Funktion. Die Väter sind ein abschreckendes Beispiel. Es liegt an den Angeredeten, ob sie sich das Urteil von Jes 6,9f gleichfalls zuziehen wollen. Man hat oft gefragt, warum Lukas seine Apg nicht mit dem Martyrium des Apostels Paulus in Rom beendet hat. Er hätte keinen Grund gehabt, dieses zu verschweigen. Denn wenn seine Leser um das Martyrium wussten, konnte Lukas nicht Loyalität gegenüber Rom auf Kosten des Apostels zeigen. So bleibt als einziger Grund: Lukas wusste noch nichts davon, bzw. Paulus war noch nicht den Märtyrertod gestorben. Dass Paulus unter Nero enthauptet wurde, legt 1 Clem 5 nahe. – Das hätte dann Konsequenzen für die Datierung der Apg: vor der neronischen Verfolgung der Christen, also etwa 66/67 n. Chr.
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Der Römerbrief
Kommentare: Origenes (3./4. Jh.; ed. Th. Heither). – Ambrosius v. Mailand (4. Jh.). – Augustinus (5. Jh.). – Joh. Chrysostomus (vor 4oo). – Cyrill von Alexandria (5. Jh.). – Ambrosiaster (5. Jh.). – Eythymius Zigabenus (6. Jh.). – Oecumenius (7. Jh.). – Bruno Carth. (11. Jh.; ed. 1509). – Auctor anonymus (12. Jh; ed. R. Peppermüller). – Haymo Halberstattensis (12. Jh., ed. 1519). – Petrus Abaelardus (12. Jh.). – Guilelmus a S. Theororico (12. Jh.). – Thomas Aquinas (1250). – Hugo v. St. Cher (vor 1264). – Dionysius Carthusiensis (vor 1471). – Hugo a S. Caro (ed. 1502). – Nicolaus Lyrensis († 1349). – Theophylactus (ed. 1532). – Ps.-Anselm (ed. 1533). – M. Luther (1516/17). – J. Bugenhagen (1527). – Erasmus v. Rotterdam (1527). – Ph. Melanchthon (1529; 1532, 1556). – Jac. Sadoletus (1535). – M. Bucer (1536). – D. Carthusianus (1552). – C.G. Belliocensis (1542, 1550). – J. Ferus (1559). – A. Marlorat (1561). – N. Hemmingius (1579). – H. Bullinger (1582). – B. Aretius (1589). – A. Hunnius (1596). – Joh. Calvin (ed. 1600). – F. Toletus (1602). – B. Pererius (1603). – D. Paraeus (1608). – B. Iustinianus (1612). – F. Costerus (1614). – Joh. Piscator (1638). – L. De Dieu (1646). – J. Crellius (1656). – L. Fromondus (1663). – Joh. Gerhard (1666). – A. Mons (1667). – A. Paciuchelli (1677). – C. Wittich (1687).
– N. Gorranus (1692). – H. Hammond (1698). – Critici Sacri (1703) VII 570-936; VIII 106-112.183188. – B. Piconio (1703). – G. Estius (1709). – P. C. Zeyss (1712). – A. Calmet (1716). – M. Henry (1721). – J. Tirinius (1723). – S. De Brais (1735). – A. Remy (1739). – J. A. Turretini (1741). – J. C. Wolfius (1741). – H. van Alphen (1746). – J. St. Menochius (1758). – C. Klemmen (1770). – J. L. v. Mosheim (1771). – A. Natalis (1788). – C. F. Francke (1793). – S. F. N. Morus (1794). – G. C. Storr (1823). – L. J. Rückert (1831). – H. Olshausen (1835). – J. A. Möhler (1835). – F. X. Maßl (1836). – C. F. A. Fritzsche I-II (1836, 1839). – W. M. L. de Wette (1838). – L. F. O. Baumgarten-Crusius (1844). – F. X. Reithmayr (1845). – J. Th. Beelen (1854). – F. A. Philippi (1856). – C. J. Vaughan (1857). – W. A. van Hengel (1859). – Migne CS 24 (1862). – H. A. W. Meyer (1870). – F. Delitzsch (1870). – B. Weiss (1886). – R. A. Lipsius (1891). – H. Lietzmann (1906). – Th. Zahn (1910). – K. Barth (1919). – E. Peterson (1927/28). – P. Althaus (1935). – A. Schlatter (1935). – O. Michel (1955). – O. Kuss I-III (1957-1978). – C. E. B Cranfield (1965.1975). – E. Käsemann (1973). – H. Schlier (1977). – U. Wilckens I-III (1978-1982). – D. Zeller (1981). – P. Stuhlmacher (1989). – K. Haacker (1999).
EINFÜHRUNG Der historische Ort des Römerbriefes Aufgrund von Röm 2,17 ff bin ich der Meinung, dass Paulus sich im Röm gegen Judenchristen richtet, die sich auf den Besitz des (jüdischen) Gesetzes etwas einbilden und dadurch unter den römischen Christen Unfrieden stiften, indem sie sich als richterliche Instanz gegenüber anderen gebärden. Dass man den anderen nicht richten soll, diese Mahnung des Apostels rahmt den Römerbrief in Kap. 2 und 14. Die Funktion der Rechtfertigungslehre besteht angesichts dessen in Folgendem: Den Menschen, der von Gott freigesprochen und akzeptiert wurde, kann und darf kein Mensch verurteilen oder nicht akzeptieren. Immer wieder muss Paulus einen Ausgleich
schaffen, indem er den Vorrang der Judenchristen und ihre Erwähltheit betont, gleichzeitig aber die Gemeinsamkeit von Juden- und Heidenchristen im Zugang zum Heil heraushebt. Diese Gemeinsamkeit kann er aber nur mit alttestamentlich-biblischem Fundament darstellen. Datierung des Römerbriefs Als Paulus Röm schreibt, plant er, die römischen Christen zu besuchen. Da er wesentlich auch an die römischen Judenchristen schreibt, kann er den Brief nur entweder vor 49 n. Chr. (Edikt des Claudius) oder nach 54 n. Chr. (Aufhebung des Edikts; Rückkehr von Judenchristen nach Rom) geschrieben haben. Bis sich Missstände von der
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Der Römerbrief
Art der hier vermuteten in Rom herausbilden konnten, dürfte es eine Reihe von Jahren gedauert haben. Frühestens das Jahr 60 n. Chr. kann man daher für den Röm annehmen. Aus Apg 28 geht nur hervor, dass keine der dort genannten Gruppen zu den hauptsächlichen Adressen des Röm gehörte: Die Apg berichtet, dass römische Juden den Apostel zunächst anhören, dann aber in Streit geraten. Apg 28,30 berichtet wohl eher von Heidenchristen, die Paulus gegenüber freundlich waren. Hatte der Röm ihre Lage verbessert? Was ist aus den in Röm gemeinten Judenchristen geworden? Sind sie überhaupt nach Rom zurückgekehrt? Oder ist nicht die doppelte Adressierung des Röm ein Hinweis darauf, dass diese römischen Juden gar nicht mehr in Rom sind, sondern anderswo, also in Korinth oder in Ephesus? Argumente für eine sekundäre Adressierung des Röm nach Ephesus – Paulus hat festgestellt, dass die ihm bekannten römischen Judenchristen noch nicht dorthin zurückgekehrt sind (Kap. 16). – P 46, die älteste griechische Paulus-Handschrift, stellt die Doxologie an den Schluss von Kap. 15. Hat Paulus den Brief ursprünglich mit 15,33 enden lassen? Der Vers ist ein förmlicher Briefschluss! Wohl sicher ist: Der Schreiber von P 46 fand eine Vorlage, die mit Kap. 15 schloss. – Kap. 16 passt nicht für die Gemeinde in Rom. – Eine nach Rom gerichtete, so lange Grußliste würde voraussetzen, dass Paulus in einer ihm unbekannten Gemeinde eine auffallend große Zahl von persönlichen Bekannten hatte. Das ist unwahrscheinlich für Rom, wo Paulus noch nie gewesen ist, passt aber besser für Ephesus, wo Paulus sich 2 ½ Jahre aufgehalten hat.
– Unter den Grußempfängern wird in Röm 16,5 der »Erstling Asiens«, Epainetos, genannt, den man eher in Ephesus als in Rom suchen würde. – Nach Apg 18,18f und 1 Kor 16,19 sind Aquila und Priscilla mit Paulus, als dieser am Ende seines ersten Aufenthaltes in Korinth diese Stadt verließ, nach Ephesus gereist und dort geblieben, während sie sich nach Röm 16,3 wieder in Rom befinden sollen. – Die Wendung, dass Aquila und Priscilla für Paulus ihr Leben eingesetzt haben (16,4), ist nur für Ephesus verständlich, wo die heroische Tat geschehen ist. – Der scharfe Angriff auf judaistische Agitatoren passt nicht zum Röm, würde aber wohl die Umadressierung erklären. Paulus sieht, dass in Ephesus »das Dach brennt«. Davon zeugen u. a. auch die Pastoralbriefe. – Schon T. W. Manson (1948) und J. Munck (1954) nahmen an, Paulus habe Röm 1,1 – 15,33 nach Rom geschickt, eine durch Kap. 16 ergänzte Abschrift aber nach Ephesus. Ich möchte die These verteidigen, dass Paulus den fertigen Brief selbst nach Ephesus geschickt hat. Er hatte durch Aquila und Priscilla erfahren, dass nicht nur sie, sondern auch andere Judenchristen nicht nach Rom zurückgekehrt waren, und dass im Übrigen die für Rom angenommene Gefahr gar nicht so sehr in Rom, als vielmehr in Ephesus herrschte. Die Umleitung nach Ephesus wäre des Paulus eigenes Werk. Er selbst hatte den ursprünglichen Brief mit 15,33 (Doxologie) enden lassen, aber dann aufgrund besserer Einsicht Kap. 16 hinzugefügt. P 46, der älteste Textzeuge für paulinische Briefe, gibt daher genau diesen Urzustand wieder.
KOMMENTAR Röm 1-2: Juden und Heiden als Adressaten des Paulus Zu Röm 1,2: Der Römerbrief ist als relativ spätes Dokument im Leben des Apostels ein bis heute faszinierender Versuch, den Glauben an Jesus, die Existenz von Heidenchristen und das Volk Israel zusammenzubringen. Nein, sagt Paulus, ein
Widerspruch besteht überhaupt nicht. Aber letztlich wird Gott die Herstellung der Einheit dieser Gegensätze (Bindung an Israel und Erwählung der Heiden) erst in der Endzeit gelingen (Röm 11).
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Kapitel 1
Mit allen Fasern seines Herzens hängt Paulus an seinem Volk. Daher redet er sehr emotional, wenn er – gerade im Römerbrief – auf sein Volk zu sprechen kommt (Röm 9,1-6; 11,1-3.28-36). Einen endgültigen Bruch Gottes mit seinem Volk kann er nicht annehmen. Deshalb hat sich auch Paulus emotional nie von seinem Volk gelöst. Wer so im »Übermaß« für die strenge Richtung in seinem Volk Partei ergriffen hat (Gal 1,13; Phil 3,6), wird dieses nie ganz loswerden. Der Christus-Glaube des Apostels und auch seine heidenchristlichen Gemeinden müssten total »in der Luft hängen«, gäbe es nicht eine alttestamentliche und adventliche Vorgeschichte der Sendung und des Kommens Jesu. Paulus benennt diese mit dem Stichwort »Propheten« in Röm 1,2 und auch am Schluss Röm 16,26. Für Paulus ist mit der Frage nach Jesus die andere Frage verbunden: Hat er sich ankündigen lassen? Auch ein Herrscher kommt, wenn er eine Stadt ehrt, nicht unvermittelt oder wenn er gerade Zeit hat, sondern lange vorher wurde sein Kommen »besprochen«, man hat auf ihn gewartet. Dies gilt für die Antike bis zum Ende des Mittelalters: Alle wichtigen Ereignisse sind vorhergesagt, und zwar seit alters her. Je länger sie vorhergesagt sind, umso wichtiger sind sie. Deshalb heißt es noch im Hymnus »Dies irae« am Festtag Allerseelen: »teste David cum Sibylla« (davon zeugen David und Sibylle). Denn nicht nur Jesus selbst und seine Werke zeugen für ihn – die Propheten zeugen genauso für ihn. Damit ist die biblisch juristische Regel der mindestens doppelten Zeugenschaft erfüllt. Deshalb ist Jesus laut 1 Kor 15,3 »gestorben für unsere Sünden gemäß der Schrift« und dann »auferstanden am dritten Tage gemäß der Schrift«. – So bemerken wir, dass die »Spiritualität« und die vorherrschende Gefühlslage am Weihnachtsfest heute verkürzt sind gegenüber dem biblischen Ansatz. Seit vielen Jahrzehnten steht bei uns die Friedensbotschaft im Zentrum aller weihnachtlichen Reden. Im Sinne des Propheten Jesaja und des Apostels Paulus kann es sich dabei nur um den von Gott gestifteten Frieden zwischen Israel und den Völkern handeln. Wenn man es recht bedenkt, ist dieser biblische Ansatz von größter Bedeutung. Auch heute noch ist der Frieden in der Welt gebunden an Frieden und Versöhnung mit Gottes erwähltem Volk. Insofern ist der Römerbrief des
497 Apostels Paulus das wichtigste und zugleich älteste Dokument für die Diskussion um Frieden in der gegenwärtigen Weltlage. Denn in Röm 911, speziell in Kap. 11, wird Paulus das entfalten, was er in Kap. 1 andeutet: Der Messias der Juden wird sich endgültig auch als der Heiland der Heiden erweisen – und umgekehrt. Ein weiteres emotionales Element bestimmt Weihnachten bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts. Auch für M. Luther steht die Jungfräulichkeit Marias und Jesu Entstehung durch den Heiligen Geist noch ganz fest. Die Kunst stellt das Wunder der Menschwerdung des Wortes als einen Blumenstrauß oder eine Blume in einer Vase dar, die zwischen dem Engel und Maria platziert ist. Es ist die Verbindung von Zärtlichkeit und Heiterkeit, die auch die Volksmusik zu diesem Fest bestimmt. Und sie wird ebenso willkommen wie großartig ergänzt durch die geheimnisvolle Aura, die um die Worte der Propheten vom künftigen Heiland des Friedens liegt. In diesen Worten geht es nicht um Gewalt, sondern z. B. um den Frieden zwischen Löwe und Lamm. Dass der römische Dichter Vergil in der 4. Ekloge seiner Hirtengedichte (Bukolika) Ähnliches weissagte, empfand man als wundersame Bestätigung der aus Jesaja bekannten Sehnsucht der Heiden durch einen Heiden selbst. Das Neue, die neue Weltordnung (Vergil: novus saeculorum ordo) aber sollte durch ein Mädchen aus Palästina in die Welt kommen, nicht durch Gewalt. Zu Röm 1,3f: Ein Teil der jüdischen Tradition ist auch heute noch daran orientiert, der künftige Messias komme aus dem Geschlecht Davids. Von den kanonischen Schriften sind es freilich nur die Psalmen Salomos (Kap. 17), die das tun. In den Qumran-Texten gibt es den Ausdruck »Messias, Sohn Davids« nicht; in die Nähe kommt: »Messias Israels«. Von den späteren jüdischen Texten ist historisch besonders wertvoll und eigenartig der Midrasch zu Klageliedern 2. Demnach ist der Messias bereits in Betlehem geboren (also Davids Sohn), aber bald nach der Geburt entrückt (deutsch bei Berger/Colpe, Textbuch, 1987). In der Gliederung der Verse ist 1,3 »über seinen Sohn« die Überschrift. Denn »Sohn Gottes« war Heiden und Juden (vgl. Ps 2,7; Weisheit Salomos)
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498 verständlich. Dass Heiden »Sohn Gottes« etc. gut verstanden, belegt auch 4 Q 246 psDan: »Sohn Gottes wird man von ihm sagen, und Sohn des Höchsten wird man ihn rufen.« Hier wohl von einem heidnischen Herrscher und Widersacher des Gottesvolkes. – Dieser Titel konnte daher Karriere in der Dogmatik machen. – Die beiden Partizipien bilden die Unterteilung: »geworden als Mensch« (»dem Fleische nach«) und »öffentlich eingesetzt als Sohn Gottes« »dem Heiligen Geist nach aufgrund der Auferstehung der Toten«. Zugrunde liegt die paulinische Opposition von »Fleisch« (schwache, gefährdete, sterbliche »Natur« des Menschen) und »Heiligem Geist« (Geist der Heiligkeit meint den Ursprung im himmlischen Heiligtum). Dem schwachen Fleisch steht auch die »Kraft« (V. 4) gegenüber. Weil es um ein Nacheinander geht, spricht man von einer Zwei-Stufen-Christologie. Ob Paulus das im Sinne von zwei Naturen betrachtet (»als Mensch«/ »als Auferstandener«), ist umstritten. Dem Aufbau nach parallel zu Röm 1,3 sind: 1 Tim 3,16 (geoffenbart im Fleisch, bestätigt im [Heiligen] Geist); 2 Tim 2,8 (aus dem Samen Davids, auferweckt aus Toten); 1 Petr 3,18 (getötet dem Fleische nach, lebendig gemacht im [Heiligen] Geist). – Allen Belegen (bis auf 2 Tim 2,8) ist die Opposition Fleisch/Geist gemeinsam; gemeint ist damit die Sphäre und Qualität menschlicher, schwacher, sterblicher Existenz im Kontrast zur Sphäre göttlichen, ewigen, kräftigen Lebens. – Es gibt daher eine formelartige Redewendung mit Fleisch/Geist, die so eine kurz gefasste Christologie bietet. – Es gibt daneben eine ebenfalls formelartige Wendung (aus dem Samen Davids/auferweckt bzw. auferstanden), die ebenfalls christologisch orientiert ist, aber unter anderem Aspekt. Sie ist in Röm 1,3f und 2 Tim 2,8 belegt, steht aber wohl auch hinter Apg 13,34-37 (David/Auferstehung). – In Röm 1,3f hat Paulus somit zwei formelartige Summare zusammengefügt. Formgeschichtlich entspricht der Abriss der Christologie in 1,2-4 den so genannten Hymnen (besser: Enkomien) zu Beginn von Kol und Hebr, aber auch von Eph. Auch diesen verwandten Texten ist eine ähnliche Unterscheidung von Phasen geläufig. Paulus hat hier nur diesen »Lobpreis« in seine apostolische Selbstvorstellung eingebaut. Da-
Der Römerbrief
durch weiß die Gemeinde nun wirklich, mit wem sie es zu tun hat. Die Gnade (charis), die Paulus empfangen hat (V. 5), entspricht der Gnade, die er weitergibt (V. 7). Der Gehorsam, den der Glaube fordert (V. 5), rührt daher, dass Jesus Christus »der Herr« ist (V. 4). Denn gegenüber dem Herrn ist Paulus selbst Sklave (1,1), und seine Adressaten müssen gehorchen. Auffällig ist ferner der dreifache Gebrauch von »berufen« (V. 1: berufener Apostel; V. 6: Berufene Jesu Christi; V. 7: berufene Heilige). Nur im biblischen Griechisch kann das Wort »rufen«, das eigentlich »einladen« heißt, auch die religiöse, missionarisch vermittelte »Berufung« bezeichnen. Das Wort »Heilige« bezeichnet grundsätzlich Christen anderer Gemeinden, in denen Paulus sich gerade nicht aufhält. – Beachte in V. 5 »für seinen Namen«: Paulus weist hier auf das »Grundsakrament« der frühen Christen, den Namen Jesu, denn in diesem Zeichen geschieht alles (vgl. dazu K. Berger, Die Urchristen, 2008). Die Intention dieser im Vergleich zu anderen Briefen stark erweiterten Selbstvorstellung ist folgende: Gegenüber den Christen in Rom betont Paulus die jüdische Identität Jesu (»Same Davids«), aber auch den universalen Rang (Sohn Gottes) sowie seine eigene universale Sendung (V. 5: Glaube unter allen Völkern). Keineswegs schreibt Paulus als Privatmann, vielmehr dient die ausführliche Form in 1,1-7 wohl dazu, die Christen in Rom sowohl mit der Gattung Apostelbrief (die sie nicht gewohnt waren), als auch mit dem universalen Apostolat vertraut zu machen; möglicherweise wussten die römischen Christen gar nicht, was ein Apostel ist. Zum Zusammenhang von Apostolat (V. 1) und Gottessohnschaft aus Kraft (V. 4) vgl. unten zu 1,16. Zu Röm 1,8-10: Die Danksagung und captatio benevolentiae gehört an den Briefanfang. Zentral ist die Rede vom Glauben der römischen Christen (vgl. V. 5: Gehorsam des Glaubens); dadurch wird die spätere Rolle des Glaubens, besonders in Kap. 3-4 vorbereitet. Auffällig ist aber die starke Rolle des Gebets in V. 9b-10. Das Gebet bereitet seinen Besuch in Rom vor. Erst später wird Paulus den Adressaten sagen (15,30-32), wie sehr er den Kontakt mit den römischen Christen und daher auch diesen Besuch selbst
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braucht. Das extensive Gebet ist sozusagen die Kehrseite der göttlichen Sendung (V. 1-7). Dieses Gebet weist auf den geistlich-amtlichen Charakter. Zu Röm 1,11-13: Sowohl die Ankündigung des Besuchs als auch die Sehnsucht des Briefschreibers nach den Adressaten sind Topoi antiker (Privat-)Briefe. Nicht anders steht es auch damit, dass es immer Hinderungsgründe gab (1,13). Umso deutlicher sind die Äußerungen, in denen Paulus die Privatheit durchbricht und amtlich spricht: Nach V. 11 will er der Gemeinde »geisterfüllte Gnadengabe« (griech.: charisma pneumatikon) weiterreichen. Die Wortverbindung gibt es ähnlich (und nur noch) in 1 Kor 12: Der Heilige Geist teilt die Charismen an die Gemeinde aus. In Korinth sind es verschiedene Charismen, in Röm 1 nur eines; in Korinth teilt der Heilige Geist selbst aus, hier tut es Paulus. Allerdings gehört nach 1 Kor 12,9 auch der Glaube zu den Charismen, so wie Paulus die Stärkung des Glaubens in Röm 1,12 erwartet. Berger/Nord, 150: »Ich möchte bei euch sein, auf dass wir miteinander neuen Mut bekommen, wenn wie erfahren, was der Glaube des einen für den Glauben des anderen bedeutet und umgekehrt.« Freilich könnte »pistis« in- oder aneinander wohl auch Vertrauen heißen. Dann ginge es um »unser gegenseitiges Vertrauen zueinander«. Aber ist das Verhältnis zu den Römern schon so weit gediehen, dass Paulus so darüber reden kann?
Röm 1,14-17: Glaube – Evangelium – Kraft – Offenbarung Paulus liefert (gegenüber 1,3f) einen weiteren Abriss seines Evangeliums, und zwar ist dieser im Unterschied zu 1,3f hier nicht am christologischen Inhalt, sondern an den Adressaten ausgerichtet. Diese sind in 1,14 noch »Griechen und Barbaren«, erst nach 1,16 die erwarteten »Juden an erster Stelle und dann die Griechen«. Offenbar bereitet die Aufhebung der Unterschiede nach 1,14 das (aus der Sicht des Paulus, aber auch jedes Juden) viel Schwerwiegendere vor, was dann in 1,16 folgt. Paulus betont in 1,15 seine mutige Absicht, in Rom das Evangelium zu verkünden. Er muss da-
499 zu sagen, dass er sich nicht des Evangeliums schämt (1,16). Dass er sich schämen könnte, liegt nun allerdings nahe. Warum, das sagt er in 1,16: Er richtet sich an jeden, der glaubt. Der Glaube ist die für Griechen (Heiden) und Juden gemeinsame Brücke zu Gott. Dabei geht aus Röm 1,15b.16a doppelt hervor, dass es sich um den Glauben an das Evangelium handelt. D. h., es geht nicht um den Glauben als anthropologisches Existenzial (neues Selbstverständnis des Menschen), sondern das Evangelium war in 1,24 beschrieben worden. Es ist also der Glaube an Jesus Christus, den Paulus meint. In diesem Sinne ist auch das Wort »Kraft Gottes« in 1,16 zu verstehen. Von der Kraft (Gottes) aber war in 1,4 die Rede. Es ist die in der Auferstehung Jesu wirksame Kraft, die sich jetzt im Evangelium auswirkt. Sie macht das Evangelium selbst zur rettenden Macht. Das ist zunächst ein gewagter Gedanke: Dass bei der Auferstehung Jesu eine Kraft wirkt, kann man noch einsehen. Aber wie soll sich diese Kraft auf eine Botschaft übertragen, die doch nur aus Worten besteht? Und: Wie kann das Evangelium retten? Die Antwort gibt 1,17: Das Evangelium besteht nicht nur aus Worten, sondern es ist eine Offenbarung, es ist selbst ein Offenbarungswirken Gottes. Indem das Evangelium verkündet wird, geschieht etwas von Gott her. Vom Wort Gottes galt auch schon im Alten Testament, dass es nicht leer zu Gott zurückkehrt, sondern stets wirkt, was es sagt, wenn es denn angenommen wird. So ist das Evangelium nicht Schall und Rauch, sondern hat sakramentalen Charakter. Und hier ist es, wenn man Röm 1,4 und 1,16 zusammen betrachtet, eine Kraft, die so mächtig ist, dass sie Tote erwecken kann. D. h.: Das Evangelium von dem, der Jesus Christus aus Toten erweckt hat, kann selber, wenn man es glaubt, genau dasselbe tun. In Röm 4 wird Paulus dies ausführen. Doch zunächst konzentriert sich Paulus auf das Verhältnis von Gerechtigkeit Gottes, Glauben des Menschen, (Treue Gottes?) und Gerechtigkeit des glaubenden Menschen sowie darauf, dass dieser Mensch »leben« wird. Es ist zweifellos die Thematik »Glauben« und (verändernde) Kraft, die Paulus zu dieser Fortsetzung inspiriert. Denn er will beschreiben, worin die Kraft dieser Offenbarung besteht, und dass das alles etwas mit Glauben zu tun hat. Wenn Gott offenbart,
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500 dann ist das nie nur theoretische Belehrung, sondern es bedeutet immer Anteilhabe des Adressaten an dem Geoffenbarten. Mustergültig sagt das Gal 1,16 (»mir zu offenbaren seinen Sohn«). Denn Paulus wird durch diese Offenbarung zum Apostel berufen; er erlangt Anteil an genau dem Geist Gottes, der Jesus zum Sohn Gottes macht. Auf dem Hintergrund von Gal 1,16 verstehen wir auch den Zusammenhang von Röm 1,1-4 und 1,16 besser: Durch den Sohn ist Paulus Apostel. Diese Kraft zeigt sich auch in der gesamten Verkündigung des Evangeliums. Was Paulus durch die Offenbarung des Sohnes erfährt (Gal 1,16), gibt es analog bei jedem, der glaubt, und bei dem sich die Kraft der Gerechtigkeit Gottes auswirkt. Denn »Gerechtigkeit« ist nach der Bibel stets Entgegenkommen, damit der andere, dem man entgegenkommt, zur Gemeinschaft befähigt werde. Gerechtigkeit Gottes heißt daher: Gott ermöglicht von sich aus, dass Menschen in Gemeinschaft mit ihm stehen können. »Gerechtigkeit« ist daher ein kommunitärer Begriff. Die Gemeinschaft, in der Paulus seit seiner SohnGottes-Offenbarung mit Gott steht, ist das Verhältnis von Herr und Sklave (1,1.4), es äußert sich als Aposteldienst. – Die Gemeinschaft, in der die übrigen Christen seit Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes im Evangelium stehen, äußert sich darin, dass die Christen glauben und darin auch ihrerseits gehorsam (! wie Paulus als Sklave) Gott entgegenkommen und so gerecht sind. Weil Gott ihnen diese Chance eröffnet hat, sind sie dank Gottes Gerechtigkeit (Entgegenkommen) selbst zur Gerechtigkeit (glauben) imstande. Noch einmal: Weil »Gerechtigkeit« ein kommunitärer Begriff ist, geht es nicht darum, dass Gott sein Gerechtsein auf den Menschen überträgt. Gott kommt vielmehr dem Menschen entgegen. Dieses Entgegenkommen geschieht nicht um seiner selbst willen, sondern es soll Konvivenz ermöglichen. Der Mensch kann nur gerecht werden, indem er auf Gottes Angebot eingeht. Durch dieses Eingehen auf die von Gott gebotene Möglichkeit (sie ist begründet im Sühnetod Jesu Christi und in der Akzeptanz des glaubenden Ja des Menschen durch Gott) kann der Mensch seine eigene Gerechtigkeit wirken. Sie ist dann nicht eine ihm fremde (lat.: aliena); aber sie beruht auf seiner glaubenden Zustim-
Der Römerbrief
mung zu dem, der und was ihm entgegenkommt. Zu Röm 1,17f: »aus Glauben zu Glauben« heißt entweder: Damit man aufgrund von Gottes Treue (griech.: pistis) selbst glaubend treu (griech.: pistis) sein kann. Oder es heißt: Auf dass der Glaube wachse und immer mehr werde, denn er ist ja nichts Totes, sondern nur aus Lebendigem kann man leben (»… wird aus Glauben leben«). Schon nach den Evangelien gibt es großen und kleinen Glauben, nach Paulus schwachen und starken. Glaube ist daher »quantifizierbar«. – Die gegensätzlichen Aussagen von 1,17 und 1,18 fordern heraus, besonders wegen des »denn« in 1,18.
Röm 1,18-32: Schuld und Strafe An eine erst zukünftige Offenbarung des Zornes Gottes, etwa im Gericht, ist hier nicht gedacht (erst in 2,5). Vielmehr liegt das Präsens in 1,18 (»wird offenbar«) auf einer Ebene mit dem Resultat des »Auslieferns« Gottes nach 1,24.26.28. Indem Gott die Menschen, die ihn nicht anerkennen, ihren Begierden und Lastern ausliefert, äußert sich sein Zorn. Denn die Verweigerung der Anerkennung war und ist schuldhaft, da man Gott doch erkennen konnte bzw. könnte. Die Reihenfolge der Ereignisse, die zum sichtbaren Zorn Gottes führte, war daher diese: 1. Gott hat die sichtbare Welt erschaffen. – 2. Wenn man vernünftig nachdenkt, kann man von der Schöpfung, die man sieht, auf den Schöpfer, den man nicht sieht, schließen und erkennen, dass er ewig, mächtig und göttlich ist (1,20). – 3. Die Menschen kannten also Gott, sie haben jedoch nicht die Konsequenz daraus gezogen, dass sie ihm die Ehre gaben oder ihm dankten. – 4. Vielmehr drehten sie die Ordnung um: Sie beteten Geschaffenes an, machten sich Götzen, und den Schöpfer ehrten sie nicht, setzen, was unten ist, nach oben und was oben ist, nach unten. Der Entehrung des Schöpfers entsprechen die entehrenden Perversionen auf der Seite des Menschen, d. h.: Wer den Schöpfer nicht ehrt, zerstört in der Folge auch die Würde des Menschen. – 5. Für diese Vertauschung von oben und unten wurden sie entsprechend bestraft. Diese Bestrafung bestand – dem Vergehen
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strukturell gemäß – ebenfalls in einer Vertauschung, sodass Männchen mit Männchen und Weibchen mit Weibchen verkehrten. In der sexuellen Perversion äußert sich daher Gottes Zorn. Von der Folge im sexuellen Bereich (Perversion) kann man auf die Ursache im kultischreligiösen Bereich schließen. – 6. Die Bestrafung findet zwar in der Vertauschung ihren sinnfälligsten Ausdruck, geht aber weit darüber hinaus und erstreckt sich auf alle gewöhnlichen Laster (Lasterkatalog 1,29-31). – 7. Denn die Bestrafung ist wesentlich eine Verblödung des Verstandes, also das, was man sonst in der Bibel als Verstockung kennt; diese folgt stets auf Ungehorsam (vgl. G. Röhser, Prädestination und Verstockung, 1994). Dass die Perversion sich vor allem als sexuelle Begierde äußert (1,27), hängt damit zusammen, dass die Götzen schon in der LXX als »Objekte des Begehrens« (griech.: epithymema) geschildert werden, woran noch das dt. Wort »abgöttisch lieben«, d. h. wie einen Götzen lieben, erinnert. Allerdings besteht ein Zusammenhang zu Kap. 7, wo die Begierde die Grundsünde ist.
Der Götzendienst ist nicht die Grundsünde, und vor allem ist nicht jede Sünde strukturell Götzendienst. Vielmehr so: Die Nicht-Ehrung Gottes ist ein Vergehen eigener Art. Auf sie reagiert Gott mit seinem Zorn und indem er die Menschen ausliefert an ihre Verkehrtheit. Zwischen Götzendienst und üblicher Sünde liegt daher Gottes Gerichtshandeln. Zu Röm 1,19-21: Vgl. auch Hen (äth) 5,1: »Beobachtet, wie sich die Bäume und Blätter grün bedecken und jede Frucht von ihnen zu Ehre und Ruhm Gottes dient. Habt Acht und seht auf seine Werke, so werdet ihr erkennen, dass der lebendige Gott sie so gemacht hat und sie bis in alle Ewigkeit liebt. Ihr habt nicht ausgeharrt und das Gesetz des Herrn nicht erfüllt, sondern seid abgefallen. Euch Gottlose wird der Fluch treffen.« – Bemerkenswert: Aus seinen Werken ist Gott zu erkennen, aber die Angeredeten haben diese Erkenntnis nicht umgesetzt und sich daher den Fluch zugezogen. Fast wörtlich stimmt überein Ps.-Aristoteles
501 (3. Jh. v. Chr.?), Über die Welt § 6 (399n): Die Welt wird durch unsichtbare Anstöße getrieben. Auch die Seele ist unsichtbar und wird nur durch ihre Werke gesehen. Von Gott gilt: »Er ist für jegliche sterbliche Natur unanschaubar und wird von den Werken selbst her geschaut.« Röm 1,18 – 3,20: Gliederung In Röm 1,18 – 3,20 richtet sich Paulus an wechselnde Adressaten. Für den Inhalt ist vorrangig, wen der Apostel meint. In 1,18-32 spricht Paulus jüdische und typisch heidnische Laster an. In 2,1-11 meint Paulus im gleichen Sinne Juden und Heiden (V. 9f). Der Ausdruck »jeder Mensch« in 2,1 bedenkt wirklich beide, Juden wie Heiden. Fazit: Von 1,18 – 2,11 richtet sich Paulus allgemein an die Menschheit. In 2,1-5 und in 2,17-24 redet Paulus seine Adressaten direkt an, und zwar jeweils in der zweiten Person Singular. Im ersten Stück geht es allgemein um den Menschen, der Juden und Heiden umfasst, im zweiten Abschnitt nur mehr um Juden. Worauf Paulus abzielt, sagt er am Schluss der ersten direkten Anrede: Nach 2,4f bleibt nur »Umkehr« oder Zorn Gottes. Mit 2,12 beginnt die Unterteilung: 2,12 ist eine Art Überschrift, die beide Gruppen, Juden wie Heiden, betrifft. Dabei ist 2,12a die Überschrift für 2,13-16 (Heiden), 12b die Überschrift für 2,17 – 3,9 (Juden). Dann spricht der Apostel Gruppen gesondert an: a) In 2,13-16 richtet Paulus sich vornehmlich an Heiden. b) Dagegen hat er ab 2,17 – 3,20 ausdrücklich Juden oder Judenchristen im Blick. Bestimmte Schwachpunkte der allgemeinen Menschheit treffen besonders auf Juden(christen) zu. Hier wird die Rede des Apostels sehr direkt. – Allerdings könnte man auch die Meinung vertreten, dass der Apostel ab 3,1-20 wieder beide Gruppen meint, da er die Juden(christen) nicht anspricht, sondern über sie spricht; z. B. nach 3,9 bespricht der Apostel beide Gruppen. Jedenfalls hat Paulus an den Juden(christen) besonderes Interesse, sonst würde er nicht diese Unterteilung der Menschheit ab 2,9f hervorheben.
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Der Römerbrief
Röm 2–4: Universale Verderbnis Röm 2,1-11: Gerichtspredigt Das Stichwort »unentschuldbar« in 2,1 nimmt Paulus aus 1,21 auf. Denn nicht entschuldigen können sich alle, die wider bessere Einsicht den Schöpfer nicht anbeten. In der gleichen Lage sind alle, die sich über andere richterlich erheben. Denn sie tun doch dasselbe. Das Thema Gericht bestimmt das gesamte Kap. 2. Der Anlass dazu liegt auch bei den römischen Christen bzw. bei dem, was Paulus über sie weiß. Die Rede vom Richten hat in Röm einen praktischen Bezug, denn das Stichwort »richten« kommt in Kap. 14 wieder. Die »Starken« und die »Schwachen« in Rom richten, be- und verurteilen einander. Sie sollten das nicht tun (14,3.4.5.10.13.22f). Denn der gemeinsame Richter ist doch Gott; dadurch wird es überflüssig, einander zu richten (14,11f). Zwischen Kap. 2 und Kap. 14 entfaltet Paulus seine Auffassung von der Gerechtmachung der Menschen durch Gott. Von da aus besteht ein enger Zusammenhang zum Thema Richten in Kap. 2 und 14. Wenn Gott die Christen gerecht gemacht hat, dann besteht zu keiner Zeit ein Anlass, dass ein Mensch den anderen verurteilt. Das ist die direkte Konsequenz der Rechtfertigungslehre für die Menschen. Damit ergibt sich ein konkreter Bezugspunkt zur Theologie gerade des Römerbriefs, der über Jahrhunderte als rein theoretischer Traktat behandelt wurde. Der konkrete Anlass erklärt auch, warum die Schmährede und Gerichtsdrohung in 2,1-10 so scharf ausfällt. Man hat oft gefragt, was dieses Stück, das unverhohlen ein Gericht nach Werken (V. 6) ankündigt, mit der Gnadenbotschaft des Röm zu tun hat. Ist es ihr neben-, über- oder untergeordnet? Man beachte: Der drohende Ton wird bis Kap. 3,20 nicht aufgehellt. Die Gerichtspredigt in 2,1-11 hat gegenüber vergleichbaren Stücken zwei Besonderheiten, die untereinander zusammenhängen. Das Richten anderer wird verurteilt (2,1-3); dies entspricht Mt 7,2: Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet. Und zum anderen werden auf eigenartige Weise Juden und Griechen genannt, die Juden immer mit dem Zusatz »zuerst«; am Ende wird gesagt, Gott kenne kein Ansehen der Person. Das heißt: Er richtet alle, Juden wie Heiden, nach
denselben Kriterien. Mit 2,1-3 hat das deshalb zu tun, weil die Schwachen in Rom offensichtlich judaisierende Christen oder Judenchristen waren. Demgegenüber betont Paulus schon hier den heilsgeschichtlichen Vorrang der Juden, gleichzeitig aber die Chancengleichheit aller vor Gericht. Außer der konkreten Drohung bringt Paulus hier eine Grundvoraussetzung seiner Verkündigung ins Spiel: Wie demnächst in der Situation des Gerichts, so gelten auch für die Verkündigung des Evangeliums für alle Menschen strikt die gleichen Voraussetzungen. Wir hatten bereits zu Mt 10 ermittelt: Die Mission vollzieht sich beinahe unter den gleichen Bedingungen wie das Gericht – ausgenommen die Hauptsache, dass es jetzt um die Barmherzigkeit, demnächst aber um das Gericht zwischen Gut und Böse geht. Auch Röm 1,18–3,20 und 3,21-8 stellen diese doppelte und analoge Ausfertigung des Handelns Gottes vor. Zunächst klärt Paulus das Bekannte (Kap. 13), ab 3,21 das Neue. Die Gerichtsbotschaft bietet die grundlegenden Spielregeln, die Gnadenbotschaft dann die besondere Zuspitzung auf die Predigt von Gottes Barmherzigkeit. Das bedeutet für 2,1-11: Nichts davon wird später aufgehoben oder relativiert. Die Heiligkeit Gottes ist die Voraussetzung. Die Gleichheit aller ist substanziell. Der Universalismus der christlichen Botschaft hat eine wichtige Wurzel darin, dass es sich um eine abgewandelt vorgezogene Gerichtspredigt handelt. Die Allgemeinheit des Weltgerichts ist die Grundvoraussetzung, so stellt Paulus das auch im Römerbrief dar. Ein passender Beweis dafür, dass das zutrifft, ist die Verwendung des Ausdrucks »kein Ansehen der Person«. Der Herkunft nach und üblicherweise bezeichnet der Ausdruck das (ideale) Verhalten des Richters im Gericht (so auch Sir 35,14f: kein Opfer, denn Gott ist nicht parteilich), also auch Gottes Verhalten im Weltgericht (vgl. Kol 3,25; Barn 4,12; vgl. dazu auch EsraApk [äth] I. Halévy, 182: »An jenem Tage wird Gott ihnen nach ihren Werken vergelten, und er wird den Reichen nicht vorziehen und dem Armen nicht vergeben. Es wird kein Vorziehen und kein Ansehen der Person geben«). In der christlichen Mission wird daraus die Grundlage für die Zu-
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Kapitel 2
wendung zu allen Völkern (Rede des Petrus in Apg 10,34f: kein Ansehen der Person … in jedwedem Volk).
Röm 2,12-16: Kein Ansehen der Person Wenn alle gleich sind vor dem Gericht – an welcher Norm werden dann die Heiden gemessen, die doch kein Gesetz haben? – Antwort: Die Juden, die das Gesetz kennen, werden danach beurteilt. Für die Heiden gilt: Wenn sie etwas nach dem Gesetz tun, weil die Naturordnung es fordert, dann haben sie, da sie Teil der Natur sind, gewissermaßen das Gesetz in sich selbst. Denn das Tun des Gesetzes ist als ein inneres Programm in sie hineingelegt. Es handelt sich um das Konzept des »ungeschriebenen Gesetzes« (griech.: nomos agraphos). Das ungeschriebene Gesetz steht dem verfassen, positiven Gesetz gegenüber und ist nach stoischer Auffassung oft der Maßstab des positiven Gesetzes, da es das »vernünftigere« ist. Im hellenistischen Judentum ist dieser Gedanke besonders beliebt, weil aus der Torah der Gedanke vertraut ist, dass der Schöpfer auch der Gesetzgeber ist. Daher kann der Schöpfer bei der Erschaffung aller Dinge und des Menschen sein Gesetz der Vernunft des Menschen mitteilen. Und für die verfasste Torah hat dieser Umstand die Konsequenz, dass sie das vernünftigste positive Gesetz ist, weil Menschen auch daran nicht mitgewirkt haben, sondern nur Gott selbst. Deshalb korrespondiert die Torah dem ungeschriebenen Gesetz im Menschen, und daher kommen beide im Anwendungsfall auch zu demselben Urteil.
Man spürt davon etwas, wenn das Gewissen sich regt. Denn dann gibt es im Gewissen Streit zwischen Anklage und Verteidigung. Den Spruch des Gewissens aber wird Gott im Gericht durch Jesus Christus als Richter bestätigen lassen. – Das Gewissen wird bei Paulus noch nicht als eine Instanz verstanden, die vor der Tat etwas anregt oder vorschreibt. Es hat nur eine sekundäre, kommentierende, beurteilende Funktion. Darin aber ist es einem inneren Gerichtshof ähnlich. Es gibt Anklage und Verteidigung und schließlich den Spruch des Gerichts. Dieser ist unfehlbar und wird im Weltgericht nur bestätigt. Auch Röm 13,5 erwähnt das Gewissen in dieser Funk-
tion (Lob oder Tadel), nur tritt in gleicher Rolle neben das Gewissen des Einzelnen auch die Jurisdiktive der Obrigkeit. Nach Röm 13 sind es daher drei Instanzen, die den Menschen beurteilen: Obrigkeit, Gewissen und Gericht. Vgl. den ähnlichen Gedanken im 1. Jh. n. Chr. auch in der BaruchApk (syr) 48,40: Der Richter wird nicht verzeihen, weil »ein jeder von den Bewohnern der Erde es hätte wissen können, wenn er sündhaft handelte, und doch wollten sie wegen ihres Hochmuts mit meinem Gesetz nichts zu tun haben (kannten es nicht)«. Zu Röm 2,17: Die angesprochenen Judenchristen »stützen sich« auf das Gesetz und sind stolz auf ihren Gott. Beides ist ganz positiv gesehen. Das Wort, das wir mit »sich stützen« übersetzt haben, heißt griech. ep-anapau-omai; dasselbe Wort sagt Jesus über sich in Mt 11,28f: »Ihr werdet anapausis finden«. Denn Jesu Joch ist sanft und leicht, d. h. sein Gesetz. Die überraschende Parallele sagt: In beiden Fällen ist die Lebensregel (die Torah oder Jesus selbst als lebendige Norm) geistliche Heimat, ruhender Pol im Leben, so etwas wie ein Rückzugsgebiet, das ein Mensch braucht, daher das Wort »Ruhe«. – Der Ausdruck »Gesetz als Heilsweg« oder dass Juden das Gesetz so angesehen hätten, das ist ein Irrtum. Nur bei wenigen Geboten, wie etwa beim Elterngebot des Dekalogs, gibt es Verheißungen (»auf dass ihr lange lebt auf Erden«). Aber auch wenn das der Fall ist, bleibt das Ziel irdisches Leben; nie ist es ewiges Leben oder Auferstehung. Insofern geht es auch in 2,17 nicht um den Heilsweg. – In 3,27 nimmt Paulus das Stichwort »sich Rühmen« im Zusammenhang mit »Gesetz« wieder auf. Denn jetzt braucht man sich nicht mehr vor anderen Menschen und sich unterscheidend zu rühmen, sondern der Glaube macht perfekt, weil man durch ihn gerecht wird. Insofern hat er das Gesetz abgelöst (griech.: nomos pisteos).
Röm 2,17-29: Ermahnungen an die Juden Das Stück hat die Pointe: Ein Lehrer kann nicht vermitteln, was er selbst nicht tut. Das Motiv vom Blindenführer (der selbst blind ist), findet sich so auch in antipharisäischer Polemik in Mt 15,14;
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504 Paulus hat es hier zur antijüdischen Polemik ausgeweitet. Der Ursprung könnte in pharisäischer Selbstkritik liegen, die Paulus wohl bekannt gewesen sein dürfte. Ab 2,24 bespricht Paulus Jes 52,5: »Wegen euch wird allzeit mein Name unter den Völkern geschmäht« (vgl. Ez 36,19: Durch ihr Bestraftsein bringen die Juden die anderen Völker zum Lästern Gottes). Im Blick auf den historischen Ort des Röm ist zu fragen, warum Paulus hier so extensiv und intensiv auf die Juden(christen) eingeht. Erste Möglichkeit: Paulus legt Juden, die noch nicht Christen sind, nahe, Christ zu werden, weil ihre Ausgangslage hinsichtlich des Heils nicht besser ist als die der übrigen Menschen. Sie sind Sünder wie diese. Paulus würde dann die »protreptische« (grundsätzliche) Frage erörtern, warum Menschen überhaupt und warum auch sie, die Juden, Christen werden müssen. Dagegen spricht, dass solche Juden den Röm kaum gelesen haben werden. – Zweite Möglichkeit: Paulus spricht mit Judenchristen in Rom, die in der Meinung, sie seien »etwas Besseres«, sich von den Heidenchristen meinen abheben zu müssen. Denn die Judenchristen denken, sie seien durch den Besitz des Gesetzes ausgezeichnet. Paulus sagt ihnen dagegen, dass der bloße Besitz des Gesetzes einen Menschen noch nicht rettet, dass ferner auch die Heiden ein ungeschriebenes Gesetz in ihrem Herzen tragen, was schließlich dazu führt, dass auch sie nicht einfach alles falsch machen, sondern bisweilen durchaus tun, was das Gesetz will. Damit bliebe der Grundgedanke der ersten erwogenen Möglichkeit auch hier aktuell: Grundsätzlich war und ist die Ausgangslage gleich. Es käme Paulus hier aber nicht darauf an, Juden zu werben, sondern Judenchristen zu Demut und Kooperation zu ermahnen. Dass diese Möglichkeit zutrifft, darauf weist auch, dass das Thema »den anderen richten« in den auf Juden bezogenen Abschnitten von Kap. 2 indirekt wieder auftaucht. Dass sich Juden des Gesetzes rühmen, ist nicht ein Rühmen vor Gott (von dem haben sie das Gesetz; dessen müssen sie sich nicht rühmen), sondern ein Sich-Rühmen vor Menschen. Wie Juden das tun konnten, das lässt sich gut bei Philo v. Alexandrien nachlesen, der das jüdische Gesetz ebenso hoch einschätzt, dass es allen anderen
Der Römerbrief
Verfassungen überlegen ist. Philo liefert damit übrigens auch einen Beitrag zu der seit Aristoteles (Politika) heiß diskutierten Frage, welche Verfassung die beste sei (vgl. 1. Jh.: Cicero, De re publica). Nun kritisiert Paulus nicht die Qualität des jüdischen Gesetzes, wohl aber die Qualität seiner Träger, die sich von anderen abheben möchten. Eine mangelnde Befolgung des Gesetzes, so Paulus, macht jeden Versuch in dieser Richtung zunichte. Zu Röm 2,28: In seiner Diktion »nicht/sondern« erscheint Paulus als besonders radikal. Wenig später (4,11) wird er der sichtbaren Beschneidung einen anderen Stellenwert geben. Man erwartet von einem (hellenistischen) Juden, dass er sagt: sowohl – als auch. Konnte man sich mit einem »als auch« eine radikale Opposition leisten, wurde dann nicht das Proprium des Judentums geopfert? Erstaunlicherweise gibt es die dualistische Entgegensetzung auch bei Philo von Alexandrien, Quaest in Ex II 2: »Proselyt ist nicht der an der Vorhaut Beschnittene, sondern der an den Lüsten und Begierden und anderen Leidenschaften der Seele Beschnittene.« – Dualismus in dieser Frage ist offenbar ein Problem von Kontext und Gattung. Zu Röm 2,29: Der Ursprung der Opposition Buchstabe/Geist ist weder juristisch (wörtliche Auslegung gegenüber sinngemäßer) noch bibelexegetisch (historische gegenüber allegorischer Auslegung), er ist auch nicht kulturtheoretisch (naturhaft-primitive gegenüber geistiger Deutung) oder anthropologisch (stofflich-materialistische gegenüber feingeistiger Sichtweise) oder kulturkritisch (Äußerlichkeit gegenüber Innerlichkeit). Der Ursprung liegt vielmehr im grundsätzlichen Konflikt zwischen ritueller und prophetischer Erkenntnis- und Verfahrensweise. Kult geht aus von der Einheit von Innen und Außen, er setzt an in der Regeltreue des kultischen Vollzugs; dieser rituelle Gehorsam ist vom Menschen zu leisten, alles Übrige ist Verheißung und Geschenk Gottes. – Die prophetische Betrachtung geht aus von den in der Gesellschaft herrschenden Ungerechtigkeiten (Korruption, Hunger der Massen, Benachteiligte), orientiert sich daher an den sozialen Folgen im weitesten Sinn des Wortes. – Im Konflikt beider Zugangswei-
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Kapitel 2
sen, der von der prophetischen Seite her thematisiert wird, stehen daher der Stein (Totes) und das Nur-Rituelle (Beschneidung der Vorhaut) dem Fleisch bzw. Herz, also dem Lebendigen, gegenüber. Dabei macht sich der prophetische Standpunkt zunutze, dass der Gott Israels der lebendige Gott und gerade nicht aus totem Stein ist (Anti-Götzen-Polemik). Der prophetische Standpunkt geht von der sozialen Wirkung aus, der kultische von der Exaktheit des kultischen Vollzugs (»Gültigkeit« genannt). Beide Sichtweisen ergänzen sich idealerweise. Man wird aber dem Phänomen Buchstabe versus Geist nicht gerecht, wenn man es lediglich auf Außen/Innen (im Sinne von »nur formell/ von ganzem Herzen«) beschränkt. Denn innere Beteiligung ist beim Kult wie im sozialen Bereich vorausgesetzt und kann auch bei beidem leicht fehlen. Paulus geht auch nicht von den sozialen Folgen aus wie die Propheten. Nach dem Kontext ist das Sichtbare nicht individuell-anthropologisch zu sehen, sondern als sichtbare Zugehörigkeit zum
Volk Israel. Juden rühmen sich dieser Zugehörigkeit und des Besitzes des Gesetzes. Diesen Stolz relativiert Paulus durch den Gerichtsgedanken, nach dem allein Werke zählen. Noch einmal: Es geht nicht um die Frage, ob da einer die Gebote nur äußerlich erfüllt, ohne Beteiligung des Inneren, sondern es geht um die sichtbare Zugehörigkeit zu Israel (Beschneidung, Torah) versus mangelnde gute Werke. Aus diesen Gründen ist der Gegensatz Buchstabe/Geist bei Paulus neu gebildet, auch wenn er traditionsgeschichtliche Vorstufen und Vorbilder hat. – Das alles gilt auch, wenn »Geist« in 2,29 nicht der Heilige Geist ist, sondern das Inner(st)e des Menschen. Diese Deutung wird dadurch bestätigt, dass Beschnittensein selbst als Wert vorgestellt wird. Sonst könnte Paulus nicht vom »eigentlich wertvollen« Beschnittensein reden. Beschneidung ist allemal nötig, auch wenn es die des Herzens sein muss. Daher ist auch Jude zu sein ein grundsätzlicher Wert, wenn er sich denn auf gute Werken gründet.
Röm 3-4: Gottes und der Menschen Gerechtsein Röm 3,1-20: Der Spagat mit Judenchristen Paulus laviert hier, wie so oft im Röm. Dies besteht immer darin, dass er einerseits die Privilegien »der Juden« herausstellt, andererseits aber sagt, dass die Bedingungen für die endgültige Rettung dieselben sind wie für alle Menschen. a) Die Privilegien Röm 1,16: Zuerst den Juden gilt das Angebot des Glaubens. Röm 2,18: Wissen durch das Gesetz, was Gott will, sind in der Auslegung des Gesetzes geschult und können zwischen Wichtig und Unwichtig unterscheiden. Röm 3,2: Den Juden sind Gottes verheißende Worte anvertraut. Röm 9,1-4: Ehrenname Israeliten, Kindschaft, Herrlichkeit, Bundesschlüsse, Gesetzgebung, Väter, Christus als Mensch. Röm 11,28: Auserwählt wegen der Väter. Röm 11,26f: Der Herr kommt auf den Sion. Röm 11: Er wird den Bund mit Israel erfüllen.
b) Die gleichen Bedingungen Röm 1,16-17: Glauben. Röm 2,9f: Gericht nach guten und bösen Taten (Werken). Röm 2,13: Wer das Gesetz tut, wird gerechtfertigt. Röm 11,20-23: Wegen Nicht-Glauben aus Gottes Ölbaum entfernt. Röm 11,32: Alle unter der Sünde und Erbarmen für alle.
In der (mutmaßlichen) Situation der Entstehung des Röm bedeutet das: Um der Einheit der Gemeinde willen muss Paulus den Römern und besonders den dortigen Judenchristen Punkt b) einschärfen. Andererseits weiß er, dass Judenchristen ihm gegenüber besonders empfindlich sind und mit Recht darauf bestehen, Gottes erste Liebe zu sein (Punkt a). Die beiden Kataloge lassen erkennen, dass Paulus ein Kunststück seelsorgerlicher Regierungskunst vollbringen muss. Zu Röm 3,3-7: Gott ist treu und gerecht. Die Menschen nicht. Diese Differenz ist nicht dazu
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506 da, nur – sozusagen im Kontrast – Gottes Herrlichkeit zu erweisen, sondern Gottes Gerechtigkeit. Gott wird also – das ist erwartbar und »normal« – richten. Das Gericht bezieht sich darauf, dass der Mensch verantwortlich ist und schuldig wurde. Neben der Theophanie (Gottes Herrlichkeit wird offenbar) stünde also das Gericht über die verantwortlichen Menschen. Darin besteht die Gegenwartsbedeutung des künftigen Gerichts. Also: Gott ist nicht nur herrlich, sondern er richtet auch. Dem entspricht, dass der Mensch nicht nur schwach ist, sondern auch gerichtet wird. Aus der Schwäche des Menschen wird Schuld. Zu Röm 3,8: »Lasst uns das Böse tun, damit das Gute kommt!« Der Satz ähnelt Röm 6,1 (»Wenn ich sage: ›Je mehr Sünde, desto mehr Gnade‹, heißt das aber keineswegs, dass wir möglichst viel weitersündigen sollen, damit die Gnade noch größer werden kann. Denn wir haben ja mit der Sünde ganz und gar nichts mehr zu schaffen«), und dem an Röm 5,20b ausgerichteten Luther-Satz »fortiter pecca, sed crede fortius«. – 3,8 ist nicht unsinnig, sondern von apokalyptischen Voraussetzungen her gut verständlich. Denn apokalyptisch ist die Auffassung, dass das Böse erst seine Talsohle erreichen muss, damit das Gute kommen kann. In diesem Sinne ist auch der Ruf (Didache 10,6) zu verstehen: »Es soll kommen die Gnade und es soll vergehen diese Welt!« Denn erst wenn die Welt vergangen ist, kann die Gnade kommen. – Paulinisch an dem Ruf in 3,8 wäre: Der zugegebene Mangel auf der Seite des Menschen ist Voraussetzung für Gottes Handeln (vgl. auch 1 Kor 1). Doch ungeklärt bliebe dabei das Verhältnis von Schwäche/Mangel und Sünde. Dazu aber hatte Paulus im Kontext ab 3,3-7 etwas gesagt. Zu Röm 3,21: Gottes Gerechtigkeit ist Gottes Entgegenkommen, das den Menschen ein weiteres Zusammenleben (Konvivenz) mit ihm ermöglicht. Deshalb steht die Offenbarung dieser Gerechtigkeit in Kontrast zur Offenbarung des Zornes Gottes nach 1,18. Der Zorn Gottes hatte sich darin geoffenbart, dass die Menschen, wegen Götzenanbetung bestraft wurden, aus ihrer Verstockung nicht mehr herausfanden und Vergehen auf Vergehen häuften. Die Offenbarung
Der Römerbrief
der Gerechtigkeit Gottes geschieht, ganz abgesehen und unabhängig von der Größe Gesetz im universalen Angebot des Glaubens. Dieser findet seinen Ansatzpunkt und Anhalt an Jesus Christus und in seinem vergossenen Blut. Zwei Aspekte sind hier zu unterscheiden: Der eine betrifft das Verhältnis von Glaube und Gerechtigkeit. Wenn der Mensch (an Gott, an Jesus) glaubt, dann ist dies sein Beitrag zur Konvivenz mit Gott. Dieser Glaube wirkt seine Gerechtigkeit, die auf Gottes Gerechtigkeit hin reagiert. Der zweite Aspekt betrifft Jesu vergossenes Blut: Indem sich der Glaube auf Jesus als den Anwalt bezieht, hat der Glaubende Anteil an der Sünden vergebenden Kraft des vergossenen Blutes. Zu Gottes Gerechtigkeit: In vielen Texten ist Gottes Gerechtigkeit als strafende belegt. Selbstverständlich ist Strafen ein bestimmter Ausdruck des Sozialverhaltens Gottes; denn es kann ja angemessen sein, dass Sünder vom gerechten Gott bestraft werden. Die Ausnahme wäre nur dann gegeben, wenn für die Sünder die Chance bestünde, aus ihrer Schuld befreit zu werden. Das ist tatsächlich jetzt der Fall, weil Gott einen Weg gefunden bzw. aufgetan hat, die im Wege stehenden Altlasten der Menschen aufzuheben – wenn sie nur wollen und im Glauben auf Jesus, ihren Anwalt, setzen. – Indem die Menschen dann an Jesus/Gott glauben, erlangen sie gemäß Gen 15,6 eigene Gerechtigkeit; es ist nicht so, dass Gott ihnen lediglich seine Gerechtigkeit überschriebe. Denn Gerechtigkeit ist nach der Bibel nicht eine individuelle Eigenschaft, sondern sie ist stets zu sehen als Entgegenkommen, das dem anderen gilt, das ihm Konvivenz mit mir ermöglicht.
Röm 3,21-26: Gerechtigkeit aus Glauben War der Sühnetod notwendig? Brauchte Gott den Opfertod des Sohnes? Konnte er nur so Vergebung gewähren? Empfand der grausame Vater am Ende Genugtuung über den Tod des Sohnes? Ist das nicht der Gipfelpunkt christlicher Obskurität? Gehen wir der Reihe nach. Das Kreuz war nicht der einzige Weg, auf dem Gott Vergebung gewährt hat. Sowohl im Alten Testament als auch im Neuen war und ist Gott jederzeit frei im Ver-
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Kapitel 2
geben der Sünden. Wenn die Menschen in Psalmen um Vergebung baten, wenn Johannes der Täufer die Umkehrtaufe zur Vergebung der Sünden predigte, wenn Jesus der Sünderin sagte: Weil du viel geliebt hast, sind dir viele Sünden vergeben – wann immer so etwas geschieht, besteht zum Kreuz kein Bezug. Daher gilt das »nur so« auch nicht. Und wenn christliche Theologen über Gott sagen: Er brauchte das Opfer, er konnte nur so, er musste den Sohn opfern – dann ist das immer eine Kompetenzüberschreitung der Theologen. Denn es gilt: Gott ist jederzeit frei. Alle diese Aussagen über »müssen« und »nur so« sind höchst fragwürdig. Wenn wir auf diesem schwierigen Terrain weiterkommen wollen, können wir uns am besten an der jüdischen Denkweise orientieren. Denn Juden fragen nicht zurück hinter das Faktum: »War das notwendig?« Sondern sie fragen: Wenn es nun schon so weit gekommen ist, was wird Gott daraus machen? Vielleicht erging es dem himmlischen Vater so beim Tod Jesu, dass er wahnsinnig war vor Schmerz. Da ist kein kalkulierender Gott, schon gar nicht einer, der die Sühne braucht. Der jetzt abrechnet und sagt: Ich bin jetzt befriedigt. Mein Rachedurst ist gestillt. Man kann auch vom tiefen, entsetzlichen Liebeskummer Gottes reden, denn er hatte doch den Sohn gesandt für die Menschen. Und die Menschen nehmen ihm den Sohn, verspotten und durchbohren ihn. Wie würde Gott reagieren? Gott schweigt, Karfreitagnacht und Karsamstag – zwei Tage göttlichen Schweigens. Gott schweigt, tief im Innersten verletzt. Wie wird er reagieren? – Ich stelle mir eine Rede Gottes zum Tod seines Sohnes vor. Und was er gesagt haben könnte, entnehme ich allen Schriften des Neuen Testaments: Ihr Menschen habt gezeigt, wer ihr seid. Ihr bringt Menschen ans Kreuz und seid auch selbst die Gemobbten. Ihr habt gezeigt, wie arm ihr wirklich seid und wie sehr ihr es nötig habt, dass euch jemand in die Arme schließt. Deshalb will auch ich jetzt zeigen, wer ich bin: Weil ihr das so offenkundig nötig habt, erkläre ich euch: Jetzt liebe ich euch erst recht. Nicht weil ihr es verdient hättest, sondern weil ihr so arm seid. Und ich liebe euch als meine Feinde. In meiner Feindesliebe zu euch opfere ich meinen letzten Schutzwall, liefere
507 ich auch mich selbst euch aus. Ich flehe euch an: Begreift doch endlich, was geschieht. Wie abgöttisch ich euch liebe. Und was die Sühne angeht, das vergossene Blut Jesu, durch das ihr erlöst seid: Ich brauche keine Rache und keine Sühne, keine Genugtuung und keine Satisfaktion. Wer liebt, braucht das nicht. Aber vielleicht braucht ihr diese Zeichen. Denn Blut ist geflossen, eine Geißelung wurde vollzogen, der Gerechte hat gelitten. Das alles geschah zunächst einmal aus Hass gegen mich. Mich wollten die Menschen mobben, indem sie Jesus halb totschlugen und dann aufhängten. Aber wenn es nun schon so weit gekommen ist, dann ist doch entscheidend, was ich daraus mache. Denn ich habe die Deutungshoheit. Ich bin darin, sagt Gott, wie Jesus: Das geschäftsmäßige Gebaren der Edelhure nimmt Jesus als Liebe, verwandelt er unter seinen Händen in eine Liebe, die zur Sündenvergebung reicht. So werden auch unter meinen Händen die verkehrten, perversen Absichten der Menschen zu Zeichen des Heils und der Rettung. Und das ist das, was ich daraus mache. Ich tue das gegen die rituellen Regeln Israels, denn Menschenopfer sind seit Isaak verboten. Und kein Akt der Passion Jesu spielt im Tempel. Denn so mache ich es mit dem Hass und den Quälereien der Menschen, mit dem Peinigen bis aufs Blut. Sie meinten, sie hätten mich darin überwunden und wären mich los. Aber ich habe hier die Deutungshoheit. Ich verwandle die Äußerungen ihres Hasses und ihrer Unmenschlichkeit in Zeichen der Vergebung. Ich werte sie so, wie man überall rund um das Mittelmeer auf Altären und in Tempeln im Ritual vergossenes Blut gewertet hat: als Zeichen der Sühne. Auch wenn dieses Blut hier nicht rituell vergossen ist, auch wenn kein jüdisches Ritual Menschenopfer vorsieht. Ich schreibe auf krummen Zeilen gerade. Aber was das kultisch vergossene Blut angeht: Die Menschen waren stets dankbar für dieses unverhältnismäßige Mittel, den verdienten Zorn der Götter zu besänftigen. Ich werte Jesu vergossenes Blut wie rituell vergossenes. Nehmt es daher so, wie ihr es kennt, als Zeichen dafür, dass nun alles gut ist. Ich bin der Gott Abrahams und schreibe öfters auf krummen Zeilen gerade. Zu eurer Beruhigung, ja als mein Evangelium über den toten Jesus biete ich euch an: Nehmt dieses Blut als Zeichen der Versöhnung meinerseits.
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508 So ist diese Vergebung hier dadurch eindrücklich geworden, dass sie an bekannte Zeichen anknüpft. Damit es die Menschen besser verstehen. So ist aus meiner Vergebung hier eine »halbe« kultische geworden, zwar mit Blut, aber nicht im Tempel, zwar zur Sühne, aber nicht als gesetzlich vorgeschriebene und im Ritual festgelegte, zwar grausam, aber nicht wegen meines Zornes, sondern wegen des Hasses der Menschen. Eurem Verlangen nach Gewissheit ist dadurch Genüge getan, dass ihr die wesentlichen Zeichen erkennen könnt. So habt ihr eine Gewissheit, die alle frühere Gewissheit übersteigt. Früher konnten die Menschen, die mich um Vergebung baten, nur darauf hoffen, dass ich sie erhöre. Das ist jetzt anders: Deshalb hat Jesus beim Abendmahl den neuen Bund gestiftet. Er hat gewissermaßen notariell mit seinem Blut besiegelt, dass jetzt der neue Bund der Sündenvergebung gilt. Und er hat nicht einfach die Menschen beten lassen, sondern die Gewissheit der Erhörung in die Erde eingerammt, so, wie das Kreuz auf Golgota steht, unübersehbar. Und zum Schluss auch dieses: Ihr könnt diesen Tod auch verstehen als den Schlusspunkt des Opfers Jesu, das er mit seinem ganzen Leben gebracht hat. Er hat seine Jünger geliebt und war seinem Auftrag, meine Liebe zu verkünden in der Welt, gehorsam bis zum Tod am Kreuz. Jesus wirft sein ganzes Leben in die Waagschale zu euren Gunsten. Der Gerechte sühnt mit seinem ganzen Leben. Wie die zwölf Gerechten nach der Sektenregel in Qumran am Toten Meer (1 QS 8). Sie sühnen für ganz Israel durch ihr Leben, nicht speziell durch ihren Tod. Der Weise legt sein Leben in die Waagschale und haut dadurch den raus, der dumm ist und ungerecht (Philo v. A.). Stellvertretende Sühne wird für später lebende Menschen, gerade für die heute lebenden, immer dann unklar, wenn einer Gemeinschaft nicht mehr denken kann. Oder auch so: Ich bin frei zu vergeben. Beim Tod Jesu geschah eine annähernd geregelte Vergebung. Damit ihr nicht meint, eure Sünden hätten sich in Luft aufgelöst. An meinem Schmerz könnt ihr sehen, dass auch mich Jesu Weg alles gekostet hat. (Ende der Rede Gottes.)
Noch einmal die wichtigsten Stationen des Weges: Eine adäquate Sühne für unsere Sünden
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könnte es nur dann geben, wenn wir alle deswegen sterben müssten. Aber auch eine inadäquate, nur symbolische und unverhältnismäßige Sühne braucht Gott nicht. Er hat in dieser Richtung keinerlei Bedarf. Wenn dann doch wichtige Elemente der Sühnevorstellung in den Glaubensbekenntnissen vorkommen, dann um der Menschen willen. Die Vergebung aus völliger Freiheit Gottes können wir uns nicht vorstellen. Geregelte Versöhnung können wir uns notfalls vorstellen. Die Bibel schafft die Vorstellung der Sühne für Sünden nicht ab. Aber weder führt sie sie ein, noch verschärft sie sie. Sie ermäßigt sie auch nicht. Jesu Tod zeigt die Größe menschlicher Schuld. Gott vergibt uns um Jesu willen. Jesu ganzes Leben ist ein Opfer, so auch sein Tod. Opfer ist jede sichtbare Anerkennung Gottes. Mit Opfer dürfen wir daher nicht primär sinnlose Gewalt verbinden, sondern die Anerkennung Gottes, die oft auch etwas kostet. Über die Schwierigkeiten der Rede vom Sühnetod in der hellenistisch-römischen Umgebung frühchristlicher Gemeinden vgl. Plutarch (Vom Aberglauben 13): »Wäre es nun für jene Gallier und Skythen nicht besser gewesen, überhaupt gar keinen Begriff und gar keine Vorstellung oder Erkenntnis von den Göttern zu haben, als zu glauben, dass die Götter an dem Blut geschlachteter Menschen Wohlgefallen finden und ein solches Opfer für das Vollkommenste oder solche Verehrung für das Höchste halten?« – Plutarch gibt hier Hinweise auf den durchschnittlich gebildeten Adressaten heidenchristlicher Mission in einem griechisch-römischem Milieu um 120 n. Chr. Es gibt aus dem 1. und 2. Jh. nicht wenige Evangelien-Schriften, die auf die Passion Jesu verzichten. Sie können Gott und Leiden nicht zusammendenken. Vielleicht versperren sie den Zugang zur Realität. Der Gekreuzigte zeigt, was Menschen so anrichten. Er zeigt die Wahrheit, Leiden, Schmerz und Verantwortung dazu. Juristen sagen oft, Sühne sei nötig, denn die Rechtsordnung müsse wiederhergestellt werden. Aber gilt die nicht sowieso? Denn was kümmert es den Mond, wenn ihn der Hund anbellt? Die Rechtsordnung braucht den Triumph nicht, sie braucht gar keinen Triumph. – Gott aber ist keine Rechtsordnung, sondern eine Person. Eine Person, die jederzeit zu jeder Amnestie von jetzt auf
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Kapitel 2
gleich bereit ist, weil er liebt. – Und Sühnetod hat nichts mit Rache zu tun und mit lichtscheuen, steinzeitlichen Phantasien. Sondern mit Stellvertretung – sie ist das Grundgesetz der Bibel seit Abrahams Verhandeln über Sodom, Fürbitte und Befreiung von Schuld. Und immer wieder hat sie mit Liebe zu tun, die den Tod auf sich nimmt. Liebe ist stärker als der Tod. Paulinischer Zusatz Paulus führt uns dann aber noch in ganz andere Dimensionen, in denen wir dann buchstäblich mit unserem Latein ans Ende gelangen, in schwindelnde Tiefen, in denen wir alles Gewohnte verlassen müssen. In Denkformen, die weder im Sinne Platos oder Kants sind noch im Sinne des römischen Rechts oder irgendeines Rechts. Denn Paulus sagt an drei Stellen, dass Gott Jesus zu einer Art Müllhalde gemacht habe, und dass diese dann schlicht vernichtet worden sei. Gott hat ihn zur Sünde gemacht, d. h.: Alle Sünde ist auf ihn gehäuft. Weil er der Gerechte ist, hat er die Sünde angezogen wie ein Magnet. Oder so: Gott hat ihn zum Fluch gemacht. Er, der Gesegnete schlechthin, hat allen Fluch auf sich gezogen, ist der Verfluchte schlechthin geworden. Da kann man sich schon denken, wie es ihm ergeht. Oder so: Gott hat ihn zum öffentlichen Sühneort gemacht, so wie es der Deckel der Bundeslade war. Auf ihm sammelte sich jeweils bis zum Jom Kippur alle Sünde, dort wurde sie entsorgt, indem sie vernichtet wurde. So also wird Jesus mit seinem Sterben hier gesehen: wie ein Schwamm, der alle giftige Sauce in sich aufgesogen hat und der dann verbrannt wird. Denn Gott ist verzehrendes Feuer. Oder wie ein reiner Lappen, der total befleckt wird von schmutzigem Öl, und den man nur noch wegwerfen kann. Oder wie ein Kleid, das von Flecken nur so starrt, und das man nur in den Müll werfen kann. – Jesus trägt nicht nur unsere Sünden und bleibt selbst unberührt, sondern sie zerfressen sein Herz. Er wird zur Sünde, zum Fluch gemacht: Niemals vorher oder nachher ist ein Mensch so mit Sünde und Schuld identifiziert worden. Er selbst ist nicht Sünder, aber die Schuld der Menschen erwürgt ihn buchstäblich, denn der Kreuzestod ist ein Erstickungstod. Jesus hat die Sünde auf sich gezogen, weil er heilig ist. So wie nach jüdischem Glauben die Sonne, weil
509 ihre goldene Scheibe der reinste Ort der Welt ist, jeden Abend, wie man sieht, alle Unreinheit als graue Flecken oder Wolken auf sich gezogen hat. Wie Jerusalem als der heiligste Ort der Welt bis heute Welthauptstadt des Hasses ist. Wie Antonius und der Pfarrer von Ars von den widerlichsten Teufeln geplagt werden. Eben weil Jesus der Gerechte ist, kommt alles Teuflische zusammen rund um seine Person. Bis heute sammelt sich alle Bösartigkeit um ihn und seine Heiligen. Unter dem Ansturm der Bosheit wird Jesus weggeworfen, wie verbrannt. Nicht nur weil die Welt Gerechte nicht ertragen kann, das wissen wir seit Sokrates. Sondern weil sie auf ihm alles ablädt. Das ist ein Mechanismus der Welt. Nicht kultisch, nicht juristisch, sondern fast physikalisch zu denken. So ist denn in diesen Texten auch nicht gleich begütigend von Auferstehung die Rede. Nein, Jesus ist wie verbrannt und entsorgt. So schlimm ist die Sünde, so grausam das Verbrechen, so teuflisch alles Morden. Erst wenn es ihn hinausgetrieben hat aus der Welt, kommt alles Getöse zur Ruhe. Es hat sich ausgetobt. Und deshalb hält man seit alters das Kreuz allem Dämonischen entgegen: Erinnert euch, ihr seid besiegt! Nach rabbinischer Anschauung ist alle Sünde, die auf jemandem lastet, mit seinem Tod beglichen. Und wenn einer ganz und gar unschuldig stirbt, kann er den Tod auf sich nehmen, den alle verdient hätten. Wenn Paulus das so darstellt, wirken alle Vorwürfe gegen den angeblich grausamen Gott, der nach Rache rufe, wie braves Moralisieren. Es geht nicht um einen unmoralischen Gott, sondern am Kreuz wird erkennbar: So schlimm ist Sünde, so grausam, so gewaltig. Der Kampf gegen die Sünde der Menschen hat Gott alles gekostet, sein einziges Kind. Indem er Jesus gesandt hat, hat er sich auf dieses Drama eingelassen. So entsetzlich ist das Antlitz des Bösen. Jesus wurde vernichtet von der Macht der Sünde. Selbst Gott stirbt darunter, er, Jesus, wahrer Mensch und wahrer Gott. Den Sühne- und Opfertod Jesu bezeichnet Paulus als zentralen Bestandteil seines Evangeliums (1 Kor 15,3). Folgende Voraussetzungen hat die Sühnetheologie des Apostels Paulus: 1. Sühne zur Vergebung der Sünden ist – wenigstens aus der Sicht der Menschen – notwen-
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510 dig. Sünde ist Blockade des Lebens wie abbrechende Gleise an der früheren DDR-Zonengrenze. Eine bittere Grenze trennt von Gott. Sühne ist Aufhebung der Blockaden, damit das Leben weitergehen kann. Die Frage ist nur: Welcher Lastkran ist kräftig genug, diese Hindernisse zu beheben? Hier besteht das Angebot eines Schuldenerlasses für die ganze Welt im Verhältnis zu Gott, damit es der ganzen Welt besser gehen kann. 2. Stellvertretung ist das grundlegende Lebensgesetz der Bibel. Das bedeutet: Einer kann und soll für den anderen bei Gott etwas ausrichten, er wird sein Patron. Stellvertretung ist stets die besondere Aufgabe dessen, der nach menschlichem Ermessen Gott relativ näher steht. Dass Jesus unschuldig in jeder Hinsicht ist, daran vor allem knüpft sich die Möglichkeit der Stellvertretung. Jeder Gottesdienst schon im Tempel Israels, ebenso aber in der Kirche, geschieht in Stellvertretung für die ganze Welt. Indem Gott in seiner Botschaft uns Stellvertretung empfiehlt, will er im Übrigen auch Gemeinschaft und Frieden unter den Menschen. 3. Sünden können – sofern denn Sühne von Menschen für ihre Gewissheit ersehnt wird – gesühnt werden durch »ein Stück Leben«, gegeben in Stellvertretung. Daher kann man für andere beten und fasten, ein Stück seines Lebens geben, oder auch, wie der Menschensohn, sein ganzes Leben, und zwar inklusive Sterben (Mk 10,45). Deshalb kann der Menschensohn sein ganzes Leben bin hin zum Tod für andere einsetzen. 4. Blut ist Leben und Leben ist Blut. Wenn »es blutet«, sehen Menschen das als Gefahr für die Gefährdung des Lebens, Blut ist noch immer ein Realsymbol für Leben, es bezeichnet Leben in seiner Gefährdung und Schutzlosigkeit. Mein Blut ist mein mir anvertrautes Leben. 5. »Jesu Blut, vergossen zur Vergebung der Sünden«, bedeutet: Jesus hat den Menschen aus Liebe sein ganzes Leben geschenkt, besonders seinen Tod. Er war und ist für die Menschen da als ihr Patron. Er hat sein Leben gegeben, er hat sein Blut gegeben. Das ist ein Zeichen dafür, dass nun alles wieder gut ist mit Gott. 6. Jesu Tod ist ein Opfertod. Opfer ist jede sichtbare Anerkennung Gottes. Seine Gabe an Gott – sein ganzes Leben – hat Jesus stellvertretend als Opfer für die Menschen dargebracht. So hat er
Der Römerbrief
zum Beispiel keine Gewalt geübt und damit Gottes Willen erfüllt. 7. Durch Jesu Tod ist ein Bund geschlossen, der Neue Bund der Vergebung. In Jer 31 war von diesem Neuen Bund die Rede, in dem sich Gott mit den Menschen verbindet und in dem er keine Sünden seines Volkes mehr stehen lässt. Im Neuen Bund treten Menschen zu Gott in ein geregeltes und in diesem Sinne »juristisches« Verhältnis, weil Gott Schutzmacht und Partner ist. So sind es drei Fakten, die zueinander in Beziehung gesetzt werden: das Kreuz Jesu, seine Unschuld und die Verheißung des Neuen Bundes nach Jer 31. Aber wie kann alle Sünde aller Menschen vergeben sein für alle Zeit – sofern sie diese Vergebung annehmen, sofern sie an Jesus glauben? Als der Erhöhte zur Rechten Gottes tritt Jesus weiterhin für die Menschen ein und weist auf seinen Opfertod auf Erden. 8. »Ort der Vergebung« hieß im jüdischen Tempel der Deckel der Bundeslade. Auf ihr sammelte sich, so war die Vorstellung, im Laufe jedes Jahres, wie von einem Magneten angezogen, die gesamte Schuld Israels. Denn dieses war der heiligste Ort, Gottes Thron auf Erden. Daher war hier die Schuld anzutreffen, und zwar in geradezu dinglicher Intensität, und zu beseitigen. Dieser Ort der Vergebung ist nun Jesus. Denn auf ihm hat sich, weil er der heiligste und gerechte Mensch ist, alle Schuld angesammelt, er ist »zur Sünde« (2 Kor 5,21), »zum Fluch« (Gal 3,13) geworden, und so konnte sie durch seinen stellvertretenden Tod insgesamt beseitigt werden. Denn er hatte diesen Tod als Einziger nicht verdient. Daher konnte er die Schuld stellvertretend für andere beseitigen. Auch hier geht es wieder (wie bei Jesu Unschuld) um den Einzigen, der das Allgemeine durchbricht und damit eine neue Zeit heraufführt. Diese Lehre des Paulus hat zwei Grundvoraussetzungen: 1. Dass Stellvertretung möglich ist, d. h. Menschen geben zugunsten anderer ein kostbares Gut (Kraft des Gebetes, Fasten, ihr Leben) an Gott, in der Hoffnung, dass er sich freut, wenn ein Mensch etwas für den anderen tut. 2. dass Jesus der absolut Gerechte war. Wir haben bereits gesehen, dass Jesus deswegen seine Fürsprecher-Funkton als Erhöhter bei Gott fortsetzen kann.
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Kapitel 4
Zu Röm 3,27: In 3,27 nimmt Paulus das Stichwort »Sich Rühmen« im Zusammenhang mit »Gesetz« aus 2,17 wieder auf. Denn jetzt braucht man sich nicht mehr vor anderen Menschen und im Unterschied zu ihnen zu rühmen, sondern der Glaube macht perfekt, weil man durch ihn gerecht wird. Insofern hat Glaube das Gesetz abgelöst (griech.: nomos pisteos). Denn ein Gesetz im Zeichen der »Werke« könnte ja nur durch ausnahmslos vollkommene Werke erfüllt werden; was kein Mensch kann. Wer dagegen glaubt, muss sich nicht mehr von anderen dadurch unterscheiden, denn Glauben ist leicht. Zugleich ist er wirklich gerecht, weil Gott ihn so akzeptiert, wie er ist.
Röm 3,27-31: Glaube – Gesetz Wenn der Mensch durch den Glauben gerechtfertigt wird, dann ist er perfekt. Das ist ein Weg, der nicht über das Gesetz führt, denn dabei kommt es immer zur Diskrepanz zwischen Befolgen und Nicht-Erfüllen. So war es aber bei vielen Juden bisher: Sie rühmten sich vor den anderen Völkern, lebten aber das Gesetz nicht. Dadurch haben sie eher das Gegenteil erreicht; ihr Gott wurde gelästert. – Nun ist dieser Weg des SichAbsetzens von den anderen (Sich-Rühmen) verschlossen worden und abgeschafft. Das geschah aber unter Absehen vom Gesetz. Das hatte Paulus schon in 3,21 gesagt (»ohne das Gesetz«), und er wiederholt es nun in 3,27: Nicht durch die Erfüllung des Gesetzes mit Werken wurde dieser Hochmut ausgeräuchert. Er wurde beseitigt, weil das, was das Gesetz wollte, nämlich perfekte Menschen, nicht durch Werke, sondern durch den Glauben erreicht wurde. Paulus wird diesen nicht einfachen Gedanken nochmals in 9,31 aufnehmen: Die Juden konnten ohne Christus nicht »zum Gesetz gelangen«, d. h. wohl: dem Gesetz nicht voll gerecht werden. So wird dann auch 10,4 zu verstehen sein: Das Ziel des Gesetzes, die Erfüllung der Norm der Konvivenz, wird erst durch Christus erreicht. Aber ganz anders: ohne Gesetz. Die den Texten 3,27; 9,31; 10,4 gemeinsam zugrundeliegende Voraussetzung ist offensichtlich diese: Das Gesetz ist ein Rahmen mit einer Zielvorgabe, vergleichbar einem schier endlos großen
Stadion mit einer Ziellinie. In der Regel versucht man, diese Ziellinie durch Laufen zu erreichen. Das ist indes frustrierend, weil keiner das schaffen kann. Ziel heißt: Ein guter Mensch nach Gottes Willen zu sein, akzeptabel bei Gott. Gott selbst hat, um im Bilde zu bleiben, einen Weg eröffnet, nicht durch Laufen, sondern mit dem Wagen ans Ziel zu gelangen. Denn hinter der Ziellinie wird erst das eigentliche Fest des Miteinanders gefeiert. Dieser Wagen wird von Gott gestellt, man muss, bzw. darf sich nur hineinsetzen. Es ist der Weg des Glaubens an Jesus Christus. Die Wagenspur verläuft außerhalb des Stadions, außerhalb des Gesetzes.
Das alles besagt nun nichts gegen das Gesetz, wie Röm 3,31 feststellt. Aber was heißt dann: Wir richten das Gesetz auf? Gut, Paulus wird aus der Torah in Kap. 4 zitieren (gemäß 4,21b). Der Bezug zu 3,31 besteht darin, dass das Gesetz (das Alte, die Schrift) vom Neuen (der Erlösung) spricht. In diesem Sinne umfasst das Alte auch das Neue (wie in Hebr). Aber das ist nur ein Teil. Der andere Teil besteht darin, dass gemäß dem Gesetz ein Sünder – jeder Sünder – sterben muss; das geschieht nach 6,5-10.
Röm 4,1-17: Abraham – Vor- und Urbild der Proselyten Zu Röm 4,1-8: Diese Verse verdeutlichen die Tiefenstruktur der christlichen Rechtfertigung am Beispiel Abrahams, und zwar an dem Satz »Abraham glaubte (an) Gott, und das wurde ihm als Gerechtsein gewertet« (Gen 15,6). Im Frühjudentum, aber auch im Neuen Testament wird dieser Satz oft zitiert. An ihm erkennt man, dass Abraham der erste Jude war, und hauptsächlich aufgrund dieses Satzes wird Abraham zum Vor- und Urbild der Proselyten. Das lässt sich gut an den Abraham-Schriften Philos v. Alexandrien (De Abrahamo, De migratione Abraham) und der pseudepigraphen Literatur (AbrahamApk, TestAbr; Jubiläenbuch) erkennen. Es bildet sich der Topos der Versuchungen Abrahams heraus, der vor allem in der Opferung Isaaks seinen Anlass hat. Diese Versuchungen werden dann gedeutet als die zwangsläufigen Anfechtungen, die der Proselyt nach seiner Bekehrung erfährt. Es gibt Listen mit bis zu
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512 20 Versuchungen, die man aufgrund der biblischen Berichte zusammenstellt. Auch Jak 2 gehört in diese Diskussion (s. dort). Wie geht Paulus mit dieser Tradition um? Er widmet Abraham ein ganzes Kapitel, weil Abraham für seine judenchristlichen Hörer die wichtigste Integrationsfigur ist. In 4,1-8 bringt er zwei Gedanken ein, die in der jüdischen Diskussion über die Rolle Abrahams neu sind: Einmal: Abraham erreichte die Ziellinie (Gerechtsein), aber nicht aufgrund von Werken, die zu Stolz und Abgrenzung gegenüber anderen geführt hätten. Und zum anderen: Abraham wurde als Sünder gerechtfertigt, so wie alle anderen Menschen auch. – Beide Punkte gelten den römischen Judenchristen. Sie sollen sich 1. über andere nicht erheben, und 2. Abraham ist gerade deshalb als Vorbild gut geeignet, weil er auch Sünder war wie alle. Jeder Sünder kann es ihm deshalb gleichtun; dies weckt zumindest Verständnis für die Heidenchristen, die den Weg vom Sündersein (= heidnisch sein) zum Glauben gegangen sind. Zu Röm 4,1-6: Die rhetorische Frage von 4,1 ist im Sinne biblischen Sprachgebrauchs wohl so zu beantworten, dass Abraham »Gnade gefunden« hat. Denn einen Grund zum Sich-Rühmen (griech.: kauchema) hat er ja nicht gefunden; also kann es nur etwas sein, das ganz anders funktioniert als Werke, als »Laufen«, als Erreichen des Ziels und Belohnung. Und dieses Andere ist hier: Glaube, sich etwas aus Gnade schenken lassen, Gerechtigkeit. Das Wort Gnade fällt hier in 3,24; 4,4.16; 5,2. Es gibt daher im Kontext genug Anlass, es als Antwort auf die rhetorische Frage in 4,1 zu sehen. Zu Röm 4,7-8: Ps 32,1f wird durch Stichwortverbindung mit dem Abraham-Beispiel verknüpft. Die These heißt: Abraham wurde als Sünder gerechtfertigt, vgl. Röm 4,7-9; das steht aber nicht in der Schrift. Das Stichwort, das Ps 32 mit Gen 15,6 verbindet, heißt »anrechnen« (V. 8). Alles übrige Beweismaterial ermittelt Paulus durch Feststellung von Gegensätzen (Oppositionen). Denn das Gegenteil zu Gerechtigkeit (Gen 15,6) ist Sünde (Ps 32,1ab). Genauer gesagt: Glauben, der zur Gerechtigkeit angerechnet wird, das Gegenteil zu Sünde, die nicht angerechnet wird.
Der Römerbrief
Gerade so aber rücken im Lichte von Ps 32 Glaube und Gerechtigkeit ganz eng zusammen. Und über die Bedeckung der Sünden hatte Paulus ja in 3,25 gesprochen. Der Gegensatz zu Beschnittenheit ist Unbeschnittenheit (V. 9). Zu Röm 4,9-12: Aus der Abraham-Überlieferung bringt Paulus hier ein Thema hinzu, das dort nur eine geringe Rolle spielt. Das Thema ist der Zeitpunkt der Beschneidung Abrahams. Nach Gen 17,24.26 wurde Abraham erst relativ spät beschnitten, denn schon in Gen 15 schloss Gott den Bund mit ihm. Im Sinne der logischen Abfolge der biblischen Berichte in Gen 15-17 schließt Paulus daraus mit Recht, dass Abrahams Glaube zur Gerechtigkeit angerechnet und ihm die Verheißungen gegeben wurden, als er noch unbeschnitten war. Aus dieser schlichten Beobachtung zieht Paulus nun gewichtige Konsequenzen für seine Adressaten, und auch hier gelingt ihm ein Ausgleich zwischen Juden- und Heidenchristen. Denn den Heidenchristen kann Paulus sagen: Lasst euch (von den Judenchristen) nicht irritieren! Ihr braucht keine Beschneidung, um vollwertige Christen zu sein. Gott akzeptiert euch aufgrund von Glauben allein. Das ist auch an Judenchristen gerichtet: Lasst die Heidenchristen in Ruhe. Wie bei Abraham genügt der Glaube. Wäre Beschneidung die strikte Bedingung der Zugehörigkeit zu Gott, dann wären Abraham weder die Gerechtigkeit noch die Verheißungen zugesprochen worden. Alle sind Kinder Abrahams, wenn sie nur glauben. Andererseits sagt Paulus den Judenchristen: Eure Beschneidung ist durchaus sinnvoll, ja sie gewinnt ihre eigentliche Funktion erst jetzt, da ihr glaubt. Denn sie ist das Zeichen der erlangten Gerechtigkeit. Das Stichwort »Zeichen« (griech.: semeion) in 4,11a stammt aus Gen 17,11 (Bundeszeichen); doch Paulus deutet es um und bezieht »Zeichen« auf den Vorgang in Gen 15,6, er interpretiert es hier als »Siegel« (nicht in Gen LXX). Die Judenchristen haben daher den Heidenchristen etwas voraus: Ihre Beschneidung dokumentiert sichtbar die erlangte Gerechtigkeit. So ist sie, freilich nachträglich, sinnvoll geworden. Die Kühnheit der paulinischen Beweisführung ist beeindruckend. Nach Gen 15-17 haben weder
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Glaube und Gerechtigkeit etwas mit Verheißung zu tun, noch spielen beide bei der Beschneidung eine Rolle. Aus dem bloßen zeitlichen Nacheinander folgert Paulus einen zielgerichteten Sachzusammenhang. Das alles geschieht, obwohl hier niemand eine nächtliche Vision hatte oder ein Opfer darbrachte wie Abraham. D. h. einzelne Elemente aus der Abraham-Erzählung werden herausgegriffen und generalisiert, so als gälten sie immer und für alle. Und warum soll die Beschneidung nach Gen 17 nicht für die Heidenchristen gelten? Wenn für Gerechtigkeit aber der Glaube genügt, in welcher Hinsicht ist Beschneidung dann wirklich zweitrangig? Das Problem des Gal besteht darin, dass den Heidenchristen gesagt wird: Wer A sagt, muss auch B sagen. Also bitte, lasst euch beschneiden. Das Argument mit der Gerechtsprechung zu Zeiten der Unbeschnittenheit wird dann von den Kirchenvätern bis ins 4. Jh. hinein übernommen und auf verschiedenste Probleme übertragen. Man wird sagen: Wäre die Beschneidung so wichtig, dann hätten auch die Engel beschnitten erschaffen werden müssen. Oder: Weil Melchisedek unbeschnitten war, gibt es nun ein Priestertum außerhalb des levitischen (Verstärkung der Argumentation des Hebr). D. h. man versucht, Rang und Würde von der Beschneidung systematisch zu trennen.
Am Ende des Gedankengangs, in 4,12, kann Paulus sogar Abraham als »unseren Vater« nennen, was der Argumentation nach logisch ist (eher Gewohnheit, s. u.), was aber nicht gerade die große Freude der römischen Judenchristen hervorgerufen haben dürfte (und später auch nicht die Freude der Heidenchristen, die sich zeitweilig schämten, Kinder Abrahams zu sein; Paulus wertet das allerdings als Auszeichnung). Die Voraussetzung ist: Kindschaft durch Nachahmung. Zu Röm 4,13-16: Paulus bringt eine neue Größe ins Spiel, von der (ab 4,1) noch nicht die Rede war: das Gesetz, gleichzeitig aber auch die Rede vom »Erbe«. Die Rede vom Erbe ist vorbereitet durch die Vaterschaft Abrahams. Die Auszeichnung des Kindes besteht darin, dass es Erbe ist. Die Aussagen über das Gesetz (nur in 4,13-16 gibt es solche in Röm 4) sind durchweg negativ. Das Gesetz war nicht Grund für den Empfang der Verheißung, durch den Besitz des Gesetzes
wird man auch nicht zum Erben. Nur als Kind und durch Nachahmung wird man Erbe, würde Paulus sagen. Der bloße Besitz des Gesetzes ändert den für die Erbschaft entscheidenden Status nicht; das Gesetz macht nicht zum Erben. Damit attackiert Paulus aufs Neue die in Röm 2,17 den Judenchristen zugeschriebene Position. Sie rühmen sich des Gesetzes – aber das Gesetz schafft nicht den Status des erbberechtigten Kindes (daher 4,14). Deshalb helfen weder der Stolz auf das Gesetz, noch dessen mehr oder weniger perfekte Erfüllung. Daher kann Paulus hier sagen: Das Gesetz schafft nur Zorn, und zwar den Zorn Gottes (vgl. 1,18) – eben weil niemand es wirklich erfüllen kann (vgl. Röm 3,20!). Überdies wurde Abraham die Verheißung zuteil, weil er glaubte und deswegen als gerecht eingeschätzt wurde, aber in diesem Vorgang nach Gen 15 war vom Gesetz überhaupt nicht die Rede. Übrigens wird der Begriff des Erbes gegenüber Gen 15-17 verändert. Nach Röm 4,13 soll Abraham »die Welt« erben. Nach allen Vätergeschichten war es nur das Land (Palästina). Von der »Welt« ist hier sicherlich wegen der Heidenvölker die Rede, die die ganze Welt darstellen bzw. bewohnen. Offenbar waren die Väterverheißungen in dieser Hinsicht je nach Bedarf frei dehnbar. Vgl. dazu G. v. Rad: »Es ist noch eine Ruhe vorhanden …« (1957). Hebr lässt daraus eine himmlische Ruhestätte werden, die Liturgie setzt den Prozess der Deutung fort und deutet auf »Licht«. Die »ewige Ruhe«, die Gott schenken soll, und das »ewige Licht« sind in dieser Hinsicht identisch.
Röm 4,18-25: Der Glaube Abrahams Der Glaube Abrahams gleicht dem der Christen. Paulus ist bemüht, dieses unter allen Umständen zu erweisen. Denn davon hängt die ganze theologische Legitimität seines Wirkens in der Heidenmission inhaltlich ab. Denn gewiss ist Paulus zum Apostel durch den Herrn selbst berufen. Aber wenn er dann den Abfall von Gottes Volk und von Gottes Bund lehrte, wie das seine innerchristlichen und jüdischen Gegner behaupteten, so spräche alles nur noch gegen ihn. Im Römerbrief muss Paulus vielmehr darauf achten, dass
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514 die Christen unter den Heiden wirklich Kinder Abrahams sind. Denn nur so können sie in den Genuss der Verheißungen kommen, die Abraham und nur ihm gelten. Schon Johannes der Täufer (Lk 3,8) und auch Jesus selbst (Lk 13,29) hatten davon gesprochen, dass Gott dem Abraham aus den Heiden neue Kinder »erwecken« kann. Nun aber geht es nicht mehr nur um eine Drohung, sondern um die Realität der heidenchristlichen Gemeinden. Denn sie sind offenbar nicht so »gottunmittelbar«, dass eine Beziehung zu Abraham überflüssig wäre. Christen werden nur als Abrahamskinder Gottes Kinder, denn nur dem Abraham hat Gott seine Verheißung gegeben, und daher muss man, wenn man irgendetwas von Gott »erben« will, dieses über Abraham und die ihm gegebene Verheißung erhalten. So ist Paulus bemüht, die zeitliche und sachliche Abfolge von Glauben und Verheißung so darzustellen, dass der Glaube, und zwar die Rechtfertigung auch Abrahams aus Glauben, jeder Verheißung vorausgeht. Ja, Paulus zeigt sogar, dass Abraham auch Sünder war, bevor er gerechtfertigt wurde (4,6-8) – wie die Christen; dass Paulus diesen Erweis, der sich auf Abrahams Sündersein bezieht, nur mit Hilfe exegetischer Auslegungskünste erbringen kann, wird uns nicht ernsthaft stören. Dass der Gott, der Jesus Christus von den Toten auferweckt hat, der Gott der Erzväter ist, das ist Dreh- und Angelpunkt des Christentums. Denn sonst gäbe es keinen legitimen Weg, wie das Christentum aus dem Judentum heraus entstehen konnte, schlimmer noch: Dann gehörte Jesus Christus nicht zu uns, sondern auf die Seite des Judentums. Denn Jesus war eben nicht der Rebell gegen das Judentum, den man gerne daraus gemacht hat. Und auch Paulus wollte das Judentum nicht zerstören, sondern er hat alles versucht, den Weg des Übergangs vom Judentum in die Heidenkirche verständlich zu machen. Paulus setzt hier zu seinem kühnsten Beweisgang an. Einmal will er zeigen, dass die Heidenchristen die zahlreichen Nachkommen sind, die Abraham verheißen wurden; in der Tat wird, wenn man es so sehen will, Abraham auf diese Weise zum Vater vieler Völker. Doch dann genügt es Paulus nicht zu behaupten, dass die Christen Kinder Abrahams sind, weil sie auch glauben. Vielmehr legt er Wert darauf zu zei-
Der Römerbrief
gen, dass sie dasselbe glauben wie Abraham. So will er zeigen: Abraham und Sara glaubten an den Schöpfergott, der Tote erwecken kann, und das genau ist auch der Glaube der Christen. Paulus deutet zu diesem Zweck die Unfruchtbarkeit des betagten Ehepaares Abraham und Sara als beiderseitigen Tod der Fortpflanzungsorgane. Dass Abraham einen vertrockneten Leib hatte, deutet er als »toten Leib«, und dass Sara unfruchtbar war, fasst Paulus auf als das Gestorbensein ihres Mutterschoßes. Diesen Tod auf beiden Seiten überwindet der Glaube an Gottes Verheißung. Dass dieser Gott der Schöpfergott ist – und nur der Schöpfer kann Tote auferwecken –, konnten Abraham und Sara daran erkennen, dass er »durch sein Wort etwas ins Dasein ruft, das vorher noch nicht da war«, nämlich durch seine Verheißung den Isaak. Diese Deutung orientiert sich daran, dass »rufen« im biblischen Griechisch bedeuten kann: etwas ins Dasein rufen, durch das Wort erschaffen. – Andere Deutung von 4,17b: Gott hat durch sein Wort über Isaak, der doch noch gar nicht da war, so geredet, als wäre er schon da. Denn er redete über ihn als Abrahams Sohn und Erben, also wie über einen, den es schon gibt, dessen Existenz gar nicht mehr in Frage steht. Das aber kann nur Gott tun, in dessen Geist schon da ist, was erst sein wird. Jedenfalls aber deutet Paulus die Entstehung und Geburt Isaaks als Auferweckung Toter. Genauso glauben auch die Christen: Sie glauben an den Gott, der Jesus aus Toten erweckt hat. Die Deutung der Entstehung Isaaks als Auferweckung ist bei Paulus singulär, und genauso singulär ist der Vergleich mit der Auferweckung Jesu. Dass Jesus schon da war, bevor er auferweckt wurde, eben anders als Isaak, den es vorher noch nicht gab, stört Paulus nicht. Entscheidend ist für ihn das neue Lebenszeichen dieses Gottes, der sich darin als derselbe Gott kundtut.
Nur in 4,24f erwähnt Paulus in diesem Kapitel Jesus. Die Nennung seiner Auferweckung schließt an den Beweisgang ab 4,17 an. Das ist anders mit 4,25. Denn Beseitigung von Vergehen durch den Tod Jesu ist in Kap. 4 überhaupt nicht vorbereitet. Paulus greift damit zurück auf 3,25. Dort war zum letzten Mal von Sündenschuld die Rede, sieht man von 4,7f ab. Der Satz 4,25: »Wegen unserer Verfehlungen wurde Jesus [an die Menschen] ausgeliefert, und
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Kapitel 5
wegen unserer Gerechtmachung wurde er auferweckt« bedeutet in der 2. Hälfte: Unser Glaube richtet sich, wie ab 4,17 gezeigt, auf die Auferweckung Jesu. Einmal, weil Gott hier seine Schöpfermacht gezeigt hat; wir glauben an den, »der Tote lebendig macht« (Achtzehn-Bitten-Gebet, 10. Bitte: »Der die Toten lebendig macht«; dieses hatte sich als allgemeine Aussage über Gott etwa schon (?) im 1. Jh. durchsetzen können), zum anderen, weil der Auferstandene beim Vater Fürsprache für uns einlegt und uns so von den Sünden befreit; denn der Tod am Kreuz war kein magisch-mechanischer Vorgang, d. h. erst wenn er in die Fürsprache des Sohnes vor dem Vater aufgenommen ist, wird er sinnvoll. Das ist auch die Logik von 1 Kor 15,17f (»Wenn Christus nicht auferweckt worden ist, … seid ihr noch in euren Sünden«). Man kann nur fragen: Hieß es nicht früher anders, etwa in Röm 3,25, wo Jesu Tod eng mit Glauben und Akzeptanz (Rechtfertigung) verbunden ist? In Röm 3 richtet sich der Glaube auf Jesus, den Vermittler (griech.: pistis Iesu, Glaube an Jesus). In Röm 4 richtet er sich auf Gott Vater, den Auferwecker. Aber was ist der Sinn der 1. Hälfte von V. 25 (wegen unserer Verfehlungen ausgeliefert, sc. an Menschen)? Warum wird gerade »ausgeliefert« betont, nicht aber das Sterben? Spielt hier nicht die LXX-Fassung von Jes 53 eine große Rolle? 53,6: »Der Herr hat ihn für unsere Sünden ausgeliefert« (wörtl.: »unseren Sünden« im Dativ); 53,12a: »sein Leben wurde dem Tod ausgeliefert«; 53,12b: »wegen unserer Sünden wurde er ausgeliefert«. – Das dreimalige »Ausliefern« (griech.: paradidonai) könnte schon die Präferenz des Apostels für dieses Verb an dieser Stelle erklären. Die Bedeutung wäre: zum Leiden preisgeben, ihn ohne Absicherung in die Manege schicken.
515 Der Leidende von Jes 53 ist jedenfalls der Unschuldige, der Gottessklave bzw. Gottessohn (griech.: pais, Sohn oder Sklave). Offenbar werden durch den Tod des Gerechten die Altlasten beseitigt, aber erst durch seine Auferstehung kann daraus der neue Status der von Gott Akzeptierten (Gerechtfertigten) werden. Der eine Akt kann nicht ohne den anderen sein. Als Auferstandener weist Jesus auf seinen Tod als Dokument seiner Liebe zu den Menschen. Zu Röm 4,24 hat man gefragt: Ist der Ausdruck »denen es angerechnet werden wird« von jetzt (Paulus) aus gedacht – dann wäre den Christen noch gar nichts angerechnet, sondern das würde erst noch geschehen, beim Gericht vielleicht? Oder ist die angepeilte Zukunft von Abraham aus gesehen? D. h. die Christen sind solche, denen – von Abraham aus betrachtet – in der Zukunft, in denen es einmal Christen geben wird, nämlich jetzt, der Glaube zur Gerechtigkeit angerechnet werden wird. Müsste dann nicht (griech.) mellein im Imperfekt oder Aorist stehen: »denen es (von damals aus gesehen jetzt) angerechnet werden würde«? – Aber sagt Paulus irgendwo, dass den Christen ihr Glaube schon angerechnet worden ist? Auch nach Gal 3,6f sagt Paulus zwar, dass Glaubende Kinder Abrahams sind – aber ist die Stunde des Anrechnens nicht erst das Gericht? – Die entscheidende Antwort gibt Paulus in Röm 5,1. Die Christen sind von Gott akzeptiert und bereits gerecht gemacht (Partizip Aorist passiv). Daher geht es in 4,24 um die Zukunft von Abraham aus gesehen. Denn wenn man dazu bedenkt, dass die Kapiteleinteilung sekundär ist (und uns oft zu falschen Zäsuren verleitet), dann ist und bleibt Röm 5,1 der nächste bzw. übernächste Satz.
Röm 5-6: Universale Rettung Röm 5,1-5: Paulinische Versöhnungslehre Die Stichworte, unter denen der Text theologisch wichtig ist: Doppelsträngigkeit von Christologie und Pneumatologie (Lehre vom Heiligen Geist), Trinität, Versöhnungslehre, Feindesliebe Gottes, Anwendung der Rechtfertigungsdoktrin auf die Christologie. Wir fragen, und so dürften auch
die Römer gefragt haben, an die der Brief gerichtet ist: Was haben wir Christen eigentlich in der Hand, nachdem Jesus nicht mehr da ist? Gott hat durch den Tod Jesu alle Feindschaft beendet. Denn nach Röm 5,1 hat Jesus uns den Frieden mit Gott vermittelt, durch ihn gibt es nach V. 2 Zugang zu Gott – und zwar deshalb, weil Jesus zu Gott hingegangen ist. Und nach
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516 V. 6 wird es heißen: »Denn Jesus, der Messias, ist für uns gestorben, damals, als wir ganz schwach und elend und gottlos waren.« Jesus hat uns Frieden mit Gott geschaffen, indem er vor Gott hingetreten ist und gesagt hat: Ich bin jetzt der Advokat der Menschen. Schone sie um meinetwillen. Ich stelle mich vor sie. Hinter meinem breiten Rücken dürfen sie Frieden finden. In meiner Liebe zu den Menschen wirst du die Deinige wiedererkennen. So ist Jesus als der Mittler in Gottes Audienzsaal (V. 2: Zugang) vor Gottes Angesicht getreten, um sich ganz »für die Menschen zu verwenden«. So kann Paulus sagen: Jesu Tod hatte ein Ziel, den Himmel, den Thron der Gnade. Alles lag daran, überhaupt Zugang zu gewinnen. Jesus ist hinaufgegangen, um freien Zutritt möglich zu machen. Denn er ist einer von den Menschen. Das, was die Glaubenden »haben«, ist also Frieden mit Gott, und zwar nicht als Absichtserklärung, sondern als Resultat der Erhöhung am Kreuz. Aber war dazu der Tod Jesu nötig? Paulus jedoch interessiert nicht, was gewesen wäre wenn … Er findet Gottes Handeln in der Öffnung des Todes auf den Frieden zwischen Gott und Menschen hin. Aber wozu dann noch Heiliger Geist »in unseren Herzen«? Die wenigen Verse in Röm 5,1-5 sprechen von Gott Vater, Sohn und Heiligem Geist. Ist doch »Gottes Liebe in unserem Herzen ausgegossen durch den Heiligen Geist«. Der Heilige Geist ist, so das schon im Alten Testament vorbereitete Bild, »flüssig« wie Wasser, wie Öl, weil er sich so »geschmeidig« und »erfüllend« dem Ort anpasst, an dem er wohnt. Das Bild meint Gottes eigene, bleibende Gegenwart im Herzen der Christen. Dieses dynamische Geschehen ist in seinem Kern Liebe. Denn der Heilige Geist ist immer der, der die Grenzen überwindet – die zwischen Gott und Mensch zuallererst, dann aber auch die zwischen den Menschen. Was ist davon erfahrbare Wirklichkeit? Paulus spricht davon, weil er den Kontrast spürt zu dem, was den Christen von außen her passiert: Drangsal. Und die Bedrängnis erfordert so unspektakuläre Tugenden wie Geduld, Bewährung und Hoffnung. Paulus selbst wird von kleinasiatischen Juden verfolgt, er sieht dem Höhepunkt der Strapazen und Leiden entgegen. Und den Gemeinden in Rom scheint es auch nicht gut zu gehen. Wegen des Claudius-Ediktes 49 n. Chr. hat-
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ten sie die Stadt verlassen müssen. Kurzum: Bedrängnis, Verlust der Heimat, Flucht, damit verbunden Arbeitslosigkeit und Familientragödien. Mitten in diesen Drangsalen stellt Paulus fest, dass die Gewissheit seines Glaubens ihn trägt. Dass der Heilige Geist ein Widerlager bildet gegen alle Bedrängnis. Auch die »Hoffnung« ist keine Theorie hier. Nicht zufällig verwendet Hebr 6,19 das Bild »Anker« für Hoffnung. Ein Anker ist keine vage Vermutung, sondern ein ganz enormes Stück Sicherheit. Paulus geht es nicht um das Warum. Er fragt nicht: Warum müssen wir leiden? Denn dann fangen die Menschen immer an, »die anderen« anzuklagen. Nein, Paulus sagt, dass es weitergeht, dass es eine ganz selbstverständliche, geradezu sprichwörtliche Abfolge gibt von Drangsal, Geduld, Bewährung und sicherem Ziel. Für Letztes garantiert die Hoffnung. Gott Vater wird hier auf zweifache und parallele Weise an den Christen wirksam. So ergeben sich hier zwei weitgehend parallele Aussagereihen über den Sohn Jesus Christus und über den Heiligen Geist: Röm 5,5: »Die Hoffnung aber beschämt nicht; denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unseren Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben wurde« und Röm 5,8: »Es hat erwiesen Gott seine Liebe gegenüber uns, denn obgleich wir noch Sünder waren, ist Christus für uns gestorben.« V. 9f: »Wir werden gerettet werden.« Auswertung der Gegenüberstellung: Gemeinsam sind: »die Liebe Gottes«, Gott als Subjekt; Hoffnung oder entsprechendes Futur (V. 9f); »unsere Herzen« parallel zu »uns« als Adressaten von Gottes Tun; »gegeben« parallel zu »erwiesen«; zwei Mittler: der Heilige Geist parallel zu Jesus Christus. – Zum Inhalt: In zwei auffallend parallelen Ansätzen erweist Gott seine Liebe – in beiden Fällen durch einen Mittler, entweder durch die Gabe des Heiligen Geistes oder dadurch, dass Christus für die Menschen stirbt. In beiden Fällen ist die Zuwendung Gottes durch den Mittler ganz extrem. Denn Gott gibt seinen eigenen Lebensgeist in die Herzen. Er lässt uns teilhaben an seinem Leben. Nach Röm 8,13 wird Paulus sagen: Gott macht Menschen durch dieses Teilhabenlassen an seinem Lebensgeist zu Kindern. Denn so ist das auch sonst mit Eltern und Kindern: Die Eltern geben Anteil an ihrem
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Kapitel 5
Lebensgeist, teilen ihr eigenes Leben mit. Das, was theologisch Anhauchung genannt wird, nennt man biologisch Zeugung und Schwangerschaft. Gott dehnt auf die direktest mögliche Weise sein Leben aus. Denn eine engere Beziehung als Kindschaft kann es zwischen Lebewesen nicht geben. Deshalb ist die Kindschaft das Bild für das, was Gott mit der Gabe des Geistes tut. – Und indem Christus, Gottes Sohn (V. 10), für die Menschen stirbt, hat sich Gott den Menschen noch einmal intensiv zugewendet. Es ist, wie wenn Gott ein Stück von sich selbst zur Stellvertretung für sie einsetzt. Im ersten Fall, bei der Gabe des Geistes, wird die Kindschaft ausgedehnt, im zweiten Falle wird der Sohn nicht geschont. Beide Male geht es um Kindschaft. Denn wenn man jemanden nicht direkt treffen kann – in seinen Kindern ist jeder angreifbar, kann man ihn treffen. Wenn Gott mit seinem Kind und mit Kindschaft zu Gunsten der Menschen etwas riskiert, alles riskiert, dann liebt er sie wirklich. Gott macht sich verletzlich, indem er seinen verletzbaren Sohn sendet, und er macht sich verletzlich, indem er Verbrecher als Kinder annehmen will. Sowohl der Geist als auch der Sohn sind »ein Stück von ihm, von Gott selbst«. Paulus gebraucht das Wort »Liebe«, um hier, am ersten Höhepunkt des Röm, zu sagen: Gott hat in beiden Fällen das Maximum an persönlicher Hingabe und Dreingabe riskiert. Denn der Geist ist nicht irgendetwas, sondern Gott als »Kindermacher«, und der Sohn ist der geliebte Sohn. Der Geist ist Gott selbst, indem er sich mitteilen kann, und der Sohn ist der, indem der Vater sich selbst sieht. Der Sohn steht und handelt für ihn. Entsprechungen zu Röm 8,26-34: Der Heilige Geist ist nach Röm 5 »im Herzen« der Menschen, und nach Röm 8 wird gesagt, was er nun im Herzen des Menschen tut: Er übersetzt das Stöhnen der unerlösten Herzen in Gottes Sprache. Ausdrücklich fällt der Ausdruck »Herz« auch in Röm 8,27. – Und der Sohn, Jesus Christus, ist in beiden Fällen der »außerhalb« als Mittler Agierende, im großen Drama der Heilsgeschichte. In Röm 5 wird er als der Gekreuzigte genannt und in Röm 8 als der Erhöhte, der zur Rechten des Vaters sitzt. – Das bedeutet: Paulus bereitet durch Röm 5 die Rolle der beiden Anwälte von
517 Röm 8 vor. Dem entspricht, dass es am Schluss von Röm 8 dann heißt, dass nichts uns »trennen kann von der Liebe Gottes«, eben jener Liebe, die nach Röm 5 im Heiligen Geist und im Sohn uns erzeigt wurde. Diese Liebe Gottes ist nicht »Selbsthingabe« (dass jemand sich selbst gibt, kann die Bibel nur von Menschen gegenüber Menschen oder gegenüber Gott sagen, aber nicht von Gott). Aber das, was der menschlichen Gabe des Selbst auf der Seite Gottes nahekommt, das heißt hier Liebe. Gott gibt den Menschen in der Liebe etwas, das direkt und sehr eng zu seinem Leben gehört. Der Geist ist durch Teilen vervielfältigtes Selbst, und auch der Sohn wird als Selbst (Gottes) Abdruck dessen, was er ist (Hebr 1,2). Nicht ohne Grund sagt die Bibel in Gen 5,1, Adam habe Seth »nach seinem Bilde« gezeugt. Ähnlich hat Gott nach Gen 1,26 den Menschen »nach seinem Bilde« geschaffen. Lk 3 nennt deshalb Adam Gottes Sohn. Damit wird deutlich: Ebenbild wird der genannt, der Gott dem Schöpfer – oder jedes Kind, das seinen Eltern – unüberbietbar nahesteht. Im Falle der Schöpfung steht der Mensch Gott am nächsten, im Falle der Menschen die Kinder den Eltern. Deshalb redet Paulus von Kindern, um die neutestamentliche Botschaft von der absoluten Nähe Gottes in personalen Bildern zu formulieren. Denn Jesus Christus allein ist für ihn Ebenbild Gottes. Indem Christen durch den Geist Gottes Kinder werden, sind sie dem Sohne gleichgestaltet: Gen 1,26 gilt im ganzen Neuen Testament (außer in Jak 3,9) nur von Jesus Christus. Er allein ist Gottes Ebenbild schlechthin. Festzuhalten ist: Nach Röm 5 wie nach Röm 8 betreibt Paulus intensiv Trinitätstheologie. Denn seine Ausführungen zum Stichwort Liebe und die Wahl der theologischen Metaphorik zeigen: Hier, bei diesen beiden »Mittlern« (Sohn und Geist), geht es um das Maximum der persönlichen Zuwendung Gottes zu den Menschen. Diese Mittler sind nicht kurzfristig angestellt. In Röm 5 wie in Röm 8 ist das Handeln des Vaters durch Sohn und Geist ganz auf die Rettung der Menschen abgestellt. Hier gilt der Satz, Trinität sei »um der Menschen willen«. In beiden Texten sind, wie Irenäus von Lyon später sagen wird, Sohn und Geist die rechte und die linke Hand des Vaters. Überdies entspricht es der jüdischen Regel von
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518 den zwei (oder drei) Zeugen, die für den juristischen Bestand einer »Sache« unbedingt erforderlich sind. Im Römerbrief betrifft das in hervorragendem Maße die Heilsgewissheit der Menschen. Weil aber ein bloßer Verweis auf Zukunft wie ein ungedeckter Scheck wäre, legt es Paulus in Röm 5 darauf an zu zeigen, dass die entscheidende Tat Gottes schon zweifach hinter uns liegt. Das gilt für den Heiligen Geist: Er ist immer die ultimative Gabe Gottes, die Gabe der Kindschaft. Und es gilt für den stellvertretenden Tod Jesu Christi: Er bedeutet Versöhnung und damit Frieden (V. 1 und V. 8-10). Röm 5,1-11 bietet paulinische Versöhnungslehre. Versöhnung nach Paulus ist weder »Kreuzestheologie«, noch die Rede vom »Sühnetod Jesu«, sondern ein ganz eigener Ansatz, der sich außer in Röm 5 auch noch in 2 Kor 5,18-20 findet, in Spuren in Röm 11,15 und schließlich wieder ausführlich in Kol 1,20-22 und Eph 2,13-22. Merkmale dieser eindrücklichen Theologie sind konstant wiederkehrende Wörter eines Wortfeldes, nämlich »versöhnen«, »Versöhnung«, »Friede«, »Feindschaft«, »Zorn«, die Struktur »einst«/ »jetzt«, die Universalität der Betroffenen (z. B. »Welt«, Juden und Heiden), der Tod Jesu (»Sterben« oder »Blut«) und die Thronszene angesichts eines Herrschers (für diese sind wichtig die Elemente »Gnade« und »Zugang«). Dieses Wortfeld findet sich mehr oder weniger vollständig in allen genannten Texten und außerhalb nicht. Es beherrscht die Sätze in Röm 5,1-2.6-11. Es hat seinen Ursprung in der hellenistischen politischen Diplomatie. Wenn Völker verfeindet waren, ging ein Abgesandter an den Hof des gegnerischen Königs und bat um Frieden. Das ist die konkrete Szene, in der alle Versöhnungsaussagen beheimatet sind. Darüber hinaus konnte man dann z. B. auch sagen, Alexander d. Gr. habe Völker versöhnt, wenn er die Regeln und Gesetze vereinheitlichte. Hier tritt der universale Aspekt hervor. Aber der politische Aspekt bleibt gewahrt. Bei Paulus und in seinem Umkreis wird nun die geschilderte politische Sach- und Fachsprache zum Bild für das, was Jesus Christus mit seinem Tod bewirkt hat: Frieden zwischen Gott und Mensch sowie zwischen Juden und Heiden. Doch der entscheidende Punkt bleibt vorerst offen:
Der Römerbrief
Welche Rolle spielt der Tod des zur Erstellung des Friedens Gesandten? Denn diese Katastrophe ist beim politischen Geschäft der Friedensvermittlung gerade nicht vorgesehen. Es bieten sich drei Möglichkeiten an: Erstens könnte die Ermordung des Sohnes das äußerste Unrecht seitens der einen Kriegspartei darstellen. Gott würde dann trotz dieses ungeheuren Frevels, der seine Gegner vollständig entlarvt, den Frieden anbieten. Man könnte sich auf 5,10 berufen: Angesichts der Ermordung Jesu hat Gott seinen Feinden Versöhnung angeboten, gerade jetzt, jetzt erst recht. Die Versöhnung angesichts des Todes wäre ein Akt der äußersten Feindesliebe Gottes. Eine zweite Möglichkeit: Der Tod Jesu könnte als Reparation verstanden worden sein. Dann wäre, anders als bei der ersten Möglichkeit der Lösung, Jesus nicht als Gesandter Gottes, sondern als Repräsentant der Menschen verstanden. Weil er der einzige gerechte Mensch war, hat er sein Leben stellvertretend geben können, und Gott hätte dieses akzeptiert und daraufhin allen vergeben. Diese Lösung steht der traditionellen Stellvertretungstheologie sehr nahe. Freilich ist jedenfalls in den Texten mit dem Wortfeld Versöhnung von Stellvertretung nicht die Rede, jedenfalls nicht direkt. Überdies ist eine mechanisch vorgestellte Sühnetheologie ohnehin fehl am Platz. Denn nach 5,8 ist der Tod Jesu zu unseren Gunsten als Ausdruck der Liebe verstanden. Das heißt: Jesus vollzieht Gottes Liebe zu den Menschen in seinem ganzen Leben, in Treue zu seiner Sendung nach, bis zum Tod. Das Sterben Jesu ist hier die Vollendung des Weges der Liebe zu uns. Dann ist das Entscheidende nicht das am Kreuz vergossene Sühneblut (so aber in Röm 3,25f), sondern dass Jesus Christus als gesandter Sohn des Vaters dessen Liebe konsequent, bis zum Tod, zeigt und erfahren lässt. Bei dieser Variante stünde nicht die Sühnung, sondern die Zuwendung Gottes durch den Sohn im Vordergrund. Eine dritte Möglichkeit wäre: Der Tod des Sohnes Gottes würde als Vollendung der gemeinen Taten der Menschen angesehen. Gott würde sagen: Jetzt ist genug Unheil geschehen und Feindschaft. Mit diesem Höhepunkt ist das Äußerste erreicht. Nun muss Schluss sein. Es ist alles geschehen, was hat geschehen können. Eine Fortsetzung des Krieges wäre Wahnsinn – das wäre das »Hiroshi-
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Kapitel 5
ma«-Argument. – Es ist möglich, dass alle drei Lösungswege je etwas Richtiges sagen.
In jedem Falle bieten die Elemente des Wortfeldes politischer Herkunft die Möglichkeit zu einer einzigartigen theologischen Vertiefung. Das ganze in die letzte Zukunft weisende Gewicht des Todes Jesu wird so erkennbar. Denn so wird Paulus in V. 9-11 argumentieren: Das Wichtigste, das in der ganzen Weltgeschichte überhaupt geschehen konnte, ist mit dem Tod Jesu eingetreten: Friede und Versöhnung zwischen Himmel und Erde wie zwischen Juden und Heiden. Und weil das so ist, kann von einer berechtigten Angst vor der Zukunft keine Rede mehr sein. Wenn das Größte schon geschehen ist, wird jede Zukunftsangst aufgelöst in eine Gewissheit des Heils aufgrund des bereits geschehenen Handelns Gottes. Aus der Sicht des Paulus ist das auch der entscheidende Grund dafür, Christ zu sein und nicht einfach Jude zu bleiben. Angesichts der Versöhnung zwischen Himmel und Erde ist die Frage nach dem Bestehen am Weltende und im Gericht (V. 9: Zorn) zweitrangig geworden. Ein weiterer Aspekt ist in V. 5-8 erkennbar. Demnach hat Gott auf zweifache Weise seine Liebe gezeigt. Zum einen dadurch, dass er seinen Heiligen Geist in die Herzen gegeben hat (V. 5). Dieses pfingstliche Tun Gottes ist Liebe; denn Heiliger Geist, das ist Gott selbst. So wird jeder einzelne Christ zu seinem Tempel. Und andererseits hat Gott seine Liebe gezeigt, indem Jesus Christus von Gott zum Heil der Menschen gesandt worden und zu ihren Gunsten im Rahmen der Zuwendung Gottes gestorben ist (V. 8). Mit dieser doppelten Zuwendung seiner Liebe, durch die Sendung des Heiligen Geistes sowie durch die Sendung des Sohnes bis zum bitteren Ende, hat der Vater etwas getan, das dem Konzept des doppelten Anwalts in Röm 8 entspricht. Auch hier kennt Paulus nämlich eine Zweiheit von Sohneschristologie und Heiligem Geist. Der Heilige Geist ist als Anwalt bei den Herzen und trägt bzw. dolmetscht die menschlichen Gebete zu Gott hin. Der Sohn ist erhöht zur Rechten Gottes und tritt für die Menschen ein beim Vater. Mit dieser jeweils doppelten Funktion von Sohn und Geist hat Paulus die jüdisch-alttestamentliche Regel von den zwei Zeugen erfüllt (Dtn 19,15). Bei Paulus gibt es noch ein Gleichgewicht
519 zwischen Sohn und Geist, was deren theologische Bedeutung betrifft.
Röm 5,12-15: Adam und Christus – Sündenfall und Gnadentat Die Universalität von Sünde und Heil lässt sich darstellen an den beiden gegensätzlichen Personen Adam und Christus. Vergleichbar sind sie in der jeweiligen Wirkung für die ganze Menschheit, doch ansonsten strikt entgegengesetzt (Anti-Typologie). Paulus stellt Adam und Christus auch in 1 Kor 15,21 einander gegenüber: Adam war schwach und sterblich, durch ihn kam der Tod. Jesus ist voll Heiligen Geistes, und mit ihm beginnt die Auferstehung der (gläubigen) Toten. Adam war als sterblicher Mensch mit schwacher Seelenkraft der Prototyp der ersten Schöpfung, Jesus aber ist mit dem äußerst vitalen Gottesgeist der Prototyp der neuen Schöpfung. Sie beginnt mit ihm. In Röm 5 bezieht Paulus dieses gegensätzliche Paar auf die Frage von Sünde, Vergebung und Gerechtheit. – Diesen Gegensatz weitet Paulus jetzt aus für das Thema Verurteilung und Gnade. Auf den im Frühjudentum verbreiteten Vorwurf »O Adam, was hast du getan?« setzt Paulus eine christologische Antwort. Er ergänzt hier seine Missionstheologie um ein wichtiges Stück. Die universale Bedeutung Jesu besteht nicht nur in der Mittlerschaft bei der Schöpfung (1 Kor 8,6) und nicht nur in der Wiederkunft, sie ist auch in der irdischen Existenz Jesu begründet, und zwar ganz wesentlich in seinem Gehorsam »bis zum Tod am Kreuz« (Phil 2,6), wenn auch nicht im Tod allein; Kreuz und Blut sind hier (5,12-15) nicht genannt. Paulus gestaltet hier (5,12-21) universale Theologie als Lobpreis der Gnade. Die Sprache ist an Bildern königlicher Herrschaft orientiert (regieren, Gnade). Praktisch in jedem Satz wird der eine (Adam, Christus) in seiner Wirkung auf die »vielen« (alle Menschen bzw. alle Glaubenden) bedacht. Adams Sünde wirkt wie die Reaktion eines Teichs, in den man einen Stein geworfen hat: Die Wellen setzen sich fort auf der ganzen Wasseroberfläche. Doch stärker sind die Wellen, die von Christus ausgehen. Denn der positive Held färbt stärker ein als der negative, denn hier hat
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520 Gott eingegriffen. Auch das ist jeweils stärker, in das mehr Menschen einbezogen sind. So gilt: Die Gleichheit des Elends bei allen Adamskindern wird überboten durch die Berufung zur Herrlichkeit aller. So weisen Sündenfall und Gnadentat bei allen Gemeinsamkeiten doch größere Unterschiede auf. Denn Sünde und Gnade gelten zwar für alle, aber die Gnadenseite ist stärker und nachhaltiger. Der Gedankengang: a) Die Gnade ist stärker als der Tod, weil sie Gottes Gnade ist (V. 15). – b) Unterschied der Folgen von Sünde bzw. Gnade: Verurteilung oder Freispruch. Bei Adam ging es um das Vergehen des einen; die Gnade aber ist umfassender, weil sie trotz vieler Vergehen gerechtspricht (V. 16). – c) Unterschied im Ziel: Tod oder Leben. Adams Übertretung war todbringend, Christi Gnadentat erwirkte die neue Fülle, das Leben (V. 17). – d) Unterschied in der Wirkung: Verurteilung oder Annahme/Gerechtsprechung (V. 18). – e) Ungehorsam des einen, Adam, oder Gehorsam des anderen, Christus: Der Ungehorsam machte die vielen zu Sündern, der Gehorsam des anderen zu vielen zu Gerechten (V. 19). Zur Wirkungsgeschichte: Entgegen dem Wortsinn wurde Röm 5,12 zur Wurzel der Erbsündentheorie. In Röm 5,12 geht es nicht um Erbsünde, auch nicht um den Erbtod; vielmehr hat Adam die ganze Dimension der Sünde (Ungerechtigkeit) in die Welt eingeführt, und alle seine Kinder haben ihn nachgeahmt und sich so – jeder selbst – den Tod verdient. Die Erbsündentheorie wurde möglich, weil Augustinus den Wortlaut der altlateinischen Bibelübersetzung (Vetus latina) per unum hominem … in quo omnes peccaverunt gedeutet hat als »durch einen Menschen, … in dessen Lenden alle sich die Sünde zugezogen haben« und die Fortpflanzung, näherhin die böse sexuelle Begierde, als Aufflackern der Sünde Adams verstand. – Trotz dieser verfehlten Herleitung ist das Erbsündendogma insofern »wahr«, als alle in eine Welt hineingeboren werden, die nicht gut, sondern ungerecht ist. Es geht weder um Unglück noch um Schicksal, sondern um Schuld. Der Mensch hat versagt, undispensierbar jeder Einzelne, in einer Mischung von Dummheit und Bosheit. Insofern,
Der Römerbrief
durch den Rekurs auf den Einzelnen, überwindet Paulus die diffuse Angst vor den Folgen des Zustands der Welt durch den Hinweis auf konkrete Verantwortung. Zum anderen antwortet Paulus mit einem positiven Universalismus: Jesus Christus ist der »neue Adam«, und seine Bindekraft ist weitaus stärker als die des ersten Menschen. Weil Jesus die Gnade Gottes darstellt und vermittelt, wird das düstere Szenario von Röm 5 ganz und gar verwandelt. Auch die Einsamkeit wird aufgehoben. D. h. die Fakten wirken nachhaltiger, sie färben intensiver, die Gemeinschaft ist enger. Denn die persönliche Verbindung des einzelnen glaubenden Menschen mit Jesus Christus ist intensiver als die mit Adam. Und dem Anfang der Menschheit in Adam steht der neue Anfang in Jesus Christus gegenüber. Die biblischen Stammbäume von Adam auf Jesus Christus (Mt 1; Lk 3) erwecken öfter den Eindruck, Jesus stehe »am Ende«. Doch gerade Lukas, bei dem Jesus am Anfang steht, zeigt: Er ist nicht das Ende, sondern das Gegenüber zu Adam, und zwar der positive Gegentypus. Auch Adam kommt aus Gottes Hand, aber Jesus ist Gottes Sohn durch den Heiligen Geist. Jesus ist der Prototyp der neuen Menschheit, d. h. wie er sollen alle Menschen Kinder Gottes werden. Die Alte Kirche hat in ihrer typologischen Exegese die Gegenüberstellung Adam/Christus aufgegriffen und erweitert durch die Gegenbilder Eva und Maria. So hat man den Baum des Paradieses, von dem die Sünde kam, verglichen mit dem Baum des Kreuzes. In das Paradies, aus dem Adam vertrieben wurde, ist Jesus nach seinem Tod als erster Mensch wieder hineingegangen (Lk 23,43). Die Verse Röm 5,17-21 zeigen mit ihrem gehäuftem Vorkommen von »gerecht«, dass der theologische Schwerpunkt hier wirklich auf der Frage liegt, wie Menschen in Gemeinschaft mit Gott und miteinander leben können. Die Menschheit mit Adam als Prototyp lebte nicht unter dem Vorzeichen der Gerechtheit, sondern des Ungehorsams, der Übertretung, der Verurteilung und des Todes. Wo dagegen Jesus Christus als der neue Adam maßgeblich ist, gilt sein Gehorsam zur Vergebung und Gerechtmachung, zum Leben für alle. Interessant ist auch, wer jeweils herrscht: der Tod (V. 17) oder
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Kapitel 6
die vielen Menschen, die Gerechtsein und Leben erlangt haben. – Gerechtsein oder Gerechtmachung wird den Menschen geschenkt, die nun durch Jesus Christus in einer »neuen Stadt« miteinander leben können. Denn Gerechtheit ist ein sozialer und urbaner (nicht nur forensischer) Begriff. »Neue Stadt« nenne ich hier die neue, friedlich geeinte, zum Zusammenleben fähige Menschheit. Mit der Antitypologie Adam/Christus treffen wir auf einen der wichtigsten Ansätze, die dem frühen Christentum im Zeichen der Heidenmission ganz neu zugewachsen sind (nur im samaritanischen Schrifttum gibt es eine Stelle, an der schon Noah »zweiter Adam« genannt wird: Memar Marqah). Erster oder zweiter Adam betrifft jeweils die universale Menschheit, und diese ist das Thema der Mission geworden. Auch das Exsultet der Osternacht nimmt das Verhältnis zwischen Adams Schuld und der Befreiung durch Jesus auf, im Unterschied zu Röm 5 durch seinen Tod (o felix culpa …, o certe necessarium Adae peccatum …), nicht durch seinen Gehorsam allgemein (5,16), der nach Phil 2,6 »bis zum Tod« am Kreuz reicht. Zu Röm 5,20a: Das Gesetz ist »dazwischen hineingekommen« entspricht Röm 4,13-16. Dort kommt aus dem Gesetz nur Zorn, nicht die Erfüllung der Verheißung. Denn diese können nur Gerechte erlangen. Dass das Gesetz die Sünde »mehrt«, meint: Am Gesetz kann man die Sünde messen, sie tritt voll in Erscheinung, sie bekommt einen Namen und damit größere Macht.
Nach den Evangelien liegt das Unvergleichliche, alle Dimensionen Sprengende in der Würde Jesu als der, in dem Gott erscheint (Menschensohn, Sohn Gottes, Herr). So überragt Jesus alle gewissermaßen in der Vertikale. In Röm 5 wird dagegen die globale Menschheit in den Blick genommen; Jesus ist in der Horizontalen der Geschichte nur mit Adam vergleichbar: im Grunde antitypologisch. Überall, wo bei Adam die Rede von Sünde, Angst (vor dem Gericht) und Beschränkung (Tod) die Rede ist, steht bei Jesus Christus die überwältigende Fülle. Hier steht nicht seine Würde, sondern seine Wirkung im Vordergrund. Wenn Paulus immer wieder die größere Fülle betont, dann ist diese für ihn das eigentlich Messianische. Auch in schlichteren jüdischen Texten über die Endzeit (Apokalypsen) heißt es, Gott werde Korn und Wein und Öl sowie Kinder in Fülle schenken. Wir nennen das »messianische Fülle«, wenn Gott in seiner Freigiebigkeit keine Grenzen mehr kennen wird. Auch wenn Christen nach Paulus noch nicht oder vielleicht nie eine Fülle dieser Art genießen werden, so bekommen sie jedoch Fülle in anderer Hinsicht zu spüren: als Fülle von Leiden wegen des Glaubens, positiv als Fülle von Vergebung, von Charismen, von liebevoller Zuwendung Gottes, als Fülle von Gnade in den Sakramenten. Die Blütenpracht und -fülle des Frühlings erinnern daran, dass es wie bei Pflanzen auch bei der Zeugung eines Menschen eine schier grenzenlose Fülle von Samen gibt, damit Leben weitergeht.
Röm 6,3-11: Thema Taufe Zu Röm 5,20b: »Wo die Sünde viel geworden ist, wurde die Gnade noch mehr« ist nach dem apokalyptischen Schema gedacht, nach dem das Böse erst seine Talsohle erreichen muss, um dann durch die große Wende umso eindrücklicher und gründlicher abgelöst zu werden (vgl. ebenso zu Röm 3,8); Paulus weiß das von der eigenen Bekehrung her: Gal 1,13f (»im Übermaß«). – Das naheliegende Missverständnis, man solle kräftig drauflos sündigen, damit die Gnade umso reicher komme, wehrt Paulus schon hier durch die Vergangenheitsform der Verben ab. Ab 6,1 wird er es zum Thema machen und sagen: Nein, die Zeit der Sünde liegt hinter uns, weil wir getauft sind.
Paulus schreibt in Röm 6 nicht einen Traktat über die Taufe, denn der Römerbrief ist kein theoretisches Lehrbuch der Dogmatik. Vielmehr ist es Paulus um die »Sünde« zu tun, und er will zeigen, dass die Christen ein für alle Male ganz strikt von der Sünde getrennt sind, und zwar so strikt, wie Leben und Tod unterschieden sind. Berger/Nord übersetzen entsprechend: »Da wir bei der Taufe Jesus, dem Messias, übereignet wurden, haben wir auch teil an seinem Tod. [Das wird dadurch sinnfällig gemacht,] dass wir in das Taufwasser hineinsteigen wie in ein Grab. Und wie der Messias aus Toten auferweckt wurde, indem Gottes Herrlichkeit ihn berührte, be-
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522 kleidete und verwandelte, so sollen auch wir [wenn wir aus dem Taufwasser wieder heraussteigen], ein neues Leben führen. Wenn wir also sein Sterben und seinen Tod [im Taufritus] nachvollziehen, soll und wird es mit seiner Auferstehung genauso sein.« – Das Sterben, von dem Paulus spricht, könnte demnach durch das Untertauchen symbolisiert sein. Im Unterschied zu Röm 3,25 geht es hier eindeutig nicht um Jesu stellvertretendes Sterben, sondern um das Mitsterben mit Jesus. Also um einen Weg, bei dem der Täufling nicht allein von Jesu eigenem Tod »profitieren« kann, sondern bei dem er den Weg Jesu mitgehen muss. Denn mitgekreuzigt werden heißt in Röm 6 konkret: So wie Jesus die Schande des Kreuzes ertragen hat, die Ausstoßung und Verstoßung, die Behandlung als Untermensch, so sollte auch jeder, der sich taufen lässt, sich radikal abkehren von dem bisherigen Lebenszusammenhang, sich also ausstoßen lassen; er sollte die Werte umkehren und auf Macht, Besitz, Prestige und Gewalt verzichten. Denn das Wort »Kreuz« bedeutet vor allem Ertragen von Schande und Ehrlosigkeit. Dazu ist nach Paulus der Weg des Kreuzes »gut«: So und nur so gibt es Frieden. Frieden ist so selten, so kostbar und so sehr an außerordentliche, außergewöhnliche Bedingungen geknüpft, dass man ihn offenbar nur auf dem Weg Jesu erlangen kann. Die alte Frage, ob die Deutung der Taufe in Röm 6 etwas mit den Mysterienreligionen zu tun habe, ist noch einmal neu zu stellen. Wo liegen die Berührungspunkte? Die Mysterienkulte ritualisieren alltägliche Handlungen (Waschen, Essen, Trinken, Bekleiden), oft in nächtlichen Feiern (vgl. Osternacht). Sie binden deren Effekt an die Teilnahme innerhalb einer »feiernden« Gruppe, d. h. soziologisch besteht große Ähnlichkeit zum Verein; das gilt auch für das frühe Christentum; die schon Eingeweihten heißen (lat.) sacrati, in den paulinischen Briefen die »Heiligen«. Auch das Schauen der vollzogenen Mysterien vermittelt Anteilhabe. Grundsätzlich wichtig ist die Initiation (wie die Taufe). Die Riten werden von erklärenden oder proklamierenden Worten begleitet; diese heißen symbola, wie das Credo der Christen (symbolum). Kleidung kann eine Rolle spielen. Der Effekt ist ein Zugewinn an Leben; das kann dann revixisse heißen.
Der Römerbrief
Nirgends in den heidnischen Mysterien wird der Tod jedoch endgültig überwunden, der Myste erlebt bestenfalls ein besseres Los nach seiner Initiation. – Urbild des Kultes kann ein Halbgott sein. Es gab eine entsprechende Arkandisziplin, d. h. ein Verbot der Veröffentlichung, was übrigens auch theologische Schwäche gegenüber dem Christentum hatte. Differenzen: In den Mysterienreligionen geht es weder um Sünde, noch um Schuld, noch um Ethik; gewonnen wird auch nicht das ewige Leben, verstärkt werden vielmehr die gewöhnlichen Vitalkräfte wie in einem Gesundbrunnen (vgl. D. Zeller: Mysterien, in: TRE 23,504-526). Im Blick auf Röm 6 besonders wichtig: In keinem Falle teilt der Initiand mitvollziehend das Sterben der Gottheit, nirgends nimmt er mit dem eigenen Sterben am Tod der Gottheit teil. – In der griechisch sprechenden Kirche heißen die Sakramente nicht zufällig Mysterien. Nun sind Waschung (Ez 36,36) und Mahl auch schon alttestamentlich-jüdische »Zeichen«, besonders in der Eschatologie. Aber dass diese rituell in christlichen Gemeinden so dargestellt werden, dürfte sicherlich der zeitgenössischen Übung der Mysterienfeiern entsprechen oder nacheifern, in manchen Punkten (Taufkleid vgl. mit Isis-Weihen; Weihegrade im Mithraskult und bei der Priesterweihe) auch durch sie angeregt sein. D. h. zu beachten ist die grundsätzliche Popularität verwandter Riten zu einer bestimmten Zeit und die Übernahme von Einzelelementen im späteren Christentum.
Röm 6,15-21: Sklaven der Gerechtigkeit Paulus gebraucht hier das Bild des Sklavenmarktes. Die Christen sind losgekauft worden und gehören einem neuen Herrn. Frei waren sie insofern nur in der Sekunde des Übergangs vom alten zum neuen Herrn. Der Unterschied zwischen der alten und der neuen Sklaverei besteht im Ausgang: Leben statt Tod. In 6,19 gibt Paulus zu erkennen, dass der Gebrauch des Bildes (er redet auf menschliche Weise! V. 19a) für beide Status riskant ist. Denn es scheinen zwei ganz parallele Sklavenverhältnisse zu sein. In keinem sind – neuzeitlich gesprochen – die Menschen autonom.
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Kapitel 7
Zu Röm 6,17: »… Früher wart ihr Sklaven der Sünde, jetzt aber gehorcht ihr nicht mehr wie unter Zwang, sondern von Herzen der apostolischen Lehre, die euch überliefert worden ist.« So geht es auch jetzt um Gehorsam, und das Bild des Sklaven ist auch jetzt angebracht, wie V. 19 zeigt; aber es gibt doch einen Unterschied, wie das Wort »von Herzen« andeutet. Was bedeutet das praktisch? Heißt es, dass die Christen gern gehorchen, weil sie ein besseres Ziel haben, während sie sich früher einfach als Sklaven ihrer Begierden vorfanden? Hat das Ziel des ewigen Lebens sie aktiv ihr Leben in die Hand nehmen lassen? Der Gehorsam gegenüber der apostolischen Lehre in V. 17 hat viele Ausleger an eine frühkatholische Glosse denken lassen. Doch in 16,17 kommt es noch schlimmer: »Zum Schluss ermahne ich euch: Hütet euch vor denen, die Zwietracht säen und ärgerliche Diskussionen anzetteln und euch von der Lehre (griech.: didache), die ihr anfangs empfangen habt, abbringen wollen. Geht ihnen aus dem Weg. Solche Irrlehrer dienen nicht unserem Herrn Jesus Christus, sondern ihrem eigenen Bauch. Sie reden den Leuten nach
523 dem Mund, schmeicheln ihnen und betrügen so die Arglosen. Euer Gehorsam gilt als vorbildlich …« Die Stichworte »Lehre« und »Gehorsam« fallen auch hier. Und an der Stelle des »anfangs Empfangen-Habens« von Röm 16,17 steht in 6,17 »die Lehre, die euch überliefert worden ist«. Empfangen und überliefern sind zwei Seiten desselben Vorgangs. Das Ganze aber ist der liberalen Forschung unheimlich. Wechselt Paulus hier nahtlos in den Frühkatholizismus? Oder ist 6,17 tatsächlich nur eine Glosse, weil Paulus so nicht gedacht haben kann? Oder gibt es eine dritte Möglichkeit? Vielleicht hat Paulus ja ein ganz unbefangenes Verhältnis zu Lehre und zum Überliefern, geht das nicht z. B. aus 1 Kor 11,23 hervor (empfangen/übergeben)? Ich kann nicht rein formal einen Traditions- und Lehrbegriff schon dem sprachlichen Ausdruck nach entschieden ablehnen, wenn vom Inhalt noch gar nicht die Rede war – nur um jüdisches und katholisches Traditionsverständnis zu bekämpfen. Tradition ohne Glauben an Jesus Christus – das wäre Paulus in der Tat ein Dorn im Auge, aber warum Tradition an sich?
Röm 7-8: Freiheit der Christen In Kap. 7 spricht Paulus intensiv vom Gesetz. Das Ziel ist der Ausruf in Röm 7,24. Nur wenn Gott die leibhaftige Grundausrichtung des Menschen verändert, kann der Mensch wirklich befreit werden. Wie das dann näherhin geschieht, steht in Röm 8,1-11. So ergibt sich, dass das Thema »Sünde« ab 5,12 das umgreifende Sachthema ist. In Kap. 5 wird es christologisch erörtert (Anti-Typologie Adam/Christus), in Kap. 6 tauftheologisch, in Kap. 7 unter dem Aspekt der Leiblichkeit des Menschen (anthropologisch).
Röm 7,1-6: Das Ende des Gesetzes Die Glaubenden und Getauften sind frei vom Gesetz. Erst im Folgenden wird der Apostel dann klarstellen, dass dies weder die Abschaffung des Gesetzes bedeutet, noch die Befreiung des Menschen davon, den im Gesetz erkennbaren Willen Gottes zu tun. Das Gesetz ist vor
allem nicht mit Sünde, Tod und Teufel identisch. Denn es ist heilig, gerecht und gut. Die zur Erlösung notwendige Veränderung muss daher nicht am Gesetz geschehen, sondern am Status des Menschen. Dieser Status, der nur mit Gottes Hilfe zu ändern ist, war in der Vergangenheit dadurch bestimmt, dass das Gesetz den Menschen nur verurteilen konnte. Der Abstand zwischen der Heiligkeit des Gesetzes und der Sündigkeit des Menschen war zu groß. Aus dieser aussichtslosen Lage wird der Mensch durch den Glauben und die Taufe befreit. Seine Lage bestand darin, dass der Mensch mangels Vollkommenheit nur immer verurteilt werden konnte, sodass keine positive Beziehung zwischen Mensch und Gott entstand. Zu offenkundig war der ständige Nachweis von Fehlern auf Seiten des Menschen. Wenn der Mensch nun befreit wird, dann von der dauerhaften Rolle, vom Gesetz immer nur verurteilt zu werden, d. h. stets »unter« dem Gesetz zu stehen und dieses als eine stets nur
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524 »nörgelnde Gouvernante« über sich zu haben. Das Gesetz flüsterte immerzu: Was du tust, reicht nicht. Du bist unvollkommen, es fehlt an allen Ecken und Enden. Dazu gibt es eine grundlegende Analogie in der Verkündigung Jesu: Die (mit dem Täufer gemeinsame und keineswegs aufgegebene) Botschaft vom kommenden Urteil über alle Menschen im Gericht wird durch einen (strukturanalogen) Vorlauf unterlaufen: Jesus ist nicht gekommen zu richten, sondern zu retten, sich zu erbarmen. Man kann im Blick auf Röm 7 sagen: Das erwartbare und zwangsläufige Urteil durch das Gesetz, die stetige Verurteilung, wird unterlaufen durch die gnadenhafte, geistbewirkte Veränderung des Menschen jetzt, bevor das Urteil des Gesetzes zum Zuge kommen könnte. Bei Jesus wie bei Paulus geht daher die Verkündigung (Erbarmen, Gnade, Heiliger Geist) dem Urteil des Gerichtes voraus. Der Zusammenhang von Tun (Sünde) und Ergehen (Gericht) wird wirklich unterbrochen; es besteht wenigstens ein Angebot in dieser Hinsicht. Die Freiheit nach Röm 7,1-6 besteht daher in der Auflösung der verurteilenden Beziehung des Gesetzes gegenüber dem Menschen. Der Mensch kann erlöst werden vom »Sein unter dem Gesetz«, im Besitz des Heiligen Geistes kann er dem Gesetz »auf Augenhöhe« begegnen. Bei der Durchführung dieses Ansatzes gebraucht Paulus drei außergewöhnliche Gedanken: 1. das Bild der Befreiung der Ehefrau durch den Tod des Mannes; 2. die Rede vom Leib Christi und 3. die Opposition von Buchstabe und Geist. Zu 1.: Das Tertium comparationis ist (lediglich!): Der Tod trennt von der gesetzlichen Bindung. Bei der Ehe wird die Frau durch den Tod des Mannes frei, einen neuen Mann zu haben. Ohne den Tod würde das als Ehebruch gelten. Mit dem früheren Mann stirbt auch sein Besitzverhältnis gegenüber seiner Frau und entsprechend der mögliche Rechtsgrund des Ehebruchs. Der Vergleich hinkt freilich; denn beim Vergleich mit der Ehe stirbt der Mann, und die Frau wird frei. Beim Gesetz sterben dagegen diejenigen (sakramental durch die Taufe), die dann frei werden gegenüber dem Gesetz (7,4-6). Die so dem Gesetz Gestorbenen können die neue Bindung mit dem Auferweckten eingehen. Der Tod
Der Römerbrief
hat sie von der gesetzlichen Bindung (inklusive möglicher Verurteilung) befreit. Zu 2.: Kommentatoren beeilen sich zu versichern, die Rede vom Leib Christi an dieser Stelle hätte nichts mit der Kirche als Leib Christi (z. B. 1 Kor) zu tun. Vielmehr ginge es um das Mitsterben nach Röm 6,1-12. – Möglichkeit a): Als die Christen in der Taufe mit Christus mitgekreuzigt wurden, sind sie der Sünde gestorben (Röm 6,6.11), d. h. sie sind tot für die Sünde und damit deren Herrschaftsbereich entzogen. Doch bei der Anwendung auf 7,1-6 wird es schwierig. Weder ist in 6,1 ff davon die Rede, dass die Christen nun »dem Gesetz« gestorben sind (das ist bekanntlich etwas anders, als »der Sünde« gestorben zu sein), noch ist gar vom Leib Christi die Rede. In 6,6 kommt lediglich der Tod des Sündenleibes in den Blick, aber nicht die neue Zugehörigkeit zum Leib Christi. Daher entfällt m. E. diese Möglichkeit zugunsten von Möglichkeit b): Der »Leib Christi« muss eine Art Alternative zum Gesetz sein. Die Christen sind nämlich »dem Gesetz« gestorben wegen des Leibes Christi (zu dem sie jetzt gehören). Das ist ein erheblich anderer Tatbestand als in Kap. 6. Denn wenn zwischen Gesetz und Leib Christi eine Alternative besteht, muss der Leib Christi das Gesetz, das ja gut und heilig ist, im positiven Sinne »aufheben«, also zum Inhalt haben und zugleich überbieten. Das wäre ähnlich wie das Verhältnis zwischen Beschneidung und Geistempfang/Taufe nach Gal: Der Geistempfang überbietet das, was die Beschneidung bieten kann; sie ist in ihrer Intention durch die Gotteskindschaft mehr als erfüllt. So ist es mit dem Gesetz nach Röm 7: Die Struktur des »Leibes Christi« erfüllt und überbietet das Gesetz. Damit wird Röm 7,4 zu einem wichtigen zusätzlichen Text über das paulinische Verständnis von Christi Leib. Inwiefern aber überbietet der Leib Christi das Gesetz? Offenbar dadurch, dass in Christi Leib der Einzelne nicht mehr für sich selbst lebt, sondern sich von der Liebe Christi treiben lässt (2 Kor 5). Der Leib Christi lebt von der über sich hinausdrängenden Liebe des einen, und alle, die dazugehören, werden von dieser Bewegung mitgerissen; insofern ist die Liebe hier Erfüllung des Gesetzes. Wie ist Paulus auf dieses Konzept gekommen? Der »Sitz im Leben« dieser Anschauung
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Kapitel 7
ist doch wohl die Eucharistiefeier, und 1 Kor 10,16f halte ich für den Schlüssel der paulinischen Auffassung von Leib Christi. Hier liegt die Wurzel der »Christus-Mystik«, sie ist sakramental. Die Verankerung in der Taufe ist von Anfang an gegeben (1 Kor 12), aber vielleicht doch eine Schlussfolgerung aus der Eucharistie, denn hier ist das Wort Leib ja mit den Einsetzungsworten vorgegeben. Die einzigartig enge Verbindung der Christen mit Christus in seinem Leib hat demnach ihren Ursprung in der einzigartigen Situation bei der Stiftung der Eucharistie. Im Übrigen könnte Paulus mit dem etwas verwunderlichen Bild von der Ehe Bezug nehmen auf das Bild vom Messias und seiner Braut, dem Gottesvolk. Das liegt nahe, weil das Bild von dem einen Leib in Eph 5,30f für dasselbe verwendet wird. Wenn also eine Beziehung besteht zwischen Röm 7,4 und Eph 5,30f, wäre das auch ein Beitrag zur Frage der paulinischen Autorschaft des Eph. Aber wie vollzieht sich der Übergang vom Status »unter dem Gesetz« zum Status »im Leib Christi«? Wie stirbt der Mensch dem Gesetz? – Antwort: mit dem Schritt, der die Zugehörigkeit zum Leib Christi begründet. Das sind sicher die Taufe und deren Umsetzung in der Eucharistie. Doch anders als in 6,1 ff wird hier vorausgesetzt, dass die Taufe Übertritt in ein Besseres ist; weder Kreuz noch Umkehr oder Abschied von der Welt stehen hier im Mittelpunkt, sondern die neue Zugehörigkeit. Das ist ähnlich beim Loskaufgedanken: Nicht der steht im Blickpunkt, dem der Christ abgekauft wird, sondern der Übergang von Sklaverei zu Kindschaft wird durch die Adoption besiegelt. Das ist das Tertium comparationis.
Schließlich wird die These von der implizit gesetzesartigen Struktur des Leibes Christi durch die Opposition von Buchstabe und Geist in 7,6 erläutert. Denn das Gesetz Gottes wird durch den Heiligen Geist als Gesetz des Geistes zugänglich und den Herzen der Menschen implantiert. Daher genügt es, wenn man, wie Paulus mahnt, »nach dem Heiligen Geist lebt«. Der Heilige Geist wird (wie schon nach Ez 36,24-26) die Menschen dazu beflügeln, das Gesetz zu erfüllen. Durch seine Präsenz im Herzen ermöglicht es der Heilige Geist den Menschen, wenn sie sich von ihm antreiben lassen, Gottes Gesetz zu erfüllen. »Geist« bezeichnet daher hier einen anderen Aggregat-
525 zustand des Gesetzes, als wenn es als »Buchstabe« erscheint.
Röm 7,7-25: Konfrontation zwischen Mensch und Gesetz Paulus richtet nun seinen Blick auf den Menschen, der sich dem Gesetz gegenüber vorfindet. Seine Lage ist – ohne Geist Gottes – zum Verzweifeln (7,24). Es geht hier weder um den vorchristlichen Status des Sünders, noch speziell um die christlichen Nöte und Anfechtungen. Beide biografischen Aspekte würden nur den Ernst der grundsätzlichen Konfrontation zwischen Mensch und Gesetz verkennen. Denn ohne Heiligen Geist ist der Mensch in dieser Relation der Sünde preisgegeben. Weil die Pointe des Stücks ab 7,7 in 8,111 liegt, ist gerade an dieser sensiblen Stelle die Kapiteleinteilung widersinnig und hat nachweislich zu viel Streit geführt. Paulus entfaltet hier so etwas wie eine anthropologische Landkarte über das Verhältnis zwischen Gesetz, Begierde, Sünde, Glieder, Wille, Handeln und Tod(esstrafe). Dabei wird, und das ist vor allem neu, die Sünde als agitierende Feindin des Menschen betrachtet, die seinen Tod will. Die Sünde benutzt dabei vor allem das Gesetz, um den Menschen als des Todes schuldig zu überführen. Denn das Gesetz spricht die Todesstrafe aus, die je und je auf die Tat steht, zu der die Sünde den Menschen verführt. Das tut sie durch Betrug, d. h. indem sie dem Menschen etwas vorgaukelt. Begierde als Tat Das letzte Dekaloggebot (9. und/oder 10.) verbietet das »Begehren«. Durch seine herausgehobene Stellung ist dieses Gebot sehr zentral, denn das Wichtigste steht am Schluss (peroratio). Die Begierde ist daher die böse Tat schlechthin. Der Mensch lässt sich auf sie ein, da die »Sünde« ihm vorgaukelt, er täte etwas Gutes für sich, wenn er seiner egoistischen Maßlosigkeit nachgibt. Die Begierde zielt dabei auf alles, was mir nicht gehört (eigentumsrechtliches Denken). In Röm 6,17f wird das Verhalten gegenüber der Sünde an dieser Stelle »Gehorsam« genannt. Begierde ist damit Ungehorsam (gegenüber Gott bzw. dem Gebot) und Eigentumsverletzung. An
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526 der Stelle der einen Liebe zu dem einen Gott steht hier »jegliche« Begierde; schon in der LXX heißen die Götzen »Objekte des Begehrens«. Reiz des Verbotenen? Bereits auf dieser Stufe des Geschehens hat das Gesetz eine wichtige Rolle: Nach 7,11 nahm die Sünde einen Anknüpfungspunkt am Gesetz. Denn weil das Gesetz Gottes Anspruch mitteilt, wird dieser hier greifbar und bestreitbar. Die Sünde konkurriert Gott, denn im Gesetz trifft sie auf die direkte und einzige Konkretion der Herrschaft Gottes. Daher geht es nicht um den Reiz des Verbotenen, dem der Sünder erliegt. So aber formuliert es Ovid (Nitimur in vetitum semper cupimusque negata). Dann geht der Reiz von der Tatsache aus, dass etwas dem Menschen vorenthalten zu sein scheint. Das Verbotene wird dadurch interessant, dass zum physischen Genießen der Reiz von Freiheit und Wagemut (»Was passiert jetzt?«) hinzutritt. – Doch diese alte Auslegung von Röm 7,11 ist zumindest fraglich; denn der Sünder will sich nicht die Rarität des exotischen Genusses verschaffen, sondern sich an die Stelle Gottes setzen. Er möchte selbst bestimmen. Strukturell ist daher die Sünde als Begierde die Kehrseite des Glaubens. An die Stelle der Reaktion auf Abhängigkeit tritt die Arroganz des Wunsches, Herrscher zu sein, selbst zu bestimmen. Das Gebot ist an dieser Stelle nicht das Verbot von diesem oder jenem, sondern die Begierde richtet sich gegen das Gebot überhaupt als Ausdruck der Herrschaft Gottes. Es geht daher um die Machtfrage, nicht um die Genussfrage. Die Begierde will den Kitzel der Allmacht, sie will nur sich selbst. Allerdings ist diese Deutung stark abhängig von der Theologie K. Barths. Schon bei der Deutung von Röm 1 sieht er die Sünde als Machtfrage und daher als stetigen Götzendienst. Begierde als Maßlosigkeit Um diese stark neuzeitliche Auslegung (der Renaissance-Mensch setzt sich an Gottes Stelle) zu vermeiden, wird man daher Röm 7 wohl nur dann gerecht, wenn man bedenkt: In der Begierde werden an sich gesunde Vitalinstinkte (Essen, Trinken, Vermehrung) maßlos. Statt dem Leben zu dienen, wie es auch das Gesetz will, zerstört der Begehrende sich selbst und andere.
Der Römerbrief
Ist Begehren an sich Sünde? Wir haben folgende Unterscheidungen zu treffen: 1. Der wahrgenommene Reiz. Die Wahrnehmung ist etwas in mir. Alles liegt daran, dass dieses natürliche Gereiztsein nicht zu maßloser, d. h. die Rechte der anderen missachtender, Begierde wird. Reiz gehört zur Vitalität (z. B. Hunger). Wenn der Reiz über mich herrscht, werde ich maßlos egoistisch und reagiere z. B. auf den Hungerreiz durch Völlerei. Begierden sind maßlos gewordene Vitalreize. »Sünde« ist dabei eine Verführungsmacht, die aus dem Interesse Begierde macht. 2. Wenn ich den Reiz genieße, in ihn einstimme, wird daraus ein willentliches Begehren. Tendiert es auf Habenwollen, so ist das nach Röm 7,7 und nach den Reformatoren »Sünde« 3. Wird daraus ein Plan, das Begehrte an sich zu bringen, so ist das Sünde im Sinne des 10. Dekaloggebotes (und nach der katholischen Theologie). Denn das Dekaloggebot betrifft alle Erwägungen und Vorüberlegungen, etwas an sich zu bringen, das mir nicht gehört (vgl. K. Berger, Die Gesetzesauslegung Jesu, 1974, 245-260). Die Rolle des Gesetzes bei der Entstehung der Begierde Das Gesetz ist der Rubikon, wo die Erhaltung des Lebens zur egoistischen Selbst- und Fremdzerstörung wird. Es macht die Sünde aufweisbar. Der Maßstab ist dabei, dass Rechte Gottes oder anderer Menschen verletzt werden. Das geschieht eher nicht als Selbstvergötzung (K. Barth), sondern als incurvatio ad seipsum (Selbstverschlossenheit), d. h. als Blindheit dafür, dass es andere mit und neben mir gibt. Vielleicht ist nicht Gottgleichheit das irrtümlich Erstrebte, sondern der Fehler der Menschen liegt in ihrer Unfähigkeit zur Gemeinschaft. Die blinde Unfähigkeit, Grenzen zu erkennen, ist das eigentlich Zerstörerische. Betrug, Verführung, Verurteilung Der genaue Hergang ist daher folgender: 1. Ein lebensförderliches Gut gerät in den Blick oder in die Gedanken des Menschen und weckt sein Interesse. Oft begreift der Mensch, dass er dieses Gut nur erreichen kann, indem er die ihm zuste-
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Kapitel 7
henden Grenzen überschreitet. Auf diese Grenzen weist das Gesetz Gottes. – 2. Die Sünde entfacht das Interesse zur Begierde, indem es die Begierde so stark macht, dass sie egozentrisch wird und den Entschluss fasst, die Grenze mutwillig zu überschreiten. Die Sünde hat eine blendende Funktion; sie redet dem Menschen ein, er brauche das erstrebte Gut dringend zum Leben, es sei überproportional förderlich für ihn, ja lebenserhaltend, und er habe diese Belohnung schon lange verdient. Es gibt daher einen Kampf zwischen dem zur Begierde aufgeblähten Interesse und dem Wissen der Grenzüberschreitung. – 3. Das egozentrisch gewordene Begehren vollbringt die Tat. – 4. Aufgrund derselben muss das Gesetz den Menschen zum Tod verurteilen. – So hat die Sünde durch ihre aufblähende und rücksichtslos machende Tätigkeit den Menschen zum Tod gebracht. Der Mensch ist schuldig, denn er hat dieser dunklen Kraft »den kleinen Finger gereicht«. – Im Folgenden wird dann geschildert, wie daraus eine Sucht geworden ist. Der Suchtcharakter der Sünde Von der Sünde redet Paulus hier nur im Singular. Dadurch, insbesondere aber deshalb, weil sie aktiv ist (V. 11: sie betrügt; V. 13: sie wird Sünder), wird sie zu einer massiv wirkenden Macht. Nach V. 17.20 bewirkt sie das Böse. Denn sie wohnt im Menschen (V. 17). Mit der Sucht vergleichbar ist Sünde, weil der Anfang freiwillige Zustimmung ist, alles Folgende dagegen eine unentrinnbare Tyrannei, bei der die Sünde wie geistiger Krebs im Menschen sitzt und alles bestimmt, was er de facto tut. Dadurch ist der Mensch fremdbestimmt. Apologie des Gesetzes In bestimmter Hinsicht ist Röm 7 auch eine »Apologie des Gesetzes«. Denn die Christen sind zwar vom Status »unter dem Gesetz« befreit, aber schon 7,6 ist eine Überleitung zu positiver Einschätzung des Gesetzes. Der neue, heilige Geist lässt Christen tun, was das Gesetz will. Und in 7,7-25 entfallen alle positiven Aussagen auf das Gesetz (V. 10: zum Leben gegeben; V. 12: heilig, gerecht, gut; V. 14: »geistgewirkt«, d. h. göttlich; V. 16: gut; V. 21: nach dem Gesetz das Gute tun wollen; V. 22: dem Gesetz freudig zustimmen; V. 25 der Gesinnung nach dem Gesetz Gottes die-
527 nen). Alle negativen Aussagen entfallen dagegen auf die Sünde und den »gespaltenen« Zustand des Menschen, der dem Innersten nach Gutes tun will, aber nur Schlechtes zustande bringt. Dieser gespaltene Zustand soll sehnlichst überwunden werden (7,24). Zwei verschiedene Gesetzesbegriffe? Für die Bewertung des Gesetzes in Röm 7f ist die Frage zu beantworten, ob in Röm 7,21 – 8,2 unter »Gesetz« immer das eine, von Mose gegebene zu verstehen ist, oder ob das griechische nomos auch die »Ordnung« bedeutet. Letzteres scheint nahezuliegen, denn in diesem Abschnitt finden sich zu »Gesetz« sehr gegensätzliche Aussagen. Dem »Gesetz Gottes« (V. 22) steht nach V. 23 ein »anderes Gesetz« gegenüber, das »in den Gliedern« ist. Daher steht dem Gesetz der Gesinnung (V. 23) das Gesetz Gottes (V. 25) zur Seite, das Gesetz in den Gliedern (V. 23) aber ist das Gesetz der Sünde (V. 25). Und noch in 8,2 stehen sich gegenüber: das »Gesetz des Geistes« und das »Gesetz der Sünde«. Geht es also in diesem dualistischen Kontext jeweils um die »Ordnung«, die Regel, die Gesetzmäßigkeit, den Mechanismus der einen Seite im Kontrast zu dem auf der anderen Seite? Aber warum sollte Paulus das alles jeweils »nomos« nennen, wo er doch zu Beginn des Kapitels eindeutig das mosaische Gesetz gemeint hat? Ich bin daher aus folgenden Gründen der Meinung, dass Paulus hier einheitlich vom mosaischen Gesetz redet: 1. Das ganze Kap. 7 spricht davon, dass man jeweils unterscheiden muss, ob das göttliche Gesetz im Wirkzusammenhang von Heil oder von Unheil steht. 2. Jeweils nach dem Kontext, in dem das Gesetz steht, unterscheidet sich seine Wirkung. Seine Funktion wird dort anders sein, wo die Sünde herrscht. Denn sie instrumentalisiert es ja zur Verurteilung des Menschen (zum Tod). 3. Im Kontext von Sünde und der Schwäche der menschlichen Glieder wird das göttliche Gesetz zu etwas Menschenfeindlichem; im Kontext von Gesinnung oder Heiligem Geist kann das göttliche Gesetz seiner Intention nach Leben fördern. 4. Das »Gesetz der Sünde in den Gliedern« (V. 23) ist daher das durch die Sünde in Dienst
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528 genommene Gesetz des Mose, denn es verurteilt jeden Übertreter. Diese Rolle des Gesetzes im Herrschaftsbereich der Sünde hat Paulus in 7,13 dargestellt. 5. Der Gesinnung nach dient daher der Mensch dem Gesetz Gottes, dem er zustimmt; mit seinem schwachen Leib dagegen dient er dem Gesetz Gottes so, dass es nur zum Aufweis der Sünde wird. 6. Das Gesetz Gottes ist also durch die Herrschaft der Sünde in der Welt zu einer ambivalenten Größe geworden. Es war gedacht, Leben zu ordnen, aber es kann eben auch Menschen verurteilen. 7. Endgültig saniert wird daher der Mensch erst sein, wenn er einen neuen Leib hat, mit dem er der Schwäche des »Fleisches« entzogen ist. Die schwierige Gedankenfolge von Röm 7,24f entschlüsselt sich von daher: Paulus nennt sich unglücklich, weil im Kampf zwischen Gesinnung (griech.: nous) und Gliedern immer nur Böses herauskommt, da die Gesinnung unterliegt. Mit »Gliedern« ist das Instrument zum konkreten Handeln in der Welt der Menschen gemeint; den Gliedern wird der Tod beschert, weil Gottes Gesetz den Menschen immer wieder zum Tod verurteilt. Der Mensch ist unglücklich, weil es sich um einen »tragischen« Zwiespalt handelt. Einerseits hat man viel über den Zwiespalt nachgedacht. Andererseits ist gefragt worden, was der nous, die Gesinnung, hier bedeutet. Die Reformatoren meinten: Weil über den nous in Röm 7 nur Positives steht (7,23.25; – dazu gehört auch »erkennen« in V. 15; »wollen« in V. 15b.16.18.19ab. 20.21, der »innere Mensch« nach V. 22), kann es sich nur um ein bereits erlöstes Stück des Menschen handeln. Also beschreibt Röm 7 den Zwiespalt, den ein Christ erlebt.
Die Danksagung in 7,25 meint die von Gott geschenkte Einsicht. Daher ist sie die direkte Antwort auf den Ausruf »Ich unglückseliger Mensch!« in V. 24. – V. 25b ist dann keineswegs eine Glosse, sondern eine Zusammenfassung des Bisherigen, freilich noch nicht das letzte Wort, denn das steht in 8,1 f. Bei der Diskussion um Wille, Schwäche und Kraft in Röm 7 muss doch auch eine Unterströmung beachtet werden; sie betrifft den »Leib Christi« als Bild für die Grundlage von Kirche/Gemeinde. Auch in Röm 7 ist nicht das Entscheidende, woher
Der Römerbrief
Christen die Kraft zum Handeln beziehen, entscheidend ist – wie in 1 Kor 12 und Eph und Kol – der »Leib Christi«, zu dem die Christen gehören (Röm 6,6.12 [dazu zählt auch die Rede von den Gliedern in 6,13.19]; 7,4; 7,24; 8,11).
Röm 7 bereitet den Boden für Röm 8 Was veranlasst Paulus eigentlich, in Röm 7 den merkwürdigen Widerstreit zwischen Wollen und Tun zu entfalten? 1. Paulus kehrt hier zum Thema der Sklaverei zurück, das er aber in Kap. 6 als Sklaverei unter der Sünde und in 7,1-6 als Gebundensein unter dem Gesetz bezeichnet hat. Doch in Kap. 6 war noch nicht vom Widerstreit die Rede. Das ist in Kap. 7 neu. 2. Stimmt denn diese Erfahrung wirklich, bzw. warum wird sie so krass dargestellt? Warum wird der Wille bzw. der innere Mensch plötzlich so gut dargestellt? 3. Paulus ist eben kein Gesinnungsethiker, der gute Wille genügt (ihm) keineswegs. Sondern Paulus ist fundamental am Ausgang interessiert, am Resultat. Deshalb ist er so unglücklich, weil die Tat misslingt. Sonst könnte er doch zufrieden sein mit dem guten Willen. Er denkt von der Tat und vom Erfolg her. 4. Ist das geheime Thema nicht doch der Leib in seiner Zerrissenheit zwischen dem inneren Menschen (Willen, der inneren Zustimmung) und den Gliedern, die das praktische Tun vollbringen? 5. Das Pneuma von 8,1-11 ist genau dieser Ausgleich. Der Heilige Geist hebt die Schranke zwischen Innen und Außen auf. Er ist insofern derjenige, der den Zwiespalt im Menschen heilt. Hier liegt der Ursprung aller Aussagen über den Heiligen Geist als Quelle der Heilung (sana quod est saucium). 6. Wichtig ist nicht die Frage nach dem Wann, sondern nach dem »Überhaupt«. Insofern ist das Thema zeitlos; doch Heiligen Geist gibt es nur als den Geist Jesu Christi, nicht vorher. Röm 7 ist damit das dramatische Vorspiel, das Paulus dann in V. 25 mit dem Seufzer der Dankbarkeit enden lässt. 7. Man kann daraus u. a. erkennen, welche unersetzliche Funktion gerade für die Erlösung (auch die schon jetzt wahrgenommene) der Heilige Geist bei Paulus hat.
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Kapitel 8
Röm 8,1-11: Das wichtigste Kapitel paulinischer Theologie Nicht weniger als eine kompakte Theologie des Heiligen Geistes entwickelt Paulus in diesen wenigen Versen. Nicht zuletzt deshalb ist Röm 8 das wohl wichtigste Kapitel paulinischer Theologie. Im Unterschied zur im Westen Europas seit tausend Jahren vorherrschenden Konzentration auf Christologie (Inkarnation, Kreuz und Auferstehung) kennt und praktiziert Paulus noch ein sehr genau austariertes Gleichgewicht von Aussagen über Jesus und solchen über den Heiligen Geist. In unserem Abschnitt liefert er unter dem Aspekt des Heiligen Geistes Aussagen über Jesus Christus (Christologie), über die Erlösung der Christen (Soteriologie), über die Kirche (Ekklesiologie), über die Basis des christlichen Handelns (Ethik) und über die christliche Hoffnung auf Auferstehung (Eschatologie). Gehen wir aus von der konkreten Bedeutung des Heiligen Geistes in der Wahrnehmung und im Leben des Apostels. Für Paulus besteht sie vor allem in der universalen Völkermission. Seine Berufung zum Völkerapostel steht und fällt mit der Wirkung des Heiligen Geistes, der alle Menschen zu Gottes Kindern machen kann. Dabei ist das Wort »Kind« ein Ausdruck, mit dem die größtmögliche Ähnlichkeit zu Gott gemeint ist. Vermittelt wird die Kindschaft durch die Verkündigung des Apostels vor Heiden. In diesem Geschehen zwischen Apostel und Hörern handelt Gott als Heiliger Geist. In, mit und unter den Worten und Beglaubigungszeichen (Wundern) des Apostels öffnet der Geist Gottes die Herzen, schenkt er Verstehen und ermöglicht den Glauben. Denn die Verkündigung des Apostels ist »kein weltlich Ding«, sondern im Verkündiger und im Hörer kommt Gott zur Wirkung – nicht menschliche Beredsamkeit. Diese Kindschaft hat mehrere Konsequenzen. Vor allem beseitigt sie die Unterschiede zwischen Gott und Mensch und zwischen den Menschen. Der Heilige Geist ist stets Gott als der, der trennende Unterschiede aufhebt. Wenn er Menschen zu Kindern Gottes macht, fällt das dahin, was Gott und Mensch voneinander trennt. Und da ein Mensch nicht mehr werden kann als Gottes Kind, verblassen in demselben Moment auch alle trennenden Differenzen (nicht alle Unterschie-
529 de) zwischen Menschen. Genau deshalb ist der Heilige Geist die Gabe des Friedens (Friedenstaube). Weil aber so die trennenden Differenzen zwischen Juden und Heiden, Griechen und Barbaren, Sklaven und Freien, Mann und Frau, Eltern und Kindern entfallen, ist damit die Grundlage für die einheitliche Familie der Christen namens Kirche gelegt. Dabei bleiben die natürlichen Grundlagen erhalten: Frauen bleiben Frauen, Juden dürfen weiterhin jüdisch leben. Erlöst werden Menschen nicht gegen die Natur, sondern in den natürlichen Grundvoraussetzungen. Der Friede zwischen verfeindeten Menschengruppen ist für Paulus eine konkrete Erfahrung davon, dass alle Differenzen völlig verblassen gegenüber der neuen Identität als Kinder Gottes. Die neue Kindschaft bringt für Paulus auch eine neue Art des Betens mit sich. Gewiss redeten schon lange Juden nach den Targumim Gott an als »unser Vater«. Daher ist die formale Vater-Anrede nicht grundsätzlich neu. Aber neu ist die Gewissheit, dass diese Anrede bei Gott ankommt, dass sie deshalb ganz sicher ankommt, weil der Geist Gottes selbst alles Beten in den Christen wirkt. Das vollzieht sich ähnlich wie bei der Verkündigung durch den Apostel, d. h. beim Gläubigwerden seiner Hörer: So wie da der Heilige Geist in beiden wirkt, im Verkündiger und in dem, der gläubig wird, und die Brücke zwischen beiden herstellt, so ist es auch beim Beten: Der Heilige Geist ist Gottes Geist und wirkt zugleich in dem, der zu Gott betet. Er baut die stabile Brücke zwischen dem Beter und dem Herrgott. Was kann sicherer sein als eine Brücke aus Gottes eigenem Geist? In beiden Fällen, bei der Verkündigung und beim Beten, gibt Gottes Geist das Wort und die Antwort. Aber er tut es – und das ist die Besonderheit der biblischen Vorstellung etwa gegenüber asiatischen Ansätzen –, indem sowohl die kreatürliche Ordnung (Mann/Frau etc.), als auch die natürliche Individualität gewahrt bleiben. Denn obwohl Gottes Geist Wort wie auch Antwort wirkt, bleibt die Person bzw. die Individualität (hebr.: der »Name«) des Einzelnen bestehen. Denn indem Gott heilt, zerstört er nicht. Diese Besonderheit biblischen Denkens ist – wie hier klar zu erkennen ist – der Ansatzpunkt für viele dogmatische und konfessionelle Streitigkeiten, die sich insgesamt daraus erklären, dass man diesen Grundsatz von Gottes Handeln, Heilen
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530 und Nicht-Zerstören nicht begreifen konnte oder wollte. Thomas von Aquin hat mit seiner Formel »Gnade vollendet Natur, zerstört sie nicht« gerade das biblische Denken großartig erfasst. Für Paulus ist der Heilige Geist in seiner Wirkung als Liebe konkret erfahrbar. Die Früchte des Heiligen Geistes sind nach Paulus in diesem Sinne Liebe, Friede, Langmut, Geduld usw., also insgesamt Formen der Macht-Zurücknahme, der Gewaltfreiheit. Das ist nach dem bisher Gesagten gut verständlich. Denn wenn Gottes Geist das Trennende beseitigt, dann entfernt er auch die »gefühlten« Ursachen und die Vorwände für Streit, Hass und Krieg. Ein Handeln, das ohne diese Elemente auskommt, nennt man Liebe. So hat der Heilige Geist nicht nur eine Wirkung auf das Sein (Aufhebung der Grenzen), sondern auch auf das Tun (Vermeidung von Streit). Dies meint Paulus mit der Formel »nach dem Geist Gottes leben«. Es trifft sich nun geradezu wunderbar, und das ist einer der großen Clous paulinischer Theologie, dass just die Liebe im zeitgenössischen Judentum und auch bei Jesus gemäß allen Evangelien als Summe des Gesetzes gilt. Wer Nächstenliebe übt, hat damit das Gesetz erfüllt. Da nun der Heilige Geist Liebe hervorbringt, ist sein Wirken die lang gesuchte Antwort darauf, wie es dem Menschen möglich sein könne, endlich das Gesetz zu erfüllen. Das erschien bisher als unmöglich, keiner konnte es erfüllen; Paulus spricht davon in Röm 3,19f (durch das Gesetz kommt höchstens die Erkenntnis der Sünde). Dieser Gedanke, dass Gottes Geist die Erfüllung des Gesetzes schenkt, ist nicht neu und schon bei Ez 36,26-28 gegeben (Gott legt seinen Geist in das Innere der Menschen, und diese erfüllen dann sein Gesetz). Aber neu ist die Zuspitzung auf Liebe. Sie ist deshalb möglich, weil der Heilige Geist neu erfahren wird als die Aufhebung aller Schranken und damit allen Streits – eine Wahrnehmung, die untrennbar mit der Öffnung zu universaler Völkermission zusammenhängt. Wenn so das Gesetz erfüllt ist, dann ist auch die entscheidende Voraussetzung dazu gegeben, dass der Mensch Kind Gottes bleiben und aus den Toten auferweckt werden kann. Beides ist identisch, die Nachhaltigkeit der Gotteskindschaft und die Anteilhabe an der Auferstehung. Auch bei der Frage der Erfüllung des Gesetzes
Der Römerbrief
zeigt sich wieder die Doppelwirkung des Geistes, indem er zwei Pole zusammenbringt, die zuvor im Gegensatz zueinander standen. Das Gesetz selbst ist vom Heiligen Geist (Röm 7,14), aber dabei bleibt es nicht. Der Mensch, der den Geist Gottes empfangen hat, kann nun mit einem Male diesem »pneumatischen« Gesetz entsprechen. Er bewirkt, dass das Gesetz nicht mehr auf einen Menschen stößt, der ganz anders ist und gar nicht dazu passt. Nein, der Heilige Geist bewirkt insofern die Versöhnung von Gesetz und Mensch. Denn wo immer – auch über Paulus hinaus – von Gotteskindschaft oder Auferstehung die Rede ist, immer ist es der Heilige Geist, der beides bewirkt. So stehen die Größen Heiliger Geist, Gottes Sohn bzw. Gottes Kind, Auferstehung direkt nebeneinander und in engstem Zusammenhang. Weil das so ist, kommt in der Auferstehung der Christen von den Toten auch die Auferstehung Jesu, des Sohnes Gottes, zu ihrem Ziel. Die Vermittlung zwischen diesen beiden Punkten denkt Paulus so: Der auferstandene Jesus erscheint ihm vor Damaskus. Gott offenbart Jesus so als seinen Sohn. Durch diese Erscheinung gewinnt der Apostel Anteil am Heiligen Geist, denn Visionen geben Anteil. Diesen Heiligen Geist gibt Paulus in der Verkündigung weiter. Er wirkt in ihm und in den Glaubenden. Diese werden durch den Heiligen Geist Kinder Gottes. Sie äußern das durch Liebe und im Gebet zum Vater. Der Heilige Geist ist die Brücke, auf der ihre Gebete sicher zu Gott gelangen. Die Wirkung des Heiligen Geistes als Liebe macht auch die Gemeinde zum Tempel des Geistes Gottes. Jeder einzelne Christ ist genauso Tempel wie die Gemeinde im Ganzen. Beides gibt es nicht ohne das bzw. den anderen. Als der eine und gemeinsame Spender und Übermittler der Charismen (Begabungen) wirkt der Heilige Geist in der Gemeinde Einheit über alle Verschiedenheit der missionarisch wirksamen Begabungen hinaus. Schließlich aber wird die Auferstehung der Christen als Offenbarung der Kinder Gottes auch ökologische Folgen haben. Nach Röm 8,19 wird die außermenschliche Kreatur vom Joch des Todes befreit werden, wenn erst einmal der Mensch im Zeichen der neuen Schöpfung ersteht. Diese neue Schöpfung beschreibt Paulus immer wieder als die Überwindung des »Fleisches« (Schwäche, Suchtgefährdung, Sterblichkeit; nicht Vitaltriebe
Berger (08129) / p. 531 / 19.5.2020
Kapitel 8
und Sexualität) durch den »Geist Gottes«, den Gott in Fülle als reine und reiche Vitalität gibt. Zur Erlösung der Christen: Indem Gott als Heiliger Geist in den Christen wohnt, macht er sie dem Sohn ähnlich. Darin aber, dass Menschen Gott ähnlich werden, besteht die ganze Erlösung und Versöhnung. Thomas v. Aquin sagt zu Röm 8: Der Heilige Geist wohnt in uns wegen der Würde (dignitas), für die unser Leib bestimmt ist, denn wir sind Tempel des Heiligen Geistes. Zur Kirche: Weil wir alle mit unserem Leib denselben Heiligen Geist empfangen haben, sind wir alle zusammen auch Tempel des Heiligen Geistes. Der Einzelne ist nicht Tempel des Heiligen Geistes, ohne dass gleichzeitig alle anderen Gemeindemitglieder es sind. »Leib« meint hier die Weise, in der Menschen mit anderen und mit der Welt Kontakt aufnehmen können. Zur Ethik: Wir schulden dem Heiligen Geist, der Gutes in uns wirkt, dass wir nach dem Heiligen Geist leben. Die sakramental durch die Taufe gewonnene Ähnlichkeit mit dem Sohn bestimmt nicht nur den Status der Menschen, sondern sie ist auch der Maßstab ihres Handelns. »Nach dem Geist leben« heißt: in der linearen Erstreckung (d. h. in den vielen Situationen des Lebens) das verwirklichen, was Christen durch die Taufe schon sind. Wenn Christus so in euch ist, müsst ihr mit ihm konform sein. Das geschieht freilich nicht automatisch, sondern nur, indem man an den Heiligen Geist denkt. Es kommt jeden Tag darauf an, sich an dieser Kraft zu orientieren. Praktische Konsequenz: Im Gebet um den Heiligen Geist können Christen immer Kraft zum Handeln schöpfen, was sie trägt und antreibt, stärkt und tröstet. Auswirkungen für die Zukunft der Christen: Nach der Anschauung des pharisäischen Judentums, das eine Hoffnung auf Auferstehung schon vorchristlich entwickelt, können nur die auferstehen, die gerecht, nämlich Gott ähnlich sind. Sie passen damit zu ihm und zu seiner Familie, den Engeln. Sie haben ein engelgleiches Leben auf Erden geführt. Sie werden von Gott »ko-optiert«, in seine Gesellschaft aufgenommen. So weit reicht die Verbundenheit mit den
531 Pharisäern. – Im Christentum ist dieses Erfordernis der Ähnlichkeit erfüllt, wenn Christen den Heiligen Geist empfangen und nach ihm leben. Dann und nur dann können sie auferstehen. Denn Leben nach dem Heiligen Geist macht Gott ähnlich und zu seinem Kind. Und der Heilige Geist bewirkt die Auferstehung. Deshalb heißen die Auferstehenden »Kinder Gottes«, weil sie »Kinder der Auferstehung« sind (Lk 20,36); denn wo immer Kindschaft besteht, bewirkt sie der Heilige Geist, und wo immer über die Kraft der Auferstehung nachgedacht wird, wirkt das gleichfalls der Heilige Geist. Der Heilige Geist ist die Kraft zur Auferstehung und weist über den Alltag hinaus. Das heißt: Gott macht Menschen so zu seinen Kindern, er schenkt Ähnlichkeit mit sich eben durch den Heiligen Geist. Mit dieser Kraft geht Gott aus sich heraus und teilt Ähnlichkeit zu sich selbst (Heiligkeit, ewiges Leben, grenzenloses Entgegenkommen) mit. Es ist dieselbe Macht, die den Tod überwindet – sie allein. So wird deutlich, dass Paulus hier auch über die Schöpfung spricht, und zwar über die neue Schöpfung. Der Heilige Geist ist bei der ersten wie bei der zweiten Schöpfung der Schöpfer-Geist. Der Heilige Geist ist die den Menschen eingesenkte Macht und Kraft des Schöpfers selbst. Auch Jesus spricht in grotesken Bildern von dieser Kraft, die jene in sich bergen, die glauben (oder Frieden schließen): Sie können Bäume und Berge versetzen, d. h.: Sie haben Schöpfermacht in sich, wenn sie eins sind mit dem Schöpfer, eins durch den Glauben oder ihm ähnlich durch Friedenschließen. Es ist die Kraft, die schier Unmögliches vollbringt und eigentlich Wundermacht ist. Hier liegt die Wurzel des Wunderwirkens Jesu. Zu Röm 8,3f: Der Vers verarbeitet die so genannte Sendungsformel, eine sehr alte, bei Paulus und in johanneischen Schriften vorkommende (vgl. 1 Joh 4,9; Joh 3,17; Gal 4,4f) Zusammenfassung des Wirkens Gottes durch Jesus, die dem Schema folgt: »Gott hat seinen Sohn gesandt, damit … (+ Heilsaussage).« Die »redaktionelle« Besonderheit: Die Formel wird beladen mit dem Gegensatz von »Fleisch« (Schwäche) und »(wandeln nach) dem Heiligen Geist« sowie mit dem Gegensatz von Sünde und (Forderung nach) Ge-
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Der Römerbrief
Röm 8,14-17: Grundlinien paulinischer Systematik
Die hier zuerst belegte Verknüpfung von Gotteskindschaft und Heiligem Geist gilt dann nicht nur für Paulus, sondern grundsätzlich im Neuen Testament. Wo immer das Mittel oder der Weg angegeben wird, wodurch ein Mensch Kind Gottes wird, ist es der Heilige Geist. Das gilt zunächst für Jesus. Er wird Gottes Sohn über die Empfängnis durch den Heiligen Geist (Lk 1). Er wird bei der Taufe durch den Heiligen Geist zum Sohn Gottes erklärt (Mk 1), und nach Röm 1,3f wird er aufgrund der Auferstehung aus Toten öffentlich als Gottes Sohn vorgestellt, und zwar »aus dem Geist der Heiligkeit«. Auferstehung wird gleichfalls immer durch den Heiligen Geist bewirkt. Der theologische Grund dafür ist, dass niemand dem Vater ähnlicher ist als das Kind. Die Ähnlichkeit mit Gott aber wird durch den Heiligen Geist bewirkt. Also wird man Kind Gottes, in welcher Hinsicht auch immer, stets durch den Heiligen Geist. Zugleich wird gerade an den Texten über Jesus Christus als Gottes Sohn deutlich: Gottes Kind zu sein ist nicht ein unbeweglicher Zustand, sondern umfasst verschiedene Stadien: Entstehen im Mutterleib, öffentliche Präsentation, Auferstehung, Präsentation vor den Engeln. Bei Christen gilt Entsprechendes von Taufe, Leiden und Auferstehung. »Leiden« deshalb, weil gerade nach Röm 8 vor dem Offenbarwerden der Kinder das Leiden steht, das Paulus mit Wehen vergleicht. Der Heilige Geist ist Gott, sofern er die trennenden Unterschiede aufhebt. Hier in Röm 8 betrifft das die Unterschiede zwischen Gott und Mensch, aber auch zwischen Jesus Christus und den Christen.
Hier geht es um Grundlinien paulinischer Systematik. Da ist zunächst der paulinische Grundsatz: Durch den Heiligen Geist und nur durch ihn wird ein Mensch Kind Gottes. Dieser Grundsatz ist zum ersten Mal überhaupt belegt im Buch der Jubiläen (frühjüdische nicht-kanonische Schrift, 2. Jh. v. Chr.) 1,23f: »Und ich werde ihnen schaffen einen heiligen Geist. Ich werde sie rein machen … Und es werden anhängen ihre Seelen mir und allem meinem Gebot. Und sie werden mein Gebot tun. Und ich werde ihnen Vater sein, und sie werden meine Kinder sein.« Hier handelt es sich um eine Verbindung von Ez 36,25-28 mit der so genannten Bundesformel.
Ein zweiter Schritt ist die paulinische These, dass der Heilige Geist sich bei den Christen als Geist der Kindschaft äußert, indem wir Christen Gott im Gebet mit »Abba, Vater« anreden. Ganz ähnlich äußert sich Paulus in Gal 4,6. Auch dort ist dieser Ruf Ausweis der Gotteskindschaft. Paulus ist der Erste, der diesen Gebetsruf zitiert. Von Jesus ist er nur in Mk 14,36 belegt. Sehr nahe bei Röm 8,15.17.26 steht Mk 14,35-39 (Getsemani). Paulus schöpft hier wohl aus der Passionsbzw. Getsemani-Tradition (Gebet, Schwäche des Menschen, Heiliger Geist quasi als Urheber des Betens; nur hier »Abba, Vater«; Thema Leidensgemeinschaft mit Christus wie Röm 8,17 b) Da-
rechtigkeit. Überdies wird vom Sohn Gottes gesagt, er habe »im Fleisch«, d. h. als Mensch die Sünde »verurteilt«. Letzteres bedeutet: Dadurch, dass er als einziger Sündloser unter Sündern weilte, hat er die Alleinherrschaft der Sünde gebrochen und sie zum Verlust ihrer unbegrenzten Macht verurteilt. So hat er sie (verdientermaßen) herabgesetzt (das Herab-Setzen gehört – anders als im Deutschen – zum »Verurteilen« nach griechischer Konnotation von katakrinein dazu). Die weitere Perspektive, unter der das geschieht, beschreibt uns ein syrischer Kirchenlehrer des 6. Jh. Es geht um Auferstehung, die Geburt der neuen Welt. Diese vollzieht sich im Bild der Schwangerschaft, ähnlich wie es Paulus in Röm 8 schildert. »Die Erde klagt über das Hinscheiden der alten Welt, und unter den Wehen der neuen Welt kniet sie nieder, um sie zu gebären. Etwas ist hinter der Welt, es pocht und drängt sie und gestattet ihr nicht, zur Ruhe zu kommen in ihren Werken. Daraus entsteht die neue Welt. Schon eilt sie herbei und drängt die alte, kraftlos gewordene, ihr ihren Platz zu überlassen« (Jakob von Sarug, 6. Jh.). Eine Frau gebiert auf Knien (auch die frühneuzeitlichen Gebärstühle sind noch so gebaut). Das Knien geschieht unter Klagen und Schmerzen, Paulus nennt es Stöhnen. Doch das, was pocht und drängt, ist das neue Leben. Das Neue will geboren werden.
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Kapitel 8
mit ist die Anzahl der Belege für Abba weiter eingegrenzt. Im Übrigen ist es wahrscheinlich, dass seine Gemeinden das Wort »Abba« als unübersetzbaren Eigennamen Gottes verstanden haben, etwa in dem Sinne »unser Gott heißt Abba«. Denn an beiden Stellen, in Röm 8 und Gal 4, bringt Paulus »Abba, Vater« als vollen Wortlaut des Gebetsanrufs. Ähnlich sagten die Griechen zu ihrem obersten und wichtigsten Gott: »Zeus, Vater«. Und analog zu »Zeus, Vater« werden die paulinischen Gemeinden, die ja im Unterschied zu Paulus kein Aramäisch verstanden, das »Abba, Vater« aufgefasst haben. – Im Übrigen ist in den Targumen, den aramäischen Übersetzungen des Alten Testaments, gerade in den neu dazugesetzten Gebeten die Anrede »mein Vater« oder »unser Vater« geläufig, wie wir sie vom Vaterunser her kennen. Die Vater-Anrede selbst war also keineswegs einzigartig, wie man aufgrund von Röm 8 vielleicht denken könnte. Das absolute »Abba«, »Vater« ist bei Paulus zuerst zu finden. Er setzt es ab vom Sklavenstand. Denn Sklaven müssten »Herr« sagen und nicht »Vater«. Die späteren Liturgien reden Gott hauptsächlich mit »Herr« an. Auch Paulus selbst nennt sich ja weiterhin »Sklave« Jesu Christi und Jesus Christus seinen Herrn. – Dennoch ist es verwunderlich, dass trotz der wiederholten Bezeugung im Neuen Testament die Gebetsanrede »Abba« in der Liturgiegeschichte keine Rolle spielt, obwohl doch »Halleluja«, »Hosianna« und andere hebräische Wörter den Weg in die Liturgie gefunden haben. War es die Angst vor dem Zungenreden, die es verhindert hat, dass »Abba« sich durchsetzte? Die dritte Einsicht, die der Apostel Paulus vermittelt, ist die christologische von 8,17. Hier werden zwei argumentative Schritte vollzogen: Wer Kind ist, der ist auch Erbe. Dieser juristische Grundsatz wird in Erinnerung gerufen. Dass die entscheidende Voraussetzung fehlt, nämlich der Tod des Erblassers – Gott Vater ist schließlich nicht gestorben –, übergeht Paulus. Ihm geht es um den juristischen Status, und da sind die Kinder erbberechtigt, egal ob vor oder nach dem Tod des Vaters. Was aber sollten Kinder Gottes erben? Nun, die Rede vom Erbteil für Gottes Volk oder Gottes Kinder hat ihren Ursprung in der Deutung der Landverheißung (z. B. Ps 79,1; Ex 15,17). Diese konnte auch als Erbbesitz ausgelegt
533 werden und wird zunehmend im Sinne von »himmlischem Erbe« verstanden. In der Sprache, mit der die Bekehrung zum Judentum (Proselytismus) beschrieben wird, ist regelmäßig von einem Erbe für die Bekehrten die Rede – wohl auch deshalb, weil Menschen, die zum Judentum übertraten, von ihren Familien enterbt wurden. Für den Fall der Aseneth, der ägyptischen Priestertochter, die Jüdin wird, um Joseph, den Sohn Jakobs, heiraten zu können, wird dieser Wechsel der Erbschaft in der außerkanonischen Schrift »Josef und Aseneth« ausführlich geschildert. Die Konzeption vom Landbesitz wird dabei zunehmend »vergeistigt« und immer mehr auf Teilhabe an Gottes Reich im ewigen Leben verlegt. Der zweite gedankliche Schritt lautet: Jesus Christus ist in hervorragender Weise Sohn Gottes. Wenn aber auch alle Christen Kinder Gottes sind, dann sind sie Miterben mit Jesus Christus. Denn sie sind mit ihm zusammen Kinder Gottes, er ist der ältere Bruder. Aber diese enge Gemeinschaft mit Jesus Christus hat ihren Preis: Sie besteht in der Gemeinschaft des Leidens und der Verherrlichung. Wer geglaubt hätte, die gemeinsame Kindschaft hätte lediglich einen angenehmen Aspekt, nämlich »Glauben« (als Rechtfertigung) oder »Herrlichkeit« als Inbegriff von ewigem Leben und Gottähnlichkeit, der hat sich getäuscht. Die Abfolge von Leiden und Herrlichkeit ist ein gerade bei Paulus und in seinem theologischen Umfeld (1 Petr, Hebr, Lk) ein Schlüssel zum Verstehen des Geschicks Jesu. Der Ursprung dürfte eher profan sein und in der militärischen Ideologie liegen, wonach Leiden die Voraussetzung für Ehre ist – was freilich nur im Glücksfall zutreffen dürfte. Leiden der Christen aber ist in Röm 8 ein gewichtiges Thema. Paulus sagt: Ihr Christen wundert euch wohl darüber, dass es jetzt, da ihr Christen geworden seid, zunächst einmal weder euch noch der Welt besser geht, sondern eher schlechter. Doch ihr habt schon den Heiligen Geist, und der ist eine erste »Anzahlung« Gottes auf eine Zukunft in Herrlichkeit. Paulus liefert hier wichtige Aussagen über den trinitarischen Gott: das Leiden mit Christus, die Hoffnung auf Gottes Herrlichkeit, Gebet aus der Kraft des Geistes und die Gewissheit, dass der Vater im Himmel das Schreien der Christen hört.
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534 Gott hat sich als der dreieinige gezeigt, damit Menschen auf diese dreifache Weise seine verbindliche Nähe spüren. Denn oft fragen Menschen danach, wo denn Gott sei und ob er sich denn ganz zurückgezogen habe. Nein, sagt Paulus, er ist den Menschen im Gegenteil nahe wie nie zuvor. Und das ist nicht nur »einfach« bezeugt, sondern dreifach, sodass dem jüdischen Zeugenrecht genüge getan ist (Dtn 19,15).
Röm 8,17-22: Wozu all das Leiden? Auferstehung ist Bewahrung, Bergung, Rettung aller Einzelnen nach allem Schmerz. Menschen werden geprägt durch die Leiden. Aber gerade in all diesen schmerzhaften Grenzen will Gott sie bewahren. – Warum ist das alles so teuer erkauft? Fragen wir lieber: Wozu? Dann antwortet Paulus: Wehen sind dazu da, dass neues Leben sein kann. Das Leiden der ganzen Welt ist wie Wehen. Das Ziel aller Schmerzen jetzt ist die unverbrüchliche Bewahrung in allem Schmerz, trotz allen Schmerzes, durch allen Schmerz hindurch.
Röm 8,22-27: Das Stöhnen in der Endzeit Das bestimmende Verb dieses Abschnitts übersetze ich nicht mit »seufzen«, sondern mit »stöhnen«. Denn im modernen Deutsch ist etwa ein Viertel der Belege für Seufzen positiven Inhalts (Seufzer der Erleichterung; befreiender, wohliger Seufzer). Das aber ist in Röm 8 keinesfalls gemeint. Paulus meint das Stöhnen, und zugrunde liegt das Bild einer Schwangeren, die unter Wehen stöhnt. Das geht aus V. 22 hervor; Paulus spricht hier davon, dass die ganze Schöpfung »mit in Wehen liegt«. Das Bild der Endphase der Schwangerschaft kommt aus der damaligen Apokalyptik, auch Joh 16,21 kennt das Bild (»Wenn eine Frau gebiert, empfindet sie Schmerz und Pein, weil ihre Stunde gekommen ist …, denkt sie nicht mehr an ihre Drangsal«). Immer aber verbindet sich mit dem Bild der Wehen auch die wunderbare Abfolge von großem Schmerz und freudigem Ereignis. Das meint auch Paulus, wenn er in diesem Kapitel so oft vom Stöhnen spricht.
Der Römerbrief
Die theologische Bedeutung dieser wenigen Zeilen beruht darauf, dass Paulus die ganze Schöpfung einbezieht in das endzeitliche Leiden Jesu Christi und der Christen. Die Leidensgemeinschaft mit der ganzen Schöpfung ist darin begründet, dass sie mit dem Menschen die Versklavung durch die Vergänglichkeit teilt. Daher gilt: Der Mensch ist versklavt unter die Vergänglichkeit, so auch die Schöpfung. Und: Der Mensch wird befreit werden von dieser Sklaverei – so auch die Schöpfung. Bis dahin gilt: Der Mensch stöhnt in der Sklaverei, so auch die Schöpfung. – Umstritten ist, wer die Schöpfung dieser Sklaverei unterworfen hat. War es der Mensch oder war es Gott selbst? Der Mensch sollte sich ja die Schöpfung untertan machen (Gen 1,26). Oder hat Gott sie ihm mit seiner Anordnung untertan gemacht (Gen 1,26.28)?. – Hatte sie dann auch an seinem Geschick Anteil? Geschah das nach dem Prinzip »mitgefangen – mitgehangen«? Die außermenschliche Schöpfung trug ja am Sündenfall keine Schuld. Daher wurde sie auch »gegen ihren Willen« und »auf Hoffnung hin« unterworfen. Also doch, weil Mensch und Umwelt in einem Boot saßen und sitzen? So ist Drangsal das Merkmal aller Kreatur, und zwar in konzentrischen Kreisen. Im Mittelpunkt steht Jesus Christus, dann die Christen, dann die Menschen allgemein, dann die ganze Schöpfung. Doch für Paulus ist die Zeit der Wehen begrenzt und wird abgelöst durch das Sichtbarwerden der Kinder Gottes. Die Befreiung von all den Leiden am äußersten Ende geschieht nicht irgendwie, sondern durch die Wirklichkeit der »Kindschaft« (8,23). Gewiss, die Schwangere gebiert das Kind. »Kind« ist das Ende der Wehen. Für die Christen bedeutet das Kindsein am Ende: ihrem himmlischem Vater auch durch die Qualität des Leibes ähnlich zu sein. Die theologische Pointe bei der Rede von Kindheit ist stets die Ähnlichkeit (mit Gott, dem Vater). So sagt es Paulus in Röm 1,4: Dass Jesus Gottes Sohn ist, wird bei seiner Auferstehung durch den Heiligen Geist öffentlich sichtbar gemacht. So ist es auch bei den Christen: Das Sein geht der öffentlichen Sichtbarkeit voraus. Kinder sind sie jetzt schon (8,15), aber erfahrbar wird dieses erst nach den Wehen.
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Kapitel 8
Zu 8,23-27: Der Heilige Geist als Dolmetscher Eine besondere Bedeutung hat in der Zeit der Wehen der Heilige Geist. Paulus scheut sich nicht zu sagen: Jesus Christus ist zur Rechten Gottes »im Himmel« und dort unser Anwalt. Auf der Erde aber weilt der Heilige Geist bei uns, er ist hier unser Anwalt und der Dolmetscher unserer Gebete an Gott. – Der Heilige Geist war nicht nur Dolmetscher vom Hebräischen ins Griechische (also beim Entstehen der Septuaginta nach der jüdischen Septuaginta-Legende) und nicht nur zu Pfingsten (in jede der Sprachen, deren Vertreter dort standen), sondern auch zwischen menschlicher Klage und Gott. – Anhand von Röm 8,26-28 fällt auf, wie stark der Mensch in der Sicht des Apostels Paulus durch Sprache bestimmt ist. Das ist auch im frühjüdischen Gottesdienst der Fall, wo das Psalmensingen die Eintrittskarte in die Gemeinschaft der Engel ist. Der Heilige Geist vertritt uns vor Gott in der Sprache des Himmels, die kein Mensch aussprechen kann (so sind die »unaussprechlichen Seufzer« nach 8,26 zu deuten). – Man darf fragen: Warum ist das nötig? Kann Gott nicht auch jeden in seiner Sprache verstehen? – Antwort: Eine »andere Sprache« ist für Paulus nicht im philologischen Sinne von anderem Lexikon und anderer Grammatik her interessant. Sondern Sprache ist für ihn exklusiver und exakter Ausdruck des Seins. Wer anders ist, hat eine andere Sprache, und zwar als der andere. Der Mensch ist nicht Gott und umgekehrt. Deshalb hat Gott eine andere, für unsere schwache (V. 26: Schwäche) Menschennatur unerreichbare Sprache. Wenn der Heilige Geist dolmetscht, dann nicht, weil Gott unsere Landessprache nicht verstünde, sondern weil alles, was Menschen sagen, durchtränkt ist von menschlicher Hinfälligkeit: Es ist ideologisch und nicht wahrhaftig, es ist interessegeleitet und nicht gerecht, es versucht zu beeindrucken, statt wirklich besser zu sein. Menschen versuchen, sich zu rechtfertigen, statt Gott zu loben, zu vertuschen, statt zu bekennen. In diesem Geflecht von Lügen und Vernebelung brauchen Menschen den Heiligen Geist. So wie nach 1 Kor 2,4f der Glaube durch den Heiligen Geist bewirkt wird (damit er überhaupt von Gott gesehen wird), ist es in Röm 8,15 f.26f wiederum der Hei-
lige Geist, der auch unserem Beten den Charakter himmlischer Qualität geben kann. Auch Opfern und Fasten kann allein Gott für sich selbst akzeptabel machen, d. h. der Heilige Geist wirkt beim Opfer Jesu Christi nach Hebr 9,14 (Christus brachte sich durch den Heiligen Geist Gott dar). – Daher kann man generell formulieren: Was auch immer Menschen Gott anbieten möchten, Gebet oder Gehorsam, Glaube oder Opfer – alles bedarf der grundsätzlichen Sanierung und Heiligung durch Gott selbst. Dass sie Christen verheißen sind, darin beruht ein wichtiger theologischer »Fortschritt« des Christentums gegenüber dem Judentum. Bedeuten Gottes Gnade und Erbarmen, die der Christ empfängt, eine neue Unmittelbarkeit zu Gott? Oder anders gefragt: Warum sieht sich Paulus genötigt, gerade hier (und sonst nicht) den Abstand zwischen Gott und Mensch so stark zu betonen? Paulus kämpft offenbar um die Glaubwürdigkeit seines Evangeliums. Das kann er nur tun, wenn er das schon Erreichte nicht verschweigt – aber das noch Ausstehende ehrlich zugibt. Denn sonst könnte man stets einwenden, noch nichts sei erreicht. Es ist schon etwas erreicht, die Christen sind schon Kinder Gottes. Aber das ist noch nicht sichtbar – und das liegt daran, dass es um ein Geschehen geht, an dem die ganze Schöpfung Anteil haben wird. Daher geht es um einen etwas umfänglicheren, aber umso gründlicheren Vorgang.
Röm 8,26-27: Richter und Anwalt Muss Gott mit seinem eigenen Heiligen Geist bei sich selbst für die Menschen eintreten? Paulus denkt im zweiten Teil von Römer 8, besonders in V. 33 und 34 (Klageerhebung, Freispruch, Verurteilung) an ein himmlisches »Forum«, also an eine Szene vor Gericht, in der Gott Vater die Welt regiert, was er auch dadurch tut, dass er verurteilt oder freispricht. Und genau darum geht es auch hier bei dem Anwalt, der für die Menschen vor Gottes Thron die Reden zur Verteidigung oder die Bittschriften vorträgt. So ist wohl die Grundsituation zu verstehen. Aber wieso formuliert Gott Vater Verteidigung oder Klage der Menschen nicht selbst? Wozu der Heilige Geist? Kommt das daher, dass man nicht gleichzeitig
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536 Richter und Verteidiger sein kann? Gott tut beides, übt beide Funktionen aus. Der Heilige Geist wird nicht nur als Gabe vom Himmel her geschenkt. Dann wäre er nur eine Kraft. Er stellt sich vielmehr selbst zu Gunsten der Menschen »auf die Hinterbeine«, ergreift Partei: als Gott, der gerecht richtet und der gleichzeitig »hoffungslos« für uns ist, als unser Anwalt auf unserer Seite steht. Das Erste tut Gott, weil er gerecht ist. Das Zweite tut er, weil er uns liebt. Der Heilige Geist ist nicht nur zu den Menschen gesandt, sondern als zu den Menschen Gesandter liebt er sie, ergreift Partei. So wie es geschehen kann, dass ein Diplomat die Menschen, zu denen er geschickt wird, lieb gewinnt. Da wir uns nicht vorstellen können, dass ein und derselbe sowohl Richter als auch Anwalt ist, sagen wir, Gott übe verschiedene Rollen aus, und das alte Wort für Rolle ist »Person«. Man könnte auch »Funktion« oder »Adresse« sagen in dem Sinne, dass der eine und einzige Gott unter drei Adressen anzutreffen ist. Alle diese Formulierungen haben ihre Schwächen: Person versteht man oft zu stark individuell (im Sinne unseres modernen Personbegriffs), »Funktion« achtet nicht genügend den unumkehrbaren Unterschied zwischen dem Sender und dem Gesandten, »Adresse« ist zu statisch. Aber es wäre richtig, wenn man alle diese Versuche der Annäherung begreifen könnte als Aussage darüber, dass der eine und einzige Gott den Menschen so unterschiedlich, nicht-reduzierbar unterschiedlich, begegnet. Nun kommt der Sohn dort auch vor, und zwar in einer Rolle, die der des Heiligen Geistes sehr ähnlich ist. Denn in 8,34 heißt es, dass Jesus Christus »zur Rechten Gottes (steht) und für uns eintritt«. Demnach haben wir zwei Anwälte bei Gott Vater. Einen auf Erden, der hier unsere Gebete und Klagen in eine Form bringt, die Gott versteht, und einen im Himmel, der erwiesenermaßen – ich denke an das Kreuz – für die Menschen eintritt. – Nach biblisch-alttestamentlichem Recht gehören mindestens zwei Anwälte in jedes Verfahren (»zwei oder drei Zeugen«). Der Heilige Geist ist unser Anwalt, der direkt bei uns ist und über uns wacht, der unsere Gebete, besser gesagt: unser Stöhnen, vor Gott trägt, und der Sohn ist unser Anwalt »im Himmel«, der bei Gott steht und darauf hinweist, wie er für uns gelebt und gelitten hat.
Der Römerbrief
Paulus weckt bei den Menschen in Rom, an die er schreibt, ganz bewusst Assoziationen an ein Forum, an eine richterliche oder herrscherliche Szene. Ich finde das sehr erstaunlich. Er redet nicht von der privaten Geborgenheit im kleinbürgerlichen Gartenhaus, sondern gebraucht ein öffentliches, fast politisches Bild. Er tut das genau in dem Sinne, in dem auch christliche Liturgie öffentlich ist, in dem sich auch monastische Frömmigkeit im öffentlichen Rahmen und den öffentlichen Formen der Kommunität vollzieht. Denn wer seine Liebe nicht öffentlich zeigen mag, ist nicht glaubwürdig. Gerade das doch sehr private Stöhnen der Christen, das jeder als Gestammel und als nach Worten Suchen kennt, auch die sehr persönliche Unfähigkeit der Christen zu beten, die Paulus in 8,26 anspricht, alles dieses wird angesichts der Größe und Heiligkeit Gottes auf ein offizielles Niveau gehoben. Ich denke, diese »Veröffentlichung« dient der Vergewisserung, dass Christentum keine persönliche Einbildung ist und keine subjektiven Phantasien sind, in denen »ich meinen Herrgott gepachtet« habe. Paulus lässt es ja gerade in Röm 8,35 ff an Äußerungen über Liebe nicht fehlen, über unverbrüchliche Liebe, von der nichts trennen kann. Aber er schützt durch das Bild des Forums diese Liebe vor jeder Verkitschung und Subjektivierung. Nach Paulus in Röm 8 stöhnen alle Kreaturen unter der Last der Vergänglichkeit (V. 22), wir Menschen stöhnen (V. 23), weil wir es oft einfach nicht mehr aushalten können. Und es stöhnt der Heilige Geist mit uns und für uns. Wenn man statt »stöhnen« hier sagt: »klagen«, dann wird es verständlicher. Aber »stöhnen« ist realistischer, gröber als nur »klagen«; denn es meint den wirklich extremen, letzten Laut der Kreatur, der nicht mehr poetisch gesetzte Klage ist; nein hier ist es elementarer, nicht mehr nur Worte. Alle Worte sind noch viel zu schön. Hier ist nichts schön, sondern hier ist alles leises Schreien (zum lauten Schreien fehlt die Kraft), Stöhnen. Erst der Geist übernimmt und verwandelt diese letzten, tiefsten, äußersten Schmerzensrufe von Menschen in etwas, das vor Gott dringen kann.
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Röm 8,30: »Gott hat uns vorherbestimmt« Schon V. 29 spricht davon, dass uns Gott »zuvor erkannt hat«, und das heißt doch: Er hat uns seit Ewigkeit gewollt, mehr noch: »Er hat uns zu seinem Eigentum gemacht, gemeinsam mit Christus vor Anbeginn der Welt« (Eph 1,4). Das Verb »erkennen« wird hier so intensiv gebraucht wie dann, wenn es heißt, Adam erkannte Eva. Die Gemeinde ist genau in dem Sinne präexistent, in dem das zuvor im Frühjudentum von Israel gesagt wurde. Präexistenz ist Ausdruck der Erstrangigkeit unter den Geschöpfen. Deshalb kann es von Israel heißen, dass um seinetwillen die ganze Welt erschaffen wurde. Und das ist hier auf Gottes neues Volk, die Kirche aus Juden und Heiden, übertragen. Vorherbestimmung ist hier nichts Finsteres, nichts, was uns der Freiheit beraubt (wozu sollte Gott sie uns nehmen?), sondern höchster »alter Adel«. »Gott hat uns berufen«: Erst in der griechischen Bibel bekommt das griechische Wort »rufen/einladen« einen theologischen Sinn als »berufen«. Aber die Einladung ist immer noch assoziiert, und es ist durchaus die Einladung zu einem Fest gemeint. »Gott hat uns gerechtfertigt«: Rechtfertigen heißt akzeptieren, und zwar sehr praktisch verstanden als akzeptierendes Hineinnehmen in die Gemeinschaft mit Gott. Gott hat das getan. Aber es ist wie bei der Auserwählung vor aller Zeit und mit der Rechtfertigung: Sie gelten nicht dem isolierten Einzelnen, sondern allen und jedem im Miteinander der Kirche. Es ist für Paulus ganz unmöglich, hier den Einzelnen isoliert zu betrachten. Nur alle zusammen sind Christen heilig, auch jeder Einzelne – aber nicht der Einzelne im Gegenüber und in Konkurrenz zur Kirche. Deshalb gibt es einzelne Heilige (z. B. Franziskus) nur bei den Katholiken und Orthodoxen, wo auch die eine Kirche theologisch ernst genommen wird. Ohne Kirche kann man das gar nicht verstehen. In einzelnen Heiligen ist das verdichtet, geballt und ganz kräftig vorhanden, was alle ausmacht. »Gott hat uns verherrlicht«. Dies ist zweifellos die erstaunlichste Aussage, die Paulus in Röm 8
trifft. Nach 2 Kor 3 gilt: »Weil die Glaubenden und Getauften auf den Herrn selbst blicken, der den Geist schenkt, werden sie immer mehr in die Herrlichkeit des Herrn hineinverwandelt.«
Röm 8,31b-34: Richter, Anwalt, Ankläger – Gottes unfassbare Liebe Die Übereinstimmungen mit 1 Petr 3,18-22 sind zahlreich: In beiden Texten wird eine Szene vor Gericht geschildert. In Röm 8 wird das erkennbar an den Stichworten »für uns … gegen uns«, die die beiden streitenden Parteien bezeichnen, am Gegensatzpaar »verurteilen … freisprechen«, am »für uns Eintreten« des Sohnes, der rechts von Gott steht als der Anwalt der Angeklagten. In 1 Petr 3 war es ebenso das Stehen zur Rechten, die Erklärung, dass das Gewissen unbelastet sei, die Rede von der »Unterwerfung« der Gegenpartei. – Die Gegner sind nach 1 Petr 3 die Engel, Mächte und Gewalten; nach Röm 8 sind die potenziellen Gegner immer gegensätzlich gefasst: gute Engel oder böse Gewalten, Gegenwart oder Zukunft, liebevolle oder gefährliche Mächte. Denn Paulus will überhaupt alles ausschalten, was zwischen Gott und Mensch sein könnte. Dass dabei die Stichworte Engel, Gewalten und Mächte vorkommen, entspricht der traditionellen »Rivalität zwischen Engeln und Menschen« (P. Schäfer). Dabei bietet 1 Petr 3 offensichtlich die altertümlichere Fassung, Paulus in Röm 8 die theologisch vertiefte Fassung derselben traditionellen Anschauung. Paulus geht der Lösung des Konflikts auf den Grund. Denn er nennt den Beweggrund Gottes: die Liebe zu den Menschen. Für Paulus ist Gott, wo es um Recht oder Unrecht geht, hemmungslos Partei. Er leistet sich etwas, das sich kein Richter leisten darf; es würde eine Skandalaffäre daraus: Gott liebt. Darf ein Richter lieben? Gibt es nicht vielmehr nichts Schlimmeres, als wenn ein Richter ein Liebesverhältnis zum Angeklagten hat? Und wenn er sogar dazu kommt, den Staatsanwalt zu entmachten? Ist Gott hier nicht, im Sinne der Logik der verwendeten Bilder gesprochen, fehl am Platz als Anwalt der Gerechtigkeit? In unserem Text stehen die Engel und Mächte für Gottes abweisende Hoheit. Sie wehren sich
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538 gegen menschliche Eindringlinge in den Bereich der Heiligkeit Gottes. So wird die Niedrigkeit des Menschen angesichts der Herrlichkeit Gottes erfahren. Und es gibt viele jüdische Texte, nach denen der Widerstand der Engel gegen die Bevorzugung von Seiten Gottes sich in förmlichen Protesten äußert. Die Engel sind »neidisch«, dass Gott sich mit den geringeren Menschen abgibt – ähnlich wie in Gleichnis vom verlorenen Sohn, wo der ältere Bruder dagegen protestiert, dass der Vater sich dem verlorenen Sohn zuwendet. Aber mit alledem wird doch nur noch mehr das Wunder der Zuwendung Gottes zu den Menschen bedacht, dass Gott sich trotz seiner übermächtigen Herrlichkeit mit den Menschen abgibt. So kommt es, dass nach jüdischem Denken die Engelmächte für die Wahrung von Gottes Standeswürde stehen, während das Erbarmen mit den Menschen Gottes allereigenste Initiative ist und »hinter dem Vorhang« seinen Ursprung hat. Damit wird gesagt: Ist schon Gottes Herrlichkeit unfassbar, so ist seine liebevolle Zuwendung zu uns Menschen erst recht das absolute Geheimnis, schier unfasslich wie die letzte verborgene Souveränität Gottes selbst, seine Freiheit. – Wenn erzählt wird, die Engel würden von dieser Erwählung der Menschen abgeschnitten und ausgeschlossen (vgl. auch 1 Petr 1,12b), dann wird Gottes Erbarmen über seine Hoheit gesetzt, dann wird das Wunder der Annahme des Menschen so dargestellt, als habe Gott seine eigene Hoheit und Herrlichkeit überlistet. Und das alles ist Ausdruck des Staunens über das schier Unmögliche, das unfassbar Wunderbare. Als der geheimnisvoll Verborgene handelt Gott gegen seine eigene Herrlichkeit. Er ist frei. Die Starre der Rangordnung ist nur die eine Seite. Gott muss sich nicht daran halten; er wird so zum Positiven hin unberechenbar. Er überspringt seine Herrlichkeit. Schon das Judentum weiß: Es gibt noch mehr als Gottes Herrlichkeit, noch weitaus Faszinierenderes: seine grundlose und übervernünftige Liebe. Herrlichkeit ist Ordnung; aber wo Gott liebt und erwählt, wird die Ordnung durchbrochen durch Gottes freie, unverstehbare Tat. Aufs Ganze gesehen, gibt es zwei Punkte, an denen die Liebe Gottes zu Menschen wirklich greifbar wird: in der grundlosen Erwählung Abrahams und Israels und in der ebenso grund-
Der Römerbrief
losen Sendung des Sohnes. Diese beiden Punkte sind die Substanz der biblischen Religion. Es gibt im Neuen Testament zumindest noch einen weiteren Text, in dem Verfolgung und Martyrium auf Erden auf eine Szene im Himmel folgen, nach der es keinen Ankläger mehr im Himmel gibt und daher auch keine Verurteilung: Offb 12,7-14. Der Ankläger ist überwunden, aber noch und gerade deswegen herrscht Verfolgung auf Erden (Röm 8,35f; Offb 12,13). So liegt es jetzt in der Hand der Menschen, ihn zu besiegen (Röm 8,37; Offb 12,11). Dem Blut des Lammes nach Offb 12,11 entspricht, dass Gott seinen Sohn nicht schonte (Röm 8,32). Der je größeren Liebe Gottes nach Röm 8 entspricht, dass die Märtyrer Gott mehr liebten als ihr eigenes biologisches Leben (Offb 12,11). Dank Gottes Handeln ist der Optimismus der Christen nach beiden Texten unbesiegbar.
So ist der Aufbau in Röm 8: Keiner wird mehr Gottes Erwählte anklagen. Gott ist Richter, aber keiner verurteilt. Jesus Christus ist unser Anwalt. Daher werden uns Verfolgung und Martyrium nichts anhaben können, auch nicht Engel, Mächte und Gewalten (V. 38). Die Szene ist zweigeteilt: Im Himmel ist kein Ankläger mehr. Auf Erden gibt es Verfolgung, Martyrium und Not, auch den möglichen Widerstand von Engeln, Mächten und Gewalten. Doch die Christen werden »siegen« (V. 37), weil Jesus Christus sie liebt. Die gemeinsamen traditionellen Elemente sind hier: der Kontrast zwischen Himmel und Erde, Gottes Richterstuhl (Forum), die Entfernung des Anklägers, Dämonen oder Satan auf der Erde, Kampf und Sieg der Jünger oder Märtyrer gegen sie, das Thema Reich Gottes. Zum Vergleich mit Röm 8 bietet sich nicht nur Offb 12,7-14 an, sondern ebenso Lk 10,9.11.1720, und auch das Vaterunser gewinnt einen neuen Sinn. Im Hintergrund dieser vier Texte (Offb 12; Röm 8; Lk 10; Mt 6,9-13) nehmen wir eine gemeinsame mündliche Tradition an. Diese hat folgende Umrisse: Im Himmel gibt es ein jetzt schon tagendes Gericht. Zu diesem Forum gehört auf jeden Fall ein Richter, aber auch ein Ankläger (Staatsanwalt) und gegebenenfalls ein Anwalt. Vor Gericht steht der Mensch. Der Ankläger ist stets der Teufel (Satan). Als Zweites wird nun
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Kapitel 8
das Entferntwerden oder das Entferntsein des Anklägers berichtet oder im Resultat vorausgesetzt. Dramatisch wird es in Offb 12 geschildert: Michael stürzt den Ankläger (V. 10) der Menschen auf die Erde. Genauso sieht es Jesus in seiner Vision vom Satanssturz: »Ich sah den Satan wie einen Blitz vom Himmel fallen« (Lk 10,18). Wenn der Satan aber nicht mehr im Himmel vor Gottes Richterstuhl gegen die Menschen auftritt, herrscht genau jener Zustand, den Röm 8 berichtet: Es gibt keinen Ankläger mehr. Das ist eigentlich höchst erstaunlich: Gott, der Gerichtsherr, lässt den Ankläger der Menschen aus dem Himmel hinabstürzen. Im Himmel ist damit für den Menschen schon »reine Luft«. Umso unerfreulicher wird es freilich seit dem Satanssturz auf Erden: Nach Offb 12 verfolgt der Teufel jetzt auf Erden die Frau und ihre Kinder (die Kirche), nach Lk 10,19 gibt es eine Fülle von Dämonen (»Macht des Feindes«), die sich die Jünger unterwerfen müssen; nach Röm 8,36 herrscht wie in Offb 12,11 die Situation des Martyriums. Vor dem himmlischen Gericht sind die Christen nicht mehr zu belasten, umso ärger ergeht es ihnen jetzt vor den weltlichen Gerichten auf Erden. Das heißt: Himmel und Erde driften als Stätte von Heil bzw. Unheil immer weiter auseinander. In der angespannten Situation auf Erden geht es um den Sieg (Offb 12,11; Röm 8,37; Lk 10,19f) über Dämonen oder teuflische Macht, und dieser Sieg wird durch Jesu Jünger bzw. Märtyrer vollzogen. Zu diesem Sieg hilft ihnen ganz entscheidend das Blut Christi (Offb 12,10) oder seine Vollmacht gegen Dämonen, die er den Jüngern gegeben hat (Lk 10,19). Denn wie das Blut des Passahlamms, beim Auszug aus Ägypten an die Türpfosten gestrichen, die Würgengel von den Häusern der Juden fernhielt, so hält auch Jesu Blut die dem Menschen feindlichen Mächte fern. Bei Paulus wird das einfach Jesu »Liebe« genannt. Schließlich dient das Ganze der Verwirklichung von Gottes Königreich auf Erden (Lk 10,9.11; Offb 12,10; Mt 6,10: »Dein Reich komme«). Auf Erden liegt daher alles daran, die Macht Satans und der Dämonen zu brechen. Die Folge: »Die Macht des Feindes wird euch kein Unrecht mehr antun« (Lk 10,19). – Und der Bewegung des Statans vom Himmel auf die Erde (Satanssturz) entspricht als Gegenbewegung, dass die Jünger als Himmelsbewohner registriert wer-
539 den (Lk 10,20; Freude der Himmelsbewohner auch nach Offb 12,12). Sie bewegen sich von der Erde in den Himmel. Welchen »Sinn« sollte diese Überlieferung gehabt haben? Sie schildert die Verwirklichung des Reiches Gottes auf eine uns ganz ungeläufige Weise, nämlich als ein Geschehen angesichts von Gottes Richterstuhl im Himmel und zugleich als einen Kampf gegen die satanische und dämonische Bedrohung auf Erden. Nach Lk 10,18 geht diese Tradition auf eine Vision Jesu zurück (»Ich sah den Satan … vom Himmel fallen«), und auch Offb 12 schildert eine Vision. – Im Vaterunser nimmt der Beter selbst durch sein Gebet an dem Kampf teil. Denn er betet: »Befreie uns vielmehr von dem Bösen (= Satan)«. Auch das Vaterunser reflektiert in mehreren Elementen die hier berichtete Tradition: Es geht um Gottes Reich (wie in Offb 12,10; Lk 10,9.11 und anti-dämonisch auch in Lk 11,20). So betet der Beter des Vaterunsers darum, dass das, was im Himmel bereits verwirklicht ist, auch auf Erden geschehe. Was im Vaterunser etwas unklar bleibt (»wie im Himmel, so auf Erden«), das wird in unserer Tradition deutlich und klar entfaltet: Aus dem Himmel ist der Satan schon vertrieben, auf Erden muss er noch bekämpft werden; dazu trägt im Vaterunser der Christ durch sein Gebet bei, während dieses nach Lk 10 die Vollmacht Jesu in der Hand der Jünger und nach Offb 12,10 Jesu Blut inklusive Zeugnis der Jünger bewirkt. Ebenso das Thema »Gericht über die Schuld der Menschen« findet sich um Vaterunser: Die Schuld vor Gott wird dann sicher aufgehoben, wenn Menschen ihren Nächsten vergeben haben. Das ist der originelle Beitrag des Vaterunsers im Rahmen dieser Tradition. Wie in allen anderen Texten nimmt auch im Vaterunser das Geschehen vom Himmel her seinen Anfang. Die Formulierung als Gebet ist nicht erstaunlich, denn das Ausüben eines Gebets ist Vollmacht. Alle fünf wichtigen Elemente der Tradition sind daher im Vaterunser gegeben: Himmel und Erde, Reich Gottes, Satan, Schuld der Menschen und Sieg über den Satan, sprich: Befreiung von ihm durch die Kraft des Gebetes. Zurück zu Röm 8,33-37: Der zunächst rätselhafte Vers 8,36 wird nun erklärbar, denn in den Parallelen geht es um den Kampf der Märtyrer und
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540 ihren Widerstand gegen Satan. Aber auch die in Röm 8,38f genannten unterschiedlichen Mächte (inklusive Tod) werden im Rahmen der berichteten Tradition verständlich: An ihrer Stelle stehen sonst Dämonen oder der verfolgende Satan. – Im Unterschied zu den Visionen (Lk 10,18; Offb 12,8f) schildert Paulus den Tatbestand (Satan ist nicht mehr Ankläger im Himmel), der bleibt, nicht das Drama (Entfernung Satans aus dem Himmel). Besonders aufschlussreich ist bei Paulus das Vorkommen des Wortes »wir sind Sieger und Überwinder« in 8,37, denn der ganze Stamm »siegen« findet sich bei Paulus nur an dieser Stelle. Wir konnten das mit dem Siegen der Märtyrer nach Offb 12,10 vergleichen. Einzigartig bei Paulus ist die Betonung der Liebe Jesu Christi, von der uns nichts trennen kann. Nur Paulus kann das Kampfesgeschehen (vgl. 8,37 »wir obsiegen«) zusammen mit der Liebe Je-
Der Römerbrief
su Christi denken. Diese Liebe hat im Aufbau von Röm 8 ihren Sinn. Man bedenke: Röm 8,33f beginnt mit einer Gerichtsszene. Das entsprach ganz der Tradition, in der immer ein Forum vor Gott vorausgesetzt ist. Wenn aber Gott dafür sorgt, dass es keinen Ankläger mehr gibt (Paulus schildert weder die Dramatik des Satanssturzes noch die exorzistische Praxis), dann hat Gott eine folgenschwere Revolution des himmlischen Forums vollzogen. Was für ein Skandal wäre es, wenn heute ein Gerichtspräsident den Staatsanwalt vor die Tür setzen oder aus dem Fenster werfen ließe! Gott hat das um Jesu willen getan. Er liebt die Menschen so sehr, dass er fortan Barmherzigkeit vor Recht ergehen lässt. Kein irdisches Gericht kann sich das erlauben, Gott hat es getan. Darin, dass er, der Gerechte, über seinen eigenen Schatten springt und die Menschen ohne Bedingung akzeptiert, erkennt man »göttliche« Liebe.
Röm 9-11: Die endgültige Versöhnung Israels Röm 9,1-5: Ist Gottes Handeln widersprüchlich? Die ersten fünf Verse des großen Abschnittes Röm 9-11 sind aus doppeltem Grund verwirrend, ja irritierend: Zum einen spricht Paulus hier genau die Prädikate bereits dem vorchristlichen Israel zu, die er in Kap. 8 gerade den Christen (aus Juden und Heiden) zugesichert hatte. Und zum anderen hält Gott offenbar an Israel, seiner ersten Liebe, fest, obwohl doch jetzt die Christen ihn als ihren Gott lieben und bekennen. Nun, Paulus gibt nach eigenem Bekunden hier ein leidenschaftliches persönliches Zeugnis seiner Liebe zu seinem Volk. Übrigens sind diese Sätze ebenso emotional gemeint (»… dass mein Volk mich mit tiefer Trauer und großem Schmerz erfüllt. Ich würde es sogar auf mich nehmen, von unserem Messias getrennt und fern zu sein, wenn ich dadurch meinen jüdischen Geschwistern helfen könnte. Sie gehören doch zu mir …«) wie juristisch; denn es handelt sich der Gattung nach um ein Zeugnis apologetischen Charakters, daher der Ich-Stil (vgl. K. Berger: Formen und Gattungen, 2005, § 113, 118). Deshalb apologetisch, weil Paulus selbst immer von Juden mit dem Vorwurf angegriffen wird, er sei abtrünnig geworden und habe sein Volk verraten.
Nach 9,4 sind die Israeliten »Kinder Gottes«, das aber sind doch die Christen nach Röm 8,15.23. Nach 9,4 hat Gott den Israeliten seine Herrlichkeit geschenkt, aber nach Röm 8,30 hat er die Christen mit Herrlichkeit ausgestattet. Nach Röm 9,4 gelten den Israeliten die Verheißungen, aber nach Röm 8,29f sind die Christen Gottes lange vorherbedachte Kinder. Nach 2 Kor 3 gilt den Christen der »Bund des Geistes«, aber nach Röm 9,4 hat er jeweils mit Abraham und Mose seinen einen und einzigen Bund geschlossen.
Ist Gottes Handeln tatsächlich widersprüchlich? Hier ist zu beachten: Alle die ehrenvollen Gaben, mit denen Gott sein Volk ausgestattet hat, betreffen sein Volk (nur) im Ganzen, nicht aber den Einzelnen in seinem Heilsstatus. Während Paulus die Kindschaft sonst stets mit dem Heiligen Geist verbindet, spricht er hier dem vorchristlichen Israel keineswegs den Heiligen Geist zu. Vielmehr bedeutet die Kindschaft des ganzen Volkes eine Auszeichnung gegenüber anderen Völkern, hier aber eben nicht den Geistbesitz des Einzelnen. (Ähnlich ist es übrigens mit dem »königlichen Priestertum«, das auch nur dem Volk im Ganzen gilt, aber keineswegs jeden Einzelnen zum Priester macht). Vielmehr ist die Kindschaft hier eher als Anwartschaft auf den
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Geist verstanden. So kann man es von Gal 3,14 annehmen. Dort spricht Paulus von der Verheißung des Heiligen Geistes für alle. Eingelöst wurde diese Verheißung aber erst nach der Befreiung vom Fluch durch Jesu Tod. Ähnlich ist es mit der Herrlichkeit. Gott hat im Alten Testament dem Volk seine Herrlichkeit gezeigt (z. B. auf dem Sinai), aber er hat nicht die einzelnen Israeliten nachhaltig in seine Herrlichkeit eingetaucht. Der einzige Israelit, der persönlich an Gottes Herrlichkeit Anteil hatte, Mose, für den erwies sich diese Herrlichkeit noch als vergänglich (2 Kor 3); es war die Zeit der endgültigen Verherrlichung noch nicht gekommen. Was die Verheißungen betrifft, so liegt in der Tat die heilsgeschichtliche Bedeutung Israels darin, seit Abraham über die Zeiten hin diese Verheißungen getragen und »offen gehalten« zu haben. Was Gottes Bundesschlüsse angeht, so kennt die Bibel nicht die Auflösung oder Aufhebung eines von Gott gestifteten Bundes. Daher kann niemand den mit Abraham geschlossenen Bund aufheben; das gilt genauso vom Mosebund und der damit verfügten Gesetzgebung. Es widerspräche vollständig dem Gedanken des Bundes sowie allem, was man von Gottes Treue erahnen kann, wenn man unterstellte, Gott würde einen Bund aufheben. Im Neuen Bund wird doch nur der Alte Bund novelliert, d. h. unter anderen Bedingungen erneuert, vertieft und ausgeweitet (auf die Heidenchristen). Das gilt auch vom Bund mit Abraham, wie Paulus in Röm 4 eindrücklich gezeigt hatte. – Daher besteht also kein Widerspruch, sondern Gottes Auszeichnungen an Israel sind der Anfang eines Weges, der jetzt seit Jesus Christus konsequent jeden Einzelnen und sein ewiges Heil einbezieht. Und weil es um jeden Einzelnen geht, der glaubt, deshalb können jetzt auch die Heiden hinzukommen. Das ist das Neue: Zugehörigkeit zu Gott durch Glauben kann für alle Heiden die biologische Zugehörigkeit zum Volk Abrahams ersetzen. Heidenchristen werden hier zu einer Form von geschwisterlicher Toleranz angehalten, die in der bisherigen Religionsgeschichte unbekannt war. Das Problem: dem, der nicht an Jesus Christus glaubt, der aber Abrahams Kind ist, sein Recht zu lassen. Den Heidenchristen »gehört« Entscheidendes nicht. Das ist gegen den nötigen Absolut-
heitscharakter jeder Religion, weil sie doch das Herz ganz beansprucht. Hier wird demnach auch den Heidenchristen etwas zugemutet.
Röm 9,6-13: Gnade und Werk Paulus zeigt hier zwei Dinge: Gott hat aus der Auswahl, die Israel selbst schon darstellt, immer noch weiter auserwählt. Er hat den Kreis der Auserwählten immer enger gezogen. Und das Zweite: Gott hat dieses ohne jeden Grund getan. Weder hat er sich selbst für sein Tun gerechtfertigt, noch hatten die Erwählten oder Nicht-Erwählten irgendwelche Vorzüge oder Makel, sei es aufgrund ihrer Beschaffenheit oder aufgrund ihres Tuns. Gottes Vorhaben steht jeweils für sich. Die Denkform, die Paulus hier verwendet, ist im Judentum und besonders bei Philo v. Alexandrien geläufig als Gegensatz von Gnade und Werk. Die Opposition von Gnade und Werk ist daher keine christliche Erfindung, sondern ist in jüdischer Erwählungstheologie vorgegeben. D. Zeller (Kommentar, zur Stelle) versucht zwar, dieses mit dem Hinweis zu bestreiten, bei Philo gehe es nicht um reale Personen, sondern um allegorisierte Verhaltensweisen. Aber da Philo Personen nennt (zum Teil dieselben wie Paulus!), gibt es ohne Zweifel, beiden Autoren vorausliegend, eine entsprechende jüdische Tradition – unabhängig von der früher oder später allegorisierten Verwendung bei Philo. Der immer enger gezogene Kreis der Auserwählten ist für Paulus Anschauungsmaterial für das, was jetzt zu seinen Lebzeiten geschieht. Die Judenchristen sind in ihrem Erwähltsein das Resultat der neuesten Eingrenzung Israels auf einen noch kleineren Kreis von Erwählten. Die bittere Konsequenz dieser kühnen Aussage muss Paulus dann in Röm 9,14-29 ziehen. Zu Röm 9,11: Philo v. Alexandrien (1. Jh. n. Chr.) Leg Alleg 3,75-88: »Gott hat Naturen gemacht, die aus sich selbst heraus tadelnswert und in ihrer Seele schuldig sind, und solche, die in allem eifrig und lobenswert sind. Wie Gott nun die Lust und den Leib ohne Gründe gehasst hat, so hat er auch ohne ersichtlichen Grund edle Naturen bevorzugt. Und er erwähnt kein Werk vor ihrem Lob (sc. das sie getan hätten). Denn wenn
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542 jemand fragte: Weshalb sagt man, dass Noah Gnade finde vor Gott dem Herrn (Gen 6,8)? Er hat doch jedenfalls nichts Edles vorher getan … Der Gerechte aber findet, dass alles Gnade Gottes ist, das Gewordene aber keine eigene Gnadengabe hat; denn es hat auch keinen Besitz, Gottes Besitz aber ist alles … ; denn Geschenk und Wohltat und Gnadengabe Gottes sind alle Dinge, die in der Welt sind, und auch diese Welt selbst. Und auch Melchisedek … hat Gott zu seinem Priester gemacht, ohne ein Werk von ihm zuvor angegeben zu haben … Was hatte aber Abram bereits Gutes getan … ?« Dann werden auch Jakob und Esau genannt. Wie in Röm 9 bietet Philo eine zeitlich geordnete Beispielreihe (gemeinsam: Isaak und Jakob/Esau). Beide Reihen illustrieren den Grundsatz der freien Gnadenwahl ohne vorgängiges gutes oder schlechtes Werk des Menschen. Allerdings betont Philo den Schöpfer, bei Paulus geht es um die weitere Heilsgeschichte.
Röm 9,14-33: Gottes Gnadenwahl – Das neue Gottesvolk Gott erwählt nicht nur willkürlich – er verstockt und verhärtet auch, das heißt: Nachdem die nicht-christlichen Juden sich einmal dem Evangelium verweigert haben, macht Gott ihr Herz noch unzugänglicher. Verstockung ist immer Strafe für anfänglichen Ungehorsam. Gott zeigt so seinen Zorn. Nach 9,22 hat er die nicht-glaubenden Juden zu Gefäßen des Zorns gemacht, die zum Untergang bestimmt sind. Schon nach 9,21 hat Gott – wie der Töpfer bei Jeremia – das Recht, »Tafelgeschirr« oder »Nachtgeschirr« (Übersetzung: Berger/Nord) zu fertigen. Die Auskunft »zur Vernichtung« in 9,22 gehört zu den härtesten über Juden geäußerten theologische Meinungen im Neuen Testament. Es ist hier zumindest nicht absehbar, wie weit diese Vernichtung geht und ob sie endgültig ist oder vielleicht nur einen Teil Israels betrifft. Aber wenn es dann in 11,26 heißt: »ganz Israel wird gerettet werden« – was bedeutet dann hier »Vernichtung«? – Nach 1 Thess 2,16 heißt es über den Ungehorsam der nicht-christlichen Juden: »Schon immer haben sie Sünden aufgehäuft, jetzt aber ist das Maß voll. Gottes Zorn ist schon
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für immer auf sie gekommen.« Da die Zerstörung im Jahre 70 n. Chr. nicht gemeint sein kann, bleibt nur, auch dort die Strafe für den Ungehorsam anzunehmen. Aber während 1 Thess 2,16 vom »für immer« spricht, wird die Zorn-Aussage von Röm 9,22 in Röm 11 relativiert. Weil ihm ein Geheimnis geoffenbart wurde (11,25), hat Paulus seine Meinung ändern können. Obwohl Gott die Nicht-Erwählten verstockt und verhärtet, sind sie dennoch verantwortlich und werden zur Rechenschaft gezogen. Ungeachtet dessen, was Gott tut, sind sie doch für ihr eigenes Tun verantwortlich (9,19: »Man kann nur fragen: Wieso darf Gott den Menschen dann zur Rechenschaft ziehen, wenn sich doch seinem Willen keiner entgegenstemmen kann?«). Gott muss sich vor einem Menschen nicht rechtfertigen. In 9,25-33 sichert Paulus das bisher in diesem Kapitel Behauptete schriftgemäß ab. Dieses Vorgehen, Schriftbeweise gewissermaßen nachzuliefern, praktiziert auch der lukanische Paulus, z. B. in Apg 13,33-41 nach dem Beginn der Rede in 13,16-32. Der ausführliche Schriftbeweis geschieht in folgenden Schritten: 1. Menschen, die nicht Gottes Volk sind, also nicht zu Israel gehören, wird Gott zu seinem Volk machen, zu »Kindern Gottes«. Im Original bezieht sich Hos 2,25 auf Israel! Gott wird nach Hosea die Trennung rückgängig machen, die er seinem Volk gegenüber vollzogen hat. Leitwort ist im Zitat »rufen« in der Bedeutung von »berufen«; die LXX hat freilich noch kein »Rufen«. 2. Wie zahlreich Israel auch immer sein mag – nur ein kleiner Rest wird gerettet werden. Die Zahl der Israeliten wird im Rahmen von Gottes Wirken eingegrenzt. 3. Allerdings werden einige Nachkommen Abrahams gerettet; von einem Verschwinden Israels kann daher keine Rede sein, trotz geringerer Zahl. 4. Israel ist mehrheitlich an dem Fallstrick und Stolperstein gescheitert, den Gott in Gestalt von Jesus »auf dem Sion«, d. h. in Jerusalem, aufgestellt hat (doch aus 11,26 wird sichtbar werden, dass dieses nicht das letzte Wort über Jesus und Sion ist).
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Das Problem des Gottesbildes von Röm 9 Ohne Wollen oder Verdienst der Menschen erwählt und verwirft Gott nach freiem Gutdünken. Nach 9,18 ist allein Gottes Wille dafür maßgeblich, ob er sich eines Menschen erbarmt oder ihn verhärtet. Zusätzlich aber werden die Menschen auch noch gerichtet (9,19). – Paulus erwähnt den Töpfer von Jes 29, mit dem man nicht rechten darf; denn es steht fest, dass der Töpfer mit seinem Ton machen kann, was er will. Das alles betrifft nicht irgendjemanden, sondern Gottes eigenes Volk und führt so weit, dass er nach Röm 9,22 die »Gefäße des Zorns zum Untergang bereitet hat«. Daher kann man fragen, ob nicht zumindest die Juden, die bis zu der in 11,26 geschilderten Situation leben, nicht einfach dem Untergang geweiht sind. Es wird noch tückischer: Nach Röm 9,33 hat Gott selbst auf den Sion (in Jerusalem) einen Stein des Anstoßes (griech.: proskomma) und des Ärgernisses (griech.: skandalon) gesetzt (d. h. Jesus mit seiner Forderung zu glauben). Ein Stolperstein oder Fallstrick ist dazu gelegt, dass man dadurch strauchelt. Im Klartext heißt das: Gott hat bei der Sendung Jesu einkalkuliert, ja damit gerechnet, dass die Mehrheit der Juden den Glauben verweigern würde. So – das war nach Paulus Gottes Kalkül – würde Raum geschaffen für die Aufnahme von Heidenchristen in das erwählte Volk. Gott »gebraucht« demnach Ungehorsam und Versagen der Mehrheit Israels, um zu seinem Ziel zu gelangen. So gibt es für die Heidenvölker jetzt die Zeit des Erbarmens Gottes. Der Aspekt, unter dem Paulus hier von Gott redet, ist demnach nicht das Antlitz des liebevollen Vater des Einzelnen, sondern Paulus spricht vom Herrn der Zeiten, vom Baumeister der Geschichte, der die Völker gegeneinander verschiebt und der sich eine Brücke zum Ziel baut, die sich über das Versagen seines eigenen Volkes spannt und darin einen Brückenpfeiler besitzt. Paulus selbst fragt in Röm 9,14, ob dieser Gott nicht ungerecht sei. Seine Antwort: Den Kategorien von Gut und Böse ist Gott nicht zu unterwerfen, nur der Mensch. Gott steht in der Souveränität seines Willens. Moralisches Vorbild für den Menschen ist er nicht. Die theologische Bedeutung dieses Abschnitts liegt darin, dass Paulus Gottesbild und Moral voneinander trennt. Gottes Erwählungswille steht über jeder Moral, denn er
will sich am Ende auf diesem Wege aller erbarmen (11,32).
Röm 10,1-7: Christus als Ende des Gesetzes (Torah)? Zwei Fragen sind wichtig: Was ist die »eigene Gerechtigkeit«, und was bedeutet Christus als »das Ende des Gesetzes«? – Die »eigene Gerechtigkeit« wird von den meisten Exegeten gedeutet als die eigene menschliche Leistung, mit der sich die Menschen auf die Hinterbeine stellen und der Gnade Gottes nicht mehr bedürfen. Gemeint seien die eigenen Verdienste, die Selbstbehauptung gegenüber Gott, also das Rückgrat des leistungsstolzen Pharisäismus. Diese Klischees hier einzutragen ist historisch und theologisch verfehlt und hat Anzeichen des Antijudaismus. Die eigene Gerechtigkeit hat nichts zu tun mit dem falschen Stolz auf nicht vorhandene Leistung, und ich kenne auch keinen jüdischen Text, der das meint. Letztlich wäre die so verstandene »eigene Gerechtigkeit« ein religiöser und moralischer Defekt. Ich sehe es so: Die »eigene Gerechtigkeit«, an der die nicht-christlichen Juden festhalten, ist die »alte Offenbarung«, die traditionelle Regel des Lebens, zu der im Sinne dieser Juden der Glaube an Jesus Christus nicht als Zusatzbedingung oder vielmehr als Schwelle zum Gottesverhältnis hinzukommt, so als beginne mit ihm überhaupt erst ein Verhältnis zu Gott. Diese Juden beharren einfach auf dem Weg, den ihnen die Torah weist, und können keine nachherige Offenbarung anerkennen. Für sie ist das, was die Christen glauben, nichts als ein völlig unvorhergesehenes und unbegreifliches, unmotiviertes Hakenschlagen Gottes. Soll denn die Zuwendung Gottes im Alten Bund wertlos sein (was die Christen, insbesondere Paulus, nicht behaupten, was man aber leicht folgern könnte)? Christus als das »Ende (bzw. Ziel) des Gesetzes« meint jedenfalls nicht die Abschaffung der Torah. In welchem Sinn der Ausdruck »Ende (bzw. Ziel) des Gesetzes«, den es vor Paulus nicht gibt, zu verstehen ist, zeigen 9,5-13. Denn genau das, was Dtn 30,14 von der Torah sagt, gilt nun und eigentlich von Christus. Die Geltung der Einzelgebote hat sich nicht geändert, denn sie sind der Wille Gottes. Aber die unmittelbare Nä-
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544 he der »Offenbarung« zum Menschen, zu Herz und Mund, ist jetzt durch den Glauben gewährleistet. Damit endet das Gesetz nur insofern, als jemand durch dieses die Gerechtheit hätte erstreben wollen, die man aber jetzt und überhaupt nur durch den Glauben erlangen kann. Das Vergleichsglied zwischen Torah und Glauben ist nicht die Worthaftigkeit (denn der Glaube wird vom Menschen formuliert), sondern das Herz als Ort des Zustandekommens der Gerechtigkeit. Nach Röm 2,29 geht es um die Beschnittenheit des Herzens, und nach Röm 10,9f wird mit dem Herzen geglaubt. Nur wenn das Herz des Menschen einbezogen ist in sein Verhältnis zu Gott, wird er gerechtfertigt; das geschieht wahrhaft im Glauben bzw. nur dann, wenn das Herz beschnitten ist. Normalerweise dringt der Torahgehorsam dagegen nicht so tief ein in den Menschen, er bleibt, wie Röm 2,28 sagt, an der Oberfläche. Christus ist hier sozusagen die Institution, bei der diese Tiefe, anders als bei der Institution Torah, erreicht wird. Die Torah schafft es nicht von sich aus und nicht allein, den Menschen so zu engagieren, dass er glaubt. Nur insofern ist Christus das Ende des Gesetzes.
Röm 10,8-13: Ablösung des Gesetzes durch Christus Dtn 30,12 hat schon zur Zeit des Apostels Paulus eine längere Auslegungstradition hinter sich. Aus dieser zitieren wir jeweils die Elemente, die exklusiv mit der Zitierung oder Auslegung in Röm 10 gemeinsam sind: Bar 3,29f (LXX) (herabbringen, vgl. herabführen in Röm 10,6); 4 Esra 4,8 (Abgrund, lat.: abyssus, vgl. Röm 10,7); Targum Jerushalmi Deut 30,12 (»Denn nahe ist euch das Wort in euren Lehrhäusern. Öffnet euren Mund, um in ihnen zu studieren; reinigt euer Herz, um sie zu tun«, vgl. Mund und Herz in Röm 10, 9f); Philo v. Alexandrien, De Virtutibus 182-184 (Auslegung auf »Umkehr« (griech.: metanoia), vgl. »glauben« in Röm 10,9; Mund, Herz und Hände vgl. Röm 10,9f); Ps 106,26 (LXX) (hinaufsteigen/herabsteigen, vgl. Röm 10,6f); ThomasEv 2 (Reich Gottes ist inwendig und außerhalb, vgl. Nähe Gottes durch Jesus Christus in Röm 10). – Fazit: Dtn 30,12 hat eine breite Wir-
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kung entfaltet, die Judenchristen zur Zeit des Apostels Paulus sicher geläufig war. Man beachte die Ergänzung um das »Tun« in den jüdischen Texten und dessen Fehlen bei Paulus. An der Art, wie Paulus hier das Alte Testament (Dtn 30,12-14) auslegt, kann man gut begreifen, was er überhaupt unter Theologie versteht. Denn Wortlaut und Kontext der Schriftstelle im Ausgangstext sind für ihn kein Maßstab. Statt die Stelle auf das Gesetz zu beziehen, wie es der Kontext fordert, wendet er sie an auf die Auferstehung Jesu und das Bekenntnis zu ihr. In Dtn 30,12f heißt es: Man muss nicht in den Himmel hinaufsteigen oder in Meerestiefe hinabsteigen, um das Gesetz dort zu suchen, nein, es ist nahe bei Mund und Herz. Gott hat es durch Mose aufschreiben lassen und vorgelegt; so ist es nicht weit weg, sondern kann angeeignet und gelebt werden. Was macht Paulus daraus? Er legt die Stelle aus auf Jesu Auferstehung und das Bekenntnis zu ihr. So kommentiert er die einzelnen Stücke der Schriftstelle je für sich. Auf die rhetorische Frage: »Wer soll in den Himmel hinaufsteigen?« antwortet er: Das müsste dann einer tun, um Christus herabzuholen. Aber er ist doch schon vom Himmel gekommen, von Gott gesandt. Und auf die rhetorische Frage: »Wer soll in die Meerestiefe hinabsteigen (sc. um das Gesetz von dort zu holen)?«, antwortet er, indem er die Stelle auf Christus bezieht, ein solcher müsste in Meerestiefe, ins Totenreich hinabsteigen, um Christus heraufzuführen. Aber, so kann er selbstverständlich einwenden, das ist doch längst geschehen, denn Christus ist auferstanden. Wir sehen daher: An beiden Stellen hat Paulus einfach »Christus« statt »Gesetz« denken wollen. Wenn es heißt: »Nahe ist (sc. das Gesetz) deinem Mund und deinem Herzen«, dann deutet Paulus den Mund einfach auf das Bekennen (sc. der Auferstehung Jesu) und das Herz auf den Glauben, denn mit dem Herzen glaubt man. Und er ergänzt: Das Bekennen des Mundes bezieht sich auf die Rettung, das Glauben des Herzens auf die Rechtfertigung. Auch diese Anwendung kann Paulus mit der Schrift beweisen. Denn es gibt ja eine schöne Stelle bei Jesaja: »Jeder, der an ihn glaubt, wird nicht zu Schanden.« Diese Stelle aus Jes 28,16 erweist zum einen das, was »Glauben« aus V. 9 bedeutet: Denn wer gerechtfertigt und gerettet ist, wird nicht zu Schanden. Zum ande-
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Kapitel 10
ren findet Paulus in dem Wörtchen »Jeder« (sc. der an ihn glaubt) einen Bezug auf alle Menschen, also auf Juden und Heiden. Wunderbar, sagt Paulus: Also ist die Universalität des Glaubens für Juden und Heiden schon beim Propheten selbst angedeutet. Dann aber kommt Paulus auf seine Rede vom Mund zurück. Jes 28 ist ja eher eine Auslegung der Rede vom glaubenden Herzen. Nun aber zitiert er für den Mund, für den bekennenden Mund, auch noch Joel 3,5; dort steht: »Jeder, der den Namen des Herrn anruft, wird gerettet werden.« So hat Paulus dann die Doppelheit von Herz und Mund aus Dtn 30,12 noch einmal durch zwei Schriftstellen unterfüttert. In Jes 28 ist vom Glauben die Rede (Herz) und in Joel 3,5 vom Bekennen (Mund). So kann Paulus zwar keine Schriftstelle vorlegen, die von der Auferstehung Jesu spricht. Aber das Szenario rund um den Auferstehungsglauben hat er durch Schriftworte erstellt: von Himmel und Unterwelt, von Herz und Glauben, Mund und Bekennen und schließlich von Rechtfertigung und Rettung. Nun könnte man Paulus vorwerfen, seine Inanspruchnahme der Schrift sei unfair, verstoße gegen den Wortlaut und sei insofern frech. Aber wenn man theologisch beurteilt, was Paulus tut, sieht das Ganze doch anders aus. Denn das Thema in Dtn 30,12-14 ist die Nähe Gottes. Gottes Wille muss nicht irgendwo zwischen Himmel und Erde gesucht werden, sondern Gott ist den Menschen durch die Torah nahe gekommen. Wer er ist und was er will, das kann man aus der Schrift erkennen. Aber diese Nähe bleibt doch vorerst ein Gegenüber. Denn auch das Nahe muss der Mensch sich aneignen. Und daran haperte es bekanntlich vor Christus, und im Röm kann das jede Seite verkünden. Mit der Torah ist Gott einen großen Schritt auf die Menschen zugegangen. Aber die Torah ist weithin eine fremde, fürchtenswerte (weil verurteildende, stets kritisierende) Hausordnung geblieben und wurde nicht wirklich das Steuerprogramm (die innere Software) der Menschen; sie lässt weiterhin und immerzu sichtbar werden, dass die Menschen sie nie vollständig erfüllen werden. Wer sich da nicht auf ein grundsätzlich anderes Gleis begibt, den verurteilt das Gesetz nach wie vor, der steht »unter dem Gesetz«. Nach Paulus gilt das für alle, die meinen, ohne den Glauben an Christus, ohne
545 Christus, auskommen zu können. Und genau das, sagt er, geht nicht. Denn die wirkliche Nähe Gottes zu den Menschen ist erreicht, wenn nicht mehr die Torah den Menschen gegenübersteht, sondern wenn Gott selbst in den Menschen wohnt. Dies ist möglich, wenn Gott seinen Heiligen Geist in die Herzen der Menschen ausgießt (Röm 5,5) und dadurch in ihren Herzen wohnt. So können die Menschen glauben, denn der Glaube wird durch die Kraft des Heiligen Geistes bewirkt (1 Kor 2,4f). Und das Tun der Torah, das jetzt möglich sein kann, geschieht, wenn man sich dem Heiligen Geist ganz zur Verfügung stellt und diesen Rückenwind beharrlich ausnützt. So ist – das können wir jetzt nachvollziehen – der ganze Abschnitt Röm 10,8-13 ein einziger Kommentar zu dem berühmten und umstrittenen Satz »Christus ist das Ende des Gesetzes« in Röm 10,4 (Übers. Berger/Nord: »Denn Christus hat das gebracht, was das Gesetz nicht leisten konnte«). Gegenüber harmonisierenden und betulichen Auslegungen geht es in Röm 10,4 wirklich um die Ablösung des Gesetzes. Das Gesetz ist von Gott, und Gott pflegt nichts zu widerrufen. Vielmehr verrät uns der Abschnitt Röm 10,8-13 genau, in welcher Richtung das Gesetz durch Jesus Christus – näherhin durch Auferstehung, Geistausgießung und Glaube – überboten wird: in Richtung heilschaffender Nähe Gottes zu den Menschen. So kann man hier gut beobachten: Gott hebt nicht auf und löst nicht auf, aber er stößt weiter in derselben Richtung vor, die er mit der Gabe des Gesetzes begonnen hatte. Es ist die Richtung, dass Gott den Menschen nahe sein will, es ist die Richtung zum Herzen. Nicht zufällig nimmt Paulus an anderer Stelle auch alttestamentliche Texte für das Neue in Beschlag, in denen etwa von der Beschneidung des Herzens die Rede ist (s. zu Röm 2,29). Genau diese Zielrichtung zum Herzen hin ist Gottes Vorhaben, das er mit Ostern und Pfingsten wirklich durchführt. Gott kommt gewissermaßen erst zur Ruhe, wenn er wirklich in unserem Herzen angekommen, angenommen und geliebt ist. Das Ziel ist seit Dtn 6,4f (Lieben aus ganzem Herzen …) bekannt, aber den genauen Weg wissen wir erst seit Jesus Christus. Dieser Abschnitt in Röm 10 ist damit für paulinische Theologie und christliches Menschenbild von großer Bedeutung: Die biblische Religion ist
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546 zweifellos ihrer Zielsetzung nach die Religion der Liebe. In den Herzen wohnend will Gott bei und mit den Menschen sein.
Röm 10,14-21: Verkündigung des Glaubens In diesem Abschnitt reflektiert Paulus über die Verkündigung. Er macht deutlich: Erstens geht sie von Gott aus. Er handelt (V. 15: sendet; V. 19: macht eifersüchtig); in demselben Sinne richtet der Apostel das »Wort von Christus« aus (V. 17). – Zweitens sind die Menschen ihm gegenüber gehorsam oder ungehorsam, auf jeden Fall aber verantwortlich; Paulus spricht nicht von Sehnsucht, sondern von Gehorsam. – Drittens geht es um eine frohe Botschaft, die Gutes betrifft (V. 15); die Welt könnte ja meinen, dass sie die Botschaft nicht benötigt; Paulus aber meint, dass sie sie braucht. – Viertens wusste schon Jesaja, dass das Ankommen der Botschaft gefährdet ist (V. 16); dieser Vers wird auch sonst im ältesten Christentum zitiert, um erfolglose Prediger zu trösten, so in Joh 12,38 (bemerkenswert: wie bei Paulus im unmittelbaren Kontext zur Verstockung in 12,40; da liegt wohl eine gemeinsame Zuordnung der Stelle Jes 53,1 und des Themas Verstockung vor); vgl. 1 Clem 16,3; Justin, Dial 42. Der Abschnitt wird zusammengehalten durch das für die Theologie der Völkermission jeweils typische »alle«: V. 11 (jeder, der glaubt), V. 12 (Herr aller, reich für alle), V. 13 (jeder, der anruft), V. 16 (nicht alle), V. 18 (in alle Lande) und dann besonders durch »Wort« (griech.: rhema): V. 17 (Wort Christi), V. 18 (ihre Worte). Zu Röm 10,17: Zu Glauben und Hören vgl. Röm 1,5 (gehorchen); Gal 3,2.5 (Werke parallel zu hören); 1 Thess 2,13 (hören, glauben). In 10,18 (in alle Lande) gibt es einen Bezug zur Situation des Röm: Paulus will gerade zu den Grenzen der Erde aufbrechen (Röm 1,15, vgl. Apg 1,8). Thema des ganzen Abschnittes ist die Verkündigung des Glaubens. In V. 14f wird ein Kettenschluss (soreites) entfaltet, und in zeitlicher Abfolge wird folgender Weg der Verkündigung entworfen: Sendung – Verkündigung – Zuhören – Glauben – den Namen des Herrn anrufen –
Der Römerbrief
gerettet werden. Durch die Form des Kettenschlusses will Paulus eine Abfolge als stringent suggerieren, die in Wirklichkeit fraglich, locker und ungewiss ist. Die »Kette« ist ein Traum, der an der Wirklichkeit zerbricht. Ab V. 15 folgen dann Schriftbeweise (Zweiteilung der Argumentation wie oben in 9,14-24.2533). Auffällig ist dabei eine durchgehende Anlehnung an Jes 52-65 (Midrasch zu diesen JesajaKapiteln). V. 15 lobt die Verkündiger; ihr Dienst wird mit Jes 52,7 als herrlich gepriesen, weil er Rettung zur Folge hat. Dann greift Paulus die Abfolge von Zuhören und Glauben auf: Aus dem Zuhören müsse Gehorsam (sc. des Glaubens) werden (Wortspiel im Griechischen: akoe = Hören, hypakoe = Gehorchen). Aber schon Jesaja hat den Zusammenhang von Hören und Glauben kritisch gesehen (Jes 53,1). So wiederholt 10,17f noch einmal die »ideale« Abfolge in der Verkündigung (vgl. V. 14f): Christi Wort – (Aussendung in) alle Welt, bis an die Grenzen der Erde, verkündigende Worte (V. 18) – Hören auf das Wort – Glaube. 10,19-21 teilt zwischen Juden und Heiden. 10,19f wendet zwei Schriftstellen auf die Heidenmission an, darunter Jes 65,1 in 10,20; 10,21 spricht in Gestalt von Jes 65,2 direkt zu Israel. Das heißt: Die beiden aufeinanderfolgenden Verse Jes 65,1.2 werden auf Heiden und Juden aufgeteilt. Eine vergleichbare Aufteilung von Schriftstellen gibt es in Barn 3,1 (für die Juden); 3,3-5 (für Christen). In den beiden Zitaten wird der Block Jes 58,4f von Jes 58,6-10 geteilt und verteilt (beachte: Auch in Barn wird aus den Schlusskapiteln von Jes zitiert). – Vgl. auch Barn 9,1 und 9,2. Das Ziel des Abschnittes 10,18-21 ist die Feststellung der Unentschuldbarkeit Israels (18: »Hat Israel etwa keine Gelegenheit gehabt, die Botschaft zu hören? … 19: Hat Israel die Botschaft vielleicht nicht verstanden? … 19b: Also habt ihr die Botschaft dann doch nicht verstanden!«). Insofern korrigiert dieser Abschnitt den durch Kap. 9 nahe gelegten Eindruck, als sei Gottes Erwählung oder Verstockung die Ursache für die desolate Situation, in der Israel seinen Messias mehrheitlich nicht annimmt.
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Kapitel 11
Röm 11,1-10: Gottes Treue
Röm 11,11-12: Heidenchristen
Paulus zeigt in diesem ganzen Kapitel: Gott steht treu zu seinem Volk. Das, was jetzt irritiert, ist nicht neu in der Geschichte Gottes mit seinem Volk. Gott hat wiederholt schon einen Rest gebildet. Die jetzige Verstockung eines Teils der Juden dient nur der Hinzunahme der Heidenchristen. Auch diese sind – wie Israel jetzt – durch Unglauben in ihrer Position gefährdet. Am Ende wird Gott Israel die Gelegenheit geben, sich mit ihm zu versöhnen. In 11,1-10 wird aus der Schrift der Dissens zwischen dem Propheten Elia und Gott geschildert. Elia klagt, er sei der einzige, Übriggebliebene. Gott korrigiert ihn: 7000 Männer sind übrig geblieben. Nach 11,5f war hier freilich Gottes Gnade wirksam, nicht eine vorgängige positive Qualifikation dieser Männer durch ihre Werke. Wie bereits zu 9,11 dargestellt, ist der Gegensatz zwischen Gnade und Werken bereits jüdisch-hellenistisch. Paulus hebt in 11,5f die Aktivität Gottes hervor, weil nur dann, wenn Gott überhaupt in der Geschichte handelt, auch sein Handeln aus Treue am Ende der Geschichte (11,26) glaubhaft wird.
Hier vollzieht Paulus nun explizit die Wende. Der Weg aus dem Beklagenswerten soll frei werden, auf dass die Heiden zum Heil gelangen. Immerhin ist also Verstockung kein menschlichprofaner, störrischer Vorgang, sondern ein (negativ) inspirativer. Dies ist im Rahmen des pneumatologischen Dualismus (d. h. Geist der Umnachtung oder Geist der Freude) zu neutestamentlicher Zeit zu sehen bzw. zu verstehen.
Zu Röm 11,7: Was ist das, was Israel gesucht und nicht erlangt hat? Ein ähnlicher Satz steht in 9,31: »Doch Israel, das so sehr darauf aus war, in der Erfüllung des Gesetzes als gerecht dazustehen, konnte das Gesetz nicht wirklich ganz erfüllen und hat diesen Maßstab verfehlt.« Vom Suchen/Versuchen Israels ist auch in 10,2 die Rede: »Sie versuchen, auf ihrem alten, rein jüdischen Weg gerecht zu werden …«). Stattdessen hat Gott gehandelt. Gott hat durch sein gnadenhaftes Auserwählen (eines Restes) das beharrliche Streben Israels, sich durch Erfüllung des Gesetzes als Gottes Volk zu erweisen, durchkreuzt und in gewisser Hinsicht (jedenfalls in der Beanspruchung der exklusiven Legitimität) beendet. Zu Röm 11,8-10: Mit drastischen Zitaten wird die Verstockung Israels, sofern es an Jesus nicht glaubt, geschildert. Der »Geist der Umnachtung«, den Gott sendet, ist das Gegenteil des »Heiligen Geistes«. Beachte: Verstockung ist biblisch gesehen stets der 2. Schritt der Reaktion Gottes auf menschlichen Ungehorsam.
Zu Röm 11,11b: »Gott wollte die Juden zornig machen« (oder: reizen). Geschieht das, indem er sie durch die Heidenmission eifersüchtig macht? Hier hat sich Paulus von der Wirkung der Heidenmission wohl zu viel versprochen. Zu Röm 11,15: Wahrscheinlich geht es nicht um Verwerfung und Wiederannahme, sondern um Verlust, den Israel erleidet, und Gewinn, den es durch Wieder-Einsetzung erlangt. Verwerfung widerspräche auch 11,2. – »Leben aus Toten« (Auferstehung) muss allerdings nach der Logik der Steigerung mehr sein als Versöhnung und kann daher nicht bloße Bekehrung sein, was bei einer metaphorischen Deutung möglich wäre. O. Michel (Kommentar zum Römerbrief) bemerkt zu 11,15: »Versöhnung der Welt und Leben aus Toten sind offenbar festliegende eschatologische Prozesse, die stufenweise aufeinanderfolgen.« Diese These wird durch Targumim ebenso bestätigt wie teilweise bereits durch 11,25 (Abfolge von Völkerversöhnung und Rettung ganz Israels). Die »Versöhnung der Welt« ist dabei der Frieden (die Gerechtigkeit) am Abschluss der Geschichte des ersten Äons. Traditionell ist dieses die Station, bei der Gott die bestehende Welt abschließend ordnet, die ausstehenden Verheißungen erfüllt und die noch mangelnde Gerechtigkeit durchsetzt; der dafür verwendete Ausdruck »Versöhnung« ist typisch paulinisch. Die Auferstehung dagegen ist der Beginn des neuen Äons. Zu Röm 11,16a: Die Teighebe (nach Num 15,1721). Der Grundsatz »Anfang heilig – alles heilig« ist aus dem Bereich des Kultischen gewonnen. Am Ölbaum ließ er sich nicht demonstrieren, wohl aber nach Num 15 an der Teighebe. Denn
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548 hier konnte Paulus die Übertragbarkeit von Heiligkeit direkt beweisen. Dagegen kann man Herausschneiden und Wiedereinsetzen an der Teighebe nicht zeigen. Also ist die Kombination beider Bilder notwendig; zur Übertragung von Heiligkeit vgl. auch 1 Kor 7: Wenn ein Teil der Familie getauft ist, sind die anderen mit geheiligt. Zum Bild der Wurzel vgl. auch Hen (äth) 93,8 (Geschlecht der auserwählten Wurzel).
Röm 11,17-24: Gleichnis vom Ölbaum Das Ölbaumgleichnis lässt folgende Entwicklungen zu: a) Herkunft von der Wurzel, Stamm, Äste. b) Die Äste bleiben darin. c) Äste werden herausgetrennt (und verdorren). d) Fremde Äste von einem wilden Ölbaum werden an der Stelle eingesetzt, an der Äste herausgetrennt wurden. e) Diese neuen, einst fremden Äste bleiben im Ölbaum. f) Diese neuen, einst fremden Äste werden auch wieder aus dem Ölbaum entfernt. g) Die herausgetrennten alten Äste werden wieder eingesetzt. Mit diesen Bildern kann Paulus umfassend die Ereignisse des 1. Jh. beschreiben. Für alle Juden gilt a), für alle Heidenchristen gilt d) und wahlweise e) oder f). Für die Judenchristen gilt a) und b), für alle nicht an Jesus glaubenden Juden gilt a) und c), und, so ist es die Hoffnung des Apostels, auch g). – Damit wird deutlich, womit Paulus nicht rechnet: dass die Judenchristen der Gegenwart selbst noch vom Baum getrennt werden, etwa weil sie übermütig werden könnten. Interessant ist die Begründung für die Möglichkeit f): Das freche Sich-Rühmen nach 11,18.21 entspricht dem bereits negativ bewerteten SichRühmen in 2,17 und 3,27. Die Ablehnung des übermütigen Stolzes bei Juden oder Heidenchristen kann daher als ein Thema des Römerbriefs gewertet werden. Dass Paulus in diesem Sozialvergehen ein wesentliches Merkmal der Unerlöstheit sieht, geht z. B. aus 1 Kor 1,29-31 und Gal 6,13 hervor.
Der Römerbrief
Röm 11,13-15.29-32: Versöhnung in der Endzeit »Röm 11« ist für Theologen ein Fachausdruck, und das mit Recht. Zum dem Thema Endzeit hat Paulus einige Kapitel geschrieben (1 Kor 15; 1 Thess 4f; 2 Thess 2). Aber nur hier sagt er etwas über die Art, in der Gott seine Treue gegenüber Israel zeigen wird. Nur hier spricht er über die endgültige Versöhnung Gottes mit seinem eigenen Volk. Paulus steht hier in beachtlicher Übereinstimung mit einem Stück der so genannten Logienquelle: mit Lk 13,34f; Mt 23,37-39 (Berger/Nord, Das Neue Testament, 291, Nr. 52). Das gemeinsame Schema ist: Ungehorsam gegenüber dem Evangelium – Zeit der Bestrafung wegen des Ungehorsams – Begegnung mit dem wiederkommenden Christus – die Juden akzeptieren Jesus (und werden so erlöst). Diese strukturelle Übereinstimmung ist beachtenswert, denn Paulus pflegt Stoffe der Evangelien nicht gerade ausführlich zu berichten. Er hatte offenbar Kenntnis von diesem sehr wesentlichen Punkt der Verkündigung Jesu. Dass sich Israel am Ende bekehren wird, macht eine jetzt praktizierte Mission an den Juden nicht überflüssig oder unnötig. Paulus selbst betreibt sie ja auch zumindest indirekt (11,14). Im Übrigen ist die Frage »Ist das nötig?« bibeltheologisch unangemessen, weil es bei Gott immer um die Fülle (des Gnadenangebots) geht. Die am Beginn dieses Stücks wichtigen Verse 14f haben wir so übersetzt (Berger/Nord, Das Neue Testament): »Meine jüdischen Geschwister will ich zum Protest herausfordern, um sie zum Nachdenken zu bringen; vielleicht kann ich ja einige von ihnen retten. Dass jetzt die meisten Juden verstoßen wurden, hat der nichtjüdischen Welt die Versöhnung gebracht. Wenn aber am Ende diese Juden wieder angenommen werden, wird es für alle das Fest der Auferstehung sein.« Den »Protest« hat Paulus tatsächlich erreicht, und er führte letztlich zu seinem Martyrium. Denn für Juden war es ein Ärgernis, dass Paulus mit seinen Heidenchristen zusammen heidnisch und nicht jüdisch lebte. So musste er als abgefallener Jude erscheinen. Das Prinzip der antiken Pädagogik – der Lehrer kann nur verlangen, was er selbst lebt – machte freilich aus missionarischen Gründen diesen Lebensstil nötig. Nachdenken könnten die Juden darüber, dass Paulus sich nicht ohne Grund den Heiden zuwendet, son-
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Kapitel 11
dern dies tut, nachdem Israel den Gehorsam verweigert hat. Paulus hat dies in Röm 9f dargestellt. In seiner Praxis folgt er dem schon bei Johannes dem Täufer und dann in der Überlieferung der Logienquelle sowie in der Apostelgeschichte gelebten Grundsatz: »Wenn ihr nicht wollt, kommen andere dran«, was nichts anderes heißt als: Wenn Israel das Evangelium ablehnt, wird es den Heiden verkündigt. Dieser Grundsatz ist eine der folgenschwersten theologischen Entwicklungen über das Alte Testament hinaus. Denn die Folge war die Heidenmission. – In unserem Stück argumentiert Paulus mit dem berühmten Schlussverfahren vom Geringeren auf das Größere: Wenn schon die Verstoßung Versöhnung bedeutete, um wieviel mehr bedeutet dann ihre Wiederannahme das Fest der Auferstehung. Auferstehung ist die Steigerung von Versöhnung. Der zentrale Satz des Schlusses von Röm 11 ist V. 32: »Denn alle, jeden zu seiner Zeit, hat Gott in den Ungehorsam geführt, um sich am Ende aller erbarmen zu können.« Der Satz ist eine bündige Summe paulinischer Geschichtstheologie. Objekt des Führens und Erbarmens sind Heiden und Juden. Nur sind die Zeiten des Ungehorsams und des Erbarmens gegeneinander versetzt: Erst sind die Heiden ungehorsam, und zwar bis hin zu Jesus Christus. Sie folgen nicht den Hinweisen der Schöpfung auf den Schöpfer (Röm 1) und auch nicht der Torah des Mose oder den übrigen Propheten. Aber sie folgen jetzt in der Heidenmission des Apostels dem Ruf des Erbarmens Gottes. Jetzt ist für sie die Zeit der Gnade. Die Juden dagegen verweigern sich mehrheitlich dem Evangelium. Für sie wird die Zeit der Gnade erst kommen. Aber dazu muss der Herr selbst (durch Jesus Christus) auf dem Berg Sion erscheinen und so Jes 59,20 wahrmachen. So ist für sie zur Zeit der Abfassung des Römerbriefs und bis jetzt die Zeit des Ungehorsams (seit Jesu Auftreten). Dann aber wird die Zeit des Erbarmens kommen. Durch diese Schachtelung von Ungehorsam und Erbarmen – dass also in der Gegenwart die Heiden Erbarmen finden, während die Juden ungehorsam sind – kann Gott die Heiden gewinnen. Denn er wendet sich ihnen zu, weil die Juden verstockt und blind in ihrem Ungehorsam sind. Das Ziel der Geschichte ist aber das Erbarmen mit allen. Gott wird sich am Ende aller er-
549 barmt haben. Er erreicht dieses Ziel durch die Verstockung der Juden jetzt, aber ebenso auch durch die besondere Zuwendung speziell zu den Juden am Ende. Denn nach 11,26f wird Gott für die Juden auf dem Sion erscheinen. – Diese Aussage entspricht tatsächlich jüdischer zeitgenössischer Zukunftserwartung. Wer etwa die Apokalypse von 4 Esra (1. Jh. n. Chr.) kennt, wird dort finden, dass Israel für das Ende der Zeit das Kommen des Menschensohnes als des Weltenrichter auf dem Sionsberg erwartet. Dieses Kommen geschieht zugunsten Israels – aber nach jüdischer Erwartung auf Kosten der Heiden. Denn diese werden – so die jüdische Erwartung – bei der Völkerwallfahrt nach Jerusalem dort niedergestreckt und abgeurteilt. Nicht so bei Paulus. Das endgültige Kommen Gottes auf dem Sionsberg steht nicht im Zeichen der Vernichtung der Heiden, sondern folgt auf deren Annahme in der Völkermission. Die in Röm 11 entfaltete Geschichtstheologie übernimmt daher aus der traditionellen jüdischen Endzeiterwartung nur das Stichwort »Sion« und »Versammlung aller Völker am Sion«. Und sie übernimmt aus der Logienquelle das Motiv der endgültigen Versöhnung Israels mit Gott beim Wiederkommen des Messias. – In der Kombination dieser Elemente ist diese Theologie einzigartig und ohne Vorbild. – Dennoch entstehen für den neuzeitlichen Leser bei der Lektüre von Röm 9-11 Fragen, die sich nicht alle beantworten lassen, zumindest nicht leicht. Erste Frage: Wenn Gott »in den Ungehorsam führt«, ist das dann eine Art Prädestination, bei der die Menschen unschuldig bleiben, aber Gott gewissermaßen selbst schuldig wird? Antwort: Nein! Die Menschen bleiben immer für ihren Ungehorsam selbst verantwortlich. Aber Gott hat nach Röm 9,33 auf dem Berg Sion, also auf demselben Berg, der danach zum Berg der Erlösung wird (vgl. Röm 9,33 mit 11,26), sozusagen eine Falle aufgestellt, in die nach menschlichem Ermessen die Juden hineintappen mussten. Denn Jesus war nicht gerade der Messias, der einem konservativen Juden den Glauben an Jesu Messianität erleichtert hätte. Das Wort »skandalon« in Röm 9,33 heißt eigentlich »Fallstrick«, und wir haben es mit »Falle« übersetzt. In den üblichen Übersetzungen wird wenig verständ-
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550 lich wiedergegeben mit »Stein des Ärgernisses«, an den die Juden stießen. Jesus ist deshalb dieser Stein bzw. diese Falle, weil er sich nicht eindeutig als Messias ausgewiesen hat: Er hat die Römer nicht vertrieben, hat sich nicht durch Zeichen am Himmel legitimiert und war hilflos am Kreuz – nicht gerade Empfehlungszeichen für einen Messias. Die Wunder, die er wirkte, brauchte er als Messias gar nicht zu tun, denn ein Messias musste dergleichen gar nicht bewirken können, wohl aber eine Befreiung politischer Art. – Insofern konnten die Juden an Jesus sehr leicht irrewerden, weil Gott ihn nicht gerade als einen zustimmungsfähigen Messias gesandt hatte. Im Übrigen liegen Gottes Fügung und das Versagen der Menschen hier und auch sonst ineinander. Sie schließen sich gerade nicht gegenseitig aus, sondern durch das Tun des Menschen hindurch vollzieht sich Gottes Führung. Frage zwei: Wenn Gott das Versagen der Juden sich gewissermaßen zunutze macht, um sogleich die Heiden zu berufen, wird Gott da nicht zu einem Gott, der mit der Sünde, dem Versagen der Menschen, kooperiert? Hat Gott nicht das Versagen der Juden gebraucht, also die Sünde instrumentalisiert, um auf diesem Wege zum Heil aller zu gelangen? Antwort: Ja, Gott hat so gehandelt. Er handelt – biblischem Denken gemäß – öfter nach dem Muster, dass er aus dem Unheil Heil werden lässt, wenn die Menschen verantwortlich versagt haben. Frei nach dem Schema: Wenn es schon so weit gekommen ist, was wird Gott daraus machen? Auch das Exsultet der Osternacht kennt dieses Denken: Adams Schuld war letztlich glückhaft und wahrhaft notwendig, weil Gott darauf mit der wunderbaren Sendung des Erlösers reagieren konnte, die auch das Paradies weit überstrahlt. Zu Röm 11,25: Mit »Mysterium« (Geheimnis) bezeichnet Paulus hier und in 1 Kor 15,51 jeweils eine besondere »apokalyptische« Einsicht (de facto handelt es sich auch in 1 Thess 4,15-17 um eine derartige Einsicht, nur dort als »Herrenwort« deklariert). Sie betrifft stets ein Stück der so genannten apokalyptischen Ereignisordnung. Für die Leser hat das Stichwort »Geheimnis« jedenfalls Signalwirkung, da wenigstens sie hier
Der Römerbrief
etwas Neues erfahren. Aus Offb 17,7 und Mk 4,12 könnte hervorgehen, dass es sich auch bei Paulus um die verbale Entfaltung eines vorher verschlüsselten Offenbarungsinhalts handelt. Dieser kann visionär oder per Schriftwort oder per Gleichnis vermittelt worden sein. Der Ausdruck »Fülle der Heidenvölker« hat übrigens nichts zu tun mit den »Zeiten der Heidenvölker« nach Lk 21,24, die am Ende erfüllt werden müssen. Denn bei den Letzteren handelt es sich um die dreieinhalb Zeiten, in denen die Heiden auf Jerusalem herumtrampeln (die letzte halbe Woche der Apokalyptik, vgl. auch Offb 11,9; 13,5-7). Zu Röm 11,26: Der Ausduck »aus Zion« meint nicht das himmlische Jerusalem, sondern den Punkt, von dem das rettende Handeln (vgl. 1 Thess 1,10) seinen Ausgang nimmt. Zu Röm 11,26f: Ähnlich ist 4 Esra 13,3 u. a.: »Und ich sah … es flog herbei jener Mensch mit den Wolken des Himmels. (35) Er wird stehen auf dem Gipfel des Berges Sion, Sion aber wird kommen und allen gezeigt werden als bereitet und auferbaut, so wie du gesehen hast, dass der Berg ohne Hände losgeschlagen wurde. Mein Sohn selbst aber wird die Völker, die angekommen sind, in ihren Ungerechtigkeiten überführen … und er wird sie ohne Mühe vernichten durch das Gesetz, das dem Feuer ähnlich ist … (49) … er wird schützen das Volk, das übrig blieb.« – Für Paulus ist der Erlöser der wiederkommende Jesus; er ist auch nach 1 Thess 1,10 der Befreier. Während nach 4 Esra die Heiden vernichtet werden, werden sie nach Paulus gerettet; vgl. aber 4 Esr 13,29: »zu befreien, die auf der Erde sind«. – Auch das Orakel des Hystaspes (persisch) nach Lactantius Div Inst 7,17,9.18 (Berger/Colpe, Textbuch, Nr. 395) spricht von einer großen Menschenmenge rund um den Berg, auf dem die Gerechten sind: »Gott wird einen König vom Himmel senden, der sie erlöst und befreit und die Gottlosen mit Schwert und Feuer vernichtet … vom Vater wird der Sohn Gottes gesandt, der alle Bösen vernichtet und die Frommen befreit.« – Es gibt eine gemeinsame Tradition für Jes 59 (von Paulus in Röm 11 zitiert), das Orakel des Hystaspes, 4 Esr 13 und Röm 11 mit den Elementen: ein Berg als Versammlungsort, Gerechte
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Kapitel 11
und Ungerechte, ein von Gott kommender Befreier als Sohn Gottes, Befreiung. Zu Röm 11,27: Was wird nun genau mit den noch nicht christlichen Juden am Ende geschehen? Sie werden, hofft Paulus, nicht im Unglauben verharren (11,23), dann können sie wieder in den eigenen Ölbaum eingesetzt werden (11,24; ein übrigens botanisch unmöglicher Vorgang). Wenn dann die Fülle der Heidenvölker sich bekehrt hat (11,25), wird »ganz Israel gerettet«. Nach 11,27 entfernt Gott den Frevel und vergibt die Sünden. Das ist die Erfüllung des Bundes von Jer 31. Nach 11,31 werden sie so »Erbarmen finden«. Das ist wenig konkret. Die Grundbedingung ist in 11,23 genannt: Nicht im Unglauben verharren, und im Kontext des Römerbriefs bezieht sich das auf den Glauben an Jesus Christus. Es wäre auch nicht vorstellbar, dass Israel mit seinem eigenen Messias nicht Frieden schließen sollte. Außer Röm 9,4 ist 11,27 die einzige Stelle, in der Paulus in diesem Brief vom Bund spricht. Paulus hält sich an Jer 31 und nennt völlig zutreffend das Entscheidende, durch das der Bund von Jer 31 über den mit Abraham und Mose geschlossenen hinausgeht: die direkte Sündenvergebung. Warum redet Paulus hier nicht vom Neuen Bund? Ihm ist an der Übereinstimmung mit den bisherigen Bundesschlüssen gelegen, daher hat er sie in 9,4 zusammengefasst. Nicht-jüdische Leser seines Briefes wären durch das Attribut »neu« irritiert worden. So lässt der Singular in 9,4 auch erkennen, dass der Bund von Jer 31 nichts anderes ist als eine endgültige Variation des einen Bundes, der durch verschiedene Bundesschlüsse Zug um Zug umgesetzt wird, am Ende durch Vergebung der Sünden. Zu Röm 11,28: Der Ausdruck »gemäß dem Evangelium Feinde wegen euch« bedeutet: Wegen der Hinzunahme der Heidenchristen sind die jetzt ablehnenden Juden »Feinde«, und zwar genau diejenigen, die das Evangelium selbst als Feinde vorsieht oder nennt; daher der Ausdruck »gemäß dem Evangelium«. Was sind das für Menschen? Entweder solche, die Gott als Feinde ansieht (Röm 9,13), oder solche, die von sich aus aktiv Feinde Gottes sind, z. B., indem sie das Evangelium behindern (auch die Christenverfol-
ger nach Mt 5,44; die Feinde des Kreuzes Christi nach Phil 3,18).
Röm 11,33-36: Kurzformel des Glaubens »Alles kommt von ihm, hat durch ihn Bestand und kehrt zu ihm zurück« ist der Kernsatz dieser Doxologie (vgl. K. Berger, Formen und Gattungen, 2005, § 78). Paulus konnte sich mit einer solchen Formel in seiner Umwelt verständlich machen. Stoische und jüdische Parallelen bieten das Schema »aus ihm … auf ihn hin«. Paulus bietet in 1 Kor 8,5 Ähnliches, nur stärker christologisch: »Wir kennen nur den einen Gott und Vater, der alles geschaffen hat und für den wir leben, und einen Herrn, Jesus Christus, durch den alles geschaffen ist, auch wir.« Anders, noch viel stärker christologisch, ist das verwandte Stück am Ende des Kanonteils der Messe: »Durch ihn und mit ihm und in ihm … alle Ehre und Herrlichkeit«. Auch hier: Präpositionen und »alles«-Wendungen. Derartige Formeln sind für das frühe Christentum kurzgefasste Glaubensbekenntnisse: Sie setzen Menschen voraus, die sehr genau hinhören. Diese würden hier z. B. fragen: Worin, Paulus, besteht der Unterschied zur Stoa? Die Stoa ist ein deistisches philosophisches System; »deistisch« heißt: Anstelle eines Gottes steht die Weltvernunft. Wir rekonstruieren ein Gespräch zwischen Paulus und einen Stoiker, auch im Blick auf Apg 17 (Rede vor Philosophen auf dem Areopag), und weil Röm 11,36 stoischen Formeln ähnelt: Der Satz »Alles kommt von ihm, hat durch ihn Bestand und kehrt zu ihm zurück« erinnert an den stoischen Satz: »Zeus ist Ursprung, Zeus ist Mitte, von Zeus her kommt alles« (so später auch Plutarch). Ähnlich bei Oppian: »Vater Zeus, auf dich hin ist alles und aus dir hat es seine Wurzel genommen.« Der Jude Philo von Alexandrien leistet die Vermittlung und sagt ähnlich: »Alle Dinge sind eines oder bestehen aus dem Einen und auf das Eine hin.« Paulus schreibt den Satz als lobpreisende Antwort auf Röm 11,32 hin: Gott will sich aller erbarmen. Ihm ging es um die Wege von Gottes Erbarmen in der Geschichte der Menschen. In Differenz zur Stoa erklärt die paulinische Alles-Formel nicht die Ordnung der Welt, son-
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552 dern die Unordnung und wie diese durch Gottes Liebe besiegt wird. Die stoische Betrachtungsweise ist vor allem physikalisch und biologisch; so möchte man auch »alles«, aber auch die Psyche des Menschen mit vernünftigen Gesetzen erklären.
Der Römerbrief
Was unterscheidet dann Röm 11,36 von den stoischen Formeln? Der paulinische Lobpreis beginnt in 11,33 mit dem Satz »Gott ist so reich an Gnade«. Irrational – wider alle Vernunft – ist nicht das Heil, sondern das Unheil: Es erwächst immer aus Blindheit, Wut, Zerstörung, Hass.
Röm 12-13: Praktische Konsequenzen Ähnlich wie in Gal, Eph und Kol folgt nun in Röm 12-15 die Mahnrede im Anschluss an den großen Abschnitt, in dem Paulus das Bekenntnis entfaltet hat (Kap. 1-11), vgl. Gal 5f; Eph 4f; Kol 3 f. Aus dem dargestellten Status der Christen werden nun die Konsequenzen gezogen. Paulus liefert hier den Entwurf für Gerechtigkeit, Wille Gottes, Torah auch für die Heiden. Denn Gottes Gesetz ist nicht abgeschafft, es ist von ihm selbst erfüllt in allen Bestimmungen, die die Annäherung an ihn betreffen, es ist weiterhin endlich erfüllbar von den Christen. Dabei schließt sich Paulus der im Frühjudentum geübten Praxis an, unter der Überschrift »Gesetz« und/oder »Gerechtigkeit« aktuelle Normen zusammenzustellen (vgl. K. Berger, Die Gesetzesauslegung Jesu I, 1972, 38-55), auch wenn diese nicht oder nur zum geringsten Teil den Gesetzessammlungen des Pentateuch entsprachen. Die Größe »Gesetz« als Ordnungsprinzip bleibt erhalten. – Innerhalb des Römerbriefs hat dies die Funktion, dass die Gerechtfertigten und von Gottes Geist Erfüllten nun das Empfangene weitergeben und ihrerseits gerecht handeln. – In Röm 12-13 spricht Paulus über das generelle Miteinander (in Kap. 14f speziell über Probleme der Gemeinde). In Kap. 12-13 verbindet er seine Mahnungen mit den Kategorien Gut und Böse.
Röm 12,1-2: Es ist würdig und recht … Erst neuere bibelwissenschaftliche Arbeiten haben ergeben: Opfer heißt im Alten und im Neuen Testament jede sichtbare Ehrung Gottes (C. Eberhart). Und zwar nicht, weil Gott diese Ehrung bräuchte oder nötig hätte. Nicht Gott muss gestützt werden, sondern die Ehrung Gottes, die Menschen etwas kostet, hilft ihrer Beziehung zu ihm. Doch nicht der Nutzen ist das Kriterium des
Opfers, sondern die Angemessenheit, die Frage, ob es so »gerecht« ist. Daher heißt es übrigens am Anfang jeder Präfation: »Es ist würdig und recht …, dir Dank zu sagen …« Gott zu ehren, ihn zu lieben, ihm zu danken ist schlicht und einfach »gerecht«. Wer es nicht tut, gibt nicht dem Ehre, dem sie gebührt. »Opfer« im biblischen Sinne hat daher nichts zu tun mit sinnloser Gewalt, sondern mit gebührender Anerkennung: »Ehre, wem Ehre gebührt« gilt nach Röm 13,7. Genau das meint das »vernünftige Opfer« von Röm 12,1. Es ist das Gott angemessene Opfer. Und weil Gott lebendig ist, besteht das angemessene Opfer nicht mehr in toten Tieren, sondern in lebendigen Leibern, und das heißt: in einem gesamten christlichen Leben, als ganze Person. Dies schließt das Sterben mit ein; der Tod an sich ist jedoch für Gott kein Wert. In genau diesem Sinne ist auch das auf Jesus selbst bezogene Wort in Mk 10,45 zu verstehen: Der Menschensohn ist dazu gekommen, zu dienen, und das heißt: sein Leben einzusetzen als Sühne für die Menschen, die an ihn glauben (= »für viele«). Nicht im Sterben allein besteht die Sühne, sondern in der Hingabe des ganzen Lebens, bis ins Sterben. Insofern geht es hier (und auch sonst bei Paulus) um das Sühnopfer Jesu Christi. Übrigens versteht auch Hebr Jesu Opfer nicht allein als Gewinnung seines Blutes, vielmehr heißt es (10,5-10): »Du wolltest nicht, dass ich dir Opfer und Brandopfer bringe. Vielmehr hast du mir einen Leib bereitet, mit dem ich dir dienen kann. Brandopfer für die Sünden der Menschen heißt du nicht gut. Ich sagte: ›Ich komme, um deinen Willen, Gott, zu tun.‹« – Zuerst sagt er, dass Gott »Opfer und Brandopfer« und »Brandopfer für die Sünden der Menschen« – also alles, was nach dem Gesetz dargebracht wird – nicht will und nicht gutheißt. Dann: »Ich komme, um deinen Willen zu tun.« Damit hebt er die Verpflichtung zu Brandopfer
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und Sündopfer auf und bekräftigt umso mehr die Bereitschaft, Gottes Willen zu tun. Durch diese Bereitschaft sind wir ein für alle Mal heilig gemacht worden, dadurch dass Jesus seinen Leib, also sein ganzes Leben, Gott dargebracht hat. Der Schluss von Hebr 10,10 spricht eindeutig von Darbringen. Das heißt: Die Weise, in der Jesus sein Leben »gegeben« hat, ist nicht im Sinne alttestamentlicher Opfer zu verstehen, sondern eine neue Art von Opfer und Darbringung. Sie besteht im Tun von Gottes Willen. Ebenso versteht Röm 12,1 den Opferdienst der Christen als die Erfüllung des Willens Gottes. Früher hat man von einer Spiritualisierung der kultischen Begriffe gesprochen, als sei im Gegensatz zum herben Tempelkult hier etwas »vergeistigt« worden. Dies anzunehmen ist ein Irrweg, der von dem viele Jahrhunderte alten, selbst noch bei Hegel genannten Vorurteil ausging, Juden seien »an sich« materialistisch und ungeistig. Nein, es war umgekehrt: Die einzige Richtung der Antike, die von einem Gegensatz von Materie und Geist ausging, war der Platonismus. Er hat in der späteren Kirchengeschichte zumindest zweideutig gewirkt. In Röm 12 aber liegt eine so große Hochschätzung des Kultischen vor, dass selbst die Ethik davon bestimmt wird. Man spricht von einer Ausweitung und Übertragung kultischer Kategorien. Eindrücklich sagt Paulus in 12,2: »Verändert euch, nicht indem ihr euch dieser Welt anpasst, sondern indem ihr in eurem Denken neu werdet: Lernt zu unterscheiden, was Gott will und was nicht.« Das klingt wie Bekehrungspredigt. Dabei sind die Römer doch schon Christen. Eine derartige Rede an Christen, die schon länger getauft sind, nennt man daher »postconversionale Mahnrede« (vgl. K. Berger, Formen und Gattungen, 2005, § 50), eine Predigt nach der Bekehrung (conversio), die sich aber weiter an diesem Wendepunkt orientiert. Da das klösterliche Leben immer wieder neu an der Umkehr (conversio) ausgerichtet ist, überrascht es nicht, wenn wir zu diesem Punkt fruchtbare Äußerungen etwa bei Bernhard von Clairvaux und bei dem Augustiner-Eremiten Martin Luther finden. Bernhard sagt zur Stelle: »Dieses Ziel verfolge ich mit ganzer Sehnsucht. Hier verharre ich in meinem frommen Eifer … Hier wird gezeigt, dass wir durch die Sinne des Körpers altern und uns der
Welt angleichen, durch das Denken jedoch in der Erkenntnis Gottes erneuert werden.« In der 21. Predigt verbindet er Röm 12,2 mit dem Konzept der (verlorenen) Ähnlichkeit und (bleibenden) Gottebenbildlichkeit des Menschen: »Darin offenbart … das edle Geschöpf, geschaffen nach dem Bild und der Ähnlichkeit dessen, der es erschuf, dass es die Würde seines alten Ranges zurückgewinnt und alsbald wiedererlangt, wenn es als seiner unwürdig verschmäht, sich dieser schwankenden Welt anzupassen. Vielmehr ist es eifrig bemüht, … sein Denken zu erneuern und sich umzuwandeln zu der Ähnlichkeit (similitudo), in der es sich geschaffen weiß.« – Luther sieht einen Gegensatz zwischen der »Erneuerung eures Sinnes« und »Sinn und Neigung der Welt« sowie der eigenen Vernunft. Es gehe darum, »immerdar unsern Sinn und Willen zu brechen und anders tun und leiden, als Vernunft und Wille vorgibt, damit wir der Welt ja immer ungleich und im Widerspiel zu ihr verfahren«. Auch Paulus wird in Röm 12,3 dann das Vernünftigsein ohne Vorbehalte betonen. Er überrascht hier mit ausgesprochener Nüchternheit. Im Aufbau der Kap. 12 und 13 wird das Drängen auf Vernünftigkeit schließlich in der Zusammenfassung des Gesetzes in Nächstenliebe enden: Sie ist der vernünftige Ausgleich schlechthin. Nicht Barmherzigkeit ist das erste Kriterium, sondern Vernunft wird zuerst genannt. Denn eine Gemeinschaft kann man nicht mit Barmherzigkeit führen, wohl aber mit Vernunft.
Röm 12,3-19: Charismenlehre und Ethik Höchst beachtenswert ist, dass Paulus in 12,3-8 seine Mahnrede an den Charismen und am Konzept des »Leibes Christi« orientiert. Das erinnert prinzipiell an 1 Kor 12. Das Problem ist freilich dort anders. In 1 Kor 12 ist das Thema die Einheit in der Vielfalt, näherhin die gefühlte Nutzlosigkeit und Marginalität einiger Glieder am Leib der Gemeinde. Paulus erklärt: Jedes, auch das wenig ansehnliche, Glied ist notwendig und nützlich. In Röm 12 dagegen entwirft Paulus anhand der Charismenlehre eine Ethik. Damit wird die einem jeden verliehene Gabe zum Ausgangspunkt des ihm zugemuteten christlichen Handelns. Nicht ein allgemeines, abstraktes Soll (wie
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554 der kategorische Imperativ) ist daher die Basis der Normen, sondern die konkrete Gabe, die man nicht so sehr erstreben muss, als vielmehr geschenkt bekommen hat. Das Bild des Leibes bekommt daher hier eine andere Funktion. In Differenz zu 1 Kor 12 wird nicht das Zusammenwirken hervorgehoben, sondern der Reichtum und die Vielfalt, die Chance, die mit dieser Begabung für die Einzelnen verbunden ist. Die »Anwendung« lautet dann lediglich, ein jeder solle bei dem ihm zugeteilten Maß bleiben, d. h. seinen eigenen Weg gehen und sich nicht in Dinge der anderen einmischen. – Es folgt dann eine gegliederte Paränese: a) 12,6-8a: prophetische und auf Lehren bezogene Rollen in der Gemeinde. b) 12,8b-10: Das Miteinander im Vordergrund, wesentlich zu »Liebe«/»Hass« (ab V. 9). c) 12,11-13: Verhalten unter der Überschrift »Eifer«: christliche Gemeinschaftstugenden wie »Bedürfnisse der Heiligen« (d. h. auch Mitglieder anderer Gemeinden) und Gastfreundschaft. Zum Stichwort »verfolgen« in 12,13 wird auch vom Segnen der Verfolger gesprochen. Hier ragt ein Stück Ethik der Bergpredigt in Röm 12 hinein. d) 12,15f: Verhalten im Miteinander (Leitbegriffe: »mit«, »einander«, »denken«). e) 12,17-20: Verhalten im Gegeneinander (nicht Böses mit Bösem vergelten, keine Rache, Verhalten zu Feinden), 12,21 gibt die Schlussregel. Zwischen 12,17 und 13,12 ist Böses (tun)/Gutes (tun) das Leitwort (12,17.21; 13,3.4(2).10). Das ist aus zwei Gründen wichtig: Die staatliche Obrigkeit ist maßgeblich am Kampf gegen das Böse beteiligt, und zwar durch Loben des Guten und Rächen des Bösen mit dem Schwert; in dieser letzteren Funktion wird wirklich eine Aufgabe Gottes wahrgenommen, denn nach 12,19 ist das Rächen Gottes Sache. Zu Röm 12,19: Das Gewaltmonopol Gottes wird aus Dtn 32,34 (Targume) abgeleitet; im hebräischen wie im aramäischen Text handelt es sich hier nur um eine Drohung, nicht um ein Exklusivrecht Gottes oder um Ausschaltung anderer Rächer. Paulus liest darin Gottes exklusiven Anspruch und erweitert die Gewaltanwendung auf jegliches Richten (Verurteilen, Aburteilen). Das wird deshalb zum zentralen ethischen Ansatz des Römerbriefes, weil Paulus es mit der Recht-
Der Römerbrief
fertigung verbindet: Wer von Gott nicht verurteilt wird, hat erst recht nicht die Befugnis, andere zu verurteilen. Wen Gott als gerecht erklärt hat, der darf nicht an anderen seine (Privat-)Rache vollziehen (vgl. Mt 18,23-35). Dem widerstreitet scheinbar die Tatsache, dass es Gut und Böse gibt und der Mensch zum Kampf gegen das Böse aufgefordert ist. Wie soll er das tun, wenn er nicht urteilend, richterlich, strafend eingreifen darf?
Röm 13,1-7: Staat und Obrigkeit Die Obrigkeit wird im folgenden Abschnitt nur deshalb positiv erwähnt, weil sie allen Beteiligten hilft: Sie hilft Gott dabei, das Weltregiment schon jetzt und nicht erst im Weltgericht zu führen. Denn sie dämmt das Böse jetzt schon ein. Sie hilft ferner den Menschen, Gottes Anspruch auf Gewalt- und Gerichts-Monopol zu bewahren. Sie entlastet ihn von der widergöttlichen und dazu noch unangenehmen Rolle der Privatrache. Sie schützt auch die Täter zumindest insofern, als alle vor dem Gericht gleich sind. Paulus liefert in Röm 13,1-7 keine allgemeine Staatstheorie. Röm 13 grenzt die Rolle der heidnischen Obrigkeit auf die Gerichtsbarkeit ein. Nur die Jurisdiktive ist interessant, und zwar insofern, als sie dazu hilft, dass Gottes Anspruch gewahrt wird. Deshalb heißt diese Gewalt »Diener Gottes«. Paulus nennt sich ja auch selbst so, aber natürlich in anderer Hinsicht. Die Erläuterung »wegen des Gewissens« bedeutet nun keineswegs eine Einschränkung der Rolle der Obrigkeit; diese ist, wie gesagt, schon ohnehin begrenzt genug. Vielmehr denkt Paulus offensichtlich daran, dass der Mensch durch drei Instanzen gemaßregelt wird: durch Gottes Gericht (am Ende), durch das Gewissen und durch die Obrigkeit. Nach der hier angewandten DreiZeugen-Regel von Dtn 19,15 können diese Zeugen sich gegenseitig bestätigen. Das Gewissen ist dabei als innerer Gerichtshof vorgestellt, der sich nach der Tat kritisch meldet; dabei gibt es dann Ankläger und Verteidiger (vgl. Röm 2,15), nämlich Gedanken oder Erwägungen, denen – wie vor Gericht üblich – ein Plädoyer gestattet ist, bevor das Gewissen urteilt. Von einem irrenden Gewissen spricht Paulus hier nicht.
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Offenbar versteht er unter Gewissen etwas anderes als heutige Menschen: 1. Es fordert nicht auf, sondern bewertet im Nachhinein. – 2. Es urteilt nur mit Ja oder Nein. – 3. Es bedeutet Anteilhabe an einem allgemeinen Vernunftgesetz, das Gott in alle Menschen hineingelegt hat, weil er die Schöpfung durch seine Weisheit bzw. durch sein Wort vernünftig erschaffen, d. h. geordnet hat. Alles Geschaffene existiert im Rahmen dieser vernünftigen Ordnung. Beim Menschen äußert sie sich durch das Gewissen. – 4. In dieser nachträglich kommentierenden Funktion hat das Gewissen viel mit der Obrigkeit gemeinsam. Auch sie urteilt oder lobt erst nach vollbrachter Tat. Paulus antwortet daher von 12,19 bis 13,7 auf zentrale Fragen, Gut und Böse betreffend: a) Wie wird Gut und Böse überhaupt zugänglich? Antwort: Gottes Gesetz, das Vernunftgesetz im Gewissen, das Urteilen der Obrigkeit. b) Wie kann man sich vor der »zelotischen« Versuchung und Konsequenz hüten, das Böse jetzt gleich zu ahnden? Antwort: Die Gewalt der Obrigkeit überlassen, die in der Bewahrung der Ordnung Gottes Dienerin ist. Aber wie kommt Paulus dazu, die Obrigkeit (trotz der Begrenztheit des Rahmens) so positiv zu bewerten? Antwort: Grundsätzlich vertritt Paulus eine Mischung aus Ordnungsethik (vgl. 1 Kor 14,33) und Sanftmuts-Moral (vgl. Gal 5,22f). Daher plädiert er im Zweifelsfall eher für Ertragen als für Durchgreifen, eher für Gewaltverzicht als für gewaltsame Veränderung öffentlicher Strukturen. Wie wichtig ihm die Letzteren sind, darauf weist z. B. die Lösung des Falls von 1 Kor 5: Die Gemeinschaft der Gemeinde ist unter allen Umständen zu schützen; daher muss der »Unzuchtssünder« sofort beseitigt werden. Denn hier geht es um die innere Ordnung der Gemeinde – und um ihr Ansehen innerhalb der äußeren, bürgerlichen Ordnung – auch und gerade in Korinth. Gerade im Zusammenhang mit Hetzereien gegen sich persönlich dürfte Paulus die öffentliche Ordnung zu schätzen gelernt haben. Diese Einschätzung gilt auch für die Apg. Innerhalb des Neuen Testaments wird Röm 13 durch Offb 13 »relativiert«. Man hat gefragt: Wie wäre es, wenn nicht Röm 13, sondern wenn Offb 13 die Einstellung des Christentums zum Staat bestimmt hätte? Damit meinte man: In Röm 13
wird Gehorsam gegenüber der Obrigkeit (jedenfalls in der Justiz) gefordert, in Offb 13 dagegen wird die Obrigkeit desselben (!) römischen Staates als das »Tier aus dem Abgrund«, als Inbegriff widergöttlicher Macht geschildert. In Röm 13 erhält die Obrigkeit ihre Vollmacht von Gott, in Offb 13 dagegen vom Teufel. Der Hure Babylon (= Rom) wird das himmlische Jerusalem (= christliches Gegenbild zu Rom) als Alternative gegenübergestellt. Im Unterschied zu Offb 13 geht es in Röm 13 um eine »restaurative«, strikt obrigkeitskonforme Äußerung; daher wollten viele Theologen Paulus diesen Text absprechen. Allerdings will Paulus nicht den römischen Staat glorifizieren. Er zielt vielmehr auf einen Teil der Gerechtigkeit des neuen, messianischen Zeitalters. Die Botschaft von Röm 13 ist: Frieden ist jetzt schon möglich; er beginnt im Herzen jedes Einzelnen, der auf Rache verzichtet, und im sozialen Miteinander überall und jederzeit dort, wo Gottes Geist weht. Die Gerechtigkeit, die Gott will, ist für Paulus (anders als für den Seher Johannes) auch schon in bestehenden Strukturen und durch deren Inanspruchnahme möglich. Paulus hat in diesem Punkt der Apokalypse ein Stück Realismus voraus, was sich als durchaus hilfreich erwiesen hat. Freilich hat die Auslegung von Röm 13 auf lutherischer Seite zu einer überaus engen Verbindung von Kirche und Staat geführt. Noch Otto Dibelius, der spätere evangelische Bischof von Berlin, wetterte gegen die Weimarer Republik, weil sie die Monarchie abgeschafft und damit im Sinne traditionellen lutherischen Verständnisses von Röm 13 gegen Paulus und gegen Gott gefrevelt habe. Dagegen werfen nun linke Neuprotestanten Röm 13 vor, der Text stehe schon deshalb im Verdacht, nicht von Paulus zu stammen, weil jede Christologie fehle. In der Tat kann man fragen: Wo besteht eine Beziehung zu unserem Glauben? Auch Röm 13,8-10 ist ja sehr formal ausgerichtet.
Röm 13,8-10: Das Gesetz = Nächstenliebe = Gerechtigkeit Es gibt immer noch Menschen, die meinen, Paulus habe das jüdische Gesetz abgeschafft. Doch davon kann bei Paulus nicht die Rede sein. Röm
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556 13,8 belegt es: »Denn wer den anderen liebt, hat das Gesetz erfüllt.« Also gilt das Gesetz, und noch mehr: Es muss auch unter allen Umständen und ohne jede Ermäßigung erfüllt werden. Überdies ist der Tenor von Röm 12-13: Das Gesetz ist Inbegriff der vernünftigen sozialen Ordnung. Schon deshalb ist es nichts Negatives. Es ist Eindämmung der subjektiven Willkür im sozialen Miteinander. Das zeigt sich schon in Röm 13,1-7: Die Übertragung der Vergeltung an die öffentliche Institution (Gerichtsbarkeit des Staates) soll die Gefährdung durch unkontrollierte und unsoziale, subjektive Willkür beseitigen. Indem Gott die Rache an sich zieht (oder sie der öffentlichen Hand anvertraut) und sie dem Einzelmenschen entzieht, wird ein Stück unvernünftiger, subjektiver Willkür im einzelnen Menschen besiegt. Vernunft im Gegensatz zu den gewalttätigen Affekten ist der Weg, auf dem sich Gerechtigkeit Gottes verwirklicht. Auch das Gesetz ist nichts anderes als die inhaltliche »Ausführung« des Programms der Gerechtigkeit, die Gott will. Das gilt ganz besonders für die sozialen Konsequenzen. Doch Paulus verficht nicht Ordnung um ihrer selbst willen, sondern diejenige Lösung, die jeweils die vernünftigste und gewaltloseste ist. Darin liegt auch der ideale Sinn des Gewaltmonopols auf Seiten Gottes. – Kurzum: Ein höheres Maß an Öffentlichkeit bedeutet für Paulus auch größere Vernünftigkeit. Vernunft aber ist eine Ordnungsmacht sozialer Gerechtigkeit. Auch Nächstenliebe ist für Paulus zuerst Inbegriff einer Ordnung und kein »Gefühl«. Denn »Liebe einen Nächsten wie dich selbst!« ist spätestens im hellenistischen Judentum, aus dem Paulus kommt, Proklamation einer Ordnung auf der Grundlage sozialen Gleichgewichts. Ausdruck dieses Gleichgewichts sind die Worte »… wie dich selbst«. So ist Röm 13 ein eigenständiger Beitrag zum Thema der »Gerechtigkeit« unter Menschen. Sie ist das Thema der griechischen wie der jüdischen Geschichte, Philosophie und Religion. Insofern ist »Gerechtigkeit« Inbegriff des europäischen Erbes. Im alttestamentlichen Kontext ist Lev 19,18 (»Liebe deinen Nächsten wie dich selbst«) die Zusammenfassung von Weisungen über den Umgang mit den Fehlern und dem Fehlverhalten des Nächsten; der Nächste wird dabei im Sinne
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des Volksgenossen in Israel aufgefasst. Denn direkt vor dem Gebot der Nächstenliebe heißt es: Sei nicht rachsüchtig, trage nicht nach, kläre Streitigkeiten im Gespräch, stelle zur Rede. Danach ist von der Nächstenliebe die Rede. Im hellenistischen Judentum gelten sowohl die Dekaloggebote der 2. Tafel als auch das Gebot der Nächstenliebe als Beleg für die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit überhaupt. Wir finden Entsprechendes bei Philo von Alexandrien, dem Zeitgenossen des Neuen Testament in seinen Schriften »Über den Dekalog« und in »Über die Einzelgesetze«. Die Gebote der 1. Tafel sieht er als Forderungen der Gottesverehrung und fasst sie als »Heiligkeit« oder »Frömmigkeit« zusammen. Er nennt die Dekaloggebote der 2. Tafel (griech. philanthropia: Menschenliebe) wie auch den Glauben an Gott (griech. eusebeia: Gottesverehrung) die beiden »Grundpfosten« oder »Hauptsachen« des Gesetzes. Damit zitiert und aktualisiert er den bekannten »Kanon der zwei Tugenden« (A. Dihle): Gottesliebe und Menschenliebe. Genauso erklärt Paulus die Gebote der 2. Tafel des Dekalogs hier zum Inbegriff der »Gerechtigkeit«. Er zeigt freilich nur Interesse an den sozialen Tugenden. Wenn er die Gebote der 2. Tafel (Menschenliebe) mit dem Gebot der Nächstenliebe kombiniert, fügt er zusammen, was für die hellenistischen Juden zweifellos zusammengehörte, und zwar beides im gleichen Sinne als Ausdruck der Gerechtigkeit gegenüber Menschen. Über die Gottesliebe und -verehrung hat er in Röm 3-8 genug gesagt. Es besteht gewiss eine Spannung: In Röm 12,1 fordert Paulus zu »neuem« Denken auf – und in Röm 13,9 übernimmt er die gewöhnlichsten Standards der jüdischen und heidnischen Popularethik. Aber das Neue muss nicht unbedingt in neuen Inhalten bestehen – Ethik ist die Konstante in allen Kulturen im Umkreis des Neuen Testaments –, sondern darin, dass die bekannten Normen endlich erfüllt werden. Nächstenliebe und Steuerzahlen Das Thema Steuerzahlen findet sich außer in Röm 13,8 auch in Mk 12,13-17. Die Maxime Jesu lautet bekanntlich: Was dem Kaiser gehört, das gebt ihm zurück; was Gott gehört, das gebt Gott (Mk 12,17). Die Herkunft dieser zweiteiligen Antwort Jesu galt bisher als ungeklärt. Durch
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einen Blick auf Röm 13 lässt sich diese alte Frage näher beantworten: In Röm 13 besteht ein enger Zusammenhang zwischen Steuerzahlen und Nächstenliebe. Das Entrichten von Steuern ist offenbar eine Konsequenz des Gebotes der Nächstenliebe. So kann gelten: Steuernzahlen hat direkt etwas mit Nächstenliebe zu tun, diese aber eben mit sozialer Gerechtigkeit im weitesten Sinn. Überdies hat Röm 13,7 (Steuern, wem Steuern … Ehre, wem Ehre …) große Ähnlichkeit mit Mk 12,17. Aber die Ähnlichkeiten gehen noch weiter. Bekanntlich steht das Hauptgebot der Nächsten- und Gottesliebe ebenfalls in Mk 12, und zwar in 12,28-34. Ich halte es für schlüssig, dass die Kombination »Gebt dem Kaiser …« und »gebt Gott« sich strukturell und inhaltlich an der Verbindung von Gottes- und Nächstenliebe orientiert (hellenistisch: am Kanon der zwei Tugenden). Damit ließe sich die eigenartige Kombination in Mk 12,17 klären. Der Schlüssel zum Beweis liegt in Röm 13: Bei ähnlicher Struktur der Maxime wird hier zusätzlich bzw. ausdrücklich das Steuerzahlen unter die Nächstenliebe subsumiert. Mk 12,17 (»Gebt dem Kaiser …«) ist daher am besten auf dem Hintergrund von Röm 13 zu erklären, und zwar deshalb, weil man das Steuernzahlen als eine Form der Nächstenliebe begreifen kann. Und diese steht neben der Gottesliebe, was in direkter Nähe auch Mk 12,28-34 bezeugt. Was aber bedeutet es für Nächstenliebe, wenn Steuernzahlen als eine ihrer Unterabteilungen erscheint? Nächstenliebe ist, wie gesagt, weder emotional verstanden noch »privat«, sondern sie hat eine öffentliche, sozialethische Bedeutung im weitesten Sinne. Sie ist Programm für eine Gerechtigkeit – auch für eine Steuergerechtigkeit. Zu Röm 13,12f: Der Grundton ist dualistisch und daher der »Bekehrung« angemessen. Jesus wie Paulus sprechen von den Christen als den Kindern des Lichtes. Paulus wird bei seiner Berufung zum Jünger geblendet durch ein großes Licht, und Christwerden ist Begegnung mit dem Licht. Das Licht ist im Christentum eine Person. Aus der Mitte des Lichts, das Paulus sieht, redet eine Stimme: »Saul, Saul, warum verfolgst du mich?« So sagt Jesus nach Johannes: »Ich bin das Licht der Welt«; dasselbe sagt er nach Matthäus
zu den Jüngern: »Ihr seid das Licht der Welt«. Das Licht ist hier nicht dinglich zu sehen, sondern immer und unausweichlich eine Person. Wäre es neutral, dann könnte man es sich beliebig besorgen. Schließlich wird alles, was Christen tun sollten, »Werke des Lichts« genannt. Paulus ruft dazu auf, die Waffen des Lichts zu ergreifen. »Vor allem aber wird Licht genannt, was Christen erhoffen. Und die Wahrheit, dass der Tag mit der Nacht beginnt und dass das Licht aus der Nacht erst geboren wird, ist in den Bildern für ihre Hoffnung zu einem festen Zyklus geronnen. Deshalb sind die Kirchen nach Osten gerichtet. Die Gemeinde steht in Erwartung der aufgehenden Sonne, und Christus heißt »Sonne der Gerechtigkeit«. Seit den Propheten erwarten Menschen den »Tag des Herrn«, d. h. den endgültigen Sieg des Lichts über die Finsternis.
Röm 13,11-14: Es ist Zeit Die gemeinsame Schnittmenge zwischen Röm 13,11-14 und Mt 24,(29)37-44 sind die Stichworte »Nacht« und »Tag«, die »Stunde« und Aufstehen vom Schlaf oder wach bleiben. Der »Tag« ist der Tag des Herrn, also die Stunde der Wiederkunft Jesu Christi. Die Nacht steht für die gegenwärtige Welt und Zeit. Für die Bibel des Alten und Neuen Testaments (und für die Liturgie der Kirche) beginnt der Tag mit dem Abend. Das ist ganz grundlegend auch für das Verständnis des Daseins und der ganzen Weltgeschichte. Denn die Zeit des Dunkels, des Leidens, der Ängste und Zweifel, der Kälte und des Sterbens geht je voraus. Die nächtliche Stunde, die Paulus hier anpeilt, ist kurz vor Sonnenaufgang. Von der Grunderfahrung des Wachens in der Nacht, der Geburt des Lichtes aus der Finsternis entwickeln Jesus und die frühen Jünger und Apostel ihre Theologie von Finsternis und Licht. Die Lichtmystik verbindet die Religionen (besonders: Judentum, Christentum, Islam und die buddhistische Mystik). Die Christen sind insgesamt Kinder des Lichts, ihr Tun besteht darin, die Werkzeuge des Lichts in die Hand zu nehmen (Röm 13,12; den Ausdruck »Waffen des Lichts« halte ich nicht für glücklich). Paulus nutzt das Bildfeld des täg-
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558 lichen (Früh-)Aufstehens konsequent aus: Sonnenaufgang, Aufstehen, Ankleiden. In 13,14 mahnt Paulus: »Zieht Jesus Christus an …« Diese Bilder leiten sich vom Taufritus her: Wer nach der Ganztaufe aus dem Wasser steigt, zieht ein neues Gewand an (später: Taufkleid); dieser Vorgang bildet ab, wie der Neugetaufte eine neue Identität gewinnt, die sich ganz an seiner Ähnlichkeit mit Christus misst. Gal 3,27: »Da ihr auf Christus Jesus getauft seid, habt ihr ihn wie ein Kleid angezogen und seid mit ihm eins«; 3,29: »Und weil ihr ihn wie ein Kleid angezogen habt, seid ihr ein und derselbe wie er …« Was im Sakrament der Taufe für Paulus ein für alle Male geschieht, sozusagen punktuell, das ist für ihn genauso gut durativ (auf Dauer) darstellbar als lebenslanger, immer wieder einzuleitender Prozess (das Verb steht im Aorist). Es sind zwei Aspekte desselben. Von Gott her gesehen hat der Getaufte ein neues Sein erhalten, er besitzt jetzt den Status des Seins »in Christus«. Doch vom Menschen, von der Zeit des Lebens her gesehen, soll der Mensch diesen Sta-
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tus immer wieder aktualisieren. Er soll werden, was er ist. Das Sakrament schließt das menschliche Handeln nicht aus. Im Sakrament nimmt Gott die Vollendung vorweg und bietet sie dem Menschen an. So ist das Sakrament Grundlage für eine unverbrüchliche Identität des Menschen, die vor Gott aus Gnade und Barmherzigkeit gilt. Ich würde dieses nicht das Verhältnis von Indikativ und Imperativ nennen. Denn beide Modi eines Verbs stehen beziehungslos nebeneinander. Es handelt sich um die bedingungslose zeitliche und sachliche Priorität der Gnade und des geschenkten Status, noch vor allem Handeln aus diesem Status und aus dessen Kraft heraus. Denn »Jesus Christus anziehen« ist eine sehr weitgehende Annahme der Rolle Jesu Christi im Drama des Heils. Ein Schauspieler zieht eine »Rolle« an. Wer Jesu Christi Rolle einnimmt, der tut dieses freilich nicht zum Schein – nicht dieses ist der Vergleichspunkt. Es ist kein Schein, sondern der Rechtsanspruch, der mit dieser Art von Personen-Identität gegeben ist.
Röm 14-16: Konkrete Auswirkungen für Rom Röm 14,7-9: »Sklave Jesu Christi« Nach Paulus gibt es eine reine Wahlfreiheit des Menschen nur zwischen mehreren Großmächten, deren einer der Mensch dann – angesichts seiner Schwäche und Geringfügigkeit – zugehören muss. Versklavt er sich dem Besitz, so ist er so unfrei wie der reiche Jüngling, dem Jesus begegnet, und der leider nur an sein Geld denken kann. Die Art von Herrschaft, der er untertan ist, hat zur Folge, dass er menschlich unglücklich wird. Wer von seiner Sucht abhängig ist (so definiert Paulus Sünde), setzt sich ihrer zerstörerischen Kraft aus. Paulus deutet den Zustand des »Sünders« umfassend als Zerstörung durch eine Herrschaft, die hoffnungslos entmündigt. Hier wie auch sonst ist es immer wieder der (mehr oder weniger bald) kommende Tod, der als Resultat jeder Herrschaft droht, die nicht Gott ist, z. B. wenn der Mensch sich an die Sünde verkauft (Röm 6,23a). Jesus und Paulus sind hier ganz realistisch. Nach Jesus ist die einzige Perspektive der Verskla-
vung durch Besitz der Tod, und so ist es auch mit der »Sünde« bei Paulus. Beide sagen: Der Mensch muss, oder besser: wird sich einer Herrschaft anvertrauen. Er selbst kann doch für nichts garantieren. Sünde wie Besitz sind Herrscher, die auf Kosten des Menschen leben, wie eben Herrscher in dieser Welt so sind. Sie können dem Menschen die einzig nennenswerte Freiheit, nämlich die Freiheit vom baldigen Tod, nicht geben – im Gegenteil. Jesus und Paulus optieren für die Herrschaft Gottes. Jesus formuliert es von Gott her, indem er hauptsächlich in Gleichnissen Gottes »Herrschaft und Reich« verkündet. Paulus spricht anstößig von Sklaverei. Er nennt sich stets »Sklave Jesu Christi«, denn Jesus Christus ist sein Herr. In Röm 6,16 ff stellt er den Wechsel vom vorchristlichen zum christlichen Status im Bild des antiken Sklavenmarktes dar: »Da ihr von der Sklaverei der Sünde befreit seid, könnt ihr jetzt Sklaven der Gerechtheit werden. Wenn ich hier von ›Sklaven‹ der Gerechtheit rede, ist das ein Vergleich, der natürlich etwas hinkt, aber weil
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Kapitel 14
unser menschliches Fassungsvermögen begrenzt ist, muss ich einfach Bilder gebrauchen. Früher habt ihr euch wie Sklaven in den Dienst von immer größerer Gesetzlosigkeit und Schlechtigkeit gestellt. Wenn ihr euch jetzt wie Sklaven in den Dienst der Gerechtheit stellt, könnt ihr heilig werden. Als ihr Sklaven der Sünde wart, gab es noch keine Verpflichtung zum Gerechtsein. Aber der Unterschied zwischen den beiden Möglichkeiten zeigt sich am Ergebnis. Wenn ihr die Sünde wählt, kommt etwas heraus, dessen ihr euch jetzt nur noch schämt, und am Ende steht schließlich der Tod. Jetzt aber seid ihr befreit von der Schuldhaft der Sünde und Sklaven Gottes geworden. Hier ist das Ergebnis Heiligkeit, das Ziel ist ewiges Leben.« Die Christen haben »nur« den Besitzer gewechselt. Jetzt kann man den Unterschied der einen zur anderen Sklaverei noch nicht sehen. Wohl aber hat das Ganze jetzt schon eine andere Perspektive bekommen. Diese heißt »Leben« und nicht Tod. Nur hier heißt sie Leben, weil nur Jesus von den Toten auferstanden ist. War diese neue Perspektive nur um den Preis eines neuen Besitzverhältnisses zu haben? Es gibt eine neuliturgische Formel »durch Jesus, unseren Bruder und Herrn«. Wer diese Formel gebraucht, ist offenbar der Meinung, von Herrschaft zu reden, sei zu hart. Ich wende mich gegen diese Ermäßigung. Paulus selbst nennt sich Sklave seines Herrn. Er gehört ihm und eben nicht sich selbst. Wer Bruder als direkten Jesustitel wählt, vernebelt dieses Besitzverhältnis, er modernisiert Anstößiges. Ja, Christen sind Jesu Eigentum. Er hat sie losgekauft von der Sünde. Wer hier einfach vom Bruder redet, verharmlost die Sklaverei, aus der sie erlöst wurden, und er hebelt die Verbindlichkeit der neuen Sklaverei aus. In 2 Kor 5,15 stellt Paulus konsequent dar, wie er dieses Besitzrecht Jesu begründet: »Weil der Messias Jesus für alle gestorben ist, dürfen wir unser Leben zwar scheinbar behalten, aber doch nicht darüber verfügen, als wäre es unser eigener Besitz, sondern es jetzt dem unterstellen, dem wir gehören, weil er für uns gestorben und auferweckt worden ist.« Denn wer einen Sklaven gekauft hat, dem gehört er. Und dem muss er dienen. In Röm 14,7-9 leitet Paulus aus diesem Besitzverhältnis eine weitere Verbindlichkeit ab: Weil die Christen sich nicht selbst gehören, leben sie
559 auch nicht für sich selbst. Und wer einen gemeinsamen Herrn hat, der findet den Mitchristen als Mitsklaven, als Bruder. Diese Geschwisterlichkeit unter dem gemeinsamen Herrn sollte man ernst nehmen. Aber nicht den gemeinsamen Herrn zum Bruder ermäßigen und damit die angebliche Autonomie retten! Wer für den Herrn lebt und stirbt, der gehört in jedem Falle ihm, und der darf sich deshalb nicht richterlich über seine christlichen Mitgeschwister erheben. Damit sind wir bei einem wichtigen Thema, bei der entscheidenden Konsequenz des ganzen Römerbriefs. Allein in diesem Abschnitt finden wir das Wort »richten, verurteilen« siebenmal (14,3.4.5[2].10.13[2]). Ähnlich war es schon in Röm 2,1-3.5.12.27. – Der Römerbrief wendet sich gegen das Be- und Verurteilen von Mitchristen. Das hat seinen praktischen Wert in der Gemeinde von Rom, in der es ähnlich wie in Korinth konservativ-religiöse Kreise neben aufgeklärten gibt. Paulus pfeift die Aufgeklärten zurück. Es hat aber auch seinen tiefen Grund in der Rechtfertigungslehre dieses Briefes. Denn auch hier verwendet Paulus dieselben sprachlichen Bilder aus der Welt des Rechts und der Gerichte. Wenn nämlich Gott den Menschen gerecht spricht und als gerecht akzeptiert, hat kein Mensch mehr ein Recht, den Bruder oder die Schwester zu verurteilen. Dort, wo Gott akzeptiert, hat kein Mitchrist das Recht, das Annehmen des anderen zu verweigern. Zur Logik des Verses 14,9: Christus ist gestorben und wieder lebendig geworden, um über Tote und Lebende zu herrschen. Wie folgt das Herrschen aus dem Geschick? Warum wird das Geschick in dieser Abfolge genannt (gestorben – wieder lebendig)? Man kann daran denken, dass Paulus eine Szene wie Phil 2,9-11 im Sinn hatte, aber noch mehr: Christus war im Reich der Toten (Hades), und er ist der Herr der Toten, weil er bei der Auferweckung und Erhöhung aus ihrer Mitte heraus zum Vater erhöht wurde. Als der so Erhöhte ist er der Herr aller Menschen, die es überhaupt gibt – man beachte hier die uneingeschränkt universale Formulierung. In Phil 2,11 kommt das gut zum Ausdruck. Röm 14,7 wird zumeist im Sinne des Trostes verstanden. Das ist nicht falsch. Der Trost ist nämlich nur dann Trost, wenn er herrührt aus einer Bindung, die auch anstrengend und verbindlich ist. So werden
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560 Menschen gehalten und zum Tun angehalten – und dieser Herr hält die Christen. »Denn diese Jugend will nicht Unverbindliches, sondern das Große.« (Benedikt XVI.) Zu Röm 14,23: »Wer zwar Bedenken trägt (zweifelt, ob er es tun soll), aber dennoch alles isst, der ist deshalb verurteilt, weil das Essen dann nicht im Rahmen seiner Glaubensbeziehung zu Gott steht. Denn alles, was außerhalb dieser Beziehung geschieht, ist Sünde.« Bei diesem umstrittenen Vers liegt alles daran, wie man »pistis« versteht: Ist es die subjektive Überzeugung, oder ist es das Beziehungsverhältnis zwischen Mensch und Gott. Im ersten Fall geht es nur um den Einzelnen, im zweiten Fall dagegen um sein Verhältnis zu Gott. Bei der subjektiven Überzeugung ist dann der sehr neuzeitliche Gewissensbegriff nicht weit entfernt, im zweiten Fall steht im Vordergrund das Verhältnis zu Gott. Geht es also um Selbstwiderspruch oder um eine Missachtung der Verbindlichkeit des Glaubens? Ich habe mich für das Zweite entschieden, weil das Element der subjektiven Überzeugung gerade nicht zu den Merkmalen des biblischen Glaubens gehört, sondern vielmehr die Gründung auf Gott. Aber warum berührt da »Essen mit Bedenken« die Glaubensbeziehung zu Gott? Liegt hier eine unbeachtete Seite des paulinischen Verständnisses von Glauben vor? Einmal ist Glaube Teilhabe an der Stabilität Gottes, sodass halbe oder lauwarme Entscheidungen hier keinen Platz haben. So geht es zumindest darum, das »nicht zu tun, was man selbst für Sünde hält« (A. v. Dobbeler, Glaube als Teilhabe, 1987, 230). Sünde ist der Bereich der Unsicherheit und Unklarheit, der Schwäche. Glaube bedeutet Stärke und Klarheit.
Röm 15,4-9: Unfrieden unter den Christen in Rom Auch der Römerbrief hat es mit Christen – das Wort Gemeinde wagt Paulus in Röm 1-15 gar nicht in den Mund zu nehmen! – zu tun, in der verschiedene »Parteien« übereinander herfallen. Woher Paulus von den römischen Richtungen weiß, kann man nicht genau sagen; am wahrscheinlichsten ist, dass die in Röm 16 genannten Personen Paulus aus Ephesus gut bekannt waren
Der Römerbrief
und inzwischen – nach der Aufhebung des Claudius-Ediktes – wieder in Rom ansässig geworden sind und ihm berichtet haben. Die eine dieser Parteien ist aufgeklärt mit der Neigung zum Rationalismus (wohl am ehesten einigermaßen Gebildete heidnischen Ursprungs); die andere orientiert sich an jüdisch-religiösen Riten, betrachtet Christentum als eine Bußbewegung und hält entsprechende Ess- bzw. Fastenregeln ein. – Paulus ermuntert die Christen dazu, »eines Sinnes zu sein« (V. 5), damit sie mit einer Stimme Gott loben können. Denn wäre die Einheit des Gotteslobes gefährdet, dann wäre die Verkündigung des einen und einzigen Gottes gänzlich unglaubwürdig. So meint »Ehre« Gottes auch: sein Ansehen unter den vielen Heiden nicht nur bewahren, sondern verbreiten und mehren. Gespaltene Christen können das nicht. Interessant ist, wie Paulus es hier »anstellt«, das ewige Problem des Friedens unter Christen anzugehen. Er richtet sich an eine Schnittmenge von Christen, die in beiden Gruppierungen vorhanden ist. Sie besteht aus Christen, die starke Nerven haben und etwas aushalten können. Paulus spricht direkt davon, dass sie »Schmähungen« ertragen müssen und können. Nur wer das kann und über den Verunglimpfungen das Ziel nicht vergisst, der kann dem Ziel der Einheit wirklich dienen. Paulus scheut sich nicht zu sagen: Wer diese bösen, herabsetzenden Reden ertragen kann, der befindet sich in guter Gesellschaft, in der Gemeinschaft mit Jesus Christus. Paulus zeigt, dass er mehr von der Passion Jesu weiß, als er sonst zu erkennen gibt. Denn solche Schmähreden berichten die Evangelisten ausdrücklich (Mk 15,29-32 parr). Und weil ihm die Einheit der Gemeinde ein elementar missionarisches Anliegen ist, argumentiert er quasi-juristisch mit dem Prinzip der zwei Zeugen. Die Konsequenz nennt Paulus dann in 15,7: Deswegen nehmt euch gegenseitig an, wie auch Jesus, der Messias, uns zur Verherrlichung Gottes angenommen hat. Paulus zeigt keine Scheu, das Heilshandeln Jesu als direktes moralisches Vorbild der Christen zu nennen. Zweierlei geht daraus hervor: Erstens, wie ernst es Paulus mit seiner Mahnung ist, und zweitens, dass das Handeln der Christen auf dem Empfang des Heilshandelns Jesu Christi beruht und von dort her Prägung und Kraft empfängt.
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Kapitel 15
Der Konflikt zwischen jüdisch und heidnisch geprägten Menschen kommt sodann in dem Abschnitt V. 8-10 voll zur Sprache. Paulus spricht davon, dass Jesus sich demütig der Beschneidung unterworfen hat (»Diener der Beschneidung«), natürlich mit all ihren Konsequenzen, und dass er die Verheißungen an die Väter erfüllt hat. Soweit die jüdische Seite. Welche Verheißungen an die Väter Paulus meint, das dürfte im Blick auf Röm 9,5 nicht zweifelhaft sein: Als Mensch ist Jesus der Messias Israels, und z. B. Ps 2,1.7 (Sohn Gottes als Regent) wie auch 2 Sam 7,14 wurden im frühen Christentum messianisch verstanden und auf Jesus angewandt. – Was die Seite der Heidenvölker betrifft: Das Ich des Beters von Psalm 18,50 wird Jesus in den Mund gelegt (»Ich will dich lobpreisen inmitten der Heidenvölker …«), und Dtn 32,43 (LXX): »Brecht in Jubel aus ihr Heidenvölker, gemeinsam mit Gottes Volk« wird auf die Situation des frühen Christentums, speziell der beginnenden Mission unter Heiden, bezogen. Diese Stelle der griechischen Bibelübersetzung des Alten Testaments (Septuaginta) kam Paulus wie gerufen, denn hier werden ja die Heiden neben Gottes Volk direkt genannt. Paulus geht es in Rom um eben diese Gemeinsamkeit. Wegen solcher Stellen wurde die so genannte Septuaginta von den Juden aus dem Verkehr gezogen und durch andere, wortgetreuere griechische Übersetzungen ersetzt. Für die Spiritualität dieses Textes ist entscheidend, dass das Leitwort ab V. 6 »verherrlichen« bzw. »zur Herrlichkeit« ist (so in V. 6.7.9, und zwar im Kontrast zu »schmähen« V. 3). Statt andere Christen zu schmähen, sollen beide Gruppen von Christen den einen gemeinsamen Herrn verherrlichen – was sie freilich nur können, wenn sie einig sind, bzw. wenn sie sich durch dieses gemeinsame Ziel leiten lassen. – Das ist hier das Eigenartige: Nicht Gott braucht die Verherrlichung, aber die Menschen brauchen sie, um eins zu werden und kein Ärgernis zu geben. Wer vor Gott knien kann, der braucht vor nichts anderem mehr zu knien, vor allem nicht vor menschlichen Autoritäten. Gott die Ehre zu geben, bedeutet elementaren Machtverzicht auf Seiten der Menschen. – Allzu oft halten wir das Absingen frommer Lieder für ein folgenloses Geschäft. Wer es aber ernst nimmt, für den wird das Ehren Gottes zum Weg des Friedens; denn weil Gott das Mo-
561 nopol an Prestige besitzt, hat er allein die Macht und ist er allein der Richter. Daher sagt Paulus in Röm 14f immer wieder, man solle nicht übereinander richten. Denn Gott ist der einzige Richter. – Und es trifft sich gut, dass zuvor im Römerbrief immer davon die Rede war, dass Gott die Menschen gerecht gemacht hat, d. h. sie in die Gemeinschaft mit ihm aufgenommen hat. Wenn Gott dieses tut, dann müssen und können sich Menschen nicht mehr gegenseitig verurteilen. Insofern passt die Lehre des Römerbriefes von der Rechtfertigung genau zu der Situation der Menschen in Rom, die vor Empfang dieses Briefes geneigt waren, einander zu verurteilen (vgl. dazu auch Röm 2,1-3). Man sollte nicht auf die faszinierenden Schriftbeweise in 15,10-12 meinen verzichten zu können. Das betrifft besonders das Jesaja-Zitat in V. 12: »Der Wurzelspross aus Jesse kommt, er steht auf und wird über die Völker herrschen, auf ihn werden die Heidenvölker ihre Hoffnung setzen« – zumal diese Stelle der O-Antiphon vom 19. 12. zugrunde liegt (»Du, Wurzel Jesse, die du dastehst als Zeichen für die Heidenvölker …, komm, uns zu befreien …«). – Trotz aller Schriftbeweise wagt Paulus hier das Undenkbare anzunehmen, dass die Kluft zwischen Israel und den Heidenvölkern schon jetzt aufgehoben ist, und zwar durch das Kommen Jesu und durch seine Mission (des Paulus und anderer) unter den Heidenvölkern. Wenn man bedenkt, dass auch in Röm 15 Zitate aus dem Alten Testament die Beweislast tragen, dann kann man nicht mehr sagen, die frühen Christen argumentierten regelmäßig über die Köpfe der Juden hinweg, oder die Heidenmission sei eine Zerstörung der jüdischen Zukunftshoffnungen. Genau das Gegenteil ist der Fall. Die Einbeziehung der Heidenvölker der ganzen Erde ist, wie auch immer sie im Einzelnen geschieht, eine der theologischen Konstanten Israels, was schon in Gen 12,1-3 beginnt, wonach Abraham nicht gegen die Völker erwählt ist, sondern für sie, zu ihren Gunsten. Die Umsetzung und Verwirklichung dieses Völker-Bezugs könnte man »Endzeiterwartung« (Eschatologie) nennen. Die Besonderheit der hier jetzt erörterten jüdisch-christlichen Enderwartung ist ihre Fixierung auf die Person des Messias (bei Mt inklusive
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562 »Vorläufer«). Das ist aufs Ganze gesehen im Judentum nicht selbstverständlich. Es gibt eine Fülle anderer Hoffnungen; die auf den Messias gerichtete ist nur eine Variante, und das ist bis heute im Judentum so. In Jes 11 wird der Messias – jedenfalls geht es um eine klare Gestalt mit eindeutig messianischen Zügen – beschrieben als der Träger vielfältiger Charismen. Später wird man sie die »sieben Gaben des Heiligen Geistes« nennen. Mit ihm sind Gerechtigkeit, besonders gerechtes Gericht und paradiesischer Frieden, verbunden. Dass der Löwe Stroh fressen wird und Kleinkinder ohne Risiko nach Vipernbabies greifen können, ist eine tief einprägsame Hoffnung. Das Unvorstellbare wird möglich. Paulus muss in Röm 15 die Beschneidung Jesu besonders erwähnen. Denn ohne Israel wird es keinen Frieden geben in der Welt. Das Problem waren die unterschiedlichen Kulturen und Religionen, also die Einheit des Römischen Reiches damals: die Einheit der Menschheit. Innerhalb des Reiches gab es insbesondere einen Brocken, der sich jeder gütlichen Vereinigung widersetzte: das jüdische Volk mit seinem eifersüchtigen Gott und dem Verbot, Nichtjuden zu heiraten, ja mit ihnen unbekümmert auf heidnische Weise zu essen. Wie das im frühen Christentum möglich wird, mag ein Gleichnis erläutern: In der Zunft der Metallgießer gab es ein besonderes Problem: Gefäße, die man aus nur einem einzigen Metall herstellte, erwiesen sich als brüchig. Ein einziges haltbares Gefäß, das wäre ein Bild für die friedlich geeinte Menschheit. Also fragte man sich und experimentierte herum, wie man aus der Verbindung sehr unterschiedlicher Metalle ein haltbares Gefäß fertigen könnte. Nach verschiedenen Anläufen gelang es nur einem einzigen Metallgießer, das Problem zu lösen, indem er die verschiedenen Metalle unter sehr hohen Temperaturen miteinander verschmolz, sodass wirklich eine einheitliche Legierung entstand. Das geschah durch das Christentum, eine Religion also, die sich von Anfang an als radikale Nachfolge Jesu versteht. Hohe Temperatur ist nicht nur der Anspruch, die frommen und heiligmäßigen Pharisäer zu überbieten, sondern vielmehr das Programm einer geschwisterlichen Gleichheit aller Menschen. Und für das Juden-
Der Römerbrief
tum: Gott selbst erscheint unter den Menschen. Die römischen Kaiser verstanden sich schließlich als göttliche Weisen, um so in der Einheit von Religion und Reich in einer einzigen Figur das Problem der Einheit zu klären. Die Juden konnten das unter keinen Umständen nachvollziehen. Nur der Mensch und Gottessohn und Jude zugleich ist, Jesus Christus, konnte das Problem der Einheit der Menschheit unter der Bedingung »hoher Temperatur« lösen. – Das, wenn man so will, Providentielle am Zeitpunkt der Menschwerdung Gottes in Jesus ist, dass die römischen Kaiser gerade zu dieser Zeit begannen, sozusagen schlechte Kopien der Verbindung von Gott und Mensch in einer Person darzustellen. Auch Johannes der Täufer stellt auf seine Weise hohe Temperatur dar: als radikaler, asketischer Prophet, als Nasiräer, als mutiger, kompromissloser Märtyrer. Ehrlicher und todesmutiger als er konnte kaum einer sein. Daher nennt ihn Jesus den Größten unter den Menschen. Für unsere Vorfahren, die vor tausend Jahren Christen wurden, war er durch das System der »Taufkirchen« bekannt, deren Patron er war und in denen man eindrückliche Figuren des Täufers bestaunen konnte, des großen, strengen Mannes, der Hitze, Sturm und Regen zu trotzen verstand. Als glaubwürdiger Heiliger war er tatsächlich Wegbereiter Jesu Christi in den Herzen der Menschen. Was ihm an lieblichen Zügen fehlte, ersetzt die andere Leitfigur der Adventszeit: Maria. Auch der Prophet Jesaja starb nach Ansicht des Judentums zur Zeit Jesu (vgl. die Schrift Ascensio Iesaiae [1. Jh.]) als Märtyrerprophet durch die Hand seines eigenen Königs, nachdem er enthaltsam wie der Täufer bei Betlehem gelebt hatte. Der Täufer wäre missverstanden, wollte man ihn nur als finsteren Drohpropheten werten. Er will die Menschen nicht zu Tode ängstigen, indem er auf das Feuergericht weist. Er versteht seine Taufe als Weg, der Feuertaufe zu entgehen (besser jetzt mit Wasser getauft werden, als dann mit Feuer). Er eröffnet angesichts des kommenden Gerichts viele Möglichkeiten, der sonst zwangsläufigen Bestrafung zu entgehen. So ist er ein Menschenfreund, der viel weniger scharf als Elia, mit dem ihn Jesus nach Mt gleichsetzt, der selbst mit seiner ganzen Existenz zum Zeichen und zur Anfrage an eine ganze hellenistisch geprägte Welt geworden ist, die viel zivilisierter
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Kapitel 16
war als er, aber auch ungläubig. Er hat die Überlebensbedingungen des Judentums aufgezeigt, die demnächst auch die des Christentums, ja, der ganzen Menschheit, sein oder werden könnten.
Röm 16,1-24: Namen, Empfehlungen, Verdienste Allein dieses Kapitel ist dem Umfang nach größer als die meisten antiken Privatbriefe. Es enthält eine ganz überraschende, auch bei Paulus singuläre Fülle von Namen. Es ist eine Art Schematismus für die Namen von Christen, die von Ephesus nach Rom zurückgekehrt sein könnten. Den Anfang macht ein Empfehlungsbrief für Phöbe, erkennbar an dem ersten Wort »Ich empfehle euch …« Es fehlen auch nicht die typischen Elemente wie Erwähnung der Verdienste und Aufforderung zur Unterstützung an die Empfänger des Briefes. In 2 Kor 3,1-3 hat Paulus für seine eigene Person derartige Briefe vehement zurückgewiesen. – Die Liste ist deshalb so vielfältig, weil offenbar die christliche Gemeinde, die Paulus im Blick hat, zerklüftet ist und vornehmlich in Hausgemeinden besteht (16,5; 16,10f). Zu Röm 16,7: Der Ausdruck »herausragend in« bedeutet entweder: in der Schar der Apostel bedeutend, oder: in den Augen der Apostel, bei den Aposteln hoch angesehen. Im ersten Fall würden Junias und Andronikus selbst zu den Aposteln gehören, im zweiten Fall genießen sie hohes Ansehen bei den Aposteln; so wird episemos mit »bei« (para) in Justin, 2. Apologie 12,5 verstanden. In keinem Fall aber gehörten sie irgendwann oder irgendwie zu den Zwölf Aposteln; wenn überhaupt, dann eher zur Schar der so genannten Gemeindeapostel, von denen es mehrere oder viele gab (vgl. 2 Kor 8,23 und Phil 2,25) und deren Spuren sich bis in die Didache (11,3-6) verfolgen lassen. Zu Röm 16,17f: Diese Verse sind die peroratio des Briefes. Die Forschung hat an ihrem angeblich unpaulinischen Charakter Anstoß genommen. Die Übereinstimmung mit Röm 6,17b ist erheblich; R. Bultmann und U. Wilckens haben diese Stelle für eine Glosse erklärt. – Gemeinsamkeiten: »Lehre«, der man gehorcht (6,17) oder die
man lernt (16,17), an der man dann aber vorbeihandelt und von der man abweicht (16,17). Dem Lernen aus 16,17 entspricht das Überliefertwerden in 6,17. Kurzum: Paulus spricht hier regelrecht von einer Verschulung des Glaubens. Denn in 16,17 zeigt er, dass das Abweichen Spaltungen und »ärgerliche Diskussionen« hervorbringt. An beiden Stellen wird daher ein apostolischer Lehr- und Traditionsbegriff verteidigt, zu dem die Alternative in Unklarheit und Spaltung bestehen könnte. Darauf weisen vor allem die Begriffe Lehre, lernen und gehorchen. – Die Diskussion ist hier eher ideologisch besetzt: Wer das für Paulus ablehnt, hat ein romantisches und kirchenfernes Bild vom Apostel, gerade wie es dem 19. Jh. gefiel. Schließlich kennt Paulus auch die christlichen Lehrer als Teil der Hierarchie (1 Kor 12,28). Und diese werden schwerlich anderes getan haben, als die apostolische Lehre lernen zu lassen. Zu Röm 16,20f: Gott wird bald den Satan der Gemeinde unterwerfen und vernichten. Eine eigenartige und bei Paulus nur hier anzutreffende Vorstellung und eine Variante zu 1 Kor 15,(25-)27: So wie dort Gott (Vater) dem erhöhten Christus die Mächte und Gewalten (15,24), seine Feinde (15,25) unterwirft, wird er hier der Gemeinde den – sehr machtvollen – Satan unterwerfen. Die Perspektive, die sich hier auftut: Seit der Erhöhung Jesu Christi und bis zur allgemeinen Auferstehung (Vernichtung des Todes) besteht Gottes Handeln in einem fortgesetzten Unterwerfen. Gott Vater ist der wahre Imperator (Paulus schreibt nach Rom!), der die wirklichen Feinde des Menschen unterwirft. Satan wird nun nicht dem einzelnen Christen unterworfen, sondern den Christen insgesamt. Für die Gegenwart setzt das noch bestehende Feindschaft voraus und zumindest Versuche Satans, selbst die Gemeinde zu beherrschen.
Röm 16,25-27: Kurzevangelium Paulus beschreibt hier feierlich das Evangelium von Jesus Christus: »In dieser Botschaft ist das verborgene Ziel der Weltgeschichte enthüllt worden, das endlos lange Zeiten hindurch geheim war, jetzt aber offen gelegt wurde. Es wurde
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564 schon in den prophetischen Schriften beschrieben und wird jetzt durch den Auftrag des ewigen Gottes allen Völkern bekannt gemacht.« Diese »feierliche« Form nennt man »Revelationsschema« (vgl. K. Berger, Formen und Gattungen, 2005, 327). Es ist auch belegt in Kol 1,26; Eph 3,5.9-11; 2 Tim 1,9-12; Tit 1,1-3 und in 1 Petr 1,20 – also vornehmlich in Briefen im Umkreis des Apostels Paulus. Dieses »Schema« umfasst folgende Elemente: 1. ist die Rede von einem Geheimnis, einem verborgenen Gegenstand, einer verborgenen Person. – 2. Die Zeit des Verborgenseins währte seit Ewigkeiten, d. h. von jeher oder auch seit Anbeginn der Schöpfung. – 3. Jetzt ist die Zeit der Enthüllung dieses Geheimnisses. – 4. Das Geheimnis wurde jetzt auserwählten Trägern enthüllt, in erster Linie den Aposteln, die sich als Diener dieses Geheimnisses betrachten und es daher der Kirche bzw. der jeweiligen Gemeinde mitteilen. Der Ursprung dieses Schemas liegt in der nach Abschluss des Alten Testaments entstandenen apokalyptischen Literatur des Judentums. Dort heißt es vom Messias: »Er war verborgen vor dem Angesicht Gottes, bevor die Welt erschaffen wurde …, die Weisheit hat ihn den Heiligen und Gerechten geoffenbart« (Hen [äth]). Das heißt: Der Messias oder Menschensohn war seit Ewigkeit bei Gott (bei seinem Thron, hinter dem Vorhang) verborgen und wurde jetzt schon den Auserwählten geoffenbart – den anderen Menschen wird er erst zum Gericht offenbart werden (und dann ist es oft zu spät). – Im christlichen Schrifttum gehört dieses Schema zumeist in die Selbstvorstellung des Apostels. Er wird durch die Kundgabe dieses Geheimnisses ausgezeichnet, und wer dieses zur Kenntnis nimmt, besitzt einen rettenden Erkenntnisvorsprung vor den übrigen Menschen. Die Besonderheit in Röm 16: Nur hier werden die Propheten mitgenannt. Sonst ist das Geheimnis bis zum Auftreten des jetzigen Lehrers (Apostels) strikt unbekannt. Nur in Röm 16 heißt es, dass der Inhalt des Geheimnisses schon in der Schrift greifbar war, weil er den Propheten mitgeteilt wurde. Seine Kenntnis, d. h. seine Deutung, werde erst jetzt enthüllt. Das bedeutet für die Deutung von Röm 16: Drei Instanzen sind für die Mitteilung des Geheimnisses wichtig: 1. die Propheten, die die pure Mitteilung erhielten,
Der Römerbrief
sie aber noch nicht verstehen konnten, 2. der Apostel, der es versteht (weil er es auf Jesus Christus beziehen kann) und es allen Völkern bekannt macht, sowie 3. die letztlich gemeinten Adressaten des Geheimnisses, alle Völker. – Die Propheten werden sonst nicht erwähnt, und das ist an den übrigen Stellen eine merkwürdige Auffassung der Geschichte: Etwas von Ewigkeit her Verborgenes wird erst jetzt, gewissermaßen unter Überspringen des Alten Testaments, geoffenbart. An keiner Stelle wird näher beschrieben, worin das Geheimnis besteht. Nur aus Eph 3,5-6 könnte man annehmen, dass es außer dem Evangelium von Jesus Christus auch eine Aussage über die Teilhabe der Heidenvölker enthielt oder enthalten sollte. In der Zeit bis 1500 hat man übrigens angenommen, dass auf heidnischer Seite die Sibyllen, heidnische gottbegeisterte Frauen, entsprechende Weissagungen auf den Messias gemacht hätten. Abgebildet ist das z. B. im so genannten Huldigungssaal des Goslarer Rathauses (1506). Die Decke zieren vier große Darstellungen über Mariä Verkündigung, Geburt Jesu und Anbetung der Magier; an den Wänden zwischen den Fenstern sind Propheten des Alten Testaments und heidnische Sibyllen dargestellt. Beide Figurengruppen tragen Spruchbänder mit Prophezeiungen der Geburt des Messias. – Übrigens war der Ausdruck »Evangelium« (vgl. Röm 16,25 »mein Evangelium«) im 1. Jh. n. Chr. auch gebräuchlich zur Bezeichnung der Botschaft vom Geburtstag des römischen Kaisers, denn das galt als das »freudige Ereignis« schlechthin. Welche Weissagungen der Propheten, die jetzt erst deutbar werden, könnte Paulus hier meinen? Vorausgesetzt mit dieser Beschreibung ist, dass es sich um verschlüsselte Nachrichten handelt, die erst mit der Ankunft Jesu Christi verstanden werden können. In Apg 8 haben wir bei der Bekehrung des äthiopischen Kämmerers durch Philippus ein Beispiel der Erläuterung einer zuvor nicht verstandenen Schriftstelle aus dem Propheten Jesaja. Ohnehin war Jesaja der Lieblingsprophet der ersten Christen, und das galt auch schon für die Gruppe(n), die die Schriftrollen von Qumran zusammenstellten. Auch dort ist Jesaja der wichtigste Prophet. – Nun tut man sich seit Jahrzehnten schwer mit einer messianischen Deutung der Propheten auf das Neue Testament hin. Man be-
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Kapitel 16
achte aber: Auch Paulus sagt, deren Sinn sei erst jetzt, eben mit der Verkündigung des Evangeliums, erschließbar geworden und vorher nicht. Das heißt: Dem wörtlichen Sinn nach nötigt nichts oder häufig nichts, die Texte messianisch auszulegen. Aber von der Erfüllung im Neuen Testament her gesehen kann es zu einer »relecture« (neuen Aneigung) dieser Texte kommen. So sehe ich gar kein Problem darin, sich für die messianische Auslegung von Prophetentexten die neutestamentliche Perspektive anzueignen. Dazu gehören auch Psalmen wie Ps 2 und Ps 110, denn David rechnete man unter die Propheten. Natürlich handeln kein Prophet und kein Psalm explizit und exklusiv von Jesus. Denn wir haben es ja nicht mit Wahrsagerei zu tun. Aber dass in den Heilsaussagen sich häufig messianische Sehnsucht zeigt, die im Ganzen nach christlicher Auffassung in Jesus, und nur in ihm, erfüllt wurde, das ist der – m. E. gut verständliche – Standpunkt des Apostels Paulus. Die Rolle der Propheten, die hier vom üblichen Revelationsschema abweicht, hängt damit zusammen, dass Röm generell ein positiveres Verhältnis zum Judentum zeigt als andere Briefe, insbesondere weil nach Röm 3,21 Gesetz und Propheten das Evangelium bezeugen. Dieser Aspekt wird in 16,26 wiederholt. Ein Geheimnis ist immer dazu da, irgendwann
565 und irgendwie gelüftet zu werden. Selbst ein neues Automodell ist bis zum Tag der Automesse unter Planen oder Schleiern verborgen. Mit den lange verborgen gehaltenen Weihnachtsüberraschungen ahmen wir Menschen nur Gott nach. Paulus sagt in Röm 16, dass Gott über das weihnachtliche Geheimnis des Glaubens seit ewigen Zeiten geschwiegen und nichts verraten hat. Jetzt aber, da Jesus Christus geboren ist, hat er dieses Geheimnis gelüftet. Das aber geschah nicht einfach durch eine knappe Mitteilung, sondern indem wir dieses Geheimnis jetzt klipp und klar bei den Propheten nachlesen können. Sie haben schon immer darüber gesprochen, nur war es uns nicht einsichtig, was sie es meinten, und dass sie die Menschwerdung Gottes meinten. Ganz ähnlich geschieht es den Emmausjüngern zu Ostern: Gott belehrt sie durch den Auferstandenen, dass die Schriften der Propheten von Leiden und Herrlichkeit des Messias handelten. Jetzt wird ihnen mit einem Male durch die österliche Belehrung klar, was da steht (auf den äthiopischen Kämmerer wurde bereits verwiesen). In diesem Sinne der Aufklärung über das, was die Propheten geschrieben haben, spricht Paulus hier von der Offenbarung des so lange verborgenen Geheimnisses. Für die Menschen bedeutet dieses Geheimnis: Frieden für alle, die Gott gnädig erwählt hat.
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Der erste Brief an die Korinther
Kommentare: Ambrosius (380). – Augustinus (nach Beda; 420). – Joh. Chrysostomus (vor 400). – Theodoret von Cyrus (um 450). – Joh. Damascenus (8. Jh.). – Bruno (1150). – Haimo v. Halberstadt (ed. 1519). – Nicolaus von Lyra (1360). – Theophylakt (1250). – Thomas v. Aquin (1250). – Hugo v. St. Cher (vor 1264). – Nicolaus v. Lyra (vor 1349). – Ps.-Anselm (1553). – C. G. Belliocensis (1550). – Dionysius Carthusianus (vor 1471, ed. 1552). – Joh. Calvin (1553). – H. Bullinger (1582). – R. Walter (1578). – N. Hemmingius (1579). – B. Aretius (1589). – A. Hunnius (1606). – B. Justinianus (1612). – D. Paraeus (1614). – J. Crellius (1635). – C. a Lapide (1648). – B. a Piconio (1663). – L. Fromondus (1663). – N. Gorranus (1692). – J. A. Heidegger (1699). – Critici Sacri (1703) VII 937-1222; VIII 43-46. – H. S. v. Alphen (1708). – G. Estius (1709). – G. M. Laurentius (1717). – J. Biermann
(1725; 1/2 Clem). – C. Vorstius (1731). – A. Remy (1739). – J. C. Wolfius (1741). – G. D. Kypke (1755). – J. L. Mosheim (1762). – G. T. Zachariä (1781). – A. Natalis (1788). – G. F. Seiler (1790). – F. A. G. Krause (1792). – G. Rosenmüller (1790). – S. F. N. Morus (1794). – L. C. Heydenreich (1825). – J. F. Flatt (1827). – G. Billroth (1833). – L. I. Rückert (1836). – W. M. L. de Wette (1841). – J. E. Osiander (1847). – A. Neander/W. Beyschlag (1859). – P. W. Schmiedel (1891). – J. Weiss (1910). – H. Lietzmann (1907). – E. Peterson (1924-29, ed. 2006). – H. Lietzmann/W. G. Kümmel (1949). – C. K. Barrett (1968). – H. Conzelmann 1969. – E. Fascher (Erster Teil: 1975). – H. D. Wendland (12. Aufl. 1968). – C. Wolff (Zweiter Teil: 1982). – E. Fascher (1984). – F. Lang (1986). – W. Schrage (I 1991, II 1995). – M. L. Soards (1999).– H. Hollander (II 2002, III 2007). – E. Peterson (2006). – D. Zeller (2010).
EINFÜHRUNG Die theologische Bedeutung von 1 Kor im Neuen Testament Ebenso neuartig wie intensiv stellt Paulus in 1 Kor die Folgen des Christseins im Leben in der Welt dar – nicht in der Welt der Arbeit, sondern in der christlichen Gemeinde. Dass von »bürgerlicher Arbeit« gar nicht die Rede ist, verleiht dem ganzen Brief etwas Sonntägliches bzw. Sabbatliches, wenn man vom Juden Paulus ausgeht. Am Sabbat/Sonntag aber sieht man die anderen Gemeindeglieder, und so ist dieser Brief die erste praktische Ekklesiologie. Zu den Folgen gehört, daß dieser Brief eine gewichtige Theologie der Leiblichkeit enthält. Denn Leib – das ist der Einzelne und auch die Gemeinde im Ganzen. Regiert und bestimmt wird dieser Leb durch den Heiligen Geist. Weil dieser im Leib des einzelnen Christen wie in der Gemeinde wohnt, sind diese beiden je für sich heiliges Eigentum und heiliges Haus (Tempel) Gottes. Das betrifft nicht nur deren Status zur Zeit des Apostels, sondern auch deren Zukunft. Weil die Gemeinde Gottes Tempel ist, enthält der Brief auch in den Kapiteln 10-
14 die erste christliche Gottesdienstordnung. Wegen der Bedeutung der Leiblichkeit spielt die Eucharistie eine besondere Rolle, und Paulus denkt als erster christlicher Theologe über Realpräsenz nach. Und ebenfalls wegen der Leiblichkeit steht hier auch der erste Entwurf einer christlichen Sexualethik in den Kapiteln 5-7. Wegen dieser Inhalte ist auch das Verhältnis zum Judentum ausführlich bedacht. In den Kapiteln 5-10 werden die Themen der Gemeinde wohl nicht unabhängig vom so genannten Aposteldekret erarbeitet. Daß die Themenreihung nicht beliebig ist, zeigt auch die Tatsache, dass am Ende in Kap. 15 die Auferstehung behandelt wird. Zwar spielt Beschneidung keine Rolle, weil sie kein Thema paulinischer Theologie mehr ist, aber nach 16,2 soll jeder Christ an jedem Sonntag so viel zurücklegen, wie er entbehren kann. Ob der Brief demnach wohl in der sonntäglichen Gemeindeversammlung gelesen (verlesen) wurde?
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Kapitel 1
Die Zustände in der Gemeinde von Korinth vor Entstehung des 1 Kor Einen religiösen Zugang zum Phänomen »Gemeinde« besitzen die Korinther offensichtlich noch nicht. Daher enthält dieser Brief zahlreiche Hinweise auf die paulinische Ekklesiologie, die wohl auch für Paulus selbst relativ neue Erkenntnisse oder Konsequenzen widerspiegeln. – Den Korinthern ist offenbar nicht geläufig, dass biblische Religion auch Konsequenzen für das sexuelle Verhalten bedeutet. Die von Paulus in Kap. 11-14 berichteten chaotischen Zustände waren jedenfalls für das jüdische Verständnis des Apostels schwer zu ertragen. Die Gemeinde soll nach Paulus ein Bild ruhiger Ordnung abgeben. Auch dieser Punkt ist von der Diasporasynagoge »abgeguckt«. – Aus 2,12-19 geht auch hervor, dass die Korinther der Meinung waren, den Geist Gottes empfangen zu haben. Paulus muss richtig stellen, was das bedeutet. Dieser Empfang des Heiligen Geistes wurde vielleicht als Quelle besonderer religiöser Erkenntnis angesehen und machte die Korinther stolz (vgl. 4,7-9), doch sicher nicht im Sinne eines enthusiastischen Naherwartungsglaubens, als sei Gottes Reich in Korinth mit allen Konsequenzen schon gekommen. Diese Haltung (Schwärmerei, Enthusiasmus) hat man rund ein Jahrhundert lang für Korinth postuliert. In diesem Bild spiegelten sich nicht zuletzt auch konfessionelle Abneigungen gegen die Schwärmer der Reformationszeit. Man bemühte sich dann, hundert Einzelheiten des 1 Kor diesem Enthusiasmus zuzuordnen, doch dadurch wurde das Unternehmen nur umso peinlicher. Selbst die Auferstehungsleugner von 1 Kor
15,12 brachte man in dieser Hypothese unter, indem man deren skeptische Aussage, es gebe keine Auferstehung, schnell umformulierte, als sei die Auferstehung in Korinth »schon geschehen« (1 Tim 2,18). Als man dann »die Gnosis« entdeckte und hoffähig machte, wurden aus den Schwärmern in Korinth schnell Gnostiker (vgl. dazu meinen Aufsatz: Die impliziten Gegner. Zur Methode des Erschließens von »Gegnern« in neutestamentlichen Texten, 1980). Datierung des 1 Kor Zweifellos nach dem Apostelkonvent und in zeitlicher Nähe zu dem späteren 2 Kor. Mit diesem zusammen bildet 1 Kor den »korinthischen Block«, also um 50 n. Chr. Weitere Einleitungsfragen Neu ist in dieser Auslegung: Paulinische Briefe gibt es fast immer im Zweier- oder Dreierpack. Neben 1 und 2 Thess und Gal und Röm sowie (vielleicht später) Eph und Kol gehören 1 und 2 Kor als eigene Gruppe zusammen. Sie repräsentieren eine eigenständige Theologie. Für 1 Kor gehe ich davon aus, dass das judenchristliche Element – darin das Aposteldekret wohl im Zusammenhang mit der Kephas-PetrusPartei in Korinth – eine beträchtliche Rolle spielt. Das bedeutet auf jeden Fall eine Datierung nach dem Apostelkonvent in Jerusalem, den man für 48/49 n. Chr. annimmt, weil hier Aufgaben zwischen Petrus und Paulus verteilt wurden (Gal 2,7). – Ich meine, dass Apollos als Kontrahent des Apostels eine weitaus größere Rolle für beide Briefe spielt, als zumeist angenommen.
KOMMENTAR 1 Kor 1,1-3: Absender und Adressaten des Briefes Kirche nimmt ihren Ausgang bei Gott Vater und seinem Willen. Gott beruft Menschen wie Paulus nach seinem Willen als Apostel des Messias Jesus. Von Anfang an sieht sich die Gemeinde dieser dreifachen Autorität gegenüber: Gott, Christus, Apostel. Dann erst folgt Bruder Sosthenes. Danach erst kommt die Gemeinde als Adressat in den Blick. Zwei Doppelungen fallen auf – die erste: So wie bei Paulus »Christus Jesus« genannt
wird, so ist die korinthische Kirche geheiligt in »Christus Jesus«. Und die zweite: So wie Paulus durch »Gottes« Willen Apostel ist, so sind auch die Angeredeten Kirche »Gottes« in Korinth. Gott Vater und Jesus Christus sind daher jeweils auf beiden Seiten wirksam, beim Apostel und in der Gemeinde. So ist gar nicht zu leugnen, dass »Paulus« und »Gemeinde« vom ersten Satz dieses Briefes an ein Gegenüber sind. Und eine Spannung zwischen beiden Polen wird hier schon greifbar. Der Apostel ist für die Gemeinde da und über-
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568 haupt nicht anders – und die Gemeinde ist Adressat seines Handelns. Paulus ist – inklusive seines Amtes – nicht aus der Gemeinde hervorgegangen. Nicht die Gemeinde hat ihm sein Amt verliehen, sondern Gott hat ihn berufen (vgl. die Partiz. Pass. in V. 4-6). Gott Vater und Jesus Christus wirken durch den Apostel anders als in der Gemeinde. Auf der Seite des Apostels »zeugend«, rufend, schaffend, heiligend – auf der Seite der Gemeinde so, dass das Gewirkte ankommen und gedeihen kann. Ebenso erstaunlich ist, dass neben der Ortsgemeinde sofort und ohne Umschweife alle anderen genannt werden, die auch noch und überhaupt »den Namen unseres Herrn Jesus Christus anrufen an jedem Ort«. Heute würde man sagen: die Weltkirche. Wichtig ist das Wörtchen »mit«: »Mit allen, die den Namen unseres (!) Herrn Jesus Christus anrufen an jeglichem Ort«. Diese selber stehen automatisch mit im Blick des apostolischen Handelns. Die Christen in Korinth werden genannt »berufene Heilige« und »Geheiligte in Christus Jesus«. Paulus scheut sich offenkundig, die Kirche einfach Erbin Israels zu nennen. Nirgends nennt er sie »Volk« oder »Israel« oder gar »wahres Israel«. Aber geheiligte Menschen kann er die Heidenchristen nennen; mit diesem nicht spezifisch auf Israel bezogenen Wort werden auch die innig zu Gott gehörenden Menschen in der Apokalyptik genannt (Dan 7: Heilige des Höchsten; HenochLiteratur; Heilige und Gerechte). In der Heiligkeit der Kirche fasst Paulus ihre Berufung, ihre Ethik und ihren Charakter als Tempel Gottes zusammen. Das gilt für jede Gemeinde vor Ort genauso wie für die Kirche als ganze. Denn »heilig« kann nur eine gemeinsame Qualität von Menschen sein, wegen des einen heiligen Gottes, der sie erwählt und berufen hat. »Heilige« sind im paulinischen Sprachgebrauch stets die Christen anderer Gemeinden. Heilige sind daher Christen »von außen her« gesehen, im Unterschied zu anderen Menschen. In dieser Hinsicht sind sie auch königliches Priestertum und heiliges Volk Gottes. – Weder gibt es bei Paulus heilige Christen im Singular mit Namen, noch ist der kollektive Ausdruck die Heiligen-Sicht einer Binnenperspektive. So ist der Wille Gottes nicht nur die Berufung des Apostels, sondern ausdrücklich auch die Heiligkeit der Gemeinde (1 Thess 4,3: Das ist der
Der erste Brief an die Korinther
Wille Gottes, dass ihr heilig seid). Dieses priesterlich-kultische Verständnis ist von einer bürgerlichen Kirche meilenweit entfernt.
1 Kor 1,7-8: Paulus sieht drei Zeitphasen Der Abschnitt 1,7-8 nimmt drei unterschiedliche Zeitphasen in den Blick. Die Gegenwart ist bestimmt durch die Charismen der Gemeinde. In der mittleren Zukunft wird es um Stabilisierung der Gemeinde gehen. Und schließlich nennt Paulus die erwartete »Offenbarung unseres Herrn Jesus Christus«, sie ist identisch mit dem »Tag unseres Herrn Jesus Christus«, und dieser ist der Gerichtstag; denn es kommt darauf an, am Gerichtstag »ohne mögliche Anklage«, ohne Vorwurf dazustehen. Gegenwart: Die Gemeinde ist durch reiche Charismen ausgezeichnet. In 1 Kor 12 schreibt Paulus eine Liste dieser verschiedenen Geistesgaben, die von der Zungenrede bis zu Heilungsgaben reicht. Jeder und jede in der Gemeinde hat nach Gottes Willen ein Charisma, und dieses ist in Korinth (noch) so etwas wie eine Eintrittskarte in die christliche Gemeinde. Charisma ist eine Gabe, die unzweifelhaft nach »oben«, auf Gott als Ursprung, weist. Wenn jeder sich auf diese besondere Gabe konzentriert, dann wird jedem klar, warum er Christ ist, denn diese je persönliche Gabe ist der reale Grund seiner eigensten werbenden christlichen Aktivität. Hier am Anfang liegt daher sehr großes Gewicht auf der missionarischen Verantwortung des Einzelnen. Denn durch sein Charisma ist jeder ein lebendiger Gottesbeweis. Die Außenstehenden können wegen der Charismen der Christen sagen: So etwas ist rein menschlich und kreatürlich gar nicht zu erklären. – Paulus nennt hier in 1,7 und dann in Kap. 12 jene Charismen (und, da es um die Gemeinde geht, nur sie!), wo das Thema die Offenbarung und Wiederkunft des Herrn ist. Welche gedankliche Verknüpfung steckt hinter dieser Verbindung? Für die mittlere Phase absehbarer Zukunft ersehnt sich Paulus eine Stabilisierung des Glaubens. Im Text steht nur »Gott wird euch festigen«, und dann: »Getreu ist Gott …« Das Wortfeld »festi-
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Kapitel 1
gen« und »Treue« meint Anteilhabe an der Stabilität Gottes, und das geschieht im Glauben. Denn das hebräische Wort für »glauben« heißt: sich festmachen, fest werden. Das kann man, indem man seine Stabilität von dem bezieht, auf dem man gründet. Daher die Bilder vom Hausbau auf festem Felsen im Neuen Testament. Auch das griechische Wort für »treu« hat denselben Wortstamm wie für »glauben« (pist-), sodass beide Sprachen, das Hebräische wie das Griechische, dieselbe Anschauung haben. Schlussphase: Paulus nennt sie »Offenbarung unseres Herrn Jesus Christus« (1,7). Eine Offenbarung hat Paulus selbst schon erlebt. In Gal 1,16 schildert er seine Berufung zum Apostel und sagt: »Der Sohn Gottes wurde mir geoffenbart.« Seine visionäre Berufung steht daher in Beziehung zum Ende, zur Wiederkunft Jesu Christi. – Nach Röm 8,19 wird am Ende nicht nur Jesus Christus, sondern die Christen insgesamt werden als Kinder Gottes geoffenbart. Damit gewinnt die Theologie des Apostels hier Profil: Stichwort ist die kommende »Offenbarung Jesu Christi«; sie bezieht sich auf Jesus als den Sohn (seit 1 Thess 1,9f) und die Christen als Kinder (seit Röm 8,19). D. h. zur Gotteskindschaft gehört die Abfolge von Verborgenheit, Offenbarsein und wiederum Verborgenheit. Bekannt ist das vom Messiasgeheimnis her. Bei seiner Berufung wurde der Himmel einen Spaltbreit geöffnet, und am Ende der Zeiten wird dasselbe noch umfassender geschehen. Die Wiederkunft Christi wird umfassende Offenbarung sein. Alles wird ans Licht kommen. Daher geschieht am Ende nichts eigentlich Neues, sondern es wird nur offenbar, was immer schon war: dass Gott die entscheidende Wirklichkeit ist, dass Jesus Christus Sohn Gottes und Herr ist, dass die Christen Kinder Gottes sind. Und es wird in diesem Licht offenbar, auf welche Seite jeder gehört. Das Ende der Welt, das kommende Gericht, ist daher weniger ein zusätzliches Drama, sondern eher eine Mega-Vision, der Einbuch der Klarheit Gottes in die Welt, um sie durch Wahrheit zu verwandeln. Die Wahrheit kann auch erschreckend sein, und dann ist sie Gericht.
1 Kor 1,10-13.17: Thema Spaltungen Spaltungen gab es im Christentum von Anfang an, denn die Grundlage der Einheit der Christen ist nicht ein eindeutiges Buch, sondern eine Person. Dass die Basis der Einheit eine Person ist, Jesus Christus, sagt auch Paulus hier: »Ist etwa Christus zerteilt?« Dass eine Person, Gott in Person, die Einheit begründet, ist der Idealfall. Und wie ließe sich Einheit unter Menschen besser begründen als durch Liebe, Vertrauen und Gehorsam? Jede Schriftauslegung nimmt sich nur kümmerlich dagegen aus. Paulus hat eine sehr strenge Vorstellung von Einheit. In Gal 1,8 muss er andere Christen (!), die nur implizit das Sakrament der Taufe in Frage stellen, als Anhänger eines anderen Evangeliums mit dem Fluch belegen. In Korinth kann er laut 1 Kor 1 nicht verschiedene Lehrautoritäten gelten lassen. Es müssen also noch nicht einmal perfekte Häresien sein, die die Einheit gefährlich aufs Spiel setzen. Deshalb ist sein letztes Wort in 1,17: »damit nicht entleert wird das Kreuz Christi«. Was hat das hier Besprochene mit dem Kreuz zu tun? Für Paulus ist der Glaube an Jesus eine radikale Verschärfung des Monotheismus. Indem sich alle ihm unterordnen, besteht die beste Möglichkeit zum Frieden. Wo er Herr ist, kann sich keiner erheben. Das kommt gerade in dem Wort vom Kreuz zum Ausdruck. Denn dieses Wort setzt einen krassen Unterschied zwischen Gott und Welt. Gott ist nicht nur kein Götze unter anderen – er ist allem, was in der Welt gilt, total entgegengesetzt. Dadurch ist die Zahl seiner Feinde exponentiell vergrößert. Es gibt jetzt nicht nur die Götzen, sondern alles ist feindlich, was in den Händen des Menschen zum Gegenstand des Sich-Rühmens, zur Bestreitung des Machtanspruchs Gottes und damit zum Instrument des Unfriedens werden kann. Alles, womit ein Mensch glänzen und sich erhöhen kann, ist zugleich Bestreitung des Anspruchs Gottes und in Tateinheit Streit und Unfrieden unter Menschen. Dieser Monotheismus ist der einzig verlässliche Weg zum Frieden. – Kreuzestheologie sagt, dass alle gesellschaftlich relevanten »Werte« nur Instrumente im Krieg aller gegen alle sind. Und das ist nicht nur der Krieg aller Menschen gegen-
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570 einander, sondern auch der Krieg des Menschen gegen Gott.
1 Kor 1,22-25: Weisheit und Torheit Paulus reagiert auf den Vorwurf, der paulinischen Mission und Verkündigung fehle es an Glanz. Der eine Vorwurf bezieht sich auf das Fehlen von »Zeichen«. Paulus ordnet ihn der jüdischen Seite zu. In der Situation der Gemeinde von Korinth konnte er das leicht der sich auf Petrus berufenden Partei zuschreiben (vgl. zu dieser Gruppe Kap. 1,12). Petrus war als Augenzeuge der Verkündigung Jesu einen Missionsstil gewohnt, bei dem der Erweis der Vollmacht in Wundern im Vordergrund stand. War er nicht selber bei einem Fischfangwunder berufen worden (Lk 5,1-11)? Die Apostelgeschichte berichtet ganz in diesem Sinne von seiner Missionstätigkeit. Der Evangelist Matthäus teilt im Übrigen die Einschätzung des Apostels Paulus. Denn Matthäus trennt bekanntlich zwischen der Judenund der Heidenmission und sieht die Judenmission als Fortsetzung der irdischen Tätigkeit Jesu, und zwar inklusive Wundern und Sendung zu Israel (vgl. dazu etwa Mt 10). – In Korinth ist Paulus den Erwartungen der – im Sinne und Stil des Petrus – Missionierten nicht gewachsen. Das gilt so, obwohl er andernorts betont, er habe die »Zeichen des Apostels« vollbracht. Der zweite Vorwurf bezieht sich auf den mangelnden rhetorischen Glanz. In der Lage, die Paulus für die Gemeinde von Korinth schildert, kann sich das zweifellos auf Apollos beziehen, mit dem Paulus sich dann in 2 Kor noch auseinandersetzen muss. Apollos ist ein geistvoller Ausleger der Schrift (des Alten Testaments), und Paulus hat diese Fähigkeit in 1 Kor 10 und in 2 Kor 3 offenbar als Herausforderung auch für sich selbst betrachtet. In der mündlichen Verkündigung aber haperte es nach Paulus’ eigenem Zeugnis erheblich. Auch dieses findet sein Echo in der Apostelgeschichte, wo Paulus in Athen an den Philosophen scheitert. Unter »Weisheit« versteht Paulus aber mehr als nur Fachwissen und Lebenskunde der Berufsphilosophen, auch nicht nur Logik und Rhetorik, sondern vor allem die Technik und Kunst öffentlichen Machtgebrauchs. Denn im Folgenden führt er aus, dass die Weisheit,
Der erste Brief an die Korinther
also die Politik, zum Mord an Jesus geführt hat. Und er nennt die Maßstäbe dieser Weisheit: Reichtum, Macht und Prestige, verbunden mit der Verachtung des Schwachen und Geringen. – Paulus unterstellt damit der (griechischen) Weisheit insgesamt, dass ihr Ziel Machtgewinn und Machterhalt nach den Maßstäben des geltenden Establishments ist. Diese Weisheit ist im ganz praktischen Sinne atheistisch. Gottes Weisheit aber ist keine Lebens- oder Machtkunde, sondern sie ist Jesus Christus selbst. Dieser Ansatz deckt sich fast vollständig mit dem JohEv. Denn alles, was man traditionell von Gottes Weisheit sagt, gilt hier von Jesus Christus. Diese Weisheit ist Schöpfungsmittlerin, sie ist Weltvernunft (Logos), und der Logos ist in Jesus Mensch geworden, d. h. er wohnt in dem Menschen Jesus von Nazaret. Diese Weisheit ist Leben, und man kann sie essen als das Brot des Lebens (Joh 6). In 1 Kor 8,6 wird Paulus von Jesus sagen, dass durch ihn alles geworden ist – so wie man sonst von der Weisheit spricht. Zu 1 Kor 1,25: Gottes »Unsinn« ist weiser als die Menschen, und Gottes »Schwäche« ist stärker, als Menschen überhaupt sein können. Das heißt: Gott und Welt sind so verschieden, so weit auseinander, dass sie nicht mehr vergleichbar sind. Gottes Weisheit ist eben nicht die Krönung aller Erdenweisheit, Gottes Macht ist nicht die Supermacht. Gott ist so anders, dass seine Weisheit hier nur als Torheit erscheinen, seine Macht hier nur als Schwäche dastehen kann. So, wie diese Welt ist, ist Gott nicht die höchste Zuspitzung ihrer höchst angreifbaren Werte, sondern angesichts Gottes ist jeder Wert der Welt wie Staub oder Blech, jede Weisheit wie Dummheit – und umgekehrt. Diese totale Verschiedenheit von Gott und Welt erkennt man am Geschick Jesu. Den Herrn der Herrlichkeit kann die Welt nur als Verbrecher und Abschaum ansehen und mit der äußersten Entehrung, der Kreuzesstrafe, »auszeichnen«. Deshalb wird mit dem Gekreuzigten der Anti-Wert schlechthin auf den Thron gehoben. Diese Logik Gottes aber hat Folgen für die Adressaten dieser Weisheit. Es sind nicht die Reichen und Erfolgreichen, sondern die zu kurz Gekommenen, an die sich die Botschaft richtet. Sie sind die Erwählten und Berufenen (V. 24; zum
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Erwählen vgl. V. 28). Paulus erkennt das an der Art, in der diese Menschen ihr Selbstbewusstsein begründen; Paulus nennt das: sich rühmen. Denn diese Menschen haben keine eigenen Vorzüge, die nennenswert wären. Sie haben nur das, was Gott ihnen geschenkt hat: ihr Christsein, ihren Glauben und damit eine Freiheit und Würde, die über alle Freiheit geht. Sie sind die wahren Könige, denn sie brauchen keine weltlichen Werte. Zu Gott gehören, dem Herrn alles verdanken – das geht über jeden Wert und Nutzen sonst. So ist »Freiheit« das verborgene Thema des ganzen Abschnitts. Die Christen in Korinth sind deshalb frei, weil sie nichts »brauchen«, keines von den Dingen nötig haben. Das fügt sich gut in das Thema des ganzen Kapitels, welches »Frieden« heißt. Denn alle die Dinge, die man braucht, Reichtum und Macht und Adel, sie schaffen nur Unfrieden. Das gilt besonders vom Ansehen des Lehrers. Eigentlich ist das ein uraltes Thema der Weisheit. Aber wenn nur Menschen deren Maßstab sind, gibt es zwangsläufig Unfrieden – wie eben in Korinth, wo vier Parteien gegeneinanderstehen, deren jede einen der großen Lehrer für sich reklamiert. Die Theologie des Kreuzes ist der Weg zum Frieden, weil Menschen, die nichts haben und nichts brauchen außer Gott, keinen Grund zum Streiten kennen. Und wenn es (das Heil, das zu erwarten ist) geschenkt ist, dann nicht gegen andere, sondern für ein Miteinander. Woher kommt hier die Gleichsetzung einer Person (Jesus) mit einem Abstraktum (Weisheit)? Gewiss wurde die Weisheit in der Weisheitsliteratur personifiziert, sozusagen als Person betrachtet. Aber damit hatte sie noch nicht Arme und Beine wie ein Mensch. Der Schlüssel liegt vielleicht in 1 Kor 8,7b: »Und einer ist der Herr, Jesus Christus, durch ihn ist alles, und auch wir durch ihn.« »Durch ihn ist alles« – das ist wie bei der Weisheit (Weish Sal 9,1f: »der du das All durch dein Wort gemacht und durch deine Weisheit den Menschen ausgerüstet«). »… auch wir durch ihn«, das könnte heißen: Als der neue Adam ist Jesus der Mittler und das Urbild der neuen Schöpfung, gerade so, wie es Paulus in 1 Kor 15,45-46 formuliert. Denn die »wir« sind auch in Röm 5,1.11.21 (alle mit »durch«) abgehoben wegen des exklusiven Verhältnisses zu »unserem Kyrios«. Das heißt: Schöpfungsmittler ist Jesus Christus sowieso, aber für uns auch der
Weg zu Gott (Hebr 10,20; vgl, Joh 14,6) und daher auch definitiver Mittler. – Dass die Weisheit eine menschliche Person ist, ist durchaus eine neue Erkenntnis. Aber der Mensch Jesus Christus rückt doch nur ein in die Planstelle, die seit jeher bestanden hat, und die jetzt deutlicher erkannt und konkreter wahrgenommen wird, seitdem sie ausgefüllt wird durch Jesus. Bar 3,38 (LXX) war die unmittelbare Vorstufe zu dieser Aussage (wohl von Gott, der die Erkenntnis gibt): »Danach erschien er auf der Erde und wandelte unter den Menschen.«
1 Kor 1,26-31: Wer sich rühmen will … Das paulinische (und weitgehend das hellenistische) Bild vom Menschen ist sehr stark extrovertiert. Die erste und grundlegende Spielregel des gesamten sozialen Miteinanders heißt: Man kann und darf stolz sein auf alles Mögliche und auch auf Eltern, Kinder, Schüler und Könige, doch nie nur auf sich selbst. Im Römerbrief zeigt Paulus z. B. an den vor- und außerchristlichen Juden, wie sie sich des Besitzes der Torah rühmen und sich auch der Erwähltheit durch den einzigen Gott brüsten. In jedem Falle aber geschieht das Sich-Rühmen vor einem anderen Menschen oder Forum und jeweils mit Hinweis auf eine dritte Größe, auf die man sich beruft, die gewissermaßen eine neutrale, für sich selbst zu untersuchende Größe (nicht die eigenen Werke oder Vorteile, sondern z. B. Gottes erwählendes Handeln) ist. Wenn man also stets vor einem anderen sein Prestige auf einer dritten Größe gründet, dann kommt es natürlich darauf an, dass diese Größe stabil, haltbar, lange andauernd ist. Worin die Erwählung und Berufung der christlichen Gemeinde besteht, sagt Paulus in V. 30: Jesus Christus ist ihr Patron, und zwar im antiken Sinne des Wortes derjenige, der sich vor sie stellt. Durch ihn sind die korinthischen Christen »als Gerechte angenommen, als Heilige Gottes Eigentum, befreit von Sünde und Tod« (Berger/ Nord). Deshalb gilt der Satz: »Stolz sein darf man nur auf das, was Gott selbst geschenkt hat, nur auf Gott selbst« (V. 31). Übrigens nennt Paulus hier unter anderem die von Gott der Gemeinde geschenkte Heiligkeit, und so ergibt sich eine Beziehung zum Höchst-
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572 wert des Heiligen. Dieser Stolz auf Gottes Handeln hat bestimmte Konsequenzen für die Gemeinde. Sie muss dann nicht mehr auf bestimmte Lehrer stolz sein. Paulus bezweifelt hier radikal den Wert solcher Lehrer-Schüler Beziehungen (1,12-15) und sagt: Sie bringen nur Zwietracht. Die Gemeinde soll sagen: Wir sind Gottes Schüler, wir sind stolz darauf, Gottes erwählte Kinder zu sein. Der große, unfassbare Gott hat sich unser erbarmt. Es gibt keinen anderen Weg zum Frieden. Sagt mir, auf was ihr stolz seid, und ich sage euch, ob ihr Frieden und Eintracht wirklich wollt.
1 Kor 2,1-5: Theologie des Verkündigens Was geschieht eigentlich bei der Verkündigung des Evangeliums, wenn man sie aus der Sicht des Glaubens auffasst und beschreibt? Oder handelt es sich dabei um einen profanen Akt, bei dem für alle Beteiligten die Regeln des Marketing maßgeblich sind? Paulus liefert in dem Abschnitt 1 Kor 2,1-5 eine Theologie des Verkündigens. Neuzeitliche Werbeagenturen würde Paulus ablehnen und das Gegenteil favorisieren. Denn er schildert hier, dass der Verkündiger, der Bote des Evangeliums, im Bewusstsein der Schwäche, voll Furcht und Zittern sich seinem Publikum stellt. Das Geheimnis der paulinischen Verkündigung besteht darin, dass Paulus unfreiwillig durch seine unbeholfene Art (ausdrücklich in 2 Kor 10,10) dem Wirken Gottes Raum gibt. So kann es an Paulus selbst bestimmt nicht liegen, dass Menschen trotzdem glauben. Paulus ist so wenig rhetorisch glatt oder geschmeidig, dass er Gottes Wirken nicht im Wege steht. So kommt die Wahrheit seiner Botschaft gerade durch die Lücken und Löcher, die Paulus lässt, zum Vorschein. In Phil 2,12 ermahnt er die Christen: »Mit Furcht und Zittern wirkt euer Heil. Denn Gott ist es, der in euch das Wollen und das Vollbringen wirkt …« Die Konstellation ist demnach dieselbe wie in 1 Kor 2: Dort, wo alle wirksame Kraft von Gott ausgeht, ist die Rolle des Menschen sehr bescheiden. Es ist zwar nicht nur die Rolle des Zuschauers, der Mensch ist ja nicht unbeteiligt. Aber er erfährt das Wirken Gottes an sich selbst oder an seinem Gegenüber wie eine
Der erste Brief an die Korinther
Theophanie (visionäre Gotterscheinung). Furcht und Zittern ist die für den Menschen typische Weise der Reaktion in biblischen Theophanien. Deren Adressaten werden ergriffen von Ehrfurcht davor, dass Gott heilig und machtvoll in Erscheinung tritt. Paulus fasst nicht nur seinen eigenen Dienst, sondern auch das übliche heilvolle Geschehen der Rettung eines jeden Christen so auf, dass Gott wirkt und der Mensch dieses mit heilsamem Erschrecken und Staunen begleitet. Die unverstellte menschliche Schwäche, ja eine Art »Ohnmachtsreaktion« gegenüber Gott begleitet sein Wirken. Das ist nicht im Sinne eines Kalküls aufzufassen (»Wenn ich mich möglichst ohnmächtig stelle, wird Gott etwas tun«), sondern als Eingeständnis der Wahrheit über den Menschen angesichts Gottes. Die offenkundige menschliche »Kraftlosigkeit« des Verkündigers liefert die beste Voraussetzung dazu, die Wunder als das zu sehen, was sie sind: Gottes Taten, und zwar eindeutig seine Taten. Wenn in 2,10-15 so oft von Gottes und der Menschen Geist die Rede ist, dann geht es nicht um die Gabe des Heiligen Geistes als Kraft zum Handeln und zum Auferstehen. Vielmehr meint Geist hier den »innersten Personkern«, und der ist hier wichtig, da es um Erkenntnis des innersten Kernes Gottes geht. Erkenntnis war auch schon das Thema bei der Blindheit der politischen Machthaber, die den Herrn der Herrlichkeit nicht erkannten und deshalb in ihrer Beschränktheit Jesus kreuzigten. So tritt neben die Kreuzestheologie von Kap. 1 hier die Auffassung von der Konnaturalität der Erkenntnis, das heißt: Gottes Inneres kann eigentlich nur Gottes eigener Geist erkennen. In 2,8 macht Paulus klar, was das für das verheißene Heil bedeutet: Man kennt es nur durch Offenbarung (also indem Gott diese Erkenntnis in einem schafft), anderen ist diese Erkenntnis verwehrt. Paulus beruft sich auf die Erkenntnis dessen, was Gott den Christen schenken wird, speziell auf Gottes Geist. Dieser Geist steht im Gegensatz zur »Welt«. Im Prinzip ist das ähnlich wie bei der Kreuzestheologie, hier ist es nur bezogen auf die Dinge, die Gott nach 2,9 denen bereitet hat, die ihn lieben. Dieses übernatürliche Wissen ist an einen bestimmten Fortschritt gebunden, den man als Christ besonders in seinem Verhalten gemacht
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Kapitel 2
hat. Die Konnaturalität der Erkenntnis gilt daher auch moralisch. Sie ist nur dem Pneumatiker möglich, nicht dem Psychiker (2,14). Pneuma gilt daher als die übernatürliche Qualität (ewigen und göttlichen Lebens), Psyche ist dagegen die nur natürliche, sterbliche, kreatürliche. Das ganze Stück 1 Kor 2,7-10 besitzt starke Ähnlichkeit mit dem so genannten Revelationsschema, ein häufig wiederkehrendes, immer wieder neu benutztes Traditionsstück. Demnach hat Gott »vor Zeiten« ein »Geheimnis« begründet, das er »verborgen« hielt, bis er es jetzt den auserwählten Aposteln oder Jüngern »geoffenbart« hat. Es ist vorherbestimmt von Gott für die jetzigen Empfänger; diese Vorherbestimmung geschah schon vor »Äonen«; die Weltherrscher haben es nicht erfahren. Zumeist sind die von Gott gewollten Adressaten Paulus oder andere Christen oder die Kirche. Da es sich um ein erst jetzt allmählich bekannt werdendes Geheimnis handelt, spielen Propheten des Alten Testaments nur in Ausnahmefällen eine Rolle. Nach Eph 3,5f könnte es auch das Evangelium für Juden und Heiden sein. – 1 Kor 2,7f ist der wohl älteste christliche Beleg. Diese Qualifizierung der Offenbarung als lange gehütetes, erst jetzt geöffnetes Geheimnis ist eine Art Empfehlung eines exklusiven neuen Inhalts (vgl. heute »Exklusivbericht« als »Enthüllung«). Dieses Traditionsstück ist jüdischen Ursprungs und findet sich bei Paulus und noch stärker im Umkreis des Paulus, z. B. in Röm 16,25f; Kol 1,26 f; Eph 3,5.9; 2 Tim 1,9 f. Der Inhalt dieses Geheimnisses ist in christlichen Texten in der Regel Jesus Christus. Nur in 1 Kor 2,7-9 ist das fraglich; denn aufgrund der Überlieferung, die hinter V. 9 steht, ist das »ewige Leben« der Inhalt dieses Geheimnisses. Aber beides schließt sich nicht gegenseitig aus, und das ist wohl der Schlüssel zur Erklärung des Abschnittes. Auch die Formel »Was kein Auge sah, in keines Menschen Ohr drang und in das Herz eines Menschen nicht kam« meint ein Geheimnis. Nur ist dieses bei Paulus – anders als im Zitat – eben nicht irgendein Geheimnis, sondern speziell das Geheimnis, dass in Jesus Christus der Herr der Herrlichkeit verborgen gegenwärtig war. Damit ist auch durchaus das gemeint, was bei den Synoptikern »Messias-Geheimnis« genannt wird.
573 Der Unterschied: Nach den synoptischen Evangelien ist Jesu Messianität verborgen, aber nicht sub contrario, unter dem Gegenteil. Denn Jesus wirkt Wunder und treibt böse Geister aus. Die Frage ist dort die verborgene Legitimität (ist Gott der Inspirator Jesu oder der Teufel?). Bei Paulus ist diese Frage jedenfalls hier nicht geläufig. Bei ihm geht es darum, ob der Gekreuzigte, der von den Weisen Verachtete und Abgelehnte, in Wahrheit der Herr der Herrlichkeit ist.
Denn in 2,8 heißt es: »Keiner der Mächtigen dieser Welt kannte dieses Geheimnis, sonst hätten sie Jesus, den Herrn der Herrlichkeit, nicht gekreuzigt.« Der bislang Verborgene ist daher auch hier Jesus Christus. Denn man kann wohl 2,8 so lesen: Das Geheimnis ist Jesus. Hätten sie ihn erkannt, und zwar als den Herrn der Herrlichkeit, hätten sie ihn nicht gekreuzigt. Es geht daher um die Frage, ob Jesus mehr war als ein bloßer Mensch, nämlich Herr der Herrlichkeit. Den Herrn der Herrlichkeit kreuzigt man nicht. Aber was bedeutet dieser Titel? Warum ist er gerade so formuliert? Den Inhalt von 2,9 kann man genau mit »himmlische Herrlichkeit« wiedergeben. Das heißt: Als Herr der Herrlichkeit ist Jesus auch derjenige, der ewige Herrlichkeit schenkt, denn in der Verbindung mit ihm wird diese zugänglich; genau deshalb heißt es in 2,7: »zu unserer Verherrlichung«. Die Herrlichkeit ist der Bereich, in den Jesus nach seinen Leiden eingegangen ist und für den er selbst seitdem steht. Das, was der gerechte Schächer »dein Reich« nennt (Lk 23,42), wird an anderer Stelle die Herrlichkeit genannt, in die Christus einging (Lk 24,26). Nun kann man fragen, wie und wo Christen diese Offenbarung des Heiligen Geistes empfangen, und was dieses mit dem Gekreuzigten zu tun hat, von dem vorher die Rede war. Mit dieser Frage stoßen wir auf das verbindende Stück 2,15. Dieses ist deshalb ein eigenes Stück, weil es sich hier um einen eingeschobenen autobiografischen Abschnitt des Paulus handelt. Paulus schildert sein erstes Auftreten in Korinth, und aus diesem Abschnitt geht Wichtiges über seine Auffassungen von seiner eigenen Verkündigung hervor. Mit den beiden bisher erörterten Abschnitten verbindet das dreifache Stichwort »Weisheit« (2,1.4-5). Mit dem ersten Abschnitt (1,17-25) verbindet das Stichwort »gekreuzigt«, mit dem zweiten (2,1-5) das Stichwort »Heiliger
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574 Geist«. Das bedeutet: Paulus wendet die Rede von der Bedeutung des Kreuzes auf sich selbst und seine Verkündigung in Korinth an. Denn er selbst hat auf alles das verzichtet, was eine Rede sonst mächtig und eindrucksvoll macht. Deshalb nimmt er das Stichwort Weisheit auf. Was wir mit Lebenskunst übersetzt haben, wird hier zur Redekunst. Paulus behauptet, eben diese in Korinth nicht in seiner Predigt angewandt zu haben. Das ist glaubhaft; denn in 2 Kor 10,10 schildert Paulus, welches Echo sein persönliches Auftreten inklusive seine Rede zu finden pflegte: »Seine Briefe sind gewichtig und voll Saft und Kraft, doch sein Auftreten ist erbärmlich, und wenn er redet, ist das zum Lachen.« Und auch hier berichtet Paulus von demselben Ereignis: »Als ich zu euch kam, fühlte ich mich ziemlich elend, ich hatte große Angst und zitterte am ganzen Leib« (2,3). Wörtlich lautet es etwa so: »in Schwäche und in Furcht und starkem Zittern«. Wir halten fest: Offenbar macht Paulus aus seiner Not – ein kümmerliches Auftreten – im Sinne der Kreuzestheologie eine Tugend. Denn wenn bei diesem Zustand der menschlichen Rede doch ein Erfolg, etwa im Sinne der Bekehrung, herauskommt, dann kann es sich nur um das direkte Einwirken Gottes handeln. Das heißt: Paulus liefert mit der Schilderung seines eigenen Auftretens auch einen Beitrag zur Frage der Parteiungen in Korinth. Alle Parteiungen, Rivalitäten zwischen Missionaren, beruhen auf mehr oder weniger groß herausgestellten beeindruckenden Qualitäten, »Führungsqualitäten«, »Rhetorik«, »Charisma« (nicht im theologischen Sinn). Wer das nicht hat oder nicht ausspielt, bereitet den Weg zum Frieden. Gleichzeitig aber betrachtet Paulus seine Verkündigung als eine Art Epiphanie Gottes selbst. Unter »Epiphanie« verstehe ich hier die kurzzeitige, wirkungsvolle Präsenz (eines) Gottes. Darauf weist der Ausdruck »mit Furcht und Zittern«, der aus der Sprache der Theophanieschilderungen (Gotteserscheinungen) der hebräischen Bibel und jüdischer Offenbarungsliteratur stammt. Denn wenn Gott erscheint, kann die Kreatur nur zittern. Auch in Phil 2,12 gebraucht Paulus diese Wendung in einem interessanten Zusammenhang, nämlich in der Frage, wie das Heil des Menschen zustande kommt. Antwort in Phil 2,12: Auf der Seite des Menschen ist Furcht
Der erste Brief an die Korinther
und Zittern, auf der Seite Gottes das Wollen und das Vollbringen. Ganz ähnlich, nur jetzt auf zwei menschliche Partner verteilt, argumentiert Paulus in 1 Kor 2,3f: Auf der Seite des Paulus wiederum Furcht und Zittern, er ist in dieser Hinsicht fast eher Werkzeug und Zeuge als Täter. Auf der Seite der Adressaten der Verkündigung steht der Glaube, der aus dem Erweis von Heiligem Geist und göttlicher Kraft entsteht. Nirgendwo sonst sagt Paulus so klar, dass der Glaube der Christen durch den Heiligen Geist in einem geradezu epiphanen Geschehen bewirkt wird. Dass Paulus selbst nur so schwach mitwirkt, stellt sicher, dass es sich wirklich um Gottes Tun handelt. Über denselben Heiligen Geist, der den Glauben der Christen bewirkt, wird Paulus dann in der Folge sagen, dass er Jesus als König der Herrlichkeit offenbart. Damit ist auch bereits der Glaube Anfang der Verherrlichung der Christen, was Paulus in 2 Kor weiter ausführen (2 Kor 3,18) und in Röm 8,30 so formulieren wird, dass Christen bereits verherrlicht sind. Bei dem »Erweis von Geist und Kraft« kann es sich auch um Wunder handeln; in Röm 15,19 und 2 Kor 12,12 spricht Paulus ebenso von »Kraft«, wenn er sein missionarisches Wirken darstellt. Eine ähnliche Verteilung von negativ und positiv ist aus 2 Kor 4 bekannt: Auf Seiten des Paulus wirken Leiden und Sterben, auf Seiten der Gemeinde dagegen Leben (4,11f). – Bei Paulus ist diese Distanz jedoch christologisch geprägt (vgl. 2,8: Kreuzigung). Denn durch den Mord an Jesus haben die Machthaber der Welt unüberbietbar gezeigt, wes Geistes Kind sie sind. – Paulus vertritt hier keinerlei Hoffnung, etwa nach dem Modell der Annäherung von Gemeinde und Staat. Die Herrscher dieser Welt kennen sie nicht. Sie (d. h. die Machthaber) folgen nur der Steigerung der Macht und der Verachtung des Schwächeren. Die Weisheit Gottes, von der Paulus spricht, gehört den »Vollkommenen«. Das sind die, die er in 1,24 »Berufene« genannt hat und die nach V. 28 Auserwählte sind. Sie heißen hier »Vollkommene«: die also zu Gott und zum Himmel gehören. Das Wort »Vollkommene« steht in enger Beziehung zum »Geheimnis«; denn in der Sprache der zeitgenössischen Mysterienkulte werden die Geheimnisse den Vollkommenen kundgetan und allen anderen nicht. Bei dem jüdischen Philosophen Philo v. Alexandrien sind
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diese Vollkommenen die Juden, die das Geheimnis der Welt, die Offenbarung des einen und einzigen Gottes, empfingen. Die Anwendung dieser Formel auf Jesus Christus ist merkwürdig. Offenbar hängt das aber damit zusammen, dass Jesus Christus der den Menschen bislang verborgene und den Herrschern der Welt verborgen gebliebene »Herr der Herrlichkeit« ist. Denn auch die Formel »Was kein Auge sah …« beschreibt nichts anderes als Herrlichkeit. Es handelt sich um einen Topos der Offenbarungsliteratur; die Belege aus zahlreichen Apokalypsen habe ich gesammelt in: NTSt 24 (1980), 271-283 (»Zur Diskussion über die Herkunft von 1 Kor 2,9«). – Offen ist die Frage, warum gerade Paulus diese Tradition hier zitiert. Möglichkeit 1: Die Frage, wer Jesus wirklich war/ist, steht nicht allein, sondern gehört in denselben Zusammenhang, in dem auch apokalyptische Geheimnisse stehen. Gemeinsam ist die Verborgenheit. Hat Paulus seine Christus-Offenbarung hier eingeordnet? Das wäre ein ganz neuer Gesichtspunkt. In 2,14-3,1 wird Paulus den Korinthern den Besitz des Pneuma bestreiten. Dann wären sie auch in der Christus-Offenbarung »zurückgeblieben«. – Möglichkeit 2: Auch die Offenbarung Jesu Christi gehört zu den Tiefen der Gottheit, die Paulus bei seiner Bekehrung geoffenbart werden.
Zu 1 Kor 2,10: Der Satz setzt die Konnaturalität von Erkennendem und Erkanntem voraus. Das heißt: Gott kann nur der erkennen, der etwas von Gott in sich hat. Nur wer den Heiligen Geist empfangen hat, kann auch Gottes Geist, d. h. seine »Tiefen« erforschen. Zur Klärung von 1 Kor 2,10 (»Tiefen Gottes«) sind zwei exegetisch-theologische Fragen zu klären: 1. Was bedeuten die »Tiefen Gottes« im näheren Umfeld des Neuen Testaments? 2. In welchem Verhältnis stehen die »Tiefen des Satans« in Offb 2,24 zu diesen Tiefen Gottes (wenn sie denn in einem Verhältnis stehen)? – Zur ersten Frage: »Tiefen Gottes« meint: Das Innerste Gottes, seine Geheimnisse. Nach den meisten Texten gelten diese als schlechthin unerforschbar und den Menschen nicht zugänglich Anderen Texten zufolge gibt es Menschen, die behaupten, auch die Tiefen zu kennen. Später wird man diese Menschen Gnostiker nennen. Die Frage ist nun: Meint Paulus in 1 Kor 2,10 schon Gnostiker (etwa die in Korinth)? Deren
575 Existenz ist jedoch heute stärker umstritten als vor etwa 40 Jahren (W. Schmithals, Die Gnosis in Korinth, 3. Aufl. 1969). Ergebnis: Paulus geht tatsächlich von einer gehobenen, qualifizierten Erkenntnis aus, die die anderer Menschen überragt; so ist es auch mit dem Gegensatz von Psychisch und Pneumatisch in 1 Kor 2. Die religionsgeschichtliche Frage erscheint am ehesten im Blick auf die beiden letztgenannten Gruppen lösbar. Die Unterscheidung zwischen Psyche (Seele mit natürlicher Ausstattung und Kraft) und Pneuma kommt aus der hellenistischen Inspirationsmystik. Pneuma ist die vom Himmel (von den Göttern) der menschlichen Seele in außergewöhnlichen Fällen geschenkte zusätzliche Erkenntnis, Sprachfähigkeit und Kraft. Da im frühen Christentum viel von Pneuma geredet wird, ist es vorstellbar, dass die Korinther den Heiligen Geist für sich beansprucht haben, und zwar vielleicht im Sinne der Auszeichnung vor anderen, so wie es die Inspirationsmystik verstanden hat. Paulus aber argumentiert in Kap. 2 wohl überraschend: Den Heiligen Geist habt ihr nicht, sonst wäre euer Verhalten anders. Denn Heiliger Geist bedeutet Friedfertigkeit und Verzicht auf Imponiergehabe (Gal 5,22f); so weit ist die in rivalisierende Parteiungen zerfallene Gemeinde in Korinth noch nicht. Daher kann Paulus ihr das, was sie für sich beansprucht, nicht zuerkennen. Klar ist nunmehr: Mit der Erkenntnis der Tiefen Gottes wäre auch das himmlische Pneuma gegeben. Paulus bestreitet den Korinthern dieses. In welchem Sinne Christen das kennen, was Gott im Himmel denen bereitet hat, die ihn lieben, das hatte Paulus in 2,9 geschildert. Die NichtPneumatiker in Korinth kennen das nicht. Insofern sind sie auch nicht klüger als die Behörden, die Jesus umbrachten (2,8). Auch der Verfasser der Offb spricht zumindest einem Teil der Adressaten die Erkenntnis der Tiefen Gottes ab. Der Anspruch wird wohl erhoben worden sein; aber wie der Seher Johannes den Anspruch, Synagoge Gottes zu sein, ironisch in »Synagoge Satans« wiedergibt, so geschieht es auch mit dem Anspruch auf die Tiefen Gottes; daraus werden in ironischer Umdrehung in demselben Sinn »Tiefen Satans«. Standen in 1 Kor 2 die römischen Behörden jedenfalls prinzipiell mit im Visier, so ist es genauso in Offb 2: Die
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576 Synagoge Satans sind Juden, die sich mit dem römischen Staat zu weit eingelassen haben (und der ist nach Kap. 12f vom Satan abhängig). Ähnliches gilt auch für das Gebet der Christen nach Röm 8,26f: Nur weil der Heilige Geist den betenden Christen beisteht, wird das Gebet Gott erreichen. Denn auch hier genügt nicht der gute Wille der Menschen. Er ersetzt nicht die Qualität, die man besitzen muss, um Gott Auge in Auge begegnen zu können. Diese Qualität, und das gilt überall bei Paulus, kann nur Gott selbst schenken. Dem, der Gott liebt, schenkt Gott sozusagen den Frack, mit dem er in Gottes Thronsaal vor Gottes Thron auftreten kann. Immer ist es Gott selbst, der dazu befähigt, dass man ihm begegnen kann. – In der synoptischen Tradition entspricht dem, dass nur Geister die messianische, durch den Heiligen Geist bewirkte Identität Jesu erkennen. Dass es böse Geister sind im Gegensatz zum Heiligen Geist Jesu, ist für die Frage der Erkenntnis nicht gravierend. Vorausgesetzt ist dabei übrigens wie in 1 Kor 2 die Konnaturalität der Erkenntnis (nur mit Geist – oder wenn man eben Geist ist – kann man auch den Heiligen Geist erkennen). Für Menschen ist dieser Geistbesitz nicht machbar. Die Dämonen können den Geistbesitz Jesu und damit seine Gottessohnschaft von Natur aus erkennen (z. B. Mk 3,11).
Im Zusammenhang von 1 Kor 1f bedeutet das: Die Gemeinde bringt als Voraussetzung zum Christwerden mit, dass alle nach weltlichen Maßstäben mit leeren Händen dastehen und daher dankbar ihr Prestige nur auf Gott gründen können. Das würde nicht ausreichen, um zu Gott zu gehören. Denn für den Glauben entscheidend ist die christologische Erkenntnis: dass der Gekreuzigte der Herr der Herrlichkeit ist. Diese Erkenntnis aber kann nur eine von Gott selbst geoffenbarte sein. Deshalb heißen die Glaubenden die »Vollkommenen«. 1 Kor 1 und 1 Kor 2 haben unterschiedliche Zielsetzungen: In 1 Kor 1 geht es bei der Kreuzestheologie um den radikalen Wertekontrast, in 1 Kor 2 dagegen um die notwendige Anteilhabe an Gottes Geist für den, der glaubt. Wer den Heiligen Geist hat, der muss sich nicht an der Oberfläche stoßen, sondern er erkennt in Jesus den Herrn (der Herrlichkeit). Von daher ist auch 1 Kor 12,2 zu verstehen: Wer den Heiligen Geist hat, der kann sagen: Jesus ist der Herr.
Der erste Brief an die Korinther
Durch die Gabe des Heiligen Geistes ist der Christ nach diesen Sätzen zum Glauben und zum Bekenntnis fähig. Irdische Macht hindert daran. Insofern ist 1 Kor 2,8 die Brücke zu den die Macht, den Reichtum usw. abwertenden Aussagen von 1 Kor 1. Übrigens wird von diesem Abschnitt her auch der viel gedeutete Satz 2 Kor 5,16 klarer: Jesus nach dem Fleische erkennen ist das Gegenteil zu der in 1 Kor 2 propagierten Erkenntnis durch den Heiligen Geist. Wer Jesus nur nach dem Fleisch kennt, wird durch die Oberfläche abgestoßen werden. Insofern hat Paulus vor seiner Bekehrung ebenso geurteilt wie die politischen Machthaber, die in Jesus nicht den Herrn der Herrlichkeit sehen konnten. Paulus selbst deutet seine eigene Bekehrung als »Offenbarung«, und da sie den Sohn Gottes offenbart, geschieht sie zweifellos als Anteilgabe an dem Heiligen Geist, der Jesus zum Sohn Gottes macht.
1 Kor 2,11-16: Der irdische Mensch – der vom Heiligen Geist erfüllte Mensch In 2,11-16 wird dann die Konsequenz aus 2,6-10 gezogen: Ob einer wie Paulus den Heiligen Geist hat, das können nicht Menschen mit normalem Menschenverstand beurteilen. Dazu braucht man mehr: den Heiligen Geist selbst. Daher will sich Paulus nicht von solchen Leuten beurteilen lassen, die in spiritueller Hinsicht noch ganz am Anfang stehen; das wird sich in Streitereien äußern, die dem Heiligen Geist fremd sind (3,3). – Ähnlich ist auch der Ansatz in Didache 11,7.
1 Kor 3,16-23: Wo ist Gott? Die Frage nach der Gegenwart Gottes – Wo ist Gott? – hat Menschen zu allen Zeiten bewegt, die Antworten darauf waren immer wieder überraschend. Diese allgemeine Frage verbindet sich mit einer zur Zeit des Paulus wie bei uns seit tausend Jahren aktuellen Frage: der Frage nach dem theologischen Stellenwert von Kirchenspaltungen. Die Frage, wo Gott ist, beantwortet Paulus wie folgt. Grundsätzlich gilt: Gottes Ort ist vornehmlich Gottes Haus, der Tempel. Das verstehen Ju-
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Kapitel 3
den und Griechen. Für Paulus gilt darüber hinaus: Auf Erden ist Gott besonders durch den Heiligen Geist anwesend. Darüber geht Paulus nun hinaus durch die Kombination von damals zwei geläufigen Denkansätzen. Der eine besondere und zur Zeit des Paulus relativ neue jüdische Ansatz besagt: Gottes Tempel kann speziell eine Gemeinschaft von heiligen und gerechten Menschen sein. Wir kennen diese Ansicht aus der so genannten Sektenregel aus Qumran. Gottes heiligster Tempel besteht demnach aus einer Gemeinschaft von zwölf gerechten Männern. Ihr gerechtes Leben dient dabei der Sühne von Israels Vergehen. Paulus teilt mit dieser Ansicht, dass ein Tempel nicht aus Steinen bestehen muss, sondern aus Menschen bestehen kann. Auch für ihn ist der Heilseffekt des Tempels zweifellos das Besiegen der Sünde. Der zweite Ansatz ist hellenistisch: Gottes Geist braucht ein Haus; diese Ansicht orientiert sich daran, dass der Mensch mit seinem Körper ein Haus (Tempel) für den Geist ist. Der Ursprung dieses Denkens ist anthropologisch. Wenn man wie Paulus sagt, der Tempel Gottes sei ein Tempel des Heiligen Geistes, dann orientiert man sich grundsätzlich am Bild des Leibes. Vor Paulus gibt es nur einen Text bei Flavius Josephus (Ant), nach dem der Tempel das Haus für Gottes Geist ist – auch diese Aussage ist am Bild des Leibes orientiert. Übrigens passt diese Beobachtung sehr gut zu 1 Kor, denn nebst dem Bild des Tempels ist das Bild des Leibes das für die Gemeinde am häufigsten gebrachte Bild. Paulus kennt in 1 Kor sogar beides: Der Einzelne ist Tempel des Heiligen Geistes – das steht der hellenistischen Anschauung ganz nahe. Zugleich ist die Gemeinde Tempel des Heiligen Geistes: Das rührt aus der Übertragung des Bildes des Leibes auf die Gemeinde. Unser Ergebnis lautet daher: Paulus spricht für damalige Menschen verständlich, weil er sich an zwei geläufige Bilder anschließt: Eine Gruppe von Frommen kann bildlich als Tempel bezeichnet werden. Und: Der Leib des Menschen kann Tempel des (Heiligen) Geistes genannt werden; so aber auch die Gemeinde, wenn sie als ein Leib gefasst ist und wenn der Heilige Geist in ihr wohnt. – Der Zusammenfluss griechischer und jüdischer Gedanken bei Paulus kann hier mustergültig beobachtet werden.
577 Aus diesem Bild – dass die Gemeinde Gottes heiliger Tempel ist – zieht Paulus gravierende und ernste Konsequenzen für den Fall der Kirchenspaltung. Wer auch immer sie verursacht, Kirchenspaltung ist tätlicher, geradezu physischer Angriff auf Gott selbst. Denn dort, wo Heiliger Geist wohnt, ist Gott selbst unüberbietbar gegenwärtig. Hier ist der Fall der Realpräsenz des Heiligen gegeben. Weil Gott der Eine und Einzige ist, weil sein Heiliger Geist stets und exklusiv Instrument der Herstellung von Einheit ist, deshalb ist Kirchenspaltung der Versuch der Zerstückelung Gottes. Paulus droht für diesen Fall mit einer Sanktion, die er niemals vorher oder nachher so ausspricht: Wer den Tempel Gottes zerstört, den wird Gott zerstören. Diese Art der Abfolge von Tun und Strafe nennt man Talio(n); sie besteht darin, dass das frevelhafte Tun des Menschen von Gott abprallt und wie ein Bumerang ihn selbst trifft. Genauso ist es bei der »Sünde wider den Heiligen Geist« – sie besteht in der Lästerung gegen Jesu Gottessohnschaft. Die Sünde ist deshalb unvergebbar, weil der Lästerer mit seinen Worten auf Starkstrom stößt. So ist es gleichfalls mit dem Belügen des Heiligen Geistes nach Apg 5: Es hat Todesfolge. So ist es ebenso nach 1 Kor 11, wenn Menschen sich gegen die reale Gegenwart des Herrn im Abendmahl versündigen; weil das das Heiligste ist, treffen sie Krankheit oder Tod. Was in den synoptischen Evangelien das Lästern gegen Jesus ist, gilt nach 1 Kor 3 von der Zerstörung der Gemeinde. Wer das tut, trifft auf Starkstrom und ist nicht zu retten. Angesichts der breiten biblischen Grundlegung haben neuzeitliche Begütigungen der Kirchenspaltung keine theologische Chance. Auskünfte wie die, die Kirchenspaltungen seien gut, weil sie den Eifer anstachelten, oder es gelte die »versöhnte Verschiedenheit«, bei der die Spaltung im status quo verharrt, können nicht gelten. Kirchenspaltung ist die paulinische Form der Sünde gegen den Heiligen Geist. Positiv heißt das: Es muss so viel sichtbare Einheit erstrebt werden, wie irgend möglich. Im konkreten Fall der Gemeinde von Korinth gibt es die Aufspaltung der Gemeinde in mehrere Lager, die man Paulus-Schule, Apollos-Schule und Petrus-Schule nennen könnte (3,22). Schon in Kap. 1 hatte Paulus diese Aufspaltung bekämpft; denn sie hatte zur Folge, dass auch diese
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578 Lehrer gegeneinander aufgehetzt wurden. An die Stelle des einen Herrn Jesus Christus traten fragwürdige menschliche Autoritäten. Immerhin sind wir hier von Gehässigkeiten und Gemeinheiten, wie sie die spätere Kirchengeschichte bis in die Gegenwart hinein kennt, noch weit entfernt. Aber die Anfänge des Sich-gegenseitig-über-den Tisch-Ziehens sind gelegt. Paulus bekämpft sie nicht aus ästhetischen Gründen, weil so etwas »hässlich« ist, auch nicht aus Harmoniesucht, sondern weil jeder Dissens, jede Konkurrenz, jede Schwächung der Handlungseinheit automatisch Vergehen gegen die zentrale Grundabsicht des Christentums sind. Kirchenspaltung ist kein Schönheitsfehler, sondern Verrat am Eigensten des Christentums. Diese Schlussfolgerung ist übrigens eine direkte Folge trinitarischen Denkens: Gott ist nicht »weit weg und hoch erhaben« irgendwo im Himmel. Sondern er ist als Heiliger Geist gegenwärtig und daher auch verletzbar in seinem Tempel – in jedem einzelnen Christen und in der Gemeinde insgesamt. Daher kommt es, dass der Einzelne vor Prostitution gewarnt wird – denn zu einem Heiligtum passt nicht diese Ungerechtigkeit (zur Prostitution vgl. 6,12-20) – und die Gemeinde vor Spaltung. Das heißt: Im Endeffekt wird durch das trinitarische Denken die Sensibilität in Sachen Gerechtigkeit und Frieden gesteigert. Dadurch, dass Gottes Präsenz vorverlagert ist, trifft man auf Gott schon im Nächsten und in der fragilen Einheit einer menschlichen Gemeinschaft. Der Schluss (V. 21 ff) klingt geradezu hymnisch: »Daher soll unter Menschen niemand prahlen. Denn alles, was es gibt, gehört euch allen gemeinsam. Alles und alle gehören euch: Paulus, Apollos, Petrus, die Welt, Leben und Tod, Gegenwart und Zukunft. Alles gehört euch, und ihr gehört Christus, Christus aber gehört Gott.« Auch hier geht es noch immer um Krieg und Frieden, und das Problem wird gewissermaßen eigentumsrechtlich geklärt. Um das zu verstehen, muss man bei der vor Augen gestellten Kette von hinten anfangen: Alles kommt aus dem Urgrund Gott Vaters und gehört daher ihm. Jesus Christus verdankt alles, was er hat, dem Vater. Er hat keine Eigentumsansprüche, die er gegenüber dem Vater geltend machen könnte. So ist es aber auch mit der Gemeinde und ihrer Zugehörigkeit zu Christus. Er ist der Herr, »unser Herr«, wir gehö-
Der erste Brief an die Korinther
ren zu ihm wie die Sklaven zu ihrem Herrn. Und weil er der Schöpfungsmittler ist, gibt es kein Eigentumsrecht, das dem seinen konkurrierte. So gehören wir zu ihm, aber auch alles andere steht zu seiner Verfügung. So gehören auch die rivalisierenden Lehr-Autoritäten nicht jeweils einer bestimmten Partei, sondern alle sind Sklaven desselben Herrn. Nichts steht für sich, die Gemeinde kann deshalb sagen »alles gehört uns«, weil sie – voll ansteckendem Selbstbewusstsein – die Rechte ihres Herrn in der Welt wahrnimmt. Es sind nicht eigene Rechte, aber die Gemeinde verkündet bis heute Jesus Christus als den Herrn aller Dinge. Das hat die Konsequenz, dass der Hauptgrund für Krieg und Streit, nämlich Sondereigentum, entfällt. Was bleibt, ist nur vernünftige Aufgabenteilung.
1 Kor 4,1-5: Alles gehört uns Die in Kap. 3 dargestellte Eigentumstheologie wird nun in Kap. 4 auf ihre Konsequenzen hin entfaltet. Zunächst bedeutet dies eine Minderung der Rechte von Menschen über andere Menschen. – Die von Paulus entwickelte Theorie, nach der alles Gott gehört, macht das Zusammenleben leichter. Der Anknüpfungspunkt für seine Theorie ist wohl die Formulierung »Jesus Christus, unser Herr«. Denn unter einem gemeinsamen Herrn hat kein Sklave Sondereigentum. Es genügt ja nicht, wenn ich sage: »Alles gehört Gott«. Gottes Anspruch auf alle Dinge muss konkret vermittelt sein. Das geschah und geschieht durch Jesus Christus, den Mittler von Schöpfung und Erlösung. Er ist »unser Herr« und der Herr der ganzen Welt. Und wenn »wir«, d. h. die Christen, zu seinem Haus gehören, dann kann niemand gegenüber den Christen auf einem Sondereigentum beharren. Die Konsequenz aus der Eigentumstheologie von Kap. 3 ist auch: Wenn keiner Eigentümer ist, sind bestenfalls die anderen nur Verwalter. Für eine begrenzte Zeit und unter der Verpflichtung zur Rechenschaft nehmen sie die praktischen Geschäfte am Eigentum eines anderen wahr. Das bedeutet aber auch: Rechenschaft dürfen nicht Menschen von anderen Menschen fordern, sondern nur der Eigentümer darf es. Er allein wird richten. Die Konsequenz ist eine große Freiheit
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Kapitel 4
gegenüber jeder menschlichen Instanz, die doch immer nur so tun kann, als dürfe sie richten. Ab Kap. 4,1 wendet Paulus diese Gedanken konsequent auf sich selbst an. Denn gewiss kann man nicht alle Menschen, auch nicht alle Christen, als »Verwalter der Geheimnisse Gottes« bezeichnen. Die »Geheimnisse« Gottes sind nach dem Kontext, insbesondere nach 1 Kor 2,7 und Eph 1, die verschiedenen Aspekte des Evangeliums. Die Vulgata übersetzt »Verwalter« mit dispensatores (Verteiler, Austeiler) und hat damit Richtiges getroffen. Weil Paulus einem Höheren dient, macht ihm ein Urteil der korinthischen Gemeinde nichts aus. So kennt es später auch das mittelalterliche Kirchenrecht, nach dem Kleriker exempt sind, d. h. keinem weltlichen Gericht unterworfen, sondern wenn überhaupt, dann einem geistlichen. Soll denn keine Gemeinde das Recht haben, Kritik an ihrem Geistlichen zu üben? Soll sich der Geistliche, was auch immer man ihm vorwirft, für alles auf das Jüngste Gericht berufen können? Paulus gibt in V. 4b-5 eine ausführliche Schilderung darüber, wie er sich das Gericht vorstellt. Dabei rechnet er übrigens nicht mit der Möglichkeit der Verurteilung für sich. Resultat: Das Konzept, wonach alles den Christen gehört, weil es Christus gehört, hat für den einzelnen Christen die Folge, dass er nicht von Menschen verurteilt werden kann, sondern nur von seinem Eigentümer, Jesus Christus, seinem Herrn. Schon die Konsequenz aus 2,10 ff war ähnlich: Ein Pneumatiker kann nicht von Menschen beurteilt werden, die nicht pneumatisch sind, sondern nur »fleischlich«. Auch diesen Grundsatz bezieht Paulus schon auf sich, da er der Gemeinde vorwerfen kann, durch ihre Streitlust ihr »fleischliches« Wesen zu zeigen. – Dieser Gedanke ist weiter verbreitet und findet sich z. B. auch in der »Lehre der Zwölf Apostel«. Sie warnt wie Paulus davor, einen Träger des Pneuma überhaupt zu beurteilen (11,7-11). Wie leicht könnte der Urteilende sich seine Verurteilung selber zuziehen. Das heißt: Hier träfe dann die Talio zu, von der wir bereits zu 1 Kor 3,17 gesprochen haben: Wer sich am Heiligen Geist vergreift, lebt höchst gefährlich. Und das tut man auch, wenn man Pneuma-Träger be- oder verurteilt. Der Grundansatz des »treuen Verwalters«, den 4,2 aufstellt, besitzt überraschend große Ähn-
579 lichkeiten mit dem Bild, das die synoptischen Evangelien von den Sklaven entwerfen, denen in den Gleichnissen Jesu das Haus während der Abwesenheit des Herrn anvertraut ist. Auch in diesen Gleichnissen findet sich das Bild des oikonomos, des Hausverwalters (Lk 12,42; 16,1-4.8), das Paulus hier in 4,1 gebraucht. Auch in diesen Gleichnissen läuft alles auf den Tag zu, an dem der (plötzlich wiederkommende) Herr Rechenschaft fordern wird. Auch hier ist es ganz undenkbar, dass ein anderer als der Herr dieses tun könnte. Angesichts der Tatsache, dass die SklavenGleichnisse der synoptischen Evangelien gar keine oder nur wenige Analogien im großen Corpus der rabbinischen Gleichnisse haben, rücken Paulus und die synoptischen Sklaven-Gleichnisse noch enger zusammen. Man kann daher die These wagen, dass Paulus hier auf gemeinsames Gut aus der Jesus-Tradition zurückgreift. Schon die Selbstbezeichnung »Sklave Jesu Christi« im Präskript der paulinischen Briefe (z. B. Röm 1,1) weist auf einen solchen älteren Zusammenhang hin. Nur ist der Skopos, der mit diesem Bildmaterial verknüpft wird, verschieden. Bei den Synoptikern geht es im Munde Jesu um Ermahnung zur Treue. Für den Fall der Untreue wird aus der Rechenschaftsablegung schnell der Anlass zur Verhängung gewichtiger Strafen. – Bei Paulus dagegen gilt das gesamte Bildinventar der eigenen Rechtfertigung. Mit der Verurteilung rechnet er, wie gesagt, nicht, sondern nur mit Lob. Nicht der Sklave wird ermahnt, sondern die übrigen Bewohner des Hauses werden ermahnt, sich nicht einzumischen in das besondere Verhältnis zwischen Sklaven und Herrn. Es ist im Übrigen gut möglich, dass Jesus bei den Sklaven an Jünger und Jüngerinnen bzw. Christen überhaupt denkt. (Nur in Mk 13,30 besteht schon die Tendenz der Beschränkung auf Jünger.) Bei Paulus ist das – wie auch der Gebrauch des Wortes »Sklave« – eigenartigerweise auf apostolische Existenzen eingeschränkt. Gibt es für Paulus zweierlei Maßstäbe? Gelten die älteren Traditionen nur für Apostel? Das gilt ja auch für Wandercharismatiker. Ebenso die Unterscheidung von Pneumatikern und Sarkikern (»am Fleisch Orientierten«) legt nahe, dass Paulus zumindest zwei Sorten von Christen kennt. Das von Paulus erwartete Gericht wird als Vor-
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580 gang von Licht und Erleuchtung beschrieben. Alles Verborgene wird offenbar werden: das, was im Finstern und verborgen war und die geheimen Gedanken der Herzen (4,5). Das sonst von Gerichtsschilderungen her vertraute Szenario fehlt. Geblieben ist nur der Gedanke der Offenlegung und Enthüllung. Man vermisst das Tribunal, die Gerichtsdiener, das Verhör, die Anwälte und Zeugen, die Bestrafungen je nach ihrer Art; es ist noch nicht einmal von der Auferstehung als Voraussetzung die Rede – und umgekehrt gilt auch: Wo von Auferstehung die Rede ist wie in 1 Kor 15, sagt Paulus nichts über das Gericht. Damit aber geschieht im Gericht nichts dramatisch Neues, es wird sich vielmehr alles klären (vgl. meine entsprechende Darstellung in: Wie kommt das Ende der Welt?, 1999). Von dieser Stelle her kann man nun einschätzen, wie das Erscheinen vor dem Richterstuhl des Herrn nach 2 Kor 5,11 gedacht werden kann.
Der erste Brief an die Korinther
Selbst den Richterstuhl kann man weglassen. Es bleibt die Konfrontation mit Gott, der das Licht selbst ist. In Röm 8 wird Paulus dann das Endgericht ganz in diesem Sinne als Offenbarwerden der Kinder Gottes bezeichnen. In dem Passus »Dann wird ein jeder sein Lob empfangen« (1 Kor 4,5b) orientiert sich Paulus noch ganz am Vorgang des Ablegens von Rechenschaft. Das heißt: Mit dem Material der Sklavengleichnisse verwendet Paulus auch den Schluss dieser Gleichnisse (der Herr kommt, die Sklaven geben Rechenschaft) auf dezente Weise. Das Gericht ist eine Art Aufklärung am Ende. – Wie in 2 Kor 5 verwendet Paulus hier den Gerichtsgedanken apologetisch für seine Person. Der Glaube an das kommende Gericht entlastet ihn gegenüber den Korinthern. Denn er kann auf die Instanz verweisen, vor der er in Wahrheit Rechenschaft ablegen wird.
1 Kor 5-6: Die Heiligkeit der Gemeinde Der Abschnitt schildert den Vollzug einer Exkommunikation, die parallel vom Apostel und von der Gemeinde vollstreckt wird. Sie besteht in einer Übergabe an den Teufel, der dann das biologische Leben des Delinquenten zerstören soll. Analogien gibt es nicht nur in Qumrantexten, sondern auch im MtEv. In 1 Kor 5 und Mt 18 wird die Gemeinde nicht etwa dazu ermuntert, sich durch Zureden oder therapeutisch um den Mann zu bemühen. Da nach 1 Kor 5 schon die »Leute« draußen über den Fall reden, ist Eile geboten, um das Ansehen und damit die Heiligkeit der Gemeinde zu retten. Auch in Mt 18 zerstört einer die ganze Gemeinde, der ihre Autorität so missachtet. Der Einzelne ist belastbar, eine Gemeinde nicht. Daher kann dem Einzelnen viel zugemutet werden, einer Gemeinschaft nicht.
für sich hat dieselbe Vollmacht, wie sie auch die Gemeinschaft der Jünger besitzt. Die überschießenden Stücke in Mt 16,16-19 (also das, was über Mt 18,15-17 hinausgeht: Petrus als Fels und Fundament, die Pforten des Todesreichs, die Schlüssel) lassen auch erkennen, worin die Vorordnung des Apostels besteht. – In der Frage der Exkommunikation ist höchste Einigkeit geboten, und daher bewährt sich hier das Modell der Ellipse, das man in allen Jahrhunderten in der christlichen Kirche feststellen kann. Wenn der Gemeinde in 5,6 gesagt wird, sie »prahle«, dann sind in der Gemeinde offenbar Tendenzen lebendig, auf den Apostel gar nicht mehr hören zu wollen und damit das Modell der Ellipse zu sprengen. Konkret kann das hier nur bedeuten, dass große Teile der Gemeinde den so genannten Unzuchtssünder eben nicht verurteilen und ihn »laufen lassen« wollen.
1 Kor 5,4a.4b-6: Urteilsfindung Die Gemeinde soll parallel zum Apostel handeln; er beschließt bei sich, die Gemeinde in Korinth beschließt im Ganzen. Eine ähnliche Parallelaktion könnte sich auch in den parallelen Texten in Mt 16,19 und Mt 18,15-17 spiegeln. Der Apostel
1 Kor 5,5: Pneuma Was heißt »… damit sein Pneuma gerettet wird«? Damit ist wohl das Innerste des Menschen gemeint; der Heilige Geist bedarf keiner Rettung.
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Kapitel 5
An einigen Stellen bezeichnet Pneuma den innersten Personkern, z. B. 1 Thess 5,23 (auch hier ist Pneuma ohne Possessivpronomen); 1 Kor 2,11. Und obwohl 5,5 vom »Fleisch« (griech.: sarx) spricht, ist nicht der heilsgeschichtliche Gegensatz Fleisch (kreatürliche Schwäche/Heiliger Geist) gemeint. Eher geht es hier um Außen und Innen. Aber was hat der Sünder davon, wenn jetzt sein Leben zerstört wird, im Gericht aber sein Inneres gerettet werden kann? Ist das wie bei einem Zahn, auf den der Arzt eine Krone setzt, obwohl vom Zahn nur noch Rudimente da sind? Hat da ein Getaufter Privilegien? Oder ist es so: Der Tod ist die Strafe für die Sünden; das, womit man gesündigt hat, wird auch bestraft? Ist mit dem Tod dann alles abgegolten (vgl. Röm 6,10: Was gestorben ist, ist frei von der Sünde)? – Die nächstverwandte Stelle ist 1 Kor 3,15b (gerettet, aber wie durch Feuer). Denn auch hier wird einer, der für seine schlechten Werke bestraft wird (sie werden verbrannt), dennoch gerettet, und in 3,15a heißt es zwar nur »er selbst«, aber dem könnte in 1 Kor 5,5 das Pneuma entsprechen, weil es eben der Kern des Selbst ist. So legt sich folgende Lösung nahe: Paulus kennt für schwere Vergehen gegen die Heiligkeit der Gemeinde körperliche Strafen (vgl. 11,30). Auch in 3,15 sind diese nicht ausgeschlossen, denn Bestrafung wie durch Feuer tut in jedem Falle weh (die Werke gingen separat zugrunde). Nach 5,5 besteht diese Strafe im vorzeitigen Tod (vgl. 11,30). In 3,15b und in 5,5 wird von solchen Christen gesagt, dass sie gleichwohl gerettet werden, und zwar nach der Bestrafung. (Paulus kennt durchaus noch Schlimmeres: Für Gemeindezerstörer droht die Zerstörung durch Gott: 3,17). In 11,32 ist das Ziel gleichfalls: »… damit wir nicht mit der Welt verurteilt werden«, was einer Rettungsaussage gleich kommt. Aus 11,30 wird erkennbar, dass eine derartige vorzeitige Strafe tatsächlich ein Privileg der Christen ist. Sie verhindert das Verurteiltwerden mit der Welt. In 11,32 ist übrigens ebensowenig wie in 5,5 gesagt, dass diese Züchtigung zur Umkehr führt. So kann also – bittere Ironie – der Sünder nach 1 Kor 5,5 noch froh sein, dass er bald stirbt. Der Teufel, der ihm dieses zufügt, wird wider Willen zum Helfer der Rettung.
Was wird Gott dann mit dem »Pneuma« des Sünders tun? Wie wird das überhaupt aussehen? Das, was Paulus hier Pneuma nennt, kann in 2 Kor 4,16 den inneren Menschen nennen. Dieser ist als Empfangsstation für den Geist Gottes wie geschaffen; hier kommt das Angeld an, von dem 2 Kor 5,5 redet. Diese Gabe war also nicht umsonst. Anders ist das nur für den allerschlimmsten Fall, den Paulus in 1 Kor 3,15 beschreibt. Wer den Tempel des Geistes zerstört, verscheucht ihn auch aus seinem Inneren.
1 Kor 5,7: Der alte Sauerteig – Jesus das Passahlamm Das gesamte Kap. 5 legt die Frage nach aktuellen Bindungen des Apostels bzw. der Gemeinde gegenüber dem Judentum nahe. Denn für einen Juden sind verbotene Verwandtschaftsgrade laut Lev 18,7f wirklich ein Skandal. Ferner: Paulus schließt das Kapitel mit einem jedem Juden bekannten alttestamentlichen Zitat (»Entfernt den Bösen aus eurer Mitte«); kein Heide(nchrist) in Korinth wird freilich Herkunft und Bedeutung des Satzes verstanden haben. – Und 5,7 spricht über Jesus als Passahlamm; 5,7 dann zuvor vom Entfernen des Sauerteiges nach Ex 12,3-21. Der Satz »Beseitigt den alten Sauerteig« steht in Ex 12,15 und Dtn 16,4. Dieses alles ist nur für Juden verständlich; zudem ist Jesus ja kein wirkliches Passahlamm, und bis heute darf man rätseln, worin genau der Vergleichspunkt liegt. Zunächst halten wir fest, dass Paulus hier zu Juden oder Judenchristen spricht. Welchen Sinn aber hat der Vergleich mit dem Passahlamm? Welche Rolle spielt besonders der Tod Jesu hier? Es ist ja vom Schlachten des Lammes die Rede. Werden durch das Töten des Passahlammes die Sünden vergeben? Geht es also hier um den Sühnetod Jesu Christi? Nun ist das Passahlamm kein Sühnopfer, es wird ja auch nicht im Tempel geschlachtet, sondern in den Häusern; die alte Osterpräfation »Christus als unser Passahlamm ist geschlachtet; denn er ist das Lamm, das die Sünden der Welt weggenommen hat«, kann sich daher nicht auf 1 Kor 5,7 berufen, sondern verbindet kühn mit Joh 1,39; aber das Lamm dort ist eben kein Passahlamm. Welche Bedeutung hat dann der Tod Jesu hier,
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582 wenn er eine hat? Die schlichteste Deutung wäre: Wenn die Zeit der Passahlämmer kommt, muss alles Alte und Unreine entfernt werden. Weil Christus gekommen ist, der auch ein Passahlamm ist, muss die Gemeinde alles Alte und Unreine, also den Schmutz der Sünde in Gestalt des Sünders entfernen. Der Ton liegt also auf dem Zeitpunkt der Entfernung alles Alten und Bösen. Das wird durch 5,13b bestätigt. Dann bleibt nur noch die Frage zu klären, warum und in welcher Hinsicht Jesus ein Passahlamm ist; denn die Maxime »Ab jetzt Reinheit« wurde bereits als Zentrum der Argumentation erkannt. Ist es der Zeitpunkt seiner Tötung? Geht es um den Schutz vor Würgengel bzw. Dämonen, weil das Blut des Lammes vergossen (und im biblischen Bild an die Türpfosten gestrichen) ist? Würden die Dämonen durch das Unreine angelockt? So deutet es Melito v. Sardes in seiner Passahhomilie: Das Blut des Lammes ist die Rettung vor dem Verderber-Engel. Aber wozu dann noch die Herstellung der Reinheit durch Ablegen des Alten? Oder ist das Passahlamm nur Zeichen der Rettung (aus Ägypten)? Sollen die Christen in Korinth durch Beseitigung des Bösen der Rettung durch das Lamm nachträglich würdig werden nach dem Motto: »Werdet, was ihr seid«, »Tut das, wodurch ihr der Rettung würdig werdet!«? Oder wird so gemahnt, weil die Rettung noch aussteht, wie in 1 Thess 1,9f? – Die folgende Frage muss vor allem gestellt werden: Was hat der Tod Jesu mit der (jetzt herzustellenden) Reinheit zu tun? Denn die Menschen selbst müssen doch das Unreine entfernen! Das Passahlamm stellt keine Reinheit her, nur angesichts seiner ist sie herzustellen. Oder ist es gar umgekehrt: Weil die Gemeinde rein ist, muss auch der Unreine entfernt werden? Nein, das scheidet aus, denn die Gemeinde ist offenbar eben noch nicht ganz rein. So bleibt als Minimum: Die Existenz des Passahlamms bedeutet eine neue Zeit, die man würdig empfangen muss. Das Passahlamm stellt nicht die Reinheit her, ist aber ein Zeichen der Rettung durch Gott. – Ginge es um den Tod Jesu in seiner Heilsbedeutung, hätte er wohl erwähnt werden müssen. So kann es nur um seinen Zeitpunkt gehen. In der Wirkungsgeschichte hat man dann gesagt: Wegen des in 5,7 Gesagten ist alle Zeit nun österlich geworden (Fromondus, 1709). – Nach Nico-
Der erste Brief an die Korinther
laus Lyranus sind die Christen »neues, ungesäuertes Brot« wegen der Besprengung durch das Taufwasser. Hier wird versucht, die Reinheit als Gabe zu erklären, während sie doch bei Paulus gerade als Aufgabe erscheint.
1 Kor 6,1-11: Innergemeindliche Gerichtsverfahren Während Paulus in 6,12-20 wieder zum Thema Sexualität spricht, regt er in 6,1-11 innergemeindliche Gerichtsverfahren an. Ist das nicht ein hier unpassender Einschub? So fragen wir nach der inhaltlichen Verknüpfung von Kap. 5 mit 6,1-11. Da ist einmal der Aspekt des von der Gemeinde vollzogenen Gerichtes, der diese Verbindung herstellt. Sodann ist es der jüdische Hintergrund beider Argumentationen. Denn in 6,1-11 greift Paulus eine Institution des Diasporajudentums auf, welches in seiner Gerichtsbarkeit Teilautonomie besaß (wie in Palästina; nur die Kapitalgerichtsbarkeit blieb bei den Juden). Paulus regt an: Die Gemeinde soll Angesehene in den eigenen Reihen suchen und damit beauftragen. Stattdessen stellt die Gemeinde jetzt (nach 6,4) Leute in der Gemeinde auf, die nichts gelten. – Der Status der Gemeinde ist nach 6,11 in einer Weise begründet, die eine Wiederaufnahme von 1,30 bedeutet: 6,11 Ihr seid abgewaschen (Taufe) Ihr seid geheiligt (Heiliger Geist) Ihr seid gerecht gemacht (durch Glaube, Heiligen Geist)
1,30 Gerechtigkeit (Glaube) Heiligung (Heiliger Geist) Befreiung (Loskauf) von …
In beiden Texten stehen diese Statusaussagen in Schlussposition. Für Paulus liegt offenbar ein sachlicher und rhetorischer Reiz in diesen recht abstrakten Reihenbildungen. Formal besteht Verwandtschaft zu den kleinen Systementwürfen in den Reihungen der »Tugenden« Glaube, Hoffnung, Liebe etc. Die Wirkungsgeschichte verbindet beide Stellen mit dem Kreuzestod Jesu (z. B. zum Stichwort Befreiung in 1,30), wohl zu Unrecht. Denn durch den Heiligen Geist wird der Mensch zu Gottes
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Kapitel 6
Tempel und Eigentum, indem Gott seinen Geist auf ihn/in ihn legt. – Auch beim Abwaschen durch die Taufe sieht Paulus hier keine Verbindung zu Christi Blut (anders als Offb 1,5). Zur Heiligung in 1,30 und 6,11 bemerkt Joh. Weiß: »Die Unreinheit der Sünde weicht der heiligen Macht, die im ausgesprochenen Namen Jesu Christi sich offenbart.« Thomas v. Aquin weist zu 1,30 auf die Rechtfertigung durch Glauben. Das Heil des Menschen komme allein (ex sola) durch Gottes Kraft.
1 Kor 6,13-20: Warnung vor Unzucht Das Schlafen mit einer Prostituierten sieht Paulus nicht als Segen. Der Grund ist für ihn, dass der Kunde und die Dirne nicht wirklich einander gehören, so wie Mann und Frau einander gehören könnten, sondern Umgang mit Prostituierten nur jeweils einseitige Ausbeutung des einen durch den anderen ist, Geld gegen Sex. Übrigens geht es Paulus hier nicht um eine Verherrlichung der bürgerlichen Ehe. Darüber denkt er, der Junggeselle und Apokalyptiker, ernüchternd gering. Etwas ganz Sachliches hat er hier im Blick: Zugehörigkeitsverhältnisse. Denn zur Dirne kann man nicht sagen: Du gehörst doch zu mir. Und wie können die, die zu Christus gehören und damit in ein solides Eigentumsverhältnis eingebettet sind, mit anderen heillosen Eigentumsverhältnissen leben? Wie kann jemand, der in Christus geboren und geliebt ist, im mitmenschlichen Bereich so bruchstückhaft und defizitär bleiben? Er müsste doch auch darin etwas Heiles wollen. Die Heiligen für das Heile. Und heil ist ein Kontakt, wenn er bleiben kann und nicht Ausbeutung ist. – Es geht Paulus nicht um die Sanktionierung bürgerlicher Ordnung, sondern um diejenige Dauer untereinander, die ein Herz braucht, um nicht krank zu werden. Paulus denkt von der Zugehörigkeit zu Christus her. Wer zu ihm gehört, ist geheiligt. Diese Heiligkeit basiert wesenhaft auf dem Eigentümer, und wir als das Eigentum sind dem verpflichtet, dem wir gehören bzw. zu dem wir gehören. So sollten wir auch denen verpflichtet sein, zu denen wir durch ihn gehören. Dabei ist unser Leibsein etwas Großartiges, denn der Leib ist zur Auferstehung bestimmt (V. 6,14). Unser
583 Christsein ist daher nicht irgendwie oberhalb oder außerhalb dessen, was wir mit unserem Leib machen. Der Leib steht für alle unsere Kontakte überhaupt – zur Auferstehung und Vergöttlichung bestimmt. Und Auferstehung, bewahrte Identität, betreffen nicht nur mich, sondern haben etwas mit Liebe zu tun, mit empfangener und geschenkter Liebe, auch im Verhältnis zu Gott. Das ist für Paulus die Perspektive. Jede nur bürgerliche Sexualmoral würde die Prostitution und den Hafen der Ehe einander gegenüberstellen und zwischen beiden über die Erlaubtheit von Selbstbefriedigung und anderem diskutieren. Paulus nennt dagegen zwei große Perspektiven: Heiligkeit und Auferstehung. Gott bejaht unsere Leiblichkeit, weil wir auferstehen werden. Weil unser Leib für die Ewigkeit bestimmt ist, können wir auch dauerhaft lieben. Was Paulus meint, wird an der Verwendung des Schriftzitates aus Gen 2,24 erkennbar: »Der Mann wird Vater und Mutter verlassen und seiner Frau anhängen. Und sie werden ein Fleisch sein.« Fast immer (so auch in Mk 10,1-10) wird diese Stelle auf die sexuelle Gemeinschaft von Mann und Frau in der Ehe gedeutet. Dem steht aber entgegen: Mann und Frau werden gar nicht, auch nicht im direkten Verkehr, ein Fleisch. Berger/Nord übersetzen deshalb: »eine neue Sippe«; denn auch im Alten Testament geht es an dieser Stelle um die neue Familie im Kontrast zur bisherigen Familie des Mannes, die er verlässt. Paulus wendet diese Stelle hier nicht auf die Ehe, sondern auf den Kontakt mit der Prostituierten an. Auch er meint damit nicht die angebliche Leibeseinheit im Sex, sondern ihm geht es um etwas anderes: Wenn man einem anderen Menschen so anhängt wie der Mann der Frau, mit der er schläft, dann begibt man sich in deren Machtbereich. Denn man gehört dem, dem man anhängt. In 1 Kor 7,4 sagt Paulus deshalb: »Die Frau bestimmt nicht über ihren eigenen Leib, sondern der Mann. Ebenso bestimmt der Mann nicht über seinen eigenen Leib, sondern die Frau.« Der »inklusive Sprachgebrauch« des Apostels erklärt, dass Paulus an eine strikte eheliche Gleichberechtigung denkt. Gerade diese fehlt in der Prostitution. Die Art der Beziehung, die mit der Prostituierten entsteht, ist von beiden Seiten her nicht ausgeglichen. Dass ein Mensch mit seinem Leib in einer derartigen ungerechten Bezie-
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584 hung lebt, widerspricht daher der Zugehörigkeit des Leibes zu Christus. Es geht Paulus daher wohl kaum darum, dass »wegen der Hingabe an Christus in den Herzen der Christen« die Erotik der Christen verwandelt werden und nicht so rüde sein soll wie im Verkehr mit einer Dirne. Paulus denkt nicht von der (minderwertigen) Qualität der Hingabe der einzelnen Persönlichkeit her, sondern er geht von der Qualität der Beziehung aus. Diese ist – von beiden Seiten her – ausbeuterisch, unausgeglichen und deshalb ungerecht. Das aber verträgt sich nicht mit der Zugehörigkeit zu Christus, denn diese bedeutet grundsätzlich ein Stehen in Gerechtigkeit. Jede Paulusauslegung stößt darauf, dass der Kern des christlichen Lebens in jedem Fall eine umfassende Konvivenz ist. Das heißt: ein gerechtes Zusammenleben, bei dem jeder seinen Teil gibt. Schon in 1 Kor 6,12, also direkt vor unserem Abschnitt, hat Paulus gesagt: »Ich darf mich nicht von jemandem ungerecht beherrschen lassen.« Dieser Satz erklärt sowohl die ganz betont inklusiven Sätze über die Eheleute in 1 Kor 7,214, als auch die Ablehnung des Verhältnisses zur Dirne. Sie geschieht aus »sozialtheoretischen« Gründen, nicht aus Abneigung gegen die ungeordnete Wollust. »Sich nicht beherrschen lassen« (6,12) als Ideal kommt sicher dem Freiheitsinstinkt der Korinther entgegen und ist mit dem Monotheismus gegeben. In der Wendung 6,12 (»ich lasse mich nicht beherrschen von jemandem«) findet die Frage ihre Auflösung, warum Paulus so gegen die Prostitution zu Felde zieht. Vergleicht man 6,12 mit dem Stil, in dem Paulus in Kap. 7 über die Ehe spricht, so wird erkennbar: Bei der Prostitution geht es um ein ungerechtes Verhältnis. Der Freier beherrscht die Prostituierte sexuell, und sie beherrscht ihn (finanziell). Beide »Partner« treffen sich daher nicht auf Augenhöhe. In einer Ehe dagegen herrscht Gleichgewicht und sogar auf beiden Seiten gleiches Recht. So erklärt sich auch, weshalb Paulus der Ehe durchaus zustimmt, obwohl Gen 2,24 seit langem und bevorzugt von der Ehe gilt. Mit seiner Ehefrau zusammen »eine neue Sippe« zu gründen, verstößt nicht gegen die Zugehörigkeit des Leibes zu Christus, denn die christliche Ehe ist ein Verhältnis auf Gegenseitigkeit. Das widerspricht nicht der Zugehörigkeit zu Christus. Gen
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2,24 gilt sowohl vom Kontakt mit der Dirne (ein Fleisch) als auch vom Kontakt mit Christus (ein Geist). Man kann fragen: Was bleibt da für die (mutmaßlich christliche) Ehefrau? Antwort: Jede sexuelle Verbindung mit einer Frau bedeutet für Paulus, ein Fleisch mit ihr zu werden. Die entscheidende Frage für 1 Kor 6f ist, ob diese Einheit und diese Verbindung zu den Christen passt, oder ob sie sie innerlich zerreißt. Für Paulus ist es offenbar undenkbar, dass jemand körperlich mit einer Dirne eins ist und dem Heiligen Geist nach mit Christus. Er sagt nicht, dass das eine das andere vertreibt. Es bleibt dann der Christ nur »ein Häuflein Widerspruch«. Zu 1 Kor 6,12: »Alles ist mir erlaubt« (V. 12a.b) – Paulus greift hier (wie in 10,23) zweifach einen Satz auf, den er sogleich durch »aber …« korrigiert. Demnach handelt es sich mit Sicherheit um eine von Paulus aufgegriffene Parole, wahrscheinlich der Korinther. Derartige Parolen sind im Bereich des Hellenismus sonst nicht belegt. Ich sehe darin wiederum ein Symptom für einen Streit um den jüdischen Charakter des Christentums, der für Paulus grundsätzlich erhalten bleibt. Denn »Alles ist mir erlaubt« ist seiner Entstehung nach gut vorstellbar als Bestreitung einer Geltung der Moralregeln des Gesetzes. Es ist wie bei Christus und Antichrist. Sowie der eine auftaucht, muss es auch den anderen geben. Sowie entweder Petrus mit dem Aposteldekret oder Paulus mit dem jüdischen Moralgesetz (nicht: Ritualbestimmungen) in der Hand in Korinth auftauchen, gibt es radikale Heidenchristen, die sagen: Wieso? Wir dürfen doch alles, und zwar so wie vorher. Das betrifft die in Korinth bekannte sexuelle »Freizügigkeit«, wie auch die Praxis des Verzehrs von Götzenopferfleisch. Paulus hat sich nie wirklich vom Gesetz frei gemacht, und das ist keineswegs tadelnd gemeint; denn das Gesetz kann kein Mensch aufheben, erst recht nicht, wenn es in Liebe erfüllt werden soll. Die Menschen, die den Satz vertreten »Alles ist mir erlaubt«, wenden sich gegen den allerdings gravierenden »Rest« von Judentum beim Apostel Paulus.
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Kapitel 7
1 Kor 7: Thema Sexualität Inhaltlich verfolgt Paulus in diesem Kapitel folgende Ziele: Für jeden Zweifelsfall und wann immer es möglich ist, gibt Paulus den Rat, Sexualität nicht zu praktizieren. Die tiefere Ursache dafür ist der Wunsch, Christen möchten innerlich ungeteilt ihrem Herrn dienen können. Diese Einstellung setzt voraus, dass Paulus die Sexualität für wichtig hält und hoch einschätzt. Daher ist sogar sexueller Verkehr unter Eheleuten ein triftiger Grund, das Gebet zu vernachlässigen! Nur Beten, nichts anderes in der Welt ist vergleichbar wichtig. Praktizierte Sexualität ist für Paulus keineswegs Sünde, selbst wenn man damit vielleicht frühere Vorsätze über den Haufen wirft (7,36). Nur gibt es für ihn Wertvolleres, Wünschenswerteres. Neu ist für die Korinther offensichtlich, dass Sexualität kein neutraler Bereich ist, der mit Gott und Religion nichts zu tun hätte. Daher weist Paulus schon in 6,14.20 darauf hin, dass der Leib der Christen für die Auferstehung und zum Lob Gottes bestimmt ist. Hier setzt sich wieder eindeutig jüdisches Denken (keine Trennung von Leib und Seele) gegenüber der »neuplatonischen Versuchung« durch, die zur Zeit des Paulus eher eine vulgär-philosophische war. Für irgendeine Leib- und Sexualverachtung ist bei Paulus kein Raum, auch wenn es Wichtigeres gibt. In diesem Kapitel stoßen wir des öfteren auf folgende Argumentationen: a) Paulus fordert für das Verhältnis von Mann und Frau strengste Gleichbehandlung und Gerechtigkeit (iustitia distributiva). So ist er der erste Autor der Weltgeschichte, der den inklusiven Sprachgebrauch einführt und pflegt: Stets redet er vom Mann wie von der Frau, so etwa in 7,25.10-16. Auch wenn er sich wiederholen muss, achtet er peinlichst darauf, dass von der Frau dasselbe gilt und gefordert wird wie vom Mann – und umgekehrt. Ihm geht es nicht um abstrakte, sondern konkrete Gleichheit. Nur unter der Beachtung strikter Gleichberechtigung ist Ehe lange und überhaupt auszuhalten. Der inklusive Sprachgebrauch in 1 Kor 7,1 ff ist so sorgfältig durchgeführt, weil er signalisiert, dass es in der Ehe vor allem um Gerechtigkeit gehen soll. Nur wo sie ist, kann auch das Verbot der Scheidung 1 Kor 7,10f durchgehalten werden.
585 b) Wo Paulus zu einer Frage keine christlichen Grundsätze hat, zieht er sich auf traditionell jüdische zurück, so z. B. bei der »ansteckenden Heiligkeit« nach 7,14 f. Dieser Grundsatz ist durch pharisäisches Denken über physische Übertragung von Rein und Unrein geprägt. Für 7,14 wage ich von Ansteckung zu reden. Denn hier wird Heiligkeit erkennbar nicht durch Glaube und Moral vermittelt, sondern durch das bloße Zusammenleben. Das gilt besonders auch für die Kinder, die »heilig« sind, wenn ein Elternteil christlich und getauft ist. Paulus kann so Mischehen mit Heiden rechtfertigen. So muss Paulus ja auch in 7,16 zugeben, dass er nicht weiß, ob die so Geheiligten »in den Himmel kommen«, d. h. gerettet werden. Heiligkeit im Sinne von 7,14 bedeutet indes auf jeden Fall, Schutz und in diesem Sinne irdischen Segen in Anspruch nehmen zu können. Paulus denkt hier, wenn man so will, vor-aufgeklärt archaisch. Oder 7,19: Unversehens ist das Halten der Gebote Gottes für Paulus so wichtig, dass ihm zuliebe jede andere Veränderung im Christenleben unterbleiben soll. c) Paulus ist gegen jede Statusveränderung der Christen. Jeder soll in der Berufung bleiben, wozu er berufen wurde. Denn in den Strapazen der Endzeit auch noch »umziehen«, das wäre wohl eine Überforderung, so in 7,17-24. Die Hektik der Veränderung würde das einzig Wichtige übersehen: die Erfüllung der Gebote Gottes (7,19). Auch das »nicht entlassen« in 7,11.12.13 beruht auf dieser Grundhaltung. – Wenn Paulus öfter für das (Unverheiratet-)Bleiben plädiert (vor der Ehe, in der Verlobung, nach Ehescheidung), dann zielt das darauf ab, dem Bereich der Ehe und Sexualität nicht übermäßig viel Aufmerksamkeit zu schenken, denn es gibt Wichtigeres. d) Paulus unterscheidet bei den Werten letzte und vorletzte. Die vorletzten, alle alltäglichen Dinge inklusive Frau und Besitz, sollte man nicht so ernst nehmen, dass man sein Herz daran verliert. Denn so kurz wie die verbleibende Zeit der Welt ist, so vergänglich sind ihre Werte. Das gilt z. B. in 7,26-31. – Reserviertheit gegenüber praktizierter Sexualität zeigt 1 Kor 7 an folgenden Stellen: V. 1 (Enthaltsamkeit ist gut), V. 7 (wenn alle Menschen so lebten wie ich), V. 8 (so bleiben wie ich), V. 26 (gut, wenn sie unverheiratet blieben), V. 28
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586 (alle Verheirateten werden unter der Not viel zu leiden haben), V. 32-34 (geteilte Sorge), V. 37f (nicht heiraten … wer nicht heiratet, macht es besser). – Im Übrigen ist die paulinische Ethik in 1 Kor 7 nicht androzentrisch. Die höchste Bestimmung einer Frau ist weder, einem Mann zu gehören, noch ihm zu dienen oder zu helfen, noch Kinder zu gebären. Die höchste Bestimmung ist, für den Herrn da zu sein. Und darin ist eine heilige Frau (von heiligen Männern redet der Apostel nicht) in besonderer Weise Abbild der Gemeinde (vgl. 1 Kor 7,34 mit 2 Kor 11,2).
e) Wo ein Tun auf der Gabe eines Charismas beruht, darf man es nicht als Gebot oder allgemeine Verpflichtung darstellen (z. B. 7,7). f) Alles, was die Aufmerksamkeit des Menschen teilt oder was dazu führt, dass er sich nicht nur um eines sorgt, sondern seine Sorge gespalten ist, bleibt letztlich gefährlich. Dazu gehört die Ehe, die leider davon abhält, dass man nur an Gott denkt. – Paulus nennt es »heilig sein«, wenn einer oder eine aus religiösen Gründen ganz Gott gehört und nicht heiratet. Der Gedanke der Heiligkeit hat hier folgenden Ursprung: Gott als der Herr und Spender des Lebens ist auch dessen Eigentümer. Zu diesem Gottesrecht bekennt sich jedes Dankeschön; Zölibat ist die fortgesetzte Anerkennung dieses Gottesrechts. Wenn der Mensch zeichenhaft (nicht universal) auf seine von Gott geschenkte Möglichkeit verzichtet, weist er auf die andere Möglichkeit, die er auch hat: frei zu sein gegenüber allen Zwängen und Nötigungen, die von der Sexualität ausgehen können. Er ist dann frei für Gott (7,34). Sexualität ist nicht Nachahmung Gottes, ist nicht göttlich, sondern kreatürlich. Wer Sexualität nicht praktiziert, ahmt an einem ganz bestimmten Punkt Gott nach. (Wer allein bleibt, ahmt Gott nach.) g) Triebstau in den Vitaltrieben kann zum Dammbruch führen (Chaos, Prostitution). Deshalb soll man, bevor solche Gefahr handgreiflich wird, eher zu Kompromissen bereit sein und die wünschenswerten Forderungen ermäßigen (Ehe als Kompromiss nach 7, 2.36f). Das Resultat eines solchen Kompromisses ist keine Sünde. Ein Kompromiss kann auch sein, dass sich Menschen zwar scheiden lassen dürfen, dann aber unverheiratet bleiben (7,11). Hinter diesen Punkten 8a) – g) werden die Um-
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risse einer in sich geschlossenen Ethik erkennbar: Überforderung führt zum Gegenteil des Wünschenswerten. Manchmal ist das Wünschenswerte nicht ohne die Gnade eines Charismas erfüllbar. Insoweit vertritt Paulus eine Kompromissethik. Im Bereich der Ethik scheut Paulus vor der Perfektion und dem Absoluten zurück. Daher entsprechen den Kompromissen auf der Seite der Forderungen auch die Relativierungen auf der Seite der irdischen Werte d). Denn nichts ist absolut oder perfekt. Daher sind auch f) und g) Eingeständnisse menschlicher Schwäche: Der Mensch kann nicht so viel aushalten, es sei denn, ihm wäre ein Charisma geschenkt. Hier ordnet sich auch a) ein: Nur unter der Beachtung strikter Gleichberechtigung ist Ehe überhaupt auszuhalten. Fazit: Paulus vertritt eine Ethik der Rücksichtnahme auf menschliche Schwachheit. Nur gegenüber sich selbst ist Paulus härter, was aber durch besondere Gnade ausgeglichen ist.
1 Kor 7,10-11: Thema Ehescheidung Paulus zitiert hier ein Herrenwort (vgl. Mk 10,11.12; Mt 5,32; 19,9; Lk 16,18, vgl. Past Herm, Mand 4,1.6). Alle vergleichbaren Sätze in den Evangelien und im »Hirten des Hermas« argumentieren mit Ehebruch, nur Paulus tut das nicht. Der Grund liegt in der Logik: Alle anderen Sätze rechnen mit Wiederverheiratung, Paulus nicht. Alle anderen sehen den Zusammenhang zwischen Scheidung und zweiter Heirat ganz eng, und durch Nennung des Ehebruchs geht es um Normenverschärfung, während Paulus eher nach entlastenden Möglichkeiten sucht. Die paulinische Kompromisslösung besteht gerade darin, dass er sagt: Wenn schon Scheidung, dann wenigstens Verzicht auf Wiederheirat. Im Getrenntleben sieht er einen christlichen Kompromiss. Entsprechend denkt Paulus vor allem von der Frau her, wie es sonst nur Mk 10,12 tut. – Nur Paulus rechnet mit den Möglichkeiten der Versöhnung oder des Getrenntbleibens.
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Kapitel 7
1 Kor 7,14-16: Thema Mischehe Die »ansteckende Heiligkeit«, von der hier die Rede ist, könnte wohl ein Teil der offensiven Reinheit sein, die ein Merkmal der Botschaft Jesu ist. Paulus selbst kann diese Heiligkeit, die Schutz vor Dämonen bedeutet, deutlich von Heil und Rettung unterscheiden. Zu 1 Kor 7,15: Wenn in einer Mischehe das Christentum des christlichen Ehepartners ein Scheidungsgrund ist, dann braucht er die Scheidung nicht zu verhindern, sonst brächte er sich um seinen Frieden. Nur einen einzigen Gegengrund gäbe es: die Verantwortlichkeit für das Heil des Ehepartners. Doch man weiß nicht, ob man ihn wirklich retten wird. Das heißt: Die Aussicht auf diese Möglichkeit ist viel zu vage, als dass man ihretwegen das hohe Gut des Friedens aufs Spiel setzen dürfte. Zu 1 Kor 7,19: Auch nach anderen paulinischen Texten sind Beschnittensein und Nicht-Beschnittensein gleichrangig (Gal 3,27f; 1 Kor 12,13; Kol 3,11), und zwar gerade als Verschiedenheiten. Doch diese Unterschiede verblassen, da nur eines wichtig ist, und zwar (in Gal 3,27) Christus angezogen haben, (in Kol 3,11) der neue Mensch, (in 1 Kor 12) der Heilige Geist. Hier (in Kap. 7,19) aber ist das Halten der Gebote allein wichtig. Damit sind zweifellos die Gebote der Torah gemeint; denn den Christen wurde der Heilige Geist geschenkt, damit sie diese Forderungen endlich erfüllen können. 7,19 unterstützt den Gedanken, dass es allein wichtig ist, Gottes Willen zu tun. Das wird verhindert, wenn der Mensch sich zu stark um Zweitrangiges kümmert. Die Funktion des Satzes ist daher ähnlich wie in Mt 6,34: Alles nur scheinbar Wichtige fällt vom Menschen ab, wenn er sich um das einzig Wichtige kümmert: um die Gerechtigkeit, die Gott fordert. In Mt 6 sind es immerhin elementare Arten des Vorsorgens, die unwichtig werden, hier in 1 Kor 7 Freiheit oder Ehefragen, wiederum im Alltagsleben bestimmende Größen. Zu 1 Kor 7,21: Das Objekt in »gebrauche (es) umso lieber« (vgl. Berger/Colpe, Textbuch, 1987, Nr. 429) kann entweder die Sklaverei/das Skla-
vesein sein (dann sei umso lieber Sklave; denn Sklaven Jesu Christi sind nach V. 22b alle Christen), oder die Möglichkeit, frei zu kommen (denn Freigelassene sind alle Christen auch nach V. 22a). – Ein Mose-Apokryphon (1.-3. Jh. n. Chr.) bietet eine Parallele: Josua war kein Sklave der Art nach, aber er gebrauchte die Sklaverei … und war Diener nach eigenem Vorsatz (Berger/Colpe, Nr. 429). Das spräche für ein freiwilliges Bleiben in der Sklaverei, und das entspräche auch der Tendenz zum Bleiben, die Paulus im gesamten Kontext empfiehlt.
1 Kor 7,29-31: Das Vorletzte und das Letzte Die üblichen Übersetzungen der drei wichtigen Verse entwerfen ein recht schizophrenes Bild vom Christen: Was soll das heißen, dass der, der eine Frau hat, so tun soll, als hätte er keine? Meint Paulus nicht vielmehr dieses: »Wer eine Frau hat, soll daher so handeln, als wäre eine Frau nicht der größte Schatz; (30) wer weint, soll so weinen, als wäre Weinen nicht das Bitterste; wer sich freut, soll sich so freuen, als wäre Freude nicht das Höchste; wer etwas kauft, soll sich vorstellen, er dürfe es nicht behalten. (31) Und wer die Welt in Gebrauch nimmt, soll das so tun, als dürfe er sie nicht verbrauchen, da doch die sichtbare Gestalt dieser Welt sehr schnell vergeht«? Denn Paulus geht es nicht um Vortäuschen von Gefühlen, sondern um den wichtigen Unterschied zwischen dem Letzten und dem Vorletzten. Alles in dieser Welt, bis hin zu Freude und Trauer, von erfüllter Sexualität bis zum Verwalten des Besitzes, ist nur Vorletztes; es gibt immer etwas, das noch wichtiger ist, nämlich Gott. Ignatius von Loyola oder frühe Jesuiten fassten diese Überzeugung in den Satz »deus semper maior«, d. h.: Es gibt stets einen, der noch größer, noch höher ist als alle Kreatur. Alle begrenzte Erfüllung wird an der unbegrenzten Sehnsucht gemessen. Und mit jeder Sehnsucht ist die nach dem Absoluten mit gesetzt, denn diese ist der Maßstab. Warum nun lässt das Weltende es gut erscheinen, unverheiratet zu bleiben? Antwort: Paulus sieht durch Wechsel des bürgerlichen Status (V. 16), und genauso auch durch starke emotionale Zuwendung zu den Dingen des irdischen Lebens, die Menschen zusätzlich emotional belastet
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588 angesichts der kommenden Not. In V. 28 hat er gesagt: »Doch alle Verheirateten werden unter der Not viel zu leiden haben.« Die gleiche Sorge kennen wir auch aus der Verkündigung Jesu über die nahe bevorstehenden Wirren der Endzeit: »Dann gilt: Wehe den Schwangeren und den stillenden Müttern. Betet, dass es nicht im Winter geschieht« (Mk 13,17f). Für Jesus und für Paulus ist klar, dass Menschen in besonderen Lebensumständen besonders viel zu leiden haben werden. Aus diesem Grund warnt Paulus hier angesichts des nahen Weltendes vor dem Statuswechsel überhaupt. Dann wären die Menschen doppelt mitgenommen. Man kann indes erkennen, dass das Argument mit dem nahen Weltende nur ein zusätzliches ist. Die Hauptargumente folgen erst in V. 32: Wer heiratet, ist in seiner Sorge geteilt. Und das ist auch der Grund für die Regeln zur Mäßigung des emotionalen Engagements in 7,29-31. So sagt es Paulus im unmittelbaren Anschluss schon in V. 32: »Ich will nur, dass ihr euch keine überflüssigen Sorgen macht.« Auch in diesem Punkt stimmt er mit Jesus überein: Denn Jesus ruft in Mt 6 zur Freiheit von der Sorge um Nahrung, Kleidung und Familie auf, weil nur eines wichtig ist: Gottes Reich und seine Gerechtigkeit (d. h. die Gerechtigkeit, die es fordert). Für Jesus ist der Grund, diese Freiheit zu fordern und zu leben, keineswegs das bevorstehende Weltende, sondern die Güte des Vaters, die jedem überreich gilt, der sich ihr anvertraut. Mt 6 ist daher ein ganz unapokalyptischer Text, denn Jesus geht hier von einem fast paradiesischen Verhältnis zwischen Gott und Welt aus (Lilien, Vögel): Gott sorgt für alle seine Kreaturen. Für Paulus wie für Jesus gilt: Nicht das nahe Ende der Welt, sondern die ungeteilte Suche nach dem, was Gottes Wille jetzt und hier ist, relativiert alle irdischen Sorgen und macht sie im Falle radikaler Nachfolge (wie sie bei Jesus und Paulus gegeben ist) völlig überflüssig. Nach Paulus gilt das auch für irdische Freuden und irdischen Kummer, d. h.: Er weitet gegenüber Jesus das emotionale Sorgenpotential aus. Wenn Paulus sagt, das Zurückfahren der emotionalen Bindungen sei nötig, weil man sich darum sorgen müsse, was der Herr will und was ihm gefallen kann, dann entspricht das in Mt 6 der Gerechtigkeit, die Gottes Herrschaft fordert.
Der erste Brief an die Korinther
Jesus und Paulus lassen in diesem Zusammenhang ein beträchtliches Wissen um die »Konkurrenz der Sorgen« beim Menschen erkennen. Man darf fragen, wie es bei beiden kommt, dass die Sorge um Gottes Willen (oder, wie wir oben sagten: um das erste Gebot) einen so uneingeschränkten, alles andere verblassen machenden Stellenwert gewinnt: »Dem Dienst an Gott und vor Gott ist nichts vorzuziehen« (vgl. M. Puzicha, Kommentar zur Benediktusregel 2002, 654; s. v. Gottesdienst, Priorität des G.). Die Antwort: Erst die Gotteskindschaft verleiht die Leichtigkeit gegenüber allem, was nur Vorletztes ist. Erst weil Gott so intensiv und herzlich auf die Menschen zugegangen ist, hat das erste Gebot die neue, unabdingbare Bedeutung erhalten, die ihm zukommt.
1 Kor 7,32-40: Zuerst Liebe 1 Kor 7 legt eine Leibverachtung nicht nahe. Die Botschaft ist hier: »sich sorgen um das, was der Herr will, und ihm ganz gefallen«, »Gott gehören, nicht nur dem Innersten nach, sondern auch mit dem Leib«. Hier passt kein anderes Wort als »Liebe«. Denn in der Tat gilt: Nicht die Askese macht den Christen, sondern die Liebe. Geistliche Berufung ist nicht säuerlicher Verzicht, sondern zuerst eine große Liebe. Paulus erwirkt mit diesen unscheinbaren Versen eine Revolution im Menschenbild. Man kann es »Erotisierung von Religion« nennen. Übersetzt heißt das: Genau jenes Gefangensein, das wir von Verliebtsein und Liebe her kennen, genau den Liebesschwur »Ich gehöre ganz dir« wagt Paulus auf das Verhältnis des Menschen zu Gott anzuwenden. Das ist jedenfalls im Bereich der biblischen Religion eine Neuheit. Wenn bis dahin im Judentum Menschen auf Sexualität verzichteten, dann aus Gründen kultischer Reinheit; so wird es von Priestern, Hohenpriestern und Propheten verlangt oder berichtet. Doch das, was Paulus sagt, ist neu; denn er meint nicht die Abwesenheit von Samen oder Blut als potenziellen Verunreinigern. Für ihn ist die restlose Hingabe mit dem Innersten und mit dem Leib ein Ausdruck des neuen, radikalen Gottesverhältnisses. Damit erschließt Paulus ein großes Kraftpotenzial. Die Wirkung in der Kirchengeschichte ist
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mehrfach. Auf dieser Linie werden zunächst die christlichen Kommentare zum Hohenlied geschrieben, besonders die bei den frühen Zisterziensern. Die Verfasser (z. B. Bernhard von Clairvaux oder Wilhelm von Saint-Thierry) machen dasselbe wie Paulus: Das, was ihnen in der Sexualität anschaulich vor Augen steht – wovon das Hohelied berichtet –, wird angewandt auf die Liebe zwischen Gott und Mensch, zwischen Jesus Christus und der »Seele« des Einzelnen. Besonders n der deutschen Frauenmystik wird die ganzheitliche Zugehörigkeit der berufenen Frau zum Heiland eindrucksvoll in Sprache gekleidet. Bisweilen erscheinen uns Heutigen manche dieser Texte fremd. Doch es geht in all diesen Texten nicht um Sexualität, sondern um die Liebesfähigkeit des Menschen. Das alles sind Konsequenzen daraus, dass nicht Askese, sondern große Liebe der Schlüssel zu dieser Art Entfaltung von Christentum ist. Dadurch, dass die menschliche Liebesfähigkeit aus der alleinigen Dienstbarkeit gegenüber der Sexualität gelöst wurde, wird der Mensch in Wirklichkeit befreit. Geistliche Berufung im paulinischen Sinn ist eine Berufung in die Freiheit. 1 Kor 7 bringt das genau zum Ausdruck, indem Paulus von der ungeteilten Sorge, also der Aufhebung jedes Geteiltseins, spricht.
1 Kor 7,36-38: Pastorale Milde Wie konnten die Fragen überhaupt entstehen, die Paulus hier behandelt? Antwort: Offenbar drängt jemand darauf, unter keinen Umständen zu heiraten. Dieser jemand kann durchaus Paulus sein, denn das ist die generelle Tendenz von
1 Kor 7. Sodann: Wer ist der angesprochene männliche Partner der unberührten Frau? Ist es ihr Vater? Wohl kaum (V. 37 würde nicht passen). Ist es der Bräutigam? Aber was heißt: »seine Jungfrau«? Sollte Paulus nicht lieber schreiben »seine Braut«? Antwort: Nein, es kommt auf die sexuelle Unberührtheit an; zudem war jede Frau darauf erpicht, bis zur Ehe die Unberührtheit zu bewahren, alles andere hätte ihren »Wert« drastisch vermindert. Ferner: Paulus geht nicht auf die Gründe der zeitweilig praktizierten Enthaltsamkeit ein. Daher kann man raten, ob es sich um eine Nachahmung des Zölibats Jesu handelt – oder nur um die übliche Zurückhaltung vor der Ehe. Irgendwelche sakralen Aspekte interessieren Paulus hier nicht. Aber was dann? Paulus operiert hier ganz und gar als Seelsorger. Alle verwendeten Begriffe weisen nur auf dieses Ziel: »glauben, die guten Sitten zu verletzen«, »überreif sein« (d. h. sexuell leicht erregbar), »in seinem Herzen standhaft sein«, »wollen«, »den Willen ganz unter Kontrolle haben«. Paulus verfolgt sein Ziel, die Gemeindemitglieder zu schonen und nicht zu überfordern. Wie bei der geteilten Sorge (V. 34) argumentiert er im psychologischen Bereich, nur mit gegenläufigem Ergebnis. Wenn einer die Triebe nicht beherrschen kann, ist es besser, zu heiraten als zu »brennen«. – Denn für Paulus hat der Leib stets etwas mit der Qualität des Daseins zu tun. Für das »Wie« des Existierens ist der Leib stets entscheidend, also auch für Unglück oder Verdammnis. Nicht das nackte Dasein an sich ist schon ein Wert. Dem Verherrlichen Gottes mittels des irdischen Leibes entspricht das Verherrlichtwerden durch Gott in der Auferstehung.
1 Kor 8-10: Das Problem des Essens von Fleisch, das den Göttern geweiht ist 1 Kor 8: Thema Götzenopfer(fleisch) – Starke und Schwache in der Gemeinde Hatte Paulus in 1 Kor 5-7 über das diskutiert, was im Aposteldekret »Unzucht« heißt (Apg 15,21), so spricht er in 1 Kor 8-10 über das, was dort »Götzenopferfleisch« genannt wird. Noch stärker als in Kap. 5-7 verknüpft Paulus hier mit seinen Ausführungen Exkurse.
Der Sachverhalt bei Götzenopferfleisch (in der Folge GF genannt) ist folgender: Im gesamten Raum des östlichen Mittelmeeres ist den Menschen bewusst, dass sie mit der Tötung von Tieren in die Rechte Gottes bzw. der Götter eingreifen. Denn eigentlich ist der Mensch nicht Herr über fremdes Leben. Daher muss der Mensch bei jeder Tierschlachtung das Besitzrecht der Götter anerkennen. Das tut er durch das Opfern
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590 der Erstlinge, welches in der Regel mit Formeln bzw. Gebet verbunden ist. Solche Formeln sind erhalten. Dadurch wird das geschlachtete Tier bzw. die Jagdbeute den Eigentümern geweiht. Das Verhältnis von Erstling und gesamter Schlachtung funktioniert auch im nichtjüdischen Bereich, wie die Hebe nach Röm 11,5. Obwohl nur ein kleiner Teil ab- oder ausgesondert wird, ist doch das Ganze dann den Göttern geweiht. Nach Auffassung religiöser Menschen wird der Mensch, der irgendetwas von diesem GF isst, zum Tischgenossen der Götter, d. h. er hat an ihnen Anteil (vgl. unten zu 10,20). Paulus hat selbst erkannt und zugegeben, dass das auch beim christlichen Abendmahl genauso funktioniert: Wer am Abendmahl teilnimmt, wird Tischgenosse Gottes und Jesu Christi. Und so ist es auch nach Meinung einiger Korinther immer noch bei dem GF: Wer davon isst, bekommt Anteil an den Göttern. Das aber widerstreitet der Tischgemeinschaft mit Jesus beim Abendmahl. Angesichts des ersten Gebotes im Dekalog bzw. des Exklusivitätsanspruches des biblischen Gottes kann man nicht zugleich Tischgenosse der Götter und des wahren Gottes sein. Die Folge ist: Also darf man kein GF essen, denn dann würde der »Bekenntnisfall« eintreten. Das ist ein Standpunkt, der zumindest auch Anhalt an paulinischen Äußerungen hat. Denn Paulus geht zumindest in Kap. 8 davon aus, dass es die heidnischen Götter gibt, sie sind nur eben nicht »unser Herr«. Und wenn es sie gibt, dann haben sie auch Macht, wenn auch »unser Herr« mächtiger ist. Den Ausdruck »Götzenopferfleisch« gibt es außer im NT nur in zwei jüdischen Quellen des 2. Jh. – Schon Ex 34,15 verbietet die Teilnahme an solchen Mahlzeiten; nach 2 Makk 6,7.12; 7,42 will man Juden zu solchen zwingen. Für Juden sind sie verboten: 4 Makk 5,2; ebenso Ps.-Phokylides Sent 631 (»Iss kein Blut, enthalte dich vom Fleisch, das Götzen geopfert ist. [Allerdings nur in einem Ms.]); Justin, Dial 34, lässt Tryphon von Christen berichten, die solches Fleisch essen. Nach Justin sind es Häretiker, so auch nach Irenäus und Eusebius. – Ein jüdisches Verbot steht vielleicht hinter Didache 6,3 (»Besonders halte dich fern von Götzenopferfleisch«).
Aber dieser Standpunkt ist nicht der einzige in Korinth. Es gibt dort auch die so genannten »Starken«, die offensichtlich jede Furcht gegen-
Der erste Brief an die Korinther
über anderen göttlichen Mächten für Aberglauben halten und sich daher auch gar nicht scheuen, GF zu essen. Sie praktizieren insoweit christliche Freiheit, und natürlich kann man nicht mit dem christlichen Gott zugleich den Glauben an konkurrierende Mächte einführen. Daher sind die so genannten Starken wohl ganz gewöhnliche Skeptiker, dieselben vermutlich, die auch nach 1 Kor 15,12 nicht an eine leibliche Auferstehung glauben. Das Problem besteht nun nicht darin, dass es diese Gruppe gibt, sondern dass diese Christen in einer Mischung aus Angstfreiheit und Hochmut auf ihre Mitchristen herabblicken, so wie man das heute vom Streit zwischen Progressiven und konservativen Altgläubigen kennt. Um jeden Preis will Paulus die Einheit der Gemeinde retten, und das versucht er angesichts der aufgezeigten Lage auf folgenden Wegen: a) Es gibt eine Wertepriorität der Liebe vor der Erkenntnis. Das heißt hier: vor der aufgeklärten, rational einwandfreien Weltsicht der so genannten Starken. Denn Erkenntnis kennt nur eine Blickrichtung, den Blick auf die immer größer werdende Erkenntnis, während man die Finsternis hinter sich lassen kann. Erkenntnis hat insoweit kein Maß, Liebe hat ein Maß, nämlich die Interessen und die Identität des Nächsten. b) Insbesondere kann das verletzte Gewissen des Nächsten zum Maßstab für das eigene Handeln werden. Der Maßstab für das eigene Handeln ist demnach, anders als in der Moderne, nicht das eigene Gewissen, sondern das des Nächsten. Denn um des Bruders willen ist Christus gestorben. Wer ihn verletzt, verletzt daher auch dessen Herrn, der hinter ihm steht. Wegen der Gefahr, dass man ihm schaden könnte, sollen die Starken ihre Freiheit nicht gebrauchen. Denn wenn die Schwachen es den Starken gleichtun und durch sie zum Essen verführt werden, wird ihr empfindliches Gewissen verletzt. c) Auch Paulus selbst ist Beispiel und Vorbild dafür, dass man die eigene Freiheit, die eigenen Privilegien und das, was man sich erlauben könnte, dennoch nicht wahrnimmt. Das wird in Kap. 9 geschildert. Paulus schafft mit dieser Argumentation ein Muster, das für Jahrhunderte christliche Ethik bestimmen wird. Daran ist bleibend wichtig geworden:
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1. Im Zweifelsfalle ist auf den Rücksicht zu nehmen, der verletzt wird oder sich verletzt fühlt oder von dem man das annehmen muss. Dieser Punkt wird also sehr weit ausgedehnt. 2. Die paulinische Freiheit, auch die von rituellen Bestimmungen, hat eine Grenze. Sie besteht nicht darin, dass alle die rituellen Bestimmungen mit einhalten müssen, wohl aber darin, dass sie sie tolerieren und – vor allem – selbst nicht verletzen. Es wird daher nicht nur eine passive Toleranz gefordert, sondern ein Verzicht auf Praktizierung der eigenen Freiheit. Das ist sehr weitgehend. 3. Der Verzicht dient der Einheit der Gemeinde. Deren Bewahrung geht daher so weit, dass selbst die Freiheit, ein substanzieller Teil des Evangeliums, dafür beschnitten wird. In der Tat geht Liebe damit vor Erkenntnis, Zusammenhalt vor Freiheit. So wird deutlich erkennbar, dass die normierende Norm die Liebe ist. 4. Für alle Zeiten sind damit im Christentum die Argumente der rationalistischen Aufklärer – das sind die »Starken« in Korinth – zweitrangig. Neue Belege zum Wortgebrauch Starke/Schwache in der Umwelt des Neuen Testaments: Chrysipp nach Galen (2. Jh. n. Chr.), Über die Lehren des Hippokrates und des Plato IV,6: »Weichheit und Schwachheit der Seele sind die Ursache fehlerhafter Handlungen.« So nennt er sie, und die Gegensätze sind »Festigkeit und Stärke …« – Die Schwachen haben daher Anteil am gesellschaftlichen Ansehen von Juden: »Mein Großvater nämlich pflegte bei jeder Gelegenheit über die Juden zu spotten, dass sie sich des erlaubtesten Fleisches enthalten« (Plutarch, Tischreden IV,5,4). Nach meiner These bezieht sich das gesamte Problem der Starken und Schwachen in 1 Kor und Röm auf eine große Nähe der jeweiligen Schwachen zum Judentum. – Fragment aus Sophokles (Plutarch, Warum die Pythia …, 15): (vom Gott Apollon) »Den Weisen sagt er rätselvolle Sprüche vor, die Schwachen lehrt er kürzer und verständlicher.« Den Gegensatz Weise/Schwache werden die Starken in Korinth gerne auf sich bezogen haben. – Ferner: Plutarch, Ob das Laster hinreichend sei …, 4: »Wen macht nun alles dies unglücklich? Nur den Schwachen und Unverständigen, der keine Erziehung und Übung besitzt und die Vorurteile der Kindheit beibehält …«; ders., Vom
591 Aberglauben, 11: »So aber ist der Atheist vom Aberglauben gänzlich frei, der Abergläubische hingegen … fühlt sich zu schwach, um von den Göttern zu glauben, was er will.« Der Aberglaube begünstige somit das Entstehen des Atheismus. Zu 1 Kor 8,4f: Paulus sieht sich hier in der Zwickmühle. Wenn er erklärt, dass es die heidnischen Götter gar nicht gibt, kann er nicht vor dem GF warnen, wie er es in 10,20 tun wird. Er kann in 8,4f auch keinen Anti-Gottesbeweis gegen die heidnischen Götter führen. Wenn es sie aber gibt, dann haben die Schwachen doch Recht mit ihrer Befürchtung, sich mit dem Essen von normalem GF auf die Götzen einzulassen. So lautet die paulinische Lösung, die er den Korinthern schrittweise nahebringt: Die so genannten heidnischen Götter sind in Wirklichkeit Dämonen, die die Menschen betrügen, da sie sich als Götter ausgeben. Dämonen aber sind Totengeister, die Geister der Riesen, die nach Gen 6 aus dem Verkehr der Gottessöhne mit menschlichen Frauen entstanden, also aus dem großen Abfall eines Teils der Engel. Weil Dämonen aber Totengeister sind, können sie nur fürchterliches Unheil bringen. Götzendienst und Tod hängen daher eng zusammen, denn Götzendienst ist Totenkult. Vgl. Jub 10,5: »Und du weißt, wie deine Wächter gehandelt haben, die Väter dieser Geister« (von unreinen Dämonen); die Entstehung: Hen (äth) 6-16, darin besonders 15,8-12: »Aber … die Riesen, die gezeugt worden sind aus Geistern und Fleisch … (9) Böse Geister sind aus ihrem Leib hervorgegangen, weil sie von oben her geschaffen wurden … (10) … die Geister der Erde, die auf Erden geboren wurden, werden auf Erden ihre Wohnung haben … (11) Die Geister der Riesen … sind gewalttätig und verdorben, brechen herein, kämpfen, zerstören auf Erden, schaffen Leid, verzehren keine Speise und dürsten nicht und sind nicht wahrzunehmen. (12) Und diese Geister werden sich erheben gegen die Menschenkinder und die Frauen, weil sie (von ihnen) ausgegangen sind.« Weil die Totengeister nicht dürsten und nicht essen, deshalb muss bei der Erscheinung des Auferstandenen sichergestellt werden, dass es sich nicht um den Totengeist Jesu handelt, deshalb muss Jesus etwas zu sich nehmen (Lk 24,37-43).
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592 Kapitel 8 im Rahmen der Komposition Dass der Punkt GF problematisch sein kann – jedenfalls vom Standpunkt des Aposteldekrets aus –, liegt auf der Hand. Denn alles »normal« gekaufte und nicht geschächtete Fleisch ist GF. Was sollen die Korinther denn machen, wenn sie weder selber schlachten, noch »zum Juden gehen«, noch auf Fleisch verzichten wollen? Erstaunlich für die Leser des 1 Kor dürfte sein, dass Paulus zum Stichwort GF sogleich von Erkenntnis (Aufgeklärtsein) spricht, noch dazu, dass derjenige, der Gott liebt, von ihm zuerst »erkannt«, d. h. erwählt ist. Jedenfalls ein merkwürdiger Ansatz! Denn es folgen zunächst scheinbar nicht zielführende Feststellungen über Gott und Götzen. Doch in der Praxis hat dieses Gottesbild folgende Konsequenzen: Die aufgeklärten Christen haben eine Vollmacht, eine Freiheit, eine Souveränität (V. 9a, griech.: exousia), GF zu essen. Denn weil sie nicht nur aufgeklärt, sondern auch von Gott erwählt sind (8,3), brauchen sie vor nichts anderem Angst zu haben. Welche Angst müssten sie denn beim Essen des GF haben? Ein gewöhnlicher Heide muss ja keine Angst haben beim GF. Aber bekanntlich werden die Götter denen gefährlich, die von ihnen abgefallen sind. Die Texte über Proselyten sind voll von derartigen Befürchtungen. Das träfe ja auch auf die Christen zu. Wenn sie sich einfach wieder in das Haus der Götzen wagen, werden diese ihnen schon zeigen, welche Macht sie haben. Gegen diese Angst setzt Paulus die Erkenntnis und die Zugehörigkeit zu dem einzigen Gott. Die Vollmacht der Christen ist eine Art Immunität. Paulus stärkt daher zunächst die Identität der Starken. Das sagt er so klar, dass auch die Schwachen es hören können. Doch wenn nun die »Schwachen«, die die Dämonen fürchten, sehen müssen, dass die Starken sorglos GF essen, dann nehmen sie Anstoß, erleben das Tun der Aufgeklärten als Ärgernis. Das Stichwort Ärgernis ist die schärfste Waffe im gesamten frühesten Christentum, auch und vor allem schon bei Jesus. Die härtesten Urteile droht Jesus denen an, die »den Kleinen« (die mit den paulinischen »Schwachen« deckungsgleich sein dürften) Ärgernis geben, d. h. durch ihr Tun den Schwachen das Gefühl vermitteln, sie gehörten gar nicht dazu. Ärgernis geben heißt:
Der erste Brief an die Korinther
durch die eigene Praxis andere schweigend hinausdrängen, weil diese es so empfinden müssen, als seien sie unmöglich und unerwünscht. Wer Anstoß oder Ärgernis gibt (hier in 8,9.13[2]), sündigt gegen den Bruder. – Für Paulus ist mithin die Einheit der Gemeinde, die Zugehörigkeit des weniger Aufgeklärten zur Kirche, so wichtig, dass der Aufgeklärte demgegenüber auf die Demonstration seiner Freiheit und Sorglosigkeit verzichten muss. 1 Kor 8 kann daher denen ganz und gar nicht passen, die die Gewissensfreiheit über alles stellen. Nicht »ich« und »mein Gewissen« sind vorrangig, sondern dass der unaufgeklärte Bruder Christ bleiben kann. Dieser Bruder/diese Schwester sind nicht »an sich« wertvoll, sondern weil Christus für sie (»wegen ihm«) gestorben ist (8,11) – in der Umwelt des 1 Kor gilt dieses als höchster Freundschaftsdienst. Schon die bloße Möglichkeit des Ärgernisses würde Paulus dazu veranlassen, lieber überhaupt kein Fleisch mehr zu essen (8,18). Paulus setzt voraus, dass der Schwache sich genötigt fühlt, sein Handeln nach dem Vorbild des Starken auszurichten. Das lässt darauf schließen, dass die Starken in der Gemeinde von Korinth die Tonangebenden sind, und dass die Schwachen eher deren Tun nachahmen als dass sie auf dem eigenen Standpunkt beharren. Wenn die Schwachen das aber tun, verraten sie ihre eigenen Grundsätze und Überzeugungen, nur um der Harmonie und Einheit willen. (Dass Paulus hier von der Befleckung des Gewissens spricht, ist weiter unten zu erklären). Hier gibt es nun erkennbar ein Ungleichgewicht in der Gefährdung, die der Apostel sieht: Den Starken kann er zumuten, auf ihre Freiheit zu verzichten; den Schwachen aber kann er nicht zumuten, gegen ihre Überzeugung zu handeln. Müssten nicht für beide die gleichen Grundsätze gelten? Speziell aus diesem Grund wohl verfasst Paulus Kap. 9. Denn hier legt er dar, dass die Freiheit der Starken auch die Freiheit einschließt, auf den Gebrauch der eigenen Freiheit zu verzichten. Hier muss sich Paulus dann schließlich selbst als Vorbild für das darstellen, was er von den Starken erwartet. Die Starken haben – abgesehen von den Inhalten – Möglichkeiten, die den Schwachen abgehen. Fazit: 1 Kor 8 legt den Starken nahe, auf ihre Freiheit zu verzichten, weil sonst Schwache mei-
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nen könnten, sie müssten oder dürften ebenso GF zu sich nehmen, was aber zur Belastung ihres Gewissens führen würde. Die Gefahr unseliger Vermischung Typisch für 1 Kor ist ein systematischer Ansatz (anthropologisch, sexuell, sakramentstheologisch), wonach ein Mensch, der sich zu sehr mit einer »gefährlichen« Größe einlässt, mit ihr eins wird, sodass er nicht mehr davon loskommt. Folgende Fälle nennt Paulus: – Wer sich mit einer Prostituierten einlässt, wird »ein Leib« mit ihr (6,16). Im Hintergrund steht eine bestimmte Auslegung von Gen 2,24 (»die zwei zu einem Fleisch«). Interessanterweise wendet Paulus Gen 2,24 nicht auf die (christliche?) Ehefrau an. – Wer dem Herrn anhängt, wird »ein Geist« mit ihm. Wie in Gen 2,24 wird das Verb, griech.: kollasthai anhangen, »kleben an jemandem« gebraucht (6,17), nur jetzt nicht in Bezug auf Dirne und Fleisch, sondern in Bezug auf »Geist« und »Herr«. – Wer Opferfleisch isst, wird Genosse (griech.: koinonos) des Altares (sc. des Gottes, dem der entsprechende Altar geweiht ist), 10,18. Daher wird ein solcher nach 10,20 »Genosse der Dämonen«. – Wer dagegen den Becher Christi (beim Abendmahl) trinkt, tritt in Gemeinschaft mit dem Blut des Christus, und entsprechend beim Brot mit dem Leib des Christus (10,16). In 10,21 wird erklärt, die Anteilhabe am Tisch des Herrn sei unvereinbar mit der Anteilhabe am Tisch der Dämonen. Befund: Man wird entweder eins (griech. heis oder hen) oder aber koinonos (Genosse), der Anteil hat (griech.: metechein). Durch Beischlaf oder Essen entsteht jeweils eine enge Vermischung. Die Vermischung selbst kommt nicht unbedingt physikalisch zustande. Denn die Verbindung mit dem Herrn (sc. Jesus), die dazu führt, dass man »ein Geist« mit ihm ist, geschah nach 6,17 auch nicht unbedingt durch das Abendmahl. Allerdings könnte sich das durch 10,16 nahe legen. Die dämonologische Verwendung dieser Denkfigur in 10,16-18 sowie die Anwendung auf »einen Geist« in 6,17 legt es nahe, den Ursprung dieser Denkfigur in der Pneumatologie zu su-
chen. Vor allem würde das die von Paulus behauptete Identität (Einssein) oder wenigstens die überaus enge Gemeinschaft erklären. Und zwar so: Eine so enge Gemeinschaft gibt es auch, wenn einer besessen ist oder wenn einem Menschen der Heilige Geist ins Herz gegossen wird. Der Dämon, der einen besetzt hält, gebraucht dessen Stimme und Bewegungen, der Heilige Geist, der einem ins Herz eingegossen wird, verschmilzt mit Denken und Handlungen; Paulus kann daher sagen: nicht mehr ich, sondern Christus in mir. Und bei den »eingegossenen Tugenden« rechnet die spätere Kirche mit einem Subjekt, dem menschlichen. Es ist also bei dem, was eingegossen wird, oder bei der Geistmacht, die mich beherrscht, wie bei der Vermischung zweier Flüssigkeiten, die auch ganz eng und jedenfalls zunächst nachträglich unaufteilbar zu sein scheint. Dass der Heilige Geist als Flüssigkeit gedacht wird, erscheint uns als unvorstellbar, ist dagegen dem Neuen Testament offenbar unanstößig und geläufig. Und entsprechend werden dann auch andere Geister als flüssig vorgestellt. Auch beim Abendmahl ist die Wirkung »ein Leib« (10,17a). Das steht demnach neben der Aussage, dass man mit dem Herrn (ein Geist) sei.
1 Kor 8,6: Deutung des Ganzen »Wir kennen nur den einen Gott und Vater, der alles geschaffen hat und für den (auf den hin) wir leben, und einen Herrn, Jesus Christus, durch den alles geschaffen ist, und auch wir (verdanken alles ihm).« Der Text lebt vom Kontrast zwischen dem Gott und Vater einerseits und dem Herrn Jesus Christus andererseits, vom Kontrast zwischen »alles« und »wir«, schließlich vom Kontrast der Beziehungen: beim Vater »aus« und »auf … hin«, selbst ein Kontrast; beim Sohn zweimal »durch«. Damit wird Folgendes gesagt: a) Gott-Vater ist Ursprung und Ziel. Denn wenn es nur einen Gott gibt, muss er zwangsläufig universal zuständig sein, für Anfang und Ende. b) »auf ihn hin« bezeichnet Gott als den Richter. Schöpfer und Richter gehören hier wie auch sonst zusammen. Das entspricht genau dem Schema der frühen Heidenmission, wie es sich
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594 noch in Apg 17,24-31 spiegelt. Die Geschichte Israels in der Mitte fiel aus. c) Durch die Gottesbezeichnung »Herr« wird Jesus Christus als Repräsentant des Gottes und Vaters dargestellt. Denn »Herr« (in LXX: Kyrios) ist der Gottesname, den Gott auf seinen Gesandten gelegt hat. d) Im Blick auf Joh 1,3 (»Alles ist durch ihn geworden …«) gilt: Jesus Christus kommt hier wie in Joh 1 als Schöpfungsmittler in den Blick. Daher rechtfertigt sich die Übersetzung »durch den alles geschaffen ist«. e) Am schwierigsten ist der Schluss: Denn um das bloße Erschaffensein kann es hier bei dem »wir« nicht gehen; das ist doch im »alles« schon inbegriffen. Daher ist zu fragen: Was ist uns denn durch den Mittler noch zuteil geworden außer dem Erschaffensein? Antwort: Er ist der Retter, auch und gerade in der im ersten Satz angedeuteten Situation des Gerichts. Weil er da unser Anwalt ist und uns retten wird (1 Thess 1,9f), ermöglicht er es für »uns«, dass wir unbeschadet zu Gott gelangen. Wenn es einen Mittler gibt, dann ist die Konsequenz aus a) und b), dass dieser Mittler bei der Schöpfung und auch am Ende wirksam ist. – Diese Mittlerschaft Jesu am Ende spielt leider in der gegenwärtigen Theologie kaum eine Rolle; bestenfalls kommt der Richter in den Blick. Jedenfalls lädt 1 Kor 8,6 dazu ein, die Rettung durch Jesus und das »Ende« und »Ziel« der Geschichte in Gott direkt aufeinander zu beziehen. f) Es fehlt nicht nur eine Aussage über den Heiligen Geist; auch von der Erlösung durch Jesu Tod und Auferstehung ist nicht die Rede. Vielmehr sind nicht nur die Aussagen über den Gott und Vater anfangs- und endlastig, sondern auch die über den Messias Jesus Christus. Das aber bestätigt die Herkunft des Textes aus früher Heidenmission, in der jene kommende Retter-Funktion des Sohnes allein hervorgehoben wurde (1 Thess 1,9f; Apg 17,24-31). g) Der Unterschied zu vulgär-stoischen Formeln (»Zeus ist Ursprung, Zeus ist Mitte, von Zeus her kommt alles«, Berger/Colpe, Textbuch Nr. 439; »Vater Zeus, auf dich hin ist alles und aus dir hat es seine Wurzel genommen«, ebd.) oder zu der Formel »dass alle Dinge eins sind oder dass sie aus Einem und auf Eines hin bestehen« bei Philo (ebd.) liegt darin, dass Paulus den Mittler
Der erste Brief an die Korinther
so stark betont. Man kann daher sagen: Paulus übernimmt eine formelhafte Redeweise und spitzt sie christologisch zu. Das Neue ist eindeutig der Mittlerdienst des Kyrios. Mit ihm treten zugleich die »wir« auf den Plan, die in keiner vergleichbaren Formel vorkommen. So kommt auch die Funktion der Gemeinde für die Weltgeschichte in den Blick. Zu den »wir« ist dann sogleich an Eph 1,4.11f zu erinnern. Denn auch hier ist die Rede von der Schöpfung (Grundlegung der Welt, »alles«) mit den »wir« verbunden; auch hier gibt es die Zielbestimmung »auf … hin« (griech.: eis, V. 12), und bei der Schöpfung geschieht die Auserwählung »in ihm«, dort also, wo 1 Kor 8,6 »durch ihn« sagt. Eph 1 ist also teilweise eine erweiterte Aufnahme von 1 Kor 8,6.
Der Text ist im Stil der Akklamationen zu Ehren des einen Gottes verfasst (»Gott ist einer«; vgl. dazu die gleichnamige Arbeit von E. Peterson), die im Wettstreit der Religionen miteinander das Programm des Judentums formulierten (z. B. Sib 3,11: »Einen einzigen Gott gibt es, der allein regiert …«; Josephus, Ant 3,91: »Gott ist einer, und ihn allein gilt es zu verehren«). Auch dieses weist nochmals in den Bereich der frühen Heidenmission. Durch alle diese Beobachtungen ist ein vorpaulinischer Ursprung von 1 Kor 8,6 sehr wahrscheinlich gemacht. Im Zusammenhang von 1 Kor 8-10 ist die Funktion dieses Bekenntnisses: Im Poblem des GF berührt 1 Kor am intensivsten Probleme, die sich aus dem Leben der Gemeinde in polytheistischer Umwelt ergeben. Daher ist hier der Ort, durch Zitieren des mutmaßlich bekannten Programms der Christen klar zu sagen, was von den anderen so genannten Göttern zu halten ist. Zu 1 Kor 8,7: Wer aus alter Gewohnheit beim Essen von gekauftem Fleisch denkt, dass es fremden Göttern geweiht ist, hat Gewissensbisse und befleckt damit sein empfindliches Gewissen. Zum Ausdruck vgl. Tit 1,15: »Für diejenigen, die selbst rein sind, sind auch alle anderen Dinge rein. Wer aber ein schlechtes Gewissen haben muss oder wer nicht Christ ist, für den ist nichts rein. Sein Inneres ist ebenso befleckt wie sein Gewissen.« – Zur Vorstellung von der Befleckung vgl. auch Past Herm, Mand 3 (Gebot beflecken) und
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Kapitel 8
Mand 5 (Heiliger Geist wird rein sein, nicht verdunkelt …, befleckt durch den Jähzorn … wird die Langmut befleckt).
Beflecken kann man nur etwas, was vorher oder genuin heilig ist. Bis heute setzt der Ausdruck »reines Gewissen« implizit voraus, dass es im Inneren des Menschen um rein und unrein geht. Der Kern aller Unreinheit besteht darin, dass etwas dort ist, wo es überhaupt nicht hingehört. Unreinheit des Herzens oder Verlust der inneren Heiligkeit oder Tugend ist Hausfriedensbruch im Heiligtum. Im Inneren hat innerer Friede zu herrschen und nicht Palastrevolution. Das Gebot (Gottes) wird befleckt, wenn das Gewissen die Normen vertritt (daher klagt es an, vgl. Röm 2,15f und 13,5), der Mensch aber dagegen handelt. Entscheidend bei den Fragen der Befleckung des Inneren ist nur zum geringeren Teil die objektive Richtigkeit, sondern zum größeren Teil der innere Friede, die Übereinstimmung mit den eigenen Grundsätzen. Das wird gerade aus 1 Kor 8,7 deutlich. Nun rechnet Röm 13,5 damit, dass das Gewissen Gottes Gesetz vertritt. Denn letztlich kann kein Widerspruch zwischen Gesetz, dem Urteil der jurisdiktiven Obrigkeit, und dem Gewissen bestehen; das Weltgericht wird den Spruch des Gewissens bestätigen. Das Gewissen ist daher nach Röm nicht »subjektiv« im modernen Sinne. Argumentationsplan in Kapitel 8-10 In den Kap. 8-10 folgt der Apostel einem durchdachten pädagogischen Plan, der auf Steigerung angelegt ist. Leitmotiv ist die Schädigung des Gewissens, zunächst des eigenen, dann des Mitchristen und schließlich des Außenstehenden (vgl. 8,7.10.12; 10,25.27-29). Liebe geht über richtige Erkenntnis und Aufgeklärtsein. Die Aufklärung bezieht sich in diesen Kapiteln auf die Bedeutung, die das Essen von GF hat, also der normale Fleischkonsum in den Häusern. Man kann sagen: Dass Fleisch den Göttern geweiht ist, macht mir nichts. Gut so. Aber anderen Christen macht das etwas. In der Folge wird die Priorität der Liebe vor der Erkenntnis bedeuten: Liebe gegenüber dem weniger aufgeklärten anderen Gemeindeglied durch Rücksichtnahme, Liebe zur Gemeinde, um Irritationen zu vermeiden.
595 Wer trotz Aufklärung beim Essen von Fleisch noch daran denken muss, dass es GF ist, der schädigt zunächst das eigene Gewissen. Sodann beleidigt man das Gewissen anderer, wenig aufgeklärter Mitchristen, wenn man ihnen einfach die Freiheit, alles zu essen, demonstriert, obwohl sie dadurch irritiert werden. Solche Essgewohnheiten stören nicht Gott, aber den Mitchristen. Höher als die bloße, aufgeklärte Freiheit ist es nämlich, wenn man auf diese Freiheit auch verzichten kann, um den Nächsten nicht zur Verzweiflung zu treiben. Paulus selbst zeigt, wie man auf Freiheitsrechte verzichten kann, und er kann noch mehr: Er kann seinen Lebensstil je auf den Adressaten der Botschaft und auf dessen Lebensstil hin einrichten. Nicht weil der Lebensstil gleichgültig wäre, sondern weil immer und überall die Gemeinschaft mit anderen Vorrang hat, und zwar die im Evangelium begründete Gemeinschaft der Kirche. Anhand biblischer Beispiele warnt Paulus vor leichtfertigem Abfall. So ist auch mit dem GF nicht zu spaßen. Denn andere Götter sind kein neutrales Feld, sondern stets Versuchung für den Glauben. Die Christen sind zwar frei, aber es kommt auch darauf an, die Außenstehenden nicht zu irritieren, weil sie meinen, Christen äßen kein GF. Wenn sie es dann doch tun und die anderen ausdrücklich fragen, dann sind sie unglaubwürdig. So kommt es darauf an, Irritationen zu vermeiden.
Kapitel 9 in der Komposition 1 Kor ist von der paulinischen Verkündigung der »Freiheit« her gesehen ein einziger Versuch, diese Freiheit einzugrenzen. Vielleicht haben die Korinther und weite Teile der Theologiegeschichte Paulus ja auch nur missverstanden. In 1 Kor 6,12 schon wettert er gegen den Slogan »Ich darf alles!«, und er wird das in 10,23 wiederholen. So fragt auch 9,1: »Bin ich nicht frei?« Aus Kap. 8 gingen zu dieser Frage zwei Beiträge hervor: 1. Die Freiheit meines Gewissens findet ihre Grenze an der Verletzbarkeit des Gewissens des Bruders/der Schwester in der Gemeinde; 2. An die Stelle der Normen des Gesetzes tritt jetzt etwas viel Sensibleres, nämlich die Regeln des Miteinanders in einer bestehenden Gemeinde. Weil diese Regeln häufig sozialen oder sozialpsycho-
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596 logischen Charakter haben (z. B. nicht mobben), sind sie auch im Prinzip beweglicher, dann auch verbindlicher und einschneidender als das »Gesetz«. D. h. an einem scheinbar so abseitigen Thema wie Essen des GF kann Paulus gut zeigen, was Gemeinde (Kirche) als neuer Höchstwert für ihn bedeutet. Das sind für Juden wie für Heiden ganz neue Töne. Und das gilt insbesondere für die Zumutung, um der Gemeinde (Kirche) willen auf den Gebrauch der Freiheit zu verzichten (ging es nicht auch schon in 7,21f um einen möglichen Verzicht auf Freiheitsrechte?). Paulus dürfte auf den apostolischen Dienstreisen eine Ehefrau mitnehmen und sich von den Gemeinden ernähren lassen. Es ist doch recht erstaunlich, dass schon in der Frühzeit christlicher Mission, in der nach manchen Auslegern angeblich ein Liebeskommunismus herrschte, das apostolische Dienstrecht schon so weit ausgeprägt ist, dass es sehr konkrete Einzelregelungen auch finanzieller Art enthält. Interessant ist zudem, dass dieses differenzierte Recht der Wanderapostel »Vollmacht/Freiheit/Erlaubnis« (griech.: exousia) heißt, – ein Wort, das in der Jesusbewegung vor allem charismatische Vollmacht bezeichnet (z. B. schon Mk 1,22). Beides ist nun offenbar kein Gegensatz, sondern die in 1 Kor 9 diskutierten Rechte sind nur die Kehrseite charismatischer Vollmacht. 9,19 sagt ausdrücklich, dass die Freiheit darin besteht, dass der Apostel auf den Gebrauch von Freiheit verzichtet. Die Freiheit des Apostels besteht auch darin, dass er alle nur denkbaren Lebensformen übernehmen kann, jüdische und heidnische (9,20f).
1 Kor 9,16-19.20 f.22-23: Allen alles werden Kernsatz ist 9,19: »Denn ich bin frei von allen Dingen und habe mich zum Sklaven aller gemacht, um möglichst alle zu gewinnen.« An diesem missionarischen Grundsatz des Apostels Paulus wird wieder einmal erkennbar, dass er die grundlegende Erlösung der Christen und seinen eigenen Dienst nach demselben Muster denkt, ja für ein und dasselbe Handeln Gottes hält. Daher kann man die Aussagen des Apostels über Befreiung und neue Versklavung völlig legi-
Der erste Brief an die Korinther
tim von zwei Seiten her angehen: vom Beruf des Apostels und seiner Berufspraxis und von der Taufe der Christen her. Für beide gilt dasselbe Schema: Zunächst wird der Apostel befreit, aber dann begibt er sich in einen neuen Dienst, den er selbst nur als Sklavesein bezeichnen kann. So ergeht es auch jedem Christen bei der Taufe nach Röm 6: Er lebt unter der Sklaverei der Sünde, stirbt mit dieser Verfasstheit in der Taufe mit Christus und wird so von jener Sklaverei befreit. Es ist wie auf dem Sklavenmarkt: Frei ist der Sklave nur in der Sekunde des Übergangs zu einem neuen Besitzer. Der den Sklaven freigekauft hat, Jesus Christus, ist jetzt sein neuer Herr. Dies bedeutet – im Gegensatz zur Sünde – jetzt Gerechtigkeit, was die Auswirkungen betrifft. Beim Aposteldienst ist es ganz dasselbe: Paulus ist »frei von allen Dingen«, nämlich vom Zwang, Geld zu verdienen, oder vom Zwang, seitens der Gemeinde etwas annehmen zu müssen oder auch nicht. Aber diese Freiheit ist sehr konkret allerdings nur die Kehrseite einer neuen Sklaverei. Denn der Apostel hat sich zum Sklaven aller gemacht, um alle zu gewinnen. Paulus geht davon aus, dass man durch sklavenartiges Dienen Menschen gewinnen kann. Es ist ziemlich wichtig zu fragen, was Paulus hier meint, um nicht in die Irre zu gehen. Kann man durch Nachlaufen Menschen gewinnen? Der paulinische Grundsatz »Ich bin allen alles geworden« ist auch heute noch kritisch zu diskutieren. Haben pauluskritische Überlieferungen in der Alten Kirche ihn richtig verstanden, nach denen Paulus anbetend und opfernd in einem Götzentempel gesehen wurde? So sieht es die karschunische PetrusApk. Aber das dürfte blanke Verhöhnung des Apostels Paulus sein, der es mit seinem kritischen Grundsatz nicht leicht hatte. Paulus meint ja damit nicht die Anpassung der Wahrheit an das jeweilige Publikum, sondern er selbst, der Apostel, ist »allen alles geworden«. Paulus meint damit den pädagogischen Grundsatz der Antike, nach dem ein Lehrer seinen Hörerinnen und Hörern das auch vorleben musste, was er lehrte. Der Lehrer sollte nicht neutrales Wissen übermitteln und sich persönlich ganz daraus zurückziehen. Vielmehr war sein Privatleben für seine Lehre höchst wichtig. Es gab daher zur Zeit des Paulus und schon seit Sokrates das Prinzip des »gläsernen Lehrers«. Auch Jesus wen-
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Kapitel 9
det genau dieses Ideal in seiner Lehre an, und im Blick auf die Schüler nennt man das Nachfolge. Nachfolge und Nachahmen sind die Weisen zu lernen, ja die Art, in der Wahrheit überhaupt erfasst und angeeignet wird. Dieser Ansatz ist so gravierend, dass das ganze biblische Wahrheitsverständnis davon bestimmt wird. So kann Jesus nach Matthäus sagen: »Kommt und lernt von mir, denn ich bin sanft und demütig von Herzen« (Mt 11,29). Er sagt nicht: »Ich bin klug«, sondern bei ihm lernt man die Lebensform von Sanftmut und Demut. Nach Johannes 14,6 sagt er: »Ich bin die Wahrheit«, denn hier lernt man Jesus selbst. Auch Paulus sagt: Ahmt mich nach, so wie ich den Herrn nachahme. Für ihn bedeutet das: Wenn er es mit Juden zu tun hat, die er zu Christen machen will, dann folgt er der jüdischen Lebensweise. Das gilt für ihn besonders hinsichtlich der Speisegesetze (kein Blut; koscheres Fleisch und koschere Getränke; Waschung vor dem Essen, jüdisches Tischgebet) und des Sabbatgebots. Paulus kann Juden nur gewinnen und fürs Christsein gewinnen, wenn er jüdische Erwählung, Schrift und Beschneidung bewahrt, er muss im Ganzen jüdisch leben. Wenn man den Juden Jesus als ihren Messias nahe bringen wollte, konnte man nicht mit der Zerstörung jüdischer Lebenspraxis anfangen. Denn Jesus war nicht irgendein Sohn irgendeines Gottes, sondern der Sohn des Schöpfers und Gesetzgebers, des Gottes Abrahams, Isaaks und Jakobs. Noch laut Apg 21 hat Paulus in der Urgemeinde in Jerusalem einer Gruppe von christlichen Nasiräern mit den Geldern seiner Kollekte den Abschluss ihres Nasiräats (Tieropfer, Haarescheren) bezahlt und dabei selbst den Vorschriften für Juden Genüge getan. Paulus hielt Rituale selbst für neutral, und selbst die Beschneidung konnte für ihn (bei Judenchristen) zum sinnvollen Zeichen erlangter Annahme durch Gott werden (Röm 4,12). Anders und viel dramatischer war es mit der Annahme heidnischen Lebensstils im Zusammenhang der Heidenmission durch den Apostel. Daran nahmen besonders orthodoxe Juden äußersten Anstoß, und diese Lebenspraxis hat Paulus letztlich das Leben gekostet. Denn von strenggläubigen Juden aus der römischen Provinz Kleinasien wurde er mehrfach denunziert, und diese wollten Paulus zusätzlich auch zwingen, seine Heidenchristen zuvor be-
597 schneiden zu lassen. Christliche Mission sollte eine Einwerbung jüdischer Proselyten sein, nicht weniger. Hätten diese Juden mit ihrer Auffassung sich durchgesetzt, so wäre das Christentum eine jüdische Splittergruppe geblieben. Dem biografischen Drahtseilakt des Paulus ist es zu verdanken, dass das Christentum überhaupt Heiden vermittelt werden konnte, und dass diese dabei Vollmitglieder in der jungen Kirche wurden. Paulus hat sein Leben dafür lassen müssen. Denn den Juden galt er als abgefallener Jude. Und wer vom Judentum abfällt, leugnet und lästert Gott. Daher ist er des Todes schuldig, ähnlich wie Jesus und Stephanus. Zu 1 Kor 9,20f: Apg 21 belegt, dass Paulus in der Tat auch als frommer Jude leben konnte. Der im Bedarfsfall (!) multireligiöse Lebensstil des Apostels setzt voraus, dass zugunsten des Höchstwertes – Menschen für Jesus Christus zu gewinnen – alle übrigen Werte »indifferenziert« worden sind. Paulus formuliert das nicht nur für Werte (Beschneidung – Unbeschnittensein; vgl. 1 Kor 7,19), sondern auch für »Völker«, Status, Geschlechter und Kulturen (Gal 3,28; 1 Kor 12,13; Kol 3,11). Das bedeutet nicht, dass sie »egal« sind, sondern sagt nur etwas über den Abstand zwischen Gott und Schöpfung. Nur wer die Schöpfung ernst nimmt, kann auch Gottes Souveränität ihr gegenüber richtig einschätzen. Zur Argumentation in Kapitel 10 Die Argumentation in Kap. 10 setzt zweierlei voraus: Einmal, dass der Verzicht der Christen auf GF allgemein bekannt ist. Natürlich ist das im Kern ein Problem von Christen und Juden, genauer gesagt, eine Regel des Aposteldekrets. Zur allgemeinen Bekanntheit trugen sicher bei das Verhalten bei Einladungen und Probleme mit den Metzgern. Zum anderen sagt Paulus aus diesem Anlass (!) in 10,1-14 sehr ausführlich, dass das leichtfertige Verzehren von GF eine wirkliche und ernsthafte Versuchung ist, also eine klassische Gelegenheit des (Wieder-)Abfallens zum Heidentum. Was steckt hinter der langwierigen und gründlichen Argumentation in 10,1-14?
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598 Der Bezug zum Götzendienst wird durch 10,20 hergestellt. Das Essen von GF ist Teil des Götzendienstes. Aber in 10,8f geht es um »Unzucht«, in 10,9f um Zweifel und Klage-Mentalität. Zitiert Paulus also eine feste Beispielreihe? Die hätte dann folgende Elemente: Götzendienst, Unzucht, Zweifel, Klage.
1 Kor 10,1-6.10-12: Beispiele aus der Geschichte Im Alten Testament, in der Geschichte des Gottesvolkes, gibt es Ungehorsam, Scheitern und Bestrafung. Paulus zieht für seine Leser daraus die Konsequenz: Die Schrift will uns damit warnen. Denn es könnte uns jetzt, am Ende der Zeiten, noch ärger ergehen, wenn wir nicht hören wollen (10,11). – Eine ähnliche Denkform finden wir öfter im Hebräerbrief. Zum Beispiel in Hebr 12,25: »Seht zu, dass ihr Gott nicht abweist, der hier redet: Wenn schon damals die Menschen auf Erden der Strafe dessen nicht entkommen konnten, der ihnen die Offenbarung zuteil werden ließ, um wie viel weniger können wir jetzt der Strafe entkommen, wenn wir uns von dem abwenden, der vom Himmel her redet.« – Damit ist der Abschnitt in 1 Kor 10 aber nicht unpaulinisch, sondern die Ähnlichkeit mit Hebr bestätigt nur die Verwandtschaft zwischen beiden. – Fazit: Die Geschichte zeigt, dass Gott bereits gestraft hat. Jetzt aber, am Ende, ist die Situation noch ernster, und daher wird eine Strafe kaum ausbleiben. Denn in der Endzeit ist alles endgültig, beide Seiten, Gott und auch das Böse, zeigen ihr Äußerstes. Noch einen weiteren Gedanken hält man für unpaulinisch: Dass der Felsen, der Israel auf seinem Weg durch die Wüste begleitete, Christus war, nimmt Paulus an und versucht, es exegetisch zu beweisen. Paulus kann so denken, weil auch bereits die Welt durch Christus erschaffen wurde (1 Kor 8,6). Man nennt es die Präexistenz Christi. Für heutige Maßstäbe und Denkgewohnheiten ist das eine so abenteuerlich wie das andere. Doch der Exeget sollte den Apostel nicht kaltschnäuzig wegräumen, sondern ihn liebevoll verständlich machen. Bei dem Fels, der Christus war, geht es in der Vorlage zunächst um die rabbinische Auffassung vom wunderbar wandernden Felsen. Erst Paulus setzt dieses wunderbare Phä-
Der erste Brief an die Korinther
nomen mit Christus gleich. Aber üblicherweise ruhen Felsen fest am Ort. Nur ist für die rabbinische Auslegung gerade der Exodus, der Auszug aus Ägypten, durch eine Fülle zusätzlicher Gnadenerweise ausgezeichnet. In Num 21,18 heißt es im so genannten Brunnenlied: »Du Brunnen, von Fürsten gegraben, gebohrt von den Edlen des Volkes mit dem Szepter, mit ihren Stäben – und aus der Wüste nach Mattana.« Weil in dem Nachsatz das Verb fehlt, konnte man schließen, der Brunnen sei von der Wüste nach Mattana gewandert. Gemeint war freilich ein Punkt hinter »Stäben«, und dann muss es sinngemäß weitergehen: Aus der Wüste zogen sie nach Mattana, – aber das steht eben nicht da. Und weiter die Rabbinen: Verständlich wird so V. 16 (Gott befiehlt Mose plötzlich, dem Volk zu trinken zu geben) und die Tatsache, dass in V. 17 ein Loblied angestimmt wird. Das tut man doch nicht bei beliebiger Gelegenheit. Die Fürsten werden dann auf die Erzväter bezogen. Dabei wandert der Brunnen in Gestalt eines durchlöcherten Felsens mit dem Volk. Manche Rabbinen denken an eine Art Sieb. Und dann sagte man: Der Brunnen war immer schon bei ihnen, seit dem Beginn des 40-jährigen Wüstenzugs. Der jüdische Philosoph Philo von Alexandrien meint, die Stelle müsse allegorisch gedeutet werden, da sie wörtlich gelesen unstimmig sei, und dieser Felsen sei die präexistente Weisheit Gottes gewesen. In den Texten von Qumran wird der Brunnen ähnlich auf das Gesetz gedeutet. Am nächsten kommt Paulus Philo von Alexandrien. Auch sonst beansprucht Paulus ja für Christus Attribute der präexistenten Weisheit, so in der Schöpfungsaussage 1 Kor 8,6, und in 1 Kor 1,24 nennt Paulus Jesus Christus ausdrücklich »Weisheit Gottes«. Hier und auch an anderen Stellen ist 1 Kor daher ein Dokument früher paulinischer Weisheitschristologie. Entscheidend ist dabei der Gedanke der Präexistenz. Das heißt: Der eine und einzige Gott zeigt sich gegenüber der Welt auch schon vor Christus als Logos oder Weisheit. Die Menschwerdung stand noch aus, liegt aber in der Ziellinie dieser Repräsentation Gottes gegenüber der »Welt«. Sie wird in Jesus Christus und in der Sendung des Heiligen Geistes auf überraschende und überaus menschliche Weise liebevoll von Gott beendet. Eine weitere merkwürdige Vorstellung bietet
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Kapitel 10
Paulus hier: Er deutet den Durchzug durch das Rote Meer, den Auszug aus Ägypten unter Mose, als Taufe, und zwar »auf den Namen des Mose«. Dabei wurde doch beim Durchzug durch das Rote Meer kein Jude nass. War das nicht gerade der Unterschied zur Taufe? Und das »auf den Namen des Mose« scheint eine Nachbildung zur Taufe »auf den Namen Jesu« zu sein. Warum dieses verunglückte (?) Bild? Immerhin war es im Alten Testament keine Taufe »auf den Namen Gottes«, sondern auf den des prophetischen Mittlers. Die Juden wurden laut Paulus getauft »in der Wolke und im Meer«. Da Paulus die Wolke einbezieht, ist Wasser hier offenbar nicht das Thema. Es hilft auch nicht die rabbinische Erklärung, das Meer sei wie ein Tunnel gewesen; denn die Taufe ist kein Tunnel, sondern macht nass. Nein, entscheidend ist der Vergleichspunkt des Schutzes. Wolke und Weg (durch das Meer) bieten Schutz vor den Feinden; vgl. Ps 105(104),39: die Wolke als Schutz für sie; Justin, Dial 131,6: Wolke zum Schutz vor Hitze; Weish 19,6f: beschützt … Wolke. Dabei hat die Juden der Name des Mose wie der eines Patrons beschützt. Denn der Name, »auf den« man getauft wird, nennt den Beschützer, dem man zueigen gegeben wird. Eigentum aber verpflichtet. Wenn das zutrifft – und mir scheint es bei der Fülle der Deutungsversuche und des Materials das Plausibelste –, dann hat es Folgen für das paulinische Verständnis von Taufe, jedenfalls gegenüber der Gemeinde von Korinth. Diese Eingrenzung ist notwendig, denn etwa in Röm 6 betont Paulus ganz andere Aspekte des Taufsakraments. – Das frühe »Taufen auf den Namen« (sc. Jesu) versteht Paulus als Übereignung des Täuflings an den Patron, den Anwalt oder an die Schutzmacht, die Böses abwehrt. Die Taufe mit Heiligem Geist nennt Paulus auch (1 Kor 12,13) und unterscheidet sie deutlich von der Taufe auf den Namen Jesu. Anachronistisch ausgedrückt könnte man sagen: Geisttaufe und Taufe auf den Namen Jesu verhalten sich bei Paulus etwa wie Firmung und Taufe. In 1 Kor hält Paulus dabei die Geisttaufe, also die »Firmung« für wichtiger als die Wassertaufe; daher kann er in 1,15f stolz sagen, er habe (mit Wasser auf den Namen Jesu) nur das Haus des Stephanas getauft; im gleichen Brief setzt er aber in 12,3 voraus, dass alle mit Heiligen Geist getauft (»gefirmt«) sind. Wie auch immer – die Wassertaufe auf Jesu
599 Namen versteht Paulus als umfassenden Schutz. In diesem Sinne ist die Taufe auf den Namen des Mose ein »Vorbild« für die christliche Taufe: Durch ein »materielles Phänomen« (Wolke, Weg durchs Meer, Taufwasser) rettet Gott mit Rücksicht auf einen starken prophetischen Patron (Mose, Jesus) die Mitglieder seines Volkes nach sakramentaler Übereignung. Im Übrigen kommt man in der Frage der Taufe auf Mose weiter im Blick auf Gal 3,19 f.27. Denn dort geht es (s. zu der angegebenen Stelle) um eine verkappte Mose-/Christus-Typologie. Auf Mose getauft werden«, heißt im Blick auf die genannten Stellen aus Gal 3: Alle werden durch den einen Mittler der einen Offenbarung teilhaftig. So kennen Christen das von der Taufe. Von dorther sollen die Korinther sich nun die Mose-Offenbarung erklären können.
Paulus möchte übrigens mit seinen etwas komplizierten Bildern den Korinthern nur deutlich machen, dass auch schon früher Gott dem Volk vergleichbare Wohltaten erwiesen hat, doch leider hat das Volk nicht entsprechend reagiert. Durch das abschreckende Beispiel Israels möchte Paulus die Korinther ermahnen, auf die Wohltaten Gottes zu reagieren und das sich darin äußernde Wohlwollen Gottes nicht zu verspielen. Die in V. 8 erwähnte Sexgier nach Num 25,1.9 hat im Frühjudentum zu phantasievollen Ausgestaltungen Anlass gegeben, die die Leser nur irritieren konnten; denn es handelt sich um die bekannte Kombination von Sexgier mit Götzendienst. Hier ist die schon im Alten Testament berichtete Strafe (23.000 Tote) so erheblich, dass auch Paulus sie gerne zitiert; er fügt verschärfend hinzu, diese Zahl sei »an einem Tag« umgekommen. Es ist umstritten, ob das hier genannte Übermaß des Vergehens für Korinth Bedeutung hatte. Prostitution erörtert Paulus in 1 Kor 6; von Götzendienst erwähnt er in dem Zusammenhang nichts. Das holt er hier nach: »Betet keine falschen Götter an« mahnt er zu Beginn von V. 7. Andererseits ist das Vergehen mit dem Moabiterinnen von Num 25 das letzte von Paulus genannte, abschreckende Beispiel, und es ist auch das drastischste. Ist es also die alte Kombination von Prostitution plus Götzendienst – oder ist es fallweise nur je eines von beiden? Oder erwähnt Paulus das Ganze nur, um zu warnen: Seid euch nicht zu sicher!
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600 Die alttestamentlichen Bilder sind in entscheidenden Zügen dank der rabbinischen Auslegung von Paulus christologisch stark eingefärbt. Ja, sagt Paulus, es gab dort schon eine Taufe, und die Israeliten hatten es schon mit Christus, dem Felsen, zu tun. Paulus nimmt diese Einfärbung vor, damit die Korinther diese Geschichten aus dem fernen Alten Israel nicht als »zu verschieden nach Raum, Zeit und Leuten« abweisen. Paulus will anhand von negativen Beispielen warnen: Wer daher meint, fest auf seinen Beinen zu stehen, sehe zu, dass er nicht auf die Nase fällt« (V. 12 nach der Übers. von Berger/Nord). Zur Argumentation in 10,14-33 Plötzlich warnt Paulus in 10,14 vor dem Götzendienst. Das Thema kommt zwar von Num 11 und 14 her, und in 10,8 ist auch die Brücke zwischen Götzendienst und »Unzucht« geschlagen worden. Aber war das das Problem der Korinther? Indirekt sehr wohl: Paulus geht nochmals auf das Thema GF ein. Er wagt es bei diesem Anlauf, das christliche Abendmahl, die Eucharistiefeier, mit dem Essen von GF zu vergleichen. Denn beim GF wie bei der Eucharistie geht es um Gemeinschaft mit Gott oder Göttern bzw. Dämonen durch sakral ausgerichtetes Essen. Wie man durch die Eucharistie Anteil gewinnt an Jesus Christus, so durch das Essen von GF an den Götzen bzw. Dämonen. Paulus kommt hier offensichtlich dem Standpunkt der Schwachen weiter entgegen als in Kap. 8. Denn er verlangt von den Starken auch mehr. Sollen sie doch nicht nur gegenüber den Schwachen Rücksicht nehmen (Kap. 8). Vielmehr erwartet Paulus jetzt von ihnen, dass sie mit Enthaltung von Fleischmahlzeiten gegenüber allen reagieren, die daraus einen Bekenntnisfall machen, also gerade gegenüber Heiden, die sagen: Dieses Fleisch ist doch den Göttern heilig. Und Paulus macht die Logik verständlich, die diesen Hinweis so prekär erscheinen lassen könnte: Nach 10,17-22 ist es dieselbe Logik, die die Christen bei der Eucharistiefeier leitet. Nach dieser Logik geht es eben um ein Entweder/Oder. Meint Paulus wirklich, dass derjenige, der GF isst, am Tisch der Dämonen Anteil hat? Dafür spricht: Die Anteilhabe am Herrn ist doch auch Realität. Und: Die Götter der Heiden sind in Wahrheit Dämonen; das ist insbesondere für Juden gut be-
Der erste Brief an die Korinther
greiflich. Dagegen spricht: Was ist dann mit den Starken, denen Paulus zubilligt, dass sie GF essen dürfen – ausgenommen, dass jemand Anstoß nimmt (Kap. 8) oder nachfragt (Kap. 10). Das Problem, das Paulus sieht, ist also ein sozialpsychologisches, nicht ein ontologisches, was das GF betrifft. Ansonsten dürfen die Starken aber essen. Nur – kommen sie dann nicht mit den Dämonen in Konflikt? Es ist zu hoffen, dass die Dämonen ihnen nicht schaden; aber besser wäre es dann doch, die Gefahr überhaupt zu meiden. Oder schaden die Dämonen nur dem, der »an sie glaubt«? Ein solches Maß an Subjektivismus kann ich Paulus nicht zutrauen.
1 Kor 10,16f: Eucharistie und Götzenopferfleisch Nach dem paulinischen Kontext geht es hier um die Analogie zwischen Eucharistie und Essen des GF. Durch das eine wie durch das andere bekommen Menschen Anteil an der göttlichen, bzw. dämonischen Wirklichkeit. Denn durch das Essen kommt in den Menschen etwas so intensiv hinein, wie sonst nicht und auf keinerlei Weise. Vergleichbar ist höchstens das Atemholen, aber der Atem wird gleich wieder ausgestoßen. 10,16f ist gleichzeitig Voraussetzung für die Argumentation in 11,18 ff. Denn darum geht es: Durch die Segensworte über dem Becher und das Trinken wird aktuelle Gemeinschaft hergestellt mit dem Blut Jesu Christi, in erster Linie auch mit dem, was durch das vergossene Blut bewirkt wurde, d. h. mit dem für die Christen heilvollen Blut des Lammes (5,7). Dabei ist vorausgesetzt, dass die Segensworte über dem Becher christologischen Inhalt haben. Und durch die (gleichfalls christologischen) Segensworte über dem Brot, das verteilt und gegessen wird, wird die Beziehung der Gemeinde zu Jesus Christus, zu seinem Leib, d. h. zu dem ganzen Menschen und zum Gottessohn, erneuert. 10,17 liefert für die These von 10,16 zwei Begründungen. Obwohl hier nur von dem »einen Brot« (und nicht von dem einen Kelch) die Rede ist, geht es um das ganze Mahl mit Brot und Wein. Entscheidend ist die Spannung zwischen dem einen (Brot, Becher) und den vielen (allen Anwesenden). Denn indem jeweils alle das eine genießen, wird die Gemeinschaft aktualisiert
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Kapitel 10
und sinnfällig. Durch die Taufe sind die Christen ja schon in den Leib Christi hineingetauft (12,13), aber bei der Taufe ist von der verwirklichten, aktualisierten Gemeinschaft (griech.: koinonia) nicht die Rede. In der Eucharistie wird diese Zugehörigkeit zu lebendiger Gemeinschaft aktualisiert. Der springende Punkt ist, dass alle das eine essen bzw. trinken. Das macht im sichtbaren Vollzug deutlich, dass diese Gemeinschaft keine zufällige Ansammlung von Menschen ist, sondern sich von dem einen Jesus Christus her konstituiert. Das ist aber nur der sichtbare Teil. Der unsichtbare Teil besteht darin, dass die Gemeinschaft mit dem Leib Christi sich als Gemeinschaft des einen Leibes darstellt. Der Leib ist bei Paulus stets Kontaktorgan zu anderen. So kann es sein, dass die Gemeinde im Segnen und Essen an Jesu Leib teilhat und dadurch neu ein (aktualisierter, lebendiger) Leib wird. Das Essen des gesegneten (konsekrierten) Brotes ist die Weise, in der sich das Leib-Sein der Gemeinde verwirklicht. So gilt: Durch die Teilhabe an dem einen Leib Jesu Christi im Essen des Brotes (und im Trinken des Kelches) werden die vielen ein Leib, nämlich der Leib Christi. Oder ist das Ganze nur metaphorisch zu verstehen? Die Leibmetapher wird ja auch für Staaten und Völker verwendet. Dann sagt man, wie in der Fabel des Menenius Agrippa bei Livius: Das römische Volk ist wie ein Leib. Denn es hat viele Glieder und wird von einem Teil her ernährt usw. Dann geht es – wie bei Metaphern – nur um einen oder mehrere Vergleichspunkte (tertium comparationis). Doch das ist in 1 Kor 10 nicht der Fall. Denn hier wird nicht die Gemeinde mit einem Leib verglichen, sondern sie wird durch das Essen des Brotes, das die Gemeinschaft mit Jesus bedeutet, zu dem einen Leib. Daher die Begründungen mit »denn« in 10,17. Oder umgekehrt gefragt: In welchem Sinne geht es hier um Realpräsenz, um wirkliche Gegenwart Jesu Christi durch das Brot? Nun ist Realpräsenz ein späterer (lateinischer!) Begriff, und daher ist die Frage hier vielleicht etwas anachronistisch. Es käme also darauf an, nach etwas zu suchen, das dem in der theologischen Gedankenwelt und in der möglichen Praxis der Gemeinde von Korinth etwa entspricht. Dazu hier folgende erste Überlegungen: 1. »Leib Christi« (V. 16) und »ein Leib« (V. 17)
601 verhalten sich keineswegs nur bildlich zueinander wie etwa Urbild und Abbild, sondern eher wie Pflanze und Knospe, wie Mutterkartoffel und das Netz der Tochterkartoffeln. Denn es geht nicht um Ähnlichkeit, sondern um Realität der Anteilhabe. – 2. Der Leib Christi bewirkt also etwas. Er transportiert sich so, und zwar durch das eine Brot. Das Brot bekommt diese Qualität als das im Sinne Jesu (vgl. 11,24f) konsekrierte. – 3. Das, was transportiert wird, ist Jesus Christus selbst. Denn so nur bewirkt sein Leib-Sein das Leib-Sein der Gemeinde. Diese Wirkung geschieht keineswegs ohne das Brot, sondern in, mit und unter dem Segnen und Essen des Brotes. Daher kann man sagen: Mit dem gesegneten Brot essen die Christen den Leib Christi, in den sie aktuell verwandelt werden. Denn ihre Anteilhabe an Jesus Christus ist keineswegs nur gedanklich oder »rein geistig«. – 4. Das Ganze ist keine Zauberei, sondern ebenso real wie auch gleichzeitig symbolisch, aber nicht nur symbolisch. Das Ganze ist auch sehr dynamisch; (und die spätere anbetende Verehrung des Herrn in der Hostie kann man auffassen als ein Innehalten auf dem Weg zwischen Konsekration und Verzehr, wie schon Augustinus sagt: »Ich esse den, den ich zuvor angebetet habe«). Das Ganze ist gebunden an den Willen Jesu (vgl. 11,24f) und an den Segen (Konsekration). Zu 1 Kor 10,20: Vgl. Plutarch, Tischreden VII,4,7: »dass der Tisch den Göttern heilig sei und nichts Heiliges leer sein dürfe«. Zu 1 Kor 10,29: Warum spricht Paulus hier vom Gewissen der Heiden – und nicht nur von (vielleicht sogar ironisch gemeinten) Anfragen? Nimmt Paulus damit das Gewissen der Heiden zu ernst? Es geht Paulus sicher nicht um die heidnischen Anfragen, wohl aber um das missionarische Erscheinungsbild der Christengemeinde in den Augen anderer. Und wenn ein Christ anderes praktiziert, als was man von einem grundsatztreuen Christenmenschen erwartet, dann weckt das Irritationen. Dann erweckt die Gemeinde den Eindruck des Gespaltenseins (vgl. 11,18) nach dem Motto: Differenz zwischen Reden und Handeln – oder: Die einen denken es so, andere dagegen halten Polytheis-
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602 mus und GF für »gar nicht so schlimm«. Paulus weiß ganz genau, dass dieses Gespaltensein beim Einzelnen wie in der Gruppe der schlechteste Eindruck ist, den Christen hinterlassen können. Damit hat er im Blick auf die Geschichte des Christentums völlig Recht. – Vom Gewissen der Heiden spricht Paulus, weil die durch das Handeln der Christen entstehende Irritation bei den Heiden durchaus Züge eines Gewissenskonfliktes hat, wie es oben zu 8,7 dargestellt wurde. Denn es ist der interne Streit zwischen Verhalten (hier: der anderen) und Normen (von denen man glaubte, die anderen hielten sich daran). Das Gewissen im Verständnis des Apostels wird hier aktiviert, da es bei jeder Diskrepanz zwischen Normen und Verhalten auf den Plan gerufen wird – seien es nun eigene Normen und eigenes Verhalten (wie in 8,7), seien es fremde Normen und fremdes Verhalten. Das Gewissen wird dann »für die anderen« tätig. Die rhetorische Frage in 10,29b-30 ist so zu verstehen: Wenn ein Christ auf die Gewissensbisse (Konstatierung widersprüchlichen Verhaltens beim Christen) der anderen hin seine eigene Freiheit einschränkt (und GF nicht isst), dann ordnet er sich dem anderen unter. So entsteht die Frage: Warum tut Paulus das, warum fordert er dazu auf? Oder noch schärfer gefragt: Als Christ hat Paulus doch an der Gnade Anteil. Aus der Gnade rührt seine Freiheit, GF zu essen. Dafür kann er dankbar sein (für die Freiheit und für das, was es zu essen gibt, denn das ist Gottes Geschenk). Wenn aber jemand Anstoß nimmt an seinem Verhalten oder ihm Inkonsequenz bescheinigt, dann wird Paulus attackiert (gelästert) wegen einer Freiheit, die doch von Gott geschenkte Gnade ist. – Die Antwort gibt Paulus in 10,31–11,1: Der Maßstab ist nicht die mir geschenkte Gnade, nicht meine Freiheit – sondern die Ehre Gottes. Also dass kein Anstoß erregt wird, dass Paulus »allen Menschen in allem gefallen« kann und damit das Heil aller sucht, aber eben nicht nur das, was ihm persönlich als recht erscheint. So gewinnt 10,23 Gewicht: Der Gebrauch der Freiheit ist radikal dem missionarischen Ziel untergeordnet. Paulus hält sich damit nur an den in 9,22 formulierten Grundsatz: Allen alles werden, um auf jeden Fall einige zu retten. Ist das nicht problematisch und wenig grundsatztreu? Meint Paulus ein missionarisches Sich-An-
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biedern? Denn wie soll man »allen gefallen«? Nach dem Zusammenhang gefällt man allen offenbar dann und nur dann, wenn man grundsatztreu ist, sodass für das Bild nach außen hin keine Widersprüche zwischen Grundsätzen und Verhalten, zwischen Normen der Gemeinde und Praxis des Einzelnen entstehen. Das ist hier der übergeordnete Maßstab! Wenn das »stimmig« ist, dann wird der Vertreter des Christentums auch ohne Anstößigkeit und Irritationen Missionar seines Glaubens sein können.
1 Kor 10,31 – 11,1: Herrlichkeitstheologie In 10,31 bietet Paulus wieder eine typische Indifferenzformel: Gegenüber dem Gebot Gottes, dem Gläubigwerden und Christus-Anziehen, der Taufe, war das bereits erklärt worden. Es galt für menschliches Tun und menschliche Kulturen, hier gegenüber unterschiedlichen Grundhandlungen des Menschen. Daher ist auch nicht verwunderlich, dass in 10,32 dann sogleich Juden, Griechen und die »Kirche Gottes« genannt werden. Der Höchstwert ist hier die Ehre Gottes und die Rettung der Menschen. – In V. 32 erscheint die »Kirche Gottes« als dritte Größe neben Juden und Griechen. Das »dritte Geschlecht« wird hier zum ersten Mal genannt. Die knappen Sätze dieser Lesung sind eine Art »Summe« der Ethik des Apostels. Auffallend: Es sind nicht Einzelvorschriften und Gebote. Es ist etwas ganz anderes: Personen als Orientierungspunkte im Miteinander: Gott, die Angeredeten, die Mitchristen (»Kirche«), Juden, Griechen. Der Maßstab dieser Ethik ist zweifellos ästhetisch: Gottes Herrlichkeit. Gott ist herrlich, und Gott verherrlichen ist nichts anderes, als dieser Herrlichkeit zu entsprechen. Und daraus folgt, in Kontakt mit Gott zu treten und auf diese Weise selbst Anteil zu gewinnen an seiner Herrlichkeit. Es ist gerade diese ästhetische wie soziale Mehrfach-Bedeutung des biblischen Begriffs Herrlichkeit, die weiterführt. Denn das Wort (griech.) doxa hat erkennbar eine zugleich ästhetische und soziale Komponente. Bei der ästhetischen Komponente des Wortes steht das hebräische Wort kabod Pate, und sein Bedeutungsgehalt wird in der griechischen Bibel auf das griechische Wort doxa übertragen, das diese Bedeu-
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tung »Lichtglanz« zuvor nicht hatte. kabod aber bedeutet Lichtglanz, heller, strahlender Schein. In diesem Sinne bedeutet das Wort auch »Herrlichkeit«. Nicht nur die Himmelskörper, sondern auch alles Feuer auf Erden ist in seinem hellen Glanz ein Abbild der himmlischen Herrlichkeit. Denn der Thron des biblischen Gottes wird im Himmel vorgestellt, in einem lichtdurchfluteten Bereich – und eben nicht in der (dunklen) Unterwelt. Im Übrigen gibt es genug Hinweise darauf, dass die Herrlichkeit Gottes, die die Menschen schon erreicht hat, mit leiblichen Augen nicht zu sehen ist. Sie macht einen Status aus, der gleichwohl durch Autopsie nicht zu erweisen ist. Dazu gehört Röm 8,30, wo Paulus sagen kann, die Christen seien nicht nur berufen und geheiligt, sondern auch verherrlicht. In 2 Kor 3,18 beschreibt er den Weg der Christen als Verwandeltwerden: »hinein in immer mehr Herrlichkeit. Die Grundlage ist mit 2 Kor 4,2f gelegt: Gottes Herrlichkeit erstrahlt auf dem Antlitz Jesu Christi, und dieses leuchtet in die Herzen der Glaubenden hinein. Das Ganze meint die Erschaffung des Lichtes. Die Bibel spricht daher vom Lichtglanz Gottes, an dem nicht nur seine Engel teilhaben. Vielmehr kann der Gesamtvorgang der Erlösung so beschrieben werden, dass der Mensch mit Gottes Licht überkleidet und durch dieses Licht verwandelt wird. Auch die Heiligkeit von Gottes Tempel und Thron wird durch Bilder des Lichts beschrieben. Der Mensch, der an Gottes Unsterblichkeit Anteil hat, ist »mit seiner Herrlichkeit angetan«. Nun kennen wir diese Anschauungen zwar aus der Lektüre der Bibel, bemerken aber in der Regel die Konsequenzen nicht: Selbst im unsichtbaren Bereich der Wirklichkeit Gottes »denkt« die Bibel extrovertiert: Offenbarung geschieht wesentlich am Äußeren des Menschen, er wird leiblich verwandelt. So wird er auch die Vollendung »schauen«. Damit tendiert die biblische ethische Ästhetik in doppelter Hinsicht auf Anteilhabe hin: – Der Leib wird durch Anteilhabe an Gottes Herrlichkeit verwandelt und vollendet. – Durch das Schauen, also durch ästhetische Wahrnehmung, werden alle Christen selig. Was das bedeutet, lässt sich am besten durch Analyse des Gegenteils verdeutlichen. Denn das
603 Gegenteil zu biblischer Herrlichkeitstheologie ist das Meiste, was in der heutigen so genannten Seelsorge (man beachte schon das Wort!) betrieben wird. Es äußert sich: – in der anti-ästhetischen Depressivität der psychologisierten Seelsorge, – in der Moralisierung der gesamten Verkündigung (inklusive Betonung des Wollens und einer neuprotestantischen Sündentheologie), – in der noch immer betriebenen Entmythologisierung, indem biblische Erzählungen auf ihren nackten Kern hin entblättert werden, was in jedem Falle Verlust von Charme und Gestalt der biblischen Erzählung bedeutet. Das Missverhältnis zwischen Theologie und Ästhetik äußert sich darin, dass man das »Schauen« der Heilsvollendung wie auch sonst jedes Sehen für »griechisch« hält (das Hören und das Wort dagegen für jüdisch) und folglich das Schauen gegen das Betroffensein ausspielt. Die soziale Seite: doxa bedeutet in derselben Sprache der Juden und Christen aber auch das Ansehen, das man voreinander hat bzw. dem anderen zollt. Seine Brisanz erhält dieses Thema dadurch, dass mit diesem Aspekt nichts anderes als die »Würde« des Menschen gemeint ist. Besonders anhand der zu Unecht Leidenden und entsprechend Verachteten wird deutlich: Die biblische Rede von Herrlichkeit lebt aus der Spannung zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem. Der Grundsatz »Ehre, wem Ehre gebührt« gilt bis heute für soziale Anerkennung wie Anerkennung Gottes. Er renkt alle Dinge wieder ein. Genau aus dem Grund bedeutet Gott zu ehren auch Friede unter den Menschen. Gott die ihm geschuldete Ehre zu geben, ist der Beginn der Neuordnung der Welt im Sinne Gottes, und deshalb der Beginn des Friedens. Gott zu ehren, heilt deshalb die Beziehungen unter Menschen. So bedeutet »Gott die Herrlichkeit geben« dasselbe wie »Gott die Ehre geben«, und das ist: ihn anerkennen. Glanz/Ehre ist grundsätzlich ein Begriff sozialer Reziprozität. Herrlichkeit zu besitzen, macht nicht glücklich. Sondern selig sind Menschen, wenn sie die Herrlichkeit Gottes anschauen dürfen und so daran teilhaben. Im Unterschied zur griechischen Auffassung über die Götter ist daher auch nicht Gott an und für sich in seiner Existenz selig, sondern die Menschen sind es,
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604 wenn sie Gott anschauen dürfen. »Herrlichkeit/ Ganz/Ehre« hat daher kein Innenleben bei dem, der sie hat, sondern besteht im Verhältnis zum Gegenüber oder gar nicht. Weil es sich bei Herrlichkeit/Schönheit um einen sozialen Begriff handelt, ist auch im Neuen Testament Ehre/Herrlichkeit auf Gottes Volk bezogen (Lk 2; Offb 12; Röm 9,4). Weil Ehre/Herrlichkeit/Schönheit ein soziales Phänomen beschreibt, geht es auch immer wieder um die Rehabilitierung der Märtyrer nach ihrer schändlichen Hinrichtung, so in Lk 24 (Eingehen in seine Herrlichkeit). – Weil Herrlichkeit sozial-kommunikativ ist, bedeutet Sündersein Verlust an Ansehen, Vereinzelung und Einsamkeit. Wenn der Maßstab für unser Handeln die Verherrlichung Gottes ist, dann ist dieses Handeln im Kern missionarisch. Das wäre der missionarische Imperativ: Handle so, dass aufgrund deines Tuns die Menschen um dich herum Christen werden wollen. Daraus ergibt sich hier mühelos der zweite Aspekt: Handelt im Angesicht aller Menschen so, dass sie es verstehen und nachvollziehen können. Das Wort »unanstößig« allein schöpft das Griechische an dieser Stelle nicht aus. Denn bisweilen muss christliches Handeln anstö-
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ßig sein. Paulus meint hier wohl, dass es die Menschen nicht irremachen darf im Glauben, sondern zu diesem hinführt. So bemisst sich auch die erlaubte Anstößigkeit. Was das bedeutet, wird an dem konkreten Fall erkennbar, den Paulus in 1 Kor 8-10 gerade erörtert hat. In der Gemeinde ist Streit zwischen halbgebildeten Aufklärern und teils hoch-, teils ungebildeten »Frommen«. Paulus ermahnt die Aufklärer, nicht die subjektive Gewissensüberzeugung sei das Christliche und das von Gott Geforderte, sondern der Schutz der Gewissensüberzeugung des Bruders oder der Schwester, die sich andernfalls irritiert oder verletzt fühlen könnten. Wenn der Bruder sich dann in der Gemeinde nicht mehr wiederfinden kann, sich an den Rand und zum Verlassen der Gemeinde fast aufgefordert sieht. Dagegen erscheint das Gewissen seit dem 19. Jh. in seiner Bedeutung oft maßlos überzogen. Der dritte Grundsatz ist wiederum deutlich ästhetisch: »Ahmt mich nach, so wie ich Christus nachahme.« Paulus stellt sich nicht als Tugendhelden vor Augen, sondern als Menschen, der sich in Höhen und Tiefen durch Jesus Christus getragen weiß. Sich durch dieses Lebensgefühl der Freude anstecken zu lassen, ist ihm wichtiger, als einzelne Tugenden zu benennen.
1 Kor 11-13: Ordnung in der Gemeinde Zum Aufriss von 1 Kor 11-14 In 11,2 bis 14,40 erörtert Paulus Themen des Gottesdienstes im weiteren Sinne des Wortes, also inklusive Gebet und Prophezeien. Der Abschnitt wird eingerahmt durch Aussagen zur Rolle der Frauen (11,2-16; 14,34-40), überdies durch das Stichwort »prophezeien« (11,4; 14,39). In den beiden Texten über die Rolle der Frauen geht es um deren Schutz und deren Ansehen und Ehre. Denn nach 11,2-16 werden die Frauen durch Verhüllung des Hauptes vor (potentiell gefährlichen) Engeln geschützt, und wenn Frauen lange Haare tragen, ist das schicklich (11,15). – In 14,34-40 schützt Paulus Frauen, die Fragen stellen wollen, vor dem öffentlichen Gestöhne, das nur auf ihre Kosten ginge und wenig sachdienlich wäre, und schreibt vor, der Ort der Fragen sei das Haus. Ich kann in beiden Texten auch nicht die leiseste Diskriminierung sehen, es sei
denn, man übertrüge sie 1:1 in die Gegenwart, ohne sich um die Begründungen zu kümmern. Im gesamten Abschnitt der Kap. 11-14 ist Paulus sehr um äußere Ordnung bemüht. Man muss bedenken, dass die Umwelt so etwas im Zusammenhang mit praktizierter Religion überhaupt nicht kannte. Der einzige Bereich, in dem das der Fall war, kann nur der synagogale Gottesdienst gewesen sein. Nach allem, was wir z. B. aus Lk 4 oder aus der Darstellung der Therapeuten bei Philo v. A. wissen, war synagogaler Gottesdienst geregelt, und zwar ganz ähnlich, wie es Paulus hier vorschwebt (vgl. dazu: M. Klinghardt, Gemeinschaftsmahl und Mahlgemeinschaft, 1996). Zum Thema Gottesdienst werden in Kap. 11-14 folgende Themen nacheinander behandelt: Gebet und Prophezeien – Abendmahl – Einheit der Gemeinde trotz Vielfalt der Charismen (Kap. 12);
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das Thema gehört hierher, weil es in Kap. 14 für den Gottesdienst entfaltet wird. – Liebe als oberstes Charisma (Kap. 13) und wichtigstes Regulativ – Kap. 14: Einzelne Beiträge zum Gottesdienst auf der Grundlage von Kap. 12 und 13.
1 Kor 11,2-16: Der Schleier der Frauen Paulus deutet hier an zwei Stellen (in V. 3 und 7) eine eigenartige Seinshierarchie an, die er auch sonst in diesem Brief kennt: 3,21: Gott – Christus – ihr – alle Dinge 8,6: Gott – Christus – wir – alle Dinge 11,3: Gott – Christus – Mann – Frau 11,7: Gott – Mann – Frau 15,28: Gott – Christus – alle Dinge
In Kap. 3 geht es um Besitz, in Kap. 8 um Schöpfung und Erlösung, in Kap. 11 um Haupt-Sein und Abglanz, in Kap. 15 um Unterwerfung. Von Mann und Frau ist nur die Rede in Kap. 11. Gleichzeitig fehlen nur in Kap. 11 »alle Dinge«. – An 11,7 kann man erkennen, dass das Schema wohl aus Gen 1,27 kommt (der Mensch, Mann und Frau, als Gottes Ebenbild). Die Hierarchie ist demnach auch ein Repräsentationsverhältnis. In 11,7 fehlt das christologische Glied, und das weist auf vorchristlich-jüdischen Ursprung des Schemas. Der Sinn aller dieser »hierarchischen« Stellen ist es zweifellos, Orientierung für eine Ordnung zu bieten, in der die Schöpfung die Grundlage bildet. Dadurch, dass an der Mehrzahl der Stellen Christus eingefügt ist, werden Schöpfung und Erlösung einander zugeordnet (vgl. besonders zu 8,5f), denn »durch Christus« ist ja auch alles geworden. Für die Heidenchristen in Korinth wird so ein plausibles Grundschema des Seins geliefert. Das Schema ist biblischen Ursprungs und daher auch für Paulus in seiner Gültigkeit unbestritten. Dennoch will Paulus in Kap. 11 auch nur den leisesten Anschein vermeiden, das Schema diskreditiere Frauen, und dem dienen die Verse 11,11-12, die die grundsätzliche Wechselseitigkeit des Verhältnisses Mann/Frau darstellen. Aber warum muss jede Frau wegen der Engel einen Schleier (oder dergl.) zur Verhüllung des Hauptes tragen, wenn sie betet oder prophezeit? – Dafür sind folgende Gründe zu nennen: 1. Das ist römische Sitte: vgl. Plutarch, Römische
605 Gebräuche 10: »Warum pflegt man beim Anrufen der Götter das Haupt zu verhüllen … ?« … »Zu den Göttern aber betete man auf solche Weise, entweder sich demütigend durch die Verhüllung des Hauptes, oder vielmehr in der Absicht zu verhüten, dass während des Gebets eine unglückbringende, unheilvolle Stimme von außen vernommen werde, zieht man den Mantel bis zu den Ohren hinauf …, der Dämon in uns bedarf der Götter außerhalb und steht vor ihnen mit verhülltem Haupt, um anzudeuten, wie die Seele vom Körper verhüllt und bedeckt ist.« – Das ist übrigens derselbe Grund, aus dem Mönche bis heute eine Kapuze tragen und die, wenn sie beim Beten ungestört sein wollen, auch überziehen. – Dass dahinter allgemeinere, auch nicht-religiöse Erfahrungen stehen, könnte folgender Text zeigen: Plutarch, Moralia, Lakonische Denksprüche 2: »Es fragte ihn jemand, warum die Mädchen unverhüllt, die Frauen aber verhüllt sich öffentlich zeigten. Weil, antwortete er, die Mädchen Männer finden, die Frauen aber ihre Männer bewahren müssen.« (Daher noch heute der Ausdruck »unter die Haube kommen«). – Für den ersten Text ist noch zu beachten: Korinth ist z. Zt. des Paulus eine römische Siedlung. 2. Frauen sind besonders gefährdet. Denn Frauen müssen/können Kinder bekommen. Missgünstige Engel (die das nicht können) stören die Frauen erfahrungsgemäß dabei (in jeder Hinsicht, auch durch Tod des Kindes im Mutterleib). Dagegen wird die Braut durch einen Schleier geschützt. Auch das ist ein römischer Brauch (»nubere«, heiraten, heißt: sich für einen Mann verhüllen), und deshalb ist der Schleier bis heute auch bei uns lebendig. Der Brautschleier hat apotropäische Funktion. 3. Störung durch Dämonen beim Beten: Wenn eine Frau betet oder prophezeit, begibt sie sich in den Bereich zwischen Himmel und Erde, in dem Engel und Dämonen jeder Art umherschwirren. Sie ist durch ihren Mut, in diesen Bereich einzudringen, noch einmal zusätzlich gefährdet. Beten oder Prophezeien ist keine harmlose Sache, der Mensch ist darin besonders gefährdet. Daher die Kapuze der Mönche und daher schon rabbinische Legenden über die Gefährdung beim Beten. Dass der Beter durch Ablenkbarkeit und krause Gedanken gefährdet ist, wissen nicht nur die Wüstenväter und -mütter, sondern auch jeder Beter.
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606 4. Geringere Ebenbildlichkeit der Frau: Nach 11,7 f.10 müssen Frauen, da sie nur Abglanz des Mannes sind, eine »Vollmacht«/ein zusätzliches Hoheitszeichen und einen Schutz auf dem Haupt tragen. Jede Kopfbedeckung (Hut, Krone) ist ein Hoheitszeichen, und deshalb zieht man den Hut vor dem Höheren oder legt die Krone ab (Offb 4,10). Wenn die Frauen daher ein zusätzliches Hoheitszeichen tragen, dann demonstrieren sie gegenüber den Engeln Macht. Die natürliche Macht, die ihnen teilweise abgeht, da sie nur schwaches Abbild Gottes sind, wird so künstlich vergrößert. (So wie Pfarrer früher einen »Pfaffenhut« trugen und damit Hoheit demonstrierten). Denn Menschen, für die Christus gestorben ist, sind allemal mehr wert als Engel.
Allerdings ist das Beten wie das Prophezeien keineswegs notwendig öffentlich; denn Beten ist nicht an die Gemeindeversammlung gebunden, und Prophezeien meint jede Art religiöser Rede, z. B. an die Kinder, an Nachbarn, vor Behörden usw. – Noch der »Hirt des Hermas« (Mand 11,13) setzt Menschen voraus, die »im Winkel« prophezeien, also mit Heimlichtuerei. Hermas kritisiert das, aber er mahnt nicht, zum Prophezeien lieber in die Gemeindeversammlung zu gehen (diese würde nur im vorliegenden Fall die Prophezeiungen als leer erweisen, aber prinzipiell besteht kein Einwand gegen die Nicht-Öffentlichkeit). – Weil das so ist, steht das Beten und Prophezeien von Kap. 11, das Paulus selbstverständlich erlaubt, nicht im Gegensatz zum Verbot des Redens von Frauen in der Gemeindeversammlung. Denn vorausgesetzt ist: Frauen beten und prophezeien, das dürfen sie, wenn sie sich nur schützen. Kap. 14 dagegen nimmt Bezug auf die spezielle Situation des öffentlichen Gemeindegottesdienstes am Sonntag. Dort gilt das Redeverbot, freilich, wie gesagt, zum Schutz der Frau vor dem bekanntlich wenig schmeichelhaften Gerede, das sich an öffentliche Auftritte von Frauen damals (und manchmal leider bis in unsere Tage) knüpfte. Paulus verbindet in diesem Abschnitt das Argument bezüglich der Engel mit Hinweisen auf allgemeine Schicklichkeit (11,3-4.13-15). Die korinthischen »Starken« könnte das mehr beeindruckt haben. Denn eine wenig konforme neue Religion wie das Christentum musste alles daran setzen, den bürgerlichen Maßstäben von Ord-
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nung zu entsprechen, um nicht als Vereinigung von Chaoten ins Gerede zu kommen.
1 Kor 11,17-22: Herrenmahl und Gemeindespaltung Ausgangslage in Korinth: Wegen der unterschiedlichen Größe der Portionen beim Essen und Trinken gibt es Spaltungen. Wenn Paulus in 11,19 sagt, diese Spaltungen müsse es geben, damit die Bewährten hervortreten, dann schließt er sich an einen apokalyptischen Topos an. Er meint nicht, diese Spaltungen befördern zu müssen – im Gegenteil, er will sie abstellen. Daher kann man auch nicht mit 11,19 den konfessionellen Streit über das Abendmahl als Streit positiv legitimieren wollen. Apokalyptische Missstände entsprechen nicht den Herzenswünschen Gottes, auch wenn am Ende Gutes dabei herauskommen kann. Es handelt sich um einen Fall von »Weltgesetzlichkeit« (oder: Gesetzlichkeit der Geschichte) – dies im Unterschied zu Naturgesetzen und zum Gesetz Gottes vom Sinai. So etwas liegt auch vor, wenn Gerechte leiden müssen oder wenn der Menschensohn gepeinigt werden muss oder wenn man sagen muss: »Alles Gute hat seinen Preis.« – Vgl. zu diesem Tatbestand K. Berger, Wer bestimmt unser Leben?, 2002, 79-83.
Die unterschiedliche Größe der Portionen führt zum Streit. Man vergleiche dazu nur die Erfahrungen, die Plutarch in seinen Mahlgesprächen schildert. Schon bei Familien, erst recht in größeren Mahlgemeinschaften, ist die unterschiedliche Menge ein schlimmes Ärgernis, denn beim Mahl wollen alle gleich viel haben (vgl. Berger/ Colpe, Textbuch, Nr. 448: Lukian). Wodurch nun in Korinth die unterschiedliche Größe der Portionen bedingt war, wo doch jeder sein Eigenes mitbrachte, darüber kann man nur spekulieren. Die einfachste und in den Jahren 1974-1988 aus tagespolitischen Gründen plausibelste Erklärung war: Die Menschen waren arm oder reich, also sei es ein sozialer Konflikt gewesen. Andere Möglichkeiten sind genauso plausibel (gesundheitliche Gründe, Vegetarier [die aus den in Kap. 8-10 diskutieren Gründen kein Fleisch aßen], zarte Jugend oder hohes Alter, Schwangerschaft, Empfindlichkeit gegen Lärm oder Neugier anderer beim Essen). – Das Ergebnis ist
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dann klar: Paulus schreibt vor, in Zukunft zu Hause zu essen.
1 Kor 11,23-26: Der älteste Abendmahlsbericht Dies ist der mutmaßlich älteste Bericht über das letzte Mahl Jesu. Zum Verständnis ist der Blick auf 10,15-17 hilfreich. Dabei ist der Beginn nicht strittig (V. 23: »Der Herr …«), wohl aber der Schluss: Umfasst er auch V. 27 oder endet er in V. 26? Ich meine, dass V. 27 bereits die paulinische Schlussfolgerung darstellt. Denn er sagt: Bei Gebrauch oder Missbrauch geht es um Leib und »Blut« (»Blut« wohl im Sinne von: gewaltsamer Tod; denn Leib umfasst schon Fleisch und Blut) des Herrn – also um seine heiligste Gegenwart und Wirkung. – »Vom Herrn« hat Paulus diese Worte; das ist mühelos im Sinne der auf Jesus zurückgehenden apostolischen Tradition zu begreifen. Eine Spezialoffenbarung oder Eilmitteilung vor Damaskus muss man deswegen nicht postulieren. Es ist also zu übersetzen: »vom Herrn her …«. Das Zitat aus der Überlieferung beginnt und endet mit einer Anspielung auf Jesu Tod. Dabei geht die Schlussangabe »verkündet ihr den Tod des Herrn, bis er (wieder)kommt« eindeutig über die Datierung zu Anfang und ebenso über alle synoptischen Berichte hinaus. Aber was bedeutet der Satz? Inwiefern ist jede Feier der Eucharistie Verkündigung des Todes Jesu, und zwar »bis dass er kommt«? a) Eine Möglichkeit, das zu verstehen, ist: Bis zu seiner Wiederkunft feiern die Christen das Mahl ohne den Herrn des Mahles; der Platz des Gastgebers ist leer. Man feiert in seinem Namen, ohne dass er da ist. So fällt die Lücke schmerzlich auf. b) Eine andere Möglichkeit: Man deutet Brot und Wein – wie üblich – auf den Tod Jesu, und zwar das Brot auf die Hingabe des Lebens und den Kelch auf das Blut, durch das der Neue Bund zustande kam. Doch beim Brot ist die Anspielung auf den Tod überhaupt nicht zu erkennen, und beim Becher liegt der Ton auf dem Bund, der im Trinken realisiert wird. Von Sühneblut oder dergleichen ist hier wirklich nichts zu lesen. c) Dritte Möglichkeit: Das Abendmahl der Ge-
607 meinde wird wirklich nur jährlich in der Nacht gefeiert, in der Jesus übergeben wurde, und ist wegen des Termins eine Erinnerung. Das jährliche Gedenken um den Todestermin ist auch bei anderen Mählern zum Totengedächtnis üblich. Nur – die Angabe »bis er wiederkommt« sprengt jedes Totenmahl. Sie hilft allerdings zu verstehen, warum der Sonntag der Termin des gemeinsamen Mahles ist: Er bildet den 8. Tag ab, den Tag der Wiederkunft des Herrn und den Beginn der neuen Schöpfung. Der Aspekt der Wiederkunft Christi fehlt leider in allen mir bekannten Abendmahlsliturgien. Dabei wäre es doch nach 11,26 wesentlich für die Feier des Abendmahles, dass sie auf die Wiederkunft des Herrn ausgerichtet ist. Jesus selbst gibt seinem letzten Mahl vor der Passion diese Ausrichtung, indem er auf das kommende Mahl hinweist (Mk 14,25; Mt 26,29; Lk 22,18.30). Paulus referiert in 11,23-26 durchaus den vermutlich ältesten Verlauf des Herrenmahles: Der Segen über dem Brot steht am Anfang – so wie es jeder jüdischen Mahlzeit entspricht. Dann wird das Mahl eingenommen; am Ende, und zwar zu Beginn des stärker musikalischen Teils des Symposions, steht der Segen über dem Wein, wie es hellenistischer Art entspricht. Aufgrund der Zustände in Korinth geht nun Paulus in 1 Kor daran, das gemeinsame Mahl auf ein Minimum zu reduzieren. Denn er sagt: Wer Hunger hat, soll zu Hause essen. Damit rücken Segen über dem Brot und über dem Wein eng zusammen, das Mahl wird reduziert auf das Essen des Brotes und bekommt insoweit lediglich symbolischen Charakter. Dieser Verlust des eigentlichen Gastmahles kennzeichnet bis heute alle traditionellen christlichen Abendmahlsliturgien. Für Paulus ist entscheidend, dass das von der Gemeinde gefeierte Abendmahl nicht Züge der Spaltung und Uneinigkeit trägt. Eben dieses hat er in 1 Kor 10,15-17 ausgeführt. Denn durch die Teilnahme an der realen Gegenwart Jesu Christi in seinem Leib tritt feierlich zutage, wird feierlich realisiert, was die Gemeinde durch die Taufe ist: ein einziger Leib (bildlich verstanden). Dann aber, wenn der praktische Vollzug des Herrenmahles aufgrund der Spaltungen in der Gemeinde dieser Wirklichkeit nicht entspricht, sondern ihr ins Gesicht schlägt, wird das gemeinsame Mahl zu heuchlerischer Farce. Das will Paulus
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608 vermeiden, indem er die Probleme der Gemeinde durch Verlagerung in den privaten Bereich zur Unsichtbarkeit verdammt. Durch die Taufe ist die Gemeinde in Christi Leib hineingetauft. Was beim Abendmahl geschieht, geht nach 1 Kor insofern über die Taufe hinaus, als es koinonia (verwirklichte Gemeinschaft) ist. Wenn aber die Gemeinde zerstritten ist, so ist das eigentlich ein Vergehen gegen die Taufe. Wer nun trotz dieser Zerstörung der Tauf-Einheit das Abendmahl feiert, als gäbe es keine Spaltungen, der versucht, Gott zu betrügen, und er versündigt sich gegen das, von dem her diese Einheit lebt: vom Leib Jesu Christi. Dabei heißt hier »Leib Jesu Christi«, der wie jeder menschliche Leib das Organ des Kontaktes mit anderen ist, die nach außen gerichtete Wirkung der Identität Jesu. Vom unwürdigen Genuss von Brot und Wein gehen katastrophale Folgen aus (1 Kor 11,30). Diese sind durchweg leiblicher Art: wie wenn ein Unbefugter die Bundeslade berührt und dann tot umfällt. Wer als Unheiliger dem Heiligen zu nahe kommt, wird durch dieses »geschlagen«. Diese Auffassung teilt Paulus mit Apg 5 (Tod von Ananias und Sapphira, weil sie den Heiligen Geist belogen haben) und vertritt sie auch in 1 Kor 5 (leibliche Destruktion des ausgeschlossenen Sünders). Das heißt: Ohne dass jemand es glaubt oder gar will, hat das Heilige physische Wirkungen. Dass dieses im Neuen Testament so ungeschützt behauptet werden kann, widerlegt per se alle Theorien hinsichtlich der Abhängigkeit der eucharistischen Gegenwart vom Glauben der Mahlteilnehmer. Fragt man weiter, warum in 1 Kor 11 so gedacht wird, dann ist die Antwort: Das Essen von Brot und das Trinken von Wein bedeuten physische und personale, also ganzheitliche Anteilhabe am Leib und Blut des Herrn. Denn diese sind »gesegnet« (auch nach M. Luther: konsekriert). – Diese Anteilhabe »funktioniert« nicht durch Glauben allein, sondern durch die ganzheitlich realisierte Mahlgemeinschaft, also wesentlich durch Essen und Trinken. Deshalb gilt das in 1 Kor 11,29f Gesagte nur von der eucharistischen Mahlgemeinschaft und nicht von jedem anderen beliebigen Konflikt in Korinth. Aber in der Missachtung des Sakraments wird Jesus Christus selbst attackiert, der sich darin
Der erste Brief an die Korinther
hingibt. Die Missachtung geschieht nicht durch falsche Meinungen oder falsche Dogmatik im engeren Sinne des Wortes, sondern durch sichtbare und störende Verletzung der Gleichheit der Mahlteilnehmer (Verletzung des »Friedens«), d. h.: Wenn die Gemeinde zerstritten ist, kann und darf Eucharistie nicht gefeiert werden. Denn dann ist die Kernbedingung auf menschlicher Seite nicht gegeben. Das bedeutet: Wie kein anderes Sakrament ist die Eucharistie die soziologisch greifbare Verbindung der Gemeindeglieder in Liebe, Einheit und Frieden. Sie ist die Verwirklichung der in der Taufe grundgelegten Einheit. Dazu muss die Gemeinde ihren Anteil leisten, indem sie zuvor mit den Streitereien aufhört (und wenn sie dazu nicht in der Lage ist, muss ein Apostelbrief sie dazu antreiben, wie es in 1 Kor 10f geschieht). Diese Einheit wird durch den Herrn mit seiner Gegenwart beantwortet und gefüllt. Das Wohnen Gottes unter den Menschen, das entscheidende Element des »achten Tages« der Schöpfung (Offb 21,3), wird hier bereits real, wenn auch verhüllt. Eben deshalb wird die Eucharistie am Sonntag, dem 8. Tag der Woche, gefeiert. Im Vorfeld der Eucharistiefeier ist es daher Aufgabe der Gemeinde bzw. Kirche und ihrer Leiter, alles zu befrieden, was diese Einheit verhindert. Denn Eucharistie ist die Verwirklichung des Einsseins Gottes mit den Menschen und der Menschen untereinander.
1 Kor 11,25: Der neue Bund Wie ist das Verhältnis zwischen dem Neuen Bund in 1 Kor 11,25 und dem Neuen Bund in 2 Kor 3,6? Beides kann sich auf Jer 31,31-34 beziehen (Gesetz ins Herz, Neuer Bund, Sündenvergebung), aber auch Ez 36,26f liegt in Sichtweite (Gottes Geist in die Herzen, Gebote tun). Beide Texte weisen die Bundesformel auf. – Für den Neuen Bund als den Bund des Geistes Gottes steht Ez 36,26 f. Die Sündenvergebung von Jer 31 könnte mit dem »Blut« in 1 Kor 11,25 gemeint sein; aber sicher geht es hier auch um das Bundesblut nach Ex 24,8, denn in Jer 31 ist von Blut nicht die Rede. – Sachlich spitzt sich das Verhältnis der beiden Paulusstellen zueinander auf die Frage zu, wie sich Sündenvergebung durch Chris-
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Kapitel 11
ti Blut und Geistempfang zueinander verhalten. Dazu kann man in Anwendung teilweise späterer juristischer Begrifflichkeit sagen: Der Neue Bund wurde am Kreuz geschlossen (wie der erste Bund mit Blut) und bei Jesu letztem Mahl vorweggenommen ratifiziert. Die Sündenvergebung beseitigt die Altlasten und stellt (wie dann die Taufe als seine Anwendung) die Bundesfähigkeit der Jünger her. Der »Inhalt« des Neuen Bundes aber, seine Gabe und Verheißung, die darin zugesagte Verfügung Gottes, ist die Gabe des Heiligen Geistes, durch den die Christen das Gesetz werden erfüllen können, so wie es Ez 36 ansagt. Denn Gottes Liebe ist durch den Heiligen Geist in den Herzen der Christen ausgegossen (Röm 5,5), und aus dieser Liebe heraus können die Christen das Gesetz erfüllen, dessen Summe die Liebe ist.
1 Kor 11,27-34: Unwürdig essen und trinken Was führt zu den ernsten Konsequenzen, die 11,29f berichtet? Warum haben jahrhundertelang Menschen gefürchtet, sich »das Gericht« zu essen oder zu trinken, weil sie »den Leib des Herrn nicht unterschieden« haben? Die Wirkungsgeschichte von 11,29 ist katastrophal. Sie hat dazu geführt, dass das Abendmahl von Furcht und Angst begleitet war. Die neuerliche Gegenreaktion, dass man nun alle Bedenken des Apostels übersieht oder einebnet, wird dem Text aber auch nicht gerecht. Was heißt »den Leib nicht unterscheiden«? Und sind die in 11,30 geschilderten Folgen nur ein Zugeständnis des Apostels an Magie, Aberglauben, Ängste und dingliches Sakramentsverständnis (»Sakramentierer«)? Meint Paulus das gar nicht selber, weil es so mittelalterlich klingt? Den Leib (des Herrn) nicht unterscheiden, das ist vor allem von 10,16f her zu verstehen: Der Leib Christi (der lebendige Jesus selbst) begründet das Leib-Sein der Gemeinde. Nach 10,17 liegt dabei der Akzent auf dem einen Brot und dem einen Leib. Wer das übersieht, der kann – das gilt angesichts der Spaltungen nach 11,18 – nicht verstehen, dass Eucharistie auf jeden Fall die Feier der Einheit der Gemeinde ist. Das ist der Unterschied zwischen Eucharistie in Korinth und Mensa-Essen oder Essen im Wartesaal des Bahnhofs; da will niemand Einheit, und deshalb sollte
609 man sich bei diesen Mahlzeiten nicht über mangelnde Einheit beschweren. Ein Vergehen gegen die Einheit ist aber, wenn Menschen direkt oder indirekt beschämt werden, weil sie weniger essen (11,22b). Das Vergehen gegen die Einheit liegt demnach nicht in falschen subjektiven Glaubensvorstellungen über die Eucharistie – so aber hatte man jahrhundertelang im Zeichen wechselnder Orthodoxien ausgelegt. Das Vergehen gegen den Leib liegt im mangelnden Sozialverhalten und den Spaltungen, die daraus entstehen. 11,33 bestätigt das: Wartet aufeinander. Das tun miteinander Versöhnte. Und dann kann es auch einen gmeinsamen Beginn mit der Segnung des Brotes geben. Der Ritus des jüdischen Mahles ist das Heilmittel gegen heidnisches Chaos. Die in 11,30 geschilderten schlimmen Folgen sind physischer Art. Sie sind vergleichbar mit der in 5,5 angedrohten Zerstörung des »Fleisches«, d. h. der körperlichen Gesundheit, und, wie schon erwähnt, der in Apg 5,1-11 geschilderten Bestrafung von Ananias und Saphira mit plötzlichem Tod. In allen drei Fällen ist eine durchaus »nicht-natürliche« Weise von Krankheit und Tod auf ein Vergehen gegen Heiliges zurückzuführen: Nach Apg 5,3 haben die dann Bestraften den Heiligen Geist belogen bzw. versucht (5,9). Der Sünder von 1 Kor 5 hat sich vergangen gegen den Charakter der Gemeinde als Heiligtum, daher ist er »aus der Mitte zu entfernen«, und in 11,29f geht es um die vom Herrn leibhaftig begründete Einheit der Gemeinde. Zur Unterstützung kann auch 3,17 gelten: das harte Verdikt gegen den, der die Gemeinde zerstört. Ihn wird Gott selbst zerstören, und es ist nicht zu erwarten, dass dass glimpflich abgeht. Die Gemeinde aber ist ausdrücklich Tempel des Heiligen Geistes. Darin unterscheidet sich dieser Leib von irgendwelchen anderen Vereinen (das ist die gemeinte Unterscheidung von 11,29)! Was bedeutet 11,29f für das paulinische Verständnis von Eucharistie? Das Vergehen der Korinther liegt nicht in Spaltungen der Gemeinde im Allgemeinen, sondern ein Vergehen wird dann verübt, wenn die Gemeinde in diesem Zustand Abendmahl feiert (11,29). Dann erst »isst und trinkt« sie sich das Gericht. Die schlimmen Folgen von 11,30 haben demnach keine (nur) moralische Ursache, sondern (vor allem) eine »sakralrechtliche«. Sie versündigt sich an der Ge-
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610 genwart des Herrn beim Mahl, die durch Brot und Wein angezeigt ist. Wie durch das eine Brot die Gemeinde wieder neu ein Leib wird (10,17), können Brot und Wein, d. h. kann das Mahl, das man in Gestalt von Brot und Wein einnimmt, auch zum Gegenteil werden: zur Quelle des Unglücks. Ohne Brot und Wein, d.h. ohne Herrenmahl, gäbe es in Korinth keine Krankheiten und Todesfälle. Die bloße Uneinigkeit der Gemeinde hätte diese traurigen Symptome nicht hervorgebracht. Und bei jedem anderen Verein hat derartige Uneinigkeit so geartete Strafen Gottes nicht zur Folge. Das Eintreten solcher Phänomene kann nur in engstem Zusammenhang stehen mit dem Mahlcharakter der Zusammenkunft. Wer mit den Elementen der Einheit (ein Brot, ein Becher) de facto das Gespaltensein feiert, provoziert mit diesem Schwindel Gott. Diese Beobachtungen erlauben es, nach den besonderen Eigenschaften der Realpräsenz hier zu fragen: Sie ist gebunden an Brot und Wein. Sie kommt zur heilvollen oder unheilvollen Wirkung beim Essen und Trinken im Rahmen der Zusammenkunft der Gemeinde. Die Wirkung dieser Realpräsenz Gottes sind nicht irgendwelche Tröstungen oder geistlichen Erbauungen, sondern ganz elementar messianische, reiche Fülle des Lebens und Einheit miteinander auf der physischen Grundlage derselben »Stoffe«, die alle miteinander teilen. Die Einheit der Gemeinde ist damit nicht irgendwie »hoch geistig« angesiedelt, sondern indem man dasselbe isst und trinkt. Im Judentum wurde diese Theologie vorbereitet, wenn die Weisheit sagte: Kommt zu mir, esst und trinkt von meinen Früchten. Im frühen Christentum werden diese Metaphern ritualisiert. Dadurch wird dann nicht mehr nur das geistige Aufnehmen gehei-
Der erste Brief an die Korinther
ligt (so in der Weisheit), sondern das Miteinander der Gemeinde. Die Ritualisierung der Metaphern bedeutet daher auch ihre Politisierung (im Sinne von Kirchenpolitik). Wenn aber die Einheit der Gemeinde gefeiert wird, wo de facto bittere Spaltung herrscht, ist die Reaktion schlicht Gottes Zorn. Nicht seine Abwesenheit, sondern seine Präsenz wird hier zum Unheil und Verderben. Denn er ist ein lebendiger Gott, und hier bleibt nichts unentschieden oder neutral. Wer unwürdig isst und trinkt, vergeht sich nicht nur gegen die Einheit, sondern auch gegen das, was sie stiftet. Er rührt an die heiligste Gegenwart Gottes. Diese vollzieht sich nicht nur allgemein in Gottes Tempel (vgl. Kap. 3 und 5), sondern sie ist in dem, was die Gegenwart Gottes begründet: den gesegneten Elementen von Brot und Wein. Insofern ist hier die Frage nach der realen Gegenwart noch einmal aufzugreifen (vgl. zu 10,16f). Die reale Gegenwart des heiligen Gottes ist beim Essen und Trinken gegeben, und zwar in einem Maße, die die gewohnte Anwesenheit Gottes im Tempel an Heiligkeit übertrifft bzw. sie bündelt wie ein Brennglas die Sonnenstrahlen. Hier beim Mahl – bei dem, was das Mahl ausmacht, beim Essen und Trinken von Brot und Wein – vermittelt sich durch die konsekrierten Elemente Gottes Gegenwart in die Gemeinde hinein. Sie schenkt dieser vor allem die Einheit. – Damit ist die Frage zu beantworten, warum es überhaupt Eucharistie gibt. Sie schafft immer neu, was Gott den Menschen überhaupt geben will: Leben und Einheit. – Die Gemeinde kann dem drohenden Gericht entgehen, wenn sie sich vor diesem Hintergrund selbst rechtzeitig kritisch prüft (11,31f).
1 Kor 12,1–13: Charismen 1 Kor 12,1-3: Der Heilige Geist wirkt alle Charismen Der weitere Rahmen ist das Thema Verschiedenheit und Einheit. In Kap. 11 ist zum Thema Verschiedenheit ausgeführt worden, wohin sie sich keineswegs entwickeln darf. Keiner darf beschämt werden (11,22), und Paulus stellt organi-
satorische Regeln auf, damit sich Ähnliches nicht wiederholt (zu Hause essen). – In Kap. 12 bespricht Paulus ein weiteres Problem der Verschiedenheit, nämlich die unterschiedlichen Gaben. Grundsätzlich löst Paulus das Problem, indem er sie alle auf denselben Heiligen Geist zurückführt (12,9). Mit dieser Zielrichtung spricht Paulus in 12,1-3. Denn an einem drastischen Beispiel
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Kapitel 12
macht er klar, dass der Heilige Geist sich nicht selbst widersprechen kann. Wenn aber das nicht geht, dann können auch die verschiedenen Geistesgaben einander nicht bekämpfen oder ausschließen, sondern nur ergänzen. Das Beispiel: Paulus setzt voraus, dass das Bekenntnis der Christen eine Frucht des Heiligen Geistes ist. Wenn der Heilige Geist nun bekennt: »Jesus ist der Herr«, dann kann nicht derselbe Heilige Geist auch bekennen, erklären oder fordern: »Verflucht sei Jesus.« Voraussetzungen: Das Bekenntnis der Gemeinde ist nicht eine »Summe«, die der Verstand ausgewertet hätte, sondern eine direkte Gabe des Geistes: so, wie das Bekenntnis des Petrus in Mt 16,17 Offenbarung des Himmels ist; so, wie die Geister, weil sie Geister sind, bekennen können, dass Jesus der Sohn Gottes ist (Mk 3,11); so, wie nach 1 Joh 4,2 jeder »Geist, der bekennt, dass Jesus Christus Mensch war«, aus Gott ist. Und so, wie das Bekenntnis vom Geist kommt, stammt auch die bekenntnistreue Rede der Christen vor den Autoritäten vom Heiligen Geist (Mk 13,11). Immer, »wenn es darauf ankommt«, spricht der Heilige Geist aus den Christen; auch beim Gebet nach Röm 8,26-28. Das Kyrios-Bekenntnis zu Jesus kennen wir besonders aus Phil 2,11 als das Bekenntnis vor allen Völkern. Das »Verflucht sei Jesus« spiegelt wohl das wider, was die Christen nach Plinius d. Jüngeren (Brief 10,96,5.6) vor Gericht gesagt haben, wenn sie laut Bericht »Jesus verfluchten« (maledicerent christo) – »die« Alternative schlechthin zum Bekenntnis (Christus einen Hymnus singen wie einem Gott: carmen christo quasi deo dicere). Paulus ist in weitem Abstand zu Plinius d. J. der erste Zeuge für diese Formel. Wo hat Paulus diese Formel her? Wie machte man das zuvor, wenn überhaupt, einem Gott abzuschwören? Die Tauf- und Osternachtliturgien haben »dem Satan abschwören« bewahrt (»Widersagst du dem Satan?«). Der Schwur gehörte zum Eintrittsformular der Mysterienkulte, soviel weiß man (vgl. Berger/Colpe, Textbuch, Nr. 513). Hat man beim Eintritt in das Judentum den heidnischen Göttern abgeschworen? In der gnostischen Bewegung verfluchte man den irdischen Jesus, aber das war 150-200 Jahre später.
1 Kor 12,3-13: Vielfalt und Einheit Das Thema ist ebenso aktuell wie in der Kirche dauerhaft wichtig: das Verhältnis von möglicher Vielfalt und notwendiger Einheit. Im Blick auf 1 Kor 12 kann man sagen: Wer das Problem von Einheit und Vielfalt nicht innergemeindlich lösen kann, der wird es umso weniger auf den anderen Ebenen (Stadt, Staat, Welt) schaffen. Das Christentum hat auf allen diesen Ebenen ein Einheitsproblem, weil ihm im Unterschied zum Judentum die Einheit nicht »in die Wiege gelegt« ist, sondern immer wieder neu errungen und geradezu erkämpft werden muss. Das Judentum vermittelt die Zugehörigkeit fast ausschließlich durch familiäre Abstammung. Das ist im Christentum von Anfang an nicht so. Das personale Element (wie im Judentum) ist zugleich ungeheure Chance wie auch Gefährdung seitens untreuer oder aggressiver Menschen. Paulus versucht im ganzen 1. Korintherbrief geradezu händeringend, der Gemeinde beizubringen, dass die Verbindung jedes Einzelnen mit dem dreieinigen Gott nur über die Gemeinschaft der Kirche möglich ist. Für Paulus ist das weder apostolischer Machtinstinkt, noch ein zweifelhafter Vereinstrieb. Für ihn ist die Einheit der Christen sehr streng in Gott selbst begründet. Und damit sind wir bei Pfingsten. Denn es ist Gott als Heiliger Geist, der die Einheit der unterschiedlichen Charismen begründet. Wie auch immer ein Christ sein Charisma begreift, es ist für Paulus der eine und selbe Heilige Geist, der jedem einzeln und allen zusammen ihren qualifizierten Stand in der Kirche zugewiesen hat. Für Paulus macht das keinen Unterschied, dass der Heilige Geist jedem einzeln und zugleich allen zusammen die Gnade seiner Gegenwart schenkt. Denn nach 1 Kor 6 ist jeder Christ »Tempel des Heiligen Geistes« mit seinem Leib, und nach 1 Kor 3,16f sind sie alle zusammen ebenso Tempel des Heiligen Geistes. Das ist eine »wunderbare« Lösung der Frage von Einheit und Verschiedenheit. Denn es bedeutet das vollständige Gleichgewicht zwischen Besonderheit und Gemeinsamkeit. Da dieses Gleichgewicht aber in der Praxis gefährdet ist, weil einzelne Christen in Korinth Minderwertigkeitsgefühle entwickelt haben, muss Paulus noch zusätzlich gegensteuern, um das Gleichgewicht wirklich zu bewahren:
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612 Er fordert dazu auf, die weniger Geachteten besonders zu ehren. Aus dem Abstand von fast zwei Jahrtausenden betrachtet, sind beide Lösungswege kirchenpolitisch beispielhaft. Zum einen: Die gemeinsame Gegenwart Gottes gibt es nicht an sich, sie ist nie ohne konkrete Personen vorstellbar. Und doch ist diese Gegenwart Gottes nicht nur die Summe der frommen Einzelbeziehungen zu Gott. Der eine gemeinsame Gott ist nicht in der Vereinzelung und Absonderung lebendig, aber doch nur, wenn jeder darin »vorkommt«. Andererseits muss Paulus einen horizontalen Ausgleich herbeiführen, damit die Einheit der Gemeinde nicht wegen der offenkundigen Qualitätsunterschiede auseinanderbricht. Paulus verweist hier darauf, dass wir auch in der Kleidung die weniger ehrenvollen Zonen des Körpers besonders ehren (12,23). Unter Charisma versteht Paulus eine besondere, auffällige und nicht natürlich erklärbare Gabe, die auf einen himmlischen Ursprung bei Gott hinweist und in dieser Hinsicht eine überzeugende, schlüssige »Werbung« für Gott ist. In einer missionarischen Religion wie dem frühen Christentum dienen Charismen weder der eigenen Erbauung noch der Unterhaltung anderer, sondern wie in 1 Kor 14,25 der Mission. Paulus hält daran fest, dass unbedingt jeder Christ eine solche »Eintrittskarte«, eben sein Charisma, von Gott verliehen bekommen hat. So ist die persönliche Art der Zugehörigkeit eines Christen zugleich auch sein individueller Zugang und die Weise, in der er für Gott werben kann. Nun ist die Liste der Himmelsgaben nach 1 Kor 12 sicher nicht im Sinne der Vollständigkeit gedacht. Wenn man hier heute aktuelle Charismen einsetzt, wird man Paulus kein Unrecht tun. Das Neue Testament bietet auch an anderen Stellen Kataloge mit Charismen, so in Röm 12 und 1 Petr 4. Aber nur hier in 1 Kor 12 werden diese besonderen Himmelsgaben auf den Heiligen Geist zurückgeführt. Das hat seinen besonderen Sinn. Die anderen Texte betonen die Vielfalt und staunenswerte Verschiedenheit der Gaben; nur in 1 Kor 12 wird deren Einheit zum Problem. Paulus erreicht, wie wir sahen, diese Einheit auf doppelte Weise: Er zeigt, dass diese Gaben einen völlig einheitlichen Ursprung haben, den Heiligen Geist, und dass sie auch ein
Der erste Brief an die Korinther
einheitliches Ziel haben, nämlich einen ausgeglichen temperierten Leib, der in »Gerechtheit« und ohne dass sich einzelne Glieder fremd fühlen, lebt. Das Problem von Einheit und Vielheit ist nur in 1 Kor 12 ein besonderes Problem; ähnlich dann übrigens noch einmal in der Alten Kirche, im Traktat »Interpretation der Gnosis« (Berger/ Nord, Das Neue Testament, 1037 ff), wo 1 Kor 12 aufgenommen und verschärft wird: Jeder darf auch nach den anderen Gaben streben. Gott ist Heiliger Geist als der Gott, der alle trennenden Grenzen aufhebt. Das betrifft die Grenzen zwischen Gott und Mensch, und deshalb ist Gotteskindschaft das Markenzeichen des Heiligen Geistes. Aus Geschöpfen werden durch den Heiligen Geist Kinder. Und derselbe Geist hebt auch die trennenden Grenzen zwischen den Menschen auf. Das besagt nicht, dass die Menschen alle gleich würden. Gerade 1 Kor 12 lehrt uns: In ihrer Besonderheit und Verschiedenheit bekräftigt, bejaht, ja begründet der Heilige Geist die Menschen neu. Aber diese Verschiedenheit besteht nicht im Gegeneinander, nicht in der Konkurrenz, nicht in der Spaltung. In diesem Sinne stiftet der Heilige Geist eine neue Art von Gemeinschaft unter den Menschen, die Kirche. Viel zu wenig wird beachtet, dass das Wirken in dieser Art nicht eine Spezialität des Heiligen Geistes ist, an die man nur zu Pfingsten denken sollte. Wahr ist vielmehr, dass genau dieses auch ein wesentliches Element der Botschaft Jesu ist: Er ist der Erste unter vielen Geschwistern. Und die Vaterschaft Gottes, die Jesus entstehen ließ, sowie die Gotteskindschaft aller Christen ist ein neuer Aspekt der Rede über Gottvater. Den drei Gesichtern (Antlitzen, Personen) Gottes ist damit gemeinsam die Weite, deren Ziel die sanfte Durchdringung aller Kreatur mit Gottes Gegenwart ist und die Heimholung aller Geschöpfe unter die Herrschaft von Gottes verwandelnder Liebe. Der Heilige Geist sagt etwas darüber, was Vater und Sohn mit der außergöttlichen, seit der Schöpfung bestehenden Weltwirklichkeit »machen« wollen. Insofern ist und bleibt er auch der Schöpfer-Geist und der Geist Jesu Christi, denn auch Jesus ist »zu uns gesandt«. Der Heilige Geist nimmt von dem, was in Jesus gewirkt hat, und setzt es in nachösterlicher Situation um. Deshalb heißt es in Joh 16,14: »Von dem, was meines ist, wird er nehmen …«
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Kapitel 12
So reizt gerade ein Text wie 1 Kor 12 dazu, das, was der Geist nach Pfingsten wirkt, neben das zu stellen, was wir aus den vier Evangelien über Jesus wissen. Wir lernen, das eine vom anderen her zu begreifen. Das ist in der Theologie, zumal in der Exegese, ganz ungewohnt. In der Exegese hat man vielmehr eine Kluft angenommen zwischen vor- und nachösterlichen Jesusworten und die Verschiedenheit betont. Wenn man vielmehr – trinitätstheologisch orientiert – Jesus vom Wirken des Heiligen Geistes her versteht, der von ihm und vom Vater ausgeht, dann bewegt man sich viel eher in der Sichtweise des Neuen Testaments. Wenn man das z. B. für unseren Text versucht, dann wird gerade für diese Frage das JohEv besonders wichtig. Ich denke an Joh 15, an das Bild vom Weinstock, an dem die einzelnen Jünger Rebzweige sind – in 1 Kor 12 geht es um den Leib Christi. Oder auch an den sehnlichen Wunsch des johanneischen Christus, die Jünger möchten eins sein, da von ihrer Einheit alle Glaubwürdigkeit abhängt (Joh 17). Es ist in besonderem Maße der johanneische Christus, den wir bei Paulus im Wirken des Heiligen Geistes wiedererkennen. Dass Paulus und Johannes so nahe beieinanderstehen, war für mich einer der Anlässe, das JohEv erheblich früher zu datieren. So wird historisch Paulus besser fassbar und das JohEv aufgewertet. Vor allem aber wird theologisch fassbar, dass der Heilige Geist auch »sachlich« wirklich der Geist Jesu Christi ist.
1 Kor 12,4-11: Charismen Charismen sind Gaben, die himmelwärts weisen, weil sie ohne Zweifel vom Himmel kommen. Etwas leichtfertig gesagt: Charismen sind gleichsam »Reklame-Veranstaltungen« Gottes, so wie nach Ansicht mancher Juden halbwegs gerechte Menschen Beweise für die Existenz Gottes sind – wir würden sie »Heilige« nennen. Gleichviel, ob nun Heilige, Gerechte oder Charismatiker – auf jeden Fall sind es Menschen, die auffallen. Außenstehende können durch sie leichter zu Gott finden. Ähnlich heißt es über die gemeinsamen Werke von Christen in einer Gemeinde in Mt 5,16: »… Sie (die Außenstehenen) sollen sehen, was ihr tut, und so zu Gott finden und euren Vater im Himmel loben.« Eine Gemeinde kann
613 durch ihr gemeinsames Tun so glaubwürdig Gott loben, dass die Wirkung geschickte Mission ist. Charismen sind zuallermeist nicht Predigten, sondern imponierende Taten mit dem Richtumgspfeil nach oben. Sie wirken prämissionarisch. Sie machen aufmerksam, lassen staunen. Sie sind den Wundern verwandt – daher gibt es in 1 Kor 12 auch das Heilungscharisma –, aber in wunderlosen Zeiten sind sie ein wunderbarer »Ersatz«. Sie sind nicht durchweg Wunder, aber wunderbar, vielmehr das Übertreffen aller Erwartungen. Durchkreuzt wird nicht die Natur, sondern das, was wir über menschliche Möglichkeiten zu wissen meinen. Insofern sind die Charismen nach den Katalogen bei Paulus (1 Kor 12 und Röm 12) und in 1 Petr 4 exzellente Argumente für Gott Zum Charisma gehören immer vier: Gott, der es schenkt, Gottes Geist, der es mit Glut und Kraft erfüllt, der Träger des Charismas und die Adressaten, die sensibel und begeisterungsfähig genug sind, ein Charisma wahrzunehmen und darüber glücklich zu sein. So geht es bei den Charismen um die »besondere« Gnade und um Kirche. Nur so ist es religiös sinnvoll, von besonderer Begabung zu sprechen. Denn ihr Ziel ist der Glaube möglichst vieler. Ein paulinisches »Dogma« ist in diesem Zusammenhang besonders wichtig. Paulus erklärt ebenso mutig wie pauschal, grundsätzlich jedem Christen, jeder Christin sei ein Charisma gegeben. Paulus hat Anlass, das zu sagen. Denn in der Gemeinde von Korinth gibt es Mauerblümchen, die offenbar nicht besonders hervortreten und sich im Gemeindeleben von anderen leicht »die Show stehlen lassen«. Nein, es hat ganz bestimmt jeder sein Charisma. Wenn man nie auf sie stößt oder gestoßen wird oder nie danach fragt, wird man sie nicht herausfinden. Vielleicht scheitern geistlich gesehen viele Biografien genau an dieser Stelle. Dann haben die Jungen oder etwas Älteren den Eindruck wie manche Christen in Korinth, nicht gebraucht zu werden, nichts beitragen zu können, an keinem Punkt begeistert sein zu können. Der richtige Zugang liegt bei jedem einzelnen Menschen: dass er rechtzeitig erfährt, wo seine persönliche Brücke zum Christentum ist. Charisma ist eine Grenzerfahrung. Menschen überschreiten die Grenze ihrer Leistungs- oder Leidensfähigkeit.
Berger (08129) / p. 614 / 19.5.2020
614 Dieser Grenzübertritt ist die Stunde der Wahrheit. Denn dass Menschen an Grenzen zu sich selbst finden können, kennen viele. Aber Charisma bedeutet mehr: dass wir an den Grenzen gehalten, getröstet und gestärkt sind.
1 Kor 12,12-31a: Grundsätzliches für eine Gemeinde Paulus verkündet in diesem Abschnitt wichtige Grundsätze: 1. Die Gemeinde ist wie ein Leib, und zwar durch die Gabe des einen Heiligen Geistes. – 2. Gerade die Teile des Leibes, die weniger wert zu sein scheinen, ehren wir besonders. So ist es auch mit unserer Zugehörigkeit zu Christus. – 3. Innerhalb des Leibes gilt eine Sympathie, ein gegenseitiges Mitbetroffensein aller von Ehre und Leid. – 4. Der Leib ist hierarchisch und nach Charismen gegliedert. Paulus macht diese Grundsätze angesichts beträchtlicher Spannungen in der Gemeinde geltend. Etliche fühlen sich benachteiligt, da sie im Miteinander nur eine höchst geringe Rolle spielen. Sie tragen sich als Mauerblümchen mit dem Gedanken, die Gemeinde zu verlassen, da sie nicht wirklich dazugehören. Andere dagegen haben ein komfortables Ansehen, sind die »kings«. Als Mittel, die Mauerblümchen zu beruhigen, verwendet Paulus einen Ansatz, den wir aus Kap. 1 dieses Briefes kennen und den man den kreuzestheologischen nennt. Es ist der Weg zum Frieden durch radikale Umwertung der bisherigen und bürgerlichen Wertmaßstäbe. Dann entfallen die hauptsächlichen Streitpunkte Reichtum, Adel, Schönheit, Ehre. Gott macht ein solches Handeln vor, indem er den Gekreuzigten zum Erwählten macht. Paulus sagt: Nach diesem Vorbild sollt auch ihr handeln. So sollt ihr diejenigen, die die Geringsten zu sein scheinen, besonders ehren. Übrigens, sagt Paulus, ist das ja auch bei der Bekleidung des menschlichen Leibes so. Die Geschlechtsteile und den After, die wir verbergen, behandeln wir mit besonderem modischen Glanz (z. B. Gürtel; Röcke). So wird das Verborgene zum Geschmückten. Am Bild des Leibes kann Paulus noch Wesentlicheres verständlich machen. Einmal den Gedanken, dass im Leib jedes Glied gebraucht wird, keines unentbehrlich ist und jedes an seiner Stelle
Der erste Brief an die Korinther
seinen Dienst zu tun hat. Paulus konnte für diesen Gedanken zurückgreifen auf die Fabel des Menenius Agrippa. Nach dem römischen Historiker Titus Livius wanderten in der römischen Frühzeit eines Tages die Proletarier aus Rom aus mit der Begründung, sie hätten das Gefühl, mit ihren hohen Abgaben doch nur die fetten Aristokraten zu ernähren. Es ging also auch in Rom um die »kleinen Leute«, die Niedrigen, die die meisten Steuern zahlen und sich ausgebeutet fühlen. Agrippa weist auf den menschlichen Leib hin, in dem der Magen in der Tat von allen ernährt wird. Aber der Magen versorgt daraufhin alle anderen Glieder mit Leben und Energie. Ohne ihn könnten sie alle nicht leben. Darauf kehren, so Agrippa, die Proletarier wieder nach Rom zurück. Nun dient diese Fabel bei Livius rein »reaktionären Zwecken«: der Stützung des status quo durch Bejahung der Ausbeutung. Bei Paulus ist der Zweck zwar auch die Erhaltung des Leibes. Aber der Unterschied zu Livius ist die Kreuzestheologie: Es soll nicht alles »beim Alten« bleiben, sondern die Geringeren müssen besonders geehrt werden. Gott hat das ja schon vorgemacht, und jetzt zeigt sich der Sinn der Nennung der Hierarchie in 12,28: Gott selbst hat nämlich Apostel, Propheten und Lehrer bestellt. Der Apostel hat am meisten zu sagen. Aber Paulus betrachtet sich durchaus als den Geringsten, als völlig missraten (Fehlgeburt), und zwar wegen seiner Vergangenheit als Christenverfolger (Kap. 15), oder als »billige Ausschussware«, als »Witzfigur einer Jahrmarktskomödie«, als »Idiot« (4,9f). Denn so schätzt er sich selbst ein, oder so wird er offensichtlich von den Korinthern gesehen. Gott hat im Gegensatz zu diesem menschlichen Ansehen Paulus zum Apostel gemacht, also ihn in seiner Rangordnung an die erste Stelle gesetzt. Genauso ist es mit den im zweiten Rang genannten »Propheten«. Auch sie gelten in der Gemeinde weitaus weniger als die Menschen, die in den Sprachen der Engel reden können (»Zungenrede«; diese Gabe wird bezeichnenderweise in 12,28 als letzte genannt). Die »kirchliche Hierarchie«, von der Paulus in 12,28 berichtet, ist also, sozial betrachtet, durchaus eine Antihierarchie. Denn Gott hat die buchstäblich Letzten ausgewählt. Paulus verdeutlicht am Bild des Leibes noch etwas anderes: das Prinzip des Mitleidens. »Wenn
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Kapitel 13: Liebe als höchstes Charisma
ein Glied leidet, leiden alle anderen mit. Wenn ein Glied Ehre empfängt, freuen sich alle anderen mit.« Schon der Philosoph Plato weist in seinem Staat auf diese Gesetzmäßigkeit des Leibes hin, die auch für ein Gemeinwesen gilt. Paulus gebraucht daher das Bild des Leibes für mehrere Zwecke. Ist das Mit-leiden aller Glieder miteinander in einer Gemeinschaft nicht eher ein erwünschtes Ziel, eher also Mahnung als Tatsache? Ist am Ende das Bild des Leibes für eine Gemeinschaft nicht moralisierend? Im Unterschied zum Epheser- und Kolosserbrief gilt nicht einfach die Gleichung: Die Gemeinde »ist der Leib Christi«. Denn in diesen Briefen ist Christus das Haupt des Leibes, alle anderen Christen sind Glieder. Eph und Kol spiegeln vermutlich ein späteres Stadium des Apostels (und sind vielleicht eben deshalb von zwei seiner »Assistenten« geschrieben). Dort geht es um Haupt und Leib. In 1 Kor gilt dagegen lediglich: Die vielen sind eines durch Teilhabe an dem einen – wie ein Leib. Denn in 1 Kor 12 ist Christus nicht das Haupt oder ein anderer Teil des Leibes. Entscheidend ist V. 12: »Die Gemeinde ist wie ein Leib, der aus vielen Gliedern zu einem zusammengefügt ist. Das gilt auch für die Verbindung mit Christus. Denn weil wir alle mit demselben Geist getauft wurden, sind wir jetzt ein einziger Leib.« Der Ausdruck »Christi Leib« fällt nicht. Höchstens kann man nach 1 Kor 12 sagen: Wir alle sind Glieder Christi. – Auch nach 1 Kor 10,15-17 sind wir durch die Eucharistie nicht Leib Christi, sondern durch den Leib Christi, an dem wir in dem einen Brot teilhaben, sind wir vielen trotz der Vielheit ein Leib (V. 17). Das, was in der Eucharistie bewirkt wird, ist nicht unsere Qualität, »Leib Christi« zu sein, sondern dass die vielen in der Zugehörigkeit und Anteilhabe an dem einen Herrn »ein Leib« sind. Das Ziel der Argumentation ist jeweils ein anderes. In Eph und Kol betont der Verfasser: Alle Glieder unterstehen dem Haupt. Christus ist das Haupt. Vom Haupt geht alles aus, zu ihm führt alles hin. Das Haupt ist schlechthin maßgebend. – In 1 Kor 12 dagegen ist Jesus Christus nicht das Haupt; nach 12,21 könnte Haupt sein auch der Anspruch eines einzelnen Christen sein, aber er wäre doch nur ein Glied unter anderen. 1 Kor 12 betont daher die Gemeinschaft der Glieder untereinander und nicht die Führungsrolle des Hauptes.
Nach 1 Kor 12 verdanken wir diese Eigenschaft, ein Leib zu sein, dem einen Heiligen Geist, mit dem alle Christen bei der Taufe getauft oder getränkt wurden (V. 13). Durch diese eine gemeinsamer Gabe sind wir nach Kap. 12 eine enge Gemeinschaft und wie ein Leib. Nach 1 Kor 10,15-17 steht an der Stelle der Taufe die Teilhabe an Brot und Wein beim Herrenmahl. Auch dadurch sind die Christen ein Leib. Worin liegt der Unterschied? In 1 Kor 12 wird jedenfalls die Taufe angesprochen, in 1 Kor 10,15.17 dagegen die Eucharistie. Beide sind in der Wirkung eng verwandt, doch das eine stiftet überhaupt die Gemeinschaft, das andere (Eucharistie) entfaltet sie je und je neu und gibt ihr die Gestalt verwirklichter Gemeinschaft (koinonia). Daher ist zum Beispiel Spaltung der Christen ein Vergehen gegen den einen Leib und damit gegen die Taufe, weil sie die durch die Taufe begründete Gemeinschaft zerstört. Das Vergehen beginnt nicht erst bei der Eucharistie.
1 Kor 13,4-13: Liebe als höchstes Charisma Der Gattung nach ist 1 Kor 13 eine Priamel, die Darstellung eines Höchstwertes (vgl. dazu K. Berger, Formen und Gattungen, § 34). Dass die Liebe der Höchstwert sei, wird besonders häufig dargestellt in Symposien (seit Platos »Gastmahl«): Die Mahlteilnehmer einigen sich darauf, dass Liebe der höchste Wert sei. So aber fügt sich 1 Kor 13 hervorragend in den gottesdienstlichen Zusammenhang von 1 Kor 11-14, wo in Kap. 11 gerade das gemeinsame Mahl erörtert wurde. Kap. 13 ist gerade auch für Kap. 11 die notwendige positive Antwort, wie denn die Vielfalt zu steuern sei. So ergibt sich eine Diskussion des Themas von Einheit und Vielfalt in der Gemeinde, und zwar so: Kap. 11: Die Vielfalt darf nicht dazu führen, dass Menschen beschämt werden (11,22), die wenig zu essen mitbringen und deshalb fragen, ob sie überhaupt noch dazugehören. Dann bewirkt das Abendmahl das Gegenteil von dem, was es soll. Kap. 12: Die Vielfalt ist, sinnvoll betrachtet, eine Fülle von Gaben, bei denen diejenigen, die meinen, sie gehörten nicht mehr dazu (12,16; vgl. 11,22), mit ihren Charismen jedoch besonderer Ehren wert sind.
Berger (08129) / p. 616 / 19.5.2020
616 Kap. 13: Die Liebe ist allen Charismen überlegen, weil sie »Gott selbst« ist. Wer sie hat und lebt, besitzt alles, was nötig ist.
Warum »bleiben« Glaube, Hoffnung und Liebe? Sie sind Gottes eigenstes Wirken. Alles andere sind nur Gottes Gaben in der Zeit und für die Zeit. Der Glaube ist Gottes Wunderkraft – sofern wir uns nicht widersetzen. Von ihm kann Jesus sagen: »Dein Glaube hat dich gesund gemacht.« Der Glaube verleiht »Nachhaltigkeit« und Stabilität. Die Hoffnung ist ein Stück der zukünftigen Welt in uns, auf das wir uns wie auf ein rettendes Floß setzen können. Die Liebe aber ist eingegossen durch den Heiligen Geist in unsere Herzen (Röm 5,4f). Sie ist deshalb das Größte, weil sie reines, unvermischtes Wirken Gottes ist. Sie ist göttlich, weil sie sich schenken, sich hingeben bedeutet, aus sich herausgehen zu anderen und für andere. Sie ist darin Gott am ähnlichsten und dessen direkte Nachahmung und Gegenwart. – Auf-
Der erste Brief an die Korinther
fällig ist, dass Paulus hier nicht sagt, ob es sich um die Liebe Gottes handelt oder um die Liebe zu Gott, um die Liebe zwischen Menschen oder die Feindessliebe Gottes oder der Menschen. Das alles ist für ihn nicht wesentlich. Wenn nur diese verwandelnde Macht wirksam und erkennbar ist. Ohne Gott wäre sie gar nicht möglich. Denn Liebe ist unteilbar und das Äußerste, was zwischen Gott und Mensch sowie zwischen Mensch und Mensch möglich ist. Daher ist Paulus gar nicht bemüht, sie lediglich auf eine ernsteste, äußerste Willensanstrengung zurückzuführen. Sondern er redet von ihr wie von einem Schatz, einem Blumenstrauß oder einem Himmelskind. Freilich ist Liebe für die gesamte Bibel nichts Romantisches, sondern stets die Gabe praktischer Solidarität. Sie wird seit den Vätergeschichten des Alten Testaments verstanden als Gegenseitigkeit im Angesicht von Tod und Wüste.
1 Kor 14-16: Gott der Ordnung Aufbau von 1 Kor 14 Paulus versucht, Probleme der Unordnung in Gottesdiensten zu lösen, bei denen viele Charismen zur Geltung drängen. Zunächst versucht er, an die Liebe zu appellieren, von der er soeben in Kap. 13 gesprochen hatte (14,1). Später, etwa in 14,33, wird er deutlicher: »Denn Gott liebt nicht das Chaos, sondern die Ordnung und den Frieden. Daher soll bei euch auch gelten, was in allen christlichen Gemeinden gilt …« Noch schärfer in 14,36: »Das Wort Gottes hat schließlich nicht bei euch seinen Ursprung, und ihr wart auch nicht seine einzigen Adressaten!« Wenn Paulus in argumentative Nöte gerät, verweist er stets auf das, was alle anderen tun (vgl. schon in 11,16b). Das verrät übrigens einen gesamtkirchlichen Sinn des Apostels – die Einzelgemeinde ist nicht das Nonplusultra. Paulus erörtert nacheinander: Prophezeien (»prophetisch predigen« oder »religiös reden«), und zwar im Unterschied zum Reden in der Engelssprache (Zungenreden); das Übersetzen von Engelssprache; Vortragen von Hymnen, Offenbarungen und Lobliedern; prophetische Reden sollen gebündelt und dann kommentiert werden. – Frauen dürfen nicht das Wort ergreifen.
V. 1-11: Vorzug des prophetischen Redens gegenüber der Glossolalie. Inhaltlich geht es bei den Zungen um dasselbe wie bei der Prophetie; nur die Zungen versteht niemand. Daher sollte man sie wenigstens übersetzen können (V. 5; oder man braucht einen Übersetzer: V. 27f). Leitworte: Erbauung, Prophezeien. V. 12-19: Glossolalisches und verständliches Beten – Kriterien: Erbauung anderer und Verständlichkeit. Auch Gebete müssen Träger von Informationen für die Hörer sein. Wegen der Ausschaltung des Verstandes ist das Zungenreden für Gemeindeversammlungen unbrauchbar. V. 20-25: Glossolalie ist für die Mission unbrauchbar. Prophetie dagegen schafft Anerkennung. Zwischen Glossolalie und Verstockung Israels besteht ein Zusammenhang. Aber im Unterschied zu Israel sind die Nichtchristen (Heiden) bekehrbar. Daher ist Glossolalie für Gemeindeversammlungen unbrauchbar. Die prophetisch Redenden dagegen können sich den hinzugekommenen Ungläubigen zuwenden und sprechen auf diese ein (sie werden überführt, das Verborgene des Herzens wird offenbar, das Bekenntnis folgt: Gott ist wahrhaftig unter euch). V. 26-40: Gemeinderegeln.
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Kapitel 14
V. 27 f.29-33a: über Zungenredner und Propheten: Je zwei bis drei Glossolalen und Propheten sollen nacheinander reden, dann soll die Glossolalie übersetzt und die Prophetie gedeutet werden. Schweigen ist geboten, wo sich keine Erbauung oder ein Durcheinander ergibt. Die Glossolalen sollen schweigen, wenn niemand übersetzt, die Propheten, wenn andere eine neue Offenbarung empfangen haben. Wichtig 14,32: Der Prophet ist Herr über seine Inspiration. V. 33b-36: Frauenregel (»Die Frau schweige in der Gemeindeversammlung.« – V. 34 verbietet das lehrende Sprechen, V. 35a das fragende Sprechen. V. 37f: Schroffe Forderung nach Anerkennung. V. 39f: Zusammenfassung: Vorordnung der Prophetie, Zungenreden nicht hindern; Ordnung.
Zungenreden: Im Griechischen heißt das wörtlich: in einer (anderen, fremden) Sprache reden. Was das für eine Sprache sein soll, bleibt zunächst offen. Jedenfalls handelt es sich um eine Sprache, die man übersetzen kann, also um konkrete Inhalte. Nach 13,1 kann es sich um Sprachen von Menschen und/oder von Engeln handeln. Zwei Dinge sind weiterhin zu beachten: 1. Andere, fremde Sprache meint nicht in erster Linie andere Syntax und fremdes Vokabular, sondern vor allem andere Inhalte. Auch diese bedürfen der Übersetzung. – 2. Es gibt keine Tradition des Zungenredens, die auch nur halbwegs lückenlos vom Neuen Testament bis auf unsere Tage reichte. Zwischen dem 2. Jh. n. Chr. und den amerikanischen Sekten, die das Zungenreden im 19. Jh. wiederentdecken, klafft eine große Lücke. Daher sind wir in unseren Vorstellungen von Zungenreden wesentlich durch die amerikanischen Bewegungen geprägt, und so ergeht es auch manchen charismatischen Gruppierungen. Demnach stellt sich Zungenreden im Übergang von formulierter Rede (Gebet, Lobpreis, Gesang) zu nicht-verbaler Rede ein. Es entstehen dann unkontrollierte Laute, die jeder für sich äußert. Im Unterschied zu Korinth ist Zungenreden heute zumeist ein Gruppenphänomen. Überdies steht ganz und gar nicht fest, ob das neutestamentliche Zungenreden überhaupt mehr als den Namen mit dem neuzeitlichen Phänomen gemeinsam hatte. Aus den Schwierigkeiten der Deutung könnte
ein Blick auf das hellenistische Judentum weiterhelfen. In der Schrift »Testament des Hiob« wird von den Töchtern Hiobs berichtet, dass sie nach der Himmelfahrt ihres Vaters in verschiedenen Sprachen unterschiedlicher Engelgruppen redeten (48,3; 49,2; 50,2; 52,7). Engel sind ja bekanntlich in verschiedene Klassen organisiert. Hier erfahren wir nun, dass Menschen an deren »Sprachen« teilhaben, die je nach Engelklasse anders ausfallen (49,2: Sprache der Archai; 50,2: Sprache der Cherubim). Das wichtige Neue, das wir hier erfahren: Diese Sprachen sind an konkrete Inhalte gebunden; es geht daher nicht um die Idee einer Sprachkompetenz. Denn auf Säulen (Stelen) sind diese Texte aufgezeichnet (48,3). (Ebenso 49,3: »Und wenn einer das Werk des Himmels erkennen will, wird er es finden in den Liedern der Kasia«). Das schließt aphatische Laute aus. Denn hier gibt es regelrechte Liederverzeichnisse (Gesangbücher). Den gleichen Einblick geben Gebete der Apostel in apokryphen Apostelakten. Wenn Paulus betet, dann spricht er die Sprache der Engel, und die ist Hebräisch/Aramäisch (wie wir von Amen, Halleluja und Hosianna her bis heute wissen). Entsprechend werden dann auch, je nach Fassungsvermögen des Abschreibers, hebräisch oder aramäisch sein sollende Gebete/Hymnen aufgeschrieben und abgedruckt. – Es könnte daher sein, dass die Sprachen die Engeldialekte nur die anderen menschlichen Sprachen (1 Kor 13,1), vielleicht solche anderer Christen, z. B. der Judenchristen sind. Jedenfalls steht es noch für die apokryphe syrisch/arabische Schatzhöhle fest, dass »Syrisch« die Sprache der Engel ist, denn in dieser Sprache wurde auch die Welt erschaffen. Fazit: Es kann gut sein, dass Zungenreden nicht ein psychologisches, sondern ein liturgisches Phänomen ist.
1 Kor 14,33b-40: Frauen Gerade in gebildeten und vornehmen Kreisen ist es nicht schicklich, wenn eine Frau öffentlich redet. Die Gemeindeversammlung in Korinth, die Paulus in 1 Kor 14 anspricht, ist keine Hausgemeinde mehr. Die Normen, die Paulus gerade in 14,34-40 setzt, gelten erkennbar für bessere
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618 Kreise. Gegenprobe: Bis weit ins 3. Jh. hinein sammeln sich Gnostiker in den Salons der Frauen der relativ Wohlhabenden und Gebildeten. Vgl. dazu: Plutarch, Ehevorschriften 30: »Den Ägypterinnen verbot die Landessitte, Schuhe zu tragen, damit sie zu Hause blieben … (31) Theano (sc. die Frau des Pythagoras) entblößte, während sie den Mantel um sich warf, die eine Hand. Als ihr nun jemand zurief »Schön ist der Arm!«, erwiderte sie: »Aber es ist kein öffentlicher.« Es soll aber nicht bloß der Arm, sondern auch die Rede der tugendhaften Frau nicht öffentlich sein, sondern sie soll bei Fremden, was die Stimme oder eine Entblößung angeht, sich scheuen und in Acht nehmen. Denn in der Stimme lässt sich ihre Leidenschaft, ihr Charakter und ihre Stimmung erkennen. (32) Phidias gestaltete die Venus der Eleer so, dass sie auf eine Schildkröte tritt, als Zeichen für die Frauen, dass sie zu Hause bleiben und schweigen sollten (sc. weil die Schildkröten im Gehäuse bleiben und stumm sind). Denn die Frau soll nur mit ihrem Mann oder durch ihn reden und nicht sich darüber ärgern, dass sie, wie ein Flötenspieler, sich durch eine fremde Zunge mit mehr Würde ausdrückt. (33) … Wenn die Frauen sich den Männern unterwerfen, so werden sie gelobt; wollen sie aber diese beherrschen, so haben sie mehr Unehre davon als die, welche beherrscht werden. Der Mann soll die Frau beherrschen, aber nicht wie ein Herr sein Eigentum, sondern wie eine Seele den Körper, indem er durch gleichen Affekt und gleiche Zuneigung mit ihr verbunden ist. Wie man nun für den Körper sorgen soll, ohne seinen Lüsten und Begierden zu dienen, so soll man auch seine Frau durch Liebe und Wohlwollen beherrschen.« Über die Verantwortung des Mannes für die Bildung der Frau: ebd. (48): »… Sammle allerwärts her für deine Frau das Brauchbare, wie die Biene, und trage es mit nach Hause, teile es ihr in Gesprächen mit und mache sie so mit den vorzüglichsten Schriften bekannt und vertraut … Nicht weniger ehrenvoll ist es, eine Frau reden zu hören: ›O Mann, du bist mir ein Führer, Philosoph und
Der erste Brief an die Korinther
Lehrer des Herrlichsten und Göttlichsten.‹ Solche Belehrungen bringen die Frauen am meisten von einfältigen Dingen ab; denn eine Frau, die Geometrie erlernt, wird sich schämen zu tanzen … Du aber …, suche vor allem, dich mit den Aussprüchen der weisen und tugendhaften Männer vertraut zu machen und bewahre stets jene Ermahnungen …, damit du deinem Manne Freude machst« (es folgt ein Plädoyer für die wissenschaftlich und philosophisch gebildete Frau).
Für die Regelung in 1 Kor 14 beruft sich Paulus unmissverständlich auf ein Herrenwort (14,37). Die paulinische Regelung wird nicht aus Frauenfeindlichkeit des Apostels zu begründen sein. Ganz im Gegenteil will Paulus Frauen für den Fall, dass sie Fragen haben und stellen, vor der öffentlichen Verhöhnung schützen. Dass Frauen, die es genauer wissen wollen, leicht Gefahr laufen, verhöhnt zu werden, ist in der Antike häufig. 1 Kor 14,33-36 wurde Opfer der Textkritik, weil man diese Verse als Hindernis für die Ordination von Frauen ansieht. Üblich ist es auch, Gal 3,27 (nicht Mann noch Frau) und 1 Kor 11,4f (Prophezeien von Frauen) gegen 1 Kor 14,33-36 auszuspielen. In 1 Kor 14 handele es sich angesichts der Widersprüche zu 1 Kor 11 und Gal 3 um nicht-paulinische Einschübe. Doch das Prophezeien von Frauen setzt keine sonntägliche Gemeindeversammlung voraus, und in Gal 3,27 geht es nicht um die natürliche Ordnung, sondern um die neue Schöpfung. Denn sowohl in 1 Kor 11 als auch in 1 Kor 14 argumentiert Paulus in Ordnungsfragen mit der natürlichen Ordnung der Schöpfung. Dieses ist das wirklich theologische Problem, es wird aber in der Regel noch nicht einmal wahrgenommen. Mann und Frau sind zwar gleichberechtigt (Gal 3,27), aber nicht gleichartig (1 Kor 11,14f). Die Schöpfungsordnung wird durch die Gleichberechtigung vor Gott nicht aufgehoben, obwohl sich Paulus redlich bemüht, auch in der Auslegung der Schöpfungsordnung in 1 Kor 11 beide Geschlechter zu ihrem jeweiligen Recht kommen zu lassen.
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Kapitel 15
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1 Kor 15: Auferstehung 1 Kor 15,1-11: Die Augenzeugen des Auferstandenen Paulus liefert hier einen historischen Vorspann zu seinem Kapitel über die Auferstehung. Es geht Paulus darum, die künftige allgemeine, leibliche Auferstehung aller Christen zu verteidigen. Paulus tut das gegenüber Menschen in Korinth, die an eine solche Auferstehung nicht glauben. Vielleicht haben diese Korinther eine allgemeine Unsterblichkeit der Seele angenommen, möglicherweise aber haben sie auch einfach gesagt: Mit dem Tod ist alles aus. – Im Rahmen dieses allgemeinen Beweisziels des ganzen Kap. 15 ist es die Absicht von V. 1-11 einerseits, die Tatsächlichkeit der Auferstehung Jesu ganz sicher zu erweisen. Denn darauf baut der Apostel seine gesamte weitere Argumentation auf. Andererseits nennt Paulus eine ganze Liste von über 530 Zeugen der Auferstehung Jesu, zu denen er auch selbst gehört. So hat er Autoritäten genannt, die dieses Ereignis auslegen und kommentieren können, weil sie Augenzeugen sind. Diese Kompetenz ist auch seine eigene, und sie entfaltet er dann noch. Theologisch wichtig ist zunächst die Frage, um welche Fakten oder Geschehnisse es sich bei der Liste der Erscheinungen handelt, die Paulus aufzählt. Vor allem: Was meint Paulus selbst – hält er die Geschehnisse für subjektive Eindrücke (Meinungen) oder für wirkliche Geschehnisse, die vom Himmel her in Raum und Zeit stattfanden. Und schließlich: Auf welcher Ebene müssten wir modernen Menschen diese Ereignisse ansiedeln? Paulus selbst jedenfalls rechnet mit objektiven Ereignissen, denn die Geschichte ist für ihn vor allem der Raum, in dem Gott dem Menschen begegnen will. Nach der Ansicht des Paulus geht es dabei vor allem – das wird dann aus dem Rest des Kapitels deutlich – um die neue Leiblichkeit der neuen Schöpfung. So wirklich und leibhaftig Adam und Eva waren, genauso leibhaftig ist die Auferstehung Jesu und wird der Tod verschlungen werden in der neuen Leiblichkeit aller Menschen. Nun hat man eingewandt, Paulus berichte gar nichts vom leeren Grab, also sei das Grab nach seiner Auffassung »voll« gewesen und Jesus in der Erde verwest. Der Auferstandene sei dem-
nach rein geistig erschienen und nicht in verwandelter Leiblichkeit. Es ist zutreffend, dass Paulus im Unterschied zu den vier Evangelien von einem leeren Grab nichts berichtet. Doch aus folgenden Gründen darf man erschließen, dass auch Paulus ein leeres Grab zu Ostern voraussetzt. Das religionsgeschichtliche Argument lautet: Dem gesamten antiken Judentum ist die Vorstellung von etwas »rein Geistigem« im Unterschied zu »Körper« nicht bekannt. Rein Geistiges gibt es nicht, denn es gibt keinen Dualismus von Geist und Materie. Diesen Dualismus (exklusive Zweiteilung) gibt es in der Alten Welt nur bei Plato und über den frühchristlichen Platonismus dann auch in der Dogmatik der Alten Kirche. Aber im Neuen Testament haben wir es noch mit Juden zu tun. Daher muss Paulus, wenn er schon von Auferstehung redet, zwingend auch an etwas Körperliches (im weitesten Sinne des Wortes) gedacht haben. Das Argument aus der apokalyptischen Eschatologie: Das apokalyptische Judentum der Zeit des Neuen Testaments teilt mit seiner hellenistischen Umwelt den Ausdruck »Verwandlung« – man denke etwa an Ovids Metamorphosen (Verwandlungsgeschichten). Der Sache nach geht es dabei um eine ganzheitliche Veränderung des Menschen zum Besseren hin. Auch außerhalb der Bibel ist dieses ein göttlicher Vorgang. Die Menschen werden zur Natur hin (zurück-)verwandelt, z. B. Philemon und Baucis in Bäume, Daphne in einen Lorbeerstrauch. Das Judentum spricht von der Verwandlung zu Gott hin; insbesondere dann, wenn der Mensch in den Bereich Gottes eintritt oder vor Gottes Thron steht, wird er so verwandelt, dass er dort bestehen kann und hoffähig ist. Oft wird diese Verwandlung mit dem Bild des Anlegens neuer Kleider beschrieben. Wenn der Leib neue, himmlische Kleider erhält, erstrahlt er in einem himmlischen, Gott gemäßen Licht. So ergeht es etwa Henoch vor Gottes Thron nach der Henoch-Apokalyptik. Bei Paulus ist von der Verwandlung in 1 Kor 15,51-53 die Rede. Er spricht davon, dass wir (die Christen) verwandelt werden, und er verwendet dafür wie die jüdischen Texte das Bild des Anziehens. Bei aller Verwandlung aber ist immer vorausgesetzt, dass der alte Mensch,
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620 und zwar inklusive Leib, verwandelt wird, und dass der alte Leib nicht noch weiter existiert. Nein, bei der Verwandlung wird etwas verwandelt, nämlich der ganze alte Mensch. Das innerpaulinische Argument lautet so: Wenn das Sterbliche das Unsterbliche »anzieht« (1 Kor 15,53), dann wird dabei das, was sterblich war, verwandelt. Das Bild des Verschlingens (1 Kor 15,54f) bedeutet genau dieses: Das Sterbliche ist dann nicht mehr da. Es ist im Neuen »aufgehoben« im doppelten Sinne des Wortes. Genauso wird auch der Rheginusbrief, die früheste weiterführende Deutung von 1 Kor 15 im 2. Jh. (bei Berger/Nord, Das Neue Testament, 1043 ff, Kap. 4), die paulinische Auferstehungslehre deuten: »Der Erlöser hat den Tod verschlungen … Er legte die vergehende Welt beiseite. Er (Jesus) verwandelte sich in eine unvergängliche Himmelsmacht. Er ließ das Sichtbare durch das Unsichtbare verschlungen werden und erstand von den Toten auf. So hat er uns den Weg geschenkt, auf dem wir unsterblich werden können. Dann gilt, was der Apostel sagt: Wir leiden mit ihm, wir stehen mit ihm von den Toten auf, wir gehen in den Himmel mit ihm. … Wir sind die Strahlen, (er ist die Sonne). Er umfasst uns bis zu unserem Versinken, das heißt, bis zu unserem leiblichen Tod in diesem Leben. Dann zieht er uns zum Himmel, wie die Sonne ihre Strahlen einsammelt. Nichts hält uns dabei zurück. (10) Das ist die Auferstehung durch den Heiligen Geist. Sie verschlingt die bloße Unsterblichkeit der Seele, die man psychische Auferstehung nennen könnte, oder die bloße Wiederbelebung des Körpers, die eine nur körperliche Auferstehung wäre. Sie verschlingt sie, das heißt, sie umfasst, überbietet und ersetzt sie …« – Ebenso deutet sie auch die Totenpräfation des katholischen Requiems: »Denen, die an dich glauben, Herr, wird das Leben nicht genommen, sondern verwandelt.« Es ist das Wesen jeder Verwandlung, dass das Alte nicht mehr da ist, sondern dass es in das Neue hineinverwandelt ist. – Aus allen diesen Gründen ist aus meiner Sicht zwingend vorauszusetzen, dass Paulus für seine Aussage über die Auferstehung Jesu das leere Grab voraussetzt, auch wenn er keinen eigenen Bericht über dessen Auffindung bringen kann. Das Verschlungenwerden alles dessen, was sterblich war, bedeutet dessen restlosen Ersatz durch Neues.
Der erste Brief an die Korinther
Die Kategorie der Verwandlung beschreibt das Neue höchst zurückhaltend. Die neue Schöpfung ist weder ein Schlaraffenland, noch ein wiederhergestelltes Paradies, noch ein Gegenstand beliebiger Phantasien. Paulus sagt nur eines: Der Tod wird nicht mehr sein. Die enge Begrenztheit durch Sterblichkeit wird aufgehoben sein. Denn Verwandlung heißt nur: Es wird anders sein, und zwar tröstlich und in Richtung größerer Ähnlichkeit mit Gott. Das ist nüchtern, das ist alles – und es ist dennoch unfassbar. Insofern ist das, was Paulus hier sagt, typisch für christliche Mystik: Jedes Schwelgen in Phantasien wäre eine Beleidigung Gottes. Diese Mystik stößt mit strikter Konzentration auf die Besiegung des Todes. – Die verwandelt werden, sind die Menschen. Es wird also nicht ein neuer Mensch gleichen Namens geschaffen. Das, was bleibt, was kontinuierlich sein wird, ist die Personalität jedes Einzelnen inklusive der Tatsache leiblicher Existenz. Denn »wir« werden verwandelt werden, »wir«, das heißt: jeder Einzelne. Denn jeder Einzelne ist unvertretbar und unersetzlich. Daher beschreibt Paulus in 1 Kor 15 ein doppeltes Geheimnis, das Geheimnis, dass Verwandlung möglich ist, und das Geheimnis, dass Christen (von anderen spricht er nicht) über den Tod hinaus als Personen bewahrt bleiben (zur Art der Verwandlung vgl. K. Berger, Sind die Berichte des Neuen Testaments wahr?, 2002, 107-159).
1 Kor 15,12.16-20: Auferstehung konkret Die Ausgangslage des Apostels beim Thema Auferstehung der Toten ist alles andere als rosig. Denn im Judentum glaubt nur die pharisäische Minderheit, der Paulus einst angehörte, wirklich an eine Auferstehung Toter. Im Heidentum, das in Korinth bei weitem überwiegt, ist der Gedanke an eine Totenauferstehung abwegig. Apg 17 schildert, wie Paulus in Athen den Widerstand der Philosophen erfahren haben könnte. Für griechisches Denken ist eine solche Adelung des Körpers nicht vorstellbar. Wir fragen: Musste man eigentlich an die Auferstehung der Toten glauben, um Christ zu sein? Gehört das nicht in ein recht weit vom Zentrum entferntes Spezialgebiet? Dazu erklärt Paulus in V. 14-17: »Wäre aber Jesus nicht auferweckt worden, dann wäre
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Kapitel 15
meine Botschaft sinnlos, und euer Glaube hätte keine Grundlage … Dann hättet ihr eure Sünden behalten.« Auf einer diffusen Sehnsucht nach irgendeinem Gott lässt sich – so Paulus in 1 Kor 15 – kein Glaube gründen. Der Glaube der Christen bezieht sich auf den lebendigen Gott der Bibel, und dieser hat »kürzlich« ein Lebenszeichen von sich gegeben: die Auferweckung Jesu von den Toten. Weil dieser Gott das getan hat, kann man an ihn glauben. All die anderen Götter, die vielleicht Glauben verlangen, sind dies nicht wert, denn sie sind tot. Die Auferstehung Jesu ist daher der entscheidende Grund, gerade an diesen Gott zu glauben und an keinen anderen. Scheinbar argumentiert Paulus in Apg 17 anders, als er den Athenern bescheinigt, sie seien fromm und glaubten sogar an einen ihnen noch unbekannten Gott. Könnte das nicht der Gott der Christen sein? Aber auch hier ist das entscheidende Argument: Gott hat den zum Richter bestellten Jesus von den Toten auferweckt und damit für ein künftiges Richteramt qualifiziert. Denn als Auferstandener kann Jesus vom Himmel her kommen, um die Welt zu richten. Auch in Apg 17 ist die Auferstehung Jesu das entscheidende Argument, und daran scheitert der Glaube der Athener. Die stark von ihrer nicht-christlichen Vergangenheit geprägten Menschen in Korinth waren mit ihrer Position, die Auferstehung abzulehnen, nicht unbedingt Anhänger einer exotischen Häresie, wie die ältere Forschung annahm. Man sprach da von Gnostikern – dann hätte man die Auferstehung abgelehnt, weil man den Leib überhaupt für wertlos ansah. Doch eine entfaltete Gnosis gab es im 1. Jh. n. Chr. noch nicht. Oder man sprach von korinthischen Enthusiasten – also von Christen, die angeblich der Meinung waren, das Weltende sei schon gekommen und alle Christen seien bereits geistig auferstanden und sozusagen im Himmel. Doch kein Beleg aus 1 Kor, den man gewöhnlich anführt, ist wirklich zwingend. Nur wenn man eine solche exotische Position voraussetzt und gewaltsam durchhält, findet man sie auch überall. Die Schwierigkeit liegt für Paulus ganz woanders, und hier muss er Pionierarbeit leisten. Als Pharisäer glaubt er zwar an die Auferstehung der Gerechten am Weltende. Als Christ glaubt er an die Auferstehung Jesu, die jedenfalls vor dem
621 Weltende, d. h. bereits in der Zeit, stattgefunden hat. Beides muss Paulus hier erstmalig in Beziehung zueinander setzen. Die Frage, die sich ihm stellt, ist daher: In welcher Beziehung steht die Auferstehung Jesu zur allgemeinen Auferstehung der Toten? In keinem der kanonischen Evangelien wird diese Frage gestellt oder beantwortet. Im Neuen Testament finden sich nur formelartige Zusammenfassungen in Kol 1,18 (»Erstgeborener aus den Toten«) und in Offb 1,8 (dasselbe). Diese Angaben sind knapp und unanschaulich, nachpaulinisch und eher als Zusammenfassung dessen denkbar, was Paulus in 1 Kor 15 entfaltet. Paulus mutet dabei den Korinthern nicht einfach die naive Meinung zu, die Auferstehung habe eben schon begonnen und die Auferstehung Jesu sei nur der erste Akt, die Christen lebten dann gewissermaßen zwischen dem ersten und dem zweiten Akt. Eine solche These wäre auch heute noch weniger überzeugend als damals, als die Auferstehung Jesu erst maximal zwei Jahrzehnte her war. Paulus sagt vielmehr: Ihr Korinther glaubt doch an die Auferstehung Jesu. Das aber setzt die allgemeine Möglichkeit von Auferstehung voraus. Also: Wenn es Auferstehung überhaupt geben kann, dann kann es auch Auferstehung der Korinther geben. Aber hier entstehen aufgrund des Wortlautes zusätzliche Fragen: Warum »sind die Korinther noch in ihren Sünden, wenn Jesus nicht auferstanden ist« (15,18)? Bisher und auch noch in 15,3 hat Paulus doch die Sündenvergebung an den Tod Jesu gebunden. Hat sich die Ursache der Sündenvergebung plötzlich geändert? Antwort: Nein, keineswegs. Seinen Tod »für die begangenen Sünden« aktualisiert Jesus erst jeweils als himmlischer Anwalt, Patron und Fürsprecher der Menschen. Er steht vor Gott (zu seiner Rechten) und »argumentiert« mit seinem Tod jeweils zu deren Gunsten. Als Patron tritt er täglich für die Menschen ein, das ist – in der Sprache des Hebräerbriefes – sein himmlischer Dienst als Hoherpriester. Wäre Jesus nicht auferstanden, so wäre er nicht erhöht und stünde nicht als Anwalt zur Verfügung. Und was heißt: »Wenn wir nur für unser irdisches Leben auf den Messias hofften, wären wir unter allen Menschen die ärmsten, da wir auf einen Toten hofften«. (V. 19)? Nur für das irdische Leben auf Gott zu hoffen war die Situation
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622 des Alten Testaments. Aber da hoffte man wenigstens auf den lebendigen Gott. Die Situation hätte sich dann unter Jesus Christus verschlechtert, wenn er nicht auferstanden wäre. Paulus fragt die Korinther: Wollt ihr im Ernst so erbarmenswürdige Menschen sein? Aber was heißt dann »Christus, Erstling der Entschlafenen«? Wie denkt Paulus die Verbindung zwischen Christus und den Toten wirklich, wenn Christus nicht nur ein erstes Glied in einer langen Kette von Auferweckten ist? Paulus entfaltet dafür in V. 21-28 eine recht komplizierte Auffassung über Jesu Wirken in der erhöhung. Zentral ist dabei der Gedanke, dass dem erhöhten Christus von Gott Vater alle seine Feinde zu Füßen gelegt werden, alle Geistermächte, ganz am Ende auch der Tod. Dann erst kann allgemeine Auferstehung sein.
1 Kor 15,20-28: Das Ende der Geschichte Christus regiert jetzt als König. Seine Regentschaft währt nach Paulus seit der Erhöhung zur Rechten Gottes bis zu seiner Wiederkunft, inklusive Totenauferstehung. Dann geht sein Reich auf in der universalen Herrschaft des Vaters, an der der Sohn teilhaben wird. In der Zeit zwischen der Erhöhung Jesu und seiner Wiederkunft leben wir jetzt. Es ist eine Zwischenzeit. Wir kennen sie auch aus Mt 13,41, wo vom Reich des Menschensohnes die Rede ist. Aus seinem Reich werden am Ende Engel allen Unrat einsammeln, d. h. alle, die für andere zum Ärgenis geworden sind, und alle, die Böses tun. Im Reich des Menschensohnes gibt es daher Gute und Böse vermischt. Die Trennung wird erst am Ende vorgenommen. Ebenso kennen wir dieses Reich Christi aus der Offenbarung des Johannes, und zwar als das so genannte tausendjährige Reich (Offb 20,4-6). Nach Paulus ist die Zeit der Regentschaft Jesu Christi ausgefüllt mit dem Kampf gegen die Mächte und Gewalten, die dem Menschen feindlich gegenüberstehen. Dazu gehört besonders der Tod. Die in 1 Kor ausgeführte Sicht meint: Jesus ist erhöht zur Rechten Gottes des Vaters. Der Vater unterwirft dem Sohn die menschenfeindlichen Mächte. Er tut das um des Sohnes willen und um den Sohn zu ehren. Die Zeit der Erhöhung erbringt daher eine wesentliche Frucht
Der erste Brief an die Korinther
der Erlösung. Der Vater schont die Menschen nicht nur hinsichtlich ihrer Sünden um des gekreuzigten Sohnes willen. Der Vater unterwirft auch die menschenfeindlichen Mächte dem Sohn zuliebe. Denn diese bedrohen den Menschen über die eigenen Sünden hinaus. Dieser weitere Aspekt der Erlösung »um des Sohnes willen« kommt in der gewöhnlichen Unterweisung zu kurz. Der Vater vergibt unsere Sünden um des Sohnes willen (Sühnetod). Überdies aber schafft er in der Zeit der Regentschaft des Sohnes oder jedenfalls an deren Ende die Befreiung von den menschenverachtenden Mächten und Gewalten. Gott bewirkt auch dieses um des geliebten Sohnes willen. Denn er hat in ihm die eigene Liebe zu den Menschen wieder- und anerkannt. Dass der Vater in der Tat um des geliebten Sohnes willen ihm die Mächte unterwirft, steht in 1 Kor 15,25-27: »Als letzter Feind wird der Tod besiegt. Denn wie es in der Schrift heißt, unterwirft Gott ihm alles und legt es ihm zu Füßen.« Die »Mächte« sind nach Paulus nicht menschliche politische Formationen, sondern geistige Mächte, die den Menschen total beherrschen. Vor allem seit dem 20. Jh.: Menschen versklavende mächtige Ideologien, wie Rassismus, Nationalismus, Kommunismus, Faschismus, Kapitalismus, Militarismus, jede Art von Totalitarismus, Konfessionalismus und Inquisitionismus. Die hauptsächlichen Mächte sind Geiz und Neid, altbekannte Feinde des Lebens. Paulus versteht daher nicht nur die Sünde als eine Art Sklavenhalterin (Röm 7), sondern auch weitere, ihr verwandte Weltmächte, die die Menschen genauso versklaven und von denen sie unbedingt befreit werden müssen. Dass nicht Jesus gewissermaßen »eigenhändig« die Mächte unterwirft, sondern dass der Vater dies für ihn tut, geht auch aus Offb 12 hervor: Michael wirft – als Gottes Bote und in Gottes Auftrag – den Satan aus dem Himmel hinaus. Es geschieht um der Menschen willen; diese haben seit der Besiegung Satans keinen Widersacher mehr im Himmel und an Gottes Thron. Daher kann man im Blick auf unser Kapitel sagen: In der Zeit, in der Christus König ist, herrscht auf Erden noch keineswegs Frieden, sondern eher das Gegenteil. Nach Offb 12 ist jetzt die Zeit der Martyrien, in der die Kirche »in der Wüste« lebt. Nach 1 Kor 15 führt Gott Vater selbst den Kampf gegen Ideologien und verfüh-
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Kapitel 15
rerische Mächte. Nach Mt 13 leben böse Menschen auch innerhalb der Kirche, die man nicht einfach hinauswerfen kann, sondern ertragen muss. Der Vater führt den Kampf, der letztlich in der Vernichtung des Todes endet. Denn der Tod ist der größte Feind, da er den Menschen geistig und leiblich bedroht und versklavt. Wie sich das geistig gestaltet, kann man an der Mordlust ganzer Völker erkennen Insgesamt ergibt sich folgende Reihenfolge der Ereignisse: Auferstehung Jesu – Sitzen Jesu zur Rechten des Vaters – der Vater besiegt für Jesus die Feinde des Menschen – der letzte Feind ist der Tod – Jesus kommt wieder – die Auferstehung der Toten kann geschehen, denn der Tod ist besiegt und kann die Toten nicht mehr in seiner Gewalt behalten. Daher kann es nicht rückgängig gemacht werden, wenn die toten Christen bei der Ankunft Christi in der Kraft des Heiligen Geistes auferweckt werden. – Es folgt die »Unterwerfung« des Sohnes unter den Vater, auf dass Gott alles in allem sei. Warum muss sich der Sohn dem Vater »unterwerfen«? Hat er das nicht schon immer getan? Antwort: Im Christentum ist Unterwerfung göttlich. Selbstbehauptung und Eigenmächtigkeit sind Merkmale der nicht Gott unterworfenen Welt. Schon nach Phil 2,7f erscheint Jesus in der Welt als Sklave, gehorsam bis zum Tod. Und dieses Sklavesein wird auch am Ende sein Merkmal sein, wenn er seine Aufgabe und Rolle vollständig erfüllt hat. Die Beziehung Vater/Sohn ist unumkehrbar. Der Sohn hat alles, was er ist, vom Vater. Daher bringt der Sohn durch die Unterwerfung völlig glaubhaft zum Ausdruck, dass er wirklich der Sohn ist. Der letzte Akt seines Gehorsams ist seine erneuerte Legitimation als Sohn Gottes. Und inwiefern ist Gott dann alles in allem? Antwort: Er füllt alles mit sich aus, erfüllt alles mit seiner Herrlichkeit. Aber alle Dinge und Personen bleiben bestehen. Alles an ihnen und in ihnen wird von Gottes lichtvollem Glanz verwandelt und schön.
1 Kor 15,20-25: Die Herrschaft des erhöhten Christus Nach 1 Kor 15 wird der Sohn dem Vater, wenn restlos alle Mächte unterworfen sein werden, sein
623 Reich unterwerfen (V. 28). Diese Vorstellung ist mit Hilfe von Ps 110,1 entwickelt: Der erhöhte Herr darf zur Rechten Gottes auf dem himmlischen Thron Platz nehmen. Um den Sohn zu ehren, unterwirft der Vater ihm alle Feinde. Der Vater ermöglicht so das Königtum des Sohnes. Aber dieses Königtum ist auf diese Periode der Überwältigung der Gegner beschränkt. Besteht da nicht ein Widerspruch zu der Formulierung des Credos, das über Jesus bekennt: »Und seines Reiches wird kein Ende sein«? Antwort: Nein. Die Präfation vom Christkönigsfest löst diesen scheinbaren Widerspruch zwischen 1 Kor 15,28 und Credo auf: »Wenn alle Kreaturen seiner Befehlsgewalt unterworfen sind, wird er ein ewiges und universales Reich deiner unermesslichen Majestät übergeben.« D. h.: Das Reich, das der Sohn übergibt, hat kein Ende, es ist ewig. Nur die Regentschaft des Sohnes hat ein Ende. Denn sein Reich währt von der Auferstehung/Erhöhung bis zur Vernichtung der letzten Gegner Gottes. Aber warum ist dann sein Reich zu Ende? Jede andere Annahme würde Chiliasmus bedeuten, die Erwartung eines tausendjährigen Reiches, wobei die Zahl tausend dann Unbegrenztheit bedeuten könnte. Nein, sagt die Kirche, es gibt kein tausendjähriges Reich Christi ohne Ende. Die Regentschaft des Sohnes ist eine spezielle Periode der Heilsgeschichte. – Aber ist das auch schon bei Paulus der Sinn der Reichsübergabe? Paulus hat noch nicht gegen Chiliasten zu kämpfen. Das verbindet erst die spätere Kirche mit diesen Bemerkungen. Und so ist das offenbar im Neuen Testament zu verstehen: Wie Johannes der Täufer vor dem Sohn kommt, um für ihn den Weg zu bereiten, so kommt der Sohn vor dem Vater, um für ihn die universale Regentschaft zu bereiten. Die Heilsgeschichte wird am Ende wie ein Teppich, der zuvor ausgerollt war, wieder eingerollt. Das Ausrollen hatte die Abfolge Vater – Sohn – Geist, und der Prozess des Wieder-Einrollens hat die Etappen Geist – Sohn –Vater. Warum ist das so? (Es soll übrigens nicht bestritten werden, dass in jeder der fünf Epochen derselbe dreieinige Gott ungeteilt wirksam ist. Aber in der Wahrnehmung der Menschen tritt je eine göttliche Person mit bestimmten Wirkungen in den Vordergrund. Für die Wiederholung des gegen Joachim von Fiore erhobenen Vorwurfs der Zerstückelung
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624 der Heilsgeschichte und der Trinität gibt es hier keinen Anlass). Noch einmal: Was steckt dahinter, dass der Sohn sich dem Vater unterwirft und sein Reich dem Vater übergibt? Erstens: Der Sohn gehorcht dem Vater, wie bei der Menschwerdung (Phil 2,6), so auch bei der Übergabe des Reiches. Zweitens: Sowohl der Gehorsam nach Phil 2,6, als auch die Unterwerfung nach 1 Kor 15,28b dienen gerade der demonstrativen Wahrung der Einheit Gottes. Der Sohn verdankt als Sohn nicht nur alles, was er hat und ist, dem Vater, er verhält sich auch so: Er wird gesandt und kehrt von der Sendung zurück, er tritt heraus aus dem göttlichen Bereich und tritt dorthin wieder zurück. Daher kommentiert Paulus selbstverständlich z. B. den Triumph des Sohnes nach Phil 2,11 ausdrücklich mit der Wendung »zur Herrlichkeit Gottes des Vaters«. Deshalb ist das Ziel der Geschichte nach 1 Kor 15,28, »dass Gott alles in allem sei«. Das Hervortreten (»Erscheinen«) des Sohnes und des Heiligen Geistes sind Wege Gottes, mit sich alles zu erfüllen. Es sind nicht Abwege zur Zersplitterung Gottes, sondern Stationen auf dem Weg zu den Menschen, die Gott selbst geht. Bei denen er sich aber nicht selbst entfremdet, sondern in seine Einheit zurückkehrt. Parallel zu Paulus und besonders zu Phil 2,6-11 macht das der Evangelist Johannes deutlich, der davon spricht, dass der Sohn in die Herrlichkeit zurückkehrt, die er am Anfang innegehabt hat (Joh 17,4).
1 Kor 15,29: Taufe für die Toten Man kann beten für andere, fasten für andere und auch sich taufen lassen für andere. Das ist die Auffassung der Korinther in diesem Vers, die im Zweifelsfall auf Paulus selbst zurückgeht und die er jedenfalls nicht beanstandet. Wie auch immer das zu denken ist – diese für uns heutige merkwürdige Praxis war für Paulus nicht merkwürdig und wirft Licht auf das noch heute praktizierte Beten für andere (von stellvertretendem Fasten höre ich weniger). Setzt man einmal voraus, dass für alle drei Dinge dieselbe theologische Grundidee herrscht, dann liegt die gegenwärtig noch gültige Brisanz darin, dass fürbittendes Gebet nicht ein frommes Sich-Sorgen um
Der erste Brief an die Korinther
andere ist, nicht mitleidendes Mit-Betroffensein, sondern eine kultische Handlung, vielleicht eine Art Opfer, so wie auch sonst Gebet und Opfer parallel stehen. Denn beim Beten, Segnen und Opfern gibt man einen Teil der geistlichen Substanz (Kraft, Zeit und Energie, Vitalität) zugunsten anderer auf. Daher soll der geistlich Ausgesandte nach biblischer Vorstellung unterwegs niemanden grüßen, damit er nicht Kraft verliert, bevor er die eigentliche Aufgabe erfüllt. Wir stoßen daher hier auf eine Art Substanz-Denken, wonach ein Christ ein Stück seiner geistlichen Kraft für andere einsetzen kann. Dieses Denken ist im Übrigen nicht »pur heidnisch«, sondern geht davon aus, dass dem Christen diese Kraft von Gott geschenkt ist. In diesem Sinne sind Gebet und Fasten für andere einsetzbare kultische Aktionen, die man zu Gott schickt, damit er sie anderen zuwendet. Bei der stellvertretenden Taufe geht es gleichfalls um einen kultischen Akt (Tauchbad plus Bekenntnis; ich nehme an, dass auf das Tauchbad eine Bitte um Sündenvergebung folgte; dann wäre das Bad nur die Vorbereitung für das Gebet, ähnlich schon in Sibyllinische Schriften 4), – einen Akt, den man Gott darbringen und anderen zugutekommen lassen kann. Der Ton liegt dabei wohl auf dem Bekenntnis. Im Zusammenhang von 1 Kor 15 bedeutet V. 29 folgendes: Welchen Sinn soll eine Taufe für die Toten haben, außer dass die Toten wieder zum Leben gelangen? Paulus unterstellt, dass dieses nur in Gestalt einer Auferstehung der Toten geschehen kann. Da die Korinther aber an die Auferstehung Toter im Allgemeinen nicht glauben (15,12), muss Paulus ihnen erst diese Inkonsequenz zwischen Praxis und Meinung vor Augen führen. Denkbar wäre allerdings, dass die Korinther bei ihrer Totentaufe an eine Art ewiges Leben gedacht haben, etwa in Form griechischer Unsterblichkeitslehre. Es muss ja keine Auferstehung sein, die sie erwartet haben. Aber Paulus legt ihnen diese Konsequenz als zwingend nahe; denn für seine Auffassung ist Taufe auf den Tod Jesu zwingend mit Teilhabe an der Auferstehung Jesu und an der Totenauferstehung verknüpft, was Röm 6,12 deutlich macht. – Die Korinther mussten daher überlegen, ob Paulus ihnen nicht doch eine Konsequenz vor Augen stellt, an die sie so nicht gedacht hatten.
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Kapitel 15
1 Kor 15,30-34: Auferstehung von Christen Paulus lebt und leidet für die Epheser nicht aus purer Menschenfreundlichkeit, sondern er setzt sich jeden Tag dem Tod aus, weil auf dieses Sterben die (eigene) Auferstehung folgt. Der Apostel stirbt daher nicht nur punktuell einmal mit Christus in der Taufe (Röm 6), sondern durativ ist dieses auf sein ganzes Leben übertragen. Paulus argumentiert hier daher mit der eigenen Person (argumentatio ad nostram personam). In diesem (moralinfreien) Sinne kann sich Paulus daher durchaus als Vorbild betrachten. – In V. 3234 beendet Paulus diesen Abschnitt mit einer drastischen peroratio (in der Rhetorik übliche eindrückliche Schlusspassage). Sie enthält folgende Argumente – erstens: Wer nicht an die Auferstehung glaubt, der sollte in der Konsequenz hier hemmungs- und rücksichtslos das Leben genießen, denn mit dem Tod ist dann alles aus. Paulus knüpft hier auch an den Stil paganer Grabinschriften an (z. B. bibe, lude, veni: »Trink, spiel und komm!« ruft der Tote dem Leser der Grabinschrift zu; »Solange du lebst, sei fröhlich, iss, trink, schwelge, umarme. Denn dieses war das Ende«; Berger/Colpe, Textbuch, Nr. 459, 1./2. Jh. n. Chr.). Zweitens: Wer so denkt, hat sich von schlechten Menschen beeinflussen lassen. Drittens: Wer so denkt, der träumt. Der Atheismus ist nicht weit. Ähnliches hören wir von Jesus in Mk 12: Wer die Auferstehung leugnet, kennt Gott und seine Macht nicht (Mk 12,24; Mt 22,29). Zu 1 Kor 15,35-44: vgl. Berger/Colpe, Textbuch, Nr. 460 (persischer Text nach Bundahisn).
1 Kor 15,36-38: Die Weizenkorn-Metaphorik in 1 Kor 15 und in Joh 12 1 Kor 15,36-38: Ein Samenkorn, das in die Erde gelegt wird, muss sich erst auflösen und sterben, bevor es wieder neu lebendig wird. Bei Weizen und anderem Getreide kommt das Korn nackt in die Erde und nicht in der Gestalt, die es einmal haben wird. Gott gibt allem, was lebt, nach seinem Willen eine bestimmte Gestalt. Für jeden Samen bestimmt er ein eigenes Gewand, einen eigenen Leib.
625 Joh 12,24f: Wenn ein Weizenkorn in die Erde fällt und nicht stirbt, bleibt es nur ein Weizenkorn. Nur wenn es stirbt, bringt es viele Ähren hervor. Wer an seinem Leben hängt, wird es verlieren. Wer aber sein Leben loslässt in dieser Welt, wird es behalten als ein Leben für immer. Ein Samenkorn, das in die Erde gelegt wird, muss sich erst auflösen und sterben, bevor es wieder neu lebendig wird.
Beide Texte sprechen über das Weizenkorn. Sie vergleichen dessen Geschick in der Erde mit dem Tod des (eines) Menschen. In beiden Fällen wird die Auflösung des Weizenkorns in der Erde als Tod bezeichnet. In beiden Fällen ist dieser Tod notwendig als Vorbedingung für das, was dann kommt. In beiden Texten ist das, was dann kommt, neues Leben. Die Schlusssätze der hier zitierten Passagen sind fast wörtlich identisch. – Die Zielsetzung ist unterschiedlich: 1 Kor 15 betont die neue Gestalt, die dem Weizenkorn verliehen wird, Joh 12 die Vielzahl der dann sprossenden Ähren. – 1 Kor 15 geht es um die neue Leiblichkeit der Auferstandenen, Joh 12 um die neue Vielzahl der Glaubenden nach Jesu Tod. – Die Verwandtschaft der beiden Texte ist zu würdigen auf dem Hintergrund der Bedeutung des Weizens in den Mysterienreligionen (Tod/neues Leben). Sie gehört in das Beziehungsgeflecht Paulus/JohEv und ist damit wohl beiden gemeinsames vorpaulinisches Gut.
1 Kor 15,45-49: Erster und zweiter Schöpfungsbericht Dieser Abschnitt gehört zu den kühnsten und großartigsten Stücken paulinischer Theologie. Denn Paulus wagt es, die jedem Juden bekannte geheiligte Abfolge der biblischen Berichte am Anfang der Genesis einfach umzudrehen. Denn betroffen ist hier die zweifache Erschaffung des Menschen nach Gen 1,26-28 (Mensch nach Gottes Bild, männlich und weiblich) und Gen 2 (Gott formt Adam aus Lehm und Eva aus der Rippe). In der heutigen Exegese wird dies Doppelung durch verschiedene Quellen erklärt, die lose aneinandergefügt seien, die Priesterschrift in Gen 1,1-2,4a und der Jahwist in Gen 2,4bff. Im Judentum zur Zeit des Apostels Paulus hatte
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626 man die Doppelheit der Berichte erkannt und teilte sie zwei verschiedenen Stadien der Schöpfung zu. Weil der Platonismus die Abfolge von Idee und materieller Welt kennt, sah der platonisierende jüdische Philosoph Philo von Alexandrien (ca. 20 v. Chr. – 60 n. Chr) im ersten Schöpfungsbericht die ideale und nicht materielle, ewige und im göttlichen Plan entworfene Schöpfung. Im zweiten Bericht erst sah Philo dann von der materiellen Schöpfung in der Welt berichtet. So konnte Philo erweisen, dass Mose ein Platoniker war, bzw. dass Plato seine Theorien aus der mosaischen Genesis gelernt hatte. Die eine platonische Wahrheit, nach der die ideelle Welt der materiellen vorausging, konnte wunderbar durch die Schrift bestätigt werden. Paulus teilt mit dieser zeitgenössischen Auslegung der beiden Schöpfungsberichte erstaunlich viel: nämlich dieses, dass der erste Schöpfungsbericht die ideale Schöpfung nach Gottes Willen darstellt, der zweite aber die faktisch bestehende Schöpfung, in der Schwäche herrscht. Die erste Schöpfung bezeichnet er mit dem Stichwort »Heiliger Geist« (gleichbedeutend mit Kraft und ewigem Leben), die zweite mit dem Stichwort »Fleisch« (Schwäche, Sterblichkeit), für »Fleisch« steht hier das eher dem Geist entsprechende Wort »Psyche«, und damit bezeichnet Paulus die sterbliche Seele, die Gott Adam mach Gen 2,7 eingehaucht hat. – Der ideale, kräftige erste Adam von Gen 1, der nach dem Bild Gottes geformte, ist für Paulus – nun im umgetauschter Abfolge – erst Jesus Christus: der Adam aus der Kraft des Heiligen Geistes. Der sterbliche Adam nach Gen 2 ist für Paulus dagegen Adam, der Mann Evas. Die Ausleger sollten die Leseanweisung in 15,46 beobachten; Paulus will zuerst vom »psychischen«, d. h. sterblichen Adam, dem Mann Evas, reden, danach erst gab es den pneumatischen Adam, nämlich Christus. Obwohl dieser in der Schrift zuerst genannt und behandelt wird, steht er in zeitlicher Hinsicht am Ende. Die alexandrinische jüdische Exegese las es umgekehrt. Dass der erste Adam nach Gen 1,2628 »männlich und weiblich« war, stört Paulus bei seiner Anwendung der Stelle auf Jesus Christus nicht; denn nach Gal 3,28 sind, wenn die Getauften Christus anziehen, die trennenden Unterschiede zwischen Mann und Frau aufgehoben. Paulus teilt also mit dem Judentum seiner Zeit
Der erste Brief an die Korinther
die Auffassung, dass in Gen 1 die vollkommene Schöpfung nach Gottes Willen und aus unzerstörbarer Lebenskraft dargestellt wird, während in Gen 2 die schwache, materielle gegenwärtige Schöpfung dargestellt ist. Doch der entscheidende Schritt ist dies: Paulus richtet sich gegen das Dekadenzschema Philos, nach dem erst das Vollkommene und dann das Irdische dargestellt ist. Denn für Paulus ist die Welt nicht auf dem Weg vom anfänglich Besseren zum Schlechteren, sondern nach der christlichen, eschatologischen (auf die kommende Endzeit ausgerichteten) Sicht kommt für ihn das Bessere erst mit Jesus Christus. Daher sagt er in 15,46: »Also gab es keineswegs erst das göttliche Leben aus Heiligem Geist, dann aber das schwache irdische Leben, sondern zuerst gab es das schwache, irdische Leben. Denn Adam, der erste Mensch, war aus Lehm, also aus der Erde geboren. Der zweite, vollkommene Adam aber, Jesus, kommt vom Himmel.« Die Denkform der beiden Adamsgestalten übernimmt Paulus demnach aus Gen 1 und 2. Doch weil er auf das Ende bezogen denkt, tauscht er die beiden Gestalten um. Gegen den Wortlaut der Schrift behauptet er, der Adam von Gen 1 komme in Wirklchkeit erst später, er sei Jesus Christus, der vollkommene Mensch nach Gottes Bild. Der Adam von Gen 2 sei der erste, nur aus Erde gemacht und nicht aus Heiligem Geist, nur mit sterblichem Leben bedacht. – In 1 Kor 15,21 hatte er schon einmal die beiden Adamgestalten konfrontiert: »Durch den Menschen Adam kam der Tod, durch den Menschen Jesus Christus wird die Auferstehung der Toten kommen.« Ausführlich stellt Paulus in Röm 5 beide Gestalten nochmals gegenüber, dort in Form einer Anti-Typologie, die vor allem Gegensätzlichkeit, Überbietung und Verschiedenheit darstellen wird. Dort wird Paulus sagen, dass die durch den zweiten Adam hergestellte Bindung enger und intensiver ist als die durch den ersten Adam bewirkte. Der erste wie der letzte Adam haben gewissermaßen universale Bedeutung, der erste für alle, der zweite für viele. Den Horizont des Judentums mit Abraham und König David sowie mit einer Zions-Erwartung hat Paulus damit, aufs Ganze gesehen, überwunden. Er gestaltet Menschheitsgeschichte und eine entsprechende Theologie. Das ist seinen heidenchristlichen Adressaten an-
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gemessen. Unter dem Aspekt des Beginns universalen Heils oder Unheils gibt es keinen größeren Gegensatz als den von Adam und Christus. Und schließlich kann Paulus auch aufzeigen, wie »die Menschen« jeweils mit dem einen und dem anderen zusammenhängen. Mit Adam sind alle durch Abstammung und Geburt verbunden, mit Christus sind die verbunden, die glauben. Die Abstammung von Adam ist »natürlich« und betrifft alle von selbst, die Verbindung mit Jesus ist geistlich und besteht nur für diejenigen, die glauben. Die Beziehung zum zweiten Adam ist abhängig vom Gehorsam des Glaubens. Denn geschaffen werden wir ohne unseren Willen, und ebenso geboren und mit der Erbsünde belastet. Aber erlöst werden wir nicht ohne unsere Zustimmung, die man »Glauben« nennt. Denn Gott möchte am Ende nicht mit Unwilligen zusammen sein.
1 Kor 15,54-55: Der Tod wird verschlungen Die Mächte und Gewalten sind Engel; zu ihnen gehört auch der Todesengel (vgl. dazu gleich das folgende Zitat; im Übrigen vgl. K. Berger, Mächte und Gewalten, Throne und Herrschaften. Ein unbekanntes Feld der Theologie, in: N. Buhlmann [Hg.], FS W. Imkamp, I, 2011, 22-35). Die spöttische Anfrage an den Tod in 15,55 kann durchaus im Sinne einer Lästerung verstanden worden sein. Darüber gibt es dann in 2 Petr und Jud eine erregte Diskussion. Hat Paulus in 1 Kor 15,54f gemacht, was man nicht tun darf, nämlich Engel geschmäht? Eine indirekte Bestätigung dieser Erklärung liefert BaruchApk (syr) 21,23 (»Deshalb tadle den Engel des Todes, und deine Herrlichkeit möge sichtbar werden, und erkannt werden möge die Größe deiner Schönheit, und versiegelt werde die Unterwelt, damit sie von jetzt an keine Toten mehr aufnehme, und die Kammern der Seelen mögen die zurückgeben, die in ihnen eingeschlossen sind. Und jetzt zeige schnell deine Herrlichkeit …« So betet Baruch. 1. Wie in Jud 8f, so besteht auch hier ein Zusammenhang von (problematischen) Engeln Gottes und seiner Herrlichkeit. – 2. Der Engel des Todes soll entmachtet werden, aber das geschieht durch »Tadeln« Gottes. – 3. Der vermutete Zusammenhang zu 1 Kor 15,24-27 besteht hier der Thematik nach. – 4. Der Text aus
syr Bar bietet selbst für den Extremfall des Todesengels ein beispielhaftes Verhalten Gottes, der auch hier lediglich »tadelt«.
1 Kor 15,54-58: Wer verschlingt wen? Paulus schildert zunächst mit dem Bild des Verschlingens das kosmische Ende des Todes und seine Ablösung durch den Äon der Unvergänglichkeit. Dann spricht er in ein paar Stichworten zum Verhältnis von Tod, Sünde und Gesetz. Schließlich beendet er den Abschnitt schon in 15,58 durch eine drastische Schlussmahnung, wie sie in Briefen üblich ist (peroratio). Im Mittelpunkt des ersten Abschnitts steht ein Schriftzitat mit einer Aussage und zwei rhetorischen Fragen: »Der Tod ist verschlungen in den Sieg des Lebens hinein. Sag, Tod, wo ist dein Sieg geblieben, wo hast du deinen Stachel gelassen?« – Die Basis im hebräischen Alten Testament ist dürftig: »Vernichten wird er für immer den Tod« (Jes 25,8). (Gottesrede): »Aus der Gewalt der Unterwelt sollte ich sie erlösen, vom Tode sie loskaufen? Wo bleiben nur deine Seuchen, o Tod, wo ist deine Pest, o Unterwelt? Mitleid verbirgt sich vor meinen Augen« (Hos 13,14). Paulus hat daher – durch die Textstellen angeregt – eine zusammenhängende Aussage geschaffen. Der Sinn ist: Der Tod hat ein Ende, die Stunde gehört der Unvergänglichkeit und Unsterblichkeit. Alle Kreatur wird sie »anziehen«. Alle Bilder sind gut hellenistisch: Verschlingen heißt absorbieren (vgl. ThomasEv 7: Der Mensch verschlingt den Löwen oder umgekehrt); Anziehen (sc. als Kleid) steht für Umwandlung; Unvergänglichkeit und Unsterblichkeit sind hellenistische Begriffe; in der griechischen Bibel finden sie sich nur in Texten ohne hebräische Grundlage. Paulus beschreibt hier den Vollzug dessen, was er in 15,26 angedeutet hat: Als letzter Feind wird der Tod vernichtet. – Mit diesen Worten formuliert Paulus für seine griechischen Hörer das eigentlich Revolutionäre am Christentum: Der Tod wird nicht das Letzte sein, Staub und Asche sind nicht das Ziel aller Dinge, sondern Freiheit vom Tod und Leben pur. Das Anziehen von Faschingskostümen ist eine säkularisierte Form einer Hoffnung, die sich jedes Jahr mit dem Erwachen der Natur meldet
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628 und in den Mysterienkulten eine Antwort fand: Ein fremdes Kleid anziehen bedeutet Verwandlung des Leibes, vertauschen des alten, vergänglichen Leibes mit dem neuen, kräftigen Leben. Die Frühlingsfeier als Gesundbrunnen für die Erholung der menschlichen Vitalität. Die Verheißung ewigen Lebens wird daraus erst, als das Judentum auf diese Sehnsucht stößt und sich mit ihr verbindet. Denn allein der Schöpfergott kann das Alte so intensiv verwandeln, dass nicht nur erneuertes, vitaleres Leben dabei herauskommt, sondern ewiges. In der Rivalität mit den Mysterienreligionen war dieses ein Angebotsvorteil des Christentums. Der Zusammenhang mit 15,56: Der Vers nimmt den Begriff »Stachel des Todes« auf und deutet ihn im Sinne des Stachels, dessen Stich zum Tod führt (so wie z. B. der Stich eines Skorpions). V. 56 bedeutet: »Denn wenn der Tod herrscht, dann ist die Sünde die Handlangerin seiner Macht, da sie mit dem Tod bestraft wird. Der Agent der Sünde aber ist das Gesetz, weil es die Sünde greifbar macht, wenn man es übertritt.« V. 57: »Doch Gott gebührt aller Dank, denn er hat uns durch unseren Herrn Jesus Christus den Sieg über Agenten und Handlanger des Unheils geschenkt.« – Drei Instanzen nennt Paulus hier: Tod – Sünde – Gesetz. – Durch den Kontext ist das Thema »Tod« gegeben. Er wird besiegt. Aber zuvor hat er universal geherrscht. Wie kam es dazu? Die Antwort auf diese Frage gibt das zweite Stichwort: Durch die Sünde kam es zum Tod. Weil alle Sünder waren und sind, müssen alle sterben. Warum folgt auf die Sünde der Tod? Die Strafe für Sünde ist der Tod. Aber warum? Viele Gebote des Alten Testaments haben die Sanktion: »Wer dieses tut, muss sterben.« Sünde ist Fremd-, Welt- und Selbstvernichtung. Diese Vernichtung schlägt auf den Täter zurück. Das ist nur gerecht. Im Sinne der Bibel ist Sünde zu definieren als das Nicht-Weitergeben dessen, was man empfangen hat. Wer zum Beispiel die kostbare Gabe des Lebens bei sich »versickern« lässt, gibt Leben nicht weiter und hilft mit, dass überall nur noch Tod ist. Die Sünde ist nach Paulus tatsächlich die Handlangerin des Todes. Mit ihrer Hilfe hält er sich an der Macht und weitet seine Herrschaft aus. Denn »der Sold der Sünde ist der Tod« (Röm 6,23). Wieso ist das Gesetz der Agent der Sünde?
Der erste Brief an die Korinther
Kein Mensch kann das Gesetz wirklich ganz und von Herzen erfüllen. Immer wird das Gesetz, zuverlässig wie eine Pegelmarkierung, das Maß der Sünde anzeigen, auch für jeden Einzelnen. Paulus denkt den naheliegenden Gedanken nicht, als wecke das Gesetz durch seine pure Existenz schon die Lust zur Sünde nach dem Motto »Das Verbotene reizt erst recht«. Das wäre nur eine oberflächliche Einschätzung. Nein, für Paulus reizt nicht das Gesetz, weil es verbietet, sondern den Menschen reizt die Maßlosigkeit. Und das Gesetz macht sie aktenkundig. Das Gesetz zeigt an, was der jeweilige Mensch alles verbrochen hat. Dadurch, dass das Gesetz da ist, wird die Sündenschuld erst anrechenbar. »Wo kein Gesetz, da keine Strafe«, sagen Juristen. Aber wenn ein Gesetz da ist, sagt Paulus, dann wird die Sünde angerechnet, dann blüht sie sozusagen auf, dann wird sie erfasst und kann herrschen, indem sie Angst vor Strafe einjagt und wirkliche Strafe unausweichlich macht. Denn als es noch kein Gesetz gab, sagt Paulus, da gab es zwar Sünde (in der Zeit zwischen Adam und Mose), aber diese wurde nicht erfasst und daher nicht angerechnet. – So steht jeder Mensch unter der unheilvollen Tyrannei von Gesetz, Sünde und Tod. Die eigentlich aktive Macht dabei ist die Sünde. V. 57 bedeutet in diesem Kontext: Was V. 56 schilderte, ist im Wesentlichen Vergangenheit. Der »Sieg«, den Gott durch Jesus Christus geschenkt hat, besteht nicht nur in der Beseitigung des Todes (das ist ja auch noch nicht »fertig«). Der Sieg besteht darin, dass wir nicht mehr notwendig sündigen müssen, sondern nicht mehr sündigen können. Weil wir (durch Taufe und Heiligen Geist) entscheidend gestärkt sind, ist die Sklaverei der Sünde prinzipiell aufgehoben. Das rührt letztlich aus der Auferstehung Jesu und der Weitergabe dieser Kraft durch die Taufe. Insofern ist hier Röm 1,4 zum Verständnis wichtig (Auferstehung Jesu Christi aus der Kraft des Heiligen Geistes). Einen ähnlichen Dank wie in 1 Kor 15,57 hatte angesichts ähnlich trüber Gesamtaussichten Paulus in Röm 7,25 formuliert. In beiden Fällen unterbricht Paulus die anthropologische Diskussion (Hinweis auf tragische Mechanismen) durch den freudigen Hinweis auf das, was gottlob schon geschehen ist. Neu seit Jesus Christus ist, wie es Augustinus formuliert, das posse non peccare (dass der Mensch nicht
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Kapitel 16
mehr notwendigerweise sündigen muss). Denn durch den Sieg Jesu Christi über den Tod ist den Christen die Möglichkeit eröffnet, auch der Sünde auszuweichen, wenn sie sich nur am Heiligen Geist festklammern. In V. 58 setzt sich der hymnische Stil fort in der Aufforderung, überreichlich das zu tun, was der Herr fordert, denn nichts ist vergeblich getan. Das wäre offenbar anders, wenn es den österlichen Sieger nicht gäbe. Denn dann könnten Menschen tun, was sie wollen; der Tod würde alles kassieren. Das Wort »Überreichtum«, »Überfülle«, »reichlich«, »im Überfluss« ist ein Wort bei Paulus, das wie kaum ein anderes andeutet, dass schon messianische Zeiten angebrochen sind.
1 Kor 16: Themen 1-4: Kollekte für Jerusalem: Jeden Sonntag schon etwas zurücklegen. Der Text ist der früheste Hinweis auf christliche Einhaltung des Sonntags. 5-9: Nach dem Besuch Makedoniens will Paulus nach Korinth kommen. Bis Pfingsten will Paulus in Ephesus bleiben. 10-11: Empfehlung, Timotheus freundlich zu behandeln (zum Stil von Empfehlungsschreiben vgl. Berger, Formen und Gattungen § 34).
629 12: Apollos will nicht nach Korinth gehen, obwohl ihm Paulus dazu rät. Will sich Apollos aus möglicher Rivalität mit Paulus heraushalten? Diese wurde in 1 Kor 3 angedeutet. 13-14: Mahnung zu Wachsamkeit und Liebe. 13 ist eine erste peroratio, die zweite steht in V. 22 f: Mahnung zur Wachsamkeit ist ein typisches Element von Abschiedsrede oder Sich-Verabschieden (vgl. Mt 24f; Didache 16). 15-18: Mahnung, Stephanas anzuerkennen, der gerade bei Paulus weilt. Stephanas hält treu zu Paulus, wie seit 1,17 bekannt. Wesentliche Nachrichten über Korinth verdankt Paulus dem Stephanas. 19-24: Grüße und Segenswunsch. 22f: Zweite peroratio: »Wer den Herrn nicht liebt, soll verflucht sein. Komm, Herr (und bestrafe jeden, der so ist).« Lieben bedeutet keine Herzensregung, sondern wie immer in der Bibel sehr praktisch verstandene Treue. Auch Maranatha ist keine sehnsuchtsvolle Parusiebitte und hat mit Parusie nichts zu tun. Um das baldige Kommen bittet man Himmelswesen, die kommen und Rache üben sollen für verübtes Unrecht. Gemeint ist daher: Die Untreuen soll der Herr alsbald strafen.
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Der zweite Brief an die Korinther
Kommentare: Ambrosius (380). – Augustinus (nach Beda) (420)*. – Joh. Chrysostomus (vor 400)*. – Johannes Damascenus (8. Jh.)*. – Bruno (1150)*. – Haimo v. Halberstadt (ed. 1519)*. – Nicolaus v. Lyra (1360)*. – Theophylakt (1250)*. – Thomas v. Aquin (1250)*. – Ps.-Anselm (1553)*. – C. G. Belliocensis (1550)*. – Dionysius Carthusianus (1552)*. – Joh. Calvin (1553)*. – H. Bullinger (1582)*. – R. Walter (1578). – N. Hemmingius (1579)*. – B. Aretius (1589)*. – A. Hunnius (1606). – B. Justinianus (1612). – D. Paraeus (1614). – J. Crellius (1635). – C. a Lapide (1648)*. – B. a Piconio (1663). – N. Gorranus (1692)*. – J. A. Heidegger (1699). – L. Fromondus (1663)*. –H. S. v. Alphen (1708). – G. Estius (1709)*. – G. M. Laurentius (1719)*. – J. Biermann (1725; 1/2 Clem). – C. Vorstius (1731)*.
– A. Remy (1739)*. – J. C. Wolfius (1741)*. – G. D. Kypke (1755)*. – J. L. Mosheim (1762). – J. S. Semler (1776). – G. T. Zachariä (1781). – A. Natalis (1788)*. – G. F. Seiler (1790). – F. A. G. Krause (1792). – G. Rosenmüller (1790). – S. F. N. Morus (1794). – L. C. Heydenreich (1825). – J. F. Flatt (1827). – G. Billroth (1833). – L. I. Rückert (1836). – W. M. L. de Wette (1841). – J. E. Osiander (1847). – A. Neander, W. Beyschlag (1859). – P. W. Schmiedel (1891). – H. Lietzmann (1909)*. – H. Windisch (1924). – H. Lietzmann, W. G. Kümmel (1949)*. – H. D. Wendland (12. Aufl. 1968)*. – R. Bultmann (ed. E. Dinkler, 1976). – F. Lang (1986)*. (*: Von demselben Autor wurde auch 1 Kor kommentiert)
KOMMENTAR 2 Kor 1-2: Wiederaufnahme des Kontakts zur Gemeinde (Ergänzung siehe S. 1053)
2 Kor 1,18-22: »Ja und Amen« Paulus will der Gemeinde sagen: Gott ist verlässlich, und ich bin es auch. Vor den Korinthern legt er seine Reisepläne dar. Er wird bestimmt kommen, denn auf sein Wort ist Verlass. Der Text ist zunächst vor allem liturgiegeschichtlich interessant. Erstens, dass im damaligen Judengriechisch, das Paulus spricht, »Ja« und »Amen« dieselbe Funktion haben, also synonym sind. Daher kann Paulus das »Ja«, das in Jesus Christus zu den Verheißungen gesprochen wird, mit dem »Amen« vergleichen, mit dem die Gemeinde auf die Schriftlesung antwortet. Zweitens ist es üblich, dass ein Gebet oder eine Schriftlesung, die ein Einzelner vorträgt, von allen mit »Amen« beantwortet werden. Heute nimmt diese Stelle das »Dank sei Gott« oder »Lob sei dir, Christus« ein. In jedem Falle antwortet die Gemeinde insgesamt. Als Antwort auf das Gebet des Einzelnen kennen wir das aus 1 Kor 14,16 und als antiphonarische Antwort auf eine Doxologie (nomi-
naler Lobpreis) aus Offb 7,12. Erst diese Bestätigung macht einen Einzeltext vor Gott und Menschen gültig. Dieses responsorische »Amen« hat daher grundlegende liturgische und zugleich juristische Funktion. Auch aus den Texten von Qumran ist uns das responsorische gemeinsame Amen der Gemeinde geläufig. – Liturgiegeschichtlich bedeutet das: Die Kultgemeinde insgesamt ist verantwortlich für das, was gesagt wird oder geschieht, und sie nimmt diese Verantwortlichkeit auf verbalem Weg wahr. – Bei Paulus wird das bestätigende »Amen« als ein Lobpreis Gottes aufgefasst, denn der Zusatz »für Gott zur Ehre« in V. 20 zeigt, dass das Amen als doxologischer, d. h. lobpreisender Text verstanden wurde. Offb 3,14 bestätigt, dass das Amen selbst auch als Lobpreis, ja als Ehrentitel gesehen wurde. Paulus argumentiert nun so: Ich bin in meinen Entschlüssen auch nicht so wankelmütig, dass ein Ja zugleich ein Nein wäre. Der treue Gott möge verhüten, dass mein Wort euch gegenüber so doppelbödig ist. Denn Gottes Sohn Jesus Christus, den ich mit Silvanus und Timotheus bei euch
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Kapitel 1
verkündigt habe, ist niemals das Ja und das Nein zugleich. Alles, was Gott je versprochen hat – durch Jesus Christus hat er das Ja der Erfüllung gesprochen. Auf dieses Ja antworten wir daher im Gottesdienst nach der Schriftlektüre mit dem bestätigenden »Amen«, Gott zur Ehre. Gott gibt uns und euch in Jesus Christus festen gemeinsamen Boden unter die Füße. Die vollständige Argumentation gibt uns einen weiteren Einblick in die damalige Liturgie. Denn gelesen wurde als heiliger Text selbstverständlich ein alttestamentlicher. Das Neue Testament gab es noch nicht als heilige Schrift. Das Alte Testament wird nun (1,20) insgesamt als Summe von Verheißungen gesehen, die in Christus erfüllt sind. Der Ausdruck »Verheißung« findet sich noch nicht in der griechischen Bibel. Paulus ist einer der ersten Juden, die das Wort für das Verhältnis von Gottes Wort und Zusage verwenden. Das Grundschema ist freilich urprophetisch: dass Gottes Wort nicht leer ist, sondern dass ein Prophetenwort in Erfüllung geht. Leider zitiert Paulus in seinen Briefen insgesamt doch nur wenige Stellen des Alten Testaments, an denen man die christologische Auslegung wirklich nachprüfen könnte; weitere Belege finden sich in der Apg und bei Mt. Erst Apologeten wie Justin (2. Jh. n. Chr.) zeigen uns ein eher flächendeckendes Vorgehen bei der Auslegung des Alten Testaments. Schließlich gibt 1,20b Aufschluss über die liturgische Rolle des erhöhten Christus. Durch ihn, d. h.: Durch Jesus Christus, gelangt unser Amen (das durch uns gesprochen wird) zu Gottes Ehre an dessen Adresse. Jesus Christus ist unser himmlischer Hoherpriester, der unseren Lobpreis zu Gott trägt. Daher sagt man auch heute noch am Schluss der kirchlichen Gebete »durch Jesus Christus, unseren Herrn«. Die ältere Messliturgie kennt noch die »Hände des heiligen Engels« Gottes, der das Lobopfer und die Gebete der Gemeinde vor Gottes Majestät bringen soll. Diese Rolle nimmt Jesus Christus ein, wenn es heißt: »durch ihn« – am eindrücklichsten in dem Gebet: »Durch ihn und mit ihm und in ihm ist dir … alle Ehre und Herrlichkeit« (Schluss des Kanonteils). Zu 2 Kor 1,21: »Gott … versiegelt uns auch und macht uns undurchlässig für alles, was uns von
631 außen bedroht, indem er den Heiligen Geist als Vorgeschmack auf das Kommende in unsere Herzen legt.« Über das menschliche »Amen« hinaus schenkt Gott seinen Heiligen Geist in jedem Gottesdienst und auch sonst, wenn man darum bittet (was Paulus hier gerade sozusagen beschwörend, tut): Gott, der den Heiligen Geist schenkt gibt dem Miteinander eine feste Basis. Er bewahrt auf diese Weise den Apostel und die Gemeinde sowohl in ihrem gegenseitigen Vertrauen und in ihrer Glaubwürdigkeit. Der Heilige Geist wird hier deshalb als »Versiegeler« verstanden, weil Versiegelung den Inhalt eines Gefäßes oder z. B. einer Brief- oder Buchrolle vor Außeneinwirkungen schützt, etwa vor Feuchtigkeit oder vor verfälschenden Zusätzen oder vor Kenntnisnahme durch Unbefugte; es geht daher um eine apotropäische Funktion: Das Böse wird abgewehrt. Insbesondere der Heilige Geist wird immer wieder als der verstanden, der versiegelt. Denn wo von ihm die Rede ist, betreten wir das Feld des »pneumatologischen Dualismus«, d. h. weil hier ein schroffes Entweder/Oder ohne Mittleres gilt, kann man vom Heiligen Geist sagen, dass er die bösen Geister und überhaupt alles Widrige abwehrt. Aus diesem Grund sind auch die Christen in der Offenbarung des Johannes »versiegelt«, und zwar mit dem Heiligen Geist. Denn auf der Gegenseite stehen die Widersacher, die ihrerseits das Siegel des Lammes nachahmen durch das »Abzeichen«, das sie tragen. Der Heilige Geist versiegelt, weil er die Macht Gottes ist, die Unheil und Störung abwehrt. 1,21f ist auch ein frühes Dokument »trinitarischer« Theologie. Denn so ist das hier gedacht: Der Vater realisiert die Verheißungen durch Jesus Christus, durch ihn als unseren Mittler sagen wir dem Vater Dank und Lob dafür, und das alles dient der Ehre Gottes (V. 20). Der Heilige Geist aber bewahrt alles das, was Gott gesagt und getan hat. Er schützt die Christen vor allem, was stört, nämlich vor allem, was die Reisepläne des Paulus wieder zu Fall bringen könnte. Hier übt der eine und einzige Gott in den drei »Personen« (Instanzen) klar voneinander unterschiedene Funktionen aus: der Erfüller des Wortes, der Mittler der Erfüllung und des Dankes, der Bewahrer der Heiligkeit. Die Christen sind die durch den Heiligen Geist
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632 Gesalbten. Dies ist zusammen mit 1 Joh 2,22.27 einer der wenigen alten Texte, die erkennen lassen, in welcher Weise die Christen an der Messianität, und das heißt: am Königtum Jesu Christi, Anteil haben. Der König ist im Alten Testament der Gesalbte. Die Christen sind durch die Geisttaufe mit Gottes Geist gesalbt. Denn der Heilige Geist wird »flüssig« vorgestellt, und er ist (mit dem oder ohne das Zeichen des Taufwassers) über die Glaubenden und Getauften ausgegossen. In diesem Sinne sind die Christen insgesamt »königliches« Volk Gottes, weil mit Heiligem Geist gesalbt. Der Abschnitt ist Beispiel für eine sehr situationsbezogene »Anwendung« paulinischer Theologie. Denn alles das, was Paulus hier vorbringt, dient der Erzeugung der Gewissheit, dass er die Gemeinde in Korinth demnächst wirklich besuchen werde. Ähnlich wird Paulus auch in 2 Kor 5 verfahren. So wenig also ist bei Paulus zwischen persönlicher Selbstrechtfertigung und hoher Theologie zu unterscheiden. Zu 2 Kor 1,24: Luther: »Gehilfen eurer Freude«; Berger/Nord: »Wir wollen dazu helfen, dass ihr fröhlich seid.« Freude ist für Paulus die konkreteste Form, der äußerste Vorposten des Christentums, seine am weitesten vorgeschobene Position im Alltag der Christen. Dabei ist Freude – ebenso wenig wie »Liebe« – keine Sache des Gefühls, der Stimmung oder gar des Lustigseins, sondern die Fähigkeit zur Entscheidung für bestimmte Werte, und bedeutet daher: Seid frei dafür, wenn es darauf ankommt, Zweitrangiges zu lassen und nicht an Hergebrachtem zu kleben, wenn die Liebe es erfordert. Fröhlichkeit überschneidet sich daher mit Merkmalen von Freiheit (nach heutigem Verständnis). Gleichzeitig hat sie, wenn man das Wort recht versteht, etwas zu tun mit totaler Verfügbarkeit. Zu 2 Kor 2: In 1,23-2,3a hatte Paulus angedeutet, er sei nicht nach Korinth gekommen, um nicht noch einmal, wie bei dem ersten Besuch nach 1 Kor, Aufruhr gegen sich zu erleben. 2,3b-11: Der Tränenbrief sollte als Ersatz für einen Be-
Der zweite Brief an die Korinther
such angesehen werden. Wenn die Gemeinde den, der Paulus beleidigt hatte, nun bestraft hat, dann muss nun Verzeihung walten. Denn wo keine Bereitschaft zur Verzeihung ist, findet Satan Eingang. – Nach 2,6 ist aber eine Minderheit in der Gemeinde offenbar noch in Opposition zu Paulus. Wenn aber die Gemeinde den »Fall« erledigt hat, dann ist er es auch für Paulus. Die Verzeihung der Gemeinde geht allerdings voran. – 2,12-13 Beginn des Reiseberichts, der in 7,5 fortgesetzt wird. Nach antiker Manier werden statt eines durchgehenden Reiseberichtes Reflexionen zwischengeschaltet. An deren Ende ist dann der Reisende »an seinem Bestimmungsort angekommen«. – 2,14-16: Die Hoheit des Apostelamtes wird dargestellt anhand der Bilder vom Triumphzug und vom Wohlgeruch. Das erste Bild ist: Gott führt den wandernden Missionar allzeit überall öffentlich herum (Anknüpfung an die vorhergehende Reisenotiz. Das geschieht »in Christus«, d. h. nach den Regeln und Normen seines Aposteldienstes). Die Universalitätsaussagen weisen auf Völkermission. Der Sachverhalt, der den Triumphzug begründet: Christus ist Sieger, Paulus aber Zeuge des Sieges. – Das zweite Bild: Der Dienst des Apostels ist wie sich ausbreitender Duft. Gott verbreitet den Duft seiner Erkenntnis durch den Apostel. Der Apostel ist überdies dasjenige von Christus, das zu den Menschen dringt. Er gehört daher in das Heilsgeschehen selbst hinein. Beide Bilder schildern die absolute Unterordnung des Apostels unter Christus in seinem Dienst. Damit wird aber zugleich die Zusammengehörigkeit mit Christus sehr stark betont. Da die Hoheit des Apostels nun so klar beschrieben ist, fragt der Apostel selbst: Wer hat dazu die Befähigung? – In 2,17 gibt Paulus eine erste Antwort, indem er ein Bild aus dem der Gemeinde bekannten Marktalltag verwendet: Er will Gottes Wort nicht unter Wert billig verhökern, um es überhaupt loszuwerden. 3,1 formuliert den Charakter von 2,17: Es handelt sich hier um eine apologetische Selbstempfehlung (vgl. zur Gattung: K. Berger, Formen und Gattungen, 2005, 95.137.302.323 ff). (Ergänzung siehe S. 1055)
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Kapitel 3: Die Grundlage: Bund und Erleuchtung
2 Kor 3-4: Die Grundlage: Bund und Erleuchtung Zu 3,1b-6: Persönliches vom Verfasser Paulus weiß sich der Gemeinde sehr persönlich und innerlich verbunden. Ähnlich spricht er zu den Galatern: »Ihr seid doch meine Kinder, und wie eine Mutter liege ich noch einmal in schmerzhaften Wehen, solange bis Christus in euch Gestalt gewinnt« (Gal 4,19). Paulus hat die Korinther auf den ersten Schritten ihres Weges zu Christus begleitet. Am Anfang stand Stephanas und seine Familie, dann kam Chloe und ihr Haus dazu. Zuerst reichte noch das große Speisezimmer ihres Hauses für die Gemeindezusammenkünfte aus, bis dann die Christen zahlreicher wurden. In 2 Kor 3 sagt Paulus zu den Korinthern: Ihr seid in mein Herz geschrieben, so wie Gott das von seinem Volk sagen kann: Ich habe euch auf die Innenseite meiner Hand geschrieben. Die anderen Missionare sprechen von »Empfehlungsbriefen«. Das sind standardisierte formelle Schreiben, etwa so: »Liebe Gemeinde in Korinth, hiermit lege ich euch den Überbringer dieses Briefes wärmstens ans Herz. Es ist der Herr B., bei uns bestens bewährt und ein treuer Christ. Nehmt ihn gastlich auf und versorgt ihn beim Abschied mit ausreichend Proviant. Es grüßen euch die Christen von XY.« Einen derartigen Brief stellt Paulus auch selbst im Römerbrief aus (Kap. 16,1-4). Die in Korinth auftretenden anderen Missionare sind auf diese Briefe angewiesen. Viel schlimmer ist in den Augen des Apostels Paulus, dass diese Leute, die so auf angebliche Korrektheit achten, und die doch für ihre Reputation auf Empfehlungsbriefe angewiesen sind, nun auch von Paulus fordern, er solle endlich einmal Empfehlungsschreiben vorlegen. Dabei hat Paulus den Korinthern zuallererst Christus verkündet, ohne ihn wären sie noch Heiden. Seit Jahren gibt es eine blühende Gemeinde in Korinth.
2 Kor 3,1 – 4,6: Theologischer Überblick Nach einer sehr persönlichen Einleitung in 3,1-3 stellt Paulus in zwei getrennten Abschnitten seine Verkündigung dar, und zwar im ersten Teil (3,4-18) bundestheologisch, typologisch und
mit Hilfe einer Theologie des Heiligen Geistes. Im zweiten Teil (4,1-6) stellt er das Evangelium schöpfungstheologisch und im Blick auf Jesus Christus dar. Der Name (Jesus) Christus kommt im ganzen ersten Stück nur einmal in einem Nebensatz vor (3,14b), fünfmal ist dagegen vom Heiligen Geist die Rede (zusätzlich auch in 3,3). So erreicht Paulus das Gleichgewicht zwischen Pneumatologie und Christologie, das ihn auch sonst auszeichnet. Hängt diese Doppelstrategie mit den Adressaten des Briefes zusammen? Dann könnte der erste Abschnitt an Judenchristen gerichtet sein; diesen ist die Rede von Mose und vom Bund vertraut, der zweite, christologische Abschnitt an Heidenchristen, denn hier geht es um die gut verständliche Rede von Licht und Erleuchtung, und Gleichnisse mit dem Spiegel gehören in die alexandrinische Erkenntnistheorie (vgl. K. Berger, Gleichnisse des Lebens, 2002, 243-245) und reflektieren wohl auch deren Verankerung im Mittleren Osten (vgl. dazu auch Hierokles v. Alexandrien nach Berger/Colpe, Textbuch, Nr. 475, und Corpus Hermeticum nach ebd., Nr. 478).
2 Kor 3,4-18: Alter Bund – Neuer Bund In diesem Abschnitt beschreibt Paulus seine Verkündigung anti-typologisch, indem er den Alten Bund (V. 14) dem Neuen Bund (V. 6) gegenüberstellt, und zwar durch Aufweis von Ähnlichkeit und Unähnlichkeit. Leitworte: zugrunde richten/zugrunde gehen (V. 7.11.13.14), Herrlichkeit (V. 7[2].8.9[2]. 10.18[3]), verherrlichen (V. 10[2]); Decke (V. 13.14.15.16); Geist (V. 6.8.17[2].18). Folgende gedanklichen Schritte weist der Weg des Apostels auf: 1. Beide Bundesschlüsse besitzen eine je spezifische Herrlichkeit, der Alte Bund eine vergängliche, der Neue Bund eine bleibende. Vom Alten Bund wird gesagt, dass seine Herrlichkeit jeweils nach einem Offenbarungsempfang immer schwächer wurde (und sich dann bei neuer Offenbarung wieder auflud). Beides ist in Ex 34 mit keinem Wort angedeutet. Der »abnehmende Strahlenglanz« ist paulinische Theorie.
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634 2. Mit dem Alten und Neuen Bund stehen sich gegenüber: Buchstabe und Geist, ein System (»Dienst«) des Geistes bzw. der Gerechtigkeit und ein System (»Dienst«) der Verurteilung, Vergängliches und Unvergängliches. 3. »Buchstabe und Geist« findet sich bei Paulus zuerst hier, dann in Röm 2,29 und 7,6. Hier im Kontext ist die Formel verankert durch 3,3 (geschrieben nicht mit Tinte, sondern mit dem Geist des lebendigen Gottes; nicht auf steinernen Tafeln, sondern in lebendigen Herzen). 3,3 führt auf die Spur der Herkunft dieser Formel. Die Vorstufen liegen in der alttestamentlichen Opposition von Stein und Herz, von äußerlicher Beschneidung und der des Herzens. Es geht daher (mit Abwandlungen) um den Kontrast zwischen nur sichtbarer und ehrlicher Religion. Die sichtbare Religion ist stets in Gefahr, unvollkommen zu bleiben (wenn das Äußerliche zu viel Gewicht hat); es bedarf zusätzlich des wirklichen Gehorsams, der nur ganzheitlich zu vollziehen ist. Oberflächliche und umfassende Erfüllung des Willens Gottes werden mit diesen Oppositionen (Tafeln und Herz, Buchstabe und Geist) thematisiert. Im Unterschied zum modernen Verständnis geht es aber bei der paulinischen Formel nicht um Deutungen oder Verstehen von Texten, etwa in dem Sinne von »nach dem Buchstaben, nicht nach dem Geist des Gesetzes«, oder wenn man sagt: Ihr haltet euch nur an den Buchstaben, nicht an dem Geist der Vorschrift. Paulus meint die Art des Gehorsams, das lebendige Handeln, d. h. Geist meint nicht Verstehen, sondern die Kraft zum Handeln. 4. Nach Ex 34 legt Mose die Decke auf sein Angesicht, um die Israeliten zu schonen. Paulus deutet das grundlegend um: Der Platz der Decke wird verlegt; sie liegt nicht mehr auf dem Antlitz des Mose, sondern auf den Herzen der nichtchristlichen Juden (V. 15). Und ihre Funktion besteht nicht darin, die Israeliten vor den schädlichen Strahlen zu schützen, sondern Erkenntnis zu verhindern. Zum einen verhindert die Decke die Erkenntnis, dass der Glanz des Alten Bundes vergänglich ist (V. 13). Zum anderen verhindert die Decke die messianische Interpretation des Alten Testaments; denn indem die Decke auf den Augen liegt, verdunkelt sie auch die Lektüre der Schrift (V. 14). Das führt am Ende dazu, dass das Herz der nicht-christlichen Juden die
Der zweite Brief an die Korinther
Schrift nicht wahrnehmen kann, und zwar in dem Sinne, dass die Schrift von Christus handelt. 5. Paulus diskutiert sodann den Fall, dass diese hinderliche Decke weggenommen wird, und zwar nicht vom Antlitz des Mose, wie es in Ex 34 heißt, sondern vom Antlitz der Juden, die noch nicht an Jesus glauben. Nach Ex 34,34 nimmt Mose die Decke von seinem Antlitz, wenn er im Offenbarungszelt mit Gott spricht. Das heißt in Ex 34,34 »wenn er sich zum Herrn hinwendet«. Paulus deutet dieses Hinwenden in seinem Sinne, und zwar als Bekehrung zu Jesus, dem Herrn. Denn das Wort »sich hinwenden« ist (abgesehen von seiner wörtlichen Bedeutung in Ex 34,34) auch ein Fachausdruck zur Bezeichnung der Bekehrung. So ergibt sich für Paulus der Sinn: Wenn sich ein Jude zu Christus bekehrt, dann wird zeitgleich die Decke von seinen Augen genommen. Damit kann er dann auch die Schrift »richtig« lesen. So ist V. 14 zu verstehen: Mit der Christus-Begegnung ist die Decke weggenommen. – Zur Lesbarkeit des AT infolge der Auferstehung Jesu vgl. Lk 24,26 f. 6. Zusätzlich deutet Paulus den Satz über die Hinwendung zum Herrn aus Ex 34,34 im Stil des Midrasch pescher, indem er ein einzelnes Wort aus dem Zitat aufgreift und es neu deutet: Der »Herr« aus dem Zitat meine – christlich gesehen – den »Heiligen Geist«. Dass es sich hier um Schriftauslegung handelt, in der ein Stichwort durch ein neues interpretiert wird, ist für die Deutung des V. 17 entscheidend. Denn die meisten lesen einfach: Der Herr aber ist (der) Geist – und möchten damit gerne die These begründen, Jesus habe sich in Geist aufgelöst. Richtig ist lediglich, dass Paulus durch diese Deutung des Wortes »Kyrios« (Herr) den Anschluss an die Rede vom Heiligen Geist in 3,3.6.8 schafft. So erreicht Paulus, dass der Leser nun den bislang leeren Begriff »Bund des Geistes« (V. 6) deuten kann. Dies heisst nun: Nichts trennt mehr von der richtigen Erkenntnis der Schrift und von dem direkten Zugang zu Gott. Obwohl die Deutung der Schrift seitens des Apostels Paulus an dieser Stelle extrem kühn ist, setzt er doch im sensiblen Zentrum der alttestamentlichen Offenbarung direkt an, bei der Begegnung zwischen Mose und Gott. Bei dieser Unverhülltheit wird Paulus im Folgenden (bei
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Kapitel 3: Die Grundlage: Bund und Erleuchtung
4,3) ansetzen. – Warum Paulus den Kyrios in V. 17 nicht auf Jesus Christus deutet, wird aus der Gesamtkonzeption von Kap. 3-4 verständlich; denn der christologische Teil der Argumentation folgt erst ab 4,1 (s. o.). 7. Die Herrlichkeit des Neuen Bundes wird nicht nur nicht geringer, sie verwandelt diejenigen, die Christus begegnen, in immer mehr Herrlichkeit hinein, d. h. es ist ein Immer-Mehr und eine wachsende Verähnlichung. 8. Paulus meint, dass der Heilige Geist nie zuvor, vielmehr erst in Christus (und auch weiterhin nur in Verbindung mit ihm) den Menschen mitgeteilt wird, und zwar dauerhaft und heilswirksam. Daher heißt erst der Neue Bund ein »Bund des Geistes«.
2 Kor 3,6-18: Der einzige Bund Gottes Hier spricht Paulus vom Alten Bund, der durch den Neuen Bund überholt ist. Allerdings sagt Paulus nicht, Gott habe den Alten Bund widerrufen oder aufgelöst, wohl aber, dass Gott den Alten durch eine Neufassung novelliert hat. So wie man ein Gesetz verbessert, in zweiter Auflage an die neue Lage anpasst, aber nicht aufhebt, sondern neu macht. Denn es gilt: Kein Prophet und kein Apostel würde dem Gott Israels eine Treulosigkeit der Art unterstellen, dass er Bundesschlüsse auflöst. Der Alte Bund ist ungekündigt. Der Neue Bund umfasst ihn, erweitert ihn, vertieft ihn und macht ihn wirklich zu einem Weg zum Himmel – was die Intention des Alten Bundes gar nicht war. Die gültige Fassung des einen Bundes Gottes ist der Neue Bund, aber damit ist der Alte Bund nicht abgeschafft und Israel nicht entwertet. Paulus selbst liefert den Beweis. In Röm 9,4-5 erklärt er, mit den Israeliten habe er (jeweils) den Bund geschlossen, und ihnen gehörten Gesetz, Tempel, Verheißungen und Erzväter. Die Alternative ist daher nicht »abschaffen« oder »fundamental Neues einrichten«. Man hat diese falsche Alternative aufgestellt und gesagt, 2 Kor 3 sei ein »Aussetzer« des Apostels Paulus gewesen. Doch das Verhältnis von Altem und Neuem Bund ist bei Paulus nicht ein Entweder– Oder, sondern mit dem Kommen Jesu Christi und des Heiligen Geistes ist der eine Bund von
635 Gott erneuert und in einer jetzt und für immer und für alle gültigen Form proklamiert worden. Das ist der neue und ewige Bund, den Christen laut 1 Kor 11 in jeder Eucharistie feiern. Doch das setzt weiterhin den Bund mit Israel fort, wie Röm 9,4f sagt. Der Neue Bund ist eine weiterentwickelte Form des Alten. Fragte man den Apostel, welchen Status angesichts der Spannung von 2 Kor 3 zu Röm 9,4f die nicht-christlichen Juden der Gegenwart hätten, dann wäre die Antwort wohl: Diese Juden stehen nicht im Neuen Bund, sie stehen aber auch nicht außerhalb des Alten Bundes und des Bundes mit Gott überhaupt. Sie sind auf dem Weg vom Alten zum Neuen Bund, und auf diesem Weg kann man ihnen nur Gutes wünschen. Gott hat nur einen einzigen Ölbaum gepflanzt, seine heiligen Wurzeln sind die Erzväter Israels. Für die nichtchristlichen Juden gilt, dass die Versöhnung am Kreuz auch für sie geschehen ist (Eph 2). Zu einer Versöhnung aber gehören beide Partner. Wenn einer diese Versöhnung ablehnt, dann ist Abwarten angesagt. Zu 2 Kor 3,7b: Vgl. Ps.-Philo, LAB 12,1: »Und Mose stieg herab. Und als er durchströmt war von unsichtbarem Licht, stieg er an den Ort herab, wo (nur) das Licht von Sonne und Mond ist. Es besiegte das Licht seines Antlitzes den Glanz der Sonne und des Mondes, und dieses wusste er selbst nicht … die Kinder Israels erkannten ihn nicht … Und es geschah danach, da Mose wusste, dass sein Gesicht sehr herrlich geworden war, da machte er sich eine Verhüllung, womit er sein Gesicht bedeckte.« – Philo, Leben des Mose 2,70: »… stieg er herab, viel schöner im Antlitz, als er da hinaufstieg, sodass die, die ihn sahen, staunten und erschrocken waren und mit ihren Augen nicht länger aushalten konnten den Anblick des ausstrahlenden, sonnenartigen Glanzes.« In LAB wird das strahlende Antlitz mit dem Anfertigen der Decke verbunden; Philo spricht über das Nicht-aushalten-Können (gegen das AT). Beide Texte bereiten so 2 Kor 3 vor, und zwar gegenüber Ex 34,29 f.33b.
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2 Kor 4,1-6: Das Evangelium führt zur Erkenntnis und Befreiung In Kap. 3 war nur Überbietung angesagt (beide Bundesschlüsse haben Glanz, nur der neue den stärkeren), in Kap. 4 jetzt Dualismus. Schärfster Ausdruck ist »der Gott dieser Welt« in 4,4, dann auch Blindheit/Finsternis im Kontrast zu Licht, listiges Verbergen im Gegensatz zur Offenlegung der Wahrheit. Aus Kap. 3 wird der Ausdruck »verhüllt« übernommen, doch er ist jetzt auf »Evangelium« bezogen und nicht mehr auf die Schrift (des Alten Bundes); die Vorstellung der Decke ist fallengelassen. In 4,1-2 schildert Paulus seinen »Dienst« (griech.: diakonia); in Kap. 3 hatte er nur das Wort verwendet, aber auf Einzelheiten verzichtet. Dieser Dienst besteht vor allem darin, dass Paulus alles offen legt und nichts verheimlicht. Hat Paulus, wenn er so redet, bestimmte Gegner im Auge? Wer legt denn nicht offen, sondern verhüllt und verbirgt? Paulus nennt dies Verhüllung, Geheimnistuerei, Hintergedanken, verschlagene Tricks, und es gilt: »Nur wer sich schämen muss, hat etwas zu verbergen.« – Für Paulus steht »List« nahe bei Trug und Irreführung (vgl. 12,16 »mit List und Tücke umgarnt und eingefangen … aufs Glatteis führen lassen«; vgl. 1 Thess 2,3). Wo das Evangelium so viel Licht ist, müssen die Gegner die Unklaren und Unscharfen sein. Aus V. 5 kann man für die Bedeutung von V. 2 folgern: Irreführung liegt immer dann vor, wenn die Verkündigung dem Lob, Ruhm und Vorteil des Apostels dient. Das Finstere, zu Verhüllende ist dann stets der eigene heimliche Vorteil des Apostels, zum Beispiel der, von der Gemeinde für sein Amt bezahlt zu werden. Der Gang der Argumentation: a) Paulus setzt sich dem Gewissensurteil der Menschen aus. Auch in 1 Kor 8-10 soll sich der Christ nach dem Gewissensurteil anderer ausrichten, sich von diesem kritisieren lassen. Dabei ist das Gewissen die kritische Instanz, die auf die Deckungsgleichheit von Normen und faktischem Verhalten achtet. Maßstab für den Christen ist immer, ob das Gewissen des Nächsten über die eigene Inkonsequenz stolpert. Es reicht also keineswegs, wenn man selbst behauptet, ein gutes Gewissen zu haben.
Der zweite Brief an die Korinther
b) Verhüllt ist die Botschaft nur denen, die nicht glauben, weil ihnen der Teufel, der Gott dieser Welt, ihr Denken verblendet hat. Irrtum (Täuschung, Verblendung, Betrug) ist auch sonst das Wesen des Widersachers; im Umkreis des Paulus in 2 Thess 2, ferner in Didache 16,1 f. – Immer geht es um den falschen Schein. Dieser verhüllt nicht irgendetwas, sondern das Evangelium, also das Erste Gebot und die Rolle Jesu Christi (und des Heiligen Geistes). c) Ganz speziell betrifft das Evangelium diesen Punkt: Erstens ist Jesus Christus das Bild Gottes, also sein Abbild. So sagt es auch Kol 1,15 und Hebr 1,2; erschließen kann man es auch aus 1 Kor 15,45; denn wenn Christus der wahre erste Adam ist, dann muss er auch Gottes Abbild sein. – Zweitens: Als Gottes Abbild ist Jesus Christus Träger von Gottes Herrlichkeit im Widerschein. Was sollte ein Abbild Gottes anderes reflektieren als Gottes Herrlichkeit? – Drittens: Das Evangelium hat Anteil an diesem Lichtglanz. Dieser wird im Evangelium umgewandelt in die Erleuchtung. Das ist auch von der Verklärung auf dem Berg nach Mk 9 her bekannt. Zwischen Licht und Erleuchtung besteht daher nicht nur eine metaphorische Beziehung (wie in unserer Sprache). Denn das Licht ist schließlich Teil des visionären Einbrechens Gottes in die bestehende Wirklichkeit. d) Das Evangelium bezieht sich ganz und gar auf Jesus Christus, nicht auf den Apostel. In 4,717 wird Paulus diesen Grundsatz entfalten. Bis in die tiefste Sphäre seiner Existenz hinein, d. h. bis in die Sterblichkeit, verkündet der Apostel exklusiv Christus. e) Nach 4,6 ist die Mission eine Fortsetzung von Gottes Schöpfungshandeln nach Gen 1,3 (»Es werde Licht!«). Denn der Lichtschein der Erkenntnis erleuchtet die zuvor finsteren Herzen. Der Ursprung dieses Lichtes ist Jesus als Abbild Gottes, d. h. der Widerschein der Herrlichkeit Gottes erstrahlt auf dem Antlitz Jesu Christi. Wie schon unter d) dargestellt, ist Jesus Bild Gottes. Dieser Lichtglanz führt zur Erkenntnis und gelangt so in die Herzen. Ähnlich wie bei den Erscheinungen des Auferstandenen ist die Wahrnehmung des Visionärs mit den Augen, also das Ästhetische, die erste Stufe; aber auf das Ästhetische folgt direkt die Einsicht in die Tatsache der Auferstehung. Die Visionen sind daher eine hö-
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Kapitel 4
here Einheit von Wahrnehmung und Erkenntnis des schlechthin Unweltlichen. Zentral bleibt hier der paulinische Ansatz: Jesus Christus (nicht Adam und Eva) ist Gottes Bild, und der Anteil an ihm (und damit eine Gottesähnlichkeit auf Seiten der Menschen) vollzieht sich durch die lichtvolle Botschaft des Evangeliums. Diese befreit den Menschen aus der Dumpfheit des Unwissens und der Gottesferne. Gleichgestaltung mit Jesus Christus könnte man dieses nennen, und das ist keine von selbst erlösende Gnosis. Durch die im Evangelium vermittelte Erkenntnis haben die Menschen Anteil an dieser Wirklichkeit selbst. Die Erlösung vollzieht sich, indem die Menschen Gottes Bild werden. Bild Gottes zu sein bleibt nicht christologisches Hoheitsprädikat, sondern läuft direkt auf die Erlösung der Menschen zu. Bemerkenswert: Hier geht es einmal nicht um den Sühnetod, sondern um eine Theologie der Herrlichkeit.
2 Kor 4,6-11: Biografie und Glaube Die Biografie des Paulus ist seine Theologie – und umgekehrt. Die genaue Entsprechung von Lebenslauf und der jeweiligen Gestalt des Glaubens unterscheidet Paulus – jedenfalls rein äußerlich gesehen – von jedem beamteten Theologieprofessor. Dazu kommt noch dieses: Die paulinische Biografie ist nicht zweiteilig, wie man zumeist glaubt. Da ist nicht zuerst der Christenverfolger und dann der zu Jesus Bekehrte. Diese Biografie ist zumindest dreiteilig, und das wird besonders an 2 Kor erkennbar. Da ist a) der pharisäische Christenverfolger, b) der in einer Lichtvision Berufene, dann c) der Apostel, dessen Weg im Zickzack-Kurs zwischen Bedrohung und Errettung verläuft. – Zwei dieser drei Phasen kommen in diesen wenigen Sätzen der V. 6-11 ans Licht. Seine Berufung stellt Paulus in 4,6 dar. Er äußert sich dazu hier anders als in Gal 1,12.16. In Gal 1 spricht er von der Offenbarung des Sohnes, und das tut er dort offenbar in Angleichung an das, was seinem Apostelkollegen Petrus widerfahren ist; die Stichworte »nicht Fleisch noch Blut«, »offenbaren«, »Sohn Gottes« sowie die Begründung des Apostelamtes dadurch stimmen auffällig überein mit Mt 16,16f, wo es von Petrus
637 gesagt wird. Sind wir also durch 2 Kor 4,6 näher an dem eigentlichen Geschehen? Es fällt auf, dass dieser Bericht große Übereinstimmung mit den drei Berichten über Pauli Bekehrung in der Apg des Lukas aufweist. Bisher hatte man unter Hinweis auf Gal 1 den lukanischen Berichten jede Glaubwürdigkeit abgesprochen. Doch Lukas schildert die Berufung des Paulus als eine Erfahrung von Licht und Stimme, und dabei wird das Licht mit Jesus identifiziert. Nebenbei bemerkt, hält sich Lukas an ein bestimmtes Rahmenschema, welches man Bekehrungsvision nennt und zu dem – analog zum Sinai-Geschehen – Licht und Stimme dazugehören (besonders bei Darstellungen der Bekehrung Abrahams spielt dieses eine Rolle). Mit anderen Worten: 2 Kor 4,6 steht den Berichten über Pauli Bekehrung in Apg 9.16.22 sehr nahe, und dass wir uns hier auf festem Grund bewegen, wird durch die allgemein bekannten Symptome der Bekehrungsvision bestätigt. Denn mit 2 Kor 4,6 will Paulus ausdrücklich die Art der Verbreitung des Evangeliums überhaupt beschreiben. So kann man sagen: In Gal 1 schildert der Apostel seine Berufung in Analogie und in Abgleichung mit der Installation des Petrus in Mt 16. In 2 Kor 4,6 schildert Paulus seine Bekehrung so, wie er sich auch für seine Gläubigen das Christwerden generell vorstellt. Hier ist er nicht der Kollege des Petrus, sondern das Muster der Bekehrten. Dadurch wird übrigens keiner der paulinischen Berichte falsch oder gar entwertet. Man sieht nur, wie gestaltbar die biografischen Grundgegebenheiten an dieser Stelle waren. In 2 Kor 4,6 schildert Paulus seine Bekehrung und die der von ihm Missionierten als Wirken des Schöpfergottes. Die Erschaffung des Lichts setzt Gott fort in der Bekehrung von Menschen; in 1 Kor 4,6 wird auch das Weltgericht in diesen Kategorien gedacht. Wo das ehedem und jetzt Verborgene finster ist, wird bei der Bekehrung oder Erhellung durch das Gericht lauter Klarheit. Gottes Wirken wird damit bei Schöpfung, Bekehrung und Gericht wesentlich als Erleuchtung durch Gottes Licht vorgestellt. Natürlich gibt es hier Beziehungen zur hellenistischen Inspirationsmystik. Aber entscheidend ist die Einbeziehung der Christologie. Das geschieht spekulativ sehr geschickt: Gottes Licht erleuchtet zunächst das Antlitz Jesu Christi, und von dort erst dringt
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638 das Licht in die Herzen der Menschen. Jesus Christus, sein Antlitz ist daher wie eine Art Spiegel, der das einfallende Licht weiterlenkt und damit auch anderes als sich selbst in Licht taucht. – Paulus gelingt es so, die visionäre Tradition der Spezialoffenbarungen zu entprivatisieren und zum Bild für die Bekehrung jedes Einzelnen werden zu lassen. Aus der visionären Lichterfahrung wird dabei die metaphorische Lichterfahrung jedes einzelnen Bekehrten.
2 Kor 4,7-11: Jesu Geschick – Paulus’ Geschick Noch aufregender ist der zweite theologische Ansatz in diesen Versen. Paulus verkündigt nicht nur und nicht zuerst mit Worten, sondern sein Geschick ist die lebendige Inszenierung des zentralen Geschickes Jesu: Leiden, Tod und Auferstehung. Denn Paulus leidet und wird immer wieder errettet, er ist in Lebensgefahr und wird immer wieder befreit. Schon in 1,8-10 hatte Paulus diese Grundregel seines Lebens an einem besonders krassen Fall illustriert: »Euch ist sicher zu Ohren gekommen, dass ich neulich in der Provinz Asia in Todesgefahr schwebte. Was ich ertragen musste, ging schier über meine Kraft, sodass ich schon dachte, es wäre um mich geschehen. Ich hatte mich schon aufgegeben. Aber dadurch fehlte mir jede Möglichkeit, auf mich selbst zu vertrauen. Es blieb mir nichts anderes übrig, als die Hoffnung einzig auf Gott zu setzen, der Tote auferwecken kann. Er hat mich gleichsam aus dem Tod befreit. Das wird er auch in Zukunft tun. Ich baue darauf, dass er mich immer befreien wird.« – Wir kennen die Aufzählungen der paulinischen Leiden aus den so genannten Peristasen-Katalogen, einer antiken Textgattung, die zeigen soll, dass ein großer Mann vieles durchmachen muss und durchstehen kann. In 4,8-10 hat Paulus diese Gattung entscheidend umgeformt. Einmal dadurch, dass er zur Gefahr jeweils die Rettung hinzufügt; vor allem aber dadurch, dass er sein Leiden und Dennoch-Leben als das Leiden und Sterben Jesu Christi am eigenen Leibe bezeichnet. Paulus greift damit ein Thema auf, an dem in den vier Evangelien Petrus beinahe scheitert, nämlich die Frage, wieweit der Jünger Anteil haben kann und will am Geschick seines Meisters.
Der zweite Brief an die Korinther
Petrus lehnt laut Mk 8 das Leiden des Menschensohnes ab und behauptet in den Szenen der Verleugnung, ein leidender Messias sei ihm unbekannt. Bis er dann bereut und bitterlich weint und am Schluss gekreuzigt wird wie sein Herr (Joh 21,18 deutet es an: Sklaventod). Paulus greift dieses Thema so auf, dass er von Tod und Auferstehung Jesu nicht dogmatisch spricht, sondern sie als Stationen der eigenen Existenz darstellt. Petrus und Paulus stehen auch in dieser Hinsicht unübertrefflich dramatisch nebeneinander. Für Paulus gehört als Wasserzeichen zur apostolischen Existenz, was Petrus erst nach verzweifeltem Irrweg einsehen muss. Es ist anzunehmen, dass Paulus über Petrus insoweit Bescheid wusste (wegen Gal 1,18). Dass auf dem Weg des Christen Leiden vor Herrlichkeit kommt, dass die Zustimmung zum notwendigen Leiden Jesu inklusive Anteilhabe daran zum Glauben und Leben eines Christenmenschen dazugehört, ist den Christen mittlerweile abhanden gekommen. Dass Jesus »für uns« gelitten habe, vermag man kaum einzusehen. Dass man aber mit ihm mitleiden müsste, wird gerade durch den Hinweis auf das »für uns« zurückgewiesen. Sagt nicht das landläufige Christentum, dass einer für alle gelitten hat und dass es damit gut ist? Die Evangelien und Paulus sprechen eine andere Sprache. Der Jünger, die Jüngerin Jesu wird leiden wie er. Der Trost besteht darin, dass dieses alles nicht einsam erlitten wird, sondern in Weggemeinschaft mit Jesus. Vielleicht schreckt man auch vor dem Leiden zurück, weil man an die Auferstehung so wenig glauben kann. Nun hatte Paulus – wie auch Petrus – den Vorzug, den Auferstandenen leibhaftig gesehen zu haben, sodass die Visionen in beider Leben die Kehre bedeutete. Die Abfolge von Leiden und Rettung, von Tod und Auferstehung ist nicht zwangsläufig. Sie ist alles andere als ein Gesetz. Aber sie ist ein Markenzeichen von Gottes Handeln nach der Bibel. Gott kann es offenbar nicht lassen anzukündigen (und zwar durch Fakten), dass er es als die eigentliche Herausforderung ansieht, den Tod zu besiegen.
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Kapitel 4
2 Kor 4,10-15: Paulus und die Gemeinde In diesem einzigartigen Text schildert Paulus, wie er und die Gemeinde sich als zwei Pole gegenüberstehen, aber doch auch und letztendlich zusammenkommen. Paulus tut das, wie gewohnt, auf den beiden Bahnen der Christologie und der Pneumatologie. Auch hier bieten diese ein Gleichgewicht. In 4,10-11 zieht der Apostel die theologische Konsequenz aus dem Auf und Ab von größter Gefahr und wunderbarer Rettung, von dem wir in V. 7-9 gehört haben. Dieses Resümee steht im Zeichen der gänzlichen Entäußerung des Apostels. Wenn er leidet und fast an Todesrändern steht, dann ist das nichts weiter als das Todesleiden Jesu. Wenn der Apostel gerettet wird, dann wird an seinem Leib das Auferstehungsleben Jesu sichtbar. Paulus verwendet hier das Wort »aufscheinen«, »aufleuchten«, das auch dem hellenistischen Epiphanie-Begriff zugrunde liegt. In 4,4 konnte man erkennen: Die Erlösten werden Christus ähnlich. Beim Apostel geht diese Ähnlichkeit noch weiter und wird auch eine biografische und passionstheologische. Paulus schildert uns hier die restlose Selbstpreisgabe des Apostels, weil es nur noch eines gibt: Jesus Christus als die Weise, in der Gott sich zeigt. Das genau ist die klare Kante paulinischer Christologie. Im Apostel wird der eine Herr »epiphan«. Nach V. 12 gilt: »Auf meiner Seite wirkt der Tod, auf eurer dagegen das Leben.« Aber Tod und Leben gehören zusammen. Wie im Gleichnis vom Weizenkorn ist das Verschenken des Lebens, damit ein anderer leben kann, gar nichts Ungewöhnliches. Nur ist es hier auf Apostel und Gemeinde verteilt. In V. 13 gibt Paulus ein neues Stichwort: Beiden »Parteien« gemeinsam sind der Heilige Geist.
639 Es ist der Geist, der den Glaubenden die Worte des Bekenntnisses eingibt. Aus Röm 10,9f hören wir, dass Bekennen mit dem Mund und Glauben mit dem Herzen zusammengehören. Wie in Röm 10 bezieht sich das auch hier besonders auf Jesu Auferstehung; hinzukommt jetzt: Gott, der Jesus auferweckt hat, wird sowohl Paulus als auch die Gemeinde der Korinther (euch) auferwecken, »so dass wir und ihr dann mit Jesus vereint gemeinsam auferstanden sind«. Gedankenführung: Heiliger Geist – Glaube – Worte des Glaubens (Bekenntnis) – Gnade vervielfältigt sich – Dank an Gott wird ausgesprochen – Ehre Gottes als letztes Ziel. Denn die Gabe des Geistes an beide Partner bleibt nicht folgenlos. Sie äußert sich darin, dass der Glaube in Worte gefasst werden kann und konkrete Aussagen anvisiert, zum Beispiel die Auferstehung, und zwar die gemeinsame. Glaube und Heiliger Geist sind daher keine Selbstläufer, sondern zielen konkret auf zukünftig gemeinsames ewiges Leben. Das gemeinsame Bekenntnis ist wichtig. So erreicht die Gnade (das Heil) viele Menschen, und viele können Gott danken. Das alles dient seiner Ehre. Woraufhin sagt Paulus das? Aus 1 Kor 15,12 wissen wir, dass in Korinth der Glaube an die Auferstehung nicht weit verbreitet ist. Man scheute sich wohl auch, Derartiges zu bekennen. Offenbar ist der Zusammenhang zwischen Heiligem Geist und Bekenntnis nicht allgemein bekannt, obwohl Paulus in 1 Kor 12,1-3 darauf Bezug nimmt. Wahrscheinlich haben die Korinther stärker den Event-Charakter des Pneuma-Besitzes betont. Paulus macht in diesem Abschnitt den Korinthern klar, wie das zusammenhängt: Seine Leidensexistenz, das fröhliche Leben in Korinth und die künftige Auferstehung.
2 Kor 4 – 5,10: Der Zwischenstand 2 Kor 4,13 – 5,1: Metaphorik von Haus, Stadt und Tempel Paulus spricht hier über das, was unmittelbar nach dem Tod kommt. Paulus schildert zwei längere, gegenläufige Prozesse: »Eben deshalb lassen wir uns nicht kleinkriegen. Zwar wird unser irdi-
sches Leben nach und nach aufgerieben und zerstört. Doch gleichzeitig wird das, was wir zukünftig sein werden, auf unsichtbare Weise schon jetzt ganz neu in uns begründet und wächst mit jedem neuen Tag« (4,16). Der eine Prozess ist der langsame Verfall der Leistungsfähigkeit, der Kräfte und des Aussehens. Das
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640 Ende ist der Tod. Der andere Prozess ist gegenläufig. Er vollzieht sich am inneren Menschen. Den Ausdruck »innerer Mensch« hat Paulus von Plato entlehnt, aber im eigenen Sinne – wie auch sonst das Menschenbild der griechischen Philosophen – umgedeutet. Denn bei Plato bezieht sich der innere Mensch auf die unsichtbaren Werte der Vernunft und des Guten. Paulus dagegen meint das Wirken des Heiligen Geistes –, jedenfalls steht es so in dem Paulus nahestehenden Eph 3,16 (stark zu werden durch den Heiligen Geist am inneren Menschen). Das wäre dann ähnlich wie bei der Vernunft in Gal 5,17: In der Philosophie dreht sich alles um den inneren Kampf zwischen Vernunft und Trieben, bei Paulus zwischen Heiligem Geist und dem »Fleisch« aus der vorchristlichen Existenz der Christen. Das heißt: In beiden Fällen wird die Vernunft der Philosophen ersetzt durch den Heiligen Geist von Gott. So ist also alles Gute und Wertvolle gerade nicht im Menschen anzusiedeln, sondern es wird ihm als Gnade von Gott her zuteil. Wie soll man sich nun dieses Heranwachsen des inneren Menschen vorstellen? Es geschieht unaufhörlich, Tag um Tag. In demselben Maße, in dem Menschen äußerlich abbauen, können Christen innerlich wachsen. Das Neue wird in den Christen – einfach dann und dadurch, dass sie den Heiligen Geist nicht vertreiben. Dieses Wachsen des Neuen geschieht bis zum Tod. Im Augenblick des Todes, bzw. kurz danach, wird das, was da herangewachsen ist, vom Himmel her als neuer Mensch vollendet. Bei Paulus ist dieser Augenblick in 5,1 formuliert: Wenn das irdische Zelt hier abgebrochen wird (der Leib stirbt), dann bekommen die Christen von Gott ein neues, himmlisches, nicht von Händen gemachtes Haus. – Die Präfation des Requiems deutet fast wortgleich das Sterben des Christen genauso: Wenn das Haus unseres Erdendaseins aufgelöst ist, wird ein ewiges Haus im Himmel bereitet (aeterna in caelis habitatio comparatur). – Dieses Haus ist zweifellos der neue, verklärte Leib, an dem die Christen auch individuell erkennbar sein werden. Paulus legt Wert auf diesen Leib, denn er will nicht nackt dastehen (das wäre das Schicksal von Gespenstern). Dieser neue Leib ist noch nicht der Auferstehungsleib. Denn das, was Paulus hier beschreibt, ist der Zwischenzustand zwischen dem Tod des
Der zweite Brief an die Korinther
Einzelnen und der Auferstehung. Die Auferstehung wird am Ende der Zeiten für alle gemeinsam sein. Auferstanden ist bislang nur Jesus. Der Zwischenzustand ist aber gemeint, wenn Jesus zum gerechten Schächer sagt: Heute wirst du mit mir im Paradies sein (Lk 24,43). Jesus war anderthalb Tage in diesem Zwischenzustand, der Schächer ist es heute noch. Man kann fragen, was dann in der Auferstehung hinzukommt. Es wird hinzukommen, dass man den Erlösten sehen kann, dass Auferstehung ein allgemeines kosmisches Geschehen ist und dass alle Erdenreste (Staub, Knochen) hineinverwandelt werden in den neuen Leib des Erlösten. Das Bild des Verschlingens bietet sich aus 1 Kor 15 und frühen Schriften über Auferstehung an (Rheginus-Brief 4,11-12; 9,13 – Mitte 2. Jh. n. Chr.). Die Auferstehung schließt daher den Zwischenzustand ab und ist Beginn von etwas Neuem: Sie ist der »welthafte« Ausdruck des Neuen. – Die Art der Leiblichkeit nennen frühe Quellen selbst »pneumatischer Leib« (soma pneumatikon), ein durch den Heiligen Geist insofern verwandelter Leib, als ihm alle Begrenzungen fehlen, auch und besonders die des Todes. Gottes Geist hebt daher die Leiblichkeit des Menschen nicht auf, sondern macht sie Gott ähnlich. Allerdings hat das mit irgendeiner »Geistigkeit« nichts zu tun. Der Tod ist dann fern, nicht die Materie. Dass der neue Leib »nicht von Händen gemacht« (2 Kor 5,1) sein wird, dem entspricht auch, dass der neue Tempel (Mk 14,58) und das neue Jerusalem (die neue civitas, Gemeinde) nicht von Händen gemacht sein werden. Diese Entsprechung von Einzelleib und Tempel findet sich genauso in 1 Kor, wo sowohl der Leib des Einzelnen ein Tempel des Heiligen Geistes ist wie auch die Gemeinde im Ganzen. In 2 Kor 5,1 heißt ja auch der neue Leib das »neue Haus«. Das bedeutet: Haus und Stadt bzw. Tempel (in der neuen Stadt gibt es keinen Tempel, weil die ganze Stadt der Tempel sein wird: Offb 21,22) bleiben als architektonische Institutionen, doch Gott selbst hat sie gebaut, nicht Menschen. So wird auch der neue, nicht von Händen gemachte Tempel nach Mk 14,58 nichts anderes als das himmlische Jerusalem sein. Und wenn Jesus sagt, er werde es erbauen, dann reklamiert er damit, Gott zu sein. Wir halten fest: Die eigenartige Metaphorik von
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Kapitel 5
Haus, Stadt und Tempel stellt einen zusammenhängenden theologischen Komplex dar. Ausgangspunkt ist auf Ebene 1: Der einzelne Christ ist Tempel Gottes, genauso ist es die Gemeinde, aber auch der reale Tempel in Jerusalem ist Gottes Haus. Diese drei Realitäten sieht man zusammen und macht sie zum Grundstück gegenwärtiger und zukünftiger Aussagen über die Rettung. – Ebene 2: Jeder Christ ist Tempel des Heiligen Geistes, die Gemeinde ist es im Ganzen, und der Tempel in Jerusalem ist schon nach Flavius Josephus auch Ort des Heiligen Geistes. – Ebene 3: Der Einzelne bekommt nach dem Tod ein neues Haus von Gott (2 Kor 5,1), die zukünftige Gemeinde ist Ort des Heiligen Geistes; sie ist identisch mit dem neuen Tempel, der nicht von Händen gemacht ist (Mk 14,58). – Es ist klar zu erkennen, dass die Tempel-Metaphorik allemal den Ausgangspunkt für diese ganze Theologie bildet. In diese Theologie gehört auch die apokalyptische Deutung der Tempelzerstörung im Jahre 70 (Mk 14,58 usw.). – Der Tempel, sein Wesen und sein Geschick bilden in dieser Theologie den bildspendenden Bereich. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass der Zwischenzustand in der Gemeinschaft mit Jesus Christus besteht. Paulus spricht davon in seinem Brief an die Philipper: »Einerseits sehne ich mich danach, hier Abschied zu nehmen und ganz bei Christus zu sein. Das ist bei weitem das beste Los. Andererseits ist es wegen euch weitaus notwendiger, dass ich am Leben bleibe« (1,23f). Bei Paulus hören wir dergleichen – abgesehen von Lk 23,43 – zum ersten Mal. Nach 2 Kor 5 wie nach Phil 1,23 und Lk 23,43 steht eindeutig die Gemeinschaft des Verstorbenen mit Jesus Christus im Vordergrund. Hier liegt die Pointe dieser NahEschatologie. Woher weiss Paulus das alles? Es kann sein, dass wir es hier mit einer originellen und faszinierenden typisch paulinischen Aussage zu tun haben. Denn von typisch paulinischen Voraussetzungen her betrachtet, sieht das so aus: Die Gemeinschaft mit Jesus Christus, das MitChristus, ist unverbrüchlich und der eigentliche Grund und Anlass für die Entfaltung dieser Hoffnung, die man theologisch die Lehre vom Zwischenzustand nennt. Im Ursprung ist das die sehr persönliche Verbundenheit jedes Einzelnen mit Christus, die auch die Schwelle des Todes überdauert.
Der Rede vom neuen Kleid, das Paulus im Himmel sogleich anziehen will, entspricht seine jüdisch-hellenistische Furcht vor der Nacktheit. In diesem Punkt lag auch die hauptsächliche Anstößigkeit der heidnischen Gymnasien für Juden.
2 Kor 5,6-10: Jetzt und dann … In den beiden Korintherbriefen vertritt Paulus einen anderen Blickwinkel, eine andere Perspektive auf das Evangelium als im Galater- und Römerbrief. In den beiden letztgenannten Briefen geht es Paulus um grundsätzliche theologische Fragen wie Glaube und Rechtfertigung, Werke und Gesetz, und er spricht darüber, warum man überhaupt Christ werden und nicht vielmehr Jude oder Heide bleiben sollte. Anders in den beiden Korintherbriefen. Hier lernen wir Paulus als seelsorgerlichen Theologen angesichts zahlreicher Probleme in der Gemeinde kennen (1 Kor); in 2 Kor argumentiert er immer wieder vom eigenen Amt als Apostel her und spricht auch von seinen eigenen Sehnsüchten, Leiden und Hoffnungen. Er stellt an sich selbst das Evangelium in seinen Konsequenzen dar. Im Zusammenhang von 2 Kor 4f argumentiert er für die Korinther mit seinen eigenen Hoffnungen. Er sagt: Ihr Korinther wisst wohl nicht recht, woran ihr seid mit mir, ob ich euch nur ausnutzen und beherrschen will, ob ich euch wirklich liebe. Aber ich kann euch versichern: Ich erwarte ein ewiges Leben und ein Gericht. Allein schon von daher könnt ihr doch annehmen, dass ich mich ordentlich verhalten will, denn mit meinem Verhalten steht meine ganze Zukunft bei Gott auf dem Spiel. Denn, so endet dieser Abschnitt in 5,10: Wir alle empfangen vor dem Richter Jesus Christus Lohn und Strafe, wir alle werden vor jedermann völlig durchsichtig dastehen. Da kann ich, Paulus, in Erwartung dieser Kontrollinstanz es mir nicht leisten, unlautere Absichten oder böse Pläne gegen euch zu verfolgen. Paulus wagt im 2. Korintherbrief oft die »Flucht nach vorne«, er gibt sich ungeschützt und wagt volle Offenheit, so auch hinsichtlich seiner reichlich verkrachten Biografie in 2 Kor 11. Er macht sich schutzlos und angreifbar und stellt in frappierender Offenheit einfach dar, wie es ihm ergangen ist. In 2 Kor 5,6-10 öffnet Pau-
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642 lus sein Herz, indem er ganz emotional von der Hoffnung spricht, die ihn über die Kluft des Todes hinweg trägt. Er stöhnt, leidet unter der Not der Endzeit und hat Sehnsucht nach dem Himmel. Das kennen wie auch aus anderen ähnlichen Zusammenhängen: »Nach zwei Seiten zieht es mich, voller Sehnsucht möchte ich sterben und bei Christus sein« (Phil 1,23). »Sehnsüchtig wartet die Schöpfung darauf, dass die Kinder Gottes offenbar werden … Die ganze Schöpfung stöhnt mit uns und liegt bis zur Stunde mit uns in Wehen … Auch wir selbst stöhnen in unseren Herzen und warten darauf, als Kinder eingesetzt zu werden (Röm 8,19-23). Der Eigenart des Römerbrefes entsprechend ordnet Paulus ganz systematisch das eigene Stöhnen dem Stöhnen des ganzen Kosmos zu. In 2 Kor 5,2-10 dagegen macht er viel strenger nur die eigene Sehnsucht zum Ausgangspunkt. »Solange wir in diesem irdischen Leib wohnen, stöhnen wir, begehren wir sehnsuchtsvoll, den himmlischen Leib anzuziehen« (2 Kor 5,2). So spricht Paulus an allen diesen Stellen in der Sprache der Sehnsucht. In diesem Sinne redet er auch in 2 Kor 5,8f von Exil und Heimat. Dieses Wortpaar hat im Judentum seit langem einen theologischen Sinn: Ein Großteil des Volkes war im »babylonischen Exil«, verschleppt in den Irak. Und auch die Verstreuung in die Diaspora nach dem Jahr 70 n. Chr. fasste man als Beginn eines neuen Exils auf. Auf das Exil wird dann die Rückführung in die Heimat, in das Gelobte Land, geschehen. Das Gelobte Land ist zunächst Palästina, aber immer stärker wird die Geschichtsdeutung nach dem Schema »Exil«/»Gelobtes Land« übertragen auf das Verhältnis zwischen Erde und Himmel, irdischem Leben und ewigem Leben. (Vgl. Offertorium des alten Requiems, in dem das Abraham verheißene Land zum »Licht« geworden ist, »das du einst Abraham verheißen und seinen Nachkommen«). Aber wie kann man Sehnsucht haben nach dem Himmel? Und ist der Satz »auszuwandern aus dem Leib, hinzuwandern zum Herrn« (V. 8) nicht doch leibfeindlich zu verstehen? Mit Leib meint Paulus alles, was er hier erfährt, was andere ihm antun, und auch seine Krankheit. Der irdische Leib trägt für ihn alle Altlasten der alten Schöpfung, vor allem die Verfallenheit an den Tod, die Narben aus den Misshandlungen, denen der Apostel ausgesetzt war, die blauen Flecken der
Der zweite Brief an die Korinther
Faustschläge vor allem von aufgebrachten Juden in der (heutigen) Türkei, den »Stachel im Fleisch«. Paulus ist ein Leidender. Und wer unschuldig leidet, wird doppelt sensibel. Andererseits ist für ihn der Auferstandene die sicherste, greifbarste Realität, die es überhaupt gibt. Und wenn das alles so konkret ist, dann kann man Paulus wohl verstehen, dass er Sehnsucht nach Befreiung vom ständigen Märtyrerdasein hat und endlich bei Jesus sein möchte. Denn von ihm weiß er, dass es beim Herrn Schmerz und Trauer nicht gibt. Und bei einer massiven Sterblichkeitsrate, verbunden mit einem Durchschnittsalter von 28 Jahren, kann man schon begreifen, dass diese Welt als Elend bezeichnet wird; auch das deutsche Wort »Elend« heißt ja nichts anderes als Ausland. Wir fragen: Wie kann Paulus da so sicher sein, dass es nach dieser irdischen Existenz besser weitergeht und nicht noch schlimmer wird? Paulus hat für seine Hoffnung immerhin zwei Stützen: Seine leibhaftige Erfahrung des Auferstandenen und das »Angeld des Heiligen Geistes« (V. 5). Der Heilige Geist ist ein Stück realer Gegenwart Gottes in unserem Herzen. Wie merkt man das? Paulus würde sagen: Indem man leichter beten, indem man überhaupt stöhnen kann (Röm 8,22 f.26), im Zungenreden, in den Charismen, indem man erfüllt sein kann von Freude und Sanftheit, und besonders diese sind für ihn Gaben der zukünftigen Welt. Gerade die Tatsache, dass der Heilige Geist derartige ethische Früchte hervorbringt, schafft die Gewissheit, vor dem Richterstuhl bestehen zu können, von dem Paulus hier spricht. Der Heilige Geist gewährt dreierlei: Die Erfahrung des Himmels jetzt, die Werke des Friedens als Früchte und die Auferstehung als himmlischen Lohn. Deshalb ist das Wirken Gottes als des Heiligen Geistes die Substanz des christlichen Heils jetzt und in Zukunft. So wird am Ende für Paulus die Sprache der Sehnsucht zur Sprache des Lobpreisens und Bekennens. Angesichts seiner Notlage gegenüber den Korinthern, die wieder einmal die Tatsache betrifft, dass Paulus sich nicht legitimieren, nicht ausweisen, sich nicht eindeutig rechtfertigen kann, bekennt er seinen Glauben, der nicht nur »Tatsachen über Gott«, sondern gerade hier das Sein oder Nichtsein des Apostels selbst betrifft. Der Apostel bekennt und lebt von dem her, was er hoffen kann und erfahren wird.
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Kapitel 5
Im Gefolge der Gedanken des Paulus haben vergangene Jahrhunderte das Erdenleben als Pilgerstand wahrgenommen und gedeutet. Der Pilger lebt, solange er in der Pilgerschaft ist, von der Erwartung des Zieles her. Bis dahin lebt er »im Elend«. Er weiß, dass das Große auf ihn wartet. Viele können nicht glauben, weil sie nur zwei Zeiten kennen, Gegenwart und Vergangenheit. Der Gott der Bibel aber ist immer ein Gott der Zukunft. Das Magnificat sagt, was er tut: Er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen. Er führt die gedemütigte Kirche in die Herrlichkeit und lässt die Märtyrer auferstehen. Denn die Frage nach Gott ist identisch mit der Frage, ob es überhaupt eine Gerechtigkeit gibt. Oder ob Unschuldige immer weiter leiden müssen und die Opfer immer weiter getreten werden, ob die Schinderei und der Schmerz der Welt einfach darin enden, das alles noch schlimmer und Staub wird. Am Ende wird sich Gerechtigkeit und Recht erweisen. Und Gott wird alles genau so ordnen, wie er es will, und davor sollen Christen nicht Angst haben, sondern mehr Vertrauen wagen. Eschatologie in 2 Kor 5,1-10 Paulus teilt in diesem Abschnitt Kostbares über den so genannten Zwischenzustand (zwischen dem Tod des Einzelnen und allgemeiner Auferstehung) mit, von dem wir sonst nicht viel wüssten. Die Sterbe- und Totenliturgien aller christlichen Kirchen haben diese Schätze über die Jahrhunderte hin bewahrt und weitergegeben. Die Wirkungsgeschichte dieses Kapitels spiegelt sich in deren liturgischen Texten wider. Danach sind folgende Phasen zu unterscheiden: (a) In seinem Erdenleben wird der Mensch einerseits immer weniger, andererseits wächst im Christen andererseits der »innere Mensch« immer weiter heran (4,16). Das geschieht, weil Gott dem Getauften das Angeld des Geistes geschenkt hat (5,5). Alles Weitere beruht auf der verwandelnden und lebenserhaltenden Kraft, die durch die Taufe im Menschen wirkt. Auch das Stöhnen kommt von dort (5,4). Die Zeit auf Erden ist aber für den Menschen ein Exil, in dem er Heimweh nach Gott hat. b) Bei seinem persönlichen Tod empfängt jeder Christ vom Himmel her – gewissermaßen als Kleid über die Ansätze des »inneren Menschen«
643 in ihm – einen himmlischen Leib. Daher muss er nicht nackt dastehen, wenn sein irdischer Leib im Tod zerstört wird. An diesem Leib ist er individuell erkennbar, der neue Leib ist ein verwandelter alter Leib. Wichtig ist für Paulus, dass der Tod nicht bedeutet, ausgezogen zu werden. Vielmehr wird er angezogen. Dieser Leib ist noch nicht der des auferstandenen Menschen. Aber ihn zu tragen bedeutet, bei Christus in der Heimat zu sein, das Exil auf Erden ist verlassen. Nach dem Tod nackt zu sein, also ohne neuen Leib, das ist offenbar das Geschick der nichtchristlichen Menschen. Denn diese sind dann nur Totengeister bzw. Gespenster. Sie haben Hunger und Durst, können aber nichts zu sich nehmen, da sie keinen Leib haben. Sie sind nur unglückliche Gespenster. c) Wohl am Beginn dieses Zwischenzustands (so das Mittelalter), vielleicht aber auch an dessen Ende (im Weltgericht, vgl. Mt 25,31-46) wird der einzelne Christ mit Christus konfrontiert. Das ist auf jeden Fall ein persönliches Gericht. In diesem werden des Menschen Werke honoriert, und zwar wohl mit Ehre oder Schande (vgl. 1 Kor 3,14-17). d) Darauf folgt oder davor liegt die Auferstehung der Toten zum Leben, von der Paulus in 1 Kor 15 spricht. Er meint damit wohl keine allgemeine Totenauferstehung Einzelner zum Gericht, sondern wie in 1 Kor 15 und 1 Thess 4 nur die der toten Christen. Gegenüber dem Erreichen des Zwischenzustandes (s. unter b)) bedeutet Auferstehung dann in folgender Hinsicht Neues: Sie geschieht in die normale Sichtbarkeit hinein (ist also nicht unsichtbar wie der Zwischenzustand), sie ist ein kosmisches Geschehen (sie betrifft die Qualitätsveränderung der ganzen Welt), und sie ist leibhaftige Auferstehung der Toten, wie sie bislang nur Jesus Christus erlebt hat, und das heißt: Die sterblichen Überreste der Menschen werden in das Neue hinein verwandelt, sodass man wirklich sagen kann: »Die Gräber sind leer.« Wegen dieser Leiblichkeit geht es wirklich um Auferstehung. – Alle in a) bis d) geschilderten Ereignisse betreffen den Übergang von der alten in die neue Schöpfung. Gewahrt wird so die personale Kontinuität der Gerechten. Schon in 1 Thess 4, aber auch in 1 Kor 15 und hier in 2 Kor 5 tritt der Gerichtsgedanke eigenartig zurück hinter der Gemeinschaft mit Chris-
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644 tus bzw. der Verwandlung der Leiber. – Wichtig für Paulus ist, dass er den auf den Tod folgenden Zwischenzustand schon als Gemeinschaft mit Jesus Christus sehen kann. Das Kapitel zeigt, wie schnell nach der Auferstehung Christi die Eschatologie umgebaut und gründlich christianisiert wird. Auch wenn der Grundstock (nur ohne die Gemeinschaft mit Jesus) vorchristlich-pharisäisch sein könnte – für eine solche Annahme fehlt jeder Beleg.
2 Kor 5,14-17: Einer für alle Zwei Grundvoraussetzungen hat dieser Text: einmal, dass einer, der stellvertretend für alle stirbt, damit neuer Eigentümer geworden ist. Und zum anderen: Wenn dieses offensichtlich aus Liebe geschah, dann ist die Liebe als stärkste Macht allein das, was zählt, und der Maßstab ist nicht mehr das, was nur äußerlich Eindruck erweckt. Zum ersten Punkt: Angenommen, einer hat sein Leben verwirkt, und es kommt wunderbarerweise einer, der für ihn in den Tod geht, der ihn rettet, indem er seinen Tod auf sich nimmt – die Vorstellung, dass ein Leben Tauschobjekt gegen ein anderes sein kann, ist dem Menschen zur Zeit des Neuen Testaments vom Sklavenmarkt her geläufig, also ein ganz gewöhnliches Geschehen, Umtauschen von Sklaven. In der späteren Kirchengeschichte gibt es einen Orden, dessen Gründungsziel darin besteht, dass die Ordensbrüder an der Stelle versklavter Christen sich für die Sklaverei anbieten, sich eintauschen lassen für deren Sklavenlos (Serviten). Jesus aber kann sein Leben nicht nur für einen, sondern für »viele« geben. Denn sein »Vorrat« an Vitalität, den er für andere, schwache Lebenslichter einsetzen kann, ist schier grenzenlos. Paulus kann das seinen »Reichtum« nennen und meint damit ewiges Leben, volle, pralle göttliche Vitalität, einen schier unermesslichen Schatz an Leben, der als Lösegeld für unendlich viele Lebenslichter gelten kann. Oder Paulus nennt es auch die absolute Gerechtheit Jesu, die so rein ist, dass sie die Ungerechtheit unendlich vieler Sünder aufwiegen kann. Aber wenn so etwas geschehen ist, wenn sich Jesus in der Fülle göttlichen Lebens oder in reiner Gerechtheit für die Sünder stellvertretend der
Der zweite Brief an die Korinther
Strafe unterstellt, sich also geopfert hat, dann hat das Folgen für den, der auf diese Weise wahrhaft gerettet wurde. Diese Folgen bestehen einmal darin, dass der so Gerettete nicht verurteilt wird, die verdiente Strafe nicht erleiden muss. Das wird zumeist hervorgehoben. Aber hauptsächlich hier in 2 Kor 5 betont Paulus auch andere, verpflichtende Folgen für den, der so gerettet ist. So schuldet dieser Mensch sein ganzes Weiterleben allein dem, der an seiner Stelle sich töten ließ. Er schuldet ihm sein Leben, denn es gehörte ja schon vorher nicht mehr ihm, das Eigentumsrecht war verwirkt. Jetzt bekommt er durch das Drama der Stellvertretung einen neuen Herrn: Denn der, der freiwillig stellvertretend stirbt, gibt sein Leben in einem Tauschgeschäft. Er gibt sein eigenes hin, legt es in die Waagschale, um das des zum Tode verurteilten Sünders zu erhalten. Der wie durch ein Wunder Gerettete kann fortan nicht mehr sagen, sein neu geschenktes Leben gehöre ihm. Ein anderer, der freiwillig für ihn Gestorbene, hat es erworben. Denn er bezahlte mit seinem eigenen Leben. – Die Folgen für den Geretteten rühren daher aus einem Eigentumswechsel. Wenn man einem neuen Herrn gehört, dann liegt freilich alles an der Qualität des neuen Herrn. In jedem Falle lebt und stirbt der Losgekaufte und Erworbene für ihn, nicht mehr für sich selbst. Der zweite Punkt, an dem Paulus hier seine Gedanken knüpft, ist eine Besinnung auf die Macht, die hinter diesem Eigentumswechsel steht, und die sich auch in der Existenz des Apostels auswirkt. Es könnte ja sein, rein theoretisch gesprochen, dass das Kalkül der Macht im Hintergrund steht (den einen Sohn geben, um viele zu gewinnen), also reiner Herrschaftswille. Oder es könnte auch sein, – so hat es neulich ein amerikanischer Ex-Theologe erwogen –, dass Gott aus schlechtem Gewissen und als Eingeständnis seiner Schuld in Jesus gewissermaßen Selbstmord begangen hätte. Beides ist allerdings völlig abwegig. Paulus sagt: Hinter diesem dramatischen Geschehen steht Liebe, Dasein und Leben für andere, und diese Liebe allein gibt Paulus auch in seinem Dienst weiter. Diese Liebe Gottes ist die einzige ernst zu nehmende Deutung für das ganze Christus-Geschehen und auch die einzige legitime Ausdeutung des paulinischen Dienstes. Sie ist überhaupt die einzige Macht, die zählt. Sie ist
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Kapitel 5
gerade darin aber völlig anders als alle Mächte in der Welt sonst. Halten wir das einmal fest und gehen wir an dieser Stelle auf den umstrittenen Vers 5,16 ein. Bei Berger/Nord ist er so übersetzt: »Von jetzt ab hat sich unsere Beurteilung von Menschen grundlegend verändert. Der Maßstab ist nicht mehr das, was äußerlich Eindruck macht. Auch Jesus, den Messias, habe ich vielleicht einmal so beurteilt, aber das ist Vergangenheit.« Wörtlich heißt der entscheidende Teil: »… wenn wir auch Christus dem Fleische nach gekannt haben«. Der Satz wurde vielfach auf den historischen Jesus bezogen, also auf Jesu Erdendasein bis zu seinem Tod. So diente der Satz dann der theologisch-systematischen Unterscheidung zwischen dem »historischen Jesus« und dem »Christus des Glaubens«. Damit meinte man, Paulus verzichte hier auf jeden positiven, sichtbaren, wahrnehmbaren Erweis der Messianität Jesu, also auf alle Wundertaten, auf den Wert historischer Ereignisse und vor allem auf Kenntnisse über das Erdendasein Jesu. Das aber entsprach wunderbarerweise angeblich genau der Grundposition der liberal-kritischen Exegese: Alles Historische hatte man weggebrochen, es blieb beim bloßen »Dass des Gekommenseins« Jesu, und der Glaube durfte ohne jeden Anhalt an der Geschichte auskommen. Es ist schon sehr merkwürdig, dass man dieses Ergebnis einer im Kern ungläubigen Exegese ausgerechnet in 2 Kor 5 wiederfinden wollte. 2 Kor 5,15 meint in der Tat den Maßstab der Erkenntnis: Nicht die Vertreibung der Römer aus Palästina macht den Messias, sondern Versöhnung und Gnade. Aber das ist doch keine Frage des Verhältnisses von vor und nach Ostern, auch kein Problem der Sicherheit historischer Kenntnis, von sichtbar und unsichtbar, sondern es ist ein Stück Kreuzestheologie nach 1 Kor 1, die hier entfaltet wird. Die »Beurteilung« Jesu nach dem Kriterium der Versöhnung ist »nachhaltiger« als die nach den Kriterien von Macht, Reichtum, Wissen, Adel und Bedeutung. Wer »dem Fleische nach« urteilt, besser: »nach schwacher Menschenart«, der hält sich an »bürgerliche« Maßstäbe von Macht. Er hat noch nicht verstanden, dass die wahre Größe allein von dem abhängt, was Gottes eigener Größe entspricht. Das ist vor allem Liebe, und sie ist allein ewig wie
645 Gott selbst, und sie ist auch die Kraft, die Paulus zu seinem Dienst antreibt. »Caritas Christi urget me« war Wahlspruch vieler Bischöfe und Priester: Die Liebe Christi treibt mich an, sie drängt mich, sie ist die verborgene Kraft in meinem Rücken. Sie ist mehr als nur eine Motivation, nämlich das, was Paulus in Röm 1 als die missionarische Kraft bezeichnet. Das Evangelium ist Gottes Kraft und Macht, die durch den Dienst des Paulus die Welt erobert. Bernhard von Clairvaux verbindet diese Liebe mit der von 1 Kor 13, die »nicht den eigenen Vorteil sucht«, sondern die die Kraft einfach weitergibt, die uns erlöst hat. So gelingt hier eine Begründung der Ethik im Kreuzesgeschehen selbst. Dessen Grundgesetz heißt: Nicht für sich da sein, sondern für andere. Und das gilt für den Gekreuzigten wie für alle Christen. Es ist ein- und dieselbe Bewegung von Gott aus. Gottes Gottheit zeigt sich hier darin, dass der umfassendste Selbstbesitz zur reinen, überfließenden, überreichen Ausstrahlung und Selbstvergeudung wird. »Nicht mehr für sich selbst leben« nennt dies 2 Kor 5,15, und damit ist gemeint: Kraft, Maßstab und Ziel der Liebe nicht in sich selbst suchen, sondern die Kraft und den Maßstab im Vater und im Sohn Gottes suchen, das Ziel in den Menschen. So werden die Kinder Gottes dem Vater ähnlich. Das Zentrum ist dieses: »Aus seinem Tod ist das Leben erstanden, aus seinem Leiden das Heil. Aus der Strafe des Kreuzes kam die versprochene Arznei, aus seiner Verurteilung unser Ruhm, aus seinen Wunden unsere Medizin. Einer wollte den Tod auf sich nehmen, damit wir nicht alle sterben müssten, einer sollte sterben, damit wir alle bei dir und für dich in Ewigkeit leben« (Corpus der Präfationen 210.524). Es ist der Mensch Jesus Christus, der für alle anderen Menschen zum Heil wurde. Denn er ließ Gottes mächtige Liebe in sich wirken. Unter derselben Bedingung geht Christentum weiter: Nicht irgendetwas anderes schenkt der Welt das Heil, sondern diese durch Christus geprägte Gotteskraft. Wer sie in sich wirken lässt, ermöglicht immer wieder aufs Neue, dass einer für den anderen zum Ort des Heils wird. Es bleibt das Heil Gottes, schwachen Menschen anvertraut, in Jesus Christus bereits zur Vollendung gelangt. Für jeden Einzelnen ist und bleibt dieses der indirekte Weg der Selbst-
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646 findung. Sie geschieht ganz nebenbei, indem man Konturen gewinnt im Schenken. Das ist wie ein Seinsgesetz, das an der Christologie vorgemacht wird: Nicht in der Sorge um uns selbst werden wir uns geschenkt, sondern im Überschreiten der Grenzen in Liebe. Gott segne unsere Grenzen! Zu 2 Kor 5,16 vgl. Joh 6,63: Übrigens gibt es auch bei Paulus eine zu Joh 6,63 ähnliche Bemerkung,
Der zweite Brief an die Korinther
in der das Wort »Fleisch« vorkommt, und zwar in 2 Kor 5,16 (»Von jetzt ab hat sich unsere Beurteilung von Menschen grundlegend geändert. Der Maßstab ist nicht mehr das, was äußerlich Eindruck macht [›Fleisch‹]. Auch Jesus, den Messias, habe ich vielleicht einmal so beurteilt, aber das ist Vergangenheit.«). Das heißt: Verstehen kann nur der, der dem zu Verstehenden ähnlich ist, d. h. der selbst den Heiligen Geist geschenkt bekommen hat.
2 Kor 5: Versöhnung 2 Kor 5,17-21: Im Dienst der Versöhnung Versöhnung ist ein Begriff politischen Ursprungs und bedeutet Friede, wo vorher Feindschaft war; Universalität, wo vorher Eigenbrötelei der Völker war; Gnade statt Zorn, Zugang zum gegnerischen Herrscher statt Distanz und Propaganda, Vermittlung durch einen Friedensmittler, wo vorher die Frontlinien verliefen. Versöhnung bedeutet auch Betonung des »Jetzt«, in dem die Beziehungen neu gestaltet werden, gegenüber dem »Einst«, das »alt aussieht«. Paulus übernimmt diesen Begriff aus der zeitgenössischen Diplomatensprache. Er sagt, und das ist neu gegenüber aller Politik: Alle Schuld ist durch den einen Mittler der Versöhnung beseitigt. Denn wir schuldig gewordenen Menschen dürfen unter seinem Patronat stehen, in seinem Windschatten. Er ist unser Anwalt und mächtiger Beschützer. Er schützt uns vor dem Zorn, den wir eigentlich verdient hätten. Denn Gott hat ihn »für uns zur Sünde gemacht« (V. 21). Aber was heißt das: Gott hat ihn für uns zur Sünde gemacht? Nun, das rührt nahe an den Gedanken der stellvertretenden Sühne, der vielen Menschen unserer Zeit so absurd zu sein scheint. Zur Formulierung, Gott habe Jesus zur Sünde gemacht, gibt es zwei gewichtige Parallelen bei Paulus selbst: In Gal 3,13 sagt der Apostel, Jesus sei für uns »zum Fluch geworden«. Wie in 2 Kor 5 wird Jesus mit dem Negativen (Fluch oder Sünde) so beladen, dass er geradezu davon eingehüllt zu sein scheint. Er, der Reine, ist mit allem beladen, was stinkt. So ist es auch in Röm 3,25: Paulus sagt, Gott habe Jesus zum Sühneort gemacht, also bildlich gesprochen, zum Deckel der Bun-
deslade, auf dem im Laufe eines Jahres alle Schuld Israels sich ansammelte, die dann am Versöhnungstag entsorgt werden musste, indem der Deckel mit Blut gereinigt wurde. Wenn Jesus dieser Ort der Sühne ist, dann bedeutet das auch, dass auf ihm alle Sünde lag, sodass sie dort getroffen und beseitigt werden konnte. Er als der Deckel der Bundeslade hat die Sünde Israels, ja der ganzen Welt an sich gezogen, wie ein Magnet das gegenteilig Gepolte anzieht. Wenn Jesus also der Ort ist, an dem sich alle Sünde, alles Unreine, aller Fluch sammelt, dann kann das, was sich an Unrat bei ihm gesammelt hat, das er trägt, auch an ihm und bei ihm und mit ihm beseitigt werden, und das geschieht durch seinen Tod. Denn wer Sünde auf sich geladen hat, muss sterben. Aber wenn jemand die Sünde aller auf sich geladen hat, für sie alle Träger von Sünde und Fluch wurde (ohne solche jedoch je getan zu haben), dann kann er auch stellvertretend für sie alle sterben. Denn der Tod beseitigt die Sünde, befreit von ihr (Röm 6,7). Denkvoraussetzungen sind hier einmal die biblische Kategorie der Stellvertretung, damit verbunden die Vorstellung der Ablösbarkeit der Schuld vom Täter (und die Übertragbarkeit der Schuld) sowie die Tötung der Schuld durch den Tod. Wer stirbt, wird frei von der Sünde. Indem Jesus so die Schuld, die Sünde (und Strafen) und den Unfrieden auf sich nahm und an seinem leiblichen Leben abgegolten hat, konnte er wirklich universale Versöhnung bewirken, denn jedes Hindernis der Versöhnung war dann beseitigt. Nun streitet man, ob das Christentum eher Erlösungs- oder eher Versöhnungsreligion sei. Versöhnung heißt: Frieden stiften zwischen den
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Kapitel 5
Partnern, die zuvor verfeindet waren. Erlösung heißt: Befreiung von allem, was unfrei macht. Wie weit die Erlösung gehen soll, darüber besteht Streit. Sollen wir auch von uns selbst befreit werden? Nach christlicher Auffassung können wir befreit werden von Sünde, Tod und Teufel. Es ist jedoch nicht der Sinn der Erlösung, uns von unserer Individualität, Leibhaftigkeit und Geschichte, also von unserem Selbst zu befreien. Das Christentum ist also ein paar Schritte Erlösungsreligion, jedoch nicht radikal. Die Befreiung, für die wir dankbar sein können, ist keine Befreiung vom Nächsten und von uns selbst. – An dieser Stelle setzt dann die Versöhnungsreligion ein: Als von der Sünde Befreite können Christen mit Gott und den Mitmenschen versöhnt die eine versöhnte, universale Kirche werden. Dabei meint Versöhnung tiefgreifenden Frieden, nicht oberflächlich zugedeckte Meinungsverschiedenheiten. Erlöst sind sie nach diesem Text von Tod und Sünde, damit gibt es kein Hindernis mehr zur Versöhnung mit Gott im Rahmen einer Kirche der Versöhnten. Das Ziel unseres Textes geht indes weit über die Aussagen zu Erlösung und Versöhnung hinaus. Denn Paulus spricht hier wesentlich von seinem eigenen Amt. Damit leistet er einen wichtigen Beitrag zur Frage, ob Kirche und apostolisches Amt als Vermittlung zur Erlösung und Versöhnung notwendig seien. In der Theologie herrscht gegenwärtig tendenziell die Meinung, diese Mittlerschaft sei unnötig, ja ihre Annahme gefährlich. Immer wieder wird die Meinung vertreten, bei Katholiken schiebe sich »die Kirche« ohne Recht zwischen Gott und Menschen. Es genüge allein der Glaube an Gottes Heilswirken. Doch hier in 2 Kor 5 heißt es ausdrücklich: »So stehe ich als Gesandter im Dienst Jesu, des Messias. Es ist, wie wenn Gott durch mich die Menschen dazu auffordert: ›Lasst euch mit mir versöhnen.‹ Darum bitte ich euch anstelle Jesu Christi.« – Und in 6,1 wird Paulus fortfahren: »Als Apostel wirke ich mit Jesus zusammen und fordere euch auf: Lasst Gottes Gnadengeschenk nicht vergebens sein.« So kann man sagen: Ohne Jesus keine Erlösung, doch ohne den Apostel gelangt sie nicht zu den Menschen; der Apostel steht dabei für die »Kirche«. Jeder Versuch, das eine gegen das andere auszuspielen, ist absurd. Beides kann nur zugleich gewollt sein. Denn die herrlichste
Erlösung könnte umsonst sein, wenn sie nicht durch den Dienst des Apostels angenommen und zur umfassenden Versöhnung wird. Eine Erlösung, die nicht zu den Menschen gelangen kann, ist nicht vorstellbar; denn sie muss ja angenommen werden. Die Menschen werden zwar ohne Zustimmung geschaffen und geboren, aber nicht ohne Zustimmung erlöst und versöhnt. Das heißt: Der apostolische Dienst ist wirklich im umfassenden Sinne notwendig. Es ist freilich »Dienst«, der Apostel oder die Kirche leistet ihn nicht zur Selbstverherrlichung. »Lasst euch versöhnen mit Gott« bedeutet: Diese Einladung ist nicht rückwärtsgewandt, sondern am Ziel orientiert: Versöhnung. Die Schuld ist zwar nicht vergessen, aber die Brücke zu Gott ist geschlagen. Versöhnung ist immer universal. Versöhnung mit Gott ist immer gleichzeitig auch die der Menschen miteinander. Aber Priorität hat die Überwindung des größten Abstandes, der Feindschaft zwischen Gott und Mensch. Dass sie beseitigt wurde, ist Grund zur Freude. Diese Versöhnung ist durch Jesus Christus vermittelt. Denn sonst stünden Sünde und Schuld als dunkle, riesige Schatten weiterhin zwischen Gott und Mensch. Ohne Vergebung gibt es keinen Neuanfang. Schuld und Sünde werden nicht ignoriert. Schließlich ist Versöhnung zwischen Menschen nicht billig zu haben, und sie ist etwas anderes als »Toleranz« bloß im Sinne der Missachtung des Profils. Versöhnung am Sühnetod Jesu vorbei gibt es nicht.
2 Kor 5,21: Zur Sünde gemacht Wenn Gott Jesus zur Sünde »macht«, dann bleibt Jesu Identität davon nicht unberührt. Die Kategorie der Identität aus der abendländischen Philosophie gilt hier nicht mehr, sie ist brüchig geworden. Denn der zur Sünde Gemachte muss, da er nun mit Sünde eins geworden ist, wie die Sünde möglichst schnell und umfassend vernichtet werden. Paulus übertreibt daher nicht, und es gibt keinen Bereich in Jesu Person, der von der Einwirkung der Realität der Sünde ausgenommen wäre. Weil Jesus zur Sünde geworden ist, bleibt nicht sein »Inneres« von der Sünde verschont. Jesus nimmt sie nicht lediglich äußerlich
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648 auf sich, indem er ihre Folge, die Schuld etwa, trägt. Nein, Identität wie Nicht-Identität werden hier brüchig. Radikal räumliches Denken könnte hier weiterhelfen: Jesus ist Ort der Sünde, sie ist nirgends anders als auf ihm und um ihn herum. Radikal zeitliches Denken könnte genauso helfen: Wenn Gott Jesus zur Sünde gemacht hat, dann besteht die Zukunft Jesu lediglich in der Zukunft der Sünde. Dann ist Jesu Tod der schwärzeste seit Beginn der Welt. Und dann ist Jesu Auferstehung gerade deswegen das größte Wunder. Hier liegt ein Musterfall der Inkompetenz des griechisch-philosophischen Denkens bei der Übersetzung biblischer Aussagen vor. Oft bemühen Exegeten in diesem Zusammenhang das Bild vom Sündenbock; doch dieser wird nicht mit der Sünde identisch. Ihm wird nur die Sünde »aufgestemmt«, und dann trägt er sie hinaus. Und vor allem stirbt der Bock nicht, er wird nur hinausgejagt, und wenn er halbwegs clever war, kam er zurück zum Stall seines Besitzers. Bei Jesus sind beide Akte viel radikaler: Gott macht ihn zur Sünde, nicht ein Mensch lädt sie ihm auf. Er wird zu Tode gebracht, und er trägt die Sünde nicht nur, sondern wird von ihr zerfressen und zerrissen.
2 Kor 6,1 – 7,1: Probleme der Gliederung An dieser Stelle beginnen in der Regel die zahlreichen Umstellungs- und Teilungshypothesen zu 2 Kor. Sie würden nur dann nötig, wenn eine halbwegs plausible Kohärenz des am überlieferten und bestehenden Text aussichtslos wäre. Das Gegenteil ist aber der Fall, sodass wir hier auf derartige Hypothesen verzichten können, da sich eine Kohärenz gut darstellen lässt (der Fall ist ähnlich wie beim JohEv). Zunächst zu Kap. 5-6: Der Kontrast von Gerechtigkeit und Sünde aus 5,21 wird aufgenommen in 6,14 (Gerechtigkeit und Gesetzlosigkeit), aber auch in 6,7 (Gerechtigkeit) und in 7,2 (keinem Unrecht tun). – 6,3a wird in 7,2 fast wörtlich wiederholt. – 6,3 ist mit dem Vorangehenden durch das Stichwort »mahnen« (5,20; 6,1) verbunden, ferner durch »Dienst« (5,18: Dienst der Versöhnung; 6,3: Dienst [sc. des Apostels]; 6,4: Diener Gottes), ferner durch die Synonymität von Versöhnung (5,19), Gnade (6,1) und Nicht-
Der zweite Brief an die Korinther
Anrechnen der Schuld (5,19) sowie Rettung (6,2). – Überdies folgt der Abschnitt 5,20 – 6,10 auf 5,14-19, und zwar genau in der Abfolge von christologischer Dogmatik und persönlicher Aussage des Apostels über seinen Dienst, wie sie typisch für 2 Kor ist (vgl. z. B. 5,1-10; 5,11-13). Der über 6,1 ff entscheidende Abschnitt beginnt daher schon in 5,20. Die Kapiteleinteilung ist willkürlich, nicht das Werk späterer Redaktoren. Wie in Kap. 4 gilt: Der Apostel leitet seinen Dienst direkt aus der Christologie ab (5,20: »Für Christus also …«). Wie in 4,7-12 ist auch in 6,4b-10 dieser Dienst durch Leiden auf der Seite des Apostels erkennbar; wie dort und in Kap. 1f ist der Apostel stets in Todesnöten, wird aber wunderbar gerettet (vgl. 1,8-10; 4,8-12; 6,4-10, besonders in 9f).
2 Kor 6,4-10: Legitimität und Leiden Wie in 5,1-11 mit Schwerpunkt in V. 10f verteidigt der Apostel in Kap. 6 seinen Dienst. Dieses ist die übergreifende strategische Zielsetzung. Dabei ist 6,3 noch moralisch ausgerichtet (keine Anstößigkeit zulassen, damit niemand den Dienst tadelt). Aber in 6,4-10 wird daraus dann ein Legitimitätserweis, der als typisch paulinisch anzusehen ist: a) Die Zugehörigkeit zu Christus erweist sich nicht in heiligen Tugenden, sondern in einer Kette von Leiden, von denen Paulus gleich zu Beginn sagt, dass sie in Geduld ertragen werden müssen (6,4). Offenbar stellt sich für Paulus das Leben Jesu gerade so dar. b) Als Pointe betont Paulus in 1,8-10 wie in 4,812 wie auch in 6,9, dass die Leiden (Peristasen) nie völlig siegreich waren, sondern dass der Apostel gerettet wurde, bevor es jeweils zum Äußersten kam. Eine Analogie zu Jesus sieht der Apostel, wie er ausdrücklich in 1,9 sagt, darin, dass Jesus durch die Auferstehung ja ebenfalls aus dem Tod gerettet wurde (nur eben nachher, nicht aber, wie Paulus, vorher). Die Legitimität seines Dienstes sieht Paulus daher in der frappierenden Ähnlichkeit von Geschick und Rettung. Nicht das »Leiden des Gerechten« allein, sondern das wunderbare Geschehen von Leiden plus Rettung macht die Legitimität des Apostels offenkundig.
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Kapitel 6
Zur Gliederung in 2 Kor 6-7 Die Gliederung hier hat viele Fragen aufgeworfen: Wozu dient der Peristasenkatalog in 6,4-10? Warum folgt in 6,14 – 7,1 ein stark dualistisches Stück, in dem zahlreiche Begriffe und Vorstellungen bei Paulus nur hier belegt sind (z. B. Beliar als Teufelsname in V. 15; Befleckung in 7,1; die Bundesformel in 6,16-18; der anthropologische Gebrauch von »Fleisch« und »Geist« in 7,1)? Warum urteilt Paulus in 6,14 – 7,1 plötzlich stark dualistisch? Ist es überhaupt von Paulus? Ist die Gemeinde wirklich in der Gefahr, wieder zum Heidentum abzufallen (»Ungläubige« in V. 14f)? Wozu soll sich das Volk Gottes absondern? – Neben dem dualistischen Stück in 6,14 – 7,1 stehen sehr intensive persönliche Anreden in 6,11-12 und in 7,2-4. Besonders die Tatsache, dass diese Stücke den dualistischen Absatz in 6,14 – 7,1 rahmen, hat zu Verunsicherungen bezüglich sinnvoller Gliederung geführt. So hat man gemeint, der vorliegende Text sei entweder chaotisch (MalariaAnfall des Apostels) oder Resultat einer sinnnlosen Redaktion. Aus meiner Sicht muss man weder das eine noch das andere annehmen. Die Lösung sehe ich im Bereich des Rhetorischen. Paulus operiert hier mit »Text-Stücken« deren jedes sehr kräftige Wirkung zu haben verspricht. Das gilt vom Peristasenkatalog in 6,4b-10, der mit Variationen Gefahr und Rettung schildert; es gilt von der drastischen dualistischen Predigt in 6,14 – 7,1, die schroffe Konfrontationen bietet, und es gilt besonders von den geradezu bedrängenden Äußerungen des Paulus über sein Verhältnis zur Gemeinde in 6,11-13 und 7,2-4. Die dualistische Mahnrede ist schon in sich kontrastreich, und durch die sehr persönlichen Rahmungen in 6,11-13 und 7,2-4 wird der ganze Abschnitt noch eindrücklicher. Ähnliche Bedeutung hatte bereits der ebenfalls sehr emotionale Abschnitt in 3,1-3 (Stichwort jeweils »Herz«). – Das Ziel dieser kräftigen Rhetorik ist: Paulus führt die Gemeinde durch ein Wechselbad von Klage und Schroffheit, Zärtlichkeit und Überschwänglichkeit (7,4), um sie so gewissermaßen zu erweichen für die Fortsetzung des Berichtes in 7,5, der direkt an 2,13 anknüpft (dazu s. u.). Die Funktion des dualistischen Abschnitts 6,14 – 7,1 lässt sich dann so erklären: Paulus setzt mit kräftigen Pinselstrichen Akzente, die die Situati-
649 on erhellen. Dem, der nicht mit dem Apostel zusammenarbeitet, bleibt nur die Kooperation mit Ungläubigen; zwischen Christus und dem Teufel gilt es, Partei zu ergreifen. Neutralität scheidet als Option aus. Ähnlich hatten die Christen auch nach 1 Kor 10,20f zwischen Dämonen und dem Herrn zu wählen. Auch dort ging es um Teilhaberschaft. Durch das dualistiche Gemälde wird der Gemeinde drastisch vor Augen gestellt, was das Gegenbild der Versöhnung mit dem Apostel sein müsste. Der Gebrauch der Bundesformel in 6,16-18 weckt positive Assoziationen über Heiligkeit und Erwählung seitens Gottes. Paulus meint, die Gemeinde sollte das nicht aufs Spiel setzen. Die Affinität zur Offenbarung des Sehers Johannes (Bundesformel, Heiligkeit) ist nicht zufällig. Fazit: Entweder versöhnt sich die Gemeinde mit Paulus, oder es droht ein Rückfall in eine alternative Situation, der Absturz wieder ins Heidentum. Bestimmte »häretische« Gegner in Korinth sehe ich hier nicht angegriffen, nur versöhnungsunwillige Korinther selbst. Der Dualismus dient letztlich nur der Bindung der Gemeinde an den Apostel. – Die Betonung von Leiden, Emotionen und kantigen Alternativen, das alles steht im Rahmen einer einheitlichen Zielsetzung, nämlich der Vorbereitung der endgültigen Versöhnung. Die angeblichen Unstimmigkeiten oder die Verworrenheit in der Gliederung lösen sich daher auf, wenn man Paulus selbst einen kurzatmigen, kräftigen Wechsel in der rhetorischen Strategie von Abschnitt zu Abschnitt zuschreiben kann. Der Blick auf die heftigen Emotionen von 3,1-3 kann diese These bekräftigen. Die Unterbrechung zwischen 2,14 und 7,4 ist formgeschichtlich zu erklären (vgl. dazu: K. Berger, Formgeschichte des Neuen Testaments, 1984, 277; mit Hinweis auf den 7. Brief Platos). Man spricht von einem »unterbrochenen Reisebericht«, d. h.: Ein Bericht, der verschiedene Reisestationen aufzählt, wird unterbrochen, damit der Verfasser in einem Exkurs auf besondere Eigenheiten der beschriebenen Kultur näher eingehen oder auch eigene Absichten und Konzepte, die das Ganze bestimmen, äußern kann. Nach Beendigung des Exkurses wird der Reisebericht dann unvermittelt wieder aufgenommen. In den Evangelien ist der berühmteste Exkurs der so genannte Täuferbericht in Mk 6,12-29. In
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650 die Jüngeraussendung eingeschoben wird ein Bericht über Johannes den Täufer. – Im 7. Brief Platos 328c-329 steht ein Exkurs: »In dieser Überzeugung also, dies zu wagen entschlossen, reiste ich von zu Hause ab, nicht aus den Motiven, die mir die Leute unterschoben« (Es folgen Reflexionen, und der Reisebericht wird mit der Ankunft in 329b fortgesetzt: »Wie ich nun ankam, da fand ich …«).
2 Kor 6,11 – 7,1: Mahnrede Paulus redet die Korinther direkt an, ähnlich wie in 3,1-3. Er fordert sie zur Nachahmung auf. V. 13: »Macht mit mir dasselbe, was ich mit euch mache, und lasst euer Herz für mich weit werden!« Auch das Wort »Herz« kennt der Leser noch aus 3,2 f. Paulus hatte es seit dieser letzten direkten Anrede nur dreimal gebraucht, und zwar nie mehr mit Bezug auf die Korinther. Was folgt, ist eine dualistisch orientierte postkonversionale Mahnrede (vgl. dazu K. Berger, Formen und Gattungen, 2005, § 50). Eine Bekehrungspredigt liegt nicht vor, denn die Adressaten werden als schon Gläubige angeredet (6,14f), und sie sind schon »Tempel des lebendigen Gottes«. Die Aufforderungen zur Abgrenzung und Absonderung betreffen ebenfalls im Neuen Testament immer Menschen, die schon Christen sind (vgl. mit 6,17 besonders Hebr 13,13: »Lasst uns also hinausgehen …« und 1 Petr 4,12-14, besonders auch Offb 18,4: »Mein Volk, zieht heraus aus ihr, damit ihr nicht teilhabt an ihren Sünden«). Die Querverbindungen zur Offb sind auch an dem Gebrauch der Bundesformel in 6,16-18 erkennbar (vgl. Offb 21,3). – In 7,1 liefert Paulus eine stilgerechte peroratio (drastische Zusammenfassung am Schluss). Dass diese hier auf Reinheit und Vermeidung von Befleckung des Fleisches und des Geistes sowie auf Heiligkeit ausgerichtet ist, sollte im Mund des Pharisäers Paulus nicht besonders überraschen. Wie oben dargestellt, greift Paulus in 6,14 – 7,1 durchaus zielbewusst auf ein strengeres, drastisches Register zurück. Das Stichwort heißt hier »Abgrenzung«, und sie wird befohlen, damit sich die Gemeinde enger um Paulus scharen kann. Alle drei Elemente von 6,14.17; 7,1 – Abgrenzung, Vermeidung der Verunreinigung und
Der zweite Brief an die Korinther
Heiligung – weisen deutlich auf Pharisäismus und damit wohl in die Frühzeit der paulinischen Mission, möglicherweise noch innerjüdischen Charakters. In der Bedrängnis, in die Paulus durch die Lage in Korinth geraten ist, sieht Paulus daher bezeichnenderweise einen Rückgriff auf Pharisäisches als besonders wirksam an, ja vielleicht als eine Art Rettungsring. Das sagt viel über den Apostel selbst. Von der Befleckung des menschlichen Inneren spricht Paulus sonst nur in 1 Kor 8,7 (das Gewissen des Schwachen wird besudelt beim Essen des Götzenopferfleisches), ansonsten gibt es die Vorstellung bei des Past Herm, Sim 5,6,5; Sim 5,7,2 (vgl. dazu: C. Haas: De geest bewaren, 1985, 152, 319 Anm. 27). In jüdisch-hellenistischem Milieu geht es stets um Verunreinigung des Eigentums Gottes im Menschen durch Kontakt mit dem unreinen Heidentum (vgl. Weish 14,26: Besudeln der Seelen – von den heidnischen Götzendienern; TestAser 2,7; CD 5,11f; Hen (slav) 15; Heb TestNaft 10,9; Sib 2,54f). Zu 2 Kor 7,2-4: Das Stück ist ein persönlich gehaltener Nachtrag zu der in 5,19 beginnenden Rede an die Gemeinde. Merkmal dafür ist wieder das Stichwort »Herz« (»Ihr seid so sehr in meinem Herzen, dass ich nur noch mit euch leben und sterben kann«). Das Stück zeigt, wie leidenschaftlich Paulus um die Korinther ringt.
2 Kor 7,5-16: Ein Stück Missionsgeschichte In 7,5 setzt der Apostel 2,13 fort (Reisebericht). Titus brachte positive Nachrichten über Korinth. Der »Tränenbrief« hat die Gemeinde zwar betrübt, aber zur Umkehr gebracht. Darüber freut sich der Apostel. Die Gemeinde hat auf diese Weise gezeigt, dass sie in der Sache schuldlos ist, und ihr Eifer ist so an den Tag gekommen (V. 11f). Der Stolz des Apostels auf die Gemeinde hat sich in deren herzlichem Empfang für Titus bewahrheitet. Er kann sich auf sie verlassen. Paulus zeigt sich daher in diesem Abschnitt versöhnt mit der Gemeinde. Das ist im Übrigen auch die Voraussetzung für die in Kap. 8f anschließende Bitte um die Kollekte. Ohne die Ratifizierung der Versöhnung kann man schlecht als Bittsteller für Finanzen auftreten.
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Kapitel 8: Werben für die Kollekte
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2 Kor 8-9: Werben für die Kollekte Literatur: H.-D. Betz, 2 Corinthians 8 and 9. A Commentary on Two Administrative Letters of the Apostle Paul, Hermeneia, Philadelphia 1985. – Kim, Byung-Mo, Die paulinische Kollekte, TANZ 38, Tübingen 2002.
2 Kor 8,7-15: Über die Kollekte I + II In 2 Kor 8 und 9 fordert Paulus seine Gemeinde zu einer reichlichen Kollekte auf. Was Paulus hier nicht sagt, was wir aber aus Gal 2 und Röm 15 erschließen können: Für ihn bedeutet diese Kollekte deshalb so viel, weil ihre Annahme durch die Judenchristen in Jerusalem besagen würde, dass die Heidenchristen von den Judenchristen als Mitchristen akzeptiert sind. Das ist deshalb wichtig, weil sie sonst theologisch und kirchenpolitisch »in der Luft hingen«. Denn für Christen gibt es seit Anbeginn nicht nur die senkrechte Bindung nach oben (»mein Herrgott und ich«), sondern auch die Querbeziehung der Christen untereinander zu einem apostolischen Zentrum hin. Für Paulus ist dieses Zentrum die judenchristliche Gemeinde in Jerusalem. Dieses ist schon für Paulus ganz klar: Gnade Gottes ohne das Netz der apostolisch begründeten und apostolisch zentrierten Gemeinden gibt es nicht. In sehr eindrücklicher Weise spricht Paulus hier von Gnade, und zwar so, dass Gnade sowohl die Zuwendung Gottes zu den Menschen bedeutet als auch die Verwandlung dieser Gnade in das finanzielle Liebeswerk der Gemeinde, und schließlich ist auch noch vom Dank an Gott als Antwort auf diese wunderbare Umwandlung und als Ziel des ganzen Prozesses die Rede. Paulus nützt daher den ganzen möglichen Bedeutungsspielraum des griechischen Wortes charis aus, den das deutsche Wort Gnade nicht kennt. Dadurch kann Paulus ganz organisch miteinander verbinden, was für uns oft weit auseinanderliegt und was insbesondere im Streit um die Rechtfertigung, der die Christenheit über Jahrhunderte in falsche Alternativen gelockt hat. Denn bei Paulus geht es um einen höchst organischen Prozess, der auf wunderbare Weise von Gott ausgeht und wieder bei Gott endet. Dieser Prozess hat folgende Stationen: 1. Gott
schenkt dem Menschen seine Gnade, seine unverdiente und unverdienbare Zuwendung. Das geschieht durch Jesus Christus, und in 8,9 wird Paulus demgemäß diesen Prozess sogleich aus christologischer Perspektive darstellen. – 2. Diese Gnade Gottes verwandelt sich, wenn der Mensch ihrem Duktus folgt und ihr nichts entgegensetzt, wenn er sich auf diese Bewegung ganz in der Weise einlässt, dass er seine Hand öffnet zu einem Liebeswerk, das Paulus nun gleichermaßen Gnade nennt, aber in dem Sinne, dass jetzt der Mensch gibt. Dabei ist der Maßstab für dieses Liebeswerk des Menschen genau der Überfluss, die Grenzenlosigkeit, die ihm zuteil geworden ist. Dieser Punkt erinnert ein wenig an das Gleichnis vom unbarmherzigen Sklaven in Mt 18,23-35: Der Sklave, der Barmherzigkeit empfangen hat, soll diese Barmherzigkeit weitergeben an seinen Mitsklaven. Tut er das nicht, so war alles umsonst. Alles liegt in Mt 18 wie in 2 Kor 8 daran, dass der Mensch diesen Fluss, der von Gott her kommt und von dem Gott will, dass er weiterfließt, nicht blockiert, dass er nicht einen Damm baut und die empfangene Zuwendung Gottes nicht in sich einsickern lässt. Genau das wäre nämlich »Sünde«: das Empfangene nicht weiterzugeben. – 3. Das dritte Stadium dieses Prozesses besteht darin, dass dieser Kreislauf sich bei Gott wieder schließt: Die durch die Gabe der Gemeinde in Korinth bedachten Judenchristen in Jerusalem werden Gott danken. Auch hier wieder dasselbe Wort »charis«, das hier bedeutet: Dank gegenüber Gott. Charis hat daher in 2 Kor 8 und 9 drei Bedeutungen: Gottes Gnade gegenüber Menschen, die Freigiebigkeit der Christen in Korinth gegenüber anderen Christen und der Dank an Gott als Schlusspunkt. Gemeinsam ist diesen drei Stationen: Gelöste, liebevolle Offenheit gegenüber dem anderen. Dabei ist die Richtung je unterschiedlich: Von oben nach unten, von gleich zu gleich und von unten nach oben. Wir beobachten hier, dass die Kollektenfrage Paulus zu theologischer Brillanz veranlasst. Das ist sicher ein Zeichen dafür, wie ernst er sie nimmt. In 2 Kor 8,9 wird nun derselbe Vorgang »christologisch« dargestellt, also aus der Perspektive der Vermittlung des Heils durch Jesus Christus.
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652 Bei Berger/Nord ist 2 Kor 8,9 so übersetzt: »Jesus Christus ist uns auf diesem Weg des Gnadenwerkes vorangegangen: Er war reich an unzerstörbarem göttlichen Leben und ist um euretwillen arm, nämlich ein sterblicher Mensch geworden. So solltet ihr dadurch, dass er arm geworden ist, reich werden, das heißt: ewiges Leben erlangen.« Dieser Text ist das bekannteste Beispiel der so genannten Kenosis-Christologie. Kenosis heißt: leer werden, sich entäußern, verzichten, und zwar auf einen Status. Jesus Christus hat um der Menschen willen seinen göttlichen Status und dessen Vorteile abgelegt, um den Menschen daran Anteilteil zu geben Vertreten ist diese Ansicht über Jesus bei Paulus und im Hebräerbrief (Phil 2,611; 2 Kor 5,21; 8,9; Hebr 5,8f). Es handelt sich daher um ein kostbares Erbstück aus der Paulus und dem Hebräerbrief gemeinsamen alten neutestamentlichen Christologie. Alle diese Aussagen umfassen drei Stufen: 1. Jesus besitzt als Repräsentant Gottes göttliche Qualität, d. h.: Er hat die »Gestalt Gottes«, ist »Gott gleich«, kennt »die Sünde nicht«, ist »reich«, ist der »Sohn (Gottes)«. – 2. Jesus verzichtet auf diesen Status und wendet sich dem genauen Gegenteil zu: dem Bereich, in dem die Menschen wohnen. D. h.: Er nimmt die Gestalt eines Sklaven an, wird sterblicher Mensch und gehorsam oder lernt Gehorsam, wird zur Sünde gemacht oder wird arm. – 3. Jesus wird nun entweder wegen dieser Selbsterniedrigung erhöht und verherrlicht, oder – und das interessiert uns hier – Menschen werden nun gerade des Gutes teilhaftig, auf das Jesus bei der Menschwerdung oder zu Beginn seines Gesandtseins verzichtet hatte. Das heißt: Menschen werden nun »reich« oder zur »Gerechtigkeit vor Gott« oder »vollendet«. Sie gelangen in den himmlischen Bereich Gottes. Auf diesem Wege ist Jesus Quelle der Rettung geworden. Das geschieht offenbar so: Genau das, worauf Jesus verzichtet hat, steht nun für die Menschen zur generellen Verteilung zur Verfügung. Wenn man von dieser Beobachtung ausgeht, dann kann das Rätselwort 2 Kor 8,9 vielleicht, wie folgt, gedeutet werden. Wir fragen: Was ist der Reichtum, auf den Jesus verzichtet hat und der nun allen Christen zuteil werden kann? Ausdrücklich wird das ja nicht beschrieben. Der Leser muss, wie bei einer Gleichung mit einer Unbekannten, versuchen herauszufinden,
Der zweite Brief an die Korinther
worin hier Reichtum und Armut bestanden haben können. Der Leser wird zu diesem Zweck probieren, mehrere »Güter« hier einzusetzen. Es ist ein Rätselspruch, bei dem das entscheidende Bild vom Leser aufgelöst werden muss. Ich möchte vorschlagen, dass der Reichtum, der hier genannt ist, die Fülle des göttlichen Lebens bedeutet. Die Armut ist gegenüber der Fülle die Begrenztheit, also Sterblichkeit. Jesus gab die Fülle auf, er wurde sterblich zugunsten der anderen Sterblichen. Dadurch können jetzt die anderen reich werden, die zuvor arm waren. Reichsein bedeutete demnach die Fülle unzerstörbaren Lebens, Armut die Begrenztheit sterblichen Lebens. Jesus hat seinen Reichtum zur Verteilung zur Verfügung gestellt. Es ist das kraftvolle, unbegrenzte göttliche Leben. – Für meine Auslegung stütze ich mich auch auf die alte Präfation zum Fest der Erscheinung des Herrn (6.1.): »Weil dein Eingeborener in der Gestalt unseres sterblichen Fleisches erschienen ist, hat er uns so in seiner neuen, lichtvollen Unsterblichkeit wiederhergestellt.« In dieser Präfation steht die »Gestalt des sterblichen Fleisches« dem »Licht seiner Unsterblichkeit« gegenüber. Hier rangieren also Sterblichkeit und Unsterblichkeit an der Stelle des paulinischen Gegensatzes von Armut und Reichtum. Offen ist noch die Frage, wie dadurch, dass Jesus auf etwas verzichtet, andere in den Genuss dieses von ihm aufgegebenen Gutes gelangen können. Also: Warum werde ich unsterblich, wenn Jesus um meinetwillen sterblich wurde? In der Patristik und im Mittelalter hat man an das Bild des Tausches gedacht: Jesus Christus erscheint in der Welt und sagt: Tausche Unsterblichkeit gegen Sterblichkeit. Und die Menschen sagen: Tausche Sterblichkeit gegen Unsterblichkeit. Diesen Tausch hat man felix commercium genannt, glücklichen Tausch. Man hat demnach in 2 Kor 8,9 mit der Lehre vom seligen Tausch (Gottheit gegen Menschheit, Menschheit gegen Gottheit) eingesetzt. Die Orientierung am Bild des Tausches sollte nicht vergessen lassen, was die Motivation zu diesem Tausch war. Sie kann nur Liebe und der Wille zur Gemeinschaft gewesen sein. Das Bild des Tausches allein ist unzureichend. Vielmehr schenkt (!) Jesus den Menschen sein ganzes irdisches Leben bis ins Sterben. Sein Leben war und ist Gottes, des Vaters, Zuwendung an den Sohn. Der Sohn dient den Menschen, in-
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Kapitel 8: Werben für die Kollekte
dem er ihnen Gottes Liebe, die ihm gilt, weiterschenkt. Das war riskant, denn wie Menschen so sind, reagieren sie auf Liebe mit Hass, auf Evangelium mit Verdächtigung, auf Segen mit Fluch. Doch Jesu Vermächtnis ist, Gott ähnlich zu werden. Anders gesagt: Indem Jesus auf den Reichtum göttlichen Lebens verzichtet, steht dieser Reichtum noch nicht als unter den Menschen zu verteilendes Gut zur Verfügung. Durch Jesu Verzicht wird also nicht etwas gewonnen, das dann einfach verteilt wird. Sondern als sterblicher Mensch gibt er die Liebe, die den Menschen gilt, bis zu seinem Tode konsequent weiter. Diese durchgehaltene Treue gegenüber dem göttlichen Sendungsauftrag erlöst die Menschen. Der Gehorsam bis zum Tod am Kreuz (Phil 2,6) ermöglicht es den Menschen, diese Treue anzuerkennen und sich zueigen zu machen, sie anzunehmen und damit den Reichtum göttlichen Lebens zu erwerben. Dieser vermittelnde Punkt könnte der Glauben der Menschen sein.
2 Kor 9,1-15: Über die Kollekte III
Gliederungsfragen In der Regel wird 2 Kor 9 gegen 2 Kor 8 ausgespielt; es handele sich um eine »Dublette«, erklärt man. Warum jemand dann beide Kapitel sinnlos nebeneinanderstellte, statt eines wegzulassen, bleibt allerdings fraglich. In Wirklichkeit – so unsere These hier – handelt es sich um eine einzige, mehrteilige Argumentation: Teil I: 8,1-6: Makedonier als Vorbild. Teil II: 8,7-9,7: die Kollekte als Leistung von Menschen für Menschen, ein materieller Hilfsdienst für die Armen in der Jerusalemer Gemeinde. Teil III: 9,8-15: die Kollekte unter dem Aspekt der Beziehung zwischen Gott und Menschen. (In 9,12 kommen nacheinander beide Aspekte zur Sprache, was die Zweiteilung der Gliederung bestätigt.) In Teil II ist der Begriff »Gleichheit« (griech.: isotes) in 8,13.14 wichtig (Entsprechung bei Philo v. Alexandrien), nur hier spricht Paulus auch von »Gemeinde« (Kirche). In Kap. 8 ist wiederholt von der Gemeinde/Kirche die Rede (8,1.18.
653 19.23.24), in Kap. 9 gar nicht. Nur hier stehen sich Armut und Reichtum gegenüber. – Teil II kann verstanden werden als Legitimation der Kollekte und als Motivation der Korinther zur Sammlung, während Teil III die Kollekte ins Lob Gottes hineinführt. Dem entspricht: Nach 8,14 (Teil II) soll die Kollekte dem Mangel abhelfen (griech.: hysterema), ist also ein Werk der Gegenseitigkeit; nach 9,12 (Teil III) soll sie dem Lob Gottes dienen. Dem entspricht ferner: Nach 8,16 dankt Paulus Gott für den Eifer des Titus (Teil II), nach 9,15 Gott für seine »unaussprechliche Gabe« (Teil III). In Kap. 8 ist immer vom Kyrios die Rede (8,5.9.19.21), in Kap. 9 dagegen von Gott (9,7.8.11-15). Am Anfang der Rede (Teil I und II) wird von menschlichen Vorbildern gesprochen: In 8,1-5 und 9,2 wird Makedonien als Vorbild vor den Korinthern genannt, in 9,2 Achaja als Vorbild für Makedonien, in der Argumentation 9,8-15 (Teil III) nicht mehr. Ähnlich steht es mit der mutigen Bereitschaft (griech.: prothymia), so in 8,11.12.19 und 9,2, also nur in Teil II. – Nur in Teil III findet sich »Gerechtigkeit« (9,9.10). – Typisch für das ganze Stück sind: 1. Gnade (griech.: charis), und zwar in den Bedeutungen göttliche Gnade, menschliche Wohltätigkeit und Dank gegen Gott. Paulus spielt das ganze Spektrum von charis durch. Die Menschen, die von Gott begnadet werden, geben diese Zuwendung als Almosen weiter, und dafür danken die Empfänger schließlich Gott. So beginnt der Kreislauf der Zuwendung bei Gott und endet auch dort. 2. Überfließen, Überreichtum (griech.: perisseuein), und zwar so wie bei einem gotischen Schalenbrunnen: Von der Spitze des Brunnens läuft das Wasser zunächst in die oberste Schale (Becken), von dort aus in die nächst tiefere, von dort aus in die unterste Schale (öfter in den Brunnenhäusern der Klöster). So macht die Gnade Gottes die Korinther überreich, und das fließt zur nächst tieferen Schale, zu anderen Christen. 3. Die Not, die es bei den Adressaten der Kollekte zu beheben gilt, nennt Paulus ihren Mangel (griech.: hysterema), so in 8,14 (2) und in 9,12. 4. Die Kollekte wird Dienstleistung (griech.: diakonia) genannt (8,4; 9,1.12.13). 5. Viele Begriffe finden sich besonders am An-
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654 fang und am Schluss, so Gnade (charis), so in 8,1.4.6.7.9. und dann wieder in 9,8.14.15 oder Diakonie (8,4; 9,1.12.13 – das Verbum in 8,19.20) und besonders die schlichte Gebefreudigkeit (griech.: haplotes), so in 8,2; 9,11.13. Die realisierte Kollekte heißt »Gemeinschaftsleistung« (griech.: koinonia), so am Anfang und am Schluss in 8,4; 9,13. »Überfließen« kommt mehr am Anfang (8,1-7.14) vor, dann wieder gegen Ende in 9,8.12. 6. Der seltene Ausdruck »seit vorigem Jahre« (griech.: apo perysi) findet sich in 8,11; 9,2 – ein Hinweis darauf, dass es sich um eine einheitliche Konzeption handelt. 7. Von der (praktischen) Bewährung (griech.: Stamm dokim-) ist immer wieder die Rede (8,2.8.22; 9,13). Ein einheitliches Konzept finde ich besonders in 1., 2. und 5. ausgeprägt. Schlüssel für die theologische Intention des Abschnittes sind in erster Linie das unter 1. dargestellte kunstvolle Wortspiel mit charis, sodann die am Anfang und am Ende verwendeten Stichwörter 5., schließlich auch die in Teil III neuen Stichwörter wie »Gerechtigkeit« und »Segen« (9,5-6). Sie markieren den theologischen Fortschritt von der eher an der Mitmenschlichkeit ausgerichteten Mahnung in Teil I und II zur stärker theologisch orientierten in Teil III.
2 Kor 8,13f: »Gleichheit« Bei Philo v. Alexandrien (Spec Leg 4,231) gilt der Grundsatz: »Die Gleichheit ist die Mutter der Ge-
Der zweite Brief an die Korinther
rechtigkeit«; auch sonst gehören Gleichheit und Gerechtigkeit zusammen. In 2 Kor 8f steht Gleichheit in Teil II (8,13f), Gerechtigkeit in Teil III (9,9f); beide entsprechen einander. »Gerechtigkeit« ist für das jüdische Griechisch geläufiger.
2 Kor 9,8-10: Rechtfertigung Diese Verse bieten eine eigene Variante paulinischer Rechtfertigungslehre. In zwei Gedankengängen schildert Paulus, wie aus Gottes Gnade menschliche Werke werden und wie Gottes Gerechtigkeit zur Gerechtigkeit von Menschen wird. Dabei ist Paulus hier weder am »Glauben« noch an der Begründung in Jesus Christus orientiert, und die Größe »Gesetz« findet sich hier schon gar nicht; auch vom Heiligen Geist ist nicht die Rede. Das, was zwischen Gott und Mensch hier vermittelt, ist das »Überfließen-Lassen« und das Lenken-, Mehren- und Wachsen-Lassen. Gottes Reichtum (an Gnade) bzw. seine Gerechtigkeit sind so groß, dass sie unerschöpflicher Nachschub für die Geschöpfe sind. Aus seiner eigenen Kraft, aus seinem eigenen Reichtum lässt Gott das alles werden. Er wird darin wie der Schöpfer gedacht, der seinen Segen gibt. Der Übergang auf den Menschen geschieht offenbar durch »Ausstrahlung« (wohl: Kraftmitteilung durch den Schöpfer). Paulus liebt in 2 Kor 9 den Vergleich mit dem Segen (V. 5f). – Unsere Deutung setzt voraus, dass Gott Subjekt von 9,9 ist; das ist auch in V. 8a und dann weiter in V. 10 der Fall.
2 Kor 10-13: Paulus kämpft um die Gemeinde von Korinth Zur Gliederung Paulus hat bislang in 2 Kor folgende Themen behandelt: Darstellung der eigenen Aufgabe, Versöhnung mit der Gemeinde, Bitte um Beteiligung an der Kollekte. Er hat nun noch vor sich: eine harte Auseinandersetzung mit Widerstand in der Gemeinde, mit wirklichen Gegnern, und eine emotional heftige persönliche Verteidigungsrede (inklusive autobiografischer Passagen).
2 Kor 10,1-6: Einblick in die Christologie des Paulus Der Gattung nach liegt eine Drohrede mit einschüchterndem Charakter vor (vgl. K. Berger, Formen und Gattungen, 2005, 234 ff). Freilich geht es nicht nur um Rhetorik und Pastoralpsychologie, sondern der Abschnitt gibt auch tiefe Einblicke in die Christologie des Apostels. – Anhand der semantischen Felder sind die thematischen Schwerpunkte zu ermitteln: a) Das militärische Wortfeld »Feldzug, Erobe-
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Kapitel 10
rung« beherrscht die Verse 3-6, benachbart ist Eph 6 (Bild von der geistlichen Rüstung und vom entsprechenden Kampf). b) Das Bild des Herrschers, mit dem Paulus hier Christologie gestaltet, orientiert sich an zeitgenössischen Herrscherspiegeln. Ein wirklich souveräner Herrscher ist demnach sanft und freundlich (V. 1). Nur sein Feldherr muss Entschlossenheit und Mut aufbringen. »Christus« wird am Anfang (10,1) und am Ende (10,5) des Abschnitts genannt. – Paulus selbst versteht sich nach V. 1 als »demütig«; er richtet sich aber gegen jede stolze Aufblähung (V. 5). c) In V. 2-4 führt Paulus mit den Gegnern eine Diskussion um das Verständnis des griechischen Wortes sarx, welches hier in der Bedeutung Schwäche vorliegt, und zwar taktische wie organisatorische Schwäche; das verwickelt ihn in Streit. Paulus wird vorgeworfen, er lebe und verhalte sich taktisch und organisatorisch »schwach«. Paulus reagiert darauf, indem er die Opposition »stark« (griech.: dynatos) einführt. d) Gleichzeitig spielt Paulus mit dem Gegensatz von »anwesend« (sc. in Korinth) und »abwesend« (sc. von Korinth). Diese Topoi sind aus der zeitgenössischen Briefliteratur bekannt: Der Briefsteller ist zu seinem Bedauern abwesend (deshalb schreibt er den Brief), er wird aber sicher bald kommen und anwesend sein. Der Brief kündigt sein Kommen an (vgl. ähnlich schon 2 Kor 2). e) Der Apostel wird, wenn er nach Korinth kommt, eine Art Gericht vollziehen. Damit wird etwas von dem religionsgeschichtlichen Potential realisiert, das dem Apostelbegriff eigen ist (Phase »vor dem Gericht«, vgl. zu Mt 10). f) Das erklärte Ziel dieses Abschnitts ist der Gehorsam der Korinther, so besonders nach V. 5-6. Auch das in Aussicht gestellte militärische Vorgehen hat nur dieses Ziel. »Gehorsam« ist demnach das gegenüber Jesus Christus angemessene Verhältnis, das auch gegenüber seinem Apostel gilt. Das messianische Reich des Christus realisiert sich im Gehorsam der zu Jesus Gehörenden. Das soziologische Modell für die Zugehörigkeit zu Jesus Christus ist demnach nicht die Freundschaft (JohEv), auch nicht die Familie, sondern eher das Verhältnis zwischen Herr und Sklaven, wie es sonst Paulus für sich beansprucht, oder eben das Verhältnis von König und Untertanen. Die Formel »Gesetz
655 des Christus« (Gal 6,2) könnte hier gut passen. Die »Kirche« ist das Imperium des Königs Christus, so stellt Paulus es auch in 1 Kor 15,24f dar. Paulus selbst versteht sich hier als Feldherr des Königs, der die Menschen zum Gehorsam gegenüber dem König führen will. – Dass Paulus speziell in Röm so oft vom Gehorsam spricht, hängt sicher mit paulinisch antizipiertem Lokalkolorit zusammen; so spricht Paulus vom Gehorsam des Glaubens (1,5; 16,26), vom Gehorsam gegenüber der Gerechtigkeit (6,16f; vgl. 2 Clem 19,3 [Gebote]) und dem Evangelium (10,16; vgl. 2 Thess 1,8). Vom Gehorsam der Völker redet Paulus in Röm 15,18 und 16,26. – Wer von Gehorsam spricht, meint unterschiedsloses Umsetzen der Verordnungen der befehlenden Autorität. Der Lohngedanke ist nicht ausgeschlossen. Jeder Gehorsam beruht auf der Autorität des Befehlshabers. Indem Paulus auf den Gehorsam in Korinth dringt, löst er das Problem von Einheit und Spaltungen in der Gemeinde, das seit 1 Kor 11 ungelöst zu sein scheint. Bei dieser Christologie entfallen folgende Elemente: irdisches Leben, Sühnetod und Auferstehung, Heiliger Geist und Leib Christi, »in Christus«, Rechtfertigungslehre und die Opposition Geist/Fleisch; es fehlt auch der Bezug auf Charismen; Gehorsam als Herstellung der Einlinigkeit ist in mancher Beziehung den Charismen entgegengesetzt. Gehorsam und Gesetz intendieren Geradlinigkeit. Der Absatz V. 1-6 beginnt mit sanfter Freundlichkeit und endet mit der schroffen Ankündigung, Ungehorsam durch Gehorsam zu ersetzen. Dabei wird nicht deutlich, worin der Ungehorsam genau besteht. Auch aus 10,5 wird das nicht klar, denn gegen die »Erkenntnis Gottes« revoltiert jeder, der in Glaubensdingen anders urteilt als der Apostel. Aus der Wortwahl auf Gnostiker zu schließen war jedenfalls voreilig. Der Widerspruchsgeist selbst ist jedenfalls die Haltung, die Paulus am meisten ärgert.
2 Kor 10,7-18: Paulus antwortet auf Vorwürfe gegen ihn Paulus setzt sich nun mit einzelnen gegen ihn erhobenen Positionen bzw. Vorwürfen auseinander: a) »Ich gehöre (zu) Christus.« – Paulus: Ich ge-
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656 höre auch (zu) Christus. – Wer könnte das gesagt haben und in welcher Absicht? Jemand, der sich als »heilig« bezeichnet (Christus gehörend). b) »Ich habe Vollmacht.« – Paulus: Ich auch, und zwar vom Herrn selbst, aber zum Aufbauen, nicht zum Zerstören (einer Gemeinde). Die Gegner zerstören die Gemeinde, indem sie Spaltungen hervorrufen. – Die Vollmacht bezieht sich entweder auf das Wirken von Wundern (vgl. Mk 1,22) oder auf die Zulassung bzw. Nicht-Zulassung zur Gemeinde. c) »Paulus schreckt durch seine Briefe nur ab!« – Paulus: Ich will euch nicht durch Briefe abschrecken, denn meine Vollmacht bezieht sich auf das Aufbauen, nicht auf das Zerstören. Meine Briefe sollen nicht einschüchtern, sondern konstruktiv wirken. d) »Paulus schreibt gewichtige Briefe, aber seine leibhaftige Präsenz ist schwächlich, seine mündliche Rede ist lächerlich.« – Paulus: Wenn ich persönlich anwesend bin, ist das nicht anders als bei meinen Briefen. Da ist kein Unterschied. e) »Blickt doch auf unsere verdienstvolle Arbeit!« – Paulus: Man sollte sich nicht selbst empfehlen. Solchen, die das tun, möchte ich mich nicht an die Seite stellen. Ich unterlasse jede Selbstempfehlung meinerseits. Paulus appelliert an die eigene Erinnerung der Korinther. f) »Wir sind stolz auf das, was wir in Korinth geleistet haben!« – Paulus: Die Gegner rühmen sich fremder Mühen (V. 15). Denn die Gemeinde in Korinth hat er selbst mit Gottes Hilfe gegründet. g) »Orientiert euch an unserem Erfolg!« – Paulus: »Wer sich rühmt, der rühme sich des Herrn!« (Jer 9,22). Ein deutlicher Schwerpunkt liegt auf dem Thema Selbst-Empfehlung. Hier kann Paulus punkten, weil er Jer 9,22 auf seiner Seite hat, und weil die zeitgenössische Philosophie eine starke Allergie gegen unbescheidene Selbstempfehlung entwickelt. In Korinth war das Thema durch die Empfehlungsbriefe der Gegner besonders brisant geworden (vgl. 2 Kor 3,1-3). Zur philosophischen Einschätzung vgl. Plutarch (Wie man ohne anzustoßen sich selbst loben kann § 3): »Es ist daher ein eitles Lob, wenn man sich selbst lobt, um von anderen gelobt zu werden, und es wird auch ein solches Lob am meisten ver-
Der zweite Brief an die Korinther
achtet, weil es nur von Ehrsucht und unzeitiger Ruhmsucht zu kommen scheint. Wie die, denen es an Nahrung gebricht, genötigt werden, sich von ihrem eigenen Leibe auf eine unnatürliche Weise zu nähren, was der höchste Grad des Hungers ist; so machen es auch die, welche nach Lob hungrig sind; wenn sie keine anderen Lobredner finden, wollen sie ihre Ruhmsucht durch sich selbst befriedigen und verletzen dadurch allen Anstand. Wenn sie aber nicht bloß für sich allein gelobt werden wollen, sondern, im Wettstreit mit fremdem Lobe, diesem ihre eigenen Taten oder Handlungen in der Absicht entgegenstellen, um andere herabzusetzen, so fügen sie zu ihrer Eitelkeit noch Missgunst und Bosheit hinzu … Vor dem Eigenlobe, das aus Neid und Eifersucht sich in das Lob, das anderen zuteil wird, eindrängt, muss man sich wohl in Acht nehmen; man darf sich daher nicht einmal von anderen loben lassen, sondern soll denen, die es verdienen, wenn sie anders würdig sind, die Ehre überlassen. Wären sie aber schlecht und des Lobes unwürdig, so soll man, statt durch eigenes Lob diesen ihr Lob entziehen zu wollen, lieber offen ihr Betragen aufdecken und nachweisen, dass sie nicht mit Recht dieses Lob verdienen.«
Zum anderen bringt Paulus hier eine neue Kategorie zur Sprache, die Diskussion um den Maßstab des Rühmens. Das ist einerseits das Maß (griech.: metron) und davon abgeleitete Wendungen wie »sich ins Maßlose hinein rühmen« (V. 13.15) oder das Verb »abmessen« (griech.: metrein). Andererseits gebraucht Paulus das besondere Wort »Zubemessenes« (griech.: kanon, das Wort heißt »Maßstab, Richtschnur, Regel, Bezirk«, Letzteres z. B. in 1 Clem 1,3; 41,1), so in V. 13.15.16. In 2 Kor 10 meint es den besonderen Bezirk Korinth, den Gott Paulus zugeteilt hat. Es ist daher »sein« Bezirk (»kanon« in V. 13.15 mit Possessivpronomen). Und Paulus kann nicht zulassen, dass in seinem Bezirk nun andere tätig werden, weil Gott ihm diese Aufgabe der Christianisierung Korinths zugeteilt hat. An dieser Aufgabe will und muss Paulus auch gemessen werden. Hier finden wir zum ersten Mal in der Kirchengeschichte das Territorialprinzip als Basis der kirchlichen Organisation. Jedenfalls reklamiert Paulus dieses Prinzip für sich, um die »Gegner« des 2 Kor von der Gemeinde in Korinth fernzuhalten.
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Kapitel 11
2 Kor 11: Die so genannte Narrenrede des Apostels Paulus In diesem Kapitel kämpft Paulus um die Gemeinde von Korinth mit äußerster Erbitterung. Einigkeit besteht darin, dass Paulus dabei auch auf das Stilmittel der Ironie zurückgreift. Doch umstritten ist, wieweit Paulus, wenn er als Narr zu sprechen vorgibt, selbst ernst genommen werden muss. Generell gilt: 1. Das Problem, das Paulus mit seinen korinthischen Gegnern hat, besteht im »Sich-Rühmen« (griech.: kauchasthai), d. h. umstritten ist die Frage, wessen sich ein Christ rühmen darf. Denn darauf kann er sein Selbstverständnis, sein Selbstbewusstsein und seine Abgrenzung gegenüber anderen bauen. Das Sich-Rühmen betrifft daher das Sozialprestige und den aktiven Beitrag der an der Interaktion Beteiligten durch die Rede, die der Selbstpräsentation dient. Das Sich-Rühmen nimmt daher gegenüber der Gemeinde von Korinth die Rolle der Selbstvorstellung ein, eine Art von Bewerbungsrede. – 2. Umstritten ist zunächst, welche Werte einer solchen Selbstpräsentation dienlich sind. Nach allgemeinem Werturteil ist das alles Glanzvolle, und eben nicht Dinge wie Schwäche, Krankheit, Leiden, Sterben und Missachtung sowie Misshandlung. – 3. Vor allem umstritten ist, ob man sich eigener Vorzüge (seien sie ererbt oder erworben) und guter Taten, eigener Erfolge und Erfahrungen rühmen darf. Nach den Spielregeln des antiken, insbesondere aber des biblischen, Sich-Rühmens ist derjenige töricht, dumm oder eben ein Narr, der sich seiner selbst in dem genannten Sinne rühmt. Wenn Paulus dies also unternimmt, ist er nach allgemeiner Wertschätzung ein Narr. Zur Einschätzung vgl. Plutarch (Wie man ohne anzustoßen sich selbst loben kann, § 1): »Von sich selbst wie von einer wichtigen und angesehenen Person bei anderen zu reden, gilt allgemein … für etwas Widerwärtiges und Gemeines … unzeitiges Lob grenzt an Wahnsinn« (Entspricht etwa der paulinischen Einschätzung von Selbstlob als Torheit) »… Denn erstlich halten wir Leute, die sich selbst loben, für unverschämt …« 4. Da Paulus das aber nun wirklich in 2 Kor 11 tut, ist er in der Tat töricht. Aber diese Rolle,
657 sagt er, ist ihm von seinen Gegnern aufgezwungen; er begibt sich nur auf ihr Niveau, um ihnen auf Augenhöhe zu begegnen. – 5. Paulus weiß selbst und sagt es auch, dass es wirklich vernünftig wäre, nach den Maßstäben von Gottes Weisheit zu handeln und sich nur Gottes zu rühmen. Aber er sieht, dass dieses vernünftige Tun in den Augen der Korinther nichts brächte. – 6. Paulus kann sich, da er seiner Botschaft treu bleibt, nun freilich nicht einer ironischen Kritik an den Wertmaßstäben der Korinther enthalten. Er hält sie ja für verkehrt. Paulus lässt sich mithin für eine Weile auf die verkehrten Vorstellungen der Korinther ein. Er meint, mit verkehrten Denkern müsse man auch verkehrt reden. So wird er allen alles, den Narren in Korinth ein Narr. Weil der Glaube in der Orientierung an Gott sich an der wahren Wirklichkeit Gottes und an den wahren Maßstäben orientiert, ist das, was Paulus als Narr sagt, auch wirklich närrisch. Diese Bezeichnung ist nach paulinischer Theologie objektiv richtig. Nur nach der verkehrten Weltsicht der Korinther müsste Paulus jetzt endlich eine mit ihnen gemeinsame Sprache gefunden haben. Und die Dinge, derer sich Paulus rühmt, werden in der Tat die Korinther beeindruckt haben. Nur ist alles das nach der Ansicht des Apostels leider pervers. Paulus geht soweit, dass er sagen kann: Würden die Korinther mich akzeptieren, dann nur deshalb, weil sie Unvernünftiges lieben und schätzen. Das aber könnte nur ein Fehlurteil sein, denn in Wirklichkeit ist Paulus nicht unvernünftig. Er zieht es in 2 Kor 11 nur einfach durch, wie das wäre, wenn er tatsächlich unvernünftig wäre. Nun ist 2 Kor 11f nicht das Einzige, was Paulus in den Korintherbriefen zum Thema Weisheit/ Dummheit/Torheit und Sich-Rühmen sagt. Bereits in 1 Kor 1 hat er über dieses Thema gesprochen, und es gilt nun, 2 Kor 11f mit 1 Kor 1 zusammenzusehen. So ergibt sich folgendes Bild: Nach 1 Kor 1f geht es um den Gegensatz zwischen Gott und Welt und darin um die Frage nach sophia (Weisheit) und moria (Dummheit). Beide Kategorien dienen hier nicht der Beurteilung von göttlichem oder menschlichem Handeln, sondern von Personen. Die Frage ist: Welche Personen hat Gott erwählt? Gott hat den Gekreuzigten erwählt, ferner in Korinth die Ar-
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658 men, Machtlosen und Nicht-Weisen. Der Gekreuzigte wird sogar »die Weisheit Gottes« genannt. In den Augen der Welt ist das Kreuz Zeichen der Schande und daher der größte UnWert. Der Gegensatz zwischen Gott und Welt wird daran sichtbar, dass Gott für den NichtWert optiert. Gottes Weisheit ist hypostasierbar (Jesus als Weisheit). In 2 Kor 11f wird dagegen das Handeln/SichVerhalten von Menschen beurteilt. Vernünftig ist das von Gott geforderte Verhalten, also steht phronimos (vernünftig) gegen aphron (unvernünftig) oder paraphron (ohne Vernunft). Unvernünftig ist es, wenn man sich einlässt auf das Denken oder Handeln, das Gottes Maßstab entgegengesetzt ist. Unterschiedlich ist der jeweilige »Sitz im Leben«: 1 Kor 1 will Parteien in der Gemeinde ausschalten. 2 Kor 11f will der Gemeinde dazu helfen, Paulus und seine Gegner richtig zu beurteilen. 1 Kor 1 optiert für Anti-Werte, 2 Kor 11f dagegen ist ein Beitrag zur Frage der angemessenen Vergleichsebene, wenn Apostel und AntiApostel nebeneinandergestellt werden. In 1 Kor 1 zeigt Paulus: Weisheit im Sinne der politischen Kompetenz, also des angemessenen Umgangs mit Macht, kommt wider Erwarten nicht den irdischen Königen zu – diese haben es nur vermocht, Jesus ans Kreuz zu liefern. Weisheit gibt es nur im dem Bereich, der politischem Machtgebrauch entgegengesetzt ist, bei Gott. – 2 Kor 11f dagegen redet gar nicht von Weisheit, sondern nur von Klugheit. Weisheit kommt Gott zu, Klugheit (Vernunft) im bestem Falle dem Menschen. Menschen sind allerdings dann klug, so könnte man – beide Briefe zusammennehmend – sagen, wenn sie ihr Prestige auf Gott allein gründen; denn alles andere erweist sich als brüchig, weil es verlogen ist. 1 Kor 1 denkt daher von Gottes Erwählen her, 2 Kor 11f vom menschlichen Sich-Rühmen her. Dennoch ist beiden Kapiteln gemeinsam Jer 9,22 (wer sich rühmt, soll sich des Herrn rühmen). Doch ist in 1 Kor 1 allein die wahre Weisheit Gegenstand des Sich-Rühmens, in 2 Kor 11f dagegen verschiedene Vorzüge, auch Wunder und Machterweise, Visionen und Entrückungen. Geht man davon aus, dass Paulus (P) und die Gemeinde von Korinth (G) in der Beurteilung von
Der zweite Brief an die Korinther
Wirklichkeit überhaupt uneins sind, so ergibt sich: P: Verkündet Gottes Erwählen des Gekreuzigten (= Gottes Weisheit); G: Hält dieses für weltfremde Torheit (1 Kor 1,18). P: Als Gründer der Gemeinde bin ich deren Brautführer; G: Sie akzeptiert Leute, die sich selbst empfehlen (2 Kor 10,17f). P: Übt Unvernunft, indem er sich eigener Vorzüge und Erfahrungen rühmt. G: Müsste dieses als überzeugende Bewerbung akzeptieren. Für die Gemeinde muss man (laut Paulus) nur unvernünftig sein, um bei ihr anzukommen. P: Der Apostel überschreitet jetzt die Grenze zur Ironie. Diese besteht darin, dass er der Gemeinde vorhalten kann, was sie an ihm als Schwäche kritisiere, nütze ihr in Wahrheit. Denn Paulus verzichtet auf Unterhalt durch die Gemeinde. Das ist nach dem, was die Gemeinde für vernünftig hält, unvernünftig. Aber es würde der Gemeinde doch nur schaden, wenn Paulus sich in ihrem Sinne vernünftig verhielte. – Der Verzicht auf Unterhalt ist deswegen in den Augen der Gemeinde unvernünftig, weil der Verzicht auf Selbstdarstellung für sie genauso abwegig ist wie der Verzicht auf legitime Rechte (Unterhalt). Hier wird eine Querverbindung zu 1 Kor 1 erkennbar: Denn es geht nicht nur um Sich-Rühmen, sondern auch um Fordern, und wer nicht fordert, ist und bleibt arm. Und steht damit dem Gekreuzigten nahe. – G. erträgt Ausbeutung und Tyrannis gerne; P. legt der G. nahe, über diese merkwürdige Konsequenz ihrer Vernünftigkeit nachzudenken. Durch die beiden folgenden Schritte versucht Paulus dann freilich, die makabre Dialektik aufzulösen: P: Er zählt seine Schwächen und Leiden auf (Peristasenkatalog). G: Wird dadurch in Verlegenheit gebracht bezüglich der Anwendung ihrer Maßstäbe. Entweder wertet sie diese Peristasen als Heldentaten, so wie man das in der zeitgenössischen Wertschätzung des Herakles tut, dessen Mühen und Leiden (griech.: ponoi) ihm positiv angerechnet werden. Dann müsste sie Paulus von ihren eigenen Maßstäben her schätzen. Oder die Gemeinde wertet das alles wie gewohnt negativ, weil sie sagen muss, Paulus sei bekanntlich ein Versager, ein Anti-Held. Dann
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Kapitel 11
würde sie hier reagieren im Sinne der total anderen Ausrichtung. – Es kann sein, dass Paulus die Gemeinde hier nachdenklich machen will (2 Kor 12,9-11). P: Bericht über die eigene Entrückung. – G: Da Paulus aber hier gar nicht von »ich« redet, sondern die eigene Entrückung wie die eines anderen Menschen schildert, geht es hier weder um Selbstruhm, wie er im Sinne der Gemeinde förderlich wäre (im Sinne der Korinther vernünftig), noch um das Rühmen der Schwächen (im Sinne des Paulus vernünftig), sondern um etwas Drittes. Auch dadurch kommt die Gemeinde – so ist zu hoffen – von ihrer einhellig ablehnenden Haltung gegenüber Paulus ab. Paulus erreicht daher mit diesem Sonderfall eine Verunsicherung der Gemeinde. Denn wenn ihm etwas widerfährt, das gar nicht ihn selbst betrifft, dann ist es weder Eigenlob, noch Selbstempfehlung. Zu 2 Kor 11,2f: Paulus bietet in dem Bild vom Brautführer einen Beleg für die im Urchristentum weit verbreitete Metaphorik von Jesus als dem Bräutigam der künftigen messianischen Gemeinde aus Judenchristen und Heidenchristen (vgl. dazu die »Freunde des Bräutigams« nach den synoptischen Evangelien, Johannes d. Täufer als den Freund des Bräutigams nach Joh 3; das Neue Jerusalem als Braut des Lammes nach Offb 21; Eph 5 als Beleg für die Ehe zwischen Messias und Kirche aus Juden und Heiden; das Gleichnis vom Hochzeitsmahl in Mt 22,1-14). Der Ursprung liegt offenbar in einer frühen messianischen Auslegung des Hohenliedes. Sie erfüllt sich in Jesus. Die rabbinischen Belege für den Messias als Bräutigam sind extrem selten. Zu 2 Kor 11,23-30: s. u. zu 12,10 (Peristasenkatalog). Die Angaben des 2 Kor über die Gegner des Apostels Paulus Stellt man die Angaben des Apostels über seine Gegner in Korinth zusammen, ergibt sich folgendes Bild: a) Die Gegner sind Judenchristen (11,22). b) Sie sprechen von ihrem Dienst (diakonia) bzw. nennen sich »Diener Christi« (11,23). c) Sie nennen sich »Apostel«, und das weist darauf hin, dass zur Zeit des 2 Kor der Apostel-
659 begriff umstritten ist, ähnlich wie es dann auch Offb 2 und Didache 11 bezeugen. Anders Paulus nach 1 Kor 15,9, der der letzte durch den Auferstandenen berufene Apostel zu sein behauptet. Die Gegner vertreten demnach einen weiteren Apostelbegriff. Paulus kann das nur als Betrug werten. Durch ihr Wertlegen auf den Aposteltitel sind sie für ihn »Apostel im Übermaß« (11,5). d) Sie insistieren besonders auf Wundern, die der Apostel vollbringen soll. Daher fühlt sich Paulus genötigt, auf die »Zeichen des Apostels« hier besonders einzugehen (12,12). Die Bedeutung der Wunder entspricht auch nach 1 Kor 1 besonders jüdischem Verständnis. e) Sie lehren »einen anderen Jesus, einen anderen Geist, ein anderes Evangelium« (11,4). Die Ausdrucksweise erinnert an Gal 1,8 f. Dennoch ist in 2 Kor 10-12 von Gesetz oder Beschneidung oder irgendeiner anderen jüdischen Institution nicht die Rede. f) Die Gegner nehmen Geld für ihre Verkündigung und sagen von Paulus, er liebe die Gemeinde nicht, weil er kein Geld nimmt (11,11; vgl. schon 1 Kor 9). g) Auffällig ist das Bild von der Gemeinde als der Braut Christi, das der Apostel nur in 11,1-3 verwendet. Auch dieses weist unzweifelhaft aufs Judentum; andere würden das gar nicht verstehen. h) Extrem merkwürdig ist die Aussage über Satan als den Engel des Lichts in 11,14. Nun spricht Paulus über den Teufel auch, wenn er von der Versuchung spricht, die Neugetaufte zum Abfall verführt. Das kennt das Neue Testament von Jesus her (»Versuchungsberichte«), das Judentum von Hiob (TestHiob). Aber offenbar spielt der Engel des Lichts hier eine besondere Rolle. Nur hier steht davon im Neuen Testament. Da setzen wir ein, und die Spur führt auf eine judenchristliche Theologie, die wir auch im »Hirten des Hermas« finden (um 110 in Rom entstanden). Die Beziehungen zwischen Korinth und Rom werden dadurch um einen wichtigen Aspekt bereichert; bisher waren diese Beziehungen schon durch 1 Clem bekannt sowie durch Aquila und Priszilla, ein judenchristliches Ehepaar, das zeitweilig in Korinth wohnte (1 Kor 16,19). Demnach orientierten sich die Gegner an einer Engel-Christologie und beriefen sich für ihre Lehre auf einen mit dem (erhöhten) Herrn
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660 (Jesus Christus; beide Worte fehlen im Past Herm ganz) identischen Engel, der im Herm dem Hermas die Botschaft mitteilt. Dieser Engel wird in Past Herm auch »Engel der Umkehr« genannt, was die Rolle der Gegner in Korinth als Missionare verständlich machen könnte. Denn Umkehr ist das judenchristliche Wort für ZumGlauben-Kommen. Past Herm, Vis 5: »(1) Als ich in meinem Haus auf meinem Bett saß und betete, kam ein Mann von herrlicher Gestalt herein. Er sah aus wie ein Hirte, mit weißem Ziegenfell bekleidet, mit einem Ranzen auf den Schultern und einem Stab in der Hand. Er grüßte mich, und ich erwiderte seinen Gruß. / (2) Der Hirte setzte sich sogleich neben mich und stellte sich vor: »Ich bin vom Heiligsten der Engel ausgesandt worden, um dich für den Rest deines Lebens zu begleiten.« / (3) Ich dachte, er sei der Teufel, der mich versuchen wollte, und fragte ihn: »Wer bist du? Ich weiß nämlich, wer mein Schutzengel ist.« Er erwiderte: »Erkennst du mich nicht?« »Nein«, sagte ich. »Ich«, sagte er, »bin der Hirte, der für dich als Engel bestellt ist.« / (4) Noch während er redete, änderte sich seine Gestalt, und ich erkannte ihn wieder. Er war tatsächlich der Engel, der für mich bestellt worden war … »Denn Gott hat mich gesandt, damit ich dir noch einmal alles zeige, was du gesehen hast, und zwar das Wichtigste und was für euch nützlich ist. Zuerst schreib meine Gebote auf und die Gleichnisse« … Was der Hirte, der Engel der Umkehr, mir aufzuschreiben befahl, ist Folgendes ….« An diesem Text fällt auf: Das »weiße Ziegenfell« ist die Farbe des Lichts. Der Heiligste der Engel könnte für die Gegner in 2 Kor (Christus,) der Herr sein. Es liegt nahe, diesen Engel für den Teufel zu halten (oben V. 3), und zwar in seiner Eigenschaft als Versucher. Der Begriff der Sendung ist in dieser Vision wichtig. Der Engel ist Engel der Umkehr. Zur Offenbarung durch Engel vgl. Past Herm, Sim 9,1,1-2. Zum Ganzen vgl. N. Brox: Der Hirt des Hermas, 1991, Exkurse 3. Die Christologie, 485-494. Nach Brox 486, spricht der Past Herm nicht von Jesus Christus, sondern oft vom »großen, herrlichen Engel« von enormer Größe (Sim 8,1,2 wie 3,3; 4,1; 9,6,1; 12,7). »Das ist eine jüdische Form, überirdische Wesen (Engel) zu markieren. Er (sc. Christus) ist auch Gesetzgeber und Richter. Er ist das Gesetz selbst, die Hand-
Der zweite Brief an die Korinther
lungsnorm in Form eines beispielhaften Lebens. Der archaische, angelomorphe und deutlich judenchristliche Charakter dieser Christologie gipfelt in der Identifikation des Engels (= Sohnes Gottes) mit Michael (Sim 8,3,3)« (Brox, 490). Christus werde als Michael verstanden, hoch über allen anderen Engeln. In Past Herm, Sim 8,3,3 heißt es über Michael: »Er hat die Macht über dieses Volk und regiert es. Denn er gibt den Gläubigen das Gesetz in die Herzen. Er kümmert sich darum, ob die, denen er das Gesetz gegeben hat, es auch eingehalten haben.« »Der Sohn Gottes selbst, der ›Herr des Turmes‹, wird (auf ganz jüdische Art wie Michael: Sim 8,3,3) nach Rang, Bedeutung und Würde als ›großer‹, ›herrlicher‹ und ›heiligster Engel‹ (sc. von anderen Engeln) abgehoben« (… Vis 5,2; Mand 5,1,7; Sim 5,4,4; 7,1.3.3.5; 8,1.2 ff; 2,1; 3,3; 9,1,3; 10,1,1; 3,1) (N. Brox, a. a. O., 502).
Die Christologie der Gegner des 2 Kor ist wohl kaum einfach identisch mit der Christologie des Past Herm hat aber wichtige Gemeinsamkeiten: Judenchristliche Theologie ohne Torah-Observanz, Orientierung an Christus als dem großen, herrlichen Engel des Lichts (bei dem man prüfen muss, ob es nicht der Teufel ist), Beziehung zur Mission/Umkehr, Verknüpfung mit einer besonderen Lehre vom Heiligen Geist. Die Gabe des Gesetzes in die Herzen dürfte wohl das andere Evangelium nach 2 Kor 11,4 sein (vgl. Offb 14,6 und die jüdisch-hellenistische Bedeutung des Wortes »Evangelium verkünden«). Engel des Lichts wäre ein Offenbarungsmittler oder Christus selbst an der Spitze solcher Engel. Das »Gesetz im Herzen« erklärt auch, weshalb Paulus in 2 Kor 10-13 nicht gegen den Rückfall in Gesetz und Beschneidung protestiert, denn in Röm 2,15 lehrt er selbst Ähnliches. In 2 Kor 3,3 spricht er von den Tafeln der Herzen; »Tafeln« aber bezieht sich ursprünglich auf die Sinai-Gesetzgebung. Wenn er in 2 Kor 4,6 vom Licht in den Herzen redet, werden ihn seine Gegner gut verstanden haben. Zur besonderen Auffassung vom Heiligen Geist vgl. N. Brox, Der Hirt des Hermas, 1991, 494 f. Dieses zu 2 Kor 11,4. Fazit: In jedem Falle hilft die Einsicht in die archaische Christologie des »Hirten des Hermas«, die Gegner des Apostels in 2 Kor besser zu verstehen.
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Kapitel 12
2 Kor 12,1-5: Entrückung des Paulus vor vierzehn Jahren Paulus berichtet von einer Entrückung, über die wir nur aus diesem Text wissen. Da er wie von einem anderen berichtet, ist dieser Bericht keine Torheit, denn Paulus rühmt sich ja nicht seiner selbst. Die Entrückung führte ihn bis zum dritten Himmel, also bis in die höchste Höhe bzw. in die tiefste Tiefe. Denn nach etlichen damaligen Zeugnissen gibt es nur drei Himmel (später sieben, acht oder noch mehr). Eine ähnliche Auffassung von Paradies findet sich in Lk 23,43 (»… heute im Paradies …«). Das Ziel einer Entrückung ist Erkenntnis, hier das Hören unaussprechlicher Worte, die kein Mensch aussprechen darf. Da das Verbot, himmlische Geheimnisse auszusprechen, vor allem den Gottesnamen betrifft, kann es sich entweder um den Gottesnamen oder um theophorische Engelnamen handeln. Der Grund für dieses Redeverbot liegt stets in der menschlichen Unwürdigkeit und in der Gefahr, dass der Mensch unwürdig sein könnte, den heiligen Namen auszusprechen. Dann würde sich dessen potenziell zerstörerische Macht gegen diesen Menschen selbst wenden. Denn der heilige Name muss alles Unreine zerstören. Er stellt die gefährliche Präsenz Gottes selbst dar (vgl. das Abendmahl nach 1 Kor 11,29f). Oder so: Die Möglichkeit der Gotteslästerung liegt sehr nahe, und zwar bei den Adressaten der Botschaft. Ein ähnlicher Vorgang wird in ThomasEv 13,8 beschrieben: Thomas kann den Namen nicht preisgeben, den er erfahren hat, es ist der Gottesname selbst. »Thomas antwortete: ›Wenn ich euch auch nur eines von den Worten, die mir Jesus gesagt hat, weitersagen würde, würdet ihr Steine nehmen und mich damit bewerfen [weil ich in euren Augen der Gotteslästerung schuldig wäre]. Doch aus den Steinen würde Feuer schlagen und euch verbrennen [weil nicht ich, sondern ihr der Gotteslästerung schuldig wärt].‹« Das heißt: Würde Paulus den Korinthern (oder anderen) mitteilen, was er erfahren hat, dann könnten diese seine Botschaft für teuflische Erfindung halten. Das würde ihnen aber das Leben kosten. Über solche Art teuflischer Inspiration hat Paulus soeben in 11,14f gesprochen. Generell gilt: Das Schweigegebot schützt das
661 Heilige vor Profanierung, vor dem Schicksal jedes Gerüchts. Denn das Heilige könnte in die Hände von Unwürdigen kommen. Dann aber wird es gefährlich. Das liturgische »Herr, ich bin nicht würdig … Aber sprich nur ein Wort …« vor dem Abendmahl hat hier gleichfalls seinen Ursprung und ist per se ein Bekenntnis zur realen Gegenwart Gottes. Welche Rolle mag diese Erfahrung im Leben des Apostels gespielt haben? Wie mag sie sich zu seiner Berufungsvision nach Gal 1,12-16 verhalten? Man kann sich im allgemeinen Diskurs der Exegeten Paulus als Visionär gar nicht vorstellen. Aber Apg berichtet häufiger davon (vgl. nur Apg 16,9 und vor allem Apg 22,17-21) – abgesehen von den Berufungsberichten in Apg 9; 22; 26. – In 2 Kor 12,7 berichtet Paulus gar von einem »Übermaß von Offenbarungen« und dann von einem Gebetsdialog (s. u.). Die spätere Apokalyptik entfaltet die Vision von 2 Kor 12 in der Visio Pauli, die zur Gattung der Unterwelts- und Himmelsreisen gehört. Feststeht: Die visionären Erfahrungen des Apostels sind die grundsätzliche Voraussetzung dafür, dass er überhaupt berufen wurde. In 2 Kor 12 geht es um Himmelsreise und Thronvision, wie sie zum Beispiel auch vom Propheten Jesaja in der Schrift Ascensio Jesaiae (AscJes) geboten wird. Jesaja erfährt dabei die Botschaft, aufgrund derer er später hingerichtet wird (weil man den Bericht für Gotteslästerung hält; s. o. Kapitel 5. Auf den jeweiligen Himmel, den Jesaja durchwandern wird, muss er durch Verwandlung seines Leibes vorbereitet werden; Gleiches geschieht auch beim Abstieg. Die Leiblichkeit verändert sich jedenfalls nach AscJes. Es gibt indes in der apokalyptischen Visionsliteratur beide Möglichkeiten. Entweder verlässt der Seher seinen Leib (der Leib liegt dann wie tot da, und nach drei Tagen kommt die Seele zurück, so in Paralipomena Ieremiae 9,12f), oder er wird im Leib entrückt und dann von Himmel zu Himmel verwandelt. Paulus kennt diese beiden Typen der Entrückung, weiß aber nicht genau zu berichten, was nun auf ihn zutraf (zum Thema vgl.: T. K. Seim/J. Okland, Metamorphoses. Resurrection, Body and Transformative Practices in Early Christianity (Ekstasis 1), 2009, bes. 84-105: Problem der Kontinuität). In Gal 1,12-16 geht es weder um Himmelsreise
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662 noch um Thronvision, sondern um eine Erscheinung des Auferstandenen als des lebendigen Herrn. Gattungsgeschichtlich gesehen liegt die Vision des Auferstandenen in Offb 1,12-18 wohl nahe. Oder handelt es sich um einen Teileinblick in die Szene am Thron, wie in der Vision des Stephanus (Apg 7,56), die ja auch keine Himmelsreise ist? Stephanus sieht den Himmel »offen«.
2 Kor 12,5-10: Närrisches Sich-Rühmen Paulus erörtert ein neues Thema: sich seiner Schwächen zu rühmen. Das tut Paulus denn auch, indem er gewissermaßen in einer Flucht nach vorn von seiner Krankheit spricht, was er nur hier tut. Sich seiner Schwächen zu rühmen ist allerdings das Durchbrechen aller nur denkbaren Konventionen des Sprechens und Sich-Benehmens. Denn jeder, der sich rühmt, gründet darauf seinen Wert im Konzert der Mitmenschen. Den Wert kann man aber nur durch positive Qualitäten begründen und nicht durch Krankheit/Schwäche. Doch im Sinne seiner Kreuzestheologie von 1 Kor 1 bleibt Paulus kein anderer Weg. Wenn er sich der Schwäche rühmt, dann ist das keine Torheit, sondern theologisch angemessen. Denn wo der Mensch schwach ist, kann Gott wirken. Paulus berichtet über seine Krankheit in einem Gebetsdialog in 12,8f, einer nicht gerade seltenen Gattung (vgl. K. Berger, Formen und Gattungen, 2005, 303 u. ö., mit jüdischen Vorbildern). Im Neuen Testament sind besonders zu erwähnen Joh 12,27f und Offb 22,17-20. Sachlich verwandt ist das ebenfalls dreimalige Gebet Jesu in Getsemani (Mk 14,35-40), auch wenn es nicht in Dialogform berichtet wird. Doch wie in 2 Kor 12 richtet sich die Bitte auf Verschonung vom Leiden (der Engel Satans soll weggehen – der Kelch soll vorübergehen), und sie wird nicht erhört (so wie A. v. Harnack das auch für Hebr 5,7b vermutete). Aber was bedeutet die Antwort: »Nein. Dass du meine Gnade hast, muss dir genügen«? Was bedeutet die Zusicherung der Gnade angesichts der Zumutung menschlicher Leiden? Geht es da um Trost, um endgültige Errettung? Paulus ist allein Träger der Gnade/Gunst des Herrn (wie Gal 1,15). Diese ist das einzig Positive, was Paulus von seinem Beruf »hat«.
Der zweite Brief an die Korinther
1 Petr 2,20 ist dann die nächste Entsprechung: »Doch wenn ihr leidet, obwohl ihr Gutes tut und das geduldig ertragt, daran zeigt sich Gottes Gnade.« Das heißt: Paulus denkt auch hier noch kreuzestheologisch im Sinne von 1 Kor 1. Die Welt behandelt die Märtyrer schäbig, das bedeutet: Bei Gott sind sie hochgeehrt und genießen die volle Gunst des Herrschers (Gnade). Zu 2 Kor 12,7f: »Engel Satans« – als unsichtbarer Machthaber hat auch der Teufel Engel. Sie sind seine Exekutive. Sie erteilen körperlich spürbare Schläge, obwohl man sie nicht sieht. Die Vorstellung entspricht den Wundern auf der positiven Seite, besonders aber dem Schutz und der Kraft, die Gottes Engel den Bedrängten gewähren (so wie in Lk 22,43 in Getsemani der Engel, der Jesus stärkt). Zu Schlägen durch Engel vgl. besonders 2 Makk 3,26 (zwei Engel geißeln und schlagen Heliodor). Durch Satans Engel geschlagen wird im 19. Jh. nach eigenem Bericht der (heilige) Pfarrer von Ars, Johann Maria Vianney. Zu 2 Kor 12,10 und anderen Peristasenkatalogen im weiteren Kontext, so 11,23-30: Sich der Schwächen und Leiden, der Unglücksfälle und Bestrafungen zu rühmen, die man durchlitten hat, generiert zweifellos einen Anti-Ruhm. Paulus setzt dem (wie er meint) oberflächlichen Protzen anderer Missionare etwas entgegen, das nur töricht wirken kann, aber theologisch konsequent ist. Andererseits sind in der Umwelt des Paulus durchlittene Leiden keineswegs immer ein negatives Indiz. Herakles hat sich schließlich mit seinen Mühen (griech.: ponoi) zum Herrscher qualifiziert. Die Abfolge von Leiden und Herrlichkeit (»per aspera ad astra« – »Durch Mühsale zu den Sternen«) ist in diesem Sinne durchaus plausibel, und jedenfalls eine der Voraussetzungen, die paulinische Argumentation überhaupt zu verstehen.
2 Kor 12,19 – 13,13: Paulus kündigt seinen Besuch an Paulus spricht in diesem Schlussabschnitt über seinen kommenden Besuch in Korinth. Dieses Spiel zwischen Abwesenheit und erhofftem Wie-
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Kapitel 13
dersehen gehört zur antiken Briefliteratur. Für eine Analyse der seelsorgerlichen Rede des Apostels ist es angebracht, die Faktoren zu untersuchen, die in dem dramatischen Dialog und Geschehen zwischen Apostel und Gemeinde eine Rolle spielen. Es ist gut erkennbar, dass Paulus diesen Dialog wesentlich mit der Opposition von Stärke und Schwäche gestaltet. Mit rhetorischem Geschick versteht er es, Stärke und Schwäche abwechselnd positiv oder negativ zu besetzen. So ergibt sich folgendes Bild: a) Paulus legt Wert auf die Feststellung, dass er weder eine Selbstempfehlung noch eine Selbstverteidigung gibt, er redet vielmehr als Beauftragter Gottes. Alle Rede von Stärke ist auf Gott als Ursprung zu beziehen, nicht auf den Apostel (vgl. besonders 13,4b). Dem entspricht, dass Paulus einen Beweis dafür liefern wird, dass Christus in ihm spricht (13,3). b) Positiv ist, wenn die Gemeinde ihre Stärke zeigen kann, dann muss Paulus nicht seine Stärke zeigen (13,9). Denn die Stärke der Gemeinde besteht darin, dass sie »zurechtkommt«, die des Paulus bestünde in disziplinarischen Maßnahmen. c) Bevor Paulus eingreifen muss, soll sich daher die Gemeinde selbst prüfen (wie 1 Kor 11,31). d) Die Gemeinde ist schwach, wenn bei ihr Laster aus Lasterkatalogen virulent sind (12,20b.21b). Paulus ist gezwungen, stark aufzutreten, wenn er seine Vollmacht, die er eigentlich zum Aufbauen hat, zum Strafen nutzen muss (13,10). Nach 13,3 sucht die Gemeinde einen Beweis dafür, dass Christus im Apostel Paulus spricht. Das wird sie erfahren, wenn er ihr gegenüber stark auftritt. e) Die Laster der Gemeinde (12,20b.21b) sollten der Vergangenheit angehören und sich nicht wiederholen. Paulus erwartet, dass die Gemeindeglieder umkehren (griech.: metanoein) (12,21). f) Angesagt für die Zukunft sind Freude, Friede, Eintracht (13,11b) und zum Zeichen dessen der »heilige Kuss«, der Mitteilung des Heiligen Geistes bedeutet. g) Paulus ist bemüht, insbesondere seinen kommenden, dritten Besuch in Korinth aufzuwerten: Er ist das dritte Zeugnis nach Dtn 19,15 – insofern stellt Paulus dessen Bedeutung sogar durch einen Schriftbeweis heraus. Jedenfalls wird der kommende Besuch die »Stunde der Wahrheit«
663 sein. Paulus möchte dann nicht trauern müssen über Leute, die nicht umgekehrt sind (12,21). Wenn er kommt, wird er schonungslos vorgehen (13,2): Er möchte, dass weder die Gemeinde noch er selbst als Versager dastehen (13,7). Er hat Angst davor, dass Gott ihn demütigen könnte (12,21). h) Die Argumentation gewinnt damit an Gewicht, dass Jesus mit seinem Lebensgeschick der Dialektik von Schwäche und Stärke zugeordnet wird (13,4): Die Kreuzigung war ein Zeichen seiner Schwäche, die Auferstehung ein Zeichen von Gottes Kraft. Der Schwäche Jesu entspricht die (momentane) Schwäche des Apostels, der Auferstehung Jesu entspricht sein angekündigtes kraftvolles Auftreten. Ähnlich hatte Paulus schon in 2 Kor 10 geredet. Die Zeichen der Auserwähltheit, d. h. die Schwäche in den Augen der Welt, gibt Paulus auf, wenn er der Gemeinde drohen will. Denn er muss dann hart eingreifen, und er tut es in der Kraft des Auferstandenen. i) Die Situation, in der Paulus der Gemeinde schreibt, skizziert er sehr emotional: Er hofft (13,6), betet (13,7), freut sich über die Stärke der Gemeinde (13,9), hat offenbar Angst vor der eigenen Härte (13,10) und davor, dass er die Gemeinde nicht so findet, wie er es wünscht (12,20), oder dass Gott ihn gar demütigt vor der Gemeinde (13,21). So erweckt Paulus gerade dann, wenn er von harten Maßnahmen spricht, die er bei seinem Besuch ergreifen werde, nicht gerade den Eindruck eines angstfreien Menschen. Durch das Spielen mit den Begriffen »Schwäche« und »Stärke« wird auch erkennbar, dass Paulus sich selbst eher als schwach einschätzt.
2 Kor 13,13: Trinitarische Theologie am Schluss Der Schlussgruß gehört zu den wichtigsten Stücken »trinitarischer« Theologie im Urchristentum. Die Dreigliederung ist zunächst ein Zeichen der »Fülle«. Daher geht es Paulus nicht um innertrinitarische Relationen, sondern um die Fülle des Segens. Das ist der Ursprung der häufig triadischen Formen am Schluss urchristlicher Briefe. Nur die Rede von den drei »Personen« ist der Fülle Gottes angemessen. Die Dreiheit der Instanzen in 13,13 entspricht auch sicher der Drei-Zeugen-
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664 Regel, die Paulus gerade in 13,1 zitiert hat. Die Reihenfolge der Instanzen hat selbst eine eindeutige Logik und Folgerichtigkeit. Die Gesegneten treffen zuerst auf Jesus Christus. Er ist ja auch die prinzipiell sichtbare Instanz, der Herr der Gemeinde. In der Gemeinde trifft man auf ihn (9,6). Der Herr ist wie ein Wegweiser zur nächsten Instanz. »Gott« ist das unsichtbare heilige Geheimnis. Seine Wirkung ist Liebe. Ähnlich ist der Weg in Offb 1 von der Christusvision bis zur
Der zweite Brief an die Korinther
Thronvision in Kap. 4. Die dritte Instanz ist der Heilige Geist. Hier geht es um die konkrete Auswirkung auf die Gemeinde, die er schenkt, die Gemeinschaft mit Gott, die sich auch darin äußert, dass er das Gebet der Menschen zu Gott bringt. Der Heilige Geist bedeutet bleibende Gemeinschaft mit Gott und der Menschen untereinander. Im Übrigen sind hier Instanz und »Person« noch eins. Von der Funktion her ist direkt auf die »Person« zu schließen.
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Der Brief an die Galater
Kommentare: Ambrosius (4. Jh.). – Ambrosiaster (4. Jh.). – Victorinus († um 362). – Ephraem Syrus († 363). – Joh. Chrysostomus († 407). – Th. v. Mopsvestia († 428). – Augustinus († 430). – Hieronymus († 420). – Pelagius (400). – Theodoret v. Cyrus († 466). – Ps.-Oecumenius (6. Jh.). – Beda Venerabilis (735). – Hrabanus Marrus († 856). – Bruno Carthusiensis († 1101). – J. de Salisbury († 1180). – Haimo v. Halberstadt (ed. 1519). – N. de Lyra († 1349). – N. v. Dinkelsbühl († 1433). – M. Luther (1516/17; 1531). – J. Faber (1517). – H. Bullinger (1537). – D. Carthusianus (vor 1471) – B. Ochino (1546). – J. Sadoletus (1560). – N. Hemmingius (1570). – B. Aretius (1589). – B. Iustinianus (1612). – J. Piscator (1613). – W. Estius (1614). – C. a. Lapide (1614). – J. Cocceius (1665). – A. Paciuchelli
(1677). – B. a Piconio (1703). – F. Weise (1705). – L. Fromondus (1709). – J. A. Gleich (1715). – J. J. Wettstein (1752). – J. S. Semler (1779). – G. Tr. Zachariä (1781). – S. F. N. Morus (1795). – G. B. Winer (1821). – L. I. Rückert (1833). – M. L. de Wette (1845). – A. Hilgenfeld (1852). – J. B. Lightfoot (1865).– R. A. Lipsius (1891). – F. Sieffert (1880). – W. M. Ramsay (1899). – F. X. Reithmayr (1865). – Th. Zahn (1905). – H. Lietzmann (1910). – A. Loisy (1916). – W. Bousset (1917). – M.-J. Lagrange (1918). – E. de Witt Burton (1920). – P. Bonnard (1953). – S. Lyonnet (1953). – R. Bring (1961). – J. Bligh (1969). – H. Schlier (1971). – A. Oepke (1973). – F. Mussner (1974). – J. Becker (1976).– D. Lührmann (1978). – H. D. Betz (1979).
EINFÜHRUNG Einleitungsfragen Die Adressaten des Apostels sind Heidenchristen. Diese sind im Begriff, die Beschneidung (wohl nicht die Torah-Observanz) einzuführen. Sie werden von judenchristlichen Missionaren dazu gedrängt. Durch die Beschneidung aber wären diese Heidenchristen zu Judenchristen geworden. Paulus sieht in dieser Situation seine Aufgabe, die beschneidungsfreie Heidenmission, grundsätzlich in Gefahr. Hätten seine galatischen Gegner sich durchgesetzt, dann wäre das Christentum ein jüdisches Anhängsel zum Judentum. Dabei gab es durchaus gewichtige Gründe für die Beschneidung von Heidenchristen. Jesus und alle seine jüdischen Verwandten sowie Johannes der Täufer waren beschnitten, so auch Paulus und wohl alle Apostel der ersten Generation. Um die Verheißungen zu erlangen, die Gott seinem Volk gegeben hatte, musste man Kind Abrahams sein; das ging für Nichtjuden nur auf dem Weg der Beschneidung. Paulus widmet diesem Thema denn auch zweimal ein ganzes Kapitel (Gal 3 und Röm 4) voll schriftgelehrter Argumentationen. In beiden Kapiteln möchte Paulus beweisen, dass man die Abrahamskind-
schaft auch ohne Beschnittensein erlangen kann. Die Argumente sind für damalige Verhältnisse kühn und etwas windig. Aber sie müssen auch gar nicht philologisch überzeugen; wichtig ist damals wie heute, dass Paulus sein Volk über alles liebt und weder Phantasie noch Mühe scheut, Juden zu Christus zu führen. Jesus kann nicht der Messias der ganzen Welt sein, wenn er nicht zuvor der Messias seines Volkes ist. Was aber bleibt an Jüdischem für die Heidenchristen erhalten? Sie glauben an den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, der Messias Jesus ist der Messias der Juden und hat eine jüdische Mutter. Wenn die Heidenchristen durch den Glauben, wie Abraham ihn hatte, Kinder Abrahams werden, gelten auch ihnen Gottes Verheißungen an Abraham und die Erwartung des himmlischen Jerusalem. Erhalten bleibt ihnen als verbindliches Dokument ihres Glaubens die Schrift; denn sie enthält ja alles, was zu glauben notwendig ist, auch Aussagen über ihren heidenchristlichen Status. Erhalten bleibt natürlich für sie auch Gottes Moralgesetz, z. B. die Zehn Gebote. Denn Gott hebt kein Gesetz auf. Lediglich diejenigen Gebote, die die kultisch-rituelle Annäherung an Gott
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666 betreffen, sind nicht mehr zu erfüllen, da sie durch Jesus Christus und durch die Gabe des Heiligen Geistes bereits besser erfüllt sind. Es ist, wie wenn meine Tante für mich Steuern bezahlt. Dann brauche ich es nicht mehr zu tun. Aber damit ist das Steuergesetz nicht aufgehoben. Die Tante hat es nur für mich diskret und pünktlich erledigt. – Im Übrigen gilt: Die Moralregeln, die Paulus in Gal 5-6 gibt, sind durchaus das Gesetz und die Gerechtigkeit, wie man das seinerzeit darstellen konnte. Denn zur Zeit des Neuen Testaments ist im Judentum das Gesetz und die Gerechtigkeit, die es fordert, relativ frei variierbar; es besteht nicht als Zitatensammlung aus der Torah. Nur so kann man erklären, warum das Gesetz sich im Doppelgebot der Liebe darstellen lässt oder in der Bergpredigt oder in paulinischen Paränesen. Das ist allerdings nicht eine »Torah für die Heiden«, wie man gemutmaßt hat, sondern eine übliche Darstellung des jüdischen Gesetzes fern vom Biblizismus der tausend Zitate, einfach nach der Regel: »Die Institution bleibt konstant, der Inhalt ist weitgehend austauschbar«. Im Frühjudentum gibt es keinen Konsens darüber, ob Herkunft von Abraham und Beschneidung ausreichen, um das jenseitige Heil zu erlangen – oder ob Herkunft und Beschneidung nicht genügen, weil überdies alles darauf ankommt, den Vätern ähnlich zu sein, und zwar in ihren Tugenden. Die erstgenannte Auffassung könnte der theologische Hintergrund für die Judaisten sein, die in Galatien die Einführung der Beschneidung fordern. Hiernach stellt sich das Jenseits so dar, dass Abraham am Eingang sitzt (wie Petrus an der Hmmelstür) und die Beschnittenen nach links schickt, sodass sie dann rechts dastehen. Die Beschneidung hat dann eine deutlich sakramentale Funktion, ja noch mehr, sie ist ein Ausweis für das Heil; die alte apotropäische Deutung der Beschneidung wird dann hier fortgesetzt und verstärkt. Wenn Gott des Bundes mit Abraham gedenkt, so bedeutet das Heil schlechthin (Lk 1,72f; 1,54f). Auch nach Röm 11 wird Gott um der Auserwähltheit der Väter willen das Heil bewirken. Insbesondere die Gerechtigkeit der Väter wird als Heilsgarantie verstanden (vgl. Art Abraham II, TRE 1,375f). Paulus betont in Röm 4 die Ähnlichkeit mit Abraham (der Glaube ist wie bei ihm), in Gal 3 dagegen die Bedeutung des Segens,
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die freilich auf die Person Jesu Christi zentriert ist (s. u.). Da bei den Gegnern in Galatien Beschneidung wohl eine sakramentale Funktion besitzt, muss Paulus die Galater darüber aufklären, dass derjenige, der beschnitten ist, auch die Torah erfüllen muss. Denn Beschneidung ist wie die Eingangspforte zu einem Leben unter dem Gesetz, das dann nach dem Maßstab des Gesetzes gerichtet wird. Datierung Möglichkeit A: Bei den Gegnern handelt es sich um Judenchristen, die das Resultat des Apostelkonvents in Jerusalem (noch) nicht anerkannt haben, nämlich die beschneidungsfreie Heidenmission. Dann wäre der galatische Streit zwischen 50 und 53 n. Chr. anzusetzen. – Möglichkeit B: Es handelt sich um Leute, die die Vereinbarung, wie sie für Petrus auf dem Apostelkonvent getroffen wurde, umsetzen und in ihrem Sinne interpretieren. Für diese Möglichkeit B spricht vieles: a) Paulus setzt sich (positiv anerkennend) mit Petrus auseinander in Gal 1,11-16.18 f. b) Schon immer hat die Wendung »für die Beschneidung« in Gal 2,7 die Forschung irritiert. Aber das Thema des Gal ist doch gerade die Beschneidung. Der Bericht über den antiochenischen Zwischenfall in 2,11-14 ist der Problematik in Galatien zumindest analog. So halte ich es für ausgemacht, dass die galatischen Gegner sich zumindest auf Petrus berufen haben. c) Dafür spricht auch, dass und worüber Paulus die Galater belehren muss. Offenbar handelt es sich um ein Heidenchristentum, das – wie Gal 2,7 sagt – lediglich auf die Beschneidung fixiert ist, im Übrigen aber gesetzesfrei lebt. Paulus setzt in seiner Belehrung in Gal 5,3 genau dieses voraus. Dass nach Gal 4,10 die Galater – abgesehen von der Beschneidung – praktisch lediglich den jüdischen Kalender einhalten, entspricht der rituell-magischen Einschätzung der Beschneidung selbst. »Astrologie« (sowie Paulus es hier einschätzt) passt sehr gut zu einer apotropäisch verstandenen Beschneidung. Demnach hätte sich zumindest unter dem Namen des Petrus in Galatien eine Praxis herausgebildet, vor der Paulus »seine« Heidenchristen bewahren will. Die Datierung wäre dann offen, aber sicher vor dem Römerbrief. Denn in
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Kapitel 1
Röm 4,11 denkt Paulus über Heidenchristen, die sich beschneiden lassen, positiver. Paulus ist nicht zuletzt durch die kirchenpoltische Lage
dazu gezwungen. Er muss um die Annahme seiner Kollekte in Jerusalem kämpfen, und der Ort dieses Kampfes ist Rom.
KOMMENTAR Gal 1,1-8: »Ich staune« Jesus Christus steht immer mit »Gott« zusammen (V. 1.4f), d. h. in Wirkeinheit mit dem Vater. Unterschiedlich geht Paulus auf die Rolle der Auferstehung (V. 1b) und des Sühnetodes Jesu (V. 4) ein. Die Auferstehung legitimiert den Apostel, der Sühnetod erwirkt die gemeinsame Erlösung (etwas anders in 2 Kor 4,10-12). Beträchtlich sind die Abweichungen vom üblichen Briefschema. Paulus bezeichnet sich nicht als Sklave Jesu Christi, denn in Gal 4 wird er den Status des Sklaven als für Christen überholt bezeichnen. Er beginnt in Gal 1,6 nicht mit der zu erwartenden Danksagung, sondern mit »Ich staune …« In 1,8 verkündet Pauls munter die erste kirchliche Exkommunikation (anathema), die allen gilt, die abweichend von Paulus missionieren. Der Ausdruck anathema bedeutet: Wer ihn ausspricht, überantwortet einen Gegenstand oder einen Menschen dem Verfügungsrecht Gottes, und zwar ist der dann entweder der Gottheit geweiht oder verflucht, d. h. die Gottheit kann ihr Recht an ihm vollstrecken. »Anathema« zu sagen ist damit eine performative Rede.
Gal 1,6-16: Himmlische Legitimation für Paulus Dass auch ein Engel vom Himmel das Evangelium verkünden könnte (V. 8), hören wir in Offb 14,6 (zur Auslegung: Joachim von Fiore und die Spiritualen der Franziskaner). Vgl. auch zu den Gegnern in 2 Kor 11,14! Gewissermaßen in Konkurrenz dazu betont Paulus den himmlischen Ursprung seines Evangeliums. Denn Petrus hätte sich auf die Ostervisionen berufen können. Doch das, was Paulus anklingen lässt, hat einen anderen, älteren Ursprung. Dies betrifft fünf Elemente, die Mt 16,16-18 mit Gal 1 gemeinsam sind: 1. Die Aussage begründet den Rang bzw. das Apostolat von Petrus bzw. Paulus. – 2. Erkannt wird die
Gottessohnschaft Jesu. – 3. Dieses Erkennen wird »offenbaren« genannt (griech.: apokalyptein). – 4. Ausdrücklich wird hervorgehoben, dass diese Offenbarung nicht durch Menschen verursacht sei, sondern allein durch Gott. – 5. Abgewehrt wird eine Offenbarung durch »Fleisch und Blut«, d. h. sie ist jeweils autonom und bedarf keiner Bestätigung durch weitere menschliche Instanzen. – Über Petrus hinausgehend hat Paulus nach 1,16b die Aufgabe, Jesus unter den Heidenvölkern zu verkündigen. Zum christologischen Titel »Sohn Gottes« passt das allerdings ausgezeichnet; denn dieser Titel war der einzige, den Heiden begreifen konnten, und entsprechend hat er sich bis heute durchgesetzt. Wenn Paulus sich hier auf Petrus bezieht, dann setzt dass gleichzeitig voraus, dass Mt 16 nicht etwa matthäisch-redaktionell und »spät« ist (das MtEv setzt man dann um 80 n. Chr. an), sondern dass es bereits die Basis des paulinischen Selbstverständnisses als Apostel ist. D. h.: Petrus ist der Maßstab für das paulinische Selbstverständnis. In der akuten Auseinandersetzung mit Leuten, die sich wohl auf Petrus berufen, betont Paulus, dass seine Lehre einen gleichfalls himmlischen Ursprung hat. Damit ist sie dem Ursprung nach Petrus ebenbürtig. So hat der eine dem anderen keine Vorschriften zu machen. Zu Gal 1,10: »Gegenüber Menschen verhalte ich mich anders als gegenüber Gott. Menschen muss ich zu überzeugen versuchen, Gott will ich gefallen – nicht umgekehrt. Denn wenn ich Menschen gefallen wollte, dann wäre ich nicht mehr Sklave Jesu, des Messias.« Wie auch in Gal 6,1214 setzt Paulus voraus, dass die galatischen Gegner und ihre Sympathisanten Menschen gefallen möchten und dabei das Evangelium verraten.
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Gal 1,11-19: Petrus und Paulus Der Text handelt fast nur von Petrus und Paulus. Beide sind in diesem Abschnitt zentral; sie werden es auch in Gal 2,8 f.11-14 sein. Beide Apostel sind sich mehrfach begegnet, einmal in Jerusalem und später in Antiochien. Über den Jerusalemer Aufenthalt von rund 15 Tagen berichtet Paulus in Gal 1,18. Paulus zeichnet sein eigenes Apostolat mit denselben Worten, die in Mt 16,17-19 im Munde Jesu dazu dienen, das Bekenntnis des Petrus und dessen Rolle in der Kirche darzustellen. Wenn Petrus und Paulus aber in zwei recht verschiedenen Dokumenten wie dem MtEv und dem Galaterbrief so übereinstimmend gezeichnet werden, dann kann das aus meiner Sicht nur bedeuten: Erstens die Worte Jesu an Petrus sind alt und keineswegs erst von Matthäus formuliert; denn den kann Paulus nicht gekannt haben (als das MtEv entstand, war Paulus vielleicht schon tot), und zweitens: Paulus hält es für nötig, sein eigenes Apostolat an dem des Petrus auszurichten, es im Lichte des Bekenntnisses des Petrus zu formulieren. Beides stärkt in jedem Falle ganz erheblich die Position des Petrus. Denn trotz aller Unterschiede zwischen Petrus und Paulus ist das Apostolat des Petrus der Maßstab für das des Paulus, und zwar nach seinem eigenen Zeugnis, das hier bewahrt ist. Wir erkennen daraus: Die Funktion als Apostel bzw. als Apostel und Fels der Kirche ist ganz wesentlich an das Bekenntnis (hier: Gottessohnschaft) gebunden. Beides kann nicht unabhängig voneinander sein. Das bedeutet inhaltlich: Der Apostel stellt mit seiner Existenz den dar, den er verkündet. Das ist der Kern dessen, was in den Evangelien »Nachfolge« und bei Paulus »Nachahmung« heißt. Zu Gal 1,15: Paulus schreckt nicht davor zurück, sich mit den großen Propheten zu vergleichen (Jer 1,3; Jes 49,1). Auch bei Johannes d. Täufer gilt die Erwählung vom Mutterleib an (Lk 1,15b). Paulus ordnet sich daher selbst den Propheten zu. Um die paulinischen Aussagen richtig zu beurteilen, bedenke man, dass die Aussonderung weder angenehmes Leben noch Berühmtheit bedeutet. Paulus ist allein Träger der Gnade/Gunst des Herrn (wie 2 Kor 12,8). Diese
Der Brief an die Galater
ist das Einzige, was Paulus von seinem Beruf »hat«. Zu Gal 1,16b: Der Vers steht Jes 49,6 und 61,1 nahe (Prophet, Heidenvölker, Evangelium verkünden). Vom »Geist« (sc. Gottes) in Jes 61,1 gibt es eine enge Verbindung zum Sohn Gottes.
Gal 2,1-9: Differenzen zu Apg 15 Die beträchtlichen Differenzen zu Apg 15 wurden früher Lukas zur Last gelegt; mittlerweile begreift man auch die paulinische Darstellung als »tendenziös«. Gemeinsam: Paulus und Barnabas reisen nach Jerusalem. – Differenz: Nach Gal 2,10 »aufgrund einer Offenbarung«, gemeinsam mit Titus (2,3). Nach Apg 15,2 »von der Gemeinde geschickt mit einigen anderen«. Gemeinsam: Konvent aufgrund eines Streites um die Beschneidung von Heidenchristen. – Differenz: Nach Gal 2,4 wollen eingeschlichene Falschbrüder die Freiheit der Mission einschränken. Nach V. 3 geht es um Beschneidung. Apg 15,1: einige aus Judäa lehren die Brüder in Antiochien, Beschneidung sei Voraussetzung für die Seligkeit. 15,5: In Jerusalem sind es christliche Pharisäer. Gemeinsam: Paulus und Barnabas geben in Jerusalem Bericht. – Differenz: Paulus berichtet über das Evangelium, das er den Heiden gepredigt hat; Apg 15,4: Paulus und Barnabas berichten vor den Asposteln und Presbytern, wieviel Gott durch sie getan hat. Gemeinsam: Paulus trifft mit den Aposteln in Jerusalem zusammen. – Differenz: Nach Gal 2,2 Besprechung mit den Angesehenen, vor allem mit den »Säulen« Jakobus, Kephas, Johannes. Nach Apg 15,4.6: (Gemeinde) Apostel und Älteste. Gemeinsam: Anerkennung der beschneidungsfreien Heidenmission. – Differenz: Gal 2,7f: Es geht jetzt gar nicht mehr um Beschneidung, sondern um die Aufteilung der Mission; Paulus zu den Heiden, Petrus und die anderen zur Beschneidung (2,9). Apg 15,10: Petrus berichtet von seiner Heidenmission und wehrt sich gegen ein »Joch«. Paulus und Barnabas bestätigen Petrus durch ihren Bericht. Jakobus vermittelt
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Kapitel 3
durch den Vorschlag, die Heiden sollten die vier Reinheitsgebote einhalten (Apg 15,20). Zentrale Differenz: Keine Auflagen nach Gal 2,6. Nur Armenkollekte nach Gal 2,10. Nach Apg15,20: Aposteldekret.
Gal 2,15-21: Freiheit vom Gesetz Paulus begründet hier die Freiheit der Christen vom Sich-Beugen unter den Urteilsspruch des Gesetzes. So argumentiert er: 1. »Wir«, damit meint Paulus Judenchristen und sich, sind nicht einfach nur Sünder wie die Heiden. (Paulus setzt hier die teilweise Deckungsgleichheit von Sündern und Heiden voraus). 2. Andererseits wissen wir auch, dass Werke (des Gesetzes) nicht gerecht machen, uns vor Gott nicht zur Heiligkeit bringen können. Es ist auch die Frage, ob die Werke des Gesetzes das je wollten oder sollten. Die Erfüllung des Gesetzes war doch eher nur ein Garant für langes Leben auf Erden. Mehr erwartete man gar nicht. Heilig sein, gerecht sein wie Gott selbst, ist eine andere Frage, die auf dem Weg der Werke des Gesetzes nicht gelöst werden kann. So stehen die vorchristlichen Juden in einer Zwischenstellung: Einerseits sind sie nicht »Sünder« wie die Heiden, andererseits nicht gerecht vor Gott. Anders gesagt: Wenn Menschen auf Erden nicht straffällig werden, wenn sie unauffällig leben, so ist das doch kein Maßstab, der vor Gott ausreicht. Dafür ist das Gesetz gar nicht da. 3. Paulus hat etwas aufgelöst: durch Abschaffung der Beschneidung die trennende Mauer zwischen Juden und Heiden. In Gal 2,18 spricht er nur von »auflösen« (griech.: katalyo); der Verfasser von Eph 2,14 spricht von »lösen« (griech.: lyo) eben dieser Mauer. Ich gehe davon aus, dass Paulus hier dasselbe meint. 4. Wenn Paulus das nun rückgängig machen, d. h. durch die (Wiedereinführung der) Beschneidung die Mauer wieder aufrichten würde, dann gäbe er doch zu, etwas falsch gemacht zu haben. Er stellte sich als »Übertreter« dar. Wie sollten aber der Wille und das Werk Jesu Christi ihn zum Übertreter machen? Oder wie sollte die Beseitigung der Mauer zwischen Juden und Heiden die Juden nun zu Sündern machen? – Jedenfalls hat die Gleichstellung von Juden und
Heiden (bei Wegfallen der Beschneidung) nicht die Folge, dass nun auch die Juden(christen) zu Sündern werden. Das wäre ja das Gegenteil von Rechtfertigung. Weder die Juden allgemein werden damit zu Sündern wie die Heiden, noch wird Paulus mit seinem revolutionären Verzicht auf Beschneidung zum Übertreter. Vielmehr erfolgt durch den Glauben die Gleichstellung in positiver Hinsicht. Denn er rechtfertigt alle, macht aber nicht alle zu Sündern. 5. Gegner des Apostels Paulus in Galatien meinen, es müsse schleunigst das Gesetz wieder eingeführt werden, und zwar für alle. Nun ist aber nicht das gemeinsame Sündersein, sondern das gemeinsame Gerechtsein Resultat des Glaubens an Jesus. 6. Die Gemeinschaft mit Jesus Christus bedeutet: Paulus ist mit ihm gekreuzigt. Damit ist er wie jeder andere Tote radikal vom Gesetz getrennt und radikal vom Gesetz frei (vgl. Röm 7,3f). Weil er zugleich durch (den Glauben an) Jesus Christus gerecht ist, lebt er jetzt von Christus her. Daher kann Paulus nicht von seinen Werken her (deren Maßstab das Gesetz wäre) – unter Absehen vom Glauben – beurteilt werden. Nach dem Maßstab des Gesetzes kann kein Mensch je als gerecht gelten. Er kann nur von seinem Glauben her beurteilt werden und nicht von einer Institution, nur von Gott.
Gal 3,1-5: Heiliger Geist statt Beschneidung Anstelle der captatio benevolentiae beginnt Paulus mit einer Schelte. Er hält die Galater für verdreht, verzaubert. Er nennt die wichtigsten Stichworte: Heiliger Geist (V. 2.3.5; vgl. dann 4,6) im Gegensatz zum Fleisch, der mangelnden Qualität, in der die Galater zuvor existierten; Kreuz (3,1), auch hier Zeichen der Umwertung der Werte; Werke des Gesetzes (3,2), Gehorsam des Glaubens (an Jesus Christus). Demnach besteht ein direkter Zusammenhang zwischen Hören, Glauben (als Annehmen des Gehörten) und Heiligem Geist. Der Heilige Geist ist offenbar die entscheidende Heilsgabe. Dementsprechend ist besonders nach Kap. 4 die Gotteskindschaft im Gegensatz zur vorangehenden Sklaverei das Argument zur Bestreitung der Beschneidung. Formgeschichtlich gesehen liegt in 3,3-5 eine
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670 narratio vor. Paulus klärt den Tatvorgang als Weg vom Fleisch zum Geist, also von der kreatürlichen Schwäche, Sterblichkeit und Suchtgefährdung (Fleisch) hin zur Freiheit der Kinder Gottes. Aus 3,3 geht auch hervor: Die Galater haben auf dem Weg aus dem Fleisch zum Geist einen Rückfall erlitten und den Rückweg beschritten. Das setzt voraus: Die Beschneidung, die sie einführen wollen, ist aus der Sicht des Apostels nicht die Vollendung der Taufe, sondern ein zerstörerisches Gegenbekenntnis. Wer sich beschneiden lässt, vergeht sich insbesondere gegen den Grundsatz, dass der in der Taufe verliehene Heilige Geist die höchste und endgültige Form der Zuwendung Gottes zu den Menschen ist. Offenbar sahen die galatischen Christen in dieser Rolle aber genau die Beschneidung und konnten den Geistempfang nicht recht einordnen. Paulus versucht den Weg über den Schriftbeweis mit Abraham. Der Nachteil: Der Heilige Geist kommt im Zusammenhang mit Abraham in der Schrift nicht vor. So muss Paulus eine gewagte Konstruktion über die Stichworte Segen und Fluch entwerfen, in der er dann in 3,14 den Segen (und die Verheißungen an Abraham) mit dem Heiligen Geist identifiziert.
Gal 3,6-18: Abrahams Glaube und Segensverheißung Paulus erbringt in diesem Abschnitt den Schriftbeweis für die These: Nur wer zu Christus gehört, und das geschieht allein durch den Glauben, kann Erbe der Verheißungen werden, die Abraham gegeben wurden. Wie in Röm 4, so hängt auch in Gal 3 alles daran, ob die Heidenchristen legitim Kinder Abrahams werden können. Nach Röm 4 brauchen sie dazu einen Glauben, wie ihn Abraham hatte, nach Gal 3 kommt es für sie darauf an, mit dem einen und einzigen Samen Abrahams, auf den alle Verheißungen zielen, personhaft und/oder juristisch identisch sind. Abraham ist in der Argumentation in 3,6-12 das maßgebliche historische Beispiel. In Gal 3,6 beginnt Paulus mit Gen 15,6. Die Verheißung selbst wird vorerst nicht zitiert. Vielmehr sagt Paulus sofort, dass Kinder Abrahams nur »die aus Glauben« sind. Das beißt sich mit
Der Brief an die Galater
3,16, wonach Abraham eben nur einen Samen, ein Kind hat: Jesus Christus. Sollte Gal nach Röm entstanden sein, dann wäre 3,7 mit der Mehrzahl von Kindern eine Erinnerung an Röm 4, denn so argumentiert Paulus in Röm 4: Die Verheißung an Abraham über die vielen Völker, die seine Kinder sein werden, erfüllt sich an den Christen, die glauben wie Abraham. – In Gal 3,7 dient der Grundsatz über Kindschaft aus Glauben freilich nur zur Überleitung des Zitats mit dem Segen aus Gen 18,18 und 12,3 in 3,8. Dabei wird sich dann erweisen, dass hier der Segen das entscheidende Stichwort ist. Die Rede von der Kindschaft durch Glauben dient hier lediglich als Basis für die Anteilhabe am Segen. Dass die Verbindung von Glauben und Segen gegenüber der Schrift zumindest künstlich ist, liegt auf der Hand. Paulus setzt zudem voraus, dass nur Gerechte gesegnet werden. Nur unter dieser Voraussetzung ist Gen 18,18 eine Folge von Gen 15,6. So will Paulus erweisen: Die Gerechtigkeit aus Glauben besteht in einem Gesegnetwerden. Nach Gen 18,18 sagt Gott über Abraham: Es werden gesegnet werden in ihm alle Völker der Erde. In Gen 12,3 sagt Gott zu Abraham: Es werden gesegnet werden (oder: sich segnen) in dir alle Stämme (griech.: phylai) der Erde. Durch die Wortwahl von »(Heiden-)Völker« in Gen 18,18 steht diese Stelle Gal 3,8b näher. Von der Erfüllung der Verheißung in Isaak ist hier gar nicht die Rede. Der Satz Gal 3,7, nur und allerdings die Glaubenden seien Kinder Abrahams, ist angesichts der genealogischen Selbstverständlichkeit, mit der nicht nur Juden hier argumentieren können, doch sehr erstaunlich. Zudem fehlt ärgerlicherweise jeder Bezug auf die Juden. Aber auf dieser Prämisse werden dann auch Glauben und Segen verbunden. Die Kindschaft realisiert sich im Gesegnetwerden. Weil Abraham glaubte und aus Glauben allein gerechtfertigt wurde, deshalb ist es, wenn Völker in ihm gesegnet werden, nur so denkbar, dass diese wegen eigenen Glaubens wie er gerechtfertigt worden sind. V. 8a nimmt aus der Schriftstelle die »Völker« vorweg und verbindet sie kühn mit den Glaubenden aus V. 7. Dann wird das »in dir« von V. 8 verändert in das »mit Abraham« in V. 9. Dabei ist das »mit« offenbar die paulinische Interpretation des »in«. Denn was sollte das »in« konkret heißen, da an eine
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Kapitel 3
Präexistenz in den Lenden bei den Heidenvölkern gerade nicht gedacht werden konnte und auch eine andere instrumentale oder lokale Bedeutung sehr schwierig vorzustellen wäre?
Gal 3,10-14: Durch Glaube zum Leben Paulus hat die Verbindung von Glaube und Gesegnetwerden in 3,6-8 wohl deshalb geschaffen, weil er in dem anschließenden Abschnitt die Abfolge von Gesetz und Fluch zur Basis macht. So schafft Paulus gegenüber der Verbindung von Glaube und Segen auch die Verbindung von Gesetz und Fluch. Denn, so wird Paulus zeigen, nach Dtn 27,26 droht bei Nicht-Erfüllung auch nur eines einzigen Gesetzes die Verfluchung. Für Paulus ist es evident, dass Juden und Heiden verflucht sind. Das ist nicht allein der empirische Befund. Das geht vielmehr vor allem daraus hervor, dass in der Schrift selbst die Gerechtigkeit ausdrücklich dem Glauben zugeschrieben wird und nicht dem Gesetz. So sagt es Paulus in 3,11. Er zitiert Hab 2,4 (MT: Der Gerechte bleibt durch seinen Glauben am Leben) und deutet die Stelle auf dem Hintergrund von Gen 15,6: Wie dort Glaube des Menschen Anrechnung des Glaubens bei Gott zur Folge hat, gerade so wird nach Hab 2,4 dem, der glaubt, das (ewige) Leben von Gott her verheißen. Die Voraussetzung: Die Verknüpfung von Glaube und Gerechtigkeit gibt es in der griechischen Bibel des Alten Testaments nur an den beiden Stellen Gen 15,6 und Hab 2,4. Weil hier sogar zwei Stichwörter übereinstimmen, meinen für das damalige Verständnis des Judentums beide Stellen dasselbe. Paulus schließt nun e silentio: Weil nach Hab 2,4 und nach keiner Stelle sonst Glaube, Gerechtsein und Leben verbunden sind, kann niemand aufgrund des Gesetzes gerecht sein. Weil die Bibel das jedenfalls nicht sagt, gibt es das auch nicht. Weil die Bibel über Leben aufgrund von Gerechtsein nur in Hab 2,4 spricht, scheidet jeder andere Weg aus. In logischer Hinsicht ist dieses argumentum e silentio zumindest gewagt. So wird auch ausgeschlossen, dass einer durch die Erfüllung des Gesetzes überhaupt gerecht werden kann. Denn auch wenn jemand das Gesetz tun könnte, würde er wegen Hab 2,4 nicht bis zur Gerechtigkeit gelangen.
671 In V. 12 setzt Paulus – das ist wieder eine seiner Grundentscheidungen – nicht nur einen ausschließenden Gegensatz zwischen Gesetz und Glaube voraus, sondern auch einen zwischen Glauben und Tun. So fügt V. 12 zu 3,11 ein weiteres Argument hinzu: Nach 3,11 führt der Glaube zum Leben. Wie verhält sich dazu aber Lev 18,5 (»Beobachtet also meine Gesetze und Gebote. Wer nach ihnen handeln wird, wird durch sie leben!«)? Nach Lev 18,5 wird der leben, der das Gesetz tut. Das Tun des Gesetzes ist aber, wie Paulus es denkt, zum Glauben ein fundamentaler Gegensatz. Also gilt Lev 18,5 nur im Irrealis: Wäre es möglich gewesen, dass jemand das Gesetz getan und sich so Leben erhofft hätte, so wäre das doch wegen Hab 2,4 ein Wahn, denn nach Hab 2,4 könnte nur der Glaube Leben bringen, nur einem wirklich Gerechten kommt (ewiges) Leben zu. Denn Werke und Glaube schließen sich aus. Also kann ein Mensch nicht auf dem Weg des Gesetzes gerecht werden, und weil er nicht gerecht werden kann, sind alle Hoffnungen, durch das Tun des Gesetzes unsterblich zu werden, fruchtlos. 3,13 setzt voraus: Der Fluch des Gesetzes ist wirklich eingetreten. Denn den Christen stehen die Wege des Segens und des Fluches nicht gleichermaßen offen. Nach 3,13f laufen die beiden Linien von Fluch und Segen in Jesus Christus zusammen. Fazit aus der Kombination von Hab 2,5 und Lev 18,5 in diesem Abschnitt: Nur der Glaubende wird gerecht genannt. So ist schon der Glaube als der einzige Heilsweg erwiesen. Nur der Glaube führt zur Gerechtigkeit. In 3,13f laufen die beiden Linien von Fluch (3,10) und Segen (3,8f) zusammen, und zwar in Jesus Christus. Vorausgesetzt ist dabei, dass der Fluch des Gesetzes wirklich eingetroffen ist, und zwar an den hier beteiligten Menschen (V. 13: an uns). Denn faktisch stehen für »uns« die Wege des Segens und des Fluches nicht gleichermaßen offen, sondern alle Menschen finden sich vor unter dem Fluch. Nun heißt es in 3,13 nicht etwa, Christus sei anstelle der Menschen verflucht worden. Denn das waren sie schon durch die Nicht-Erfüllung des Gesetzes. Indem gesagt wird, Jesus sei der Fluch geworden, zieht er die Folgen des Verfluchtwerdens, nämlich das Verfluchtsein, auf
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672 sich. In diesem Sinne liest Paulus Dtn 21,23. (Im MT hieß es in Dtn 21,13 nur: »Denn von Gott verflucht ist ein Aufgehängter«; den Zusatz »am Holz« macht erst die LXX, ebenso auch 4 Q pNah 8; in Dtn 21 geht es nur um Strafe für ungehorsame Kinder, etwa nach der Art von Suppenkasper, in 4 Q ist der Tatbestand ausgeweitet.) Ganz ähnlich wie »für uns zum Fluch geworden« sind die paulinischen Formulierungen in 2 Kor 5,21 (Gott hat ihn zur Sünde gemacht) und Röm 3,25 (Gott hat ihn zum öffentlichen Ort der Sühne gemacht). Es handelt sich hier um sehr weitgehende Aussagen, die durchaus an Jesu Identität rühren. Denn Jesus trägt nicht nur stellvertretend etwas, mit dem er ansonsten nichts zu tun hat, das ihn nicht weiter berührt, weil er sündlos ist. Nein, der Jesus, der hier zu Sünde und Fluch geworden ist, muss beseitigt werden. Mit dem nur juristisch orientierten Stellvertretungsgedanken ist hier nicht viel zu wollen, da Stellvertretung in der Regel den Stellvertreter unbeschädigt lässt. Nach 3,13 hat Jesus Christus damit die Christen losgekauft. Loskaufen heißt einen Besitzerwechsel herbeiführen. Hier wie auch sonst beim Gebrauch dieses Verbs geht es nicht um den Kaufpreis oder dessen Empfänger und schon gar nicht um die Frage, was der Empfänger mit dem Kaufpreis (dem Tod Jesu) machen konnte, sondern: Der Verfluchte ist dem Fluch verfallen, ist Eigentum des Fluches. Aus dieser Herrschaft wird ein Mensch befreit, wenn der Fluch mit der Person Jesu vernichtet wird. Der Fluch, mit dem Jesus identisch wurde, ist durch seinen Tod beseitigt worden. Nimmt man 3,10 und 3,13 zusammen, so ergibt sich: Das Nicht-Erfüllen des Gesetzes bedeutet genauso Verfluchtsein wie das Hängen am Kreuz nach Dtn 21 aufgrund von Ungehorsam. Diese Übereinstimmung im Wort »Verfluchtsein« (griech.: epikataratos) ist für Paulus der Anlass, beide Stellen durch den Gedanken der Tilgung des einen Fluchs durch den anderen zu verbinden. Dieser Schluss legt sich freilich weder aufgrund der Stellen noch aufgrund ihres Nebeneinanders unmittelbar nahe. Das gilt noch mehr von 3,14; dieser Anschluss ist zunächst rätselhaft. Denn was hat das Loskaufen vom Fluch mit dem Segen Abrahams zu tun, der dadurch zu allen Völkern gelangen soll? Wie ist dadurch, dass Jesus zum Fluch wurde und dass
Der Brief an die Galater
mit ihm und in ihm der Fluch beseitigt wurde, der Segen über den Völkern zu erklären? Laut Gal 3,14 geschieht beides durch den Glauben: die Applikation des Loskaufs auf die Adressaten des Loskaufs wie der Empfang des Segens. Genau gesagt, erweist Paulus laut Kontext nur das Letztere. Offenbar denkt Paulus den Zusammenhang so: Mit der Beseitigung des Fluchs ist die Blockierung des Segens aufgehoben. Jetzt kann also das in 3,8 Verkündete, d. h. der Übergang des Segens auf die Völker, endlich Wirklichkeit werden. Vorausgesetzt ist erstens: Verfluchtsein und Gesegnetwerden sind sich ausschließende Gegensätze; zweitens: Segen hebt nicht automatisch und dadurch, dass er besteht, den Fluch auf, sondern der Fluch muss erst förmlich (durch das Kreuz) aufgehoben werden und wirkt auch positiv nicht durch sich selbst, sondern nur, wenn er durch den Glauben angeeignet wird. Der Ausdruck »Segen« in 3,14 bezieht sich nämlich direkt auf das Gesegnetwerden nach 3,8. Das erklärt auch, warum der Segen nur durch Glauben zugänglich wird. Denn so kam ja diese Verheißung selbst überhaupt erst zustande. Paulus macht dabei wieder eine nicht-selbstverständliche Voraussetzung: Dass eine Gabe als Verheißung durch Worte unter derselben Bedingung formuliert und gegeben wird, unter der sie auch vollstreckt (»erfüllt«) wird. Dabei hat Paulus dann in 3,14 den Begriff »Verheißung« eingeführt, der in der griechischen (LXX) Version der Vätergeschichten gar nicht vorkommt. Es fehlt auch ein hebräisches Äquivalent. Die Geschichte der theologischen Verwendung dieses Wortes vor Paulus dürfte nur kurz sein (4 Esra; syr BaruchApk; Psalmen Salomos, Josephus). So ist also nicht nur der Glaube dem Glauben Abrahams ähnlich (das wird hier aber nur angedeutet, und darin besteht der Unterschied zu Röm 4), vor allem ist der Glaube der Weg, auf dem die Abraham-Verheißung zu den Völkern gelangen kann, für die sie gedacht war und ist. Dass in 3,18 gesagt wird, Gott habe Abraham die Verheißung geschenkt (von griech.: charizomai), weist auf Gottes Gnade (griech.: charis), der Abraham dieses alles verdankt. Das steht in V. 18 in Kontrast zu »Gesetz«, und das Gesetz ist im Sprachgebrauch des Galaterbriefes der Gegensatz zu Gnade (anders in Joh 1,17) und vor allem zum Glauben (sc. an Jesus Christus).
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Kapitel 3
Die Botschaft von Gal 3,14 ist daher: 1. Was dem Abraham im Voraus verkündet wurde (V. 8), der Segen für alle Völker (V. 8.14), das kann jetzt Wirklichkeit werden, da der Fluch beseitigt ist. – 2. Der durch den Glauben erlangte Segen besteht in der Erfüllung der Verheißung an Abraham, und zwar besteht diese im Empfangen des Heiligen Geistes. Paulus hat die Segensankündigung durch die Gabe des Geistes interpretiert. Das ist erstaunlich, denn es ist in keiner Verheißung an Abraham auch nur angedeutet. So wird der Stand der Christen direkt mit Gottes Verheißung an Abraham verbunden. Aber warum erfüllt sich die Segensverheißung an Abraham erst jetzt, erst in Christus? Wie kann man das positiv erweisen? Paulus unternimmt das in 3,15-29. Zu Gal 3,17: Das Gesetz wurde 430 Jahre nach dem Abraham-Bund gegeben. Es kann ihn daher nicht aufheben oder ergänzen. Denn es ist später gegeben und war zu der Zeit, als die Abraham-Verheißung stattfand, noch gar nicht da. Paulus muss Verheißung (Bund mit Abraham) und Gesetz (Bund am Sinai) gegeneinander abwägen. Das einzige Kriterium, das er gelten lässt, ist das Alter. Das Frühere kann nicht durch das Spätere korrigiert werden, denn das Frühere war ein Testament. Das Ziel des Gesetzes aber ist ein eigenes, wie Paulus in 3,23b sagt. Bezüglich der Erfüllung der Verheißung an Abraham aber sind Verheißung und Gesetz füreinander fremde Größen, und wenn das »Erbe« durch das eine käme, könnte es durch das andere nicht mehr kommen. Der Begriff »Erbe« wird ab 3,18 von Paulus verwendet, weil er das Testament im Sinne der Urkunde deutet, die das Erbe gewährleistet. – Nach 3,13f war das Gesetz hinsichtlich seiner Sanktionen (Fluch) in ein neues Drama einbezogen worden, nach 3,14b-18 steht es ohne positive Beziehung zum Heil da. Durch die »Verarbeitung« des Fluches und durch das Fehlen des Gesetzes bei der Frage nach dem Erbe wird die Verheißung an Abraham hinsichtlich ihrer Erfüllung sowohl negativ als auch positiv direkt mit den Heidenchristen verbunden. Schon ab 3,15 spielt Paulus mit dem Begriff »Bund/Vermächtnis/Verheißung« (griech.: diatheke). Das griechische Wort diatheke heißt Testament, und zwar im begrenzten Sinne der Verfügung des Erblassers. Aus diesem griechischen
673 Rechtsbereich übernimmt Paulus hier das Argument in 3,15: Ein Testament ist eine letztwillige Verfügung und darf nicht geändert werden (es sei denn, man erstelle ein neues Testament). Im Übrigen gebraucht Paulus das Wort diatheke im Sinne der LXX, und zwar als Bundesurkunde im Sinne der einseitigen Verfügung Gottes zugunsten der menschlichen Adressaten. Seine Leser sind es gewohnt, das Wort in diesem Sinne zu verstehen. – In 3,15-18 errichtet Paulus auf dieser Grundlage folgenden Gedankengang: Gott richtet seine einseitige Verfügung an Abraham und seinen Samen (Singular!). Stützen könnte sich Paulus für diese Lesart auf Gen 17,7 (LXX): »Ich will meinen Bund (diatheke) errichten zwischen mir und dir und deinem Samen.« Außer Paulus in Gal 3 verwendet auch Hebr 9,16f die Wortbedeutung »Testament«, und zwar in dem Sinne, dass das Testament erst mit dem Tod des Erblassers vollstreckbar wird; Hebr greift daher ein anderes juristisches (semantisches) Merkmal aus dem Begriff diatheke heraus. Noch einmal: Testament und Erbe werden Abraham von Gott zuteil. Menschen, die sich an das Gesetz halten, erlangen auf diesem Wege keines von beiden. Vor allem ist auffällig die Deutung von »Samen« auf eine Person und noch dazu auf Jesus Christus. Kann man nicht einwenden, dieser Same sei doch schon Isaak gewesen? Den Singular in Gen 17,7 nutzt Paulus dafür aus, dass es sich nur um einen einzigen Zielempfänger handeln kann. Das paulinische Hauptargument: 1. Alle nach Abraham waren durch den Fluch der Gesetzesübertretung gehindert, den Segen zu empfangen. – 2. Dass die Erfüllung der Verheißung erst so lange Zeit nach der Gabe der Verheißung möglich war, kann man erklären; denn das Testament war gültig, und ein geeigneter Empfänger war nicht gegeben. – 3. Das gilt insbesondere vom alttestamentlichen Gesetz, das als solches keinen Segen vermitteln konnte. Es konnte per se die Träger der Verheißung nicht in den Status der Erfüllung bringen; denn ein Gesetz bringt Normen, aber nicht Erfüllung. – 4. Würde das Gesetz das verheißene Gut schenken, so hätte Gott dem Abraham nicht die entgegengesetzt strukturierte Verheißung gegeben. Da kann es nur eine, und zwar diese Alternative geben. – 5. Das Gesetz hat vielmehr nach 3,22 alles »unter
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674 der Sünde zusammengeschlossen« (»durch seinen Schuldspruch alle zusammen eingeschlossen wie Strafgefangene«). Denn das Gesetz beurteilt die Menschen, es ist wie das Gewissen nach Paulus eine höchst kritische Instanz, der die Menschen unterworfen sind. Paulus nennt das »unter dem Gesetz« sein. Es besteht daher von Anfang an ein Zusammenhang zwischen Gesetz und Sünde. Er besteht darin, dass das Gesetz die Sünde erkennbar macht. Ohne das Gesetz wäre die Sünde gar nicht greifbar. So verdankt die Sünde dem Gesetz ihre »Auftritte«. Aber das Gesetz kann nur dieses, mehr nicht. Es kann nicht Leben schenken. So verläuft die Heilslinie direkt von Abraham zu Jesus Christus. Zum Heil hat das Gesetz überhaupt nichts beigetragen. Eher ist das Gegenteil der Fall. Durch den wiederholten Aufweis der Sünde hat das Gesetz die Erfüllung der Verheißung »eher« nachhaltig verzögert. Es gilt dieses »eher«; denn eine Befreiung vom Fluch, ein Gerechtwerden nur auf dem Weg des Glaubens war ohnehin nicht durch die Erfüllung des Gesetzes möglich (3,11). Das Gesetz hat die Unmöglichkeit der Selbstbefreiung des Menschen de facto verstärkt. Die Aussagen über das Gesetz in 3,19b.20 hat man häufig als die negativsten Aussagen des Apostels zum Gesetz überhaupt bezeichnet und wie folgt argumentiert: Das Gesetz sei durch eine Vielzahl von Engeln gegeben. Diese Vielzahl machte zusätzlich einen Mittler notwendig (Mose). Einen Mittler braucht man nicht, wo es nur einen gibt, der redet. Gott ist ja einer. Also ist das Gesetz auf jeden Fall nicht gottunmittelbar. Der Mittler und die Vielzahl stehen der direkten Zurückführung des Gesetzes auf Gott im Wege. Die Argumente: Mittler und der eine Gott schließen einander aus; alles, was zur Einheit Gottes in Kontrast steht, sei inferior; Akklamation heis theos stehe im Hintergrund der Formulierung von V. 20; die Erlösung müsse vielmehr der Einzigkeit Gottes entsprechen). Ist das Gesetz also gar nicht wirklich von Gott? Will Paulus das hier sagen? Ist das Gesetz nur von Engeln gegeben? – Dagegen spricht: Selten hat die Forschung gerade zu dieser Stelle bedacht, dass Paulus auch als Christ Jude ist und Jude bleibt. Die Engel sind immerhin Repräsentanten Gottes. Nirgends im Neuen Testament
Der Brief an die Galater
gibt es Aversionen gegen oder Kritik an Engeln. Man kann fragen, was hier die Gegenposition ist. Sicher nicht Jesus Christus, denn er ist auch Mittler. Vielleicht aber, wie in Gal 3,1-3 gesagt, der Heilige Geist. Will Paulus sagen: Auf dem Weg der Vermittlung durch Mose und Engel ist der Abstand zu Gott größer, als wenn Gott seinen Heiligen Geist direkt ins Herz gibt (Röm 5,5)? Die Heilsgabe des Heiligen Geistes ist durch die typisch neutestamentliche Nähe zu Gott ausgezeichnet. So wird das Gesetz nicht abgewertet, es wird nur in dieser Hinsicht überboten. Das Gesetz, das durch Engel und Mittler gegeben wurde, steht in diesem Sinne für Gottes Herrlichkeit. Oder, wie andere es gesagt haben, für Gottes Heiligkeit. So wie es das ganze Judentum verstanden hat, ist die Gesetzgebung eine Theophanie. Der Heilige Geist ist – nach meiner Auffassung – hier deshalb im Blick, weil auch er eine Gabe ist, die Gottes Willen vermittelt, nur eben zusammen mit der Kraft, diesen Willen auch zu tun (Ez 36,26-28). Aber gegen diese These von der größeren Nähe Gottes durch direkte Offenbarung spricht, dass Paulus hier überhaupt keine Polemik gegen die galatischen Gegner erkennen lässt. Dass er mit keinem Wort die christliche Offenbarung herausstreicht gegenüber der alttestamentlichen. Alles das sind doch eher Wunschvorstellungen der Exegeten. Daher ein anderer Versuch: Sieht Paulus in der Gabe der Torah einen Verstoß gegen den Monotheismus, wie regelmäßig angenommen wird? Ist nur das Christentum dem einen Gott angemessen? Auch diese beiden Thesen halte ich für abwegig. Offenbarung im Alten Bund erfolgt nach dem Schema: der eine Gott – die vielen Engel – der eine Mittler – das Volk Gottes. Im Übrigen macht nicht die Vielzahl der Menschen als Adressaten den einen Mittler nötig, sondern die Vielzahl der Engel als Überbringer der Torah. Mose ermöglicht es demnach, dass die Engel einlinig, »einsinnig« verstanden werden können. Daher gewährleistet der eine Mittler Mose, dass trotz der Vielzahl der Engel der eine Gott zur Sprache kommt, und zwar auch und gerade bei der Gesetzgebung am Sinai. Aus meiner Sicht sagt Paulus: Im Alten Bund hat Gott seine Einheit durch Engel und Mittler bewahrt. Ein Gott – ein Mittler. Im Neuen Bund geschieht das ähnlich
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Kapitel 3
durch den einen Jesus Christus, der die vielen verschiedenen Menschen (Gal 3,27f!) zusammenhält. Das geschieht, indem die vielen den einen anziehen. So sind die vielen Engel nur eine Zwischen-Instanz zwischen dem einen Gott und dem einen Mittler. Daher kommt die Torah – auf diesem Wege – sehr wohl von dem einen Gott. Fazit: Durch die Figur des einen Mittlers hält Paulus zunächst für die Torah an der Einzigkeit des einen Gottes fest. Gott hat es damals so eingerichtet; auf der Seite der Adressaten spielt das Prinzip von Vielheit und Einheit eine wichtige Rolle, weil die vielen Christen durch das Anziehen des einen Christus der eine Same werden. Ich erkenne also in Gal 3,19f ein Vorspiel zu dem in Gal 3,27-29 Gebotenen, eine Etüde zum Thema Vielheit und Einheit. Nebengedanke: Es gibt auch jetzt eine Vielzahl, die an die Stelle der vielen Engel tritt: die vielen Boten. Dass Paulus auf die Vielzahl der Engel eingeht, könnte auch mit den Verhältnissen in Kolossai zusammenhängen. Es könnte dort in der Tat so sein, dass der Monotheismus durch einen Dienst gegenüber den vielen Engeln gefährdet ist. In Gal 3,20 korrigiert Paulus dies entschieden, und er unterstellt es dem Gottesvolk des Alten Bundes gerade nicht.
Gal 3,22-25: Aufgabe des Gesetzes Nach 3,21b war klar geworden: Nur dann könnte das Gesetz der Abraham gegebenen Verheißung wirklich konkurrieren, wenn es mit lebendig machender Kraft ausgerüstet wäre (Vgl. 3,12: Nur der, der es tut, wird leben. Da das Gesetz aber niemand ganz tun kann, kann niemand durch sein Tun das Leben erreichen). Demgegenüber betonen 3,22-25 die Eigenschaften, die das Gesetz wirklich hat. Weil alle das Gesetz nicht erfüllt haben, sind alle schuldig geworden. So wurde und wird ganz deutlich, dass nur der Glaube an Jesus von der Sünde befreien kann. So hat das Gesetz indirekt die Erfüllung der Verheißung ermöglicht. 3,23 fügt das Bild der Sicherheitsverwahrung hinzu: Weil das Gesetz alle als schuldig erweist, schließt das Gesetz die Menschen in der Einheit ihres Sünderseins zusammen, einigt sie darin und führt sie so auf Christus zu. So stehen alle in derselben Situation (geeint unter dem
Fluch), daher kann Jesus für alle Anlass des Glaubens werden.
Gal 3,24f: Die Pädagogen-Metapher Durch Luthers Übersetzung mit »Zuchtmeister auf Christum … sind wir nicht mehr unter dem Zuchtmeister« wird aus dieser Stelle neuerlich Ungutes über das Gesetz gelesen. Der Zuchtmeister oder Lehrmeister ist nach dem älteren Deutsch der Erzieher, dem man vor allem gehorchen muss, der einem die Worte öfter vorsagt, damit man sie behalten kann. Gottes Wort ist der Zuchtmeister, den man fürchten muss. Zuchtmeister kann aber auch jeder sein, der Zwang ausübt, selbst wenn er damit nicht erziehen will, so Luther über die Türken vor Wien. Instrumente des Zuchtmeisters sind die Rute oder die Peitsche. Seit Einführung der Zuchthäuser ist er der Verwalter eines Zuchthauses (alles nach Grimm, Wb, 32, 275f). Die Assoziationen im Deutschen sind damit rundum unangenehm. Im Griechischen dagegen ist genau auf die Präposition zu achten: Ein Pädagoge »auf etwas hin« oder »auf jemanden hin« hat ein Erziehungsziel, wie man z. B. sagt: Er will euch zu guten Autofahrern machen. Ein Pädagoge auf Christus hin ist demnach einer, der durch seine Erziehung darauf hinwirkt, dass die so Erzogenen an Christus glauben können. – Die griechische Wortbedeutung hat in der europäischen Rezeption gelitten unter der Verwendung bei Plato, der von zwei abgedrifteten Lehrern berichtet; überall sonst, vor allem in der griechischen Tragödie, ist der »Pädagoge« eine positive Gestalt, der rührend bis zur möglichen Hingabe seines Lebens für seine Schüler wirkt (Hinweis Burkhard Leh). – Versteht man das Gesetz in diesem Sinne in Gal 3,24f, so bestand offensichtlich die positive Rolle dieses Lehrers wie des Gesetzes überhaupt (als gute Gabe Gottes nach Röm 7,12.14) darin, den Menschen den Willen Gottes explizit zugänglich zu machen, sie wahrheitsgemäß über ihren Zustand aufzuklären oder prophetische Hinweise auf die Erlösung durch Glauben zu geben (wie in Röm 3,21 angedeutet und in Röm 4 dann ausgeführt.
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Gal 3,26-29: Erben kraft der Verheißung und des Glaubens In 3,16 ist gezeigt worden: Die Verheißung an Abraham gilt dem einen Samen Jesus Christus, und zwar exklusiv. Gleichzeitig aber wird ständig erklärt, die Erfüllung der Verheißung an Abraham sei nur den Glaubenden möglich (V. 14.2225). Durch den Glauben wird man Kind Abrahams. Oder reicht der Glaube nicht? Es muss ein besonderer Glaube sein: der an Jesus Christus. Aber selbst das reicht nicht. Denn die Verheißungen gelten doch Christus persönlich. Wie verhält sich das Gesegnetwerden nach 3,14 zum Glauben? Antwort gibt 3,26-29: Durch den Glauben, und zwar offenkundig durch Glauben und Taufe sind alle an Jesus Glaubenden mit ihm persönlich identisch geworden. 3,27 erwähnt ausdrücklich die Taufe als Akt der Identitätsstiftung. Wer glaubt und sich taufen lässt, hat Christus angezogen und ist daher mit ihm identisch. Welche Art von Identität stiftet das Anziehen einer Person? Das Bild ist das einer Rolle im Theater: Durch ein bestimmtes Kostüm werde ich zum Träger einer Rolle. Das nennt man eine persona – griech.: prosopon, der Ursprung des Personenbegriffs in unserem Kulturkreis. Identität bestimmt sich von der Rolle her. Indem Christen Christus angezogen haben, werden sie »der« Same Abrahams nach 3,16. – In seiner Verwendung ist der Personenbegriff hier juristisch, seinen Ursprung hat er im Rollenspiel des Theaters. Die Taufe wird deshalb zum Akt des Anziehens Jesu, weil die Taufe eine Ganztaufe nackter Menschen war. Stiegen sie aus dem Wasser heraus, mussten sie sich neu anziehen (der Brauch des Taufkleids kommt daher). Dieses Neu-Anziehen wird nun als christologisches Symbol verstanden: Christus anziehen. In Gal 3 wird so die Frage beantwortet, wie der eine Erbe (Jesus Christus) sich zu den vielen Erben (alle Christen) verhält. Wie können aus dem einen viele werden? Wir sahen bereits: Eine ähnliche Systemfrage hat Paulus schon in 3,19f für die alte Offenbarung gestellt. Hier hat der Apostel die Antwort schon im Voraus skizziert: Die Vermittlung zwischen dem einen und den vielen leistet ein Mittler. Nach Gal 3,19f ist dies der eine Mittler in doppelter Hinsicht: gegenüber den vielen Engeln
Der Brief an die Galater
und gegenüber den vielen Adressaten des Gesetzes. In Gal 3,26-29 stehen an der Stelle des einen Mittlers Mose nun Jesus und die Taufe (von daher wird auch 1 Kor 10,2 verständlicher: »auf Mose getauft werden« heißt: Alle werden durch den einen Mittler der einen Offenbarung teilhaftig). Bei der Taufe steht demnach nicht die Sündenvergebung gedanklich (!, sachlich ist sie durch 3,14 gegeben) im Vordergrund, sondern die Einheit der vielen, erwirkt durch den einen Mittler. Im Kontext von Gal 3 bedeutet daher die Taufe: So geschieht es, dass Jesus der eine Same Abrahams ist und dass doch alle Christen an ihm teilhaben und so Kinder Abrahams, vor allem aber Erben der Verheißung werden. Die Zusage der Abrahamskindschaft »nur aufgrund von Glauben« bleibt bestehen. Aber wegen des Fluches und wegen des Gesetzes ist jetzt die Situation »verschärft«. Die Abrahamskindschaft ist nur möglich durch den Glauben an den, der vom Fluch des Gesetzes befreit hat. Insofern ist die Aussage 3,7 durch die folgende Unheils- und Heilsgeschichte modifiziert worden. Dadurch ist der Glaube an Jesus Christus in wichtigen Punkten verschieden vom Glauben Abrahams. Das Interesse von Gal 3 haftet daher – im Unterschied zu Röm 4 – nicht an der Struktur des Glaubens Abrahams, sondern an der Verknüpfung von Glaube und Segen im Kontrast zur folgenden Fluch-Geschichte. Der gesamte Inhalt des Heils ist für die Christen die Abraham gegebene Verheißung. Der Tod Jesu Christi hat seine Bedeutung darin, dieses Gut zugänglich zu machen. Das Ziel dieses ganzen Dramas wird mit einem einzigen Wort beschrieben: (Heiliger) Geist. Ebenso erstaunlich: Über Abrahams leibliche Kinder wird hier überhaupt nicht reflektiert. Auch über die Frage, welche Rolle »die Juden« in der Zeit zwischen Abraham und den Christen spielen, denkt Paulus hier nicht nach. Auch das Gesetz wird nicht als jüdische Institution betrachtet. Ganz unvermittelt heißt es in 3,28 »nicht mehr Jude noch Grieche«, ohne dass die Juden vorher in diesem Kapitel genannt worden sind. Nach 3,8 gilt die Verheißung an Abraham von vornherein allen Völkern. Mit Gal 3,28 verfolgt Paulus kein emanzipatorisches oder sozialethisches Anliegen, auch kein
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Kapitel 4
Anti-Rassismus-Programm. Jede ethische Fragestellung liegt fern. Paulus betrachtet hier die Wirkung der Taufe. Alle Menschen können unter dieser einen Bedingung Kinder und Erben Abrahams werden, also den Heiligen Geist erlangen und damit (wie Kap. 4 dann sogleich zeigen wird) Kinder Gottes werden. Praktisch bedeutet das die Begründung der Identität der Kirche aus Juden und Heiden vom Alten Testament her. Für alle gilt die eine und einzige Bedingung der Annäherung an Gott. Praktisch bedeutet das für die Leser des Galaterbriefes: Man muss nicht erst Jude werden, um Christ sein zu können. Und andererseits: Alles Heil ist gebunden an Abraham, den ersten Juden, denn es beruht auf der Verheißung an ihn. – Das Thema des Apostels ist der Zugang zu Gott, die Bedingung der Zugehörigkeit zu Christus, nicht aber die Frage der christlichen Binnendifferenzierung.
Gal 4,1-3: Solange der Erbe unmündig ist Das Stichwort »der Erbe« nimmt die Rede vom Erben der Verheißung auf (vgl. 3,18). Paulus spricht jetzt das in Kap. 3 Dargestellte aus der biografischen bzw. missionsgeschichtlichen Perspektive der Betroffenen an. Dabei greift er auch das Bild des Pädagogen aus 3,24 wieder auf. Solange der zukünftige Erbe noch erzogen werden muss, steht er »unter« Aufsehern etc. Erst wenn ihn der Vater für »mündig« erklärt, hat er den entscheidenden Unterschied gegenüber dem Sklaven erreicht. Er ist dann nicht mehr Adressat ständiger Maßregelungen, Zurechtweisungen und ätzender Kritik. Paulus sieht diesen Zustand für vorchristliche Juden und Heiden gleichermaßen gegeben. Viel hängt am Verständnis der »Elemente« (griech.: stoicheia) in Gal 4,3 (vgl. 4,9). Viel spricht dafür, dass Paulus darunter die beseelten Himmelskörper (wie z. B. Sonne, Mond und Sterne) versteht, denen er Juden unterworfen sieht (vgl. unten zu 4,8-10), für die der Kalender das Wichtigste ist, wie auch Heiden, die solche beseelten Himmelskörper anbeten. Paulus meint, hier einen wirklich gemeinsamen Nenner für das vorchristliche religiöse Verhalten von Juden und Heiden gefunden zu haben. So kann er seine galatischen Leser erreichen. Eine Zuwendung zum rituell observanten
677 Judentum wäre ein Rückfall ins Heidentum, aus dem die Leser gerade gekommen sind. Tut Paulus hier nicht dem Judentum, dem sich die Galater zuwenden wollen, Unrecht? Die Galater erstreben doch nur die Beschneidung. Paulus hält den Galatern vor, wer A sage, müsse auch B sagen; wer sich beschneiden lasse, müsse auch alle Gesetze hinsichtlich Sabbate und Neumonde sowie überhaupt die ganze Torah beachten. In der Präzision der Ritualien aber stimmen alle kultisch organisierten Religionen überein; man denke für die Zeit des Paulus nur an die Riten der etruskischen Religion z. B. in Rom. Das Pathos der jüdischen sibyllinischen Bücher orientiert sich genau daran: Wer den wichtigsten Gott nicht verehrt, muss sich nicht wundern über Unglück im Leben. Daher solle man sich zum Judentum bekehren. Wer rituell perfekt sein will, darf den jüdischen Gott nicht auslassen. Es gibt also gerade in jüdischer Werbung diesen Aspekt der rituellen Vollständigkeit. Paulus vertritt hier demnach einen Standpunkt, den er nicht erst neu gefunden hat, sondern den das zeitgenössische Judentum durchaus als Werbemittel benutzt. Es geht also nicht darum, ob das Judentum mehr ist als Ritus (das versteht sich von selbst), aber in der jüdischen »Missionsliteratur« steht dieser Aspekt im Vordergrund. Denn schon bei den Etruskern (und entsprechend noch bei den Römern des 1. Jh. n. Chr.) riefen die Sibyllen Unheil aus über dem, der wichtige Götter bei der kultischen Verehrung ausließ. Die sibyllinischen Bücher sind jetzt zugänglich als jüdisch-christliches Mischprodukt aus dem 1.–5. Jh. n. Chr. (ed. Geffcken). Weite Partien darin (z. B. Buch 3 und 5) gehören zum Grundbestand jüdisch-hellenistischer Diasporaliteratur). Den christlichen Glauben sieht Paulus demgegenüber als den Weg, der sich nicht mehr (wie vor dem Sühnetod Jesu geschehen) maßgeblich an den menschlichen Defiziten, Fehlern und Versäumnissen orientiert, die er stets zusammen mit der Torah in den Blick bekommt. Das Christsein sieht Paulus vielmehr als Kindschaft, nicht mehr als Sklaventum, und zwar in dem Sinne, dass die Christen von der neuen Kraft (griech.: dynamis) ausgehen, die ihnen geschenkt ist. Es geht jetzt um eine Religion, die sich nicht mehr an den menschlichen Fehlern ausrichtet und sich von der Kritik an menschlichen Defiziten, also vom
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678 Mangel als Quelle der Religion, bestimmen lässt. Die theologische Bedeutung dieser Texte über Paulus hinaus könnte darin bestehen, dass nicht die Vergewisserung an den alten und ewig neuen Mängeln im Vordergrund steht, sondern die neu geschenkte Kraft. Wer mit der Schilderung der Katastrophe beginnt, wird sich wohl nicht immer wieder am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen können.
Gal 4,4f: Sendungsformel Formgeschichtlich gesehen liegt hier ein Exemplar der so genannten Sendungsformel vor (vgl. ebenso Röm 8,3f; Joh 3,17 und 1 Joh 4,9). Das sind kurze Zusammenfassungen über Tatsache und Sinn der Sendung Jesu. Dieses Traditionsgut ist Paulus und dem johanneischen Christentum gemeinsam. Merkmale: Gott sandte (schickte) seinen Sohn, damit … Im johanneischen Schrifttum ist die Sendung stets auf die »Welt« gerichtet, bei Paulus auf das Gesetz, also jeweils auf den zentralen Kontrastgegenstand. Denn Welt, Gesetz oder Sündenfleisch benennen jeweils den Bereich der relativen Gottesferne, in die der Sohn gesandt wird. Der Sohn nimmt diese Bedingungen auf sich, um gerade so, an Ort und Stelle, Heil zu wirken. Bis auf Joh 3,16 sind alle Belege in Gegensätzen formuliert. Die Sätze sind alle programmatisch und daher den Formulierungen mit »ich bin gekommen zu …« nahe vergleichbar. Dass so klar von der Sendung gesprochen wird, ordnet diese Aussagen noch in frühjüdische Propheten- und Gesandten-Theologie ein. Freigekauft – wodurch? Zwei Doppelungen fallen in 4,4f ins Auge: Gott sandte seinen Sohn, damit die Christen die Sohnschaft (Kindschaft) empfangen können, und: Der Sohn hat sich unter das Gesetz gestellt, um die unter dem Gesetz Stehenden loskaufen zu können. Hier herrscht demnach ein eigenartiger theologischer Grundsatz: Der Erlöser muss selbst physisch an dem Anteil haben, aus dem er die Menschen erlöst. Im frühchristlichen Schrifttum (z. B. im johanneischen) ist dieses häufig der Bereich der sarx (des Fleisches), z. B. Joh 1,14. In Gal 4 ist es das Gesetz, in Hebr 5,1 die menschliche Natur, nach Hebr 4,15 mitleiden zu können, versucht zu wer-
Der Brief an die Galater
den. Im Sinne von Gal 4,4f könnte man auch Mt 5,17 zu verstehen suchen. Mit anderen Worten: Als Erlöser kommt überhaupt nur der infrage, der sich zunächst einmal unter die geltenden Bedingungen und Normen beugt. Hebr 4,15 sagt dann, worauf es ankommt: in allem ähnlich, aber »ohne Sünde«. In allen genannten Fällen liegt mithin kein diffuser Begriff von Gerechtigkeit vor, sondern ein normorientierter. Der Mittler muss perfekt sein. Deshalb musste im Judentum der Hohepriester zuerst für die eigenen Sünden opfern. Nach Hebr 9,14 bringt Jesus Gott »durch den Heiligen Geist« ein »fehlerloses« (griech.: amomon) Opfer dar, weil der Heilige Geist (s. Ez 36,27) eine vollkommene Gesetzeserfüllung garantiert (was auch bei Paulus die Lösung der Gesetzesfrage ist). Es geht in Gal 4,4 daher nicht darum, dass Jesus das jüdische Gesetz erträgt, sondern dass er es erfüllt. Insofern grenzt das, was Paulus hier sagt, an den Gehorsam von Phil 2,8.
Gal 4,4-7: Sklave, Kind, Erbe Paulus verteidigt in diesem Abschnitt biografisch und theologisch, warum Jesus wahrer Mensch und wirklich Jude sein musste. Denn Jesus ist Gottes Sohn – und doch von einer Frau geboren wie alle Menschen. In Phil 2 kann Paulus das noch schärfer sagen: »Jesus Christus hatte Gottes Gestalt … und hat Sklavengestalt angenommen« (2,6f). In Phil 2 äußert sich das Sklavesein Jesu darin, dass er gehorsam gegenüber Gott ist »bis zum Tod am Kreuz«. Auch hier in Gal 4 ist vom Sklavesein Jesu die Rede, aber es äußert sich nicht nur – indirekt – in der Sterblichkeit Jesu; denn wer von einer Frau geboren ist, der ist sterblich. Es äußert sich vor allem in der Unterwerfung Jesu unter das jüdische Gesetz, und diese versteht Paulus im Galaterbrief als einen Sklavenzustand. Denn das jüdische Gesetz sagt nicht nur, was zu tun und zu lassen ist (das tun auch andere); das eigentlich Unangenehme, ja am Ende Verhängnisvolle am Gesetz ist, dass es ein Maßstab ist, dem man regelrecht unterworfen ist. Das Gesetz ist ein allzeit gegenwärtiger Maßstab, der einen Menschen stets kritisiert und verurteilt, und zwar zum Tod. Insofern ist das Gesetz schlimmer als
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Kapitel 4
ein rechthaberischer Lehrer oder eine Gouvernante alten Stils. Paulus beschreibt damit freilich nur einen Aspekt des Gesetzes. Er denkt nicht daran, das Gesetz aufzuheben oder durch Jesus aufgehoben sein zu lassen. Wie sollte das auch möglich sein, dass ein Mensch Gottes heiliges Gesetz aufhöbe? Das ältere Forschungsmodell von Jesus als dem Rebellen gegen die Torah und von Paulus als dem, der die Torah endgültig aufgehoben habe, wird durch diese Stelle im Galaterbrief widerlegt: Jesus hat gehorsam unter dem Gesetz gelebt. Er hätte sich kritisieren lassen, wenn er dazu Anlass geboten hätte. Er hat getan, was das Gesetz für nötig befand. Und dazu kann der Leser ergänzen: Also wurde er natürlich auch beschnitten. Aber warum das alles? Paulus sagt: Um die freizukaufen, die unter dem Maßstab des Gesetzes stehen. Das Bild des Freikaufens ist vom Sklavenmarkt genommen. Wer einen Sklaven freikaufen (und dann in der Regel selbst besitzen oder – wie hier – als Kind adoptieren) will, der muss den Sklaven zu seinem Eigentum machen. Dieser Hintergrund gilt für Gal 4 wie für 1 Kor 6,20: »Der Preis, mit dem ihr erkauft wurdet, war hoch«. Hier denken westlich geschulte Theologen sofort daran, dass man beim Sklavenkauf den Wert des Sklaven (an den früheren Besitzer) zahlen musste, sie denken also an den Sühnetod Jesu. Man hat dann gesagt: Blut und Leben Jesu wurden dem Teufel gezahlt, damit dieser die von ihm beherrschten Menschen freigebe. Doch an beiden Stellen (Gal 4 und 1 Kor 6) ist weder von Blut und Tod Jesu die Rede noch vom Teufel. Es ist offenbar keineswegs notwendig, an den Kaufpreis zu denken. Es könnte ja auch eine ganz andere Weise geben, in der der neue Herr von dem Sklaven Besitz ergreift. Und dann ist der springende Punkt (tertium comparationis) bei der Metaphernbildung nicht die Entrichtung eines Kaufpreises an den früheren Eigentümer, sondern schlicht der Besitzerwechsel selbst. Menschen werden bei Paulus zu Gottes Besitz, indem sie sein Haus werden, und das geschieht durch den Heiligen Geist, durch den Gott bei den Menschen einzieht und sie so zu seinem Tempel macht. Deshalb reden beide Stellen direkt vom Heiligen Geist. 1 Kor 6,19 heißt: »Der Preis, mit dem ihr erkauft wurdet, war hoch: Gott hat sich selbst als Heiliger Geist in euer Herz gegeben
679 und euch so zum Eigentum (Tempel) erworben. Verherrlicht Gott mit eurem Leib!« Auch Gal 4,6 spricht vom Heiligen Geist Gottes, der in die Herzen der Christen gegeben worden ist. Folglich hat der Freikauf der Christen etwas mit der Gabe des Heiligen Geistes zu tun. Aber wie? Offenbar liegt der Ton bei dem hier geschilderten Eigentumswechsel nicht auf der Frage, an wen das Lösegeld gezahlt wurde und was der betreffende damit gemacht hat. Der Gedanke läuft hier anders: Der Heilige Geist macht zu Gottes Eigentum. Das sagt man im Judentum vom Tempel, das gilt von jedem Menschen, der durch die Mitteilung des Heiligen Geistes Gottes Kind ist, und in diesem Sinne sind auch die Christen in Korinth Gottes Tempel, denn sie gehören als Gottes Haus zu Gott. Gott gibt seinen Geist in die Herzen der Christen, er macht sie dadurch zu seinem Tempel und Eigentum. So hat er etwas von sich gegeben, ein Stück von sich selbst. Noch einmal: Das Loskaufen ist eine bildliche (metaphorische) Rede. Bei jeder bildlichen Rede kommt es auf den Vergleichspunkt an. Wo liegt hier der Vergleich zwischen dem Sklavenkauf auf dem Sklavenmarkt und der Erlösung durch Jesus Christus? Entscheidend ist bei dieser bildlichen Redeweise nicht die Seite des früheren Besitzers und das, was er bei dem Kauf als Preis empfing, und was er mit dem Kaufpreis gemacht hat (bei einer Deutung auf den Tod Jesu ist das abwegig). Entscheidend sind für Paulus zwei Dinge: Gott erwirbt etwas, das ihm vorher nicht gehört hat. Dafür gibt er etwas von sich weg, was zuvor bei ihm war. Das, was er erwirbt, sind die Christen, das was er weggibt, ist der Heilige Geist. Alle anderen Aspekte des Kaufvorganges sind hier nicht wichtig, vor allem nicht der Empfänger des Preises. Durch den Erwerb der früheren Sklaven ändert er deren Status und macht sie zu Kindern. Denn durch die Gabe des Heiligen Geistes sind die Christen Kinder geworden. Der Beweis dafür liegt in Folgendem: Zur Zeit des Paulus ist das zentrale Merkmal des Gebets der Christen die Vateranrede (»Abba, Vater«). Alle Christen sind Kinder in einer großen Familie. Aber wie haben die Christen diesen Heiligen Geist bekommen? Wie kommt der Heilige Geist aus der Sendung Jesu dann auf sie? Jesus ist einer von den Menschen geworden. Nur ein Mensch konnte den Menschen den Geist Gottes so vermit-
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680 teln wie sie ihn brauchen, nämlich als Geist der Kindschaft. Jesus ist daher der Älteste unter vielen Geschwistern. – Ähnlich sagt es auch der Hebräerbrief, dort aber auf den Hohenpriester Jesus bezogen: Jeder Hohepriester, der für Menschen aufgestellt wird, muss aus dem Kreis der Menschen stammen (Hebr 5,1). Denn nur einer von uns kann Mittler zu Gott hin sein. Was im Hebräerbrief »von unten« in Richtung »nach oben«, zum Himmel hin, gesagt wird, gilt auch in Gal 4, nur hier in umgekehrter Richtung: vom Himmel her in Richtung zu den Menschen. Menschen zu Gottes Kindern machen kann nur einer, der Gottes Sohn ist, und einer von ihnen geworden ist, um sie zurückzuholen zu ihrem Ursprung. Oder anders gesagt: Weil Jesus wahrer Mensch geworden ist, konnte das göttliche »Virus« in ihm, seine Gottessohnschaft (durch den Heiligen Geist), sich auch unter Menschen sozusagen ansteckend verbreiten. In ihm hatte dieses Virus gewissermaßen den Übersprung von Gott zum Menschen vollzogen. Näher kann Gott den Menschen nicht kommen. In Jesus hat Gott den »Prototyp« für die Erlösung der Menschen gefunden. Für die Christen bedeutet das: Die Zeit, in der das Gesetz wie eine Gouvernante über die Menschen regierte und den Menschen ständig vor Augen führte, wie klein und schwach sie sind, diese Zeiten sind vorbei. Mit der Menschwerdung des Sohnes Gottes ist ein ganz neuer Anfang gemacht. Zur noch offenen Frage nach der Empfängnis Jesu durch den Heiligen Geist bei Paulus ergibt sich jetzt eine Antwort: Jesus ist als Gottessohn geboren, andernfalls könnte er den Menschen nicht den Heiligen Geist schenken. Zu der Geburt Jesu als wahrer Gottessohn passt daher durchaus, dass er als Gottes Sohn vom Heiligen Geist empfangen wurde. Maria war, wie die Kirchenväter sagen, der wahre Webstuhl Gottes, in dem die Gottessohnschaft Jesu mit seiner Menschennatur zu einer Einheit verwoben wurde. Und auch dieses ist wichtig: Gott hat den Menschen den Heiligen Geist nicht »per Post« geschickt, sondern durch einen Menschen, ja durch eine Menschwerdung in einer menschlichen Mutter (4,4), weil Gott die Menschen als Menschen liebt.
Der Brief an die Galater
Gal 4,8-10: Warnung vor Rückfall Paulus stellt die von den Galatern beabsichtigte nachträgliche Einführung der Beschneidung dar als einen Rückfall in den Götzendienst. Hier sind einige Fragen zu stellen: Warum betont Paulus hier die Beschneidung nicht? Erst wieder in Kap. 6 kommt er darauf zu sprechen. Warum stellt er den Kalender so in den Vordergrund? Bestehen Beziehungen zu den Gegnern in Kolossai? Offenbar orientiert sich Paulus hauptsächlich an den Dingen, die Außenstehende an Juden wahrnahmen. Davon waren die kalendarischen Besonderheiten die auffälligsten. Die Beschneidung pflegte – außer im Gymnasium, das Juden aber mieden – verhüllt zu sein. Auch der Kolosserbrief erwähnt die besonderen Tage, die die Gegner der Gemeinde aufzwingen möchten (Vorschriften über … Einhaltung der Feiertage, des Neumonds oder des Sabbats). Auch in Gal 5 setzt Paulus voraus, dass die Gegner über das Judentum nicht viel wissen, dass sie sich auf eine Sache einlassen, von der sie keine Ahnung haben. Gerade bei Außenstehenden aber galt das Judentum durchaus als Gestirnskult; vgl. dazu das Kerygma Petrou (nach Clemens v. Alexandrien, strom VI 5,41 2a): »… noch betet an nach Art der Juden. Denn jene meinen allein, Gott zu erkennen, und verstehen (ihn) doch nicht. Denn sie verehren Engel und Erzengel, den Men (Mondgott) und die Selene (Mondgöttin), und wenn der Mond nicht scheint, halten sie nicht den so genannten ersten Sabbat, noch den Neumond, noch (das Fest der) Ungesäuerten, noch ein Fest überhaupt, noch den großen Versöhnungstag.« Die Frage nach der Bedeutung der stoicheia ist religionsgeschichtlich zu entscheiden, und zwar nicht ohne Klärung der religionsgeschichtlichen Eigenart der Gegner in Galatien. Paulus nennt hier die »armen und schwachen« Elemente. Stoicheia kann Verschiedenes bedeuten: Elemente (hauptsächlich die vier: Erde, Wasser, Feuer, Luft), dann Elementargeister und schließlich auch Gestirne. Die Gestirne sind freilich auch als beseelt vorgestellt. Dazu gilt vor allem: In der Zeit und Umwelt des Paulus hat die Orientierung am »richtigen« Kalender einen hohen Vorrang für die Einschätzung jeder Religion. Wir haben es hier mit einem Phänomen zu tun, das Jahrhunderte umfasste.
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Kapitel 4
Darauf weisen die hohe Bedeutung der Astronomie/Astrologie, die innerjüdische Diskussion um Sonnen- und Mondkalender, die Kalenderreform unter Julius Cäsar – bis hin zur Entstehung der christlichen Zeitrechnung. Es gibt demnach eine Gleichsetzung von Gestirnen (besonders Sonne und Mond), beseelten bzw. halbgöttlichen Gestirnsgeistern, Elementargeistern (Rest des Animismus) und in der Welt waltenden Kräften/ Mächten. Dabei gilt auch ein enges Verhältnis von Mikro- und Makrokosmos. Als Beleg vgl. diesen stoischen Text: »Sieben Gestirne kreisen in langen Bahnen an der Schwelle des Olymps, und mit ihnen dreht sich ewig die unendliche Zeit. Diese sieben sind folgende: der bei Nacht erscheinende Mond, der finstere Kronos, die liebliche Sonne … Eben diesen Gestirnen ist das Menschengeschlecht zugeordnet: Wir haben in uns Mond, Zeus, Ares, die Göttin von Paphos, Kronos, die Sonne und Hermes. Deshalb ist es uns vom Schicksal bestimmt, von dem ätherischen Hauch Tränen, Lachen, Zorn, Fortpflanzung …, Begierde in uns einzuziehen: … die Fähigkeit, das Leben fortzupflanzen, kommt von Zeus, … den Schlaf gibt der Mond, … die Sonne das Lachen« (Berger/Colpe, Textbuch, Nr. 520; 2. Jh. n. Chr.). Hier gibt es eine ausgeprägte Entsprechung von Mikro- und Makrokosmos. So kann man erklären, wie, wann und warum alles bestimmt ist. Es ist die Mechanik der Welt auf mehreren Ebenen. Das am Kalender orientierte Judentum ließ sich hier gut unterbringen. Denn die Achtsamkeit bezüglich der Tage und Zeiten eines speziellen Gestirns konnte man schon gut als religiöse »Scheu vor« und daher als »Verehrung von« deuten. Paulus mutet den judaistischen Gegnern in Galatien diese Gleichsetzung zu, weil er meint, sie hätten vom Judentum nicht viel Ahnung und verstünden es tatsächlich als einen astrologischen Kult unter anderen. An dieser Stelle leuchtet etwas auf von der Verwandtschaft der Gegner in Galatien und in Kolossai. In Kolossai sind es Engel, die von den Gegnern durch Riten asketischer und kalendarischer Art verehrt werden. In Galatien kann Paulus deshalb von Götzendienst sprechen, weil die Gestirne, die den Kalender machen, (von Gestirnsgeistern) belebt sind, und genau das meint der Ausdruck stoicheia. Er stellt diesen Kult als
»(Sklaven-)Dienst« dar, weil dieses nicht nur dem Selbstverständnis des vorchristlichen Judentums entspricht, sondern auch laut Kol 2,18.23 zumindest ansatzweise auch rituell orientierten »Sekten« zueigen ist. Fazit: Man muss für die Paulusgegner in Galatien nicht eine eigene, synkretistische Form von Judentum und Astrologie annehmen. Es ist die Polemik des Apostels Paulus, die das Bild der »Gegner« zustande bringt: Zumindest den Lesern seines Briefes, wahrscheinlich aber auch den Gegnern selbst, will er gerne unterstellen, dass man keine Ahnung von der Torah und ihren Geboten hat (5,3), sondern ahnungslos in eine Mischung von Gentitalritus (Beschneidung) und Kalenderkult hineinrutscht. Diese Mischung ist paulinisch, aber sie dürfte kaum dem Selbstverständnis der Galater entsprochen haben. Paulus stellt die besagte Mischung auf, um die Meinung der galatischen Gegner als Götzendient zu disqualifizieren. Und er bedient sich dabei geläufiger Vorurteile (wie in 1 Thess 2,15!).
Gal 4,12-20: Ermahnung 4,12 ist wahrscheinlich so zu übersetzen: »Gegenüber dem [vielleicht verlockenden Reiz jedes Ritual-] Gesetz[es] könnt ihr es halten wie ich: Obwohl ich Jude bin [kümmere ich mich nicht um die Fehler, die mir das Gesetz vorhält], sondern lebe [unbefangen wie Heidenchristen] und wie auch ihr [dies anfangs getan habt].« So wird die Brücke geschlagen zwischen 4,8-10 und den folgenden historischen Argumenten aus dem Verhältnis zwischen Paulus und den Galatern. Im Blick auf die vorausliegende Diskussion besagt daher 4,12: Ihr wart Heiden, ich war Jude. Damals waren wir beide, jeder auf seine Weise, Sklave. Nun aber sind wir beide frei von der Gouvernante namens »ständiges Kritisiertwerden wegen Mängeln«. Lebt wie ich: Kümmert euch nicht um die Kritik, sondern blickt auf die neue Kraft und nach vorne wie ich. Vergesst also euren Sklaven-Hintergrund, so wie ich auch meinen entsprechenden Hintergrund vergesse. Zu Gal 4,14f: Paulus streift hier kurz die bedeutende Analogie zwischen Engeln und Aposteln;
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Der Brief an die Galater
beide Wörter meinen nicht nur dem Gehalt nach dasselbe; beiden geht es um das frühjüdische Verständnis von Gottes Gesandten; daher ist auch in beiden Fällen (wie bei Propheten auch) das Annehmen oder Aufnehmen (sc. im eigenen Haus) das Entscheidende. Mit dem Gesandten/Engel wird auch die Botschaft aufgenommen. – Der in 4,15 angesprochene Makarismus meint die Seligpreisung des Offenbarungsträgers in der 2. Person Singular (z. B. Mt 16,17b). Chr. Kähler hat beobachtet, dass diese Anrede jeweils nur dem einen Überbringer der Offenbarung zukommt. Paulus meint daher nicht irgendeinen Willkommensgruß, sondern eine gebräuchliche Form des Umgangs mit dem maßgeblichen Gesandten Gottes.
Jerusalem wird bewohnt von Juden, die der Sinai-Gesetzgebung treu sind. Also sind diese Sklaven. Der argumentative Schluss heißt daher: 1. Der Sinai liegt in Arabien. – 2. Von Hagar stammen die Araber ab. – 3. Hagar ist Sklavin, so auch ihre Kinder. – 4. Wer sich am Sinai orientiert, meint auch das Gesetz, das am Sinai gegeben wurde. – 5. Wegen 1. und 2. sind die Menschen, die der Sinai-Gesetzgebung folgen, Sklaven und Kinder Hagars. Ihre unter 3. genannte Sklaverei kommt in der Befolgung der Sinai-Gesetze zum Ausdruck. – 6. Das jetzt sichtbare Jerusalem ist gegenüber dem Gesetz observant und daher die Mutter all derer, die dem Sinai-Gesetz folgen. – 7. Diese Art der Observanz ist daher eine Art der Sklaverei.
Gal 4,21-31: Paulus strapaziert die Schrift Paulus vergleicht hier anti-typologisch zwei Gestalten des Bundes Gottes mit den Menschen. Dafür stellt er Sklaverei und Freiheit, das jetzt sichtbare und das himmlische Jerusalem einander gegenüber. Diese Typologie baut Paulus mit Hilfe der beiden Frauen Abrahams auf, der Hagar und der Sara. An diesen beiden Müttern und ihrem Status kann Paulus den Status ihrer Kinder erklären. Er will zeigen, dass die Heidenchristen Kinder Saras sind, die nicht-christlichen Juden aber Kinder Hagars. Denn die Kinder Saras sind die Freien, die Kinder Hagars aber die Sklaven. Dass Paulus mit dieser Auslegung den historischen Sinn der Texte in Genesis auf den Kopf stellt, ist oft bemerkt worden. Zudem muss Paulus eine ganze Reihe bekannter inhaltlicher Aspekte aus der Abrahamsgeschichte auslassen, weil sie seiner Argumentation zuwiderliefen. Paulus baut in zwei kontrastierenden Reihen folgende Gleichsetzungen auf (dabei setze ich das in eckige Klammern, was zu denken notwendig, zu sagen aber kontraproduktiv wäre):
Zweite Reihe: 1. Sara ist eine freie Frau und nicht Sklavin. – 2. Alle, die frei sind, wie sie es ist, sind daher ihre Kinder. – 3. [Paulus unterschlägt, dass »die« Juden sich insgesamt als Kinder Abrahams und Saras betrachten, also gerade nicht die Heidenchristen.] – 4. [Paulus unterschlägt, dass der soziale Status der Freiheit, also der Status der Kinder Saras, etwas ganz anderes ist als die von ihm verkündete Freiheit vom Gesetz. Er setzt die soziale und die religiöse Freiheit einfach gleich.] – 5. [Der traditionelle Gegensatz zum Sinai heißt Sion; Paulus verschweigt das hier, weil Sion rein empirisch mit gesetzesstrengem Judentum zu verbinden ist. Das kann Paulus aber hier nicht gebrauchen.] – 6. An die Frage der Observanz gegenüber dem Gesetz oder der Freiheit vom Gesetz trägt Paulus heran den Gegensatz von sichtbarem und himmlischem Jerusalem. – 7. [Dabei unterschlägt Paulus, dass die Unterscheidung zwischen dem einen und dem anderen Jerusalem zwar traditionell ist, aber nun wirklich gar nichts zu tun hat mit der Frage von Observanz oder Freiheit gegenüber dem Gesetz.]
Erste Reihe: Hagar – [Kinder sind die Ismaeliten, d. h. die Araber] – der Sinai liegt in Arabien [das passt zu den Arabern/Ismaeliten] – Mutter und Kinder sind Sklaven – [dieser bekannte soziale Status der Hagar ist nun auf die zu übertragen, die der Sinai-Gesetzgebung folgen; dieses zu tun bedeutet Sklaverei] – das jetzt sichtbare irdische
Folgende Auffälligkeiten ergeben sich daher: 1. Der dem Sinai-Bund entgegengesetzte Bund hat keinen Namen, denn die Heidenchristen haben mit dem Berg Sion nichts zu tun. Dieser steht vielmehr für das gegenwärtig sichtbare Jerusalem. Und dieses wird in Gal 4 gerade an anderer Stelle untergebracht.
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Kapitel 4
2. Weil Hagar Sklavin ist, Sara aber Freie, kommt dieses Attribut auch jeweils ihren Kindern zu. 3. Weil der Berg Sinai in Arabien liegt, Hagar aber die Mutter der Araber ist (was Paulus nicht sagt), gilt der Sklaven-Status auch für alle, die den Sinai-Bund halten. Dieser Weg über »Arabien/Araber« ist die einzige Gemeinsamkeit zwischen Hagar und den Menschen, die sich am Sinai-Bund orientieren. Der Sinai-Bund ist umgekehrt wegen Hagar der Bund der Unfreien. 4. Der Name Saras fällt aus, weil Sara nicht die Mutter der Heidenchristen sein kann. 5. Die beiden Jerusalem sind notwendig, weil Paulus eine Möglichkeit sucht, die gegenwärtig lebenden observanten Juden typologisch unterzubringen. Dafür übergeht Paulus den Zwischengedanken, dass das Sinai-Gesetz durch Juden gehalten wird, die hauptsächlich in Jerusalem wohnen. 6. Die pikanteste Schlussfolgerung ist diese: Alle dem Sinai-Gesetz folgenden sind Sklaven wie Hagar. Denn nur die Tatsache, dass sowohl Sinai etwas mit Arabien zu tun hat (es liegt dort!) als auch Hagar (ihre Kinder sind Ur-Araber), schafft überhaupt eine Verbindung zwischen Gesetz (Sinai) und Sklaverei (Hagar). 7. Der unbefangene Heidenchrist wird fragen: Was hat das himmlische Jerusalem mit den Heidenchristen zu tun? Antwort: Heidenchristen haben weder mit Sara noch mit dem himmlischen Jerusalem etwas zu tun. Die Judenchristen stammen nicht von Hagar ab, sondern von Sara (deswegen wird deren Name hier nicht genannt). Und kein Jude kann es übers Herz bringen, vom Sinai her das eigene Sklavesein abzuleiten. Das Judentum zur Zeit Jesu und des Paulus betont stets die aristokratische Freiheit aller derer, die vom König Abraham abstammen.
Gal 4,26: Das himmlische Jerusalem, unsere Mutter Paulus steht hier mitten in einer sehr markanten urchristlichen Tradition, die insgesamt davon spricht, dass die Heimatstadt/Heimat/das Vaterland/die Mutter(stadt) der Christen »im Himmel« oder »oben« sei. In Gal 4 und in Hebr 12 wird in diese Auffassung der Gegensatz von Sion
683 und Sinai eingebracht. Es wird also zur himmlischen Stadt eine Gegenheimat gedacht, in Gal 4 auch durch den Gegensatz »himmlisches Jerusalem«/»irdisches Jerusalem«. In der Offb ist die Gegenstadt zum himmlischen Jerusalem, der Braut des Lammes, die Hure Babylon, das irdische Rom. Vgl. zur Tradition im Ganzen: Gal 4,25f (jetziges Jerusalem/oberes Jerusalem); Hebr 11,10-16 (Fremdlinge auf der Erde im Kontrast zur himmlischen Heimatstadt, deren Fundamente von Gott sind); Hebr 12,22 (Ihr seid hinzugetreten zur Stadt des lebendigen Gottes); Phil 3,20 (unser Bürgerrecht/unsere Stadt besteht im Himmel); Eph 2,19 (Mitbürger der Heiligen); Kol 3,1 (Sucht das, was oben ist); Offb 21 (Das himmlische Jerusalem, Braut Christi, steigt auf die Erde herab); 2 Clem 14 (himmlische Kirche). Vgl. das Perlenlied (Heimat – Fremde – Heimat). – Im Hintergrund steht auch der himmlische Tempel nach Hebr 8,5, vgl. Ex 25,40.39; Apg 7,44. In den Texten dieser Traditionslinie wird der Kirchenbegriff vom Konzept der Stadt her entwickelt (wie später noch im Titel des Werkes von Augustinus: »Civitas Dei«). In Gal 4 und Hebr 12 steht dieses Konzept im Zusammenhang mit dem (neuen) Bund Gottes. Denn Bund ist wie »Stadt« (Gemeinwesen) ein politisch-juristischer Begriff. Offenbar wird diese Auffassung von der himmlischen urbanen Identität der Kirche Jesu Christi von Judenchristen (Offb; Hebr) wie von Heidenchristen (Gal; Phil; Kol, Eph) gerne geteilt. Nach allen Texten (auch Offb) besteht diese himmlische Stadt jetzt schon. Nur nach Offb 21 kommt sie erst später auf die Erde; doch das ändert nichts daran, dass sie auch jetzt schon besteht. Aktuell ist daran: Kirche ist weit mehr als das nur auf Erden Sichtbare. Sie hat dort ihren Schwerpunkt, wo der Auferstandene ist. So wie ein Segelschiff seinen Kiel unter Wasser hat, ist das Meiste an der Kirche unsichtbar, und es liegt auf jeden Fall nicht in erster Linie in der Vergangenheit, sondern in dem, was sich jeden Tag besser enthüllt. Da in den letzten einhundert Jahren räumliches Denken in der Theologie verachtet wurde, hat sich das Konzept der himmlischen Stadt theologisch nicht durchsetzen können. Dabei liegen die Vorteile auf der Hand: Im Gegensatz zu einer nur an der Vergangenheit ausgerichteten Auffas-
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684 sung von Kirche geht es hier um das Unsichtbare und Zukünftige. Das Unsichtbare wird ja auch erst zukünftig sichtbar. Von daher wären auch die Ämter zu begründen (wie es schon im 3. Jh. Clemens v. Alexandrien tut). Der Duktus der Väter-Aussagen in Hebr 11 vermittelt zudem folgende Einsicht: Die Ausrichtung am unsichtbarzukünftigen Schwerpunkt der Kirche erleichtert es wesentlich, den Status des Pilgerns für die Kirche nicht immer wieder zu vergessen. Dass man nicht bloß auf die Vergangenheit blickte, hat die Beliebtheit dieses Kirchenbildes bei Heidenchristen befördert. Schließlich aber sind die Christen nach diesem Konzept insgesamt freie Vollbürger der himmlischen Stadt, und zwar haben sie diesen Status schon jetzt durch die Taufe. Die Opposition zur irdischen Alternative erleichterte in Zeiten der Christenverfolgung den verfolgten Christen das Zurechtfinden. Der Dualismus irdisch/himmlisch und Gegenwart/Zukunft besitzt eine klärende Funktion. Das »bessere« Bürgerrecht wird das in sichtbaren Städten weit überbieten.
Gal 4,28-31: Verfolgung 4,29 trägt an den Dualismus von Unten und Oben zusätzlich den von Fleisch und Geist heran. Fleisch bedeutet hier: der auf natürliche Weise (im Rahmen des von Natur aus Erwartbaren) Gezeugte, Geist hingegen: der mit wunderbarem Eingreifen Gottes aufgrund der Verheißung Entstandene. Denn Gott hat die Unfruchtbarkeit der Eltern geheilt; freilich geht es hier nicht um Empfängnis durch den Heiligen Geist wie in Lk 1. Bei Abraham ist der Heilige Geist nicht die Ursache der Schwangerschaft, sondern er bewirkt die Heilung der altersbedingten Sterilität. Diese unterschiedlichen Wege der Ermöglichung der Schwangerschaft bei Sara und Hagar werden nun übertragen auf den Unterschied zwischen
Der Brief an die Galater
Juden und Heidenchristen. Denn Juden sind Kinder Abrahams auf dem (üblichen) Wege der biologischen Abstammung; Heidenchristen sind Kinder Abrahams (und Saras) durch den Glauben, der durch Heiligen Geist zustande kommt (und entsprechend haben die Gotteskinder ihre Heimat bei Gott, auf den sie zugehen). Die Folge dieses Unterschieds: Da nur die Christen Kinder Saras und Abrahams sind, werden auch nur sie erben. Denn der Sinn jeglicher Kindschaft ist erben. Das ist nun ein weiterer, ungeheuerlicher Angriff auf die jüdische Identität der Abrahamskindschaft. Diese besteht doch genau darin, dass jeder Nachkomme Abrahams an den Verheißungen, vor allem aber an den Landverheißungen, Anteil hat. Eben das bestreitet Paulus hier, indem er die torah-strengen nichtchristlichen Juden nur für Kinder Hagars erklärt. Paulus kehrt den Unterschied zwischen Juden und Heiden einfach um, indem er den Heidenchristen genau das zuspricht, was traditionell Juden erwarten durften. Und außerdem erklärt Paulus, dass es im Rahmen der aufgezeigten Anti-Typologie nur natürlich ist, dass die Kinder der Sklavin (Hagars Söhne), also die Gesetzesstrengen, die Kinder der Freien (Saras) auf jede Weise verfolgen. Für diese Feindschaft beruft sich Paulus bereits auf die Schrift, und zwar auf den Befehl Gottes an Abraham, Hagar zu vertreiben (Gen 21,10.12). Paulus stört es gar nicht, dass nach der Bibel nun der Freie (Abraham) die Sklavin (Hagar) vertreibt, während doch in der Gegenwart Hagars Söhne die Freien verfolgen. Auch hier dreht Paulus den Schriftsinn einfach um. Er kann so die Feindschaft zwischen beiden Gruppen aus der Schrift erweisen. Könnte man Paulus fragen, welche konkreten Vorgänge er mit 4,29 meint, würde er wohl zuerst auf seine eigene Verfolger-Tätigkeit verweisen, für Galatien aber darauf, dass die Verfechter der Beschneidung die unbeschnittenen Heidenchristen offenbar gewaltig unter Druck setzten (Gal 6,12).
Gal 5-6: Das Gesetz durch die Liebe erfüllen In Gal 5f lässt Paulus auf den historisch-systematischen Teil des Briefes (Kap. 1-4) nun umfangreiche Mahnungen folgen. Grundsätzlich entspricht das der Abfolge von Röm 1-11 und Röm 12-15.
Zweifach schafft Paulus die Überleitung zum vorangehenden Teil in Kap. 1-4, indem er mit Nachdruck die Freiheit betont, zu der die Galater durch Glauben und Taufe berufen sind (5,1.13).
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Kapitel 5
Es ist die Freiheit vom Stehen unter dem Gesetz; es ist nicht die Freiheit »vom Gesetz«, wie Ausleger immer wieder geglaubt haben. Denn das systematische Problem des Gal und damit das brisanteste Problem paulinischer Systematik überhaupt tritt dadurch zutage, dass nach der Betonung der Freiheit unmittelbar folgend das bestehende Verhältnis der Sklaverei bejaht und betont wird, und zwar gerade im Blick auf das Gesetz. In 5,13 hat Paulus die Galater dazu aufgefordert, einander Sklavendienste zu leisten. Man kann für das »einander …« Verständnis haben, denn dieses Wort ist ein Merkmal frühchristlicher Gemeindeparänese. Aber die Begründung, die 5,14 liefert (»Denn das ganze Gesetz ist in dem einen Satz erfüllt: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst«), lässt die Frage dringend werden, wieweit die von Paulus gerade zweifach proklamierte Freiheit reicht. Denn offenbar gilt das Gesetz, und es ist auch notwendig, es zu erfüllen. – In welcher Hinsicht ist nun – im Blick nicht nur auf Gal, sondern auch vor allem auf Röm – das jüdische Gesetz aufgehoben und in welcher nicht? Antwort: a) Aufgehoben ist das Gesetz für den Christen als die be- und verurteilende Instanz, »unter« der die Menschen zuvor alle lebten. Das heißt: Das »Sein unter« dem Gesetz ist entfallen. Insofern hat es für die Christen einen Herrschaftswechsel gegeben. Ihr Herr ist jetzt Christus, und ihre Gouvernante ist nicht mehr das Gesetz. b) Inhaltlich entfällt alles am Gesetz, was den Weg der Reinigung und Befreiung von Sünde betrifft. Das betrifft zum Beispiel alles, was gemäß der Schrift am Jom Kippur zu geschehen hat oder hatte. Es betrifft auch weitere assoziierte Riten wie z. B. die Asche der roten Kuh, mit dem Mord gesühnt werden konnte. Es betrifft, sofern man in der Beschneidung einen Weg zum Heil sah, auch diese und die Waschungen beim Übertritt zum Judentum, von denen man kultische Reinigung erwartete. Das alles aber bedeutet nicht, dass hier bestimmte Einzelgesetze aus der Torah aufgehoben werden, sondern sie »entfallen«, wie oben gesagt, und zwar auf andere Weise. c) Denn alles das, was hier Menschen nach Anleitung des Gesetzes tun müssten, hat Jesus stellvertretend für die getan, die sich auf ihn als ihren Anwalt berufen. Im Bild gesagt: Wenn
685 eine dritte Person für mich die Steuern bezahlt, bin ich Jahr um Jahr von der Steuerlast frei. Aber damit sind die Steuergesetze nicht aufgehoben. Es »entfallen« daher alle Bestimmungen, die den Anweg zum Heiligtum und die Zulassung zu Gott betreffen. Taufe auf den Namen Jesu, sein Sühnetod, die lebendige Anwaltsfunktion Jesu Christi vor Gott und die Gabe des Heiligen Geistes machen eine langfristige Bereitung des Menschen überflüssig. d) Vom Gesetz Gottes bleibt daher als akute Forderung alles das, was man zeitgenössisch unter »Gerechtigkeit« verstand, und was sich vornehmlich in den Sozialgeboten äußerte. Dazu gehört z. B. die zweite Tafel des Dekalogs, z. B. in der Form von Mk 10,19 par; Röm 13,9. An diese Gerechtigkeit denkt auch Jesus laut Mt 5,20, und sie kommt zum Ausdruck in zeitgenössischen Reihen wie z. B. in der »sozialen Reihe« (vgl. dazu K. Berger, Die Gesetzesauslegung Jesu, 1972, 38-55). – Dieses Gesetz ist nicht die akribische Summe der Einzelgebote, und Gerechtigkeit ist nicht deren pingelige Erfüllung, sondern »der Gerechte« (z. B. als Attribut des heiligen Josef) ist ein bestimmter profilierter Menschentyp. Das entspricht dem hellenistischen »Kanon der zwei Tugenden« als Frömmigkeit und Menschenliebe und diese Art von Gesetz bietet auch die Möglichkeit der Zusammenfassung als Gottesverehrung und Menschenliebe (Philanthropie). Ein so verstandenes Gesetz konnte Jesus zusammenfassen in den Einzelgeboten der Gottes- und Nächstenliebe. Das ist eine besondere schriftgelehrte Leistung. Auch in Gal 5,14 (wie in Röm 13,9) zeigt Paulus Bekanntschaft mit der Wiedergabe der Sozialgebote (Gerechtigkeit gegenüber Menschen) mit Hilfe von Lev 19,18, und darin zeigt sich eine wichtige Übereinstimmung mit Jesus. – Diese liegt auch darin, dass die Größe ›Gesetz‹ bestehen bleibt (wie Mt 5,17) und nicht »liberalisiert« wird, sondern dass bestimmte Stränge (wie das Soziale oder die besondere Fürsorge für die Armen) stark hervorgehoben werden. – In Gal 5f fällt demgegenüber auf, dass Paulus – wie auch sonst – wenig an die Armen und Bedürftigen denkt, aber umso größeres Gewicht legt a) auf das Miteinander und b) auf eine spezielle Ethik des Gewaltverzichts in 5,22f, die nichts anderes ist als ein Summarium über die praktische Bedeutung des Heiligen Geistes
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686 für Christen. Denn der Heilige Geist ist für Paulus der Maßstab des Verhaltens, da er alle trennenden Differenzen aufhebt, und zwar sowohl zwischen Gott und Mensch als auch zwischen Menschen. Daher hat der Hinweis auf den Heiligen Geist in 5,16-23 eine besondere, zentrale Bedeutung. Nur teilweise bezieht sich seine Bedeutung auf den Seelenfrieden, immer wieder dagegen bewirkt der Heilige Geist eine friedliche Gemeinschaft (namens Kirche). Zu Gal 5,17: Dieser Vers ist in der Geschichte der Auslegung und Wirkung häufig anthropologisch gedeutet und damit folgenreich missverstanden worden. Denn es geht Paulus eben nicht um einen anthropologischen (innermenschlichen) Gegensatz zwischen Fleisch (Leib) und Geist (Intellekt), sondern um einen theologischheilsgeschichtlichen zwischen dem alten Menschen (der durch Fleisch, d. h. durch Sterblichkeit, Schwäche und Suchtgefährdung gekennzeichnet war) und dem Menschen, der durch die Zugehörigkeit zu Jesus den Heiligen Geist (griech.: pneuma) empfangen hat und damit in den Beginn der neuen Schöpfung (ohne Tod und Hass) einbezogen ist. Der alte Mensch bedurfte des besonderen Geschenkes von Gott. Nämlich des Heiligen Geistes, der allein ihm auf die Beine helfen und ihn vom Tod befreien konnte. Mit »Begehren« V. 17 ist das Zentrum der Sünde und des Todes benannt (Röm 7,7f). Deshalb gehört zu dem neuen Menschen (V. 23a) auch die Selbstbeherrschung. Zu Gal 6,1: Die hier nahegelegte Zurechtweisung betrifft das Gebot Lev 19,18, das in 5,14 zitiert wurde. Denn der Inhalt des Gebotes der Nächstenliebe ist nicht die »allgemeine Menschenliebe«, sondern der Umgang mit den Fehlern des Nächsten (Zurechtweisung, Racheverzicht), dessen Ziel in jedem Fall die Re-Integration dessen ist, der sich durch sein Vergehen außerhalb gestellt hat. Verwandte Auslegungen bieten Mt 18,15f und Didache 2,3.7 (»Du sollst keinen Menschen hassen, sondern ihn entweder zur Rede stellen und tadeln oder für ihn beten oder in Liebe für ihn mehr tun als für dich selbst«). Das Verb zurechtweisen (gr: katartizo) ist regelmäßig ein Hinweis auf das Vorliegen dieser Auslegung (vgl. auch Eph 4,12). Auch 6,2 könnte man hier
Der Brief an die Galater
zu dieser Auslegung ziehen, dann wäre die Last des anderen, die zu tragen ist, sein Vergehen. Das »Gesetz Christi«, das nach 6,2 zu erfüllen ist, entspricht religionsgeschichtlich dem »neuen Gebot« des Messias nach Joh 13,34 (neues Gebot: einander lieben). Historisch gesehen kann und darf der neue Herrscher natürlich ein neues Gebot erlassen. Diese wichtige Gemeinsamkeit zwischen Paulus und Johannes betrifft nicht zufällig das Liebesgebot. Sie wirft Licht auf diese für das ganze Neue Testament entscheidenden Gemeinsamkeiten (vgl. K. Berger, Theologiegeschichte, 2 1995, § 135-144). Zu Gal 6,11-14: Beschneidung, Rühmen und Kreuz haben hier einen besonderen Stellenwert. Die Gegner möchten sich gerne rühmen, die Galater zur Beschneidung gebracht zu haben. Denn Beschneidung gilt in manchen Kreisen als Adelsprädikat. Ruhm einzuheimsen ist aber gegen das Kreuz Christi (dieses ist der Weg der Schande). Hier wie auch sonst ergreift Paulus Partei für diejenigen, die das Kreuz (die Schande) höher schätzen als vergängliches, religionspolitisches Prestige. Zu Gal 6,15: »Neue Schöpfung« ist die geistgewirkte Überwindung aller trennenden Gegensätze aus der bestehenden Schöpfung, die durch Spaltung gekennzeichnet ist. In der neuen Schöpfung gilt nur noch der Maßstab der Gottähnlichkeit, und das heißt der Einheit von und vor Gott. Wegen Gal 3,14 gilt sie auch schon für Gal 3,27. Neue Schöpfung bedeutet nicht Aufhebung natürlicher Anlagen (Frauen bleiben Frauen, Juden bleiben Juden); entscheidend ist, dass die Perspektive nicht bürokratische Vereinheitlichung ist, sondern Gott und Frieden und die Ähnlichkeit mit Gott. Zu Gal 6,16: Nach dem Kontext des Gal sind das »Israel Gottes« a) alle diejenigen, an denen die Verheißung an Abraham in Gestalt des verheißenen Heiligen Geistes in Erfüllung ging (Gal 3,14), b) alle diejenigen, deren Mutter das himmlische Jerusalem ist (4,29), und die Kinder »nach dem Heiligen Geist« sind (4,29-30). Der Ausdruck betrifft daher alle, die Abrahamskinder durch den Heiligen Geist sind.
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Kapitel 5
Zu Gal 6,17: Die Wundmale um Jesu willen, die andere Menschen daran hindern sollen, Paulus zu attackieren (denn er hat eben schon genug
687 gelitten) erinnern an 2 Kor 1,5.8f, besonders an 2 Kor 4,10, wonach eine Leidensidentität zwischen Jesus und Paulus besteht.
Berger (08129) / p. 688 / 19.5.2020
Der Brief an die Epheser
Kommentare: Johannes Chrysostomus (vor 400) MPG 62. – Hieronymus (400) MPL 26. – Hrabanus Maurus (850) MPL 112. – Haimo v. Halberstadt (ed. 1519). – Theophylakt (1100) MPG 124. –
Thomas von Aquin (1250). – J. Calvin (1550). – I. Vigand (1581). – H. Schlier (7. Aufl. 1971). – J. Ernst (1974). – J. Gnilka (2. Aufl. 1977). – F. Mussner (1982). – R. Schnackenburg (1982).
EINFÜHRUNG Autor Der Brief wird Paulus zugeschrieben. Es gibt beträchtliche Differenzen zu den als sicher geltenden Paulusbriefen: Christus als Haupt der Kirche, schon vollzogene und nicht erst erwartete Auferstehung, entsprechend fehlende apokalyptische Eschatologie, die Existenz von »Haustafeln«. Vieles davon hat Eph mit Kol gemeinsam. Doch alle diese Gründe sind auch widerlegbar. Das gilt besonders dann, wenn man bedenkt, dass Paulus jeweils im Zweier- oder Dreierpack sehr unterschiedliche Briefe vorlegt: 1 und 2 Thess (Apokalyptik); 1 und 2 Kor (Logoschristologie); Gal, Röm, Phil (Gesetz und Rechtfertigung) und eben vielleicht Eph, Kol (Christus Haupt des Leibes). Die Differenzen zwischen diesen Blöcken sind erheblich, und es gibt nur wenige Brücken (1 Kor 15,56-58 zur Gesetzesfrage; 1 Kor 12 und Röm 12 zur Frage »Leib Christi«). Wenn man die schroffen Unterschiede zwischen den Blöcken betont, ist es auch nicht schwierig, Eph und Kol als eigenständigen Block anzuerkennen. Die Gewichtung der Gründe, die zur Leugnung paulinischer Autorenschaft führen können, ist freilich Sache des einzelnen Exegeten. Ich halte es auch für möglich, dass zwei Mitarbeiter des Apostels Kol und Eph verfassten. Das ändert nichts daran, dass die paulinische Theologie der Maßstab für die theologische Einordnung und oft auch Deutung bleibt. Man darf und sollte daher auf jeden Fall die Besonderheiten von Eph und Kol betonen, und daher ist die Zuschreibung zu Paulus oder zu seinen Assistenten selbst nicht so wichtig. Aufgrund der langen Forschungsdiskussion über die mögliche Pseudepigraphität von Kol und Eph ist diese Frage wenigstens zu diskutie-
ren. Jemandem eine Schrift unterzuschieben, die er nicht verfasst hat, gilt damals wie heute als Betrug. Es ist von vornherein auszuschließen, dass das missionarische frühe Christentum sich mit solchen Verdächtigungen selbst belastet hätte. Es gibt jedoch im Rahmen des vom Judentum her kommenden Prophetismus eine Möglichkeit der Deutung der erweiterten Autorschaft. Denn wenn es in Lk 1,15 heißt, Johannes der Täufer sei aufgetreten »in Geist und Kraft des Elia«, und wenn er im gleichen Sinne mit Elia identifiziert wird (Mt 17,12f), dann »ist« der so prophetisch redende Johannes Elia. Weder Personalität noch Autorenrechte sind dabei im modernen Sinne aufzufassen, d. h.: Alles im strengen Sinne Persönliche und Unverwechselbare wird ganz anders gesehen. So kann auch 1 Petr 1,11 sagen, alle Propheten hätten »im Geist Christi« prophezeit, und in 3 Kor 10 (apokryph) heißt es, Gott habe »einen Teil vom Geist Christi in die Propheten gesandt«, nach ThomasEv 52,1: »Alle Propheten redeten in dir«, d. h. sie sind Sprachrohr Jesu, der, obwohl er noch gar nicht auf der Welt war, durch sie gesprochen hat. So ergibt sich m. E. für Eph und Kol die paulinische Urheberschaft auch dann, wenn andere diese Briefe verfasst haben sollten. Es ist nicht einfach der »Geist« des Paulus, der sie inspiriert hat, sondern es ist der Heilige Geist Gottes, der die Wahrheit des Apostels auch in der Gestalt von Apostelschülern verkündigen lässt. Der Heilige Geist hat daher hier dieselbe Aufgabe wie der Paraklet im JohEv: Er redet als Geist »vom Geist« Jesu. Er erinnert und führt ein in alle Wahrheit. So wäre Pseudepigraphie im Rahmen des urchristlichen Prophetismus zu deuten. Möglich ist das nicht nur nach dem »Tod« des Prophe-
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Der Brief an die Epheser
ten, sondern auch vor der irdischen Existenz und, laut 1 Kor 5,3 auch zu Lebzeiten: Das Pneuma des Paulus ist mit den Korinthern vereint. Adressaten Der Titel »An die Epheser« findet sich in alten und wichtigen Handschriften noch nicht. Er wurde später aus guten Gründen dem Brief gegeben. Denn inhaltlich gehört der Brief zusammen mit dem an die Kolosser ganz in die Nähe von Paulus. Auch Kolossai liegt ja in Kleinasien. Ephesus war in der Mitte der Wirksamkeit des Paulus ein hauptsächlicher Wirkungsort. Die fehlende Überschrift und der sichtlich fehlende Bezug zu einer Einzelgemeinde und deren Fragen legen die Annahme nahe, dass Eph ein Rundbrief an mehrere Gemeinden ist, ähnlich wie die Offb, die ja unter anderem auch an Ephesus gerichtet ist, aber eben noch an sechs weitere Gemeinden. Auch 1 Petr, Jak und Jud haben diesen Charakter, Gal vermutlich (aber nur an paulinische Gemeinden), ferner vielleicht 1 Joh. Aus der schlichten Existenz solcher Rundbriefe kann man Wichtiges über die Kirche des 1. Jh. n. Chr. erkennen: Christliche Gemeinden sind durch ein recht enges kommunikatives Netz miteinander verbunden. Dieses funktioniert mündlich (durch wandernde Apostel und anderen bzw. ihnen gewährte Gastfreundschaft) und schriftlich (durch Rundschreiben an mehrere Gemeinden). Die Kirche besteht daher von Anfang an nicht aus nebeneinander existierenden Einzelgemeinden, die irgendwie erst später Kontakt miteinander aufnahmen, sondern als ein recht weiter Binnenraum, als eine kommunikative Öffentlichkeit. Dass der Eph tatsächlich so gedacht war, zeigt sein universal ausgerichteter Kirchenbegriff. Denn weil Jesus Christus Schöpfungsmittler und zugleich Haupt der Kirche ist, hat Kirche eine weltweite Dimension. Das bedeutet keinerlei Fixierung auf eine Einzelgemeinde, sondern Kirche gibt es von Anfang an als Weltkirche. Eph gilt theologisch als schwierig bzw. sprachlich und gedanklich als »barock« (Jakob Taubes). Das ist schon an dem überladenen Prolog erkennbar. Datierung Auch wenn Paulus nicht als Autor angesehen werden sollte, kann die Abfassung des Briefes
689 dennoch zu seinen Lebzeiten erfolgt sein. Sollte der Brief später verfasst sein, dann intendiert er jedenfalls die Bewahrung des paulinischen Erbes in der kleinasiatischen Kirche. Ein inhaltliches Argument hilft weiter: Unübersehbar bietet der Eph eine Alternative an zur römischen Reichsund Kaiserideologie. Zur Zeit der Abfassung des Eph ist demnach die Weltherrschaft eines Hauptes noch etwas Erstrebenswertes. Solange Jesus Christus als der bessere Kaiser und der wahre Versöhner der Völker dargestellt wird, ist das Kaisertum als solches noch ein Wert. Das römische Kaisertum verliert an Wert durch Kaiser Nero, insbesondere in den Augen der Christen, da der Brand Roms im Jahre 64 eine Christenverfolgung verursacht. Daher muss der Eph vor 64 n. Chr. entstanden sein. Die Gegenprobe I bietet die Offb des Sehers Johannes: Nach der Christenverfolgung durch Nero ist hier ein scharfer Dualismus eingezogen, der das Kaisertum nur noch auf der Seite Satans sieht. Gegenprobe II: Ein im Namen des Apostels Paulus verfasster Brief wird nach seinem römischen Martyrium die Institution universaler kaiserlicher Macht nicht positiv darstellen können. Daher muss Eph aufgrund der Struktur seiner Theologie vor 68 n. Chr. (Martyrium des Paulus) geschrieben worden sein. Ich plädiere daher dafür, dass Eph vor 63/64 n. Chr. verfasst wurde, und zwar in Kleinasien. Seit 29 v. Chr. bemühte man sich gerade dort um eine engagierte Pflege des Kaiserkultes. Eph versucht, das auf seine Weise zu »toppen«. Theologische Eigenart Eph bietet einige Besonderheiten: Eine ausgeprägte Präexistenz-Lehre für Jesus und die Kirche; eine Art von Evolution, betreffend Welt und Kirche; eine »korporative« Christologie; die Auffassung, die Christen seien schon auferstanden. Diese Stolpersteine machen, wenn sie überhaupt als solche wahrgenommen werden, den Epheserbrief gleichzeitig anstößig und interessant. Jesus Christus ist Schöpfungsmittler und Haupt der Kirche. Diese ist sein Leib. Die Folgen dieser Ansicht sind: Im Vergleich mit den synoptischen Evangelien ist Jesus entpersönlicht. Er hat kein Gesicht und keine Stimme – Eph bewahrt kein Jesuswort auf. Seine irdische Existenz spielt, vom Kreuz abgesehen, keine Rolle. So ist Jesus
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690 »enthistorisiert« und aus dem jüdischen Volk herausgenommen (»internationalisiert«). Besonders die Vorstellung von der Kirche als Riesenleib, die durch Jesus als Haupt regiert wird, ist merkwürdig funktional gedacht. Ähnlich mutet auch der Christus von Offb 19 an, der »Logos« heißt und nur die Funktion des universalen Richters einnimmt. Nur als Kontrast sei erwähnt, wie man in der mittelalterlichen Frömmigkeit gerade diesen unpersönlichen Zug entschieden zurücknimmt (etwa im Stabat Mater, wo der zum Gericht kommende Jesus angefleht wird: Recordare Iesu pie, quod sum causa tuae viae … tantus labor non sit cassus). Der Verfasser des Eph beabsichtigte wohl, mit seiner wenig persönlichen Christologie die wahre Bedeutsamkeit Jesu zu bestimmen. Funktionalität ist alles. Von Jesus von Nazaret ist nur der Name geblieben – dieser ist allerdings für das frühe Christentum das Wichtigste. Die Doxologien des Gloria in excelsis Deo entsprechen dem am ehesten in der Liturgie. Die byzantinische Kunst wird den Pantokrator so darstellen. Man kann fragen: Hat das Christusbild des Epheserbrief überhaupt etwas mit Jesus zu tun? Antwort: nur im Zusammenhang des Kanons. Religionsgeschichtlicher Hintergrund Die Leib-Christi-Lehren bei Paulus, vor allem in Kol und Eph, sind eine gewisse Entsprechung zur Menschensohn-Christologie der vier Evangelien. Man könnte sie als deren hellenistische Transformation betrachten. Denn seiner Herkunft nach ist der Menschensohn ein wenig persönliches, eher mit Engeln vergleichbares Wesen »wie ein Mensch« (Dan 7,9-14). Er hat kollektive Bedeutung: In Dan 7 stellt er Israel dar, das Volk der Heiligen des Höchsten. In den Evangelien gilt in diesem Sinne das, was von ihm gesagt wird, auch für die Summe seiner Nachfolger. Er stellt sie dar, sie stellen ihn dar. Er repräsentiert sie, und sie repräsentieren ihn. So wie er vom Himmel herabgekommen ist und wieder hinaufgeht, geschieht es auch allen, die getauft werden (Joh 3). Der Ähnlichkeit des Menschensohnes von Dan 7 mit einem Engel entspricht die Auffassung, Israel (= Jakob) sei ein Erzengel, als Erstgeborener vor aller Schöpfung entstanden (Oratio Ioseph). Diese Vorstellung wird uns noch bei der Präexistenz beschäftigen (s. im nächsten Abschnitt).
Der Brief an die Epheser
Die Deutung der Kirche als Leib Christi entspricht dem, besonders in Kol und Eph, wo Jesus Christus selbst als Haupt dieses Leibes gesehen wird. Das Bild stammt aus der römischen KaiserIdeologie. Schon vor Jesus hat es im Judentum einen eigenartigen Niederschlag gefunden: Der jüdische Hohepriester kann sagen, die Versammlung des Judentums (griech.: ekklesia) sei sein Leib. Denn er handelt »für« das Volk. Nach Seneca (De Clementia 1,51) ist der Kaiser die Seele des Staates, der Staat aber sein Leib. Nach Plutarch (Polit. Lehren § 17) ist der Staatsmann »Haupt des Staates«. Nach Philo (Spec Leg 3,131) ist das Verhältnis des Volkes zum Hohenpriester wie das der Glieder zum Leib. Schöpfungsmittlerschaft/Präexistenz Im Unterschied zum Kol ist nicht klar erkennbar, ob Eph Jesus als Schöpfungsmittler denkt. Zu stark ist seine Rolle als Haupt des Leibes der Kirche der Heiligen ausgeprägt. Wenn es heißt, dass er in allem der Erste sei, im Himmel und auf Erden, lässt das durchaus an die Schöpfung denken. Wenn es heißt, vor aller Schöpfung habe Gott die Gemeinde der Heiligen »in Christus« erwählt, so hat diese Präexistenzaussage, ähnlich wie alle Aussagen dieser Richtung, am ehesten Sinn, wenn Jesus hier die Rolle der Weisheit/ Schöpfungsmittlerin einnimmt. Aber wirklich gesagt wird das nicht. Hier ist noch einmal hinzuweisen auf die Oratio Ioseph, ein bei Origenes erhaltenes Fragment einer jüdischen apokryphen Schrift (In Joh II 31[25] § 189f: »Denn der zu euch redet, ich bin es, Jakob und Israel, Engel Gottes bin ich und anfangshafter Geist. Und auch Abraham und Isaak wurden zuvor erschaffen vor jeglichem Werk. Ich bin aber Jakob, von den Menschen Jakob genannt, mein Name aber ist Israel, genannt von Gott Israel, der Mann, der Gott sieht, denn ich bin Erstgeborener jeglichen Lebewesens … Bist du nicht Uriel, der achte nach mir?«) Israel ist daher den Engeln vorgeordnet. In der Oratio Ioseph gibt es eine Präexistenz Israels, da die drei Erzväter eigentlich jeder für sich ein pneuma archikon (Geistwesen am Anfang aller Dinge) sind. Für die mögliche Herleitung der Vorstellungen von Eph 1 aus der Israel-Theologie vgl. die Liste der Attribute, in V. 4: erwählt vor der Welt, heilig und unbefleckt vor Gott, V. 5
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Der Brief an die Epheser
Sohnschaft, V. 3 Segen, V. 6 Geliebter, V. 13f Verheißung, Erbe. Der Kampf Jakobs (Israels) mit dem Engel nach Gen 32 wird dargestellt als Kampf zweier Engel; Uriel steht auf der einen, Israel auf der anderen Seite. Strittig ist die Rangordnung. Israel (Jakob) behauptet, zusammen mit Abraham und Isaak zu den Erstgeborenen vor aller Schöpfung zu gehören, daher sein Rang. Wenn Israel in Wahrheit einen engelhaften Charakter besitzt, dann bedeutet das nichts über Schöpfungsmittlerschaft. Wohl aber steht diese Auffassung Eph sehr nahe, wonach die Heiligen (die Kirche) vor aller Schöpfung in Christus, mit dem sie »korporativ identisch« ist, erwählt sind. Dabei bedeutet Präexistenz Erstrangigkeit. Leib Christi und Christus als Haupt des Leibes Für den modernen Leser und seine sehr begrenzte Sichtweise scheint ein solcher Christus, wie dargestellt, nicht nur ohne Gesicht und Stimme, also eher ein »weißer Riese« zu sein, ohne leibliche, persönliche Identität. Will man sich diesen Abstand verständlich machen, so wird ersichtlich, dass der Unterschied zu neuzeitlicher Wahrnehmung in der Auffassung vom menschlichen Leib besteht. Wir fragen daher: Welche Vorstellung vom Leib ist impliziert, wenn man vom Leib Christi redet? Antwort: Es gibt hier keine anthropologischen Konstanten. Für heutige Menschen ist Leib ein besonderer Fall des Verhältnisses von Innen und Außen. So ist der Leib Spiegel der Seele, so loben wir jemanden, der eins ist mit sich selbst, der seinen Leib »angenommen« hat; modern ist die »ganzheitlich« orientierte Psychosomatik. Für die Zeitgenossen des Neuen Testaments dagegen wird der Leib als (begrenzte) Vielfalt wahrgenommen. Divergierendes ist in einem Corpus zusammenzuhalten. Der Idealfall ist daher das Zusammenspiel (konzertierte Aktion) und die Harmonie der verschiedenen »Glieder«. Der Organismus ist wie ein vielstimmiges Orchester. In 1 Kor 12 und Röm 12 werden daher die vielen unterschiedlichen Gaben in einem Leib zusammengesehen. Der Leib wird als polyzentrisch wahrgenommen. Die Frage ist: Wer führt das vielstimmige Chaos? Führt es überhaupt einer? Gibt es ein Zentrum, und wo liegt es? Im Neuen Testament geht es um Hegemonie und Teilautonomie. Genau da-
691 rin spiegelt sich auch das politische Ringen um Ordnung und staatliche Strukturen in der Antike und im frühen Mittelalter. »Leib Christi« ist deshalb ein scheinbar unmodernes Kirchenbild, weil die innerkirchlichen Strukturen durch Kirchenrecht geordnet sind. Für den neuzeitlichen Menschen lautet daher die Frage: Warum Jesus und kein anderer? Oder: Ist die Kirche glaubwürdig (so wie beim Leib das Äußere das Innere widerspiegeln sollte)? Die Frage ist hier also die Individualität im Unterschied zu anderen (auch die Glaubwürdigkeit ist im Blick auf andere ein Maßstab: Können wir diesem Menschen vertrauen oder lieber anderen?). Beim antiken Leibverständnis geht es um die Komplexität. Die Vielfalt liegt für antikes Denken im Leib, für das heutige Denken außerhalb des individuellen Leibes. Aus diesen Gründen ist es schwer, die Metapher »Leib Christi« oder »Haupt des Leibes« überhaupt zu verstehen. Dass das zutrifft, zeigt der Missbrauch der Metapher vom »Volkskörper« durch die Nazis, der zwangsläufig als anti-intellektuelle Uniformierung begriffen wurde und auch gewirkt hat. Angesichts perfekter neuzeitlicher Organisation kann die Antwort auf das antike Problem kein gegenwärtiges Programm sein. Die Worte sind aufschlussreich: Die aufeinander abgestimmten Funktionen des antiken »Organismus« haben wir durch »Organisation« oft allzu perfekt ersetzt. Nicht dass Kirche zu wenig organisiert wäre; dies ist durch Bürokratie und Recht geschehen. Was allerdings fehlt, ist eine christozentrische Theologie zur Überwindung zahlreicher intellektueller und liturgischer Schismen. Die Kirche des 1. Jh. hat ihre Einheit im Kanon, in Rundbriefen und ausdrücklich auch in gemeinsamer Liturgie gefunden (vgl. zu Hebr 13). Die himmlische Existenz der Christen Die Christen sind nicht nur in und mit Christus auserwählt seit Anbeginn der Welt, sie sind auch seit der Taufe »im Himmel« und vor allem schon auferstanden. Damit leben sie in einer engelhaften Existenz, die durch die Zugehörigkeit zu Jesus Christus, dem Erhöhten, begründet ist. Ihre Wohnung – ihr Woher, ihr Existenzmittelpunkt – liegt im Himmel. Diese besondere Auffassung ist nur kultisch zu begründen, und zwar im Frühjudentum. Die Hymnen von Qumran wer-
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den mit den Engeln gesungen, und bis heute ist das so beim Sanctus, sanctus, sanctus. Dabeisein ist alles, und die Funktion erschafft auch den theologischen Ort. Insbesondere die romanische Fresko-Malerei hält diese »Fiktion« fest: Wer zum Altar Gottes schreitet, sieht sich den Heerscharen gegenüber. In diesen Status gelangt man durch die Teilhabe an der Auferstehung Jesu in der Taufe. Weil die Christen durch die Taufe Kinder Gottes sind, steht ihnen ein ungehinderter Zugang zu Gott offen (mit parrhesia, Redenfreiheit und Zuversicht), und auch die Engel als Söhne Gottes stehen Gott so nahe. Daher
konnte man auch später der Auffassung sein, die Anzahl der gefallenen Engel sei durch erlöste Menschen wieder aufgefüllt worden. – Neben das Kultische tritt hier das Juristische. Die getauften Menschen sind de iure Kinder Gottes. In den vier Evangelien werden bereits die Engel als Gerichtsboten und Verkündiger des Evangeliums (vgl. Offb 14,10) durch Menschen ersetzt. Das ist das theologische Konzept der Mission. Und auch Versuche radikalen Christentums (Mönchtum) waren immer das Programm einer vita angelica (mit Anfängen im Pharisäismus).
KOMMENTAR Eph 1-2: Gemeinde-Theologie Eph 1,1-14: Loblied auf den Heilsplan Gottes »Gesegnet sei Gott«, der »uns gesegnet hat« – oder: »Lobend wollen wir uns zu Gott wenden … er hat sich uns zugewandt mit allem Segen …« Der Brief beginnt mit der aus dem Hebräischen, Griechischen und Lateinischen bekannten direkten Entsprechung von Lobpreisen (Menschen in Richtung Gott) und Segnen (Gott in Richtung Menschen). Für den »verbalen« Vorgang von oben nach unten (Segen) und den von unten nach oben (Lob) gibt es nur ein und dasselbe Wort. Das ist eine besondere Auffassung von Sprache, die wir im Deutschen nicht nachmachen können. Sie bedeutet, dass heilige Sprache, die Kommunikation zwischen Gott und Mensch, strikt unteilbar ist, und dass sie daher unfehlbar, sakramental, durch nichts irritierbar das wirkt, was sie bezeichnet. Denn wenn man lobt, ist Gott gelobt, wenn man gesegnet wird, ist man gesegnet. Nichts kann das stören, keine Sünde kann es ungültig machen. Segen und Lobpreis in der Sprache sind zwei »Sprachbewegungen« wie aus dem Paradies, wie vor dem Sündenfall. Mönche vom Athos vertrauen sich allein diesen beiden Sprechweisen fortwährend an und leben so ihr Leben lang wie im Paradies. Ähnlich »paradiesisch« ist, dass all das, was die Christen betrifft, »vor der Zeit« spielt. Im Griechischen ist das die häufige Vorsilbe bzw. Präposition pro (vor). Denn deren Erwählung ist
»vor Anbeginn der Welt«, und Gott hat sie »vorherbestimmt«, was hier übrigens gnädiges Erwählen und nicht Berauben der Freiheit bedeutet (V. 4-5). Gott hat seinen geheimen Willensentschluss vorher gefasst (V. 9), und von Anfang an wurden wir bestimmt, zuvor erhofft in Christus (V. 11). Alle diese Aussagen über Erwählung und Gnade »vor aller Zeit« und vor der Welt meinen Paradiesisches, nicht durch die unglückliche Weltgeschichte Störbares oder Zerstörbares. Etwas, das bleibt wie reines Gold. Selten ist die strikte Überlegenheit der Gnade so eindrücklich formuliert worden wie an diesem Briefanfang. – Juden waren zu aller Zeit auf der Suche nach Dingen oder Gütern, die durch den Sündenfall nicht beschädigt wurden, letzte Mitbringsel aus dem Paradies wie Wein oder die Kraft der Edelsteine. In unserem Text ist das von vor der Zeit her Bewahrte die Kirche: Denn die Christen sind »in Christus« erwählt, sie stehen vor Gottes Angesicht wie »Engel des Angesichts« oder Priester, und dass sich dieses äußert in Segen und Lob. Das »in Christus« bedeutet: gemeinsam mit Christus. Präexistenz Daher 1,4: »Er hat uns zu seinem Eigentum gemacht gemeinsam mit Christus vor Anbeginn der Welt.« Jesus Christus ist der Mensch, den Gott eigentlich meinte. Alle anderen Christen meint und liebt er mit und wegen ihm. Jesus Christus
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gibt es daher hier nur zugleich mit der Kirche, und zwar seit Anbeginn der Schöpfung. Problem ist nicht das Verhältnis von Glauben und Werken, sondern das von Glauben und Kirche. Die Konsequenz daraus auf der Seite der Gemeinde: Der Apostel lobt sie dafür, dass sie nicht nur Christus liebt, sondern »alle Heiligen«, und das sind alle Mitchristen, besonders die in anderen Gemeinden, denn »Heilige« ist die Außenbezeichnung christlicher Gemeinden. Daher gibt es das Wort, auf Menschen bezogen, im Neuen Testament auch nur im Plural. Denn so wie Gott Christus nicht ohne die Christen liebt, soll es auch bei ihnen sein. Ebenfalls schon in jüdischen Texten heißt der Messias »der (von Gott) Geliebte«. In ihm sind alle Glieder des Gottesvolkes geliebt. Im ersten Abschnitt (1,3-6) spricht der Verfasser (»Paulus«) von Judenchristen, im letzten Abschnitt (1,15-18) von Heidenchristen. Die judenchristlichen Attribute der Erwähltheit mit Israel und seinem Messias werden im letzten Abschnitt auf die heidenchristlichen Adressaten übertragen. Das wird dann ausdrücklich in 2,11-22 Inhalt des Briefes sein. Aber woher weiss der Verfasser, dass Jesus Christus und die zu ihm gehören vor aller Welt erwählt sind? Die Schöpfungsberichte nennen nur Dinge, die Gott »im Anfang« und danach, also in der Zeit geschaffen hat. »Vor allem Anfang« aber hat Gott festgelegt, erwählt, bestimmt, gesegnet, mit Gnade erfüllt, und zwar die Christen. Alle Verben der Verse 3-6.11-12 (gesegnet, erwählt, bestimmt, begnadet, … vorher bestimmt, vorher erhofft) meinen solches Tun Gottes an den Glaubenden. Zum Verständnis helfen Aussagen, nach denen Gott seine Synagoge »am Anfang« geschaffen habe Ps 73,2 (LXX): »Gedenke, Herr, deiner Synagoge, die du erworben hast am Anfang …«, Aussagen, nach denen »wegen Israels die ganze Schöpfung« von Gott erschaffen wurde, nach denen insbesondere die Erzväter als Ersterschaffene oder Erstgeborene »vor aller Schöpfung« erschaffen wurden. Die Erzväter sind nach solchen Texten dem Rang nach Erzengel (Erstgeborene). Und »makellos vor Gott stehen« nach Eph 1,4 ist eine Engel-Aussage, hier auf die Gemeinde übertragen. Eph 1 gehört demnach in die frühen Zeugnisse, nach denen erwählte Menschen den Engeln gleichgestellt werden. Man nennt das
693 Isangelie (Engelgleichheit), und diese ist, auf Menschen bezogen, ein frühes und grundlegendes pharisäisches Ideal. Denn auf Erden bewährte Reinheit und spätere Auferstehung gehören so zusammen. Wer hier schon engelgleich lebt, wird durch die Auferstehung endgültig in die Schar der Engel aufgenommen. Diese Menschen bleiben Menschen, aber werden den Engeln weitgehend angeglichen. Erwählung Die Rede von Erwählung leidet unter dem moralisierenden oder Ausgrenzung unterstellenden Missverstehen. Doch nicht der Erwählte wird in Eph 1 gelobt, sondern Gott. Alle vergleichbaren Texte meinen jedoch ein großes, sympathisches und staunenswertes Geheimnis. Gott habe nämlich die Welt, den ganzen Kosmos um Israels willen geschaffen. Das bedeutet: Gott hat zumindest bei der Schöpfung schon an Israel gedacht und wollte ihm einen Ort erschaffen. Im ThomasEv wird das, was traditionell an Israel/Jakob aufgehängt war, nun auf den Herrenbruder Jakobus bezogen: Um seinetwillen ist die ganze Welt erschaffen. Das will sagen: Alle Dinge, alle Welt hat Gott zur Freude und als Aufenthaltsort des Jakobus gemacht. Alle Dinge stehen plötzlich zur Debatte, stehen auf dem Spiel, sind total relativiert, wenn es um den einen Menschen geht, den Gott liebt. Die Dinge werden relativ zugunsten der Vorliebe von Gottes Herz. Das ist ein Stück der Radikalität Jesu. Es ist der absolute Vorrang der Liebe vor allen Dingen – ein Stück davon äußert sich auch im Reichtumsverzicht der Evangelien (um der einen Perle willen alles andere daransetzen). Alle Aussagen der Bibel über Präexistenz, das Dasein vor aller Schöpfung, meinen immer die absolute Wichtigkeit einer Person oder Sache. Deshalb glauben die Juden, dass der Name des Messias, die Torah und das himmlische Jerusalem schon vor aller Welt existierten. Denn sie sind nicht zeitlich und vergänglich, sondern in Gottes Ewigkeit mitgesetzt. Derartige Erwählungs-Aussagen meinen immer wieder die absolute, durch nichts relativierbare Liebe Gottes zu seinem Volk, aber auch dessen Heiligkeit, die aus der Schar der übrigen Menschen buchstäblich ausgrenzt. Der Sinn der ganzen Schöpfung wird in solchen Aussagen gefunden. Dadurch wird eine eindeutige Aussage
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694 über Gottes Liebesordnung gemacht: Erstens Israel und zweitens der Rest der Welt inklusive Sterne. Auch über die himmlische Frau in Offb 12 spricht die Bibel ähnlich: Sonne, Mond und Sterne sind nur wie Schmuckstücke an ihr, die das Gottesvolk darstellt. Erwählung und Gnade im Blick auf die Kirche sind nicht Schöpfungswerke Gottes, sondern anders aufzufassen. Sie sind mehr, vor der Zeit, sehr persönlich und von Gnade und Liebe bestimmt. Doch mit diesen protologischen Aussagen hat der Verfasser noch nicht genug. Denn Entsprechendes versucht der Verfasser dieses Hymnus’ auch über das Ziel der Geschichte zu sagen: Wenn die Zeit abgelaufen ist (V. 10), soll alles mit Christus sein Haupt und seinen Sinn bekommen, alles im Himmel und auf Erden. Als der Epheserbrief entstand, wurde dieser Anspruch in Rom und für den römischen Kaiser erhoben. Die Stadt Rom war das »Haupt des Erdkreises«, und noch heute trägt eine römische Kirche, St. Johannes im Lateran, den Titel »Haupt und Mutter aller Kirchen des Erdkreises«. Damit wird hier ein Anspruch erhoben, der dem politischen Anspruch des römischen Kaisertums und Roms direkt konkurriert. Ähnliches hat man auch für Eph 2,14-22 beobachtet. Denn Frieden und Versöhnung, Aufhebung der trennenden Gesetze zwischen den Völkern, genau dieses ist seit Alexander d. Gr. Anspruch der Herrscher des jeweiligen Weltreiches. Der Epheserbrief erhebt damit einen Anspruch, der – unter grundsätzlich anderer zeitlicher Perspektive, d. h. der Zeitenfolge der Apokalyptik – in der Offenbarung des Johannes erhoben wird. Auch dort ist das römische Reich als Gegner fest im Blick. Auch die Aussage, dass Jesus Christus das Haupt aller Dinge sei, hat ihre Entsprechung in der Apokalypse, wenn Gott nach Offb 1,8 sagt: Ich bin (das Alpha und) das Omega. Omega meint den Zielpunkt des gesamten Geschehens. Zu Eph 1,4f und 1,7: In welchem Verhältnis steht die Erwählung vor der Welt zum Ereignis des Todes Jesu? Diese beiden Punkte sind die maßgeblichen Ereignisse. Der Zwischenraum (Abraham, Mose, Kult im Tempel) fällt aus. Zu Eph 1,7: Wie verhält sich Jesu Blut zu unseren Sünden? Verschiedene Möglichkeiten scheiden
Der Brief an die Epheser
aus: Ein kultisches Sühneritual, mit Menschenblut vollzogen, ist undenkbar. Daher kann es sich auch nicht um ein (Sünd-)Opfer handeln. Blut kann auch nicht »einfach so« (d. h. ohne kultischen Rahmen) zur Sündenvergebung in Beziehung gesetzt werden (Ausnahme: Märtyrer in den Makkabäerbüchern). Auch die apotropäische Verwendung von Blut (wie beim Passahlamm beim Auszug aus Ägypten) entfällt, da ein Gegner oder Feind, der hätte vernichtet werden müssen, nicht genannt ist. – Der Satz aus dem LAB 18,5 über Isaak führt vielleicht weiter – pro sanguine eius elegi istos: »Um des Blutes Isaaks willen habe ich Israel erwählt.« Von Erwählung ist nun in Eph 1,4 die Rede. Der Text von LAB bedeutet: Isaak ist ja nicht wirklich geopfert worden. Aber Abraham war bereit dazu. Deshalb steht das Blut für den umfassenden, bis aufs Blut gehenden Gehorsam Abrahams. Ähnlich ist das auch in Hebr 10,4-10: Gott ist nicht auf die Materie Blut erpicht, sondern auf den Gehorsam. Dass dieser auch bis hin zum Blutvergießen gehen kann, ist nur eine Folge seiner Unbegrenztheit, auf die es Gott allein ankommt. Ist Eph 1,7 auch in diesem Sinne zu verstehen? »Blut« wäre dann die Einheit von Leidensbereitschaft, Unschuld und impliziertem Aufsichnehmen des Todes. So ist dann auch Hebr 12,4 zu deuten. Haupt des Leibes Zu Eph 1,10, wonach Jesus aller Dinge Haupt sein wird, steht Eph 1,22f, wonach Jesus Christus das Haupt des Leibes, der Kirche, ist, in einer interessanten Spannung. Denn in Eph 1,10 steht das Ziel im Blick: Alle Dinge und Lebewesen gewinnen ihr Ziel in Jesus Christus. Nach Eph 1,22f ist Jesus Christus vorerst nur Haupt des Leibes, der Kirche. Wie verhält sich beides zueinander? Sowohl der Ausdruck »Kirche« als auch der Ausdruck »Leib« sind wie der Ausdruck »Haupt« politisch durch das Kaisertum in Rom besetzt, denn »Kirche« heißt griechisch nichts anderes als »Volksversammlung«, und das Reich ist der Leib des Kaisers. Aber Eph 4,16 redet deshalb wohl vom »Wachstum des Leibes«, weil die Kirche erst noch hineinwachsen muss in ihre Rolle als Versammlung der ganzen Menschheit. Das ändert jedoch nichts an der Rolle Jesu Christi, der jetzt Haupt der Kirche, damit aber auch schon Haupt der ganzen Menschheit der Zukunft ist.
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Kapitel 1
So gibt Eph der ganzen Weltgeschichte von vor der Schöpfung bis nach dem Ende eine Perspektive. Auch der Einzelne braucht diese Perspektive, um sein Tun und sein Leiden hier einzuordnen. Jesus Christus hat seine Schlüsselrolle in der Geschichte nach Eph 1,7 durch sein Blut erkauft, das der Vergebung der Sünden und damit der Herstellung des Friedens dient. Es könnte sein, dass das Bild von Christus als dem Haupt des Leibes eine implizite Auseinandersetzung mit ähnlichen Vorstellungen über Zeus ist. In den Orphischen Fragmenten 21a heißt es über Zeus: »Zeus ist Haupt, Zeus ist Mitte, aus Zeus heraus gelangt alles zum Endpunkt« (bzw. geschieht alles). Die Welt ist demnach der riesige Leib des Zeus, er ist Anfang, Ursprung, Haupt und Zentralorgan dieses ganzen Organismus. Zeus ist die Mitte heißt: Er ist nicht nur am Anfang und am Endpunkt allen Geschehens, sondern mit allem auch identisch. Alles, was geschieht und vollbracht wird, was am Ende bei der Welt »herauskommt«, das ist wiederum er. Die Welt ist daher eine Art Selbstverwirklichung des Hauptes in einem Organismus. Diese pantheistische Vorstellung orientiert sich an der Göttlichkeit und am organischen Wirkzusammenhang der Welt. Nicht zuletzt bedeutet diese Sicht auch einen künstlichen ästhetisch-mythologischen »Rückfall« in animistische Vorstellungen, denn die ganze Welt wird personhaft vorgestellt; nur sind es nicht viele Geister, sondern das eine Göttliche, das man auch Zeus nennt. – Nach Eph gilt zum Teil Ähnliches nun aber nicht von der Welt, wie sie ist, sondern von der Kirche. Sie ist eine noch unentfaltete neue Welt. Aber auch sie ist die Selbstverwirklichung Jesu Christi. Er realisiert sich in allen Glaubenden und Getauften, durch sie. Das Ziel ist dann, wie Paulus in 1 Kor 15,29 angibt, dass durch ihn und mit ihm und in ihm Gott in allen Dingen ist. Der Unterschied zu der stoischen Vorstellung besteht darin, dass der Weg über die Herzen der Gläubigen, nicht über die Gesetzmäßigkeit von Natur und Schicksal verläuft. Was geschieht in dieser pan-christologischen Ekklesiologie mit Jesus Christus? Sie ist dem Apostel Paulus nicht fremd, blickt man außer auf 1 Kor 15,28b auch auf Gal 4,19 (»… bis dass Christus in euch Gestalt gewinnt«). Auch diese Vorstellung ist mit Hilfe aristotelisch-abendländischer Logik nicht einzuholen, da hier ein völlig
anderes Verständnis von Identität vorliegt. Wir können das nur sehr mühsam umschreiben. Denn wir rutschen beim Versuch der Erfassung schnell vom personalen in das dingliche Denken ab; dann wäre es nicht Jesus Christus, sondern seine »Kräfte«. Aber das meint Eph nicht, auch nicht Gal 4,19. Paulus hilft weiter, wenn er sagt: »Nicht ich, sondern Jesus Christus in mir« (Gal 2,20). Er meint den Willen, das Gesetz des Handelns, den Ursprung der Kraft, den Höchstwert und das, was mich Tag und Nacht erfüllt (wie der Gedanke an eine geliebte Person), also das Streben nach dem einen und einzigen Schatz, diesen Schatz selbst, der mich erfüllt. Und er definiert das, was mich erfüllt, als den, der mich erfüllt, was wir ja bei dem deutschen Wort »Schatz« auch kennen. Da es ferner keine Trennung von Leib und Seele gibt, kann man nicht sagen, es seien nur die Gedanken und nicht der »Leib«. Nein, es ist der ganze Mensch, der so erfüllt wird. Dieses bedeutet, hermeneutisch gesehen, auch eine Anfrage an den bei uns seit dem 16. Jh. überstark betonten Personalismus. Zu Eph 1,13: An drei Stellen des Eph wird eine jeweils gleichartige Hinzunahme der Angeredeten zu den Erwählten bzw. zu Israel besprochen: in 1,3-12.13-14; 2,11-22 und 4,17-24. Wenn von den Heiden die Rede ist, spielt jeweils der Heilige Geist eine besondere Rolle (vgl. auch zu 2,18-22).
Eph 1,17-23: Kyrios Christus In diesem Text stehen bekannte Elemente der frühchristlichen und auch schon frühjüdischen Missionspredigt. Diese geben eine Art Gerüst ab. V. 17 nennt die »Erkenntnis« Gottes als Grundvoraussetzung. Dass sie auf einer Offenbarung beruht, hat Paulus nach Gal 1,12 selbst erfahren. Nur durch Gottes Geist kommt man zum Glauben (1 Kor 2). V. 18 schließt sich ganz an die jüdische Missionssprache an. Dazu gehört die Bezeichnung der Bekehrung als Erleuchtung der Augen des Herzens. Und schon in jüdischen Gebeten bei der Bekehrung ist die Rede vom himmlischen Erbe, das die Bekehrten erlangen; denn beim Übertritt zum Judentum waren Verstoßung aus der Familie und Enterbung der Re-
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696 gelfall. V. 19 betont die Bekehrung als Erfahrung der Macht Gottes; ähnlich sagt es Paulus in 1 Kor 2 vom Erweis der Macht und der Herrlichkeit, wenn man zum Glauben kommt. Das stärkste Argument für den Glauben ist die Auferweckung Jesu Christi – so in Röm 4,25 und Apg 17,31. Denn diese ist das neueste Lebenszeichen Gottes. In 1,21f hebt der Verfasser einen Aspekt hervor, der bei der kirchlichen Betrachtung von Ostern in der Regel unter den Tisch fällt: Der Macht, die der Gläubige schon nach V. 19 erfährt, übt der zur Rechten Gottes Erhöhte im Himmel aus, und zwar so, dass Gott ihm alle Mächte unterworfen hat. Von diesen Mächten und Gewalten sprechen auch andere Briefe des Urchristentums wie Kol 1 und Phil. Diese Mächte bilden eine in sich gegliederte Hierarchie (vgl. dazu später Dionysius Areopagita: De hierarchia caelesti), sie sind ewig und heilig. Als Repräsentanten der Herrlichkeit Gottes unterscheiden sie sich erheblich vom Menschen, der sterblich, männlich und weiblich und vor allem unheilig und sündig ist. Die Engelmächte unterscheiden sich daher schon durch ihr bloßes Sein von den Menschen. Sie zu »unterwerfen« oder zu »überwinden« heißt nicht, sie zu zerstören, sondern: ihre Einwände und Anschuldigungen gegen den Menschen (die natürlich zu Recht bestanden!) zu widerlegen, zu korrigieren und aus der Welt zu schaffen. Der Auferstandene kann das, weil er Mensch ist wie seine Klientel, die Gläubigen. In seinem Windschatten sind sie gut aufgehoben und er stellt sich vor sie. Denn er ist als der Sohn Gottes und als Throngenosse Gottes heiliger als jeder Engel. Daher ist die Auferstehung Jesu nur der einleitende Akt zu der eigentlich wichtigen Wirksamkeit Jesu an Gottes Thron, nämlich die Menschen immer wieder herauszuboxen aus der Verachtung, die ihnen nicht ohne Grund zuteil wird. Sowohl Paulus (Röm 8,34) als auch der Hebräerbrief (7,25; 9,24) nennen dieses Tun die Fürsprache Jesu für die Menschen beim Vater. Zur Rechten Gottes findet Jesus Christus, der Anwalt der Menschen, Gehör und nicht die Vorwürfe der Mächte und Gewalten. Theologisch bedeutet dieses Drama: Gottes Herrlichkeit und Heiligkeit werden in ihrer Menschen abweisenden Größe »überwunden« durch den Sohn, der sich persönlich für sie engagiert. Um des Sohnes willen liebt Gott die Menschen.
Der Brief an die Epheser
Daher ist es entscheidend, dass sie das Angebot dieser Fürsprache und Stellvertretung nicht ausschlagen. Unter den Engelmächten gibt es auch so genannte Herrschaften, die auf Griechisch kyriotetes heißen und den Gottesnamen tragen (kyrios). Schon nach Ex 23,21 legte Gott seinen Namen auf seinen Engel, er ihn repräsentiert. Das Neue ist daher nicht, dass Gott seinen Namen anderen mitteilt, sondern dass er ihn einem Menschen namens Jesus Christus mitteilt. Diese Überlegungen führen direkt zu Phil 2,6-11. Denn dieser Text, den Paulus vielleicht schon »zitiert«, ist der mutmaßlich älteste Text, nach welchem auch die Überirdischen ihr Knie vor Jesus beugen, weil dieser den Namen über alle Namen erhalten hat, den Kyrios-Namen. Phil 2 betont besonders die Universalität der Huldigung Jesus gegenüber. Daher kann man diesen Text als eine frühe Legitimation der Heidenmission bezeichnen. Wie Eph 1,17-23 fehlt auch in Phil 2 eine Theologie, die sich an Blut und Sühne orientierte. Der Tod Jesu wird zwar erwähnt, aber nur als äußerste Selbsterniedrigung in Gehorsam. Nun kennt das Judentum allerdings auch eine Menschengestalt, auf die Gott seinen Namen gelegt hat, und zwar Henoch. Sicher schon in vorchristlicher Zeit ist – nach Auskunft der breit gestreuten Henoch-Literatur – Henoch der zu Gott entrückte Mensch, der im Himmel vor Gottes Thron durch himmlische Kleider zu einem Gottwesen wird. Nach dem hebräischen Henoch-Buch (Kap. 48 C) wird Henoch bei dieser Gelegenheit »der kleine Jahwe« genannt. Dieser Text ist allerdings erst nachchristlich. Vielleicht kann man annehmen, dass sich Christologie und jüdischmystische Henoch-Spekulation gegenseitig angeregt haben. Jedenfalls sind sie nicht einfach unabhängig voneinander. Haben also an jüdischer Mystik orientierte Juden die christologischen Aussagen z. B. von Phil 2,11 zum Anlass genommen, für »ihren« Henoch dasselbe behaupten zu wollen? Und dies umso mehr, als es ja nicht um historische Tatsachenberichte, sondern um mystische Aussagen ging? Haupt der Kirche Wie in Kol 1 ist der himmlische Fürsprecher auf Gottes Thron auch »Haupt der Kirche«, und die Kirche ist sein Leib. Mit »Haupt der Kirche« ist
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Kapitel 2
genau jene enge Beziehung zwischen Christus und den Christen beschrieben, die garantiert, dass Jesu Fürsprache auch denen zugutekommt, für die sie gedacht ist. Denn das Haupt darf man nicht vom Leib trennen, und das, was das Haupt bestimmt, gilt für den ganzen Leib. In Eph 1,23 stoßen wir auf einen Zipfel einer ganz besonderen Theologie, die wir von Paulus und vom JohEv her kennen. Es ist eine Theologie, die auf dem Gegensatz von Fülle und Leere aufbaut, die die Erlösung als Erfülltwerden von Gottes Fülle ansieht. Zunächst sind die Dinge »leer«, ohne Gegenwart Gottes, ohne Kraft und Macht, wie ein leerer Tank. Diesen leeren Raum aber will Gott mit sich selbst füllen, mit seiner Gegenwart und mit seinem Heiligen Geist. In Eph 1,23 ist die Kirche der Raum, der wie ein Gefäß ist für die Lebensfülle Gottes. So ist Eph 1,23 zu übersetzen: »Die Kirche ist sein Leib. Der leeren Hülle des Leibes verleiht er durch seine Fülle Substanz.« Die Kirche ist der Raum, der darauf wartet, von Gottes Fülle angefüllt zu werden. In späteren Texten ist »Fülle« ein Wort für die dynamische göttliche Wirklichkeit. Die Besonderheit von Eph 1,23; Kol 1,19 und Joh 1,16 liegt darin, dass diese göttliche Gegenwart in den Bereich der Menschen einkehrt. Gott ist nicht nur im Himmel zu finden, sondern jetzt durch und in Christus in der Kirche auf Erden gegenwärtig. Gibt es Menschen oder Positionen, gegenüber denen diese Positionen formuliert wurden? Obwohl die einzelnen Elemente dieser Theologie weitgehend jüdischen Ursprungs sind, geht doch die Heilsbedeutung Jesu weit über Israel hinaus, sie ist von Anfang an universal und kosmisch. Die Erhöhung Jesu betrifft das Verhältnis Gott/ Engel/Mensch grundsätzlich. Anders als etwa in den Judenpredigten der Apg wird die Auferstehung Jesu nicht als Widerlegung und Bloßstellung der jüdischen Gegner Jesu aufgefasst. Sie ist nur Voraussetzung für ein weitergehendes Geschehen, das auch die Gegenwart umfasst. Damit wächst allerdings der Anteil der spekulativen, d. h. nicht auf die Erfahrung von Zeugen zu gründenden, Aussagen. Andererseits ist die Rivalität gegenüber dem römischen Kaisertum auch hier schon unübersehbar. Denn als »Haupt« des Leibes betrachteten sich die römischen Herrscher. Das gilt ebenso für ihre Rolle als Friedensbringer und Versöhner (Eph 2,11 ff).
Dieser römische Zug erklärt auch die Abwesenheit von jüdischer Opfer- oder Versöhnungstagsliturgie. Denn das fürbittende Eintreten des Erhöhten ist unblutig und setzt in Eph 1 keinen Sühnetod voraus. Der Eph zeigt daher mustergültig, wie man für ein nicht-jüdisches Publikum, das Blut als Sühne nicht kennt, gleichwohl das Geschick Jesu für die kosmische Wende ansehen kann. Zu Eph 1,20f: Die Voraussetzung für die Weltherrschaft ist im Sinne von Eph die Überwindung der Mächte und Gewalten. Das wird auch in Phil 2,9-11 so gesehen (vgl. Berger, Theologiegeschichte, 21995, § 375). Zu Eph 1,23: »Die Kirche ist sein Leib. Der leeren Hülle des Leibes verleiht er durch seine Fülle Substanz.« Die gedankliche Verknüpfung mit V. 22: Christus ist das Haupt und die Fülle, d. h. das, was füllt. Die Kirche ist sein Leib, und sie wird erfüllt. Ähnlich 4,10: Der Leib wird fortwährend erfüllt von dem, der das Haupt ist. Dadurch wächst der Leib.
Eph 2,4-10: Neues Leben Immer wieder bekundet es das Neue Testament: Der Zustand vor der Bekehrung, vor der Hinwendung zu Gott, war wie Totsein. So sagt es der Vater des verlorenen Sohnes, nachdem dieser zurückgefunden hat: Er war tot und ist lebendig geworden (Lk 15,24). In Kol 2,13 schreibt der Verfasser: »Ihr wart tot in euren Sünden, und ihr wart geistlich wie solche, die nicht beschnitten sind.« In dem jüdisch-hellenistischen Bekehrungsroman »Joseph und Aseneth«, in dem Aseneth erst Jüdin werden muss, bevor sie Joseph heiraten darf, heißt es im Gebet über die Proselytin: »Gott, der du die Toten lebendig machst, gib ihr neues Leben.« Der Zustand ohne Gott ist wie der Tod, weil er fern ist von Gott, von der Quelle des Lebens. Gott ist lebendig im Unterschied zu den Götzen aus Stein, Holz oder Erz. Die Götzen können nur Tod verbreiten, die Werke der Menschen sind ebenfalls tot. Der lebendige Gott dagegen verströmt ansteckendes Leben. »Denn alles Gute teilt sich selbst mit, strahlt sich selbst aus« (omne bonum est diffusivum sui), sagt die Scholastik.
Berger (08129) / p. 698 / 19.5.2020
698 Mitauferweckt Der Text geht weit hinaus über den Ansatz, Glauben sei wie neugeboren. Denn es heißt: »Gott … hat uns gemeinsam mit Jesus Christus auferweckt und uns im Himmel einen Platz gegeben« (V. 6). Ähnlich kann es der Kolosserbrief sagen: »Denn durch die Taufe seid ihr mit Christus mitbegraben, und dadurch seid ihr auch mit ihm auferweckt worden … Gott hat euch zusammen mit Jesus lebendig gemacht« (2,12). Diesen auch für damalige Verhältnisse ungewöhnlichen Aussagen entspricht, dass weder der Epheser-, noch der Kolosserbrief von einer künftigen Auferstehung der Toten sprechen. Sind die Christen gar schon auferstanden? Immerhin kommt auch Paulus in Röm 6 in beträchtliche Nähe zu diesen Aussagen: »Wenn wir also sein Sterben und seinen Tod [im Taufritus] nachvollziehen, soll und wird es mit seiner Auferstehung genauso sein. Wenn wir mit Christus mitsterben, wird unser altes Ich mit ans Kreuz geschlagen, es ist nichts mehr wert und muss verschwinden … Und wir glauben, dass wir, wenn wir in der Taufe mit Christus mitgestorben sind, auch mit ihm zusammen leben werden. Denn nach seiner Auferweckung aus Toten stirbt Christus nie mehr … Durch euren Tod in der Taufe seid ihr für die Sünde tot, durch die enge Verbindung mit Christus Jesus aber lebt ihr ein neues Leben von Gott her und auf ihn hin.« Nach Röm 6 leben die Christen nach ihrer Bekehrung (Taufe) ein neues Leben, das Anteil am Leben des Auferstandenen bedeutet. Von der Auferstehung selbst spricht Paulus freilich in Röm 6 in der Zukunft (V. 6: so wird es mit der Auferstehung sein). Die Briefe an die Epheser und Kolosser sind da weitaus radikaler. Paulus selbst spricht in 1 Thess 4 und in 1 Kor 15 durchaus von der künftigen Auferstehung der Christen. Nicht so, wie schon notiert, Epheser- und Kolosserbrief. Nun schließen sie damit freilich eine zukünftige Auferstehung nicht aus. Wie sie das gedacht haben könnten, sagt ein schönes Zeugnis für das Nachleben paulinischer Ansätze im 2. Jh. n. Chr., der »Brief an Rheginus« (Berger/Nord, Das Neue Testament, 62010, 1043 ff). Hier heißt es nämlich in Kap. 9: »Nur lebendige Glieder werden nämlich auferstehen. Jetzt existieren sie verborgen in den sichtbaren Gliedern. Was ist denn nun die Auferstehung? Sie ist stets Enthüllung derer, die schon auf-
Der Brief an die Epheser
erstanden sind. Du wirst dich sicher an deine Lektüre des Evangeliums erinnern, wo es heißt: Elia erschien und mit ihm Mose. Deshalb sollst du nun nicht meinen, die Auferstehung sei ein leerer Wahn. Sie ist kein leerer Wahn, sondern Wirklichkeit. Man könnte viel eher sagen, dass die Welt ein leerer Wahn ist – und nicht die Auferstehung, die doch unser Herr und Erlöser, Jesus Christus, begründet hat.« Und in Kap. 4 hieß es: »Jesus … erstand von den Toten auf. So hat er uns den Weg geschenkt, auf dem wir unsterblich werden können. Dann gilt … Wir leiden mit ihm, wir stehen mit ihm von den Toten auf, wir gehen in den Himmel mit ihm. Es ist deutlich, dass wir in dieser Welt ihn tragen. Wir sind die Strahlen, (er ist die Sonne). Er umfasst uns bis zu unserem Versinken, das heißt, bis zu unserem leiblichen Tod in diesem Leben. Dann zieht er uns zum Himmel, wie die Sonne ihre Strahlen einsammelt. Nichts hält uns dabei zurück. Das ist die Auferstehung durch den Heiligen Geist. Sie verschlingt die bloße Unsterblichkeit der Seele, die man psychische Auferstehung nennen könnte, oder die bloße Wiederbelebung des Körpers, die eine nur körperliche Auferstehung wäre. Sie verschlingt sie, das heißt, sie umfasst, überbietet und ersetzt sie …« Das heißt doch: Die künftige Auferstehung ist die Enthüllung derer, die schon auferstanden sind, wir gehören zu Jesus wie die Strahlen zur Sonne, und die künftige Auferstehung umfasst (verschlingt) alles, auch die Leiblichkeit. – Dies ist jene tröstliche Spiritualität, die sich tragen lässt von der »Heiterkeit in der Gnade« (hilares in gratia dei).
Eph 2,8-10: Rechtfertigung Das Stück erhält seine Brisanz dadurch, dass hier das steht, was bei Paulus »Rechtfertigungslehre« heißt. Darauf weisen die Stichworte Gnade, Glaube, gute Werke, aber auch Geschenk und Schöpfungswerk, sich rühmen. – Im Unterschied zu den klassischen Paulustexten fehlen das »Gesetz« und damit jede Abgrenzung zum vorchristlichen Judentum. Dabei ist der Gegensatz Gnade/Werke bereits sicher vorchristlich und jüdisch (Philo, Leg Alleg 3,75-88). Neu gegenüber den klassischen Paulustexten sind die Schöpfungsaussagen. Das betrifft besonders diesen Abschnitt:
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Kapitel 2
Denn er hat uns dazu erschaffen, dass wir in Gemeinschaft mit Christus Jesus gute Werke tun. Gott hat sie uns schon vorgezeichnet, d. h.: wir müssen sie uns nur von ihm absehen (2,10). – Das heißt: 1. Die Existenz der Glaubenden in der Verbindung mit Jesus Christus ist ein Schöpfungsakt Gottes. Die Christen sind daher neu geschaffen (Joh 3,3.5: neu geboren; Tit 3), aber nicht als isolierte Einzelne, sondern in engster Verbindung mit Christus. Der Ausdruck »erschaffen« (griech.: ktizein) bezieht sich im Griechischen auf eine Stadtgründung, also sind die Christen alle zusammen eine neue Stadt. Für Eph waren genau in diesem Sinne die kollektiven Aspekte der Christologie wichtig (Menschensohn; Leib Christi). Auch die großen nichtjüdischen Städte dieser Zeit werden aus ähnlichen Gründen nach dem Herrscher benannt (Alexandria; Antiochia; [H]adrianopolis, heute türk. Edirne; Colonia Agrippina; Augusta Vindelicorum). 2. Dazu gehört auch die Präexistenz der guten Werke, die sich die Christen nur durch ihren Wandel aneignen müssen. Verwandt ist vielleicht 1 QH 1,26: »Bei dir, o Gott, … sind alle Werke der Gerechtigkeit und der Rat der Wahrheit, aber bei den Menschenkindern sind Dienst der Sünde und Taten des Trugs. Du hast geschaffen den Hauch auf der Zunge und kennst ihre Worte und setzest die Frucht der Lippen fest, bevor sie entstanden, und bestimmst Worte mit einer Messschnur.« Bemerkenswert: Die gerechten Werke sind alle bei Gott, aber die Worte der Menschen (Eph 2: die Werke) hat Gott vorher geschaffen. 3. Auch die guten Werke hat Gott bereitet, nicht der Mensch. Die Ursächlichkeit für alles Neue und Gute liegt bei Gott. Und wie Gott die Werke vorher zubereitet hat (wie ein Essen, das man nur noch in den Mund nehmen muss), so sind ja auch die Christen selbst nach 1,4 erwählt vor aller Schöpfung der Welt. – Das »Sein in Christus« entspricht dem »Sein im Himmel« bei den Christen. Dem steht gegenüber, dass man in »schlechter Luft« keine guten Werke vollbringt (2,1f): »Ihr folgtet dem Satan, dessen Reich zwischen Himmel und Erde ist und dessen Geist jetzt in allen denen herrscht, die ohne Halt sind und die Gott nicht gehorchen können.« Das Reich des Satans ist zwischen Erde und Mond (nicht unter der Erde!), und von dieser schlechten Luft inspiriert waren die Christen zuvor.
4. Der glaubende Mensch muss die guten Werke sich nur anziehen, so wie er einen Anzug anzieht (Kleider machen Leute), er muss hineinschlüpfen. Anders als im Theater spielt der Mensch nicht eine vorgeschriebene Rolle in bereitgestellten Kleidern. Es ist weit weniger, was er zu tun hat. Er muss sich nur hineingeben und treiben lassen, keinen Widerstand leisten. Das genügt.
Eph 2,11-22: Durch das Blut von Christus Jesus Warum ist es speziell der Tod Jesu, der eine universale Gemeinde begründet? Nach 2,13 ist das besonders die Wirkung des Blutes Jesu. Sein Blut macht andere zum Eigentum Gottes (Apg 20,28). Denn Gottes Blut ist sein Eigenstes. Daher gibt es weder eine Differenz zu Gott, noch eine Differenz der Juden und Heiden untereinander (2,13). Dieselbe Zielrichtung wie Gottes Blut hat Gottes Geist, der die Menschen gemeinsam zu Gottes Tempel macht (2,18), d. h. zu seinem Haus, zu dem Ort, wo er anzutreffen ist (bes. V. 21). Die Nähe zu Gott ist dann in beiden Fällen – durch Blut wie durch Geist – so überwältigend stark, dass jede Entfernung und alle Differenzen untereinander verblassen. Zu Eph 2,14: Zu »Mauer« vgl. das Resümee der Predigt des Apostels Thaddäus in Edessa nach Eusebius (h.e. 1,13,20): »… von seiner Kreuzigung, seinem Abstieg in den Hades, vom Durchbrechen des Zaunes, der von Ewigkeit nicht durchbrochen wurde, von der Auferweckung der Toten und davon, dass er, während er allein herabgestiegen, in Begleitung einer großen Schar zu seinem Vater auffuhr«. An zwei Stellen wirkt hier Eph nach: im Bild der Mauer zwischen Gott und Mensch und im Bild der zahlreichen Gefangenen, die Jesus gemacht hat (Eph 4,8).
Eph 2,13-18: Rivalität zum römischen Kaisertum? Der Epheserbrief bietet auf seine besondere Weise der römischen Staatsideologie des 1. Jh. n. Chr. die Stirn und eine überlegene Konkurrenz. Diese Rivalität im Ziel betrifft das Stichwort »Frieden«, unter der Etikette Pax Romana bekannt. Wenn
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700 Eph 2,14 von Jesus sagt: »Er ist unser Frieden«, dann wird in ihm der Frieden genauso programmatisch auf eine Person konzentriert wie auf den römischen Kaiser. Im Christentum und im römischen Kaisertum bleibt der Frieden nicht abstrakt, sondern bekommt ein Gesicht, denn der Kaiser in Rom wie auch Jesus Christus sind die Garanten für den Frieden mit ihrer Person. Freilich ist diese Redeweise auch riskant, denn dieser Repräsentant muss sich an seinem Programm persönlich messen lassen. Jesu Kontrahenten sind hier nicht die Pharisäer, nicht Judas oder Herodes, auch nicht der Teufel als »Fürst dieser Welt«, auch kein einzelner Kaiser (wie wohl in der Offenbarung des Sehers Johannes: Nero), sondern das Kaisertum als Institution. Den Beweis für seine Überlegenheit über das Kaisertum hat Jesus durch seinen Tod am Kreuz geliefert. Durch die Botschaft von der universalen Sünde und der universalen Vergebung durch das Kreuz wird Jesus dem Kaiser gegenübergestellt und zugleich absolut höher bewertet als er. Durch sein Blut am Kreuz hat er die wahre Internationalität geschaffen. Er hat den jüdisch-nationalen Sonderweg des Heils aufgelöst und damit ein ewiges Problem der Weltgeschichte, die Resistenz des jüdischen Volkes gegen Harmonisierung mit den anderen Völkern, aufgelöst. Diese Resistenz kam zustande, weil Israel allein erwählt und am Versöhnungstag als allein versöhnbar galt. Wenn hier als die Ursache der Sonderstellung des Judentums »das Gesetz« genannt wird, so ist das – im Sinne hellenistischer Diskussion um Verfassungen – die Summe der Regeln für dieses Gemeinwesen. Denn »die Gesetze« oder die Verfassung begründet dessen Besonderheiten insgesamt. Wenn das besondere Gesetz aufgehoben ist, kann das allgemeine gelten, also das Gesetz Christi (zu seinem Inhalt nach Eph vgl. Kap. 46). Deshalb denkt und plant der Verfasser dieses Briefes nichts Geringes: Er hat mit den apostolischen Mahnreden die Lebensregeln der weltweiten Kirche im Blick. Dabei denkt er auch an die Kirchenverfassung. Im Ganzen will er alles ablösen, was das römische Reich an Recht, Moral und Leben stützenden Strukturen kannte. Sein Konzept ist wahrhaft universal und nicht nur auf eine Gemeinde beschränkt. – Die ersten Adressaten haben diesen Aspekt übrigens verstanden. Wir wissen von der Adressierung nach Ephesus
Der Brief an die Epheser
nur durch einen mutmaßlichen Zusatz in 1,1 (»in Ephesus«), den wichtige alte Handschriften gar nicht kennen. So war dieser Brief wohl als eine Art Rundbrief (Enzyklika) an nachpaulinische Gemeinden gedacht, von Paulus oder (in seinem Auftrag?) von einem Paulusschüler verfasst, der dem Verfasser des Kolosserbriefes nahestand. Es geht also um ein Schreiben an alle Christen, dessen Anspruch es ist, die rechtlichen und zugleich die moralischen Strukturen des römischen Reiches zu ersetzen oder zumindest zu überbieten. Zu Eph 2,14-16: 2,14 einerseits findet in seinem Aufbau eine Entsprechung in 2,15b-16 andererseits: 14: »Er ist der Friede«, 15b: »Er macht Frieden« (vgl. 17: Frieden verkünden). 14: »zwei zu einem«, 15b und 16: »zwei zu einem«. 14: »Feindschaft auflösend«, 16: »Feindschaft tötend«. 14: »durch sein Fleisch«, 16: »in einem Leib«. Die Rolle des Fleisches/Leibes in 2,14.16 entspricht genau Hebr 10,20 (Fleisch Jesu als Tür zu Gott). Zu Eph 2,17: Zur Relation »weit weg«/»nahe« für Juden und Heiden vgl. TestXII Naphtali 4,5 (Gottes Erbarmen kommt; ein Mensch, der Gerechtigkeit allen verschafft, den Fernen und den Nahen). Zu Eph 2,18: In Eph spielt der Heilige Geist eine größere Rolle als in Kol. Während er in Kol eher der Vergangenheit angehört, ist er in Eph die Größe, die den Zugang zu Gott qualifiziert. Versöhnung Die Bildersprache dieses Kapitels ist der Sprache der zwischenstaatlichen Diplomatie nachgebildet, und zwar speziell dem Vokabular, das man im Falle der Bereinigung »internationaler« Konflikte zwischen Monarchien verwendet. Daher kommen in unserem Abschnitt Termini wie »Frieden«, »Frieden schaffen«, »Feindschaft«, »Feinde«, »versöhnen« vor und Gegensätze wie »einst – jetzt«, »nah – fern«, das Audienz-Vokabular (Zugang, sc. zum König) sowie schließlich der universale, übernationale Aspekt (Israel und die
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Kapitel 2
Völker; bzw. »der neue Mensch«) vor. Belegt ist dieses Wortfeld mehr oder weniger umfassend auch in Röm 5, Röm 11, Kol 1 und hier in Eph 2,14 ff. – Methodisch fragt man neuerdings stets nach der implizierten »Szene« (inklusive Abweichungen von der szenischen Regelmäßigkeit). So wird die Kohärenz der Metaphern untereinander erkennbar. Die vorzustellende Szene ist hier folgende: Der Gesandte eines Volkes bzw. eines Königs bittet um Zulassung zur Audienz des zuvor gegnerischen Volkes bzw. Königs, um die Versöhnung zu erbitten. Dieser Mittler der Versöhnung ist Christus. Dass die Versöhnung, die durch sein Kreuz geschehen ist, wie die Versöhnung eines Volkes mit einem (fremden) König aussieht, hängt eng zusammen mit dem generell politischen Hintergrund dieses Briefes. Der Hintergrund umfasst wie ein Rahmen alle versöhnenden Taten Jesu bis hin zur Erhöhung, dem Erscheinen vor Gottes Angesicht. Was die Verwendung der Diplomatensprache hier interessant macht, ist die Durchbrechung der diplomatischen Aktivitäten durch den Tod des Gesandten. Denn der Tod des Gesandten, der doch Frieden vermitteln soll, ist ein ungewöhnliches Geschehen, das zumeist als himmelschreiender Skandal eingestuft wird, als sakrilegischer Mord, der strikt geahndet werden muss. Bis heute sind Gesandte sakrosankt oder »immun«. Wer sich an Gesandten vergreift, hat internationale Ächtung verdient, nicht aber Frieden. Wenn der andere Monarch dann doch Frieden schließt, ist es ein ungeheures Entgegenkommen. Jesus ist Gottes Gesandter zu den Menschen, und er kehrt als Friedensmittler zu Gott zurück. Aber bevor er bei Gott ankommt, bringen Menschen ihn um. Dass sich Gott, der den Mittler aussendet, durch den Tod des Gesandten einfach versöhnen lässt, wäre eine Durchbrechung der Logik des Bildes. Denn es müsste ja das Gegenteil der Fall sein, der verstärkte Zorn des Herrschers, d. h. Gottes. Auf jeden Fall ist die Tötung Jesu nicht Gottes Wille und Tat, sondern die der Menschen. Folgende Deutungen des Todes Jesu in diesem Schema kann man denken: Es könnte sein, dass der Mord an ihm tatsächlich der letzte und äußerste kriegerische Akt der verfeindeten Menschen ist. Dass der himmlische König dann trotz dieses sakrilegischen Mordes Versöhnung will,
701 wäre seine staunenswerte Reaktion im Sinne wahrer Feindesliebe Gottes. So etwa deutet Paulus es ja in Röm 5,8, wo er gleichfalls das diplomatische Versöhnungsvokabular verwendet. Der Sinn wäre dann: Trotz alledem, was Menschen mit dem Gesandten des Friedens angestellt haben, hat Gott an seinem Ziel, Frieden zu schaffen, festgehalten. Die heroische Feindesliebe Gottes wäre dann der Grund der Versöhnung. Oder das Bild wäre so: In den Religionen rund um das Mittelmeer und im Vorderen Orient war es üblich, im Falle drohenden Unheils den Zorn der Götter abzuwenden durch ein möglichst kostbares Opfer. In der Regel waren es aber Sklaven oder Ausländer; denn entscheidend war, dass nicht billiges Tierblut, sondern kostbares Menschenblut den Göttern angeboten wurde. Diese grausame Sprache war immerhin international verständlich und gehörte in den Bereich der Bewältigung von Vorzeichen, d. h.: Wenn ein unheildrohendes Vorzeichen auftauchte, erschrak man und versuchte, die Angst durch Opfer von etwas Lebendigem zu bewältigen (Material dazu in meinem Buch: Tradition und Offenbarung, 2006, 247-249). Dann wäre die Wirkung des Todes ganz im Sinne wirklicher Sühne verstanden, und dieses Bild konnte im ganzen Mittelmeerraum begriffen werden. Der Tod eines Menschen wurde verstanden als Abwehr des möglichen Zornes eines Gottes. Alternativ ist in diesen Zusammenhängen auch regelmäßig von der notwendigen Umkehr zu Gott bzw. zu Göttern die Rede! Das Problem bei Eph 2 wäre freilich das Gottesbild. Ist der Gott der Bibel, der Vater Jesu Christi, wirklich verstehbar als Gott im Rahmen derartiger notwendiger und Unheil abwehrender Sühne? Es könnte freilich sein, und das wäre eher eine Lösung, dass der Tod eines Menschen, noch dazu eines ganz und gar unschuldigen, auch unabhängig von einem bestimmten Gottesbild einfach als Zeichen der Sühnung von Schuld verstanden wird. Im Unterschied zur üblichen Versöhnungstheologie steht hier nicht Feindschaft im Vorstadium, auch nicht Feindschaft zwischen Juden und Heiden, sondern Fremdheit. Der durch Jesus Christus hergestellte Frieden bezieht sich daher nicht auf die etwaige Feindschaft zwischen ihnen, sondern auf das Verhältnis zwischen Gott und Mensch. Der Friede wird möglich durch
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702 den einen Leib und den einen Geist (Jesu Christi), und es liegt nahe, (wie in Hebr) in Jesus Christus den zu erblicken, der Gott und Mensch zugleich ist, ohne dass es ausformuliert würde. – Die Mauer (V. 14) besteht nicht zwischen Menschen, sondern zwischen Mensch und Gott, und das gilt auch von der Feindschaft. Dabei ist die Wirkung des Todes Jesu auf jeden Fall zumindest diese: Weil die Menschen jetzt einen gemeinsamen Versöhner haben, sind sie im Blick auf ihn geeint. Der gemeinsamen Botschaft vom Frieden (V. 17) entspricht der gemeinsame Heilige Geist. Dabei ist zu beachten: Da Paulus brieflich nur zu Einzelgemeinden spricht, fehlt in den unbezweifelt echten Paulusbriefen der Gedanke, dass Judenchristen und Heidenchristen eins sind im Leib Christi, der Kirche. Diese Anschauung setzt eine Perspektive voraus, die weit über typisch paulinische Einzelgemeinden von Heidenchristen hinausgeht. Die »Mauer« (2,14) hat eine Beziehung zu den Geboten, weil die Gebote den Menschen schuldig sprechen, als schuldig erkennen lassen. So decken sie die Feindschaft auf. Die Mauer ist daher – wie eine Tempelmauer – ein Bild der Distanz zwischen Gott und Mensch, und genauso verstehen auch alle apokryphen Apokalypsen das Bild der Mauer (Hen [äth] 14,9: Mauer beim Vorhof im himmlischen Tempel; syr BaruchApk 54,5: Durchbrechen der Mauer bei Offenbarungen; äth Hymnen: Maria ist das Haus der Herrlichkeit, dessen Mauer von feurigen Steinen erbaut ist). Diese Funktion des Gesetzes entspricht weitgehend der paulinischen; Paulus spricht vom Sein »unter dem Gesetz«. Diese Feindschaft wird durch Jesu Sterben aufgehoben, weil damit die Sündenschuld stellvertretend beseitigt wird. So gehen hier zwei Vorgänge parallel: die Versöhnung zwischen Gott und Mensch und die Einung der Menschen. Das Erstere ermöglicht das Letztere. Zu Eph 2,14b: Die Formel »zwei zu einem machen« ist in der hellenistischen Kultur weit verbreitet und entsprechend vielfach verwendet worden, und zwar sexuell (Einheit von Mann und Frau), anthropologisch (das Außen entspricht dem Innen und umgekehrt), sozial (Unterschiede zwischen Sklaven und Freien sind aufgehoben, zwischen »Oben« und »Unten«), lo-
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gisch (rechts wird links und umgekehrt), biologisch (die Verschiedenheit von Mann und Frau ist Voraussetzung für alles entwickeltere Leben), kosmologisch (oben wird unten und umgekehrt), ethnologisch (Differenzen zwischen den Völkern werden aufgehoben, auch die zwischen Juden und Heiden); kreuzestheologisch (Umkehrung aller Maßstäbe). Texte: sexuell – Plato, Symposion 15 (189c-193d); ThomasEv 22; ÄgypterEv (Clemens, Strom 3,13,92); 2 Clem 12,2; äth EsraApk p. 179: nicht Mann noch Frau); PhilippusEv 78; Clemens v. A., Paed 1,4; Hippolyt, Refutatio 5,7,14; Ephraem II 207.389; Ps.-Clementin, Homilien 16,12; – logisch: Acta Thomae 147; m Chag 2,1;. – anthropologisch: Philo, Vit Mos 2,288; ThomasEv 22.106; 2 Clenm 12,2; Ps.-Clementin, Homilien 16,12; P Oxy 655; – eschatologisch: P Oxy 655; Clemens v. A., Paed 1,4; ThomasEv 37.106; äth EsraApk 179; Leiter Jakobs § 7; Hippolyt, Daniel 4,39,6; 1. Offb des Jakobus NHC 41,14 ff; – soteriologisch und kreuzestheologisch: Clemens v. A., Protr 11,114; Syrische Didaskalie 39,2. Testamentum Domini, 65; arab PetrusApk 106; – bekehrungstheologisch (Umkehr): Acta Philippi 140; Acta Petri cum Simone 9; Schemchazai und Azazel nach Beth-ha-Midrasch IV 127f; – gerichtstheologisch (Gleichheit aller vor Gottes Gericht): vgl. z. B. ThomasEv Logion 22; – Rückkehr zum Anfang: TractTrip (NHC) 132.
Voraussetzung: Die Welt ist, so wie sie sich darstellt, durch konträre Oppositionen bestimmt. In ihr herrscht nicht undifferenzierte Einheit, sondern es herrschen Trennung und Werden. Für jede Erkenntnis ist die Differenz zwischen den Dingen Voraussetzung. Vor allem steht Gott der Welt gegenüber. Obwohl Trennung und Differenzierung die Voraussetzung für Werden und Erkennen sind, bleibt die Aufhebung der Unterschiede stets ein Wunschtraum. Theologisch gilt das in mehrfacher Hinsicht: Die Überwindung der Differenz zwischen Gott und Mensch wird für »Gottes Kinder« erhofft. Die Überwindung der Geschlechterdifferenz bedeutet die Aufhebung von Geborenwerden und damit auch von Tod. Die Aufhebung der Unterschiede ist daher im Wesentlichen eine endzeitliche Hoffnung. Für den Eph wird sie mehrfach realisiert: Nach Eph 2 wird durch die Versöhnung, die Jesus durch sein Blut bewirkt hat, die trennende Diffe-
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renz zwischen Juden und Heiden aufgehoben (soweit im Glauben diese Versöhnung angeeignet wird). Nach Eph 5 liegt dieser neuen Einheit der eine Leib zugrunde, der durch die »Ehe« zwischen Christus und Kirche zustande kommt (nach Gen 2,24; »und sie werden ein Fleisch sein«). Die Kirche ist der eine Leib, dessen Kennzeichen der eine Glaube und die eine Taufe sind. Alle Spaltung ist daher durch die Einheit überwunden. Im Rahmen von Philosophie- und Theologiegeschichte ergeben sich somit zwei Wurzeln des Motivs. Die eine liegt bei Plato (Symposion), und zwar in dem Mythos des Einswerdens von Mann und Frau, welches die ursprüngliche, androgyne Einheit wiederherstellt. Die andere Wurzel ist eschatologischer Art: Alle trennenden Differenzen sind aufgehoben in der Einheit Gottes. Nach Eph 2 ist die Kirche der Beginn der grundsätzlichen Aufhebung aller trennenden Unterschiede und damit das Muster für die Einung der Welt unter dem einen Gott. Zu Eph 2,18.22 (Rolle des Heiligen Geistes): Der Heilige Geist ist die von Gott ausgehende Kraft, die letztlich Einheit herstellt und die erwirkte Versöhnung in die Tat umsetzt. Was hier der Heilige Geist bewirkt, tut in Röm 11,15 die Auferstehung. Die Versöhnung der Welt wird dort
als Auferstehung umgesetzt. Diese Entsprechung ist nicht verwunderlich. Denn Auferstehung wird durch den Heiligen Geist bewirkt. Alle Aussagen über ihn finden sich in Eph stets im Zusammenhang mit Heiden. Auch das wird durch die Paulusbriefe (und Apg) bestätigt, gerade im Unterschied zu den Evangelien, in denen die Gabe des Heiligen Geistes an die Christen eher selten ist (abgesehen vom Gebet). Die beschneidungsfreie Heidenmission ist in sehr hohem Maße mit dem Heiligen Geist verbunden bzw. lässt sich so artikulieren.
Eph 2,21-22: Architektonische Metaphorik Besonderes Kennzeichen des Eph ist: Neben die Organ-Metaphorik (Leib, Haupt, Glieder, Sehnen) tritt die architektonische Metaphorik. Letztere orientiert sich an dem schon in den Texten aus Qumran belegten Bild von der Gemeinde als Tempel. So ist also die architektonische Metaphorik der Herkunft nach jüdisch, die organischbiologische eindeutig heidnisch. Dabei ist das Verhältnis zum Judentum prinzipiell anders als das zum Heidentum. Die jüdischen Kategorien nimmt der Verfasser auf und wendet sie direkt auf die Kirche an, inklusive Erwählung, Präexistenz und Tempel Gottes.
Eph 3-4: Offenbarung und Kirche Eph 3,1-13: Ekklesiologie – Revelationsschema Für Eph ist die Kirche selbst Inhalt des Geheimnisses Gottes. Sie ist leibhaftige Offenbarung und »Ende« aller Offenbarung Gottes. Sie ist die Weisheit Gottes und das wahre Weltwunder. Die Liebe (griech.: agape) übertrifft nach 3,19 alle Erkenntnis, weil sie in der Kirche Realität wurde. Das aber ist von keiner Erkenntnis einholbar. So ist die Kirche als verwirklichte Liebe in Raum und Wirklichkeit Gottes Tat. Dabei sind alle Aussagen über die Kirche in Eph christologisch begründet und weisen, wie gezeigt, in die Grundlagen frühchristlicher Theologie (Menschensohn). Denn im Hintergrund steht die Repräsentanz Israels durch eine einzige (auch präexistente) Figur im Gegenüber von
Gott und Gottesvolk. Eph lässt daher erkennen, wie Ekklesiologie und die jeweilige Einschätzung Israels theologisch eng zusammenhängen. – Gleichzeitig ist Eph in seiner Metaphorik eine gezielte Überbietung des römischen Kaiserkultes. Für Eph 3 ist es das eigentliche Geheimnis der ganzen Weltgeschichte, dass die Heidenvölker in das Licht der Verheißungen treten. Viele Texte bei Paulus und in seinem Umkreis bieten dasselbe »Revelationsschema« (vgl. Berger, Formen und Gattungen), jeweils ein Satzgefüge, das von einem Geheimnis handelt, welches seit Anbeginn der Welt den Menschen verborgen geblieben ist, aber jetzt den Aposteln (insbesondere Paulus) geoffenbart wurde, damit sie es als Evangelium über die Welt verbreiten. Der Ausdruck »Revelationsschema« besagt: Es wurde erst jetzt geoffen-
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704 bart (revelare). Denn auch die ganze Zeit des Alten Bundes gilt als Zeit der Verborgenheit und Verhülltheit des Geheimnisses. Alle übrigen Belege (vgl. zu Röm 16,25-27) für dieses Schema legen zumindest nahe, dass Jesus Christus bzw. das Evangelium Inhalt dieses Geheimnisses war und ist. Lediglich nach Eph 3,6 besteht es darin, dass die Heidenvölker an Jesus Christus durch das Evangelium (mit Israel) mit-geerbt haben, mit zu demselben Leib der Kirche gehören und wie Israel Anteil an der Verheißung erlangen, d. h.: Das Geheimnis besteht hier darin, dass speziell mit den Heiden eine Heilsgemeinschaft begründet werden sollte. Das hätte – laut Eph 3 – sich niemand vorher träumen lassen können. In der Tat ist die Ausweitung des Evangeliums auf die Heiden, wenn man einmal die Botschaft vom dreieinigen Gott als gegeben annimmt, die wichtigste und erstaunlichste Neuerung im frühen Christentum. Eph 3 unternimmt es gar nicht, diese Botschaft im Alten Testament zu begründen. Der Text sagt einfach, dieses sei – gewissermaßen seit Bestehen der Welt – die wichtigste Neuheit schlechthin. Da sich nach Eph Jesus Christus in der Kirche verwirklicht, ist hier das christologische Geheimnis zum kirchlichen geworden. Für Eph ist das deshalb sinnvoll, weil so das Problem der Zuwendung zu den Heiden unter Umgehung des Alten Testaments einfach »weltgeschichtlich« gelöst werden kann. Zu Eph 3,10: Die Mächte und Gewalten, denen nun das Evangelium verkündet werden muss, sind möglicherweise identisch mit den Größen, die der Auferstandene und Erhöhte nach Eph 4,8 gefangen genommen hat (s. dort): Denn sie können jene bösen Geister gewesen sein, die die Völker nach jüdischer Auffassung zum Götzendienst verführen (Jub 10,1-11; 1 Kor 10,20). Jetzt müssen sie belehert werden, dass Gott, nicht die Götzen, die Völker nun zur wahren Anbetung führt. Das ist die Grundvoraussetzung dafür, dass Erhöhung und Völkermission zusammengehören (z. B. Phil 2,9-11). Die neuere Exegese hat sich leider daran gewöhnt, die Mächte und Gewalten bei der Erhöhung nicht mehr zu berücksichtigen. Die Tatsache, dass die Weisheit Gottes »vielfältig« (bunt) ist, stellt offenbar das wichtigste Argument für die Überzeugung der Mächte und
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Gewalten bzw. für die Überwindung ihrer Widerstände dar. Konkret heißt das wohl: Das Geheimnis Gottes wird jedem Volk auf die für dieses Volk passende Weise nahegebracht. Denn »bunt« sind in hellenistischem Sprachgebrauch Gottheiten, die personal identisch bei vielen Völkern unter unterschiedlichen Namen und mit unterschiedlichen Riten verehrt werden. Wenn die Weisheit Gottes so wendig ist, siegt sie in der ganzen Welt, und keine Macht kann sich dieser Geschlossenheit widersetzen. Der Leser begreift spätestens an dieser Stelle, warum die Einheit der Kirche für Eph so wichtig ist. Wenn die Kirche selbst der eigentliche Inhalt der Offenbarung ist, dann besteht sie eben nicht lediglich darin, dass die Menschen unter der Kanzel das Wort entgegennehmen und dann brav nach Hause tragen, oder darin, dass der Einzelne sich trösten lässt. Die Kirche ist dann eine wahrhaft wirksame Macht in der Geschichte, und sie eint die Völker und beugt die Gewalten.
Eph 3,16-19: Weisheit Gottes – verborgenes Geheimnis Das Geheimnis des Christus (3,3.9) ist am Ende die Liebe, und diese findet in der Kirche ihre Umsetzung in die Wirklichkeit. Deshalb wird die bloße Erkenntnis, die sonst Inhalt der Geheimnisse ist, durch Liebe überboten. Dem entspricht u. a. auch, dass die Liebe stets am Ende der Kette der Früchte als deren definitives Ergebnis zu stehen kommt (wie bei Glaube–Hoffnung–Liebe). Eine bemerkenswerte Parallelität besteht zwischen Eph 3,3-19 und 1 Kor 2,6-13. Es geht um die »Weisheit Gottes« (1 Kor 2,7; Eph 3,10), um das Geheimnis (1 Kor 2,7; Eph 3,3 f.9); dieses ist sogar das »verborgene Geheimnis«, bzw. die Weisheit ist darin »verborgen« (griech.: apokrypto; 1 Kor 2,7; Eph 3,9), und zwar vor den Äonen (Eph 3,9) oder vor den Herrschern dieses Äons (griech.: archontes, 1 Kor 2,6.8; griech.: archai, Eph 3,10), denn keiner der Herrscher kannte es (1 Kor 2,8), bzw. jetzt erst wird es ihnen mitgeteilt (Eph 3,10). Enthüllt (griech.: apokalypto) wird das Geheimnis erst »uns« (1 Kor 2,10) bzw. den Heiligen (Eph 3,5), ihr Inhalt sind die Tiefen/Abgründe (griech.: bathe, 1 Kor 2,10; Eph 3,18); der menschlichen Weisheit ist der Heilige
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Geist entgegengesetzt (1 Kor 2,13; Eph 3,16), am Ende geht es um die Herrlichkeit (1 Kor 2,8; Eph 3,13) und um die Liebe (1 Kor 2,9; Eph 3,19). Bei dem ganzen Geschehen spielt Gottes Vorsatz bzw. die Vorherbestimmung eine wichtige Rolle (1 Kor 2,7; Eph 3,11). Gemeinsam sind daher alle wichtigen Bausteine über die Rolle des Geheimnisses im Mächtespiel der Welt. Die Pointen sind freilich unterschiedlich: In 1 Kor 2 ist das Thema die Konnaturalität von Erkennendem und Gegenstand (Geist wird nur durch »Geistliche« erkannt), in Eph 3 ist das Geheimnis der Zeiten in Liebe realisiert, weil Heiden- und Judenchristen ein gemeinsamer Leib werden.
Eph 4,1-6: Testamentarische Mahnrede Paulus schreibt aus dem Gefängnis, und daher ist diese Mahnrede eine testamentarische, eine Abschiedsmahnung. Wie ein sterbender Vater ermahnt Paulus seine Gemeinde: Seid um des Himmels willen einig. Jeder Vater, der Abschied nimmt, redet so zu seinen Kindern, denn er will, dass die Familie nach ihm Bestand hat. Nun fällt auf, dass sehr viele Mahnreden des Neuen Testaments gerade diesen inneren Duktus aufweisen. Daher haben sie weitgehend den Charakter von Vermächtnissen. Das gilt für die johanneischen Abschiedsreden (speziell für Joh 13 und 17) wie für viele Briefe des Apostels Paulus und solche im Umkreis. Keine Spur von Naherwartung und baldigem Weltende, sondern Vermächtnis für eine künftige Kirche. Aber dieses eine ist allein wichtig: Die Kirche ist durch ihre bloße Existenz übernational und somit reale Verwirklichung der Einheit der Menschheit. In der Vergangenheit war christliche Geschichtstheologie zu häufig ausschließlich auf das apokalyptische Weltende inklusive Katastrophen und Antichrist bezogen. Paulus und der Kolosserbrief, insbesondere aber der Epheserbrief, bieten dazu eine Alternative an. Thema des Eph ist nicht der Untergang aller Dinge und das Geschick apokalyptischer Minoritäten, also dramatisch verfolgter christlicher Minderheiten, sondern der Epheserbrief betrachtet das künftige Geschehen von den Möglichkeiten her, die eine sakramental begründete Einheit der Menschheit in Jesus Christus in sich birgt. Hier
geht es um die weltpolitisch positiven Chancen des Christentums, Einheit und Frieden darzustellen. Der Epheserbrief verspricht sich dieses durch die Taufe und das gemeinsame Bekenntnis zu dem einen gekreuzigten Herrn. Dieses hebt schon nach Eph 2 alle trennenden Unterschiede zwischen den Völkern auf. Dass dieses vor allem der Unterschied zwischen Israel und den NichtIsraeliten oder Nicht-Juden ist, wird neuzeitlich seit einhundert Jahren wieder schmerzlich bewusst. Alles dreht sich stets um diese Frage: Wie kann es Frieden geben, wenn ein Volk auserwählt ist? Man hat es öfter angemerkt und antijüdisch beantwortet. Davon ist der Epheserbrief, der zumindest einen judenchristlichen »Assistenten« des Apostels Paulus zum Verfasser hat, weit entfernt. Denn ihm geht es um Aufhebung und Versöhnung der bitteren Grenzen durch den Juden und Erlöser Jesus Christus. Man wusste um derartige Einheitsformeln, wie sie der Epheserbrief hier (V. 4f) präsentiert, zur Zeit seiner Entstehung und später. Denn Formeln wie »ein Gott, ein Gesetz, ein Volk« kennt der Jude Flavius Josephus zur Zeit Jesu. Gerade diese Einheits-Formeln wie »ein Gott, ein Glaube, eine Taufe« bedeutet: Wenn nur einer der Herr und Gott ist, folgt daraus, dass das Machtmonopol bei diesem einen liegt und dass alle anderen Brüder und Schwestern sind. Der Verfasser des Eph nennt hier den Heiligen Geist in 4,3 (»… zu bewahren die Einheit des Heiligen Geistes …«) und in 4,4 (»ein Leib und ein Heiliger Geist …«). Daraus wird zunächst für den Epheserbrief erkennbar: Gott als Heiliger Geist ist der lebendige Garant der Funktionsfähigkeit, also der Einheit dieses Leibes. Die Zugehörigkeit zum Leib stiftet die Taufe, aber seine vitale Wirklichkeit, seinen ganzen Sinn, macht der Heilige Geist aus. Weil Gott einer ist, kann der Heilige Geist nicht viele sein.
Eph 4,7-16: Gaben an die Kirche Die Gaben in der einen Kirche sind Resultat der Erhöhung, und weil der Erhöhte zuvor herabgestiegen ist, wird deutlich, dass er von Gott gesandt war und ist. Durch sein Gesandtsein werden alle Gaben legitimiert, die er der Kirche geschenkt hat. Der Irrtum, von dem die Rede sein
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706 muss (4,14), kann sich auf die mangelnde Erkenntnis der Gottessohnschaft Jesu beziehen und damit auch auf die Einheit von Juden- und Heidenchristen in der Kirche. Denn der Inhalt des Geheimnisses war die Gemeinschaft in einem Leib (gr: syssoma). Eph 3,5 ist hier für 4,11 wichtig: Denn die Apostel und Propheten sind die Träger des Geheimnisses und deshalb Bollwerk gegen den »Irrtum«. Nicht mehr Paulus allein ist der Apostel, dem das Geheimnis geoffenbart wurde (so ja noch Eph 3,7-9), es sind die Apostel und Propheten und damit eine größere Riege. Zu Eph 4,8f: Ps 68,19 heißt im MT: »Du stiegst zur Höhe empor, führtest Gefangene mit, empfingst Geschenke von den Menschen …« Gedacht ist an Gott als Triumphator, den die Menschen mit Tributen und Abgaben »beschenken«. Eph sagt aber: »Er führte gefangen die Gefangenschaft (Vg.: captivam duxisti captivitatem) und gab den Menschen Gaben« (V. 8) – »Geben« statt »Nehmen« liest auch der Midrasch Tehillim zu Ps 68,19 (»›Du nahmst Geschenke unter den Menschen‹ – Das geht auf die Torah, die als Geschenk umsonst den Israeliten gegeben wurde«), und den, der zum Himmel emporstieg, deutet der Midrasch auf Mose. – Neuzeitliche Ausleger wissen mit der Gefangenschaft nicht viel anzufangen. Das Mittelalter steht Eph hier näher und hält sich strikt an den Wortsinn: Wer Gefangene gefangen führt, der nimmt sie dem weg, der sie zunächst eingefangen hatte, der befreit sie. So legt man diese Aussage im Sinne der Aufhebung der Gefangenschaft aus (und nicht im Sinne des Akkusativs des inneren Objekts). – Die Präfationen sprechen: Unsere Gefangenschaft wird durch Christi Leiden aufgehoben, im Triumph des Christus. Oder so: Durch Adoption werden befreit, die durch Sünde gefangen waren. Oder so: Die gefangenen Menschen werden als Beute dem Rachen des Feindes entrissen, und die zuvor Gefangenen werden zu Gefährten Christi und zu Gottes Gästen. Oder man sagt: Der Tod wird zur Beute, die Gefangenschaft wird gefangen, die Strafe wird bestraft. – Bernhard v. Clairvaux verbindet hier mit Gen 49,9 (Von der Löwenbeute, mein Sohn, bist du groß geworden) und deutet messianisch (Werke VII, 139). Ich halte es für die wahrscheinlichste Lösung,
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dass der Verfasser unter den Gefangenen in diesem Triumphzug die überwundenen Mächte und Gewalten versteht. Dazu hilft in der Tat der Hinweis auf Ps 110,1 f. Das Neue Testament liest diese Verse so, dass die Erhöhung Jesu, des Kyrios, beschrieben wird. Die Feinde, die Gott ihm zu Füßen legt, sind in der Tat die dem Menschen feindlichen Mächte, wozu schließlich auch der Tod gehört (so wohl richtig in der Präfation 1190, die von der Überwindung des tödlichen Gegners spricht, der die Macht des Todes hatte; vgl. Hebr 2,14). Wie unter den neueren Auslegern R. Schnackenburg es tut, verbindet auch Bernhard v. Clairvaux (Werke II, 157) Eph 4,8 mit Phil 2,9. Die Gemeinsamkeiten: Abstieg (Erniedrigung) – Hinaufsteigen (Erhöhung) über alles hinaus (Eph 4,10; griech.: hyperano; Phil: hyperhypsosen) – alles erfüllen (Eph 4,10) bzw. universale Macht ausüben (Phil 2,11). Hingewiesen wird auch immer wieder auf Joh 3,13 (Hinab- und Hinaufsteigen Jesu), und das gilt besonders für das mit Eph 4,9 gemeinsame Schlussverfahren: Wer hinaufgestiegen ist, muss zuvor auch herabgestiegen sein. Das ist eine Fragestellung, die auftaucht, wenn jemand Jesus lediglich für entrückt oder auch auferstanden hält (was bei Elia und Henoch oder auferweckten Märtyrern der Fall war oder hätte sein können), nicht aber für den präexistenten Sohn Gottes. Erst beides zusammen, Menschwerdung und Auferstehung/Erhöhung, ist das ganze christologische Bekenntnis. Der Sinn der Argumentation erschließt sich erst, wenn man an dieser Stelle die Alternativen im jüdischen Denken kennt. – Vgl. zu 4,8 auch das Thaddäus-Zitat zu Eph 2,14.
Eph 4,11-16: Geistesgaben in der Kirche F. Mussner bemerkt zutreffend zu 4,11: »Nicht die Gemeinde ›gibt‹ die Ämter, sondern der himmlische Herr der Kirche.« Dass freilich von den Ämtern Apostel und Propheten zur Zeit des Eph schon ausgestorben seien, ist höchst unwahrscheinlich; selbst für den schlimmsten Fall einer relativ späten Datierung des Eph bezeugen doch Didache und Offb 2 noch die Existenz von Aposteln und Propheten in nachpaulinischer Zeit. Eher ist die Existenz der »Lehrer« ein Indiz dafür, dass Eph vor dem allgemeinen Bekanntwerden
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von Mt 23,8-10 entstanden sein muss. Denn noch gibt es die Lehrer. Eph 4,1-16 ist mit 1 Kor 12,4-31 zu vergleichen. Beide Texte reden von Gottes Gaben (Eph 4,8: »… gab Geschenke«, 1 Kor 12: Charismen). In Eph fehlen die wunderbaren Redegaben (Glossolalie, Übersetzen, Prophetie), das Wundertun und auch die diakonischen Gaben. Stattdessen ist in Eph 4 nur von den Amts-Charismen die Rede: Apostel, Propheten, Evangelisten, Hirten, Lehrer. Aber auch 1 Kor 12,28f kennt solche: Apostel, Propheten, Lehrer; im Vergleich zu Eph fehlen dort die auch sonst eher seltenen Evangelisten und Lehrer. Die Kernfrage der Diskussion war lange dies: Ist Eph 4 wegen der Einschränkung der Charismen insgesamt bei gleichzeitiger Ausweitung der Amtscharismen ein Stück aus der nachpaulinischen Zeit, d. h. der »frühkatholischen« Zeit näher? Bei der Datierung des Eph spielt diese alte These/Frage noch immer eine große Rolle. Von einem Wegfallen zukünftiger Eschatologie im Eph kann keine Rede sein. Vielmehr ist die Eschatologie Ziel eines Wachstumsprozesses (4,13.15). In diesem Prozess wird die Kirche immer mehr eins. Dabei leistet Eph eine erste Reflexion auf Kirche unter universaler Perspektive und verwendet dabei jüdische wie zeitgenössische politische Metaphorik. Zu Eph 4,13: Im Sinne des Eph sind die Ämter Stützen auf dem Weg zur Einheit: Auf die Liste in 4,11 folgt die Zielangabe in V. 13. Die Einheit aber ist nicht bürokratisch vorgestellt, sondern organisch als Miteinander von Haupt und Gliedern. Zur Rolle der Autoritäten in Eph 4 insgesamt mag gelten: Je stärker sich die Gemeinde von der einheitsstiftenden Erfahrung (Taufe, Geist) am Anfang entfernt, umso mehr hat kirchliche Autorität die Chance, sich als dieses einheitsstiftende Element zu etablieren. Dabei wirkt ein Organismusdenken stets »repressiv« gegen Abweichler (wie gegen jede »Elite«, die nicht mit der je gegenwärtigen Führung identisch ist).
Eph 4,17-24: Postconversionale Mahnrede Es handelt sich um eine typische postconversionale Mahnrede (vgl. K. Berger, Formen und Gattungen, § 50). Denn es überwiegen bei weitem Elemente, die in die jüdisch-hellenistische Bekehrungspredigt gehören. Dazu gehört die »Nichtigkeit« (Götzen waren nichtig); die Verbindung von Habsucht und Unreinheit, beides ist typisch für Wohlstand und kultisch-rituelle Fremdheit der Heiden; der Lasterkatalog in 4,25 und in 5,5 (Unzucht, Unsauberkeit, Habsucht, Götzendienst). Auf die Taufe nimmt Bezug das Bild vom Ablegen und Anziehen. Explizit christlich ist nur 4,32 – 5,2. Beim Waschen und Baden legt man die alten Kleider ab und zieht neue, saubere an. Auch die christliche Taufe ist ein Bad, und zwar eines des ganzen Körpers. Es war geradezu erwartbar, dass die frühen Christen den Vorgang des Ablegens und Neu-Anziehens bildlich gebrauchen würden, und zwar als Bild für das Aufgeben der alten Existenz und das Annehmen der neuen. Denn mit der Taufe vollzieht sich die Umkehr, die Abkehr vom Alten und die Hinkehr zum Neuen. So steht das neue Kleid (vgl. Taufkleid) für die neue Existenz. Die Besonderheit des Kleiderwechsels in Eph 4: Das Anziehen des Neuen meint Änderung des Verhaltens. Positiv formuliert als Kanon der zwei Tugenden (A. Dihle): als »Gerechtigkeit« (gegenüber den Menschen) und »Heiligkeit« (vor Gott); anderswo heißt dies »Menschenliebe« und »Gottesliebe«, bei Jesus gilt die Kombination von Nächstenliebe (Lev 19,18) und Gottesliebe (vgl. Dtn 6,4f). Konkret in Eph 4: Nicht eingehen auf die trügerischen Angebote der Lust, dass man ehrlich mit dem Nächsten redet, den Zorn nicht bis zur verschleppten Verletzung anwachsen lässt und mit der eigener Hände Arbeit Gutes schafft, damit man selber geben kann. So besteht das Neue darin, dass der Christ auf der Grundlage des neuen Seins handelt; der neue Mensch ist als Maßstab des Handelns – wie es ähnlich in Eph 2,10 heißt – schon vorher grundgelegt: »Denn er hat uns dazu erschaffen, dass wir in Gemeinschaft mit Christus Jesus gute Werke tun. Gott hat sie uns schon vorgezeichnet, wir müssen sie uns nur von ihm absehen«. d. h.: Die Werke sind schon da, wir müssen gewissermaßen in sie hi-
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708 neinwachsen, so wie man in ein neues Kleid oder in neue Schuhe hineinwächst. Auf diesem Weg wird eine unangemessene Leistungsgerechtigkeit vermieden. Das Neue ist aus dem neuen Sein zu schöpfen, d. h.: Es ist – in anderer Form – schon da und muss nur aus der neuen Identität hervorgeholt werden. Von diesem Bild her ergibt sich auch die gedankliche Unmöglichkeit eines Rückfalls in das Alte. Denn das neue Kleid ist angezogen. Ferner: Der neue Mensch, den der Christ anzieht, steht nicht allein, sondern nach 4,25 gilt: »Wir gehören als Glieder zum selben Leib.« Wenn dieser Leib einer und lebendig sein soll, ergibt sich daraus eine Reihe von Forderungen: etwa die, den Nächsten nicht zu verletzen und gerecht mit ihm umzugehen. Beachtenswert ist, dass nach wichtigen Handschriften (z. B. P 46) in Eph 2,15 nicht vom »neuen« (griech.: kainos) Menschen die Rede ist, sondern vom »gemeinschaftlichen« (koinos) neuen Menschen. Dieses Attribut passt zu dem Bild des Leibes. Anders als in Gal 3 wird der neue Mensch, den der Getaufte anzieht, nicht einfach »Christus« genannt. Da es sich beim Kontext von Eph 4 um eine Mahnrede handelt, ist das auch sinnvoll. Denn jeder Einzelne muss je nach Situation unterschiedliche Werke des neuen Menschen in die Tat umsetzen. – Die Aktivität Gottes gegenüber der des Menschen betont die mittelalterliche Auslegung. Sie verbindet Eph 4 mit Gen 1,27f und meint, der neue Mensch sei der neue, nach Gottes Bild erschaffene (»… wir loben Gott, weil er uns den alten Menschen mit seinen Taten ausgezogen hat und uns den neuen Menschen angezogen hat, der Gott gemäß erschaffen ist« (Präfationen 1556). Gegenüber Eph 4 wird so Gottes Handeln betont, der Mensch ist eher passiv. – Die Rede vom neuen Menschen nach Gottes Bild findet sich bei Bernhard v. Clairvaux so: Der neue Menschen wurde »… erneuert in Geist und Sinn nach dem Bild des Schöpfers und so Tag vom Tag und Licht vom Licht geworden«. Auf die Schöpfung weist Eph 4,24. Die Beseitigung der Schuld des alten Menschen wird in Präfation 1355 betont: »… während die alte Schuld dahinfällt, erhebt sich der neue Mensch«. An anderer Stelle wird die Verheißung der Unsterblichkeit hervorgehoben: »Statt des alten Menschen besteht nun der neue. So wird die
Der Brief an die Epheser
Sterblichkeit durch Unsterblichkeit geheilt« (Präfationen 1378). In Anknüpfung an Eph 4,23 sprechen andere vom Heiligen Geist, so eine ostkirchliche syrische Anaphora: »Mit Heiligem Geist umfange uns und verbrenne alles, was alt und befleckt ist an uns. Von der Erde aus [mögen wir] in den Himmel [gelangen zu dir] mit deinem reinen Geist (Vernunft).« Dabei ist freilich zu fragen, ob der »Geist eures Sinnes« in V. 23 schon der Heilige Geist ist oder nicht vielmehr der »innerste Kern des Herzens«. Es besteht der dringende Verdacht, dass Geist (pneuma) hier und auch in einigen weiteren Stellen bei Paulus nicht den Heiligen Geist Gottes, sondern anthropologisch die innerste Herzenstiefe meint. Der Text 4,17-24 weist insgesamt zahlreiche Formulierungen auf, die typisch sind für die Missionssprache unter Heidenchristen. Dazu gehört V. 17 »wie die Heiden herumlaufen«, die »Nichtigkeit« (Leere, Vergeblichkeit), in V. 18 die »Unkenntnis«, in V. 19 die »Lust«, die »Unreinheit« und das typische Laster der »Habgier«, das Sich-Ausliefern (griech.: paradidomi, vgl. Röm 1,24.26.28), in V. 22 der »frühere Wandel« und die »Begierden«, der »Betrug«. – Alles das lässt darauf schließen, dass die Adressaten des Eph ehedem Heiden waren. Der typische Übergang vom Heidentum zum Christentum ist »lernen«/ »belehrt werden« (V. 20f; vgl. Mt 28, 20). Das Prinzip der christlichen Ethik besteht in Eph 4 wie auch andernorts darin, dass der punktuelle Übertritt zum durativen Verhalten ausgeweitet wird, dass also das Ablegen des Alten und das Anziehen des Neuen gleichbleibendes Element des Christseins wird. Das, was sich bei der Bekehrung vollzog, wird zum alltäglichen Kampf. Dieses ist zugleich die Antwort auf die Frage, wie es denn möglich sein soll, den alten Menschen einfach durch den neuen zu ersetzen. Wo man doch täglich wieder mit dem »alten Adam« zu tun hat. Ist das nicht eine Schwäche des Bildes vom Aus- und Anziehen? Antwort: Nein; es ist die Eigenart sakramentalen Denkens, dass punktuell zusammengefasst wird, was nur in der Dauer entfaltet werden kann. Gerade die Mahnreden des Neuen Testaments zeigen bereits, wie beides komplementär zueinander steht. So ist es bei allen Sakramenten: Sie sind der Augenblick des Innehaltens, Innewerdens und der Verdeutli-
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Kapitel 4
chung des Ganzen in einem jeweils längeren Prozess, der an dieser Stelle sozusagen den Segen des Himmels erhält, freilich mehr: der hier christologisch begründet wird und Gestalt gewinnt. Nun schließt das Bild vom alten und vom neuen Kleid das Werden und Wachsen gerade aus. So ist es auf eigene Weise radikal, da es vor das Entweder/Oder stellt. Darum geht es in der Tat in jeder ethischen Entscheidung. Diese kann sich nicht mit dem Vielleicht und dem Morgen vertrösten. Der impliziten Radikalität verdankt das Bild auch seine Wirkungsgeschichte.
Eph 4,30 – 5,2: Zwei Themen: Freude – Opfer Jesu Christi Zwei Themen werden in unserem Text erörtert: der Zusammenhang zwischen Heiligem Geist und Freude und inwiefern man vom Opfer Jesu Christi sprechen kann. Zum ersten Thema: Traurigkeit ist geradezu Gift für den Heiligen Geist. Daher heißt es: »Betrübt nicht den Heiligen Geist.« Das setzt voraus: Der Heilige Geist ist Freude. Trübsal vertreibt Freude. So gibt es notwendige Tränen in Zusammenhang mit notwendiger Umkehr. Aber es gibt auch depressive Tränen: Sie belasten mit ihrer Feuchtigkeit das Gebet und dieses kann daher nicht zum Himmel emporsteigen. Das aber wäre der Fall, wenn es durch Tränen belastet ist. Denn Gebet ist wie Weihrauch, feuchter Weihrauch brennt nicht. Bei Paulus aber ist Freude eine der wichtigsten Früchte des Heiligen Geistes. Warum ist das so? Freude ist eine angenehme Form des Außer-sich-Seins. Gerade dieses aber ist Merkmal und Wirksamkeit des Geistes, Menschen über ihre Grenzen hinauszuführen. Das geschieht im Gebet, im Prophezeien, im Zungenreden, letztlich auch bei jedem Charisma; denn jedes regt zum Staunen darüber an, wie das, was der Charismatiker zeigt, überhaupt menschenmöglich sei. In 4,30b wird über den Heiligen Geist gesagt: »… mit dem ihr versiegelt seid bis zum Tag der Erlösung«. Wenn man etwas versiegelt, dann schützt man es gegen störende Außeneinflüsse und Veränderungen durch Fremdes. Ein Brief wird versiegelt, damit niemand anderes hinzufügt oder das verändert, was darin steht. Ein Fußboden wird versiegelt, damit er nichts anneh-
709 men kann, was seine Farbe oder Qualität verändert. Der Heilige Geist »bewahrt« vor allem die Christen bis zum Tag der Erlösung. So sagte man bei der Übergabe des Taufkleides an den Neugetauften: »Nimm hin dieses weiße Kleid und trage es unbefleckt vor den Richterstuhl unseres Herrn Jesus Christus …« Wovor bewahrt der Heilige Geist den Täufling? Die Antwort muss dualistisch ausfallen. Der Heilige Geist ist immer bösen Geistern und Dämonen, dem Geist des Abfalls und der Untreue, allen Schadensgeistern und Versuchungen des Teufels entgegengesetzt. Daher wird auch in Offb 7,3 von der Versiegelung der Christen gesprochen. Denn ihr Gegner, das »Tier«, der römische Staat, hat seine Verführungskraft vom Teufel. Die Versiegelung durch den Heiligen Geist soll vor der Verführung zum Abfall schützen. Von da aus lässt sich auch die Abfolge von Taufe und Versuchung Jesu in Mk 1 verstehen: In der Taufe Jesu kommt der Heilige Geist auf ihn herab, sodass er dann auf jeden Fall gegen die versucherischen Absichten des Teufels gewappnet ist. Vor allem soll dies das Vertrauen der Christen stärken, denn in der Taufe haben alle denselben Heiligen Geist empfangen. Ist das nicht eine zu passive Ethik, in der alles darauf ankommt, dass man bewahrt bleibt? Es findet sich in Eph 4,31 dieselbe Verbform (Imperativ Aorist Passiv) »werde hinweggenommen«, die wir vom Vaterunser her kennen. Auch hier wird Gott als der Urheber gedacht. Eph 4,32 könnte eine Anspielung auf das Vaterunser im Rahmen der Vergebungs-Theologie des MtEv sein: Vergebt einander, wie auch Gott durch Christus euch vergeben hat. Das ist die Spannung zwischen Mt 18,21-35 und Mt 6,12: Wir haben Vergebung empfangen und sollen vergeben, bevor Gott uns aufs Neue vergibt. Genau mit diesem Gedanken beginnt dann auch Eph 5,1: »Ahmt also Gott nach als seine geliebten Kinder …« Denn Gott hat zuerst vergeben, und in seiner Feindesliebe soll er nachgeahmt werden (vgl. Mt 5,48.45: Seid vollkommen wie Gott, damit ihr seine Kinder sein könnt). Auch Eph 5,2 betont diese Vorleistung Jesu Christi. Im MtEv kommt das dadurch gut zum Ausdruck, dass nach dem Kelchwort beim Abendmahl die Sündenvergebung durch Jesu vergossenes Blut geschieht, nicht durch die Taufe auf den Namen des dreieinigen Gottes (vgl. Mt
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710 26,28 mit 28,19). Offenbar hat man hier das Abendmahl direkt im Zusammenhang mit der Taufe gereicht, wie es in der Ostkirche auch bei Säuglingen vorgeschrieben ist. Denn durch das Blut Christi werden die Sünden vergeben. Wir fassen zusammen: In Eph 4f wie bei Matthäus geht 1. Gottes Vergeben dem Vergeben der Christen voran. – 2. Gott vergibt am Anfang des Christenlebens durch Jesu Opfer. – 3. Dieses verpflichtet die Christen ihrerseits zum Vergeben. – 4. Dadurch werden die Christen Kinder Gottes im Sinne der Nachahmung. Das Opfer Jesu Christi wird nun alttestamentlich beschrieben: »Gabe und Opfer, für Gott zu lieblichem Wohlgeruch« (Ex 29,18; Ez 20, 41). Der »Wohlgeruch« zeigt an, dass von einem Brandopfer die Gerüche zu Gott gehen, und wenn er diese als lieblich empfindet, kann er das Opfer annehmen – ein Bild natürlich. Neuere Arbeiten über das Opfer im Alten Testament (vor allem vgl. Christian Eberhart, Studien zur Bedeutung der Opfer im Alten Testament, 2002, zeigen, dass nicht die Tötung des Opfertieres und überhaupt nicht dessen Vernichtung, sondern etwas anderes für das Opfer entscheidend ist. Opfer ist vielmehr jede sichtbare Anerkennung und Ehrung Gottes. Entscheidend ist weder die Bedürftigkeit Gottes noch die sinnlose Gewalt, die Menschen hier übten, sondern die gesamte Richtung des Weges auf Gott hin, den der Opfernde einnimmt, inklusive der Widmung der Opfergabe an den Namen Gottes und der Übereignung an ihn. Deshalb ist auch das Opfer des Lobes ein vollwertiges Opfer und nicht dessen »Spiritualisierung«, eine Kategorie, die die Bibel gar nicht kennt. Deshalb kann Paulus auch in Röm 12,1-3 das Leben der Christen als Opfer beschreiben, das Gott wirklich angemessen (»vernünftig«) ist. Beim Opfer geht es biblisch übrigens nicht um die Instrumentalisierung und Heiligsprechung von Gewalt. Wenn das zutrifft, dann hat das auch Konsequenzen für die Einschätzung des Opfers Jesu Christi in Eph 5,2 und anderswo. Dann geht es in Eph 5,2 nicht exklusiv um Jesu Blut und Tod, sondern Jesu Blut und Tod sind Ziel seines Weges im Ganzen, so nach Phil 2,8: »… bis zum Tod am Kreuz« und nach Hebr 10,8f: »Nicht Opfer und
Der Brief an die Epheser
Brandopfer …, sondern: Siehe, ich komme, deinen Willen zu tun.« Das vergossene Blut und der Tod Jesu geben dabei die Gewissheit der Sündenvergebung (vgl. oben zu Mt 26,28). Aber wirksames Opfer ist das Ganze, nicht exklusiv das Blutvergießen. Denn Menschenopfer sind seit Abraham verboten, also im Alten Bund wie im Neuen. Bei Jesu Opfer ist daher die konsequente Hingabe an Gottes Willen das Entscheidende, und dieses ist in der Tat die »freiwillige« Tat des Gerechten, die uns, den Ungerechten, zur Vergebung angerechnet wird. Eph 4f betont daher unsere Vergebung der Sünden und Befreiung von Schuld, weil das Opfer Jesu Christi für uns als stellvertretend angenommen wurde. Dies ist im Sinne dieses Briefes aber noch nicht die Erlösung (4,30). Sie ist vielmehr davon abhängig, dass wir als Vergebende gegenüber anderen Menschen Gottes Tat an uns nachahmen. Deshalb schließt das Opfer Jesu Christi menschliches Tun als Anteilhabe gerade nicht aus, sondern erfordert es ausdrücklich. Nur wenn Christen Gottes Gnadenwillen gegenüber dem Mitchristen nachahmen, hat das Ganze Sinn gehabt, sonst nicht. Die Logik ist: Gott Vater hat – in und durch Christus – euch vergeben, also sollt auch ihr einander vergeben. Und: Christus hat euch geliebt und sich für euch gegeben, handelt daher auch ihr in Liebe. Dann seid ihr Nachahmer Gottes, seine geliebten Kinder. In beiden Fällen ist Gottes Handeln Vorbild, und dass man Kind Gottes ist, wenn man ihn nachahmt, steht auch in Mt 5,48. Die Bedeutung der Kind-Metaphorik im Christentum rührt nicht zuletzt daher, dass Kinder Nachahmer sind (»etwas von den Eltern sich abgucken«). Etwas kompliziert wird der Vorgang aber durch die Rolle Jesu Christi. Er ist hier die »rechte Hand« Gottes. In ihm und durch ihn treffen die Menschen auf Gottes eigenstes Handeln, nämlich Sündenvergebung und Liebe ohne Grenzen. In 5,2b wird dieses Tun Jesu Christi als Opfer dargestellt, »für Gott zum lieblichen Wohlgeruch«. Wenn die Christen das nachahmen sollen, bringen auch sie ein entsprechendes Opfer. Schon im Blick auf Röm 12,1-3 sollte man das nicht bestreiten. Durch die Liebe, die die Christen üben, sind sie in das Opfer Jesu Christi hineingenommen.
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Kapitel 5
Eph 5-6: Mahnrede Eph 5,8-14: Ein Weckruf Die Pointe des Textes ist eine scherzhafte und doch sehr ernst gemeinte Persiflage. Denn in Eph 5,14 handelt es sich der Gattung nach »eigentlich« um ein Wecklied, ein Lied also, das kritische Freunde und liebe Nachbarn unter dem Fenster jungvermählter Paare anstimmten, wenn es dann am nächsten Morgen doch endlich Zeit war aufzustehen. Mit den Weckliedern, die uns zahlreich überliefert sind, war angesichts steigender Sonne am Vormittag wirklich ein Wecken der Schläfer beabsichtigt. Daher haben wir (Berger/ Nord) so übersetzt: »Aufstehen, du Schlafmütze! Steh auf von den Toten, dann geht Christus, die Sonne, über dir auf« (die Argumente vgl. in: K. Berger, Formen und Gattungen im Neuen Testament, 2005, s. Wecklied, 345). Die Aufforderung aufzustehen, der Hinweis auf das Schlafen, vor allem aber auf die Sonne zeigen die Herkunft der Gattung an. Die im Text verwendeten Bilder (Finsternis, Licht, Werke oder Früchte, aufstehen, »Kinder des Lichts«) erinnern an die Mahnungen Jesu zum Wachen, besonders an die entsprechenden Kontrastbilder in den Sklaven-Gleichnissen. Aber auch von 1 Thess 5,1-6 her kennen wir diese Bilder. Der Text spricht fünfmal von Licht, zweimal von Finsternis. Der Härte der angesagten Entscheidung entsprechen aber nicht Intoleranz und Grausamkeit, Schroffheit und Arroganz der Rechthaber, sondern: Güte, Gerechtestun und Ehrlichkeit, vor allem aber dieses: »Versucht, sorgfältig zu ergründen, was der Herr von euch will« (5,10). Zu den Gerichtsaussagen: »Aber Licht enthüllt alles. Und nur was selbst Licht ist, hält der Enthüllung stand« (5,13f). Schon in älteren christlichen (Daniel-)Apokalypsen ist Eph 5,14 ergänzt: »Siehe, es kommt der gerechte Richter, zu geben jedem, was er getan.« Dann ist der ganze Ereignisablauf von Eph 5,14 die Auferstehung der Toten am Ende angesichts der aufstrahlenden Sonne der Gerechtigkeit, welche Jesus ist. Wie alt auch immer diese Ergänzung ist (sie könnte auch älter sein als Eph 5,14), jedenfalls bildet sie die Brücke zwischen dem, was jetzt aktuell ist (aufwachen und Orientierung an Jesus), und dem,
was sein wird (Auferstehung der Toten vom Todesschlaf und Tag des Herrn, an dem Christus als Sonne aufleuchtet). Ein apokalyptisches Szenario fehlt. Entscheidend ist vielmehr hier (wie auch bei Paulus in Röm 8,19-21), dass alles »offenbar« wird. Es wird sich einfach alles klären. So wird nach Paulus auch die Identität der Gotteskinder offenbar werden. Daher geht es bei den Endereignissen immer darum, dass offenbar wird, was jetzt schon besteht, aber verhüllt ist.
Eph 5,15-20: Umgang mit der Zeit Der Text versteht sich als grundlegende Einführung in die Weisheit. Wer weise oder unweise ist, zeigt sich in seinem Verhältnis zur Dimension der Zeit. 5,16 ist in der Übersetzung seit alters umstritten. Abwegig erscheint uns heute die Übersetzung M. Luthers: »Schickt euch in die Zeit, denn die Tage sind böse.« Luther meinte damit wohl: Fügt euch ein, wagt keinen Aufstand. Und man denkt an die linke Reformation, die genau das tat und die für Luther ein Gräuel war. Verbreitet ist die Übersetzung »kauft die Zeit aus«, und zwar in dem Sinne: »nützt, genießt die Zeit bis zur Neige«. Sachlich ist solches bei Plutarch gemeint (Über Isis und Osiris 17): Bilder Toter werden bei Gastmählern gezeigt, damit die Lebenden umso mehr »die Gegenwart genießen und benutzen«. Die Übersetzung »kauft aus« halte ich deswegen für wenig gut, weil das bloße Nützen oder Ausnützen der Zeit, sozusagen bis zur letzten Sekunde, noch gar nichts darüber sagt, wozu man die Zeit ausnutzen soll. – Außerdem heißt das griechische Verb an dieser Stelle einfach »kaufen«, und eben diese Bedeutung hat auch das ältere deutsche Wort »auskaufen«. Es heißt »sich aneignen«, und ihm ist die Bedeutung von »bis zum Letzten ausnützen« fremd. Wenn der Verfasser daher sagt: »Kauft die Zeit, denn die Tage sind böse«, dann meint er wohl Folgendes: Die Zeit fließt neben einem Menschen dahin wie ein herrenloser Strom. Von Zeit zu Zeit wird sie von diesem oder jenem Menschen beschlagnahmt, in Anspruch genommen und dann verbraucht. Wer sich die Zeit nicht aneignet, lässt
Berger (08129) / p. 712 / 19.5.2020
712 sie dahingehen und verfallen. Im deutschen Wort »Tagedieb« haben wir noch einen Rest dieser Anschauung. Denn ein Tagedieb ist einer, der dem Herrgott die Zeit stiehlt, die ihm als dem Schöpfer gehört, und sie für Nutz- oder Sinnloses verwendet. Hier ist jedenfalls die Anschauung vom potenziellen oder wirklichen Besitzer der »Zeit« erhalten. Wenn sich nach Eph 5,16 die Weisen die Zeit aneignen sollen, dann allerdings nicht so, dass sie dem Herrgott den Tag stehlen, sondern dass sie als die Weisen ihn in seinem Sinne in Beschlag nehmen. – Ihren Sinn bekommt die Wendung von dem Satz »denn die Zeiten sind böse«. Wenn die Zeiten böse sind, dann kommt es darauf an, dem Bösen nicht die Herrschaft über die Zeit zu belassen. Es kommt darauf an, dass nicht die Verbrecher ständig die Agenda der Weltgeschichte bestimmen, denn sie eignen sich die Zeit in ihrem Sinne an und füllen sie mit ihren Inhalten. Wer die Zeit kauft, der füllt sie und bestimmt, was darin geschieht. Deshalb haben wir (Berger/Nord) diese Stelle so übersetzt: »Seht zu, dass ihr die Zeit zum Guten nutzt. Denn die Tage sind voll von Bösem.« Um die rechte Füllung der Zeit geht es auch in 5,19: »Tragt einander Loblieder, Hymnen und vom Heiligen Geist eingegebene Lieder vor.« Denn Musik hat für antikes Verständnis vor allem mit Zahlen und Zeit zu tun. Sowohl die Höhe als auch die Länge der Töne, der Rhythmus wie auch der Zeitpunkt des Singens überhaupt – alles das ist eine Frage der Zeiteinteilung (vgl. Augustinus, De musica). Der Verfasser des Eph meint daher: Kauft die Zeit! Versucht, ihr einen Herrn zu geben, sie dem Herrn zu unterstellen, dem sie in Wahrheit gehört. Zu Eph 5,19; Kol 3,16 – Gesänge aus der Kraft des Heiligen Geistes: Hier verbinden sich drei religionsgeschichtliche Voraussetzungen. 1. Es gilt, dass jede Huldigung und aller Kult, den die Menschen Gott darbringen, vom Heiligen Geist bzw. von Engeln zu Gott getragen werden. Das gilt vom Gebet (Röm 8,26f; Gal 4) wie vom Opfer (Hebr 9,14). – 2. Das Gebet der Christen wie auch ihr Gesang sind vom Heiligen Geist inspiriert und haben damit ihren Ursprung in Gott. Was die Christen Gott darbringen, geht auf seine eigene Gabe zurück. So ist es Gott gemäß, was eine nur menschliche Geste nie sein könnte.
Der Brief an die Epheser
– 3. Aus der zeitlich und räumlich benachbarten Hermetik gibt es Zeugnisse für die Auffassung, dass in den Menschen göttliche Kräfte singen; vgl. dazu Corpus Hermeticum 13,15-21: »… deshalb singen die Kräfte in mir bei allen Dingen. Der Sänger fordert die Kräfte, die in ihm selbst sind, zum Lobpreis auf. … Von dir her habe ich den Lobpreis des Lebens bekommen« (Berger/Colpe, Textbuch, Nr. 532, 284). Zu Eph 5,21: Der Satz ist als generelle Überschrift für das Folgende anzusehen; das Verb wird in V. 24 wieder aufgenommen. Die Art, in der der Mann sich wie ein Sklave seiner Frau unterwirft, wird christologisch begründet. Denn Jesus hat sich »gegeben«, und zwar nicht nur an seinem Lebensende, sondern in seinem ganzen Leben. Jesu ganzes Leben ist radikales Sein zugunsten anderer. Das kennt die Antike so nur von Sklaven.
Eph 5,22 – 6,9: Christliche Haustafel Hier liegt ein Exemplar der Gattung »Haustafel« vor (s. K. Berger, Formen und Gattungen, 2005, § 51). Der Verfasser bringt hier die für einen Gemeinde(rund)brief überaus wichtige Konkretion. Die Gattung der Haustafeln konnte sich in der stoisch angehauchten Philosophie der Zeit des Eph leicht entfalten. Sie passt besonders in die theologische Konzeption des Eph. Ein Leib ist für heutiges Verständnis zwar eine sensible, biotopartige, organische Lebenseinheit, für die Zeit des Eph aber ein geregeltes, »funktionierendes« Wunderwerk im abgestimmten Zusammenspiel der einzelnen Instrumente, einem Konzert vergleichbar. Im Leib herrscht vor allem Ordnung, harmonische, zielgerichtete Unterordnung aller Glieder und Organe unter die Regeln des Miteinanders. Genau das entsprach der stoischen Auffassung von dem in der Welt, vor allem in der Natur, waltenden vernünftigen Ordnungsprinzip. Jesus Christus aber ist als der Beginn der Neuen Schöpfung (durch die Herzen der Menschen) der Vollender der Ordnung. Für den judenchristlichen Verfasser des Eph steht diese Ordnung nicht im Widerspruch zum Gesetz des Alten Testaments, sondern ist auch dessen Vollendung
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Kapitel 5
(vgl. auch zu Mt 5,17). Daher ist in dieser Haustafel wirklich die Mauer eingerissen, die Juden und Heiden trennte (2,17). Im christlichen Haus realisiert sich die neue Einheit der Menschen. Das ist besonders im Verhältnis zwischen Mann und Frau erkennbar, bei dem es mir um die Ehe zwischen Judenchristinnen und Heidenchristen zu gehen scheint. Zu Eph 5,21-32: »Unterwerft euch einer dem anderen [in Ehrfurcht, als gälte es Christus]« (Berger/Nord). Sich zu unterwerfen, sich auf den Boden zu werfen vor jemandem gehörte sich für Sklaven gegenüber ihren Herren. Weshalb soll diese Beziehung der Maßstab für das Verhalten der Eheleute miteinander sein? Was hat das mit Liebe zu tun? Bei Ehemann und Ehefrau geht es nicht nur um zwei Menschen, sondern Gott ist der Dritte im Bunde, und zwar auf eigentümliche Weise. Nicht so, dass er »zwischen« beiden stünde, sondern dass er hinter beiden steht. Der altchristliche Grundsatz »Hast du deinen Bruder gesehen, so hast du deinen Herrn gesehen« gilt wechselseitig von Mann und Frau. Wenn der Mann seine Frau sieht, dann sieht er Gott, und wenn die Frau ihrem Mann begegnet, sieht sie Gott. Denn der Mensch ist nach Gottes Bild erschaffen, und diese Ebenbildlichkeit ist in Jesus Christus erneuert. Insbesondere gilt eine enge Entsprechung von Christus und Kirche zum Verhältnis von Mann und Frau. Das ist ein sehr altes und für die neutestamentliche Christologie grundlegendes Bild: Jesus ist als Messias der neue Bräutigam des neuen Gottesvolkes. Aus dem Alten Testament wird das Bild der Ehe zwischen Gott und seinem Volk aufgegriffen und erneuert. In sehr alten Zeugnissen des Neuen Testaments ist das Bild von Jesus als dem Bräutigam breit gestreut (vier Evangelien, Paulus, Eph, Offb, außerdem: 2 Clem; Past Herm). Es hängt auch zusammen mit der Auslegung von Gen 2: Eva, die aus der Rippe Adams gebildet wurde, steht für Israel. Wenn Jesus Christus der neue Adam ist, dann ist die aus seiner Seite entstandene »Eva« die Kirche. Der Mann ist das »Haupt« der Frau, weil er früher erschaffen ist und sie aus seinem Leibe stammt, und so ist in der Tat Adam das »Haupt« des Leibes. Und natürlich ist der neue Adam das Haupt der Kirche (1 Kor 11: Der Mann ist Haupt der
713 Frau, Christus Haupt des Mannes, Gott Vater Haupt des Christus). Gleichzeitig bleibt aber das Bild von Gen 2 intakt für die Darstellung des Verhältnisses von Mann und Frau. Daher gilt: Das Verhältnis von Adam und Eva, von Mann und Frau, von Christus und Kirche ist jeweils analog. Dass der Mann das »Haupt« der Frau sei, ist demnach eine zu dieser Zeit übliche Auslegung von Gen 2. Die Schöpfungsberichte werden als in jeder Hinsicht normativ für die Gesellschaft verstanden. Gewiss ist in ihnen nicht von der Ehe und von den Beziehungen innerhalb der Ehe die Rede. Es gehört nun zur Eigenart des frühchristlichen (und katholischen) Bild-Denkens, dass diese Ähnlichkeit der Beziehungen nicht (Gedanken-)Spielerei ist, sondern Substanz hat. Daher ist in jeder dieser Beziehungen auch immer die andere mitbetroffen, mitberührt. Das Verhältnis Christus–Kirche bedeutet daher wirklich etwas für jede christliche Ehe und umgekehrt. So ist nach katholischer Auffassung auch die Sakramentalität der Ehe zu begreifen. Die christliche Ehe ist dem Verhältnis Christus–Kirche »eingepflanzt«. In Eph 5 ist daher von der wechselseitigen Unterwerfung die Rede: In der ehelichen Beziehung von Mann und Frau ist Gott selber wirksam. Daher ist hier auf jeden Fall heilige Scheu und Unterwerfung vor dieser besonderen Weise der Wirkgegenwart Gottes angebracht. In jeder Ehe begegnen die Menschen einem realen Teil der Zuwendung Gottes zu den Menschen. Daher ist in jedem Ehepartner Gott tangiert. Der Text in Eph 5 richtet sich fast ausschließlich an Männer, hält speziell sie für der Ermahnung und Veränderung bedürftig. 3 ½ kurze Verse gelten Frauen, 8 ½ längere den Männern. Sie vor allem müssen zurechtgewiesen werden, auch wenn es vielleicht vor allem Frauen waren und sind, die hier (wirklich) zuhörten und zuhören werden; denn sie leiden vieles, und jedes Signal der Kursänderung ist wie ein Morgenrot. Ich finde es erstaunlich und beunruhigend, was hier den Männern zugemutet wird: So wie Christus die Kirche geliebt und sein ganzes Leben für sie eingesetzt hat, damit sie rein und schön sei, so soll der Mann seine Frau lieben und für sie da sein. Drei Dinge finde ich hier bemerkenswert. Einmal ist der Verfasser offenbar kein weltfremder
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714 Geist. Er weiß, was eine Frau begehrenswert macht. Denn wenn er sagt, Christus habe seine Braut herrlich werden lassen, ohne Makel und Falten oder etwas davon, damit sie vollkommen und tadellos sei, dann gibt er zu erkennen, dass er etwas von Schönheit versteht. Denn »herrlich« ist »strahlend«, »ohne Makel und Falten« ist »von guter Figur und jugendlichem Aussehen«, »hübsch und schick«, eine Frau wie aus dem Märchenbuch. Erstaunlich und bedenkenswert ist nur: Diese Attribute sind nicht etwa Bedingung der Heirat wie Wunschzettel in Annoncen für Partnersuche, sondern sie sind Folge des Tuns des Ehemanns. Er ist verantwortlich für alle diese Qualitäten seiner Frau. Jeder ist für die Qualitäten des anderen ganz wesentlich verantwortlich. Zum anderen ist in der Wirkungsgeschichte dieses Briefes wenig beachtet worden, was hier den Männern zugemutet wird. Wie Christus sollen sie ihre ganze Existenz ihrer Frau widmen. Die früher übliche deutsche Übersetzung mit »sich hingeben« trifft nämlich nicht. Gemeint ist Jesus nicht als der, der sich für seine Kirche gerne in den Tod gegeben hat. Das wäre ein fragwürdiges Vorbild für einen Ehemann, der doch nicht dazu angehalten wird, möglichst bald für seine Frau zu sterben, um so dem Joch der Ehe schnell zu entkommen. Nein, gemeint ist mit dem »sich Geben« Jesu ganze Existenz, sein ganzes Leben und Leiden. In der Tat: Meistens sind Frauen die Leidenden. Doch hier wird da sein für andere und leiden für andere eindeutig dem Mann zugemutet und damit die normale Erwartungshaltung umgekehrt. Der Christus, der hier vor Augen tritt, ist eine besondere Art von Mann, eine bleibende Provokation für jeden Mann. Ein Ziel außerhalb dieser Existenz zugunsten seiner Frau wird für den Mann in diesem Text überhaupt nicht genannt. Die Art von Mann, die Christus darstellt, widerstrebt dem »alten Adam« erheblich. Der Autor des Epheserbriefes wusste wohl, dass seine Vorschläge recht umstürzend waren. Das erklärt auch die merkwürdige Mahnung an die Frau zum Schluss, sie solle »den Mann fürchten« – und das, obwohl der Verfasser den üblichen Teil über die Frau zu Beginn des Abschnittes schon dargeboten hatte. Hier aber wird die Mahnung zum Fürchten »nachgeliefert« – fürchten: wie man Gott fürchtet, in religiöser Scheu. Denn wenn der Mann das tut, was Christus tut, wenn er real
Der Brief an die Epheser
daran Anteil hat, dann geht es hier nicht zuerst um Moral, sondern um das Heilige in der Ehe.
Eph 6,1-8: Kinder und Väter, Sklaven und Herren Nachdem Paulus in Eph 5,21-33 das Verhältnis von Mann und Frau erörtert hat, wendet er sich jetzt anderen Relationen im Haus zu, dem Verhältnis von Eltern und Kindern und dem von Sklaven und Herren. Das ganze Stück Eph 5,216,10 ist daher der Beitrag des Eph zur Gattung der »Haustafel«. Einem damaligen Leser mussten daraus folgende Punkte auffallen: a) Sowohl die Beziehung Kinder/Eltern als auch die Beziehung Sklaven/Herren wird (wie schon das Verhältnis Frau/Mann im Vorangehenden) unter dem Aspekt der Gegenseitigkeit gesehen. Nicht nur die Untergeordneten, sondern alle Beteiligten haben Pflichten gegenüber der zugeordneten Gruppe. b) Alle Pflichten erhalten eine religiöse Begründung. Bei Eltern und Kindern heißt es »weil Gott es will« oder »wie Gott es will«. Bei Sklaven und Herren heißt es, dass der Gehorsam der Sklaven zu leisten ist, »als gälte er Christus«. Denn die Sklaven sind »Sklaven Christi« (6,6). Paulus selbst nennt sich bisweilen »Sklave Christi«, insofern ist das, was hier den Sklaven empfohlen wird, nichts Besonderes im Rahmen paulinischer Theologie. Auch hier geht es um Gottes Willen (6,6). c) Paulus wartet geradezu auf das Stichwort »Freiheit«. Er bringt es hier fertig, angesichts des Herrn, Sklaverei und Freiheit zu relativieren. Daher erklärt er im Blick auf Gott die soziale Differenz zwischen Sklaven und Freien für unwesentlich. Denn was allein entscheidet, ist das Tun des Guten. Wer Gutes tut, bekommt es vom Herrn vergolten; damit wird vorausgesetzt, dass Gott der für Sklaven und Freie gemeinsame Herr und Sklavenhalter ist. Alle sind darauf angewiesen, vom Herrn für ihr Tun angemessene Honorierung zu empfangen. d) Interessant ist die Unterscheidung: Die Kinder sollen gehorchen, »weil es der Herr will« – das geht aus dem vierten Gebot hervor. Aber bei den Kindern fehlt die Angabe, dass die Eltern »wie der Herr« zu betrachten seien. Die Autorität der Herren gegenüber den Sklaven wird also
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Kapitel 6
weitaus stärker religiös betont als die der Eltern gegenüber den Kindern. e) Man darf daher fragen, wie Paulus zu der Erwartung kommt, den irdischen Herren sei zu gehorchen, »als gälte es Christus«. (Das spätere Kirchenrecht hat dieses Modell auf das Verhältnis gegenüber den Bischöfen, ja die vom Bischof bestellten Hausoberen ausgedehnt). Eng verwandt ist jedenfalls Eph 5,21 (»Unterwerft euch einer dem anderen in Ehrfurcht, als gälte es Christus!«). Vgl. 5,22 »wie dem Herrn« mit 6,5 »wie Christus«. Wenn man einem Menschen gehorcht, wie man Gott gehorcht, dann sieht man Gott sozusagen »direkt hinter ihm« stehen. In einer solchen Beziehung steht der, dem man Gehorsam schuldet, als Repräsentant und Abbild Gottes über dem, der zu Gehorsam aufgerufen ist. – Auch hier ist die jüdische Abbild-Theorie durch einen Vulgär-Platonismus zu erheblicher Wirkung verstärkt worden. – Aus 1 Thess 4,8 geht hervor, dass diese Auffassung insbesondere im neutestamentlichen Apostelbegriff ihre Spuren hinterlassen hat. Man nennt das, was Paulus in 1 Thess 4 von sich sagt »stellvertretende Affiziertheit«. Was man dem von Gott Gesandten antut, betrifft direkt Gott. Der Apostelbegriff ist mithin nur ein Ausschnitt aus allgemeineren theologischen und anthropologischen Auffassungen dieser Zeit.
Eph 6,10-20: Christsein als Kampf mit geistlichen Waffen Die gesamte christliche Existenz wird als Kampf mit mächtigen Gegnern dargestellt, und zwar hier als Nahkampf jedes einzelnen Gläubigen. Das ist eine direkte Entsprechung zum Nahkampf Jesu gegen die Dämonen nach den ersten drei Evangelien. Bei Jesus wird dieser Kampf mit Hilfe des Heiligen Geistes geführt; vgl. dazu: Mk 1,10 (Geistverleihung) und Mk 1,23 (Vertreibung unreiner Geister), hier in Eph 6,17 f. – An der Stelle der Machtworte und Befehle Jesu steht in Eph 6,18 ff das Gebet (dass auch die Dämonen durch Gebet vertrieben werden, ist bekannt: Mk 9,29; Mt 17,21; Testament des Salomo C 1,3: Gebet um Herrschaft über Dämonen; ZosimosApk 20: Satan durch Gebet besiegen). Gebet ist Schwert des Heiligen Geistes. Das Wort aus Gottes Kraft ist
715 auch nach Hebr 4,12 ein Schwert, und nicht zuletzt sind die richterlichen Machtworte aus Jesu Mund wie ein zweischneidiges Schwert (Offb 1,16; 2,12; 19,15; 2 Thess 2,8). Dass das Gebet ein geistlicher Kampf gegen widrige Mächte ist, scheint eine alte Erfahrung zu sein (vgl. Gen 32 und den Ausdruck des Apostels Paulus in Röm 15,30, der um Mitstreiten der Römer im Gebet bittet; ähnlich Kol 4,12; nach dem jüdischen Traktat über den Tod des Mose (ed. Gfroerer 515) waren die Gebete des Mose »wie ein Schwert, das alles schneidet«; Philo, De Iona 30: »ringen«). In diesen Themenbereich gehört auch die Kopfbedeckung der Frauen als Schutz gegen Dämonen, in deren Sphäre sich die Beterin begibt. Alle erwähnten Teile der Rüstung sind defensiv, nur das Wort Gottes durch Gebet ist aggressiv. Auch dieses ist ein ungewöhnlicher Aspekt: Alle »Tugenden« und andere Gaben des Himmels an den Menschen sollen ihn schützen vor bösen Mächten. Im Übergang von V. 17 zu V. 18 ist das »Wort Gottes« durch »Anbetung und Flehen« realisiert. Das Ziel ist die Verkündigung des Evangeliums nach 6,19. Wie hat der Verfasser sich das praktisch vorgestellt? Die Basis der Verkündigung ist Anbetung und Bittgebet. So empfängt der Verkündiger den Heiligen Geist, die Kraft der Verkündigung. Diese Verkündigung bezieht sich auf das in Eph geschilderte Geheimnis. Sie wirkt wie ein Schwert. So hat es schon Jesus gesagt, der nicht Frieden, sondern das Schwert gebracht hat, d. h. ein Wort, das die Menschen zu Ja oder Nein zwingt (und dadurch die Menschen spaltet); vgl. Mt 10,34-36. Eph 6 steht daher in vielfacher Hinsicht in einer direkt an Jesus anschließenden Auffassung von der Funktion der Verkündigung. In den übrigen Briefen des Neuen Testaments hat regelmäßig der Gekreuzigte und Auferstandene die Mächte und Gewalten überwunden. Denn er ist in den Himmel hinein auferstanden und hat dabei die Mächte und Gewalten unterworfen. Auch Eph 6,12 gibt zu, dass die Mächte und Gewalten »im Himmel« sind. Aber die Christen können gegen sie den wahren und notwendigen Kampf führen, und zwar mit der »geistlichen Waffenrüstung«. Ursprung ist der »heilige Krieg«, für den Gott sein Volk mit Waffen von übermenschlicher, magischer Macht ausgestattet hat.
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716 Vgl. als Texte: Jes 11,5 (Gerechtigkeit, Treue); Jes 59,17 (Gerechtigkeit, Heil, Rache, Zorn); Ri 6,34 (LXX) (Geist des Herrn kleidete ihn); LAB 36,2 (Gideon zog den Geist des Herrn an … Schwert des Herrn); Weisheit (Sap Sal) 5,17-22 (Eifer, Hoffnung, Gerechtigkeit, Gericht, Heiligkeit, Zorn); 1 Thess 5,8 (Glaube, Liebe, Hoffnung). – Alt-parthische Parallele bei Berger/Colpe, Textbuch, Nr. 535, 286 (Geist der Weisheit, der Genügsamkeit, der Wahrheit, der Dankbarkeit, des vollkommenen Denkens, der Freigiebigkeit, des Maßhaltens, des Bestrebens, der Vorherbestimmung).
Schon im Judentum werden diese Waffen als solche des Heiligen Geistes (vgl. Eph 6,17) verstanden. Auch dann, wenn der Richter am Ende seine Feinde mit dem Hauch seines Mundes töten wird, ist das so, als käme ein Schwert aus seinem Mund (2 Thess 2; Offb 1f). Denn für den, der Gottes Macht hat, ist alles leicht und schnell überwunden. Paulus schließt sich auch in 2 Kor 10,3-6 dieser Tradition an: »Ich bin zwar ein schwacher Mensch, doch wer mir den Kampf aufzwingt, wird sich wundern. Denn meine Waffen sind nicht schwach und brüchig, sondern hier wirkt Gottes Macht. Festungen der Gegner werde ich zerstören, Gedankenpaläste schleifen, jeden Wall, den ihr gegen das wahre Christentum aufschüttet, mache ich dem Erdboden gleich, alle Freigeisterei setze ich gefangen und zwinge sie zum Gehorsam gegen Jesus, den Messias. Ich bin durchaus bereit, jeden Ungehorsam strengstens zu ahnden, damit ihr endlich alle gehorcht.« – Die Teile der Rüstung sind in Eph 6: Gürtel – Brustpanzer – Schuhwerk – Schild – Helm – Schwert. Diesen Teilen der Ausstattung entspricht ein »Tugendkatalog«, der hier aber mehr umfasst als nur Tugenden, nämlich göttliche Kräfte: Glaubwürdigkeit – Gerechtes tun – Friedfertigkeit – Glauben – Erlösung – Heiliger Geist bzw. Wort Gottes – Gebet – wachen. Gegenüber ähnlichen Listen mit Rüstungsgütern überrascht hier der stark wortbezogene Aspekt: In V. 17f spricht der Verfasser vom Wort Gottes, von Gebet und Flehen und dass dieses allzeit im Heiligen Geist geschehen soll. Eng verwandt ist 1 Thess 5,8-10: Brustpanzer – Helm, bezogen auf Glaube, Liebe, Hoffnung. Im direkten Kontext: Heil (vgl. Eph 6,17), Wachen (vgl. Eph 6,18), Nüchternsein (vgl. Sklavengleichnisse
Der Brief an die Epheser
Jesu und 1 Petr 5). Den geistlichen Kampf setzt auch 1 Petr 5 voraus (»Widersteht ihm standhaft im Glauben«). Wie in Eph 6 ist auch dort der Teufel der Gegner. Die nächstliegenden Texte mit »geistlicher Waffenrüstung« sind damit 1 Thess 5; 1 Petr 5; unter den Qumrantexten: 1 QSb 5,24 (Völker schlagen mit der Kraft des Mundes, Geist des Rates, Geist der Erkenntnis; Gerechtigkeit der Gürtel deiner Lenden und Treue der Gürtel deiner Hüften). Die Kraft des Mundes in 1 QSb entspricht dem Schwert des Geistes, und man beachte auch den Geist in 1 QSb 5,24. Die Bindung des Gebets an den Heiligen Geist kennen wir von Jesus (Lk 11 und Paulus in Röm 8,15 f.26; Gal 4,6), ferner Jud 20; Past Herm, Mand 10,3. Insbesondere aber ist der Heilige Geist der Gegner des Teufels und der Machthaber und Gebieter in den Lüften, denn diese sind Geister wie er. Eph 6 ist damit ein Zeugnis des pneumatologischen Dualismus, der sich schon in Qumrantexten in katalogartigen Listen äußerte (1 QS 3,18-4,9). Das heißt: Der Heilige Geist oder die guten Geister stehen den bösen Geistern und dem Teufel jeweils in einer Reihe von Kräften, Tugenden oder Untugenden gegenüber. Die Verbindung von Gebet und Wachen (6,19) weist auf die Sklavengleichnisse Jesu und auf 1 Petr 4,7 sowie Lk 21,34-36, ist aber aus dem Judentum bekannt (Sir 39,6: morgens in den Tempel gehen und beten; 5 Esra 2,13: rogate … vigilate, prope est regnum dei). Die Verknüpfung von Gebet, Wachen und Heiligem Geist steht auch in der Versuchungsgeschichte nach Mk 14,32-38. Eng verwandt ist Eph ebenfalls mit 1 Petr 5,6-9 (Gebet – Wachen – Widerstand leisten [vgl. Kampf in Eph 6,11f] – Anziehen [vgl. geistliche Waffenrüstung anlegen Eph 6,13] – Teufel als Gegner).
Die Häufigkeit der beobachteten Verbindungen (Gebet und Geist, Gebet und Wachen, Gebet, Wachen und Geist; geistliche Waffenrüstung) zeigt, dass Eph auch bei den Themen Gebet und Heiliger Geist eine eigene und gut informierte Position einnimmt. Neben der Lehre vom Leib Christi zeigt sich damit in Kap. 6 dieses Briefes ein weiterer theologischer Höhepunkt. Die theologiegeschichtliche Einordnung ergibt drei Bezugsfelder: 1 Petr 4f, 1 Thess 5 und Mk 14 in Verbindung mit Wachen (Sklavengleichnisse). Alle diese Zeugnisse sind vergleichsweise sehr alt. Das The-
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Kapitel 6
ma Wachen weist auf angespannte Erwartung der Endereignisse. Praktisch erweist sich damit eine tragende Rolle des frühmorgendlichen Gebetes. Zu Eph 6,18-20: Der Schluss ist stark (auto-)biografisch gefärbt, wie öfter bei Paulus. Im
717 Schlusssegen 6,23 steht das Wichtigste (peroratio): »Frieden und Liebe, die aus Glauben kommt«. Dass Tychikus so sehr empfohlen wird, legt die Ahnung nahe, er habe den Brief im Auftrag des Apostels geschrieben.
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Der Brief an die Philipper
Kommentare: Ambrosiaster (4. Jh.). – Joh. Chrysostomus († 407). – Severian v. Gabala († 408). – Hieronymus († 419/20). – Theodoret v. Cyrus († 466). – Joh. Damascenus († 749). – Haimo v. Halberstadt (ed. 1519). – Hrabanus Maurus († 856). – Atto Vercellensis († 961). – Bruno d. Karthäuser († 1101). – Theophylakt († 1118). – Petrus Lombardus († 1159). – Thomas v. Aquin († 1274). – Nikolaus v. Lyra († 1349). – Dionysius Carthusianus (vor 1471). – M. Luther (1522). – J. P. Bugenhagen (1524). – Erasmus v. Rotterdam († 1536). – Ph. Melanchthon
(† 1560). – J. Calvin († 1564). – P. Stevart/J. Beringer (1595). – C. a. Lapide (1692). – B. Justinianus (1612). – I. A. Velazquez (1628). – J. A. Gleich (1715). – J. J. Wettstein (1752). – G. Rosenmüller (1791). – G. Tr. Zachariä (1791). – C. S. Matthies (1835). – A. G. Hoelemann (1839). – G. C. A. Lünemann (1847). – J. T. Beelen (1852). – R. A. Lipsius (1891). – H. v. Soden (1906). – P. Ewald (1908). – M. Dibelius (1913). – W. Michaelis (1935). – E. Peterson (1952). – E. Lohmeyer (1964). – J. Gnilka (1968). – G. Friedrich (1976). – N. Walter (1998).
EINFÜHRUNG Dieser Brief ist der mutmaßlich späteste Gemeindebrief des Apostels Paulus. – Zur Situation der Adressaten in Philippi: Die Gemeinde ist zumindest bedroht von den üblichen Gefahren, die allen menschlichen Vereinigungen drohen: von Uneinigkeit, Eifersucht und Ehrgeiz. In dieser Lage mahnt Paulus die Philipper zu dem, was wir vor Zeiten Demut nannten, heute aber als »Selbstzurücknahme in Machtansprüchen« beschreiben. Mit seinen eigenen Worten sagt Paulus das in 2,4: »Seht nicht auf eure eigenen Ziele, sondern blickt alle auf das, was für andere gut ist.« Wie in 1 Kor 8 und 10 ist der Maßstab we-
der der eigene Vorteil, noch die eigene Freiheit, noch das eigene Gewissen(!), sondern der andere, seine Freiheit und die Unversehrtheit seiner Rechte. Warum dieses? Nicht aus purem Altruismus, als träten Christen grundsätzlich hinter dem anderen zurück und damit sei alles gelöst, sondern weil Gott selbst so handelt. In Kap. 3 haben wir es der Gattung nach mit einem Testament zu tun. Daher ist der Brief ein Abschiedsbrief. Alles spricht dafür, dass er in Rom entstanden ist. Das bedeutet eine relativ späte Datierung um 65 n. Chr.
KOMMENTAR Phil 1-2: Die Demut Christi als Urbild der Einheit der Gemeinde Phil 1,4-6.8-11: Verhältnis von Phil 1 und 1 Thess 3 Paulus spricht zu Anfang die Gemeinde ganz ähnlich an, wie er es in 1 Thess 3, seinem ältesten Brief, gegenüber den Thessalonichern getan hat. Denn auch hier nennt Paulus zuerst die Fürbitte des Apostels für die Gemeinde, und zwar in dem Dreieck Paulus – Gott – Gemeinde. Auch hier spielt Paulus auf einen dynamischen, sich intensivierenden Vorgang an (vgl. mit 1 Thess 3,12).
Dann nennt Paulus auch hier das Gericht. Sein Wunsch, die Gemeinde »möge am Tag Jesu Christi rein und ohne Fehler dastehen können, gesegnet mit den reichen Früchten eines geradlinigen Lebens« (Phil 1,10b.11), entspricht 1 Thess 3, 13: »… dass ihr heilig und gerecht dasteht vor unserem Gott und Vater, wenn Jesus mit allen seinen heiligen Engeln wiederkommt«. Kap. 1 zeigt auch sonst eine deutlich eschatologische Ausrichtung: Nach V. 6 wird »Gott alles zu einem guten Ende führen an dem Tag, an dem Jesus
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Kapitel 1
Christus wiederkommt«. Schließlich wünscht Paulus der Gemeinde ein Wachstum der Liebe (vgl. Phil 1,9 mit 1 Thess 3,12), beide Male dasselbe Verbum »überreich sein« (immer mehr werden). Paulus verwendet also öfters ganz ähnliche Bausteine. – Dabei ist Phil 1 in mancherlei Hinsicht prägnanter und dichter, setzt dann auch andere Akzente. Gerade im Vergleich dieser zeitlich rund 10 Jahre auseinanderliegenden Briefe wird die jeweilige Eigenheit deutlich. Die Eigenart von Phil 1 liegt in Folgendem: Paulus betet für die Gemeinde »mit Freude« über ihre »Gemeinschaft mit dem Evangelium«. Das ist zweimal Mystik. Denn beten mit Freude ist ein »sich selbst tragendes« Gebet, das seine Kraft aus dem Bereich bezieht, dem es sich zuwendet. Und »Gemeinschaft mit dem Evangelium« meint Anteilhabe, Freude auch auf der Seite der Gemeinde: die inhaltliche Basis für das, was man Kirchengliedschaft nennt. »Gemeinschaft« (griech.: koinonia) ist stets die verwirklichte, sichtbare Zugehörigkeit zur Kirche, nicht die nur potenzielle. Sodann nennt der Apostel in 1,6 ein Zeitgerüst, in das auch die Gegenwart einzuordnen ist (»vom ersten Tage bis jetzt … vollenden am Tag Jesu Christi«). Subjekt des Satzes ist Gott, Objekt das »gute Werk«, d. h. die Erlösung. Auch Gott tut also gute Werke bzw. das eine gute Werk. Paulus ist zuversichtlich, dass Gottes Wirken alle drei Zeiten umfasst. Diese differenzierte Zeitwahrnehmung widerspricht durchaus der älteren These der Ausleger, am Anfang des Christentums habe man stets »für morgen früh mit dem Weltende gerechnet«, da alle Zeit aufgehoben und zum Ende gekommen sei. Schließlich richtet sich das Gebet des Apostels darauf, die Liebe möge immer mehr wachsen »in [gegenseitigem] Verstehen und in der Gabe der Einfühlung« (1,9). Es gibt also durchaus ein Mehr oder ein Weniger an Liebe, und das Mehr liegt nicht einfach in mehr Aktivismus, sondern besteht im Wachsen differenzierter Wahrnehmung und Sensibilität. Das ist also durchaus ein Wachsen nach innen, und damit sind wir bei dem, was man später den geistlichen Fortschritt nannte. Paulus sagt es bereits zu V. 6: Gott wirkt und führt zum Ende. So ist es mit Pflanzen im Garten: Wenn der Mensch sie nicht stört, hindert oder ausreißt, wachsen die Pflanzen. Dass Paulus hier tatsächlich an Pflanzen denkt, zeigt das Bild
von der Frucht in V. 10. Kurzum: Paulus denkt an einen Weg, an den Prozess eines Wachstums, an das Drama eines Werdens. Damit denkt er an Biografie, nicht an Aufhebung der Zeit. Paulus gibt in diesem Kapitel einen Weg des Wachstums an: gegenseitiges Verstehen, Einfühlungsgabe und Differenzierung (»ihr kennt genau die feinen Unterschiede«). Weder wird alles nur moralisch gewertet, noch wird die Moral abgeschafft. Es zählt etwas anderes: wachsendes Verständnis. Dass es sich nur auf die anderen Menschen bezieht, sagt Paulus übrigens nicht. Bezieht es sich etwa zur Hälfte auf den Einzelnen selbst? Ganz wörtlich übersetzt meint Paulus »Verständnis«, »Sensibilität«, »Differenzierung« als Ausdrucksformen der »Liebe«. Vor allem nehmen sich nach Paulus die Christen nicht die Zeit, sich selbst zu verstehen, sich selbst entschlüsseln zu lernen und den eigenen Weg zu bedenken. Wenn man sich nicht die Zeit nimmt, die eigenen Wege zu bedenken, kann man auch den Glauben nicht bewahren. Ein weiteres Stichwort des Apostels: »überreich werden« (V. 9; vgl. 1 Thess 3,12). Für Paulus ein wichtiges Wort, weil es angesichts der oft tristen Gegenwart das Christentum unter dem Aspekt betrachtet, wie reich, getröstet und gesegnet die Christen schon sind. Das ist im Sinne des Apostels »messianische Zeit«.
Phil 1,20-27: Sprache der Sehnsucht An wenigen Stellen spricht Paulus von seiner persönlichen Hoffnung. Aber wo immer er das tut, redet er in der 1. Person und gebraucht die »Sprache der Sehnsucht«. Paulus äußert Gefühle, er lässt uns einen Blick in sein Herz tun. Es ist ein zerrissenes Herz. Denn Paulus erlebt das irdische Leben als Exil, als Ort der Verbannung. »Wenn ich physisch sterbe, so ist das nur Gewinn« – »Ich sehne mich danach, hier Abschied zu nehmen und ganz bei Christus zu sein. Das ist bei weitem das beste Los …« Ähnlich redet Paulus vom Stöhnen in Röm 8 und vom Exil auf Erden in 2 Kor 5. Er schildert öfter die zahlreichen Angriffe, Schmähungen und Leiden, die sein Leben begleitet haben wie eine dauernde Katastrophe mit nur kurzen Unterbrechungen, in den so genannten Peristasenkatalogen, Aufzählungen von Lei-
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720 den (vgl. K. Berger, Formen und Gattungen, 2005, § 76). Diese sind christologisch orientiert. Denn Paulus sieht in seinen Leiden seine Verbundenheit mit Jesus Christus. So ist es auch in Phil 1: »Ich bin zuversichtlich, dass, wie bisher so auch jetzt, Christus durch mein leibliches Geschick verherrlicht wird, ob ich nun lebe oder sterbe, denn mein Leben ist nur Christus …« (V. 20). Paulus selbst ist eine leibliche Inszenierung seines Herrn. Von seiner Predigttätigkeit weiß er, dass er dabei eher ängstlich und zitternd vor den Menschen steht, dass sich die Leute über sein erbärmliches Auftreten lustig machen (2 Kor 10). Umso mehr gibt Paulus dadurch dem Wirken Gottes Raum. Denn der Vater hat ihm die Vollmacht gegeben, den Sohn bildet er ab im Leiden und im Befreit- und Gerettetwerden, und der Heilige Geist wirkt den Glauben in den Herzen der Menschen. Paulus spricht hier über den so genannten Zwischenzustand. Auch nach Lk 23,43 ist für Jesus wie für den gerechten Schächer das Weilen im Paradies vor der Auferstehung anzusetzen. Mit dem Unterschied, dass bei Jesus diese Auferstehung schon »nach drei Tagen« geschieht. – Weil es um Leiblichkeit geht, deshalb ist auch der »Zwischenzustand« (wo die Verstorbenen, insbesondere die verstorbenen Christen vor der allgemeinen Auferstehung in der Gemeinschaft mit Christus geborgen sind) leiblich gedacht. Es ist noch nicht der Auferstehungsleib, wohl aber »das neue Haus, im Himmel bereitet«. In der Totenpräfation des Requiem kommt das in Übereinstimmung mit 2 Kor 5,1 zum Ausdruck: »nova in caelis habitatio comparatur«. Ein »neues Haus«, nämlich ein neuer Leib wird bei Gott bereitet. Nichts wäre für Paulus schlimmer als der leiblose Zustand als Gespenst. Der neue Leib ist, wie gesagt, noch nicht der Auferstehungsleib. Denn er ist noch nicht sichtbar, noch nicht global, hat noch nicht die Reste des alten Leibes in sich aufgenommen und verwandelt. Das alles geschieht erst bei der Auferstehung am Ende. Was bleibt angesichts solcher Selbsteinschätzung des Apostels für die Gemeinde? Wie sieht Paulus seine Gemeinde in Philippi, zu der er – jedenfalls nach Kap. 1 und 2 dieses Briefes – ein sehr gutes Verhältnis hat? Nach 1,26 soll die Gemeinde »dankbar, stolz und glücklich sein über alles, was Jesus Christus durch mich bewirkt«.
Der Brief an die Philipper
Der Einleitungsvers des folgenden Abschnitts 1,27 ist der Gattung nach (vgl. K. Berger, Formen und Gattungen, 2005, § 34) eine testamentarische Mahnung: »Lebt gemeinsam miteinander …, dass ihr ganz einig seid.« Nach allem, was wir aus diesem Kapitel über die unvertretbar persönliche Darstellung des Evangeliums haben sehen können, gilt wegen dieses Satzes im Kontext des Paulus: Wenn die Kirche einig sein will, braucht sie die Orientierung an einzelnen (apostolischen) Gestalten.
Phil 2,1-11: Das Beispiel Christi Der Abschnitt 2,6-11 wird als eigenständiger, älterer Block angesehen, den Paulus wohl hier eingefügt hat. Denn in diesem Abschnitt geht es um Jesu Selbsterniedrigung, um seinen demütigen Gehorsam bis zum Sklaventod am Kreuz und dann um seine Erhöhung. In der Geschichte der frühen Christen hat dieser Text offenbar die Aufgabe gehabt, die Aussagen über Jesus (Christologie) summarisch zusammenzufassen und zu begründen, weshalb sich das Evangelium den Heiden zugewandt hat. Denn der Schluss eröffnet eine universale Perspektive: Alle lebenden Wesen im ganzen Kosmos sollen ihre Knie beugen, um Jesus anzuerkennen. Denn er trägt als der Erhöhte den Namen Gottes selbst: »Kyrios« (Herr) ist die griechische Wiedergabe des Gottesnamens der hebräischen Bibel. Wenn jedes Knie sich beugt und jede Zunge dieses bekennt, dann ist das die Situation der universalen christlichen Kirche. Wichtig ist dabei, dass in Phil 2,10f ein ganz enger Bezug zu Jes 45,21b-25 besteht: »Es gibt keinen Gott außer mir … Bekehrt euch zu mir, lasst euch retten, all ihr Enden der Erde … Jedwedes Knie wird sich beugen vor mir, jede Zunge mir schwören!« Im Licht von Phil 2 bedeutet das: Der universale Anspruch des Gottes Israels wird erst verwirklicht in der globalen Völkermission der Christen. Und weil es noch immer um den einen Gott geht, endet Phil 2,11 auch mit der Formel »… zur Ehre Gottes des Vaters«. Indem der Vater dem Sohn seinen Namen gegeben, d. h. die Wesensgleichheit offen proklamiert hat, tritt der Sohn endgültig aus dem Dunstkreis Israels heraus und wird zum Zeichen für alle Völker. Er
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Kapitel 2
ist mit der Erhöhung nicht mehr nur der Messias Israels, sondern Gott, der eine Gott, im Angesicht aller Menschen der Erde. Für Paulus ist dieser Text daher von grundsätzlicher Bedeutung; denn das, was er als Apostel tut, wird in Jesus Christus selbst begründet. Es war ja von Anfang an keineswegs selbstverständlich, sondern das große, Paulus sein Leben lang begleitende Problem, ob es denn legitim sei, Nichtjuden zum Gott Israels zu bekehren ohne Beschneidung und Ritualgesetz. Aber warum ist der Weg Jesu selbst, der zu dieser universalen Proklamation hinführt, so kompliziert, warum verläuft er über Sklavenexistenz und Tod am Kreuz »aus Gehorsam«? Auffällig ist: In Phil 2 ist Jesu Tod am Kreuz nicht als Sühnetod gedeutet (was Paulus sonst durchaus tut). Entscheidend ist vielmehr der Kontrast zwischen »sich erniedrigen« und »erhöht werden«, den wir auch aus den Evangelien kennen (»Wer sich erniedrigt, wird erhöht«). Der Gedanke ist daher hier: Weil sich Jesus gehorsam erniedrigt hat, wurde er erhöht. – Wir fragen sogleich: War denn dieser »Test« nötig? Wenn Jesus Gott war, kannte der Vater ihn doch? – Der Vater kannte ihn, aber die Menschen nicht. Und nun wird am Weg des Sohnes sowohl erkennbar, wer der Sohn ist, als auch, welcher Weg zu Gott führt. Der Sohn wird erkennbar am Gehorsam und dass er sich ganz in Gottes Hand gibt. Selbst in den letzten und äußersten Versuchungen in Getsemani und am Kreuz hat sich der Sohn nicht vom Gehorsam abbringen lassen. Das andere, der Weg zum Himmel, wird für die Menschen durch Jesus vorgezeichnet. Das MtEv ist als ein solcher Weg Jesu gezeichnet, und der Weg führt von Mt 11,29 bis zum universalen Missionsbefehl in Mt 28, der an Phil 2,10-11 erinnert. Jesus ist Urbild der Erlösung. Wer ihm ähnlich wird in Demut und Gehorsam, den wird Gott verherrlichen, und vor der Gemeinde, der er zugehört, werden sogar die Menschen niederknien wie vor Jesus nach Phil 2,10 (vgl. Offb 3,9). Phil 2 spricht nicht nur über Jesus, sondern über den Weg aller zum Heil. So verwendet Paulus übrigens auch den folgenden Textabschnitt im Kontext von Phil 2; denn er sieht allen Anlass dazu, die Gemeinde zu ermahnen: »Lasst euch weder von Eifersucht noch von Ehrgeiz leiten, sondern übertrefft euch gegenseitig in Demut … So sollt ihr miteinander umge-
721 hen, wie es für die Gemeinschaft mit Jesus Christus selbstverständlich ist« (Phil 2,3-5). Aber warum geht es nur so: über Sklavesein, Demut und Kreuz? Das Wort »Sklave« beschreibt nach dem Alten Testament das vom Menschen gegenüber Gott geforderte Verhalten und seinen grundsätzlichen Status. Gott ist der Herr und der Mensch ist Sklave. Diese beiden Begriffe bilden ein Wortpaar: »Herr und Sklave«. Jede Annäherung an Gott ist nur möglich über die Anerkennung der Realität dieser Ausgangsposition. Das ist nichts anderes als das Hauptgebot (Dtn 6,4f) oder das erste Gebot des Dekalogs. Das Neue Testament sagt: Die Sehnsucht des Menschen, zu mehr berufen zu sein als zum Sklavendasein, ist nicht unsinnig. Doch gibt Gott jetzt von sich aus, was Adam und Eva sich nehmen wollten, als sie danach trachteten, zu sein wie Gott. Er gibt unter einer einzigen Bedingung: dass die Menschen anerkennen, dass sie Sklaven sind und Gott der Herr ist. Gäbe es diese eine Bedingung nicht, dann wäre der Monotheismus nicht geschützt und – schlimmer noch – es gäbe nur Rivalität, wer der größere Gott, wer göttlicher als der andere sei. Deshalb hat Paulus in Phil 2,2 unmittelbar vor diesem Abschnitt gemahnt: »Ihr könnt meine Freude vollkommen machen, wenn ihr euch ganz einig seid, einander alle gleichermaßen liebt und ein Herz und eine Seele seid und wenn ihr alle an demselben Strang zieht.« D. h.: Der eine und einzige Gott ist zugleich der Gott des Friedens. Denn wenn allein er Gott ist, dann sind es die Menschen nicht. Dann müssen sie sich als Sklaven miteinander vertragen. Diese Gemeinsamkeit ist die Grundlage für Frieden und Eintracht unter den Menschen. Es ist also ganz absurd zu meinen, die monotheistischen Religionen stifteten die Menschen nur zu Intoleranz ein. Genau das Umgekehrte gilt: Die gemeinsame Unterwerfung unter den einen Gott ist die größtmögliche Chance zum Frieden, die es geben kann. Wenn diese Chance irgendwo handgreiflich wird, dann hier. Denn die Ähnlichkeit mit Gott besteht nicht in der Intoleranz und darin, der Einzige sein zu wollen. Vielmehr ist der Gott der Bibel nur aus einem einzigen Grund intolerant im Sinne des ersten Gebotes: Weil es sonst nur Gerangel und Machtkämpfe gäbe. Jeder Christ, der sich fortan zu einem Machtkampf erhebt, fällt zurück in blankes Heidentum. – Phil 2 ist daher eine Ab-
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722 sage an den Versuch, eine Autonomie des Menschen ohne den Glauben an Gott zu verkünden, etwa nach dem Motto: Lieber etwas weniger emanzipiert und dafür etwas mehr Frieden. Wer sich von Gott emanzipiert, stürzt sich in eine Völkerschlacht.
Phil 2,6 Die meisten Übersetzungen zu Phil 2,6 lauten: »Er hielt es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein.« Die verneinte Aussage (nicht Raub) muss wenigstens theoretisch in ihrer positiven Form irgendeinen Sinn gehabt haben. Also: In welchem Sinne wäre die Gottgleichheit Jesu ein Raub gewesen? Hätte er Gott etwas gewaltsam (!) weggenommen? – Von Raub spricht man, wenn einer Schaden erleidet an seinem Eigentum. In welcher Hinsicht hätte das sein können? Kann man Gott etwas gewaltsam wegnehmen? Allein das zu denken ist schon recht absurd. Alles spitzt sich auf die Frage zu: Wieso sollte Jesus seine vorhandene Gottgleichheit als Raub betrachtet haben? Nun könnte man sagen: Der Raub hat darin bestehen können, dass Jesus sich an das Geliehene geklammert und nicht habe wiederhergeben wollen. Aber das nennt man nicht Raub, sondern vielleicht »Geiz«, also die entgegengesetzte Bewegung, nicht: etwas gewaltsam nehmen, sondern etwas nicht hergeben wollen. Dies ist nicht Raub, sondern Sturheit, Hartherzigkeit. Besteht bei der Ähnlichkeit Jesu mit Gott der Verdacht des Widerrechtlichen? Oder hätte Jesus vergessen können, dass ihm die Gottgleichheit gar nicht gehört, sondern dass der himmlische Vater sie geben und nehmen kann, bzw. dass er fordern kann, sie zurückzugeben. Hat einer je daran gedacht, dass Gottgleichheit unter Eigentumsvorbehalt Gottes verliehen wird? Ist das für hellenistische Juden überhaupt eine mögliche Denkform? Das griechische Wort harpagmos kann auch Entrückung (statt Raub) bedeuten, deshalb haben wir übersetzt: »Doch er meinte nicht, dass jemand, der Gott so ähnlich ist, wie entrückt (und fern von Leiden und Tod) sein müsse.« Für diese Möglichkeit der Deutung gibt es religionsgeschichtliche Analogien: Der in den Himmel oder zu Gottes Thron entrückte Seher, der vor
Der Brief an die Philipper
Gottes Thron entsprechend der Etikette des himmlischen Palastes verwandelt wurde bzw. Gottes Gestalt annahm, weigert sich ausdrücklich, wieder zur Erde zu den Menschen zurückzukehren. Er weigert sich insbesondere, dort zu sterben. Die Texte habe ich publiziert in ANRW II 25,2, 1184-1187 (Anm. 159): Ascensio Jesaiae griech. Rez 2,33-36; De Morte Mosis, ed. A. F. Gfroerer 317-333; äth Tod des Moses, ed. E. Ullendorff, 436; griech. EsraApk, ed. K. Tischendorf, 31; vgl. auch kopt Hen, ed. J. T. Milik 101. – Zu Entrücktsein als Bewahrtwerden vor dem Tod vgl. Hen (äth) 89,51b-53; Philo, Quaest. in Gen I 86; Josephus, Ant 9,28; Const Apost 8,41; Offb 12,5; Anhang slav Hen.
Der Seher in Gottes Gestalt weigert sich, auf die Erde zurückzukehren und zu sterben. Er hält seine Entrückung und die damit verbundene Einkleidung in himmlische Gestalt für seinen Weg, dem Tod zu entgehen. Auch in Phil 2 geht es um die Sendung auf die Erde und den damit verbundenen Tod. Jesus hätte dann seinen Aufenthalt beim Vater nicht als Entrücktsein, d. h. als Befreiung vom Sterbenmüssen betrachtet, sondern er hätte sich senden lassen wie die jüdischen Entrückten dann nach ihrer Weigerung schließlich auch. Der Konflikt ist aber in beiden Fällen der gleiche, nämlich der Widerstreit zwischen der Hoheit (des Gesandten Gottes) und dem elenden Tod des Boten Gottes auf Erden. Henoch und Elia wurden entrückt und so vor dem Tod bewahrt, und in Offb 12 wird das gesamte Geschick Jesu als Entrückung bezeichnet, und so deutet es auch der Koran (unter Weglassen der Kreuzigung). Die Pointe liegt demnach in Phil 2 darin, dass Jesus nicht vor dem Tod bewahrt werden will (wozu er als Gottessohn jedes Recht hätte), sondern gehorsam bis zum Tod ist. Das »Entrücktsein« ist demnach der Gegensatz zum Tod. Jesus erträgt dieses gehorsam, weil er auch gegen den Hass der Menschen eben diesen Menschen die versöhnliche Gegenwart Gottes verkünden und sie unter ihnen realisieren will. Zur Theologie von Phil 2,6-11 Der Weg des Gottessohnes geht steil nach unten und dann wieder steil nach oben. Er hat zu Anfang und dem Wesen nach Gottes Gestalt, d. h.: Er ist Ort der Gegenwart Gottes. Aber er meint
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Kapitel 2
nicht, diese Würde bedeute Entrücktheit, nämlich Freiheit vom Tod. Er wird Mensch und damit Sklave, denn im Verhältnis zu Gott sind Menschen nach der Bibel wie Sklaven. Der Hymnus hat eine besondere Auffassung von »Gestalt«; sie ähnelt der vom »Kleid« in anderen Texten. In Gottes Gestalt zu sein bedeutet für den Sohn nicht Äußerlichkeit, sondern innen und außen von Gottes Herrlichkeit so erfüllt zu sein, dass gesagt werden kann: Er war Gott gleich. Der Johannes-Prolog wird später sagen: Er war von Gottes Art, sein Sohn. Das bedeutet: Der Ursprung bleibt im Vater, aber der eine Gott stellt sich auch im Sohn dar. Gott ist von Anfang an Vater und Sohn (und: Heiliger Geist, was aber in Phil 2 nicht zur Sprache kommt). Damit ist Gott von Anfang an auf die Annahme des Menschen ausgerichtet. Aber er bleibt der eine und einzige Gott, der sich im Sohn (im Blick auf die spätere Annahme des Menschen) äußert, sich vor sich selbst darstellt. Mit dem Sohn zunächst nur auf diesen beschränkt, dann aber im Zuge der Erlösung auf alle Menschen ausgedehnt, sucht Gott als seinen Ort die Menschen. Paulus beschreibt in 2,6-11 das Geheimnis göttlichen Lebens. Indem der Sohn Gottes, der wie Gottvater ist (»Gott gleich«), unter den Menschen wohnt und freiwillig das Sklavendasein inklusive Sklaventod (Kreuzigung ist der typische Sklaventod) auf sich nimmt, wird er auf einzigartige Weise Gott »für« die Menschen. Phil 2,6-11 als gottesdienstlicher Text Man kann diesen Hymnus als gottesdienstlichen Text lesen: »Kommt, lasst uns ihn anbeten!« – Für dieses Motto ist dieser Text wie gemacht. Der Verfasser dieses (vielleicht vorpaulinischen) Hymnus sieht die christliche Gemeinde versammelt um den erhöhten Christus. Die Kniebeuge der ganzen Welt ist im Kern auch die Kniebeuge der versammelten Gemeinde vor dem Herrn. Christlicher Gottesdienst geschieht im Angesicht des Erhöhten. So wird in der Demut gegenüber dem Herrn auch die Demut überhaupt eingeübt. Im liturgischen Gestus der Unterwerfung wird vollzogen, was in der Mahnrede erwünscht ist. So bestehen Liturgie und Gemeindepraxis in lebendiger Verschränkung: Der Gottessohn selbst hat sich erniedrigt und wird erhöht. Die Gemeinde sieht den Erhöhten und beugt vor ihm demü-
723 tig das Knie. Vor jedem Bruder und jeder Schwester ist jeder Christ demütig, das ist das Ziel der Mahnrede. Jeder Christ hat dieses an Christus und in der Liturgie gelernt. Die Versammlung vor dem Erhöhten hat ein visionäres Element, weil Liturgie nachvollzieht, was ein visionäres Grundgefüge hat: Der Erhöhte wird von allen Völkern gefeiert. Dieser Anfang der Liturgie der Gemeinde ist zugleich der Ausblick auf das Ende der Zeiten. So steht die Liturgie zwischen der Anfangs- und der Endvision, zwischen der Schau des Erhöhten und der Schau des Wiedergekommenen. Die liturgische Anbetung ist Überbrückung, Fortschreibung und Ersatz. Sie ist der wahre Ort zwischen den Zeiten. Dieses Sehen und doch zugleich Nicht-Sehen ist sozusagen ein visionäres Element. Das ist nicht nur die Einsicht in die Richtigkeit, sondern der Jubel, die Begeisterung, das Gepacktsein vom Glanz, von der Herrlichkeit Gottes. So endet der »Hymnus« Phil 2,6-11: »zur Verherrlichung Gottes, des Vaters«. Denn dort, wo Gott seine Herrlichkeit erweist – an der Erhöhung Jesu Christi – reflektiert dieses auf seine Herrlichkeit zurück. Gott hat seinen Sohn verherrlicht, und dafür lobt ihn die Gemeinde aus allen Völkern. Aber wenn Gottvater einen Zweiten neben sich mit göttlichen Ehren ausstattet – ist da nicht der Monotheismus gefährdet? Diese Frage ist allzu modern gedacht und geht davon aus, dass hier auch der Bruch mit dem Judentum liegen muss. Das ist eine verhängnisvolle Täuschung. Denn das Anliegen des Apostels Paulus ist wirklich alles andere als eine Zwei-Götter-Lehre. Wenn der Vater den Sohn verherrlicht, bleibt es die Herrlichkeit des einen und einzigen Gottes. Nur bleibt diese Herrlichkeit nicht bei einer Person, sondern umfasst, erhellt nun zwei Personen – und demnächst alle Glaubenden aus allen Völkern. Man könnte allenfalls fragen, wo hier der Heilige Geist bleibt. Gott Heiliger Geist wohnt im Lobpreis der versammelten Gemeinde, wie schon der Text des Psalms formuliert: »qui habitas in laudibus Israel« – »der du im Lobpreis Israels wohnst, gegenwärtig bist, wirkst«. Dieses wäre dann die zweite Selbsterniedrigung Gottes. Die eine wird ausdrücklich in 2,6 beschrieben: Jesus wird gehorsam. Die zweite ist die in der Sendung des Heiligen Geistes geschehene: Gott ist sich nicht zu schade, als Heiliger Geist im Herzen der
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724 Gemeinde (Kor 3,16) und im Herzen des Einzelnen (1 Kor 6,19) zu wohnen. Das in 2,3 und 2,8 anklingende »für uns« bedeutet in diesem Text nicht den stellvertretenden Tod zur Vergebung der Sünden. Davon spricht Paulus anderswo und hinreichend oft genug. Hier aber geht es nicht darum. Das muss nicht beunruhigen, denn Paulus muss nicht überall alles sagen, was er weiß und glaubt. Hier Zielt die Rede auf etwas anderes. Schon allein deshalb, weil der Sühnetod Jesu doch für die Philipper gar nicht nachahmbar wäre – wo doch alles Gewicht darauf liegt, den Weg Jesu nachzugehen, demütig zu sein wie er. Der Tod Jesu erscheint hier nur als tiefster Ausdruck der Sklaven-Existenz. Auf dieser liegt das ganze Gewicht, und zwar genauer: auf dem Kontrast zwischen Sklaven-Existenz und Herrlichkeit. Der Text dieses Hymnus schildert daher auf seine Weise genau das, was alle Evangelien dann unter der Nachfolge Jesu verstehen. So ist es nicht zufällig, dass Jesus wiederholt im Kontext seines Leidens darauf drängt, dass die Jünger Letzte und Diener aller sein sollen (Mk 9,35; 10,45). Man kann daher Phil 2,6-11 ansehen als eine knappe Darstellung des Materials der Evangelien speziell für Heidenchristen – inklusive Legitimation der Heidenmission. Denn wenn »jedes« Knie sich beugt, dann ist das global gemeint. Und die Abfolge von Sklavendienst und Herrlichkeit ist das Muster für jede christliche Existenz geworden. Aber warum ist hier nur vom Sklavengehorsam die Rede, und was bedeutet das für das Gottesbild? Der Schlüssel ist die Frage: Worauf erstreckt sich Jesu Gehorsam? Auf diese Frage erhalten wir eine präzise Antwort vom JohEv (für mich einer der Gründe, weshalb ich das JohEv für sehr alt halte, weil es diesem Hymnus sehr nahesteht): Jesus geht zu den Menschen als der vom Vater Gesandte: Er tut, was der Vater ihm aufgetragen hat. Er bringt durch sich selbst Gottes Nähe persönlich zu den Menschen. Er ist ganz für die Menschen da, weil Gott den Menschen ganz nahe sein will. Es ist Weg unter der Verheißung: ein Weg gemeinsam mit Jesus zu Gott, von der Wiege bis zum Tod. Nichts ist Gott fremd geblieben, er ist den Menschen in allem nahe, um sie durch seine Nähe zu ergreifen und zu verwandeln. Der Sohn ist nur der Anfang, der erste Schritt.
Der Brief an die Philipper
Gott wollte von Anfang an der Gott der Fülle sein, der unter Menschen wohnt. Die christliche Humanität hat demnach diesen unglaublich kühnen Ursprung im Gottesbild selbst. Hier liegt der Unterschied zum Islam, der sich genau diesen Schritt Gottes zu den Menschen, der seit Anfang im Sohn besteht und in der Vergottung der Menschen endet, nicht vorstellen kann. Der Weg ist die Botschaft Der Hymnus in Phil 2,6-11 zeigt auf dramatische Weise, wie der Vater es anstellt, zu seinem Ziel zu kommen. Er will die Menschen, das wird erkennbar, nicht bedingungslos vergotten, quasi automatisch. Nein, er lässt am Sohn erkennen, lehrt die Menschen durch ihn, wie der Weg zur Vergottung verläuft. Dieser Weg führt über Gehorsam und Tod. Warum aber gerade so? Die Sache mit dem Gehorsam können wir relativ gut verstehen: Wenn Gott zu den Menschen kommen will, dann muss der Sohn gehorsamer Gesandter sein. Hier geht es um die Sendung und darum, dass ein Gesandter ausführt, was der Aussendende will. Der Sohn ist Gesandter. Wir fragen: Was hat er als dieser Gesandte den Menschen mitzuteilen? Antwort: Sein Weg ist seine Botschaft. Wer vergottet werden will, muss wie er gehorsam sein, bis zum Tod. Er muss Gottes Willen mitvollziehen, bei den Menschen zu sein. Das bedeutet Erniedrigung des Hohen, weil nur dann die Menschen erreicht werden, wenn einer von ihnen zu ihnen kommt. Das Geheimnis der Menschwerdung heißt Niedrigkeit. Es ist reizvoll, Phil 2,6-11 hier mit Lk 1,38.48 zu vergleichen: Gott wird Mensch in Maria, indem er die Niedrigkeit seiner Magd, deren Demut, als den Ort der Menschwerdung sieht, gewissermaßen als den Brückenkopf der Menschheit in Richtung Gott. Denn Gottes Sohn selbst erniedrigt sich und kann dann auf Menschen bauen, die sich erniedrigen wie er. Die Niedrigkeit des Sohnes und die Selbst-Erniedrigung Marias entsprechen einander wie zwei gegenüberliegende Brückenköpfe – in der Mitte der Strom der Distanz zwischen Gott und Mensch. Noch einmal: Warum Niedrigkeit und Gehorsam? Antwort: Gott begreift, dass er im Sohn bedingungslos, gänzlich, bis zur Selbstaufgabe zu den Menschen kommen muss, bei ihnen zelten muss (Joh 1,14). Das ist die Grundvoraussetzung
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Kapitel 2
der Expansion von Gottes Ort. Gott kommt im Sohn zu den Menschen. Das geht nur, wenn der Sohn sich diesem Willen des Vaters ganz einfügt und den Menschen als Sklave nahekommt, so wie sie selbst Sklaven sind. Hier liegt die wichtigste Differenz zum Islam: Nach dem Islam bleiben die Menschen allzeit Sklaven. Weder gibt es die Sendung des Sohnes, noch dessen Menschwerdung, noch die Vergottung der Menschen. An Phil 2 begreifen wir, wie das alles zusammenhängt. Dass der Gottessohn den Menschen auch im Tod gleich wird, ist die äußerste Zuspitzung des Willens Gottes, zu den Menschen zu gehen. Im Tod sind die Menschen ja Gott am wenigsten ähnlich. Und Gott kommt nicht in die Gesellschaft mit den Menschen, wenn er nicht auch an diesem kennzeichnend Menschlichen teilhat. Der Tod ist für die Menschen im Unterschied zu Gott typisch. Der Sohn wird uns selbst im Tod ähnlich, teilt dieses Geschick. So bleibt Gott auch der Tod nicht fremd. So hat er Tuchfühlung mit den Menschen auch in dieser äußersten Situation. So ist er im letztmöglichen Sinne wirklich Gott der Menschen geworden. Es ist der Gemeinschaftswille Gottes, d. h. seine Liebe, der die Sendung des Sohnes in diese letzte Konsequenz münden lässt. Oder anders gesagt: Nächst der Liebe ist es vor allem gemeinsames Leiden, das Gemeinschaft zwischen Partnern stiftet. Noch einmal: Warum ist der Weg des Gottessohnes prototypisch für die Menschen? Warum geht es auch für die Menschen nicht ohne demütige Unterwerfung? Antwort: Das Geheimnis ist auch hier die Gottähnlichkeit. Seit Adams Fall sind die Menschen Gott nicht ähnlich. Erlösung, d. h. Lebensgemeinschaft in Gerechtigkeit, kann nur sein zwischen Ähnlichen. Zur Herrlichkeit Gottes können Menschen gewiss nicht von sich aus aufsteigen, wohl aber zur Demut. Der Sohn macht deutlich: Gottes Weg, mit Menschen Gemeinschaft zu begründen, ist die Demut, die Bereitschaft zur Selbsterniedrigung, um uns möglichst und bedingungslos nahe zu sein. Wenn Gott sich so weit auf den Weg zu den Menschen begibt, dann besteht der Weg zur Gemeinschaft auf der Seite der Menschen gleichfalls in der Demut. Ich habe vorhin auf Maria und das Bild von den beiden Brückenköpfen verwiesen, hier weise ich
725 auf den Kontext von Phil 2,6-11: Nach Phil 2,5 wird Jesus als Vorbild dargestellt, nach V. 3 geht es ausdrücklich um »demütige Gesinnung«. Demut ist die Weise, Gemeinschaft zu finden. Gottes Weg zu den Menschen ist seine demütige Unterwerfung unter ihren Lebensstil, unter ihre Sterblichkeit. Er verlangt im Gegenzug die friedensstiftende Demut als Verzicht auf leeres Getue und Selbstruhm (V. 3). – Manche Theologen haben diese Brücke anders aufgefasst. Paulus selbst bietet in 2 Kor 8,9 das Modell der Verteilung von Reichtum. Hier ist es anders. Hier haben Menschen es mit dem Gott zu tun, der aus Liebe die Schäbigkeit der menschlichen Existenz (griech.: tapeinos heißt eigentlich schäbig) nicht verschmäht. In Röm 5,9 sagt Paulus, der Gehorsam Jesu habe die Menschen erlöst. Für Phil 2,6-11 gilt wohl dieses: Wer Gott so ähnlich ist, der will – wie Gott selbst es will (Lk 22,42) – in dieser Welt nur als leidender Sklave erscheinen. Denn der Gegensatz zwischen Gott und Welt ist unüberbrückbar. Das betrifft insbesondere den Ruhm, den Rang und das Ansehen. Das Prestige unter Menschen gründet sich auf so fragwürdige und vergängliche Güter wie Reichtum, Macht und Adel, auf Wissen und Prahlerei. Gott will das nicht noch überbieten. Er ist ganz anders. Daher können bzw. wollen seine Repräsentanten in der Welt nicht deren Herrscher sein, sondern nur gekreuzigter Sklave, »das Letzte«. Nur außerhalb der Welt, dort also »im Himmel«, wo Gott wirklich König ist, können die wahren Größenverhältnisse in Erscheinung treten. Dort kann der, der Gott gleich ist, der demütig und gehorsam ist, die Anbetung und Verehrung aller genießen. Das heißt konkret: In der bestehenden Welt sind Gehorsam und Demut, Leidensbereitschaft und endlose Geduld göttliche Tugenden. Der Sohn zeigt den Weg und das Ziel Um das Ziel geht es auf dem zweiten Stück des Weges, der steil aufwärts führt. Auch dabei sind die Menschen im Blick. Das ist kaum je bedacht worden. Auch die jüdische Analogie im hebräischen Henochbuch, in der Henoch zum »kleinen Jahwe« wird, meint das, was Menschen überhaupt zugedacht sein könnte. Falls es noch Argumente braucht: Z. B. nach Offb 3,9 sollen vor die Gemeinde die noch nicht christlichen Menschen
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726 kommen und niederfallen vor ihren Füßen und erkennen, dass Gott diese Gemeinde liebt. Die Herrlichkeit Gottes, die in Jesus zu Ostern aufstrahlt, ist für alle Glaubenden gedacht. Der Weg dahin ist Demut, Orientierung an dem, der als Gott diesen Weg zuerst ging, um zu zeigen, wie es geht. Phil 2,11 endet mit einem kosmischen Ausblick: Jedes Knie soll sich beugen vor diesem Herrn, in dem Gott wohnt. Hier ist noch einmal die Differenz zum Alten Testament erkennbar. Was nach Jes 45,21b-25 nur Gott zukommt, wird auch in Zukunft nur dem einen und einzigen Gott zukommen. Doch Gottes Geheimnis ist der Ort, wo er ist (schon das mystische Judentum nennt Gott selbst maqom, den »Ort« schlechthin). Wenn Gott die sich selbst verschenkende Fülle ist – und eben nicht nur ein Punkt –, dann will er aus dieser Fülle heraus nicht nur im Sohn wohnen, sondern durch ihn und mit ihm und in ihm bei und in allen Menschen.
Phil 2,12-18: Sorge um die Gemeinde »Daher« sollen die Angeredeten mit Furcht und Zittern ihr Heil wirken. V. 13 scheint dem gründlich zu widersprechen: Gott vollbringt alle drei Dinge, das Wollen, das Wirken (er stellt die Kraft bereit) und schließlich, dass das Gewirkte ihm gut gefällt. – »Furcht und Zittern« begleiten in der Sprache der Bibel die Menschen bei einer Theophanie Gottes. Wenn Gott in ihnen Mächtiges wirkt, sollen die Angeredeten dabei stehen und voll angemessener Ehrfurcht dieses Wirken Gottes verfolgen. Die Angeredeten sollen sich in ihrem Tun von dem großen Gott die Hand führen lassen, auch wenn diese Hand zittert. Ähnlich ist 1 Thess 2,13 (s. dort). Wie gelangt Paulus im Kontext zu dieser ganz
Der Brief an die Philipper
besonderen Formulierung? Der vorangehende Hymnus hatte in Phil 2,9-11 mit der Darstellung der Herrlichkeit Gottes in der ganzen Welt geendet. Hier beschreibt Paulus nun das Wirken der Herrlichkeit Gottes bei dem einzelnen Christen auf der Ebene der Gemeinde. Den Weltbezug in 2,11 stellt nun 2,15 wieder her. Denn die Christen der Gemeinde werden in ihrem Handeln Lichter für die Welt werden. Der Tag Jesu Christi, der bevorsteht, ist die genaue Entsprechung zum akklamatorischen Geschehen von 2,9-11. Dabei ist 2,9-11 Erhöhung und Gegenwart, der Tag Jesu Christi aber liegt in der Zukunft. In 2,16b-18 kommt Paulus selbst in diesem Geschehen vor. Da für ihn Ruhm und Ehre stets vorrangiger Anzeiger des Zustandes der Kirche und innerhalb der Kirche sind, ist es selbstverständlich, dass Paulus sich den Tag des Herrn als das riesige Forum einer großen Öffentlichkeit denkt. Und es kommt darauf an, dass man nicht in Schande dasteht (daher kommt das »zuschanden werden«, das soviel ist wie beschämt werden). So hofft Paulus, dass die Gemeinde von Philippi ihm an diesem Tag Ehre macht. Es ist schon erstaunlich, wie sensibel Paulus am Ende für diese letztgültige öffentliche Reputation ist. Sie geht ihm in der Gegenwart ab – davon zeugen seine Peristasenkataloge. Aber in der Zukunft will er, und zwar in dieser Welt, wenn auch in deren abschließendem Szenario, unbedingt zu Ehren kommen. Da es zu den Spielregeln des Sich-Rühmens gehört, sich nicht seiner selbst zu rühmen, wird die Gemeinde von Philippi Paulus rühmen, so hofft er. Sie wird ihm sozusagen am Gerichtstag durch ihr Zeugnis über ihn so etwas wie einen endgültigen Empfehlungsbrief ausstellen. – In 2,19-22 schreibt Paulus dann ein paar empfehlende Zeilen für Timotheus und 2,25-30 für Epaphroditus.
Phil 3: Irrlehrer-Warnung – Beschneidung Dass Paulus seine Gemeinde in Phil 3 unversehens vor judaisierenden Irrlehrern warnt, hat der Forschung unsägliche Schwierigkeiten bereitet. Insbesondere wurde 3,2-11 als ein dem Brief fremder Einschub bewertet. – Warum Paulus in Phil 3,2 ff »einen anderen Ton anschlägt« und
den Stil seines freundlichen Schreibens an die Philipper ändert, das hat die Forschung lange beschäftigt und eine Fülle von Hypothesen, insbesondere Teilungshypothesen hervorgerufen. Die Frage ist indes formgeschichtlich zu beantworten. Mit 3,2 beginnt das, was man die Irrleh-
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Kapitel 3
rer-Warnung nennt und was sich traditionell auf Falschlehrer bezieht. Indiz dafür, dass diese Gattung hier vorliegt, ist das Wort »seht zu« (griech.: blepete); vgl. dazu in anderen Exemplaren derselben Gattung Mk 13,5.23; Mt 24,4; Lk 21,8; 2 Joh 7-8 und das verwandte »seid wachsam für euer Leben« (Didache 16,1). – Da diese Gattung vor Irrlehrern warnt, ist der Ton entsprechend scharf. Denn oft wird im Schlussteil einer Rede mit »Seht zu …« oder »Wacht darüber, dass …« eine Warnung vor Irrlehrern gegeben, die das Gegenteil von der (wahren) Lehre des Autors verkünden. Diese Warnungen gehören in den »Ausblick«, den der verantwortliche Lehrer gibt. Er sieht für die Zukunft nichts Gutes kommen, sondern Abfall von der Wahrheit. Kennzeichen derartiger Rede-Abschnitte sind Imperative, die Wachsamkeit, Umsicht, genaues Hinsehen, SichHüten vor … oder Achten auf das eigene Leben empfehlen. Die kommenden Falschlehrer werden dabei stets mit klaren, drastischen Ausdrücken bezeichnet. Den sonst üblichen Wölfen (die die Schafe reißen) entsprechen in Phil 3,2 die Hunde, die als streunende Hunde gefährlich wie Wölfe sind. Vgl. z. B. Apg 20,28f (Abschiedsrede des Apostels Paulus vor den Ältesten aus Ephesus in Milet): »Ich weiß, dass nach meinem Abschied reißende Wölfe bei euch eindringen und die Herde verwüsten werden. Aus eurer Mitte werden Leute aufstehen und Falsches reden, um die Gemeinde hinter sich zu bringen. Deshalb passt auf und vergesst nicht, wie ich drei Jahre lang ununterbrochen Tag und Nacht und unter Tränen jedem Einzelnen von euch den rechten Weg gewiesen habe. Wenn ich euch jetzt verlasse, wünsche ich euch …« Oder Mk 13,22f: »Falsche Christusse und falsche Propheten werden auftreten und Zeichen und Wunder wirken, um die Auserwählten möglichst in die Irre zu führen. Denkt an meine Worte, ich habe euch alles vorher gesagt.« Oder Didache 16,1-4: »Achtet wachsam auf euch selbst … Denn die ganze vergangene Zeit, in der ihr treu im Glauben wart, wird euch nichts nützen, wenn ihr nicht vollständig bis zum Ende durchhaltet, sondern vorher abfallt. Denn in der letzten Zeit vor dem Ende wird es zahlreiche falsche Propheten geben und Leute, die den Glauben zerstören. Schafe werden sich in Wölfe verwandeln und
727 Liebe in Hass … Dann wird der Weltverführer erscheinen und sich als Sohn Gottes ausgeben. Er wird Zeichen und Wunder tun, er wird die Erde beherrschen und Schandtaten anrichten, wie es sie seit Bestehen der Welt nicht gegeben hat.« Die Mahnungen zur Aufmerksamkeit entsprechen dem dreimal wiederholten »Seht zu …« in 3,2. In 3,12-14 wird die testamentarische Situation angesprochen. Die Vielzahl der Irrlehrer nach 3,18 entspricht der Vielzahl in Mk 13,22f; Didache 16,3. Dass der rechte Lehrer sich als Vorbild darstellt, dem nachzueifern sei, gehört zu den Topoi (3,17); vgl. Apg 20,19.31.33.34. Für Paulus sind diese Irrlehrer Judaisten, die – wohl ähnlich wie in Galatien – Beschneidung predigen. Noch haben sie offenbar in Philippi nicht Fuß gefasst. Aber Paulus ist von den Vorgängen in Galatien offenbar so beeindruckt, dass er Judaisten als generelle Gefahr für das Evangelium ansieht und dort vor ihnen warnt, wo von ihnen noch gar nichts zu sehen ist. – In der weiteren Kirchengeschichte hat es immer wieder geistliche Führer gegeben, die ihr Lebenswerk durch eine einzige, als sehr nachhaltig empfundene Sorte von Gegnern bedroht sahen. So erklärt sich die oft festgestellte Tatsache, dass der Brief an die Philipper überall freundlich ist und ein gutes Verhältnis zwischen Gemeinde und Apostel voraussetzt. So ist es auch in den anderen oben zitierten Dokumenten. Die Polemik des Paulus dagegen richtet sich weder gegen die Philippper, noch gegen andere Missionare in Philippi, sondern gegen die generell und daher auch in Philippi befürchtete massenhafte Ausbreitung judaistischer Häresie. Phil wird daher nicht zeitlich allzu entfernt von Gal entstanden sein. Paulus sieht also Gespenster, wo es noch keine sichtund hörbaren Gegner gibt. Mit 3,2f liegt eine der wenigen Stellen vor, in denen sich Paulus zum Thema Beschneidung explizit äußert. Hier geschieht das in einer für ihn singulären Weise. Laut Paulus kann man entweder über Beschneidung spotten – oder sie wird sinnvoll als Zeichen für das Erfülltsein vom Heiligen Geistes. Der Spott über Beschneidung (nicht nur die der Juden, sondern auch anderer Völker, die sie praktizieren) ist in der Antike geläufig (vgl. dazu A. Blaschke, Beschneidung,
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728 1997, 327-335.402f; Blaschke deutet »Zerschneidung« ursprünglich von den für Juden verbotenen rituellen Einritzungen in der Haut her). Sie sarkastisch mit der Verschneidung gleichzusetzen, blieb freilich auf Paulus beschränkt. Es ist auch Geschmacksache, ob man das als »Humor« des Apostels bezeichnet. Wie in 1 Thess 2,15 wendet Paulus ein Element des antiken Antisemitismus auf Juden an. Die Alternative nennt Paulus in 3,3: Für die vom Heiligen Geist erfüllten Christen ist Beschneidung sinnvoll – auch wenn der Heilige Geist ohne Beschneidung empfangen wird (Heidenchristen). Den Zusammenhang von Heiligem Geist und Beschneidung nennt Paulus auch in einem ganz ähnlichen Gedankengang (Röm 2,29): Der wahre Jude ist einer, der dies auch und vor allem im Verborgenen ist, und das gilt gleichfalls von der Beschneidung. Die wahre und vor Gott gültige Beschneidung ist die, die (auch und vor allem) im Heiligen Geist besteht und nicht (lediglich) in der Befolgung der rituellen Vorschriften (dem Buchstaben nach). – Diese Alternative ist auch im hellenistischen Judentum bekannt; vgl. dazu die Definition des (wahren) Proselyten bei Philo (Quaest in Ex II 2): »Proselyt ist nicht der an der Vorhaut Beschnittene, sondern der an den Lüsten und Begierden und anderen Leidenschaften der Seele Beschnittene.« Im Unterschied zur rein moralischen Auslegung Philos nennt Paulus den Heiligen Geist als die Wirklichkeit, die gilt und für die die Beschneidung am Leib nur ein Zeichen sein kann. Paulus kommt überhaupt auf den Gedanken, Geistbesitz und Beschneidung zu kombinieren, weil er auf einer alttestamentlichen prophetischen Opposition aufbaut: der von der Beschneidung des Fleisches und der des Herzens. Dabei ist Beschneidung des Herzens die wahre Umkehr und der wahre Gehorsam, so z. B. in Dtn 30,6. Der anthropologische und moralische Dualismus wird bei Paulus zu einem pneumatologischen. Auch in Gal 3,2-5 (im Geist angefangen – im Fleisch vollenden) spricht Paulus implizit von der Beschneidung. Darüber hinaus: Wie in Röm 2 zieht Paulus auch hier Folgerungen für das wahre Judesein. In Röm 2,28 heißt es: »Jude ist nicht der, der es (lediglich) sichtbar ist, sondern …«; in Phil 3,3
Der Brief an die Philipper
kann Paulus sagen: »Denn die (wahrhaft) Beschnittenen, das sind wir. Gottes (heiliger) Geist macht unseren Gottesdienst wirklich zu einem Dienst vor Gott. Und wir gründen unseren Stolz und unser Vertrauen auf Jesus Christus und nicht auf (die Beschneidung am) Fleisch.« »Wir« bezieht sich bei Paulus und in seinem Umkreis häufiger auf Judenchristen. Aber das ist hier nicht ganz sicher. Es könnte auch sein, dass in Phil 3 generell Christen ohne Beschneidung im Blick stehen. Theologisch ist das gut möglich. Denn im Folgenden nennt Paulus ja exklusiv jüdische Kriterien und betrachtet sie als religiös wertlos. Aber sollte Paulus schon so weit sein, dass er hier bereits eine Enterbungstheorie vertritt, nach der alle theologischen Attribute Israels auf die Christen (und auch vollständig auf die Heidenchristen) übergegangen sind, weil sie mit der Gabe des Heiligen Geistes in unvergleichliche Nähe zu Gott gerückt sind? Zum Stichwort »Enterbung« ist es freilich wichtig, ob ein Jude wie Paulus sie vollzieht oder ein Heidenchrist wie Irenäus v. Lyon. Theologische Aussagen gelten nicht im luftleeren Raum. – Insgesamt gilt für Paulus und das Judentum nach Phil 3: 1. Dem Apostel selbst fehlt kein jüdisches religiöses Attribut. Paulus weiß daher als Jude und Christ, wovon er spricht. 2. Die potenziellen Gegner in Philippi wollen diese religiösen Attribute den dortigen Heidenchristen als für das Heil unabdingbar wichtig »verkaufen«. Sie können dabei auf das »Vorbild« Jesu, des Apostels Paulus und aller Apostel verweisen. 3. Paulus meint, zu Unrecht als Vorbild in Anspruch genommen zu werden. Denn genau das Gegenteil ist der Fall. Die Gegner wollen nur scheinbare Heilswerte verkaufen. In Wirklichkeit sind alle diese Werte inklusive Beschneidung angesichts des Wertes des Heiligen Geistes geradezu Dreck und ein Nichts. Paulus muss das so drastisch sagen, weil er es kommen sieht, dass man auf ihn als Vorbild verweist. Er muss so drastisch reden, weil er selbst einen anderen Weg gegangen ist, als ihn die Heidenchristen in Philippi gehen würden. Sein Weg war vom Judentum zum Christentum, der Weg der Philipper wäre einer vom Christentum zum Judentum – so stellt es Paulus dar.
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Kapitel 3
4. Es ist nicht möglich oder legitim, die paulinischen Aussagen von Phil 3 aus dem Zusammenhang dieser Situation herauszubrechen. Die Frage ist nicht die der Bewertung des Judentums für Juden oder Judenchristen, die Frage ist lediglich, ob Heidenchristen zusätzlich Juden werden müssen, und sei es, indem sie sich »nur« zusätzlich beschneiden lassen. Die Erlösung durch Jesus Christus, insbesondere die Gabe des Heiligen Geistes ist unüberbietbar. Diesen Weg ist Paulus selbst gegangen, vom höchst unvollkommenen »Fleisch« zum Heiligen Geist. Der umgekehrte Weg, an den die Philipper denken könnten, verbietet sich daher von selbst, und zwar nicht zuletzt um der paulinischen Identität und Glaubwürdigkeit willen. Die kritischen Aussagen gegen jüdische Institutionen richten sich nur gegen den »Weg zurück«, vor dem Paulus warnt, sie beziehen sich nicht auf den Weg vom Judentum zum Christentum. Für diesen Weg gilt auch nach Paulus, dass das Heil von den Juden kommt, und es gilt Röm 9,4 f. 5. Die Frage, ob die jüdischen Attribute nicht beim Christwerden eine sinnvolle Funktion als erfülltes Zeichen bekommen, die Paulus in Röm 4,11 mit Ja beantwortet, stellt sich hier nicht. 6. Paulus sitzt der galatische Schock so tief in den Knochen, dass er die Rejudaisierung des Christentums für eine generelle Gefährdung seines Lebenswerkes hält. Das erlaubt einen Umkehrschluss: Der Weg von den Juden zu den Heiden ist für Paulus nach wie vor das Wichtigste. Daher kämpft er mit allen Mitteln, auch mit Sarkasmus und antisemitischen Parolen, gegen jene Gefahr. Es geht wirklich um alles. Zu Phil 3,1-8: Für diesen Abschnitt gilt: a) Der »veränderte Ton« ist von der Gattung her zu erklären. Es handelt sich um die testamentarische Warnung des Lehrers vor Irrlehrern, die nach ihm kommen können. b) Die Gegner, an die Paulus wohl denkt, sind Christen, die den von Paulus gewonnenen Christen in Philippi zusätzlich zur Taufe die Beschneidung empfehlen (3,2.5). Es könnte sich um »wild« gewordene Anhänger des petrinischen Weges handeln, denn die Mission à la Petrus war auf dem Apostelkonvent mit der Überschrift »Beschneidung« verhandelt worden. Doch bestand auf dem Konvent Einigkeit darin, dass
Christen nicht durch die Beschneidung erst Juden werden müssen. c) Paulus sieht für Philippi die Gefahr, dass die Menschen hier den Weg vom Heidentum zum Judentum gehen und dabei die christliche Mission nur als Zwischenstadium betrachten werden. Es gab demnach Verfechter einer christlichen Mission mit Beschneidung, die außerhalb des Kompromisses des Apostelkonventes lebten.
Phil 3,8-14: Wenn ich nur Christus gewinne »Eigentlich halte ich im Vergleich dazu, welchen überragenden Wert es für mich hat, meinem Herrn Jesus Christus begegnet zu sein, alles andere für Strafe, ja geradezu für wertlosen Dreck, wenn ich nur Christus gewinnen und mich in ihm neu finden kann« (V. 8). Es ist laut Kontext seine Eigenschaft als Jude, als Benjaminit und als Pharisäer, als erfolgreicher, eifriger Kirchenverfolger, es sind das Adelszeichen der Beschneidung und des Apostels eigene Perfektion vor dem Gesetz – wer das alles für Dreck und für Strafe hält, muss eine radikale Bekehrung erlebt haben. Es war für Heidenchristen leicht möglich, die Liste der Dinge, die Paulus jetzt für Dreck hält, im Sinne eines angeblich für die Kirche notwendigen Antijudaismus auszulegen. Etwa nach dem Motto: Was Paulus für Dreck ansieht, das dürfen wir ebenso betrachten. Doch das ist ein Irrtum gewesen. Denn die negativen Äußerungen über die jüdischen Ehrentitel fallen nur deshalb, weil Paulus jetzt zu Jesus Christus bekehrt ist. Erst im Glanz des Erlösers und der Rechtfertigung aus Glauben ist alles Frühere vergleichsweise verachtenswert. Das, was Paulus zuvor für wertvoll hielt, waren und sind für ihn achtenswerte Dinge. Über die Namen »Israelit« und »Hebräer« wissen wir, dass sie als Ehrentitel galten. Und die Beschneidung betrachteten Juden als königliches Siegel. Paulus wird also nicht zum Judenfeind. Zu Phil 3,9: Der Satz liest sich wie eine Formulierung aus dem Röm. »Meine Gerechtigkeit aus dem Gesetz« entspricht dabei der »eigenen Gerechtigkeit«, die die nicht-christlichen Juden nach Röm 10,3 erstreben. Paulus spricht hier von sich selbst, weil er durch den Rekurs auf die eigene Person (argumentum a nostra persona) im
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730 Vorangehenden schon den potenziellen Gegnern das Argument aus der Hand schlagen wollte, er (Paulus) selbst sei doch beschnitten. Entscheidend ist, dass hier nicht »Glaube und Werke« oder »Gesetz und Glaube« gegenüberstehen, sondern (als Inbegriff des jüdischen vorchristlichen Weges) Gesetz ohne Glaube an Jesus Christus und der Glaube an Jesus Christus. Auf diesem Wege kommt die Gerechtigkeit, die Gott den Menschen erweisen will, die er ihnen jetzt anbietet, zum Zug. Denn es ist keine eigene Gerechtigkeit (sc. die des jüdischen Sonderwegs), sondern die Gerechtigkeit, die auf der neuen Initiative Gottes beruht, Jesus Christus zum Heil für alle Menschen in die Welt zu senden. Gott bietet diese Gerechtigkeit an, und sie ist nicht mehr der jüdische Sonderweg (»meine« oder »die eigene Gerechtigkeit«). Von »Gesetz« ist in V. 9 die Rede im Sinne des Inbegriffs und Markenzeichens des Judentums. Dabei geht es hier nicht um die anthropologische Frage der Leistung im Gegensatz zur Gnade, sondern um die strikt theo-logische Alternative zwischen dem (nur) jüdischen Gesetz und dem universalen Glauben an Jesus Christus, der das Gesetz als Kriterium der Erwählung und als Grund des Stolzes (Röm 2,17; 3,27) einfach abgelöst hat. Zu Phil 3,10: Paulus bleibt bei dem Selbstzeugnis im Rahmen der Gattung der Testamente. Daher spricht er hier auch von seinem eigenen Glauben, gerade so wie in den »Testamenten« die Patriarchen ihre Grundüberzeugungen zu nennen pflegten. Entsprechend der (fingierten oder realen) Situation des Abschieds spielen hier auch Auferstehung und Tod eine große Rolle. 3,10 enthält eine präzise Formulierung des paulinischen Credos. Paulus hat es so formuliert, dass es eine Brücke sein kann zu den Philippern: a) Gott und Jesus zu »kennen« ist die Grundlage. Gott zu erkennen ist immer der entscheidende Übergang vom Heidentum zum Glauben. Daran schließt sich sogleich das an, was wesentlich ist: die Kraft/Macht seiner Auferstehung. Zur Kombination vgl. Mk 12,24 (zum Thema Auferstehung): »Ihr kennt weder die Schrift noch die Macht Gottes.« Die Kraft der Auferstehung ist in beiden Fällen Ausdruck der Schöpfermacht Gottes. Paulus blickt damit in seinem Testament nicht zurück, sondern voraus.
Der Brief an die Philipper
b) Mit der Gemeinschaft in der Auferstehung hängt zusammen die Gemeinschaft der Leiden; Paulus kennt diese Verbindung ähnlich in Röm 8,17; 1 Petr gebraucht sie öfter, an den letztgenannten Stellen in der Verbindung Leiden/ Herrlichkeit. Das Stichwort »auferstehen/Auferstehung« bei der Gemeinschaft der Leiden ist wohl typisch paulinisch; alle anderen bevorzugen »Herrlichkeit« (verherrlicht werden). Dann steht im Hintergrund das Bild, nach dem die Söldner mit dem Feldherrn die Leiden, dann aber auch die Herrlichkeit (Ehre) teilen. c) Wer dem Tod Jesu gleichgestaltet ist, wird auch die Auferstehung erfahren wie er. Zur Erklärung muss man nach Röm 6 blicken: Dem Mitgekreuzigtwerden und Mitsterben in der Taufe (6,4-6) entspricht auch in Röm 6 die Teilhabe an der Auferstehung (6,5.11). Ich halte es für höchst wahrscheinlich, dass auch in Phil 3,10 die Gleichgestaltung im Sterben sich auf die Taufe bezieht. Wie in Röm 6 ist dieses die Ermöglichung der Teilhabe an der Auferstehung. Sie ist dann gewiss, wenn die Taufe auf den Namen Jesu erfolgt. Hier liegt das Zentrum der Kraft des Sakraments. Dabei bildet der äußere Vorgang der Taufe (Untertauchen/Heraussteigen aus dem Wasser) die Abfolge von Tod und Auferstehung ab. Wegen der Nennung des Namens Jesu ist der Vorgang kein Analogiezauber, sondern ein Sakrament. Dabei nennt Phil 3,10 noch wie Röm 6,6a die zukünftige Auferstehung, während nach Röm 6,13 die Getauften schon jetzt, zu Lebzeiten, wie aus Toten Auferstandene das neue Leben leben dürfen.
Phil 3,12-16: Zustandsbericht Im Rahmen der testamentarischen Topoi, die wir ab 3,2 feststellten, findet sich nun hier ein gleichfalls biografisch orientierter Zustandsbericht. Ohne den, wie gezeigt, testamentarischen Rahmen wären derartige Aussagen an dieser Stelle gar nicht motiviert und vorstellbar. Paulus sagt, wohin er geht, und dass er dem himmlischen Ruf folgt. Insofern ist der Text hier die Fortsetzung und Entsprechung zu 1,21-25. Paulus ist von Jesus Christus »ergriffen«, und Jesus Christus ist sein Ziel (»Siegespreis«), wie
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Kapitel 3
bei einem Lauf. Konkreter werden die typisch christlichen Angaben über diesen Lauf nicht. Paulus weiß, dass er noch nicht am Ende dieses Laufes ist, er hat den Siegespreis noch nicht ergriffen, aber er sieht ihn schon vor sich. Eng verwandt ist 2 Tim 4,6-8 (Paulus hat den Lauf vollendet, auf ihn wartet die Krone der Gerechtigkeit). Zu Phil 3,18f: Hier denkt Paulus offensichtlich nicht an potenzielle judaistische Gegner, sondern an ganz andere, reale, wahrscheinlich an ganz gewöhnliche Materialisten (Bauch, Irdisches) und Ehrgeizlinge (Ruhm).
Phil 3,20f: Himmlische Heimat Während die Gegner an »Irdisches« denken (3,19b), ist Paulus auf die himmlische Heimat ausgerichtet. Schon in 3,14 hat er von dem himmlischen Ruf gesprochen. Die himmlische Heimatstadt (Vaterland) der Christen ist Ausdruck einer sehr bedeutenden Auffassung von der Kirche in der Frühzeit des Christentums und später noch immer dann, wenn die Kirche ausdrücklich alttestamentlich definiert wurde, so in den Kommentaren zum Hohenlied von Origenes bis ins hohe Mittelalter. In der Frühzeit gibt es die himmlische Vaterstadt als das himmlische Jerusalem in Gal 4,2127; Hebr 12,18-24; Hebr 11,13-16; Kol 3,1.5 und Offb 21 f. Merkmale dieses Kirchenverständnisses sind: a) Das Kirchenverständnis wird von der Zukunft her gewonnen, nicht – wie später und anderswo – von der Vergangenheit her. – b) Kirche versteht sich hier vom erhöhten Christus her. Weil er erhöht ist, gibt es nichts mehr, was eine Gemeinschaft mit den Engeln verhindern könnte. – c) Die Zugehörigkeit der Christen zur himmlischen Stadt ist als Bürgerrecht gedacht. Die Christen sind freie Bürger der freien Stadt im Himmel. – d) Diese himmlische Stadt kann mit Sion identifiziert werden und steht dann in Kontrast zum Sinai, der mit dem irdischen Jerusalem bzw. Israel identifiziert wird. – e) Auch die Zugehörigkeit zum Himmlischen zieht Verpflichtungen nach sich. »Tut das, was zum Himmel passt«, mahnt Paulus. Nach Hebr 11 ist die Konsequenz der Zugehörigkeit zur himmlischen Heimat die Geringachtung alles Weltlichen, be-
731 sonders hinsichtlich seiner Bindekraft; entsprechend geht es in den Auslegungen des Hohenlieds um die Sehnsucht. – f) Der Himmel ist nicht das Fremde, Dunkle, das einen nach dem Tod erwartet, sondern als Heimat schon bekannt. Die Bindung an alles Irdische wird dadurch maßgeblich gelockert. Die Besonderheit von Phil 3,20f gegenüber den anderen Belegen besteht in zwei Punkten: Einmal kommt Jesus von dort her zu seinem zweiten Kommen auf Erden, wie schon 1 Thess 1,10. Zum Zweiten aber spricht Paulus ausdrücklich von der leibhaftigen Verwandlung der Christen. Dieser Topos stammt schon aus 1 Kor 15,49-54 (vgl. zu diesem wichtigen Element der damaligen Religionsgeschichte: T. K. Seim/J. Okland, Metamorphoses. Resurrection, Body and Transformative Practices in Early Christianity, 2007, bes. 132-137). Die Verwandlung der Christen ist in Phil 3,21 nicht die von Vergänglichkeit zu Unvergänglichkeit (so 1 Kor 15), sondern die von Niedrigkeit (Schäbigkeit) zu Herrlichkeit. Damit steht hier nicht das ewige Leben zur Debatte, sondern die Anteilhabe an der Herrlichkeit des Erhöhten. Ganz besonders ist hier auch die Begründung: Die Verwandlung wird stattfinden, weil Jesus Christus sich alles unterwerfen kann. Das Motiv ist ebenfalls aus 1 Kor 15 geläufig, steht dort aber nicht im Zusammenhang mit der Verwandlung, sondern lediglich mit der Besiegung des Todes (15,24-28). Außerdem ist es nach 1 Kor 15 Gott Vater, der dem erhöhten Christus alles unterwirft (15,25-27). So ergibt sich als neue These des Apostels in Phil 3,21: Weil Jesus Christus die Macht hat, alles zu unterwerfen, kann er auch die »niedrigen« Leiber der Christen in herrliche Leiber verwandeln. Geht es denn bei der Verwandlung auch um Unterwerfung? Man muss wohl antworten: Weil Jesus vom Vater die Macht zur Unterwerfung von allem empfangen hat, wird er auch die ihm widerstrebende und entgegengesetzte Niedrigkeit und Schäbigkeit der menschlichen Leiber unterwerfen und an deren Stelle seine eigene siegreiche Herrlichkeit setzen. Im Unterschied zu 1 Kor 15 geht es bei dieser Vollmacht bzw. Macht des Sohnes nicht um Throne und andere Engelmächte, sondern um Zustände wie Schäbigkeit der Kreaturen. Es geht daher um den Sohn als Mittler der neuen Schöp-
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732 fung; darin wird seine alte Rolle als Schöpfungsmittler reaktiviert. Es ist nicht der Kampf Gottes, des Vaters, gegen die Mächte.
Phil 3,17 – 4,1: Heimat im Himmel Die Kernaussage lautet in 3,20: »Doch unsere Heimat ist im Himmel.« Diese merkwürdige Auffassung teilt unser Brief mit den vielleicht Paulus etwas ferner stehenden Briefen an die Kolosser und Epheser, so Eph 2,6: »Und er hat uns gemeinsam mit Jesus Christus auferweckt und uns im Himmel einen Platz gegeben« und Kol 3,1f: »Wenn ihr nun mit Christus auferweckt worden seid, dann lebt und strebt auch nach dem, was Gott im Himmel will. Dort sitzt Christus zu seiner Rechten. Denkt himmlisch, nicht irdisch. Denn für das Irdische seid ihr tot.« Zu nennen ist wohl auch Hebr 12,22: »Hier ist die Stadt des lebendigen Gottes …, der Erstgeborenen, deren Namen im Himmel aufgeschrieben sind.« Sind das die Christen? Die Vorstellung von Namen der Menschen auf den himmlischen Bürgerlisten (»Einwohnermeldebuch«) findet sich auch bei Jesus an einer wichtigen Stelle. Jesus sagt zu den Jüngern: »Freut euch nicht so sehr darüber, dass ihr die Dämonen hinauswerfen könnt, sondern vielmehr darüber, dass eure Namen im Himmel aufgeschrieben sind« (Lk 10,20). Der Text spielt auf eine Tradition an, die vielleicht der Schlüssel zum Verständnis ist: Nach Lk 10,18 ist nämlich Satan vom Himmel gefallen (und folglich werden die Erdenbewohner jetzt durch seine Kompanie, die Dämonen, gequält). Wo aber jemand vom Himmel fällt, wird auch im Himmel Platz frei. Daher sind, und das ist hier das Wichtige, nach dem Satanssturz die Jünger nunmehr in den Himmel aufgerückt, jedenfalls stehen sie bereits in seiner Bürgerliste. Wer aber auf der Bürgerliste einer edlen Stadt stehen darf, dem kann anderswo nichts entscheidend Böses mehr passieren. Wir denken da besonders an Paulus und sein römisches Bürgerrecht. Weil er römischer Bürger war, durfte er in keiner anderen Stadt verurteilt werden. Bei den Christen als Himmelsbürgern ist es aber so, dass sie im Himmel nicht verurteilt werden, weil der Ankläger (Staatsanwalt) schon hinausgeworfen ist: der Satan nach Lk 10,18; Offb 12.
Der Brief an die Philipper
Nun ist für die paulinische Tradition, also für die erwähnten Stellen aus Phil 3, Eph 2 und Kol 3 nicht unbedingt vorauszusetzen, dass die Christen himmlisches Bürgerrecht erlangt haben, weil der Teufel und sein Anhang dort Platz gemacht haben. Vielmehr wird ihr neues Bürgerrecht anders begründet: Sie sind mit Christus auferstanden. Wir ahnen aufgrund von Röm 6 und des Kontextes in Kol 3 und Eph 2, dass dieses MitAuferstehen durch die Taufe geschehen ist (Kol 2,12f und Eph 2,5f). Aber zumeist nehmen wir diese doch sehr weitreichenden Aussagen gar nicht ernst und betrachten sie als übertrieben oder »irgendwie bildhaft« gemeint. Aber angenommen, es wäre nicht nur »irgendwie bildhaft«: Kann man diese Aussagen verstehen? Ich frage nicht, ob man sie beweisen kann. Aber so verstehen, dass sie letztlich konsequent und sinnvoll sind? Die Kommentare schweigen, wie zu erwarten. Für sie scheint das selbstverständlich: in der Taufe mit Christus mitauferweckt und seither Himmelsbürger und -bürgerinnen. Für mich ist das, ehrlich gesagt, überhaupt nicht klar, und zum gegenwärtigen Zeitpunkt der Kirchengeschichte scheint es mir auch nicht sinnvoll, so zu reden. Also fange ich an, neu zu untersuchen. Paulus ist in Röm 6 vorsichtig und sagt nicht, dass wir schon mitauferweckt sind, sondern dass wir Teilhaber an seiner Auferstehung sein werden (6,5) und jetzt, nach der Taufe »wie aus Toten Auferstandene« leben sollen, d. h. durch den Tod getrennt von aller Ungerechtigkeit und Sünde (6,13). – Zu Röm 6 und den Taufaussagen: Ich kann wohl verstehen, dass die Taufe eine Art Tod ist, ein Mitgekreuzigtwerden. Denn sie ist radikale Absage an das, was bisher wertvoll war. Insofern geht es um Sterben und Werterevolution. Und so geht es wohl weiter: In diesem Vakuum des Todes erfüllt ein anderer mich jetzt mit seinem Leben. Ich bin ja mit Christus mitgestorben, in seinem Namen. Diese Gemeinschaft wirkt sich jetzt positiv aus. Wo nicht mehr mein früheres sterbliches Leben ist, herrscht jetzt sein neues Leben, das ganz von ihm kommt. Deshalb gehöre ich jetzt ihm, bin ihm leibhaftig zu eigen, bin sein Leibeigener. – Die Anrufung des Namens im sakramentalen Taufvollzug hat die Folge, dass mein Abschiednehmen ein wirkliches, wirksames Sterben war und dass ich nicht tot bleibe, sondern mit neuem Leben erfüllt werde. Denn weil
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Kapitel 4
es der Name des Gottessohnes ist, hat diese Namensanrufung sakramentale Ausstrahlung: Das Göttliche teilt sich selbst mit, strahlt aus. Das geschieht im Sakrament.
Phil 4,4-7: Freude alle Zeit – Sorgen auf Gott werfen Kann man Freude befehlen? Freude und Liebe sind für die Bibel keine Gefühle wie bei uns. Es sind Verhaltensweisen, die man tun oder unterlassen kann. Ähnlch ist es mit der Feindesliebe. Die Aufforderung zur Freude hat etwas mit der Entscheidung für »Werte« zu tun, mit dem Aspekt der Wertbeständigkeit, des Sieges über den Verfall und letztlich den Tod. Denn Freude ist das Gegenteil von Unheil, Verdammnis und Schande. Wenn Jesus im Gleichnis über den treuen Sklaven spricht, der beim Gericht den Zuspruch erhält: »Geh ein in die Freude deines Herrn«, oder: »Komm herein zu Gott, wo alles reine Freude ist«, dann meint das den Lohn des ewigen Lebens, das Grund zur Freude ist. Häufig stoßen wir bei der Frage, was »Freude« biblisch ist, auf Werte, die Grund zur wahren Freude sind. Dieses Wertvolle sich anzueignen, kann man befehlen oder anmahnen, dabei allerdings weniger direkt zur Freude als vielmehr zur Wahl dieses Wertes oder Gutes. So hat auch die Gemeinde von Philippi aus der Sicht des Apostels Paulus ein solches Gut vor Augen: Gott und durch ihn die Verbindung untereinander. Das ist ein Glücksfall, bei dem die Gemeinde zugreifen, sich freuen soll. Wer sich freut, öffnet sich mit allen Poren einer Verheißung, in deren Licht er schon steht; in Phil 4,6a wird diese beglückende Nähe begründet: »Das Ende steht vor der Türe.« Das gilt räumlich, zeitlich und persönlich. Mit dem nahen Ende ist auch Gott nahegekommen. Nach dem Neuen Testament ist Freude das »Innenleben Gottes«. Das »Erfreuliche« hat auch psychische Aspekte. Weil der, der sich freut, aus dem Mauerwerk seiner Sorgen und Nöte heraustritt, das ihn umgibt, heißt es hier in 4,6 ganz konsequent: »Sorgt euch um nichts, denn ihr könnt ja beten.« Die Dimension des Gebets gehört derselben Wirklichkeit an wie die Freude.
733 Die Verbindung von Nicht-Sorgen und Beten kennen wir aus der Bergpredigt: Das »Vaterunser«, die Freiheit von der Sorge und das Vertrauen darauf, dass Gott das Nötige dazu gibt, gehören zusammen (Mt 6,11.25-34). Weil Gott sorgt und die Menschen nur »das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit« suchen sollen, sind alle täglichen Sorgen in der ultra-kurzen Brotbitte zusammengefasst. Die Freude, das Nicht-Sorgen und die Kraft, um alles einfach zu bitten, all dieses sind Merkmale der Beheimatung der Christen schon »im Himmel« (3,20). Aus diesem Grund kann Paulus in 4,7 sagen: »Das Heil, das Gott schenkt, ist unvorstellbar für unsere Herzen und unser Denken. Gott schenkt es, indem er unser Herz und unser Denken in der Gemeinschaft mit Jesus Christus bewahrt.« Wegen der Beheimatung im Himmel besteht für die Christen das Problem nicht, wie das Gebet zu Gott gelangen kann. »So sollen eure Wünsche allezeit, wenn ihr betet und bittet, begleitet von Dank und Lob vor Gott kommen« (Phil 4,6b). Denn die Christen haben freien Zugang zu Gott (z. B. Röm 5,2a). Deswegen sind sie die berufenen Fürbitter für alle Welt. Es gibt eine ganze innerbiblische Geschichte des »festen Themas« (Topos) der »Freiheit von der Sorge«. Man lässt Gott sorgen. Denn er ist der Schöpfer und sorgt für alles, was lebt; man kann das auch einen Aspekt seiner Providenz (Für- und Vorsorge) nennen. Besonders akut wird dieses biblische Motiv im frühen Christentum. Denn wer so lebt wie Jesus und Paulus, der vertraut nicht nur alle seine alltäglichen Sorgen Gott an, sondern – in der Situation kurz vor dem Martyrium – sein ganzes Leben. Deshalb sollte man diese Texte zusammen mit dem Leben und Lebensende dessen betrachten, der so geredet hat. Denn für den Wandermissionar, der sich nicht um festes Einkommen kümmert, und für den Märtyrer ist die Gegenwart Gottes als des Gegenübers von konkreter, großer Aktualität. Die Ausgangsstelle ist Ps 55,23: »Wirf auf den Herrn deine Sorgen, und er wird dich erhalten; er lässt den Gerechten ewig nicht wanken.« Wie das konkret geschehen soll, dass man die Sorgen auf den Herrn wirft, wird nicht gesagt. Aber im Kontext der Psalmen darf man damit rechnen, dass dieses als Gebetswunsch geschieht. Nicht ausgeschlossen ist, dass man schon früh die Sorgen
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734 und Gebete schriftlich formulierte (auf Tonscherben usw.) und am heiligen Ort anbrachte. Einen Rest dieses Brauchs kennen wir von den Votivtafeln in Wallfahrtskapellen. – In der Bergpredigt entfaltet Jesus das Thema breit (Mt 6,2534). Wie man beten soll und dass man sich beim Beten um Nahrung fast gar nicht kümmern soll, hatte Jesus den Jüngern unmittelbar vorher im Vaterunser gezeigt (Mt 6,9-13); die Brotbitte ist ganz knapp gehalten. Das entspricht genau Mt 6,32: »Euer Vater im Himmel weiß, was ihr braucht. Sucht zuerst Gottes Herrschaft und fragt zuerst nach dem, was Gott von euch fordert … Belastet euch also nicht mit Sorgen für den nächsten Tag …« Denn um das Brot »für morgen« hatte Jesus im Vaterunser schon gebetet. – Auch die Sorge des Märtyrers um das eigene Leben kommt in der Lukas-Parallele zur Sprache (Lk 12,4-12 vor Lk 12,22-34). Der zeitlich nächste Text ist dann 1 Petr 4,19: »Wer daher jetzt leidet, darf nach Gottes Willen sein Leben in die treuen Hände des Schöpfers legen und selber dabei Gutes tun.« Erkennbar ist hier die Situation der Entbehrung ins Leiden gewendet. Sein Leben in die Hände des Schöpfers legen ist dasselbe wie die Sorgen auf ihn werfen. – In demselben Brief steht die Aufforderung, nicht zu sorgen, neben dem klassischen Motiv von Wachen und Nüchternsein, das wir aus der Verkündigung Jesu kennen, gerade auch in Kombination mit der Freiheit von der Sorge in Lk 12,22-34/35-48. In 1 Petr 5 ist unser Motiv wiederum mit Leiden und nahem Ende verbunden; 5,10 spricht von der kurzen Zeit des Leidens. 1 Petr 5,7f: »Alle Sorge, die ihr habt, werft auf Gott, denn er kümmert sich um euch. Seid nüchtern und bleibt wach. Euer Feind, der Teufel, läuft brüllend wie ein hungriger Löwe umher auf der Suche nach jemandem, den er verschlingen kann. Widersetzt euch ihm fest im Glauben. Denn ihr wisst, dass eure Brüder und Schwestern in der ganzen Welt dasselbe durchstehen müssen wie ihr.« – Das besonders intensive Wirken des Teufels ist Merkmal der Endzeit. So können wir dann Phil 4,6-7 besser verstehen: »Das Ende steht vor der Türe. Sorgt euch um nichts, denn ihr könnt ja beten. So sollen eure Wünsche allezeit, wenn ihr betet und bittet, begleitet von Dank und Lob vor Gott kommen.« – Im Unterschied zu den anderen Stellen,
Der Brief an die Philipper
die dieses Motiv verarbeiten, spricht 1 Petr nicht nur vom Bittgebet, sondern mahnt auch zu Dank und Lob. Er vermittelt daher sozusagen ein Stück Gattungskunde (Bitt-, Lob- und Dankgebet). Auch bei Ignatius von Antiochien († um 115) ist die Freiheit von der Sorge verbunden mit Gebet und Leiden: Im Brief an Polykarp schreibt Ignatius (7,1): »Da die Gemeinde im syrischen Antiochien, wie ich erfahren habe, dank euren Gebets Frieden hat, habe ich meine Sorgen Gott überlassen und bin jetzt zuversichtlicher, dass ich durch Leiden zu Gott komme …« Um 120 n. Chr. schreibt in Rom der Bruder des damaligen Papstes im so genannten »Hirt des Hermas« (Vis 4,2,4): »Da hast du aber Glück gehabt! Gut, dass du all deine Sorge auf den Herrn geworfen und ihm dein Herz geöffnet hast, in dem festen Glauben, dass nichts außer ihm, dem großen und herrlichen Namen, dich retten kann. Deswegen hat Gott seinen Engel gesandt … Er hat dem Untier das Maul zugehalten, sodass es dir nichts antun konnte … Werft eure Sorgen auf den Herrn, dann wird er alles zu einem guten Ende bringen. Vertraut nur auf den Herrn, ihr Kleinmütigen, er vermag alles.« Die Verbindung mit dem Untier kennen wir schon aus 1 Petr 5. Das Gegenteil schildert der obige Verfasser in Vision 3,11,3-4: »Weil ihr vom Lebensalltag so beansprucht wart, habt auch ihr euch die Kraft rauben lassen, seid dann mutlos geworden und habt eure Sorgen nicht auf den Herrn geworfen. Eure Tatkraft war gebrochen und eure Traurigkeit hat euch alt werden lassen.« – Wieder mit Gebet verbunden ist die Freiheit von der Sorge bei demselben Autor in Gebote 5,2,3: »Die Geduld dagegen ist groß und stark. Ihre Kraft ist mächtig und überlegen … Sie ist fröhlich, voll Jubel, frei von Sorge, sie lobt Gott allezeit.« Mit »Geduld« kommt das Thema »Leiden« wieder zur Geltung. Die Fröhlichkeit erinnert an Phil 4,4 (Freude). Das »Lob« kennt Phil 4,6 genauso. Die Sorgen auf Gott werfen ist vielleicht einmal ganz wörtlich verstanden worden, wenn man ein aufgeschriebenes Gebet im Tempel niederlegt. Jedenfalls im Neuen Testament bedeutet es immer Gebet, wenn man die Sorgen auf Gott wirft. Diese Sorgen beziehen sich einerseits auf Kleidung und Nahrung, andererseits auf die Gefährdung des Lebens durch Verfolgung, Leiden und Martyrium. Alle diese Motive sind zu einem
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Kapitel 4
durchgängigen Themenfeld relativ fest miteinander verbunden. Und allen Texten ist dieses gemeinsam: Gott, dem man sich und seine Sorgen, sein ganzes Leben anvertraut, wird ganz sicher zu denen stehen, die ihm so vertrauen. Daher ist es nicht verwunderlich, wenn das Motiv der Freude hier öfter vorkommt (Phil 4,4; Past Herm) und Traurigkeit schwindet (Past Herm, Vis 3). – In Phil 4,7 wird die Verheißung ausgeweitet bis hin zum Heil, das »unvorstellbar ist für unsere Herzen und für unser Denken«. Während in der eben behandelten Traditionslinie das Gebet, der Glaube und der Jubel der Weg waren, sich Gott anzuvertrauen, sieht es in der Jesus-Überlieferung der Evangelien anders aus: Jesus kümmert sich wirklich im physischen Sinne nicht um Nahrung, Kleidung und sein Überleben. Er lässt aus der Sorglosigkeit den Lebensstil des Wanderasketen werden. Daher beschränkt er auch das Gebet um die täglichen Dinge auf das Minimum (die knappe Brotbitte im Vaterunser), er wirft im Übrigen ganz wörtlich seine Sorge auf den himmlischen Vater. Fazit: Von der Grundstelle in Psalm 55 gehen drei Linien aus: Die eine bezieht sich auf Gebet und Lobpreis (der Christen); dazu gehört auch Phil 4,6. Nach einer zweiten Linie sollen und können sich besonders der Leidende und der Märtyrer Gott anvertrauen; er wird für sie sorgen. (1 Petr; Ignatius). Nach einer dritten Linie nimmt Jesus das Nicht-Sorgen ganz wörtlich und schränkt auch das Gebet um Nahrung usw. ein: Das Vertrauensverhältnis zum Vater ist so eng, dass kein Jünger sorgen muss. Jeder hat alle Hände frei, die Anforderungen des Reiches Gottes (seine Gerechtigkeit) zu erstreben. – Paulus fordert in Phil 4 nicht die rigorose Konsequenz Jesu. Er richtet sich an Christen in Ortsgemeinden, von denen er nicht erwartet, dass sie sich dem Vorbild Jesu und seiner selbst anschließen. Doch für ihn sind das Gebet und die Spiritualität der frühen Wanderapostel bleibend maßgeblich, auch kurz vor dem eigenen Martyrium. Das bei Paulus alles tragende und bestimmende Element ist die Freude (V. 4). Die Nähe des Herrn (V. 5) bedingt hier wie auch sonst im Urchristentum die Freiheit von der Sorge (V. 6). Man denke nur an die Verbindung von Nicht-Sorgen und Reich Gottes in der Bergpredigt. – Im Übrigen bilden die Verse 4-9 gattungsmäßig eine
Einheit, die man peroratio (Schlussappell) nennt, die knappe Reihung wichtiger Mahnungen am Ende eines Briefes oder einer Rede (Predigt). Sie endet hier stilgemäß mit dem Segenszuspruch in V. 9b.
Phil 4,12-20: Paulus über sich selbst Immer wieder nennt Paulus Peristasenkataloge, Aufzählungen der leidvollen Prüfungen, die er überstanden hat (hier: 4,11b-14). Jeder, der selbst Not leidet, kann sich darin wiedererkennen und damit trösten. In den Versen 19-20 fällt auf, dass Paulus zweimal das Wort »Herrlichkeit« gebraucht. Der Ausleger muss diese Ansammlung inhaltsschwerer Substantive auflösen und verflüssigen. Dann liest sich der Text so: »Euch soll mein Gott aber reichlich schenken, was ihr braucht. Denn er kann üppig geben, und da wir mit Jesus Christus eins sind, leuchtet darin seine Herrlichkeit auf. Alle Herrlichkeit gebührt ihm, Gott, unserem Vater, für alle Zeit.« Der letzte Satz ist eine Doxologie, d. h. Gott wird Herrlichkeit oder Ehre zugesprochen, und zwar von den Menschen. Das ist also eine »erwartbare« Lobpreisung am Schluss. Neu und einzigartig ist hier, dass diese Ehre oder Herrlichkeit Gottes im Satz zuvor begründet ist, und zwar darin, dass in der Einheit mit Christus bereits Gottes Herrlichkeit sichtbar ist. Das heißt: Die Menschen müssen die Ehre Gottes, die ihm gebührt und die wir ihm zusprechen, nicht erst ersinnen oder erfinden. Sie ist schon da. Das, was in der Gemeinschaft mit Jesus Christus geschenkt ist (Erlösung, Verbindung der Völker), ist schon sichtbarer Erweis der Herrlichkeit Gottes. Man muss diesen wahrnehmbaren Glanz nur wieder auf Gott zurückführen, und genau das tun wir im Lobpreis. Der Lobpreis vollzieht nach und holt gedanklich ein, was Gott zuvor getan hat. Wenn wir Gott ehren, verbinden wir nur das, was zusammengehört, den Segen und die Wiederherstellung unserer Würde, mit dem Ursprung im Himmel. Denn »Herrlichkeit« heißt auch Ansehen voreinander. Das ist in der Kirche, in der Verbindung mit Jesus Christus wieder geheilt. In der Einheit mit Jesus Christus sind die Christen sozialpsychologisch »saniert« und in der »Gesellschaftsfähigkeit« geheilt.
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Der Brief an die Kolosser
Kommentare: Johannes Chrysostomos (vor 400) MPG 62. – Hrabanus Maurus (850) MPL 112. – Theophylakt (1100) MPG 124. – Johannes Calvin (1550). – E. Lohmeyer (8. Aufl. 1930). –
M. Dibelius/H. Greeven (1953). – F. Mussner (1965). – E. Lohse (14. Aufl. 1968). – J. Ernst (1974). – E. Schweizer (1976). – M. Wolter (1993).
EINFÜHRUNG Verfasser Für Eph und Kol ist die paulinische Urheberschaft umstritten. Der Brief setzt voraus, dass Paulus noch lebt (4,18). Er entsteht in der Zeit der Gefangenschaft des Apostels (4,10: Mitgefangener), also in der letzten Lebensphase des Apostels. Theologisch ist die Affinität zu den unbestrittenen Paulusbriefen unübersehbar, aber auch die zu Hebr und dem JohEv. Da wie in Eph 6,21 Tychikos eine herausgehobene Rolle spielt (4,7f), kann man annehmen, dass Tychikos entweder beide Briefe im Auftrag des Apostels geschrieben hat oder doch als Ortskundiger und Vertrauter des Paulus (4,7f) die Entstehung beider Briefe kontrolliert hat. Aber auch Epaphras (1,7f) käme in Betracht. Für ihn spricht, dass er zu Beginn des Briefes in 1,7f detailliert vorgestellt wird, was sonst Privileg des Apostels Paulus ist (Gattung der brieflichen Selbstvorstellung (vgl. K. Berger, Formen und Gattungen im Neuen Testament, 2005, § 82). Angesichts der Kürze des Briefes werden ganz ungewöhnlich viele Gemeindemitglieder genannt (1,7f; 4,10-17). Das lässt auf eine kommunikative Unsicherheit des Verfassers schließen: Er weiß einfach nicht, wer der maßgeblich Anzusprechende ist. Das Verhältnis zur paulinischen Theologie ist eng, aber vielleicht hat man sich im Unterschied zu früheren Paulusbriefen die Entstehung so zu denken, dass Paulus nicht mehr jeden einzelnen Satz diktiert, sondern Auftrag und Rahmen absteckt. Die persönliche Unterschrift in 4,18 halte ich für echt, d. h. ich sehe es als ausgeschlossen an, dass man sich hier ein Betrugsmanöver auf Kosten des Apostels leistet. Die Gemeinsamkeiten mit Eph sind erheblich
und grundsätzlich: Christus ist hier Haupt des Leibes; eine apokalyptische Eschatologie fehlt. Im Unterschied zu Eph geht es nicht um die Einheit von Juden- und Heidenchristen in der Kirche, sondern um spezielle Probleme einer konkreten Gemeinde mit einer speziellen Häresie. Die Unterschiede zu Eph erklären sich von daher. Kol ist vielleicht früher, da der Verfasser sich noch an Spezialthemen abarbeitet; Eph ist ein umfassender, reifer und theologisch vielschichtiger Entwurf, wie er eher einem reiferen Theologen zuzutrauen ist. Es kann ja sein, dass sich Kol gut bewährt hat und der Verfasser dann mit Eph den großen Wurf für mehrere Gemeinden wagt, und zwar auf demselben »Postweg« (Tychikus). Der Ort der Entstehung könnte Ephesus oder Rom sein. Ephesus ist wahrscheinlicher, und zwar wegen der geografischen Nähe zu Kolossai und wegen der Tatsache, dass zumindest später Ephesus eine Rolle bei der Leserschaft gespielt hat. Von Paulus abweichende Gemeinsamkeiten in Kol und Eph: Christus ist Haupt des Leibes der Kirche; die Rede von der »Fülle« (griech.: pleroma), mit der Gott die Welt erfüllt; der häufige Gebrauch des Revelationsschemas (verborgenes Geheimnis, jetzt erst offenbar); das Bild vom Wachstum des Leibes; die Besiegung von Mächten und Gewalten durch den Tod (und die Erhöhung) Jesu Christi, der Triumph (Gefangenschaft) über die Mächte; die präsentische Existenz der Glaubenden und Getauften im Himmel; die Haustafeln; der Verzicht auf apokalyptische Eschatologie. Entstehungszeit Es gibt gute Gründe, die Entstehung von Eph und Kol noch während der Lebenszeit des Paulus an-
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Der Brief an die Kolosser
zunehmen. Im Verhältnis zu Röm, Gal und Phil sind in beiden Briefen weder das »Gesetz« und seine Erfüllung noch die Glaubensgerechtigkeit ein Thema. Die Christologie beider Briefe steht eher der Logos-Christologie von 1 und 2 Kor nahe. Die Ämterliste in Eph 4 entspricht in wichtigen Teilen 1 Kor 12. Und die Leib-Christi-Ekklesiologie beider Briefe, besonders des Eph, hat keine Entsprechung in den späteren Briefen des Apostels, sondern eher in frühen wie 1 Kor. Die Rolle der Weisheit kommt nahe an 1 Kor 2 heran. Andererseits kennt Paulus die Vorstellung nicht, dass Juden- und Heidenchristen zusammen den einen Leib Christi bilden. Paulus insistiert zu sehr auf der eigenen Rolle des Judentums (nicht nur in Röm 9-11, sondern auch bei der Frage der Kollekte an Jerusalem). Auch wenn es in Korinth Judenchristen gab – in 1 Kor 12 ist die Einheit von Juden- und Heidenchristen nicht das Thema. Da der Brief inhaltlich zwischen Gal (judenchristliche Gegner) und Eph (Christologie, Haustafeln) liegt, könnte das Jahr 58. n. Chr. in Frage kommen, auch wegen der dann in Eph angestrebten Einheit von Juden- und Heidenchristen. Adressaten Die Verankerung der Adressaten des Kol in Kleinasien wird durch eine Reihe von Gemeinsamkeiten mit der Offb bekräftigt. Die wichtigsten: Jesus ist der Erstgeborene aus den Toten (Kol 1,18; Offb 1,15), durch sein Blut sind die Christen von den Anklägern befreit (Kol 1,22; 2,14f; Offb 12,10); Engel sind nicht anzubeten (Kol 2,18; Offb 22,8f). In Kol gilt Beschneidung als etwas Positives. Stellt man die jüdische und die christliche Beschneidung nach Kol gegenüber, so ergibt sich: Zustand vor der Beschneidung, jüdisch: Unbeschnittenheit, Begierden, Sünde; christlich: Fleisch, Sünden, Totsein. – Die Beschneidung selbst, jüdisch: von Hand, außer bei Engeln, die beschnitten geschaffen sind; christlich: Beschneidung nicht von Hand, (sondern von Gott) bei Ausziehen des Leibes, Begräbnis mit Christus in der Taufe, Mitauferweckung mit Christus. Konsequenz: Engel müssen nicht mehr angerufen werden, da die Christen selbst himmlisch von Gott beschnitten sind.
737 Rekonstruktion der Gegner in Kolossai Zu Kol 1,15-20: Die »Throne« und andere Engelgruppen werden in Kolossai verehrt. Das ist ein generelles jüdisches Phänomen in dieser Zeit. Vgl. dazu die Bemerkung im Kerygma Petrou 2a (nach Clemens v. A., strom 6,5,41): »… noch betet an nach Art der Juden. Denn jene meinen allein, Gott zu erkennen, und verstehen (ihn) doch nicht. Denn sie verehren (griech.: latreuein) Engel und Erzengel, den Men (männlichen Mondgott) und die Selene (weiblichen Mondgott), und wenn der Mond nicht scheint, halten sie nicht den so genannten ersten Sabbat, noch den Neumond, noch das (Fest der) Ungesäuerten, noch ein Fest (überhaupt), noch den großen Versöhnungstag.« – Der Verfasser neutralisiert diese Mächte, indem er sie durch den Sohn geschaffen sein lässt. Zu Kol 2,10: Der Sohn ist »Haupt« jeder Engelsmacht. Die geistliche Beschneidung ersetzt die physische. Die Gegner des Kol wollten offenbar die physische Beschneidung für Heidenchristen durchsetzen, weil sie auch ein (apotropäischer) Schutz gegen Engelmächte ist, denn nach einzelnen jüdischen Quellen sind die Engel beschnitten erschaffen. Ein unbeschnittener Mensch hat daher ein Problem angesichts der Vollkommenheit der Engel. Zu Kol 2,14.15: Die Mächte und Gewalten können nun angesichts des stellvertretenden Todes Jesu nichts mehr gegen die Menschen vorbringen. Das taten sie aber sonst mit Freuden. Nun hat der Versöhner über sie regelrecht triumphiert. Zu Kol 2,16: Die Angleichung an Engel erfordert Vermeidung bestimmter Speisen (z. B. alle nach dem Gesetz verbotenen, ferner Ungeschächtetes, vielleicht Fleisch überhaupt), bestimmter Getränke (Wein, Alkohol überhaupt). (Jüdische) Feste, Neumonde und Sabbate müssen eingehalten werden (s. oben zu 1,15-20), denn die Verbindung von Engelglaube und Astrologie hat im 1. Jh. und später bis heute unvorstellbar große Bedeutung. Zu Kol 2,18: Gegenüber den Engeln ist demütig anbetende Unterwerfung angesagt, wie es spätere jüdische Mystik (z. B. 3 Henoch) bezeugt. Der Ausdruck »er hatte Visionen und durfte danach
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738 das himmlische Heiligtum betreten« beschreibt wohl ein mystisch-kultisches Element, das wir so aus den Traktaten über die himmlischen Hallen kennen. Ähnliches ist auch im kleinasiatischen Heidentum bezeugt, so in einer Inschrift (2. Jh. n. Chr. aus Amisos; in Berger/Colpe, Textbuch, Nr. 527: »(sie) kamen, um Gottes Offenbarung einzuholen …, die sich einer Einweihung unterzogen (myethentes) und das innere Heiligtum betraten (enebateusan)«. Im Judentum ist dieses innere Heiligtum dann als Ort »im Himmel« vorgestellt. Zum Offenbaren vgl. 3 Henoch 43,2 (Metatron und R. Ismael): »Und er hob mich hoch an seine Seite, ergriff mich mit seiner Hand und hob mich hoch neben den Thron der Herrlichkeit, neben den Ort der Schekhinah, und er offenbarte mir den Thron der Herrlichkeit.« Dass die Irrlehre des Kol im Zusammenhang mit dem Himmel steht, wird auch durch die Unterscheidung von Schatten und Wirklichkeit in 2,17 nahegelegt. Zu Kol 2,21: »Fass dies nicht an! Iss das nicht! Berühr jenes nicht!« – 2,23: »Man erhebt Anspruch, diese Sonderriten, Demutsgesten und Askesen seien Weisheit …« Hier zeigt sich ein starkes pharisäisches Erbe. Denn die Pharisäer sind sprichwörtlich an Reinheit durch Kontaktvermeidung orientiert und zugleich durch Engelglaube ausgezeichnet. Durch jede Art von Askese wird ein Mensch den Engeln ähnlich. Außerdem wird die Bezeichnung »(rein) menschliche Überlieferung« im Neuen Testament gerne benutzt, um pharisäische Positionen zu besprechen (2,8.22 [Gebote und Lehren der Menschen], vgl. Mk 7,8 und Tit 1,14 [Gebote]). In 2,8 wird die Irrlehre des Kol »Philosophie« genannt. Das könnte jede beliebige kompakte Weltanschauung mit einem Konzept sein, es muss sich nicht um eine der bekannten Philosophien (z. B. Pythagoreismus, so aber E. Schweizer) handeln. Josephus nennt auch die Pharisäer eine philosophische Richtung (Ant 18,9.11.23). Resultat: Die »Häresie« der Kolosser ist ein esoterisches mystisches Judentum, das die asketische Vorbereitung von visionären Himmelsreisen vertritt. Es kann sich dabei durchaus um Christen gehandelt haben, die Jesus dann als Musterfall des Eindringens eines Menschen in
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diesen Bereich betrachteten (wie zuvor Henoch und R. Ismael). Christsein bestünde dann darin, Jesus auf diesem Weg nachzufolgen. Der Verfasser ersetzt diese Bemühungen durch die seit der Schöpfung bestehende Überordnung Jesu Christi und durch seinen stellvertretenden Tod zur Versöhnung. Engelkult Die Engel gehören nach jüdischer Auffassung zur Grundausstattung des Himmels und werden am ersten Schöpfungstag geschaffen (vgl. die Liste in Jub 2,2). Clemens v. Alexandrien (Eclogae propheticae, 56f) spricht von ersterschaffenen Engeln, die »in Ruhe« sind, um Gott zu schauen. Auch Gott selbst ruht sich unter ihnen aus. D. h. sie haben etwas zu tun mit dem siebten Tag. Der ganze Abschnitt bei Clemens könnte ein Schlüssel sein zum Verständnis der Häresie, die Kol bekämpft. Denn die Kolosser halten ebenfalls den Sabbat in besonderer Weise, und der Briefverfasser geht auch nicht davon ab, dass die Engel (Throne) die Ersterschaffenen sind; denn der Sohn ist der unerschaffene Schöpfungsmittler. – Vgl. dazu auch Hen (slav) 33,7: »Alle Heere habe ich geschaffen und alle Kräfte, und es gibt keinen, der mir widersteht oder mir nicht gehorcht. Denn alle gehorchen meiner Alleinherrschaft und diesen meiner alleinigen Macht.« Auch hier wird – ähnlich wie in Kol für die Einheit von Theo- und Christologie – die Souveränität des einen und einzigen Gottes diesen Mächten und Kräften gegenüber betont. Es kann sein, dass die Ethik der Unterordnung zuvor in der Gemeinde von Kolossai nicht unbekannt war. Denn sie passt eigentlich gut zu einer demütigen Verehrung der Engelmächte. Doch der Verfasser kann sie nun neu begründen. Denn die Ordnung der Schöpfung ist christologisch, und damit auf Versöhnung gegründet. Da sieht alles anders aus. Der Verfasser des Kol richtet sich nicht gegen die Existenz von Engeln, sondern nur gegen die kultisch-mystische Unterwerfung unter diese. Liturgisch-mystisch orientierte Kirchen orientieren sich bis heute an der Engelwelt, da der Raum Gottes als Fortsetzung des liturgischen Raumes begriffen wird. Kol richtet sich nicht nur gegen Engeldienst, sondern auch gegen apokalyptische Eschatologie.
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Damit verschließt er zwei Zugänge: den geschichtlichen und den des Aufstiegs in die himmlischen Hallen. Es bleibt allein der Blick auf das Kreuz. Dadurch wird sowohl die Mühe des asketisch-mystischen Aufstiegs als auch die apokalyptische Angst und die ewige Fragerei nach dem Wann vermieden. Es wird eine andere Art von Mystik vorbereitet: die mittelalterliche und pietistische Blut- und Passionsmystik. Sie ist eine eigene Gestalt der Frömmigkeit, weder angelologisch noch apokalyptisch. Sie tritt als eigenständige dritte Größe neben diese beiden älteren Formen. Die Mächte und Gewalten sind keineswegs stets die »guten Mächte«, sondern zumindest höchst ambivalent. Sie verteidigen vor allem Gottes Hoheit gegenüber seiner Barmherzigkeit. Sie sind Anwälte der Erhabenheit Gottes. Daher ist es möglich, dass sie hinter den Machthabern dieser Welt stehen (1 Kor 2,8), und auch der Tod gehört zu diesen hohen Engeln (1 Kor 15). Der Heilige Geist und Michael werden dagegen als dem Menschen positiv gesonnene »Anwälte« dargestellt, andere Engel sind eher gefährlich (vgl. P. Schäfer, Die Rivalität zwischen Engeln und Menschen, 1971). Kritisch gegenüber den Menschen sind Engel auf jeden Fall als Mitglieder des Tribunals im letzten Gericht (Mk 8,38 und Lk 9,26). Dabei sind – theologisch gesehen – die Engel nie »für sich« zu besprechen, sondern als Aspekte des Gottesbildes. Vgl. auch: A. R. R. Sheppard: Pagan Cults of Angels in Roman Asia Minor, in: Talanta 12/13 (1980/81) 77-101. – Im Rahmen des Sykretismus vor den Toren des Judentums wird in Inschriften Zeus oft der »göttliche Engel« genannt. Im frühen Christentum verwendet Justin den »Engel Gottes« als »Vorbild« der Christologie (1 Apol 63,14-15; Dial 61,1; 86,3). Die spätere rabbinische Orthodoxie verbot das Anrufen von Engeln (b Berakh 13A69; Sifre Deut 148A Ende); das ist aber bereits im LAB der Fall, wo der Engel seinen Namen nicht verrät, mit dem die Menschen ihn anrufen wollen (anders TestSal, ed. P. Busch; die Rolle des Namens Jesu im NT ist in diesem Horizont verständlich). Schon Philo v. Alexandrien setzte die daimones der paganen Religion mit den angeloi der Bibel gleich.
739 Zu den Engelmächten in der frühchristlichen Briefliteratur: Kol 1,18: Throne, Herrschaften, Mächte, Gewalten Eph 1,21: Macht, Gewalt, Kraft, Herrschaft, … jeder Name 1 Kor 15,24: Macht, Gewalt, Kraft Jud 8: Herrschaft, Herrlichkeit 1 Petr 3,22: Engel, Gewalten, Kräfte Offb 4,4: Throne (mit Ältesten). Außerhalb des Neuen Testaments: TestLevi 3,8 (im 9. Himmel): Throne, Gewalten Hen (slav) 20,1: Heere der Erzengel, Kräfte, Herrschaften, Fürsten, Mächte, Cherubim, Seraphim, Throne, Ophanim Hen (äth) 61,10: Cherubim, Seraphim, Ophanim, Engel der Gewalt, Herrschaften, Mächte TestSal D 8,6: Cherubim, Seraphim, Sechsflügelige, Vieläugige, Throne, Herrschaften Beobachtungen zu den neutestamentlichen Listen: 1. Aus Eph 1,21, wo dann folgt »… und jeder Name«, geht hervor, dass »Herrschaft« die niedrigste Hierarchiestufe ist. Daher die Vermutung: Alle Listen nennen die Ranghöchsten zuerst. – 2. »Macht« ist also auch jeweils höher als »Gewalt«, und dieses wichtige Paar ist in 1 Kor, Eph und Kol vertreten. Die »Kraft« ist jeweils geringer als »Macht« und »Gewalt«. Das folgt aus der unter 1. genannten Beobachtung, dass alle Listen eine Rangfolge von oben nach unten darstellen. – 3. Die »Herrschaft« ist in Kol höher angesetzt als in Eph, und nur in Kol sind »Throne und Herrschaften« den »Mächten und Gewalten« vorgeordnet. Was steckt dahinter? – 4. Die »Engel« nach 1 Petr 3,22 entsprechen deutlich den »Mächten« aus den anderen Briefen; das Schema entspricht in dieser Hinsicht besonders dem von Eph 1 und 1 Kor 15. Diese Entsprechung ist wichtig für Kol; denn in 2,18 ist von Engeln die Rede, und die Frage stellt sich, ob sie den Mächten von Kol 1,16 entsprechen. – 5. Offenbar gibt es auch einen Zusammenhang zwischen den »Mächten« (griech.: archai) und den Erzengeln (griech.: archangeloi; Wortstamm arch- in beiden). Daher besteht in Kol ein Zusammenhang zwischen den Engeln in 2,18 und den »Mächten« in 1,18. – 6. In Kol 1,18 wird Jesus nicht nur »Haupt« genannt, sondern auch
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Macht (griech.: arche). Er trägt daher hier denselben Namen wie die »Macht« bzw. »Mächte« in den Listen. Kol hat daher ein besonderes Interesse daran, die »Mächte« ein- und unterzuordnen. Das geschieht in doppelter Weise wie in einem Zangengriff: »Throne und Herrschaften« werden den »Mächten« (= Engelmächten) vorgeordnet (nur in Kol!), und Jesus erbt ihren Namen, aber im Singular. Auf beiden Wegen wird ihnen, den »Mächten« bzw. Erzengeln, die Macht genommen. Durch Einordnung in die Hierarchie erscheinen sie gar nicht mehr so hoheitsvoll und anbetungswürdig wie nach den übrigen Listen, in denen sie zuerst genannt werden. Und Jesus ist überdies allen vorgeordnet. Er allein trägt einen Titel mit Arch-. Der Konflikt, der mit diesen Abschnitten in Kol geklärt werden soll, hat Entsprechungen in Offb 1,4: Hier ist Jesus sogar unter die sieben Geister gesetzt, denn die Abfolge lautet: Gott – sieben Geister – Jesus. Die sieben Geister werden aber von den Auslegern mit den sieben Erzengeln gleichgesetzt. Also kann man sagen: Kol
hat vielleicht unliebsame Konsequenzen im Auge, die einzelne Christen aus einer Anordnung hätten ziehen können, wie sie in Offb 1,4 vorliegt. Resultat: Der Verfasser des Kol gruppiert traditionelle Bezeichnungen von Engelklassen um. Er ordnet speziell die Mächte (Erzengel) ein und unter und reserviert den Namen Macht/Anfang (arch-) für Jesus. Nun ist in der Forschung umstritten, ob es Diaspora-Pharisäer gab. Die Frage muss hier auch nicht entschieden werden. In jedem Falle aber stehen die Irrlehrer, die in Kol bekämpft werden, solchen Positionen in vielen Punkten nahe (Engel, Reinheit, Speisevorschriften, »Philosophie«, »Menschensatzungen«) und sind daher Paulus und seiner Theologie entgegengesetzt. Das gilt besonders für die Hochschätzung der Beschneidung durch die Irrlehrer, die Kol bekämpft, wenn auch anders als in Gal (himmlische Beschneidung).
KOMMENTAR Kol 1-2: Christus, Haupt und Maßstab der Gemeinde Kol 1,1-14 (20): Zwei Anläufe der Anrede – Vergleich mit Apg 26,18 Kol 1 startet seine Anrede an die Gemeinde in zwei Anläufen, die teilweise parallel sind: 1,3-8 und 1,9-14(20). – Der erste Abschnitt bleibt mehr am Fassbaren und Sichtbaren, der zweite Abschnitt geht in die Tiefe (Errettung). Beide Abschnitte enthalten die brieftechnisch wichtigen Stichworte »Danken und Fürbitte leisten« (V. 3) bzw. »Fürbitte leisten und Danken« (V. 9.12). Dadurch wird der Text als religiös ausgewiesen. Beide Texte stellen am Ende, eingeleitet mit »welcher ist« (griech.: hos estin), jeweils eine für das Christsein unabdingbar wichtige Person vor: Epaphras in V. 7f und Jesus Christus in V. 15-20. Natürlich soll Epaphras nicht mit Jesus verglichen werden, aber der »Diener Christi« (1,7; Diener Christi als Kennwort der Missionare: 2 Kor 11,23) geht seinem Herrn voran, den er verkündigt.
Beide Abschnitte quellen geradezu über von Missionsterminologie, die z. T. schon jüdisch-hellenistischen Ursprungs ist. Der damalige Leser hat den Schwerpunkt mutmaßlich an den tragenden Elementen und nicht zuletzt auch an den Abweichungen vom allzu Üblichen festgestellt. Beide Abschnitte fallen in dieser Hinsicht auf durch eine sich steigernde Häufung von Ausdrücken des Erkennens (1,6 und 1,9.10, stets mit epigignosko bzw. epignosis). Beide Abschnitte sind verknüpft durch die einzigartige Doppelung von Fruchtbringen und Wachsen (V. 6 und V. 10). Insgesamt ist »wachsen« und »Wachstum« für Kol und Eph typisch (7 von 11 paulinischen Belegen). Wichtig ist daher auch das Stichwort »Wahrheit« (V. 5f); denn die Verbindung »Wort der Wahrheit« ist typischer Missionsterminus (2 Kor 6,7; Eph 1,13; 2 Tim 2,15; Jak 1,18), und auf die universale Mission weisen entsprechende Aussagen in V. 4 (alle Heiligen) und V. 6 (auf der
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Kapitel 1
ganzen Welt). Besonders im ersten Abschnitt überwiegen präpositionale Wendungen in Verbindung mit der 2. Person Plural (für euch, zu euch, bei euch: V. 3-7.9). Der erste Abschnitt hat seinen Schwerpunkt in der Rede von Glaube, Liebe und Hoffnung (V. 4f). Das ist übliche Grundinformation bei Paulus (vgl. 1 Thess 1,3: Glaube, Liebe, Hoffnung), hier versehen mit den beachtenswerten Zusätzen »(Liebe) zu allen Heiligen«, d. h. praktische Solidarität gegenüber Christen anderer Gemeinden (nur so wird das Wort Heilige im Urchristentum verwendet), und »(Hoffnung), die im Himmel für euch bereitliegt«, d. h. nicht Hoffnung auf Irdisches, sondern auf Unsichtbares und Zukünftiges. In V. 12 wird dasselbe »Los der Heiligen im Licht« genannt. – »Glaube, Liebe, Hoffnung« sind eine Art Grundschema des Christentums in der Anwendung auf den Einzelnen. Im 2. Abschnitt (1,9-14[20]) ist in V. 12-14 die fast vollständige Parallelität zu Apg 26,18 zu beobachten. Das ist deshalb bemerkenswert, weil Apg 26,18 eine Zusammenfassung der Lehre des Apostels Paulus ist. Beide Texte schildern die Bekehrung aus der Finsternis (griech.: skotos), die sie Macht der Finsternis oder Macht des Satans nennen (beide Male exousia). Der Finsternis gegenüber steht das »Licht« (griech.: phos). Erlangt wird der Losanteil (kleros) der Heiligen bzw. Geheiligten. Erlangt wird dabei Vergebung der Sünden (griech.: afesis hamartion). Abweichend ist, dass Kol 1,13 vom »Reich des lieben Sohnes (sc. Gottes)« spricht. Kol betont auch die Rettung (V. 13f), während Apg 16,18 das Bekehren nennt, also die Perspektive des Apostels. Nun ist die Opposition Finsternis/Licht auch schon für jüdisch-hellenistische Bekehrungen üblich (Philo v. Alexandrien, De Abrahamo 70), aber im paulinischen Umfeld erfreut sich diese Rede großer Beliebtheit (vgl. Eph 5,8 und Röm 13,12; 1 Kor 4,5; 2 Kor 4,6; 6,14; 1 Petr 2,9). Diese Beobachtung hat Folgen für die Rekonstruktion der Rezeption des Apostels und der paulinischen Schultradition. Diese Traditionsbildung erfolgte offenbar nicht unkontrolliert, sondern im Rahmen wiederholter Wendungen und kurzer gemeinsamer Programme. Im Urchristentum sind generell die Gemeinsamkeiten zwischen Theologen dort am stärksten ausgebildet, wo es sich um Grenzen und Abgrenzungen nach außen
hin handelt (z. B. Taufe und Missionsterminologie). In 1,11 werden »neue« Tugenden genannt: Geduld, Langmut und Freude. Bei Paulus sind diese und ähnliche (Synonyma) Tugenden oft kombiniert, z. B. in Gal 5,22. Dass der Verfasser in Kol 1 die Terminologie der Bekehrung abgrast, hat den Zweck, in der Gemeinde an Bekanntes zu erinnern. Das ist besonders auffällig bei der Rede vom Heiligen Geist (1,8f), die Kol sonst tunlichst meidet (technisch nur noch 3,16). Hier ruft der Verfasser damit eher Stichwörter aus der paulinischen Mission auf. Den wichtigsten Ertrag der Analyse von 1,1-14 sehe ich in der Stufenfolge Epaphras/Christus und in der Übereinstimmung zu Apg 26,18.
Kol 1,13: Reich Christi Christus ist vor allen Geschaffenen der Erste und Wichtigste. Das gilt für die Vergangenheit, für die Rangfolge in der Schöpfung in der Gegenwart, und es gilt auch für die Zukunft. Daher beginnt dieser Text: Wir gehören zu seinem Königreich. – Wir haben recht gehört: Der hymnische Text stellt das Königtum Jesu Christi in den weiten Raum zwischen Schöpfung und Auferstehung der Toten. Auch diese theologischen Aussagen sind dem Schöpfergott zuzuordnen. Indem Paulus mit dem Reich Christi beginnt, nimmt er den Ansatz auf, der in Mt 13,41 dasselbe mit dem Königreich des Menschensohnes bezeichnet. Vor allem aber hatte Paulus in 1 Kor 15,24 davon gesprochen, dass Jesus Christus jetzt regiert, bis er sein Reich am Ende dem Reich des Vaters wieder eingliedern lässt, sein Reich dem Vater übergibt. Zur theologischen Lage der Adressaten In Kolossai sagen die Menschen: Wir haben doch alle denselben Gott, auf Jesus Christus kommt es dabei gar nicht besonders an. Denn wir haben etwas gegen Gekreuzigte. Ein Gekreuzigter ist nicht göttlich, sondern allzu menschlich. Er ist hässlich und stinkt nach geronnenem Blut. Wir ziehen einen Gott vor, der weiter weg ist von den Menschen. Der Weg zu ihm besteht darin, den Engeln ähnlich zu werden, also herrlich und
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742 weit ab von der Materie. Wir verzichten ja schon auf Schweinefleisch und Saufgelage. Der Gekreuzigte ist das Ärgernis. Ein allgemeiner, transzendenter Gott ist nicht das Problem, ein Gott des Deismus. Gehören aber so menschliche Dinge wie Blut und Sünde, Leiden und Schande, Dreck und Preisgegebensein wie am Kreuz in eine Religion? Das Christentum hat sich auch deshalb durchsetzen können in der Konkurrenz der antiken Religionen, weil es schonungslos wahrhaftig mit den menschlichen Schwächezuständen umgegangen ist. So argumentiert auch Kol gegenüber allen Vorschlägen, dass man sich doch gut stellen solle mit allen Mächten, Herrlichkeiten und Gewalten im Himmel und auf Erden, um hier und dort glücklich zu sein. Sich gut zu stellen mit allem, was glänzt, bedeutet im Sinne des Kol Menschenverachtung und Verzicht auf Martyrium. Der Mensch kann jedoch nur erlöst werden durch einen, der Mensch ist wie wir. – Das wird auch Hebr betonen, wenn er gleich zu Anfang sagt: Nicht Engel können uns erlösen, nur einer, der Mensch ist wie wir, kann unser Hoherpriester sein. – So sagt es gleichfalls 1 Joh: Der Messias ist Fleisch geworden, wie wir es sind. Nur so konnte er uns von Sünden erlösen, weil im Bereich dessen, was die Bibel Fleisch nennt, unsere Mangelhaftigkeit besteht. – Und das meinen auch die Aussagen, nach denen Jesus bei der Erhöhung Mächte und Gewalten unterworfen hat, Engelmächte nämlich, denen wir fremd sind und die »etwas gegen uns haben«. Denn allein Jesus hatte diese beiden Positionen inne: die ganz hohe und die ganz niedrige – die ganz hohe, die wirklich zu Gott bringt, und die ganz niedrige, in der er, der Gott ist, menschliches Los teilt. Weil er Anteil hat am Tod, kann er auch den Tod in der Auferstehung überwinden und damit etwas Neues und Revolutionäres in der Geschichte des ganzen Kosmos erwirken. Die Engel gehören zum Grundbestand an Herrlichkeit in der Schöpfung. Aber das Neue, das die Welt wirklich weiterbringt, kann nicht darin bestehen, dass man in mühseliger Askese ihnen ähnlich wird und so in Kontakt mit ihnen kommt. Das Neue besteht in der Überwindung des Todes, denn das befreit von der größten Altlast. Dieses ist die große Revolution der Zukunft. Den Engeln ähnliche Visionäre bleiben sterblich. Durch den
Der Brief an die Kolosser
Auferstandenen erfolgt dagegen die Art von Sanierung durch einen zweiten Schöpfungsakt. An einer Kleinigkeit im Rahmen des jüdischen Weltbildes wird das erkennbar: Es gibt einen Engel des Todes, der in der Sterbestunde kommt und einen abholt (unter den alttestamentlichen Apokryphen schon im Testament des Abraham). Aber kein Engel konnte je sterben, noch auferstehen. Deshalb ruht alle Hoffnung auf Jesus. Alle Zukunft der Menschheit liegt bei ihm. In Kol 1,12 fällt auf: Jesus Christus ist Bild Gottes. Er allein, kein Engel. Aber gilt nicht nach Gen 1,26f, dass jeder Mensch, Mann und Frau, gottebenbildlich sind? Wo immer im frühen Christentum von Gottes Bild (»Ebenbild«) die Rede ist, meinen die Apostel stets nur Jesus Christus (Ausnahme: Jak 3,9). Jesus Christus ist der schlechthin »ideale« Mensch; auf dieses Vorbild und diesen Maßstab hin hat Gott den Menschen erschaffen wollen: Christus bleibt das Ziel. Die gesamte Zeit des Alten Bundes fällt hier aus. Die Universalität der Schöpfung wird erst in der universalen Erlösung wieder erreicht. So ist Jesus der Erstgeborene unter vielen Geschwistern. Es geht hier nicht nur um Christologie, sondern um das christliche Menschenbild und damit um die Frage: Geht es nur um Geist gegen Materie (mit Betonung des Geistes, ähnlich den Alternativen des 19. Jh.), oder hat Jesus Christus grundlegende Bedeutung für das Verhältnis der gesamten Menschheit zu Gott? Dabei ist nicht wichtig, was er selbst gesagt oder getan hat. Wichtig ist allein, dass der geheimnisvolle, gewaltige Gott durch ihn gegenwärtig wurde und nach seinem Muster die Menschen neu gestaltet.
Kol 1,15-20: (I) Einheit von Schöpfung und Erlösung Der Text ist in zwei parallelen Aussagereihen und an der Zäsurstelle spiegelbildlich aufgebaut. Die Zäsur in der Mitte bilden zwei gleich beginnende Sätze in V. 17 und V. 18a: »Und er ist …« (griech.: kai autos estin). Dabei spricht V. 17 abschließend über Jesu Rolle in der Schöpfung, V. 18a dagegen am Anfang des Abschnittes über Jesu Rolle in der Erlösung. Um diese Schnittstelle zwischen V. 17 und V. 18a herum gruppieren sich in V. 10-17 Aussagen über die Schöpfung und in
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Kapitel 1
V. 18b-20 Aussagen über die Kirche. V. 15 beginnt genau wie V. 18b (»Welcher ist …«; griech.: hos estin …), und darauf folgt in V. 16 ein Satz mit der Einleitung »Denn in ihm …«, die genau der Einleitung von V. 19 entspricht: »Denn in ihm …«, griech. beide Male: hoti en auto … Dann folgt jeweils (V. 16b und V. 20b) eine Aussage über seine Mittlerschaft, formuliert mit »durch ihn …« (griech.: di’autou). Diese Aussage bezieht sich auf »alles« (griech.: panta; V. 16.18), und schließlich steht am Schluss »auf ihn hin« (griech.: eis auton), so in V. 16.20. So kann man sagen, dass die beiden Hälften parallel und an der Schnittstelle spiegelbildlich zueinander stehen. Diese kunstvolle Komposition transportiert fundamentale Entsprechungen zwischen Schöpfungsmittler und Erlöser. Wichtig ist diese Einheit von Schöpfung und Erlösung, weil sie sich in ihrer positiven Bedeutung gegenseitig bestätigen. Zu Kol 1,15-16a: Hier liegt, religionsgeschichtlich gesehen, eine Kombination von Weisheits-Aussagen mit solchen über den Ur-Menschen (Adam) vor. Denn die Schöpfungsmittlerschaft ist in der alttestamentlichen Weisheit »ausgedacht« und dann auf Jesus übertragen worden. Die Weisheit ist dabei als eine Art Person (Gottes Tochter oder Werkmeisterin der Welt) vorgestellt. Die Weisheit der Bibel hat sich mit dem stoischen Logos verbunden (Prolog Joh 1). Der Ausdruck »Abbild Gottes« dagegen stammt aus Gen 1,26f, wo er sich auf Adam bezieht. Alle neutestamentlichen Texte beziehen Gen 1,26f auf Jesus (Ausnahme ist Jak 3,9). Die erste Größe neben Gott ist durch diese Kombination zugleich Weisheit/Logos/Urmensch. Paulus kennt die Urmensch-Tradition in 1 Kor 15 und in Röm 5 (Adam/Christus). Diese Art Urmensch-Christologie ist in Eph und Kol wichtig. Denn Christus ist hier das Urbild, auf das hin die Gemeinde qualitativ zuwächst. Die kollektiven Aspekte der Anschauungen von Jesus äußern sich hier nicht in der Menschensohn-Christologie, sondern zum Stichwort Adam oder Leib Christi. Die Schöpfungsmittlerschaft Jesu wird deshalb besonders betont, weil dann, wenn alles durch diesen Mittler erschaffen wurde, auch die Throne, Herrschaften, Mächte und Gewalten ihm ihre
743 Existenz verdanken. Dadurch ist er der Erste, und nicht sie sind es. Sie sind aber offenbar in den Augen der Christen in Kolossai die Ersten, die Gott am nächsten stehen, mit denen man sich gut stellen muss, wenn man bei Gott etwas erreichen will. Sie sind dann mächtige Mittler als Fürsprecher oder wenigstens als diejenigen, die die Menschen nicht hindern, zu Gott vorzudringen. Das Christentum dieser Heidenchristen, deren Meinungen Kol bekämpft, ist einen Blick wert: Zunächst ging es darum, den Engeln ähnlich zu werden. Das war auch der Weg jüdischer Mystik. Der Weg dazu sind Askese und Gebete. Auch Jesus Christus, den Erhöhten, hätte man unter diese Engelmächte einreihen können. Trug er nicht den Titel Kyrios wie die »Herrschaften«? Sitzt er nicht als Erhöhter auf dem Thron rechts von Gott – wie die »Throne«? Besteht die Angleichung an den Erhöhten nicht in einem engelgleichen Leben, was ja auch die Mönche und Nonnen immer versucht haben? Kol möchte gegenüber solchen Versuchen der Annäherung an Gott auf jeden Fall festhalten: Die Mächte und Gewalten sind traditionell dem Menschen nicht gerade wohl gesonnen. Zu Kol 1,18: Haupt-Metaphorik – Philo Q in Ex II 117: »Das Haupt aller Dinge ist der ewige Logos des ewigen Gottes. Unter ihn ist, als wären es die Füße oder die anderen Glieder, die ganze Welt gelegt, über die er hingeht und auf der er feststeht … Für ihre vollkommene Fülle bedarf die Welt zur Fürsorge und Beobachtung der am besten geordneten Verteilung und zu ihrer eigenen Güte des göttlichen Logos, so wie Lebewesen ein Haupt gebrauchen, ohne das es unmöglich ist zu leben.« Im Lichte Philos kann man daher die Christologie des Kol eine Logos-Christologie nennen. Das wird bestätigt durch eine andere PhiloStelle in Somn I 128: Der Logos ist das Haupt eines Leibes, denn der göttliche Logos ist Haupt über die unsterblichen Seelen. Ähnlich auch Philo, De Praemiis 125: Die Menschheit ist der Leib, der Gerechte das Haupt, denn durch ihn wird alles belebt. Q in Gen II 19: Unter den Lebewesen ist der Mensch eine Art Haupt. Wenn er zugrunde geht, gehen die anderen mit ihm zugrunde (Prinzip der Sympathie). Aber es gibt auch – auf demselben zeitgenössi-
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744 schen Hintergrund der stoischen Vulgärphilosophie – eine starke und verbreitete politische Verwendung des Bildes von Haupt und Gliedern: So Plutarch, Galba § 4: »… richtete er (sc. Vindex) abermals an Galba die schriftliche Aufforderung, die oberste Leitung zu übernehmen und dem starken Körper, der einen Kopf suche, in seiner Person einen solchen zu geben.« Der Körper ist das Reich, der Kopf ist der Herrscher. Ebenso Curtius Rufus, Historia 10,9,1 ff über die Diadochenkämpfe nach Alexanders d. Gr. Tod: »cum sine suo capite discordia membra trepidarent« (weil ohne ihr Haupt die Glieder in Zwietracht sich beunruhigten). Im Judentum ist auch zu nennen: Targum zu Hos 2,2: Juda und Israel werden für sich ein Haupt bestimmen aus dem Haus Davids.
Kol 1,15-20: (II) Christologie Jesus Christus ist der Erste, vor aller Schöpfung, vor allen Dingen. Und aus dem Mutterschoß der Erdengräber ist er auch als Erster in der Auferstehung neu geboren worden. Er ist immer der Erste. Die Throne, Majestäten, Machthaber und Gebieter, gegenüber denen der Sohn hervortrat, sie bestehen noch immer. Aber er ist auch hier der Erste, denn sie wurden dank seiner, durch ihn erschaffen. Die ganze Schöpfung ist durch ihn geworden. So ist er auch das Haupt des Leibes, der Kirche. – Es ist die Theologie der Morgenfrühe der Schöpfung, die hier entfaltet wird. Wer am frühen Morgen da ist, der bestimmt. Jesus ist vor allen erwählt, um seinetwillen wurde die ganze Welt geschaffen. Die Christen in Kolossai fürchten die Mächte, Throne und Gewalten, so etwas wie Schicksalsmächte, mit denen man sich gut stellen muss. Durch den Aspekt »Macht« ist mit dieser Gruppe eine andere verbunden: Für manche apokryphen Texte gehört auch Israel in seiner himmlischen Existenz dazu (als Erzengel Jakob vor aller Schöpfung geschaffen), für den Epheserbrief alle Erwählten in Christus. Da ist etwas, was wir nur ungefähr beschreiben können: Es ist mehr als eine bloß platonische Idee, ähnlich den Engeln, aber für die Erde geschaffen, bereitgehalten wie wichtige dramatische Figuren hinter den Kulissen der Bühne; denn Gott wird sie heranführen,
Der Brief an die Kolosser
wann er will. Noch sind sie unverbraucht. Gott hat sie vorgesehen für einen späteren Akt seines heilsgeschichtlichen Dramas. Er allein ist der Regisseur. Bei den Aussagen über Präexistenz geht es stets um die ganze Schöpfung und die ganze Heilsgeschichte, und zwar nicht unter dem Aspekt der Naturordnung (der Tiere und Sterne und Zeiten), sondern hinsichtlich der in der Geschichte wirksamen Mächte und Potenzen, und zwar sehr oft unter Absehen von der Geschichte Israels. Erst wenn man das bedenkt, bekommen Texte wie Kol 1 oder Eph 1 ihren Sinn. In Kol 1 wird Jesus, der Erste und das Haupt, regelrecht hymnisch gefeiert. »Haupt« des Leibes hieß der römische Kaiser, Haupt aller Mächte (Heere) war er. Insbesondere die Eigenschaft des Versöhners (Kol 1,20) hatten die großen Herrscher der Weltreiche seit Alexander dem Großen. Sie einten die unterschiedlichsten und gegensätzlichsten Völker unter einheitlichem Gesetz. Diese Aufhebung der Gegensätze und Feindschaften heißt seit Alexander »Versöhnung«. Hier, in Kol 1, steht die »Kirche« mit dem Auferstandenen an der Spitze genau an der Stelle des römischen Reiches mit dem Kaiser an der Spitze. Denn die »Kirche« ist nun die integrative und versöhnende Macht in der Geschichte inmitten der Völker. Es ist reizvoll, diesen Ansatz mit dem der Offenbarung des Johannes zu vergleichen, die wenig später, aber in demselben Geschichtsraum, entsteht (Kleinasien), und deren Thema nun ausdrücklich das römische Kaisertum im Verhältnis zur Kirche ist. Der Kol konkurriert im Ziel (Versöhnung der Völker), die Offb hat ein anderes Ziel: das himmlische Jerusalem, die Alternative zur Hure Babylon. Die Offb rechnet mit dem Untergang Roms als Voraussetzung, geht also von einer dualistischen Gerichtskonzeption aus. Der Kol setzt auf Versöhnung in der Geschichte. Von »Apokalypse« redet er fast gar nicht. Die Offb setzt auf das Dann, der Kol auf das Schon: Die Christen sind mit Christus schon auferstanden. Christus hat seine Machtposition schon seit Anbeginn der Schöpfung inne. Erst nach Offb 19 wird Christus als Sieger wirklich präsent werden. Für beide ist übrigens der Kreuzestod Jesu das entscheidende Mittel der Veränderung der Weltgeschichte; beide kennen den Ausdruck »Erstgeborener aus den Toten« (Offb 1,5; Kol 1,18).
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Aber für Kol genügt das Kreuz Christi, für Offb kommt das Blut der Märtyrer hinzu. Der eigentliche Gegner für die Offb ist der Teufel, für den Kol sind es Menschen, die die Engelmächte (und damit implizit auch den römischen Kaiser, denn hinter den Machthabern stehen die Engelmächte) anbeten. Das Gegenbild ist für Kol das christliche Haus (Haustafeln in Kap. 3 und 4), für die Offb das himmlische Jerusalem. An der Stelle, an der in Kol das Vorher steht (Jesus, der Schöpfungsmittler), findet sich in Offb 19 seine Stellung nach aller Geschichte. Kol fasst die christlichen Gemeinden, und zwar speziell die Häuser, die Familien, konstruktiv als Gegenprinzip gegenüber dem Kaiserreich auf. Die Macht Jesu ist in der Rolle des Hauptes in der Schöpfung begründet; in der Gegenwart beruht sie darin, dass die Christen mit ihm schon auferstanden sind. Der Bereich (nach 1,13 das Reich) Jesu Christi besteht darin, dass zwischen Gott und Mensch Frieden herrscht. So müssen sie im Entscheidenden keine Angst mehr haben, auch nicht vor den Mächten, Thronen und Gewalten. Die Machtfrage ist geklärt, und deshalb kann jetzt Frieden sein. Und wichtig ist: Die Machtfrage ist nicht erst seit Jesus entschieden, sondern schon immer seit Anbeginn der Schöpfung, also schon längst und nicht erst zufällig. Weil er so herrlich ist und Schöpfungsmittler aus der Morgenfrühe allen Seins, deshalb ist seine Versöhnung auch gültig und betrifft die Aufhebung alles Trennenden. Diese Wirkung des Todes Jesu hat in anderen theologischen Entwürfen des Neuen Testaments der Heilige Geist, der in Kol fast gar keine Rolle spielt. Der Heilige Geist ist es sonst, der das Trennende aufhebt. Zu Kol 1,19; 2,9 und Eph 1,23; 3,19; 4,13: Das Pleroma Fülle und erfüllt werden: Die Fülle ist stets die Fülle Gottes (oder Jesu Christi), denn allein Gott ist seiner selbst voll. »Pleroma« (griech.) bezeichnet auch die Gesamtheit der göttlichen Sphäre. Der Erfüllende erfüllt mit sich selbst, mit seiner Kraft, Herrschaft und Herrlichkeit. Die Fülle wohnt stets »in« etwas, das sie erfüllt (Welt, Seele des Menschen). Der Ort ist die Fülle von etwas (die Seele ist voll von Tugenden, die Gemeinde voll von Segen, der Antichrist voll von Bosheit). Derjenige, der die Fülle ist, hält zusammen, was
er erfüllt. Dabei häufen sich »all«-Aussagen. Gegenteil ist die »Leere«, die Merkmal des Dämonischen bzw. der von Gott verlassenen Welt ist (Kol 2,8: leerer Betrug). Am besten sind alle diese Aspekte zusammengefasst bei Philo (Legum Allegoriae 1,44): »… ist doch nicht einmal die ganze Welt ein Gottes würdiger Wohnort und Aufenthalt, da er selbst sein eigener Ort, seiner selbst voll und sich selbst genügend ist, der die anderen Wesen in ihrer Dürftigkeit, Öde und Leere erst erfüllt und umfasst, selbst aber von keinem anderen umfangen wird, da er ja selbst der Eine und das All ist.« Die Rede von der Fülle und vom Erfülltwerden ist apersonal. Doch es ist wohl nicht sachgemäß, hier den Gegensatz von Person und Sache, der uns geläufig ist, einzutragen. Entscheidend ist der dynamische Aspekt. Daher ist auch die »Fülle« bzw. das Erfülltwerden oft mit den göttlichen Kräften verbunden. Dieser dynamische Aspekt signalisiert die große Veränderung im biblischen Gottesbild zur neutestamentlichen Zeit (vor allem Neues Testament und Philo, dann frühe Gnosis), dass nämlich das relativ statische Gottesbild sich ändert zugunsten der Annahme einer vorwärtsdrängenden, die Welt bis zum »Gott alles in allem« (1 Kor 15,29) durchdringenden dynamischen Macht Gottes. Auch die Dreifaltigkeit wäre ohne diese Veränderung im Gottesbild kaum denkbar. Gottes Reich wächst, indem Gottes »Imperium« erweitert wird.
Kol 1,24-28: Mit-Leiden Der erste Satz unseres Textes ist in der protestantischen Forschung (nicht nur in der liberalen) einer der Hauptgründe dafür, den ganzen Brief Paulus abzusprechen: »Daher freue ich mich jetzt, dass ich zu eurem Nutzen leiden darf. So kann ich mit meinem sterblichen Körper das beitragen, was dem Leib Christi, der Kirche, an Qualen noch gefehlt hat.« Denn, so argumentiert man: Paulus war noch rechtgläubig, dieser spätere Text ist es nicht mehr. Denn für Paulus sei Jesu Leiden und Sterben ultimativ die Sühne für alle Sünden gewesen (1 Kor 15,3: »gestorben für unsere Sünden«). Tritt hier menschliche Leistung hinzu, weil den Leiden Christi noch etwas fehlt, das sie ersetzen muss, wenn auch durch Leiden?
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746 Ist das der Maßstab des Christlichen, alles nur in Gott verursacht zu sehen? Man hat dann Auswege angeboten und zwischen dem soteriologischen (oder satisfaktorischem Leiden, das Genugtuung bedeutet) und dem neu für diese Stelle erfundenen ädifikatorischen Leiden unterschieden. Durch das satisfaktorische Leiden seien die Menschen erlöst, das ädifikatorische Leiden (von lat. aedificare = auferbauen) diene nur der Glaubwürdigkeit der Verkündigung. Aber auch so ist zu fragen, was davon bei Jesus noch gefehlt haben soll. Die ganze Unterscheidung ist daher fallen zu lassen. Interessant wird doch der Gedanke erst, wenn ich nicht differenziere, sondern wenn das Leiden des Apostels (und aller weiteren leidenden Zeugen) tatsächlich die notwendige Ergänzung zum Leiden Jesu Christi darstellt. Denn es ist nicht damit getan, dass Jesus Christus einmal für uns gelitten hat – und dass Christen dann gar nicht mehr leiden müssen. Es geht nicht an, dass einer leidet und die anderen leidfrei dahinleben. Es gibt keinen Text des Neuen Testaments, der das nahelegte. Wahr ist vielmehr etwas ganz anderes: Jesus wird in seinem Leiden grundsätzlich nie isoliert betrachtet. Wie ein Tropfen Wasser im Wein ist das Leiden des Christen im Meer des Leidens Jesu. Wenn der Apostel Paulus schildert, wie er in das Leiden Christi hineingezogen ist (2 Kor 4,12), unterscheidet er nicht Sühneleiden vom »Leiden zum Angucken«. Schon die Evangelien sprechen daher davon, »mit« Jesus zu sterben. In 2 Tim 2,12 heißt es: »Wenn wir alles geduldig ertragen, werden wir mit ihm regieren. Wenn wir ihn verleugnen, wird er uns auch verleugnen.« Und die Abfolge von »mit leiden« und »mit verherrlicht werden« (z. B. in 1 Petr) ist ein Bild aus der militärischen Sprache; es gilt vom Feldherrn in Gemeinschaft mit seinen Soldaten, d. h. in dieser Bildsprache: Wenn Paulus mit und für seinen Messias leidet, schafft er ihm (Gelände-)Anteile unter den Befreiten und Erlösten. Es genügt ja nicht der Sieg, das gewonnene Imperium muss auch durchgesetzt werden. Das ganze Geschehen ist doch ein einziger, in sich unteilbarer Vorgang der Eroberung, in dem Paulus sich als Feldherr versteht (2 Kor 10,1-6). Dabei spielen drei Aspekte eine Rolle, die alle in 2 Kor formuliert werden: befehlen, leiden und verherrlicht werden. Gerade im Fall des Mit-Leidens sind im Mes-
Der Brief an die Kolosser
siasbegriff des 2 Kor noch königlich-militärische Aspekte lebendig. In der Anteilhabe und nirgends anders geschieht die Verwandlung in Herrlichkeit. Das betrifft auch und gerade die sakramentale Anteilhabe am Leiden Christi. In der Taufe wird sie schon in Röm 6 ausdrücklich. Denn Taufe bedeutet ebenso Abschied wie Neubeginn, ebenso mitgekreuzigt werden wie neues Leben aus der Auferstehung. Mit Christus mitgekreuzigt werden bedeutet nicht, dass einer gestorben ist und die anderen die Hände in den Schoß legen können, indem sie sagen: Er ist ja für uns gestorben, das erübrigt ein christliches Leiden. Nein, mitgekreuzigt werden heißt: Wir sind gemeinsam auf dem Weg, er geht uns voran, er ist als Erster am Ziel. Zu Kol 1,27: Paulus spricht von Gottes Geheimnis, das Gott jetzt den Heiligen (d. h. den Christen) verkündet, und zwar sind die Heiden der Ort dieses Geheimnisses. Diesen Denkansatz nennt man das Revelations-Schema (s. dazu ausführlich bei Eph 3,1-13). Es ist in Röm 16 und in den »spätpaulinischen« Briefen (Eph, Kol, Pastoralbriefe) belegt. Die Vorgeschichte dieser Verkündigung Jesu Christi unter den Heiden ist demnach nicht die Prophetie des Alten Testaments. In Jesus ist Gott erschienen, er ist der Ort, an dem Gott zugänglich wird. In ihm kann man Gott anbeten. Die Anbetung Gottes in einem Menschen – das ist zugleich etwas, das den römischen Kaiserkult »überwindet«, ersetzt und überflüssig macht. Wir beobachten, dass in den Briefen, die so von Jesus als dem Heiland der Heiden berichten, nicht der geringste Ausgleich zu früheren »heidnischen« Ansichten angestrebt wird. Es gibt keine Anbiederung und keine Brücke. Jesus Christus ist das Geheimnis, das bisher nicht bekannt war, und das ist alles. Jesus Christus ist das Geheimnis Gottes für die Welt. Vor und außerhalb von Jesus Christus ist dieses Geheimnis nicht zu haben. Wir begreifen an dieser Stelle, warum die Alte Kirche beim Bekenntnis zu Jesus die Arkan-Disziplin handhabt. Denn Geheimnis heißt: Dieses ist das Neue, hier geht es um das »Eingemachte«, hier steht das Eigenste des Christentums auf dem Spiel. Zu Kol 2,11 ff: Kol nennt den Zustand vor der Hinwendung zu Gott »Tod«; denn Gott war
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Kapitel 1
»tot«, weil man dann nicht von ihm her lebt, sondern in Gewohnheiten, Sachzwängen und Vorurteilen. Der Brief sagt es noch schärfer: Tot in den eigenen Vergehen und Missetaten. Das ist wie bei Packeis. Da ist nicht nur die Oberfläche des Wassers gefroren. Da schieben sich die Eisbarrieren übereinander. Da ist kein Durchkommen mehr; man wüsste gar nicht, wo man anfangen soll. Es gibt keine Übersicht, keinen Durchblick, keine Möglichkeit, auf beiden Füßen zu stehen. Irgendwann meint man, den Tiefpunkt erreicht zu haben. So berichtet man es auch von Süchtigen, die erst gerettet werden können, wenn sie auf der Talsohle angelangt sind und sich mit keinem Strohhalm mehr trösten können. Unser Brief gebraucht dafür das Bild des »Schuldscheins« (2,14). An dieser Stelle ist nun das schwierige Bild vom gekreuzigten Schuldschein aufgrund neuerer Forschungen zum antiken Bankenwesen zu präzisieren. Der Schuldschein war eine vom Schuldner persönlich ausgestellte bzw. handsignierte Urkunde. Darauf stand zum Beispiel: »… was wir auch zurückbezahlen werden, abgesehen von dem anderen, was wir außerdem noch schulden … Ich, Papos, schrieb es für ihn, da er nicht schreiben kann« (Schuldschein über einhundert Silberdrachmen, 1. Jh. n. Chr.). Eine solche Urkunde begann mit den Worten: »Ich bekenne (die und die Schulden zu haben): …« (Hinweise J. Luttenberger). Als dogmata (Kol 2,14) bezeichnete man die einzelnen Schuldenposten, die »Schuldverbindlichkeiten«. Wurden sie nicht eingelöst, so konnte man aufgrund der Urkunde Klage erheben. Diese Urkunde mit dem Schuldbekenntnis und der Unterschrift wurde nun in einem öffentlichen »Verwahramt« für Privaturkunden aufgehoben. Dort war sie sicher vor Fälschungen seitens des Schuldners oder des Gläubigers. – Hatte der Schuldner das Geld zusammen, um seine Schuld zu bezahlen, und hatte er dem Gläubiger die Summe zurückgegeben (Bezeichnung des Vorgangs: Schuldentilgung, griech.: perilysis), so erhielt er vom Verwahramt seine Urkunde zurück; hierbei unterscheidet man zwei Vorgänge: die athetesis und die akyrosis. Die athetesis ist die »Beiseitelegung«, also die Entfernung der Schuldurkunde aus dem Stapel der aufbewahrten Papiere, d. h. aus dem Bestand der sich im Besitzamt befindenden wirksamen
747 Schuldscheine. Die akyrosis (Entwertung) ist das »Totmachen der Schuldurkunde«. Damit ist nicht Verbrennen oder Zerreißen gemeint, denn der ehemalige Schuldner wird seine entwertete Urkunde gut aufheben. Diese Außerkraftsetzung geschah vielmehr dadurch, dass man die Schuldurkunde kreuzweise oder durch Parallelstriche mehrfach durchgestrichen hat. Das konnte auch unter Verwendung des griechischen Kreuzbuchstabens Chi (X) geschehen. Einen direkten Bezug zur Kreuzigung darf man hier nicht ohne weiteres erblicken, denn das Kreuz hatte bekanntlich in der überwiegenden Zahl der Fälle T-Form und nicht X-Form. Der Vorgang der athetesis, also der Entfernung der Schuldurkunde aus der Ablage für derartige Urkunden, ist in Kol 2,14b demnach angedeutet mit den Worten: »… nahm den Schuldschein mitten [aus den übrigen Schuldscheinen] heraus«. Diese Vernichtung der Schuld wird in Kol 2 zusammenfassend exaleiphein (beseitigen, sc. der Schuldverschreibung) genannt. Theologisch wichtig ist daran mehreres: Zum einen werden die Schulden oder Sünden nicht einfach vergeben, d. h. »geschenkt« wie im Gleichnis vom unbarmherzigen Sklaven (Mt 18) oder wenn Jesus Sünden vergibt. Vielmehr werden die Schulden regulär bezahlt. Für die Adressaten des Briefes hilft dieser Aspekt dem Verstehen: Die Schuld verschwindet nicht einfach. Es geht mit »rechten Dingen« zu. Zum anderen: Jesus selbst wird in diesem Bild (!) zum Schuldschein. In der Kreuzigung Jesu wird der die Menschen belastende, anklagende Schuldschein entwertet. Nun bezahlt der Schuldschein nicht selbst die Schuld. Seine »Totmachung« ist vielmehr Zeichen dafür, dass jemand die Schuld bezahlt hat. Dieser »jemand« ist hier im Bild zweifellos Gott. Die Kreuzigung Jesu steht als sichtbares Zeichen dafür, dass Gott die Sünden der Menschen vergeben hat. Dieser Aspekt des Bildes betont daher die Aktivität Gottes (als des Vergebenden) stärker als andere Aussagen der Sühnetheologie. Zum Dritten: Inwiefern ist Jesus selbst der Schuldschein der Menschen? Stehen auf ihm die dogmata, also die Schuldverbindlichkeiten der Menschen? Das Bild erinnert ein wenig an das paulinische Bild, nach dem Jesus [von Gott] zur Sünde oder zum Fluch gemacht wurde. Das pau-
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748 linische Bild bedeutet: Alles, was es an Sünde und Fluch gab, wurde auf Jesus gesammelt, von ihm angezogen wie Eisenpartikel von einem Magneten. Und weil es von ihm angezogen wurde und sich auf ihm sammelte, konnte es auch an ihm und mit ihm »entsorgt« werden. – Das ist immerhin dem Schuldschein ähnlich. Denn auf dem Schuldschein ist zumindest juristisch alles greifbar, was Schulden sind. Nur hat das Bild vom Schuldschein, auf dem alles steht und mit dessen Entwertung alles behoben ist, einen anderen metapher-spendenden Bereich zum Ursprung: das antike Bankwesen. Dieses war Menschen in Kleinasien mit Sicherheit leichter verständlich als das nicht sichtbare »zum Fluch«, »zur Sünde« werden; denn dieses Bild kommt vom Ritual des Versöhnungstages (Jom Kippur) her: Auf dem Deckel der Bundeslade sammelt sich alles Vergehen, um dort am Versöhnungstag entsorgt zu werden (vgl. zu Röm 3,25). Zurück zu Kol 2,14: Was bedeutet Jesus als Schuldschein? Die Menschen in Kleinasien konnten dieses Bild verstehen. Aber bei jeder Metapher gilt, dass man ein Bild auch totreiten kann, wenn man es überstrapaziert. Welches sind hier die Vergleichspunkte? Einmal entspricht das Totmachen des Schuldscheins der Tötung Jesu. Durch Vernichtung des einen zentralen »Dokuments« sind wir befreit von Schuld. Das Zeichen für die Beseitigung der Schuld ist in beiden Fällen nicht identisch mit dem Urheber der Befreiung von der Schuld. Denn die Schuld wurde beseitigt – im Bild gesprochen – durch den wieder zu Geld gekommenen Schuldner bzw. durch Gott. Die Vernichtung des zentralen Dokuments ist nur ein, wenn auch unentbehrliches, Zeichen für diesen Vorgang. Sodann: Die Größe der Schuld ist an diesem zentralen Dokumentationspunkt ablesbar: an Jesus, weil er viel gelitten hat. Die Grausamkeit des Martyriums Jesu spiegelt die Größe menschlicher Schuld. Nur zur Ergänzung sei noch darauf hingewiesen, dass die hauptsächlichen Adressaten der zeichenhaften Vollendung der Schuldaufhebung
Der Brief an die Kolosser
nach Kol die Engelmächte sind, die nach 2,15 »erledigt« werden. Sie schüchtern die Menschen nach damaliger Anschauung stets ein. Alle Angst rührt von ihnen her. So hat der Vorgang, der sie öffentlich zum Schweigen bringt, auch Bedeutung für das Herz der Menschen in der Gemeinde. Diese Rolle der Engel ist gleichzeitig die beste Entlarvung des Engeldienstes der Gemeinde. Der Verfasser fragt sozusagen: Wollt ihr denen dienen, wollt ihr die verehren und nachahmen, die euch doch nur Angst machen und die Jesus besiegt hat?
Kol 2,12-14: Kraft der Taufe – Kraft des Kreuzes Zu Kol 2,12f: Ein Vergleich mit Eph 2,5; Röm 6,4-13; Joh 5,25.29 liegt nahe. In allen Fällen geht es um das Verhältnis des gegenwärtigen Christwerdens (Taufe) zur künftigen Auferstehung: a) Kol, Eph, Joh sind darin eins, dass die Menschen vor dem Christwerden tot sind. b) Nur nach Röm 6 sterben diese Menschen erst in der Taufe, und zwar mit Christus. c) Nach Kol und Röm werden sie mit Christus in der Taufe mitbegraben; in Kol weil sie tot waren, in Röm, weil sie mit Christus mitgestorben sind. d) Nach Eph und Kol sind die Christen in der Taufe mitauferweckt oder mit lebendig gemacht (mit Christus); nach Joh werden sie lebendig gemacht, nach Röm 6 sind sie durch die Taufe »lebendig für Gott«, haben ein neues Leben, sind »wie aus Toten lebendig«. e) In der Konsequenz sollen sie nach Kol »suchen, was droben ist« (3,1) und die Erdhaftigkeit töten (3,5). Nach Röm sind sie jetzt Sklaven der Gerechtigkeit. f) Nach Röm gilt ihnen ab Taufe eine Verheißung: Sie werden mit Christus leben (V. 8) und an seiner Auferstehung teilhaben, nach Joh (V. 29) werden sie auferstehen zur Auferstehung, die Leben bedeutet.
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Kapitel 3: Mahnrede
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Kol 3-4: Mahnrede Kol 3,1-11: Auferstehung und Taufe Als Grundlage seiner Mahnrede führt der Verfasser des Briefes (Paulus oder Schüler) jene Auferstehungstheologie an, die wir auch aus anderen spät- oder nachpaulinischen Schriften kennen, aus dem Epheserbrief und dem Rheginus-Brief (außerkanonisch, bei Berger/Nord, Das Neue Testament, 5. Aufl., 1041 ff). Demnach sind die Christen durch die Taufe definitiv – und nicht nur bildlich, geistig oder symbolisch – schon auferstanden. Die Grundlage für die Argumentation in Kol 3 ist die Taufe. In der Taufe sind die Christen mit Christus gestorben, d. h.: Sie haben von allem, was alt und vergänglich war, Abschied genommen. Gleichzeitig haben sie neues Leben erhalten, Leben vom Auferstandenen her. Im altchristlichen Taufritus wird beides sichtbar: Das Hineinsteigen ins Wasser steht für Tod, das Wiederheraufkommen für Auferstehung. Leider ist beides bei der Taufe heute nicht mehr erkennbar. In Eph 2,5-7 ist die Verbindung von Auferstehung und Taufe ähnlich: »Er hat uns, die wir tot und entgleist waren, gemeinsam mit Christus überhaupt erst lebendig gemacht. Aus Gnade seid ihr erlöst. Und er hat uns gemeinsam mit Jesus Christus auferweckt und im Himmel einen Platz gegeben. So will er für alle Zukunft zeigen, dass er mit Gnade nicht geizt.« Im Brief an Rheginus (9,2-4) lautet das so: »Gib keinem Anlass, an Folgendem zu zweifeln: Die sichtbaren Körperglieder sind tot und werden nicht gerettet. Nur lebendige Glieder werden nämlich auferstehen. Jetzt existieren sie verborgen in den sichtbaren Gliedern. Was ist denn nun die Auferstehung? Sie ist stets Enthüllung derer, die schon auferstanden sind.« Auch nach Paulus ist die künftige Auferstehung nur die »Enthüllung« der Christen als Kinder Gottes (Röm 8,19), und die [Gottes-]Kindschaft besteht nach Röm 8,23 in der Erlösung des Leibes von aller Vergänglichkeit. An anderer Stelle nennt Paulus dieses die »Anzahlung« des Heiligen Geistes, die den »neuen [inneren] Menschen« Tag um Tag in den Christen wachsen lässt, und im JohEv ist es das ewige Leben, das Christen schon haben.
Das Ziel ist nichts Geringeres als Vergottung der Menschen, d. h. dass Menschen nicht nur zu Staub werden, sondern in Wahrheit und Wirklichkeit Gott anlachen dürfen wie fröhliche Kinder, ihm ähnlich werden, mit ihm sein können, sich vor ihm nicht zu verstecken brauchen. Das läge ja eigentlich nahe, sich vor dem großen, unfassbar heiligen Gott zu verstecken wie einst Adam im Paradies. Nicht verstecken müssen sich die Christen aus Scham, sondern sie erhalten mit Jesus den Ehrenplatz (zur Rechten). Präsentische Aspekte Wir sehen, dass dieser schon gegenwärtige (präsentische) Aspekt der Erlösung ein gutes Fundament in paulinischer Theologie hat. Er hängt bei ihm mit Heiligem Geist und dem Kindsein zu Gott hin zusammen, also den beiden entscheidenden Gaben an jeden Christen. Am Leben des Auferstandenen hat auch nach Paulus schon der Getaufte Anteil (Röm 6,11), auch wenn es da nicht um den Heiligen Geist geht. Gewiss ist die Anteilhabe am Leben des Auferstandenen noch nicht sichtbar, aber die Konsequenzen sollen zumindest sichtbar sein. Das betrifft nach Kol 3,1 die Aufforderung: »Strebt nach dem, was Gott im Himmel will«, dann aber besonders 3,5: »So wie man abgestorbene Körperteile amputieren muss, trennt euch von euren alten Gewohnheiten, die noch zur irdischen Welt gehören …« Der Himmel ist zwar unsichtbar, aber für die Christen jetzt genau zeitgemäß. – Die Frage ist noch einmal zu stellen: Welchen Realitätscharakter hat für die getauften Christen der »Himmel«, in dem ihr Leben mit dem auferweckten Christus verhüllt gegenwärtig ist. Die Realität ist auf jeden Fall persönlich und mystisch (Kontakt mit »Personen« der unsichtbaren Welt), sie ist auch »von Rechts wegen« (juristisch im alttestamentlichen Sinn), sie ist in eben diesem Sinne auch sakramental und so real, wie Gott selbst es ist. Zu Kol 3,4: Nur hier ist in Kol deutlich von der Parusie Jesu Christi die Rede. Wenn er sichtbar (vgl. 1 Kor 1,7) wird, werden es auch die Christen (vgl. dazu Röm 8,18f). Zum Offenbarungscharakter der Endereignisse vgl. K. Berger, Wie kommt das Ende der Welt?, 1999.
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Zu 3,9-12: Kleider Dann wechselt das Bild in 3,9f: »Zieht den alten Menschen mit seinen Taten wie ein altes Kleid aus, zieht den neuen Menschen an. Denn dieser wird ganz neu geschaffen als Gottes Ebenbild, auf dass ihr euren Schöpfer immer tiefer erkennt.« Die Spannung von Sakrament und Ethik wird hier greifbar: Was im Sakrament der Taufe schon punktuell realisiert ist (der Getaufte hat Christus angezogen), macht die Ethik durativ zur Aufgabe (»zieht an …«). Dabei schließen sich Punkt (Taufe) und Linie (Ethik) nicht gegenseitig aus, sondern sind komplementäre Darstellungen derselben Wirklichkeit. Dies sich klarzumachen, hat auch schon seine ökumenische Fruchtbarkeit erwiesen: Denn der Weg und Kampf der Anstrengung kann auch als Punkt der Gnade gesehen werden. Das Kleid steht selbstverständlich einerseits für die alte und andererseits für die neue Existenz. Diese beiden Existenzen stehen konträr zueinander, obwohl die Übergänge von Schwarz nach Weiß in alltäglichem Grau verlaufen. Welchen Realitätscharakter haben also das alte und das neue Gewand? Beide bestimmen jede Sekunde christlicher Existenz wie die zwei Brennpunkte einer Ellipse. Doch der eine Brennpunkt hat Zukunft, der andere nicht. Je mehr die Anziehungskraft des einen Brennpunktes schwindet, umso mehr wächst die des anderen. In punktueller Hinsicht ist die Taufe der Ort des Kleiderwechsels. Das neue Kleid ist das neu angelegte Taufkleid (Ritualisierung von Metaphern). Nach 3,10b hat das Anziehen des neuen Kleides ein Ziel: Es soll der immer tieferen Erkenntnis und zugleich der immer größeren Ähnlichkeit mit dem dienen, der Schöpfer und Neuschöpfer ist. Der Ausdruck »nach dem Bild dessen, der ihn geschaffen hat« entspricht zunächst einmal Gen 1,26 f. Der erneuerte Mensch wird dann ganz nach dem Bild Gottes sein, wenn er den neuen Leib ganz angezogen hat. »Zieht nun ein neues Kleid an … Und dieses neue Kleid heißt, dass ihr euch von Herzen erbarmt … (V. 14). Über all dies zieht als Überkleid die Liebe an. Sie erst näht die Einzelstücke zu einem hübschen Gewand zusammen. Und der Friede … durchdringe alles« (Berger/Nord). Wenn man so übersetzt, bilden die Verse 12-15
Der Brief an die Kolosser
eine Einheit. Der griechische Wortlaut erlaubte es, die Bildersprache des Gewandes auch auf das Anziehen der Liebe anzuwenden, die wie ein Überkleid ist, und durch das die disparaten Einzelteile in ihrer Einheit vollendet werden. Die Übersetzung »… die Liebe ist das Band, das zur Vollkommenheit führt« wäre lebensfern und abstrakt. »Zieht nun ein neues Kleid an …«: Das klingt festlich, wie wenn man zu einer großen Feier geladen ist. »Zieht die finsteren Übeltaten aus und legt euch die strahlenden Wohltaten zu. Mit anständigen Kleidern wollen wir uns zeigen … Zieht Jesus Christus an …« (Röm 13,12-14). Um das Bild des Gewandes hier und in Kol 3 auszuschöpfen, ist der Hinweis auf das von R. Bultmann herrührende Schema von Indikativ und Imperativ (Die Heilszusage basiert auf dem So-Sein, etwa nach dem Schema: »Werde, der du bist!«) irreführend. Denn die grammatikalischen Einteilungen Indikativ und Imperativ verbindet nichts miteinander. Die Logik des biblischen Bildes vom Gewand ist eine andere: Ein neues Kleid legt man nicht für sich selbst an, sondern dann, wenn man anderen begegnen will. Das Kleid ist Ausdruck des Inneren. Sage mir, was du anziehst, und ich sage dir, wer du bist – so wie gute oder schlechte Werke im biblischen Denken als Zeichen für das Innere, für den Zustand eines Menschen gelten, »machen Kleider Leute«. Denn durch das Kleid ist man für den Blick der anderen und für das Miteinander genauso präsent, wie man in der praktischen Nächstenliebe handelt. Dieser kirchliche Aspekt kommt in der Entgegensetzung von Indikativ und Imperativ gar nicht vor. Das Anlegen des Gewandes ist Handeln im Blick auf die anderen Menschen. Dass das Kleid gestellt wird, weist darauf, dass es sich um Handeln aus Gnade handelt. Nach Gottes Urbild Wie in 1 Kor 15 ist die Schöpfungsgeschichte von Gen 1,26-28 eschatologisch verstanden, d. h. offenbar bezieht auch der Verfasser des Kol – wie schon Paulus selbst – dieses Stück auf das, was noch kommt. Das dürfte voraussetzen, dass Gen 2 (Erschaffung aus Lehm; Eva nach der Rippe Adams) auf das erste Menschenpaar hin ausgelegt wird, während Gen 1,26f von Christus handelt. Dem entspricht innerhalb dieses Briefes
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genau, dass nach Kol 1,15 Jesus Christus »Bild« (Gottes) genannt wird. Das heißt: Wie Paulus, so leistet sich der Verfasser des Kol etwas exegetisch höchst Erstaunliches. Er bezieht den ersten, voranstehenden Bericht (Gen 1,26f) auf zeitlich Späteres, und das wird dann das Ideale sein. Den folgenden Bericht in Gen 2 dagegen lesen Paulus und sein Schüler als Bericht über das Erste, längst Vergangene, aber noch gegenwärtig Wirksame. So kommt es, dass nach Kol 1 – wie auch sonst im Neuen Testament – Christus bis auf weiteres der erste und einzige Mensch nach Gottes Bild ist. Damit ist freilich kein Endstadium beschrieben. Die Getauften sollen, indem sie das Taufkleid immer enger an sich ziehen, immer enger mit ihm verschmelzen. Diese Neuschöpfung geschieht nicht allein durch Gottes Gnade, sondern auch auf dem Weg der Erkenntnis. Damit ist freilich eine Erkenntnis gemeint, die nicht theoretisch ist, sondern praktisches Handeln bedeutet (ähnlich wie wenn Adam Eva »erkennt«). Aus alledem geht hervor: Die neue Schöpfung ist nicht ein fertiger Akt eines bestimmten Wochentages, sondern sie ist ein Weg, aber ein sakramental bestimmter; sie ist der Weg derer, die schon auferstanden sind. Damit verliert das ruhige Wachsen auf Christus hin nichts von seiner Dramatik. Und wenn ich etwas immer vor Augen habe, erhöht sich die Chance, dass ich ihm ähnlich werde. Die Kontemplation ist demnach der Weg der Verwandlung, das Bedenken der Pfad der Verähnlichung. Ethik der Getauften und Auferstandenen Man könnte einwenden, die Verbindung des Untertauchens mit dem Begrabenwerden und des Heraufsteigens mit der Auferstehung sei etwas künstlich. Geht es nicht bei dem Wasserritus zunächst um Reinigung? Das ist richtig, aber auch gute Waschmittelreklame betont den Effekt der Reinigung: Das Gereinigte, ganz und gar Gewaschene ist wie neu. Als Getaufte sind Christen nicht »wie neu«, sondern ganz, aber unsichtbar neu, was den Status vor Gott betrifft. Um das Geschehene zusätzlich plausibel und gewiss zu machen, haben sie in der Osternacht darum gebetet, dass »die Kraft des Heiligen Geistes« in das Taufwasser »hinabsteigen« möge. Das ist gut biblisch gedacht: Denn wer immer sagen will, aus welcher Kraft die Auferstehung Jesu geschehen sei, wird
751 den Heiligen Geist nennen. Und wo immer gefragt wird, was die Christen in der Taufe zu Kindern Gottes macht, muss man gleichfalls den Heiligen Geist nennen. Denn er ist die Weise, in der Gott diese Welt verwandelt. Nun ist der Kolosserbrief bezüglich des Heiligen Geistes extrem zurückhaltend. Auch in der paulinischen Tauflehre in Röm 6 kommt der Heilige Geist nicht vor. Doch wir haben uns, um die Ähnlichkeit von Auferstehung und Taufe zu verdeutlichen, auf allgemeinere theologische und liturgische Elemente berufen. Wenn die Rede vom Heiligen Geist zur Verdeutlichung beiträgt, kann sie hier nicht grundfalsch sein. Sie hat das Gemeinte schon früh »durchdrungen«. Anders gesagt: Das Mitsterben mit Christus und das Mitvollziehen des neuen Auferstehungslebens ist die christologische Betrachtung und Ausformulierung dessen, was man auch pneumatologisch und in Bezug auf das Wirken des Heiligen Geistes formulieren kann. Auch unter den heidenchristlichen Adressaten konnte das Bild von der Taufe als Mitbegrabenwerden und Zugang zu neuem Leben verstanden werden. Nach der Lehre der Orphiker, einer alten, auch in Kleinasien verbreiteten Lehre, besteht der Tod in der Reinigung vom alten, irdischen Leib. Wer daher (mit Christus) stirbt, wird von allem Alten gereinigt. Der Verfasser unseres Briefes unternimmt es nun, auf dieser Gemeinschaft mit dem Auferstandenen eine Ethik zu begründen. Es ist eine Ethik, die nicht ausgeht von den Geboten oder irgendwelchen Regeln sonst. Nicht abstrakte Normen wie Goldene Regel oder kategorischer Imperativ, auch nicht die Liebesgebote der Gottes- und Nächstenliebe sind die Grundlage der Ethik, gar kein abstraktes Sollen, das sich nach irgendwelchen Idealen ausrichtet, sondern: Das neue Sein der Christen ist die Grundlage des Tuns. Also nicht etwas, das uns fremd ist, sondern etwas, das wie eine zweite Natur geworden ist. Natürlich kommt sogleich die Gegenfrage: Ist das Getauftsein wirklich zur zweiten Natur geworden? Oder – wie könnte das geschehen? Es kann geschehen, so wie es die Osternacht darstellt: Erneuerung des Taufgelöbnisses oder Zeuge sein, wenn Menschen getauft werden. Bilder, Betrachten und ständige Erinnerung lässt etwas zur zweiten Natur werden. Bei einer solchen Ethik aber, die auf dem Sein gründet und nicht auf dem fernen,
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752 idealen Sollen, geht es nicht um fremden Zwang, sondern um das Wahrnehmen der Möglichkeiten, die in uns hineingelegt worden sind. Aus diesem Grund wird auch gar nicht besonders kasuistisch entfaltet, was das heißt, nach dem zu streben, was Gott im Himmel will, oder was es bedeutet, »himmlisch zu denken, nicht irdisch«. Im Grunde weiß jeder, dass es darum geht, gerechter und sanfter zu leben. Was wir in der Regel nicht kennen, ist der Punkt, an dem sich unser Christsein berührt mit unserem Verhalten. Diesen Punkt nennen die Bibel und die kirchliche Tradition das Herz. Denn nur wenn das Herz erfasst und bewegt, ergriffen und verwandelt ist, wenn also unsere Lebenssubstanz fröhlich und getröstet ist, dann kann das auch entsprechende ansteckende Konsequenzen haben. Es kommt darauf an, die himmlische Existenz, die punktuell in der Taufe begründet ist, nun auch in der Dauer der Zeit (durativ) umzusetzen. Wachstum Mit dem Epheserbrief teilt Kol eine Art urchristlicher Prozesstheologie, d. h.: Zwischen Entweder–Oder und dem Bild des ständigen Werdens gibt es eine kunstvolle Verflechtung. Am schönsten hat das Eph 4,15f formuliert: »Wir dagegen können darauf bauen, dass der Herr uns wirklich liebt, und wollen ihm entgegenwachsen in allen Dingen. Denn er ist das Haupt des Leibes. Von ihm her wächst der ganze Leib harmonisch und organisch dank seiner Glieder und Gelenke. Jeder einzelne Teil hat dabei seine Aufgabe. So wächst der Bau des Leibes durch Liebe.« Eine apokalyptische Zukunftserwartung mit Katastrophen und Weltenbrand kennt weder Kol noch Eph (noch das in mancher Hinsicht verwandte JohEv), d. h.: Eine gefährliche oder tödliche Unterbrechung, die das Wachstum von außen stören könnte, ist hier nicht in Sicht. Aber deswegen ist das Christentum nicht harmlos. Die Gefahr liegt vielmehr darin, dass die Christen hinter ihrer eigenen »Zukunft zurückbleiben«, dass sie nicht die Konsequenz aus ihrem neuen Sein ziehen, dass sie sich benehmen wie Erdenwürmchen, statt sich ihrer Würde als Mitauferstandene bewusst zu werden. Wenn jemand fragt, wo diese neue Weltordnung schon Wirklichkeit ist, würde der Verfasser des Kol antworten: in der einen Kirche. Denn in
Der Brief an die Kolosser
Kol 3,11 endet er mit den Worten: »Hier zählt es nicht, ob jemand Grieche oder Jude, beschnitten oder unbeschnitten, Barbar oder Skythe, Sklave oder Freier ist, sondern Christus ist alles in ihnen, und in ihnen allen ist nur er.« – Ähnliche Listen kennen wir von Paulus aus Gal 3,28 und 1 Kor 12,13. – Der Sinn dieser Listen ist nicht zu sagen, dass alle gleich sind, dass keine Unterschiede mehr bestehen. Kol erstrebt keine Kulturrevolution, in der alle Kulturen platt gewalzt, alle Geschichte zerstört wird. Vielmehr ist alles Trennende (was etwas anderes ist als das bloß Verschiedene) entfallen und entschärft. Die Unterschiede, die bestehen, zerstören nicht die Einheit. Denn das ist der Vollsinn von Neuer Schöpfung nach dem Neuen Testament: Jesus Christus ist in allen Menschen und Kulturen eine so bestimmende Wirklichkeit, dass alle Unterschiede angesichts dieser Einheit verblassen. Wo sind wir zu Hause? Seit der Taufe gehören die Christen zu ihm, sein Leben ist ihr Leben. Deshalb kann der Paulusschüler hier sagen: Wir sind mit Christus auferweckt. Das ist ein unsichtbarer Status, denn »eigentlich« scheint sich nichts geändert zu haben. Doch wenn Jesus wirklich auferweckt ist, hat sich das Entscheidende geändert. Und wenn es möglich ist, an dem Auferweckten Anteil zu gewinnen, dann hat sich das auch für uns geändert. Daher kann Paulus in Phil 3,20 sagen: Unser Bürgerrecht ist im Himmel. Modern gesagt: Unser Hauptwohnsitz ist dort, wo Christus ist. Hier auf der Erde ist nur unser Zweitwohnsitz. Aber unsere Heimat, unser Herz ist »im Himmel«, weil unser König dort ist. Kol 3 ist daher eine gute Antwort auf die Frage nach dem »Ort« in der jüdischen und christlichen Theologie. Einen guten Kommentar zu diesem Stück bietet der apokryphe Brief an Rheginus aus dem 2. Jh. Der Verfasser schreibt dem Rheginus (übers. Berger/Nord, Das Neue Testament): »Der Erlöser hat den Tod verschlungen … So hat er uns den Weg geschenkt, auf dem wir unsterblich werden können. Dann gilt, was der Apostel sagt: ›Wir leiden mit ihm, wir stehen mit ihm von den Toten auf, wir gehen in den Himmel mit ihm‹ (Röm 8,17 und Eph 2,5-6). Wir sind die Strahlen, er ist die Sonne. Er umfasst uns bis zu unserem Versinken, das heißt, bis zu unserem leiblichen Tod in die-
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sem Leben. Dann zieht er uns zum Himmel, wie die Sonne ihre Strahlen einsammelt. Nichts hält uns dabei zurück. Die sichtbaren Körperglieder sind tot und werden nicht gerettet. Nur lebendige Glieder werden nämlich auferstehen. Jetzt existieren sie verborgen in unseren sichtbaren Gliedern. Was ist denn nun die Auferstehung? Sie ist stets Enthüllung derer, die schon auferstanden sind. Doch die Auferstehung ist anders als die Welt. Sie ist die Wirklichkeit, die feststeht. Sie ist die Offenbarung dessen, was besteht. Sie ist Verwandlung der Dinge, sie ist Übergang in etwas Neues. Denn die Unvergänglichkeit kommt herab auf das Vergängliche. Das Licht fließt herab auf die Finsternis und verschlingt sie. Der göttliche Reichtum füllt den Mangel. Wir alle werden sterben und wissen das. Auch wenn wir viele Jahre in diesem Leben zubringen, gelangen wir dahin. Doch ebenso kannst du dich als schon auferstanden betrachten und als jemand, der schon dahin gelangt ist. Du bist schon auferstanden. Trotzdem tust du seltsamerweise so, als müsstest du noch sterben, obwohl doch der alte Mensch in dir weiß, dass er schon gestorben ist.« In diesem Text ist noch etwas spürbar von der unbesieglichen Gewissheit des Urchristentums: »Auferstehung ist stets Enthüllung derer, die schon auferstanden sind …« – »Sucht das, was droben ist« oder: »Denkt himmlisch, nicht irdisch« (Berger/Nord), so zieht der Briefsteller die Konsequenz. Was heißt das? Wie sähe der neue Maßstab für das christliche Handeln aus? Der Verfasser weist zunächst nur auf eine Zukunftsvision, die diesen Namen verdient hat: »Wenn Christus einmal unverhüllt dastehen wird als der, der er wirklich ist, euer Leben, dann werdet auch ihr unverhüllt dastehen mit ihm, in unvorstellbarer Herrlichkeit« (Kol 3,4). Herrlichkeit ist der Maßstab. Denn dieses biblische Wort bedeutet nicht nur Lichtglanz, sondern auch Ansehen der Menschen voreinander. Der Lichtglanz kommt aus Gottes realer, unverhüllter Gegenwart. Das Ansehen voreinander nennt man auch Würde. Texte zur Wirkungsgeschichte von Kol 3,3 M. Luther übersetzt: »Denn ihr seid gestorben, und euer Leben ist verborgen mit Christus in Gott.« Also offenbar eine traurige Botschaft? Wir sollen gestorben sein? Und unser Leben soll
753 verborgen sein, also gar nicht fröhlich, sondern wie tot, nicht sinnlich, sondern weltabgewandt? Aber unser wirkliches Leben ist doch alles andere als in Gott verborgen. Und was heißt das überhaupt? – So übersetzen wir neu: »Denn für das Irdische seid ihr tot. Euer neues Leben kann man weder sehen, noch begreifen, doch lebt ihr mit Christus in der Gemeinschaft Gottes« (Berger/ Nord). Und das heißt: In der Taufe habt ihr radikal Abschied genommen von den alten Maßstäben, von den Schein-Werten, die hier auf Erden gelten. Dieser Abschied ist so radikal wie ein Tod. Doch nun habt ihr seit der Taufe gleichzeitig ein neues Leben. Weder Gott noch den erhöhten Christus noch die Wirklichkeit dieses neuen Lebens kann man sehen und greifen. »Unsichtbar«, »ungreifbar« – ist also das alles nicht doch nur Lug und Trug? Strikte Beweise gibt es nicht, wohl aber die Evidenz der Folgen, d. h.: Die Folgen der Annahme oder der Ablehnung dieses Glaubens, dieses Bekenntnisses, sind jeweils so gravierend und einleuchtend, dass die Früchte sehr wohl die Erkenntnis der Qualität ihres Ursprungs ermöglichen. Die Verborgenheit entspricht der Verborgenheit Gottes auch sonst, von der es schon in Jes 45,15 heißt: »Du bist ein wahrhaft verborgener Gott.« Das ist dort allerdings nicht negativ zu verstehen, sondern Gott ist nicht im Voraus berechenbar. Er ist für Überraschungen gut. Zur Verborgenheit in Kol 3 bemerkt Thomas v. Aquin in seinem Kommentar: Hier geht es um die verborgene Herrlichkeit, die einst die offenbare Herrlichkeit sein wird. Er weist auf Ps 30,20: »Wie reich ist Herr, deine Güte, die du denen zugedacht hast, die dich fürchten, und bereitet denen, die sich bei dir bergen vor den Menschen.« Denn in der Tat: Gott birgt alle, die bei ihm Zuflucht suchen, im Schutze seines Angesichtes. Das gilt nach der griechischen Übersetzung von Psalm 30,20 für die, die auf Gott hoffen, und zwar entgegen den Wünschen und Erwartungen der Menschen. Also geht es hier um ein geheimes Schutz- und Trutzbündnis. Inwendig ist es verborgene Herrlichkeit. Bernhard v. Clairvaux führt uns noch weiter. Zu 3,3 bemerkt er: »Er gab uns inzwischen jenes verborgene Manna, von dem der Apostel sagt: ›Euer Leben ist verborgen in Gott‹, da wir zur Betrachtung in der Anschauung und zur vollen Ver-
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754 einigung in der Liebe noch unfähig sind, damit wir es im Glauben verkosten und in der Sehnsucht suchen. Durch diese beiden wurden wir tatsächlich zum zweiten Mal vom Nichtsein in das Sein versetzt und sollten beginnen, … einst zum vollkommenen Menschen heranzuwachsen« (Brief 18). Das »verborgene Manna« bezieht sich auf Offb 2,17: »Dem Sieger werde ich geben vom verborgenen Manna.« Wir werden das Thema »verborgene Manna« unten in der eucharistischen Deutung noch aufgreifen. In Fastenpredigt 6 bringt Bernhard v. Clairvaux das Bild des anderen Lebens in Gott zusammen mit dem Bild des Pilgers und sagt: »Für alles andere bin ich gestorben: Ich fühle es nicht, beachte es nicht, kümmere mich nicht darum; wenn aber etwas Christus betrifft, dann findet mich dieses lebendig und bereit.« – Ostkirchliche Theologen bescheiben dieses Leben mit Christus als ein Leben voll Liebe und Licht, das unfassbar ist. Dazu dieser liturgische Text: »Schweigen soll alles sterbliche Fleisch und in Furcht und Zittern dastehen. Und nichts Irdisches soll es bei sich erwägen. Denn der König der Könige und der Herr der Herrscher naht, sich töten zu lassen und als Speise sich zu geben den Gläubigen. Es ziehen vor ihm her die Chöre der Engel mit aller Herrschaft und Gewalt, die vieläugigen Cherubim und die sechsflügeligen Seraphim, und sie verhüllen ihr Antlitz und singen die Hymne: Halleluja, Halleluja, Halleluja.« Zu diesem Text: »Nichts Irdisches« – was meint das? Ich denke dabei an die Farben der Fresco-Bilder von Fra Angelico im Dominikaner-Konvent in Florenz: Durch klare, reine, leichte Farben kann man das Gemeinte leichter sagen. In dem zitierten Text aus der Liturgie der Ostkirche wird die himmlische Existenz eucharistisch vermittelt. »Brot der Engel isst der Mensch«, kann man deshalb Eucharistie umschreiben. In der Tat: Die Eucharistie ist ein Zugang zum Ostergeheimnis, ein ganz eigenständiger, sehr leibhaftiger und dennoch nicht »verkopfter«. Denn in der Eucharistie geht es erstens um die leibhaftige Gegenwart des Auferstandenen und Erhöhten. Hier ist Gott in Jesus Christus als der Lebendige leibhaftige Gegenwart. Hier ist das überzeugende Lebenszeichen Gottes, auf das Israel so lange gewartet hat, auf das auch in unseren Tagen Menschen warten. – Und zweitens ist
Der Brief an die Kolosser
die leibhaftige Berührung, die Gott in der Kommunion für einen Augenblick schenkt, Angeld der je eigenen Auferstehung und in mancherlei Hinsicht deren Beginn. Viele Menschen fragen danach, was das Ostergeheimnis für sie selbst bedeute. In der Kommunion liegt – nächst der Taufe – der Beginn christlicher Zukunft, ganz umfassend gesehen. – Drittens ist die überaus sanfte und freundliche, im besten Sinne therapeutische Annäherung Gottes in der Kommunion auch der Ausgangspunkt für die typisch frühchristliche Ethik der Sanftheit. Sie besteht immer in der Selbstzurücknahme und im Machtverzicht. Denn Liebe, Freude, Friede, Geduld und Langmut (vgl. Kol 3,12b) haben genau dieses gemeinsam: den Verzicht auf ein »mächtiges« Auftreten. Jesus Christus, wahrer Gott und wahrer Mensch, »leistet« das in der Eucharistie: Er ist sich nicht zu schade, sich in einem Stück Brot den Menschen anzuvertrauen, sanft und wehrlos, ein wenig Lebensmittel, scheinbar. – Und viertens schließlich entspricht die Verborgenheit Gottes in der Eucharistie auch der eigenen Verborgenheit der Christen in Gott, von dem Kol 3 spricht. Vgl. den Hymnus des Thomnas von Aquin: Adoro te devote, latens deitas: »Hier bet’ ich auf den Knien, verborgener Gott, dich an.« Denn, so fährt der Hymnus fort: Am Kreuz war nur die Gottheit verborgen, hier ist es auch die Menschheit Jesu Christi. Aber beiderlei Verborgenheit liegt sozusagen »auf einer Linie«. Diese Verborgenheit Gottes gilt daher bis in die äußerste Konsequenz. Das Ärgernis der Unsichtbarkeit und Unhörbarkeit Gottes reicht bis dahin, dass er »ein Stück Brot« wird. Aber irgendwie ist auch dieses ganz die Handschrift des biblischen Gottes, von dem die Mystiker immer mit Recht sagten, er sei unzugängliches Geheimnis. So ist das auch in der Eucharistie: unzugänglich liebevolles Geheimnis. – Nach Kol 3 entspricht nun dieser Verborgenheit Gottes auch die christliche Existenz. Sie spiegelt die Verborgenheit, Unzugänglichkeit und Unfassbarkeit Gottes. In unserer Eigenschaft als Kinder Gottes, als »Kinder der Auferstehung« sind wir sozusagen »aus demselben Holz geschnitzt«, ist unsere Identität als Kinder der Auferstehung unsichtbar, aber eben doch fühlbar in den Auswirkungen.
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Kol 3,12-21: Unterwerfung der Frauen Langmut, Geduld und Vergebung (3,12f) werden in der Liebe zusammengefasst. Genau dieser Ansatz findet sich im Text der alttestamentlichen Grundlegung der Nächstenliebe, in Lev 19,15-18. Die Nächstenliebe ist alles andere als universale Humanität. Sie ist Liebe zum Volksgenossen, und zwar als ein sorgsames Umgehen mit seinen Fehlern: dem Nächsten nichts nachtragen, ihm nicht zürnen, ihn zur Rede stellen und – als Zusammenfassung – ihn lieben. Einige Elemente davon finden sich auch in Mt 18 (V. 15: zur Rede stellen) und anderswo. So wie die Liebe in Lev 19,18 Zusammenfassung des sorgfältigen Umgehens mit dem Nächsten ist, so ist sie es auch in Kol 3,14. Es ist einigermaßen überraschend, dass Paulus oder sein Schüler hier direkt auf die jüdische Auslegung des Gebotes der Nächstenliebe zurückgreifen. Damit ist Liebe hier nicht ein emotionales, sondern ein praktisch-solidarisches Verhalten. So ist auch die Brücke zur »Haustafel« in Kol 3,18-20 geschlagen, einer Gattung, die die Pflichten der Mitglieder im Haus (Großfamilie) untereinander regelt. 3,18 ist so zu übersetzen: »Ihr Frauen, unterwerft euch euren Männern. Im Blick auf den Herrn muss das so sein.« Das Wort »unterwerfen« gilt gewöhnlich von Sklaven und Sklavinnen gegenüber ihrem Herrn. »… im Blick auf den Herrn« bedeutet aber: Der Herr (Jesus Christus) ist der Einzige, dem diese Unterwerfung wirklich gilt. Oberflächlich verstanden ist der Satz dennoch ein Ärgernis für jede »modern denkende« Frau. Denn vom Mann wird dergleichen nicht verlangt. Er soll – »nur« und immerhin – seine Frau lieben. Dazu eine textkritische Notiz: Das Griechische hat nur: »Ihr Männer, liebt die Frauen«. Ein Kodex fügt »eure« hinzu: »liebt eure Frauen«. Was die Zumutung für die Frauen, das »Ärgernis« dieses Textes betrifft, so ist hier zu bemerken: In Ermahnungen gerade aus dem ältesten Christentum finden wir recht häufig die Aufforderung, sich zu unterwerfen (dem Mann, einander, dem Bischof). Aus dem Kontext wird stets erkennbar, dass die Unterwerfung dem Herrn gilt, denn dieser wird durch den Mann (Bischof, Nächsten) repräsentiert. Doch warum gilt nach unserem Text diese Unterwerfung einseitig für die Frau? Dass die Regelungen für Frau und
755 Mann unterschiedlich ausfallen, erinnert an schöpfungstheologische Überlegungen, wie wir sie aus 1 Kor 11 kennen. Dort kann Paulus sagen: »Der Mann muss sein Haupt nicht verhüllen, da er unmittelbar Bild und Abglanz Gottes ist. Die Frau ist dagegen nur Abglanz des Mannes. Denn der Mann kommt nicht von der Frau, sondern die Frau vom Mann …« (11,7). In 11,3 entwirft Paulus eine entspechende Rangfolge: Gott – Christus – Mann – Frau. Man muss natürlich weiterfragen: Woher kommt diese Folge? Antwort: Diese Abfolge kommt aus der Lektüre der Schöpfungsgeschichte(n), und zwar bei Paulus wie bei dem mutmaßlichen Mitarbeiter des Apostels, dem wir den Kolosserbrief verdanken. Es gibt bekanntlich zwei Schöpfungsberichte hintereinander, einen in Gen 1, einen zweiten in Gen 2. Nach Gen 1 erschafft Gott den Menschen »zu seinem Bild und ihm ähnlich«. Nach Gen 2 wird erst Adam, dann Eva geschaffen. Schon zur Zeit des Neuen Testaments hatte man diese Doppelheit beachtet (Philo v. Alexandrien; Paulus in 1 Kor 15,44-48). Paulus wie der Verfasser des Kol beziehen den ersten Menschen aus Gen 1 auf Christus. Bei Paulus geht das aus 1 Kor 15,45b.49 hervor, im Kol aus 1,15 (Bild Gottes). Gen 1 wird also für sie zur Quelle dazu, Jesus Christus an die erste Stelle der Rangfolge zu setzen. Dann lesen sie weiter und finden in Gen 2 die »normalen« sterblichen Menschen. Liest man daher die Kapitel Gen 1-2 unter dieser Voraussetzung, dann ergibt sich die Reihen- und Rangfolge Christus – Mann – Frau. Nun aber gilt, wie aus 1 Kor 11,3-8 ersichtlich, hier das Prinzip der Repräsentanz: Gott wird durch Christus repräsentiert, Christus wird durch den Mann repräsentiert, der Mann durch die Frau. In einer solchen Lektüre von Gen 1-2 liegt daher der Schlüssel dafür, dass Jesus Christus nicht durch eine Frau repräsentiert werden kann, sondern nur durch einen Mann. Trifft das zu, dann bedeutet das auch für den sakramental-liturgischen Bereich: Eine Frau kann nie und nimmer Christus direkt repräsentieren. Da der Priester aber Repräsentant Christi ist, folgt daraus, dass er ein Mann sein muss. – Der letzte Grund ist daher nicht Diskriminierung oder eine sexistische patriarchalische Gesellschaft, sondern der letzte Grund ist die christologische Lektüre von Gen 1.
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756 Nun kann man fragen, ob das nicht durch die neuere Genesis-Exegese überholt ist, die Gen 1,12,2a einer anderen Quelle zuteilt. Dazu möchte ich sagen: Für die Analyse des AT nach dem hebräischen Textes mag das wohl gelten. Aber ich kann die christologische Lektüre des Alten Testaments bei Paulus und seinen Mitarbeitern nicht auf anachronistische Weise, je nach der Lage alttestamentlicher Forschungshypothesen, ändern und umstellen. Paulus hat die Schrift so gelesen, und zwar in seinem Glauben an Jesus Christus, und dieser Glaube ist inspiriert, deshalb hat die Kirche den 1 Kor für inspiriert erklärt. Aus dem Gesagten wird erkennbar, warum für die Frau hier anderes gilt als für den Mann: Nach dem frühjüdischen Repräsentations-Denken stellt der Mann für die Frau »den Herrn« dar, und daher gilt für die Frau, dass sie sich im Mann ihrem Herrn unterwirft wie eine Sklavin. Dasselbe gilt auch vom Mann gegenüber Christus, und deshalb nennt Paulus sich »Sklave Jesu Christi«. Nach Ignatius v. Antiochien gilt das auch gegenüber dem Bischof, der den Herrn abbildet. – Dass der Mann die Frau »lieben« soll, meint Gleichbehandlung im Sinne praktischer Solidarität. Wem es sachlich schwer fallen sollte, im (Ehe-)Mann Christus abgebildet zu finden, der sei an das ärgerliche Kap. Mt 25 erinnert, wonach sogar jeder Bettler, Kranke und Behinderte den Menschensohn darstellt.
Kol 3,12-21: Mahnrede für die Familie Gliederungsvorschlag: 3,12-14 sind buchstäblich theo-logische allgemeine Mahnrede, bezogen auf Gott, den Vater. 3,15-17 sind christologisch (»Und der Friede Christi …«) mit Bezug zum Heiligen Geist (V. 16: Gesänge im Heiligen Geist). In 3,18-21 liegt dagegen etwas Spezielleres vor, eine so genannte »Haustafel«: Mahnungen über das Miteinander von Frauen, Männern und Kindern im christlichen Haus. – Die beiden ersten Teile in 3,12-17 kann man als eine festliche, feierliche Einleitung zu den speziellen Mahnungen für die Familie auffassen. In dem Abschnitt über Gott-Vater (3,12-14) mahnt der Verfasser dazu, unterschiedliche Arten von Gewaltverzicht und Liebe »anzuziehen«. In dem christologischen Abschnitt dagegen
Der Brief an die Kolosser
wechselt das Thema: Jetzt geht es um den Gottesdienst im engeren, aber auch im weiteren, auf das ganze christliche Leben übergreifenden Sinne (»Alles tut im Namen Jesu …«). Der theo-logische Abschnitt erinnert an den Taufritus. Denn etwas Neues anziehen kann und muss der Christ nach der Taufe, die bekanntlich eine Ganztaufe für nackt ausgezogene Menschen war. Auf jeden Fall werden die Adressaten an die Taufe erinnert (vgl. Gal 3,27). Das, was sie im Einzelnen anlegen sollen, ist in sich eine sehr gleichartige Ethik der »Sanftheit«. Denn der gemeinsame Nenner der Mahnungen (»dass ihr euch von Herzen erbarmt, dass ihr freundlich seid und Demut übt, dass ihr friedfertig, voll Langmut und geduldig miteinander seid. Vergebt einander, wenn jemand gegen den anderen einen Groll hegt«) ist der Verzicht auf die Anwendung von Macht, Gewalt und Rache – also eine Ethik der Nachgiebigkeit. – Vor der Zeit des Neuen Testaments gelten diese »Tugenden« als Inbegriff von Weisheit, und zwar praktischer Weisheit seitens dessen, der durchaus die Macht hätte, streng durchzugreifen. Die Weisheit macht sanft. Im Neuen Testament tritt hier fast durchgehend der Heilige Geist an die Stelle der Weisheit. Dass hier in Kol der Heilige Geist nicht genannt wird, obwohl alle Merkmale der typischen »Ethik des Heiligen Geistes« vorliegen, hängt mit der nachprüfbaren Abneigung des Verfassers gegen den Heiligen Geist zusammen, näherhin mit der Situation der Adressaten, die einem übertriebenen Engel (»Geister«-)Kult huldigten. Daher gebraucht der Verfasser das Wort »Heiliger Geist« außer in 1,8 nicht; in 3,16 finden wir, wie erwähnt, das Adjektiv (»vom Heiligen Geist«). Das Anziehen des neuen Kleides bei der Taufe konnte abwechselnd als Anziehen Jesu oder des Heiligen Geistes genannt werden. Der Verfasser des Kol setzt dagegen hier ganz streng Gott Vater ein. – Dass die Liebe als Zusammenfassung der Reihe am Ende steht, ist durchaus üblich; anderswo kann sie auch am Anfang stehen; doch zumeist findet sie sich als das Wichtigste am Schluss, so auch in der bekannten Formel »Glaube, Hoffnung, Liebe« in 1 Kor 13. – Beachtenswert ist noch: Die Vergebung ist Weitergabe der schon von Gott empfangenen Vergebung (wie in Mt 18,23-35). Die Liebe heißt in 3,14 »Band der Vollkommen-
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heit«, also das vollkommene Einheitsband, das die Gemeinde zusammenhält. Berger/Nord versuchen, wie bereits ausgeführt, bei der Übersetzung an das zu Anfang gebrauchte Bild des Anziehens des (Tauf-)Kleides anzuknüpfen: »Zieht nun ein neues Kleid an … Über all dies zieht als Überkleid die Liebe an. Sie erst näht die Einzelstücke zu einem hübschen Gewand zusammen.« Dass der zweite, christologische Teil (3,15-17) gottesdienstlich orientiert ist, darauf weisen der Friedenswunsch sowie »Danksagen« in V. 15 hin, das »Wort Christi«, Lehren und Ermahnen, Singen von Psalmen, Hymnen und geisterfüllten Gesängen in V. 16, »im Namen des Herrn Jesus« und »Danksagen« sowie »durch Jesus« als zitierte Gebetsformel in V. 17. Dass in V. 17 von Gott dem »Vater« einerseits und dem »Herrn« Jesus andererseits die Rede ist, zeigt, dass die entsprechenden Formulierungen am Anfang paulinischer Briefe (»von Gott dem Vater und von unserem Herrn Jesus Christus«) entweder aus der Liturgie kommen oder schon liturgisch geworden sind. Der Begriff des »Leibes Christi« in V. 15 wird, ähnlich wie in 1 Kor 12, sozusagen akut angesichts einer versammelten Gemeinde. Jedenfalls gewinnen alle hier genannten Größen ihren besonderen Sinn, wenn Christen sich »offiziell« versammeln. Dass Danksagen (Eucharistie) zweimal erwähnt wird, ist besonders interessant, weil auch das Herrenmahl so genannt wird (Lehre der Zwölf Apostel 9,1), auch wenn es hier nicht (direkt) genannt ist. Die Zusammenkunft als »Leib Christi« wird bei Paulus (1 Kor 10f) damit in Beziehung gesetzt, dass die Gemeinde durch das gesegnete Brot direkt Anteil an Jesu eigenem Leib gewinnt. So kann man die Andeutungen hier
»prä-eucharistisch« verstehen, d. h.: Wichtige Elemente sind vorbereitet (Leib Christi, Danksagen, Versammlung), in deren »Verlängerung nach vorne hin« eine eucharistische Füllung im engeren Sinne durch das Herrenmahl vorstellbar wäre. Will man aus den Andeutungen hier Schlüsse auf die liturgische Gestaltung ziehen, so ergibt sich, dass diese aus folgenden Elementen bestand: 1. Friedensgruß; 2. Dankgebet; 3. Verkündigung des Wortes Christi; 4. Lehre und Mahnrede; 5. Gesänge verschiedener Gattungen (Psalmen, Hymnen, Lieder), von denen die Psalmen wohl biblisch oder den biblischen Psalmen ähnlich sind, die Hymnen typisch hellenistisch; 6. offenbar spielen die Formeln »im Namen Jesu« zu Beginn unterschiedlichster Handlungen und »durch Jesus, unseren Herrn« bei Gebeten aller Art eine besondere Rolle. Theologisch kann man sagen: Die Liturgie der Gemeinde ist stark christozentrisch. Sie ist ganz speziell auf Christus, den Herrn, ausgerichtet. Die Gemeinde versammelt sich um den erhöhten Herrn. Sie hört sein Wort. Sie betet »durch ihn«, so wie es auch noch geschieht. Zumindest wünscht der Verfasser des Briefes dieses – im Kontrast zum Engeldienst, den er ablehnt (2,18.23). In 3,1 hat er die maßgebliche liturgische Vorstellung entworfen: »Sucht den Himmel. Dort sitzt Christus zur Rechten Gottes.« Der Gottesdienst vollzieht und verstärkt den Blick auf den unsichtbaren Herrn. In Wortverkündigung, Gebet und Lied wird seine unsichtbare Gegenwart hörbar gefeiert. Zu Kol 3,21-4,18: vgl. Komm. zu Eph 6,1-9.
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Der erste Brief an die Thessalonicher
Kommentare: S. Ambrosius (4. Jh.). – Joh. Chrysostomos (vor 400). – Haimo v. Halberstadt (ed. 1519). – Thomas v. Aquin († 1275). – Hugo a St. Caro (impr. 1502). – I. P. Bugenhagen (1524). – C. Spangenberg (1557). – J. Calvin (vor 1564). – H. Bullinger (1582). – B. Justinianus (1612). – M. Le Fauchet (1666). – J. Crocius (1680). – G. Estius (1709). – A. Landreben (1713). – J. A. Turretius (1739). – G. J. Zachariä (1781). – G. Estius. – G. Rosenmüller (1790). – L. Pelt (1830). – H. Olshausen (1840). –
G. Lünemann (1850). – B. a Piconio (1850). – C. A. Auberlen/C. J. Riggenbach (1867). – A. Schaefer (1890). – P. W. Schmiedel (1891). – W. Bornemann (1894). – F. S. Gutjahr (1900). – G. Wohlenberg (1903). – G. Milligan (1908). – E. V. Dobschütz (1909). – M. Dibelius (1911). – J. E. Frame (1912). – W. Neil (1950). – K. Staab (1950). – B. Rigaux (1956). – Ch. Masson (1957). – L. Morris (1959). – E. Best (1972). – G. Friedrich (1976). – W. Marxsen (1979). – T. Holtz (1986).
EINFÜHRUNG Entstehungszeit Folgende Argumente sprechen für eine Datierung des 1 Thess in relativ früher Zeit – weshalb man 1 Thess für den mutmaßlich frühesten seiner Gemeindebriefe hält: 1. Die Thematik von Gesetz und Beschneidung ist noch nicht im Blick, obwohl Paulus auf das Thema »Juden« eingeht (2,14f). 2. Gegenüber 2,15 wird Paulus in Röm 9-11 seine Position durch Weiterführung ändern. Das weist 2,15 in die Frühzeit, Röm 9-11 dagegen in eine spätere Phase. 3. In 5,2-10 und anderswo verfügt Paulus über Überlieferungen, die wir sonst in Q finden; die Kontakte mit Trägern dieser Überlieferungen liegen wohl noch nicht weit zurück. 4. In 5,2-10 lässt Paulus noch deutlich dualistische Züge erkennen; das weist – ähnlich wie 2 Kor 6f – auf theologische Deutungen der Bekehrung. Die Mahnung zur Wachsamkeit bzw. zum geistlichen Kampf ist auch sonst mit Bekehrung verknüpft. 5. Von der Bedrohung erst kürzlich geschehener Bekehrung spricht Paulus auch in 1 Thess 3 (inklusive Teufel, vgl. dazu auch wieder 2 Kor 6). Das spricht zumindest dafür, dass für die Gemeinde in Thessaloniki die Bekehrung noch nicht lange zurückliegt. 6. Die in Kap. 4 auftauchenden Probleme bezüglich Parusieerwartung weisen darauf hin, dass die Auferstehung der Toten in der Gemein-
de noch unbekannt, das Thema den Bekehrten offenbar neu ist. Das aber setzt voraus, dass sie noch nicht allzu lange vom Heidentum Abschied genommen hat (abgesehen davon, dass Auferstehung für hellenistische Heiden ein Thema mit Gewöhnungsbedarf ist (vgl. Apg 17). Dass Paulus noch zu Lebzeiten die Parusie erwartet (»Wir die Lebenden …«, 1 Thess 4,17) ist freilich kein starkes Indiz für Frühdatierung, denn auch später hat Paulus so geurteilt. 7. In Thessaloniki ist Paulus noch ohne innerchristliche Gegner; noch hat sich keine militante Gegenpartei formiert. 8. Viele theologische Themen, die wir aus anderen Paulusbriefen kennen, fehlen hier (noch). Das bedeutet zumindest, dass man derlei Auskünfte von Paulus noch nicht erwartete, da sie noch nicht zu seinem »Markenzeichen« geworden waren. Datierung Vgl. zu 2 Thess und 2 Petr: 50-52 n. Chr. Die Situation der Gemeinde ist die von Neubekehrten. Sie hat Drangsal, Versuchung und Verfolgung zu erleiden – offenbar wird das Christentum der Christen in Thessaloniki von den Mitbürgern und Nachbarn überhaupt nicht verstanden. Vermutlich hält man die Christen für eine Art von Juden. – Typisch für die frühe Situation ist die Abgrenzung vom heidnischen »Wesen« durch eine Heiligkeitsethik. In der Gemeinde
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Der erste Brief an die Thessalonicher
selbst sind noch »charismatische« Anfangserfahrungen des Heiligen Geistes maßgeblich. Aufriss und Zielsetzung des Briefes Ein paar erste Beobachtungen ergeben bereits ein kohärentes Gesamtbild: 1. Die ältere These, 1 Thess bestehe nur aus Proömium (1-3) und Paränese (4-5) ist darin unglücklich, dass der Zusammenhang zwischen beiden Teilen nicht recht deutlich wird. – Gegenthese: 1 Thess ist eine rhetorisch sehr sorgfältig aufgebaute Trostrede, die sich bis 5,11 erstreckt. Lediglich in 5,12-27 werden paränetische »Fragmente« nachgeliefert. 2. Der Aufbau der Trostrede lässt klar erkennen, dass diese Rede »achtergewichtig wegen abschließender Endzeitrede« ist. Gemeint ist das Stück 4,13 – 5,11. Dieses Phänomen ist keineswegs selten im frühen Christentum. Es gilt genauso für 1 Kor: In 1 Kor 15 liegt zum Thema Auferstehung ein kompakter Abschluss des Briefes vor, auf den in Kap. 16 noch ein paar verstreute Mahnungen folgen (ähnlich wie in 1 Thess 5,12-27). Ebenso ist Didache 16 die Endzeitrede, die das Material der Kap. 1-15 abschließt. Ähnliches gilt für Mk 13; Mt 24f; Lk 21 und für den Aufriss der Offb (Kap. 2-3: Gemeindebriefe, Kap. 4-22: Endzeitrede; hier nur ausgeweitet). 3. Bemerkenswert ist die Brücke zwischen der Mahnrede zur Heiligkeit in 1 Thess 4,1-12 und der dann folgenden Endzeitrede: Die Heiligkeit der Gemeinde beschreibt Berufung und Handeln, »Rechtfertigung« und Ethik als einen einzigen Vorgang. Sein Fundament ist die Unterscheidung von den Heiden (4,5: »nicht in maßloser Begierde wie die Heiden, die Gott nicht kennen«). Genau dieses ist auch der Hauptpunkt bei der Endzeitrede: Die Christen sollen nicht trauern wie die übrigen, die keine Hoffnung haben (4,13). Die draußen stehenden Nichtchristen sind daher in beiden Fällen die negative Folie. 4. Ebenso gut vorbereitet ist der Übergang zwischen Kap. 3 und Kap. 4: In 3,13 nennt der Apostel zweimal das Stichwort »Heilig«, das organisch mit Kap. 4,3 verbindet, d. h.: Der Aufriss der bisherigen Geschichte der Gemeinde endet in 3,13. 5. Ab 1,2 schildert Paulus die bisherige Geschichte der Gemeinde in Thessaloniki. Sie hat ihren Anfang im Wirken des Apostels, ist be-
759 gleitet von Verfolgungen wegen des Glaubens und endet damit, dass die Gemeinde untadelig und heilig vor Gott stehen wird. Auf diesem Weg spielt auch Timotheus eine wichtige Rolle. Die Verfolgungen werden dargestellt als die – im Sinne von Erprobung/Versuchung – notwendige Konsequenz aus der Bekehrung. 6. Diese Geschichte gibt aber auch Paulus selbst die Möglichkeit, sein eigenes Wirken zu betonen. Das geschieht besonders im Abschnitt 2,112, den man »Apologie des Paulus« nennen könnte. Da Paulus sich zu Anfang nicht »Apostel« nennt, kann er all seine Autorität, die er zum wirksamen Trösten nötig hat, nur aus dieser gemeinsamen Geschichte gewinnen. Paulus vergewissert sich des objektiven Wissens seiner Zuhörer über das Vergangene. Dieses wird dadurch zum Zeugnis für ihn, und zwar: a) positiv: nicht Menschen, sondern Gott gefallen (2,3-6), Liebe und Hingabe (2,7f), Lauterkeit (2,3-6.8a.10), Verhältnis Mutter/Kinder (2,7), Vater/Kinder (2,11). b) negative Abgrenzung gegen andere Lehrer: Irreführung, Unlauterkeit, List (2,3), Schmeichelei und Habsucht (2,5), Ehrsucht (2,6). c) 1 Thess 2,9: Paulus hat selbst gearbeitet, um niemandem beschwerlich zu fallen. Verhältnis zu 2 Thess Anlass für eine besondere Diskussion sind zahlreiche signifikante Übereinstimmungen zwischen beiden Briefen, insbesondere der Satz über das Arbeiten mit den eigenen Händen (1 Thess 2,9; 2 Thess 3). Zudem enthält 2 Thess den Satz 2,2f: »Es soll da angeblich ein Wort des Heiligen Geistes, eine Bemerkung von uns oder sogar einen Brief geben, aus denen man entnehmen kann, dass der Tag des Herrn schon vor der Tür steht. Lasst euch durch nichts und niemanden täuschen.« Folgende Möglichkeiten hat man erwogen, diesen Satz zu verstehen: 1. Geht es um einen verloren gegangenen Brief, der unecht war und die Aussage enthielt »Der Tag des Herrn steht direkt vor der Tür«? 2. Will 2 Thess 2,2f den ersten Brief (1 Thess) für unecht erklären, weil man aus Sätzen wie 1 Thess 5,2f das unmittelbare Bevorstehen erschließen konnte? Hätte also hier der gefälschte Paulusbrief 2 Thess den echten 1 Thess verdrängen wollen?
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3. Oder war es umgekehrt: Ist 1 Thess unecht, und 2 Thess erklärt sich für den einzig echten Thessalonicherbrief? 4. Oder sind beide Briefe paulinisch? 2 Thess wäre dann kurz nach 1 Thess abgeschickt (oder
sogar mit ihm zusammen), weil Paulus inzwischen Genaueres über Thessaloniki erfahren hatte. Im Übrigen vgl. zu 2 Thess (Einleitungsfragen).
KOMMENTAR 1 Thess 1–3: Rückblick auf die Glaubensgeschichte 1 Thess 1,1-5b: Glaube, Liebe, Hoffnung – Werk, Mühsal, Geduld Bis ins hohe Mittelalter gibt es eine besondere Art, Theologie zu betreiben, zu deren ersten Belegen 1,3 gehört: Den Adressaten wird eine Liste unverbundener abstrakter Substantive präsentiert. Paulus spricht hier vom Werk des Glaubens, von der Mühsal der Liebe und der Geduld der Hoffnung Jesu Christi. Was soll an dieser abstrakten Sammlung erbaulich sein? Man kann es auch so sagen: »Immer wenn wir zu Gott, unserem Vater, beten, sprechen wir von eurem tatkräftigen Glauben, eurer starken Liebe und eurer geduldigen Hoffnung, die sich in vielen schweren Zeiten bewährt hat, weil sie auf unseren Herrn Jesus Christus gegründet ist.« Aber erläutert werden muss vor allem diese abgekürzte Art zu reden. Zunächst: Wir erkennen in dieser Reihe die aus 1 Kor 13,13 geläufige Dreizahl von »Glaube, Hoffnung, Liebe« wieder. Hier ist sie nur anders gemischt und reicher ausgestaltet. Denn hier heißt es: Glaube, Liebe, Hoffnung. Und hinzukommen noch »Werk«, »Mühsal« und »Geduld«. Es handelt sich um Stadien eines geistlichen Weges. Die Abfolge hat einen Sinn und ist nicht einfach vertauschbar. Es ist der geistige und moralische Weg, den jeder einzelne Christ gehen muss. Man nennt diese Listen »Filiationsreihen«, denn jede folgende »Tugend« ist Tochter (filia) der vorangehenden. Daher steht immer der Glaube voran. Er ist die Grundlage, der Anfang, aber er bleibt nicht allein. Glaube allein reicht nicht, ohne »Töchter« ist er unfruchtbar, ein toter Glaube. Der Zusammenhang von Glaube und Werk ist ein organischer; deshalb vergleicht man ihn mit Gebären oder Fruchtbringen. Oder man
sagt: Werke sind Zeichen des Glaubens. Für Paulus ist selbstverständlich, dass der Glaube Gestalt gewinnt. Nun war gewiss auch zur Zeit des Paulus die Verbindung von Glauben und glaubwürdigen Taten ein Problem (vgl. etwa Mt 7,2123). Angesichts dieses Problems hat gerade eine solche Reihe wie hier in Vers 3 eine geradezu suggestive Bedeutung. Wie unglücklich ist ein Mensch, der bei irgendeinem Stadium der Entwicklung stehen bleibt. Das Wortfeld »Glaube und Werk« wird hier von Paulus zuerst genannt. Wir kennen es auch – mit der gleichen Selbstverständlichkeit gebraucht – aus Gal 5,6 (»der Glaube, der durch Liebe ins Werk gesetzt wird«). Das ist anders, wo Paulus nicht die Umsetzung und Sichtbarmachung des Glaubens meint, sondern wo er einen strengen Gegensatz aufstellt zwischen Glauben an Jesus Christus einerseits und den Werken des Gesetzes andererseits (z. B. Röm 3,27f). Das ist im Galater- und im Römerbrief der Fall. Wo Paulus diesen Gegensatz aufstellt, meint er etwas anderes als in 1 Thess 1,3. Denn bei dem Gegensatz von Werken des Gesetzes und Glauben an Jesus Christus geht es um die Frage »Gesetz oder Christus«, und das meint: Genügt es, Jude zu bleiben und im Gesetz die entscheidende Auszeichnung durch Gott zu sehen – oder ist der Glaube das Kriterium der Zugehörigkeit zu Gott? In dieser Alternative muss die Antwort so ausfallen: Allein der Glaube, und nicht das jüdische Gesetz, ist der Maßstab der »Auserwähltheit«. Denn Paulus meint, dass Jude zu sein und stolz zu sein auf das Gesetz noch kein Heil bedeutet. Heil gibt es allein in der Zugehörigkeit zu Jesus Christus. Denn alle Werke des Gesetzes bleiben immer »löcherig« und unvollkommen. Leider hat man in der Geschichte der Auslegung beide Arten von Werken durcheinander-
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Kapitel 1
geworfen. Das ist das Anliegen von Gal und Röm: Das Gesetz zu besitzen und erfüllen zu wollen, bleibt kreatürlich und wird Gott nie erreichen. So viel zu den »Werken des Gesetzes« ohne Glauben an Jesus – sie können kein Vorwand sein, nicht durch den Glauben zu Jesus gehören zu wollen. Das Problem ist daher in Röm und Gal das Verhältnis zwischen Judentum und Christentum. Hier gilt grundsätzlich: »Glaube allein«. In 1 Thess 1,3 dagegen und in Gal 5,22 geht es um die innerchristliche Frage nach den Konsequenzen des Glaubens. Da sind die Werke höchst erwünscht, ja notwendig. In jedem Fall aber sind die Werke Ausweis und Erkennungsmarke der grundsätzlichen Zugehörigkeit. Wenn man grundsätzlich im Bereich des Gesetzes stehen bleibt, tut man (unvollkommene) Werke des Gesetzes. Wenn man dagegen durch Glauben zu Christus gehört, tut man höchst wünschenswerte Werke des Glaubens. Der Begriff »Werk« ist daher durchaus neutral. Entscheidend ist, ob man grundsätzlich zu Christus gehört oder im Bereich des Gesetzes verbleibt. Danach richtet sich Qualität und Wert der Werke. (Es wäre sicher gut, hätte man diesen Gesichtspunkt in der ökumenischen Diskussion durchschaut.) Das zweite Begriffspaar, das Paulus hier nennt, ist Liebe und die dazugehörige Mühsal. Wir kennen die Wortverbindung von 1 Thess 1,3 (Werk des Glaubens, Mühsal der Liebe) ähnlich aus Offb 2,2 (Werke, Mühsal, Geduld). Im Lichte dieser Stelle kann man sagen: Den »Werken« beim Glauben entspricht bei der Liebe die Mühsal. Das dritte Glied verbindet Hoffnung und Geduld. Die Reihe ähnelt mit diesem Schluss besonders Offb 2, 19 (Werke, Liebe, Glaube, Diakonie, Geduld). Bei Paulus ist die Verbindung von Geduld und Hoffnung besonders wichtig in Röm 5,4 (»Wer weiß, was Geduld ist, besteht auch jede Bewährungsprobe. Und das ist wieder Grund zur Hoffnung«). In den Filialitionsreihen gibt es oft einen grundsätzlichen Spannungsbogen zwischen Glaube am Anfang und Liebe am Ende. Dabei sind dann, wie in der Antike üblich, das erste und das letzte Glied die gewichtigsten. So verstehen wir auch die Liste in 1 Kor 13 besser (Glaube, Hoffnung, Liebe). Wo dagegen – wie hier in 1 Thess 1,3 – die Hoffnung am Ende steht, zielt die Reihe theologisch gesehen in die Zukunft. Der Glaube ist das Fundament, das zu-
761 erst gelegt wurde, die Hoffnung richtet sich auf das letzte Ziel. Dabei kommt die Verbindung von Glaube und Liebe aus der uns auch außerhalb der Bibel geläufigen Verbindung von Liebe und Treue. Denn Glaube ist immer zugleich auch Treue. Die Verbindung mit Mühsal weist auf die missionarische Wirksamkeit, die Verbindung mit Geduld auf den martyrologischen Aspekt. So kommen hier außer dem allgemeinen »Werk« auch zwei für die Situation des Urchristentums ganz wichtige weitere Aspekte zur Geltung: Mission und Martyrium. 1 Thess 1,3 lässt im Übrigen erkennen, dass in dieser Tradition vergleichbarer Reihungen von Abstraktnomina leichte Veränderungen auf einen Unterschied in der Situation der Gemeinde schließen lassen. So fällt auf, dass im Unterschied zu 1 Kor 13 hier nicht einfach von Glaube, Hoffnung und Liebe die Rede ist, sondern dass die Mühsal und die Geduld eine besondere Rolle spielen. Die Gemeinde in Korinth wird nicht verfolgt, die in Thessaloniki dagegen sehr wohl (2,14f). Auch in Offb 2,19 spielt die Geduld eine hervorragende Rolle als Schlussglied (vgl. dazu Offb 13,10b; 14,12a). Frühe systematische Theologie äußert sich in Leitbegriffen, die man an sechs Fingern abzählen kann. Paulus gibt hier also durchaus im Sinne von Katechismen grundsätzliche Normen zur Orientierung der Glaubenden. Wir haben gesehen, dass das Geflecht zwischen den Begriffen durchaus beachtlich ist. Die Worte sind ganz und gar nicht willkürlich gewählt, sondern meinen zentrale Stationen des christlichen Weges. Der Gläubige wie der Prediger müssen diese Stationen mit Anschauung und Lebenspraxis füllen. Zu 1 Thess 1,3: Glaube steht, wie üblich, am Anfang. Am Schluss der Liste steht hier »Geduld« – ein deutlicher Hinweis darauf, dass sie vor allem wichtig ist; denn die wichtigste Konsequenz steht immer am Schluss. Das bestätigt unseren Eindruck von der Situation, in der 1 Thess die dortige Gemeinde erreicht. »Wir erinnern uns an euer Werk des Glaubens und an die Mühsal der Liebe und die Geduld der Hoffnung« – vgl. Offb 2,2: »Ich kenne deine Werke und die Mühsal und deine Geduld«; Offb 2,19: »Ich kenne deine Werke und die Liebe und den Glauben und das Dienen und die Geduld«;
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762 Röm 2,7: »den einen gemäß der Geduld des guten Werkes Herrlichkeit und Ehre«; Hebr 10,24: »zum Anreizen der Liebe und der guten Werke«; vgl. auch Barn 1,6 (Glaube und Hoffnung; Urteilskraft und Gerechtigkeit; gerechte Werke und Liebe).
1 Thess 1,5c-10: Vorbild – Nachahmung Der erste Satz, der besonders auffällt, steht in 1,6f: »Inzwischen habt ihr dem Herrn und unserem Beispiel nachgeeifert … So seid ihr zum Vorbild geworden für alle Christen in Mazedonien und Achaia.« Paulus stellt hier eine Kette von Vorbildern und Abbildern auf: Jesus Christus, dann Paulus selbst, dann die Gemeinde in Thessaloniki, dann die Christen in Mazedonien und in Achaia. In dieser Kette ist jeder (ab dem zweiten Glied) zunächst Nachahmer seines Vorbildes, dann aber Vorbild für die nächsten Adressaten der Botschaft. Paulus beschreibt hier nicht eine Sukzession des Amtes, wohl aber die Real-Sukzession der durch und durch von Jesus selbst geprägten Existenzen. Vorbild sein und Nachahmen war das Grundgerüst antiker Pädagogik. In den synoptischen Evangelien ist es eingegangen in die Konzeption von der Nachfolge Jesu. Für diese Auffassung christlicher Existenz sind die Evangelien als Biografien geschrieben, die wirklich ein lebendes Vorbild liefern, bis hin zu Tod und Auferstehung (vgl. besonders Mt 11,29). Bei Paulus geht es um das Nachahmen des Apostels. Worin das besteht, sagt er hier nicht. Aber wir wissen aus anderen Briefen, dass es um die Verbindung von Geduld und Leiden geht. Kritiker desPaulus haben stets gefragt: Wie kann jemand so unbescheiden sein und sich selbst zur Nachahmung empfehlen? Die Antwort: Paulus meint nicht »positive Tugenden« wie Fleiß, Sparsamkeit, Wahrheitsliebe und Güte. Nach allem, was er in den anderen Briefen verlauten lässt, bedeutet christliche Existenz schlicht: dabeibleiben, standhalten. Dass Paulus das so meint, sagt er unmittelbar im folgenden Vers, wo er von Leiden für das Evangelium und von der Freude spricht. Zu 1 Thess 1,6f: Ein gemeinsames Wortfeld zu den Umständen des Gläubigwerdens liegt vor in
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1 Thess 1 und 3; 1 Petr 1 und Jak 1. Auffallend ist, dass es sich regelmäßig um Passagen am Anfang handelt (bis auf 1 Thess 3). Das Wortfeld umfasst »annehmen des Wortes« (nur 1 Thess 1), »Bedrängnis« (bedrängt werden; nur bei Paulus), »Freude« (synonym: Jubel, 3 ), »Glaube« (glauben; in allen Belegen), »versuchen« (Versuchung), »Verkünden des Evangeliums« (nur 1 Thess 3), »bewähren« und »Geduld« (synonym: aushalten; in 1 Thess 1,6f; 3,27; 1 Petr 1,6-8; Jak 1,1-4.12-13). Glaube steht in allen Texten, Freude und Versuchen in drei Texten. Daran lässt sich der sachliche Schwerpunkt mühelos erkennen. Nachahmen Geradezu eine eigene Textgruppe sind im Umkreis des Paulus Texte über das Nachahmen mit den Begriffen »nachmachen« (5 , griech.: mim-) und »Typos« (7 , griech.: typos). Fast immer steht an der Spitze Paulus (7 ) oder eine vergleichbare Autorität (2 Timotheus, Titus); nur zweimal steht Jesus Christus an der Spitze (1 Thess 1,6f; 1 Kor 11,1, vgl. aber auch 1 Thess 4,16) und ist Paulus vorgeordnet. Diejenigen, die nachahmen sollen, sind regelmäßig die Mitglieder der angeredeten Gemeinden (»ihr«). Inhaltlich und formal abweichend ist nur Eph 5,1 (seid nun Nachahmer Gottes). Außer den beiden Texten, die Jesus Christus als Vorbild nennen und Eph 5,1 sind fast immer (Ausnahme: 1 Thess 2,14) einzelne Menschen Vorbild. Das überwiegende Verb ist »werden« (griech.: gignomai). Bis auf 1 Kor 10,6 ist das Beispiel, das nachgeahmt wird, stets positiv. Entsprechend sind die Texte lobend oder auffordernd. Sie spiegeln damit die Bedeutung der antiken Vorbildethik bei Paulus und in seinem Umkreis. Die antike Pädagogik bzw. Rhetorik ist daher von den neutestamentlichen Autoren konsequent wahrgenommen worden. Dem Alten Testament ist diese Art der Begründung von Ethik fremd; erst am Schluss des griechischen Sirach werden lobend Vätergestalten geschildert. Zu 1 Thess 1,9f: Hier gibt Paulus eine kurze Erinnerung an seine anfängliche Verkündigung in Thessaloniki. Hieraus erkennen wir, was zur frühen Heidenmission gehörte: die Überwindung des Götzendienstes gegenüber den vielen Göt-
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Kapitel 2
tern sowie die Erkenntnis des wahren und lebendigen Gottes, der sich nicht in toten Bildern verehren lässt. Daran und an der Auferweckung Jesu kann man seine Lebendigkeit erkennen. Dann ging es offenbar weniger um das Leben und Sterben Jesu, sondern um seine Auferstehung und Wiederkunft. Die Erlösung aus dem Gericht (»kommender Zorn«) ist hier wesentlich Sache der Zukunft. Anders in Röm 5, wo Paulus sagen kann, dass wir das Entscheidende schon hinter uns haben. Der Text in 1 Thess 1,19f erinnert die Hörer an ihren Weg zum Glauben: Sie sind umgekehrt, dienen als Slaven dem wahren lebendigen Gott, erwarten seinen Sohn; diesen Sohn hat Gott auferweckt, er wird am Ende erlösen. Die Rettung vor Gottes Zorn ist die Erlösung auch in Röm 5,9 und Sib 3,556-561 (»Aber wenn des großen Gottes Zorn euch treffen wird, dann werdet ihr des großen Gottes Antlitz erkennen. Alle Seelen der Menschen werden mit großem Stöhnen empor zum weiten Himmel ihre Hände hebend beginnen, den großen König als Helfer zu rufen und zu suchen, wer ihnen ein Retter vor dem großen Zorn sein werde«). Analogien liegen in verwandten Aufrissen vor, die immer mit der Bekehrung beginnen und dann sehr schnell (über die Auferstehung Jesu) zu den künftigen Ereignissen gelangen, d. h.: Nach der Bekehrung ist vor allem die Eschatologie wichtig. – Vgl. daher mit 1 Thess 1,9f: Hebr 6,1-2 (Umkehr/Glaube, Taufen, Handauflegung, Auferstehung, ewiges Gericht) oder Apg 14,1517 (Umkehr zum Schöpfer); Apg 17,29-31 (Umkehr, dann »Tag« und Richter, dann Glaubwürdigkeit durch Auferstehung). – Die Auferstehung kann die Glaubwürdigkeit des Schöpfers erhöhen, oder sie wird gedacht als Vorbedingung für die Wiederkunft Jesu. Eine wirklich eigene Bedeutung als Heilsereignis gewinnt die Auferstehung nicht. Selbst nach 1 Kor 15,17 (»wäret ihr noch in euren Sünden«) ist nicht die Auferstehung das Heilsereignis, sondern die dadurch ermöglichte Position Jesu rechts von Gott als Fürbitter und Anwalt der Menschen.
1 Thess 2,1-8: Rückblick auf das Wirken des Paulus Dieser Abschnitt über die Tätigkeit des Apostels ist in drei Blöcke gegliedert (V. 1-2, V. 3-4a; V. 4b-8). Der Apostel schildert jeweils, was er »nicht« getan hat, und dann in einem mit »sondern« beginnenden Stück, was er wohl getan hat. Dabei fällt dreimal der Ausdruck »das Evangelium« (und zusätzlich in V. 9). Höhepunkt ist das Bild der Mutter in V. 7c- 8. Ab V. 9 hören die Negationen auf, Paulus argumentiert mit den Metaphern Vater/Kind (komplementär zu V. 7) und wendet sich ab V. 12b (wie schon in 2,1f) direkt der Gemeinde zu.
1 Thess 2,7b-9.13: Mühsal und Apostolat Paulus gilt weithin als Frauenfeind. Doch hier zeigt es sich, dass das Gegenteil wahr ist: »Wir haben einfach nur getan, was unsere Aufgabe war, so wie eine Mutter, die ihr Kind stillt« (V. 7b). So beschreibt Paulus sein Verhältnis zu den Christen in Thessaloniki. Ein ebenso schlichtes wie zärtliches Bild. Paulus hat einen wachen Blick für das Leben an jeder Säule der Markthalle. Ähnlich der eindrucksvolle Text Gal 4,19: »Ihr seid doch meine Kinder, und wie eine Mutter liege ich noch einmal in schmerzhaften Wehen, solange bis Christus in euch Gestalt gewinnt.« Das Wort »Mühe« ist doppeldeutig (vgl. 1 Thess 2,9; 1 Kor 4,12; Gal 4,11). Es meint sowohl die Arbeit des Missionars im Sinne von geistigem Einsatz als auch körperliche Mühsal (bei einem Beruf, der mit körperlicher Anstrengung verbunden ist). Für Paulus hängt beides miteinander zusammen: Durch die tägliche Mühsal in der handwerklichen Arbeit ermöglicht er die weitere Mühsal im apostolischen Dienst. Wir lernen Paulus noch besser kennen in 2,8: »… nicht nur euch Anteil zu geben am Evangelium Gottes, sondern auch uns selbst euch zu geben«. Neben das Evangelium als das überlieferte Zeugnis tritt das eigene Lebenszeugnis des Apostels. Sowohl mit dem Bild der liebenden Mutter als auch durch Hinweis auf die kontinuierliche Hingabe hat Paulus das Bild des christlichen Seelsorgers für viele Jahrhunderte geprägt. Zeichen des Seelsorgers waren seine Liebe und die Gabe sei-
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764 nes Lebens. Die Bilder stammen damit aus der Familie und aus der Freundschaft (Gabe des Lebens für die Freunde). Was Paulus in V. 9 berichtet hatte (Mühsal), wird nach V. 13 die Legitimationsgrundlage seines Dienstes: Er verkündet nicht Menschenwort, sondern Gotteswort. Ähnlich wird er es in 4,8 zur Unterstreichung seiner Mahnrede sagen: »Die Missachtung der Gebote, die mit der Heiligkeit zu tun haben, richtet sich nicht etwa gegen die menschlichen Verkündiger, sondern gegen Gott selbst …« Denn gerade weil Paulus seinen Dienst höherstellt als sich selbst, verkündet er Gott. In 1 Kor 1 ist das ausgeweitet zur paulinischen Kreuzestheologie: Alle irdischen Werte inklusive Selbstbehauptung sind ein Widerspruch zur Botschaft. Alle angebliche menschliche Größe steht dem Sichtbarmachen der Größe Gottes entgegen. Das Verhältnis des Paulus zu seiner Gemeinde in Thessaloniki ist »intim«. Neben den Vergleich mit der Mutter und der Gabe des Lebens in der Freundschaft (vgl. V 7) steht die mehrfache Liebeserklärung: »Voller Zuneigung …« (V. 8a), »… denn wir haben euch lieb gewonnen« (V. 8c). Wir beobachten hier einen Kontrast zur Verkündigung Jesu. Jesus betrachtet seine Jünger nicht als Kinder. Er ist vielmehr ihr Herr (Kyrios), der sie vollmächtig beruft. Das Verhältnis zwischen Herr und Sklaven wird in den Gleichnissen immer wieder zum Bild für das Verhältnis Jesu zu seinen Jüngern. Das familiäre Bild ist vielmehr für den himmlischen Vater reserviert. Nach dem JohEv, das hier zwischen Paulus und den drei ersten Evangelien vermittelt, gibt der Vater Jesus die Jünger in die Hand. Bei Paulus gibt es dieses Bild von Jesus als dem Herrn und dem Jünger als dem Sklaven nur am Anfang seiner Briefe (Präskript). Die Jesusbeziehung seiner eigenen Gemeinden betrachtet Paulus gerade nicht im Sinne der Beziehung Herr/Sklaven. Wir halten fest: In den Evangelien ist das Verhältnis zwischen Jesus und den Jüngern so, wie Paulus sein Verhältnis zu Jesus sieht: als das des Sklaven zu seinem Herrn. Für seine Gemeinden verwendet Paulus dagegen ganz andere Bilder, nämlich solche aus der engeren Familie oder Freundschaft. Die Bildersprache verrät den Lebensstil. Wo von Herr/Sklave die Rede ist, geht es um den strengen und radikalen Lebensstil der Wanderapostel. Dazu gehörte auch Paulus. Wo dagegen Missionsgemeinden an
Der erste Brief an die Thessalonicher
einem Ort und im alltäglichen »bürgerlichen« Leben beieinander sind, legen sich Bilder der familiären Intimität oder der Freundschaft nahe. Zu 1 Thess 2,9: »Mühsal … und Last. Nachts und tagsüber arbeite ich, um keinen von euch zu beschweren« = 2 Thess 3,8: »In Mühsal und Last arbeiten wir Tag und Nacht, um keinen von euch zu beschweren …« Vgl. 1 Kor 4,12: »Ich schufte mit eigenen Händen«. Dieser Satz (2,9) ist der einzig konkrete und inhaltlich wirklich relevante Satz (dazu noch der längste), der 1 Thess und 2 Thess gemeinsam ist (über die anderen Gemeinsamkeiten vgl. die Einleitung zu 2 Thess). Darüber nachzudenken lohnt sich. Denn der Satz ist ja ein beeindruckendes bzw. gravierendes Selbstzeugnis des Apostels; er sagt auch etwas aus über seine Liebe zur Gemeinde. Und durch diese Praxis ist der Apostel auch Konkurrenten überlegen, gäbe es solche. Dennoch zeigen beide Sätze, dass Paulus um seine Stellung gegenüber der Gemeinde kämpfen muss. Die Zuneigung fällt ihm nicht zu. Vermögend ist die Gemeinde offensichtlich gar nicht, daher wird es ihr nach Meinung des Apostels schon wichtig sein, dass sie keinen »Pastor bezahlen muss«. Aber auch Paulus hat sein Geld nicht leicht verdient: »Tag und Nacht« dürfte daher keine Übertreibung sein. Zweifellos hat Paulus so die Sympathien auf seiner Seite. Er ist ein echter Arbeiter. Zu 1 Thess 2,13: »Weil ihr glaubt, ist Gott in euch wirksam.« Der Glaube ist für Paulus eine Art der realen Gegenwart Gottes in den Herzen der Menschen. Überraschend und kaum beachtet: Auch in diesem Satz finden wir das typisch paulinische Verhältnis von Glaube und Werk. Aber es ist so verstanden, dass Gott in denen Werke vollbringt, die glauben (vgl. zu Phil 2,12f). Der Glaube ist damit zum Einlasstor für Gottes (speziell: des Heiligen Geistes) Gegenwart in den Herzen geworden. Weil der Heilige Geist eine energische Macht, eine Dynamik ist, kann er dem Glauben Gestalt geben. Tröstlich für die Gemeinde: Wer sich nur vertrauensvoll der Gegenwart Gottes öffnet, braucht keine Angst zu haben um die Früchte seines Tuns.
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Kapitel 2
1 Thess 2,14-16: Verfolgung erleiden Die Christen in Thessaloniki sind von ihren nicht-christlichen Nachbarn (»Stammesgenossen«) verfolgt worden und haben dabei gelitten. Paulus gibt den Grund nicht an. Wurden diese Christen als eine Art Juden verfolgt? Waren sie auffällige Abweichler, die wichtige Feste nicht mitfeierten und deshalb als Sonderlinge verfolgt wurden? Paulus vergleicht sie mit den Judenchristen in Palästina, die – was Paulus hier nicht sagt – hauptsächlich durch Paulus selbst verfolgt wurden, also von ihren jüdischen Stammesgenossen. Über diese »Verwandten« kann Paulus dann sehr Kritisches sagen, indem er das deuteronomistische jüdische Geschichtsbild auf sie anwendet. Dieses hatte zur Zeit des 1. Jh. n. Chr. folgende Gestalt: Abweisung und Tötung aller Propheten – Bestrafung/Zorn Gottes als Zerstörung Jerusalems und/oder als Verstockung – Taubheit, Blindheit, Bosheit (Sünde) als Strafe, Exilierung – Erbarmen am Ende (vgl. dazu O. H. Steck, Israel und das gewaltsame Geschick der Propheten, 1967). Heftig umstritten ist, wie Paulus die abschließende Aussage »Es traf sie der Zorn Gottes endgültig« verstanden hat. Paulus äußert sich dazu in Röm 9,14-22. Demnach sind diejenigen Juden, die nicht an Jesus glauben, Gefäße des Zornes Gottes geworden, zum Untergang bestimmt (9,22). Nur kann in dem Gesamtkomplex von Röm 9-11 Paulus die Aussage »endgültig« nicht mehr stehen lassen, da er in Röm 11,25-36 eine andere Lösung entfaltet, die ihm neu geoffenbart wurde: die endgültige Versöhnung Gottes mit seinem Volk. In Röm 11 hat sich Paulus daher gegenüber 1 Thess 1,15 geändert. Die Verstockung seines Volkes, jetzt Erweis von Gottes Zorn, wird dann durch Gottes Barmherzigkeit aufgehoben werden, d. h.: 1 Thess entsteht zu einer Zeit, in der Paulus sein Verhältnis zum Judentum noch nicht über die Gesetzesfrage, sondern (stärker am Schicksal Jesu orientiert) nur mit der Theorie vom Mord an den Propheten zu klären vermag. Das ändert sich später (Gal, Phil, Röm). – Es spricht alles dafür, dass Paulus seine eigene Christenverfolgung am Anfang im Sinne der Theorie von der Verfolgung der Propheten beurteilt, bzw. dass er als Verfolger der Christen nach dem Grundsatz gehandelt hat, der der Verfol-
765 gung der Propheten je und je zugrunde lag: Die Propheten seien nicht von Gottes Geist erfüllt, sondern von eigenem oder teuflischem Geist. Umstritten ist, ob 1 Thess 2,14-16 überhaupt paulinisch ist. Aber es gibt keinen Anhalt in der Textgeschichte für eine spätere Einfügung. Da im Übrigen die Aussage für christliche Gelehrte erst neuerdings peinlich ist, sollte man auch nicht zum Mittel der Textkritik Zuflucht nehmen. Das ist in so aussichtslosen Fällen nur verdächtig. Die unangenehme Aussage sollte man stehen lassen und nicht hinweginterpretieren. Paulus selbst konnte sich im Röm selbst korrigieren, und das genügt. In Röm 9 lässt er ja, wie gezeigt, an Gottes gegenwärtigem Zorn keinen Zweifel. Die Änderung betrifft nur das »endgültig« (griech.: eis telos). Zu 1 Thess 2,15: Zum Ausdruck »allen Menschen feindlich« vgl. auch zur Bestätigung im Sinne des antiken Antijudaismus: Tacitus, Historien 5,4f (den übrigen Menschen entgegengesetzt … unter ihnen unerschütterlich treuer Zusammenhalt, aber gegenüber allen anderen feindlicher Hass, abgesonderte Mahlzeiten, abgesonderte Ehe(betten). – Das hellenistische Judentum hatte zur Abwehr derartiger Vorwürfe bereits seit längerem den Begriff der Philanthropia aufgegriffen und im Sinne humanitärer Menschenliebe für sich in Anspruch genommen. Zu 1 Thess 2,16: »Jetzt aber ist das Maß voll. Gottes Zorn ist für immer auf sie gekommen«. Die gleichen Worte (nur mit dem Zusatz »des Herrn« hinter »Zorn«) stehen in TestXII Levi 6,11 (über die Sichemiten, die Abraham und Fremde verfolgen). Zumindest handelt es sich um eine geprägte Redeweise in ähnlicher jüdisch-hellenistischer Diasporasprache. Auffällig: Es handelt sich in beiden Fällen um Verfolgung von Fremden, näherhin von Juden, die so eingeschätzt und behandelt wurden. – Vgl. TestXII Levi 5,6: »bitte für Israel, dass er sie nicht schlägt vollständig«; CD 9,16-20 (vom Wiederholungstäter): »So ist seine Verurteilung vollendet.« – Neutestamentlicher Rahmen: Mt 23,32 (dasselbe Geschichtsbild) – ferner LAB 26,13: »Wenn die Sünden meines Volkes vollständig sind«.
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1 Thess 2,18f: Besuchswunsch und Lob Besuchswünsche zu äußern (2,18) gehört zu den Topoi antiker Briefliteratur (vgl. Röm 1,1.13; 15,23f; 2 Kor 1,15. Ein paulinischer Topos ist, dass sich der Apostel der Gemeinde rühmt, und zwar im Endgericht (1 Thess 2,19; 2 Kor 1,14; 5,12). Der Ausdruck Parusie ist ein typischer Terminus des Apokalyptik; vgl. TestAbr A 13,4.6; 1 Thess 3,13; 4,15; 5,23; 2 Thess 2,1.8; 1 Kor 15,23.
1 Thess 3,1-5: Pastoral der Neubekehrten Im Abschnitt V. 2-5 stehen eine Reihe von klassischen Bezeichnungen zur Darstellung der postmissionarischen Situation von Neubekehrten; diese weisen enge Beziehungen zu Lk 22,31f auf (Glaube; stärken, griech. sterizo; »sieben«, synonym zu »versuchen«; Fürbitte; Satan als Versucher [bei Paulus ohne Namen]). – Satan ist der klassische Versucher nach der Bekehrung. Daher wird schon im Judentum Hiob als Proselyt dargestellt; so können seine Leiden als Versuchungen des Teufels wegen Übertritts zum Judentum gedeutet werden: TestHiob (1. Jh. n. Chr.); daher wird Abraham, der erste Proselyt und der erste Jude, als vielfach vom Teufel versucht dargestellt (Jub 19,8-10; Jak 2,19-21; Jdt 8,21; vgl. von den Erzvätern Abraham, Isaak und Jakob »versucht, damit sie erprobt würden, ob sie wahrhaftig Gott verehrten … Drangsale … gläubig«). Auch in dem jüdisch-hellenistischen Bekehrungsroman »Joseph und Aseneth« (1. Jh. n. Chr.) Kap. 12 (Teufel versucht, wie Löwe zu verschlingen) ist der Teufel der Versucher der zum Judentum neu bekehrten Aseneth. Apg 26,18 erklärt Satans Zorn: Ihm werden Anhänger weggenommen. – Generell gilt: Wer Versuchungen überstanden hat, wird die Kinder stärken und ermahnen (TestHiob; Patriarchentestamente; Lk 22,31f).
1 Thess 3,12 – 4,2: Eine theologische Geografie In seinem mutmaßlich ältesten Gemeindebrief entfaltet Paulus hier etwas durchaus Neues und
Der erste Brief an die Thessalonicher
Erstmaliges. Paulus denkt und handelt wie ein Stadtplaner oder Landschaftsarchitekt, man könnte auch sagen wie ein Feldherr, der einen Schlachtplan skizziert. Paulus entwirft so etwas wie eine theologische Geografie, zeichnet ein soziales Beziehungsgeflecht. Das Haupt-Zentrum und die erste Voraussetzung in dieser Landkarte ist die christliche Gemeinde, die nach Paulus als Stadt Gottes genau im Zentrum aller Welt steht. In diesem Geflecht ist der eine Pol Gott und der Gottessohn Jesus Christus, der zweite Pol der Apostel Paulus mit seinem Mitarbeiter Timotheus, der dritte Pol die angeredete Gemeinde, die durch eine Vielzahl von Menschen gebildet wird, die miteinander eine Gemeinschaft darstellen. Um diese Gemeinde herum liegt als vierter Pol die übrige Menschenwelt. Die Gemeinde, der dritte Pol, ist in sich eine kleine Welt. Um diesen Mikrokosmos herum liegt die übrige Welt der Menschen wie ein Makrokosmos. Dieses Beziehungsgeflecht wird durchaus dynamisch verstanden. Zwischen Paulus und Gott gibt es hier die Relation der Fürbitte, die die Gemeinde im Blick hat, also ein Dreieck Paulus – Gott – Gemeinde. Die Möglichkeit, von der Paulus hofft, dass sie bald wirklich wird, ist die Liebe der Gemeindeglieder untereinander. Paulus geht es dabei um den dynamischen Erhalt von Pol 3; denn er will ja, dass diese Gemeinschaft in ihrem Leben an Kraft und Reichtum gewinnt. Das Gleiche wünscht Paulus der Beziehung, die von der Gemeinde auf die sie konzentrisch umgebende Menschenwelt (Pol 4) ausgeht: auf die sie umgebende Welt der noch nicht christlichen Menschen. Und schließlich wünscht sich Paulus auch von seiner eigenen Liebe zur Gemeinde, dass sie genauso stark sein möge, d. h.: Das Verhältnis Paulus – Gemeinde möge sich so kräftig gestalten wie das Verhältnis Gemeinde – Welt. In diesen beiden Beziehungen (Paulus – Gemeinde und Gemeinde – Welt) geht es um die missionarische Kraft des Evangeliums. Sie geht von Paulus auf die Gemeinde aus und dann von der Gemeinde auf die Welt. Genauso denkt Paulus sich den Weg der Botschaft. Dabei ist das theologisch eigentlich Spannende, dass er nicht an eine Vielzahl kleiner Apostel in der Gemeinde denkt, sondern das Meiste davon erwartet, dass die Gemeindeglieder einander lieben. Damit gibt es auch hier ein wie-
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Kapitel 3
derkehrendes Schema der Verfassungsgeschichte der Kirche. Dieses Schema heißt: der eine (hier: Apostel) und das Gremium (hier: die Gemeinde in Thessaloniki). Der »eine« geht zeitlich, sachlich und dem Rang nach voraus, er verwirklicht zunächst das Evangelium in seiner Biografie, in Handeln und Leiden. Das Gremium stellt das Evangelium im Miteinander dar. In der Weise des Miteinanders ist die Gemeinde Inszenierung der Botschaft – oder nicht. Die missionarischen Erfolgskriterien sind erkennbar andere, beim Apostel sind es die Zeichen (Wunder), bei der Gemeinde die Liebe zueinander. Dieses auf wachsende Dynamik hin angelegte Geschehen stellt Paulus in den zeitlichen Horizont des kommenden Gerichts. Die Gerichtsankündigung formuliert Paulus recht freundlich: »Er mache eure Herzen stark, dass ihr heilig und gerecht dasteht vor unserem Gott und Vater, wenn Jesus mit allen seinen heiligen Engeln wiederkommt« (3,13). Vgl. dazu Epistula Apostolorum 15,9: »bis ich mit denen wiederkomme, die um meinetwillen getötet worden sind«. – Offb 20,1-6 ist hier Bindeglied zum Verstehen! Nur der Kenner wird darin eine Gerichtsaussage erkennen, und zwar an der Wendung »gerecht dastehen vor …«. Das ist nun allerdings eindeutig. Die Szene, die Paulus entwirft, liest sich so: Gottvater ist der Gerichtsherr. Der Zeitpunkt des Gerichts ist die Ankunft Jesu mit seinen Engeln (Parusie). Dann stehen die Menschen vor Gericht, und wenn es gut ausgeht, stehen sie »heilig und gerecht« da. Für heutige Leser ist in diesem Bild die Rolle Jesu Christi und seiner Engel noch ganz offen. Aber aus den übrigen Angaben des 1 Thess können wir entnehmen, wie diese Rolle zu denken ist: Nach 1,9f wird Jesus die Christen »retten vor dem künftigen Zorn«. Das heißt: Mit dem Gewicht seiner Autorität und mit seiner ganzen Herrlichkeit wird er für uns eintreten, um den berechtigten Zorn Gottes abzuwehren. Er könnte sagen: Lieber Vater, sieh doch auf meine Liebe, mit der ich die Menschen geliebt habe bis zu meinem Tod am Kreuz. Verschone sie um meiner Liebe willen. Und der Vater wird seine Liebe zu den Menschen in der Liebe des Sohnes erkennen und sagen: Ja, wir wollen die Menschen verschonen, damit sie sagen können, sie seien »um Gottes willen« erlöst. – Paulus
767 behandelt an dieser Stelle nicht mögliche negative Ausgänge des Gerichtsverfahrens, er spricht auch nicht (wie dann in Kap. 4) von einer Auferstehung der toten Christen. Er entfaltet nicht die ganze Szenerie, sondern wichtig ist nur, dass die Gemeinde bestehen kann, wenn Jesus Christus sie erretten soll. Denn Jesus Christus wird nur eine Gemeinde erretten können, die sich durch ihn hat heilig und gerecht machen lassen und die dieses bewahrt hat. Er kann nur die retten, die zu ihm gehören. Auf der Seite der Gemeinde setzt dieses die Treue und Geduld des Bewahrens voraus, die sich in der oben geschilderten Liebe äußert. Von Jesus Christus selbst aber geht nichts Bedrohliches aus. Denn er kommt als Beschützer und Retter, nicht als Richter. Andere Texte sehen das anders (besonders: Mt 25,31-46), aber auch nach Matthäus ist Jesus als der Menschensohn derjenige, der sich zu den Christen bekennt oder nicht (Mt 7,23; 10,32f). Wichtig ist für uns heutige Menschen zunächst, dass wir zur Kenntnis nehmen: Es gibt ein Ende, Jesus kommt wieder, wir werden mit Gottes Heiligkeit konfrontiert, und das nennt man Gericht. Schon diese schlichten Annahmen scheinen für Christen heute kaum nachvollziehbar zu sein. Vielleicht hilft dieser Hinweis weiter: In der frühchristlichen Heidenmission ist die Verkündigung des einen und einzigen Schöpfergottes stets ganz eng mit der des Richters verbunden (vgl. auch 1 Thess 1,9f). Offensichtlich ist das Richten die Konsequenz des Erschaffens. Wenn man sich um diese innere Verbindung bemüht, erscheint vielleicht auch der Gedanke an das Gericht nicht so isoliert. Diese innere Verbindung ist so zu denken: Die Erschaffung begründet ein bleibendes Gegenüber und auch eine bleibende Spannung zwischen Schöpfer und Geschöpf. Dabei kennt der Schöpfer auch das Innenleben seiner Kreatur ganz genau (»Herzenserkenntnis«). Deswegen kann er urteilen. Aber warum muss er urteilen? Weil er seine Einzigkeit als Gott, seine Heiligkeit und Gerechtheit immer wieder abgleichen lassen muss mit den Eigenschaften der Kreatur, die eben nicht Gott und nicht heilig ist, außer wenn sie es durch Jesus Christus geworden ist. Das Gericht offenbart daher den Status vor Gott. Im günstigsten Fall hat ein Christ diesen Status durch Jesus Christus sanieren und reparieren lassen. Aber alles das wird
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768 dann offenbar. Daher ist das Gericht die Stunde der Wahrheit. Diese Wahrheit muss ans Licht, weil Gottes Eigenschaft, des Menschen Qualität und Gottes rettendes Tun zur Ehre und zum Lobe Gottes sich selbst darstellen müssen. Daher ist Gericht, ähnlich wie die Missionspredigt, ein Offenbarwerden Gottes. Im Evangelium wird diese Wahrheit in Worten deutlich gemacht – und die Reparatur liegt als Angebot vor. In der Stunde des Gerichts tritt die Wahrheit ohne Grauschleier zutage, weil sie selbst so mächtig und überwältigend ist, dass sie nicht ewig verborgen bleiben kann. Auch eine Schwangerschaft bleibt nicht ewig geheim, auch eine verändernde oder zersetzende Krankheit nicht. Insofern ist Schöpfung die erste Offenbarung, Verkündigung des Evangeliums die zweite oder vorletzte, das Gericht die dritte oder letzte. So wird die Wahrheit zu-
Der erste Brief an die Thessalonicher
nehmend offenbar, tritt aus sich selbst heraus, aus Gott selbst. Keine Geheimhaltung der überwältigenden Wahrheit ist dann mehr möglich. Auch Armut und Reichtum, Leben oder Tod sind irgendwann nicht mehr zu verheimlichen. Zu 1 Thess 3,13 (Kommen mit den Heiligen): vgl. äth PetrusApk 1 (mit den Heiligen, Engeln); Const Apost 7,32,14 f. – Nach 2 Thess 1,10 sind die »Heiligen« mit den »Glaubenden« identisch. Das ist ein gutes Argument dafür, dass die Erstgeborenen nach Hebr 12,23 verstorbene Christen sind, die nun bei Jesus sind. Vgl. vom Messias in 4 Esr 7,27: »Es wird sich offenbaren mein Sohn zusammen mit denen, die mit ihm sind.« Zum Hintergrund vgl. Sach 14,5; »Und es wird kommen der Herr, mein Gott, und alle seine Heiligen mit ihm«; Didache 16,7 (identisch).
1 Thess 4-5: Die Heiligen vor dem kommenden Gott 1 Thess 4,1-12: Heiligkeitsethik Ab 4,3 wird Paulus eine Heiligkeitsethik entfalten, die durch das Stichwort »mit allen seinen Heiligen« in 3,13b vorbereitet wurde. In 3,13 fällt auch der Passus »ohne Tadel in Heiligkeit« auf; denn in Phil 3,6 wird Paulus das Adjektiv »untadelig« zur Beschreibung seiner durchaus unvollkommenen Eigenschaft als Pharisäer verwenden. In 1 Thess 3,13 bezeichnet das Wort dagegen das christliche Ideal. Nun liegen zwischen 1 Thess 3 und Phil 3 wahrscheinlich etliche Jahre. In 1 Thess 3f (wie auch in 1 Kor) geht Paulus unbefangen von der Geltung pharisäischer Grundsätze aus. Heiligkeit und Untadeligkeit sind für ihn leitende Grundsätze. Paulus konnte das sehr gut mit seiner pneumatologisch begründeten Ethik verbinden (1 Thess 4,7f) und gleichzeitig mit diesem Mittel auch zwischen Heidenchristen und nicht-christlichen Heiden unterscheiden. Der Gesamtentwurf einer Heiligkeitsethik des Apostels sieht dann zur Zeit des 1 Thess so aus: Gott macht, dass die Christen ihm ähnlich werden. Das tut er vor allem dadurch, dass er seinen Heiligen Geist in ihr Inneres legt. Er beginnt beim Apostel, der dank seiner visionären Berufung durch den Sohn Gottes den Heiligen Geist
in sich trägt. Bei ihm bewirkt der Heilige Geist Wundertaten und den Glauben seiner Hörer. Jeder, der den Heiligen Geist empfängt, wird dadurch Eigentum und Tempel Gottes, denn Gott hat ihn durch inspiratives Innewohnen in Besitz genommen. Das Verständnis als Eigentum ist wichtig, zum Beispiel auch noch in 1 Kor 6,19b. Der Heilige Geist ist nicht nur im Apostel, sondern auch in jedem anderen Christen. Das gibt dem Geistbesitz der Christen zugleich eine kirchliche Dimension. Die Gemeinde ist ebenso Tempel wie der einzelne Christ. Als Eigentum und Tempel Gottes durch den Heiligen Geist aber sind die Christen geschieden von denen, die den Heiligen Geist nicht haben (der Heilige Geist ersetzt in dieser und vielfältig anderer Hinsicht die Beschneidung; vgl. die Kontroverse in Galatien nach Gal 3-6). Das Getrenntsein und Unterschiedensein von den anderen ist nur die negative Seite; die positive Seite ist, dass ihnen mit dem Heiligen Geist in ihrem Herzen Gottes Wille und Gottes Kraft mitgeteilt wurde. Das Gesetz ist jetzt in ihre Herzen geschrieben, es ist sozusagen ihre Software geworden (Röm 8,4: »nach dem Geist leben/handeln«). Das ist mehr als ein Erkenntnisvorgang, es ist von Gott bewirkte Ähnlichkeit und Konformität. Es wird nicht nur der Wille des Menschen bewegt und gelenkt,
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Kapitel 4
der Mensch kann auch handeln, wenn er sich an den Geist anlehnt. So gibt es nicht nur bei Paulus die Verbindung von »Heiligem Geist« und »Heiligkeit« in 1 Thess 4,3; 2 Thess 2,13, sondern auch in 1 Petr 1,2 – besonders diese Stelle ist eng verwandt mit 1 Thess 4,7f (1 Petr 1,2: »Auserwählte nach Vorherbestimmung in der Heiligung des Geistes« und 1 Thess 4,7f: »Berufen … Heiligung … sein Geist«). Wir können darin geprägten Sprachgebrauch frühchristlicher Missionare erkennen. An dieser Stelle ist kurz darauf einzugehen, was dem 1 Thess im Vergleich zu späteren Paulusbriefen noch fehlt. Noch kennt Paulus in diesem Stadium nicht das Bild von den Früchten des (Heiligen) Geistes, noch kennt er nicht das Dilemma von Röm 7, noch kennt er nicht das Bild von der Gemeinde als Leib Christi (1 Kor 12). Auch vom »Fleisch« (sarx) im Unterschied zum Geist (pneuma) redet 1 Thess noch nicht. Da 1 Thess auch von der Taufe der Christen nicht spricht, gibt es nicht die Verbindung von Taufe und Tod Jesu. Statt Wassertaufe und Tod Jesu ist wohl für Thessaloniki lediglich von einer Geisttaufe auszugehen (vgl. 4,8b). Laut 1,9f wird Jesus seine Rolle als Erlöser im Wesentlichen erst zukünftig wahrnehmen. Es besteht wohl ein organischer Zusammenhang zwischen der fehlenden Heilsbedeutung des Todes Jesu in 1 Thess und seiner Rolle als künftiger Fürsprecher. Die entscheidende Gabe in der Gegenwart ist der Geist. – Diese Beobachtungen bedeuten nicht zwingend, dass Paulus von dem, was »fehlt« oder »noch fehlt«, nichts gewusst habe. Es kann auch sein, dass er den Thessalonichern das schreibt, was sie begreifen können. Wie relativ derartige Aussagen sind, das zeigen im Übrigen auch Aussagen über die zukünftige Rettung noch in späten Briefen (Röm 5,9: »Wir werden gerettet werden durch ihn vom Zorn«). Die Brücke zum (späteren) 1 Kor ist wohl, dass laut 1 Kor 1,30 die Heiligung noch zu den Leitbegriffen der christlichen Ethik gehört (neben »Gerechtigkeit«). – Ganz im Sinne von Heiligkeitsethik beschreibt er in 1 Thess 4 das Handeln der Christen vornehmlich als »Sich-Enthalten von …«, also negativ abgrenzend. – Die Christen heiligen sich, indem sie Gottes Willen tun (vgl. Joh 17,19). Da die Christen erst kürzlich Bekehrte sind,
769 eignet sich die Heiligkeitsethik gut zur Ab- und Ausgrenzung, zur Markierung der Differenz. Die Perspektive ist die Unterscheidung nach außen hin (vgl. 4,5: »nicht wie die Heiden«). Innerhalb der hellenistischen Welt grenzt sich das Judentum schon seit jeher durch drei Elemente ab: durch Monotheismus, Sexualmoral und Eigentumsverständnis. Spuren des Kampfes um den Monotheismus sind immer wieder verbunden mit dem vulgär-philosophischen Kampf gegen die Zügellosigkeit (»Begierden«); denn das 8. und 9. Dekaloggebot lehren, weil das Wichtigste am Schluss steht, nicht zu begehren (Röm 7,7), und die griechische Bibel nennt die Götzenbilder enthymemata (Ausgeburten falscher Begierden). Bis heute redet man im Deutschen von »abgöttischer« Liebe, nämlich der maßlosen Liebe (wie) zu den Götzen. In 1 Thess 4,5 stößt der Leser bei Paulus auf diese Linie. Mit dem Monotheismus hängen auch die Konsequenzen in der Sexual- und Eigentumsmoral zusammen. Denn wo es nur einen Besitzer und Herrn gibt, sind alle anderen untereinander Mitsklaven oder Geschwister, jedenfalls darf keiner den anderen einseitig beherrschen oder ausbeuten. Die Konsequenz des Monotheismus ist daher die Gleichheit aller im Rahmen einer strengen Gerechtigkeit des Miteinanders. Keiner herrscht über den anderen, alles geschieht auf der Basis der Wechselseitigkeit. Die Abgrenzung von heidnischer Sexualmoral unternimmt Paulus in 4,3-5; von hier aus versteht sich auch die Abwehr der »Unzucht« (griech.: porneia) in 1 Kor 5f und nicht zuletzt im Aposteldekret Apg 15,20. Die Verbindung von Sexual- und Besitzethik legte sich auch durch die Abfolge des 6. und 7. Dekaloggebotes nahe. Zur traditionellen Verknüpfung dieser beiden typischen Sünden der Heiden vgl. CD 4,14 (drei Netze des Teufels: Unzucht, Reichtum, Befleckung des Heiligtums); TestXII Juda 18: »Hütet euch nun, meine Kinder, vor der Unzucht (griech.: porneia) und der Geldgier (griech.: philargyria), denn solches bringt weg vom Gesetz Gottes. Denn wer den beiden Begehrlichkeiten, die den Geboten Gottes widersprechen, dient, kann Gott nicht gehorchen.« Vgl. auch Röm 2,21; 1 Kor 5,10; 6,9f usw. – 1 Thess 4,4 steht überdies in besonders enger Beziehung zu 1 Petr 3,7 (Frau als »Gefäß« zu eh-
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770 ren; vgl. 1 Thess 4,4 Frau/Gefäß/Ehre) und zu Röm 1,24-26 (Entehren/Götzendienst/ehrlose [schändliche] Triebhaftigkeit; 1 Thess 4,4: Ehre/ Begehrlichkeit und Triebhaftigkeit/Unkenntnis Gottes). Auch hier liegt geprägte Sprache (wohl jüdisch-hellenistischen Ursprungs) zugrunde. Die Abgrenzung zum heidnischen Umgang mit Besitz vollzieht Paulus in 4,6.9 f. Besondere Affinität besteht zu Röm 1,24-29 (schändliches Begehren/Habgier). Zu 1 Thess 4,4: Das griechische Wort ktasthai »erwerben« heißt hier wohl »besitzen«. Denn nach jüdischen Vorstellungen ist der Ehemann (ba’al) zugleich Besitzer der Frau (auch in der Spannung von 1 Kor 6,15-20 und 7,4 geht es um eigentumsrechtliche Vorstellungen). Mit »Gefäß«, wie es wörtlich heißt, ist wohl der Leib gemeint (2 Kor 7; 1 Petr 3,7 nennt auch den Leib des Mannes so). Sind hier aramäische Vorstellungen nebst Sprachgebrauch ins paulinische Griechisch eingedrungen? Zu 1 Thess 4,8: Hier tritt ein Stück des urchristlichen Verständnisses vom göttlichen Gesandten zutage, wie es im JohEv auch Grundlage der Christologie ist. Der Bote trägt etwas von dem in sich, der ihn ausgesandt hat, und wer daher den Boten aufnimmt oder verletzt, handelt damit direkt gegenüber dem, der ihn gesandt hat. In der Person des Paulus trifft man damit direkt auf den Heiligen Geist, und so auf Gottes Weise, in der Welt zu sein. Die paulinische Heiligkeitsethik von 4,1-7 war wohl auch heidnischen Nichtchristen teilweise verständlich. Vgl. etwa Plutarch (Über die Bruderliebe, § 21): »Auch die Frau des Bruders, das heiligste unter allen Heiligtümern, sollen wir um ihres Mannes willen ehren und loben, ihren Kummer teilen, wenn sie sich vernachlässigt sieht, ihre Kinder wie unsere eigenen behandeln …« Die Situation der Thessalonicher Das Problem der Thessalonicher besteht darin, dass die Zeit vergeht, ohne dass Christus wiedergekommen ist. So laufen sie alle Gefahr, nicht zur messianischen Generation zu gehören. Sie haben nicht einfach mit der »Parusieverzögerung« Probleme, d. h. damit, dass Jesus noch nicht gekom-
Der erste Brief an die Thessalonicher
men ist. Ihre Schwierigkeiten entstehen an einem jüdischen und offenbar auch frühchristlichen Dogma: Selig zu preisen ist die »messianische Generation« und nur sie. Das sind Menschen, die das Glück hatten, den Messias oder seine zweite Ankunft zu erleben. Ps Sal 17,44: »Selig, wer in jenen Tagen leben wird und schauen darf das Heil Israels in der Vereinigung der Stämme«; 18,6: »Selig, wer in jenen Tagen leben wird und schauen darf das Heil des Herrn«; Sir 48,11 (vom wiederkehrenden Elia): »Selig, die dich sehen«; Sib 4,24; 4,192: »O selig der Mann, der zu dieser Zeit sein wird«; Lk 10,23. – Für die Ankunft des Messias: Simeon im Tempel mit dem Nunc dimittis (Lk 2,29-32); 4 Esra 4,51: »Glaubst du, dass ich leben werde bis zu jenen Tagen?« Syr Bar 76,5: »So geh hin und lehre das Volk, damit sie erfahren, dass sie in der letzten Zeit nicht sterben werden. Vielmehr sollen sie erfahren, dass sie in den letzten Zeiten leben werden.« 4 Esra 6,23: »Wer aber übrig bleibt aus alledem …, der wird mein Heil und das Ende der Welt schauen.« Sib 4,190: »Dann wird Gott selbst die Gebeine gestalten und die Sterblichen wieder aufrichten … Alle Gerechten werden wieder auf der Welt leben, indem ihnen Gott den Geist gibt und Leben zugleich und Gnade den Frommen. O glückselig der Mann, der zu jener Zeit sein wird.«
1 Thess 4,13-18: Die Endereignisse Die Abfolge der Endereignisse nach 1 Thess 4 ist wie folgt vorzustellen: a) Jesus ist gestorben und auferstanden. Die entschlafenen Christen leben im Himmel bei ihm. Sie gehören zu ihm und werden bei der Parusie, d. h. bei seinem zweiten Kommen (s. unter (c)), mit ihm vom Himmel herabsteigen. Das ist in 3,13 gemeint, wenn es heißt, Jesus werde wiederkommen mit allen seinen Heiligen. b) Von Gott her wird ein Befehl kommen, der Erzengel (Michael?) wird rufen, von Gott her wird eine Trompete ertönen; nach 1 Kor 15,52 werden dieses mehrere Trompetenstöße (von mehreren Instrumenten?) sein. Dieses alles sind klangliche Auftaktzeichen. – Zur Trompete vgl. 4 Esra 6,23: »Die Trompete wird laut erschallen; alle Menschen vernehmen sie plötzlich und erbe-
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Kapitel 4
ben.« Äth EsraApk p. 181: »Und danach wird man den Ton der Trompete hören. Der Erzengel Michael wird blasen, dann die sieben Erzengel, jeder auf seiner Trompete. Dann wird großer Schrecken sich verbreiten. Der Höchste wird auf seinem Thron sitzen …« c) Christus wird vom Himmel herabsteigen (und zwar mit seinen Heiligen, also wohl den verstorbenen Christen nebst seinen Engeln. Gott »führt« die entschlafenen Christen mit Christus »heran«. – Zum Erscheinen der Heiligen vgl. 4 Esra 6,23: »Dann erscheinen die Männer, die einst entrückt worden sind, die den Tod nicht geschmeckt haben seit ihrer Geburt.« Der Text lässt erkennen, dass die Heiligen, mit denen der Messias erscheint, ursprünglich Entrückte sind. In 1 Thess 4 sind es »die Christen«. Paulus stellt sich daher das Sterben eines Christen einer Entrückung ähnlich vor (wie bei Henoch und Elia; zu der Tradition der Entrückung vgl. auch den Tod Hiobs nach TestHiob). Der Satz 4,14 ist wohl Entfaltung von 3,13b; dazu vgl. Sach 14,5: »Und es wird kommen der Herr, mein Gott, und alle seine Heiligen mit ihm«; Didache 16,7 (identisch). d) Das erste Ereignis auf Erden ist dann die Auferstehung der Leiber der toten Christen (sie selbst waren ja im Himmel mit Christus zusammen). Es wird nicht gesagt, wie diese Auferstehung vonstatten geht. Es scheint nur die Gegenbewegung zu sein: Der Himmlische wird irdisch, die Irdischen werden himmlisch. e) Die auf der Erde lebenden Christen werden nicht sterben, sondern sich direkt dem herabsteigenden Christus entgegenbewegen. Der Ausdruck griech. eis apantesin heißt: Die Christen bewegen sich dem Herrn entgegen. Sie werden dabei entrückt. Dass sie verwandelt werden, steht nicht da; dies wird auch nicht über die »Heiligen« gesagt, die vom Himmel kommen. – Zum Vorgang vgl. über Tod und Martyrium von Henoch und Elia nach dem NikodemusEv (Tischendorf, 331): »… getötet werden … und nach drei Tagen auferstehen und in den Wolken entrissen werden, dem Herrn entgegen.« Es fällt auf, dass nicht nur hier, sondern auch unter c) die Henoch-/Elia-Tradition Pate steht für wichtige Details in 1 Thess 4. Auch das »Heranführen« von 4,14 hat seinen Ursprung in Aussagen über Entrückte; vgl. LAB 48,1: »Du wirst entrückt
771 werden … und dann werde ich euch heranführen, und dann werdet ihr den Tod schmecken …« f) Lebende und Auferweckte stoßen daher zum gleichen Zeitpunkt auf den Herrn. Damit beantwortet Paulus das alte Problem, ob denn irgendjemand einen zeitlichen Vorsprung vor dem anderen habe. Nein, sagt Paulus, alles geschieht im gleichen Augenblick. g) Offenbar ist dann die Zukunft Jesu Christi, der auferstanden Toten und der Gerechten im weiteren Sinne auf der Erde. Denn die apantesis ist das Einholen, das Entgegengehen und Mitnehmen auf die Erde. Die abschließende Auskunft »Wir werden immer mit dem Herrn sein« bezieht sich daher wohl auf die Erde. Für seine Leser/Hörer in Thessaloniki erreicht Paulus damit eine doppelte Tröstung: Er nimmt ihnen die Angst vor dem Tod und beseitigt ihre Sorge um die Verstorbenen. Diesem Anliegen folgt auch genau die Schlussformulierung »mit dem Herrn sein«: Die Zukunft wird nicht die Einsamkeit sein. Theologisches zu 4,13-18 Paulus hält an seine Gemeinde eine Trostrede, »… damit ihr nicht so traurig sein müsst wie die anderen Menschen, die keine Hoffnung haben«. Die anderen, das sind die Heiden; sie haben keine Hoffnung, weil ihre Götter tot sind; so formuliert der Apostel den Kontrast schon in 1,9: »zu dienen dem lebendigen und wahren Gott«. Dieser Gott hat sich erst kürzlich als lebendig erwiesen, nämlich in der Auferweckung Jesu. Tote lebendig machen, das kann nur ein Gott, der selbst lebt. Warum galten die heidnischen Götter als tot? Weil sie sich in toten Statuen verehren ließen. Der Gott Israels hat kein Bild oder Abbild, also ist er lebendig. Und er teilt dieses Leben mit. Schon in 1,10 wird die Hoffnung, die die Gemeinde haben darf, damit begründet, dass Gott Jesus von den Toten auferweckt hat. Ihn darf die Gemeinde erwarten, denn er rettet aus dem kommenden Zorngericht. Und genauso beantwortet Paulus auch die Sorgen der Gemeinde in 4,14 (gestorben und auferstanden). Die Hoffnung der Christen ist daher eine begründete. Das Problem, das Paulus in der Gemeinde vorfindet, sieht so aus: Immer mehr Christen der ersten Stunde sterben weg, und die Frage ist, was
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772 mit diesen dann sein wird, denn sie meinten doch, zur messianischen Generation zu gehören. Denn immer, wenn ein Judenkind geboren wird, sagt man zu ihm: Mögest du die Tage des Messias erleben! Und in der paulinischen Gemeinde gab es viele, die meinten, sie dürften die Wiederkehr des Messias noch erleben. Damit stoßen wir auf eine Eigenart des Christentums in dieser frühen Gemeinde. Der Messias Jesus Christus war zwar schon da. Aber das Entscheidende, die wirklich messianische Wende, erwartete man von seiner Wiederkunft. Daher ist auch nach 1,10 die Rettung aus dem Zorn wohl erst in der Zukunft angesetzt. Später, in Röm 5, setzt Paulus diese Rettung sehr viel stärker schon zum Kreuz in Beziehung. Aber jedenfalls lag alles an der Sehnsucht der Gemeinde, der Herr möchte doch bald wiederkommen. In der neueren Theologie hat diese Nicht-Erfüllung der Hoffnung auf baldiges Wiederkommen Jesu zu ganz merkwürdigen Verkrustungen geführt. Die einen sagen, Jesus habe sich schlicht geirrt, und das Christentum sei mit der Kreuzigung deshalb endgültig zu Ende gewesen. Albert Schweitzer hat diesen Standpunkt vertreten. Andere Theologen sagen, die so genannte Parusieverzögerung, also dass die Wiederkunft Jesu länger und länger ausblieb, habe die Sakramente als Ersatz für die unerfüllte Hoffnung geschaffen, dazu die Kirche inklusive aller ihrer Verweltlichung. Alle diese Theologen gehen davon aus, dass die Erwartung des Zeitpunkts in naher Zukunft das Wichtigste am Christentum war. Das kann ich nicht finden; denn Gottes Nähe wird so vielfältig zugesagt, persönlich und physisch (in den Wundern), zeitlich, aber auch räumlich, denn Jesus sitzt mit den Sündern zusammen und ist zu Gast bei Zachäus. Daher ist die zeitliche Nähe in baldiger Zukunft gar nicht das erste Problem gewesen. Gemeinden, die viel leiden mussten, sehnten sich ohnehin nach der Wende, wann immer sie kommen würde. Und in dieser Hinsicht sind sich Juden und Christen nicht nur im 1. Jh. n. Chr ähnlich. In der jüdischen 4. EsraApokalypse heißt es: »Wie lange noch, wann soll das geschehen? Unser Leben ist ja so kurz und elend. Glaubst du, dass ich leben werde bis zu jenen Tagen?« Mit dieser letzten Frage sind wir wieder bei dem Problem der Gemeinde in Thessaloniki.
Der erste Brief an die Thessalonicher
Was würde geschehen, wenn man die Wiederkunft nicht erlebte? Die Frage war nicht das Wann, sondern ob die benachteiligt werden, die jetzt schon sterben. Die Antwort ist: Die Toten werden nicht benachteiligt sein, sondern auferstehen. Die Lebenden müssen (jedenfalls nach diesem Text) nicht sterben. Das Ziel ist sehr stark gemeinde-zentriert gedacht: »mit dem Herrn sein«. Dieses Ziel wird in der Offb als das himmlische Jerusalem dargestellt. Auch hier gibt es eine jüdische Lösung, die der paulinischen ganz ähnlich ist: Der Prophet Esra fragt den Engel über das Ende: »Aber sieh, Herr, du bist denen nahe, die am Ende sind. Aber was sollen die machen, die vor mir sind, oder wir oder die, die nach uns sind? Und er sagte zu mir: Einem Kranz werde ich mein Gericht ähnlich machen. So wie die Letzten nicht langsamer eilen müssen, so auch die Früheren nicht schneller« (4 Esr 5,41f). Der Sinn ist hier: Keiner wird der Erste, keiner der Letzte genannt werden; das Gericht betrifft alle gleichmäßig. Wie beim Kreis alle Punkte des Kreises dem Mittelpunkt gleich nah und gleich fern sind, so spielt beim Gericht das Früher oder Später der Existenz auf Erden keine Rolle. Das, was bei Paulus die Auferstehung bewirkt (den Ausgleich zu den Lebenden), bewirkt in der jüdischen Schrift die Anordnung »im Kreis«. Aber auch andere so genannte Apokalypsen geben gerne eine gegliederte Ereignisfolge, und sie wollen so sagen: Gott gibt auch dem Ziel und Ende der Geschichte eine Ordnung. Alles, was in dieser Hinsicht kommen wird, ist begrenzt. Nur Gottes Wohnen mit den Menschen wird unbegrenzt sein. Der Hauptakzent liegt für Paulus hier in der Auferweckung der Toten, und diese wird auch im Frühjudentum gedacht als Herabsteigen Gottes zu den Toten: »Es gedachte aber Gott, der Herr, seiner Toten von Israel, die entschlafen waren im Staub der Erde, und er stieg herab zu ihnen, ihnen sein Heil als frohe Botschaft zu verkünden« (Ps.-Jeremia bei Justin, Dial 72, ebenso bei Irenäus). Gott wird mit der Konsequenz der Gabe des Heils und des Lebens zu den Toten herabsteigen. Er wendet dadurch ihr Los. – Auch das Herabsteigen Jesu in den Bereich des Todes im so genannten Descensus (»Höllenfahrt Jesu«) zu Ostern kann man mit dieser jüdischen Hoffnung besiegeln. Daher könnte man von zwei Spu-
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Kapitel 5
ren dieser jüdischen Hoffnung im Neuen Testament sprechen: in 1 Thess 4,16 (herabsteigen … werden auferstehen) bei der Auferweckung der toten Christen und in der Descensus-Literatur beim Herabsteigen Jesu in das Reich der Toten, um sie zu befreien. Mit 1 Kor 15 oder mit 2 Thess lassen sich diese verschiedenen Abläufe gar nicht recht zur Deckung bringen. Paulus entwirft in 1 Kor 15, 1 Thess 4 und 2 Thess 2 (sofern echt) drei durchaus verschiedene Szenarien. Seine Darstellungen sind also konkret und doch nicht konkret. So viel kann man sagen: Es sind Bilder für das Erhoffte, das noch niemand gesehen hat. Aber es sind nicht Bilder für irgendetwas, sondern die Personen (die Christen, der Herr) sind als Personen dieses Dramas nicht symbolisch, sondern sehr real. Und die Auferstehung bedeutet alle Male konkret Ende des Todes. Zum Verhältnis von 1 Thess 4 und 5 Die beiden Stücke 4,1-18 und 5,1-11 sind dem Material nach verschieden, aber der Intention nach eng verwandt: Beide enden parallel (4,18: einander zureden) entspricht 5,11 (einander zureden und aufbauen). Beide blockieren die direkte Naherwartung (was auch 2 Thess laut 2,2 tut). In Kap. 4 erreicht Paulus dieses Ziel durch seine apokalyptische Ereignisordnung, die er deskriptiv verwendet, in Kap. 5 erreicht er das Ziel durch die Aufhebung und Neudeutung des Wachsamkeitsethos. Das geschieht speziell in 5,9-11 (dazu s. u.). Der zweite Text führt deutlich über den ersten hinaus, denn im zweiten Text wird das christliche Verhalten insgesamt aus der apokalyptischen Anspannung herausgehoben. Da es insbesondere nach V. 8 (Glaube, Liebe, Hoffnung) um das Verhalten insgesamt geht, baut Paulus eine Brücke in die Zeit nach der fiebrigen Enderwartung. Er zeigt sich wieder einmal als Realist und Pragmatiker.
1 Thess 5,1-6: Licht und Finsternis – Tag und Nacht Die Verse 4-6 werden beherrscht vom Kontrast zwischen Finsternis/Nacht und Licht/Tag. Dabei steht die Finsternis für die Zeit der Gegenwart, Licht und Tag aber sind wie im Alten Testament Bild für die Zukunft der Offenbarung Gottes
773 (»Tag des Herrn«). Der jüdische Tag beginnt mit Abend und Nacht, daraus wird dann das Licht des Tages geboren. Jesus erlebt dieses jeden Morgen, wenn er in die Wüste geht und betet. Dieses Aufstehen zum Beten in der Frühe des Tages nennt die Bibel »wachen«, daher kommt der Ausdruck »Vigiliae« im kirchlichen Stundengebet (Psalmengesang ganz früh morgens), und daher schon die biblische Wendung »Wacht und betet!« In der Alten Kirche erwartete man daher die Wiederkunft Christi speziell im Morgengrauen der Osternacht. Jedenfalls aber war es der Wunsch, dass der Herr, wenn er käme, jemanden im »frommen« oder betendem Zustand fände. Denn das Gebet ist die wirksamste Weise, etwas von Gott in sich zu haben, sodass man zu Gott zugelassen werden kann. Die unverträgliche Alternative Licht/Finsternis wird hier aber auch ethisch verstanden. Dadurch entsteht ein Wortspiel. Einerseits steht die Finsternis für die Unklarheit und Unschärfe der gegenwärtigen Welt und entsprechend der Tag des Herrn für die Klarheit und alles Offenbarsein danach. Andererseits steht Finsternis für die schlimmen Werke und der »Tag« für die hellen Werke der Gerechtheit. Je nach der grundsätzlichen Zugehörigkeit machen die Werke eines Menschen sein verborgenes Inneres und seinen Standort deutlich erkennbar. Hier gilt nur ein Entweder–Oder. Dass dieses so ist, dass die Werke des Menschen entweder zum Licht oder zur Finsternis gehören, sagt etwas über die Radikalität, mit der hier argumentiert wird. Werke sind Zeichen, die das Sehen bestimmen. Überall dort, wo die Bibel vom Sehen spricht, herrscht Dualismus, und zwar zwischen Licht und Finsternis, zwischen Tag und Nacht, Gut und Böse, Blind oder Sehend. Ein Mittleres gibt es nicht, nichts Lauwarmes, sondern nur Heiß oder Kalt. Denn Paulus ruft auf zur grundsätzlichen Entscheidung für einen Weg (protreptisch). Zu 1 Thess 5,2-10: Material aus Q: Paulus stützt sich in diesem Abschnitt so intensiv wie sonst nicht auf Material, das sonst aus der so genannten Logienquelle (Q) bekannt ist: »Der Tag des Herrn kommt«: Mt 25,1-13 (Nacht/schlafen/wachen/Tag); Mt 24,42-51 (wachen/Tag/Dieb kommt/berauschen); 2 Petr 3,10 (Tag des Herrn kommt wie ein Dieb).
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774 »Der Tag des Herrn kommt wie ein Dieb in der Nacht« (V. 2): Das Gericht wird eine unangenehme Überraschung sein. Das Bild vom Dieb ist nicht gerade vertrauenerweckend und zeigt in jedem Fall die begrenzte Geltung der Meinungen über den »nur lieben Gott«; vgl. Mt 24,4251 (wachen/Tag/Dieb kommt/berauschen); Lk 12,39-46 (Dieb kommt/berauschen); 2 Petr 3,10 (Tag des Herrn kommt wie ein Dieb); Offb 3,3 (wachen/kommen wie ein Dieb); 16,15 (kommen wie ein Dieb/wachen). »Seid nicht in der Finsternis, damit euch nicht der Tag wie ein Dieb überrascht« (V. 4): Das nach V. 2 Unvermeidbare scheint nun dort vermeidbar, wenn die Angeredeten nicht zur Finsternis gehören (Wortspiel: Der »Tag« ist jetzt nicht mehr der Tag des Herrn, sondern als Licht der Finsternis entgegengesetzt. Das wird moralisch verstanden. »Wir gehören nicht zur Nacht« (V. 5b.7): vgl. Mt 25,1-13 (Nacht/schlafen/wachen/Tag). »Also wollen wir nicht schlafen« (V. 6.7.10): vgl. Mt 25,1-13 (Nacht/schlafen/wachen/Tag). »Kinder des Lichts« und »Kinder des Tages« (V. 5). Der Ausdruck ist aus Lk 16,8 geläufig. »Nicht schlafen, sondern wachen und nüchtern sein« (V. 6). Die Verbindung von Wachen und Nüchternheit ist der von Schlafen und Betrunkensein entgegengesetzt. Das geistliche Schlafen wird geahndet. »Wir wollen nüchtern sein« (V. 8): vgl. 1 Petr 1,13 (nüchtern); 4,7 (nüchtern); 5,8f (nüchtern und wachen). Die Zuordnung von Rausch und Nacht bedeutet, dass eine der wesentlichen Ursachen für das Nicht-Wachenkönnen der Rausch ist (V. 7). Die geistliche Waffenrüstung in V. 8 entspricht auch Eph 6,14-18. Panzer der Treue (des Glaubens): vgl. Mt 24,4251; Lk 12,39-46. »Wachen« und »Schlafen« bleibt auch in V. 10 Opposition, doch diese Opposition wird vor Missverständnissen geschützt: Schlafen ist nichts Schlimmes, dass im Gegensatz zum Wachen böse wäre. Ähnlich geschieht es in Mt 25,5a: Das Schlafen ist nicht das Vergehen der dummen Mädchen; denn alle schliefen. Der Fehler ist ihr Nicht-bereit-Sein. Bei Paulus wird Wachen/Schlafen relativiert durch Teilhabe an Jesu Sühnetod (1 Thess 5,10).
Der erste Brief an die Thessalonicher
Fazit: Es handelt sich um älteste Jesus-Überlieferung. Die geistliche Bedeutung des Wachens wird nach sehr schmalen Anfängen im Judentum (Sir) vor allem von Jesus entdeckt und zum Thema vieler Gleichnisse gemacht. Das Wachen tritt für Jesus an die Stelle fast jeglicher Kasuistik, um sowohl Freiheit (von Kasuistik) als auch strengste Bindung in einer neuen Sensibilität für Gottes Willen darzustellen. Denn der Wache fragt ständig nach Gottes Willen. Paulus teilt damit in besonderer, kaum beachteter Weise ein Grundanliegen Jesu. Zudem ist Wachsamkeit synonym mit der treuen Bewahrung der Worte Jesu (parallel zum »Achten auf sich selbst« vgl. Didache 16,1; Lk 21,34.36; Mk 13,33). Die wörtliche Übereinstimmung mit Q muss historisch vermittelt sein. Sie zeigt sich auch in 2,15f; 1,9f (Sklaven erwarten ihren Herrn). – Die Tradition vom Wachen findet sich auch im Corpus Petrinum und in Offb; sie fehlt im Corpus Iohanneum und in Hebr, Jak und Jud. Die Texte, die diese Tradition mehr oder weniger teilen, zeichnen sich durch eine stärker dualistische Nebenströmung aus. Das gilt besonders für das MtEv und für Lk 16. Zu 1 Thess 5,3: Bild der Wehen: Immer wieder wird das Bild der Wehen apokalyptisch verwendet; jedoch ist der Vergleichspunkt von Mal zu Mal verschieden: 4 Esra 4,40f (wenn die gesetzte Zeit um ist, kommt notwendig das Ende); Mk 13,8 (so wie Wehen die Endphase der Schwangerschaft irgendwann einen Anfang haben, wird es auch mit den Ereignissen der Endzeit sein); Röm 8,22 (in der Endzeit gibt es Wehen, die zwar in sich unerfreulich sind, die aber auf ein freudiges Ereignis vorbereiten). Auch die ganze Schöpfung ist an diesen Wehen beteiligt – in solidarischer Erwartung); Offb 12,3: Der Geburt des Messias aus dem Gottesvolk gehen Wehen voraus. Das Schreien und Leiden des Gottesvolkes ist eine Art Vorzeichen. Zu 1 Thess 5,8: Geistliche Waffenrüstung: Eng verwandt mit 1 Thess 5,2.6.8 ist Eph 6,13-14 (»der böse Tag« entspricht dem »Tag des Herrn«; anziehen, Brustpanzer, Glaube, Helm, Rettung, Finsternis, nicht schlafen/wachen). Gemeinsam auch: Das Ende wird durch militante Auseinandersetzung geprägt sein. Besonderheiten von
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1 Thess 5: Liebe, Hoffnung. – In 1 Thess ist das Wachen durch Glaube/Liebe/Hoffnung umgedeutet; es fehlt das Gebet. In Eph 6 wird der Widerstand durch die Macht des Gebets machtvoll gestärkt (Eph 6,17f: Gebet und Geist, Schwert und Geist). In beiden Texten – und nur hier innerhalb der Tradition der Waffenrüstung – wird die Tradition der Rüstung verknüpft mit der vom Wachen/nicht Schlafen. Der Anlass zu dieser Verknüpfung ist zunächst ein praktischer: Nur Wachende sind bekleidet, die Schlafenden müssen sich beim Aufstehen erst anziehen. Besonderheiten von Eph 6: Stehen, umgürten, Gerechtigkeit, Füße, Schild, Schwert und Geist. Eph 6 verbindet die Wachsamkeit mit der besonderen, inspirierten Rede der Verfolgten (Eph 6,18f und Lk 21,5 ff; Mt 10,20). In Eph 6 wird auch die Gegenpartei genannt (V. 12: Mächte, Gewalten, finsterer Weltherrscher, der »Böse«). Im Unterschied zu 1 Thess 5 spielen die verbalen Elemente, also das mündliche Zeugnis, speziell die inspirierte Rede der Verfolgten, eine größere Rolle (Evangelium V. 15.19; Wort Gottes V. 27; Gebet V. 18). Vgl. ferner: Röm 13,11-13 (anziehen V. 12b). – Alttestamentliche Vorstufen: Jes 59,17 (von Gott, Gerechtigkeit als Panzer, Helm des Heils, Mantel der Rache); SapSal 5,18f (Gerechtigkeit, Gericht, Heiligkeit, Zorn). Zur geistlichen Waffenrüstung vgl. 1 Sam 2,4 (LXX): Die Schwachen hat Gott mit Kraft umgürtet; vgl. Ps 17,33 (LXX); LAB 27,1 (durch geistliche Rüstung verwandelt in einen anderen Menschen); LAB 27,13; Jdt 13,17 (Gottes Kraft bei der Witwe). Mit Heiligem Geist ist die Rüstung verbunden in SapSal 5,23; LAB 36,2; Ri 6,34b; Jes 11,2-3. Zu 1 Thess 5,15: Es besteht eine enge Beziehung zu Röm 12,9-21: 1 Thess 5,15 (seht zu, dass keiner jemandem Böses mit Bösem vergelte) und Röm 12,17 (keinem Böses mit Bösem vergeltend); 1 Thess 5,15 (sondern immer das Gute) und Röm 12,9 (das Böse mit dem Guten); Röm 12,21 (besiege mit dem Guten das Böse); 1 Thess 5,15 (verfolgt es gegeneinander und gegen alle) mit Röm 12,14.21 (verfolgend); 1 Thess 5,125 (freut euch) mit Röm 12,15 (sich zu freuen mit denen, die sich freuen). Ein Vergleich mit der Paränese für Neubekehrte
in der jüdisch-hellenistischen Schrift ›Joseph und Aseneth‹ zeigt, dass die Regel, Böses nicht mit Bösem, sondern mit Guten zu vergelten, zum Grundbestand dessen gehörte, was man von Neubekehrten erwartete. Das lässt sich nun an 1 Thess regelmäßig beobachten (ebenso an 1 Petr und Röm 12): Die moralischen Forderungen gerade gegenüber Neubekehrten entsprechen sehr genau der jüdischen Proselytenmoral. Die Besonderheit des Christentums lag nicht gerade auf diesem Gebiet. Und auch dieses erkennt man: Die Proselyten/Neubekehrten werden nicht sogleich mit der ganzen Fülle der Torahgebote konfrontiert, sondern mit ethischen Grundregeln.
1 Thess 5,16-24: Zusammenfassung »Damit ihr ohne Tadel seid, wenn unser Herr Jesus Christus wiederkommt«. Dieser Satz aus der so genannten peroratio, der pointierten Zusammenfassung alles dessen, was beherzigenswert ist, am Schluss des Briefes, fügt den Abschnitt in die Adventszeit ein. Die Wiederkunft Jesu Christi wird nicht nur ein Wiedersehen sein, sondern eine Gegenüberstellung. Er, der Mensch geworden ist, damit wir ihm ähnlich würden, wird uns mit sich selbst vergleichen: Wieweit sind wir ihm wirklich ähnlich geworden? Alles wird offenbar werden. Und wenn es stimmt, dass alle Aussagen über die »Zukunft«, die das Neue Testament macht, auch einen Sinn in der Gegenwart haben, dann sind wir auch jetzt und heute dazu aufgerufen, diese Ähnlichkeit zu erstreben. Über das »Wie« macht Paulus hier recht konkrete Angaben. Als Allererstes nennt er die Freude. Das, was Paulus in solchen Listen zuerst nennt, ist ihm immer fast das Wichtigste; das Allerwichtigste steht am Schluss, also hier in der Mahnung in V. 22: »Von allen Verkleidungen des Satans haltet euch fern!« Man könnte hier auch von »Gestalten des Bösen« reden, aber theologisch wichtig ist vor allem dieses: Die Freude ist das klassische Gegengift gegen das Böse oder den Bösen. Oft haben die Weisen gesagt: Verbrechen und Fehlentwicklungen kommen immer aus mangelnder Freude. Es fällt vielmehr auf, dass Paulus an zwei Stellen, in 1 Thess 5,16 und in Phil 4,4, die Freude befiehlt. Paulus versteht den zentralen Gehalt
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776 dieses Wortes anders als wir. In seinem Sinne heißt es in Ps 76,4: »Ich dachte an Gott und freute mich.« So hat der Mensch Anteil an dem, der ihm vom Himmel her begegnet. In den um 130 n. Chr. entstandenen »Oden Salomos«, die man eher »Christus-Lieder« nennen sollte, eine Brücke in die späteren Jahrhunderte christlicher Mystik, ist Freude ein zentrales Thema. »Kommt alle her, die ihr in Bedrängnis wart, und lasst euch Freude schenken, gewinnt euch selbst durch Gottes Gnade, nehmt das unsterbliche Leben an!« Gottes Gnade, Freude und ewiges Leben stehen hier parallel. Gott selbst als Freude finden wir in Ode 7,2: »Meine Freude ist der Herr, mein Weg führt zu ihm, und mein Weg ist schön.« Oder in Ode 23,1: »Die Heiligen können sich freuen. Sie allein dürfen Freude anziehen wie ein Gewand. Gott begnadet seine Auserwählten.« Freude ist damit die wesentliche, die entscheidende Gabe Gottes, erlösende Anteilhabe an ihm selbst. Eine besondere Rolle spielt unter diesem Aspekt auch die Freude am Werk. Sie ist sozusagen der Glanz, den Gott dem Werk schenkt, und, biblisch-jüdisch gedacht, dem Sabbat als der Krönung der Werke vergleichbar, denn jeder Sabbat ist ein Sechzigstel der ewigen Seligkeit. Zunächst gilt hier die Freude Gottes selbst an seinem Werk: »Ich habe Freude an ihnen und schäme mich ihrer nicht. Denn sie sind mein Werk, sie sind da, weil meine Gedanken machtvoll Gestalt angenommen haben« (Od Sal 8,17). Sehr beachtlich ist, wie im 1. Clemensbrief von hier aus die Thematik der Rechtfertigung gehandelt wird. Gott hat die Welt zur Freude erschaffen, und da Welt griechisch »Kosmos« heißt, liegt auch schon in diesem Wort etwas von der Freude über die Schönheit der Welt. Ebenso tut nun auch der Christ Werke, um sich über das vollbrachte Werk freuen zu können (1 Clem 33,1b-3a.7, in: Berger/Nord, 704). Schon in den Oden Salomos ist Freude mit Licht verknüpft: »Die Freude der Seligen kommt aus ihren Herzen, ihr Licht geht aus von dem, der in ihnen wohnt« (Od Sal 32,1), oder ebenfalls dort: »Wer sich nach dem Sonnentag gesehnt hat, freut sich, wenn die Sonne da ist. So ist der Herr meine Freude. Denn der Herr ist meine Sonne, und seine Strahlen haben mich aufgeweckt, sein Licht hat alle Finsternis vor meinen Augen vertrieben.« In diesem Text sind viele Stichwörter
Der erste Brief an die Thessalonicher
dessen enthalten, was später früh-zisterziensische Mystik und Liturgie bestimmt. Denn die aufgehende Sonne ist jeden Morgen Zeichen für den, der Licht vom Licht ist. Das »leuchtende Antlitz Gottes« ist uns als Siegel aufgedrückt (Wilhelm von Saint-Thierry), und dieser Gott ist die Freude der wahrhaft Frohen und die Seligkeit der Seligen. Er spricht vom Jubel des seligen Volkes Gottes, das den Jubel kennt, das im Licht des Antlitzes Gottes lebt. Wenn die Gnade aufblitze, dann ruhe solche Freude auf sicherem Glauben, und so kommen ewiges Leben und Freude zustande, die dem, der sie hat, keiner rauben wird. Dem entspricht, wenn Bernhard v. Clairvaux sagt: »Die Heiterkeit (serenitas), die wir erhoffen, entspricht der Leichtigkeit (facilitas), mit der wir erschaffen wurden.« Beeindruckend an diesem Satz ist nicht nur, dass die spielerische Freiheit des Schöpfers auch den Geschöpfen verheißen wird. Beeindruckend ist auch die Entsprechung von Anfang und Ende. Am Ende hat Gott allen das mitgeteilt, was er selbst von Beginn an austeilen will. An 2 Kor 1,24 wird erkennbar, dass Paulus etwas kennt, das hier und jetzt über den Glauben hinausgeht: die Freude. Wenn Paulus zur Freude der Gemeinde beiträgt, dann ist das wohl so zu verstehen, dass der eine Partner sich über den anderen freut, und der sich darüber wiederum freut. Im anderen erkennt man sich als erlöst wieder. So geht es um eine unendliche gegenseitige Spiegelung.
1 Thess 5,19: »Löscht den Heiligen Geist nicht aus!« Feuer ist als Bild für Gottes Geist geläufig; vgl. Apg 2,3 (Zungen wie von Feuer); Num 11,25; Lk 12,49 (»Feuer bin ich gekommen auf der Erde zu entzünden. Ach, wäre es doch schon entfacht!«). Zum Verständnis muss man daher nicht erst hellenistische Stellen bemühen, nach denen die Seele »warm und feurig« ist (Plutarch, Or 17); denn das betrifft nur die Seele, aber nicht das von Gott hinzugegebene Feuer. Allerdings sprechen die hellenistischen Texte vom Auslöschen bzw. Ersticken des Feuers. Doch nur bei der Pythia kann der Hauch des Gottes in die Seele eines Menschen gelangen, in der Pythia erlöschen und seine Kraft
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verlieren (Plutarch, Über das Nachlassen der Orakel, 40). Was bedeutet die Bitte des Apostels in 5.19 konkret? Vermutlich geht es um verbale Äußerungen. Prophetie und Gebet werden in breiter Tradition und eindeutig auf den Heiligen Geist zurückgeführt. Wahrscheinlich meint Paulus auch Zungenreden, das ja, wie 1 Kor 14 dann zeigt, in seinem Bestand (auch durch die paulinischen Anordnungen daselbst) durchaus gefährdet war. Immerhin ist auch bei Lukas Zungenreden als Wirkung des Heiligen Geistes aufgefasst (Apg 2,4; 10,44-46). Für die anderen Charismen nach 1 Kor 12 ist der Heilige Geist (der ja auch sonst bei den Charismen nicht vorkommt) eher der Transporteur, der Überbringer, als dass er substantiell mit ihnen identisch wäre. – Aber warum sollte jemand den Geist auslöschen wollen? Gab es Menschen, die aus Gründen der Ordnung und um eine zeitliche Dauer der Gottesdienste nicht weiter zu strecken, schon in Thessaloniki so reagierten wie Paulus später in Korinth? Vielleicht hat sich Paulus auch in dieser Frage gewandelt.
1 Thess 5,23: Geist, Seele, Leib Paulus vertritt teilweise ein trichotomisches (dreiteiliges) Menschenbild, in dem Pneuma
nicht die direkt von Gott geschenkte übernatürliche Gabe bedeutet, sondern das Innerste des Menschen. Diese Stellen sind zumindest 1 Kor 2,11; 5,3.4; 7,34; 2 Kor 2,13; 7,1 und hier 1 Thess 5,23. – Das heißt: An diesen Stellen ist »Pneuma« nicht der Heilige Geist Gottes, sondern das innerste Herz des Menschen, der Ort, das Organ, mit dem der Mensch den Geist Gottes aufnehmen kann. So kommt dann Gottes Pneuma zum menschlichen Pneuma. Vgl. die Formeln für den brieflichen Schlusssegen in 1 Petr 5,10; Hebr 13,2 und hier 1 Thess 5,23: Gott + Genitiv (Frieden/Gnade) + Optativ: »Der Gott des Friedens heilige euch ganz und gar …«
1 Thess 5,26: Grüßen mit heiligem Kuss Das Küssen ist – wie in der Auslegung des Hohenliedes Salomons – ein Akt, in dem die Christen einander göttliches Leben, Heiligen Geist, mitteilen. Die allegorische Auslegung des Hohenliedes sieht in dem Kuss das Zeichen der Zuwendung Gottes. Im frühen Christentum wird diese Metapher ritualisiert. (Das spätere Sakrament des Brautgemachs [Aufhebung der Trennung zwischen Engeln und Menschen] wird dieses fortsetzen). – Der heilige Kuss ist kein Versöhnungskuss, sondern Austausch des Atems.
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Der zweite Brief an die Thessalonicher
Kommentare: Siehe wie zu 1 Thess. – Ferner: Theodoret v. Kyros (5. Jh.). – C. Spangenberg (1557). – A. Landreben (1713). – F. X. Maßl (1843). –
A. Bisping (1858). – W. Lueken (1907). – A. Schulz (1967). – W. Trilling (1980). – W. Marxsen (1982).
EINFÜHRUNG Einleitungsfragen Der 2. Brief an die Thessalonicher ist ein ganz besonderes Schriftstück. Einerseits bringt er einen Ablauf der Endereignisse, den wir sonst von Paulus nicht kennen. Aber darf der Brief deswegen nicht von Paulus sein? Zum anderen ist er dem 1 Thess streckenweise sehr ähnlich. Daher könnte man vermuten, Paulus habe ihn kurz nach dem 1. Brief geschrieben, aber mit anderer Zielsetzung, denn jetzt soll die Wiederkunft Christi noch lange nicht sein. Hat Paulus sich gegenüber dem 1. Brief korrigiert? Oder war es gar umgekehrt: War der 2 Thess ursprünglich und der 1. der sekundäre? Und sind diese Unklarheiten, wie auch immer sie gelöst werden, Gründe, 2 Thess Paulus abzusprechen? Ich bin der Meinung, dass 2 Thess nichts Unpaulinisches enthält und eine verbesserte Auflage des 1 Thess ist, vielleicht Wochen später geschrieben. 2 Thess präzisiert das Datum der ohnehin ungewissen Ankunft Christi: jetzt jedenfalls nicht. So warnt 2 Thess 2,2f: »Lasst euch, darum bitten wir, nicht so schnell erschüttern, dass ihr vor Angst und Schrecken den Verstand verliert. Es soll da angeblich ein Wort des Heiligen Geistes, eine Bemerkung von uns oder sogar einen Brief geben, aus denen man entnehmen kann, dass der Tag des Herrn schon vor der Tür steht. Lasst euch durch nichts und niemanden täuschen. Bevor das Ende kommt, müssen erst viele untreu werden. Und dann muss auch noch erst der Widersacher, der Erzböse, der Verderber offenbart werden.« Die Frage wurde stets gestellt: Ist der hier genannte Brief vielleicht 1 Thess? Aber davon, dass der Tag des Herrn direkt vor der Türe steht, findet sich in 1 Thesss auch nichts. Denn das Bild vom Dieb in der Nacht meint eher die Plötzlich-
keit als die unmittelbare Nähe innerhalb der nächsten Monate. So bleibt beides richtig: a) die Warnung vor falscher »gefühlter Sicherheit« in 1 Thess 5,3 mit der Illusion, man könne sich im Ernstfall noch vorbereiten, sowie b) die zeitlich gestreckte Enderwartung von 2 Thess 2,2, als sei der Tag des Gerichts schon morgen. Denn erst muss ja noch die in 2,3-11 geschilderte Kette der Endereignisse kommen. Wie keine andere Liste außerhalb der Offenbarung des Sehers Johannes hat sie das Geschichtsbild der abendländischen Apokalyptik bestimmt. Der Versuch, aus den abgelehnten Positionen in 2 Thess ein einheitliches Bild der »Gegner« zu rekonstruieren, könnte durchaus zu einem einheitlichen, in sich stimmigen Ergebnis führen: Es könnte sich um Christen synoptischen Typs handeln (vgl. zu 3,8). Die Affinität des 2 Thess zu 2 Petr weist im Übrigen auf den Apostel Simon Petrus (s. zu 2 Petr). Datierung Für die beiden Thessalonicherbriefe und 2 Petr sind auf jeden Fall frühe Stadien der Missionsgeschichte anzunehmen. Das habe ich für 1 Thess genau begründet. Auch das Missverständnis bezüglich des Termins der Parusie in 2 Thess und 2 Petr ist ein typisches Anfangsproblem. Daher: 50-52 n. Chr. Mein Argument ist hier eines der historischen Psychologie, denn das Material dazu liefern Aufbrüche von Naherwartung innerhalb der Kirchengeschichte. Diese sind häufig mit umwälzenden bzw. epochemachenden Neuerungen verbunden. Gerade in den Anfangsjahren ist jeweils die Naherwartung besonders intensiv. Später gewöhnt man sich an das Ausbleiben der Parusie.
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Der zweite Brief an die Thessalonicher
Beispielsweise sei an die Naherwartung der Reformatoren erinnert (M. Luther, A. Osiander), die bald ganz verschwindet. Bei amerikanischen Sekten und Freikirchen mit intensiver Naherwartung ist das epochemachende Ereignis jeweils die Bekehrung des Einzelnen und der Protest gegen die Großkirchen; es ist also hier eher die Massivität der Andersartigkeit. Vgl. im Übrigen K. Erlemann, Naherwartung und Parusieverzögerung im Neuen Testament. Ein Beitrag zur Frage religiöser Zeiterfahrung, 1995. Eschatologie in 1 Thess und 2 Thess Ein Vergleich der Eschatologie in 1 Thess und 2 Thess legt eine gemeinsame paulinische Urheberschaft eher nahe. In beiden Fällen wird das jeweilige Problem mit dem Instrument der »Abfolge der Endereignisse« (griech.: tagma) gelöst, in 1 Thess 4,14-17 und in 2 Thess 2,7-12. 1. In 1 Thess ist die Lösung christozentrisch: Wenn Jesus wiederkommt, wird jeder dabei sein; in 2 Thess ist sie antichristologisch: Der Sohn des Verderbens wird auftreten und besiegt werden. 2. 1 Thess 4 geht auf zweifelnde Menschen in ihrer Heilssehnsucht zu, diese Sehnsucht wird bejaht; 2 Thess 2 gilt der Warnung gegenüber unsicheren Menschen vor der Irreführung. 3. In 1 Thess steht das Problem des Todes im Mittelpunkt, in 2 Thess das Problem des Bösen und des Irrtums. 4. 1 Thess fordert in der Konsequenz zu durchhaltender Treue und Wachsamkeit auf (5,2-10); 2 Thess warnt vor falschem Gehorsam. In beiden Briefen ist die Eschatologie nicht politisch. 5. 1 Thess zielt auf die Realisierung der Bundesformel (das Volk mit seinem Gott, Gott mit seinem Volk); 2 Thess kündet den Untergang nichtgöttlicher Macht an. Eine ehemals politische Eschatologie wird metaphysiziert – ähnlich wie in den Evangelien die Feinde vertrieben werden. Fazit: Die Differenzen dienen souverän den jeweiligen unterschiedlichen Anliegen. Es ist Paulus sehr wohl zuzutrauen, unterschiedlich und differenziert vorgegangen zu sein. Das Verfahren der Exegeten, die eine Eschatologie für nicht harmonisierbar mit der anderen zu halten, geht vom Prinzip der Einlinigkeit einer Dogmatik aus und traut Paulus zu wenig Weite zu.
779 Übereinstimmungen zwischen 1 Thess und 2 Thess 1. In derselben Reihenfolge nach der Abfolge der Sätze in beiden Briefen: Segensgruß ohne den Aposteltitel (!) 1 Thess 1,1 = 2 Thess 1,1.2. 1 Thess 1,2.3: »Wir danken Gott allezeit für euch … euren Glauben … der Liebe« = 2 Thess 1,3: »Wir danken Gott allezeit für euch … der Glaube … die Liebe«. 1 Thess 1,7f: Der Glaube der Thessalonicher ist berühmt in aller Welt = 2 Thess 1,4: Rühmen der Thessalonicher unter den Gemeinden. 1 Thess 1,3.6: »der Geduld … in Drangsal« = 2 Thess 1,4: »der Geduld … des Glaubens … Drangsalen«. 1 Thess 1,7: »all denen, die glauben« = 2 Thess 1,10. 1 Thes 2,12.13: »rufend … in die Herrlichkeit … wir danken Gott unaufhörlich« = 2 Thess 2,13.14: »wir danken Gott immer … gerufen zum Erwerb der Herrlichkeit«. 1 Thess 3,8: »steht« = 2 Thess 2,15: »steht«. 1 Thess 3,11: »Er selbst aber, der Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus« = 2 Thess 2,16: »Er selbst aber, unser Herr Jesus Christus, und Gott, unser Vater«. 1 Thess 4,1: »Im Übrigen …« = 2 Thess 3,1: »Im Übrigen … 1 Thess 4,2: »Pflichten haben wir mitgeteilt« = 2 Thess 3,4: »was wir mitgeteilt haben«. 1 Thess 4,1.2: »Wir bitten und mahnen im Herrn Jesus« = 2 Thess 3,6.7: »Wir legen euch ans Herz im Namen des Herrn Jesus Christus«. 1 Thess 4,1f: »Wie ihr von uns übernommen habt … wie man wandeln muss … denn ihr wisst« = 2 Thess 3,7: »Gemäß der Überlieferung, die ihr von uns übernommen habt, denn ihr wisst … wie es nötig ist zu …« 1 Thess 5,13f: »sie liebevoll zu behandeln … weist zurecht die Unordentlichen« = 2 Thess 3,15: »nicht wie einen Feind zu behandeln … weist zurecht die Unordentlichen«. 1 Thess 5,23: »Der Gott des Friedens selbst aber … Die Gnade …« = 2 Thess 3,16: »Der Herr des Friedens selbst aber … die Gnade«. 2. An jeweils anderen Stellen in der jeweiligen Gliederung (Auswahl): 1 Thess 1,3: »Werk des Glaubens« = 2 Thess 1,11: »Werk des Glaubens«. 1 Thess 4,1: »wie ihr von uns übernommen
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habt« = 2 Thess 2,15: »die Überlieferungen, in denen ihr belehrt seid … durch uns«. 1 Thess 5,25: »Brüder, betet für uns« = 2 Thess 3,1: »Betet, Brüder, für uns«. 1 Thess 3,11.13: »Lenke … Herzen« = 2 Thess 3,5: »Der Herr lenke die Herzen«. 1 Thess 2,9: »Mühsal … und Last. Nachts und tagsüber arbeite ich, um keinen von euch zu beschweren« = 2 Thess 3,8: »In Mühsal und Last arbeiten wir Tag und Nacht, um keinen von euch zu beschweren …« Auffällig ist, dass beide Briefe zumeist in Formalien übereinstimmen; der einzige Satz, der da eine Ausnahme bildet und wirklich in zahlreichen Worten identisch ist, betrifft interessanterweise 1 Thess 2,9 und 2 Thess 3,8 (s. dazu bei 1 Thess 2,9). Fazit: Der eine Brief lag in Abschrift oder Urschrift den Augen des Verfassers auch des ande-
ren Briefes vor. Da Paulus diktierte, werden seine Augen an den Wörtern aus dem vorliegenden Brief Halt gefunden haben. Zwischen beiden Briefen besteht eine literarische Abhängigkeit. – Dabei gehe ich davon aus, dass 1 Thess früher entstanden ist. Aber auch mit einer Priorität des 2 Thess könnte ich leben. Er ist in etlichen Punkten »archaischer«, weniger paulinisch durchgearbeitet als der 1. Brief. 2 Thess hat außerdem den üblichen Umfang antiker Briefe. Er erinnert – nicht zuletzt wegen der Themen – auch an 2 und 3 Joh. Erst in 1 Thess wüsste Paulus dann Genaueres über die Gemeinde in Thessaloniki. Auch ein kurzer Abstand in der Entstehung beider Briefe wäre so plausibler zu machen. Vielleicht sind sie dann sogar zum gleichen Zeitpunkt abgesandt worden. Die Platzierung des 2 Thess nach 1 Thess wäre dann ein Resultat der Reihung der Paulusbriefe nach der Länge. – Vgl. im Übrigen zu 2 Petr (!).
KOMMENTAR Zu 2 Thess 1,3: »Müssen danken, … wie es würdig ist«: Josephus, Ant 8,53: »Es ist würdig, Gott zu loben«; 4 Makk 17,8; Aristeasbrief 4.282; Justin, Apologie 2 3,2. Dann die Vorstufen der Veredignum-Formeln der Messe in der Kirchenordnung des Hippolyt und in Const Apost 8,12. Zu 2 Thess 1,5: Hier ist zuerst belegt die Auffassung von der himmlischen Rächung des Todes der Märtyrer nach der Talio, also am Täter (vgl. die ganze Schrift des F. Lactantius, De mortibus persecutorum, und vorher schon: MartPolyk 11,2; 4 Makk 10,9 und 12,11; Mart Mariani et Iacobi 12,7 (proximam iusti sanguinis ultionem).
2 Thess 1,4-12: Enderwartung Hier liegt eine besondere Enderwartung vor, die gegenüber allen sonst üblichen eine Reihe von exklusiven Eigenheiten aufweist: a) In den VV. 9-12 gibt es eine ungewöhnliche Dichte von »Herrlichkeit«, »verherrlichen« und Teil-Synonyma (bewundern; Kraft). Entsprechend wird die ästhetische Dimension der künf-
tigen (!) Offenbarung in kräftigen Farben gezeichnet (V. 7b-8a.9.10). b) Bedeutend ist die Rede von Macht/Kraft (griech.: dynamis) in dieser Eschatologie (1,7.9.11). c) Häufig sind Glaube und glauben (V. 3.4.10[2].11). d) Oft ist von Würdigsein die Rede (V. 3.5.11). e) Die Heiligen sind synonym mit den Glaubenden (1,10). f) Bedrängen wird von Gott nach der Talio geahndet. So ergibt sich folgende Gliederung: 1. Die Gemeinde ist verfolgt. Paulus rühmt sich in den Gemeinden ihrer Geduld und ihres Glaubens in Verfolgung und Drangsal. 2. Bedeutung der Drangsal angesichts der kommenden Offenbarung des Herrn Jesus: Die Gemeinde wird das Reich Gottes erhalten, für das sie jetzt so leiden muss. Das wird Ruhe für die Bedrängten bedeuten. Die die Gemeinde bedrängen, werden selbst bedrängt werden. 3. (V. 8-10) Das Gericht geht auch über alle, die Gott nicht kennen, d. h. nicht dem Evangelium
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Kapitel 1
gehorchen. Dagegen wird der Herr, wenn er kommt, verherrlicht werden in seinen Heiligen und bewundert von denen, die an ihn geglaubt haben, weil das apostolische Zeugnis geglaubt wurde. 4. Fürbitte des Apostels: Die Gemeinde möge würdig sein des Rufes, Freude am Guten haben und den Herrn verherrlichen. Letzteres gilt reziprok: Er werde durch euch verherrlicht und ihr durch ihn. Der Gesamteindruck ist: Bei dieser Schilderung der Endereignisse steht das Gericht über Gut und Böse nicht im Vordergrund. Stattdessen schildert Paulus den Triumph von Gottes Herrlichkeit, und dass Glaube sich lohnt, Unglaube aber zur Verfolgung und Bedrängung der Christen führt. Das Ende ist daher der fast barock zu nennende Triumph des Glaubens. Zu 2 Thess 1,10: Jesus Christus wird kommen, öffentlich verherrlicht zu werden inmitten seiner Heiligen. Wir hatten schon zu 1 Thess 3,13 zu der Parusie-Angabe (»mit allen seinen Heiligen«) gezeigt, dass im Hintergrund auch das Erscheinen mit den Entrückten steht (LAB 48,1); auf dem Niveau der Offb beurteilt hieße das: Wenn Jesus wiederkommt, wird er umgeben sein von der Schar der auferweckten Märtyrer, die mit ihm das tausendjährige Reich erlebt haben und nicht mehr sterben werden. Das würde für Offb 20,4-6 bedeuten: Das tausendjährige Reich hat seine Ziellinie in der Parusie, in denen, die dann erscheinen. Ähnliches kennen wir aus Sib 2,245249 (Zum Gericht erscheinen Mose, Erzväter, Propheten und auferstandene Märtyrer). – In 1 Thess 3,13 könnte es sich handeln um eine Gemeinschaft von in diesem Sinne Heiligen und heiligen Engeln (vgl. Hebr 12,22f und die Rede von den Engeln des Menschensohnes mit 13,41, 16,27, 24,31, 25,31). Ähnlich später das Carmen de resurrectione 179: »umgeben von Märtyrern und … seinen seligen Sehern«. – Fazit: Der Menschensohn hat zweifellos eigene Engel, mit denen er erscheinen wird. Dazu kommen wohl in erster Linie Entrückte wie Henoch, Elia und Mose sowie christliche Märtyrer. Eine derartig gemischte Gesellschaft setzt Hebr 12,22f voraus. 2 Thess 1,4-12 ist im Ganzen zu betrachten als durchgehender Midrasch zu Jes 66,4-19. Es erge-
781 ben sich folgende Entsprechungen: 1,4-7 entspricht 66,5 (Hass und Verfolgung). – 1,8 ist wie Jes 66,6 (Vergeltung den Gegnern). – 1,8 ist wie Jes 66,15f (offenbaren im Feuer und Zornesrache; Targum: Der Herr ist offenbart in Feuer, es ist die Stätte seines Zornes). – 1,8 (Heiden kennen Gott nicht) ist wie Jes 66,17 (Götzen). – 1,9.12 ist wie Jes 66,5 (Herr erscheint in Herrlichkeit) oder wie Jes 66,18 (meine Herrlichkeit schauen; Targum: Sie werden kommen und sehen meine Herrlichkeit). – Schließlich ist 1,9 wie Jes 2,10 (»vor dem Schrecken des Herrn und vor seiner glorreichen Pracht«). Ähnlich intensiv sind die Beziehungen zu Qumrantexten aus Höhle 4: Zu 1,5 (Königreich) 4 Q 521: Er wird verherrlichen die Frommen auf dem Thron des ewigen Königreiches. Ferner 4 Q 286 3,1,5: »Träger deines Königreiches in der Mitte der Völker«. Zu 1,9f vgl. 4 Q 521: »Er wird verherrlichen die Frommen auf dem Thron seines Königreichs.« Zu 1,11 vgl. 4 Q 243-45 (Ps.-Daniel): »In dieser Zeit werden die Berufenen gesammelt werden, Böses zu beendigen.« Zu 1,11 (Wohlgefallen) vgl. 4 Q 251 Fr 3,8f: »Auserwählt von Gottes Wohlgefallen«.
2 Thess 1,11 – 2,2: Gegen zu nahe Nah-Erwartung Paulus kämpft in diesem Abschnitt seines Briefes gegen eine Naherwartung nach dem Schema: »Der Herr steht schon vor der Tür! Morgen spätestens kommt er.« – Solche »Nah-Erwartung« gab es in allen Jahrhunderten der Kirchengeschichte. Sie kommt zustande in einer Mischung von Sehnsucht (dass der Herr endlich kommt) und Angst (vor dem fälligen Gericht). Beides kann die Nerven so strapazieren, dass man alle Berechnungsverbote, die schon Jesus selbst aufgestellt hat, über den Haufen wirft. Zur Bedeutung dieser Probleme noch im 3. Jh. n. Chr.: Hippolyt v. Rom († 235 n. Chr.), DanielKommentar 4,19,3 ff: »Ein anderer, aber ähnlich, in Pontos, und auch er Vorsteher der Kirche, ein frommer und demütiger Mann, aber sich nicht fest an die Schrift haltend, sondern er glaubte mehr den Gesichten, die er selbst sah. Denn nachdem er empfangen hatte in einem und einem zweiten und einem dritten Traumgesicht,
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782 fing er im Übrigen an, den Brüdern wie en Prophet zu verkündigen: ›Dies sah ich, und das wird geschehen.‹ Und dann sprach er einst in seinem Irrtum und sagte: ›Erkennt, Brüder, dass nach einem Jahr das Gericht geschehen wird.‹ Die aber hörten, wie er sagte, dass der Tag des Herrn bevorsteht (griech.: enesteken he hemera tou kyriou) und baten den Herrn mit Weinen und Wehklagen Tag und Nacht, den kommenden Tag des Gerichts vor Augen habend. Und zu so großer Angst und Furchtsamkeit verführte er die Brüder, dass sie ihre Ländereien und Äcker öde ließen und die meisten ihren Besitz verkauften. Der aber sagte zu ihnen: ›Wenn es nicht geschieht, wie ich es gesagt habe, so glaubt auch nicht mehr der Schrift, sondern es tue ein jeder von euch, was er will.‹ Die aber erwarteten, was kommen sollte. Und als ein Jahr voll war, aber nichts von dem, was er gesagt hatte, eingetroffen war, wurde er selbst beschämt, dass er gelogen, die Schriften aber erschienen wahrhaftig. Die Brüder aber wurden als die erfunden, die Ärgernis genommen, sodass ihre Jungfrauen heirateten und ihre Männer zur Landarbeit gingen. Die aber umsonst ihr Vermögen verkauft hatten, wurden als Brot bettelnd erfunden.« Der Kernsatz, »dass der Tag des Herrn bevorsteht« ist mit 2 Thess 2,2 fast identisch. Nur steht hier an der Stelle eines gefälschten Paulusbriefes die Berufung auf Visionen, was sicher genuin apokalyptisch ist.
2 Thess 2,3-12: Apokalyptik I Der Text steht mitten in der urchristlichen Apokalyptik und weist eine Reihe von Querbezügen auf: zu 2,3.8: »der gesetzlose Mensch« vgl. mit Didache 16,4: »er wird Unerlaubtes tun, die Gesetzlosigkeit wird wachsen« und Mt 24,12: »Die Gesetzlosigkeit wird zahlreich werden.« Verderben/zugrunde gehen, 2,3: »Sohn des Verderbens« vgl. mit Offb 17,8: »zum Verderben«; Didache 16,5: »werden zugrunde gehen«. – Dass im JohEv (17,12) Judas der »Sohn des Verderbens« genannt ist, weist wohl zwingend darauf hin, dass Judas hier als der eigentliche (endzeitliche) Widersacher Jesu gilt. 2 Thess 2,4: »sich erheben über Gott« vgl. mit Offb 13,5f: Er lästert auch das heilige Zelt.
Der zweite Brief an die Thessalonicher
2 Thess 2,4b: Göttlicher Anspruch vgl. mit Offb 13,4.8.12: »anbeten« und Didache 16,4: »wie der Sohn Gottes«; Mk 13,14: »Gräuel der Verwüstung«. Vollmacht durch den Satan: 2 Thess 2,9: »in der Kraft Satans« vgl. mit Offb 13,2 (»es gab ihm der Satan seine Kraft«. 2 Thess 2,9: »Machttat, Wunder, Zeichen« vgl. mit Offb 13,13: »große Zeichen«; Didache 16,4. »Er wird Zeichen und Wunder tun«. 2 Thess 2,10: »für die, die verloren gehen« vgl. mit Didache 16,5. »werden verloren gehen«. Irrtum/Irreführung (Wortstamm plan-): 2 Thess 2,11: »die Kraft des Irrtums« vgl. mit Offb 12,9: »der Teufel führt die ganze Erde in die Irre«; Offb 13,14: »verwirrt«; Offb 19,20: »verwirrte«; Offb 20,3: »die Völker in die Irre führen« und Mk 13,5: »verwirren«; 22 (»abirren«) und Didache 16,4: »der Weltverwirrer«. Gericht durch ein Wort: 2 Thess 2,8: »vernichten mit dem Hauch seines Mundes« vgl. mit Offb 19,15: »aus seinem Mund ein scharfes Schwert«. Die Übersicht zeigt, dass 2 Thess 2 mitten in der Schulsprache der Apokalyptik steht. Das spricht nicht gegen paulinische Verfasserschaft, sondern lediglich dafür, dass der Autor sich in der Schultradition auskennt. Gesamtablauf Aus dem Text lässt sich folgender rekonstruierter Gesamtablauf erschließen: a) Gegenwart: Das Böse wirkt verborgen, d. h. es ist spürbar, aber sein Urheber gibt sich nicht offen zu erkennen. – So redet man generell vom Geheimnis des Bösen, z. B. PhilippusEv 123,11. 1 Q Gen Apokr I,2 spricht vom Mysterium des Frevels. b) Gegenwart: Der Aufhalter wirkt. Seine Funktion ist, den folgenden Gang der Endereignisse noch aufzuhalten und damit auch ein offenes missionarisches Wirken des Bösen. So wird der unter a) genannte Zustand konserviert. Der Aufhalter kann entweder primär prophetisch oder primär politisch gedeutet werden. Für beides lassen sich Zeugnisse aus der Religionsgeschichte des Judentums und des frühen Christentums nennen. Den Hintergrund bildet die Auffassung von den notwendigen Zeitphasen in der »apokalyptischen Ereignisordnung«. Solange eine Phase währt, verhindert sie das Heraufkommen der
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Kapitel 2
nächsten Phase. – Ein prophetischer Aufhalter würde die Menschen durch seine Predigt daran hindern, dem moralischen Chaos zu verfallen. Ein politischer Aufhalter wäre ein Herrscher als Repräsentant einer starken Ordnungsmacht, der vor allem den Zerfall der öffentlichen Ordnung verhindern kann. Beispiel für politischen Aufhalter: Hippolyt v. Rom (um 250 n. Chr.): »Wer ist es denn nun, der aufhält bis jetzt? Niemand anders als das vierte Tier; wenn es verschwunden ist, wird der Irrlehrer (griech.: ho planos) kommen. Doch du suchst noch umher, wie viele Jahre dem Tier noch bleiben, bis es verschwindet. Bedenkst du gar nicht, dass du durch solches Suchen dir etwas suchst, was gefährlich für dich ist, denn du begehrst ja auf diesem Wege, so schnell wie möglich das Gericht zu sehen.« – Das vierte Tier ist das letzte der Weltreiche Daniels, eine eindeutig politische Größe (vgl. Dan 7,7). Beispiel für prophetisch-moralischen Aufhalter: 1 Q 27,1 (Buch der Geheimnisse): »alle … Wahrheit … Geheimnisse der Bosheit … und kennen nicht das kommende Geheimnis und sehen die früheren Geheimnisse nicht ein. Sie erkannten nicht, was über sie kommen wird, und können ihr Leben nicht erretten aus dem kommenden Geheimnis. Und dies sei euch zum Zeichen, dass es geschehen wird: Wenn die Geburtswege des Unrechts verschlossen werden, dass der Frevel vor dem Recht weichen wird, so wie die Finsternis vor dem Licht weicht; und wie eine Wolke vergeht und nicht mehr ist, so wird der Frevel für immer enden, und die Gerechtigkeit wird offenbar wie die Sonne als Ordnung der Welt. Alle, die da die wunderbaren Geheimnisse aufhalten, werden nicht mehr sein. Erkenntnis wird die Welt erfüllen, und auf immer wird dort keine Torheit mehr sein. Verlässlich trifft das Wort ein, und wahrhaftig ist der Ausspruch, und daraus sei euch bekannt, dass es nicht rückgängig wird …« – Hier halten die Bösen das Geringerwerden des Bösen auf, während der Aufhalter in 2 Thess 2 das Offenbarwerden des Bösen aufhält, das jetzt schon wirkt. Der Aufhalter verhindert nach 2 Thess nicht das Böse selbst, sondern nur sein Offenbarwerden. In beiden Texten sind die »Aufhalter« offensichtlich kompakte Größen.
783 Andere Möglichkeiten der Herleitung: LAB 51,5: »Und wenn die Bösen gestorben sind, dann werden sie zugrunde gehen, und wenn die Gerechten gestorben sind, dann werden sie befreit werden. So aber wird jedes Gericht (sc. Über Gute und Böse) andauern, bis der offenbart wird, der aufhält (oder: der es innehat).« – Verwandt ist die Auffassung, dass die Zahl der Gerechten erst voll sein muss, bevor das Ende kommen kann (4 Esr 4,38f; Offb 6,11). Der »Aufhalter« ist hier sozusagen die Unvollständigkeit der Anzahl.
Vgl. ferner Griechische Baruch-Offb 12,4 von Gottes Zorn: »Er wird jetzt (noch) durch Gottes Langmut wie durch einen Zaum zurückgehalten« (griech.: katechetai). In diesem Falle ist der Aufhalter daher Gott selbst. Für 2 Thess 2 ist das nicht anzunehmen wegen der Wendung »aus der Mitte verschwinden« in 2,7. – Nach 4 Esr 4,38f sind die Sünden der Erdbewohner das, was die Erfüllung der Verheißungen für die Gerechten verhindert (»Nicht, dass vielleicht unseretwegen die Tenne der Gerechten verhindert wird, wegen der Sünden derer, die wohnen auf der Erde«). V. 40: Wenn die neun Monate der schwangeren erfüllt sind, kann sie das Kind nicht zurückhalten. – Nach 4 Esr 4,28 »ist die Ernte des Bösen noch nicht gekommen«. Zu 2 Thess 2,7b: Der Aufhalter wird »aus der Mitte weggenommen«; dieser Ausdruck gilt von Elia (Sir 48,9: Elia wird in einem Wetter hinweggenommen). Ist auch der Aufhalter eine positive Figur nach dem Muster des Elia? (Hinweis M. Nieden). Denn Elia muss ja zuvor kommen. Insofern ist Elia wirklich eine vorletzte Figur vor dem Ende. c) Der böse Widersacher offenbart sich, z. B. durch Wunder und Verführung. Er setzt sich in den Tempel Gottes und behauptet, Gott zu sein. Sowohl die Tempelszene in 2,4 als auch die Liste der Taten in 2,9 (Machttat, Zeichen, Wunder) ist zu verstehen als negatives Spiegelbild früher Christologie. Das Prinzip der diabolischen Nachäffung gilt in allen Apokalypsen (daher z. B. die Pseudochristusse und Pseudopropheten in Mk 13,22), besonders in der des Johannes. Der Widersacher tut das Gleiche wie der legitime Christus, nur mit teuflischem Hintergrund und Auftrag. Auch Jesus selbst gerät in Mk 3,22 in eben diesen Verdacht.
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784 Den Anspruch auf den Gottesnamen (Kyrios) erhebt Jesus zumindest indirekt z. B. in Mk 12,37. Und als Lehrer »sitzt« Jesus natürlich im Tempel. Wunder, Zeichen, Lehre und titularer Anspruch gehören damit zur Grundausstattung prophetischer Messiasprätendenten im 1. Jh. n. Chr. – 2 Thess zeichnet demnach das Gegenbild, ohne bereits an eine konkrete Person zu denken. Nur, es muss so kommen. Aus der geschilderten apokalyptischen Denkweise erklären sich auch die Beziehungen zwischen 2 Thess 2,3-12 zu Offb 13: Der Sohn des Verderbens (2 Thess 2,3) entspricht dem Tier (Offb 13,1). Er erhebt sich über jeden so genannten Gott (2 Thess 2,4), nach Offb 13,6: kultische Lästerungen gegen Gott. Er sitzt im Tempel (2 Thess 2,4), dem entspricht die kultische Verehrung des Bildes des Tieres (Offb 13,15). Er behauptet, er sei Gott (2 Thess 2,4), vgl. mit Offb 13,4: Akklamation »Wer ist dem Tier gleich?« Er wirkt Krafttaten, Zeichen und Lügenwunder (2 Thess 2,9), vgl. mit Offb 13,23f (große Zeichen, Zeichen). Betrug und Irrtum (2 Thess 2,10.11), vgl. mit Offb 13,14 (führt in die Irre). Jesus vernichtet ihn mit dem Hauch seines Mundes (2 Thess 2,8), vgl. mit Offb 19,15 (Gericht durch scharfes Schwert aus dem Mund des richtenden Christus). – Fazit: Christus und Widersacher sind in apokalyptischem Milieu jeweils ähnlich gezeichnet. Über Antiochos IV. sagt Dan 11,36: »Und der König wird tun, was er will, und er wird sich überheben und großtun gegen alles, was Gott ist. Und gegen den Gott aller Götter wird er Ungeheuerliches reden, und es wird ihm gelingen, bis sich der Zorn (Gottes) ausgewirkt hat.« Antiochos IV. ist das Muster des Antichrist. Das bedeutet: Wenn Paulus hier Dan 11,36 folgt, ist nicht notwendig vorausgesetzt, dass er eine Herrscherfigur meint. Herrscherliche und prophetische Elemente gehen bei der Schilderung der Macht des Widersachers bzw. Antichrists stets durcheinander. Entscheidend ist immer die Machtkonzentration.
Zu 2 Thess 2,4: »sich erheben über jeden Gott«, das tut der endzeitliche Widersacher immer. Wer sich über jeden Gott erhebt, der will auch größer sein als der Gott Israels. Dan 11,36 (über jeden Gott); 2 Makk 9,4 (von Antiochos IV.); 3 Makk 6,4-13 (von Pharao);
Der zweite Brief an die Thessalonicher
1 Makk 1,21 (von Antiochos IV.).24; 2 Makk 5,21; von Nebukadnezzar in: Hippolyt, Dan 3,4,1 (gegen Gott) 4 (sich gegen Gott erhebend); Ps.-Hippolyt, Über den Antichrist, 299,10 ff; Lat Sib (Usener, 395) vom Antichrist: caput superbiae, magister erroris; Griech Ephraem III 138D (vom Antichrist): »erhöht sich selbst in seinem Herzen«; Testamentum Domini 9 (vom Antichrist): iactatur extolliturque; arab. Version: se réjouira et se glorifiera dans son conseil impur; syr BaruchApk 67,7: ein König redet Großes in seinem Herzen vor dem Höchsten; lat SergiusApk 144,117: gloriabitur se esse missum a deo; arab Ps.JohEv, 175, Nr. 10: unusquisque vere Christum (esse) se iactabit; Ps.-Ign ad Phil 11,3: frevelt an den Gesetzen Gottes, Feind der Gesetze.
d) Die Menschen nehmen daraufhin die Wahrheit nicht an und können nicht gerettet werden. Indem Paulus die Gegenseite als »Irrtum«/»Verwirrung«/»Lüge«/»Betrug« kennzeichnet, leistet er indirekt einen positiven Beitrag zur Etablierung der eigenen Position als »Wahrheit«. e) Christus kommt wieder. f) Er vernichtet durch ein Wort (»mit dem Hauch seines Mundes«) den teuflischen Widersacher. g) Alle werden gerichtet; verurteilt werden alle, die der Wahrheit nicht glaubten, sondern am Unrecht Gefallen fanden.
2 Thess 2,3-12: Apokalyptik II Man kann auch so einteilen: 1. Nähere Zukunft: a) Das Böse wirkt, ist aber verhüllt. b) Der Aufhalter (das Aufhaltende) wirkt. 2.Mittlere Zukunft: a) Vernichtung des Aufhalters. b) Offenbarung des Sohnes des Verderbens: – Krafttaten/Wunder mit der Folge des Abfallens der Volksmenge; – Sohn des Verderbens sitzt im Tempel und nennt sich Gott. 3. Tag des Herrn: a) Jesus vernichtet den Gesetzlosen mit dem Hauch seines Mundes. b) Gericht über alle, die der Wahrheit nicht glaubten.
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Kapitel 2
Die Funktion dieses Abschnitts in 2 Thess 1. Ein Gegenbild zur Behauptung, die Parusie stehe direkt vor der Tür, wird entworfen. 2. Die Gegenseite hatte ihre falsche Eschatologie geknüpft an das Auftreten von einflussreichen Lehrer-Persönlichkeiten. Diese werden in unserem Kapitel entzaubert. 3. Die Endzeit leidet vor allem unter Unwahrheit und Betrug. Dazu gehört nicht zuletzt auch die irrige Meinung, das Ende stehe direkt bevor. Insofern hat sich 2,3-12 schon erfüllt. Anders als in 1 Thess muss Paulus daher hier seine Autorität gegenüber einer abweichenden apokalyptischen Lehre (Naherwartung »morgen«) ins Spiel bringen. Ähnlich wie in Mk 13 ist das entscheidende Mittel gegen Schwärmerei eine gegliederte Naherwartung in verschiedenen Stationen.
tum strukturell konkurrierende Bewegungen, wie es z. B. die des Simon Magus gewesen sein mag. Die Situation ist bestens geschildert in der Antichrist-Passage Asc Jes 4: »(vom Antichrist) Und es werden mit ihm alle Mächte dieser Welt kommen, und sie werden ihm in allem gehorchen, was er will. Auf sein Wort hin wird die Sonne in der Nacht aufgehen … und er wird sagen: Ich bin Gott, und vor mir hat es keinen gegeben … und der größte Teil derer, die sich vereinigt haben, um den Geliebten zu empfangen, wird sich ihm zuwenden. Und die Kraft seiner Wunder wird sich in den Städten und Ländern zeigen, und er wird sein Bild vor sich aufstellen in allen Städten. Und die vielen Gläubigen – nur wenige von ihnen werden in jenen Tagen als seine (sc. Jesu) Diener übrig bleiben, von Wüste zu Wüste fliehend und seine Ankunft erwartend.«
2 Thess 2,3-4.8: Zeichen der Endzeit 2 Thess 2,16 – 3,1: Segensgebet Der Widersacher ist primär als Pseudoprophet zu deuten, nicht primär politisch. – Das Vorbild ist Jesus (Umkehr gegen Irrtum, Zeichen und Wunder, Lehren im Tempel, Anspruch auf Gottsein, Abweisung des Polytheismus). Besondere Beachtung bedarf das »Irreführen« (griech.: planan) hier und in vergleichbaren Texten. Die große Bedeutung dieses Tuns in den Apokalypsen lässt folgende Schlüsse zu: 1. Der Lehrer, der von der zukünftigen Irreführung spricht (wie Paulus hier, sonst der Sprecher einer Apokalypse, in den Evangelien Jesus), bekräftigt so die Legitimität und Irrtumsfreiheit der eigenen Lehre, und zwar im Hinblick auf das Ungute, das kommen wird. Wer von kommenden Irrlehrern redet, schließt die eigene Fehlbarkeit aus. 2. Die Ankündigungen künftigen Irrtums und Abfallens vom Glauben räumen diesen Bewegungen und vor allem deren Initiatoren einen hohen Spielraum ein. Vor allem erwarten sie die Anziehungskraft einzelner Gurus. Das setzt insgesamt eine instabile Lage und alles andere als eine geschlossene Orthodoxie voraus. 3. Die konkurrierenden Lehrer stellen offensichtlich die eigene Person in den Mittelpunkt, wie es Jesus auch tut, jene jedoch ohne Berechtigung. Vorausgesetzt sind daher dem Christen-
Zu 2 Thess 2,16f: Das entscheidende Stichwort, das hier zweimal auftaucht, ist (griech.) paraklesis (Ermunterung, Beistand, Zuspruch, Tröstung, gutes Zureden). Gott hat unvergängliche Tröstung gegeben, so möge er auch die Herzen der Gemeinde ermuntern und stärken, damit sie zu jedem guten Werk und Wort fähig ist. Das Wort paraklesis (und zugehörige Verben) ist typisch für frühchristliche Mahnrede in ihrer Unaufdringlichkeit, ihrem komplementären Charakter, im Nicht-Bevormunden, kurzum in Seelsorge als Zuspruch, nicht als Reihe von Imperativen, sondern indem man das Erfreuliche der Botschaft wie auch das Tröstliche in den Vordergrund stellt. Neben der »Ermunterung« steht die »Hoffnung«, ein Wort, das im Griechischen viel stärker Anteilhabe am Kommenden, also nicht etwas Vages bedeutet, sondern so etwas wie Angeld oder Anzahlung bei Paulus sonst. Hoffnung meint nicht ein »vielleicht«, sondern ein »ganz gewiss«, bezeichnet eher eine Wirklichkeit als eine Vermutung. Daher möge Gott die Hoffnung schenken wie ein kostbares Gut. An diesem knappen Text wird ein für alle Mal klar gemacht: Der Brief ist ein Medium des Gebetes. Das heißt hier konkret: In 2,16f formuliert Paulus ein briefliches Segensgebet, in 3,1f bittet
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786 er die Gemeinde um Gebet für sich. Das Thema Gebet beherrscht die paulinischen Briefe sehr stark. Das gilt im Verhältnis zu anderen antiken Briefen, die schon mal einen Gebetswunsch um Gesundheit des Partners enthalten, aber sonst nicht viel zu diesem Thema zu melden haben, aber auch im Verhältnis zu anderen frühchristlichen Briefen. Oft kennen diese anderen Briefe noch nicht einmal den apostolischen Segensgruß (Gnade [Erbarmen] …, Friede), sondern nur das übliche »Freue dich …« (»Sei gegrüßt«), und zum Schluss: »Lebe wohl«. Die Briefe im Umkreis des Paulus dagegen zeigen ein anderes Selbstverständnis. Denn sie sind »apostolische Segensrede«. Das zeigt schon das Präskript (der Briefanfang): »Gnade sei euch und Friede von Gott unserem Vater und von unserem Herrn Jesus Christus …« (oder ähnlich). Gleich zu Anfang des Briefes richtet der Apostel Grüße und Segen aus von dem, der der eigentliche Absender des Briefes ist, der daher auch Segen spenden kann. Der Apostel als Briefschreiber ist nur der Sekretär und Mittler dieses Segensgutes, das, wie die Botschaft selbst, von Gott, dem Vater, und von Jesus Christus ausgeht. Der Apostel hat näherhin als Briefsteller eine priesterliche Funktion gegenüber der Gemeinde (ähnlich wie Jesus nach Lk 24,50 die zurückbleibenden Jünger segnet). Denn seine Botschaft und seine Vollmacht, deren Verbindlichkeit und deren Verheißungen hat er als Apostel nicht von sich aus, vielmehr, wie der Name Apostel (»Bevollmächtigter«) sagt, übt er die ihm verliehene Vollmacht aus. Der Gebrauch der Segensformel zu Beginn und Ende des Briefes (»Die Gnade sei mit euch allen«) kommt nur dem Apostel zu, und zwar »von Amts wegen«. Wer aber so segnen kann, der kann auch zu Gott für die Gemeinde beten. Die deprekative (bittende, wünschende wie »Der Herr möge …«) Form (»Gott tröste und stärke …«; grammatische Form: Optativ, Modus des Wunsches) zeigt, dass auch der Apostel Gott bitten muss und nicht einfach im Namen Gottes Beliebiges zuspricht. Es handelt sich daher um Fürbitte. Dasselbe gilt auch für 3,1. Der Apostel formuliert seinen Gebetswunsch, seine stellvertretende Fürbitte, schriftlich. Er sagt nicht (wie wir das heute öfter tun: Ich bete für euch), sondern er führt das Gebet wörtlich und schriftlich aus. Beides hat die Funktion, dass sich
Der zweite Brief an die Thessalonicher
die Gemeinde gewissermaßen darauf berufen kann. Ein Brief wie 2 Thess und die übrigen Apostelbriefe ist weder als bloßes Gelegenheitsschreiben noch als Privatbrief gedacht, sondern als offizielles Schreiben mit dauerhaftem und verbindlichem Offenbarungscharakter. Es ist schon etwas Besonderes, dass sich ein Drittel der neutestamentlichen Offenbarung von Gottes Wort in Gestalt von Briefen an Gemeinden »vollzieht«. Gottes Wort ist damit »eingegangen« in die menschliche Kommunikation zwischen Apostel und Gemeinde. Damit wird das, was Gemeinde ist und was sie ausmacht, exemplarisch geadelt und wirklich zum Zeugnis der Erwartung, dass Gott mit seinem Volk wohnen wird, unter seinem Volk. Dadurch ist die Kommunikation, wenn sie von oben nach unten verläuft (Apostel-Gemeinde), ein Stück Offenbarung; interessant ist dabei, dass es vielleicht Briefe der Gemeinden etwa an Paulus gegeben hat, diese aber im Kanon in keinem Fall zu kanonischer Würde gelangt sind. Die zweite Bitte des Apostels um Fürbitte weist auffallende Ähnlichkeit mit der Schlussbitte des Vaterunsers nach Mt 6,13 auf. Hier heißt es: »Betet, dass wir erlöst werden von bösen und gemeinen Menschen«; Mt 6,13 lautet: »Erlöse uns von dem Bösen« als Gebet. In beiden Fällen ist das Böse personalisiert (nicht abstrakt, sondern in Verbindung mit Personen gedacht), in beiden Fällen wird dasselbe griechische Wort für Erlösen/Befreien verwendet. Vor allem geht es in beiden Fällen um das Gebet. An der Stelle des Bösen (sc. des Teufels) stehen hier die bösen Menschen, die keinen Glauben haben. Konkret ist wohl an kleinasiatische Juden gedacht, die Paulus jagen, weil er als abtrünniger Jude gilt.
2 Thess 3,7-12: Sein Brot selbst erarbeiten In den Klöstern nach der Regel des heiligen Benedikt gehört der Satz 2 Thess 3,10 (»Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen«) zu den Texten, die montags gelesen werden, gleich am ersten Werktag der neuen Woche. Arbeit gehört zum Leben in dieser Welt, und der den Söhnen und Töchtern des heiligen Benedikt nachgesagte Spruch »Bete und arbeite« stützt sich auch auf diese Stelle. In V. 7-9 sagt Paulus noch mehr über
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Kapitel 3
die Arbeit: »Denn ihr kennt ja das Beispiel, dem man nacheifern sollte: Wir haben bei euch ein ordentliches Leben geführt und uns unseren Lebensunterhalt von niemandem schenken lassen, sondern Tag und Nacht mit eigener Hände Arbeit mühsam unser Brot verdient, damit wir niemandem zur Last fallen, obwohl wir durchaus das Recht hätten, uns von einer Gemeinde ernähren zu lassen. Doch wir wollten euch ein Beispiel geben, dem ihr nacheifern könnt.« Auch gegenüber den Korinthern hat Paulus betont, dass er selbstständig Geld verdient hat: »Ich schufte mit meinen eigenen Händen« (1 Kor 4,12), und dann in 1 Kor 9,4-15: »Ich habe doch die Freiheit zu essen und zu trinken, was ich will … Ebenso wie sie dürften auch Barnabas und ich auf Kosten der Gemeinde leben und brauchten nicht selbst für unsern Unterhalt zu sorgen … Wenn andere das bei euch dürfen, dann ich doch erst recht! Doch ich habe von meinem Recht keinen Gebrauch gemacht, sondern bezahle alles selber, damit das Evangelium Jesu Christi keine Einbuße erleidet. Noch einmal: Wer am Tempel arbeitet, der darf auch von den Opfergaben essen. Wer am Altar beschäftigt ist, bekommt dort auch zu essen. So hat der Herr angeordnet, dass die Boten des Evangeliums auch davon leben sollten. Doch ich habe dies nicht geschrieben, um von jetzt ab Geld bei euch zu nehmen. Ich benötige nichts. Lieber würde ich sterben wollen, als euch zur Last zu fallen. Diesen Stolz kann mir niemand nehmen.« In 1 Kor erfahren wir etwas über die Gründe, die andere in Anspruch nehmen, um von ihrer Arbeit zu leben. Die Zielrichtung in 2 Thess 3 ist anders: Paulus geht es hier nicht um die Demonstration seiner eigenen Freiheit, die er nur nicht wahrnimmt. Vielmehr kämpft er mit dem eigenen Beispiel gegen Leute an, die gar nicht arbeiten wollen (V. 11f): »Nun haben wir gehört, dass einige bei euch ihren Beruf aufgegeben haben und kein ordentliches Leben mehr führen, sondern die Zeit totschlagen, anstatt sie zu nutzen. Solchen Leuten legen wir im Namen des Herrn Jesus dringend ans Herz, dass sie ordentlich ihr Tagewerk verrichten und sich so ihren Lebensunterhalt verdienen sollen.« Man hat viel gerätselt, um wen es sich dabei handeln könnte, und das Verhalten dieser Menschen mit der gesteigerten Naherwartung ver-
787 bunden, die der Brief bekämpft. Treibt Naherwartung in die Lethargie? Von der Naherwartung zwischen 1000 und 1034 n. Chr. kennt man anderes, nämlich gesteigerte Aktivität, um dem kommenden Gericht zu genügen. Man wird zugeben müssen, dass Hippolyt von Rom in seinem Daniel-Kommentar um die Mitte des 2. Jh. n. Chr. von Menschen in Kleinasien berichtet, die die Felder brach liegen lassen und die Jungfrauen nicht mehr verheiraten (Hippolyt, Daniel-Kommentar 4,19 ff bei Berger/Colpe, Textbuch, 1987, Nr. 550). Aber eine derartige generelle Aufgabe des bürgerlichen Status ist für 2 Thess 3 nicht erkennbar. Nach Hippolyt werden durch das apokalyptische Verhalten andere auch nicht geschädigt. In 2 Thess 3 fällt auf, dass auf den Missstand gar nicht mit einer anderen Apokalyptik geantwortet wird, sondern mit einer gegenüber der Enderwartung ganz fremden Sache, nämlich dem Lebensunterhalt des Apostels. Daher die Anfrage: Könnte man nicht die erkennbare Arbeitsunlust zurückführen auf einen Missbrauch der christlichen Gastfreundschaft? Davon berichtet etwa »Lehre der zwölf Apostel« Kap. 12,1-5: »Jeder, der im Namen des Herrn zu euch kommt, soll zuerst einmal aufgenommen werden. Dann sollt ihr ihn prüfen und euch über ihn Klarheit verschaffen. Denn ihr habt doch Verstand und könnt auch sonst gut unterscheiden, zum Beispiel rechts und links. Wenn er auf der Durchreise ist, helft ihm nach Kräften. Er soll jedoch höchstens zwei oder notfalls drei Tage bei euch bleiben. Wenn er sich aber bei euch niederlassen will, etwa als Handwerker, dann soll er arbeiten und von seiner Hände Arbeit leben. Wenn er sich auf kein Handwerk versteht, dann sollt ihr nach eurem Ermessen Arbeit für ihn finden, damit kein Christ arbeitslos bei euch leben muss. Wenn er keine Arbeit annehmen will, dann ist er kein Christ, sondern ein Nassauer/Schnorrer. Vor solchen seid auf der Hut!« Didache 12,3 erinnert doch deutlich an 2 Thess 3,12. Immer wieder wird in der Bibel die Arbeit als eine mühevolle Pflicht des Menschen eingeschärft, der sechs Tage in der Woche arbeiten »muss«. Nur wenige Texte betonen sein Recht auf Arbeit. Jesus sagt von den Tieren und Pflanzen: »Seht euch die Vögel des Himmels an. Sie säen nicht und ernten nicht und sammeln keine Vorräte für den Winter. Euer himmlischer Vater
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788 sorgt dennoch für ihre Nahrung. Und ihr seid doch viel mehr wert als sie … Denkt doch daran, wie die Lilien im Garten blühen. Sie wissen nichts von Spinnrädern und Webstühlen …« (Mt 6). Das fehlende Tun ist offensichtlich keine Auszeichnung der Tiere, sondern ein Mangel. Denn obwohl ihnen die Arbeit fehlt, ernährt und kleidet Gott sie doch. Ausdrücklich sagt es R. Meir in der Mischna des Rabbi Eliezer (20,36): »Als einziger Kreatur gab Gott die Arbeit dem Menschen«, und das zeichnet ihn aus; denn als einzige Kreatur ist er nach dem Bild Gottes, und Gott selbst arbeitet auch jetzt noch, selbst am Sabbat (Joh 5,17). Der Mensch ist also in der Arbeit Gott exklusiv ähnlich. So bedeutet die Belastung mit Mühe auf jeden Fall auch eine Nähe zu Gott. Diese Herleitung der »Missstände« in Thessaloniki aus der ausufernden Inanspruchnahme des apostolischen Gastrechts schließt eine Herkunft dieser Zustände aus der Naherwartung aus (Letzteres vertritt man aber weithin seit F. C. Baur). Diese ist auch in Didache 11,4f und Lukian als Problem belegt. – Das Gastrecht war der am meisten paradiesische Zug in der Gemeindepraxis des frühen Christentums, hier lebt auch der Satz: »Alles ist den Freunden gemeinsam«, wie auch das Beispiel der Gastfreundschaft des Proselytenvaters Abraham (Philo, De Abrahamo 235). Die These, dass es sich um das apostolische Gastrecht handelt, wird auch durch das gegenläufige persönliche Beispiel des Apostels Paulus selbst gestützt. Sein Beispiel ist wichtig, weil er selbst gearbeitet hat und sich nicht durchfüttern ließ. Unterhaltsverzicht und apostolisches Gastrecht im 1. Jh. n. Chr. a) Älterer Typus: Ernährung durch die Gemeinde. Bezeugt durch Lk 10,7-9: Jesus fordert die Jünger auf zu essen, was vorgesetzt wird (also nicht nach rein/unrein zu fragen); Wunderheilungen als Gegengabe der Gastfreundschaft. Gastfreundschaft und Wunderheilungen sind aufeinander bezogen. Die autarke Bedeutung der Wunder im frühen Christentum hängt mit der Ermunterung zur Gastfreundschaft zusammen. 1 Kor 9,5-13 setzt voraus, dass frühchristliche Boten regelmäßig dieses Recht (!) wahrnehmen.
Der zweite Brief an die Thessalonicher
Die Gemeinden wollen ihrerseits Nahrung und Unterkunft stellen, um in gutem Ruf dazustehen, den die Boten verbreiten sollen. Das Gastrecht wird freilich schon bald missbraucht und muss daher zeitlich beschränkt werden (Didache 11,5). b) Jüngerer Typus: Paulus sorgt selbst für seinen Lebensunterhalt und macht mit seinem Beispiel Schule. Paulus berichtet von seinem Verzicht auf Unterhalt in 1 Kor 9,5-13 und in 1 Thess 2,9. Er könnte sich auf das Vorbild des Sokrates und der kynisch-stoischen Wanderprediger (z. B. Diogenes) berufen, die gleichfalls Sokrates als Vorbild nennen. In seiner testamentarischen Rede Apg 20 nennt Paulus sein Beispiel in 20,33 f. Er begründet seine Arbeit auch damit, nur so den Bedürftigen selbst helfen zu können (so später Basilius, Griechische Regel: Arbeiten, damit wir den Notleidenden mitzuteilen haben). – In 2 Thess 3 fordert Paulus auf, der Gast solle arbeiten. Zugleich ist der Hinweis auf freizügige Inanspruchnahme des Gastrechts ein Mittel zur Bekämpfung von Irrlehrern (2 Thess). – Wie Paulus in 2 Thess, so bekämpft auch Hebr 13,10 ausdrücklich die »Vollmacht«, vom Altar zu essen, d. h. sich durch die Gemeinde ernähren zu lassen (vgl. Kommentar zu Hebr 13,10). In der Wirkung von 2 Thess 3 steht Constitutiones Apostolorum 13,1: »Alle ihr Gläubigen nun solltet an jedem Tag und zu jeder Zeit, so oft ihr nicht in der Kirche seid, fleißig bei eurer Arbeit sein, sodass ihr die ganze Zeit eures Lebens … niemals müßig seid. Denn der Herr hat gesagt: Spr 6,6-11. – Seid also allzeit tätig, denn eine Schande, die nicht wieder gut zu machen ist, ist der Müßiggang. So aber jemand bei euch nicht arbeitet, der soll auch nicht essen. Denn die Faulen hasst Gott, der Herr. Ein Fauler nämlich kann nicht ein Gläubiger werden.« Ps.-Clem Virg 1,11,1-4: »Denn wer faul ist, der ist ohne Arbeit und Nutzen. Denn so ist es bei allen, die keine Arbeit verrichten. Sie jagen nach Worten und halten das für Tugend und Rechttun. Sie laufen umher und schweifen durch die Gegend in ihrer Geschwätzigkeit. So soll es unter euch nicht viele Gelehrte geben, noch sollt ihr alle Propheten sein. Sie täuschen die Herzen der Einfältigen. Sie preisen sie selig, und doch führen diese sie in die Irre. Sie sind Lehrer, die lehren und nicht tun.«
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Kapitel 3
Zu 2 Thess 3,8: Paulus arbeitet mit den eigenen Händen (1 Kor 4,12; Apg 20,34) Tag und Nacht (1 Thess 2,9; 4,11), um der Gemeinde in Thessaloniki nicht zur Last zu fallen (1 Thess 2,9: Er hätte die Freiheit/Vollmacht, das zu tun. – Genau das Gegenteil zu Paulus sind Leute, die gar nichts tun (2 Thess 3,6.10.11). Das Wortfeld »Arbeiten/Essen« ist typisch urchristlich und entsteht im Zusammenhang von »missionarisch Arbeiten/Essen«, wird dann aber wohl auf Arbeiten und Essen überhaupt ausgedehnt. Es könnte nun ein Zusammenhang bestehen zwischen der Position der Gegner (»Der Tag des Herrn steht direkt bevor«), ihrer Aufnahme in der Gemeinde (sie arbeiten nicht, sondern lassen sich füttern) und der archaischen Christologie, die sich in den Aussagen über den Gegner verrät (s. zu 2,4). Demnach handelte es sich um Wandermissionare, die sich noch von der Gemeinde ernähren ließen und eine akute Naherwartung verkündeten. Dass Jesus und entsprechend auch sein Nachahmer über die anderen Götter herabsetzend reden (2,8), könnte auf frühe Heidenmission weisen. Das Verbot des Umgangs mit ihnen in 3,6 zeigt nämlich, dass diese Leute nach nicht-apostolischer Überlieferung leben (ähnlich übrigens das bei den Synoptikern diskutierte Problem Mk 9,28b par). Deshalb sollen sich die Angeredeten von ihnen zurückziehen. Hier könnten demnach Gegner gemeint sein, die so sind, wie man sie für 2 Kor (wohl zu Unrecht)
789 vermutete: Judenchristen synoptischer Tradition. Dafür spricht auch, dass 2,8 mit einer »Nachahmung« des synoptischen Jesusbilds zu tun hat. Dass sich Paulus weder im Präskript von 1 noch von 2 Thess »Apostel« nennt, weist mit Sicherheit darauf hin, dass Paulus Auseinandersetzungen um seinen Titel um der Sache willen ausweichen will. Wenn aber der Aposteltitel des Paulus irgendwo umstritten war, dann im Bereich der synoptischen Tradition. Denn dort verfestigt sich die Auffassung, dass es nur zwölf Apostel geben kann, und dass diese vor allem von Anfang an bei Jesus gewesen sein müssen (vgl. Apg 1,21f mit Lk 6,13; Mt 10,2). Zu 2 Thess 3,15: Es handelt sich erneut um eine Auslegung des Liebesgebotes nach Lev 19,15-18 im Sinne der Zurechtweisung. Erkennbar ist das hier dadurch, dass auch der Gegenbegriff fällt, nämlich der Feind im Gegensatz zum Bruder. Der Feind steht beim Liebesgebot nach Mt 5, 43, der Bruder ist synonym zum Nächsten in Lev 19,17. – Zur Auslegung im Sinne der Zurechtweisung vgl. auch zu Mt 18,15-18. Zu 2 Thess 3,17: Für die Exegeten, die sich für die Unechtheit von 2 Thess aussprechen, ist dieser Satz der Gipfel des Betruges (»Gegenfälschung«) und zugleich die wirksamste Maßnahme, 1 Thess auszurangieren, der diese persönliche Unterschrift des Apostels nicht enthält. Das alles zu allzu zart gesponnen.
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Der erste Brief an Timotheus
Kommentare: Ambrosiaster (410). – Joh. Chrysostomus (vor 400.). – Haimo v. Halberstadt (e. 1519). – Thomas Aquinas (1260). – Dionysius Carthesianus (vor 1479). – M. Luther (1528). – Ph. Melanchthon (1540). – J. Calvin (1554). – Dionysius Carthusianus (1552). – Benedictus Iustinianus (1612). – I. Habert (1656). – J. Schlichting (1656). – A. Marloratus (vor 1562). – P. Tossanus (1656). – L. Fromondus (1663). – Joh. Gerhard (1666). – B. a. Piconio (1703). – J. Mackius (1710). – J. Langen (1729). – J. C. Wolfius (1741). – J. J. Wettstein (1752). – I. v. Mosheim (1755). – Ph. Doddridge (1759). – C. Klemmen
(1770). – G. T. Zachariä (1774). – F. Schleiermacher (1807). – W. M. L. de Wette (1844). – F. X. Maßl (1845). – G. E. Leo (1850). – J. Chr. K. v. Hofmann: Die Briefe Pauli an Titus und Timotheus (1874). – J. E. Huther (1876). – H. v. Soden (2. Aufl. 1893). – B. Weiss (2. Aufl. 1902). – A. Schlatter (1936). – M. Dibelius/H. Conzelmann (1955). – C. K. Barrett (1963). – G. Holtz (1965). – A. T. Hanson (1966). – N. Brox (1969). – C. Spicq (4. Aufl. 1969). – J. Jeremias (11. Aufl. 1975). – V. Hasler (1978). – J. Roloff (1988).
EINFÜHRUNG Die so genannten Pastoralbriefe stehen, wenn nicht alles täuscht, seit langem im Randbereich der Forschung. Andernorts längst überholte Hypothesen, wie z. B. die über gnostische Gegner, halten sich hier noch Jahrzehnte länger, und oft will es scheinen, dass das, was einst emotionaler Grundimpuls der historisch-kritischen Exegese war – das Ausspielen von späterer Kirche gegen die »reinen« Anfänge –, in der Exegese dieser Texte noch fortlebt. Wie oft haben vermeintlich radikale Professoren von ihren Schreibtischen aus über die Bürgerlichkeit der Pastoralbriefe gewettert, und ich habe es noch gut in Erinnerung, wie der verdienstvolle Alttestamentler H. D. Preuß bei der Erstellung unserer gemeinsamen Bibelkunde Wutanfälle darüber erlitt, dass sein Kollege den Pastoralbriefen zu viel der Aufmerksamkeit (und der Seitenzahlen) widmete. Paulus nicht der Verfasser? Die Argumente gegen eine paulinische Verfasserschaft sind in jedem Fall nur Indizien; sie gewinnen nicht im Einzelnen, sondern nur im Ganzen eine gewisse Überzeugungskraft. Deren Tragweite ist gerade im Fall der Pastoralbriefe sehr stark abhängig von dem hypothetischen Gesamtverlauf der Geschichte des Urchristentums. Die Hypothesen über das Gesamtbild sind stark konfessionell geprägt.
Bis ins 19. Jh. hinein hielt man an der paulinischen Verfasserschaft fest, die auch für die Reformatoren selbstverständlich gewesen war. Die Kommentare aus der altprotestantischen Orthodoxie haben den 1 Tim sehr geliebt. Die Herkunft des 1 Tim von Paulus hat zuerst J. E. C. Schmidt (1804) bezweifelt, ebenso dann F. Schleiermacher (1807); die Echtheit aller drei Pastoralbriefe wurde zuerst von J. G. Eichhorn (Einleitung, 1812) bestritten. Im 19. Jh. war der häufigst genannte Grund der Bestreitung der Echtheit die Annahme, Gegner der Briefe seien Gnostiker des 2. Jh. gewesen. Insbesondere bei F. C. Baur in Tübingen war die angeblich gnostische Gegnerschaft der Hauptgrund, den man gegen den paulinischen Ursprung ins Feld führte. Mittlerweile ist indes von gnostischen Gegnern nicht mehr »flächendeckend« die Rede, in Deutschland freilich die Bultmann-Enkel ausgenommen. Ich halte die Gnostiker-Hypothese und damit die Spätdatierung der drei Briefe für möglich, aber für alles andere als zwingend. Jedes einzelne Argument pro Gnostiker kann, wenn man es nicht von vornherein zu einer kohärenten These verschmilzt, ebenso gut oder gar besser (nämlich ohne anachronistische Elemente) anders erklärt werden. Auch die Exegese von 1 und 2 Kor sowie Kol und Eph hat diese Debatte durchmachen müssen. Die Auslegung der Pastoralbrie-
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Der erste Brief an Timotheus
fe bietet häufig die letzte Haltestelle für den Rest der neutestamentlichen Gnostiker-Hypothesen, die einst das JohEv und fast alle Gegner der Briefe des Neuen Testaments umfasste. Zur Gnostiker-Hypothese Das berühmteste und zugleich kühnste Argument ist, dass 1 Tim 6,20 auf die Schrift »Antithesen« des Markion hinweise. Für diese Hypothese muss man freilich die Stelle auch eindeutig übersetzen (»und die Antithesen der fälschlich so genannten »Erkenntnis«); dabei wird dann Antithesen wie auch Gnosis bereits technisch verstanden: Antithesen im Sinne der Konfrontation von materieller Schöpfung (Literalsinn der Schrift) mit geistiger Welt (allegorische Exegese) und Gnosis im Sinne der gnostischen Bewegung. Berger/Nord übersetzen: »Kümmere dich nicht um das leere Gerede und die Schwarzweißmalerei so genannter Theologie.« Hier wird beides noch nicht technisch verstanden, Antithesen im Sinne jüdischer Schriftauslegung versus heidenchristliche Exegese (z. B. Auslegung von Schriftstellen auf Juden oder auf Heidenchristen) und Gnosis im Sinne von theologischer Erkenntnis oder Theologie, wie es auch sonst bei Paulus vorkommt (z. B. in 1 Kor 13,8.12). Aus meiner Sicht ist die Deutung die wahrscheinlichste, die mit den wenigsten Zusatzhypothesen auskommen kann. Das zweitwichtigste Argument bezieht sich auf den Satz »die Auferstehung sei schon geschehen« (2 Tim 2,18). Der möglicherweise im Vorfeld der Gnosis stehende Text »Rheginusbrief« enthält eine parallele Formulierung (»… dass nichts auferstehen wird, das nicht schon auferstanden ist«). Der Topos der schon geschehenen Auferstehung aus Toten gehört freilich in die Bekehrungsliteratur und hat nicht speziell etwas mit Gnosis zu tun. Die Voraussetzung ist: Der Sünder ist tot (wie die Götzen, die er angebetet hat). Durch die Bekehrung zum lebendigen Gott ist er nun selbst lebendig geworden. Dieses Bild ist in Lk 15,24 genauso vorausgesetzt wie in Röm 6,11.13 und vor allem in Joh 5,21.24. Die Verfechter von 2 Tim 2,18 haben damit Taufe/Bekehrung besonders stark betont, aber das geschieht in Kol 2,12 und Eph 2,6 genauso. Auch in Eph und Kol ist daraufhin von einer künftigen Auferstehung nicht mehr die Rede. Es könnte sich daher um eine Position handeln, die Eph und Kol nahesteht.
791 Alle übrigen Argumente, wie z. B. der erzwungene Eheverzicht, sind gleichfalls nicht speziell gnostisch (Erklärung dann aus antimateriell-asketischen Gründen), sondern können durchaus als Anliegen eines strengen Pharisäismus (Reinheit!) verstanden werden (s. auch Offb 14,4). Damit aber ergibt sich kein einziges zwingendes Argument für Gnostiker als Gegner der Pastoralbriefe. Die »Mythen« von 1 Tim 1,4 und 4,7 müssen keineswegs im Sinne gnostischer mythologischer Systeme verstanden werden, sondern können sich gut und gerne auf ätiologische Legenden und halachische Weiterungen beziehen (wie wir sie z. B. aus dem Jubiläenbuch seit dem 2. Jh. v. Chr. kennen). Und dass Gnostiker so auf Reinheit erpicht waren, wie es von den Gegnern der Pastoralbriefe gilt, dürfte eher die Ausnahme gewesen sein (natürlich gab es, wie C. Colpe oft betont hat, auch zur gnostischen Aufklärung die zugehörige magische Praxis). – Wer meint, dass in 1 Tim 6,20 auf Markions Antithesen verwiesen würde, verwechselt Wirkung und Ursache (s. u. zu dieser Stelle). Mittlerweile sind längst Argumentationen mit angeblich frühkatholischen Elementen dieser Briefe an die Stelle der Gnostiker-Hypothese getreten: Die Pastoralbriefe seien nicht paulinisch, weil sie Elemente des frühkatholischen Verständnisses von Theologie und Kirche enthielten (Amt, Tradition, Rechtgläubigkeit nebst zugehöriger »Ausgrenzung« in Gestalt von Gegnerpolemik, Verblassen der Naherwartung). So hält man (zum Stichwort Amt und Amtsstrukturen) eine Szene wie 1 Tim 4,14 für undenkbar, wonach Paulus dem Timotheus im Kreis der Ältesten die Hände aufgelegt habe. Dieses Amtsverständnis widerstreite gänzlich paulinischer Theologie (Rechtfertigung, Gnadenlehre, Kirchenverständnis). Doch es könnte sich bei alledem auch um Zirkelschlüsse handeln, deren Grundintention war und ist, Paulus von »Kirche qua Institution« fernzuhalten. Eine plausible Begründung gibt es indes nicht. Ähnlich steht es mit dem Argument, die Rechtfertigungslehre der Pastoralbriefe sei theologisch gegenüber Paulus viel zu flach (es fehlt praktisch die Größe Gesetz darin), und andererseits sei die Polemik gegenüber dem Judentum zu scharf. Aber hier gilt: Wer nur von Gal, Röm und Phil 3 ausgeht, könnte schon 1 und 2 Kor kaum für
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792 paulinisch halten, auch nicht 1 Thess und Phlm. Wenn Paulus zu Wandlungen fähig war wie bei der zwischen 1 und 2 Kor einerseits und Röm, Gal, Phil 3 andererseits, ist es gut vorstellbar, dass sein Repertoire auch die Register der Pastoralbriefe enthielt. Ferner wird argumentiert, die Pastoralbriefe enthielten eine Reihe hellenistischer Begriffe, die typisch für die Wende vom 1. zum 2. Jh. n. Chr. seien (Retter, retten, Rettung [Stamm soz-]), »Erscheinung« (epiphaneia), Gesundheit als Metapher, »selig« (makarios) als Attribut Gottes, Frömmigkeit (eusebeia), getreu sein (pistos). Doch gleichzeitig gilt, dass alle diese Begriffe schon dem hellenistischen Judentum weithin geläufig sind. Warum soll sich Paulus hier nicht auf die Sprache des Gegenübers einlassen? Das tut er doch sonst auch. Die Einschätzung paulinischer Wandlungsfähigkeit sollte nicht von vornherein Stoppschilder setzen, die zwar vor allem dem späteren Theologen das Systematisieren erleichtern, aber die die paulinische Lebendigkeit womöglich beträchtlich unterschätzen. Solange das alles sichtlich eine Ermessensfrage ist, sollte man im Zweifelsfall für den Angeklagten votieren (d. h. für die Echtheit). Der Einwand, das Paulusbild dieser Briefe sei eher Selbstruhm (Beginn der »Heiligenverehrung«), falls die Briefe echt seien, trifft auch vermeintlich echte Paulusbriefe. Wer sagen kann »Ahmt mich nach, so wie ich Christus nachahme«, der kann das auch ausführen. Entweder hat man diese Passagen grundsätzlich verstanden (sie sind kein illegitimer Selbstruhm) oder man versteht sie auch in den Pastoralbriefen nicht. Wie insbesondere in 2 Kor, so wird auch in den Pastoralbriefen die Heilsbotschaft anhand der Person des Apostels Paulus personal dargestellt. Insbesondere seit der Arbeit von J. Schröter zu 2 Kor 4f versteht man die paulinische missionarische Biografie sehr viel stärker als bleibendes Quellgebiet seiner Theologie. Man kann auch mit diesem Punkt den Pastoralbriefen daher nicht am Zeuge flicken. Und wieder das konfessionelle Argument: Als sei das Loben von Menschen (oder gar das Eigenlob) gegen die Rechtfertigungslehre und daher der Beginn der Heiligenverehrung und daher gänzlich unpaulinisch und daher frühkatholisch und daher durch und durch unecht.
Der erste Brief an Timotheus
Besonnenere Exegeten geben zu, dass es sich bei den Pastoralbriefen um Dokumente der um Ephesus konzentrierten Paulusschule handeln dürfte. Die angeblichen Anspielungen des 1 Tim auf andere Paulusbriefe, was eine zuvor existierende Sammlung von Paulusbriefen bereits voraussetzt (J. Roloff: Der erste Brief an Timotheus, 1988, 39f), halte ich für viel zu weit hergeholt und methodisch höchst zweifelhaft; viel leichter könnte man anhand der größeren Paulusbriefe nachweisen, dass sie sich alle gegenseitig »zitieren«, sodass es dann in der Konsequenz überhaupt keinen echten Paulusbrief gäbe. Es ist doch bekannt, dass Paulus ähnliche Gedanken wiederholt formuliert, ohne dass literarische Abhängigkeit des einen Textes vom anderen vorliegen könnte oder müsste. Um Missverständnisse auszuschließen: Ich bin nicht der Meinung, dass es eine paulinische Einheitstheologie gegeben habe, der auch die Pastoralbriefe zwangsmäßig einzuordnen seien. Es führt kein Weg daran vorbei, innerhalb der paulinischen Theologie verschiedene Ansätze und Blöcke wahrzunehmen. Erst wenn man dazu vorurteilsfrei in der Lage ist, kann es möglich sein, die Pastoralbriefe eigens zu gewichten, in ihrem eigenen Profil zu erkennen und als Äußerung einer bestimmten paulinischen Strategie zu werten. Zu den Gegnern der Pastoralbriefe Die Gegner der Pastoralbriefe sind dualistisch und mutmaßlich apokalyptisch orientiert. Daher lehnt 1 Tim 6,20 »Antithesen« ab, eine rhetorisch-literarische Form, die immer einen Dualismus, und sei es den zwischen Literalsinn und allegorischem Sinn, begründet hat. Dualistisch ist auch das bekämpfte Reinheitsdenken. Und keiner der drei Briefe lässt eine apokalyptische Eschatologie erkennen. Diese Merkmale könnten Indizien sein für eine Theologie jüdischen Ursprungs: Das genuin priesterliche und pharisäische Reinheitsdenken wird weiterentwickelt zu einem dualistischen Weltbild. In diesem bestimmen asketische Züge die Alltagspraxis. Wie so etwas im vor-talmudischen Judentum denkbar ist, kann deutlich werden an der äthiopisch-jüdischen Falasha-Schrift »Teézaza Sanbat« (Gebote des Sabbat): »Das Paradies ist für solche,
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Der erste Brief an Timotheus
deren Leib in Reinheit ist, die reinhielten ihre Frau; für die Jungfrau, die keinen Mann kennt; für den Mann, der von seiner Jugend bis zum Ende seiner Tage keine Frau kannte und nicht heiratete« (Übers. W. Leslau, 18). Apokalyptik und radikale Askese sind hier eine enge Verbindung eingegangen. – Vgl. dazu 1 Tim 4,3! Demgegenüber verfechten die drei so genannten Pastoralbriefe eine Orientierung an der Schöpfung, die rein und unrein und jede dualistische Teilung nicht zulässt. Sie lässt auch eine Auflösung/Zerstörung am Ende nicht zu. Für die jüdische Theologiegeschichte wird erkennbar, welcher genetische Zusammenhang zwischen Reinheitstheorie, Askese, Dualismus und Apokalyptik besteht. Es versteht sich, dass hier auch für kirchlichen Neuplatonismus – jedenfalls im 3. Jh. n. Chr. – gute Einstiegschancen bestanden. Die Pastoralbriefe setzen gegen Reinheit und Askese, die man auch mit der Torah begründen kann, eine eigentümliche Ethik, die sich am christlichen Haus (»Haustafeln«) und an den unterschiedlichen Gruppen in der Gemeinde orientiert (1 Tim 3-6). Diese Texte stehen daher hier weder zufällig noch aus Verlegenheit, sondern als Bollwerk gegen asketische Weltflucht. Auch die Amtsauffassung der drei Briefe leistet in diesem anti-dualistischen Kontext ihren Dienst: Denn sonst müsste man möglicherweise streng weltflüchtige Super-Asketen zum Diakon, Presbyter oder Bischof wählen. Das Amt hat den Willen des Apostels zum Maßstab, nicht den Grad an Weltferne. Positiv: Die Orientierung der Pastoralbriefe an Schöpfung, Familie (Haus) und Gruppen in der Gemeinde ist Ausdruck einer pragmatischen und robusten Theologie. Warum sollte man Paulus, den wir in 1 Kor als Pragmatiker kennen lernten, nicht auch dieses zutrauen? Die zentrale Frage Die zentrale Frage für die Einordnung der Pastoralbriefe in das Gesamt paulinischer Theologie oder deren Nachwirkungen ist das Verhältnis des Apostels zum so genannten Amt (vgl. 1 Tim 3,1-13; 5,17; 6,1f; Tit 1,6-9; 2,2-10; Witwen: 1 Tim 6,3-10). Anhand der Diskussion um Röm 6,17 kann man gut deutlich machen, welchen »Eiertanz« die Forschung aufführt, um diesen
793 »amtsbejahenden« Satz Paulus absprechen zu können. Wenn das schon im Römerbrief geschieht, um wieviel mehr wird man sich dann an den Pastoralbriefen weiden! Im Hintergrund geistert noch immer die Auffassung vom Anfang des Christentums als einem ämterfreien Liebeskommunismus. Einen Apostel Paulus, der sich in 1 Kor als so besonnener, wirklichkeitsnaher Seelsorger zeigt, wird man damit kaum in Verbindung bringen können; vgl. nur 1 Kor 12,28 f. Und Naherwartung mit Freiheit von »Institutionen« zu verknüpfen, heißt Äpfel mit Birnen zu vertauschen. Bestimmte Ämter werden geradezu aus der Eschatologie geboren (vgl. zu Mt 10). Auch nach 1 Tim 1,20 kennt Paulus noch die »Übergabe an den Satan« (wie in 1 Kor 5). Zugegeben: Das Kirchenrecht hat eine bewegte Geschichte. 1 Tim 1,20 zeigt: Am Anfang ist es rätselhafter, vielleicht brutaler da als später. Keiner wird heute so naiv sein, die Anfänge mit dem 13. Jh. zu verwechseln. Aber gegen das Zeugnis des Neuen Testaments die Anfänge für eine »autoritätenfreie (herrschaftsfreie) Zone« zu erklären, das passt seit Jahrhunderten in die antikirchliche Ideologie. Der Mittelweg wird der richtige sein. Die »rechte Lehre« Dass Paulus, der nach Gal 1,8 kein »anderes Evangelium« ertragen kann und Menschen verflucht, die ein solches propagieren, kein Interesse am rechten Weg und der rechten Lehre nach den Pastoralbriefen haben könne (Formel »zuverlässig ist das Wort«), ist völlig unrealistisch. Das gilt besonders, wenn es wie nach 1 Tim 1,6 in Richtung Heidentum geht; denn so etwas war doch auch der Vorwurf an die Galater in Gal 4,9 f. Datierung Ich halte es auch nicht für gut, die Pastoralbriefe insgesamt, gewissermaßen um die Forscher zu beruhigen, wenigstens als Spätwerk anzusehen. Dafür spricht nichts. Eine Kenntnis oder gar Benutzung der Apg lässt sich nicht nachweisen. Wann die Gefangenschaft anzusetzen ist, von der 2 Tim 1,8 spricht, muss einstweilen offen bleiben. Die Affinität der Sprache zur allgemeinen Missionsterminologie lässt diese Briefe eher in der früheren bis mittleren Periode des Apostels vermuten, also in seiner Zeit in Ephesus.
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Der erste Brief an Timotheus
Denn die konventionelle Missionssprache gebraucht Paulus in der Frühzeit z. B. in 1 Thess. Für eine relativ frühe Zeit spricht auch die Orientierung der Länge der Briefe am allgemeinen
Brauch. Erst 1 und 2 Kor, Gal und Röm gehen z. T. weit über den üblichen Umfang von Briefen hinaus.
KOMMENTAR 1 Tim 1,1–10: Der Apostel zwischen den Fronten Zu 1 Tim 1,4: »Genealogien« s. zu Tit 3,9. Gegenkonzept: Revelationsschema in Eph 3,5; Kol 1,26 (beide mit genea!); 1 Kor 2,7; Röm 16,25f; 1 Petr 1,20. Zu 1 Tim 1,5: Gewissensbegriff der Pastoralbriefe (vgl. 1,19; 3,9; 4,2; 2 Tim 1,3; Tit 1,15). Gegenüber den anderen Paulusbriefen ist hier der Begriff des Gewissens stark entwickelt. Das rührt ohne Zweifel daher, dass die geschriebene Torah als sittliche Norm in den Hintergrund trat und für die Mission nur noch die Gebote der 2. Tafel des Dekalogs (siehe zu 1,9b.10) eine Rolle spielen. Dass man diese mit Menschenliebe gleichsetzt, wie üblich, könnte aus 1,5 gut belegt werden. Die Instanz, vor der es zu bestehen gilt, ist das Gewissen. Es kommt darauf an, dieses rein zu bewahren (1 Tim 1,5 und 3,9; 2 Tim 1,3; synonym zum reinen Gewissen ist das gute Gewissen nach 1 Tim 1,19) bzw. nicht zu beflecken (Tit 1,15). Auch aus den großen Paulusbriefen ist diese Vorstellung bekannt (1 Kor 8,7) und ebenso im Umkreis belegt (Hebr 9,14; 10,22). Das Gewissen ist demnach etwas Heiliges, das man verunreinigen (beflecken) oder auch reinigen kann. Die Voraussetzungen für diese Vorstellung sind hier zu rekonstruieren, und zwar auch mit Hilfe des theologisch benachbarten Hebräerbriefes: Die Reinigung des Gewissens geschieht durch das Sühnopfer Jesu Christi. Appliziert wird dieses in der Taufe. Die Christen können daher aus reinem Gewissen handeln, aus einem unbelasteten Verhältnis zu Gott und zu sich selbst heraus. Das Gewissen im Menschen hat demnach eine ähnliche Funktion wie das Allerheiligste im Tempel, näherhin wie der Deckel der Bundeslade. Hier ist der heiligste Ort, hier sammelt sich die Sünde, hier wird sie getilgt. Die Theologie des Hebr wird von hier aus noch einmal ganz neu
verständlich: Denn typologisch entspricht dem Deckel der Bundeslade (griech.: hilasterion), der am Jom Kippur gereinigt wird, das Gewissen; besonders in Hebr 10,22 ist dieses die Voraussetzung der Interpretation. Der Hohepriester Jesus Christus reinigt im himmlischen Heiligtum erstaunlicherweise das Gewissen. Das geschieht durch die Taufe. Also ist der Rahmen der Vorstellung hier eine Entsprechung von Mikro- und Makrokosmos. Dem Deckel der Bundeslade im Allerheiligsten, dem Ort vor Gottes Thron im Himmel, entspricht im Mikrokosmos das Gewissen des Menschen. Fazit: Wenn die entscheidende Sühne durch den Tod Jesu bewirkt wurde, dann ist dies Reinigung des Gewissens. Die eher defensiv am Buchstaben des Gesetzes orientierten pharisäischen Vorstellungen von Reinheit verblassen demnach. Das wäre aber genau die Position der Gegner der Pastoralbriefe (vgl. unten zu Gegnern). Zu 1 Tim 1,9: »Wenn einer sich anständig verhält, muss er auf das Gesetz nicht achten.« Der Satz ist eine ältere, seit ca. 400 v. Chr. belegte, Redensart: »Wer kein Unrecht tut, bedarf keines Gesetzes« (Antiphanes), oder: »Was sich gut verhält, ist nirgendwo besser als selbst das Gesetz« (Menander), oder »Dem Vollkommenen muss man weder befehlen, noch verbieten, noch ihn ermahnen. Denn keines davon benötigt der Vollkommene« (Philo v. Alexandrien; Nachweise in: Berger/Colpe, Textbuch Nr. 552, 294). Der Satz in 1 Tim 1,9 ist nicht gegen das jüdische Gesetz gerichtet, könnte aber mit einer kleinlichen Buchstabentreue ins Gehege kommen. Auch bei dem Juden Philo besteht kein Konflikt mit der Torah. Der Satz entspricht aber der beobachteten Neigung, die Torah inhaltlich neu zu bestimmen, und zwar von dem her, was man jeweils unter Gerechtigkeit verstand.
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Kapitel 1
Die Gegner in 1 Tim 1 Nach 1,4 verbreiten die Gegner »Phantastereien und endlose Stammbäume«. Nach 1,7 wollen sie »Lehrer des Gesetzes« sein. Liest man diese Angaben mit 1,9 zusammen, so ergibt sich eine pharisäische, frührabbinische Gegnerschaft. Die Stammbäume beziehen sich entweder auf die Traditionsketten bei Lösungsvorschlägen zu Problemen des Gesetzes (»Rabbi X lehrte im Namen des Rabbi Y, und dieser lehrte es im Namen von Rabbi Z und Rabbi S«) oder auf die Zurückführung von Antworten auf vorsintflutliche Väter (Adam, Seth, Henoch, Noah) oder solche der Erzväterzeit (Jakob, Isaak, Levi, Leviten …). In jedem Fall geht es um jüdischen Traditionsbeweis. Der erstgenannte ist auch in Mischna und Talmud üblich, der letztgenannte in der Literatur der Apokalypsen und Testamente (auch TestXII). Die »Mythen« sind wohl erfundene Geschichten zu biblischen Personen. Zu den Gegnern vgl. weiter zu Kapitel 3. Für diese Gegner wird auf jeden Fall gesprochen haben: pharisäische Observanz, Buchstabentreue und präzise Verbindlichkeit der Regeln. In 1,9b.10 setzt sich 1 Tim außerdem klar gegen eine andere Front ab: gegen Heiden, denen man heidnische Lasterkataloge nachsagen kann und die kein Gesetz kennen. Paulus führt demnach hier einen Zwei-Fronten-Krieg. Der Lasterkatalog in 1,9b.10 ist dekalogähnlich, d. h. er orientiert sich fast genau an den Geboten 5-9. Aus der zweiten Tafel des Dekalogs: Mord entspricht dem 5. Gebot, Eltern töten auch dem 4. Gebot, Hurerei und Kinderschänden entspricht dem 6. Gebot, Menschenhandel trifft sehr genau die Grundbedeutung des 7. Gebotes, Lüge und Meineid trifft die zeitgenössische Auslegung des 8. Gebotes (Philo, De specialibus legibus). – Diese Reihe spiegelt damit (wegen des Kontextes »Heiden«) die grundlegende Bedeutung des Dekalogs bei der Heidenmission. Erstaunlich: Das, was man den Heiden nachsagt, also typisch heidnische Laster, sieht 1 Tim nicht im Sinne »objektiver« Bestandsaufnahme, sondern nach den christlich-jüdischen Kriterien der Dekaloggebote. Der Gegner erscheint daher ganz nach dem Bild des Betrachters.
1 Tim 1,12-17: Apostel von Christi Gnaden Die historische Sonderstellung des Apostels wird aus diesen Zeilen überdeutlich. Er war zuvor Christenverfolger, und dieses negative Image wirkt sich für seine Wirkung noch immer verheerend aus. Deshalb berichtet er hier von sich, von seinem Verfolgen und von seiner Bekehrung. Er tut es, um sich zu legitimieren, um den Zweiflern und Gegnern das Maul zu stopfen. Aus diesem Grund ist auch die Danksagung, verbunden mit dem autobiografischen Stil, das beste Mittel der Verteidigung. Denn wenn er dankt, dann ist ja nicht mehr er es, sondern dann ist es Jesus Christus, der den entscheidenden Wandel bewirkt hat. Und dann kann er auch sogleich sagen, dass Jesus Christus ihn für diesen Dienst eingesetzt hat – und nicht er selbst sich ihn genommen oder angemaßt hat. Der Dienst heißt »diakonia«, und damit ist jede öffentliche Funktion zu allgemeinem Nutzen gemeint. Hier fällt dann auch schon ein für die Pastoralbriefe (1 und 2 Tim, Tit) wichtiges Wort: Jesus hat ihn für »treu« (griech.: pistos) »vertrauenswürdig«, »glaubwürdig« gehalten. Dieses Wort wäre in den Augen der Adressaten eine Art »Persilschein«. Doch es muss unter den gegebenen Umständen auch ärgerlich wirken, erstens weil Paulus es von sich selbst sagt (man sagt nur über andere, dass sie glaubwürdig sind), und zweitens weil es Paulus ist, der dieses Wort für sich gebraucht. Denn er, der umgedrehte Verfolger, ist gerade nicht treu und glaubwürdig. Es kann sein, dass Paulus mit diesem Wort seine Leserschaft absichtlich reizt. Darauf weist vor allem der unmittelbar folgende Satz in V. 13, der die gesammelten Schandtaten des Apostels aufzählt ([Gottessohnschaft] gelästert, Gemeinde verfolgt, Christen Böses angetan, aus Unwissenheit gehandelt). Hier und im Folgenden gebraucht Paulus einen stark adversativen Stil. Gottes und Jesu Christi Handeln in der Welt, besonders am Apostel, steht in scharfem Gegensatz zum vorherigen Wirken des Apostels und zur Verlorenheit der Welt. Die Gegensätze sind so groß, dass nur Gottes eigenes Erbarmen und der Überreichtum seiner Gnade die Welt retten können. Dass Paulus vorher gelästert hat (V. 13), bezieht sich deshalb auf die Gottessohnschaft Jesu, weil die synoptischen Evangelien es über die
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796 Feinde des Gottessohnes Jesu genauso sagen; lästern (Mk 3,28f) heißt ja behaupten, Jesus sei nicht vom Heiligen Geist erfüllt, sondern von Beelzebul. Als Jesus sich sehr wohl zu seiner Gottessohnschaft bekennt (Mk 14,62), ruft der Hohepriester aus, Jesus habe Gott gelästert. Es fällt auf, dass Paulus hier die Missionssprache der hellenistischen Synagoge wählt, wenn er sein eigenes Vorher und Nachher beschreibt. Dazu gehört auch das eben erwähnte Lästern. Nach dem bekannten jüdisch-hellenistischen Bekehrungsroman »Joseph und Aseneth« will die ägyptisch-heidnische Priestertochter Aseneth den Patriarchensohn Joseph heiraten. Als sie sich zum Judentum bekehrt, bekennt sie: Ich habe Joseph vorher gelästert, da ich ihn nicht »Gottes Sohn« nannte; »Sohn Gottes« meint hier Joseph als den, der zu Gott gehört, weil er an Gott glaubt. Ganz ähnlich geht es auch in der jüdischen »Weisheit Salomos« (2,12-22) zu: Die Gegner des Gerechten, d. h. des Sohnes Gottes, lästern ihn, da sie ihm den Titel »Sohn Gottes« absprechen bzw. sich verächtlich darüber äußern. – In die Missionssprache weist auch das Stichwort »vorher aus Unwissenheit gehandelt«. Wir kennen dieses Stichwort auch aus den Missionsreden der Apostelgeschichte. Dort bescheinigen die Apostel den Juden, sie hätten Jesus »aus Unwissenheit« gekreuzigt (Apg 3,17). Dieser Topos der Unwissenheit dient jeweils dem Brückenbauen: Wo die volle Erkenntnis über das Angerichtete fehlte, war auch die Schuld nicht so groß. Auch Jesus bittet nach Lukas um Vergebung für seine Mörder, die aus Unwissenheit gehandelt haben (Lk 23,34). Indem Paulus in 1 Tim 1 das Motiv der Unwissenheit für sich in Anspruch nimmt, liefert er auch ein klein wenig eine Entschuldigung mit. Verfolgen und Böses antun ist das, was die Gegner des unschuldigen Gerechten und Sohnes Gottes ihm nach WeishSal 2 angedeihen lassen. – Fassen wir zusammen: Alles, wessen sich Paulus bezichtigt, ist nicht gerade unerhört neu. Die Stichworte sind aus Zusammenhängen bekannt, in denen es sich um Mission und Bekehrung handelt – oder wenigstens um die Einsamkeit des verfolgten Gerechten und sein Leiden unter seinen noch unwissenden Gegnern, die ihn lästern. In 1,15 folgt einer der Merk- und Traditionssätze der Pastoralbriefe, die die Einleitung aufweisen: »Getreu ist das Wort« (eigentlich: Dies ist
Der erste Brief an Timotheus
ein Grundsatz, den alle annehmen sollten; vgl. z. B. 2 Tim 2,11; Tit 3,8). Dass es sich um einen solchen generell wichtigen Satz handelt, darauf weist auch die Wendung »ist in die Welt gekommen, um zu …« (1 Tim 1,15). In den Evangelien heißt das: »Dazu bin ich gekommen, um zu …« (oder: »Der Menschensohn ist [nicht] gekommen, um zu …, sondern …«). Auch hier geht es um Zusammenfassungen des Wirkens Jesu. Paulus nimmt den adversativen Stil wieder auf: Jesus ist in die Welt gekommen, die Gottlosen zu retten. Dann aber nennt Paulus sogleich sich selbst: »Dass Gott sich meiner erbarmt hat …« (1,16). So stellt er sich mit den Gottlosen auf eine Stufe; diese heißen hier im Griechischen »Sünder«: die im Judentum klassische Bezeichnung für Heiden, Menschen, die falsche Götter anbeten. Indem Paulus wie ein Heide/Sünder Erbarmen gefunden hat, ist er gleichzeitig Vorbild für die Leser des Briefes, die wohl im Raum Ephesus wohnen und gleichfalls Heiden waren. Wenn Paulus auch nicht besser war als sie, dann sind sie eingeladen, sich nach seinem Vorbild auf sein Evangelium hin zu bekehren. Warum ist wahr, was Paulus hier sagt? Es gibt einen kurzen Vers, der einen Blick in das Innere des Apostels tun lässt. »In Überfülle erreichte mich die Gnade des Herrn und befähigte mich, zu glauben und zu lieben in lebendigem Kontakt mit Jesus Christus« (1,14). »Überfülle« – das ist es, das ist das Merkmal der messianischen Epoche, die an Jesus gebunden ist und die es zuvor nicht gab. »Überfülle« – das ist die überwältigende Ausstrahlung und Segensmacht, die mit Jesus Christus jetzt auf dem Plan der Weltgeschichte ist. Überfülle – das ist genau die Maßlosigkeit, die das Maß der Liebe ist. Am schönsten hat Paulus das in Röm 5,20 gesagt: »Wo aber die Sünde blüht (übervoll ist), da blüht die Gnade noch kräftiger (über die Maßen übervoll).« Denn rein formal ist die Überfülle das Prinzip der Erlösung: Jetzt gilt nicht mehr Sparsamkeit und nur das Tun des Notwendigsten, Gott schenkt aus vollen Händen und kommt insofern erst richtig dazu, als Gott zu wirken. Denn Überfülle an Vitalität, Gnade und Freude sind exklusive Merkmale Gottes. Jede Berührung mit Gott wird jetzt zu einer Berührung mit dem ungeheuren Reichtum an Leben, der sein Merkmal ist. Die ganze Welt ist nur Vorzimmer, Vorbau, Vorbereitung
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Kapitel 2
für den noch sehr viel wunderbareren Prozess des Lebens, dessen Inbegriff schon immer Gott war. Und wenn Paulus hier nur wie kurze Stichworte »Glaube und »Liebe« nennt, dann meint er damit doch nur Anfangs- und Schlussglied jener Lebenskette jeder christlichen Existenz. Denn am Anfang steht immer der Glaube, daraus gehen seine Früchte hervor, als letzte und reifste Frucht ist oft die Liebe genannt wie in den Reihen 1 Kor 13,13 (Glaube, Hoffnung, Liebe) oder 2 Tim 1,13;2,22 oder 2 Petr 1,5-7 (Glaube …, Liebe). – Der Reichtum der Gnade äußert sich in der Fülle der Früchte des Glaubens. So erweist sich am Ende unserer Betrachtung der Dank, den Paulus äußert, nicht nur als kirchenpolitisches Mittel der Legitimation, sondern als Antwort auf das Erlöstsein, das für Paulus reine Freude ist. Auch das Wort »Langmut« findet sich in Missionspredigten, die an Heiden gerichtet sind: In Langmut hat Gott lange Zeit ihre Ablehnung und ihr unrechtes Tun ertragen (vgl. Apg 17,30; 14,16). Die Langmut Gottes im Ertragen der sündigen Heiden, auf die die Heiden sich schließlich eingelassen haben, entspricht seiner Unvergänglichkeit, aus der heraus er ewiges Leben schenkt. Auch dabei geht es nicht um starre Unveränderlichkeit, sondern um die Fülle unbegrenzter Vitalität. Wahr ist daran, dass es nicht um nur richtige »Erkenntnis« geht, sondern um Gottes erweiterte Familie und Lebensgemeinschaft, um Glauben und Liebe. Diese Praxis trägt sich gewissermaßen selbst, und dazugehören ist alles. Warum tut sich die Welt so schwer, diese Botschaft anzunehmen? Paulus würde wohl sagen: Gottes Handeln meint die ganze Welt (V. 15). Wer im »nationalistischen« Starrsinn verharrt, wer nur auf sein Volk oder seine Clique starrt und exklusiv dafür Gott in Anspruch nimmt, hat von Gott nichts begriffen.
1 Tim 2,1-8: Haustafel Das ganze Kapitel 2 gehört zur Gattung der Texte, die man seit dem 16. Jh. »Haustafeln« nennt, in Wahrheit eine Mischung aus stoischer Pflichtentafel für den Hausherrn und Familienvater sowie den Anweisungen der Traktate unter dem Titel Oikonomikos (»Über die Hausverwaltung«), wie er seit Aristoteles üblich ist. – In der stoischen
797 Pflichtentafel werden zuerst die Pflichten gegenüber den Göttern und dem Vaterland genannt; man sieht, wie das hier in 2,1-7 durchschimmert, ja auch 2,8 noch bestimmt hat. In 2,9-15 werden dann die Pflichten der Hausfrau genannt, wie sie den Traktaten über die Hausverwaltung entspricht. Diese Pflichten stehen denen des Mannes gleich stark gegenüber; denn das ganze Kapitel 2 gehört zu einer Gattung. Es war bereits in der hellenistischen Synagoge üblich, statt Opfer für den Kaiser darzubringen, Fürbitte für ihn zu leisten. In 2,1f wird dieses elegant aufgenommen und der Fürbitte für alle Menschen ein- und untergeordnet. Wenn man für alle Menschen bittet und dankt, dann darf man darunter auch Könige (im Osten des Reiches umfasst das auch die römischen Kaiser) und Obrigkeiten verstehen. Wenn man für sie erbittet, dass »wir«, also wohl alle miteinander, in Frömmigkeit und Ehrerbietung ihr Leben gestalten, dann umfasst das auch die Bitte, sie mögen Christen werden. In 2,4 wird das dann ausdrücklich auch gesagt. Dabei ist 2,4f in jüngster Zeit geradezu gewalttätig missverstanden worden: »Gott will, dass alle Menschen dadurch erlöst werden, dass sie ihn als die Wahrheit (= die wahre Wirklichkeit) kennen lernen. Denn es gibt nur einen Gott und nur einen Mittler zwischen Gott und den Menschen, den Menschen Jesus Christus.« Eigenartigerweise soll dieser Satz belegen, dass alle Menschen in allen Religionen ohne Mission durch Gottes allgemeinen Heilswillen so, wie sie sind, gerettet werden. Dafür zitiert man den Satz ohne Kontext und nur in der ersten Hälfte: »Gott will, dass alle Menschen gerettet werden.« Man legt den Ton auf »alle«. Dass es um die Wahrheit geht und in V. 5 um den einen Gott und den einen Mittler, das wird, da man nicht damit rechnet, dass jemand an der Stelle nachschaut, großzügig verschwiegen. Ähnliches geschieht dann gleich mit 2,6: »Er gab sich als Lösegeld für alle.« Diese Stelle benutzt man als angeblichen Beleg dafür, dass auch in Mt 26,28 »für viele« im Sinne von »für alle« verstanden werden müsse, – und versteht es hier wie dort so, als sei Christwerden dann nicht mehr nötig, weil Jesus ohnehin automatisch für alle gestorben sei. Nein, dieses »automatisch« hat nie gegolten. »Für alle« heißt auch hier: als Einladung für alle, dass sie an ihn glauben und durch seine Stellvertretung selig werden.
Berger (08129) / p. 798 / 19.5.2020
798 Die skizzierte andere Auslegung ist auch deshalb unverantwortlich, weil die Formulierung in V. 5 »Denn es gibt nur einen Gott und nur einen Mittler zwischen Gott und Menschen, den Mensch Jesus Christus« ein typisch missionarischer Werberuf ist. Erik Peterson hat dazu 1926 ein materialreiches Buch geschrieben, das den Titel »Heis Theos« trägt, gerade so, wie es auch in 2,5 heißt (»Es gibt nur einen Gott«). Peterson zeigt, dass es sich dabei um einen »Schlachtruf« aus der interreligiösen Konkurrenz handelt, und das ist nicht zuletzt in Inschriften belegt. »Es gibt nur einen Herrn, das ist Serapis«, »Es gibt nur eine Göttin, das ist Isis«, so oder ähnlich konkurrierten die Religionen durch Parolen miteinander. Im Judentum bildeten sich dann, wie wir an Flavius Josephus (1. Jh. n. Chr.) sehen, auch Mehrfach-Formeln dieses Inhalts heraus: »Ein Gott, ein Volk, ein Gesetz«. Und selbst die Nazis, haben getreu dieser Tradition für sich geworben mit der entsprechenden Formel: »Ein Volk, ein Gott, ein Führer«. 2,2 übersetzt Luther: »… dass wir ein geruhliches und stilles Leben führen mögen«. Darüber haben sich dann die Exegeten des 19. und beginnenden 20. Jh. lustig gemacht, da sie meinten, in diesem Wunsch die spießbürgerlichen Ambitionen des Verfassers (der natürlich schon aus diesem Grunde nicht Paulus sein konnte!) erkennen zu können. Jetzt, am Ende der Neuzeit, zeigt man für diesen Wunsch wieder mehr Verständnis. Berger/Nord haben deshalb übersetzt: »… dass unser Leben in eine Friedenszeit fallen möge, in der wir frei sind von Angst und keiner uns verbietet, an Gott zu glauben und ihn allein anzubeten« (Letzteres als Wiedergabe von »in Frömmigkeit und Ehrerbietung«). Wir halten fest: Nicht zuletzt durch die Wendung in 2,4 »Er (sc. Gott) will …, dass alle Menschen zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen« ist dieser Text als eindeutig missionarischer erkennbar. Alle übrigen Elemente weisen genauso darauf hin, dass es sich um einen Werbetext handelt. Dass man nun in der innerchristlichen Diskussion genau das Gegenteil daraus gemacht hat, nämlich einen angeblich Mission für überflüssig erklärenden Text, sagt mehr über die gegenwärtige Kirchengeschichte als über den ehrwürdigen Text. Wenn aber das Ganze ein missionarischer Text
Der erste Brief an Timotheus
ist, darf man fragen, was sich Paulus (oder sein Schüler) davon versprochen hat, dass er hier von dem »einen Gott«, dem einen Mittler, dem Menschen Jesus Christus und von der Hingabe seines Lebens redet. Das mit dem »einen Gott« ist klar: Monotheismus lag im (philosophischen) Trend der Zeit, wie auch das Material bei E. Peterson zeigt. Bei Jesus Christus liegt der Ton auf dem »Menschen«. Ähnliches betont auch der Hebräerbrief: Der Mittler ist »einer von uns« (Hebr 5,1). Religion ist hier kein in sich geschlossenes mythologisches Gebilde, sondern ragt in der Gestalt des Mittlers mitten hinein in die menschliche Geschichte. Religion ist kein Film mit Götterfabeln aus dem Jenseits, sondern hier gibt es einen Menschen, der den Weg zu Gott mit seiner menschlichen Existenz darstellt. Wir wissen aus der Umwelt des Neuen Testaments, dass Gestalten wie Sokrates, Alexander der Große oder Diogenes und selbst noch der Halbgott Herakles die Menschen weitaus mehr interessierten als alle Götter zusammen, weil sie ein mehr oder weniger leidund mühevolles menschliches Geschick zu tragen hatten. Die Glaubwürdigkeit eines Lebenskonzeptes hing schon erheblich daran, dass die Vorbildfigur als Mensch Bodenhaftung besaß. Dasselbe gilt hier nun auch für das dritte Element, die Hingabe des Lebens. Gerade hier liegen andererseits auch heute die größten Schwierigkeiten im Verständnis. Für die Adressaten des 1 Tim liegt dagegen gerade hier das stärkste Argument. Denn Mittler zwischen Gott und den Menschen war dieser Mensch nicht nebenbei, sondern er hat sein ganzes (!) Leben – sich selbst – eingesetzt, gegeben als Lösegeld, als Wiedergutmachung für unsere Sünden. Ähnlich wie in Mk 10,45, das fast die gleichen Wörter benutzt (nur lytron statt antilytron in gleicher Bedeutung: »Lösegeld«). So übersetzen Berger/Nord: »Er hat sein ganzes Leben für alle Menschen eingesetzt, um ihre Sündenschuld durch seine Gerechtigkeit aufzuheben.« Denn es geht nicht nur um Tod und Blut, sondern um das ganze Leben inklusive Tod. – Diese Vorstellung, dass ein Gerechter gewissermaßen Ausgleich schafft vor Gott für die Sünden seiner Zeitgenossen, ist gerade in Israel bekannt. So sagt 1 QS VIII über die Elitegruppe der Zwölf Männer in Israel: »Ein heiliges Haus für Israel …, um darzubringen einen angenehmen Opfergeruch … Und sie sol-
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Kapitel 3
len wohlgefällig sein, zu sühnen für das Land …« Hier gibt es also innerhalb Israels Menschen, die durch ihren gerechten und torahtreuen Lebenswandel Ausgleich und Sühne schaffen vor Gott und damit selbst als Gruppe die Funktion eines »heiligen Hauses« besitzen, also eines Tempels: ähnlich wie Jesus sich Tempel nennt und wie die Gemeinde Tempel nach Paulus ist. – Es ist, wie wenn Jesus dem himmlischen Vater sagt: »Blicke auf mich, Vater, schone um meinetwillen alle anderen. Er sagt: Wenn du an mir Freude hast, dann lass diese Freude auch für alle anderen gelten. So lass dich versöhnen durch mich. Ich trete für sie ein, weil ich sie liebe. Blicke nicht auf ihre Sünden, sondern auf meinen Gehorsam. Denn der Justizskandal meiner Hinrichtung sollte ihnen doch nun wirklich eindeutig klar machen, dass ich keine Schuld trage vor Gott und den Menschen. Vielleicht ärgern sie sich wenigstens über diesen Skandal, vielleicht wird an der brutalen Bestrafung eines völlig Unschuldigen wenigstens ihr Instinkt für Gerechtigkeit geweckt. Und da sie immer nach dem Sinn fragen, lass sie erkennen, dass mein ganzes schuldloses Leben einen einzigen Sinn hatte: Dir Freude zu machen und den Menschen zu zeigen, dass Unschuld vor dir etwas vermag, nämlich dein Herz zu bewegen.«
1 Tim 3,16: Lobpreis Christi Der Gattung nach ist 3,16 ein Enkomion (K. Berger, Formen und Gattungen, 2005, 401-410); darauf weist schon der Beginn mit »welcher ist« (griech.: hos estin), der stets (wie z. B. Kol 1,16; Phil 2,6; Hebr 1,4 etc.) an eine Explikation des »Namens« Jesu denken lässt. Der Form nach ist 3,16 eine quasi-biografische Reihung von sechs anaphorischen Passiva; man geht nicht fehl, diese als passiva divina einzuordnen (Gott als Subjekt). Ähnlich wird Geschichte durch Reihung gedeutet in WeishSal 10,16 ff (Aretalogie, eine Aufzählung von Machttaten). Eng verwandt ist Justin, Dial 85,2 (geboren, leidensfähig geworden, gekreuzigt, gestorben, auferstanden, hinaufgestiegen), wo es in einem magischen Kontext um eine Entfaltung des Namens Jesu geht. – Das Element der »Gerechtigkeit« (Zeile 2 in 3,16) verbindet das Enkomion mit
799 der Darstellung des Lebens des Gerechten (vgl. Lk 23,47). Aus alledem wird deutlich, dass es sich hier und in vergleichbaren Texten nicht um »Hymnen« handelt, die man gesungen hätte. In drei Gegensatzpaaren wird vor allem Jesu nachösterliches Geschick und seine Bedeutung für die ganze Welt (»Heidenvölker«, »Welt«) dargestellt. Diese Gegensatzpaare sind: Fleisch/Geist, Boten/Heidenvölker, Welt/Herrlichkeit. Fleisch und Geist stehen sich in christologischer Bedeutung auch in Röm 1,3f gegenüber. Ähnlich ist auch 2 Tim 2,8 (»auferweckt aus Toten«, »aus dem Geschlecht Davids«). Jedenfalls ist Röm 1,3f die Brücke zum Verständnis beider Stellen: 1 Tim 3,16a und 2 Tim 2,8. Von den vergleichbaren Texten ergibt sich folgendes Bild: 1 Tim 3,16 und Röm 1,3f bezeichnen mit dem Gegensatz von Fleisch und Geist Jesu Menschsein und seine Eigenschaft als Gottessohn. Ähnlich 1 Petr 3,18 (gestorben als Mensch, lebendig gemacht durch Gottes Geist). In Röm 1,3f ist Jesus als Mensch zusätzlich aus Davids Geschlecht, das gilt auch für 2 Tim 2,8 (aus dem Geschlecht Davids), und bei »(Heiliger) Geist« steht in Röm 1,3f der Zusatz »aufgrund der Auferstehung der Toten«, ähnlich auch hier 2 Tim 2,8 (auferweckt aus Toten), Dabei fällt auf: Nur in 2 Tim 2,8 fehlt die Opposition Fleisch/Geist. – Alle diese Texte sind traditionsgeschichtlich untereinander verwandt, und zwar im Rahmen gebundener mündlicher Tradition. Die Auferstehung Jesu, bewirkt durch den Heiligen Geist, ist hier als seine »Rechtfertigung« begriffen. Gemeint ist: Die durch das Kreuz infrage gestellte Legitimität – Jesus wird als Verbrecher hingerichtet – ist in der Auferstehung durch die öffentliche Präsentation der Gotteskindschaft Jesu im Heiligen Geist wiederhergestellt. Dieselbe Konzeption liegt Joh 16,10 zugrunde: Dass Jesus zum Vater geht, d. h. dorthin, woher er gekommen ist, bedeutet »Gerechtigkeit«, die ihm widerfahren ist. – Umstritten ist »erschien den Boten«, denn »angelos« kann Bote wie Engel heißen; von einer Erscheinung Jesu vor Engeln ist allerdings nirgends die Rede; die Überwindung der Mächte und Gewalten wird anders beschrieben. Auch in der Offb gibt es Boten der Gemeinden, die angeloi genannt werden (Gemeinde-Engel gibt es nicht). Entscheidend ist aber, dass »er erschien« (griech.: ophthe) Fachausdruck für das Erschei-
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800 nen des Auferstandenen vor Jüngern nach Ostern ist (z. B. in 1 Kor 15 oder in Lk 24,34). Im Verhältnis zu anderen paulinischen Briefen ist nicht der eine Apostel im Verhältnis zu seinem Herrn im Blick, sondern es ist die Mehrzahl der Boten hervorgehoben. Zudem besteht ein enger sachlicher Zusammenhang zwischen Erscheinung und Verkündigung. »Heidenvölker« und »Welt« gehören zusammen. Der Schluss von 3,16 (»aufgenommen in Herrlichkeit«) zeigt, dass es sich nicht um eine Nacherzählung der Missionsgeschichte handelt, sondern um einen christologischen Lobpreis. Gerade darin ist dieses Enkomion mit Phil 2,6-11 vergleichbar: Wesen und Ziel der Mission ist die Verherrlichung Christi. Ähnlich sieht es auch EpistApost 51,3-5 (Berger/Nord, 1018). Der Vergleich von EpistApost mit 1 Tim 3,16 erbringt: In beiden Fällen wird in der Erscheinung des Auferstandenen, inklusive Schluss der Erscheinung, die gesamte »Zeit der Kirche« besprochen. Und das ist über diese beiden Texte hinaus die Funktion der Berichte über Oster-Erscheinungen, insbesondere gilt das für ihren Schluss. Denn es ist schon merkwürdig, dass 1 Tim 3,16 nicht einfach mit einer Schilderung der Weltmission endet, sondern mit der Aufnahme Jesu in Herrlichkeit. Damit gilt für alle diese Texte dasselbe wie für Phil 2,6-11: Die Missionsgeschichte ist eine einzige Apotheose Jesu Christi. Das ist der geschichtstheologische Beitrag von Phil 2,11 und 1 Tim 3,16d: Die Geschichte der Kirche ist, christologisch gesehen, ein einziger Augenblick der Aufnahme Jesu Christi in Herrlichkeit. Wenn man auf Jesus blickt, kann in der Tat diese Zeit so erscheinen. Wie nach Phil 2,11 (»zur Verherrlichung Gottes des Vaters«) ist die Selbstdarstellung der Herrlichkeit Gottes das Ziel der Geschichte. Der Zusammenhang von Zeile 2 (»gerechtfertigt«) und Zeile 6 (»in Herrlichkeit«) entspricht der Abfolge von »gerechtfertigt« und »verherrlicht« in Röm 8,30. Das ist für beide Stellen gleichermaßen aufschlussreich; Röm 8,30 steht damit nicht mehr allein; die Kongruenz Johannes/ Paulus wird an einer weiteren Stelle sichtbar (vgl. Joh 20,17b mit Joh 17,5). Theologisch bedeutet das: Die Auferstehung bedeutet die persönliche Legitimation, die Verherrlichung die des ganzen (missionarischen) Werkes in der Welt.
Der erste Brief an Timotheus
In Phil 2,6-11 ist der Standpunkt ein rein heidenchristlicher, wie auch in 1 Tim 3,16. Die Phase der alttestamentlichen Offenbarung wird mit keinem Wort gewürdigt; nur Röm 1,3f und 2 Tim 2,8 erinnert mit David wenigstens an die Herkunft Jesu. Statt alt/neu steht in dieser Tradition Mensch/Gottessohn. Weder Worte und Taten des irdischen Jesus sind wichtig, noch die durch sein Geschick geschaffene und begonnene Erlösung. Wichtig ist nur seine Person und dass man auf ihn hin glaubt. Auch das ist wieder dem johanneischen Konzept ganz ähnlich.
1 Tim 4,1-5: Warnung vor Irrlehrern Die Ankündigung von Irrlehrern, die nach ihm auftreten werden, gehört zum festen Repertoire des Lehrers. Dadurch wird indirekt der jeweils vorliegende Brief als Teil der rechten, noch unverfälschten Lehre bezeichnet. Der schriftliche Charakter dieses Dokuments lässt es selbst zum Maßstab für rechten oder verfälschten Glauben werden. Durch die Warnung vor Irrlehrern erklärt sich der jeweils Lehrende zum Maßstab der Wahrheit – weit über die Zeit seines Lebens hinaus. Der Brief mit dieser Ankündigung wird daher zum Instrument dafür, der Lehre und der Autorität des Lehrers zu nachhaltiger Wirkung zu verhelfen. Das Gesamtphänomen wird zugleich im Rahmen des frühchristlichen pneumatologischen Dualismus gesehen. Der Heilige Geist, der nicht nur für die rechte Lehre steht, sondern auch um deren zukünftige Gefährdung weiß (4,1), steht den irrlichternden Geistern und Lehren der Dämonen gegenüber. Die Irrlehre besteht im Verbot der Ehe und im Verzicht auf Nahrungsmittel. Der Verfasser von 1 Tim setzt dem entgegen: Alles Geschaffene ist gut und wird heilig durch das Dankgebet bei Tisch. Zu einer partiellen Abwertung der Schöpfung konnte man aufgrund der Unterscheidung zwischen Rein und Unrein gelangen. Dass zu den unreinen Dingen auch die Ehe gehören konnte, war priesterlichem Denken schon im Judentum längst geläufig. Die Bestimmungen für Priester und Hohepriester ließen eine Tendenz in dieser Richtung deutlich erkennen. Offb 14,4 bestätigt
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dies für apokalyptisches Milieu (vgl. oben bei der Einführung zu 1 Tim zum Zusammenhang von Apokalyptik, Reinheitsdenken und Dualismus). Die positive Qualität der Dinge besteht daher aus zwei Aspekten: Zum einen sind alle Dinge gut geschaffen, wie das Resümee am Ende jedes Schöpfungstages in der Gen sagt. Zum anderen werden sie »geheiligt« durch das Tischgebet (Danksagung). Das Gebet vollendet daher die positive Qualität der Geschöpfe. Wie die Christen heilig sind, so ist auch das geheiligt, was sie genießen. Vor allem wird es ihnen daher nicht schaden können (apotropäischer Charakter des Gebets); denn Gottes Name ist über den Speisen genannt, daher stehen diese und diejenigen, die sie nehmen, unter Gottes Schutz. Bei Justin wird erkennbar, dass diese Heiligung auch christologische, ja trinitarische Gründe hat (»Bei allem, was wir zu uns nehmen, preisen wir den Schöpfer des Alls durch seinen Sohn Jesus Christus und durch den Heiligen Geist«; Apologie 1,67). Schon in 1 Kor 7,14 wird ein relativ dinglicher Charakter der Heiligkeit erkennbar (»ansteckende Heiligkeit«).
1 Tim 4,6-11: Persönliche Mahnrede Der Gattung nach liegt hier eine persönliche Mahnrede vor. Wir kennen diese Gattung besonders aus dem philosophischen Lehrbrief, z. B. Senecas an Lucilius oder aus den Sokratesbriefen (ed. A. Malherbe). Das häufige Wort eusebeia übersetzt man im Kontext am besten mit »christlicher Glaube«. Denn es geht dabei um die gesamte christliche Lebensform, von Glaubensinhalten bis zur konkreten Praxis der Frömmigkeit. Das Gegenteil sind »Altweiberfabeln«. Das griechische Wort mythos meint dabei narrative Produkte der Gegenseite. Ähnlich hatten sich auch schon hellenistische Juden stets über heidnische Götter-Erzählungen lustig gemacht. Dabei impliziert das Wort mythos, dass diese »Geschichten« weder historisch noch theologisch »stimmen«. Denn die Götter werden allzu menschlich dargestellt und die Menschen allzu göttlich. Beides, Gott und Mensch, wird vielmehr auf eine schon (und besonders) für Juden unerträgliche Weise vermischt. In den Pastoral-
801 briefen werden aus den »Mythen« nun freilich »jüdische Mythen«. Zu denken ist dabei besonders an ätiologische Begründungen für jüdische Gesetzespraxis, wie sie schon früh (2. Jh. v. Chr.) im Jubiläenbuch vorliegen. In Form von erzählerischen Weiterungen alttestamentlicher Berichte werden hier Begründungen für die Gesetzespraxis geliefert. Es ist aber nicht auszuschließen, dass auch bereits alttestamentliche Texte, wenn sie ätiologisch gelesen wurden, unter das Verdikt des Verfassers fallen. Die »alten Weiber« spielen hier eine Rolle als klassische Adressatinnen; das erinnert sogleich an 2 Tim 3,6: Die judaistischen Irrlehrer schleichen sich in die Häuser zu leicht überzeugbaren Frauen ein. Das entspricht einerseits der Tatsache, dass hauptsächlich Frauen zum Judentum übertraten (Befund aus den jüdischen Denkmälern auf Judenfriedhöfen der Antike) und auch Adressatinnen des frühen Christentums waren, andererseits der sozialgeschichtlichen Tatsache, dass hauptsächlich Frauen in den Häusern weilten (zur Kinderaufzucht und Nahrungsbereitung), während die Männer außerhalb des Hauses Arbeit hatten. Freilich – was der Verfasser hier als Leichtgläubigkeit diffamiert, beruht oft auf mangelnder Bildung, weil man diese Frauen oft verweigerte. Ganz anders, ja geradezu umgekehrt, ist das Bild in der besitzenden Oberschicht. Hier sind Frauen die Gebildeten, und zahlreiche gnostische Schriften spiegeln dieses Milieu. Es hat daher viel mit der Gegenerfrage in den Pastoralbriefen zu tun, in welchem Milieu man sich die Frauen denkt. Die ältere Antwort, die Gegner seien Gnostiker gewesen, könnte man mit dem Argument stützen, es seien die reichen Frauen mit ihren Salons gewesen, die sich bekanntlich in gnostischen Schriften äußerten. Wenn man dagegen die These vertritt, die Gegner seien judaisierend gewesen, dann geht es um die ältere Phase, in der Frauen die klassischen Adressatinnen jüdischer Propaganda waren. Ich gehe zunächst vom Letzterem aus. Indes gibt es sehr intensive Verbindungslinien zwischen Judentum und Gnosis, was etwa deutlich wird an der Bedeutung der Paradieserzählung (Sündenfall) oder des Engelfalls von Gen 6 für gnostische Mythen. D. h., wesentliche Züge der Gnosis verdankt diese einem dualistisch werdenden Juden-
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802 tum; dualistisch deshalb, weil diese bestehende Welt zunehmend negativer beurteilt wurde. Wenn die schlechte Schöpfung von Jaldabaoth geschaffen wurde, dann werden hier alttestamentlich-jüdische Schöpfungsberichte verarbeitet; Jaldabaoth ist schließlich ein hebräischer Name; auch die »Weisheit« gnostischer Schöpfungsmythen hat schließlich ihren Ursprung in den Weisheitsbüchern besonders der LXX. Zwischen Judentum und Gnosis sind die Verbindungen weitaus enger als gedacht. Timotheus wird ermahnt, den christlichen Glauben (Frömmigkeit, Lebensstil) zu üben. Im Vergleich zur körperlichen Übung sei die im christlichen Glauben weitaus nützlicher. In den neueren Kommentaren stoßen diese Verse auf wenig Verständnis. Kann man den Glauben üben, ist er eine Art geistlicher Gymnastik zur geistlichen Gesundheit? Doch »Askesis« heißt auch »Übung«, und Spiritualität besteht im Geformtwerden durch Wiederholung. Die Alternative zwischen Ich-Zentriertheit und Ausrichtung auf Gott ist widersinnig.
1 Tim 4,12-16: Aufgaben für Timotheus Nach dem Tugendkatalog in V. 12 geht es um die Aufgaben des Timotheus: Lesung, Mahnwort, Unterweisung. Damit gibt Paulus drei formal und der Praxis als »Sitz im Leben« nach unterschiedene Gattungen an. In 4,14f erinnert Paulus an die »Einsetzung« des Timotheus durch Prophetenwort und Handauflegung. Unter Prophetenwort ist eine aktuelle, im Sinne von Prophetie zu wertende Äußerung zu verstehen. D. h. das Votum eines Gemeindemitgliedes für Timotheus wird von allen Anwesenden als Wunsch des Heiligen Geistes verstanden. Ähnliches wird Apg 13,1-3 geschildert. Wenn der Heilige Geist etwas sagt, dann sicher durch einen Menschen, und entscheidend ist die von der Gemeinde (Kirche) ausgehende Bestätigung als Prophetie bzw. als Wort des Geistes. Offenbar nennt jemand den Namen des zu Wählenden. So geht es jedenfalls aus einer neu gefundenen zeitgenössischen Parallele hervor. Nach Plutarch, Timoleon 3 (Ziegler II, 1,223) heißt es: »Einer aus den vielen stand auf und nannte Timoleon …, wobei ein Gott, wie es schien, (dieses)
Der erste Brief an Timotheus
dem Menschen in den Sinn gelegt hatte.« Im Kontext geht es, ganz wie in den neutestamentlichen Texten, um eine Bestellung zum Dienst an der Gemeinschaft. Es könnte daher sein, dass der frühchristliche Brauch eine Kopie aus dem zeitgenössischen Orakelwesen (Mantik) ist. Doch damit nicht genug: Hinzu tritt die Handauflegung durch den Apostel, die als tatsächliche Verleihung des bis dahin nur in Worten redenden Heiligen Geistes gilt. Dass es der Heilige Geist ist, der spricht, wird dadurch gewiss, dass (Fasten und) Gebet vorausgeht (vgl. Apg 13,2; 10,19f). Damit steht 1 Tim 4 in der Reihe der urchristlichen »Ordinationstexte«: Apg 6,6; 13,1-3; 20,28; 1 Tim 1,18; 4,14-16; 5,22. Es entwickelt sich eine Art festen Ablaufs, zu dem folgende Elemente gehören: 1. Die die Beauftragung/Ordination spendende Autorität (ein Apostel; mehrere Apostel, Presbyterium). – 2. Fasten. – 3. Gebet (um Heiligen Geist, um eine rechte Auswahl). Auch Jesus (fastet und) betet vor der Auswahl seiner zwölf Jünger (Lk 6,12f). Das Fasten ergibt sich wohl aus der Wahl des Ortes und der Dauer des Gebets. – 4. Wortmeldung, die den Namen des Ordinanden oder zu Beauftragenden nennt. – 5. Diese Wortmeldung wird als Antwort auf des Gebet unter 3. akzeptiert und damit als Stimme des Heiligen Geistes. Einer oder mehrere sind damit vom Heiligen Geist beauftragt. – 6. Dem zu Beauftragenden/Ordinanden werden die Hände aufgelegt, und zwar durch das unter 1. genannte Gremium bzw. den Apostel. – 7. Dem, der die Handauflegung empfing, wurde damit ein Charisma verliehen, und zwar in dem Gesamtvorgang, wie 1 Tim 4,14-16 erkennen lässt. Nicht ganz falsch übersetzt man später »Charisma« mit »Amtsgnade«. – Dabei beachte man, dass die Begriffe »Amt« und »Ordination« hier anachronistisch gebraucht werden.
1 Tim 5,13-17: Stand der Witwen Der Abschnitt ist religions- und sozialgeschichtlich singulär. Zwar ist vom Gebet der Witwen immer wieder die Rede (Ex 23; Lk 18,6f; Lk 2), aber eine ins Einzelne gehende kasuistische Regelung ist bis dato fremd. Solche Regelungen waren freilich notwendig, wenn eine kleine Gemeinschaft
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in der Aufgabe der Witwen wirklich ihren Beruf und ihre Berufung sah. Warum Witwen ein soziales Problem waren, vgl. zu Apg 6. Witwen sind im Unterschied zu Kindern nicht erbberechtigt. Zu der für die Witwen vorgeschlagenen Lösung und ihrer Wirkung ist zunächst auf die von der Institution der Witwen unabhängige Lösung des »Hirten des Hermas« zu verweisen: Die Armen werden von den Reichen in der Gemeinde finanziert; da sie aber Zeit haben, müssen sie als Entgelt für die Reichen beten. Es herrscht daher eine zugespitzte Aufgabenteilung. Im Prinzip ist der Vorschlag in 1 Tim 5 ähnlich. Die Witwen werden ernährt und beten dafür. Past Herm ist in der Begründung realistischer: Die Reichen haben keine Zeit zum Beten, die Armen dagegen können mit ihrer Zeit Sinnvolles tun, indem sie beten, und zwar für die anderen mit. Zur Weiterentwicklung des Witwen-Instituts: vgl. Ignatius v. Antiochien (Smyrnäer 13,1): »Ich grüße die Häuser meiner Brüder mit Frauen und Kindern sowie die Jungfrauen, die Witwen genannt werden.« Den Familien stehen hier bereits als eigener Stand die Jungfrauen, die Witwen genannt werden, gegenüber. Die Benennung als Witwen lässt erkennen, dass sie wohl nicht heiraten wollen. Ignatius v. A. (Polykarp 4,1): »Die Witwen sollen nicht vernachlässigt werden; nach dem Herrn sei du ihr Fürsorger.« – Gott ist im Alten Testament der Fürsorger der Witwen (vgl. Ex 23,33). Die Rolle Gottes übernimmt Polykarp. Die Abbildung Gottes durch den Bischof hat daher auch sozialethische Aspekte! Polykarp (2 Phil 4,3): »Die Witwen belehrt, besonnen zu wandeln in Rücksicht auf den Glauben an den Herrn, ohne Unterlaß für alle zu beten, fernzubleiben von aller Verleumdung, von übler Nachrede, falschem Zeugnis, Geldgier und allem Bösen, einzusehen, dass sie der Altar Gottes sind, dass er alles auf seine Tadellosigkeit hin prüft und ihm nichts verborgen bleibt.« – Der »Altar« weist darauf, dass die Witwen der Ort des Gebetes sind (Gebet als Opfer!). Syrische Didaskalie (3./4. Jh.), 14: »Als Witwen aber sollt ihr die aufstellen, welche nicht unter 50 Jahren sind, damit sie gewissermaßen infolge ihrer Jahre dem Gedanken, zwei Männer zu haben, fernbleiben. Wenn ihr aber eine junge in die Reihe der Witwen stellt und sie ihre Witwen-
803 schaft wegen ihrer Jugend nicht erträgt und heiratet, so bringt sie Schande auf die Ehre der Witwenschaft, und sie muss Gott Rechenschaft geben. Zunächst darüber, dass sie zweimal geheiratet hat und dann auch darüber, dass sie eine Witwe zu sein versprochen hat zur Ehre Gottes und als Witwe einen Mann genommen hat und nicht im Witwenstand geblieben ist. Wenn aber eine junge da ist, die mit ihrem Mann eine kurze Zeit gelebt hat, und ihr Mann stirbt oder es tritt aus irgendeinem anderen Grunde wiederum eine Trennung ein und sie bleibt für sich allein, indem sie an der Ehre der Witwenschaft teilnimmt, die wird Glückseligkeit von Gott empfangen.« Die Altersabgabe ist in 1 Tim 5,9 60 Jahre, hier 50 Jahre. Nach 1 Tim muss eine Frau mindestens 60 Jahre alt sein, nach der Syrischen Didaskalie mindestens 50 Jahre. Deren Hauptproblem ist die nochmalige Heirat der Verwitweten (vgl. 1 Tim 5,11b). Aber 1 Tim setzt sich sogar dafür ein, dass die jüngeren Witwen nochmals heiraten (5,14). Nach der Didaskalie entehrt gerade das den Stand der Witwen. Nimmt man das in der Didaskalie heruntergesetzte Alter (50 statt 60) dazu, so ergibt sich, dass für die Didaskalie die Ehelosigkeit der Witwen, und zwar auch jüngerer Witwen, höher im Kurs steht als in 1 Tim. Das entspricht dem populären Ideal der einmaligen Eheschließung auch für christliche Männer.
1 Tim 5,21-25: Zusammenfassende Mahnungen Die in 4,6-10 begonnene Mahnrede an Timotheus wird in diesen Versen erkennbar abgeschlossen. Das beschwörend dringende Zureden in 5,21 ist ähnlich in 2 Tim 2,14 (mit Vetitiv) und vor allem 4,1 (mit Imperativ in 4,2). Die beschworene Hierarchie ist »Gott – Jesus Christus – auserwählte Engel«, in 2 Tim 4,2 »Gott – Christus Jesus, der künftige Richter – Jesu Wiederkunft und Jesu Reich«. Ähnlich und gut vergleichbar ist 1 Tim 6,13 (Gott, der alles lebendig macht – Jesus Christus, der vor Pontius Pilatus das gute Bekenntnis abgelegt – plus Imperativ). Die himmlische Hierarchie selbst ist ähnlich dargestellt in Offb 1,4f (Gott – die sieben Geister vor seinem Thron – Jesus Christus, der getreue Zeuge).
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804 In 1 und 2 Tim handelt es sich nicht um Schwüre, sondern um Beschwörungen im Sinne des dringlichen Aufforderns. Dazu beruft sich der Redende oder Schreibende auf himmlische Autoritäten, die seine eigene Autorität verstärken. Diese Formeln haben demnach eine ähnliche Funktion wie die Segensgrüße zu Beginn der Apostelbriefe, die ja auch die Rede des Apostels pauschal von Gott her legitimieren sollen und stets eine hierarchische Struktur haben (»von Gott … und von unserem Herrn Jesus Christus …«). Inhaltlich haben 5,21-25 die Struktur einer peroratio (Zusammenfassung des Wichtigsten und Grundsätzlichen). Dazu gehört auch der scharfe Kontrast zu den Bösewichtern nach 5,24 f. Der hier sichtbare »Doppelschluss«, die Guten wie die Bösen betreffend, ist eine typische Form biblischer Mahnrede (vgl. K. Berger, Formen und Gattungen, 2005, 235.238.277.318). Vgl. auch 6 Esr 16,65f: »Deswegen wird der Herr alle ihre Werke gründlich erforschen und euch alle überführen. Und ihr werdet erschüttert sein, wenn eure Sünden vor den Menschen einhergehen, und eure Ungerechtigkeiten werden es sein, die als Ankläger dastehen an jenem Tag. Was werdet ihr tun oder wie werdet ihr eure Sünden verbergen vor Gott und seinen Engeln?« Vgl. Offb 14,13. Auch die persönliche Sorge um Gesundheit des Adressaten und das Anraten von Gesundheitsförderlichem (5,23) gehört an den Anfang oder an das Ende von Briefen. Sie ist hier nur Entfaltung des allgemeinen Briefformulars mit der Aufforderung »hygiaine«, »bleib gesund«; vgl. EpArist 41.
1 Tim 6,1-2: Worte an die Sklaven Die Mahnrede an die Sklaven steht direkt nach der Ermahnung an Timotheus. Sie steht hier nicht im Kontext von Haustafeln. Demnach haben christliche Sklaven für den/die Adressaten besondere Bedeutung. Nur so ist dieser Ort in der Gliederung des Briefes plausibel zu machen. Wie viele Sklaven es darunter auch immer gegeben hat – als christliche Sklaven stehen die hier Gemeinten besonders im Rampenlicht des allgemeinen Interesses: Denn wenn sie Christen sind wie ihre Herren, dann sind sie ja nun mit
Der erste Brief an Timotheus
einem Mal Brüder und Schwestern ihrer Herren geworden. Der Verfasser sieht darin die Gefahr, dass diese Sklaven darauf bestehen und sich als »völlig gleich« betrachten, also eine Emanzipation mit Hilfe des christlichen Bruder- (und Schwester-) Titels vollziehen (vgl. auch Phlm 16: »den geliebten Bruder«). Dagegen empfiehlt der Apostel, sie sollten »umso eifriger (griech.: mallon) ihnen dienen«. Dasselbe mallon findet sich in 1 Kor 7,21, auch dort im Zusammenhang mit einer Mahnung an Sklaven. Im Lichte von 1 Tim 6,2 müsste es auch in 1 Kor 7,21 heißen: »… dass sie umso mehr den Sklavendienst leisten«. Beide Stellen werden in keinem Kommentar miteinander verknüpft; der Beleg Berger/Colpe, Textbuch Nr. 429 (»Sklaverei gebrauchen«) bestätigt diese Deutung. Fazit: Das egalitäre Verhältnis, in dem Sklave und Herr als Christen zueinander stehen, soll nach dem Willen des Apostels nicht Anlass zur Auflösung der Institution der Sklaverei sein, sondern im Gegenteil die Freiheit geben, diese umso bereitwilliger zu praktizieren. Denn zumindest die christlichen Herren werden hier als Wohltäter eingeführt. Der Grund dafür wird in 6,1 angegeben und entspricht Röm 2,24 (der Name Gottes soll nicht unter den Heidenvölkern gelästert werden), hier freilich gegenüber Röm 2,24 mit dem Zusatz »und die Lehre« (sc. soll nicht gelästert werden; zur Lehre vgl. besonders Röm 6,17!). Im Hintergrund stehen Jes 52,5: »wegen euch wird stets mein Name gelästert unter den Heidenvölkern«; Ez 36,20-25: »Israel hat Gottes Namen unter den Heiden geschändet«. Im Kontrast zu den beiden Prophetentexten geht es in Röm und 1 Tim nicht um Anklage, sondern das Ziel ist Vermeidung (des Ärgernisses) im Rahmen von Paränese.
1 Tim 6,3-10: Mahnrede gegen Habgier In diesem Abschnitt folgt eine an den Apostelschüler gerichtete Mahnrede gegen die Habgier. Der äußeren Gestalt nach richtet sie sich an Timotheus. Doch die These ist kaum zu bestreiten, dass es sich um eine Rede handelt, die die zweite, neben den Sklaven vorhandene Risikogruppe betrifft: die Reichen, Habgierigen, denen zugleich Irrlehre vorgeworfen wird (ähnlich wie in 1 Joh
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Kapitel 6
denen, die keine Bruderliebe üben, Irrlehren in der Christologie vorgehalten werden). Besonders in 6,3-4 ist die Konsequenz aus der Opposition gesund/krank das Borniertsein der Gegenseite. Die letzte Motivation des falschen Handelns ist Habgier (V. 10a); ähnlich in der zeitgenössischen Philosophie: Pythagoräerbriefe III § 5 (»aus der Habgier wachsen Raub und Räuberei, Vatermord, Schändung, Giftmord und Verwandtes«); Dio Chrysostomos »Über die Habsucht« Or 17: Die Habsucht sei Ursache der größten Übel. In 1 QS 4,9f steht Habgier an erster Stelle der Vergehen. Fallstrick und sinkendes Schiff sind die Metaphern, die die kritisierte Gegenseite kennzeichnen. – Der Filiation aus der Habgier steht in 6,4 noch eine andere Filiation gegenüber: Aus Streitereien und Wortgefechten kommen Neid, Zank (diese beiden auch Röm 1,28-30), Lästerungen, üble Verdächtigungen und fortwährendes Gezänk. Zu 1 Tim 6,7.10 (»Nichts mitgebracht …«; Wurzel aller Laster die Habgier), vgl. Polykarp, 2 Phil 4,1: »Die Wurzel aller schlimmen Dinge ist die Liebe zum Geld. Weder bringen wir etwas mit in die Welt, noch tragen wir etwas hinaus.« Hier handelt es sich (anders: J. Roloff) nicht um ein Zitat aus 1 Tim: Alle wichtigen Vokabeln sind anders, die Reihenfolge der Sätze ist umgekehrt, der Zwischentext fehlt; in 1 Tim 6,7 heißt es am Schluss »können wir«, im Polykarpbrief »haben wir«. So etwas nennt man kaum Zitat, sondern es ist Schöpfen aus derselben verbreiteten Tradition. Nur war es schon immer so in der Forschung: Je stärker man den Kanon sein lässt, desto mehr ist alles Übrige lediglich Zitat. Dem Habgierigen wird gegenübergestellt der Christ, der mit Nahrung und Kleidung zufrieden ist, d. h. mit dem, was er zum Leben braucht.
1 Tim 6,11-16: Der Kampf des Glaubens Das Bild des Kampfes, in dem der Christ Streiter ist, gehört in die Schlusspassagen der Briefe. Denn die Schlussabschnitte drängen selbst auf Klarheit und Entschiedenheit, und das Bild des Kämpfers macht deutlich, dass es um letzte Klarheit geht, um Leben und Tod. In diesem Sinne vergleiche man aus unserem Abschnitt 6,12 mit
805 2 Tim 4,7. In beiden Fällen wird unmittelbar danach an das Wiederkommen Jesu Christi erinnert (2 Tim 4,8; 1 Tim 6,14b-15). Zum Stichwort Kampf ist aber auch an den Schluss des Epheserbriefes zu erinnern: Eph 6,11-20 entfaltet das Bild von der Waffenrüstung im Kampf, und in Röm 15,30-31 geht es um den gemeinsamen Kampf im Gebet. In Offb 19 endet die bestehende Welt im Kampf gegen das Böse, vgl. auch Mk 13,12 f. – Das Motiv vom Kampf am Ende ist apokalyptischen Ursprungs, auch wenn es in den Briefen 2 Tim, 1 Tim und Eph 6 nicht um eine Auflistung der Endereignisse geht; aber der Hinweis auf die Wiederkunft des Herrn verrät dennoch den Ursprung in der urchristlichen Predigt über die Endzeit. In 1 Tim ist die Angabe über die Wiederkunft Jesu Christi nicht mit dem Gericht verbunden, auch in 2 Tim 4,8 wird die Krone der Gerechten betont. Auffällig ist in unserem Brief der Hinweis darauf, dass Jesus vor Pontius Pilatus das Bekenntnis abgelegt hat (6,13). Während nach Mk das Bekenntnis Jesu vor Pilatus sich darin erschöpft, auf die Frage: »Bist du der König der Juden?« zu antworten: »Ja, du sagst es«, ist im JohEv 18,33b-37 der Dialog ausgeweitet, obwohl es wie bei Markus um das Königtum Jesu geht. Aber Jesus sagt hier, sein Königreich sei nicht irdisch und seine Rolle sei es, von der Wahrheit, also von der Realität Gottes, Zeugnis abzulegen. – Das Stichwort »König« finden wir auch in 1 Tim 6,15, und die Bildersprache des Kampfes passt zu diesem Stichwort. Johanneisch gefärbt ist unser Abschnitt auch wegen der Verbindung von Königtum und Zeugnis. Sie ist bestimmend in Joh 18,37, ähnlich wie in 1 Tim 6,12. Wir halten fest: Wenn sich 1 Tim 6,12-15 auf irgendeines der kanonischen Evangelien bezieht, kann das wohl nur das JohEv sein. Das setzt voraus, dass das JohEv relativ früh entstand und für die Adressaten von 1 Tim 6 als interessant gilt. Selbst wenn man 1 Tim für nachpaulinisch hält (was im Augenblick eher wieder nicht der Fall ist; Paulus wird als Autor rehabilitiert), das JohEv ist dann vor 75 schon bekannt. Oder anders gesagt: Die alten, Paulus und Johannes gemeinsamen Traditionen sind hier noch so stark, dass sie einen ganzen Abschnitt des Briefes prägen können. – Was bedeutet das theologisch? Es handelt sich jedenfalls um »altes« Material, das nachweisbar
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806 nicht aus der Situation geboren, sondern eher traditionell ist, in verschiedene Theologien integrierbar, d. h.: In unterschiedlichen Texten kann es verarbeitet werden, weil die Adressaten es (und darin sich und ihren Glauben) leicht wiedererkennen, also »kirchliches Material« ist. Das traditionelle Gut, an das 1 Tim 6 anknüpft ist also einerseits der Bereich Kampf, König, Wiederkunft Christi, zum anderen Bekenntnis, Wahrheit, Pontius Pilatus, Zeugnis. Verschiedene Autoren haben sich darüber beklagt, in 6,13 sei Jesus mit seinem Bekenntnis zum moralischen Vorbild »verkommen« für die Bewahrung von Tradition. Aber auch in den vier Evangelien hat die Rolle Jesu, wenn man die Passionsberichte als Texte über den leidenden Gerechten liest, und wenn man insbesondere Jesu Gebet in Getsemani als »Überschrift« wertet (Aufforderung zum Gebet), eine Bedeutung in Richtung Vorbild, gerade im Unterschied zu Petrus und Judas. So groß sind also die Differenzen zwischen 1 Tim 6 und den Evangelien gar nicht. Auch nach 6,12 heißt ja: »an Jesus glauben, einen Kampf um das Gute kämpfen«. Hier wird durch intensive Rückbeziehung auf Jesus der Glaube zu einer Art der Nachfolge. Freilich ist die Deutung als »Kampf« ein theologisch interessanter und gewichtiger neuer Aspekt gegenüber den Evangelien. Die Liste der »Tugenden« in 6,11: »gerecht und sozial, fromm und heilig, gläubig und treu, liebevoll und fürsorglich, geduldig und unbeirrbar, sanft und leidensfähig« ist im griechischen Original in Zweierpaaren aufgebaut, wobei die beiden Glieder eines Paares teilweise synonym sind, teilweise sich ergänzen. Im Ganzen entsteht das typische Bild paulinischer Mahnrede für Heidenchristen, nämlich eine Ethik des Machtverzichts, der Geduld und Selbstzurücknahme, so wie Paulus sie insgesamt als Wirkung des Heiligen Geistes beschreiben würde. Man kann schon sagen: Die Stelle der Torah nimmt hier Jesus selbst als lebendiges Vorbild wahr. Und diese Ethik hat auch etwas mit Kreuzestheologie zu tun, weil es hier am allerwenigsten um Macht und Selbstdurchsetzung geht. Denn die hier beschriebenen Verhaltensweisen sind eher nicht die erfolgreichen, nicht die glanzvollen, sondern traditionell eher die von guten Lehrern, von Frauen und von Märtyrern.
Der erste Brief an Timotheus
Der Ausdruck »Kampf um das Gute« erinnert eher an zoroastrische Religion, heute wirkt er für viele befremdlich, und zwar »bloß humanistisch« und nicht richtig christlich. Im Blick auf die ursprünglichen Leser des Briefes mag das berechtigt sein. Es stellt in der Tat ein Gegengewicht zu dem persönlichen Vorbild Jesu dar. Im Unterschied dazu ist der »Kampf um das Gute« eher abstrakt und philosophisch orientiert. Denn viele wissen schon allein deshalb nicht, was »das Gute« ist, weil sie nicht wissen, was eigentlich Böses und Sünde ist. Im Rahmen einer dualistischen Ethik ist es wohl das genaue Gegenteil der Tugenden von 6,11. – Dualistische Ethik ist im Augenblick nicht beliebt, auch deshalb nicht, weil man die feine Unterscheidung des Augustinus nicht mitvollzieht, die Sünde zu hassen, aber den Sünder zu lieben. So denkt man, klare Rede von der Sünde grenze unnötig Menschen aus. Zudem bleibt man nach eigenem Urteil viel zu häufig in der Grauzone stecken, aus der man weder als gut, noch zumeist als eindeutig böse hervorgeht. In diese Grauzone gehört auch das Abwägen des kleineren Übels. Aber das ist eben nicht Schwarz noch Weiß. Zudem ist bei aller Verantwortungsethik die Rolle kompromisshaften, gemeinschaftlichen Handelns gewachsen. Dennoch behält die Einteilung in Gutes und Böses ihren Sinn zur Klärung der Wahrheit. Mord ist rundum böse. Nur wer sich die Autorität nicht zutraut, das zu sagen, der darf es auch tun. Paulus beendet seine kleine Predigt mit einem Bild der Herrlichkeit, in dem bedrohliche Züge, wie sie manchmal mit der Wiederkunft Christi bzw. mit der Theophanie Gottes verbunden sind, ganz fehlen (6,15f). Die einzige Mahnung, die das Ende selbst in den Blick nimmt, heißt: »Bewahre … bis zum Ende«. Die Ungewissheit des Zeitpunkts ist hier nicht bedrohlich, sondern ruht ganz in der Souveränität Gottes, des alleinigen Herrschers, des Königs der Könige, des Herrn der Herren. Am Schluss steht das Bild des Lichts und der unsagbaren, nie zuvor geschauten Herrlichkeit, verbunden mit einer Doxologie. Diese Predigt kommt aus ohne Schilderungen der Verdammten – diese interessieren gar nicht, ähnlich wie auch sonst bei Paulus in 1 Kor 15 wie in 1 Thess 4 und 2 Kor 5. Der Blick ruht auch nicht auf dem Lohn der Gerechten. Für die Angeredeten ist vielmehr wichtig die Abfolge von
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Kapitel 6
Berufung zum Leben, Kampf und Ergreifen des Lebens nach V. 12, dazu kommt das Bewahren des Gebotenen nach V. 14. Aber im Ganzen ist es eine Ethik angesichts der Wiederkunft Christi und des Kommens des »Königs der Könige und des Herrn der Herren«. Die wichtige Entscheidung, Trennung, Sonderung geschieht nicht im Gericht, sondern in der Bejahung des alltäglichen Kampfes, im Durchhalten und im Mut. Die Vision der kommenden Herrlichkeit Gottes im Glauben gibt die Kraft dazu.
1 Tim 6,14: Das Gesetz »… das Gebot unbefleckt und tadelsfrei zu bewahren«. J. Roloff übersetzt »den Auftrag makellos und ohne Tadel wahrzunehmen« und bezieht den Satz auf die Ordination des Timotheus. Zunächst aber ist der Satz vom jüdischen Hintergrund her zu verstehen, und da geht es zweifelsfrei um das Gesetz Gottes. In Ps 19,8f heißt es schon: »Das Gesetz des Herrn ist unbefleckt, erquickt die Seele … Das Gebot des Herrn ist strahlend rein.« Jak 1,27 spricht vom unbefleckten Dienst. Für den Sprachgebrauch wichtig ist der Hirt des Hermas; nach Mand 3,2 haben die Gegner »das Gebot des Herrn befleckt«, und nach s 9,29,2 heißt es: »In keinem Fall haben sie die Gebote Gottes befleckt«. In der lat Visio Esdrae 46 wird den Gegnern vorgeworfen: »Die Taufe und das Gesetz des Herrn haben sie mit Unreinem vermischt und mit Worten gelehrt, was sie nicht taten.« Im Zusammenhang mit der Taufe heißt es bei Basilius v. Caesarea: »Unbefleckt und makellos haben sie bis zum Tod jedes Gebot des Herrn bewahrt.« Fazit: 1. Zweifelsfrei geht es überall um das eine Gesetz Gottes. – 2. Dem (rein) Bewahren steht das Beflecken gegenüber; die Metaphorik richtet sich daher nach rein/unrein. – 3. Mit dem Gesetz ist es in diesen Texten ähnlich wie mit anderen Größen, die ebenfalls unbefleckt zu bewahren sind; vergleichbar sind also das Gewissen (Tit 1,15f), der Heilige Geist in den Menschen (z. B. Clem Hom 13,19), der Sabbat, später das Taufkleid. Stets handelt es sich um eine Instanz, an der rein und unrein, Sünde und Gerechtsein besonders greifbar sind, die gewissermaßen der
kritische Maßstab sind, und zwar nicht im Himmel, sondern auf Erden bei den Menschen. Etwas von Gott (also etwas Heiliges) ist in der Welt und kann hier in seiner Heiligkeit beschädigt werden; auch nach Röm 7,12 ist das Gesetz »heilig«. – Diese von Gott kommenden Instanzen in der Welt sind daher so etwas wie ein Nährboden im Labor, auf dem bestimmte Bakterien ihr Vorhandensein deutlich zeigen. Solche mit Bakterien besetzten Nährböden haben diagnostische Funktion. Es handelt sich hier um ein charakteristisch judenchristliches Stück der Theologie des 1. und 2. Jh. n. Chr.; am spürbarsten sind die Auswirkungen bis heute in der Gewissenslehre (s. zu Röm 2 und 13; 1 Kor 8).
1 Tim 6,20: Die Erkenntnis Das Stichwort gnosis bedeutet im 1. Jh. n. Chr. in den Texten, die uns interessieren, noch »theologische Erkenntnis« oder »Theologie« allgemein (z. B. in 1 Kor 13). Gerade Paulus ist wohl mit dieser Übersetzung des Begriffs am besten zu verstehen. Da das Wort »Antithese« in 6,20 sich zweifellos auf Texte bezieht, nicht aber auf bestimmte Inhalte, sollte man zuerst die formgeschichtliche Frage stellen. Dann bedeutet Antithese die Anordnung von entgegengesetzten Äußerungen. Im Rahmen des Judentums gilt das besonders von scheinbar oder wirklich konträren Schriftstellen und in der Schrift begründeten Meinungen. Beispiel Mk 12: Im Zitat aus Ps 110 ist Jesus der »Kyrios«, im referierten Urteil ist der Messias der »Sohn Davids«. Auf den ersten Blick kann nur eines richtig sein. Eine Auflösung des Gegensatzes wird hier nicht gegeben. Das Problem bleibt als Rätselfrage dem Leser erhalten. – Andere Beispiele: Aus dem Corpus des Alten Testaments werden Schriftzitate erstellt, von denen das eine auf Heiden(christen), das andere auf Juden bezogen wird, so in Röm 9. Beide sind inhaltlich entgegengesetzt, durch die neue Adressierung gibt Paulus beiden Zitaten je einen neuen Sitz im Leben. Ähnlich im Barnabasbrief. Ganz systematisch werden hier Ketten von Zitaten gebildet, die sich auf Juden oder Heiden beziehen. Im weiteren Sinne sind auch Gegenüberstellungen wie Lk 6,20-26 zu nennen (Seligpreisungen
Berger (08129) / p. 808 / 19.5.2020
808 gegen Weherufe). Zwei wichtige Aspekte lassen sich von hier aus ergänzen: der Charakter derartiger Reihen als Protreptikos, nämlich im Rahmen der grundsätzlichen Belehrung über die »Zwei Wege«; ein Musterbeispiel bietet die Fassung des Barn ab Kap. 18. Damit ist auch der dualistische Aspekt gesetzt: Wer Texte so konfrontiert, denkt auch die Wirklichkeit im Ganzen in Gegensätzen, von denen nur einer auf dem Weg der Entscheidung gewählt werden kann, wie z. B. Gott oder Mammon nach Lk 16. – Der Verfasser der Pastoralbriefe ist daher im Wesentlichen antidualistisch orientiert. Das bedeutet umgekehrt auf jeden Fall eine positive Einstellung gegenüber der Schöpfung und daher auch die Aversion gegen die Betonung des Gegensatzes rein/unrein, sowie ferner: eine Eschatologie ohne Zerstörung der bestehenden Welt und ohne den Kontrast alte Welt/neue Welt. Die mit der Form der antithetischen Gegen-
Der erste Brief an Timotheus
überstellung gegebene Versuchung besteht darin, dass der Leser oder Hörer der aus der Sicht des Autors falschen Partei den Zuschlag gibt. Der Verfasser von 1 Tim hat Einwände gegen diese Art von Theologie, da er den jüdischen Einfluss im Heidenchristentum ohnehin für zu hoch hält und auch das Zitieren des Alten Testaments überhaupt vermeidet. Eine differenzierende Auslegung der Schrift in beiden Richtungen (Juden und Heiden) ist aus seiner Sicht irritierend. Angesichts der judaisierenden Gefahr erscheint ihm jedes Zugeständnis wohl als ein Entgegenkommen, das nur auf dumme Gedanken bringt. In der späteren Gnosis zur Zeit Markions wird materiell-kosmische Auslegung der Schrift gesetzt gegen philosophisch-übersinnliche. Die Lösung liegt dann oft in der allegorischen Interpretation bestimmter Schriftstellen, sodass die Antithese besteht in der Gegenüberstellung von Literalsinn und allegorischer Auslegung.
Berger (08129) / p. 809 / 19.5.2020
Der zweite Brief an Timotheus
Kommentare: siehe zu 1 Tim (ohne: F. Schleiermacher und J. Roloff).
EINFÜHRUNG Theologisches Anliegen 2 Tim hat ein besonderes, bisher wenig beachtetes theologisch-praktisches Anliegen: Die Verkündigung des Evangeliums kann nur glücken in einem intakten Netz menschlicher Beziehungen. Um das zu zeigen, werden in 2 Tim außer Paulus rund 30 Personen genannt, die zu Paulus in positiver oder auch negativer Beziehung stehen. Diese sind: Paulus und Timotheus; Paulus und seine eigenen Eltern und Ahnen; Paulus und Lois, die Großmutter des Timotheus; Paulus und Eunike, die Mutter des Timotheus; Paulus und alle in Asia, auch Phygelos und Hermogenes (negative Beziehung); Paulus und die Familie des Onesiphoros; Paulus und Hymenaios und Philetos (negative Beziehung); Paulus und die Verräter am Ende (Vorbild Jannes und Mamres; negative Beziehung); Paulus und Demas, Creszens, Titus (negative Beziehung); Paulus und Lukas; Paulus und Markus; Paulus und Priska und Aquila sowie die Familie des Onesiphoros; Paulus und Tychikos; Paulus und Alexander der Schmied (negative Beziehung); Paulus und Trophimos, Euboulos, Pudens, Linus und Claudia sowie alle anderen Brüder und Schwestern. Diese auffällige Häufung von Personennamen lässt folgenden Schluss zu: Paulus erscheint hier nicht als isolierter Einzelkämpfer, sondern er steht in der Mitte eines reichen Beziehungs-
geflechtes. Mit Hilfe dieser persönlichen Beziehungen gestaltet Paulus seine missionarische Kirche. In diesem Geflecht ist auch die Weitergabe des Evangeliums aufgehoben, vgl. zu 2,2. Die Botschaft des 2 Tim In der Botschaft des 2 Tim nimmt die Auferstehung Jesu einen ganz besonderen, einmaligen Platz ein. In 1,10b sagt er: Er (Jesus Christus) hat den Tod besiegt und uns Menschen durch das Evangelium mit dem Licht und der Klarheit erfüllt, die Leben, unzerstörbares Leben, bedeuten. Nach 2,8 gilt: Als Christen müssen wir immer Folgendes im Gedächtnis behalten: Nach meinem Evangelium ist Jesus Christus aus Davids Geschlecht der von den Toten Auferstandene. Negativ entspricht dem, dass Paulus in 2,18 die Position derer ablehnt, die glauben, die Auferstehung (der Christen) sei schon geschehen. Ergebnis: Von der Auferstehung der Christen spricht Paulus nicht, doch er setzt sie nach 2,18 voraus. Auf Nachfrage hin würde er wohl erklären: Für die Christen sei Auferstehung dasselbe wie ewiges, unzerstörbares Leben. In 2,11-13 zieht Paulus aus dieser Botschaft die Konsequenz für jeden Jünger. Auffallend: Paulus spricht in 2 Tim weder von Sühnetod noch von Sündenvergebung.
KOMMENTAR 2 Tim 1,6-8.13-14: Ermahnung an Timotheus Paulus erinnert seinen Schüler Timotheus daran, dass er ihm einst die »Hände aufgelegt« und dass Timotheus dadurch Gnade und Heiligen Geist
empfangen hat. Diesen Funken soll Timotheus nun bewahren und wieder lebendig werden lassen. Da dieser Funke voll »Liebe und Klugheit« (V. 7) ist, darf man annehmen, dass es sich um das handelt, was sonst »Charisma« heißt. Dieser
Berger (08129) / p. 810 / 19.5.2020
810 Bericht steht nun in Spannung zu dem, was 1 Tim 4,14 sagt: »Sei bestrebt, die besondere missionarische Gabe weiterzuentwickeln, die dir verliehen wurde, als damals in der Gemeinde eine Prophetie auf dich ausgelegt wurde und der Kreis der Ältesten dir die Hände auflegte.« Denn die Frage ist: Welche Situation meint 2 Tim 1 und welche 1 Tim 4? Die Entscheidung ist deshalb schwierig, weil Handauflegung im 1. Jh. und lange danach mehrdeutig ist und von der Geistverleihung bei der Taufe bis zur Bischofsweihe vieles bezeichnen kann. Wissen muss man als Voraussetzung: Die Ältesten gibt es in der Regel nur als Gremium (Kollegium), und so handeln sie auch »kollektiv«. Und ferner: An der Spitze der Ältesten steht – von ihnen selbst gewählt oder von woanders her bestimmt – der Bischof. Und schließlich: Der eine vorgeordnete steht dem Gremium stets gegenüber; er kommt aus ihm oder wird aus ihm gewählt. Dabei gilt: Der Apostel kann das Tun des Gremiums der Ältesten ersetzen oder bestätigend begleiten. So gibt es mehrere Möglichkeiten für unsere beiden Texte: 1. Entweder beide Texte meinen tatsächlich dieselbe Situation. Paulus und die Ältesten – das wäre dann wie das Ganze und ein Teil. Als Apostel wäre Paulus Mitältester (vgl. 1 Petr 5,1). Gemeint wäre die Situation der Installation als Ältester – oder als Bischof (an der Spitze des Ältesten-Gremiums). Die Prophetie in der Gemeinde ist bekannt als besonderes Mittel zur Bestellung erwählter Personen (vgl. Apg 13,2). – 2. Die zweite Möglichkeit: 2 Tim 1 meint etwas, das Paulus allein vollziehen kann: Die Einsetzung zum Bischof oder Ältesten (wie Apg 20,28), 1 Tim 4 meint die Installation als Ältester. – 3. Die dritte Möglichkeit: 2 Tim 1 meint die Taufe und das Taufcharisma, 1 Tim 4 die Ko-Optierung in den Kreis der Ältesten. – Ich halte es für gegeben, dass in 1 Tim 4 die Hinzuwahl zu den Ältesten das Thema ist. Und ich meine, dass es sich in 2 Tim 1 um die Bestellung zum Bischof handelt. Das eine wäre eine Bewegung auf gleiche Höhe: Die Ältesten berufen in ihr Gremium, so wie heutzutage noch Akademiemitglieder berufen werden. Was Paulus tut, wäre ein Ruf von oben nach unten, entweder in das Gremium oder zum Vorgesetzten des Gremiums. Auf jeden Fall zeigt unser Text: Zwischen Amt
Der zweite Brief an Timotheus
und Charisma besteht nicht der geringste Gegensatz. Wie auch immer das, was Timotheus erhalten hat (Ältesten- oder Bischofswürde), funktional ausgerichtet war, sowohl der Weg der Berufung (Prophetie) als auch der Inhalt der Begabung (Liebe und Klugheit als Gaben des Heiligen Geistes) waren charismatisch strukturiert, d. h.: Gottes freie Gnadengabe, die sich als je persönliches Geschenk von Begabungen zu missionarischen Zwecken äußerte. Und auf jeden Fall geschieht dieses: Paulus erinnert Timotheus an die Gnadengabe, die dieser in sich aktivieren soll. Uns erinnert das daran, dass in der Taufe an jedem Christen Ähnliches geschieht (deshalb habe ich oben als dritte Möglichkeit die Taufe genannt). Denn Taufe und »Ordinationssakramente« sind offensichtlich parallel strukturiert: Die Verleihung des Heiligen Geistes bedeutet für jeden und jede ein Initiations-Charisma. Es ist dieses geradezu ein seelsorgerliches Grunddogma des Apostels Paulus: Jeder Getaufte hat mindestens ein Charisma, das seine persönliche Aktivität im Dienste glaubwürdiger Gemeinde und Mission begründet. Dabei ist Charisma jede Kraft und Fähigkeit, die so stark ist, dass sie nur vom Himmel her erklärt werden kann. Wenn jeder Getaufte eine solche durch den Taufgeist vermittelte Kraft in sich hat, dann ist es auch sinnvoll, den Text allen Getauften und Gefirmten vorzulesen. Ganz paulinisch ist 2 Tim 1,13: So hast du Anteil am Leben mit Christus, durch das Glaube zu Liebe wird. Denn das Letztere ist der grundlegende christliche Lebensprozess. Nicht nur die bekannte Formel Glaube – Hoffnung – Liebe zeichnet die »Biografie« des Glaubens nach, Ähnliches geschieht auch in den zahlreichen ähnlichen Auflistungen, die man Filiationsreihen nennt, weil sie immer nach dem Prinzip von Mutter und Tochter (filia) aufgebaut sind. In der Regel steht in diesen Reihen der Glaube als Erstes, und dann folgen die Töchter oder Früchte des Glaubens, bis schließlich als letzte Tochter und Frucht die Liebe genannt wird. Diese Listen kann man frühe Systembildungen nennen, denn in ihnen wird systematisch die konsequente Entfaltung des Glaubens zur Fruchtbarkeit hin begleitet und gelehrt. Auch für die Frage der Rechtfertigung sind diese Reihen (vgl. dazu K. Berger, Formen und Gattungen, 2005, § 57,3e) theologisch wichtig; denn ein
Berger (08129) / p. 811 / 19.5.2020
811
Kapitel 1
Glaube, der nicht wächst, der keine Früchte trägt und keine Konsequenzen hat, ist wie eine taube Blüte, ist toter Glaube. D. h.: Das Verhältnis von Glaube und Werk löst sich organisch. Wenn der Glaube lebendig ist, geht die Liebe aus ihm hervor. Dabei wird nicht in der falschen Fragestellung der Spätscholastik und der Reformation unterschieden zwischen dem Anteil des Menschen und dem Anteil Gottes – diese Frage ist ganz unsinnig, da es sich um einen lebendigen Prozess im Menschen handelt. Ähnlich ist auch 2 Tim 1,14 zu verstehen: »Den Funken, den Gott dir anvertraut hat, kannst du dadurch bewahren, dass du ihn dem Lufthauch des Heiligen Geistes aussetzst, der in uns wohnt.« Auch hier ist nicht zu fragen: Handelt Gott oder der Mensch? Vom Menschen wird erwartet, dass er sich dem zur Entfaltung voller Wucht aussetzt, was Gott in ihn hineingelegt hat. So kann man diesen paulinischen Text für alle Christen als Tauferinnerung, für die zusätzlich Geweihten als Erinnerung an die Weihe lesen. In jedem Falle sagt er uns: Das, was Gott da am Anfang in uns hineingelegt hat, bedarf der Erinnerung, der Erneuerung, der Vergewisserung, der Bewahrung des Anvertrauten durch Sich-Aussetzen. Dieser Punkt kommt in der Sakramententheologie aller Konfessionen zu kurz. Denn gewöhnlich fragt man nur nach der Wirkung des Sakraments, und die ist in erster Linie punktuell bestimmt. Dass Gottes Handeln, ganz streng theologisch gesehen, dieser Art der Bewahrung und Lebendigerhaltung durch den Menschen bedarf, kommt oft nicht in den Blick. Es scheint so, als sei dieses die Sache des Seelsorgers, dessen Sorgen man sowieso nicht ganz ernst nimmt. Nein, darüber nachzudenken ist schon Sache des Systematikers. Dann erhält das Sakrament eine ganz andere Struktur: Außer um die Spendung geht es dann auch um die Langzeitwirkung. Dieser Aspekt ist neu im Neuen Bund: dass Gottes Tun in den Sakramenten so »behandelt« werden muss wie Gottes Tat und Wort im Herzen Marias, die »alle diese Worte und Geschehnisse in ihrem Herzen bewegte«. Maria stellt mit diesem Handeln vor-bildlich dar, wie alle Christen mit den Sakramenten umgehen sollen. Erst im Neuen Bund gibt es diese Dimension geistlichen Wachstums, linearer Entfaltung des punktuell Begonnenen. Bei Maria meint das Im-Herzen-Bewegen
unter anderem auch die Meditation, aber nicht diese allein. In Zukunft sollte daher zu einem Sakrament gehören: Einsetzung durch Jesus, äußeres Zeichen, innere Gnade, Wirkung im Vollzug und Langzeitwirkung im christlichen Leben. Wenn Paulus das hier mit dem schönen Wort »Erinnerung« beschreibt (2 Tim 1,6), dann meint er ein Erinnern im biblischen Sinne, das nie nur Daran-Denken ist, sondern stets Neu-Entfachen der Glut, reale Gegenwart von Gottes Tat und Wort. Dass die anfängliche Glut dank Gottes Verheißung nie ganz erlischt, sondern wieder entfacht werden kann, das sehen wir gerade in der Gegenwart an zahlreichen »Bekehrungen« von Menschen, die vor Jahrzehnten Christen waren und dann dem Glauben abhanden kamen. Unter der Asche war glimmende Glut erhalten. Und plötzlich erinnerten sie sich dann an ihr erstes Confiteor und stellten fest, dass sie das »Tantum ergo« noch singen konnten, oft nach 40 oder 50 Jahren. Wiederanknüpfungs-Seelsorge – ich denke, dass auch für diese der alte lateinische Ritus von großer Bedeutung ist. – In 2 Tim 1 aber ist das zu einer großartigen Theologie des Heiligen Geistes geworden: Den Funken dem Lufthauch des Heiligen Geistes aussetzen bedeutet, sich einzulassen auf die ewig junge Vitalität Gottes. Man wird sich wundern, denn nichts Morsches kann vor ihr bestehen.
2 Tim 1,8b-10: Sieg über den Tod und neues Leben Sieg über den Tod und Verbreitung von Licht und neuem Leben – das ist für 2 Tim 1 der Inhalt des Evangeliums, der christlichen Botschaft. Auf den ersten Blick scheint diese Botschaft längst vertraut und wenig aufregend. Doch es handelt sich um eine ganz besondere Deutung von Kreuz und Auferstehung Jesu, wenn es hier heißt: »Er hat den Tod besiegt und uns Menschen durch das Evangelium mit dem Licht und der Klarheit erfüllt, die Leben, unzerstörbares Leben bedeuten« (1,10b). Die Besiegung des Todes geht auf Jesu Kreuz zurück, das Evangelium des Lebens aber ist eine bestimmte Deutung von Ostern. Aber wie soll das denn geschehen sein, dass Jesus durch den Tod den Tod besiegt hat? Ist es nicht eher umgekehrt so, dass, wenn einer stirbt,
Berger (08129) / p. 812 / 19.5.2020
812 der Tod wieder einmal seine globale Allmacht zeigt? Und vor allem: Wenn Jesus für sich stirbt, warum hat das Bedeutung für ein Menschheitsphänomen? Zum Verständnis hilft vielleicht die parallele Aussage in Hebr 2,14: »Auch Jesus hatte wie ein Blutsverwandter die gleiche menschliche Natur wie wir. Nur so konnte er durch seinen Tod den Teufel entmachten, der die Gewalt über den Tod hat« (Übers.: Berger/Nord). Drei Voraussetzungen sind zum Verständnis wichtig: Erstens kann nur einer, der wahrer Mensch ist, für andere Menschen etwas bewirken. Das ist wie bei Vererbung oder bei einem Erbe innerhalb einer Verwandtschaft. Das ist freilich nur ein Vergleich, denn gewiss sind wir mit Jesus nicht direkt blutsverwandt. Andererseits kommt zur Wirksamkeit des Todes Jesu noch hinzu, dass sie nur denen gilt, die an Jesus glauben, d. h. ihn als Stellvertreter und Anwalt anerkennen. Von den modernisierenden Aussagen, Jesus sei automatisch für alle Menschen gestorben und diese seien damit alle automatisch gerettet, ist nichts zu halten. Zweitens ist Jesu Tod ein ganz besonderer – nämlich ein gänzlich unverdienter. Denn Jesus ist ohne Sünde. Weil der Tod Jesu damit radikal und grenzenlos unbegründet war, konnte er allen anderen Menschen, die zu Jesus gehören, unbegrenzt gutgeschrieben werden. Man nennt das Stellvertretung. Oder man kann sagen: Weil der Tod Jesu ein Justizskandal war, hat er die blinde Allmacht des Todes zum Kippen gebracht. So wie ein Minister über einer einzigen Affäre stürzen kann. Und drittens betont der Hebräerbrief mit der Nennung des Teufels besonders die Macht des Todes, ihre zielgerichtete, hartnäckige und klebrige Anhänglichkeit, die »Intelligenz« des Teufels, seine tödliche Macht auf tausenderlei Wegen durchzusetzen. Es hilft vielleicht, mit dieser Position des Hebräerbriefes im Hinterkopf auch 2 Tim 1,10 zu verstehen. Ein weiterer Gesichtspunkt: Auch nach dem JohEv ist der Tod Jesu ein Sieg über den Teufel (Joh 12,31), und zwar deshalb, weil Jesus dem Vater und dessen Auftrag treu bleibt und seine Sendung nicht verrät. Ähnlich werden auch die Märtyrer der Offenbarung des Johannes »Überwinder« genannt. Sowohl aus dem JohEv wie aus der Offb kommt daher ein martyrologischer
Der zweite Brief an Timotheus
Aspekt hinzu: Das Martyrium ist Besiegung von Sünde, Tod und Teufel – trotz der scheinbaren Niederlage am Kreuz. So kann man zusammenfassend sagen: Jesus kann mit seinem Tod den Tod besiegen, weil er gerecht, sündlos und treu ist. Und dieser Sieg gilt für alle, die glaubend Jesus als ihren Anwalt anerkennen, denn er ist tödlich für den Tod. In der Osterpräfation heißt es: qui moriendo mortem destruxit – »Durch seinen Tod hat er den Tod vernichtet«. Aber auch der folgende Satz der Osterpräfation et vitam resurgendo reparavit (»und durch seine Auferstehung neues Leben uns gewonnen«) ist im Sinne dieses Textes, denn unmittelbar nach der Erwähnung der Vernichtung des Todes spricht unser Text von der Verbreitung unzerstörbaren Lebens. Doch statt von Auferstehung spricht der Text vom Evangelium. Entweder wird Ostern als Initialzündung der Verkündigung gesehen. Das kann gut paulinisch gedacht werden. In Röm 1,16 spricht Paulus von der Kraft des Evangeliums, das wie ein gottgesegneter Selbstläufer durch die Welt eilt und sich als Macht des Lebens durchsetzt – Verkündigung als Verlängerung von Ostern. Dass der Verfasser hier über das Evangelium wie eine fast personifizierte Größe und Macht meditiert, kann man daran gut erkennen, dass er in V. 8b sagt: »Sondern wenn das Evangelium leidet, dann leide mutig mit! Gott wird dir die Kraft dazu geben«, oder: »Denn es ist Gottes Kraft« – derselbe Ausdruck wie in Röm 1,16b. Dass Ostern sich ausweitet in die Verkündigung des Lebens hinein, setzt auch 1 Tim 3,16 voraus. – Oder: Die Besiegung des Todes nach V. 10 ist hier nicht an den Tod Jesu allein gebunden. Es kann auch sein, dass die Besiegung des Todes durch Tod und Auferstehung Jesu gemeinsam angenommen wird und dann die Verkündigung von dieser Grundlage abgetrennt und als eigene Phase in den Blick genommen wird. Auch für diese Lösung kann man sich auf Paulus berufen. In Röm 14,8-9 sagt er: »Im Leben und im Tod gehören wir dem Herrn. Denn Jesus, der Messias, ist gestorben und wieder lebendig geworden, um Herr zu sein über Tote und Lebende.« Ordnen wir unsere Beobachtungen in den gesamten Text ein: Die Rahmung signalisiert das Wort »Evangelium« (V. 8.10). Sodann wird der Text von starken Gegensätzen bestimmt: Leiden
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Kapitel 2
und Kraft (V. 8), Werke und Gnade (V. 9), vor ewigen Zeiten und jetzt (V. 9.10), Tod und Leben (V. 10). Dass die Christen schon »vor ewigen Zeiten« erwählt wurden, dieses aber erst jetzt offenbar wurde, nennt man »Revelationsschema« (vgl. z. B. Röm 16,25f), der Sache nach ist Eph 1,4 verwandt (Christen sind »in Christus« seit ewig erwählt). Die byzantinischen Hymnen übertragen diese Auszeichnung auch auf Maria und Inkarnation: »Ich werde den Körperlosen gebären … Das Mysterium von Urbeginn, heute wird es enthüllt. Und Gottes Sohn wird eines Menschen Kind …« (Akathistos, Samstag) und: »Das Mysterium von Urbeginn, heute wird es erkannt: Gottes göttliches Wort wird aus Erbarmen Sohn der Jungfrau Maria … Das verborgene Mysterium, das selbst die Engel nicht kannten, wird anvertraut dem Engel Gabriel …« (Kanon des Joseph). – In jedem Falle hat die Erwählung von Anbeginn oder der Ratschluss vor ewigen Zeiten die Funktion, die unvergleichliche Würde darzustellen.
2 Tim 1,9: Erwählung Den Adressaten wird gesagt, dass sie heilig sind und schon seit ewigen Zeiten an Jesus Christus gebunden. – »Gott ist der Unterschied« (Thomas Mann). Das heißt: Gott ist nicht dieses oder jenes Ding, kein anderes, sondern der Nicht-Andere. Da Gott als der Schöpfer durch die Schöpfung zwischen den Dingen unterscheidet, stiftet er Ordnung. Die Ordnung der Schöpfung ist eine Ordnung der Unterschiede. Die Erwählung der in 2 Tim 9 angesprochenen Heidenchristen ist schon viel älter als die Erwählung Abrahams. Gott hat die Christen »ganz persönlich gewollt, und seine Absicht war es schon vor ewigen Zeiten, uns ganz eng an Jesus Christus zu binden«. Er »hat uns berufen, sodass wir nicht mehr wie die anderen sind, sondern heilig, weil wir Gott gehören, und geadelt durch Gottes Gnade« (V. 9). Neben die Erwählung der Juden aus den Heidenvölkern (Gen 12) tritt nun die Erwählung der Heidenchristen aus allen Heidenvölkern. Dass diese seit Ewigkeit bestehen soll, meint auch Eph 1,4. Für die Bibel bedeutet Präexistenz Vorrang und Vor-liebe. Und es kommt darauf an, mit wem man vorher existiert. Die Gemeinschaft der Erwählten mit dem erwählenden Gott (Familie,
Stadt, intensive Gemeinschaft) ist sehr intensiv. Weil sie so intensiv und treu ist, darf sie auch präexistent genannt werden, denn sie ist nicht oberflächlich oder vergänglich
2 Tim 1,10: Auferstehung und Mission In 1,10 deutet Paulus den Zusammenhang von Auferstehung und Mission. Der Auferstandene ist das Licht. In 2 Kor 4,4-6 gibt es zwar einen schönen paulinischen Beleg für den Licht-Charakter der Mission, aber es ist von der Auferstehung Jesu nicht die Rede. Dass der Auferstandene das missionarische Licht ist, sagen besonders die drei Visionsberichte über die Berufung des Apostels Paulus in Apg; besonders gilt das für Apg 26,13-16: »tauchte plötzlich um die Mittagszeit ein Licht vom Himmel her alles um uns herum in gleißende Helligkeit, strahlender als die Sonne … Steh auf! Ich bin dir erschienen, um dich als Diener und als Zeuge dessen zu bestellen, was du jetzt siehst und was du noch sehen wirst. Immer werde ich es sein, der dir erscheint. Ich habe dich erwählt aus Juden und Heiden und sende dich zu den Heiden, damit du ihnen die Augen öffnest, sodass sie umkehren von der Finsternis zum Licht, aus der Herrschaft Satans hin zu Gott.« Zeuge des Lichtes, das Paulus sieht, wird er sein, und das bedeutet, dass Menschen umkehren können zum Licht. So ist 2 Tim 1,10 eindrückliches Zeugnis für die Initialzündung, die Jesu Auferstehung für die paulinische Mission bedeutet.
2 Tim 2,1-3: Eine Kette von Zeugen Entsprechend dem theologischen Anliegen des Briefes ist 2,1-2 gleichfalls auf eine Vielzahl von Vermittlern ausgerichtet; eine ganze Kette von Zeugen kommt in den Blick: Paulus neben vielen Zeugen – Timotheus – vertrauenswürdige Menschen – andere. Timotheus soll es von Paulus hören, er selbst soll es treuen Menschen vorlegen, diese sollen es andere lehren. Insgesamt vier bzw. fünf Instanzen kommen hier in den Blick. Es empfiehlt sich, diese Instanzen nicht einfach unter »frühkatholisches Traditionsdenken« einzuordnen, sondern erstens als Gegenbild zu den
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814 »Genealogien« von Tit 3,9 und 1 Tim 1,4 zu sehen und zweitens in dem für 2 Tim typischen Geflecht vernetzter Beziehungen bei der Verkündigung des Evangeliums. Dieses ist zur Zeit des Paulus nicht mehr und nicht weniger als realistisch. An dieser Stelle kann daher – forschungsgeschichtlich gesehen – das neuere Interesse an Sozialgeschichte die konfessionellen Kämpfe um die Pastoralbriefe ablösen. Der Sinn des Abschnittes 2,1-12 wird aus 2,3-5 erkennbar. Paulus ermahnt Timotheus: »Sei bereit, mit Jesus Christus als sein guter Soldat Böses zu erleiden. Keiner, der in den Krieg zieht, kümmert sich noch um die Belange des alltäglichen Lebens, sondern nur noch darum, die Anerkennung des Befehlshabers zu gewinnen. Und nur wer streng nach den Regeln kämpft, kann ein Ehrenzeichen erringen.« Das Bild des Kampfes und des Soldaten wird Paulus für sich selbst in 4,7 wieder aufnehmen. Und von sich selbst und seinen eigenen Leiden spricht der Apostel in 2,9.
2 Tim 2,3-6: Zwei Gleichnisse Das erste der beiden Gleichnisse betrifft das Verhältnis zwischen Soldat und Feldherr. Jeder der drei Sätze dieses Gleichnisses hat eine andere Pointe. Der erste Satz (V. 4) sagt: Ein guter Soldat leidet mit seinem Feldherrn mit; aus anderen paulinischen Stellen wissen wir: Er wird dann auch mit ihm zusammen geehrt/verherrlicht. – Der zweite Satz (V. 5) lautet: Ein guter Soldat lässt sich nicht durch allerlei Geschäfte des Lebens ablenken, sondern versucht, seinem Feldherrn zu gefallen. – Der dritte Satz (V. 6) heißt: Einen Siegeskranz erhält nur der, der »nach den Regeln« gekämpft hat. – Alle drei Sätze betreffen direkt oder indirekt das Verhältnis zwischen Soldat und Feldherrn. Wir stoßen hier auf eine eigene, in letzter Zeit nicht beachtete Tradition: die von Christus als dem Feldherrn. Diese Tradition, so dürfen wir aufgrund von 2 Tim 2 annehmen, steht überall im Hintergrund, wo Christen mit Christus mitleiden und mit-verherrlicht werden, auch wenn weder vom Soldaten noch vom Feldherrn die Rede ist. Es betrifft daher Röm 8,17 und 1 Petr. Viel zu wenig ist der Theologie bewusst, dass der Soldat wie auch der Feldherrr als Leidender erlebt wird. Für das Neue Testament ist
Der zweite Brief an Timotheus
das Soldatenschicksal das des Leidens schlechthin. Die nachfolgende Herrlichkeit ist postmortal. Das zweite Gleichnis sagt: Der Bauer, der sich gemüht hat, darf als Erster an den Früchten Anteil haben. Die Pointe der beiden Gleichnisse wird unten in 2,11 aufgenommen. Dort folgt auf das gemeinsame Sterben das gemeinsame Leben, auf die Geduld das gemeinsame Herrschen.
2 Tim 2,8: Erfüllung der Davidsverheißung 2,8 ist eine schlichtere Form von Röm 1,3f (»aus dem Samen Davids …, aufgrund der Auferstehung der Toten«), hier ohne den Gegensatz von »Fleisch« und »Geist«. Aber hier wie dort wird mit dem Stichwort David die edle menschliche, jüdische Herkunft beschrieben, mit dem Stichwort Auferstehung dagegen das, was für alle Menschen und die ganze Welt grundlegend wichtig ist. So hat diese Aussage ein Gefälle in sich von der Beschränkung auf ein jüdisches Geschlecht zur universalen Bedeutung der Auferstehung. Von dem, was als das Begrenzteste auf Erden erscheinen mag, zu einem Ereignis, das den Kosmos revolutioniert. Durch die Auferstehung wird die Davidsverheißung auf eine ganz ungeahnte Weise neu erfüllt und universal verwirklicht. Insofern wird durch das Sitzen des Auferstandenen zur Rechten Gottes auch Lk 1,32 mehr als erfüllt (Thron seines Vaters David). 2 Tim 2,8 ist daher aus meiner Sicht die geeignete Deutungshilfe für Lk 1,32.
2 Tim 2,8-13: Christliches Selbstverständnis Es sind alte, vorpaulinische Stücke, die Paulus in diesem Abschnitt aufnimmt und verarbeitet. Erkennen kann man das übrigens schon rein äußerlich daran, dass der Apostel in 2,11 die Formel verwendet »Vertrauenswürdig ist das Wort …«, welche regelmäßig überliefertes Gut kennzeichnet. Auch in V. 8 gebraucht Paulus einen alten Baustein: Die Stichworte »Evangelium« und die zweiteilige Aussage über Jesus »aus dem Geschlecht Davids« und seine »Auferstehung bzw. Auferweckung aus Toten« sind gemeinsam und weisen darauf hin, dass es sich hier um eine Art
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Kapitel 2
Bekenntnis handelt. Auch dessen Ziel und Absicht kann man noch erkennen: Das Geschlecht Davids ist für Juden(christen) interessant, der Ausdruck »Evangelium« wird von Juden und Heiden verstanden, bezeichnete er doch unter Augustus »Kaisers Geburtstag«, und der Ausdruck »Sohn Gottes« (in Röm 1,3) ist für Juden und Heiden als einziger Titel Jesu gleicherweise verständlich. Die Beschränkung auf die Auferweckung aus Toten in 2 Tim 2,8 weist eher auf jüdische Adressaten; denn wir wissen aus Apg 17, dass Heiden auf diese Botschaft nicht mit Freude reagierten, sondern sie eher für schwierig hielten. Daher könnte die Formulierung in 2 Tim 2,8 noch älter sein als die in Röm 1,3 f. Wenn man also so beginnt wie 2 Tim 2,8: »aus Toten auferweckt«, dann stellt man die zentrale, revolutionäre Botschaft voran, ohne die Paulus nach eigenem Bekunden nicht Christ wäre (1 Kor 15,17). Für Paulus selbst sind, das erkennen wir hier, die Auferstehung Jesu und seine Herkunft von David, die entscheidenden Argumente für seine Messianität. In diese Richtung weist auch die Betlehem-Überlieferung der Kindheitsgeschichten. Sie ist für die Annahme der Herkunft Jesu von David eine wichtige empirische Stütze, die auch der Familienüberlieferung entsprochen haben dürfte und den Anspruch auf das Grundstück in Betlehem begründete. – Interessant ist, dass sowohl in Röm 1 als auch in 2 Tim 2 Jesus nicht »der Sohn Davids« heißt, sondern dass diese »Formel« ganz im Amtlichen verbleibt: Ja, Jesus stammt von David ab. Was seine Messianität wirklich füllt, das ist seine Auferstehung (über deren Verbindung mit David vgl. dann Apg 13,34-36; 2,29-31). Das ist im Übrigen ein im Rahmen des damaligen, noch dazu des pharisäischen, Judentums möglicher Gedanke; denn wodurch sich der Messias als solcher erwies, war in der Tradition nicht festgelegt. Und: Gerade die Pharisäer hatten begonnen, an die Auferstehung Toter zu glauben. Für den Pharisäer Paulus ist diese in Jesus unzweifelhaft Wirklichkeit geworden. Die zweite Besonderheit dieses Abschnitts liegt in dem »Hymnus« (mit stilgemäßen Parallelismen) V. 11-13. Nur hat dieser Hymnus ein paradoxes Ende. »Wenn wir mit Christus sterben, werden wir auch mit ihm leben. Wenn wir alles geduldig ertragen, werden wir mit ihm regieren.
815 Wenn wir ihn verleugnen, wird er uns auch verleugnen. [Doch in einem Punkt gilt die Entsprechung nicht:] Wenn wir untreu werden, so bleibt er doch treu, denn er kann sich nicht selbst aufgeben. Und das gibt uns Grund zum Vertrauen« (Übers. Berger/Nord). – Dieser Satz ist wohl deshalb sehr alt, weil er noch ganz unspiritualisiert von wirklichem Sterben mit Christus und wirklichem geduldigem Leiden ausgeht, das Vorbedingung für die Mitregentschaft im Himmel ist. Denn »mit Christus sterben« meint hier genau das, was Petrus und die Jünger nach Mk 14 voreilig versprechen und dann nicht halten können. Paulus selbst wie auch Petrus werden am Ende diesen Weg gehen. Aber alle anderen Christen (die normalen Nicht-Märtyrer) doch wohl im Wesentlichen nicht. Für sie gilt das Mitsterben in der Taufe (Röm 6,5 f.8). Die sakramentale Deutung ist zweifellos weniger schmerzvoll als die martyrologische Deutung im Vollsinn des Wortes. Auch das »Ertragen« (»Aushalten«) von V. 12 ist wörtlich zu nehmen, eine »vergeistigte« Deutung gibt es hier überhaupt nicht. Die Alternative ist »verleugnen«, und gerade diese Wortfolge von »mitsterben« und »verleugnen« ist den Lesern gewiss aus den Passionsgeschichten von Petrus her geläufig. Außer Röm 6 versucht auch schon Mk 10,3545 die Leser davon abzubringen, Martyrium sei der angemessene Weg der Christusnachfolge. In Mk 10,45 wird Jesus sagen: Nicht Martyrium, sondern lebenslanges Dienen. Wir erkennen in 2 Tim 2,11f eine alte Märtyrertheologie, die den Gemeinden so gar nicht zumutbar war. Zu Beginn des 2. Jh. wird dann Ignatius v. Antiochien ein letzter einsamer Zeuge dieser alten Theologie sein, nach der das freiwillig gesuchte (!) Martyrium »der« christliche Weg ist. Auch für sich selbst denkt Paulus zweifellos in diesen alten Kategorien. Auch bei ihm ist eine Umdeutung oder Abmilderung nicht erkennbar. 2 Tim 2,13 hebt nun die eben gefundenen Entsprechungen von Sterben und Mitregieren etc. auf. Dabei wird sehr genau zwischen Verleugnen und Unglauben unterschieden. Aber beides kennen wir ja aus den Jünger-Themen der synoptischen Evangelien: Jesus tadelt immer wieder den mangelnden Glauben oder Kleinglauben der Jünger. Gerade an Mt 14,32 kann man sehen: Verzagtheit und Anfechtung in diesem Sinn ist
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816 nichts, das endgültig von Jesus trennt, sondern was immer wieder auf Jesus als den einzigen Halt verweist und um das man beten kann. Hier geht es um einen Prozess und ein Mehr oder Weniger. Kleinglaube ist der Unglaube der Jünger. Denn seiner biblischen Konzeption nach ist Glaube nie etwas anderes als Anteilhabe an der Stabilität Gottes. Verleugnen, also Ableugnen in der Gegenwart Dritter ist etwas anderes. Öffentliches, gewissermaßen amtliches Verleugnen von Vertretern oder mutmaßlichen Vertretern anderer Parteien ist nicht so sehr Schwäche, sondern Feigheit, und das Beispiel des Petrus zeigt, dass man für dieses Vergehen ohne Tränen und Umkehr nicht auskommt. – Zur Antwort Jesu auf das Verleugnen der Jünger vgl. die Worte über Jesu Verhalten im Gericht: Mt 10,32f; Mk 8,38; Lk 9,26. Gerade aus Mt 10,32f wird wie in 2 Tim 2,12 deutlich, dass es sich um Verhalten und Ergehen nach der Talio handelt: Wer vor einem menschlichen Forum verleugnet, den wird der Menschensohn vor dem himmlischen Forum verleugnen. Außer er kehrt um, wie Petrus es getan hat. – Dass 2 Tim über Glaubenszweifel und Unglauben anders spricht als über Verleugnen, war eine der Begründungen dafür, dass man den Glauben als göttliche (eingegossene) Tugend ansah und eben nicht als menschliche Tugend unter anderen. Beim Glauben ist auf andere Weise Gott im Spiel. Die Rede vom Mitsterben und gemeinsam Geduld haben zeigt: Es ist nicht so, dass nach dem Leiden Jesu alle Christen »aus dem Schneider« wären, weil der eine gelitten hat. Es ist wahr, dass man das Leiden (außer wenn man ein besonderes Zeichen setzen will oder muss wie Ignatius v. A.) nicht suchen soll. Röm 6 und das Dienen nach Mk 10,45 weisen auf sinnvolle Alternativen. Aber wenn das Leiden kommt, wird es die Christen treffen wie das Selbstverständlichste.
2 Tim 2,14-26: Umgang mit Häretikern Man kann diesen Abschnitt titulieren »Über den praktischen Umgang mit Häretikern«. Ziel ist nach 2,25 deren Wiedergewinnung (Umkehr zur Wahrheit). Tendenz der Ermahnungen ist: Kein Argumentieren oder Herumstreiten mit Worten (V. 14: Wortstreitereien; V. 23 Diskus-
Der zweite Brief an Timotheus
sionen; V. 24: nicht streiten), sondern Wiederholung der wahren Lehre, Distanzierung von der Falschlehre und kompromisslose Verwerfung, V. 15: »Gerade heraus die Wahrheit verkünden«. Inhalt der Irrlehre (des Hymenäus und des Philetus): Die Auferstehung ist schon geschehen. Dazu vgl. Eph 2,5f; Kol 2,12; 3,1.3.5; Rheginusbrief 9,4 (Auferstehung ist Enthüllung derer, die schon auferstanden sind). In der Tat kennen diese Texte eine Auferstehung der Christen, die schon geschehen ist. Irrlehre ist das nur dann, wenn darin eine künftige Auferstehung geleugnet wird; das scheint nach 2 Tim 1 der Fall zu sein. Vgl. zum Ausgleich Joh 5,21.24-26 und andererseits 5,28f mit der Annahme einer doppelten, aber terminologisch unterschiedenen Belebung Toter. In 2,19 wird das nicht widerlegt, es heißt nur in zwei Schriftzitaten: »Der Herr kennt die Seinen« und: »Jeder, der den Namen des Herrn anruft, soll vom Unrecht ablassen.« In V. 20f greift Paulus das aus Röm 9,21 bekannte Bild der edlen und der unedlen Gefäße auf. In Röm 9 wird das Bild freilich – oberflächlich gesehen – anders verwendet, und zwar so, dass Gott die einen so gemacht hat, die anderen anders. In Röm 9 liegt der Ton auf dem, was man später Prädestination genannt hat. In 2 Tim 2,21 geht es deutlich um die Mahnung, sich von der Irrlehre freizuhalten, damit man ein gutes Gefäß werden kann. Das Kriterium ist also eher moralisch: sich freihalten von der Irrlehre. Schließlich ist 2,24 bemerkenswert: Paulus zeichnet hier das Bild des Sklaven Gottes, wie es insbesondere nach dem MtEv (vgl. besonders 12,19f; 11,29) in Jesus Christus verwirklicht ist (streitet nicht herum, lässt sich nicht provozieren, ist freundlich mit allen, ein geduldiger Lehrer, kann Unrecht ertragen, zeigt sanfte Geduld). Dieser Merkmalskatalog ist ein »Lehrerspiegel«, der in Jesus verwirklicht ist. Der Ausdruck »Sklave Gottes« entspricht dem in Mt 12,18a aus Jes 42,1 zitierten »Mein Sklave/Kind, den ich erwählte …«. 2 Tim 2,24f zeigt auf jeden Fall, dass das, was der Evangelist Matthäus zitiert, schon vor (?) und neben ihm ein bestimmtes christliches Menschen- bzw. Apostelbild hat prägen können.
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Kapitel 3
2 Tim 3,1-10: Mahnung – Abschied – Rückblick Es lohnt sich, nach den in 2 Tim gebrauchten Gattungen und Formen zu fragen. Denn in 3,1 beginnt unzweifelhaft eine für frühchristliche Texte typische Gattung: Der Lehrer warnt gegen Schluss seiner Rede vor den nach ihm kommenden Falschlehrern (»Irrlehrerwarnung«). So wird gesagt: Er hat auch um die Gefährdung seiner eigenen Lehre gewusst. Und daher braucht man sich später nicht zu wundern und kann umso getroster an der Lehre des wahren Lehrers festhalten. Besonders in der Großgattung der Testamente ist diese Untergattung zu Hause. Ebenso gehört zur Gattung der Testamente dann die wirkliche Rede zum Abschied in 4,6-8. In der Gattung der Testamente (besonders der Zwölf Patriarchen) findet man ferner autobiografische Rückblicke. – Direkte, persönlich verpflichtende Mahnrede findet sich in 1,6-10; 2,1-10.21-26. Ein Stück aus der in der Antike geläufigen Soldatenparänese (Gattung der »Feldherrenrede«) liegt vor in 2,3-5. – Ansätzen zu persönlichen Rechenschaftsberichten des Apostels begegnen wir in 1,12-13; 2,10; 3,11.
2 Tim 3,11 – 4,2: Inspirationslehre Der Apostel spricht über die »verführten Verführer«, die auch ihn verfolgen (3,11-13), und am Schluss richtet sich ab 4,1 die Verkündigung des Wortes durch Timotheus gegen die Lehrmeister der Endzeit, die mit »Mythologie« die Leute verderben (4,3f). So aber wird aus der Polemik ein zeitloser Traktat über die Inspiration. Trotz der genannten durch die Situation der Polemik bedingten Mängel ist dieser Ball aufzufangen. Nach Berger/Nord lautet 3,15f: »Von Kindesbeinen an kennst du ja die Heilige Schrift. Durch sie kannst du erkennen, was zur Befreiung durch den Glauben an Jesus Christus führt. Die ganze Heilige Schrift atmet Gottes Geist. Sie hilft uns zu lehren, zu widerlegen, wieder aufzurichten, sie ist der Maßstab für eine Erziehung zum Miteinander …« – Zumeist wird hier auf die Inspirationslehre Philos v. Alexandrien verwiesen, der die Ausschaltung der menschlichen Geistestätigkeit zugunsten der Alleinherrschaft des göttlichen Geistes im Propheten im Anschluss an Plato (Ion
817 534b) verkündet. Diese anthropologisch-psychologische Theorie ist nun sicher nicht die Auffassung des Apostels Paulus und seiner Schüler. Ich möchte es daher wagen, von den Grundlagen paulinischer Theologie her eine Inspirationslehre zu entwerfen, wie sie Paulus vertreten haben könnte. Dieser Versuch könnte sich dann als halbwegs »gelungen« erweisen, wenn dadurch Paulus und das frühe Christentum verständlicher werden. Ausgangspunkt ist das Attribut »atmet Gottes Geist«, das 2 Tim 3 verwendet, wörtlich: »von Gottes Geist angehaucht, voll mit Atem erfüllt«. Nach der paulinischen Lehre über den Heiligen Geist gibt es diesen Heiligen Geist in den Herzen der Menschen, als Gabe an die Menschen erst seit Jesus, für die Jünger Jesu erst seit der Auferstehung. Alles andere ist völlig ausgeschlossen, denn sonst könnte der Neue Bund nicht der Bund des Geistes genannt werden (2 Kor 3). Doch dem Gesetz (der Torah) gesteht Paulus zu, es sei »dem Ursprung nach von Gottes Geist« (Röm 7,14), und das Manna war in diesem Sinne pneumatische Speise und das Wasser aus dem Felsen pneumatischer Trank (1 Kor 10,3f). In allen drei Fällen geht es um den nicht-irdischen Ursprung bei Gott. Das ist aber etwas ganz anderes als Erfülltsein der Christenmenschen vom Heiligen Geist als Prinzip des Handelns und der Auferstehung. Denn erst dieser Heilige Geist macht Menschen zu Gottes Kindern. Von dieser Wirkung aber kann bei Manna, Felsenwasser und Torah nicht die Rede sein. Nun führt Paulus den Glauben der Christen schon seiner Entstehung nach auf den Heiligen Geist zurück. 1 Kor 2,3-5: »Als ich zu euch kam, fühlte ich mich ziemlich elend, ich hatte große Angst und zitterte am ganzen Leib. Meine Predigt war gewiss nicht tiefsinnig oder besonders überzeugend, und doch wurden Geist und Kraft sichtbar. So muss es sein; denn Glaube beruht nicht auf menschlichem Tiefsinn, sondern ihr wurdet angesteckt durch die Kraft Gottes.« Oder Gal 3,2f: »Habt ihr nicht den Heiligen Geist empfangen aus dem Gehorsam des Glaubens?« Diesen Heiligen Geist hat Paulus bei seiner Berufung empfangen (Gal 1), es ist der Geist des Auferstandenen (Röm 1,4), und Paulus gibt ihn als Apostel weiter in seiner Predigt, wie er sie in 1 Kor 2 schildert. Als an Christus Glaubende sind
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818 die Christen durch den Heiligen Geist Kinder Gottes. Dieser Heilige Geist stellt aber auch das Verhältnis der Christen zur Torah bzw. zum Alten Testament auf eine neue Grundlage. Denn die Torah, die selbst pneumatisch ist, können die Christen nun als Träger des Heiligen Geistes erfüllen. Der Heilige Geist hat sie auf eine Ebene mit der Torah gestellt, sodass sie jetzt endlich »konnatural« den Willen Gottes in der Schrift erfüllen können. Diese neue Beziehung zum Gesetz macht Röm 8,2-8 eindrücklich klar: Wer in der Schwäche des alten Menschen (Fleisch) verharrt, kann die pneumatische Torah nicht erfüllen. Wer sich aber vom Heiligen Geist leiten und erfüllen lässt, der kann es. Die Gabe des Heiligen Geistes an die Christen ist es erst, die die Torah zu mehr macht als zu einer stets verurteilenden »Gouvernante«. So aber ist es auch mit dem Glauben und der Schrift in kognitiver Hinsicht. Wer selbst den Heiligen Geist als Gabe empfangen hat, kann auch die Schrift angemessen verstehen (1 Kor 2,13b). Daher gibt es »rund um Paulus« die Meinung, die Propheten hätten vom Geist Christi empfangen und so prophezeit. Barnabasbrief 5,6: »Die Propheten hatten von ihm her die Gnade des Redens und haben deshalb auf ihn hin geweissagt«; ThomasEv 52: »24 Propheten redeten in Israel und redeten alle in dir«; 1 Petr 1,10-12: »Schon die Propheten, die nach dieser Erklärung gefragt und gesucht hatten, haben die Gnade Gottes, die ihr empfangen habt, verkündet. Weil der Geist Jesu Christi selbst sie inspiriert hatte, konnten sie Jesu Leiden und die Herrlichkeit danach vorhersagen. Als sie aber wissen wollten, wann dies sein würde, wurde ihnen geoffenbart, dass diese Botschaft nicht für sie selbst, sondern für euch gedacht war. Jetzt wird sie euch durch die Boten, die euch das Evangelium gebracht haben, in der Kraft des Heiligen Geistes, der vom Himmel her kommt, verkündet.« Oder 3 Kor 10: »Sein (sc. Gottes) Wunsch war es, das Haus Israel zu retten. Deswegen hat er einen Teil vom Geist Christi in die Propheten gesandt, die über lange Zeiten hin den wahren Gottesdienst verkündeten« (Berger/Nord, 1192). Der Sinn dieser Aussagen ist stets: Die Offenbarung Gottes ist eine einzige, es weht im Alten Testament kein anderer Geist als im Neuen. Denn es ist der eine Gott, der in der Schrift redet. So
Der zweite Brief an Timotheus
gilt zunächst: Weil in der Schrift derselbe Geist weht, der die Christen erfüllt, können sie die Schrift verstehen. Aber es gilt auch umgekehrt: Sofern die Christen in einer Schrift ihren Glauben wiedererkennen können, gilt diese Schrift als vom Heiligen Geist inspiriert. Dieser letztere Satz ist die Voraussetzung einer biblisch begründeten Inspirationslehre. Inspiration meint daher nicht vorrangig eine philologische, biologische oder historische Irrtumslosigkeit. Ich sage ausdrücklich: »nicht vorrangig«; denn wer es anders liest, findet in der Schrift eine Menge Anlass zu Spott (über Irrtümer z. B. naturwissenschaftlicher Art). Inspiration besagt zunächst etwas über den christlichen Glauben (also z. B. die Glaubensbekenntnisse), speziell die Gestalt Christi, sein Geschick im weitesten Sinne des Wortes. Die Logik der Beweisführung ist daher: Christen haben den Heiligen Geist geschenkt bekommen, und zwar zugleich der Einzelne wie die Kirche (1 Kor: Beide sind mit gleichem Recht Tempel des Heiligen Geistes), und dieser Heilige Geist artikuliert sich im Glauben der Christen, also im Credo im weitesten Sinn. Die Christen können nun dank dieser Gabe des Geistes den Geist wiedererkennen, wo er tatsächlich am Werk war (z. B. bei den Propheten), und sie können auch wahrnehmen, wo er nicht wirksam ist, wo das, was sie glauben, nun wirklich nicht vorkommt. Dabei gilt im Übrigen nicht der buchstäbliche Sinn als letzte Norm, sondern der typologische oder figürliche Sinn, wie Paulus ihn etwa in 1 Kor 10 annimmt, wenn er sagt, der Israel begleitende Felsen sei Christus gewesen. Es kann daher sogar sein, dass der Wortsinn eine Rechtgläubigkeit suggeriert, die in Wirklichkeit nicht da ist. Das alles muss der Glaubensinn der Christen aus eigenster Substanz entscheiden. Und nach christlicher Auffassung verdankt sich die Einteilung in kanonische und nicht für den Kanon akzeptable Schriften (Apokryphen) sowie zwischen Rechtgläubigkeit und Häresie eben diesem Grundsatz. Eine Aussage wie 2 Tim 3,16, die Schrift sei »inspiriert«, ist daher nicht der Einfall eines Autors, noch bloßes Resultat liebgewordener Tradition, sondern ein theologisches Urteil, das den Glauben als lebendiges Wirken des Heiligen Geistes ansieht. Dieser Heilige Geist war auch
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Kapitel 4
schon früher wirksam. Wer ihn hat, kann ihn auch dort erkennen. In diesem Satz wird übrigens der paulinische Grundsatz von der Konnaturalität von Erkenntnisvermögen und Erkenntnisgegenstand konkret angewandt. Zu Deutsch: Der Geistträger und nur er kann über die Gegenwart des Heiligen Geistes befinden (1 Kor 2,13b). Daher ist das Feststellen der Inspiriertheit von Schriften Sache des kirchlichen Lehramtes – und nicht von Philologen oder Historikern. Das betrifft auch die Methoden, und zwar für den brisanten Fall des Alten Testaments. Kein Alttestamentler historisch-kritischer Provenienz wird die Inspiriertheit des Alten Testaments behaupten wollen oder beweisen können. Dazu bedarf es eines anderen Geistes. Benedikt XVI. hat in seinem Jesusbuch deutlich gemacht, was das für ein Geist ist.
2 Tim 4,6-8.16-18: Testament Es gibt Alters- und Pflegeheime, die bevorzugt Menschen aufnehmen, die christlichen Glauben haben und zeigen, der die Auferstehung von den Toten einschließt. Menschen, die getröstet sterben wollen. Denn was ist furchtbarer – vielleicht über Jahre hinweg –, als Menschen, die sich gegenseitig in ihrer altersbedingten Depressivität ihre Zeit madig machen und die Zukunft nur als schwarzes Loch kennen? Jeder Seelsorger weiß, dass die Jahre und oft Jahrzehnte des Alters oft länger dauern als die gesamte Berufstätigkeit. Und dass Menschen außer Fernsehen oft nichts mit dieser kostbaren Zeit anfangen können, zumal wenn sie keine Kinder und Enkelkinder haben. Insofern wird die »Kunst des Sterbens« (ars moriendi) eine neue und zugleich alte Art der Seelsorge und Betreuung sein und sich oft über lange Zeit erstrecken. So wird jeder Christ das Sprechen über seine Hoffnung neu lernen müssen. Denn über das Wichtigste, in dessen Angesicht man lebt, über die Ewigkeit einfach zu schweigen, wird je länger desto weniger ausreichen. In diesem Sinne will ich den Paulustext aus 2 Tim verstehen und fragen, was jeder Einzelne daran haben kann. Paulus beginnt mit einer schonungslosen und zugleich poetischen Analyse seiner Situation: »Ich habe nicht mehr lange zu leben. Mein Leben
819 zerrinnt wie Wein, der als Trankopfer ausgeschüttet wird« (4,6). Das Bild kennt damals jeder (auch der Christ) von der Beerdigung: Durch ein Röhrchen wird dem Verstorbenen im Grab noch Wein zugeführt, falls er ihn gebrauchen könnte, vor allem aber zur Abschreckung schädlicher Totengeister. Das Trankopfer wird einfach nur ausgeschüttet und vergeht im Staub, wie brennende Kerzen im Wind flattern und vergehen. Dann blickt Paulus auf das zurück, was in seinem Leben wichtig war. Vor das Bild von der Vergänglichkeit in 4,6 schiebt sich nun ein anderes, ganz entgegengesetztes. Auch dieses war jedem vertraut, aber nicht vom Friedhof, sondern vom Sportplatz (Gymnasium). Darauf weisen sieben Bilder: Wettkampf, kämpfen, Lauf, Ziellinie, Geduld (hier nicht »Glauben«, sondern die sportliche Tugend zäher Ausdauer), verdienter Siegeskranz, Schiedsrichter (hier verschmilzt das Bild mit dem Weltenrichter). Damit aber entfaltet Paulus ein Bild voller Hoffnung. Denn das, was er erwartet, ist nicht ein schwarzes Loch, sondern die Zeit der Siegesfeier. Nicht eine Zeit, die abgelöst ist von der Gegenwart und etwas völlig Fremdes darstellt, sondern ein neuer Lebensabschnitt, der sinnvoll bezogen ist auf das jetzige Leben, das wir dann hinter uns haben werden. Dabei durchbricht Paulus natürlich das Bild vom Wettkampf. Im sportlichen Kampf kann nur immer einer Sieger sein, hier aber werden alle Sieger sein, die überhaupt bis zum Ende durchgehalten haben, denn der Himmel kennt keine Konkurrenz. Am Ende von V. 8 redet Paulus dann ganz theologisch: »allen, die seine Wiederkunft lieben«, zu Deutsch: »alle, die sich danach sehnen, dass der Herr wiederkommt«. Auf diese nämlich wartet die Krone des Lebens. Die Sehnsucht nach der Wiederkunft des Herrn ist in manchen Adventsliedern geläufig, besonders im Introitus der Rorate-Messen mit seiner hinreißenden Melodie (»Rorate caeli desuper et nubes pluant iustum …«). Paulus zeigt diese Sehnsucht besonders im Brief an die Philipper sehr deutlich (1,20-23): »Ich darf erwarten, dass meine Hoffnung nicht enttäuscht wird, und bin zuversichtlich, dass wie bisher auch jetzt Christus durch mein leibliches Geschick verherrlicht wird, ob ich nun lebe oder sterbe. Denn mein Leben ist
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820 nur Christus, und wenn ich physisch sterbe, so ist das nur ein Gewinn … ich bin zwischen den zwei Möglichkeiten hin- und hergerissen. Einerseits sehne ich mich danach, hier Abschied zu nehmen und ganz bei Christus zu sein. Das ist bei weitem das beste Los.« Dass Paulus in 4,7 von sich sagt, er habe den Glauben bewahrt bzw. »Ausdauer gezeigt«, und dass er so selbstbewusst von der Siegerkrone in V. 8 spricht, finden evangelische Ausleger peinlich, da Paulus nur von seinem Erfolg, nicht auch von seiner Schwachheit spricht, als ob er nur sein und nicht vielmehr Gottes Tun gepriesen hätte (Dibelius-Conzelmann). Und der Katholik Norbert Brox schließt sich dem an: »Paulus ist hier der siegreiche Kämpfer, der glorreiche Held, was nach den sicher echten Paulusbriefen schwerlich als Selbstbildnis denkbar ist.« Also sei der ganze Abschnitt ein Argument gegen die Echtheit des 2 Tim. Ich kann dem nicht zustimmen und finde die Argumentation der Kollegen hier in einer Weise systematisch-rechtfertigungstheologisch, wie sie bei Paulus selbst nicht vorkommt. Denn das Bild vom Wettlauf und Sieg ist in sich geschlossen. Und dass die Ausdauer kein Zuckerschlecken ist, weiß jeder, der einmal für einen Wettlauf trainiert hat. Vor allem aber gibt Paulus doch am Ende eine überzeugende Variante seiner eigensten Theologie: Er redet von Liebe und Sehnsucht. Und mir will, in diesem Punkt bin ich freilich durch den heiligen Bernhard angeregt, scheinen, dass die Sehnsucht eine sehr glückliche Weise des Angewiesenseins auf Gottes Heil ist. Denn wer Sehnsucht hat, gibt zu, dass ihm selber Entscheidendes fehlt. Vor allem kann niemand auf die Idee kommen, Sehnsucht mit einer Art Leistung zu verwechseln, wie das beim Glauben öfter der Fall ist. Kurzum: Die zähe Geduld gehört bei Paulus zum Glauben dazu, und 2 Tim 4 ist nicht unpaulinisch. In 4,16-18 bezieht sich Paulus auf eine Erfahrung, die gleichfalls Alternden oder auf der abschüssigen Karrierehälfte Lebenden nicht unbekannt ist: die Einsamkeit. »Nur der Herr leistete mir Beistand.« Wie Paulus das wohl gemerkt haben mag? Gott hat ihn vor jeweils noch Schlimmerem bewahrt, was auch immer der Rachen des Löwen sei. Aber Paulus meint hier nicht beliebige Verlassenheit im Alter, sondern die Einsamkeit des
Der zweite Brief an Timotheus
christlichen Zeugen vor Gericht. Wir können da an Alfred Delp denken oder an Tausende andere, vor allem an Jesus selbst. Die Alte Kirche nannte dieses die Stunde der Wahrheit. Jesus sicherte den Märtyrern Inspiration mit seinen eigenen Worten oder den Heiligen Geist als den Beistand zu. Das gesamte JohEv versteht sich in diesem Sinne als eine Sammlung von Zeugnissen, die vor Gericht haltbar sind. Denn der Heilige Geist, der Paraklet, hat die Jünger (Verfasser) an »alles erinnert«. So ist die Echtheit der Jesus-Überlieferungen überhaupt zu verstehen als Interesse an deren Tauglichkeit als Zeugnis vor Gericht. Irgendein philologisches Interesse liegt den Evangelisten dabei fern. Übertragen wir diese Einsicht auf Paulus nach 2 Tim 4, so gilt: Der ideale Ort der Verkündigung ist die Verteidigung vor Gericht. Denn hier hören die Könige oder deren Vertreter und viele maßgebliche Nicht-Christen zu. Und der Apostel muss bis zum Letzten einstehen für das, was er sagt. Angesichts möglicherweise widerstreitender Zeugen wird man dem Gericht nichts vormachen können. – Diese Einsichten sind jedenfalls ein Korrektiv gegenüber der häufig zu hörenden Meinung, bei den frühchristlichen Glaubensaussagen gehe es um subjektive Gefühlsausbrüche, um romantische Verklärungen und Vergottungen mit poetisch-hymnischem Charakter, Schwärmereien also, durch die sich vor allem Christen untereinander immer wieder neu an ihren eigenen Irrtümern infizierten. Ist Wahrheit der Duft, der über einem Strauß von Irrtümern liegt? Nein, es geht um Zeugnisse im harten Streit der Wahrheit gegen Unwahrheit. Paulus sagt über die Vergangenheit, Gott habe ihn aus dem Rachen des Löwen errettet. Die Wendung »de ore leonis« steht dann auch im Offertorium des Requiems der alten Messe, hier wohl wie bei Paulus ein Bild für Tod und Teufel. Die Zuversicht, die Paulus darauf baut, richtet sich auf seine zukünftige Befreiung und himmlische Rettung. Sein Vertrauen ist also nicht grundlos. Er gründet es auf bereits geschehener Rettung. Das gilt auch heute: Wenn wir ein gutes Gedächtnis einüben und etwas genauer hinsehen auf wiederholte Rettung und Befreiung, dann ist Glauben leicht. Denn Glaube ist nicht Hellsehen und Zuversicht nicht Wahrsagerei, sondern geht aus von der Fortsetzung der Lebenslinie, die sich
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Kapitel 4
bisher gezeigt hat, wenn wir sie nur erkennen wollen. Insofern ist Paulus unverbesserlicher Optimist in der Schule Jesu. Jeder Leser bemerkt: Paulus steht hier in der letzten Lebensphase. Da kommt es nur noch an auf die Klarheit seines Bekenntnisses, der alles Nebensächliche fremd ist. Längst schon muss er nicht mehr verteidigen, dass Jesus Gottes Sohn ist. Es geht ihm wirklich um das, was moderne Menschen immer wissen wollen: was ich persönlich davon habe. Und Paulus lässt uns in dieser Frage nicht im Stich. In diesem tiefen Sinne ist Christentum die Religion der Freiheit, als Befreiung von Sünde, Tod und Teufel, kurzum: vom Maul des Löwen.
2 Tim 4,14-18: Paulus und seine Freunde Sein Geschichtsbild bringt Paulus besonders zum Ausdruck im Schlussteil des Briefes in 4,14-18. Der Gattung liegt ein »theologisch kommentierter Selbstbericht« vor. Auf das jeweilige eigene Ergehen hin schildert Paulus in direktem An-
821 schluss das je unterschiedliche zukünftige Ergehen. Von Alexander gilt: »Der Herr wird ihm vergelten nach seinen Taten« (Futur). Nachdem Paulus von Gott aus dem Maul des Löwen gerettet ist, wird es so sein: »Der Herr wird mich erretten (Futur) aus allem bösen Werk und mich retten in sein himmlisches Reich« (4,18). Damit ist hier ein doppelter Schluss dargestellt (vergelten/retten), wie er auch in Paränesen geläufig ist. Weiter ist für diesen Abschnitt kennzeichnend das kontrastive Handeln des Menschen und Gottes. Denn die Menschen verlassen Paulus, und zwar alle, sodass er allein steht. Das Gegenteilige tut Gott: Er steht Paulus bei und kräftigt ihn. Damit aber steht das Ergehen des Apostels in deutlicher Entsprechung zu dem von Jesus. Auch Jesus wird von allen verlassen, Gott allein steht ihm bei. Das Gebet am Ende (4,16: »Rechne es ihnen nicht an.« Wörtlich: »Es möge ihnen nicht angerechnet werden«) entspricht dem von Jesus (Lk 23,34: »Vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun …«), noch mehr aber dem Gebet des Stephanus (Apg 7,60: »Rechne ihnen die Sünde nicht an«).
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Der Brief an Titus
Kommentare: s. zu 1 Tim ohne F. Schleiermacher und J. Roloff. Ferner: Dionysius Carthesianus (vor 1479) – J. Bugenhagen (1524). – C. Espencaeus
(1568). – I. Habert (1656). – A. H. Francke (1743). – J. J. Wettstein (1752). – C. Vitringa (1728). – C. F. Blau (1846).
EINFÜHRUNG Einleitungsfragen Tit ist das älteste Zeugnis für frühes Christentum in Kreta. Kreta ist die Heimat des Titus. Der Brief streitet gegen judenchristliche Positionen. Das betrifft besonders Reinheitsvorstellungen. In 1,14f ist hier auch eine alte Beziehung zu Mk 7 erkennbar, ohne dass ein schriftliches MkEv vorausgesetzt ist. – Kennzeichnend sind eine Epiphanie-Theologie und ein ausgeprägtes Amt »geweihter Ältester«. Adressaten sind heidenchristliche Gemeinden. – In seinem Gesamttenor zeigt der Brief, wie intensiv die Versuchung gewesen sein muss, zu einem nicht-paulinischen Judenchristentum abzudriften. Es ist auch klar warum: Zum Beispiel sind Rein/Unrein Kategorien der allgemeinen Religionsgeschichte, die sich immer wieder leicht durchsetzen werden.
Entstehungszeit und Autorschaft Wenn der Brief paulinisch ist, dürfte er im Zusammenhang mit 1 und 2 Tim entstanden sein, deren Grundanliegen der Verfasser sowohl in der Christologie, als auch in der Bekämpfung der judenchristlichen Gefahr sieht. Es ist möglich, dass Tit zusammen mit 1 und 2 Tim einen eigenen Block innerhalb paulinischer Theologie darstellt. Dabei besteht durchaus ein Zusammenhang zwischen Epiphanie-Christologie und anti-judenchristlicher Polemik: Diese Christologie kennt keinen Ursprung im Alten Testament. Diese Phase der Heilsgeschichte wird buchstäblich übergangen. Das Revelationsschema bringt das auf einen Nenner: Gottes ewiges Geheimnis wird erst jetzt geoffenbart. Die »Propheten« fallen aus.
KOMMENTAR Zu Tit 1,14f: Zur Thematik und zu den Argumenten in Mk 7,9-23 bestehen enge Beziehungen. Mk 7,9: »Ihr haltet euch an die Überlieferung der Menschen.« Tit 1,14: »… achtend auf Gebote von Menschen.« – Mk 7,15: »Was aus dem Menschen herauskommt, verunreinigt ihn.« Tit 1,15: »Für die, die befleckt und ungläubig sind, ist nichts rein, sondern besudelt sind ihr Sinn und ihr Gewissen.« – Mk 7,15: Pharisäer und Schriftkundige; Tit 1,14: »jüdische Mythen«; – Mk 7,18: »Was von außen kommt, kann ihn nicht verunreinigen …« Tit 1,15: »… besudelt ist ihr Sinn.« – Mk 7,23: »Das Böse von innen … verunreinigt.« Tit 1,16: »zu gutem Werk ungeeignet« (Opposition gut/böse). – Mk 7,6.9.13: Vorwurf der Scheinheiligkeit: »Dieses Volk ehrt mich mit Lippenbekenntnissen, ihre Herzen sind
weit weg von mir … Gottes Gebot lasst ihr fahren …« Tit 1,16: »… behaupten, Gott zu kennen, leugnen ihn aber in ihren Handlungen.« Inhaltliche Diskussion: Nach dem pharisäischen Menschenbild wird der Mensch von außen her unrein. Daher muss er sich absondern, und es entsteht eine Religion, deren wesentliches Merkmal die Abgrenzung ist. Die Unterscheidung von anderen Religionen wird durch praktisches Geschiedensein jeden Tag sichtbar. Das frühe Christentum kann und will sich auf diesem Weg nicht bewegen, da es sich konsequent den Heiden zugewandt hat und die Trennlinie nicht in kultischer Reinheit, sondern in der ethischen Reinheit des Herzens sieht. Wenn das Herz rein ist, besteht keine weitere Grenzlinie. Diese Veränderung in der Anthropologie geht
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Kapitel 2
Hand in Hand mit der Zuwendung zu den Heiden. Dabei bleibt der Begriff »Reinheit« erhalten. So geht es nicht um Grenzenlosigkeit an sich. Drei Aspekte werden mit diesem verinnerlichten Reinheitsbegriff hinzugewonnen: Das Entscheidende kommt von innen, vom Herzen her, und ist damit stabiler als eine labile Beeinflussbarkeit von außen, mit der sich der Mensch in Abhängigkeit von Zufällen, Launen und undurchschaubaren Mächten begibt. Es wird sodann ein personaler Aspekt gegenüber und anstatt eines dinglichen gewonnen. Der Mensch wird aktiviert, statt bloßer Spielball von Einflüssen und Berührungen zu sein, für oder gegen die er oft nichts tun kann. Und vor allem: Fortan kann kein Schandtäter, Mörder oder Tyrann sich hinter kultischer Reinheit verschanzen. Die rituelle Reinheit, um die man vor allem angstvoll fürchten musste, wird, wo sie weiterhin besteht, lediglich zum schwachen Abbild der Reinheit oder Unreinheit des Herzens. So werden etwa in der allegorischen Interpretation schon des hellenistischen Judentums (z. B. Aristeasbrief) die Regeln kultischer Reinheit nur zum Anschauungsmaterial ethischer Verhaltensweisen. Doch am Ende ist das, was Jesus nach Mk 7 und Paulus nach Tit 1 leisten, keine Moralisierung, sondern eine Theologisierung. Daher die Verknüpfung mit dem Vorwurf der Scheinheiligkeit und der Missachtung von Gottes Gebot. Es geht nicht um Gut-Sein, sondern um Gottes Gebot und Willen. In 1,15f heißt es daher: Wer keinen Glauben hat (V. 15: Ungläubige), der hat auch keine (guten) Werke. Das ist eine neue Variante gegenüber Jak 2 (Glaube ohne Werke) und eher paulinisch (wer den richtig verstandenen Glauben hat, zeigt auch Werke). Wenn einem Glauben die Werke fehlen, dann war der Ansatz des Glaubens falsch.
Tit 2,11-14: Menschenfreundliche Gnade Gleich zu Anfang bietet dieser Text bedeutsame Signale: »Erscheinen«, »Gnade« und »Rettung«. Vom Kaiser oder von hilfreichen Gottheiten sagte man, dass sie »erscheinen«, besonders wenn sie Gesundheit brachten. Wenig später (3,4) wird der Verfasser sagen, die »Menschenfreundlichkeit unseres Retters« sei erschienen. Wer »er-
823 scheint«, der greift unerwartet hilfreich ein. So ist eine Erscheinung guter Mächte bis heute ein faszinierendes, lichtvolles Ereignis, eine sanfte, beglückende Zuwendung. In jedem Fall ist es mehr, als was man erwarten kann. Oft baute man dann Heiligtümer an dieser Stelle. – Im späteren Christentum sind es oft Heilige, die erscheinen, vorab die Muttergottes. Ich denke dabei an das stets ungewöhnliche, geradezu überirdisch helle Licht, das manchmal am Heiligtum von Ronchamp in Burgund strahlt, dazu die Wallfahrtskirche wie ein Schiff des Lichts. Oder ich denke an die Nikolausfigur mitten im tiefen Wald des Heidelberger Königsstuhls, in der Winterzeit stets durch Kerzen erhellt – in der Antike hätte man gesagt: ein Ort der Epiphanie des heiligen Nikolaus. »Gnade« ist in der Welt des Neuen Testaments etwas Besonderes, eine herrscherliche Tugend. Denn der Herrscher neigt sich – günstigenfalls – herab zu den Menschen. Er hört sie an und hilft ihnen spontan und unbürokratisch. Das nennt man Gnade. Und der Gott der Bibel ist denen gnädig, die Gnade vor ihm gefunden haben. Das betrifft besonders Abraham und die anderen Erzväter. Gott ist der wahre König Israels. In 3,4 wird diese Gnade als Gottes Menschenfreundlichkeit gedeutet. – Ein »Retter« schließlich ist jeder Wohltäter der Menschen, besonders der öffentliche, und das passt zur »Gnade«. Die Menschenfreundlichkeit gilt jetzt dem neuen Gottesvolk aus allen Völkern. Deshalb spricht 2,11 auch von »allen Menschen«. Denn der christliche Glaube steht in Wettstreit mit dem römischen Kaisertum. Dieser Wettstreit ist zur Zeit des Neuen Testaments in seinem Ausgang noch völlig offen: Wer wird mehr zum Wohl der Menschen im Einzelnen und im Ganzen und auf Dauer beitragen? Denn auch der römische Kaiser ist eine Art Gottmensch, zumindest nach seinem Tod wird er unter die Götter aufgenommen. Von dieser Gnade wird nun in 2,12 gesagt, sie sei eine, die »erzieherisch« wirke. Wir haben das so übersetzt: »Durch seine Gnade befähigt er uns, dem Leben ohne Gott eine Absage zu erteilen …« Denn es geht nicht primär um eine erzieherische Strenge, um Disziplinarmaßnahmen, sondern um Pädagogik als die Anleitung zu einem sinnvollen und erfüllten Leben. Davon, dass Gnade in diesem Sinne erzieherisch wirke,
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824 hatte man noch bislang nie etwas gehört. Sie ist daher nicht irgendeine Gunst oder Vergünstigung, sondern sie vermittelt einen Lebensstil, eine Lebensart, eine Prägung und Bildung, die der Würde des Menschen gemäß ist. Auch an dieser Stelle wird erkennbar: Gegner des Christentums sind nicht die anderen Volksreligionen, sondern der Anspruch des römischen Kaisertums auf der einen Seite und der philosophischer Menschenführung auf der anderen Seite. Daher hat es im Christentum immer »Schule« gegeben, Lernen und Menschenprägung und Menschenbildung. So ist es das Ziel dieser Gnade, dass wir die »Süchte und Maßlosigkeiten« aufgeben möchten. Wodurch soll das geschehen? Weihnachten zeigt uns, dass es nicht gewaltsam geschieht, sondern durch die Faszination der gnadenvollen Zuwendung Gottes. Denn durch Emotionen, durch geteilte gemeinsame Erlebnisse, wirkt Gnade am leichtesten formend. Deshalb gilt die Gnade Gottes, die faszinierende herrscherliche Huld, nicht zuerst dem einzelnen Menschen, sondern dem Volk Gottes aus der ganzen Menschheit. Wir werden gemeinsam Zeuge der gnädigen Zuwendung, das bringt uns zusammen und das lässt Kirche entstehen. Die menschenfreundliche Gnade Gottes will im Miteinander praktiziert werden. Denn Wahrheit unseres Glaubens bedeutet nicht zuerst Rechthaben oder Zur-Kenntnis-Nehmen, sondern ist zuerst Ergriffensein, Heilung und Weitergeben der Gnade zwischen Menschen. Damit ist Kirche eine missionarische Gemeinschaft, die in erster Linie durch die Art wirkt, in der sie selbst im Miteinander die Menschenfreundlichkeit praktiziert. Nur dann hat Christentum die Kraft, alle möglichen Fesseln aller möglichen Süchte zu sprengen.
Tit 2,13f: Erlösung – Reinheit Die Erlösung/Befreiung durch Jesus Christus geschah nicht als Befreiung aus der Macht Satans oder des Bösen (Apg 26,18; Mt 6,13b), sondern aus der »Gesetzlosigkeit«, also nicht aus der Herrschaft einer dämonischen, sondern einer moralischen Macht. Genau in diesem Sinne wird hier die Reinheit verstanden. So ist zwar noch vorausgesetzt, dass die Aneignung seitens Gottes (die
Der Brief an Titus
Neu-Inbesitznahme) durch Reinigung bzw. Heiligung geschieht. Aber diese Reinigung geschieht nicht kultisch, etwa durch Jesu Blut (anders: Apg 20,28b »erworben durch eigenes Blut«), sondern, soweit erkennbar, moralisch.
Tit 3,4-7: »Wie neu geboren« – Taufe In Tit 3,3-7 fehlen viele Aussagen, die wir sonst und im Allgemeinen für essentiell christlich halten. Es fehlt jeder Bezug auf Altes Testament und Judentum, auf Tod und Auferstehung Jesu Christi, auf das Gericht, ja auf profilierte Eschatologie, die über »ewiges Leben« hinausgeht. Anti-Werte sind nach 3,9 mit »Streitereien, Genealogien, Zorn und Streitigkeiten über das Gesetz« verbunden, also mit Dingen, die wir teilweise bereits als jüdisch kennen gelernt haben (1 Tim 1,4.7; 4,7). Die wahre Konkurrenz scheint freilich das römische Kaisertum zu sein. Darauf weist die häufige Rede von Gnade (1,4; 2,11; 3,7.15), Menschenfreundlichkeit (3,4), Epiphanie (2,11.13; 3,4) und »Retter« (1,3f; 2,10.13; 3,4.6). Die wahren Attribute des idealen Herrschers hat Jesus Christus als Gottes Repräsentant. Die Werte, die hier angeboten werden, sind »Wiedergeburt«, »Erneuerung«, »in reichem Maße« und »Erben« (3,7). Gott bietet das aus Liebe und Erbarmen. Die Liebe Gottes überbietet die Sünden der Menschen, die fehlenden guten Werke und die alte Existenz ohne Heiligen Geist. – Jesus erscheint hauptsächlich als Mittler des Heiligen Geistes (3,6). »Wie neu geboren« zu sein (3,5) ist ein Menschheitstraum. In der späteren Geschichte wurde das Wort »Neue Geburt« Name eines eigenen Zeitalters, der Renaissance, da man meinte, die antike heile Welt sei neu geboren. »Retter« und »retten« sind die Leitworte dieses Textes: Gott ist Retter, weil seine Menschenfreundlichkeit offenbar wurde. Er hat gerettet durch das Bad der Taufe, und den Heiligen Geist haben die Christen durch Jesus Christus, ihren Retter empfangen. Gott ist Retter – Jesus Christus ist genauso Retter: Der Verfasser des Titusbriefes sieht Vater und Sohn in derselben Rolle, und auch der Heilige Geist wird genannt, denn unsere Erneuerung geht auf ihn zurück. Trinitarisch ist der christliche Glaube hier von Anfang an.
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825
Kapitel 3
So besteht die Taufe nach dem Neuen Testament in zwei Grundvarianten: Als Reinigung vor dem Gericht (Johannes d. T.) und als Neuanfang, neue Anhauchung, neue Schöpfung (Jesus). Denn so wie bei der ersten Schöpfung Gott dem Adam den Odem des Lebens einhauchte, so ist der Hauch am Anfang der zweiten, neuen Schöpfung der Heilige Geist, der nach diesem Text von Jesus Christus ausgeht. Dass der Heilige Geist bei der Taufe mitgeteilt und empfangen wird, lernen wir bei Paulus und im JohEv. In Joh 3,5 heißt die Taufe gar »von oben geboren werden aus Wasser und Geist«. In Tit 3 steht an der Stelle von »Wasser« die Rede vom »Bad«, und statt »von oben geboren werden« heißt es hier »neu geboren werden«. Beide Ansichten liegen ganz nahe beieinander. So ist der Titusbrief ein Dokument der großen Nähe von paulinischer und johanneischer Theologie. Sie betrifft in diesem Fall die Taufe, und das ist deshalb nicht unwichtig, weil Konsens in der Frage der Zulassung zur Gemeinde elementarer Bestandteil der Verständigung zwischen unterschiedlichen Theologen und Gemeinden überhaupt ist. Der Titusbrief steht dem JohEv auch sonst nahe: Ewiges Leben ist der zentrale Heilswert (3,7) wesentlich auf Kosten profilierter apokalyptischer Eschatologie. Auch in Joh 7 werden Streitereien über das Gesetz als sichtlich überflüssig betrachtet (wie Tit 3,9). – Jesus ist Gott und Soter (Retter): Tit 2,13 und z. B. Joh 4,42. Man kann kritisch fragen: Warum ist die Taufe eine Geburt, warum ist sie wie neu geboren werden? Man muss so fragen, denn zur Zeit der Abfassung des Titusbriefes waren die meisten Täuflinge erwachsen. Warum, darf man fragen, strebten sie eine neue Geburt, eine Wiedergeburt an? Nun, der Ausdruck findet sich auch in den zeitgenössischen Mysterienkulten, zum Beispiel im Mithraskult. Menschen, die sich der Einweihungsfeier in einem Mithräum, einer unterirdischen Höhle, unterzogen, sagten danach, sie seien neu geboren (lat.: renati). Denn der Kult war eine Art Jungbrunnen, vollzogen in einem Mahl mit Wasser und Brot. In den Mysterienkulten wird in der Mitte des Lebens neues Leben in einer Symbolfeier angeeignet. Das Christentum kommt mit seiner Auffassung von der Taufe diesen Sehnsüchten nach dem neuen Leben ent-
gegen. Das griechische Wort von »Neugeburt« wird im Neuen Testament dabei nicht nur für die Taufe verwendet, sondern auch für die Neugestaltung aller Dinge in der neuen Schöpfung, als Neuanfang am Ende der Zeiten. Dann also, wenn Gott sagen wird: »Siehe ich mache alles neu« (Offb 21,5). Es liegt an der Faszination des Wortes neu, dass man Taufe wie neue Schöpfung als grundlegendes Neuwerden bezeichnet hat.
Tit 3,9: »Genealogien« a) Es könnte sein – und dies ist das Wahrscheinlichste –, dass es sich um Tradenten von vorsintflutlicher Weisheit (aus der Zeit von Adam über Seth bis Noah) oder der Weisheit der Väter (von Abraham über Levi) handelt. In beiden Arten von Genealogien wird mit dem Traditionscharakter auch das Alter und die Wahrheit einer Überlieferung »erwiesen«. Insbesondere im Rahmen der Gattung der Testamente sind solche Genealogien beliebt. Auch hier gilt: Das Revelationsschema (s. unter b.) vertritt das gegenteilige Konzept. Derartige Genealogien sind Merkmal typisch jüdischer und judenchristlicher Schriften. Es fügt sich gut, dass diese Positionen von den Pastoralbriefen bekämpft werden. Vgl. z. B. TestLevi 2,3 (e): Abraham – Isaak – Jakob – Levi – Levis Söhne – alle Geschlechter; Hen (äth) 106,18: Henoch – Methusalah – Lamech – Noah – Noahs Kinder. b) Es könnte aber auch sein, dass sich die Abneigung gegen Genealogien auf Texte wie Mt 1 und Lk 3 bezieht. Denn diese beiden Texte sind formal und formgeschichtlich die einzigen ausführlichen Genealogien im Neuen Testament; für Hebr 11 gilt das nur abgeschwächt. Der Sinn dieser Genealogien müsste dann im Lichte der Polemik von 1 Tim und Tit nochmals erläutert werden. Im Lichte der Polemiken könnte man aus folgenden Gründen Genealogien für Jesus ablehnen: Sie sind konstruiert und widersprechen einander, wie an Lk 3 und Mt 1 gut zu zeigen ist. Sie erweisen die Offenbarung Jesu als Tradition, die von Generation zu Generation seit Adam bzw. Abraham weitergegeben wurde; Abstammung sei der Weg der Offenbarung; das
Berger (08129) / p. 826 / 19.5.2020
826 aber ist dem Sinn der Offenbarung entgegengesetzt, die »neu« ist. Diesem Anliegen dient das Revelationsschema, nach dem Gottes Geheimnis gerade nicht offenbar, sondern verborgen war
Der Brief an Titus
(vgl.: in den Pastoralbriefen 2 Tim1,9-12; Tit1,13 und ferner Eph 3,5; Kol 1,26 [beide mit genea]; 1 Kor 2,7; Röm 16,25f; 1 Petr 1,20; s. K. Berger, Formen und Gattungen, 2005, § 82,5 i).
Berger (08129) / p. 827 / 19.5.2020
Der Brief an Philemon
Kommentare: Ambrosiaster (4. Jh.). – Johannes Chrysostomus (4./5. Jh.). – Hieronymus (5. Jh.). – Theodor v. Mopsuestia (5. Jh.). – Haimo v. Halberstadt (ed. 1519). – Thomas v. Aquin († 1275). – J. Bugenhagen (1524). – Erasmus v. Rotterdam (16. Jh.). – M. Luther (1527). – J. Calvin (um 1540). – J. Brenz (1543). – B. Justinianus (1612). – G. Scipio (1618). – Cornelius a Lapide (1656). – I. Habert (1656). – Hugo Grotius (um 1700). – J. A. Bengel (vor 1752). –
B. a Piconio (1703). – J. Crucius (1735). – C. Klemmen (1770). – G. T. Zachariä (1774.1781). – J. F. von Flatt (1829). – W. M. L. de Wette (1847). – F. Bleek (1865). – J. C. K. von Hofmann (1870). – H. A. W. Meyer (1874). – H. v. Soden (1891). – P. Ewald (1905). – A. Schlatter (1909). – W. Lueken (1917). – E. Lohmeyer (1930). – M. Dibelius/H. Greeven (1953). – C. F. D. Moule (1957). – G. Friedrich (1965). – E. Lohse (1968). – P. Stuhlmacher (1975).
EINFÜHRUNG Adressaten Der Apostel Paulus hat diesen Brief an die Hausgemeinde des Philemon geschrieben. Datierung Ist Rom der Abfassungsort (vgl. »ältester« in V. 9), dann könnte der Brief 61 n. Chr. entstanden sein. Die Situation Der Sklave Onesimus ist seinem Herrn entlaufen und hat ihn dabei wohl auch noch weiter geschädigt (V. 18). Paulus gewährte ihm Asyl. Er bekehrte ihn, und Onesimus half Paulus in seiner Gefangenschaft und bei der Mission. Paulus respektiert aber die Rechtslage und benutzt die Gelegenheit der Reise des Tychikus nach Kolossai, ihm den Onesimus als Reisebegleiter mitzugeben. Der Brief soll Onesimus vor der sonst üblichen harten Strafe schützen, Philemon soll ihn als Bruder freilassen und im Herrn annehmen: »Wenn er schon für mich nicht mehr wie ein Sklave, sondern viel eher ein lieber Bruder ist, um wieviel mehr dürfte er dann für dich bedeuten – sowohl als Mitmensch wie als Christ. Wenn du nun mich als jemand betrachtest, der in enger christlicher Gemeinschaft mit dir steht, dann nimm ihn zu dir, als ob ich es wäre« (V. 16f). Am liebsten möchte Paulus ihn als Gehilfen zurückhaben. Doch er lässt Philemon alle Freiheit. – Ein neuzeitliches Problem besteht darin, dass Paulus seine apostolische Autorität auch zu
Eigennutz eingesetzt hat. Allerdings geschieht das auf schonende Weise. Zur theologischen Position des Phlm Der Brief ist ein interessantes Beispiel dafür, wie soziale Probleme (Sklaverei) im frühen Christentum thematisiert werden. Dabei ist der Brief weder ein allgemeines Programm, noch ein flammender Aufruf, sondern ein Versuch, einvernehmlich zu einer menschlichen Lösung zu kommen. Paulus hatte schon früh in den so genannten Indifferenzierungsformeln (Aufhebung der Status-Differenzen) die Unterscheidung zwischen Freien und Sklaven in den christlichen Gemeinden als theologisch belanglos aufgehoben. Das gilt für Gal 3,28 (weder Jude noch Grieche, weder Sklave noch Freier, weder Mann noch Frau), für 1 Kor 12,13 (seien es Juden, seien es Griechen, seien es Sklaven, seien es Freie, alle sind wir mit dem einen Geist getränkt worden) und für Kol 3,11 (wo es weder Griechen noch Juden gibt, weder Beschneidung noch Unbeschnittenheit, Barbar, Skythe, Sklave oder Freie – vielmehr ist alles und in allen Christus). Nun kann man gerade am Beispiel »weder Mann noch Frau« sehen, dass in der Folge und in der weiteren Wirkungsgeschichte dieser Formeln keineswegs alle gleich wurden, schon gar nicht in jeder Hinsicht. Denn Mann und Frau sind ja auch gar nicht gleich zu machen. Aber selbst in Bereichen, in denen es die pure Gerech-
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828 tigkeit erfordert, etwa in der Frage gleichen Lohnes bei gleicher Arbeit, werden auch nach 2000 Jahren Christentum die Frauen noch immer nicht gleich bezahlt. Und bis zur Aufhebung der Sklaverei hat es nach Paulus immerhin noch rund 1800 Jahre gedauert. – Oder wollte Paulus das gar nicht? Aber was war denn dann der Sinn dieser Indifferenzierungsformeln? Man wird am besten so vorgehen, dass man nach einem minimalen und nach einem maximalen möglichen Gehalt fragt. Der minimale Gehalt, an dem auf jeden Fall festzuhalten ist, ist die Gleichheit coram deo (vor Gott), also in der Geltung der Gebote, bei den Sakramenten (Taufe, Eucharistie), vor Gottes Gericht. Aber auch, und das ist schon ein erweitertes Minimum, besteht Gleichheit im Empfang der Charismen, im öffentlichen Bekenntnis bis hin zum Martyrium, auch in der missionarischen Funktion. Am weitesten ging das Christentum in der Zuwendung diakonischer Hilfe nach den Werken der Barmherzigkeit von Mt 25,31-46 ohne Rücksicht auf Ansehen der Person. Diese Diakonie hat sich das Christentum aller Jahrhunderte auch Etliches kosten lassen. Man denke nur an den »Herrn Kranken« in der Sicht der Krankenpflege-Orden. Maximaler Gehalt wären kommunistische Gütergemeinschaft, Freilassung aller Sklaven, Frauen- und Männergemeinschaft. Immerhin wurde die totale Gütergemeinschaft in überschaubaren Gruppen der Cönobiten (Mönche) realisiert. – Wir halten fest, dass die Aufhebung der trennenden Unterschiede teilweise praktiziert wurde, doch eine soziale Revolution hat das Christentum nicht oder nur auf sehr lange Wirkung hin (Sklaverei) zustande gebracht. Was die Haltung des Apostels Paulus angeht, so sprechen seine ausgesuchte Höflichkeit und Sanftheit im Philemon-Brief Bände. Es gibt kaum Passagen in seinen Briefen, in denen er so viel Verständnis für die – christlich gesehen – Resistenz seines Gegenübers hat oder zu haben ankündigt. Er sagt nicht: Das Evangelium fordert – du musst ihn freilassen! Im Übrigen exerziert Paulus hier eine Kehrseite dessen, was man für 1 Kor die Kompromissfreudigkeit des Apostels nennt. Die radikalen Forderungen des Evangeliums kennt Paulus wohl – doch wenn er konkreten Menschen Konkretes raten muss, geht er fast immer Kompromisse ein. Das zeigt ihn als
Der Brief an Philemon
großen Seelsorger – und nicht als Prinzipienreiter. Diese Mischung von prinzipieller Radikalität und seelsorgerlicher Suche nach dem Kompromiss kann man aus späterer und somit ein wenig anachronistischer Perspektive als typisch katholisch bezeichnen. Paulus würde dann auch im Brief an Philemon typisch katholisch argumentieren. Eine zweite Stelle zum Thema Sklaverei mag das paulinische Argumentieren weiter illustrieren: »Jeder soll bleiben, wie Gott ihn berufen hat. Bist du als Sklave berufen, dann mach dir nichts daraus. Wenn du aber frei werden kannst, nimm es umso lieber wahr. Denn der christliche Sklave ist ein Freigelassener des Herrn. Und ein freier Mensch, der Christ wurde, ist ein Sklave Jesu Christi. Ihr wurdet um einen hohen Preis freigekauft. Begebt euch also nicht in sklavische Abhängigkeit von Menschen. Liebe Brüder und Schwestern! Jeder soll vor Gott so bleiben, wie Gott ihn berufen hat« (1 Kor 7,20-24). – Dazu ist zu bemerken, dass V. 21 in der Übersetzung umstritten ist. Es könnte auch heißen: »Wenn du aber frei werden kannst, dann bleibe umso lieber Sklave.« Auch dazu würde V. 22 als Begründung gut passen. In jedem Falle aber relativiert Paulus den sozialen Status von Freiheit und Sklaverei zugunsten des metaphorisch-religiösen Verständnisses. So ist es spätestens seit Plato in der Philosophie üblich: Auch ein Sklave kann innerlich frei sein, wenn er frei ist von den Zwängen der Unvernunft. Und ein Freier kann Sklave seiner Triebe sein. Für den Philosophen war natürlich der innerliche Status stets der entscheidende. Für Paulus geht es hier allerdings nicht um die Freiheit von »Lust«, sondern um die von Sünde, Tod und Teufel, und diese entscheidende Freiheit hat ein Christ auch als Sklave. Wenn er in V. 23 mahnt: »Begebt euch also nicht in sklavische Abhängigkeit von Menschen«, dann ist nicht gemeint, dass man nicht von Beruf Sklave sein soll, sondern dass die wahre Unfreiheit darin besteht, den Wertmaßstäben der Masse zu folgen statt der Kreuzestheologie der Umwertung der Werte. Es gibt zu V. 21 in einer apokryphen jüdischen Biografie des 1. – 3. Jh. n. Chr. aus Ägypten folgenden Abschnitt über Josua im Verhältnis zu Mose: »Wegen der Untertänigkeit, mit der er Mo-
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Vers 4
se als Schüler untertan war – denn zum Sklaven war kein Unterschied –, war er es auch wert, dass Gott als sein Herr mit ihm war. Denn er war kein Sklave nach Art. Aber er gebrauchte die Sklaverei, weil er den kannte, dessen Sklave er war …, er liebte einen, der Gottes Diener war, und war sein Diener nach eigenem Vorsatz.« Der Ausdruck »die Sklaverei gebrauchen« steht auch in 1 Kor 7,21b. Der Text beschreibt die freiwillige Sklaventätigkeit eines Mannes, der das »nicht nötig hat«, weil er eigentlich frei ist. Aber aus religiöser Motivation ist er »untertan«, d. h. er leistet Sklavendienst. Ergebnis: Der Ausdruck »Sklaverei gebrauchen« heißt: freiwillig Sklavendienste tun, auch und gerade dann, wenn einen niemand dazu zwingt. Folgen wir dieser Anregung, so ergibt sich: Wer Sklave ist, weil er es sein muss, soll es bleiben. Wer freikommen kann, soll trotzdem freiwillig bleiben. Denn als Christ ist er sowieso – je nachdem, wie man es nimmt – frei oder Sklave. Er ist frei, weil er (durch den Besitz des Heiligen Geistes) aus der Dienstbarkeit des Teufels/der Sünde freigekauft wurde. Er ist Sklave, weil er zu Jesus gehört. Genau diese Freiheit und diese Sklaverei beschreibt Röm 6: Frei ist der Christ nach Röm 6,18a (befreit von der Sünde), neuer Sklave nach Röm 6,18b (versklavt der Gerechtigkeit). Folgt man dieser Linie, dann äußert sich Paulus in 1 Kor 7,21f sehr sozialkonservativ. Die eigentliche, wirklich wichtige Sklaverei oder Freiheit gibt es nach Paulus in einem ganz anderen Bereich. An sozialen Veränderungen ist er nicht interessiert. Doch das bedeutet nicht, dass er nicht größten Wert legte auf das gerechte Verhalten jedes Einzelnen, auch des Sklaven. In seinen brieflichen Mahnreden hat er dargelegt, wie der Einzelne hier das Liebesgebot konkret füllen kann. Dem Sklavenhalter im Phlm rät Paulus vorsichtig, den Sklaven lieber freizulassen. Den Sklaven in 1 Kor 7 rät Paulus, lieber freiwillig Sklaven zu bleiben. Denn jeder soll bleiben, was er ist. Der Sklave Onesimus nach Phlm war ja bereits entlaufen und würde sicher einen Neuanfang dort, wo er weggelaufen war, für extrem beschwerlich halten. Paulus sieht daher – vorsichtig, wie er ist – keine guten Chancen für einen Neuanfang. Anders nach 1 Kor 7: Paulus weist die Sklaven auf das, was eigentlich wichtig ist.
Phlm 4-7: Komplimente für Philemon Die zu Beginn sehr vieler Briefe (und Reden; Ursprung ist die Rhetorik) übliche captatio benevolentiae (Versuch, das Wohlwollen der geneigten Leser zu erlangen, indem man sie lobt) ist hier – bei paganen Briefen eher selten – als Danksagung an Gott gefasst. Nach V. 4 nennt Paulus in seinem Gebet den Namen des Philemon und dankt für ihn. Nach V. 5-7 geht es um Hören (V. 5), um Anerkennen (V. 6), schließlich um Freude und Ermunterung (V. 7). Für Paulus sind das insgesamt hochwichtige soziale bzw. kommunikative Vorgänge, die im Vorfeld seines Briefes an Philemon stehen und die das Aussprechen des Anliegens des Apostels Paulus vorbereiten. Paulus hat über Philemon und seine christliche Praxis gehört (V. 5), nach V. 6 wird im Blick auf Jesus Christus der gemeinsame Glaube dadurch zu einer aktuellen Kraft (so ist das Wort »wirksam« zu verstehen, vgl. Gal 5,6), dass alle Beteiligten (also besonders Paulus und Philemon) alles wahrnehmen und anerkennen, was es in der Christenheit an gemeinsamem Guten gibt. Das Gute sind hier alle guten Gaben des Himmels, alle ihre positiven Auswirkungen in der Liebe, jede Form von Für- und Miteinander. Das Resultat ist Freude und Ermunterung. An diesen Sätzen kann man gut erkennen, welche Sozialpsychologie die Basis paulinischen Denkens ist, und welches für ihn dabei oberste Werte sind, nämlich Freude und Ermunterung. Selten gibt Paulus über sein Verständnis von Wirklichkeit so klare Auskunft wie hier. Denn was ist wichtig, wenn Reichtum und Macht, Ausüben von Druck und Einfluss nicht zählen? Paulus antwortet: Dann geht es um das Alphabet des Miteinanders, und das hat immer eine höchst wichtige psychische Seite. Wie differenziert Paulus sich das denkt, das geht hier aus V. 5-7 hervor. Fein gesponnene, aber sehr reale Beziehungsfäden nennt Paulus hier, die am Ende das illustrieren, was der Apostel »Liebe« nennt. Gerade der etwas verschachtelte V. 6 zeigt, wie Paulus sich bemüht, alle relevanten Faktoren einzubeziehen. Am Ende gilt das »auf Christus hin« oder »im Angesicht Christi«. Jedenfalls so, dass Christus das Ziel aller Beziehungen und deren Anerkenntnis ist.
Berger (08129) / p. 830 / 19.5.2020
830
Phlm 8-24: Fürsprache für Onesimos Der Text ist, wie ich vor allem P. Lampe (Der Brief an Philemon, NTD 8/2, 1998) entnehme, nicht als lehrhafter dogmatischer Traktat zu lesen, sondern als Skizze einer pastoralpsychologischen Strategie. Auch 2 Kor sei weithin in diesem Sinne auszulegen. Kritisch wäre gegenüber P. Lampe anzumerken, dass das Theologische noch weiter zurücktritt als im Phlm selbst schon. Es geht um christliche Geschwisterlichkeit im Rahmen von Gemeinschaft (griech.: koinonia) und die daraus rührende Liebe. Auf dieser Basis soll Philemon den Sklaven Onesimos freilassen, damit dieser sich dem Apostel verpflichten kann. Mit dem Stichwort »Gemeinschaft« nimmt Paulus die folgende Argumentation vorweg: Mit Lampe (214) unterscheide ich die mögliche Überordnungs-Perspektive: Paulus – Philemon – Onesimos von der auf Augenhöhe erwünschten neuen Perspektive: Ebene 1: Paulus und Philemon, Ebene 2: Paulus und Onesimos, Ebene 3: Paulus und Philemon und Onesimos »als brüderliche Gemeinschaft Gleichgestellter. Derartige Koinonia wird durch Rechtsverzicht seitens der Übergeordneten verwirklicht. Paulus selber wird einen solchen Rechts- und Statusverzicht in V. 8-9 vorleben«.
Der Brief an Philemon
Durch die Erwähnung der Liebe des Philemon (V. 5) geschieht eine Captatio benevolentiae, gleichzeitig wird Philemon darauf »festgelegt« (P. Lampe), in seinem Handeln keine Brüche auftreten zu lassen. Man beachte auch das betonte »Bruder!« in V. 7, das den Adressaten positiv auf die Gewährung der Bitte einstimmen soll. Weitere Merkmale des paulinischen strategischen Vorgehens sind: NachV. 9 dürfte Paulus eigentlich befehlen, er unterlässt das aber zugunsten der Bitte. NachV. 16 ist ein »geliebter Bruder« »besser« als ein Sklave. Die Hinweise auf das Alter und das Gefängnis (V. 9) sollen die Bitte des Apostels unabweisbar machen. Nach V. 10 nennt Paulus den Onesimos sein »Kind« und betont damit besonders seine Verantwortung für ihn. V. 14: Die Tat soll freiwillig sein. Das erhöht den Reiz, sie zu tun. Niemand soll denken, nur unter Druck habe er gehandelt. In V. 21 ist dann doch vom Vertrauen auf den Gehorsam des Philemon die Rede. V. 21: Philemon soll das Vertrauen des Apostels nicht enttäuschen. Wenn man das will, sagt man: »Du wirst mehr tun, als ich sage«.
Berger (08129) / p. 831 / 19.5.2020
Der Brief an die Hebräer
Kommentare: J. Chrysostomus (vor 400). – Haimo v. Halberstadt (ed. 1519). – Thomas v. Aquin (ed. Turin 1902). – Hugo v. St. Cher (vor 1264). – Nicolaus Lyranus (vor 1349). – Dionysius Cathusianus (vor 1471). – D. Erasmus (ed. A. Reeve 1993). – W. Steinbach I–II (1516; ed. H. Feld). – M. Luther (WA 57), Übers. H. Günther, D. Martin Luthers Epistel-Auslegung 5 (1983). – J. Calvin, Opera Omnia II 19, Übers. durch M. u. G. Lauterburg: J. Calvins Auslegung der Heiligen Schrift in dt. Übersetzung
(Genf 1996). – A. Marloratus (vor 1562). – L. Osiander (1584). – J. Tossanus (1665). – Critici Sacri (1700). – J. Marckius (1707/27). – J. Owen (1740). – J. J. Wettstein (1752). – Ph. Doddridge (1759). – A. Struensee (1763). – F. Bleek (1868). – E. Riggenbach (1922, 1987). – O. Michel (1936.1957). – C. Spicq I-II (1952/53). – H. Braun (1984). – H. Hegermann (1988). – F. Laub (1988). – H. W. Attridge (1989). – E. Gräßer (1990,1993,1997). – H. F. Weiß (1991). – M. Karrer I-II (2002, 2008).
EINFÜHRUNG Adressaten Hebr ist an Heidenchristen gerichtet (6,1). Verfasser Ein rhetorisch, philosophisch und theologisch gebildeter Judenchrist. Sein Name ist nicht bekannt. Die Anonymität des Verfassers entspricht seinem Verständnis des Wortes Gottes. Derjenige, der spricht und gesprochen hat, ist Gott, und zwar durch die Propheten und durch Jesus. Alles andere ist nur Aufzeichnung dieses Sprechens. Schriftlichkeit (inklusive der des Verfasser) ist daher der lebendigen mündlichen Rede gänzlich untergeordnet. Zielort Eine große Stadt mit vielen Christen, in Rom oder anderswo in Italien. Der entscheidende Beleg ist Hebr 13,24: »Grüßt alle eure Gemeindeleiter und alle Heiligen. Es grüßen euch die (Christen,) die aus Italien stammen.« Die »Leitenden« stehen offenbar an der Stelle des sonst üblichen »Älteste«, das für Heidenchristen zumindest missverständlich war. Dass das so ist, darauf weist insbesondere der Plural. Denn Älteste sind regelmäßig (mit Ausnahme von 1 und 2 Joh) ein Gremium (Presbyterium). Diese Ältesten stehen den »Heiligen« gegenüber. Heilige sind stets die Christen anderer Gemeinden. Denn der Ausdruck meint eine Außenperspektive. »Die von Italien her (sc. Gekommenen)«, die
die Adressaten grüßen lassen, sind wohl nicht Leute, die augenblicklich in Italien wohnen, sondern solche, die aus Italien stammen und jetzt mit dem Verfasser des Briefes zusammen an anderem Ort wohnen. Eine wörtlich übereinstimmende Wendung kennt Apg 18,2: Aquila ist »von Italien her (griech.: apo Italias) gekommen«, und zwar nach Korinth, wo Paulus ihn trifft. Lukas gibt auch den Grund für die Übersiedelung aus Italien an: das Edikt des Claudius (49 n. Chr.). Damit aber können wir die nötigen Einleitungsfragen zureichend klären: Ort und Zeitpunkt der Entstehung Hebr ist in Alexandrien entstanden: Die Affinitäten mit Philo v. A. sind seit Jahrhunderten bekannt. Hebr ist nach Rom gerichtet. Denn die aus Rom nach Alexandrien übergesiedelten Christen lassen ihre alten Bekannten in Italien grüßen. Mit ihnen stammt auch der Verfasser aus Rom. Daher erklären sich Übereinstimmungen in der Theologie, z. B. mit 1 Clemens 36 und die Benutzung gleicher griechischer Übersetzungen des AT wie 1 Clem. 1 Clem 36 kennt noch keine Konkurrenz des Hohenpriesters Jesus zum alttestamentlichen Priestertum. Die Erhabenheit über die Engel ist gemeinsam. Insofern könnte er ein gemeinsames Stadium aus der Zeit vor dem Entstehen des Hebr darstellen, das Hebr dann erweitert.
Berger (08129) / p. 832 / 19.5.2020
832 M. Karrer (I, 34) gibt den Hinweis, dass Hebr 1,7 und 1 Clem 36,3 gemeinsam von der LXX Ps 103,4 abweichen, da sie nicht pyros phloga, sondern pyr phlegon bieten. – Ähnlich die Wendung »der Heilige Geist spricht« in Hebr 3,7 und 1 Clem 13,1. Ähnlich auch Hebr 11,37 und 1 Clem 17,1: Schaffelle und Ziegenhäute, nach M. Karrer I,35 eine Berührung in den aufgenommenen Traditionen.
Daher erklären sich auch wörtliche Bezugnahmen auf populäre römische Autoren dieser Zeit im Hebr. Über diese Zeit der Entstehung von Hebr ist zu sagen: Das Jahr der Entstehung ist 49 n. Chr. plus X. Der judenchristliche Verfasser des Hebr ist mit einer ganzen Gruppe von Judenchristen aus Rom nach Alexandrien gezogen. Das Claudius-Edikt ist jedenfalls der Zeitpunkt, der die Sezession einer größeren Gruppe von (Juden-)Christen aus Rom verständlich machen kann. Apg 18,2 berichtet, »alle« Judenchristen seien aus Rom geflüchtet. Es liegt von vornherein nahe anzunehmen, dass ein Großteil auch nach Alexandrien geflüchtet war, denn in dieser großen und weltoffenen Stadt konnte man zumindest gut untertauchen. Im Nachhinein kann man an Hebr ganz gut erkennen, dass das geistige Klima dieser Stadt dem Christentum gegenüber nicht verschlossen war. Das Anliegen des Hebr ist von daher noch einmal einzugrenzen: Der Verfasser des Hebr kennt seine Adressaten von Rom her. Mit der Lehre von Christus als dem Hohenpriester und mit der schriftbegründeten Lehre von Jesus als dem über die Engel erhabenen Sohn erinnert er sie an gemeinsames wichtiges Gut. Dieses Gut entwickelt er in Hebr nun weiter. Er ist dazu angeregt durch eine jüdisch-hellenistische, mittelplatonische Lehrentfaltung im geistigen Klima Alexandriens. Kurz gesagt: Der Verfasser schreibt den römischen Heidenchristen, die unter dem ClaudiusEdikt nicht zu leiden hatten, weil sie nicht Juden waren, was er in Alexandrien hinzugelernt hat. So gibt es ein mit 1 Clem gemeinsames römisches Fundament, das in Alexandrien nun platonisierend entfaltet werden kann; 1 Clem repräsentiert einen Teil dieser gemeinsamen Ansätze gewissermaßen noch vor der Platonisierung. So leistet der Verfasser des Hebr einen wichtigen kirchenpolitischen Dienst: Durch die Flucht aller Judenchristen aus Rom entstand die Gefahr, dass sich die in
Der Brief an die Hebräer
Rom verbliebenen Heidenchristen und die geflüchteten Judenchristen aus den Augen verloren. Hebr versucht, diese kirchenpolitische Folge des Claudius-Edikts zu beheben, d. h. eine auch für Heidenchristen akzeptable Einheit mit den ehemals römischen Judenchristen zu finden. Trifft das zu, dann entsteht eine interessante Parallelität zum Römerbrief. Beide, Hebr und Röm, sind von außen her an die Gemeinde(n) in Rom gerichtet und beide beschäftigen sich mit einem Ausgleich von Juden- und Heidenchristen unter einem höheren Gesichtspunkt. Für Paulus ist das der Glaube, für Hebr Jesus Christus als der Hohepriester des Neuen Bundes. Beide Wege sind für Juden- und Heidenchristen in gleicher Weise möglich. Der theologische »Vorzug« des Röm ist seine Geschichtstheologie in Kap. 9-11. – Für nicht zufällig halte ich es daher, dass der älteste Textzeuge, »P« 46, den Hebr direkt hinter dem Röm nennt. Die Trennung zwischen beiden Gruppen scheint noch nicht lange her zu sein. Daher die gemeinschaftlichen Grüße. Andererseits wird seit 49 n. Chr. schon einige Zeit vergangen sein, in der der Verfasser seine Theologie entwickeln konnte. Auf jeden Fall wird der Brief vor Aufhebung des Claudius-Edikts im Jahre 56 n. Chr. geschrieben worden sein. So ergibt sich, dass Hebr um 54/55 n. Chr. in Alexandrien entstand und nach Rom geschickt wurde. Dieser Versuch der Datierung vermeidet es, die Frage der Zerstörung des Tempels im Jahr 70 in die Diskussion einzubeziehen. Immerhin ist seine Erörterung der Tempelfrage leichter vor 70 n. Chr. verständlich. Auch die auffallenden Übereinstimmungen mit dem MkEv (s. u.) sind bei einer Entstehung des Briefes in Alexandrien leichter zu erklären. Denn Markus ist in der ganzen Alten Kirche stets mit Alexandrien in Verbindung gebracht worden. Für die Frühdatierung des Hebr spricht natürlich auch, dass er an einer »Amtsausfächerung« nicht interessiert ist. Zielsetzung Hebr ist ein grundsätzlicher (d. h. protreptischer) Traktat darüber, dass es nötig ist, sich an Jesus Christus, den Sohn Gottes, zu halten und nicht an andere Heilsfiguren des Judentums.
Berger (08129) / p. 833 / 19.5.2020
Der Brief an die Hebräer
Name des Briefes Der Brief heißt »An die Hebräer«, weil er Heidenchristen auf einem jüdisch-hellenistischen Niveau zu erreichen versucht, das ihrem Glauben einen angemessen aristokratischen, biblisch-jüdischen Hintergrund vermitteln kann. Das Bild, das so entsteht, ist ein durch Jesus Christus und die Heidenchristen vollendetes »Judentum der Unbeschnittenen«. Hebr beschreibt einen Weg, der es geborenen Heiden ermöglicht, sich in einem vollendeten Judentum beheimatet zu fühlen. Die Adressaten könnte man in dieser Hinsicht als ehemals »Gottesfürchtige« bezeichnen. Sie sind »Möchte-gern-Hebräer«. Für diese Heidenchristen wird das Christentum als eine innerjüdische Kontroverse dargestellt. Im Übrigen gab es in Rom Synagogen unter den verschiedensten Titeln; nach allem, was wir aus Inschriften und Überlieferung wissen, kann es durchaus auch eine Synagoge der »Hebräer« gegeben haben. In ähnlicher Weise war offenbar für die Adressaten des Galaterbriefes Judentum attraktiv, wenn auch exklusiv (?) unter dem Aspekt der Beschneidung. Die Anbindung von Heidenchristen an das Judentum, die in Galatien aus sakramentalen Gründen misslang, ist im Hebr gültig gelungen. – Aus der Geschichte Israels berichtet Hebr nur in 1,5b über die Natan-Verheißung (vgl. 2 Sam 7,14) und ansatzweise auch in 2,17. Die heidenchristlichen Adressaten bekommen daher nicht wirklich Anteil an der Geschichte Israels nach dem Auszug aus Ägypten. Verhältnis zum Judentum Für Hebr ist das hellenistische Judentum nicht Anfechtung und Gefahr, sondern Verlockung. Es dient zum Ausweis, dass das Christentum sich auf uralte Schriften stützt. Kernpunkt der Theologie des Hebr ist eine »Mehr-als«-Theologie. So wie es im MtEv öfter heißt: »hier ist mehr als« (der Tempel, Salomo, ein Prophet), gilt für den Hebr: Jesus Christus ist mehr als Engel, Mose oder der Hohepriester des irdischen (Tempel-) Zeltes. Der Verfasser des Hebr vermittelt seinen Adressaten zwar einen Zugang zum Judentum, aber eben nur unter der Bedingung der christlichen Interpretation. – Wie in den vier Evangelien ist Beschneidung kein Thema. Die Themen des Hebr bestimmen sich vielmehr genau nach den
833 überschneidenden Themen und Interessen zwischen Judentum und sympathisierenden Heiden: Schöpfung, Engel, Sabbat, Mose, Gott und die Leiden der Menschen. Eine zwar marginale, aber doch erkennbare Rolle spielt im Rahmen dieser Themen die Gestalt des Melchisedek, wie die überaus zahlreichen jungen und alten Belege für Spekulationen um diese Gestalt zeigen. Melchisedek ist gerade dadurch, dass die Bibel ihn kaum weiter erörtert, ähnlich wie Henoch zu einer esoterischen Geheimfigur geworden. »Überschneidung« heißt: In der Sicht der Heiden, die sich mit dem Judentum auseinandersetzen oder ihm sogar nahe stehen, sind dies »klassische« Themen. Hebr greift sie auf und sorgt gleichzeitig dafür, dass die christliche Position unverwechselbar ist. Im Rahmen der interessierenden Themen lassen sich die Besonderheit und die unvergleichliche Antwort des Christentums gut darstellen. Das wird im Weiteren zu jedem einzelnen Punkt zu zeigen sein. In bestimmter Hinsicht ist Hebr auch eine Art Gesamtdarstellung des Glaubens, beginnend mit der Schöpfung und endend mit dem Einzug des wandernden Gottesvolkes in den Himmel bzw. dem Hinzutreten zur himmlischen Festversammlung. Dabei ist das Bild des Weges leitend. Gewiss werden weite Teile des AT weggelassen; doch das, was ausführlich entfaltet wird, stellt ein umfassendes Gesamtbild der Vorbedingungen des Christentums in der Schrift dar. So ist der Hebr auf seine Weise »tota scriptura«. Denn er bringt aus der schriftlichen Urkunde der Offenbarung alles, was zu wissen für Heidenchristen wichtig ist. Seit der Darstellung von D. Georgi zu 2 Kor (D. Georgi, Die Gegner des Paulus im 2. Korintherbrief, 1964) wissen wir, welcher besonderen Wertschätzung sich unter den »Gebildeten« der damaligen Zeit orientalische oder archaische Schriften erfreuten, genannt hiera grammata. Verwandte im frühen Christentum Wie im JohEv (und ähnlich in Kol 1,18 ff) steht am Anfang des Hebr ein Text, der insofern dem Auftakt des AT ähnlich ist, als er mit einem Ersatz für den Schöpfungsbericht beginnt. Hebr 1,1-3 entspricht hier Joh 1,1-4. In jedem Fall ist Jesus Christus der Schöpfungsmittler. D. h. es ist nicht isoliert vom Schöpfergott die Rede, son-
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834 dern von allem Anfang an wird der Mittler dem Vater beigesellt. Wie in den vier kanonischen Evangelien wird die Bedeutung Jesu Christi »im Vergleich mit« und als »Überbietung von« alttestamentlichen Persönlichkeiten dargestellt. Im Hebr sind das: Engel, Mose, (auch: Josua, vgl. Hebr 3-4), der Hohepriester. In den Evangelien sind das: Johannes der Täufer, Propheten, besonders Elia und Elisa, Mose, Salomo, David. Verhältnis zu Paulus Noch immer herrscht in der Forschung die Annahme, jede Ähnlichkeit mit Paulus bedeute Abhängigkeit von Paulus oder vom Paulinismus. Das betrifft besonders die formalen Elemente der Briefgestaltung, etwa Segensformeln, die mit »Der Gott … (plus Optativ)« beginnen oder einem Briefschluss enden wie in 13,25: »Die Gnade sei mit euch allen.« Man ist offenkundig blind dafür, dass in formelhaften Wendungen am ehesten Gemeinsamkeiten entstehen und bestehen. Nein, alle diese gemeinsamen Dinge muss nicht Paulus erfunden haben, sondern er hat als Briefschreiber Anteil an ihnen wie andere Briefschreiber auch. Dass Hebr Timotheus (13,23) erwähnt, nicht aber Paulus, ist nicht ein Indiz für späte Entstehung oder gar Fälschung, sondern dafür, dass Timotheus nicht im Schatten des Paulus stand, sondern als Autoritätsfigur wichtig war, gerade für einen konstruktiven Dialog zwischen Juden- und Heidenchristen. Dass gerade Timotheus auch in Kol 1,1 genannt wird (zu Hebr/Kol s. u.), bekräftigt dies. Offenbar hatte Timotheus eine eigene Position. Paralleler Aufbau wie das MkEv Hebr beginnt wie das MkEv mit Schriftzitaten, und zwar mit einer Anrede Gottvaters an den Sohn, an Jesus Christus. Wie im MkEv folgt dann der Vergleich mit ähnlichen Größen (im MkEv Johannes der Täufer, schließlich in der Verklärungsszene Mose und Elia; in Hebr Engel, Mose und der Hohepriester). Nach der Durchführung des Vergleichs wird der Weg Jesu zur Vollendung dargestellt: Im MkEv ist es der Weg vom Berg der Verklärung herab bis zum Berg der Kreuzigung. Auf diesem Weg sollen die Jünger Jesus begleiten. In Hebr wird das Bild des wandernden Gottesvolkes entworfen, an dessen Spitze Jesus den
Der Brief an die Hebräer
Weg in den Himmel findet. Sein Menschsein ist der Weg. Entscheidend für den groben Aufbau ist daher die Abfolge von Vergleichen und »Weg zur Vollendung«. In zweiten Teil der Schrift ist jeweils das Bild des Weges dominierend. Im MtEv steht an der Stelle des Dialogs Vater/Sohn der Stammbaum Jesu. Das wäre der normale Weg der Klärung der Herkunft eines Menschen. Wie ist die Nähe zwischen Hebr und MkEv historisch zu bewerten? Die Verwandtschaft in den aufgezählten Stücken ist nicht exklusiv, d. h. es gibt weitere Zeugnisse für den Gebrauch derartiger Elemente: – formelhafte Wendungen, die betonen, in Jesus sei »mehr als X [alttestamentliche Person oder Institution]« gegenwärtig. Diese Personen oder Institutionen sind: Propheten (Jona, Mose, Elia), Tempel, Sabbat, Salomo. – Reihungen mit alternativen Identifikationen zur Frage »Wer bin ich?« oder »Wer ist Jesus?« Ist Jesus einer der Propheten, ist er Elia oder Elisa, Jeremia oder einer der Propheten? Ist er Johannes der Täufer, der wiedergekommen ist? Ist er ein Philosoph (ThomasEv 13)? Fortsetzung in den apokryphen Apostelakten: Ist der Apostel ein Engel oder ein Mensch? In der Verklärungsszene Mk 8 par wird deutlich gesagt, dass Jesus mit Mose und Elia verglichen werden kann, aber als der Sohn ihnen grundsätzlich überlegen ist. Hebr sagt – wie auch die anderen christlichen Schriften: Jesus ist mehr als alle diese Genannten. In jedem Fall ist Jesus der Eine, der aus allen möglichen Konkurrenten herausragt. Damit wiederholt sich der Grundansatz des Monotheismus. Das »monotheistische Spiel« heißt: der Eine und nicht die anderen. Auch diese Beobachtung weist in die Heidenpredigt. Dem entspricht, dass wir dieses Unterscheiden (Jesus ist mehr als X) zum Beispiel im JohEv nicht oder kaum antreffen. Insgesamt gesehen, liegt die These nahe, dass es sich um übliche Versatzstücke der Predigt gegenüber Heiden handelt. Besondere Nähe zum Kolosserbrief Viele wichtige Elemente hat Hebr mit Kol gemeinsam: 1. den kurzen Abriss über Schöpfungsmittler und Erlöser; – 2. die Abwertung der Engel gegenüber dem Sohn – in Kol sogar
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Kapitel 1
der rituell-asketischen Verehrung der Engel; – 3. die Bezeichnung der älteren rituellen Praxis als »Schatten« des Wahren; – 4. die Bedeutung des Timotheus nach Hebr 13,23 und Kol 1,1. Die neuere Diskussion um Kol hat zutage gefördert, wie stark das Judentum der damaligen Zeit mit einem Engelkult identifiziert wurde, und zwar nicht zuletzt wegen einer Identifizierung der biblischen Engel mit den »Kräften« (griech.: dynameis) der Esoterik. Auch die Sabbatruhe im Himmel (vgl. die Argumentation in Hebr 3f) besteht nach jüdischen Vorstellungen in der Gemeinschaft mit Engeln der Heiligkeit (4 QS 405 XX 8-13[Maier II 406]). Wiederkehrende Denkformen des Hebr Die im Verhältnis zum Alten, Früheren größere Gabe und Gnade jetzt bedeutet auch höhere Verantwortung und damit höheres Risiko für mögliche Bestrafung. Die Aussagen über Niedrigkeit Jesu bekräftigen die Gemeinschaft mit den Menschen; Angaben über Jesu Hoheit dagegen zeigen, dass er bei Gott, zur Rechten Gottes, etwas ausrichten kann für die Menschen. Hoheits- und Niedrigkeitsaussagen laufen zusammen im Bild des Hohenpriesters für die Menschen bei Gott. Der Hohepriester kann leiden, aber auch für die Menschen eintreten bei Gott. Alles, was früher war, ist nur irdisch, sterblich, äußerlich, unterliegt der Wiederholung, ist für das Innere nutzlos. Es ist nur Abbild im Gegen-
satz zum Urbild. Alles, was mit dem Hohenpriester Jesus gekommen ist, ist dagegen »besser«, vollkommen, d. h. im Himmel gültig, wahr, nützlich, fest, unerschütterbar, unsichtbar. Das Neue hebt das Alte auf, und das unsichtbare Innere des Menschen korrespondiert dem Himmlischen und zugleich Zukünftigen. Das Alte hat das Siegel der Vielheit und Wiederholung, das Neue das Siegel der Einzigartigkeit und Einmaligkeit. Alle Wahrheit steht schon in der Schrift, zumindest so, dass man vom irdischen Abbild her das himmlische Urbild erschließen kann. Es gibt schließlich bestimmte gültige Kultregeln: Wenn das Priestertum (die Priesterschaft) sich ändert, muss sich auch das Gesetz ändern (7,12). – Jeder Hohepriester muss etwas darbringen (8,3). – Jedes Testament erfordert zur Vollstreckung den Tod des Erblassers (9,16). – Ohne Blutvergießen gibt es keine Vergebung (9,22). – Ganz gleich, ob jemand dem alten irdischen oder dem wahren himmlischen Zelt dient, es gibt kein Essen vom Altar. Speisen und Speiseregeln sind überdies nutzlos (13,9-11). Fazit Die wichtigsten neuen Ergebnisse unserer Untersuchung zum Hebr sind: Der Brief ist ein Stück der Beziehungen zwischen Rom und Alexandrien zwischen 54/55 n. Chr. Sein Verfasser ist von Paulus in hohem Maße unabhängig. Er verarbeitet gemeinsame Traditionen.
KOMMENTAR Hebr 1,1 – 10,31: Jesus – der überlegene Mittler Diese Kapitel im Hauptteil des Hebr stellen Jesus im Vergleich mit anderen Mittlern dar, die man kennt oder mit denen man rechnen könnte, und zwar als den schlechthin überlegenen Mittler zwischen Gott und Mensch. Zur Gliederung Hebr 1-7 Die wichtigsten Signale der Gliederung in Kap. 16 sind: a) kurze, im Laufe des Briefes länger werdende Abschnitte über den Hohenpriester Jesus. Der Autor führt mit diesen Abschnitten sein hauptsächliches Thema gewissermaßen häpp-
chenweise ein. Diese Abschnitte sind: 1,3 (Reinigung von Sünden); 2,9-11; 2,17; 4,14 – 5,10; 7,1 ff. – b) Gliederungsmerkmale sind Imperative (Konstruktion mit »man muss«, Imperativ. Aorist, kohortative Konjunktive in der 1. Person Plural: »Lasst uns …«), und zwar in 2,1 (man muss achten); 3,1 (bedenkt); 4,1 (So lasst uns denn mit Furcht darauf achten); 4,11 (So lasst uns nun Fleiß tun, hineinzukommen …); 4,14 (Lasst uns festhalten am Bekenntnis); 6,1 (Darum lasst uns jetzt lassen … und uns zum Vollkommenen wenden); vgl. 6,11 (Wir begehren
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836 aber, dass jeder von euch denselben Eifer erweise …). – c) Diese Aufforderungen stehen zumeist am Anfang oder am Schluss der Entfaltung der großen und bildhaften Themen des Hebr: Kap. 1f (Kontrast Sohn/Engel mit Hohempriester in 2,17f); Kap. 3f (Kontrast Sohn/Mose und Wüste/Ruhe mit Aufforderungen in 4,1.11; Kap. 4,14 – 5,10 (Kontrast Sohn/Leiden mit Auf-
Der Brief an die Hebräer
forderung in 4,14); Kap. 5,11 – 6,20 (Kontrast Sein/Sollen der Gemeinde, Auforderung in 6,1); Kap. 7,1-28 (Kontrast Melchisedek/Aaron; bisher längste Ausführung zum Thema Priestertum). – d) Es war in c) erkennbar, dass alle großen Themen des Hebr sprachlich mit Hilfe des rhetorischen Mittels des Kontrastes gestaltet wurden.
Hebr 1,1 – 4,13: Gottes Wort Hebr 1,1-3: Jesu Verkündigung Jesus ist ultimatives Instrument und Gefäß der Rede Gottes. Nach 1,3 nahm das Heil seinen Anfang durch die Wortverkündigung Jesu. Aber durch ihn hat Gott auch die Welt geschaffen, und ihm, dem Sohn, gehört auch alles. Die Schöpfung ist mit der Verkündigung Jesu verbunden, weil Gott durch dasselbe schöpferische Wort gehandelt hat. Diese Verbindung von Weltschöpfung und Jesu Verkündigung ist ganz ähnlich das beherrschende Thema des JohEv. – Im Judentum ist die Weisheit Schöpfungsmittlerin. Wie in Joh 1 ist sie in Hebr 1 durch »den Sohn« abgelöst. Nicht zuletzt durch Gen 1 (»Gott sprach und es wurde …«) kann man diese Auffassung begründen: Gottes Wort ist so mächtig, dass es die Wirklichkeit schafft, die es sagt. Neu aber ist der Gedanke vom »Erbe«. In gewisser Hinsicht ist damit der Anfang mit dem Ende verbunden. Denn »Erbe« meint immer den definitiven Übergang in die Verfügung eines anderen. – Warum ist der Schöpfungsmittler auch der Besitzer? Mit 1 Kor 15,27f gilt wohl im gleichen Sinne: Gott hat dem Sohn alles unterworfen, ihm alles zu Füßen gelegt. Aber warum? Und wie ist das trinitätstheologisch aufzufassen? Holt Gott in Jesus das nach, was Adam nicht konnte, was er nicht geschafft hat, nämlich sich die Erde untertan zu machen? Denn der Sohn steht hier auch für alle seine menschlichen Geschwister. Gott übergibt dem Sohn und den Menschen die Erde ganz neu. Kindschaft, Sohnschaft sind kein Selbstzweck, der Sinn ist das Erben. Deshalb steht das Erben auch in Hebr 1,2 voran. Paulus ringt mit diesem theologischen Ansatz. In 1 Kor 15,27f lässt er dem Sohn alles unterworfen werden; doch dann unterwirft sich auch der Sohn,
damit Gott alles in allem ist. In Röm 8,17 geht es gleichfalls um Sohn und Erbe. Das Erbe besteht hier in der Herrlichkeit, die auf das Leiden folgt; unsere Auslegung von Hebr 2,5-9 wird diese von Paulus her gewonnene Deutung voll bestätigen. Meint Hebr 1,2 also, dass der Sohn dazu bestimmt ist und als der offenbar wird, der alle Macht und Herrlichkeit hat? Ist der Sohn demnach die Art, in der der dreieinige Gott sichtbar und erfahrbar wird? Die Weltschöpfung war der erste Schritt auf diesem Weg. Zur Beziehung von Schöpfung und Erbe vgl. Kerygma Petri, Frgm. 2: »Erkennt nun an, dass ein einziger Gott ist, der aller Dinge Anfang geschaffen hat und auch Macht hat über das Ende.«
Hebr 1,3: Urgrund und Abglanz »Abglanz« und »Prägung« gehören in das semantische Feld, mit dem immer wieder die zweite Figur neben Gott beschrieben wird (als Abbild [griech.: eikon], Wort [Logos], Weisheit, Sohn, Licht vom Licht, bei Gott sein). Quellentexte sind die Weisheitsbücher der LXX und Philo v. A. Das Verhältnis von Urgrund und »Sohn« wird demnach vor allem ästhetisch definiert. Dem entspricht schon der Bildbegriff in Gen 1,26 (»als sein Abbild schuf er ihn«) und die genealogische Verwendung in Gen 5,1 (»Adam zeugte Seth als sein Abbild«). Abbild von jemand zu sein bedeutet, die größtmögliche Nähe zu ihm zu besitzen. Dieses Verhältnis ist exklusiv (nur eine Größe kann größtmögliche Nähe besitzen) und zugleich je nach Kontext und Beziehung variabel; in Gen 1 geht es um Gott/Mensch im Unterschied zu den Tieren; in Hebr 1,3 um Vater/ Sohn im Unterschied zu allen Menschen.
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Kapitel 1
1,3 stellt insgesamt den Weg des Sohnes dar, von der Wesensaussage über die Schöpfung und die Befreiung von Sünden bis hin zum Sitzen zur Rechten Gottes. Diesen Weg beschreiben ähnlich das JohEv (1,2; 3,13; 17,5 mit dem Schema Kommen vom Himmel, Herabsteigen und Hinaufgehen zum Himmel) und auch Kol 1,15-20 (Wesensaussage, Schöpfung, Erlösung als Versöhnung – nur das Wiederaufsteigen fehlt hier, es wird aber in Kol 3,1 unmissverständlich nachgeholt). Verwandt ist auch das Schema von Phil 2,6-11, nur fehlt hier die Befreiung von der Sünde in der Mitte des Weges. Die summarische Zusammenfassung des Wesens und Wirkens Jesu ist daher in Hebr 1,3 so vollständig und bündig erhalten wie sonst nirgends. Dieser kurze »Katechismus« ist noch nicht »zersagt«. 1,3b bringt (neben 2c) eine zweite Schöpfungsaussage. Das Wort Gottes hat eine ihm eigene »Kraft« (Röm 1,16; 1 Kor 1,18.24), mit der es bewirkt, was es sagt. Daher kann das kräftige Wort des Sohnes (welches nach 1,1 Wort Gottes ist) das All zusammenhalten (»tragen« im Sinne von erhalten, den Bestand gewährleisten). Im gleichzeitigen Judentum »hält Gottes Wort alles zusammen« (Sir 43,26), und da jedes Wort Gottes wie ein Eid ist (Philo), bewahrt Gottes Eid die Teile der Schöpfung als zusammenhängende Einheit (Hen [äth] 69,25). – Das »Tragen« von 1,3b erinnert an das Tragen/Aufheben der Sünde nach Joh 1,29. Beides geschieht mit dem Wort.
Hebr 1,4-14: Höher als die Engel Der Verfasser sieht offenbar allen Anlass, den Sohn von den Engeln zu unterscheiden, und zwar als den Höheren. Er tut es mit Hilfe der Schrift. Eine solche hervorhebende Unterscheidung ist nötig, weil die Kenntnisse der Adressaten über den »irdischen Jesus« sehr begrenzt sind. Auch Hebr orientiert sich ja wesentlich am Erhöhten, und so hat auch 1,3 das Ziel und Ende des Weges Jesu beschrieben. Man könnte daher als zumindest ein Ziel des Hebr formulieren: Hebr richtet sich gegen einen Glauben von Heidenchristen, die zwischen Engeln und dem Erhöhten nicht genügend unterscheiden. Immer wieder war in den ersten Jahrhunderten des Christentums Engelchristologie eine Versuchung, auch wohl in
837 der Absicht, jede Gefährdung des Monotheismus zu vermeiden. Aus der Sicht mancher Heiden ist jüdische Religion Engelverehrung: vgl. Kerygma Petri, Frgm. 6: »Verehrt Gott auch nicht nach der Art der Juden. Denn sie meinen, dass sie allein Gott kennen, aber sie verstehen doch nichts davon. Engeln und Erzengeln, den Monaten und dem Mond lassen sie kultische Verehrung zukommen …« Hebr zeigt, dass Jesus als Sohn höher steht als die Engel, dass er aber als Mensch eine Zeitlang unter ihnen steht, um Mittler der Menschen bei Gott werden zu können. Gerade das Letztere ist der wunde Punkt. Denn Michael ist traditionell Fürsprecher und somit auch Mittler. Nach den Excerpta ex Theodoto (Clemens v. A.) geht im himmlischen Heiligtum einmal im Jahr der Erzengel hinein zu Gottes Thron (38,1). Der attackierte Engelglaube wird daher in einem Zangengriff erledigt, da Jesus als Sohn höher, als Mensch niedriger steht als sie; und daher ist er, und sind nicht sie, der geeignete Mittler bei Gott. Die Christen gehören am Ende mit den Engeln auf »Augenhöhe« zu der einen himmlischen Kirche (12,22), und es kann auch geschehen, dass Engel als Gäste aufgenommen werden (Hebr 13,1). Die persönliche Anrede an den Sohn (nach Ps 2,7) ist das erste zitierte Gotteswort in Hebr. Es entspricht formal Mk 1,2 (»Siehe, ich sende …«). Ps 2,7 gehört dann als »Taufstimme« auch direkt in den Anfang der Evangelien (Mk 1,11). Grob gesagt: Hebr 1,5 steht an der Stelle der Taufstimme zu Beginn der Evangelien. Theologisch aber gilt: Der Gott, den Hebr vorstellt, ist ein dialogischer, sich den Menschen zuwendender Gott. Zu Hebr 1,6: Der Vers spricht von »Einführung in die Welt«, als sei der Sohn vom Vater in einer feierlichen Zeremonie der Welt präsentiert worden. Auf dieselbe Situation bezieht sich dann auch 10,5 (»Deswegen sagt er, als er in die Welt einzieht …«). Wie hat Hebr sich das gedacht? Im höfischen Zeremoniell nennt man die Szene, auf die Hebr 1,6 und 10,5 anspielen, die »introductio« oder »praesentatio«; diese wird bis heute praktiziert, etwa wenn in einem Einführungsgottesdienst der künftige Pastor vom Landesbischof eingeführt wird, d. h. der lokale Repräsentant wird durch den Übergeordneten seiner Klientel
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838 vorgestellt und empfohlen. Im Hebr ist das natürlich eine »ideale Szene« – anderswo spricht man einfach von der »Sendung« des Sohnes. Das Gegenstück dazu, nämlich die »offizielle Verabschiedung im Sinne eines Rechenschaftsberichts«, wird in Joh 12,28 als wirkliche Begebenheit erzählt. Auch hier redet der Vater direkt über den Sohn. – Der Hintergrund für 1,6 ist außer Ps 96,7 (LXX) auch Dtn 33,2 (LXX). Nach Dtn 33 begleiten Engel Gott bei der Sinai-Theophanie; daher dann die Auffassung von Gal 3,19 etc., Engel hätten das Gesetz übermittelt. Der Schriftbeweis in 1,5-14 Aus heutiger Sicht wird die Schrift hier (und auch sonst in Hebr) steinbruchartig ausgebeutet. Ohne Rücksicht auf Autor, Kontext, Literalsinn, Personenbezug oder gar historische Einbettung wird jede zitierte Stelle nur nach dem Wert verwendet, den sie im gegenwärtigen neuen Zusammenhang des Hebr darstellen kann, d. h.: Der historische und literarische Abstand spielt keine Rolle. Versucht man eine positive Würdigung, die dem Anliegen des Hebr gerecht wird, so gilt: Der Maßstab der Auslegung von Gottes Wort ist Gottes ultimatives Reden durch den Sohn. Von hier aus erschließt sich der Sinn aller Worte vorher. Und da der Autor des Hebr auch theologisch die Stabilität hochschätzt, ist diese ein Merkmal des zeitenthobenen Wortes Gottes. Dabei urteilt der Verfasser nicht willkürlich, sondern nach rekonstruierbaren Kriterien, nicht unter Missachtung der Logik: In 1,5-14 orientiert er sich – bis auf 2 Sam 7,14 – nur an den Psalmen und fragt: 1. Wo werden Aussagen über maximale Würde von Menschen gemacht, die sich nicht auf Gott Vater oder Engel beziehen können (Ps 2,7; 110,1; 45,7-8)? – 2. Wo redet Gott jemanden persönlich als Sohn an, oder wo spricht er über sich als Vater und seinen Sohn (Ps 2,7; 2 Sam 7,14)? – 3. Wo gibt es pejorative Aussagen über Engel (Ps 104,4)? Aussagen über Engel als Söhne Gottes, die die Bibel auch kennt (Gen 6,2; Hiob 1,6; 38,7), werden dabei unterdrückt. – 4. Wo spricht die Bibel über heldenhaft gerechte Menschen; und erlaubt es die Logik, Gottesaussagen auf diese zu beziehen (Ps 45,7)? – 5. Gibt es Schöpfer-Aussagen mit »Herr«-Anrede, die man auf den Schöpfungsmittler beziehen könnte (Ps 102,26-28)?
Der Brief an die Hebräer
Der Verfasser des Hebr hat solche Stellen entdeckt oder schon in christologischer Anwendung vorgefunden, und zwar bereits in Kombination: Ps 2,7 und Ps 110 gehören sicher zum ältesten christologischen Inventar. Resultat: Der Verfasser zeigt, dass der Sohn als Sohn Gottes, als Gott, Kyrios und Schöpfungsmittler, ja als Throngenosse Gottes unvergleichlich höher steht als Engel. Ob diese Einsicht nun für die Adressaten neu war oder nicht, jedenfalls wird von allem Anfang an die maximale Würde des Sohnes dargestellt. Die Schrift hat dabei Beweischarakter, da sie ja von den Juden, aus deren Kreis sich Juden- und Heidenchristen abheben, anerkannt wird. Gegenüber den Adressaten greift der Verfasser weder auf Glaubenserfahrungen noch auf Bekenntnisformeln der Gemeinde zurück (etwa im Unterschied zu 1 Kor 15), sondern hier gilt: Nur die gemeinsame Grundlage der Schrift kann etwas beweisen oder nicht. Insgesamt präsentiert sich das Christentum in Hebr 1 als eine jüdisch orientierte Religion, die sehr hohen Wert auf die Mittlerfiguren legt. Es geht um den Streit über den Rang von Mittler, Sohn oder Engel. Die Engel besitzen weder Sohnschaft, noch sind sie Schöpfungsmittler, noch haben sie die Menschen erlöst. Die Engel unterliegen auch nicht dem biografischen Schema Himmel–Erde–Himmel, sondern für sie gilt bestenfalls Sendung und Rückkehr.
Hebr 2,1-4: Ethische Konsequenzen Wie in Hebr 1,1-3 steht auch hier ein Stück narratio vorweg. Dann erst folgt wie dort die Argumentation mit der Schrift. Die Narratio erzählt hier die bisherige Geschichte des Christentums, wie der Verfasser sie sich für die Sicht der Gemeinde vorstellt. Die Christen haben bisher ein Christentum kennengelernt, das mit der Wortverkündigung Jesu begann. Die Ohrenzeugen Jesu haben diese Verkündigung an die Gemeinde weitergegeben. Bekräftigt wurde die Botschaft durch Zeichen, Wunder und vielfältige Erweise der Kraft (sc. der Botschaft) sowie durch Anteilhabe am Heiligen Geist, je nach Gottes Willen (zum Letzteren vgl. 1 Kor 12,11b: »… der jedem das Seine zuteilt, wie er es will«; der Wille Got-
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Kapitel 2
tes, nichts anderes, ist das Kriterium der Verteilung). Offenbar handelt es sich um Geistesgaben wie die Charismen. Die Gemeinde ist daher durch Wortverkündigung und durch Wundererfahrungen zusammen mit anderen charismatischen Phänomenen geprägt. In dieser Hinsicht ist sie eine typische Gemeinde von Neubekehrten gewesen. Dass das für Rom gelten könnte, zeigt Röm 12,3-8. Auch in 2,1-4 wird argumentiert: Schon die nur durch Engel verkündete Botschaft wurde übertreten bzw. missachtet, und das fand Vergeltung. Um wie viel mehr wird jetzt die durch den Sohn verkündete und durch so viele Zeichen bekräftigte Botschaft im Fall einer Missachtung Strafe nach sich ziehen? Denn je höher der Rang des Boten, umso größer ist die Verantwortung und gegebenenfalls auch die Vergeltung. So wird in 2,1-4 auch die moralische Konsequenz aus der Rede über den Rangunterschied zwischen Sohn und Engeln nach Kap. 1 dargestellt. Die größere Nähe zu Gott vergrößert damit auch die Gefahren des Absturzes. Dieser vom Verfasser öfter verwendete Ansatz insistiert auf das Hier und Heute, so wie es dann in Kap. 3-4 geschehen wird. Auch Jesus betont in seiner Verkündigung, dass man heute umkehren muss und dieses nicht aufschieben darf. Doch Jesus motiviert diese Dringlichkeit mit der Nähe des Reiches, der Verfasser des Hebr mit einem Vergleich zwischen einst (klassische Zeit des Alten Bundes) und jetzt. Insofern ist hier die zeitliche Perspektive grundlegend verändert. Der Kontrast wird an den Heilsmittlern nach 2,2f deutlich: »durch die Engel« steht gegen »durch den Herrn« in 2,3. Dabei entspricht »durch die Engel«, wie schon angedeutet, der zeitgenössischen jüdischen Auffassung, dass die Sinai-Offenbarung durch Engel gegeben worden sei (vgl. Gal 3,19; Apg 7,38.53; Josephus, Ant 15,136). Für Juden bedeutete das freilich keine Abwertung des Gesetzes, sondern eine Betonung der Hoheit Gottes, der die Gesetze durch seine Helfer verkünden lässt (so wie heute im Gottesdienst heilige Texte durch Laien verlesen werden, früher durch Diakone).
Hebr 2,5-9: Erniedrigung und Erhöhung des Sohnes Bereits zu 1,2 (»Erbe«) hatten wir vermutet, es gehe um Unterwerfung der Welt und um Herrlichkeit (vgl. Röm 8,15-17). Diese Deutung wird hier durch die kunstvolle Auslegung von Ps 8,5-7 (LXX) bestätigt. Dieser Psalm ist im frühen Christentum beliebt. In 1 Kor 15,27 und Eph 1,22 wird er von Paulus und in seinem Umfeld zitiert, in 1 Kor 15,27 wie in Hebr 1,13 und 2,68 ebenfalls in Verbindung mit Ps 110,1. In der Grundbedeutung sagt Ps 8,5-7 etwas über die hohe Auszeichnung des Menschen, die fast an die der Engel heranreicht. Gott hat ihn mit Herrlichkeit ausgestattet und ihm (vgl. Gen 1,28) alle Kreatur unterworfen. – In 1 Kor 15,27 wird Ps 8,5-7 bereits ebenso christologisch wie eschatologisch verstanden. Denn der Vater wird dem Sohn alle Mächte und Gewalten unterwerfen, auch den Tod. Das wird der Vater tun, um den Sohn als den Heiland der Menschen zu ehren. Dass die Feinde von Ps 110,1 dem Throngenossen Gottes unter die Füße gelegt werden, zeigt Ps 8,7 an, wonach Gott »alles« dem Menschen unterworfen hat. Der Mensch von Ps 8 ist hier exklusiv der erhöhte Sohn. In Eph 1,20-22 wird Ps 110,1 nicht als Zitat geführt, doch der Verfasser spielt wörtlich darauf an. Wie in 1 Kor 15 ist das, was im Sinne von Ps 8,7 unterworfen wird, nicht einfach »alles« oder »die Welt«, sondern Macht, Gewalt, Kraft und Herrschaft und jeder Name von Rang. Interessant ist der Zusatz in Eph 1,21: »nicht nur in diesem, sondern auch im kommenden Äon«. Denn auch Hebr 2,5 spricht genau in diesem Zusammenhang von der »künftigen Welt«. Das aber bedeutet: An allen drei Stellen (Eph 1; 1 Kor 15; Hebr 2) wird Ps 8,5-7 exklusiv auf Jesus Christus hin ausgelegt und ist mit Ps 110,1 verknüpft. In jedem Fall bezieht sich der Inhalt auf Zukünftiges oder auf in Zukunft Vollendetes (1 Kor 15). In Eph 1 und 1 Kor 15 werden Mächte und Gewalten unterworfen. Diese Auslegung kennt Hebr 2 nicht. Nach Hebr 2 wird einfach »alles« unterworfen. Aber Hebr 2,5 hat mit Eph 1,21 das Stichwort (griech.) mello (zukünftig) gemeinsam. In 1 Kor 15 und in Eph 1 ist das Ziel eine All-Aussage über Gott (Eph 1,23; 1 Kor 15,28). – Man kann daher sehr wohl von einer
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840 im Umkreis des Paulus verbreiteten und gemeinsamen Auslegungstradition im Sinne früher Christologie sprechen. Hebr 2 ist freilich gegenüber dieser Tradition in zwei Punkten selbstständig: Der Text nennt keine Mächte und Gewalten und versteht in 2,7 das »ein wenig« (sc. unter die Engel gesetzt) im Sinne einer kurzen Zeit: Nicht ein wenig hat Gott ihn unter die Engel erniedrigt, sondern für eine kurze Zeit. Diese Zeit aber dauert an. Erst an ihrem Ende wird sich V. 8 erfüllen: Gott hat alles unter seine Füße gelegt. Aber dass der Sohn unter die Engel erniedrigt ist, kann nach allem, was der Leser aus Kap. 1 weiß, nur für eine kurze Zeit gelten. Das ist die Zeit des Leidens und Sterbens. So halte ich nichts von der Ansicht, der Verfasser beziehe in irgendeiner Hinsicht Ps 8,5-7 auf den Menschen generell. Denn bereits in der verwendeten christlichen Tradition wird Ps 8 exklusiv christologisch ausgelegt. Im Kontext des Hebr besteht nach der Zuspitzung aller Hoheit auf den Sohn nach Kap. 1 überhaupt kein Anlass für eine Aussage über »den Menschen« schlechthin. Es ist m. E. nicht möglich, den Text gleichzeitig anthropologisch und christologisch zu lesen (gegen M. Karrer, Der Brief an die Hebräer, Bd I, 2002, 186). Bestenfalls könnte man sagen: Die Herrlichkeit und Ehre, zu denen der Mensch berufen ist, wird erst in Jesus Christus voll und ganz verwirklicht. In ihm scheint auf, was Gott mit dem Menschen im Ganzen vorhat, anders gesagt: Die kollektiven Aspekte, die die Rede von »dem Menschen« hat, kommen in Jesus Christus exemplarisch voll zur Geltung. Singulär ist die Bemerkung, diese bereits vollzogene Ehrung und Verherrlichung des Sohnes sei noch nicht sichtbar (V. 8b). Doch dass Jesus erst ab Ostern mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt sei, steht nicht da. Nach 2,9 sieht das anders aus: Gott hat Jesus mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt. Denn Gott hat es in seiner Gnade so eingerichtet, dass Jesus, als er sterben musste, stellvertretend für jeden von uns gestorben ist. – Herrlichkeit und Ehre liegt daher nicht in der Auferstehung, sondern in der Ehrenrolle des Priestertums, die Jesus zugunsten aller innehatte. Wer seinen Tod nicht wie alle, sondern zugunsten aller stirbt, der ist der gemeinsame Held. Der ehrenvolle Rang Jesu besteht darin, dass er durch seinen Weg
Der Brief an die Hebräer
insgesamt der Anführer und Vollender des Glaubens aller geworden ist. Die Christologie von Hebr 12,2 tritt hier schon hervor. Die Bedeutung des Sterbens Jesu für jeden einzelnen Christen begründet seine Hoheit und seinen Rang inmitten aller.
Hebr 2,10-18: Den Anführer des Heils durch Leiden vollenden Die zweite Aussage über den Tod Jesu steht in 2,10 f. Sie ist theologisch anspruchsvoll und singulär. Schon der Anfang zeigt das: »Es geziemte sich für ihn, das heißt: für Gott, … den Anführer des Heils durch Leiden zu vollenden«. »Vollenden« heißt nach Hebr: zum Himmel führen. Aber warum geziemt sich für Gott etwas? Der Verfasser meint: Gott ist an die Regeln seiner eigenen Würde gebunden. Weil er Gott ist, gibt es zu ihm nur den Weg der Läuterung, kann es nur den Weg von Leiden in Herrlichkeit geben. Wir kennen diesen Gedanken aus Apg 14,22: »Nur durch viele Bedrängnisse können wir in das Reich Gottes hineinkommen« oder Lk 24,26: Christus musste durch Leiden in die Herrlichkeit eingehen. In Hebr 2 ist das so gedacht: Wenigstens der Anführer der vielen Brüder konnte nur so über den Weg der Leiden zum Himmel geführt werden. Welche Funktion hat das Leiden hier? Soll es die Schlacke vom Gold trennen? Aber gab es bei Jesus Schlacke? Verfolgt man diesen Gedanken einen Moment weiter, stößt man auf Jesu eigene Worte über die Taufe, die er mit seinem Tod noch vor sich habe (Lk 12,50). Wenn das Sterben eine Taufe ist, dann muss es auch von etwas reinigen, vielleicht Reinigung von allem Irdischen und Vergänglichen schaffen? – Jedenfalls denkt der Verfasser hier nicht an die Sünde, die Jesus sich aufgeladen hat oder die ihm aufgeladen wurde. Nein, er selbst musste vollendet werden. Das allein war Gott geziemend. Im Blick auf das Leiden als notwendiges Durchgangsstadium zur Herrlichkeit kann man auch daran denken, dass Jesus für sich selbst das nicht nötig hat, aber stellvertretend für uns diese Reinigung an sich vollziehen lässt. Aber warum überhaupt Leiden? Warum ist das Gott geziemend? Muss das Irdische vor Gott verbrennen? Hebr 12,29 sagt: Gott ist verzehrendes
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Kapitel 2
Feuer. Der Hebr macht Ernst mit dem kultisch bestimmten Gottesbild der absoluten Heiligkeit. Gott ist der, vor dem Feuerflammen einherlaufen. Wenn das zutrifft, welche Folgen hat dies für das Gottesbild überhaupt? Nun spricht Hebr 2,10 zunächst nur vom Anführer, von Jesus Christus. Er musste vollendet werden, um überhaupt als erster Mensch zu Gott zu gelangen. Er hat den Weg geöffnet, in seinem Windschatten stehen wir. Das bedeutet also nicht, dass jeder Einzelne so leiden muss; das gilt nur für ihn als den Ersten. Das Motiv wird in Hebr 12,2 wieder aufgenommen: Alle, die an Christus glauben, blicken zu ihm, der zur Rechten Gottes ist, auf wie zu ihrem Anführer. Es ist nicht gemeint, dass Jesus fortan alles Leiden erübrigt. Uns obliegt zuerst der Glaube (Hebr 11). Jesus hat mit seinem Leiden als Erster den Himmel erreicht und damit allem anderen Glauben und Leiden überhaupt eine Perspektive eröffnet. Erst seit ihm ist Leiden nicht mehr der hoffnungslose Verfall. Erst seit ihm führt der Weg aller unschuldig Leidenden nach oben, nicht mehr nur nach unten. Er hat die Schallmauer durchbrochen. So gibt es jetzt eine neue Antwort auf ungerechtes Leiden. Zu Hebr 2,11 und 14: Der Eine, von dem alle abstammen, der Heiligende und die Geheiligten, der Hohepriester und sein Volk, dürfte Abraham sein. In 2,16 heißt es ausdrücklich und im Hebr exklusiv, dass Gott sich um den Samen Abrahams kümmerte. Nirgends spricht Hebr davon, dass Gott sich um den Menschen überhaupt oder die ganze Menschheit kümmerte, also ist Adam nicht der »eine«, von dem beide, der Hohepriester und sein Volk, abstammen. In 2,16 heißt es zusätzlich, dass Gott sich auch nicht der Engel annahm; der eine, von dem alle kommen, kann also nicht Gott sein, da die Engel zwar auch von Gott geschaffen sind, aber hier nicht seine Zuwendung erfahren. Jesus wird nach 2,17 nur den Geschwistern gleich und wirkt zugunsten der Vergebung der Sünden »des Volkes«. Deren gemeinsamer Vater ist Abraham. Das Ganze erinnert an Lk 1,54 f. Andererseits ist 2,14 der Schlüssel zum Verständnis des ganzen Kapitels, näherhin die Rede von »Blut und Fleisch« (griech.: sarx) sowie die Vernichtung des Teufels, der die Gewalt hat, alle zu töten. Es ist speziell das Stichwort Fleisch
841 (sarx), das einen Vergleich mit 1 und 2 Joh, dem JohEv und anderen Texten nahelegt (vgl. dazu Theologiegeschichte, 21995, § 115). Das Fleisch des Messias, das Erscheinen Jesu »im Fleisch«, d. h. seine Existenz als schwacher, sterblicher Mensch, ist immer wieder der Grund, ja die Möglichkeit dafür, dass Jesus die Sünde und ihre Folgen auf ihrem eigenen Feld besiegen kann, d. h. unter schwachen Menschen und für sie. Wäre der Messias nicht im Fleisch erschienen, so gäbe es keine Erlösung von Sünde und Tod. Wie ist das denkbar? Hebr 2,14 sagt: Nur durch einen Menschen kann die Macht des Todes gebrochen werden. Aber warum muss er Anteil haben an dem, worin der Tod herrscht, am Fleisch des Menschen? Die Alternative wäre Offb 12: Michael besiegt Satan und wirft ihn aus dem Himmel samt seinen Engeln. Auf der Erde geht das nicht so. Michael tritt hier nicht in Aktion, sondern Jesus. Michael wäre der typische Fall, in dem ein Engel den Satan besiegt. Hebr hat gerade das ausgeschlossen für den Bereich der Menschen. Auf jeden Fall gilt erstens: Der Böse ist hier nicht einfach durch Hinauswurf zu besiegen. Bei Menschen kommt es darauf an, den Bösen zunächst im eigenen Herzen zu besiegen; alle Überlieferungen, auch Hebr (vgl. 4,15), stellen das so dar, dass Jesus die Versuchung im eigenen Herzen besiegte und selbst so von Sünden frei war. Denn die Wirklichkeit des Bösen ist sehr subtil stets mit Widerhaken im Herzen des Menschen verankert. Jeder nur äußere Sieg ist daher nur ein halber. Und zweitens: Mit dem Sieg über den Teufel ist es wohl wie mit der Erstbesteigung des Mont Blanc: Entscheidend war nicht, dass genügend Kraft, Ausdauer, transportable Vorräte vorhanden waren, sondern dass überhaupt einer einen Weg fand, lebend vom Berg zurückzukehren. Das Finden des Weges war eine Sache des Köpfchens. Nachher, seitdem ein Weg oder auch zwei Wege gefunden waren, konnten Tausende diesen Weg gehen und den Berg besteigen. Aber wieso hat Jesus damit für jeden Einzelnen den Tod besiegt? Es fällt auf, dass hier und nur hier in Hebr 2,14 vom Teufel die Rede ist. Warum? Das Besondere ist nicht, dass der Teufel die »Macht des Todes« hat, das wusste man seit Weish 2,24 (»Durch den Neid des Teufels kam
Berger (08129) / p. 842 / 19.5.2020
842 der Tod in die Welt«). Sondern wichtig ist, und darin liegt die Pointe von Hebr 2,14-17: Die biblische Stelle Sach 3 steht hier im Hintergrund und wird gewissermaßen widerlegt. Die Szene in Sach 3,1-5 (MT): Der Hohepriester Josua steht zwischen dem Engel des Herrn auf der einen Seite und Satan auf der anderen. Es geht um eine Gerichtssituation. Der Engel des Herrn verteidigt Josua. Als Gerichtsherr ist, ohne dass es ausgeführt wird, Gott gedacht. In Sach 3 streiten demnach Michael (als Anwalt der Menschen) und der Teufel (als Ankläger der Menschen) vor Gott. Der Teufel ist wie der Staatsanwalt, der die Todesstrafe über die Menschen verhängen will, und zwar mit Recht. Michael dagegen tritt fürbittend für die Menschen (hier: für Josua) ein. Spätestens Jud V. 9 bezeugt, dass man den Engel des Herrn als Michael interpretierte, und hier setzt jene Tradition an, die Michael gegen Satan stellt; zu ihr gehört auch Offb 12. In einer Reihe jüdischer Texte wird dieses weiter entfaltet. Typisch ist hier der Gegensatz Michael/Satan, und Michael sehen wir hier nicht nur als Gegner Satans, sondern zugleich auch als Fürsprecher für Israel bei Gott dargestellt. In Hebr 2 erscheint nun der Engel des Herrn bzw. Michael als Gegner Satans und Fürsprecher der Menschen durch Jesus ersetzt. Zugleich wird Jesus der wahre himmlische Hohepriester, gegenüber dem Josua nach Sach 3 nur ein irdisches Abbild gewesen ist. So konnte man Sach 3,5 deuten, wonach der Engel des Herrn bei der Investitur des Hohenpriesters dabei stand. Hebr 2 sagt demnach: Ein Engel wie Michael kann Fürbitte gar nicht mit Erfolg leisten. Fürbitte bei Gott kann nur geschwisterliche Fürbitte sein. Denn wieso sollte sich ein Engel für die Menschen einsetzen, der doch den Kampf, der in den Menschen tobt, gar nicht kennt? Der Text ist einer der ganz wenigen Belege für den »Teufel« in der Bibel, und ein Gegenüber von Satan und dem jüdischen Hohenpriester findet sich in der gesamten Bibel nur in Sach 3 und in Hebr 2,14-17. Dass es sich in Hebr 2,14-17 um eine stillschweigende Auseinandersetzung mit Sach 3 und seiner Rezeption handelt, wird durch Folgendes nahegelegt: Auch in Sach 3 geht es um einen Streit zwischen Ankläger und Fürsprecher.
Der Brief an die Hebräer
Genau diese Konstellation kennt Hebr auch und nur hier. Andererseits hat Hebr seit 1,4 alle Mühe darauf verwendet zu zeigen, dass nicht Engel, sondern der Sohn Gott nahe sind. Nach 2,9 hat Jesus für die Menschen den Tod geschmeckt. Er tritt nach 2,17 als Hoherpriester bei Gott für sie ein. Daher ist das ganze Stück ab Hebr 1,4 zu deuten als groß angelegte Vorbereitung des Arguments, dass nicht Engel, insbesondere Michael, wie wir durch jüdische Quellen erfahren, für die Menschen bei Gott eintreten, sondern der Sohn und Hohepriester. Die Besiegung Satans durch Michael, wie sie in Sach 3 vorbereitet und in Offb 12 ausgeführt wird, war in der Auslegung von Sach 3 vor dem Hebr noch nicht das Ereignis, das zur Besiegung des Todes führte. Schließlich weist auf Sach 3,2 die Tatsache, dass Hebr 2,16 ganz unmotiviert vom »Samen Abrahams« spricht. In Sach 3,2 heißt es: »Der Herr, der Jerusalem erwählt …« – also ein kräftiger Bezug auf Israel. Fazit: Hebr 2 liefert eine implizite Auseinandersetzung mit Sach 3 und weiteren jüdischen Parallelen. Der wahre himmlische Hohepriester ist Jesus; der Hohepriester Josua in Sach 3 ist höchstens sein irdisches Abbild. Um noch einmal auf das Bild von der Erstbesteigung zurückzukommen: Der Sohn hat den Weg zu Gott für die Menschen eröffnet. Nur ein Mensch konnte Menschen diesen Weg führen. Und wenn er sich für seine Geschwister einsetzt bei Gott, dann wird Gott bewegt sein durch diese geschwisterliche Liebe. Dass in diesem Geschehen der Teufel besiegt wird, erinnert, wie zu zeigen war, sehr deutlich an die Szene von Sach 3: Der Ankläger wird durch den Fürsprecher widerlegt. Weil Jesus den Weg zu Gott führt, ist es ein Weg aus dem Tod ins Leben. Es bleibt die Frage, wodurch genau nun eigentlich der Teufel als der Vermittler des Todes besiegt wird. Antwort: indem der Hohepriester vor Gott tritt und für die Sünden des Volkes Abbitte leistet (griech.: hilaskomai, »gnädig stimmen«). Geht es hier um Sühne im strengen Sinne des Wortes, denn zum Beispiel vom Blut ist hier gar nicht die Rede? Jesus, der Hohepriester, tritt bei Gott für die Menschen ein. Er entkräftet die Anklagen des Teufels, der die Menschen gerne zum
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Kapitel 2
Tod verurteilt sähe. Das letztlich entscheidende Argument nach Hebr 2 ist dabei: Jesus setzt sich für seine Geschwister ein. Er erklärt sich glaubwürdig solidarisch mit ihnen. Gott schont die Kinder Abrahams, weil sich der Hohepriester vor sie stellt. Gegenüber dieser verschworenen Gemeinschaft ist der Teufel machtlos. Denn Gott kann das ewige Leben des Hohenpriesters auch den Geschwistern des Sohnes zuschreiben. In 2,14 heißt es, Jesus vernichte durch seinen Tod den Teufel. Wie verhält sich das zur Szene aus Sach 3? M. Luther gibt dazu die Antwort: Der Sohn steht als unser Fürsprecher vor dem Vater und weist diesen hin auf seinen Tod, lenkt den Blick des Vaters auf seinen Tod, um den Vater für seine Geschwister gnädig zu stimmen. Akzeptieren wir einmal diese Sicht. Warum stimmt dann der Tod des Sohnes den Vater gnädig? Warum bewirkt der Tod, dass Gott den Geschwistern Jesu alle Sünde verzeiht? Klar ist: Weil Jesus wirklich und ganz Mensch ist, kann Gott den Tod Jesu als stellvertretende Tat im strengen Sinne des Wortes betrachten: Der Tod des Sohnes betrifft menschliches Leben. Genau dieses haben die Menschen durch die Sünde verwirkt, und zwar jeder einzeln und alle miteinander. Weil Jesus einen menschlichen Tod gestorben ist, muss Gott nicht Unvergleichbares nebeneinander stellen, sondern es geht wirklich um Gleichartiges, Vergleichbares. Wenn wir noch einmal auf die Szene von Sach 3 und Luthers Bild kommen: Der Tod Jesu wirkt nicht mechanisch oder automatisch, sondern nur, weil Jesus ihn als Argument in seiner Fürbitte vor Gott gebraucht. Genau aus dem Grunde ist Jesus nicht nur Märtyrer, sondern Hoherpriester. Der Hohepriester setzt das Opfer, das er hat, zielbewusst und plangemäß im Rahmen einer kultischen Ordnung ein. Nach 2,9 hat Jesus durch Gottes Gnade stellvertretend für jeden den Tod erlitten. Wir fragen: Was ist Gnade an diesem grausamen Geschehen? Der Hebr wertet Jesu Tod im Sinne kultischer Kategorien. In jedem Kult kommt der Mensch mit Gott in Berührung, ins Gespräch, »ins Geschäft«, welches ein Tauschgeschäft zu sein pflegt. Was auch immer der Mensch dabei Gott anbietet, ob er lobt, dankt oder um Vergebung bittet, immer ist für dieses »Geschäft« eine enorme Unverhältnismäßigkeit typisch.
843 Denn weder kann der Größe Gottes jemand oder etwas »gerecht werden«, noch kann durch das Leben eines gerechten Menschen alle Schuld gesühnt werden. Aus reiner Gnade hat Gott seinen Sohn gesandt. So kommt dieser Handel zustande als eine ungeheure Chance für die Menschen. Zu 2,10: Gott vollendet den Sohn durch Leiden. Wir fragen: Wozu musste Gottes Sohn vollendet werden? Was an ihm war zuvor unvollendet? Und warum geschieht das ausgerechnet durch Leiden? Antwort: Hebr hat eine ganz besondere Anschauung vom (menschlichen) Leiden, über die bisher kaum nachgedacht wurde. Bekannt ist Hebr 5,8 (»Durch sein Leiden lernte Jesus den Gehorsam«). Verwandt ist 1 Petr 4,1 (»Wer freiwillig Leiden erträgt, hat aufgehört zu sündigen«). Auch nach Hebr 12,4-11 hat Leiden eine positive pädagogische Funktion. Für die Systematik des Leidens ergibt sich aus diesen Texten: Unverdientes Leiden lässt den Märtyrer entstehen. Es führt in eine Nähe zu Gott, die der Betreffende zuvor so nicht hatte. Denn wer zu Gott gehört, muss notwendig leiden, nicht weil Gott das will, sondern weil so, wie die Welt ist, Leiden ein Erkennungsmerkmal des Gerechten ist. Leiden ist der Weg, auf dem der Gerechte als von Gott Erwählter immer klarer erkennbar wird, auch für sich selbst. Denn geduldig ertragenes, unverschuldetes Leiden bedeutet Distanzierung gegenüber der Welt (sie ist des Gerechten nicht wert, vgl. 11,26) und Annäherung an Gott. Leiden ist ein Prozess, der ganzheitlich erlitten wird, körperlich immer intensiver und in der Schlussfolgerung immer klarer. Sünde und Wohlergehen stehen auf der einen Seite, der Leidende dagegen erkennt immer klarer, dass nur Gott ihm helfen kann, er erkennt, wo sein Halt liegt. Das gilt auch für Jesus, und insofern hat Hebr 12,2 Recht mit der Beschreibung des Glaubens Jesu: Er führt den langen Zug der Glaubenden durch die Geschichte an – bis in den Himmel hinein. Als Auserwählter hätte sich Jesus sicher für Freude und Freiheit von Leid entscheiden können, doch stattdessen ertrug er geduldig das Kreuz. Gott vollendet Jesus, indem er ihn diesen Weg führt, und Jesus erkennt immer stärker, dass Gott ihm Halt gibt. Insofern geht es in Hebr 2,10 bereits um Jesus als den Glaubenden. Er wird vollendet, nicht weil ihm zuvor etwas fehlte, sondern weil er sich not-
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844 gedrungen immer stärker auf den verlassen musste, der allein hilft. In Hebr 5,7 heißt es daraufhin: Weil er demütig und ehrfürchtig war, hat ihn Gott erhört. – Für den dogmatisch fixierten Leser ist es ungewöhnlich, von einem Prozess zu hören, den Jesus durchgemacht haben könnte, für den antiken Leser des Hebr war es sicher eine Einladung zu überzeugter Nachfolge. Zu Hebr 2,17: Dass der Hohepriester »barmherzig« sei (2,17b), ist laut M. Karrer (I, 184) ein religionsgeschichtliches Novum des NT. Denn von
Der Brief an die Hebräer
einem Priester erwartete man kultische Korrektheit ohne Gemütsbewegung. Über den zuverlässigen Hohenpriester in Hebr 2,17 nach LXX und lukanischer Rezension 1 Kön (1 Sam) 2,35 vgl. M. Karrer I, 192-194: Gottes Ansage eines neuen, zuverlässigen Priesters gilt offenbar einem eschatologischen Priester (»Ich werde mir einen zuverlässigen Priester aufrichten, der alles, was in meinem Herzen und in meinem Leben beschlossen liegt, tun wird«). Dass der Priester hier der Gesalbte sein soll (so Karrer I, 194), kann ich so nicht sehen.
Hebr 3-4: Typologie erweist den Rang des Neuen Hebr 3,1-6: Mose und Jesus Die Verbindung zu Kap. 2 besteht durch das Bild der Familie und das des Hauses als des Lebensraumes der Familie. So werden in 3,1 die Hörer »heilige Brüder« genannt. Zu jedem Evangelium gehört ein Vergleich zwischen Jesus und Mose. Bei den Synoptikern wird das durch die Verklärung erreicht: Jesus ist der Sohn, Mose und Elia sind das nicht; implizit sind sie damit Sklaven. Die Gegenüberstellung von Sohn und Sklave ist auch die von Hebr 3,1-6. Dass es sich dabei um eine altertümliche Vergleichung handelt, sagt auch das Gleichnis in Mk 12,1-10 (der Herr des Weinbergs sendet viele Sklaven, dann den Sohn; vgl. zu dieser Gegenüberstellung auch Hebr 1,1 mit »Propheten/ Sohn«). Dasselbe findet sich in Gal 4,1-7: Den Sklaven und Unmündigen (unter dem Gesetz) steht der Sohn (und für die Christen: die Kindschaft) gegenüber. In Hebr 3; Gal 4; Mk 12 sowie bei der Verklärung stehen sich daher stets Sohn und Sklaven gegenüber. Auch das JohEv kennt den Vergleich Jesus/Mose, und zwar in Joh 1,17f (Gesetz gegen Gnade und Wahrheit; Jesus als der einziggeborene Sohn, der, wie aus V. 18 indirekt hervorgeht, mehr sah als Mose). In der Tat ist nach der frühjüdischen Prophetentradition für Jesaja und Jeremia die Behauptung, mehr als Mose gesehen zu haben, Grund für das jeweilige Martyrium (s. auch Stephanus). Fazit: Hebr 3 repräsentiert eine sehr ehrwürdige judenchristliche Tradition der Gegenüberstel-
lung Mose/Jesus, in der Jesus als Sohn/Kind, Mose als Sklave (neben anderen Sklaven, also anderen Propheten) genannt wird. Dennoch heißt Jesus in Hebr 3,1 »Apostel«, so wie er im JohEv stets derjenige ist, den der Vater gesandt hat (zu Jesus als apostolos vgl. die freilich nur an Verben ausgerichteten Sendungsformeln [K. Berger, Theologiegeschichte, 21995, § 135). Mose wird in diesen Versen ehrenvoll und nicht abträglich behandelt: Er ist treuer Sklave in dem Haus, in welchem ihm alles anvertraut war. Beide, Mose wie Jesus, werden »treu« genannt. An beiden Stellen (Apostel und treuer Sklave) nimmt der Verfasser des Hebr dem traditionellen christlichen Gegensatz seine Schärfe. Um Hebr 3,1-6 angemessen einzuordnen, ist noch einmal zu vergleichen, und zwar mit Gal 4,1-7 und 2 Kor 3. In allen drei Texten wird Mose mit Jesus verglichen. In 2 Kor 3 wird die vergängliche Herrlichkeit (Lichtglanz) des Mose der bleibenden Herrlichkeit Jesu gegenübergestellt. Auch in Hebr 3 wird Ruhm/Herrlichkeit der beiden verglichen: Mose hatte Herrlichkeit, doch Jesus hat viel größere Herrlichkeit (3,3). In 2 Kor 3 werden sodann die Dienstleistungen beider verglichen: Die Dienstleistung des Mose zielte auf Verurteilung, die Jesu Christi auf Gerechtigkeit. In Gal 4 stehen sich die Sklaven und der Sohn gegenüber. Sklaven sind zugleich die Unmündigen, der Sohn ist zugleich der Erbe. Fazit: Das Material, mit dem der Vergleich durchgeführt wird, ist jeweils ähnlich: Herrlichkeit, Dienst(leistung), der Gegensatz Kinder/
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Kapitel 3
Sklaven. Der Verfasser des Hebr ermäßigt den Gegensatz, weil er mit seinem Brief eine theologische Gemeinschaft zwischen Juden- und Heidenchristen schaffen will. Zu Hebr 3,1: Jesus als Apostel. Die Übereinstimmung mit der johanneischen Christologie ist maximal. Auch Mose heißt Gesandter, und zwar nicht erst in späteren samaritanischen Texten, sondern schon in AssMos (»magnus nuntius«). In keinem Text spielt Beschneidung eine Rolle; das jüdische Gesetz fehlt auch in Hebr 3; 2 Kor 3; Mk 12,1-10. Man beachte: Der Vergleich Jesus/Mose (und andere Propheten) ergibt sich nicht nur daraus, dass beide je bestimmende Figuren ihrer Epoche und Autoritäten waren. Vielmehr ist die jeweilige Qualität des Mittlers auch maßgeblich für die Qualität des Heils all derer, die auf sie hörten. So geht es nicht nur um einen Autoritätenkonflikt, sondern auch um die entscheidende Veränderung in der Größe, im Umfang, in der Tiefe des Heils. Deshalb heißt es in 3,6: »Wir sind sein Haus, seine Familie. (Wir sind treu,) wenn wir unsere Freiheit und unsere selbstbewusste Zuversicht bis zum Ende ganz fest bewahren.« Hier fällt das Stichwort parrhesia, das wir mit Freiheit übersetzt haben, wobei ein Teil der Bedeutung des griechischen Wortes auch in die Übersetzung des folgenden Wortes, »Hoffnung«, durch »selbstbewusste Zuversicht« eingegangen ist. parrhesia hat sehr viele Bedeutungen, deren bekannteste die »Redefreiheit« ist. Für die Bedeutung in Hebr ist 4,16 ist wichtig: Vor dem Thron Gottes ist den Christen »Redefreiheit« geschenkt; das meint auch Freimut, alles sagen zu dürfen. Es ist sodann das selbstbewusste Vertrauen von Kindern im Gegensatz zu Sklaven, die dem Gegenüber des himmlischen Vaters ohne Angst begegnen. Aber es ist mehr als Vertrauen, d. h. eine besondere Art von Freiheit, die dem Gegenüber ins Auge sehen kann. In der Praxis der Gemeinde äußert sich das in einer bestimmten Art des Betens.
Hebr 3,7 – 4,13: Noch unerfüllte Verheißung Von 3,7 – 4,11 verwendet der Verfasser elfmal »ruhen« oder »Ruhe« (griech.: katapausis). In einer kunstvollen Kette von Schriftbeweisen ver-
845 bindet er ein negatives Beispiel mit dem Hinweis, dass die Verheißung an Israel noch gar nicht eingelöst wurde und mithin noch aussteht. Der Schriftbeweis ruht freilich auf einer philologischen Voraussetzung, die in der griechischen Bibel des AT (LXX) besteht: Das Israel verheißene heilige Land, das gelobte Land, der von Gott versprochene Landbesitz, wird mit derselben griechischen Vokabel katapausis (Ruheort) benannt wie Gottes Ruhezustand nach dem Vollenden des Werkes der Schöpfung am 7. Tag. Der Verfasser kann so zeigen, dass das gelobte Land nicht irgendwo auf Erden liegt, sondern bei Gott. katapausis ist also sowohl das heilige Land wie die Ruhe Gottes bei der Schöpfung. Beides wird gleichgesetzt. Und da die Juden unter Mose nicht ins gelobte Land gekommen sind, wie die Schrift bezeugt, steht seine Inbesitznahme noch aus. Dazu aber spornt der Verfasser die Adressaten des Briefes an. – Der Gedankengang im Einzelnen: Die Väter Israels sind auch sozusagen die Väter der Adressaten des Briefes. Nach Ps 95 sind sie 40 Jahre lang auf der Suche nach dem gelobten Land durch die Wüste gezogen. Daraufhin hat Gott ihnen in seinem Zorn geschworen: »Sie sollen das verheißene Land, meinen Ruheort, nicht erreichen« (3,11b) Und Gottes Eidschwur als stabiles, bleibendes Wort gilt nach Hebr sehr viel. An diesen Schwur Gottes erinnert Ps 95. In diesem Psalm spricht der Heilige Geist zu einer späteren und damit auch zur jetzigen Generation. Wohlgemerkt: Es handelt sich nicht um die Wüstengeneration, sondern Ps 95 redet eine spätere Generation an, zu der nach Hebr auch die jetzige gehört. Das »Heute« von Ps 95,7 gilt daher noch unmittelbar in der Gegenwart. Die Väter in der Wüste waren nur negatives, abschreckendes Beispiel. Wenn aber die Wüstengeneration nicht in die Ruhe, in das gelobte Land eingezogen ist, dann ist diese Verheißung noch unerfüllt und besteht weiter. Das wird nicht zuletzt durch Ps 95 erwiesen, wo Gott im Rückblick auf das Versagen der Väter daran appelliert, »heute« nicht wieder durch Hartherzigkeit den Zugang zum gelobten Land zu verscherzen.
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846 Nun könnte man zweifeln und sagen: Vielleicht gibt es das gelobte Land gar nicht mehr? Vielleicht ist die Chance vertan und das Verheißungsgut verschwunden. Dagegen spricht deutlich Gen 2,2 (LXX). Nach Hebr 4,4 »ruhte Gott am siebten Tage von allen seinen Werken«. Er ist daher seitdem in seiner Ruhe. Also gilt Hebr 4,9f: Es gibt noch den Ruheort für das Volk Gottes. »Denn wer zu Gottes Ruhe gekommen ist, der ruht auch von seinen Werken gleichwie Gott von den seinen« (4,10). Es gilt daher auch hier die Verähnlichung mit Gott. Die Abfolge Werke/Ruhe gilt urbildlich von Gott; sie wird in jeder Woche nachgeahmt in der Ausrichtung auf den Sabbat, und sie gilt als Hoffnung für jeden Christen: Auf die Mühsal seiner Werke möge die Ruhe bei Gott folgen. Im Offertorium des Requiems wird diese Ruhe gedeutet als das »Licht«, das Gott einst Abraham und seinem Samen verheißen hat. Wenn man daher Verstorbenen wünscht, sie »mögen ruhen in Frieden«, dann ist kein Gegensatz zur Unruhe gemeint (so erst Augustinus, Conf 1,1), sondern dass sie Anteil haben mögen an der Verheißung des gelobten Landes, das jedoch nicht in Palästina, sondern seit dem siebten Schöpfungstag bei Gott ist, wie ein »Hof«, der Gott umgibt, so wie wir das vom Bild des Mondes kennen, der einen Hof hat. Fazit: Grundlegend ist der logische Schluss: Gott meint seine Verheißungen ernst. Wenn eine Verheißung nachweislich noch nicht erfüllt ist, steht die Erfüllung noch aus. Ein wichtiges Stichwort ist: »es bleibt noch übrig (offen, unerfüllt)« (griech.: apoleipetai, V. 1.6.9). Dass die Verheßung noch aussteht, ist ein Grund zu freudiger Hoffnung und zugleich Ansporn, sich diese Chance »heute« nicht entgehen zu lassen. In der Bedeutung des »heute« knüpft Hebr an das Motiv der Dringlichkeit und Unaufschiebbarkeit der Umkehr in der Verkündigung Jesu an. Derselbe Schluss findet sich auch in Hebr 11,13-16. Die formale Gemeinsamkeit: Es gibt eine Verheißung nach der Schrift. Direkt oder indirekt ist zu erschließen, dass diese Verheißung noch nicht erfüllt ist. Also wird sie in Zukunft und dann mehr oder weniger transformiert in Erfüllung gehen, bzw. die Menschen müssen sich aufmachen, sie jetzt zu suchen. Nach Hebr 11 ist
Der Brief an die Hebräer
der Ansatz für diesen Schluss das Bekenntnis der Väter, Gäste und Fremdlinge auf Erden zu sein. Das Argument ist also: Weil die bisherige Erfüllung der Verheißung ungenügend ist, wird daraus erschlossen, dass die eschatologische Erfüllung noch offen steht. Der Maßstab dafür soll die Schrift sein. Die Schrift selbst sagt, dass die Verheißung der Landnahme im Bisherigen nicht erfüllt ist. Damit gewinnt die Schrift im Vergleich zur irdischen, vorfindlichen Realität den Charakter eines apokalyptischen Buches. Die Eigenart des Hebr, die lückenlose Herleitung der Zukunftserwartung aus der Schrift, ist gegenüber sonstigen Zeugnissen damaliger jüdischer Apokalyptik die große Ausnahme. Weder 4 Esra noch Hen (äth) haben es nötig, sich mit Hilfe der Schrift für ihre Anschauungen zu rechtfertigen. Im frühen Christentum ist das anders. Das zeigt auch der Blick auf Barn und die Offb. Der Hebr gewinnt Eschatologie hier aus dem Gegenüber alttestamentlicher Schriftstellen (Ps 95,7-11 und Gen 2,2). Die pure Existenz der zweiten Schriftstelle weist darauf, dass die in der ersten Schriftstelle beschriebene Realität nicht perfekt war. Beide Schriftstellen stehen zueinander im Verhältnis des Vollkommenen und des Unvollkommenen. Die Methode: Zwei Schriftstellen bieten dasselbe Wort (»Ruhe«, »ruhen«), die Qualität der »Ausführung« differiert, also weist die Konkurrenz der Stellen auf ein eschatologisches Gut. Das Prinzip oder Postulat der absoluten Schriftgemäßheit der Eschatologie gilt auch für das Grundschema der Weltwoche. Es orientiert sich an Ps 90,4 (Tausend Jahre wie ein Tag bei Gott). Was ist das für eine Art von Theologie? Gottes Verheißung zielt auf Großes, nicht auf Vergängliches und Irdisches, und etwas Vorläufiges kann Gott nicht wirklich gemeint haben. Augustinus wird das dann psychologisch wenden: Unser unruhiges Herz wird nur Ruhe finden in Gott. Dennoch hat jede Verheißung ihren tiefen Grund im Alten Testament, sowohl in Hebr 3f als auch in Hebr 11 in der Landverheißung, in Hebr 4 auch schon in der Schöpfungsgeschichte. Religionsgeschichtlich gesehen ist der Sabbat im 1. Jh. n. Chr. ein brisantes Thema. Einerseits ist der Sabbat ein jüdischer »Exportschlager«, da die Sieben-Tage-Woche inklusive Sabbatruhe ger-
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Kapitel 3
ne und intensiv kopiert wird. Man denke etwa an die äthiopischen Falashas, bei denen der Sabbat das erkennbar wichtigste Element jüdischer Identität ist. Anders, aber nicht weniger brisant, ist es in der römischen Gesellschaft. Daher ist das Stichwort »Sabbatruhe«, das in Hebr 4,9 fällt, den römischen Heidenchristen mit Sicherheit ein Begriff. Für den Verfasser des Hebr war es daher geradezu zwingend, das Stichwort Sabbat ausführlich zu bedenken. Die besondere Lösung, die Hebr vorschlägt, ist eine Deutung des Sabbats auf das gleichermaßen himmlische wie zeitlich noch ausstehende Verheißungsgut am Ziel und Ende aller Dinge. Der Sabbat wird »eschatologisches« Gut. Das aber ist keineswegs neu, sondern entspricht recht genau der zeitgenössischen jüdischen Geschichtstheologie, ganz gleich, ob man diese nun apokalyptisch nennen will oder nicht. Und natürlich hat das Judentum diese Weltalterlehre nicht »erfunden«, sondern aus älteren (babylonischen?) Quellen entlehnt. Kern dieser Weltalterlehre ist die Anwendung des Schemas der Woche (sieben Tage) auf die ganze Weltgeschichte. Diese währt dann siebentausend Jahre. Davon sind sechstausend Jahre die profane Weltgeschichte, das letzte und siebte Jahrtausend ist die Zeit des Sabbats der Welt. Es ist die Zeit, in der alle irdischen Verheißungen Gottes von ihm wahrgemacht werden. Die Idee des tausendjährigen Reiches (Offb 20) hat hier ihren Ursprung, genauso wie alle millenaristischen Spekulationen auch dem Inhalt nach. Der achte Tag wäre dann etwas ganz anderes: der Beginn des neuen Äons. Der bestehende Äon endet mit dem siebten Tag. – Um die Anwendung des siebten Tages auf das siebte Jahrtausend plausibel zu machen, argumentiert Barn 15 damit, dass bei Gott tausend Jahre wie ein Tag sind (und umgekehrt): Jeder jetzt auf Erden gefeierte Sabbat bildet diesen kommenden, tausendjährigen siebten Tag ab. Essen und Trinken haben ebenso ein Ende wie Kaufen und Verkaufen, es ist das Ausruhen von allen Mühen. Vor allem wird Krieg aufhören, und es wird Friede sein im immerwährenden Sabbat. Die Gerechten werden nur dasitzen und sich laben am Glanz der Schechinah. Alles Böse ist weggenommen, es regiert die Gerechtigkeit. Diesen Tag wird nur der heiligen können, den zuvor Gott geheiligt hat.
847 Die Quellen für diese Anschauungen sind jüdisch wie christlich (1 QH 7,15; Jub 4,30 griech. ed. Bekker, Cedrenus, 9; Aseneth wird in die »Ruhe« eingehen (JosAs 8,9; 15,7; vgl. 22,13); Barnabasbrief 15; Lactantius, Div Inst 7,24,6; Abioth R. Nathan 1 [1c]; Pirqe R. Eliezer 18 [9d]; Sanh 97a). – Der Midrasch Tehillim zu Ps 95,11 erörtert dieselbe Stelle wie Hebr 3f: »Dass ich geschworen in meinem Zorn: Niemals sollen sie zu meiner Ruhe gelangen. Damit ist das Land Israel gemeint, wie es heißt: Denn jetzt seid ihr noch nicht zu der Ruhe und dem Besitz gelangt (Dtn 12,9). Und es heißt: Dies ist meine Ruhe für ewig (Ps 132,14).« Gerade diese jüdisch-christliche Übereinstimmung ist sozusagen ganz im Sinne des Verfassers des Hebr. Schließlich wird wie in Hebr der Bogen geschlagen vom Ende der Welt bis zum siebten Tage in der Schöpfungsgeschichte. Nach griech Jub 4,30 ist der siebte Tag der Schöpfung »Typos« für das siebte Jahrtausend. In Pirqe R. Eliezer heißt es: »Sieben Äonen hat Gott geschaffen, und von ihnen allen hat er sich nur den siebten Äon erkoren. Sechs sind da zum Gehen und Kommen (der Menschen), und einer (der siebte) ist ganz Sabbat und Ruhe im ewigen Leben.« Immer stärker wird daher das Gebot, am Sabbat nicht zu arbeiten, zu einem Gebot praktischer Bewegungslosigkeit, denn alles Gehen und Kommen, jede Bewegung würde die Ruhe nur stören. Barn 15 meint: »Den Sabbat nennt er am Anfang der Schöpfung …« und wagt es sogar, den jüdischen Sabbat gegen den ewigen Sabbat auszuspielen. Fazit: In seiner Auslegung des Sabbats auf Schöpfung und Endzeit hin steht Hebr ganz im Rahmen jüdischer und anderer frühchristlicher Deutungen. Seine Besonderheit ist: Das negative Vorbild der Väter wird zum verstärkten Appell für die Christen in der Gegenwart. Nach Hebr 12,2 hat dies christologische Gründe. Denn nachdem Jesus als Erster das Ziel erreicht hat, lohnt es sich umso mehr, sich auf den Weg zum Gut der Verheißung aufzumachen. Zur Theologie von Hebr 3f: Bewegung und Ruhe wird besonders in den folgenden zwei Jahrhunderten zum Bild für das Verhältnis zwischen Geschaffenem und Schöpfer. Die monastische Spiritualität betont: Der Mensch ist dazu geschaf-
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848 fen, an Gottes Ruhe Anteil zu gewinnen. Daher bleibt – und so wird das Schema der sieben Tage gedeutet – der Sabbat, die Ruhe der Kontemplation das Ziel der gesamten Schöpfung; im Mittelalter heißt das »Schauen«. Insofern ist der Mensch eben doch für den Sabbat da (anders: Mk 2,27). – Dabei ist der Ausdruck »Ruhe« kaum glücklich gewählt, weil er eher die Abwesenheit von Lärm und Unruhe bezeichnet. Ausruhen und Ruhestand werden eher therapeutisch besetzt, als dass sie das höchste Ziel beschreiben könnten. Mein Lebensziel ist mitnichten der Ruhestand. Vielleicht sind »Stille« oder »zu sich kommen« eher rein positiv und kreativ denkbar, während Ruhe zu sehr nach Beruhigung oder dem aktionslosen Ruhestand klingt. Zu Hebr 3,16-19: Zum Schicksal der Wüstengeneration vgl. außer Hebr 3,16-19 besonders 1 Kor 10,1-5 und Jud 5. Laut M. Karrer (I, 214) lehnt Hebr jede Differenzierung (z. B. Ausnahme Kaleb) ab und sieht die Wüstengeneration sehr radikal als pauschal negativ an. Zu Hebr 4,2: In 4,2 ist der Ausdruck »gehörtes Wort« (Wort des Hörens) missionstechnischer Fachausdruck, vgl. 1 Thess 2,13 (gehörtes Wort, glauben) und Röm 10,16f (Glaube vom Hören, Hören aus dem Wort). Zu Hebr 4,8: Das Schlussverfahren von Hebr 4,8 findet sich an insgesamt vier Stellen des Hebr. Es handelt sich, logisch gesehen, jeweils um eine verkürzte deductio ad absurdum. Alle Sätze beginnen mit »Wenn …« (griech.: ei). Der Wenn-Satz geht inhaltlich über das, was idealerweise sein könnte, aber nicht ist. Der Hauptsatz nennt die Fakten, die das Ideal verhindern. 4,8: Wenn Josua das Volk in die Ruhe hineingeführt hätte, würde die Schrift gar nicht über einen späteren Tag reden (was sie aber tut). – 7,11: Wenn das levitische Priestertum die Vollkommenheit gebracht hätte, wäre ein ganz anderer Priester nach Melchidedeks Ordnung gar nicht nötig (aber die Schrift erwähnt ihn). – 8,7: Wenn der Erste Bund vollkommen gewesen wäre, würde die Schrift gar nicht von einem anderen, dem Neuen Bund reden (was aber Jer 31 geschieht). – 11,15: Wenn für die Israeliten Ägypten eine Heimat gewesen wäre, hätten sie ja
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dorthin zurückkehren können (was sie aber nicht getan haben, also sehnten sie sich nach einer besseren, der himmlischen Heimat). – Auffällig: Alle diese Schlussverfahren sind eng mit der Schriftauslegung verbunden. Und das betrifft nur in der Hälfte der Fälle Priestertum und Bund.
Hebr 4,12f: Das wirkmächtige Wort Gottes Der Gattung nach ist es eine Merkmalsreihung, gehört also zur weiteren Gruppe der Beschreibungen (ekphrasis), ähnlich wie in 1 Kor 13 die Eigenschaften der Liebe aufgezählt werden oder in Gal 3,19-25 die Eigenschaften des Gesetzes (vgl. K. Berger, Formen und Gattungen, 2005, 281). Gottes Wort ist hier nicht auf Jesus Christus bezogen, sondern bleibt eine Kraft, die von Gott ausgeht und in der Welt wirkt. Am nächsten kommt die »Weisheit« nach Weish 7,22 – 8,1 und das Wirken des Wortes Gottes nach derselben Schrift Kap. 10 ff (»Der Weisheit Walten in der Geschichte«). Dort ist die ganze Heilsgeschichte Israels als das Resultat seines Wirkens dargestellt. Nach 18,15f wird es als Krieger mit einem scharfen Schwert vorgestellt. In Hebr 4 hat diese Schilderung folgende Funktion: Der nächste Bezugspunkt ist 4,7: »Heute hört ihr Gottes Wort! Seid doch nicht so unzugänglich!« (Ps 95,7f). Der Verfasser des Hebr bezieht diesen Aufruf des Psalms nicht auf die im Psalm geschilderte Situation unter Josua vor dem Einmarsch in des Gelobte Land. Vielmehr liest er mit der griechischen Bibel (Septuaginta) Josua als »Jesus« und erklärt, in die wahre, himmlische Sabbatruhe sei das Volk damals noch nicht hineingegangen. Das stünde noch aus, und genau darauf beziehe sich »jetzt« unausweichlich dieser Aufruf. Jetzt oder nie sei das Gottesvolk in der Lage, zwischen Heil oder Unheil zu wählen. Aus einem Text der Vergangenheit wird der Satz »Heute hört ihr Gottes Wort!« herausgegriffen und schnurstracks in die Gegenwart gestellt. Um seine Mahnung dringlich zu machen, fügt der Verfasser den oben zitierten Abschnitt über das Wort Gottes hinzu. Man kann das mit dem vergleichen, was das JohEv über das »Wort« Gottes sagt, das in Jesus erschienen ist. Es hat die ganze Schöpfung her-
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Kapitel 4
vorgebracht, ist also unvorstellbar kreativ (Joh 1); es ist menschenfreundlich, denn es wohnt in Jesus unter den Menschen (Joh 1,14), vor ihm bleibt nichts verborgen (Joh 4,18f), es macht rein (Joh 15,3), es schafft neu (den Blindgeborenen, Lazarus), es vergibt Sünden (Joh 20), es tränkt und speist (Joh 4 und 6), es schafft auch am Sabbat Leben (Joh 5); der Paraklet (Beistand) sorgt dafür, dass sich die Jünger erinnern und es recht begreifen. Das ganze JohEv könnte man daher auch begreifen als eine Merkmalsreihung wie Hebr 4. Ähnlichkeit besteht in einigen Punkten, doch das meiste ist anders ausgerichtet. Denn auch nach Hebr 4 ist das Wort Gottes Inbegriff des Lebens (vgl. Joh 1,4: in ihm war Leben), es ist kräftig (Schöpfung und Wunder), vor ihm bleibt nichts verborgen (Joh 4,18f), und es hat auch Gerichtsfunktion: Nach Joh 3,19-21 und 5,22-27 ist jetzt die Stunde der Krisis, der Scheidung von Glaubenden und Nicht-Glaubenden. Und wer sich jetzt für den Glauben öffnet, der hat die große Scheidung schon hinter sich. Doch im JohEv sagt Jesus ausdrücklich, dass er nicht zum Richten gekommen ist, sondern um zu retten (Joh 3,17; 8,15). Und dort, wo Hebr 4 lediglich von Eigenschaften des Wortes redet (lebendig, kräftig), sind dieses nach dem JohEv Gaben, die Jesus weitergibt und gerade nicht für sich behält. Diese Worte über den Logos gehören hinein in die weiten Überlegungen, die man sich über das Wort, den Logos, Gottes im frühen Christentum überhaupt gemacht hat. Dass man das getan hat, ist nicht verwunderlich, da man so intensiv mit Mission und Verkündigung beschäftigt ist. Nur fällt auf: An allen anderen Stellen, besonders in den Prologen von Joh 1, Hebr 1 und Kol 1 wird das Wort Gottes direkt auf Jesus bezogen. Das gilt auch, wie wir sahen, für den weiteren Kontext des JohEv. Nur in Hebr 4,12f ist das anders, obwohl der Verfasser dieses Briefes in 1,1-3 Logos-Christologie traditionell christlicher Gestalt bieten kann. Das Fehlen der Christologie in Hebr 4,12f hat die schon angedeuteten Konsequenzen: Gottes Wort ist hier nur richterlich und bedrohlich, sezierend, den Menschen zerlegend und »auseinandernehmend« vorgestellt. Also gerade nicht als schöpferisch neu zusammensetzend, sondern als scheidend, damit »alles klar vor Augen steht«. D. h.: Wir haben es hier in Hebr 4,12f
849 nicht mit einer Aussage über den Retter und Heiland zu tun, sondern mit einer reinen Gerichtsaussage. Derartige Aussagen werden übrigens auch bisweilen an Jesus gebunden, und zwar dann, wenn das apokalyptische Bild gebraucht wird, wonach aus dem Mund des Menschensohnes ein zweischneidiges Schwert kommt, mit dem der Menschensohn richtet. Diese Aussagen kennen wir von Offb 1,16; 2,12.16 und 19,15 sowie aus der Kunstgeschichte; auch in 2 Thess 2,8 ist solches gemeint, wenn gesagt wird, der Menschensohn richte mit dem Hauch seines Mundes. Fazit: Auch die Gerichtsaussagen von Hebr 4,12f sind in den apokalyptischen Visionen mit Jesus in Verbindung gebracht worden. Auch nach dem JohEv hat der irdische Jesus eine Art Gerichtsfunktion. Zu einem Teil gelten die strengen Aussagen von Hebr 4,12f auch für das JohEv. Nur sind sie dort in Berichten entfaltet und nicht in zwei Versen gedrängt. Ich möchte daher annehmen, dass Hebr und das JohEv hier wie auch sonst eine ganze Menge gemeinsam haben (vgl. meine Theologiegeschichte, § 144). Das bedeutet: Die hehre Strenge mancher Jesus-Texte des JohEv sind von demselben Geist gespeist, der auch hinter Hebr 4,12f steht. Im JohEv bedeuten alle »strengen« Aussagen über die schon gegenwärtige, endgültige Scheidung (Krisis) und über den Akt des Offenbarwerdens nichts anderes, als dass die Botschaft dringlich gemacht wird. Wer sagt: Jetzt wird Licht und Finsternis offenbar, der meint: Jetzt müsst ihr zuhören, euch jetzt entscheiden. Und genau diesen dringlichen Appell richtet auch Hebr 4,12f an die Leser dieses Briefes. Wir entdecken hier also in beiden Schriften ein wichtiges Element der Botschaft des Täufers und Jesu. In beiden Fällen hat sich eine besondere Theologie des Wortes Gottes mit diesem homiletischen Dringlichkeitsappell verbunden. Hebr 4,12f besagt demnach: Im Wort Gottes, das ihr hier und jetzt vernehmt, begegnet ihr dem schrecklichen Aspekt der Wirklichkeit Gottes. Hier habt ihr nicht zu kritisieren, sondern werdet massiv kritisiert. Hier habt ihr nicht zu beurteilen, sondern ihr werdet beurteilt. Hier habt ihr nicht eine mehr oder weniger wohlwollende Meinung zu bilden, sondern werdet zerlegt und schonungslos analysiert wie in der Pathologie. Hier gibt es keine Flucht mehr, sondern das Seziermesser hat euch eingeholt. Jetzt gelten
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850 nicht mehr eure Entschuldigungen und Lebenslügen, sondern jetzt ist die Stunde der kritischen Gesamtuntersuchung am Röntgenapparat Gottes. Hier seid nicht ihr Herren oder Herrinnen des Verfahrens, sondern er ist es. Der alles verkleisternde gute Wille hört jetzt auf, jetzt zählt Diagnose. Sie hat keine therapeutische Funktion mehr, sondern sie ist das Letzte. Doch die Diagnose will nicht Lähmung verbreiten, sondern einen Spielraum eröffnen; denn bevorsteht die vernichtende Wirklichkeit Gottes, die im Ernstfall nicht viel übrig lässt, sondern die nach Hebr 12,29 als Wirklichkeit Gottes brennendes, verzehrendes Feuer ist.
Zu Hebr 4,14-16: Der Hohepriester Jesus Mit dem Wort Hoherpriester assoziieren die Leser des Hebr wie wir den jüdischen Tempel, ein riesiges Arsenal, im Zentrum Schlachthof, geheimnisvolle, vielleicht magische Blutriten am Jom Kippur, einen Menschen, der in rituelle Kleidung und ebensolche (auch sexuelle) Vorschriften geradezu eingepackt war wie heute vielleicht der Kaiser von Japan. Zur Kleidung gehörten auch Edelsteine Urim und Thummim, eine Art Orakel, getragen als Brustplatte. Für jüdisches Verständnis ist der Hohepriester durchaus ein Wesen zwischen Himmel und Erde, Gott näher als den Menschen. Alles, was eine rituelle Opferreligion hervorbringt, kulminiert in diesem Amt. Es ist fast nur noch Ritus, Funktion, Kulttechnik, verbunden mit großer Scheu vor allem, was ungünstiges Vorzeichen sein kann. Der Hohepriester ist ein total exponierter Mensch, zugleich gänzlich geheimnisvoll. Nach den kurzen Angaben in 2,17 und 3,1 ist Hebr 4,14 ff: der erste längere Text, in dem im Neuen Testament der Titel »Hoherpriester« auf Jesus angewandt wird. – Der einzige Grund, weshalb dieser alltestamentlich-jüdische Titel Jesus zugesprochen wird, ist die typlogische Vergleichbarkeit zwischen dem Tun des jüdischen Hohenpriesters am Jom Kippur und der Wirksamkeit Jesu im himmlischen Heiligtum nach seinem Tod am Kreuz, nach seiner Erhöhung zu Gott. Außer dem Hebr verwendet diesen Titel für Jesus im Urchristentum nur noch 1 Clem 61, und zwar ebenfalls von Jesu himmlischem Wirken.
Der Brief an die Hebräer
Über den irdischen Jesus berichtet Hebr, dass er mit Klagen, Weinen und Schreien gebetet hat und legt dies als hohepriesterliches Tun Jesu aus. Obwohl es nicht viel im Judentum gab, was Jesus fremder war als dieses Amt, reklamiert der Hebr Jesus als den Hohenpriester der Christen: »Wir haben einen Hohenpriester, der die Himmel durchschritten hat …« Sogar die Himmel, das ist es! Denn der jüdische Hohepriester waltete nur auf Erden, Jesus aber hat seinen Dienst im Himmel getan, also am Ort Gottes selbst. Im Urbild des himmlischen Heiligtums, gegenüber dem der Tempel in Jerusalem nur schwache Kopie ist. Das Votum des Hebr ist: Nicht länger nur die Kopie, sondern endlich das Original! Vielleicht ist, um Verständnis für dieses himmlische Amt Jesu zu gewinnen, sogar 1 Clem 61 geeignet, noch eher wohl der bekannte Gebetsschluss: »durch Jesus Christus unseren Herrn« – oft unbedacht gesprochen. Doch er meint himmlischen Dienst: Jesus ist als Sohn Gottes und wahrer Gott zugleich Hoherpriester und Mittler der Gebete zum Vater. Und dann 1 Clem: »Dich lobpreisen wir, und unser Hoherpriester und der Bischof unserer Herzen, Jesus Christus, überbringen dir dieses Lob. Durch ihn wird dir auch alle Ehre und jeder Lobpreis zuteil, jetzt und für immer. Amen.« Man kann auch sagen: Jesus ist der Weg zum Vater. Durch Jesus, den wahren Gott, werden die Menschen immer tiefer in Gott hineingeführt, wird das Gebet zum Vater gebracht. Jedes »durch Christus« sagt im Bild kultischer Mittlerschaft etwas über Jesus. – Hebr betont hier stark die mitmenschlichen Fähigkeiten dieses himmlischen Hohenpriesters. Er kann mitleiden, mitfühlen mit den menschlichen Schwächen, er ist versucht in allen Dingen wie wir, d. h. er weiß, was Versuchung ist; nur gestrauchelt ist er nicht. Dabei hält der Verfasser an der wahren Menschheit gerade des Erhöhten fest. Der Erhöhte ist ihm näher als der ihm unbekannte irdische Jesus. Die Formulierung erinnert an Lk 22,29, wo Jesus zu den Zwölfen sagt: Ihr habt mit mir ausgehalten in allen meinen Versuchungen. Demnach konnte Jesus selbst sein Leben als eine Folge von Versuchungen deuten. Auch Markus legt das bereits nahe (Wüste; Petrus bezüglich des Leidens; weshalb Petrus »Satan« gescholten wird; Getsemani; »Steig herab vom Kreuz … !«). Hebr 4,16 schließlich zeigt Nähe zu Hebr 10,22 und
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Kapitel 4
besonders auch zu Röm 5,1f: »Hinzutreten«, »Gnade«, »zu Gott«, Jesus als Vermittler sind an allen drei Stellen Requisiten zu einer bildlich gedachten Szene im Himmel. Siehe Hebr 10,22f: Hinzutreten, Hoffnung, und Röm 5,2f: »Zugang«, »zu Gott«, »Gnade«, »Hoffnung«, Jesus Christus als Mittler (»durch J. Chr.«). Paulus wie der Hebr entwerfen wiederholt an allen diesen Stellen das Bild einer Szene vor dem Thron Gottes, und dieser wird wie ein herrscherlicher Thron dieser Zeit dargestellt. Daher erklären sich auch die einzelnen verwendeten Wörter: Für gewöhnliche Sterbliche ist das Hauptproblem, überhaupt Zugang zum Herrscher zu erlangen, eine »Audienz«, und das Ziel einer solchen Begegnung ist stets, die Gnade des Herrschers zugewendet zu bekommen. Daher kann man sagen: Die große Bedeutung und die weite Verbreitung des Wortes Gnade im Neuen Testament sind gar nicht denkbar ohne den Hintergrund der zeitgenössischen Monarchien. »Gnade« ist daher in dieser Zeit von Natur aus kein theologischer, sondern ein politischer Begriff. Dass er im Neuen Testament durch Anwendung auf den himmlischen Thronsaal Gottes und durch sein himmlisches Königtum zum theologischen Begriff wird, ist erkennbar. So redet Hebr 4,16 vom Thron der Gnade. In diesem Vers gibt es noch ein Wort, das eine politische Vergangenheit hat: »parrhesia« meint ursprünglich die Redefreiheit, vornehmlich die in einer demokratischen Versammlung. Später bekommt es die Bedeutung »Freimut«. Wer sich freimütig einem Thron nähert, der darf ohne Angst zum Zentrum der Macht hinzutreten. – Im Ganzen fällt die enge Verbindung von königlich-politischen und kultisch-rituellen Elementen auf: Das Hinzutreten zum Thron der Gnade ist politisch, aber das Hofzeremoniell ist im Einzelnen kultisch geregelt und umgekehrt. Zwischen Monarchie und Kult besteht eine Verbindung, die uns zumindest seit dem 1. Weltkrieg gar nicht mehr geläufig ist. Besonders Hebr 4 sagt: Der himmlische Hohepriester ist ein Mittler zwischen Gott und Mensch, er gehört zu beiden Bereichen. Dass der jüdische Hohepriester gerade diese Rolle spielt, hatte schon Philo v. Alexandrien, jüdischer Philosoph des 1. Jh. v. Chr., bemerkt. Im Blick auf unseren Text kann man geradezu sagen: Die Lehre
von den zwei Naturen Jesu Christi (wahrer Gott und wahrer Mensch) ist geradezu auf diese Mittlerfunktion zugeschnitten. Sie findet in der Auffassung vom himmlischen Hohenpriester ihre Aufgabe und ihren funktionalen Sinn. Die Chance, Gnade zu erlangen, ist hier gebunden an Jesu Ähnlichkeit mit den Menschen. Diese besteht darin, dass er mitleiden kann und »versucht« wurde. Hebr versteht »Versuchung« im Sinne des damaligen Judentums als Probe zur Bewährung des Glaubens (vgl. Hebr 2,18; 4,15). Insbesondere wegen der mit dem Glauben und Bekennen verbundenen Leiden kann man in Versuchung geraten, den Glauben aufzugeben. Was Versuchung für Hebr ist, kann 12,2 gut erläutern: Jesus hätte sich sicher für Freude und Freiheit von Leid entscheiden können, doch stattdessen ertrug er geduldig das Kreuz. Ebenso 10,34: »Wenn ihr in Fesseln lagt oder man euch eure ganze Habe wegnahm, habt ihr das mit Freuden ertragen, weil ihr sicher wart, dass ihr einen besseren und bleibenden Besitz im Himmel habt.« Die Versuchung wird daher durch Standhaftigkeit nach Jesu Vorbild überstanden.
Hebr 4,14-16.: Tradition Intensive Beziehungen bestehen zwischen Hebr 4,14-16 und 10,19-22 sowie mit Röm 5,1-2 und auch Eph 2,17f: Einsatz mit »Wir haben nun …« (+ geistliches Gut): Röm 5,1; Hebr 4,14; 10,19; Eph 2,17f (ohne »nun«). Das »Haben« ist durch Jesus Christus vermittelt (»durch Jesus Christus« Röm 5,1; [durch den Hohenpriester] Hebr 4 und 10; Eph 2,18 (»durch ihn«). Es betrifft den Zugang oder das Hinzutreten (Röm 5,2; Hebr 4,16; 10,22; Eph 2,18). Dieser Zugang betrifft den Vater oder die Gnade (Röm 5,2; Hebr 4,16[2]). Die geschilderte Szene ist die der königlichen Audienz, daher fällt auch das Wort »Thron«, so in Hebr 4,16 (Thron der Gnade). In Hebr 10,19 statt dessen: Zugang zum Heiligtum. Aus der Sphäre der Politik stammt auch das Wort Friede (Röm 5,1; Eph 2,17). Die Christen zeichnet dabei mutige, selbstbewusste, freie Rede aus (Röm 5,2 »wir rühmen uns«;
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852 Hebr 4,16 und 10,19: Freimut, Redefreiheit [griech.: parrhesia]). Vgl. dazu: Philo, Spec Leg I 293f: Jeder, der zum Altar hinzutritt (griech.: prosion, vgl. proserchestai in Hebr), hat die Schwäche alles Gewordenen wahrzunehmen, um der Überfülle von Gottes Größe, Macht und Herrlichkeit eingedenk zu werden. Denn Gott schaut auf deine Schwäche und gibt dir dort an seiner gütigen (griech.: hileo) Macht Anteil (zu 4,14-16). – Zur Verbindung von Gnade und Thron vgl. M. Karrer I, 247.
Fazit: Hier liegt ein Element mündlicher Verkündigung vor, auf das man (Paulus und verwandte Theologen) gerne zurückgriff. Es ist nicht wahrscheinlich, dass diese »Tradition« erst von Paulus entwickelt wurde, denn es handelt sich um ein Stück basileomorpher Mystik, die ein gutes Gegenstück zum Kaiserkult war. Schon das Vokabular ahmt die Beschreibung kaiserlicher Audienzen nach. Die Wirkungsgeschichte der Rede von Gottes Thron der Gnade ist erheblich, besonders in der Liturgie. Die Abwandlung in Hebr 10,19 (Zugang zum Heiligtum) ist konsequent im Sinne des Hebr. Sie macht uns darauf aufmerksam, wie wichtig für antike Anthropologie und Theologie der »Zugang«, die Möglichkeit des Zugangs überhaupt ist. Daher wird auch in der Metaphorik der Ausdruck »Pforte« so wichtig. Denn stets ist das Passieren der Pforte entscheidend (vgl. Mt 16,18: »Pforten der Hölle« steht für das ganze höllische Reich!), so ist es auch in dieser Tradition: Alles liegt an der Möglichkeit des Zugangs. »Zum Altare Gottes will ich hintreten« sagt der Psalm und beschreibt damit den alles entscheidenden Anfang. (Leider hat die neuere katholische Liturgie diesen Aspekt ersatzlos getilgt.) Hebr kennt freilich kein allgemeines Priestertum der Gläubigen: »Priester haben in der Antike die zentrale Aufgabe, Opfer darzubringen. Das tun die Gemeindeglieder nicht. Der Hebr achtet strikt auf ihren Unterschied zu Jesus, dem alleinigen hohen und großen Priester, und nennt sie nirgends ihrerseits Priester, so viele priesterliche Motive er in ihr Bild einbringt« (M. Karrer I, 245). So ist auch die Redefreiheit vor Gott (parrhesia), die Hebr immer wieder betont, kein priesterliches Motiv.
Der Brief an die Hebräer
Zu Hebr 4,15: Vgl. Od Sal 10,5: Der Erlöser wird im Himmel nicht durch Sünden verunreinigt, die er selbst begangen haben könnte. »sympathein« ist nun wirklich synonym mit »sympaschein«, das seit Plato einschlägig gebraucht wird (gegen Karrer I, 245), doch für Priester neu. Die spätere Auslegung betont vor allem, dass Engel dazu unfähig sind.
Hebr 5,1-6: Der mitfühlende Hohepriester Der Gedanke, dass ein Hoherpriester, den wir aus 4,15 kennen, mit denen mitfühlen kann, für die er eingesetzt ist, ist dem Verfasser so wichtig, dass er ihn in 5,2 wiederholt. Offenbar kommt es nicht nur darauf an, den Ritus korrekt zu vollziehen – wie bei allen Priestertümern der Welt, sondern bei Jesus liegt viel am Mitfühlen-Können. Auch im Alten Testament findet sich das nirgendwo als Bedingung für das Amt des Hohenpriesters. Sicher unterscheidet dieses Amt Jesus von den Engeln. Denn Versuchung oder Leiden wird von keinem Engel behauptet. Schon in Hebr 1f hat sich Jesus gehörig von den Engeln unterschieden. Er steht höher, denn er ist Sohn. Und hier handelt es sich nun möglicherweise um eine erneute Abgrenzung gegenüber Engeln. Sie werden ja im Judentum durchaus als priesterliche Wesen betrachtet. Woraus soll denn sonst das Kultpersonal des himmlischen Heiligtums bestehen, wenn nicht aus Engeln? Im Neuen Testament hat die Offb diese jüdischen Anschauungen bewahrt. Dort sind es sogar Engel, die die Gebete der Christen zu Gott bringen, also das, was wir Christen im Blick auf Jesus meinen, wenn wir heute sagen: »durch ihn«. Ältere Katholiken kennen noch die Diskussion, wer denn der »heilige Engel« sei, der das Opfer der Eucharistie zu Gott bringen soll (Jube haec perferri per manus sancti angeli tui …). Ist es Jesus Christus (so Thomas v. Aquin) oder ein besonderer Opferengel? Nach Offb 8,3 ff fungieren Engel an den himmlischen Altären. Kurzum: Wer auch immer Jesus als den himmlischen Hohenpriester sieht, muss ihn in dieser Rolle gegenüber den Engeln verteidigen. Hebr trifft eine weise Entscheidung: Für die Menschen ist Jesus Christus der himmlische Hohepriester, denn er kann mitfühlen. Damit ist
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eine priesterlich-kultische Rolle der Engel im weiteren Sinn gar nicht bestritten. – Nun kann man fragen, was diese Unterscheidung ausmacht und was ihr Sinn sein soll. Wenn Engel für die Menschen Priester wären, müssten sie auch entsprechend verehrt werden. Dieses Problem behandelt der Kolosserbrief explizit (vgl. Kol 2,23) und weist nachdrücklich auf die Rolle Jesu Christi als Versöhner. Es könnte sein, dass der Verfasser des Hebr diesen Streit wie Donnergrollen vorn ferne wahrnimmt und gerade deshalb die menschliche Natur und Mitleidsfähigkeit Jesu besonders betont. Aktuell daran ist, dass man in der Theologie der Compassio, der Fähigkeit zum Mitleiden, eine Art Grundlage für die Verkündigung des Evangeliums sieht. Vielleicht war unsere Theologie zu lange etwas einseitig auf die ewigen Wahrheiten nach Art der Engel konzentriert. Jedenfalls bleibt die Wahrnehmung des Leidens der Menschen eine aktuelle Aufgabe der Theologie. Nach 5,1-6 bringt der Hohepriester etwas dar, und zwar für die Sünden. Das gilt auch für Jesus. Eigentlich eine merkwürdige Vorstellung, dass durch Opfergaben, die man Gott darbringt, bestimmte böse Taten gesühnt werden sollen. Der biblische Ausdruck für »sühnen« hilft uns da etwas weiter. Denn das hebräische Wort qafar (»sühnen«) heißt eigentlich »zudecken«. Die Vorstellung ist also: Die Sünde, das Vergehen, sieht Gott. Aber man kann dieses zudecken, und dann sieht Gott etwas anderes, das er lieber sieht. Man hat bei den Völkern der Alten Welt gerne auf Tierblut und auch (außerhalb Israels) auf Menschenblut zurückgegriffen, um die Götter zu beruhigen und vor allem so das eigene verwirkte Leben durch den angebotenen Ersatz zu schonen. Im Alten Testament schafft Gott schon seit Abraham Menschenopfer ab. Aber ist nicht doch die Deutung des Todes Jesu unter der Hand eine Wiedereinführung des Menschenopfers? Viele gegenwärtige Bestreiter der Theologie des Sühnetodes scheinen genau dieses zu befürchten, und sie lehnen deshalb jede Rede von Sühne ab. Hat sich Jesus »auf dem Altar des Kreuzes« als Opfergabe dargebracht? Das ist nicht ganz die Sicht des Hebräerbriefes. Denn der Ort des hohepriesterlichen Wirkens Jesu ist, wie mehrfach betrachtet, das himmlische Heiligtum; dort tritt unser Hoherpriester für die Menschen vor Gott.
853 Auf Erden erbringt dieser Hohepriester Gebet und Flehen als priesterliche Gabe und »bereitet« das Opfer. Dadurch vollzieht er die Erfüllung des Willens Gottes. Nach Hebr 10,5-7 ist Jesu hohepriesterliche Opferleistung vor Gott nicht ein sichtbares Opfer wie Schlacht- und Brandopfer, sondern die Erfüllung des Willens Gottes (10,7). »Siehe ich komme, deinen Willen zu erfüllen«, darin besteht hier das Opferwerk Jesu. Dass sein Gehorsam bis aufs Blut geht, d. h. seinen irdischen Tod einschließt, wissen wir. Ganz ähnlich umfasst auch nach Mk 10,45 Jesu Dienst sein ganzes Leben bis in den Tod. Der Ausdruck »sein Leben setzen« bedeutet: sein Leben einsetzen für etwas oder jemanden, inklusive Sterben, aber nicht speziell durchs Sterben. Das Opfer Jesu betrifft seine ganze Existenz. Dabei geht es nicht um irgendein Menschenopfer heidnischer Art, sondern um stellvertretende Gerechtheit. Als himmlischer Hoherpriester bringt Jesus das auf Erden Bereitete dar. Für die Theologie des Hohenpriestertums nach Hebr ist vor allem Ps 110 wichtig. Das zeigt auch dieser Abschnitt des Hebr (V. 6). Dieser Psalm (Gott, der Kyrios, redet »meinen« Kyrios an und fordert ihn auf, sich zur Rechten zu setzen) ist der urchristliche Erhöhungspsalm Zu Hebr 5,2: Das griechische Wort metriopathein (»maßvoll mitleiden«) wird schon von Philo v. A. auf Aaron übertragen (Leg Alleg 3,132). Es entspricht der Stellung des Hohenpriesters zwischen Mensch und Gott. Vgl. dazu das sympathein (»mitleiden«) in Hebr 4,15. Letzteres ist in Aussagen über das Priestertum ungeläufig. Zu Hebr 5,3: Zu den eigenen Sünden des Hohenpriesters vgl. unten zu 7,26. Hebr 5,7-9 im Vergleich mit Mk 14,32 ff (Getsemani) Jesus ist Hoherpriester. Ist Hebr 5,7-9 eine Widerspiegelung von Getsemani (Mk 14,32 ff)? Doch hier in Hebr ist von Jesu ganzer Lebenszeit die Rede. Nach Mk 14 hat Jesus weder geschrieen noch geweint, und Mk 14 berichtet nicht von der Erhörung. Weshalb dann ein naseweiser Textkritiker Hebr 5,7 kurzerhand ins Gegenteil veränderte und schrieb: »Gott hat ihn nicht erhört«. Aber Jesus ist doch auferstanden! Und übrigens
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854 ruft nach Hebr 5 Jesus zu Gott, der ihn aus dem Tod erretten, in Mk 14 dagegen zu Gott, der ihn vor dem Tod bewahren kann. Daher entspricht das »erhört« in 5,7 dem »vollendet« in 5,9. Die Auferweckung erscheint als Frucht seines Betens. – Andere Texte sind Hebr 5 viel näher als Mk 14, z. B. 3 Makk 5,7, wo es von den Priestern heißt, dass sie bittend die Hände zum Himmel strecken, »in unaufhörlichem Geschrei mit Tränen den Mächtigen bittend«. Fazit: Eine spezifische Beziehung zu Mk 14 ist in Hebr nicht festzustellen. Noch stärker als Mk 14 orientiert sich Hebr an allgemeinen Merkmalen des öffentlichen priesterlichen Bittgebets. Im Unterschied zu Mk 14 geht es Hebr nicht um einen einmaligen Akt, sondern um ein Tun, das überhaupt die Tage der irdischen Existenz Jesu kennzeichnete. Diese fasst Hebr als Zeit seines priesterlichen Dienstes auf, denn die Gebete werden als Opfer gedeutet (»dargebracht«): Jesus wird hier wesentlich als Beter verstanden. Im Nahen Osten gilt: Priester sind nicht Menschen der Predigt; denn wenn sie etwas sagen, dann ist es nicht neu, sondern alte Formel. Das Ritual ist ein Spiel nach unvordenklich alter Regel. Priester gehen dabei mit Formeln um und mit Materie. Die Formeln bewirken Segen oder Fluch. Und die Materie, die geopfert wird, soll Versöhnung der Welt erwirken. Die Worte bewirken, was sie sagen, und das Lebendige, das die Priester opfern, ist Tausch gegen Leben – insgesamt hilflose Gesten gegenüber dem Geheimnis Gottes, aber erhoffte Verständigung auf der Ebene des Elementarsten. Und Priester sind heilig wie auch die Orte ihres Tuns, die Tempel. An diesen Orten, verborgen in ihrem Tun und als Antwort darauf handelt Gott. Vieles, was der Hebr sagt, wird von diesen allgemeinen Voraussetzungen her verständlich: Dieser Brief kennt kein Wort Jesu. Alle seine Worte sind Gebet und Geschrei mit Tränen vor Gott. Gebete aber sind zumeist nicht neu. Und entscheidend ist seine Tat, sein freiwilliger Tod. Die Opfermaterie ist sein Leben, sein Blut. Dieses Blut reinigt das Heiligtum des Himmels, den Tempel, und zugleich die menschlichen Gewissen (Hebr 9,23 – 10,22). Beides geschieht zugleich. Auch Jesu Tun sind Gesten gegenüber dem Geheimnis Gottes und doch nicht hilflos: einmal, ein einziges Mal in der Weltgeschichte nicht aus-
Der Brief an die Hebräer
sichtslos. Denn dieses Zeichen, dieser Priester ist von Gott selbst bestellt. Deshalb ist er, so wie er ist, Gottes Wort, Gottes Zeichen (Hebr 1,1), damit Menschen sich in diesem Zeichen an Gott wenden können. Heilig wie Priester ist auch Jesus, doch auch ganz innerlich als der Gerechte. Daher ist die Reinheit, die er bewirkt, nicht eine äußerliche, sondern die des Herzens. Denn am Ende ist nur die Gerechtheit wahre Heiligkeit. In das Allerheiligste eines Tempels darf man nicht eintreten. So war es auch in Gottes Himmel. Der Himmel war tabu. Niemand außer Jesus durfte eintreten. Heiliges ist immer tabu: Zeichen dafür, dass Menschen nicht Gott sind, nicht ohne weiteres zu Gott hintreten dürfen. Wenn das Priester dürfen, dann nur mit besonderen Gewändern zum Zeichen dafür, dass Menschen nur zu Gott hintreten dürfen, wenn sie gottförmig, gottähnlich sind. Aller Ritus ist Abbildung einer Ordnung. Das Heilige selbst ist und verlangt Ordnung. Nur der eine Gerechte aber war wirklich »in Ordnung«. Nur sein »heiliges Spiel« wurde als Ernst akzeptiert. So ist alles priesterliche Tun aller Völker und in deren Mitte des Volkers Israel wie ein ahnungsvoller Hinweis auf das Tun des einen wirklichen Priesters. Alles andere ist wie eine Vorabbildung und eine Prophetie. Alle Tempel der Welt und die Grausamkeiten, die mit dem Kult vollzogen wurden, weisen hin auf die Grausamkeit des Kreuzestodes Jesu Christi. Das Verbrechen an dem Gerechten, der Justizmord, trifft hier zusammen mit dem letztmöglichen, mit dem kostbarsten Opfer. Warum ist das nötig: die Tabuzone, der Tempel, die Heiligkeit des Priesters und das vergossene Blut? Eine fremde Welt! – Gute Worte sind nur ein Teil der notwendigen Zeichen. Das reicht nicht, weil Menschen nicht nur mit Worten sich äußern, sondern auch mit Taten. Daher kann das, was sie anrichten, nicht nur mit Worten zugedeckt werden, sondern bedarf der befreienden Tat. Deshalb wird in Jesu Tod seine Botschaft vom neuen Menschen zum unzweifelhaften, dramatischen Geschehen. Dieses Geschehen ist priesterliche Tat, weil priesterliches Tun von einer Ordnung her Unordnung heilt, vom Ausgegrenzten her Segen stiftet, vom Getöteten her Leben. Das ist der Unterschied zu allem Opfern sonst: In Jesus wird Gottes eigene heilvolle Ordnung sichtbar, und ihre Wirkung ist Versöhnung. Weil
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Jesus der Gerechte ist, geht es um Gottes Eigenstes. Denn hier wurde ein ganz und gar Unschuldiger hingerichtet. In allen Heiligtümern der Welt darf man bestimmte Dinge nicht tun, z. B. nicht mit Schuhen hineingehen, vieles nicht berühren. Man darf nicht unziemlich laut sein und in der Regel keinen Geschlechtsverkehr vollziehen. In jedem Fall gilt: Menschliches Tun wird unterbrochen, denn hier handelt Gott. Nur wenn unser Handeln für einen Augenblick aussetzt, wenn unsere Worte schweigen, kann Gott handeln. Nur wenn auch der, der zum Heiligtum hinzutritt, für eine kurze Zeit die Ausgrenzung des Heiligtums teilt und zum Ausgegrenzten wird, kann er den Segen und die Fülle des Ganzen sich und seinem Volk wieder neu schenken lassen. Deshalb war in der heiligen Stadt Jerusalem oder überhaupt am Sabbat Sex verboten, weil die Unterbrechung die Gesundung neu ermöglichte, weil Gott die Chance hatte, erneut zu geben und zu segnen. Alle Heiligtümer der Welt sind eine Vorahnung der Rechtfertigung, die allein Gott schenkt. Und allen Opferungen ist auch dieses gemeinsam: dass Tod für Leben getauscht wird. Das scheinbar sinnlos Geopferte steht für überreiches Leben. Insofern fügt sich der Tod Jesu überraschend ein in die Regel alles Kultischen: Wer den Schritt aus der Regelmäßigkeit heraus wagt, wer sich ins Ausgegrenzte stellt, erwirkt für sich und für andere neues Leben. Der gekreuzigte Hohepriester ist die definitive Antwort auf den Tod. Denn er ist der »Durchbruch« für alle Menschen hin zu Gott. Er war der Einzige, der ohne Schuld starb; er hatte als einziger den Tod nicht verdient. Daher nennen wir ihn den wahren Hohenpriester. Dieser Gerechte hat eine Schneise geschlagen in das Dunkel zwischen Gott und Mensch. Er hat die Mauer des Schweigens und der Angst vor dem Tod durchbrochen. Seine Unschuld ist für die Menschen die Hoffnung. Wie wenn Abraham erneut mit Gott verhandelt hätte: Wenn auch nur ein einziger Gerechter gewesen wäre in der Stadt, Gott hätte sie verschont. Hier wird ein ganzes Kultsystem zum Zeichen. Zeichen war es auch bereits im Alten Testament. Jetzt wird die Opferordnung des Alten Bundes noch einmal zum Zeichen für die neue, wahre Ordnung. Für den Tod des gerechten Jesus wird
die ganze alte Kultordnung zum Zeichen. Sie soll jetzt nur noch sagen, welchen »Sinn« der Tod Jesu hat, wie er überhaupt einzuordnen und zu begreifen ist: als stellvertretendes Hintreten vor Gottes Angesicht, als Sühne, wie Kult sie immer erreichen wollte. Jesu Kreuz ragt definitiv über alles Irdische hinaus und in den Himmel hinein. Nur so wird Gott erreicht. Dabei ist »Himmel« oder »himmlisches Heiligtum« ein Bild für die letztgültige Wirklichkeit. Alles Tun davor blieb irdisch und war nur Vorabbildung. Jetzt ist etwas geschehen, das allein die Wirklichkeit Gottes erreicht und berührt. Dieser Skandal des gerechtesten Märtyrers bringt selbst den Himmel zum Erweichen. Alles bisherige Hintreten vor Gott verblasst angesichts dieses Skandals und seiner Umwertung durch Gott. Der Himmel ist berührt, wenn die grundlegende Ordnung der Welt betroffen ist. Jesus vermochte es, hinter die Kulissen, hinter den Vorhang zwischen Erde und Himmel zu gelangen und in dieses Feld einzugreifen, wo alles geregelt wird, Schuld und Sühne, Leben und Tod. Seitdem Jesus hier eingegriffen hat, ist nichts mehr wie zuvor. Jesus ist – gegen den Willen seiner Mörder und jenseits alles dessen, was man angesichts seines Todes denken konnte – an den Schalthebel der Heilsgeschichte vorgedrungen. Dieser Weg hat ihn alles gekostet, aber seitdem hat sich das, was die Welt im Innersten zusammenhält, entscheidend geändert.
Hebr 5,7: Jesu Erdenleben als priesterlicher Dienst Literatur: H. W. Attridge, Heard because of his Reverance (Hebr 5,7), in: JBL 98 (1979) 1-93.
Über die Rolle des Erdenlebens Jesu im Hebr kann man zusammenfassend sagen: Jesus predigte (1,2), verkündete das Heil (2,3), Gott wirkte Zeichen und Wunder durch ihn (2,4), er kam aus Juda (7,14), hatte Widersacher (12,3), flehte unter Weinen und Schreien (und zwar regelmäßig; 5,7-10), er hat gelitten und so den Gehorsam gelernt (2,10; 5,8); er starb vor dem Tor der Stadt (13,12) am Kreuz (6,6; 12,2). Er ist aus Toten auferstanden (13,20) und wird wiederkommen (9,28). Kein Wort Jesu ist überliefert, über
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856 Jesu letztes Mahl wird nicht berichtet. – Alttestamentliche Texte, besonders aus den Psalmen, liest der Verfasser direkt als Worte Jesu (z. B. 2,12f; 10,7). Die »Schrift« als Gotteswort ist daher eine zureichende Quelle für Jesusworte und unter Umständen sogar wichtiger als historisch überlieferte Aussprüche Jesu. Denn die Schrift enthält unzweifelhaft und schriftlich abgesichert Gottes Wort direkt. Evangelienschriften aber gibt es zur Zeit des Hebr noch nicht. Der religionsgeschichtliche Vergleich ergibt, dass hier nicht spezielle Nachrichten aus dem Leben Jesu zugrundeliegen, sondern eher übliche Elemente der Gebetsfrömmigkeit (Bittgebete) auch der Laien. Hebr 5 orientiert sich an allgemeinen Topoi des öffentlichen Bittgebets, besonders von Priestern. Hebr 5,7 meint überdies ein dauerhaftes Tun, anders als z. B. in Mk 14, wo eine einmalige Szene beschrieben ist. Das Ziel des Gebetes ist in Hebr anders: Nach Mk 14 ruft Jesus zu dem, der ihn vor dem Tod bewahren kann, nach Hebr 5 zu dem, der ihn aus dem Tod retten kann. Im hellenistischen Judentum Philos v. Alexandrien ist gerade das laute Beten mit Schreien und flehentlichem Rufen vor Gott ein Zeichen der »Redefreiheit (Freimut)« und Frömmigkeit zugleich (Heres 5.14.19.22). Alle Elemente dieses Wortfeldes sind auch dem Hebr vertraut (5,7, »Freimut« in 4,16; 10,19).
Der Brief an die Hebräer
lo, Q in Gen 4, 233 (schrie auf, nach Weinen schrie er) Versuchung: Hebr 4,15; Mk 14,38.
Zu Hebr 5,8: »Obwohl er Sohn Gottes war, hat er aus alledem, was er erlitt, leibhaftig erfahren müssen, was Gehorsam ist, (was es also bedeutet, Gewalt nicht mit Gewalt zu vergelten, grundlos zugefügtes Unrecht zu ertragen).« Der berühmte Vers verwendet das griechische Wortspiel von pathein (leiden) und mathein (lernen), ganz im Sinne des griech. »aus Leiden klug werden«. Zusätzlich besteht ein Kontrast zwischen »Sohn« und »gehorchen«, was häufig die Aufgabe von Sklaven ist. So ist es in Phil 2,6-11: Der Gott gleich ist (sc. als Gottes Sohn), nimmt die Lebensbedingungen eines Sklaven auf sich (V. 7) und wird gehorsam bis zum Tod am Kreuz (V. 8). In Hebr 5,8 heißt es: »Obwohl er der Sohn war …« Nach dem in Phil 2 Gesagten scheint das verständlich: Gehorchen ist nicht Sache des Sohnes, sondern des Sklaven. Sache des Sohnes ist das Erben. Was Phil 2 in der Statusabfolge von Sohn und Sklave erkennt, ist für Hebr 5,8 ein Kontrast. Dass der Sohn lernen wollte oder musste, entspricht der Christologie von Hebr 2,10 für das (durch Leiden) Vollenden (s. dazu): Mit der Ähnlichkeit zu den Menschen hat sich der Sohn Gottes dem zeitlichen Werden ausgesetzt.
Hebr 5,7 im Vergleich mit 3 Makk 5,7 und Mk 14,32-39 Priester: Hebr 5,1-5; 3 Makk 5,7 Fleisch: »in den Tagen seines Fleisches« Hebr 5; Mk 14,38 (Fleisch ist schwach) Gebete: »Bittgebete und Flehrufe« Hebr 5; beten (Mk 14,32.35.38f), bittend, die Hände zum Himmel ausstreckend (3 Makk 5) gegenüber dem, der ihn retten konnte (griech.: dynamenos): Hebr 5,7; Mk 14,35f: »Wenn es möglich ist … Alles ist dir möglich (griech.: dynaton … dynata)« aus dem Tod: Hebr 5,7; vgl. Mk 14,34: Tod, »dass die Stunde an ihm vorübergehe« Geschrei: »mit starkem Geschrei« (Hebr 5; griech.: krauge); »in unaufhörlichem Geschrei mit Tränen« (3 Makk 5; vgl. 3 Makk 1,16: »bitten … mit Geschrei und Tränen«), vgl. auch Philo, Heres 1422: großes Geschrei, Gebet mit Flehen, Frömmigkeit; Hebr 5,7: »erhört wegen Frömmigkeit«; Phi-
Hebr 5,11 – 6,20: Glaube, Taufe, Verheißung Der in 5,11-14 ausgesprochene Tadel gehört zum Handwerk der Pädagogik. Der Hinweis auf 1 Kor 3,1-3 bedeutet allerdings alles andere als eine Abhängigkeit von Paulus. »Ihr wart leider noch immer schwache, anfällige, sehr gewöhnliche Menschen, als Christen eher Säuglinge und noch nicht aus den Kinderschuhen heraus. So konnte ich euch erst einmal nur Milch geben, noch keine feste Speise, denn die konntet ihr nicht vertragen, könnt es auch jetzt noch nicht.« In beiden Fällen brauchen oder brauchten die Angeredeten leider wieder oder noch immer Milch, weil sie feste Nahrung noch nicht vertragen. In 1 Kor geschieht das im Rückblick auf die bisher erteilte Lehre des Paulus, in Hebr für die Gegenwart. Der Fortgang der Anrede in Hebr 6,1 zeigt, dass
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Kapitel 5
die Verse 5,11-14 in erster Linie psychagogische Funktion hatten. Die Leser sollen »gereizt« werden, indem der Verfasser an ihrer Ehre kratzt. In 5,13 wird das, was der Verfasser zu sagen hat, als »Lehre der Gerechtigkeit« (oder: »gerechtes Wort«) bezeichnet. In Mt 21,32 heißt die Botschaft des Täufers »Weg der Gerechtigkeit«. In beiden Fällen bedeutet »gerecht/Gerechtigkeit« nichts Forensisches oder Justitiables, sondern dasselbe wie unser Wort »recht«; also: die rechte Lehre, der rechte Weg. Gerechtigkeit meint vor allem die Grundlage alles Zusammenlebens, das Fundament gemeinsamer Werte. Zu Hebr 6,1: Im Kontrast zu manchen heutigen Meinungen beachte man: Sowohl in der Christologie als auch in der Biografie jedes einzelnen Christen gibt es in Hebr das Bild des prozesshaften Voranschreitens. Weder hat der Gläubige ein für alle Male einen fertigen Standpunkt, noch ist Jesus selbst vom Werden ausgenommen. Beide Arten von Werden beschreibt Hebr mit demselben Wort »vollenden, zur Vollendung bringen« (griech.: teleioun), vgl. Hebr 6,1 (Gläubige) mit 2,10 (Jesus). Die Umkehr »von toten Werken« wird deshalb so genannt, weil sich auch bei Christen die Qualität der Werke danach richtet, welchen Gott jemand anbetet: Sage mir, wer dein Gott ist, und ich sage dir, was deine Werke wert sind. Aus diesem Grund sind die Werke aus Glauben (an Gott, an Christus) andere als die Werke ohne diesen Glauben. Das gilt für Paulus wie für die gesamte Diskussion um diesen Punkt der Rechtfertigungslehre. Die »toten Werke« in Hebr 6,1 heißen deshalb so, weil ihre Täter nicht an den lebendigen Gott glauben, sondern an tote Götzen. Die jüdische Polemik gegen die Götzen sagt immer wieder: Die Götzen sind aus Stein, Metall oder Holz, sie haben Augen und sehen nicht, usw. Wer ihnen anhängt, wird tot sein, wie das, was er anbetet. Daher sind auch die Werke, die stets sichtbare Zeichen des jeweiligen Inneren und der Qualität des Menschen sind, tot, wenn der »Gott«, dem sie gewidmet sind, in Wahrheit tot ist. Die Werke werden daher nicht moralisch bewertet, sondern theologisch und grundsätzlich nach dem Glauben. Das könnte zu Missverständnissen führen (ist denn alles gut, was ein Gläubender tut?), bedeutet indes nur: Alles Gute hat
857 nur Sinn im Zusammenhang eines sinnvollen Lebens. Disteln können keine Trauben hervorbringen, sagt Jesus in dem gleichen Sinn. Wenn die Richtung stimmt, dient das nicht dazu, Böses zu entschuldigen, aber es hilft zur Bewertung des Positiven. Soweit ist diese Denkweise zulässig. Tote Werke kennen auch 4 Esr 7,119 (mortalia opera – trotz Verheißung der Unsterblichkeit); Past Herm, Sim 9,21,2 (von den fragwürdig Gespaltenen: nur die Worte leben, die Werke sind tot); vgl. Jak 2,26 (toter Glaube, wenn die Werke fehlen).
Der »Umkehr« wird der »Glaube an Gott« ergänzend zur Seite gestellt. Wie schon die »toten Werke«, so weist auch diese Wortverknüpfung auf Heidenmission. Denn z. B. in den Missionsreden der Apg wird »Umkehr« von den Juden gefordert, »Glaube« aber von den Heiden. Zu Hebr 6,2: Die Lehre von den »Taufen« setzt wohl voraus, dass Hebr mehrere Formen der Taufe kennt. Daran besteht in der Geschichte des Urchristentums in der Tat kein Mangel. So gibt es die Taufe des Johannes (sc. des Täufers) als äußeres Zeichen der Bekehrung, es gibt dann die Taufe »auf den Namen Jesu«, bei der der Täufling dem Schutz und Eigentum des Namens Jesu überantwortet wird. Es gibt sodann die Geisttaufe (1 Kor 12,13), die schon früh mit einer Wassertaufe verbunden wurde (Joh 3,5). Es gibt die Taufe »auf Jesus«, die ein Mitsterben und Anteil an der Kraft seiner Auferstehung bedeutet. – Der Bericht Apg 19,1-7 und auch Apg 8,15-17 zeigen, dass man in diesem wichtigen Bereich der Initiation Klarheit schaffen musste, um sich gegenseitig anerkennen zu können. Bis heute ist die Anerkennung der Taufe der anderen entscheidend für ökumenische Beziehungen. – Nach Hebr 6,2 hat man diese Unterschiede bereits lehrmäßig systematisiert. Das war für das Zusammenwirken unterschiedlicher Gemeinden notwendig und ist nur ein Zeichen der engen Vernetzung früher Gemeinden von Anfang an. Es ist daher, für sich genommen, kein Argument gegen die Frühdatierung des Hebr. Zumal in Rom gab es im 1. Jh. nach allem, was wir erschließen können, eine Vielzahl unterschiedlicher Gemeinden. Die Beobachtungen zu den Taufen werden ergänzt und bestätigt durch die Rede von der
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858 »Handauflegung«. Gerade Apg 8,15-17 bestätigt, dass die Handauflegung die Taufe ergänzt, und zwar als besondere Gabe des Heiligen Geistes von den Aposteln her. Gleiches gilt für Apg 19,6: Die Taufe des Johannes genügt für die Anerkennung als Christen überhaupt nicht. Es muss hinzukommen die Taufe auf den Namen des Kyrios Jesus. Und weiter muss hinzukommen die Verleihung des Heiligen Geistes durch Handauflegung. Darüber hinaus kann die Handauflegung in Hebr 6,2 auch die »Ordination« bedeuten, also die Einweisung in ein Amt. Auch hier geht es dann um eine besondere Verleihung des Heiligen Geistes (vgl. 1 Tim 4,14; 2 Tim 1,6). – Hebr 6 spricht dann von »Auferstehung Toter und ewigem Gericht«. Dabei bleibt offen, ob es sich um die allgemeine Auferstehung aller Toten handelt oder nur um die Auferstehung von Christen. Offen bleibt auch das Verhältnis zur Auferstehung Jesu. Nach der verwandten Stelle Apg 17,31 ist beides eng verbunden. Spätestens hier ist zu fragen, was das überhaupt für eine Liste ist, die Hebr 6,1f bietet, da sie auf den ersten Blick sehr Verschiedenes beinhaltet. Doch sie hat eine klare Struktur; sie betrifft den Anfang des christlichen Lebens und Weges (Umkehr, Glaube, Taufe, Handauflegung) und dessen Ende (Auferstehung und Gericht). In den Heidenpredigten der Apg kommen aus dieser Liste die entscheidenden Elemente genauso vor: Glaube, Auferstehung und Gericht. Vgl. Apg 14,15-17 (Glaube an den Schöpfer); 17,2331 (Schöpferglaube, Gerichtstag, Auferstehung). Ferner: Nach Apg 24,25 sind die wichtigsten Elemente des apostolischen Christentums: Gerechtigkeit (sc. durch die Taufe, vgl. Mt 3,15), Selbstbeherrschung (Zusammenfassung der Ethik der Selbstzurücknahme, vgl. Bergpredigt), kommendes Gericht. 1 Thess 1,9f (Bekehrung zum lebendigen [!] Gott, weg von den Götzen, Erwartung des Sohnes Gottes zum Gericht); Gal 4,8-10 (Bekehrung von den Götzen). In Hebr 11,6 findet sich schließlich eine Kurzform: Glauben, dass es Gott gibt und dass er den Lohn geben wird (Gericht). Auffällig: Die Auferstehung Jesu, die immerhin in Apg 17,31b und 1 Thess 1,10 als Voraussetzung seiner Tätigkeit im Gericht erwartet wird, ist in Hebr 6 nicht genannt. Sie kommt in Hebr nur bildlich umschrieben vor in einer Formel in 13,20. Hatte
Der Brief an die Hebräer
sich das Scheitern des Apostels Paulus in Apg 17 herumgesprochen? Zu Hebr 6,4: »Erleuchtet werden« ist missionstechnischer Fachausdruck, vgl. Hebr 10,32; Eph 1,18; 3,9; besonders 2 Tim 1,10 (in Verbindung mit »Evangelium«); 2 Kor 4,6 (mit Erkenntnis); Justinus Martyr 1. Apologie 61,12 (Taufe als Erleuchtung im Zusammenhang mit »Lernen«). – Die Kräfte der künftigen Welt kosten: vgl. bab. Talmud Baba Batra 15b: Aus Hiob 1,11.24 wird hergeleitet, dass schon beim Pflügen Futter hervorspross. »Dies lehrt, dass der Heilige … Hiob von der zukünftigen Welt kosten ließ. Drei ließ der Heilige … einen Vorgeschmack der zukünftigen Welt kosten, nämlich Abraham, Isaak und Jakob (»mit allem« Gen 24,1; »von allem« Gen 27,33; »alles« Gen 33,11). In der Liste Hebr 6 kommt die Christologie zu kurz; doch das holt der Verfasser des Hebr nach. Deshalb schreibt er seinen Brief. Somit steht dem »Wort vom Anfang« (Taufe, Handauflegung, Auferstehung, Gericht) das »Wort der Vollendung« (himmlisches Hohepriestertum) gegenüber, damit also eher Irdisches dem Himmlischen. Das ist ähnlich wie im JohEv 3,11: Die irdischen Dinge werden von den himmlischen (MenschensohnChristologie) unterschieden. Und dabei bedeutet für das ganzheitliche Verständnis des Verfasser wachsende Erkenntnis auch größere Annäherung an das Ziel. Zu Hebr 6,4-8: Der Verfasser liefert hier die nachgeholte Begründung dafür, dass er mit dem Christentum der Adressaten nicht noch einmal von vorne beginnen kann: Den Heiligen Geist haben sie ja schon empfangen (bei Taufe und/ oder Handauflegung). In diesen Sätzen vermittelt der Verfasser eine grundlegende Position des Urchristentums: Der Heilige Geist als Gabe der Initiation kann nur einmal empfangen werden. Denn er ist die definitive und gültige Selbstmitteilung Gottes an die Menschen. Mehr kann Gott nicht geben als sich selbst in dieser Gabe. Nach Ez 36,26f ist der Geist Gottes die Gabe der Endzeit an die Menschen; nach der LXXFassung dieser Stelle bedeutet er die Annahme der Menschen als Kinder. Eine solche Adoption kann es nur einmal geben, und dann gilt sie für immer. Gerade das Bild der Adoption macht die-
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ses deutlich: Wäre Adoption wiederholbar, so würde diese Möglichkeit die Rechtssicherheit jeder Adoption erheblich gefährden. – Die negative Folge dieser Überzeugung ist: Die Sünde wider den Heiligen Geist ist unvergebbar. Denn wenn der Heilige Geist nur einmal gegeben ist, kann man ihn auch nur einmal verlieren. Oder besser: Alles, was man mit dem Heiligen Geist anstellt, hat Teil an seinem Charakter der Endgültigkeit. Diese Auffassung des Apostels Paulus, des Hebr und der synoptischen Evangelien dient der Rechtssicherheit der Taufe/Adoption zur Kindschaft. Daher kann auch die Taufe nicht wiederholt werden, wenn sie denn als Geistverleihung begriffen wurde. Der Widerstand gegen Wiedertäufer ist von daher zu erklären. Nach Hebr 6,4 ff geht es noch nicht exklusiv um die Taufe, deren Wiederholbarkeit untersagt würde. Die Auffassung von der Nicht-Wiederholbarkeit der Geistverleihung bringt aber auch Probleme mit sich: Die »Sünde wider den Heiligen Geist« ist für das Urchristentum klar umgrenzt (Lästern wider die Gottessohnschaft Jesu; Kirchenspaltung). Aber was ist mit allen anderen Sünden, insbesondere den Kapitaldelikten? Wie ist es mit dem Abfall zum Kaiserkult? In der Auslegung des Hebr hat man diese offenbar als »Abfall« verstanden (6,6). Viele Autoritäten und auch gnostische Kreise des 2. Jh. n. Chr. halten es mit Hebr und verweigern eine zweite Umkehr, eine poenitentia secunda (so auch die kopt gnostische PetrusApk aus Nag Hammadi). Dadurch wird das Christentum zu einer rigoristischen Gruppierung. Dagegen steht der »Hirt des Hermas«, der die großkirchliche Praxis der Möglichkeit einer zweiten Buße begründet. Die zitierte PetrusApk nennt ausdrücklich Hermas als Irrlehrer. Seine Schrift »Hirt des Hermas« hat indes aus genau diesem Grund für einige Zeit sogar zum Kanon des Neuen Testaments gehört. Fazit: Hebr hat sich mit der rigorosen Position des Verbots einer zweiten Buße nicht durchgesetzt, obwohl dieses Position durch die Pneumatologie gut abgesichert zu sein schien. Andererseits wird dort, wo die Taufe erkennbar (noch) nicht Geistverleihung bedeutete, auch eine neue Buße von bestehenden Gemeinden geradezu eingefordert. Zu denken ist da besonders an Offb, wo in jedem Gemeindebrief ausdrücklich zur Umkehr aufgefordert wird (was Hebr
859 6,6 ausschließt) und entsprechend die Taufe als Versiegelung bzw. als Abwaschen durch das Blut des Lammes, aber nicht als Geistverleihung gedacht ist. Der Geist ist zwar in der Gemeinde (Offb 22,17), aber nicht als Heilsgabe in jedem Einzelnen. D. h. Umkehr ist auch weiterhin möglich, wenn man Geist und Taufe nicht so eng zusammensieht wie Paulus und z. B. Joh 3,5 und Mt 28,19. Anders M. Karrer (im Anschluss an Löhr): Nach 6,6 gehe es um die Umkehr im Christwerden, nicht um eine im Christsein. Kommentar: Das Wort »Umkehr« ist auf den Anfang festgelegt. Zu 6,5 gibt es bei Tertullian noch die Lesart: verbum dei dulce gustaverunt occidente iam aevo cum exciderint (»während die Welt dabei ist, unterzugehen«). Hier wird das Versagen der 2. Buße noch mit dem nahen Weltende motiviert.
Aber was heißt das in Hebr 6,6 – unabhängig von der Wirkungsgeschichte –, dass der Abgefallene (der dann wieder umkehren möchte) Christus zum zweiten Mal kreuzigt? Es ist möglich, die Quo-vadis-Legende im apokryphen Martyrium Petri von dieser Stelle aus zu verstehen. Jesus erscheint dem heiligen Petrus und sagt: »Ich gehe nach Rom, um mich noch einmal kreuzigen zu lassen.« … »Ja, ich werde noch einmal gekreuzigt« … Da sagte Petrus: »Herr, dann will ich umkehren und mit dir zurückkehren.« (Mart Petri 6,5-9; übers. Berger/ Nord, 1237). Die Stelle im Mart Petri ist jedenfalls das älteste Zitat aus dem Hebr, und natürlich aus Rom. – Nun kann man fragen: Bedeutet die erneute Kreuzigung, dass der Herr erneut alle Schande auf sich nimmt – und Petrus, dann nach dem Fortgang des Martyriums, mit ihm? Das wäre eine Identifizierung des Herrn mit dem verfolgten Märtyrer, wie wir sie aus der Apg kennen (»Warum verfolgst du mich«?). Oder man kann im Blick auf Hebr 6,6 fragen: Bezog sich die Legende ursprünglich vielmehr auf die von vielen kritisierte liberale Busspraxis der römischen Gemeinde? Ist dann der Sinn dieser Begegnung, relativ unabhängig vom Martyrium des Petrus (und bereits in der Vorgeschichte dieses »Martyriums«): Der Radikalität der Märtyrer wäre allein eine radikale(re) Bußpraxis der römischen Gemeinde angemessen. Jesus würde dann sagen: In Rom werde ich (dank der Bußpra-
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860 xis zum Beispiel des Hermas aus Rom) zum zweiten Mal gekreuzigt. Petrus gilt als Inbegriff des nach der Bekehrung gefallenen und dann wieder aufgenommenen Menschen. Genau das bekämpft Hebr. Die Petrus-Legende im Mart Petri macht deutlich: Nicht die zweite Buße, die auch Petrus zuteil wurde, ist mit der Rede von der nochmaligen Kreuzigung gemeint, sondern das Martyrium. Petrus war kein lauer Christ, sondern ein Märtyrer. In seinem Martyrium ist Jesus tatsächlich noch einmal gekreuzigt worden. Insofern wird hier Hebr 6 richtiggestellt, sodass eine Inanspruchnahme des Apostels Petrus für die poenitentia secunda nicht mehr möglich ist: Dass der Herr nochmals gekreuzigt wurde, ist tatsächlich geschehen. Und das war nicht unsinnig und verboten, sondern ausgerechnet an Petrus geschehen, den man sonst für eine ganz andere Richtung in Anspruch nahm. Nicht zufällig ist es eine apokryphe PetrusApk, in der die Praxis der zweiten Buße scharf angegriffen wird (s. o.). Vor allem macht die Adressierung des Hebr nach Rom diese Lösung verständlich. Zur Wirkungsgeschichte von Hebr 6,4-6 gehört bereits Hebr 10,26 und besonders der Hirt des Hermas, der das Thema der zweiten Buße (außer der kopt PetrusApk) wieder aufgreift. Dadurch bestätigt sich noch einmal Rom als Ort der Adressierung. Denn auch »Petrus« in der koptischen Apokalypse weist auf Rom. Auch nach der so genannten Sektenregel von Qumran wird der, der ausgeschlossen wurde, in etlichen Fällen ohne die Möglichkeit einer Rückkehr ausgeschlossen (1 QS 7,1 f.16 f.22-24). Lit: I. Goldhahn-Müller, Die Grenze der Gemeinde. Die zweite Buße nach dem Neuen Testament. Göttingen 1989.
Zu Hebr 6,7-8: Die V. 7-8 gehören zwar noch zum vorangehenden Abschnitt. Aber der Verfasser beginnt doch mit diesen Versen eine längere Mahnrede, die bis 6,20 reicht. V. 7-8 bieten ein Ernte-Gleichnis, wie wir es der Art nach oft in der Verkündigung Jesu antreffen. Der Kontrast zwischen Regen und Feuer deutet an, dass ein Ende im Feuer nicht im Sinne der Bauern ist. Der mögliche doppelte Ausgang des Gerichts wird also nicht einfach hingenommen,
Der Brief an die Hebräer
vielmehr werden Dornen und Disteln deutlich als abartig bezeichnet, daher der »Fluch«. Dornen und Disteln sind auch für Jesus bildlicher Inbegriff dessen, was nicht sein soll. Der Abschnitt V. 9-20 ist eine Mahnrede über »Geduld und Zuversicht«. Der Gattung nach gehört solche Rede nicht zur Situation der Mission oder Bekehrung, sondern in die Zwischenzeit der Bewährung. Daher finden viele Einzelsegmente ihre Entsprechungen in den Briefen an Gemeinden aus urchristlicher Zeit. Daran erinnert schon der Aufbau dieser Rede: a) Captatio benevolentiae (der Verfasser bemüht sich um das Wohlwollen der Leser): Die Adressaten werden für ihr bisheriges Tun gelobt (Gott wird nicht vergessen, was ihr getan habt), so in V. 9 f. – b) Mahnung zum Durchhalten und Ausharren – genau darauf kommt es in der Zwischenzeit an, V. 11-12(20). – c) Vorbild(er) für Geduld und Ausdauer, V. 12-15. Abraham ist das Vorbild schlechthin (s. u.). – d) Auch Gott steht treu zu seinen Verheißungen, V. 15b-18. – e) Vor allem aber ist Jesus Christus schon bis zu Gott gelangt, er hat unsere Hoffnung im Himmel verankert, V. 1920. Es fällt auf, dass in dem gesamten Abschnitt nur in V. 19f von Jesus die Rede ist. Das ist ähnlich wie in Röm 4, wo ebenfalls erst am Ende des lang ausgeführten Abraham-Beispiels von Jesus die Rede ist. Nicht zuletzt die Zurückhaltung in der Christologie in diesem Abschnitt legt die Vermutung nahe, dass der Verfasser sich hier auf ein gut ausgebautes Material jüdischer Herkunft stützt. Darauf weist besonders das Beispiel Abrahams (V. 13-15). Abraham ist im zeitgenössischen Judentum das Muster des Menschen, der sich vom Heidentum zu Gott bekehrt, also gläubig wird. Aber nicht nur das: Durch vielfältige Drangsale und Leiden erweist sich Abraham als geduldig. Das Jubiläenbuch (2. Jh. v. Chr.) zählt in Kap. 22 die Leiden Abrahams auf, in denen er den Glauben bewährte. Jak 2,20-24 deutet diese Geduld sogar als Abrahams »Werke«. Abraham ist für Judenchristen als ihr Vater bleibende Identifikationsfigur, für Heidenchristen als der zu Gott Bekehrte schlechthin. Gerade in dieser Rolle erfüllt Abraham in Hebr 6 dieselbe Rolle wie in Röm 4 und Gal 3. Wenn also Hebr nach Rom gerichtet war, konnten die Heidenchristen in Hebr 6 den Abraham aus Röm 4 wiedererkennen. – In-
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nerhalb des Hebr kennen wir eine vergleichbar intensive Orientierung an Abraham nur noch in Kap. 11. Inhaltlich sind beide Texte (6,13-17; 11,8-12) gut vergleichbar. Denn hier geht es um Abrahams Geduld, dort um Abrahams Glauben. In beiden Fällen ist das Verheißungsgut unsichtbar und zukünftig. In V. 15b-18 spricht Hebr über Gottes Treue zu seinen Verheißungen. Hebr liebt Schwur und Eid (vgl. dazu 1,5-13; 4,3; 6,3f; 7,21). Denn diese Sprachform entspricht seiner Suche nach Stabilität und dem Versuch, sich an dem zu orientieren, was bleibt. Seit 1,1 hat er deutlich gesagt, dass das Wort Gottes Himmel und Erde, Gott und die Menschen verbindet. Denn er weiß: Alles in der sichtbaren Welt kann erschüttert werden (12,26-28). Nur Gott nicht. Aber damit ist der Verfasser des Hebr nicht zufrieden, denn es kommt darauf an, dass Menschen Anteil gewinnen an der Stabilität Gottes, an seinem ewigen Leben. Auf das Wort Gottes, das Eidschwur-Charakter hat, kann sich jeder Mensch verlassen. In der bestehenden Welt ist es das einzig Verlässliche überhaupt. Das also, was uns als das Vergänglichste dünkt, ein gesprochenes Wort, ist, wenn es von Gott kommt, verlässlicher als alles andere, scheinbar Verlässliche in der Welt. Ähnlich ist bei Paulus nach 1 Kor 1 die Torheit der Predigt vom Kreuz immer noch weiser als die berühmteste Weisheit der Welt. Zu Hebr 6,19-20: Einen Anker wirft man dorthin aus, wo er sich ein- oder festhakt. Das ist stets ein anderes als man selbst. Dort, wo man vor Anker geht, sucht man den festen Grund und Boden, dessen Festigkeit man selbst im Augenblick sich nicht geben kann. Die Christen haben sich paradoxerweise in dem verankert, was man nicht sehen und fühlen kann, was zudem erst zukünftig ist und daher von der Hoffnung lebt. Nun ist freilich »Hoffnung« nach Hebr nichts Vages oder Subjektives, sondern das Hoffnungsgut ist unsichtbare Realität, an der man sich orientieren und festhalten kann. Doch es bleibt dabei, dass sie unsichtbar ist und nur – durch das Wort – indirekt zugänglich. Allerdings auch durch die Geistesgaben, die der Verfasser in 6,4 geschildert hat.
861 Das Symbol Anker hat auch im hellenistischen Judentum eine Vorgeschichte. Man ankert bei der Wahrheit oder bei der Erkenntnis (Philo, Corpus Hermeticum); Zuflucht bei Heiligtümern (Asylrecht) wird immer wieder mit einem Anker (mit dem man sich sicher verankert) verglichen. Doch in Hebr geht es nicht um Zuflucht oder Asyl. Daher ist der Gebrauch des Ankers hier wohl dem hellenistischen verwandt, aber doch selbstständig. – Zum Vorhang in 6,19 vgl. zu 10,20. Die Christen sind daher genau dort verankert, wohin Jesus nach seiner Kreuzigung und Erhöhung gelangt ist. Insofern ist das Bild des Ankers für »Festigkeit des Unsichtbaren« gut geeignet. In 6,20 fällt zum ersten Male das Stichwort Melchisedek, das dann in Kap. 7 zum Thema wird. Nirgends ist der Verfasser so stark auf die Adressaten eingegangen wie in Kap. 6. Er nimmt hier gewissermaßen Anlauf für die spekulativen Höhen von Kap. 7. In 6,2 erwähnt er noch einmal, ohne sie neu zu erörtern, die Anfangsgründe des Christentums der Gemeinde, in 6,4 geht er auf die charismatischen Erfahrungen ein, die die Gemeinde gemacht hat. Sie entsprechen recht gut den Zeichen und Wundern, die nach 2,4 bereits in Verbindung mit den Gaben des Heiligen Geistes genannt waren. Aber diese charismatisch orientierte Welt der Anfangsgeschichte der Adressaten wird jetzt verlassen. Nur noch in 9,14 wird der Heilige Geist für das neu Geschilderte wichtig. Aber dort bereits und im Übrigen ist das ab jetzt zu Besprechende in höchstem Maße christozentrisch. Insofern ist Hebr der heutigen Situation entgegengesetzt: Nach einer langen Phase der strengen Betonung der Christologie in der westlichen Theologie wendet sich die heutige Christenheit wieder mehr dem Heiligen Geist zu. Nur bei Paulus herrschte in dieser Hinsicht ein Gleichgewicht. Hebr sieht seine Christologie als Rettungsanker für seine Adressaten an. Das hat er mit den vier Evangelien wohl gemeinsam. Aus diesem Grund aber ist in Kap. 6,19-20 der Ziel- und Höhepunkt der Anrede der Adressaten. Der Verfasser hatte ab V. 7 nicht mehr über Jesus geredet. Nun kehrt er umso intensiver zur Christologie zurück.
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Der Brief an die Hebräer
Hebr 7,1 – 10: Der himmlische Hohepriester und sein Werk Hebr 7,1-28: Melchisedek In der den Hebr umgebenden frühjüdischen Religion und in den gnostischen Spekulationen ist Melchisedek eine geheimnisvolle und bedeutende Figur. In der Schrift kennen ihn nur Gen 14,17-20 und Ps 110,4. In Gen 14 handelt es sich wohl um einen in jüngerer Zeit neu formulierten älteren Stoff aus der Vorgeschichte Jerusalems. Dem siegreichen Abraham bringt Melchisedek, König von (Jeru-)Salem, Brot und Wein entgegen, segnet ihn, und Abraham gibt ihm den Zehnten. In Ps 110,4 wird der König als Priester nach der Ordnung des Melchisedek durch DuAnrede »installiert«. Im Frühjudentum sind die wichtigsten Texte über Melchisedek die Rolle 11 QMelch aus Qumran (Melchisedek ist hier ein Elohim-Wesen und ein siegreicher Priesterkönig der Endzeit; der »Gesalbte des Geistes« ist eine Art Prophet an seiner Seite) und der Anhang zum Slavischen Henochbuch (Melchisedek wird ohne Vater und ohne Mutter, d. h. von seiner sterbenden Mutter, geboren und ist Haupt von zwölf Priestern der Endzeit). In der Alten Kirche gibt es bedeutende Melchisedek-Texte in der koptischen Kirche, bei Cyrill v. Jerusalem und bei Athanasius (»Geschichte über Melchidesek«). Von den gnostischen Quellen sind wichtig das Bala’izah-Fragment 52; die Melchisedek-Schrift NHC IX 1,2 und die Pistis Sophia. In NHC IX redet Melchisedek im Ich-Stil über seine »Bekehrung«/Installation, ihm ist ein Engel beigegeben, er ist das Haupt (?) der Welt, wie in 11 Q Melch ist Satan sein Gegner. Engel und Dämonen sind wichtig; Melchisedek bringt mit den Seinen »lebendiges« Opfer und empfängt (unter Anspielung auf den »Namen«) eine Taufe. Steht hier Melchisedek an der Stelle Jesu? Angesichts der Fülle von Material tut man nicht gut daran, Hebr durchweg oder von vornherein als Quelle für die späteren MelchisedekTexte vorauszusetzen. Hebr ist nur ein kleiner Teil aus einer großen Masse. Der Verfasser des Hebr greift auf Melchisedek zurück, weil es sich hier seiner Meinung nach um einen nicht-aaronitischen Priester handelt (»Opfer« von Brot und Wein in Gen 14 [Brot und Wein in Gen 14 sind
wohl kaum als Opfer zu verstehen, sondern als Willkommensgabe, ähnlich wie noch heute in Ostfriesland den neu Hinzugezogenen von Nachbarn ein Brot gebracht wird.], Segen und nach Gen 14,18: »Er war Priester Gottes.« Anrede des Königs als »Priester nach der Ordnung des Melchisedek« in Ps 110,4). Wir ordnen, um nicht im Material zu ertrinken, die Stoffe phänomenologisch nach Traditionen. So können wir zu Anfang eine königliche und eine priesterliche Melchisedek-Tradition voneinander isolieren: a) Melchisedek als König: Nach Gen 14,18 ist Melchisedek König von Salem; in Ps 110,4 wird mutmaßlich der König angeredet und zugleich als Priester nach der Ordnung des Melchisedek eingesetzt. 1 Makk 14,41: Simon der Makkabäer wird zum »Hohenpriester in Ewigkeit« berufen, damit ist er eine Art Priesterkönig. In Rom hielt sich eine Art Priesterkönigtum rex sacrorum, der formell höchste Priester in Rom (Livius, Ab urbe cond. XL 42,9). Als König steht er nach Philo (Leg Alleg 3,79f) dem Tyrannen gegenüber; nach Josephus ist er Priester, weil er sich als gerechter König bewährt hat. Nach 11 Q Melch ist Melchisedek endzeitlicher Richter an der Stelle Gottes auf Erden, Gegner ist Belial; nach § 1f dieser Schrift arbeitet Melchisedek mit dem endzeitlichen Verkündiger des Evangeliums (nach Jes 61,1) zusammen. Weitere Merkmale in diesem Bereich: Melchisedek ist unbeschnitten (Justin, Dial 33; Tertullian) und hält auch keinen Sabbat (Tertullian), denn von beidem schweigt die Schrift in Gen 14 und Ps 110. b) Melchisedek ist ein Wunderwesen ohne Stammbaum, da Vater und Mutter in der Schrift nicht genannt werden: Anhang slav Henoch (ohne Vater, aus der sterbenden Mutter geboren); Hebr 7,3. Nach Philo (Congr 99) ist Melchisedek Autodidakt und in keine Schule gegangen (weil er keine Eltern hatte). Die Alte Kirche greift das auf: Melchisedek ist ein nicht-zivilisiertes, allein und unberührt aufgewachsenes Wesen. Die langen Fingernägel und Haare lassen ihn als Eremiten abseits von Zivilisation erscheinen. Abraham muss ihm erst die Frisör-Dienste leisten (Athanasius). Diese Legenden werden wohl ausgestaltet, um die Attribute »vaterlos, mutterlos
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Kapitel 7
etc.« auf ein menschenmögliches Maß herabzustufen. Melchisedek ist demnach also kein Engel, kein himmlisches Wesen, sondern eine Art Waldschrat. Wer aber ohne Vater und ohne Mutter ist, hat ewiges Leben (Hebr 7,3; Melchisedek als Elohim-Wesen nach 11 Q). c) Wegen einer anderen Lesart der in b) aufgeführten Merkmale ist Melchisedek doch ein himmlisches Wesen. Wenn von ihm gesprochen wird, ist der Logos gemeint (Philo, Leg Alleg 3,82; vgl. Fug Inv 117: Logos als Hoherpriester). Er ist ein Engel oder eine Kraft (Origenes: Melchisedek ist dynamis logike; Hippolyt, Refutatio 7,35; Epiphanius, Pistis Sophia), er ist der Heilige Geist (Hierakas der Ägypter, 2./3. Jh. n. Chr.; Hieronymus, Brief 63: Spiritum Sanctum occurisse Abrahae et ipsum esse qui sub homine visus est) oder ein dem Christus übergeordnetes himmlisches Wesen (nach den Gnostikern bei Hippolyt, Refutatio: Melchisedek ist die große Kraft, und dieser ist größer als Christus, nach dessen Bild … der Christus ist …, dass Jesus ein Mensch ist und der Christus auf ihn herabkam [Melchisedekianer]; Ps.-Tertullian; Epiphanius). Er ist Advokat im Himmel (für die Engel) so wie Christus auf Erden für die Menschen (Ps.-Tertullian, Adv Haer 28). – Wegen dieser »häretischen« Deutungen des Melchisedek als himmlisches Wesen haben orthodoxe Kirchenlehrer sich um eine Vermenschlichung des Melchisedek bemüht, s. unter b). d) Priesterliche Deutungen des Melchisedek I: Melchisedek ist Priester des höchsten Gottes: Gen 14,18; Ps 110,4. – Jub 13,25 deutet auf das levitische Priestertum, so auch die Rabbinen: Durch Melchisedek, der Abraham segnete, ging das Priestertum auf Abraham und seine Nachkommen über. – II. Anders: Anhang slav Henoch und 11 Q Melch: Eschatologisches Priestertum, in 11 Q Melch mit Sühnefunktion (kafar); Aboth R. Nathan 34. Vgl. endzeitliche Erneuerung des Priestertums nach TestXII Levi 18. – Eschatologisches Priestertum Jesu Christi: Hebr 7f; Justin und Tertullian: Die Tatsache, dass Melchisedek unbeschnitten ist, weist auf das neue Priestertum. – III. Jüdische Merkavah-Spekulation: Himmlischer Hoherpriester: Metatron. – IV. Nach Ps.-Eupolemos (fr. 1,6) ist Abraham am Tempel auf dem Garizim von Melchisedek empfangen worden.
863 Dem gleichzeitigen Judentum war erkennbar genau das unangenehm, was Hebr an der Gestalt des Melchisedek fasziniert. Denn Jub 13,26 (2. Jh. v. Chr.) bringt es fertig, beim Referat von Gen 14 Melchisedek zu übergehen. Statt dass Abraham den Zehnten an Melchisedek gibt, heißt es nur: »Und der Herr ordnete es an als Ordnung für die Ewigkeit, dass sie ihn (sc. den Zehnten) den Priestern geben sollten, die vor ihm dienen, dass sie es in Ewigkeit erhalten sollen.« Jub kennt daher auch Ps 110,4 (»in Ewigkeit«) und deutet die Ordnung des Melchisedek so, dass alle Priester den Zehnten bekommen. Melchisedek wird also einfach zu den aaronitischen Priestern dazugerechnet. Vgl. dazu Pirqe Rabbi Eliezer 27: »Abraham fing an, den Zehnten zu geben in der Welt.«
e) Durch das Opfer von Brot und Wein ist Melchisedek Vorbild des Abendmahles/Messopfers: kopt Anaphoragebete; Kebra Nagast (äth) 105 und Gregorius-Anaphora (äth); Kanon der röm. Messe (et accepta habere sicuti accepta habere dignatus es … et quod tibi obtulit summus sacerdos tuus Melchisedech sanctum sacrificium immaculatam hostiam). – Bei Philo, Leg Alleg 3,81 werden Brot und Wein des Melchisedek noch auf Heiterkeit und Freude hin ausgelegt. Fazit: Hebr bewegt sich im Rahmen sehr entfalteter und zum Teil esoterischer Spekulation über Melchisedek. Ein endzeitliches Priestertum nach der Ordnung des Melchisedek (Ps 110,4) kennt außer Hebr nur noch Anhang slav Henoch. Auch aufgrund der Bemerkungen in Hebr 7,3 (ewig, dem Sohn Gottes ähnlich) lag es sehr nahe anzunehmen, Melchisedek sei ein selbstständiges himmlisches Wesen nach der Art eines Engels. Die Kirche hat sich mit b) nur gegen naheliegende Konsequenzen gewandt. Was ist theologisch daraus zu gewinnen? In der Schrift selbst findet der Verfasser, was über die Institutionen Israels hinausweist. Die Schrift »weiß mehr« als das, was je in Israel offiziell realisiert wurde. Mit dem Priestertum des Melchisedek beschreibt und benennt sie sogar eine Institution jenseits der Priester, die sich auf Aaron zurückführen. Das ist ähnlich, wie wenn die Urchristen die Heidenmission, die sie betreiben, schon beim Propheten Jesaja angedeutet finden. So enthält die Schrift (die Bibel der Juden) gewissermaßen Altes und Neues Testament schon immer in sich selbst. – Außerdem bedeutet der Re-
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864 kurs auf Melchisedek: Auch im Neuen Bund gibt es ein Priestertum, wenn auch gegenwärtig nur mit einem einzigen Hohenpriester; aber die Institution selbst ist vorhanden. Das Christentum ist also überhaupt nicht »religionslos«. Der Aspekt des Kultes und eine kultische Durchdringung der Christologie könnten aber in der Auseinandersetzung mit anderen Religionen und heimischer Magie hilfreich sein. Ritual und Magie sind vorgegeben, weil Menschen die Ahnung haben, dass Ideen und Gesinnungen im Verhältnis zu Gott die Angst nicht überwinden können. Von daher entdeckt man die seelsorgerliche Bedeutung kultischer Denkform (Regelhaftigkeit, Ganzheitlichkeit). Im Blick auf die heidenchristlichen Leser des Hebr sind aus dem Thema Melchisedek zwei Aspekte bedeutsam: a) Da Jesus zum Priestertum nach Melchisedek gehört, ist er einem nicht-abrahamitischen, heidnischen Priestertum zuzurechnen. Zwar wird Melchisedek schon in Gen 14,18 »Priester des höchsten Gottes« genannt; aber woher er diesen Gott kennen soll, da Abraham doch der erste Verehrer des wahren Gottes war, bleibt völlig im Dunkeln. Der Titel »Priester des höchsten Gottes« ist eine Vereinnahmung Melchisedeks für den jüdischen Glauben. Da Melchisedek nicht von Abraham abstammt, ist er kein Jude. Mit Recht haben die Kirchenväter darauf hingewiesen. Jedenfalls muss es für die heidenchristlichen Leser des Hebr ausgesprochen interessant gewesen sein, dass Jesus einem solchen Priestertum zugehört. b) Die in Hebr 7,3, bei Philo v. A. und im Anhang zum slav Henoch erhaltene Beobachtung, dass Melchisedek vaterlos, mutterlos und ohne Stammbaum gewesen sei, ist erkennbar künstlich. Es ist zwar wahr, dass die Bibel bei Melchisedek keinen Stammbaum liefert, aber das tut sie bei sehr vielen anderen Personen auch nicht. Andererseits ist diese Beobachung der Anlass, Melchisedek für ein Wesen ewigen Lebens zu halten (Hebr 7,3, auch wegen Ps 110,4 »in Ewigkeit«, »für immer«). Dahinter steckt mit Sicherheit mehr als ein zufälliger exegetischer Fund, der dann ausgeweitet wird. Die Ursache wird vielmehr in 11 Q Melch erkennbar: Melchisedek gehört zu den Elohim-Wesen. Schon der Name weist auf einen klassischen semitisch-palästi-
Der Brief an die Hebräer
nischen Götternamen hin. Dass die Gen und die Kirchenväter Melchisedek dann entmythologisieren, versteht sich von selbst. Aber in 11 Q Melch lebt nur auf, was wir häufiger beobachten: Störende, nicht-israelitische Traditionen werden vom hohen Götterthron herabgenommen und vermenschlicht; so werden ja auch Sonne und Mond zu Lampen und sind nicht mehr Götter. So ist es auch – ohne dass Hebr das weiß oder bedenkt – bei Melchisedek. Als Elohimwesen ist er ein ehemaliger Gott, und im Frühjudentum lebt diese Tradition wieder auf wie so manches andere, das in langen Jahrhunderten durch den strengen Jahwe-Glauben unter Verschluss gehalten wurde. Auch die Engel und Dämonen gehören großenteils dazu. So ist es kein Zufall, dass in den Qumrantexten (4 Q Amr) auch eine mythische Gegenfigur zu Melchisedek genannt ist: Melchiresha (»König des Bösen«, genau inhaltlich Melchisedek, dem König der Gerechtigkeit bzw. gerechten König, entgegengesetzt). Quellen der Melchisedek-Überlieferung Gen 14; Ps 110 1 Makk 14,41 Simon der Makkabäer wird zum »Hohenpriester in Ewigkeit« berufen Ps.-Eupolemos, fr. 1,6 (= Eusebius, Praep evangelica IX 17,6 bei N. Walter: JSHRZ 1/2, 138.142), denn Eusebius las in Gen 33,18 statt Salem Sichem, und Argarizim heißt »Berg des Höchsten« (3./2. Jh. v. Chr.) Jubiliäenbuch (Übers. K. Berger, Gütersloh 1982) 13,25 1 Q 20 (s. J. Maier: Die Texte aus Qumran I) 4 Q Amr a-f: Melchiresha als dämon. Gegenkönig zu Melchisedek 11 QMelch (s. J. Maier, Die Texte aus Qumran III) Philo v. Alexandrien (ed. L. Cohn/P. Wendland), De congressu eruditionis cum gratia 99; Legum Allegoriae 3,79-82; De Abrahamo 235 Flavius Iosephus, ed. B. Niese, Antiquitates 1,180; Bellum 6,438 Melchisedektraktat aus Nag Hammadi NHC IX, 1.14.15-16; 19,10-20,18 Anhang slav Henoch (Übers. C. Böttrich, Gütersloh 1997) Tertullian, Adversus Iudaeos, § 2 Ps.-Tertullian, Adversus Haereses, § 28 Hippolyt v. Rom, Refutatio heresium VII 35 Pistis Sophia ed. Schmidt
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Kapitel 7
2. Buch Jeu, ed. Schmidt TestXII (Testamente der zwölf Patriarchen), ed. M. de Jonge u. a., Leiden 1979 Justinus Martyr, Dialogus 33 Theophilus ad Autolycum, 150 Origenes, ed. Horton, 88 Anm 2 Ps.-Athanasius v. Alexandrien, Narratio Melchisedech, PG 28 Kyrillos v. Alexandrien, 2. Homilie über Melchisedek Kopt Anaphora-Gebete: Parerga Coptica, ed. S. Gaselee Kebra Nagast, ed. C. Bezold, dt. Übers., 105 Epiphanius, Panarion Haereseon 55,1,1-5 Hierakas der Ägypter Hieronymus, Briefe 63 ad Evangelum, § 1 Ps.-Johannes-Evangelium, ed. Galbiati 37,153, 212 Gregorius-Anaphora (äth)
Die Argumentation in Hebr 7 1. Abraham liefert dem Melchisedek den Zehnten (7,1 f.4) und erkennt damit dessen Oberhoheit an. 2. Melchisedek ist dem Sohn Gottes ähnlich, besonders im ewigen Leben (7,3). Das ist die wichtigste Voraussetzung für ein gemeinsames, beide verbindendes Priestertum. 3. Abraham ordnet sich Melchisedek unter, weil er sich von ihm segnen lässt (7,6f). Segnen ist und bleibt eine zentrale priesterliche Tätigkeit. Denn der Geringere wird vom Größeren gesegnet, so Abraham von Melchisedek (7,6f). 4. Die Söhne Levis waren in den Lenden Abrahams und sind mit ihm von Melchisedek gesegnet und verzehntet worden (7,10). So ergibt sich ein »scharfes Gefälle Melchisedek – Abraham – Levi« (M. Karrer II, 74). 5. Dass die Schrift überhaupt ein Priestertum nach Melchisedek nennt, weist darauf, dass das levitische Priestertum nicht ausreichte (7,11). 6. Wenn sich das Priestertum ändert, muss sich auch das Gesetz (d. h. die gesamte geregelte Kultordnung) ändern (7,12). 7. Jesus stammt nicht aus dem Stamm Aarons, sondern aus dem Stamm Juda. Das weist auf ein anderes Priestertum (7,13). 8. Das neue Priestertum bezieht sich nicht auf sterbliche Menschen, sondern besteht nach Ps 110,4 (»auf ewig«) in der Kraft unzerstörbaren Lebens. Denn Leviten sind nur sterblich, Melchi-
865 sedek aber lebt ewig, deshalb ist er ihnen übergeordnet. So wurde durch Ps 110,4 die alte Kultordnung aufgehoben (7,15-18). 9. Die Priester nach Aaron und Levi wurden ohne eidliche Versicherung Priester, das Priestertum nach Melchisedek aber besteht durch Eid (Ps 110,4). Eide aber bestehen für die Ewigkeit (V. 20-22). Zur Hochschätzung des Eides in Hebr vgl. zu 6,13-18. 10. Hebr bezieht die Aussagen von Ps 110,4 direkt auf Jesus: Ihm hat der Herr geschworen, er ist Priester nach der Ordnung des Melchisedek, und zwar in Ewigkeit. 11. Markenzeichen des alten Priestertums sind daher Priester, die viele und sterblich sind (V. 23). Jesus dagegen kann immer für die Menschen eintreten. Hier ist die Theologie der Einmaligkeit des Hebr begründet. Es gibt in der neuen Ordnung nur einen Priester, und dieser hat ein für alle Mal ein Opfer dargebracht, sich selbst. 12. In seiner Sündlosigkeit ist Jesus der ideale Hohepriester, da er nicht auch noch für eigene Sünden aktiv werden muss (V. 26f). Auch nach jüdischer Auffassung soll der Hohepriester »heilig« sein (Philo, Vit Mos 2,154), er soll unbefleckt sein, wie es sich vor Gott geziemt (Philo, spec leg 1,113.249f). Aber mag er auch frei sein von eigenen Sünden (Spec leg 1,230), so kann es doch sein, dass er unabsichtlich sündigt. Und dafür muss er dann ein priesterliches Sündopfer darbringen. Philo kennt ein Opfer, das die Priester für sich darbringen, aber auch ein Opfer für das Volk (Heres 174). Voraussetzungen für diese Argumentation des Hebr ist: Genealogie und Kultordnung gehören in Israel zusammen; Priestertum ist als Institution eine Sache der Vererbung. Ferner: Vielzahl und Vergänglichkeit gehören zusammen und sind bei der Frage des Heilsgewinns negativ zu werten. Schon allein der Eid von Ps 110,4 bedeutet für das konkurrierende Priestertum des Melchisedek Unvergänglichkeit. Und schließlich: Der Verfasser hat ein dualistisches Verhältnis zu Institutionen wie Priestertum, Kultordnung oder Bund, aber auch zum Vaterland: Die bloße Erwähnung einer zweiten, vergleichbaren Größe in der Schrift eröffnet ein Konkurrenzverhältnis zu der bestehenden und bei den Lesern geltenden Größe.
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866 13. Grenzen und Probleme der Einordnung Jesu in das Melchisedek-Schema: »Die Person Melchisedeks, nicht seine Handlungen werden zum Vorzeichen der Christologie« (M. Karrer II, 74). Die Dimension des Leidens ist freilich der Melchisedek-Tradition fremd. Und Jesus hatte ja zumindest eine irdische Mutter (war also nicht mutterlos). Zudem bleibt offen, wie sich der erhöhte Christus zum ewigen Melchisedek verhält. Gerade an dieser Stelle setzt dann die gnostische Spekulation ein, die auch sonst dazu neigt, den irdischen Jesus gegenüber vergleichbaren himmlischen Gestalten stark abzuwerten. Die Bedeutung von Ps 110 im Urchristentum im Allgemeinen und im Hebr im Besonderen (vgl. dazu geich in 8,1) lässt auch den Rückschluss darauf zu, wie der Verfasser überhaupt zu der Aussage vom Hohenpriestertum Jesu gekommen ist: Ps 110,1 deutet die Erhöhung des Kyrios Jesus als Sitzen zur Rechten. Dabei ist hier nicht zu entscheiden, ob die Lektüre von Ps 110 zum Stichwort Kyrios diese Deutung der Erhöhung hervorgebracht hat, oder ob eine generelle Aussage über das Sein (auch: das Stehen) Jesu zur Rechten (wie z. B. Apg 7,56) mit Hilfe des Psalms auf das Sitzen festgelegt wurde, was sich dann auch durchgesetzt hat. Jedenfalls aber hat der Verfasser des Hebr in diesem Psalm weitergelesen und fand in 110,4 das Priestertum nach Melchisedek. Das kam ihm gelegen, weil auf diese Weise, wie gezeigt, eine kultische Deutung des Todes und der Erhöhung Jesu jenseits der Abstammung von Abraham und des Jerusalemer Kultes möglich wurde. Melchisedek ist also wegen Ps 110 für den Hebr so wichtig geworden. Zu Hebr 7,18f: Das Gesetz hat nichts zur (heilvollen, himmlischen, Gott gemäßen) Vollendung gebracht. Es war schwach und nutzlos. Deswegen wird es aufgehoben. Nach dem Kontext betrifft diese Aufhebung freilich die Kultordnung (in Ps 110,4 [LXX] griech. taxis genannt) und nicht das Moralgesetz, obwohl der Verfasser in V. 19 von nomos redet. Bei einem Vergleich mit dem paulinischen Nomos ist große Vorsicht geboten. Denn für Paulus gilt, dass er in Übereinstimmung mit vielen Zeugnissen des damaligen Judentums das Gesetz primär unter moralischen Aspekten sieht, und das gilt auch für Jesus, z. B. nach Matthäus. Wäre es anders, dann könnte
Der Brief an die Hebräer
für Mt und Paulus das Gesetz nicht als »Nächstenliebe« zusammengefaßt werden. Hebr dagegen denkt priesterlich und nur von der Kultordnung her. Weder Paulus noch Hebr denken das Gesetz biblizistisch von den 653 Geboten des Pentateuch her. Für beide ist Gesetz vielmehr in einem vor-biblizistischen Sinn der »Wille Gottes«, das, was Gott angeordnet hat, was man auch unterschiedlich zusammenfassen kann. Für Hebr steht bei der Frage nach Gottes Ordnung das Priestertum im Mittelpunkt, für Paulus Gerechtigkeit und Liebe. Vgl. unten 7,28 und zu 9,10. – Zu 7,28: Vgl. zu 7,18 f.
Hebr 8,1-13: Himmlisches und irdisches Heiligtum Hebr 8 behandelt die Gegensätze irdisches Heiligtum/himmlischen Heiligtum und alter Bund/ neuer Bund. Das Alte und das Irdische gehören zusammen wie das Himmlische und das Neue. Zu Hebr 8,1-5: Beschreibung des Dienstes am himmlischen Heiligtum: Der zur Rechten Gottes Erhöhte ist der (Hohe-)Priester des himmlischen Zeltes. Dieses ist das wahre Heiligtum. Der Priester auf Erden dagegen dient nur dem irdischen Abbild und Schatten des himmlischen Urbildes. Mose wurde dieses Urbild nach Ex 25,40 gezeigt. Insofern bezeugt schon die Schrift selbst, dass das alttestamentliche Zelt bzw. der Kultort damals nur schwaches Abbild der Wahrheit ist. – Leitworte in diesen Versen: Himmel/ Erde, Gott/Mensch, Abbild (Schatten)/Urbild. Die vorderorientalische Entsprechung von Himmel und Erde wird im Hebr in hellenistischen Begriffen formuliert, und dabei ist ein Einfluss des Mittleren Platonismus kaum zu leugnen: Noch heute kann man an den babylonischen Tempeltürmen erkennen, dass sie den Himmel abbilden. Die Grundauffassung der Abbildung himmlischer Wirklichkeit durch menschliche Bauten liegt daher in der babylonischen Sakralarchitektur. Von daher gibt es drei markante Wirkungslinien. Die eine führt über Ex 25,40, wonach Mose für sein Zelt ein himmlisches Urbild erblickt, bis hinein in die Gründungslegenden mittelalterlicher Dome, nach welchen zunächst ein Modell des künftigen Domes visionär gezeigt
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Kapitel 8
wird. Die andere Wirkungslinie führt zur Ideenlehre Platos. Demnach (Höhlengleichnis) gibt es für alles Irdische himmlische Urbilder (Ideen), gegenüber denen das Sichtbare nur Schatten ist (vgl. dazu unten zu 8,5). Die Vermittlung zu Plato liefert Philo v. A., der (Leg Alleg 3,102f) gerade zu Ex 25,40 sagt, Mose habe hier die »unkörperlichen Ideen als das eigentliche Urbild« geschaut. Eine dritte Linie betrifft die himmlische Stadt, deren Abbild die irdische ist. Gal 4,26 nennt das himmlische Jerusalem die Mutter(-Stadt und Heimat) der Heidenchristen, und so ist es auch in Hebr 12,22. Die im Brief angeredeten Heidenchristen sind hinzugetreten zu dieser Stadt Gottes. Es ist daher höchst bemerkenswert, dass nach Hebr 8 die Heidenchristen zum himmlischen Heiligtum gehören, nach Hebr 12 und Gal 4 zum himmlischen Jerusalem. Offensichtlich hat der himmlische Charakter der Lokalität etwas zu tun mit dem nicht-jüdischen Charakter der Adressaten. Während in Ex 25,40 und in der Tempeltradition (inklusive Anwendung auf die Kathedralen) das himmlische Urbild der Legitimation des irdischen Abbilds dient, ist in Hebr 8 wie in Hebr 12 und Gal 4 der himmlische Ort der volksmäßigen, sozusagen nationalen und nur irdischen Ausprägung überlegen und entspricht so dem »Wahren«. Das aber passt gut zur Überwindung der Völkergrenzen durch das frühe Christentum. Es passt auch genau zur Theologie des Hebr: Denn es ist jüdischen Ursprungs und doch nicht an das jüdische Volk und die Beschneidung gebunden, ein Judentum ohne Bodenhaftung in Palästina also. Auch hier weist die Gemeinsamkeit zwischen Hebr und Paulus auf einen nicht-, bzw. vorpaulinischen Ursprung des Konzepts, und zwar im Rahmen früher Heidenmission, die gleichwohl aus jüdischen Traditionen lebt, die gewissermaßen im Haus des Judentums den christlichen bzw. eschatologischen Universalismus findet. Zu Hebr 8,6-13: Dem erhabeneren Priesterdienst entspricht, dass Jesus Mittler des besseren Bundes ist, der auf besseren Verheißungen beruht. Wäre der erste Bund ohne Fehler gewesen, so würde in Jer 31 kein neuer Bund erwähnt. Nach 8,12 ist nur in Jer 31 auch von Sündenvergebung
867 die Rede. Zudem enthält Jer 31 beträchtliche Kritik an der Untreue des jüdischen Volkes (8,9). Was geschieht hier? Jer 31 wird auf Ex 24 bezogen. Der neue Bund wird nicht als bloße Novellierung des alten verstanden, sondern als eine neue Institution. So jedenfalls 8,13: Wenn Gott von einem »neuen Bund« spricht, nennt er den früheren Bund indirekt »alt«, und alles, was alt wird und veraltet, vergeht. Jeremia wird es freilich nicht darauf angekommen sein, den neuen Bund gegen den alten auszuspielen. – Zweifellos hat der Verfasser des Hebr aus der christlichen Tradition übernommen, dass jetzt der neue Bund etabliert sei. Die Rede vom alten und neuen Bund kennt 2 Kor 3. Die Berichte von der Einsetzung des Abendmahles nach 1 Kor 11 und Lk 22 sprechen vom Neuen Bund (ohne ihn freilich vom Alten Bund abzusetzen). Ähnlich wie bei der Rede von den beiden Jerusalems (s. o.) entsteht auch bei der Rede vom alten und neuen Bund, die also beide einander entgegensetzt, der Verdacht, dieses sei speziell ein Konzept für Heidenchristen. Denn, wie gesagt, die Abendmahlsworte zum Becher spielen die beiden Bundesschlüsse nicht gegeneinander aus, wie es aber in Hebr 8 und 2 Kor 3 geschieht. Paulus argumentiert in 2 Kor 3 auch ganz ähnlich wie sonst typischerweise Hebr, indem er dem alten Bund (anzusehen am Angesicht des Mose) einen vergänglichen Glanz bescheinigt, für den neuen Bund dagegen unvergänglichen Glanz behauptet. Es könnte auch sein, dass Paulus 2 Kor im Ganzen gegen Apollos gerichtet hat und in 2 Kor 3 ihn kopiert. Da aber Apollos ausdrücklich als Alexandriner (geistig oder wirklich) bezeichnet wird, könnte es sein, dass wir in dieser Art Typologie (irdisches/himmlisches Jerusalem bzw. Heiligtum und alter/neuer Bund) ein Stück ältester alexandrinischer Theologie vor uns haben. Sie war jüdisch, schriftgelehrt, aber auf Legitimation der Heidenmission bezogen, so auch in der Rede vom neuen Bund in Hebr 8. Nun war die Rede vom »neuen Bund« im Judentum dieser Zeit nicht ganz ungeläufig. Die Damaskusschrift (CD) aus der Kairoer Geniza und aus Qumran bestätigt das. Aber nirgends hat man den neuen Bund dem alten gegenübergestellt. Das geschieht erst in 2 Kor 3 und in Hebr 8. Hier erst geschieht etwas Neues: Das Heiden-
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868 christentum bekräftigt, dass das Christentum institutionell neu ist. Aber es ist dies auf eine Weise, die jüdischer nicht sein könnte. Es ist kein Zufall, dass man später dieses TyposDenken bei typisch alexandrinischen Theologen findet, so etwa bei Melito v. Sardes um 160 n. Chr. (Passah-Homilie, 37 ff: Abbild und wahres Urbild, bei Berger/Nord), dort mit deutlich antijüdischer Wendung. Vgl. ebd. § 4: »Das Gesetz war alt, das Wort ist neu, das Modell war zeitlich, ewig ist die Gnade.« Dann § 36 und 38: »Ein Modell des Zukünftigen wird aus Wachs oder Ton oder Holz hergestellt, damit man sich das Zukünftige besser vorstellen kann. Das Zukünftige wird höher und größer sein, stärker und schöner, viel reicher in der Ausstattung, aber an einem kleinen, vergänglichen Modell kann man sehen, wie es sein wird. Doch wenn dann das Eigentliche kommt, auf das sich das Modell bezog, das es im Voraus abbildete, dann wird das Modell unbrauchbar und verliert seine Gültigkeit. Dem Eigentlichen und Wahren muss dann weichen, was nur sein Abbild war. Das, was einst wertvoll war, wird wertlos, wenn das sichtbar wird, was das eigentlich Wertvolle ist … Das Modell braucht man, weil danach das Zukünftige entsteht. Doch wenn man die Sache selbst hergestellt hat, dann will man nur sie allein haben. Dann kann man nur noch sie allein lieben. Denn in ihr allein kann man das Urbild sehen, die konkrete, wirkliche Gestalt.« Dieser Abschnitt liest sich wie ein Kommentar zu den beiden Hälften von Hebr 8, zu V. 1-5 und zu V. 6-13.
Zu Hebr 8,1: Der Verfasser bezeichnet selbst seine Lehre über den Hohenpriester als die Hauptsache. Das Sitzen zur Rechten meint den absoluten Vorrang (noch heute sitzt der Ehrengast rechts von der Hausfrau). Hier geht es um Gottes Throngenossen und Sohn. Umstritten ist, ob das Sitzen zur Rechten nur aus Ps 110,1 herzuleiten oder eine allgemeinere Ausdrucksweise ist, die nur hin und wieder durch das Psalm-Zitat unterfüttert wird. M. Karrer II, 106 bemerkt zu diesem Vers: »Der Hebr wagt demnach eine kühne Ellipse. Er überspringt Jesu entscheidende Kulthandlung (wie wir hören werden, sein Selbstopfer) und benennt allein das Ergebnis: Der Kult, den wir irdisch nennen, gelangt am Thron Gottes zu seinem Ende. Jesus, der Hohepriester, der sein einmaliges
Der Brief an die Hebräer
Opfer dargebracht hat (vgl. 7,27), manifestiert Gottes rettende Kraft auf dem Thron nicht mehr durch eine Fortsetzung von Opfern und kultischen Bewegungen, sondern in der überlegenen Kraft der himmlischen Ruhe.« Einwände dagegen: Das Opfer wird in 8,3 erwähnt, aber als Leerstelle wird offen gelassen, worin es besteht. Doch was Jesus zur Rechten Gottes tut, hat der Verfasser gerade in 7,25 gesagt (die Kapiteleinteilung ist frühes Mittelalter), und er wird es in 9,24 wiederholen: Jesus tritt fürsprechend ein für die Menschen. Seine Opfergabe ist in diesem Sinne sein Gebet (zur Konvertibilität von Gebet und Opfer vgl. TRE 12, 52. Das schließt im Übrigen sein Selbstopfer nicht aus, sondern konkretisiert es! Weder ist hier vom »Ende« des irdischen Kultes die Rede, noch gar von der »Ruhe«. Der Verfasser überspringt daher auch nichts, sondern stellt hier die Würde des Hohenpriesters dar. Denn es wurde schon erkennbar: Nicht im Tun, sondern in der Würde besteht dieses Priestertum und auch seine Verwandtschaft mit dem des Melchisedek. Zu Hebr 8,2: Hebr nennt das himmlische Heiligtum griech. ta hagia, weil dieses Wort auch die heidenchristlichen Adressaten verstehen (was bei »Zelt« nicht der Fall ist). Zur Wendung »das der Herr aufschlug« vgl. (LXX) Num 24,5-7: »Wie schön sind deine Häuser, Jakob … wie Zelte, die der Herr aufschlug … Ein Mensch wird hervorgehen und über viele Völker herrschen, und seine Herrschaft wird erhöht werden.« – Dass Gottes eigentliches Heiligtum im Himmel ist: vgl. LAB 11,15; syr BaruchApk 4,2-7. Zu Hebr 8,5: Schatten und Urbild: »Schwaches Abbild, Abglanz der himmlischen Ordnung« nennt Hebr hier den alttestamentlichen Kult. Griechisch steht hier hypodeigma (Abbild) und skia (Schatten). In 9,23 heißt es: »Die irdischen Abbilder (griech.: hypodeigmata) der himmlischen Urbilder wurden also durch den Ritus des Besprengens mit Blut heilig gemacht …« In 10,1 heißt es: »Das Gesetz zeigt nur den Abglanz (griech.: skia, Schatten) der Dinge, die wir für die Zukunft erhoffen, es gibt uns noch nicht ihr wirkliches Urbild (griech.: eikon).« – Das Wort »Schatten« findet sich in derselben Bedeutung für dieselbe Sache in Kol 2,17 (jüdische Riten;
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Kapitel 8
»All das war nur ein schwaches Abbild dessen, was jetzt gilt, leiblos wie ein Schatten, den ein Körper wirft«). Diese Übereinstimmung ist alles andere als zufällig, da Kol und Hebr einen Frontabschnitt gemeinsam haben: Abwehr der Vermittlung des Heils durch Engel (s. zu Hebr 1f). Der Sprachgebrauch ist hier alexandrinisch: Philo v. Alexandrien setzt die Körperwelt dem Schatten gleich. Gott wird nicht diekt gesehen, sondern nur in Abbildern und Schatten erkannt. Bei M. Karrer II läßt sich besonders in den Kommentierungen zu Hebr 8 eine aus meiner Sicht übertriebene Apologetik zugunsten des alten Bundes feststellen. Immer geht es nach M. Karrer darum, dass das Alte nicht abgewertet werden solle. In Sätzen wie Hebr 8,13 sehe ich die gegenteilige Tendenz. Gewiss ist das Alte weder vom Teufel noch »Sünde«, aber es ist vorläufig, irdisch und bleibt daher an der Oberfläche. Bestenfalls ist es Verheißung und Bildmaterial für das Neue. Was veraltet und dem Untergang nahe ist, ist wertlos geworden. Zur impliziten Argumentation in Hebr 8 1. V. 6: Der himmlische (Gottes-)Dienst Jesu ist »besser«, weil er auf einer »besseren« vertraglichen Grundlage beruht, auf dem neuen Bund. Mit »besser« meint Hebr stets das, was himmlisch, beständig und eben einfach wahr ist, weil es die Wirklichkeit Gottes relevant erreicht. 2. V. 7-12: Weil Gott von einem neuen Bund spricht, muss der alte veraltet sein. Der neue Bund hat aber nicht nur die himmlische Qualität (dazu schon 8,1-5), er erreicht auch wirklich das Herz des Menschen (V. 10) und bewirkt, dass über Gottes Wirklichkeit niemand mehr belehrt werden muss (V. 11), d. h., dass sie für alle selbstverständlich ist. Auf diesem Wege erfahren wir Entscheidendes über das Bild des Hebr von Mensch und Gott: Beim Menschen gibt es Äußeres und Inneres, und so ist es auch beim Kult, bei dem es Äußeres und Himmlisches gibt. Diese beiden Gegensatzpaare korrespondieren einander. Das Äußere des Menschen regelt der äußerliche Kult des Alten Testaments, der äußerliche Reinigung verschafft (9,8.10.13). Insofern gehören der sichtbare, irdische Kult und die äußerliche Kultfähigkeit des Menschen zusammen. Aber das Innere des Men-
869 schen wird durch den alten Kult nicht erreicht, weder sein Herz noch seine Frage nach Gott (8,10f im Jer-Zitat). Das Innere des Menschen entspricht vielmehr dem himmlischen Kult, dem Dienst des erhöhten Christus. Nach Hebr 10,22 wird darin der Effekt des Dienstes des Erhöhten bestehen, dass die Gewissen der Menschen gereinigt werden, d. h.: Der himmlische Dienst des Hohenpriesters ist genau der, der auch das Herz des Menschen verändert. So gehören zusammen: das Äußere auf Erden (äußere Reinheit, sichtbarer Kult) einerseits und das Innere und Wahre andererseits (Herz der Menschen und himmlisches Heiligtum). 3. V. 13: Der Alte Bund verschwindet. Darin entspricht er der Gültigkeit des alten Priestertums (7,15.18). M. Karrer II, 111 kämpft für eine positive Bedeutung von (griech.) paradeigma, das erst spät bloßes Abbild bedeute. Aber Hebr verwendet dieses Wort gar nicht. Das Wort hypodeigma, das Hebr verwendet, spielt in der platonisch-mittelplatonischen Diskussion, wie Karrer selbst zugibt, bis zum 1. Jh. inklusive keine Rolle. Auch von einer positiven Bedeutung des Schatten(spenden)s ist in Hebr 8 keine Rede (gegen Karrer, a. a. O., 110). Ich kann das Urteil Karrers über das Fortdauern des Ersten Bundes nicht sehen (»Der erste Bund reicht bis zur Gegenwart«: II, 126), noch viel weniger kann ich eine Metaebene über erstem und neuem Bund erkennen, so aber Karrer zustimmend zum Zitat Backhaus: »Gott schließt Judentum wie Christentum unter dem einen und einzigen Gottesbund zusammen« (129). – Aufgewertet werde der aaronitische Kult gegenüber der Auslegungstradition (111). M. Karrer weiter: »Der Hebr macht Mose nicht klein, sondern würdigt ihn als zentralen Diener Gottes« (111). Nach Hebr 3,1-6 kann ich das gerade nicht sehen. – Nach Karrer II, 113 tadelt Hebr nicht den ersten Bund und die Torah, sondern die Menschen, die versagten (113); 116: »… brachen die Väter Israels zwar den Bund. Aber Gott kündigt ihnen nicht. Im Gegenteil, er antwortet mit einer größeren Zusage für Israel.« Dem kann ich nicht zustimmen. Der erste Bund wird nicht einfach durch eine größere Zusage überholt, sondern der zweite Bund ist wirklich neu, er betrifft die Reinheit des Gewissens. Das ist eine neue Ebene. – Nach Karrer II, 145 ist es Hebr 9,4 um »die großartige Würde Aa-
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870 rons« zu tun. Dabei geht es doch nur um eine Reliquie. Und wo der Hebr von »besserer« Ordnung spricht, übersetzt Karrer »verbessert« (II, 131), was etwas anderes ist. Karrer nimmt ein Dilemma wahr (117): Wenn Hebr dem Anliegen des Jer-Textes folge, ergebe sich eine Kontinuität des neuen Bundes zum alten. Doch die Betonung des neuen werde dann unerklärbar. Andererseits: Gottes Bund sei nicht wie der Bund der Väter (V. 9). Dann »können wir kaum begreifen, warum er die Sätze der Verheißung zitiert« (117). Meine Antwort: Die Sätze der Verheißung sind doch nicht begütigend, sondern die Verheißung kommt als radikal Neues zustande. Karrer, 119: »Der Bundesbruch der Väter mindert die Menschen; Gottes Zuwendung über alle Schuld hinweg jedoch wertet sein Volk auf, gibt dem Haus Israel (V. 10) eine unverbrüchliche, überragende Würde.« Die Unterscheidung zwischen den Menschen und dem Bund ist künstlich; das Jer-Zitat macht sie gerade nicht. Die Menschen haben gesündigt auch deshalb, weil der alte Bund nicht das tat, was der neue nach V. 10f tun wird. – Zustimmen kann ich allerdings M. Karrer (zu 122): »Der eine Gott Israels wird ihr Gott (sc. der der Heidenchristen, add. K. B.), und sie werden mit Israel Gottes Volk.« Freilich gilt auch hier: Positives kann der Verfasser nur über Judenchristen sagen und über solche Juden, die den in Kap. 11 beschriebenen Glauben haben. – M. Karrers Bemühungen sind auch eine Verbeugung vor der Theologie F. Crüsemanns. Fachlich gesehen wird versucht, den kontrastiven platonisierenden Dualismus des Hebr zu unterminieren. Auffallend: Beim Priesterum nach Kap. 7 hatte Karrer (II, 81 ff) gegen den Wechsel keine Bedenken, aber der Bund hat in der gegenwärtigen (!) Theologie einen anderen Publikumswert.
Hebr 9,1-10: Der Opferdienst des alten Bundes Der Verfasser beschreibt den sichtbaren irdischen Tempel in Jerusalem und bewertet den darin vollzogenen Kult. Wie viele Tempel, so ist auch der biblische zweigeteilt in das Heilige und das Allerheiligste. Hebr unterscheidet zwei Zelte, Ex 26,33 dagegen kennt nur ein Zelt mit einem trennenden Vorhang zwischen Allerheiligstem und Heiligem darin.
Der Brief an die Hebräer
(Heilige Stadt, dann Heidenvorhof, Frauenvorhof, Männervorhof, Priesterhof, darin Waschbecken, Brandopferaltar und Marmortisch für die Opfergaben). Heiliges (durch Vorhang abgetrennt vom Vorhof) Der Vorhang heißt bei Philo kalymma (Verhüllung) (Vit Mos 2,101), vgl. Ex 26,36 f. Leuchter vgl. Darstellung auf dem Titusbogen in Rom. Erst Leuchter, dann Tisch: Philo, Heres 226. Tisch vgl. Darstellung auf dem Titusbogen in Rom. Schaubrote Priester gehen zur Verrichtung der Opfer hinein. Hier, im Heiligen, steht der Rauchopferaltar (vgl. Philo, Vit Mos 2,94f; Josephus, Ant 3,139-147; Bell 5,216-219; nach syr BaruchApk seit 587 v. Chr. verloren). Hebr setzt ihn ins Allerheiligste. Allerheiligstes Durch zweiten Vorhang vom Heiligen abgetrennt (Josephus, Ant 3,125-127: erster Vorhang – anderer Vorhang). Der Vorhang heißt bei Philo katapetasma (Vit Mos 2,101), vgl. Ex 26,31-33. Dieses ist der traditionelle Vorhang vor dem Thron Gottes. Goldener Weihrauch-Opferaltar (wegen Ex 40,5 [LXX]: »vor der Bundeslade«) 9,4. Schon in 1 Kön 6,19-22 nahe am Allerheiligsten. Offb 8,3f: Im Himmel steht der Räucheraltar direkt vor dem Thron Gottes. Bundeslade, mit Gold überzogen: vgl. Ex 25,16 (Gold in LXX); seit 587 v. Chr. verloren. Darin: Goldener Krug mit Manna, Ex 16,33 (LXX) »vor dem Herrn« (Gold nur in LXX). Stab Aarons, der gegrünt hatte (Num 17,25: vor der Lade), vgl. die Erzählung Num 17,16-21 (gegen Anzweifeln des aaronitischen Priestertums). Tafeln des Bundesschlusses: Ex 25,16. Weil nach Ex 25,16 das Gesetz in die Bundeslade kommt (Philo, Vit Mos 2,97), gehören für Hebr auch der Krug und der Stab mit in die Bundeslade, obwohl sie nach dem MT nur »vor dem Herrn« bzw. »vor der Bundeslade« sind. Darüber: (Sühne-)Deckel der Bundeslade (»Versöhnungsstätte«). Cherubim der Herrlichkeit. Nur der Hohepriester geht einmal im Jahr hinein, mit Blut. Die eigenen Sünden und die des Volkes reinigt der Hohepriester. Zur Zeit Jesu ist das Allerheiligste leer (Josephus, Bell 5,219).
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Kapitel 9
Ältere Zeugnisse für das Inventar des Allerheiligsten: syr BaruchApk 6,7: »Ich sah ihn (sc. den Engel) zum Allerheiligsten herniedersteigen und dort den Vorhang an sich nehmen, das heilige Schulterkleid, den Sühnedeckel, die beiden Tafeln, die heiligen Gewänder der Priester, den Rauchopferaltar und 48 Edelsteine, die der Priester an sich trug und alle heiligen Gefäße in dem Zelt.« – Targum Onkelos und Jerushalmi I zu Ex 16,33f: »Mose sagte zu Aaron: Nimm eine Flasche und tu hinein ein Omer voll Manna und verwahre es vor Jahwe zur Aufbewahrung für alle Geschlechter.« Wie Jahwe Mose aufgetragen hatte, so verwahrte es Aaron vor der Bezeugung (d. h. vor der Bundeslade) zur Aufbewahrung.
Bewertung: Das alles sind nach Hebr Satzungen nur äußerlicher Heiligkeit über Speise und Trank, Waschungen. Sie sind »ohne Nutzen«, jedenfalls für das, was Hebr unter Vollendung versteht; das korrespondiert der Nutzlosigkeit des Hörens nach 4,2. Durch sie erfolgt keine Reinigung des Gewissens. In theologischer Hinsicht gibt es für Hebr 9 zwei Probleme: 1. Wozu dienen die detaillierten Schilderungen von Tempel und Kult in 9,1-10? – 2. Wie verhalten sich diese Darstellugen zur historischen Realität des 1. Jh. n. Chr.? Zu 1.: M. Karrer II, 146 antwortet nur mit dem Attribut »großartig« und mit dem Schluss vom Geringeren auf das Größere: Wenn schon der mosaische Kult so großartig war, um wieviel mehr wird es der himmlische sein. Das ist sicher unzureichend. Vielmehr wird hier eine Denkart des Verfassers erkennbar, die von konservativen Luiturgikern her geläufig ist. Man weiß, dass zu Lebzeiten des Verfassers das Allerheiligste des Tempels auf jeden Fall leer war. Der Verfasser dagegen stattet es mit einer Fülle von Gegenständen aus, deren jeder heilig ist und eine Vielzahl von Geschichten impliziert, die man erzählt hat. D. h. den Verfasser kümmert es nicht, wenn das Berichtete gegen den historischen Befund des 1. Jh. n. Chr. ist. Man darf annehmen, dass der Verfasser sich des exotischen Charakters seiner Liste durchaus bewusst ist. Aber er erstrebt exakte Vollständigkeit. Das ist eine Art von Vollkommenheit (griech.: teleioun, zur Vollendung bringen, ist für den Verfasser ein wichtiges Wort). Genauigkeit bei wahrnehmbarer Plurali-
871 tät ist ein Merkmal priesterlichen Denkens, wie es im Alten Testament besonders bei Lev und Num erkennbar ist. Auch die Priesterschrift des AT zeigt ein inventarisches Denken schon im Schöpfungsbericht. Denn jede kleinste Ungenauigkeit in der Ausstattung oder im Ritus hat gewaltige negative Folgen. Den Adressaten des Hebr dürfte dergleichen in Rom von der noch bei Priestern lebendigen etruskischen Religion her vertraut sein, im 1. Jh. n. Chr. besonders von der religiösen Bedeutung der Sibyllinen her, die zu kultischer Vollständigkeit mahnen, da sonst böse Omina die Folge seien. In Hebr 9,1-5 zeigt der Verfasser eine Dinggenauigkeit, der sonst in seinem Brief die Schriftgenauigkeit entspricht. Religion ist nicht verwaschenes Reden im Ungefähren, sondern erfordert ein Maß von Exaktheit, wie es im 21. Jh. für Finanzen und Hightech-Mechanik gefordert wird. Für den Verfasser ist dieses Ideal der Vollkommenheit durchaus eine Variante christlicher Radikalität. Denn nur der Hohepriester Jesus Christus bringt wirklich jene lupenreine Vollkommenheit, die Gott angemessen ist, bis in die dunkelste Kammer des Gewissens. Die Ansichten des Verfassers über die Strenge des Wortes Gottes nach 4,12 ordnen sich dieser Mentalität zu. So ist für den Verfasser die Dinggenauigkeit von 9,1-5 nur eine Vorstufe der wahrhaft notwendigen Heiligkeit. Aber, soweit es geht, ist alles Notwendige genau aus der Schrift zu erweisen. Das gilt auch dann, wenn diese Schriftgenauigkeit auf Kosten des Kontextes geht oder wenn sich der Verfasser eine für ihn passende Form des jeweiligen Schrifttextes aussuchen will. Daher behält der Verfasser auch den Ausdruck »Zelt« bei, der allein in 9,1-5 fünfmal vorkommt. Das entspricht der beabsichtigten Schriftgenauigkeit. Im Übrigen geht es dem Verfasser in 9,1-5 weder um Lobpreis noch um Abwertung. Gewiss, die Pluralität der Gegenstände kontrastiert er mit der absoluten Einzigkeit der Person Jesu und der Einmaligkeit seines Tuns. Aber schon die Häufigkeit des Wortes »heilig« oder des Attributs »golden« legt nahe, dass der Verfasser an etwas Ähnliches gedacht haben kann wie Paulus, wenn er in Röm 9,4 von der Herrlichkeit Gottes spricht, die er wohl dem Kult zuschreibt. Im Sinne des Hebr aber ist vor allem wichtig: Auch die Abfolge von Heiligem und Allerheiligstem sowie der
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872 Gang des Hohenpriesters in das Allerheiligste sind für ihn ein Stück des Weges, und das ist für ihn die zentrale Metapher. Als Stück des Weges haben diese Riten ihre eigene, unersetzliche Notwendigkeit. Zu 2.: Der Verfasser kennt mutmaßlich den Tempelkult von Jerusalem nur aus Büchern, eben aus LXX, Philo, vielleicht von Josephus und aus touristischen Berichten. Einen Hinweis auf die Tempelzerstörung des Jahres 70 n. Chr. kann er nicht geben, weil er lange vorher schreibt. Und es ist durchaus ein Argument für die Frühdatierung des Hebr, dass eine erfolgte Zerstörung des Tempels für den Verfasser ein willkommenes Argument gewesen wäre. Denn er spricht in 8,13 davon, dass erster Bund und damit verbundene erste Kultordnung »nahe dem Untergang« sind. Da hätte ein Hinweis auf die bereits geschehene Zerstörung des Tempels gute Dienste geleistet. Zumeist wird freilich darauf hingewiesen, dass man noch in der Mischna bezüglich des Tempelkults nach 200 Jahren so getan habe, als existiere dieser noch. Aber dieses Argument zieht nicht für Hebr: Zweifellos entwirft er ein zeitenthobenes Idealbild, aber im Unterschied zur Mischna ist diese Institution de jure veraltet und dem Untergang geweiht. Bei der Art von Genauigkeit, die der Verfasser vorführt, ist es m. E. undenkbar, dass er die Zerstörung des Tempels verschwiegen hätte (vgl. 9,8: hat noch Bestand!). Denn das ist keine belanglose Episode, sondern ähnlich wichtig wie der Kreuzestod Jesu, den der Verfasser auch in sonst nicht berichteten Einzelheiten kennt (13,12). Zu Hebr 9,1: griech. kosmikos heißt: Es bildete den ganzen Kosmos ab (Josephus, Ant 3,123.180), so Josephus, Bell 5,217 (Lampen bilden Planeten ab, Brote auf Tierkreis und Monate); vgl. auch Philo, Vit Mos 2,133 (mit dem Hohenpriester wendet sich die ganze Welt, pas ho kosmos, zum Kult). Zu Hebr 9,6-10: Im Rahmen seiner platonisierenden Weltsicht bemüht sich der Verfasser nicht nur um eine Überwindung der Vielzahl der Dinge durch die absolute Einzahl der Person (die der Logos ist), sondern auch um eine Überwindung der Wiederholungen in der Zeit durch die Einmaligkeit gültigen Geschehens. Deshalb läuft
Der Brief an die Hebräer
der Abschnitt ab 9,6 zu auf das »ein für alle Mal« in 9,12. Dass der jüdische Hohepriester einmal im Jahr in das Allerheiligste gehen durfte, wird nun gleichfalls in seiner Einmaligkeit zum Vorbild der Einmaligkeit des Weges Jesu Christi. Eigentlich hatte man nach Kap. 7 erwartet, dass die Ordnung Melchisedeks nun ganz anders sein würde. Aber das betraf, wie gesagt, nur die Person des Hohenpriesters, nicht sein Tun. Das Tun Jesu Christi orientiert sich überraschend stark nun doch am Tun des aaronitischen alttestamentlichen Hohenpriesters. Dieser ist die sichtbare Bildvorlage. Das betrifft z. B. den Grundsatz, dass der Hohepriester nicht ohne Blut in das Allerheiligste gehen darf (9,7). Wieder argumentiert der Verfasser mit differenzierten kulttheologischen Kenntnissen: a) Das »erste Zelt hat noch Bestand« (9,8): Der Tempel in Jerusalem ist also noch nicht zerstört. Und das ist hier ein wichtiges Argument: Es erklärt nämlich, warum die neue Ordnung noch nicht umfassend sichtbar geworden, sondern noch verhüllt ist. b) So werden nach 9,9 jetzt noch Opfer dargebracht, die jedoch niemanden im Gewissen reinigen können. Das Gewissen wird demnach vorgestellt als der zentrale Punkt jenes Tempels, der jeder einzelne Christ ist. Dieses Motiv kennen wir von Paulus (1 Kor 6,19), und es ist der Herkunft nach nicht jüdisch oder gar alttestamentlich, sondern findet sich im 1. Jh. etwa gleichzeitig bei dem römischen Philosophen Seneca, der den römischen Lesern des Hebr vermutlich ein Begriff war, ähnlich bekannt wie H. G. Gadamer Ende des 20. Jh. in Deutschland. Wenn der Einzelne ein Tempel ist, dann liegt alles daran, dass er in seinem Inneren kultfähig ist. Das Gewissen ist im Inneren des Menschen schon vor dem Neuen Testament der Punkt, an dem sich die Schuld durch das schlechte Gewissen meldet. c) Die Opfer stehen in Verbindung mit weiteren kultischen Übungen (Speisen, Getränke, Tauchbäder). Sie sind nicht damit identisch, aber sie repräsentieren wie diese eine nutzlose, äußerlich bleibende kultische Pluralität. d) Dieses alles ist nur »auf Zeit« angeordnet, bis zur Zeit der »besseren« Ordnung. Das ist ein ziemlich unerhörtes Argument, das sich im Neu-
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en Testament sonst nirgends findet. Üblicherweise gelten in der ganzen hellenistischen Welt Gesetze für immer (vgl. dazu H. Sonntag, Nomos Soter, 2001). Die durch keine weitere Autorität außerhalb gestützte Meinung des Verfassers, jüdische Gesetze gälten nur, »bis Besseres komme«, ist also durchaus revolutionär, denn sie rechnet mit einem Fortschritt im Bereich des Stabilsten. Hier zeigt sich eine wirklich gravierende Einwirkung von Eschatologie auf das Gesetzesverständnis. Sowohl bei Jesus als auch bei Palus kommt es darauf an, in der Endzeit das Gesetz endlich wirklich zu erfüllen. Dass es selbst durch eine bessere Ordnung abgelöst würde, kommt überhaupt nicht in den Blick. Auch im Blick auf die Wirkungsgeschichte (an deren Ende G. F. W. Hegel steht) wäre es daher verlockend, die Bedeutung der Eschatologie für stabile Institutionen zu verfolgen (vgl. schon zu 7,18.28). Zu Hebr 9,11-14: Der Abschnitt wird beherrscht vom Schlussverfahren in V. 13f (a minore ad maius). Denselben Sachverhalt hatte der Verfasser sonst oft durch das Adjektiv »besser« (griech.: kreisson) formuliert. Dabei ist die Zielangabe in V. 14b deutlich auf Heidenchristen gerichtet: Die Reinheit des Gewissens entspricht der zeitgenössischen römischen Auffassung vom Menschen als Heiligtum, dessen Inneres der Reinigung bedarf, die »toten Werke« weisen auf die toten Götzen, und der lebendige Gott ist der Gott Israels im Kontrast zu den toten Götzen. Der Verfasser hat demnach hier Verständnisbrücken für die heidenchristlichen Leser gehäuft. Warum? Er muss in diesem Abschnitt verständlich machen, warum Jesus sterben musste. Erschwerend kam für ihn hinzu, dass die Kreuzigung keine blutige Hinrichtungsart war – auch wenn durch das Annageln der Füße und den Stich in die Seite Blut geflossen sein muss (von der vorangehenden Geißelung abgesehen). Es ist auch richtig, dass »Blut« schon längst Synonym für den gewaltsamen Tod von Menschen geworden ist (wie auch bei uns Blutvergießen sich auf gewaltsame Tötung von Menschen bezieht). Aber in Hebr 9 kommt man ohne die wörtliche Bedeutung von »Blut« nicht aus, und zwar wegen 9,6b. Dabei besteht aber durchaus eine Spannung: Wenn nach 9,14 und 10,22 das Gewissen gereinigt wird und nach 7,25 sowie
873 9,24 Jesus vor Gott für uns eintritt – was soll da noch sein Blut? Besonders zugespitzt wird diese Frage durch 10,7, wonach nicht durch Opfer, sondern durch das Tun des Willens Gottes dessen Wohlgefallen erlangt werden kann und durch Jesus erlangt worden ist. Von daher kann man noch einmal fragen, was die Formeln über das Selbstopfer Jesu im Hebr bedeuten. Wenn es z. B. in 9,14 heißt: »Durch den Heiligen Geist hat er sich selbst dargebracht« – welche Rolle spielt der Heilige Geist hier? Der Heilige Geist in Hebr 9,14 entspricht in seiner Aufgabe dem Heiligen Geist nach Röm 8,26: Dieser bringt die Gebete der Menschen vor Gott, und ähnlich bringt er nach Hebr 9,14 das Selbstopfer Jesu vor Gott. Noch die ältere römische Messe kennt einen Opferengel, der das Opfer Jesu vor Gott trägt (jube haec perferri per manus sancti angeli tui in sublime altare tuum). Theologisch wird man wohl Folgendes festhalten müssen: 1. Das Entscheidende ist Jesu Selbstopfer. 2. Dieses steht nicht auf einer Ebene mit alttestamentlichen Brand- und Schlachtopfern, sondern besteht wesentlich im Tun von Gottes Willen. 3. Das Ziel des Weges Jesu ist die dauerhafte Fürsprache Jesu für die Menschen vor Gott (7,25; 9,24). 4. Der blutige Tod Jesu geschieht im Rahmen von Gehorsam (10,7; 5,8) und Selbstdarbringung. Wenn Hebr 9,12 sagt: »Jesus ging … kraft seines eigenen Blutes in das himmlische Heiligtum«, dann ist zu fragen: Wie hat der Verfasser sich das konkret vorgestellt? Wie kommt Jesu Blut in den Himmel? Jesus reinigt ja damit das himmlische Zelt. Also: Was kommt im Himmel an? Es kann doch nicht sein, dass der Erhöhte in einer Schale sein Blut mitbringt! Denn irdisches Blut passt nicht in den Himmel. Zugegeben, es handelt sich um bildliche Darstellung. Aber was ist deren theologischer Gehalt? Wir gehen vom Verfahren des Verfasser aus: Weil er aufgrund von Ex 25,40 weiß, dass himmlisches und irdisches Heiligtum einander ähnlich sind, wagt er es, das himmlische Heiligtum nach dem irdischen zu (re-)konstruieren. Auch das Geschehen (Reinigung) wird in Analogie zum irdischen geschildert. Zur bildlichen Veranschau-
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874 lichung dessen, was im Himmel geschieht, werden viele Züge vom irdischen Vorbild her eingetragen. Dieselbe Verfahrensweise finden wir bei der Darstellung des himmlischen Jerusalem (vgl. Offb 21f): Die Einzelzüge sind nach dem Bild des irdischen Jerusalem (Mauern, Tore, Fundamente, Straßen, Wasserversorgung etc.) gestaltet, dennoch nicht wörtlich zu nehmen (auf goldenen Straßen kann man nicht gut gehen). Da dieses Verfahren bisher noch nicht bedacht wurde, nennen wir es »architektonische Projektionen«, also Architekturentwürfe für das Unsichtbar-Zukünftige. Zum Eintragen aus dem Irdischen gehört insbesondere die Regel, dass der Hohepriester nur »mit Blut« in das Allerheiligste hineingehen darf; dazu gehört das Reinigen (Jom Kippur; vgl. bes. 9,21-23) wie auch das Prinzip der Einmaligkeit (»einmal im Jahr« wird freilich zum »einmal überhaupt«). Doch der Verfasser ist in seinem Bild/AbbildVerfahren nicht ganz konsequent. Er redet plötzlich vom Gewissen der Menschen als dem Gegenstand der Reinigung (9,14; 10,2; das Gewissen befindet sich bekanntlich nicht im Himmel, sondern im Herzen), und er spricht vom fürbittenden Eintreten des Erhöhten, was ein Hoherpriester nicht zu tun brauchte; denn der Blutritus war »alles«. An diesen Stellen lässt der Verfasser gewissermaßen durchblitzen, wie er das genannte Geschehen theologisch gedacht hat. Dieser Denkweg ist zu rekonstruieren, um den Bildern und den Durchbrechungen der Bilder auf die Spur zu kommen. Also: Jesus wurde gewaltsam getötet, d. h.: blutig, auch wenn gar kein oder wenig Blut geflossen ist. Das Stichwort Blut aber erlaubt die Verbindung mit dem Hohenpriester und mit dem Jom Kippur. Dieses Bild wird nun angewandt auf den Gekreuzigten und Auferstandenen. Es fällt übrigens auf, dass der Verfasser weder vom einen noch vom anderen wörtlich spricht. Denn er gebraucht Kreuz und kreuzigen nur zweimal, und dabei im Sinne von Ertragen von Schande (und nicht vom Sühnetod); von Auferstehung spricht er nicht, die Sache erwähnt er nur in 13,20. Das heißt: Sein Bild vom Eintreten des Hohenpriesters in das himmlische Heiligtum hat die Rede von (Kreuz und) Auferstehung voll-
Der Brief an die Hebräer
ständig verdrängt. Der Verfasser setzt sein Bild so stark durch, dass andere klassisch christliche Vokabeln bei ihm keine Chance haben. Der Leser muss, um den Verfasser zu verstehen und insbesondere seine Durchbrechungen des Bildgehaltes zu würdigen, diese bildhafte Einkleidung rückgängig machen, da sonst unlösbare Sachfragen entstehen (die wir oben genannt haben und die sich auf »Blut« konzentrieren). Das bedeutet: Der Verfasser des Hebr meint, Jesus stehe als Sohn und Märtyrer vor Gott. Das, was er dort tut, ist Fürsprache. Entscheidend ist, wer er ist. Aufgrund seines gewaltsamen Todes (Blut) gehört das Martyrium zu ihm, zu seiner Geschichte und Identität (so, wie es in Joh 20,27 die Wundmale am Auferstandenen zeigen). Schon im Fall der Melchisedek-Typologie sahen wir: Nicht primär das, was er tut, sondern wer er ist, das ist wichtig vor Gott. So ist es auch an dieser Stelle. Der erhöhte Hohepriester erscheint für uns als einer von uns, der die Menschen bis in den Tod geliebt hat, vor Gott (9,24). Er bringt nicht in einer Schale sein Blut mit, um es im Himmel zu versprengen, sondern er trägt die Wundmale des Martyriums gewissermaßen an seinem Leib und tritt für uns ein. M. Luther hat das richtig erkannt: Der Erhöhte erinnere den Vater an sein Martyrium, zeige gewissermaßen mit dem Finger darauf uns sage: »Sieh, Vater, sieh doch hin auf meinen Tod.« Der Märtyrertod Jesu gehört zu seiner Geschichte und Identität. Und wenn der Vater auf ihn blickt, dann kann er dieses – nach Menschenart gesagt – nie vergessen. Die Geduld im Martyrium ist der Wille des Vaters, den Jesus erfüllt hat (Hebr 10,7 wie Mk 14,36b). Es sei nur darauf hingewiesen, dass die Rede vom Gewissen in diesem Zusammenhang eine genaue Parallele in 1 Petr 3,21 hat. Hebr 9,11-12.26: Vergleich mit 1 Petr 1,18f20 Besondere Beziehungen ergeben sich zwischen Hebr 9,11-12.26 und 1 Petr 1,18 f.20 (zur gemeinsamen Segensformel vgl. zu 13,20f): Jesus ist »vorher«, vor Grundlegung der Welt erwählt und wird offenbart (griech.: phaneroun) am Ende der Zeiten bzw. beim Sich-Vollenden der Äonen. Und die Erlösung (griech.: lytroun) gab es nicht durch Materielles (Silber, Gold, Blut von Tieren), sondern durch das eigene kostbare Blut Jesu Christi. – Hier liegen Gemeinsamkeiten jen-
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Kapitel 9
seits der besonderen Theologie des Hebr vor. Da aber wichtige Aussagen betroffen sind, kann man fragen, ob darin nicht älteste römische Theologie greifbar wird (wenn denn Babylon in 1 Petr 5,13 auf Rom zu deuten ist, vgl. dazu bei 1 Petr).
Hebr 9,15-22: Diatheke Hebr verwendet das griech. Wort diatheke in dreifachem Sinn, entweder als Bundesschluss am Sinai, und dort gibt es das Blut des Bundes (9,20), oder als den neuen Bund nach Jer 31 (Hebr 8,8-12), wo gar kein Blut fließt oder in Aussicht gestellt ist, wozu Gott aber sagt, er werde gnädig sein und der Sünden nicht mehr gedenken (Hebr 8,12). Diese beiden Verwendungen beziehen sich immerhin gemeinsam auf das hebr. berith, was eine einseitige Verfügung zugunsten Dritter meint und zumeist reichlich irreführend mit »Bund« übersetzt wird. Schließlich aber gebraucht Hebr das Wort diatheke in einem ganz anderen Sinn, nämlich als Testament im Sinne der letztwilligen Verfügung. Deren Gültigkeit aber, die der Verfasser betont, setzt den Tod des Erblassers voraus (9,16). Leider hat die Kirche spätestens seit Tertullian dieses Spiel mitgespielt und die Namen der beiden Diatheken, der alten und der neuen, mit »Testamentum« übersetzt, was im Deutschen bis heute irritiert und die Bibel »beider Testamente« stets mit Trauerfällen assoziieren lässt. Den Umstand des notwendigen Todes nutzt der Verfasser sozusagen schamlos aus, um den Bund von Ex 24,8 mit dem Tod Jesu und die Sündenvergebung von Jer 31 mit beidem zu verbinden. All drei Bezugspunkte waren notwendig: Ex 24,8 für das Blut, Jer 31 für die Sündenvergebung und die griechische Bedeutung Testament für die Notwendigkeit des Todes eines Menschen, also Jesu (denn Ex 24,8 sprach zwar von Blut, aber es war das von Böcken und Stieren).
Hebr 9,24-28: Das Opfer Jesu Christi Wie ordnet sich das Opfer des Hohenpriesters Jesus Christus ein in die Welt- und Religionsgeschichte des Opferns? Hebr entfaltet in diesen
875 Versen einen neuen typologischen Ansatz. Er sagt: a) Menschen sterben (einmal), und danach kommt das Gericht – offenbar das persönliche, individuelle Gericht direkt nach dem Tod, wie es Paulus möglicherweise in 2 Kor 5,10 meint. – Der Vergleichspunkt ist daher hier nicht der alttestamentliche Kult, der Jom Kippur oder dergleichen, sondern das übliche Sterben des Menschen, mit dem auch seine Sünden beseitigt sind; denn der Mensch wird mit dem Tod für seine Sünden bestraft. – b) Dem entspricht, dass Jesus einmal gestorben ist und danach die Sünden vieler Menschen hinwegträgt, und zwar, um vor dem Antlitz Gottes für uns sichtbar zu werden und als Patron der Menschen aufzutreten. Mit der Situation unter a) ist gemeinsam: einmal sterben und dann Befreiung von den Sünden. Nur ist bei a) der Preis dafür der ewige Tod, bei b) dagegen trägt Jesus die Sünden stellvertretend fort. Wenn die Sünden aller durch den einen stellvertretenden Tod weggetragen werden, müssen die Menschen nicht mehr sterben. – Da Jesus aber am Ende der Zeiten erschienen ist und durch sein Opfer die Sünden getilgt hat, so sagt 9,26, ist dieses der Schlussstrich unter alle Sünde der Welt. Von deren Größe und Macht wird dann nie mehr die Rede sein. So wird Jesus bei seiner Wiederkunft mit »Sünde« nichts mehr zu tun haben. Er kann dann alle retten, da alle Schuld aufgehoben ist. Auch wenn das Ende der Zeiten jedenfalls nicht in Sichtweite ist, konnte und kann Jesus dennoch alle Sünde aller Zeiten, auch die unserer Zeit, vor Gott tragen, da er ja als der himmlische Hohepriester vor Gott für die Menschen eintritt. Wir kommen noch einmal auf die Theologie des Opfers. Unsere Betrachtung ergab: Opfer hat immer etwas mit Eigentumsrechten Gottes zu tun. Opfer ist deren Anerkennung. Das ist gerade auch im Fall der Sünde akut. Denn Menschen, die sündigen, begeben sich als Sklaven unter eine neue, fremde Herrschaft. Das Neue Testament spricht von der Macht der Sünde über Menschen. Wenn Jesus durch seinen Tod in Stellvertretung die Sünde vernichtet, dann befreit er die Menschen von der Herrschaft der Sünde, er kauft sie frei, wie das Neue Testament sagt, er macht sie wieder zum Eigentum Gottes. Sie gehören nicht mehr zum Eigentum des Teufels/Satans. Gottes Eigentumsrecht wird wiederher-
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876 gestellt. Genau das aber geschieht in einem Opfer. Jedes Opfer bedeutet Anerkennung des Eigentumsrechtes Gottes, und zwar oft nur an einem, der sich stellvertretend für alle opfert (wie Jesus). Sein Tod hat es möglich gemacht, so Hebr, dass er als der eine für alle vor Gott stehen kann. Noch einmal: Durch seinen Tod hat Jesus die Menschen wieder zu Gottes Eigentum gemacht, so stellt er vor GottesThron Gottes Recht auf alle dar. Dass er als einer von uns vor Gott steht, ist sein Opfer; der Tod war Mittel und Weg dazu. Durch ihn ist das Verhältnis zwischen Gott und Mensch repariert, wieder ins Lot gebracht. Jesus konnte das als der leidende Gerechte und als Hoherpriester der Menschen auf dem Weg in den Himmel. Das Opfer vor dem himmlischen Vater ist die Vollendung des Weges Jesu. Daher nennt es Kanon I der Messe auch mit Recht hoc sacrificium laudis (Opfer des Lobes). Weit über die architektonische Projektion hinausgehend, betreibt der Verfasser hier eine ReRitualisierung des himmlischen Wirkens Jesu. Er spricht von der notwendigen Reinigung des himmlischen Heiligtums, als sei der Tod Jesu Anlass zu einer Art Jom Kippur, bei dem der Deckel der Bundeslade mit Blut von den Vergehen während des ganzen Jahres gereinigt wurde (was aber schon seit 600 Jahren nur noch Dogmatik war und nicht mehr geschah, da die Bundeslade verschwunden war). 9,23 spricht sogar von Opfern, was allerdings die blutgebenden Tiere am Jom Kippur nicht waren. 9,28 hält fest: Jesus wird sicher wiederkommen, aber dann nicht, um sich nochmals zu opfern oder zu sterben, sondern mit der Sünde (oder deren Sühnung) hat er dann nichts mehr zu tun. Nach 1 Thess 1,10 (Jesus wird kommen, um uns zu retten vor dem künftigen Zorn Gottes) konnte man ja durchaus fragen, wie denn diese entscheidende Rettung vor dem Zorn Gottes (den Gott wegen der Sünden der Menschen hegen muss) vonstatten gehen soll. Die Exegeten sagen für 1 Thess 1,10 und Mt sagt es in 7,23, dass Jesus sich dann erneut vor die Sünder stellen wird. Hebr ist da anderer Meinung: Die Fürsprache für die Sünder geschieht jetzt im Himmel. Mit anderen Worten: Die Rede vom gegenwärtig im Himmel zur Rechten Gottes für die Christen eintretenden Hohenpriester erübrigt die Rettung vom kommenden Zorn. Sie schafft bereits für
Der Brief an die Hebräer
die Gegenwart Gewissheit. In Zukunft geht es dann nur noch um das Wiedersehen. So nimmt Hebr den Christenmenschen ein Stück Angst vor dem kommenden Zornesgericht. Damit ist freilich die Rede vom erhöhten Fürsprecher nicht sekundär ent-eschatologisiert, sie findet sich ja auch bei Paulus in Röm 8,34. Mit der Tilgung der Angst durch das Konzept des Hohenpriesters haben wir den zentralen seelsorgerlichen Punkt des Verfassers getroffen, die Beseitigung von Angst und Schrecken, der sich der Verfasser in 12,18-29 zuwenden wird. Die Spekulation über den Hohenpriester ist daher nicht gelehrter Selbstzweck. Sie hat in der Beseitigung der Angst ihren Sitz im Leben. Zu Hebr 9,24: Das »nicht von Händen gemachte« Heiligtum ist das himmlische. Es besteht eine gewisse Tendenz, dieses Heiligtum gleichzusetzen mit der himmlischen Gemeinschaft der Auferstandenen (2 Kor 5,1; ähnlich Joh 2,19-21), bzw. dem himmlischen Jerusalem (worin nach Offb 21 kein Tempel ist, da es selbst Tempel ist). In Mk 14,58 ist offen, ob Jesus den neuen Tempel auf Erden meint, den er wie Salomo mit Hilfe von Geistern errichten will, oder ob er seine zukünftige Heilsgemeinde im Blick hat. Da Gott nach Apg 7,48 nicht in einem Haus wohnt, das von Händen gemacht ist, gilt auf jeden Fall: In der Rede von dem Haus (bzw. der Stadt), das nicht von Händen gemacht ist, treffen sich jüdisch-hellenistische Religionskritik (die sich schon immer gegen steinerne Tempel und blutige Opfer richtete) und apokalyptische Erwartung der »ganz anderen« neuen Wirklichkeit. Der Verfasser des Hebr dürfte sich da gut einfügen: Er verbindet alexandrinische Rationalität mit Apokalyptik (12,22f), und beides schließt sich überhaupt nicht gegenseitig aus. Zu Hebr 9,25-28: Jesus wird denen zum Heil erscheinen, die ihn erwarten (griech.: apekdechomai). Das sagt mit demselben Verb Phil 3,20 (aus dem Himmel erwarten wir als Heiland den Herrn Jesus Christus), vgl. 2 Tim 4,8 (die seine Wiederkunft lieben) und 1 Thess 1,10 (erwarten seinen Sohn Jesus vom Himmel, der uns rettet vom künftigen Zorn). Hinzuweisen ist aber auch auf Röm 8,19 (erwarten die Offenbarung der Kinder Gottes). Bemerkenswert: Im Wesent-
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Kapitel 10
lichen erst bei der Wiederkunft Jesu geschieht die Rettung durch ihn (griech.: sozein, synonym mit rhyomai). Und Jesus wird erwartet, so wie die getreuen Sklaven auf ihren Herrn warten, wenn er irgendwann nachts wiederkommt. Das hat die Konnotation von Sehnsucht und Bereitsein. Was dann geschieht: Jesus wird sichtbar, offenbar, es ist eine Epiphanie, und das gilt nicht nur von Jesus als dem Sohn, sondern auch von den Christen als Kindern. Die Aufgabe Jesu wird so beschrieben: Am Ende der Äonen setzt er die Sünde außer Kraft. Denn dann beginnt, so darf man wegen der üblichen Entgegensetzung von Sünde und Gerechtigkeit schließen, der Äon der Gerechtigkeit: Er folgt auf den Äon der Sünde. Wenn sie entmachtet ist, kann er beginnen. Hier liegt ein apokalyptisches Schema (Äon der Sünde versus Äon der Gerechtigkeit) vor, das auch ohne Jesu Tod erwartet wurde. Nur hat Jesu Tod im christlichen Glauben die Funktion der Äonenwende. Das belegt am besten das so genannte Freer-Logion zu Mk 16,3k: »Offenbare deine Gerechtigkeit jetzt … damit die Menschen umkehren zur Wahrheit und nicht mehr sündigen, da sie die herrliche Gerechtigkeit erben.« Die entscheidenden Stich-
877 worte »Sünde« und »Gerechtigkeit« sind auch hier gegeben; vor allem wird die Abkehr von der Sünde, ja das Ende der Sünde, gut beschrieben. Doch wie in Hebr 9 ist auch hier der stellvertretende Tod Jesu das Scharnier zwischen den beiden Zeiten. Mk 16,3k hat daher an derselben Überlieferung Anteil wie Hebr 9. Denn in Hebr 9,26 steht »Sünde« im Singular: Sie wird wirklich außer Kraft gesetzt. Wenn man das recht bedenkt, werden ein paar Elemente des Hebr besser verständlich. Einmal die Unmöglichkeit einer zweiten Umkehr nach Hebr 6; denn die Christen sind wirklich die von der Herrschaft der Sünde befreiten. Diese Befreiung ist gravierend, grundsätzlich und nicht wiederholbar. Insoweit sind die Christen ohne Sünde. Als Gemeinde der Gerechten realisiert die christliche Gemeinde den Anbruch des neuen Äon. Zum anderen erklärt sich die extrem ungewöhnliche Redeweise, dass Jesus »getrennt von der Sünde« wieder erscheinen werde. In der Tat: Er hat die Sünde aufgehoben und sie besiegt und daher nichts mehr mit ihr zu tun. Typisch für das Denken des Hebr ist in 9,28 der Kontrast zwischen den Sünden vieler und der Sünde im Singular.
Hebr 10: Die Arbeitsweise des Verfassers Obwohl seit Abraham im Alten Testament Menschenopfer ausgeschlossen sind, schlucken viele Exegeten zumeist brav die Rede des Hebr vom Selbstopfer des Hohenpriesters Jesus. D. h.: Die Grundfrage des Hebr, wie die Erlösung durch Menschenblut überhaupt geschehen kann, ist nicht ausreichend geklärt. Aus eben diesem Grunde schreibt der Verfasser das Kap. 10. Dabei erfährt der staunende Leser, dass das Opfer Jesu Christi gar keines ist. Noch in 9,23.25.26 (vgl. Darbringung in 28; 10,12.14) ist ohne Wenn und Aber vom Opfer des Hohenpriesters Jesus die Rede. Nun aber wird Ps 40,7 ff zitiert (»Opfer und Gabe verlangst du nicht … an Brand- und Sühnopfern fandest du keinen Gefallen«) und nach dem Psalm geht es um Jesu Gehorsam. Am Schluss des Kapitels vollzieht der Verfasser scheinbar eine neue Kehrtwendung: Nach Jer 31,39 wird Gott die Sünden vergeben, und zwar von sich aus, ohne Vorleistung seitens der Men-
schen. De facto bindet freilich der Verfasser die Vergebung von Jer 31 an das Opfer Jesu, den Willen Gottes zu tun. Wir haben daher die gedankliche Abfolge: Opfer, Gehorsam, freie Vergebung Gottes. Was ist da geschehen? In Hebr 10 ist das Stichwort »Sünde« extrem häufig (9 zwischen V. 2 und V. 18). Sünde ist hier das Thema, und zwar speziell ihre Beseitigung. Zwischen Opfer und Nicht-Opfer sucht Verfasser durch 10,10 (Darbringung des Leibes) einen Ausgleich (vgl. etwa Röm 12,1 lebendiges Opfer). Aber in 10,18 ist er doch so weit, dass Darbringung durch Vergebung (Amnestie) ersetzt wird. Die Verwirrung auf der Seite des Lesers entsteht, wenn er sich nicht grundsätzlich die Arbeitsweise des Verfassers klar macht. Für Hebr gliedert sich die Wirklichkeit in verschiedene Schichten oder Sphären. Durch Abbildlichkeit oder Urbildlichkeit stehen sie miteinander in Be-
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878 ziehung. Heute würde man oft von Metaphorik sprechen. Diese Metaphorik ist aber nicht nur eine Frage der Ästhetik oder Erkenntnis, sondern im Falle des Hebr auch mit einer Übernahme ähnlicher Spielregeln aus dem einen Bereich in den anderen verknüpft. Wenn man z. B. Jesu Tun als Opfer versteht, dann gilt auch – ebenfalls metaphorisch – z. B. die Blutregel, dass nichts ohne Blut gereinigt wird. Das Hohepriestertum Jesu ist genauso metaphorisch zu verstehen wie die Rede von seinem Blut (denn der Kreuzestod war fast unblutig), und auch das himmlische Heiligtum ist eine Metapher. Und wenn einer den Willen Gottes tut, kann man das Opfer nennen. Und es besteht theologisch kein Widerspruch zwischen Opfern des Menschen und Vergebung Gottes.
Hebr 10,5-10: Gehorsam und Hingabe Jesu Der Abschnitt ist geradezu »weihnachtlich« zu nennen. Denn die entscheidende Aussage ist mit Hilfe von Ps 40,7-9 formuliert ist. Im Kontrast zum gesamten kultischen Opferwesen sagt der Psalmist – und das legt der Verfasser des Hebr nun Jesus in den Mund: »Vielmehr hast du mir einen Leib bereitet, mit dem ich dir dienen kann … Ich komme, um deinen Willen zu tun. Durch diese Bereitschaft sind wir ein für alle Mal heilig gemacht worden, dadurch, dass Jesus seinen Leib, also sein ganzes Leben, Gott dargebracht hat.« Im Psalm geht es um den Kontrast von Opfer und Gehorsam. Aber dann heißt es »doch Ohren hast du mir eingepflanzt«; von der Bereitung eines Leibes war dort nicht die Rede. Schon in der griechischen Bibel Alten Testaments (LXX) steht aber »Leib«, und man vermutet dahinter einen alten Lesefehler im Griechischen (soma statt otia). Eine zweite Abweichung kommt hinzu. Im Hebräischen heißt es: »In der Buchrolle ist mir vorgeschrieben …«, die LXX macht daraus: »In der Buchrolle steht über mich geschrieben.« Schließlich wird »ich wollte (sc. deinen Willen tun)« weggelassen. Der Verfasser des Hebr fügt ferner als Einleitung ohne Anhalt am Alten Testament hinzu: »Beim Eintritt in die Welt sagt er …« So ist das Ganze ein Gebet Jesu geworden, das den Sinn von Sendung und Menschwedung Jesu umschreibt. Der Hebr will sagen: Es sind keine wei-
Der Brief an die Hebräer
teren Opfer mehr nötig, Christus ist das eine Opfer. Und die griechische Übersetzung des Alten Testaments erweist sich – vom Neuen Testament her gesehen – wieder einmal als eine sehr direkte Vorbereitung des Neuen Testaments. Die »Hingabe des Leibes« ist für den Verfasser des Hebr die Erfüllung des Willens Gottes. Dabei ist nicht erkennbar, dass sich dieses nur auf den Kreuzestod bezöge. Denn schon in Kap. 5,7-8 betrachtet der Verfasser die gesamten Tage des Erdenlebens Jesu als Zeit seines hohepriesterlichen Dienstes. So ist auch das gehorsame Tun des Willens Gottes der gesamte Lebensinhalt Jesu. Diese Auffassung wird von drei gewichtigen Zeugnissen des Neuen Testaments gestützt: vom Philipper-Hymnus (Phil 2,6-11), vom JohEv und von Jesu Gebet in Getsemani. Nach Phil 2,7f ist Jesus in seiner »Sklaven-Existenz« gehorsam, und zwar bis zum Tod am Kreuz. Und nach dem JohEv tut Jesus gehorsam den Willen Gottes, und zwar als sein Gesandter. In der Getsemani-Szene sagt Jesus: »nicht mein, sondern dein Wille geschehe«, und er meint damit das, was Jesus tun soll (sich nicht wehren, nicht weglaufen, ertragen und dulden). Wir bemerken: In allen vier Fällen geht es um Jesu konsequenten, strikten Gehorsam, nur in Getsemani bezieht sich das Tun des Willens auf die Leidengeschichte im engeren Sinne. Man könnte auch auf Lk 2,51 verweisen, wonach Jesus seinen Eltern »untertan« war. Dass Gott, Gottes Sohn, auf Erden nicht geboren wird um zu herrschen, sondern um sich gehorsam und geduldig zu unterwerfen, ist die Botschaft aller dieser Texte. Zu Hebr 10,19f: »Liebe Brüder und Schwestern! Dank des Blutes, das Jesus für uns vergossen hat, steht uns der Zugang in das himmlische Heiligtum offen. Weil Jesus Mensch ist wie wir, kann er für uns die Tür zum Himmel sein. Auf diese Weise ist er der neue, lebendige Weg selbst, der Vorhang, durch den Gott zugänglich wird.« Als Vorhang deute ich hier nicht das, was von Gott trennt, sondern das, was verbindet: den Zugangsweg im Kontrast zur umgebenden Mauer. Verwandt sind Texte über Jesus als »Tür«. Jesus ist dazu geeignet aufgrund seines Fleisches (griech.: sarx), d. h. wegen seiner Eigenschaft als Mensch (»Weil Jesus Mensch ist wie wir …«). Vgl. dazu Hebr 5,1 f.7 (Fleisch!). Zur Rolle des Fleisches Jesu in 10,20 vgl. zu Eph 2,14.16.
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Kapitel 10
Man unterscheidet (vgl. O. Hofius: Der Vorhang vor Gottes Thron 1972) a) den Vorhang direkt vor dem Thron Gottes, der Gott in seiner unzugänglichen Hoheit von allem Übrigen trennt, – b) den Vorhang zwischen Himmel und Erde, das Firmament also als Scheidewand zwischen Himmel und Erde. Wenn der ganze Kosmos als Stiftszelt gedeutet wird, unterscheidet der Vorhang zwischen dem Heiligen und dem Allerheiligsten. – c) Nach gnostischen Texten ist die Trennwand zwischen der göttlichen Welt und der Finsternis ein Vorhang. Nach manchen entstand die materielle Welt aus dem Schatten unterhalb des Vorhangs. J. Jeremias wollte vor »seines Fleisches« in 10,20 »durch« ergänzen und den Vers deuten: »durch Hingabe seines Fleischesleibes«. O. Hofius sieht dagegen in dem Vers einen Hinweis auf die Inkarnation. Durch die Menschwerdung des präexistenten Gottssohnes sei der Weg ins wahre Allerheiligste aufgetan. – Bei unserer Deutung sind wir dagegen ausgegangen von neueren Untersuchungen zum »Fleisch« des Messias einerseits und zu Jesus als »Tür« andererseits. Zu Hebr 10,22: Der Hohepriester Jesus Christus reinigt im himmlischen Heiligtum erstaunlicherweise das Gewissen. Das geschieht durch die Taufe. Also ist der Rahmen der Vorstellung hier eine Entsprechung von Mikro- und Makrokosmos. Dem Deckel der Bundeslade im Allerheiligsten, dem Ort vor Gottes Thron im Himmel entspricht im Mikrokosmos des Menschen sein Gewissen. Die Reinigung des Gewissens geschieht im Zusammenhang mit dem Sühnopfer Jesu Christi. Appliziert wird dieses in der Taufe. Die Christen können daher aus reinem Gewissen handeln, aus einem unbelasteten Verhältnis zu Gott und zu sich selbst. – Das Gewissen im Menschen hat demnach eine ähnliche Funktion wie das Allerheiligste im Tempel, näherhin wie der Deckel der Bundeslade. Hier ist der heiligste Ort, hier sammelt sich die Sünde, hier wird sie getilgt. Die Theologie des Hebr wird von hier aus noch einmal ganz neu verständlich: Denn typologisch entspricht dem Deckel der Bundeslade (griech.: hilasterion), der am Jom Kippur entsorgt wird, das Gewissen; besonders in Hebr 10,22 ist dieses die Voraussetzung der Interpretation.
Hebr 10,22 – 13,22: Mahnrede Mit 10,19 beginnt die Mahnrede des Hebr. Es fällt nicht schwer, die Rede 10,19-31 als Widerspiegelung einer direkt nach der Taufe gehaltenen Ansprache einzuordnen. Das »lasst uns hinzutreten« in 10,22 ist dabei durchaus einmal wörtlich verstanden worden: Nachdem die taufende Gemeinde nicht mehr vor, sondern hinter dem Taufbecken steht, tritt sie gemeinsam vor Gott. Auf diese Situation weisen folgende Elemente: Das Wort »Herz« (vgl. Dtn 6,5: »aus ganzem Herzen«) und das Stichwort »Glaube« in V. 22 weisen auf die Situation der Umkehr. Der Ritus kommt in V. 22b in den Blick: Die Herzen sind rein gewaschen, denn der Körper ist in klarem Wasser gebadet. Das Stichwort »besprengen/ waschen« ist terminus technicus für das, was in der Taufe physisch und theologisch besteht (vgl. ganz ähnlich 1 Petr 1,1 und Offb). Und natürlich ist die Taufe der Ort des Bekenntnisses (V. 23), die Alte Kirche händigt es dem Gläubigen aus. Das ist auch hier schon der Fall, und es kommt nun darauf an, an diesem Bekenntnis festzuhalten. In V. 23b hören wir eine neue Variante der frühkirchlichen Formeln nach dem Schema »Getreu ist X«. Bei Paulus und in seinem Umkreis ist diese Formel häufig belegt. Hier in Hebr 10,23 wird ihr ursprünglicher Sitz im Leben erkennbar: Dem, der glaubt (griech.: pist-), wird Gott als der verkündigt, der treu (griech.: pist-) ist, und das gilt besonders von seinem Wort (jüdisch schon in LAB 27,13: »zuverlässig war, was er zu dir gesagt hatte«, lat.: fidelia). Denn auf Gottes Treue kann der Christ seinen Glauben gründen. Das, was im Deutschen nur durch zwei Ausdrücke (glauben, treu sein) wiedergegeben werden kann, steht im Griechischen näher beieinander. Vermittelnd könnte aber die Übersetzung von (griech.) pistos durch »glaubwürdig« sein. Die Formulierung in Hebr 10,23 steht in der Mitte zwischen der typisch paulinischen (»treu ist Gott«) und der eher nachpaulinischen (»treu ist das Wort«), denn auch in Hebr 10,23 geht es schon um das Wort Gottes (in seinen Verheißungen). Der auf die Taufe bezogene »initiale« Charakter wird nicht nur aus Hebr 10 erkennbar, sondern auch aus 1 Thess 5,24 (»Treu ist der, der euch be-
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880 rief …«) und 1 Kor 1,9 (»Treu ist Gott, durch den ihr berufen worden seid …«). Das an beiden Stellen anzutreffende »Berufen« weist auf den Anfang des Christseins; vgl. auch 1 Joh 1,9 (Sündenvergebung). Theologisch heißt das: Der Christ gründet seinen Glauben auf die Treue Gottes, mit seiner Glaubenstreue hat er Anteil an Gottes eigener Treue und Stabilität. Insofern ist der Glaubende Gott ähnlich. Die »Liebe« und die »guten Werke« von V. 24 fügen sich nahtlos der Unterweisung nach der Taufe ein. Denn die Abfolge von Glaube (V. 22) und Liebe/Werke (V. 24) ist typisch und unumkehrbar. Am deutlichsten ist das in Gal 5,6 (durch Liebe wird der Glaube zum Werk). In 10,25 wird konkretisiert, was die Liebe ist, und zwar im Sinne der zeitgenössischen Auslegung von Lev 19,18, nämlich im Sinne des Ermahnens/Zurechtweisens (vgl. zu Mt 18,15-17; Gal 6,1). Wie in Mt 18, so ist auch hier das Stichwort »Gemeindeversammlung« (V. 25) nicht weit entfernt (der ekklesia in Mt 18 entspricht hier das episynagoge). Der Hinweis auf die Nähe des Gerichtstages ist eigentlich ein Schlussstein, denn dergleichen steht – zumal in Heidenpredigten – oft am Ende (vgl. Apg 17,31 und beachte die Position der Offb im neutestamentlichen Kanon). Ein zweiter Abschnitt der Mahnrede in V. 2631 enthält mehr für den Verfasser Typisches. So könnte man den ganzen Abschnitt als eine Wiederholung von 6,4-8 ansehen. Für das Anliegen des gesamten Hebr ist 10,26 zentral. Die stets betonte Einmaligkeit des Opfers des neuen Hohenpriesters bedeutet auch: Ein weiteres Opfer für weitere Sünden kann es nun nicht geben. Genau aus diesem Grunde ist die »zweite Buße« nicht möglich. Es bleibt für die Abgefallenen nur ein strenges Gericht. Das ist im Übrigen gut verständlich, wenn man den postbaptismalen Charakter des Stückes ab V. 19 auch hier gelten lässt. Dann handelt es sich nämlich um eine Warnung vor aller Tat. Zur Begründung wiederholt der Verfasser zwei Argumente aus 6,4-6 in veränderter Gestalt; als Thema bleibt »Heiliger Geist« und »Tod Jesu«: In 6,4f werden die ermahnt, die Anteil haben am Heiligen Geist, in 10,29 wird dem Abfallenden unterstellt, dass er »den Geist der Gnade schmäht«. In 6,6 wird dem, der nach der Taufe sündigt, vorgeworfen, er wolle Jesus noch einmal kreuzigen, hier in 10,29 heißt es, er habe
Der Brief an die Hebräer
»das Blut des Bundes« für »gemein« gehalten, also nicht von gewöhnlichem Blut unterschieden. An dieser Stelle könnte man einen Bezug auf das Abendmahl in der Gemeinde vermuten. Das liegt deshalb nahe, weil Paulus in 1 Kor 11,27 denen, die sich gegen das Abendmahl versündigen, vorwirft, dass sie »den Leib des Herrn« nicht von gewöhnlichem Brot inklusive Brotmahlzeit unterscheiden. Allerdings enthält Hebr sonst keinen Hinweis auf Eucharistie; und es stimmt auch nicht, dass »Blut des Bundes« Abendmahlsterminologie sei; denn dort steht immer noch etwas dabei, entweder »neu (sc. Bund)« oder »mein (Bund)«. Es hilft aber weiter, auf die verwandte Stelle 1 Petr 1,2 zu sehen: Offenbar mit Bezug auf das Christwerden spricht da der Vers von der Heiligung durch den Geist (vgl. Hebr 10,29: Blut …, in dem er geheiligt wurde und den Heiligen Geist schmähte) und von der Besprengung durch das Blut Jesu Christi (Hebr 10,22: besprengt im Herzen …, gewaschen mit reinem Wasser; 10,29: Blut des Bundes …). Nach Offb ist die Gemeinde rein gewaschen im Blut des Lammes (7,14; 19,13 mit griech. rhantizo). Das ist nicht Abendmahl, sondern Taufe (nach Offb 5,9: »gekauft für Gott mit deinem Blut«). Barn 5,1 ist wie eine Kombination aus Hebr 10,22 und 10,29: »Denn wenn wir mit seinem (Christi) Blut besprengt würden, sollten wir durch Vergebung der Sünden heilig werden.« Daher die These: Das Blut Christi am Kreuz wird der Kirche in zwei sakramentalen Formen zugänglich: Als Wein (Eucharistie) und als Wasser (Taufe). Bei dem Bad in reinem Wasser nach 10,22 handelt es sich daher um dieselbe Taufe wie beim Bundesblut, in dem jeder Christ »geheiligt« wurde. Besonders dieser letzte Zusatz macht eine Beziehung auf die Taufe notwendig. Denn die Heiligung betrifft stets das anfängliche Hinzutreten zu Gott. Heiliger Geist und Tod Jesu sind daher zwei Aspekte frühchristlicher Tauftheologie, die auf eine Verbindung von Geisttaufe und Taufe auf den Tod Jesu (ähnlich wie Röm 6, dort ohne Geist!) hinweisen.
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Kapitel 11
Hebr 10,32-39: Mahnung zur Ausdauer In diesem dritten Teil der Mahnrede sind die Unterschiede zum ersten und zweiten Teil gut erkennbar. Die Rede blickt auf bereits ertragene Leiden zurück und ermahnt zur ausdauernden Geduld. Das »Kunststück« des Verfassers besteht hier darin, den »Glauben«, also das für das Christwerden nach 10,22 (und im ganzen Neuen Testament) ganz zentrale Element, so zu füllen, dass der Glaube jetzt mit »Nicht-Aufgeben« und »Geduld« geradezu gleichbedeutend ist. Damit wird die Voraussetzung für Kap. 11 geschaffen. Besonderheiten dieses Abschnitts: Dass 10,32 die Christen »Erleuchtete« nennt, ist im Blick auf 2 Kor 4,4.6 nichts Fremdes. Betont wird, dass Christen miteinander das Leiden der Verfolgung tragen (vielleicht z. B. andere mit Lebensmitteln versorgen; vgl. Phil 2,25). – In der Verfolgung werden Christen wie im Theater vorgeführt (vgl. 1 Kor 4,9 dasselbe Wort; in Rom 1 Clem 6,2. Dass Todesopfer bei einer römischen Judenverfolgung hier nicht genannt werden, ist kein Grund gegen die Annahme römischer Adressaten). Besonders erwähnt wird der Verlust des Besitzes, typisch für Hebr ist in V. 34b der Hinweis auf den besseren Besitz im Himmel, vgl. 11,9 f.16). Wie in 4,16 ermahnt der Verfasser zum Festhalten an der Zuversicht, die auch Freude am Glauben bedeutet (griech.: parrhesia). Weder trifft E. Grässers Meinung zu, der Hebr behandle nicht die Rechtfertigung der Gottlosen, sondern die Vollendung der Gerechten, noch ist M. Karrer zuzustimmen, hier bestehe eine besondere Nähe des Glaubens zur Ethik im Sinne »treuer Lebenshaltung«. Ich sehe 10,32-39 im Zusammenhang ab V. 19 so: Die Christen in Rom werden ermahnt, den Glauben und die Freude daran nicht zu verlieren. Das könnte dann geschehen, wenn sie den Sohn Gottes, Taufe und Heiligen Geist ge-
881 ring achten oder mit Worten in den Dreck ziehen. Das hat weniger mit Ethik zu tun als mit Unglauben, das geht weniger auf irgendeine »Vollendung« als darauf, nicht abzufallen. Auch in 10,37-39 geht es nicht um »Ethik«. Das Zitat aus Hab 2,3f bewältigt in der Tat nicht eine »Parusieverzögerung«, es geht aber auch nicht um eine Ankunft Jesu im Hören auf das Wort (M. Karrer, wohl eher apologetisch; Hebr kennt das »Maranatha« nicht). Dass Hebr wie LXX »mein« Gerechter schreibt, macht keinen Unterschied zu Paulus. Aber wie auch sonst im frühen Christentum ist Jesus der, »der da kommt« (vgl. zu Mt 11,3). Und diese Versicherung der Treue Gotte/Jesu (vgl. schon den Hinweis auf die zeitliche Nähe in 10,25b; vgl. Jak 5,8) ist für die Adressaten die Basis für die Aufforderung, nicht aufzugeben. Im Zitat liegt daher der Ton auf dem Schlusssatz V. 38b (nicht aufgeben). Der Text Hab 2,3f ist zur neutestamentlichen Zeit sehr beliebt (vgl. 1 QpHab; Röm 1,17; Gal 3,11; Clemens v. A., Irenäus, Tertullian, Cyprian, Origenes: Römerbrief). Die Rede vom »kurzen Zeitraum« (so Hab 2,3 in Hebr 10,37) im JohEv (16,16-19) und vom (griech.) »oligon« (»wenig Zeit«, 1 Petr 1,6; 5,10), aber auch das »brachy« in Hebr 2,7 (»für kurze Zeit«) dürften insgesamt von der Bedeutung des Hab-Zitates profitieren, wenn sie nicht gar dadurch angestoßen wurden. Es wäre also durchaus denkbar, dass die urchristliche Botschaft von der Nähe des kommenden Gottes auf der Auslegung von Hab 2,3f beruht, sodass man entdeckt, dass dieses Zitat gerade auf die unmittelbare Gegenwart passt. Zur Nähe als (griech.) engizein vgl. Mk 1,15; Hebr 10,25b, auch 2 Thess 2,2. – Besonders bei einer frühchristlichen Leidenszeit ist der Hinweis auf die Kürze sicher gerne gelesen worden (1 Petr 1,6; Hebr 2,7).
Hebr 11: Glaubenszeugen Lit.: G. Dautzenberg: Der Glaube im Hebräerbrief, in: BZ NF 17 (1973) 163 ff.
Der Form nach liegt eine Beispielreihe vor (Paradigmenkatalog), und zwar in der zeitlichen Abfolge der Heilsgeschichte. Am nächsten verwandt ist die Reihe bei Philo v. A., in: »Über die Beloh-
nungen und Strafen«. In Hebr 11,2f sagt der Verfasser zunächst, was er unter Glauben versteht: »Glauben besteht darin, dass ein Stück des Erhofften als geheime Kraft schon wirklich ist. Der Glaube ist selbst der Beweis für das, was man nicht sehen kann. Die Schrift stellt vielen
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882 Menschen aus früherer Zeit für ihren Glauben ein gutes Zeugnis aus …« M. Luther übersetzte »gewisse Zuversicht«, M. Karrer: »Es ist aber Glaube ein Dasein von Erhofftem, ein Nachweis (, der ausgeht) von Angelegenheiten, die nicht gesehen werden.« Der Sache nach hat M. Karrer wohl Recht, die Formulierung ist vielleicht zu abstrakt. Drei Dinge sind bemerkenswert: Eine subjektive Seite an diesem Glauben gibt es nicht, er ist eine objektive himmlische Kraft. Und: Der Glaube in Hebr 11 richtet sich nicht auf Jesus, Jesus hat vielmehr auch Glauben, und er vollendet ihn. Insofern ist die These falsch, der Glaube in Hebr 11 sei nicht christologisch. Nein, Jesus führt den Zug der Glaubenden an, der mit Abel beginnt, und ohne ihn erreicht kein Glaubender sein Ziel. Drittens ist der Glaube nicht nur bei Juden (und Christen) zu finden, sondern gerade die ersten Glieder der Reihe sind glaubende Heiden (Abel, Noah, Henoch). Entsprechend ist das Kriterium für Glauben auch, dass Menschen eine Kraft haben, die sie das Irdische und Vergängliche gering achten lässt und ihnen die Kraft gibt, nach der himmlischen Stadt zu pilgern. Die oben vorgeschlagene Übersetzung zu 11,2f ist vom Griechischen her möglich und durch eine ganze Reihe der in Kapitel 11 folgenden Beispiele gefordert. Daher ist regelmäßig zu übersetzen: »Durch die Kraft des Glaubens«. So etwa in Hebr 11,4b-5: »Durch die Kraft des Glaubens ist Abels Stimme noch immer zu vernehmen, dadurch dass sein Blut laut nach Rache schreit.« – Denn die Kraft ist hier nicht beim Vernehmenden, sondern im Blut Abels. Weil das Blut mit der »Seele« identisch ist, ruft es nach Rächung des Mordes an Abel. – Ähnlich Hebr 11,11: »Durch die Kraft des Glaubens wurde Saras Schoß empfänglich für Abrahams Samen, obwohl sie schon so alt war. Sara baute darauf, dass Gott, der ihr Nachkommen verheißen hatte, treu sein würde.« Der Glaube Saras hat sich daher als physische Kraft in ihrem Schoß ausgewirkt, sodass dieser Schoß wieder auflebte und für männlichen Samen empfänglich wurde. – Nach Hebr 11,3 ist Glaube sogar – ohne dass irgendwelche Menschen da waren, die glauben konnten (Glauben ist hier nicht die Kraft des Denkens, sondern die des Werdens) –, die unsichtbare Kraft, mit der Gottes Wort die Räume und Zeiten der Welt geschaffen
Der Brief an die Hebräer
hat, also das Unsichtbare, durch das das Sichtbare wurde. Auf diese Weise war ein Stück des von Gott Geplanten als geheime Kraft schon wirklich. – Glaube ist daher in mancher Hinsicht mit der Schechinah zu vergleichen oder ein Stück geheimer Segenskraft. Daher ist Glauben vor allem auch die Kraft zum Durchhalten bei den vielen Enttäuschten, Leidenden und Märtyrern, die in Hebr 11 geschildert werden. Eine ähnliche Vorstellung von Glauben findet sich auch bei den Synoptikern, und zwar in der Wendung »Dein Glaube hat dir geholfen« (bzw. dich gerettet). Denn dieser Satz sagt ja nicht: »Ich (Jesus) habe dir geholfen« oder: »Der Gott des Himmels und der Erde hat dir geholfen«, sondern die Wundermacht des Glaubens hat sich an Jesus entzündet. Wer an Jesus und durch ihn an Gott glaubt, der hat Anteil an jener Kraft, die als eine Schöpfermacht Gesundheit und Frieden ganz selbstverständlich hervorbringen kann. Glaube ist wunderbares Einssein mit Gott, und dieses Einssein trägt die Verheißung schier unglaublicher Macht in sich. Dieser Glaube steht den Kräften (griech.: dynameis) nahe, die z. B. in den Menschen wirken, wenn sie Gott Hymnen singen (vgl. Corpus Hermeticum), d. h.: Die Kräfte erfassen und deuten Gottes Wirken in der Welt. Gott erfüllt mit ihnen die Welt, sie sind Instrumente seiner Herrschaft. Der Glaube im Sinne von Hebr 11 ist gleichfalls ein Teil von Gottes Macht; entscheidend ist nur, dass er zur rechten Zeit und bei den richtigen Personen wirkt, wodurch dann wichtige Zeichen in der Welt zustande kommen. Durch die Macht und Kraft des Glaubens werden diese Menschen (oder wo auch immer sonst diese Kraft wirkt) zu wichtigen Zeugen für Gott in der Welt. – Zur Verbindung von Geduld und hypostasis (11,1) vgl. Ps 38,8 (LXX): »meine Geduld, griech.: hypomone …, meine Vertrauensgrundlage, griech.: hypostasis, ist bei dir«. Ergänzend zu 11,1a ist 11,1b: »Der Glaube ist selbst der Beweis für das, was man nicht sehen kann.« Im Judentum nannte man auch die Propheten, Märtyrer und Gerechten »Argumente für Gott«. Also Menschen, die auf eine rational und kausal völlig unerklärliche Weise ihr Leben gestalteten, sodass die nicht-gläubigen Mitmenschen immer nur fragen konnten: Wie machst du das? Wie schaffst du das? Wie sollen wir
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Kapitel 11
uns das erklären? Woher nimmst du die Kraft für deine Geduld, Hoffnung, Ausdauer, für das schier unbegrenzte Ertragen von Frust und Bitterkeit dieser Art? Die nicht-gläubigen Zeitgenossen schlossen aus dem Verhalten dieser Heiligen, es müsse eine derartige Kraft geben, die man erschließen kann. Denn rein menschlich gesehen und mit kreatürlichen Wahrscheinlichkeiten stünde man hier vor einem unlösbaren Rätsel. Sehr viele Beispiele in Hebr 11 reden von der Kraft des Glaubens in diesem Sinne: Für die Zeitgenossen war er ein pures Rätsel. Wichtig ist, dass dieses Problem immer wieder auftrat bei den verschiedensten Zeugen, sodass die Lösung oder die befriedigende Antwort immer wieder in derselben Richtung lag. Daher ist die Beispielreihe als eine Sammlung sich gegenseitig bestätigender Zeugen wichtig. Erkennbar wird allenthalben auch die Nähe dieses Glaubens zum Charisma (vgl. zu 1 Kor 12).
Hebr 11,8-22: Jüdische Glaubenszeugen Hier stehen zwei Aspekte des Glaubens im Vordergrund. Einmal befähigte er besonders die Erzväter Israels dazu, wie Beisassen und Fremdlinge auf der Erde zu leben, also letztlich wie Heimatlose, die durch ihr Umherziehen und Wohnen in Zelten, durch ihr Bekenntnis zur Pilgerschaft selbst zu verstehen gaben, dass sie eine andere, nämlich die himmlische Heimat jenseits der vorläufigen irdischen Heimat suchten. Diese Väter illustrieren durch ihr eindeutiges Handeln den Satz von der Sehnsucht nach der ewigen Heimat; diese wird hier »Stadt« genannt, ein Vorgriff auf 12,22. Die Logik des Schlussverfahrens ist hier: Weil Abraham bei der Verhandlung mit den Hetitern in Gen 23,4 um ein Grab für Sara bittend sagt: »Ein Fremdling … bin ich unter euch«, wird daraus eine Aussage über Abrahams gesamte Existenz gemacht und gleichzeitig erschlossen, dass er keine irdische, sondern nur eine himmlische Heimat im Sinn gehabt haben kann. Es wird daher das Gegenteil postuliert. Denn eine himmlische Stadt im Sinne von Hebr 11 als ersehnte künftige Heimat der Erzväter kennt das ganze Alte Testament nicht. Im Neuen Testament ist 1 Petr nächst verwandt; auch hier schärft der Verfasser ein, die Isolation und Heimatlosigkeit
der Gemeinde auf Erden zu deuten im Sinne der biblischen Fremdlingschaft. Der zweite Aspekt des Glaubens nach diesen Versen ist Gottes Sieg über Abgestorbensein (V. 11f) und Tod (V. 19). So wird Abraham beim Gehorsam für Isaaks Opferung Glaube an die Auferstehung Toter zugeschrieben. Dass Abraham Isaak zurückerhalten hat, ist eine Belohnung für diesen Glauben und ein Zeichen für das, was Gott bei der Auferstehung der Toten generell wirken wird. Natürlich wird hier in die Berichte über Abraham ein Auferstehungsglaube eingetragen, den weder Abraham selbst, noch der Verfasser der Berichte kannte. Dennoch sind diese Aussagen nicht sinnlos. Denn man darf die zitierten Episoden nach der Schrift so lesen, dass es in ihnen stets um ein Mehr an Sinn gibt, das nicht einfach mit dem alltäglich-materialistischen Verständnis von Wirklichkeit schon abgegolten ist. Dieses Mehr an Sinn hebt die berichteten Ereignisse über das Niveau üblicher Händler, Hirten und Könige hinaus und macht sie trotz aller Differenz interessant für Menschen aller Jahrhunderte.
Hebr 11,23-29: Der Glaube des Mose Mose wird schon in Hebr 3 besonders hervorgehoben. Hier ist V. 24-26 wichtig: »In der Kraft seines Glaubens wollte Mose, als er erwachsen geworden war, sich nicht Sohn der Tochter Pharaos nennen lassen, sondern zog es vor, mit dem Volk Gottes zu leiden, anstatt für eine kurze Zeit des Wohlstands Schuld auf sich zu laden. Im Vergleich zu den Schätzen Ägyptens hielt er es für einen weitaus größeren Reichtum, die Schmach des Messias zu tragen, weil er wusste, was er sich dafür einhandelte.« Der Verzicht des Mose auf den Titel Königssohn wird hier verglichen mit der Schmach (Schmähung) Jesu Christi. Denn entweder gilt Phil 2,7f: »Er verzichtete auf Gottessohnschaft und nahm den Status des Sklaven an, in Gehorsam bis zum schmachvollen Tod am Kreuz«, oder der Verfasser denkt besonders an die Schmährufe unter dem Kreuz »Wenn du der Sohn Gottes bist …«. Es war schon aufgefallen, dass Hebr auch den Abfall vom Glauben in erster Linie als Schmähung Jesu Christi auffasst. Doch der Ausdruck »die Schmach Christi« schließt
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884 noch anderes in sich: Die Mutter aller Schmach ist die Schmach Christi. Es gibt daher, so gesehen, nur eine gemeinsame Schmach, an der alle Gerechten Anteil haben. Sie wird nach der Mutter aller Schmach benannt. Die Verschiedenheit der Personen und der Abstand der Zeit sind dabei gleichgültig. Genauso denken die biblischen Autoren, wenn sie nur einen Heiligen Geist kennen, den Geist Jesu Christi, der auch der Heilige Geist ist, der in den Propheten wirkte und sie inspirierte. Alles tat der Heilige Geist Jesu Christi (1 Petr 1,11). Noch deutlicher in 3 Kor 10: »Deswegen hat er (Gott) einen Teil vom Geist Christi in die Propheten gesandt, die über lange Zeiten hin die wahre Religion verkündeten …« Zu Hebr 11,38: »Die Welt war ihrer nicht wert« heißt: Die Welt wusste es nicht zu schätzen, dass sie auf ihr lebten. Oder: Sie waren so wertvoll wie Goldstücke, die in eine völlig unpassende, schäbige Umgebung geraten sind. Die Welt hat es nicht verdient, dass diese Menschen überhaupt auf ihr wohnen. Schreiend ist daher der Wertunterschied. Wie wenn ein echter van Gogh auf eine Müllkippe gerät. – Verwandt: In Hebr 11,7 heißt es über Noah und die Arche, dass er durch sie die Welt verurteilte (d. h. durch dieses Zeichen die umgebende ablehnen-
Der Brief an die Hebräer
de Welt als heillos und ungerecht erwies), ähnlich Röm 8,3 (Kontrast zwischen Sünde und Sohn Gottes: Durch sein bloßes Sein im Bereich der Sünde hat der Sohn Gottes sie verurteilt, d. h. in den Schatten gestellt und so ihre Mängel erwiesen). Direkt findet sich die Formel von 11,38 im ThomasEv 56 (Der Gerechte findet die Welt als Leiche, sie ist seiner nicht wert); 80 (wie 56); 111 (Wer sich selbst findet, die Welt ist seiner nicht wert). Die Vorstellung ist dualistisch-ethisch. Ähnlich wie Verfasser und Adressaten in 1 Petr sieht auch in Hebr der Verfasser sich und seine Leser in grundsätzlicher Distanz (Einsamkeit, Fremdheit) zur »Welt«. Gnostisch wäre das erst in Verbindung mit Materie-Feindlichkeit oder gar bestimmten Mythen über die Entstehung der Welt durch Fall aus der Höhe. Vielmehr hat sich hier die jüdische Wahrnehmung der Fremdheit des Judentums in der Welt auf Heidenchristen übertragen und wurde damit grundsätzlicher. Zu Hebr 11,40: »Nur mit uns zusammen sollen alle diese Menschen ihr himmlisches Ziel erreichen«: Denn erst durch Jesus, der die Tür und der Weg zum Thron Gottes ist, kann das wandernde Gottesvolk (populus migrans dei [Ambrosius]) zu seinem Ziel gelangen.
Hebr 12: Auf Jesus schauen, den Ersten im Wettlauf Zu Hebr 12,1-2: Der Weg der Glaubenden mit Jesus an der Spitze wird als ein Marathonlauf vorgestellt. Das Bildmaterial ist im Umkreis des Paulus verbreitet, vgl. Hebr 12,1f mit 2 Tim 4,7 (einen Wettkampf laufen, Stichwort »Glaube«, Ehre oder Schande, Gerechtigkeit). Jesus kommt als Erster ans Ziel. Für alle anderen ist wichtig, überhaupt dabei zu sein. Dafür fordert der Verfasser »Geduld« (Durchhaltevermögen). Jesus heißt »Anführer und Vollender des Glaubens«. Wie in den synoptischen Evangelien ist Jesus damit Vorbild. Sein Hohepriestertum reiht sich wegen 5,7 hier ein: Das irdische Leben Jesu bestand oft aus Gebet zu dem, der ihn retten konnte. Nach 12,2 ist er ein Vorbild der Geduld. Es ist hilfreich, das Bild des Erhöhten in 12,2 mit 1,3 zu vergleichen: Das Sitzen zur Rechten
folgt nach 1,3 auf die Reinigung von den Sünden und bedeutet Erhabenheit über die Engel. In 12,2 folgt es auf das Aushalten des Kreuzes und die Verachtung der Schande. In 1,3 liegt eine »dogmatische« Aussage vor; 12,2 dagegen steht in einer Mahnrede. Daher geht in 1,3 das Unvergleichliche voraus (Schöpfungsmittler), während nach 12,2 der Glaube Jesu mit dem der Christen vergleichbar ist (Anführer des Glaubens). – In beiden Fällen wird »Ostern« nicht in Beziehung gesetzt zu charismatischen Erfahrungen, sondern es wird strikt im Sinne der Erhöhungschristologie gedeutet.
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Kapitel 12
Hebr 12,3-17: Gott als Erzieher Wie die Sünden gegen den Glauben verbal formuliert werden, besteht ebenso das Leiden der Christen wesentlich in »frechen und gemeinen Anwürfen«. So hatte auch Jesus zu leiden (Mk 15). Die Gegner der Christen sind aggressiv. Mose trug nach 11,26 die Schmach Christi, und die Christen sollen das nach 13,13 tun. Hier und in einigen anderen Fällen wird ohne Umschweife Gott selbst als Ursache und Urheber der Leiden angesehen. Die Leiden, die er schickt, werden dabei als Erziehungsleiden betrachtet, die er aus reiner Liebe verhängt. In 12,5-11 sind die Leitworte Sohn (Kind; V. 5a.b.6.7.8) und Erziehung (griech.: paideia; V. 5b.6.7.8). – Der Verfasser gestattet sich dabei eine Umkehrung seiner Position gegenüber Kap. 5 des Briefes: In 5,8 wird gesagt, Jesus habe leiden müssen, obwohl er Sohn war; hier wird nun von den Christen gesagt, dass sie leiden müssen, weil sie Söhne bzw. Kinder sind. Die Erziehungsleiden der Kinder werden als Zeichen von Gottes Liebe verstanden. Das erste Argument: Leiden sind ein Zeichen von Liebe – die Alternative wäre ein völliges Desinteresse Gottes. Liebe, auch wenn sie sich als Züchtigung äußert, ist immer noch ein Zeichen des Sich-Kümmerns. Das zweite Argument: Gottes Erziehung greift über die menschlicher Eltern hinaus. Menschliche Eltern erziehen nur kurze Zeit für ein kurzes Leben. Aber Gott will die Verähnlichung mit sich selbst. Diese Ähnlichkeit mit Gott als Erziehungsziel wird hier Heiligkeit genannt, nämlich Frieden und »gerechtes Handeln«. Das ist ganz gewiss ein sehr anspruchsvolles Erziehungsziel, und das rechtfertigt auch die strengsten Erziehungsmethoden. Noch heftiger spricht Paulus über Gottes Erziehung in 1 Kor 11,27 ff: »Wer als Unruhestifter oder Aufwiegler beim Herrenmahl sitzt, der vergeht sich gegen den Leib und den blutigen Tod des Herrn. Jeder soll sich daher selbst prüfen, bevor er am Mahl teilnimmt. Die Gemeinde ist Leib Christi. Wer das für das Mahl nicht bedenkt, zieht Gottes Strafgericht auf sich. Deswegen sind so viele krank und schwach bei euch oder sterben früh. Wenn ihr weniger selbstgefällig wärt, würde ein derartiges Strafgericht Gottes überflüssig. Doch wenn Gott uns so straft, dann will er uns
erziehen, solange noch Zeit ist, damit wir nicht dereinst zusammen mit der gottlosen Welt verurteilt werden.« Wir fragen: Warum erzieht Gott? Antwort: Um vor Schlimmerem zu bewahren. Wir fragen weiter: Warum bewahrt Gott gerade so? Antwort: Menschen bekommen auf diese Weise Angst vor dem noch größeren Verlust. Wir fragen: Warum erzieht Gott nicht durch Liebe? Antwort: Das Einüben von Angst, das seine Erziehung bewirkt, wird als Liebe verstanden. Wir fragen: Aber warum wird Angst eingeübt und nicht Liebe? Antwort: Bei der Angst geht es um die nackte Existenz, bei Liebe um einen zusätzlichen Gewinn, um Erfüllung. Angst ist elementar, Liebe ist substanziell. Zu Hebr 12,4 »Blut« vgl. zu Eph 1,7. Zu Hebr 12,16f: »Keiner soll leichtfertig Kontakte zu Heiden pflegen wie Esau, der immerhin bereit war, für einen Teller Linsen sein Erstgeburtsrecht zu verkaufen. Ihr wisst ja, dass er dann, als er gesegnet werden wollte, zurückgewiesen wurde. Obwohl er sich unter Tränen darum bemühte, gab es keine Möglichkeit zur Umkehr mehr für ihn.« – Alles weist darauf hin, dass hier gesellschaftliche Kontakte im Rahmen von Mahlzeiten angesprochen sind. Esau wurde im Judentum zusehends zum Bösewicht; hier steht er für den Juden (Christen) in der Gefahr des Abfallens. Zu Esau vgl. im vorchristlichen Judentum bereits Jub 35,14: Esau hat den Gott Abrahams verlassen, er geht hinter seinen Frauen her, hinter der Unreinheit und hinter ihrem Irrtum. Nach 4 Esr 6,8f steht Esau für den Äon des Verderbens, Jakob für den neuen Äon. – Esau steht für Rom und Heidentum. Daher ist seine Nennung in dem nach Rom gerichteten Hebr von besonderer Bedeutung. – Auch in 1 Joh 5 werden Heidenchristen vor dem Rückfall ins Heidentum gewarnt.
Hebr 12,18-24: Antithese Sinai – Sion Hebr liefert hier ein Pendant zu seiner Ekklesiologie von Kap. 11. So wie er die Christologie in typologischer Gegenüberstellung zu Mose entwirft (3,1-5), wird hier die Ekklesiologie als ungleiche Entsprechung von Sinai und Sion entfal-
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886 tet. Die Vorstellung ist dabei: Die Gemeinde ist (wohl besonders in ihrem Gottesdienst) zu einer festlichen Versammlung auf dem Sion hingetreten. (Später wird es die byzantinische Apsismalerei wohl genau in diesem Sinne (?) darstellen.) Wir vermuteten bereits, dass das Hinzutreten liturgisch nach der Taufe geschieht. Dann steht die Schar der Christen »untergehakt« mit dem neuen Gemeindeglied vor Gott, vor der unsichtbaren Versammlung auf dem Sion. Dass entsprechende Huldigung durch Gebet und Hymnen dazugehörten, kann man aus Hebr 13,15 erschließen. Anti-Typologische Gegenüberstellung von Sinai und Sion: a) Emotionen: Sinai mit Dunkel, Unberührbarkeit, Schrecken, Gott fehlt – Sion mit helfenden Personen statt abschreckender Dinge, festliche Kultgemeinde und Gott hervorgehoben. – b) Ort: Sinai als sicht- und greifbare Erde – Sion: Präsenz des Himmels. Anders ist die Gegenüberstellung in Gal 4: Sinai steht hier für Sklavenexistenz – Sion (himmlisches Jerusalem) für Gotteskinder. Auch hier verwendet Hebr das Argument von der gesteigerten Verantwortung, die jetzt im Unterschied zur alttestamentlichen Situation besteht (wie in 2,1-4; 3,7-19; 4,11-13; 4,14-16; 10,28f; 12,25-29). Die Antithese Sinai/Sion steht im Rahmen einer im Frühjudentum verbreiteten Theologie der heiligen Berge; die ganze Heilsgeschichte wird daran abzählbar. Dazu gehört zuerst Jub 4,26 mit Eden (Berg des Morgens), Lubar (Berg Henochs und Noahs), Sinai, Sion (»wird geheiligt werden in der neuen Schöpfung, heilig von aller Unreinheit und Sünde), vgl. 8,19. – Im äth Buch der Geheimnisse sind es Sion, Zayt (Ölberg), Sinai und Tabor. Vgl. auch Cyprian, De montibus Sina et Sion. Zu diesen beiden Bergen vgl. auch Tanch B Debarim 1 (Gott wird alle Zeichen, die er in der Wüste getan hat, gleicherweise in der messianischen Zeit für Sion tun). Die Festversammlung von Hebr 12 ist mit der »Kirche« gleichzusetzen. Die »Erstgeborenen« von 12,23 sind wohl die Engel (vgl. z. B. Oratio Joseph: Erzengel als Erstgeborene der Schöpfung). Notwendig ist auch ein Vergleich von Hebr 12,19-24 mit Gal 4,24-31 und Phil 3,19f: Sinai (Gal 4; Hebr 12); Bundesschlüsse (Gal 4; Hebr 12); jetziges Jerusalem (Gal 4: irdisches Jerusa-
Der Brief an die Hebräer
lem; Phil 3,19f: Himmel als Heimat); himmlisches Jerusalem (Gal 4: oberes Jerusalem; Phil 3: Stadt im Himmel; Hebr 12: Sion, himmlisches Jerusalem). Der Zweck der Konfrontation ist jeweils verschieden: Nach Gal 4 geht es um den Gegensatz Freie/Sklaven, nach Phil 3 um Schande/ Herrlichkeit, nach Hebr 12 um den Kontrast alte Ordnung/neue Ordnung. Auffällig ist: Das himmlische Jerusalem ist nicht erst zukünftig, sondern himmlisch gegenwärtig (Gal 4, Hebr 12, Phil 3 und auch Hebr 11,15f). Gal 4 hat für die Zukunft keine Bedeutung, hier geht es nur um die juristische Herkunft der Christen. Für den »transzendenten« Charakter Sions sind Stellen wie Jes 54,1 wichtig (»Frohlocke, unfruchtbare, die nicht gebar«). Denn bei Auferstandenen wird weder gezeugt noch geboren. Zu Hebr 12,24: Das Blut Abels wird deshalb erwähnt, weil es im Himmel einen Altar gibt, auf dem bzw. unter dem alles Märtyrerblut, das auf Erden vergossen ist, gesammelt wird. In Offb 6,6f wird dies geschildert; auch dort haben die Seelen der Märtyrer, die in ihrem Blut sind, eine Stimme. Diese Stimme ruft nach Rache (Offb 6,6: »Wie lange noch …«). Das Blut Jesu Christi ruft lauter um Rache, weil Jesus gerechter und sein Tod schändlicher war als der Abels. 12,24 enthält daher gegenüber der reinigenden Funktion des Blutes nach Hebr 9f eine ganz andere Bedeutung: Das am himmlischen Altar eingesammelte und präsente Blut Jesu Christi schreit um Rache und ist deshalb ein Garant der Naherwartung. Für dieses Denken ist daher die Naherwartung nicht oder nicht speziell ein Thema der Verkündigung Jesu, sondern eine primär nachösterliche Folge des Karfreitags.
Hebr 12,25-29: Eschatologisches Lit.: G. MacRae: A kingdom that cannot be shaken: The heavenly Jerusalem in the Letter to the Hebrews, in: Tantur Yearbook 1979/80.
Der Verfasser vertritt hier eine eigenartige Eschatologie, die vom Grundphänomen des Erdbebens ausgeht. Die Erfahrung ist seinen Lesern zweifellos geläufig, und sie entspricht der Theologie des Verfassers, dem es immer wieder um Stabilität
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Kapitel 13
geht (z. B. im Glaubensbegriff, beim »Eid«, bei Verheißungen, besonders ablesbar an der Verwendung des griechischen Wortes bebaios). So ist der Untergang die Erschütterung, in der alles zugrunde geht, was nicht ganz stabil ist (Erdbeben auch in den synoptischen Apokalypsen, z. B. Mk 13,8). Andererseits erweist die Erschütterung zugleich das, was nicht zu erschüttern ist, und das ist für Hebr »das Reich«. Ursprung dieser Eschatologie ist, wie Hebr selbst angibt, Haggai 2,6 (Hebr 12,26): »Ich werde erschüttern den Himmel und die Erde.« Zur Aussage über das unerschütterliche Reich in 12, 28: Dan 7,14 (Reich, das nicht vergeht). Zu dieser Erwartung sind aber auch zu nennen: Philo v. Alexandrien, Legum Allegoriae 3,101 (Gewordenes löst sich auf, Ungewordenes bleibt bestehen); 4 Esr 6,16 (Erde zittert und wird bewegt werden); Dreigestaltige Protennoia (NHC) § 43: »Alle Elemente erzitterten zusammen, und die Fundamente … wankten. Und die Lose des Schicksals wurden sehr erschüttert durch einen großen Donner«; Mandäische Liturgien 205f: »Die Erde erzitterte durch meinen Ruf, und der Himmel geriet durch meinen Glanz ins Wanken …« (ed. M. Lidzbarski, 1962).
Hebr 13,2: Gastfreundschaft Literatur: D. Flückinger-Guggenheim, Göttliche Gäste. Die Einkehr von Göttern und Heroen in der griech. Mythologie (EH III 237), Bern/Frankfurt 1984.
Zu Hebr 13,5-7: In diesen Versen könnte ein Rückblick auf die so genannten Wandercharismatiker und damit auf Texte wie Mt 6,19-34 liegen. Zu Hebr 13,9: Die »schillernden Lehren«, die nichts »nützen«, und zwar im Zusammenhang mit Speisen, sind sehr wahrscheinlich jüdische Speisevorschriften, die in Rom auch ausweislich des Römerbriefes sehr populär waren. Paulus nennt für Rom Menschen, die nur Gemüse aßen, kein Fleisch zu sich nahmen und keinen Wein tranken (14f). Paulus will sie schonen und fordert zur Rücksichtnahme gegenüber ihnen auf. Hebr ist da direkter und verwendet die bekannte Einstufung als »nutzlos«, die sich sehr oft bei
887 der abwertenden Beurteilung jüdischer Riten findet (Hebr 7,18: altes Gesetz ist nutzlos; Röm 2,25 unentschieden von der Beschneidung, Röm 3,1; Gal 5,2; ThomasEv 53: »Einige Jünger fragten Jesus: Nützt die Beschneidung oder nicht? Jesus antwortete: Wenn sie etwas nützte, dann würde man schon beschnitten vom Vater aus der Mutter gezeugt«; Justin, Dial 14,1: Nutzen der Taufe, die nur den Leib reinigt?). Vgl. Sir 34,31 (dem rückfälligen Sünder »nützt Fasten« nicht). – Durch die Stichwortverbindung »Essen« kommt der Verfasser in V. 10 zu einem neuen Thema. Zu Hebr 13,10: »Wir haben einen Altar« weist auf die Christen. Auch sie dienen einem Zelt, denn das himmlische Heiligtum des Hohenpriesters Christus heißt in Hebr 9,11 »Zelt«. Nur ist dieses nicht »von Händen gemacht«. Hebr setzt voraus, dass diejenigen, die dem Zelt dienen, auch davon essen dürfen. Das steht so ausdrücklich in 1 Kor 9,13f: »Noch einmal: Wer am Tempel arbeitet, der darf auch von den Opfergaben essen. Wer am Altar beschäftigt ist, bekommt dort auch zu essen. So hat der Herr angeordnet, dass die Boten des Evangeliums auch davon leben sollten.« Im Kontrast zu vielen komplizierten Lösungsversuchen von Hebr 13,10 bin ich der Meinung, dass der Hebr sich auf genau diese Regelung bezieht. Wie Paulus wendet der Verfasser dieselbe alttestamentliche Regelung auf die Verkündigung des Evangeliums an. Im Unterschied zu Paulus lehnt er sie ab und begründet dies (s. u.). Für seine römischen Hörer war zweifellos das sokratische Prinzip des Verzichts auf Unterhalt sehr viel sympathischer als das (auf die Sophisten zurückgehende) Honorar-Modell. Das frühe Christentum steht in Rom in der Konkurrenz zu Philosophen wie Seneca, die gleichfalls die Unentgeltlichkeit der Lehre fordern. Der Verfasser begründet seine Anweisung gegen die Schrift (Num 18,8 f.31; Dtn 18,1-4: Priesteranteile) mit Lev 16,27: »Den Sündopferstier und den Sündopferbock, deren Blut zur Entsühnung ins Heiligtum, gebracht worden ist, schaffe man hinaus vor das Lager; ihre Felle, ihr Fleisch und ihren Mageninhalt verbrenne man.« Seine Begründung: Auch Jesus habe außerhalb der Stadt gelitten. Deshalb fordert er die Christen (besonders wohl ihre Lehrer) auf, zu Jesus
Berger (08129) / p. 888 / 19.5.2020
888 vor die Stadt hinauszugehen und seine Schmach zu tragen. In 13,14 wird das dann damit begründet, dass die Christen »keine bleibende Stadt« auf Erden haben, d. h.: Kein Gehalt für die Verkündigung zu empfangen wird als Schmach gelten. Aber die Christen sind sowieso Fremdlinge und suchen Besitz nur im Himmel. Auch Paulus vergleicht seinen unentgeltlichen Dienst mit einer Sklaven-Existenz (1 Kor 9,18). Zu 1 Kor 9,13 bemerkt W. Schrage (II, 308): »Auffallend an V. 13 ist, wie unbefangen Paulus das Kultpersonal mit den Verkündigern des Evangeliums parallelisieren kann, was sonst außerordentlich selten geschieht« und fügt eilends hinzu, dass es Paulus natürlich nicht um die Etablierung eines christlichen Kultes oder gar um »Priester« gehe. Hier ist die konfessionelle Absicht mit Händen zu greifen. Immerhin zitiert Paulus in 9,14 ein Herrenwort (die das Evangelium verkünden, sollen auch vom Evangelium leben).
Hebr freilich setzt munter seine Allegorisierung des alttestamentlichen Kultes fort und bescheinigt der Gemeinde, dass sie Gott »Opfer des Lobes« darbringt (V. 15), was Psalmen und Hymnen entspricht. Zu Hebr 13,13: Das Symbol des Exodus für religiös-kulturelle Trennung kennt außer Hebr 13,13 auch Offb 18,4 (ebenfalls imperativisch). Auch bei Philo v. A. spielt es in diesem Sinne eine Rolle.
Der Brief an die Hebräer
Zu Hebr 13,17: Dass die Lehrer und geistlichen Führer besonders streng Rechenschaft abgeben müssen, ist für Paulus das zentrale Argument in 2 Kor 5,10f, in den Evangelien wird es bei der Zeichenhandlung der Aussendung und Rückkehr hervorgehoben (Mk 6,30; Lk 10,17-20). Im JohEv gilt es, da Jesus hier »der« Bote ist, von ihm (17,1-8). Wie in 2 Kor 5 dient der Topos auch sonst der Verstärkung der Autorität der Boten. Zu Hebr 13,20f: Gemeinsam mit 1 Petr 5,10f bezeugt Hebr 13,20 ein frühchristliches Segensformular, das vor allem eine stabile Gliederung aufweist: a) Einleitende Gottesprädikation (Der Gott des Friedens aber – Der Gott aller Gnade aber), – b) Partizipiale Aussage christologischen Inhalts (Der herausführt – Der euch berufen hat), – c) Segenswunsch im Optativ oder Futur (Er möge euch aufrichten, griech.: katartizo – Er wird euch aufrichten, griech.: katartizo), – d) Doxologie mit Ewigkeitsversicherung (ihm die Herrlichkeit – ihm die Kraft), – e) Persönliche Schlussmahnung: 1. Persson Singular mit griech. parakalo, – f) Hinweis auf die Kürze des Briefes, – g) Grüße und Grußaufträge, Segenswunsch. Diese Übereinstimmung weist darauf hin, dass die Gemeinsamkeit in der Liturgie von Anfang an eine fundamentale Stütze der christlichen Einheit ist.
Berger (08129) / p. 889 / 19.5.2020
Der Brief des Jakobus
Kommentare: Beda Venerabilis (9. Jh.). – Ps.-Oecumenius (10. Jh.). – Ps.-Theophylakt (12. Jh.). – A. Althammer (1533). – Erasmus v. Rotterdam (1540). – Dionysius Carthusianus (vor 1471). – N. Hemming (1579). – J. Lorinus (1619). – B. Paez (1624). – C. Horneus (1654). – P. Stuart Leodius (1691). – A. Remy (1740). – J. C. Wolf (1741). – G. T. Zacha-
riae (1776). –D. I. Pott (1786). – Hottinger (1815). – W. M. L. de Wette (1847). – H. V. Soden (1891). – H. Windisch (1911). – G. Hollmann/W. Bousset (1917). – M. Dibelius (1921). – A. Schlatter (1932). – F. Mußner (1963). – W. Schrage (1973). – F. Vouga (1984). – H. Frankemölle (1994). – Chr. Burchard (2000).
EINFÜHRUNG Besonderheiten Die mangelnde theologische Wertschätzung des Jak seit Luther (wegen der Rechtfertigungslehre, Kap. 2) schlägt sich zumeist in einer Spätdatierung nieder. Will der Brief einen überzogenen Paulus korrigieren? Dann wäre er frühestens um 60 n. Chr. entstanden. Wer das nicht annimmt wie ich, kann auch früher datieren, und zwar deshalb, weil sich etliche gewöhnliche christliche Standards hier noch nicht durchgesetzt haben. Ich bin daher der Meinung, dass der Brief zu den sieben ältesten Briefen des Neuen Testaments gehört und um 55 n. Chr. entstanden sein könnte. Von allen Dokumenten des Neuen Testaments ist dieser Brief der ausgeprägtest besondere. Tod und Auferstehung Jesu, Sakramente und die Rede von Reich und Sohn Gottes – alles das ist diesem Brief unbekannt geblieben. Es fehlt nicht nur jede Bezugnahme auf Tod und Auferstehung Jesu, sondern bis auf den Kyriostitel in 1,1 (»Jakobus, Gottes und des Herrn Jesus Christus Sklave«) und in 2,1 (»Glaube an unseren Herrn Jesus Christus, den Herrn der Herrlichkeit«) jegliche Christologie. Ich finde, dass dies durchaus erklärungsbedürftig ist. Wenn die Ursache für die weitgehende Abwesenheit von Christologie nicht Jakobus ist (s. 1,1), dann könnte es vielleicht an den Adressaten liegen. Sind sie in der Christologie nicht einer Meinung? Der Ausdruck »Herr der Herrlichkeit« in 2,1 ist besonders auffällig, da er jede Äußerung darüber, wie diese Herrlichkeit zustande kam, vermissen lässt. Denn weder ist von Auferstehung noch von Erhöhung (»Sitzen zur Rechten
Gottes«) die Rede. Der Vergleich mit 1 Petr lässt auch dort eine Vorliebe für das Stichwort Herrlichkeit (griech.: doxa) erkennen; eine wörtliche Aussage über die Auferstehung findet man dort nicht (trotz 1 Petr 3,18). – Hatten die Adressaten aus der Sicht des Verfassers Schwierigkeiten mit dem Glauben an Kreuz und Auferstehung? Verfasser Die vernichtenden Urteile M. Luthers und vieler anderer über die mangelnde Intelligenz des Verfassers des Jak, der noch nicht einmal eine vernünftige Gliederung zustande gebracht habe, hat den Eindruck erweckt, der Verfasser des Jak sei ein in seinem Judentum befangener Mensch, der nur holzschnittartig und nicht subtil Theologie betreibe und eigentlich nur ein paar Sprüche sammle. Ich halte dieses Urteil für völlig abwegig und stelle mir den Verfasser als einen kritischen Intellektuellen vor. Er steht fast gänzlich außerhalb jedes theologischen Mainstreams im Urchristentum. Dennoch gibt es viele Querverbindungen zu den großen Blöcken; der Übersichtlichkeit halber nenne ich nur die wichtigsten. Zu Paulus: Die doppelte Weisheit und die Rechtfertigung; zu Johannes: die Geburt vom Himmel her durch den Logos; zum 1. Petrusbrief: jeweils Kap. 1 (Adressierung, Situation); zu den Synoptikern: Schwurverbot, Naherwartung, Gebetserhörung, Lehre von der Demut. Jüdische Elemente finden sich zuhauf, und sie haben die Rezeption des Briefes seit Jahrhunderten in einer antijüdisch verbohrten Christenheit
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nicht erleichtert. In 2,2 spricht der Verfasser noch von einer Synagoge der Christen, in 1,25 vom vollkommenen Gesetz der Freiheit; Beispielgestalten sind für ihn Abraham, Rahab und Hiob. Als Verfasser gilt der so genannte Herrenbruder Jakobus (nicht der 42 n. Chr. von Herodes Agrippa hingerichtete Zebedaide). Nicht zu bezweifeln ist, dass der Verfasser ein hellenistischer Jude ist. Die Übereinstimmungen mit Philo und der LXX (besonders 2 und 4 Makk) sind zahlreich und wären sonst gar nicht erklärbar. Die Nähe zu 1 Petr und zur johanneischen Tradition liegt auf der Hand, die zu Paulus (Röm, Gal) ist umstritten. Nun ist das glaubwürdige Verhältnis von Wort und Tat, von Zeichen und Handlung (das theologische Thema des Jak) ein besonderes Thema der altägyptischen Spruchweisheit, angefangen von den Lehren des Amenemope bis hin zu demotischen Weisheitslehren. Deshalb könnte man annehmen, dass der Jak ein besonderes Verhältnis zur ägyptischen Leserschaft und damit zu dem sonst weitgehend unbekannten frühesten Christentum in Ägypten hat. Dafür spricht auch die starke Orientierung an Jakobus. Diese finden wir im frühesten Christentum nicht nördlich von Jerusalem (dort dominieren Petrus, Paulus, Barnabas usw.), wohl aber südlich. Dafür spricht das ThomasEv, in dem Jesus über den Herrenbruder Jakobus sagt, seine Jünger sollten (nach seinem Tod) zu ihm gehen; denn seinetwegen seien Himmel und Erde entstanden, das heißt: Jesus hält ihn für den Gerechten schlechthin (ThomasEv 12). Da das ThomasEv in Ägypten verbreitet war (und wohl fast nur dort), darf man annehmen: Die starke Geltung des Herrenbruders und die Ausprägung der Spruchweisheit legen es nahe, seinen kirchenpolitischen Ort in Ägypten zu suchen. Auch das ThomasEv bietet der Gattung nach Spruchweisheiten.
Adressaten Laut 1,1 sind Adressaten die zwölf Stämme in der Diaspora. Ähnlich wie in 1 Petr (s. dazu) und in Offb (und wohl auch in Gal 4) steht hier noch kein anderer Kirchenbegriff im Blick als das Gottesvolk selbst. Die Gesamtheit der Christen kann nicht anders als so beschrieben werden. Dass die Offb ein Rundbrief (Enzyklika) war, wissen wir von den sieben Sendschreiben her, aber auch für 1 Petr legt sich Ähnliches wegen der umfassenden Liste (nicht-paulinischer Missionsgebiete) in 1,1 nahe, und in Jak gilt es wegen der Adressierung an die zwölf Stämme. Das trifft offenbar auch für den Judasbrief zu. Konsequenz: Man sollte zumindest für diese Briefe – Jak, 1 Petr, Offb und Jud – die in der Exegese (an der Verwertbarkeit in der Sonntagspredigt orientierte) übliche Frage nach der »Gemeinde« aufgeben. Gewiss wird der Verfasser bestimmte Erfahrungen verarbeiten. Aber er selbst reklamiert für diese wie auch insbesondere für seine Antwort Allgemeingültigkeit. So bereitet man Kanonizität vor. Theologische Merkmale des Jak Eine erste Durchsicht des Briefes ergibt zwei hauptsächliche Themen: Reichtum (1,9-11; 2,17; 5,1-6) und Bewährung des Glaubens, insbesondere das Thema Glaube und Werke (1,3.6; 2,1-26; 5,15). Der Glaube bewährt sich vor allem in Großmütigkeit und Geduld. Diese Bewährung ist tatkräftig, und wesentlich ist die Bewahrung der Gemeinschaft. Geht man ein Stück tiefer, so ist das Thema, das dem Brief innerlichen Zusammenhalt gibt, alles, was mit dem Reden und Sprechen Gottes und der Menschen zusammenhängt. So ist Jak eine »Einweisung in das christliche Sprachverhalten« – bezogen auf das Gegenüber Gottes und das Miteinander in der Gemeinde.
KOMMENTAR Jak 1,2-12: Themenüberblick Mit hohem rhetorischem Tempo geht der Verfasser in V. 2-12 alle bei seinen Adressaten möglicherweise oder wahrscheinlich wichtigen emo-
tionalen Themen durch (Freude, Prüfungen, Geduld, Anfechtung, Ausdauer, Zweifel, Angeberei, Vergänglichkeit des Reichtums, haltlose Menschen, Bewährung). Da dürfte kaum einer gewesen sein, der sich in dieser schillernden Liste
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Kapitel 1
nicht wiedergefunden hätte. Trotz Herkunft vieler Topoi aus biblischem Sprachgebrauch wirkt die Rede nicht klerikal. Christliche Motive wie Tod und Auferstehung Jesu, Sakramente oder zitierte Jesusworte fehlen grundsätzlich. – Die Rede von den zwölf Stämmen in 1,1 ist ebenso geheimnisvoll wie fremdartig, sie macht neugierig. Die Aufforderung V. 5, um Weisheit zu beten, wirkt eher erfreulich nüchtern angesichts dessen, was sonst Religionen in dieser Zeit veranstalten. Magisch-sakramentale Religion fehlt. Der Brief richtet sich an Menschen, die es mit aufgeklärten Leuten in den Städten zu tun haben. In den Vergänglichkeitsmotiven V. 10f wird weisheitliche Lebenserfahrung angesprochen. In diesem Stück, besonders in V. 2 f.12 liegen starke Ähnlichkeiten zu 1 Petr 1 vor. Sie beziehen sich auf die Bewährung des Glaubens durch Geduld. Es handelt sich um ein semantisches Feld, dessen »Sitz im Leben« die Ermutigung von Neubekehrten ist, die wegen ihres Glaubens leiden müssen. Daher nehmen sowohl 1 Petr (2;) als auch Jak auf Taufe bzw. neue Geburt Bezug. Ich kann mir auch vorstellen, dass man derartige, für Anfänger bestimmte Ermutigungen aufgehoben und immer wieder vorgelesen hat. Deshalb sind diese Schriftstücke erhalten, und das wurde begünstigt dadurch, dass sie die Namen von wichtigen apostolischen Autoritäten trugen. Übereinstimmungen bei Jak 1/1 Petr 1/ Röm 5,3-5 Freude: Jak 1,2; 1 Petr 1,6.8 Vielfältige Prüfungen (Versuchungen): Jak 1,2; 1,12; 1 Petr 1,6 Bewährung (griech.: dokimon): Jak 1,3; 1 Petr 1,7: Röm 5,4 (2) Bewährt: Jak 1,12; 1 Petr 1,7; Röm 5,4 des Glaubens: Jak 1,2; 1 Petr 1,5.7.9 Geduld kommt so zustande (»bewirkt Geduld«): Jak 1,2; Röm 5,3 Beten und nicht zweifeln: Jak 1,6; 1 Petr 5,6-9 Demut: Jak 1,9f; 1 Petr 5,5 Demut und Höhe: Jak 1,9; 1 Petr 5,5-6 Vergänglichkeit der Blumen: Jak 1,10f; 1 Petr 1,23f Seligpreisung: Jak 1,12; 1 Petr 1,6 (jubeln); 1 Petr 1,8 (jubeln) Ertragen: Jak 1,12 (vgl. Geduld)
Krone als Lohn: Jak 1,12 (1 Petr 1,7: Lob, Herrlichkeit, Ehre) Vorgang der (Schwangerschaft und) Geburt: Jak 1,18; 1 Petr 1,3 Wiederholt geht es in beiden Briefen um die akute Notwendigkeit der Bewährung des Glaubens: Jak 2,17-26; 1 Petr 1,7; 5,9 Diskussion um den wahren Versucher: Jak 1,13; 1 Petr 5,8 Adressierung an Christen in der Diaspora: Jak 1,1; 1 Petr 1,1 Diese Übereinstimmungen verdanken sich gemeinsamer Tradition, die besonders in der jüdischen Thematik des Martyriums ihren Ursprung hat (2 und 4 Makk und SapSal 2), im Jak aber auch im Zusammenhang mit dem Abraham-Beispiel Kap. 2 nachwirkt (Bewährung des Glaubens durch Geduld bei Isaak).
Jak 1,13-16: Versuchung Aus dem bisher Dargestellten greift der Verfasser das Thema »Versuchung« besonders auf (vgl. V. 2 und 12). Es war jedem gut bekannt, der zum Judentum oder zum Christentum übertrat (vgl. die Versuchungen Jesu als die des »Initiierten« und die als Versuchungen des Neubekehrten gedeuteten Leiden Hiobs nach TestHiob). Jeden Verdacht, als sei Gott selbst der Versucher, weist der Verfasser strikt ab. Darin stimmt er Sir 15,11-20 zu. Und wie Sir 15 sucht er alle Verantwortlichkeit allein beim Menschen. Wenn er freilich Gott als Versucher ablehnt, könnte er auch nicht den Teufel nennen, der doch mutmaßlich irgendwie Gottes Angestellter ist; jedenfalls geht er darauf nicht ein. In anderen Texten über Neubekehrte (1 Thess 3, 1 Petr 5 und Mt 4; Lk 3) ist der Teufel sehr wohl als Versucher aktiv. Fazit: Oft geht es darum, dass Gott oder der Teufel jemanden prüft, testet, auf die Probe stellt. So etwa in Jub 17,16 zu Isaaks Opferung über Gott und Abraham: »Und du wirst wissen, ob er glaubend ist in allem, womit du ihn versuchst.« So ist es auch in 2 Chron 32,31 (über König Hiskija): »Gott ließ ihn ruhig gewähren, um ihn auf die Probe zu stellen [LXX: peirasai] und seine ganze Herzensgesinnung kennen zu lernen.«
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892 Auch hier geht es nicht um den Versuch Gottes, zum Abfall zu verleiten. Anders ist es mit dem »Reizen, etwas zu tun« (griech.: seio): Genau dasselbe, was in 2 Sam Gott tut (2 Sam 24,1: »Gott reizte David gegen Israel auf und sprach: Geh hin und zähle …«), kann in der Wiederholung nach 1 Chron nur noch Werk des Satans sein (1 Chron 21,1: »Der Satan trat wider Israel auf und reizte David dazu, Israel zu zählen …«). Der Verfasser des Jak kennt diese beiden Texte wohl nicht, denn sie verwenden auch nicht griech. peirazein. Nach Jak wird vielmehr jeder »von der eigenen Begierde versucht«. Das ist unmythologisch und moralisierend. Die Ursache des Bösen wird in den Menschen verlegt. Aber was wird damit erklärt? Während sonst bisweilen der Eindruck entsteht, der Teufel als Versucher sei der Handlanger des Bösen, ist hier die Begierde die Handlangerin des Bösen. (Woher das Böse kommt, diese Frage stellt Jak nicht.)
Jak 1,15-18: Erzeugung der Begierde – Erzeugung der Christen Jak verwendet hier zweifach das Bild der biologischen Erzeugung. Die erste Erzeugung (V: 14-16) betrifft den Tod, die entgegengesetzte, zweite (V. 18) dagegen handelt von der Entstehung der Christen als der Erstlinge der Schöpfung. Beide Abschnitte verwenden das griechische apoky[e]o (gebären). Die erste, negative Erzeugung geht so: Die Begierde ist wie das weibliche Wesen. Sie reizt und lockt, der Mensch fällt auf sie herein. Folge: Die Begierde wird schwanger. Sie gebiert die Sünde. Auch die Sünde ihrerseits gebiert etwas, und zwar mit ihrer Vollendung gebiert sie den Tod. Diese negative Generationslinie bezieht sich daher auf zwei Mütter (Begierde und Sünde) und zwei Kinder (Sünde und Tod). Das nennt man Filiationsreihe. Abstrakte Sachverhalte werden durch Bilder aus dem Bereich Zeugung und Kindschaft erklärt. – Positive Filiation ist z. B. die Rede vom Glauben und der Liebe als Kind bzw. Tochter. Durch das Bild der weiblichen Generationenfolge wird ein Stück philosophisch-anthropologische Dogmatik geliefert.
Der Brief des Jakobus
Die positive Genealogie schildert V. 18: »Gott wollte uns, durch das Wort der Wahrheit hat er uns als seine Wunschkinder in die Welt gesetzt, als die Erstlinge seiner Schöpfung.« Diese Zeugung bringt wirkliche Kinder hervor, nämlich die Christen. Sie verläuft so: Gott will Kinder (das griechische Partizip buletheis heißt: »aus freiem Willen«). Johanneisch gesprochen ist das der »Wille des Mannes« nach Joh 1,13b im Gegensatz zur Begierde V. 14f), ihm gegenüber steht als »Partnerin« die Wahrheit (im Gegensatz zur Sünde von V. 15). Durch das Wort der Wahrheit lässt Gott die Christen als Christen das Licht der Welt erblicken. Das Wort der Wahrheit ist, genau besehen, der Mutterschoß der Wahrheit. So sind die Christen heilige, geheiligte Erstlinge aus der Welt, die Gott gehören. Von Neuschöpfung ist nicht die Rede (mit C. Burchard), aber die »Auserwählung aus der Welt« ist vorausgesetzt. Von Geschöpfen ist die Rede, weil in der Erschaffung Gottes Eigentumsrecht begründet ist. Also: Bereits geschaffene Menschen werden durch das Wort der Wahrheit zu kultisch heiligen Erstlingen (kultische Erstlingsgaben) geboren. Der Gebrauch des Bildes setzt voraus, dass die Erstlingsgabe Teil einer größeren Menge war, die nicht erwählt wurde. – Damit zu vergleichen ist die Rede von der Taufe als Geburt von oben her nach Joh 3,3-5 oder als neue Geburt in Tit 3,5. Wichtig ist zum Vergleich Philo v. Alexandrien (Spec Leg IV 180): Israel gehört dem Herrscher der Welt, »weil es wie eine Art Erstlingsgabe des ganzen Menschengeschlechts dem Schöpfer und Vater zugewiesen wurde«. Die innere Nähe zu Joh 3,3-5 (Geburt von oben) wird bestätigt durch den Gebrauch des griechischen Wortes anothen (»von oben her«) in 1,17; nur beschreibt es hier nicht die Herkunft der Menschen, sondern die ihrer Gaben. Fazit: In 1,1-18 hat Jak zwei Punkte beschrieben, die auch für andere Briefe an Christen im 1. Jh. in ihrem Anfangskapitel typisch sind: Die Situation der Angeredeten und ihre theologische Würde bzw. Identität (vgl. 1 Petr 1f). Die Briefeinleitung ist demnach mit 1,18 abgeschlossen. Der Verfasser beginnt nun mit seinem Thema, dem Verhältnis von Wort und Wirklichkeit. Die Brücke dazu bildet in 1,18 das »Wort der Wahrheit«. Denn nur ihm soll die Gemeinde folgen.
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Kapitel 1
Der Text Jak 1,15-18 »[Das Ganze ist dann wie zweifaches Zeugen und Gebären:] Die Triebhaftigkeit des Menschen ist wie ein Mutterschoß, der den bösen Gedanken empfängt und die böse Tat gebiert. Die böse Tat ihrerseits wird reif und wächst sich aus, und sie gebiert den Tod. [Aber Ähnliches gilt auch von der Gegenseite:] Alles, was gut und bewundernswert ist, kommt vom Himmel als Geschenk von Gott, dem Vater der Lichter, der unveränderlich ist und nicht den kleinsten Hauch des Wandels zeigt. [Auch hier gibt es Zeugung und Geburt:] Gott wollte uns, durch das Wort der Wahrheit hat er uns als seine Wunschkinder in die Welt gesetzt, als die Erstlinge seiner [neuen] Schöpfung.« Also zweimal Zeugen und Gebären! Im Hintergrund steht der populär-weisheitliche Gedanke der Filiation (genealogischen Abstammung) der Tugenden bzw. der Laster. So sagen wir auch im Deutschen vereinfacht: »Von Trunksucht kommt Neid, von Neid Zorn …« Die Entstehung der Christen »vom Himmel« oder »von oben« her, und zwar als Kinder Gottes, hat eine deutliche Parallele im JohEv, das ich gleichfalls für sehr früh entstanden halte, und zwar durchweg wegen ähnlicher Symptome, wie sie der Jak zeigt. Im JohEv entspricht der Vorstellungswelt von Jak 1,18 die Entstehung der Kinder Gottes Joh 1,12f: »Denen aber, die ihn annahmen, gab er die Freiheit, sich seinem Namen anzuvertrauen und Kinder Gottes zu werden, aus Gott geboren und nicht kreatürlich, nicht aus menschlichem Trieb oder Willen« – und dann Joh 3,3.5 (Geburt von oben her). Nach Jak 1,18 geschieht die Zeugung dieser Kinder durch das Wort der Wahrheit, nach Joh 3,3.5 die Geburt durch Wasser und Geist. Auch auf Tit 3,5f ist hinzuweisen, denn hier geht es ebenfalls um Geborenwerden: Durch das Bad (der Taufe) empfangen die Christen den Heiligen Geist und werden so wiedergeboren. Man kann daher sagen: Dem Heiligen Geist von Joh 3,5 und Titus 3,5 entspricht das »Wort« in Jak 1,18. Der Ausdruck »Erstlingskind« ist bei Paulus Jesus vorbehalten. Da der Jak Jesus als Gottessohn nicht kennt, kann er die Christen so nennen. Die Christen sind für Jak die Erstlinge der neuen Schöpfung. Denn sie sind direkt – durch das Wort – aus Gott geboren. Vom »Wort« war ja
auch in Joh 1 die Rede, jedoch in einem qualifizierten, auf Jesus bezogenen Sinn. Und der Geist macht die Christen zu Gottes Kindern (Joh 3,5; Paulus; Tit 3,5). Im Unterschied zu Paulus wird man – logischerweise – in Jak durch eine Geburt zu Gottes Kind. Es fällt auf, dass diese neue Gotteskindschaft in Jak eigentlich an keiner Stelle christologisch, d. h. durch Jesus vermittelt ist, weder durch sein Wort, noch durch sein Geschick (Tod und Auferstehung), noch durch seinen Geist. In Jak 1 kommt Jesus im näheren Kontext ohnehin nicht vor. So steht diese Gotteskindschaft der Christen gewissermaßen neben der seinen; auch in Joh 1 fällt die Nebeneinanderordnung auf. Um derartige Sätze theologisch würdigen zu können, muss man sich über jedes Wort wundern und darf nichts für selbstverständlich nehmen. Immerhin: Aus der ganzen Schöpfung sind die Christen die Erstlinge. Es geht nicht um »neue Schöpfung«. Als Erstlinge sind sie die Auserwählten, Gottgeweihten: Erstlinge werden Gott gewidmet und zugeeignet. Das ist kultisch gedacht.
Jak 1,19-27: Wort und Tat Dem Reden Gottes muss das Tun der Menschen entsprechen. – Der Verfasser bleibt bei seinem genealogisch-teleologischen Denken. Ihn beschäftigt zuerst die Abfolge von Hören und Reden, aber auch die von Hören und Zorn. Zum Hören soll der Mensch schnell bereit sein, im Gegensatz dazu soll er mit der Reaktion, zu reden oder zu zürnen, sich Zeit lassen. Ganz konsequent werden dann in V. 20f Zorn und Sanftmut gegeneinander gestellt. Mit 1,21b-25 wird das generelle Thema Hören und Tun erreicht. Der logos emphytos von V. 21b ist das Wort, »das Gott euch eingepflanzt hat«. Nehmen die Angeredeten es an, können sie gerettet werden. Gemeint ist das »wahre Wort« von 1,18. Justin spricht vom »Samen des Logos« als von einem Anteil an ihm, der der Seele eingestiftet ist, aber wohl nicht von Natur aus, sondern bei der Verkündigung eingesät wurde wie der Samen nach Mk 4. Wo Paulus von den Früchten des Heiligen Geistes spricht, geht es für Jak um das Tun des eingepflanzten Wortes.
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894 Die Metaphorik ist in beiden Fällen biologischbotanisch. Wer das Wort nur hört und nicht tut, ist wie einer, der sich im Spiegel betrachtet und sogleich wieder vergisst, wie er aussieht. Der Spiegel gehört zu den beliebtesten Metaphern der internationalen Gleichniskultur (vgl. etwa Seneca (Nat. Fragen I,17,4): »Spiegel sind erfunden, damit der Mensch sich selbst erkennt …« V. 25: »Das vollkommene Gesetz der Freiheit« wird, wenn man es tut, von aller Angst befreien. Jak spricht weder vom jüdischen, mosaischen Gesetz noch gar von der Torah. Gerade auch jüdische Zeugnisse aus dieser Zeit belegen, dass man unter »Gesetz« ein normen-orientiertes, an Traditionen ausgerichtetes Verhalten versteht; heute würde man dagegen – freilich in gleicher Intention – von »Toleranz« sprechen. Wer sich tolerant verhält, ist genehm und vermittelbar. Zu Jak 1,21b: Dieser Vers nimmt auf das Wort von V. 18 Bezug, doch betrachtet er es gewissermaßen von einer anderen Seite: Hier ist es nicht das Wort als der Same (übrigens der stoische logos spermatikos/Weltenlogos als geistiges Element in den Dingen), aus dem die Christen Gottes Kinder geworden sind, sondern als der Same, der in sie hineingelegt worden ist, etwa im Sinne von Mk 4,3-9, und ins Tun umzusetzen ist (in der Sprache von Mk 4: Früchte bringen soll). Immerhin gilt von diesem Wort auch hier noch: »… das euch erlösen kann«. – Im Übrigen ist hier eines der ganz zentralen Themen das Jakobusbriefes berührt: das Verhältnis von Wort (Zeichen) und Wirklichkeit. – Hier unterscheiden sich zunächst Mensch und Gott: Gottes Wort kann, wie wir hörten, Kinder Gottes schaffen und erlösen. Das Wort des Menschen aber bedarf der Füllung und Erfüllung, sonst bleibt es flatterhaft und leer. Auch das berühmte Verhältnis von Glauben und Werken im Jak, das in der Dogmengeschichte umstritten war, ist eines von Wort (Bekennen) und Wirklichkeit (Taten). Der Jak richtet sich sozusagen gegen eine Inflation der christlichen Worte, deren Leersein er befürchtet. Nach 1,27 gilt eine alte Regel des Königsethos nun für Christen: Sich um Witwen und Waisen zu kümmern ist eine alte Ehrenpflicht der Könige. Wir wissen von der Urgemeinde, dass sie Witwenversorgung planmäßig betrieben hat. Wit-
Der Brief des Jakobus
wenspeisung war mit dem Tempel verbunden. Da der Herrenbruder Jakobus sein Leben als Nasiräer am Tempel verbracht hat, bestand wohl eine besondere Beziehung zur Witwenspeisung.
Jak 2,1: Herr der Herrlichkeit Der Titel »Herr der Herrlichkeit« für Jesus ist urchristlich. In 1 Kor 2,8 beschuldigt Paulus die staatlichen Gewalten, sie hätten Jesus, den Herrn der Herrlichkeit, gekreuzigt. Vorher schon, z. B. in Hen (äth) und Hen (gr) ist der Titel Gottesprädikat (Hen 22,14; 27,35; 40,3: 63,2f). Das gilt auch für Barn 21,9 (»Der Herr der Herrlichkeit und aller Gnade sei mit eurem Geist«) und Apg 7,2 (»Der Gott der Herrlichkeit erschien unserem Vater Abraham«). Wie der auf Jesus Christus bezogene Titel zustande kommt, zeigt 1 Petr 1,21: Gott erweckte ihn (Jesus) und gab ihm Herrlichkeit. Demnach ist der Titel auf den Erhöhten zu beziehen. – Sowohl in Jak 2,1 als auch in 1 Kor 2,8 bedeutet der Titel: Jesus ist Gott. Der erste Bestandteil, »Kyrios«, ist der Gottesname der LXX. Der zweite Bestandteil, »Herrlichkeit«, verleiht dem an sich vieldeutigen, griechischen Wort »Kyrios« die Eindeutigkeit himmlischer Realität. Denn »Doxa« ist exklusives Prädikat Gottes. – In Jak und in 1 Kor liegen damit relativ sehr frühe Dokumente für einen Glauben an Jesus Christus vor, der eindeutig Gott ist. 1 Petr bezeugt ferner – ebenfalls altertümlich –, dass sich der Titel auf den Erhöhten bezieht; nach 1 Petr ist Herrlichkeit immer der Zustand, der auf das Leiden folgt (4,13; 5,1). Die Übereinstimmung in Bezug auf den Herrn der Herrlichkeit bedeutet nicht nur eine wichtige Gemeinsamkeit zwischen Paulus und Jak. Es ist bei beiden Autoren auch ein sehr frühes und sehr eindeutiges Anzeichen für die »Gottheit Jesu Christi«.
Jak 2,1-13: Verhalten gegenüber Armen und Reichen Sprachverhalten in V. 1-13: Das Sozialverhalten der Angesprochenen äußert sich in ihrem Sprachverhalten. Denn zu dem Armen und Unscheinbaren sagen sie bei der Versammlung in
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Kapitel 2
der Synagoge: »Du, stell dich dorthin« oder: »Lass dich nieder unterhalb meines Schemels«; umgekehrt ergeht es dem Reichen, ihm wird etwas Freundliches gesagt. Ein Vergehen ist das deshalb, weil alle in der Gemeinde Eigentum Gottes sind. Dies sind sie geworden durch ein anderes Sprachgeschehen: Der erhabene Name (Gottes) wurde über ihnen angerufen. Das geschah und geschieht bei jeder Segnung, die eine Überantwortung an Gott ist. Wer etwas gegen Menschen sagt, greift sie an und vergeht sich damit gegen Gottes Eigentum. Er tut so, als sei Gottes Name nicht über diesem Menschen angerufen. Damit aber missachtet er Gott. Das nennt man Lästern. Denn Lästern heißt, die Existenz oder Wirkmacht Gottes dort zu leugnen, wo sie in Wahrheit ist. Das Eigentum Gottes schäbig und entehrend behandeln heißt, die »Präsenz« (oder das Resultat der Wirkmacht) Gottes an dieser Stelle zu leugnen, wo sie doch in Wahrheit präsent ist. In Wahrheit sollen sich die Angeredeten an das Gebot der Nächstenliebe halten (2,8). Sie sollen in Wahrheit in ihrem praktischen Verhalten davon ausgehen, dass die Nächsten gleichen Ranges sind wie sie selbst, und zwar alle. Das ist der Schlüssel für 2,1: keine Unterschiede nach dem Ansehen der Person machen. Denn durch die unsichtbare Segnung sind alle wirklich gleichen Ranges vor Gott. In 1,25 ging es um das vollkommene Gesetz der Freiheit; hier in 2,8 um das königliche Gebot. Auf jeden Fall muss das Gesetz befolgt werden. Noch auffallender ist, dass die einzige Konkretion dieser – zumindest in der Nähe zum Judentum doch sehr umfassenden – Forderung darin besteht, Nächstenliebe zu leben und die 2. Tafel der Dekaloggebote einzuhalten (V. 11: 5. und 6. Gebot). Das aber ist bei Paulus nach Röm 13 genauso, und es trifft – sieht man davon ab, dass das Liebesgebot doppelteilig formuliert ist – auch für die Synoptiker zu. Angesichts der sonstigen Differenzen zwischen Jak und Paulus ist diese Übereinstimmung höchst bemerkenswert. Sie lässt zumindest den Schluss zu, dass es sich hier nicht um eine Erfindung des Apostels Paulus handelt. Im Hintergrund dieser Schriften herrscht wohl ein verbreitetes, gemeinsames Milieu, nach dem es als gut gilt, am Gesetz in diesem allgemeinen und stark reduzierten Sinn festzuhalten. Denn wer das Gesetz in diesem Sinn
erfüllt, ist gerecht und ein anständiger Bürger (vgl. dazu: H. Sonntag, Nomos Soter). Auf dieser Grundlage kann der Verfasser dann eine etwas zeitgenössische jüdische Kasuistik wagen: Wer nur einen Teil des Gesetzes übertritt, der ist nicht gerecht zu nennen, auch wenn er andere Teile des Gesetzes einhält. Auch Paulus weiß, dass der verflucht ist, der auch nur einen Teil des Gesetzes nicht hält (Gal 3,10: »Verflucht ist, wer nicht bleibt bei allem, was im Buch des Herrn geschrieben ist, dass man es tun soll«). Es kommt darauf an, alles zu tun. Aus dem prinzipiell verwandten judenchristlichen Milieu der TestXII gibt es eine Kasuistik, die ganz ähnlich lautet wie Jak 2,10-14: TestAser 2,5-10 schildert Menschen, die die einen Gebote halten, aber die anderen nicht; das Tun des Guten hilft dann aber nicht, das Ganze ist böse: »Auch das ist doppelgesichtig, das Ganze aber ist böse. Solche Menschen sind wie Hasen, denn zur Hälfte sind sie rein, in Wahrheit aber sind sie unrein.« Der Sinn solcher Abschnitte wie Jak 2,10-14 ist es, Menschen vor Scheinheiligkeit zu bewahren und sie zu einem konsequent jüdischen bzw. christlichen Verhalten zu ermahnen. Im Horizont dieses Anliegens steht auch die Diskussion über Glaube und Werke in 2,14-18. Der Verfasser richtet sich mit ganzer Energie gegen Menschen, die nur halb oder nur teilweise von dem erfüllt sind, was sie glauben, d. h. die markante Ausfallerscheinungen haben. Hinter diesen Abschnitten steht der Kampf um ein biblisches Menschenbild. Denn die verschiedenen gebotenen Verhaltensweisen bilden durchaus eine Einheit. Das Ganze ist konsequent. Die Gebote und Bereiche des menschlichen Lebens stehen hier nicht gegeneinander, sondern ergänzen einander. Fällt ein Bereich total aus, so ist das Ganze nicht haltbar.
Jak 2,14-18: Glaube und Werke Der Text ist durch die Reizworte »Werke«, »Glaube« und »rechtfertigen« ausgezeichnet. Diese Begrifflichkeit brachte ihn in den Strudel reformationsgeschichtlicher Feindseligkeiten und M. Luther zu dem Urteil, der Jak sei eine »stroherne« Epistel. Die »heillose« Verwirrung um Paulus und den
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896 Jakobusbrief ist vielleicht deshalb entstanden, weil man drei Gesprächsebenen nicht auseinandergehalten hat, auf denen sich das Problem Glaube und Werke jeweils anders darstellt. Die erste Ebene ist eine beschreibende (deskriptive) – man fragt: Was ist Glaube, was ist Werk für den Menschen, der sie vollzieht? Auf dieser Ebene sind beide, Glaube und Werk, sehr ähnlich. Vor allem im Blick auf das Judentum gilt: Glaube und Werke sind synonym, d. h. fast gleichbedeutend. Beide bedeuten in gleicher Weise eine aktive Teilhabe des Menschen an der Heilssetzung, am Heilsangebot Gottes. Durch Glaube, d. h. Treue, gehört der Mensch zu Gottes Volk genauso, wie wenn er seinem Inneren durch Werke Ausdruck verleiht. Glaube und Werke, man könnte auch noch die Geduld hinzunehmen (so geschieht es ja auch dann in 1 Thess 1,3 und Offb 2,19), liefern den Erweis dessen, dass der Mensch sich auf Gottes Heilsgeschenk einlässt. Soweit das Judentum, d. h.: Bis hin zu Paulus bedeuten Werke und Glauben etwas ganz Ähnliches, nämlich die aktive Anteilnahme des Menschen an dem von Gott ermöglichten Heil und Antwort darauf. Beim Glauben steht im Vordergrund, dass man seine ganze Existenz nachhaltig auf Gott gründet; beim Werk ist wichtig, dass der ganze Mensch, innen wie außen, dasselbe dankbar zum Ausdruck bringt. So sind die Einzelaspekte unterschiedlich, doch in der Hauptsache sind Glaube und Werk gleichartig. Es geht um die Antwort des Menschen. Dass diese Antwort aktive und passive Elemente enthält, war klar, wurde aber nicht zum Thema; denn es ging nicht um die Rechnung: Leistung gegen Geschenk, sondern allemal um die Antwort des Menschen auf Gottes vorausgehendes (!) Handeln. Auf einer zweiten Ebene geht es um die Frage Judentum oder Christentum. Reicht es, wenn man Jude ist, muss man nicht eigentlich Christ werden? Antwort: Christ werden! In diesem Sinne unterscheidet Paulus die »Werke des Gesetzes« und den »Glauben an Jesus«. Man sieht: In dieser Verbindung mit Gesetz oder mit Christus werden Glaube und Werke einander entgegengesetzt. Aber das gilt doch nur für diese Verbindung! Die Trennung von Glaube und Werk deutet sich bei Paulus an, aber es ist nicht die zwischen Glaube und Werk an sich (etwa hin-
Der Brief des Jakobus
sichtlich unterschiedlicher Aktivität des Menschen), sondern die Alternative zwischen Gesetz (allein) und Christus. Denn Paulus stellt hier die Alternative auf: Glaube an Jesus Christus oder Werke des Gesetzes. Und nur in Bezug auf die Frage, wodurch man denn überhaupt Zugang gewinnt zu Gott, wodurch man überhaupt zu seiner Familie dazugehört, da sind Glaube und Werke (des jüdischen Gesetzes) entgegengesetzt. Nicht durch die Werke des jüdischen Gesetzes, sondern durch den Glauben an Jesus gehört man zu Gott im Sinne der Kindschaft und im Sinne der Möglichkeit zur Konvivenz (Zusammenleben) namens Gerechtigkeit. – Bei dieser zweiten Ebene geht es also um Bekehrungstheologie. Es wird klar erkennbar: Paulus hat nichts gegen Werke. Er hat allerdings etwas gegen Juden, die sich dem Glauben an Jesus Christus verweigern und meinen, der Weg der Werke des Gesetzes reiche aus, um Gott zu gefallen. Neben der beschreibenden Ebene und der bekehrungstheologischen gibt es die moralischprophetische. Und auf dieser dritten Ebene ist Jak 2 anzusiedeln. Es geht hier zunächst um ein ganz schlichtes, geradezu selbstverständliches Anliegen, das wir überall im Judentum und im Christentum finden: Derjenige, der über Gottes Taten und die Inhalte der Religion spricht, wünscht auch, dass seine Rede, dass Gottes geschildertes Tun direkte Konsequenzen im Lebensstil der Adressaten hervorbringe. Dieser Wunsch wird z. B. auch im Aufbau paulinischer Briefe direkt greifbar. So folgen auf die eher dogmatisch-erzählenden Abschnitte Gal 1-4 die Mahnreden in Gal 5-6. Ähnlich ist es in Röm 111 und 12-15. Ich erwähne das deshalb ausdrücklich, damit gerade auch über Paulus nicht die irrige Meinung entsteht, er sei an den praktischen Konsequenzen des Bekenntnisses irgendwie uninteressiert. Genau das Gegenteil ist der Fall. Glaube und Werke werden hier – im Unterschied zur Ebene eins und auch teilweise zwei nicht synonym verstanden, sondern anders, und zwar im Sinne von verbalem und kultischem Bekenntnis einerseits und glaubwürdiger Praxis andererseits. dahinter steht das alte Anliegen der Propheten, dass das Bekenntnis zu dem einen Gott glaubwürdig greifbar werden soll im Handeln, vor allem in sozialem Handeln. Glaube
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Kapitel 2
und Werke sind hier nicht mehr synonym, sondern stehen einander gegenüber als Bekenntnis und Tat. C. Burchard (Kommentar) sagt mit Recht, der Gegensatz (das Gegenüber) von Glaube und Tat sei nicht einfach der von Theorie und Praxis, sondern der von Frömmigkeit und Gerechtigkeit, also von Kult (Bekenntnis, Ritus, Liturgie) und Alltagspraxis. Zu dieser Entfaltung der dritten Ebene konnte es kommen, weil im Diasporajudentum »glauben« und vor allem »der Gläubige« im Sinne der allgemeinen Zugehörigkeit zum Judentum verstanden wurde, ähnlich wie auch bei uns mancher Pfarrer seine Gemeinde anredet »Liebe Gläubige«, ohne nun zu meinen, jeder der Angeredeten habe zutiefst seine Existenz auf Gott gegründet. Nein, hier ist »glauben« zum Bekenntnismerkmal geworden. Dadurch wurde aber die Entwicklung vorbreitetet, von der Jak zeugt und auf die er eine Antwort gibt: Man sah die Abfolge von Bekenntnis und Praxis als die Abfolge von Glaube und Werken. Man meinte, Glaube sei durch die Gleichung Glaube = Bekenntnis = Gottesverehrung im Gegenüber zu alltäglichen Werken (= soziale Konsequenz). Diese Gleichung bildete sich de facto heraus. Sie führte öfter zu einer Mindergewichtung des Glaubens Doch wohl niemand hat ernsthaft die Theorie vertreten, Glaube ohne Werke genüge. Davon zeugt die Verkündigung Jesu, wenn Jesus nach Mt 7,21f sagt: Nicht wer Herr, Herr sagt, sondern allein wer Gottes Willen tut, wird gerettet. Das »Herr, Herr sagen« steht hier für das Bekenntnis und damit für den Bekenntnis-Glauben an den Herrn. Daher kann man sagen: Wo Glaube die Zugehörigkeit und das Bekenntnis beschreibt, dort besteht die Gefahr, dass er sich zum reinen Lippenbekenntnis gegenüber dem Tun entwickelt. Und dann entsteht die prophetische Alternative von Lippenbekenntnis und wirklicher Gerechtigkeit (vgl. Jes 29,13 in Mk 7,6f). Sowohl Mt 7 als auch Jak sind im Sinne prophetischer Moralpredigt zu verstehen, die angesichts des Bekenntnisses und der kultischen Zugehörigkeit auf die moralische Glaubwürdigkeit drängt. Jak 2 hat daher nichts mit einem missverstandenen oder »entarteten« Paulus zu tun. Glaube ist hier nicht schon das ganze Christentum, sondern – ähnlich wie das Wort Gläubiger im allgemeins-
897 ten Sinne – meint Glaube hier die Zugehörigkeit zum Judentum oder Christentum inklusive Bekenntnis zu dem einen Gott. M. Luther erkannte also in Jak sein tiefgründiges, existenzielles Glaubensverständnis nicht wieder. Aber er hätte deswegen den Jak weder strohern nennen, noch ihn aus dem Kanon werfen müssen (was er dann am Ende unterließ). Es hätte genügt wahrzunehmen, dass Jak 2 Glauben ganz allgemein im Sinne des hellenistischen Judentums verstand und demgegenüber auf der Linie prophetischen Ernstes auf Glaubwürdigkeit drängte. Wie gesagt: Das Unheil bestand darin, dass man Glaube mit Theorie und Werke mit Praxis gleichsetzte. Das traf aber zumindest das Glaubensverständnis von Ebene eins und zwei nicht. Denn Glaube ist (für Ebene eins und zwei) nie und nimmer Theorie, und auch Bekenntnis besteht nicht aus Worten allein; zumeist gehört zumindest der Mut zu reden dazu. Jak setzt daher bei einem relativ oberflächlichen Verständnis von Glauben ein und schießt darauf mit der prophetischen Kanone im Sinne glaubwürdiger Werke. So entstand eine unheilvolle Trennung von Glauben und Werken. Wie gesagt, sie war keine theologische Theorie, sondern gegen praktische Nachlässigkeit, Lauheit und Faulheit der Menschen gerichtete Predigt. In diesem Sinne musste Jak sagen: Glaube allein genügt nicht. Hier gibt es zwischen Luther und Jak keine Brücke. Denn Jak repräsentiert eine andere Art von Judentum. Bei Luther wie bei Paulus ist Glaube viel zu existenziell und ernsthaft, kurz gesagt: viel zu sehr schon immer und von Anfang an in die Praxis involviert, als dass er irgendwie nur »Theorie« oder »Meinung« wäre. – Luther teilt daher die alttestamentlich-paulinischen Voraussetzungen im Sinne von Ebene eins und zwei; Jak bekämpft – wie die Propheten und wie Mt 7 – ein sozial folgenloses Nur-Bekennen. Ich meine, insbesondere eine christozentrische Luther-Auslegung wird finden, dass Jak mit Mt 7 und den Propheten in guter Gesellschaft ist. Aber nimmt Jak auf Paulus Bezug – oder zumindest auf eine denkbare (missverständliche oder falsche) Paulus-Auslegung? C. Burchard gibt eine hermeneutische Warnung: »Man verdirbt sich die Auslegung, wenn man Jak durchlaufend von Paulus weg oder auf ihn zu interpre-
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898 tiert und womöglich auch bei Jak den Abstand von der jüdischen Tradition als hermeneutischen Schlüssel nimmt« (C. Burchard: Der Jakobusbrief, 2000, 126). Auf den ersten Blick enthalten Röm und Gal (Abraham wurde aus Glauben gerechtfertigt) Aussagen, die Jak zu widersprechen scheinen (wurde Abraham etwa aus Glauben gerechtfertigt?). Von daher lag es nahe, Jak als Gegner des Paulus anzunehmen; hinzu trat der Verdacht, Jak sei wesentlich weniger intelligent als Paulus. Denn M. Luther konnte im Jak keine einsichtige Gliederung finden (Jakobus habe alles ineinandergeworfen). Beide Urteile sind wohl falsch. Der Widerspruch in der Rechtfertigungslehre ist nur scheinbar. Der gattungsmäßige Zusammenhang ist bei Paulus in Röm 4 und Gal 3 ein ganz anderer als in Jak 2. In Röm 4 und Gal 3 geht es um die auf das Christwerden bezogene Frage, wodurch einer überhaupt zu Jesus Christus gehören kann. Da heißt die Antwort: durch den Glauben an Jesus Christus; zu diesem gehört Bekenntnis und Taufe. Damit zählt einer zum Gottesvolk, ganz gleich, ob Jude oder Heide. Glaube, Taufe und der Status des Gerechtseins bezeichnen hier synonym die Grundlage des Heils. Wenn für die Bekehrung Abrahams zu dem einen und einzigen Gott dann Gen 15,6 zitiert wird, dann genau in dem Sinne: Abraham glaubt an Gott, er bekennt sich zu ihm, er ist der erste Proselyt und daher auch der erste Jude. Hier geht es um die Zugehörigkeit zum wahren Gott. Das wiederholt sich prinzipiell, wenn Menschen wie Paulus zum Glauben an Jesus Christus gelangen. Hier ist Glaube eher ingressiv und punktuell zu verstehen. Jak dagegen gehört in die gleichfalls mit Abraham verknüpfte Tradition vom Glauben, der sich über längere Zeit hin und besonders in den Versuchungen, die Abraham zu bestehen hat, bewährt. Dieser andere, eher durative Aspekt kommt in Gen 15,6 überhaupt nicht zur Sprache. Aber er hat großes Gewicht bei der Stärkung, Ermunterung und Tröstung; das gilt für Jak 2 wie für Hebr 11. Beide Stellen sprechen vom Glauben Abrahams, aber nicht im Sinne des Findens des wahren Gottes, sondern des Durchhaltens trotz widriger Umstände. Dieses ist das Thema von Jak 2. Mit Gen 15,6 ist es durch Jak 2,23 verbunden.
Der Brief des Jakobus
Jak 2,21-23: Abrahams Glaube und Werk 1 Makk 2,52: »in der Versuchung als gläubig erfunden und (dies wurde ihm) als Gerechtigkeit angerechnet«. Die jüdischen Midraschim deuten das Leben Abrahams als eine dichte Abfolge von Versuchungen. Sir 44,20: »In der Versuchung wurde er als gläubig gefunden.« Vulg Judith 8,2f: (die Erzväter) versucht, bewährt, als gläubig gefunden. Ebenso ist »Glaube« (ohne Abraham) mit »Versuchungen« verbunden in 1 Thess 3,5. CD 3,2: »Denn er (A.) wurde als Freund (Gottes) geachtet, weil er die Gebote Gottes hielt.« 1 Clem 10,1: »Abraham, der Freund Genannte, wurde glaubend gefunden, weil er gehorsam wurde den Geboten Gottes.« Jub 17,15: »Glaubend in allem, was Gott zu ihm geredet, und dass er Gott liebe.« Die Beispiele lassen erkennen, dass auch das Glauben Abrahams regelmäßig inhaltlich durch Bewährung gefüllt ist: »in der Versuchung« bzw. Erprobung, im Halten der Gebote oder in der beständigen Liebe zu Gott, d. h.: Der »reine Glaube« genügt nirgendwo. Dadurch werden auch zwei weitere Besonderheiten aus Jak 2 erklärbar: der Titel »Freund Gottes« und die »Erfüllung« des Glaubens von Gen 15,6. Freund Gottes heißt Abraham auch schon in Jes 41,8 und 2 Chron 20,7. Jak verbindet den Titel mit dem Thema Bewährung (ähnlich wie CD 3,2; 1 Clem 10,1; auch das Lieben in Jub 17,15 meint zumindest die eine Hälfte der Freundschaft). Genauso wie Jak den Titel Freund Gottes hier mit der Rechtfertigung verknüpft. – Der Glaube von Gen 15,6 wird in dem Titel »Freund Gottes« erfüllt (Jak 2,22). Gemeint ist nicht die Erfüllung einer Schriftstelle, sondern das Wort »erfüllen« wird hier ähnlich wie im Hebr verstanden: Durch den Gehorsam in der Versuchung vollendet sich der Glaube vor Gott. Fazit: Zu behaupten, Jak wende sich gegen Paulus, ist nach dem Gesagten wohl nicht mehr möglich. Jak 2 erörtert das Thema der notwendigen Bewährung des Glaubens. Dem dürfte auch Paulus nicht widersprochen haben. In Röm und Gal behandelt Paulus am Beispiel Abrahams etwas anderes, nämlich die grundsätzliche pro-
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Kapitel 3
treptische Frage, wie man zu diesem Gott (und zum Messias) gehören kann. Die paulinische – und überhaupt die christliche – Antwort, dass man sich dafür zu Jesus Christus neu, ganz neu bekehren muss, hat man häufig nicht verstanden. Es bedarf wirklich auch einer Bekehrung aller Juden. Es genügt nicht, »treu und brav« auf dem jüdischen Pfad der Erwählung zu bleiben. Was sind das also für Gesprächspartner in Jak 2? Aus meiner Sicht sind es keine dogmatisch exotischen Theologen, sondern es geht um den sehr üblichen Missstand, dass Menschen zwar fromm zu sein scheinen, aber nicht gut sind. Solche sind in Mt 7,20-23 angesprochen. Die dort Erwähnten haben das korrekte Bekenntnis und praktizieren erfolgreich Exorzismen. Damit müssen sie noch nicht gute, gerechte Menschen sein. Das gilt genauso für die Dämonen. Zu Jak 2,19: Die Dämonen glauben an den einen und einzigen Gott und zittern sogar vor ihm. Letzteres weiß Jak aus der jüdischen Tradition (Oratio Manasse 3f): »der du den Abgrund verschlossen und versiegelt hast durch deines furchtbaren und gepriesenen Namen, vor dem alles erschauert und erzittert wegen deines machtvollen Angesichts«. Past Herm, Mand 7,5: »Es gibt Geschöpfe, die fürchten zwar den Herrn, doch seine Gebote halten sie nicht. Denen, die ihn fürchten und seine Gebote bewahren, gehört das Leben bei Gott. Denen, die seine Gebote nicht bewahren, gehört auch nicht das Leben.« Daraus geht hervor: Hier ist das Thema wiederum nicht das Verhältnis zwischen Theorie und Praxis, sondern das zwischen Gottesfurcht (inklusive Gottesverehrung und richtiger Anrede Gottes) und Gerechtigkeit (Halten der Gebote Gottes). Denn die Dämonen verhalten sich kultisch korrekt.
Jak 2,20-25: Abraham und Rahab Zur Kombination beider Figuren in christlichen Dokumenten vgl. auch Hebr 11,31 und 1 Clem 12,1; es geht daher um historisch orientierte Beispielreihen (gemeinsame Themen: Glaube, Gastfreundschaft, Gehorsam). Die Kombination entspricht der häufigen Zusammenstellung eines männlichen und eines weiblichen Beispiels.
899 Zu 2,17.26: Beide Verse reden vom »toten« Glauben. Der Glaube, der Früchte bringt, ist lebendig wie der Gott, auf den er sich bezieht. Vgl. auch Offb 3,1 f. Jak 3,1-18: Gliederung und Themen Jak bleibt bei seinem Leit-Thema: Worte und Taten. 3,1-12: Sprachverhalten in zwischenmenschlichen Beziehungen. 3,1: Es sollte nicht zu viele Lehrer geben: Sie machen mit ihren Worten viele Fehler. 3,2-8: Über die Zunge, die Schwierigkeit, sie zu bändigen, und das Ausmaß ihrer Wirkung. 3,2-5a: Die Zunge ist zwar klein, aber wer sie bändigt, hält den ganzen Körper im Zaum (Beispiele: Zaum/Pferd und Steuerruder/Schiff). 3,5b-6: Wie ein Funke den Wald in Flammen setzt, so kann die Zunge den ganzen Leib beschmutzen und die ganze Welt in Flammen setzen (Welt steht für den Kreislauf des Werdens). 3,7-8: Alle Arten von Tieren werden gebändigt, nur die Zunge nicht. 3,9-12: Der Gegensatz von Glaube (Kult/Bekenntnis) und Werk (Gerechtigkeit) wird hier zusätzlich auf das Sprachverhalten übertragen: Man kann nicht zugleich Gott preisen (Glaube) und den Menschen verfluchen (Gerechtigkeit), der doch nach Gottes Bild geschaffen ist. – Illustration durch die Gleichnisse vom Feigenbaum, vom Weinstock und von der Salzquelle. 3,13-18: Ambivalent wie die Zunge ist auch die Weisheit (das ist die gedankliche Brücke zu 3,9-12). Denn es gibt zwei Arten von Weisheit: Die himmlische, vom Himmel (von oben) kommende bedeutet Frieden, die wahre Weisheit also zeigt sich durch Friedlichkeit (Jak 3,13.17f). Die irdische, dämonische Weisheit (3,15b) bringt dagegen Streit, Ärger und Zorn. Ebenso kennt auch 1 Kor 1 zwei Arten von Weisheit, eine der Könige, die Unrecht in der Welt und Spaltung in der Gemeinde bringt, und eine andere, die Christus ist (2,24). Leitworte in Jak 3 Sanftmut (Friedlichkeit) und Synonyma (Milde usw.), sowie das Gegenteil: Streit, Hader und Synonyma; Weisheit (zwei Arten), Begierde, Lust. Streit kommt von innen, aus dem Herzen (3,14), aus inneren Begierden (4,1f). Die äuße-
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900 ren Streitigkeiten lassen sich nicht beseitigen, wenn die Menschen im Inneren nicht wirklich wollen und darum bitten (4,2f). Beziehung zum Thema Reden – in 3,14 negativ: sich der Weisheit rühmen, wenn sie nicht da ist, – in 4,2f: positiv: Bitte. Dieser Gegensatz von Sich-Rühmen und Bitten entspricht dem in Kap. 1 (3-8/9-11). Beziehung zum Thema Glauben und Werke aus Kap. 2: Der Weise zeigt Werke der Sanftmut aus der himmlischen Weisheit. Das ist wie bei den Werken, die nach Kap. 2 aus dem Glauben gezeigt werden. Auch bei Paulus gibt es zwei Sorten von Weisheit: eine, die Streit bringt und Menschen entzweit, und eine, die Frieden bringt. In Korinth herrscht nämlich Streit, und die Weisheit der Mächtigen dieser Welt ist die, die auch in Korinth Streit gebracht hat. Sie beruht immer auf den Dingen, die Prestige bedeuten: Reichtum, Adel, Ansehen, Verfahrenstechnik. Gottes Weisheit ist dieser Weltweisheit strikt entgegengesetzt, sie ist die Weisheit des Kreuzes. Der Jakobusbrief verwendet das Wort »Kreuz« hier nicht, aber wenn er von Frieden, Güte und Erbarmen spricht, dann meint er genau das, was der Gekreuzigte ausstrahlt und was ihn als den von Gott Erwählten kennzeichnet. Denn wenn man Gott allein den Ruhm überlässt und sich allein Gottes rühmt, dann hat das Frieden und Erbarmen zur Folge. Allerdings: Was der Jakobusbrief hier himmlische Weisheit nennt und Paulus »Torheit des Kreuzes«, stellt die bürgerlichen Werte total auf den Kopf. Angesichts der Friedlosigkeit der Welt wird es immer wahrscheinlicher, dass es einen dauerhaften Frieden nur auf der Grundlage dieses Ansatzes von Kreuzestheologie und himmlischer Weisheit geben wird. Die beiden Arten von Weisheit in Jak 3,13-18 entsprechen genau der Weisheit der Welt nach 1 Kor 1 und der Weisheit Gottes, die die Weisheit des Kreuzes ist. Die eine bringt Streit in Korinth, sie erzeugt die »Parteien« von 1 Kor 1,17f, die andere ist der einzige Weg zum Frieden. Damit besteht eine einzigartige Verwandtschaft zwischen Paulus und Jak. Die nächste (einzige) »Parallele« gibt es erst 200 Jahre später bei dem aus Syrien stammenden Heliodor (Aethiopica): »Die eine, niedrige Art
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(ägyptischer Weisheit, d. h. Mantik und Magie) bewegt sich nämlich sozusagen am Boden …, verleitet zu unrechtmäßigen Handlungen und dient zügellosen Lüsten. Die andere, wahrhafte Weisheit …, von der sich jene Pseudoweisheit den Namen geborgt hat und der wir Priester und Propheten uns von Jugend auf befleißigen, schaut empor zu den himmlischen Mächten. Sie steht in Verbindung mit den Göttern … und liest daraus die Zukunft. Sie … beschäftigt sich mit dem Schönen und Nützlichen für den Menschen.« Die Differenz zu Jak und Paulus besteht darin, dass die beiden biblischen Autoren das Gewicht auf Streit oder Frieden legen, während Heliodor die Unterschiede in der Qualität der Astrologie oder Mantik sieht. Für ihn ist das Thema Vorhersage der Zukunft allein wichtig. Jak 3,15 nennt die irdische Weisheit »psychisch«; im frühen Christentum steht dieses Wort in Opposition zu »pneumatisch«, und zwar nicht erst bei Paulus (vgl. 1 Kor 2,14; 15,45-47; Jud 19); vgl. hier Kommentar zu Jud 19: Der Schlüssel liegt bei Philo, wo zur »psyche« das »pneuma« Gottes hinzutritt. Und wer dann das Pneuma nicht hat, ist folglich nur psychikos. Zur weiteren Gliederung des Jak Das Thema »Rede«/Sprache wird fortgesetzt: in 3,17b: Heuchelei (meistens durch Sprache oder durch andere Zeichen allgemein) in 4,2b-3: Gebet in 4,11: Verleumdungen in 4,13-4,17: Was Geschäftsleute sagen und was sie sagen sollten 5,1: wehklagen 5,9: jammern über den anderen 5,10: die Propheten haben im Auftrag Gottes gesprochen 5,12: das Schwören lassen 5,13: beten oder singen 5,14-18: die Ältesten rufen, diese sollen beten; Gebet wirkt; Sünden bekennen; Elia und das Gebet 5,19f: einen Sünder zurückgewinnen. Zu Jak 3,17b-4,1a: Die friedliche, erbarmende Weisheit ist nicht zwiespältig und kennt keine Heuchelei. Die zeitgenössischen Ethiker bevorzugen die Geradheit und Einigkeit (griech.: ha-
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plotes), was aber auch »Güte« bedeuten kann. So ist es auch in 3,17a. Anders als bei dem deutschen Wort »einfältig« (»etwas dumm«) ist hier die Menschenfreundlichkeit eine Konnotation. Das Gegenteil ist im Jak die Doppelzüngigkeit und damit auch die Heuchelei. – So ist das Menschenbild des Jak: Geradlinigkeit und Güte gehören zusammen. Bei Hans Jonas (Das Prinzip Verantwortung, 1975) wird das wieder aufleben: Humanität besteht darin, der spontanen Regung geradlinig zu folgen, nach der dem Nächsten, der in Not ist, zu helfen ist. Oft jedoch erfindet man dann sekundäre und komplizierte, auf ihre Weise weder geradlinige noch eindeutige Gründe, sich aus der Verantwortung zu stehlen. In dem griech. anhypokritos steckt das griech. hypokrisis, das wir aus der antipharisäischen Polemik Jesu kennen und dort als »scheinheilig« übersetzt haben. Bei »scheinheilig« wie bei »heuchlerisch« besteht eine unheilvolle Divergenz zwischen Zeichen und Tun. »Scheinheilig« meint die Differenz zwischen einer unheiligen Tat und einem sonstigen Tun, das Anzeichen lückenloser Heiligkeit und heiliger Ganzheit gibt, wodurch die schlechte Einzeltat in ihrem Charakter vernebelt werden soll. »Heuchlerisch« meint den Gegensatz zwischen Schein und Realität bei einer Einzeltat. Ein geheuchelter Kuss ist ein Judaskuss, ein scheinheiliger Kuss ist ein religiös verbrämter, also angeblich religiöser Kuss. Zum Beispiel: Jemand küsst bei einer Karfreitagsliturgie ein Kreuz, derselbe, der eine Viertelstunde später einen Mord begehen will, um den Opferstock zu rauben. Das scheinreligiöse Tun ist dann nur Mittel zum Zweck, denn religiöses Tun findet öfter die Zustimmung von Menschen, weil es leicht korrekt gestaltet sein kann. So ist es auch mit dem Gebet nach 4,1-3: Wer um Unrechtes bittet, ist scheinheilig. Denn er wendet sich zwar an Gott, übergeht aber dabei die Spielregeln. Diese besagen: Wer sich an den heiligen Gott wendet, indem er betet, kann nur etwas bekommen, das mit Gottes Willen und Gebot übereinstimmt, nicht aber etwas, das nur Erfüllung seiner Süchte ist. Oft finden angeblich fromme Menschen tausend Gründe für unmoralisches Tun. Ihre Anleihe bei der Religion ist nicht redlich, Außen und Innen, Instrument und Qualität, sind zu unterschiedlich.
901 Entweder Gott oder Welt Es ist im Rahmen zeitgenössischer Moralpredigt erwartbar, dass nun in dualistischer Manier paarweise Unvereinbares genannt wird. Hier heißt es: Wer die Welt liebt, kann nur Gottes Feind sein. In Lk 16,13 sagt Jesus: Kein Haussklave kann zwei Herren zugleich dienen. Er kann nur den einen hassen und den anderen lieben oder den einen ehren und den anderen verachten. Ihr könnt nicht Gott und dem Geld gleichzeitig als Sklaven dienen. – Nach 1 Joh 2,15 gilt: Liebt nicht die Welt und auch das nicht, was in der Welt ist. Wenn jemand die Welt liebt, dann hat er die Liebe des Vaters nicht in sich. – Das heißt: Nach der Moraltheorie steht der Mensch (immer wieder) zwischen unvereinbaren Werten. Das gilt besonders schroff, wenn der eine Wert Gott ist. Deshalb heißt es in 4,4: »Freundschaft mit der Welt ist Feindschaft gegen Gott. Wer die Welt liebt, kann nur Gottes Feind sein.« Aussagen in diesem Kontext tendieren daher zur radikalen Zuspitzung, und so ergeben sich als hauptsächliche Gegensätze eben Gott und Welt sowie lieben und hassen. Die Moralphilosophie verfährt nun so, als wären die relevanten Gegensätze je so klar gegeben. Der Gläubige wird das für Gott wohl annehmen, er weiß auch Beispiele für Liebe zu nennen. Aber im Ganzen sind diese Mahnreden doch recht abstrakt. Nach 4,5 gilt: Der Geist, den Gott in uns wohnen ließ, »begehrt und eifert«. Ähnlich wie es bei Paulus auch vorkommt, ist »Pneuma« hier alles andere als der Heilige Geist. Gewiss ist es der Geist von Gen 2,7 (»Odem des Lebens«), also das Innerste des Menschen. Doch dieser menschliche Geist ist auf Abwege geraten. Neid, Gier und Hochmut werden hier genannt. Sie führen den Menschen weit von Gott weg. Daher rät der Jakobusbrief solchen Menschen »Demut«. Denn den Demütigen ist Gott nach Spr 3,34 gnädig. Der Weg zum Heil ist daher dieser Stelle zufolge vor allem die Demut. Wer sie zeigt, hat Gott nicht mehr zum Gegner. Nach Jak 4,7 ist demütig, wer sich Gott unterwirft. Unterwerfung statt Hochmut/Überheblichkeit besteht darin, dass der Mensch sich mit seinem kreatürlichen Geist Gott unterwirft. Das Zitat aus Spr 3,34 einschließlich der Rede von der Unterwerfung kommt aus den zeitgenössischen Pflichtenkatalogen und beschreibt das notwendige Verhalten gegenüber
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902 (königlichen) Herrschern. Denn von und vor diesen kann man Gnade erlangen. Die erste Regel über den Umgang mit Gott heißt daher: Den Hochmütigen widersetzt sich Gott, doch den Demütigen schenkt er Gnade. Da Jak vom verbalen Verhalten handelt, darf man voraussetzen, dass die Demut vor Gott sich im Gebet äußert. Die Verse 4,8.12 bringen zwei weitere Regeln über den Umgang mit Gott: (1.) Wenn ihr Gott entgegengeht, dann kommt er euch entgegen. (2.) Erniedrigt euch, und er wird euch erhöhen. Im ersten Fall geschieht Gottes Handeln nach der Talio (wie so oft, z. B. Mt 7,1), im zweiten Fall kehrt Gott in seiner Antwort das Tun des Menschen um (wie z. B.in Mt 7,7f). Warnung vor verbalen Angriffen auf den Nächsten Untersagt und dabei einander fast gleichgestellt werden Verleumdung und »Richten« wie in Mt 7,1. – Dabei meint »Richten« nicht das juristische Strafverfahren, sondern das verbale Abkanzeln, Verurteilen, Aburteilen und Verdammen. – Aber was heißt »der verleumdet bzw. verdammt das Gesetz«? Warum, so fragt der neuzeitliche Leser, schlägt das Verhalten gegenüber dem Nächsten so vollständig durch auf das Gesetz? Und warum gerade dieses (verbale) (Fehl-)Verhalten? Wer will denn das Gesetz verurteilen? In welcher Hinsicht sind denn »Nächster« und »Gesetz« einander ähnlich? Oder besser gefragt: Inwiefern vergeht sich der an Würde und Hoheit des Gesetzes, der den Nächsten abkanzelt? Es liegt nahe, hier paulinisch zu denken (vgl. zu Jak 2). Denn es ist eigentlich die Aufgabe und Funktion des Gesetzes (nach Paulus: vor Christus), die Menschen zu richten und sogar zu verurteilen. Paulus meint, eben dies sei die Funktion des Gesetzes vor Christus und bis hin zu diesem gewesen. Wenn aber ein normaler, sterblicher Mensch solches tut, setzt er sich an die Stelle des Gesetzes. Er bietet ihm Konkurrenz, und zwar schon durch die schlichte Tatsache der Amtsanmaßung. Er nimmt dem Gesetz seine Aufgabe. Paulus kann in diesem Sinne von Jesus Christus reden: Nach Röm 8 verurteilt Gott durch die Sendung des Sohnes »die Sünde« unter den Menschen. Denn mit ihm ist der Stärkere gekommen. Und man braucht ihn gar nicht mit der Sünde zu vergleichen, weil er eben der »unvergleichlich« Stärkere ist. Insofern ist durch die pure Gegen-
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wart des in die Welt Gesandten die Herrschaft der Sünde zu Ende, denn sie ist de facto verurteilt. Wie ein Tyrann, den man, wenn seine Zeit abgelaufen ist, vor ein Gericht stellt. Wer also meint, er selbst, und nicht das Gesetz, sei zum endgültigen Urteilen über den Nächsten berufen, der stellt sich über das Gesetz, weil er es überhaupt unternimmt, ein Urteil zu fällen. Auch ein Vergleich mit Röm 14,4 hält sich wieder an paulinisches Denken und kommt zu einem ganz ähnlichen Ergebnis. Röm 14,1: »Schließt jemanden, dessen Glauben euch schwach und altmodisch zu sein scheint, nicht aus! … den anderen nicht verurteilen. Niemand würde ja auch den Sklaven eines anderen Herrn zur Rechenschaft ziehen. Ob ein Sklave sich bewährt oder nicht, entscheidet sein eigener Herr …« Das heißt auf den Kontext in Jak 4 bezogen: Hier wie dort gilt es, jemanden (den Briefempfänger) von etwas abzuhalten, für das er nicht zuständig ist, nämlich von einem Urteilen, Beurteilen oder Verurteilen des Nächsten. Nach Jak 4 sollte man überhaupt nicht über Menschen richten, weil das jüdische Gesetz dies schon tut. Nach Röm 14 spitzt sich das NichtUrteilen auf die Frage der Zuständigkeit für fremde Sklaven zu. Der Nächste ist Sklave Gottes. Wer ihn aburteilt, setzt sich an Gottes Stelle. Bindeglied zwischen beiden Texten ist Röm 14 und Jak 4,11: Entweder ist der Sklavenhalter ein real existierender Mensch, oder – im Falle des Gesetzes – das Gesetz ist sein Sklavenhalter (vgl. Gal 4,1-3).
Jak 4,13-17: Transmarine und langfristige Geschäftsplanung In Jak 4,13-17 übt der Verfasser eine weit gehende Kapitalismuskritik. Damit ergänzt er seine Kritik an der Bevorzugung der Reichen in 2,2-7. In beiden Abschnitten zeigt er, dass er neben Lukas (Ev und Apg) und dem Seher Johannes der einzige frühchristliche Missionar und Theologe ist, der die Botschaft Jesu vom Evangelium für die Armen aufgreift, wie wir sie in den synoptischen Evangelien erkennen können. In sozialgeschichtlicher Hinsicht ist dieser Abschnitt einer der interessantesten in der Geschichte des frühen Christentums. Der Verfasser trägt folgende Sorgen vor: 1. Er wendet sich ge-
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Kapitel 3
gen langfristige Planung, die Voraussetzung für erfolgreiches Wirtschaften ist. An der Wirtschaftsplanung der mittelalterlichen Zisterzienser kann man gut studieren, dass weit vorausschauende Bedarfsplanung immense Vorteile gegenüber jeder Art von Konkurrenz verschafft. 2. Er wendet sich gegen geschäftlich »notwendige« längere Auslandsaufenthalte. Wer so etwas plant, muss über entsprechendes Investitionskapital verfügen. 3. Wie schon in 2,2-5 prangert der Verf. nicht die pure Existenz von Reichtum an. Ärgerlich ist vielmehr die Angeber-Mentalität, die er hier »sich rühmen« nennt. Damit aber hat er auch sein sozialethisches Thema im Bereich der verbalen Vergehen (Mundsünden) verankert. War es in 2,2-5 die ungerechte Bevorzugung der Neureichen, die ihn ärgerte, so ist es hier die Lautstärke, in der die Kapitalisten über ihre Planungen reden. In beiden Fällen werden immer die gedemütigt, die weniger haben. 4. Die Kapitalisten werden hier beschuldigt, anderen Lohn vorenthalten zu haben (V. 4). Wie ernst man dieses Delikt im 1. Jh. nahm, zeigt Mk 10,19, wo es mit »berauben« wiedergegeben ist. Dass 5,6 (»den Gerechten habt ihr verurteilt und getötet«) sich auf den Tod Jesu bezieht, der hier den Judenchristen in die Schuhe geschoben werden soll, ist aus meiner Sicht eher unwahrscheinlich, und zwar aus folgenden Gründen: 1. Jesus wird zwar »gerecht« genannt (Lk 23,47) und manchmal auch »der Gerechte«. Aber er ist bei weitem nicht der einzige Mensch dieser Art. Psalmen und Propheten, auch die spätere Weisheit entwickeln den Typus des »leidenden Gerechten«. Im Rahmen des deuteronomistischen Geschichtsbildes werden die jüdischen Hörer ähnlich angegriffen wie hier in Jak 5,6. 2. Ist »der Gerechte« hier ein Typus (gemeint wäre dann: jeder Gerechte) oder kann man damit nicht zuallererst dann doch Jesus meinen? Dagegen spricht die »Ihr«-Anrede. Denn die Adressaten wohnen doch sicher nicht in Jerusalem. Als Typus ist »der Gerechte« auch in 5,16b genannt. 3. Oder handelt es sich eher um ein Stück Bekehrungspredigt für Juden oder Imitat einer Bekehrungspredigt, wie wir sie von Apg 2-5 her kennen? Auch in diesen Texten wird Jesus als der Gerechte bezeichnet (z. B. 3,13-15). Ich halte diese Möglichkeit für die wahrscheinlichste und
903 finde Reichtumskritik verbunden mit grundlegender Umkehrforderung vor allem bei Lukas (z. B. Lk 16,14f). Gerade die durchgehende Betonung verbaler Vergehen in Jak weist in das Milieu jüdisch-hellenistischer Bekehrungspredigt. Denn wo diese resümiert wird, heißt es stets, sie sei gegen die verba dura et alta, die hochnäsigen und stolzen Worte der noch nicht Bekehrten gerichtet. Auch das ungute Sich-Rühmen, das Paulus immer wieder angreift, gehört in die Phase vor der Bekehrung (oder ist ein Rückfall in diese Zeit). Mission ist demnach wesentlich eine Sache verbaler Auseinandersetzungen, also der halboder ganz öffentlichen Diskussionen. Die theologische Eigenart des Jak, immer wieder auf die verschiedenen Gattungen mündlicher Rede einzugehen, verdankt sich daher einem bestimmten kulturellen Milieu. Der Verfasser kämpft mithin engagiert um die Herzen seines Publikums. Es handelt sich um Juden, die sich in der Synagoge zu versammeln pflegen (2,2). Alle Ungerechtigkeit, z. B. gegenüber Menschen wie Jesus und innerhalb der Gemeinde, soll nun ein Ende haben und der Vergangenheit angehören. Ähnlich wie bei Lukas tritt das Christentum als soziales Licht in den Raum der Geschichte. Diese These wird durch 5,4 gleich bestätigt: Der vorenthaltene Lohn »schreit« gen Himmel (5,4), und ebenso ist die Klage der Erntearbeiter bis zu den Ohren Gottes gedrungen. Auch die Geduld im Leiden, die der Verf. den Genossen des leidenden Gerechten empfiehlt (5,8), besteht wesentlich in einem verbalen Verhalten, nämlich im Gebet. 5,9: »Jammert nicht einer über den anderen, damit Gott euch nicht richten muss« (eine Anwendung des Verbots zu richten, denn Gott wird den richten, der seinen Nächsten verbal nicht schont.). Positiv gesehen waren die Propheten Vorbilder in Geduld. In 5,10 stehen sie in engstem Zusammenhang mit dem Bild des leidenden Gerechten, dem wir als »Typus« in 5,6 begegnet sind. In diesem Kontext begegnet in 5,11 der biblische Hiob. Denn das Frühjudentum meinte erkannt zu haben, Hiob sei von allen seinen Leiden deshalb getroffen worden, weil er sich zum Gott Israels bekehrt hatte. Nach der jüd.-hell. Schrift »Testament des Hiob« (1. Jh. n. Chr.) haben sie ihn getroffen, weil Hiobs Standfestigkeit in seinem neuen Glauben erwie-
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904 sen werden sollte. Auch nach 1 Thess 3 treffen die Drangsale deshalb die Gemeinde in Thessaloniki, weil der Versucher den Glauben testen will, zu dem sie kürzlich gefunden haben. Die Frage der Theodizee und das Motiv der Bewährung des Glaubens fallen daher hier zusammen. In Jak 5,7-9 findet der Verf. zu einem weiteren Thema der Verkündigung Jesu, das dort eng mit der Bewährung des Glaubens zusammenhängt: zur Geduld. In den synoptischen Apokalypsen (Mk 13,13; Mt 24,13; Lk 21,19) wie auch in der Offb (13,10) ist Geduld stets ein Schwerpunktthema. – 5,7 gibt mit dem Hinweis auf die Wiederkunft des Herrn eine eindeutig eschatologische Zielsetzung. Das Hauptanliegen hier hängt wieder mit dem verbalen Verhalten zusammen: »Jammert nicht einer über den anderen, damit Gott euch nicht richten muss. Denn der Richter steht vor der Tür.« Über den anderen zu jammern, ist etwa die Kehrseite des Sich-Aufschwingens zum Richter (4,11.12). Denn wenn die Christen geduldig sein sollen, dann ist das die Konsequenz daraus, dass sie alles richterliche Handeln Gott überlassen. Der Abschnitt 5,2-10 ist typisch für das Zeitverständnis des Jak. Christlich an diesem Zeitverständnis ist allerdings lediglich die Aussage, dass das Gericht und damit das Ende nahe bevorsteht. Begründet wird diese Behauptung eigenartigerweise gar nicht. Es wird nur gesagt, die Reichen hätten Schätze aufgehäuft, »obwohl doch das Ende nahe ist«. Gleichzeitig gilt, dass ihr Reichtum schon verdorrt ist (5,2). Überhaupt ist der Mensch wie schnell sich verziehender Rauch. Insgesamt ist daher die Zeit-Wahrnehmung in diesem Brief: Die Zeit eilt schneller als früher ihrem Ende zu (so nehmen es auch zeitgenössische Apokalypsen wahr, z. B. die Syrische BaruchApk). Alles währt und dauert nicht mehr lange. Dass das Ende nahe ist, diese Aussage ist nur die sachgemäße Ergänzung zur Erfahrung radikaler und rapider Vergänglichkeit. Wenn es also sowieso nicht mehr lange dauert, ist es keine Zumutung, wenn Jak dazu auffordert, noch etwas Geduld und Zurückhaltung bei der Be- und Verurteilung zu üben. Auch die noch verbleibenden Themen aus Jak 5 gehören in den Bereich der Bewährung durch Sprachverhalten: a) Nach 5,12 sollen die Angeredeten vor allem
Der Brief des Jakobus
nicht schwören. Der Grund: »Schwört weder beim Himmel noch bei der Erde noch bei irgend etwas anderem.« Den Grund für diese auf den ersten Blick merkwürdige Aufzählung erfahren wir in Mt 5,34-37; 23,22: Was eigentlich zu vermeiden ist, ist dies, nicht bei Gott zu schwören, d. h. den Namen Gottes zur Bekräftigung der eigenen Aussage anzurufen, um dieser Aussage Glaubwürdigkeit zu verleihen. Denn alle in den Listen von Mt 5 und Mt 23 genannten Dinge stehen letztlich mit Gott in Verbindung. Ohne eine Verbindung dieser Art sind nur die Ersatzpartikel »Ja« und »Amen«. Hier liegt daher der von Jak, von Mt und offenbar auch von Jesus selbst beschrittene Ausweg der Schwurvermeidung. – Denn man muss wissen, dass es im Judentum jener Zeit üblich geworden war, Aussagen über das kommende Gericht oder die kommende Welt mit einem Schwur einzuleiten. So beginnen z. B. die Mahnreden im Munde Henochs öfter mit den Worten: »Ich schwöre euch, meine Kinder, bei Gott, dem Schöpfer, dass …« Nur bei Jesus finden wir keinen dieser Schwüre, obwohl er zu den oft beschworenen Themen eine Menge zu sagen hat. Der Schwur bei Gott wird vermieden, um die Heiligkeit Gottes nicht in unheilige, kreatürliche Dinge hineinzuziehen. Jesus dürfte aber nicht der erste Vertreter dieser Praxis sein, denn wir finden sie auch im jüdischen und nicht-christlichen Slavischen Henochbuch, Kapitel 49-52. Auch dort wird gesagt, dass »Ja, ja« (parallel zum Amen, Amen des JohEv) der einzige Schwur ist, den Henoch gebraucht. Mit der Praxis des äußerst sorgfältigen Schonens Gottes gewinnen wir ein unbekanntes, aber zentrales Stück des Gottesbildes Jesu zurück. Angesichts oftmals betulicher Kirchenpraxis, im Gottesbild allein »Gott ist die Liebe« zu betonen, ist Jesu Scheu gegenüber der absoluten Heiligkeit des Gottesnamens ein Markstein auf dem Weg der Wiederentdeckung der biblischen Botschaft. b) Über Gebet und Salbung durch die Ältesten im Krankheitsfall. Außer den »Ältesten der Gemeinde« werden in Jak keine weiteren Autoritäten genannt. Wie überall sonst im frühen Christentum (außer in 2/3 Joh) gibt es Älteste nur als Gremium. Diese Ältesten sollen nichts anderes tun als das, was Jesus den Jüngern nach Mk 6,13 aufgetragen hat (Salbung mit Öl und Heilung). Auch die Verbindung der Salbung mit Gebet ist
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Kapitel 3
selbstverständlich. Salbung ist luxuriöse, leibhaftige und liebevolle Zuwendung. Sie steht daher für den gnadenhaften Charakter des Heilungsbesuchs der Ältesten. Denn das Salbungsöl kommt von außen, ist also Zeichen geschenkhafter Zuwendung. Seit jeher besteht überdies eine enge Verbindung zwischen Ölsalbung und Übermittlung des Heiligen Geistes (vgl. 1 Joh 2,22.27). Die Bitte in der alten Pfingstsequenz erinnert daran: »Sana quod est saucium« (Bitte an den Heiligen Geist: »Heile, was verwundet ist!«). – 5,15 hebt hervor: Das gläubig gesprochene Gebet wird Rettung bewirken; der Herr wird den Kranken wieder aufrichten. Seine Sünden werden vergeben werden. – Dass das Gebet diese Folgen hat, liegt daran, dass das Gremium der Ältesten die Einheit/Einigkeit der Gemeinde darstellt. Denn wenn das Presbyterium den Kranken besucht, ist das so, wie wenn die Gemeinde als Ganze präsent wäre. Ich verweise zu diesem Punkt auf das zu 1 Kor 11 (Eucharistiefeier) zur Frage der Einheit der Gemeinde Bemerkte. Hier in Jak 5 stellt das (vollzählige) Presbyterium die innere und äußere Einheit der Gemeinde dar. Deshalb wird das Gebet um Gesundheit und Sündenvergebung erhört (vgl. Mk 11,25; Mt 6,14f). c) Jak 5,16 bestätigt das nach V. 13-15 für den Heilungsbesuch Bemerkte. Die Christen bekennen einander ihre Sünden und beten füreinander um Heilung. Dabei ist das Wort »Heilung« erkennbar auf geistliche und zugleich körperliche Gesundung bezogen (Joh 5,6.14; Tit 1,13; 2,2). Offen bleibt die Frage, ob einer seine Sünden vor der geschlossen versammelten Gemeinde bekennt oder nur vor einem anderen Christen. Das Wort »einander« ist dabei typisch für die so genannte Gemeindeparänese (vgl. dazu Gal 6,2: »Einer trage des anderen Last«), klärt aber für sich genommen nicht den genauen Vorgang. Nach Mk 1,5b ist wohl zumindest der Täufer derjenige, der das Sündenbekenntnis anhört. Nach Didache 14,1 f ordnen die Zwölf Apostel an: »Versammelt euch jeden Sonntag, teilt das Brot und sagt Dank. Vorher bekennt eure Sünden, damit euer Opfer rein ist. (2) Wer mit seinem Kollegen oder Freund zerstritten ist, soll erst dann in der Versammlung erscheinen, wenn sie sich wieder versöhnt haben, damit euer Opfer nicht unrein wird.«
905 Aus dem Noviziat von Mönchsorden ist bekannt, dass einer vor der ganzen Kommunität seine Sünden bekennt. Dies erfordert große Demut oder bedeutet besondere Demütigung. Wenn es sich nur um einzelne Christen handelt, denen einer seine Sünden bekennt, dann ist der Schritt zur späteren Ohrenbeichte leichter. Das Szenario in Jak 5 setzt dabei nicht voraus, dass einer autoritativ die Absolution spricht. Diese wird vielmehr deprekativ erlangt (als Fürbittgebet, das eben auch zum Inhalt hat: Der Herr vergebe dir deine Sünden). d) Jak 5,16b-18: Auch hier geht es wieder um das Thema des Jak, das religiöse Sprechen. Der Text schärft die Macht des Gebetes des »Gerechten« ein. Dies ergänzt die Aussage über den Gerechten in 5,6. »Der Gerechte« ist daher ein Subthema des Jak. Der Prophet Elia wird als Musterfall der Erhörung von Gebeten genannt, und zwar deshalb, weil sein Gebet in »beiden Richtungen« erhört wurde, erst als Gebet um Trockenheit und dann als Gebet um Regen. Die Themen »Prophet« und »Gebetserhörung« gehören zusammen. Das gilt auch für Paulus, denn prophezeiende Frauen sind auch betende (und umgekehrt), vgl. 1 Kor 11,5. Die Didache vertraut darauf, dass das Gebet eines Propheten auch dann erhört wird, wenn es sich nicht um ein gebräuchliches, fest formuliertes und »erprobtes« Gebet handelt (10,7) e) Jak 5,19 f: Der Brief endet unspektakulär mit dem Fall, dass jemand ein Gemeindeglied, das sich verirrt hatte, zurückgewinnt. Denn damit errettet er ihn vom Tod und deckt eine Menge von Sünden zu; dieses Zitat aus Spr 10,12 bezieht sich auf »Erbarmen/Barmherzigkeit«. Das Tun des Retters ist daher Erbarmen/Barmherzigkeit. – Werden also die Sünden beim Erretter zugedeckt und nicht bei dem, der wiedergewonnen wird? Zudecken nennt man später: sühnen. Es handelt sich dabei um eine Metapher: Wer Schuld bzw. Folge der Sünde zudeckt, sühnt sie. In 1 Petr 4,8, wo dasselbe Zitat verwendet wird, bedeutet das: Strebt nach ausdauernder Liebe zueinander, denn Liebe deckt eine Menge Sünden zu. – Die Frage ist: Warum ist die Liebe Sühne? Wie funktioniert das? In Spr 10,12 steht das Verb kafar, »zudecken«, »bedecken«. Unsere Frage ist: Wie wurde die Beschaffenheit von Sünden vorgestellt, wenn sie
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906 zugedeckt werden konnten und mussten? Und weiter: Zudecken ist ein metaphorischer Vorgang. Welche Alltagserfahrung liegt zugrunde? Welches Negative lässt sich zudecken, um wirkungslos zu werden? – Zugedeckt werden müssen alle kostbaren Dinge wie Milch und Wein, damit sie nicht verderben. Darum kann es sich bei den Sünden nicht handeln. Zugedeckt werden müssen Löcher und Ritzen in Haus und Dach. Zugedeckt werden müssen vor allem Wunden. Zu Letzterem bietet das Alte Testament Parallelen. Deren bekannteste ist Jes 53,5: »Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt.« Denn der Gottesknecht trug unsere Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen (V. 4). Das heißt: Indem der Gottesknecht stellvertretend verwundet wird, trägt er die Sünden des Volkes, sühnt sie, sodass sie das Volk nicht mehr belasten. So aber wirkt Liebe, wenn es in einer Gemeinschaft Streit und Verletzungen gegeben hat. Ich halte es daher für zumindest gut möglich, dass sich das Bild in Spr 10,12 auf das Zudecken/ Bedecken von Wunden bezieht. Denn bei »Sünde(nschuld)« geht es um die schmerzlichen, destruktiven und für den Täter der Sünde höchst unvorteilhaften Folgen der Sünde. Das also, was zugedeckt wird, können nur die Folgen des Fehlverhaltens sein, und zwar sowohl beim Täter als auch in der Gemeinschaft. Indem die Wunden zugedeckt werden, verschwinden sie nicht, wer-
Der Brief des Jakobus
den sie nicht ungeschehen gemacht. Das gilt auch von vergebener Sünde. Aber die Folgen der Verwundung werden radikal eingegrenzt, der Schmerz wird geringer, die Entzündung kann sich nicht weiter ausbreiten. Das Verbinden und Zudecken der Wunde ist der entscheidende Schritt auf dem Weg zur Heilung. Sie ist damit »aus dem Verkehr gezogen«. Daher steht auch bei jeder der beiden neutestamentlichen Zitate von Spr 10,12 die Gemeinschaft im Blick: Nach Jak 5,20 kehrt der Abgewichene in die Gemeinschaft zurück (Verletzungen gab es wohl auf beiden Seiten), und nach 1 Petr 4,8f geht es um die Liebe zueinander. Das heißt: In beiden Fällen wird die Gemeinschaft geheilt. Weil die Verletzungen in der Regel auf beiden Seiten liegen, ist in dem Zitat wie in den zitierenden Sätzen nicht gesagt, wessen Sünden da in Fülle zugedeckt werden. Es geht wohl um alles Versagen, das in solchen Fällen zu sein pflegt. Allerdings geht es in Jak 5,20 wohl kaum um die Sünden dessen, der den Irrläufer zur Rückkehr bewegt hat. Denn diese stehen bei dessen Rückkehr nicht zur Debatte. Überall aber, wo offenbar kein nachtragendes Interesse an dem Einzeltäter der Sünde erkennbar ist, geht es offensichtlich um Sünden aller Beteiligter. Die Bezeichnung kommunitäre (gemeinschaftsbezogene) Sünden wäre wohl unangemessen, denn jeder einzelne bleibt verantwortlich. Aber um etwas Ähnliches handelt es sich hier.
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Der erste Brief des Petrus
Kommentare: Didymus Alexandrinus (5. Jh.). – Ps.-Oecumenius (8. Jh.). – Ps.-Hilarius Arelatinus (10. Jh.). – Beda Venerabilis (7./8. Jh). – Ps.-Theophylakt (12. Jh.). – Euthymius Zigabenus (12. Jh.). – Martinus Legionensis (vor 1203). – Nicolaus Gorranus (unter d. Namen Thomas v. Aquin; 13. Jh.). – Dionysius Carthusianus (vor 1471). – Desiderius Erasmus (1516). – M. Luther (1523). – C. Hegendorf (1525). – H. Bullinger (1534). – N. Hemmingius (1579). – J. Gerhard (1641). – D. Pareus (1641). – J. Laurentius (1647). – C. Horneius (1654). – F. Crel-
lius (1656). – J. Schlichting (1656). – W. Estius (1658). – F. Gomarus (1664). – N. Alexandre (1710). – A. Calmet (1726). – H. S. van Alphen (1734). – A. Remy (1740). – G. Benon (1761). – C. Klemmen (1770). – G. T. Zachariä (1776, 1781). – Natalis Alexander (1788). – E. Bengel (1813). – J. H. Hottinger (1815). – C. Ph. H. Brandt (1831). – F. X. Maßl (1846, 1847). – W. M. L. de Wette (1847). – J. M. Usteri (1887). – H. v. Soden (1891). – Wohlenberg/Burger/Luthardt (1895). – E. Kühl (1898). – A. Schlatter (1921). – L. Goppelt (1978). – N. Brox (1979).
EINFÜHRUNG Beziehung zu Paulus 1 Petr zeigt zahlreiche Berührungen mit paulinischer Theologie, besonders mit 1 Kor und Röm. Diese Ähnlichkeiten sind so weitgehend, dass eine historische Beziehung bestehen muss. Diese hat man in zwei Modellen bedacht: a) 1 Petr ist von Paulus literarisch abhängig. Der Brief setzt demnach die Lektüre der oder wenigstens einiger Paulusbriefe wie Röm voraus. Diese Hypothese steht ganz im Bann der Tübinger Generallösung urchristlicher Theologiegeschichte; diese sei dialektisch verlaufen; Paulus sei neben Markus die andere Initialzündung aller frühchristlichen Theologie. Alle späteren theologischen Entwürfe haben in dialektischer Manier die früheren »in sich aufgehoben«. 1 Petr sei demnach eine Abart paulinischer Theologie, jedoch auf dem Wege zum Frühkatholizismus mit judenchristlichen Elementen verschmolzen. b) Die Ähnlichkeiten sind nicht durch eine sekundäre und verflachende Paulusrezeption zu erklären. Paulus ist hier schon gar nicht das abgemilderte und verfälschte Original. Es ist vielmehr zu beobachten, dass 1 Petr eine Reihe von (mit Paulus gemeinsamen) Traditionen zugrunde liegt. Diese sind in 1 Petr jeweils ihrer hellenistischen oder speziell jüdischen Grundgestalt näher. Bei Paulus sind sie stärker mit der eigenen, nicht unkomplizierten Theologie verwoben. 1 Petr ist demnach eher katechetisch ausgerichtet.
Adressaten 1 Petr gehört zu den enzyklischen Schreiben des frühen Christentums, d. h. er ist an mehrere Gemeinden in mehreren Orten gerichtet. Diese Eigenschaft teilt er z. B. mit Jak und Offb. Entstehungsort Als Entstehungsort wird Babylon angegeben (5,13). Dieser Name gilt mit großer Sicherheit als Deckname; denn das historische Babylon lag längst in Ruinen. Zur Erklärung gibt es folgende Möglichkeiten: a) In der jüdisch-hellenistischen Diasporaliteratur ist Babylon immer wieder genannt als der Ort bzw. der Inbegriff des Ortes, an dem die jüdische Diaspora in der Fremde weilt. Babylon wäre dann der Ort der Fremdlingsschaft schlechthin. Dem entspräche der Ausdruck »Diaspora« in 1,1: Nach Analogie des jüdischen Volkes verstehen sich auch diese Christen als heimatloses Volk Gottes in der Diaspora. 1 Petr entsteht demnach in der Fremde, um das Volk Gottes in der Fremde zu trösten. Im hellenistischen Judentum gibt es einen (fingierten) regelrechten Briefwechsel zwischen Mitgliedern des Gottesvolkes in Babylon und solchen in Jerusalem. Das betrifft besonders die Jeremia-BaruchLiteratur. – Alle Züge des 1 Petr, die auf unbehauste Christen im Exil weisen, würden durch diese Ortsangabe verstärkt.
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908 b) Babylon wird so verstanden wie in der Offb, und Babylon ist Deckname für Rom. 1 Petr stünde damit durch diese Notiz unversehens der Apokalyptik mit ihren Konsequenzen besonders nahe. Damit aber entsteht eine starke Spannung zu 1 Petr 2. Denn hier im Pflichtenspiegel stehen Gott und Kaiser nebeneinander. Allerdings widerspricht eine derartige Unterscheidung auch nicht einer apokalyptischen Einschätzung (vgl. Mk 12 und 13). – Außerdem schließt die Fürbitte für den Kaiser den Decknamen Babylon für Rom nicht aus. Ein modernes Beispiel: Man kann Berlin für das Zentrum des Atheismus halten und trotzdem für die Bundeskanzlerin beten. Der Kaiser ist doch nicht einfach mit Rom identisch! Die in der Offb gebräuchliche Gleichsetzung von Rom und Babylon hat ihren Ursprung in der Lehre Daniels von den vier Reichen. Das letzte in dieser Abfolge ist das der Perser (Babylonier). Da de facto das römische Weltreich besteht, wird Babylon zum Decknamen für Rom. Dies heißt gleichzeitig: Es ist das letzte der Reiche, danach kommt das Reich Gottes. Das zu 5,13 gesammelte apokalyptische Material für die Gleichsetzung Rom/Babylon ist so überwältigend, dass man ihm nicht ausweichen kann. Freilich ist 1 Petr keine apokalyptische Schrift im Sinne der Fünf-Reiche-Lehre. Aber vielleicht doch mit der Abfolge von (kurzer) Leidenszeit und Herrlichkeit. Das wäre dann christologisch zentrierte Apokalyptik. Auch der Teufel, der umhergeht auf der Suche, wen er verschlingen könne, ist ja nicht einfach der römische Kaiser, sondern der Versucher, der sich an die Neubekehrten heranmacht. Die Situation von 1 Petr hat daher auch hier nichts mit der gottlosen Weltmacht Rom zu tun. Oder sind die zahlreichen Aussagen des 1 Petr über die notwendige Abfolge von Leiden und Herrlichkeit etwa martyrologisch zu verstehen? Rom/Babylon wäre dann der Ort, an dem Petrus hingerichtet wurde. Autor War Petrus nicht ein ungebildeter Fischer vom See Gennesaret? (Müssen Fischer im 1. Jh. ungebildet sein?) Konnte er überhaupt zumindest so gut Griechisch, dass er den Brief diktieren konnte, inklusive Schriftkenntnis und einiger rhetorischer Kunstgriffe? (Noch einmal: Muss Petrus
Der erste Brief des Petrus
theologisch und sprachlich »dumm« gewesen sein?) Rühren die Übereinstimmungen mit Paulus aus dem in Gal 2 geschilderten Besuch des Paulus in Jerusalem her, oder war der Apostelkonvent der Ort des Austauschs? Oder ist das zu konkret gedacht? Übereinstimmung Petrus/Paulus zeigt sich ja auch in Mt 16,18/Gal 1. Gab es vielleicht im Zusammenhang der späteren Mission eine größere Annäherung, von der wir aufgrund der Quellenlage keine direkten Nachrichten haben? Für den Fall, dass 1 Petr pseudepigraph wäre: Welcher Anlass bestand dann, Petrus und Paulus theologisch so nahe zusammenzurücken, wie es auf jeden Fall in 1 Petr geschieht? Auch die theologische Nähe zu Jak ist beachtlich und unübersehbar. Sind das alles pseudepigraphe Gespinste, oder spiegelt das nicht doch historische Beziehungen, wie sie ja zwischen Petrus und dem so genannten Herrenbruder Jakobus, dem Autor des Jak, bestanden? Gewiss schließt das eine das andere nicht aus. Aber es ist wohl doch eine sehr ideologische Verfestigung unseres Kirchenbildes, wenn wir davon ausgehen, sie wären inspiriert und zugleich dumm gewesen. Auch in Apg 4,13 wird doch nur ein Vorurteil berichtet – oder ein Topos. Datierung 1 Petr gehört in die Phase der Sammlung und Entstehung der synoptischen Tradition. Denn auf Schmähung sollen Christen mit guten Werken antworten (1 Petr 2,12; Mt 5,11.16), sie sollen die sie Schmähenden oder Verfluchenden segnen und Gutes tun (1 Petr 3,9.16.17 und Lk 6,28.33); wenn sie die Sorgen (im Gebet) auf den Herrn werfen und wachsam und nüchtern sind, brauchen sie sich nicht sorgen und haben Kraft zum Widerstand (Lk 12,11f; Mt 6,11.34; 1 Petr 5,6-9). 1 Petr 4,14 (Seligpreisung, Schmähung, Heiliger Geist) verknüpft Aussagen, die anderswo von der Taufe gelten (vgl. K. Berger, Theologiegeschichte, 1994, § 204-206). Die Ähnlichkeiten mit den Evangelien bestehen nicht darin, dass die ähnlichen Worte als Jesuszitate gekennzeichnet wären. Einzelnes vgl. zu 2,19f; 5,611. Alle sind durchgehend Petrus-Rede. 1 Petr hat sehr viel Material mit Paulus gemeinsam (vgl. Berger, ebd., § 254-264), z. B. die Praxis des heiligen Kusses, die Charismen oder die positive Einschätzung der staatlichen Gewalt, Ähn-
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Der erste Brief des Petrus
lichkeiten im Briefformular. Beachtenswert ist auch z. B. das gemeinsame Zitatenmaterial (Jes 28 und Hos 2 in Röm 9 und 1 Petr 2). Es ist davon auszugehen, dass diese Übereinstimmungen nicht zufällig sind. Sie zu erklären, gibt es grundsätzlich zwei Möglichkeiten: Entweder es handelt sich um Material, das beide Autoren aus gemeinsamer Tradition haben, oder 1 Petr ist eine sekundäre Verarbeitung paulinischer Briefe. Letzteres nahm die ältere liberale Forschung an und datierte 1 Petr spät. 1 Petr hat auch beträchtliches Material mit Jak gemeinsam, so z. B. die Selbstkennzeichnung als Diasporabrief (1 Petr 1,1; Jak 1,1) oder der Beginn mit der Rede über die Bewährung des Glaubens (1 Petr 1 und Jak 1). Nach 1 Petr 1,18 geht es aber um Heidenchristen, auch wenn die Theologie des Briefes, besonders die Christologie, die Lehre vom Descensus und die Tauflehre ganz jüdisch sind. In den 1,1-2 genannten Gebieten dürften vor allem Heiden gewohnt haben (die Überschneidung mit paulinischen Missionsgebieten ist eher gering). In dem Petrusbild von 1 Petr fehlt die Ausrichtung des Petrus auf Beschneidung (Gal 2,9) und auch jede Bezugnahme auf seine Vision(en) des Auferstandenen, es sei denn, man identifiziert das mit Herrlichkeit nach dem Leiden, deren Zeuge Petrus zu sein beansprucht. Auch ab Apg 10 wird Petrus ja ganz als Heidenmissionar geschildert. Vom Martyrium des Petrus ist nicht die Rede. Babylon beziehe ich auf Rom und setze mit Offb voraus, dass es sich um eine bereits jüdische Chiffre handelt. Ich datiere 1 Petr zwischen 50 und 55 n. Chr. Zusammenfassende Begründung: Inhaltliche Nähe des 1 Petr zu Synoptikern und Paulus, Jak und Eph. Der Zusammenhang von Martyrium und Nachfolge ist noch lebendig (2,20.21). In 1 Petr 5 finden sich besonders dichte Übereinstimmungen mit 1 Thess 3 und 5, dem mutmaßlich frühesten Paulusbrief. Der hier (wohl durch Silvanus, vgl. 5,12) schreibende Apostel ist als jüdisch geprägter Heidenmissionar tätig. Aufgrund des erkennbaren engen Verhältnisses zu Paulus ist das sehr neuzeitliche Bild vom spannungsreichen Verhältnis zwischen Petrus und Paulus zu revidieren. In die älteste Zeit bis ca. 55 n. Chr. weisen ferner folgende Elemente:
909 a) In den Gemeinden sind Charismen noch ein strukturierendes Merkmal (sonst nur noch in Korinth und in Rom), und zwar sind sie (noch nicht?) so differenziert wie in Korinth. Da man weiß, dass die Charismen später in der Regel verschwinden, weist 1 Petr 4 auf jeden Fall in die Frühzeit. b) Von Querelen in den Gemeinden ist nichts berichtet, insbesondere nicht von Rangstreit, das Amt betreffend. c) Dem entspricht, dass ein lokales Bischofsamt in Kleinasien noch nicht bekannt ist. d) Gravierend ist, dass die angesprochenen Gemeinden noch nicht wissen, was ein Apostel ist. Petrus gebraucht den Titel zwar in 1,1. Aber dort, wo es ans Argumentieren geht, muss er den Adressaten erklären, dass ein Apostel so eine Art Ältester ist. Älteste waren demnach geläufig, der Titel Apostel bringt aber nichts. In der Tat kennt die griechische Sprache das Wort apostolos, bevor es christlicher Fachausdruck wurde, nur in der Bedeutung »Flottenexpedition« (selten). e) Die angesprochenen Gemeinden haben noch kein eigenes christliches Kirchenverständnis. Dieses wird vielmehr erst im Brief (Kap. 2) entfaltet, und zwar in intensiver Anlehnung an das Alte Testament. Dass gerade in diesen Passagen die Übereinstimmung mit Paulus am dichtesten ist (Röm 9f), erlaubt mehrere Schlussfolgerungen. Dass 1 Petr hier Röm 9 kopiert habe, ist nur die schlichteste der möglichen Hypothesen. Es könnte sich auch um ältere Traditionen römischer Christen handeln. Die im Brief angesprochenen Christen sind in dieser Hinsicht in ähnlicher Lage wie offensichtlich das JohEv. Dessen Adressaten müssen sich erst noch sammeln, und der Vergleich mit 1 Petr ist aufschlussreich: Im JohEv ist ganz eindeutig die Christologie die gesuchte Mitte der neuen Gemeinschaft; das Bild von Christus als Weinstock vermittelt ein Verständnis von Gemeinde. In 1 Petr ist das sehr anders. Gottes Haus (Tempel) und Volk sind hier die Pfeiler, auf denen der Kirchenbegriff ruht. Das bedeutet keinen Mangel an Christologie, aber die paulinische Vorstellung von der Gemeinde als dem Leib Christi oder auch das verwandte Bild vom Weinstock gibt es hier nicht. Dass ein Apostel aus Rom brieflich in klein-
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910 asiatische Gemeinden eingreift, wird eine Analogie in 1 Clem (Rom-Korinth) finden. Es setzt zumindest voraus, dass diese Gemeinden noch kein Bischofsamt haben. Ungefestigte Strukturen waren ja auch in Korinth, als Clemens v. Rom seinen Brief dorthin richtete. Die starke Orientierung des 1 Petr an jüdischen Vorstellungen über Gemeinde (Tempel, Volk), gepaart mit entsprechend wenigen christlichen Besonderheiten weist gerade gegenüber Paulus und dem JohEv mit ihrer entschlossen christologischen Begründung in die Frühzeit. Das gilt insbesondere deshalb, weil eigentlich kein Anlass für die kleinasiatischen Christen bestand, sich so intensiv an das Judentum anzulehnen. Der Grund dafür liegt eher beim Verfasser. Auf Gal 2,7-8 wurde hingewiesen, und dass es in Rom viele Judenchristen gab, wissen wir aus Röm. Fazit: Die Adressaten des 1 Petr leben noch unter (theologiegeschichtlich) archaischen Bedingungen. Wenn die Übereinstimmungen mit Paulus nicht durch Abschreiben des Röm zu erklären sind – wovon ich ausgehe –, dann gehört 1 Petr in die römische Situation vor Abfassung des Röm. Ganz anders als Röm ist er ein judenchristlicher Versuch (Petrus!), Heidenchristen nach jüdischen Vorstellungen zu organisieren und theologisch zu verorten. Ich halte daher an der Entstehungszeit 50-55 n. Chr. fest und sehe in diesem Brief einen eigenständigen Versuch, Gal 2,7-8 für Heidenchristen zu interpretieren (natürlich nicht den Brief, sondern die bekannte Vereinbarung vom Apostelkonvent). Die Komposition des 1 Petr Thema: Das Leiden und die Heimatlosigkeit der Erwählten im Gegensatz zu den Heiden. 1,3-12: Christen leiden für kurze Zeit, weil sich ihr Glaube bewähren muss. Auch Leiden und Herrlichkeit des Christus haben die Propheten vorausbezeugt. 1,13-21: Berufung der Christen aus den Heiden (V. 20: vorausgesehen). Stichwort: Heiligkeit 1,16 f. Neubekehrung Einzelner. Auf die Thematisierung des Weges des einzelnen Christen hin folgt eine Belehrung über den analogen Weg, den die Gemeinde gehen muss. 1,22-2,10: Bekehrt als Gemeinde (die Gemeinde
Der erste Brief des Petrus
ist berufen – sie soll sich heiligen als heiliges Volk). 2,11-12: Bleibende Differenz der Neubekehrten zu den Heiden. 2,13 – 3,9: Bürgerliche Pflichten der Christen, nach Ständen geordnet. 3,8f: Tugendkatalog als Zusammenfassung für alle Stände. 3,10 – 4,19: Postbaptismale Mahnrede. Schilderung des Weges über die Taufe inklusive des himmlischen Hintergrunds der Taufe. Kontraste gut/schlecht (Christsein und Leiden). Merkmale der Christen sind die bei der Taufe verliehenen Charismen. Heidnische Laster vorher (4,3.4). 4,11: Wie es geschieht, dass Gott verherrlicht wird (vgl. 2,12). In seiner Belehrung über Gut und Böse erinnert 1 Petr 3f an 2 Kor 6,1-7,1 (Unvereinbarkeit). Gutes tun und Leiden, nicht Schlechtes tun und üble Nachrede ertragen. Leiden als Täter des Guten. Wer so leidet, ist von der Sünde frei. Die eigene Fremdheit unter den Heiden bejahen. Gemeinschaft im Leiden mit Christus. 5,1-5: Pastoralstück (Anweisungen an Gemeindeleiter) und an alle, die auf sie hören sollen. Zeit der Bewährung nach der Bekehrung: Demut und kurze Zeit leiden. Der Teufel ist der Versucher, Babylon die Hauptstadt des Abfalls von Gott. – Typische Anweisung an Neubekehrte zum Widerstand. Zur Theologie des 1 Petr Man wird drei Dinge unterscheiden müssen: Die auf der Oberfläche des Briefes erörterten Themen sind Leiden und Fremdlingsschaft der Adressaten. Die Orientierung an derartigen Fragestellungen hat besonders innerhalb der letzten 30 Jahre – also in der zuweilen platt und geradezu fundamentalistisch ausgeführten sozialgeschichtlichtlichen Forschung – oft zu Kurzschlüssen geführt. Denn man folgerte aus der Tatsache, dass der Brief Leiden bespricht, sogleich die Notwendigkeit, nach konkreten Verfolgungen zu fragen, und kam dann in die Zeit Domitians, und zwar einfach deshalb, weil es vorher systematische größere Christenverfolgungen in Kleinasien offenbar nicht gegeben hatte. – Dann wird man fragen müssen, wo die hauptsächlichen Übereinstimmungen mit einer möglichen Petrus-Theologie liegen. Es ist nämlich nicht so,
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dass sich typische Petrus-Themen in 1 Petr nicht ermitteln ließen. Dazu gehört auf jeden Fall das Thema Erniedrigung (Demut)/Erhöhtwerden. Dieses ist nicht nur typisch synoptisch, sondern auch mit dem Thema Amt verknüpft. Ebenso ist die Abfolge von Leiden und Herrlichkeit typisch für 1 Petr und für Teile der Petrustradition (Lukas), besonders wenn es um die Zeugenschaft bei den Leiden geht, für die wir bei Paulus natürlich nichts finden. Diese beiden Themen Niedrigkeit/Erhöhtwerden und Leiden/Herrlichkeit gehören zur Grundsubstanz des 1 Petr. Auf jeden Fall hat der Name Petrus etwas mit diesen fundamentalen Erbstücken aus der synoptischen Tradition zu tun. Schließlich müsste man drittens fragen, wo das möglicherweise verborgene theologische Zentrum dieses Briefes liegt, der geheime Mittelpunkt, um den sich alle Themen ordnen und der, weil er nicht direkt artikuliert wird, nur erschlossen werden kann. Vielleicht ist dieser Mittelpunkt nur durch Vergleich mit anderen Briefen zu erschließen. Mir scheint dieser Mittelpunkt im Thema Kirche zu liegen. Das erklärt auch die merkwürdige Zerrissenheit des Aufbaus dieses Briefes. In immer neuen Anläufen geht der Verfasser dieses Thema an (Gemeinde als Tempel, als Volk, Charismen, Stände, Älteste). Vor allem hat das Thema Leiden immer wieder etwas mit Kirche zu tun, denn hier liegt die Demarkationslinie gegenüber den Außenstehenden. Auch wenn also die Gemeinde nicht durch eine systematische staatliche Verfolgung heimgesucht wird, das Thema Leiden ist in vielen Varianten doch das, was die Christen zusammenschließen kann. Dessen kann man sich unter Christen gegenseitig versichern. So erklärt sich auch, warum die Leiden so diffus über den Brief verteilt sind und vor allem kein konkreter »Attentäter« hinter all den Leiden erkennbar wird. Dennoch kommt alles zusammen: Das Geschick Jesu, der leidende Gottesknecht, die alltäglichen Verunglimpfungen der Christen mit der Folge ihrer sozialen Ausgrenzung, die bleibende Fremdheit der Christen, die der Verfasser nicht zurücknimmt oder ermäßigt, sondern bekräftigt. Wie der Verfasser sagt, ist Leiden für solche Christen nichts Fremdes. Für die Identität der Gemeinde hat es konstitutive Bedeutung und ist daher im besten Sinne erbaulich.
911 Die immanente Logik der Theologie des 1 Petr Anhand der rekonstruierbaren Traditionen kann man dem 1 Petr ein Höchstmaß an innerer Folgerichtigkeit bescheinigen. Kennt man diese Traditionen, die auch Voraussetzungen auf Seiten der Adressaten gewesen sein dürften, nicht, so bleibt einem die Folgerichtigkeit der Gliederung verschlossen. Zugleich ist diese Fragestellung für die Bestimmung der historischen Situation von Bedeutung. a) Die Initialzündung liegt darin, dass die Gemeinde durch das kostbare Blut des Lammes zu Gottes heiligem Eigentum geworden ist. So, als heiliges Volk und heiliger Tempel, kann die Gemeinde das kommende Gericht bestehen. Diese Verbindung von Messianität und Eschatologie ist der Ausgangspunkt. Dass die Christen durch das Blut des Lammes (Wasser der Taufe) Gottes Eigentum wurden, ist ein jüdischer Ansatz aus der Bundestheologie, auch wenn Letzteres in 1 Petr nicht mehr erkennbar ist. b) Um überhaupt an diesem Punkt anzukommen, bedarf bzw. bedurfte es der Bekehrung. Sprache und Theologie dieses Briefes sind bis in jede Einzelheit von der jüdisch-hellenistischen Bekehrungsterminologie beherrscht. Alles, was man in der Tradition der jüdischen Missionsliteratur mit Tun und Ergehen des Neubekehrten (Proselyten) verband, bestimmt in höchstem Maße auch 1 Petr. c) Der Bekehrte ist daher wie neu geboren (neu geschaffen). Er ist ja dem Schöpfergott begegnet. Gleichzeitig schildern die Attribute »nicht Volk«/»Volk« und Königtum, Priestertum, auserwähltes Volk geradezu schmeichelhaft die neue korporative Identität der ehemaligen Heiden. Ein Stück Proselyten-Mentalität zeigt sich darin, dass die kirchliche Identität dieser Heidenchristen sich ganz und gar jüdischer Motive und Vorstellungen bedient. d) Auf Schritt und Tritt ist der Neubekehrte der Versuchung ausgesetzt, wieder in den vorchristlichen heidnischen Zustand zurückzufallen. Diese Versuchung erprobt seinen Glauben. Hinter der Versuchung steht der Teufel. e) Mit dem Thema Versuchung ist auch der Bereich Verfolgung, Schmähung, Leiden, Diskriminierung erreicht. f) Zur Verfolgung und Diskriminierung gehört das Thema Heimatlosigkeit und Fremdheit. Die-
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ses ist, wie Hebr 11 zeigt, die im Diasporajudentum überwiegende Selbstwahrnehmung. g) Gleichzeitig ist Verfolgung der Gerechten ein Thema der Endzeit. Das passt zu dem unter a) genannten Thema Gericht. In der Endzeit ist auch der Teufel besonders aktiv. h) Weil das bevorstehende Ende die Umkehrung der Werte bedeutet, sind Demut und SichUnterordnen Thema der Endzeit. Parallel zur Verherrlichung der Leidenden steht die Erhöhung der Demütigen. Die Eschatologie besteht im Wesentlichen in der Umkehrung der üblichen Sozialverhältnisse. Eine entfaltete Apokalyptik kennt 1 Petr nicht. Für Heidenchristen typisch ist Eschatologie auf das Gericht reduziert. Diese schon unter a) geschilderte Verknüpfung von Bekehrung (zu einem neuen Gott) und Gericht ist im Übrigen bezeichnend für die Sibyllinistik. Das macht die Herkunft des Briefes aus Rom noch wahrscheinlicher. Von daher erklärt sich auch die in 2,11 ff erkennbare Staatstreue. Denn die Sibyllen waren extrem
staatstreu und richteten gleichzeitig massive religiös-kultische Veränderungswünsche an die Regierenden. Wenn der kultisch vernachlässigte Gott weiter ignoriert wurde, drohte ein Strafgericht in Gestalt einer historischen Katastrophe. Der Name Babylon für Rom wird daher nicht wegen dessen Reichtum gewählt, sondern wegen dessen Götzendienst. Darin besteht auch der Gegensatz zu Offb 17. Was den Neubekehrten hauptsächlich fehlte, war kirchliche Identität. Denn sie waren nicht mehr Heiden, sind aber ganz gewiss auch nicht Juden. Der judenchristlich Verfasser mutet seinen heidenchristlichen Schäfchen zu, dass sie ihre korporative Identität auf jüdische Weise gewinnen. Damit aber liefert 1 Petr eine bestimmte, aber sehr genaue Wiedergabe dessen, was in Gal 2,10 die petrinische Mission umschreibt (Sendung an die Beschneidung). Die petrinischen Heidenchristen haben das Selbstverständnis von Beschnittenen.
KOMMENTAR 1 Petr 1,1-2: Gruß und Zeugnis Der Brief ist ein Rundschreiben an Christen in der Diaspora. Der Ausdruck wird von Juden her übernommen. Er richtet sich an Gemeinden in halb Kleinasien. Die Heilsgüter nach V. 2 sind »trinitarisch« geordnet: Gott Vater verwirklicht darin seine Absicht, der Heilige Geist macht die Christen zu Gottes Eigentum (nach Kap. 2 zu seinem Tempel, seinem Königtum und Priestertum), Jesus Christus gebührt der Gehorsam des Glaubens der Glaubenden, und mit seinem Blut wird jeder Christ bei der Wassertaufe besprengt. Das Taufwasser ist die Art, in der die Reinigungskraft des Blutes Jesu die Menschen erreicht. Das Wasser stellt symbolisch das Blut dar. Das Taufwasser hat mit der geistlichen Bedeutung des Blutes die Attribute gemeinsam: Es ist flüssig und kann daher leicht mit- und ausgeteilt werden, es reinigt (im Gegensatz zu normalem Blut), es ist in großer Menge vorhanden. Das Taufwasser ist daher ideal geeignet, das Blut Christi symbolisch darzustellen. Diese Einschätzung vertreten außer 1 Petr auch 1 Joh 1,7; Offb 1,5 sowie
7,14b und 22,14a; Hebr 10,22. Damit hat das Taufwasser nicht nur die Bedeutung des Abwaschens wie in der Johannestaufe, sondern durch das Stichwort »Blut« ist die Wassertaufe christianisiert und in besonderer Weise eine Taufe auf Christi Tod geworden (Röm 6). Die Bedeutung des Taufwassers ist damit angereichert durch die Typologie Blut/Wasser. Das Blut hat die Fähigkeit, kultisch zu reinigen, natürlich von Ex 24,8 (Jom Kippur). Denn durch die Besprengung der Menschen (!) und des Deckels der Bundeslade mit dem Blut von Böcken und Stieren werden die Menschen kultfähig, und die Voraussetzung für den Bundesschluss wird so erneuert.
1 Petr 1,3-9: Trostrede über die Bewährung des Glaubens Ähnlich wie in Eph 1 ist der Abschnitt in nahezu jedem Segment gegliedert durch die Präposition (griech.) eis: »auf … hin, zu«. So in V. 3 (»zu lebendiger Hoffnung«), V. 4 (»zu unvergänglichem Erbe«), V. 5 (»zur Rettung, die bereitliegt, offen-
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bart zu werden«), V. 7 (»zu Lob, Herrlichkeit und Ehre«), V. 8 (»zu ihm blicken wir jetzt nicht auf«), V. 11 (»für welchen Augenblick«, »die Leiden für Christus«), V. 12 (»die Engel möchten sich dazu hinneigen«).
Theologisch geht es damit um die Zielstrebigkeit des gesamten Geschehens auf Erden und jetzt, was die Gemeinde einschließt. Dabei steht in jedem Abschnitt eine Gabe/Tugend/Dimension im Vordergrund, so in V. 3-4 die Hoffnung, in V. 5 der Glaube, in V. 6-7 Versuchung (Prüfung), Bewährung, V. 8-9 Lieben, Glauben, Jubeln. Dabei geht es immer wieder um dieselbe zeitliche Struktur: In der Gegenwart gibt es einhellig nur Leiden, Kummer, Prüfung, Bewährung. Wie Gold im Feuerofen muss der Glaube geprüft werden. Allerdings bedeutet das Nicht-sehen-Können jetzt Glauben und daher auch Jubel in unaussprechlicher Freude. Für die Zukunft dagegen gibt es nach dem Leiden die Herrlichkeit, das Hoffnungsgut und Erbe im Himmel, die »Rettung der Seelen«. Dass der Glaube (griech.: pistis) jetzt vielfältige (poikiloi) Versuchungen/Prüfungen (peirasmoi) unterliegt und sich bewähren (dokimos, dokimazo) muss, dass das Ganze ein Prozess wie Läuterung im Feuerofen ist, alles das gehört sachlich und sprachlich zusammen und bildet ein Thema mit zugehörigem Wortfeld. Das Thema betrifft die unangenehmen Folgen der Bekehrung für den, der übergetreten ist. Er ist jetzt nicht im Paradies, sondern er wird durch Versuchungen und Leiden jeder Art auf die Probe gestellt. So erweist sich, ob sein Glaube Treue ist. Am Ende dieses Prozesses steht er dann gegebenenfalls als bewährt da. Das hellenistische Judentum hat dieses Thema nebst Wortfeld entwickelt und auf typische Bekehrte bzw. Proselyten bezogen, also auf Abraham und dann auch auf Hiob, dessen Leiden als Versuchungen durch den Teufel infolge seines Übertritts zum Judentum gedeutet werden. Und nicht zu vergessen ist: Es geht um Bewährung des Glaubens und damit um ein Problem, das nicht nur das des Judentums und frühchristlicher Missionsgemeinden ist, sondern auch der Reformation und Gegenreformation (Glaube und Werke). In Jak 1, ebenfalls also zu Beginn eines Mahnschreibens an die Diaspora (vgl. Jak 1,1 mit Petr 1,1), kommt wörtlich dasselbe Wortfeld vor: Jak
1,2f spricht von den vielfältigen Prüfungen (vgl. 1 Petr 1), von der Bewährung des Glaubens (vgl. 1 Petr 1), schließlich sogar von der Geduld (vgl. 1 Petr 1) und in Jak 1,2 von der gegenwärtigen Freude (wie 1 Petr 1). Jak 1,12 nimmt das Thema noch einmal auf.
1 Petr 1,3-9: Ziel des Glaubens Über Vergangenheit redet dieser Text nicht. Er scheidet klar zwischen Gegenwart und Zukunft. Was die Zukunft betrifft, so verwendet der Autor viermal das Wörtchen »zu(r)« (auf … hin), und einmal redet er direkt vom Ziel. Was wird in dieser Zukunft geschehen? Zweimal fällt das Stichwort »Rettung«, zweimal ist die Rede vom »geoffenbart werden«. Jesus Christus wird geoffenbart werden, und ebenso wird offenbart werden, dass die Gemeinde gerettet ist. Jetzt aber sind diese beiden entscheidenden Elemente verborgen. Zum Offenbartwerden gehört, dass es sich in »Lob und Herrlichkeit und Ehe« vollzieht, also in der Anerkennung, die jetzt fehlt. Auch von unaussprechlicher, herrlicher Freude ist die Rede. Für die Gegenwart der Gemeinde gilt ein merkwürdiger Kontrast. Zum einen wird zweifach gesagt, dass die Gemeinde in unsagbarer, verklärter Freude »jubelt« (V. 6 und 8), und zwar tut sie das voller Glauben (4 ). Zum anderen ist es eine Gemeinde, die Schweres durchmacht: Sie lebt in der Trübsal vielfältiger Anfechtungen. Sie muss sich bewähren, wird auf die Probe gestellt; denn was sie glaubt, das ist unsichtbar. Der Glaube wird am Ende bewährt sein wie Gold im Feuer. Noch einmal, am Schluss des Briefes, kommt der Verfasser auf diese Situation zurück. Er spricht vom Teufel, der gleichfalls üblicherweise genannt wird, wenn Menschen in Gefahr sind, vom Glauben wieder abzufallen (5,8), auch dort im Zusammenhang mit Leiden. Die Sprache, die von Glauben, Bewährung, Erprobung (Versuchung) und Teufel redet, ist »Konvertitensprache«. Entsprechend betont 1 Petr immer wieder die Fremdheit der Christen in der Welt. Denn schon der erste Proselyt Abraham und seine Familie waren Fremdlinge auf Erden und standen dazu (Hebr 11,13f). Typisch christlich ist aber auf jeden Fall der Anfang: »Gott hat uns neu gezeugt durch die Auferstehung Jesu Christi aus Toten« (V. 3). Es er-
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914 innert uns an den bekannten Passus »Wie neugeborene kleine Kinder …« in 2,2. Die Getauften sind neu geboren, sind rundum neue Menschen geworden. Die Geburt steht für den radikalen Neuanfang des ganzen Menschen. Ähnlich bezieht es sich auf die Taufe, wenn Joh 3,3.5 davon spricht, dass man »von oben« neu geboren werden muss. Und die Taufe ist eine neue Geburt, wenn man aus dem Wasser heraussteigt. So ähnlich kommt man aus dem Mutterleib hervor – oder aus dem eng mit der Geburt verbundenen Bad, bei dem man von allem Blut und anderen Überbleibseln gereinigt wurde. Aber was hat die Auferstehung Jesu damit zu tun? Einmal, aber das erscheint mir als die schwächere Argumentation, kann man sagen: Aufgrund der Auferstehung Jesu kamen wir zum Glauben (Röm 4,24), und dieser Glaube führte dazu, dass wir uns taufen ließen. Gegen diese Herleitung spricht, dass hier der Glaube fehlt. – Der andere Weg liefe über eine stärkere Verknüpfung mit Röm 6,8-10. Paulus referiert hier relativ ausführlich ein Taufverständnis, das direkt mit dem Leben des Auferstandenen zu tun hat. »Und wir glauben, dass wir, wenn wir in der Taufe mit Christus mitgestorben sind, auch mit ihm zusammen leben werden. Denn nach seiner Auferweckung aus Toten stirbt Christus nie mehr. Weil der Tod über ihn keine Macht mehr hat, ist Jesus der erste freie Mensch. Sterben bedeutet immer ein für alle Mal Abschied von Sünde und Schuld; was aber danach lebt, das lebt ein Leben von Gott her und auf ihn hin. Das gilt auch für euch: Durch euren Tod in der Taufe seid ihr für die Sünde tot, durch die enge Verbindung mit Christus Jesus aber lebt ihr ein neues Leben von Gott her und auf ihn hin.« In diesem Sinne kann man in 1 Petr 1,3 eine Kurzform oder Vorform der paulinischen Ausführungen sehen. In jedem Fall aber setzt das Neugeborensein den radikalen Abschied vom Alten bzw. dessen Tod voraus. Bei der seit langem üblichen Form der Kindertaufe scheint eher das Gegenteil zu geschehen.
1 Petr 1,6f: Der Glaubensweg Hier und in 4,12 sowie in Jak 1,2-5 und in Lk 22,28-32 liegt ein gemeinsames Wort- und The-
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menfeld vor. Es umfasst übliche Fachausdrücke für Glauben, Bewährung, Versuchung, Leiden und die dann folgende Herrlichkeit. Damit aber wird die übliche Geschichte von Neubekehrten zum Thema: Der zum Glauben Gekommene wird durch Leiden versucht, er muss sich darin bewähren, und wenn er das bewältigt hat, erlangt er unvergängliche Ehre. Die Fachausdrücke: Versuchung (Jak 1,2; 1 Petr 1,6; 4,12; Lk 22,28), Geduld/Aushalten (Jak 1,3; Lk 22,28); Bewährung (Jak 1,3; 1 Petr 1,6); Herrlichkeit/Krone (Jak 1,5; 1 Petr 1,6; 4,12; synonym ist das Sitzen auf zwölf Thronen Lk 22,29). Der Versucher kann – ebenfalls traditionell – nur der Teufel sein (Lk 22,28).
1 Petr 1,12: Den Engeln verborgen »Die Engel sehnen sich danach, wenigstens einen Blick darauf werfen zu dürfen.« Das setzt voraus: Es handelt sich um ein Geheimnis, das den Engeln seiner Natur oder den Umständen nach verborgen ist. Für alle solche Fälle ist die Literatur im Umkreis des Neuen Testaments sehr sensibilisiert. Denn oftmals gelten gerade die Engel als Lehrmeister der Propheten (Polus). Und wenn noch nicht einmal die Engel etwas wissen, dann gilt etwas als innerstes Geheimnis Gottes. Das ist der Fall z. B. in Ignatius, An die Epheser 19,1: »Geheim gehalten wurde vor dem Teufel, dem Herrscher dieser Welt, dass Maria Jungfrau blieb, dass sie Jesus gebar und dass unser Herr starb. Diese drei Geheimnisse schreien umso lauter, als sie in der Stille von Gott selbst geweckt wurden.« Der Teufel gilt durchaus als einer der Engel. Nach Hen (äth) 16,3 soll Henoch zu den Wächterengeln sagen: »Ihr seid im Himmel gewesen, aber die Geheimnisse waren euch noch nicht geoffenbart, doch ein verwerfliches Geheimnis kanntet ihr, und das habt ihr in eurer Hartherzigkeit den Frauen mitgeteilt, und durch dieses Geheimnis vermehren die Frauen und Männer das Böse auf Erden.« Statt »die Geheimnisse« wird auch gelesen: »… jedes Geheimnis«. Auf jeden Fall teilt Henoch selbst in seinem Buch die Geheimnisse mit. Ebenfalls in die Henoch-Tradition, die dem Verfasser des 1 Petr ja nicht unbekannt ist (s. zu 3,18) weist die Parallele in Hen (slav) 24,3, (Gott zu Henoch): »Weder habe ich meinen Engeln mei-
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Kapitel 1
ne Geheimnisse kundgetan, noch habe ich ihnen ihren Ursprung erzählt, noch haben sie meine Unendlichkeit und die Unbegreiflichkeit der Schöpfung bedacht, die ich dir heute kundtue« (es folgt dann eine Darstellung der Schöpfung). Ähnlich auch 11Q05 Kol. 26,9-15 »Hymnen an den Schöpfer« (Maier I, 340): »Da er Licht von Dunkelheit scheidet, Morgenrot bereitet kundigen Sinnes, sehen es seine Engel und jubeln; denn er zeigte ihnen, was sie nicht gewusst, da er mit Fruchterträgen Berge krönt als gute Speise für alles Lebendige …« Die Scheidung von Licht und Finsternis ist für die Engel eine wichtige Schöpfungs-Neuheit, da sie selbst auch betroffen sind (»Engel des Lichts«). – Sir 42,17 dagegen bezieht sich nicht auf das begrenzte Wissen der Engel, sondern auf die Vielzahl der Schöpfungswerke. Gerade auch in der Endzeit wird offenbar, dass die Engel nur zum Teil informiert sind, denn nach R. Salomo (zu Num 23,23) wird es so sein, dass die Gerechten dann die Engel belehren (die Israeliten werden so nahe bei Gott sitzen, dass die Engel sie fragen werden: Was macht Gott? Berufung auf Jes 30,20: »Dein Lehrmeister verbirgt sich fürderhin nicht mehr«). In eben dieser Lage finden sich die Leser des 1 Petr. Irenäus adv Haer 4,67 ergänzt für 1 Petr 1,12: »… und jetzt schauen sie sie mit größter Freude an.« Damit schlägt er die Brücke zu Lk 2,13.
Fazit: Die Sehnsucht der Engel nach Kunde über dieses Geheimnis erhöht dessen Brisanz.
1 Petr 1,17-21: Glaube als Fremdlingsschaft Gott hat sich durch die Auferweckung Jesu als lebendig erwiesen. Eben deshalb kann man an ihn glauben. Denn Auferweckung Toter ist mehr als ein Wunder, das nur Gott zu tun vermag. Auferweckung Jesu ist mehr auch als ein Lebenserweis Gottes und selbst mehr als nur Legitimation Jesu. Sie ist vielmehr ein Beweis für Gottes Leben und sein energisches Tun; denn er lässt das Opfer des Mordes am Kreuz nicht Opfer sein, sondern beginnt mit der großen Umkehrung. Ja, fortan werden alle Opfer der Geschichte Hoffnung haben, rehabilitiert zu werden. Jesus war der Präzedenzfall. Wenn es einmal gelungen ist, ein unschuldiges Opfer zu rehabilitieren, ist es
915 also prinzipiell möglich, dass solche Rehabilitierung geschieht. Dann ist die scheinbare Allmacht des triumphierenden Unrechts durchbrochen. Wenigstens einmal in der ganzen Weltgeschichte war es also anders. Darauf alle Hoffnung. Dieser Ansatz ist ein typisch neutestamentlich-christologischer: Durch die eine Ausnahme ist das Ganze buchstäblich revolutioniert, so bei der Sünde angesichts des einen Gerechten nach Röm 8,3, so bei der Besiegung des Teufels durch den einen Gehorsamen nach Joh 12,31 oder den einen, der den Tod nicht verdient hatte, nach Hebr 2,14. Dass Gott lebendig ist, bedeutet etwas Grundsätzliches für die Frage des Unrechts in der Welt. Im Übrigen zeigt 1 Petr, dass für ihn gerade diese Lebendigkeit wichtig ist (1,23 und 2,4.5:»lebendige Steine«). Hier in unserem Abschnitt ist das der entscheidende Punkt (1,18): Silber und Gold im Unterschied zum Blut, denn Blut ist Leben. Der Ursprung dieser Rede ist übrigens die Polemik des Judentums gegen heidnische Götzen. Denn sie sind stumm und ohnmächtig, aus Metall, Stein oder Holz; der unsichtbare Gott Israels ist lebendig und beweglich, kann sprechen und in der Geschichte handeln. 1 Petr wendet diesen Punkt nun auf Jesus an und verändert ihn. Die alte Opposition »Leben« gegen »Edelmetall« gilt jetzt für den Tod Jesu und seine Erlösungskraft. Doch wie zuvor in der jüdischen Götzenpolemik stellt das Heidentum die negative Kulisse dar, so schon in 1,14 (»… dass ihr nicht in die Haltlosigkeit von damals, als ihr noch Heiden wart, zurückfallt«) und 1,18b (»ihr wurdet nicht mit vergänglichen Schätzen aus Gold und Silber, wie das bei Götzen üblich ist, aus eurem angestammten, dumpfen Heidentum freigekauft«). 1 Petr richtet sich offensichtlich ganz und gar an Heidenchristen. Nicht zuletzt dieser Umstand macht unseren Textabschnitt so spannungsreich. Die Bekehrung vom Heidentum zum Christentum lässt die Welt nicht einfacher werden. Die Kontraste im Text sind: Der Gegensatz von Vater und Richter, von Anrufen des Vaters und Furcht, von Silber und Gold und Blut, von »vor der Weltschöpfung« und »jetzt«, von Toten und Auferwecken. Schließlich steht das »Anrufen des Vaters« in V. 17 dem »von den Vätern her überlieferten Wandel« in V. 18 gegenüber. In Kap. 2 wird sich das Aufrei-
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916 hen von Gegensätzen fortsetzen: Das Nicht-Volk ist jetzt Volk geworden. Vieles aus der Geschichte der ältesten Mission erkennen wir hier wieder. So die Vater-Anrede (als Ersatz für »Zeus, Vater!«), die Voranstellung des Gerichtsgedankens wie in den Heidenpredigten der Apostelgeschichte (Apg 17,31; 10,42), die letztlich in der jüdischen Variante der sibyllinischen Verkündigung wurzelt: Das Gericht trifft den, der den wichtigsten und höchsten Gott noch nicht verehrt bzw. übersehen hat. Dazu gehört auch der Topos der Fremdlingsschaft nach V. 17: »wie Fremdlinge im Exil«. Diese Fremdlingsschaft ist ein durchgehendes Motiv des 1 Petr. Daher hat man sein Verständnis von Kirche »Home for the homeless«, Heimat für die Heimatlosen genannt. Der sozialgeschichtliche Hintergrund ist bekannt: Wer Jude oder Christ wurde, erlebte eine tiefgreifende Entfremdung gegenüber seiner Familie und Heimat. Denn Jude oder Christ zu werden bedeutete so viel, wie wenn bei uns sich jemand der Krishna-Bewegung anschließt und fremdgewandet, kahlgeschoren durch die Städte läuft. Auch der Hebräerbrief kennt dieses Motiv (Kap. 11). 1 Petr schärft seiner Gemeinde ein, diesen Status anzunehmen und sich zu der Femdlingsschaft zu bekennen. Denn wer fremd bleibt, ist nicht so leicht zu verderben. Was bedeutet das alles theologisch? Einzusetzen ist bei der zentralen Aussage: Freigekauft wurden wir durch das kostbare Blut des reinen, makellosen Lammes. Im Rahmen apokalyptischer Zoologie steht das Bild »Lamm« für die weiße Farbe der Unschuld. Jesus war der makellos Gerechte. Daher ist die stellvertretende Wirkung seines Todes umfassend. Schon in 1,2 hieß es: »Jesus Christus habt ihr als eurem Herrn gehorcht, seid mit seinem Blut besprengt und dadurch rein geworden.« Ist dabei an die Taufe gedacht? Sie wird in 3,21 erwähnt, aber nicht zusammen mit Jesu Blut, sondern mit seiner Auferstehung. – Vielmehr so: Die Besprengung mit Blut ist die Voraussetzung zur Aufnahme in den Bund Gottes mit den Menschen (Ex 24,8). Nach Mt 26,28 ist Jesu Blut vergossen zur Vergebung der Sünden, und das bedeutet die Möglichkeit, in den Neuen Bund aufgenommen zu werden. Will 1 Petr 1,2 und 1,19 Ähnliches sagen? Die Besprengung mit Jesu Blut bedeutet:
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Reinheit und Herstellung der Kultfähigkeit – das ist der Sinn des Bundesschlusses in Ex 24,8. Wenn das Blut Jesu an uns haftet, bedeutet das einen Eigentumswechsel. Deshalb ist in 1,2 die Rede vom Gehorsam gegenüber dem Herrn und in 1,17 vom Freikaufen. Auch Paulus kennt den Gedanken: Weil der Herr für mich gestorben ist, gehöre ich fortan ihm. Im Sinne von 1 Petr formuliert: Weil Blut Leben und striktes Eigentum Gottes ist, bedeutet es, Gott zu gehören, wenn das Blut seines Sohnes auf oder an uns ist. Weil wir mit dem Blut Christi erkauft sind, ist er unser Herr. Denn wir gehören dem, der uns mit seinem Blut freigekauft hat. Wie sieht der Akt aus, in dem das vermittelt wird? Nach 1,2 dürfte es sich um die Taufe handeln, in der Christi Blut durch Wasser »substituiert« wird.
1 Petr 2,1-8: Zum Kirchenbild des 1 Petr Wie in Tit 3,5 (Bad der Wiedergeburt) und Joh 3,3.5 (von oben geboren werden) sieht der Verfasser die getauften Christen als Neugeborene, hier freilich verknüpft mit zwei Akzenten, die sonst fehlen: Das Alte wird (wie alte Kleider vor dem Einsteigen in das Bad) »abgelegt« – das meint hier alte Laster –, und erwartet wird jetzt ein geistliches Wachstum (V. 2b). Erst dieses wird zur Rettung führen. Wenn die Kinder die Milch genießen, ist das dasselbe wie das Schmecken der Freundlichkeit des Herrn. Die Milch soll also schmecken. Mit dem Stichwort »hinzutreten« in 2,4 leitet der Verfasser die kultische Metaphorik ein, die bis 2,8 anhalten wird. In diesem Text dominieren zwei Bilder: a) Tempel und Priestertum; die Gemeinde ist beides; seit 1 QS 8 ist es üblich, das heilige, erneuerte Gottesvolk zu denken als Tempel, der nicht von Menschenhand gemacht ist. Schon in 1 QS 8 findet sich in diesem Zusammenhang das Wort »Eckstein«. Wie in 1 Petr bezieht es sich auf die ganze Gruppe, die dort freilich auf 12 Männer beschränkt ist. Aber das Stichwort Eckstein wird dann in 2,6 mit Jes 28,16 und in 2,7f mit Ps 118,22 eingeführt. Während in 1 QS der Eckstein der gesamte Kreis der Zwölf war, ist es in 1 Petr 1,6-8 Jesus Christus allein. Durch 2,7-8 kommt zudem der Gedanke hinein, dass der Eckstein verworfen und
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dann doch der wichtigste Stein wurde. Das fehlt in 1 QS selbstverständlich. Die Verbindung von »Eckstein«, Christus und heiligem Tempel kennt außer 1 Petr 2 auch Eph 2,20-22; das wäre dann zusammen mit 1 QS 8 der dritte Text mit dieser Motivkombination. In Eph 2 fehlt die Verwerfung des Ecksteins. Wenn die Gemeinde ausdrücklich durch den »[Heiligen] Geist« erbaut wird (Eph 2,22), dann spiegelt dies das in 1 Petr 2,5 zweifach gebrauchte Adjektiv »pneumatisch« wider; freilich hat das Adjektiv sicher nicht direkt mit dem Heiligen Geist zu tun, es heißt eher: »geistig/bildlich/allegorisch verstanden«. Wenn auch die Opfergaben in diesem geistig gedachten Tempel geistig sind, so ist das nur konsequent. Gemeint sind damit die in Hebr 13,15 ähnlich beschriebenen Hymnen des Lobes oder die moralische Opfergabe nach Röm 12,1. Dabei entspricht das logikos (logisch, vernunftgemäß, Gottes Willen entsprechend) von Röm 12,1 dem pneumatikos von 1 Petr 2,5. Dass 1 Petr diesen Akzent setzt, sagt 2,12: »Euer Leben mitten unter den Heiden muss vorbildlich sein.« Denn die Prädikate Königtum, Priestertum, heiliges Volk erhielt die Gemeinde im Gegensatz zu den Heiden. Fazit: 1 Petr 2 bezieht sich auf ein Kirchenbild, in dem der »geistige« Tempel und die Gemeinde identisch sind. Dieses Kirchenbild ist relativ weit verbreitet (Eph; 1 Petr; Mt 16,18; Mk 14,58b und weiter 1 Kor 3; OdSal 33) und hat ein gewichtiges Vorbild in 1 QS 8. Wie in Offb ist es mit dem Bild von »Königtum und Priestertum« verknüpft (vgl. Offb 1,6; 5,10; 20,6 und 21 mit 1 Petr 2,5-9). Im Blick auf die Adressaten des 1 Petr ist schon sehr auffallend, dass dieser Kirchenbegriff vollständig jüdisch-judenchristlich geprägt ist.
1 Petr 2,4-9: »Allgemeines Priestertum«? Die Rede vom allgemeinen Priestertum der Gläubigen wird in der ökumenischen Diskussion – aus meiner Sicht – missbraucht und gibt keineswegs her, was sie in den Augen ihrer neuzeitlichen Anwender liefern soll. Hören wir zunächst den Befund: Das Bild stammt aus Ex 19,5f: »Ihr sollt mir ein Eigentum sein unter allen Völkern; denn mir gehört die ganze Erde. Ihr sollt mir ein
917 Königtum von Priestern und ein heiliges Volk sein.« Der Sinn: »heilig« ist Gottes Eigentum (und umgekehrt). Gott beansprucht das Volk Israel als seinen Besitz, und zwar im Unterschied zu allen anderen Völkern. Er darf dieses tun, denn ihm gehört ohnehin die ganze Erde. Wir halten fest: Ein Israel, das Gottes Gebote bewahrt, hat den Ehrentitel »heiliges Volk«, denn Priester sind heilig, Leibeigene Gottes. Er kommt für sie auf und schützt sie. Aber niemals geht es beim »königlichen Priestertum« (der Ausdruck »allgemeines P.« ist nicht biblisch!) um eine Berechtigung von Menschen, sondern immer meint dieser Ausdruck Gottes Recht (Eigentum), Anrecht (auf Lobpreis, vgl. 2,5.9b) und Pflicht (Schutz) gegenüber Menschen. Genau dieser Sinn, nämlich die Außenperspektive, beherrscht die Verwendung des Ausdrucks auch im Neuen Testament. An der wohl bekanntesten Stelle 1 Petr 2,9f wird die Gemeinde im Ganzen so angeredet. Die Begründung: Als heiliges Volk und königliches Priestertum verkündigt ihr – und zwar durch eure bloße Existenz – Gottes Machttaten (parallel zu 2,5b). »Denn ihr wart einst Nicht-Volk, nun aber seid ihr Volk.« Gott hat die Gemeinde zum Eigentum erwählt. In der Offb findet sich das Bild dreimal (1,6; 5,10; 20,6), jedes Mal in der Bedeutung »heiliges Volk«. So ergibt sich eine ganz einheitliche biblische Verwendung: Der Ausdruck »königliches Priestertum« sagt etwas über die Heiligkeit in Differenz zu anderen, nicht heiligen Völkern, daher in 2,8 der Gegensatz zu den »Ungläubigen«. Dieser Status ist von Gott herbeigeführt. »Priestertum« ist in diesem Zitat biblisch durchgehend eine kollektive Metapher für das ganze Volk, nicht für ein Amt, denn »priesterlich« ist ein Attribut. Im Alten Testament ist überall im Kontext selbstverständlich vorausgesetzt, dass es innerhalb dieses Volkes Hohepriester und Priester gibt, die von Aaron oder Levi abstammen. In deutlichem Unterschied dazu gilt die Begriffskette von Ex 19,6 nur von der Gemeinde als ganzer, und zwar gesamtbiblisch. Sie sagt nichts über eine Binnendifferenzierung aus, nichts über kultisches Tun aller, erst recht nicht über die Pflicht jedes Einzelnen zum Glaubenszeugnis, und schon gar nicht wird dadurch ein besonderes Amt ausgeschlossen. Dieses Amt heißt im Übrigen im ganzen Neuen Testament nirgends Pries-
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918 tertum. Das, was wir so nennen, sind »geweihte Älteste«. In 1 Petr gibt es allerdings von der Gemeinde unterschiedene, ihr gegenüberstehende Älteste, die in einem besonderen kollegialen Verhältnis zum Briefsteller Petrus stehen (5,1f). Auch die Offb kennt 24 Älteste. – Das allgemeine Priestertum meint somit die kollektive Heiligkeit der Gemeinde, nicht mehr und nicht weniger. In 1 Petr wie in der Offb ist diese durch Jesu Blut begründet. Dadurch ist sie heilig und von allem außerhalb unterschieden. Aber eine Ältestenverfassung ist dadurch nicht ausgeschlossen. Nun spielt uns die deutsche Sprache hier einen Streich, der verhängnisvolle Folgen hat. Unser Wort »Priester« kommt nämlich von dem griechischen Wort presbyteros, »Ältester«. Wo wir im Sinne des Neuen Testaments von (katholischen) Priestern in Gemeinden reden, meint das Neue Testament Älteste. In diesem Sinne kennt die katholische Kirchenverfassung seit jeher Bischöfe, Älteste (Presbyter) und Diakone. Gleichzeitig wird das deutsche Wort Priester aber auch zur Übersetzung des hebräischen kohen, des griechischen hiereus und des lateinischen sacerdos verwendet, Titel, die insgesamt dem Ursprung nach nicht-christliche Kultpriester bezeichnen. Mit diesen hatte die Verfassung der Gemeinden im Neuen Testament nichts zu tun. – So wird der Unterschied noch größer: Wenn 1 Petr die Gemeindeverfassung nennt, sagt er »Älteste«; wenn er die kollektive Heiligkeit nennt, sagt er »Priestertum«. Für die aktuelle Diskussion bedeutet das: Hier liegen in der Wurzel völlig verschiedene Dinge vor. Keine einzige frühchristliche Gemeinde bezeichnet ihre Amtsträger mit dem heidnischen Wort für »Priester«. Das katholische Priestertum kommt der Sache nach und der deutschen Bezeichnung nach aus dem Presbyterat, und diese Herkunft bricht ihm keinen Zacken aus der Krone. Sowohl Luther als auch das 2. Vaticanum suggerieren freilich durch den Wortgebrauch sacerdotium bzw. Priester, dass diese Differenz zumindest vom Leser überspielt wird. Denn Luther spielt das katholische Weihe-Presbyterat gegen das allgemeine Priestertum aus, und das 2. Vaticanum spricht vom hierarchischen Priestertum (sacerdotium) im Unterschied zum allgemeinen Priestertum (sacerdotium) und versucht eine
Der erste Brief des Petrus
Aufgabenverteilung (Lumen gentium: 2,10). Doch in beiden Fällen werden Äpfel zu Birnen addiert. Man kann das tun, aber man muss sich dann über Konfusion nicht wundern. Nun gibt es freilich bereits an zwei Stellen im Neuen Testament Überschneidungen: Einmal wird Jesus selbst Hoherpriester genannt, und zwar im Hebräerbrief, aber hier doch in der vergleichenden Gegenüberstellung der jüdischen Tempelordnung mit der neuen, himmlischen. Das Gemeindeamt in diesem Brief wird daraus nicht hergeleitet. Und zum anderen beschreibt Paulus sein eigenes Tun als priesterlich, ohne dass freilich der alttestamentliche oder pagane Ausdruck fällt: In Röm 15,16 sagt er, er walte als Liturge und bringe in priesterlichem Tun die neubekehrten Heiden (!) als Opfer dar. Das ist freilich erkennbar metaphorisch. Paulus will den Heidenchristen in Rom seine Funktion verständlich machen.
»Allgemein Priester« sind alle Getauften, »Weihe-Presbyter« nur manche, durch Weihe. Insofern kann man Aufgaben nicht zwischen zwei Sorten Priestern aufteilen! Vielmehr meint das »allgemeine Priestertum« nichts anderes als heiliges Volk. – Das allgemeine Priestertum sagt daher nichts über Vollmacht, Verkündigung des Wortes, aktive Teilhabe am Messopfer, Beten oder Sakramentenempfang – und was auch immer fromme Autoren (wie schon Luther) damit verbunden haben. Es besagt auch nichts über irgendwelche Rechte von Laien gegenüber dem geweihten Presbyter, bedeutet auch keine »prinzipielle Berechtigung zum Evangeliumsdienst«. Es meint wirklich nur die kollektive Identität in Abgrenzung nach außen hin. Man täte daher gut daran, den Hinweis auf das allgemeine Priestertum aus der ökumenischen Diskussion genauso zu entfernen wie aus der Frage der Laienrechte gegenüber den geweihten Presbytern. Denn ich kann niemanden erkennen, der die kollektive Heiligkeit der Christen bestreitet. Sie ist allein von der Taufe abhängig und besteht im Gegensatz zu den Nicht-Getauften. Fazit: Die Metapher (!) »Priestertum« aus Ex 19 ist dort keine Amtsbezeichung. Sie wird fortgeschrieben im frühchristlichen Bild der Gemeinde als Tempel, deren Kult im Lob Gottes und im Leben nach Gottes Regeln verläuft. Das gilt unabhängig von jeder Binnendifferenzierung, die nicht durch »Priestertum«, sondern
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Kapitel 2
durch geweihte Älteste erreicht wird, auch in 1 Petr.
1 Petr 2,10: Gottes Volk In Röm 9,25.33 findet sich dieselbe Kombination von Hos 2,5 und Jes 28,16 sowie Jes 8,14 (also drei Zitate!) wie in 1 Petr 2,6-8.10. Dabei weichen beide an drei Stellen gemeinsam vom LXX-Text ab: Sie bieten für Jes 28 beide »ich setze in«, sprechen für Jes 8,14 beide vom »Fels des Ärgernisses« und bieten in Hos 2,5 beide »rufen«. (Auch in Barn 6,2-4 wird Jes 28,6 zitiert; mit 1 Petr 2 gemeinsam ist hier das Zitat aus Ps 118,22, was bei Paulus fehlt). – Die Verbindung von Jes 28,18; 8,14 und Ps 118,22 ist durch das Stichwort »Stein« erfolgt. Nicht aus der Tradition erklärbar ist die Hinzunahme von Hos 2,5 in Röm 9,25 und 1 Petr 2,10.
Der Gedankengang in 1 Petr 2 wie bei Paulus ist: Das Scheitern am Fels des Ärgernisses/Anstoßes hat die Berufung eines Nicht-Volkes, d. h. der Heiden zur Folge. Es handelt sich um eine gemeinsame Tradition zur Legitimation der lange umstrittenen Heidenmission durch die Schrift. Gerade an solchen Stellen war ja auch die Gemeinsamkeit als Geschlossenheit unersetzlich. Ähnlich wie in Mt 21,43 wird auch hier noch der Volksbegriff auf die Heidenchristen angewandt. Als Gottesvolk haben sie Erbarmen gefunden.
1 Petr 2,11-20: Wirkung guter Werke In 2,11 setzt die Mahnrede (nach 2,1) erneut ein. Bezieht man das Stück auf das Vorangehende (besonders ab 2,5), so geht es um die Darstellung dessen, was die »Heiligen« unter den Heiden bedeuten könnten. Bei den Heiligen geht es darum, dass sie die Begierden besiegen und gute Werke zeigen. Die Begierden der menschlichen Schwachheit kämpfen gegen die Seele (Geistseele). Man beachte: Von einem Kampf des Fleisches gegen den Heiligen Geist ist nicht die Rede; das wäre paulinisch (Gal 5,24). Der Streit wird hier vielmehr anthropologisch gedacht als der zwischen Trieben und Vernunftseele; das entspricht der hellenistisch-philosophischen Auffassung. Dieser steht 1 Petr daher sehr viel näher als der
919 apokalyptischen Zweiteilung von Fleisch und Geist (zu dieser: vgl. E. Brandenburger: Fleisch und Geist, 1966). Zumindest besteht die Möglichkeit, dass 1 Petr hier archaischer denkt als Paulus. Auf jeden Fall werden ihn seine paganhellenistischen Leser gut verstanden haben. – Das Vorweisen guter Werke würde die missliche Situation umkehren, in der die Adressaten in der Öffentlichkeit stehen: Man redet schlecht über sie, als wären sie Verbrecher. Der innerseelische Sieg über die Begierden würde daher den publizistischen Sieg über den schlechten Ruf zur Folge haben. Dass das Erblicken guter Werke die Herzen der Außenstehenden ändert, entspricht Mt 5,18 (»damit sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen«). Aber wie ist der »Tag der Heimsuchung« zu deuten, an dem das Lobpreisen erst geschehen soll? Es handelt sich um ein verkanntes Element biblischer Zeitauffassung. Denn das zumeist mit »Heimsuchung« übersetzte Wort bedeutet: »Wenn Gott sich kümmert«, »sich zuwendet« und ist stets mit einer besonderen Zeitangabe verbunden, so mit dem »Zeitpunkt« in Lk 19,44 (Israel hat nicht erkannt den Zeitpunkt, da Gott sich ihm zuwandte), mit dem »Tag« in 1 Petr 2,12; das ist also die Zeit, in der Gott die Heidenvölker durch Zuwendung retten wollte. – Nach 1 Clem 50,3f wird Gott in der besseren Zeit nach der kurzen Zeit des Zornes die Seligen auferwecken, »wenn die (Zeit der) Königsherrschaft Christi sich [uns] zuwendet«. Nach Lk 1,68 geschieht die Zuwendung Gottes als die Zeit des Heils. – In Weish 3,7 heißt es über die Gerechten: »In der Zeit, da sich Gott ihnen zuwendet, werden sie aufleuchten … sie werden die Völker richten«; von der jetzt noch Unfruchtbaren heißt es: »Sie wird eine Leibesfrucht haben, wenn Gott sich den Seelen zuwendet.« Auch wenn der Ausdruck in 2 Kor 6,2 nicht fällt, ist mit den Worten über die Gnadenzeit dort sehr Ähnliches gemeint. – D. h.: Gott kümmert sich nicht nur am Anfang und am Ende, sondern es gibt auch zwischendurch immer wieder Zeiten, die er für bestimmte Adressaten vorgesehen hat.
In 1 Petr 2,12 bedeutet das: Wenn der Zeitpunkt gekommen ist, dass Gott sich ihnen zuwendet, werden die Heiden Gott preisen, d. h. sich bekehren (»preisen« verstanden wie »die Ehre geben« in Offb 11,13b). Das bedeutet gleichzeitig: Jetzt im
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920 Augenblick ist dieser Zeitpunkt noch nicht gekommen. Aber wenn die Zeit gekommen ist, dass sich die Heidenvölker bekehren, dann sollen sie das aufgrund der Werke der Christen tun. Man beachte: Nicht die Großtaten Gottes in der Geschichte, sondern die guten Werke der Christen sind das, was die Heiden bewegen wird. Versteht man 2,11f dagegen von dem folgenden Abschnitt her, so ergeben sich ebenfalls Aspekte der Außenwirkung: Der Ausdruck »Gutes tun« von 2,15 nimmt die »guten Werke« von 2,12 wieder auf. Der ganze Satz 2,15 gewinnt von 2,12 her Sinn. Denn die »Unkenntnis«, die überwunden wird, ist die Unkenntnis Gottes (terminus technicus der Missionssprache). Das Beachten der bürgerlichen Pflichten schafft den Christen gutes Ansehen. Der Gattung nach liegt in 2,13 – 3,9 ein stoischer Pflichtenkatalog vor (vgl. K. Berger, Formen und Gattungen, 2005, Pflichtenkatalog, § 51). Besonders aufschlussreich ist das Verhältnis von 2,17 zu den Parallelen: 1 Petr 2,17: »Alle ehrt, die Brüder liebt, Gott fürchtet, den König ehrt« (»König« bedeutet im Osten des Reiches auch »Kaiser«); Röm 13,7: »… wem Furcht gebührt, den fürchtet, wem Ehre gebührt, den ehrt«; Mk 12,17: »Gebt dem Kaiser, was ihm gehört, Gott aber, was ihm gehört«. – In allen drei Texten geht es um das unterschiedliche Verhalten gegenüber Gott (Furcht) und Kaiser/König (Ehren). Jedenfalls erläutern sich durch das Nebeneinander die drei Texte gegenseitig. In Umkehrung der Abfolge in den üblichen Listen in Pflichtenspiegeln und Oikonomikos-Traktaten beginnt 1 Petr mit den Sklaven, um dann erst zu den Frauen (ab 3,1) und am Schluss zu den Männern zu kommen (3,7). Aus 3,1 geht hervor, dass die Männer die am wenigsten Christianisierten sind. Das erklärt dann die Reihenfolge im Ganzen: Die meisten angesprochenen Christen sind Sklaven. Zu 1 Petr 2,19f: »Gnade« ist es zu nennen, wenn einer Schmerzen erträgt, weil er ungerechterweise leiden muss. Ruhm steht dem nicht zu, der wegen seiner Sünde und daraus folgenden Bestrafung leidet. Aber wenn einer leidet, weil er Gutes tut, der hat »Gnade bei Gott«. – »Gnade bei Gott« und »Ruhm« sind hier synonym gebraucht. Ähnlich ist es in Lk 6,32-34 mit »Gna-
Der erste Brief des Petrus
de« formuliert. Die übrigen Parallelen zur Bergpredigt fragen, was dann »neu« ist oder worin der »Ruhm« oder der Lohn oder das Besondere (das »Mehr«) besteht. Das zumeist übliche (griech.) charis wird oft mit »Dank« oder »Anerkennung« übersetzt, das wäre dann in der Nähe des »Ruhms« (Ansehens) von 1 Petr 2,19 f. – Alle diese Güter werden dem geschenkt, der mit seinem Handeln den üblichen Kreislauf auf Erden durchbricht und sich damit Gottes Wohlgefallen besonders erwirbt. Denn im Kontext der verschiedenen Synonyma bedeutet »Gnade« sicher nicht einseitig die geschenkte, sondern die durch das Tun gefundene Gnade. Wie auch sonst (s. zu 2,11) öfter, so lässt das Wort »Ruhm« in 1 Petr 2,19f die pagan-hellenistische Grundlage durchscheinen. Denn Ruhm, öffentliche Anerkennung vor den Augen des Herrschers, gibt es nur in Ausnahmefällen. Die für 1 Petr nicht nur hier, sondern insgesamt typische Abfolge von Leiden und Herrlichkeit (z. B. 5,1.10) hat ihren Ursprung in der militärischen »inneren Führung«: Die Soldaten, die mit dem Feldherrn kämpfen und leiden, haben auch Anteil an seinem Ruhm. Das heißt: Auch Aussagen wie 2,19f sind christozentrisch zu verstehen.
1 Petr 2,20b-25: Gottesknecht-Auslegung Das Lied vom Gottesknecht aus Jesaja 53 findet hier (neben Apg 8,32-33) seine umfangreichste Auslegung im frühen Christentum. Auch wenn der Verfasser von Jes 53 nicht an Jesus von Nazaret dachte (das ist zumindest nicht erweisbar), so muss doch gelten: Wenn das dort Gesagte irgendwo wahr ist und für irgendjemanden gilt, dann für Jesus Christus. Vom Tod des Gottesknechtes für die Sünden ist freilich nicht die Rede, lediglich vom Leiden (V. 24). Das wäre auch nicht im Sinne des Verfassers des Briefes. Denn der Abschnitt steht im Zusammenhang einer Ermahnung von Sklaven. Sie sollen sich ihren Herren unterwerfen, und dazu gehört besonders, dass sie ungerechtfertigtes Leiden ertragen sollen – wie Jesus. Jesus Christus, der für uns litt, ist in erster Linie Vorbild für die Sklaven, die ihm nachfolgen. Er hat Unecht erlitten und sich nicht gewehrt. Nach V. 22f hat er »keine boshaften Worte gesagt. Er wurde beleidigt und hat die Schmähung nicht
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Kapitel 2
mit gleicher Münze zurückgegeben. Er musste leiden und hat nicht gedroht. Er hat sich ganz dem gerechten Richter anheimgegeben.« Die letzte Bemerkung, die nicht in Jes 53 steht, lässt aufmerken. Der »gerechte Richter« kann unmöglich der sein, der ihn zu Unrecht schindet; »gerechter Richter« kann nur Gott sein. Ähnlich wie in Gerichtssälen das Kruzifix an der Wand auf die »letzte Instanz« verweist. Trotz aller Aufforderung zur Unterwerfung, und zwar unter das Unrecht der Welt (!), fehlt dem Text nicht die Ahnung von höherer Gerechtigkeit. Ganz ähnlich erinnert auch 2,16 an die Freiheit der Sklaven Gottes. Im Übrigen steht 1 Petr 2,23 der Bergpredigt besonders nahe; denn es wird der Verzicht auf Vergeltung gepredigt, und zwar hier wie dort als direkte Unterlassung der entsprechenden Vergeltung (Talio) unter Verwendung des Wörtchens anti- (entgegen); man vergleiche Mt 5,39 (dem Bösen keinen Widerstand leisten). Die Abschnitte 1 Petr 2,20a (»Welchen Ruhm habt ihr … ?«) und 2,20c (»Das ist Gnade bei Gott«) erinnern an Abschnitte der eng verwandten Feldrede in Lk 6,32.34 (»Welche Gnade habt ihr«?). Diese enge Verwandtschaft zwischen Matthäus, Lukas und 1 Petr betrifft nicht nur diesen Abschnitt; es hat schon seinen guten Grund, weshalb 1 Petr dem Hauptgaranten der Evangelienüberlieferung, dem Apostel Petrus, zugeschrieben wird. – Der Unterschied zur Bergpredigt und zur Feldrede liegt in drei Punkten: Erstens gelten hier die Forderungen nur den Sklaven; zweitens werden sie nicht auf Jesus zurückgeführt, sondern auf Petrus, und drittens wird der leidende Jesus ausdrücklich als Vorbild der ihm Nachfolgenden genannt. Das fehlt in der Bergpredigt, findet sich aber der Sache nach am ehesten im MtEv (11,27f). Andererseits geht die Rolle Jesu hier über die des Sklaven, der ermahnt wird, weit hinaus. Das betrifft 2,24f: »Er hat unsere Sünden mit seinem eigenen Leib auf das Kreuz hinaufgetragen, damit wir von unseren Sünden befreit werden und nun ganz für die Gerechtigkeit da sein können. Durch seine Wunden seid ihr geheiligt worden. Denn ihr wart wie verirrte Schafe, doch jetzt seid ihr umgekehrt zu Jesus Christus, eurem Herrn, der euch bewacht und beschützt« (die letzten Worte werden oft leicht anachronistisch wiedergegeben: »zum Hirten und Bischof eurer See-
921 len«). Dass er »unsere Sünden getragen« hat, damit wir »befreit werden für die Gerechtheit«, beschreibt ganz eindeutig die exklusive Stellvertretung Jesu Christi. Denn hier geht es um das Gegenüber von Jesus und Christen. Dennoch darf man vorsichtig fragen, warum der Verfasser des Briefes den Übergang von dem, was die Sklaven zusammen mit Jesus tun, zu dem, was Jesus alleine tut, mit keinem Wort andeutet. Es gibt kein Signal dafür, dass nun ein gedanklich getrennter Abschnitt beginnt. Natürlich kann man sagen: In V. 22f geht es um Jesus als Vorbild, in V. 24f um Jesus als Heiland. Doch die Übergänge sind fließend. Aber vielleicht haben die Sklaven mit ihrem unschuldigen Leiden doch Anteil an der Tat Jesu. Ähnlich sagt Paulus das ja von sich in Kol 1,24 und 2 Kor 4,10. Könnte es nicht sein, dass der einzelne, zu Unrecht leidende Christ wie ein Wassertropfen eingeht in den Weinkelch des Leidens Christi? Das Leiden Christi ist das Meer, das Leiden des zu Unrecht leidenden Christen der Wassertropfen. An der Priorität, der Einmaligkeit und der Rahmenfunktion des Leidens Christi wird nichts gemindert, wenn der einzelne Leidende mit dem Leiden Jesu sich verbindet. In der Tat ist in bestimmter Hinsicht mit dem stellvertretenden Leiden Jesu noch nicht alles getan, nämlich dann, wenn Christen sich weigern sollten, diesen Weg mit Jesus zu gehen. Der biblische Grundgedanke, dass es in Heilsdingen keine Konkurrenz geben kann zwischen Gott und Mensch, wird von einer radikal reformatorischen Position verkannt. Statt Konkurrenz gilt hier Anteilhabe, Eingefügtsein in das Leiden Jesu. Denn so, im Dazugehören, bekommt auch das scheinbar sinnloseste, entlegenste Leiden einen Sinn, weil es Überwindung der Sünde »vor Ort« bedeutet. 1 Petr kennt diesen Gedanken. In 4,1 heißt es: »Wer freiwillig Leiden erträgt, hat aufgehört zu sündigen«, oder: »… ist von der Sünde losgekommen«. Man darf fragen: Was nützt alles Leiden Jesu Christi, wenn es nicht Christen vor Ort umsetzen, wiedererkennen in ihrem eigenen Leiden? Die entscheidende Frage: Ist nicht Erlösung das ganze, d. h. das Leiden Jesu und das Verfolgungsleiden der Christen? Kann man hier wirklich zwischen aedifikatorischem und satisfaktorischem Leiden unterscheiden? Ist Erlösung wirklich eine völlig abgeschlossene Sache, die gewissermaßen
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922 auf dem Tablett präsentiert wird und nur noch »angewendet« werden muss? Wir reden hier nicht von der Verdienstlichkeit solcher Leiden der Christen, da dieses Wort allzu leicht missverstanden wird. Nein, ich rede von einer unsichtbaren, mystischen Teilhabe am Erlösungsleiden Jesu Christi. Weil es bei Gott keine Konkurrenz gibt, rede ich nicht von Verstärkung des Leidens
Der erste Brief des Petrus
Jesu, als sei es zu schwach, nicht von Verbesserung, als sei hier etwas nicht gut, nicht von Addition von Gnade, als gehe es um einen Rechenvorgang. Jede Mechanik, jedes Wiegen liegt hier fern. Die biblische Logik hat ihre eigenen Regeln. Diese hier heißt: Wassertropfen im Wein. Jesus ist der Anführer des Glaubens (Hebr 12,1f), daher darf und will er nicht allein bleiben.
1 Petr 3–5: Mahnrede 1 Petr 3-4: Leben in Familie und (feindlicher) Welt Zu 1 Petr 3,4: Der Verfasser beschreibt hier wieder – wie schon in 2,11 – etwas anthropologisch, was Paulus pneuma-theologisch wendet: Nach 3,4 besteht der »unsichtbare Mensch« des menschlichen Herzens in einem sanftmütigen Geist. Nach Eph 3,16 (vgl. 2 Kor 4,17) geht es darum, durch den Heiligen Geist Gottes stark zu werden in Richtung auf den inneren Menschen. Für Paulus ist der innere Mensch die zukünftige Existenz des Menschen im Status des Werdens. Das geschieht durch Heiligen Geist. Die ethischphilosophische Grundlage wird in 1 Petr 3,4 erkennbar. Bei Paulus wird aus dem menschlichen Geist der Heilige Geist Gottes. 1 Petr ist deshalb traditionsgeschichtlich älter, weil es der platonischen Tradition vom inneren Menschen entspricht. Der Geist heißt dort (griech.) nous.
1 Petr 3,15-18: Dem Beispiel Christi folgen So sieht die Welt für 1 Petr aus: Wenn es mit rechten Dingen zugeht, kann der Gegensatz zwischen der heidnischen Gesellschaft und den wenigen Christen nur schroff und tödlich sein. Denn die Nichtchristen tun den Christen Böses an (V. 13), sodass sie leiden müssen, weil sie Gutes getan haben (V. 14). Sie wollen den Christen Furcht einjagen (V. 14). Sie verleumden die Christen und setzen ihr gutes Verhalten herab (V. 16), und das nennt man Rufmord. Doch umgekehrt sollen die Christen keine Angst vor den Außenstehenden haben (V. 14), sondern bereit sein, »jedem Auskunft zu geben, der nach dem Grund für ihren Glauben fragt« (V. 15), und sie
sollen eher leiden, weil sie Gutes getan haben, als zur Strafe für Missetaten. Kurzum, die Christen sind die verfolgte und geschmähte Minderheit, und gerade weil sie zu Unrecht leiden, wächst die Wut der Außenstehenden. Wie konnte es dazu kommen? In 3,15-18 wird eine dreifache Trenngrenze vorausgesetzt: Jeder Einzelne hat in sich einen heiligen Bezirk, der wie eine Hauskapelle abgetrennt ist von allem Nicht-Heiligen – deshalb: »Christus, den Herrn, bewahrt heilig in euren Herzen.« Zweitens gibt es die Trennwand zwischen Gemeinde und Heiden. Das Dritte ist die Trennlinie zwischen Sünde und Gott, und sie besteht »durch Christus«, und zwar weil er uns durch seinen Tod erlöst hat. Sehen wir uns diese drei Trennwände näher an: »Christus, den Herrn, bewahrt heilig in euren Herzen.« Wenn man als Christ in der Diaspora lebt, gilt: Dem, der als Christ in sich selbst einen heiligen Bezirk hat, ist Jesus Christus nicht fern, sondern ganz nah. Ein sichtbares Bauwerk, eine Kirche besitzt die Gemeinde hier nicht. Aber die räumliche Orientierung wird nicht aufgegeben: So ist die Gemeinde selbst der heilige Tempel (2,5-10), und jeder Einzelne hat den Tempel seines Herzens in sich. Genau diese Doppelheit »Gemeinde als Tempel« und »der einzelne Christ als Tempel« findet sich auch bei Paulus (1 Kor 3,16f und 6,19f). So sagt Petrus: Es gibt, weil ihr Christen seid, etwas Heiliges in euch, das nicht von euch kommt, das nicht ihr seid. Dieses Heilige ist zu bewahren, nicht zu vertreiben oder zu entheiligen. Die zweite Trennwand, die zwischen Gemeinde und umgebenden Heidentum, haben wir bereits als »unschuldig Leiden« präzisiert. Dieses ist eine bittere Scheidewand: Denn der Gegensatz zwischen Unschuld und Leidenmüssen schreit zum
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Kapitel 3
Himmel. Petrus ermutigt, standhaft zu bleiben und nicht aus der Situation zu fliehen, in der Christen als »Fremde« gegenüber ihren Mitmenschen leben müssen. Ihr sollt dazu stehen, meint der Verfasser. Die dritte Trennwand ist hier besonders originell formuliert: »Christus ist für unsere Sünden gestorben, der Gerechte für die Ungerechten, damit er uns zu Gott führe« (3,18). Bis in den Wortlaut hinein findet sich diese Theologie bei den beiden theologischen Vettern des Verfassers des 1 Petr: bei Paulus (z. B. in Röm 5,2) und im Hebräerbrief. Die Ähnlichkeit zum Hebr betrifft auch das Wörtchen »einmalig« in 3,18. Aus diesem Grund und anderen Gründen habe ich daher 1 Petr, den Hebräerbrief und Paulus als die drei Säulen antiochenischer Theologie behandelt (in meiner »Theologiegeschichte des Urchristentums«, 2. Aufl. 1995).
In 1 Petr 3 ist die Konsequenz (wie in Röm 5,2) ethisch. Deshalb steht der Satz »Der Messias ist einmal für die Sünden gestorben …« in direktem Anschluss an die Mahnung: »Es ist besser, wenn ihr … leiden müsst, obwohl ihr Gutes getan habt.« Da das Hinführen zu Gott eine besondere Aufgabe des Stellvertreters der Menschen bei Gott ist (vgl. Hebr 4,14-16; 10,19-22), kann man sagen: Jesu Sühnetod wird hier verstanden als Grundlage der Annäherung an Gott, des Hinzutretens zu Gott. Dass die Christen jetzt bei Gott sind, ist hier eindeutig das Ziel der Aussage. Der Verfasser macht das deutlich am Gegensatz von »Fleisch« und »Heiligem Geist« bei Jesus, und zwar im Verlauf seines Geschicks. Er sagt: »Als sterblicher Mensch erlitt er den Tod, doch durch Gottes Heiligen Geist wurde er wieder lebendig gemacht« (3,18). Im Griechischen steht hier statt »sterblicher Mensch« wörtlich »dem Fleische nach«, und zum Verständnis muss man beachten, dass »Fleisch« und »Geist« im Frühjudentum und überall im Neuen Testament zwei entgegengesetzte Bereiche sind. »Fleisch« meint die sterbliche, sichtbare, schwache Welt inklusive Mensch. »Geist« meint den Bereich Gottes. »Geist« ist hier demnach nicht der Intellekt, sondern der heilige Bereich der Vitalität Gottes, und deshalb wird Jesus von den Toten auferweckt, wenn er in diesen Bereich hineingenommen wird. Den Tod teilt er mit allen schwachen Menschen. Aber seit Ostern dürfen Menschen auch
an seinem neuen Leben, dem aus Heiligem Geist teilhaben. Aus dieser Kraft kann man freundlich (V. 16) sein und Gutes tun (V. 17). Der Gegensatz von Fleisch und Geist wird in demselben christologischen Sinn gebraucht in Röm 1,3f und 1 Tim 3,16, bezogen auf das Geschick Jesu. Nimmt man diese Stellen mit 1 Tim 3,18 zusammen, so gewinnt man den Eindruck einer formelhaften Ausprägung an allen drei Stellen. Im Unterschied zu Röm 1,3f ist diese in 1 Petr 3 nicht mit christologischen Titeln verknüpft. Der Aspekt Tod/Leben steht hier im Vordergrund, und das ist wohl auch in 1 Tim 3,16 der Fall, weil es sich hier um eine zeitliche Abfolge handelt. Wir fragen: Wo kommt diese Formel her und was ist ihr mutmaßlich ursprünglicher Sinn? Es fällt auf, dass der Ausdruck »Auferstehung« oder »Auferweckung« im Umfeld dieser Formel vermieden wird. Aus Apg 17,31 wissen wir, dass griechisch sprechende Heiden mit diesem Ausdruck (und mit der Sache) große Schwierigkeiten hatten. Durch die Abfolge von Fleisch und Geist wird das, was mit Auferstehung/Auferweckung gemeint ist, treffend wiedergegeben. Es bedarf zwar noch der Erläuterung, aber es wird nicht sofort wegen Unzumutbarkeit abgelehnt. Es handelt sich demnach um eine Interpretation für Heidenchristen. Insoweit hatte Paulus seit Situationen wie Apg 17,31 »dazugelernt«. Dabei ist die formelhafte Gegenüberstellung von Fleisch und Geist ausweislich von Mk 14,38 und Joh 6,63 nicht ursprünglich mit der Auferstehung Jesu verbunden, sondern meint im Rahmen des Offenbarungsverständnisses, das offensichtlich auch Jesus geteilt hat, den qualitativen Gegensatz von kreatürlichem und göttlichem Leben – so ist es auch im griechisch sprechenden Judentum (vgl. E. Brandenburger, Fleisch und Geist, 1964).
1 Petr 3,18-22: Gerichtsverfahren Der Textabschnitt beginnt und endet mit der Befreiung von Sündenschuld durch Jesus Christus. Dazu muss man freilich V. 22 übersetzen: »Ein Gegenbild zur Arche ist jetzt die Taufe. Sie rettet uns dadurch, dass unser Gewissen offiziell vor Gott für rein erklärt wird.« Denn das griechische Wort eperotema in V. 22 heißt »offizielle Erklärung«. Der Jurist würde sagen: Ein Akt freiwil-
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924 liger Rechtsprechung, der erbeten wurde (daher der Stamm erota– darin). – Demnach hat das Geschehen der Erlösung zwei Pole: Jesu stellvertretender Tod am Kreuz und seine Tätigkeit als unser Anwalt zur Rechten Gottes. Die Erlösung führt zu unserem Freispruch, zur Reinerklärung unseres Gewissens. Beides sind Akte der Stellvertretung, der eine ist das Sterben am Kreuz, der andere Akt besteht darin, dass unser Anwalt sich für uns einsetzt, und zwar vor dem Forum der Engel. Der Vater ist der Richter, Jesus ist unser Anwalt. Diese beiden Punkte, Kreuz und Anwaltsfunktion des Erhöhten, verhalten sich zueinander wie die Tat und das Geltendmachen der Tat, wie die »Leistung« und das »Einbringen der Leistung«. Stellvertretung ist eine fundamentale Grundlage des biblischen Verständnisses von Wirklichkeit. Dass einer für den anderen vor einem Dritten rechtsgültig etwas tun kann, gilt auch für das Verhältnis vor Gott. Schon Abraham kann vor Gott für andere stellvertretend eintreten. In der Mitte aller Stellvertretung steht der Sohn Gottes selbst, vom Vater als Stellvertreter gesandt, mit der Gabe seines Lebens und in der Kraft seiner Erhöhung. Am Kreuz stirbt er stellvertretend für uns als der Gerechte, als Erhöhter im Himmel spricht er als der Überwinder für uns zum Vater. So hat er sich gegen alle Beschuldigung und Abwertung, denen sich die Menschen im Himmel gegenübersehen, durchgesetzt. Diese Einrede gegen die Menschen ging, so sagt unser Text, von Engeln, Mächten und Gewalten aus. Sie mussten – zugunsten der Menschen – überwunden werden. Der Verfasser stellt uns das Szenario eines himmlischen Gerichtshofes vor Augen. Ähnlich kennen wir dieses Bild auch aus den drei ersten Evangelien, wenn dort vom Menschensohn die Rede ist, so etwa in Lk 12,8: »Jeder, der sich zu mir vor den Menschen bekennt, zu dem wird sich auch der Menschensohn bekennen vor den Engeln Gottes.« Umgekehrtes gilt auch vom Verleugnen. An anderen Stellen heißt es allein »vor Gott«, ohne die Engel. Demnach ist Gott Vater der Gerichtsherr, die Engel bilden das Tribunal. Die Engel sind in dieser Eigenschaft die Wahrer der Gerechtigkeit. Als Tribunal vertreten sie – wie im modernen Prozessrecht der Staatsanwalt – das Gesetz, und zwar nach Geist und Buchstaben.
Der erste Brief des Petrus
Es ist dabei klar, dass – so wie wir die Menschen kennen und insbesondere, wie die Bibel sie darstellt – kein Mensch ohne Schuld ist und jeder durchfallen muss. Es gibt demnach in der Bibel drei grundlegende Gruppen von Engeln: Die einen sind zu Schutz und Hilfe des Menschen da, die zweite Gruppe vollzieht den Lobpreis vor Gottes Angesicht, und die dritte Gruppe bildet das Gerichtsforum. An unserer Stelle geht es um die Rolle der Engel als Tribunal, als Gottes – mehr oder weniger ständig tagendes – juristisches Gremium zur Findung von Gerechtigkeit. Damit man die Situation richtig versteht, ist zu beachten: Es handelt sich hier nicht um das Weltgericht am Ende der Zeiten, sondern um das tägliche Gericht, von dem die Psalmen singen und das Paulus in Röm 8,31-39 bespricht, ein Text, der unserem Abschnitt sehr ähnlich ist. Denn auch hier ist Jesus Christus unser Anwalt bei Gott, und Mächte und Engel können nichts gegen die Menschen ausrichten. Das Gerichtsforum der Engel ist zwar streng, aber nicht unüberwindbar. Denn Jesus Christus hat dieses strenge Gremium umgestimmt. Die Menschheit im Allgemeinen und der Einzelne im Besonderen war zunächst angeklagt und in schwieriger Situation. Aber Jesus hat für die Menschen die Situation »gerettet«, und zwar offensichtlich unter Hinweis auf sein Sterben am Kreuz – auch wenn dieses nicht ausdrücklich gesagt wird. Doch in beiden Texten, in Röm 8,32 (»der seinen eigenen Sohn nicht schonte«) wie in 1 Petr 3,18 (»für unsere Sünden gestorben«) ist in unmittelbarem Zusammenhang davon die Rede. Nach beiden Texten hat Jesus nicht »irgendwie« für unsere Sünden gesühnt, sondern unsere Rettung und unser Heil wurden gut fassbar, juristisch exakt und rational vor Gottes Forum bzw. täglichem Gericht festgestellt. Dabei ist die »Überwindung der Engel, Mächte und Gewalten« (3,22) nicht irgendein physisches Gemetzel, vielmehr wird das Wort »überwinden« hier im prozesstechnischen Sinne von der Überwindung des Prozessgegners verwendet. Hat dieses Szenario etwas Tröstliches? Es ist ein öffentliches Verfahren. Gott wird nicht bestochen oder überredet. Es geht auch nicht um Irrationales, eher um Übervernünftiges. Das Verfahren ist nicht privat, sondern es ist ein als streng bekanntes Gremium eingesetzt. Es bleibt auch
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nicht bei Schmerz und Blut der Kreuzigung; ein Text wie das Stabat Mater hätte hier nicht seinen Ursprung haben können. Ganz nüchtern wird Recht gesprochen. Das Gremium wird die Gerechtigkeit nicht missachten oder außer Kraft setzen. Die Sünden der Menschen stehen dem Leben des Gottessohnes gegenüber: Schuld gegen Verdienst. Dem Gremium geht es allein um Gerechtigkeit. Es ist nicht voreingenommen gegenüber den Menschen. Nein, Engel sind eher misstrauisch gegenüber Menschen wie Staatsanwälte älterer Prägung. Aber wenn das alles vor einem gewissermaßen unabhängigen Gremium so entschieden wurde, dann dürfen wir davon ausgehen, dass das Tribunal nicht in die Revision gehen wird, sondern dass der Wert des Lebens Jesu vor dem himmlischen Forum vollständig ausreichte, um alle Sündenschuld aufzuwiegen. Es ist die Klarheit und Einsichtigkeit dieses Vorgangs, die in dieser von Christen zumeist als »unverstehbar« eingestuften und doch zentralen Sache der Erlösung die nötige Heilsgewissheit gibt. Sie besteht darin: Unser Anwalt »taugt etwas«, sein »Argument« für uns ist die Gabe seines Lebens. Weil er der absolut Gerechte ist – dem können sich die Richter nicht entziehen, das können sie nicht widerlegen –, ist dieses unsere Rettung. Verkündet wird dieser »Freispruch aufgrund von Stellvertretung« bei der Taufe jedes Christen. Sie ist der Punkt im christlichen Leben, an dem die geschilderte Verhandlung vor dem himmlischen Forum akut wird und in das Leben jedes Christen eintritt. Daher nimmt unser Text auf die Taufe Bezug, die in 1 Petr 1,2 auch so beschrieben wurde: »Besprengt mit seinem Blut und dadurch rein geworden …« Verstehen kann man diese Wendung in 1,2 erst durch den Abschnitt in 3,18-22. Was 1,2 sakramental formuliert, ist in 3,18-22 juristisch beschrieben. Die Taufe hat nach Auskunft des Verfassers einen »Antitypus« im Alten Testament, und zwar in der Arche Noah. Beide retten Menschen, und zwar eine relativ kleine Zahl aus der großen, unbekehrten Menschheit. Es geht um das Instrument der Rettung aus dem allgemeinen Verderben. Später sagt man: Das Wasser der Sintflut vernichtet, das Wasser der Taufe reinigt. Aber es gibt außer dieser Ähnlichkeit in der Funktion auch eine direkte Verbindung zur Ge-
neration Noahs. Und die ist mit Jesu Werk verbunden. Denn Jesus Christus ist im Zusammenhang von Tod und Auferweckung (V. 18) in der Scheol gewesen und hat dort »im Gefängnis« die Totengeister der ungläubigen Zeitgenossen Noahs getroffen und ihnen »verkündigt«. Was er ihnen verkündigt hat, steht nicht da. Es wird auch nicht sofort erkennbar, worin der Zusammenhang mit der Taufe und der Befreiung der Christen von Sünden bestehen soll. Ich deute so: Jesus gelangte, da er wie alle Menschen gestorben war, in die Scheol, das Reich des Todes. Hier, mitten in der Tiefe des Todes, wachte er auf und wurde lebendig (s. auch Ignatius, An die Magnesier, 9). So verkündete er (im Wesentlichen durch sich selbst, durch sein eigenes Geschick) den Toten das Ende des Totenreiches und die Möglichkeit der Auferstehung. Wurden die Toten so doch noch gerettet? Auch nach PetrusEv 41 hat Jesus den Toten gepredigt, und zwar im Stadium seines Todes. – Vielleicht handelt es sich hier um eine frühe Antwort auf die Frage nach dem Geschick der Menschen, die vor Christus gestorben waren; auch die paulinische Totentaufe (1 Kor 15,29) behandelt das Problem. Weder hatten die Toten eine Wahlfreiheit, noch wurden sie automatisch befreit, indem Jesus die Tore des Totenreichs von innen her aufstieß. Erhielten sie Anteil an Gottes lebendigmachendem Geist, in dem Jesus ihnen verkündigte (4,6)?
1 Petr 3,18-21: Mächte und Gewalten Der vorchristliche Befund Im jüdisch-hellenistischen Umfeld des Neuen Testaments, besonders aber bei Paulus und bei Briefen in seiner Umgebung, finden sich die so genannten »Mächte und Gewalten«. Sie leben fort in den »Thronen und Herrschaften« jeder Präfation bei der Eucharistiefeier, wo sie eingereiht werden »mit dem ganzen Aufgebot des himmlischen Heeres«. Bei Dionysius Areopagita (5. Jh.) finden diese Mächte innerhalb der himmlischen Hierarchie Beachtung. In den älteren Schriften bleibt es unklar, worum es sich genau handelt. Die Auskunft der früheren Gnosis-Forschung, es handele sich um Requisiten der gnostischen Vorstellungen vom Kosmos, bleibt relativ nichts sagend.
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926 In der Regel werden mehrere Gruppierungen unter verschiedenen Namen genannt. So gibt es »Herrschaften«, »Throne«, »Mächte« (griech.: exousiai), »Führungskräfte« (griech.: archai), »Herrlichkeiten« (griech.: doxai), »Gewalten« (griech.: dynameis). – Dass es jeweils mehrere gibt, weist auf eine hierarchische Gliederung. Die Namen zeigen, dass staatliche oder militärische Organisation auf den Himmel übertragen wird (vgl. die Schrift des Dionysius Areopagita »De hierarchiis caelestibus«). Die himmlischen Heere mit Michael an der Spitze sind zumindest sachlich benachbart. Das gilt in noch höherem Maße von Cherubim, Seraphim und Ophanim, »Scharen« und »Vieläugigen«. Was tun diese Mächte und Gewalten? Sie lobpreisen Gott. Insofern haben sie die wichtigste Aufgabe des Hofstaats. Das Loben ist ihr Opferdienst. Sie sind bei Gott. Insofern ist Gott einfach der »Gott der Engel und Gewalten«. Die Kombination beider Titel weist darauf hin, dass Gott durch sie die Welt regiert. Der Lobpreis erfolgt hierarchisch geordnet, z. B. nach zehn Diensträngen. Unter dem Einfluss von Dionysius Areopagita nimmt man neun Engelhierarchien an (neun Engelschöre in der Architektur der St. Michaeliskirche in Hildesheim). Sie haben eine eigene Sprache (TestHiob 49,2). An dieser können Menschen per Inspiration teilhaben (1 Kor 13). – Die Freude ist ein wichtiges Merkmal. – Menschen können sie segnen. – Auch der Teufel hat Engel und Mächte. Diese heißen dann böse Gewalten. – Alle Mächte und Gewalten sind üblicherweise unsichtbar. Die sich aufdrängende Einsicht, dass mit der Annahme dieser Mächte und Gewalten irdische Verhältnisse nachgebildet und an den Himmel projiziert werden, wird in TestSal 20,15 so formuliert: »Was immer im Himmel geschieht, geschieht auch auf der Erde.« So schweben oben die Herrschaften. Mächte und Gewalten sind allein würdig, in den Himmel einzutreten. Wegen des Prinzips der Nachbildung gibt es auch auf der Erde Herrschaften, Mächte und Weltherrscher. Vollständig offen bleiben nach dem bisher Gesagten a) der praktische Erfahrungshintergrund, b) die Ursache für die Beliebtheit dieser Rede zur neutestamentlichen Zeit, c) der Weg dieser Vorstellungen in das Neue Testament und
Der erste Brief des Petrus
d) nicht zuletzt die Ursachen der christlichen Umdeutung. Welche konkreten Erfahrungen sich im frühen Christentum und im Judentum mit den Mächten und Gewalten verbinden, das wird nur an wenigen Texten offenbar: – Nach 1 Kor 15,24-27 gehört auch der Tod zu den in 15,24 genannten Führungskräften, Mächten und Gewalten und wird in 15,25 unter die Feinde aus Ps 110,1 gerechnet. – Den weitaus wichtigsten Text liefert Philo v. Alexandrien (De confusione linguarum 171): »Wenn es auch nur einen einzigen Gott gibt, so hat er doch um sich unsäglich viele Kräfte, die sämtlich dem Geschaffenen gegenüber hilfreich und heilbringend sind. Zu ihnen gehören auch die strafenden (Kräfte), denn auch die Strafe ist nichts Schädliches, insofern sie ein Verhindern und ein Wiedergutmachen der Fehler ist.« Zu solchen Mächten gehören nach Philo auch Sonne und Mond, die aufgrund ihres Wirkens von den Menschen Götter genannt wurden. Deshalb sagt Mose in Dtn 10,17: »Herr, Herr, König der Götter«. – Nach TestSal 8,6 (Busch) gehören zu den Mächten: Betrug, Streit, Kampf, Macht, Täuschung, Gewalt, Missgunst. Sie alle herrschen in der Finsternis. – Nach Philo, De mutatione Nominum 59, stehen die »Gewalten« in folgender Reihe: Erde, Wasser, Luft, Sonne, Mond, Himmel, andere körperlose Gewalten. Im Folgenden werden sie unter die Gnadengaben eingereiht, die ihren Quellgrund in Gott haben. – Die ersten vier Größen könnte man auch zu den (griech.) stoicheia (Weltelemente) rechnen.
Christliche Umdeutung In den Texten des frühesten Christentums (1 Petr, 1 Kor 15, 1 Petr 3, Kol 1-2, Eph 1, Jud, 2 Petr; Justin, Dial 41, Ignatius v. A.: Eph 13) treten folgende Elemente hinzu, die wir vorher und außerhalb niemals finden: – Derartige Mächte werden unterworfen, und zwar von Jesus Christus durch seine Auferstehung/Erhöhung. Das Verb »unterwerfen« (griech.: hypotasso) ist hier weit verbreitetes zentrales Stichwort (auch Lk 10,17!). – Man könnte auch sagen: Sie werden »aufgelöst«, »entfernt« oder »besiegt«. Das setzt
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voraus: In christologischer Perspektive überwiegt ihre negative Einschätzung. Nach Kol werden sie »abgetan«. – Derartige Mächte bekommen ein »Haupt«, d. h. sie haben einen Vorgesetzten. Dieser ist nach Kol von Anfang an Jesus Christus, nach Kol und Eph derselbe Jesus nach der Erhöhung. Dem entspricht, dass Jesus Christus seinen Ort »oberhalb«, »über« (griech.: epano, hyperano) den Mächten und Gewalten hat. – Es gibt Christen, die diese Mächte verbal bekämpfen, und zwar wohl mit Flüchen. Immerhin gibt es zwei Schriften im Neuen Testament, die diese Praxis entschieden bekämpfen: 2 Petr und Jud. Denn auch die Mächte und Gewalten sind Gottes Geschöpfe und repräsentieren Gottes Hoheit. Diese christlichen Aussagen sind gegenüber den vorher besprochenen keineswegs so selbstständig, dass sie einen eigenen Zweig in der Entwicklung darstellen. Schon die vertraute Kombination der unterschiedlichen Mächte etwa in Eph 1,22 zeigt, dass es einen engen Zusammenhang zwischen den vorchristlichen und den christlichen Aussagen über Mächte und Gewalten gibt. Aber wie sich dieser Zusammenhang entwickelte und was genau sich da unter dem Einfluss der Christologie verändern konnte, das ist ein bisher noch nicht geschriebenes Kapitel urchristlicher Theologiegeschichte. Interessant ist, dass offenbar niemand die Existenz dieser Mächte bezweifelt. Sie stehen einfach in Geltung und gehören zur Welt. – Im Verhältnis zu den außerchristlichen Belegen fällt sofort die Spannung zwischen Christus und den Mächten ins Auge. Deren Verhältnis zueinander ist sehr unterschiedlich dargestellt: Bejahung der Mächte Sie gehören zu der Ordnung, die in Christus ihr Haupt hat (Kol 2,10). Sie dürfen nicht gelästert werden (2 Petr/Jud). Durch die Erhöhung des Auferstandenen wird die offenbar gottgewollte Ordnung hergestellt, in der die Mächte sein sollen (Eph; 1 Petr 3). Nach 1 Kor 15 steht die Verwirklichung dieser Ordnung noch aus. In allen diesen Fällen sind die Mächte nicht grundsätzlich negativ gewertet.
927 Vgl. zu 2 Petr 2,10 (S. 933) Inwiefern dadurch ein Beitrag zur Theodizeefrage geliefert wird, sagt der oben zitierte Text von Philo v. A. (De confusione linguarum, 171). Dieser Text erklärt auch, weshalb die Aussagen des Neuen Testaments über die Mächte und Gewalten leicht ins Negative tendieren. Das ist besonders wichtig bei den Stellen über Jesu Tod und Auferstehung. Bei Jesu Tod heißt es in Kol 2 über den Schuldschein: Jesus hat ihn ungültig gemacht, indem er die Mächte und Gewalten abgeschüttelt hat, sodass sie öffentlich blamiert sind. Das heißt im Kontext unserer Deutung der Mächte und Gewalten: Die Mächte und Gewalten sind strafende Mächte im Sinne des zitierten Philo-Textes. Sie sind, so verstanden, nicht böse, sondern gerecht. Auch der Schuldschein war mit Recht ausgestellt. Insofern hat Jesus die Menschheit nicht vor der Bosheit der Mächte bewahrt, sondern vor den »gerechten« Folgen der eigenen Schuld. De Strafe, die der Menschheit drohte, war nicht ungerecht und böse, sondern nur allzu gerecht. Die Mächte und Gewalten sind daher als Ordnungshüter Exekutive Gottes. Ähnliches gilt auch für alle Texte, nach denen Jesus als Gekreuzigter die Mächte und Gewalten »besiegt« hat. Denn gemeint ist der Sieg gegenüber Schuld und Bosheit, die der Mensch selbst angerichtet hat. Analoges gilt auch von der Auferstehung/Erhöhung. Denn durch dieses Ereignis hat Jesus zugunsten der Menschen sich selbst als deren Anwalt neben Gott gesetzt und die strafenden Mächte als Ankläger (»Staatsanwälte«) ausmanövriert. Er hat sie abgetan bzw. überwunden, weil er als der Gerechte zugunsten der Menschen und für sie vor Gott erschienen ist. Das Beobachtete gilt besonders für 1 Petr 3,21f: Die Taufe rettet uns dadurch, »dass unser Gewissen offiziell vor Gott für rein erklärt wird. Denn Jesus Christus ist auferstanden und sitzt jetzt als unser Fürsprecher an der rechten Seite Gottes. Nachdem ihm Engel, Mächte und Gewalten unterworfen wurden, ist er in den Himmel eingezogen.« Von dieser Unterwerfung spricht auch 1 Kor 15. – Die übrigen Texte reden noch deutlicher vom Abwimmeln oder Loswerden der Mächte und Gewalten (Kol), vom Vernichten (sc. ihrer Argumente und Anschuldigungen gegenüber den Menschen), endgültig vom Erledigen.
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928 Jesu Erhöhung ist auch deshalb ein Sieg über Mächte und Gewalten, weil Jesus als Mensch für die anderen Menschen von den Toten auferweckt wurde und das Tor zur Auferstehung für sie geöffnet hat. Damit hat er ihr Unglück und ihre aussichtslose Situation gegenüber den Mächten und Gewalten grundsätzlich zum Besseren verändert. So kommt in der Tat mit Jesu Auferstehung die Überwindung des Todes überhaupt in den Blick. Aber das geschieht nicht als apokalyptischer oder sonst wie rätselhafter Kampf gegen eine Geistermacht, sondern indem Jesus Menschen als Getaufte präsentiert, die als solche auch an seiner Auferstehung teilhaben. Schließlich wird von hier aus eine Brücke zur paulinischen Gesetzestheologie erkennbar. Der Schluss von 1 Kor 15 wird so fassbar. Dort war nach der Verkündigung des Sieges über den Tod auch vom Gesetz als dem Agenten der Sünde und des Todes die Rede. In der Tat geht es hier wieder um die nur verurteilende Rolle des Gesetzes, die Jesus immer im Blick hat, wenn er negative Aussagen über das Gesetz macht. In dieser Rolle, über dem Menschen als Richter zu stehen und seine Fehler und Löcher aufzuweisen, hat das Gesetz eine Funktion, die der der Mächte und Gewalten genau entspricht. Wenn weder das Gesetz noch Mächte und Gewalten den Menschen verurteilen müssen, dann ist er frei. Bezüglich der Mächte und Gewalten sagt man im Neuen Testament: Sie sind jetzt (seit dem Sühnetod bzw. der Erhöhung Jesu) »unterworfen«. Und das bedeutet: Die Menschen sind ihnen nicht mehr unterworfen. Insofern ist auch in 1 Kor 15,53-55 von Mächten und Gewalten die Rede. Die Querverbindung zum Gesetz ist besonders aufschlussreich: Es zeigt sich nämlich, dass die Entmachtung der Mächte und Gewalten dieselbe Botschaft bedeutet wie die Befreiung des Menschen aus der ständigen Verurteilung durch das Gesetz. Hier liegt demnach die Verbindung zwischen 1 und 2 Kor einerseits und Röm, Gal und Phil andererseits. 1 Kor 15,55-57 ist in der Tat ein ideales Bindeglied. Wer aber die Mächte und Gewalten lästert (2 Petr und Jud), sucht die Schuld bei ihnen und nicht bei den Menschen. Wer aber die Schuld bei ihnen sucht, der lastet sie letztlich Gott an, weil er sie geschaffen hat. Denn wer die Mächte verflucht, stellt das gesamte bestehende System der Welt und ihre Ordnung infrage.
Der erste Brief des Petrus
Was also bedeutet es, dass Jesus Christus »über« den Mächten ist? Es bedeutet, dass er »oberhalb« als das »Haupt« ist. Es bedeutet, dass die Menschen nicht mehr unter den Mächten und Gewalten sind. Der hier dargestellte Ansatz spiegelt sich auch in Offb 12 und in Lk 10,17-19. Grundsätzlich ist nach diesen beiden Texten Ähnliches geschehen, wie wenn nach den Briefen Christus, über die Feinde erhöht, die Staatsanwaltschaft in Gestalt der kritischen Mächte »überwindet« bzw. ausschaltet. Nur unternimmt nach Offb 12 Michael das Geschäft des Ausrangierens des Staatsanwaltes, in Lk 10,17-19 gehört die Entmachtung Satans immerhin zur Botschaft Jesu; wer sie verursacht hat, das bleibt hier offen. Folgende Züge weisen aber darauf, dass es sich um dieselbe Tradition handelt: Nach Lk 10,19 sind die Dämonen jetzt den Jüngern unterworfen (griech.: hypotassesthai), und in 10,17 fällt dasselbe Wort »über« (griech.: epano), das wir aus den Briefen von Christus kennen. D. h.: Die neue, jetzt erreichte Unterordnung der Mächte und die Überordnung der Christen entspricht dem, was nach der Briefliteratur Jesus Christus erreicht hat. Was laut Briefliteratur von der Position des erhöhten Christus im Himmel gilt, wird daher in Lk 10 von den exorzistisch tätigen Jüngern Jesu gesagt, und zwar von Jesus selbst. In Lk 10,19 gilt: Oberhalb aller Gewalt des Feindes sind sie tätig. Interessant sind auch die beiden außerneutestamentlichen Belege für die Überwindung der Mächte durch Gott: Nach Justin (Dial 41,1) hat Gott die Mächte und Gewalten aufgelöst durch den, der nach seinem Rat leidensfähig geworden ist. Die Menschwerdung Jesu Christi ist daher der Weg, die verurteilenden Instanzen auszuschalten. Denn der unsere Natur mit uns teilt, kann der bessere Anwalt sein (so auch durchgehend Hebr). – Nach Ignatius v. A. (Epheser 13,1) werden die Mächte des Satans aufgerieben, wenn die Gemeinde oft zum Gottesdienst zusammenkommt. Die himmlische Szene ist hier »ersetzt« durch die geballte Macht der heiligen Versammlung.
Grundsätzlich ergibt sich für das Bild der Mächte und Gewalten: Sie stehen für die Ordnung im Himmel und auf Erden. Deshalb loben und verehren sie Gott; denn sie geben Ehre, wem Ehre gebührt. Auf Erden aber ahnden sie die Verstöße der Menschen gegen die Ordnung. Auch der Teu-
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fel ist in dieser Hinsicht ein Ordnungshüter. Dass Jesus ihn besiegt und überwindet, ja ihn ausrangiert, ist ein neuer Weg Gottes, mit der Unordnung fertig zu werden, nämlich der Weg der Vergebung (um Jesu willen). In diesem Sinne besteht zwischen Teufel und Kruzifix auch eine echte Rivalität. Mit dem Teufel wird man fertig, in dem man ihm »widersteht«, denn abschaffen oder verfluchen kann man ihn nicht. Sich dem Wahren und Richtigen unterzuordnen, ist daher in der Literatur im Umfeld des Neuen Testaments der wahre Schlüssel zum Heil (Jak 4,7f). Wer sich Gott unterordnet, hat die Kraft, dem Teufel zu entfliehen (1 Petr 5,6-9). Nach 1 Petr 3,22 werden die Gegner im himmlischen Gerichtstribunal unterworfen, weil der Auferstandene und Erhöhte jetzt für die Christen eintritt. Eperotema (griech.) ist nach 3,21 die Erklärung über ein reines Gewissen – die Christen haben es aufgrund der Taufe –, die der Erhöhte vor Gott abgibt.
1 Petr 3,22 und 4,6: Bedeutung des Todes Beide Texte haben wohl Beziehung zu PetrusEv 9,41: Als Jesus mit den beiden Männern aus dem Grab kommt, fragt eine Stimme: »Hast du den Toten gepredigt?« Und vom Kreuze her kam die gehorsame Antwort: »Ja, das habe ich getan.« – Warum sollte Christus den Toten predigen? Es gibt bei frühen Kirchenvätern ein Ps.-JeremiaApokryphon: »Es gedachte aber Gott der Herr seiner Toten von Israel, die entschlafen waren im Staub der Erde, und er stieg herab zu ihnen, ihnen sein Heil als frohe Botschaft zu verkünden« (Justin, Dial 72; fünf Versionen bei Irenäus). Auch in 1 Petr 4,6 ist ausdrücklich von der Verkündigung des Evangeliums bei den Toten die Rede. Aus Justin ist noch gut erkennbar, dass es sich ursprünglich um Gottes Tun handelt. Dass Jesus Christus diese Funktion lückenlos übernimmt, ist ein Vorgang, der sich auch bei den neutestamentlichen Wundern zeigt. In beiden Fällen ist Jesus der Verkündiger Gottes. Hinter Ps.-Jeremias steht die alttestamentliche Stelle Jes 14,11. Auf Jesus angewandt, bedeutet das zunächst die Verkündigung des Heils für die geistlich Toten (wie in Eph 2,5 und Lk 15,24). Die Auswei-
tung auf alle Toten überhaupt, besonders aber auf die vor Christus verstorbenen Menschen, bedeutet eine ganz entscheidende, universale Erweiterung der Adressaten des Evangeliums. Vorstellbar ist diese Mission zu den Toten nur bei Jesu eigenem Abstieg ins Totenreich und vor seiner Erhöhung. So ist auch das »dabei«, »darin« von 1 Petr 3,19 (griech.: en hoo) zu deuten. Handelt es sich um eine sehr alte Deutung des Todes Jesu, die ihn nur als Schwelle für das Erreichen des neuen, weiteren Tätigkeitsbereiches ansieht? Die neueren Kommentare legen Wert auf die Universalität des Wirkens Jesu. Der Text sei eine Antwort auf die Frage nach dem Geschick der vorchristlichen Menschen. Doch sowohl aus 3,18b wie aus 4,6 geht etwas anderes hervor: Durch Jesus Christus, durch seine Sendung, kam von Gott her Leben in die todgeweihte Welt. In diesen Versen sind das Geschick Jesu und das mit diesem eng verbundene Geschick der Glaubenden dargestellt. Jesus bleibt mit der Abfolge von Tod (am Kreuz) und neuem Leben (in der Auferstehung) nicht allein. Vielmehr bezieht er alle in diese Abfolge ein, denen er das Evangelium verkünden konnte und die es so annahmen, wie es gedacht war. 1 Petr legt damit in 3f eine eigenständige Lösung des christlichen Grundansatzes von Erlösung vor. Darin kommt sowohl die Taufe vor, als auch der Gewinn neuen, ewigen Lebens für die Hörer des Evangeliums. Für beides kommt der Verfasser ohne das Stichwort Auferstehung aus. Aber er orientiert sich an der gleichbedeutenden Erhöhung Jesu und seinem Eintreten für die Getauften bei Gott. Es geht daher bei den in 3,18f und 4,6 geschilderten Geschehen nicht um einen apokryphen Nebenschauplatz (so hat man diese Texte bisher einsortiert), sondern durchaus um das christliche Zentralgeschehen. Dass das angenommene Evangelium Leben bedeutet, ist übrigens vom JohEv her geläufig. (Ergänzung siehe S. 1056)
1 Petr 4,2-5: Kleine Heidenpredigt Typisch heidnische Laster (im Sinne der Beurteilung durch hellenistische Juden) stehen hier neben der (jüdischen und christlichen) Selbstsicht als Fremdlinge und Außenseiter, die vor allem verbal ausgegrenzt werden. Die Situation der
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930 Fremdlingsschaft soll nicht durch religiöse oder kulturelle Assimilation bewältigt werden, sondern durch vorbildliches moralisches Verhalten in der Frage der (gemeinsamen) Werte und durch strikte Anerkennung der Obrigkeit (Kap. 2). Die Übereinstimmung mit Röm 13 und Mk 12 in diesem Punkt ist kein Zufall. Auch Röm setzt bekanntlich keine feste Kirchenstruktur voraus. Wo die Kirche labil ist, wird die Anlehnung an die Obrigkeit zum Gebot der Stunde (vgl. vielleicht die reformatorischen Kirchen Mitteleuropas bis 1920). – Die Kombination Laster plus Gerichtsdrohung entspricht dem Aufbau der Heidenpredigt (vgl. Apg 14,15f; 17,30f).
1 Petr 4,6: Das unsichtbare Leben Ein »Beurteilen dem Fleische nach« nach Menschenart im Gegensatz zum Leben vor und für Gott »dem Heiligen Geiste nach« bedeutet (auch im Blick auf 2 Kor 5,16): Die Christen sterben wie andere auch, und darin haben sie in den Augen der (Mit-)Menschen keinen Vorteil; aber sie leben bei, vor und mit Gott, und zwar seitdem sie Christen sind. Es ist dasselbe unsichtbare Leben, von dem Paulus in Röm 6,11b spricht.
1 Petr 4,7-11: Zusammenfassung christlicher Ethik Das Stück zeigt einerseits Bezug zur Eschatologie Jesu: Das Ende der Welt kommt (Johannes der Täufer und Jesus), die Konsequenz ist: nüchtern sein und beten (vgl. 5,8, besonders aber Eph 6,18; 1 Thess 5,6 f.10). Es geht um das Wortfeld »Wachsamsein«. Beides, nüchtern sein und beten, ist dessen Ausdruck. Zweitens aber geht es um Liebe, die Sünden zudeckt (Spr 10,12). Sie findet ihre Gestalt besonders in der Gastfreundschaft. Drittens wird ein zweigeteilter Charismen-Katalog vorgestellt: Es gibt Charismen des Wortes und solche des Dienens (Röm 12,7). Zu Röm 12,7.13f gibt es besondere Ähnlichkeit (Röm 12,13 nennt auch die Gastfreundschaft, Röm 12,10 die Liebe). 1 Petr 4,7-11 ist mit Röm 12 verwandt; das ergänzt sich durch die Ähnlichkeiten mit Röm 13 in 2,13-17. – Das Stück bietet eine sehr beachtliche, fast vollständig theo-
Der erste Brief des Petrus
logisch genau überprüfte katechismusartige Zusammenfassung christlicher Ethik.
1 Petr 4,12-18: Leiden und Seligpreisung Wie es sich für Neubekehrte gehört, muss die Gemeinde im Augenblick leiden. Überdies deutet der Verfasser des Briefes diese Leiden wie folgt: a) Die Gemeinde kann daran erkennen, dass sie Christen sind und zu Jesus Christus gehören. Denn wer leidet, ist mit ihm verbunden. b) Auf das Leiden wird Herrlichkeit folgen. Dieses Gesetz vertritt 1 Petr grundsätzlich, aber es ist auch bei Paulus (Röm 8,17b), bei Lukas (24,26) und in frühen Märtyrerakten zu finden. Der Ursprung könnte ein ideologisch-militärisches Dogma sein, nach dem auf Leiden Herrlichkeit folgt. c) Dem jetzigen Leiden ist daher der künftige Jubel entgegengesetzt (vgl. 1 Petr 1,7-8). Der Jubel angesichts der Leiden ist daher jetzt schon angebracht (vgl. Mt 5,12). d) Daher gilt jetzt schon die Seligpreisung der Leidenden. Sie wird in 4,14 charismatisch begründet. »Selig seid ihr«: Das deutsche Wort »selig« hat es in sich. Denn wenn einer selig über etwas ist, meint es mehr, als dass er nur Glück gehabt hat. Glück, das ist die heidnische Göttin Fortuna. Glück hat man auch im Lotto. Aber »selig« ist eher ein Beitrag der Bibel zu unserer Sprache; selig sein ist ein sanfter, zarter Zustand, nicht ganz von dieser Welt. Glücklich zu sein ist handfest, und man wünscht es allen. Selig sein kann man nicht wünschen, nicht machen, hat etwas Grenzenloses. Weshalb man auch Jesu Verheißungen am Beginn der Bergpredigt Seligpreisungen nennt. »Selig« sind die darin gepriesenen Menschen auch jetzt schon, nicht erst dann, denn sie sind wie ganz erfüllt von etwas, gegen das nichts Widriges ankommt. Das gilt auch von den Toten: Selig sind die Toten »im Herrn« (Offb 14,13), obwohl sie doch momentan nicht bei uns sind. Aber der Tod kann nicht an gegen sie. Seligkeit ist da ein unscheinbares Leben, das gleichwohl kräftiger ist als der Tod. Damit stellt »seligsein« die Machtfrage: Ist die wahre Macht die von Geld und Gewalt, oder ist die wirkliche Macht die über die Herzen der
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Menschen, wie sie die zarten Farben der Gemälde zeigen, wegen derer die Menschen lange Schlangen vor den Museen bilden, oder die unfassbaren Töne der großen Musik, die so gar nichts von Gewalt, aber viel von hauchzarter Kraft in sich haben können. Liegt dort die wahre Macht? Liegt sie bei einem »Papst der Herzen«, wie dem kürzlich verstorbenen? Selig sein meint nicht: ausgelassen sein, meint nicht: ein lautes Fest (so schön das sein kann!), meint: Teilhabe an etwas, das man auf Erden gar nicht fassen kann. Selig zu sein wird jemandem zugesprochen, daher die Form der Seligpreisung. Nach 1 Petr 3,14 verwendet Petrus hier schon zum zweiten Mal eine Seligpreisung, die wie die Spitze der Seligpreisungen Jesu (Mt 5,10f; Lk 6,22) sich auf das Leiden von Christen bezieht. Das Element des Kontrastes, des Widerstands bemerken wir auch in diesen Seligpreisungen. Selig ist jemand, obwohl er leidet und obwohl sein Ruf gemordet wird. Heiliger Geist Gottes ruht jetzt schon auf den Leidenden, so wie es die syrische Kirche in ihrer Totenliturgie sagt: Der Heilige Geist wacht an den Gräbern der toten Christen. In der jüdischen Schrift über das Martyrium des Jesaja heißt es: Er wurde mit einer Holzsäge zersägt. Doch während des Sägevorgangs schrie er nicht und klagte er nicht, denn »er unterhielt sich mit dem Heiligen Geist.« Auch nach Paulus gilt: »Wer sich vom Heiligen Geist leiten lässt, der kann lieben, sich freuen, Friede halten, der hat einen langen Atem, ist freundlich und gütig, treu, von sanfter Geduld und Selbstbeherrschung« (Gal 5,22). Alle diese Früchte des Heiligen Geistes beruhen auf der Selbstzurücknahme der Macht. So ist die Ethik des Heiligen Geistes eine Märtyrerethik und umgekehrt. Das gilt über 1 Petr 4,15 hinaus. So gewinnen wir einen Zugang zu dem, was wir hier – im Blick auf den zersägten Jesaja – »ekstatisch« nennen. Es ist genau die Kraft, die Jesus nach Mk 14,38 im Gebet gewinnt, und von der es dort heißt: »Der Heilige Geist macht mutig, aber als bloße Menschen sind wir feige.« Sanftheit und Geduld, Machtverzicht und Selbstzurücknahme sind daher insbesondere die christliche Weise, die Welt zu verändern. e) Alles liegt daran, dass die Christen, wenn sie leiden, als Gerechte leiden. Nur dann und nur so
gelten ihnen die Verheißungen und gehören sie zu Christus. f) Das gegenwärtige Leiden der Christen ist der Anfang des Gerichtes Gottes, denn Gott beginnt mit dem Gericht bei seinem eigenen Haus. Direkt dazu gehört dann dieser Schluss vom Geringeren auf das Größere: Wenn die Christen, Gottes Haus, schon so leiden müssen, wie werden dann erst die Außenstehenden und Ungerechten zu leiden haben? – Zum Beginn des Gerichtes bei Gottes Haus (Tempel) vgl. Jer 25,29 (Gericht beginnt in Jerusalem). Nach der Gerichtsankündigung von Ez 9,6 sind die Menschen dann gerade nicht geborgen, weil man vor dem Gericht nicht in den heiligen Bereich Gottes fliehen kann (Jer 7,4). Dieses Motiv der Geborgenheit nimmt aber der folgende Vers interpretierend auf. Doch, die Gutes tun, sind geborgen! g) Der Schluss ist daher: Gerade als Leidende dürfen die Christen, wenn und weil sie Gutes tun, ihr Leben in Gottes Hand legen. So wie Jesus das auch am Kreuz tut (Lk 23,46). Dieser Schluss ist typische Märtyrerethik.
1 Petr 5,1-5: Wort an die Hirten Diesen Abschnitt nennen wir – wie vergleichbare Texte derselben Gattung – »Pastoralstück«. Der Name kommt daher, dass in solchen Texten die Hirten einer Gemeinde zur Wahrnehmung ihrer Hirtenpflichten ermahnt werden. Auch in den so genannten Pastoralbriefen geschieht das ja. Außerhalb dieser Briefe finden sich derartige Abschnitte oft in den Schlusspassagen wichtiger Dokumente. Der bekannteste Abschnitt ist Joh 21,15-17: Jesus fordert Petrus auf: »Weide meine Schafe, weide meine Lämmer!« In 1 Petr 5 werden die angesprochenen Hirten zusammen mit ihren potentiellen Gegnern genannt. Hinzuweisen ist auch auf Kol 4,27 (Mahnung an Archippus: »Sieh zu, dass du den Auftrag erfüllst, den du vom Herrn empfangen hast«) und 1 Tim 6,20 (»Lieber Timotheus! Bewahre, was dir anvertraut ist, kümmere dich nicht um …«); auch in Mk 13,33-27 werden die Jünger Jesu in ihren Leitungsfunktionen im Ganzen angesprochen (»Was ich euch sage, sage ich allen«; und darum geht es auch im
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932 abschließenden Auftrag nach Mt 28,19-20 (»Lehret …, tauft …«).
1 Petr 5,6-11: Schlussappelle Der Abschnitt besteht aus Schlussmahnungen (peroratio). Hier gibt es wiederum sehr große Nähe zur synoptischen Tradition in Verbindung mit typischen Mahnungen an Neubekehrte. Denn der Brief richtet sich in einem frühen Stadium der Überlieferung an Heidenchristen. Der Gebrauch von Stoffen aus der synoptischen Tradition steht in jedem Fall mit dem Briefautor Petrus in engem Zusammenhang. Aus dem Material der Evangelien: Wer sich demütigt, wird erhöht (Lk 14,11; 18,14; Mt 23,12). Wer all seine Sorge auf den Herrn wirft, demütigt sich zugleich (Mt 6,25-34), denn er macht sich von Gott abhängig. – Ferner: Wer nüchtern ist, der kann auch wachsam sein: 1 Thess 5,6f; Lk 12,37 »wachend finden« mit 12,45 (berauscht werden), ebenso Mt 24,42.49 f. Auf Petrus weist das Verb »kräftigen, stärken« in 5,19 (vgl. Lk 22,22). Petrus führt das hier aus, was ihm Jesus dort aufträgt. Aus der Bekehrungstradition: Der Teufel als Versucher ist der geborene Feind aller Neubekehrten (1 Thess 3,5). Besonders auffällig ist in diesem ganzen Abschnitt die Übereinstimmung mit frühen Paulus-Aussagen aus 1 Thess 3 und 5 (Schluss des Briefes wie hier!). Das bestätigt die Datierung.
Überdies gehört die Mahnung zur Wachsamkeit regelmäßig zu den Schluss- und Abschiedsmahnungen (vgl. z. B. Mk 13 und Didache 16). Denn in Zukunft müssen die Angeredeten ohne den Lehrer allein zurechtkommen.
1 Petr 5,12: Der Zeuge Petrus Der Ausdruck »in der Gnade stehen« ist wie in Röm 5,2 aufzufassen. Woher das Bild stammt, das ist aus dem Stichwort »Zutritt« in Röm 5,2a zu erschließen. Dass man in der Audienz vor dem Herrscher (und entsprechend vor Gott) nicht niederfällt, sondern »steht«, nachdem man (oft durch den Zeremoniar) dazu aufgefordert ist, sich zu erheben, bedeutet, dass man stehend sich des herrscherlichen Wohlwollens des Königs ge-
Der erste Brief des Petrus
wiss sein kann. Daher dürfen die Christen auch stehend beten. Dass Petrus mit Nachdruck persönlich bezeugt, dass er die Wahrheit kundgetan hat, entspricht Joh 21,24, (»bezeugend … wahr ist sein Zeugnis«). Genau wie in Joh 21 geht es um das persönliche Einstehen (»wir wissen …«). Auch in Offb 22,16-20 wird der Wert des ganzen Schriftstücks als Zeugnis diskutiert. – Die drei Texte sind anschauliche Belege für den Sinn formgeschichtlichen Forschens: Mit einem mehr oder weniger entwickelten Wortfeld wird auf einer zweiten Ebene der Wert des Schreibens bekräftigt. Auch 1 Petr 5,1 ist am »Zeugnis« des Zeugen Petrus orientiert. Hier und in 5,12 wird der Grund gelegt, auf dem die Autorschaft des Petrus für den Brief besteht.
1 Petr 5,13: Babylon = Rom? Wenn hier und in Offb 14,8; 16,19; 17,5; 18,2.10.21 Babylon als Deckname für Rom steht, wäre es gut, hierfür Belege im apokalyptischen Judentum zu finden. Diese gibt es in 4 Esra, in der syr BaruchApk, im 5. Buch der Sibyllen und im 6. Buch Esra. Siehe: 4 Esra 3,1 (»Im 30. Jahr der Zerstörung der Stadt war ich in Babylon …«); 3,2 (»Denn ich sah die Trümmerstätte von Sion und den Überfluss derer, die in Babylon wohnten«; vgl. dazu Offb 18); 3,28 (»Handeln etwa besser die in Babylon wohnen und hat er deswegen Sion gezüchtigt … ?«); 3,31 (»Hat etwa Babylon Besseres getan als Sion?«); syr BaruchApk 67,7 (»Aber aufstehen wird der König von Babel, der jetzt Sion zerstört hat, und wird sich rühmen über das Volk und wird Großtuereien vor dem Erhabenen in seinem Herzen reden. Auch er wird am Ende fallen«); Sib 5,143 (»Der furchtbare und schamlose Herrscher wird aus Babylon fliehen … er hat gegen seine Gattinnen gesündigt und stammte aus schändlichen Verhältnissen. Er wird zu den Medern und zu den Königen der Perser kommen …«, Anspielung auf Neros Mutter, die Claudius ermordete); Sib 5,159-161 (»Stern … wird das Meer verbrennen und Babylon selbst und Italiens Land, um dessentwillen umgekommen waren viele heilige Gläubige der Hebräer und der wahrhaftige Tempel«).
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Kapitel 5
Vgl. 6 Esra 15,43 (»Und sie werden unaufhaltsam bis nach Babylon ziehen und es zerstören …«); 15,46 (»Und du Asia, Teilhaberin an der Pracht Babylons …, du hast deine Töchter in der Unzucht geschmückt …«); 15,60 (»… angreifen …, während sie zurückkehren aus Babylon«); 16,1 (»Wehe dir, Babylon und Asia! Wehe dir, Ägypten und Syrien!«).
933 Der Grund für die typologische Gleichsetzung war aber wohl nicht Größe, Reichtum, Grausamkeit und Gottlosigkeit der großen Stadt, sondern eine vorgängige Identifizierung Roms mit dem letzten der vier Reiche Daniels. Also das Thema »Weltmacht«.
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Der zweite Brief des Petrus
Kommentare: s. zu 1 Petr (außer N. Brox) und ferner: H. Bullinger (1534). – J. Lorinus (1621). – Th. Antonides (1697). – J. de Leew (1784). – G. J. Nahuys (1784). – H. Olshausen (1834). – R. J. Bauckham
(1983). – P.-A. Seethaler (2. Aufl. 1986). – H. Frankemölle (1987). – S. -J. Kistemaker (1987). – H. Paulsen (1992). – J. H. Neyrey (1993). – A. Vögtle (1994). – P. Perkins (1995).
EINFÜHRUNG Beachte: Während es früher üblich war, 1 und 2 Petr demselben Kommentator anzuvertrauen, gibt man seit etwa 1983 nur mehr 2 Petr und Jud demselben Bearbeiter (nur noch eher selten in Verbindung mit 1 Petr). Der Zweite Petrusbrief wurde zu Zeiten der Hochblüte der liberalen Exegese nur noch verspottet. Wie hochgemut konnte Ernst Käsemann 1952 und wiederholt in den sechziger Jahren sich gegen diesen Brief ereifern, den er für reinen Abfall hielt. So hat man diesen Brief regelmäßig unterschätzt und seine Auslegung der zweiten Riege überlassen. Adressaten Der Brief richtet sich an eine paulinische Gemeinde (3,15), und zwar an eine Gemeinde, der Paulus bereits zuvor geschrieben hat. Auch der Verfasser des Briefes schreibt dieser Gemeinde schon den zweiten Brief (3,1). Nach 3,16 hat Paulus der Gemeinde Schwerverständliches, ja Missverständliches geschrieben. Aus den inhaltlichen Ausführungen des 2 Petr lässt sich ohne weiteres schließen, dass es sich dabei um Äußerungen über den Zeitpunkt des Endes handeln muss. Denn diese Elemente sind auch in 2 Petr neu und besonders. Unter den Paulusbriefen sind entsprechende Missverständnisse für 1 und 2 Thess dokumentiert. Auch dort geht es um vorangehende briefliche Äußerungen. Sie betreffen laut 2 Thess genau die Frage nach dem Zeitpunkt des Endes, nämlich die Lesart, dass angeblich der Tag des Herrn unmittelbar bevorstünde (2 Thess 2,2). Paulus gibt daher in 2 Thess (und nur hier) zu verstehen, dass man seinen ersten Brief missverstanden hat, also missverstehen konnte. (Das gilt
im Übrigen auch alles, wenn 2 Thess nicht von Paulus sein sollte.) Wir können demnach folgende Situation rekonstruieren: Die missverständlichen Äußerungen in 1 Thess sind nicht nur Anlass für 2 Thess, sondern auch für 2 Petr. Mit der indirekten Kritik an Paulus in 2 Petr 3,16 ist der Verfasser nicht allzu weit von dem entfernt, was Paulus in 2 Thess selbst zugibt. – Vor allem ergibt sich daraus die Hypothese, dass 2 Petr an die Gemeinde von Thessaloniki gerichtet ist. Angesichts des wenigen Gesicherten, das wir haben, ist dieses schon recht viel. Auch über den Zeitpunkt lässt sich etwas sagen: 2 Petr ist eine Antwort auf die durch die Rezeption von 1 Thess entstandenen Probleme. – Inhaltlich ist die Lösung der von 2 Thess durchaus ähnlich. Denn 2 Thess schiebt zwischen die Gegenwart und das Ende etliche Zwischenphasen ein, und 2 Petr erklärt, dass Gott noch eine Zeit des Langmuts gewährt, damit die Menschen umkehren können (3,9). Und wenn beim Herrn tausend Jahre wie ein Tag sind, kann sich niemand über Parusieverzögerung beschweren (3,8 vgl. 3,4): Beide Briefe richten sich an eine Gemeinde, die die Wiederkunft des Herrn für sehr bald erwartet. Warum nimmt gerade Petrus zu diesem Problem Stellung? Was hat er mit Thessaloniki zu tun? Es dürfte sich ähnlich verhalten wie in Korinth. Auch in Korinth gibt es eine Petrus-Partei, die auf petrinische Mission vor Ort zurückgeht – Heidenchristen mit jüdischer Prägung oder Judenchristen. Paulus geht in 1 Kor nachhaltig auf deren Probleme ein. Ähnlich dürfte Petrus auch in Thessaloniki missioniert haben. Ich halte es für möglich, dass Paulus und Petrus sich für 2 Thess und 2 Petr sogar abgesprochen haben.
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Der zweite Brief des Petrus
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(Wo immer ich hier »Paulus« oder »Petrus« schreibe, kann es sich auch um Mitarbeiter dieser Apostel handeln.) Dann würden beide Apostel je ihre Klientel ansprechen. Der Adressatenkreis (Heiden mit Offenheit für apokalyptische Themen) läge durchaus im Rahmen dessen, was in petrinischer Mission möglich war.
Übereinstimmungen zwischen Jud und 2 Petr sowie der Henoch-Literatur und anderen Apokryphen ergeben Folgendes: 1. Beide Schriften betonen den Gegensatz zwischen Glauben und gottlosen Menschen in der Endzeit.
Datierung Gleichzeitig mit 2 Thess (50-52 n. Chr.).
2. 2 Petr 1,1-2 und Jud 1-2: 2 Petr 1,1: Sklave … Jesu Christi. – Jud 1f: Sklave … Jesu Christi 2 Petr 1,1f: Friede werde zahlreich. – Jud 2: Friede … werde zahlreich. 3. 2 Petr 1,3-5; 2,21 und Jud 3: 2 Petr 1,5: jeglichen Eifer. – Jud 3: Jeglichen Eifer 2 Petr 2,21: aus der heiligen Verordnung, die ihnen überliefert; – Jud 3: für einen einmal den Heiligen überlieferten Glauben. 4. 2 Petr 1,5b-21 ohne Parallele im Jud. Pers. Chronik von Zuqnin CSCO III (Siegesberg) Höhle der verborgenen Mysterien an der Spitze des Berges, wo Licht verehrt wird, die »Offenbarung des Lichtes jenes verborgenen Sternes«; Licht des Sterns heller als die Sonne. – Heiliger Berg bei Lactantius, Div Inst 7,17,10. 5. 2 Petr 2,1f und Jud 4: 2 Petr 2,1 den Herrn verleugnend (2) Ausschweifung; – Jud 4 Ausschweifung – Jesus Christus verleugnend. – Vgl. äth Hen 48,10: Am Tage ihrer Not wird niemand … sie aufrichten, weil sie den Herrn der Geister und seinen Gesalbten verleugnet haben. 6. 2 Petr 2,3; 1,12 und Jud 5: 2 Petr 1,12: Ich will euch allzeit daran erinnern (Beispiel); – Jud 5: Ich will euch erinnern (Beispiel). 7. 2 Petr 2,4.9 und Jud 6: 2 Petr 2,4: Gott hat die sündigen Engel nicht geschont, sondern sie den finsteren Höhlen der Unterwelt übergeben, um sie für das Gericht zu verwahren; 2,9: für den Tag des Gerichts zur Bestrafung aufzubewahren. – Jud 6: vgl. äth Hen 10,4-6.11f: Binde den Azael an Händen und Füßen und wirf ihn in die Finsternis … bedecke ihn mit Finsternis … er soll das Licht nicht sehen … und am Tag des großen Gerichts wird er zum Verbrennen abgeführt. 22,11: In die große Quälerei … bis zum Tage des großen Gerichtes. 8. 2 Petr 2,5 ohne Parallele in Jud 9. 2 Petr 2,4-7 und Jud 5-7:
Enstehungssituation des 2 Petr a) Aufgrund eines Paulusbriefes (1 Thess oder 2 Thess) herrscht Verwirrung über die mutmaßliche Nähe des Endes. Der Verfasser tröstet mit Aufschub. Dazu verwendet er die in apokalyptischen Texten stereotype Formel aus Ps 90,4, bei Gott seien tausend Jahre wie ein Tag (3,8) b) Es gibt Leute, die mit ihren kritischen Worten starke Zweifel an Gottes Weltregiment anmelden. Der Verfasser versteht das als Protest gegen die »Herrlichkeitsengel«. Denn es handelt sich um massive Zweifel daran, dass es in der Welt gerecht zugeht, d. h. dass es überhaupt Gerechtigkeit gibt. Nach dem Verfasser wird es diese in der neuen Welt geben (3,13). Er ordnet diese Leute gattungsmäßig ein, indem er 2 Petr als eine testamentarische Warnung vor Irrlehrern verfasst. Das geschieht z. B. 2 Petr 1,13 (»euch wachzuhalten, solange ich noch in diesem irdischen Zelt bin«; V. 14: »Ich weiß, dass ich dieses Zelt bald verlassen muss«) oder in der Weissagung falscher Lehrer in 2,1; 3,3. c) Die Zunahme der Lästerungen ist geradezu Merkmal der Endzeit. Deshalb bestätigt die öffentliche Bedrängnis des Christentums seine eigene Zeitauffassung. d) Im Unterschied zum Jud zieht 2 Petr recht stark pagane Apokalyptik hinzu (z. B. Weltenbrand, Hoffnung auf »Gerechtigkeit«, Schmelzen der Elemente). e) Wenn die Christen Gerechtigkeit üben, können sie die Wiederkunft des Herrn sogar beschleunigen (3,12). Durch die Autorität des Petrus, die in seiner Vision der Verklärung gründet, kann gezeigt werden, dass Gott sich überhaupt um diese Welt kümmert.
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936 Beispielreihe über Bestrafungen Gottes im Alten Testament: 2 Petr 2: Engelfall – alte Welt (vor der Sintflut) – Sodom und Gomorra; – Jud 5-7: Abfall von Qadesch – Fall der Engel – Sodomiter. – Vgl. weitere Belege für diese Form und das Material in: ZNW 61 (1970) 1-47, bes. 28-36. 10. 2 Petr 2,6.10 und Jud 7: 2 Petr 2,6: Die Städte Sodom und Gomorra verurteilte er … als Abschreckung; 2,10: hinter dem Fleisch her; – Jud 7: Wie Sodom und Gomorra und die Städte ringsum, die hinter fremdem Fleisch hergingen … als Beispiel. 11. 2 Petr 2,7-9 und Jud 6: 2 Petr 2,9: »… die Ungerechten für den Tag des Gerichtes zur Bestrafung aufzubewahren«; – Jud 6: »… hält er für das Gericht des großen Tages mit ewigen Fesseln in der Finsternis in Verwahrung.« 12. 2 Petr 2,10 und Jud 8: 2 Petr 2,10: »… vor allem jene, die in schmutziger Gier dem Fleische sich hingeben und die Macht des Herrn missachten. In ihrer Verwegenheit und Anmaßung scheuen sie sich nicht, Herrlichkeiten zu lästern«; – Jud 8: »Geradeso beflecken auch diese Träumer ihr Fleisch, missachten Herrschermacht und schmähen Herrlichkeiten.« 13. 2 Petr 2,11 und Jud 9: 2 Petr 2,11: »… wo doch Engel, die an Stärke und Macht überlegen sind, kein Fluchurteil gegen sie beim Herrn vorbringen«; – Jud 9: »Nicht einmal der Erzengel Michael wagte, als er mit dem Teufel kämpfte und um den Leib des Mose stritt, ein schmähendes Urteil zu äußern, sondern sprach: Der Herr tadelt dich. – Vgl. dazu griech. Palaia (ed. A. Vassiliev, 258): »Und es versuchte Samuel, wie er seinen (sc. des Mose) Leib herabbringe dem Volk, damit sie ihm (Mose) zum Gott machten. Michael aber, der Archistratege, kam im Auftrag Gottes, ihn zu nehmen und wegzubringen. Und es leistete Samuel Widerstand, und sie kämpften. Der Archistratege war nun unwillig, und ihn tadelnd sagte er ihm: Der Herr tadelt dich, Teufel. Und so unterlag der Widersacher und ergriff die Flucht. Der Erzengel Michael aber brachte den Leib des Mose dorthin, wo es ihm von Gott befohlen war … und niemand sah das Grab des Mose.« 14. 2 Petr 2,12 und Jud 10: 2 Petr 2,12: Diese aber … lästern, was sie nicht verstehen, … sie werden verderben; – Jud 10: Diese aber schmähen, was sie nicht kennen; aber
Der zweite Brief des Petrus
an dem, was sie nur naturhaft verstehen, werden sie zugrunde gehen. 15. 2 Petr 2,13f und Jud 12: 2 Petr 2,13: Schwelgerei, Schand- und Schmutzflecken, ehebrecherische Gier, gieriges Verlangen; – Jud 12: Schandflecke. 16. 2 Petr 2,16 ohne Parallele in Jud. 17. 2 Petr 2,17 und Jud 13: 2 Petr 2,17: »für sie ist der Abgrund der Finsternis aufgehoben«; – Jud 13: »denen für ewig die dunkelste Finsternis vorbehalten bleibt«; – vgl. äth Hen 18,15f: Band sie bis zur Zeit der Vollendung ihrer Sündenstrafe, vgl. 21,6. 18. Jud 14f vgl. äth Hen 60,8; 93,3; Hen 1,9: Jud 14f: Es prophezeite für sie Henoch, der siebente von Adam her: Siehe, gekommen ist der Herr mit seinen Zehntausenden von Heiligen, zu halten Gericht über alle und alle Gottlosen zu überführen ihrer gottlosen Werke, die sie getan, und wegen all der Lästerungen, die sie ausgesprochen haben gegen ihn als gottlose Sünder. – Hen 1,9: »Denn er kommt mit seinen Zehntausenden und mit seinen Heiligen, zu halten Gericht mit allen und zu vernichten alle Gottlosen, und zu überführen alles Fleisch über alle ihre gottlosen Werke, die sie in ihrer Gottlosigkeit getan haben und wegen all der harten Worte, die sie geäußert haben und wegen alles dessen, das sie als gottlose Sünder gegen ihn gesagt haben.« 19. 2 Petr 2,10.18 und Jud 16: 2 Petr 2,10: die in schmutziger Gier dem Fleisch sich hingeben … Anmaßungen, Herrlichkeiten zu lästern; 2,18: verlocken mit fleischlichen Lüsten; – Jud 16: leben nach ihren Leidenschaften, und ihr Mund führt anmaßende Reden. 20. 2 Petr 2,19-22: 2 Petr 2,21: »Besser wäre es für sie, sie hätten den Weg der Gerechtigkeit nicht kennen gelernt.« – Barn 5,4: »Ein Mensch, der den gerechten Weg wohl kennt, sich aber an den finsteren Weg hält, wird zu Recht zugrunde gehen.« 21. 2 Petr 3,1 ohne Parallele in Jud. 22. 2 Petr 3,2 und Jud 17: 2 Petr 3,2: »… dass ihr eingedenk seid der Worte, die von heiligen Propheten vorherverkündet sind, und des von euren Aposteln gegebenen Auftrags des Herrn und Heilandes«; – Jud 17 »Ihr aber, Geliebte, erinnert euch an die Worte, die von den Aposteln unseres Herrn Jesus Christus im Voraus verkündet wurden.«
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23. Jud 18-23 ohne Parallele in 2 Petr. 24. 2 Petr 3,3-13 ohne Parallele in Jud, aber mit zahlreichen Parallelen in der apokalyptischen Literatur: Zu 3,6: Weltperioden als Weltwochen zu 7.000 Jahren nach Lactantius, Div Inst 7,14,8; Aristokritos, Theosophie. Zu 3,7.10 f.12 (Feuer), vgl. Justin, Apologie I 20,1: »Die vergänglichen Dinge werden durch Feuer vernichtet«; Lactantius, Div Inst 7,21,3: Ewiges Feuer tilgt und schafft neu; Gerechte im Feuer geprüft: Wer Makel hat, wird angebrannt, der Gerechte merkt das Feuer nicht. – pers. Bundehesh Kap. 30 (ed. West): Prüfung in geschmolzenem Metall. Zu 3,8: Lactantius, Div Inst 7,14,8: »Der große Tag Gottes endet im Zyklus von tausend Jahren«; Aristokritos, Theosophie (über Hystaspes): Nach der Vollendung der 6.000 Jahre kommt die Vollendung. Denn es sind, wie geschrieben steht, beim Herrn tausend Jahre wie ein Tag und Gott
hat die Welt in sechs Tagen gemacht und am siebten Tag hat er ausgeruht; so muss, wenn die 6.000 Jahre vergangen sind, alles ruhen. Vgl. Lactantius, Div Inst 7,26,1. Zu 3,13: Lactantius, Div Inst 7,24,5: »Der Fürst der Dämonen wird unter Verschluss gehalten tausend Jahre lang, dann wird Gerechtigkeit auf der Erde herrschen.« 25. 2 Petr 3,14 und Jud 24: 2 Petr 3,14: »… bemüht euch, ohne Fehl und Makel von ihm gefunden zu werden in Frieden.« – Jud 24 »euch ohne Fall zu bewahren und euch ohne Makel hintreten zu lassen vor seine Herrlichkeit.« 26. 2 Petr 3,15-17 ohne Parallele in Jud. 27. 2 Petr 3,18 und Jud 25: 2 Petr 3,18 (Doxologie): »Ihm ist Ehre jetzt und für den Tag der Ewigkeit.« – Jud 25: »Ihm ist … Gewalt und Macht vor aller Zeit und jetzt und in Ewigkeit.«
KOMMENTAR 2 Petr 1,3-8: Anfänge christlicher Ethik Der Abschnitt ist theologisch interessant, weil in der rhetorischen Form des Soreites die Entwicklung vom Anfangsglauben bis hin zur Liebe dargestellt wird. Diese Kette lautet: Glaube – Tatkraft – Sensibilität – Selbstbeherrschung – Geduld – Leben m Glauben – Liebe zu den christlichen Geschwistern – Liebe überhaupt. So lässt das Christentum die Menschen weder untätig sein, noch bleibt es fruchtlos. Derartige Ketten sind archaische Formen christlicher systematischer Ethik. Das bekannteste Beispiel ist die Abfolge: Glaube – Hoffnung – Liebe. Und das gilt allgemein: Der Glaube steht am Anfang, die Liebe steht oft am Ende. Denn sie ist die höchste und vollkommenste Entfaltung. Allerdings kann auch die Hoffnung am Ende stehen, wenn die Reihe eher zeitlich strukturiert sein soll.
2 Petr 1,16-19: Taufe, Verklärung Der Text stimmt mit keinem der bekannten Verklärungs- und Taufberichte überein und setzt
demnach keines der kanonischen Evangelien voraus. Insbesondere fehlen der Figuren Mose und Elia, die Namen der beiden weiteren Jünger neben Petrus. Dagegen wird die Zeugenschaft der Jünger betont (V. 16.18a) sowie die »Herrlichkeit« (zweimal), der Ehre und Großartigkeit (V. 17) und der Bekräftigung des prophetischen Wortes (V. 19). Zu 2 Petr 1,16: schauten seine Herrlichkeit; vgl. Lk 9,32 Herrlichkeit (doxa). Zu 2 Petr 1,17: »Nehmend von Gott Vater Ehre und Herrlichkeit« ohne Parallele in den Evangelien; Stimme vgl. Mk 9,7; Mt 17,3 Stimme; seitens der großartigen Herrlichkeit vgl. Joh 12,28: Ich habe verherrlicht und werde verherrlichen. – Mein Sohn, mein geliebter vgl. Mk 9,7 und Mt 17,5: Dieser ist mein Sohn, der geliebte. – Dieser ist der, an dem ich Gefallen habe, vgl. Mk 1,11: Stimme … Du bist mein Sohn, der geliebte, an dir (griech.: en soi) habe ich Gefallen. EbionitenEv Taufe: auf den ich mein Gefallen legte (griech.: eph’hon); Mt 17,5: an dem ich Gefallen habe (griech.: en hoo); äth PetrusApk 15: Dieser
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938 ist mein Sohn, den ich liebe, an dem ich Gefallen habe. – Mk 9,7; Mt 3,17: »hört auf ihn« hat keine Parallele in 2 Petr. Zu 2 Petr 1,18: »Und diese Stimme hörten wir, die aus dem Himmel an ihn gerichtet war, als wir mit ihm waren auf dem heiligen Berg«, vgl. Mk 9,2: auf einen hohen Berg; Lk 9,28: er stieg auf einen Berg, um zu beten. – Davon nichts bei den Synoptikern, vgl. aber Acta Petri 20: »Unser Herr wollte mich seine Herrlichkeit auf heiligem Berge sehen lassen … Glanz des Lichtes.« Vgl. äth PetrusApk 15: »Lasst uns auf den heiligen Berg gehen …« Fazit: 2 Petr 1 stimmt mit keinem der Evangelien überein. Das gilt auch für die Himmelsstimme. Das »Hört auf ihn!« der Verklärung hat keine Entsprechung in 2 Petr. Andere Elemente finden sich in anderen Petrus-Apokryphen, z. B. EbionitenEv, äth PetrusApk. Besonderes Merkmal von 2 Petr ist die Wiederholung von Begriffen für Herrlichkeit, die Rahmung des Zeugenberichts durch Zeugen-Angaben (V. 16.18), die Umstellung der Situationsangabe und die Umstellungen bei der Stimme, die durch nichts motiviert wären. Demnach hat der Bericht in 2 Petr einen eigenen traditionsgeschichtlichen Ursprung in einer abweichenden Überlieferung, die noch stärker an Petrus (allein) ausgerichtet ist als die synoptischen Evangelien. Zudem verfolgt der Abschnitt 1,12-21 einen besonderen Zweck, nämlich die Festigung der Autorität des Petrus gegen die ab 2,1 behandelten Irrlehrer. Denn so gilt: Die prophetischen Vorhersagen sind nicht von jedermann aufzulösen, sondern allein von den bestellten Augenzeugen, besonders von Petrus. Damit wird die neue Offenbarung – die auf dem Berg der Verklärung – zum Schlüssel für die Schrift erklärt. Die Verklärung Jesu aber ist hier die maßgebliche Bestätigung des prophetischen Wortes. An dieses Wort der Propheten und an seine Deutung durch Petrus soll sich die Gemeinde halten wie an das Licht einer Fackel. Das gilt, bis es Tag wird – also bis zur endgültigen Enthüllung alles Verborgenen. Dann wird der Gemeinde alles klar sein, nachdem der Morgenstern der Erkenntnis in ihren Herzen aufgegangen ist. Auch nach 1,8 ist die Erkenntnis Jesu das Ziel. Im Unterschied zum Evangelium nach Johan-
Der zweite Brief des Petrus
nes ist der Zeitpunkt der Klarheit nicht die Zeit nach Ostern, sondern wirklich die Endzeit, eben »der Tag«. Im Unterschied zu Offb 22,16 ist der Morgenstern nicht auf Jesus Christus zu deuten. Ebenso ist jetzt das Licht in der Finsternis nicht Jesus Christus, sondern das Wort, und zwar nicht das neutestamentliche, sondern das prophetische. Das prophetische Wort aber ist konsequent auf Jesu Herrlichkeit und Macht und Ehre auszulegen. Und die Summe der Propheten ist, dass Gott (Vater) Jesus liebt, d. h.: ihn vor allen anderen erwählt hat. Das Geheimnis der Schrift ist daher die Gottessohnschaft Jesu Christi. Die von uns üblicherweise so genannte Verklärung müsste nach diesem Brief »Verherrlichung« heißen. Dieses Ereignis liegt gewissermaßen zwischen den Zeiten, nämlich zwischen den »Propheten« und dem »Tag«. Diese Offenbarung der Herrlichkeit an Jesus Christus bedeutet: Gott hat die Menschen nicht vergessen, sondern er kümmert sich um sie. Das war offensichtlich für die Adressaten des Briefs das Hauptproblem, wie man aus 3,4 erkennt (»Wo ist seine verheißene Wiederkunft geblieben?«). So konnten die Gegner an eine Zuwendung Gottes zur Welt gar nicht mehr glauben. Das Stichwort »Herrlichkeit« findet sich in keinem Verklärungsbericht der Evangelien, wohl aber sagt die Himmelsstimme (!) in Joh 12,28: »Ich habe verherrlicht und ich werde verherrlichen.« Das JohEv kennt keine Verklärung, andererseits ertönt nur hier die Stimme Gottes selbst; daher besteht eine große Verwandtschaft zwischen Joh 12 und den Verklärungsberichten. Der Befund in 2 Petr 1 legt die These nahe: Joh 12 bezieht sich auf die Verklärung und sieht, ohne dass das Evangelium davon berichten kann, darin wie 2 Petr 1 die entscheidende legitimierende Aktivität Gottes, des Vaters, an Jesus Christus. Denn dieser bekommt Anteil an der Herrlichkeit des Vaters. Der Grundansatz der Theologie des 2 Petr ist daher ebenso originell wie altertümlich. Das Konzept der Schriftauslegung findet sich ähnlich in 1 Petr 1,11f (und wohl bei Apollos). Der 2 Petr lehrt uns, auf eine Art von Christentum zu achten, für das ganz andere Dinge wichtig waren, als wir sie für gewöhnlich einschätzen. Diese Theologie besitzt theozentrischen Charakter: Weder Wort noch Werk Jesu werden betont, er
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Kapitel 2
ist in erster Linie Objekt des Handelns Gottes. Seine Rolle ist, dabei zu helfen, dass die Menschen ihr Verhältnis zu Gott bewahren können. Jesus Christus ist wie der mittlere Pfeiler einer Brücke, zwischen prophetischem Wort und endgültiger Erfüllung. Die Bedeutung des Heiligen Geistes bleibt auf die Inspiration der Schriftpropheten beschränkt. Der Geschichtsentwurf des 2 Petr lässt sich so darstellen: Vor Jesus gab es die Propheten und das prophetische Wort, es ist wie eine Fackel in der Finsternis der Weltgeschichte. Dann kommt die Zeit Jesu. Berichtenswert ist nur (!) die »Verklärung«, Jesu Verherrlichung durch Gott und Gottes Wort. Dadurch wird die Autorität des Petrus begründet. Denn er ist Augenzeuge. Drittens gibt es in der Gegenwart der Entstehung des Briefes die Gemeinde »am finsteren Ort«. Viertens ist als Wirkung des Briefes erwartet, dass der Morgenstern in den Herzen der Christen aufgehe. Dann kommt fünftens der Tag des Herrn mit voller Erkenntnis und voller Gerechtigkeit. – Auffallend: In diesem Entwurf spielen Jesu Tod und Auferstehung keine Rolle. Nicht, dass der Verfasser sie nicht gekannt oder gering geschätzt hätte – aber für sein Geschichtsbild ist die Verklärung wichtig. Auch 1 Petr ist in dieser Hinsicht sparsam, er kennt Petrus nur als Zeuge der Leiden Christi, nicht als Auferstehungszeugen (1 Petr 5,1). 2 Petr hat mit späteren apokryphen Petrustexten, den Akten des Petrus und der Offenbarung des Petrus, die Rede vom »heiligen Berg« (der Verklärung) gemeinsam. Theologisch ist daraus wichtig zum einen eine besondere Rolle der Auslegung der Propheten. Hier treffen wir auf ein Christentum, in dem alles darauf ankommt, dass Gottes Stimme selbst ein Prophetenwort aufnimmt und auslegt. Und auch am Ende der Welt geht es wesentlich um ihr Wort, das sich erfüllt. Der Vergleich mit anderen frühchristlichen Autoren ist aufschlussreich: Bei Paulus ist es wesentlich die Verheißung an Abraham, die sich im Glauben der vielen Völker erfüllt. Bei Lukas sind es hauptsächlich der Prophet Jesaja und seine Verheißung für die Völker. Ganz auf der Erfüllung der Schrift ist der Barnabasbrief aufgebaut (unter den neutestamentlichen Apokryphen). Das zweite Element ist wichtiger: 2 Petr sieht in der Verklärung Jesu das entscheidende Ereignis des Lebens Jesu. Die Ostkirche ist dem gefolgt;
die Verklärungsikone erfreut sich großer Verehrung. Im Westen wurde das Fest der Verklärung erst seit 1457 (Schlacht bei Belgrad) allgemein vorgeschrieben. Theologisch bedeutet die Verklärung Jesu: Gott selbst proklamiert für die Jünger Jesus als seinen Sohn. In einer mystischen Erfahrung »bricht« vor den Augen der Jünger die leibliche Qualität der Gottessohnschaft in Jesus »durch«. Denn dass Jesus als Gottessohn schon vor Ostern einen besonderen Leib hatte, wird bei der Empfängnis durch Maria, bei der Verklärung und beim Wandeln auf dem See deutlich. Hier erfüllt sich Jesu Wort vom Kommen des Reiches Gottes in Kraft nach Mk 9,1. Das Reich Gottes erweist hier seine dynamische Kraft der Verwandlung, weil dem Gottessohn die Gottesgestalt zuteil wird, die ihm gebührt. Hier wird Jesu Vorordnung vor Mose begründet, und daher sind Mose und Elia nach den drei ersten Evangelien bei der Verklärung dabei. Denn ihnen gegenüber wird Jesus als der Sohn ausgezeichnet; das gilt auch gegenüber den »Propheten« nach 2 Petr 1. Viele Einzelheiten lassen die Szene als eine Erfahrung erscheinen, die der des Mose auf dem Sinai ähnlich war; denn auch Mose ist nach der Gotteserscheinung auf dem Berg »verklärt«. Und an der Stelle der Bundestafeln steht bei Markus: »… auf ihn sollt ihr hören!« Die auf Mose bezogenen Elemente fehlen in 2 Petr 1, stattdessen werden »die Propheten« durch den Wortlaut der Stimme Gottes erfüllt, und hier sind es Psalm 2,7 (David, der Psalmsänger, gilt als Prophet) und Jesaja 42,1. In jedem Falle aber wird Jesu Würde hier ganz im Licht des Alten Testaments dargestellt, und daher haben wir hier Berichte vor uns, die dem frühesten Judenchristentum besonders wichtig waren.
2 Petr 2,10: Mächte und Gewalten – Herrschaften und Herrlichkeiten Die »Herrschaften« und »Herrlichkeiten« von 2 Petr und Jud, die man nicht lästern darf, gehören zu den Mächten und Gewalten, mit deren Hilfe Gott die Welt regiert (sie loben ihn, beund verurteilen die Menschen und strafen sie auch im Falle von Ordnungsdelikten). Es gibt Christen, die diese Mächte verbal bekämpfen, und zwar wohl mit Flüchen. Immerhin
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940 gibt es zwei Schriften im Neuen Testament, die diese Praxis entschieden bekämpfen: 2 Petr und Jud. Denn auch die Mächte und Gewalten sind Gottes Geschöpfe und repräsentieren Gottes Hoheit. Diese christlichen Aussagen sind nun gegenüber den vorher besprochenen keineswegs so selbstständig, dass sie einen eigenen Zweig in der Entwicklung darstellten. Schon die vertraute Kombination der unterschiedlichen Mächte etwa in Eph 1,22 zeigt, dass ein enger Zusammenhang zwischen den vorchristlichen und den christlichen Aussagen über Mächte und Gewalten besteht. In allen diesen Fällen sind die Mächte nicht grundsätzlich negativ gewertet. Wenn nach 1 Kor 15,24-27 der Tod einer der Mächte ist, wie Paulus zumindest implizit behauptet, dann ist daran zu denken, dass nach dem griechischen Testament des Abraham der Tod ein von Gott gesandter Engel ist, der als solcher zu den Mächten gehört. Als Engel ist er von Gott geschaffen. Die rabbinische Literatur redet sehr oft vom Todesengel. Schutz vor Lästerung: Christen, die nach 2 Petr und Jud »Herrlichkeiten lästern«, sind möglicherweise Christen, die z. B. den Todesengel verfluchen. Am letzten Tag der Wallfahrt nach Mekka wird bis heute der Teufel verflucht, und zwar in einem Akt großer Aggressivität, bei dem regelmäßig Menschen umkommen. Eine Verfluchung des Teufels gibt es in keinem christlichen Ritual, und zwar ist das wohl eine Folge der Mahnungen von 2 Petr und Jud. Warum werden diese ausgesprochen, und warum ist es überhaupt wichtig, diesem Anliegen zwei Briefe zu widmen? Erstens ist jedes Fluchen gefährlich, wenn den Fluchenden für den Fall, dass er selbst schuldig ist, der Fluch selbst trifft. Und zweitens soll jeder Dualismus verhindert werden. Deshalb berichtet Jud 8 von den höchst gemäßigten Worten des Mose gegenüber dem Teufel (»Der Herr tadelt dich!«). Das ist kein Dualismus. Dessen Vermeidung hat den Vorteil, dass der Teufel und Dämonen allgemein als Geschöpfe Gottes gelten können, ja sogar als Bedienstete. Was Paulus in 1 Kor 15,55 mit spöttischen Worten über die Macht des Todes sagt, könnte durchaus als Lästerung im Sinne in Jud und 2 Petr aufgefasst werden: »Sag, Tod, wo ist dein
Der zweite Brief des Petrus
Sieg geblieben, wo hast du deinen Stachel gelassen?« Paulus stiftet mit diesem Passus geradezu an zu triumphierenden Worten gegenüber Mächten und Herrlichkeiten. Richten sich daher 2 Petr und Judas gegen eine mögliche dualistische Konsequenz aus 1 Kor 15? Inwiefern dadurch ein Beitrag zur Theodizeefrage geliefert wird, sagt der oben zitierte Text Philo, Conf Ling 171. Dieser Text erklärt auch, weshalb die Aussagen des Neuen Testaments über die Mächte und Gewalten leicht ins Negative tendieren. Wer die Mächte und Gewalten lästert (2 Petr und Jud), sucht die Schuld bei ihnen und nicht bei den Menschen. Wer aber die Schuld bei ihnen sucht, der lastet sie letztlich Gott an, weil er sie geschaffen hat. Wer die Mächte verflucht, stellt das gesamte bestehende System der Welt und ihre Ordnung infrage.
2 Petr 3,5-7: Eschatologie Dass man Sintflut und Weltende überhaupt vergleicht (so in der Apokalyptik öfter), also mit dem Nebeneinander einer Wasser- und einer Feuerkatastrophe rechnet wie 2 Petr 3,5-7, findet eine unübersehbare Entsprechung bei dem bekannten Gelehrten Berossus: »Er … sagt, dass dies (sc. das Große Jahr) durch den Lauf der Sterne bewirkt wird; er behauptet sogar, dass der Sternenlauf die Zeit einer Feuerkatastrophe und einer Überflutung bestimmt. Ein Brand wird nämlich auf der Erde wüten, wenn alle Sterne, die jetzt in verschiedenen Bahnen wandern, im Krebs zusammenkommen … eine Überflutung aber steht bevor, wenn die Schar derselben Sterne im Steinbock zusammenkommt« (nach Seneca Q. nat III, 29). Schon der griechische Philosoph Heraklit kennt die periodische Welterneuerung (Feuer erglimmt und verlischt). Plutarch (2. Jh. n. Chr.) identifiziert die Basis-Substanz, also Gott, mit dem Feuer. Und alle Dinge werden in das Feuer zurückkehren. Während die heidnische Antike in allen entsprechenden Texten stets den periodischen, zyklischen Ablauf betont, hat 2 Petr diesen Entwurf dadurch verändert, dass durch das einmalige Gericht Gottes eine Zäsur gesetzt wird. Dadurch werden die Perioden des Weltlaufs auf
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Kapitel 3
zwei reduziert. – Ähnlich kritisch auch Origenes, Contra Cels 4,12: »Was uns betrifft, so schreiben wir weder die Weltüberflutung noch die Weltverbrennung einem Kreislauf der Zeiten und Sternperioden zu; wir finden die Ursache davon vielmehr in der Sünde, die eine größere Ausdehnung erlangt hat und durch das Reinigungsmittel der Überschwemmung oder Verbrennung beseitigt wird.« Man kann daher sagen: Im Rahmen der herrschenden stoischen Weltanschauung bestand die Eschatologie der Heiden bereits, bevor sie Christen wurden, in der Annahme eines Weltenbrandes. Im Rahmen der christlichen Mission wurde diese Enderwartung verbunden mit der Auffassung vom Gericht. Weithin kann man den Grad des stoischen Einflusses auf die christliche Enderwartung direkt messen an der Massivität, die man einem Feuergericht zuschreibt. Das zeigt sich zum Beispiel in der germanischen Dichtung des Muspili, nach der am Blut des erschlagenen Elia (biblische Tradition) sich dann die ganze Welt entzünden wird. So werden die Eckpunkte der Endereignisse miteinander verwoben. Noch ein weiteres Element aus 2 Petr 3 beruht auf der Verknüpfung der heidnisch-astrologischen mit der biblischen Tradition, es ist die Aussage 3,8. Denn die Astronomie/Astrologie operiert mit der Gleichsetzung von Tag und Jahrtausend. Daher spricht man in diesem Umfeld von der Weltwoche (7.000 Jahre), und in Ps 90,4 spiegelt sich diese Anschauung. Freilich ist sie im liturgischen Kontext von Ps 90 deutlich theologisiert. Jedenfalls hat der Verfasser von 2 Petr 3 die Ähnlichkeit gesehen und genutzt. Das Ziel der Endereignisse nach 2 Petr 3 ist »Gerechtigkeit« (3,13). Auch das ist eine zutreffende Deutung des Ziels der paganen Eschatologie.
2 Petr 3,8-14: Parusieverzögerung Zum Verständnis des Textes ist es nötig, die in 3,4 formulierte Anfrage kritischer Gemeindeglieder zu kennen: »Wo bleibt sie denn, die Wiederkunft des Messias, der uns verheißen wurde? Seit unsere Vorfahren entschlafen sind, ist doch alles so geblieben wie seit Anbeginn der Welt.« Nur hier
941 wird im Neuen Testament das Thema der Parusieverzögerung (Ausbleiben der Wiederkunft Jesu) so kritisch und so offen gestellt. Freilich ist diese Frage ein Zitat, denn auch in jüdischen Apokalypsen aus dieser Zeit (letztes Drittel 1. Jh.) fragen die Menschen ganz genauso. Die Antwort wird hier wie dort mit Psalm 90,4 gegeben: Beim Herrn ist ein Tag wie tausend Jahre, und tausend Jahre sind bei ihm wie ein Tag. Doch der Brief bleibt nicht bei dieser vergleichsweise spekulativen Auskunft stehen, sondern bildet ein erstes appellatives Zentrum: Mit der Verzögerung gibt Gott den Menschen Zeit, er gibt allen Gelegenheit zur Umkehr. Auch in der Offenbarung des Johannes – dem nächstverwandten apokalyptischen Text – haben alle Ereignisse zwischen der Gegenwart und dem Ende keinen anderen Sinn als diesen: Die Menschen sollen umkehren. Insofern wiederholt sich in 2 Petr 3 wie in der Offb des Johannes die grundlegende Botschaft Johannes des Täufers: Das Feuergericht kommt, deshalb kehrt jetzt um! Eine zweite Argumentation unseres Textes (V. 10-12) knüpft an die Sklaven-Gleichnisse der Evangelien und andere frühe Aussagen an: Der Tag des Herrn kommt überraschend wie ein Dieb. Ähnlich heißt es im Gleichnis vom achtsamen Hausherrn (Lk 12,39) und in Offb 3,3 und 16,15. Das von den Christen in diesem Abschnitt geforderte Handeln (heilig und dem Willen Gottes entsprechend leben) sollte Ausdruck von Sehnsucht, nicht von Angst sein. Denn vor dem Dieb muss keine Angst haben, wer bereit ist. Nach 3,12 kann solches Handeln sogar die aufreibende Zeit des Wartens verkürzen. Wir kennen den Gedanken auch aus Apg 3,19f: »Darum denkt um und bekehrt euch, damit … Gott die Zeit des Aufatmens kommen lassen kann.« Denn die Bekehrung kann die »Zahl der Auserwählten« vollständig machen, und wenn das geschehen ist, wird Gott das Ende kommen lassen. Nach Offb 6,11 wird diese Zahl der Auserwählten vor allem durch Märtyrer aufgefüllt. Der dritte Schwerpunkt unseres Textes liegt in 3,12b-15. Die Abfolge der Ereignisse ist nach diesem Text: Es gibt ein Gericht, (dann werden die Himmel im Feuer vergehen, und ein neuer Himmel und eine neue Erde werden kommen), dann aber kommt eine neue Welt der Gerechtigkeit. Das Gericht über die alte Welt ist gewissermaßen
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942 der klärende Abschluss der Weltgeschichte und steht zugleich als Schwelle vom Alten zum Neuen am Anfang der Welt der Gerechtigkeit. Denn Gericht und Gerechtigkeit hängen eng zusammen. Folgerung: Die angesprochene Gemeinde soll darauf hinarbeiten, dass das Gericht sie als Träger des Friedens vorfindet, ohne Schuld und nicht in Sünde verstrickt. Mithin steht im ersten Abschnitt die »Zeit der Umkehr« im Mittelpunkt (3,8-9), im zweiten die Beschleunigung des Endes (3,10-12), im dritten Gericht und Gerechtigkeit (3,12b-15). Die apokalyptischen Elemente des Textes bedürfen besonderer Klärung: Da ist vom Feuergericht die Rede (3,7), die Himmel werden krachend einstürzen, die Bestandteile der Welt werden brennend vergehen (3,10), die Himmel werden schmelzen (3,12). Dann kommen der neue Himmel und die neue Erde (3,13). Eine so vollständige Zerstörung der Welt durch Feuer (inklusive Schmelzen) wird in der ganzen Bibel sonst nicht berichtet. Bei den Autoren, die Jesus Christus als Schöpfungsmittler ansehen (Paulus; JohEv, Eph, Kol) fehlt jede Ankündigung einer Zerstörung der Welt. Nächst verwandt ist hier aber Offb 21,1 (»Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde. Die Gestalt des alten Himmels und der alten Erde war nicht mehr da, auch das Meer nicht«), aber dort muss es sich nicht um ein totales Verschwinden handeln, es könnte auch Verwüstung und Neuordnung angedeutet sein. Anders in 2 Petr 3. Die Herkunft der Vorstellungen ist klar: Die prophetische Vorstellung vom Feuergericht trifft sich mit der zeitgenössischen stoischen Auffassung vom Weltenbrand. Aber was ist die theologische Bedeutung? Erstens: Es wird wirklich das Gericht angekündigt. Denn Feuerbrand ist ein Bild für Gott, er ist »verzehrendes Feuer« (Dtn 4,52 und Hebr 12,24). Feuergericht heißt: In der dramatischen abschließenden Konfrontation mit Gott kann die Welt nur verbrennen. Denn Feuer ist ein Reinigungsgeschehen. Der Reinheit Gottes kann nur standhalten, was feuerfest ist. Alles andere verbrennt und vergeht vor ihm. Die Welt wird wie Gold im Feuer gereinigt. – Zweitens: Der neue Himmel und die neue Erde, die angekündigt werden, sind eine Welt, in der Gerechtigkeit herrschen wird. Der Zusammenhang von »neuer Welt« und Ge-
Der zweite Brief des Petrus
rechtigkeit ist für den Verfasser wichtig. Entsprechend wird die alte Welt, in der wir leben, wegen Ungerechtigkeit und Unordnung verbrannt. Denn das Unrecht, das die Menschen anrichten, hat die ganze Welt verdorben. Ähnlich wie bei Paulus nach Röm 8 ist durch die Sünde der Menschen der ganze Kosmos angesteckt worden, wie eine schwelende Wunde entzündet. So hilft nur eine Radikalkur, in der vorneuzeitlichen Medizin nannte man das Ausbrennen. – Drittens: Die neue Gerechtigkeit bedeutet ein friedliches und gesegnetes Zusammenleben von Menschen. Das Neue Testament stellt sich hier in die Diskussion um die rechte Verfassung, die im griechisch-römischen Altertum geführt wurde. Die christliche Antwort: Nur ein radikaler Neubeginn der ganzen Welt nach vorangehendem Gericht (Ausgleich) kann die Wende bringen. Aber dieser radikale Neubeginn hat eine genaue Entsprechung in der Umkehr jedes Einzelnen. Damit ergibt sich eine aufschlussreiche Entsprechung von Mikrokosmos und Makrokosmos – ein beliebtes Denkschema zur Zeit des Neuen Testaments. Mikrokosmos ist der einzelne Mensch, Makrokosmos ist die ganze Welt. Zwischen beiden besteht eine stetige Analogie, d. h.: Was von dem einen gilt, kann stets irgendwie auch vom anderen gesagt werden. Wenn der einzelne Mensch in der Umkehr radikal neu wird, dann ist das eine gute Entsprechung zu dem, was mit der ganzen Welt geschehen wird. Doch die ganze Welt ist dann nur Objekt, der einzelne Mensch ist jetzt zumindest durch sein Ja und die Bereitschaft, sich umkehren zu lassen, auch ein wenig Subjekt, d. h.: lieber jetzt umkehren und sich reinigen lassen als demnächst durch Feuer gereinigt werden. In jedem Fall sind Umkehr, Reinigung, Erneuerung eine radikale Begegnung mit Gott. Das gilt vom Einzelnen wie von der ganzen Welt. Weltende und Weltgericht könnte man daher so erklären: »Stell dir vor, du wachst auf, und es gibt nur noch Gott und dich.« Oder anders gesagt: (Unser Tod wie auch das) Weltende besteht darin, dass uns nichts mehr von Gott trennt. Christentum setzt auf diese dramatische Konfrontation mit Gott. Für uns, die wir alle zwischen Taufe (Umkehr), Tod und Weltende leben, gibt es diese Konfrontation schon in jedem Gebet und in jedem Gottesdienst, wenn wir vor Gott hintreten. Der alte Beginn der heiligen Messe
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Kapitel 3
mit dem »Introibo ad altare die …« (»Zum Altare Gottes will ich treten«) machte dieses deutlich. Bei diesen Gelegenheiten suchen wir selbst die Konfrontation auf. Noch können wir sie heilvoll klären lassen. Die Vorstellung des Fegefeuers rührt dann daher, dass der gewöhnliche Mensch nie ganz rein für die Begegnung mit Gott sein wird, und das Gott in seiner Barmherzigkeit hier noch »einiges tun muss«, auch wenn es für den Menschen vielleicht wie eine schmerzhafte Operation sein wird. Aber für die Gegenwart lohnt es sich, der Sehnsucht nach Gottes Altar zu folgen (»Wie freute ich mich, da man mir sagte: Wir ziehen zum Haus des Herrn«) und die reinigende Gegenwart Gottes zu suchen. Alle Aussagen über die Zukunft, besonders die über das Ende der Welt, haben stets gewissermaßen zwei Beine: Mit dem einen Bein stehen sie in
943 der Zukunft, beziehen sie sich auf das, was kommt. Insofern ist die Rede vom Feuer und vom Schmelzen ein Bild dafür, dass alle Welt vor Gott nur vergehen kann. Mit dem anderen Bein meinen diese Aussagen stets das, was in der Gegenwart wirklich ist. Apokalyptik ist insofern, wie es das griechische Wort auch meint (»auf-decken«) Aufklärung und Enthüllung, und zwar Aufklärung über die wahren Dimensionen der Wirklichkeit. Die Worte über Brennen und Schmelzen beschreiben insofern in der Sprache dramatischer Bilder das, was jetzt schon der Fall ist. Gott ist der Reine und Gerechte, von ihm können Menschen sich Reinheit und Gerechtigkeit schenken lassen. Dann leben sie nach den Regeln der neuen Welt. Dann müssen sie sich nicht von apokalyptischen Ängsten treiben lassen und haben die Zukunft noch vor sich.
Berger (08129) / p. 944 / 19.5.2020
Der erste Brief des Johannes
Kommentare: Clemens v. Alexandrien (215). – Aurelius Augustinus (420). – Beda Venerabilis (735). – Ps.-Oecumenius (995). – Ps.-Theophylactus (1108). – Ps.-Hilarius v. Arles (708). – Alulfus v. Tournai (1144). – Gregorius Barhebraeus (vor 1286). – Dionysius bar Salibi (1171). – Martin v. Leon (1221). – Nikolaus Gorran (1295 sub Thomas v. Aquin; gedruckt 1620). – Nicolaus v. Lyra (1349; Druck 1481). – Johannes Hus (1415). – Dionysius Carthesianus (1471). – Hugo v. St. Cher (vor 1570; Druck 1502). – H. Zwingli (Opera 6,2; ed. 1898). – J. Cajetan de Vio (1532). – M. Luther (1527; WA 20.48). – D. Erasmus v. Rotterdam (1529). – J. Calvin (ed. 1896). – H. Bullinger (1532). – G. Savanarola (1536). – A. Marloratus (vor 1562) – J. Brenz (vor 1570). – A. Salmeron (1585). – W. Estius (1613). – F. Socinus (1614). – J. Lavinus (1621). – B. Justiniani (1623). – Bartholomaeus Petrus (1623). – Cornelius a Lapide (1637). – R. Petri (1645). – J. Crell (1656). – J. Schlichting (1656). – F. Gomarus (1664). – R. Simon (1665). – N. Staveren (1692). – Ph. J. Spener (1699). – I. Marck (1707). – Sebastian Schmidt (1707). – J. Lange
(1713). – J. C. Wolfius (1741). – Th. P. Elsner (1747). – J. J. Wettstein (1752). – A. Calmet (1757). – C. Klemmen (1770). – G. T. Zachariä (1776.1781). – P. Lallemant (1784). – G. C. Storr (1786). – E. Bengel (1788). – Natalis Alexander (1788). – G. Rosenmüller, Scholia (1790). – J. S. Semler (1792). – H. E. G. Paulus (1829). – C. Ph. Brandt (1831). – W. M. L. de Wette (1837.1863). – K. R. Köstlin (1843). – F. X. Maßl (1847). – J. A. W. Neander (1851). – F. H. C. Düsterdiek (1852-54). – L. F. D. Erdmann (1855). – H. Ewald (1861). – J. E. Huther (1868). – E. Haupt (1870). – Ph. F. Mader (1873). – K. Wohlenberg (1895). – B. Weiss (1899). – H. J. Holtzmann, W. Bauer (1908). – A. Loisy (1921). – H. H. Wendt (1925). – H. Windisch (1930, 2. Aufl. 1951 mit Anhang H. Preisker). – F. Büchsel (1933). – C. H. Dodd (2. Aufl. 1947). – J. Bonsirven (1954). – R. Schnackenburg (1963). – R. Bultmann (1964). – C. Haas (1972). – M. de Jonge (2. Aufl. 1973). – H. Balz (1973). – K. Wengst (1978). – G. Schunack (1982). – G. Strecker (1989). – H.-J. Klauck (1991).
EINFÜHRUNG Gattung Im Rahmen antiker Briefe kann 1 Joh durchaus noch als Brief bezeichnet werden. Der Verfasser spricht »im Aorist des Briefstils« von seinem eigenen »Schreiben« (2,12.26; 5,13). Brief-Homilien sind zunächst einmal unbekannt. Adressiert ist das Schreiben auch, und zwar an die, »die an den Namen des Sohnes Gottes glauben«. Entstehungszeit »Wer so spricht, wie es in 1 Joh 1,1-4 geschieht, nimmt eine direkte Augenzeugenschaft in Anspruch, die späteren Christen nicht in gleicher Weise möglich ist« (Klauck, 76). Ich stelle mir die zeitliche Reihenfolge der johanneischen Schriften wie folgt vor: 2 Joh – 3 Joh – 1 Joh – JohEv – [Acta Johannis – JohannesApokryphon]. Dabei halte ich 2 und 3 Joh für die ältesten schriftlichen christlichen Dokumente
überhaupt. Denn hier liegt die »johanneischeVorstellungs- und Sprachwelt (Dualismus, dialektische Sprachformung) … nur in rudimentären Anfängen vor« (Strecker, 50). Zudem dominieren Themen der Frühzeit (Gastrecht), viele Dinge sind noch nicht geklärt (Autorität vor Ort), und nicht zuletzt liegt der Umfang dieser Briefe noch vollständig im Rahmen antiker Privatbriefe dieser Zeit. Zudem ist das Formular apostolischer Briefe noch nicht entwickelt. In 2 Joh 7 ist vom Antichrist im Singular die Rede, 1 Joh 2,18 korrigiert dann vom Singular in den Plural; das Umgekehrte ist nicht vorstellbar. 1 Joh 2,18 könnte direkt Bezug nehmen auf 2 Joh 7. Gegenüber dem JohEv halte ich 1 Joh für früher. Die übliche zeitliche Vorordnung des Evangeliums vor dem Brief halte ich für eine lediglich suggestiv erzeugte Gewohnheit (weil die Evangelien als die Jesus-Geschichten im Kanon voran-
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Der erste Brief Johannes
stehen). Die Probleme des 1 Joh konnte letztlich nur das JohEv lösen. Das geschieht im Evangelium mit einer historisch angereicherten Christologie. Sie ist die Antwort auf die Frage nach der Erlösung von den Sünden durch Jesus. Denn wenn man zeigen will, dass der Messias die Menschen durch sein konkretes Menschsein (durch sein »Fleisch«) erlöst hat, dann muss man berichten, wie das gewesen ist, und dass auch der Tod Jesu dazugehört. Anders gesagt: Ähnlich wie für die synoptischen Evangelien, so wurde auch für das JohEv die Einbindung der Jesus-Überlieferung in ein kompaktes Evangelium eines Tages einfach nötig. – Im Falle der Synoptiker bestand diese Notwendigkeit darin, den wuchernden Garten der Jesuslehren vor der Auswucherung durch immer neue Lehrer zu bewahren. Im Falle des JohEv bestand diese Notwendigkeit darin aufzuzeigen, wie im Verhältnis Gott – Jesus – Menschen Erlösung möglich ist. Daher mussten im JohEv Ansätze des 1 Joh vertieft und angereichert werden. Das Thema »Fleisch des Messias« wird im JohEv in verschiedener Richtung durchgespielt. Da 1 Joh nicht wenige Querbezüge zu Paulus aufweist, stellt sich die Frage der Datierung noch einmal von dieser Seite her. Die ältere Tübinger Schule nahm wegen des dialektischen Schematismus an, der Verfasser von 1 Joh habe Paulus gelesen; von daher war die Datierung immer »spät im 1. Jh. n. Chr.«. Ich halte das für nicht vorstellbar und plädiere dafür, von gemeinsamem Traditionsgut auszugehen, das 1 Joh und Paulus gemeinsam zur Verfügung stand. Das würde bedeuten: 1 Joh ist nicht nachpaulinisch, sondern vor- oder nebenpaulinisch. Die Gemeinsamkeiten mit Paulus müssen Paulus nicht von Anfang an vorgelegen haben, sie können ihm bzw. 1 Joh auch im Laufe der Zeit zugewachsen sein. Fazit: 1 Joh ist vor dem JohEv entstanden und vor oder neben wichtigen Paulusbriefen. Da sich die Ähnlichkeiten bei Paulus besonders in Gal und Röm finden, möchte ich als Datum 55/56 n. Chr. annehmen. Das ist terminus post quem non, weil Röm und Gal in dieser Zeit entstanden sind, das gemeinsame Gut Paulus aber schon vorgelegen haben muss. 2 und 3 Joh setze ich – wegen des archaischen Zustands ihrer Theologie – um 50 n. Chr. an.
945 Das Verhältnis von 1 Joh zum JohEv Durchgehend ist eine Priorität des 1 Joh gegenüber dem Evangelium anzunehmen. In 1 Joh wird Gott das Licht genannt, wie in der jüdischen Tradition üblich; erst im JohEv nimmt Jesus diese Metapher für sich in Anspruch. Dabei ist zu beachten: 1 Joh rückt oft den Vater so nahe an den Sohn heran, dass der Leser nicht unterscheiden kann und oft versucht ist, beide zu identifizieren. Das gilt nicht nur für das »Licht« in 1,5-7, sondern auch für die Wendung »der von Anfang an war« (2,13), und auch für die Aussage »der in seinem Namen Sünden vergibt« (2,12). Das alles gilt »eigentlich« vom Vater, kann aber in diesem Brief vom Sohn her gesagt sein. Man kann das so sehen: Im Sohn leuchtet der Vater auf; daher kann der Verfasser nicht zwischen Vater und Sohn ausreichend differenzieren. Vielleicht will er das auch gar nicht, sondern von Christus, »unserem Gott«, reden. Das aber bedeutet: Von unten (von den Menschen) her betrachtet, erscheint in Jesus Christus Gott; von oben her, gesehen ist er von Gott gesandt und Anwalt der Menschen vor Gott. Bei diesen letzteren Aussagen steht der Sohn zweifellos dem Vater gegenüber. Bei den erstgenannten Aussagen dagegen erscheint er in funktionaler Einheit. Oft greift 1 Joh auf »ältere Gemeindetheologie« zurück. Selbst H. J. Klauck gibt zu: »Man muss den Schluss ziehen, dass uns in 1 Joh 2,1 die ältere Parakletenkonzeption entgegentritt, die sich in den religionsgeschichtlichen und urchristlichen Kontext nahtlos einfügt, während die Abschiedsreden eine fortgeschrittene Reflexionsstufe darstellen« (105). »Im 1 Joh öffnet sich die christologisch-personale Konzentration des Evangeliums wieder auf direkte Aussagen über Gott hin« (Klauck, 90). 1 Joh 1,1a »Wort« meint das Wort der Verkündigung; absoluter personaler Gebrauch ist auch im JohEv die Ausnahme (Klauck, 64). Bei der Diskussion um »neues Gebot«/»altes Gebot« verläuft die Entwicklung klar von 2 Joh über 1 Joh nach Joh 13,34 (s. u. zu 1 Joh 2,7-11). Das JohEv spitzt auf die Christologie zu, was nach 1 Joh noch allgemein gilt. So heiligt sich Jesus nach Joh 17, während nach 1 Joh 3,3 »sich heiligen« Aufgabe aller Christen ist. Dasselbe gilt auch im Verhältnis von 1 Joh 4,11f zu Joh 1,18f (Gott hat nie einer gesehen).
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Der erste Brief Johannes
Paulus und 1 Joh Zur metaphorischen Bedeutung von »wandeln« (Klauck, 88): »Im NT haben sich neben dem Corpus Paulinum (33 von 95 Belegen) vor allem die Johannesbriefe diese metaphorische Aussageweise zu eigen gemacht (10 Belege). Etwas anders sieht es im Evangelium aus. Die meisten der 17 Belege sind wörtlich gemeint« (bis auf vier). Zu »Gemeinschaft« (haben) (griech.: koinonia) in 1 Joh 1: vier Belege (2 V. 3, V. 6, V. 7) »während das johanneische Schrifttum diese Vokabel ansonsten nicht kennt. Sie ist eher im paulinischen Traditionsbereich zuhause, sodass man fast überlegen muss, ob die johanneische Schule zu einem bestimmten Zeitpunkt mit paulinischem Gut in Berührung kam (was an einem Ort wie Ephesus ohne weiteres möglich wäre)« (Klauck, 70). Die theologiegeschichtliche Bedeutung des 1 Joh Die theologiegeschichtliche Bedeutung von 1-3 Joh, insbesondere von 1 Joh, besteht in folgendem: 1. Der erwartete endzeitliche Gegner wird als Gegenbild zu Jesus Christus, nämlich als AntiChristus gedeutet. Er hat demnach prophetischen Charakter (Lehre und Zeichen). In den Gegnern aus der Gemeinde gewinnt er Konturen und zwar durch eine ganze Gruppe von Irrlehrern. Diese wird damit anschaulich »dingfest«
gemacht. In diesem Vorgang zeigt sich die kirchlich wirksame Seite der latent dualistischen Grundeinstellung des Autors. 2. Die Irrlehre besteht darin, dass das konkrete Menschsein Jesu bestritten wird. Wenn Jesus nicht Mensch war, kann er auch nicht durch sein Blut stellvertretend Erlösung gebracht haben. 1 Joh ist damit Vorkämpfer einer ganzen Reihe von Schriften, in denen es vornehmlich um das »Fleisch Jesu [Christi] geht.« 3. Der Verf. begreift diese Irrlehre zugleich als Verstoß gegen die gebotene geschwisterliche Liebe unter Christen. Orthodoxie und Orthopraxie gehören auf diese Weise zusammen. Wer die Mitmenschlichkeit Jesu leugnet, ist auch zu der humanitären Mitmenschlichkeit nicht in der Lage. Denn die Sünde ist dann dort nicht behoben, wenn die Gemeinde zerfällt. Es handelt sich um parallele Versuche der Identitätsfindung der Gemeinde. 4. Der Weg von 2 und 3 Joh über 1 Joh bis hin zum Evangelium nach Johannes zeigt die steigende Bedeutung der Christologie für den Zusammenhalt einer Gemeinde. Aus neuester Zeit lässt sich solches von der Bedeutung der eucharistischen Anbetung sagen. Auch die reformatorischen Kirchen konnten sich jahrhundertelang auf die Bedeutung der Christusdogmatik für ihr Gemeindeverständnis verlassen, bis das »liberale Jesusbild« sie um diese Chance brachte.
KOMMENTAR 1 Joh 1-5 und ihr Verhältnis zum JohEv Gattung: 1 Joh 1 Zeugenbericht (1. Person Plural) – Joh 1: Hymnus (griech.: enkomion) mit eingesprengten Bezeugungen in der 1. Person Plural. Anfang: 1 Joh 1,1: »was von Anfang an war« – Joh 1,1: »Im Anfang gab es nur das Wort …« »Wir haben gesehen«: 1 Joh 1,1: »was wir gesehen haben« (Perfekt) – Joh 1,14: »wir haben gesehen«. »Mit Händen greifen«: 1 Joh 1,1: »was wir mit Händen gegriffen haben« – (Lk 24,39: »greift mit Händen«). »… war beim Vater«: 1 Joh 1,2b: »das ewige Leben war beim (griech.: pros) Vater …« – Joh
1,1: »das Wort war bei (griech.: pros) Gott« (»und in ihm war Leben«, s. Joh 1,4). Leben wurde offenbar: 1 Joh 1,2: »das Leben wurde geoffenbart« – Joh 1,4: »in ihm war Leben«. Sehen und Bezeugen: 1 Joh 1,2: »was wir gesehen haben, vermelden wir« – Joh 19,35: »der es gesehen hat, hat es bezeugt«. Freude: 1 Joh 1,4: »geschrieben, damit Freude« – Joh 15,11: »erzählt, damit Freude«. Im Finstern wandeln: 1 Joh 1,6: »im Finstern wandeln« – Joh 11,10: »in der Nacht wandeln ohne Licht«; 12,25 (»beim Gehen Licht haben, damit die Finsternis nicht …«). Licht: 1 Joh 1,5: »in Gott keine Finsternis« – Joh1,5: (Licht/Finsternis).
Berger (08129) / p. 947 / 19.5.2020
Kapitel 1
Weitere Parallelen: »neues Gebot« 1 Joh 2,7: kein neues Gebot, sondern altes Gebot; Joh 13,34: »neues Gebot«, »Sünden der Welt«: 1 Joh 2,2; Joh 1,39. Fazit: 1 Joh 1,1-5 weist maximale Nähe zu Sprache und Anschauungen des JohEv auf. Die Verwendung gemeinsamer Begrifflichkeit mit gleichem Inhalt dient für den Leser/Hörer als Erkennungsmerkmal: Gerade am Anfang kann er so erkennen, dass dieses »seine« Gruppe ist. Die starke Betonung der Augenzeugenschaft und der physischen Berührung wird in 1 Joh nicht wiederkehren. Im JohEv wird sie dann das durchgehende Prinzip der Gestaltung werden. Insofern ist 1 Joh 1,1-5 eine Vorbereitung des Evangeliums (praeparatio evangelica). Die Betonung der physischen Berührung in 1 Joh 1 wird dann später durch die Rede vom »Fleisch des Messias« erläutert; das entspricht Joh 1,14. Darin ist das theologische Anliegen gut erkennbar: Nur der wahrhaft und konkret Mensch Gewordene kann Menschen erlösen. In 1 Joh 1 sind die Bezüge zum gemeinsamen Gut stärker und intensiver als im JohEv, dort sind sie z. T. mehr gestreckt (d. h. sie kommen auch in den weiteren Kapiteln vor). Wie im JohEv, so ist auch hier das »Wir« plus Verb der Bezeugung besonders wichtig. Denn so teilt der Briefsteller dem Adressaten aus exklusiver Augenzeugenschaft Dinge mit, die der Adressat nicht weiß, weil er sie nicht erlebt hat. Das gilt für 1 Joh 1,1-5 und für die Wir-Texte im JohEv (1,14; 3,11[?]; 21,24).
1 Joh 1,6-9: Messiasglaube und Sünde Bisher wird regelmäßig angenommen, in 1,6-9 spiegele sich die Position der Gegner. Diese seien der Meinung, Christen könnten nicht sündigen. Das wäre dann eine häretische Position, hinter der sich ältere Hypothesen wie die vom urchristlichen Enthusiasmus oder von Gnostikern verbergen. Diese Gnostiker seien dann nach eigener Auffassung von himmlischer Qualität, sodass sie nicht mehr sündigen könnten. Dem entspreche für die Gegner in 1 Joh eine Christologie, nach der Jesus einen Scheinleib hatte und nicht leidensfähig war. Demgegenüber betone 1 Joh
947 dann die Menschwerdung des Messias im Fleisch. Aus der Sicht dieser Hypothesen geht es in 1 Joh – wie im Kampf um Gnosis auch sonst – um das Verhältnis von Gott und Welt bzw. von Geist und Materie. Christus wie die Christen seien bereits total entweltlicht. Diese Thesen, die auch bei H. J. Klauck eine Rolle spielen, halte ich für völlig unbegründet. Sie widersprechen der Grundregel der geistesund kulturgeschichtlichen Forschung, nicht zu komplizierten und erst zu konstruierenden Weltanschauungen zu greifen, wenn eine einfache, am Nächstliegenden orientierte Lösung auf der Hand liegt. Die Konstruktion einer gegnerischen Position mit dem Inhalt, es gäbe Christen, die der Sünde enthoben sind, ist nichts weiter als die Annahme steilster und von der Wirklichkeit weit entfernter Ideologie und hat selbst ideologischen Charakter. Bei Annahme sehr einfacher Prozesse in der Geschichte der Gemeinde des 1 Joh lässt sich alles, aus dem man bisher gnostische Geheimnisse gemacht hat, möglicherweise wesentlich plausibler erklären. So liegt die einfachste Erklärung von 1,6-9 nicht in einem exaltierten gnostischen Menschenbild, sondern in der schlichten Tatsache, dass die Christen, die der Verfasser des Briefes im Blick hat, wieder zu Sündern geworden sind. Daher, sagt er, wäre es unsinnig, die Sünde zu leugnen. Das Problem ergibt sich daraus, dass diese Menschen an den bereits gekommenen Messias glauben. Es gibt sogar jüdische vorchristliche Aussagen, nach denen der Messias Reinheit von Sünden bringt (vgl. Ps Sal 17 und 11 Q Melch Kolumne V in der Übersetzung von J. Maier, 1995, 362: »zu entsühnen alle Kinder Gottes«). Wenn aber nun diese Reinheit und Freiheit von Sünden erkennbar nicht da sind, dann kann man natürlich an der Messianität Jesu zweifeln. Denn wie sollte es zu einem messianischen Volk passen, einfach zu sündigen wie vorher? Der Verfasser beantwortet das Problem fortdauernder Sünde in der Gemeinde mit zwei Hinweisen: a) Die Gemeinde soll zugeben, dass es weiterhin Sünde gibt. Das nennt man »bekennen« (1,9). – b) Christus als der erhöhte Herr steht weiterhin vor Gott, um Anwalt der Christen zu sein – auch dann, wenn sie jetzt sündigen. In der Tat: Zu behaupten, die Christen seien
Berger (08129) / p. 948 / 19.5.2020
948 nach der Taufe sündenrein, wäre eine Lüge. Und offenbar irritiert dieser Zustand der Christen ihren eigenen Messiasglauben bzw. in den Augen anderer ihr Messiasbekenntnis. Die Situation der Gemeinde ist von Irritation bestimmt. Weil die Gemeinde heidnischen Ursprungs ist, droht ein Rückfall ins Heidentum (Kap. 5). Der Verfasser des Briefes ist demgegenüber Judenchrist.
1 Joh 2,1: Sünde und Fürbitter Die typische Vita eines Christen hat, nimmt man Kap. 1 und 2 zusammen, folgende Stadien: a) Vorgängig hat Jesus Christus durch seinen Sühnetod zur Vergebung der Sünden erlöst. b) In Glauben und Taufe wird dieses für den einzelnen Christen angewendet. Die Initiation kann auch Salbung heißen (2,18.20.27). c) Der Christ sündigt weiter. Diese Sünde besteht wohl vor allem in der Verletzung des Gebotes der geschwisterlichen Liebe in der Gemeinde. d) Christus als der erhöhte Fürbitter tritt für den sündig gewordenen Christen weiter ein. e) Der Christ bekennt seine Sünden und erhält dadurch Anteil an dem, was nach d) Christus für ihn wirkt. Durch den gemeinsamen Bezugspunkt Jesus Christus wird Zusammenhalt unter Christen gestärkt. Die verletzte Liebe wird geheilt. – Es wird wichtig werden, die Ethik des Briefes in Beziehung zur christologischen Diskussion zu setzen. Die Rolle des Fürbitters (Anwalts) vor Gottes Thron können im Judentum die Erzväter (Abraham, Isaak und Jakob) ebenso einnehmen wie Erzengel (vor allem Michael). Jesus steht in dieser Rolle als der Auferstandene und Erhöhte. Schon in der Stephanus-Vision ist sie wichtig (Apg 7,59), ebenso aber bei Paulus und vor allem im Hebräerbrief. In diesem Sinne kann Paulus in 1 Kor 15,17 sagen: Wäre Christus nicht auferstanden, so wäret ihr noch in euren Sünden. Denn der Gedanke, der diesem Satz zugrunde liegt ist ähnlich wie 1 Joh 2,1: Als auferstandener Erhöhter kann Jesus Christus für die Sünden der Menschen Abbitte leisten. Auf diese Weise ist es vor allem möglich, dass die Sünden der Menschen auch nach Jesu Tod vergeben werden. Vor allem wird so ein Auto-
Der erste Brief Johannes
matismus in der Sühnevorstellung abgewehrt. Wenn Jesus vor Gott für Menschen eintritt, dann ist das zuerst ein personaler Vorgang.
1 Joh 2,1-5a: Christus, der Fürbitter und Anwalt Seit Johannes, dem prophetischen Täufer in der Wüste, ist diese Botschaft ebenso neu wie klar: Gott will und kann jetzt alle Sünde vergeben, und zwar endgültig. Das ist das Prinzip des »Neuen Bundes«, dass Gott der Sünden nicht mehr gedenken will (Jer 31,31f). Vielfältig und in gestaffelten Gewissheitsgraden äußert sich diese neue Zeit der Gnade: Erstens, dass Gott die Gebete um Vergebung erhört; zweitens, dass wir einen Mittler bei Gott haben, Jesus, den makellosen Anwalt und Fürsprecher; drittens, dass Blut und Stellvertretung, Sühnetod und Konzentration der Sünde auf Jesus uns die Gewissheit vermitteln können, die Sünde sei wirklich »entsorgt«. Aber was soll geschehen, wenn Christen wieder rückfällig werden, wenn sie den neuen Status als Kinder Gottes aushöhlen, indem sie wieder sündigen? Die Geschichte dieses Problems ist so etwas wie die innere Geschichte des Christentums. Die Möglichkeit einer zweiten Umkehr (Buße), einer Erneuerung der Taufe, das Bußsakrament und am Rande auch der Ablassstreit betreffen immer dieselbe Frage: Ist es heilbar, wie ist es heilbar, wenn Christen erneut und immer wieder tief fallen? In Bezug auf Paulus gab es immerhin die von ernsthaften Theologen vertretene Meinung, die Christen könnten gar nicht mehr sündigen. Doch scheint Paulus immerhin die Sünde gegen den Heiligen Geist zu kennen, und nach Paulus ist deren Ort die Spaltung der Gemeinde (1 Kor 3 und 11). Es zeichnet 1 Joh, eines der ältesten Dokumente des frühen Christentums (um 55 n. Chr.), aus, dieses Problem klar zu behandeln und es christologisch und theologisch zu beantworten. Denn so beginnt unser Abschnitt: »Meine lieben Kinder, dies schreibe ich euch, damit ihr nicht wieder schuldig werdet. Wenn es aber doch geschieht, dann gilt: In Jesus Christus, der ganz frei von Schuld und Sünde ist, haben wir einen Beistand bei Gott Vater.« Dabei meint der Verfasser des Briefes sicher den erhöhten Christus, der als
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Kapitel 2
Anwalt beim Vater für uns eintritt. Nach der späteren Auslegung (Bernhard von Clairvaux: Sent. III, 70) stellt der erhöhte Sohn dem Vater die Sünder vor: »Sieh, Vater, den Gegenwert für mein Blut. Wenn du ihn wegen seiner Sünde zur Rechenschaft ziehst, sieh für ihn auf mein Blut …« Paulus meint dieses mit dem himmlischen Anwalt nach Röm 8,34b: Der Auferweckte ist Anwalt für die Christen bei Gott. Er hat seine Mittlerrolle nicht abgegeben, sondern tritt fortwährend für die Christen ein. Denn er ist der makellose Liebling des Vaters und der Vertreter der Menschen zugleich. Um seinetwillen schont Gott die Menschen, denn sie stehen in seinem Windschatten vor Gott. Alle Sünden der Welt hat Jesus am Kreuz getragen. Darauf aber weist er den Vater stets hin, wenn er aktiv als der Lebendige für uns eintritt. So werden auch spätere Sünden in das Kreuz einbezogen. Mit dem Bild des Erhöhten zur Rechten Gottes löst 1 Joh zwei Probleme: das der Sünde in der Vergangenheit (als »Altlast«) und das der Sünde in der Zukunft (als künftige Sorge). Menschen werden frei von der früher verübten Sünde durch den Anwaltsdienst Jesu bei Gott, denn er ist der Fürbitter, und sie werden bewahrt vor der Sünde der Zukunft, wenn sie Gottes Licht und Gottes Klarheit, nach V. 4 seine »Wahrheit« genannt, zum Maßstab machen, wenn sie nach V. 5 Gottes liebevolle Zuwendung zum Zuge kommen lassen, d. h.: wenn sie sich ganz von dieser Erkenntnis durchdringen lassen. Denn Erkenntnis Gottes heißt hier: ihm wirklich begegnen (V. 3). Die Eigenart dieser johanneischen Mystik erkennt man, wenn man fragt, was fehlt. Der Verfasser nimmt keinen Bezug auf den Heiligen Geist. Er spricht auch nicht vom Leiden Jesu Christi, das uns von aller Schuld befreit habe. Der Ausdruck »Leiden« fehlt in der johanneischen Theologie. Er fragt auch nicht, woher die Sünde überhaupt komme und was sie wesensgemäß sei; denn das bringt aus seiner Sicht die Gemeinde nicht weiter. Das Geheimnis der österlichen Mystik von 1 Joh ist die Rolle Jesu Christi als des wahren Menschen und göttlichen Herrn für die Menschen. Denn das löst die Fragen der Gotteserkenntnis, der Fürsprache und des Vorbilds zugleich. In Jesus hat Gott ein Gesicht bekommen, der Vater wird einen menschlichen Für-
sprecher nicht abweisen, und der Weg des Sohnes als Liebe ist auch der Weg der Menschen. Ziel dieser Mystik ist die Beseitigung von Schuld und Schrecken, von Sünde und Tod. Um den Tod ganz zu überwinden, muss jeder Christ nur die Gebote des Mensch gewordenen Gottes beachten. So werden sie ihm ähnlich. Das Aufblicken verändert. Alles liegt daran, dass sie ihm ähnlich werden. Das geschieht durch Jesus Christus. Aber was versteht unser Verfasser eigentlich unter »Sünde«? Er scheut vor negativen Definitionen z. B. für »Sünde« zurück. So müssen wir sie nachholen, und zwar so, dass es zur Theologie dieses Briefes passt. Der Grundansatz der johanneischen Theologie ist: Gott ist das Leben, und das Leben ist Gott (1 Joh 1,1f). Gilt das, so ist das Ziel derer, die an Gott glauben, dieses umfassende Leben zu empfangen, sich dessen zu freuen und es weiterzugeben. Genau an diesen drei Punkten zeigt sich Sünde als Krankheit und Defekt, und an allen drei Punkten besteht ein Missverhältnis zur »Zeit« (Sünde als Rückfall, vgl Joh 5,14). In welchem Verhältnis stehen die Heilsaussagen von 2,1b-2 zu den rahmenden Aussagen, die Gebote zu bewahren (V. 1a.3-6)? Was bedeutet der Trost in Gestalt von Beistand und Stellvertretung angesichts der Forderung, die Gebote zu halten? Wird es leichter, die Gebote einzuhalten, wenn einer weiß, dass der Messias ansonsten und überhaupt für ihn bei Gott eintritt? Die Antwort auf diese drei Fragen liegt wohl in einer wechselseitigen Loyalität von Gott und Mensch.
1 Joh 2,7-8: Liebesgebot – alt oder neu? Hier erfolgt eine Antwort zu der Diskussion, ob das Liebesgebot »alt« oder »neu« ist. Nach 2 Joh 4-6 bekommt die Gemeinde kein neues Gebot, »sondern das, was wir von Anfang an hatten«, dass wir einander lieben. In 1 Joh 2,7 dagegen sagt der Verfasser: »Nicht ein neues Gebot schreibe ich euch, sondern ein altes Gebot, das ihr von Anfang an hattet. Das alte Gebot ist das Wort, das ihr gehört habt. Andererseits schreibe ich euch ein neues Gebot … Wer seinen Bruder liebt, ist im Licht.« Und schließlich heißt es in Joh 13,34f: »Ein neues Gebot gebe ich euch, dass ihr einander liebt …« Während nach dem JohEv das Liebesgebot einfach neu ist, ist es nach 2 Joh
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überhaupt nicht neu, nach 1 Joh dagegen sowohl alt als neu. Nur im JohEv gibt es eine christologische Begründung (»Wie ich euch geliebt habe …«). Das entspricht der Christologisierung, die das JohEv auch sonst an dem gemeinsamen Material vornimmt. Joh 13,34 kann von einem neuen Gebot sprechen, weil die Liebe jetzt trinitarisch begründet ist (vgl. das »Gesetz des Christus« in Gal 6,2). – Die beiden Briefe dagegen sind sehr daran interessiert, dass es sich beim Liebesgebot nicht um ein neues Gebot handelt. Auch sonst ist die Absicht oft belegt, dass das Christentum keine neuen Gebote oder Gesetze auferlegt (vgl. Apg 15,28: Keine weitere Last auferlegen; vgl. 15,10; Offb 2,24: Ich lege euch keine weitere Last auf). Die beiden Briefe reden apologetisch, Joh 13 dagegen kühn christologisch. In Joh 13 spricht der neue König, in den Briefen dagegen nur jeweils der Autor des Briefes. – In Joh 13,34f sind das Gewicht des Gebotes und seine Motivation eindeutig stärker als in den beiden Briefen. Eine gegenteilige Entwicklung ist nicht vorstellbar: Immer klarer stellt sich heraus, dass ein christologisch begründetes Liebesgebot der Dreh- und Angelpunkt johanneischer Gemeindetheologie ist. 1 Joh 2 steht in der Mitte zwischen 2 Joh 4-6 und Joh 13,34 f.
bzw. neu Hinzugetretenen zu vermitteln, dass ihr neuer Status sich grundlegend von dem alten unterscheidet, und dass daher auch von ihrem Handeln entscheidend anderes gefordert ist. Es handelt sich damit nicht um differenzierte Kasuistik, sondern um Generelles. Dem krassen Unterschied zwischen vor der Bekehrung und nach der Bekehrung entspricht genau der Unterschied zwischen einem Handeln aus Lust und Laune oder aber nach Gottes Geboten. Die Rolle der Begierde ist wie in Röm 7,11 zu verstehen: Sie ist das Haupt der Sünde (für Paulus in Röm 7, weil sie das Verb des 10. Gebotes ist). Und das entspricht nicht ganz zufällig der Rolle der Begierde und der Triebe in der damals zeitgenössischen Philosophie der Kyniker und Stoiker. Der »Nährwert« dieser Rede ist daher der Appell an den neuen Status der Angeredeten. In 1 Joh 2,12-17 sind alle grundsätzlichen Stichworte dieser Art von Rede genannt. Wegen des altertümlichen Charakters ist die Gestalt diese Rede hier für mich ein Argument für die Frühdatierung des 1 Joh. Hier wird sozusagen die erste Predigt reproduziert, die Christen nach ihrer Taufe/Bekehrung gehört haben. Damit aber signalisiert dieses Stück in 1 Joh, dass nunmehr der Teil beginnt, der sich auf Mahnreden erstreckt.
1 Joh 2,12-17: Urtyp christlicher Homilie
1 Joh 2,18-27: Irrlehrer, Antichrist, Pseudopropheten
Hier liegt eine Art Ur-Typ der christlichen Homilie nach der Bekehrung/Taufe vor, die ich »postconversionale Mahnrede« genannt habe (K. Berger, Formen und Gattungen, 2005, § 50). Sie findet sich am Anfang vieler neutestamentlicher Briefe: Die Adressaten werden angesprochen auf das wunderbare Heil hin, das sie erlangt haben. Dieses wird relativ ausführlich beschrieben. Darauf folgt eine ethische Grundsatzpredigt. Dass es sich hier um eine solche handelt, wird besonders an den Stichworten »Welt« und »Begierde« erkennbar. Denn Begierde gilt als das generelle Laster der Heiden, und »Welt« ist der Inbegriff des Scheinwertes, nach dem sie streben. Der archaische Charakter dieser Grundsatzpredigt ist einer der Hauptgründe dafür, dass wir den Mahnungen wenig Konkretes entnehmen können. Der Sinn dieser Art Rede ist, den Neugetauften
Dieses Stück ist eine Irrlehrer-Warnung, wie sie für Reden (Mk 13,22f; Apg 20,29f; Didache 16) und Briefe (Phil 3,2 ff; 1 Tim 6,3 ff) im Neuen Testament typisch ist. Auch 2 Joh 7f gehört zu dieser Gattung. Der Lehrer prophezeit, dass nach seinem Ende Falschlehrer kommen werden. Umso wichtiger ist es, das, was er in Rede oder Brief gesagt hat, zu hören. Wie in Mk 13; Didache 16 und Offb 13 ist das Auftreten dieser Lügenpropheten jeweils Zeichen der Endzeit, die aber erst nach dem Weggang oder Tod des Lehrers richtig anfängt. Beispiel: In Didache 16,3 setzt der Text ein: »Denn in den letzten Tagen werden die Pseudopropheten zahlreich werden …« Lehrer, AntiLehrer und Weltende beflügeln sich gegenseitig. Mit anderen Worten: Selbst wenn Jesu Botschaft gar nicht eschatologisch ausgerichtet gewesen
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Kapitel 2
wäre, hätte doch sein Auftreten als Lehrer die Vorstellung von Falschlehrern wachgerufen. Genau so ist 1 Joh 2,18a zu verstehen. Die Endzeit und das Auftreten konkurrierender und damit verwirrender Lehrautoritäten sind ein einziger Vorgang. Der legitime Lehrer ist insofern stets der letzte Fels vor dem allgemeinen Chaos. Auch der Ausdruck »Antichrist« ist hier zunächst einmal nach seinen Analogien im Rahmen der Gattung zu deuten: Parallel sind in Mk 13,22 die »Pseudochristusse« und »Pseudopropheten«, in Didache 16,3 die Pseudopropheten und der Weltverwirrer in 16,4, in 2 Joh 7 der »Irrlehrer« und »Antichrist« (vgl. 2,18.22; 4,3). Auch in 1 Joh sind die »Anti-Christen« mit Pseudopropheten strikt identisch (4,1.3). Die Konzeption vom Antichrist hat einen doppelten Ursprung, einen prophetischen und einen politischen. In beiden Fällen geht es um eine Einzelgestalt oder eine Gruppe von wenigen, die den Rest in die Irre führen. Es liegt also eine aristokratisch-monarchische Form von Verderbnis vor. Denn der Einzelne oder die Wenigen stehen der Masse der von ihnen Verführten gegenüber. Damit wird aber die Form der »wahren Religion« in jedem Falle nachgeahmt, und zwar, so ist es die Auffassung der apokalyptischen Texte, täuschend ähnlich. Während beim Verfall der moralischen Ordnung quer durch das Volk Täter und deren Opfer existieren und Geschrei und Blutvergießen offenkundig sind, geht es bei den »Antichrist«-Figuren um Hirten, Führer und Lehrer, die in den Abgrund führen. Das wird erst am Ende richtig sichtbar. Auf der mehr prophetischen Linie kommen Pseudopropheten und Pseudochristusse zu stehen (Mk 13,5.21). Sie betören die Menschen durch Wunder und behaupten, der wahre endzeitliche Prophet oder Christus zu sein. Aus der Sicht z. B. des MkEv sind sie gefährlich verführerisch, weil sie Jesu Wirken auf Erden nachahmen. Dagegen sind die kommenden Endereignisse gar nicht auf Erden anzusetzen. Denn Jesus, der wahre Menschensohn, kommt vom Himmel her. Wichtig ist das deshalb, weil die Christen, an die sich Markus wendet, sowohl vor sich selbst als auch vor Außenstehenden von dem bösen Verdacht befreit werden, das Christentum sei irgendwie Schuld an dem Chaos in der Welt, an Kriegen und am Untergang Jerusa-
951 lems. Oder gar Jesus würde das verursachen. Nein, sagt der Evangelist, Jesus kommt ganz anders. Die irdischen Schrecknisse sind nicht von ihm, sondern von den Menschen. In 2 Thess 2 und in Didache 16 ist der »Weltverführer« jeweils Jesus sehr ähnlich. Nach 2 Thess 2,4-9 sitzt der Widersacher im Tempel und lehrt wie Jesus. Nach Mk 12: Er stellt sich über alle Götter und über alles, was heilig ist, setzt sich in Gottes Tempel in Jerusalem und behauptet, er sei Gott … Er hat seine Kraft vom Satan und wirkt trügerische Machttaten, Zeichen und Wunder. Ähnlich in Didache 16,4-6: »(4) Dann wird der Weltverführer erscheinen und sich als Sohn Gottes ausgeben. Er wird Zeichen und Wunder tun, er wird die Erde beherrschen und Frevel anrichten, wie es sie seit Bestehen der Welt nicht gegeben hat. (5) Dann kommen die Menschen in die Feuerprobe der Bewährung. Viele werden abfallen und verloren gehen. Die geduldig in Treue aushalten, werden gerettet werden und nicht verflucht werden. (6) Dann werden die Zeichen von Gottes Wirksamkeit erscheinen: Zuerst wird der Himmel auseinandergerissen, dann das Zeichen des Posaunentons, dann das dritte Zeichen: die Auferstehung Toter.« – Hier werden die irdischen Zeichen des »Weltverführers« unterschieden von den wahren Zeichen, die am Himmel sein werden. Was aber der Weltverführer tut (er sagt, er sei Sohn Gottes, und tut Zeichen und Wunder), das tut Jesus nach den Evangelien genauso. Man kann darüber streiten, ob hier das Jesusbild der Verfasser aufs Gegenteil übertragen wird, oder ob nicht vielmehr in diesem Bild der prophetischen Widersacher Züge der Erwartung eines prophetischen Messias erkennbar werden, die unsere Kenntnis über frühjüdische Messiasvorstellungen bereichern könnten. Die hier erörterten prophetischen Widersacher werden, wie es diese Texte erwarten, auftreten, weil es schon immer schwierig war, die rechten Propheten von den falschen zu unterscheiden. Das frühe Christentum ist mit seinem Kampf gegen die »Irrlehrer« wesentlich auch ein Kampf um diese Frage. Zu 1 Joh 2,19: Auch nach 1 Kor 11,19 gilt: Parteiungen müssen unter euch sein, damit jene offenbar werden, die sich bewähren können. Der
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952 weitere Hintergrund ist mit Lk 12,51-53 angegeben: Die Endzeit ist durch Sortierung, durch Aufspaltung gekennzeichnet. An allen Stellen bereitet die Scheidung und Aufspaltung die Sortierung durch das Gericht vor. Zu 1 Joh 2,20 (Salböl): In der biblischen Tradition ist Salböl ein Zeichen für die Salbung mit Heiligem Geist, der als Wasser oder als Öl vorgestellt wird. Es ist nicht ganz klar, ob 1 Joh 2,20 bereits an eine ritualisierte Metapher denkt (eine wirkliche Salbung, so wie sie später dann im orthodoxen und katholischen Ritus der Taufe vorgenommen wird) oder ob die Salbung mit Öl lediglich ein Bild für die empfangene Geisttaufe ist. Aber auch der Ritus der Salbung bedeutete stets dasselbe: Empfang des Heiligen Geistes. – Wenn nach Joh 3,5 dann aus Wasser und Geist getauft wird, dann stehen Wassertaufe und Geistempfang noch nebeneinander bzw. ergänzen sich. Es könnte sein, dass 1 Joh lediglich mit dem Geistempfang rechnet und daher das Bild des Öls gebraucht. Für eine rituelle Salbung mit Öl zum Empfangen des Geistes spricht auf jeden Fall, dass eine Taufe mit Geist unsichtbar und nicht erfassbar sein kann und daher nach einem allgemein gültigen Zeichen zur Bestätigung verlangt. So wie es im JohEv heißt, dass der Paraklet der Geist der Wahrheit ist (14,17; 15,26; 16,13) und in alle Wahrheit einführt (16,13), ist es hier die Salbung (durch den Heiligen Geist), die Wahrheit gebracht hat (2,21), selbst wahr ist (2,27) und jede weitere Lehre unnötig macht (V. 27), damit aber auch jede Gefährdung durch andere Lehre verhindert. Dass keine Belehrung mehr nötig ist, sagt im Zusammenhang mit der Vergebung der Sünden auch Jer 31,34 (wobei 31,33 auch gut und angemessen als Gabe des Heiligen Geistes aufgefasst werden kann, vgl. Ez 36,26f). Warum der Verfasser hier vom Öl spricht, wird erst aus 5,8 deutlich werden: Geist (= Öl), Wasser und Blut sind die drei Flüssigkeiten, an denen das Heil hängt. Alle drei haben mit der Taufe zu tun: Das Blut Jesu reinigt von Sünden, was in der Taufe durch Wasser dargestellt wird. Insofern gehören hier Wasser und Blut eng zusammen. Nach Joh 3,5 wird die Taufe als Sakrament aus Wasser und Geist gedacht. In Joh 3,5 kommen daher
Der erste Brief Johannes
zwei Typen von Taufe sich gegenseitig ergänzend zusammen: die Geisttaufe und die Wassertaufe. Auf dem Niveau von 1 Joh heißt die Geisttaufe entweder Ölsalbung (weil Öl den Geist darstellt) oder einfach »Geist« wie in 5,8. Und die Wassertaufe heißt »Wasser und Blut«, weil es sich im Unterschied zur Johannestaufe um eine Taufe auf Jesu Sünden vergebenden Tod (Blut) handelt. Daher wird 1 Joh 5,8 völlig sinngemäß das Wesen der christlichen Taufe beschreiben. Zum Verständnis von 1 Joh 2 ist das wichtig, weil hier in V. 20 f.27f mit der Salbung ein zentraler Aspekt der Taufe qua Geisttaufe zur Sprache kommt.
1 Joh 2,22f: Die Irrlehre Die zentrale Irrlehre der Gegner ist offensichtlich die Bestreitung, dass Jesus der Christus ist (V. 22). Der Verfasser deutet dieses seinerseits als Leugnung der Gottessohnschaft, die er wiederum mit der Leugnung des Vaterseins Gottes gleichsetzt. Mit dem Bekenntnis zum Sohn steht man ja auch auf der Seite des Vaters: Der kann Gott nicht zum Vater haben, der Jesus nicht als den Sohn bekennt. Was steckt dahinter, wenn einer Jesus nicht als den Christus bekennt? Aus 1 Joh 4,1-3 wird das deutlicher: a) Bekennen oder Nicht-Bekennen ist eine Folge daraus, ob man Gottes Geist oder den Geist der Gegenseite hat. Bekenntnis ist nicht Frage der persönlichen Ansichten, sondern ist im Rahmen des pneumatologischen Dualismus zu beurteilen. Das ist grundsätzlich ähnlich wie in 1 Kor 12,3 (im Heiligen Geist bekennt man: Jesus ist der Herr). Ob man also Jesus als den Christus, den vom Heiligen Geist Gesalbten, und den Sohn Gottes (was einer immer durch den Heiligen Geist wird) im Bekenntnis anerkennt oder nicht, das ist davon abhängig, ob man selbst diesen Heiligen Geist (4,1.2f) hat oder nicht. – Die Begründung des Christus-Titels im Heiligen Geist ist keine Erfindung des 1 Joh. Sie gründet in der großen Bedeutung, die Jes 61,1f für Judentum (11 Q Melch) und Neues Testament hat (vgl. Lk 4: »Der Geist des Herrn hat mich gesalbt …«). Daher verwundert es nicht, dass die Menschen mit dem falschen Bekenntnis »Pseudopropheten« genannt werden; dem falschen Prophetentum fehlt Heiliger Geist. Dem
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entspricht die Rede vom Chrisma, von der Salbung durch den Heiligen Geist, in 2,27. b) Jesus ist der Christus (der Gesalbte), weil er selbst das Chrisma (die Salbung) besitzt, und seine Anhänger, die Christen, mit ihm (2,20.27). Wer das Christus-Sein Jesu leugnet, besitzt selbst nicht den Heiligen Geist, mit dessen Hilfe man das Christus-Sein Jesu wahrnehmen könnte. Sie sind die Anti-Christusse, weil sie genau den Geist, der zum Christus macht, nicht haben. c) Bei Jesus geht es darum, dass der Christus »im Fleisch«, d. h. als schwacher Mensch gekommen ist. Nach 5,6 ist er übrigens gekommen durch »Wasser und Blut«. Beides steht als Inbegriff des Kreatürlichen in enger Beziehung zum »Fleisch«. d) Damit wird hier Ähnliches behauptet wie an den Stellen, an denen Jesus Christus mit den beiden gegensätzlichen Kategorien »Fleisch« und »Geist« erfasst wird (Röm 1,3f; 1 Tim 3,16). In der Sprache des 1 Joh heißt das: Jesus ist der mit dem Geist gesalbte Christus, der in menschlichem Fleisch erschienen ist. Damit aber geht es bei der Irrlehre der Gegner des 1 Joh nicht um Doketismus oder eine andere exotische Häresie des 2. Jh. n. Chr., sondern die Wendung »Christus im Fleisch« ist als Nachhall von Röm 1,3f
953 und 1 Tim 3,16 zu begreifen. Voraussetzung ist, wie hier dargestellt: Der Christus-Titel ist wesentlich vom Heiligen Geist her zu bestimmen. So wird also in 1 Joh eine bestimmte, eigenartige Systematik erkennbar: Jesus ist Mensch (im Fleisch gekommen, gestorben, daher Wassertaufe auf seinen Tod). Durch den Heiligen Geist ist er Christus (der Geistgesalbte) und Gottes Sohn (das wird man stets durch den Heiligen Geist). Wer sich zu ihm bekennt, ist ebenfalls Mensch, aber sein Bekenntnis spricht er im Heiligen Geist. Darin besteht zunächst die Gemeinsamkeit und Gemeinschaft mit Jesus. Sie ist Ausdruck des gemeinsamen Besitzes des ewigen Lebens. Diese Systematik hat deutlich früh- bzw. vorpaulinische Züge. Welche Beziehung sie zur Bruderliebe hat, wird noch zu klären sein. Dazu an dieser Stelle schon: Ziel und Wirken des Heiligen Geistes ist es stets, trennende Unterschiede aufzuheben und dadurch Gemeinschaft zu schaffen. Das JohEv hat die Pneumatologie des 1 Joh verändert. Der Heilige Geist wird als Paraklet wesentlich eingeschränkt auf die Gewähr für die nachösterliche Überlieferung von Jesus (Thema Inspiration). Die Liebe wird im Gebot Jesu (!) verankert.
1 Joh 3-4: Fehlende Liebe und falsche Lehre 1 Joh 2,28 – 3,24: Theologie der Offenbarung Dieser Abschnitt ist die Theologie der Offenbarung nach 1 Joh. Leitwort ist »offenbaren« (griech.: phaneroun; 2,28; 3,2 [2]; 3,5.8; griech.: phaneros in 3,10) sowie »erkennen« (2,29; 3,1 [2]; 3,6.16.19.24); gerahmt wird der Abschnitt durch »Freimut« (2,28; 3,21) gegenüber Gott. Dazu treten Worte des Sehens (3,2.6). Es fällt auf, dass die Verben des Erkennens sich vor allem im zweiten Teil unseres Abschnitts finden und auf das Wahrnehmen der Offenbarung durch die Gemeinde bezogen sind. Dagegen hat das »Offenbaren« stets Gott zum Subjekt. Zur Gliederung im Rahmen des 1 Joh: Der Abschnitt 2,18-27 beantwortet die Frage: Wem ist zu trauen? Dann folgen in 3,1-2 die Darstellung, wer die Gemeinde ist, und in 3,3-24 die Anwei-
sung, was zu tun ist. Ähnliches geschieht ab 4,1: 4,1-3 beantwortet die Frage, wem zu trauen ist (Autoritäten), in 4,4-6 wird die Gemeinde beschrieben, und 4,7-21 stellt die Konsequenzen dar. Es geht somit um zwei parallele Argumentationen zu den Themen Autorität – Gemeinde – Mahnrede. Die Paulusbriefe weisen in ihrem Aufbau grundsätzlich ähnliche Elemente auf. Die Theologie der Offenbarung beginnt in 2,28 mit einem Ausblick auf die Offenbarung Gottes (Jesu?) bei seiner Ankunft (Parusie). Es kommt darauf an, dass die Gemeinde Gott bei seiner Parusie freimütig gegenübertreten kann. Da in 3,21 vom Freimut gegenüber Gott (Vater) die Rede ist, kann man dieses Gegenüber auch für 2,28 voraussetzen. (Zu der funktionalen Identität von Jesus und Gott (vgl. 1,2). Dass Gott gerecht ist, und dass jeder, der gerecht handelt, »von ihm her« kommt, wissen in
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954 der Gegenwart nicht alle. Aus der Abfolge von 2,28 und 2,29 folgt, dass spätestens die Parusie dieses erkennen lassen wird. In der Gegenwart ist die Identität der Gemeinde als Gotteskinder vor den Menschen der Welt verborgen. Das entspricht dem Geheimnis der Gottessohnschaft in den Evangelien und auch bei Paulus (Röm 8,19.21). Auch nach Paulus werden die Christen erst bei der Parusie als Gotteskinder offenbar (Röm 8,19). Weil Kinder dem Vater ähnlich sind, wird dann die Ähnlichkeit der Christen mit Gott sichtbar werden. In der Gegenwart der Gemeinde wird diese künftige Ähnlichkeit vorbereitet, indem jeder Christ sich »heiligt, so wie Gott heilig ist«. Letzteres ist ein Zitat aus Lev 19,2: »Heilig müsst ihr sein, weil ich, der Herr, euer Gott, heilig bin«, d. h.: Die erstrebte Ähnlichkeit besteht in der Heiligkeit. Im JohEv ist das auf Jesus beschränkt: Er heiligt sich. In 1 Joh 3,3 gilt es noch allgemein für jeden Christen. Die Einschränkung des Evangeliums entspricht seiner Tendenz zur Betonung der Christologie und zur Zuspitzung auf sie. Dabei heißt »sich heiligen«: sich vor jeder Vermischung mit der »Welt« hüten und sich rein bewahren. Nachdem in 2,28 – 3,2 vom künftigen Offenbaren die Rede war, beschreibt 3,4-8 den Sinn der bereits geschehenen Offenbarung Jesu Christi. Er besteht in der Befreiung von der Sünde. Jesus selbst hat keinen Anteil an der Sünde (3,5b), er trägt (hebt) die Sünden weg (3,5), und jeder, der in (Verbindung mit) ihm bleibt, der sündigt auch nicht. Andererseits hat der Sünder Jesus weder gesehen noch erkannt. Die Sünde stellt auf die Seite des Teufels, der von Anfang an sündigt. Es gilt (wie in 3,3 bei der Heiligkeit) auch hier das Prinzip der Ähnlichkeit durch Nachahmung. Wer zum Sohn Gottes gehört, ahmt ihn nach in seiner Sündlosigkeit. Wer dagegen sündigt, ahmt den Teufel nach. Das Sein ist daher durch die Nachahmung des jeweiligen Protagonisten bestimmt. Zum Stichwort Teufel wird in 3,8 hinzugefügt, dass der Sohn Gottes gesandt wurde, um die »Werke des Teufels« aufzulösen. Der Ausdruck »die Werke des X auflösen« findet sich nochmals in einem apokryphen Jesuswort: »Ich bin gekommen, die Werke des Weiblichen aufzulösen« (Ägypter-Evangelium L. 2, Berger/Nord). Damit wird eine grundlegende Weltordnung aufgeho-
Der erste Brief Johannes
ben. Die Werke des Weiblichen sind Geburt und Tod, die Werke des Teufels ist das Böse in der Welt, speziell das Morden aus Hass oder nach 3,5 die Sünden. Ob Jesus die Werke des Teufels durch seinen Tod aufhebt, steht nicht da. Es wird aber zumeist wegen Joh 1,29 (»aufhebt/wegträgt die Sünde [Singular!] der Welt«) assoziiert. Hier wird indes eine andere Begründung gegeben: Nach 3,5b ist in Jesus keine Sünde, d. h. er hat daran nicht Anteil. Auch in der etwas weiter entfernten Stelle Röm 8,3 (»verurteilte die Sünde«) ist die Gerechtheit Jesu der Ermöglichungsgrund seines Tuns. In jedem Falle ist es die Gerechtheit Jesu. Der Ausdruck »Wegtragen (aufheben) der Sünde« gilt von Henoch nach slav Hen 64,4 (5) und meint sein stellvertretendes Tun zugunsten der Gerechten. Man kann an Joh 17 erinnern, wo Jesus für seine Jünger betet. In jedem Fall bedeutet Jesu Beendigen des sündigen Handelns ein weiteres Offenbarwerden, und zwar wird am Sündigen oder Nicht-Sündigen die Zugehörigkeit (Kindschaft) zu Gott oder zum Teufel erkannt. Die Differenz zwischen beiden besteht darin, dass Kain seinen Bruder ermordet, während die Christen einander lieben. Liebe und Mord haben jeweils Offenbarungscharakter. Sie sind beide je für sich ein Stück Enthüllung des verborgenen Seins der Welt. Das war schon bei Kain und Abel der Fall. Der Mord Kains war der Endpunkt und das Offenbarwerden böser Werke (3,12), Abel aber hatte gerechte Werke getan. Die Scheidung zwischen den beiden Bereichen geht noch weiter: Jesus hat sein Leben sogar eingesetzt »für uns«. Die Folgerung: »Auch wir müssen für unsere Brüder das Leben einsetzen.« (1 Joh 3,16b). Im Rahmen des Offenbarungsgeschehens bedeutet daher das Offenbarmachen des Sohnes zugleich ein Offenbarwerden derer, die wie der Sohn leben. Nach seinem Vorbild leben sie füreinander und bringen sich nicht gegenseitig um. Gerechte gab es schon früher (Abel), aber mit dem radikalen Fall des Gottessohnes gibt es einen Maßstab (füreinander da sein). Da er Vorbild ist, wissen die Menschen jetzt, woran sie sich ausrichten können. Noch zwei Konsequenzen gab es schon immer: Die beiden unterschiedlichen Typen von Menschen bringen es mit sich, dass die Gerechten von den Ungerechten gehasst werden. Und ande-
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Kapitel 3
rerseits haben die Gerechten Erbarmen mit allen, wenn sie in Not sind. Die Hassenden und die sich Erbarmenden sind die zwei Arten von Menschen, die seit der Offenbarung des Sohnes klar hervortreten. Die Offenbarung des Sohnes ist daher eine Art Treibsatz zur Unterscheidung von Gut und Böse in der Menschheit. Beim Studium dieses Abschnitts werden Analogien zum Konzept des Kirchenvaters Aurelius Augustinus von der civitas dei und der civitas diaboli erkennbar. Denn 1 Joh zeigt einen dualistisch-heilsgeschichtlichen Ansatz, der in seinen Wirkungen das christliche Geschichtsbild maßgeblich beeinflusst hat, obwohl die neueren Kommentare zu 1 Joh (Schnackenburg, Strecker, Klauck) davon nichts mehr wissen. Im letzten Absatz dieses Abschnittes (3,18-24) sagt der Verf. Grundsätzliches über Gott, das menschliche Herz und die Gebote.
1 Joh 3,1-2: Jetzt noch verborgen – am Ende offenbar Dieser Text ist ein Beispiel für ästhetische Theologie im Rahmen der Bibel. Erkennbar wird das an den Stichworten »offenbar sein«, »ähnlich sein«, »sehen, wie er selbst ist«, »sehen, wer wir sind«. Denn alle diese Zustände oder Tätigkeiten sind dem Schauen und der Ästhetik zugeordnet. Die wichtigste Kategorie ist die Ähnlichkeit. Im Unterschied zu Gen 1,26f (der Mensch ist nach Gottes Bild und Ähnlichkeit erschaffen) wird hier die Ähnlichkeit rein zukünftig gedacht (3,2). Im Mittelalter hatte man sich das Verhältnis von Schöpfung und Zukunft anders gedacht: Das Bildsein ist bewahrt worden, weil der Mensch frei und verantwortlich ist, die Ähnlichkeit aber ist verloren gegangen. Der Zustand des Menschen außerhalb des Paradieses bedeutet, dass er sich in einer Region der Unähnlichkeit bewegen muss. Aber mit Jesus Christus, dem vollkommenen Abbild Gottes, ist dem Menschen die Chance gegeben, die Ähnlichkeit wieder zu erlangen. Diese neue Verähnlichung geschieht »auf allen Kanälen«, auf allen nur denkbaren Wegen. So wird erwirkt, dass unser Zustand so, wie er vor dem Sündenfall im Paradies war, wiederhergestellt und sogar überboten wird. Auch nach 1 Joh 3,2 liegt alles daran, dass die
955 Menschen Gott ähnlich werden, Jesus Christus nachgestaltet. Im Zentrum dieser Wege steht die Liebe. Denn im günstigsten Fall begründet sie das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern. Niemand ist ja den Eltern in der Regel ähnlicher als die Kinder. Daher sagt man auch von der Ähnlichkeit zwischen Eltern und Kind: »Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.« Dass Christen Gottes Kinder werden konnten, verdanken sie seiner Liebe. Sie bringt in seine Nähe und macht, dass Menschen Anteil gewinnen an seinem reichen Leben, das Sieg über den Tod in allen seinen Formen bedeutet. Diese Kindschaft der Christen ist jetzt noch verborgen. Überhaupt pflegt Gotteskindschaft unter den Bedingungen dieser Welt stets verborgen zu sein. Ähnlich verborgen ist auch der Sohn Gottes (nach den Evangelien). Richtig »gelüftet« wird das Verborgensein erst am Ende der Zeiten. Der Sohn Gottes ist daher stets der Verborgene, und das gilt auch für alle Kinder Gottes. Ihr gemeinsames Geschick ist das Verkanntwerden in der Spannung zwischen verhüllter Gegenwart und offenbarer Zukunft. Erst das Ende der Zeit wird »alles klären«. Insofern ist diese Konzeption der Gottessohnschaft eine typisch biblische. Denn in der Bibel insgesamt wird alles, was jetzt zweideutig ist, erst am Ende von jedem Schleier der Uneindeutigkeit befreit. Auch wer Gott ist, also die Wirklichkeit Gottes, zeigt sich in voller Klarheit erst am Ende. Deshalb heißt es hier: »Denn wir werden ihn sehen, wie er selbst ist (3,2), und so werden auch alle sehen, wer wir sind.« Verwandt mit 3,2a ist Röm 8,19: »Die Sehnsucht der Schöpfung erwartet das Offenbarwerden der Kinder Gottes.« Bei Paulus ist jedoch im Kontext vom Leiden und Stöhnen die Rede. Genau dieser Gesichtspunkt fehlt in 1 Joh 3. Schon zu 1 Joh 2 haben wir festgestellt, dass der Aspekt des Leidens der johanneischen Theologie fehlt. In 1 Joh 3 geht es daher »nur« um die Spannung zwischen jetzt und dann. Bei Paulus wird diese Spannung zwischen jetzt und dann überbrückt durch die Gabe des Heiligen Geistes, der Angeld oder Anzahlung ist (Röm 8,23). In 1 Joh steht an der Stelle des Heiligen Geistes die »Liebe Gottes«. Auch Paulus kennt diesen Gedanken: »Die Liebe Gottes ist durch den Heiligen Geist ausgegossen in unseren Herzen« (Röm 5,5). Gemeinsam ist, dass die Kinder Gottes erst in Zukunft als Kinder
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956 Gottes erkennbar, ja offenbart werden. Beide Autoren sprechen davon, dass man das Entscheidende, Zukünftige jetzt nicht sieht (Röm 8,24f; 1 Joh 3,2). Auch für 1 Joh läuft daher alles auf Geduld hinaus; Paulus sagt das ausdrücklich (Röm 8,25). Historisch ist diese enge Verwandtschaft so zu beurteilen: Beide Autoren bieten einen gemeinsamen, sehr alten, genuin christlichen Ansatz; in der Theologiegeschichte sind diese Übereinstimmungen zwischen Paulus und dem Corpus Iohanneum Elemente früherer apostolischer Theologie. 1 Joh bietet denselben Grundansatz »einfacher« und erfordert weniger Wissen zum Verstehen. Dafür ist die paulinische Ausarbeitung dieser Gemeinsamkeit von größerer Prägnanz. Der Gedanke des 1 Joh, dass die Liebe Gottes die Kluft zwischen jetzt und dann überbrückt, ist erkennbar aus einer tiefen Spiritualität geboren. Es gibt eine Zeit, in der der Glaube schwierig ist und hart, in der Gott verkannt wird und die Christen verhöhnt werden, und zwar in dem Sinne, dass man den Himmel den Spatzen und den Pfaffen überlassen will. Doch es wird eine Zeit kommen, in der sich alles klärt, in der offenkundig wird, dass Adams und Evas Traum, Gott ähnlich zu sein, auch Gottes Traum für Adam und Eva ist. Denn die Ähnlichkeit mit Gott wird wiederhergestellt werden. In der Zwischenzeit gibt es nur die Liebe Gottes und die Aufforderung, diese an tausend Zeichen wahrzunehmen. Keine Beweise, aber jeden Tag mindestens zehnmal die Aufforderung, den unübersehbaren Zeichen zu trauen. Das wichtigste dieser Zeichen hat einen Namen: Jesus Christus. Tausend Spuren weisen darauf, dass Liebe das Geheimnis des Seins und die Zukunft der Welt ist und sein muss. Jede Liebe ist die Antwort auf Ungewissheit und der Ausdruck von Wagemut. Zu 1 Joh 3,16: Der Ausdruck »sein Leben einsetzen« (griech.: psychen tithenai) bedeutet keineswegs notwendig »sein Leben für den anderen in den Tod geben«, obgleich es dies einschließen kann. Dass dieses in 1 Joh 3,16a nicht der Fall ist, geht aus 3,16b zwingend hervor; denn dass »wir für die Brüder« sterben sollen, steht eben nicht da und wäre in dieser pauschalen Allgemeinheit auch wirklichkeitsfremd. Auch das »für« (griech.: hyper) ändert daran nichts und macht aus dem Einsatz des Lebens nicht schon einen
Der erste Brief Johannes
Sühnetod. Das »für« bedeutet hier – von Christen generell gesagt – nicht (nicht schon und nicht exklusiv) den Sühnetod.
1 Joh 3,18-24: »Aus der Wahrheit« Wie öfter in diesem Brief ist am Anfang (V. 18) und am Schluss (V. 23) dieses Abschnitts »Liebe« das Leitwort. In V. 18f ist dann das Stichwort »Wahrheit« bestimmend. Im johanneischen Sinne ist Wahrheit weniger die rechte Erkenntnis, sondern vielmehr die Treue und Beständigkeit Gottes selbst, das also, auf dem der Glaube fußt und woran er Anteil hat. Für 1 Joh ist wichtig, »aus der Wahrheit« zu sein, d. h.: Alles liegt daran, in der Welt auf der richtigen Seite zu stehen. Gerade deshalb versteht man 1 Joh falsch, wenn man für diesen Brief nur eine individualistische oder »kirchenferne« private Liebesmystik annimmt. Nein, in allen Einzelheiten ist auch dieser Abschnitt geradezu politisch bestimmt. Es zeichnet sich hier bereits ab, was Augustinus unter dem »Gottesstaat« im Unterschied zum »Staat des Teufels« als grundlegende Kräfte der Geschichte annimmt. Weil es – auch später im Sinne des Augustinus – höchst wichtig ist, zu welcher der beiden Parteien in der Weltgeschichte man gehört, geht es in V. 19 darum, »woher man ist«, ob man aus der Wahrheit ist, und dann fragt V. 24 danach, woran man denn die bleibende Nähe Jesu Christi erkennen könne. Die Antwort: Der den Christen geschenkte Heilige Geist garantiert diese Stabilität und Kontinuität (3,24b). Politisch bestimmt sind die Bilder von Anklage und Freiheit (Redefreiheit), von Geboten und natürlich von der Liebe zueinander. Liebe ist nicht zunächst ein unsagbares Gefühl, sondern in der ganzen Bibel und so auch hier ein konkretes Verhalten praktischer Solidarität. 1 Joh ist daher ein grundsätzlich kirchliches Schreiben. Die politische Form ist – das kann zu biblischen Zeiten noch nicht anders sein – die Monarchie: Nach V. 21 liegt alles daran, freien Zugang zu Gott zu haben und damit die Gewissheit, sozusagen in der täglichen Audienz des Herrschers, Gehör zu finden (V. 22a), und daher kommt alles darauf an, »vor Gott das ihm Wohlgefällige« zu tun. Auch das ist Herrschaftstheorie. Über politische Herrschaft hinaus geht freilich die Aussage
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Kapitel 3
in V. 20: »Gott ist größer als unser Herz und weiß, was wir wollen und können.« Nun haben es johanneische Texte so an sich, dass sie dem neuzeitlichen Leser häufig allzu Selbstverständliches zu bieten scheinen. Worin also lag damals, zur Zeit der Entstehung des Briefes, das wesentlich Neue? Einmal darin, dass wir gegen alle Anklagen des Herzens (also: gegen alle Regungen des schlechten Gewissens) in dem umfassenden Wissen Gottes über uns geborgen sind (V. 20). Denn dass Gott alles, auch das Wollen und Denken unseres Herzens, weiß, bedeutet nicht totalitäre Kontrolle. Vielmehr sagen alle biblischen Aussagen im Zusammenhang des Vorherwissens Gottes immer nur dieses: Der Mensch kann darin geborgen sein, er soll keine Angst haben. Dass Gott alles über den Menschen weiß, mindert gerade nicht dessen Verantwortlichkeit oder »Freiheit«, sondern begleitet sie wohltuend und ermöglicht sie erst. Oft ist Liebe mit Angst verbunden. Das rührt aus der Furcht vor Vergänglichkeit und Vergeblichkeit. Wo Gott darüber wacht, braucht der Mensch keine Angst zu haben. Das wesentlich Neue liegt sodann in der Priorität des Glaubens an Jesus Christus vor der Liebe (V. 23). Damit bildet dieser Brief das Doppelgebot der Liebe ab, bei dem stets das Gottesverhältnis den Vorrang hat. Das Christentum kennt auch in 1 Joh eine Priorität der Wahrheit vor der Liebe. Der Glaube an Jesus Christus ist nicht irgendeine Formel, sondern Jesus Christus als wahrer Mensch und wahrer Gott ist der Maßstab für jedes Handeln und auch jede Liebe. Neu ist schließlich auch, dass Gott den Menschen den Heiligen Geist geschenkt hat (V. 24); denn so ist gewährleistet, dass die Wirkung Jesu Christi mit seiner Erhöhung nicht aufhört, sondern fortgesetzt wird. Ergebnis der Exegese: Die Art, in der Gott sich geoffenbart hat, ermöglicht auf vielfältige Weise das soziale Handeln der Christen (Liebe). Augustinus erinnert zum Stichwort »Wahrheit« daran, dass Häretiker und Schismatiker, also Christen, die sich von der Gemeinschaft der Kirche trennen, wohl nicht wirklich die Brüder und Schwestern lieben. Zum »Gewissen« (Herz) merkt er an, dass jeder nur »vor Gott« sich ernsthaft fragen kann, ob er nicht doch letztlich aus
957 Ruhmsucht handelt. Wenn unser Text sagt, »vor seinem Angesicht« allein könne man Ruhe finden (3,19), so heißt das demnach: Vor Gott zu treten reinigt unsere Motivation bei allem, was wir Menschen »Liebe« nennen. Dann wird Gerechtheit nicht nur »vor den Menschen« getan. »Wenn es (dein Tun) aus Gott ist, dann rühme dich nicht vor den Menschen!« Zum Schluss bemerkt Augustinus: »Jeder also, der die Bruderliebe hat und sie vor Gott hat, da, wo Gott sieht, und dem sein Herz, in strenger Prüfung befragt, nichts anderes antwortet, als dass dort die wahre Wurzel ist, aus der die guten Werke erblühen, hat Zuversicht zu Gott, und alles, um was er ihn bittet, wird er von ihm empfangen, weil er seine Gebote hält.« Auch Benedikt XVI. geht es in der Ezyklika Deus est Caritas (2008) um die Frage, was das Unterscheidende christlicher Liebe sei. Er möchte dabei den »heidnischen« Eros, also die allgemein menschliche Sehnsucht nach Liebe, zur christlichen Liebe (agape, caritas) in eine positive Beziehung setzen. Nach dem gleichen Modell möchte der Papst auch Glauben und Vernunft so zueinanderbringen, dass durch den Glauben die Vernunft gereinigt und geheilt wird. So soll es nun auch bei Eros und Liebe sein: Die Sehnsucht, besonders das sexuell bestimmte Streben der Menschen zueinander, wird durch den christlichen Glauben nicht zerstört, sondern zu seiner Reife geführt und erst eigentlich menschlich und nicht bloße Trieb-Befriedigung. Nur die Liebe bewahrt den Eros davor, lediglich lustbetont zu wirken. Vergleicht man mit unserem Text in 1 Joh 3, so wird erkennbar: Genau das, was wir oben als »neuartig« an diesem Text darstellten, kann die letztlich unerfüllten Formen von Eros, Sehnsucht, Begehren und Sexualität integrieren und so auch heilen. Denn der Glaube ist nicht leibfeindlich, das Christentum nicht sexualfeindlich, sondern die wahre Liebe vollendet die Natur. Und die Angst darf fehlen.
1 Joh 3,19b-22: »Gott ist größer als unser Herz« Diese Stelle gehört zu den umstrittensten des ganzen NT. Die Gründe sind konfessioneller und seelsorgerlicher Art. Im Kern geht es um die Frage, was der Satz bedeutet: »Gott ist größer
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958 als unser Herz.« Wie liest die an liebevoller Seelsorge orientierte Fraktion diesen Satz? Für den Fall, dass das Herz des Menschen verurteilt, korrigiert der Verfasser des Briefes von vornherein das Urteil des Herzens: Nein, Gott sei viel größer als unser kleines, kleinliches und ängstliches Herz. Gott sei im Unterschied zu den kleinen Maßstäben der Menschen stets größer; denn, wie es heißt, er sehe alles (V. 20b). Er sehe also auch alle familiären, situativen und kulturellen, vor allem aber die psychologischen Bedingungen, unter denen der Mensch gehandelt habe, und sei daher weitherzig, lasse Fünfe gerade sein und sei in seiner Weite vergebungsbereit. Luther sei einer der ersten, der den Satz so deutet, und danach sei dieses das einhellige Urteil quer durch die Konfessionen – Joh. Calvin ausgenommen. R. Schnackenburg wird bei dieser Stelle in seinem Kommentar sehr emotional und will sich das deus semper maior an dieser Stelle von keinem Menschen nehmen lassen. Über Jahrhunderte hat die im Prinzip »sanfte« und sehr menschenfreundliche katholische Beichtstuhlmoral (gerade der Jesuiten) die Stelle genauso für sich in Anspruch genommen wie die Verfechter der lutherischen Gnadentheologie. Und wenn neuere Exegeten zur Allwissenheit Gottes auch die soziologischen und psychologischen Bedingungen rechnen, dann spiegelt sich auch darin die zeitgenössische Diskussion um die Ermäßigung der Schuld. Mir scheint dagegen die einhellige Deutung der Alten Kirche und fast des gesamten Mittelalters eindeutig im Recht zu sein. Meine Übersetzung: (19b) Im Angesicht Gottes werden wir unser Herz von Folgendem überzeugen: (20) Dass Gott größer ist als unser Herz für den Fall, dass unser Herz uns verurteilt. Denn Gott weiß alles. (21) Ihr Lieben! Wenn unser Herz uns aber nicht verurteilt, dann können wir freimütig vor Gott treten, (22) und das Erbetene empfangen wir von ihm, denn wir halten seine Gebote und tun, was ihm gefällt. Das erste Dass in V. 20 meint das Objekt des Überzeugens, das zweite Dass bezieht sich auf die Situation des Verurteilens. Über das doppelte Dass ist viel gerätselt worden. Der erste Dass-Satz meint die definitive Aussage (»Gott ist größer …«), der zweite beschreibt den Anlass. Die beiden Sätze liegen daher auf unterschiedlichen Ebenen. Aber man kann auch mit einer ein-
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fachen Wiederholung rechnen. – Der Satz »Gott ist größer als unser Herz, denn er weiß alles« kann sich aus folgenden Gründen nicht auf die Weitherzigkeit Gottes beziehen: a) Die Kardiognosie (Herzenserkenntnis) Gottes ist ein fester theologischer Topos. Gemeint ist, dass Gott lückenlose Klarheit über jeden Winkel des Herzens besitzt, denn er ist Schöpfer und Richter. Ein gnädiges Hinwegsehen über die Schuld ist mit diesem Topos jedenfalls nicht gemeint. In den Ausdruck »Gott ist größer« eine Weite in unserem Sinn des Wortes hineinzulegen, ist eindeutig modernistisch. b) Das Neue Testament kennt den Ausdruck, dass Gott größer ist, auch sonst. In Mt 12,6 sagt Jesus z. B.: »Größeres als der Tempel ist hier«, und damit meint er sich selbst. Darum geht es im Zusammenhang: Schon der Tempeldienst ist vom Sabbatgebot ausgenommen. Um wie viel mehr gilt das erst von dem, der größer ist als der Tempel: von Gott, der hier in seinem Sohn gegenwärtig ist. Wenn Gott oder der Sohn Gottes als der »Größere« am Werk ist, bedeutet das nicht Aufhebung der bestehenden Regeln, sondern deren Bekräftigung im Sinne von »Gilt erst recht …« (vgl. auch Lk 11,31.32), d. h.: Dass Gott der Größere ist, besteht nicht darin, dass er weniger streng oder großzügiger ist, einfach »menschliche Größe« zeigt und den Sündern viel oder gar alles durchgehen lässt. Gott ist der Größere, weil er die Dinge genauer kennt als jedes Herz. c) Die Beobachtung ist zutreffend, dass das Herz in 1 Joh 3,19b-21 an der Stelle steht, die sonst das Gewissen einnimmt. Aber in welchem Verhältnis stehen das Gewissen und der größere Gott zueinander? Nach den paulinischen Stellen Röm 2,15f und Röm 13,5 wird Gott niemals den Spruch des Gewissens (des Herzens) aufheben, sondern immer nur bestätigen. In Röm 2,15f heißt es gar: Das Gewissen ist ein innerer Gerichtshof im Menschen, und »Gott wird am Gerichtstag das richten, was in den Menschen verborgen ist« (V. 16). Der Unterschied ist, dass das Herz nicht sichtbar richtet, Gott aber dereinst ein offenkundiges Gericht vollziehen wird. Es kann keine Rede davon sein, dass nach dieser Anschauung (!) Gott barmherziger ist als das Gewissen oder Herz des Menschen. Gott ist genauer, und er wird entsprechend richten. – Die
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Anschauungen rund um den Terminus »Gewissen« lassen auch in anderer Hinsicht die Aussage zu, dass Gott größer sei: Das Gewissen wird oft vorgestellt als Instanz im Menschen mit Zügen von Tempel und Heiligtum. Gott ist selbst das größere Heiligtum; im Menschen ist ein kleines, wenn auch nicht weniger heiliges Abbild (vgl. K. Berger, Historische Psychologie des NT, 1992). d) 1 Joh 3,19b-21 gibt präzise den einzigen Weg an, wie Menschen ein nicht verurteilendes, sondern ein freimütiges Gewissen haben können. Dieser Weg besteht darin, Gottes Gebote zu halten. Er besteht nicht darin, dass Gott wegschaut oder die Sünde der Menschen nicht so ernst nimmt. Es ist sinnlos und wirklich allzu modern gedacht, wenn man dort von Gottes vermeintlicher Weite redet, wo es in Wirklichkeit auf Umkehr und Halten der Gebote ankommt. Dann und nur dann verurteilt das Gewissen nicht. 1 Joh wird doch wohl nicht diesen einzigen Ausweg durch die Rede von Gottes Weite blockieren. e) Ein Kommentar zu dieser Stelle ist 1 Joh 4,17b.18 über das Verhältnis von Angst (griech.: fobos) und Liebe. Die Liebe kann die Angst überwinden. Damit bestätigt sich die hier gegebene Interpretation von 3,20 f. Denn in den Quellen besteht nirgends Zweifel darüber, dass Angst oder Furcht das gegenüber Gott angemessene Verhalten ist. Das gilt für 1 Petr 2,17 genau so wie für Röm 13,7 oder für Mt 10,28. Um die Beschreibung dieser angemessenen (!) Angst geht es in 1 Joh 3,20 f. Wie in 4,17b.18 wird sie durch Liebe überwunden. Der Sprachgebrauch von 1 Joh 3 wird bestätigt durch TestXII Gad 5,3 (nicht von einem anderen, sondern vom eigenen Herzen verurteilt werden); TestXII Benj 6,7 (nicht so von den Menschen verurteilt werden wie von Gott).
1 Joh 4,1-6: Geist der Wahrheit – Geist des Irrtums Bevor ab 4,7 die Mahnrede beginnt, grenzt der Verfasser seine Autorität von der der Pseudopropheten (Antichristen) ab, legt die Adressaten auf ihr Bekenntnis fest und beschreibt ihren Heilsstand. Im Unterschied zu Paulusbriefen, die Ähn-
liches gerade zu Beginn aufweisen (Klärung der Autorität des Apostels, Beschreibung des Heilsstandes), ist hier der Dualismus schärfer ausgeprägt. Nach 4,1 geht es um die Alternative »aus Gott« oder »Falschpropheten«, nach 4,2f ist es der Geist von Gott oder nicht von Gott, der sich im Bekenntnis äußert (wie in 1 Kor 12,1-3). Die Formel in 4,2 (»Christus [= der vom Heiligen Geist Gesalbte] im Fleisch gekommen«) hatten wir als Widerspiegelung der Formel von Fleisch und Geist betrachtet. Der Antichrist ist hier ein Falschprophet, dessen Inspiration nicht von Gott ist. Der Heilige Geist in den Gläubigen ermöglicht zugleich die Wahrnehmung des Heiligen Geistes in Jesus Christus. So wird Gleiches durch Gleiches wahrgenommen (wie auch bei Markus die unreinen Geister den Heiligen Geist in Jesus wahrnehmen; nur eben hier die unreinen Geister auch den Heiligen Geist). – Der Dualismus wird in 4,6 voll entfaltet im Gegensatz von »Geist der Wahrheit« und »Geist des Irrtums«. In 4,4 wird das Stichwort vom Größersein Gottes aus 3,20 wieder aufgenommen. Im Licht dieser Stelle geht es in 3,20 beim Herzen noch um etwas in der Welt (Fleisch). Gott dagegen garantiert volle Wahrheit und Klarheit. Daher werden angesichts seiner die Konturen eher schärfer, als dass sie verschwänden. Die Besiegten in der Welt sind der Anhang des Antichrist.
1 Joh 4,7-21: Homilie über die Liebe Dies ist nun ein weiterer kostbarer Baustein in der systematischen Theologie des Verfassers, eine Homilie über die Liebe. In einem ersten Abschnitt (V. 7-10) stellt der Verfasser die Priorität der Liebe Gottes dar. Darauf wird dann in einem zweiten Abschnitt (V. 11 ff) die Verpflichtung der Christen zur Liebe erläutert. Gott hat die Menschen zuerst geliebt. Das wird sichtbar und beweisbar in der Sendung des Sohnes als Sühne für die Sünden (V. 9f). Das Stichwort »Sühne« muss sich nicht notwendig auf den Kreuzestod Jesu beziehen, es kann (wie hebr.: kafar in 1 QS 8) auch eine Folge der Gerechtheit der Gerechten in der Welt sein, verstanden als Ausgleich gegenüber aller Sünde. Wer sich so befreien lässt, gehört auf die Seite Gottes.
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960 Zu 1 Joh 4,9-10: In 4,9f greift der Verfasser zurück auf die vorpaulinische und vorjohanneische Sendungsformel, deren gemeinsamer Bestand ist: »Gott sandte seinen Sohn damit … wir«; Gal 4,4f; Röm 8,3f; Joh 3,17; 1 Joh 4,9). Sowohl in 1 Joh 4 als auch in Joh 3,16 wird dieses Tun Gottes als Liebe gedeutet und als Ziel der Sendung Leben verkündet (1 Joh 4,9; Joh 3,16). In 1 Joh 4 ist das Stichwort Liebe durch den Kontext ab 4,7 begründet, daher ist es in 1 Joh 4 eindeutig fester verankert als in Joh 3. In Joh 4,9f wird die Formel zudem in Teilen wiederholt (Gott sandte seinen … Sohn, damit … Gott sandte seinen Sohn als Sühne für unsere Sünden); vgl. auch 4,14. Die Stellen Joh 3,16 und 1 Joh 4,9 stehen in enger Beziehung zueinander und unterscheiden sich durch »Liebe« und »Leben« von den vorhin genannten paulinischen (Gal 4,4f; Röm 8,3f). Dem Stichwort »Sühnung« in 1 Joh 4,10 entspricht allerdings das paulinische Synonym »damit er loskaufe« in Gal 4,4 f. Zu 1 Joh 4,11-13: 4,11 ist wie eine Überschrift und vorweggenommene Zusammenfassung. Denn die Logik ist durch V. 11 allein noch nicht vollständig. Das wird in 4,12 nachgeholt. Ähnlich wie 4,12 äußert sich Joh 1,18: Gott hat noch niemals jemand gesehen. An beiden Stellen wird mit dem negativen Satz eine johanneische Denkform eingeleitet: Auf die generell negative Aussage folgt ein unerwarteter Ausweg. Nach Joh 1,18 besteht der »Ausweg« darin, dass der Sohn zwar nicht den Vater gesehen hat, aber rechts von ihm saß (= in seinem Schoße) und dadurch die Worte des Vaters mitbekommen hat; er hat sie erzählend ausgelegt. Dass der Sohn rechts vom Vater saß, beschreibt eine besondere Nähe. Diese Nähe wird nach 1 Joh 4,12 dadurch erreicht, dass »Gott in der Gemeinde« weilt, wenn die Christen einander lieben. Auch in diesem Fall ist das Evangelium christologisch zugespitzt, während der Brief noch eine allgemeinere Aussage über die Christen wagt. Die umgekehrte Reihenfolge wäre auch in diesem Fall unvorstellbar. Gottes Liebe wird dann »vollendet«, d. h. sie kommt zum Ziel bei denen, die sie geschenkt bekamen. Sie wird so realisiert, wie sie von Gott gedacht und gewollt ist, dass sie lückenlos bei den Adressaten endet. Das wurde laut 4,18 ermöglicht durch die Gabe des Geistes. Im Unterschied
Der erste Brief Johannes
zum JohEv ist der Heilige Geist hier noch die Kraft der Liebe. Ganz nahe bei 1 Joh 4,13 ist da Röm 5,5 (Heiliger Geist als Zuwendung der Liebe Gottes in den Herzen der Menschen).
1 Joh 4,8.16b: »Gott ist Liebe« Inhaltlich steht 1 Joh auch hier Paulus ganz nahe. Denn nach 1 Kor 13 bleibt die Liebe auch deshalb allein bestehen (gegenüber Glaube und Hoffnung), weil sie göttlich ist. Nach Röm 5,5 hat Gott durch den Heiligen Geist, d. h. als er selbst, Liebe in die Herzen der Menschen hineingegeben, und als Heiliger Geist ist er dort präsent (1 Kor 6,19). In der Formulierung findet sich Gleiches bei Philo v. Alexandrien. Die Gefahr der Entpersonalisierung ist in der Wirkungsgeschichte nicht immer vermieden worden. Sie gilt vor allem in der Gegenwart mit ihrem deistischen Gottesverständnis. Für den Verfasser ist diese Formulierung theologisch wichtig: Mit der Liebe, die Gott schenkt, eröffnet er den Zugang zu sich selbst. Die hervorragendste Tat der Liebe Gottes besteht darin, dass er seinen Sohn gesandt hat. Vor allem aber folgt der Verfasser hier demselben Denkmodell wie bei seiner Auffassung vom Heiligen Geist. Der Heilige Geist ist von Gott gegeben, macht Jesus zum Christus und wirkt im Christen die Liebe. Er ist also eine auf drei Stationen verteilte gemeinsame Präsenz Gottes. Bei der Liebe ist es entsprechend: Sie wirkt in den Christen, sie steht hinter der Sendung Jesu (vgl. z. B. 4,9), und sie ist mit Gott identisch, so wie das auch auf den Heiligen Geist zutrifft. Dabei kratzt die »Definition« Gott ist Liebe genauso wenig an der Personhaftigkeit Gottes wie an der Personalität der Christen oder Jesu Christi. Gegenüber der modernen deistischen Auslegung ist festzuhalten: »Gott ist die Liebe« fördert eher die Schwammigkeit oder Konturenlosigkeit des Glaubens. In 4,10 äußert sich die Liebe in der Sühne für die Menschen, die Jesus leistet – ein Punkt, der der deistischen Auslegung am allerwenigsten passt. Nach 4,16b ist in 4,17 sogleich vom Tag des Gerichtes die Rede, auch wenn es nicht um die Angst vor dem Gericht, sondern um deren Überwindung geht. »Gott ist die Liebe« (V. 8) – in der christlichen Er-
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Kapitel 4
wachsenenbildung der meist zitierte Satz der Bibel. Er hat die Funktion, die das Gleichnis vom verlorenen Sohn im 19. Jh. besaß. Er soll Dogmenfreiheit, Toleranz und die Überwindung des Gerichtsgedankens verkünden. Gott wird zur Übermutter; ein grundlegendes Missverständnis der Rolle der Mutter ist dann einkalkuliert. »Gott ist die Liebe« wird als Pflaster für Standpunktlosigkeit missbraucht, und dieser Gott wird dann auch durch die »Allversöhnung« zeigen, dass ihm alles egal war, was die Menschen an Gutem oder Bösem getan haben. Im Unterschied zur freigeistigen Auslegung ist die Liebe Gottes in 1 Joh an die Offenbarung Jesu Christi gebunden. In ihm und nirgendwo anders hat Gott seine Liebe geoffenbart, und zwar speziell darin, dass Jesus Christus hier (nach V. 10) ausdrücklich »Sühne für unsere Sünden« ist. Damit ist im unmittelbaren Kontext von »Gott ist die Liebe« ausgerechnet das berührt, das den freigeistigen Auslegern das denkbar Unangenehmste ist: die Rede von Sünden und Sühne. Schon in 1,7 war unmissverständlich gesagt: »Das Blut Jesu Christi, seines Sohns, reinigt uns von aller Sünde.« Und zusätzlich setzt der Begriff »Sühne« an unserer Stelle voraus: Jesus ist der Gerechte schlechthin. Nach jüdischem Denken aber bedeutet das: Er konnte so sein Blut oder sein Leben in Stellvertretung für die einsetzen, die sehr wohl den Tod verdient hatten. Alle anderen Menschen haben aus der Sicht der Bibel den Tod, der sie ereilt, redlich verdient, da sie fortwährend Leben zerstört und Gottes Gebote übertreten haben. Stellvertretung aber ist das Lebensgesetz der Bibel. Denn seit Abrahams Zeiten kann einer vor Gott treten, um für den anderen etwas zu tun, zum Beispiel für ihn zu beten. Jesus kann sogar sein ganzes Leben für andere einsetzen, denn sein Leben ist durch keine Schuld belastet. Jesus tritt frei von Schuld und unbelastet von Sünde vor Gott und sagt: »Nimm alles, was ich habe, mein ganzes Leben und Sterben, schreibe es denen gut, die den Tod verdient hätten. Denn der wirklich Gerechte kann gut mit Gott und für alle anderen etwas bei ihm erreichen. Der Gerechte sagt: Vater, schau nicht auf die Sünden der anderen, schau nicht auf ihr Verbrechen. Blicke auf mich, der ich keinen Tod verdient habe. An mir kannst du dich freuen. Ich stelle mich vor die Sünder.« Und der Vater sagt: »Ja, das nehme ich an. Dein vergossenes
961 Blut schont die Sünder. Dein kostbares Blut, dein unschuldiges Leben, reißt alle anderen heraus. Ich blicke auf dich, um deinetwillen will ich die anderen schonen.« Hatte Gott das Blut nötig, ließ er sich nur durch Blut versöhnen? Konnten wir nur durch Jesu Blut erlöst werden? Jesus wollte uns die Zuwendung des gnädigen Gottes verkünden, und er hat das treu bis in den Tod getan. Der himmlische Vater hat diesen Weg Jesu gesehen und gewertet als Treue Jesu zu seinem Sendungsauftrag und als Erweis der Liebe zu den Menschen. So wird der Tod Jesu zum glaubwürdigen Zeichen für die Zuwendung Jesu und des himmlischen Vaters für uns. Hat Gott hier Gewalt geübt und geheiligt? Nein, Gott reagierte auf den grausamen Tod Jesu, indem er erklärte: Eure Grausamkeit ist gerade nicht die meine. Was ihr als Grausamkeit ausgedacht und ausgeheckt habt, beantworte ich mit Liebe und Vergebung. Gott wandelt die Grausamkeit um. Er braucht sie nicht, er hat sie nicht nötig. Er beantwortet sie. Und diese Feindesliebe Gottes ist hier ganz zentral. Die Konzeption der Stellvertretung macht diese Liebe auch für diejenigen plausibel, die an die beteiligten Personen und an ihre Rolle in diesem Drama denken, also an Jesus, den Anwalt und Stellvertreter, an den himmlischen Vater, der um Jesu willen erst recht vergibt (weil er in dessen Liebe seine Liebe zu uns wiedererkennt) und an die Menschen, die nach Gewissheit suchen. Diese Gewissheit finden wir in der Schärfe der Opposition Gottes gegen Gewalt und Mord. Gott ist also darin die Liebe, dass er stärker ist als Mord und Sünde. Er überwindet das, was ihm zuwider ist, bei uns. Hinzukommt, dass wir Menschen diese Liebe weitergeben sollen. Auch in dieser Hinsicht ist Gottes Liebe daher nicht konturenlos und ungefähr, sondern ist an konkrete Liebe gebunden. Gerade dadurch wird Sünde wirklich besiegt; denn sie besteht ja darin, dass Menschen Leben nicht weitergeben, sondern für sich behalten. So äußert sich diese Liebe nicht in einer Theorie allgemeiner Toleranz, sondern in praktischer Solidarität. Und um noch ein weiteres Schlupfloch für moderne Gnosis zu stopfen: Wenn unser Text von Erkenntnis Gottes redet, dann meint er nicht Theorie, sondern ähnlich wie Adam Eva »erkannte«, was, wie jedermann weiß, etwas ziemlich Praktisches war. Damit ist die kirchliche Dimension der Liebe nachdrücklich betont.
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962 Augustinus schreibt für dieses Kapitel die berühmten Sätze: »Liebe und tu, was du willst! Schweigst du, so schweig aus Liebe; redest du, so rede aus Liebe; rügst du, so rüge aus Liebe; schonst du, so schone aus Liebe: Die Wurzel der Liebe sei in deinem Innern! Aus dieser Wurzel kann nur Gutes erblühen.« Auch diese Sätze sind nicht Abschaffung der Einzelgebote (das war das Liebesgebot auch bei Jesus nicht), sondern deren Zurückführung auf das innere Zentrum. Dieses innere Zentrum ist Gott selbst, nichts anderes.
1 Joh 4,14-16: Ein Zeugenbericht Dies ist ein Zeugenbericht und damit der Gattung nach vergleichbar mit 1,1-5 und Joh 21,24; Joh 1,14; 19,35. – An dieser unerwarteten Stelle vermag der Text Aufschluss zu geben über die Funktion dieser Gattung überhaupt (vgl. dazu K. Berger, Formen und Gattungen, 2005, § 118). Im Unterschied zur Anrede »ihr« (2. Person Plural) sind die Adressaten dieser Texte nicht die Gemeinde-Mitglieder, sondern Außenstehende (daher der betonte Einsatz »und auch wir«). Die »Wir« sind die Christen der ersten Generation, die hier sprechen, insgesamt. Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass in dem Abschnitt 4,14-16 a) nichts Neues steht. Vielmehr werden die Stichworte Liebe, Sendung, Sohn aus dem Kontext wiederholt, – b) dass die Christen insgesamt ihr Bekenntnis formulieren (»Sohn Gottes«) und – c), dass hier zum ersten und einzigen Male im Brief Jesus »Erlöser der Welt« genannt wird (sonst im ganzen Corpus Iohanneum nur in Joh 4,42, beim Übergang in die nicht-jüdische Welt). Denn »Erlöser der Welt« ist ein gut verständlicher Titel. – d) Im Unterschied zum vorangehenden und direkt nachfolgenden Kontext sind die Sätze hier einfach gebaut. – e) Das Wort »bekennen« findet sich in 1 Joh nur an herausragenden Stellen (2,13: Sohn Gottes; 4,2f: Christus im Fleisch). Das Bekenntnis richtet sich aber immer auch nach außen. – Damit hat der Zeugenbericht eine nach innen stabilisierende und nach außen hin apologetische Funktion. Daher dann auch der wiederholte Einsatz mit dem schon bekannten »Gott ist die Liebe« in 4,16b.
Der erste Brief Johannes
1 Joh 4,11-16: Erlöser der ganzen Welt Der Verfasser des Briefes ringt in diesem Abschnitt sichtlich um seine Glaubensgewissheit. Er lässt Zweifel zu und formuliert sie auch ziemlich direkt: »Niemand hat Gott gesehen.« Wir haben es mit einer unsichtbaren und im strengen Sinne unbeweisbaren Wirklichkeit zu tun. Diesen Einwand aus 1 Joh 4,12 kennen wir aus dem JohEv: »Gott hat niemals einer gesehen« (1,18). Das Evangelium macht dann aber sofort eine Ausnahme: Der eingeborene Sohn lag im Schoß des Vaters (Joh 1,18b) und hat davon erzählt. Diese »christologische Ausnahme« kennt 1 Joh hier nicht. Deshalb ist 1 Joh älter als das Evangelium. Das Material ist noch nicht so stark christologisch durchdrungen, im Evangelium ist es viel nachhaltiger auf Jesus bezogen. Der Verfasser oder ein Geistesverwandter hat dann ein Evangelium geschrieben, um seine Thesen und seinen Glauben enger und strenger an die Person Jesu zu binden. Insofern ist der Ansatz des Briefes von 1 Joh 1,1-4 im Evangelium umfassend zum Zuge gekommen. In 1,1-4 bezieht sich der Verfasser auf Jesus Christus – aber nicht auf Gott. Wie kann er, so fragen wir bezüglich des grundlegenderen Zweifels in 4,12, hier weiterkommen? Jesus konnte er wohl sehen und bezeugen, aber den himmlischen Vater nicht. Die Antwort: Liebe lässt dieses erkennen, und diese geht letztlich auf die Gegenwart des Heiligen Geistes in den Christen zurück. Liebe und Heiliger Geist – beides ist für den Verfasser des Briefes offenbar nicht völlig jenseits der Erfahrung, sondern das tröstet ihn über die Unsichtbarkeit Gottes. In der Tat ist Liebe auch für den heidnischen Menschen etwas Göttliches, von den Göttern selbst gestiftetes. Die Patristik gebraucht das Bild von Jakobs Himmelsleiter: Die Spielregeln dieser Leiter sind Hinaufsteigen und Herabsteigen. Wer hinaufsteigt, nähert sich Gott, wer herabsteigt, neigt sich den Menschen zu. Erst beides zusammen ist christlich. Und – so können wir im Blick auf das oben formulierte Problem der Erfahrbarkeit Gottes sagen: Genau in dieser Bewegung wird etwas von Gott greifbar. So wird der Verfasser des Briefes V. 11 verstanden haben: »Wenn Gott uns so geliebt hat, dann müssen wir auch einander lieben.« Daran, wie sich beides aneinander reibt und wie es zueinander vermittelt wird, an
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dieser Bewegung wird der lebendige Gott greifbar. Der Eindruck, es ginge beim Eros immer nur um Empfangen, bei der Liebe immer nur um Geben, täuscht: Auch Agape (die »christliche« Liebe) muss empfangen und kann nicht immer nur lieben. Das frühe Christentum pflegt die Frage nach der Erfahrbarkeit Gottes mit dem Hinweis auf den Heiligen Geist zu beantworten. Das ist ganz deutlich bei Paulus der Fall (Abba-Rufen; Geist als Angeld; beschneidungsfreie Heidenmission), es ist aber nach 1 Joh 4,13 genauso: Denn der Heilige Geist ist stets der lebendige Gott, insofern er die Grenzen überwindet. Das gilt von den Grenzen zwischen Gott und Mensch und auch von denen zwischen Mensch und Mensch. Genau diese Bestimmung hilft auch hier weiter. Gott hat Anteil an seinem Geist gegeben (V. 13). Diese Geistesgegenwart gibt die Gewissheit der Nähe Gottes. Nun konnte man allerdings einwenden und die Frage stellen, woher der Christ denn so genau weiß, dass es sich um Gottes Geist handelt und nicht um irgendeinen Ungeist. Die Geschichte des Christentums war auch damals schon randvoll von Menschen, die sich auf irgendeine Geisterfahrung beriefen und meinten, Recht zu haben. Auf dieses Problem antwortet der Verfasser in 4,14: Die »Gemeinde« (inklusive Verfasser) kann sehen und bezeugen, dass Jesus Christus von Gott gesandt ist, und zwar als Erlöser der Welt und als Sohn Gottes. Hier wird das Bekenntnis der Maßstab der Gottesgewissheit, und zwar in diesem Sinne: Wer Jesus als Sohn Gottes und Erlöser der Welt bekennt, der hat den rechten Geist und die rechte Liebe. Aus welchem inneren Grunde ist das so? Man sollte hier nicht einfach kirchenpolitisch antworten und sagen: Das Bekenntnis ist eben das Kriterium. Es muss deutlich werden, warum das so ist – ein für 1 Joh recht bedeutsamer, ja zentraler Ansatz. Der hat die rechte Liebe (darum geht es), der Jesus als den Erlöser der Welt bekennt. Dieser Zusammenhang zwischen Liebe und Bekenntnis besteht deshalb, weil Jesus als der Erlöser der ganzen Welt bekannt wird. Die Alternative wäre: als Erlöser Israels. Auch das JohEv schildert im ganzen Kap. 4 diesen Übergang, und auch dort fällt in 4,42 der Ausdruck »Erlöser der Welt«. Wer das bekennen kann, wer Jesus nicht vereinnahmt, sondern als Erlöser aller bekennt, der ist
963 ihm ähnlich, weil er keine Grenzen zwischen den Völkern mehr kennt. Genau hiermit, mit der Aufhebung der Grenzen zwischen den Völkern, sind wir auf dem Niveau, das im frühen Christentum dem Heiligen Geist entspricht. Nur die Liebe, die aus dieser Universalität des Heiligen Geistes kommt, ist die Liebe, die von Jesus ausgeht. Nur diese Universalität ist auch die Bestimmung Jesu. Nur eine universale Liebe ist ihm und dem Heiligen Geist angemessen. Oder anders gesagt: Dass der Heilige Geist die Schranken aufhebt, hat seine genaue Entsprechung in der Christologie (Erlöser der ganzen Welt) und in der Liebe der Christen, die gleichfalls keine Grenzen kennt. Damit wird dreifach dasselbe bezeugt. Und so ist es für Verfasser und Leser nach der jüdischen Zeugenregel (Dtn 19,15) über jeden Zweifel erhaben. Man muss hinzufügen, dass hier für das frühe Christentum in der Nachbarschaft zu Paulus nicht Selbstverständlichkeiten, sondern Brandneues gepredigt wird. Das ist keineswegs selbstverständlich gewesen: Nationalismus und Rassismus waren und sind bedeutende Vertreter eines Denkens in Schranken. Zu 1 Joh 4,16b: (»Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott …«) – hier fragt Aurelius Augustinus: »Wie geht das zusammen: ›Die Liebe stammt aus Gott‹, und: ›Die Liebe ist Gott‹ ? Er antwortet mit dem Hinweis auf die Dreieinigkeit und mit Hilfe von Röm 5,5: »Weil aber der Apostel sagt: ›Die Liebe ist ausgegossen in unseren Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist‹, müssen wir unter der Liebe den Heiligen Geist verstehen. Der Heilige Geist ist es, den die Bösen nicht empfangen können.« – Und zu 4,9 kommentiert Augustinus: »Siehe, wir werden aufgefordert zur Gottesliebe! Könnten wir ihn lieben, wenn er uns nicht zuvor liebte? Wenn wir säumig waren in der Liebe, so wollen wir doch wenigstens nicht säumig sein in der Gegenliebe. Zuerst liebte er uns so, wie wir ihn nicht lieben. Er liebte die Sünder, aber er löste die Sünden; er liebte die Sünder, aber er liebte nicht zur Sünde.« Auch zur Erfahrbarkeit der Gegenwart Gottes in der Liebe sagt Augustinus Erhellendes: Die Liebe kann man zwar nicht sehen – darin gleicht sie Gott. Aber sie hat »Füße, denn sie führen dich
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964 zur Kirche; sie hat Hände, denn sie strecken sich erbarmend nach den Armen aus; sie hat Augen, denn sie erkennt damit die Notleidenden; sie hat Ohren, von denen der Herr sagt: Wer Ohren hat zu hören, der höre. Es sind keine räumlich voneinander verschiedene Glieder, sondern im Geist sieht das Ganze zumal, wer die Liebe hat … Gewiss seht ihr nichts. Aber wie ihr jetzt ein Gefallen daran habt, da ihr eurer Stimmung Ausdruck gebt, mögt ihr auch ein Gefallen daran finden,
Der erste Brief Johannes
sie im Herzen festzuhalten. Denn … ich weise euch auf einen großen Schatz hin …« 4,17 nimmt das Stichwort »Freimut« bzw. »Angstfreiheit« aus 3,21 wieder auf. Während es in 3,23 hieß, das Gebot Jesu Christi werde erfüllt, »wenn wir einander lieben«, heißt es hier in 4,16, dass der, der in der Liebe bleibt, auch in Gott bleibt. – Aufschlussreich ist die Rede von Angst und Liebe in 4,17b.18. Denn sie ist ein exakter Kommentar zu der schwierigen Stelle 3,19f (s. o. dazu).
1 Joh 5: Glaube und Welt, und was für den Glauben zeugt 1 Joh 5,1-5: Christliche Bruderliebe Neue Argumente für die christliche Bruderliebe: 1. Wer den Erzeuger liebt, der liebt auch den, den er erzeugt hat. Hier ist in 1 Joh zum ersten Mal davon die Rede, dass die Christen Gott lieben. Weil sie aus Dankbarkeit Gott lieben, bezieht diese Liebe auch alles ein, was dieser Vater sonst noch erzeugt hat. 2. Die Liebe zu Gott aber besteht darin, dass »wir«, d. h. die Gemeinde, Gottes Gebote halten. 3. Gottes Gebote sind nicht schwer (ähnlich Mt 11,28!). Denn wer sie halten will, muss nicht erst gegen etwas kämpfen, einen Gegner niederringen, sondern erfüllt diese Gebote mit der Leichtigkeit des Siegers. Der Christ darf sich in der Rolle dessen fühlen, der die Welt besiegt hat. Er ist sie schon los, er ist schon frei. 4. Der Sieg (über die Welt) ist durch den Glauben an die Gottessohnschaft Jesu gewonnen. Warum ist das so? Warum ist der Glaube selbst schon ein Sieg? Folgt man dem frühchristlichen Sprachgebrauch in den Überwindersprüchen der Offb und in TestHiob, so ist mit Siegen die widerständige Geduld in aller Anfechtung und Versuchung gemeint. Insofern ist der Sieg das Ergebnis eines Kampfes, der im Durchhalten und Abwehren besteht. Gesiegt hat daher der bewahrte Glaube. Und dieser Sieg hat seine eigene Verheißung. Daher ist Glauben hier nicht das bloße Rechthaben einer Orthodoxie, sondern der verteidigte und bewahrte Standpunkt. Auch Jesus muss in den Versuchungsberichten (nach den Synoptikern) seine eigene Gottessohnschaft festhalten und bewähren.
Aber was heißt das »die Welt besiegen«? In 1 Joh ist die Welt das, was die Christen nicht lieben dürfen. Gewiss, Gott hat die Welt geliebt, indem er sich und seinen Sohn an sie verschwendete. Aber warum wird die Welt so schlecht beurteilt, etwa in 1 Joh 2,15: »Liebt die Welt nicht und auch nicht das, was in ihr ist«? Die »Welt« ist hier die Summe der Scheinwerte der Menschen, alles das, an das wir uns verkaufen und das Herr über uns wird an der Stelle Gottes. Es ist ein längerer Weg von 1 Joh 2,15 bis zu Joh 3,15 (»… also hat Gott die Welt geliebt …«). Das Evangelium korrigiert hier zwar nicht 1 Joh, aber die stärkere Anbindung des Evangeliums an das Judentum macht sich allein schon deshalb bemerkbar, weil Jesus im jüdischen Milieu geschildert ist (auch wegen Joh 4,22). Daher spielt im JohEv in Differenz zum 1 Joh auch die Schöpfung eine positive Rolle. 1 Joh erwähnt die Schöpfung überhaupt nicht. Insofern ist das JohEv weniger tendenziell dualistisch als 1 Joh. Zum Siegen in apokalyptischer Märtyrersprache, z. B.: »Dem Sieger werde ich von dem Manna zu essen geben, das der Himmel verborgen hält. Und ich werde ihm einen weißen Stein geben, auf dem ein neuer Name geschrieben steht, den nur er kennt; dieser Name ist ein Geheimname, der ihn schützen wird« (Offb 2,17). Der Märtyrer ist der Sieger. Äußerlich gesehen ist er der Verlierer, denn er verliert das für die »Welt« Wichtigste, sein biologisches Leben. Aber jeder Sieger über die Welt steht für die Würde des Menschen, die mehr ist als biologisches Leben. Die herausragende Besonderheit des Christentums ist die Gotteskindschaft, d. h. dass jeder
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Kapitel 5
Einzelne Gottes Kind ist, nicht mehr nur das Volk im Ganzen. Andere Bilder, wie das von Licht und Finsternis, Braut und Bräutigam, König und Volk Gottes finden sich auch im Judentum und im Islam. Bereits in der Verkündigung Jesu spielen aber Kinder eine besondere Rolle, und zwar weil die Beziehung zwischen Kindern und Eltern ein Bild ist für die unüberbietbar intensive Zuwendung Gottes zu den Menschen. Hier wird eine Nähe Gottes zu den Menschen verkündet, die es nie zuvor gab. Wir haben uns inzwischen an dieses familiäre Gottesbild Jesu gewöhnt. Wie revolutionär dieses aber zur Zeit Jesu war, das lässt sich daran erkennen, dass Jesus um der neuen Familie der Kirche willen die eigene Familie verlassen hat. Er fordert Gleiches auch von seinen Jüngern und Jüngerinnen. Sein Neuanfang betrifft die elementaren Sozialbeziehungen in der Familie. Denn dieses ist die gelebte Botschaft: Gott ist der Vater, Jesus unser ältester Bruder, die Kirche ist unsere Mutter, die Mitchristen sind unsere Geschwister. Jesu Botschaft tritt zuerst und vor allem als diese soziale Form in die Welt. Jesus will die neue Familie. Alles andere ist Konsequenz daraus. Auch beim Apostel Paulus ist dieses der zentrale Grundsatz, dass alle Christen durch den Heiligen Geist Gottes Kinder sind; durch eben diesen Geist ist Jesus Gottes Sohn und auferweckt. Und mit dem Corpus des JohEv und der johanneischen Briefe hat Paulus sogar dieses gemeinsam: In der ganzen griechischen Bibel findet sich der Ausdruck »Kinder Gottes« exklusiv bei Paulus und Johannes. Daher kann man sagen: Die Rede von der neuen Familie, von Jesu Gottessohnschaft und der Kindschaft der Glaubenden ist der innere Zirkel des Neuen Testaments. Aus 1 Joh 5,9 geht hervor, dass auch in diesem Kapitel die Gottessohnschaft Jesu zentral ist. In 1 Joh 5 werden nun die Konsequenzen für die christliche Ethik aus der neuen Familiarität gezogen. Theoretisch kann man eine Ethik sehr verschieden begründen. Man kann zum Beispiel von der Vielfalt der einzelnen Gebote ausgehen und vom notwendigen Gehorsam gegenüber diesen Geboten sprechen. Das ist der jüdische und vor allem der pharisäische Weg. Man kann vom Gewissen ausgehen und sagen, das Gewissen lehre einen je und je, was zu tun sei. Viele moderne Menschen halten sich an dieses Prinzip oder behaupten es.
965 Oder man spricht – seit den Stoikern – von der Pflichtethik und meint damit die einzelnen Verpflichtungen gegenüber Gott, Vaterland, Eltern, Kindern und Mitarbeitern und Fremden. Gegenüber allen diesen Möglichkeiten wählt 1 Joh 5 einen anderen und besonderen Weg. Dieser entspricht wie kein anderer dem neuen Weg Jesu. Denn es ist die Liebe zum Ursprung und zu denen, mit denen man einen gemeinsamen Ursprung teilt (s. o. unter 1.). Wollte man das mit unseren Begriffen wiedergeben, so wäre dies: emotionale Bindung an die Autorität der Eltern, Bodenständigkeit, Heimatliebe einerseits und Familiensinn, geschwisterliche Liebe und familiäre Solidarität andererseits. Aber Jesus und der Verfasser von 1 Joh meinen nicht Fortschreibung der natürlichen Beziehungen, sondern deren vollständige und schöpferische Erneuerung. Die Antike kennt kaum einen schärferen Kritiker der Familie, als Jesus es war. Er sagt: Wer nicht seine Familie hasst und sich selbst, der kann nicht mein Jünger sein (Lk 14,26). Auch der Verfasser von 1 Joh 5 spricht nicht die natürliche Familie heilig, sondern hat eine ganz neue im Auge. Eine neue Kindschaft und eine neue Geschwisterliebe. 5,2 heißt es »Wenn wir Gott lieben …« Kann das ein Mensch überhaupt, was hier scheinbar so leicht gesagt wird? Zu 1 Joh 5,1-3: Der erste Abschnitt unseres Textes (V. 1-3) spricht von Glauben und Lieben (= Gottes Gebote halten). Der Sinn dieser Sätze: Glaube an Jesus, den Sohn Gottes, und Liebe zu den Mitchristen werden ganz eng aneinander gebunden. Das ist der Zusammenhang von Rechtgläubigkeit und Geschwisterliebe. Der zentrale Begriff lautet: Gottes Kind(er). Jesus ist Gottes Kind, und die Christen sind es auch. Das aber, was sich ähnlich ist, liebt sich, jedenfalls ist es leicht, sich zueinander solidarisch zu verhalten, wenn man das weiß. Was sind es für Menschen, die 1 Joh so anredet? Waren es Menschen nach lautem, törichtem, schrecklichem Streit? Im nächsten Versblock (V. 4-5) ist der Verfasser schon mutiger, die Leser haben Tritt gefasst. Denn er spricht jetzt vom Sieg. Dass die Gemeinde mit Gott verbunden ist, bedeutet nämlich nicht nur warmen Regen, sondern Kraft, weltüberwindende Kraft. Das trauten
Berger (08129) / p. 966 / 19.5.2020
966 sich zur Zeit des 1 Joh ganz andere zu: die starken Heere Roms.
1 Joh 5,6-9: Zeugen der Gottessohnschaft Jesu Der Verfasser geht nun daran, die Gottessohnschaft Jesu nach den Regeln des biblischen Zeugenrechts mit historischen Zeugnissen und Argumenten abzusichern. Nach Dtn 19,15 muss jedes Verfahren im Urteil auf mindestens zwei oder drei Zeugen oder Zeugnisse sich berufen können. Auch im JohEv spielt diese Zahl der Zeugnisse immer wieder eine große Rolle. Die Deutung der drei Zeugnisse in 1 Joh 5 gehört zu den exegetisch schwierigsten Stellen des Neuen Testaments, nicht zuletzt wegen des so genannten Comma Iohanneum. Denn die lateinische Überlieferung liest V. 7f so: »Drei sind es, die Zeugnis geben auf der Erde, der Geist, das Wasser und das Blut. Und drei sind es, die Zeugnis geben im Himmel, der Vater, das Wort und der Geist.« Diese Fassung wurde auch lehramtlich für authentisch erklärt (auch M. Luther hat sie in V. 7), enthält sie doch ein gewichtiges frühes Zeugnis über die Dreifaltigkeit. Auch einige griechische Handschriften haben diesen Text, vertauschen aber die Reihenfolge der beiden Sätze. Die übrigen griechischen Handschriften lesen nur: »Denn drei sind es, die Zeugnis geben: Geist, Wasser und Blut, und diese drei stimmen überein« (V. 7). Die Deutungsversuche allein schon dieser griechischen Fassung sind zahlreich. In unserer Übersetzung (Berger/Nord) haben wir diese drei Elemente auf die Taufe zentriert gedeutet: Jesus Christus wird wirksam in Wasser und Blut. Denn er hat Blut vergossen bei seinem Tod, und dieses wird wirksam im Wasser der Taufe, das uns wäscht. Der Heilige Geist gibt Zeugnis von dem, was in der Taufe geschieht: Wir werden Kinder Gottes. [Und der Heilige Geist ist Gottes Wirklichkeit im Wort.] (7) So gibt es drei Zeugen: (8) Geist, Wasser und Blut. Stützen kann sich diese Auslegung auf 1 Joh 1,7, wo der Verfasser sagt: »Wenn wir aber unser Handeln am Licht ausrichten, weil auch Gott im Licht ist, dann stehen wir mit ihm und untereinander in Gemeinschaft. Dann kann das Blut Jesu, des Sohnes Gottes, auch wirklich jede Schuld von uns abwaschen.« Auch in der Offb steht das Waschen
Der erste Brief Johannes
der Kleider im Blut des Lammes offensichtlich für die Taufe. Das Taufwasser hat daher in 1 Joh wie in Offb theologisch die Qualität der Blutflüssigkeit übernommen, von den Sünden zu reinigen. – Schließlich nimmt V. 9 noch Bezug auf Gottes (eigenes wörtliches) Zeugnis über seinen Sohn (»Du bist mein geliebter Sohn …«), und das kann man in der Taufe Jesu annehmen. Gott bekennt sich zu seinem Sohn. Und die Taufe Jesu steht zur Taufe der Christen in enger Beziehung. Die lateinische Überlieferung fügt zu den drei Zeugnissen auf Erden noch drei (höherwertige) im Himmel hinzu. Das liegt in der Tat nahe, weil bei der schon erwähnten Taufe Jesu vom Himmel her (!) Gottes Stimme ertönt, und der Himmel sich auftut, ja weil vom Himmel her Gottes Heiliger Geist auf Jesus herniederkommt. Die lateinische Überlieferung stellt demnach der Taufe der Christen, wie sie mutmaßlich in der Gemeinde des 1 Joh geübt wird, sehr viel deutlicher als die griechische Überlieferung die eigene Taufe Jesu gegenüber. Dank V. 9 aber, der textkritisch relativ unbestritten ist, laufen aus meiner Sicht beide Fassungen inhaltlich auf dasselbe hinaus. Nun muss man angesichts unserer Deutung fragen, wie wir das »der kommt durch Wasser und Blut«, auf Jesus Christus bezogen, verstehen. Wir haben übersetzt: »Jesus Christus wird wirksam in Wasser und Blut.« M. Luther hat: »Dieser ist’s, der da kommt mit Wasser und Blut.« Wer mit einer gnostischen Gegnerschaft in 1 Joh rechnet, legt den Vers christologisch, nicht sakramental aus (so R. Schnackenburg), was dann bedeuten würde: Jesus ist wahrer Mensch geworden, wie das auch bei der Öffnung der Seite Jesu am Kreuz sichtbar geworden sei (Wasser und Blut). Eine gnostische Gegnerschaft wird aber zu 1 Joh wie zum JohEv heute nicht mehr oft angenommen. Das hängt auch von der Datierung des Briefes ab. Ich setze ihn, wie gesagt, relativ früh an (55 n. Chr.) und vor der Abfassung des JohEv. Das Zeugnis von Wasser und Blut ist eins. Gott wäscht die Sünden der Menschen ab. Die Alte Kirche rückt die Taufe Jesu in diesem Sinne neben seinen Tod am Kreuz und sagt: Wenn Jesus getauft wurde, ohne eigene Sünden zu haben, dann kann man auch sagen: Er wurde stellvertretend für uns getauft. Wie er den Tod auf sich nahm, ohne eigene Sünden büßen zu müssen,
Berger (08129) / p. 967 / 19.5.2020
Kapitel 5
so nahm er die Taufe auf sich in Stellvertretung für uns. Beides »konkurriert« nicht (das wäre modernes Konkurrenzdenken), sondern es ist in beiden Fällen dieselbe Handschrift Gottes. Deshalb kann man Wasser und Blut in ihrer Funktion sakramental gleichsetzen. Theologisch bedeutet das: In der Taufe und im Sterben ist Jesus uns vorausgegangen. Weil er diesen Weg gegangen ist, wird er für uns sinnvoll und bleibt keineswegs leer. Jesus hat in beiden Ereignissen Zeichen gesetzt für das, was uns hier gleich doppelt angeboten wird: Vergebung der Sünden. Die Altlasten sind behoben, wir können neu beginnen. Denn aus reiner Liebe wendet sich Gott mit diesen überdeutlichen Zeichen den Menschen zu. Resultat: Geist, Wasser und Blut beziehen sich zunächst gemeinsam auf die Taufe der Christen. In der Taufe der Christen sind Wasser- und Geisttaufe zusammengeführt. Joh 3,5 bringt diesen ökumenischen Prozess der Annäherung der beiden Taufen zum Ausdruck. In der Wassertaufe werden die Christen durch Christi Blut abgewaschen; denn das Blut wird durch Wasser dargestellt (vgl. 1 Joh 1,7). Darüber hinaus aber gilt für den Status Jesu und der Christen: Der Heilige Geist macht Jesus zu Gottes Sohn und die Christen zu Gottes Kindern. Nicht nur in Ez 36,26, sondern auch anderswo kann die reinigende Rolle des Geistes durch Wasser dargestellt werden. Und das Blut Jesu Christi macht die Christen zu Gottes Eigentum[svolk] (vgl. Apg 20,28). In beiderlei Hinsicht bestätigen sich die Elemente Geist, Wasser, Blut gegenseitig.
1 Joh 5,9-12: Zeugnis der Menschen – Zeugnis Gottes Nicht erst im JohEv, sondern bereits in 1 Joh besitzt der Begriff »Zeugnis« eine zentrale Rolle. Das JohEv wird dadurch insgesamt zu einem Prozess-Dokument. In 1 Joh 5 sind Geist, Wasser und Blut die nach der Zeugenregel von Dtn 19,15 vorgeschriebenen »zwei bis drei« Instanzen. Das meint 5,9b: Gott hat bei der Taufe durch den Heiligen Geist Zeugnis abgelegt über seinen Sohn. Das geschah, indem Gott seinen Heiligen Geist sandte und gleichzeitig erklärte: »Du bist mein geliebter Sohn.« Wenn das der Sinn von 5,9b ist,
967 dann setzt der Evangelist an dieser Stelle die Taufüberlieferung (ähnlich wie Mk 1 par) voraus. 5, 9 ist mit Joh 3,11-13 verwandt. Denn in 5,9 wird das Zeugnis, das Menschen geben, unterschieden von dem Zeugnis, das Gott selbst gibt. Das Zeugnis Gottes über seinen Sohn ist größer (bedeutender, gewichtiger). Joh 3,11-13: »Was der Täufer und ich wissen, das verkünden wir, und wir bezeugen, was wir gesehen haben. Und trotzdem wollt ihr unser Zeugnis nicht hören. Wenn ihr schon nicht glaubt, was ich euch über Irdisches sage, wie viel weniger werdet ihr dann glauben, was ich euch über den Himmel sage. Allein der Menschensohn ist in den Himmel hinaufgestiegen, wie er zuvor vom Himmel herabgestiegen ist.« Das Zeugnis, das nach 5,9 die Menschen geben, entspricht in Joh 3,11 dem, was Johannes und Jesus über Irdisches sagen. Dem Zeugnis Gottes über Jesus in 5,9 entspricht das, was Jesus über den Himmel (speziell über die Herkunft des Menschensohnes von dort) sagen wird. Weil aber das Zeugnis Gottes gewichtiger ist, steigert sich auch die Verantwortung der Menschen gegenüber diesem Zeugnis Gottes. Nach 1 Joh 5,6 war auf jeden Fall das, was der Heilige Geist gesagt hat, direktes Zeugnis Gottes. Ob es hier im Kontext überhaupt ein Zeugnis von Menschen gibt und nicht 9a nur als allgemeines Beispiel genannt wird, bleibt fraglich. Es könnte aber sein, dass die Bezeugung von Wasser und Blut hier als ein eher irdisches Zeugnis aufgefasst wird. Denn das Blut, von dem die Rede ist, kann nur das am Kreuz vergossene sein. Öfter findet man die Vermutung, die Kombination von Wasser und Blut gehe zurück auf die Szene der Öffnung der Seite Jesu mit der Lanze nach Joh 19. Doch das scheitert daran, dass man Joh 19 für den Verfasser des 1 Joh nicht unmittelbar voraussetzen darf (methodisches Prinzip: nicht mehr Voraussetzungen annehmen als notwendig). Außerdem ist dann der Heilige Geist nicht unterzubringen. Insbesondere eine symbolische Deutung auf Sakramente wäre ein Anachronismus.
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1 Joh 5,15-21: Schlussfolgerungen In diesem Abschnitt werden zwei Folgerungen aus dem Brief gezogen. Diese beiden Folgerungen hängen untereinander zusammen. Die erste ist positiver Art, die zweite ist stark eingrenzend und sozusagen negativ. Die positive Folgerung lautet: Wer Gottes Gebot hält, dessen Gebet wird erhört. Wer die Geschwister im Glauben liebt, darf vor Gott ohne Angst sein, er darf freimütig sein, er hat in diesem Freimut (griech.: parrhesia) uneingeschränkten Zugang zu Gott und wird erhört. 1 Joh liefert für die Diskussion um die rätselhafte Verheißung einen notwendigen Baustein: Die Voraussetzung der Gebetserhörung ist der mit Jesus Christus geschaffene freie Zugang zu Gott, durch Kindschaft und Angstfreiheit. Aus dem Brief ist ersichtlich, dass dieser Freimut nicht nur ein Lüftchen oder eine »Empfindung« ist, sondern dass er begründet ist als Gabe des Heiligen Geistes. Kap. 5 ist keineswegs, weder in Teilen noch im Ganzen, ein Nachtragskapitel, wie manche vermuten. Die Bedeutung der parrhesia, des Freimuts, wurde schon zu 2,28; 3,21; 4,17 betont. Es zeigt sich nun, dass das Wort eine der tragenden Säulen in der praktischen Zielsetzung von 1 Joh ist. Denn wer Freimut besitzt, kann sich ohne Angst Gott nähern und darf sogar gewiss sein, dass sein Gebet erhört wird. 1 Joh ist daher am Ende ein Traktat darüber, für wen man sinnvoll beten sollte und für wen nicht. Die negative Folgerung lautet: Wer die unvergebbare Sünde begeht, für den zu beten ist zwecklos. Der Verfasser des 1 Joh kennt offensichtlich die in den Synoptikern und bei Paulus geläufige unvergebbare Sünde. Diese Sünde ist die Sünde gegen den Heiligen Geist. Wer bestreitet, dass Jesus dem Heiligen Geist seine Gottessohnschaft verdankt, der begeht die Sünde wider den Heiligen Geist. Insofern schließt sich der Kreis: Die Gegner des 1 Joh bestreiten, dass Jesus der Christus ist, und dies wäre er durch den Heiligen Geist. Daher sind die Gegner des 1 Joh die klassischen Sünder, die sich mit der unvergebbaren Sünde gegen den Heiligen Geist belasten. Für alles darf, kann und soll die Gemeinde des 1 Joh beten, nur nicht für die im Brief genannten Gegner. Denn diese haben die unvergebbare Sünde auf sich geladen.
Der erste Brief Johannes
Bereits zu Mk 3,27f und 1 Kor 3,17 wurde diskutiert, worin diese Sünde eigentlich besteht und warum sie so schlimm ist. Sie besteht darin, dass man den Heiligen Geist dort bestreitet, wo er in Wahrheit ist, und umgekehrt: Dass man behauptet, er sei dort, wo er in Wahrheit nicht ist. Das gilt zunächst für Jesus als Gottessohn (Mk 3,27f; 14,62 und 1 Joh), aber es gilt für die Gemeinde als Tempel des Heiligen Geistes: Wer sie spaltet, behandelt sie so, als sei sie ein profaner Verein. Er übersieht ihren grundsätzlich durch den Heiligen Geist bestimmten Charakter. Daher zerstört Gott ihn (1 Kor 3,17). Für 1 Joh wird Jesus durch den Heiligen Geist der Messias. Und das gilt auch für den Glauben an ihn als den Messias. Der beruht auf derselben Wirkmacht des Heiligen Geistes. Die »Sünde zum Tode« ist die unvergebbare, denn der Sold aller nicht vergebenen Sünde ist der Tod.
1 Joh 5,18-21: Abriss der Theologie von 1 Joh Hier gibt der Verfasser nochmals einen Abriss seiner Theologie. Wie immer, so ist auch dieses Mal etwas Neues darin; in diesem Fall ist es der Teufel (V. 19, griech.: ho poneros, wie im Vaterunser). Im dualistischen Weltbild des Verfassers stehen sich gegenüber: Gott und die aus ihm Geborenen (seine Kinder; inklusive Jesus Christus) auf der einen Seite. Auf der anderen Seite stehen der Böse (der Teufel) und die ganze Welt in seiner Hand. Die entscheidende Erkenntnis Gottes hat der Sohn den Menschen gebracht. Es ist die Erkenntnis des Wahren, denn es ist der wahre Gott. Er hat sich im Sohn geoffenbart. Zu 1 Joh 5,20b: Wie in Röm 9,5 wird auch hier Christus mit Gott identifiziert. Das ließ sich schon öfter für 1 Joh beobachten. Und 1 Joh ist in dieser Hinsicht genauso wenig abzulehnen (als früh-dogmatisch) oder naseweis zu verbessern wie Paulus in Röm 9,5. Beide repräsentieren hier nicht irgendein späteres Stadium der Dogmatik, in der man vergessen hätte, dass Jesus wahrer Mensch war. Es ist auch nicht so, dass beide den Sohn nicht vom Vater unterscheiden könnten. Aber es geht hier um die Offenbarung. Das ist eine sehr ursprüngliche und grundlegen-
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Kapitel 5
de Erfahrung der frühen Christen und nicht etwa spätere Zutat oder Fehlentwicklung. Der Sohn offenbart nichts Eigenes, sondern den Vater. Das kann heutige Theologie wieder entdecken: »Gleichzeitig aber hat Gott mit Christus sein Gesicht, sein Antlitz gezeigt. Der Vorhang des Tempels ist zerrissen, er ist offen, das Geheimnis Gottes ist sichtbar. Das Erste Gebot, das Bilder Gottes ausschließt, da sie nur dessen Wirklichkeit herabsetzen könnten, ist geändert, es ist erneuert worden und hat eine andere Gestalt. Jetzt können wir im Menschen Christus das Antlitz Gottes sehen, wir können Ikonen Christi haben und so sehen, wer Gott ist. Wer dies begriffen hat, wer sich von diesem Geheimnis hat berühren lassen, dass Gott seine Hüllen abgelegt hat, dass der Vorhang des Tempels zerrissen ist, dass Gott sein Antlitz gezeigt hat – der findet eine Quelle unaufhörlicher Freude« (Benedikt XVI., Jesus von Nazareth II, 2010, 233). Zu 1 Joh 5,21: Erstaunlich ist, dass auch die Adressaten vor dem Abfall zu den Götzen bewahrt werden müssen. Aussagen mit »sich hüten vor …«, »(sich) bewahren« (griech.: fylassein) ge-
969 hören in den Schlussteil von Reden oder Briefen (2 Thess 3,3; hier ebenfalls »das Böse«, griech.: poneron; 1 Tim 6,20; 2 Petr 3,17), und zwar synonym mit »seid wachsam« oder »achtet auf euch«. Das Abfallen zum Götzendienst ist aus der Sicht des Verfassers die direkte Konsequenz der Ablehnung des christlichen Credos. Denn wenn die Welt in der Hand des Teufels ist, dann ist sie auch voller Götzen. Beides ist identisch. Wer Christus leugnet, dem bleiben nur die Götzen. Es gibt keine mittlere Wahrheit, sondern nur die Erkenntnis des wahren Gottes durch Jesus Christus – oder eben gar keine Erkenntnis und damit die Finsternis des Götzendienstes. Daher ist nicht von einer akuten Gefahr in der Gemeinde auszugehen, sondern der Verfasser meint seine Warnung grundsätzlich. Er kann von seiner Glaubensüberzeugung her nicht anders urteilen. Aus diesem Grund betont er das Wort vom »wahren Gott« mehrfach (dreimal in V. 20), denn dieser ist der Gott Jesu Christi. Die Rede vom wahren Gott aber gehört – wie die Polemik gegen Götzen – in die Missionsterminologie des hellenistischen Judentums (LXX; 3 Makk 2,11; Josephus, Ant 11,55; Offb 6,10).
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Der zweite Brief des Johannes
Kommentare: Siehe zu 1 Joh. – Ferner: H. J. Klauck: Der zweite und dritte Johannesbrief, 1992.
EINFÜHRUNG 2 Joh ist aus meiner Sicht das älteste Dokument des Neuen Testaments im Sinne des Datums der schriftlichen Abfassung. Mir scheint es evident zu sein, dass 1 Joh diesen Brief voraussetzt. 1 Joh dagegen verarbeitet vorpaulinisches, mit Paulus gemeinsames älteres Material. So ist nach meinem Eindruck das Jahr 50 n. Chr. der spätestmögliche Zeitpunkt der Niederschrift des 2 Joh. Ein Indiz ist die Rede vom »alten Gebot« der Nächstenliebe (2 Joh 5), aus dem dann schließlich auf dem Weg über 1 Joh das neue Gebot der Liebe im JohEv wird. Dieser Prozess lässt sich rekonstruieren, und er ist umgekehrt nicht vorstellbar. Denn die Rede vom »neuen Gebot« in Joh 15 wird getragen von einer verstärkten Christologie. 1 Joh ist gegenüber 2 Joh zu begreifen als ein Versuch, nach offensichtlicher Erfolglosigkeit das Erwünschte und Notwendige, nämlich die Einheit der Gemeinde, doch noch durchzusetzen. 1 Joh erstrebt dieses Ziel, indem der Verfasser gründlicher und reicher theologisch argumentiert. Dasselbe geschieht dann noch einmal im JohEv im Verhältnis zu 1 Joh. So ergibt sich eine durchgehende Linie der Verstärkung und Vertiefung der Argumentation. Das gilt besonders in christologischer Hinsicht. Es gilt aber auch besonders in der Art und Weise, in der die Einheit der Gemeinde anhand des Liebesgebotes als zentrale Botschaft dargestellt wird. Dass es sich noch um dasselbe Anliegen handelt, das dann 1 Joh verstärkt durchsetzen möchte, geht aus 2 Joh 7 hervor (Bekenntnis: Christus ist im Fleisch gekommen). Die Verschärfung wird auch dadurch erkennbar, dass der eine Antichrist von 2 Joh 7 in 1 Joh durch die vielen Antichristen ersetzt wird (1 Joh 2,18). Die Ausgrenzung der Häretiker wird in 1 Joh, religiös gesehen, durchaus schärfer. Nach 2 Joh
soll man ihnen lediglich die Gastfreundschaft verweigern. Nach 1 Joh 5 dagegen darf man nicht einmal für sie beten, weil sie eine unvergebbare Sünde begangen haben. Wo aber sind die Gegner aus 2 Joh dann später geblieben (auch in 3 Joh gibt es ja sichtbare Spaltung der Gemeinde)? In 1 Joh 2,19 werden sie ausführlich beschrieben; 2 Joh spricht vom Antichrist, 1 Joh von Antichristen (2,18). Gerade die Art der Beschreibung in 1 Joh 2,19 weist auf Joh 10,16. Jesus hat noch andere Schafe, die nicht in Kircheneinheit mit den Lesern des JohEv stehen. Aber die künftige Einheit ist Jesu Herzensanliegen, und es wird ein Hirt und eine Herde sein. Gerade dann also, wenn man die Geschichte der johanneischen Gemeinden von 2 Joh her über 1 Joh und schließlich im JohEv mündend betrachtet, wird Charakter und Eigenart der zur Zeit des JohEv bestehenden Spaltung deutlich.
2 Joh 1: Die Adressatin Die Adressatin wird als »Herrin« (griech.: kyria) bezeichnet, zugleich auch als »Erwählte«. Doch die nächste, bisher merkwürdigerweise übersehene Entsprechung liegt im »Hirten des Hermas« vor (um 110 in Rom). In den Visionen 1-4 erscheint Hermas eine Frau, die er mit »Kyria« anredet, und die in Vision 3 als die Kirche identifiziert wird; sie erscheint zunächst als alte Frau, wird aber dann immer jünger und kräftiger. Die Anrede als Kyria bleibt erhalten. Der Einwand, in Past Herm, Vis sei Kyria nur als Anrede, nicht als Titel verwendet, kann insofern nicht gelten, als 2 Joh 5 gleichfalls die Anrede Kyria kennt. – In Vision 2,1,3 sind der Herrin die Auserwählten zugeordnet, und zwar als Adressaten der Botschaft; der Ausdruck »Aus-
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Vers 2
erwählte« für die Christen findet sich vor allem in den Visionen. Dem entspricht, dass in 2 Joh 1 von der auserwählten Herrin die Rede ist. Der Ausdruck »Herrin« wird verwendet, weil eine Körperschaft wie Kirche (Offb 12) oder Synagoge (als Gesamtheit der Juden) oder auch selbst der römische Staat (Offb 17) durch eine weibliche Gestalt symbolisch/visionär dargestellt werden kann.
2 Joh 1-2: »Wahrheit« Der Wortstamm »wahr« (griech.: alethe-) erfreut sich im johanneischen Schrifttum großer Beliebtheit, besonders in den Briefen. Allein in den ersten vier Versen des 2 Joh findet sich fünfmal das Wort »Wahrheit«. Typisch ist etwa 2 Joh 3 »in Wahrheit und Liebe«. »Wahrheit« ist das, was man auf Erden von Gott als Segensgut haben kann. Die Erkenntnis der Wahrheit nach V. 1 ist die Erkenntnis Gottes; die Wahrheit, die in uns ist nach V. 2, ist Gottes Präsenz im Menschen. Und der Gruß, der in V. 3 »in Wahrheit und Liebe« ergeht, meint Gottes Schutz und Segen. Und nach V. 4 heißt »in der Wahrheit leben« nach Gottes Gebot leben.
dem christologischen Bekenntnis bestehen soll, das wird hier nicht deutlich. Das holt 1 Joh nach. In dem Gebot soll die Gemeinde leben, »denn«, so beginnt V. 7, »es gibt viele Irrgeister in der Welt«. Im Zentrum des Briefes steht ganz klar die Irrlehrerwarnung von V. 7-8. Auch noch in V. 9-10 geht es um »diese Lehre«. So kann man dem Brief dieses entnehmen: Wer die Plattform der gemeinsamen Lehre verlässt, der gibt das gemeinsame Haus auf und verstößt damit gegen das Zusammenleben in Liebe. Damit aber sieht der Verfasser zugleich das Verhältnis zu Gott gefährdet. Denn wer falsch über Jesus Christus denkt, wird den entscheidenden Kontakt zum Vater nicht haben können. Hier steht bereits Wesentliches zur johanneischen Gesandtenchristologie: Wer den Sohn ablehnt, lehnt auch den Vater ab. Das Grundschema ist: Wer mich aufnimmt, nimmt den auf, der mich gesandt hat; wer mich sieht, sieht den Vater usw. – Denn der Gesandte trägt etwas von dem Sendenden in sich; insofern passen Sendungschristologie und Sohn-Gotteschristologie (vgl. dazu die Sendungsformeln 1 Joh 4,9 etc.) gut zusammen. Die Überlegungen zu 1 Joh ergaben bereits: Die Gegner vertreten wohl eine Auffassung von Jesus, nach welcher dieser nur ein gewöhnlicher Mensch ist. Er ist weder Gottes Sohn (durch den Geist) noch Messias/Christus (durch den Geist).
2 Joh 5-6: »Wie es von Anfang an war« Der Brief setzt voraus, dass es im johanneischen Überlieferungskreis schon eine längere Debatte über »neues Gebot« gibt. Ein neues Gebot einzuführen wäre für antikes Verständnis gleichbedeutend mit Umsturz, wie wenn einer heute von »neuen Steuern« redete. Auf bewährte Regeln zu pochen ziemt sich vielmehr im Bereich einer Religion. Das Bleiben bei dem, »wie es von Anfang an war« (deutsch: »wie es immer war«), ist für die konservative Grundfärbung des Christentums wichtig (vgl. 1 Joh 1,1: »Was von Anfang an war«); in V. 9 wird es zweimal »bleiben« genannt werden.
2 Joh 7-9: Irrlehrerwarnung Welcher Zusammenhang mit dem Liebesgebot, das von Anfang an und wie immer gilt, und
2 Joh 10-11: Umgang mit Abzuweisenden Hier geht es um die praktischen Konsequenzen aus der in V. 7-9 begründeten Trennlinie. Diese Praxis setzt wohl voraus (a) eine Befragung des fremden Christen nach seinem Bekenntnis, (b) eine Verweigerung der Aufnahme in das Haus, (c) die Verweigerung des Grußes (Begrüßung und Abschied), und zwar mit der Begründung: Schon die Begrüßung bedeutet Anteilhabe an den bösen Werken des Abzuweisenden. Letzteres ist durchaus buchstäblich zu verstehen. Es gehört in die biblische Theologie des Grußes. Diese findet sich heute noch ausgeprägt im christlichen Gottesdienst, wird aber selten verstanden. Das gilt schon für das den meisten Konfessionen noch gemeinsame »Der Herr sei mit euch!« und die dazugehörige Antwort. In der katholischen Messe wird der Gruß mehrfach aus-
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972 gesprochen. So ist der gottesdienstliche Gruß nicht eine Höflichkeitsformel, sondern er ist je und je Neubegründung einer geistlichen Gemeinschaft (communio), in der das Ziel der Gleichstand (Ausgleich der Gaben) ist. Am leichtesten ist diese biblische Botschaft abzulesen an den Stellen, die einen Austausch des Grußes regelrecht verbieten: Der von Elis ausgesandte Gechasi darf unterwegs niemanden grüßen (2 Kön 4,29). Denn es könnte ja ein Stück von seiner charismatischen Kraft vorzeitig abgehen, auf die er zum Wunderwirken direkt angewiesen ist. Auch Jesus verbietet aus diesem Grund den von ihm ausgesandten Jüngern, unterwegs jemanden zu grüßen (Lk 10,4). Weil der Gruß eine charismatische Substanz ist, wird er nach dem Bumerang-Prinzip von dem abprallen, der nicht zu den »Würdigen« gehören kann oder will (Mt 10,13b). Der Gruß begründet daher eine Art von Gemeinschaft, die jedenfalls zu neutestamentlicher Zeit dem dualistischen Schema unterworfen ist, d. h. sie ist nicht neutral, sondern eine Gemeinschaft der Würdigen oder das Gegenteil. Daher entsteht nach 2 Joh 11b durch den bloßen Gruß auch eine Gemeinschaft in bösen Werken. So wirkt der Gruß wie ein Wort des Segens oder des Fluches. Nimmt man das Verbot der Fürbitte von 1 Joh 5 hinzu, so stehen Fürbitte und Gruß auf einer Linie. Sie sind dem zu verweigern, der zur Gegenseite gehört. Erst auf diesem Hintergrund gewinnt die Anweisung Jesu in der Bergpredigt deutliche Konturen, für die Verfolger zu beten (Mt 5,44; vgl Lk 6,28; Justin, 2 Apologie 15,9 – 16,2 hat »Betet für eure Feinde … betet für die, die euch bedrängen«) und nicht nur die Brüder zu grüßen, denn das tun auch die Heiden (Mt 5,47). Denn in diesen Fällen verzichten die Angesprochenen wirklich auf charismatische Substanz. Es geht jedenfalls nicht nur um Formalien, sondern um einen einschneidenden Verzicht. Der Widerspruch, der hier zwischen 1 Joh 5; 2 Joh 10 und Jesus besteht, ist nicht aufzulösen. Er entstand mit Sicherheit dadurch, dass der johanneischen Tradition (wie ja auch dem JohEv) die gesamte Überlieferung der Bergpredigt/Feldrede fremd ist. D. h. sie haben diese Tradition nicht gekannt. Sonst wäre man kaum imstande, ohne Begründung das Gegenteil von dem zu sagen, was Jesus sagt.
Der zweite Brief des Johannes
2 Joh 12: Abschluss Der Wunsch, die Adressaten selbst zu sehen, gehört in das antike und auch noch in das moderne Briefformular. Auch Paulus kann sich dem nicht entziehen (Röm 1,13; 2 Kor 1,15 ff). Gegenüber dem damals üblichen Briefformular ist hier nur die »johanneische Formel« anders: »Damit unsere/eure Freude vollkommen sei« (vgl. dazu schon 1 Joh 1,4; Joh 3,29; 15,11; 16,24; 17,13). – Auch bei Paulus gibt es die Formel »macht meine Freude vollkommen« (Phil 2,12). a) Zunächst gibt es die merkwürdige Vorstellung, dass jemand, der sich an einen anderen wendet (mit ihm redet, einen Brief an ihn schreibt), damit seine eigene Freude erfüllt (1 Joh 1,4; 2 Joh 12); auch Joh 15,11 ist ähnlich zu verstehen. Jesus sagt: Ich habe dies zu euch gesagt (!), »damit meine Freude in euch sei«, und dann erst heißt es (anders): »und damit eure Freude vollkommen gemacht wird«. Ähnlich wie Joh 15,11a ist Joh 17,13 zu verstehen (Jesus hat ihnen sein Wort gegeben …, damit sie meine Freude erfüllt haben in sich selbst). Aber was heißt das? Jesus hat zu den Jüngern gesprochen, der Verfasser des 2 Joh hat der Gemeinde einen Brief geschrieben. Dadurch wird seine Freude in ihnen erfüllt. Was ist hier Freude? Dass sie ihm zuhören? Dass sie wie ein Saatfeld sind und sein Wort freudig aufnehmen? Aber es geht doch nicht um das Tun des Gegenübers, sondern um das eigene Tun dessen, der mit diesem Tun seine Freude erfüllt, die er aber am/im Gegenüber findet, die ohne das Gegenüber nicht wäre. Geht es um die Freude, die mit dem Schenken verbunden ist? Geht es hier um einen speziellen Ansatz neutestamentlicher Spiritualität? b) Die andere Vorstellung ist: Wenn X den Willen von Y tut, dann erfüllt er (X) dessen (Y) Freude. Wenn also die Philipper den Willen des Apostels tun und alle eines Sinnes sind, dann hat er Freude an ihnen, und das heißt: Sie erfüllen seine Freude, und zwar bei sich selbst und durch sich selbst. Er freut sich über sie (Phil 2,12). c) X trägt dazu bei, dass die Freude von Y vollkommen ist. So war Joh 15,11b zu verstehen (Jesus vervollkommnet durch sein Wort die Freude der Jünger). Das gilt auch von Joh 16,24. Wenn die Jünger beten, wird Gott ihre Bitte erhören,
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Vers 12
und ihre Freude wird vollkommen sein, weil Gott ihnen ihre Bitte erhört hat. Auch hier scheint ein brieflicher Hintergrund gegeben. In ähnlichem Zusammenhang (2 Kor
973 1,24) spricht Paulus davon, er wolle »Mitarbeiter eurer Freude« sein. Will er so die anderen glücklich machen?
Berger (08129) / p. 974 / 19.5.2020
Der dritte Brief des Johannes
Kommentare: Siehe zu 2 Joh.
EINFÜHRUNG Verfasser Der Verfasser ist ohne Zweifel derselbe wie in 2 Joh. Ein Indiz ist u. a. der üppige Gebrauch, den der Verfasser gleich zu Anfang des Briefes von dem Wort »Wahrheit« macht. Einen Presbyter/Ältesten im Singular – und nicht das Gremium von Ältesten – gibt es nur selten im frühen Christentum. Ob die Gemeinde des 2 Joh identisch ist mit der des 3 Joh, kann man bezweifeln. Der Presbyter könnte ja ähnlich wie der Prophet Johannes (nach der Offb) ein überregional tätiger Geistlicher sein, der sich in verschiedenen Gemeinden einmischt. Die Gegner in 2 Joh sind solche wie in 1 Joh. Die Christologie und die Nächstenliebe sind in 1 Joh und in 2 Joh das gemeinsame Thema. Die Tatsache, dass in 2 Joh die Adressaten »Herrin« genannt werden, in 3 Joh dagegen »Kirche« (griech.: ekklesia), weist wohl auf verschiedene Adressaten. Adressaten Im Unterschied zu 2 Joh ist 3 Joh nicht an eine Gemeinde (»Herrin«) gerichtet, sondern an eine Einzelperson (Gaius). Auch der Gegner in der Gemeinde hat einen Namen: Diotrephes. Der Name (»Gotteskind«) weist zwingend auf einen Heidenchristen. Der Verfasser von 3 Joh hat für Diotrephes nichts übrig; er kann ihn aber nicht absetzen. Immerhin wird er die Gemeinde besuchen und dann Diotrephes Vorhaltungen machen. Diotrephes wird von ihm geschildert als übermäßig ehrgeizig (er ist gerne der Erste) und rigoros in der Abgrenzung der Gemeinde: Er nimmt reisende Wanderchristen nicht auf und blockiert jeden Kontakt zu ihnen. Fremde wirft er aus der Gemeinde hinaus. – Offenbar haben derartig hinausgeworfene Wanderchristen dem Presbyter/Ältesten/Verfasser Kunde von diesen Zuständen gebracht.
Gründe für das Zerwürfnis in der Gemeinde Man muss dann weiter fragen, was Diotrephes dazu bewogen haben mag, wandernde Christen nicht aufzunehmen. Da er Heidenchrist ist, könnte es nur einen einzigen Grund geben: Die wandernden Christen, die er abweist, sind judenchristliche Missionare und von der Art, wie sie in den Pastoralbriefen geschildert werden (z. B. 2 Tim 3,6f; Tit 1,11 – in beiden Fällen die »Häuser«). Auch dort ziehen sie von Haus zu Haus, und das ist die ältere Form von Mission. Ähnlich wie der Verfasser der Pastoralbriefe wendet sich Diotrephes gegen eine schleichende Judaisierung. Aber er ist hier der Gegner des Ältesten, des Verfassers von 3 Joh. In den Pastoralbriefen wendet sich Paulus, als der Verfasser, gegen schleichende Judaisierung. Nun fällt auf, dass der Presbyter in 2 Joh genau das empfiehlt, was er in 3 Joh tadelt, nämlich die Verweigerung der Gastfreundschaft. Offenbar ist die Verweigerung der Gastfreundschaft ein ultimatives und gleichzeitig das einzige Mittel, das man im frühen Christentum hat, um unliebsame Strömungen abzuwehren. Man muss demnach nicht lange konstruieren, wie 2 und 3 Joh für dieselbe Gemeinde passen sollen. Sie passen für denselben Absender, aber sind wohl doch an verschiedene Gemeinden gerichtet. Aber der Absender, der Älteste, kämpft einen Zwei-Fronten-Krieg: In 2 Joh (wie auch in 1 Joh) kämpft er gegen eine »heidnische« Christologie, die Jesus nicht als Sohn Gottes und Messias ansieht, sondern als bloßen Menschen, als prophetischen Verkündiger vielleicht. Solche Auffassungen will er nicht in der Gemeinde sehen. In 3 Joh dagegen kämpft er gegen Diotrephes, der als Heidenchrist gegen judaisierende Christen kämpft. Der Verfasser der Pastoralbriefe kämpft gegen zu viel Judentum, der Verfasser von 3 Joh gegen zu viel Heidentum. Das Hei-
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den(christen)tum des Diotrephes ist – besonders in den Konsequenzen, die Diotrephes daraus zieht – für den Verfasser, den »Ältesten«, nicht akzeptabel. So ist allen drei Briefen gemeinsam, dass der Verfasser die hauptsächliche Gefahr in einem rigorosen Heidenchristentum sieht. Dieses kann entweder Konsequenz einer falschen Christologie sein (1 und 2 Joh) oder eines Hyperpaulinismus wie bei Diotrephes (3 Joh). Die Position der Irrlehrer in 1 Joh wird geradezu mit Heidentum gleichgesetzt, und in 3 Joh setzt sich der Verfasser gegen eine rigoros heidenchristliche Position ein, die Judenchristen das Gastrecht verwehren will. So richtet er sich in 1 und 2 Joh gegen verflachende und damit neuheidnische Christologie, in 3 Joh gegen den Ausschluss von Judenchristen. So kommt »Johannes«, der Älteste, zu seiner Lösung: Reine Heiden sind von der Gemeinde fernzuhalten, Judenchristen dagegen aufzunehmen. Die Gefahr ist das Heidentum. Daher ist sein Standpunkt dem des Diotrephes entgegengesetzt. Diotrephes gebärdet sich als »Hyperpauliner«, indem er im Punkt der judenchristlichen Wandermissionare noch rigoroser verfährt als die Pastoralbriefe. Der Verfasser des 3 Joh sieht in der Wirksamkeit der judenchristlichen Missionare keine Gefahr, sondern eher eine Hilfe für die bedrohte Christlichkeit. Insofern können die Adressaten der beiden Briefe verschieden sein, sie müssen es aber nicht. Es kann sich auch um verschiedene Zeitpunkte handeln. In 2 Joh ist von Diotrephes noch keine Spur. Aber 1 Joh 5 könnte mit seiner Schlussbemerkung auf Diotrephes reagieren. Dem Verfasser der Briefe ist in 1 Joh 5 endgültig klar ge-
worden, dass am Ende aller Irrlehre Heidentum steht. Oder anders gesagt: Wenn das Christentum seine jüdischen Wurzeln vergisst, endet es stets beim Heidentum. In 1 Joh 5 wird das deutlich gesagt. Autor Wer das Heidentum so über alles fürchtet, ist selber sicher Judenchrist (oder: ein sehr unsicherer Heidenchrist). Auf Judenchristentum wies auch 1 Joh 1,1-4. Entstehungszeit Das Milieu ist judenchristlich; darauf weist schon die Funktionsbeschreibung »Ältester«. Das frühchristliche Briefformular ist noch nicht entwickelt. V. 9 könnte 2 Joh voraussetzen. Der Streit, der dann 2 Joh, 1 Joh und das JohEv betreffen wird, ob das Liebesgebot »alt« oder »neu« ist, spielt hier noch keine Rolle. Immerhin teilt er mit dem übrigen frühen Christentum die Gemeindebezeichnung ekklesia (»Versammlung«). Noch sind Wandermissionare kennzeichnend für den Kontakt zwischen Christen. Der Ausschluss von der Gastfreundschaft ist die einzige Kirchenstrafe, die man am Anfang zur Verfügung hat. – Aus allen diesen Gründen muss der Brief sehr alt sein. Ich setze ihn um das Jahr 50 n. Chr. an; er muss wohl in zeitlicher Nähe zu 2 Joh verfasst worden sein. Johanneischer Sprachgebrauch Wahrheit, Zeugnis ablegen, »aus Gott sein«, (wer Schlechtes tut) »hat Gott nicht gesehen« (vgl. 1 Joh 3,6), »wissen, dass unser Zeugnis wahr ist« (vgl. Joh 21,24). Damit gehört 3 Joh zweifellos in die Familie johanneischer Schriften.
KOMMENTAR 3 Joh 1f: Wahrheit
3 Joh 2-5: Lob
Das Wort »Wahrheit« (V. 1.3 [2].4.8) ist ein Signal für den Bezug zu Gott. – Anfang und Schluss des Briefes zeigen, dass das christliche Briefformular noch nicht entwickelt ist. Die Nennung der Gesundheit am Anfang (V. 2) ist allgemein-hellenistisch, der Gruß zum Frieden in V. 15 speziell jüdisch.
Die Verschiedenartigkeit der Gesichtspunkte in diesem Briefanfang zeigt ganz deutlich, wie der christliche Topos »Beschreibung des Heilsstands der Gemeinde« hervorgeht aus der in Reden üblichen captatio benevolentiae (Wohlwollen der Leser wird durch Lob erreicht). Hier sind die einzelnen Schritte noch gut erkennbar, und das
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3 Joh 5-7: Keine Bezahlung von Missionaren Ähnlich wie bei Paulus in Korinth gilt hier die Ablehnung der Bezahlung von Missionaren. Auch bei Paulus ist erkennbar, dass er sich dabei an das Vorbild des Sokrates hält. Sokrates unterschied den freien Philosophen von den angestellten Sophisten dadurch, dass er den Grundsatz vertrat, kein Geld zu nehmen. Judenchristen dagegen vertraten den Standpunkt, man dürfe dem dreschenden Ochsen das Maul nicht zubinden, weil der Arbeiter seines Lohnes wert sei. Paulus vertritt in Korinth den sokratischen Standpunkt. So tut es hier auch der »Älteste«. Das weist auf griechischen Kontext. V. 7 nennt deshalb die Adressaten der Botschaft ausdrücklich »Heiden«. Zu 3 Joh 6b: Eine Ausrüstung, die Menschen verachtet, ist jedenfalls nicht Gottes würdig. Die Ausrüstung christlicher Wandermissionare ist einer der festen Haftpunkte frühchristlicher Ethik, und zwar gewissermaßen als »Kehrseite« der Gastfreundschaf (Sorge für den ehemaligen Gast).
3 Joh 9-10: Diotrephes Diotrephes wird als ehrgeiziger Kirchenführer geschildert, der handelt, wie es dem Verfasser missfällt. Doch er tut genau das, was der Verfasser in 2 Joh 10 empfiehlt: Er weigert sich, die reisenden (Mit-)Christen aufzunehmen, verweigert also das Gastrecht. Und er verwehrt ihnen den
Der dritte Brief des Johannes
Zugang zur Gemeinde bzw. wirft die Anhänger der Gegenseite hinaus. Mit diesen beiden Aktivitäten aber ist er der erste Zeuge für die Anwendung des alten Grundrechtes der Gemeindeleiter (nach Mt 16,19 bzw. 18,18) für Binden und Lösen. Denn Binden heißt Zugang verwehren (oder hinauswerfen), Lösen heißt Zugang ermöglichen (oder nicht). Das heißt: Der Gemeindeleiter regelt Zugang und Zugehörigkeit. Oft hört man, die vom autoritären Handeln des Diotrephes Betroffenen erlebten dasselbe wie die Christen nach dem JohEv, die aus der Synagoge ausgeschlossen wurden. Das ist, formal gesehen, ganz richtig. Zu bedenken ist dabei, dass am Anfang der Geschichte des Kirchenrechts sich die Vollmacht der Gemeindeleiter auf die Schwelle der Gemeinde beschränkt, daher Ausschließen oder Aufnehmen. Hier ist noch keine Differenzierung des Kirchenrechts, geschweige denn eine rechtliche Gestaltung des Binnenraums der Gemeinde erkennbar. Das, was Diotrephes tut, ist also nicht »an sich« schlecht, sondern nur im besonderen Fall beklagenswert, weil die Opfer seines Tuns wohl unschuldige und rechtgläubige Wandermissionare sind und weil Diotrephes durch sein sonstiges Tun bereits angreifbar geworden ist (V. 10).
3 Joh 11-15: Ermunterung und Gruß an Gaius Der angesprochene Gaius soll sich statt auf Diotrephes auf andere stützen, z. B. den vom Verfasser in V. 12 genannten Demetrius. Ähnlich versucht ja auch Paulus, in der Gemeinde von Korinth Leute seines Vertrauens zu benennen, um dort vor Ort Gegenautoritäten zu etablieren. In V. 12 findet sich wieder johanneischer Sprachgebrauch, und zwar in der Bestätigung des Zeugnisses dadurch, dass jemand genannt wird, der weiß, dass das Zeugnis wahr ist.
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Der Brief des Judas
Kommentare: Clemens v. Alexandrien (3. Jh.). – Didymus v. Alexandrien (398). – Cyrill v. Alexandrien (444). – Johannes Chrysostomus († 407). – Theophylaktos (um 630). – Cassiodor (ca. 485–580). – Beda Venerabilis (672-735). – Walahfrid Strabo (808–849). – Pseodo-Oecumenius (10 Jh.). – Euthymius Zigabenus (vor 1118). – Dionysius Carthusianus (vor 1471). – Erasmus v. Rotterdam (1520). – N. Hemmingius (1579). – J. Lorinus (1619) – J. H. von Seelen (1732). – H. Witsius (1739). – A. Remy (1740). – S. Hanke/E. G. Jockisius (1748). – C. Klemmen (1770). – G. T. Zachariä (1776; 1781). – J. de
Leew (1784). – E. Bengel (1813). – C. Ph. H. Brandt (1831). – W. M. L. de Wette (1847). – J. M. Usteri (1887). – H. v. Soden (1891). – R. Kühl (1898). – G. Wandel (1898). – G. Hollmann/W. Bousset (3. Aufl. 1917). – R. Knopf (7. Aufl. 1912). – H. Windisch/H. Preisker (1951). – K. H. Schelkle (1961). – J. Michl (2. Aufl. 1968). – W. Grundmann (1974). – R. J. Bauckham (1983). – P.-A. Seethaler (2. Aufl. 1986). – H. Frankemölle (1987). – S. J. Kistemaker (1987). – H. Paulsen (1992). – J. H. Neyrey (1993). – A. Vögtle (1994). – P. Perkins (1995).
EINFÜHRUNG Verhältnis zu 2 Petr Der Judasbrief ist großenteils auf gleichem Material erbaut wie 2 Petr (s. zur Einleitung bei 2 Petr). Denn nach beiden Briefen gibt es endzeitliche Irrlehrer, die sich mit ihren Reden gegen Engelmächte richten und damit Gottes Regiment über die bestehende Welt anzweifeln. Wenn in der Welt verfluchte Mächte herrschen, sind diese Gott aus dem Ruder gelaufen, und dann gibt es einen starken Dualismus. Wenn Christen in der Welt waltende Mächte verfluchen, dann besteht offenbar ihr Glaube in der Meinung, Gott habe die Welt aufgegeben. Jud betont dieses Element viel stärker und plastischer als 2 Petr. Anhand von Jud lässt sich sehr viel deutlicher rekonstruieren, worin der Angriff der Gegner bestand. Das Beispiel mit dem Streit zwischen Michael und dem Satan über den Leichnam des Mose fehlt 2 Petr. In 2 Petr bezieht sich die Sorge von Adressaten vor allem auf die Frage nach dem Weltende (ob und wann), in Jud dienen solche Traditionen nur zum Aufbau der Drohkulisse. Seine Grunddaten sind Lästerreden und Strafgericht. Biblische Beispiele für Bestrafung von Ungehorsam und Übermut werden durch einen regelmäßigen Bezug auf Henochschriften verstärkt. Eine Bezugnahme auf Henoch fehlt in 2 Petr ganz, und stattdessen weist 2 Petr Züge eher paganer hellenistischer Apokalyptik auf.
Zur Situation der Entstehung In die »Gemeinde« der Adressaten des Jud sind Gegner »eingedrungen«, die den Herrn Jesus Christus und andere »Herrschaft« leugnen und Herrlichkeitsengeln ihre Würde absprechen, d. h. sie lästern. Umstritten ist mithin, ob es überhaupt so etwas wie Kyrios und Kyrioi gibt. Darf man Jesus »Herr« nennen, und darf man himmlische Mächte »Herrschaften« nennen? Die Gegner bestreiten dieses. Von den Anlässen, die hinter 2 Petr stehen (z. B. Ausbleiben der Parusie bzw. Unsicherheit des Endpunktes), kann hier nicht die Rede sein. Angegriffen sind wahrscheinlich auch die Apostel; denn in V. 17 werden die Adressaten ausdrücklich aufgefordert, sich der Worte der Apostel »unseres Herrn Jesus Christus« zu erinnern. Nach V. 4 lehnen die Gegner auch die Gnade ab. Tun sie das theologisch oder nur praktisch? Wie kann man überhaupt auf solche Gedanken kommen? Zumindest das Christentum der drei Johannesbriefe kennt den Begriff Kyrios überhaupt nicht, und da fehlt auch die Bezeichnung »unser Herr Jesus Christus«. Überblickt man die sonst breite Streuung des Begriffs Kyrios, so kann das kein Zufall sein. Das Christentum der drei Johannesbriefe kommt ohne diesen Titel aus. Dazu passt die von mir vertretene sehr frühe Datierung dieser drei Briefe. Noch war der Kyrios-Titel
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nicht Allgemeingut geworden. Nun bestreiten die Johannesbriefe nicht den Kyrios-Titel. Aber sie kennen ihn nicht, und Engel oder Engelmächte kennen sie auch nicht. Die Alternative: Sie nennen Jesus immer wieder Messias/Christus. Wer den Kyrios-Titel ablehnt, könnte es um des Monotheismus willen tun, den er so streng bewahren will wie bis heute strenggläubige Moslems (die freilich nicht den Kyrios-Titel, wohl jedoch den Titel »Sohn Gottes« ablehnen. Aber auch der Koran hat bekanntlich kein Problem damit, Jesus Messias zu nennen). Denn wer von dem Herrn spricht oder gar von himmlischen Herrschaften, der lehnt jene Pluralität ab, die durch die Übertragbarkeit des Titels »der Herr« auf andere entsteht. Diese Übertragung wird etwa in hebr Hen 48 (Henoch wird nach der Namens-Übertragung »der kleine JHWH« genannt) geschildert und in Phil 2,11 vorausgesetzt. Christen, die gegen die Inthronisation Jesu zum Kyrios sind, geraten in Gefahr, seine Erhöhung zu leugnen (was 1 Joh allerdings nicht tut), jedenfalls einen Teil ihrer Konsequenzen. Vielleicht muss deshalb 1 Joh 2,1 den Lesern über das Wirken des Erhöhten berichten. Fazit: Es ist vorstellbar, dass die Gegner des Jud um des Monotheismus willen gegen jede Übertragung des Kyrios-Titels polemisieren und damit auch einen Teil der Christologie nicht mitbekommen haben.
ge Zitat in Jud 14. Der Verfasser suggeriert, dass der Kyrios hier Jesus ist, und hat damit für seine Adressaten einen wunderbaren Traditionsbeweis gefunden. Das Interesse des Verfassers rührt daher, dass in Hen (äth) 1,9 – so müssen es Christen verstehen – Jesus als der Kyrios verstanden wird, der zum Gericht erscheint. – Henoch, der so über Jesus spricht, ist immerhin seit Adam der siebte Mensch (so alt!). Und Hen (äth) gehört in der äthiopischen Kirche aus christologischen Gründen bis heute zum Kanon.
Gegner und Adressaten des Judasbriefes Jud setzt Gegner voraus, die einen wesentlichen Teil der allgemeinen (»katholischen«) Christologie nicht verstehen können, da ihnen der Kyrios-Name in der Anwendung auf Jesus und Engelmächte nicht geheuer ist. Das können auch Judenchristen mit nur teilweise begriffenem apokalyptischen Hintergrund sein. So wird es wohl gewesen sein, denn dann erklärt sich die breite Rezeption der Henochtradition in Jud. Henoch selbst ist demnach wohl eine unbestrittene Autorität. Für Heidenchristen wäre das unvorstellbar. Wer aber Henoch rezipieren kann, für den sind auch dessen mystische Nebentriebe, zu denen auch die Übertragung des Gottesnamens gehört, prinzipiell akzeptabel. So passt es für den Verfasser es Judasbriefes hervorragend, dass Hen (äth) 1,9 vom Gericht durch den Kyrios berichtet, und das ist dann auch das einzige richti-
Zeit der Abfassung Noch gibt es Gegner, die Jesus nicht als Kyrios anerkennen. Der Boden, dem der Verfasser entstammt, ist charismatisch bestimmt (vgl. V. 19); noch gibt es Christen, die mit dem Namen Henoch offenbar eine Menge anfangen können und für die er als Autorität gilt. Von »Psychikern« (s. auch unten zu Jud 17-18) ist selbstständig die Rede, unabhängig von Paulus. Von Paulus ist vielmehr im Ganzen keine Spur zu erkennen. Die Rede von der Gnade in V. 4 ist unabhängig von der Rechtfertigungslehre (eher wie Joh 1,17). Kurzum: ein exotisches, archaisches Christentum ohne viel Kontakt mit Heidenchristen; Datierung um 50-55 n. Chr. (wie 2 Petr).
Verfasser Judas nennt sich »Sklave Jesu Christi« und »Bruder des Jakobus«. Ersteres findet sich auch ähnlich bei Paulus, Letzteres will biologische Verwandtschaft zu Jesus Christus nahelegen. Denn in Mk 6,3 (Jesus, Bruder des Jakobus); Mt 13,55 wird Jakobus Bruder Jesu genannt. In Mt 13,55 wird in einer derartigen Liste auch Judas als Bruder Jesu genannt: »Seine Brüder heißen Jakobus und Josef und Simon und Judas.«. Wird Judas aus Scheu hier nicht direkt »Bruder Jesu« genannt? Anzunehmen ist, dass die verwandtschaftlichen Beziehungen etwas komplizierter waren. – Dass der Name des Herrenbruders Jakobus genannt wird, weist auf judenchristliches Milieu. Zugleich steht der Name offenbar für Rechtgläubigkeit, da Jakobus von allen anerkannt wird.
Adressaten Laut Präskript sind die Adressaten die »Zwölf Stämme in der Diaspora«. Diese könnten iden-
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Vers 4
tisch sein mit den in Joh 11,52 genannten verstreuten Gotteskindern oder auch mit den in Joh
10,16 genannten anderen Schafen, die (noch) nicht in demselben Stall sind.
KOMMENTAR Jud 4: Missbrauch der Gnade Manche Gelehrte glauben, das »Missbrauchen der Gnade zur Ausschweifung« sei Folge der Aufhebung des jüdischen Gesetzes in der Gnadenreligion; manche glauben, es handele sich um Enthusiasten (Schwarmgeister). Doch angemessen ist allein der schlichtest mögliche Wortverstand, der nicht sogleich eine ganze Dogmatik (inklusive Wildwuchs) voraussetzt: Gottes Freundlichkeit kann man missbrauchen, und man kann über die Stränge schlagen. Immerhin: Nach eigenem Selbstverständnis ist jetzt eine Zeit der charis (wie Joh 1,17).
Jud 9: Argument gegen die Irrlehrer Vgl. 2 Petr 2,11: »… wo doch Engel, die an Stärke und Macht überlegen sind, kein Fluchurteil gegen sie beim Herrn vorbringen« – Jud 9: »Nicht einmal der Erzengel Michael wagte, als er mit dem Teufel kämpfte und um den Leib des Mose stritt, ein schmähendes Urteil zu äußern, sondern sprach: Der Herr tadelt dich.« – Vgl. dazu griech. Palaia (ed. A. Vassiliev, 258): »Und es versuchte Samuel, wie er seinen (sc. des Mose) Leib herabbringe dem Volk, damit sie ihm (Mose) zum Gott machten. Michael aber, der Archistratege, kam im Auftrag Gottes, ihn zu nehmen und wegzubringen. Und es leistete Samuel Widerstand, und sie kämpften. Der Archistratege war nun unwillig, und ihn tadelnd sagte er ihm: Der Herr tadelt dich, Teufel. Und so unterlag der Widersacher und ergriff die Flucht. Der Erzengel Michael aber brachte den Leib des Mose dorthin, wo es ihm von Gott befohlen war … und niemand sah das Grab des Mose.«
Jud 8-9: Mächte und Gewalten Die »Herrlichkeiten« von 2 Petr und Jud, die man nicht lästern darf, gehören zu den Mächten und
Gewalten, mit deren Hilfe Gott die Welt regiert (sie loben ihn, be- und verurteilen die Menschen und strafen sie auch im Falle von Ordnungsdelikten). Es gibt Christen, die diese Mächte verbal bekämpfen, und zwar wohl mit Flüchen. Immerhin gibt es zwei Schriften im Neuen Testament, die diese Praxis entschieden bekämpfen: 2 Petr und Jud. Denn auch die Mächte und Gewalten sind Gottes Geschöpfe und repräsentieren Gottes Hoheit. – Diese christlichen Aussagen sind keineswegs so selbstständig, dass sie einen eigenen Zweig in der Entwicklung darstellten. Schon die vertraute Kombination der unterschiedlichen Mächte etwa in Eph 1,22 zeigt, dass ein enger Zusammenhang zwischen den vorchristlichen und den christlichen Aussagen über Mächte und Gewalten besteht. In allen diesen Fällen sind die Mächte nicht grundsätzlich negativ gewertet: Wenn nach 1 Kor 15,24-27 der Tod eine der Mächte ist, wie Paulus zumindest implizit behauptet, dann ist daran zu denken, dass nach dem griechischen Testament des Abraham der Tod ein von Gott gesandter Engel ist, der als solcher zu den Mächten gehört. Als Engel ist er von Gott geschaffen. Die rabbinische Literatur redet sehr oft vom Todesengel. Schutz vor Lästerung: Christen, die nach 2 Petr und Jud »Herrlichkeiten lästern«, sind möglicherweise Christen, die z. B. den Todesengel verfluchen. Eine Verfluchung des Teufels gibt es (im Unterschied zum Islam s. u.) in keinem christlichen Ritual, und zwar ist das wohl eine Folge der Mahnungen von 2 Petr und Jud. Warum werden diese ausgesprochen, und warum ist es überhaupt wichtig, diesem Anliegen zwei Briefe zu widmen? Erstens ist jedes Fluchen gefährlich, wenn den Fluchenden für den Fall, dass er selbst schuldig ist, der Fluch selbst trifft. Zweitens soll jeder Dualismus verhindert werden. Deshalb berichtet Jud 8 von den höchst gemäßigten Worten des Mose gegenüber dem Teufel (»Der Herr tadelt dich!«). Das ist kein Dualismus. Dessen Ver-
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980 meidung hat den Vorteil, dass der Teufel und Dämonen allgemein als Geschöpfe Gottes gelten können, ja sogar als Bedienstete. Eine indirekte Bestätigung dieser Erklärung liefert BaruchApk (syr) 21,23: »Deshalb tadle den Engel des Todes, und deine Herrlichkeit möge sichtbar werden, und erkannt werden möge die Größe deiner Schönheit und versiegelt werde die Unterwelt, damit sie von jetzt an keine Toten mehr aufnehme, und die Kammern der Seelen mögen die zurückgeben, die in ihnen eingeschlossen sind. Und jetzt zeige schnell deine Herrlichkeit …« So betet Baruch. 1. Wie in Jud 8f, so besteht auch hier ein Zusammenhang von (problematischen) Engeln Gottes und seiner Herrlichkeit. – 2. Der Engel des Todes soll entmachtet werden, aber das geschieht durch »Tadeln« Gottes. – 3. Der vermutete Zusammenhang zu 1 Kor 15,24-27 besteht hier der Thematik nach. – 4. Der Text aus syr Bar bietet selbst für den Extremfall des Todesengels ein beispielhaftes Verhalten Gottes, der hier lediglich »tadelt«. Was Paulus in 1 Kor 15,55 mit spöttischen Worten über die Macht des Todes sagt, könnte durchaus als Lästerung im Sinne von Jud und 2 Petr aufgefasst werden: »Sag, Tod, wo ist dein Sieg geblieben, wo hast du deinen Stachel gelassen?« Paulus stiftet mit diesem Passus geradezu an zu triumphierenden Worten gegenüber Mächten und Herrlichkeiten. Richten sich daher 2 Petr und Jud gegen eine mögliche dualistische Konsequenz aus 1 Kor 15? Inwiefern dadurch ein Beitrag zur Theodizeefrage geliefert wird, sagt der oben (S. 940) zitierte Text Philo, Conf Ling 171 – vgl. zu 1 Petr 3, 18-21. Dieser Text erklärt auch, weshalb die Aussagen des Neuen Testaments über die Mächte und Gewalten leicht ins Negative tendieren. Wer aber die Mächte und Gewalten lästert (2 Petr und Jud), sucht die Schuld bei ihnen und nicht bei den Menschen. Wer die Schuld bei ihnen sucht, der lastet sie letztlich Gott an, weil er sie geschaffen hat. Wer die Mächte verflucht, stellt das gesamte bestehende System der Welt und ihre Ordnung infrage. Der neutestamentliche Judasbrief bringt damit eine wenig beachtete Differenz zwischen Islam und Christentum zur Sprache. Bei jeder Wallfahrt nach Mekka ist eine feierliche Verfluchung
Der Brief des Judas
Satans angesetzt. Sie vollzieht sich, indem die Gläubigen auf den Teufel Steinchen werfen – also durch Steinigung. Entsprechend betet man vor jeder Koranlektüre: »Ich nehme meine Zuflucht bei Gott vor dem verfluchten Satan« (Sure 16,98). Der Judasbrief dagegen verbietet jede Verfluchung Satans: »So wie damals, als Engel und Dämonen um den Leichnam des Mose stritten und der Erzengel Michael es nicht wagte, dem Teufel ohne Umschweife seinen Rang unter den Geistern abzusprechen, sondern nur sagte: Gott tadelt dich. Die sich bei euch eingeschlichen haben, sprechen Mächten die Würde ab, von denen sie keine Ahnung haben. Ihre Lästerworte werden auf sie selbst zurückfallen.« Der Teufel wird also recht vornehm behandelt (»Gott tadelt dich«). Man darf fragen: Warum ist das so? – Im Bereich des Dualismus ist das Verfluchen eine zweischneidige Sache. Wenn der Verfluchende gut ist und der Verfluchte böse, dann ist Gefahr im Verzug. Sowie aber der Verfluchende selbst böse ist, wird sein Fluch auf ihn zurückfallen. Und daher sollte man den Teufel nicht verfluchen, wenn die Gefahr besteht, dass man selbst Dreck am Stecken hat. Im Islam dagegen ist die Sache klar: Insbesondere aufgrund der Wallfahrt nach Mekka sind die Gläubigen frei von Schuld und können den Teufel guten Gewissens bestrafen. Keine Gelegenheit wäre günstiger. Der Fall Jud 9f zeigt symptomatisch dreierlei: 1. Die Verbundenheit zwischen Islam und Christentum reicht weit über die großen Themen hinaus. Sie äußert sich auch gerade in Feinheiten des Brauchtums. Denn ohne Zweifel steht Jud 9f auf demselben Fundament wie die moslemischen Bräuche. – 2. Die neutestamentliche Lösung und ihre Voraussetzungen sind den Initiatoren und Verbreitern der genannten muslimischen Bräuche schlicht unbekannt. Sonst wären sie sicher so oder so darauf eingegangen.
Jud 17-18: Psychiker – Pneumatiker Zunächst schließt sich hier Jud der Gattung der literarischen Testamente an. Das betrifft die überall in Testamenten zu findende Weissagung von Irrlehrern und Verdrehern der Wahrheit am
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Vers 17
Ende der Zeiten. Das könnte zum Beispiel Texte wie Mk 13,6.22f betreffen. Eine Besonderheit des Jud liegt darin, dass der Heilige Geist das Kriterium ist. Die angesprochene Gemeinde »betet im Heiligen Geist«, während die Gegner keinen Heiligen Geist haben und als »Psychiker« angesprochen werden. Das müssen jedenfalls Menschen sein, die sich nur von kreatürlichen Bedürfnissen und den Maßstäben der Erdennatur leiten lassen. Den Psychikern stehen traditionell die Pneumatiker gegenüber, die sich im Unterschied zu ihnen vom Verlangen nach der himmlischen Heimat und Seligkeit leiten lassen. In der späteren Gnosis unterscheidet man Hyliker (Materialisten), Psychiker (so genannte natürliche Menschen ohne religiöse Bindung oder Praxis) und Pneumatiker (an der Erkenntnis und Anbetung Gottes orientiert). Gnostiker beurteilen nicht nur Menschen nach diesen Kategorien, durch ihre Grüppchen-Bildungen führt diese Dreiteilung auch zu sichtbaren Abgrenzungen in den Gemeinden und zur Zerstörung der Einheit der Kirche. Ansätze dazu gibt es erstmalig in 1 Kor 2,14: Ein psychischer Mensch nimmt nichts vom Geist Gottes (Pneuma) an. Nach 1,15 kann der pneumatische Mensch alles beurteilen. Paulus meint, dass er zu den Pneumatikern gehört. Daher kann und darf er in den Gemeinden eingreifen. Auch nach Hebr 4,12 ist der Heilige Geist die unterscheidende Kraft, nur heißt er hier »Logos«. Die Erkenntnis ist bei dem, der die Unterscheidungen finden und treffen kann, d. h. so kann dann der Pneumatiker sagen, wer Psychiker ist, und insofern hat er die Gabe der »Unterscheidung der Geister«. Die Unterscheidung von Psyche und Pneuma ist nicht in der griechischen Semantik angelegt, sondern ist ein Resultat fachlich-philosophischer Diskussion. Beteiligt ist daran z. B. der jüdischgriechische Philosoph Philo v. Alexandrien (20 v. – 60 n. Chr.). Folgt man seinen Äußerungen, so ist die Unterscheidung von 1 Kor 2 und Jud 17f herleitbar aus der jüdisch-hellenistischen Inspirationsmantik. Im Klartext heißt das: Die menschliche Psyche umfasst Bewusstsein, Gedächtnis, Denken und Handeln. Das alles ist noch nicht Pneuma. Dieses dringt in den Menschen »von oben her« ein, wird von Gott geschenkt und kommt zusätzlich zu allen »natürlichen« Gaben; schon Aristoteles unterscheidet in
981 diesem Sinne die psyche vom nous. Der Zeitpunkt, wann dem das Pneuma hinzugegeben wird, ist unterschiedlich. Entweder gibt Gott sein Pneuma bei der Schöpfung hinzu, sodass es zur Grundausstattung des Menschen dazugehört. Dann ergibt sich an dieser Stelle eine so genannte trichotomische Anthropologie, der Mensch besteht aus Körper, Seele und Geist. Die Seele heißt dann »psyche«; das, was Gott hinzugibt, heißt nous, logos oder pneuma. Letzteres, der von Gott hinzugegebene Geist, ist bestandsgefährdet, er kann unschwer abnehmen oder fliehen. Das Zusammenleben mit dem »Fleisch« verschreckt ihn. – Ein trichotomisches Menschenbild vertreten im Neuen Testament 1 Thess 5,23 und Hebr 4,12 (später dann Irenäus). Oder aber Gott gibt seinen Geist dem Menschen durch besondere biografische Ereignisse (Belehrung, Erleuchtung, Studium der Schrift); in diesem Sinne kennt das Judentum ein »prophetisches Pneuma«. Nach dem Neuen Testament geschieht dieses z. B. zu Pfingsten, durch Handauflegung oder wenn man darum betet (Lk 11). Durchweg wird nach dem Neuen Testament der Heilige Geist im Zusammenhang mit der Taufe verliehen. Es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass Paulus, z. B. in 1 Kor 2, im frühen Christentum der Erfinder der Zweiteilung in »pneumatische« und »psychische« Menschen ist. Schon Philo v. Alexandrien unterscheidet zwei Menschenklassen: solche, die für das Blut und das Vergnügen des Fleisches leben, und solche, die dank göttlichen Geistes für die Vernunft oder den Geist leben. Hier ist demnach die anthropologische Unterscheidung zu einer sozialen Scheidung geworden. Das ist auch in 1 Kor 2 der Fall. Es gilt aber außer für Jud 19 auch für Jak 3,15. Denn die nur psychische, irdische Weisheit bringt Streit und Unfrieden hervor, während die »Weisheit von oben« genau die Folgen hat, die Paulus dem Pneuma zuschreibt. Bei Philo v. A. ist das der Unterschied zwischen Sophisterei und Weisheit. Fazit: In Jud 19 ist wie bei Paulus in 1 Kor 2 die unterschiedliche Ausstattung nur mit kreatürlicher Psyche oder auch mit göttlichem Pneuma der Maßstab für die Unterscheidung von Menschengruppen. Die »Psychiker« sind nach
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982 Paulus streitlustige Menschen, nach Jud Gemeindespalter (griech.: apodiorizein, »Trennung verursachen«), die das rechte Beten um Heiligen Geist und im Heiligen Geist nicht kennen. – Jud zeigt damit eine eigenständige Begründung (Gebet und Liebe Gottes), und daher dürfte es sich nicht um eine bloße Übernahme paulinischer Gedanken handeln. Das gilt auch für Jak 3,15. Vor allem bietet Jud 19 das wichtige, mit der hellenistischen Tradition des Topos verbindende Stichwort »Begierden« (vgl. Philo, De Gigant 279). Was aber leistet diese Unterscheidung im frühen Christentum? Ein Christentum, das sich an solchen Kriterien orientiert, kann noch nicht auf Regelsammlungen zurückgreifen, auch nicht auf einen Kanon, es muss sich von den eigenen, erfahrbaren Grundlagen her verstehen, und das sind hier die pneumatisch-charismatischen. Es muss damit argumentieren, was denn zum Heiligen Geist passt, den alle zu haben beanspruchen. Gegner dieser Art zeigen, wie und was der Heilige Geist jedenfalls nicht ist. So geht es ganz nebenbei auch um kräftige Selbstvergewisserung »am Gegenteil«. Das Christentum tritt als charismatische Bewegung klar hervor. Oft beanspruchen auch Gruppen den Heiligen Geist, den Apostel usw. ihnen absprechen, umso mehr und gerade für sich. Für die angesprochenen Christen wird die Basis ihres Glaubens positiv erkennbar. Von den bekannten Topoi ragen folgende positiv hervor: Das Auftreten der Gegner wird als
Der Brief des Judas
Phänomen der Endzeit angesehen. Das ist für Weissagungen von Irrlehrern in Endzeit-Warnungen üblich. Denn in der Endzeit verschlimmert sich der Zustand der Welt, besonders die Wahrheit wird bedrängt. Und gerade sie wird doch durch die apokalyptischen Schriftstücke nach eigener Auffassung besonders geschützt. Deshalb sollen sich die Adressaten an die Worte der Apostel besonders erinnern. Aber worin speziell besteht die gefährdete Wahrheit nach Jud? Im Vergleich zu anderen derartigen Warnungen treten Liebe (V. 21) und Erbarmen (V. 21.22) besonders hervor.
Jud 22-23: Die Zurechtweisung anderer Christen »Entreißt sie dem Feuer, wendet euch ab von dem durch das Fleisch beschmutzten Kleid« – dies zeigt vielleicht Anklänge an Justin, Dial 115f (allen Schmutz, alle schmutzigen Kleider ablegen) und damit auch an Sach 3,2-3 (ein dem Feuer entrissenes Brandscheit, mit schmutzigen Kleidern angetan [von diesen schmutzigen Kleidern wird er dann befreit und als Hoherpriester neu eingekleidet]). Entscheidend ist dabei die Verbindung des dem Feuer Entrissenen mit den schmutzigen Kleidern. Damit wäre nicht nur in Jud 10 eine (deutlichere) Anspielung auf Sach 3,2 gegeben (Hinweis H. Hollander, 2003).
Berger (08129) / p. 983 / 19.5.2020
Die Offenbarung des Johannes
Kommentare: Victorinus von Pettau († 304). – Tyconius († um 400). – A. Augustinus (um 400; ed. 1562; Bd. IX, 1, 809–862). – Eucherius († 450). – Caesarius v. Arles († 542). – Apringius (um 550). – Aurelius Cassiodorus († 575). – Primasius (um 600). – Andreas v. Cäsarea (um 600). – Gregor d. Große († 604). – Oecumenius (um 620). – Beda Venerabilis († 735). – Ambrosius Autpertus († 784). – Beatus v. Liebana († um 798). – Haimo v. Halberstadt († 853). – Paschasius Radbertus († 866). – Berengaudus (Ps.Ambrosius) (9. Jh.). – Arethas v. Cäsarea (um 902). – Ps.-Alcuin (11. Jh.). – Rupert von Deutz († 1130). – Geoffroy d’Auxerre († 1138). – Anselm v. Laudun (Ende 11. Jh.). – Richard v. St. Victor († 1173). – Joachim v. Fiore († 1202). – Alanus ab Insulis († 1202). – Alexander Halensis († 1245). – Hugo v. St. Caro († 1263). – Alexander Minorita (von Bremen) († 1271). – Bonaventura († 1274). – Thomas v. Aquin († 1275; zwei [unechte?] Kommentare unter seinem Namen). – Albertus Magnus († 1280). – Petrus Johannes Olivi († 1298). – Arnaldus de Vilanova († 1311). – Petrus Aureolus († 1322). – Nicolaus Lyranus († 1349). – Dionysius Carthusianus († 1471). – Bernardinus Senensis († 1480). – Anonymus (1512). – F. de Veneto (1515, 1520). – M. Luther (1528). – F. Lambert (1528). – A. Pignet (1543). – J. Funck (1546). – H. Bullinger (1557, 1602). – J. Bale (1559). – P. Bindoni († 1562). – A. Marloratus (vor 1562). – H. Camerarius (1572). – G. Nigrinus (1572). – N. Colladon (1584). – S. Meyer (1584). – G. Melo (1589). – B. Aretius (1589). – L. Ribera (1592, 1593). – B. Viegas (1602). – F. Ribera (1603) – Serafinus da Fermo († 1604; ed. 1538). – B. Pereyra (1606, 1607). – Hoe v. Hoenegg (1610). –
H. Broughton (1610). – B. Viegas (1614). – L. de Alcazar (1614, 1618). – A. Salmeron (1615). – N. Gorranus (1620). – D. Pareus (1622). – James I († 1626). – Th. Brightman (1644). – C. a Lapide (1648). – G. Ferrarius (1652). – A. Rivinus (1652). – L. Fromondus (1654-56). – J. Durham (1656). – Capucinus Silveducensis (1657). – H. More (1664). – P. Tossanus (1665). – A. Mons (1667). – J. de Sylveira (1669). – J. Stevenz (1675). – M. Polus (1676). – H. Kircher (1676). – J. H. Heidegger (1677). – G. Lopez (1678). – J. v. Capestran (1679). – H. More (1680). – Gregorius Coelis (1682). – H. v. Wesel (1688). – J. B. Bossuet (dt. 1689). – Ph. L. Hanneken (1695). – T. de la Chétardie (1701). – C. Vitringa (1709). – A. Calmet (1716). – R. Andala I-II (1726). – (Anonymus (1729). – I. Newton (1733). – J. C. Seiz (1736). – J. C. Wolf (1741). – F. A. Lampe (1742, 197–286). – R. Laurentius (1744). – J. J. Wettstein (1752). – G. D. Kypke (1755). – G. Lopez (1756). – M. Wouters (1769). – F. Joubert (1771). – D. P. Drach (1791). – J. G. Eichhorn I-II (1791). – H. v. Straalen (1794). – B. Holzhauser (1799). – L. Demonville (1812). – J. B. Bossuet (1815). – G. A. H. Ewald (1828). – H. Jung-Stilling (1841). – Migne CS 24 (1862). – W. Bousset (1906). – H. B. Swete (1908). – J. Behm (1917). – R. H. Charles I-II (1920). – A. Loisy (1923). – Th. Zahn (1924). – D. W. Hadorn (1928). – E. B. Allo (1933). – A. Wikenhauser (1959). – L. Cerfaux/J. Cambier (1964). – E. Lohmeyer (1970). – H. Kraft (1974). – E. Lohse (1979). – Adrienne v. Speyr (1950). – J. Roloff (1984). – U. B. Müller (1984). – E. Romero-Pose I-II (1985). – P. Prigent (1988). – H. Giesen (1994). – K. Berger I.II (2017).
EINFÜHRUNG Die Opfer und die Unterdrückten Bei aller Unvorstellbarkeit scheint nur eines ganz klar zu sein: Das Wort Gott steht hier für Gerechtigkeit. Das ist eine Botschaft zunächst für die Opfer und die Unterdrückten. Das Wort Gott
ist für sie identisch damit, dass überhaupt Gerechtigkeit sein wird und nicht nur Triumph der Gewalt.
Berger (08129) / p. 984 / 19.5.2020
984 Datierung Die Datierungen schwanken zwischen 69 und 160 n. Chr. Jedenfalls setzt das Buch Kaiser Nero voraus, von dem unzweifelhaft in Kap. 13 die Rede ist. Denn Nero wurde (durch Selbstmord?) lebensgefährlich verletzt; aber das Gerücht ging um, er sei nicht gestorben, sondern in den Osten geflüchtet und werde zusammen mit Heeren der Parther wiederkommen und dann erneut in Rom herrschen. Offb 13,3 setzt diesen Mythos (Nero redivivus) voraus und stellt ihn parallel zur Auferstehung Jesu, und zwar letztlich als täuschende Nachahmung, denn Nero war ja angeblich nicht wirklich tot. Die extrem unterschiedliche Beurteilung der Entstehung der Apokalypse ist davon abhängig, für wie fortgeschritten man die Ideologisierung des römischen Kaiserkultes einstuft – und welche Christenverfolgungen man annehmen kann. Früher ging man davon aus, die entscheidende Verfolgung sei unter Domitian anzusetzen; daher sei das Buch zwischen 96 und 98 n. Chr. entstanden. Neuerdings kann man an einer Verfolgung unter Domitian nicht mehr festhalten. Seine Selbstvergottung hielt sich ebenso im Rahmen des Normalen wie Maßnahmen, die man als antichristlich deuten konnte. Von einer Verfolgung kann jedenfalls nicht die Rede sein. Damit entfällt die wichtigste Stütze für eine Spätdatierung der Offb. Daher muss das Buch früher oder später entstanden sein. Da ich von der Zerstörung Jerusalems in diesem Buch nichts sehe, sondern besonders in Kap. 11 eher das Gegenteil bestätigt finde, muss ich von einer Abfassung vor 70 und unter dem frischen Eindruck der Legende vom Nero redivivus ausgehen. Nach Kap. 13 und 15 besteht in der Tat ein Zwang zur kultischen Kaiserverehrung. Dieser ist besonders in Kleinasien früh ausgeprägt. Es gab einen regelrechten Städtebund zur Beförderung der kultischen Kaiserverehrung, dem die Städte Ephesus, Pergamon und Smyrna angehörten. Alle drei Städte gehören zu den Adressaten der Gemeindebriefe am Anfang unseres Buches. Im Übrigen ist es für die theologische Bedeutung des Buches relativ unwichtig, wann man es genau datiert. Alle anderen Probleme der Auslegung sind inhaltlich weitaus schwieriger zu lösen. Wenn die Zahl 666 in Offb 13,6 nach hebräi-
Die Offenbarung des Johannes
scher Schrift auf neron qaisar, also Kaiser Nero, zu deuten ist, dann ist damit eine direkte Datierungshilfe gegeben. Jahrzehnte nach Neros Tod wäre eine solche Anspielung für die Adressaten des Buches noch schwieriger gewesen, als es ohnehin der Fall ist. Adressaten Die Offb gehört zu den enzyklischen Schreiben des Neuen Testaments (wie Jak und 1 Petr), und zwar aufgrund der Nennung der sieben Gemeinden in Kap. 2-3, die wegen der vollkommenen Anzahl auf jeden Fall in bestimmter Hinsicht für alle Christen stehen und z. B. in Gestalt des siebenarmigen Leuchters die gesamte Christenheit repräsentieren. – Die Adressaten des Buches sind die sieben kleinasiatischen Gemeinden von Ephesus, Smyrna, Pergamon, Thyatira, Sardes, Philadelphia und Laodizea. Situation der Gemeinden In diesen Gemeinden hat es kürzlich einen Märtyrer gegeben, Antipas (2,13). Und generell gilt: Das Blut der Märtyrer schreit gen Himmel (6,10). Alle Gemeinden sollen unter Androhung des Todes zur Anbetung des Kaisers gezwungen werden (13,15). Sie unterliegen einem totalen Handelsboykott seitens ihrer Mitbürger (13,17). Sie wissen sich eins mit allen Menschen weltweit, die das römische Regime ermordet hat, auch wenn es nicht Christen waren (18,24). Von allen Gemeinden wird intensiver Glaube und viel Geduld (2,3; 13,10) gefordert. Die Verfolgung wird als Versuchung gedeutet, die auf das Gläubigwerden folgt. Das Wichtigste ist das Zeugnis jedes einzelnen Christen: »Unsere Brüder haben den Ankläger besiegt durch das Blut des Lammes. Sie haben durch ihr Bekenntnis Zeugnis abgelegt, ihr irdisches Leben gering geschätzt und den Tod verachtet« (12,11). Theologische und rhetorische Höhepunkte sind daher die so genannten Überwindersprüche jeweils am Schluss eines jeden der Gemeindebriefe in Kap. 2-3. »Überwinder« oder »Sieger« ist jeweils derjenige, der standhaft gewesen ist in der Versuchung zum Abfallen vom Glauben, und der die durch den Glauben entstehenden Nachteile, inklusive Bedrängnis und Martyrium, in Kauf genommen hat.
Berger (08129) / p. 985 / 19.5.2020
Die Offenbarung des Johannes
Verfasser Oft wird angenommen, der Verfasser des JohEv sei identisch mit dem »Seher Johannes«. Mit einem Großteil der neueren Forschung nehme ich an, dass das nicht der Fall ist. Es gibt zwar einige Überschneidungen, doch im Ganzen sind sie nicht repräsentativ und nötigen nicht dazu, denselben Verfasser anzunehmen. Ähnlichkeiten im JohEv und Offb Ich-bin-Worte mit Metaphern. – »Wort Gottes« (griech.: logos) ist in Joh 1 christologisch qualifiziert, in Offb 21 vielleicht ebenfalls (der Richter heißt Wort Gottes). – Die Rede vom Siegen teilt 1 Joh mit Offb. – Gemeinsam ist die Auffassung, Jesus sei der Bräutigam (sc. des kommenden Gottesvolkes). – Ferner das Christus-Prädikat: der Erste und der Letzte (s. zu 1,17b). Differenzen zwischen JohEv und Offb Im JohEv beschränkt sich futurisch apokalyptische Eschatologie auf wenige Passagen (vor allem 5,25f), in der Offb beherrscht sie die Gliederung der Kap. 5-21. – Gerade in den Aussagen über die himmlische Zukunft (himmlisches Jerusalem) und die Identität der Gemeinde (Offb 12) ist die Offb grundsätzlich konservativ-jüdisch geprägt. Im JohEv fehlen derartige Aussagen und Vergleichbares überhaupt. – Die Liebe als Auslegung des grundlegenden Gebotes Jesu Christi spielt in der Offb gar keine Rolle. – Die Offb kennt keine Geist-Vorstellung, die mit dem Parakleten des JohEv vergleichbar wäre. – Die Offb kennt keine Logos-Schöpfungstheologie. Fazit: Die Unähnlichkeiten sind stärker ausgeprägt als die Ähnlichkeiten. Man vergleiche für das Problem etwa die gleichfalls strittigen Fragen, wie sich Eph, Kol und die Pastoralbriefe zu Paulus verhalten, um die Unterschiede wahrzunehmen (hier: eher Nicht-Identität; dort: eher Identität): Der Nutzen solcher Fragestellungen besteht darin, dass man bei wahrscheinlicher Nicht-Identität der Verfasser Vorsicht walten lassen muss, wenn man unklare Stellen mit Hilfe der jeweils anderen Schrift erklären will. D. h. der Vergleichswert des JohEv gegenüber der Offb ist im Ganzen geringer einzuschätzen. Das ändert natürlich nichts an der »Wahrheit« der betreffenden Schriften.
985 Die theologische Bedeutung der Gliederung der Offb An dieser Stelle könnten einige Resultate der neuen Methodik der Kompositionskritik weiterführen. Die Art der Komposition, d. h. des Aufbaus einer Schrift ist eine erstrangige Quelle zur Erforschung der Intentionen des Autors. Denn wieweit der Autor von den Traditionen abweicht, die er vorfindet, lässt sich nur selten genau rekonstruieren. Die Komposition lässt sich dagegen gut erfassen, besonders in Verbindung mit Gattungskritik. Der Vergleich der Gattungen innerhalb des frühen Christentums lehrt: In vielen Schriften (synoptischen Evangelien, Briefe wie 1 Kor und 1 Thess; Didache 16) stehen »Apokalypsen« am Schluss, oft verbunden mit dem Hinweis auf kommende Irrlehrer, auf notwendige Wachsamkeit und natürlich auf die Wiederkunft Christi. Das ist auch in der Offb nicht anders: Auf die Gemeindebriefe folgt ein monumental ausgebauter apokalyptischer Schluss. Diese Beobachtung entwertet nicht die Gemeindebriefe, sondern die Apokalypse schildert die kommende Aktualität, in der sich die durch die Briefe ermahnten Gemeinden bewähren sollen. Die Gemeindebriefe geben im Vorhinein bekannt, wie man sich in allem, was kommt, verhalten soll. Innerhalb der Geschichte der Apokalyptik verbindet das Stück Kap. 5-22 zwei große Gattungen: die Himmelsreise und die Geschichtsapokalypse. Die Himmelsreise führt zum Thron Gottes, und dort erhält der Seher Einsicht in das himmlische Buch. Aber nicht nur in Kap. 5, auch noch in Kap. 17,1-3 werden Elemente aus dieser Tradition aufgenommen. Dazu gehören auch alle Begegnungen mit dem Deute-Engel wie 22,8-15. – Geschichtsapokalypsen schildern den Verlauf der Reiche bis zum Erscheinen des letzten Reiches. Auch diese Gattung ist hier verkürzt, aber nicht verschwunden (vgl. besonders 13,1-3). Die Konfrontation »Rom = Babylon gegen neues Jerusalem« ist die Auflösung aller Reiche-Apokalyptik. Das Reich Gottes in Gestalt der siegreichen Stadt Jerusalem ist die Antwort Gottes auf die Geschichte des Ringens um die Macht auf Erden. Insofern ist die Offb eine Fortsetzung der ReichGottes-Botschaft Jesu mit neuen (alten) Mitteln.
Berger (08129) / p. 986 / 19.5.2020
986 Komposition nach Analogie des Buches Ezechiel Eine Verknüpfung von Traditionsgeschichte und Kompositionskritik bringt für die Abhängigkeit des Verfassers der Offb vom Buch Ezechiel diese Resultate: Es besteht eine durchgehende (!) Parallelität im Aufbau (!) zwischen Ez 1 und 23-48 und Offb 1 und 17-22. Diese gilt auch für das hebräische Elia-Buch, das nicht-christlich ist und der frühmittelalterlichen hebräischen Apokalyptik entstammt (wie auch andere von Jellinek in Bethha-Midrasch gesammelte Dokumente, die z. T. übersetzt sind bei A. Wünsche: Aus Israels Lehrhallen I-IV). Das hebräische Elia-Buch (ed. Buttenwieser) ist eine selbstständige, von Offb unabhängige, aber mit ihr verwandte apokalyptische Wiedergabe des Ez-Buches. 1. Ez 23: Zwei Huren als Symbolgestalten gegeneinander – Offb 17: Rom als Hure versus himmlisches Jerusalem. 2. Ez 26f: Worte gegen Tyrus – Offb 18: Worte gegen Babylon mit Zügen von Tyrus (z. B. Ez 26,16 in Offb 18,9; Ez 26,17 in Offb 18,9; Ez 27,36 in Offb 18,11; Ez 27,12 in Offb 18,12; Ez 27,36 in Offb 18,15. – Hebr Elia 3f: Sammlung der Exilanten, Auszug aus Babylon; Schilderung des endzeitlichen Hauptwidersachers (4,8 – 5,1; vgl. den gottlosen Herrscher nach 1-2). 3. Ez 34,23-36: der künftige Davidide als messianische Figur – Offb 19,11-21: der Messias als Richter. – Hebr Elia 5,2.5; 6,1: Der Messias kommt, Krieg, Hilfe von Würge-Engeln, Heiden schwinden. 4. Offb 19,17-21: Mahl der Vögel, vorgezogen aus Ez 39,17-20 (Mahl der Vögel als Gericht über die Heiden). 5. Ez 36f: Wohlstand und Wiedereinsammlung Israels (Heilszeit wie Millenium); Auferstehung als Bild (Ez 37) – Offb 20,1-6: erste Auferstehung, tausend Jahre Messias-Herrschaft. – Hebr Elia 6,3-5: Die messianische Zeit dauert 40 Jahre. 6. Ez 38f Gog und Magog – Offb 20,7-9: Gog und Magog. – Hebr Elia 7,1: Gog und Magog gegen Gott und den Messias. 7. Ez 39,17-20: Vogel-Mahl als Gericht über die Heiden (in Offb vorgezogen nach 4.). – Hebr Elia 7,5: Vögel fressen Fleisch der Menschen. 8. Hebr Elia 8,3: Auferstehung. 9. Offb 20,11-15: Weltgericht vgl. Ez 39,17-20
Die Offenbarung des Johannes
(Gericht über die Heiden). – Hebr Elia 9,1-3: Gericht. 10. Ez 39,22-29: Erbarmen mit Israel, Wiedereinsammlung – Offb 21,1-8: neue Schöpfung 11. Ez 40-48: neues Jerusalem – Offb 21,9-22,5: neues Jerusalem. – Hebr Elia 10,1-8: neues Sion/ Jerusalem. Auswertung: Diese Eschatologie ist orientiert am dramatischen Sturz oder Aufstieg großer Städte (Tyrus, Babylon, Rom, Jerusalem). Die Städte werden stets mit Frauen symbolisch identifiziert (wie auch Roma und Athene es waren). In den älteren Schriften des Neuen Testaments nennt sich daher Jesus Bräutigam des neuen Israel bzw. des himmlischen Jerusalem. Gerade an »Nebenzügen« lässt sich die Abhängigkeit von gemeinsamer Tradition gut erkennen (z. B. Gog und Magog, Mahlzeit der Vögel, Platzierung der friedlichen und begrenzten messianischen Zeit vor dem Ende mit millenaristischen Zügen). Sie wurde offensichtlich als verbindlich angesehen. Die Auferstehung, die in Ez 37 als Bild dient, ist in Offb 20,4-6 und in hebr Elia 8,3 leibhaftig vorgestellt. Das priesterlich-kultische Interesse ist in Ez 4048 am deutlichsten ausgeprägt, aber auch in der Offb nie ganz verschwunden. Die theologischen Implikationen der Gliederung der Offb Weil das Ziel der Geschichte anders ist, als man gewöhnlich oder auch heute denkt, ist es auch der Weg. Zunächst: Dass die Offenbarung des Johannes in Abschnitte eingeteilt ist wie die sieben Posaunen, die nacheinander inhaltlich entfaltet werden, oder die drei Weherufe oder die sieben Trompeten, das setzt voraus: Jeder dieser Abschnitte ist zeitlich begrenzt und endlich, und im Kontrast dazu ist nur der Schlussabschnitt unendlich – das tröstet. Bis dahin gilt ein zweites, ganz besonderes Prinzip in der Geschichte: Alles Wahre und Gute hat sein negatives Gegenbild mit ähnlichen Attributen, und dieses ist oft zum Verwechseln ähnlich. Diese Attribute sind oft als Zahlen formuliert, z. B. ist die 3 ½ (die Hälfte von sieben; bezogen auf Tage oder Jahre) sowohl Merkmal der beiden prophetischen Zeugen (sie werden 3 ½
Berger (08129) / p. 987 / 19.5.2020
Die Offenbarung des Johannes
Monate tätig sein), als auch Merkmal des Triumphes ihrer Feinde über sie (3 ½ Tage), bis sie auferweckt werden. Das Lamm hat einen Thron wie auch der Widersacher, beide Seiten besitzen je ein Siegel bzw. ein Abzeichen ihrer Zugehörigkeit. Beide Seiten tun Zeichen, zum Beispiel wirken sie Feuer vom Himmel her (11,5; 13,13). Die Gegner des Christentums nach der Offb Die Offb kennt unterschiedliche Gruppen von Gegnern: Innerhalb der Gemeinden gibt es Christen, die das paulinische Erbe ultra-liberal auslegen; außerhalb der Gemeinden gibt es Juden, die mit dem römischen Staat kooperieren und die der Seher Johannes »Synagoge Satans« (statt »Synagoge Gottes«, was die Selbstbezeichnung war) nennt. Der Hauptgegner aber ist die römische Obrigkeit inklusive Kaiserkult. Wer sich dazu bekennt, diskriminiert und boykottiert die Christen systematisch. Auf die Obrigkeit und ihre opportunistischen Sympathisanten bezieht der Seher Johannes die seit Daniel übliche Theorie der vier Reiche, auf die dann das Gottesreich folgt. Es ist klar, dass in dieser Lage ultrapaulinische Christen genauso als Verräter dastehen wie Juden, die mit dem römischen Reich kooperieren. Dass der Seher Johannes so wütend darüber ist, bestätigt eigentlich indirekt seine eigene Affinität zum Judentum, die sich auf Schritt und Tritt aus der Offb erkennen lässt. Er ist in der Situation, dass seine Stütze Verrat übt. Den ultra-liberalen »Paulinisten« könnte man folgende Positionen zuschreiben, die die Offb angreift: Sie kennen weibliche Prophetie (2,20); bei Paulus gibt es zwar Frauen, die prophezeien, allein eine Frau mit dem Titel »Prophetin« kennt Paulus nicht, und das ist nach Offb 2,20 der Stein des Anstoßes. Ferner wird in den Gemeinden erlaubt, Götzenopferfleisch zu essen (2,14.20). Nach dem Aposteldekret ist es verboten (Apg 15,21), Paulus untersagt es, wenn Außenstehende irritiert sind (1 Kor 8.10), und das ist offensichtlich in Offb der Fall. Gleiches gilt für die »Unzucht« nach Offb 2,14.20. Nach dem Sprachgebrauch der Zeit handelt es sich wahrscheinlich um Mischehen mit heidnischen Partnern. Paulus hält so wenig von Mischehen, dass er in 1 Kor 7,12-16 bereit ist, bei Ehen mit heidnischen Partnern sogar das Scheidungsverbot Jesu zu relativieren (»ich sage es, nicht der Herr«; später als
987 privilegium paulinum bekannt). Im Übrigen richtet sich Paulus in 1 Kor 6-7 gegen jede Art heidnischer »Unzucht« (inklusive Prostitution). Auffällig ist, dass die Kombination »Götzenopfer und Unzucht« in Offb 2,14.20 gleich zweimal hintereinander zur Sprache kommt, wie sie auch die Gliederung des 1 Kor und das Aposteldekret kennt. Das heißt: Die Kombination dieser beiden Symptome signalisiert Heidentum pur, und zwar nicht »an sich«, sondern als Abgrenzung gegenüber dem Judentum. Was die Götzenverehrung selbst betrifft, so hat man besonders Anstoß genommen an der paulinischen Formel in 1 Kor 9,22b, und in der Petrus-Apokalyptik hat man Paulus Verehrung von Götzen in heidnischen Tempeln vorgeworfen. Die Offb hält sich auch in Punkten, die nicht erst die Anbetung des Kaisers betreffen, sondern bereits das Alltagsleben, an die konservativ-jüdische Position. Diese Praxis wird sich in den folgenden Jahrhunderten bewähren. Wo immer das Christentum in Gefahr zu großer Assimilation an den Zeitgeist steht, wirkt sich eine Anlehnung an das Judentum stabilisierend aus. Das gilt auch für manche Spielarten von »Mystik«. Im Mittelalter gilt es angesichts des übermächtigen Einflusses der griechischen Philosophie. – Dieses Prinzip ist aber vor allem die Erklärung für den »jüdischen« Charakter der Offb selbst. Das Geschichtsbild der Offb Der Seher Johannes sieht die Christenheit einem geistlichen Entscheidungskampf zwischen dem Anspruch des biblischen Gottes, allein Gott zu sein, und dem konkurrierenden Allmachtsanspruch des römischen Kaisertums. Dieses Buch hat eine einzigartige Stellung unter den Schriften des Neuen Testaments. Denn es zieht die weltgeschichtlichen Konsequenzen aus der Botschaft Jesu vom kommenden Reich Gottes. Offb erinnert daran, dass schon im Buch Daniel die Weltgeschichte bis zu Daniel hin aus vier aufeinander folgenden Großreichen besteht. Auf diese folgt dann im Kontrast das fünfte Reich. Dieses Reich Gottes beruht freilich nicht auf ungerechter Gewalt, sondern auf wirklicher Gerechtigkeit. Die Bürger dieses künftigen Reiches gibt es jetzt schon, als die Christen im Widerstand, daher besonders als die Märtyrer. Was das alles im Einzelnen bedeutet, kann nur
Berger (08129) / p. 988 / 19.5.2020
988 ermessen, wer Christen unter totalitären Systemen begleitet hat. Sieger ist der, der »moralisch« siegt über den Schmerz der Wegnahme wichtiger Lebensgüter. Der Glaubende siegt, er ist auf demselben Weg wie Christus, von dem es in 5,5 heißt: »Seht, der Löwe aus dem Stamm Juda hat gesiegt, er ist aus der Sippe Davids …« Die Situation der Verfolgung hat einen besonderen theologischen Grund. Denn zeitgleich (?) mit dem Kommen des Messias geschah etwas im Himmel, das Himmel und Erde revolutioniert hat. Im Auftrag Gottes hat der Erzengel Michael Satan aus dem Himmel auf die Erde geworfen. Das hat für die Christen eine gute Seite und eine schlechte. Die gute Seite: Im Himmel gibt es keinen Ankläger mehr. Der »Staatsanwalt« ist aus der himmlischen Gerichtsszene entfernt und kann die Menschen nicht mehr – wie früher – anklagen. Dieselbe Vision liegt auch in Lk 10,16 zugrunde, und einige Forscher waren der Meinung, es handele sich um die Berufungsvision Jesu. So etwas Ähnliches ist schon möglich, jedenfalls handelt es sich in Offb 12 wie in Lk 10 und auch noch im Widerschein von Röm 8,32f um ein gravierendes Ereignis. Denn Gott hat sich durch den Hinauswurf des Staatsanwalts (der immer etwas gegen die Menschen vorzubringen hätte) zugunsten der Menschen auf Barmherzigkeit im Gericht festgelegt. Niemanden gibt es von da ab, der den Menschen etwas vorhält und sie verurteilen möchte. Die negative Seite des Vorgangs besteht in den Folgen für die Christen auf Erden in der Gegenwart. Denn der vom Himmel gestürzte Teufel treibt hier sein Unwesen. Er verfolgt die Frau (das Volk Gottes) und ihre Kinder. Im Himmel wird er nichts mehr anrichten, umso mehr aber versuchen, seine ganze mögliche Wut an den Kindern des Gottesvolkes auszulassen. So wird die Gegenwart gedeutet und nicht beschönigt. Gleichzeitig wird für die Zukunft jede Gefahr seitens eines himmlischen Anklägers ausgeschlossen. Wenn die Situation jedes einzelnen Christen sich zwischen Handelsboykott und Martyrium, Rufmord und Bekennen abspielt, erscheint das kommende Gericht als Stunde der Befreiung. Als Stunde, in der der König der Könige das römische Reich der Ungerechtheit beseitigt und durch den neuen Äon der Gerechtigkeit ersetzt.
Die Offenbarung des Johannes
Insofern ist das Gericht die Richtigstellung. Daraus folgt: Wer das Martyrium täglich vor Augen hat, erwartet das Wiederkommen des Herrn ganz anders als eine »Christenheit«, deren Christentum praktisch verdampft ist. Wenn man den Zielpunkt aller Geschichte nach der Apokalypse so einschätzt, ergibt sich für das Bild der »Heilsgeschichte«: Die einzelnen Segmente sind abzählbar begrenzt: 7 Siegel, 3 Wehe, 7 Trompeten, denn alles Lästige hat ein Ende, nur der neue Äon nicht. – Die Gerechtigkeit besteht für die Apokalypse darin, dass kein Gebrauch von Gewalt Bestand hat (»Wer mit dem Schwert tötet, wird durch das Schwert umkommen«: 13,10). Für die Frage nach der wahren Macht lautet die Antwort der Apokalypse: Alle Macht der Gegenseite ist nur Nachahmung und daher zeitlich begrenzter Schein. Das ganze Buch ist danach aufgebaut, dass der römische Staat nur eine schwache Kopie der Wahrheit ist: Hörner (das Lamm hat sieben, das Tier zehn), Thron (Gott und Lamm, das Tier); Macht (des Christus 12,10; Rom hat seine Macht vom Drachen 13,2), der Protagonist ist jeweils ermordet (das Lamm; eines der zehn Häupter, wohl Nero); aus jedem Volk haben beide ihre Anhänger (5,9 das Lamm; 13,7 das Tier); es gibt Kennzeichen für die Parteinahme (Siegel; Abzeichen); der »Name« ist Merkmal (Name Gottes; Name des Tieres); die Wirksamkeit ist jeweils 3 ½ Jahre (zwei Zeugen; das Tier); es gibt Auferstehung (Lamm; Tier 13,3); Feuer fällt vom Himmel (11,5: zwei Zeugen; 13,13 beim 2. Tier); es gibt Lobpreis (Hymnen; Lästerungen); die ganze Schöpfung huldigt (5,13d; das Tier wird angebetet 13,8); Widerständige sterben (die zwei Zeugen; alle, die nicht das Tier anbeten); Vollmacht zur Mission (Engel, zwei Zeugen; 2. Tier); gerade der Delegat veranlasst zur Anbetung (Gott wegen des Lammes; der Drache, weil er dem Tier die Macht gab); die untergeordnete wie die höhere Instanz wird angebetet (Gott und das Lamm; der Drache und das Tier 13,4). Fazit: Es besteht eine durchgehende Entsprechung zwischen Wahrheit und Nachahmung. Gerade das aber macht das Imitat so verführerisch. Die Nachäffung ist entsprechend die Kehrseite der Nachfolge Christi auf der Gegenseite. Denn von der Gemeinde heißt es: »Sie folgen dem Lamm, wo immer es hingeht.«
Berger (08129) / p. 989 / 19.5.2020
Die Offenbarung des Johannes
Entsprechend der Nachäffung des Guten durch das Böse sind die Menschen in Gefahr, Gutes und Böses zu verwechseln, nicht mehr unterscheiden zu können. So besitzt das Lamm (Christus) Hörner (und zwar sieben), das Tier aber zehn. Beide werden universal gelobt, von Völkern, Stämmen, Nationen und Königreichen. Ja, beide erstehen sogar von den Toten auf: Das Lamm zeigt seine Wunde, aber es lebt. Das Tier wurde nach Kap. 13,3 von einer tödlichen Wunde geheilt. So besteht in vielen Einzelheiten eine durchgehende, entgegengesetzte Entsprechung zwischen Wahrheit und Nachahmung. Sie ist verführerisch und macht die Suche nach der Wahrheit so schwer. (Auch die Diktaturen des 20. Jh. haben sich zunächst als heilig und edel ausgegeben und dabei oft auch die Kirche nachgemacht.) Bleibend wichtig bei der Auslegung sind folgende drei Grundannahmen: 1. Wer Nein sagen kann im Widerstand gegen den Allmachtsstaat, bewahrt sich als Person und wird durch Auferstehung im Bleiben bestätigt (Stabilität über die Zeiten hin; Kurzatmigkeit der Nachahmung). – 2. Die Schrift des Sehers Johannes durchzieht von Kap. 4 bis 19 eine Zweistöckigkeit. Auf Erden geschieht etwas, im Himmel gibt es dazu einen Kommentar, und zwar in Hymnen, in Lobpreisungen. Daher hat man die Geheime Offenbarung das »hymnische Evangelium« genannt. – 3. Ältere (orthodoxe und katholische) Liturgie ist bis heute an Gottes Thron orientiert. Man nennt sie deshalb »basileomorph«, d. h. der Gestalt nach au